18 Geisterstories Manfred Kluge Heyne Anthologie #61 Schaurige Geschichten von klassischen und modernen Gespenstern.  Ausgewählt und herausgegeben von Manfred Kluge. Inhalt: Laertes Karl Hans Strobl Vier Geister in ›Hamlet‹ Fritz Leiber Das arme alte Gespenst Heinrich Seidel Die Klausenburg Ludwig Tieck Der Geisterberg Gustav Adolf Becquer Gäste zur Nacht Alexander Puschkin Der schwarze Schleier Charles Dickens Das weiße Tier Ein Nachtstück Georg von der Gabelentz Das geheimnisvolle Telegramm Anonymus Der geraubte Arm Vilhelm Bergsöe Die Nacht von Pentonville Jean Ray Das Gespenst Knut Hamsun Der Geist Frederic Boutet Die Kleinodien des Tormento Paul Busson Altersstarrsinn Robert Bloch Der Spuk von Rammin Hanns Heinz Ewers Reitet, Colonel! Mary-Carter Roberts Die Stimme aus dem Jenseits Werner Gronwald 18 Geisterstories Hamlet. Wo führst du hin mich? Red, ich geh’ nicht weiter. Geist. Hör an! Hamlet. Ich will’s. Geist. Schon naht sich meine Stunde, Wann ich den schweflichten, qualvollen Flammen Mich übergeben muß. Hamlet. Ach, armer Geist! Geist. Beklag mich nicht, doch leih dein ernst Gehör Dem, was ich kund will tun. Hamlet. Sprich! Mir ist’s Pflicht, zu hören. Geist. Zu rächen auch, sobald du hören wirst. Hamlet. Was? Geist. Ich bin deines Vaters Geist: Verdammt auf eine Zeitlang, nachts zu wandern, Und tags gebannt, zu fasten in der Glut, Bis die Verbrechen meiner Zeitlichkeit Hinweggeläutert sind. War’ mir’s nicht untersagt, Das Innre meines Kerkers zu enthüllen, So hob’ ich eine Kunde an, von der Das kleinste Wort die Seele dir zermalmte, Dein junges Blut erstarrte, deine Augen Wie Stern’ aus ihren Kreisen schießen machte, Dir die verworrnen krausen Locken trennte Und sträubte jedes einzle Haar empor Wie Nadeln an dem zorn’gen Stacheltier: Doch diese ew’ge Offenbarung faßt Kein Ohr von Fleisch und Blut. – Horch, horch! O horch! Wenn du je deinen teuren Vater liebtest –! Hamlet. O Himmel! Geist. Räch seinen schnöden, unerhörten Mord! Hamlet. Mord? Geist. Ja, schnöder Mord, wie er aufs beste ist, Doch dieser unerhört und unnatürlich … William Shakespeare Es möchte an der Zeit sein, die vielfachen und bedauerlichen Irrtümer, welche über die Natur der Gespenster verbreitet sind, einmal näher zu beleuchten. Eine der rohesten Anschauungen lautet: Ein Gespenst ist eine Gestalt in einem weißen Bettlaken, welche nachts zwischen zwölf und ein Uhr Unfug treibt. Ich vermute, daß diese Fabel von einem Liebhaber erfunden ist, den sein Nebenbuhler des Nachts in dieser Vermummung durchgeprügelt hat. Schon der allgemeine Glaube, daß ein Gespenst sich an gewisse engumschriebene Nachtstunden bindet, zeugt von einer betrübenden Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse. Ich glaube des Dankes unserer verstorbenen Mitbürger, welche das Schicksal genötigt hat, sich diesem wenig befriedigenden Beruf zu widmen, gewiß zu sein, wenn ich die Ergebnisse meines eingehenden Studiums über die Natur und die Eigenschaften der Gespenster zur allgemeinen Kenntnis bringe. Vielleicht geschieht dies am besten, wenn ich ganz einfach in meiner Geschichte fortfahre … Heinrich Seidel Laertes von Karl Hans Strobl Der österreichische Schriftsteller Karl Hans Strobl (1877-1946) wurde mit seinen fantastischen Spukgeschichten, Novellen und Romanen zum Erneuerer und Begründer einer Gattung, die im deutschen Sprachraum Gustav Meyrink und Hanns Heinz Ewers fortsetzten. Gespenster, Vampire, Teufel, Hexen, Alben und Lemuren bevölkern seine Erzählungen. So leiht blinde Eifersucht dem ermordeten Darsteller des Laertes in der vorliegenden Erzählung aus dem Jahre 1905 noch einmal Gestalt und Maske: Shakespeare, wie ihn nur wenige Theaterfreunde kennen. In der von Hanns Heinz Ewers herausgegebenen Galerie der Fantasten erschien 1921 unter dem Titel ›Lemuria‹ eine Auswahl seiner seltsamen Geschichten. —————————— Der Direktor telefonierte es dem Theatersekretär, der eben alle Greuel der Wolfsschlucht hinnehmen mußte, der Theatersekretär ließ die ungeheure Neuigkeit sofort auf den Regisseur überströmen, der Regisseur leitete sie auf Samiel, Agathe und Kaspar weiter, die Agathe sagte es dem Kollegen vom Schauspiel, der sie im Dunkel der Kulissen bewunderte, und wie ein Wasserfall von der Höhe stürzt, rauschte die Nachricht aus den hellen Höhen; verästelnd, sich verbreiternd, alle Hindernisse überspringend, funkelnd und betäubend bis zu den untersten Dunkelheiten der Theaterarbeiter. Zwischen Versenkung zwei und drei, zwischen ›Abenddämmerung‹ und ›Mondschein‹ auf dem Schnürboden, unter der Brücke, auf der Agathes Geist erscheint, hinter dem borstigen Rücken des Wildschweines und neben der großen Trommel des Wassersturzes flüsterte man davon. Dann quoll die Nachricht in die Stadt hinaus und brachte die Welt, deren Mittelpunkt die Raritäten des Theaters sind, in Aufregung. Der Kellner im Cafe Stadttheater servierte mit der Melange diskret dieses neueste Bühnenereignis und berechnete aus dem überraschten Aufschauen des Gastes den Tageskurs seines Trinkgeldes. Alle Freunde der Kunst schüttelten die Köpfe und die ältesten unter ihnen konnten gar nicht wieder aufhören, als wären sie durch den Schrecken in Pagoden verwandelt. Aus dieser Nachricht rüttelten sich eine Menge von Gesprächsstoffen, von Vermutungen, von Aphorismen, von guten und schlechten Witzen, wie die Bänder, Sträuße, Bonbonnieren, Kaninchen aus dem Zylinder eines Magiers. Vormittags um elf hatte Josef Prinz dem Direktor mitgeteilt, daß er bereit sei, den Hamlet zu spielen, und als er nachmittags um drei nach Hause kam, erwartete ihn seine Wirtin mit festlich verdoppelten Schminkschichten und vor Erregung etwas mißratenen Augenbrauen. Ihre Fußspitzen quälten sich mit Schweben ab und ihre Arme klappten auf und nieder, wie die Flügel einer verlassenen Windmühle: »Ich höre, ich höre … oh, ich bin außer mir. Ist es möglich, Herr Prinz! Oh, Sie wollen uns wieder, ich fasse es nicht … Sie wollen uns wieder Ihren Hamlet schenken. Oh … dieser Monolog! Wie Sie den gesprochen haben …!« Prinz drängte an den Windmühlflügeln vorbei und kämpfte sich der Tür seiner Wohnung zu. Zwischen zwei Drehungen und drei Ausrufen entschlüpfte er der Gefahr, nahm auf der Schwelle seiner Tür die Pose eines Cäsars an, der einen Weltteil verschenkt, und rief: »Sie sollen eine Freikarte haben.« Dann schützte er sich durch einen starken, einbruchsicheren Riegel. Aber um vier mußte er dem Theaterdiener öffnen, der ihm die Rolle und einen Strauß taktloser Fragen und Andeutungen brachte. Um fünf übergab ihm der Briefträger dreiundzwanzig Briefchen in zarten Farben von Lila bis Rosa, mit allen Gerüchen von Moschus bis Heliotrop, mit den glühendsten Ausdrücken innigster Verehrung und heißer Sehnsucht nach dem Wiedersehen des göttlichen Hamlet. Um halb sechs kam mit der Dämmerung sein Freund Gustav Rietschi. Er fand Hamlet in Grau gehüllt, mit zwei roten Blutflecken des sinkenden Abends auf Brust und Schultern und den Degen sinnend vor sich, daß die schmale Klinge im Halbkreis vom Korb zum Fußboden sprang. Der Spiegel wiederholte dies alles noch einmal, fahler, grauer und leblos starrer als die Wirklichkeit. »Ich höre, daß du wieder den Hamlet spielen willst.« »Ich habe mich dazu entschlossen. Der Direktor hat mir stark zugesetzt, um den Shakespeare-Zyklus zu ermöglichen und ich … warum sollte ich nicht wieder einmal den Hamlet spielen. Meine beste Rolle … lächerlich!« »Wenn du selbst das von damals überwunden hast, warum solltest du ihn nicht spielen? Gewiß.« »Ich … ich habe es überwunden.« Prinz ließ die Klinge aufspringen, daß sie leise im Korb klirrte. Die blutigen Flecken auf Brust und Schultern breiteten sich im Grau aus, verschwammen und zitterten ins Dunkel hinüber. Der Freund sah den schmalen, schwarzen Streifen der Klinge von der Hand Hamlets ausgehen, wie einen ins Ungewisse gerichteten Willen. »Wie lange ist das schon her?« »Du bist glücklich, daß du nicht die Jahre zählen mußtest. Fünf Jahre Verbannung von dem Besten und Höchsten meiner Kraft.« »Ich kann es mir denken, daß dir jede Wiederholung auch alles Entsetzen von damals hätte furchtbar zurückbringen müssen.« »Eine Laune, mein Lieber, eine Laune. Oder glaubst du vielleicht, mein Gewissen … Willst du vielleicht sagen, daß mehr als ein unglücklicher Zufall …« »Aber … aber, Prinz! Du scheinst noch immer nicht ganz überwunden zu haben. Deine Aufregung damals hat deine Nerven stark mitgenommen.« »Ja, es war furchtbar, als er so vor mir lag. Blut an seinem Wams und mein Degen voll Blut. Kein Theatertod, von dem man sich erhebt, um sich dem Beifall des Publikums lächelnd zu verbeugen, sondern der wirkliche Tod. Noch ein paar Zuckungen und Krämpfe und dann taub für das Klatschen. Dieses Klatschen war furchtbar. Sie wußten nichts und glaubten an einen Triumph der Schauspielkunst. Fortinbras mußte die Worte finden, die uns anderen erstarrt waren.« Die Wirtin brachte die Lampe, froh, einen Vorwand gefunden zu haben, um zu Prinz vorzudringen. Aber ihre Liebenswürdigkeiten und die erhöhte Farbigkeit ihres Gesichts gewannen keine Beachtung. Als sie schmollend gegangen war, legte Hamlet den Degen auf den Tisch. »Ein Zufall, Freund, ein unglücklicher Zufall. Ein Versehen des Requisiteurs und der Tod stand unter uns. Ich schwöre dir, ein Zufall.« »Es zweifelt niemand daran.« »Seitdem trage ich meine eigenen Waffen, von denen ich weiß, daß sie stumpf und unschädlich sind.« Er bohrte die Spitze des Degens gegen die Handfläche, als wollte er einen Richter von seiner Unschuld überzeugen. »Und doch … wenn sich auf der Bühne die Klingen kreuzen, so zittere ich und meine Fechterkünste sind nicht besser als die irgendeines Statisten.« »Ich habe es bemerkt.« »Hast du es bemerkt? Nicht wahr! Vielleicht hat es auch das Publikum bemerkt. Und überhaupt, weißt du, ich fühle mich seitdem nicht mehr voll. Die Kritik schont mich nur. Aber ich will kein Almosen des Beifalls. Wenn ich den Hamlet wieder gespielt habe, bin ich frei. Ich muß wieder einem Laertes gegenübertreten, ich muß ihn sich erheben und lächeln sehen, weißt du, dann habe ich dieses greuliche Gespenst besiegt.« Er wuchs zu voller Schlankheit empor und fiel aus einer raschen Fechterstellung mit einigen Stößen aus, die einen körperlosen Feind durchbohrten. Dann sank der Degen wie in Verzweiflung am Sieg. »Du warst … nicht wahr, du warst doch damals meist um mich? Als ich im Nervenfieber lag. Was habe ich in meinen Delirien gesprochen? Ich meine, woraus setzten sich meine Fantasien zusammen?« »Bruchstücke aus Hamlet zumeist. Von Ophelia kam viel vor und auch von Laertes. Du nanntest sie mit ihren bürgerlichen Namen und warfst die Beziehungen durcheinander. Ein wenig Wirklichkeit war auch dabei, denn ich denke, das Gerücht von deinem Verhältnis mit der Witte hatte doch recht.« »Unsinn!« »Also nicht? Ich dachte, weil sie doch gleich nachher mit Pönale aus dem Engagement ging. Man sprach davon, und einige wollten wissen, daß es zwischen euch wegen des Laertes-Tiefenbach einen großen Krach gab.« »Unsinn! Unsinn!« »Es scheint dich aber doch beunruhigt zu haben. Du sprachst … freilich waren das Fieberideen.« »Nichts als Fieberideen. Mein Gehirn nahm auf, was es davon fand und mengte alles durcheinander. Ich danke dir … aber du sprichst nicht davon, überhaupt ist es am besten, wenn wir nicht mehr davon sprechen. Komm, Geist meines Vaters, wir wollen gehen und Dämon Alkohol beschwören.« Sie rüsteten sich, gingen an der feierlich bemalten Wirtin vorbei, großartig wie Könige und verschlossen wie Verschwörer und zitierten im Hinterzimmer der ›Blauen Affengattin‹ den Dämon Alkohol. Die Proben zu ›Hamlet‹ wurden diesmal sehr gründlich genommen. Prinz, der mit zusammengebissenen Lippen, bleich und entschlossen auf der Bühne stand, wehrte sich gegen jeden Schlendrian und alles zitterte davor, einen zweiten solchen Ausbruch zu erleben, wie bei der ersten Probe. Er hatte einen nachlässigen Statisten gepackt und mit zwei Ohrfeigen in die Kulissen geworfen, daß er winselnd zu den Füßen des Polonius niederstürzte. Der Statist hatte nun den rauhen Hamlet geklagt, aber die anderen hüteten sich doch, durch die Unarten der Proben seinen Zorn aufzurufen. Fast unheimlich, regungslos wie der steinerne Gast stand Prinz unter den in ihrer Stimmung sehr gedrückten Kollegen, und die leichten Witze schlichen gebunden in den dunkeln Winkeln umher. Vor seinem unerbittlichen Gesicht zerbrachen die immer bereiten Scherze in armselige Worte voller Bescheidenheit und Angst, als ob hier etwas vor ihnen stünde, dessen Bedeutsamkeit weit über allem Schein der Bühne wäre. »Wie einer, der seine eigenen Totenspiele inszeniert«, flüsterte König Claudius dem Gustav Rietschi zu, der den Geist von Hamlets Vater zu mimen hatte. Der junge Darsteller des Laertes, der erst zwei Jahre im Engagement war, wagte die gefährliche Frage nach dem Unfall seines Vorgängers. An Rietschis Schweigsamkeit prallte seine Neugierde ab und er mußte sich mit dem begnügen, was ihm König Claudius nachmittags beim Tarockspiel an unzusammenhängenden Gerüchtfragmenten, barocken Bruchstücken, gewagten Vermutungen und boshaften Anspielungen mitteilen konnte. Was er da hörte, regte ihn auf, und er empfand prickelnd die lüsterne Sensation, an eine Stelle zu treten, die vom Tod verflucht und geweiht war. Prinz kleidete sich für seine Fantasie in den Panzer des Sonderbaren und Geheimnisvollen, und aus dem einen geflüsterten Wort stiegen ihm die köstlichen Wonnen furchtsamen Abscheues auf. Zwischen zwei Runden hatte sich König Claudius weit vorgeneigt, damit es Güldenstern, der Kiebitz, nicht hören könne: »Man spricht, aber du wirst davon den Mund halten, daß das damals nicht Zufall war, sondern … na, also Absicht, weil der Tiefenbach mit der damaligen Ophelia …« Ein kräftig angesagter Pagatultimo brachte König Claudius auf andere Gleise, und der junge Laertes mußte sich selbst in den Zauberwald der Möglichkeiten auf die Suche begeben. Sein Eifer und seine nervöse Anspannung stiegen, je wunderbarer ihm das Erlebnis erschien, mit einem Mörder die Klingen kreuzen zu sollen. Diese Vorstellung lockte ihn an wie ein Abgrund, und er kam sich so interessant vor, wie der Bändiger einer ungeheuren Gefahr, die unfaßbar und deshalb um so größer und schöner ist. Er war darum ganz außer sich und zweifelte an der göttlichen Gerechtigkeit, als er am Tag vor der Aufführung die Anzeichen einer schweren Influenza fühlte. Trotzdem er einen Teil seiner Monatsgage in Kognak anlegte, zwang ihn das Fieber nachmittags ins Bett, und der Arzt nahm ihm alle Aussicht auf das große Erlebnis des morgigen Abends. Der Direktor und der Theatersekretär waren nicht weniger verzweifelt, fluchten auf das schlechte Wetter, das den Spielplan gar nicht beachte und griffen gleichfalls zum Kognak. Beim fünften Glas machte der Sekretär den Vorschlag, den Laertes durch einen minderen Darsteller zu besetzen. Aber der Direktor fuchtelte ihm seine Gegengründe vor das Gesicht: nie … nie … nie würde Prinz eine Besetzung durch eine minderwertige Kraft zugeben. »Er will sich doch gewissermaßen rehabilitieren. Glänzend einführen und alles zeigen, was er kann. Das ist einfach unmöglich.« Beim siebenten Glas endlich erstrahlte der Ausweg in wunderbarer Helle. »Hildemann aus Prag als Aushilfe«, schrie der Sekretär und erhob sich halb von seinem Samtfauteuil, und »Hildemann aus Prag«, donnerte der Direktor. Sie brachten ihren Vorschlag vor Prinz, und er nickte mit der düsteren Miene Hamlets Gewährung. »Hildemann aus Prag ist gut«, sagte Gustav Rietschi und beschwichtigte den Freund, den der Wechsel doch unruhig machte. »Mit Hildemann brauchst du keine Probe, der ist fest und hat schon mit den besten Leuten gespielt, verlaß dich auf ihn.« Hildemann sagte zu und versprach zur rechten Zeit, noch kurz vor der Vorstellung – früher war es ihm einfach unmöglich – einzutreffen. Für Prinz war dieser Tag der Aufführung voll kochender Unruhe. »Ich hätte doch gerne noch mit ihm geprobt«, sagte er abends zum Garderobier, als er den Degen umhängte. Dann schritt er auf der dunklen Bühne auf und ab und sah in das leere Haus, immer wieder zu dem in die Schleier des Geistes gehüllten Freund zurückkehrend. »Ich bin sehr aufgeregt, ich bitte dich, verlaß mich nicht.« »Kein Wunder, wenn du heute Lampenfieber hast …« »Lampenfieber? … Fast möchte ich sagen Angst … Weiß der Teufel … ist Hildemann schon hier?« »Ich weiß es nicht. Aber er ist gewiß schon hier.« Und Prinz wanderte weiter auf der noch mit allem Grauen des Unlebendigen erfüllten Bühne, vom Vorhang zum Rande der Schloßterrasse von Helsingör und wieder zurück, als ob er mit seinen Schritten die Qual der Einsamkeit zerreißen wollte. Die Wachen zogen auf und lehnten die Hellebarden an die gemalten Türme, um sich noch die Stiefel hochzuziehen und die Halskrausen zurechtzumachen, und Hamlet erschauerte vor ihren Schatten, als ob sie aus einer fremden, unbegriffenen Welt über die Bühne kröchen. Aus dem lebhaften, gefüllten Haus, aus dem mit Erwartungen versammelten Publikum kam ihm diesmal keine Zuversicht, und er wagte nicht einer Unruhe nachzufragen, die hinter den Kulissen jemanden zu vermissen schien. Das Zeichen zum Beginn riß ihn empor, und mit einem plötzlichen Erschrecken begann er das nun Unwiderrufliche zu bedauern. Die Frage, warum er sich auf dieses grausame Spiel voll unbehaglicher Erinnerungen, voll blutiger Gestalten eingelassen habe, bestürmte ihn, und er hoffte nun, den Sinn des verzweifelten Hin und Her im Hintergrunde der Bühne im Ausbleiben Hildemanns zu finden. Dann war die Aufführung unmöglich, mußte im letzten Augenblick abgesagt werden, und aus allen Ängsten führte für ihn ein Weg der Rettung. Aber nach seiner ersten Szene erwartete ihn ein Schatten und trat auf ihn zu. »Herr Hildemann?« »Herr Prinz?« Hamlets Vater scherzte über die Verspätung. »Oh, ich bin zuverlässig. Wenn ich zugesagt habe, so komme ich sicher.« »Wollen wir nicht rasch die letzte Szene probieren.« »Das Gefecht? Es ist nicht nötig. Sie fechten gut, und Sie sollen sehen, daß ich ein tüchtiger Gegner bin. Wir wollen es schon machen …« Laertes nahm Abschied von Polonius und Ophelia. Seine Warnung vor Hamlet war trocken und geschäftsmäßig und doch seltsam erregend. Dann verschwand er, und als ihn Hamlet, der von einer schreckhaften Unruhe umhergetrieben wurde, suchen wollte, war er nicht zu finden, als wäre er wirklich jenseits eines unüberbrückbaren Meeres. Zitternd lag seine Seele in der Szene mit dem Geist seines Vaters auf den Knien. Das unerklärliche und Gespenstige des so vertrauten Vorganges wirkte wie Gift auf sein Blut, bis er mit Flimmern in den Augen und Sausen vor den Ohren am Ende fast zusammenbrach. Im Publikum antworteten Schauer der Ahnung auf die in die Grenzen der Kunst gezwungene Angst Hamlets. Man fühlte sich vor der Offenbarung mystischer Ereignisse, vor einer seltsamen Symbiose von Schauspiel und Wirklichkeit und schrieb alle Erregung der unvergleichlichen Künstlerschaft des Darstellers zu. Hamlet erschien an der Rampe und verneigte sich, totenblaß und mit zuckenden Händen vor dem begeisterten Haus. Dann jagte er wieder Hildemann nach, ohne ihn finden zu können. Rietschi hatte die Schleier des Geistes zurückgestreift und sah aus wie ein Beduinenhäuptling. Er wollte dem Freund durch seinen Händedruck von den kühlen Schätzen seiner Ruhe geben. Aber Prinz faßte ihn und riß ihn fast um: »Hörst du, hörst du, das ist gar nicht Hildemann …« »Na, erlaube, wer sollte das denn sein …« »Hildemann ist’s nicht. Ich kenne ihn nach den Bildern …« »Und ich kenne ihn persönlich und sage dir, es ist Hildemann …« »Merkst du denn nicht, Mensch, um Gottes willen, wie sich unter seinem Gesicht ein zweites immer vorschieben will. Es ist, als ob er zwei Schichten übereinander hätte. Ein Gesicht kämpft mit dem anderen und drängt es zurück … aber es wird ausbrechen können …« »Hast du vielleicht aus Angst vor der Influenza zu viel Kognak …« »Um Gottes willen! Sieht denn das niemand? … sieht denn das niemand, daß er mich haßt. In der Szene mit Ophelia … wie er mit den Zähnen knirschte und mit den Augen rollte, als er von Hamlet sprach. Das ist nicht Spiel, das ist echter Haß … jenseits aller Maske … Und wo ist er, wo steckt er? Ich will ihn zur Rede stellen.« »Willem, fall nit von’s Jerüst.« »Mach keine Späße. Ich bitte dich, verlaß mich nicht … bleib in meiner Nähe. Immer in meiner Nähe. Ich will dir etwas Schreckliches sagen … ich … ich fürchte mich.« Rietschi begann zu besorgen, daß die Vorstellung mit einer Absage endigen werde und verstärkte alle suggestiven Kräfte seiner Freundschaft. Zwischen stumpfsinnigem Brüten, einer verlorenen Gleichgültigkeit, einem hastigen Aufzucken und einer unsteten Reizbarkeit ging die Darstellung des Hamlet weiter. Er gab das Schauspiel eines Verurteilten, der sich vor der Vernichtung in sich verkriecht und dann wieder mit den Fäusten gegen die Wände schlägt. Der Monolog über Sein oder Nichtsein schwankte zwischen melancholischer Teilnahmslosigkeit und furchtbaren Ausbrüchen; die letzten Sätze kamen mühsam und undeutlich hervor, während die Zähne die Lippen zerbissen, daß nach den letzten Worten zwei dünne Blutstrahlen über das nackte Kinn rieselten. So grausam hatte noch nie jemand gelacht, so klirrend und spitz war noch nie der Hohn der Bühne gewesen, eine ganze Sammlung von fein ausgeklügelten Folterinstrumenten, und das Publikum jubelte und konnte sich vor Entzücken nicht fassen. Es fühlte sich mitgerissen, selbst daran beteiligt und empfand die Qualen dieses Gehirns wollüstig an sich, wie das Knirschen der Säge in den Operationssälen angenehm durch die eigenen Knochen geht. Der Theaterarzt kam im Zwischenakt auf die Bühne und fing Hamlet in einer Ecke ein: »Sie reiben sich auf. Was treiben Sie heute?« Aber Prinz lachte, stieß den Arzt grob von sich und rannte, von seinem verzweifelten Freund begleitet, fort, um Hildemann zu suchen. Seine Angst wirkte auf die übrigen Darsteller, und die Vorstellung begann sich über den Schein der Bühne zur Ahnung gräßlicher Bedeutsamkeit zu erheben. In alle Tiefen durchwühlt, zitterte die Dichtung, und die Schauspieler sahen sich in den Zwischenakten an, als ob sie nun den eigentlichen Sinn aller dieser Vorgänge erfahren müßten. »Suchen Sie, suchen Sie«, schrie Hamlet dem Inspizienten, dem Regisseur, den Garderobieren zu, und alle suchten den verschwundenen Laertes. Als die Szene seiner Rückkehr im vierten Akt kam, war er plötzlich da, betrat die Bühne und fügte sich kalt und steinern in das Spiel, als ob er nicht bemerkte, daß die übrigen sich fürchteten, nahe bei ihm zu stehen. Er besprach mit König Claudius den Mord Hamlets und blieb ruhig und sicher, nur wie von einer heimlichen Freude belebt, als ob sich etwas lang Ersehntes nun endlich unabwendbar erfüllen müßte. Hamlet hörte hinter der Szene, schwer auf den Freund gestützt, alle Heimlichkeiten des Anschlages gespannt an, und es schien, daß er sie wie neue und unerwartete Nachrichten in sich überwinden müsse. Seine Unruhe wurde von einer großen Schwere erdrückt und erstarrte von einem trägen, drohenden Koloß, der aus kleinen, grausamen Augen blinzelt. Aber die Handlung strömte unaufhaltsam weiter und riß über alle Verzögerungen hinweg, die Hamlet im Zwischenakt zu erfinden suchte. Man verlängerte die Pause, und er genoß sie wie eine Gnadenfrist, stumm mit dem Freund zwischen den Gräbern auf und ab wandernd, die man für die nächste Szene aufwarf. Auf dem Friedhof, am Grabe der Ophelia stießen Hamlet und Laertes aufeinander. Es war ein Anprall, der das Publikum erschütterte, und grauenvoll ernst entspann sich das Ringen in dem offenen Grabe, ein Kampf, dem Hamlet mit leeren Augen und wankenden Knien entkam. Den Beifall des Hauses drückte die Angst, und nur Laertes erschien auf der Bühne, mit langen, seltsam schlenkernden Armen und einem Lächeln, das so durchaus unpassend und wirrend schien, während Hamlet hinter der Szene den Freund umklammert hielt. »Das ist der Tod« – er keuchte – »das ist der Tod.« »Unsinn; halt aus, dann ist’s zu Ende.« »Es ist zu Ende … ja, denn das ist der Tod. Er hatte mich gefaßt und ließ mich noch einmal los. Hast du nicht gesehen, wie sein anderes Gesicht auftauchte, und als er mich preßte, spürte ich … ich spürte … er atmet nicht. Er atmet nicht, Mensch!« »Du mußt nachher gleich ins Bett. Du hast Fieber. Es hat dich zu sehr angegriffen. Die Erinnerung ist noch zu stark …« »Sie ist wieder lebendig geworden, sie bringt mich um. Dieser Laertes wird mich töten. Ich will nicht mehr hinaus …« Der Direktor und der Regisseur bekämpften seinen Widerstand, zerbrachen ihn und jagten Hamlet hinaus. »Herr Prinz!« rief der Inspizient. »Gleich.« Er packte den Freund bei der Schulter und riß sein Gesicht zu sich. »Ich muß dir’s sagen, bevor ich gehe. Einer muß es wissen. Du! Das damals war kein Zufall. Es war Absicht … Mord. Laertes ist ermordet worden, ich habe ihn umgebracht.« »Herr Prinz!!« »Ich komme.« Und Hamlet trat zu Horatio in die Halle des Kampfspieles. Laertes stand in der Nähe, irgendwo zwischen den Kulissen auf sein Stichwort wartend. Man sah ihn nicht, aber man wußte, daß er hier war und daß ihn nichts hindern würde, die Bühne zu betreten. Von der Angst des Freundes und seinem Geständnis verwirrt, wagte Rietschi nicht, ihn zu suchen und sah nur, wie sich die Vorgänge der Bühne hinschleppten, wie die Worte Hamlets zögernd und um kleine Aufenthalte bemüht, folgten. König Claudius setzte seine ausdrucksvollen, aufgeregten Gebärden fast in das Gesicht des Theaterarztes, dann riß auch ihn der Wirbel der Handlung hinaus, wo eine seltsame Spannung zitterte und auf ihre Erlösung wartete. Hinter Rietschi machten zwei Feuerwehrleute halblaute Bemerkungen: »Der Hamlet, der spielt heut, das is a Pracht.« »Jo, der spüllt … wie auf Tod und Leben.« Plötzlich stand Laertes unter den Personen der Szene. Rietschi sah, wie sich alles ihm zuwandte, zugleich angezogen und abgestoßen und wie sie sich dann alle unwillkürlich um Hamlet als um einen entgegengesetzten Pol zu sammeln suchten. Das Gefüge des Dramas schwankte, wie ein vom Sturm berannter Turm, ohne Gefahr des Sturzes, aber genügend, um das Zitternd des Baues zu fühlen. Laertes stand unter den Höflingen, schlank, geschmeidig, lächelnd, und es schien Rietschi nun selbst, als ob dies nicht Hildemann sein könne. Er spielte verheißungsvoll mit der Klinge und zwang ihre Geschmeidigkeit zu tollen Linien, die einen Augenblick wie Zeichen in der Luft standen. Der Kampf begann. Die Klingen fanden und banden sich, zischten wie Schlangen und begegneten sich in wilden Stößen und Paraden. Sie waren rasch und heimtückisch, lauernd und brutal, belebte Wesen, die am Rande eines Abgrundes miteinander ringen. Der Kampf zog sich in die Länge, weit über die Dauer eines bloßen Spieles hinaus, und während der Regisseur verzweifelt auf Fortinbras einsprach, sah Rietschi entsetzt, daß sich Hamlet im Ernst zu wehren hatte und daß ihn Laertes mit einem tollen Feuer von Stößen bedrängte. Um diesen Kampf bildeten sich Gruppen von Zuschauern, die der unbesonnenen Mimik wirklicher Angst folgten, und selbst die Massen der Statisten belebten sich. Da sah Rietschi, daß Laertes mit einem Doppelstoß Hamlets Brust berührte und daß er die Klinge lächelnd und langsam zurückzog. Hamlet stürzte, bäumte sich auf, griff nach dem Hals und fiel zurück. Er langte mit krampfigen Fingern nach dem Kleide der Königin und wälzte sich röchelnd zur Seite. »Vorhang, Vorhang!« schrie der Regisseur, der Theaterarzt rannte Rietschi fast um und drängte sich zu dem Gefallenen. Während der Regisseur vor dem Vorhang in das unruhige Murmeln des Publikums von einem kleinen, bedauerlichen Unfall sprach und um geordnetes Verlassen des Hauses bat, untersuchte der Arzt den Körper des Verunglückten. Hamlet war tot. »Laertes, Laertes … wo ist Hildemann?« schrie der Direktor, und der Polizeikommissär rannte davon, um ihn zu suchen. Aber Laertes war verschwunden. Ein Postbote durchbrach den Kreis der kreischenden Frauen und verstummten Männer mit einem Telegramm an den Direktor. Es enthielt eine sonderbare Nachricht. Der Zug, mit dem Hildemann zur Abendvorstellung eintreffen wollte, war auf halbem Wege durch einen Schienenbruch verunglückt. Es gab zwei Tote und einige Schwerverletzte. Und sobald in der nächsten Bahnstation die Identität der Verunglückten festgestellt worden war, hatte sich der Stationsvorstand beeilt, die Direktion davon zu verständigen, daß man das Ausbleiben Hildemanns durch seinen Tod entschuldigen müsse. Vier Geister in ›Hamlet‹ von Fritz Leiber Fritz Leiber wurde 1910 als Sohn des gleichnamigen Stummfilmstars und Shakespeare-Darstellers geboren. Er studierte an der Universität in Chicago, promovierte in Philologie und begann Erzählungen für Kinder zu schreiben. Während der Zeit der großen Depression schloß sich Leiber der herumziehenden Schauspieltruppe seines Vaters an – er kennt also das Milieu bestens, das er in seiner ›Hamlet‹-Paraphrase beschreibt –, und spielte in einigen Hollywood-Filmen kleine und kleinste Nebenrollen. Dann gab er die Schauspielerei auf und versuchte es mit Schreiben. 1939 begann er in dem amerikanischen Magazin ›Weird Tales‹ fantastische Geschichten zu veröffentlichen. —————————— Schauspieler sind wahrscheinlich deshalb so abergläubisch, weil der Zufall eine gewichtige Rolle beim Erfolg einer Theaterproduktion spielt – und weil wir in unserer Lebensweise und Denkart ein wenig näher mit den Zigeunern verwandt sind als andere Leute. So bringt es zum Beispiel Unglück, auf der Bühne Pfauenfedern zu tragen, bei den Proben die letzte Zeile eines Stückes zu deklamieren und in der Garderobe zu pfeifen (wer der Tür am nächsten steht, wird gefeuert) oder gar die Nationalhymne im Zug zu singen (eine kanadische Theatertruppe ist auf diese Weise bankrott gegangen). Shakespeare-Darsteller bilden von dieser Regel keine Ausnahme. Sie haben sich lediglich den einen oder anderen Extra-Aberglauben zu eigen gemacht, etwa jenen, demzufolge es streng untersagt ist, die Verse der drei Hexen oder irgend etwas anderes aus Macbeth zu rezitieren, es sei denn bei Aufführungen, Proben oder anderen legitimen Anlässen. In unserer Theatertruppe, der ›Governor’s Company‹ gilt die Regel, daß der Geist in Hamlet seinen grünen Schleier aus Nesseltuch erst dann über sein behelmtes Gesicht fallen lassen darf, wenn sein Auftritt unmittelbar bevorsteht. Hamlets toter Vater darf also nicht verschleiert in den dunklen Kulissen stehen. Dieser letzte Aberglaube erinnert an einen Vorfall, der sich vor nicht allzu langer Zeit ereignete – eine echte Geistergeschichte. Manchmal denke ich, es ist die größte Geistergeschichte der Welt – zwar nicht in der geschwätzigen und armseligen Art, wie ich sie erzähle, beileibe nicht, sondern vor allem wegen ihrer wunderbaren Atmosphäre und Ausstrahlung. Es ist nicht nur eine wahre Erzählung aus dem Bereich des Übersinnlichen, sondern mehr noch eine Geschichte über Geister und Menschen: dies vor allem. Der gespenstische Teil der Geschichte zeigt sich gleich in höchst trauriger Weise: Drei unserer Schauspielerinnen (also praktisch alle Damen einer Shakespeare-Truppe) pflegten sich in der Stunde, bevor der Vorhang aufgeht, und manchmal auch während der Aufführungen, wenn sie allzu lang auf ihren Auftritt warten mußten, mit Sitzungen am Ouija-Brett[1 - Das Ouija-board, eine sehr umstrittene parapsychologische Versuchsmethode, wird in spiritistischen Sitzungen zur Anrufung und Befragung der Geister verwendet: Ein Glas, von der Hand der Sitzungsteilnehmer leicht berührt, rutscht auf einem Brett, das mit den Buchstaben des Alphabets versehen ist, hin und her und bildet durch die Abfolge der Buchstaben Worte, die man als Botschaften aus dem Jenseits lesen kann. (Anm. d. Übers.)] zu beschäftigen. Sie gingen so sehr in dieser Beschäftigung auf und plapperten so aufgeregt durcheinander angesichts der Enthüllungen, welche das Brett ihnen vorbuchstabierte – drei – oder viermal verpaßten sie deswegen sogar ihren Auftritt –, daß der Prinzipal ihnen sicherlich verboten hätte, das Brett ins Theater mitzubringen, wenn er nicht ein selten toleranter Prinzipal gewesen wäre. Ich bin sicher, daß er mehr als einmal versucht war, das Verbot trotzdem auszusprechen, und er hätte es auch getan, wenn nicht Props ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, daß sich unsere drei Damen ohne Publikum in der Stille eines Hotelzimmers vermutlich gar nichts aus den Ouija-Sitzungen machen würden. Props – das ist unser Requisitenmeister Billy Simpson – war fasziniert von der Besessenheit unserer Damen, so wie er von jeder Neuigkeit fasziniert ist, und er wäre durchaus imstande gewesen, unser Shakespeare-Tabu zu durchbrechen und die drei Hexen auf sie herabzubeschwören, wenn Props auch nur das geringste Gespür für die Sprache Shakespeares gehabt hätte. In der Tat ist Props der einzige in unserer Truppe, der niemals auch nur die kleinste Rolle übernimmt. Er würde nicht einmal einen stummen Speer auf die Bühne tragen. Aber Props hat andere Talente, die diesen Mangel spielend ausgleichen – er kann in zwei Stunden eine Büste von Pompejus aus Pappmache anfertigen oder einen kaputten Reißverschluß reparieren. Damit sind seine Talente noch nicht einmal erschöpft. Was mich selbst betrifft, so war ich sehr verdrossen wegen des lächerlichen Ouija-Brettes, da es fast die ganze Freizeit von Monica Singleton zu beanspruchen und ihren stets regen Hunger nach Erlebnissen vollauf zu befriedigen schien. Ich versuchte damals gerade eine Romanze mit ihr anzufangen – eine lange Saison auf Tournee wirkt mit der Zeit tödlich langweilig und ohne einigen Herzenskitzel recht frustrierend – und für eine Weile sah es so aus, als machte ich Fortschritte. Aber als dann das Ouija aufkam, fühlte ich mich wie ein lächerlicher Güldenstern, der sich nach einer unerreichbaren und unsichtbaren Ophelia verzehrt. Und genau das waren die Rollen, die ich und sie in Hamlet spielten. Ich verfluchte das idiotische Brett mit seinen kindischen Eckfiguren, grinsenden Sonnen und schmunzelnden Monden und windzerzausten Geistern, aber dann entfremdete ich mich Monica noch mehr, als ich sie fragte, warum es nicht Nein-Nein-Brett anstatt Ja-Ja-Brett hieß? Hieß es so, drang ich weiter in sie, weil alle Spiritisten stets das Positive betonen und sich wie ein Pack schwanzwedelnder Ja-Sager benehmen? – Ja, wir sind hier; ja, wir sind Ihr Onkel Harry; ja, wir sind glücklich in diesem Flugzeug; ja, wir haben einen Doktor unter uns, der den Schmerz in Ihrer Brust diagnostizieren wird, und so weiter. Danach sprach Monica eine Woche lang nicht mehr mit mir. Ich wäre sogar noch deprimierter gewesen, wenn nicht Props mir erklärt hätte, daß sich kein Mann aus Fleisch und Blut mit den Geistern in der Einbildung eines Mädchens messen könne, da eingebildete Geister alle Vorzüge und Vollkommenheiten besäßen, von denen ein Mädchen träumt. Aber alle Mädchen würden eines Tages der Geister müde, vielleicht nicht in ihrer Fantasie, aber ganz gewiß um ihres Körpers willen. Dies geschah, der Gottheit sei Dank, in meinem und Monicas Fall recht bald, jedoch erst in dem Augenblick, da wir eine schreckliche, haarsträubende Erfahrung machten – eine Nacht des Entsetzens vor der Nacht der Liebe. Bis dahin florierte das Ouija. Der Prinzipal und die restlichen Mitglieder unserer Truppe mußten auf die eine oder die andere Art und Weise damit fertig werden, bis dann jener dreitägige Aufenthalt in Wolverton kam, wo das gleichermaßen traurig und unheimlich anmutende alte Theater unsere drei Ouija-Damen in Versuchung führte, das Brett zu befragen, wer nun eigentlich der Geist wäre, der den gespenstischen Ort heimsuchte: die Planchette buchstabierte den Namen S.H.A.K.E.S.P.E.A.R.E … Aber ich greife den Ereignissen voraus. Ich habe außer Monica, Props und dem Prinzipal noch nicht einmal unsere Truppe vorgestellt – und ich habe auch noch nicht den letzten der drei charakterisiert. Wir nennen Gilbert Usher aus reiner Achtung und Zuneigung den Prinzipal. Er ist einer aus der letzten Garde der alten Schauspieler-Manager. Er hat zwar nicht den Namen eines Gielgud oder Olivier oder Evans oder Richardson, aber er hat dennoch die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, Shakespeare am Leben zu erhalten, indem er – wie es Benson einst tat – Shakespeares magisches, a-religiöses Evangelium in den entferntesten Regionen der Welt, in den Dominions und in den Vereinigten Staaten verbreitete. Unsere anderen Schauspieler haben sich noch keinen großen Namen gemacht – ich weigere mich, Ihnen meinen eigenen Namen zu verraten! –, aber mit Ausnahme meiner unbedeutenden Person sind sie alle gute Tournee-Schauspieler geworden oder ausgeschieden, falls es ihnen nicht gelang, dies in der ersten Saison zu schaffen. Strapaziös lange Spielzeiten, viel unbequemes Reisen und kleine Gagen sind unser Schicksal. Besagte Spielzeit war bis zu jenem vertrauten Punkt gediehen, an dem sich die Stücke glatt herunterspielen und jeder ein bißchen müder ist, als er es sich selbst eingesteht. Dann setzt meist Ruhelosigkeit ein. Robert Dennis, unser jüngster Schauspieler, schrieb morgens im Hotel an einem Roman über das Theaterleben, wie er sagte. Der arme alte Guthrie Boyd hatte wieder zu trinken begonnen, und er trank nach einer Abstinenz von zwei Monaten, die jeden erstaunt hatte, wieder viel zuviel. Francis Farley Scott, unser Star, ließ es sich nicht nehmen, uns immer wieder darauf hinzuweisen, daß er gerade im Begriff stehe, für das nächste Jahr auf eigene Faust ein Shakespeare-Repertoirensemble zu organisieren. Er fing konspirative Gespräche mit Gertrude Grainger an, unserem weiblichen Star, und zog dauernd einen nach dem anderen von uns beiseite, um uns hypothetische Angebote zu machen, wobei er es stets vermied, die genaue Höhe der Gagen zu nennen. F.F. ist genauso alt wie der Prinzipal, der natürlich unser wirklicher Star ist, und er hat außer dem Talent der Selbstverblendung und einer irgendwie grandiosen, eindrucksvollen Art der Darstellung kaum andere Talente. Er sieht stattlich wie ein Operntenor aus, ist ganz kahl und führt deshalb immer ein Sortiment von dreißig Toupets in allen Farben von rot bis graumeliert mit sich, die er mit schamloser Ungezwungenheit wechselt – er trägt sie nicht nur auf der Bühne, sondern auch außerhalb des Theaters. Es macht ihm nichts aus, daß die Truppe alles über seine künstliche bunte Haarpracht weiß, denn wir sind Teil seiner Welt der Illusionen, und er ist fest davon überzeugt, daß die theaterbegeisterten Damen des Ortes, denen er den Hof macht, nichts davon bemerken oder auf jeden Fall die Täuschung achten. Jedes Jahr plant F.F. eine eigene Truppe zu gründen – es ist ein fester Brauch mitten in jeder Spielzeit –, und jedes Jahr wird nichts daraus, denn er ist ebenso faul und unpraktisch wie eingebildet. Doch F.F. glaubt fest daran, daß er alle Shakespeare-Rollen oder gar alle auf einmal spielen kann, wenn es darauf ankommt; die einzige F.F. Scott-Truppe, die ihn wirklich befriedigen könnte, wäre wahrscheinlich eine, in der er als einziger Schauspieler aufträte – ein einziger und einzigartiger Shakespeare-Monolog. Tatsächlich ist F.F. nur in einer Hinsicht nicht faul, und zwar in seinem Eifer, in jedem Stück soviel Rollen wie möglich zu übernehmen. F.F.’s jährliche Intrigen kümmern den Prinzipal keinen Deut – er wartet vielmehr jedesmal nachsichtig auf F.F. um ihn dann mit eindringlichem Blick zu fixieren und mit rauher Stimme zu fragen, ob er sich nicht seinerseits der Scott-Truppe anschließen dürfe. Und ich hoffte natürlich, daß jetzt auch Monica Singleton aufhören würde, die exquisiteste Naive zu spielen, die jemals Shakespeares Weg gekreuzt hatte. (Ich vermute, daß sie ihre Rollen sogar im Schlaf noch probte, obwohl ich meilenweit davon entfernt war, dies genau wissen zu können.) Es war endlich an der Zeit, daß sie Notiz von mir nahm und nicht nur Vorteile aus meinen devoten Aufmerksamkeiten zog. Aber dann kaufte die alte Sybil Jameson das Ouija-Brett, und Gertrude Grainger zwang eine unwillige Monica, ihre Fingerspitzen mit denen der anderen ›nur so zum Spaß‹ auf die Planchette zu legen. Am nächsten Tag ließ Gertrude einigen von uns mit geheimnistuerischer Stimme wissen, daß Monica ein ganz erstaunliches, freilich noch unterentwickeltes mediales Talent habe. Ihr selbst sei so etwas noch nicht begegnet. Von da an war das Mädchen süchtig auf Ouija. Arme Monica! Ich befürchtete, sie würde irgendwann aus ihrer selbstauferlegten Shakespeare-Disziplin ausbrechen, und es war schlimm genug, daß es dann wegen des Brettes geschah und nicht meinetwegen. Aus diesem Grunde dem fatalen Brett zu grollen, war eigentlich vollkommen überflüssig, denn Monica hätte auch mit Robert Dennis auf und davon gehen können, was unendlich viel schlimmer gewesen wäre, obwohl wir nie ganz sicher waren, was sein Geschlecht betraf. In dieser Hinsicht war ich auch Gertrudes nicht ganz sicher und erlitt Agonien unsäglicher Eifersucht, wenn sie meine Angebetete in ihren Bannkreis zog. Allein die Vorstellung, wie sich Gertrudes verwegenes Knie unter dem Ouija-Brett gegen Monicas Knie preßte, machte mich rasend. Glücklicherweise agierten Sybils knochige Knie als Anstandsdamen dazwischen. F.F. der natürlich auch eifersüchtig war, weil dieses neue Spielzeug Besitz von Gertrudes Geist ergriffen hatte und ihrer beider jährliche Intrigen empfindlich störte, deutete ziemlich giftig an, daß Monica eines jener habgierigen Mädchen sein müsse, die Anspruch auf alles erheben, was sie in die Finger kriegen, ob es nun ein Mann oder eine Planchette sei. Aber Props sagte mir, er würde alles darauf wetten, daß Gertrude und Sybil die ersten zufälligen Fingerbewegungen Monicas aufmerksam registriert hätten, um das unerfahrene Mädchen, geschickten Tänzern gleich, nach ihrem eigenen Willen zu führen, während Monica glauben sollte, sie sei es, die Gertrude und Sybil führe. Manchmal meinte ich, daß F.F. recht hatte, manchmal stimmte ich Props zu. Bisweilen dachte ich sogar, Monica besitze tatsächlich eine übernatürliche Gabe, obwohl ich gewöhnlich nicht an derartige Dinge glaube, und dieser Gedanke erschreckte mich zutiefst, denn eine solche Person wäre jederzeit imstande, einen lebenden Mann um eines Geistes willen zu verlassen. Sie war ein so sensitives, feinfühliges Mädchen, und doch so feurig! Aber immer, wenn sie die Planchette berührte, trat in ihre Augen solch ein leerer Blick, als wäre ihr Geist tief in ihre Fingerspitzen gefahren oder bis zu den Enden von Zeit und Raum entwichen. Einmal lasen die drei mein Charakterbild aus dem Brett heraus, das mich durch seine Genauigkeit bestürzte. Das gleiche geschah mit einigen anderen Leuten aus unserer Truppe. Natürlich könnten Schauspieler, ziemlich gute Charakteranalytiker sein, sagte Props, wenn sie nicht so verdammte Egozentriker wären. Nach Charakteranalysen und Zukunftsvorhersagen zeigten unsere drei Hexenschwestern plötzlich Interesse für die Reinkarnation, und sogleich begannen sie, diesbezüglich das Brett zu befragen, um uns später zu erzählen, was für berühmte oder völlig unbedeutende Menschen wir in den vergangenen Leben gewesen seien. Ich war nicht überrascht, aus ihrem Munde zu hören, daß Gertrude Grainger die Königin Boadicea gewesen sei. In Sybil Jameson, vernahm ich, hätten wir eine Reinkarnation der Kassandra vor uns, während Monica in ihrem früheren Leben einmal die wahnsinnige Königin Johanna von Kastilien und später eine hysterische Patientin Janets an der Salpetriere gewesen sei – Dinge, die mich mehr irritierten und erschreckten, als sie es hätten tun dürfen. Props habe als ägyptischer Silberschmied unter Hatshepsud und später als Diener bei Samuel Pepys gelebt – er hörte sich dies entzückt kichernd an. Guthrie Boyd bekam den Imperator Claudius zugewiesen, während Robert Dennis sich mit Caligula zufrieden geben mußte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde sei ich sowohl John Wilkes Booth als auch Lambert Simnel gewesen, was mich in höchstem Maße verunsicherte, denn ich sah in der Ermordung eines amerikanischen Präsidenten keine Romanze, sondern allenfalls eine Neurose. Die Tatsache, daß sich beide – Booth und Simnel – als Schauspieler versucht hatten, als Schmierenschauspieler überdies, bestürzte mich am meisten. Erst sehr viel später bekannte mir Monica, daß das Brett wahrscheinlich diese Entscheidungen getroffen habe, weil ich einen solch ›tragischen, gefährlichen, niedergeschlagenen Blick‹ gezeigt hätte – eine Enthüllung, die mich überraschte und die mir zugleich schmeichelte. Auch Francis Farley Scott war geschmeichelt, als er hörte, daß er einmal Heinrich VIII. gewesen sei. Er stellte sich alle Ehefrauen Heinrichs vor und trug nach dieser Abendvorstellung sein goldblondes Toupet, bis Gertrude, Sybil und Monica uns wissen ließen, daß der Prinzipal eine Reinkarnation von keinem geringeren als William Shakespeare höchstpersönlich sei. Das machte F.F. so eifersüchtig, daß er sich sofort am Requisitentisch niederließ, einen Federkiel ergriff und uns in einem gelungenen Impromptu vorspielte, wie Shakespeare seinen Hamlet-Monolog ›Sein oder Nichtsein‹ dichtete. Es war eine sehr wirkungsvolle Vorstellung, wenngleich von beträchtlich mehr Stirngefurche, Augengerolle und Stimmaufwand begleitet, als Willy S. ursprünglich wohl selbst aufgewendet haben mochte. Als F.F. aufhörte, applaudierte sogar der Prinzipal, der neben Props unbeobachtet im Schatten gestanden und die Szene beobachtet hatte. Der Prinzipal wies die Idee, eine Reinkarnation von Shakespeare zu sein, spöttisch entrüstet von sich. Er sagte, daß Willy S. sollte er jemals eine Reinkarnation erleben, bei einem weltberühmten Dramatiker am besten aufgehoben sei, und geradezu ideal wäre es, wenn dieser heimlich in seiner Freizeit zugleich für seinen Nachruhm als der Welt größter Wissenschaftler und Philosoph sorgte, Hinweise auf seine Identität einzig und allein in Form mathematischer Gleichungen hinterlassend – in der Art etwa, wie man später hinter Shakespeare Bacon oder die Baconianer vermutete. Doch meine ich, daß Gilbert Usher, wenn man schon jemanden für eine Reinkarnation Shakespeares suchte, gewiß keine schlechte Wahl gewesen wäre. Denn der Prinzipal ist ebenso vornehm und selbstlos, wie Shakespeare selbst es gewesen sein mußte – ansonsten wäre wohl niemals diese lächerliche Bacon-Oxford-Marlowe-Elizabeth – ›Wer schrieb nun eigentlich Shakespeares Dramen?‹ – Kontroverse entstanden. Der Prinzipal denkt in milder Melancholie an Shakespeare, obwohl er umgänglicher und trotz seiner Jahre athletischer ist, als man sich Shakespeare gemeinhin vorstellt. Und er ist über die Maßen freigebig, besonders gegenüber alten Schauspielern, die bessere Tage gesehen haben. Was letzteres betraf, so war ihm in dieser Spielzeit der Mißgriff passiert, Guthrie Boyd für einige der schwierigeren Rollen zu engagieren, einschließlich einiger Rollen, die gewöhnlich F.F. spielte: Brutus, Othello und daneben Duncan in Macbeth, Kent in King Lear und den Geist in Hamlet. Guthrie war ein lärmender, schwer trinkender Bär von einem Schauspieler, der sich in Australien als Shakespeare-Darsteller einen gewissen Ruf erworben und mit Erfolg einiges von seiner Reputation in den Westen herübergeschmuggelt hatte. Es fiel ihm nicht besonders schwer, sein Brüllen zu mäßigen, seine Gefühle waren immer einfach und aufrichtig, wenn auch etwas explosiv gewesen – und schließlich ging er sogar für einige Jahre nach Hollywood. Aber da man ihm meist nur stupide Filmrollen überließ, trank er immer mehr. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden. Seine Kinder sagten sich von ihm los. Er heiratete ein Starlet, aber auch dieses trennte sich bald von ihm. Dann verschwand er für einige Zeit. Nach einigen Jahren traf ihn zufällig unser Prinzipal. Guthrie tingelte damals gerade durch Kanada, nur noch ein Schatten seines früheren Selbst, aber es war noch immer genug Substanz in diesem Schatten verborgen – und Boyd trank nicht. Der Prinzipal beschloß also, ihm eine Chance bei sich zu geben, obwohl Harry Grossman, der Manager, strikt dagegen war. Während der Proben und der ersten Aufführungsmonate war es wunderbar zu beobachten, wie der alte Guthrie Boyd zu sich selbst fand, so als wäre Shakespeare eine belebende Medizin für ihn. Es mag töricht oder sentimental klingen, so etwas zu sagen, aber Sie kennen ja meine Meinung, Shakespeare sei für alle und alles gut. Ich weiß von keinem Schauspieler, mich selbst ausgenommen, dessen Charakter nicht durch Shakespeare gestärkt, dessen Weltbild durch ihn nicht erweitert worden wäre. Ich habe gehört, daß Gilbert Usher, bevor er Shakespeare-Darsteller wurde, ein sehr ruheloser, ehrgeiziger und kritischer Mann gewesen sei, nicht ohne Bosheit, aber Shakespeare scheint ihn milde gestimmt zu haben, wie er auch Props’ Philosophie geglättet und ihm ein Lebensziel gewiesen hat. In der Tat denke ich manchmal, daß alles, was das britische Volk an zivilisierter Gelassenheit besitzt – dieser kleinen, aber durchaus realen Fähigkeit, über sich selbst zu lachen – hauptsächlich auf sein großes Glück zurückzuführen ist, daß William in einer seiner Schauspieltruppen geboren worden ist. Aber ich wollte gerade berichten, wie Guthrie Boyd entgegen unser aller Erwartungen in diesen ersten Wochen erstaunlich gut spielte, so daß wir kaum noch den Atem anzuhalten oder über ihn die Nase zu rümpfen brauchten. Sein Brutus war künstlerisch ausgewogen, sein Kent vortrefflich gelungen – diese Rolle lag ihm besonders –, und regelmäßig erhielt er begeisterte Kritiken für seinen Geist in Hamlet. Ich glaube, daß in all den Jahren des lebenden Todes, die er als Alkoholiker durchlitten hatte, in ihm ein tief empfundenes Verständnis für Einsamkeit und Verzweiflung erwacht war, das er, wahrscheinlich unbewußt, bei der Interpretation dieser kleinen Rolle mit großer Wirkung einzusetzen wußte. Guthrie Boyd in der Rolle des Geistes war wirklich eine höchst eindrucksvolle Gestalt, sogar vom Äußeren her. Das Kostüm ist denkbar einfach: ein großer, die ganze Figur einhüllender Umhang, der bis zum Boden reicht, dann ein mächtiger, schwerfälliger Helm mit einer winzigen, batteriebetriebenen Lampe in seiner Spitze, um einen schwachen grünlichen Schimmer auf die Gesichtszüge des Geistes zu werfen, und über dem Helm einen grünen Schleier aus Nesseltuch, der im Parkett wie Nebel aussieht. Unter dem Umhang trug er eine Garnitur alter Bühnenwaffen, aber das ist nicht wichtig, denn im Notfall kam er auch ohne sie aus. Bis zu seinem Auftritt schaltete der Geist sein Helmlicht nicht an, aus Furcht, von irgendeiner Ecke im Zuschauerraum aus gesehen zu werden; heute läßt er wegen jenes Aberglaubens, von dem ich bereits gesprochen habe, den Nesseltuchschleier erst in letzter Sekunde fallen. Aber als Guthrie Boyd die Rolle spielte, existierte dieses Verbot noch nicht, und ich erinnere mich lebhaft daran, wie er in den Kulissen stand und auf seinen Auftritt wartete: eine große, bärenstarke, rätselhafte Gestalt, so wenig übernatürlich wie ein buschiges, sieben Fuß hohes Immergrün, das von einer grauen Persenning bedeckt war. Aber wenn Guthrie das winzige Licht einschaltete, leise und geschmeidig auf die Bühne trat und seine hohle, leicht gequält klingende Stimme erhob, überfiel alle ein schreckliches, grauenerregendes Schaudern, das sogar uns hinter der Bühne in seinen Bann schlug, als hörten wir Worte, die in Wirklichkeit über die schwarzen, unendlichen Golfströme aus dem Jenseits zu uns herübertönten. Auf jeden Fall war Guthrie ein großer Geist und vielleicht sogar ein bißchen besser als in seinen anderen Rollen – zumindest in diesen ersten Wochen, als er noch nicht trank. Er schien sehr glücklich über sein gelungenes Comeback zu sein, obwohl uns aus seinen Augen bisweilen irgend etwas Schweres und Totes anstarrte: Der alte Alkoholiker fragte sich offenbar, was all dieser ermüdende, nüchterne Unsinn eigentlich zu bedeuten habe. Er freute sich ganz besonders auf unseren dreitägigen Aufenthalt in Wolverton, der damals noch zwei Monate entfernt in der Zukunft lag. Der Grund war, daß seine beiden Kinder, die inzwischen natürlich längst verheiratet waren, in Wolverton lebten. Ich bin sicher, daß er großen Wert darauf legte, ihnen in eigener Person seine Rehabilitation vor Augen zu führen, in der Hoffnung, auf diese Weise eine Versöhnung herbeizuführen. Aber dann kam seine erste Vorstellung als Othello. (Der Prinzipal, unser eigentlicher Star, spielte immer den Jago, eine genauso große, aber eben nicht die Titelrolle.) Guthrie war natürlich schon zu alt für den Othello, und außerdem stand es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten – die Zeit des Trinkens hatte ihren Tribut gefordert, die Probenarbeit und die ersten allabendlichen Auftritte in acht verschiedenen Stücken nach Jahren fern vom Theater hatten ihn erschöpft. Aber irgendwie brodelte der alte Vulkan immer noch in ihm, und er gab sich alle Mühe, eine ausgezeichnete Aufführung zustande kommen zu lassen. Am nächsten Morgen schwärmten die Zeitungen von ihm, und eine Besprechung stellte ihn sogar über den Prinzipal. Das war es, unglücklicherweise. Die Glorie seines Triumphes war zuviel für ihn. Am nächsten Abend – wieder als Othello – war er betrunken wie ein Stinktier. Zwar erinnerte er sich noch der meisten seiner Verse, aber er verhaspelte sich des öfteren und torkelte hin und her. Um nicht hinzufallen, stützte er sich mit schwerer Hand auf die Schultern seiner Mitspieler, ja er vergaß sogar während der ersten zwei Akte, seine falschen Zähne einzusetzen, so daß seine Stimme breiig klang. Um das Maß voll zu machen, begann er in der letzten Szene noch, Gertrude Grainger zu würgen, bis die bereits bläulich angelaufene Desdemona, vom Publikum ungesehen, ihm ein Knie in die Weichteile stieß; dann, nachdem er sich selbst erstochen hatte, warf er den Requisitendolch hoch in die Luft, der in zwei trägen Umdrehungen wieder herunterkam und in den Bühnenbrettern steckenblieb. Die stumpfe Dolchspitze bohrte sich tief in das weiche Holz des Bühnenbodens, keine drei Fuß von Monica entfernt, die Jagos Frau Emilia spielte und an diesem Punkt des Dramas bereits tot auf der Bühne lag, ermordet von ihrem schurkischen Gatten – und die wirklich tot hätte sein können, wenn der Dolch nur einer etwas anderen Flugbahn gefolgt wäre. Da eine dritte Vorstellung des Othello für den folgenden Abend angekündigt war, hatte der Prinzipal keine andere Wahl, als Guthrie durch Francis Farley Scott zu ersetzen, der nach seiner eigenen Ansicht den Othello ohnehin besser spielte und kaum seine Befriedigung darüber unterdrücken konnte, seine angestammte Rolle wieder zurückerobert zu haben. F.F. ein plüschweicher, lasziv dreinblickender Mohr, spielte die Rolle ohne eine zusätzliche Probe in der Tat so gut, daß ein Kritiker, der die erste und dritte Aufführung miteinander verglich, bewundernd anmerkte, daß wir nach Belieben große Rollen austauschen konnten. Er war offenbar der Meinung, dies geschähe allein aus dem Grunde, unsere Virtuosität zu demonstrieren. Selbstverständlich las der Prinzipal Guthrie die Leviten und schickte ihn zu einem Arzt, der ihm auch ohne Souffleur wegen seines Trinkens und seines schwachen Herzens einen großen Schrecken einjagte. Guthrie hätte sich sicherlich bald von seinem Rückfall erholt, wenn er nicht zwei Tage später, als wir Julius Caesar spielten, den Entschluß gefaßt hätte, sich mit einer wahrhaft aufrüttelnden Vorstellung zu empfehlen. Er bellte und grunzte und rollte mit den Augen wie in seiner besten australischen Schmierenzeit. Seine optimistische Selbstzufriedenheit zwischen den Szenen war schrecklich anzusehen. Gewiß, die Vorstellung war gar nicht so schlecht, aber alle Kritiker machten ihn nieder, und einer von ihnen sagte sogar: »Guthrie Boyd spielte Brutus – ein Bündel von Vokalen, in eine Toga eingehüllt.« Danach war Guthrie von morgens bis nachts besoffen. Der Prinzipal mußte ihm den Brutus wegnehmen, den wieder F.F. spielte, aber er wäre nicht der Prinzipal gewesen, wenn er ihn ganz fallengelassen hätte. Er teilte ihn für eine Reihe kleinerer Rollen in Othello und Julius Caesar ein und übertrug mir und Joe Rubens und manchmal auch Props die Aufgabe, den armen alten Trunkenbold im Auge zu behalten, um sicherzugehen, daß er eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung ins Theater kam – wenn möglich, nicht allzu besoffen. Oft spielte er den Geist oder den Dogen von Venedig in seinen Straßenkleidern unter dem Umhang oder der Samtrobe, aber er spielte sie. Und es waren viele Nächte, in denen Joe und ich unsere Runden durch die Hälfte aller örtlichen Bars machten, bevor wir ihn endlich aufgabelten. Der Prinzipal nannte Joe Rubens und mich manchmal spöttisch ›das amerikanische Element‹ in seiner Truppe, aber gleichzeitig verließ er sich auf uns: Ich habe gewiß nichts dagegen, so abgestempelt zu werden, denn es ist eine Freude, mit ihm zu arbeiten. All dies scheint meiner Feststellung zu widersprechen, daß sich in dieser Zeit die Stücke wie von selbst spielten und Monotonie sich auszubreiten begann. Aber in einer Theatertruppe läuft immer irgend etwas schief, ansonsten ginge es nicht mit rechten Dingen zu. Andererseits führte sich Guthrie gar nicht mehr so schlimm auf, nachdem er den Othello und den Brutus vom Hals hatte. Kleinere Rollen und sogar den Kent konnte er immer spielen, ob er nun nüchtern oder betrunken war. König Duncan zum Beispiel und der Doge im Kaufmann von Venedig sind auch in betrunkenem Zustand noch leicht zu spielen, weil der Schauspieler immer ein paar Diener zur Seite hat, die seine Schritte lenken können, wenn er schwankt, und die ihn sogar festhalten können, falls es nötig sein sollte – was sich bisweilen als ein äußerst dramatischer Effekt herausgestellt hat, der besonders geeignet ist, die Unsicherheit des hohen Alters zu unterstreichen. Und irgendwie schaffte es Guthrie auch weiterhin, den Geist in gewohnter Meisterschaft darzustellen und dafür gelegentlich Anerkennung zu finden. In der Tat bestand Sybil Jameson darauf, daß der stets betrunkene Guthrie jetzt in der Rolle des Geistes eine Spur besser sei. Und Guthrie selbst sprach unentwegt von unserem dreitägigen Aufenthalt in Wolverton, obwohl sich jetzt ebenso oft dunkle Besorgnis in die väterlichen Erwartungen mischte. Nun, dieser dreitägige Aufenthalt kam wirklich. Wir erreichten Wolverton an einem spielfreien Tag. Zur Überraschung der meisten von uns, aber besonders zur Überraschung Guthries, standen sein Sohn und seine Tochter am Bahnsteig, um ihn mit ihren entsprechenden Gatten und allen ihren Kindern und einer großen Schar von Freunden willkommen zu heißen. Als sie ihn entdeckt hatten, brachen sie in frenetische Begrüßungsschreie aus. Später fand ich heraus, daß Sybil Jameson, die Guthries Familie kannte, alle guten Kritiken nach Wolverton geschickt hatte, weswegen sie ganz begierig darauf waren, endlich mit ihm Versöhnung zu feiern und sich ihm gegenüber so lärmend wie möglich zu benehmen. Als er die Gesichter seiner Kinder und Enkelkinder sah und feststellte, daß die Schreie ihm galten, wurde der alte Guthrie ganz rot im Gesicht und strahlte. Sie scharten sich um ihn und schleppten ihn für einen Abend zum Feiern davon. Am nächsten Tag hörte ich von Sybil, die sie mitgenommen hatten, daß alles sehr schön verlaufen sei. Er hatte zwar wie ein Fisch getrunken, aber sich in bewundernswerter Weise unter Kontrolle gehalten. Niemand außer ihr hatte etwas bemerkt. Guthries Versöhnung mit jedermann, vollkommen Fremde eingeschlossen, hatte aller Herzen erwärmt. Sein Schwiegersohn, ein streitsüchtiger Kerl, war ärgerlich geworden, als er hörte, daß Guthrie am dritten Abend nicht mehr den Brutus spielen durfte, und er erklärte rundheraus, daß Gilbert Usher auf seinen prächtigen Schwiegervater eifersüchtig sei. Alles war längst vergeben. Daß sie sogar versucht hatten, die alte Sybil zu Guthrie ins Bett zu legen, mag der romantischen Vorstellung entsprungen sein, jeder Schauspieler müsse selbstverständlich eine Geliebte haben. All das war natürlich sehr schön für Guthrie und in einer gewissen Weise auch für Sybil, doch ich vermute, daß nach zwei Monaten ununterbrochener, kaum kontrollierter Trunkenheit die nächtliche Ausschweifung ungefähr das Schlimmste war, was man dem angegriffenen Herzen des aufgedunsenen alten Jungen hätte antun können. Am ersten Abend begleitete ich Joe Rubens und Props zum Wolvertoner Theater, um mich zu vergewissern, ob die Bühnenbilder richtig aufgestellt und die Kostümkisten alle sicher angekommen und aufbewahrt waren. Joe ist unser Bühnenmeister. Er war in seiner Jugend Profiboxer und hat seitdem eine eingeschlagene Nase. In der Meinung, daß ein Schauspieler alles wissen müsse, hatte ich einmal damit begonnen, bei ihm Boxstunden zu nehmen, aber während der dritten Stunde marschierte ich in einen matten rechten Haken hinein, der mich zwar nicht direkt umwarf, aber ich hörte noch sechs Stunden später das leichte Dröhnen von Glocken in meinem Kopf. Das war das Ende meiner Karriere als Faustkämpfer. Joe ist daneben auch ein sehr anpassungsfähiger Schauspieler; er schwärmt von seiner eigenen Genialität, und in den Staaten kommt es oft vor, daß er während des Weihnachtsmonats in großen Kaufhäusern einen Job als Nikolaus offeriert bekommt. Das ›Monarch‹ – so hieß das Theater, in dem wir spielen sollten – war ein labyrinthisches altes Gebäude, sehr finster hinter der Bühne, aber mit einem großen Kaninchenbau von schmutzigen kleinen Garderoben und sogar einer Requisitenkammer links von der Bühne, die wie ein L geformt ist. Ihre leeren Regale waren dick mit Staub bedeckt. Jahrelang hatte im ›Monarch‹ keine Show mehr stattgefunden, wie ich den vergilbenden Plakaten entnehmen konnte, die ich von den Anschlagtafeln herunterriß und durch ein einfaches: HEUTE ABEND UM 8.30: HAMLET ersetzte. Und dann bemerkte ich in dem kalten unzulänglichen Licht ein paar winzige dunkle Schatten, die sich vom Hängeboden herabfallen ließen und in weiten schnellen Kreisen herumschwebten, auch in den Zuschauerraum hinaus, da der Vorhang auf war. Fledermäuse, stellte ich entsetzt fest – das ›Monarch‹ war wirklich schon halbwegs durch das Friedhofstor hindurch. Die Fledermäuse würden recht gut zu Macbeth passen, versuchte ich mir einzureden, aber weniger gut zum Kaufmann von Venedig, während sie bei Hamlet weder hilfreich noch hinderlich sein würden, vorausgesetzt, sie ließen sich nicht in nächtlichen Kampfformationen herabfallen; es wäre doch sehr zu begrüßen, wenn sie sich für die Dauer der Geisterszenen ruhig verhielten. Ich bin sicher, daß der Prinzipal beschlossen hatte, in Wolverton mit Hamlet zu eröffnen, um Guthrie die beste Chance für einen erfolgreichen Einstand in der Heimatstadt seiner Kinder zu geben. »Es ist ein ziemlich verwunschenes Haus«, stellte Billy Simpson begeistert fest. »Ich wette, die Mädchen werden einige seltene Geister hier finden, wenn sie ihr Brett bearbeiten.« Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, wie recht er damit hatte. »Bruce!« rief Joe Rubens mir zu. »Wir sollten vielleicht ein paar Rattenfallen kaufen und im Theater auslegen. Etwas huscht dauernd hinter dem Vorhang herum.« Aber als ich am nächsten Abend eine Stunde vor Beginn der Vorstellung durch die knarrende, dicke Metallbühnentür das ›Monarch‹ betrat, war das Gebäude gefegt und oberflächlich gereinigt worden. Die ›Hamlet‹-Kulissen sahen nicht mehr so düster und schrecklich aus, obwohl man den Vorhang noch nicht heruntergelassen hatte und das Haus mit seinen leeren Sitzreihen und den beiden mattgrünen Lampen am Ausgang nur schwach beleuchtet war. Es gab noch eine kleine Lampe an der Bühnenrampe rechts und eine andere Lichtquelle auf der linken Bühnenseite hinter den Kulissen. Niemand außer mir war im Theater. Ich ging äußerst behutsam quer über die dunkle Bühne, um nicht über ein Kabel zu stolpern. Wieder spürte ich jenes elektrisierende Gefühl, das mich so oft in einem leeren Theater am Abend vor einer Aufführung befällt. Nur kam diesmal irgend etwas hinzu, das mir einen Schauer über den Rücken jagte. Ich glaube, es war nicht so sehr der Gedanke an die Fledermäuse, die jetzt, für mich unsichtbar, über meinem Haupt schweben konnten, ihre fast unhörbaren schrillen Trompetenschreie ausstoßend, es war auch nicht der Gedanke an die Ratten, die mich, hinter Kisten und Plattformen verborgen, vielleicht aus ihren Schlitzaugen beobachteten. Vor knapp einer Stunde hatte mir Joe nämlich gesagt, daß die von ihm noch letzte Nacht aufgestellten Fallen heute leer gewesen seien. Nein, es war vielmehr, als hätten sich alle Gestalten Shakespeares unsichtbar um mich versammelt. Ich stellte mir Rosalinde und Falstaff und Prospero vor, wie sie mich Arm in Arm lächelnd beobachteten. Und Seite an Seite, aber ohne zu lächeln und auch nicht Arm in Arm: Macbeth und Jago und Richard III. Ich schritt durch die gegenüberliegenden Kulissen, wo unter einem trüben Licht Billy Simpson mit den ›Hamlet‹-Requisiten an seinem Tisch saß: den Schädeln, Floretten, Laternen, Geldtaschen, Ophelias Blumen und all dem anderen Kram. Es war seltsam, daß Props schon so früh alles fertig hatte, und ein wenig seltsam war auch, daß er allein war, denn Props hat die für einen Schauspieler ungewöhnliche Eigenart, sich überall Freunde zu machen. Bei ihm waren Polizisten, Blumenfrauen, Zeitungsjungen und Tramps, die sich als arme Schauspieler ausgaben, bestens aufgehoben. Er lud sie sogar zu sich hinter die Bühne ein – ein Bruch der Regeln, den der Prinzipal indes erlaubte, weil Props ein so sensibler Kerl war. Er war ein großer Menschenfreund, und vor allem ein Freund der einfachen Menschen. Er hätte einen guten Schriftsteller abgegeben, wenn man einmal von seinem hervorstechenden Mangel an dramatischem Flair und Erzählgeschick absieht – er war viel zu weitschweifig, was wohl mit seinem Beruf zusammenhing. Jetzt saß er über seinen Tisch gebeugt in der Requisitenkammer mit den leeren Regalen und starrte mich höhnisch an. Auf seine hohe Stirn fiel mattes Licht, sein spitzes Kinn lag im Schatten und seine großen Augen huschten zwischen Licht und Dunkel unruhig hin und her. Gewöhnlich grüßte er jeden sofort, aber heute abend blieb er stumm, und das paßte zu der Illusion. »Props«, sagte ich, »durch dieses Theater weht ein übernatürlicher Hauch.« Sein Ausdruck blieb unverändert, aber er zog feierlich die Luft ein, warf seinen Kopf in den Nacken und streckte sein spitzes Kinn in das Licht, was die Illusion im Nu zerstörte. »Staub«, sagte er dann. »Staub, alter Plüsch, Kulissen, Schweiß, Gelatine, Puder und ein leichter Geruch nach Whisky. Aber das Übernatürliche … nein, ich kann es nicht riechen. Wenn nicht …« Und er schnüffelte wieder, schüttelte aber seinen Kopf. Ich lächelte über seinen Materialismus. Der Hinweis auf den Whisky schien aus der Luft gegriffen zu sein, da ich nicht getrunken hatte, Props niemals trank und Guthrie Boyd nirgendwo zu sehen war. Props hat für sensorische Details ein unfehlbares Gedächtnis, besonders für Einzelheiten, die auf menschliche Gewohnheiten schließen lassen. Vielleicht ist er deshalb so versessen auf Details, weil er Sympathie für alle Hoffnungen und Schwächen der Menschen empfindet, sogar für die trivialsten, wie meine selbstsüchtige Vernarrtheit in Monica. »Ich meine nicht einen wirklichen Geruch, Billy«, sagte ich zu ihm, »aber ich fühle und spüre etwas, das heute nacht passieren könnte.« Er nickte feierlich. Bei irgendeinem anderen hätte ich mich jetzt gefragt, ob er nicht ein wenig betrunken sei. Dann sagte er: »Du warst auf der Bühne. Du weißt, die Science-Fiction-Schriftsteller haben dort eine Wette verloren. Wir haben bereits jetzt Zeitmaschinen. Theater. Theater sind Zeitmaschinen und auch Raumschiffe. Sie nehmen die Leute auf Reisen durch die Zukunft und durch die Vergangenheit und sonstwohin mit – ja, und wenn sie es gut genug machen, dann gewähren sie noch Einblick in Himmel und Hölle.« Ich nickte nachsichtig. Mit solch grotesken Fantasien versucht Props der Eintönigkeit zu entfliehen. »Nun«, sagte ich, »wir wollen hoffen, daß Guthrie an Bord des Raumschiffes kommt, bevor sich der Vorhang hebt. Wir müssen uns heute abend ganz darauf verlassen, daß seine Kinder vernünftig genug sind, ihn hier intakt abzuliefern. Was durchaus nicht sicher ist, wenn man Sybils Worten über sie Glauben schenken darf.« Props starrte mich wie eine Eule an und schüttelte langsam seinen Kopf. »Guthrie ist vor zehn Minuten hier eingetroffen«, sagte er, »und sah nicht betrunkener aus als gewöhnlich.« »Das erleichtert mich«, sagte ich und meinte es auch so. »Die Mädchen halten eine Ouija-Sitzung ab«, fuhr er fort, als ob er dazu ausersehen sei, über uns jederzeit Bericht zu erstatten. »Sie haben genauso wie du das Übernatürliche hier gerochen, und sie befragen das Brett nach dem Namen des Verbrechers.« Dann bückte er sich. Ich nickte. Der Lichtschein aus Gertrude Graingers Garderobe bestärkte mich darin, daß die Damen dort am Ouija-Brett saßen. Props tauchte wieder aus seiner gebückten Stellung auf und hielt eine kleine Flasche Whisky in seiner Hand. Ich glaube nicht, daß mich ein geladener Revolver so sehr verblüfft hätte. Er öffnete den Verschluß. »Der Prinzipal kommt gerade«, sagte er ruhig, als er die Bühnentür knarren hörte. »Jetzt sind bereits sieben von uns im Theater.« Langsam trank er einen großen Schluck Whisky und schraubte dann die Flasche mit einer so natürlichen Handbewegung wieder zu, als würde er allabendlich nichts anderes tun. Ich glotzte ihn kommentarlos an. Was er da gerade tat, war ganz einfach unerhört für Billy Simpson. In diesem Augenblick vernahm ich einen scharfen Schrei und das Klopfen auf dünnes Holz. Dann hörte ich irgend etwas Metallisches gellend herunterfallen und hastende Schritte. Ich lief so schnell ich konnte zur Tür von Gertrude Graingers Garderobe, ohne mich darum zu kümmern, ob ich in der Dunkelheit über Kabel stolperte. Ich riß die Tür auf und sah beim hellen Schein der Glühbirnen, die den Spiegel einrahmten, Gertrude und Sybil eng zusammensitzend, das Ouija-Brett umgestürzt vor ihnen auf dem Boden. Blaß und mit starrem Blick preßte sich Monica an Gertrudes Kostüme, die auf einem Ständer hingen, als wollte sie sich hinter ihnen verstecken. Sie schien mich nicht zu bemerken. Das dunkelgrüne, schwere Brokatkostüm, das Gertrude als Königin in Hamlet trägt, unterstrich Monicas Blässe. Alle drei trugen immer noch ihre Straßenkleidung. Ich ging auf Monica zu, legte einen Arm um sie und ergriff ihre Hand. Sie war kalt wie Eis. Monica stand erstarrt vor mir. Währenddessen erhob sich Gertrude und erklärte in hochmütigen Tönen, was ich Ihnen schon früher erzählt habe: daß sie das Brett befragt hätten, wer der Geist sei, der heute nacht das ›Monarch‹ heimsuchen würde, und daß die Planchette den Namen Shakespeares buchstabiert hätte. »Ich weiß nicht, warum dich das so aufregt, meine Liebe«, fügte sie mürrisch hinzu. »Es ist doch nur natürlich, wenn sein Geist die Vorstellungen seiner Stücke besucht.« Ich spürte, wie sich der schlanke Körper in meinem Arm ein wenig entspannte. Das erleichterte mich. In meiner Eigensucht freute es mich sogar, einen Arm um sie legen zu dürfen, selbst unter so öffentlichen und wenig amourösen Umständen, während zur gleichen Zeit mein alberner Verstand etwas ganz anderes dachte. Wenn Props mich nun belogen hätte, als er sagte, daß Guthrie nicht betrunkener als gewöhnlich im Theater angekommen sei (dieser neue Props, der harten Whisky im Theater trank, konnte ja auch lügen, vermutete ich) – warum konnten wir uns dann bei der heutigen Abendaufführung nicht gleich William Shakespeares selbst bedienen. Schließlich war der Geist in Hamlet die einzige Rolle in all seinen Dramen, die Shakespeare höchstpersönlich auf der Bühne gespielt haben soll. »Ich weiß nicht, warum das jetzt gerade mir wieder geschieht«, sagte Monica plötzlich, indem sie heftig ihren Kopf schüttelte, als wollte sie ihn wieder klar bekommen. Schließlich erkannte sie mich und versuchte sogleich, sich von mir zu lösen, ließ aber dann meinen Arm gnädigst auf ihrer Schulter liegen. Die nächste Stimme, welche sprach, war die des Prinzipals. Er stand mit einem leichten Lächeln im Türrahmen, Props blickte über seine Schulter. Der Prinzipal sagte sanft, während ein seltsamer Glanz in seinen Augen flackerte: »Ich meine, wir sollten uns damit begnügen, Shakespeares Dramen zu neuem Leben zu erwecken, ohne uns über den Autor den Kopf zu zerbrechen. Es ist hart genug, Shakespeare zu spielen.« Er ging mit seinen grazilen, ganz natürlich anmutenden Bewegungen einen Schritt nach vorn, ließ sich auf die Knie fallen und hob das heruntergefallene Brett samt Planchette auf. »Auf alle Fälle möchte ich das Brett für heute in Gewahrsam nehmen. Fühlen Sie sich jetzt etwas besser, Miß Singleton?« fragte er, als er sich wieder erhoben hatte. »Ja, ganz gut«, antwortete sie flüsternd, befreite sich aus meinen Armen und entzog sich mir ziemlich schnell. Der Prinzipal nickte freundlich. Gertrude Grainger sah ihn kalt an und gab sich offenbar alle Mühe, ihm nicht einige Gehässigkeiten ins Gesicht zu schleudern. Sybil Jameson blickte zu Boden. Sie sah bestürzt und im höchsten Maße verwirrt aus. Ich verließ mit dem Prinzipal die Garderobe und erzählte ihm, daß Guthrie Boyd laut Props heute schon sehr früh ins Theater gekommen sei. Im Augenblick kam es mir ziemlich albern vor, Props’ Aufrichtigkeit in Zweifel zu ziehen, wenngleich dieser Drink eben ein unerklärliches Rätsel blieb. Props sagte noch, daß Guthrie etwas geistesabwesend gewirkt habe, aber immerhin war er hier. Der Prinzipal nickte ob dieser Nachricht dankbar mit dem Kopf, dann ließ er schnuppernd seine Nase wandern und runzelte besorgt die Stirn. Ich war nicht sicher, ob er die Alkoholfahne gerochen hatte und jetzt gerne wissen wollte, wem von uns beiden sie gehörte – vielleicht gehörte sie auch einer der Damen, und natürlich ließ sich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß Guthrie vor kurzem hier vorbeigegangen war. »Würden Sie bitte für eine Sekunde mit in meine Garderobe kommen?« fragte er mich. In der Annahme, daß er mich für den Trunkenbold hielt, folgte ich ihm und überlegte mir bereits krampfhaft, was ich ihm antworten sollte – vielleicht wäre es am besten, einfach schweigend seine väterlichen Ermahnungen über mich ergehen zu lassen –, aber als er dann die Lichter anknipste und ich die Tür geschlossen hatte, war seine erste Frage: »Sie sind in Miß Singleton verliebt, nicht wahr, Bruce?« Als ich ohne zu zögern nickte, so überrumpelt war ich, fuhr er mit sanfter, aber nachdrücklicher Stimme fort: »Warum hören Sie dann nicht auf, sich wie ein Narr zu benehmen? Versuchen Sie doch endlich, sie zu erobern! Es mag den Anschein haben, als dulde ich keine Liebesaffären in meiner Truppe, aber in diesem Fall scheint es mir doch die beste Lösung, mit diesen Ouija-Sitzungen Schluß zu machen, die dem Mädchen sichtlich schaden.« Ich versicherte ihm grinsend, daß es mir ein Vergnügen sei, seinem Ratschlag zu folgen, fest entschlossen, sogleich die Initiative zu ergreifen. Er grinste zurück, warf das fatale Instrument auf die Couch, doch dann holte er es wieder und legte das Ouija sorgfältig auf seinen langen Garderobentisch, bevor er mir eine zweite Frage stellte. »Was halten Sie von den Dingen, die mit diesem Brett geschehen, Bruce?« »Nun ja«, antwortete ich, »was zuletzt geschah, hat auch mich einigermaßen erschreckt – ich vermute …« Und dann erzählte ich ihm, wie ich die Gegenwart der Shakespeareschen Gestalten im Dunkeln zum Greifen nahe gespürt habe. »Aber das Ganze ist natürlich blühender Unsinn«, schloß ich und versuchte wieder zu grinsen. Diesmal grinste er nicht zurück. »Vor einigen Wochen«, drängte es mich zu sagen, »beeindruckte mich eine ihrer Ideen, obwohl Sie selbst wenig beeindruckt schienen. Ich hoffe, Sie denken jetzt nicht, daß ich Ihnen schmeicheln will, Mr. Usher. Ich spreche von der Idee, daß Sie eine Reinkarnation William Shakespeares sein könnten.« Er lachte hocherfreut. »Es ist doch klar«, sagte er daraufhin, »daß Sie den Unterschied zwischen einem Schauspieler und einem Dramatiker jetzt noch nicht kennen, Bruce. Shakespeare, wie er seinen Kopf zurückwirft, romantisch einherstolzierend, sein Schwert herumwirbelnd, Körper und Stimme jedem Gefühl anpassend, das man ihm entgegenbringt? O nein! Ich gebe zu, es ist durchaus möglich, daß er den Geist gespielt hat – eine Rolle, die nicht mehr Talent erfordert, als stillzustehen und wie aus dem Grabe zu tönen.« Lächelnd hielt er inne. »Nein«, fuhr er fort, »es gibt nur eine Person in unserer Truppe, die man sich als Reinkarnation Shakespeares vorstellen könnte – und das ist Billy Simpson. Ja, ich meine Props. Er kann zuhören und weiß, wie man mit Menschen umgeht und sich auf sie einstellt. Sein Geist ist wie eine Rattenfalle, in der sich die geringste Regung, jeder Duft und jedes Geräusch des Lebens fängt. Und er hat einen scharfen analytischen Verstand. Oh, er weiß, daß es ihm an poetischem Talent mangelt, aber ich bin nicht sicher, ob eine Reinkarnation Shakespeares sehr poetisch sein würde. Ich glaube vielmehr, daß er mindestens ein Dutzend Leben gebraucht hat, um genügend Material für eine der Gestalten zusammenzubekommen, der er dramatische Form gab. Empfinden Sie die Vorstellung von einem stummen, aller Glorie entkleideten Shakespeare nicht schmerzlich, der sein ganzes bescheidenes Leben damit verbringt, den nötigen Stoff für eine einzige, dann allerdings einzigartige Explosion zu sammeln? Denken Sie doch einmal darüber nach. Ich habe mir schon Gedanken wegen dieser, wie ich meine, faszinierenden Vorstellung gemacht. Dabei kristallisierte sich ganz natürlich jenes Gefühl heraus, das mich immer befällt, wenn ich Billy Simpson hinter seinem Requisitentisch beobachte. Und dann hat Props genau das hochstirnige Poeten-Lehrer-Gesicht, das so sehr jenem Gesicht Shakespeares gleicht, wie wir es aus den posthumen Graphiken, Holzschnitten und Porträts kennen. Warum auch nicht – sogar ihre Initialen sind identisch. Ein höchst sonderbares und unheimliches Gefühl.« Dann stellte mir der Prinzipal eine dritte Frage: »Er hat heute abend getrunken, nicht wahr? Ich meine Props, nicht Guthrie.« Ich antwortete nichts, aber mein Gesichtsausdruck schien mich verraten zu haben – zumindest bei einem so versierten Kenner mimischer Nuancen wie dem Prinzipal –, denn er sagte lächelnd: »Deshalb brauchen Sie nicht beunruhigt zu sein. Ich bin ihm nicht böse. Ich erinnere mich nur an eine andere Gelegenheit, bei der sich Props im Theater Mut antrank, und dafür bin ich ihm noch heute dankbar.« In sein schmales Gesicht trat ein nachdenklicher Ausdruck: »Es war lange vor Ihrer Zeit, um genau zu sein, es war die erste Saison, in der ich mit einer eigenen Truppe auftrat. Ich hatte nicht einmal genug Geld, um die Plakate beim Drucker zu bezahlen. Es war mehr als fraglich, ob sich der Vorhang zur ersten Aufführung heben würde. Monatelang war die Situation äußerst kritisch. Dann, mitten in der Saison, begann uns auch noch das Pech zu verfolgen – zwei Nächte lang lag dichter Nebel über der Stadt, in der wir gerade spielten, die Grippe grassierte, und Harvey Wilkins Shakespeare-Company war uns zwei Wochen voraus. Als wir in der nächsten Stadt spielten, stellte sich heraus, daß der Vorverkauf sehr zäh anlief, kein Wunder, mein Name war dort unbekannt, und das Theater erfreute sich keiner großen Beliebtheit. Mir wurde klar, daß ich die Truppe ausbezahlen mußte, solange überhaupt noch etwas Geld in der Kasse war, damit meine Schauspieler nach Hause fahren konnten. In dieser Nacht erwischte ich Props beim Saufen, aber ich hatte nicht das Herz, ihm deswegen Vorwürfe zu machen – in der Tat glaubte ich nicht, daß ich damals irgend jemanden hätte tadeln können, mich selbst natürlich ausgenommen, wenn er sich an diesem Abend einen Rausch angetrunken hätte. Aber dann kamen während der Vorstellung die Schauspieler und Bühnenarbeiter, die mit uns reisten, von sich aus zu mir in die Garderobe und sagten, sie würden für weitere zwei Wochen gern ohne Gage arbeiten, wenn ich der Meinung sei, daß wir auf diese Weise unsere Verluste wieder einspielen könnten. Nun ja, ich nahm ihr Angebot selbstverständlich an. Dann bekamen wir prächtiges Wetter und fanden ein paar Orte, die nach Shakespeare geradezu hungerten. Die Dinge rückten wieder ins rechte Lot, und noch vor Ende der Spielzeit konnte ich die fälligen Gagen ausbezahlen. Später entdeckte ich, daß Props sie zu diesem Schritt überredet hatte.« Gilbert Usher blickte mich aus feuchten Augen an, seine Lippen zuckten: »Allein hätte ich es niemals geschafft, denn meine Truppe war in dieser ersten Saison noch ziemlich unpopulär. Außerdem hatte ich die Schauspieler viel zu hart angefaßt und war unfähig gewesen, meinen Sarkasmus zu zügeln. Auch hatte ich damals noch nicht gelernt, jemanden um Hilfe zu bitten, als ich Hilfe dringend nötig hatte. Aber Billy Simpson tat, was in seiner Macht stand, obwohl er dazu all seinen Mut zusammennehmen mußte. Sie wissen ja, daß er gewöhnlich recht flink mit der Zunge ist, vor allem, wenn er freundliche Zuhörer hat. Aber wenn ihm etwas Außerordentliches abverlangt wird, muß er sich offensichtlich erst Mut antrinken. Ich frage mich …« Seine Stimme verstummte, er stellte sich vor den Spiegel, band seine Krawatte ab und sagte brüsk: »Es ist besser, Sie ziehen sich jetzt um, Bruce. Und kümmern Sie sich bitte um Guthrie.« Als ich die Eisenstufen zu meiner Garderobe hinaufeilte und dabei fast mit Robert Dennis zusammengestoßen wäre, schossen mir seltsame Gedanken durch den Kopf. Kaum hatte ich mich in das Kostüm des Güldenstern geworfen, als Robert zu mir kam, der den Laertes spielte und deshalb später auftrat. Wenn Hamlet auf dem Spielplan stand, brauchte er sich nicht besonders zu beeilen. Im übrigen lag uns beiden daran, so wenig Zeit wie möglich in der Garderobe zu verbringen. Bevor ich wieder hinunterging, sah ich noch einmal nach Guthrie Boyd, den ich jedoch nicht antraf. Aber in seiner Garderobe brannte Licht, und ich konnte darin nichts bemerken, was zum Kostüm des Geistes gehörte – unmöglich, den großen Helm zu übersehen! –, und so nahm ich an, daß er schon vor mir hinuntergegangen war. Nur noch eine halbe Stunde. Der Vorhang war noch zu, aber im Zuschauerraum brannten schon die Lichter, und auch die Bühne war jetzt heller beleuchtet. Von der Truppe war kaum jemand zu sehen. Ich entdeckte Props, der auf seinem Stuhl hinter dem Requisitentisch saß und genauso aussah wie immer – vielleicht bedeutete der Drink nur eine vorübergehende Entgleisung und nicht gleichzeitig ein alarmierendes Krisensymptom unserer Truppe. Nach Guthrie zu suchen hielt ich für überflüssig. Wenn er sich rechtzeitig umgekleidet hat, steht er meist irgendwo in einer dunklen Ecke und wünscht nichts sehnlicher, als allein gelassen zu werden – mag sein, um noch einen Schluck zu trinken, das wird es sein, da liegt wohl der Hund begraben. Manchmal besucht er dann auch Sybil in ihrer Garderobe. Ich bemerkte Monica, die auf einem Koffer nahe dem Schaltbrett im hinteren Teil des Bühnenraums saß, der in helles Licht getaucht war. Sie sah himmlisch zart in ihrer blonden Ophelia-Perücke aus, wie ein strahlender Frühlingstag, was ihr hellgrünes Kostüm allerliebst betonte. Ich erinnerte mich meines frohgemuten Versprechens dem Prinzipal gegenüber, beugte mich zu ihr herunter und fragte sie in aller Offenheit, was es mit dem Ouija-Brett nun wirklich auf sich habe. Ehrlich gesagt, ich war hocherfreut, daß es neben dem Theaterspielen noch etwas gab, worüber ich mit ihr sprechen konnte, ohne ihr auf die Nerven zu gehen. Sie war sehr aufgeregt und zugleich seltsam geistesabwesend, ihr Blick irrte unruhig hin und her und verlor sich in der Ferne, um gleich darauf wieder ganz nah zu sein. Meine Fragen brachten sie nicht aus der Fassung, in Wirklichkeit schienen sie ihr ganz willkommen zu sein; andererseits mochte sie mir nicht verraten, warum sie der letzte Name auf dem Brett so erschreckt hatte. Sie sei in einen tranceartigen Zustand verfallen, während sie das Brett befragte, und dann hätte sie plötzlich laut aufgeschrien, ohne richtig zu begreifen, was sie nun eigentlich so entsetzt habe. Was dann geschehen sei, wisse sie nicht mehr. »Eines weiß ich aber sicher, Bruce: Ich werde das Brett nie mehr zu Rate ziehen.« »Das klingt sehr vernünftig«, sagte ich etwas zurückhaltend, damit sie nicht merkte, wie sehr mich das freute. Inzwischen hatte sie auch aufgehört, mit ihren Blicken das Dunkel zu durchbohren, als könnte jeden Augenblick eine Gestalt daraus auftauchen, die nicht in das Stück gehörte und hinter der Bühne nichts zu suchen hatte. »Vielen Dank«, sagte sie, ihre Hand auf die meine legend, »daß Sie so schnell gekommen sind. Ich weiß, ich habe mich idiotisch benommen.« Ich war gerade im Begriff, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und ihr zu gestehen, daß ich in meiner Verliebtheit einzig und allein ihretwegen so schnell herbeigeeilt sei, aber in diesem Augenblick kamen Joe Rubens und der Prinzipal, der bereits das ›Hamlet‹-Schwarz angelegt hatte, um mir mitzuteilen, daß man weder Guthrie Boyd noch sein Kostüm irgendwo im Theater habe finden können. Joe hatte von Sybil die Telefonnummern von Guthries Kindern erfahren und versuchte sie jetzt anzurufen. Bei der ersten Nummer, die er wählte, meldete sich niemand, aber bei der zweiten hatte er mehr Glück. Eine weibliche Stimme, wahrscheinlich eines der Enkelkinder, teilte ihm mit, daß alle zu Guthrie Boyd in Hamlet gegangen seien. Da Joe bereits seine schwere Panzerrüstung für den Marcellus trug, wußte ich, daß der Prinzipal mich ausersehen hatte. Also rannte ich die Treppe hinauf, setzte meinen Hut auf, zog meinen Mantel an, warf einen flüchtigen Blick auf meine Armbanduhr und verließ das Theater, vorbei an Robert Dennis, der den wahren Grund meiner Mission durchschaute und mir riet, es zuerst in den schäbigen Bars zu versuchen. Auf meinem Weg durch die in der Nähe des Theaters gelegenen Bars tröstete mich der Gedanke, daß niemand einen Blick auf mein eigenes Kostüm werfen würde, wenn ich den besoffenen Geist von Hamlets Vater tatsächlich finden sollte. Kurz vor Beginn der Vorstellung kam ich ins Theater zurück. Ich war weder Guthrie noch irgendeiner Menschenseele begegnet, die den großen Mann gesehen hätte, irischen Whisky saufend, angetan mit einem Wintermantel, in der Hand alte Waffen und auf dem Helm ein grünes Licht, das einen geisterhaften Schimmer auf sein Gesicht warf. Jenseits der Rampe verklang die Ouvertüre in einem düsteren Finale. Die Bühne war vollkommen dunkel. Auf der Seite, wo der Geist auf- und abtritt, stritt man sich flüsternd. Noch im Hut und Mantel rannte ich quer über die Bühne, vorbei an den mattblau angestrahlten Zinnen von Helsingör, und traf auf den Prinzipal, neben dem Joe Rubens und John McCarthy standen. Letzterer war offensichtlich bereit, als Geist auf der Bühne aufzutreten, denn er trug über seiner Fortinbras-Rüstung einen schwarzen Umhang und grüne Schleier. Nicht weit von ihnen entfernt stand Francis Farley Scott in einem ähnlichen Aufzug, ohne Rüstung, aber in einen Umhang gekleidet, der weit genug war, um darunter sein Königskostüm zu verbergen, auf dem Kopf einen Helm, der noch beeindruckender war als der Johns. Ihre Gestalten hoben sich dunkel vor den bläulichen Kulissen des Schlosses Helsingör ab. Wir fünf waren die einzigen auf dieser Seite der Bühne. F.F. flehte gestikulierend um die Erlaubnis, sowohl den Geist als auch den König Claudius spielen zu dürfen, da er die Rolle besser beherrsche als John und, was wohl das wichtigste war, Guthries Stimme perfekt genug nachahmen könne, um sogar dessen Kinder zu täuschen und auf diese Weise vielleicht ihre Illusionen über ihren Vater zu bewahren. Sybil hatte durch ein Loch im Vorhang gespäht und alle gesehen, die gestern abend dabeigewesen waren. Guthries Kinder und ihre Freunde und Bekannten hielten die ganze zweite, dritte und vierte Reihe im Parkett besetzt, ungeniert plaudernd und strahlend vor Begeisterung und Aufregung. Es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, daß der Prinzipal sehr aufgebracht über F.F. war, aber auch etwas gerührt, was den letzten Teil seiner Argumentation betraf. Mit sentimental-heroischen Erklärungen dieser Art pflegte F.F. oft seinen unstillbaren Hunger nach persönlichem Ruhm zu kaschieren. Wahrscheinlich glaubte er sogar, was er sagte. John McCarthy fügte sich bereitwillig den Anordnungen des Prinzipals. Er ist ein Schauspieler, der sich um innere Drangsale nichts schert, es sei denn, es handelt sich darum, genau buchzuführen über die Stunden seines Schlafes und über jeden Penny, den er ausgibt. Auf der Bühne indes kann John mit natürlicher Leichtigkeit Gefühle verkörpern, die er ansonsten zu fühlen vollkommen außerstande ist. Der Prinzipal brachte F.F. mit einer energischen Geste zum Schweigen und schickte sich gerade an, einen Entschluß zu fassen, als ich eine sechste Person in den Kulissen nahe unserer Gruppe stehen sah, eine schwarze Gestalt, die aussah wie ein in Segeltuch gewickelter Christbaum, mit einem großen Helm auf dem Kopf, der trotz des Schleiers darüber keinen Zweifel an seiner Bestimmung zuließ. Ich packte den Prinzipal am Arm und deutete stumm auf die Figur. Dieser stieß einen derben Fluch aus, ging auf die Figur zu und sagte, sich verlegen räuspernd: »Guthrie, du alter Hundesohn, kannst du denn überhaupt noch auftreten?« Die Figur grunzte bestätigend. Joe Rubens zog eine Grimasse, die soviel wie ›Show Busineß‹ bedeutete, dann griff er sich einen Speer vom Garderobentisch und eilte, kurz bevor sich der Vorhang hob, quer über die Bühne, um seinen Auftritt als Marcellus nicht zu versäumen. Die ersten Verse des Dramas ertönten, zuerst noch etwas laut, aber atmosphärisch wunderbar dicht, dann leiser, beklemmender: »Wer da?« »Nein, mir antwortet: steht und gebt Euch kund.« »Lang lebe der König!« »Bernardo?« »Er selbst.« »Ihr kommt gewissenhaft auf Eure Stunde.« »Es schlug schon zwölf; mach dich zu Bett, Francisco.« »Dank für die Ablösung! ‘s ist bitter kalt, und mir ist schlimm zumut.« »War Eure Wache ruhig?« »Alles mausestill.« Mit einem resignierenden Schulterzucken setzte sich John McCarthy nieder. F.F. tat dasselbe, allerdings mit einer ganz anderen Geste: verbittert ballte er die Fäuste. Die Szene war sehr komisch. Zwei Geister saßen in den Kulissen und beobachteten einen dritten Geist, der auf seinen Auftritt wartete. Ich knöpfte meinen Mantel auf, zog ihn aus und hing ihn über meinen linken Arm. Die beiden ersten Erscheinungen des Geistes sind völlig stumm. Er betritt die Bühne, zeigt sich den Soldaten und verschwindet wieder. Dennoch applaudierte das Publikum – die zweite, dritte und vierte Reihe, so schien es, grüßte ihren patriarchalischen Helden. Guthrie fiel nicht zu Boden, ja, er ging sogar aufrecht, was vielleicht auf den Applaus zurückzuführen war. Außergewöhnlich war einzig die Tatsache, daß er vergessen hatte, das kleine grüne Licht in seinem Helm anzuschalten. Aber das war eine Nachlässigkeit, die bei seinem ersten Auftritt nicht ins Gewicht fiel. Als er wieder abtrat und sich in eine dunkle Bühnenecke verziehen wollte, rannte ich zu ihm hinüber und flüsterte ihm zu, daß seine Lampe nicht brannte. Durch den undurchsichtigen grünen Schleier schlug mir als Antwort eine Whiskyfahne entgegen, ansonsten gab er mir grunzend zu erkennen, daß er es erstens bereits wußte, daß die Lampe zweitens noch funktionierte und daß er sich drittens daran erinnern würde, sie beim nächsten Male anzuschalten. Nach diesem Auftritt schlich ich über die Bühne, wo gerade die Szene im Staatszimmer des Schlosses eingerichtet wurde. Joe Rubens hielt mich fest und sagte, Guthries Lampe sei nicht eingeschaltet gewesen, worauf ich ihm entgegnete, daß ich Guthrie schon darauf aufmerksam gemacht hätte. »Wo, um Himmelswillen, hat er sich denn die ganze Zeit über rumgetrieben?« »Ich weiß es nicht.« In der zweiten Szene trat F.F. der sich inzwischen der Geisterutensilien entledigt hatte, als König auf, eine Rolle, die er fast immer spielte, seine beste übrigens. Gertrude Grainger als Königin wirkte neben ihm sehr majestätisch. Zaghaft rührte sich wieder etwas Applaus, denn unser Prinzipal betrat im schwarzen ›Hamlet‹-Wams die Bühne, um ungefähr zum siebenhundertsten Male Shakespeares längste und größte Rolle zu spielen. Monica, die immer noch auf ihrem Koffer nahe dem Schaltpult saß, sah unter ihrem Make-up blasser denn je aus. Ich faltete meinen Mantel zusammen und bedeutete ihr wortlos, ihn als Kissen zu benutzen. Dann setzte ich mich neben sie, sie nahm meine Hand, und so verfolgten wir das Spiel vor den Kulissen. »Fühlen Sie sich besser?« fragte ich sie nach einer Weile flüsternd. Sie schüttelte den Kopf. Dann beugte sie sich zu mir herüber, wobei ihr Mund fast mein Ohr berührte, und wisperte ganz aufgeregt: »Bruce, ich habe Angst. Dieses Theater ist nicht ganz geheuer. Ich glaube einfach nicht, daß es Guthrie war, der den Geist gespielt hat.« »Natürlich war er es«, flüsterte ich zurück. »Ich habe ja mit ihm gesprochen.« »Haben Sie sein Gesicht gesehen?« fragte sie. »Nein, aber ich konnte seine Fahne riechen!« Dann erzählte ich ihr die Sache mit der Helmlampe und fuhr fort: »Francis und John hatten sich beide schon als Geister verkleidet, als plötzlich Guthrie erschien. Mag sein, daß Sie einen von ihnen gesehen haben, bevor die Szene begann, und das brachte Sie auf die Idee, jemand anderer als Guthrie sei aufgetreten.« Sybil Jameson sah anklagend zu mir herüber, weil ich offenbar zu laut gesprochen hatte. Daraufhin kam Monica noch näher mit ihrem Mund heran, so daß ihre Lippen fast mein Ohr berührten. »Ich habe nichts dagegen, wenn jemand anderer den Geist spielt«, flüsterte sie kaum hörbar, »wirklich nicht, Bruce, aber in diesem Theater geht etwas um …« »Sie sollten diesen Ouija-Unsinn vergessen«, sagte ich ein wenig zu scharf. »Stehen Sie jetzt bitte auf«, fügte ich noch schnell hinzu, denn der Vorhang ging eben über der zweiten Szene nieder; es war höchste Zeit für Monica, deren Auftritt mit Laertes und Polonius unmittelbar bevorstand. Ich wartete, bis sie auf der Bühne war und ihre ersten Verse gesprochen hatte. Obwohl ich sicher war, daß ihr ihre überreizten Nerven einen Streich gespielt hatten, ließen mich ihre unheimlichen Beobachtungen erschauern. Was mich wiederum auf den Gedanken brachte, noch einmal mit Guthrie zu sprechen und mir sein Gesicht anzusehen. Während ich äußerst behutsam ging, damit sich der Vorhang nicht bauschte, ließ mich plötzlich eine Szene vor Verblüffung sprachlos innehalten, die ich schon einmal gesehen hatte, als ich von meinem Gang durch die Bars zurückgekommen war. Nur war die Bühne jetzt hell erleuchtet. Props saß hinter seinem Requisitentisch und beobachtete alles sehr aufmerksam. Hinter ihm sah ich wieder Francis Farley Scott und John McCarthy in ihren improvisierten Geist-Kostümen, und bei ihnen standen wieder der Prinzipal und Joe, alle in einen heftigen, nur für Lippenleser verständlichen Streit verwickelt, der diesmal aber viel hastiger ausgetragen wurde. Es wurde mir schnell klar, daß Guthrie wieder verschwunden sein mußte. Als ich auf die Streitenden zuging, schoß mir der alberne Gedanke durch den Kopf, daß Guthrie letztendlich doch noch das Loch entdeckt haben könnte, durch das jeder Alkoholiker liebend gern verschwinden würde, um die Pausen zwischen den leider nun einmal notwendigen Auftritten in der reellen Welt trinkend auszufüllen. Plötzlich rannte Donald Tryer, unser Horatio, an mir vorbei auf den Prinzipal zu und teilte ihm keuchend mit, daß er Guthrie weder in einer Garderobe noch sonst irgendwo im Bühnenraum aufstöbern könnte. In diesem Augenblick fiel der Vorhang. Die Kulissen, vor denen Ophelia und die anderen agiert hatten, wurden hochgezogen und gaben den Blick auf die Zinnen Helsingörs wieder frei. Die helle Beleuchtung wurde auf das mitternächtliche Blau der ersten Szene herabgedämpft, so daß man momentan fast überhaupt nichts erkennen konnte. Ich hörte den Prinzipal mit größtem Nachdruck sagen: »Sie spielen den Geist.« Dann hasteten er und Joe und Don auf ihre Plätze, um sich für ihren eigenen Auftritt bereitzuhalten. Sekunden später ging der Vorhang träge zischend in die Höhe, und ich hörte den Prinzipal mit volltönender Stimme rezitieren: »Die Luft geht scharf, es ist entsetzlich kalt.« Dann Don als Horatio: »‘s ist eine schneidende und strenge Luft.« Inzwischen hatten sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt, und ich sah Francis Farley Scott und John McCarthy Seite an Seite in der Kulisse, durch die der Geist auf die Bühne tritt. Sie schienen noch immer zu streiten, denn jeder der beiden bildete sich ein, der Prinzipal hätte in der Dunkelheit auf ihn gedeutet. Was F.F. betraf, so war es natürlich jederzeit möglich, daß er sich nur diesen Anschein gab. Die Vorstellung von Zwillingsgeistern, die Arm in Arm die Bühne betreten, drohte meinen überreizten, für Komik sehr empfindlichen Verstand ins Schleudern zu bringen. Dann tauchte hinter ihnen jedoch wieder die mächtige Gestalt mit verschleiertem Helm auf – die Geschichte wiederholt sich eben. Auch Scott und McCarthy mußten sie gesehen haben, denn sie blieben abrupt stehen, bevor ich mit meiner Hand die Schulter des dritten Geistes berühren konnte. »Guthrie, sind Sie in Ordnung?« fragte ich flüsternd. Ich weiß, man darf einen Schauspieler vor seinem Auftritt nicht erschrecken, es war sehr töricht von mir, aber die Erinnerung an Monicas panische Angst und die bange Frage, wo Guthrie sich wohl versteckt hatte, machten mich völlig kopflos. In diesem Augenblick hörte ich die Stimme Horatios: »O seht, mein Prinz, er kommt.« Guthrie entzog sich sogleich meinem leichten Griff, trat auf die Bühne, ohne sich auch nur umzudrehen – und ließ mich schaudernd zurück. Denn bei der Berührung seines rauhen, steifleinernen Mantels hatte ich anstelle von Guthries breiten Schultern nur etwas Körperloses gespürt. Ich versuchte mir einzureden, daß es an Guthries Umhang gelegen haben könne, der bei jeder Bewegung ein wenig von seinen Schultern wegstand. Irgend etwas in dieser Art mußte ich mir ja einreden. Dann drehte ich mich um. John McCarthy und F.F. standen vor dem Garderobentisch, zwei dunkle Gestalten, die mir einen neuen Schreck versetzten, was wohl auf meine überspannten Nerven zurückzuführen war. Hinter den Kulissen verborgen beobachtete ich das Geschehen auf der Bühne. Der Prinzipal lag auf den Knien, während er seinen Degen mit dem Heft nach oben wie ein Kreuz hielt und seine lange Rede begann: »Engel und Boten Gottes, steht uns bei!« … Und natürlich hatte der Geist seinen Umhang so eng um sich geschlungen, daß man nicht sehen konnte, was darunter verborgen war. Das kleine grüne Licht in seinem Helm war noch immer nicht eingeschaltet. Für mich war es schrecklich, daß der kleine theatralische Effekt bei der heutigen Vorstellung fehlte, weil ich mir nichts sehnlicher wünschte, als Guthries verwüstetes altes Gesicht zu sehen, um endlich Gewißheit zu erlangen. Gleichzeitig nistete in meiner albernen Fantasie die bizarre Vorstellung, wie Guthries streitsüchtiger Schwiegersohn verärgert die um ihn Versammelten anzischte, daß Gilbert Usher so eifersüchtig auf seinen Schwiegervater sei, daß er ihm nicht einmal erlaube, sein Gesicht auf der Bühne zu zeigen. In der folgenden Szene, wo der Geist allein mit Hamlet auf der Bühne ist, herrschte fünf Sekunden lang vollkommene Finsternis. Erst dann sprach der Geist seine ersten Verse: »Hör an!« Und: »Schon naht sich meine Stunde,/Da ich den schwefligen, qualvollen Flammen/Mich übergeben muß.« Falls irgend jemand von uns befürchtet hatte, der Geist könne seinen Text vergessen haben oder sei so betrunken, daß er nur noch lallte, so waren diese Sorgen im Nu verflogen. Die Verse wurden mit größter Autorität und Wirkung gesprochen. Ich war ziemlich sicher, daß ich Guthries eigene Stimme hörte. Er spielte an diesem Abend sogar besser als sonst und interpretierte die Rolle noch distanzierter, weltferner, allem Erdenleben hoffnungslos entfremdet. Im Zuschauerraum herrschte Totenstille. Ich spürte, wie Francis Farley Scott, der seine Schulter an mich preßte, vor Angst zitterte. Jedes Wort, das der Geist sprach, war wie ein anderer Geist, erhob sich in die Luft und hing schwebend über uns, bevor es in die Ewigkeit entschwand. »Ich bin Deines Vaters Geist: Verdammt auf eine Zeitlang, nachts zu wandern …« Die Worte waren kaum verklungen, da fiel mir ein, daß Guthrie ja tot sein konnte und nun sein Geist gekommen sei, um eine allerletzte Vorstellung zu geben. Ein schauderhafter, unmöglicher Gedanke, aber dann erinnerte ich mich, daß Monica ähnliche oder gar noch schrecklichere Gedanken peinigten. Ich mußte unbedingt zu ihr gehen. Während die Worte des Geistes sich emporschwangen – wunderbare schwarzgefiederte Vögel –, lief ich wieder einmal hinter der Bühne herum. Auf der rechten Seite standen F.F. und John noch genauso da, wie ich sie verlassen hatte, bewegungslose Schemen, erstarrt und gefesselt. Monica hatte sich von dem Schaltpult entfernt und stand jetzt, ein wenig gebückt, nahe dem Scheinwerfer, der ein diffuses blaues Licht auf den Vorhang warf. Ich ging zu ihr hinüber, als der Geist gerade von der Bühne abtrat und sich rückwärts entlang des Lichtkegels bewegte, ohne in ihn hineinzutreten, seine letzten Worte sprechend, die noch schrecklicher und einsamer klangen, als ich sie jemals zuvor gehört hatte: »… Lebe wohl mit eins: Der Glühwurm zeigt, daß sich die Frühe naht, Und sein unwirksam Feuer beginnt zu blassen. Ade! Ade! Ade! Gedenke mein!« Es vergingen ein, zwei Sekunden, ehe im gleichen Augenblick an zwei verschiedenen Stellen Lärm ausbrach: Monica schrie gellend auf, während gleichzeitig im Parkett und auf den Rängen donnernder Applaus losbrandete, angeheizt von Guthries Leuten, aber diesmal das ganze Publikum mitreißend. Meiner Meinung nach war es der größte Beifall, den der Geist in der ganzen Theatergeschichte jemals bekommen hat. In der Tat war mir vorher nie zu Ohren gekommen, daß sich seinetwegen extra eine Hand gerührt hätte. Es war sicher die unpassendste Stelle zum Klatschen, wenn ich auch zugebe, daß die Vorstellung den Beifall durchaus verdient hat. Aber die Atmosphäre war zerstört, und der anhaltende Applaus nahm der Szene viel von ihrem bedrohlichen Charakter. Monicas Schrei erstickte in den Beifallswogen, so daß nur ich und einige andere aus der Truppe ihn hören konnten. Zuerst dachte ich, ich selbst sei die Ursache für den Schrei gewesen, weil ich sie ganz plötzlich, wie zuvor Guthrie, von hinten angefaßt hatte. Aber anstatt zu erschrecken, drehte sie sich um und klammerte sich an mich. Gertrude Grainger und Sybil Jameson nahmen sich ihrer fürsorglich an und versuchten sie zu beruhigen. Der Beifall war abgeklungen. Der Prinzipal, Don und Joe taten ihr Bestes, um die Situation zu retten, während aus den Scheinwerfern ein rosaroter Lichtschein auf die Bühne fiel: Die Dämmerung brach über Helsingör herein. Schließlich beherrschte sich Monica und erzählte uns in hastig hervorgestoßenen Worten, was sie zum Schreien gebracht hatte. Der Geist, sagte sie, sei für einen kurzen Augenblick an den Rand des blauen Lichtkegels getreten, und dabei hätte sie durch seinen Schleier ein Gesicht gesehen, das dem Gesicht Shakespeares aufs Haar glich. Ja, so sei es gewesen. Später geriet ihre Sicherheit etwas ins Wanken, aber als sie uns das erzählte, war sie noch absolut sicher, daß sie Shakespeare höchstpersönlich und niemand anderen gesehen habe. Ich machte die Erfahrung, daß man nicht entsetzt aufschreit oder sich nach außen hin besonders exaltiert benimmt, wenn man so etwas hört. Es bringt einen eher zum Schweigen. Aber ich fühlte mich ziemlich elend, während gleichzeitig meine Verärgerung wegen des Ouija-Brettes wieder wuchs. In der Tat war ich zutiefst erregt und obendrein verdrossen und gereizt, so als hätte eine riesenwüchsige Kreatur die Spielzeugwelt meines Universums in Unordnung gebracht. Sybil und Gertrude schien es genauso zu ergehen. Wir waren wegen dieser ganzen Sache alle sehr bestürzt, und auch Monica war auf ihre Weise eingeschüchtert. Gleich würde der Vorhang nach jener Szene fallen, mit der der erste Akt endet. Dann würden auch die Bühnenlichter aufleuchten. Als der Vorhang schließlich fiel – mit einer weiteren Runde Applaus von jenseits der Rampe – und wir über die Bühne gingen, Monica dicht neben mir, denn mein Arm lag noch immer auf ihrer Schulter, da hörten wir einen erstickten männlichen Schreckensschrei, der uns entsetzte und zur Eile antrieb. Ungefähr zur gleichen Zeit waren fast ein Dutzend Personen auf der linken Bühnenseite versammelt, unter ihnen natürlich der Prinzipal und die anderen, die auf der Bühne gewesen waren. F.F. und Props standen in der Tür zur Requisitenkammer und blickten in den versteckten Teil des L-förmigen Raumes hinab. Sogar von der Seite sahen die beiden recht mitgenommen aus. Dann kniete sich F.F. nieder und verschwand aus meinem Gesichtsfeld, während Props sich in gekrümmter Haltung über ihn beugte. Als wir uns mit hochgereckten Hälsen um Props drängten, um einen Blick zu erhaschen – ich war unter den ersten und stand direkt neben dem Prinzipal –, sahen wir etwas, das nur einen einzigen Schluß zuließ: Dieser Geist würde nie mehr vor den Vorhang treten und sich für den Applaus bedanken können, der noch immer aus dem Zuschauerraum heraufbrandete, obwohl die Hauslichter für die erste Pause bereits an sein mußten. Guthrie Boyd lag in seinen Straßenkleidern auf dem Rücken. Sein Gesicht sah grau aus, seine Augen blickten starr. Um ihn herum verstreut lagen der Umhang des Geistes, der Schleier, der Helm und eine leere Whiskyflasche. Zwischen den beiden unmittelbar aufeinanderfolgenden Erschütterungen – Monicas Enthüllung und die Entdeckung des Leichnams in der Requisitenkammer – hatte sich ein Zustand der Erschöpfung meines Denkens bemächtigt. Monicas hilfloser, ungläubig staunender Gesichtsausdruck verriet mir, daß sie das gleiche wie ich fühlte. Ich versuchte, die Dinge wieder ineinanderzufügen, aber sie wollten einfach nicht mehr zusammenpassen. F.F. schaute uns über seine Schulter hinweg an. »Er atmet nicht mehr«, sagte er, »ich fürchte, er ist tot.« Dann begann er, Boyds Krawatte aufzubinden, sein Hemd aufzuknöpfen und seinen Kopf auf den zusammengerollten Umhang zu betten. Er reichte uns die Whiskyflasche zurück, deren sich Joe schleunigst entledigte. Der Prinzipal schickte jemanden nach einem Arzt, und innerhalb von zwei Minuten brachte Harry Grossman einen aus dem Publikum herauf, der seine Platznummer und sein Köfferchen an der Abendkasse hinterlassen hatte. Er war ein kleiner Mann – kaum die Hälfte von Guthrie – und vor Schreck fast gelähmt, aber er versuchte sich gerade deshalb mit größter professioneller Würde aufrechtzuhalten, als wir ihm Platz machten und uns hinter ihm zusammendrängten. Er bestätigte F.F.’s Diagnose und erhob sich schnell wieder, nachdem er sich für ein paar Sekunden bei Guthrie niedergekniet hatte. Dann sagte er sehr hastig zum Prinzipal, so als würden ihm die Worte entgegen seiner gewohnten beruflichen Zurückhaltung überraschend entschlüpfen: »Mr. Usher, wenn ich nicht selbst Zeuge gewesen wäre, daß dieser Mann soeben eine großartige schauspielerische Leistung vollbracht hat, würde ich denken, er ist seit einer Stunde oder länger tot.« Er sprach so leise, daß ihn nur wenige verstanden, aber ich verstand ihn, und auch Monica schien ihn verstanden zu haben. Und das war die dritte große Erschütterung – ich stellte mir für einen Augenblick das grauenhafte Bild vor, wie Guthrie Boyds Geist oder irgendein anderes Wesen seinen toten Körper zwang, diese letzte Aufführung durchzustehen. Wieder einmal versuchte ich vergeblich, die einzelnen Teile dieses nächtlichen Mysteriums richtig ineinanderzufügen. Der kleine Doktor blickte uns lange und verwirrt an. »Ich vermute, er hat den Umhang über seinen Straßenkleidern getragen?« Er machte eine Pause, bevor er uns fragte: »Er hat doch den Geist gespielt?« Der Prinzipal und einige andere nickten, aber ich vermute, F.F. hatte ihm einen seltsamen Blick zugeworfen, denn der Doktor räusperte sich und sagte: »Ich muß den Mann so schnell wie möglich bei besserem Licht und an geeigneterem Ort genauer untersuchen. Gibt es hier …?« Der Prinzipal schlug ihm die Couch in seiner Garderobe vor, und der Doktor bestimmte Joe Rubens, John McCarthy und Francis Farley Scott dazu, den Leichnam zu tragen. Den Rest von uns bat er, zurückzutreten. Just in diesem Augenblick geschah etwas, das alle Stücke dieses nächtlichen Mysteriums wieder auf ihren angestammten Platz fallen ließ – jedenfalls für mich und auch für Monica, wenn ich die Art und Weise richtig deutete, wie ihre Hand in der meinen zitterte und sich dann fest um meine Hand schloß. Wir waren jetzt im Besitz des Schlüssels zu den unheimlichen Ereignissen. Ich werde Ihnen aber erst erzählen, von welchem Schlüssel ich spreche, wenn ich die Enden dieser Geschichte zusammengeknüpft habe. Der zweite Akt wurde ungefähr eine Minute hinausgezögert, aber dann hielten wir den Zeitplan ein und brachten sogar eine bessere Vorstellung zustande als gewöhnlich – ich kann mich nicht erinnern, die Friedhofs-Szene jemals so intensiv erlebt zu haben. Bevor ich meinen eigenen ersten Auftritt hatte, riß mir Joe Rubens meinen Hut vom Kopf, den ich die ganze Zeit über auf hatte. Ich spielte den Güldenstern mit einer Armbanduhr, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand davon Notiz nahm. F.F. spielte die letzte Erscheinung des Geistes als Stimme jenseits der Bühne. Er imitierte Guthries Stimme recht gut, eine gespenstische Stimme, aber das verlangt ja die Rolle. Bevor das Drama zu Ende ging, hatte der Doktor entschieden, daß Guthrie an Herzversagen gestorben sei. Kein Wort von seinem Alkoholismus. Als der Vorhang nach dem letzten Akt fiel, informierte Harry Grossman Sohn und Tochter und brachte sie mit hinter die Bühne. Angesichts der Tatsache, daß sie sich um den alten Jungen mehr als ein Jahrzehnt lang nicht gekümmert hatten, waren sie jetzt ziemlich zerknirscht. Andererseits schienen sie es zu genießen, einem so großen und feierlichen Ereignis beiwohnen zu dürfen, vor allem Guthries streitsüchtiger Schwiegersohn. Am nächsten Morgen brachten die beiden Zeitungen von Wolverton Schlagzeilen über das Ereignis. Guthrie hat als Geist nie soviel Aufsehen erregt. Die merkwürdigen Umstände sorgten dafür, daß die Pressemeldung rund um die Welt ging. Am Nachmittag des dritten Tages fand die Beerdigung statt, wenige Stunden vor unserer letzten Aufführung in Wolverton. Die ganze Truppe nahm gemeinsam mit Guthries Angehörigen und vielen anderen Wolvertonern daran teil. Die alte Sybil brach am Grabe zusammen und schluchzte hemmungslos. Es mag ein bißchen gefühllos klingen, aber es war für uns doch recht angenehm, daß Guthrie gerade hier gestorben war, denn es sparte uns den Ärger, die Verwandten zu benachrichtigen und aller Wahrscheinlichkeit auch noch für das Begräbnis zu sorgen. Und für den alten Guthrie bedeutete es ein letztes großes Finale. Jedermann außerhalb der Truppe hielt ihn für einen Heros und Märtyrer nach dem Motto: Die Show muß weitergehen. Und natürlich wußten auch wir, daß er in einem tieferen Sinne das auch gewesen war. Wir mußten bei der Rollenverteilung improvisieren, um die Lücke zu füllen, die Guthrie in den Dramen hinterlassen hatte, so daß der Prinzipal nicht gleich einen neuen Schauspieler zu engagieren brauchte. Für mich, und ich glaube auch für Monica, gestaltete sich der Rest der Spielzeit sehr angenehm. Gertrude und Sybil mußten nun ihre Veranstaltungen am Ouija-Brett allein fortsetzen. Und jetzt werde ich Ihnen erzählen, was es mit dem kleinen Umstand auf sich hat, der mir und Monica eine befriedigende Lösung dieses nächtlichen Mysteriums bescherte. Sie werden bemerkt haben, daß Props darin verwickelt war. Als ich ihn daraufhin ansprach, sagte er scheu, daß er mir in diesem Punkte nicht weiterhelfen könne. Er war ja eine Zeitlang dem unerklärlichen Zwang verfallen gewesen, sich betrinken zu müssen, und sein Verstand hatte vollkommen ausgesetzt, schon vor Beginn der Vorstellung bis hin zu dem Augenblick, wo er am Ende des ersten Aktes zusammen mit F.F. an Guthries Leichnam stand. Er erinnerte sich nicht an den Ouija-Schrecken oder an irgendein Wort, das er zu mir über Theater und Zeitmaschinen gesagt hatte. F.F. erzählte uns, daß er Props nach dem letzten Auftritt des Geistes gesehen habe, wie er – in der Dunkelheit nur vage erkennbar – in die leere Requisitenkammer geschlurft sei, wo sie ein wenig später Guthrie am Boden liegend gefunden hatten. Ich glaube, daß der seltsame Blick, den F.F. – dieser realitättrunkene alte Schuft – dem Doktor zuwarf, nichts anderes andeuten sollte, als daß er selbst den Geist gespielt habe. Leider konnte ich ihn deswegen nicht zur Rede stellen. Aber nun zu dem kleinen Umstand: Als sie Guthries Leichnam forttrugen und der Doktor den Rest von uns bat, zurückzutreten, da drehte sich Props gehorsam um, richtete sich auf und warf Monica und mir einen vielsagenden Blick zu. Er schien voller Mitleid, lächelte ernst und verwandelte sich für einen kurzen Augenblick in den ewigen Beobachter der Lebensbühne, für den diese kleine Tragödie nur ein Teilchen im unendlich größeren, endlos interessierenden Lebensplan war. Es dämmerte mir in diesem Moment, daß Props es gewesen sein konnte, denn während unserer Suche hatte er mit größter Aufmerksamkeit den Eingang zur leeren Requisitenkammer beobachtet. Man kann das Kostüm des Geistes ja in Sekundenschnelle aus- oder anziehen (obwohl Props’ Schultern einen Umhang wie den von Guthrie kaum zu füllen vermögen), und dann fiel mir noch ein, daß ich Props und den Geist kurz vor oder während der Vorstellung nie gleichzeitig gesehen hatte. Natürlich, Guthrie war wenige Minuten vor mir angekommen … und gestorben … und Props, ermutigt durch das Trinken, hatte seine Rolle übernommen! Wie Props mir später erzählte, hatte Monica sofort gewußt, daß es sein hochstirniges Gesicht war, auf das sie durch den grünen Schleier einen flüchtigen Blick hatte werfen können. In dieser Nacht waren also vier Geister auf der Bühne gewesen – John McCarthy, Francis Farley Scott, Guthrie Boyd und ein vierter, der die Rolle wirklich gespielt hat. Ob Props nun einen Blackout hatte oder nicht – er kannte die Verse von den vielen, vielen ›Hamlet‹-Aufführungen auswendig, denen er in seinem Leben schon beigewohnt hatte, vielleicht auch von begrabenen Erinnerungen aus der Zeit, da er die Rolle in den Tagen der Königin Elizabeth I. verkörpert hatte – und folglich hatte Billy (oder Willy) Simpson oder einfach Willy S. den Geist gespielt. Denn ein guter Schauspieler springt im Notfall automatisch für einen anderen ein. Das arme alte Gespenst von Heinrich Seidel Heinrich Seidel (1842-1906) war ein Erzähler humorvoller Kleinstadtidyllen und liebenswerter Vorstadtgeschichten, der mit seinen Erzählungen um Leberecht Hühnchen hohe Auflagen erzielte. Er arbeitete nach einem polytechnischen Studium zuerst als Ingenieur und machte sich als Konstrukteur des Hallendaches über dem Anhalter Bahnhof einen Namen, bevor er sich seit 1880 ganz der freien Schriftstellerei widmete. Auch seine kleine Gespenstergeschichte zeichnet sich durch liebenswerten Humor aus. —————————— Am Rande des Kiefernwaldes lag ein wüstes, sandiges Feld. Es war ganz sich selber überlassen; es wuchs darauf, was wollte, und das war recht wenig, denn es gehörte viel guter Wille dazu, auf diesem Felde zu gedeihen. Einige kegelförmige Wacholderbüsche hatten mit zäher Energie es vor sich gebracht und zeigten sich von ferne gesehen als einzelne dunkle Gestalten darüber zerstreut, scheinbar in trauriges Nachdenken versunken über ihren trübseligen Beruf. Eine tapfere und listige Sorte von Sandgras, das unter der Oberfläche in sicherer Tiefe strahlenförmig lange schnurgerade Schossen treibt und aus diesen in abgemessenen Entfernungen seine spitzigen Blätter emporsendet, hatte einzelne Strecken übersponnen, an geschützteren Orten hatte rötliches Heidekraut zu kleinen Flächen sich zusammengedrängt, und auf einem niedrigen Sandhügel stand eine knorrige, verkrüppelte Kiefer, bald mit bloßgelegten Wurzeln, bald auch wieder fußtief im Sande vergraben, je nach des regierenden Windes allmächtiger Herrscherlaune. Dieser kleine Sandhügel, der an sonnenhellen Tagen als ein blendender Punkt in der ebenen Landschaft weithin sichtbar war, hatte sich noch nicht für seine endgültige Form entschieden, und unter Beihilfe gütiger Luftströmungen sich in immer neuen Gestalten der erstaunten Umgebung zu zeigen, war sein unablässiges Bestreben. Der Fleck war einsam und lag an der letzten Grenze der Stadtfelder; niemand suchte dort etwas, weil dort nichts zu finden war. Eine kurze Zeitlang war es anders gewesen, bald nach der Abholzung des kümmerlichen Waldes, der vor Jahren dort gestanden hatte. Es ward bekanntgemacht, daß die Bürger der Stadt an dieser Stelle gegen eine ganz geringe Gegenleistung Kartoffelland erhalten könnten, und es fanden sich zwei Nachbarn, deren Herzen dies Anerbieten mit vagen Hoffnungen und hochfliegenden Spekulationen erfüllte und die in wunderbarer Verblendung von diesem ›Urboden‹ eine üppige Ernte erwarteten. Weise Männer zuckten die Achseln, gewichtige Ackerbürger gaben abmahnende Ratschläge aus dem reichen Schatz ihrer Erfahrung, allein der Dämon der Habgier hatte die Herzen der beiden Männer verhärtet, also daß ihr Sinn verblendet war. Eines Tages ließ der eine derselben, ein Schuster, sämtliche landwirtschaftlichen Schätze, welche seine fleißige Kuh den Winter über produziert hatte, aufladen und hinausfahren. Er schwang selber die dreizinkige Gabel und schaute mit Befriedigung auf den reichen Segen, der ihm verheißend entgegendampfte. Am anderen Tag fand bei dem Nachbar Schneider ein ähnliches Ereignis statt. Aber ach, es war nur eine Karikatur dessen, was wir vorhin gesehen haben. Der arme Schneider hatte es nur zu einem Exemplar jenes Tieres bringen können, dessen männliche Mitglieder von alters her zum Schneiderstand in einer von gewissenlosen Spöttern vielfach ausgenutzten Beziehung stehen, und wer die geringen Leistungen dieses Vierfüßlers für den vorliegenden Zweck aus eigener Anschauung kennt, der wird es begreiflich finden, daß der dünne Schneider und seine kümmerliche Ehehälfte es vermochten, im Laufe des Tages auf zwei Handkarren die ganze wohlzusammengesparte Sammlung auf den Acker zu befördern. Seufzend betrachtete das Ehepaar dort den in üppigen Hügeln sich darstellenden Reichtum des Nachbarn – ach, ungleich verteilt sind die Güter dieser Welt! Nach einigen Tagen ging der Schneider wieder hinaus, um sein Land umzugraben. Wohlausgebreitet, einer Samtdecke vergleichbar, lag jetzt das nachbarliche Gut auf dem Felde. Der Schneider seufzte wieder und begann seine Arbeit. Aber der kräftige Duft, der vom Nebenlande zu ihm herüberwehte, ließ ihm keine Ruhe und befruchtete seine Fantasie. Er sah im Geiste beide Felder nebeneinanderliegen, das eine grün und üppig bewaldet, daß man den Grund nicht sah, das andere mit niedrigen, gelbgrünen Büschen besetzt, so daß man sie vergleichen konnte den beiden Tieren, welche so fleißig für ihr Gedeihen gearbeitet hatten. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe und zu dem Dämon der Habsucht gesellte sich der des Neides. Und aus beider Vermählung ward die Untat geboren, welche dem armen Schneider so verhängnisvoll werden sollte. Er war der ehrlichste Schneider von der Welt gewesen, und seine Hölle war leer geblieben bis auf diesen Tag. Selbst als er dem reichen durchreisenden Herrn den Rock gemacht hatte von dem feinsten Tuche der Welt, dergleichen er nie zuvor und nie nachdem gesehen hatte, behielt er nichts zurück, als, mit Erlaubnis des Fremden, ein kleines Fleckchen, das ihm für diesen meteorglänzenden Höhepunkt seiner Laufbahn als Beweisstück diente. Es lag zu Hause, in sieben Papiere eingewickelt, wohlverwahrt in einer Schachtel. Aber der Mensch soll sich hüten, bösen Leidenschaften die Einkehr in sein Herz zu gestatten. Er hatte aufgehört zu graben und sah sich vorsichtig um, dann stieg er auf einen Stein und reckte sich und schaute in die Ferne, daß er mit seiner dünnen Gestalt wie ein einsames Ausrufungszeichen in der Landschaft stand. Aber es war ringsherum niemand zu sehen, nur ein in Nahrungssorgen vertiefter Storch stelzte in einem fernen Wiesengrunde umher. Der Schneider brachte einen Busch zwischen sich und diesen Storch und schaute wieder auf den Nebenacker. Wie das köstlich und verheißungsvoll dalag! Dann sah er sich noch einmal vorsichtig um und schlich auf das schüsterliche Feld. Nach kurzer Prüfung schob er sein Grabscheit behutsam unter eines jener flachen Gebilde, welche, wie allgemein bekannt, nur der Kuh in dieser Vollendung gelingen und schleuderte es auf seinen Acker. Eine geschickte Verteilung des umherliegenden Materials ließ die entstandene Lücke verschwinden, und bald war die letzte Spur der Tat unter dem Sande verborgen. Mit einem Male geschah ein Klappern auf der Wiese, der Storch hüpfte mit ausgestreckten Beinen eine Weile über das Gras, hob sich dann empor und flog auf die Stadt zu. Der Schneider schrak zusammen und zitterte, ihm war, als habe der kluge Vogel alles gesehen und eile ihn anzuklagen. Doch der Schreck legte sich, und da nun der erste Schritt getan war, so folgten ihm noch manche andere, wobei der vorsichtige Schatzdieb jedoch allemal bestrebt war, die Spuren seiner Tat sorglich zu verbergen. Sie blieb auch unentdeckt. Am anderen Tage schickte der Schuster seine Gesellen und sein Mädchen hinaus, und diese gruben wohlgemut den Acker um, ohne im geringsten an dergleichen zu denken. Dem armen Schneider fiel ein Stein vom Herzen, als in der nächsten Zeit alles still blieb. Die Ruhe seines Gemüts aber war und blieb verschwunden. Es war, als ob ein dämonisches Etwas ihn immer zu dem Kartoffelfelde hinzöge, wo die Jungfräulichkeit seiner ehrlichen Gesinnung neben so geringfügigen und niedrigen Gegenständen begraben lag. Des Abends, wenn es dunkel ward, sah man ihn den Feldweg entlang schleichen und in den Himmel nach Wolken spähen. Von Zeit zu Zeit bohrte er mit dem Fuß im mahlenden Sande, bis er auf die Feuchtigkeit kam, die sich vor den Sonnenstrahlen und dem ausdörrenden Winde in die Tiefe zurückzog. Je klarer der Himmel leuchtete, je bewölkter waren seine Züge, bis endlich der ersehnte Regen kam, mehrere Tage anhielt und einen freundlichen Schein über sein abgewelktes Gesicht verbreitete. Die Kartoffeln mußten von einer leichtgläubigen und vertrauensseligen Sorte sein, denn sie ließen sich durch diesen Regen verleiten zu keimen, nach einiger Zeit streckten sie die ersten grünen Blätter aus dem Sande hervor und schienen gesonnen, auch von den schwierigsten Umständen sich nicht zurückschrecken zu lassen. Ein warmer Frühling und günstige Regengüsse beförderten ihr Wachstum, und nun begann eine neue Qual für den armen Schneider. Das böse Gewissen leitete seine Blicke mit dämonischer Macht immer auf einzelne seiner Pflanzen, welche unter den anderen durch ein volleres Grün und üppigeres Wachstum sich auszeichneten. Seine Schuld wuchs aus dem Boden und jedes dieser Gewächse war eine grünende Anklage. Das Kartoffelkraut mochte etwa die Höhe von drei Zoll erreicht haben, und der Schneider dachte schon daran, ob es wohl Zeit sei zu häufeln, da trat eine große Dürre ein. Der Himmel glänzte wie poliert hernieder und eine unerbittliche Sonne brannte Tag für Tag auf das unbeschützte Feld. Zuweilen rotteten sich nach Mittag einige unternehmende Wolken zusammen und versuchten einen kleinen Angriff; allein am Abend gaben sie schamrot den Versuch auf und die Sonne ging siegreich unter. Einmal gelang es ihnen, sich zu einem Kumulus zu vereinigen, aber sie schienen wenig Vertrauen in sich zu setzen und hatten es sehr eilig. Im hastigen Vorüberschweben bekam das Sandfeld auch seinen Tribut, einige schwere Tropfen fielen puff, puff auf das ausgedörrte Land, und jeder erzeugte eine kleine Staubwolke um sich her. Nach fünf Minuten hatte die gierige Sonne alles wieder aufgesogen. Bald war das ganze Land fußtief in ein feines Pulver verwandelt, das Kartoffelkraut nahm eine gelbgrüne Farbe an und legte sich. Jetzt mußte ein schwerer, nachhaltiger Regen kommen, oder alles war verloren. Das Quecksilber des Barometers, das wochenlang mit einer kleinen Kuppe geziert zu immer heitereren Höhen aufgestiegen war, fing plötzlich an zu sinken. Dann eines Mittags zog ein gewaltiges Gewitter herauf, blieb jedoch in der Ferne stehen und sandte nur einen mächtigen Sturm herüber. Allenthalben in der Weite sah man in dunklen Streifen den Regen aus dem Gewölk herniedergehen, nur hier war weiter nichts als das flatternde Ächzen der Bäume, und die Wege, welche in die Stadt führten, standen wie lange, wogende Staubmauern in der Landschaft. Am Nachmittag konnte der Schneider es nicht länger aushalten und machte sich auf nach seinem Acker. Ein breiter gelblicher Streif zeigte sich ihm an der Stelle, wo er sonst hinter dem Felde den dunklen Wald zu sehen die Berechtigung hatte. Schlimme Ahnung beflügelte seine Schritte, und als er nahe genug war, zeigte es sich, daß sie ihn nicht betrog. Das Schrecklichste, das einem Menschen, der auf Sandfelder seine Hoffnung setzt, geschehen kann, war eingetroffen. Sein Acker befand sich auf Reisen. Mit dem fröhlichen Leichtsinn und der geringen Anhänglichkeit an die Heimat, welche diesem Boden eigen ist, benutzte er die günstige Gelegenheit, andere Gegenden und fremde Länder zu sehen, aufs bereitwilligste. Der arme alte Schneider stieg auf den Sandberg und schaute stumm in das grausige Treiben. Es war heute einer der Glanztage des kleinen Hügels; er konnte dann im Stolz auf seine Proteusnatur stets sagen: »Wer ist unter den Sterblichen, der mich kennt, wie ich jetzt bin und wer unter ihnen dürfte es wagen zu behaupten, daß er mich kennen wird, wie ich morgen sein werde?« Er hatte seine Abnahme- und Zunahmetage, heute war das letztere der Fall und der Schneider saß bereits im wahren Sinne des Wortes auf den Trümmern seiner Hoffnung. Und der Wind heulte und wütete in dem fliegenden Felde, hier häufte er Sandwehen auf, die jede Spur von Grün verschlangen, dort entblößte er erbarmungslos die armen welken Pflanzen bis auf die Wurzel, und über dem Ganzen schwebte, stets wallend und wechselnd, die dichte, hohe gelbgraue Wolke. Am Abend, als es schon zu spät war, kam das Gewitter herauf, ein gewaltiger Platzregen entlud sich und jagte unter Donner und Blitz den armen durchnäßten Schneider wieder nach Hause. Von diesem Schlage erholte er sich nicht mehr. Hatte er sich nun bei dieser Gelegenheit erkältet, oder hatte Gemütsbewegung seine Gesundheit zerrüttet, er verfiel bald darauf in eine heftige Krankheit und nach ein paar Tagen war er begraben. Aber selbst im Grabe hatte sein armer Geist keine Ruhe. Er umflatterte und umschwebte noch immer die Stätte seiner Sorge und seiner Schuld, und indem er die feinsten ätherischen Dünste aus der Luft an sich zog, verdichtete er sich allmählich zum Gespenst. Es möchte an der Zeit sein, die vielfachen und bedauerlichen Irrtümer, welche über die Natur der Gespenster verbreitet sind, einmal näher zu beleuchten. Eine der rohesten Anschauungen lautet: Ein Gespenst ist eine Gestalt in einem weißen Bettlaken, welche nachts zwischen zwölf und ein Uhr Unfug treibt. Ich vermute, daß diese Fabel von einem Liebhaber erfunden ist, den sein Nebenbuhler des Nachts in dieser Vermummung durchgeprügelt hat. Schon der allgemeine Glaube, daß ein Gespenst sich an gewisse engumschriebene Nachtstunden bindet, zeugt von einer betrübenden Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse. Ich glaube des Dankes unserer verstorbenen Mitbürger, welche das Schicksal genötigt hat, sich diesem wenig befriedigenden Beruf zu widmen, gewiß zu sein, wenn ich die Ergebnisse meines eingehenden Studiums über die Natur und die Eigenschaften der Gespenster zur allgemeinen Kenntnis bringe. Vielleicht geschieht dies am besten, wenn ich ganz einfach in meiner Geschichte fortfahre und die weiteren Schicksale, welche den armen alten Schneider in seiner neuen Laufbahn trafen, ans Licht der Öffentlichkeit ziehe. Sein Geist war also zu dem Anfang alles wirklichen Gespenstertums gelangt, er hatte wieder eine sichtbare Hülle angenommen. Diese Hülle war ein feiner ätherischer Dunst, der die Umrisse seines verstorbenen Körpers trug, und zwar mit der Kleidung, welche er im Hause zu tragen gewohnt war, die in Schlappschuhen, einem Paar Unterhosen, einer Flanelljacke und einer baumwollenen Zipfelmütze bestand. Man darf es glauben, es war ein recht armes, altes, kümmerliches Gespenst. Gar oft saß es an stillen, heißen Sommertagen auf dem kleinen Sandhügel auf den Wurzeln der alten knorrigen Kiefer und spähte nach seinem Schatten, der nicht vorhanden war. Ja selbst seinen eigenen Dunstkörper konnte es zu solcher Zeit nicht erblicken, und es gehört zu den niederdrückendsten Gefühlen von der Welt, daß man die ganze Umgebung ringsumher zu sehen vermag, nur die eigene Hand nicht, auch wenn man sie sich dicht vor die Augen hält. Nur in der Nacht bei Mondschein gegen einen dunklen Hintergrund gesehen, ward es sich und anderen sichtbar, auch leuchten die Gespenster mit einem matten phosphorigen Schimmer, der sich nur zur Nachtzeit offenbart. Aus diesen bis jetzt nicht bekannten Eigenschaften ist wahrscheinlich zu erklären, daß sich so viele irrige Meinungen über die Erscheinungszeit der Gespenster gebildet haben. Die größte Plage für den armen, unglücklichen Schneider war die Langeweile, die entsetzliche, bodenlose, ewige Langeweile, welche sich seiner bemächtigte. Ohne Schlaf, ohne Abwechslung, ewig Tag und Nacht ruhelos auf dem kleinen Sandfelde umhergetrieben, dehnten sich ihm die Stunden zu endloser Länge. Dazu ward er von gespenstischen Empfindungen seiner früheren menschlichen Neigungen geplagt. Er empfand zu den bestimmten Zeiten einen gespenstischen Hunger und Durst, eine gespenstische Müdigkeit, ohne das Vermögen zu haben, diese Triebe zu befriedigen. Am Tage saß er, wie gesagt, gern auf dem kleinen Hügel und spähte dann in die Landschaft hinaus und zu der Stadt hinüber, die fern hinter dem Wiesengrunde zwischen Bäumen versteckt lag, oder er wanderte ruhelos an der längst verwehten Scheide, welche die beiden verhängnisvollen Acker einst trennte, auf und ab. Die kleinen blauen Schmetterlinge, welche über dem Heidekraut ihr Wesen trieben, flogen ungehindert durch ihn hindurch, und eines Tages, als er gerade so stand, daß ein dürrer Zweig in seinen Leib hineinragte, kam ein kleiner Vogel geflogen, setzte sich auf diesen Zweig und sang. Das Tier saß genau in seinem Magen, ohne auch nur das geringste davon zu bemerken. Eine andere Pein für den armen Schneider war, daß niemals des Nachts ein Mensch in diese Gegend kam, welchem gegenüber er in seinem Beruf hätte arbeiten können. Wenn er auch nur ein armes, altes und sehr kümmerliches Gespenst war, so hatte er doch den Ehrgeiz seines neuen Standes und es hätte ihm wohlgetan, was er im Leben nie erreicht hatte, nämlich einen Menschen fürchten zu machen, nach seinem Tode noch gelingen zu sehen. Aber die Gegend war wüst und einsam, es hatte am Tage niemand dort zu tun, und noch weniger des Nachts. So kam zu allem noch der nagende Kummer eines verfehlten Berufes und das niederschlagende Bewußtsein, für den besten Willen in der Welt ohne Anerkennung zu bleiben. Aber die Zeit mag noch so langsamen Schneckenganges gehen – sie geht doch wenigstens, aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre, und immer noch schwebte das arme alte Gespenst einsam, verlassen, ohne Anerkennung an dem alten Ort. Doch endlich in einer wundervollen, mondhellen Sommernacht sollte der langgehegte Wunsch in Erfüllung gehen. Der gespenstische Schneider saß gerade wieder auf seinem Hügel, da hörte sein feines Ohr im Walde ein Geräusch, und kurze Zeit darauf sah er eine menschliche Gestalt, vom Monde hell beleuchtet, auf das Sandfeld heraustreten. Die Gestalt schaute sich um und schritt dann auf den Hügel zu. Es schien ein Student zu sein, wie sich beim Näherkommen zeigte; er trug eine bunte Mütze und eine leichte Wandertasche. Das Gespenst zitterte an allen Gliedern vor Aufregung, es machte sich so lang es konnte, versuchte sich ein wenig aufzublasen und bemühte sich, schrecklich zu sein. Infolgedessen sah es über alle Begriffe komisch aus. Das fand auch der lustige Student, denn er lachte, als er es erblickte und rief: »Guten Abend, altes Gespenst, könnt Ihr mir nicht sagen, wo der Weg zur Stadt geht, ich habe mich verirrt!« Das Schreckliche, was der arme Schneider im geheimen gefürchtet hatte, das Jämmerlichste, welches seinem Stande begegnen konnte, war eingetroffen, der erste Mensch, welcher ihn sah, fürchtete sich nicht einmal vor ihm. Doch so leicht wollte er es nicht aufgeben und noch einmal blies er sich auf, verzerrte seine Züge und begann feierlich auf den Studenten loszuschreiten. Doch dieser lachte wieder und sprach: »Ach laßt das nur. alter Herr, es kleidet Euch nicht. Ihr habt Euern Beruf verfehlt. Warum habt Ihr kein anderes Metier ergriffen,– als Gespenst werdet Ihr es nie zu etwas bringen!« Das war zuviel für den armen Schneider, er stieß einen wehmütigen Klagelaut aus, sank auf eine Baumwurzel nieder und verbarg das Gesicht in beiden Händen. Der Student war eine mitleidige Seele. »Was habt Ihr denn, altes Phantom?« fragte er liebreich und setzte sich zu ihm, »wenn ich Euch helfen kann, so tue ich es gern, ich habe zu Berlin die Schwarzkunst studiert und fürchte mich vor nichts.« Der Student redete ihm so freundlich zu, daß der arme alte Schneider das Gespenst der Rührung empfand und alles herunterbeichtete, was er auf der Seele hatte. Es war das erstemal, daß er seine Schuld offenbarte. Und wie er sprach und sich selbst anklagte, ward seine Dunstgestalt immer blasser und blasser und die letzten Worte erschallten nur noch wie aus leerer Luft. Das bloße Geständnis hatte ihn befreit. Dann hörte der Student es in einiger Entfernung aus den Lüften tönen: »Dank, Dank, du hast mich erlöst.« Dann von Zeit zu Zeit, aus der Richtung, wo die Stadt lag, kam immer ferner und leiser ein Ruf: »Dank … Dank … Dank!« Zuletzt nur noch wie ein Hauch, dann war alles rundherum still. Der Student saß lange nachdenklich auf dem Hügel und schaute der Richtung nach, wo er die Stimme zuletzt gehört hatte. Im Osten rötete sich der Himmel, und als die Sonne emporstieg und rings alles wieder im glänzenden Licht dalag, brach er einen Zweig von der alten Kiefer, steckte ihn an seine Mütze und wanderte auf die Stadt zu, welche im Schimmer der Morgensonne vor ihm lag. Die Klausenburg von Ludwig Tieck »Selbst die schönste Gegend hat Gespenster, die durch unser Herz schreiten, sie kann so seltsame Ahnungen, so verwirrte Schatten durch unsere Fantasie jagen, daß wir ihr entfliehen und uns in das Getümmel der Welt hinein retten möchten …« So entsteht nach den Worten des Romantikers Ludwig Tieck (1773-1853) das Wunderbare in der Poesie, aus dem alle romantische Dichtung erwächst, »indem wir die ungeheure Leere, das furchtbare Chaos mit Gestalten bevölkern«. Und so bemächtigt sich dieser abgründigen Märchenwelt auch das Grausige und Schreckliche, das Seltsame, Groteske und Dämonische. Märchen wie ›Der blonde Eckbert‹ und der ›Runenberg‹ (1802) haben nichts mehr mit der Naivität des Volksmärchens gemeinsam und führen bereits in das entfremdete Grauen zwischen Traum und Wahnsinn. Das Sammelwerk ›Phantasus‹ (1812-1816) leitete in Tiecks realistische Spätzeit über, in der die Novellenform vorherrscht. Seine zahlreichen späten Novellen vermitteln eine sich im Gesprächsstil entwickelnde realistische Weltsicht, die dennoch nicht Tiecks ins Bizarre und Gespenstische abschweifende Fantasie gänzlich verleugnen kann. Eine echte ›Gespenster-Geschichte‹ ist ›Die Klausenburg‹ aus dem Jahre 1837. —————————— Es war fast Mitternacht. Sie wird heut nicht mehr kommen, sagte der junge Graf, das Schloß liegt ihr zu fern, das Wetter ist ungewiß, die Wege sind nicht die besten. Und, rief der junge Anselm, was wetten wir, daß sie dennoch erscheint, trotz allen Ihren Befürchtungen? denn sie reist gern in der Nacht, sie hat es versprochen und setzt alles an ihr Wort. Wetten? antwortete Graf Theodor, ich bin kein Freund davon, aber ich wünsche, daß Ihre Vorhersagung, Baron, die Sie so dreist aussprechen, in Erfüllung geht; denn wir gewinnen alle, wenn Sie recht behalten. Und tritt der Fall nicht immer ein? rief der hochmütige Anselm mit schnödem Tone. Wenn Sie Ihrer Sache so überaus gewiß sind, rief Theodor ihm entgegen, so tun Sie wenigstens unrecht, Wetten anzubieten. Anselm sagte: wenn Sie es scheuen, Geld zu wagen, so ließe sich ja auch die Frage anders stellen. Thedor stand auf, als wenn er dem Redenden näher treten wollte, die Wirtin des Hauses aber, welche diesen Ungestüm der beiden jungen hochfahrenden Männer fürchtete, begütigte sie beide, indem sie das Gespräch auf andere Gegenstände richtete. Sie forderte einen ältlichen, kleinen Mann auf, in der Geschichte, welche zufällig war unterbrochen worden, fortzufahren, doch dieser sagte mit einer schlauen Miene: Verehrte Baronin, es möchte in diesem Augenblicke zu spät sein, denn vom Tale herauf höre ich schon ein Posthorn klingen, und jetzt möchte ich auch darauf wetten, daß in weniger als einer Viertelstunde die schöne Sidonie hier im Saale stehen wird. Sie hören? sagte Theodor; ich vernehme nichts, und es ist nur eine Einbildung von Ihnen. Herr Oberforstmeister, rief der kleine Mann, allen Respekt vor Ihren Talenten und den Gaben aller hier Anwesenden, was aber Ohren betrifft, so meine ich, daß keiner der Verehrten hier sich in Feinheit noch Größe derselben mit den meinigen wird messen können: und darum höre ich so richtig in die Ferne hinein. Alle lachten, denn sie kannten die Art und Weise des Alten, dessen Scherz darin bestand, sich immer selber preiszugeben, und Blößen und Fehler an sich zu ersinnen, die jeder andere, auch wenn er an ihnen litt, geflissentlich ableugnete. Ein solcher Gesellschafter ist immer beliebt, weil er keiner Eitelkeit in den Weg tritt, und sich geschmeichelt fühlt, wenn man über ihn lacht. Der alte Freiherr Blomberg hatte aber recht, denn so wie der Reisewagen langsam den steilen Berg hinanfuhr, hörten alle das mahnende Posthorn, bald schwächer, bald deutlicher, je nachdem der Weg sich krümmte, oder der Wind die Töne über den Wald hin verwehte. Die Wirtin schellte, und die Bedienten eilten hinaus, um den edlen, wohlbekannten Gast zu empfangen. Wer wettet jetzt mit mir, rief der alte Blomberg laut, daß Fräulein Sidonie ankommt? Indem alle mit Heiterkeit dem Alten Beifall zunickten, stand Anselm hastig auf und rief: so wett’ ich denn hundert Dukaten, daß sie in dieser Viertelstunde noch nicht kommt! So! rief Blomberg und hielt die Hand hin, in welche Anselm einschlug. Indem sich alle noch verwundert und die beiden törichten Menschen fast mit höhnischen Blicken anschauten, rissen die Diener die Türen auf, und eine große, mit vielen Kleidern und Tüchern verhüllte Gestalt folgte ihnen langsam und laut fluchend. Da alle fast erschraken, nahm der Fremde Reisemütze, Kopftuch und Mantel ab, und ein altes, blasses Gesicht kam zum Vorschein, welches allen, im ersten Augenblick, ganz unbekannt schien. Er sah sich etwas scheu im Saale um und rief dann: Nun? mir ist, als wenn ich hier ganz unerwartet käme! Kein Mensch will mir willkommen! sagen? Und meine Nichte Sidonie ist auch noch nicht hier? Ei, Graf Blinden! rief die Wirtin jetzt aus, und eilte auf ihn zu: wie kommen Sie zu uns? wir hatten Sie nicht erwartet. Und freilich haben Sie sich in den fünf Jahren verändert, in welchen ich Sie nicht gesehen habe. Das läßt sich denken, sagte der Alte und nahm in einem Sessel behaglich Platz, indes sich die übrige Gesellschaft um ihn her stellte. Ich bin eben erst von einer sehr schweren Krankheit genesen, ich reise in das Bad, und wollte mich bei Ihnen, Cousine, ein paar Tage ausruhen. Und ganz ähnlich sieht das meiner Sidonie, daß sie mich nicht gemeldet hat, wie ich ihr doch auftrug, denn sie weiß es schon seit einer Woche, daß ich herkommen will. Für den alten, von der Reise erschöpften Mann wurde sogleich Glühwein zubereitet, und der alte Blomberg hatte dessen kein Hehl, wie verdrießlich er darüber sei, daß er so gegen alle Wahrscheinlichkeit sein Geld verloren hatte. Der schon übermütige Anselm triumphierte jetzt um so mehr, und als der Angekommene die sonderbare Sache vernahm, neckte er den kleinen Mann mit seiner verlorenen Wette so sehr, daß Blomberg endlich ausrief: Nun will ich aber beschwören, daß unsere eigensinnige Sidonie heute gar nicht mehr anlangt! Sie setzt etwas darein, alles immer anders zu tun, als die übrigen Menschen, oder als man es erwarten darf. Das weiß der Himmel, sagte Blinden, indem er sich am heißen Weine erquickte; das hat keiner so sehr empfunden als ich, so lang ich ihr Vormund war. Sie hat ein wahres Studium daraus gemacht, denen Menschen, welche sie ihre Freunde nennt, das Leben sauer zu machen. Gnade Gott dem Ärmsten, der sich einmal zu ihrem Liebhaber aufwerfen möchte, oder noch schlimmer, wen sie einmal zu lieben vorgeben sollte. Lieber Galeerensklave sein. Aller Blicke wendeten sich in scharfer Beobachtung zugleich auf den jungen Grafen Theodor, und Anselm, der keine Gelegenheit vermied, seinen Übermut zu zeigen, lachte laut. Theodor, der schon gereizt war, ging auf den lachenden jungen Mann mit drohendem Auge zu, indem er überlaut fragte: Darf man wissen oder erfahren, was Sie zu diesem übermäßigen Gelächter bewegt? Nichts anders, erwiderte Anselm ganz trocken, als die Betrachtung, daß es doch immer wieder die Liebe ist, die alles verwirrt und in Bewegung setzt. So dachte ich denn eben, wie hübsch sich die, so oft nur allzu langweilige politische Geschichte ausnehmen müsse, wenn man sie einmal von dieser Seite darstellte, und alle jene unsichtbaren Fäden sichtbar machte, die der sogenannte Amor knüpft und löst, häufig die ernstesten Minister und Herrscher an der Nase führt oder gängelt, und, wie oft, hinter der Maske spielt, die der betrogenen Welt ein ganz ehrbares Gesicht entgegen richtet. Das ist ja schon genug geschehen, sagte der alte Blomberg, was Sie da wünschen. Sie sind nur, junger Herr, in Memoiren und Klatschgeschichten zu wenig belesen. Was will man nicht alles von Franz dem Ersten, dem Dritten und Vierten Heinrich, den Medicäern, Ludwig dem Vierzehnten, von einigen spanischen Tyrannen und dem englischen Carl und Jakob dem Zweiten wissen. Wie vieles auch wahr ist, so haben doch manche Zungen, die nur lästern mögen, gerade dadurch die Sachen entstellt, daß sie bloß die Ausschweifung als Motiv und Verknüpfung aller Begebenheit erzählten. Sehr wahr! rief der alte Blinden: und wenn wir alle hier, die Besten im Saale nicht ausgenommen, Regenten wären, wie viele Lügen würde man von uns erzählen, da wir schon in unserm Privatstande der Verleumdung nicht entgehen können. Erinnern Sie sich, lieber Blomberg, was Ihre Neider in Ihrer Jugend sich hinterrücks zuraunten, was man über mich lästerte, ja unsere ehrwürdige Wirtin wurde nicht verschont, und es gibt ja böse Menschen genug, zu denen ich selbst in manchen Stunden gehöre, die Sidonchen ebenfalls scharf hernehmen. Da die Baronin sah, daß Theodor schon wieder auffahren wollte, suchte sie das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu lenken, indem sie sagte: Aber Graf Blomberg könnte uns doch die Geschichte zu Ende erzählen, die grade beim interessantesten Punkte abgebrochen wurde. Graf Blinden, welcher nicht ermüdet schien, fragte nach der Geschichte und Blomberg sagte: Lieber Freund, es ist eine Art von Gespensterhistörchen, eine der Erzählungen, in welchen die guten redlichen Geister eben so verleumdet und verklatscht werden, wie regierende Häupter oder angesehene Menschen. So, daß es scheint, es gibt nirgendwo Ruhe und Sicherheit vor dieser allgemeinen Verlästerung. Wenn es die Geister von namhaften Leuten sind, antwortete Blinden, so ist es leicht jenen Abgestorbenen verdrießlich, sind es aber nur allgemeine anonyme Gespenster, so hat es gar nichts zu bedeuten. Und am Ende, was ist das Schlimmste, was man ihnen nachsagen kann? Daß sie umgehn, keine Ruhe im Grabe finden, noch etwas des Hiesigen an Neid, Bosheit, Geiz, oder so was mit hinüber genommen haben, und sich nun so lange schütteln müssen, bis alle diese Schlacken von ihnen abfallen. Was ist daran nun Besonderes? Ei! Ei! erwiderte Blomberg, boshaft lachend, – hätten Sie nur, teurer Mann, noch Ihre ehemalige Korpulenz und jene Frömmigkeit, mit welcher ich Sie vor zwanzig Jahren gekannt habe, und Sie säßen meditierend in Ihrem Lehnsessel, und plötzlich – plötzlich – Nun, rief Blinden – machen Sie mir nicht bange – ich bin noch nervenschwach von meiner Krankheit her. – Und plötzlich hätten Sie furchtbare Krämpfe, und fluchten und lästerten ganz gegen Ihre gewohnte Weise, und zweifelten an Gott und Mensch und Schicksal, und betrügen sich in allen Ihren Manieren wie der ausgemachteste Atheist, und wären, mit einem Worte es zu sagen, plötzlich ein ganz gottloser Kerl geworden – Ach! rief Blinden, – das sind so von Ihren Albernheiten! Ich müßte ja von zwanzig Teufeln besessen sein. Jawohl, sagte Blomberg ganz gelassen, so glaubte man sonst in der altfränkischen Art unserer Vorfahren, aber durch die neueren und sicheren Entdeckungen des tierischen Magnetismus – Ich will nichts von solchen Brutalitäten wissen, sagte Blinden. Hilft nichts, fuhr Blomberg fort, wir mögen uns sträuben, soviel wir wollen, so nimmt uns doch oft, ohne uns zu fragen, diese geistige Viehheit, oder verviehte Geistheit mit. Und in diesem Zustande, in welchem wir durch Bretter, Mauern und Türme, so wie in Vergangenheit und Zukunft hineinsehen können, sind wir doch so schwach, daß Verstorbene, die sich schon seit zwei-, dreihundert Jahren jenseits mit ihren Zweifeln und Gottlosigkeiten quälen, in uns, ohne nur anzufragen, hineinsteigen mögen, um in unserm Wesen ihr Sündenleben weiter zu führen, und sich allgemach dann von unserem Geiste und unserer frommen Überzeugung bekehren zu lassen. Dies, Freunde, ist eine der interessantesten und auch wichtigsten Entdeckungen der neuern Tage. Es ist eine neumodische Anwendung des vormaligen Einquartierungs-Systems, und es ist nicht zu berechnen, wieviel ein solcher Gast, oder mehrere seines Gelichters von meinen guten und redlichen Eigenschaften, den unentbehrlichsten Überzeugungen und den edelsten Gesinnungen mir wegzehren, wenn sie einmal meine Hospitalität so gewaltsam in Anspruch genommen haben. Und diese Tollheit, fragte Blinden, wäre authentisch verifiziert? Sogar philosophisch argumentiert, antwortete jener, und verklausuliert. Dagegen können nun Zweifelsucht und Philisterei nicht mehr aufkommen. In den Annalen der Menschheit macht diese Entdeckung eine Epoche, und es bleibt nur zu überlegen, welche Maßregeln man gegen dergleichen Überrumpelung treffen könne. Die Philosophie wird nun zunächst entdecken müssen, wie wir auf psychologischem Wege und in körperlicher Rücksicht durch Diät unsern Geist und Leib in eine Festung verwandeln mögen, um uns vor derlei Überfällen sicher zu stellen. Denn es ist ja begreiflich, bei den Tausenden von vagierenden und vacierenden Seelen ehemaliger arger Sünder, welchen Appetit diese bekommen, wenn sie so stille, fette, fromme und in sich behagliche Menschen-Kreaturen sehen, sich in diese hineinzustürzen, um sie zu Bosheiten anzutreiben, oder sich gleichsam in deren religiösen Gefühlen und edlen Stimmungen zu baden und abzukühlen. So werden wir nach der Reihe Kerker und Zuchthaus, wo dieses verbrecherische Gesindel seine Strafzeit absitzt, und welches gebessert und zum ewigen Leben reif aus uns wieder hinausstürzt. Und wir haben das Nachsehn. Es schien, als wenn Graf Blinden um eine Antwort verlegen wäre, und Theodor, welcher nur halb auf die Reden Blombergs hingehört hatte, erinnerte diesen, seine Geschichte zu beschließen, deren Ende die Baronin, die Wirtin des Hauses, auch mit Neugier erwartete. – Blinden fragte, wovon die Rede sei, und Theodor nahm das Wort: Ich will Ihnen kürzlich das wiederholen, was uns Freund Blomberg vorgetragen hat, damit Sie wenigstens den Zusammenhang begreifen. Es werden jetzt ungefähr fünfzig Jahr sein, daß eine reiche Familie hier oben im Gebirge wohnte. Es ist nicht weit von hier, wo man noch die Trümmer des ehemaligen Schlosses sieht, welches vom Gewitter und Feuer zerstört, im Kriege ganz verwüstet wurde, und jetzt nur noch zuweilen von Jägern oder verirrten Wanderern besucht wird. Die Leute der Gegend nennen die Ruine die Klausenburg. Geht man den einsamen Fußsteig hinan, durch den Fichtenwald, und klettert dann die weglose Klippe hinauf, so steht man vor einem alten, fest verschlossenen Tore, dessen Mauern der lebendige Felsen bildet. Außen am Tore ist von Eisen eine Stange mit einem Griffe, als wenn diese eherne Linie mit einer Glocke hinter dem Tore zusammenhinge. Als ich einmal auf der Jagd dorthin gekommen war, zog ich an dieser Eisenstange, aber kein Laut ließ sich von innen auf diese Mahnung vernehmen. Da niemand, als nur mit Beschwer, zu dieser einsamen Stelle gelangen kann, und es von der andern Seite wegen der Abgründe und schroffen Klippen fast unmöglich ist, hinüberzuklettern, so sind im Munde des gemeinen Mannes viele Sagen und Märchen von dieser seltsamen Klausenburg, deren Überreste wirklich einen gespenstischen Anblick darbieten. Nun lebte vor länger als hundert Jahren, so erzählt man sich nämlich, ein sehr reicher Mann dort, der wohltätig, fleißig und daher von Freunden und Untertanen sehr geliebt war. Er hatte sich schon früh aus dem Staatsdienste zurückgezogen, um ganz der Bewirtschaftung seiner Güter leben zu können, deren er verschiedene im Gebirge hier besaß, samt Bergwerken, Glashütten und Eisenschmelzereien, die er aus seinen großen Forsten mit Vorteil bearbeiten konnte. War dieser Mann von seinen Untergebenen geliebt, so wurde er auch von vielen seines Standes gehaßt und beneidet, von denen die Klügeren ihm zürnten, weil er sie vermied, und sie wohl einsahen, daß er sie ihres Unfleißes wegen nur gering schätze: die Einfältigen glaubten aber, und erklärten es unverhohlen, Graf Moritz habe ein Bündnis mit dem Satan geschlossen, und deshalb gelinge ihm alles so über Erwarten. So albern dies Geschwätz war, so tat es dem fleißigen Manne doch in jener frühen Zeit Schaden: denn die Jahre lagen noch nicht so gar fern, als man wegen Hexerei und Pakt mit dem Bösen Männer und Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Der Graf also zog sich mißmutig immer mehr in sich und die einsame Klausenburg zurück, und ihm war nur wohl, wenn er sich von Geschäften mit verständigen Bergleuten, Maschinenmeistern oder Gelehrten unterhalten konnte. Da er es wußte, mit welchem Mißtrauen ihn die alten Priester betrachteten, die seinen Kirchspielen vorstanden, so zeigte er sich auch nur selten in der Kirche, was aber auch nichts dazu beitrug, seinen Ruf in der Umgegend zu verbessern. Es fügte sich, daß eine Horde von Zigeunern, die damals noch ziemlich ungestört in Deutschland umherschwärmten, in diese Gegend geriet. Die Fürsten des Landes und die Regierung waren unschlüssig und saumselig, dem Unfug zu steuern, mehrere Grenzen vereinigten sich in der Nähe, und so geschah es, daß dieses Volk ungestraft, selbst unbewacht sein Unwesen treiben konnte. Wo sie nichts geschenkt erhielten, raubten sie; wo man sich ihnen widersetzen wollte, brannten in der Nacht Scheunen ab, und so gingen, da das Feuer um sich griff, zwei Dörfer zugrunde. Da vereinigte sich Moritz mit einigen seiner Nachbarn, welche Entschlossenheit zeigten, und mit diesen verfolgte und strafte er das Gesindel aus eigner Machtvollkommenheit. Gefängnisstrafe, Geißelung, Hunger und Schläge wurden angewendet, ohne die Gerichte weiter zu bemühen, und nur einige der überwiesenen Mordbrenner schickte er nach der Stadt, damit sie dort nach dem Zeugenverhöre, und ihres Verbrechens überwiesen, am Leben gestraft werden möchten. Der Graf hielt sich für den Wohltäter des Landes. Wie gekränkt mußte er sich also fühlen, als seine Neider und Verleumder gerade diese Umstände benutzten, ihn der schwärzesten Verbrechen, der abscheulichsten Unbilden zu beschuldigen. Diesem Undank wußte er nichts als einen stillen Zorn und eine vielleicht zu großmütige Verachtung entgegenzusetzen. Denn, wenn der edle Mann immer schweigt, so gewinnt bei Einfältigen und Charakterlosen Verleumdung und Lüge um so mehr Glauben. Konnte er sein Herz nicht zwingen, seinen Gegnern durch Gespräch, Erzählung, Auseinandersetzung der Umstände in den Weg zu treten, so fühlte er sich ganz entwaffnet, als er entdeckte, wie sehr er in seiner eignen Familie und von dem Wesen, was ihm am nächsten stand, verkannt wurde. Er hatte spät erst sich vermählt, und die Gattin lag jetzt krank, weil sie ihm vor einigen Tagen einen Sohn geboren hatte. Mit der leidenden Frau konnte er nicht streiten oder ihr heftig antworten, als sie ihm wegen seiner Grausamkeit Vorwürfe machte, die er gegen schuldlose arme Menschen ausübe, die wohl sein Mitleiden, aber keine unmenschliche Verfolgung verdienten. Als ihm im Vorzimmer einige Basen dasselbe, nur in gemeineren Ausdrücken sagten, mochte er seinen lange verhaltenen Grimm nicht länger zurückhalten, seine zornig scheltenden Antworten, seine Flüche waren so heftig, die Gebärden des gereizten Mannes so übermenschlich, daß die alten schwatzenden Weiber alle Fassung verloren und einer Ohnmacht nahe waren. Er ließ sie, damit die kranke Gattin nicht alles von ihnen sogleich wieder erführe, mit Gewalt auf ein andres Gut bringen und ritt dann in das tiefe Gebirge hinein, teils um sich am Anblicke der erhabenen Natur zu zerstreuen und zu stärken, teils um sich wieder zu seinem Streifzuge zu begeben und als Anführer gegen die Bande der Zigeuner zu ziehen. Wie erstaunte er aber, als er vom Oberförster erfuhr, daß jene Edelleute, die sich mit ihm diesem Kriege gegen die Landstreicher unterzogen hatten, alle ohne weitere Anzeigen entwichen und auf ihre Schlösser zurückgekehrt seien. Er ließ sich nicht irren, und es gelang ihm, wieder einige der Bösewichter zu fangen, die sich grober Missetaten schuldig gemacht hatten. Er befahl, sie gefesselt in einen sichern Kerker zu werfen. Als er, da er alle Leute entfernt hatte, einsam und gedankenvoll nach der Klausenburg zurückritt, empfing ihn am Tore des Schlosses sein alter Kastellan und übergab ihm ein großes Schreiben, welches aus der Stadt und von der Regierung eingelaufen war. Mit ahndendem Verdruß öffnete er das Paket, war aber doch von dem Inhalte desselben überrascht, so daß sich sein Zorn bis zur Wut, ja fast bis zur Raserei steigerte. Die Briefe enthielten nichts weniger als eine peinliche Anklage auf Mord und Hochverrat, indem der Graf sich durch Willkür und Anführung einer bewaffneten Schar, der Regierung als Rebell gegenübergestellt habe. Fast bewußtlos ließ er diese unsinnigen Briefe fallen, sammelte sich dann mit Gewalt und ging nach seinem Zimmer, um nach einiger Zeit diese Anklage ruhiger zu überlesen und zu bedenken, wie er sich ihr entgegenstellen solle. Indem er vor dem Schlafzimmer seiner Gemahlin vorbeiging, hörte er drinnen reden und ihm unbekannte Stimmen. Hastig öffnete er die Tür, und was er jetzt erblickte, darauf war er freilich nicht vorbereitet. Zwei schmutzige, in Lumpen gekleidete alte Zigeunerinnen saßen an dem Bett der Kranken, und prophezeiten dieser ihr Schicksal, indem sie widerlich ihre häßlichen Gesichter verzerrten. Mit Recht entsetzte sich die Wöchnerin, als sie ihren Gemahl eintreten sah, denn was er jetzt tat, war unmenschlich. Wut ergriff ihn, und er wußte nicht, was er tat. Bei den greisen langen Haaren faßte er die Prophetinnen, riß sie zur Tür und warf sie die hohe steile Treppe hinab. Seine Leute liefen zusammen. Diesen befahl er, sie unten an der steinernen Säule festzubinden, ihnen den Rücken zu entblößen und sie so lange und so heftig mit Peitschen zu züchtigen, bis den Dienern seiner Grausamkeit die Kräfte entwichen. So geschah es. Er hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen, und als er zu sich kam, erstarrte er selbst über sich, zu welcher Unmenschlichkeit er sich habe hinreißen lassen. Durch ein lautes Pochen an der Tür wurde er aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Er öffnete, und mit allen Zeichen der Angst trat ein Diener herein, welcher sagte: O mein gnädiger Graf, ich fürchtete, Sie seien krank, wohl gar tot, denn ich klopfe schon lange, und Sie müssen mich nicht gehört haben. – Was willst du? – Die älteste, antwortete der Diener, von den garstigen Hexen will Sie durchaus auf eine Minute sprechen, bevor sie das Schloß verläßt. Sie läßt sich durchaus nicht abweisen, und die härtesten Drohungen und Flüche fruchten bei dem alten Weibe nichts. – So ließ der Graf denn die Gemißhandelte in sein Zimmer heraufsteigen. Der Anblick der Armen war zum Entsetzen: der Graf selbst schauderte zurück. Ganz mit Blut beronnen, Gesicht und Arme zerschlagen, eine tiefe Wunde am Kopfe, die man noch nicht verbunden hatte: so trat sie vor ihn. Ich danke dir, so fing sie an zu sprechen, mein gütiger Bruder, für deine christliche Freundlichkeit, die ich in deinem Schlosse genossen habe. Ja wohl bist du ein tugendhafter Mann, ein Verfolger des Lasters, ein unparteiischer Richter und Bestrafer der Untaten. Nicht wahr, ein Racheengel im Dienst deines Gottes? Ist es dir denn bekannt, weichherziger Mensch, weshalb wir am Bette deines Weibes saßen? Ja, wir hatten ihr gewahrsagt, aber eigentlich wollten wir dich sprechen, und du warst nicht in deinem gastlichen Hause. Wir hatten den Wunsch, uns von der Bande zu trennen, und ein bescheidenes ehrliches Unterkommen zu suchen. Wir kennen den Schlupfwinkel, wo sich der Haupt-Anführer versteckt hält, jener so weit berüchtigte Mordbrenner, den du so lange vergeblich gesucht hast: den wollten wir dir verraten. Aber du bist ärger, als der Verruchteste in unserer Bande, und da du uns so viele Liebe heute bewiesen hast, so wird auch dafür der Fluch auf dich und deine Familie fallen, und auf deine Nachkommen bis in das dritte und vierte Glied hinab! – Der Graf, der schon längst seinen Jähzorn und seine Übereilung bereute, wollte die furchtbare Alte besänftigen, er sprach ihr gütlich zu und reichte ihr, um sie zu versöhnen, seine Börse, die mit Gold angefüllt war. Einen giftigen Blick tat die Alte wie gierig auf das Gold, und warf dann mit den Zähnen knirschend den Beutel dem Grafen vor die Füße. Der Mammon da, schrie sie, hätte mich und meine arme Schwester glücklich gemacht, aber jetzt nach dem Mittagsmahle, das du uns gegeben hast, will ich lieber die Rinde der Bäume nagen, als von deiner vermaledeiten Hand diesen Reichtum nehmen. – So fuhr sie fort und war sinnreich und erfinderisch in Flüchen, die sie aussprach, und in Qualen und Unglücksfällen, die sie ihm und seinem Hause verkündigte. Als sie geendigt hatte, ging sie wankend die steinerne Treppe wieder hinunter, und alles Gesinde floh vor ihr wie vor einem Gespenst. Von diesem Augenblicke war der Graf ein verwandelter Mann. Seine Kraft war gebrochen. Er lebte seitdem wie ein Träumender, der keinen Willen hat oder einen Entschluß fassen kann. Seine Umgebung konnte nicht erfahren, ob es ihn tief erschütterte, als seine Gemahlin in der Mitternacht nach diesem verhängnisvollen Tage starb. Selten hörte man ihn von jetzt an sprechen oder einen Laut, selbst Seufzer oder Klagen ausstoßen. Er kümmerte sich um nichts mehr, und es schien ihm gleichgültig, als die Regierung sein größtes Gut einzog, um ihn als Rebellen und Übeltäter zu bestrafen. In dieser Stimmung seines Gemütes gab er sich ganz in die Hände jener Priester, die er vorher so auffallend vermieden hatte; er besuchte die Kirche fleißig und betete mit Inbrunst. Er sah sich nicht um, wenn die andern hinter ihm herriefen: Da kriecht der alte Bösewicht, der Landesverräter, der Mörder und Rebell wieder in das Gotteshaus hinein! So benutzten denn einige Verwandte seinen Blödsinn, um ihm in einem Prozeß ein zweites großes Gut zu entreißen, und es hatte fast den Anschein, als wenn seinem einzigen Erben, einem schönen Knaben, nichts von den großen Besitzungen seiner Vorfahren übrigbleiben würde, wenn sich nicht ein verständiger Vormund des Kindes mit aller Kraft angenommen hätte. Soweit, beschloß Theodor seinen Bericht, hat uns Freund Blomberg vorher die Geschichte vorgetragen, als er von Gesprächen, und später durch Ihre Ankunft, Graf Blinden, unterbrochen wurde. Man hatte unterdessen Erfrischungen umhergegeben, und der Alte sagte: Wollen wir die Fortsetzung nicht doch auf morgen versparen? Die Wirtin stimmte am lautesten diesem Vorschlage bei, indem sie ausrief: Mir ist es lieber, denn da noch die Rede von Gespenstern sein soll, so brauche ich mich wenigstens heut nicht mehr zu fürchten. Man trennte sich, und Theodor und Anselm bestiegen ihre Pferde, um noch in der Nacht in verschiedenen Richtungen nach ihrer Heimat zu kehren. Am folgenden Tage war die schöne Sidonie wirklich angelangt. So wie ihr Charakter sich immer zeigte, blieb sie sich auch hier getreu, denn sie sagte ihren älteren Verwandten keine Entschuldigung darüber, weshalb sie nicht früher erschienen sei; man nahm nur aus ihren Erzählungen ab, daß Launen und Eigensinn sie unterwegs länger aufgehalten hatten. Diese zufälligen Mitteilungen mußten der ehemalige Vormund sowie die Tante für Rechtfertigung ihres Betragens gelten lassen. Es ist eine ausgemachte Sache, fing der Freiherr Blomberg nach Tische an, daß wir auf Reisen eigentlich niemals wissen können, wohin wir geraten werden. Es sind nicht immer die Pferde allein, welche keine Vernunft annehmen, sondern Postillone, ja Postmeister sind zuweilen noch schlimmer, des Wetters, der verdorbenen Wege und zerbrochenen Räder gar nicht einmal zu gedenken. Und wie es Unglück gibt, so oft auch im Elend selbst ein unbegreifliches Glück. Es ist noch nicht so lange her, daß ein Vetter von mir mit seiner jungen Frau und einem kleinen Kinde drüben auf meinem kleinen Gute ankam, und der Wagen fiel im Hofe sogleich um, indem sie absteigen wollten. Aber kein Wunder, denn er hatte nur drei Räder. Wir erstaunten nur, daß die Reisenden nicht früher umgeworfen hatten, und noch unbegreiflicher wurde die Sache, als die Diener im Walde, eine Viertelmeile hinein, das fehlende Rad an einem Baume ganz nachlässig angelehnt fanden. So hatte sich also der Wagen, ohne daß irgendwer den Mangel bemerkte, von selbst im Gleichgewichte gehalten, und die Freunde waren unbeschädigt angelangt. Und doch dürfte keiner deshalb ein viertes Rad am Wagen für so überflüssig halten, wie jenes berüchtigte fünfte. In meiner Jugend war ich einmal gezwungen, in den kürzesten Wintertagen eine ziemlich weite Reise beim abscheulichsten Wetter zu machen. Einen eigenen Wagen besaß ich nicht, und so mußte ich mich mit jenen Fuhrwerken behelfen, die mir die Postmeister gaben, und die oft nichts weniger als bequem waren und ein seltsames Aussehen hatten. Solange ich in der wohlhabenden menschenvollen Gegend reiste, war es noch erträglich. Aber nun geriet ich in Heidegegenden, wo Dörfer und Städte fehlten und Mangel vollauf war. Mit der zunehmenden Kälte verwandelte sich nun der Regen in Schnee, welcher in Ungeheuern Massen aus den Wolken niederfiel, und Wege, Gesträuche, Gräben und alle Kennzeichen, an denen man sich orientieren konnte, verdeckte. Weil es in diesem Landstriche keine Chausseen und große Heerstraßen gab, war das Fortkommen mit tausend Schwierigkeiten verknüpft und Geduld war das notwendigste Talent, um weiterzugelangen und auszuhalten. Hübsch und behaglich wohnte es sich in der Nacht bei einem jungen Postmeister, der sich erst seit kurzem in dieser Wüstenei eingerichtet hatte. Wir schwatzten beim Abendtisch, indem wir guten Wein tranken, fröhlich miteinander. Er wollte am folgenden Tage seine Braut in sein Haus führen, die schon unterwegs war, um mit den Eltern des Mädchens die Hochzeit im ziemlich großen Hause zu feiern. Mein Herr, sagte er zu mir, indem ich zu Bette gehen wollte, wenn Sie den Rat eines Wohlmeinenden annehmen wollen, so bleiben Sie wenigstens morgen hier bei uns, und nehmen an unserer Freude teil. Sie haben selbst den Sturm gehört, welcher sich seit einigen Stunden aufgemacht hat, er treibt die Schneemassen hin und her, und kein Weg läßt sich unterscheiden. Ich kann Ihnen leider nur einen kleinen, ganz offenen Wagen geben, und die nächste Station ist weit, vier Meilen von hier. Dazu kommt noch, daß ein junger unerfahrner Bursche Sie führen muß, denn die älteren sind fort, mir Eltern und Braut abzuholen. Sie sparen Zeit und gewinnen, wenn Sie es sich wenigstens diesen einen Tag bei mir gefallen lassen. Mein guter Herr, antwortete ich, ich würde Ihr gütiges Anerbieten annehmen, wenn ich nicht allzusehr pressiert wäre. Ein Freund erwartet mich auf der nächsten Station, dem ich mein Wort verpfändet habe, unfehlbar einzutreffen. Ich darf nicht ausbleiben. Meine Geschäfte sind von der Art, daß ich mit meinem Verwandten auch sogleich von dort in der größten Schnelle weiter reisen muß. Der Wirt, indem er mir gute Nacht bot, sah mich, wie etwas mißtrauisch, von der Seite an, als wenn er meinen Versicherungen keinen rechten Glauben zustellte. Und er war mit seinem Argwohn auch auf keinem ganz unrechten Wege. Denn, mit Menschenkenntnis ausgerüstet, wie ich damals mir zutraute, nahm ich alles, was der Mann mir sagte, nur für Vorwand und List, um mich länger in seinem Hause zu behalten. Er hatte bemerken können, daß ich das Geld nicht sonderlich achtete, ich mochte ihm als reich erscheinen, wofür man in der Jugend so gerne gilt, ich hatte ihn gezwungen, mit mir eine Flasche und mehr von seinem teuersten Weine zu leeren, ich hatte ein leckres Abendessen bestellt, welches er mit mir verzehren mußte. Dabei dünkte ich mich nicht wenig politisch, als ich schon um fünf Uhr, lange vor Tage, alles im Hause munter machte und nach genossenem Frühstück, beim Schein der Laternen, meinen dürftigen Wagen bestieg. Ich lachte innerlich, indem ich von meinem Wirt Abschied nahm, der auch schon munter war, und dem jungen blonden Postillon alle mögliche Vorsicht empfahl. Vom Schnee war eine gewisse dämmernde Helle verbreitet, und als wir im Freien waren, fragte ich den jungen Menschen, ob er sich getraue, mich bis zur Mittagszeit auf jene Station zu liefern, und ob er auch des Weges recht kundig sei. Er lachte und sagte: Gnaden, ich bin ja von dort gebürtig und habe den Weg, seit ich hier in Dienst stehe, schon über zwanzigmal gemacht. – Wie wünschte ich mir selber zu meiner Klugheit und Konsequenz Glück, als ich diese tröstlichen Worte vernahm. Es ging auch allem Anschein nach recht gut, wenigstens im Anfange, und ich tröstete mich um so mehr, daß mit einbrechender Helle und dem Tageslicht jede Beschwer völlig müsse überwunden sein. Mein Postillon sang, pfiff und blies abwechselnd, was auch dazu beitrug, meinen Sinn zu erheitern. Jetzt kamen wir in ein Fichtengehölz, in dem der kältere Morgenwind uns anblies und die Dämmerung etwas lichter wurde. Von einer Straße oder einem Wege war nirgends etwas zu sehen, denn der Schnee hatte alle Spuren verdeckt. Als wir weiterkamen, fiel von neuem Schnee, und mit dem stoßenden Winde wurde er so hin- und hergewirbelt, und nach allen Richtungen gestreut und getrieben, daß ich in meinem widerwärtigen offenen Fuhrwerk bald alles Bewußtsein verlor. Wenn der Schnee so stoßweise mir entgegenschlug, das Gesicht erkältete und die Augen blendete, so war es völlig unerträglich. Wir können es alle schon bemerkt haben, daß ein solches Wetter, auch abgesehen von Frost und Schmerz, selbst eine betäubende Kraft hat, eine Schwindel erregende, so daß man an solchem Tage auf viele Minuten oft das Bewußtsein ganz eigentlich verliert. Das begegnete uns denn auch, und ehe ich mich dessen versah, hatte mein Postillon mich, als wir wieder im Freien waren, in einen tiefen Graben geworfen. Wir hatten ihn nicht bemerkt, und der verhüllende Schnee gab nach. Es kostete Anstrengung und Schweiß, das Fuhrwerk wieder in die Höhe und aus dem Graben zu bringen, und als es gelungen war und ich meinen Sitz wieder eingenommen, war ich eigentlich um nichts besser daran. Fast kam mir schon die Reue, daß ich der Einladung des verständigen Postmeisters nicht nachgegeben hatte, doch nahm ich Zuflucht zum Stolze und einer konsequenten Ausdauer. So krabbelten wir weiter, und mein junger Fuhrmann schien auch von seinem frohen Mute nach und nach etwas einzubüßen. Um nicht zu umständlich zu werden, sage ich nur, daß wir langsam fortirrten, daß die Pferde im tiefen Schnee bald müde wurden, daß nach meiner Rechnung und wenigen Besinnung die Mittagsstunde schon vorüber sein mußte, denn ich hatte vergessen, meine Uhr am Morgen aufzuziehn, und im Nebel und immerwährenden Schneegestöber konnte man vom Stande der Sonne nichts erfahren. Mich hungerte, meine Betäubung ging endlich in eine Schläfrigkeit über, gegen die ich ankämpfen mußte, um nicht am Ende gar zu erfrieren. Es dürfte mir schwer werden, irgend von dem Rechenschaft abzulegen, was ich in diesen Stunden dachte, denn mein Geist schlief wirklich, wenn ich auch meinen Körper noch so notdürftig wach erhielt. Endlich kam es mir vor, als wenn sich die Luft zum Dunkeln anschickte, wenigstens wurden Nebel und Schnee noch dicker. Keine Spur von Wohnung oder Menschen. Die Pferde waren ganz matt, und nach meiner träumerischen Rechnung mochten wir dem Abend nahe sein. Der junge Postillon war abgestiegen, um an den Strängen etwas zu knüpfen, die beim deutschen Fuhrwesen immerdar schlecht und in Unordnung sind. Als ich mich zu ihm hinbeugte, um mit ihm zu sprechen und etwas Tröstliches zu erfahren, sah ich zu meinem Schrecken, daß der Bursche ganz unverhohlen weinte, und endlich gar laut schluchzte. Was ist dir? – Ach! gnädiger Herr, lautete seine Antwort, mit den Pferden, und auch mit uns, ist es völlig aus. Wir sind schon stundenlang auf keinem gebahnten Wege mehr. Es hat mich einer behext, ich weiß nicht, wo wir sind. Ich bin in die Wildewahl hineingeraten. So nannte er, nach seiner Bauernsprache, unsre Verirrung. Aber was anfangen? – Wenn uns der Heiland nicht durch ein Wunder errettet, so müssen wir hier umkommen. – Mut gefaßt, Kleiner! heut früh warst du so dreist und lustig. – Ja, damals war ich noch nicht verhext. – Wir können hier aber nicht bis zum Frühling halten. – Ach Gott! wir müssen hier umkommen. Und die heißen Tränen rollten wieder in den Schnee. Ich sah, daß der Bursche alle Fassung verloren hatte. Zum Glück hatte ich noch einen Rest von süßem Wein bei mir, womit ich den schon ganz Verzweifelnden stärkte, und so setzte er sich, etwas ermutigt, auf den Bock, um auf gut Glück oder schlimm Unglück weiterzufahren, indem die Dämmerung, und bald darauf auch die Finsternis, wirklich hereinbrach. Ich war jetzt weniger betäubt. Mit der größten Anstrengung horchte ich umher, ob der Laut eines Menschen, das Bellen eines Hundes mein Ohr träfe. Aber alles war still wie die tote Mitternacht. Fast mußte ich sorgen, daß die Pferde, die immer häufiger stolperten, ohnmächtig niedersinken möchten. Ich sprach, so gut es sich bei dem Getöse des Windes tun ließ, mit meinem Fuhrmann, damit er nicht einschliefe, oder von neuem in sein trostloses Weinen verfiele. Meine Situation war in der Tat keine beneidenswerte, und in stumpfer Resignation war ich so tief gesunken, daß ich schon auf den andern Morgen zu hoffen begann, obgleich ich es wußte, daß die Nacht nur seit kurzem begonnen hatte. Eine Art von Schimmer verbreitete in der schwarzen Nacht der fallende und liegende Schnee; dieses Aufdämmern diente aber mehr, Augen und Sinne zu verwirren, als zu irgendeinem Sehen zu verhelfen. Endlich, so bildete ich mir ein, hörte ich etwas, wie aus weiter Ferne: es schien auch etwas Dunkles, Festes sich in die Luft hinein zu erstrecken. So war es auch, denn wir gerieten nun wieder in einen Wald. Immer eine Art von Gewinn, wenn wir die Nacht doch einmal im Freien zubringen sollten. Jene Leute, die auch wohl nur eingebildet waren, ließen sich nun aber nicht mehr vernehmen. Nachdem wir eine Weile noch fortgestolpert waren, zeigte sich wirklich ein Lichtlein ganz, ganz ferne. Ich wollte erst meinen Augen nicht trauen, aber der Postillon entdeckte es ebenfalls. – – – Hier wurde der Erzähler unterbrochen, denn Anselm, so wie Theodor, die eben vom Pferde gestiegen waren, traten ein. Theodor wurde rot vor Freude, als er die schöne Sidonie erblickte. Er begrüßte sie so lebhaft und leidenschaftlich, daß die Wirtin lächelte und Blinden herzutrat, um ebenfalls dem jungen Mann Willkommen zu sagen und ihm die Hand zu bieten. Sie kommen einen Augenblick zu früh, meine werten Gäste, sagte die Baronin, denn soeben ist unser Blomberg bei der Entwicklung einer interessanten Gespenstergeschichte, die er selbst erlebt haben will. Man setzte sich wieder, und Blomberg gab verwundert von sich: Gespenstergeschichte? Nun ja, fiel Sidonie ein, was kann denn nur das rätselhafte ferne Licht anders sein als die erleuchtete Kammer einer Elfe oder das Begräbnis eines wunderbar Ermordeten, dessen Gespenst dort im Schein der Irrlichter umirrt und Buße tut oder seinen Mörder auf schauerliche Weise anklagen will. Sie haben recht, sagte Blomberg lachend, so sollte eigentlich der Regel nach die Geschichte fortfahren, und mein Postillon schien auch derselben Meinung zu sein; denn hatte er bis jetzt nur im stillen geschluchzt, so fing er jetzt vor Grausen und Entsetzen laut zu heulen an und wollte anfangs meinen Fragen und Ermahnungen kein Gehör geben. Immer rief der junge Mensch, als wir näher kamen: Nun sind wir verloren! Lauter Hexen und Gespenster! Das ist nicht die Station! Wir sind in einem fremden Weltteile! Ich konnte ihn nur mit Mühe dahin bringen, daß er die todmüden Pferde stärker antrieb, denn er zitterte und weinte. Meine Neugierde ward gespannter, als wir näher kamen. Es schien mir ein großes Haus, welches mir, hell erleuchtet, entgegenglänzte. Meine Fantasie, indem ich von den vielstündigen Leiden alle meine Kräfte erschöpft fühlte, bildete aus der breiten Masse bald einen großen feenartigen Palast, ich sah Säulen und glänzende Balkone, wunderliche Zinnen und Türme, nebst allen Zubehören eines Zauberschlosses. Nicht lange, so vernahm ich Musik. Ganz wunderbare Töne schlugen an mein Ohr, und ich rüttelte mich endlich gewaltsam auf, weil ich furchtete, ich sei eingeschlafen und alles nur ein Traum. – Nun, sagte Graf Blinden; schlieft Ihr wirklich, Freund? Nichts weniger, antwortete Blomberg, alles war wirklich. Wirklich? rief die Wirtin mit großem Erstaunen aus. Wenn ich sage alles, sagte der Freiherr lachend, so meine ich damit, wie jener Hetman der Kosaken, einiges und also bei weitem nicht alles. Das hell erleuchtete große Haus blieb, die Musik verschwand ebenfalls nicht, wohl aber die prächtigen Balkone, die königlichen Säulen, die romantischen Türme und Zinnen des Mittelalters, welche sich in ganz alltägliche Schornsteine verwandelten. Aber so sagen Sie doch endlich, was es nun war! rief Blinden. Mich wundert’s nur, sagte Blomberg ganz ruhig, daß Sie es noch nicht erraten haben. – Ich war freudig und beruhigt, daß ich wieder zu Menschen geriet, mochten es auch sein, welche es wollten, da meine Not den höchsten Grad erreicht hatte, und ich jener unerträglichen, völlig hilflosen Einsamkeit entronnen war. Es war mir daher nur erfreulich, als mir aus der Tür des Hauses jener Postmeister mit einem satirischen Lächeln entgegentrat, den ich heut morgen so überaus früh und in hastiger Geschäftigkeit verlassen hatte. Wir waren in diesen vierzehn Stunden mühselig im Kreise rundum gefahren, um zerschlagen, erfroren, ganz verhungert und übermüdet da wieder anzulangen, wo wir unsere Reise begonnen hatten. Sie hätten es bequemer haben können, sagte der gutmütige Mann, indem er mich wegen meines Unglücks, zugleich aber auch seine hinfälligen Pferde bedauerte. Ich mußte, da man auf mich nicht mehr gerechnet hatte, in einem kleinen Stübchen mich einrichten, und erst am folgenden Tage konnte ich, ausgeruht, meinen Anteil an den Freuden der Hochzeit nehmen. Ich war aber nun so klug, daß ich das schlechte Wetter austoben ließ, und ohne mich zu übereilen, erst nach vier Tagen weiterreiste. Ein alter, erfahrener Postillon brachte mich zur nächsten Station. So waren wir denn, sagte die Wirtin, getäuscht, indem wir eine Gespenstergeschichte erwarteten. Wir dürfen Ihnen aber jene nicht schenken, deren Erzählung Sie noch nicht vollendet haben, und welche neulich Graf Theodor dem Hinzugekommenen erläuterte. Man setzte sich in einen Halbkreis, und die übermütige Sidonie sagte: Wenn ich auch wenig oder nichts von jenem Vorfalle weiß und so mitten hineingerate, so will ich dennoch Interesse nehmen, denn Gespenster und alles, was damit zusammenhängt, sind meine Passion. Recht so! rief Anselm aus, kann man doch nicht wissen, ob wir nicht alle noch einmal umgehn werden, denn keinem steht es an der Stirn geschrieben, ob er nicht aus eines Bäckers Tochter oder Sohn zur Eule wird. O ihr junges Volk! sagte der alte kranke Blinden mit einem tiefen Seufzer: euch fällt es doch niemals ein, daß ihr schon vor dem Tode zu Gespenstern werden müßt; denn was ist der hilflose, mürrische, runzelvolle Greis anders, wenn man das Bild jenes blühenden Jünglings zurückruft, welches er vor vierzig oder fünfzig Jahren darstellte. Wie wird unser Sidonchen aussehn, wenn sie achtzig Jahr alt werden sollte. Ich bitte mir einen andern Diskurs aus! wie manchmal der Wiener sagt, – rief Sidonie ganz empfindlich; Vormünder dürfen unhöflich sein, und von diesem erloschenen Recht machen Sie noch immer Gebrauch. Also denn, rief der kranke Graf, zu jenen wirklichen, echten Gespenstern, lieber Blomberg, um uns von den imaginären abzuwenden. Ihre idealischen sind vielleicht angenehmer. Blomberg fing an: Sie wissen also, teure Freunde, wie Graf Moritz mehr und mehr verarmte und seinen Nachkommen nur wenig von jenem großen Vermögen hinterließ, welches ihm durch Erbschaft zugefallen war. Kriege brachen auch ein, doch erhielt sich der nächste Besitzer der Klausenburg und seine Familie und war in der Nachbarschaft angesehen und geachtet. Fleiß, Glück, die Heirat mit einem wohlhabenden Fräulein brachten ihn wieder empor. Und so gelang es den Bemühungen jenes Erben, daß sein Schloß noch einige fünfzig oder sechzig Jahre mit seinem altertümlichen Schmuck in unsrer Nachbarschaft glänzte, daß Freunde und Verwandte ihn gern besuchten, und daß er seinem einzigen Sohne, als er starb, die übriggebliebenen Güter im guten Zustande und noch bedeutende bare Summen hinterlassen konnte. Jener Fluch der Zigeunerinnen schien also gänzlich beseitigt, erloschen oder eingeschlafen zu sein. Der Graf und sein Sohn hätten die frühere Begebenheit völlig vergessen, von dem Fluche mögen sie auch vielleicht nichts erfahren haben. Ich war ein munterer Knabe, als ich die Bekanntschaft mit dem letzten jungen Erben, Franz, dort auf der Klausenburg machte. Dieser Franz; etwa um ein Jahr älter als ich, war heiter, schön, liebenswürdig, die Freude seines Vaters, jenes tätigen Mannes, der den Glanz seiner Familie zum Teil wieder hergestellt hatte. Da mein Vater nur einige Meilen von hier auf seinem Gute wohnte, so kam ich oft von den jenseitigen Bergen nach der Klausenburg herüber, und habe auch oft Ihrer Frau Mutter, meine gnädige Baronin, meine Aufwartung gemacht, zuweilen auch, als ein ungezogener Junge, hier vielen Unfug getrieben. Ich war damals noch nicht geboren, sagte die Wirtin. In jenen Tagen, sagte Graf Blinden, bin ich niemals in diese Berggegenden gekommen. Dieser mein Spielkamerad, Franz, fuhr Baron Blomberg fort, erwuchs nicht nur zur Freude seines Vaters, sondern aller Menschen. Er war schön, witzig, beliebt, geschickt als Tänzer und Reiter, und im Fechten konnte sich niemand mit ihm messen. Er hatte sich dem Fürsten vorstellen lassen, dessen Gunst er auch durch sein heiteres Wesen gewann und in dessen Dienst war er nach wenigen Jahren zum Rat emporgestiegen. Wenigen Menschen auf Erden schien ein so glückliches Los bereitet zu sein. Alle Mütter und Tanten in der Nachbarschaft sahen und wünschten in ihm auch den künftigen Mann ihrer Töchter und Nichten, und in der Stadt war er auf den Bällen der vergötterte und verzogene Held der jungen Mädchen sowie der Gegenstand des Neides und der Verfolgung aller männlichen Stutzer. Man begriff es nicht, daß der junge Mann so lange mit seiner Wahl zögerte, und lange wollte man den Gerüchten, die darüber umliefen, keinen Glauben schenken. Es hieß nämlich, es habe sich ein Verständnis mit der Tochter des Fürsten angesponnen. Die beiden Liebenden warteten also, so erzählte man sich im Vertrauen, auf irgendeinen Zufall, auf eine Begebenheit, die ihnen zum Glück ausschlagen möchte, um öffentlich ihre gegenseitige Leidenschaft und ihre Wünsche zu bekennen. Dieser Fall ereignete sich aber nicht, und Jahre um Jahre vergingen, und mit ihnen erloschen die Gerüchte und jene mannigfaltigen Deutungen der vielklugen Politiker. Plötzlich, als kein Mensch mehr dieser Sache dachte, ward mein Jugendfreund durch die Ungnade seines Fürsten vom Hofe und aus der Stadt verbannt. Alle seine ehemaligen Freunde wichen von ihm zurück. Noch schlimmer, daß ihm die von oben beschützte Schikane einen gefährlichen Prozeß an den Hals warf, der ihn mit dem Verlust seines ganzen Vermögens bedrohte. So sah sich der geschmeichelte, bewunderte und von aller Welt geliebkoste Franz in der schlimmsten Lage und mußte sich gestehen, daß sein Lebenslauf beschlossen und alle glänzenden Aussichten für immer verdunkelt seien. Ich sah ihn um diese Zeit wieder. Er ertrug sein Unglück wie ein Mann. Noch war er jugendlich schön, und die Heiterkeit seines Humors hatte nur wenig gelitten. Wir bereisten die hiesige Gegend, und da die Klausenburg fast schon eine Ruine geworden war, so hatte er nicht gar weit davon, am Abhänge eines Berges, sich ein niedliches Haus gebaut, von welchem er der schönsten Aussicht genoß. Es ist dasselbe, das eine halbe Meile von hier liegt und jetzt dem alten kranken Förster, dem verarmten Matthias, gehört. Jenes, rief plötzlich Theodor aus, vor dem sogenannten Eibensteige? Dasselbe, antwortete Blomberg. Dasselbe? wiederholte Theodor fast mechanisch und wie in Gedanken verloren. Aber, warf Anselm lebhaft ein, – was kümmern uns alle diese Dinge? Sorgen wir doch lieber, daß die einleitende Erzählung zu Ende kommt, damit wir nun an den Anfang der Gespenstergeschichte gelangen. Das neue Haus, welches wir, wie ich glaube, alle kennen, ist eben das neue Haus, und jene veraltete Klausenburg ist das Gespensternest. Und von diesem sollten wir etwas mehr erfahren. Sie machen mich irre, sagte Blomberg verdrießlich, denn wenn ich erst weiter vorgerückt bin und im Namen und der Person meines Freundes Franz erzählen werde, darf ich noch weniger unterbrochen werden und muß mich noch mehr vor Zerstreuung hüten. – Also, ich fand diesen Franz ziemlich heiter und verständig. Er vermied es, von seinen früheren Verhältnissen zu sprechen, doch war er eines Abends sehr gerührt, als ihm ein Brief den Tod der jungen Fürstin meldete, die am gebrochenen Herzen verschieden war, oder die, wie man später behaupten wollte, willkürlich ihren Tod gesucht hatte, weil sie die Last eines verbitterten Lebens nicht mehr ertragen konnte. Ich sah wohl, daß eine stille Melancholie meinen Freund in den meisten Stunden beherrschte, indessen war er nicht gemütskrank, es zeigten sich bei ihm keine Spuren von Lebensüberdruß; so daß ich hoffen durfte, sein Unglück und die Schicksale, die er erlebt hatte, würden dazu dienen, seinen Charakter zu läutern und ihm die echte Haltung zu geben, die auch dem Unangefochtenen notwendig ist, wie vielmehr dem, welcher schwere Prüfungen durchzugehen hat. Es lebte damals ein verwildertes altes Weib in den hiesigen Gegenden und trieb sich bettelnd und halbwahnsinnig in den Dörfern herum. Die Vornehmeren nannten sie scherzend nur die Sibylle, und die gemeinen Leute trugen kein Bedenken, sie geradezu für eine Hexe auszugeben. Man wußte nicht eigentlich, wo sie wohnte, auch mochte sie wohl keine Hütte oder eine ihr zugehörige Einkehr besitzen, weil man sie stets auf den Landstraßen traf und sie allenthalben in der Provinz umherschwärmte. Einige alte Jägersleute wollten behaupten, sie sei noch ein Nachkomme jener berüchtigten Zigeunerbande, welche Graf Moritz vor Jahren verfolgt und zerstreut hatte. Indem wir in einem schönen Buchenwalde in Gesprächen wandeln, die uns ganz von der Außenwelt abziehn, steht plötzlich, bei einer Wendung des Fußsteiges, diese alte häßliche Sibylle vor uns. Wir waren verwundert, aber auf keine Weise erschreckt, denn wir waren beide in einer heitern Stimmung. Als wir die freche Bettlerin lachend mit einigen Münzen beschenkt hatten, kam sie, nachdem sie schon fortgesprungen war, in Eile zurück, indem sie sagte: Wollt ihr denn für euer Geld nichts prophezeit haben? – Wenn es was Gutes ist, erwiderte ich, so kannst du dir noch einige Groschen verdienen. Ich hielt ihr die Hand hin, die sie mit Aufmerksamkeit betrachtete und dann höhnisch sagte: Ihr habt, guter Gesell, eine ganz miserable Hand, an der jeder, auch der beste Prophet, zuschanden werden muß. So ein mittelmäßiges Geschöpf, wie Ihr es seid, ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen: weder klug noch dumm, weder böse noch gut, weder glücklich noch unglücklich. Ohne Leidenschaften, Geist, Tugend oder Bosheit, seid Ihr so recht einer der ABC-Schüler von unsers Herrgotts dummen Jungen, und Ihr werdet nicht einmal das kleine Verdienst haben, jemals in Eurem Leben Eure eigene Erbärmlichkeit einzusehen. Aus der elenden Hand und dem nichtssagenden Gesicht ist gar nichts zu prophezeien, denn ein solcher trockner Baumschwamm, wenn er nicht erst präpariert und gebeizt ist, kann keinen Funken in sich aufnehmen: so könnt Ihr, Hans von Unbedeutend, in Eurer stumpfen Natur auch nichts erleben. – Hier erhob sich im Saale von allen Zuhörenden ein lautes Gelächter. Daß Sie diese Rezension so auswendig behalten haben, sagte Anselm, macht Ihnen alle Ehre. – Nun, ist denn diese Prophezeiung in Erfüllung gegangen? Der gutmütige Blomberg hatte mit den übrigen gelacht und sagte nun etwas empfindlich: Jetzt, Herr Baron, sind bei uns diese Wahrsager ausgestorben, sonst könnten sich unsere jungen Leute auch Rat holen, um an Selbstkenntnis zuzunehmen. Ich trage diese unbedeutende Begebenheit als Geschichtsschreiber mit der gehörigen Treue vor, und es kann dabei von der Kritik meines eignen Selbst nicht die Rede sein. Sehr wahr, sagte die freundliche Wirtin: Sie, Baron, sind die Güte selbst; und wenn man so über sich selbst zu scherzen versteht, so haben die jungen Leute keine Ursach, aus diesem Scherz Ernst machen zu wollen. Ich glaube gar nicht, sagte Sidonie mit gespitztem Tone, daß das alte Weib so zu unserm Freunde gesprochen hat, sondern ich meine vielmehr, er improvisiert diesen Panegyrikus, damit wir ihm alle widersprechen und sein Lob in den lautesten Tönen singen sollen. Dann hat er sich aber über die Maßen verrechnet, meine schnippische Schönheit, sagte Graf Blinden, denn ein solches beifälliges Lachen, wie er es erregt hat, kann gewiß nicht für Widerspruch gelten. Fahren Sie fort, Freund. Blomberg erzählte: Mein Freund Franz lachte nicht über meine Charakteristik und die Aussprüche des alten Weibes, sondern weil er mich liebte, ward er im Gegenteil böse und fuhr sie mit heftigen Redensarten an. Ebenso unbillig, als über die Worte der alten Vettel Schadenfreude zu empfinden! Sie hörte ihm ganz ruhig zu und sagte dann: Warum so böse? Wenn Ihr mir für meine Bemühung und Weisheit nicht noch etwas schenken wollt, so laßt mich ruhig gehn. Denn die Menschen können es freilich nicht gut vertragen, wenn man ihnen so ihr eigenes Inneres an das Tageslicht zieht. Was kann ich denn dafür, daß in deinem Freunde da nicht mehr und Besseres steckt? Er ist nicht mein Sohn, noch mein Zögling. – Sehn Sie, meine Freunde und Zuhörer, so wollte die Wahrsagerin ihre vorige Grobheit durch eine neue gutmachen und rechtfertigen. – Franz war auch wieder besänftigt und gab der Bettlerin einen Dukaten, indem er sagte: Pflegt Euch, Alte: wo wohnt und hauset Ihr? Wo ich bin, antwortete sie, mein Dach wechselt so oft, daß ich nicht sagen kann, wie es aussieht: nicht selten ist es offen, und mein Kamerad der Sturmwind. Natur nennen sie’s, wo die Menschen nichts hingebaut haben. Aber ich danke und muß Euch Eure Freundlichkeit vergelten. – Mit Gewalt faßte sie schnell die widerstrebende Hand des Freundes, hielt sie zwischen den knöchernen Fingern fest und betrachtete sie lange, dann ließ sie den Arm mit einem tiefen Seufzer fallen und sagte mit einem Tone, der tiefe Trauer ausdrückte: Sohn! Sohn! Ei, du stammst aus einem bösen Blut, von schlimmen Vorfahren ein schlimmer Sproß. Aber zum Glück bist du der letzte deines Stammes, denn deine Kinder würden noch schlimmer werden. Was einmal böse angefangen hat, muß auch ein böses Ende gewinnen. Ei! Ei! und deine Physiognomie! Deine Mienen! Dein ganzes Gesicht! Ist mir doch fast zumute, als wenn ich einen Mörder vor mir sähe. Ja, ja! Du hast ein junges, schönes und vornehmes Mädchen umgebracht. Auf ihrem Sterbebette hat sie lange mit Gram und Angst gerungen. Könnt ihr denn nicht treu sein und eure Schwüre halten, ihr Bösewichter? Nicht Messer, Degen und Flinte töten und schneiden. Auch Blicke, auch süße Worte: o die verführerischen Reden und all das lügenhafte Schöntun! Nun bricht die glänzende Hülle zusammen und wird der Verwesung gegeben, die erst euer dummes Auge blendete. Schönheit! o du unglückselige Gabe des Himmels! Und auch du, Mordgesell, bist schön genug, um noch andere umzubringen. Die Flüche des Vaters verfolgen dich nun. Du magst nun hier im Walde, oder in deinen schön tapezierten Stuben sein. Meinst du nicht, fühlst du es nicht, wie sie, recht aus dem Herzen kommend, das Unglück und Elend auf dich hinwehen, wie der Sturmwind die dürren Blätter in die Tiefe des Gebirges hinstreut? Wo ist deine Ruhe, dein Glück, dein Vertrauen? Alles zerstiebt wie Flugsand in der dürren Ebene; keine Frucht kann hier Wurzel fassen. Mit einem Male jauchzte die Wahnsinnige laut auf und lief schreiend und widerwärtig singend in den dichtesten Wald hinein. Als ich mich umsah, erschrak ich, denn mein Freund war totenbleich geworden; er zitterte so heftig, daß er sich auf einen Grashügel wie ohnmächtig niedersetzen mußte. Ich setzte mich zu ihm und suchte ihn zu trösten und zu beruhigen. Ist diese Besessene, rief er aus, von der Wahrheit begeistert? Sieht sie wirklich Vergangenheit und Zukunft? Oder sind es nur wahnsinnige Laute, die sie in tierischer Gedankenlosigkeit herausstößt? Und wenn dies ist, – sind diese zusammengewürfelten Worte nicht vielleicht die echten Orakel aller Zeiten gewesen. Er überließ sich den Tränen und lauten Wehklagen, er rief jetzt laut in die Lüfte, was er bis dahin so sorgsam in seinem Innersten geheimnisvoll verschlossen hielt. Ja Fluch, Fluch! rief er aus, allem Talent, der Rede, der Anmut und allen Gaben, die uns ein schadenfrohes Schicksal mitteilt, um uns und andere zu verderben! Könnt’ ich nicht dem ersten ihrer freundlichen Blicke aus dem Wege gehn? Warum ließ ich mich betören, Blick mit Blick und nachher Wort mit Wort zu erwidern? Ja, sie war liebenswert, edel und schön, aber in meinem Herzen erhob sich mit den besseren Gefühlen auch die Eitelkeit, daß gerade sie, die höchste, es war, die mich so auszeichnete. Nun trat ich näher, dreister, bestimmter, und mein geläutertes, hochgestimmtes Gefühl überraschte und gewann sie. Sie schenkte mir ihr Vertrauen. Ihr Herz war so schon und groß; ach! alle diese Jugendgefühle so zart und innig; es war ein Paradies, was sich uns beiden auftat. Wir glaubten, kindisch genug, es könne kein höheres Glück auf dieser Erde uns geboten werden, diese himmlische Gegenwart, der Moment genügte uns. Nun erwachte aber in meinem Herzen die Leidenschaft. Das hatte sie nicht erwartet, sie erschrak und zog sich zurück. Das stachelte meine Eigenliebe, ich fühlte mich unglücklich, zerstört, der Krankheit nahe. Das erbarmte sie, sie kam mir wieder näher. Durch eine vertraute Kammerfrau ward es uns möglich, uns oft ohne Zeugen zu sehn und zu sprechen. Unser Verständnis war inniger, unsre Liebe gewisser und zärtlicher, aber da diese Gefühle in Worte gefaßt und bewußter ausgesprochen wurden, so war auch auf immerdar jener paradiesische Hauch, jener überirdische Duft verschwunden. Es war ein Glück, aber ein anderes, irdischer, freundlicher, vertraulicher, aber nicht von jener Magie umgeben, die mich in der früheren Zeit entzückt hatte, so daß ich mich wohl oft im stillen fragen konnte: Bist du denn glücklich? – Ach! mein Freund! indem wir uns oft sahen – wieviel Entwürfe, törichte und wahnsinnige, wurden da gemacht! Es war von unserer Zukunft die Rede, an welche der schwärmend Liebende in den ersten Zeiten seiner Entzückung niemals denkt. Einmal schien eine Gelegenheit sich anzubieten, sie zur Ehre des Hauses zu vermählen. Da erwachte Wut und böser Hader in mir. Sie ward von meinem Zorn bis in das innerste Herz mißhandelt, da es schien, als wenn sie dieser glänzenden Verbindung nicht abgeneigt wäre. Ich war schlecht in meiner Leidenschaft, und tief fühlte sie meine Entartung, mehr in ihrer Liebe um meinetwillen, als ihrer Schmerzen wegen. Oh, sie hat dieses Bild meiner Raserei niemals wieder in ihrer Seele vertilgen können. Um mir die Schmerzen gut zu machen und mich ganz zu versöhnen, stieg sie zu meinem geringern wildern Wesen herab. Unsre Herzen hatten sich wieder ganz ausgesöhnt, aber mit Sehnsucht sah ich aus den schwefelgelben Gewitterwolken, die mich jetzt umgaben, nach jener Himmelsklarheit zurück, die mich anfangs so blendend angestrahlt hatte. Wir lebten in unserm Dünkel wie Verlobte und träumten von unserer Vermählung, von unerwartetem Glück, von Freuden aller Art und Wendungen des Schicksals, die niemals eintreffen konnten. Aber wir tappten im Nebel umher und hielten das Unmöglichste für nahe und natürlich. Diese Angewöhnung in unsrer Liebe vertilgte allgemach die nötige Vorsicht. Die Augen der Späher erwachten und schärften sich an unsrer Unvorsichtigkeit. Gerüchte entstanden, die den Herrn selbst vielleicht niemals erreicht hätten, wenn nicht sein eigener Blick unser Verhältnis geahndet und erraten hätte. Nun vernahm er auf seine halben Fragen mehr, als er wissen wollte, und weit mehr, als mit der Wahrheit verträglich war. Er ließ mich zu sich kommen, ganz allein in sein Kabinett. An diesem feierlichen Abend enthüllte sich mir die Schönheit seiner großen Seele. Ohne mir Vorwürfe zu machen, maß er sich selbst die nächste Schuld meiner Anmaßung bei, daß er mich mit zu großem Vertrauen fast wie einen Sohn behandelt habe, daß er für mich so viel vom Herkommen und der Etikette nachgelassen, daß er sich selber töricht gefreut, daß seine Tochter durch meinen Umgang sich bilden und von mir lernen könne. Als er ernster wurde, und ich dem erschütterten Vater der Wahrheit gemäß bei meiner Ehre und bei Gott beteuern konnte, daß unsere Leidenschaft uns zu keinem Verbrechen hingerissen habe, daß unser Genius uns nicht verlassen, ward er wieder milde und sagte und verbot mir nur, was ich mir selber sagen konnte. Ich durfte die Tochter niemals wieder heimlich sehn; ich sollte durch Verstand und Charakter sie allgemach von dieser kranken Leidenschaft heilen, die ich töricht in ihr entzündet hatte, und mich dadurch seines Vertrauens und seiner Liebe von neuem würdig machen. Mir war, so fuhr Franz fort, plötzlich wie eine Decke von meinem Angesicht genommen. Ich kann wohl sagen, daß durch diese eine Unterredung mein ganzes Wesen verwandelt war. Die Wahrheit, die Wirklichkeit war nun endlich mit siegender Gewalt auf mich eingedrungen. Manche Lebensperioden sind einem lebhaften, wundersamen Traume zu vergleichen, man erwacht zur Nüchternheit, aber man fühlt sich doch erwacht. O mein Freund, diese Wahrheit aber war oder erzeugte mir die Hölle. Mein Geist gab dem edeln Vater in allen Dingen nach, er hatte recht, im vollkommensten Sinne des Wortes. Wenn ich Juliane bewunderte und ihren Wert erkannte, wenn sie mir Freundin war, und ich ihr wichtig genug, daß ich ihr Dasein erhöhen konnte, – was hatte das mit der Leidenschaft, mit dem Ringen nach ihrem Besitz zu tun? Von dieser Überzeugung war ich jetzt durchdrungen und dieses Gefühl tat mir wohl. Wie anders aber war es mit ihr! Wenden sich die Verhältnisse so, so werden in der Regel dann die Frauen in das verzehrende Feuer der Leidenschaft treten. Welche Briefe erhielt ich von ihr, nachdem ich ihr meinen Entschluß und den Rat, sich der Notwendigkeit zu fügen, mitgeteilt hatte! Ich sagte ihr fast nur dieselben Sachen, die ich früher, als mein Ungestüm in sie drang, aus ihrem schönen Munde gehört hatte. Aber ihr Ohr war jetzt ein anderes als damals. Taub jedem Rat, gefühllos jeder Freundlichkeit, unzugänglich jeder Überzeugung, hörte sie nur die wilden Eingebungen ihrer Leidenschaft. Meine Vernunft schien ihr Feigheit, meine Resignation nannte sie Niederträchtigkeit. Sie, einzig und allein, sie sollte bei dieser Frage, die jetzt in meinem Herzen war erörtert worden, berücksichtigt werden. Kurz, sie spielte jetzt dieselbe Rolle, die ich ihr früher dargestellt hatte. Da ich auf mein Betragen später mit Reue und Beschämung blickte, so glaubte ich, durch ruhiges Beharren sie auf denselben Punkt allgemach führen zu können. Aber meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Seltsam, daß ich jetzt deshalb geängstigt war, weil ich das im übervollen Maß besaß, was ich ehemals für mein höchstes Glück gehalten hätte: und daß sich jetzt mein innigster Wunsch nur erstreckte, sie zur Ruhe, ja Kälte und Gleichgültigkeit zurückführen zu können. So wunderlich behandeln uns oftmals die Götter in Austeilung ihrer Gaben. Meine Briefe verletzten sie, so sah ich aus ihren Antworten, immer tiefer. So kam es denn, daß ich selbst wünschen mußte, wieder einmal eine vertraute Unterredung mit ihr in einsamer Abend- oder Nachtstunde haben zu können, deren mir ehemals so viele zuteil geworden waren. Es gelang durch Bestechung, Bitte, Erniedrigung. Aber, o Himmel! wie war diese Juliane eine andere als jene, die mich ehemals entzückt und begeistert hatte! Sie glich in ihrem Schmerz, verletztem Gefühl und beleidigtem Stolz einer rasenden Bacchantin. Ich sagte mir, so wie ich zu ihr trat: Zu diesem Bilde also hat sie deine Liebe, Eitelkeit und Redekunst erniedrigt! O ihr Männer, die ihr durch eure Kraft diese weichen Wesen zu Engeln erheben oder zu wildsinnigen Trunkenen verwandeln könnt! Doch diese Betrachtungen kamen zu spät. Waren ihre Briefe schon leidenschaftlich gewesen, so waren die Reden ihres Mundes noch viel ungestümer und stürmischer. Nur meine Liebe, nichts weiter in der ganzen weiten Welt verlangte sie. Für sie gab es keine Rücksichten mehr. Flucht in die Welt hinein, Verletzung ihres Rufs, Kränkung des Vaters und ihres Hauses, alles war ihr jetzt recht und erwünscht. Ich erschrak vor diesem Taumel, der keine Scheu mehr anerkennen wollte. Je milder ich war, je mehr ich ihr die unabweisliche Notwendigkeit deutlich machen wollte, um so wahnsinniger ward ihre Rede und Gebärde. Gleich wollte sie mit mir entfliehn. Es bedurfte nur, das fühlte ich, des ausgesprochenen Wunsches, so ergab sie sich mir in diesem Taumel ganz und unbedingt. Ich war im tiefsten Herzen elend, ja vernichtet in allen meinen Kräften. Ich erfuhr, daß der Fürst nur in Andeutungen mit ihr gesprochen hatte: das Wichtigste wußte sie nur aus meinen Briefen. Sie schalt auf mich, ihren Vater und das Schicksal, und erst, als sie einen Strom von Tränen vergossen hatte, war sie etwas mehr beruhigt. Ich mußte ihr versprechen, nach einigen Tagen wiederzukommen, um dann die Mittel zu unserer Flucht verabreden zu können. Also war es nun so weit gekommen, daß ich mich vor dieser angebeteten Juliane fürchten, ja daß ich sie verachten mußte. Und doch war sie dieselbe, und nur diese unselige Leidenschaft, die ich aus meinem Herzen in das ihrige gegossen hatte, machte sie zu diesem furchtbaren Wahnbilde. Ich zitterte, sie wieder zu sehen. Ich wußte nicht mehr, welche Worte ich ihr sagen, welchen Aufschub, oder welche Entschuldigung ich ersinnen sollte. Einige Wochen vergingen so, in denen wir nur Briefe wechselten. Um zu endigen: ich ging wieder zu ihr. Sie schien mir krank, aber noch in derselben Aufregung, die keine vernünftigen Gründe zulassen wollte. Sie hatte einen Wagen besorgt, ihre Juwelen verpackt, an der Grenze Anstalten getroffen, Pässe angeschafft, Beschützer in fernen Gegenden in Anspruch genommen, kurz alles getan, was der Wahnsinn einer unbegrenzten Liebe nur immer unternehmen mag. Ich behandelte sie als Kranke, die um sich nicht weiß, und gab ihr in allen Ausschweifungen recht und lobte alle ihre höchst wunderlichen Pläne. So glaubte sie dann mit mir einig zu sein, und in acht Tagen, während einer glänzenden Maskerade, indem alle Menschen beschäftigt und zugleich unkenntlich waren, wollten wir entfliehn. Ich bewilligte alles, um sie nur für den Augenblick zu beruhigen, nahm mir aber im stillen vor, den Hof und die Stadt zu verlassen. Indem wir noch so unsere höchst vernünftigen Projekte verhandelten, gewahrte ich plötzlich den Fürsten hinter mir, der schon eine geraume Zeit unserer Unterredung zugehört hatte. Die Szene, welche nun vorfiel, mag ich nicht beschreiben. Des Vaters Zorn überstieg alle Grenzen, weil er mich wortbrüchig vorfand und der Überzeugung war, ich sei ganz mit dem wilden Plane seiner Tochter einverstanden. Sie warf sich zu seinen Füßen; ganz dem früheren schönen Bilde unähnlich, war sie, wie von Federn eine mechanische Figur in gewaltsame Bewegung gesetzt wird, eine Gestalt, deren Leben sich nur in den krampfhaftesten Gebärden kund tut. Es ist zu verwundern, daß man manche Momente überlebt. – Ich ward verbannt, mußte in die Einsamkeit entfliehn und hörte lange nichts von der Stadt und den dortigen Begebenheiten, weil ich alle Menschen vermied. Als ich wieder zur Besinnung kam und den Anblick von Freunden ertragen konnte, vernahm ich denn, daß sie an einer unheilbaren Krankheit leide und von ihren Ärzten schon aufgegeben sei. Wie wunderlich spielt das Schicksal mit dem Menschen und allen menschlichen Absichten. In dieser höchsten Not, so sagte man mir, hätte mir der Vater gern seine Tochter gegeben, wenn er dadurch sein geliebtes Kind nur hätte retten können. Er wollte sich über die Meinung der Welt und über die Einrede seiner Familie hinwegsetzen, wenn ihm durch diesen festen Entschluß seine Juliane nur könne gerettet werden, durch deren Krankheit er erst erfahren hatte, wie er sie liebe, wie sie mit seinem Herzen verwachsen sei. – Alles war umsonst, sie starb in Schmerzen und nach mir rufend, und der trostlose Vater rief mir seine Flüche nach, die mich auch einholen werden, o ja, so wie ihre Verwünschungen. – So ungefähr äußerte sich damals die Leidenschaft meines unglücklichen Freundes. Er erzählte mir noch zum Beschluß, daß sein ganzes Vermögen verlorengehe, wenn sich nicht ein Dokument vorfände, das er schon seit langem suche, aber nirgends, in keinem seiner Schränke entdecken könne. Es gibt Leiden, bei denen es töricht ist, nur den Versuch zu machen, um Trost einzusprechen. Solche Schmerzen müssen sich selbst durchleben, sie gehören zum Menschen, und wer ihnen nicht erliegt, wer sie übersteht, wird späterhin einsehen, daß diese hohe Schule durchzuarbeiten zu seinem Heile notwendig war. Ich bin überzeugt, sagte mein Freund nach einigen Tagen, als ich von ihm Abschied nahm, daß diese Flüche, diese Prophezeiungen der Furie mich finden werden. Mein Leben wird sich in Krankheit, Elend, Wahnsinn und Armut verzehren. Der Geist der Abgeschiedenen wird auf meinem Pfade in meine Fußtapfen treten und Gift säen, wo vielleicht noch eine Freude aufsprießen möchte. – Jetzt fing ich an zu trösten und aus allen Gegenden Hoffnung und Beruhigung herbeizurufen, weil dergleichen Befürchtungen nur allgemein poetische sind, die sich bekämpfen lassen. Die Hoffnung ist wenigstens noch unendlicher, als die weitumgreifende Ahndung dieser gespenstischen Furcht. – Wir trennten uns, und ich erfuhr lange nichts von meinem Franz. Ich war im Auslande und kehrte erst nach einigen Jahren zurück. Wir hatten uns nicht geschrieben, und als ich nun wieder in meinem Wohnsitze mich behaglich fand, wie überraschte und erfreute mich sein erster Brief. Keine Spur mehr der alten Leiden; alles war vergessen. Durch die Zeit und das Glück war mein Franz zu einem wahrhaft neuen Menschen geworden. – Er schrieb mir nämlich von seiner bevorstehenden Hochzeit. Das schönste Mädchen der Provinz, jung, heiter und unschuldig, hatte ihm ihre Liebe zugewendet: er hatte an demselben Tage, nach Jahren, jenes ihm so wichtige Dokument aufgefunden, als das schönste Brautgeschenk seines vollendeten Glücks. Jene trübe Zeit, so meldete er mir, sei in seinem Geiste nun völlig erloschen, eine neue Jugend blühe ihm auf und er fange jetzt erst an zu leben. In acht Tagen sollte seine Hochzeit gefeiert werden, und er lud mich dringend ein, zu ihm zu kommen, um Zeuge seines Glückes zu sein. Gern wäre ich diesem Rufe gefolgt, wenn mich nicht mein Oheim, der auf dem Sterbebette lag, vierzig Meilen weit von hier hinweg gerufen hätte. Der Fürst, der unsern Freund am meisten haßte und verfolgte, war auch seitdem gestorben, und so ließ es sich denn nach aller menschlichen Aussicht und Berechnung so an, daß alles Ahnungsvolle, Drohende, Unheilbringende verlöscht, eingeschlafen und vergessen sei und sich Geister des Glückes und der Lust vor den Lebenswagen unsers Freundes spannen würden. – Hier schwieg der Erzähler, und Graf Blinden fragte: Ist denn damit die Geschichte aus? Wie Sie wollen, antwortete Blomberg. Wie Sie wollen? rief Sidonie heftig: Sie sind mit Ihren weit ausgreifenden Reden unausstehlich, wenn jetzt nicht noch ganz andere Sachen kommen. Ich will mich erst am Tee erquicken, erwiderte Blomberg ruhig, nachher, wenn der Abend so recht still geworden ist, wollen wir sehen, ob die Geschichte noch eine Fortsetzung zuläßt. Wenn die übrigen nur neugierig schienen, so konnten alle bemerken, daß sich der junge Graf Theodor in der größten Spannung und Aufregung befand. Anselm wandte von diesem kein Auge und schien eine Art von Schadenfreude zu empfinden, daß Theodor von der Erzählung so ergriffen war. Er wechselte Blicke mit der stets lebhaften Sidonie, die auch den Grafen Theodor mit ihren schönen Augen prüfte, als wenn diese Begebenheiten, die vorgetragen waren, auf ihn eine besondere Beziehung hätten. Als man sich um den Teetisch versammelt hatte, suchte Theodor der schönen Sidonie nahezukommen. Er sprach leise und sehr eifrig mit ihr und Graf Blinden beobachtete indessen Anselm, der still und fein über diese lebhafte Unterredung lächelte. Wie kann man nur so dringend sein? sagte Sidonie endlich laut. Wovon ist denn die Rede? fragte der alte Blinden; wenn es erlaubt ist, sich danach zu erkundigen. Mein junger Freund, sagte Sidonie, will mich berauben, und fordert mit Ungestüm eine meiner Locken, die ich ihm, wie er behauptet, schon seit langem versprochen habe. Sie können es nicht leugnen, Sidonie, sagte Theodor mit lauter Stimme, und ich muß mein Recht behaupten, da aus meiner Privatangelegenheit einmal ein öffentlicher Prozeß gemacht worden ist. Wollen Sie mich zum Schiedsrichter annehmen? fragte jetzt Anselm mit lachender Stimme. Sie, Baron, am wenigsten, antwortete Theodor mit einiger Bitterkeit: Sie möchten zu sehr Partei werden. Auch ist es wohl passender, wenn die schöne Sidonie selbst und allein das Richteramt vertritt. Es wird sich alles finden, sprach Sidonie, nur müssen wir nichts übereilen wollen. Wenn der Richter frei und heiter stimmen soll, so muß man ihm nicht durch Andrang und Vorwürfe die heitere Laune verderben. Die Wirtin, welche das Verhältnis der beiden jungen Leute kannte, und wie sehr Theodor eine Verbindung mit Sidonie wünschte, suchte durch eine Erzählung alle zu zerstreuen, weil sie immerdar Anselms eifersüchtigen Ungestüm fürchtete, der sich keine Mühe gab, seine ziemlich feindliche Stimmung gegen Theodor zu verbergen. Mit dem Abend trat ein sonderbares Wetter ein. Dunkle Wolken jagten sich durch den Himmel, plötzliche Finsternis wechselte mit Helle; zuweilen klatschte der Regen gegen die Fenster, dann vernahm man wieder Windesbrausen, welches über die Wälder dahinfuhr. Das ist eine schauerliche Witterung, sagte Blinden, die paßt so recht, daß man sich am Kamin etwas gräßliche Geschichten erzählt. Wenn man auf den großen Teich da unten hinblickt, der nur von Zeit zu Zeit sichtbar wird, so hat er auch, wie der Wind stoßend drüber hinkräuselt, vor innigem Schauer eine Gänsehaut. Lieber Blomberg, jetzt wäre die rechte Stunde, Ihre Geschichte zu endigen. Die Bedienten hatten bei der naßkalten Witterung ein Feuer im großen Kamin gemacht, welches jetzt laut knisternd hell aufloderte. Anselm sprach heimlich mit Sidonie, und jetzt beobachtete Theodor ihre Blicke und Mienen. Indem er sich nahte, sagte das Fräulein: Nachher, lieber Theodor, sprechen wir miteinander, lassen Sie jetzt den Baron in seiner Erzählung fortfahren, und ich wünschte nur, daß er uns recht zu fürchten macht, denn ich liebe dergleichen. In wahren Geschichten, warf Anselm dazwischen, wofür sich diese doch ausgibt, kommt dergleichen nicht vor. Denn was wir bis jetzt von dieser Zigeunerin, der Sibylle, dem väterlichen Fluch und dergleichen mehr vernommen haben, macht keinen großen Eindruck. Alles dieser Art ist nur von einer zweideutigen Wirkung, denn der Leser oder Zuhörer muß dem Erzähler schon mit gutem, ja sogar dem besten Willen entgegenkommen, damit nur eine Täuschung, geschweige ein tiefer erschütternder Eindruck möglich werde. Jene Poesien und Märchen aber, die darauf ausgehen, uns Schauder und Entsetzen zu erregen, verabscheue ich geradezu, und sie waren mir schon in meiner Kindheit verhaßt. Gibt es etwas Unsinnigeres, als daß ich mir freiwillig ein Gefühl errege, welches mich peinigt, ängstigt und quält? Ich verlange von der Dichtung, daß sie mich in einen behaglichen Zustand versetze, der mich die Wirren und Ängste des wirklichen Lebens vergessen macht. Darum rühren mich auch jene fantastischen Märchen niemals. Weil es Ihnen wohl an Fantasie gebricht, versetzte Theodor. Wer bloß Schreck und Angst empfindet, und wem in jenem süßen Grauen sich nicht das Rätsel des Lebens in einem halbverständlichen Wunder darlegt, der kann freilich zu jener geistigen Region keine Einlaßkarte bekommen. Da geraten wir, sagte Anselm höhnisch, freilich auf jene bahnlosen Schmuggler-Pfade, auf welchen so viele ästhetische Contrebandiers verdächtige und verbotene Ware aus dem Gebiet des Unsinns in das Land der Vernunft hinüberpaschen wollen. Theodor wollte wiederum antworten, aber die alte Baronin nahm das Wort, indem sie freundlich sagte: Meine Freunde, wir Frauen verstehen nichts von diesen gelehrten Disputen, Sie müssen uns erlauben, uns an dergleichen wie die Kinder zu ergötzen. O es ist gar so hübsch, in guter Gesellschaft sich so recht zu fürchten, vor dem Schatten an der Wand zu erschrecken, uns bei jedem Geräusch umzusehen und endlich mit Grauen und Angst in das Bett zu steigen. Wird man recht übermannt, so muß wohl gar unter allerhand Vorwänden die Kammerjungfer in derselben Stube schlafen, und man spricht und fragt, um sich zu überzeugen, daß sie noch da ist. Wir sterblichen Menschen haben gar seltsame und gar mannigfaltige Vergnügungen, und wen soll man darum schelten, daß wir so eingerichtet sind? Meine Freunde, fing Blomberg jetzt, indem sich alle in der Gegend des Kamins niedergelassen hatten und das Zimmer nur von zwei Kerzen und dem flackernden Feuer erhellt war, mit einiger Feierlichkeit an: wie meine Erzählung wirken, ob sie interessant sein mag, kann ich nicht verbürgen, ich kann nur bekräftigen, daß ich sie für wahr halte, und daß ich, wie Sie gesehn haben, einiges davon selber mit erlebt habe. Wie man es auslegen, inwiefern man mir glauben mag, welche Konsequenzen man daraus ziehen will, ob dieser und jener es für Erfindung erklären möchte, alles dies kümmert mich nicht sonderlich. – Der Aufenthalt bei meinem todkranken Oheim zog sich in die Länge. Seine Qual währte länger, als seine Ärzte es vermutet hatten, und es war mir beruhigend, daß meine Gegenwart ihm so tröstend und hilfreich sein konnte. Als er gestorben war, hatte ich viel zu tun, seine Verlassenschaft zu ordnen, mich mit den übrigen Verwandten, da mir ein Teil des Vermögens zufiel, zu einigen und alles so einzurichten, daß wir alle befriedigt und ohne Streit auseinandergingen. Über diese Angelegenheit, da das Geschäft zugleich verschiedene Reisen notwendig machte, war mehr als ein Jahr, fast achtzehn Monate waren darüber verflossen. Die Reisen hatten mich weit von dieser Gegend hinweg geführt, und gesteh’ ich es nur, in diesen Verhältnissen und im Drang der Geschäfte hatte ich meinen Franz so gut wie vergessen. Er hatte mir nichts geschrieben, ich hatte nichts von ihm vernommen, und so war ich denn überzeugt, daß es ihm gut gehe, daß er verheiratet sei und sich in seiner neuen Lebensbahn glücklich fühle. Ich machte hierauf, weil ich einmal der Schweiz nahe war, noch in dieser eine Reise zu meinem Vergnügen, und besuchte nachher ein Bad am Rhein, zu welchem mir mein Doktor schon seit längerer Zeit geraten hatte. Hier überließ ich mich den Zerstreuungen und genoß auf Spaziergängen die schöne Natur. Mir war lange nicht so wohl gewesen. Indem ich an der Wirtstafel die Badeliste zufällig in die Hand nehme, sehe ich, daß mein Freund Franz schon seit acht Tagen im Bade sich mit seiner Gattin aufhält. Ich verwunderte mich sehr darüber, daß er mich nicht sogleich aufgesucht hatte, da ihm in der Liste mein Name doch aufgefallen sein mußte. Indessen sagte ich zu mir selber, er hat die Blätter vielleicht nicht mit Aufmerksamkeit gelesen, er hat mich nicht nennen hören, er ist vielleicht ernsthaft krank und sieht nur wenige Gesellschaft. So beruhigt, suchte ich ihn in seiner Wohnung auf, und man sagte mir, er sei nicht zu Hause. Ich hoffe, ihn auf dem Spaziergange zu treffen, aber ich werde ihn nirgends gewahr. Als ich am folgenden Tage wieder bei ihm Vorfrage, – dieselbe Antwort – er sei ausgegangen. Ich gebe meine Karte ab, mit dem Ersuchen, er solle zu mir kommen oder schicken, um welche Zeit er meinen Besuch annehmen wolle. Ich erfahre nichts. Früh gehe ich wieder bei ihm vor, und der Bediente sagt mir wieder mit einem bekümmerten Gesicht, sein Herr sei schon ausgegangen. Nun sah ich wohl ein, daß Franz mich nicht sprechen wolle und daß er sich vor mir verleugnen lasse. Ich ging alle meine Erinnerungen durch, ob und wie ich ihn könne beleidigt haben, aber auch bei der überstrengen Nachforschung fand sich auch nicht der kleinste Flecken, in Hinsicht seiner, in meinem Gewissen. Ich schrieb ihm also einen etwas empfindlichen Brief, und forderte es, nicht bloß als Zeichen der Freundschaft, sondern der Achtung zugleich, die er sich selbst schuldig sei, daß er meinen Besuch annehmen solle und müsse. Man öffnete mir, als ich wieder vor der Tür erschien. Als ich im Zimmer eine Weile gewartet hatte, kommt aus der Schlafkammer ein Fremder herein, kein Mann, sondern ein wankendes, zitterndes Gerippe, mit eingefallenem leichenblassen Antlitz, das, wenn nicht die brennenden Augen gewesen, man für einen Totenschädel hätte halten können. Großer Gott! rief ich mit Entsetzen aus, denn ich erkannte nun in diesem Gespenst meinen Franz, diesen ehemals so schönen, so liebenswürdigen Mann. Ich war erschreckend in einen Sessel gesunken, und er setzte sich jetzt ebenfalls zu mir nieder, nahm meine Hand in seine dürre, und sagte: Ja, so, mein Blomberg, sehn wir uns wieder, und du begreifst jetzt wohl, warum ich dir diesen traurigen Anblick ersparen wollte. Ja, Freund, alle jene Flüche sind in Erfüllung gegangen, das Elend hat mich eingeholt, so rüstig ich ihm auch vorangeeilt war, ich bin zum Tode krank, meine junge Frau, die ein Musterbild der Schönheit war, nicht minder, ich bin ein Bettler, und alles ist vorüber. Ich konnte mich immer noch von meinem Erstaunen nicht erholen; nach jenem eisigen, ersten Schrecken trat jetzt das tiefste Mitleiden, ein unaussprechliches Erbarmen in meine Seele, und der unglückliche Freund sah meine Tränen fließen. Aber wie, wie ist alles dies möglich geworden? rief ich aus, sprich! erzähle! teile dich deinem Freunde mit. – Verschone mich, sagte er mit matter Stimme, werfen wir einen Vorhang über alle diese Trauer, denn was kann es dir frommen, das Wie und Warum zu erfahren. Du würdest nicht begreifen, nicht glauben und noch weniger kann dein Rat und Trost etwas helfen. Ich konnte nichts erwidern, sein Elend schien so groß, daß er vielleicht vollkommen recht hatte. Reden, Erzählungen und Klagen sind oft nur Stacheln in der Todeswunde. Ich bat ihn, mich mit seiner Frau bekanntzumachen. Er führte sie herein, sie war ebenso leidend wie er, aber man sah, daß sie schön mußte gewesen sein. Sie war groß und edel gebaut, ihr blaues Auge war von einer durchdringenden Klarheit und ihre Stimme hatte den lieblichsten und seelenvollsten Klang. Nach wenigen Gesprächen nahm ich Abschied, weil der Doktor hereintrat, und ich bedang mir nur aus, daß Franz den Freund künftig nicht mehr abweisen dürfe. Ruhe war mir nötig, mich zu sammeln, und ich suchte den einsamsten Platz auf, um mich in meinen Gedanken und Gefühlen wieder zu finden. Wie sonderbar erschien mir in diesen Augenblicken das menschliche Leben, Liebe, Freundschaft, Tod und Gesundheit. In meiner Träumerei wurde ich durch eine freundliche Stimme unterbrochen, die mich anredete. Es war der Badearzt, ein gutmütiger, nicht mehr junger Mann, welcher sich zu mir setzte. Ich habe erfahren, begann er, daß Sie ein Jugendfreund unsers armen Kranken sind, und ich habe Sie aufgesucht, um mit Ihnen über seinen ebenso kläglichen als rätselhaften Zustand zu sprechen. Mir ist noch keine ähnliche Krankheit vorgekommen, ich verstehe sie nicht, und deshalb tappe ich auch nur mit meinen Mitteln im Dunkeln, und weiß auch nicht, ob ihm das hiesige Wasser irgend heilsam sein kann, ihm oder der kranken Frau, die an demselben Leiden dahinschwindet. Ich habe keinen Namen für dieses Fieber der Auszehrung, welches allen bisherigen Gesetzen spottet. Nach manchen Stunden möchte ich sie beide für wahnsinnig halten, wenn sich nicht die Vernunft in ihnen unwiderleglich offenbarte. Sollte ihr Verstand aber auch nicht verletzt sein, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß beide gemütskrank sind. Und das Schlimmste ist, daß der Graf nicht spricht und erzählt, sondern im Gegenteil allen Fragen über seinen Zustand, jeder Erörterung über die Ursache, den Anfang desselben, ängstlich ausweicht. Erzürnen kann und mag ich ihn nicht, und meine Fragen und Forschungen haben ihn schon einigemal aufgebracht, und doch scheint es mir nötig, die Geschichte der Krankheit von ihm zu erfahren. Und das ist meine Bitte an Sie, geehrter Herr, daß Sie, als sein Vertrauter, Ihren Einfluß auf ihn dahin wenden, daß er Ihnen und mir die Entstehung seines Übels bekennt. Erfahre ich diese, so ist es vielleicht erst möglich, ihm und der Frau Hilfe zu verschaffen. Kommt die Krankheit aus dem Geiste, wie ich fast schon überzeugt bin, so kann der Arzt nur etwas ausrichten, wenn er im Vertrauen ist; wird ihm dieses versagt, so kann er nicht nur durch seine Vorschriften, selbst durch ein unbehütetes Wort zum Mörder werden. Ich beschwöre Sie also, alles zu tun, damit der Leidende sich uns eröffne. Ich versprach, zu versuchen, was der vernünftige Mann verlangte, denn ich selber hatte mir schon dasselbe sagen müssen. Als ich aber dem Freunde am folgenden Tage deshalb Vorstellungen machte, fand ich die Aufgabe viel schwieriger, als ich sie mir gedacht hatte, denn er war in diesem Punkte unzugänglich. Erst als ich meinen Bitten Tränen zugesellte, als die leidende Frau endlich selbst auf meine Seite trat, weil der Wunsch in ihr lebendig war, daß der Arzt ihrem Gatten helfen möchte, gab er nach; doch bedang er sich aus, daß, was er uns vortragen werde, im stillen Zimmer bei mir geschehen müsse, von keinem Diener gestört, denn er könne seiner Frau nicht zumuten, bei der Erzählung zugegen oder nur in der Nähe zu sein. So ward es auch eingerichtet. Mein Gartenstübchen war so still und einsam, daß keine Störung zu besorgen war, nach dem mäßigen Abendessen sendete ich die Diener fort und befahl, mich jedem möglichen Besuch zu verleugnen. Bei der Kranken blieben ihre Kammerfrauen; und eine Dame war auf mein Gesuch so freundlich, ihr in Abwesenheit des Mannes etwas Leichtes und Erfreuliches vorzulesen. Nun saßen wir also in meinem trauten Zimmerchen, beim Scheine zweier Kerzen, indessen draußen vor dem Fenster die Bäume im Sommerwinde lieblich säuselten. Aber jetzt, geehrte Freunde, sagte der Baron Blomberg mit erhöhter Stimme, mache ich von der Freiheit Gebrauch, im Namen meines Freundes selbst und nicht in der dritten Person zu erzählen. Ich schrieb damals jenes seltsame Bekenntnis sogleich nieder, deshalb sind mir noch jetzt alle Umstände gegenwärtig. Ich habe bisher diese Erzählung noch niemand mitgeteilt, jetzt, nach so manchem verfloßnen Jahre, kann sie, in diesem Kreise vorgetragen, keinen Anstoß erregen, oder irgend jemand auch nur einen leichten Verdruß verursachen. – Theodor stand auf und putzte die Kerzen, Anselm legte Scheite Holz in den Kamin, die Wirtin setzte sich begierig in ihren Lehnsessel zurecht, Sidonie sah erwartend um sich, und der kranke Graf Blinden nahm das Barett vom Haupt, um noch besser hören zu können. Also denn, begann Blomberg, der kranke Freund saß auf meiner Stube im Sofa, der Arzt und ich waren ihm gegenüber, und langsam, oft pausierend, weil ihm das Sprechen sauer wurde und er mehr wie einmal der Ruhe bedurfte, begann Franz auf folgende Art, denn in seiner Person erzähle ich, und ich ziehe es vor, unmittelbar aus der Erinnerung zu sprechen, statt jene Blätter Ihnen vorzulesen. – – Ja, mein Freund Blomberg, krank und sterbend siehst Du mich wieder, eben so elend ist meine Gattin, die noch vor zwei Jahren ein Musterbild der Gesundheit und Schönheit war. Die Klausenburg ist zur wüsten Ruine geworden, die uns einigemal so traut und heimisch bewirtete, Gewitter und Brand haben sie zerstört, und was von Holzwerk und brauchbaren Steinen übrigblieb, haben meine grausamen Gläubiger, mir zum Hohne, herausgerissen und für geringes Geld verkauft. Du weißt es, mein Freund, welcher Glaube oder Aberglaube mich verfolgt, doch braucht davon unser lieber Arzt nichts zu erfahren, denn dies hat äußerlich keinen Einfluß auf mein nächstes Schicksal, auch habe ich von meinen neuesten Begebenheiten so viel Sonderbares vorzutragen, daß es hinreichen wird, den gelehrten Doktor mehr als vollkommen zu überzeugen, daß ich wahnsinnig sei. – Bei dieser Einleitung begegneten sich meine Blicke mit den forschenden des Arztes, dann betrachteten wir beide wieder prüfend den bleichen Kranken, welcher jetzt mit größerer Lebhaftigkeit also fortfuhr: – So jung ich auch noch war, so hatte ich mein Leben doch schon aufgegeben, denn ich hielt es für völlig beschlossen. Wie aber zuweilen wohl die Kraft eines schönen Frühlings einen abgestorbenen Baum von neuem belebt, daß seine Zweige wieder grünen, und aus dem Laube eine Blüte wiederum hervorquillt, so begegnete es auch mir. In menschenfeindlicher Stimmung reiste ich im Lande umher und verweilte in einer kleinen Stadt, welche in einer anmutigen Gegend liegt und in welcher ich, als ich meine Briefe abgab, interessante Menschen kennenlernte. Ein freundlicher Mann, ein sehr weitläufiger Verwandter, führte mich in das Haus ein, wo ich meine teure Elisabeth zum ersten Male sah, und schon beim zweiten Besuch mein Herz und meine Ruhe verloren hatte. Wozu Beschreibung von Reizen und Vollkommenheiten, welche verschwunden sind? Ich war bezaubert und schmeichelte mir bald, daß man meine Gefühle verstand, und nach einiger Zeit, daß man sie vielleicht erwidern könne. Elisabeth lebte im Hause einer alten Tante, beide waren nicht wohlhabend, aber von gutem alten Adel. Ich setzte mich über das Geschwätz und die Verwunderung der Kleinstädter hinweg, daß ich so lange in diesem unbedeutenden Orte verweilte, wo es weder ein Theater gab, um mich zu zerstreuen, noch große, glänzende Assembleen oder Feste und Bälle, um mich zu beschäftigen. Ich war so glücklich, daß ich nur den Tag und die Stunde genoß. Die Familie war sehr musikalisch, Elisabeth eine wahre Virtuosin auf dem Fortepiano, ihre Stimme war gebildet, voll und schön, und sie überraschte mich freundlich dadurch, daß sie meinen vielleicht einseitigen Geschmack für ältere Musik mit mir teilte. Wohllaut, Kunst, freundliche Blicke der schönsten Augen, alles bezauberte mich so, daß Wochen wie Tage und Tage wie Stunden in diesem poetischen Taumel verschwanden. Ich sprach von der Familie. Auch die Tante war musikalisch und accompagnierte uns auf dem Instrument, wenn wir beide sangen. Es tat mir nebenher auch wohl, mich meiner Talente wieder bewußt zu werden, welche zu üben ich seit langer Zeit vernachlässigt hatte. Jawohl, Talente, Liebenswürdigkeit, gesellige Gaben, Feinheit des Betragens usw. – so fuhr Franz nach einer Pause fort, in welcher er ganz in sich versunken schien – diese Eitelkeit, diese Vorzüge zu besitzen, haben von je mich und andere unglücklich gemacht. – Wenn ich nun von der Familie spreche, so muß ich jetzt von einer älteren Schwester Elisabeths, von Ernestine reden. Die Eltern meiner Geliebten waren schon früh gestorben. Sie hatten, entfernt von jener kleinen Stadt, in einer Residenz gelebt, und, wie man es so nennt, ein großes Haus gemacht. Dies geschah, ohne ihr Vermögen zu Rate zu ziehen, und so waren sie schon früh verschuldet und verarmt. Wo diese Verwirrung einreißt, wo die Not des Augenblicks immer wieder die Sicherheit von Tagen und Wochen verschlingt, da haben die wenigsten Menschen Stärke und Haltung genug, um in dem Sturme des wiederkehrenden Wirbelwindes das Steuer festzuhalten. Und so war denn in diesen zerstörten Haushalt die wildeste und regelloseste Wirtschaft eingerissen. Die Eltern zerstreuten sich nicht nur an Gastmählern, Putz und Schauspielen, sondern gewissermaßen selbst an neuen und sonderbaren Unglücksfällen. Auf diese Weise beschäftigte sie ihre älteste Tochter Ernestine. Das arme Wesen war als dreijähriges Kind bei Gelegenheiten eines wüsten, tobenden Gelages, wo niemand auf die Kleine achtete, über eine Flasche starken Getränkes geraten, hatte die betäubende Flüssigkeit in sich geschlürft und war dann trunken, ohne es zu wissen, eine hohe Treppe hinuntergestürzt. Das Unglück war kaum bemerkt worden, und als man es nachher inne wurde, nahm man die Sache leichtsinnig. Der Arzt, ein lustiger Freund des Hauses, scherzte mehr über den Vorfall, als daß er die richtigen Heilmittel angewendet hätte, und so zeigten sich denn am Kinde die Folgen bald, die es späterhin der Lieblosigkeit seiner Eltern mit Recht zur Last legen konnte. Brustknochen und Rückgrat waren verschoben, so wie die Arme wuchs, wuchs sie immer mehr in die Mißgestalt hinein. Sie war ziemlich groß, aber um so auffallender war ihr doppelter Höcker, die Arme waren übermäßig dürr, so wie die Hände, Finger und Arme von einer erschreckenden Länge. Auch der hoch ausgestreckte Körper war dürr, und das Gesicht vom sonderbarsten Ausdruck. Die kleinen lebhaften und klugen Augen konnten kaum unter der Knochenwölbung der Stirn und der breitgequetschten Nase hervorblicken, das Kinn war lang und die Wangen eingefallen. So war die Unglückselige eine sonderbare Folie für ihre Schwester Elisabeth. Die Tante, als sie von dem gänzlichen Verfall des Hauses hörte, war hinzugetreten und hatte geholfen, soviel ihre beschränkten Kräfte vermochten. So ward die jüngere Tochter gerettet und blieb gesund, indem die Schwester des Mannes schon vor dem Tode der Eltern beide Kinder zu sich nahm, um sie zu erziehen und auszubilden. Die körperliche Pflege kam für Ernestine zu spät, aber ihr Geist ward gebildet, ihre Talente wurden geweckt. Sie zeigte sich verständig, lernte leicht und behielt, was sie gefaßt hatte. Sie übertraf offenbar die Schwester an Witz und Gegenwart des Geistes. Da sie gern philosophische Schriften las, so übte sie ihr Urteil und zeigte einen so durchdringenden scharfen Verstand, daß selbst Männer oft vor ihren kecken und schroffen Urteilen erschraken. Denn da Schönheit und Anmut sie nicht mit ihrem Geschlecht verbanden, so übte sie nicht selten eine Gewalt aus, die mehr als männlich war. Was aber an das Wunderbare grenzte, war ihr großes musikalisches Talent. Niemals hatte ich so das Fortepiano behandeln hören. Alle Schwierigkeiten verschwanden, und sie lachte nur, wenn man ihr von schweren Passagen sprach. Freilich half es der Unglückseligen sehr, daß ihre Hand und Fingerspannung alles übertraf, was gesunden Klavierspielern möglich ist. Sie war aber auch in der Kunst des Satzes erfahren und komponierte mit Leichtigkeit große Musikstücke, die wir dann oft zu ihrem Ergötzen ausführten. Konnte ein solches Wesen nicht auf ihm eigne Art glücklich sein? Gewiß, wenn sie sich resignierte, wenn sie vergessen konnte, daß sie ein Weib sei. Unglücklicherweise vergaßen es alle Männer, die in ihre Nähe kamen, sie aber konnte sich über diese Grenze bis zur Männlichkeit oder Geschlechtlosigkeit nicht erheben. Dieses seltsame Wesen zog mich durch seine Vorzüge sowie durch seine Widerwärtigkeit auf eine eigene Weise an. Wir musizierten, ich sang ihre Kompositionen, und wenn sie so aufgeregt war, blickte aus dem kleinen Auge ein wunderbar poetischer Geist, wie ein verhüllter, zum Staube erniedrigter Engel mit einem freundlichen und doch erschreckendem Glänze. Ich vergaß fast immer, daß sie die Schwester meiner Elisabeth sei. Elisabeth hatte früher schon einige Freier abgewiesen, die sich sehr ernstlich um sie beworben hatten. Als ich einmal unangemeldet in das Vorzimmer trat, hörte ich die beiden Schwestern lebhaft sprechen, und mein Name wurde genannt. Diesen wirst du doch etwa nicht annehmen? rief Ernestine: er sagt dir und uns nicht zu; sehr reich soll er auch nicht sein: aber er ist so hochmütig, so in sich selbst genügsam, so von seiner Vortrefflichkeit überzeugt und durchdrungen, daß er mir Widerwillen erregt, so wie er nur zu uns tritt. Du nennst ihn liebenswürdig? edel? Rechthaberisch, eigensinnig ist er, und glaube mir, seine Geistesgaben sind nicht von dem Gewicht, wie du sie anzuschlagen scheinst. Elisabeth nahm mit sanfter Stimme meine Verteidigung, aber jene erörterte alles Schlimme meiner Natur nur um so mehr und ging das Register aller meiner Fehler durch. Da so sehr von mir die Rede gewesen war, wollte ich nicht sogleich hineintreten, um sie nicht zu beschämen, und so hatte ich gegen mein Erwarten entdeckt, welchen Widerwillen die ältere Schwester gegen mich gefaßt hatte. Ich nahm mir vor, durch Freundlichkeit und Wohlwollen die Unglückliche mit mir auszusöhnen, deren Leben so wenig Reiz und Freude hatte. Als man sich beruhigt hatte, trat ich ein und wir nahmen sogleich, wodurch ich meine Verlegenheit am besten verbarg, unsre musikalischen Übungen vor, so wie die Tante gekommen war. Nach einigen Besuchen gelang es mir wirklich, Ernestine freundlicher zu stimmen. Wenn sie mit mir allein war, vertieften wir uns zuweilen in die ernsthaftesten Gespräche, und ich mußte ihren Geist wie ihre Kenntnisse bewundern. Ich mußte ihr beistimmen, wenn sie in mancher Stunde von jenen Männern mit Verachtung sprach, die am Weibe einzig und allein den flüchtigen und wandelbaren Reiz achten und lieben, der mit der Jugend verschwindet. Sie schalt auch nicht ungern auf die Mädchen, die so häufig sich nur als Erscheinung geben und nur als solche gleichsam als Modepuppen oder Kleiderhalter gefallen wollen. Sie entfaltete ohne Affektation den Reichtum ihres Gemüts, ein tiefes Gefühl, großartige Gedanken, so daß ich, über diese mächtige Seele in Bewunderung aufgelöst, mich kaum ihrer verkrüppelten Gestalt mehr erinnerte. Sie drückte mir freundlich die Hand und schien ganz glücklich, wenn wir eine Stunde so weggeschwatzt hatten. Ich freute mich ebenfalls, als ich zu bemerken glaubte, wie ihre Freundschaft zu mir mit jedem Tage wuchs. Es fiel mir als eine Schwachheit meiner Geliebten auf, daß sie mit dieser Vertraulichkeit unzufrieden war. Ich begriff diese kleinliche Eifersucht nicht und tadelte sie im stillen als zu große weibliche Schwäche. Mir war es im Gegenteil erwünscht, wenn mir Ernestine jetzt deutliche Beweise ihres Wohlwollens gab, wenn mein Eintreten sie erfreute, wenn sie ein Buch, ein Musikstück für mich zurechtgelegt hatte oder mir sagte, wie sie sich schon auf ein Gespräch mit mir über einen wichtigen Gegenstand vorbereitet habe. Diese echte Freundschaft schien mir so wünschenswert, daß ich mich schon im voraus freute, wie sie in der Ehe die schönste Ergänzung der Liebe im gegenseitigen Vertrauen bilden würde. Die Tante hatte meine Verbindung mit Elisabeth gebilligt, die Verlobung war jetzt gefeiert. Bei dieser war Ernestine nicht zugegen, denn sie war an diesem Tage krank. Ich sah sie auch am folgenden Tage nicht, und als ich sie aufsuchen wollte, sagte meine Braut: Laß sie noch, Lieber, sie ist so außer sich, daß es besser ist, ihre Leidenschaft austoben zu lassen. – Was ist denn begegnet? fragte ich erstaunt. – Sonderbar, antwortete Elisabeth, daß du es nicht schon seit langem bemerkt hast, welche glühende Liebe zu dir sie ergriffen hat. – Ich war stumm vor Schreck und Erstaunen. Dies Wort erschütterte mich um so mehr, weil ich, seltsam genug, eine Leidenschaft in diesem verständigen Wesen für ganz unmöglich gehalten hatte. Als wenn die Leidenschaft nicht immerdar gegen Möglichkeit, Wahrheit, Natur und Vernunft anrennte, wenn diese sich ihr widersetzen wollen, wie ich es ja selbst, auf ähnliche Weise, in meinem eigenen Leben erfahren hatte. Ja, fuhr Elisabeth fort, fast zur nämlichen Zeit, als du erst in unser Haus tratest, bemerkte ich diese Hinneigung zu dir. Deutlicher zeigte sich ihre Vorliebe, als du anfingst, mich auszuzeichnen, als du mir freundlich wurdest und ich dir mein Vertrauen schenkte. Lange Zeit verbarg sie ihre Neigung unter einem vorgegebenen Haß, eine Verstellung, die mich nicht täuschen konnte. O Geliebter, der Geist und die Gefühle, Enthusiasmus und Leidenschaften dieses wunderbaren Wesens sind von so ungeheurer Kraft und Innigkeit, daß ich sie, seit ich zur Besinnung kam, ebenso sehr bewundern mußte, wie ich sie fürchte und vor ihrer Riesenstärke erschrecke. Als ich vor Jahren meinen Unterricht in der Musik nahm und nach dem Zeugnis meines Lehrers rasche Fortschritte machte, lachte sie nur über mein kindisches Wesen, wie sie es nannte. Sie hatte früher nicht daran gedacht, Musik zu treiben, jetzt warf sie sich mit Heftigkeit auf diese Kunst. Tag und Nacht übte sie, der Lehrer genügte ihr nicht, sie benutzte die Anwesenheit eines berühmten Komponisten und ward seine Schülerin. Ich begriff diese geistige wie körperliche Kraft nicht, daß sie Tag und Nacht, fast ohne Schlaf und ohne etwas zu genießen, immer nur mit unermüdlichem Eifer der Übung ihrer Kunst sich widmen konnte. Nun lernte sie den Satz, und der Meister lobte und bewunderte sie. Es währte nicht lange, so tadelte sie den Lehrer, sie meinte, sein Vortrag sei nicht feurig, nicht enthusiastisch, er in Kompositionen nicht originell und leidenschaftlich genug. Er gab sich gefangen und ihr recht. Alle Menschen, pflegte sie wohl zu sagen, liegen immerdar im halben Schlaf, sie sind fast immer wie betäubt und beinah der Pflanze ähnlich und verwandt, die auch wächst, blüht und schön ist, Geruch ausstreut und Kräfte besitzt, ohne darum zu wissen. Was müßten die Menschen vermögen, wenn sie in ihrem wachen Zustande wahrhaft wachten! – Und so gab sie sich denn auch der Philosophie hin, las medizinische, anatomische und andere Bücher, die sonst den Frauen zu gelehrt oder widerwärtig sind. Wir alle, auch ihre Bekannten, mußten sie anstaunen. Und so, lieber Franz, wird sie gewiß auch in dieser Leidenschaft der Liebe rasen und sich zugrunde richten. Elisabeth schilderte mir nun auch wirklich alle jene Ausschweifungen, die sie begangen, als sie von unserer Verlobung gehört hatte; sie wollte erst sich und nachher die Schwester umbringen; dann wieder hatte sie gesagt, sie würde mich zu zwingen wissen, daß ich sie liebe und Elisabeth verlasse, denn sie sei verständiger und besser als jene. – Hier, sagte Blomberg, machte Franz in seiner Erzählung eine Pause, um etwas auszuruhen, und fuhr dann so fort: – Daß diese Nachrichten mich betrübten, ist natürlich, ich fühlte ja auch, wie unklug ich gehandelt hatte, mich Ernestine so freundlich zu nähern, daß ich mich bemüht hatte, sie zu gewinnen. Etwas beruhigt war ich, als mir Elisabeth nach einigen Tagen erzählte, wie die Schwester ihr unter vielen Tränen alles abgebeten habe, was sie im Zorn gesprochen, wie sie sie beschworen, mir nichts von diesen Verirrungen mitzuteilen, und wie sie nur darum flehentlich bitte, uns nach unserm künftigen Wohnsitz begleiten zu dürfen, weil sie es nicht fasse, wie sie ohne meine und der Schwester Gesellschaft, ohne unsere Gespräche und musikalischen Übungen noch leben könne. So wurden denn Pläne gemacht, Einrichtungen getroffen, die Tante begleitet uns und wir kamen auf der Klausenburg an, um hier, von wenigen Vertrauten umgeben, eine kleine, stille Hochzeit zu feiern, da Elisabeth von je allem Prunk und Geräusch beinah übertrieben abhold war. Ich hatte einige Zimmer und den Saal in der Klausenburg, so gut es sich tun ließ, einrichten lassen, denn der größte Teil des alten Gebäudes war schon Ruine. Elisabeth aber hatte eine poetische Vorliebe für alte Schlösser, einsame Gebirgsgegenden und die geschichtlichen oder poetischen Sagen, die sich an diese knüpfen. Nach der Hochzeit wollten wir dann das nahegelegene neue Haus am Eibensteig beziehn, und nur gelegentlich uns tage- oder stundenlang in der Klausenburg aufhalten. Wir kommen an, das Tor wird uns aufgetan, und das erste, was uns im Hofe aus den Efeuranken, die die hohen Mauern hinaufwachsen, entgegenspringt, ist jene tolle, alte Sibylle, die du, Freund Blomberg, vor einigen Jahren hast kennengelernt. Meine Frau erschrak und ich schauderte. Gegrüßt! Gegrüßt! schrie die Alte, indem sie widerwärtig herumhüpfte, da kommt der Menschenwürger, der Mädchenmörder, und bringt seine beiden Bräute mit, die er umbringen wird. – Wie kommst du hierher? schrie ich auf. – Sie muß, sagte der Türhüter, von jenseits die Klippen hinuntergeklettert sein, die die letzte Mauer des kleinen Gartens dahinten formieren, und sich nachher in den Gesträuchen und Ruinen versteckt haben. – Jawohl! Jawohl, kreischte die widerwärtige Alte, da wohnt sich’s gut. – So sehr wir erschrocken waren, so lustig schien Ernestine, denn sie hörte nicht auf zu lachen. Während der Tage, in welchen wir das Fest begingen, zeigte sich Ernestine nicht, sie war verschwunden, und wir waren sehr um sie besorgt, sendeten Leute aus, sie zu suchen, als sie am dritten Tage zu Fuß heiter und fröhlich zurückkam. Sie erzählte, daß sie dem Hange im Gebirge umherzustreifen, nicht habe widerstehen können, da sie von Jugend auf dergleichen gewünscht. – Aber so allein, ohne es uns zu sagen? sprach Elisabeth. – Allein? antwortete sie, nein, ich bin immer in Gesellschaft gewesen, mit jener alten Prophetin, die ihr so unfreundlich weggeschickt habt. Da habe ich auch ganz neue Sachen gelernt, die ich noch in keinem Buche fand; wir sind recht gute Freunde geworden. Elisabeth und ich sahen uns mit großen Augen an. Ich faßte den Glauben, ohne ihn auszusprechen, Ernestine sei wahnsinnig geworden. – So unheimlich, grauenhaft war der Eintritt in unsre Wohnung, so traurige Vorbedeutungen kamen uns entgegen, daß ich, trotz meines Glückes, kein Vertrauen zum Leben, und Elisabeth keine sichere Heiterkeit gewinnen konnte. Sonst fügten wir uns und genossen die Gegenwart und die Schönheit der Wälder und Berge. Mit den wenigen Gästen hatte uns auch die Tante verlassen, und wir konnten in froher Einigkeit uns in der schönen Einsamkeit genügen, wenn ich nicht bemerkt hätte, daß Elisabeth sich von ihrer Schwester zurückzog, so sehr es die Umstände nur erlaubten. Als ich sie darüber zur Rede stellte, sagte sie nach einigem Zögern: Liebster, ich fürchte mich vor ihr, die Ernestine ist boshaft geworden, wozu sie ehemals gar keine Anlage hatte. Wo sie mich ärgern, wo sie etwas verderben, ja selbst was Gefährliches herbei führen kann, so daß ich erschrecke, stolpere oder wohl falle, wenn von oben Steine niederstürzen, wie neulich die Gardine meines Bettes brannte, dem sie mit dem Licht zu nahe gekommen war, zeigt sie immer die größte Schadenfreude. Sie selbst hat es mir mit Lachen erzählt, daß man in der Provinz davon spreche, wie Reisende und Förster an einsamen Stellen, bei Mondschein und Morgendämmerung zwei Gespenster wollten wahrgenommen haben, die sie auch als schreckliche fratzenhafte Wesen beschrieben. Sie sei es nebst jener Prophetin gewesen, und sie wünsche nur, daß in einem Blatte der Vorfall erzählt würde, damit sie im Druck, mit ihres Namens Unterschrift, als Ernestine, Fräulein von Jertz, die Lüge von den Gespenstern widerlegen und aussagen könne, daß sie die eine Spaziergängerin war. Ist das alles nicht fürchterlich? Liebes Kind, sagte ich jetzt, ich will dir vertrauen, wie ich glauben muß, sie sei wahnsinnig geworden. – Ist jede leidenschaftliche Bosheit etwas andres als Wahnsinn? bemerkte hierauf Elisabeth ganz richtig. Wir verließen mit dem Herbst die Klausenburg, um das neue bequeme Haus zu beziehen. Denn zu meinem Erschrecken entdeckte ich eine Anlage zur Melancholie an meiner Gattin, für welche die Einsamkeit dort nicht heilsam war. Wir gingen einst durch die alten Zimmer, durch den ziemlich erhaltnen gotischen Saal, und indem unsre Tritte im einsamen Gemach widerhallten, zuckte meine Gattin plötzlich zusammen und schauderte. Ich fragte. O es ist grausig hier, sprach sie zitternd, ich habe das Gefühl, als wenn Gespenster unsichtbar hier umgingen. – Ich erschrak, und der Gedanke sah mich mit grauen Augen eines Ungetüms an: daß auch der Verstand meiner Elisabeth vielleicht wie der der Schwester möchte gelitten haben. Als wir in dem neuen Hause am Eibensteige wohnten, vermißten wir oft Ernestine und erfuhren, daß sie in der Klausenburg und in den Ruinen des alten Schlosses verweile. Da es einmal zu dieser Mißhelligkeit gediehen war, hatte ich sowohl wie die Frau ein besseres Gefühl, wenn wir die Arme nicht bei uns sahen. Aber wie verschieden war mein Leben doch von jenem, wie ich es mir vorgebildet hatte, als ich um die Hand meiner Elisabeth warb! Noch anderes häusliches Unglück geseilte sich zu unseren Leiden, um unsern Gram zu vermehren. Jenes Dokument, welches eigentlich mein Vermögen, mein Dasein begründete, jener Beweis, daß Summen bezahlt seien und ich noch welche zu fordern hatte, alle diese Akten und Papiere, die schon nach dem Tode des Grafen Moritz waren als Beweistümer in Anspruch genommen worden, diese wichtigen Blätter, die ich nach langem mühevollen Suchen wieder gefunden und die ich nur kürzlich noch in Händen gehabt hatte, waren verschwunden. Ich hatte sie immer aufmerksam behütet und verschlossen gehalten, ich hatte sie jetzt meinem Advokaten ausliefern und selber mit diesen höchst wichtigen Beweisen, die mir meine Güter frei machten und wieder schafften, nach der Stadt reisen wollen. Und sie waren fort, und wie ich dachte und sann, konnte ich weder ergründen, ja selbst keine Spur auffinden, wie es möglich gewesen, sie mir zu entwenden. Als ich endlich in meiner Herzensangst meiner Frau meine Sorge mitteile, ist sie scheinbar ganz ruhig und sagt mit kalter Stimme und Fassung: Und du kannst noch zweifeln? Ich kann es nicht. Ernestine hat einen Augenblick deiner Abwesenheit, des offnen Pultes, oder wer weiß welches augenblickliche Vergessen benutzt, um diese Papiere dir zu rauben. Nicht möglich! rief ich im Entsetzen. – Möglich? wiederholte sie; was ist ihr unmöglich? – Da diese Dokumente fehlten, ging jener uralte Prozeß nur sehr langsam vorwärts, und ich konnte es mir selber sagen, daß ich ihn durchaus verlieren müsse, wenn es irgendeinmal zur Entscheidung käme. Ich benutzte daher eine Gelegenheit, als ihn die Gerichte selbst niederzuschlagen vorschlugen, um den wahren Bescheid auf künftige Jahre möglich zu machen. Ich konnte aber nicht unterlassen, Ernestine zu befragen und ihr meinen Verdacht mitzuteilen. Die Haare richteten sich mir empor über die Art und Weise, wie sie diese Anmutung, die jedes unschuldige Herz empören mußte, aufnahm. Als ich meine Verlegenheit überwunden und ihr die Sache vorgetragen hatte, fing sie so laut und heftig an zu lachen, daß ich alle Fassung verlor. Als ich mich gesammelt hatte und in sie drang, mir zu antworten, sagte sie mit schneidender Kälte: Mein guter Herr Schwager, hier sind, wie Sie selbst, trotz Ihrer Borniertheit, einsehen, nur zwei Fälle möglich. Entweder ich bin schuldig, oder unschuldig. Nicht wahr? Wenn ich den Raub begangen habe, so mußte ich durch wichtige Ursachen bewogen sein, oder durch Bosheit, oder was es sei, zu dieser Handlung gestachelt. Und dann sollte ich sagen: ja, ich habe es getan, nehmen Sie es doch ja nicht übel? Sie müssen selbst gestehn, das wäre dümmer als dumm. Wenn ich also blödsinnig wäre, hätte ich es vielleicht so ohne alle Absicht getan, um das Küchenfeuer damit anzuzünden, oder auch weil mir die roten Siegel gefielen, und ich spräche nun: da nehmen Sie die hübschen Papiere zurück, weil ich sehe, daß sie einen Wert für den liebwerten Herrn Grafen haben. Blödsinnig aber bin ich bis dato noch nicht, und wenn ich boshaft bin, so bin ich natürlich nicht so einfältig, die Sache einzugestehen. Oder aber, der zweite Fall, ich bin unschuldig. Und Herr Schwager, widersprechen Sie ja nicht, dann sind Sie der Gimpel, diese so ganz ungeziemenden Fragen an mich zu tun. Ich konnte dem gespenstischen Wesen nichts antworten. Als ich in unsrer Einsamkeit jetzt gar nicht mehr meine Elisabeth beim Fortepiano beschäftigt sah, das ich eigens für sie vom Auslande hatte kommen lassen, und ich sie darüber zur Rede stellte, sagte sie klagend: Lieber, wenn ich nicht tödlichen Verdruß haben will, darf ich nicht mehr spielen. – Wieso? – Weil mir es Ernestine verboten hat. Sie sagt, in einem Hause, wo eine solche große Virtuosin wie sie selber lebe, könne sie nicht zugeben, daß irgend jemand anders auch nur einen Ton anzuschlagen wage. – Diese Anmaßung ging über alle Geduld hinaus. – Ich lief nach ihrem Zimmer hinüber und forderte sie im ironischen Tone auf, mir etwas vorzuspielen, da sie es andern schwachen Sterblichen nicht erlauben wolle, das Instrument anzurühren. Sie folgte mir laut lachend. Und es ist wahr, sie spielte mit solcher Meisterschaft, daß mein Zorn sich in Bewunderung und Entzücken verwandeln mußte. – Nun? sagte sie ganz ernsthaft, als sie geendigt hatte; das kann man in seinem Hause haben, den Genuß, nach welchem Kenner fünfzig Meilen herreisen würden; – und doch kann man sich auch mit jener Stümperei, diesem Hin- und Herklappen und Tapsen unfähiger Finger zufriedenstellen? O ihr Törichten und Aberwitzigen! Da schwatzen sie von Kunst, die Schäker, und meinen den Dunst, nur nippen können sie vom Himmelstrank, und das Wunder wird in ihren groben Händen zum Plunder und Zunder. Wenn mich nicht das Leben immerdar anekelte, wenn die Menschen mir nicht widerwärtig wären, würde ich gar nicht mehr zu lachen aufhören. Seitdem spielte sie oft mit uns und erlaubte höchstens Elisabeth und mir, zu singen, obgleich sie behauptete, daß wir weder Schule noch Methode besäßen. So ging der Winter hin. Ich war schon arm und hatte die Aussicht vor mir, ganz zum Bettler zu werden, Elisabeth kränkelte, und mir war die Heiterkeit des Lebens verschwunden. Es war fast eine Erleichterung unseres Daseins zu nennen, als mit dem nahenden Frühling Ernestine krank und kränker und endlich gar bettlägerig wurde. Sie ward, so wie ihre Krankheit zunahm, immer unleidlicher. Am meisten zürnte sie darüber, daß sie nicht nach der Klausenburg konnte, welche sie sehr lieb gewonnen. An einem warmen Tage ließ ich sie hinfahren, und sie kramte lange in den Gemächern, trieb sich lange zwischen den Ruinen und den Gesträuchen umher und kam uns dann viel kränker zurück, als sie uns verlassen hatte. – Franz ruhte wieder eine geraume Zeit und fuhr dann so fort: Jetzt sah man wohl, daß die Arme nicht wieder aufkommen würde. Der Doktor meinte, er begriffe die Krankheit und den Zustand der Leidenden nicht, denn die Lebenskraft sei bei ihr so stark, daß alle jene Symptome, die sonst einen nahen Tod verkündigten, bei ihr sich nicht zeigten, und sie wahrscheinlich bald genesen würde. Aber nach einigen Tagen ließ er alle Hoffnung fahren. Wir sahen eigentlich einer ruhigeren Zukunft entgegen. Wenn uns die Unglückliche auch dauerte, so konnten wir es uns doch nicht ableugnen, daß sie störend in unser Leben und das Glück unsrer Liebe hineingebrochen war. Wir hörten, sie liege im Sterben, und da sie beim Arzt und ihren Pflegern es sich eigens bedungen hatte, daß wir sie nicht belästigen sollten, so hatten wir uns ferngehalten. Jetzt verlangte sie plötzlich dringend, mich zu sehen, bedang sich aber dabei aus, daß die Schwester nicht zugegen sein dürfe. Ich ging hinüber und sagte, so wie ich eintrat: Liebe Freundin, Sie wollen gewiß so gut sein, mir jene Dokumente wieder auszuliefern, die Sie, um mich zu necken, aus meinem Pulte genommen haben. Sie sah mich bedeutend mit den sterbenden Augen an, die jetzt viel größer und verklärter als vormals leuchteten. In ihrem Blick war etwas so Seltsames, Leuchtendes, Grünfunkelndes, daß man nichts Entsetzliches, Unbegreifliches zu sehen braucht, wenn man dergleichen erblickt hat. Haben Sie, Schwager, sagte sie nach einer Pause, immer noch diese Narrenpossen im Kopfe? Doch freilich, lebt jeder so hin, wie er leben kann. Setzt Euch, Freund; fügte sie dann mit einer verächtlichen Miene hinzu, und ich ließ mich an ihrem Bett nieder. Ihr glaubt, fing sie dann mit einem widerwärtig scharfen Tone an, ihr werdet mich jetzt los. O täuscht euch ja nicht, und schmeichelt euch nicht allzufrüh. Sterben, Leben, Nichtsein, Fortdauer. Welche unnützen und nichtssagenden Worte! Ich war fast noch ein Kind, als ich lachen mußte, wenn die Menschen sich so um ihre Fortdauer nach dem Tode ängstigten. Da schleppen sie Beweise auf Beweise zusammen und zimmern sie turmhoch hinauf, Wahrscheinlichkeiten und Wünsche, Bitten und Gebete, des Ewigen Barmherzigkeit und wie so manche gute liebe Anlagen in ihnen hier diesseits, wie sie es nennen, unmöglich ausgebildet, geschweige zur Reife gebracht werden könnten, – und alle die Anstalten nur, um ihre niederträchtige Feigheit, ihre Furcht vor dem Tode etwas zu beschwichtigen. Die Armseligen! Wenn ich mich sammle, mir nach allen Richtungen hin meiner vielfältigen Kräfte bewußt werde, und der Ewigkeit, dem Schöpfer und den Millionen Geistern der Vorzeit und Zukunft entgegenrufe: Ich will unsterblich sein! ich will! was braucht’s da weiter, und welche Allmacht kann einschreiten, um meinen ewigen allmächtigen Willen zu vernichten? Was braucht der Mensch, der irgend Besinnung hat, noch für eine andere Gewähr, daß er unsterblich und ewig sei? Wie, auf welche Art, – das ist eine andere Frage. Welch Possenspiel und welche Fratze, welcher bunte Haarbeutel, welch höckerartiges Labyrinth von Eingeweiden und Liebesorganen uns wieder eingesetzt wird, welche Etikette und Hofsitte von Häßlichkeit und Schönheit eingeführt mag werden, das steht dahin, da, ins Unendliche, Dumm-Weise, Geregelte, Abgeschmackte und ewig Tolle hinein wie alles. – Aber, ihr guten Freunde, wie meine eigene Kraft, ohne weiteres, mich unsterblich erhält, so kann dieselbe Stärke und derselbe Willenstrotz mich zu euch zurückführen, wann und wie oft ich will. Glaubt es mir nur, ihr Narren, die Gespenster, wie ihr sie nennt, sind nicht gerade die schlimmsten oder schwächsten Geister. Mancher möchte gern wiederkommen, aber er hat dort ebenso wenig Charakter als hier. Und du Ausbündiger, Schelmischer, Eitler, Liebenswürdiger, Talentreicher, du Tugendknospe, du Schönheits-Mäkler, – daß ich dich so innigst, innigst habe lieben müssen, müssen, trotz dem innersten Kern meiner Seele, der mir sagte, daß du es nicht verdientest, – dir glatthäutigem, gerade gewachsenem Menschentier werde ich immer, das kannst du mir glauben, ganz nahe sein. Denn diese Liebe, Eifersucht, diese Wut nach dir und deinem Atmen und deinem Gespräch wird mich nach der Erde hinreißen und das wird, wie sich ein Frommer ausdrücken würde, mein Fegefeuer sein. Also, ohne Abschied, auf Wiedersehn! Sie reichte mir die kalte Totenhand. Als sie verschieden war, ging ich zu Elisabeth, hütete mich aber wohl, ihr von den tollen Fantasien der Verstorbenen etwas mitzuteilen, da ihre Nerven ohnedies schon auf ängstigende Weise aufgeregt waren und sie oft an Krämpfen litt. Ich lebte jetzt mit meiner Gattin in stiller Ruhe und in einer ländlichen Einsamkeit, die wohl schön werden konnte, trotz unserer Verarmung, wenn ich nicht hätte bemerken müssen, daß die kränkelnde melancholische Stimmung Elisabeths im Zunehmen sei. Sie ward blaß und mager, wenn ich in ihr Zimmer trat, fand ich sie oft in Tränen. Sie sagte, sie wisse selbst nicht, was ihr fehle, sie sei immerdar gerührt, ohne sagen zu können weshalb, wenn sie allein sei, fühle sie sich so unheimlich, es sei ihr schrecklich, daß die Schwester in dieser wahnsinnigen Leidenschaft habe sterben müssen, und oft, wenn sie im Zimmer allein sitze, in die Kammer trete, sei es, als wenn Ernestine nahe stehe, ihr dünke, sie höre den Gang, sie spüre den Atem wehen, als wollten Blicke aus der leeren Luft dringen. Ich beruhigte sie, ich war viel mit ihr, um sie nicht allein zu lassen, ich las ihr vor, wir gingen aus und besuchten zuweilen die Bekannten in der Nachbarschaft. Sie ward ruhiger, erholte sich, und ihre schöne Farbe begann allgemach wiederzukehren. Als ich einmal mich unwohl fühlte, und sie mir eine interessante Geschichte vorlas, indem ich behaglich auf dem Sofa ausgestreckt ruhte, sagte ich: Wie schön und wohlklingend ist deine Stimme, willst du denn nicht einmal wieder singen? Du hast seit langem alle deine Musikbücher nicht aufgeschlagen, dein Klavier bleibt auch verschlossen, und die schönen Fingerchen werden am Ende ganz ungelenk werden. – Du weißt, antwortete sie mir, wie mir in den letzten Monaten die Schwester es geradezu verbot, Musik zu treiben, wir mußten ihrer Krankheit nachgeben und so habe ich mich wirklich entwöhnt. – Singe jetzt, rief ich, durch die Neuheit des Genusses wird er mir um so größer sein. – Wir suchten ein heitres, wohlgefälliges Musikstück aus, um dem Trübsinn ganz aus dem Wege zu gehn, und mit wahrhaft himmlischer Stimme ergoß Elisabeth die klaren lichten Töne, die beseeligend durch mein Herz gingen. Auf einmal stockte sie und fiel wieder in jenes heftige, krampfhafte Weinen, das mich schon so oft erschreckt hatte. Ich kann nicht, rief sie tief bewegt, alle diese Töne stehn wie feindselig gegen mich auf: immer fühle ich die Schwester ganz in meiner Nähe, ihr Gewand rauscht an dem meinigen, ihr Zürnen entsetzt mich. – Ich fühlte es deutlich, mein und ihr Leben sei gebrochen. Unser Doktor, ein verständiger Mann, war zugleich unser Freund. Als sie ihm alle diese Gefühle, ihr Zittern und die Angst bekannte, die in ihrem Innern fast immerdar arbeiteten und ihre Gesundheit aushöhlten, wandte er alle Mittel an, um sie körperlich und geistig zu beruhigen. Sein redlicher und vernünftiger Zuspruch tat gute Wirkung, auch seine Medikamente schienen heilsam. So waren wir denn, als es Sommer war, viel im Freien. Wir waren zu einem Bekannten auf dessen Gut gefahren, und er hatte die Absicht, auf seinem Schlosse von Freunden und einzelnen Virtuosen ein musikalisches Fest zu geben. Meine Frau, deren großes Talent bekannt war, hatte sich anheischig gemacht, auch zu spielen und zu singen, denn sie war in der fremden Umgebung, geschmeichelt von vielen Männern und Frauen, einmal wieder in einer fröhlichen Stimmung. Mir war es um so lieber, da unser Arzt es mit zu den Vorschriften seiner Diät rechnete, daß sie allen diesen dunklen Gefühlen und dieser hypochondren Ängstlichkeit mit Gewalt widerstreiten müsse. Sie hatte sich vorgenommen, ihm Folge zu leisten. Recht heiter und vergnügt kehrten wir in unser Häuschen zurück. Elisabeth ging mit Eifer die schweren Musikstücke durch, und ich freute mich, daß sie auf diesem Wege ihre frische Jugend vielleicht wiederfinden möchte. Nach einigen Tagen las ich einen angekommenen Brief, als plötzlich die Tür aufgerissen wird und mir Elisabeth totenbleich und wie sterbend in die Arme stürzt. Was ist dir? rufe ich, vom tiefsten Entsetzen ergriffen. Ihr Auge irrte wild umher, ihr Herz klopfte, als wenn es die Brust zersprengen wollte, sie konnte lange Atem und Stimme nicht wiederfinden. O Himmel! rief sie endlich, und jedes Wort war vom Ausdruck des Grausens begleitet, – drinnen, als ich mich übe, – ganz heiter gestimmt bin – zufällig werfe ich den Blick in den Spiegel – und ich sehe hinter mir Ernestine, – die mich mit jenem Lächeln, dem seltsamen, anschaut, die langen dürren Arme über der Brust gefaltet. Ich weiß nicht, ob sie noch dort ist, ich begreife nicht, wie ich hierher gekommen bin. – Ich übergab sie ihrer Kammerfrau, sie legte sich zu Bett, nach dem Doktor ward eilig gesendet. Ich ging in das andere Zimmer hinüber. Die Notenbücher lagen unter dem Klavier verstreut, Elisabeth mußte sie im Schrecken heruntergerissen haben. Was halfen Vernunft, Scherz und Trost, Diät und Medikamente gegen den vollendeten Wahnsinn? So sagte ich zu mir selber, und doch mußte ich jener Worte der Sterbenden gedenken, mit denen sie uns gedroht hatte. Man hörte auf dem Schlosse, daß meine Frau krank geworden sei. Dies drohte das Musikfest zu stören. Die Frau des Hauses kam also mit einer Sängerin nach einigen Tagen selber zu uns, um sich nach dem Befinden Elisabeths zu erkundigen. Da wir nicht einmal dem Doktor von jener Erscheinung etwas gesagt hatten, die Elisabeth wollte gesehn haben, so sprachen wir noch weniger zu Fremden von dieser seltsamen Begebenheit. Meine Frau war wieder auf und hatte sich, dem Anschein nach, völlig von ihrem Schrecken erholt. Man erging sich also mit den Besuchenden in unserm kleinen Garten, sprach vom Fest, und endlich wollten sich die Baronin und jene Sängerin ein Gesangstück einüben, in Gegenwart meiner Frau, um ihren Rat anzuhören, wenn sie auch vielleicht nicht selber mitsingen könne. Wir kehrten also in das Zimmer zurück und da es schon spät geworden, wurden die Kerzen angezündet. Die Sängerin saß vor dem Klavier, um den Gesang zu begleiten; neben dieser rechts die Baronin vor dem Notenbuche; neben dieser, etwas rückwärts, hatte ich mich gesetzt, und meine Frau saß links, nahe an der Sängerin. Wir mußten im Duett die Stimme dieser sowie den Gesang der Baronesse bewundern. Die Musik ward immer lebhafter und leidenschaftlicher, und ich hatte es schon einmal verfehlt, das Blatt der Dame zur rechten Zeit umzuschlagen. Indem die Seite wieder zu Ende geht, legt sich ein langer, knöcherner Finger auf das Musikbuch, die Melodie bewegt sich fort, und das Blatt wird schnell und a tempo umgeschlagen. Ich sehe zurück, und die schreckliche Ernestine steht dicht an mir, hinter der Baronin. Ich weiß nicht, wie ich die Fassung behalte, prüfend, beinah kalt das entsetzliche Gespenst zu betrachten. Sie lächelte mich an, mit jener boshaften Miene, die auch im Leben ihr Gesicht so widerwärtig entstellen konnte. Sie war in ihrem gewöhnlichen Hauskleide, die Augen feurig, das Gesicht kreideweiß. Ich versenkte mich fast mit Genuß in ein dunkles Grauen, blieb stumm und war nur froh, daß Elisabeth die Erscheinung nicht bemerkte. Plötzlich ein Angstschrei, und meine Frau stürzt ohnmächtig nieder, indem der dürre Finger eben wieder das Notenblatt umschlagen will. Die Musik war natürlich zu Ende, meine Frau fieberkrank, und die Fremden fuhren nach dem Schlosse zurück. Sie hätten nichts Unheimliches gesehn und bemerkt. – – Hier machte der Kranke wieder eine Pause. Der Badearzt sah mich bedeutsam an und schüttelte den Kopf. Und Sie haben, fragte er dann, auch jetzt Ihrem Doktor nichts von dieser Gespenster-Erscheinung gesagt? Nein, erwiderte Franz, nennen Sie es Scham, Furcht vor seinem kalten und scharfen Menschenverstände, taufen Sie meine Schwäche, wie Sie wollen, genug, ich konnte es nicht über mich gewinnen, ihm diese Mitteilung zu machen. Es war aber sehr notwendig, sagte der Arzt, denn wie konnte er ohne diese Nachweisung Ihre Krankheit richtig beurteilen? Seit dem, fing Franz mit matter Stimme wieder an, war es so gut wie beschlossen, jene Gegend zu verlassen, weil wir hoffen konnten, daß uns das wilde Gespenst nicht jenseits der Berge und Flüsse verfolgen werde. Aber im Hause sahen wir sie nun oft, am meisten im Musikzimmer. An einem Morgen war der Doktor bei uns. Er setzte sich an das Klavier und spielte so in Gedanken hin einige Passagen. Plötzlich stand die Entsetzliche wieder am Sessel meiner Frau und legte dieser die dürre, kalte Hand auf die Schulter. Krämpfe, Ohnmachten waren wiederum die Folge. Und hat sie Ihr Doktor diesmal auch gesehn? Nein, sagte Franz, er hatte der Erscheinung den Rücken zugekehrt. Aber ich sah sie deutlich, am hellen Tage, und nachher wie oft. Es durfte einer nur die Tasten des Flügels berühren, so stand sie da, so daß es wie eine Citation war, einen Ton anzuschlagen. Als ich einmal wieder die alte Klausenburg besuchte, saß sie dort auf einem Stein und sah mich groß an. So verfolgt, geängstigt, in steter Furcht, in beständigem Schauder und Angst sind wir zum Tode reif geworden, und der Arzt hat uns endlich, selbst verzweifelnd und ohne Rat und Hilfe hierher gesendet, ob die hiesigen Bäder vielleicht unserer ganz zerstörten Gesundheit wieder aufhelfen könnten. Aber bis jetzt sehe ich auch noch nicht den mindesten Erfolg. Und wer steht uns dafür, daß das Gespenst sich auch nicht hier einmal zeigt? Sie will uns vernichten, und ihrem starken Willen ist das Unbegreiflichste möglich. Ich glaube, wir dürften nur es wagen, auch hier in dieser Entfernung ein Lied zu singen oder eine Sonate zu spielen, so stände sie wieder unter uns. Dafür stehe ich Ihnen, geehrter Herr Graf, rief der Doktor jetzt mit fester Stimme aus, einem solchen boshaften Untier weiß unsre medizinische Polizei am besten die Wege zu weisen. Wir sorgten jetzt dafür, daß der Kranke in einer Sänfte nach seiner Wohnung gebracht wurde, und ich begleitete den verständigen Arzt. Und hiermit ist die Erzählung zu Ende? fragte Sidonie. Sie haben Ihr Wort gelöst, teurer Freund, fing die alte Baronin an: jenes Grauen, das ich so gern habe, haben Sie erregt, und die Erzählung hat sich endlich wirklich zu einer Gespenstergeschichte gestaltet. Und Franz und Elisabeth? Sind sie gestorben? War noch eine Heilung möglich? Es wird Zeit, schlafen zu gehen, fiel Blinden ein, sollte die Erzählung noch nicht ganz zu Ende sein, so machen Sie es nur kurz, lieber Blomberg. Nein! noch nicht schlafen! rief die Wirtin mit liebenswürdigem Zorn, wir müssen nun noch eine Weile beisammen bleiben, um dieses Grauen zu überwinden und zu vergessen. Haben Sie, Baron Blomberg, noch etwas zu berichten, so lenken Sie wieder ein. Ich bin zaghaft, sagte der alte Mann, den Schluß zu berichten. Doch es sei! – Indem ich durch die stille Nacht mit dem Badearzt durch die finstern Baumgänge dahinwandelte, sagte dieser: Geehrter Herr, wir sind beide so aufgeregt, daß wir doch jetzt nicht mehr schlafen können. Begleiten Sie mich auf mein Zimmer, ein kräftiger aromatischer Cardinal soll uns munter erhalten, und ich will Ihnen dort meine Gedanken über unsre beiden Kranken mitteilen, an deren Genesung ich jetzt, nach diesen Erzählungen, zum ersten Male glaube. Ich möchte versichern, daß ich sie nach zwei Monaten ziemlich gesund zurückschicken werde. Ich erstaunte, denn ich hatte meinen Jugendfreund völlig aufgegeben. Das stark gewürzte Getränk machte uns völlig munter und der Doktor sprach: Diese Seelenkrankheit Ihres Freundes ist mir eine der interessantesten psychologischen Erscheinungen, die mir nur bekannt geworden sind. Er sowie seine Frau sind von einem seltsamen Wahnsinn befangen, und wenn es uns gelingt, diesen erst zu stören, dann zu schwächen und zu verdunkeln und endlich ganz zu vertreiben, so wird sich auch die körperliche Genesung ganz von selbst einstellen. – Ohne Ihren Freund früher gekannt zu haben, kann ich mir aus seinen Mitteilungen seinen Charakter und seine Schicksale genau und wahr konstruieren. Er ist von Natur ein guter, weicher Mensch, etwas zu weich, und wie alle Menschen dieser Art der Eitelkeit mehr als die stärkeren ausgesetzt. Er ist schön gewesen und liebenswürdig, hat Talente und Suada besessen und war so allenthalben willkommen, wo er sich nur zeigen mochte. Allenthalben beliebt und geschmeidig, mag er manchem schönen Kinde Kopf und Herz verdreht haben. Nun kam ihm seine schöne Gattin entgegen, er will sich zum Ehemanne umgestalten, und seine reizbare nervenschwache Frau freut sich, den liebenswürdigen, feinen Mann den ihrigen nennen zu können. Wie es den Schwärmenden immerdar ergeht, so auch hier. Sie finden das überschwengliche Glück in der Ehe nicht, welches sie erwartet haben, und eine leise Verstimmung legt sich über die zarten Nervensaiten, die mit Ungeduld neue Schwingungen erwarten. Die häßliche verwachsene Schwester empfindet, wie fast alle Personen dieser Art, Neid und Mißgunst gegen die vorgezogene, geschmeichelte und geliebkoste Braut und Gattin. Sie läßt deutlich ihren Widerwillen merken und gesteht, daß sie den jungen Edelmann hasse. Der liebenswürdige Herzensbezwinger setzt nun alle seine Künste daran, auch diese Widerspenstige zu überwältigen. Es gelingt ihm, und die arme Getäuschte glaubt wohl gar Empfindungen in ihm erregt zu haben, indessen er nur seine Eitelkeit einen Triumph feiern läßt. Diese Herzlosigkeit mußte die unglückliche Ernestine kränken und empören. Eine innere Wut verzehrt sie, sie wird ein Opfer ihrer unglücklichen Leidenschaft, und im Sterben spricht sie jene Drohung aus, die Ehegatten auf alle Weise zu verfolgen. Dies ist offenbarer Wahnsinn. Es ist eine schon alte Bemerkung, daß dieser oft im Blute steckt, und Verwandte, Brüder, Schwestern und Kinder davon ergriffen werden, wenn er sich in einem Glied der Familie manifestiert. So auch hier. Der zärtliche Graf ist wohl auch nicht so ganz verschwiegen gegen seine Gattin gewesen: sie kränkelt schon, sie brütet über Gedanken und schleicht mit neugieriger Aufmerksamkeit dunkeln Gefühlen ihrer Nerven nach, – was ist natürlicher, als daß sie bei der ersten Gelegenheit die mißgestaltete Schwester zu sehen glaubt? Die Angst der Frau teilt sich ihm mit, die böse Laune über Unglück hat seine Fantasie gesteigert, und er sieht ebenfalls die Gespenstererscheinung. So geht es denn fort, bis beide sich aus reiner Fantasie beinahe vernichtet haben. Zerstört man diese böse Einbildung, so werden sie gesund. Liebster Doktor, erwiderte ich, ich kann nicht sagen, ob ich einen zu vorwiegenden Hang zum Aberglauben habe, aber Ihre Gründe genügen mir nicht. So vieles, was uns Sage und Schrift aufbewahrt, kann in diesem sonderbaren Gebiete, so vernünftig man sich auch entgegensetzt, nicht bloß Fantasie oder Erfindung sein. Es gibt wohl Stimmungen, Krankheiten, Nervenzustände, in welchen diesem oder jenem etwas sichtbar wird, was sich allen übrigen verhüllt. Was ist Geist? Was sollen wir uns bei dem Wort vorstellen? Ist uns die Eigenschaft, das Talent oder die Kraft bekannt, welche diese Millionen verschiedenartiger Seelen nach Abstreifung der irdischen Hülle besitzen? Was dieser und jener starke Geist durch Macht seines Willens, oder änstigende Reue, oder süß marterndes Heimweh für Möglichkeit findet, aus Imagination wieder eine scheinbare Hülle zu bilden, wie er sie vormals trug? Und wenn Sie ganz recht hätten, was wäre damit für Sie gewonnen? rief der eifrige Doktor. Wenn ein Verstimmter, Aufgeregter etwas sieht, so sieht er ja doch nur immer seine eigene Fantasie, seine eigenen inneren Gestalten, die sich nun sichtbar vor sein körperliches Auge hinstellen. Das begegnet jedem zuweilen. Man hat am Morgen einen lebhaften Traum. Man erwacht plötzlich und sieht noch einen Augenblick das Kind, nach dem man sich sehnte, die Lilie oder Rose, an der man sich erfreute, den alten Freund, der hundert Meilen entfernt ist, vor sich. Es ist wohl noch nie vorgekommen, daß einem der vielen Geisterseher sein greiser Vater oder Großvater als Jüngling oder Bräutigam, der Mörder als Knabe in Unschuld, das wilde Gespenst einer alten Giftmischerin als blühende Jungfrau erschienen ist. Warum wechseln denn diese Gespenster nicht einmal ihre Gestalten? Weil sie vielleicht, warf ich ein, ihre Imagination nur in ihrem letzten Zustande, der ihnen noch am nächsten liegt, ausprägen können. Ah was! rief der ungeduldige Mann, geben Sie sich lieber ruhig gefangen, als daß Sie so unbehaglich im Netze zappeln. Helfen Sie mir lieber bei der Heilung Ihres Freundes. Und die Art und Weise? Nur durch etwas Gewaltsames kann ein glücklicher Anfang gemacht werden. Glauben Sie mir, in den innersten Tiefen unsers Gemütes wächst noch immer etwas von jenem Unkraut der Eitelkeit, von dem wir uns gerne weismachen, daß es nur in der äußersten Oberfläche, um zu wuchern, seinen Boden anträfe. Auch im Schreck, im Todesentsetzen, in marternder Krankheit kitzelt uns das Bewußtsein: du erlebst doch bei alle dem was Apartes, du siehst Erscheinungen, die dich ängstigen. Man geht weiter: man wünscht sie wieder zu sehn und lockt sie gleichsam hervor. Das schmiegsame, fügsame innere Wesen, die fast unbegreifliche Fantasie gehorcht, und wieder steht ein solcher Popanz vor uns. – Stehn Sie mir also darin bei, die Kranken zu überreden und zu stimmen, daß entweder im Zimmer des Grafen oder bei Ihnen Musik gemacht werde, schaffen wir ein Fortepiano an, und da die kranke Elisabeth nicht singen kann, so wird sie uns wenigstens eine Sonate spielen. Damit die beiden Wahnsinnigen keinen Skandal erregen, wenn sie vielleicht doch von ihrem Wirrsal befangen werden, so muß niemand Fremdes zugegen sein, nur Sie und ich und höchstens die Kammerfrau, falls die Gräfin sich doch wieder vergessen sollte. Es wird aber in meiner Gegenwart, da ich mein gesundes Auge allenthalben werde herumschweifen lassen, nicht geschehn. Dadurch werden die Kranken Sicherheit und Beruhigung gewinnen, und wir fahren dann jeden Tag fort und brauchen immer stärkere Mittel, um die irre Fantasie zu kurieren. Und, wenn nicht, – sagte ich, mit fast furchtsamem Ausdruck. Nun, beim Himmel, rief der untersetzte Mann mit lautem Lachen, wenn ich, ohne vorher etwas viel getrunken zu haben, etwas sehe, – nun so – So? So will ich ein Narr sein und bleiben, Baron, wie wir es denn, beim Licht besehen, alle von Hause aus schon sind. So verließen wir uns, und es kostete viel Überredung, meinen angstvollen Freund dahin zu bringen, daß er zu diesem bevorstehenden Experiment seine Einwilligung gab. Die Frau war, zu meinem Erstaunen, viel leichter gewonnen. Sie sagte nicht unvernünftig: Ich fühle es, mein Leben ist beschlossen, alle Hilfe ist vergeblich, je näher der Tod, mir um so lieber. Kann ein neuer Schreck mich wie ein Blitz niederschmettern, um so erwünschter. Und tritt das Ereignis, das ich für möglich halte, gar nicht ein, nun so sind meine letzten Tage wenigstens von dieser Furcht und dem angstvollen Grauen befreit, ich kann mich unterhalten und zerstreuen, und in der Hand der Allmacht liegt es dann, ob ich und mein Gatte noch wieder Hoffnung auf Genesung fassen sollen. Man setzte den dritten Tag für die Musik fest, und zwar die spätere Abendstunde, weil Elisabeth, wie so manche Fieberkranke, sich um diese Zeit am stärksten fühlte, sich auch dadurch die Nacht abkürzte, indem sie erst in der Regel gegen Morgen ihren Schlaf fand. Ein Fortepiano war also auf das Zimmer geschafft worden, mehr Kerzen als nötig waren brannten, auch die Schlafkammer, die unmittelbar an das Wohnzimmer stieß, war hell erleuchtet worden, damit kein rätselhafter Schatten sich irgendwo im Dunkel erzeugen könne. Im Wohnzimmer stand außer Sessel und Sofa noch ein eigentliches Ruhebett, auf welchem die Kranke sich oft bei Tage ausstreckte. Das Fortepiano war an eine Wand zwischen zwei Fenster gestellt, die die Aussicht auf Gärten und nicht gar ferne Weinhügel hatten. Nach dem Tee hatte man die Tür des Eingangs verschlossen und die Aufwärter und Diener für diesen Abend verabschiedet. Die junge starke Kammerfrau war zugegen, und wir alle ersuchten sie, sich ja recht munter zu erhalten. Elisabeth saß am Flügel. Der Doktor stand seitwärts neben ihr, um sie und Zimmer und Schlafstube zugleich beobachten zu können, ich saß und stand abwechselnd auf der andern Seite der Kranken; Franz ging im Schlafrock und weichen Pantoffeln leise hinter der Spielenden hin und her, und die rüstige Kammerfrau lehnte an der offnen Tür des Schlafzimmers. Elisabeth spielte erst matt, ungewiß und ängstlich. Bald aber riß sie die Schönheit der Komposition und das Bewußtsein ihres Talents hin, und sie trug mit Präzision und Feuer das humoristische, melodienreiche Werk vor. Ihr Auge glänzte, ihre Wange rötete sich beim Spiel, und ein seelenvolles Lächeln schwebte auf dem vormals schönen Munde. Der Arzt warf mir triumphierende Blicke zu, und da die Räume so hell und heller wie am Tage waren, so konnte man Miene und Gesichtszug eines jeden deutlich erkennen. Alle lobten die Spielerin, und der Arzt, der sich vorbereitet hatte, gab ihr etwas zur Stärkung. Sie selbst war wie neugeboren und gestand, daß sie sich seit einem Jahr nicht so wohl gefühlt habe. Der leidende Franz war entzückt, und seine feuchten Blicke sprachen Hoffnung aus. So ward denn, mit derselben Anordnung, zum zweiten Musikstück geschritten. Elisabeth spielte noch sicherer und leichter. Bravo und Applaus begleiteten sie, – da plötzlich – ließ sich ein entsetzlicher Aufschrei hören – wie soll ich ihn beschreiben? – nie war mein Ohr von solchem gräßlichen Ton zerrissen worden – erst nachher ward ich inne, daß Franz ihn ausgestoßen hatte – und – die Lichter brannten blau, aber doch blieb es hell genug – welch Schauspiel! Franz mit schäumendem Munde und weit hervorgetriebenen Augen hielt sich mit einem entsetzlichen Gespenst umfaßt. Er rang mit der dürren scheußlichen Gestalt. Du oder ich! schrie er jetzt, und sie umklammerte ihn mit den dürren Armen so fest, drückte den krummen verwachsenen Körper so fest an den seinigen, preßte ihr bleiches Antlitz so fest auf seine Brust, daß wir alle es hörten, wie in diesem Ringen seine Gebeine erkrachten. Die Kammerfrau war zu Elisabeth gesprungen, welche in Ohnmacht lag. Der Arzt und ich kamen herbei, als der Kranke das Gespenst wie mit Riesenkraft auf das Ruhebett niederwarf, welches von dem schweren Fall in seinen Fugen knackte. Er stand aufrecht. Wie eine Wolke, wie eine dunkle Decke lag es auf dem Bett und als wir nun ganz nahe traten, war auch jeder Schein verschwunden. – Franz fühlte sich nun wie in allen Gebeinen zerbrochen, seine letzte Kraft war vernichtet, er war nach dreien Tagen verschieden, und der Arzt fand blaue Flecken auf Rippen und Brustbein. Sie erwachte aus ihren irren Fantasien nicht wieder und folgte zwei Tage später dem geliebten unglücklichen Gatten in sein frühes Grab. – Nun? fragte ich den Arzt, als wir uns wieder vom Schrecken, der Trauer und der Betäubung etwas erholt hatten. Die Kur ist nicht geraten. Sie, der Kaltblütige, haben gesehn, wogegen Sie erst mit voller Überzeugung schworen. Ein Bild Ihres Innern oder des meinigen, da wir Ernestine nie gesehen haben, war es gewiß nicht: den Kranken sahen und hörten wir mit dem Gespenste ringen. Eine innere Fantasie hat ihm, dem Gestorbenen, gewiß Brust und Rippen nicht so erkrachen machen. O mein schönes System! seufzte der Doktor; da entsteht nun eine schreckliche Lücke, ein herber Widerspruch mit allen meinen Überzeugungen und Erfahrungen, die ich wahrlich nicht zu versöhnen oder zu ergänzen weiß. Aber, mein teurer verständiger Freund, im Namen der Menschheit und bei deren Wohl beschwöre ich Sie, halten Sie ja die ganze Sache geheim, verschweigen Sie gegen jedermann die Geschichte, denn sonst eröffnen wir ja dem Aberglauben Türen und Tore. Der Menschheit und der Wissenschaften wegen müssen wir die seltsame Geschichte vertuschen. So habe ich denn auch bis jetzt geschwiegen, denn dies ist das erstemal, daß ich Ihnen hier diese wunderbare Gespenstergeschichte erzählt habe. – Es entstand eine lange Pause. Endlich sagte Graf Blinden: Und Sie haben wirklich die Sache so gesehn? Wie ich sie erzählt habe, antwortete Blomberg, und das kann ich vor jedem Gericht, wenn es nötig wäre, beschwören. Aber, bester Graf, Gespenster kann man nicht unter die Lupe und das Mikroskop bringen und sie noch weniger sezieren und anatomieren. Ich sah das Gespenst, wie man es beschrieben hatte, auf dem Ruhebette war es nur noch eine unkenntliche Masse und bald darauf völlig verschwunden. Die Nutzanwendung und Moral der Sache überlasse ich andern, und ich selbst wünsche auch nicht, eine solche Erfahrung zum zweiten Male zu machen. Ich könnte mich wohl entschließen, sagte der junge Theodor, mit dieser Geisterwelt in Verbindung zu treten, denn jede Erfahrung, die wir machen, bereichert unsre Seele, und eine so seltsame, denke ich mir, muß die merkwürdigsten Folgen erzeugen. Gar keine, rief Blomberg, dergleichen bleibt ganz einzeln stehn und erklärt weder vorwärts noch rückwärts irgend etwas. Wer nicht ganz besonders zum Denken und Philosophieren ausgerüstet ist, hüte sich ja vor dem Konsequenz-Machen. Ein Einfall bleibt unschuldig oder geistreich, aber die schlimmsten aberwitzigen Systeme haben sich immer aus ganz richtigen Wahrnehmungen entwickelt. Eine stille fragmentarische Dummheit bleibt unschädlich, aber aus dem Besten, Wahrsten und Richtigsten haben geistreiche Männer wohl schon das Absurdeste durch strenge Konsequenz und logische Kunst hergeleitet. Mag sein, antwortete Theodor, ich habe aber gewiß auch nicht unrecht, wenn ich behaupte, daß das Gelüst nach einer Bekanntschaft mit über- oder doch außerirdischen Wesen ein natürliches und verzeihliches sei, und ich wüßte nicht, was ich darum gäbe, um auf irgendeine Weise in jene Zirkel eingeführt zu werden. Theodor! rief jetzt Sidonie und erhob sich von ihrem Sitz, Sie werben um meine Gunst und um meine Hand. Ich darf es hier wohl gestehn, weil alle Welt es weiß. Sie haben mir immer eine Probe Ihres Mutes geben, Sie haben immer etwas für mich tun wollen. Sie wissen, die Sage geht, daß beim Vollmond in der Mitternacht es gefährlich sei, jene Eisenstange dort vor der Klausenburg anzuziehen, die ehemals mit der Glocke den Pförtner rief. Wir haben Vollmond, in zwei Stunden ist Mitternacht, versuchen Sie Ihr Heil, und wenn Sie morgen zurückkommen, so sollen Sie mindestens als Unterpfand jene Haarlocke empfangen, um welche Sie mich dringend gebeten haben. Nicht mehr? sagte der junge Mann lachend; morgen in der Frühe sehn Sie mich wieder, nur beklage ich im voraus, daß ich nichts werde zu erzählen haben. Er ging, weil die Zeit ihn drängte, denn die Ruine war fast eine Stunde entfernt. Als er das Zimmer verlassen hatte, sagte Anselm: Mich wundert’s, Blomberg, daß Sie in seiner Gegenwart diese Familiengeschichten erzählten: er ist ja durch eine Seitenlinie ein Neffe des letzten Grafen Franz, und wenn der so lange schwebende Prozeß zu seinen Gunsten entschieden, wenn jenes verlorene Dokument sich wieder finden sollte, so würde er die bedeutenden Güter erben und ein reicher Kavalier sein. Blomberg schlug sich mit der flachen Hand heftig vor die Stirn und rief aus: O verdammte, verdammte Vergeßlichkeit! Darum wurde er auch einigemal so nachdenkend. Freilich mag ihn dieses und jenes verletzt haben, doch kommt in allen diesen Erzählungen nichts vor, was ihn beleidigen konnte. – Ja, er könnte reich werden, wenn jene dunklen Punkte sich aufklärten. Aber er wird es auch ohnedies in seiner jetzigen Stellung. Die Minister und der Fürst selbst zeigen dem jungen Mann das größte Vertrauen, und ohne Zweifel wird er es weit bringen. Man sprach noch hin und her, und Anselm vorzüglich war in eifrigen Gesprächen mit Sidonie. Es fiel den übrigen nicht auf, weil er für eifersüchtig und für den Nebenbuhler Theodors galt. Anselm verließ das Schloß, und die übrigen begaben sich ohne Furcht zur Ruhe und in ihre einsamen Kammern, weil sie durch die letzten Gespräche wieder gehörig waren abgekühlt worden. In jenem neuern Hause am sogenannten Eibensteige, welches Franz und seine kranke Gattin einige Zeit bewohnt hatten, hielt sich jetzt der alte Förster Matthias auf, welcher schon seit zwei Jahren an der Gicht erkrankt fast immer auf seinem Bette lag. So lange war es ungefähr, daß Theodor durch die Gunst des Erbprinzen seine Stelle als Oberjägermeister oder Vorstand aller Forsten im kleinen Lande erhalten hatte. Diesen bequemen Platz, wo das Geschäft des Alten ohne Nachteil von jungen Burschen besorgt werden konnte, hatte Theodor dem Kranken aus Wohlwollen gegeben, damit er und seine Tochter Hannchen ohne Not und Sorge leben könnten. Hannchen war fast immer mit dem Vater beschäftigt. Bald sang sie ihm etwas, bald las sie ihm vor, dann erzählte sie ihm Geschichten oder was sie erfahren hatte, sie bereitete selbst die Speisen, die seine Krankheit notwendig machte, und zeigte ihm immerdar, um ihn zu zerstreuen, die größte Heiterkeit, wenn sie auch selbst an einem stillen Kummer litt. Jetzt war, weil der Vater schon schlief, im andern großen Zimmer ein junger Mann bei ihr, der sie fast täglich besuchte. Eine Meile von dort war ihm durch Theodor eine einträgliche Försterstelle geworden, und früher hatte er bei Matthias, Hannchens Vater, die Jägerei erlernt. Ich kann nicht fort, sagte er jetzt, bevor Sie mir nicht, liebes Hannchen, ein freundliches Wort gesagt haben. Lieber Herr Werner, antwortete Hannchen, ich bin Ihre wahre Freundin, Sie haben es selbst gesehn, wie ich mich über Ihre Beförderung, über jene einträgliche Stelle gefreut habe, die Sie schon, so jung noch, verwalten; die ansehnliche Erbschaft, die Ihnen neulich zufiel, macht mich glücklich. Was wollen Sie mehr? Sie wissen es recht gut, sagte der Jüngling. Aber freilich, ich weiß es wohl, ich begreife es auch, daß Ihr Herz immer noch dahin hängt, so unrecht, undankbar, ja schlecht sich auch der junge Mann gegen Sie und Ihren Vater benommen hat. Hannchen war glühend rot geworden und rief jetzt im Unwillen: Ludwig! Sie machen mich böse. Graf Theodor ist edel, mein Vater hat ihm alles zu danken, er hat auch Ihr Glück gegründet. Nein, mein Freund, wir müssen nicht ungerecht sein. Es gibt Dinge im Leben, die wir Schicksal nennen müssen. Ich kann mich über den jungen Grafen nicht beklagen, als daß er liebenswürdig ist und mit süßen Reden, Blicken und seiner Anmut mein junges unerfahrenes Herz verstrickte und verwundete. Er hat mir niemals mit ausdrücklichen Worten gesagt, daß er mich liebe, noch weniger hat er um meine Hand geworben. Er war oft hier, immer freundlich, zutätig; nachher ist er weggeblieben. Weshalb soll ich denn also auf ihn schelten? O liebes Hannchen, rief der Jüngling aus, Sie führen seine Verteidigung nur schlecht. Braucht ein Mann von Ehre das Wort gerade auszusprechen, wenn er weiß und fühlt, was recht ist und sich geziemt? Einen solchen bindet ein bedeutender Blick, ein zärtlicher Händedruck, ein Seufzer und ein zartes Gedicht weit mehr als den trocknen Alltagsmenschen ausgesprochenes Wort und Schwur. Die Liebe zweier edlen Wesen ist keine Verhandlung. Er ist Graf, sagte das Mädchen, und ich eine Bürgerliche. Um so schlimmer, rief Ludwig, desto mehr mußte er sich zusammennehmen, damit seine Zärtlichkeit und scheinbare Hingebung keine Wünsche und Hoffnungen erregte. Ich habe es ja selbst mit angesehen, wie er mit Ihnen umging. Wie ein Bräutigam mit seiner Braut, und zwar mit einer solchen Ergebung, als wenn Sie die Vornehme und er der einfache Bürgersmann wäre. Er hat Ihnen Briefchen, Gedichtchen zugesteckt, er hat Ihre Liebe und Zuneigung nicht mißverstehen können. Sehn Sie, darum bleibe ich bei meinem Satz, er hat schlecht an Ihnen gehandelt. Sie wollen mich durchaus zum Weinen bringen, sagte Hannchen, und dann sagen Sie doch wieder, daß Sie mir gut sind. Weil ich Ihnen gut bin, rief Ludwig, so übermenschlich gut, daß ich es in ordinäre Worte gar nicht fassen kann. Das ist ja eben mein Elend, daß ich meine Reden nicht so zu setzen weiß wie der Herr Theodor. Und warum, weshalb hat er Ihr schönes Herz so leichtsinnig aufgegeben? Nicht aus Hochmut, nein, so schlecht will ich von ihm nicht denken, sondern aus einer elenden Schwachheit. Ja freilich wird daraus unser Schicksal zusammengeflochten, unsre Strafe, unsre Geißel, wenn wir jedem Gelüste nachgeben, wenn wir uns von jedem Schimmer blenden lassen. Böse wird sie es ihm danken, die Kokotte, die ihn mit ihrem schönen Angesicht und den blonden Locken so gefesselt hat, so den Verstand und die Augen benebelt, daß er nicht mehr aus und ein, und nicht mehr Weiß von Schwarz zu unterscheiden weiß. Und diese Sidonie, – diese Falsche – sie kann keinen Menschen lieben. Erst hat sie sich mit dem Baron Anselm herumgeschleppt, im vorigen Jahre, wie sie auch zum Besuche hier war, nun ist ihr der nicht mehr gut genug. Vom Grafen Theodor denken alle, daß er noch einmal eine große Rolle spielen wird, darum muß der jetzt mit ihr den Vortanz halten. Man sagt ja, fiel Hannchen ein – Ja, es heißt, sagte Ludwig, die Verlobung würde bald erklärt werden. Wenn nicht unterdes ein noch Vornehmerer sich meldet. Nun Glück zu! – Und Sie, Hannchen, Sie verschmähen ein ehrliches, treues Herz, weil – ach! ich weiß nicht, was ich rede. Wie kamen Sie nur heut von jener Seite? fragte Hannchen, um nur ein anderes Gespräch auf die Bahn zu bringen. Ich hätte bald den Hals gebrochen, sagte Ludwig halb lachend. Sie wissen ja, wie mich die schöne Sidonie manchmal zum Botenlaufen braucht oder mißbraucht. Und ich bin ebenso ein Narr wie der Theodor, daß ich ihr so in allem Folge leiste. Aber es ist wahr, wenn sie einen so bittend ansieht, so kann man ihr nichts abschlagen. Ich hatte schon einen Brief für sie, einen wichtigen, wie es hieß, von einer alten Bürgersfrau da unten im Städtchen, was dort im Grunde liegt, ein einsames fatales Nest. Weiß der Henker, was die alte und junge Hexe für Geheimnisse miteinander haben und warum ich mich zum Zwischenträger brauchen lasse. Aber kurzum, wie ich den Brief hinaufbrachte, bat Sidonchen so schön und sagte, sie könnte sich keinem als mir allein anvertrauen, und dieser Gang nach dem dummen Städtchen sollte auch mein letzter Gang sein. So läßt man sich denn immer wieder beschwatzen, und ich nehme ihren Brief an, das Antwortschreiben an die alte Gertraud. Die Schöne sagt mir denn so mit ihrem allerliebsten Lächeln recht viel Süßes, daß sie wohl wisse, wie sie mich nicht belohnen könne, wie es schimpflich sei, mir, dem wohlhabenden Manne, etwa Geld anzubieten, sie wolle mir bei Gelegenheit eine Börse stricken oder mit eignen Händen eine schöne Weste sticken, wobei ich ihrer gedenken solle, und so weiter. Kurz, ich ging in dem schlechten Regenwetter und bei dem Winde, und ärgerte mich nur der fatale weite Weg, der an manchen Stellen, wenn es regnet, grundlos ist. Da fiel mir denn ein, daß, wenn man den Wald und die Klippen hinter dem alten Nest, der Klausenburg, hinaufklimmt, man zwei ganze Stunden näher geht, auch von dort aus, über den Hochwald, auf den Fußsteigen die Wege steiler, aber besser sind, als dort unten im Moorgrunde. Gedacht, getan. Ich renne hier vorbei, und da der Regen wieder anfängt, ist es mir lieb, hinter der alten Klausenburg mich durch den Wald und über die alten Steine hinweg, emporzuquälen. Aber der Buchenwald schützte mich doch ziemlich vor dem Regen. Nun war es schon finster geworden, da wir aber Mondschein haben, war mir Tag und Nacht gleich. Wie ich nun oben bin, tritt der Teufel selbst sichtbar auf mich zu. Was sagen Sie, Ludwig? sagte Hannchen betreten. Nun, nun, antwortete er, das heißt nur: so zu sagen; es ist nur so eine Redensart. Denn wie ich da droben stand und mich unter einer Buche vor dem Regen niederduckte, fiel mir ein: Hannchen ist nicht glücklich, Hannchen wird mich doch vielleicht niemals lieben, sie hängt nun einmal an dem Theodor. Wie nun, wenn ich diesen Brief Sidonies, die verdächtige Korrespondenz, dem jungen Grafen auslieferte? Vielleicht, daß er die schöne Verführerin dann fahren ließe und zu meinem Hannchen zurückkehrte. Sehen Sie, solche verteufelte Einfälle hat der ehrlichste Mensch auch zuzeiten. Aber, dachte ich wieder, wenn das Schreiben nur Liebes und Gutes enthält, das ihr wohl gar Ehre macht? Und wird er als Edelmann wohl den Brief so geradehin aufreißen? Vielleicht wenn er ihn ungesehn so auf der Straße fände, aber nicht, wenn er ihn aus meiner Hand bekommt, und ich nun sein Mitwisser bin. Er läuft mit dem Schreiben vielleicht so gerade zur Sidonie hin und sagt ihr, welch ein Spitzbube ich bin. Ja, ja, zur Schelmerei gehört auch Geschick und wenigstens eine Art von Sicherheit, daß sie zum Ehrlichen hin ausschlagen könnte. Freilich also, wenn ich wüßte, was in dem fatalen Brief stünde, dann wäre es eine ganz andere Sache. Wenn der Herr Theodor dadurch etwas recht Boshaftes erführe, wenn sich ein Komplott entdeckte, – wenn – wenn – und mein Seel, da nesteln meine Finger schon an dem Siegel herum, und ich bin auch ganz nahe daran, das Petschaft entzweizubrechen. Herr Werner! rief Hannchen, vor Schrecken blaß geworden; ein versiegelter Brief! Von einer Person, die gerade in Sie so großes Zutrauen gesetzt hatte. Vielleicht in einer wichtigen Sache. Der Sie versprochen hatten, alles genau zu besorgen. Sie haben ganz recht, herziges Kind, erwiderte der junge Mann. Der Teufel selbst ist manchmal in einer ehrlichen Laune und reißt in eigner Person das Handgeld dem armen Sünder und Höllen-Rekruten wieder weg. So machte er es mit mir. Mit einemmal lag neben dem roten Siegel, hart an meinem Finger ein dürrer, dessen Totenkälte ich fühlte. Wie ich aufsah, stand ein abscheuliches häßliches Weib vor mir, bucklig, mit grünen Augen und verzerrten Mienen. Diese hob jetzt ihre langen dürren Arme drohend gegen mich auf und schrie: Was machst du da, mein Sohn? – Ich bin nicht Euer Sohn! rief ich in Schreck und Bosheit, was wollt Ihr von mir? Brief aufbrechen? schrie sie wieder und faßte mich an. Ich wehrte mich und stemmte mich gegen einen Baum. Nun ward es mir deutlich, daß sie mir selber den Brief wegnehmen wollte, und sie hatte ihn schon in ihrer klapperdürren Hand. Aber ich wehrte sie gewaltig ab, und so rissen wir uns hin und her, so daß der Brief dabei zu Schaden kam, ich fühlte, wie er aufgegangen war, und mit einemmal raschelte das Blatt hinunter in die alten Ruinen der Klausenburg hinein, denn über dieser standen wir dicht und hart am Abgrund in unserer Balgerei. So wie ich mir noch das freche Weibsbild recht ausschelten will, ist sie auch schon auf und davon. Ich kann nicht begreifen, wo sie geblieben ist, so daß ich fast wie der gemeine Mann daran glauben möchte, daß dort Gespenster umgehn. Nun liegt der aufgerissene Brief da drunten, wer weiß zwischen welchem Stein, Moos und Gras; morgen früh bei Tage will ich nur gleich in das alte Schloß und nachsuchen. Finde ich ihn nicht, so muß ich alles der Sidonie bekennen, oder auch, wenn ich ihn so aufgerissen wieder antreffe. Aber, lieber Herr Werner, Sie lesen ihn dann nicht; nicht wahr? Gewiß nicht, Hannchen, sagte der junge Mann, Sie haben ganz recht, und ich bleibe immer nur ein unnützer Bursche. – Nun will ich also dahinten in der Waldschenke übernachten, damit ich morgen früh genug auf den Beinen bin. Man hörte aus dem innern Zimmer eine Klingel. Mein Vater bedarf meiner Hilfe, sagte das Mädchen: der Himmel geleite Sie, lieber Ludwig. Schlafen Sie gesund, sagte der Bursche: ich sehe wohl, daß Sie mir niemals gut werden können. Die letzten Worte sagte er, indem er schon in der Türe war. Nachdenkend und von seltsamen Empfindungen bewegt, war Theodor unten am Fuße des Schlosses angelangt. In diesem Zusammenhange hatte er noch niemals die seltsame Geschichte seiner Vorfahren und Anverwandten gekannt. Seine Jugend ging noch einmal in seinem Gemüte auf, und mit Trauer und Bangen dachte er an seine Zukunft. Nun fiel ihm wieder ein, wohin er gehe und weshalb, und diese Aufgabe, welche ihm eine verehrte Geliebte zugeteilt hatte, erschien ihm lächerlich und läppisch. Vielleicht, sagte er zu sich selbst, hat sie Menschen dorthin gesendet, die mich erschrecken sollen, denn ihrem Leichtsinn und Übermute ist alles möglich. Sie will mich wohl gar dem Spott eines Anselm preisgeben, jenem Widerwärtigen, mit dem sie immer so viele Geheimnisse hat, selbst dann, wenn sie mir schmeichelt und freundlich gegen mich ist. Ich muß mich gegen alles waffnen. Die Nacht war seltsam wechselnd. Bald hell, bald finster: die Wolken jagten sich durch den Himmel, sanken bald in die schwarzen Wälder an den hohen Bergwänden hinein, bald erhoben sich von der andern Seite neue mächtige Rauchsäulen, um als Wolken emporzuschweben. Oft trieb der Regen, dann stürmte der Wind, und nun trat wieder eine sanfte, feierliche Stille ein. Sollte dies ein Bild von meinem Leben sein? fragte sich Theodor. Mein Wunsch war immer, recht einfach dahinzuwandeln, mir und wenigen Vertrauten genügend, ohne Furcht und ohne ausschweifende Hoffnung, – aber freilich, dann hätte ich nicht in den Zauberkreis dieser Sidonie geraten müssen. Sie wird vielleicht mein Leben glänzend, aber auch stürmisch machen. In den Erzählungen dieses Abends war er aber auch an jenes Haus am Eibensteige gemahnt worden, in welchem er so viele glückliche Stunden verlebt hatte. Ihn quälte die Erinnerung an das einfache liebenswürdige Mädchen, und er konnte mit sich nicht einig werden, ob er ihr Unrecht getan habe oder nicht. Aber schon dieser Zweifel, sagte er, beweist dann, daß ich sie in ihrem schönen Vertrauen verletzt habe. Er war jetzt der Wohnung Hannchens nahe gekommen. Der Himmel hatte sich wieder verfinstert. Er sah das Licht durch ihre Fenster glänzen. In dieser Einsamkeit, die den fernen Anwohnern des Gebirges, den Förstern, Jägersmännern und Bergleuten so sicher schien, verschloß man die Häuser nicht ängstlich, und so hatte auch Hannchen die Läden vor den hohen breiten Fenstern, die tief zum Fußsteig niedergingen, nicht vorgeschoben. So stellte sich Theodor dicht an das Fenster und verwunderte sich darüber, daß das Mädchen noch nicht zu Bett gegangen sei. Er sah in die wohlbekannte Stube hinein, alles drin war noch so, wie sonst, Sessel und Armstuhl, Tisch und Schrank standen noch an derselben Stelle, und er sehnte sich mit Rührung und süßem Schmerz in diesen behaglichen Raum hinein. Es stand nur ein Licht auf dem alten runden Tisch von Eichenholz, und die Schnuppe war lang und finster, denn Hannchen saß am Tische und achtete, tief versunken, nicht darauf, das Licht zu putzen. Theodor ergötzte sich an dem lieblichen Bilde, das wie ein schönes Gemälde von Schalken sich ihm zeigte. Die ganze Stube war finster, und nur ihre Figur und ein kleiner Raum in ihrer Nähe mäßig erleuchtet. Sie hatte sich schon zu Bett legen wollen und war halb entkleidet, der schöne weiße Busen zeigte sich halb, und lange volle Flachshaare schwebten herab und verdeckten Schulter und Hals auf der einen Seite: das feine Händchen hielt, mit dem Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf und die gekrümmten Finger hatten sich in das dicke, niederfließende Haar verwickelt. Sie las eifrig ein Blatt und war so vertieft, daß sie darüber die Finstre des niedergebrannten Lichtes nicht bemerkte. Noch nie war die Gestalt, das Angesicht und der Ausdruck des Mädchens dem Jüngling so schön erschienen, aber zugleich mit dieser liebenden Bewunderung empfand er eine seltsame Eifersucht, denn er hatte von dem Werben Ludwig Werners gehört und war überzeugt, daß dieses Blatt, in welchem das liebe blaue Auge so vertieft war, ein zärtlicher Brief ihres Verlobten war. Indem warf eine Sturmwolke einen Regenguß plötzlich nieder, und er klopfte mit der Hand an die Scheibe. Sie erschrak, und ihr erstes war, das teure Blatt tief in ihrem Busen zu verbergen, dann warf sie die schimmernden Haare durch eine heftige Bewegung des Kopfes zurück, band schnell das Mieder zu und eilte an das Fenster. Lassen Sie mich nur auf einen Augenblick ein, rief der junge Mann, bis dieser Regenguß vorüber ist, ich will Sie dann nicht länger beunruhigen. – Sie verschwand und öffnete die Haustür. Als sie in das Zimmer getreten waren, sagte sie, die Hände im Erstaunen zusammenschlagend: Ei, lieber Gott! Graf Theodor wieder einmal in unserer Stube! Sie ging an den Tisch, um das Licht zu putzen, und Theodor sah sich allenthalben um, betrachtete die Flinten an der Wand, die alte Uhr und setzte sich dann gedankenvoll an den Tisch. Er konnte wohl bemerken, wie aufgeregt Hannchen war und in welcher Bewegung sie sich befand. Setzen Sie sich zu mir, Sie herzlichstes Kind, sagte er zu ihr, so gut ist es mir lange nicht geworden. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, und diese kindliche Verlegenheit machte ihre Erscheinung noch lieblicher. Theodor rückte ihr näher und faßte ihre Hand mit der seinigen. Sie zittern ja, Hannchen, sagte er dann. – Es ist kaltes Regenwetter, antwortete sie und schon tief in der Nacht. – Jawohl, und Ihnen graut wohl manchmal hier in der Einsamkeit, fuhr er fort: geben Sie mir das andere liebe Händchen auch. So hielt er kriegslistig die beiden Hände des Mädchens in seiner starken linken Hand, und indem sie ihn mit fragenden Blicken ansah, griff er nach dem Blatte, das so schön verwahrt war, entfaltete es und las. – O Theodor! sagte das schöne Kind weinend, das war sehr, sehr unrecht von Ihnen. Sie ging weit von ihm weg und setzte sich in den fernsten Winkel, das Köpfchen mit ihren Händen bedeckend. Aber wie ward ihm, als er jetzt eins seiner Gedichte las, die er vor einem Jahre im Frühling einmal dem unschuldigen Mädchen in einer traulichen Stunde gegeben hatte. Er sah es wohl, wie oft das Blatt war gelesen worden, einige Buchstaben waren halb verlöscht, vielleicht von Tränen, vielleicht auch weggeküßt, und er selbst ließ jetzt, von plötzlicher Rührung gewaltsam ergriffen, eine große Träne auf das Blatt fallen. Er riß die Uhr heraus und sah, daß er nun, sein wunderliches Versprechen zu erfüllen, eilen müsse. Er sprang auf, ging zu Hannchen, gab das Blatt ihrer zitternden Hand zurück und sagte dann mit der zärtlichsten Stimme: Bitte! bitte! nicht böse. Sie stand auf und sah ihn mit weinendem Auge durchdringend an. Er konnte sich nicht bezwingen und nahm sie in die Arme und drückte einen herzlichen Kuß auf ihre Lippen, dann, ohne ein Wort zu sagen, eilte er hinaus und rannte auf dem Fußsteige fort, um zu rechter Zeit vor der alten Pforte der Klausenburg anzulangen. Indem er davor stand, hörte er unten im tiefen Tale die Glocke des Dorfes zwölf schlagen. Er zog gedankenlos an dem Eisendrahte, der wie verhöhnend aus alter Zeit an der moosbewachsenen Mauer niederhing. Aber er kam auf unerwartete Weise zum Bewußtsein, denn ein sonderbarer Ton erklang laut gellend im Innern, das Getön hallte noch in die Ferne hinein, aus dieser erwachte eine zweite Glocke, und nach dieser noch entfernter eine dritte, alle so seltsam geisterhaft, daß ihn ein Schauer erfaßte. Jetzt öffnete sich das Tor, er trat hinein: ein altes gebücktes Mütterchen stand mit einer Laterne da, er schritt in den Hof, und das Tor ward hinter ihm wieder verschlossen. – Theodor kam aber am folgenden Tage nicht auf das Schloß zurück. Es schien, als wolle er alle Verbindung mit seiner bejahrten Verwandten, der freundlichen Baronesse, ganz aufgeben, denn er ließ sich dort in mehreren Wochen nicht erblicken. Dagegen fiel ganz unerwartet eine große Veränderung mit Sidonie vor. Sie hatte, wie man glaubte, von Theodor schon am folgenden Morgen ein großes Briefpaket erhalten. Sie erbrach es in Gegenwart der übrigen Gäste und war schon nach dem ersten flüchtigen Anblick der Blätter außer aller Fassung. Dies mußte um so mehr auffallen, da sie sonst in allen Lagen des Lebens einen unerschütterlichen Gleichmut bewiesen hatte. Sie war jetzt so erschüttert, daß sie ohne allen Vorwand die Gesellschaft verließ und sich in ihrem Zimmer verschloß. Die Tante war so neugierig, wie sie noch nie gewesen war, um zu wissen, was diese außerordentliche Veränderung der Nichte habe verursachen können. Blinden war gleichgültig und Blomberg, welcher den Zusammenhang zu ahnen schien, wollte keine Vermutung oder Meinung von sich geben. Sidonie hatte in größter Eile einen reitenden Boten abgesendet, ohne zu sagen, wohin. Er mußte aber, so sah man, zu Anselm geeilt sein, weil dieser sich schon vor Tische einstellte und lange mit Sidonie, obgleich das Wetter nicht angenehm war, im Garten am Abhänge des Berges in den lebhaftesten Gesprächen auf und nieder wandelte und sich endlich sogar mit ihr in den alten Pavillon begab, der wegen seiner Baufälligkeit sonst nicht gern besucht wurde. Nach zwei Tagen verließ Sidonie in Begleitung des Grafen Blinden der noch einmal die Rolle des Vormundes übernehmen mußte, mit Anselm das Schloß, und kaum war eine Woche verflossen, so meldeten beide ihre Verlobung und Vermählung. Sie verließen aber die Landschaft und kauften sich in einer weit entlegenen Gegend an. Auch erfuhr man, daß aus jener kleinen Stadt, welche abseits im Tale lag, eine alte Frau ihnen gefolgt war, welche die Verpflegerin eines kleinen einjährigen Kindes gewesen, dessen Herkunft niemand wußte. So gab es in der Provinz viel über jene so auffallenden Veränderungen zu reden. Auch Graf Theodor gab Stoff zum Verwundern. Er hatte jene verschwundenen Dokumente aufgefunden, und eine reiche Erbschaft war ihm zugefallen. Beim regierenden Fürsten galt er mehr als je, sein Gehalt war vermehrt und ihm ein größerer Wirkungskreis angewiesen worden. Mit dem Erbprinzen war er ebenfalls inniger befreundet, und beide Fürsten lobten ihn, daß er sein Verhältnis mit Sidonie so bestimmt und schnell aufgelöst habe. Der alte Herr war besonders darüber erfreut, daß die verdächtige Schöne das Land ganz verlassen hatte, weil es ihr schon einmal gelungen war, seinen Sohn durch ihre Reize zu fesseln. Das Erstaunen der kleinen Provinz stieg noch höher, als Graf Theodor, nachdem alles beseitigt war, seine Vermählung mit einem armen und bürgerlichen Mädchen erklärte, und Hannchen, die Försterstochter, auch vom wohlwollenden Regenten mit Gnade aufgenommen wurde. Dieses schöne liebende Gemüt wurde für ihre Treue durch die höchste Glückseligkeit überrascht und über alle ihre Wünsche und Träume durch die Wirklichkeit erhoben. An jenem Abend, als Theodor seine ehemalige Geliebte noch so spät besuchte, hatte er gefühlt, wieviel er vormals an diesem reinen Herzen, an diesem kindlichen Wesen besessen hatte. Nach zwei Monaten kam Graf Theodor mit seiner jungen Gemahlin wieder auf das Schloß der alten Baronin, um einige Wochen bei ihr in der schönen Gebirgsgegend zu wohnen. Er fand nur den alten gutmütigen Blomberg bei ihr. Die alte Verwandte behandelte das schöne liebenswürdige Hannchen mit der zärtlichsten Freundlichkeit, und Blomberg war über die Wendung entzückt, welche das Schicksal seines Freundes Theodor genommen hatte. Da wir nun hier im vertrauten Kreise sitzen, fing der Alte an, da es wieder Abend geworden ist und kein Bedienter und noch weniger ein Besuch uns jetzt stören wird, so könnten Sie, mein Freund, uns wohl mitteilen, was Ihnen in jener Nacht, als Sie uns verließen, in der Klausenburg begegnet ist, oder ob Ihnen gar nichts zustieß, das der Rede verlohnte. Doch will mich bedünken, als habe jene Nacht Ihr Leben entschieden. So ist es, sagte Theodor, und da gutmütige Freunde mir zuhören, so will ich auch erzählen, was mir begegnet ist, doch verlange ich selbst von Ihnen nicht, daß Sie mir unbedingt glauben, und bitte deshalb, daß meine Mitteilung nicht über Ihre Lippen kommen möge. In einer sonderbaren Stimmung verließ ich dies Haus, um die Probe zu bestehen, die mir lächerlich dünkte. Sidonies Betragen hatte mich verletzt, und ich konnte mein Inneres nicht deutlich ergründen, ob ich sie wirklich liebe. Als ich, von einem Platzregen überrascht, zu Hannchen eintrat, erwachte meine vormalige, echte Liebe in ihrer ganzen Kraft, und ich wurde völlig verwirrt. So kam ich an das verwüstete Schloß und trat in der Mitternacht vor die Pforte. Schon als Kind hatte ich zuweilen an jenem Eisendraht gezogen und so wenig, wie andre Neugierige, eine Wirkung verspürt. Mißmutig griff meine Hand in den Ring, ich zog scharf – und ein lauter, wunderlicher Ton erklang, den ich nicht beschreiben kann. Er wiederholte sich in der Ferne und dann wieder in größerer Weite, und das alte verrostete Tor tat sich auf. Ich trat hinein, es verschloß sich hinter mir, und ich war mit einem alten blassen Mütterchen allein, die mir mit einer Laterne in das Gesicht leuchtete, dann winkte sie mir, ihr zu folgen. Und von jetzt an, wie soll ich den Zustand beschreiben, welcher mich jetzt beherrschte? Es war keine Betäubung, aber auch kein deutliches Bewußtsein. Fast wie ein Taumel oder Rausch oder eine Annäherung zum Schlummer. Und so folgte ich der krummen Alten. Der Hof war aber nicht der Hof; das Gesträuch, die Mooswände, der Efeu und das wilde Gestrüpp zwischen dem umherliegenden Gestein waren verschwunden, wir wandelten durch alte hohe Zimmer und Säle. In dem einen Zimmer war ein Bett und auf dem Tisch eine brennende Kerze. Die blasse Alte verließ mich. Das dunkle Gemach war sparsam erhellt, und der Mond schien bleich durch das trübe Fenster. In einer Nische des Zimmers stand die Büste eines alten Mannes, wie aus Marmor gearbeitet. Indem ich mich so umsehe, schreitet das auf mich zu, welches ich für ein steinernes Brustbild gehalten hatte. Ich bin dein Vorfahr Moritz, sagte die hochaufgerichtete Gestalt, und mein Grauen vor ihm war nur schwach und verschwand. Du sollst Friede und Ruhe genießen, und so werden wir alle die Ruhe finden. So tönte es dumpf, mir aber verständlich, aus seinem kreideweißen Munde. Er winkte, und hinter dem Sessel wickelte sich eine scheußliche Gestalt hervor, ganz so im Ansehn, wie uns jene Ernestine beschrieben wurde. Sie hatte einen offnen Brief in der Hand: Lies! krächzte sie, und ich ergriff mit zitterndem Ungestüm das Blatt. – Öffne den Schrank! sagte der Alte. Sie tat es und nahm viele Papiere hervor. – Ich nahm sie. Versöhnt! riefen beide, und zwei holde Gestalten, die der Alte Franz und Elisabeth nannte, schwebten vorüber. – Rund umher standen jetzt viele bleiche Erscheinungen, die Wände und Fenster zu verdecken schienen. Alles schwirrte, flüsterte, lispelte mir wie Flügelschlag, wie ein feines Brausen und Säuseln dazwischen. So weit reicht mein Bewußtsein, meine letzte schwache Erinnerung war, daß ich mir einbildete, ich sei auf das Bett gesunken. Ein Frost erweckte mich. Es war klarer Morgen, und ich lag auf einem Stein in der Ruine, der vom Regen und Morgentau naß war. Ich hätte jetzt alles für Traum erklärt, wenn ich nicht jene lang vermißten Dokumente, die mir das Erbe zusicherten, in Händen gehalten hätte sowie jenen Brief, den mir die verzerrte Gestalt auf den Befehl meines Ahnherrn übergeben hatte. Er war von Sidonie und entdeckte mir ein inniges Verhältnis mit Anselm und wie man künftig meine Schwachheit und meinen Einfluß auf den jungen Fürsten hatte mißbrauchen wollen. Indem ich noch las, sann und staunte, arbeitete sich der junge Forstmann Werner durch die Klippen und Gesträuche, um jenen Brief zu suchen, den ihm am Abend, wie er erzählte, ein Gespenst entrissen hatte. Ich schickte diesen Boten mit jenem Schreiben und einem Briefe von meiner Hand an Sidonie zurück. Ich ging zu Hannchen, von dort in die Residenz und alles fügte sich zu meinem Glück. Jetzt werde ich jene alte verwüstete Klausenburg wieder aufbauen, die Wege dort herstellen und mit der Frau, meinem alten Schwiegervater, meinen zukünftigen Kindern und so lieben Freunden, wie Sie beide es mir sind, recht oft und lange dort hausen und im Genuß der Liebe und Freundschaft so glücklich sein, wie es uns sterblichen Menschen nur irgend vergönnt ist. So schloß Theodor seinen Bericht, und alles erfüllte sich späterhin so, wie er es gewünscht und gesagt hatte. Der Geisterberg von Gustav Adolf Becquer In einem Park vor den Toren Sevillas steht das weiße Marmordenkmal Gustav Adolf Becquers (1836-1870), des großen Anregers und Neubelebers der spanischen Lyrik. Becquer blieb unbekannt, solange er lebte, geliebt erst, nachdem er tot war. Bedeutend sind auch die späteren reifen Erzählungen, die meist auf alten Volkssagen, Aberglauben und persönlichen Erlebnissen aufbauen. So trägt die Hauptfigur im ›Geisterberg‹ deutlich die Züge des Dichters. Becquer trug eine fantastische Welt in sich, einen Garten voll blühender Sehnsucht und einen Friedhof begrabener Hoffnungen – mit seinen eigenen Worten: »In den dunklen Winkeln meines Hirns schlummern, nackt und eng beieinander, die absonderlichen Kinder meiner Fantasie und harren still der Stunde, wo die Kunst sie in Worte kleidet, auf daß sie sich mit Anstand auf der Bühne der Welt zeigen können.« —————————— In der Nacht auf Allerseelen weckte mich – ich weiß nicht, wie spät es schon war – das Geläute der Kirchenglocken. Bei ihrem langgezogenen Schall mußte ich unwillkürlich an eine Geschichte denken, die ich kürzlich in Soria hörte. Ich versuchte wieder einzuschlafen – unmöglich! Wenn die Fantasie einmal aufgestachelt ist, benimmt sie sich wie ein störrisches Pferd, bei dem alles Zügeln nichts hilft. Und so beschloß ich denn aufzustehen und die Zeit mit Schreiben zu verbringen, was ich auch wirklich tat. – Zugetragen hat sich die Geschichte ebenda, wo sie mir erzählt worden ist. Als ich sie niederschrieb, wandte ich jedesmal, wenn es an die Fensterscheiben polterte, erschreckt den Kopf – es war aber wohl nur der kalte Nachtwind, der gegen die Balkontüren stand … Und mag es auch gewesen sein, was es will, – jetzt ist Herzenkönigin Trumpf! »Koppelt die Hunde! Stoßt ins Horn, gebt den Weidgenossen das Zeichen, daß sie sich sammeln sollen! Nacht ist schon nahe … Wir dürfen nicht vergessen, daß wir heut Allerheiligen haben und uns auf dem Geisterberg befinden … Wir kehren jetzt in die Stadt zurück!« »So zeitig schon!« »Wär’s an einem anderen Tage, dächte ich nicht eher daran, als bis wir dem ganzen Wolfsrudel, das der Schnee des Moncayo aus den Höhlen getrieben hat, den Garaus gemacht hätten. Heute aber ist das unmöglich. Bald wird von dem Kloster der Tempelherren das Avemaria herüberklingen, und dann werden die Geister der Verstorbenen kommen und in der Bergkapelle das Glöcklein läuten.« »In der verfallenen Kapelle? Ach, Unsinn! Du willst mir wohl bange machen?« »Nein, schöne Base! Du weißt nur nicht, was sich hierlands alles zuträgt, es ist ja noch nicht ein Jahr her, daß du hier weilst. Wir können unsere Stuten ja zügeln und Schritt reiten; auf dem Heimweg erzähle ich dir dann die Geschichte vom Geisterberg.« In frohen, lebhaften Gruppen kamen die Knappen herbei. Die Grafen von Borges und von Alcudiel schwangen sich auf ihre prächtigen Rosse; ihre Kinder Beatrix und Alfons ritten der Jagdgesellschaft vorauf, und all die andern folgten in gewissem Abstand. Unterwegs erzählte ihr Alfons die versprochene Geschichte: »Der Geisterberg, wie er heute heißt, gehörte einst den Tempelherren, deren Kloster du dort am Ufer des Flusses siehst. Die Templer waren Ritter und Mönche zugleich. Nachdem Soria den Mauren wieder entrissen worden war, ließ der König sie aus fernem Lande kommen, damit sie die Stadt auf der Brückenseite verteidigten. Damit aber fügte er den kastilischen Edlen eine schwere Kränkung zu, sie hätten die Stadt auch allein verteidigen können, da sie sie auch erobert hatten! Zwischen den Rittern des neuen, mächtigen Ordens und den Adeligen der Stadt gärte es einige Jahre lang, – schließlich aber brach der wilde Haß wie ein Unwetter los. Die Templer hatten den Berg eingehegt und behielten sich dort die ergiebige Jagd vor, um ihre Bedürfnisse decken und ihrem Hang nach Wohlleben frönen zu können. Der Adel aber beschloß, dort eine große Treibjagd zu veranstalten – trotz des strengen Verbotes der ›gespornten Pfaffen‹, wie sie ihre Feinde nannten. Die Herausforderung sprach sich herum. Nichts war imstande, die einen von ihrer Jagdlust abzuhalten, noch die anderen von ihrem Vorsatz, diese zu stören. Das geplante Unternehmen wurde wirklich ausgeführt … Die Raubtiere jedoch, auf die es abgesehen war, haben nicht viel davon zu spüren bekommen. Wohl aber all die vielen Mütter, die um ihrer Söhne willen Trauerkleider anlegten, – ja, denen wird noch alles gegenwärtig sein! Das war keine Jagd: ein furchtbares Gemetzel war es! Mit Leichen besät war der Berg, und die Wölfe, die man hatte ausrotten wollen, hielten ein blutiges Festmahl. Zuletzt sprach der König ein Machtwort: der Berg, als unselige Veranlassung so vielen Unheils, wurde für herrenlos erklärt und die Kapelle der Templer, die auf jenem Berge lag und in deren Vorhof man Freund und Feind bunt durcheinander begraben hatte, begann zu verfallen. Seit jener Zeit soll man in jeder Nacht auf Allerseelen hören können, wie das Glöcklein der Kapelle ganz von selbst anfängt zu läuten … und die Geister der Toten, in ihre zerfetzten Schweißtücher gehüllt, sollen zwischen Busch und Dorn umherrennen – eine fantastische Jagd … Die Hirsche schreien vor Schrecken, die Wölfe heulen, die Schlangen zischen grauenhaft – und am andern Tage hat man schon oft im Schnee Abdrücke gesehen – Fußspuren der Knochenmänner! Daher heißt er in Soria der Geisterberg – und deswegen hab’ ich zum Heimweg geraten, bevor die Nacht anbricht.« Alfons schloß gerade seine Erzählung, als die beiden jungen Leute an der Brücke anlangten, die von jener Seite aus in die Stadt führt. Sie warteten dort auf die übrige Gesellschaft, und als sie alle wieder beisammen waren, ritten sie durchs Tor und verloren sich in den engen, düsteren Gassen Sorias. Die Diener waren gerade mit dem Abräumen der Tafel fertig. Der hohe gotische Kamin im Palast der Grafen von Alcudiel strahlte einen belebenden Schein aus und beleuchtete die Gruppen der Damen und Herren, die vertraulich plaudernd rings um das Feuer saßen. Der Wind peitschte gegen die kleinen, bleigefaßten Fensterscheiben der Halle. Nur zwei Personen schienen an der allgemeinen Unterhaltung keinen Anteil zu nehmen: Beatrix und Alfons. Beatrix starrte, in Gedanken versunken, auf die lustig flackernden Flammen, und Alfons beobachtete, wie sich die rote Glut in den blauen Augen seiner Base spiegelte. Beide verharrten eine Weile in tiefem Schweigen. Einige ältere Damen erzählten gelegentlich der Allerseelennacht traurige Geschichten, in denen Geister und Gespenster die Hauptrolle spielten. Und dumpf und eintönig klangen von fern die Glockenschläge der Kirche Sorias herüber. »Schöne Base«, unterbrach Alfons endlich das lange Schweigen, dem sie sich überlassen hatten, »bald werden wir uns trennen – vielleicht auf immer! Daß Kastiliens öde Steppen und die einfachen patriarchalischen Sitten hierzulande dir nicht zusagen, weiß ich ja, Auch hab’ ich schon oft dich seufzen hören – vielleicht nach irgendeinem hübschen Junker aus deiner fernen Heimat …« Beatrix antwortete mit einer Gebärde kalter Gleichgültigkeit, und in diesem verächtlichen Zusammenziehen ihrer schmalen Lippen enthüllte sich der ganze Charakter des Fräuleins. »Vielleicht sehnst du dich auch nach dem Prunk des französischen Hofes – du hast ja all die Zeit über dort gelebt«, beeilte sich der Junker hinzuzufügen. »Jedenfalls, wie es auch sei – ich ahne, daß ich dich bald verlieren werde … Ich möchte dir gern ein Andenken von mir mitgeben … Erinnerst du dich noch – als wir zur Kirche gingen, um Gott für deine Genesung zu danken, derentwegen du ja hierhergekommen? Damals zog diese Spange hier, mit der die Feder an meinem Barett befestigt war, deine Aufmerksamkeit auf sich … Wie schön wäre es, wenn sie dazu diente, einen Schleier auf deinem schwarzen Haar festzuhalten! Sie hat schon einmal einen Brautschleier getragen: mein Vater schenkte sie der Frau, der ich mein Leben verdanke, und sie trug sie, als sie zum Altar ging … Magst du sie haben?« »Ich weiß nicht, wie ihr hierzulande darüber denkt«, entgegnete die Schöne. »Aber in meiner Heimat verpflichtet ein Geschenk, das man annimmt. Höchstens an gewissen Feiertagen darf man sich von einem Verwandten etwas schenken lassen … und selbst dann könnte es diesem einfallen, nach Rom zu gehen und nicht mit leeren Händen zurückzukommen!« Der eisige Ton, mit dem Beatrix dies sagte, setzte den Junker einen Augenblick in Verwirrung. Als er sich wieder gefaßt hatte, sagte er betrübt: »Ja, ich weiß es, Base. Heute aber feiern wir Allerheiligen und darunter auch deine Patronin. Heute ist solch ein Feiertag, an dem man Geschenke annehmen darf. – Also willst du das meine haben?« Beatrix biß sich leicht auf die Lippen und streckte, ohne ein Wort zu sagen, die Hand nach dem Kleinod aus. Wieder versanken die beiden jungen Leute in Schweigen. Wieder vernahmen sie das behaglich dahinplätschernde Geschwätz der Matronen, die von Hexen und Kobolden erzählten, das Heulen des Windes, das Klirren der Fensterscheiben, das dumpfe, eintönige Läuten der Kirchenglocken … Nach Minuten nahm Alfons das unterbrochene Gespräch wieder auf. »Und bevor der Allerheiligentag zu Ende geht, – willst du mir nicht auch ein Andenken geben?« sagte er, seiner Base in die Augen schauend. »Heute kannst du es doch, ohne dich irgendwie zu verpflichten, – heute, wo man ebenso wie deinen auch meinen Heiligen feiert!« In ihren Augen blitzte ein teuflischer Gedanke auf. »Weshalb nicht!« erwiderte sie, nach ihrer rechten Schulter tastend, als ob sie etwas in den Falten ihres weiten, goldverbrämten Samtärmels suche … Dann aber rief sie, mit einem kindlichen Ausdruck des Bedauerns: »Erinnerst du dich noch der blauen Schärpe, die ich heute bei der Jagd trug? Du sagtest mir ja noch, ihre Farbe sei aus irgendwelchem Grunde das Sinnbild deiner Seele …« »Ja.« »Denke dir: ich hab’ sie verloren! Gerade diese wollte ich dir zum Andenken schenken – und nun hab’ ich sie verloren!« »Verloren? Wo verloren?« fragte Alfons und sprang auf, mit einem unbeschreiblichen Ausdruck angstvoller Erwartung. »Ich weiß nicht … vielleicht auf dem Berge.« »Auf dem Geisterberg?« stammelte er erbleichend und ließ sich wieder in den Sessel zurückfallen. »Auf dem Geisterberg!« Dann fuhr er stockend und dumpfen Tones fort: »Du weißt es … hast es ja tausendmal schon gehört: in der Stadt, in ganz Kastilien werde ich der König der Jäger genannt. Da ich, wie alle meine Vorfahren, noch nicht meine Kräfte im Kampf habe erproben können, so hab’ ich dieser Vergnügung, als dem Abbild des Krieges, das ganze Ungestüm meiner Jugend, das ganze erprobte Feuer meiner Rasse entgegengebracht. Die Felle, auf die dein Fuß tritt, sind Jagdtrophäen und stammen von wilden Tieren, die ich mit eigener Hand erlegte. Ich kenne ihre Schlupfwinkel, ihre Gewohnheiten. Am Tage und in der Nacht, zu Fuß und zu Roß, allein auf dem Pirschgang und gemeinsam bei der Treibjagd, hab’ ich mit ihnen gekämpft, und niemand wird sagen, daß er mich bei irgendeiner Gelegenheit eine Gefahr fliehen sah! In jeder andern Nacht würde ich fliegen, dir die Schärpe zurückzubringen, – ich würde mit Freuden fliegen wie zu einem Fest! – Aber heute nacht … wozu es leugnen! heute nacht hab’ ich Furcht … Hörst du die Glocken. In Sankt Johannis am Duero haben sie das Avemaria geläutet, und nun werden die Geister mit ihren gelben Schädeln aus dem Gebüsch auftauchen, das ihre Gebeine bedeckt … Die Geister! Bei ihrem bloßen Anblick gefriert dem Mutigsten vor Entsetzen das Blut im Leibe und sein Haar erbleicht … Oder sie reißen ihn in den Wirbel ihrer rasenden Jagd, wie ein Blatt, das der Wind entführt, wer weiß wohin.« Während der Junker dies sprach, spielte fast unmerklich ein Lächeln um Beatrix’ Lippen, und als er geendet hatte, sagte sie in gleichgültigem Ton – und stocherte dabei im Kaminfeuer, wo, in tausendfarbigen Funken sprühend, das Holz knackte und knisterte: »O nein! Wegen einer solchen Kleinigkeit jetzt in die Berge gehen zu wollen. Auf keinen Fall! Welch ein Wahnsinn! In einer so düstern Nacht … in der Allerseelennacht … und wo es auf allen Wegen von Wölfen wimmelt!« Den letzten Worten gab sie eine so eigentümliche Färbung, daß Alfons die ganze bittere Ironie begreifen mußte. Wie aus einer Armbrust geschossen, schnellte er vom Sessel auf. Fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er die Furcht verscheuchen, die ihm im Hirn saß und nicht im Herzen, und sagte dann mit fester Stimme zu der Schönen, die noch immer vornübergebeugt saß, im Feuer herumstochernd: »Leb’ wohl, Beatrix, leb’ wohl! … Bis auf später!« »Alfons! Alfons!« rief diese da, sich rasch umwendend. Aber als sie ihn zurückhalten wollte oder sich dazu den Anschein gab, war der Junker schon fort. Wenige Minuten darauf vernahm man den Hufschlag eines Pferdes, das sich im Galopp entfernte. Mit geröteten Wangen und einem strahlenden Ausdruck befriedigten Stolzes lauschte die Schöne aufmerksam jenem Getrappel, das, schwächer und schwächer werdend, allmählich verhallte. Die Matronen erzählten sich immer noch ihre Gespenstergeschichten. Und der Wind rüttelte an den Balkontüren, und fern in der Stadt läuteten die Glocken … Eine Stunde nach der anderen verstrich. Mitternacht war nahe, und Beatrix zog sich in ihr Betzimmer zurück. Alfons kam und kam nicht wieder, obwohl er in weniger als einer Stunde hätte zurück sein müssen! »Er wird Angst gehabt haben!« sagte das Fräulein, als sie das Gebetbuch schloß und in das Schlafgemach trat. Umsonst hatte sie Ruhe in den Gebeten gesucht, welche die Kirche an diesem Tage für das Seelenheil der Verstorbenen vorschreibt. Sie löschte die Lampe, zog die seidenen Bettvorhänge zusammen und legte sich schlafen. Und sie fiel in einen unruhigen, leichten und quälenden Schlummer. Vom Tor her schlug es Mitternacht. Im Schlaf hörte Beatrix den Klang der Glocke, schwer und dumpf und unsäglich traurig … Sie öffnete die Augen. Es war ihr, als hätte sie gleichzeitig ihren Namen rufen hören – aber aus weiter Ferne und wie von einer erstickten, schmerzbewegten Stimme ausgestoßen … An den Fensterscheiben heulte der Sturm … »Es wird der Wind gewesen sein!« sagte sie und legte ihre Hand aufs Herz, um es zu beruhigen. Aber ihr Herz pochte mit jedem Augenblick heftiger … Mit einem schrillen, langgezogenen Kreischen drehte sich die lärchene Türe zum Betzimmer in den Angeln … Und nun knarrte und knackte eine Tür nach der andern – alle Türen, die in ihre Gemächer führten, nach der Reihe – die einen dumpf und ernst, die anderen schrill und kläglich. Dann wieder tiefes Schweigen – aber ein Schweigen, angefüllt mit seltsamen Geräuschen, das Schweigen der Mitternacht: mit dem eintönigen Gemurmel des nahen Baches, fernem Hundegebell, verworrenen Stimmen, unverständlichen Worten, dem Widerhall von Schritten, die näher kommen und sich wieder entfernen, dem Rascheln von langen, über den Boden schleifenden Kleidern, unterdrückten Seufzern, keuchendem, fast zu verspürendem Atem … so daß man unwillkürlich zusammenfährt, wie vor einem Etwas, das man in der Dunkelheit nicht sieht und doch spürt, wie es näher und näher kommt. Zitternd schob Beatrix den Kopf durch die Vorhänge, einen Augenblick regungslos lauschend. Sie vernahm tausenderlei Laute – strich sie sich aber mit der Hand über die Stirn und lauschte noch einmal: nichts, Totenstille … Und sie sah, wie sich überall Gestalten bewegten, hierhin, dorthin – aber ihr Blick war von jenem phosphorischen Glanz geblendet, der sich in erregtem Zustande einstellt. Sobald sie die Augen aufriß und sie auf einen bestimmten Punkt richtete, war nichts mehr da, nur Finsternis, undurchdringliches Dunkel! »Ach was!« rief sie und legte ihren schönen Kopf wieder aufs blaue Atlaskissen, »bin ich denn auch schon so bange wie all diese armen Kerle hier, denen das Herz im Wamse vor Entsetzen klopft, wenn sie nur eine Gespenstergeschichte hören?!« Sie schloß die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Aber umsonst war all ihr Mühen, über sich Gewalt zu bekommen. Es währte nicht lange, so fuhr sie schon wieder empor – bleicher, erregter, geängstigter als vordem … denn jetzt war es keine Täuschung mehr: die Brokatvorhänge an der Tür hatten sich deutlich hörbar bewegt, wie wenn sie auseinandergeschlagen worden wären … und nun vernahm sie auch ein langsames Tappen von Schritten auf dem Teppich … Kaum vernehmbar, so dumpf war der Hall der Schritte – aber es dauerte an … und bei jedem Schritt knackte etwas mit … wie Holz … oder … oder wie Knochen … Und sie kamen näher … immer näher … da – das Betpult neben ihrem Bett hatte sich bewegt!! Beatrix stieß einen schrillen Schrei aus, wickelte sich bis über die Ohren in die Bettdecke ein und wagte nicht mehr zu atmen … Der Wind rüttelte an den Balkontüren, daß die Fensterscheiben klirrten. Das Wasser des nahen Brunnens fiel unaufhaltsam in den Trog, immer mit dem gleichen eintönigen Plätschern. Anschwellend mit jedem Windstoß wurde das Hundegebell hörbar. Und all die Glocken der Stadt Soria, die einen näher, die anderen ferner, läuteten klagend für das Seelenheil der Verstorbenen. So verfloß eine Stunde nach der anderen, die Nacht – ach, ein ganzes Jahrhundert ging hin! Denn wie eine Ewigkeit erschien Beatrix diese eine Nacht. Endlich graute der Morgen. Allmählich überwand sie ihre Furchtsamkeit und blinzelte den ersten Sonnenstrahlen entgegen. Wie schön ist doch nach einer schlaflosen, angstgequälten Nacht das helle, weiße Tageslicht! Sie schlug die seidenen Bettvorhänge auseinander und wollte schon über den ausgestandenen Schrecken lachen, als sie plötzlich die Augen weit aufriß … Kalter Schweiß brach ihr aus allen Poren, tödliche Blässe entfärbte ihr Antlitz … Die blaue Schärpe, die sie auf dem Berge verloren hatte – dieselbe blaue Schärpe, die Alfons suchen gegangen war, sah sie zerfetzt und blutbefleckt auf dem Betpult vor sich liegen! … Als die Diener entsetzt hereinstürzten, um ihr den Tod des Erben von Alcudiel zu verkünden, um ihr zu berichten, daß man seine Leiche, von den Wölfen zerfleischt, am frühen Morgen auf dem Geisterberge zwischen Gestrüpp entdeckt hatte, fanden sie ihre Herrin regungslos und zusammengesunken auf dem Bettrand sitzen, beide Arme krampfhaft um einen der Ebenholzpfosten geschlungen … Die Augen aus den Höhlen gequollen, den Mund halboffen, die Lippen leichenblaß, die Glieder starr und kalt … Sie war tot, war vom Entsetzen getötet! Nicht lange nach dieser Begebenheit soll ein Jäger, der sich in der Allerseelennacht auf dem Geisterberg verirrt hatte und dort die Nacht verbringen mußte, am andern Tage schauerliche Dinge berichtet haben und bald darauf gestorben sein. Unter anderem will er gesehen haben, daß sich zur Stunde des Avemaria im Vorhof der Kapelle all die Gerippe der einstigen Tempelherren und der Junker aus Soria mit einem grauenhaften Geklapper aus den Gräbern erhoben hätten und, wie hinter einem wilden Tier her, einem schönen Weibe nachgejagt wären, das bleich, mit fliegenden Haaren und bloßen, blutigen Füßen unter gellendem Angstgeschrei immer im Kreise um Alfons’ Grabmal herumflüchtete … Gäste zur Nacht von Alexander Puschkin Das literarische Werk Alexander Puschkins (1799-1837) ist das tragende Fundament der russischen Literatur, die ohne ihn ebenso wenig denkbar wäre wie ohne die russische Sprache. Puschkin war der erste wirklich nationale Dichter Rußlands. Zunächst noch von Lord Byron beeinflußt, wandte er sich in seiner reiferen Schaffensperiode immer mehr der russischen Volkspoesie zu. Wie er seinen Lenskij in dem Versroman ›Eugen Onegin‹ (1825, vollendet 1830) im Duell mit Onegin hatte sterben lassen, so wurde auch der Dichter selbst viel zu früh in einem Duell getötet. —————————— Das letzte Gerümpel des Sargtischlers Adrian Prochorow wurde auf den Leichenwagen geladen, und die beiden abgemagerten Gäule schleppten sich zum viertenmal von der Basmannajastraße zur Nikitskajastraße, wohin der alte Meister mit seinem ganzen Haushalt nebst Familie übersiedelte. Er sperrte seinen ausgeräumten Laden zu, brachte an der Tür einen Zettel an, darauf zu lesen war, daß das Haus zu verkaufen oder zu vermieten sei, und machte sich zu Fuß auf den Weg zu seiner neuen Wohnung. Je mehr er sich dem gelben Häuschen näherte, das schon so lange seine Fantasie beschäftigt und das er schließlich für eine erhebliche Summe erworben hatte, desto stärker wurde ihm zu seinem Erstaunen bewußt, daß ihm der Umzug gar keine Freude bereitete. Als er über die ungewohnte Schwelle trat und in den neuen Räumen ein heilloses Durcheinander vorfand, seufzte er und dachte an seine alte Wohnung zurück, wo achtzehn Jahre lang die strengste Ordnung geherrscht hatte. Er begann, auf seine beiden Töchter und das Dienstmädchen zu schimpfen, und machte sich selbst daran, ihnen zu helfen. Bald kam wieder alles in Ordnung: Ikonen- und Geschirrschrank, Tisch, Sofa und Bett erhielten die ihnen zugedachten Plätze im hinteren Zimmer; in der Küche und im Wohnzimmer wurden seine Erzeugnisse untergebracht, Särge aller Farben und Größen, ferner die Schränke mit den schwarzen Hüten, Trauermänteln und Fackeln. Über der Haustür hing ein Schild, auf dem ein molliger Amor mit einer umgekehrten Fackel in der Hand gezeichnet war; darunter prangte die Aufschrift: ›Hier werden einfache und angestrichene Särge verkauft und beschlagen, gebrauchte vermietet und repariert‹ Die Mädchen gingen in die Stube, und Adrian machte einen Rundgang durch sein neues Haus. Dann setzte er sich ans Fenster. Man weiß, das Shakespeare und Walter Scott ihre Totengräber als fidele Possenreißer geschildert haben, um durch diesen Gegensatz unsere Fantasie anzuregen. Aus Respekt vor der Wahrheit können wir jedoch ihrem Beispiel nicht folgen und müssen eingestehen, daß das Wesen unseres Sargtischlers durchweg seinem düsteren Handwerk entsprach. Adrian Prochorow war für gewöhnlich mißgelaunt und wortkarg. Er brach sein Schweigen nur, wenn er seine Töchter anfuhr, die untätig am Fenster saßen und den Vorübergehenden nachgafften, oder wenn er ungebührlich hohe Preise für seine Erzeugnisse von den Kunden verlangte, die das Unglück, oder die Freude hatten, diese dringend zu benötigen. So saß also Adrian am Fenster und trank die siebente Tasse Tee und war wie gewöhnlich in seine trübseligen Gedankenversunken. Er dachte an das Unwetter, das vor einer Woche auf den Leichenzug des pensionierten Brigadiers niedergegangen war, und an die vielen Trauermäntel und Hüte, die infolge der Nässe verdorben und unbrauchbar geworden waren. Dringende Ausgaben standen bevor, da sich die ohnehin veralteten Artikel seines Geschäfts in einem geradezu kläglichen Zustand befanden. Prochorow hoffte zwar, die Verluste bei der Beerdigung der alten Kaufmannsfrau Trjuchina, die bereits seit einem Jahr im Sterben lag, wieder wettzumachen; aber die Trjuchina kämpfte mit dem Tod am weit entfernten Rasguljai, so daß der Sargtischler befürchtete, ihre Erben könnten einen anderen Unternehmer in ihrer Nähe mit dem Geschäft beauftragen, anstatt, wie sie es ja ausgemacht hatten, zu ihm zu kommen. Seine Überlegungen wurden plötzlich durch ein dreimaliges Klopfen unterbrochen. »Wer ist da?« rief Prochorow. Die Tür ging auf, und ein Mann, in dem er auf den ersten Blick einen deutschen Handwerker erkannte, trat ein und kam mit heiterer Miene auf ihn zu. »Entschuldigen Sie, verehrter Nachbar«, sagte er auf russisch mit einer Aussprache, die wir bis auf den heutigen Tag nicht hören können, ohne dabei zu lächeln, »entschuldigen Sie, wenn ich störe. Ich wollte mich mit Ihnen bekanntmachen. Mein Name ist Gottlieb Schulze, ich bin der Schuhmacher von gegenüber. Morgen habe ich meine silberne Hochzeit. Wollen Sie und Ihre Töchter die Güte haben, an unserem Festessen teilzunehmen?« Die Einladung wurde bereitwillig angenommen. Der Sargtischler forderte Gottlieb Schulze auf, Platz zu nehmen und mit ihm eine Tasse Tee zu trinken. Dank der Unbefangenheit des Schusters entwickelte sich bald ein freundschaftliches Gespräch. »Wie gehen die Geschäfte?« fragte Adrian. »He, he, he«, lachte Schulze, »na ja, mal so, mal so. Ich kann mich nicht beklagen. Meine Ware ist natürlich nicht das, was Ihre ist: Lebende können auf Stiefel verzichten, Tote aber nicht auf den Sarg.« »Sehr wahr«, stimmte Adrian zu, »indes, wenn der Lebende nicht das Geld dazu hat, Stiefel zu kaufen, so läuft er eben – nichts für ungut – barfuß herum, aber der tote Bettler beschafft sich einen Sarg umsonst.« Auf diese und ähnliche Weise unterhielten sich die beiden noch eine Weile, bis der Schuster schließlich aufstand und sich von dem Sargtischler verabschiedete, nicht ohne seine Einladung zu wiederholen. Am anderen Tag pünktlich zwölf Uhr ging der Sargtischler mit seinen beiden Töchtern durch die Gartenpforte zu seinem Nachbarn. Ich verzichte darauf, Adrians russischen Kaftan und die europäischen Kleider Akuljas und Darjas ausführlich zu beschreiben. Trotzdem halte ich die Bemerkung nicht für überflüssig, daß beide Damen gelbe Hüte und rote Schuhe trugen, wie immer bei feierlichen Gelegenheiten. In den engen Zimmern der Schuhmacherwohnung drängten sich die Gäste; deutsche Handwerker mit ihren Frauen und ihren Gesellen. Von den Einheimischen war nur ein Este namens Jurko zugegen, der es trotz seiner untergeordneten Stellung – er war städtischer Straßenaufseher – verstanden hatte, sich die Gunst des Gastgebers zu erwerben. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er seinen Dienst brav und gewissenhaft erfüllt. Der große Brand von 1812, der Moskau, die erste Reichshauptstadt, zum größten Teil in Schutt und Asche verwandelt hatte, vernichtete auch sein gelb angemaltes Wächterhäuschen. Aber nachdem die Feinde verjagt worden waren, hatte man gleich ein neues, diesmal grau gestrichenes und mit weißen dorischen Säulchen verziertes Häuschen errichtet, und Jurko patrouillierte wie einst mit Hellebarde und im Harnisch aus grobem Bauerntuch in seinem Bezirk. Die meisten Deutschen, die in der Nähe des Nikitskij-Tores wohnten, kannten ihn recht gut, denn nicht selten mußten sie die Nacht vom Sonntag auf den Montag in seiner Bude verbringen. Adrian stellte sich ihm sogleich vor als einem Menschen, den man früher oder später würde brauchen können, und als man sich zu Tisch setzte, nahmen sie nebeneinander Platz. Die Gastgeber und ihre Tochter, das siebzehnjährige Lottchen, ermunterten sie zuzulangen und halfen der Köchin beim Bedienen. Jurko aß für vier, und Adrian hielt eifrig mit; nur seine Töchter zierten sich. Die deutsch geführten Gespräche wurden von Stunde zu Stunde lebhafter. Plötzlich meldete sich der Hausherr zu Wort. Er öffnete eine versiegelte Flasche und rief mit lauter Stimme auf russisch: »Auf das Wohl meiner lieben Luise!« Das etwas champagnerähnliche Getränk schäumte in den Gläsern. Herr Schulze küßte zärtlich das frische Gesicht seiner vierzigjährigen Gefährtin, und die Gäste tranken lärmend auf die Gesundheit der braven Luise. »Auf das Wohl meiner lieben Gäste!« ließ sich der Hausherr abermals hören und öffnete die nächste Flasche. Die Anwesenden dankten und leerten zum zweitenmal ihre Gläser. Nun folgte ein Trinkspruch dem anderen. Man trank auf die Gesundheit jedes einzelnen, brachte ein Hoch auf Moskau aus, gedachte eines ganzen Dutzends deutscher Städte und Städtchen, stieß auf die Zünfte im allgemeinen und im besonderen an und trank schließlich auf die Gesundheit der Meister und ihrer Gesellen. Adrian trank tüchtig mit und war zu guter Letzt so in Stimmung, daß auch er ein scherzhaftes Hoch ausbrachte. Darauf erhob ein dicker Bäckermeister sein Glas und rief: »Auf das Wohl derer, für die wir arbeiten! Hoch lebe unsere Kundschaft!« Einmütig willigte man ein und begann sich nun gegenseitig zuzutrinken: der Schneider dem Schuster, der Schuster dem Schneider, der Bäckermeister diesen beiden, allesamt wiederum dem Bäcker und so fort. Auf dem Höhepunkt des fröhlichen Durcheinanders wandte sich plötzlich Jurko zu seinem Tischnachbarn und schrie aus voller Kehle: »Wie wär’s, Tischler, erheb dein Glas auf das Wohl deiner Toten!« Alle brachen in ein brüllendes Gelächter aus, aber der Sargtischler fühlte sich beleidigt und verzog sein Gesicht. Niemand hatte es bemerkt, man trank fröhlich weiter, und erst als zur Abendmesse geläutet wurde, erhoben sich die Gäste von ihren Plätzen. Erst spät und mehr oder weniger betrunken, ging man auseinander. Der dicke Bäckermeister und der Buchbinder, dessen Gesicht lebhaft an einen roten Saffianeinband erinnerte, hatten Jurko unter die Arme gefaßt und brachten ihn so ohne Zwischenfälle in seine Bude zurück, eingedenk des russischen Sprichworts: Wer seine Schuld bezahlt, vermehrt sein Gut. Betrunken und verärgert kam der Sargtischler nach Hause. »Was soll das heißen?« murmelte er vor sich hin. »Ist denn mein Handwerk weniger achtbar als jedes andere? Will man es etwa dem eines Henkers gleichsetzen? Worüber machen sich eigentlich diese Ausländer lustig? Bin ich in ihren Augen vielleicht ein Hanswurst? Ich hatte vor, sie alle zur Einweihung meines neuen Hauses einzuladen und ihnen ein üppiges Festmahl vorzusetzen. Doch das ist jetzt vorbei! Diese Ketzer kommen mir nicht ins Haus. Ich lade die ein, für die ich arbeite: die in Christus Verschiedenen!« »Was hast du denn, Vater?« fragte die Magd, die ihm die Stiefel auszog. »Du sprichst ja lauter wirres Zeug. Bekreuzige dich! Die Toten herbeirufen, welch ein grauenhafter Einfall!« »Bei Gott, ich lade sie morgen zu mir ein. Ja, meine Wohltäter, kommt nur, erweist mir die Ehre, morgen abend! Ich bewirte euch mit allem, was Gott gibt.« Und Adrian warf sich auf sein Bett; er schlief sofort ein. Es war noch dunkel, als Adrian geweckt wurde. Die Kaufmannsfrau Trjuchina war in der Nacht gestorben; ihr Geschäftsführer hatte einen reitenden Boten gesandt, um den Sargtischler zu benachrichtigen. Adrian gab ihm dafür ein silbernes Zehnkopekenstück Trinkgeld und zog sich eiligst an. Er nahm eine Droschke und fuhr auf den Rasguljai. Vor dem Haus der Verstorbenen standen bereits Polizisten, und Kaufleute schnüffelten herum wie Krähen, die sich um ein Aas versammelt haben. Die Verschiedene lag auf einem Tisch, gelb wie Wachs und von Angehörigen, Nachbarn und Dienern umringt. Alle Fenster waren geöffnet. Kerzen brannten, und Geistliche lasen Gebete. Adrian ging auf den Neffen der Trjuchina zu, einen jungen und nach der neuesten Mode gekleideten Kaufmann, und versicherte ihm, daß Sarg, Kerzen, Sargdecke und alles, was dazugehörte, unverzüglich geliefert werden würden. Der Erbe dankte ihm zerstreut und fügte hinzu, daß der Preis dabei keine Rolle spiele und er selber sich ganz auf die Gewissenhaftigkeit Prochorows verlasse. Der Sargtischler beteuerte wie immer in solchen Fällen, daß er nicht mehr verlangen werde, als angemessen sei. Dann wechselte er einen vielsagenden Blick mit dem Geschäftsführer und ging nach Hause, um die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Den ganzen Tag über fuhr er zwischen dem Rasguljai und dem Nikitskij-Tor hin und her. Erst am späten Abend war alles in Ordnung gebracht; er entließ den Kutscher und ging wieder zu Fuß nach Hause. Vor der Himmelfahrtskirche am Nikitskij-Tor wurde er von unserem Bekannten Jurko angerufen. Dieser hatte ihn erkannt und wünschte ihm eine gute Nacht. Es war schon spät. Als der Sargtischler an sein Haus kam, bemerkte er plötzlich, daß jemand seine Gartenpforte öffnete und hinter der Tür verschwand. Was soll das heißen, dachte er, braucht mich denn wieder jemand? Oder ist es ein Einbrecher, vielleicht gar ein Schürzenjäger, der bei meinen närrischen Töchtern einsteigen will? Etwas Gutes ist es bestimmt nicht! Während er noch überlegte, ob er seinen Freund Jurko rufen sollte, tauchte eine neue Gestalt auf und schien gleichfalls ins Haus eintreten zu wollen. Als diese aber den Sargtischler herbeilaufen sah, blieb sie stehen und nahm den dreieckigen Hut ab. Das Gesicht kam Adrian bekannt vor, doch konnte er sich im Augenblick nicht genau erinnern, wo er es schon mal gesehen hatte. »Sie wollen wohl zu mir«, sagte Adrian mit stockendem Atem, »bitte, treten Sie ruhig ein, erweisen Sie mir die Ehre.« »Keine leeren Phrasen, mein Lieber«, entgegnete der Fremde mit hohler Stimme. »Geh voran und zeig deinen Gästen den Weg!« Dem Sargtischler blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung zu folgen. Er ging durch das offene Gartentor, den Unbekannten hinter sich, dann durch die ebenfalls geöffnete Haustür und begann die Treppe hinaufzusteigen. Dabei hatte er das Gefühl, als gingen viele Leute in seinem Haus umher. Welch ein Teufelsspuk! dachte er und beeilte sich hinaufzugelangen. Als er die Tür zu seiner Wohnstube aufmachte, schlotterten ihm die Knie: Im Zimmer waren lauter Tote. Der Mond schien durchs Fenster und erhellte die gelben, blau angelaufenen Gesichter, die eingefallenen Lippen, die trüben, halbgeschlossenen Augen und die scharf hervortretenden Nasen. Panische Angst bemächtigte sich seiner. Er erkannte in ihnen die Toten, die durch sein Dazutun begraben worden waren; derjenige, der mit ihm hereinkam, war der vor einer Woche beerdigte Brigadier, dessen Leichenzug vom Unwetter überrascht worden war. Sie alle, Damen wie Herren, begrüßten ihn mit tiefen Verbeugungen, Kratzfüßen und Glückwünschen, ausgenommen ein armer Schlucker, der umsonst begraben werden mußte und sich dessen ebenso schämte wie seines groben Hemdes. Er drückte sich als einziger in der Ecke herum. Alle übrigen waren sehr vornehm angezogen: Die Frauen trugen hübsche Hauben, die Männer waren je nach Rang und Würden in Uniform gekleidet, obgleich unrasiert, die Kaufleute hatten ihre Sonntagskleider an. »Prochorow«, meldete sich der Brigadier im Namen aller Versammelten, »wie du siehst, sind wir alle deiner Einladung gefolgt; zu Hause sind nur die geblieben, die es beim besten Willen nicht mehr schaffen konnten, da sie entweder schon völlig zerfallen oder von ihnen nichts als blanke Knochen übriggeblieben sind. Aber selbst von denen hat es einer nicht über sein ehemaliges Herz bringen können wegzubleiben.« Im selben Augenblick drängte sich ein kleines Skelett nach vorn und trat auf Adrian zu. Mit einem einnehmenden Grinsen blickte sein Schädel zu dem Sargtischler auf. An dem Gerippe hafteten noch einige Fetzen grünen und roten Stoffs und fadenscheiniger Leinwand, während die Beinknochen in den hohen Reitstiefeln klapperten wie Keulen in einem Mörser. »Natürlich kennst du mich nicht, Prochorow«, sagte das Skelett, »aber du erinnerst dich gewiß noch an den verabschiedeten Gardesergeanten Pjotr Petrowitsch Kurilkin, dem du im Jahre 1799 deinen allerersten Sarg verkauftest, der im übrigen statt aus Eiche nur aus Tannenholz war!« Bei diesen Worten schickte sich das Gerippe an, Adrian zu umarmen; aber Prochorow nahm alle Kräfte zusammen, schrie auf und stieß es von sich. Pjotr Petrowitsch taumelte, schlug hin und brach in lauter Stücke auseinander. Die Toten waren empört. Wie ein Mann traten sie für die Ehre ihres Kollegen ein und warfen sich schimpfend und drohend Adrian entgegen. Der arme Hausherr, von ihrem Lärm wie betäubt und fast zu Tode gedrückt, verlor seine Fassung, fiel nun über die Knochen des Gardesergeanten und blieb besinnungslos am Boden liegen. Die Sonne schien längst auf das Bett, in dem der Sargtischler schnarchte. Endlich erwachte er und gewahrte die Magd, die den Samowar aufstellte. Mit Schrecken erinnerte sich Adrian, was gestern geschehen war. Wie in einem Nebel sah er die Trjuchina, den Brigadier und den Sergeanten Kurilkin vor sich. Schweigend wartete er darauf, daß die Magd anfangen würde, von den gestrigen Begebenheiten zu erzählen. »Du hast aber ganz schön verschlafen, Vater Adrian Prochorow«, sagte Aksinja und reichte ihm den Schlafrock. »Der Schneider von nebenan hat schon nach dir gefragt, und der Schutzmann war ebenfalls da und sagte, daß der Polizeiaufseher heute Namenstag habe; du aber beliebtest immer noch zu schlafen, und wir trauten uns nicht, dich zu wecken.« »War jemand von der verstorbenen Trjuchina da?« »Von wem? Von der verstorbenen Trjuchina? Seit wann ist sie denn tot?« »Dumme Gans! Hast du mir nicht selber gestern bei den Vorbereitungen für ihre Beisetzung geholfen?« »Was sagst du da, Vater? Bist du nicht ganz beisammen oder immer noch betrunken? Von welcher Beisetzung redest du denn? Du warst doch den ganzen Tag bei diesen Deutschen; bist betrunken nach Hause gekommen, in dein Bett geschlichen und erst aufgewacht, als es bereits längst zur Mittagsmesse geläutet hat.« »Ist das denn wahr?« fragte der Vater. »Aber natürlich«, versicherte die Magd. »Nun, dann gib mir schnell den Tee und ruf die Töchter herein!« Der schwarze Schleier von Charles Dickens In ihrer Gesamtheit liefern die ›Sketches by Boz‹ – unter diesem Pseudonym schrieb Charles Dickens (1812-1870) zwischen 1833 und 1836 in verschiedenen Londoner Zeitschriften Stimmungsbilder, Charakterskizzen und Kurzgeschichten – bunte Genrebilder vom damaligen Alltagsleben in und um London, ein Stück frühviktorianischer Wirklichkeit, das als authentisches Zeitbild von bleibendem Interesse ist. In diesen Skizzen ist auch die Erzählung ›Der schwarze Schleier‹ enthalten, in denen Dickens eine Fülle von Elementen des zeitgenössischen Schauerromans verarbeitet hat – keine Gespenstergeschichte im traditionellen Sinne, aber eine Erzählung, die durch ihre gespenstische Atmosphäre auch heute noch zu fesseln vermag. —————————— An einem Winterabend gegen Ende des Jahres 1800, oder ein paar Jahre früher oder später, saß ein junger Arzt an einem behaglichen Feuer in seinem kleinen Wohnzimmer und hörte dem Wind zu, der große Regentropfen gegen das Fenster warf und im Schornstein traurig heulte und pfiff. Das Wetter war naßkalt, er war den ganzen Tag durch Kot und Wasser gewatet und ruhte jetzt bequem in Schlafrock und Pantoffeln aus, und er dachte sinnend, mehr als halb im Schlafe und weniger als halb wachend, an hundert und aber hundert Dinge mannigfacher Art. Er dachte zuerst, wie scharf der Wind doch bliese und welches Ungemach er selber im Kampf gegen Sturm und Regen ausstehen würde, wenn er nicht behaglich daheim säße; dann wieder, wie vergnügt er alljährlich am Weihnachtsabend im Kreise der Seinigen und teurer Freunde wäre; wie froh alle sein würden, ihn wiederzusehen, und wie glücklich es Rose machen würde, wenn er ihr sagen könnte, daß er endlich einen Patienten bekommen habe und mehrere zu bekommen hoffte, und sie dann heimführen könnte an seinen eigenen Herd, ihm die Einsamkeit zu versüßen und ihn zu neuen Anstrengungen anzuspornen. Möchte doch wissen, dachte er weiter, wann ich zu meinem ersten Patienten gerufen werde, oder ob mir das Schicksal bestimmt ist, überhaupt keine Praxis zu erlangen. Endlich dachte er abermals an Rose, schlief ein und träumte von ihr, bis es ihm war, als tönte wirklich ihre süße Stimme in seinen Ohren und als ruhte ihre kleine weiche Hand auf seiner Schulter. Seine Schulter wurde in der Tat von einer Hand berührt, die jedoch weder klein noch weich war, denn sie gehörte einem derben rundköpfigen Buben an, den das Kirchspiel für einen Shilling die Woche und Beköstigung zum Austragen von Arzneien und Botschaften vermietete. Da jedoch kein Bedarf an Arzneien und keine Notwendigkeit der Botschaftsübermittlung bestand, verbrachte er die arbeitsfreien Stunden – im Durchschnitt vierzehn pro Tag – mit dem Verzehr von Pfefferminzplätzchen, der Einnahme derber Kost und mit Schlafen. »Eine Dame, Sir – eine Dame!« flüsterte er, den Schläfer schüttelnd. »Was für eine Dame?« rief unser Freund, aus dem Schlafe auffahrend, nicht ganz gewiß, ob sein Traum eine bloße Täuschung wäre, und halb und halb erwartend, Rose selbst an seiner Seite stehen zu sehen. »Was für eine Dame? Wo?« »Da, Sir«, erwiderte der Knabe, nach der Glastür hinweisend, die in das Behandlungszimmer führte, und sah aus, als wenn ihm die ungewöhnliche Erscheinung eines Patienten den größten Schrecken eingejagt hätte. Der Wundarzt wendete sich nach der Tür um und erschrak selbst im ersten Augenblick. Die Dame war ungewöhnlich groß, in tiefe Trauer gekleidet und stand so dicht hinter der Tür, daß ihr Gesicht fast das Glas berührte. Sie hatte sich sorgfältig in einen schwarzen Mantel eingehüllt und ihr Antlitz durch einen dicken schwarzen Schal vermummt. Sie stand kerzengerade und vollkommen regungslos da. Der Wundarzt fühlte, daß sie die Augen auf ihn gerichtet hatte, allein sie gab nicht durch die leiseste Bewegung zu erkennen, daß sie es gesehen hatte, wie er sich nach ihr umdrehte. »Wünschen Sie mich zu konsultieren?« fragte er ein wenig zögernd, indem er die Tür öffnete. Die verschleierte Gestalt blieb regungslos auf derselben Stelle stehen und neigte nur bejahend den Kopf ein wenig. »Ich bitte, treten Sie ein«, sagte der Arzt höflich. Sie begann vorwärts zu schreiten, blieb aber sogleich wieder stehen und drehte den Kopf nach dem Knaben, zu dessen grenzenlosem Schrecken. »Geh hinaus, Tom«, sagte der junge Mann; »zieh den Vorhang vor und verschließ die Tür.« Tom tat, wie ihm befohlen war, und suchte darauf sogleich mit seinen großen Augen das Schlüsselloch. Der Arzt schob einen Stuhl an den Kamin und winkte der geheimnisvollen Dame, Platz zu nehmen. Sie ging langsam zum Stuhl, und er bemerkte, daß sie durch Schmutz und Wasser gegangen sein mußte. »Sie sind sehr naß«, sagte er. »Ja«, erwiderte die Unbekannte mit leiser, kaum hörbarer Stimme. »Und krank?« fragte der Arzt mitleidig, denn der Ton ihrer Stimme schien anzudeuten, daß sie heftige Schmerzen litt. »Ja, ich bin krank«, war die Antwort, »sehr krank, doch nicht körperlich. Ich bin nicht meinetwegen zu Ihnen gekommen, Sir. Wenn ich leiblich krank wäre, so würde ich nicht allein bei einem solchen Unwetter und zu einer solchen Stunde ausgegangen sein; und lag ich auf dem Krankenlager, wie gern würde ich, Gott weiß es, in vierundzwanzig Stunden meinen Geist aufgeben. Es ist ein anderer, für den ich Hilfe suche, Sir. Vielleicht ist es – und ich glaube wohl, daß ich wahnsinnig bin –, ist es Wahnsinn von mir, Hilfe für ihn bei Ihnen zu suchen; allein der Gedanke hat mich keine Nacht in langen traurigen Stunden bei Wachen und Weinen verlassen wollen, und obwohl ich einsehe, daß kein menschlicher Beistand ihm helfen kann, stockt mir doch bei dem Gedanken, ihn hilflos zu lassen, das Blut in den Adern!« Ihre ganze Gestalt erbebte bei diesen Worten, und zwar so, wie sie es schlechterdings nicht hätte erkünsteln können. Dem Arzt ging ihr offenbar tiefer Seelenschmerz zu Herzen. Er hatte noch nicht genug von dem Elend gesehen, durch dessen Anblick soviel erfahrene Männer seines Berufs gegen menschliche Leiden mehr oder minder abgestumpft werden. Er stand rasch auf und sagte: »Wenn sich der Patient, von dem Sie sprechen, in einem so hoffnungslosen Zustand befindet, wie Sie sagen, so ist kein Augenblick zu verlieren. Ich will sogleich mit Ihnen gehen. Warum suchten Sie nicht schon früher ärztlichen Beistand?« »Weil es früher so nutzlos gewesen wäre, wie es jetzt auch ist«, entgegnete die Unbekannte, schmerzlich die Hände zusammenschlagend. Der Arzt warf seinen forschenden Blick auf den schwarzen Schleier. Er hätte gar zu gern den Ausdruck des darunter verborgenen Antlitzes beobachtet; allein der Schleier war zu dicht, als daß unser Freund auch nur einen Zug zu erkennen imstande gewesen wäre. »Sie sind wirklich krank«, sagte er mild, »obgleich Sie es nicht wissen, und leiden an einem heftigen Fieber, das Ihnen die Kraft leiht, Ihre Anstrengungen zu ertragen, ohne sie zu fühlen.« Er reichte ihr ein Glas Wasser und setzte hinzu: »Trinken Sie, suchen Sie sich zu fassen, sagen Sie mir dann, wie lange der Patient schon leidet, und beschreiben Sie mir, so ruhig Sie können, die Krankheit. Ich werde daraus abnehmen, womit ich mich versehen muß, um meinen Besuch nützlich zu machen, und bin dann bereit, Sie zu begleiten.« Die Unbekannte hob das Glas an den Mund, ohne den Schleier zu lüften, setzte es unberührt wieder nieder und brach in Tränen aus. »Ich weiß«, sagte sie unter lautem Schluchzen, »daß das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, wie eine Fieberfantasie klingt. Es ist mir schon von andern weniger freundlich als von Ihnen gesagt worden. Ich bin keine junge Frau, Sir, und man sagt, wenn das Leben zu Ende geht, daß der letzte kurze Rest, so wertlos er allen andern erscheinen mag, dem seinem Tode sich Nähernden teurer sei als alle seine früheren Jahre, obgleich sich die Erinnerung an alte, längst entschlafene Freunde und an neue, vielleicht an Kinder, ungeratene, undankbare Kinder, an sie knüpft. Ich muß mein Lebensziel in wenigen Jahren erreicht haben, gehe ihm gern entgegen und würde ohne Seufzen, ja mit Freuden in diesem Augenblick sterben, wenn das, was ich Ihnen zu sagen im Begriff bin, unwahr oder eingebildet wäre. Morgen früh wird der, von dem ich rede – ich weiß es, so inbrünstig ich wünsche, daß es anders sein möchte –, außer dem Bereich aller menschlichen Hilfe sein; und doch dürfen Sie ihn heute abend, obgleich er in Todesgefahr ist, nicht sehen, und Sie würden ihm auch nicht helfen können.« »Ich gedenke Ihren Schmerz«, erwiderte unser Freund nach einem kurzen Schweigen, »durch keine Bemerkung über das, was Sie gesagt haben, zu vergrößern noch zudringlich einem Gegenstand genauer nachzuforschen, worüber Sie mich offenbar im dunkeln lassen wollen; doch Ihre Angaben sind so widersprechend, daß ich sie nicht zu vereinigen weiß und sie ein wenig unwahrscheinlich finden muß. Der Patient stirbt in dieser Nacht, und ich darf ihn nicht sehen zu einer Zeit, wo mein Beistand von Nutzen sein könnte. Sie glauben, daß mein Besuch morgen nutzlos sein wird, und begehren doch, daß ich den Patienten morgen sehen soll. Wenn er Ihnen wirklich so teuer ist, wie er es nach Ihren Worten und Tränen zu sein scheint, warum wollen Sie nicht, daß ein Versuch gemacht werden soll, ihn am Leben zu erhalten, bevor es zu spät ist?« »Gott stehe mir bei!« rief die Unbekannte, bitterlich weinend, aus. »Wie kann ich hoffen, daß Fremde glauben werden, was mir selbst unglaublich erscheint! Sie wollen ihn also nicht sehen, Sir?« fügte sie, rasch aufstehend, hinzu. »Ich sagte nicht, daß ich mich weigere«, versetzte der Arzt; »allein, lassen Sie sich erinnern, welch schreckliche Verantwortung auf Ihnen lastet, wenn Sie auf Ihrer begehrten unerklärlichen Verzögerung bestehen und der Patient stirbt.« »Die Verantwortlichkeit wird allerdings auf irgend jemand schwer lasten«, sagte die Unbekannte mit Bitterkeit. »Die auf mir lastende bin ich bereit auf mich zu nehmen.« »Da ich mir keine auflade«, fuhr der Arzt fort, »indem ich mich Ihrem Begehren füge, so werde ich morgen früh den Patienten besuchen, wenn Sie die Adresse zurücklassen wollen. Zu welcher Stunde kann ich ihn sehen?« »Um neun Uhr«, erwiderte die Frau. »Sie müssen meine Frage entschuldigen«, sagte der Arzt; »aber befindet er sich unter Ihrer Obhut?« »Nein.« »Dann würden Sie ihm also auch nicht beistehen können, wenn ich Ihnen Verordnungen für seine Behandlung über Nacht mitgäbe?« Die Unbekannte erwiderte unter Tränen: »Nein!« Da wenig Aussicht war, weitere Auskunft zu erhalten, und da unser Freund die Gefühle der Unglücklichen zu schonen wünschte, die anfangs gewaltsam an sich gehalten hatte, jetzt aber von ihrem Weh ganz überwältigt schien, so wiederholte er sein Versprechen, den Patienten am andern Morgen zur bestimmten Stunde zu besuchen, und entließ die rätselhafte Frau, die sich, nachdem sie ihm ein Haus in einem entlegenen Teil von Walworth bezeichnet hatte, nicht minder geheimnisvoll entfernte, als sie gekommen war. Man wird leicht glauben, daß ein so außerordentlicher Besuch einen beträchtlichen Eindruck auf das Gemüt des jungen Arztes machte und daß er viel und lange und ebenso vergeblich nachsann, wie das Rätsel zu lösen sein möchte. Gleich andern hatte er oft von merkwürdigen Fällen gehört und gelesen, in welchen Vorahnungen oder Vorhersagen des Todes gewisser Personen auf den Tag, ja auf die Minute eingetroffen waren. In einem Augenblick war er zu glauben geneigt, daß der vorliegende ein solcher Fall sein möchte, wogegen er indes im andern wieder bedachte, daß nach allen hierher gehörigen Geschichten, die ihm bekannt waren, nur von Vorgefühlen erzählt wurde, die gewisse Personen von ihrem eigenen Tod gehabt hatten. Die Besucherin hatte aber von einer dritten Person, einem Manne, gesprochen, und unmöglich war anzunehmen, daß ein bloßer Traum oder eine Einbildung sie veranlaßt haben sollte, mit so schrecklicher Bestimmtheit, als sie es getan, vom Tode desselben zu reden. Sollte der Mann vielleicht am andern Morgen ermordet werden, und war es die Absicht der Frau – die etwa anfänglich eingewilligt, an der Tat Anteil zu nehmen, sich durch einen Eid zum Schweigen verpflichtet und später bereut hatte –, womöglich wenigstens seinen Tod, wenn einmal einer Mißhandlung nicht zu begegnen war, durch Sorge für zeitigen ärztlichen Beistand zu verhindern? Doch war es denkbar, daß so etwas kaum zwei Meilen von der Hauptstadt geschehen konnte? Unser Freund kam daher wieder auf seinen ersten Gedanken zurück, daß der Verstand der Frau zerrüttet sein müßte, und da er sich das Rätsel auf keine andere irgend befriedigende Weise zu lösen wußte, so blieb er bei der Annahme, daß sie verrückt sei, so oft und so viel er auch noch während seiner schlaflosen Nacht darüber hin und her sann; denn der schwarze Schleier stand ihm beständig vor der Seele. Walworth, in seiner weitesten Entfernung von der Hauptstadt, ist sogar noch jetzt ein elender Ort ohne regelmäßige Straßen und war vor fünfunddreißig Jahren zum größten Teil kaum besser als eine traurige Einöde, in welcher nur wenige Bewohner von sehr zweideutigem Charakter hausten, Leute, die ihrer Armut halber in besseren Gegenden keine Wohnungen mieten konnten oder denen die Abgeschiedenheit von Walworth wegen ihrer Beschäftigung und Lebensweise besonders wünschenswert war. Viele der Häuser, die man jetzt dort erblickt, waren damals noch nicht gebaut und die vorhandenen, zerstreut stehenden so erbärmlich wie möglich. Als der junge Arzt daher durch die Ortschaft ging, bot sich ihm kein erfreulicher Anblick dar, und die ganze Umgebung war wenig geeignet, die Beklemmung zu verscheuchen, die er bei seinem beabsichtigten sonderbaren Besuch empfinden mochte. Sein Weg führte ihn seitwärts von der Landstraße ab über einen sumpfigen Anger, durch unregelmäßige Gassen und an halb zerfallenen oder zerfallenden Hütten vorüber. Bald hielt ihn ein Baumstamm, bald eine Pfütze oder ein kleiner Bach auf, der durch den in der Nacht gefallenen starken Regen entstanden war; und hier und da bezeugten ein elender Garten und die Beschaffenheit der Einzäunung sowohl die Armut der Eigentümer als auch ihre geringe Beachtung fremden Eigentums. Nur dann und wann ließen sich einzelne zerlumpte Bewohner vor den Haustüren sehen – etwa ein schmutziges Weib, das ein Gefäß mit Wasser ausgoß, oder ein Kind, das ein fast ebenso großes aus dem tiefen Schmutz wieder hereinholte –, und obendrein war alles in einen dichten dumpfigen Nebel eingehüllt. Nachdem unser Freund lange und mühselig durch Kot und Wasser gewatet war und oft gefragt und ebensooft widersprechende und ungenügende Antworten erhalten hatte, fand er endlich das ihm bezeichnete Haus. Es war ein kleines, niedriges, einstöckiges Gebäude und gehörte zu den schlechtesten, die er auf seinem ganzen Wege gesehen. Im Erdgeschoß waren die Fensterläden geschlossen, ohne befestigt zu sein, und vor das Fenster im oberen Stock war ein alter gelblicher Vorhang gezogen. Das Haus stand ganz allein am Ausgang einer engen Gasse, weshalb auch keine andere Wohnung zu sehen war. Auch der furchtloseste Leser wird nicht lächeln dürfen, wenn wir sagen, daß unser Freund ein wenig zauderte und es nicht sogleich über sich vermochte zu klopfen. Die Londoner Polizei jener Zeit war mit der jetzigen nicht zu vergleichen; die Bauwut und der Bevölkerungszuwachs, die seitdem die umliegenden Ortschaften mit der Hauptstadt in Verbindung gesetzt haben, hatten damals noch nicht begonnen, und jene waren daher zum Teil Schlupfwinkel der verdorbensten Volksklasse. Zur damaligen Zeit waren sogar die Hauptstraßen Londons nur schlecht erleuchtet, und die Vorstädte und nächstgelegenen Ortschaften erhielten ihr Licht lediglich von Mond und Sternen. Diebsgelichter in seinen Zufluchtsorten zu entdecken war stets sehr schwierig, und das schon verwegene Gesindel wurde natürlich um so dreister, je sicherer es sich fühlte. Hierzu kam, daß unser Freund eine Zeitlang in den Hospitälern der Hauptstadt beschäftigt gewesen war, und leicht genug konnte er auf den Gedanken kommen, daß Abscheulichkeiten unbestraft und unentdeckt verübt werden könnten, dergleichen späterhin von Burke und Bishop schauderhaften Angedenkens wirklich verübt worden sind. Sei dem, wie ihm wolle, und gleichviel, was ihn bedenklich machte: er zögerte, trat an die Haustür heran und wieder zurück und ging einige Schritte auf und ab, um sich zu orientieren. Sein Entschluß war jedoch in wenigen Augenblicken gefaßt, da er großen persönlichen Mut besaß – er klopfte. Gleich darauf hörte er ein leises Geflüster, als wenn jemand am Ende des Hausflurs leise und heimlich mit einer auf dem Treppenabsatz stehenden Person spräche; schwere Tritte näherten sich, und die Tür wurde vorsichtig geöffnet, von einem großen, widerlich aussehenden Mann mit schwarzem Haar und einem Gesicht, das so bleich und leichenhaft war, wie der Arzt jemals ein Totengesicht gesehen zu haben sich entsann. »Treten Sie rein, Sir«, sagte er leise. Der Arzt trat ein, und der Mann, der ihm die Tür geöffnet hatte, verschloß dieselbe sorgfältig wieder und ging ihm nach einem kleinen Hinterzimmer am Ende des Hausflurs voran. »Komme ich noch früh genug?« fragte unser Freund besorgt. »Zu früh«, war die Antwort. Der Arzt drehte sich mit einer verwunderten und unruhigen Miene, die er nicht verbergen konnte, obgleich er es gern getan hätte, hastig um. »Treten Sie nur rein, Sir«, sagte sein Führer, dem diese Unruhe offenbar nicht entgangen war; »treten Sie nur rein; Sie sollen auf mein Wort keine fünf Minuten aufgehalten werden.« Unser Freund ging in das Zimmer und blieb allein. Es war ein kleines kaltes Gemach mit nur zwei schlechten Stühlen und einem ebenso schlechten Tisch. Im Kamin brannte ein winziges Feuer und diente nur dazu, die Luft dunstiger zu machen, denn die Feuchtigkeit floß im eigentlichen Sinne von den Wänden herunter. Durch das Fenster, dessen Scheiben großenteils zerbrochen und verstopft waren, sah man in einen kleinen mit Wasser angefüllten Garten. Nichts regte sich, weder im Hause noch außerhalb, und unser Freund setzte sich schauernd an den Kamin, den Erfolg seines ersten ärztlichen Besuchs abzuwarten. Nach einigen Minuten hörte er ein Fuhrwerk dem Hause sich nähern. Es hielt, die Haustür wurde geöffnet, sodann folgten ein langes Hin- und Herreden und ein Geräusch von Fußtritten und Gedränge auf dem Hausflur und der Treppe, als wenn zwei oder drei Männer etwas Schweres hinauftrügen. Bald darauf kamen sie wieder herunter und entfernten sich aus dem Haus. Die Tür wurde hinter ihnen verschlossen, und alles war wieder still wie zuvor. Es verflossen abermals fünf Minuten, und der Arzt hatte sich eben entschlossen, jemand im Hause aufzusuchen, als die Tür geöffnet wurde und seine Besucherin vom vergangenen Abend, ebenso gekleidet und durch denselben schwarzen Schleier verhüllt, ihm winkte. Ihre ungewöhnliche Größe und der Umstand, daß sie nicht sprach, rief auf einen Augenblick den Gedanken in ihm hervor, daß er es mit einem verkleideten Mann zu tun haben könnte; allein ihre gramvolle Stellung, ihr krampfhaftes Schluchzen überzeugte ihn sogleich wieder, daß sein Argwohn töricht sei, und er folgte ihr mit raschen Schritten. Sie führte ihn die Treppe hinauf und blieb an der Tür des vorderen Zimmers stehen, ihn hineinzulassen. Das Gemach war sehr dürftig, nur mit einem alten tannenen Schrank, einigen Stühlen, einem Bett ohne Vorhänge und einer gewürfelten Decke versehen. Das verdunkelte Fenster ließ so wenig Licht eindringen, daß man alle Gegenstände nur sehr unbestimmt sah, und der Arzt hatte daher auch die menschliche Gestalt nicht sogleich bemerkt, auf welcher seine Blicke hafteten, sobald die Frau an ihm vorüberstürzte und sich vor dem Bett auf die Knie warf. Ausgestreckt auf dem Bett, dicht eingehüllt in ein leinenes Tuch und mit Decken bedeckt, lag die Gestalt steif und regungslos da. Ihr Kopf und Gesicht waren die eines Mannes und unverhüllt, nur daß um den ersteren eine Binde geschlungen und unter dem Kinn zugebunden war. Die Augen waren geschlossen. Der linke Arm ruhte schwer auf dem Bett, und die Frau hatte die ihren Druck nicht erwidernde Hand gefaßt. Der Arzt schob sie sanft zur Seite und erfaßte die Hand selbst. »Mein Gott!« rief er aus, sie unwillkürlich wieder fallen lassend, »der Mann ist tot!« Die Frau fuhr empor und schlug die Hände zusammen. »O sagen Sie das nicht, Sir«, schrie sie so leidenschaftlich, daß unserm Freund der Gedanke zurückkehrte, sie müsse wahnsinnig sein; »sagen Sie das nicht; ich kann – kann es nicht – kann es unmöglich ertragen! Es sind schon viele Menschen wieder ins Leben zurückgeholt worden, die von ungeschickten Ärzten gänzlich aufgegeben wurden, und viele andre gestorben, die hätten wiederhergestellt werden können, wenn die rechten Mittel angewendet worden wären. Gehen Sie nicht wieder fort, Sir, ohne etwas zu seiner Rettung getan zu haben. Vielleicht verläßt ihn in diesem Augenblick das Leben. Um Gottes willen, Sir, tun Sie, was in Ihrem Vermögen ist.« Während sie so sprach, rieb sie dem leblos Daliegenden ganz wie außer sich die Stirn und die Brust und die kalten Hände, die, wenn sie sie losließ, regungslos und schwer auf die Bettdecke zurückfielen. »Es kann nichts helfen, meine gute Frau«, sagte der Arzt beruhigend. »Doch halt – nehmen Sie den Fenstervorhang herunter.« »Warum?« fragte die Frau, hastig aufstehend. »Nehmen Sie den Vorhang herunter«, wiederholte der Arzt ein wenig aufgeregt. »Ich habe das Zimmer absichtlich verdunkelt«, erwiderte die Frau und vertrat ihm den Weg, als er aufstand, um ihn selbst hinwegzunehmen. »O Sir, haben Sie Mitleid mit mir! Wenn es ohne Nutzen und wenn er wirklich tot ist, so lassen – lassen Sie die Leiche nicht von andern Augen als den meinigen sehen.« »Der Mann da starb keinen natürlichen oder hatte keinen leichten Tod«, sagte der Arzt. »Ich muß die Leiche sehen.« Er sprang mit einer raschen Bewegung ans Fenster, riß den Vorhang auf, so daß das volle Tageslicht hereinströmte, und ging wieder nach dem Bett zurück. »Da ist Gewalt verübt worden«, fuhr er, auf die Leiche hinweisend, fort und schaute der Frau forschend in das Gesicht, das er jetzt zum ersten Male sah. Sie hatte in ihrem Ungestüm Hut und Schleier zur Seite geworfen und stand, die Blicke auf ihn geheftet, da. Sie müßte etwa fünfzig Jahre alt sein und war einst sicher schön gewesen. Kummer und Tränen hatten Spuren auf ihrem Antlitz zurückgelassen, die von der Zeit allein nimmermehr herrühren konnten. Sie war blaß wie der Tod, ihre Lippen bebten krampfhaft, und in ihren Augen glühte ein unnatürliches Feuer, aus dem nur zu deutlich hervorging, daß ihre leibliche wie geistige Kraft unter gehäuftem Leid dem Erliegen nahe war. »Da ist Gewalt verübt worden«, sagte der Arzt, sie fortwährend fest in das Auge fassend. »Ja, ja, so ist es«, erwiderte die Frau. »Der Mann ist ermordet worden.« »Ich rufe Gott zum Zeugen an, daß er es ist – mitleidlos, unmenschlich ermordet.« »Von wem?« fragte der Arzt, die Frau am Arme fassend. »Schauen Sie selbst, und dann fragen Sie mich«, erwiderte sie. Der Arzt wendete seinen Blick nach dem Bett und beugte sich über die Leiche, auf die die volle Tageshelle fiel. Der Hals war geschwollen, und rund um ihn herum lief ein blaurötlicher Streifen. Dem Arzt war es, als wenn ihm der Zusammenhang plötzlich klar würde. »Dies ist einer von den Leuten, die heute am frühen Morgen gehängt wurden!« rief er, schaudernd sich abwendend, aus. »Ja, so ist es«, erwiderte die Frau mit einem leeren Starrblick. »Wer ist er?« fragte der Wundarzt. »Mein Sohn!« antwortete die Frau und sank bewußtlos zu Boden. Es war so. Ein Mitschuldiger von ihm war, aus Mangel an hinlänglichen Beweisen, freigesprochen und er zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Die Mutter war eine Witwe, ohne Freunde und ohne Vermögen, und hatte sich selbst das Notwendigste versagt, um es an ihren verwaisten Knaben zu wenden, der ihre flehentlichen Bitten und die Opfer, die sie für ihn gebracht, vergessen und sich einem zügellosen und verbrecherischen Leben hingegeben hatte. Die Folgen waren sein Tod durch Henkershand, seiner Mutter Schande und unheilbarer Wahnsinn. Noch viele Jahre lang nach dem erzählten Vorfall und bei einer gewinnreichen Praxis und glänzenden Stellung, in welcher viele das Dasein eines so elenden Wesens vergessen haben würden, besuchte unser Freund Tag für Tag die harmlose Wahnsinnige und flößte ihr nicht bloß durch seine Gegenwart und gütige Behandlung Ruhe ein, sondern erleichterte auch ihre betrübliche Lage mit freigebiger Hand. Als ihrem Tode ein flüchtiger Strahl der Verstandeshelle vorherging, entstieg den Lippen der Armen ein inbrünstiges, glühendes Gebet für sein Wohlergehen. Es drang zum Himmel und ward erhört. Die Segnungen, die er als Werkzeug der Vorsehung ihr zuführte, sind ihm tausendfältig wiedervergolten; doch bei all seinem Reichtum, hohem Rang und sonstigem wohlverdienten Glück sind keine Rückerinnerungen erfreulicher und befriedigender für seine Gefühle als die an den schwarzen Schleier. Das weiße Tier Ein Nachtstück von Georg von der Gabelentz Während Gustav Meyrink und auch Hanns Heinz Ewers als Bahnbrecher der fantastischen deutschen Literatur dieses Jahrhunderts noch heute einen Namen haben, ist Georg von der Gabelentz (1868-1940) allzu rasch in Vergessenheit geraten. Wie Meyrink war Gabelentz ein sehr fantasievoller Erzähler mit ausgeprägten Neigungen zur Mystik und zum Spiritismus, und wie Ewers zeichnet er sich vor allem dadurch aus, daß er die gespenstischen und übersinnlichen Begebenheiten in seinen Romanen und Erzählungen höchst spannend in Szene zu setzen wußte. Nach einem Jura-Studium in Leipzig und Lausanne entschied er sich für die militärische Laufbahn und wurde Anfang des Ersten Weltkriegs Adjutant im sächsischen Kriegsministerium (1914-1916); danach sehen wir ihn als stellvertretenden Generaldirektor des Sächsischen Hoftheaters Dresden (1916-1918). ›Das weiße Tier‹ erschien 1904 in dem gleichnamigen Erzählband. —————————— Wissen Sie, was es ist, wenn einen das Grausen packt? Es ist etwas ganz anderes als Angst. Man kann Angst haben bei einer Gefahr, vor drohenden Schmerzen, vor Krankheit oder vor dem Tode, doch ein Mann wird über solche Dinge hinwegkommen. In jener Nacht aber war es etwas tausendmal Schrecklicheres, vor dem ich gezittert habe, obgleich ich seine Nähe nur fühlte, nur ahnte. Da lernte ich, was es heißt, Grausen empfinden, feiges, nerventötendes Grausen. – Ich hatte mich als Arzt unweit der russischen Grenze niedergelassen. Mein Beruf führte mich bis in die einzelnen abgelegenen Güter und Höfe der Umgegend, und ich unternahm oft stundenlange Ritte. Als ich eines Tages von einem solchen nach meiner Wohnung zurückkehrte, traf ich vor dem Hause einen Reiter, er stieg aus dem Sattel und schritt auf meine Tür zu. Ich rief ihn an, da zog er einen Brief aus der Brusttasche und überreichte ihn mir. Das Schreiben lautete: ›Herr Doktor, folgen Sie sofort meinem Boten, der Sie zu mir führen wird. Ich bin verloren, wenn Sie nicht kommen. Sorgen Sie, bitte, daß niemand von dem Besuche erfährt. Ihr ergebener Wilhelm Rosen.‹ Ich fragte den Boten, der die gelockerten Sattelgurte seines Pferdes schon wieder anzog, nach dem Befinden und dem Leiden seines Herrn. Er zuckte die Achseln und entgegnete: »Ich weiß es nicht.« Dabei verzog er seinen Mund zu einem Grinsen, zwinkerte mit den Augen und wies mit der Hand auf seine Stirn. »Was ist Ihr Herr –?« »Ich weiß es nicht. Er bleibt sonst niemals am dritten Oktober zu Hause, denn er fürchtet sich, das weiße Tier könnte an dem Tage kommen.« Damit wandte er sich um und saß auf, wenige Augenblicke später trabten wir nebeneinander davon. Nach mehrstündigem Ritt bog mein Führer auf schmalem Wege in ein mir unbekanntes Waldtal ein, alte Föhren schlossen ihre Kronen über dem verwahrlosten Pfad zusammen und wölbten hohe Tore. Bei Einbruch der Dämmerung standen wir vor einem einstöckigen Hause inmitten dieses Waldes, der Wohnung Rosens. Mein Begleiter nahm mir das Pferd ab, ich betrat das geräumige, einen Gutshof abschließende Gebäude. Im Flur, dessen Wände allerlei Beutestücke eines Jägers, Elchköpfe und Hirschgeweihe schmückten, erwartete mich ein älterer Diener und geleitete mich durch mehrere Zimmer nach dem Wohnraum des Besitzers. Dann zog er sich schweigend zurück. Ein hagerer Herr erhob sich mühelos aus einem bequemen Stuhl, der neben einem auffallend großen Kamin stand, und reichte mir mit starkem Druck die Hand. Freudiges Lächeln glitt über seine nicht unschönen Züge. Er lud mich zum Sitzen ein und dankte mir für mein rasches Eintreffen. Dann sagte er: »Ich fühlte mich vor einer Weile nicht ganz wohl, aber jetzt geht es mir schon besser.« Unter diesen Worten ging er an die beiden Türen des Zimmers, von denen die eine nach dem Ende des Flurs führte, verschloß sie von innen und steckte die Schlüssel in die Tasche. Dann erst nahm er mir gegenüber Platz. Ich sah meinen Patienten forschend an, er schien mir nicht leidend zu sein, seine Gestalt war trotz der sechzig Jahre, die ich ihm gab, hoch und kräftig, seine Bewegungen hatten nichts Krankes oder Schlaffes. Auch für geistig gestört konnte ich ihn nicht halten. Er sprach, ohne auf seinen Brief anzuspielen, in ruhigem Ton über die verschiedensten Dinge, über Politik und dergleichen. Seine Krankheit zu berühren, schien ihm peinlich zu sein, und so vermied zunächst auch ich es, danach zu fragen. Mittlerweile war die Nacht gekommen. Der Wind hatte sich schlafen gelegt, nur manchmal regte er sich ganz leise mit einem seufzenden Ton in der Ferne der Wälder. Im Zimmer war es still, denn unsere Unterhaltung wurde, ich weiß nicht warum, wie auf gemeinsame Verabredung halblaut geführt, nur die alte Uhr auf dem Kamin tickte eintönig, mit dumpfem, metallenem Klang. Rosen erhob sich, steckte alle Lichter und Lampen im Zimmer an und verteilte sie so, daß sie es bis in die entlegensten Ecken erhellten. Dann setzte er sich wieder zu mir. Wir plauderten über die Freiheiten der Bauern und deren Nutzen oder Schaden für die Entwicklung des benachbarten russischen Staates, und mein Patient zeigte eine Sachkenntnis und einen Scharfblick, wie man sie bei einem wirklich geisteskranken Menschen sicher nicht gefunden hätte. Da begann die Standuhr auf dem Kamin eine Stunde zu schlagen. Ich achtete nicht weiter darauf, folgte ich doch gerade den Ausführungen meines Gegenübers. Rosen aber unterbrach sich mitten in seiner Rede, warf einen raschen Blick auf den Zeiger und zählte die Schläge der Glocke. Es waren acht. Da lehnte er sich in den Stuhl zurück und brummte vor sich hin: »Erst acht Uhr. Es kommt noch nicht.« Dann griff er den Faden der Unterhaltung wieder auf, wo er ihn fallen gelassen hatte, ohne sein Tun zu entschuldigen oder zu erklären. Meine Frage, ob er noch irgendeine Nachricht oder einen Besuch heute abend erwarte, schien er mit Absicht zu überhören, denn er fuhr fort, über Politik und soziale Verhältnisse zu sprechen. Eine Stunde darauf wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Als die Uhr zu schlagen begann, langsam und keuchend, als wolle ihr der Atem ausgehn, hielt Rosen in seiner Rede inne. Er ließ die brennende Zigarre aus der Hand in den Aschenbecher fallen, heftete den Blick auf das Zifferblatt und zählte die einzelnen neun Glockenschläge. Dann erhob er sich, ging noch einmal durch das Zimmer, versicherte sich von neuem, daß die Türen und Fenster fest verschlossen seien, und raunte, indem er wieder zu mir trat: »Noch nicht. Wir müssen warten.« Aus seinen Worten und seinem Tun sprach heimliche Angst. Er rückte seinen Stuhl näher an den meinen, doch noch immer gab er keine Erklärung seines Benehmens. Nun aber machte ich Miene, mich zurückzuziehen, denn ich war rechtschaffen müde geworden und hatte nicht Lust, mit diesem Manne die ganze Nacht zuzubringen, um alle Augenblicke Zeuge der Angewohnheiten eines Sonderlings zu sein und irgendein Ereignis abzuwarten, das ich nicht einmal ahnte, und das jener mir trotz meiner Andeutungen augenscheinlich auch nicht mitteilen wollte. Kaum aber hatte ich mich erhoben, als mich Rosen am Arm erfaßte und mit einer Kraft in den Stuhl zurückdrückte, die mich in Erstaunen setzte. »Bleiben Sie, ich beschwöre Sie! Ich habe nur darum heute das Haus nicht verlassen, das mich in dieser Nacht sonst nie in seinen Mauern sieht, um einen Versuch zu machen. Ich bin nicht krank. Was ich Ihnen schrieb, ist nicht wahr. Ich wollte nur Ihres Kommens sicher sein. Sie erweisen mir damit einen Dienst, dessen Größe Sie jetzt nicht im entferntesten schätzen können. Mein Benehmen muß Ihnen sonderbar erscheinen. Ich sehe es Ihnen an, daß Sie an meinem ruhigen Verstand zweifeln. Aber ich bin mir leider nur zu klar über alles, ich bin nicht überspannt, nicht im geringsten. Ich will nur versuchen, ob Ihre Nähe, die Anwesenheit eines ganz nüchternen, unbeeinflußten Mannes jenes Entsetzliche vertreiben kann, vor dem ich mich fürchte, und das –« Rosen schnellte vom Stuhl empor und griff nach einem jener haarscharfen, türkischen Säbel, Jatagan genannt, die eine gefährliche Waffe in der Faust eines Mannes bilden. Er hielt die Hand ans Ohr und lauschte. Ein Zittern ging durch seinen Körper. Auch ich stand unwillkürlich auf und horchte. Ein unbestimmtes Geräusch, etwa wie das regellose Hin- und Herhuschen einer Ratte über Holzdielen ließ sich vernehmen. Die Augen Rosens irrten suchend im Zimmer umher und blieben auf der Tür nach dem Flur haften, von dem die Laute zu kommen schienen. »Hören Sie nichts?« flüsterte er und umklammerte mein Handgelenk. Aber die leichten Schritte waren schon wieder verklungen. Ich mußte den Erregten beruhigen. »Ich höre nichts, absolut nichts«, log ich. »Ich glaube, Sie sind nur einem Irrtum unterworfen gewesen. Erklären Sie mir nur endlich, was Sie fürchten.« Rosen setzte sich wieder und legte den Säbel dicht neben sich auf einen Tisch, auf dem allerlei Rauchgerätschaften standen. Er bot mir eine Zigarre an, und auch ich nahm von neuem Platz. »Wie sonderbar«, sagte er. »Ich hätte darauf geschworen, daß ich es gehen hörte – Aber freilich, wenn Sie meinen. Und Sie haben nichts gehört? Sind Sie dessen sicher?« »Gewiß«, erwiderte ich, »vollkommen. Sie können ruhig sein, es war nichts.« Mein Wirt prüfte mit den Fingerspitzen die Schärfe des Stahles. »Glauben Sie«, rief er plötzlich ganz unvermittelt und ließ die Klinge pfeifend durch die Luft schwirren, »glauben Sie, daß man damit einem Menschen die Hand abhauen kann?« »Gewiß, mit Leichtigkeit.« Rosen sah mit einem sonderbaren harten Blick auf die blitzende Waffe und wog sie in der Hand. »Ja, ja, mit einem Schlage, mit einem einzigen Schlage bringt man das fertig! Und ein kurzer Stoß ins Herz genügt auch, einen Menschen aus der Welt zu schaffen. Aber, ich glaube, es gibt Wesen, die sind auch damit nicht zu töten. Glauben Sie nicht?« Rosens Augen ruhten gespannt auf meinen Lippen. Ich hätte die Waffe lieber in der Hand eines andern gesehen als in der dieses aufgeregten Kranken. »Ich? Ja, mein Gott, das kommt ganz drauf an, was Sie töten wollen. Aber ich sollte meinen –« Ich wurde jäh unterbrochen. »Still! Hören Sie das Tasten dort, dort am Fenster? Um Gottes willen, hören Sie das nicht, wie es ans Fenster greift?« Mein Gegenüber war wieder von seinem Sitz emporgefahren. Sein Antlitz war blaß geworden, seine Augen hatten sich unnatürlich erweitert und starrten nach den dunklen Scheiben. Wirklich vernahm auch ich von Zeit zu Zeit einen leisen Ton, als klopfe jemand von außen an das Glas der Fenster, als taste etwas suchend an ihm herum. »Ich meine, es muß wohl der Wind sein, der welke Blätter aus Ihrem Garten an die Scheiben wirbelt«, bemerkte ich endlich. »Oder es sind die äußersten Ästchen der Linde, die vor dem Hause steht, und die gegen das Glas reiben. Wer sollte sich auch sonst an Ihren Fenstern zu schaffen machen?« In diesem Augenblick schlug die Uhr. Rosen zählte, ohne den Blick vom Fenster abzulenken. Es waren zehn Schläge. Da setzte er sich in seinen Stuhl zurück. »Meinen Sie wirklich, die Äste der Linde? Nun, Sie mögen recht haben. Es war nur der Wind. Es ist ja auch erst zehn Uhr. Es kommt noch nicht. Aber man kann ja nicht wissen.« Wir schwiegen lange Zeit. Mich beschlich in der Nähe des Kranken allmählich ein unbestimmtes Gefühl von dumpfer Furcht, das ich nicht mehr loswerden konnte, so sehr ich mir auch Mühe gab, dagegen anzukämpfen. Eine schwüle, fast unnatürliche Ruhe lag über dem Räume, die vielen Lampen und Kerzen erhitzten die Luft. Wohl erhellten sie jeden Winkel, es war nichts Ungewöhnliches zu sehn, und trotzdem fühlten wir beide, daß sich etwas in unserer Nähe vorbereitete. Wenn ich nur gewußt hätte, was ich erwartete, welches das Wesen sei, das seit einer Stunde von uns gefürchtet, lauernd um unser Zimmer schlich, das uns drinnen gefangen hielt. Keiner von uns hätte jetzt mehr gewagt, die Türen oder eines der Fenster zu öffnen. Wir wußten, dann sprang es herein. Was hätte ich darum gegeben, wenn ich das Haus erst wieder verlassen gehabt hätte. Mehr und mehr fühlte ich mich selbst in Rosens merkwürdige Wahnideen verstrickt, von der Aufregung meines Patienten angesteckt, und doch war es nur eine Ratte, waren es nur trockene Blätter, Ästchen, ein verirrter Nachtvogel vielleicht, die jene sonderbaren Geräusche hervorgebracht hatten. Ich wollte mich zwingen, an eine natürliche Erklärung zu glauben. Aber was ich mir auch einreden mochte, ich hielt jetzt diese Ruhe, dieses unverständliche Warten nicht mehr länger aus. Mein Gegenüber blickte sich fortwährend um, immer die Hand am Säbel, bald nach der Tür, bald nach dem Fenster horchend. Es war draußen totenstill geworden, der Wind hatte sich gelegt. Lautlos zuckten blaue und gelbe Flämmchen vom erlöschenden Feuer des Kamins. Sobald das glühende Holz einmal knackte, fuhren wir beide zusammen. »Soll ich nicht nach Ihren Leuten klingeln?« fragte ich. Ich sehnte mich danach, andere Menschen um mich zu sehen. »Um Gottes willen, nein! Nein! Die dürfen ja nichts wissen, ich kann es doch jenen da nicht erklären, nicht sagen! Bleiben Sie sitzen.« »Dann sagen Sie mir aber endlich, was Sie eigentlich so fürchten, was Sie mit jedem Glockenschlag erwarten!« Ich wußte, ich würde aus dem Munde dieses Kranken etwas ganz Unsinniges hören, aber alles, auch das Schrecklichste war mir in diesem Augenblick lieber als diese Unsicherheit. Da begann er hastig: »Sie sollen mir helfen. Sie wissen aus okkultistischen Schriften sicher so viel, daß der Einfluß eines willensstarken Menschen, eines Skeptikers die unheilvolle Verbindung zwischen dem Medium und seinem Meister zu zerreißen vermag. Sie sind Arzt, Sie allein können dies tun, können mich von jenem erretten. Heute ist die Nacht wiedergekehrt, in der ich ihn erwarte. Heute will ich ihm mit Ihrer Hilfe entgegentreten, um ihn vollends zu vernichten. Ich wollte Ihnen nichts sagen, um Ihnen Ruhe und Unbefangenheit nicht zu nehmen, doch Sie zwingen mich zu sprechen, und ich sehe ja, auch Sie ahnen seine Nähe.« »Ja, aber um des Himmels willen, wer ist denn jener Entsetzliche, der Sie so peinigt«, fragte ich. »Lebt er in Ihrer Umgebung?« »Das kann ich Ihnen nicht beantworten, – er ist – tot, lange tot.« »Tot?« fragte ich. »Aber beim Teufel – –« »Ja, tot!« unterbrach mich Rosen. »Das weiß ich gewiß. Ein buckliger, kleiner, elender Schuft war’s. Ich lebte damals in Genf. Ich verkehrte in einem spiritistischen Klub, da war er dabei, und er lief mir nach, er drängte sich an mich, verfolgte mich förmlich, zwang mich zu allem, was er wollte, wenn er mir mit der langen, weißen Hand über den Arm strich. Sie, wissen Sie, er hat mich zum Dieb gemacht! – Sagte er mir: ›Sie werden morgen das und das tun, das und das für mich stehlen‹, dann tat ich’s, dann stahl ich, ohne zu überlegen, machtlos. Umsonst versuchte ich gegen ihn anzukämpfen. Da floh ich eines Tages fort. Ich versteckte mich vor Bekannten, Freunden, vor aller Welt, um ihm und seinem Einfluß zu entgehen. Ich nahm sogar einen andern Namen an, kaufte dies einsame Gut mitten im Wald und verließ es nicht mehr, aus Angst, ich könnte ihm draußen irgendwo begegnen. Und – ich bin ihm doch noch einmal begegnet.« Er brach ab, sprang auf, blickte sich um, durchmaß das Zimmer, die Waffe in der Rechten, blieb plötzlich horchend stehen, legte das Ohr an die Tür, suchte mit funkelnden Augen unter jedem Möbel umher und flüchtete dann endlich wieder an meine Seite, indem er sich mit der Hand über die Stirn wischte. Nun wurde mir noch unheimlicher in der Nähe des Mannes, der in seinen Wahngebilden die Rückkehr eines längst Verstorbenen fürchtete. Sagte ich mir auch, daß ich es mit einem Irrsinnigen zu tun hätte, so teilte ich doch merkwürdigerweise die Angst jenes Unglücklichen. Trotzdem zwang ich mich in gleichgültigstem Ton zu bemerken: »Ich werde Ihnen helfen. Erklären Sie mir nur, ob Sie sich wirklich vor dem Toten fürchten. Wollen Sie etwa an Spuk glauben?« »Nicht ihn selbst fürchte ich, den Toten, nur seine Hand, seine fürchterliche Hand! Den Buckligen, den schwachen Zwerg brauche ich nicht mehr zu fürchten. Aber diese Hand! Schwören Sie mir zu schweigen?« Ich nickte. »So hören Sie. Ich bin der Welt gegenüber verloren, wenn Sie etwas sagen, die Leute würden mich dann für einen Verrückten oder einen Verbrecher halten. – Aber – es ist vielleicht alles gleich. – Horchen Sie! Dort ist es schon wieder, das weiße Tier! Jetzt ist’s im Kamin, ganz bestimmt im Kamin!« Bei diesen Worten stürzte sich Rosen an den Holzkorb und warf mit fieberhafter Hast ein Kiefernscheit nach dem andern in die von neuem auflodernde Glut. Ich hörte nichts anderes als das Knacken und Prasseln des frischen Holzes und das Zischen der Flammen. Die unheimliche Geschäftigkeit des Unglücklichen steckte an. Ich half ihm, und wir warfen den ganzen Inhalt des Korbes ins Feuer, so daß die Flammen hoch aufsprühten. Jetzt hatte Rosen zum erstenmal selbst das weiße Tier erwähnt, von dem schon seine Diener gesprochen. Was mochte das sein? Wie kam es in den Vorstellungskreis seines kranken Hirnes, dies gespenstische Tier, dessen Name ihn erzittern machte, das sogar durch die Flammen zu ihm dringen wollte, und das er nun in einem Anfall von Wut zu verbrennen bemüht war. Wieder horchten wir zusammen nach irgendwelchen Lauten, gespannt wie eine Schildwache, die in der Nacht das Heranschleichen eines Feindes erwartet. Bei Gott, hätten aus dem Kamin Schreie geklungen, Heulen, Winseln eines verbrennenden Tiers, ich hätte mich nicht gewundert. »Wie das lodert! Wie das brennt!« frohlockte Rosen grimmig. »Ob es dem widerstehn kann?« Er hatte vor dem Kamin gekniet, nun stand er auf. Mit hastig hervorgestoßenen Worten, immer wieder sich unterbrechend und um sich spähend, berichtete er kurz: »Ich floh aus Genf, reiste hin und her, versteckte mich endlich hier. Mehrere Jahre vergingen, schon glaubte ich mich vom Buckligen befreit zu haben, kannte doch keiner meiner Freunde mein Versteck. Da eines Abends, es sind heute gerade siebzehn Jahre her, packt mich plötzlich eine seltsame Unruhe. Ich höre jemand kommen, die Tür öffnet sich, ich wende mich um, der Bucklige steht hinter mir. Allein, unangemeldet war er ins Zimmer gelangt. Ich ahnte vorher, daß er kommen würde, ich fühlte durch Stunden sein Nahen am magnetischen Einfluß. Seine Augen, sein triumphierendes Lachen verrieten mir, daß er mich abermals zu irgendeinem verbrecherischen Plan benutzen wollte. Darum streckte er auch wieder die Hand nach mir aus, mich von neuem in die Gewalt seines Willens zu bringen. Da springe ich auf und flüchte hinter den Tisch und stoße diesen gegen den Eindringling. Ich konnte meine Leute nicht zu Hilfe rufen, sie waren alle zufällig an jenem Abend, es war Sonntag, zum Tanz in den Krug gegangen. Der Bucklige hatte es sicher so abgepaßt, um mich mutterseelenallein anzutreffen. Das Scheusal sprang behend wie eine Katze hinter dem Tisch hervor und faßte mit seinen Affenfingern nach meinem Arm. ›Nehmen Sie sich in acht‹, schrie er, ›Sie sind mein, diesmal lasse ich Sie nicht wieder los!‹ Da reiße ich die Waffe von der Wand und haue mit aller Kraft nach dieser Hand. Der Unhold fuhr mit einem Schrei zurück. Ich hatte, ohne es zu wollen, mit einem Hiebe die Hand vom Arm getrennt. Als ich das Blut sah, die vor Wut und Schmerz verzerrte abscheuliche Fratze, da warf ich mich in jäher Verzweiflung vollends auf ihn und stieß ihm, ehe er ausweichen konnte, den Stahl in den Leib. Dann riß ich den Buckligen empor, packte ihn und warf ihn mitten in die hoch auflodernden Flammen des Kamins. Rasch häufte ich alles Holz auf den Leichnam. Ich kniete vor dem Feuer nieder und ruhte nicht eher, als bis der letzte Rest dieses fürchterlichen Menschen verbrannt war, der mich jahrelang gequält, der mich ruhelos umhergetrieben und nun – zum Mörder gemacht hatte. – Reue empfinde ich nicht über meine Tat. Ihm ist nur recht geschehen, er hatte sein Ende hundertfach verdient. Als das Feuer niedergebrannt war, sammelte ich sorgfältig alle Knochenreste, um sie in einer Kiste zu bergen und zu vernichten. Ich fand sie alle, alle, es war eine schreckliche Arbeit. Nur die rechte Hand fehlte. Ich wandte mich um, suchte im Zimmer, sie war verschwunden. Ich mußte sie also auch ins Feuer geworfen haben und hatte das vielleicht in der Aufregung dieser Minuten vergessen. Noch einmal durchsuchte ich den ganzen Kamin, jedes Aschenhäufchen, nichts! Immer nichts! Da faßte ich mich an die Stirn und meinte wahnsinnig zu werden.« Der Kranke beugte sich zu mir und starrte mir ins Auge. »Sehen Sie, jene Hand, jene furchtbare Hand ist also nicht mit verbrannt. Sie ist heimlich, geräuschlos fortgekrochen, während ich am Kamin beschäftigt war. Sie ist flüchtend in irgendeine Ecke gerannt, vielleicht dort zu jenem Fenster hinausgeklettert, denn das Fenster stand offen. Ich habe alle Möbel von der Wand gerückt, zitternd unter jeden Schrank, jeden Stuhl geleuchtet. Ich bin wie ein Irrer noch einmal auf die schauderhafte Kiste losgestürzt, die die schwarzgebrannten Knochen enthielt. Ich habe sie einzeln herausgenommen, sie alle nebeneinander gelegt, bis das ganze Gerippe vor mir auf der Diele lag. Ich wischte mir hundertmal die Augen, immer fehlte die rechte Hand. Dann die Asche des Kamins. Ich habe sie trotz der sengenden Hitze in kleinen Teilen durch meine Finger gleiten lassen, umsonst alles, umsonst. Die Hand fehlte. Wie soll ich Ihnen schildern, was ich damals ausgestanden habe? Niemand hatte den Buckligen bei mir eintreten sehn. Niemand hat sein Verschwinden bemerkt oder nach ihm geforscht. Dieser Mord blieb unentdeckt und ungesühnt. Da erfand ich ein Märchen, um es meinen Leuten wahrscheinlich zu machen, daß ich einen Spuk fürchtete und seinetwegen nicht mehr in der Nacht der Tat hier im Hause bleiben wollte. Ein Wegziehn von hier, – ich habe wohl daran gedacht, – aber was hätte es mir geholfen? Ich hätte mich verdächtig gemacht und jene Hand hätte mich doch zu finden gewußt. Meine Leute bangen vor dem weißen Tier, das keiner je gesehn hat. Auch ich, es ist lächerlich, ich habe es nicht gesehn, es ist eine Ausgeburt meiner Einbildungskraft, nicht wahr? Was soll es sonst sein, und doch fürchte ich, weiß ich, daß es einmal kommen wird. Mit Ihrer Hilfe will ich ihm heute entgegentreten, ich muß auch den letzten Rest jenes toten Unholds vernichten, der mir mein Leben zerstört hat.« »Aber«, fragte ich, »wie können Sie an einer so unmöglichen Einbildung leiden? Nehmen wir an, es hat sich wirklich alles so begeben, wie Sie’s erzählt haben, wie kann eine verschwundene Hand, die Hand eines Toten, Ihnen gefährlich werden?« Ich gestehe, daß ich mich mit solchen Worten selbst beruhigen wollte. Rosen entgegnete rasch: »Wie ich daran leiden kann? Haben Sie nicht selbst gefühlt, daß gerade diese Nacht etwas Besonderes hat? Es ist heute ganz anders, als es sonst in der Nacht zu sein pflegt, ganz anders. Oh, es gibt Nächte, in denen es hier draußen wunderbar schön und friedlich ist. Ich liebe diese Einsamkeit, diesen Wald, diese Wiesen. Aber heute, die Totenstille rings um das Haus, selbst den Bach hört man nicht plätschern wie sonst. Dieses Tappen und Tasten außen am Fenster, an den Türen, diese leisen Schrittchen vorhin. Dies Trippeln und Rascheln auf dem Gang. Sie glaubten, es seien Ratten. O nein, das ist das weiße Tier! Ich ahne, ja ich weiß, daß es heute wieder in der Nähe ist, daß es in dieser Nacht auf mich lauert, daß es ums Haus schleicht, daß es von irgendwoher plötzlich auf mich zuspringen wird!« Der Kranke sank im Stuhl zusammen, wie erdrückt von der Erinnerung an seine grausige Tat. Er sprach nicht mehr, stützte die beiden Hände auf den Säbel, den er vor sich hielt, und seine Augen suchten im Zimmer umher. In der Stille glaubte ich das Klopfen unsrer Herzen zu hören. Wir horchten und warteten. Ich wagte nicht nach der glühenden Öffnung des Kamins zu blicken, in der Furcht, den toten Buckligen darin zu sehn. Die Uhr schlug langsam elf Schläge. Rosen zählte sie einzeln nach. »Elf Uhr. Hören Sie, es ist elf Uhr!« schrie er und sprang empor. »Wie damals elf Uhr! Jetzt muß es kommen!« Der Unglückliche begann im Zimmer auf und ab zu rennen, den blitzenden Stahl in der geballten Faust schwingend und dabei von neuem angstvoll auf den Boden, unter die Möbel, in alle Ecken spähend. Plötzlich blieb er mitten im Zimmer stehn, den Oberkörper weit vorgebeugt, wie ein Fechter, alle Muskeln am Körper gestrafft, den Blick fest auf die Tür gerichtet. Schweiß perlte in Tropfen auf seiner Stirn. Auch ich war aufgesprungen. Der Wahnsinnige mit der geschwungenen Waffe flößte mir aber jetzt weniger Grauen ein als ein Geräusch, das immer deutlicher wurde und sich auf den Holzdielen des Hausflurs hören ließ. Man näherte sich der Tür. Aber das waren weder die ruhigen Schritte eines Menschen noch die eines Tieres, es schien mir das Kratzen von Fingernägeln zu sein. Ich fühlte, wie es mich vom Kopf bis zu den Füßen kalt überlief. Umsonst sah ich mich nach einer Waffe um, obgleich ich wußte, daß sie mir nichts helfen würde. Im nächsten Augenblick mußte es hereinkommen, sich auf uns stürzen, dies gespenstische, weiße Tier. Ich rief laut, wiederholt schrie ich: »Es ist nichts! Es ist bestimmt nichts, bleiben Sie um Gottes willen ruhig!« Aber so sehr ich mir auch selbst immer wieder einreden wollte, daß es nichts anderes sei als der nächtliche Traum eines Fieberkranken. Es wollte mir nicht gelingen. »Es kommt!« keuchte Rosen. Seine in sinnloser Furcht erweiterten Augen folgten einem unsichtbaren Wesen, das sich ihm auf der Diele kriechend nähern mußte, denn sie waren mit schauerlichem Entsetzen nach dem Boden gerichtet. Langsam hob er die bewaffnete Hand, hoch über seinem Haupt zum Hieb ausholend, seine Brust atmete schwer, seine grauen Haare sträubten sich. Ich wußte, da war etwas. Hörte ich’s doch über den Boden näherkommen, scharrende Fingernägel. Doch ich sah nichts, so sehr ich meine Blicke anstrengte. Aber ich fühlte, oh, ich fühlte es deutlich, daß wir beide nicht mehr allein im Zimmer waren. Diese Augenblicke vergesse ich nie mehr in meinem Leben. Das Grausen schüttelte mich. Ich mußte mich am Tisch festhalten, mir versagte der Atem. Ich war nahe daran, umzusinken, meine Sinne waren angespannt, gleich einer Bogensehne, die zu reißen droht. Plötzlich fuhr die Waffe Rosens wie ein Blitz herab, aber schon im nächsten Augenblick stieß er einen gellenden, gräßlichen Schrei aus, taumelte rückwärts, als sei ihm etwas gegen die Brust gesprungen, und stürzte zu Boden. Seine Finger ließen den Säbel los, mit beiden Händen faßte er in die Luft nach irgend etwas, das auf seiner Brust zu hocken schien. Er zerrte und riß an einem unsichtbaren Gegner, sein Schreien ging rasch in Röcheln über. Ich war nicht imstande, mich zu bewegen, meine Glieder waren wie mit Blei ausgegossen. Ich sah diesen fürchterlichen Kampf an, ohne retten oder auch nur helfen zu können. Nach einigen Sekunden fielen Rosens Arme schlaff längs dem Körper herab. Bald war alles ruhig. Er bewegte sich nicht mehr. Da beugte ich mich über ihn. Seine Augen waren weit aus ihren Höhlen getreten und verglast, der Mund war geöffnet, wie bei einem Erstickten. Nun ermannte ich mich, mehr und mehr schwand das bedrückende Gefühl der Abhängigkeit von einer außer mir liegenden, stärkeren Kraft. Ich rannte an die Klingel und stemmte mich mit aller Gewalt gegen die verschlossene Tür. Auch von außen half jemand. Sie sprang auf, der alte Diener stürzte herbei. Er half mir den Regungslosen aufheben und nach dem Bett tragen, auf das wir ihn niederlegten. Rosen war tot. Der untröstliche Diener versicherte immer wieder, daß sein Herr niemals krank gewesen sei, niemals über irgendwelche Schmerzen geklagt hätte. Auch die anderen Dienstboten liefen zusammen. Ich erzählte ihnen, was sich zugetragen, sie standen gleich mir vor einem Rätsel. Wir öffneten alle Fenster, die dumpfe und heiße Luft des Zimmers weichen zu lassen. Die Leute sahen auf mich mit entsetzten Mienen. Sie behaupteten später, ich hätte im Gesicht schlohweiß ausgesehen wie eine Kalkwand. Ich zog mich in ein Nebenzimmer zurück und verließ die jammernde und schwatzende Dienerschaft, mir noch einmal das Erlebnis in allen seinen Einzelheiten zu vergegenwärtigen und eine Erklärung zu finden. Noch niemals hatte ich einen ganz gesunden Menschen in so rätselhafter Weise enden sehn. Es vergingen mehrere Stunden, der Tag war angebrochen, in den Räumen, die nachts einen so unheimlichen Eindruck gemacht, webte helles, freundliches Licht. Da öffnete sich die Tür nach meinem Zimmer, der alte Diener rannte herein und stieß zitternd die Worte hervor: »Ich bitte Sie, Herr Doktor, kommen Sie herüber! Sehen Sie, was geschehen ist.« Ich folgte dem Alten nach Rosens Schlafgemach. Wir traten an das Bett. Auf dem Halse des Unglücklichen zeigte sich deutlich die Gestalt einer großen, mageren, eng um die Kehle des Toten gekrallten Hand. Das geheimnisvolle Telegramm von Anonymus Der englische Autor dieses Geheimnisvollen Telegramms‹ ist unbekannt; es wäre indes schade, wenn seine kleine Gespenstergeschichte dasselbe Schicksal ereilte. Es ist nämlich eine Geschichte für all jene Leser, die sich für völlig normal halten und da meinen, sie könnten über Geister, Spiritismus und dergleichen ganz und gar nicht normale Erscheinungen lachen … Dem Telegrafisten Davison, unserem glaubwürdigen Berichterstatter, ist jedenfalls das Lachen vergangen. —————————— Gegenüber der Westfront des Hauptpostamtes in London steht ein kleines Haus, in dem die Beamten des Telegrafenbüros einmal wöchentlich ihren Klubabend abhielten. An einem solchen Abend war es, als uns unser alter Kollege, der Telegrafist Davison, eine seltsame Begebenheit aus seinem Leben mitteilte. Doch ich will ihn selbst erzählen lassen … Wie ihr wißt, begann er, bin ich seit dreizehn Jahren Telegrafist. Ich bin kein nervöser oder überspannter Mensch. Im Gegenteil: ich habe stets gelacht über Geistergeschichten, Spiritismus, Erscheinungen und dergleichen, und diejenigen, die daran wirklich glauben, als geistig nicht normal bedauert. Diese Meinung hielt ich aufrecht, bis ich selbst etwas erlebte, das über die Grenzen des Natürlichen ging. Meine Dienstzeit in dem Londoner Büro, in dem ich seit vier Jahren angestellt war, begann abends 7 ½ Uhr und dauerte bis 2 ½ Uhr nachts. Eines Abends fühlte ich mich nicht ganz wohl und erbat mir daher die Erlaubnis, etwas früher nach Hause gehen zu dürfen. Kurz vor meinem Fortgehen hatte ich noch ein Telegramm auszufertigen. Es war an einen in Whitechapel wohnenden Mann adressiert, enthielt nur die Worte ›Sieh Dich vor‹, und war unterzeichnet mit ›H‹. Ich beförderte das Telegramm, übergab meinen Dienst einem Kollegen und ging heim. Bevor ich mich schlafen legte, trat ich zufällig noch einmal auf den Korridor hinaus und bemerkte, daß im Badezimmer, dessen Tür halb offen stand, Licht brannte. Dies kam mir sonderbar vor; denn es war niemand im Zimmer, und ich selbst hatte das Licht nicht angezündet. Ich ging hinein, um die Lampe auszulöschen. Da sah ich, daß der eine Wasserhahn nicht vollständig geschlossen war; in bestimmten Zwischenräumen fielen Tropfen auf den Boden der Badewanne. Das Geräusch, das sie hervorriefen, irritierte mich. Aufhorchend blieb ich stehen. Wahrhaftig, die Tropfen schienen mir in einer seltsam unregelmäßigen Weise zu fallen. Aufmerksam lauschte ich und sagte dann beinahe mechanisch zu mir selbst: »Das klingt ja wie ein Telegramm!« Tropp-tropp, tropp-tropp-tropp … es war tatsächlich ein Telegramm! Deutlich hörte ich, wie verschiedene Male wiederholt wurde: ›Sieh Dich vor!‹, und dann folgte nach einer kurzen Pause das Zeichen ›H‹. Ich traute meinen Ohren nicht: es war das Telegramm, das ich zuletzt expediert hatte. Verblüfft setzte ich mich auf den Rand der Badewanne, lauschte, beobachtete den Wasserhahn, aber – kein Zweifel, es war das Telegramm: ›Sieh Dich vor!‹ Im höchsten Grade erstaunt, ging ich zu einem Kollegen, der eine Etage unter mir wohnte, und bat ihn, zu mir heraufzukommen. Auch er sollte sich von der eigentümlichen Erscheinung überzeugen. Es war inzwischen spät geworden, und der Kollege hatte sich schon zu Bett begeben. Er war über die Störung nicht gerade erfreut, erklärte sich jedoch schließlich bereit, mir zu folgen. Von dem Telegramm erzählte ich ihm nichts. Ich wollte sehen, ob auch er es hören würde. Er lauschte und sagte dann erstaunt: »Das ist ja ein Telegramm! ›Sieh Dich vor!‹, unterzeichnet ›H‹.« Ich sagte ihm, daß auch ich es so höre. Wir horchten und beobachteten dann noch eine Weile. Erklären konnte auch er sich die Sache nicht. Schließlich verließ er mich und ging wieder auf sein Zimmer, nicht ohne vorher noch weidlich über die Geschichte gelacht und sie für Unsinn erklärt zu haben. Dann ging auch ich auf mein Zimmer und setzte mich an den Tisch, um noch über die Sache nachzudenken; zum Schlafen war ich doch zu aufgeregt. Endlich erhob ich mich, ging zum Waschtisch, um mich auszukleiden, und sah, noch immer über das Telegramm nachdenkend, in den Spiegel. Ich war starr! Auf dem Platz, den ich eben noch eingenommen hatte, saß ein Mann und schrieb! Das Blut stockte mir in den Adern. Es war mir unmöglich, mich umzuwenden und der Erscheinung direkt ins Angesicht zu sehen. Meine Augen waren wie gebannt an das Bild im Spiegel! Es war ein großer, schlanker Mann. Sein Gesicht war farblos, weiß wie Kalk, und unter den Augen sah ich große, dunkle Ringe. Ein ähnliches Gesicht hatte ich einst in der Morgue, der Pariser Leichenhalle, gesehen. Der grünliche Schatten unter den Augen jenes Toten hatte genau dieselbe Farbe wie die dunklen Ringe unter den Augen dieses Mannes. Ich beobachtete seine Hand – sie malte ein großes ›S‹. Dann kam ein ›i‹, ein ›e‹ und ›h‹. Dann schrieb sie ein großes ›D‹ und so fort. – »Sieh Dich vor!‹ Ich wußte genau, wie der nächste Buchstabe lauten würde – es war ein ›H‹. Der Mann stand auf. Von meiner Anwesenheit schien er nichts zu wissen. Er sah weder nach mir, noch wendete er überhaupt sein Gesicht. Lautlos ging er durch die offene Tür hinaus auf den Korridor. Ich stand und sah in den Spiegel, nicht imstande, mich zu bewegen. Jeden Augenblick erwartete ich die Rückkehr der Erscheinung aus dem Dunkel des Korridors. Aber sie kam nicht zurück, und ich fand schließlich den Mut, an den Tisch zu treten, um zu sehen, was dort geschrieben stand. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich nicht ein einziges Wort fand. Ich ging zur Tür, schloß sie leise und nahm Platz. Hatte ich geträumt? Was war eigentlich geschehen? Wie lange ich in dieser Verfassung gesessen habe, weiß ich nicht; aber plötzlich hörte ich das lustige Zwitschern der Vögel aus dem nahen Garten zu mir dringen. An Schlaf war bei meinem aufgeregten Zustand nicht zu denken. Mein Kopf glühte fieberhaft, ich ging deshalb an das Fenster, um die kühle Morgenluft zu atmen. Eine Zeitlang sah ich hinunter in die Straßen, die um diese Zeit gänzlich vereinsamt lagen. Da, wie aus der Erde auftauchend, erschien auf dem Gehsteig drüben plötzlich ein Mann. Er verursachte nicht das geringste Geräusch; geisterhaft schien er über das Pflaster dahinzuschweben. Als er sich meinem Fenster gegenüber befand, blieb er stehen. Er drehte mir anfangs den Rücken zu; plötzlich aber wandte er sich zu mir um und sah mir ins Gesicht. Unsere Blicke trafen sich. Ein angstvoller Ausdruck war in seinen Zügen, und er zeigte mit dem Arm nach Osten. Es war der Fremde, der mich in der Nacht besucht hatte! Bestürzt von all diesem Geheimnisvollen lehnte ich mich weit aus dem Fenster und rief den Fremden, als er sich zum Gehen wandte, mit lauter Stimme an. Ob er mich nicht hörte oder nicht hören wollte, – ich weiß es nicht. Jedenfalls beachtete er weder mein Rufen, noch blickte er sich um; ich bemerkte nur noch, daß er um die nächste Straßenecke verschwand. So rasch ich konnte, lief ich die Treppe hinunter und auf die Straße, um ihm zu folgen. Ich erreichte die Ecke, um die er gegangen war, noch bevor er bei der nächsten Ecke angelangt sein konnte. Aber keine Spur mehr von ihm war zu sehen. Auch wenn er gelaufen wäre, hätte er mir nicht so schnell aus den Augen kommen können. Nach Hause zu gehn und zu ruhen, hatte keinen Sinn. Unwillkürlich schlug ich die Richtung nach meinem Büro ein. Als ich dort ankam, war natürlich jeder erstaunt, mich zu sehen. Ich erklärte, ich sei nervös und könne nicht schlafen, suchte aus den Telegrammfächern die Abschrift des Telegramms heraus, das mit ›H‹ gezeichnet war, und fand auch die Adresse. Ich notierte sie mir in der Absicht, den Adressaten aufzusuchen. Obgleich ich mir sagte, daß es aufdringlich und unberechtigt von mir sein würde, dem Empfänger des Telegramms irgend welche Fragen zu stellen, wollte ich hin. Ich ging dann schnell durch die Straßen, in der etwas bangen Erwartung, den Mann, der mich zweimal in wenigen Stunden wie ein Gespenst genarrt hatte, wiederzusehen. Vor dem bezeichneten Hause stieß ich auf eine große Menschenmenge. Ich versuchte mich durchzudrängen, wurde aber angehalten und mit Fragen bestürmt; man hielt mich für einen Detektiv. Erst nach meiner gegenteiligen Versicherung ließ man mich los, und es gelang mir, durch den Haufen der aufgeregten Leute hindurchzukommen. Ich fragte einen an der Tür postierten Schutzmann, den ich kannte, was denn passiert sei. »Ein schrecklicher Mord ist in diesem Hause verübt worden«, antwortete er. »Wenn Sie wollen, können Sie hineingehen.« Ich ging hinein und wurde von einem zweiten Schutzmann in ein kleines Zimmer geführt. Es war ein schrecklicher Anblick, der sich mir bot. Der Körper eines Mannes lag auf dem Boden in einer Blutlache. Blut überall – und neben dem Körper eine Axt. Ich mußte mich mit Gewalt abwenden; etwas in den Zügen des Mannes aber zog meine Blicke immer wieder an. Dieses Gesicht hatte ich schon einmal gesehen; doch konnte ich mir über die Persönlichkeit, der es gehörte, nicht klar werden. Der Beamte durchsuchte die Taschen des Toten nach etwaigen Papieren. In seiner Westentasche fand er ein Telegramm. Er entfaltete es und las: »Sieh Dich vor! H.« Es war das Telegramm, das ich zuletzt expediert hatte. Ganz verstört von dem Erlebten ging ich hinaus, nahm eine Droschke und fuhr nach dem Amt, wo ich die Geschichte einem Kollegen erzählte. Der sah mich nur zweiflerisch an; er schien zu glauben, mein Gehirn habe wohl etwas gelitten. Sechs Monate waren vergangen, und der Mörder war noch nicht ergriffen. Alle Recherchen der Polizei waren ergebnislos geblieben. Es gab auch nicht einen einzigen Anhaltspunkt, wo die Ermittlungen hätten einsetzen können. Aber die Erscheinung, die ich in jener Nacht gehabt hatte, kam mir nicht aus dem Sinn. Eines Abends, als ich wie gewöhnlich an meinem Schalter saß, betrat ein großer, kräftig gebauter Mann das Büro, ging zu dem Pult am Fenster, nahm ein Telegrammformular und begann zu schreiben. Als es fertig war, kam er auf meinen Schalter zu, um das Telegramm bei mir aufzugeben. Ich sah ihm ins Gesicht; es war die Erscheinung aus jener Nacht! Und doch, dieser Mann sah anders aus. Sein Gesicht war fleischiger, seine Stirn niedriger; es hatte einen Ausdruck des Brutalen, Rohen. Und auch die dunklen Ringe unter den Augen fehlten. So ruhig wie möglich nahm ich das Telegramm entgegen. Grad als ich die Worte zählte, kam einer meiner Mitarbeiter herein. Ich ging zu ihm und sagte zu ihm, so leise es meine Erregung zuließ, dieser Mann sei der Mörder von Whitechapel, wir müßten ihn verhaften lassen. Der Mann sah uns beobachtend von der Seite an. Sobald wir dies bemerkten, hielten wir mit Sprechen inne. Ich ging zum Schalter zurück. Während ich so langsam wie möglich die Sendung fertig machte, verließ mein Kollege das Büro, um einen Schutzmann herbeizuholen. Um Zeit zu gewinnen, versuchte ich meinen Partner in eine Unterhaltung zu verstricken; aber das Sprechen behagte ihm nicht. Als er bezahlt hatte, wandte er sich zum Gehen. Es war nun für mich höchste Zeit, zu handeln. Ich berührte seinen Arm und sagte: »Entschuldigen Sie …« Es war der schlechteste Gedanke, der mir kommen konnte; denn der Fremde durchschaute meine Absicht sofort. Mit einem Fluch warf er sich auf mich und packte mich blitzschnell bei der Kehle. »Du Schuft, du willst mich fangen!« zischte er. Er preßte seinen Daumen tief in meinen Hals und drückte mir so die Luft ab. Mir schwanden die Sinne. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem Hospitalzimmer. Man erzählte mir, der Fremde hätte mich beinahe getötet, aber zur rechten Zeit seien die Schutzleute erschienen und hätten mich befreit. Vor dem Untersuchungsrichter bekannte der Gefangene, daß er der Mörder von Whitechapelhouse sei. Später wurde er zum Tode verurteilt. Der Mörder hatte einen Bekannten in Louth, namens Anthony Usina. Er verlor einst gegen diesen im Spiel eine größere Summe. Durch den Verlust und durch reichlich genossenen Alkohol erregt, fing er mit ihm Händel an, die jedoch zu seinen Ungunsten ausfielen. Er schwor seinem Freunde Rache; und als Usina nach London ging, folgte er ihm. Des Mörders Bruder, ein in Louth hochangesehener Mann, der seine Absicht erriet, bemühte sich vergebens, ihn zurückzuhalten. Er wollte nicht indirekt den Tod eines Menschen verschulden; und deshalb schickte er das Telegramm an Usina, um ihn zu warnen. Einige Stunden später erlag er plötzlich einem Schlaganfall. Dieser plötzliche Tod ist meiner Ansicht nach die unmittelbare Ursache der Erscheinung und des eigentümlichen Tröpfelns gewesen. Die Gedanken des Mannes hatten sich unausgesetzt mit der Verhinderung des geplanten Verbrechens beschäftigt. Sein Tod aber machte es ihm unmöglich, dem Morde vorzubeugen. Der Körper war tot, der Geist jedoch lebte weiter und versuchte, aller irdischen Fesseln ledig, mich als den einzigen, der von dem Telegramm wußte, zu bewegen, den Ermordeten zu warnen. Ich kam zu spät. Doch wenn ich auch nicht das unglückliche Opfer vor dem Tode bewahren konnte, so wurde ich doch in jener Nacht zum Werkzeug des Schicksals, das den Mörder ereilte, als er sich am sichersten fühlte. Der geraubte Arm von Vilhelm Bergsöe Die ›Gespensternovellen‹ des dänischen Zoologen und Schriftstellers Vilhelm Bergsöe (1835-1911) erschienen in der Übersetzung Adolf Strodtmanns 1873 in Berlin, ein Jahr nach der dänischen Erstausgabe. Sie machten den Namen dieses in seiner Heimat vielgelesenen Autors auch in Deutschland bekannt. Eine Reihe seiner Erzählungen und Romane spielt in Italien, wo Bergsöe lange Zeit lebte. ›Der geraubte Arm‹ ist eine seiner besten Gespensternovellen, die sich durch eine spannende Handlung, den Reichtum an interessanten Charakteren aus dem Studentenmilieu und durch effektvoll wechselnde, abenteuerliche und schaurige Szenen auszeichnen. —————————— Es war Weihnachtsabend. Draußen auf den Feldern lag der Schnee dick und dicht in sanften Wellenlinien über der Erde; er hing wie Silbertuch auf den schwarzen Dornhecken, von welchen dann und wann ein aus seiner Nachtruhe emporgescheuchter Vogel aufflog, – emporgescheucht durch das Schellengeläut eines Schlittens, der sich in rascher Fahrt dem Pfarrhause näherte, dessen Fenster am Ende der Dorfstraße blinkten. Im Pfarrhause war alles voll stiller Erwartung. Die Jugend war in der großen Gartenstube versammelt, man hatte um den Weihnachtsbaum getanzt, man hatte ihn geplündert und die Lichter ausgelöscht, man hatte Vetter Jakobs sinnreichen Einfall bewundert, einen Kiefernzweig statt des Mistelzweiges unter der Decke anzubringen, und man würde schon längst zu Tisch gegangen sein, wenn sich nicht das seltsame, aber unbestreitbare Faktum ereignet hätte, daß Doktor Siemsen noch nicht eingetroffen war. Das war mehr als seltsam, – denn im Pfarrhause gehörte Doktor Siemsen mit zum Weihnachtsabend und war ein ebenso notwendiger Teil desselben wie der Weihnachtsbaum, die Pfeffernüsse, Apfelkuchen und der Punsch. Unzählig waren daher die Vermutungen über den Grund seines Ausbleibens, in denen man sich erging, und Vetter Jakob stand schon im Begriff, einen längeren Erklärungsvortrag zu halten, als man draußen auf dem Hofe dasselbe Schellengeläute vernahm, welches die einzelnen Vögel an der Landstraße aufgescheucht hatte. Es war ein possierliches Fuhrwerk, das in diesem Augenblicke auf dem Pfarrhof einschwenkte und vor der ehrwürdigen alten Steintreppe still hielt. Zuerst ein gelber norwegischer Kiepper, der mißvergnügt den Kopf mit dem Schellengeläut und der roten Hörnerzier schüttelte; sodann etwas, das wie ein hochlehniger, altmodischer Sessel aussah, oben mit einem ledernen Kutschverdeck und unten mit einem riesigen Fußsack, – das alles auf ein Schlittengestell gesetzt, welches zum Überflüsse noch eine Art von Komptoirbock trug, der als Sitz für den Kutscher bestimmt zu sein schien, wenn ein solcher vonnöten war. Für die Bewohner des Pfarrhauses schien jedoch dies Gefährt nichts Neues oder Ungewöhnliches zu sein. Der Pfarrer knöpfte selbst den Fußsack auf, legte das Verdeck zurück und zog unter herzlichen Willkommsgrüßen einen kleinen Mann von dem hochlehnigen Sessel herab, während die Jugend auf der Steintreppe mit lauter Stimme den Refrain des alten Liedes intonierte: »Hurra, der Herr Doktor ist da!« Es war wirklich Doktor Siemsen, der lang erwartete Gast, welcher sich jetzt der Versammlung als einen kleinen behäbigen, rotbäckigen Mann mit einem klugen Gesicht und einem ehrwürdigen schwarzen Samtkäppchen zu erkennen gab, wohlgemerkt nachdem er sich auf der Vordiele der verschiedenen Umhüllungen von Seehundsfell-Mütze, Schafspelz und Pelzstiefeln entledigt hatte, die ihm auf den ersten Blick das Aussehen eines Eskimos oder Nordpolfahrers verliehen hatten. Es war leicht zu sehen, daß Doktor Siemsen ein alter Bekannter des Hauses war, und daß er wenigstens heute abend nicht wegen eines Krankheits- oder Sterbefalles herkam, so umjubelten ihn die Kinder, während sie ihn im Triumph in das Speisezimmer zogen, wo er unter einer wohlgesetzten Rede Vetter Jakobs am Hauptende des Tisches neben dem Pfarrer Platz nehmen mußte. Die Mahlzeit war vorüber, Vetter Jakob hatte mehrmals Zeit gefunden, die Bedeutung des Kiefernzweiges zu erklären und von seiner Reise nach England zu erzählen, Doktor Siemsen hatte praktisch bewiesen, daß derselbe sich auch wirklich wie der beste Mistelzweig benutzen ließ, als der Pfarrer plötzlich fragte: »Nun, Siemsen, was geben Sie uns denn am heutigen Weihnachtsabend zum Besten? Haben Sie die Geschichte mitgebracht?« »Ja, die Geschichte, die Geschichte, liebster Doktor Siemsen!« schrien die Kinder durcheinander. »Sie müssen uns Ihre Geschichte erzählen!« »Die Geschichte?« wiederholte Doktor Siemsen mit so verwunderter Miene, als sei diese Zumutung etwas ganz Neues für ihn. »Jawohl, machen Sie kein so unschuldiges Gesicht«, sagte der Pfarrer. »Seit fünfzehn Jahren haben Sie uns jeden Weihnachtsabend eine Geschichte erzählt, da müßte es doch wunderlich zugehen, wenn Sie heut abend keine in petto hätten.« »Man sagt, Sie ersännen dieselben, wenn Sie auf die Praxis fahren«, schaltete Jakob ein. »Sie sind ja der größte Märchendichter der Gegend. Sie müssen uns wirklich eine Geschichte erzählen; denn als ich in England war …« »Sei’s denn!« unterbrach ihn Doktor Siemsen mit einem feinen ironischen Lächeln, das Vetter Jakob nicht bemerkte. »Was wünschen Sie?« »Eine rechte Weihnachtsgeschichte«, rief Vetter Jakob, »etwas Romantisches, etwas Dämonisches á la Dickens.« »Ja, eine Spukgeschichte!« stimmte der älteste Pfarrersknabe ein. »Dann blasen wir die Lichter aus und schrauben die Lampe nieder, und dann schreit Karoline, wenn das Gespenst kommt.« »Wie abscheulich du bist, Fritz!« schmollte Karoline und ward blutrot. »Das hab’ ich nur einmal getan, und das sind über fünf Jahre her. Jetzt will ich gerade eine Spukgeschichte haben.« »Ach nein, nein, bester Doktor Siemsen!« rief eine der Freundinnen aus der Stadt. »Erzählen Sie lieber etwas Spaßhaftes aus Ihrer Jugendzeit, etwas aus dem Studentenleben, das verstehen Sie so prächtig.« »Lassen Sie ein wenig Moral darin enthalten sein«, bemerkte der Pfarrer, welcher eifrig damit beschäftigt war, eine Pfeife für seinen alten Freund zu stopfen und ein Glas Punsch zu bereiten, das er auf den kleinen Tisch neben dem Lehnsessel stellte. »Wohlan«, sagte der Doktor mit einem schelmischen Lächeln, »ich will versuchen, das Verlangen aller Teile zu befriedigen, obschon mir das schwer genug fallen mag. Ich sprach unterwegs bei Peter Nielsen vor, welcher vergangenes Jahr überfahren wurde und den rechten Arm brach. Das erinnerte mich an eine kleine Geschichte aus meiner ersten Studentenzeit, und auf der Fahrt hierher hab’ ich über die Form nachgedacht, welche man ihr geben könnte. Wollen Sie sie hören?« Der Pfarrer nickte, die Kinder hatten schon ihre Stühle näher zu dem jovialen Doktor herangerückt, welcher, nachdem er von dem Punsch genippt und seine Pfeife angezündet, folgendermaßen begann: »Es war in meinen jungen Tagen, das heißt«, fügte Doktor Siemsen lächelnd hinzu, »ich zählte achtzehn bis neunzehn Jahre, als Sölling mein Repetent in der Anatomie war. Dieser Sölling war ein trefflicher Bursche, stets voller Spaße und scherzhafter Einfälle und immer gleich lustig aufgelegt, ob er nun am Seziertische oder bei einer Bowle im alten Akademikum saß. Er hatte nur einen Fehler, wenn man das überhaupt einen Fehler nennen kann, nämlich seinen übertriebenen Anspruch auf Pünktlichkeit. Kam man nur einige Minuten zu spät, gleich brummte Sölling und wurde an dem Abend nicht wieder freundlich gestimmt; er selbst kam niemals zu spät, wenigstens nicht in unserem Kreise. An einem Mittwochabend sollte die kleine Schar sich, wie gewöhnlich, präzise um sieben Uhr bei mir in der Regenz[2 - Die Regenz ist ein altertümliches Gebäude unweit der Kopenhagener Universität, in welchem eine Anzahl ärmerer Studenten freie Wohnung erhält.Anm. des Übersetzers.] versammeln. Ich hatte zu diesem Zwecke die gewöhnlichen großartigen Vorbereitungen getroffen; ich hatte ein paar Stühle zu den meinigen geliehen; ich hatte alle meine Pfeifen gestopft und hatte Hans dazu bewogen, das Frühstücksgeschirr vom Sofa zu entfernen, wohin er es regelmäßig stellte, statt es auf den Korridor hinauszutragen. Allmählich versammelte sich die Gesellschaft, die Uhr schlug sieben, aber zu unserer großen Verwunderung sahen und hörten wir nichts von Sölling. Die Uhr wies zwei, drei, ja fünf Minuten nach sieben, ehe wir Sölling die Treppe heraufkommen und in gewohnter Weise mit kurzen Schlägen an die Tür klopfen hörten. Als er eintrat, sah er so ärgerlich und gleichzeitig so verstört aus, daß ich unwillkürlich ausrief: »Was ist Ihnen, Sölling? Man hat Sie doch nicht bestohlen?« »Allerdings hat man das«, erwiderte Sölling verdrießlich; »und es ist kein gewöhnlicher Dieb gewesen«, fügte er hinzu, indem er seinen Oberrock an den Türnagel hängte. »Was ist Ihnen denn fortgekommen?« fragte mein Schlafkamerad Nansen. »Beide Arme meines Skeletts, das ich gerade vom allgemeinen Hospital erhalten hatte«, sagte Sölling mit einer Miene, als hätte man ihm seinen letzten Pfennig gestohlen. »Es ist reiner Vandalismus!« Wir andern brachen in ein Gelächter über einen so absonderlichen Diebstahl aus, aber Sölling fuhr fort: »Kann jemand von euch das begreifen? Beide Arme futsch, gerade im Schultergelenk abgeschnitten, und, was das Seltsamste ist, dasselbe war bei meinem alten, räucherigen Skelett der Fall, welches drinnen in meiner Schlafstube stand – nicht mehr Arme, als hier auf meiner flachen Hand!« »Das ist schlimm«, bemerkte ich; »wir sollten ja heute abend gerade die Anatomie des Armes durchnehmen.« »Osteologie!« verbesserte Sölling ernsthaft. »Hole dein Skelett hervor, kleiner Siemsen! Es ist nicht so gut wie meins, aber wir können uns immerhin für heute damit behelfen. Ich schritt nach der Fensterecke, wo ich hinter einem einfachen grünen Shirting-Vorhang meine anatomischen Schätze – ›das Museum‹, wie Sölling es nannte – verbarg. Aber wer schildert meine Verblüfftheit, ja, meinen Schreck, als ich zwar mein Skelett auf seinem alten Platze und, wie gewöhnlich, mit der Studentenuniform, Tschako, Säbel und Patronentasche geschmückt fand, aber – ohne Arme. »Zum Henker!« schrie Sölling, »Das ist derselbe Dieb, der bei mir gewesen ist; die Arme sind ganz auf dieselbe Weise vom Schulterblatte gelöst, wie in meiner Wohnung. Das hast du selbst getan, kleiner Siemsen!« Ich beteuerte meine vollkommene Unschuld, während ich mich gleichzeitig über die Mißhandlung meines schönen Skeletts ärgerte; aber Nansen rief: »Wartet einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten schoß er in sein Zimmer, kehrte aber fast in demselben Augenblick blaß und verlegen zurück. Das Skelett war noch dagewesen, aber die Arme waren verschwunden, gestohlen, und die Schulterbänder ganz auf dieselbe Art wie bei dem meinen zerschnitten. Die Sache, welche an und für sich rätselhaft war, begann jetzt unheimlich zu werden. Vergebens zerbrachen wir uns die Köpfe mit Vermutungen und Erklärungen; wir kamen dadurch nicht weiter und sandten zuletzt jemanden nach der anderen Seite des Korridors, wo der junge Student Ravn wohnte, der, wie ich wußte, von dem Portier des allgemeinen Hospitals gestern ein Skelett erhalten hatte. Hier zeigte sich indes eine neue Schwierigkeit; Ravn war ausgegangen und hatte den Schlüssel mitgenommen. Hans konnte die Tür nicht aufmachen, obschon sie sonst willig genug war, und ein Bote, den wir nach dem Korridor der Isländer hinüber schickten, kam mit dem Bescheide zurück, daß Bjövulf Skafteson seinen Stubengenossen Einar Skallefanger mit dem einzigen dort vorhandenen Skelette solchermaßen ›verarbeitet‹ habe, daß nur noch ein Paar zerbrochene Hüftknochen übrig geblieben. Hier war guter Rat teuer. Keiner von uns begriff den Zusammenhang. Sölling schalt und fluchte abwechselnd, und die Gesellschaft stand im Begriff aufzubrechen, als wir plötzlich jemand die Treppe heraufpoltern hörten. Gleich darauf ward die Tür aufgerissen, und herein trat eine seltsam hohe und dürre Gestalt. Es war Niels Daae, ein ältlicher Student, den wir damals alle sehr gut kannten. Er war ein schnurriger Gesell, dieser Niels Daae, der echte Typus einer Rasse, die jetzt fast ausgestorben ist, die aber zu meiner Zeit nicht so selten war. Er hatte durch ein seltsames Spiel der Verhältnisse, wie er es selbst nannte, fast alle Fakultäten durchgemacht und konnte Zeugnisse vorlegen, daß er nahe daran gewesen war, nicht nur ein, sondern drei ganze Examina zu bestehen. Er hatte als Theologe begonnen, aber die Erklärung des Erbschaftsverhältnisses zwischen Jakob und Esau hatte ihn zur Jurisprudenz hingeführt. Als Jurist war er durch einen interessanten Giftmischerfall zu der Erkenntnis gelangt, daß das medizinische Studium ein höchst notwendiges Nebenfach sei, das keinesfalls vernachlässigt werden dürfe, und er hatte sich deshalb mit solchem Eifer auf dasselbe geworfen, daß er das Jus vergessen hatte und der Erwartung leben durfte, mit vierzig Jahren sein Examen zu bestehen und im gesetzten Alter eines Fünfzigers Praxis zu bekommen. Niels Daae nahm die Sache, welche wir diskutierten, sehr ernsthaft. »Jeder Topf«, sagte er, »hat zwei Henkel, jede Wurst zwei Zipfel, jede Sache zwei Seiten, ausgenommen die vorliegende, welche drei hat. (Beifall.) Vom juristischen Standpunkte betrachtet, fällt sie unzweifelhaft unter die Kategorie Diebstahl, oder vielmehr Einbruch, oder vielmehr noch richtiger Einbruchsdiebstahl. Indes kann die Sache eine Kollision von Begriffen und dadurch eine Begriffsverwirrung hervorrufen, was uns zur medizinischen Seite der Sache hinführt, welche deutlich ergibt, daß der Dieb in geistig unzurechnungsfähigem Zustande gehandelt hat, sintemal er nur Arme stahl, wo er ebensogut ganze Skelette hätte nehmen können. Ist er also von juridischem Standpunkte wegen Diebstahls oder zum mindesten wegen ungesetzlicher Aneignung fremden Eigentums zu verurteilen, so muß ich ihn von medizinischem Standpunkte aus freisprechen, weil er in unzurechnungsfähigen Zustande war. Hier geraten also zwei Fakultäten, rein fachmäßig betrachtet, in Streit miteinander, und das Recht ist unentschieden. – Aber jetzt«, fuhr Niels Daae fort, »vermittle ich die Streitsache vom theologischen Standpunkt zu einer höheren Einheit, welche auf das Universelle hinweist. Die Vorsehung hat nämlich in Gestalt eines Gönners in Jütland, dessen Kindern ich die Früchte der Weisheit eingepfropft habe, mir zwei fette Gänse und zwei veritable Enten geschickt, welche heut abend bei Lars Mathiesen verspeist werden sollen, wohin ich die verehrliche Gesellschaft einlade, indem ich in dem Verschwinden der Arme nur die allweise Leitung der Vorsehung erblicken kann, welche in ihrer unbegreiflichen Weisheit sich der Weisheit widersetzt, die sonst von den Lippen meines würdigen Freundes Sölling geflossen sein würde.« Daaes etwas konfuse Rede wurde mit Gelächter und Beifallrufen aufgenommen, und nur Sölling erhob ein paar schwache Einwendungen, welche indessen bald in der Flut von Lustigkeit und scherzhaften Einfällen erstickt wurden, die Niels Daaes plötzliches Erscheinen hervorgerufen hatte. Ich habe oft Gelegenheit gehabt, die Beobachtung zu machen, daß improvisierte Gelage die heitersten sind, und so war es auch an jenem Abend. Niels Daae regalierte uns mit den Enten und mit seinen besten Einfällen, Sölling sang seine besten Lieder, der joviale Lars Mathiesen erzählte seine besten Geschichten, und das Bankett war im schönsten Gange, als wir draußen auf der Straße Geschrei und Rufen verschiedener Stimmen vernahmen, dann ein dumpfes Gekrach, begleitet vom Klirren zerbrochener Scheiben, mit ein paar gellenden Wehlauten untermischt. »Es ist ein Unglück geschehen!« rief Sölling, welcher im Handumdrehen draußen vor der Türe war, – und es verhielt sich wirklich so. Als wir auf Alleegaden hinaus kamen, sahen wir, daß ein Paar durchgehende Pferde einen Kaleschwagen gegen die Bäume der Allee geschleudert hatten, und daß der Kutscher bei dieser Gelegenheit unters Rad gekommen war, das seinen rechten Arm dicht am Schultergelenk zerknickt hatte. Im Nu war unser lustiger Bankettsaal in ein Lazarett verwandelt. Gläser und Teller mußten Binden, Bandagen und den blinkenden Instrumenten der Verbandtaschen Platz machen, und unsere fröhlichen Lieder wurden von den lauten Wehklagen des unglücklichen Patienten beim Verbinden abgelöst. Die Feststimmung war dahin und wollte nicht mehr zurückkehren, Sölling schüttelte den Kopf und machte eine bedeutungsvolle Gebärde, als der unglückliche Kutscher nach dem Hospital gefahren wurde. Sein Ausspruch lautete dahin, daß der Arm amputiert oder vielmehr im Schultergelenk abgelöst werden müsse, ganz wie es bei unsern Skeletten geschehen war, – »ein verdammt sonderbares Zusammentreffen«, sagte er zu mir. Schweigend und verstimmt wanderten wir heim auf dem alten Königswege, und zum ersten Male sah die ehrwürdige Regenz ihre Söhne von einem festlichen Gelage heimkehren, gerade als der Nachtwächter in Kannikesträde seine bekannte, bei den Studenten sehr beliebte Variante anstimmte: Hört, ihr Herren, und laßt euch sagen, Unsre Glock hat elf geschlagen. Elf ist der Apostel Zahl, Judas kommt noch überall. »Elf!« rief Sölling aus. »Das ist zu früh, um zu Bett zu gehen, und zu spät, uns noch weiter herumzutreiben. Laß uns zu dir hinaufgehen, kleiner Siemsen, und versuchen, heute abend noch unsere Lektion nachzuholen. Du hast Loders anatomische Tafeln, mit denen müssen wir uns behelfen, es wird schwer genug halten, daß wir bis Weihnacht fertig werden. Es war auch ganz verwünscht, daß uns just heute abend die Arme gestohlen wurden!« »Der Doktor kann sonst leicht genug Arme und Beine bekommen, mehr als der Doktor braucht«, grinste Hans, der im selben Augenblick aus dem Tore der Regenz hervortrat, wo er Söllings letzte Worte aufgefangen hatte. »Wieso, Hans?« fragte Sölling verwundert. »Ih nun«, antwortete Hans, »das kann der Doktor bequem genug haben. Man hat ja das Plankwerk zwischen dem Trinitatis-Kirchhofe und der Porzellanfabrik niedergerissen und eine Rinne gegraben, um ein neues zu setzen. Das sah ich heute selbst, als ich durch den Kirchengang kam; aber herrjeses, was für eine Masse alter Gebeine sie da aufgewühlt haben. Es waren Arme und Beine und Köpfe dabei, mehr als der Doktor zeitlebens gebraucht!« »Das hilft uns leider nichts, Hans«, entgegnete Sölling. »Der Kirchengang wird ja um vier Uhr geschlossen, und es ist bald halb zwölf.« »Freilich wird er das«, grinste Hans abermals; »allein es gibt auch eine andere Manier, hineinzukommen, als gerade auf diesem Wege. Wenn der Doktor durch das Tor der Porzellanfabrik gehen wollte, so könnte er über den Hof und die Mühle in den sogenannten vierten Hof gelangen, welcher nach Springgaden hinausführt. Dort gerade haben sie das Plankwerk niedergerissen, und von dort kann der Doktor bequem nach dem Kirchhofe gelangen.« »Ja, Hans ist ein Genie«, rief Sölling vergnügt, »das hab’ ich immer gesagt. Hör’, kleiner Siemsen, du kennst ja die Fabrik von außen und innen und besuchst oft den Studenten Outzen, welcher dort wohnt. Geh zu ihm hinauf und leihe von ihm den Schlüssel zur Quarzmühle. Du wirst schon den einen oder andern Arm finden, der nicht allzu vermodert ist. Sei nur recht flink und komme bald zurück, dann wollen wir andern dort oben auf dich warten.« Ich muß ehrlich gestehen, daß ich in diesem Augenblick keine sonderliche Lust hatte, auf den Vorschlag Söllings einzugehen. Ich war in dem Alter, wo die Pietät vor Tod und Grab noch nicht ganz erloschen ist, und der rätselhafte Vorfall mit den gestohlenen Armen spukte mir noch im Kopfe. Indessen fürchtete ich Söllings ironisches Gesicht und das spöttische Gelächter meiner Kameraden fast ebensosehr, und nach kurzem Bedenken ging ich mit einer Miene fort, als sollte ich nur vom Budiker ein Bund Zigarren holen. Mit vieler Mühe schellte ich den alten Pförtner aus seinem süßen Schlummer empor, unter dem Vorgeben, daß ich eine wichtige Bestellung an Outzen hätte, und dann eilte ich zu diesem hinauf, dessen Fenster nach dem Kirchhofe hinausblickten. Outzen war Theologe und ein streng sittlicher Charakter; das wußte ich sehr wohl und war deshalb ziemlich darauf vorbereitet, daß er mir den Schlüssel verweigern würde, der mir Zugang zum vierten Hofe und von dort aus zum Kirchhofe verschaffen sollte. Outzen nahm auch die Sache sehr ernsthaft. Er schob die hebräische Bibel, in der er bei meinem Eintritt gelesen hatte, zurück, schob die Lampe empor und blickte mich verwundert an, während ich meine Bitte vorbrachte. »Es ist ein sündhaftes Unternehmen, das du da vorhast, lieber Siemsen«, sagte er ernsthaft, »und du tätest am besten, davon abzulassen. Von mir erhältst du keinen Schlüssel zu solchem Zweck. Der Friede des Grabes ist heilig und unverletzlich; den darf niemand stören.« »Wie denkst du dann über den Totengräber? Der legt jeden Tag neue Leichen zu den alten, und lebt darum nicht minder.« »Er tut nur seine Pflicht«, antwortete Outzen ruhig, »und keiner wird ihn darob schelten. Aber der, welcher aus übermütiger Laune und noch mit dem Punschdampfe im Kopfe den Frieden des Grabes stört, mit dem ist’s ein ander Ding – er wird nicht der Strafe entgehen.« Ich leugne nicht, daß Outzens Worte mich reizten; denn zu hören, daß man im Begriff stehe, eine verwegene Tat zu begehen, nur weil man betrunken und übermütig sei, ist etwas, das man sich nicht gern sagen läßt, zumal wenn man kaum zwanzig Jahre auf dem Rücken hat. Ohne ein Wort auf seine Einwendungen zu erwidern, riß ich daher den großen, mir wohlbekannten Schlüssel vom Türpfosten und war in zwei Sprüngen draußen auf der Treppe, indem ich schwor, mir einen Arm zu verschaffen, koste es, was es wolle, und dadurch sowohl Outzen als auch Sölling und allen andern zu beweisen, daß ich ein Teufelskerl, so recht ein beherzter Bursche sei. Mit klopfendem Herzen schlich ich durch den langen, finsteren Gang, welcher, an den Überresten des St. Clara-Klosters vorüber, in den sogenannten dritten Hof führt. Hier nahm ich eine Laterne aus der Kutscherkammer, zündete sie an und ging, mit der Laterne in der Hand, auf die mir wohlbekannte Mühle zu, wo der Quarz zermalmt und gemahlen wird. Wie seltsam sah sie doch bei der flackernden Beleuchtung des Talglichts in der Laterne aus, mit ihren vielen Kammrädern, Triebrädern und Walzen, mit ihren Knetmaschinen und Stampfen, unter welchen die Steine zermalmt werden! Schon hier begann der Mut mir zu sinken, als ich die dumpfe, feuchte Luft einatmete; aber ich ermannte mich, putzte das Licht, und schloß die Türe zum vierten Hof mit dem Schlüssel auf, den ich sodann wieder zu mir steckte. Wenige Schritte, und ich befand mich im Hofe und stand einen Augenblick später auf der Grenzscheide. Das ganze hohe, schwarze Plankwerk war in seiner Länge niedergerissen, und man hatte die Erde tief aufgegraben, um festen Halt für eine neue Scheidemauer zwischen Leben und Tod zu gewinnen. Die öde, unheimliche Leere des Ortes ergriff mich tief, und unwillkürlich stand ich still, um mich gleichsam gegen die Situation zu stählen. Es war ein rauher, kalter, stürmischer Abend; die Wolken trieben schnell und in zerrissenen Fetzen unter dem Monde hin, so daß der Kirchhof mit seinen weißen Kreuzen und Leichensteinen bald in voller, bald in dämmernder Beleuchtung lag. Dann und wann fuhr der Wind mit hohlem, klapperndem Getöse über die Gräber, sauste durch die entblätterten Linden, pfiff mit klagendem Laute durch Gesträuch und Staket, verfing sich in der Ecke bei der Kirche, jagte dann über das Kirchendach und drehte die rostige Wetterfahne mit einem knarrenden Laut, der einem gellend in die Ohren schnitt. Ich schaute zur Linken – dort erblickte ich ein Paar seltsame weiße Gestalten, die sich wellenförmig im Mondlicht zu bewegen schienen. »Laken«, sagte ich bei mir selbst, »nichts anders als weiße Laken! Verwünschte Unsitte, Wäsche auf dem Kirchhofe zu trocknen, man sollte einen Artikel im ›Polizeifreunde‹ darüber schreiben!« Ich blickte zur Rechten, dort lag ein Haufen Knochen, nicht zwei Schritte von mir entfernt. Ich näherte mich denselben mit der Laterne in der linken Hand; tastend streckte ich die rechte nach ihnen aus, da raschelte es in dem Haufen, er sank zusammen, und etwas Warmes und Weiches berührte meine Hand. Ich zuckte zusammen. »Ratten!« sagte ich bei mir selbst, »Kirchhofsratten, nichts als Kirchhofsratten! Oh, mein Gott! Ich ängstige mich so; aber nein, ich will mich nicht ängstigen, das ist ja lächerlich, – albern – wo, zum Henker, bleibt doch der Arm? Es ist ja kein einziger heiler da!« Mit fiebernder Hast und schlotternden Knien durchwühlte ich einen Haufen nach dem andern. Das Talglicht zitterte und flackerte im Winde, plötzlich erlosch es, und als der fette, stinkende Unschlittsdunst mir entgegenschlug, wurde mir fast übel zumute. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung faßte ich mich wieder, eilte ein paar Schritte vorwärts, und gewahrte am Ende des Kirchhofs einen Sarg, der, noch beinahe ganz erhalten, aus der Erde gehoben und unter eine Hänge-Esche gestellt war. Ich näherte mich demselben und sah, daß er von altmodischer Form, aus ziemlich schweren, aber jetzt halb vermoderten Bohlen gezimmert war, und daß er eine Metallplatte mit einer fast erloschenen Inschrift auf dem Deckel trug. An der einen Ecke hatte der Zahn der Zeit so an den morschen Brettern genagt, daß ich ihn mit Anwendung eines Brecheisens leicht mußte öffnen können. Ich schaute mich um – eine Haue lag auf der Erde neben einem Paar Spaten; ich ergriff einen der letzteren, stemmte das Blatt zwischen die Bretter, und mit einem dumpfen Krach sprengte ich den Deckel auf. Mit abgewandtem Gesicht schob ich die Hand durch die Öffnung, tastete umher und erfaßte einen Arm des Skeletts, den ich mit einem kräftigen Ruck abriß. Dadurch löste sich der Kopf des Skelettes und rollte mir im selben Augenblick fast gerade vor die Füße. Ich ergriff ihn und wollte ihn wieder in den Sarg legen, aber ich sah in seinen leeren Augenhöhlen einen grünlichen und phosphoreszierenden Glanz schimmern, der abwechselnd kam und verschwand; ein Fiebergrausen, ein fast wahnwitziger Schreck ergriff mich. Ich zwang mich, in die Höhe zu sehen, und mein Blick fiel auf ein einzelnes erhelltes Fenster in der Häuserreihe gegenüber. Dort saß ein halbnacktes, geschminktes Frauenzimmer, im Halbschlummer nickend, bei einem fast niedergebrannten Lichtstumpfe. Ich sah hinab – die leeren Augenhöhlen leuchteten noch, aber mit einem stärkeren Glänze als vorher. Ich mußte Gewißheit haben, ich mußte eine natürliche Erklärung dieses Phänomens finden, wenn ich nicht wahnsinnig werden sollte, – das fühlte ich. Ich ergriff den Schädel wieder, aber nie habe ich einen so überwältigenden Eindruck von dem Gesetz der Vergänglichkeit empfangen wie in diesem Augenblick. Hunderte jener ekelhaften, feuchten Insekten, welche man Holzwürmer nennt, wimmelten aus jeder Öffnung, jeder Spalte des Schädels hervor, und ein paar der glänzenden, schlangenähnlichen Tausendfüßler, welche die Naturforscher Geophilen nennen, ringelten sich aus den Augenhöhlen. Unwillkürlich mußte ich an Heines Worte gedenken, und fast widerstrebend, kämpfend, als vermöchte ich nicht länger meinen eigenen Willen zu beherrschen, mußte ich die furchtbaren Zeilen wiederholen: »Ich seh’ die Toten, Sie liegen unten in den schmalen Särgen, Die Hand’ gefaltet und die Augen offen, Weiß das Gewand und weiß das Angesicht, Und durch die Lippen kriechen gelbe Würmer.« Kaum hörte ich meine eigenen Worte, als sie mich mit Entsetzen erfüllten. Ich schleuderte den Kopf in den Sarg zurück, sprang in zwei Sätzen über die nächsten Knochenhaufen, ohne mir Zeit zu lassen, die Laterne mitzunehmen, schoß wie von Dämonen gejagt, durch die dunkle Mühle, deren Stampfen und Räder ich zu hören glaubte, und machte erst Halt in dem großen Hofraume der Fabrik, wo ich am Springbrunnen den mitgebrachten Arm wusch und meinen derangierten Anzug in Ordnung brachte. Dann schob ich meine Beute unter meinen Paletot, nickte dem Pförtner zu, der mich verdrießlich brummend hinausließ, und trat bald darauf in mein Zimmer mit einer Miene, die ich für vollkommen ruhig und furchtlos hielt. »Was, zum Kuckuck, fehlt dir, kleiner Siemsen?« rief Sölling, als er mich eintreten sah. »Du hast doch keine Gespenster gesehen, oder leidest du vielleicht an dem beginnenden Katzenjammer? Du bist auch höllisch lange fortgeblieben; die Uhr ist ja fast zwölf.« »Siemsen ist krank«, sagte Nansen, »gebt ihm ein Glas Wasser, ehe er ohnmächtig wird.« »Aber schenkt es nicht zu voll«, schrie ein anderer. »Siemsen verträgt heute abend nicht viel mehr.« Jetzt war die Reihe, zu triumphieren, an mir. Rasch schlug ich den Paletot zurück und legte meine Beute ohne ein Wort zu reden mitten auf den Tisch. »Tod und Teufel!« schrie Sölling in anatomischer Begeisterung. »Was für einen Arm hast du da erwischt? Ja, Siemsen weiß, was er tut. Seht nur, was für einen allerliebsten Mädchenarm er uns da gebracht hat. Seht nur diese Hand! Wie fein und klein, und wie vortrefflich konserviert! Ich bin überzeugt, daß der Handschuh Nummer sechseinhalb ihr passen wird. Gott mag wissen, wer die geküßt und gestreichelt hat.« Der Arm wanderte unter allgemeiner Bewunderung von Hand zu Hand, und mit jedem Worte, jeder Äußerung, die ich vernahm, stieg mein Abscheu und mein Ekel vor mir selbst. Ein Mädchenarm! Was für ein Mädchen mochte das gewesen sein? Jung und schön gewiß, der Stolz ihrer Brüder und die Freude ihrer Eltern. Früh war sie hingewelkt, zärtliche Herzen hatten sie gepflegt, liebevolle Gedanken und tröstliche Hoffnung hatten ihr Krankenlagererwacht. Ruhig und sanft war sie entschlummert, und den Frieden, der sie im Leben begleitet, hatte man ihr im Tode mitgeben wollen, deshalb war der Sarg aus schwerem, dickem Eichenholze gezimmert. Und diese Hand, die so freundlich zum Abschied und Lebewohl gewinkt, die so manchen treuen Händedruck empfangen, die man so geliebt und so vermißt hatte, lag nun auf einem Anatomietische, von Tabakswolken umwallt, von neugierigen Blicken beglotzt, und ein Gegenstand der rohesten Spaße. O mein Gott, wie gräßlich war das! »Hör«, sagte Sölling, als die allgemeine Begeisterung sich gelegt hatte, »den Arm muß ich haben! Wenn er mit Chlorkalk gebleicht und ein wenig mit Kopalfirnis bestrichen wird, so wird er ein ausgezeichnetes Präparat, den nehme ich mit!« »Nein, das gebe ich nicht zu. Es war unrecht von mir, ihn vom Kirchhofe wegzunehmen; ich gehe gleich zurück und lege ihn wieder hin.« »Nein, hört nur!« schrie Sölling unter dem unauslöschlichen Gelächter der andern. »Jetzt wird die Sache, meiner Treu’, kadaver-lyrisch in des Wortes eigentlichster Bedeutung. Ich will den Arm haben, was es auch kosten mag.« »Nein«, rief Niels Daae, »dazu bist du nicht berechtigt. Er ist begraben und in der Erde gefunden, reines Fundgut, und wir andern haben ebensoviel Recht daran wie du.« »Jawohl, jeder kann seinen Teil davon nehmen«, schrie einer von der Gesellschaft. »Daraus wird nichts«, rief Sölling. »Es wäre ja der schändlichste Vandalismus, den Arm zu zersplittern. Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden«, fügte er pathetisch hinzu. »Versteigert ihn!« schrie Nansen, »und laßt das Geld in die Kneipkasse wandern, die bedarf dessen sehr.« »Jawohl, der Arm soll versteigert werden«, rief Daae, in welchem plötzlich der Jurist erwacht war. »Stille, meine Herren, il ne faut pas rire de la mort, wie Napoleon sagte. Ich bin Auktionator, und der Kirchhofsschlüssel soll den Hammer spielen.« Ein neues Gelächter erfolgte, als Daae mit gravitätischer Würde am Ende des Tisches Platz nahm und mit näselnder Stimme und monotoner Aussprache losschnarrte: »Hiermit wird allen kund und zu wissen getan, daß am 25. November, Mitternachts präzise zwölf Uhr, auf dem Korridor der Regenz, Nummer fünf, ohne Abhaltung weiterer Auktionen, zu absolutem Verlauf ein schöner und zierlicher Damenarm mit dazugehörigem Inventar von Handwurzelknochen und Zwischengelenken samt Fingerspitzen in heilem und gutem Zustande ausgeboten wird. Es wird bemerkt, daß das Verkaufte unmittelbar nach der Auktion abzuholen ist, in der Verfassung, in welcher es sich beim Zuschlage befindet, und wird zahlungsfähigen Käufern ein sechswöchentlicher Kredit gewährt. – Ein dänischer Schilling ist geboten!« »Eine Mark!« rief Sölling spöttisch. »Zwei Mark!« schrie einer von der Gesellschaft. »Vier!« steigerte Sölling. »Das ist er rechtschaffen wert. Biete mit, Siemsen! Du siehst ja aus, als säßest du in einer Waschballje mit lebendigen Stichlingen.« Ich bot gezwungen eine Mark mehr. Sölling bot einen Reichstaler; niemand ging höher, der Hammer fiel, und der Arm gehörte Sölling. »Sei so gut«, sagte dieser, indem er mir ein Markstück reichte, »das hast du redlich verdient. Das ist dein Handgeld als Leichenräuber. Den Rest sollst du nächstens erhalten, falls du nicht vorziehst, ihn der Kneipkasse zu überweisen.« Mit diesen Worten wickelte Sölling den Arm in ein Zeitungsblatt. Alle erhoben sich, und gleich darauf polterte die lustige Gesellschaft die Treppe hinab, das Tor der Regenz wurde zugeschlagen, der Lärm verhallte auf der Straße, und alles ward still wie das Grab. Es war ein seltsamer Übergang. Ich stand halb betäubt da und stierte das in Empfang genommene Markstück an, daß ich endlich mechanisch in die Westentasche steckte. Meine Gedanken waren noch in zu starker Bewegung, mein Gemüt zu aufgeregt, als daß ich hätte schlafen können. Ich schob die Lampe so hoch wie möglich empor und ergriff mein anatomisches Kollegienheft nebst Loders Tafeln, um mich durch Lektüre zu beruhigen; aber das wollte mir nicht gelingen, dazu war die Unruhe meines Gemütes zu groß. Plötzlich hörte ich einen Ton wie von einem schwingenden Perpendikel. Ich erhob das Haupt und horchte gespannt; denn weder in meinem Zimmer noch in dem Nebenzimmer befand sich eine Uhr, aber der Ton dauerte fort; im selben Augenblick begann meine Lampe zu flackern, es fehlte ihr offenbar an Öl. Gerade als ich mich erheben wollte, um sie wieder zu füllen, fiel mein Blick auf den Türpfosten gerade gegenüber, und ganz leise, aber rhythmisch und taktmäßig, sah ich den Kirchhofsschlüssel, welchen ich dorthin gehängt hatte, sich in abgemessenen Schwingungen hin und her bewegen. Zuweilen wollten diese fast aufhören, aber dann erhielt der Schlüssel einen Schlag wie von einer unsichtbaren Hand, und die Schwingungen wurden so stark, daß sie ihn fast im Kreise herumzudrehen schienen. Ich blieb einen Augenblick mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen stehen, aber der Schlüssel fuhr fort, sich so mechanisch wie das Pendel einer Uhr zu schwingen. Ein eiskalter Schauer überlief meinen Rücken, und der Angstschweiß perlte von meiner Stirn. Endlich vermochte ich es nicht länger auszuhalten; ich schoß zur Türe, ergriff den Schlüssel mit beiden Händen, legte ihn auf meinen Schreibtisch und bedeckte ihn mit Loders Tafeln und ein paar anderen Folianten. Erst dann schöpfte ich wieder Atem. Die Lampe war im Begriff zu erlöschen, und ich hatte kein Öl mehr. Dann und wann blakte die Flamme hoch empor und warf einen unsicheren Flackerschein über mein Gemach. Die Schatten wurden bald lang, bald kurz; es war, als ob sie lebten und in schwankenden Gestalten durch das Zimmer huschten. Mit fiebernder Hast entkleidete ich mich, löschte die Lampe aus und sprang ins Bett, um meine Visionen zu ersticken. Aber hier schienen sie erst recht ins Leben zu erwachen. Bald war es mir, als stünde ich auf dem Kirchhofe und hörte die Wetterfahne der Kirche durch die Luft knarren. Dann befand ich mich in der Mühle; ich sah ihre vielen Trieb- und Kammräder sich durcheinanderdrehen und hatte Mühe, ihnen auszuweichen. Dann kam ich in einen endlos langen, niedrigen und stockfinstern Gang, wo mich etwas Unbestimmtes verfolgte, und in wildestem Entsetzen rannte ich vorwärts, bis ich in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen schien, während eine riesige Last auf mir drückte. Dann fuhr ich aus dem Halbschlummer empor, horchte und spähte umher und versank wieder in einen unruhigen Schlaf. Plötzlich hörte ich etwas von oben auf meine Decke herabfallen. Surr, surr, schnurr erklang es über meinem Kopfe. Es war eine große Brummfliege, welche in meiner Stube ihr Winterquartier aufgeschlagen und welche die starke Ofenwärme erweckt hatte, so daß sie jetzt in großen Kreisen durch mein Zimmer flog. Bald war sie dicht vor meinem Ohre, bald hörte ich sie in einiger Entfernung, dann kam sie wieder zurück, surrte über mein Gesicht, schnurrte unter der Zimmerdecke hin, stieß an den Kachelofen, fiel auf die Diele, wo sie im Staube herumschwirrte, flog dann wieder dicht über mir hin, surr, surr, schnurr – es war nicht mehr auszuhalten. Endlich hörte ich sie in eine Tüte mit Puderzucker kriechen, welche Hans auf der Fensterschwelle hatte liegen lassen; ich sprang auf, machte die Tüte zu, aber sie schnurrte drinnen fast ärger als zuvor. Wieder ging ich zu Bett und versuchte zu schlafen, aber es wollte nicht recht gelingen. Ich begann zu zählen, erst bis Hundert, dann bis Tausend, und endlich empfand ich jenes Gefühl der Ermattung, welches dem eigentlichen Schlafe vorherzugehen pflegt. Ich befand mich in einem schönen Garten; der Goldregen schimmerte, die Syringen dufteten, und die zarten rosenroten Blätter der Apfelblüten flatterten wie Schmetterlinge durch die Luft, wenn der laue Frühlingswind sie herabwehte. Neben mir ging ein schönes, junges Mädchen; ich kannte sie gut, und doch war es mir unmöglich, mich auf ihren Namen oder auch nur darauf zu besinnen, wie wir dazu gekommen sein, miteinander umherzuwandern. Dann und wann stand sie still, um eine früh aufgeblühte Blume oder ein buntes Käferchen auf einem Blatte zu bewundern. So schritten wir vertrauungsvoll weiter auf den kiesbedeckten Pfaden, wo die Johannisbeeren und Stachelbeeren blühten und wo ich deutlich das Summen der Bienen vernehmen konnte, während sie um die Blumenkelche gaukelten. Plötzlich fuhr ein kalter Zugwind durch den Garten, das junge Mädchen erbebte, und ihre Wangen erblichen. »Friert dich denn nicht?« sagte sie zu mir. »Mich friert! Merkst du nicht, daß Nacht und Tod herannahen?« Ich wollte antworten; aber im selben Augenblick fuhr ein neuer, stärkerer, eisiger Windhauch durch den Garten. Die Blätter verwelkten auf den Bäumen, die Blumen senkten ihre Häupter, und die Bienen fielen von den Johannisbeerblüten tot zur Erde. »Er kommt!« flüsterte sie schaudernd. Ich wollte sie an meine Brust drücken, aber es war, als verblaßte und verschwände ihre Gestalt und stünde undeutlich in der Luft. Da sauste ein dritter, noch heftigerer Sturm durch den Garten. Das Laub flog gelb und dürr in großen Haufen an der Erde hin und wurde dann wild in die Luft emporgewirbelt. Die blühenden Sträucher wurden im Nu schwarz und kahl, Kreuze und Grabdenkmäler traten unter den entblätterten Bäumen hervor; – ich stand wieder auf dem Kirchhofe, und die rostige Wetterfahne knarrte schrill durch die Luft. Neben mir stand ein starker, messingbeschlagener Sarg von Eichenholz mit einer Metallplatte auf dem Deckel. Ich beugte mich hinab, um die Inschrift zu lesen. Da flog plötzlich der Deckel schwer zurück, und aus dem Sarg erhob sich das junge Mädchen, das ich im Sarge gesehen. Ich wollte ihr zu Hilfe eilen, und sie in meine Arme schließen, da – o Grausen! – sah ich an den gläsernen Augen, daß es jenes gefallene Weib sei, das ich bei dem Lichtstumpfe im Fenster hatte nicken sehen. Wild umschlang sie mich und zog mich in den Sarg hinab. Der Atem verging mir, ich schrie laut um Hilfe und – erwachte dadurch. Mein Zimmer kam mir ungewöhnlich hell vor, aber ich entsann mich, daß wir Mondschein hätten, und dachte nicht weiter daran. Übrigens schienen manche Begebenheiten meines Traumes ihre natürliche Erklärung durch die Umgebungen zu finden, in welchen ich geschlafen hatte. Die Fliege surrte noch in der Tüte wie ein ganzer Bienenschwarm; eines der oberen Fenster war aufgesprungen, und die Nachtluft drang durch dasselbe in mein Zimmer. Ich stand auf, um es zu schließen, und bemerkte erst jetzt, daß das starke, helle Licht, welches mein Gemach erfüllte, nicht vom Monde kam, sondern gleichsam von der Kirche gegenüber ausstrahlte. Im selben Augenblick begannen die Glocken zu läuten, erst gedämpft und wie in weiter Ferne, dann stärker und stärker, bis sie endlich, mit dem Brausen der Orgel vermischt, wie ein gewaltiger Strom von Tönen an mein Fenster schlugen. Ich starrte hinaus und wollte meinen eigenen Augen kaum glauben. Die Häuser in Lademärket waren lauter kleine, einstöckige Gebäude mit Erkern und hölzernen Dachrinnen, die in geschnitzte Drachenköpfe ausliefen. Die meisten hatten Söller oder Altane mit geschnitztem Gitterwerk, und den Eingang bildeten hohe Steintreppen mit Messinggeländern, deren blank polierte Knäufe im Lichtglanze blinkten. Aber was mich am meisten wundernahm, war die Kirche. Diese lag nicht wie sonst; der runde Turm war gegen Kjöbmagergaden und die Fassade der Kirche mit den Strebepfeilern und spitzbogigen Fenstern gegen die Regenz gekehrt. Die Kirche war glänzend erhellt, und jetzt erst wurde es mir ganz klar, daß der starke Lichtschimmer, welcher mein Zimmer erfüllte, von drüben herkam. Sprachlos blieb ich stehen; der Glockenklang und das Brausen der Orgel durchbebten die Luft, und auf dem Mittelgang der Kirche sah ich einen großen Hochzeitszug sich langsam zum Altar bewegen. Allmählich vermochte ich die einzelnen Gestalten zu unterscheiden. Alle trugen die alten Trachten der Holbergschen Zeit: Die Damen Brokat- und Atlasgewänder, mit Perlenschnüren im hoch aufgetürmten, stark gepuderten Haare; die Herren meist Uniformen mit Kniehosen und Degen, den Chapeaubas unter dem Arme. Vor allem jedoch zog die Braut meine Aufmerksamkeit an. Sie war in weißen Atlas gekleidet, und auf den gepuderten Locken, die halb von dem herabwallenden Schleier verdeckt wurden, lag ein welker Myrtenkranz. Ihr zur Seite schritt der Bräutigam in roter Uniform und mit einem Stern auf der Brust. Sie näherten sich dem Altare, wo ein Geistlicher im schwarzen Ornat und mit weißer Allongeperücke sie erwartete. Sie traten vor ihn hin, und ich konnte deutlich wahrnehmen, daß er ein Ritual oder eine Formel aus der Agende verlas, die er in der Hand hielt, und deren Goldschnitt im Lichte funkelte. Einer von dem Gefolge schritt heran und schnallte den Degen des Bräutigams los, welcher darauf seine rechte Hand der Braut entgegenstreckte. Sie wollte ihm die ihre geben, aber im selben Augenblick stürzte sie ohnmächtig nieder. Das ganze Gefolge drängte sich um die Braut, welche bewußtlos vor den Altarstufen lag, – da erloschen plötzlich die Lichter, der Orgelklang verstummte, und die Gestalten zerflossen wie bleiche Nebelmassen. Draußen auf dem Platze jedoch nahm die Helligkeit zu, das Glockengeläut dauerte fort, und plötzlich öffneten sich weit die Flügel der Kirchentür, und derselbe Hochzeitszug bewegte sich über den Platz. Ich wollte entfliehen; aber es war mir nicht möglich, eine Muskel zu regen. Starr und festgebannt mußte ich auf die geisterhaften Gestalten hinabstieren, die näher und näher zu mir heranrückten. Zuerst kam der Prediger, dann der Bräutigam mit der Braut, und als letztere ihre Augen erhob und den Blick auf mich heftete, erkannte ich, daß es das junge Mädchen aus dem Garten war. Es lag etwas so Schmerzliches, so Wehmütiges und so Flehendes in diesem Blick, daß ich ihn kaum zu ertragen vermochte; aber nimmer vermag ich das erschütternde Gefühl zu schildern, das mich durchzuckte, als ich plötzlich wahrnahm, daß der rechte Ärmel ihres weißen Atlasgewandes leer und schlaff herunterhing. Ein eisiges Grausen ergriff mich. Ich fühlte, daß die Schar eine bestimmte Mission hatte; ich wußte, sie werden herankommen und Rechenschaft von mir fordern, obschon die klafterdicken Mauern der Regenz zwischen ihr und mir lagen. Schaudernd blieb ich stehen, bis das letzte Paar vom Platze verschwunden war. Da hörte ich die Glocke der Regenz erschallen, – nicht wie sonst mit lustigem, vergnügtem Tone, sondern mit einem seltsam heiseren, trockenen, geborstenen Klange, und gleich darauf knarrte das Tor in seinen Angeln. Ich wandte mich gegen die Tür, ich wußte, daß sie verschlossen sei, und doch wußte ich, daß mir das nichts nützen würde, daß sie hereinkommen würden, selbst wenn eine eiserne Mauer zwischen ihnen und mir läge. Seltsam knisterte und rauschte es durch die Luft, bald wie Seide und Atlas, die an den Treppen- und Türpfosten anstießen, bald wie das dürre, raschelnde Rohr, wenn der Wintersturm durch dasselbe hinseufzt. Näher und näher kamen die schrecklichen Gestalten; die Tür ging nicht auf, aber es war, als würde sie in einem gläsernen Nebel verwandelt, aus welchem die bleichen Gestalten hervorquollen. Mehr, immer mehr drängten sich herein, enger, immer beengter ward der Raum in meinem Zimmer, aber da war es, als böten die Mauern den drohenden Geistern kein Hindernis, als gäbe es für sie nichts Festes, nichts Undurchdringliches. Dichter und dichter scharten sie sich um mich her mit finstern, dräuenden Mienen; kleiner und kleiner ward der Zwischenraum zwischen ihnen und mir; mehr und mehr wurde ich in meine Ecke gedrängt, bis sie fast wie eine Bürde auf meiner Brust lasteten und mich schier erdrückten. Endlich schienen keine mehr im Gemache Platz zu finden. Die Atlas- und Seidengewänder knisterten und raschelten nicht länger um mich her; eine Totenstille entstand, und ich sah den Geistlichen mit der Agende in der Hand auf mich zuschreiten. »Was willst du?« hörte ich es in mir sprechen; ich fühlte, daß meine Lippen sich bewegten, aber es war mir nicht möglich, einen Laut mit denselben hervorzubringen. Der Geistliche mußte jedoch meine Gedanken erraten können; denn er erhob die Hand und sagte mit einer seltsam tiefen und doch klanglosen Stimme: »Das Grab ist heilig und unverletzlich; den Frieden der Toten darf niemand stören.« »Heilig und unverletzlich!« erklang es durch die Schar, wie wenn ein undeutliches Echo sich zwischen den Baumstämmen verliert. Mich schauderte in tiefster Seele, ich empfand einen unwiderstehlichen Drang, eine brennende Lust, auf die Knie zu sinken und um Gnade und Vergebung zu flehen; aber es war, als säße ein betörender Dämon auf meiner Zunge, der mich zu antworten zwang: »So ist es schlimm um den Totengräberbestellt; er legt jeden Tag neue Leichen zu den alten, und lebt darum nicht minder froh.« »Er tut nur seine Pflicht«, antwortete der Geistliche, »und keiner wird ihn darob schelten; aber übermütigen Frieden des Grabes stört, der wird der Strafe nicht entgehen.« »Er wird der Strafe nicht entgehen«, erscholl es abermals aus der Schar mit Stimmen, wie wenn der sausende Herbstwind das gelbe Laub über die Erde jagt. »Was wollt Ihr? Was verlangt Ihr?« schrie ich in der höchsten Verzweiflung der Todesangst. »Gib der Gruft zurück, was der Gruft gehört!« erklang wieder dieselbe tiefe Stimme. »Gib der Gruft zurück, was der Gruft gehört!« wiederholte die Schar, welche sich abermals drohend um mich drängte. »Das ist unmöglich! Das kann ich nicht, ich habe ihn verkauft, ich habe ihn auf einer Auktion versteigert«, schrie ich verzweiflungsvoll. »Er war begraben und in der Erde gefunden; fünf Mark acht Schillinge! Ein Reichstaler! Bietet niemand mehr? Der Arm gehört Sölling!« Ein Schrei, ein gellender Rache- und Verzweiflungsschrei ging durch die Schar. Wie feuchte Nebel drangen die Gestalten heran und drückten mit einer Gewalt auf mich ein, als wollten sie mich ersticken. Es funkelte und blitzte mir vor den Augen, und ich hörte ein schweres, dumpfes Gepolter, während ich mit diesen Schatten rang, die keinen materiellen Haltepunkt darboten. Ganz außer mir, stieß ich das Fenster auf, und indem ich eine Anstrengung machte, auf die Straße hinauszuspringen, schrie ich in der höchsten Angst der Verzweiflung: »Hilfe! Mörder! Man ermordet mich!« Der Widerhall meiner eigenen Stimme, der noch durch mein Zimmer klang, erweckte mich. Ich saß in bloßem Hemde auf der Fensterbank, das eine Bein halb aus dem Fenster gestreckt, und mit beiden Händen krampfhaft den Fensterpfosten umklammernd. Drunten auf der Straße stand der Nachtwächter in Holzschuhen, mit Morgenstern und Kapuzmantel, und stierte mich verwundert an, während die leichten Nebelwolken, die furchtbaren Visionen der Nacht, wie ein weißlicher Rauch durch das Fenster hinauszogen. Draußen brach der Novembertag an, grau und feucht, und als die frische Morgenluft meine Wangen kühlte, kehrte auch die Besinnung zurück. Ich erblickte den Wächter – Gott segne ihn! Das war doch ein wirklicher, handgreiflicher Wächter, und keines der täuschenden Spukbilder der Nacht. Ich blickte auf den runden Turm; wie massiv, ehrwürdig und unverrückbar sah er aus, als er dort grau in der grauen Morgendämmerung stand! Ich blickte nach Landemärket hinüber; es war Licht in dem Bäckerladen, und ein Torfbauer stand draußen und band seinen Pferden die Futtersäcke unters Maul. Ich schielte halb ängstlich in mein Zimmer, allein alles war in gewohnter Ordnung. Mein hochlehniger Armsessel, mein blinder Rasierspiegel, mein gichtbrüchiges altes Sofa, – alles stand auf seinem Platze, ja selbst die Tüte mit dem Puderzucker lag noch im Fenster, und die Fliege surrte darin. Ich fühlte, daß ich wach sei, und daß der Tag graue. Rasch sprang ich von der Fensterbank herab und wollte mich wieder ins Bett legen, als mein Fuß an etwas Hartes und Scharfes stieß. Ich bückte mich, um es aufzuheben, tastete im Halbdunkel auf der Diele umher und erfaßte einen langen, dürren, halb vermoderten Arm, dessen steife Finger ein zusammengerolltes Blatt Papier umkrampften. Ich tastete weiter und erfaßte einen zweiten, der ebenfalls ein zusammengerolltes Papier zwischen den Fingern hielt. Jetzt begann ich an meinem Verstände zu zweifeln. Ich wußte, daß, was ich gesehen, eine Folge meiner erhitzten Fantasie, ein Traum sei, der gegen sein Ende hin den Charakter einer Sinnestäuschung angenommen habe. Ich wußte, daß ich wach, daß das Ganze eine Halluzination sei, und doch lagen hier feste, unwiderlegliche Beweise des Gegenteils vor. Ich glaubte wirklich, ich sei im Begriffe, wahnsinnig zu werden, und mit fiebernder Hast öffnete ich die Papierrolle. Dort stand nur das Wort ›Sölling‹. Ich ergriff das zweite Papier und rollte es auf; dort stand: ›Nansen‹. Noch hatte ich die Kraft, ein drittes zu ergreifen und zu öffnen; dort stand: ›Siemsen‹; aber im selben Augenblicke stürzte ich schon wie besinnungslos zur Erde. Als ich wieder zu mir kam, stand Niels Daae neben mir mit einem geleerten Waschgusse, dessen Inhalt noch vom Sofa herabtroff, auf das er mich gelegt hatte. »Hier, trinke das«, sagte er mit schmeichelndem Tone, »dann kommst du schon wieder auf die Beine. Es ist ein vortrefflicher Cognac; ich nahm selber erst einen Schluck davon.« Verstört blickte ich mich um und nippte an dem Glase, dessen kräftiger Inhalt schnell meine Lebensgeister ermunterte. »Was ist geschehen?« fragte ich mit matter Stimme. »Ach, eigentlich nichts von Bedeutung«, erwiderte Niels Daae. »Du bist nur im Begriff gewesen, dir selbst durch eine kleine Kohlenstoffvergiftung das Leben zu nehmen. Es sind auch verwünscht schlechte Klappen, die hier an den alten Kachelöfen auf der Regenz sitzen. Der Sturm heute nacht muß sie zugeschlagen haben, wenn du nicht selbst so genial gewesen bist, sie zu schließen, ehe du zu Bett gingst. Wäre ich eine Stunde später gekommen, kleiner Siemsen, so wärest du so weit auf der Reise zu Sankt Peter mit den Goldschlüsseln gewesen, daß ein alter Cognac dich nicht mehr hätte zurückrufen können. Nimm noch einen kleinen Schluck!« »Wie bist du heraufgekommen?« fragte ich, mich aufrichtend. »Auf die einfachste und natürlichste Weise von der Welt«, antwortete Niels Daae. »Ich hatte diese Nacht die Wache auf dem Hospitale; aber weil ich ziemlich viel Punsch bei Lars Mathiesen getrunken hatte, schlief ich mehr, als ich wachte, und fand es daher passend, mich gegen die Morgenstunde fortzuschleichen. Als ich nach Krystalgaden heimging, kam ich an der Regenz vorbei und sah dich hier rittlings in bloßem Hemde auf der Fensterbank sitzen und den Nachtwächter durch das Geschrei ›Feuer, Mordjo!‹ oder dergleichen alarmieren. Es gelang mir endlich, Jensen dort unten aufzuklopfen, und durch sein Fenster kam ich in die Regenz. Es ist auch eine sonderbare Manier, sich in bloßem Hemde mitten auf die Diele zu legen!« »Wo kommen die Arme her?« fragte ich, noch halb verstört. »Ach, der Teufel hole die Arme!« rief Niels Daae; »sieh nur zu, daß du wieder auf die Beine kommst! Die Arme da? Das sind ja keine andern als die, welche ich selbst abgeschnitten habe. Es war ein ausgezeichnet schlauer Einfall. Du weißt ja, wie brummig Sölling wird, wenn er einmal eine Repetierstunde aussetzen soll. Nun hatte ich die Gänse zugeschickt erhalten und wollte euch gerne zu Lars Mathiesen mithaben. Ich wußte, ihr solltet die Osteologie der Arme vornehmen, deshalb ging ich zu Sölling, machte die Tür mit seinem eigenen Schlüssel auf und stahl die Arme von seinen Skeletten. Dasselbe tat ich hier auf der Regenz, und deinen mauste ich, während du unten im Lesezimmer warst. Bist du so genial gewesen, sie vom Gestell herabzureißen und die Etiketten abzunehmen? Ich hatte sie so schön mit Papierstreifen bezeichnet, damit jeder sein Eigentum wieder erhalten könne.« Ohne ein Wort zu reden, kleidete ich mich an und ging bald mit Daae unter dem Arme in die frische, kühle Morgenluft hinaus. In Krystalgaden trennten wir uns, und ich wanderte unverweilt nach dem Westerwalle, wo Sölling wohnte. Ohne der Einwendungen seiner alten Wirtin zu achten, ging ich in das Zimmer, wo Sölling den Schlaf der Gerechten schlief. Dort nahm ich den Arm, der noch, in Papier gewickelt, auf seinem Schreibtische lag, legte das Markstück an seine Stelle und eilte so rasch wie möglich auf den Kirchhof zurück. Wie seltsam war alles verändert, als ich wieder dies Revier betrat! Der Morgennebel hatte sich gelichtet und hing wie glänzende Reifperlen in den Zweigen der Bäume, wo die Sperlinge zwitscherten. Keiner der Arbeiter war noch auf dem Kirchhofe. Ich schritt zu der großen Hänge-Eiche hinüber und stand wieder vor dem schweren Sarge von Eichenholz. Behutsam ließ ich den geraubten Arm in denselben hinabgleiten und klopfte mit sorglicher Hand die rostigen Nägel fest, gerade als die ersten Strahlen der blassen Novembersonne über den Kirchhof spielten. Erst da ward es mir wieder leicht ums Herz. Doktor Siemsen schwieg und schaute fragenden Blickes im Kreise umher. Draußen erklang das Schellengeläute des kleinen isabellfarbenen norwegischen Kleppers, der ungeduldig den Kopf schüttelte, und bald darauf saß der joviale Doktor wieder auf seinem hochlehnigen Sessel mit Fußsack und Kutschverdeck. Aber im Pfarrhause schlief man nicht allzuviel in dieser Nacht, – selbst der Vetter Jakob war erschüttert. Die Nacht von Pentonville von Jean Ray Der flämische Fantast Jean Ray (1887-1964) ist eine von Legenden umwobene Gestalt, die meist seine Leser erfanden und denen er nicht widersprach. Die wenigsten stimmten, und schon gar nicht jene, derzufolge Ray, der eigentlich Raymundus Johannes Maria de Kremer hieß, einen Großteil seines Lebens als Abenteurer, Schmuggler und Pirat verbracht hat. In Wirklichkeit fristete er sein Leben zunächst als Angestellter der Stadtverwaltung von Gent und arbeitete später als freier Journalist. Eine seiner ersten Gruselgeschichten erschien 1919 in der Filmzeitschrift ›Cinemablad‹. Der erste Band mit fantastischen Erzählungen, ›Les contes du whisky‹, wurde 1925 publiziert. Danach erschienen Jahr für Jahr Erzählbände und Romane, die er in französischer Sprache schrieb. Jean Ray hat ein umfangreiches literarisches Oeuvre hinterlassen, von dem in Deutschland nur sehr wenig übersetzt vorliegt, obwohl seine Bücher äußerst erfolgreich waren und Meisterwerke der fantastischen Literatur sind. —————————— Die Behörden sorgten dafür, die geheimnisvollen Umstände, unter denen Richter und Henker ums Leben kamen, zu vertuschen. Wir kennen aber die Namen mehrerer Richter, die Todesurteile ausgesprochen haben und deren Ende von grauenhalten Visionen begleitet war. Catherine Crowe (Die dunkle Seite der Natur) Rock Smitherson blickte an der Ecke Westbourne Road – Barbara Street auf seine Uhr und stellte erfreut fest, daß er noch eine halbe Stunde Zeit hatte, ehe er wieder in die Tretmühle mußte. Das rote Fenster einer Kneipe leuchtete in der regnerischen Nacht: er warf einen argwöhnischen Blick rund um sich, denn die Vorschriften untersagten ihm, die Tavernen in der Nähe des Schauplatzes seiner täglichen Aufgabe zu besuchen. »Dog-nose?« schlug der Schankwirt, ein dicker, pausbäckiger Mann mit Hängeschnurrbart vor. »Das ist das Richtige an einem solchen Abend.« »Dog-nose«, antwortete Smitherson zustimmend. Der Dicke maß sorgfältig den Gin, den Zucker und das heiße Wasser ab. »Morgen ist es also soweit?« »Um acht. Um acht Uhr zehn kommt der Anschlag hinaus, mehr als zehn Minuten früher als drüben in Newgate.« »Hilary Channing?« fragte der Wirt, indem er nun für sich ein Glas Gin pur eingoß. »Tatsächlich, so heißt er … He, Cuffy, noch ein Glas, und dann füllen Sie mein flaches Fläschchen mit Ihrer Medizin. Es ist gegen die Vorschrift, aber es tut ja jeder. Das geht einem schon an die Nerven, wenn man sie so früh sterben sieht.« »Zwanzig, ein-, zweiundzwanzig Jahre, wie?« fragte Cuffy. »Einundzwanzig genau. Einer von meinen eigenen Jungs ist kaum älter; nun, verstehen Sie, das greift einem ans Herz, und er sieht auch gar nicht bösartig aus. Blond wie reifes Korn und Augen wie’n junges Mädchen; wirklich ein Jammer!« Cuffy nickte schweigend und langsam mit seinem großen Kopf. »Und wenn man bedenkt, daß ihm sein Verbrechen alles in allem ein Pfund zwei Shilling und eine kleine Damenuhr eingebracht hat, die er im Leihhaus für eine halbe Krone verpfändet hat! Lausig!« »Eine alte Straßenhändlerin, die ja doch noch vor Jahresende gestorben wäre, so schwindsüchtig war sie, schreiben die Zeitungen«, fügte Cuffy hinzu. »Und den hochtrabenden Beinamen ›Mustergefängnis‹ setzt man uns etwas zu oft vor«, knurrte Smitherson, seinem eigenen Gedankengang folgend. »Wenn es wirklich das wäre, müßte man Jack Ketch draußen lassen mit dem ausdrücklichen Befehl, seine Knoten in Gefängnissen zu machen, die keine Musterbeispiele sind. Es ist schändlich! Muster … Pah, die Kalkmilch und das Phenol, das man drinnen tonnenweise verbraucht, hindern nicht, daß es so schwarz und dreckig ist wie die anderen, nur ein bißchen übermalt. Pfui Teufel!« Rock Smitherson, erster Hilfsaufseher im Mustergefängnis Pentonville, haßte seinen Beruf nicht mehr als seine Kollegen, aber an den schrecklichen Abenden vor Hinrichtungen empörte es ihn, einen gefesselten Menschen sterben sehen zu müssen, dem niemand in seiner höchsten Not zu Hilfe kommen würde, sogar wenn die arme, einem schmachvollen Tod bestimmte Kreatur ein Spitzbube war, der das Leben seines Nächsten geringgeachtet hatte. »Der Herr hat gesagt: du sollst nicht töten!« schloß der Aufseher, den ein dritter und letzter Grog mit Wacholderschnaps noch empfindsamer gemacht hatte. Er ging in flinkem Tempo durch die Bride Street, denn die halbstündige Galgenfrist war beinahe zu Ende. Am Straßenende, wo die Roman Road beginnt und sich ausweitet, verdeckt die riesige Gefängnismauer den Himmel, an der nur die spärlichen Funzeln des Rundgangs sichtbar waren. »Oh! Verzeihen Sie, Sir, ich hatte Sie nicht kommen sehen!« entschuldigte sich Smitherson. Er wäre fast mit einem Mann in dunklem Umhang, mit einem breitkrempigen Hut zusammengestoßen, der plötzlich vor ihm auftauchte. Der Fußgänger trat wortlos zur Seite, kam jedoch dabei in die hell erleuchtete Zone eines der hohen elektrischen Lichtmaste. Rock sah ein längliches, schmales und blasses Antlitz, in dem große, tiefliegende Augen dunkle Höhlen bildeten. »Zum Teufel!« brummte er, »ein wenig einnehmendes Gesicht!« Er wandte den Kopf und blickte der hohen Silhouette nach, die rasch in der Nacht verschwand. »Hmm!« murmelte er, »mir scheint doch, den kenne ich, nur war er sonst weniger häßlich.« Er ging zum Aufsehereingang und drückte auf eine Klingel. Im vergitterten Viereck eines Gucklochs erschien ein Kopf. »Aufseher Smitherson! … Ich öffne sogleich!« Die Schlüssel klirrten, das laute Klicken der Schlösser hallte von der Tür zurück. »Guten Abend, Clevens. Drei Minuten zu früh, soviel ich sehe. Mehr als genug.« Smitherson betätigte den Hebel der Stechuhr, stempelte eine Karte und seufzte erleichtert: die Direktion duldete keine einzige Minute Verspätung. »Sagen Sie, Herr Aufseher …« Clevens zögerte sichtlich; er war grauhaarig und sah, trotz der dunklen, strengen Uniform, sanft und schüchtern aus. »Was gibt es Neues, mein Lieber?« »Haben Sie nicht zufällig … äh, einen Witzbold gesehen, der zum Spaß klingelte und mir, als ich das Guckloch öffnete, ins Gesicht lachte?« »Niemand«, antwortete Smitherson. »Die Straße war leer, übrigens ist sie um diese Zeit nie sehr belebt. Doch, warten Sie … Unter dem ersten Lichtmast bin ich fast in einen Kerl hineingelaufen, der nicht gerade besonders höflich war …« »Mit einem großen schwarzen Schlapphut …« »Das war er!« Clevens zögerte immer noch; er kratzte sich verlegen am Kinn. »Er sagte: ›Morgen ist es soweit, nicht wahr, du Menschenschlächter?‹ Ich schlug ihm das Guckloch vor der Nase zu, die ist bei ihm so scharf wie ein Messer, aber ich hörte ihn rufen: ›Um acht Uhr, wie? … genau wie bei mir!‹« »Bei allen Heiligen!« fluchte Rock. »Hat er das gesagt?« Clevens kam näher und hauchte: »Und … und … Herr Aufseher, hatten Sie nicht den Eindruck, ihn zu kennen?« »Nein«, sagte Smitherson. »… obwohl eigentlich …« Er ahmte automatisch die Geste des Pförtners nach und kratzte sich mit seinen kurzen dicken Nägeln am Kinn. »Tatsächlich schien mir sein Gesicht nicht ganz unbekannt. Es erinnerte mich an jemand …« »Der hier bei uns war, nicht wahr, Herr Aufseher? Oh, ich bin ja so froh, daß ich bald in den Ruhestand trete. Noch drei Monate, dann fahre ich zurück in die Midlands. Denn ich sag’ es Ihnen, Rock Smitherson, sie kommen wieder …« »Clevens«, sagte der andere fast flehend, »wenn man in der Direktion erfährt, daß Sie derlei Dinge sagen …« Der Alte brach in leises bitteres Lachen aus. »Die können mir nichts anhaben, das sag’ ich Ihnen nochmals; in drei Monaten nehme ich meinen Hut, und dann bekomme ich mein Ruhegehalt. Sie kommen wieder, Smitherson, alle, alle! Ich trage diese Uniform seit vierzig Jahren. Mit zweiundzwanzig hab’ ich sie im Gefängnis von Hull zum erstenmal angezogen. Dann war ich in Liverpool, später kam ich nach London, dann war ich in Newgate, in Reading, und schließlich zum Ende meiner Laufbahn im Mustergefängnis Pentonville. Ich weiß, was ich sage, und die anderen wissen es so gut wie ich, aber sie wagen es nicht zu sagen, weil es die Direktion verbietet. Hören Sie, Rock Smitherson, Sie haben bald dreißig Dienstjahre. Sie sind also weder ein Anfänger noch ein Stümper in dem Beruf. Nun, wagen Sie es zu leugnen? Kommen sie wieder, ja oder nein?« »Ach, Clevens«, stöhnte der Aufseher, »warum sagen Sie das? Es ist nicht gut, davon zu reden. Keiner tut es hier … Jeder schweigt von diesem Thema, auch die etwas wissen oder zu wissen glauben.« »Der dort«, fuhr der Alte fort, als ob er nicht gehört hätte, und zeigte mit seinem dünnen faltigen Finger zu dem Guckloch: »Der heutige, den kenne ich. Ich hatte Wache in seiner Zelle. Ja, ja, in der Zelle 8A, in der Sie heute nacht neben Hilary Channing schlafen werden.« »Genug!« schrie Smitherson, bemüht, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. »Vor sieben Jahren … vielleicht sind es schon acht«, fuhr Clevens unerbittlich fort. »Hat man denn hier überhaupt einen wahren Begriff von der Zeit – wo doch nur Leid- und Todesstunden schlagen? Sieben Jahre oder acht, ist ja unwichtig. Seinen Namen kenne ich nicht, und ich bezweifle sogar, ob ich ihn überhaupt gekannt habe. Sie ähneln einander so stark, die Männer, die hier am frühen Morgen auf diese Weise sterben, mit der schwarzen Kapuze über dem Kopf! Aber dieser hatte nicht ganz das gleiche Gesicht wie die anderen. An ihm war alles ungeheuer: seine Statur, sein Gesicht, seine Augen, ja besonders seine Augen.« Rock war geschlagen. Es fiel ihm schwer, von Dingen reden zu müssen, die gemäß einem stillen Übereinkommen von allen mit Schweigen übergangen wurden; heute jedoch schien es ihm, als befreie er seine Schultern, indem er dem alten Pförtner plötzlich zustimmte, von einer allzu schweren Last. »Es ist wahr«, sagte er, »sie kommen alle wieder, und den habe ich ganz deutlich erkannt!« »Ein gebildeter Junge«, sagte Clevens. »Hier verblüffte er alle durch sein Wissen.« »Er hieß Brown, besser gesagt, er ließ sich so nennen«, sagte nun Smitherson, »denn das war ein falscher Name, und niemand gelang es je, seine Identität festzustellen.« »Erinnern Sie sich, was er zu Pastor Parmington sagte, der ihm in den letzten Wochen beistand? In der Stunde seiner Hinrichtung sagte er ihm: ›Und Sie glauben wohl, daß jetzt alles zu Ende ist?‹« »Und dabei hat er gelacht«, fügte Rock finster hinzu. »Sein Lachen war donnernd, es hallte durch den Gang, den er durchschritt, ehe er hinkam …« »Er ist zurückgekommen!« murmelte Clevens. »Er kommt jedesmal in der Nacht vor einer Hinrichtung wieder. Fast als hätte er von Gott weiß welchen schrecklichen Herren einen Auftrag, sie holen zu kommen!« »Genug!« rief Smitherson. »Jetzt ist es aber genug, Clevens: man könnte wirklich meinen, es macht den Menschen und Dingen Vergnügen, einem in solchen Nächten die Nerven zu zerreißen.« Er blickte auf den Dienstplan und stieß einen großen Seufzer der Erleichterung aus. »Wie ich sehe, löst mich Wächter Soames um zwei Uhr im 8A ab; so muß ich den Gefangenen nicht wecken und ihm sagen: »›Fassen Sie Mut!‹ Ah, ist das ein Beruf!« Er traf Channing in tiefem Schlaf an; er atmete leicht, auf seinen ein wenig geöffneten Lippen lag ein leises Lächeln. »Einundzwanzig Jahre«, murmelte er. »Was für ein langes und schönes Leben so ein Junge noch vor sich haben könnte, ein Leben voller Freuden. Und in wenigen Stunden wird man ihm ein paar Schaufeln ungelöschten Kalk über das Gesicht schütten … Mein Gott!« Channing murmelte im Traum einige unverständliche Worte, dann begann er lautlos zu lachen. »Und Gott weiß, von was für schönen Dingen er noch träumen kann«, setzte Smitherson seinen Monolog fort. Er konnte in dem Armsessel, den ihm die Direktion für diese tragischen Stunden zuteilte, nicht schlafen, und als Soames ihn ablösen kam, fiel Smitherson eine Last vom Herzen. Er begab sich schweren Schritts in den Wachraum, wo Feldbetten aufgeschlagen waren und wo er hoffte, doch noch ein wenig Ruhe zu finden. Als er die Tür des recht angenehm eingerichteten Lokals aufstieß, konnte er nur schwer eine ärgerliche Geste unterdrücken. Ein dicker Mann saß mit vergnügter Miene am Tisch vor einer riesigen dampfenden Teekanne und begrüßte ihn herzlich. »Guten Morgen, Smitherson, wie wär’s mit einer Kartenpartie?« schlug er vor und streckte ihm seine gewaltige, behaarte Hand entgegen. Der Aufseher drückte sie, wischte aber dann seine Hand taktvoll, ohne daß der andere es merkte, an seiner Joppe ab. »Sie kommen recht früh, Duck«, sagte er. Der Mann lachte. »Das letztemal, Smitherson, wäre ich fast zu spät gekommen und hab’ mir allerhand anhören müssen! Also, nun verstehen Sie mich?« Es war nicht das erstemal, daß Duck, der Henker von Pentonville, sein Kartenpartner war, aber heute vertrug Rock die Anwesenheit des Schandtodesknechts nur schwer: er dachte an das rosige pausbäckige Gesicht Hilary Channings, an seinen weißen Jungmädchenhals und sah, nicht ohne Abscheu, wie Ducks Affenhände die Karten befeuchteten und sorgfältig betasteten, ehe er sie auflegte. Die Partien wurden schweigend gespielt, denn Duck war ein aufmerksamer Spieler und verlor ungern. Das blieb ihm übrigens erspart, der kleine Pennyhaufen neben ihm auf dem Tisch wurde immer größer. Plötzlich stellte Smitherson eine Frage, und er sollte sich noch viel später darüber wundern, daß er es getan hatte. »Duck, erinnern Sie sich an Brown?« Die Stirn des dicken Mannes runzelte sich; er strengte sein Gedächtnis an. »Brown? Ach, das will ich meinen! … allerdings gibt es nicht wenige dieses Namens. Ich kenne einen Stallknecht … doch nein, ich nehme an, Sie sprechen von einem einstigen Kunden? Mal sehen!« Er legte die Karten hin und verabreichte sich einen kräftigen Schlag auf einen seiner dicken Oberschenkel. »Brown? Ah, natürlich erinnere ich mich an ihn! Der war mein erster Kunde in Pentonville. Ich kam damals von Liverpool. Ein großer Schwarzhaariger, eine wahre Bohnenstange. Ich hatte den Kerl ganz vergessen, übrigens, ich vergesse sie alle. Wenn Sie glauben, ich belaste mein Gedächtnis mit ihren Gesichtern! Warum sprechen Sie von ihm?« »Nichts Besonderes«, antwortete Smitherson, dessen Lippen ein wenig bebten. »Eigentlich, weil er Ihr erster hier war …« »Ich arbeite nun schon seit acht Jahren in diesem Gefängnis«, fuhr Duck fort, »und ich beklage mich nicht, denn an Arbeit hat’s hier noch nie gemangelt. Mit dem nächsten da drüben werden es …« Er zählte unter Zuhilfenahme seiner dicken spateiförmigen Finger. »Hol mich der Teufel, wenn ich mich erinnere … dreißig, einunddreißig, vielleicht zweiunddreißig … Nein, jetzt hab’ ich’s, Smitherson, fünfunddreißig!« Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und schien nachzudenken. »Fünfunddreißig … Warten Sie, ich habe in Dublin begonnen, wo man nie ohne Arbeit ist, und dort hab’ ich vierzig befördert, dann in Liverpool fünfundzwanzig. Ich bin für runde Zahlen. Aber sieh mal an!« Er blickte auf Smitherson aus weitgeöffneten Augen und brach plötzlich in ein dröhnendes Lachen aus. »Das macht bald hundert … Ein Hunderter! Wie schade, bei Gott, daß es hier kein Bier oder Gin gibt, das müßte man begießen.« Nun wurde der ganze Mensch von seiner schwerfälligen Heiterkeit geschüttelt. »Ein Hunderter! Mein Hundertster, ha! … Ist das ein Spaß! Morgen muß ich es den Freunden und vielleicht auch den Zeitungsreportern erzählen. Man wird mein Foto in den Blättern bringen, und ich bekomme eine Prämie! Sieh mal an …« Duck schien plötzlich nachdenklich zu werden, gewann aber bald seine gute Laune wieder. »Ich denke an das Weib auf dem Jahrmarkt in Bethnal Green, als ich nach London kam. Bei Gott, ich hatte längst nicht mehr an ihre Hirngespinste gedacht, aber jetzt fallen sie mir wieder ein. Es war eine schmutzige Schwarze aus den Inseln, die dort wahrsagte: ›Sie bringen den Tod‹, sagte sie mir, indem sie die Karten und dann meine Handlinien betrachtete. ›Was du nicht sagst, Alte‹, meinte ich, ›das tue ich – ganz hervorragend.‹ ›Du wirst ihn hundertmal bringen … das heißt, das hundertste Mal bringst du ihn nicht mehr.‹ Nun, es hat sich gehörig geirrt, das Mütterchen, und das wird der drüben bald bezeugen können! Ich hab’ ihr einen Shilling gegeben, aber sie warf ihn in den Rinnstein und schrie: ›Durch den ersten wirst du den letzten verlieren!‹ Das habe ich natürlich nicht verstanden. Ist doch komisch, Smitherson, daß ich mit meinem schlechten Gedächtnis mich auf einmal an diese längst vergangenen Dinge erinnere.« Die Glocke im Saal ließ vier dumpfe Schläge ertönen. »Ich werde jetzt das Gerüst aufbauen«, sagte Duck. »Ich habe genug Zeit vor mir, und ich baue es allein auf, seit ich meine Helfer selbst bezahlen muß; so erspare ich mir eine ganz hübsche Summe.« Smitherson wäre gern eingeschlafen, doch es gelang ihm nicht. Er hörte im Wachzimmer die Hammerschläge, mit denen Duck nebenan in dem grausigen kleinen Saal die Querbalken fixierte, und dann das Knarren der Fallklappenhebel, deren einwandfreies Funktionieren er prüfen wollte. Fünf Uhr. In einer halben Stunde würde man die Reveille für die Wächter blasen müssen; die für die Gefangenen wurde wegen der Hinrichtung verschoben. Rock wunderte sich über Ducks Ausbleiben; der erledigte gewöhnlich alles im Handumdrehen. Er ging zur Todeskammer, da vernahm er ein dumpfes Geräusch. Es schauerte ihn, denn er kannte es nur zu gut: es war das Nachgeben der Fallklappe, gefolgt von dem abscheulichen weichen Aufprallen des Körpers am Ende seines Falles. Im Geiste sagte er sich, daß das nicht nur einfach das Geräusch einer Fallklappenprobe war … Die Hinrichtungskammer war leer. Die Fallklappe stand offen, und ein gespannter, ins Dunkel reichender Strick schwang, langsam und regelmäßig pendelnd, hin und her. Er beugte sich über das abstoßende, tiefe Loch. Da sah er Duck … gehängt. Als Smitherson sich umwandte und einen Alarmschrei ausstieß, sah er, an den Galgenpfosten gelehnt, den Geist Browns, der ihn mit furchtbaren Augen ansah. Eine gnädige Ohnmacht entzog Smitherson dem Kreis der wenigen Zeugen, die den nun folgenden unerklärlichen Begebenheiten beiwohnten. Sie werden, nicht ohne Grund, in den Akten von Pentonville nicht erwähnt; im Merkbuch des Direktors läßt sich jedoch das Fehlen von einem halben Dutzend Seiten feststellen, die, sorgfältig herausgeschnitten, angeblich noch im Innenministerium aufbewahrt werden. Der Pförtner Clevens wurde aus dem Halbschlaf, der ihn gewöhnlich gegen Ende der Nacht überkam, nicht durch Lärm, denn es herrschte völlige Stille, sondern durch ein entsetzliches Angstgefühl gerissen, von dem ihm übel wurde. »Das Herz«, sagte er. »In meinem Alter …« Er warf einen Blick in den Korridor und sah einige Schatten, die sich gruppiert in Richtung des zentralen Rundbaus bewegten. »Teufel«, brummte er, »was geht da vor?« Später hat Clevens vor allem betont, daß während der schrecklichen Minuten, welche er hilflos, als Gefangener einer übermenschlichen Gestalt, die ihn der Bewegung und der Sprache beraubte, zu durchstehen hatte, eine ungeheure Stille herrschte. Die zuerst aus undeutlichen Schatten bestehende Gruppe nahm allmählich klare und beängstigende Formen an. Die einen trugen eine schwarze Kapuze über dem Kopf, die anderen hatten das Gesicht entblößt, und die erkannte er alle; es waren die Männer, die er im Morgengrauen mit einem Strick um den Hals hatte sterben sehen: Skinslop … Rogers … Piochinni … Wang-Su, ein Chinese … Kirby … Ruttermole … O’Neill … Er nannte im Geist ihre Namen, aber er sah, wie sie sich militärisch in einer Reihe aufstellten; und plötzlich verband er andere Namen mit ihnen, die Namen von lebenden Menschen, welche sich irren Blicks, mit von einer unbeschreiblichen Angst verzerrten Gesichtern unter die Gespenster mischten. Ja, sie ordneten sich ein, von unsichtbaren Händen an den Schultern geschoben: die Wächter Soames, Thomson, Pritchard, Hackle, der Vizedirektor Fisher und der Richter Hatterley, der als Gast Fishers am folgenden Tag ebenfalls der Hinrichtung beiwohnen sollte. Getrennt von ihnen durch einen freien Raum von wenigen Metern, gehörten auch sechs zum Tode verurteilte Gefangene, sowie Hilary Channing zu dem geheimnisvollen Zug, der sich bildete. Im Gegensatz zur ersten Gefangenengruppe trugen diese eine ruhige, ja sogar zufriedene Miene zur Schau. Plötzlich setzte sich der Zug in Bewegung: Menschen und Geister marschierten, wenige Schritte von Clevens entfernt, anscheinend ohne ihn zu sehen, in langsamem Paradeschritt vorbei und bewegten sich dem Hauptgang zu. Das Gitter, welches beide Teile dieses langen, mit schwarzweißen Fliesen belegten Korridors trennte, ging wie ein Fallgitter hoch; und die Gleitschienen, die normalerweise Klingeln in Bewegung setzten, funktionierten diesmal nicht. Das große Tor öffnete sich lautlos, und Clevens sah in der Ferne im Nebel verschwommen die Straßenlampen. Das Tor blieb so lange offen, bis der Zug im Nebel verschwand, dann schloß es sich wieder geräuschlos. Ganz langsam und allein trat Browns Geist durch den Gang; sein schwarzer Umhang sah aus wie riesige nächtliche Flügel, der breite Hut war tief in die Stirn gedrückt. Er blieb vor Clevens stehen und sagte: »Ihr habt Glück, du und Smitherson, daß ihr keine schlechten Menschen seid.« Der Pförtner sah ihn nicht verschwinden, verspürte aber im nächsten Augenblick einen heftigen Schmerz im ganzen Körper, so als hätte er mit beiden Händen eine Leydener Flasche angefaßt. Niemals fand man eine Spur der Beamten oder der Gefangenen wieder, die von den Geistern entführt worden waren. Aber die Gerichtsärzte, die die Leiche des Henkers Duck zu untersuchen hatten, erlebten etwas Bestürzendes. Die Leiche war mit dem Wagen zum Anatomiesaal nach South-Kensington gebracht worden, und als die Saaldiener sie auf den Seziertisch legten, lösten sich von ihr große Fleischstücke los, die Knochen durchstießen das Gesicht und die Gliedmaßen, und die zerfressene, faulende Masse der Eingeweide wurde sichtbar. »Eine Leiche, die mehrere Tage in ungelöschtem Kalk gelegen hat«, stellte der Gerichtsarzt Miller fest. Es verging eine verhältnismäßig lange Zeit, ehe Smitherson und Clevens von der schrecklichen Nacht zu sprechen wagten. Und auch nur mit leiser Stimme, bei Cufly, dessen dog-nose ihnen Mut machte. »Im Grunde genommen freue ich mich für Channing«, gestand Rock Smitherson, »und für Duck empfinde ich keinerlei Mitleid.« »Und die anderen … ich meine die Kollegen, Fisher und der Richter Hatterley, die entführt wurden, waren zugegebenermaßen schlechte Menschen«, erklärte Clevens. »Wo sie wohl sein mögen?« murmelte Smitherson. »Besser, man redet nicht mehr darüber.« Und beide richteten ängstliche Blicke auf die Tür, als erwarteten sie, daß sie im nächsten Augenblick von dem Geist mit dem schwarzen Umhang und dem breiten Hut aufgestoßen würde. Das Gespenst von Knut Hamsun Er war zeitlebens ein Verächter und Feind aller Konventionen, ein romantischer Aufrührer, dessen Sympathie den ewigen Wanderern und Landstreichern gehörte, jenen ganz den geheimnisvollen Kräften der Natur hingegebenen Menschen, die er in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder liebevoll schilderte – unverdorbene Gegenbilder zu der seelenlosen technisierten Kultur, die er während seiner Jahre in Nordamerika hassen gelernt hatte. 1920 erhielt Knut Hamsun (1859-1952) den Nobelpreis für seinen Roman ›Segen der Erde‹, einen Lobgesang auf den Bauern, der die Wildnis urbar macht und Land kultiviert. Neben einem tiefverwurzelten Naturgefühl zeigen seine Werke einen ausgeprägten Sinn für das Hintergründige und Irrationale der menschlichen Individualität, für die Mysterien des Lebens, die er dem geschwätzigen Blendwerk der modernen Zivilisation entgegenhält. —————————— Mehrere Jahre meiner Kindheit verbrachte ich bei meinem Onkel auf dem Pfarrhof im Nordland. Es war eine harte Zeit für mich, viel Arbeit, viel Prügel und selten eine Stunde zu Spiel und Vergnügen. Da mein Onkel mich so streng hielt, bestand allmählich meine einzige Freude darin, mich zu verstecken und allein zu sein; hatte ich ausnahmsweise einmal eine freie Stunde, so begab ich mich in den Wald, oder ich ging auf den Kirchhof und wanderte zwischen Kreuzen und Grabsteinen herum, träumte, dachte und unterhielt mich laut mit mir selber. Der Pfarrhof lag ungewöhnlich schön, dicht bei der Glimma, einem breiten Strom mit vielen großen Steinen, dessen Brausen Tag und Nacht, Nacht und Tag ertönte. Die Glimma floß einen Teil des Tags südwärts, den übrigen Teil nordwärts, je nachdem Flut oder Ebbe war – immer aber brauste ihr ewiger Gesang, und ihr Wasser rann mit gleicher Eile im Sommer wie im Winter dahin, welche Richtung es auch nahm. Oben auf einem Hügel lagen die Kirche und der Kirchhof. Die Kirche war eine alte Kreuzkirche aus Holz, und die Gräber waren ohne Blumen; hart an der steinernen Mauer aber pflegten die üppigsten Himbeeren zu wachsen, die ihre Nahrung aus der fetten Erde der Toten sogen. Ich kannte jedes Grab und jede Inschrift, und ich erlebte, daß Kreuze, die ganz neu aufgestellt wurden, im Laufe der Zeit sich zu neigen begannen und schließlich in einer Sturmnacht umstürzten. Waren da auch keine Blumen auf den Gräbern, so wuchs doch im Sommer hohes Gras auf dem ganzen Kirchhof. Es war so hoch und so hart, daß ich oft da saß und dem Winde lauschte, der in diesem sonderbaren Grase sauste, das mir bis an die Hüften ging. Und mitten in dies Gesause hinein konnte die Wetterfahne auf dem Kirchturm knarren, und dieser rostige, eiserne Ton klang jammernd über den Pfarrhof hin. Es war als ob dies Stück Eisen mit den Zähnen knirschte. Wenn der Totengräber bei der Arbeit war, hatte ich oft eine Unterhaltung mit ihm. Er war ein ernster Mann, er lächelte selten, aber er war sehr freundlich gegen mich, und wenn er so dastand und Erde aus dem Grabe aufschaufelte, kam es wohl vor, daß er mir zurief, ein wenig aus dem Wege zu gehen, denn jetzt habe er ein großes Stück Hüftknochen oder den Schädel eines Toten auf dem Spaten. Ich fand oft Knochen und Haarbüschel von Leichen auf den Gräbern, die ich dann wieder in die Erde eingrub, wie es der Totengräber mich gelehrt hatte. Ich war hieran so gewöhnt, daß ich kein Grausen empfand, wenn ich auf diese Menschenreste stieß. Unter dem einen Ende der Kirche befand sich ein Leichenkeller, wo Unmengen von Knochen lagen, und in diesem Keller saß ich gar oft, spielte mit den Knochen und bildete aus dem zerbröckelten Gebein Figuren auf dem Boden. Eines Tages aber fand ich einen Zahn auf dem Kirchhof. Es war ein Vorderzahn, schimmernd weiß und stark. Ohne mir weiter Rechenschaft darüber abzulegen, steckte ich den Zahn zu mir. Ich wollte ihn zu etwas gebrauchen, irgendeine Figur daraus zurechtfeilen und ihn in einen der wunderlichen Gegenstände einfügen, die ich aus Holz schnitzte. Ich nahm den Zahn mit nach Hause. Es war Herbst, und die Dunkelheit brach früh herein. Ich hatte noch allerlei anderes zu besorgen, und es vergingen wohl ein paar Stunden, bis ich mich in die Gesindestube hinüber begab, um an meinem Zahn zu arbeiten. Indessen war der Mond aufgegangen; es war Vollmond. In der Gesindestube war kein Licht, und ich war ganz allein. Ich wagte nicht, ohne weiteres die Lampe anzuzünden, ehe die Knechte hereinkamen; aber mir genügte das Licht, das durch die Ofenklappe fiel, wenn ich tüchtig Feuer anmachte. Ich ging deshalb in den Schuppen hinaus, um Holz zu holen. Im Schuppen war es dunkel. Als ich mich nach dem Holz vorwärts tastete, fühlte ich einen leichten Schlag, wie von einem einzelnen Finger, auf meinem Kopf. Ich wandte mich hastig um, sah aber niemand. Ich schlug mit den Armen um mich, fühlte aber niemand. Ich fragte, ob jemand da sei, erhielt aber keine Antwort. Ich war barhäuptig, griff nach der berührten Stelle meines Kopfes und fühlte etwas Eiskaltes in meiner Hand, das ich sofort wieder losließ. Das ist doch sonderbar! dachte ich bei mir. Ich griff wieder nach dem Haar hinauf – da war das Kalte weg. Ich dachte: Was mag das wohl gewesen sein, das von der Decke herunterfiel und mich auf den Kopf traf? Ich nahm einen Armvoll Holz und ging wieder in die Gesindestube, heizte ein und wartete, bis ein Lichtschein durch die Ofenklappe fiel. Dann holte ich den Zahn und die Feile hervor. Da klopfte es an das Fenster. Ich sah auf. Vor dem Fenster, das Gesicht fast an die Fensterscheibe gedrückt, stand ein Mann. Er war mir ein Fremder, ich kannte ihn nicht, und ich kannte doch das ganze Kirchspiel. Er hatte einen roten Vollbart, eine rote wollene Binde um den Hals und einen Südwester auf dem Kopfe. Worüber ich damals nicht nachdachte, was mir aber später einfiel: wie konnte sich mir dieser Kopf so deutlich in der Dunkelheit zeigen, namentlich an einer Seite des Hauses, wo nicht einmal der Vollmond schien? Ich sah das Gesicht mit erschreckender Deutlichkeit, es war bleich, beinahe weiß, und seine Augen starrten mich an. Es verging eine Minute. Da fing der Mann an zu lachen. Es war kein hörbares Lachen, sondern der Mund öffnete sich weit, und die Augen starrten wie vorher, aber der Mann lachte. Ich ließ fallen, was ich in der Hand hatte, und ein eisiger Schauer durchrieselte mich vom Scheitel bis zur Sohle. In der ungeheuren Mundhöhle des lachenden Gesichts vor dem Fenster entdeckte ich plötzlich ein schwarzes Loch in der Zahnreihe – es fehlte ein Zahn. Ich saß da und starrte in meiner Angst geradeaus. Es verging noch eine Minute. Das Gesicht wurde stark grün, dann wurde es stark rot; das Lachen aber blieb. Ich verlor die Besinnung nicht, ich bemerkte alles um mich herum; das Feuer leuchtete ziemlich hell durch die Ofenklappe und warf einen kleinen Schein bis auf die andere Wand hinüber, wo eine Leiter stand. Ich hörte auch aus der Kammer nebenan, daß eine Uhr an der Wand tickte. Ganz deutlich sah ich alles; ich bemerkte sogar, daß der Südwester, den der Mann vor dem Fenster aufhatte, oben im Kopfstück von schwarzer, abgenutzter Farbe war, daß er aber einen grünen Rand hatte. Da senkte sich der Kopf nach unten, ganz langsam, immer weiter, so daß er sich schließlich unterhalb des Fensters befand. Es war, als gleite er in die Erde hinein. Ich sah ihn nicht mehr. Meine Angst war entsetzlich, ich fing an zu zittern. Ich suchte auf dem Fußboden nach dem Zahn, wagte aber nicht, die Augen von dem Fenster zu entfernen – vielleicht konnte das Gesicht ja wiederkehren. Als ich den Zahn gefunden hatte, wollte ich ihn gleich wieder nach dem Kirchhof bringen, hatte aber nicht den Mut dazu. Ich saß noch immer allein und konnte mich nicht rühren. Ich hörte Schritte draußen auf dem Hof und meinte, daß es eine der Mägde sei, die auf ihren Holzpantoffeln geklappert kam; ich wagte aber nicht, sie anzurufen, und die Schritte gingen vorüber. Eine Ewigkeit verging. Das Feuer im Ofen fing an auszubrennen, und keine Rettung zeigte sich mir. Da biß ich die Zähne zusammen und stand auf. Ich öffnete die Tür und ging rückwärts aus der Gesindestube heraus, unverwandt nach dem Fenster starrend, an dem der Mann gestanden hatte. Als ich auf den Hof hinausgekommen war, rannte ich nach dem Stall hinüber, um einen der Knechte zu bitten, mich nach dem Kirchhof hinüber zu begleiten. Die Knechte befanden sich aber nicht im Stall. Jetzt unter freiem Himmel war ich kühner geworden, und ich beschloß, allein nach dem Friedhof hinaufzugehen; dadurch würde ich es auch vermeiden, mich jemandem anzuvertrauen und dann später in des Onkels Finger zu geraten. So ging ich denn allein den Hügel hinan. Den Zahn trug ich in meinem Taschentuch. Oben an der Kirchhofspforte blieb ich stehen – mein Mut versagte mir seinen ferneren Beistand. Ich hörte das ewige Brausen der Glimma, sonst war alles still. In der Kirchhofspforte war keine Tür, nur ein Bogen, durch den man hindurchging; ich stellte mich voller Angst auf die eine Seite dieses Bogens und steckte den Kopf vorsichtig durch die Öffnung, um zu sehen, ob ich es wagen könne, weiterzugehen. Da sank ich plötzlich platt auf die Knie. Ein Stück jenseits der Pforte stand mein Mann mit dem Südwester. Er hatte wieder das weiße Gesicht, und er wandte es mir zu, gleichzeitig aber zeigte er vorwärts nach dem Kirchhof hinauf. Ich sah dies als Befehl an, wagte aber nicht, zu gehen. Ich lag lange da und sah den Mann an, ich flehte ihn an, und er stand unbeweglich und still. Da geschah etwas, das mir wieder ein wenig Mut machte: ich hörte einen der Knechte unten am Stallgebäude geschäftig umhergehen und pfeifen. Dieses Lebenszeichen bewirkte, daß ich mich erhob. Da entfernte sich der Mann ganz allmählich, er ging nicht, er glitt über die Gräber dahin, immer vorwärts zeigend. Ich trat durch die Pforte. Der Mann lockte mich weiter. Ich tat einige Schritte und blieb dann stehen; ich konnte nicht mehr. Mit zitternder Hand nahm ich den weißen Zahn aus dem Taschentuch und warf ihn mit aller Macht auf den Kirchhof. In diesem Augenblick drehte sich die eiserne Stange auf dem Kirchturm, und der schrille Schrei ging mir durch Mark und Bein. Ich stürzte zur Pforte hinaus, den Hügel hinab und nach Hause. Als ich in die Küche kam, sagten sie mir, mein Gesicht sei weiß wie Schnee. Es sind jetzt viele Jahre seitdem vergangen, aber ich entsinne mich jeder Einzelheit. Ich sehe mich noch auf den Knien vor der Kirchhofspforte liegen, und ich sehe den rotbärtigen Mann. Sein Alter kann ich nicht einmal ungefähr angeben. Er konnte zwanzig Jahre alt sein, er konnte auch vierzig sein. Da es nicht das letztemal sein sollte, daß ich ihn sah, habe ich auch später noch über diese Frage nachgedacht; aber noch immer weiß ich nicht, was ich über sein Alter sagen soll. Manchen Abend und manche Nacht kam der Mann wieder. Er zeigte sich, lachte mit seinem weitgeöffneten Munde, in dem ein Zahn fehlte, und verschwand. Es war Schnee gefallen, und ich konnte nicht mehr auf den Kirchhof gehen und ihn in die Erde legen. Und der Mann kam wieder und wieder, aber mit immer längeren Zwischenräumen, den ganzen Winter hindurch. Meine haarsträubende Angst vor ihm nahm ab; aber er machte mein Leben sehr unglücklich, ja unglücklich bis zum Überdruß. In jenen Tagen war es mir oft eine gewisse Freude, wenn ich daran dachte, daß ich meiner Qual ein Ende machen könnte, indem ich mich in die Glimma stürzte … Dann kam der Frühling, und der Mann verschwand gänzlich. Gänzlich? Nein, nicht gänzlich, aber für den ganzen Sommer. Den nächsten Winter stellte er sich wieder ein. Nur einmal zeigte er sich, dann blieb er lange Zeit fern. Drei Jahre nach meiner ersten Begegnung mit ihm verließ ich das Nordland und blieb ein Jahr fort. Als ich zurückkehrte, war ich konfirmiert und, wie ich selber meinte, groß und erwachsen. Ich wohnte nun nicht mehr bei meinem Onkel auf dem Pfarrhof, sondern daheim bei Vater und Mutter. Eines Abends zur Herbstzeit, als ich gerade schlafen gegangen war, legte sich eine kalte Hand auf meine Stirn. Ich schlug die Augen auf und erblickte den Mann vor mir. Er saß auf meinem Bett und blickte mich an. Ich lag nicht allein im Zimmer, sondern mit zweien von meinen Geschwistern zusammen; aber ich rief sie trotzdem nicht. Als ich den kalten Druck gegen meine Stirn fühlte, schlug ich mit der Hand um mich und sagte: »Nein, geh weg!« Meine Geschwister fragten aus ihren Betten, mit wem ich spräche. Als der Mann eine Weile stillgesessen hatte, fing er an, den Oberkörper hin und her zu wiegen. Dabei nahm er mehr und mehr an Größe zu, schließlich stieß er beinahe an die Decke, und da er offenbar nicht viel weiter kommen konnte, erhob er sich, entfernte sich mit lautlosen Schritten von meinem Bett, durch das Zimmer, nach dem Ofen, wo er verschwand. Ich folgte ihm die ganze Zeit mit den Augen. Er war mir noch nie so nahe gewesen wie diesmal; ich sah ihm gerade ins Gesicht. Sein Blick war leer und erloschen, er sah zu mir hin, aber wie durch mich hindurch, weit in eine andere Welt hinein. Ich bemerkte, daß er graue Augen hatte. Er bewegte sein Gesicht nicht, und er lachte nicht. Als ich seine Hand von meiner Stirn wegschlug und sagte: »Nein, geh weg!«, zog er seine Hand langsam zurück. Während der Minuten, die er auf meinem Bett saß, blinzelte er niemals mit den Augen. Einige Monate später, als es Winter geworden und ich wieder von Hause gereist war, hielt ich mich eine Zeitlang bei einem Kaufmann auf, dem ich im Laden und auf dem Kontor half. Hier sollte ich dem Mann zum letztenmal begegnen. Ich gehe eines Abends auf mein Zimmer hinauf, zünde die Lampe an und entkleide mich. Ich will wie gewöhnlich meine Schuhe für das Mädchen hinaussetzen, ich nehme die Schuhe in die Hand und öffne die Tür. Da steht er auf dem Gang, dicht vor mir, der rotbärtige Mann. Ich weiß, daß Leute im Nebenzimmer sind, daher bin ich nicht bange. Ich murmele: »Bist du schon wieder da!« Gleich darauf öffnet der Mann seinen großen Mund wieder und fängt an zu lachen. Dies macht keinen erschreckenden Eindruck mehr auf mich; und diesmal merke ich: der fehlende Zahn ist wieder da! Er war vielleicht von irgend jemand in die Erde hineingesteckt worden. Oder er war in diesen Jahren zerbröckelt, hatte sich in Staub aufgelöst und mit dem übrigen Staub vereint, von dem er getrennt gewesen war. Gott allein weiß das. Der Mann schloß seinen Mund wieder, während ich noch in der Tür stand, wandte sich um, ging die Treppe hinab und verschwand. Seither habe ich ihn nie wieder gesehen. Und es sind jetzt viele Jahre vergangen. Dieser Mann, dieser rotbärtige Bote aus dem Lande des Todes, hat mir durch das unbeschreibliche Grauen, das er in mein Kinderleben gebracht, sehr viel Schaden zugefügt. Ich habe mehr als eine Vision gehabt, mehr als eine seltsame Begegnung mit dem Unerklärbaren – nichts aber hat mich so tief bewegt wie dies. Und doch hat er mir vielleicht nicht nur Schaden zugefügt – dieser Gedanke ist mir oft gekommen. Vielleicht ist er eine der ersten Ursachen gewesen, daß ich gelernt habe, die Zähne zusammenzubeißen und mich zu bezwingen. In meinem späteren Leben habe ich hin und wieder Verwendung dafür gehabt. Der Geist von Frederic Boutet In Nachschlagewerken und Literaturgeschichten sucht man seinen Namen meist vergeblich, obwohl viele seiner fantastisch-okkulten Erzählungen in Zeitschriften und Magazinen häufig abgedruckt wurden. Persönliche Daten, die Aufschluß über seine Biographie geben könnten, fehlen weitgehend. Eine Auswahl aus seinen unheimlichen Geschichten in deutscher Übersetzung (›Die Dame in Grün‹, 1971) ist inzwischen wieder vergriffen. Dennoch wird man sich seines Namens als Autor beklemmender makabrer Fantasien auch heute noch gern erinnern. —————————— Es war zehn Uhr abends, als Anatole vor dem verrufenen Hause ankam, in dem es spuken sollte. Er war ein tapferer junger Mann und ganz darauf vorbereitet, den größten Gefahren zu begegnen und das außerordentlichste Abenteuer zu bestehen. Dank der ihm gemachten Beschreibungen erkannte er das Haus ohne Mühe; es lag in einer kleinen verödeten Straße und war von einem Garten umgeben, dessen hohe Mauern es von den Nachbarhäusern isolierten. Vor der Türe war eine Tafel angebracht, auf der mit großen Buchstaben die Worte: ›Zu vermieten‹ geschrieben standen. Es schien jedoch, als ob keiner geneigt wäre, von dieser Mitteilung Gebrauch zu machen. »Hier ist es«, sagte Anatole, der ein wenig aufgeregt zu sein schien und alles mit scharfem Blick prüfte. »Hier ist es! Ich werde mir nichts vorschwindeln lassen.« Er hatte einen Schlüssel zu der über der Freitreppe befindlichen Türe. Er öffnete und betrat den großen Hausflur, auf dem er sich beim Lichte eines Wachsstreichhölzchens behutsam zu einer Steintreppe vorwärts tastete. »Es soll in dem großen, rechts gelegenen Räume der ersten Etage sein«, murmelte er, während er behutsam die Treppen hinaufschritt. »Dort ist, wie es scheint, der Ort ihres Stelldicheins. Gehen wir also dorthin. Sie irren gewaltig, wenn sie denken, uns mit ihren Taschenspieler- und Gauklerstücken Angst machen zu können.« Er hatte die erste Etage erreicht und bemühte sich, beim letzten verglimmenden Scheine seines Wachslichtchens die kupferne Klinke einer rechts befindlichen Türe niederzudrücken. »Herein«, rief ihm da plötzlich aus dem Innern des Zimmers eine freundliche Stimme entgegen. »Halt, da ist jemand«, murmelte Anatole ganz erstaunt und öffnete die Tür. Das große, höchst behaglich eingerichtete Zimmer wurde durch den hellen Schein eines in einem großen Kamin brennenden Feuers, sowie durch das Licht zweier auf dem Tisch stehender Armleuchter freundlich erhellt. Auf dem mitten im Zimmer stehenden Tische waren Likörflaschen und Gläser aufgestellt, während ein alter, sehr gut gekleideter Herr mit kahlem Kopfe bequem in einem grünen Sessel ruhte und sich die Füße am Feuer wärmte. Er hielt ein auseinander gefaltetes Zeitungsblatt in den Händen und blickte über seine Brille wegsehend, Anatole freundlich entgegen. Neben ihm auf einem Stuhle stand ein hoher Hut, in dem ein Seidentuch und Handschuhe steckten; daneben lag ein Stock mit silbernem Knopfe. Sein Überzieher hing über der Lehne des Stuhles. Der alte Herr rauchte eine Zigarre und blickte den etwas verlegen eintretenden jungen Mann lächelnd an. »So kommen Sie doch näher, mein lieber Herr Donore«, sagte er zu Anatole. Halt, er kennt mich, wer mag das wohl sein? dachte dieser, ein wenig verwirrt nähertretend. »Setzen Sie sich doch, bitte«, sagte der alte Herr. »Danke«, und Anatole nahm auf dem anderen vor dem Tische stehenden Sessel Platz, der seiner zu harren schien. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe«, fuhr er fort, »ich wußte nicht … In der Tat, man erzählt sich, und Sie haben doch auch ganz gewiß davon gehört, daß es in diesem Hause spukt, und da es meinem Freunde Pont gehört – Sie kennen Herrn Pont?« »Sehr gut«, sagte der alte Herr, »sehr gut, aber nehmen Sie doch ein Gläschen Cognac?« »Dann«, sagte Anatole, »wundert es mich nur, daß ich Sie niemals dort getroffen habe. Nein, danke, ich nehme keinen Zucker in den Cognac. – Und wie kommen Sie hierhin?« »Eine Zigarre?« bot der alte Herr freundlich an und schob Anatole das Kistchen zu. »Sehr gern. Nicht wahr, ich sagte Ihnen schon, daß ich hierher gekommen bin, weil man mir erzählt hat, es spuke in diesem Hause? … Pont hat es mir übrigens nicht mitgeteilt, daß wir die Nacht zu zweien verbringen würden … Ich bin übrigens sehr erfreut darüber«, fügte er hinzu, sein Glas leerend und sogleich wieder füllend, denn der Cognac war vorzüglich und Anatole war geistigen Getränken durchaus nicht abhold. »Haben Sie mich vielleicht hier erwartet?« »Ja«, sagte der andere. »Nun, ich finde, daß Pont mich davon hätte benachrichtigen können«, meinte Anatole, eine Zigarre ansteckend, »wirklich, das finde ich.« »Aber er hat es doch getan«, sagte der alte Herr ruhig. »So? Nun, jedenfalls habe ich keine Botschaft von ihm erhalten – – und, das ist eigentlich etwas peinlich für mich, denn ich komme mir hier beinahe wie ein Eindringling vor …« »Aber keineswegs, ganz gewiß nicht.« Und der alte Herr lächelte noch liebenswürdiger wie vorher. »Doch, ganz gewiß«, erklärte Anatole würdevoll, »es ist peinlich – wenn man einander nicht kennt –« Er machte eine Pause in der Hoffnung, daß der andere sich nun vorstellen würde. Dies geschah jedoch nicht und Anatole leerte, um seine Verlegenheit zu verstecken, sein Glas und füllte es wieder. »Ausgezeichnet«, sagte er, »ganz ausgezeichnet – aber da wir uns beide zum Zwecke einer wissenschaftlichen Untersuchung hier zusammengefunden haben, erlaube ich mir, Sie zu fragen, was Sie denn über die Gespenstergeschichten denken, die man über dieses Haus erzählt? Man hat mir besonders von dem spukhaften Erscheinen eines alten Dummkopfes, eines früheren Mieters zu berichten gewußt. Ganz gewiß ist, daß dies Haus sehr im Verrufe steht und sich daher nicht vermieten läßt. Ebenso steht fest, daß alle, die es versucht haben, eine Nacht darin zu verbringen, wie das jetzt unser Vorhaben ist, es nicht zum zweiten Male gewagt haben. Aber was ist der Grund all dieses Geredes? Weshalb spukt es in diesem Hause und was für ein Geist geht darin um?« »Ich«, sagte ruhig der alte Herr, Anatole über seine Brillengläser weg ansehend. »Sie«, rief Anatole bestürzt, »Sie scherzen wohl?« »Nein«, sagte der alte Herr, »das ist kein Scherz. Es ist Wahrheit. Ich bin es, den Sie eben erst den Geist eines alten Dummkopfes und früheren Mieters genannt haben.« »Teufel … Teufel auch«, murmelte Anatole, in sein Glas sehend. »Nein«, sagte der alte Herr. »Wieso, nein?« fragte Anatole. »Nein, ich bin nicht der Teufel; ich bin ein Gespenst, wenn Sie so wollen, ein Phantom, ein Schatten, ein Geist – alles, wie es Ihnen gefällt – aber ich bin nicht der Teufel.« »Das … das gefällt mir nicht«, gestand Anatole beunruhigt. »Außerdem verstehe ich nicht – – –« Er nahm abermals seine Zuflucht zu einem Gläschen Cognac. »Sie werden bald genug verstehen«, sagte das Gespenst herablassend. »Ich habe vor etwa fünfzehn Jahren, als ich noch sehr lebendig war, dies kleine Haus gemietet und elf Jahre darin gewohnt. Vor vier Jahren bin ich gestorben. Da bin ich natürlich in eine andere Welt eingetreten, in der ich jedoch aus persönlichen Gründen nicht dauernd bleiben konnte. Ich bin deshalb hierhin zurückgekehrt; um aber hier in Ruhe bleiben zu können, bin ich gezwungen gewesen, den Leuten, die es sich einfallen ließen, hier wohnen zu wollen, Angst einzujagen.« »Ich … verstehe«, sagte Anatole. »Das wundert mich nicht«, sagte der Geist, »da Sie wirklich sehr intelligent sind und das ist auch der Grund, weshalb ich geglaubt habe, Sie freundschaftlich und ohne Umstände empfangen zu können und daß ich es mir Ihnen gegenüber sparen könnte, mit Ketten zu klirren und Feuerzauber wirken zu lassen, mit dem man alte Weiber in Schrecken versetzt. Sie trinken aber gar nicht.« »Doch, doch«, sagte Anatole, sein Glas mit einer Mischung von Kirsch und Chartreuse füllend. »Aber verzeihen Sie die Frage: Sie sagten, Sie hätten in der anderen Welt nicht bleiben können – aber weshalb konnten Sie dies nicht?« »Ich glaube schon bemerkt zu haben, daß dies eine persönliche Angelegenheit gewesen«, bemerkte der Geist zurückhaltend. »Dennoch will ich Ihnen als Ehrenmann unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilen, was es damit für eine Bewandtnis hat. Ich starb also, nicht wahr, und man gab mir da natürlich eine Eintrittskarte für das Paradies, denn ich bin mein ganzes Leben lang ein gerechter und tugendhafter Mann von reinen Sitten gewesen, der sich treulich der Witwen und Waisen angenommen hat. So kam ich also in das Paradies … Und …« »Und?« fragte Anatole, sein Gegenüber mit Augen anstarrend, die infolge des reichlich genossenen Alkohols sich mit Tränen zu füllen begannen. »Und«, sagte der liebenswürdige Geist lächelnd, »ich fand sehr bald, daß ich es im Paradies einfach nicht aushalten konnte. Es wurde da immerfort musiziert, verstehen Sie wohl, es gab Musik vom Morgen bis Abend und vom Abend bis Morgen, Musik bei Tag und bei Nacht und allezeit, ohne Gnade und Barmherzigkeit. Dabei immer nur klassische Musik! Wenn man wenigstens mal eine Oper gehört hätte, ach, die schlechteste Oper mit den minderwertigsten Sängern, die meinetwegen auch noch falsch gesungen hätten! Es wäre doch mal eine Abwechslung gewesen. Dazu dann erst dies Publikum! Es gab nur streng tugendhafte Leute da, deren Ehrbarkeit so intakt war, daß man davor hätte fliehen mögen – gleichviel wohin. Ich habe mich da meines eigenen tugendhaften Lebenswandels schämen gelernt. Ich habe es ertragen, so gut ich konnte, vier Monate und acht Tage lang, da ging es nicht mehr und ich habe Fersengeld gegeben. Als St. Petrus mir die Himmelspforte aufgeschlossen, da habe ich ihm wohl angesehen, wie gern er meinem Beispiele gefolgt wäre, und als ich herausging, sagte er in traurigem, neiderfüllten Tone: ›Sie haben genug davon, was? … Sie machen sich davon. Ich wollte nur, daß ich das auch tun könnte. Diese verdammte heilige Musik! Volle achtzehnhundert Jahre habe ich das Gedudel nun schon anhören müssen.‹ Na, und ich bin dann zur Hölle herabgestiegen.« Anatole, der sich gerade einen in Eis gekühlten Kümmel zu Gemüte geführt hatte, spitzte die Ohren. »Nun und ist es in der Hölle amüsant?« »Das will ich meinen«, sagte das Gespenst bitter, sogar sehr amüsant. Aber – natürlich – es ist da auch nicht ein Platz mehr frei. Alles überfüllt. Ich hatte eine sehr gute Empfehlung und habe mich bemüht, eine Stelle als Unterteufel zu bekommen, aber der Chef des Personals hat mir ganz offen gesagt, daß ich nicht darauf rechnen könne. Es haben sich 11 780 212 Kandidaten vor mir dazu gemeldet, ohne von denen zu sprechen, die die ersten berechtigtsten Ansprüche auf Anstellung haben. Es warten noch drei Päpste und siebzehn Könige, wovon zwei Neger sind, darauf. Damit ist alles gesagt.« »Da hast du recht«, sagte beifällig Anatole, der immer eifriger dem Kümmel zusprach und anfing zärtlich zu werden. »Ja«, fuhr der arme Geist fort, »da ich also durch die Musik aus dem Paradiese vertrieben worden und in der Hölle keinen Platz finden konnte –« »Aber das Fegefeuer?« warf Anatole ein. »Das ist seit langer Zeit geschlossen«, sagte der andere. »Es haben sich da ganz unmögliche Dinge zugetragen. – Sehen Sie, mir blieb wirklich nichts anderes übrig, als auf die Erde zurückzukehren und da bin ich eben in meine alte Behausung eingekehrt, die ich nun schon gegen so viele Idioten, die durchaus darin wohnen wollten, tapfer verteidigt habe. Ich bin gezwungen gewesen, die alleralbernsten Farcen aufzuführen, nur um mir ein wenig Ruhe zu verschaffen. Ich bin einer alten Dame, die hier eingezogen ist, als Skelett mit einem von schwarzen Schleiern umwallten Totenschädel erschienen und habe sie so in Furcht gejagt, daß sie selbst gestorben ist. Einen praktischen Arzt, der sich als Freigeist aufspielte, habe ich durch Kettengerassel und durch feurige Schriftzeichen, die ich auf der Wand erscheinen ließ, zu verjagen gewußt. Man hat ihn schwer erkrankt von hier fortgebracht. Es ist wahr, daß das, was ich auf die Wand geschrieben, dazu angetan war, ihn mit Schrecken zu erfüllen. Dann ist ein phlegmatischer Engländer hier eingezogen, der der Sache auf den Grund gehen wollte und mich überall hin, sogar bis auf den Speicher verfolgte. Ich habe hartnäckig seine Kerze ausgeblasen und alle Türen vor ihm lautlos weit aufgerissen. Da verließ ihn sein Phlegma bald und er machte sich aus dem Staube. Darauf zog ein alter Oberst mit seiner musikalischen Tochter hier ein. Ich flüsterte dem jungen Mädchen, sobald es sich an das Klavier setzte, die tollsten Dinge in das Ohr und riß den Vater, wenn er sich zu Bett legte, an den Füßen heraus. Sie haben sich ebenfalls sehr bald fortgemacht. – Sie werden einwerfen, daß das banale abgedroschene Farcen seien, aber sie strengen weiter nicht an und ziehen immer noch. Auf diese Weise ist es mir denn gelungen, mir wirklich nach und nach ein wenig Ruhe zu verschaffen und wenn ich Ihnen dies alles heute abend erzähle, so geschieht es, weil ich Sie für sehr intelligent halte – obgleich Sie ja jetzt ein wenig angetrunken sind.« »Ich habe nichts getrunken«, sagte Anatole beleidigt. »Intelligent, obwohl augenblicklich etwas betrunken«, fuhr das Gespenst fort, »mein Zweck dabei ist, Sie zu veranlassen, Herrn Pont davon zu überzeugen, daß sein Haus wirklich unbewohnbar ist, wegen der Geister, die darin umgehen.« »Es ist nicht wahr«, sagte Anatole vertraulich werdend, »du bist kein Geist.« »Wieso?« fragte das Gespenst. »Nein«, erklärte Anatole, der so betrunken war, daß er kaum noch reden konnte, »nein … Gespenster … die sind nicht wie du … Die machen Angst … du aber … du machst mir keine Angst.« »Ich mache dir keine Angst«, sagte das Gespenst ärgerlich, »du dummer Bengel –« »Nein«, stotterte Anatole, »nicht die geringste Angst … Aber … du darfst mir keine Grobheiten sagen … nein … das … das tut mir weh. Du bist ein wenig betrunken, sonst aber wirklich ganz nett.« »Welch ein Dummkopf«, murmelte das Gespenst. »Es ist ein ebensolcher Idiot, wie die anderen auch. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm die gewohnten Hanswurstereien vorzumachen.« Und plötzlich verlöschten die Kerzen der Armleuchter und das Feuer im Kamin. Jedes, auch das kleinste Geräusch verstummte und Totenstille herrschte ringsumher. Vor Anatole aber erhob sich drohend die Gestalt des alten Herrn, der riesenhafte Verhältnisse angenommen hatte und mit dem Kopf bis zu der Decke des Zimmers ragte; dieser Kopf aber hatte kein menschliches Aussehen mehr, es war das eines Ungetüms mit weit vorstehenden furchtbaren Zähnen und mit feurigen Augen, die wie Irrlichter durch den unheimlichen, das Gemach erfüllenden Nebel leuchteten. Anatole, der plötzlich nüchtern geworden, stand einen Augenblick stumm, mit gesträubtem Haar und von Entsetzen überwältigt da. Der Geist aber streckte seine leichenfarbenen, mit langen Fühlfäden versehenen Hände drohend nach ihm aus. Anatole, der sich von einem namenlosen Grauen erfüllt fühlte, schrie laut auf vor Furcht und versuchte so schnell wie möglich den Ausgang zu gewinnen. Er prallte gegen den Kamin, verletzte dann seine Schulter an der Ecke des Büfetts und sprang, da er die Türe nicht finden konnte, endlich durch das Fenster. Auf diese Weise gelang es ihm ja ziemlich schnell, die Straße zu erreichen, wo er jedoch ohnmächtig liegen blieb. Er kam mit einem Schenkelbruch und verschiedenen ernsten Kontusionen davon. »Wenn ich bedenke«, murmelte der Geist des alten Herrn, der wieder seine ursprüngliche Gestalt angenommen hatte, »wenn ich bedenke, daß man doch immer wieder zu diesen abgedroschenen alten Farcen zurückgreifen muß! Dabei wird behauptet, die Menschen seien skeptisch geworden!« Die Kleinodien des Tormento von Paul Busson Der österreichische Schriftsteller Paul Busson, 1873 in Innsbruck geboren und 1924 in Wien gestorben, war Offizier, dann Redakteur. Er schrieb Gedichte, Novellen, Romane sowie Jagd- und Tiergeschichten. Eine echte Trouvaille ist seine fantastische Geschichte ›Die Kleinodien von Tormento‹, die 1905 in der österreichischen Rundschau erschien. —————————— Mit einem heftigen Ruck hielt die Droschke vor einem großen, vornehmen Hause. Der junge Arzt stieg eilig aus und lief am Portier vorbei die breite Treppe hinauf. Im ersten Stock, in der halbgeöffneten Wohnungstüre, wartete der Diener, der ihn soeben telefonisch aus dem Kaffeehaus gerufen hatte. Auf dem kleinen Messingschild stand der Name: Jerome Kerdac. Der Diener schloß sofort die Türe hinter dem Eingetretenen, nahm ihm Hut und Mantel ab und schob ihn mit zitternden Händen in ein großes, halbdunkles Zimmer; der Hebel klappte – helles Licht strahlte von einem venezianischen Glaslüster aus. Dr. Klaar schritt auf das breite Bett zu, in dem der Kranke lag. Im Licht kreiste noch eine dünne Wolke bläulichen Pulverdampfes. Es roch nach versengtem Leinen. Des Doktors Fuß stieß an einen harten Gegenstand – es war der Revolver, mit dem Kerdac sich angeschossen hatte. Der Mann im Bett hielt die Augen geschlossen. Sein weißes Gesicht war mager und unbeweglich, und er atmete ganz schwach. Der Arzt beugte sich über ihn und hob die emporgezogene Bettdecke. Unter der linken Brust war der Revolver angesetzt worden. Ein rundes, kleines Loch mit dunklen Rändern, ein paar feine Blutspritzer auf dem Hemd neben den verkohlten Stellen, die den Kugelriß im Hemd umgaben, das war alles. Vorsichtig glitt des Arztes Hand über den Rücken des Bewußtlosen. Die Kugel befand sich noch im Körper. Das Herz schien verletzt zu sein. Viel war jedenfalls nicht mehr zu machen. Dr. Klaar ließ sich noch einmal kurz informieren. Der Diener sprach schluckend und stotternd; er hatte sich von seinem Schreck offenbar noch nicht erholt. Sein Herr sei schon seit einiger Zeit hochgradig nervös und melancholisch gewesen; ohne eigentlich krank zu sein, wollte er oft wochenlang das Bett nicht verlassen, auch habe er Tage hindurch keine Nahrung zu sich genommen. Manchmal hätte er, wie es schien, Fieber gehabt, irre geredet und Schreckbilder gesehen, die ihn bedrohten. Besonders nachts hätte er häufig laut gestöhnt und aufgeschrien, so daß er, der Diener, mehrmals zu Tode erschrocken ins Zimmer geeilt wäre, um seinem Herrn beizustehen. Der Herr habe ihm aber solches stets sehr barsch untersagt und ein für allemal verboten, nachts bei ihm einzutreten, wenn nicht geklingelt würde. Heute habe der Herr einen besonders schlimmen Tag gehabt, sehr viel geächzt und gejammert und keinen Bissen gegessen. Um halb sechs Uhr abends hätte er geläutet und ihn mit einer Kommission beauftragt, für die beiläufig eine Stunde erforderlich war. Er wäre aber mit seiner Arbeit nicht gleich fertig geworden, hätte sich um ungefähr zwanzig Minuten verspätet, als im Schlafzimmer ein dumpfer Knall erfolgte. Und als er sah, daß sein Herr auf sich geschossen, wäre er augenblicklich zum Telefon gelaufen und hätte ins Cafe Zentral telefoniert, wo, wie er zufällig wußte, die Herren von der Klinik ihre Zeitung lasen. Das sei aber schon vor einer Viertelstunde geschehen. »Gut«, sagte der Doktor, »Sie werden mir Papier und Tinte geben und dann mit dem, was ich aufschreibe, sofort ins Polizeigebäude gehen. Es ist meine Pflicht, gleich die Anzeige zu erstatten.« Im selben Augenblick bemerkte der Arzt, daß Kerdac die Augen weit geöffnet hatte und die Lippen bewegte. Er eilte hin und beugte sich über den Schweratmenden. »Schicken Sie den Diener in sein Zimmer«, flüsterte Kerdac, »ich möchte mit Ihnen sprechen.« Dr. Klaar bat ihn, sich ruhig zu verhalten; er wolle nur etwas aufschreiben und in die Apotheke senden. »Apotheke – nicht wahr?« stöhnte der Kranke. »Ich habe alles gehört, was gesprochen wurde. Wozu die Polizei? Es wird sehr bald aus sein. Ich möchte Ihnen Wichtiges mitteilen.« Er brach ab und begann auf der Decke zu fingern. Sein Gesicht verfiel rasch und die Nase wurde spitzig. Das hippokratische Gesicht – dachte der Arzt und dann fiel ihm ein, daß es in diesem Falle wohl gleichgültig und ganz und gar seine Sache sei, wenn die Polizei die Meldung um zehn Minuten später erhielt. Er beschloß, den Willen des Sterbenden zu erfüllen, wies den Diener an, sich in seinem Zimmer bereit zu halten und setzte sich dicht neben den Kranken, der dankbar lächelnd die Oberlippe emporzog. Es widerstrebte ihm, den Armen noch mit der Untersuchung durch die Sonde zu quälen. Seiner Schätzung nach steckte das Blei im unteren Teil des Herzbeutels. Wie durch ein Wunder vermochte das Organ noch auszuhalten. Mühsam pumpte es noch einige Zeit das Blut durch den Körper – mit immer schwereren Schlägen. »Greifen Sie unter mein Kopfkissen«, murmelte Kerdac. Der Arzt erfüllte seinen Wunsch und zog ein schmales Kästchen aus rotbraunem Maroquinleder hervor. Auf dem durch die Zeit glänzend poliertem Deckel war ein Wappen in Reliefpressung: eine geflügelte Schlange mit einem Frauenkopf. Darunter stand in lateinischen Buchstaben A Tormento. »Sehen Sie alles genau an«, sagte Kerdac. »Ich sterbe noch nicht. Mir ist ganz wohl.« Seine Lider klappten herunter, so daß der Arzt sich erschrocken vorbeugte. Kerdac lag bewegungslos und atmete regelmäßig, wenn auch sehr schwach. Dr. Klaar öffnete das Kästchen. Es war mit ehemals weißem, längst gelblich gewordenem Samt gefüttert. In zwölf halbrunden Vertiefungen lagen dünne Steinschliffe, glatt und durchsichtig, darüber, wie ein Schutzdeckchen, eine Halbmaske, aus brüchiger, schwarzer Seide. Die Maske hatte nur eine einzige runde Öffnung an der Stelle des rechten Auges, und diese war mit einer Art von vorstehendem Rand versehen, als sollte ein kleines Augenglas eingeschoben werden. Ein schmaler Pergamentstreifen, der in der Maske lag, war ebenfalls mit lateinischen Buchstaben bedruckt oder sehr geschickt beschrieben. Der Doktor blickte fragend auf den Kranken und sah dann wieder den Zettel an, als jener die Augen beharrlich geschlossen hielt. Der Inhalt war ihm vollkommen unverständlich, sowohl die Überschrift als alles andere: Die wahren Kleinodien des Tormento. Januarius. – Hyacinth. – Eva. Februarius. – Amethyst. – Poppäa. Martius. – Heliotrop. – Salome. Aprilis. – Saphir. – Selene. Majus. – Smaragd. – Diana. † Junius. – Chalcedon. – Nahema. † Julius. – Carneol. – Astarte. Augustus. – Onyx. – Semiramis. September. – Chrysolith. – Lilith. Oktober. – Aquamarin. – Undine. November. – Topas. – Roxane. Dezember. – Chrysopras. – Helena. Rufe alle, nur Nahema nicht! Dr. Klaar hat laut gelesen. Wie ein verwehtes Echo klang es von den Lippen des Verwundeten: »– – – nur Nahema nicht –!« Und dann sah Kerdac mit erstaunten Blicken, wie aus tiefem Schlaf erwacht, den Fremden an, der da an seinem Lager saß, und betrachtete die wohlbekannten Gegenstände in seinem Zimmer. »Ich war bewußtlos?« fragte er mit schwacher Stimme. »Ich fühlte, wie ich versank – – immer weiter ins Schwarze – – –« Ein heftiger Schauer überlief seinen Leib. Seine Hand haschte nach der des Arztes. »Sagen Sie, – Herr Doktor –, es – ist also keine Rettung –? Wenn man eine Operation vornähme?« Dr. Klaar sah unwillkürlich weg und versuchte, den Kranken mit den üblichen, nichtssagenden Phrasen zu trösten und ihm Mut einzureden. Es war nicht das erstemal, daß er bei einem Selbstmörder dieses entsetzliche Erwachen mitansah, die jähe Erkenntnis einer unsinnigen, jämmerlichen Tat, die nicht mehr gutzumachen war. – Er dachte an jene arme Näherin, die vor drei Wochen in seinem Spital an Phosphorvergiftung gestorben war, – bis zum Schluß trotz ihres bitteren Lebens, das sie ungeschickt und qualvoll beendigen wollte, mit allen Gedanken auf Genesung hoffend. Und doch hätte dies Gesundwerden nichts anderes für sie bedeutet, als ein Weiterschreiten auf ihrem Leidenswege, doppelt schwer zu ertragen um des kleinen, krüppelhaften und namenlosen Geschöpfes willen, das sie, verlassen wie ein Tier auf der Heide, in ihrer frostigen Dachkammer zur Welt gebracht hatte. – Glücklich die, die sich schnell zu töten wußten, die hinüberschliefen oder die das Ende blitzartig traf, mitten im blühenden Leben, so schnell, daß sie keinen Gedanken mehr denken konnten. Kerdac hatte Tränen in den Augen, als er die Miene des Arztes sah. Aber er war tapfer genug, sich abzufinden. »Dann will ich Ihnen alles erzählen«, sagte er leise, »Sie allein sollen es wissen.« »Sie sollten nicht viel sprechen«, erwiderte Dr. Klaar und sah unschlüssig auf die Uhr. Er wunderte sich, daß er hier saß, anstatt die vorgeschriebene Anzeige zu erstatten. »Bitte – bleiben Sie da – – –« Ein tiefes Stöhnen, dem ein schluchzender Laut folgte, zeigte die krampfartigen Schmerzen Kerdacs an. Er hielt die Hand des Arztes mit hilflosen, schwachen Fingern so fest als möglich umspannt, als fürchtete er, allein und einsam sterben zu müssen, und könne ihn so halten. Als er sich ein wenig erholt hatte, begann er hastig zu sprechen; allmählich wurde seine Stimme ruhiger und vernehmlicher, wenn auch so leise, daß der Doktor sein Ohr dem Munde des Schwerverletzten nähern mußte, um ihn vor gefährlicher Anstrengung zu bewahren. Während der ganzen Erzählung hielt Dr. Klaar das seltsame Kästchen in der Hand. »Niemand wird um mich trauern«, sagte Kerdac, »ich habe niemanden, der mich liebt. Ich bin seit meinem zehnten Jahr immer allein gewesen, ganz allein. Verstehen Sie, wie traurig das ist? Wissen Sie, was so ein armer, verschüchterter und freudloser Bub leidet? Pah –! Das kann niemand wissen! – Es ist ja so lange her. – Später, als ich aus dem Institut, in dem ich meine ganze sonnenlose Jugend verbracht hatte, herauskam, schickte man mich auf die Universität. Als ich vierundzwanzig Jahre alt wurde, erhielt ich ein Schreiben der Vormundschaftsbehörde; man gab mir mein Vermögen heraus, das ein alter, griesgrämiger Notar, der sich sonst um sein Mündel nicht gekümmert hatte, verwaltete. Ich nahm diese Tatsache mit jener stumpfen Gleichgültigkeit, mit einer Passivität auf, die mir zur zweiten Natur geworden war. Ich lebte nun besser als früher, hatte eine große, von einem kunstsinnigen Tapezierer ausgestattete Wohnung und vergrub mich in meine Bücher. Bücher kaufen war übrigens der einzige Luxus gewesen, den ich mir bisher gestattet hatte. Ich interessierte mich, wohl infolge meines einsamen, verinnerlichten Lebens, außerordentlich für seltene, okkultistische Werke. Mit der Zeit sammelte ich eine ziemlich große Anzahl solcher Bücher, vom Agrippa von Nettesheim bis zu modern-spiritistischen Schriften. – Ich befaßte mich voll leidenschaftlichen Eifers mit der Entzifferung und Auslegung unbekannter, orientalischer Manuskripte. Nebenbei versuchte ich, praktische Magie zu betreiben. Aber abgesehen von flüchtigen Halluzinationen und visionären Traumbildern, die wohl nur infolge der dabei vorgeschriebenen Räucherungen mit aromatischen, zum Teil giftigen Stoffen entstanden, erlebte ich nichts, was mich den Geheimnissen, die ich ergründen wollte, näherbrachte. Einige Menschen, die ich im Lauf der Jahre kennenlernte und die sich im Verborgenen mit ähnlichen Dingen abgaben, behaupteten zwar, mehr als ich erkannt zu haben. Sie glaubten es vielleicht wirklich. Einmal wurde ich mit einem Menschen bekannt gemacht, der im Besitze unerhörter Zauberkräfte sein sollte und sich für einen Orientalen ausgab. Mit unerschütterlicher Geduld lauschten seine Jünger den Fantasien dieses Menschen, der im Grunde nur ein harmloser Schwindler war und sich auf seine Weise kleine Annehmlichkeiten ergatterte. Seine magnetischen Kuren veranlagten die Behörde, ihn in sein Heimatdorf in Bayern abzuschieben. Und so war auch das nichts gewesen. – Bitte, trocknen Sie mir die Stirne, Doktor!« Der andere betupfte mit einem Tuch vorsichtig die Stirne Kerdacs, die mit großen Schweißperlen bedeckt war. Vielleicht ließ sich dies arme Leben doch noch etwas verlängern; die Nadel der bereitgehaltenen Pravaz-Spritze drang leicht durch die schlaffe Haut des Unterarmes. Die Injektion schien Kerdac wohl zu tun, er atmete tief auf und fuhr etwas lebhafter fort: »Das habe ich Ihnen erzählt als eine der vielen Enttäuschungen, die ich erlitt. Es war immer dasselbe. In Indien, in Darbhangah, zeigte mir ein Fakir für zehn Rupien das berühmte Wachsen des Mangobaumes. Unter fortgesetzten Beschwörungen entsproßte dem eingepflanzten Samenkern eine hellgrüne, junge Pflanze, die immer höher wuchs, nachdem sie jedesmal mit einem Tuch bedeckt worden war. Schließlich entriß ich dem schreienden Kerl Topf und Pflanze – der Samenkern war gespalten und mit großer Geschicklichkeit ein abgeschnittener Mangosprößling hineingeklemmt. Im Tuch waren noch vier Stämmchen, eins immer größer als das andere. Warum ich das erzähle? Um Ihnen zu beweisen, daß ich kein Neuling bin in diesen Dingen und Trug von Wirklichkeit wohl zu unterscheiden vermag. Um Ihnen begreiflich zu machen, daß das, was mich zu jenem unglückseligen Revolverschuß trieb, mehr war, als die Träume eines erregten Gehirns. Es war Wirklichkeit – ach, so schöne Wirklichkeit, und wieder so entsetzlich, daß kein Lebender sich das Maß von Grauen vorstellen kann, das ich durchlebt habe. Nach den vorhin geschilderten Erlebnissen verbannte ich meine Zauberbücher in die Tiefe eines großen, verschlossenen Schrankes und ging ohne allen Gehirnballast auf Reisen. Es half mir nichts. Mein melancholisches Gemüt wurde nicht heiterer durch den raschen Wechsel der Eindrücke. Es lag ja in mir selbst, daß die Sonne am Mittelmeer anderen fröhlicher und heller strahlte als mir, daß mir die Rosen in Fiesole garstig und beklemmend dufteten, daß das blaue Meer nach Fischen und faulem Tang roch. In meinem Auge mußte ein Fehler sein, mein Gehör hatte gewiß eine häßlich mitklingende Saite. Wie wäre es sonst zu erklären, daß ich an einer schönen Frau nichts anderes sah als ein Flöckchen Ruß, das der Wind an ihre Wange geweht und der Schleier verwischt hatte? Daß ich in einem Beethoven-Konzert die immer wiederkehrenden Anfangstakte eines Gassenhauers heraushörte? Warum sah ich in einem Stück, das andere Menschen in ihren Seelentiefen erschütterte, nur schmutzige Sofitten und die Runzeln des Schauspielers, der den jugendlichen Liebhaber gab? Ich war es! Ich litt an mir selbst! Einmal war ich verliebt. Rasend, unsinnig – ich konnte nur in ihrer Nähe leben. Mag dieser Ausdruck banal klingen – er ist trotzdem gut. Diesmal sah ich keine körperlichen Fehler. Aber ich wurde von einer höllischen Eifersucht gepeinigt. Ich wußte, daß ich betrogen würde. Ich wußte zugleich, daß es nicht so war. Verstehen Sie mich? Ich konnte nicht anders – es stieß mich etwas, von der Geliebten schlecht zu denken und ich quälte die einzige Frau, die für mich auf der Welt war, mit meinem beleidigenden Mißtrauen, mit meiner höhnischen Resignation, bis sie, gekränkt und in ihren zartesten Gefühlen roh verletzt, weinend von mir ging. Und damit war für mich eigentlich alles aus, daran bin ich auch zugrunde gegangen. Ganz gewiß.« Kerdac seufzte tief auf. Eine große Schwäche und ein Muskelzittern, das der Vorbote des nahen Endes zu sein schien, kam plötzlich über ihn. Aber diesmal ging es noch vorüber, und er erzählte weiter: »Ich kann mich an nichts erinnern, das mir wirkliche Freude gemacht hätte. Ich habe alles versucht und alles hat mich enttäuscht; ich war unzulänglich, der Freude unfähig. Ich gab auch schließlich jeden Versuch, mein Leben zu verschönern, als nutzlos auf und geriet wieder in den alten Zustand vollkommener Lethargie. Ich stand auf, wenn ich genug geschlafen hatte, aß, trank und trieb mich zwecklos und gleichgültig auf den Straßen herum. Eines Abends – ich lebte damals in Paris – saß ich in einem Boulevardcafe und trank ein Glas Bier. Es war ein warmer Regentag im Frühjahr. Die Lichter spiegelten sich in den nassen Trottoirs. Ströme von Menschen kamen vorüber. Einzelne lösten sich aus der Masse, kamen ins Cafe, andere, die herausgingen, verschwanden sofort in dem lebenden Strom. Mich unterhielt es fast, diese kleinen Vorgänge, die einer Symbolik des Lebens glichen, zu beobachten. Auf einmal bemerkte ich, daß sich jemand an meinen Tisch gesetzt hatte, was mich sehr nervös machte. Ich sah den Menschen unfreundlich an. Es war ein armseliger, schlecht gekleideter Jude, mit rötlichem, zerzaustem Bart und unruhig-ängstlichen Augen. Er trank in kleinen Schlucken einen süßen Likör und nahm so wenig Platz ein, als nur möglich. Als er sah, daß ich ihn bemerkt hatte, machte er eine erschrockene, hastige Verbeugung. Nach einiger Zeit redete er mich in schlechtem Französisch an, mit dem singenden Ton seiner Rasse. Er sprach sehr verlegen und stockend und ich merkte bald, wo er hinaus wollte. Erst heute war er, wie er sagte, in Paris angekommen, mit seiner Frau und drei kleinen Kindern, von denen eines sehr krank sei. Er wolle sich hier eine Existenz gründen, sei aber heute den ganzen Tag vergeblich herumgelaufen und könne vor Hunger und Müdigkeit nicht mehr stehen. Seine Frau wartete auf ihn, irgendwo weit draußen. Und er habe keinen Sou in der Tasche, um den Kindern Brot zu kaufen. Ich sah ihn ärgerlich an, zuerst an einen jener zahllosen, unverschämten Bettler denkend, die von irgendeiner trübseligen, eingelernten Phrase viel besser leben als mancher brave Arbeiter. Aber seine Augen waren mit so heißer, verzweifelter Bitte auf mich gerichtet und hafteten mit so banger Erwartung an meinem Gesicht, daß ich ihm, meiner Absicht entgegen, ein Fünffrankenstück zuschob. Er brach in eine Flut von Danksagungen und in naive Segenswünsche aus, so daß er mir im höchsten Grade lästig erschien. Als er mich gar noch fragte, ob ich ihm nicht etwas abkaufen wolle, sagte ich in barschem Tone, er solle sich fortmachen. Aber er blieb ganz ruhig sitzen und nahm das Kästchen, das Sie, Herr Doktor, in Ihrer Hand halten, aus der Tasche und reichte es mir. Es sei von einem vornehmen Herrn aus Wien, der sich erschossen und aus dessen Nachlaß er es erstanden habe. Eine große Rarität müsse es sein und sehr alt. Er habe seinen Rabbi gefragt, was es sei, der habe ihm aber sehr streng befohlen, das alles zu verbrennen und es unter keinen Umständen zu verkaufen. Das wäre aber doch schade und er sei ein armer Mensch. Ob ich zwanzig Franken geben würde? Widerwillig öffnete ich das Etui, sah den rätselhaften Inhalt an und kaufte es sofort. Seit langer Zeit hatte mich nichts mehr erregt oder interessiert – dieses Kästchen mit der Maske und dem Pergamentstreifen wirkte auf mich wie ein kühler Trunk auf den Verschmachtenden. Ich steckte es sofort zu mir. Der Jude nickte mir noch dankbar zu und sagte Segenswünsche vor sich hin. Er verschwand ebenso, wie er gekommen war. Ich sah einen Moment fort, und als ich mich wieder dem Tisch zukehrte, war er verschwunden; das Goldstück hatte er im letzten Augenblick nicht zu nehmen gewagt; es lag dicht bei meinem Arm. Er hatte offenbar einen kurzen, schweren Kampf mit sich selbst gekämpft. Das tat mir recht leid. Ich hätte dem armen Kerl das Geld gerne geschenkt. Ich habe ihn nie mehr in meinem Leben gesehen. So eilig als möglich fuhr ich nach Hause. Ich hatte eine sehr hübsche Wohnung in der Nähe der Madeleine. Durch den Diener ließ ich mir ein kaltes Souper holen und blieb zu Hause. Nach dem Essen betrachtete ich das Kästchen und seinen Inhalt aufs genaueste. Vergebens aber suchte ich in meinen Büchern nach einem bekannteren Magier namens Tormento, dessen ›wahre Kleinodien‹ vor mir lagen.« Ein neuerlicher Anfall ließ Kerdac verstummen. Erst nach langen Minuten, die der Arzt in beständiger Erwartung des Endes, in einer ihm unbegreiflichen Erregtheit durchlebte, öffnete jener wieder die farblosen Lippen, um zu sprechen. »Ich muß mich eilen«, stammelte er. »Es geht jetzt rasch abwärts. – Ich sprach von dem ersten Abend? – Nun – ich habe das Geheimnis erst nach Wochen, nach einer Zeit nervösen Suchens und Grübelns gefunden. – Es war an einem Septemberabend, als ich wieder einmal die Maske vornahm und den Monatsstein, also den Chrysolith, in die runde Öffnung schob. Ich hatte den Versuch schon hundertmal gemacht. – Wie sonst, so starrte ich auch heute durch das Plättchen gegen das Licht. Im Gegensatz zu anderen Versuchen beschloß ich diesmal zu warten, bis irgend etwas sich zeigen würde, und war bereit, die ganze Nacht auszuharren. – – – Wie lange es dauerte, weiß ich nicht mehr. Sehr lange jedenfalls. Später ging es viel rascher. – Ich sah also stundenlang durch den gelben Stein – wie gebannt. Und plötzlich, ganz von selbst, möchte ich sagen, rief ich den Namen Lilith unzählige Male aus. Auf einmal war es mir, als bilde sich im Mittelpunkt des durchsichtigen Scheibchens etwas wie eine kleine Wolke. Doch nein – jetzt schien es außerhalb zu liegen, in der Ecke des Zimmers. Mein Denkvermögen begann einzuschlafen – ich sah nur unverwandt die gelbe Wolke an, wie sie wuchs und wuchs und wie es sich in ihr regte. Ich saß wie gelähmt. – Immer deutlicher sah ich die Gestalt einer Frau – einer nackten Frau mit langen Haaren. Dann verlor ich wohl die Besinnung, denn als ich mit dem Gefühl des Erwachens die Hände wieder bewegte, war die Erscheinung verschwunden. Ich dachte zuerst an eine lebhafte Halluzination, die durch Autohypnose, durch die systematische Überreizung der Sehnerven nur zu erklärlich schien. Ich ging dann aus; den ganzen Abend, selbst im Theater – in einem blödsinnigen Vaudeville tauchte immer wieder das Wort, der Name Lilith in mir auf. Ich erinnere mich, daß ich verschiedenes darüber gelesen hatte. – Eine Teufelin – Adams erste Frau – – – der Succubus des Mittelalters. Ich war schrecklich müde und ging früh nach Hause. Als ich im Bett lag, schlief ich fast augenblicklich ein. Und ich erwachte fast ebenso schnell – durch die Berührung eines Körpers, der mir nahe war. Eine Frau war in meinem Zimmer – – – schön wie ein Traumbild – in langes, goldenes Haar gehüllt, das knisternd über ihre Schultern floß. Blaue Fünkchen sprangen durch das Goldgespinst. Und das Seltsame war, daß ich weder Staunen noch Schreck fühlte. Ich fand es selbstverständlich, daß sie gekommen war. Ich wußte, daß dieser schlanke, biegsame Leib der meiner Geliebten, der Teufelin Lilith, war. Ach – ich hatte sie ja schon gekannt! Ich sah sie gewiß nicht zum ersten Male. Ich kannte die süßen Lippen, diese hellblauen Augen mit den winzigen Pupillen, die geschlitzt waren wie die der Katzen. Und ich suchte nach dem Blutströpfchen, daß sie wie einen Rubin auf der Unterlippe trug. Ich wußte, daß es immer auf ihrem blaßroten Munde zitterte. – Auch dieses gelbliche, dämmernde Licht, das mich mein Zimmer erkennen ließ, erschien mir als etwas längst Gewohntes. Ich dachte aber das alles nicht – ich fühlte nur – ich fühlte alles – unaussprechlich deutlich und doch mit Worten nicht auszudrücken. So wie man Musik denkt – oder Farben – ich weiß es nicht zu sagen. Nur Wortgedanken, Begriffe waren mir in dieser und anderen Nächten etwas Fremdes, Plumpkörperliches, das mich sofort aus ihren Armen gerissen hätte. Stellen Sie sich vor, Sie könnten Töne, Harmonien mit allen Sinnen wahrnehmen, – fühlen, – riechen, sehen – Doch nein! Ich kann Ihnen das nicht sagen –. Es war die Seligkeit. Ich löste mich in eine purpurdunkle Flamme auf – ich verging in Wonnen, die keiner ahnt –. Ich drehte mich in betörenden Lichtwirbeln, – körperlos und doch mit den Sinnen fühlend –. Ich wurde eins mit der Frau –, ein einziges göttergleiches Wesen –. – – – Als mich mein Diener mit sanftem Rütteln weckte, war es hoher Mittag. Ich stand taumelnd auf –, betäubt, müde und vernichtet. An meinem Halse war ein dunkles Mal – das zerdrückte Kissen trug einen leuchtenden Flecken. Es war Blut – Liliths Abschiedskuß –! An dem Tag ging ich nicht unter Menschen. Ich wollte niemanden sehen. Das Licht verging wieder, – der Abend kam. Ich lag wieder im Bett und erwartete die Geliebte, als sich meine brennenden Lider senkten. Aber ich schlief die ganze Nacht, traumlos und fest. Sie kam nicht zu mir, – weil ich sie nicht gerufen hatte. Von nun an lebte ich des Nachts und trug den Tag mit seinem Lärm und allen seinen hellbeleuchteten Häßlichkeiten wie einen Alp. Nachts war ich ein König, – nichts auf Erden glich meiner Herrlichkeit und ich achtete wenig auf den elenden Leib, der fiebernd und blutarm den Flug des Geistes büßte. Ich betrachtete meinen Körper als eine wertlose Maschine, die ebenso lang in Gang bleiben mußte, als es möglich war. Kaum, daß ich das Nötigste an Nahrung zu mir nahm. Oh, diese Nächte, mein Freund! Alle kamen sie in ihren Monaten, von mir gerufen. Eva, die Mutter der Menschheit, in Jugendschöne, die schlanken Glieder mit seidenweichem Flaum bedeckt, ein Kinderlächeln um den unschuldigen Mund. Astarte, die dunkelbraune Göttin mit den glühenden Augen, im Goldgewand und schwerem, kühlem Schmuck. Selene, blaß und süß in blau-silberner Tunica, Roxane mit dem Duft nach Ambra und gelben Rosen. Mit der blonden Poppäa wandelte ich durch schimmernde Säulengänge. Ihr violetter Mantel raschelte leise, und ich küßte ihr weißes Gesicht. Diana, geschmeidig und sonnverbrannt, erwartete mich unter den Korkeichen der Pyrenäen, und mit der silberbehelmten Semiramis stand ich in der betäubenden Blütenpracht ihrer Gärten. Undine umschlang mich mit dünnen Mädchenarmen und schüttelte lachend blitzende Tropfen aus den grünen Haaren. Zum dumpfen Dröhnen der Handpauken, bei gellendem Pfeifenklang und Harfenrauschen tanzte Salome jenen Tanz, der einst Herodes berückte; ihre dunkelgrünen Schleier waren mit dem Blut des Täufers besprengt. O – noch höre ich Helenas leises, berückendes Lachen und sehe den breiten Erzgürtel, der klirrend von den schmalen Hüften fällt – – –. Ach – über meine verlorene Seligkeit! – Endlich tat ich das, was verboten war. Es setzte sich in mir fest und wurde zur quälenden Idee. Nahema! – Ich kämpfte und litt. Und ich unterlag. Am ersten Tage des Juni –. Ich rief sie –. Sie war die Schönste von allen und trug einen weiten Mantel, grau und fein, wie die Flügel der Fledermaus. – Neben ihr erschien alles wesenlos, – Schmerz und Wonne verloren ihre Grenzen – – – jeder Nerv schien für sich zu leben, alles Fühlbare zu ungeheurer Intensität anzuwachsen. Ich weinte vor Glück und wartete auf die Nacht, ich lebte erst, wenn die Dämmerung kam, die die Farbe ihres Mantels trug. Und sie kam Nacht für Nacht. Die anderen Steine hatten für mich ihre Kraft verloren – – –. Dann kam das Grauen. Sie trug es in ihrem Mantel –. Ihr holder Leib begann sich zu verändern – jede Nacht erschien sie mir älter. Falten zeigten sich auf ihrer Stirn – ihre Augen umgaben mißfarbige Schatten –. Eine Nacht schien von der andern durch Jahre getrennt zu sein –. Zuletzt – war sie eine Lemure mit schlaffer, pergamentner Haut und zahnlosem Munde –. Sie peinigte mich mit abscheulichen Liebkosungen – sie kam jede Nacht – und sie sagte mir, – daß ich sterben müsse, damit sie sich verjünge –. Ich müsse mich töten. Sie sagte es fortwährend. Sie flüsterte es mir auch bei Tag in die Ohren. Auch der in Wien mußte gehorchen –. – Und Tormento, – das heißt: – Die – Qual –« Der Kranke stieß plötzlich einen schrillen Schrei aus und öffnete weit die Augen. Sein Unterkiefer fiel auf die Brust – –. Dr. Klaar beugte sich erschrocken zu ihm. – Jerome Kerdac war tot. – Aus der Schußwunde sickerte ein wenig schwarzes Blut –. Der Arzt rief den Diener und ging mit unsicheren Schritten die Treppe hinunter. Das Kästchen trug er bei sich. Nun saß er schon über vier Stunden und schaute durch die Maske. Grünbläulich leuchtete vor seinem schmerzenden Auge der dünne Aquamarinschliff –. Es war totenstill im Zimmer. Den Namen hatte er gesprochen, auch die Bildung eines Wölkchens gesehen – – –, aber immer wieder hatte ihn sein beobachtender Verstand geweckt. Lieber Gott, das war ja Blödsinn! Ärgerlich riß er die Maske ab und rieb das gereizte Auge. Es war überhaupt einer von jenen Abenden, an denen eine wilde Schwermut, ein bleiernes Gefühl verlorener Zeit das Herz des Einsamen befällt. Einer jener Tage, da die totgeglaubten Wünsche und verdorrten Hoffnungen Macht über uns gewinnen. Und in betrübender Reihenfolge tauchen Gedanken und Vorstellungen auf, die wir längst überwunden glaubten. – Dr. Klaar ging verdrossen aus dem schlechten Restaurant, in dem die jungen Ärzte speisten, nach Hause. Sein Zimmer mit der schwelenden Lampe, den ripsbezogenen Möbeln und dem häßlichen, längst erkalteten Ofen brachte ihn fast zum Weinen. Dann faßte er sich so weit, daß er seine Verstimmung auf die nervenerschütternden Vorgänge des Nachmittags zurückführen konnte. Und dadurch wurde er etwas ruhiger. Schon zum zweiten Male war er aufgefahren. Etwas Nasses oder Kaltes hatte sein Gesicht berührt, und es war ihm, als schwinde ein zarter Schatten von seinem Bett, in das Dunkel der Ecken sich auflösend. – Er rieb sich die Augen und betrachtete blinzelnd die ruhig brennende Flamme des Nachtlichtes. – Dann schlief er wieder ein. Nach wenigen Minuten erschrak er so heftig, daß er noch im Halbschlaf aus dem Bett sprang. Etwas huschte vor ihm her – eine fast durchsichtige Mädchengestalt – und war auch schon verschwunden. – Auf dem Läufer vor dem Bett waren zwei nasse, längliche Flecken – – – auf dem Parkett die feuchten Spuren kleiner, schmale Füße. – – – – – – Dr. Klaar schrie auf, wie ein erschrecktes Tier – – –. Das Wasser verdunstete schnell – – – der Boden sah aus wie vorher. Und der Arzt stand noch immer an seinem Bett und lallte vor sich hin – – –. Und dann schrie er wieder auf: »Undine –! – Das ist ja Wahnsinn –! Ich werde wahnsinnig –!« Bebend riß er das Fenster auf. Eisige Herbstluft wehte ihm entgegen –. Er schauerte zusammen –. Jäh griff er sich mit beiden Händen an den Kopf –. Dann sprang er aus seiner kauernden Stellung auf, riß wie ein Rasender das Kästchen an sich und warf die Steine heraus; einen nach dem andern schleuderte er in die Finsternis – tief unten auf dem Pflaster zersplitterten die spröden Plättchen –. Pergament und Maske hielt er über das flackernde Licht, – er fühlte es nicht, als die Flamme bis zu seinen Fingern loderte. Und fröstelnd saß er auf einem harten Holzstuhl inmitten des Zimmers, in Todesangst den Morgen erwartend, der mit seinem klargrauen Licht langsam, langsam über die Dächer heraufkroch. Altersstarrsinn von Robert Bloch Der 1917 geborene amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Robert Bloch braucht nicht extra vorgestellt zu werden. Mit seinem Skript zu Alfred Hitchcocks Horrorfilm ›Psycho‹ ist er weltberühmt geworden. Bloch hat auch die Drehbücher zu einigen anderen großen Horrorproduktionen geschrieben – seine eigentliche Stärke aber liegt, wie seine bravouröse Story ›Altersstarrsinn‹ aufs eindringlichste demonstriert, auf dem Gebiet der makabren Erzählung. —————————— Am Morgen nach seinem Tod kam Opa zum Frühstück runter. Irgendwie komisch fanden wir das schon. Ma guckte Pa an, Pa guckte Klein-Susie an, und Susie guckte mich an. Dann guckten wir alle Opa an. »Was is’n los?«fragte er. »Warum gafft ihr so?« Keiner sagte was, aber ich kannte den Grund ganz genau. War ja immerhin erst in dieser Nacht passiert, daß er seinen Herzanfall kriegte und direkt vor unseren Augen starb. Aber da stand er nun, fertig angezogen, putzmunter und streitbar wie eh und je. »Was gibt’s denn zum Frühstück?« wollte er wissen. Ma schluckte. »Sag bloß nicht, daß du essen willst?« »Was ‘n sonst? Ich bin am Verhungern.« Ma schaute zu Pa rüber, doch der rollte bloß mit den Augen. So ging sie zum Herd, nahm die Pfanne und klatschte ein paar Eier auf einen Teller. »Na also, warum nicht gleich«, meinte Opa. »Aber sagt mal, hat’s da vorhin nicht nach Bratwurst gerochen?« Ma brachte Opa ein Stück Wurst. So wie er reinhieb, hatte sein Appetit jedenfalls nicht gelitten. Bei der zweiten Portion merkte Opa, daß wir ihn immer noch anstarrten. »Warum ißt denn hier keiner?« fragte er. »Wir haben keinen Hunger«, erklärte Pa, und das stimmte, als wär’s ein Satz aus der Bibel. »Essen hält Leib und Seele zusammen«, belehrte ihn Opa. »Aber hör mal, müßtest du nicht längst in der Säge sein?« »Mir ist heut’ nicht nach Arbeit zumute«, sagte Pa. Opa betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Du hast dich ja richtig fein gemacht. Rasiert und ‘n Hemd wie am Sonntag. Kriegt ihr etwa Besuch?« Ma warf einen Blick aus dem Küchenfenster und nickte Opa zu. »Du hast es erfaßt. Da kommt er schon.« Und tatsächlich kam der alte Bixbee die Straße entlang gewetzt. Ma lief durchs Wohnzimmer zur Vordertür – um ihn abzufangen, schätze ich – aber er wischte ihr eins aus und kam von hinten an. Pa schaltete nicht schnell genug, und so riß Bixbee erst die Küchentür und dann seinen Mund auf. Er bekam beides nicht mehr zu. »Morgen, Jethro«, begann er mit seiner öligen Stimme. »Ein trauriger Morgen, tja! Ich wollte euch in eurem Schmerz auch nicht stören, aber bei der Hitze, die wir seit zwei Tagen haben …« Er zog ein Bandmaß aus der Tasche. »Ich schreib mir schon mal alles auf, damit wir gleich anfangen können. Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser, wenn du verstehst, was ich meine …« »Tut mir leid«, sagte Pa und stellte sich so in die Tür, daß der alte Bixbee keinen Blick ins Zimmer werfen konnte, »aber du mußt später wiederkommen.« »Wieviel später?« »Kann ich nicht genau sagen. Wir sind noch ein wenig unschlüssig.« »Schön, aber wartet nicht zu lange«, meinte Bixbee. »Mir geht das Eis aus.« Er trollte sich erst, als Pa ihm die Tür vor der Nase zuknallte. Ma kam aus dem Wohnzimmer, und Pa legte warnend den Finger auf die Lippen, aber er hätte Opa besser kennen müssen. »Was wollte er denn?« »Ach, bloß ‘n kleiner Freundschaftsbesuch.« »Von Bixbee?« Opa wirkte mißtrauisch. »Der hat doch keinen einzigen Freund hier. Spielt den vornehmen Pflanzer aus dem Süden. Dabei is’ er ‘n ganz ordinärer Leichenbestatter.« »Klar, Opa«, warf Klein-Susie ein. »Der wollte dir auch ‘n Sarg anmessen.« »Sarg!« Opa fuhr von seinem Stuhl hoch wie unser Eber, wenn er mal an den elektrischen Weidezaun stößt. »Wozu in Dreideibelsnamen brauch ich einen Sarg?« »Weil du doch tot bist!« Das sagte sie einfach so raus. Ma und Pa wollten beide über sie herfallen, aber Opa lachte sich halb kaputt. »Du meine Güte, Kind, wie kommst du denn auf so was?« Pa hatte den Gürtel aus der Hose geholt und ging damit drohend auf Susie zu, aber Ma schüttelte den Kopf. Sie baute sich vor Opa auf. »Das stimmt schon. Du bist heute nacht gestorben: Weißt du das etwa nicht mehr?« »Mein Gedächtnis ist tadellos«, erklärte Opa. »Ich hatte einen meiner Anfälle, mehr nicht.« Ma seufzte tief. »Diesmal war es eben kein Anfall.« »Etwa ‘n kleiner Schlag?« »Noch schlimmer. Dir ging’s so elend, daß Pa zu Doc Snodgrass rüberlief und ihn aus seiner Praxis klingelte. Vermasselte ihm ein sauberes Pokerblatt. Hat aber alles nichts genützt. Als die beiden ankamen, warst du schon hinüber.« »Ich bin aber nicht hinüber. Ich bin hier.« An dieser Stelle mischte sich Pa ein. »Nun mach mal ‘n Punkt, Opa. Wir haben dich gesehn. Wir sind Zeugen.« »Zeugen?« Opa zerrte an den Hosenträgern, ein sicheres Zeichen dafür, daß er in Wut geriet. »Was soll der Quatsch? Habt ihr vielleicht die Absicht, vor Gericht auszufechten, ob ich lebendig oder tot bin?« »Aber, Opa …« »Halt die Luft an, Sonny!« Opa erhob sich. »Keiner hat ‘n Recht nicht, mich untern Rasen zu buddeln, solang’ ich dagegen bin!« »Wohin gehst du?« fragte Ma. »Wohin schon?« entgegnete Opa. »Auf die Vorderveranda wie jeden Morgen. Gucken, was so los ist.« Und damit ließ er uns in der Küche sitzen. »Der bringt einen zur Weißglut!« Ma deutete zum Herd. »All das schöne Gemüse, das ich aus dem Garten geholt hab’, um nach der Beerdigung ein Opposum-Stew zu richten! Was sollen bloß die Nachbarn denken?« »Nun hör schon zu jammern auf!« sagte Pa. »Vielleicht ist er echt noch nicht tot.« Ma schnitt eine Grimasse. »Wir wissen es beide besser. Der spielt wieder mal stur.« Sie gab Pa einen Rippenstoß. »Da hilft nur eins. Du springst jetzt rüber zu Doc Snodgrass. Er soll herkommen und die Sache ein für allemal klarstellen.« »Schätze, du hast recht«, brummte Pa und verschwand durch die Hintertür. Ma schaute mich und Klein-Susie an. »Ihr Kinder geht raus auf die Veranda und leistet Opa Gesellschaft. Paßt auf, daß er sich nicht aus ‘m Staub macht, bis der Doc anrückt.« »Ist gut«, sagte Susie, und wir verzogen uns nach draußen. Und wirklich thronte Opa in voller Lebensgröße auf seinem Schaukelstuhl, blinzelte in die Sonne und freute sich über die Flüche der Autofahrer, die unseren Schweinen ausweichen mußten. »Guckt euch das an!« sagte er und deutete auf die andere Straßenseite. »Der fette Kerl in seinem Hupmobil kam angeflitzt wie ‘n Höllenhund. Hatte leicht dreißig Meilen drauf. Ehe er sich’s versah, preschte Bessie aus dem Unkraut und schmiß ihm die Karre glatt in den Graben. Ich hab’ meiner Lebtag noch nie so was Komisches gesehn.« Susie schüttelte den Kopf. »Du lebst ja auch gar nicht, Opa.« »Nun fang nicht wieder damit an!« Opa warf ihr einen zornigen Blick zu, und Susie hielt den Mund. Genau in diesem Moment fuhr Doc Snodgrass in seinem großen Essex vor und parkte genau neben Bessies Hinterteil. Doc und Pa stiegen aus und kamen zur Veranda geschlendert. Pa redete heftig auf Doc ein, und der schüttelte den Kopf, als wolle er nicht glauben, was Pa ihm da erzählte. Dann entdeckte er Opa draußen und blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen quollen vor. »Heiliger Antonius!« sagte er zu Opa. »Was machst denn du hier?« »Was wohl?« entgegnete Opa. »Ist es vielleicht verboten, daß ein Bürger in Frieden auf seiner Veranda sitzt und schaukelt?« »In Frieden unter der Erde ruhen, das solltest du von Rechts wegen!« polterte Doc. »Als ich dich letzte nacht untersuchte, warst du mausetot.« »Oder du stockbesoffen«, erklärte Opa. Pa nickte Doc zu. »Na, was hab’ ich gesagt?« Doc beachtete ihn nicht. Er baute sich vor Opa auf. »Vielleicht bin ich doch ‘n klitzekleines Stückchen zu weit gegangen«, meinte er. »Was dagegen, wenn ich dich noch mal untersuche?« »Nur immer zu.« Opa zahnte. »Ich hab’ Zeit.« So klappte Doc seine kleine schwarze Tasche auf und hakte sich ein Stethoskop in die Ohren. Er klopfte Opas Brust ab und horchte. Seine Finger begannen zu zittern. »Ich hör rein gar nichts«, sagte er. »Ich bin ja auch kein Radio.« »Laß die Witze!« fauchte Doc. »Angenommen, ich verrate dir, daß dein Herz nicht mehr schlägt?« »Angenommen, ich verrate dir, daß dein Stethoskop im Eimer ist?« Doc fing zu schwitzen an. Er kramte einen Spiegel hervor und hielt ihn Opa vor den Mund. Danach zitterten seine Finger noch viel schlimmer. »Siehst du das?« fragte er. »Der Spiegel ist klar. Das bedeutet, daß du schon vor längerer Zeit deinen letzten Schnaufer getan hast.« Opa schüttelte den Kopf. »Kümmere dich um deinen eigenen Schnaufer! Du hast eine Fahne, die das stärkste Muli umhaut.« »Na warte, dir vergeht die Sturheit noch!« Doc holte einen Wisch aus der Tasche. »Da, sieh dir das an!« »Was ist das?« »Dein Totenschein.« Doc deutete mit dem Zeigefinger. »Lies mal, was in der Zeile da steht. Todesursache: Herzstillstands Und das ist amtlich. Das gilt vor Gericht!« »Bitte – geh ruhig hin und versuch dein Glück!« spottete Opa. »Was meinst du wohl, wem der Richter mehr glaubt – mir oder deinem Fetzen Papier?« Doc schluckte, und seine Augen traten noch ein Stück aus ‘m Kopf. Er schaffte es kaum, den Totenschein wegzustecken, so zitterten ihm die Hände. »Ist Ihnen nicht ganz wohl?« fragte Pa. »Ich fühl mich hundeelend«, stöhnte Doc. »Ich fahr jetzt zurück in die Praxis und leg mich ‘ne Weile hin.« Er packte seine Tasche und lief zum Auto, ohne sich noch ‘n einziges Mal umzudrehen. »Bleib aber nicht zu lang liegen!« rief ihm Opa nach. »Sonst kommt einer und schreibt ‘n Wisch, wo drauf steht: Todesursache – Suff!‹« Mittags hatte keiner von uns Appetit. Keiner außer Opa, wohlgemerkt. Der setzte sich an den Tisch und verdrückte nacheinander Bohnen, Maisgrütze, zwei Portionen Kutteln und zwei Riesenstücke Rhabarberstrudel mit Vanillesoße. Ma ist im allgemeinen mächtig stolz, wenn die Leute in ihr Essen reinhauen, aber Opa schien sie’s heute nicht zu gönnen. Sobald er fertig war und wieder raus auf die Veranda ging, stapelte sie das Geschirr auf der Anrichte und befahl uns, den Abwasch zu übernehmen. Sie verschwand kurz im Schlafzimmer und kam mit Umschlagtuch und Handtasche wieder. »Was hast du denn vor?« wollte Pa wissen. »Ich geh in die Kirche.« »Am hellichten Donnerstag?« »Bis Sonntag kann ich nicht warten«, erklärte Ma. »Vor allem nicht, wenn die Hitze weiter anhält. Du hast selber die Nase gerümpft, als Opa zum Essen reinkam.« »Das war Opa?« Pa hob die Schultern. »Ich dachte, die Kutteln hätten einen leisen Stich.« »Meine Kutteln? Nie und nimmer!« »Und was hast du jetzt vor?« »Es gibt nur noch eins – alles in die Hände des Herrn legen!« Und weg war sie. Susie und ich machten uns an den Abwasch, während Pa mit einer mächtig düsteren Miene durch den Hinterausgang verschwand. Ich sah durchs Küchenfenster, wie er die Schweine fütterte. Man merkte genau, daß er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Susie und ich trollten uns auf die Veranda und behielten Opa im Auge. Ma hatte recht mit der Hitze. Man kam sich vor wie in einem Höllenbackofen. Opa schien nichts zu merken, aber mir fiel auf, daß er ganz schön schier roch. »Guck die vielen Fliegen, die um ihn rumschwirren!« sagte Susie zu mir. »Bscht!« Aber die Schmeißfliegen surrten so laut, daß wir kaum verstehen konnten, was Opa sagte. »He, Kinder!« rief er. »Kommt doch ‘n Weilchen her!« »Die Sonne brennt so arg«, widersprach Susie. »Find’ ich aber gar nicht.« Opa hatte nicht mal einen Schweißtropfen auf der Stirn. »Und die Schmeißfliegen!« »Die tun mir nix.« Ein dicker Brummer landete mitten auf seiner Nase, doch Opa zuckte nicht mal zusammen. Susie machte ein ängstliches Gesicht. »Du, der ist wirklich tot«, flüsterte sie. »Sprich lauter, Kind!« mahnte Opa. »Es gehört sich einfach nicht, so rumzunuscheln.« In diesem Moment bog Ma mit Reverend Peabody im Schlepp von der Straße her zu unserm Haus ab. So heiß es war, sie hatte ganz schön Fahrt drauf. Der Hochwürden stöhnte und schnaufte, aber sie blieb erst dicht vor der Veranda stehen. »Sieh an, der Herr Hochwürden!« rief Opa. »Wie geht’s immer?« Reverend Peabody starrte ihn an. Er machte den Mund auf, brachte aber keinen Ton raus. »Was ist?« fragte Opa. »Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?« Der Reverend lächelte wie ein Stinktier, das eine Hummel verschluckt hat. »Kann mir’s schon denken. Bei der Hitze kriegt man eine ausgedörrte Kehle.« Er wandte sich an Ma. »Los, Addie, hol dem Herrn Hochwürden eine kleine Erfrischung!« Ma ging ins Haus. »So«, sagte Opa, »nun machen Sie sich’s mal bequem.« Der Reverend schluckte schwer. »Eigentlich bin ich nicht zu einem Plauderstündchen hier.« »Weshalb nehmen Sie dann den langen Weg auf sich?« Wieder schluckte der Reverend. »Nach allem, was ich von Addie und Doc hörte, mußte ich selbst nach dem Rechten sehen.« Er starrte wie gebannt auf die Fliegen, die Opa umschwirrten. »Aber jetzt wär’s mir lieber, ich hätt’ mich auf ihr Wort verlassen.« »Was soll ‘n das heißen?« »Das soll heißen, daß ein Mann in deinem Zustand nicht mehr das Recht hat, Fragen zu stellen. Wenn der Herr dich ruft, hast du ihm freudig zu folgen!« »Ich hab’ kein Rufen gehört«, erklärte Opa. »Aber mein Gehör taugt auch nicht mehr viel.« »Den Eindruck hatte auch der Doc. Du scheinst nämlich nicht zu merken, daß dein Herz zu schlagen aufgehört hat.« »Vielleicht tickt es ‘ne Spur langsamer als früher. Aber das ist ganz natürlich, wenn man neunzig auf ‘m Buckel hat.« »Und dir ist nie der Gedanke gekommen, daß diese neunzig ganz schön was darstellen? Du hast sehr lang gelebt, Opa. Findest du es nicht mal an der Zeit, den Löffel wegzulegen? Wie heißt es in der Bibel so trefflich? Der Herr gibt, und der Herr nimmt!« Opa setzte wieder seine streitbare Miene auf. »Also, mich nimmt er jedenfalls nicht.« Reverend Peabody kramte ein großes Taschentuch aus seinen Jeans und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du fürchtest dich doch nicht etwa? Schöner kannst du’s gar nicht kriegen als da droben. Alle Sorgen und alle Mühsal werden von dir genommen. Ganz zu schweigen davon, daß du aus dieser Prügelhitze hier fortkommst.« »Ich spür sie kaum.« Opa strich sich über den Schnauzer. »Ich spür überhaupt kaum was.« Der Reverend musterte ihn scharf. »Fühlen sich deine Hände steif an?« Opa nickte. »Und nicht nur die.« »Dachte ich es mir doch! Weißt du auch, was das bedeutet? Rigor mortis!« »Ich kenn kein Rigger Mortis«, erklärte Opa. »Das Rheuma sitzt mir in den Knochen, das ist alles.« Wieder wischte sich der Reverend den Schweiß von der Stirn. »Bei dir braucht man vielleicht Überredungskünste!« stöhnte er. »Du scherst dich weder um die Ansicht eines gelehrten Doktors noch um das Wort des Herrn. Weißt du was? Du bist der sturste alte Hammel, den ich je erlebt hab’.« »Tja, ich komm aus Missouri«, entgegnete Opa mit Würde. »Und die Leute da wollen handfeste Beweise sehn, bevor sie was glauben.« Der Reverend steckte sein Tuch weg. Es war klatschnaß. Mit einem tiefen Seufzer schaute er Opa in die Augen. »Manche Dinge muß man einfach so glauben!« sagte er. »Mir will auch nicht in den Schädel, daß du hier rumsitzt, anstatt dir die Gänseblümchen von unten zu begucken, und ich muß es trotzdem glauben. Ich schwöre dir, du hast überhaupt keinen Grund, hier ein Theater aufzuführen. Mag sein, daß du dich dagegen sperrst, im Grab zu liegen. Aber – Asche zu Asche, Staub zu Staub, das ist bloß so ein Spruch! Du brauchst dir das nicht so zu denken, daß du jetzt die ganze Ewigkeit unter der Erde liegst. Während deine Gebeine auf dem Friedhof ruhen, fliegt deine Seele davon. Jawohl, in die Höhe, geradewegs in die Arme des Herrn. Und das wird ein großer Moment, wenn du da oben schwebst, frei wie ein Vogel, inmitten der himmlischen Heerscharen, mit ‘ner achtzehnkarätigen Goldharfe und einem Halleluja auf den Lippen …« »Ich war noch nie musikalisch«, widersprach Opa. »Und mir wird schon schwindlig, wenn ich auf ‘ner Leiter steh und das Dach von unserm Lokus neu teeren muß.« Er schüttelte den Kopf. »Ich will Ihnen mal was sagen, Hochwürden! Wenn Sie glauben, daß es da droben so verdammt schön ist, warum gehn Sie dann nicht selber rauf?« In diesem Moment kam Ma wieder ins Freie. »Tut mir leid, uns ist das Zitronenwasser ausgegangen«, sagte sie. »Alles, was ich auftreiben konnte, war ‘n Schluck Whisky. Ich weiß ja, wie Sie über diese Dinge denken, Herr Hochwürden, aber …« Der Reverend riß ihr die Flasche aus der Hand, setzte sie an und nahm einen kräftigen Zug. »Sie sind eine brave Frau«, sagte er dann zu Ma. »Der Herr wird es Ihnen vergelten.« Damit eilte er davon. »He, halt!« rief Ma ihm nach. »Und was geschieht mit Opa?« »Seien Sie ohne Furcht, Tochter«, antwortete der Reverend über die Schulter. »Wir müssen auf die Kraft des Gebets vertrauen.« Dann war er am Ende der Straße verschwunden, und nur eine Staubfahne blieb zurück. »Der hat doch glatt die Flasche mitgenommen!« murmelte Opa. »Wenn ihr mich fragt, so ist dem sein einziger Gott der Whisky.« Ma schaute ihn an, dann brach sie in Tränen aus und stürzte ins Haus. »Was hat sie nun schon wieder?« wollte Opa wissen. »Laß sie mal!« entgegnete ich. »Susie, bleib hier bei Opa und verscheuch ihm die Fliegen! Ich muß was erledigen.« Und das stimmte. Noch bevor ich reinging, hatte ich einen Plan gefaßt. Ich konnte es einfach nicht mitansehn, wie Ma flennte. Sie stand in der Küche, klammerte sich an Pa und schluchzte: »Was sollen wir machen? Was sollen wir bloß machen?« Pa tätschelte ihre Schulter. »Aber, Addie, nun fang dich wieder! Lange kann das nicht mehr dauern.« »Lange halt ich das auch nicht mehr durch«, jammerte Ma. »Wenn Opa nicht bald Vernunft annimmt, sitzt er eines schönen Morgens als Skelett am Frühstückstisch. Und was werden die Nachbarn denken, wenn sie ein Gerippe auf meiner schönen Veranda entdecken? Richtig genieren muß man sich.« »Laß nur, Ma«, warf ich ein. »Ich hab’ eine Idee.« Ma hörte zu flennen auf. »Was für eine Idee?« »Ich geh rüber in die Geisterschlucht.« »In die Geisterschlucht?« Ma wurde so blaß, daß sogar ihre Sommersprossen verschwanden. »Kommt nicht in Frage, mein Junge …« »Es ist unsere letzte Chance«, erklärte ich. »Und vielleicht hilft es was.« Pa holte tief Luft. »Hast du denn gar keine Angst?« »Nicht, solange es draußen hell bleibt«, sagte ich. »Nun macht euch mal keine Sorgen. Bis zum Abend bin ich längst zurück.« Damit rannte ich durch den Hinterausgang. Ich kletterte über den Zaun und flitzte zum Bach. Nur einmal hielt ich kurz an und holte mein Sparschwein aus dem unkrautüberwucherten Versteck zwischen den Uferfelsen. Dann watete ich durchs Wasser und lief weiter zum Hochwald. Sobald ich die Tannen erreicht hatte, ließ ich ein wenig Dampf ab, um mich nicht zu verirren. Es gab keine Wege, weil hier selten einer vorbeikam. Die Leute machten sogar tagsüber einen großen Bogen um den Wald – er war einfach zu düster und einsam. Wie ausgestorben lag er da. Nichts bewegte sich im Unterholz, und sogar die Vögel schwiegen. Aber ich kannte mich aus. Ich mußte bloß den Hügelkamm überqueren und den Hang auf der anderen Seite wieder runterlaufen. Ganz unten, an der finstersten, einsamsten Stelle lag die Geisterschlucht. Und in der Geisterschlucht gab es eine Felshöhle. Und in der Felshöhle wohnte die Waldhexe. Wenigstens hatte ich gehört, daß sie da wohnte. Als ich mich jedoch auf Zehenspitzen an das große schwarze Loch ranpirschte, fand ich keine Menschenseele. Bloß die Schatten krochen von allen Seiten auf mich zu. Ehrenwort, es war echt gruselig. Ich spürte ein Kribbeln in den Fußsohlen, aber ich blieb da. Nach einer Weile rief ich: »He – Sie kriegen Besuch!« »Wer da?« »Ich bin’s – Jody Tolliver.« »Weerr daa?« Ich schaute auf und entdeckte eine mächtige Schreieule, die auf einem Ast neben der Höhle hockte und mich mit ihren Funkelaugen anglotzte. Als ich mich wieder dem Felsloch zuwandte, stand sie plötzlich da – die Waldhexe. Ich begegnete ihr zum erstenmal im Leben, aber ich wußte genau, daß sie die Waldhexe war. Zaundürr und verschrumpelt sah sie aus. Sie trug nur ‘n paar Lumpen, und ihr Gesicht unter der altmodischen Haube war schwarz wie ein Klumpen Kohle. Quatsch, sag ich zu mir, denk dir nix – das ist ‘ne nette alte Lady, mehr nicht! Dann schaute sie mich an, und ihre Augen waren viel größer als die von der Eule. Sie funkelten auch doppelt so wild. Ich spürte schon wieder dieses Kribbeln in den Fußsohlen, aber ich guckte nicht weg. »Tag, Waldhexe«, sagte ich. »Weerr daa?« kreischte die Eule. »Der junge Tolliver«, rief ihr die Waldhexe zu. »Du hast wohl Wachs in den Ohren, was? Und nun sei so gut und quatsch nicht ständig dazwischen!« Die Eule warf ihr einen bösen Blick zu und flatterte davon. Die Waldhexe kam ganz aus ihrer Höhle hervor. »Kümmere dich nicht um Ambrose«, meinte sie. »Der ist Besucher nicht gewöhnt. Tagein, tagaus sieht er bloß mich und die Fledermäuse.« »Was für Fledermäuse?« »Ach, die hängen drinnen in der Höhle.« Die Waldhexe strich ihr Kleid glatt. »Ich tat dich ja gern reinbitten, aber bei mir geht’s drunter und drüber. Ich nehm mir immer vor, mal richtig aufzuräumen, doch meist kommt was dazwischen – erst der verdammte Weltkrieg, dann die Prohibition, und so fort. Ich schaff’s einfach nicht.« »Aber ich bitte Sie!« sagte ich weltmännisch. »Es geht sowieso um geschäftliche Angelegenheiten.« »Dachte ich mir fast.« »Hier – ich hab’ Ihnen auch was Hübsches mitgebracht.« »Was denn?« »Mein Sparschwein«, erklärte ich und reichte es ihr. »Da dank ich dir aber sehr«, sagte die Waldhexe. »Schlagen Sie’s ruhig kaputt«, forderte ich sie auf. Sie schmetterte es an einen Stein, und die Münzen rollten auf den Boden. Flink sammelte sie alle ein. »Wieviel ist es denn?« fragte ich. »Ich hab’ immerhin fast zwei Jahre gespart.« »Siebenundachtzig Cents, ‘n alter Nickel und ‘ne Plakette zum Anstecken.« Sie zahnte. »Die ist besonders hübsch. Was steht ‘n da drauf?« »Keep cool with Coolidge!« »Na, wenn das kein guter Rat ist!« Die Waldhexe schob das Geld ein und machte die Anstecknadel an ihrem Kleid fest. »So, junger Mann – Schönheit, wem Schönheit gebührt. Und was kann ich für dich tun?« »Es ist wegen meinem Opa«, sagte ich. »Titus Tolliver heißt er.« »Titus Tolliver? Aber den kenn ich doch! Hatte eine Brennerei in der Holzhütte drunten am Bach. Ist ‘n stattlicher Mann, mit ‘m schwarzen Vollbart, was?« »War er vielleicht mal«, widersprach ich. »Inzwischen ist er ganz verhutzelt, und der Rheumatismus plagt ihn. Außerdem sieht er schlecht. Und seine Ohren taugen gar nichts mehr.« »Jammerschade, so was«, meinte die Waldhexe. »Aber früher oder später geht es mit uns allen bergab. Und wenn’s soweit ist, muß man eben den Löffel wegschmeißen.« »Genau deshalb bin ich hier. Er will nicht.« »Was will er nicht?« »Er ist tot und will das nicht einsehen.« Die Waldhexe musterte mich scharf. »Also, das möcht ich genauer wissen.« Na, und da redete ich los. Erzählte ihr die ganze miese Geschichte von Anfang an. Sie hörte mir zu und sagte kein Wort. Als ich fertig war, starrte sie mich an, bis ich ‘n ganz kribbeliges Gefühl bekam. »Ich weiß schon, daß Sie mir nicht glauben«, sagte ich. »Aber ich schwör’s, es ist die reine Wahrheit.« Die Waldhexe schüttelte den Kopf. »Ich glaub dir schon, mein Junge. Wie gesagt, ich kenn deinen Opa von früher. War schon damals ein verdammt sturer Teufel, und das ist er wohl geblieben. Dem sein Leiden nennt man Starrsinn in Potenz.« »Kann sein«, meinte ich. »Aber da können wir nix dagegen tun, und der Doc und der Herr Hochwürden auch nicht.« Die Waldhexe rümpfte die Nase. »Ach, die beiden! Was wissen die schon?« »Eben drum bin ich hergekommen. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.« »Na, dann laß mich mal nachdenken.« Die Waldhexe zog eine Maiskolbenpfeife aus der Tasche und steckte sie an. Ich weiß nicht, was für ein Kraut sie rauchte, aber der Gestank bog einem Christenmenschen fast die Zehennägel auf. Mir war ganz komisch zumute, und am liebsten hätte ich mich verkrümelt. Der Wald wirkte schummerig, und ein kalter Wind raschelte in den Blättern. »Irgendwas gibt’s doch sicher«, drängte ich. »Einen Talisman oder einen Zauberspruch …« Sie schüttelte den Kopf. »Alles kalter Kaffee. Das hier ist eine von diesen neumodischen Sachen, wo sich im Kopf abspielen, und da brauchen wir auch neumodische Mittel. Dein Opa, der lacht sich schief, wenn den einer verhexen will. Wie er selber sagt – er stammt aus Missouri. Dem muß bloß einer beweisen, daß er tot ist.« »Aber wie?« Die Waldhexe kicherte trocken. »Ich hab’s!« Sie blinzelte mir zu. »Klar, mein Sohn, genau das ist es! Renn nicht davon, ich bin gleich wieder da!« Und sie huschte zurück in ihre Höhle. Ich stand da, spürte, wie mir der Wind in den Nacken blies, und hörte auf das Rascheln der Blätter. Ich wollte gar nicht so genau verstehen, was sie da wisperten. Dann kam sie wieder ins Freie. Sie hielt etwas in der Hand. »Nimm das mit!« sagte sie. »Was ist ‘n das?« Sie verriet es mir und sagte auch, was ich damit tun sollte. »Und Sie glauben echt, daß wir es so schaffen?« »Es ist die einzige Chance.« Also schob ich das Ding in die Hosentasche, und sie gab mir einen kleinen Klaps. »So, junger Mann, und nun wetz los, damit du noch vor dem Abendessen daheim bist!« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, wo der eisige Wind so in den Bäumen stöhnte und wimmerte und die Dunkelheit immer näher an mich rankroch. Ich murmelte ein Vergeltsgott und büchste los. Als ich noch einmal umschaute, stand die Waldhexe am Eingang ihrer Höhle und polierte die Coolidge-Plakette mit einem Stück Efeuwurzel. Ich rannte durch den Wald, den Hügel rauf und auf der anderen Seite wieder runter. Als ich die Felder erreichte, war alles stockdunkel, und im Bach spiegelte sich der Mond. Ein Habicht, der vor einem Mauseloch auf der Lauer saß, flog erschrocken auf, aber das war mir egal. Ich lief im Zickzack zum Zaun, setzte darüber und riß die Küchentür auf. Ma stand mit einem Topf am Herd, während Pa seine Suppe löffelte. »Gott sei Dank!« sagte Ma. »Grad wollt ich dir Pa hinterherschicken.« »Ich bin gerannt, was ich konnte.« »Ist ja gut«, warf Pa ein. »Wenn der Zirkus nicht bald aufhört, verlieren wir noch alle den Verstand.« »Welcher Zirkus denn?« »Na, es fing an mit Miß Francy. Die Leute im Ort hatten ihr erzählt, daß Opa tot ist, und da wollte sie uns was Gutes tun und ‘n Stew vorbeibringen. Also, sie rauscht an in ihrem Sonntagsstaat, hat ihr schönstes Beileidsgesicht aufgesetzt und trägt die Terrine vor sich her. Und ausgerechnet da sieht sie Opa, der auf der Veranda sitzt und sie durch die Fliegenschwärme so ein bißchen schief angrinst. In ihrem Schreck reißt sie die Terrine hoch, alles schwappt raus, und ihr teures Kostüm ist über und über mit Grünzeug garniert. Ich sag dir, die drehte sich um und rannte los, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Dazu kreischte sie, daß der Klobalken zitterte.« »Schlimm«, meinte ich. »Es kommt noch schlimmer«, entgegnete Pa. »Als nächster tauchte Bixbee auf. Er hupte draußen. Traute sich nicht an Opa ran. Ich mußte zu ihm runtergehen, wo er in seinem Leichenwagen saß.« »Was wollte er denn?« »Sagte, er käme die sterblichen Überreste holen. Und wenn wir sie nicht bald rausrückten, wollte er am nächsten Morgen in die Kreisstadt fahren und sich ‘ne richterliche Verfügung holen.« Ma sah aus, als wollte sie gleich wieder losflennen. »Er meinte, es sei ein Skandal und eine Schande, Opa so rumsitzen zu lassen. Bei der Hitze und den Fliegen. Sogar beim Gesundheitsamt will er das melden, hat er gedroht. Dann kämen wir in Qua-ran-täne.« »Und was sagte Opa dazu?« »Keinen Pieps. Schaukelte einfach weiter, bis Bixbee mit seiner Leichenkutsche abgebraust war. Susie kam kurz rein, als die Sonne unterging. Opa ist brettsteif, sagt sie, aber das kümmert ihn überhaupt nicht. Er fragt bloß dauernd, wann es was zu essen gibt.« »Das ist gut«, sagte ich. »Dafür hab’ ich genau das Richtige von der Waldhexe gekriegt.« »Doch nicht etwa Gift?« Pa warf mir einen besorgten Blick zu. »Du weißt, ich bin ein gottesfürchtiger Mann und mag mit so was nichts zu schaffen haben. Außerdem – wie soll man einen vergiften, der schon tot ist?« »Quatsch«, erwiderte ich. »Das hier hat sie mir mitgegeben.« Ich zog das Ding aus meiner Hosentasche und hielt es hoch. »Und was im Namen des Allmächtigen soll das sein?« fragte Ma. Ich sagte es ihr und erklärte dann, was man damit tun mußte. »So ‘n Blödsinn hab’ ich meiner Lebtag noch nicht gehört!« meinte Ma. Pa machte ein düsteres Gesicht. »Ich hätt’s nie zulassen sollen, daß du zur Geisterschlucht gehst. Die Waldhexe muß ihren letzten Funken Verstand verloren haben, wenn sie dir mit so was kommt.« »Ich schätze, die ist mit allen Wassern gewaschen«, sagte ich. »Und ich hab’ immerhin was bezahlt für den Rat – siebenundachtzig Cents, einen Nickel und die Coolidge-Plakette!« »Ach, pfeif auf die Plakette!« tröstete mich Pa. »Die hab’ ich einem Yankee abgerissen – einem von diesen Steuerschnüfflern.« Er kratzte sich am Kinn. »Aber bares Geld, das ist was anderes. Vielleicht sollten wir’s doch versuchen.« »Pa …«, begann Ma. »Weißt du was Besseres?« Pa schüttelte den Kopf. »So wie ich das seh, haben wir morgen das Gesundheitsamt am Hals. Es wird höchste Zeit, daß wir was unternehmen.« Ma ließ einen Seufzer los, der so richtig aus der Tiefe kam. »Na schön, Jody«, sagte sie zu mir. »Wir machen es genauso, wie die Waldhexe gesagt hat. Pa, hol mal Susie und Opa rein. Ich trag inzwischen auf.« »Glaubst du, daß es damit klappen wird?« fragte Pa und warf einen Blick auf das Ding, das ich in der Hand hielt. »Es muß«, erklärte ich. »Was anderes haben wir nicht.« Also ging Pa raus, und ich trat an den Eßtisch, um den Plan der Waldhexe in die Tat umzusetzen. Kurz drauf kam Pa mit Susie zurück. »Wo bleibt Opa?« fragte Ma. »Der geht ganz langsam«, erklärte Susie. »Muß wohl dieser Rigger Mortis sein.« »Quatsch!« Opa erschien im Eingang und stakte in die Küche wie ‘ne Schabe, die über eine heiße Herdplatte läuft. »Ein bißchen steif fühl ich mich, das ist alles.« »Steif wie ‘n Brett«, widersprach ihm Pa. »Von Rechts wegen solltest du droben in deinem Bett liegen, mit ‘ner Lilie zwischen den Händen.« »Nun fang nicht schon wieder an!« fauchte Opa. »Ich hab’ dir gesagt, daß ich noch lang nicht tot bin, wenn ich mal blau anlauf!« »Mal ist gut«, sagte Susie. »Du siehst so blau aus, daß es blauer gar nicht geht.« Und das stimmte. Er war blau und irgendwie aufgedunsen, aber das wollte er einfach nicht wahrhaben. Mir fiel ein, was Ma wegen dem Skelett gesagt hatte, und ich wünschte mir ganz fest, daß die Waldhexe recht behalten würde. Sie mußte recht behalten, denn Opa wurde mit jeder Minute toter. Aber das hätte keiner geglaubt, als er auf das Abendbrot losstürmte. »Hmm«,sagte er. »Heut hast du dich selber übertroffen, Addie. Mein Lieblingsgericht – Grünkohl mit Fischköpfen!« Er war schon dran, sich eine Portion aufzuladen, als er das Ding neben seinem Teller entdeckte. »Ja, zum Henker, was soll ‘n das?« polterte er. »Das ist eine ganz normale Serviette«, erklärte ich. »Ganz normal?« Opa riß die Augen auf. »Ich hab’ noch nie im Leben eine schwarze Serviette gesehen.« Pa guckte Ma an. »Wir dachten, es sei ein besonderer Anlaß«, sagte er. »Wenn du verstehst, was ich meine …« Opa schnaufte verächtlich, »‘ne schwarze Serviette? Ich weiß genau, was du andeuten willst, aber mir ist das schietegal.« Und er schaufelte sich den Teller voll und hieb rein. Wir anderen saßen einfach da und guckten uns an. »Was hab’ ich dir gesagt?« flüsterte mir Pa verärgert zu. Ich schüttelte den Kopf. »Wart’s ab!« »Langt zu!« ermahnte uns Opa. »Sonst räum ich allein ab.« Und das tat er. Seine Arme waren steif, die Finger hatten Mühe mit der Gabel, und die Kiefermuskeln wollten nicht so recht – aber er aß. Und redete. »Ich und tot? Hätte nie geglaubt, daß mal jemand wagen würde, mir so was ins Gesicht zu sagen! Und dann ausgerechnet die Familie! Ich geb ja zu, daß ich hin und wieder stur bin, aber ich hab’s noch nie zu weit getrieben. Wenn ich positiv wüßte, daß mich der Sensenmann geholt hat, war ich der letzte, der sich dagegen sträuben würde. Ich leg keinem was in den Weg, schon gar nicht den eigenen Leuten. Bloß beweisen müßt ihr mir, daß ich nicht mehr lebe. Das ist alles, was ich verlang – einen winzigen Beweis.« »Du, Opa …«, unterbrach ich ihn. »Was gibt’s Junge?« »Entschuldige, aber dir tropft der ganze Grünkohl übers Kinn.« Opa legte die Gabel weg. »Tatsächlich. Danke, mein Junge.« Und ehe er so recht merkte, was er tat, wischte sich Opa den Mund mit der Serviette ab. Als er fertig war, warf er einen Blick drauf. Er guckte einmal und dann noch einmal. Schließlich legte er ganz sacht die Serviette auf den Tisch, stand auf und ging zur Treppe. »Lebt wohl«, sagte er. Wir hörten, wie er mit schweren Schritten die Treppe rauf und den Korridor entlang zu seinem Zimmer tappte. Die Matratze quietschte, als er sich ins Bett legte. Dann war alles still. Nach einer Weile schob Pa den Stuhl zurück und ging nach oben. Keiner sagte ein Wort, bis er wiederkam. »Na?« Ma guckte ihn an. »Alles in Ordnung«, erklärte Pa. »Er hat den Löffel für immer weggelegt. Ist jetzt droben, wo er’s schöner hat. Amen.« »Gelobt sei der Herr!« murmelte Ma. Dann schaute sie mich an und deutete auf die Serviette. »Tu das Ding bitte weg!« Ich nahm sie mit spitzen Fingern. Susie schaute uns erstaunt an. »Sagt einem hier keiner, was los ist?« Ich gab keine Antwort, sondern trug die Serviette raus und warf sie in den Bach. Hatte wenig Sinn, die Angelegenheit rumzuposaunen. Aber die Waldhexe hatte recht behalten, als sie sagte, Opa würde seinen Beweis kriegen, sobald er sich den Mund abwischte. Auf so ‘ner schwarzen Serviette sieht man nämlich die kleinen weißen Maden am allerbesten. Der Spuk von Rammin von Hanns Heinz Ewers Mit wahrem Fanatismus suchte der in Düsseldorf geborene Hanns Heinz Ewers (1871-1943) in seinen ›seltsamen‹ Geschichten das Gespenstische und Dämonische, das Groteske und Makabere. Die besten dieser Geschichten, in der Nachfolge E.A. Poes geschrieben, sind in den Bänden ›Das Grauen‹ und ›Die Besessenen‹ gesammelt erschienen und erreichten unwahrscheinlich hohe Auflagen. Um die Bedeutung des Ewersschen Werkes verstehen zu können, muß man den Mut haben, sich in jene Sphäre böser Alpträume und satanischer Fantasmagorien hineinzuwagen, in der er mit Vorliebe grauenhafte Eindrücke sammelte und flugs in immer neuen ›seltsamen‹ Geschichten zu Papier brachte. Allerdings zeigt der ›Spuk von Rammin‹, daß Ewers seiner gespenstischen Wahnwelt auch heitere Seiten abzutrotzen vermochte. —————————— Als Dr. Henry Friedel zum Abendessen nach Hause kam, sah er in den Augen seiner jungen Frau Tränen. Er fragte nach dem Grund, sie zeigte ihm einen Brief, den sie eben von ihrer Mutter erhalten hatte: »Meine liebe Tochter Lotte! Leider kann ich Dir wieder nur Schlechtes berichten. Die Versicherung will den Hagelschaden nicht bezahlen, weil der Papa, der sich mit dem Inspektor der Gesellschaft überworfen hatte, die letzte Prämie nicht bezahlt hat. Die Mamsell hat gekündigt, sie will sich in die Stadt verheiraten. Der große Braune ist auf dem Felde überanstrengt worden und hat sich die Hinterfesseln verletzt, er muß im Stalle in Bändern hängen. Dazu kommt der ewige Regen, das Korn liegt fast am Boden. Überall nur Kummer und Sorgen. Mit dem Verkauf von Rammin ist es auch nichts geworden. Über den Preis wären sie wohl noch einig geworden, Papa hatte nur 500 000 Mark gefordert. Aber dann hatte der Herr natürlich von unserem schrecklichen Spuk gehört und verlangt, eine Nacht im Mittelzimmer zu schlafen. Am anderen Morgen ist er gleich abgereist und hat an Papa geschrieben, daß er unter keinen Umständen mehr auf Rammin reflektiere. Das ist nun schon der dritte! Es ist ein Jammer, ich glaube, wir werden nie von Rammin wegkommen! Dein Bruder Willi meint zwar, es sei gut, daß aus dem Kaufe nichts geworden ist, da Papa so wenig gefordert habe. Aber ich wäre zu froh, wenn wir doch endlich wegkämen, Papa und ich können die Sorgen kaum mehr ertragen. Dabei braucht Willi bei den Kürassieren so viel Geld, wir wissen nicht, wo es hernehmen. Könntest Du nicht, Lotte, Deinen Mann bewegen, auf Rammin eine neue Hypothek zu geben? nicht viel, etwa 80 000 Mark. Es steht ja vollständig sicher. Bitte, versuche es doch und schreibe mir bald, ob es sich machen läßt. Mit vielen mütterlichen Grüßen an Dich und Deinen Mann. Deine traurige alte Mutter.« »Willst du hören, Lotte, was ich von diesem Briefe denke?« Sie nickte. »Erstens: daß dieser Herr, der Rammin kaufen wollte, ein großer Esel ist, wenn er 500 000 Mark dafür geben wollte, daß dein Bruder Willi ein noch größerer Esel ist, wenn er sich einbildet, daß das Gut seines Vaters damit zu niedrig bezahlt ist, daß ich endlich der größte Esel wäre, deinem Vater für seinen pommerschen Dreck eine weitere Hypothek von 80 000 Mark zu geben.« »Henry!« »Du glaubst mir nicht? – Ich habe mich genau nach dem Werte Rammins erkundigt, als ich deinem Vater vor zwei Jahren die Hypothek gab. Es ist – sehr hoch gerechnet – keine 100 000 Taler mehr wert, dein Vater hat es gründlich heruntergewirtschaftet. Dazu stehen etwa für 200 000 Mark Hypotheken darauf! Bleiben 100 000 Mark Vermögen. Und dabei leben dein Vater und dein Bruder, als ob sie mindestens 500 000 Mark im Jahre zu verzehren hätten!« Lotte schluchzte. Er strich ihr leise übers Haar: »– Höre, Lotte, wir haben noch 14 Tage Zeit, ehe wir zum Nil fahren. Es ist gleichgültig, ob wir die Zeit in Berlin oder irgendwo anders verbringen. Sollen wir nach Rammin fahren? Vielleicht können wir dort etwas helfen?« »Wir wollen gleich telegrafieren!« – Am anderen Abend waren sie dort. Frau von Rammin strahlte; die Hypothek schien ihr sicher. »Wie lieb, Kinder, daß ihr hergekommen seid. Wir haben den ganzen Tag gearbeitet, um euch alles schön zu machen. Vorn im großen Zimmer sollt ihr schlafen –« »Verzeihen Sie, Schwiegermama, wir möchten im Erkerzimmer schlafen.« »– Im Erkerzimmer? Da, wo es spukt, das ist nicht Ihr Ernst, Henry!« »Gerade da! bitte, lassen Sie gerade das Zimmer zurechtmachen, Lotte und ich möchten um nichts vermissen, den Ramminer Spuk kennenzulernen.« Lotte faßte sich ein Herz. »Ja, Mama, laß das Zimmer zurechtmachen.« – – Nach dem Essen zog Friedel seinen Schwager heraus. »Sag mal, Willi, wie lange spukt es schon in Rammin?« »Seit einigen Jahren!« »Glaubst du daran?« »Du wirst dich heute nacht selbst überzeugen.« »Ist der Spuk im Erkerzimmer?« »Nein.« »Nein? wo dann?« »Im Zimmer darüber! aber nur im Erkerzimmer kann man ihn hören!« »Hast du dort einmal geschlafen?« »Jawohl, zweimal. Vor einem Jahr etwa. Das erstemal allein, die folgende Nacht mit einem Kameraden.« »Hast du die Zimmer darüber untersucht?« »Bis auf das Kleinste. Es ist ein Speicherzimmer. Die übrigen Zimmer da oben stehen meist leer, oder sind mit alten Möbeln und Gerätschaften angefüllt. Dies Zimmer ist ganz leer. Früher wurde es wohl zum Wäschetrocknen benutzt, es sind von einer Wand zur anderen einige Latten und Leinen gespannt.« »Bist du sicher, daß sich nicht jemand aus dem Gesinde den Unfug erlaubt?« »Ganz sicher! Am Tage, nachdem ich zum ersten Male im Erkerzimmer geschlafen hatte, untersuchte ich mit meinem Kameraden von Hessen den ganzen Speicher aufs peinlichste. Dann schloß ich das Zimmer ab und ließ zum Überfluß noch einen Riegel mit Vorhängeschloß an die Türe nageln. Über das Schlüsselloch, sowie über das Vorhängeschloß klebten wir Papier, das wir beide mit unseren Wappenringen besiegelten. Dieselbe Prozedur wiederholten wir an der Treppentüre, die zum Speicher hinaufführt. Es war unmöglich einzudringen, ohne daß wir es gemerkt hätten!« »Ist es nicht denkbar, daß man durch das Fenster hätte eindringen können?« »Nein! Die Wand ist ganz glatt, und eine solch hohe Leiter ist auf ganz Rammin nicht zu finden. Überdies hätten wir das von dem Erkerzimmer bemerken müssen, die Fenster liegen genau übereinander. – Willst du vielleicht selbst einmal hinaufgehen?« »Ist nicht nötig; ich glaube, ich würde nicht mehr finden als du! Noch etwas: ist der Spuk immer da?« »Nicht immer, manche haben ihn nicht gehört. Vielleicht haben sie nur zu fest geschlafen. Ich hoffe, ihr werdet Glück haben!« – Henry und Lotte gingen früh zu Bett. Müde von der Eisenbahn- und der Wagenfahrt, schlief er bald ein. Plötzlich wurde er wach, seine Frau hatte ihn geweckt. Sie saß aufrecht im Bett, der Mond, der voll durchs Fenster schien, beleuchtete ihr bleiches Gesicht. »Hörst du nichts?« Er setzte sich ebenfalls auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen, dann horchte er. Einen Moment war es still. Dann drang ein zischender, sausender Klang an sein Ohr. »Zweifellos«, sagte er, »das ist über uns. Willi hat recht.« Wieder war es einen Moment still. Und dann drang wieder der eigentümliche sausende Ton und ein Streifen, als ob zwei schleifende Gewänder rasch aneinander vorüberrauschten. Und plötzlich dazwischen ein gedämpfter kurzer, aber nachklingender Ton. Das Schleifen und Zischen wurde immer stärker, aber es schien nicht den Boden zu berühren. Immer durch die Luft, in rasender Geschwindigkeit. Friedel war aus dem Bett gesprungen; er begann sich anzukleiden. Da klang auf einmal ein lautes, schrilles Lachen an sein Ohr, und noch einmal und wieder, es war, als ob eine Menge kleiner Kinder sich schüttelten vor Lachen. Dazwischen wieder klagende, seufzende, schreiende Töne, ein Schleifen, Zischen, Murren, Rauschen. Und nun, ganz deutlich, ein lauter Kuß, dann helles Gelächter! – »Das ist ja der reine Hexensabbat!« rief er, »bunter kann es wirklich nicht werden!« Und der Lärm wuchs mit jeder Minute, Kichern, Lachen, Seufzen, Klagen, Springen und Tanzen laut durcheinander. »Merkwürdig, daß man keine Schritte hört«, meinte Friedel. Er war völlig angezogen; er ergriff nun das Licht und den Stiefelknecht. »Wo willst du hin?« Sie zitterte. »Nimm wenigstens den Revolver mit!« »Wozu? – für diese lustige Gesellschaft genügt der Stiefelknecht vollkommen!« »Henry, bleib da!« »Närrchen!« Er ging hinaus. Sie hörte ihn die Treppe hinaufgehen, jetzt schloß er die Türe zur Speichertreppe auf. Tapp, tapp, tapp, der Klang seiner Schritte entfernte sich. – Nun hörte sie wieder deutlich, oben – er mußte vor der Tür stehen. Sie hörte, wie er an der Tür tastete, er suchte den Schlüssel – Der Angstschweiß trat ihr auf die Stirn. Immer lauter, immer wüster wurde der Tanz dort oben. Immer wilder, immer toller. Wenn er nur wiederkäme, wenn er nur wiederkäme. Sie versuchte zu beten, doch konnte sie keine Worte finden. »Henry, Henry!« Sie sprang aus dem Bett, wollte zur Tür, hinauf, ihren Mann herunterholen. Aber ihre Füße trugen sie nicht, sie fiel zusammen, sie mußte sich auf einen Stuhl setzen. Bauz! da hörte sie einen lauten Krach. Er trat gewiß vor die Tür, da er den Schlüssel nicht finden konnte. Bauz, bauz, sie hörte seine schweren Tritte. Wenn er nur wiederkäme. Krach, jetzt flog die Türe auf. Und jetzt hörte sie seine Schritte gerade über sich. Und rings um ihn herum dieses schreckliche Tosen – an allen, allen Seiten! Er war verloren – – – Sie hielt sich die Ohren zu, schluchzte, weinte, jammerte. – – Als sie aufsah, stand ihr Mann vor ihr: »Was machst du denn, Närrchen?« Sie stand auf, umhalste ihn, wollte ihn fast erdrücken mit ihren Küssen! »Nicht so stürmisch, Lotte, du zerdrückst mein Gespenstchen. Ich hab’ dir eins mitgebracht, hier unterm Rock, eins von den Hauptspaßmachern!« Er zog eine große, graue Lachtaube heraus. »Die andern mögen weiter Musik machen, die da kann bei uns bleiben. Eure Ramminer Gespenster sind mondsüchtig, Lotte, das ist ihre ganze Eigentümlichkeit. Dein Herr Papa wird die Taubenschläge draußen haben verfallen lassen und da ist ein besonders kluger Tauberich auf den Gedanken gekommen, sich da oben im Wäschezimmer häuslich niederzulassen. Es paßte ja famos dazu mit den Leinen und Latten quer von Wand zu Wand. Aber sie hatten ihre Rechnung ohne den Mond gemacht. Wenn der da hineinscheint, werden die armen Tiere wach und flattern und lachen und gurren – na, du hörst sie ja, Lotte?« Ehe sie am anderen Morgen zum Frühstück gingen, lachte sie: »Wie wird sich Mama freuen, daß wir den Spuk gefunden haben. Nun können sie Rammin verkaufen!« Er sann einen Augenblick nach: »Lotte, ich bitte dich, erwähne nichts davon: erzählst du, so weiß morgen die ganze Nachbarschaft, wie es mit dem Ramminer Spuk bestellt ist. Und der Spuk ist das Beste in Rammin. Mit dem Spuk kann dein Vater Rammin vielleicht loswerden, ohne ihn würde ich keinen Groschen dafür geben.« – Die anderen waren schon beim Frühstück. »Na, habt ihr den Spuk gehört?« »Ja«, sagte Lotte. »Bist du überzeugt?« »Es ist genauso, wie du mir erzählt hast.« Dann brach er ab. »Schwiegervater, ich höre, Sie wollen Rammin verkaufen!« »Wenn ich einen Käufer fände!« »Papa will nur 500 000 Mark haben«, meinte Frau von Rammin zaghaft. »Verdammt wenig!« meinte Willi. »Ich gebe 800 000 Mark! Davon geht meine Hypothek ab, macht 720 000 Mark. – Wenn Sie damit einverstanden sind, bitte ich zum Notar zu schicken, da ich sofort in den Besitz zu treten wünsche, auch die übrigen Hypotheken gleich löschen lassen möchte.« Frau v. Rammin küßte ihre Tochter, dann ihren Schwiegersohn. Der Alte schüttelte ihm die Hand. »Zu viel ist’s nicht«, sagte Willi. Als Friedel mit seiner Frau allein war, sagte sie: »Es war sehr edel von dir – aber was willst du mit Rammin machen? – Du verstehst –« »– Nichts von der Landwirtschaft, hast auch nicht die geringste Lust dazu – willst du sagen? – Freilich hab’ ich keine Lust dazu und freilich verstehe ich nichts davon, beinahe so wenig wie dein Vater. Ich denke auch Rammin nicht vierzehn Tage zu behalten!« »Du willst es verkaufen? Aber du sagst selbst, daß Rammin für 100 000 Taler keinen Käufer finden würde, und du willst 800000 Mark dafür geben?« »Ja – und ich werde mehr dafür wieder bekommen. Was ich verdiene, gehört dir, Lotte, du kannst dafür Tauben züchten, wenn du Lust hast. – Willst du mir ein paar Briefe schreiben, die ich diktiere?« »Gerne!« »So schreibe: ›Rittergut Rammin! Haunted‹ Altes Familiengut in Pommern ist zu verkaufen. Große Waldungen, Teiche, Parkanlage. Bester Boden, schöne Jagd. Das Gut wurde von dem Inhaber, in dessen Familie es über 400 Jahre gewesen ist, verkauft, weil er es in dem Schlosse, in welchem es spukt, nicht mehr aushalten konnte. Inserent dieses erstand es, da sich kein anderer Käufer aus angegebenen Gründen finden wollte, schuldenfrei zu dem fabelhaft niederen Preise von nur 800 000 Mark. Notarieller Kaufakt liegt zur Einsicht vor. Inserent zieht jedoch selbst, nachdem er nur wenige Nächte in dem Schlosse geschlafen hat, vor, seinen Besitz wieder zu verkaufen, eventuell unter Selbstkostenpreis. Gefl. Offerten an Herrn Dr. Friedel. Rammin, Pommern.‹ So, Lotte! du mußt es noch zweimal abschreiben! Und dann die Adressen: Times, London; Figaro, Paris; New York Herald, Neu-York.« – Dr. Friedel bestand darauf, daß seine Schwiegereltern und Schwager sofort nach der Tätigung des notariellen Aktes nach Berlin fuhren, auch Lotte mußte mit. Eine kleine Ausspannung könnte nichts schaden, sagte er. – Etwa vierzehn Tage später erhielt Lotte von ihrem Manne folgenden Brief: »Liebes, kleines Frauchen! Morgen komme ich selbst zu Dir, jetzt nur in Eile die Hauptsache. Meine Rolle als Besitzer von Rammin ist ausgespielt, soeben habe ich das Gut für eine Million verkauft. Der jetzige Besitzer, Dr. Mc. Culloch, ist ein Schotte. – Auf unsere Annoncen bekam ich etwa 15 Antworten, Mc. Culloch kam gleich selbst hierher. Rammin hat er sich gar nicht angesehen, doch wollte er gleich im Erkerzimmer schlafen. Er war entzückt. Ich hatte alles so gelassen, wie es war, nur den Taubendreck habe ich da oben höchst eigenhändig ein wenig aufgekehrt. Ich hätte Mc. Culloch, der sofort 750 000 Mark bot, gleich zugeschlagen, jedoch kamen am folgenden Tage noch zwei Amerikaner. Sie schliefen ebenfalls im Erkerzimmer: der Erfolg war derselbe. Sie boten 800 000 Mark, worauf Mc Culloch 50 000 Mark höher ging. So steigerten sie sich gegenseitig, bis der Schotte mit einer Million 15 000 Mark Sieger blieb! Er ist sofort in den Besitz von Rammin getreten, ich bin heute sein Gast. Er hat schon Anordnungen getroffen, die Türe zur Speichertreppe vermauern zu lassen, damit der Spuk nicht doch einmal herunterkäme! Das Erkerzimmer will er als Fremdenzimmer herrichten lassen, er läßt schon an alle seine Freunde Einladungen ergehen und freut sich schon im voraus, wenn er an die Erfolge denkt, die er erzielen wird! – Ich wünsche ihm alles Glück. Ich komme 1.28 Uhr morgen mittag; wirst Du an der Bahn sein? Grüße für Deine Eltern und Deinen Bruder und einen Kuß für Dich. Henry.«  Reitet, Colonel! von Mary-Carter Roberts Eine Geistergeschichte von geradezu welthistorischen Dimensionen ist Mary-Carter Roberts ›Reitet, Colonel!‹ eine fantasievolle, originelle Erzählung, die im amerikanischen ›Magazine of Fantasy and Science Fiction‹ erschienen ist – eine Geistergeschichte par excellence, die obendrein den Anspruch erheben darf, ein großes historisches Ereignis korrekt zu rekapitulieren … nur eben ein wenig anders, als man es aus den Geschichtsbüchern kennt, ein wenig geisterhafter, atemloser, aber der Größe dieses wahrhaft umwälzenden historischen Augenblicks durchaus angemessen. —————————— Der Geist des Generals saß am Tisch im Kommandeurzelt und unterzeichnete die Depesche mit dem Kratzen eines Federkiels. Der Geist des Colonels stand ihm gegenüber und sah zu. Überall in Amerika, ausgenommen in den Seelen gewisser inbrünstiger Wesen, war es der 19. Oktober 1974. Für jene Außerordentlichen jedoch war es der 19. Oktober 1781. Sie befanden sich auf dem Schlachtfeld bei Yorktown. Soeben hatten die Briten vor ihnen kapituliert. In jedem Jahr brachten ihre unsterblichen Erinnerungen ihnen diesen Tag in der Geschichte zurück, und ihre Geister suchten erneut den Ort des Geschehens auf, um es noch einmal zu erleben. Washington rollte das Pergament; seine mächtige Faust wirkte ungeeignet für eine solche Aufgabe, die einem Sekretär gebührte, aber vollendete sie rasch. Er blickte auf zu Tilghman. Der Colonel war kein Mann, den irgend jemand auf den ersten Blick als klein bezeichnet hätte; er war mittelgroß und besaß breite Schultern, wuchtig und fest. Doch neben George Washington schien er klein zu sein. Wie die meisten Menschen. Denn Washingtons Größe kam aus seinem Innern und fand in seinem Riesenwuchs eher zufällig einen angemessenen Ausdruck. Diese Größe, nicht seine körperliche Gestalt, ließ andere Menschen vergleichsweise geringer wirken, wie immer auch ihre Körpermaße sein mochten. Tilghman war mit dieser Verhältnismäßigkeit vertraut. Jahrelang war er Washingtons Adjutant und Sekretär gewesen. Doch die Kenntnis um seines Vorgesetzten Überlegenheit hatte seiner eigenen Integrität niemals geschadet oder auch nur an sie rühren können. Vielmehr hatte er die Revolution mit klarem Verstand eben um Washingtons Größe willen durchgefochten, die er als der revolutionären Sache würdig empfand. Um diese Sache, was ihre militärische und politische Kraft betraf, stand es schlecht. Ihre einzige Stärke war ihre furchterregende Gerechtigkeit. Washington war deren Verkörperung. Er verkörperte sie und würde sie immer verkörpern, gleichgültig, so war der Colonel überzeugt, unter welchen Umständen. General Washington war zuverlässig. Voll und ganz. Zu allen anderen Erscheinungen der Revolution hatte Colonel Tilghman stets eine nüchterne Haltung bezogen. Er hatte jederzeit gewußt, daß die Amerikaner verlieren konnten, aber diese Möglichkeit als das einzige voraussehbare Übel betrachtet und als Gefahr, die sie auf sich genommen hatten. Krieg war Krieg. Und nun hatten sie gesiegt. Er stand und sah zu, das Kinn auf die Brust geneigt. Und da er jung war und im Besitz eines lebhaften und genauen Erinnerungsvermögens, erlebte er in diesen wenigen Augenblicken eine Reihe anderer Momente wieder, während der er seinen Vorgesetzten beobachtet hatte. In West Point, am Morgen, als Washington kam, um mit Arnold zu frühstücken – und Arnold war fort, hatte hinter sich in der Luft den Gestank von Verrat zurückgelassen. In Newburgh, als Washington geduldig mit gemeinen, aber bitter notwendigen Männern sprach, die zugleich hofften und fürchteten, daß ihr gemeinsames Gewicht ihn verderbe. In Trenton im Sturm aus Schnee und Hagel aus Blei. Bei Valley Forge in einer Stille aus Schnee und Hunger. Es handelte sich in der Tat um ein ganzes künftiges Buch der amerikanischen Geschichtsschreibung, das dem Colonel durch den Kopf ging, aber für ihn war das alles die Gegenwart – in solchem Maße hatte er diesen Krieg als ein zusammenhängendes Ereignis erfahren. An diesem Tag des Sieges gab es keine Vergangenheit. Hier war die gesamte Revolution. Sie war die Luft – frisch, rege, verheißungsvoll –, die Washington und er atmeten. Washington streckte die Depesche über den Tisch hin. Tilghman trat vor, um sie entgegenzunehmen. Da änderte Washington seine Absicht und erhob sich, ragte gewichtig empor, als er stand, so daß sein angegrautes rotes Haar, das wochenlang des Puders entbehren mußte, fast ans Zeltdach rührte. Seine Feldkleidung war zerknittert und beschmutzt, und an seinem Kinn sah man helle Bartstoppeln. Hochgewachsen und schmutzig war er, und nun mußte er etwas tun und sagen, das den weiteren Verlauf der Geschichtebestimmte. Er tat es und sagte es – er übergab die Depesche seinem Adjutanten, welcher der Bote der Geschichte war, und sprach sein Wort in klarem förmlichen Tonfall aus. »Zum Kongreß, Colonel.« Colonel Tilghman nahm die Rolle entgegen. Die Botschaft von einer großen Wende ›im Lauf der Weltgeschichte‹ war in seinen Händen. »Jawohl, Sir«, sagte er. »Zum Kongreß.« Und die Kürze der Äußerung, die eine so gewaltige Bedeutung besaß, erheiterte sie beide. Sie lächelten. Ihre vom Wetter gezeichneten Gesichter zeigten wie für einen kurzen Moment geöffnete Fenster etwas von der Erleichterung, die an jenem Morgen auf dem Schlachtfeld die Herzen aller Soldaten der Kontinentalarmee erfüllte. »Reitet, Colonel«, sagte George Washington unverändert klar und ruhig, doch nicht länger ganz so förmlich. »Jawohl, Sir«, erwiderte der Colonel nochmals. Er drehte sich um und schritt hinaus. Das Schlachtfeld von Yorktown im Jahre 1974, eine Nationale Gedenkstätte, lag von Menschen des Jahres 1974 nahezu verlassen, aber lieblich und duftig in der herbstlichen Sonne. Ein paar Autos befuhren die Straße, einige kleine Gruppen von Besuchern schlenderten durchs Gras. Hier waren der lange Friede, die festgehaltene Ehre. Nichts davon war sichtbar für den Geist von Colonel Tench Tilghman, den Adjutanten und Sekretär George Washingtons. In ihm stak das Leben des Jahres 1781 und schuf die Welt rings um ihn. Er sah das Feld der Entscheidungsschlacht. Die Sonne von 1781 schien auf sein Haupt, und das Erdreich von 1781 knirschte unter seinen Stiefeln. Überall in seiner Sichtweite waren Zelte und Lagerplätze. Soldaten in vielerlei Röcken strömten umher. Die Franzosen trugen ihre heimatlichen traditionellen Uniformen in hellen Farben; manche Amerikaner staken in verblichenem Blau und Lohgelb, andere waren in abenteuerlich lumpigen Aufputz gekleidet. Dort waren die Gräber der auf den Schanzen 9 und 10 gefallenen Männer – zwei flache Hügel frischer Erde, einer für die Franzosen, einer für die Amerikaner; doch diese Grabhügel waren nicht voneinander unterscheidbar. Sie sahen gänzlich gleich aus. Und dort waren die Kanonen, die Werkzeuge der vorangegangenen Belagerung, die den Feind niedergezwungen hatte. Von der französischen Flotte stammten sie, und zum Beweis dafür, daß sie Schiffswaffen waren, bestand ihre Zier (neben dem Wappen von Bourbon) aus kleinen, wunderschönen schmiedeeisernen Delphinen an ihren Lafetten. Ja, die Kanonen. Um die halbe Welt waren sie gekommen, damit man die ganze Welt verändere. Alle die Tausende von Männern auf dem Schlachtfeld des Jahres 1781 wußten um den Sieg. Ein paar tausend Menschen mehr im näheren Umkreis wußten ebenfalls davon. Doch das waren schon alle. Das Ereignis, das in Yorktown eingetreten war, beschränkte sich noch auf Yorktown. Colonel Tench Tilghman war es, der den Auftrag hatte, die Botschaft in die ganze Welt hinauszutragen – die Nachricht, daß sie fortan anders sein müsse. Als er vor Washingtons Zelt stand, dachte er, daß dies eine zu große Aufgabe für einen Menschen sei. Natürlich, er brauchte nur das zu tun, was Washington befohlen hatte – reiten. Schon oft, sehr oft, war er auf Washingtons Befehl geritten. Durch Sonnenglut war er gesprengt, durch Finsternis, durch Regen, durch Staub, durch Graupel, durch Kugelhagel. Er und sein Pferd hatten einer Verlängerung von George Washingtons Wille und Stimme geglichen. Aber diesmal ging es um etwas anderes … Eine Touristenfamilie des Jahres 1974 zog an der Stelle vorbei, wo er, der Geist, noch stand. Sie schleppte Picknickkörbe. Die Eltern schlürften im Vorübergehen Erfrischungsgetränke aus Flaschen. Ein junger Bube nagte an seiner Zuckerstange. Ein etwas kleineres Mädchen mampfte Kartoffelchips, die es mit automatenhafter Regelmäßigkeit aus einer durchsichtigen Cellophantüte schaufelte und in den rundum von Krumen verklebten Mund schob. Ein noch kleinerer Junge lutschte an einem Schnuller. »Laßt uns hier essen«, sagte die Mutter und deutete mit ihrer Flasche. »Wir können die Sachen auf diesen großen Steinen auspacken.« Die Stelle, wohin sie wies, war der Begräbnisplatz der Gefallenen von den Schanzen 9 und 10; die Gräber waren nicht länger nur Haufen frischer Erde. Im Jahre 1974 waren sie mit flachen breiten Steinen gekennzeichnet. Die Frau, ihr Ehepartner und ihr Nachwuchs waren für den revolutionären Colonel unsichtbar … Statt dessen ruhte sein Blick auf seinem Pferd, das einige Meter von Washingtons Zelt entfernt angekoppelt stand und nun ein erwartungsvolles Auge rollte. Das Tier wußte, es würde bald wieder gebraucht, und scharrte mit den Hufen die Erde auf, um seinem Unwillen über die zeitweilige Untätigkeit Luft zu machen. Ein halbes Dutzend Schritte, das Heben eines Fußes, ein Sprung, Knie und Zügel dahin, wo sie hingehörten – und Mann und Tier würden wieder eins sein, und diese Einheit setzte sich in Bewegung. Machte sich auf den Weg. En route. »Zum Kongreß.« Was hieß: Zu den im Kongreß vertretenen Abgeordneten der Vereinigten Staaten. Der Ort, wo die Abgeordneten der Vereinigten Staaten sich versammelten, war Philadelphia. Zweihundertundfünfzig Meilen über Land und Wasser lag Philadelphia entfernt. Die Schritte gehen, in den Sattel springen – und los. Das sollte er nun tun. Der Colonel stand reglos. Die Größe der Stunde bannte ihn. Er, der nun in Eile und Bewegung sein sollte, fühlte sich zum ersten Schritt außerstande. Dann vernahm er das Knarren von Erde unter Stiefeln, die rasch ausschritten, und wußte, daß jemand um das Zelt geeilt kam, zweifellos zum Zwecke, den General aufzusuchen. Er trat vom Eingang beiseite. Aber der Ankömmling war schneller. Der Ankömmling bog mit ungestümen Schritten um die Ecke des Zelts, und er und der Colonel prallten gegeneinander. Die beiden Männer sprudelten Entschuldigungen hervor, und dann standen sie Angesicht zu Angesicht und lachten. Der stürmische Ankömmling war – seiner Kleidung zufolge – ein General der Kontinentalarmee. Er war groß, schlank, elegant und sichtlich stolz, aber hauptsächlich war er jung. Sehr jung. Tatsächlich war er der jüngste General, den die amerikanische Armee jemals haben sollte. Er war Lafayette. Die Freude, die in seinem Gesicht glühte, entzog sich jeder Beschreibung. Sie war Ausdruck der tiefgründigen Erkenntnis des Neuen, das in die Welt getreten war – ausgedrückt mit der Glückseligkeit eines Knaben. Dies Entzücken fand er augenblicklich auch an Tilghmans Mission, von der man ihn unterrichtet hatte. »Ihr seid’s, Colonel!« rief er. »Ihr seid es, der unser Licht hinaus in die Welt trägt. Und Ihr seid schon en route. Zum Kongreß!« Er unterbrach sich und lachte. Der Colonel, ebenfalls jung, jedoch nachdenklich, der diesen Krieg kannte – ganz genau, in allen Einzelheiten –, entsann sich, daß es dieser junge Mann mit der fröhlichen Miene gewesen war, der mit nur schwachen Kräften die Truppen des Veteranen Cornwallis gebunden hatte, bis Washington, Rochambeau und die Kanonen eintrafen. Lafayette. Er und Tilghman hatten gemeinsam in vielen Begegnungen gekämpft. Nun blickten sie einander in die Augen und lachten. Dann umarmte Lafayette urplötzlich Tilghman. »Reitet, Colonel«, sagte er. »Reitet!« Und so kam es, daß die fürchterliche Last der Pflicht, die George Washington ihm aufgetragen hatte, ins Gleichgewicht kam. Sie ruhte nicht länger allein auf seinem Willen; sie drang ihm ins Blut. Innerhalb weniger Augenblicke saß er im Sattel und preschte zum Fluß, wo – wie er wußte – ein Boot für ihn in Bereitschaft lag, und er flog dahin wie ein Vogel – geradewegs über Zäune, Hecken, Bäche und die nun leeren Laufgräben des Schlachtfelds. Dies, die erste Etappe seines Ritts, verging wie ein Gedanke. Nichts Materielles schien daran teilzuhaben. Da waren er selbst und das prächtige Pferd, und sie ergänzten einander. Da waren das Sausen der Luft, die Geräusche der Hufe und emporgeworfener Erdbrocken – und unaufhaltsam vorwärts, vorwärts, vorwärts. Dann war es vorbei. Er erreichte den Bootssteg. Er hatte weniger als eine Minute benötigt. Die zweite Etappe würde vierundzwanzig Stunden beanspruchen. Sie führte den York hinab zur Chesapeake-Bucht und nach Rock Hall, wo die Straße nach Philadelphia begann. Sie maß einhundertdreißig und noch ein paar Meilen, und für diese Strecke mußten der Colonel und sein Pferd Passagiere sein, sich an Bord eines Gefährts befördern lassen, ohne auf den Transport Einfluß nehmen zu können, eine Zeit der Untätigkeit für des Colonels Körper, während ein andersartiger Antrieb das Räderwerk seines Verstands in Bewegung hielt. Ein Boot. Segel, Holz, Wind, Wasser, Kapitän und Mannschaft. Alle Vorbereitungen seien veranlaßt worden, hatte Washington ihm gesagt. Nun gut. Sollte die zweite Etappe ihren Anfang nehmen. Er stieg ab. Nur dies eine Boot lag am einstmals geschäftigen Ufer – die Briten hatten alle Wasserfahrzeuge zerstört, deren sie habhaft zu werden vermochten. Dies eine Boot jedoch war das richtige für die Mission des Colonels. Es handelte sich um einen zweimastigen Küstenschoner, tüchtig und schnell. Offensichtlich war er bereit zum Ablegen. Die Laufplanke lag aus, und als der Colonel eintraf, kam über das Deck ein Mann, der erwartungsvoll wirkte, auf ihn zu. Er war verdreckt vom Wetter und schäbig, aber das waren damals die meisten Amerikaner. Der Colonel erkannte in ihm Autorität. Dies mußte der Kapitän sein. Er stellte sich vor. Das heißt, er nannte seinen Namen und den Bestimmungsort. »Colonel Tilghman. Nach Rock Hall.« »Zu Diensten, Sir«, sagte der Kapitän. Colonel Tilghman wandte sich ab, um sein Pferd an Bord zu führen. Da geschah etwas, womit er gerechnet hatte – das Tier brachte seine Eigenwilligkeit zur Geltung. Es war ein junger Hengst mit einer natürlichen charakterlichen Mischung aus vortrefflicher eleganter Feurigkeit und scharfer, grimmiger Klugheit. Auf Schiffen war er schon oft gereist; das war für ihn nichts Neues. Es widerstrebte ihm allerdings, seine natürliche Umgebung mit zuviel Plötzlichkeit zu verlassen. Er verlangte ein Zeremoniell. Deshalb leistete er jedesmal gespielten Widerstand. Der Colonel achtete diese Eigenheit. Als der Kapitän sich umsah und rief: »Hilfe vonnöten, Sir?«, lautete seine Antwort: »Nicht erforderlich.« Eigenhändig führte er Black Damn an Bord und in den Stall unter Deck. Sein Pferd mit einem Heuvorrat im Stall; General Washingtons Depesche an den Kongreß in seiner Satteltasche; er selbst auf dem Boot; das Boot in Fahrt. Der Colonel kehrte zurück auf Deck. Sie schwammen bereits mitten im Fluß. Überall an den Ufern sah man die Reste verbrannter Schiffe, von seetüchtigen Frachtschiffen bis zu Nachen. Die Ortschaft Yorktown ähnelte einem von Geschossen zerpflügten Wirrwarr aus Mauerwerk. Die Briten hatten gebrannt und geplündert, Brunnen vergiftet und Zivilisten mißhandelt. Sie hatten Sklaven dazu verlockt, ihre Herren zu verlassen, ihnen Freiheit versprochen, aber ihr Wort nicht gehalten, sondern die Sklaven in Pferche gesperrt, wo viele von ihnen starben. Ereignisse, Bestandteile eines Krieges, dessen Ganzheit jetzt Colonel Tilghman beherbergte, nun zusammengefaßt in einem Wort – vorüber! Cornwallis hatte kapituliert. Der Colonel war mit dem York vertraut. Er kannte auch die Chesapeake-Bucht. Und ihm war zumute, als segele er über einen neuen Strom in eine neue Grenzenlosigkeit. Er war, so begriff er, allein mit seinem gewaltigen Wissen. Nur er wußte vom Sieg. Er brachte die Neuigkeit. En route … Im Jahre 1974 war der Fluß in diesem Moment Schauplatz eines spontanen Motorbootrennens. Drei Enthusiasten jener Art, die die Motorbootsaison bis zum Ende des Wasserhochstands auszukosten pflegten, röhrten flußaufwärts, und noch das langsamste der Boote entwickelte eine Geschwindigkeit von fünfzig Meilen je Stunde; die Rümpfe waren nichts als Verkleidungen für die Motoren, Motoren mit der zweihundertfachen Kraft eines Black Damn. Der Kurs einer dieser brüllenden Mücken kreuzte sich mit dem des Schoners, so daß die beiden Fahrzeuge sich wechselseitig eines durch das andere passierten. Der von Gischt umschäumte Bug des Motorboots des zwanzigsten Jahrhunderts drang in den Rumpf des Schiffs im achtzehnten Jahrhundert dicht unterhalb der Füße Colonel Tilghmans ein und glitt darunter weiter durch das Geisterpferd. »Jippiii!« hatte der Mann am Steuerrad geschrien. »Jippiii …!« schrie er, als er weiterbrauste. Colonel Tilghman kannte sich auch mit Booten aus, gewiß. Er war an Marylands Ostküste geboren, einem mit den Gezeiten vertrauten Land, dessen Bewohner seine Flüsse einhundertfünfzig Jahre lang ganz natürlich als Straßen benutzt hatten. Der Sitz seiner Familie war am Tred Avon gewesen, in der Nähe eines blühenden Welthandelshafens – Oxford. Schon als Knabe hatte er ein eigenes Boot erhalten, und man erwartete von ihm, daß er damit gut umzugehen verstand. Daher war er des Treibens auf dem Schoner sowie der Strömungen in der Luft und im Wasser, die das Tun an Bord bedingten, mit vollem Verständnis gewahr – und doch regte seine Aufmerksamkeit sich nur unterbewußt; sie verzeichnete, daß der Schoner sechs Knoten schaffte und der Kapitän anscheinend sein Handwerk beherrschte. Der gesamte Rest von des Colonels Bewußtsein richtete seine Gedanken vorwärts. Der Fluß schimmerte, denn die Sonne jenes Tages warf alle Schatten nach hinten. Die Siegesbotschaft. Er würde die Depesche dem amerikanischen Hauptgeschäftsführer übergeben, dem Vorsitzenden im Kongreß der Vereinigten Staaten, den die Kongreßmitglieder für jeweils ein Jahr aus ihrer Mitte wählten, zur Zeit Mr. McKean aus Delaware. Ein Anwalt. Damit würde der Kongreß seine Rechtfertigung entgegennehmen. Er hatte die Armee mit der Kriegführung beauftragt, und nun schenkte die Armee ihm den Frieden. Fortan konnte er unbehelligt seinen Aufgaben nachgehen, nicht länger bloß eine Vereinigung von Rebellen, auf deren Häupter Belohnungen ausgesetzt waren, sondern die Gesetzgebung der amerikanischen Nation. Was diese Gesetzgeber zu tun hatten – daran dachte der Colonel nicht, obwohl sie nun das Recht auf eigene Gedanken errungen hatten. Häufig war er Teilnehmer an Diskussionen über dies Thema gewesen, manchmal hitzigen Diskussionen, die in den Zelten und an den Lagerfeuern der Armee stattfanden. Aus der Ernsthaftigkeit, mit der er und seine Offizierskameraden ihre Ansichten über den Zweck des Krieges verkündeten, hätte man schließen können, sie alle seien Professoren der Staatskunst; besonders der junge Colonel Alexander Hamilton zeichnete sich durch eine klare Philosophie aus. Sie hatten alle ihren Scharfsinn gemessen, ihre Gelehrsamkeit, manchmal auch die Lautstärke ihres Geschreis, bisweilen fehlte auch nicht viel zu einem Meinungsaustausch mit den Fäusten – Schlamm an den Stiefeln, Stoppeln im Gesicht, Hunger in den Gedärmen. Der Kampf gegen den Feind war der Grund ihres Daseins, und dafür hielten sie stets Blei, Pulver, Schießeisen, Klingen und Pferde bereit. Und dennoch hatten sie theoretisiert und diskutiert. Was mochten seine Kameraden an diesem Morgen tun? fragte sich flüchtig der Colonel. Nicht reden. Dessen war er sich sicher. Da nun die Zukunft sich in die Gegenwart verwandelt hatte, bedurfte sie zur Nahrung nicht länger des Redens. Was mochten seine Kameraden wohl tun? Selbstverständlich die alltägliche Armeeroutine erledigen. Inspizieren, Befehle erteilen und empfangen, ein scharfes Auge offenhalten. Ausschließlich Routine – abgesehen davon, daß nichts, wo auch immer, jetzt Routine war oder jemals wieder sein würde. Die Revolution hatte gesiegt. Die Zukunft – ja, sie war angebrochen. Colonel Tench Tilghman, Adjutant, Sekretär und Kurier General George Washingtons, verblieb den Morgen hindurch auf Deck des Schiffs, das ihn forttrug. Vom York gelangten sie hinaus in die Bucht. Am Nachmittag begab sich der Colonel auf Einladung des Kapitäns in die Kabine und nahm ein Mahl zu sich – etwas kaltes Fleisch, Zwieback und Brandy. Seit dem Nachmittag des Vortags hatte er nichts gegessen. Niemand in Washingtons Feldquartier hatte ans Essen gedacht. Dann stieg er hinunter, um nach Black Damn zu schauen. Der Hengst war ruhig – oder so ruhig, wie zu sein er es vermochte, und das war nicht völlig ruhig. Auch wenn Black Damn keinen Huf rührte, erweckte er doch den Eindruck, er sei in schnellem Lauf. Selbst reglos glich er dem Bild eines Pfeils im Flug. Er war aus Bewegung geschaffen. Er grüßte den Colonel mit einem Augenrollen und seinem üblichen kameradschaftlichen Grimm. »Ja, ja, Sir«, sagte der Colonel und grunzte und brummte ein paar zur Bekräftigung ihrer Beziehung geeignete Laute. Black Damn verstand ihn. Wenn der Colonel ihn respektierte, dann respektierte er seinerseits den Colonel. Der Mann erneuerte das Heu, das Pferd rieb seinen Kopf an dem wohltätigen Arm, und beide waren gut gelaunt. »Ja, du, Sir«, sagte der Colonel, legte sich auf den großen Heuhaufen und schlief. In der vergangenen Nacht waren ihm nur drei Stunden Schlaf vergönnt gewesen. Eine Bewegung weckte ihn, von der er augenblicklich wußte, daß sie eine Unregelmäßigkeit bedeutete. Es war jene Bewegung, die nicht hätte sein sollen – die Bewegung, mit der Bewegung aufhört. Binnen weniger Momente war er an Deck, doch schon vorher erriet er die eingetretene Lage. Sie hatten die Tangier Shoal erreicht, die ausgedehnten Untiefen rings um die Insel Tangier. Jeder Schiffer der Chesapeake-Bucht wußte über sie Bescheid – wußte, daß ihr Umfang immer so gut wie gleich blieb, aber ihre Tiefen sich ständig änderten. Während der einen Jahreszeit konnte zwischen zwei Punkten eine schiffbare Fahrrinne sein, in der nächsten waren dort Sandbänke. Die Vernunft, so dachte der Colonel, sollte jedermann fernhalten, auf jeden Fall jemanden mit einem Boot von der Art des Schoners. Aber diesen Kapitän hatte die Vernunft nicht aufgehalten. Der Schoner war aufgelaufen. Seine erste heftige Regung gab ihm ein, den Idioten zu erschießen. Der Gedanke verflüchtigte sich, ehe er sich richtig verfestigt hatte. Der Colonel widmete seinen Verstand den Verhältnissen. Sehen konnte er nichts, denn inzwischen war es dunkel, aber er vermochte sich auszumalen, was sich zugetragen hatte. Der Wind hatte umgeschlagen und wehte nun statt aus Südwesten aus dem Osten. Beim Bemühen, sich in diesen Gegenwind zu stemmen, hatte der Kapitän zu weit ostwärts gehalst und das Schiff auf eine Sandbank gesetzt. Dieses Unglück hätte ihm nicht widerfahren dürfen – und doch konnte es jedem zustoßen. Es war ein so gewöhnlicher Schiffahrtszwischenfall, daß er gleichermaßen verzeihlich war wie unverzeihlich. Aber nichts dergleichen spielte jetzt eine Rolle. Entscheidend war nun, daß die Flut zurückging. Sie konnten das Schiff nicht freimachen, die Fahrt nicht fortsetzen, bevor die Flut wiederkehrte. Acht Stunden. Colonel Tilghman hatte während des gesamten Verlaufs der Revolution auf ihrer Seite gekämpft. Das bedeutete, er hatte zu warten gelernt; denn die wesentlichste Kunst jenes Krieges war das Warten gewesen. Nicht in dem Sinn, daß die Revolution etwas für ausschließlich geduldige Menschen gewesen wäre. Gewiß – Geduld hatte sie gelehrt. Aber Ungeduld hatte sie hervorgebracht. In ihren Kämpfern war eine besondere Art von Ausdauer entstanden. Ein Eifer, der nicht ermattete, während das Unentschieden sich hinzog. Eine Fähigkeit zu stiller, beharrlicher, zäher Achtsamkeit. Tilghman war darin ein Meister. Doch er hatte diese Meisterschaft für den Siegesritt abgestreift. Die Gewohnheiten des Krieges waren vorbei – die Notwendigkeit, sich in Verzögerungen zu schicken, bestand nicht länger! Konnte es für einen Mann, der eine solche Nachricht beförderte wie er, Verzögerungen geben? Das konnte es. Wind, Sandbänke und Gezeiten besaßen vor der Geschichte keine Verantwortung. Die Vereinigten Staaten hatten für einen begrenzten Zeitraum von acht Jahren gewartet. Nun mußten sie weitere unendlich lange acht Stunden abwarten. Tilghman unterhielt sich mit Höflichkeit mit dem Kapitän. Der Mann hatte etwas Unverzeihliches getan, das nun verziehen werden mußte. Da er ihn nicht erschießen konnte, mochten sie genausogut die Annehmlichkeiten teilen. Schließlich gesellte der Colonel sich in der Kabine zum Kapitän und seinem Brandy. Die Annehmlichkeiten jedoch blieben im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten. Das Wetter machte sie zu einem Nichts. Der Wind blies stärker. Er durchwehte die pechschwarze Luft mit bitterkaltem fliegenden Wasser. Auf dem Schoner war nichts warm, und nichts, das den Elementen ausgesetzt war, blieb trocken. Colonel Tilghmans Reaktion darauf stand außerhalb der Lehren einer jeden Philosophie. Sie kam einfach aus seinem Körper. Er wußte, was das hieß, äußerste Hitze und Kälte und Nässe in nie sonderlich gut ernährtem Zustand zu ertragen. Er wußte es so gut wie jeder Mann, der die aufeinanderfolgenden Feldzüge des Krieges mitgemacht hatte. Seit Valley Forge jedoch hatte sich ein Widersacher in seinem zähen, sehnigen, außergewöhnlich leistungsfähigen Körper eingenistet. Es war etwas, das man allgemein unter der Bezeichnung ›Rückfallfieber‹ kannte. Es äußerte sich durch Frösteln und hohe Temperatur. Vor sich selbst verleugnete er es, und in Gegenwart anderer Leute spielte er den Fall als ›kurze Indisposition‹ herunter. Die Tatsache, daß irgend etwas mit ihm nicht in Ordnung war, gedachte er weder sich noch anderen einzugestehen. Es zu verhehlen, war einfach. Andere Menschen erlitten ebenfalls Indispositionen – und seine traten unregelmäßig auf. Er bekam sie nur, wenn er sich Anstrengungen unterworfen hatte. Er hegte nicht die Auffassung, das am 19. Oktober getan zu haben. Seine drei Stunden Schlaf in der vorherigen Nacht hatte er auf ziemlich trockenem Untergrund zugebracht. Während der Tage der Schlacht war er an Washingtons Seite gewesen, hatte mit Washington Schritt gehalten, und Washington hatte nichts anderes getan, als ein Kommandierender General in der Entscheidungsschlacht seines Krieges tun mußte. Für den Colonel hatte das geheißen, daß er Depeschen schreiben und überbringen, Inspektionen vornehmen und darüber berichten, seinen Vorgesetzten bei Tag und Nacht auf Erkundungen begleiten, an Konferenzen teilnehmen mußte, wo seine Französischkenntnisse zum Dolmetschen dienten, daß er in ständiger Bereitschaft zu sein hatte. Davon war gewiß nichts eine größere Anstrengung. Sieg – war das eine Strapaze? Niemals hatte einer von ihnen sich wohler gefühlt. Sie waren ungeduldige Männer, endlich von der Geduld erlöst. Doch der Wind über der Chesapeake-Bucht scherte sich nicht um derartige Dinge. Der Widersacher im Colonel regte sich. Erfühlte seine Indisposition sich ankündigen. Unter Deck war eine Koje. Er konnte sich hinlegen. Er blieb auf Deck. Dieser elende Anfall würde vorübergehen. Er würde ihn mißachten … Über der Bucht des Jahres 1974 herrschte ein ganz anderes Wetter. Dort wehte ein sachter Südwind mit fast sommerlicher Wärme. Der Himmel war klar und mit einem bemerkenswert schönen Mond geziert, einem so schönen Mond, daß er eine junge Frau des Jahres 1974 während der Kreuzfahrt durch die Tangier Shoal zu einer Bemerkung veranlaßte. »Irgendwie kann ich ihn mir einfach nicht als Raketenbasis vorstellen«, sagte sie zu ihrem Begleiter und seufzte. Die beiden waren ein jungverheiratetes Paar und übten ihre gemeinsame Häuslichkeit romantischerweise zuerst auf einem Boot ein. Am Abend – verlockt vom herrlichen Wetter – waren sie hinausgefahren. Sie passierten den Schoner im Jahre 1781 in geringer Entfernung, jedoch in sicherer Wassertiefe, nicht bloß deshalb, weil die Sandbank sich 1974 an einer anderen Stelle befand, sondern auch, weil ihnen Karten und Fahrtrinnenzeichen zur Verfügung standen. Sie waren sehr glücklich. Die junge Frau entdeckte verblüfft, daß in ganz gewöhnlichen Dingen sich plötzlich Tiefen um Tiefen offenbarten. Es schien ihr, als lebte sie in einem Zustand der Erwartung einer lieblichen Erfüllung nach der anderen. Er stellte fest, daß er sich nie zuvor so behaglich gefühlt hatte, und war auf zärtliche Weise verständnisvoll zu dem lieben kleinen Geschöpf, dessen Dasein das seine so angenehm bereicherte. Die junge Frau wandte den Blick vom Mond. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit. Sie war eben noch humorvoll kokett gewesen. Nun war sie plötzlich angespannt, erregte den Eindruck, als versuche sie etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gab. »Jack«, meinte sie, »spürst du etwas?« »Was?« fragte er zurück. »Als … als ob da etwas wäre«, antwortete sie. »Jemand …« Sie streckte einen schlanken Arm aus und deutete. »Dort?« Sie blickte genau dorthin, wo Tilghman stand, schaute in der Tat in seine Augen, die vom Fieber glänzten; ihre von der Liebe erweckte Sensitivität befähigte sie, wie sie es nannte, zu ›spüren‹, was außerhalb der Reichweite ihrer Sinne lag. »Etwas beinahe Geisterhaftes?« flüsterte sie fast unhörbar. Ihr Ehemann lachte nachsichtig. Ein verrücktes kleines reizendes Ding, wie …? Eine Stunde nach Mitternacht kam der Schoner frei. Um diese Zeit bestand weder für den Colonel noch für den Kapitän das Erfordernis, die Tatsache in Worte zu fassen, daß weder Rock Hall noch irgendein anderer ostwärtiger Punkt an der Küste sich erreichen ließ. Der Wind machte es deutlich genug. Sie mußten westwärts. Sie lagen auf Kurs nach Annapolis, und dadurch ergab sich eine zusätzliche Verzögerung, die schlichtweg unfaßbar war – mindestens zwölf Stunden. Der Colonel mißachtete seine Indisposition auch weiterhin. Brannte sein Inneres lichterloh vom Fieber? Nun, er hatte schon auf so manchem Marsch unter glühender Sonne geschmort. Kroch das Frösteln über seine Haut? Nun gut, er hatte schon mehr als einmal auf verschneitem Boden geschlafen. Die Nachricht. Zum Kongreß. Er wachte sorgsam über Black Damn, der ihn, sobald diese jämmerliche zweite Etappe seines Kurierauftrags durchgestanden war, verständig und tüchtig durch die dritte Etappe tragen sollte. Und schnell. Aus diesem Grund hatte er Black Damn mitgenommen. Andernfalls hätte er die längste Strecke des Weges nach Philadelphia auf Postpferden zurücklegen müssen, und Postpferde waren nicht viel wert. Die besten Postpferde waren nicht mehr als kräftig und ausdauernd. Sie flogen nicht – und Black Damn flog dahin. Sie besaßen keine leichte Gangart – Black Damns Bewegung war weich wie Samt. Colonel Tilghman wollte seine Abhängigkeit von den unterlegenen Tieren weitmöglichst verringern, indem er Black Damn bis zum Äußersten ausritt. Er besänftigte den Hengst, ließ ihm die übliche Pflege angedeihen und drückte ihm sein Verständnis aus. Gedulde dich. Ja, obwohl du aus reinem Feuer bist und deine Seele pure Ungeduld. Was bedeutet eine Wende von Wind und Wetter? Eine Wende im Verlauf der Menschheitsgeschichte war eingetreten. Sie trafen am Abend des nächsten Tages in Annapolis ein. Der Wind hatte nicht nachgelassen. Auch nicht des Colonels Indisposition. Wenigstens ist sie langsam im Nachlassen begriffen, dachte der Colonel, als er am dunklen Ufer entlang zu einem Gasthaus strebte und plötzlich die scheußliche Heimsuchung erfuhr, sich der Gegenwart von etwas seltsam bewußt zu sein, das er nicht sehen konnte … Tatsächlich allerdings schritt er durch die Gruft unter der Kapelle der Naval Academy der Vereinigten Staaten, wo im Jahre 1974 die sterblichen Überreste seines Freundes Captain John Paul Jones in ewigen Ehren ruhten. Der Geist des Seehelden erfüllte die Ruhestätte; Colonel Tilghman, der Geist, vital in seiner Welt des Jahres 1781, ›spürte‹ ihn, wie die junge Ehefrau bei Tangier ihn selbst ›gespürt‹ hatte … Er suchte das Gasthaus auf, wo seine erste Sorge war, nachdem er sich in Wärme und Trockenheit sah, daß man zwei Stallknechte ausschickte, um Black Damn vom Schoner zu holen. Mit diesem glücklosen Schiff hatte er nicht länger zu schaffen. Von Annapolis nach Rock Hall verkehrte ein Fährbetrieb, mit guten, schnellen Booten. Er beabsichtigte das erste Boot zu nehmen, welchem das Wetter abzulegen gestattete. Er sah den Stallknechten zu, stellte fest, daß sie ihr Handwerk verstanden, und belohnte sie großzügig. Dann bestellte er sich heißen Grog und begab sich zu Bett. Durch einen außerordentlichen Glücksfall konnte er eine eigene Kammer beziehen. Er schlief, obwohl in fiebriger Unstetigkeit. Nach jedem Erwachen lauschte er dem Wind. Am Frühnachmittag des nächsten Tages, so vermutete er, würde der Wind sich abschwächen. Er behielt recht. Um zwei Uhr des folgenden Tages rief man in den Schankräumen des Gasthauses aus, daß um drei Uhr eine Fähre nach Rock Hall auslaufen werde. Die Überfahrt beanspruchte ungefähr vier Stunden. Inzwischen hatte er bemerkt, daß sich Gerüchte über Geschehnisse an der Front ausbreiteten; sie waren falsch, aber man gab sie weiter. Ein Handelsmann versicherte im Saloon allen Zuhörern mit großer Ernsthaftigkeit, es habe eine gewaltige Seeschlacht stattgefunden. Und so weiter und so fort. Der Colonel, der George Washingtons Depesche in der Satteltasche trug, lauschte lediglich. Natürlich machte dies Kursieren von Kolportagen die Übermittlung der Wahrheit in Gestalt der Depesche um so dringlicher. Wohlan, er hatte nun guten Wind. Und er hatte Black Damn. Er nahm an, daß er nun endlich voranzukommen erwarten durfte. Die Fähre lief um die genannte Stunde aus. Am Sandy Point, acht Meilen nördlich von Annapolis, unterquerte sie die Bay Bridge, eine sieben Meilen lange stählerne Straße, auf der – im Jahre 1974 – Autos mit einer Mindestgeschwindigkeit von vierzig Meilen je Stunde die Chesapeake-Bucht überquerten. Auf der Fähre des Jahres 1781 erzählte ein Passagier, daß sein Großvater sich noch erinnerte, daß die Indianer mit ihren Kanus stets von der Landzunge aus über die Bucht gerudert waren, denn dort war die schmälste Stelle. »In einem halben Tag kamen sie hinüber«, schloß der Passagier. Die Fähre hatte fünfundzwanzig Meilen in nordöstlicher Richtung zurückzulegen. Ihre Ankunft war am Abend um sieben Uhr. Dann war Tench Tilghman an Land. Und dann auch sein Pferd. Dann lag die Straße nach Philadelphia vor Tench Tilghman. Die letzte Etappe seines Kurierritts hatte begonnen. »Reitet, Colonel. Reitet!« Er ritt. Es war ein Anpeilen und Vorwärtsschießen. Es war Schwärze und Feuer. Eine ausgedehnte Weite der Ruhe und eine unmittelbare Umgebung aus Geräuschen. Es war eine bewegungslose Welt, worin es nur eine Bewegung gab. Sein Pferd und er. Es war Freiheit von jedem anderen Antrieb außer dem eigenen. Keine plump zusammengenagelten Planken, die auf einen nassen Sandhügel liefen. Keine Stoffbahnen, die statt seinem Willen dem Wind gehorchten, ihn nach Westen zerrten, wogegen er gen Osten wollte. Keine der Unzulänglichkeiten des Fahrzeugverkehrs. Nur er selbst, eins mit seinem Pferd. Nur Bewegung. Reiten. Die Straße vor ihm war ein weicher, lockerer Pfad. Sie lag verlassen – niemand reiste bei Nacht. Es war finster – die Häuser der Pflanzer waren durch Meilen Weite getrennt und standen vorwiegend nicht an der Straße, sondern an den Flüssen. Er kannte den Weg gut. Er war die Strecke schon mehrfach geritten. In der Tat handelte es sich bei diesem Pfad um einen der Hauptverkehrswege des kolonialen Amerika. Nun war er für ihn lediglich eine bestimmte Entfernung. Reite! Einhundert Meilen. Er ritt. Black Damn flog mit ihm durch die beiden ersten Teilstrecken des Wegs, von Rock Hall über Chestertown nach Down Crossroads. Endlich vermochte der Hengst seinem ständig schwellenden Grimm den rechten Ausdruck zu verleihen. Endlich. Er haßte die Straße. Mit seinen Hufen stampfte er die Erde auf, warf sie nach hinten. In zwei Stunden galoppierte er sechsunddreißig Meilen weit. Ein Drittel der Strecke. Als er in den beleuchteten Hof der Station zu Downs Crossroads einbog, rief er nach einem Ersatzpferd, noch während er den Hengst zügelte, bis die Stallknechte gelaufen kamen. »Ein Pferd für den Kongreß! Für den Kongreß! Ein Pferd!« Dann stieg er ab und musterte Black Damn. Er sah, daß Black Damn müde war, erschöpft – aber noch immer zornig. Der Ritt hatte ihm nicht geschadet. Der Colonel bezahlte die doppelte Summe für die Pflege voraus und wandte sich dann seinem Ersatzpferd zu. Ein großer, vierschrötiger Brauner, der Erscheinung nach mit Sicherheit von steifer Gangart. Der Colonel saß auf und galoppierte davon. Zehn Meilen bis Warwick. Der Braune schnaufte sie innerhalb von fünfzig Minuten hinab. In Warwick rief der Colonel erneut nach Ersatz – »Ein Pferd für den Kongreß!« Dort brachte man ihm eine Stute. Sie war sanft, aber langsam. Nach Odessa waren es zehn Meilen – und sie benötigte eine unerträgliche Stunde. Er hatte die Hälfte des Weges überwunden. Fünfzig Meilen lagen noch vor ihm. Die weiteren Pferdewechsel bemerkte er kaum. Die Stationen glichen Kreisen lautstarken Lichts neben einem langen entrollten Strang aus stiller Dunkelheit. Reiten. Das war es – das war alles. Vorwärts, vorwärts, befahl sein Verstand, und seine Bewegungen folgten dem Befehl mit automatischer Willigkeit. Bei einem der kurzen Aufenthalte lief ein Schankmädchen heraus auf den Hof und reichte ihm einen Krug Bier. »Mit den Grüßen meines Wirtes, Sir«, sagte es. »Wir sind Patrioten.« Dann bat es ihn, den Blick ernstlich in sein Gesicht gerichtet, zu bleiben und sich eine Rast zu gönnen, für welchen Zweckerein sauberes, frisches Bett erhalten solle. Er lächelte und gab zur Antwort, er werde nochmals vorbeikommen, stubste das Mädchen unters Kinn und schenkte ihm eine Münze. Während er all das tat, war er sich der Gegenwart des Mädchens kaum bewußt. Ebensowenig war er sich seiner Pferde bewußt. Er holte nur das Beste aus ihnen heraus, paßte mit einer aus lebenslanger Erfahrung angeeigneten Feinfühligkeit seinen Körper an die Fähigkeiten und Launen des jeweiligen Tiers an. Noch weniger bewußt war er sich seines Fiebers. Es war nie von ihm gewichen, und nun stieg es gar. In seinem Kopf hallten andere Geräusche wider als jene, die ihn begleiteten, dem Klang der Hufe. Da waren Lichter, seitlich und ein wenig hinter ihm, als verfolgten sie ihn. Er schenkte ihnen keine Beachtung. Er wußte, daß es sie nicht gab. Er würde die Strecke schaffen. Das allein zählte. Zum Haus des Kongreßvorsitzenden. Nördlich von Newcastle stimmte sein Weg mit dem Verlauf einer vierspurigen Schnellstraße des Jahres 1974 überein. Er galoppierte zwischen riesigen, brummenden Lastwagen und Neonscheußlichkeiten dahin, in einem Verkehr, der sich ständig verdichtete. An einer Stelle ritt er durch die Ambulanzfahrzeuge, Polizeiautos und Schaulustigen eines 1974 alltäglichen Auffahrunfalls mit fünf Toten, und seine Mission glühte in seinem Bewußtsein wie eine Kohle – »Die Revolution ist aus. Cornwallis hat kapituliert. Reitet! Reite! Reite!« Und so gelangte er des Nachts um zwei Uhr und fünfundvierzig Minuten ans Ziel. Die Hufe klapperten über das Pflaster von Philadelphia, und er zügelte sein Pferd. An der Ecke zum Oberen Marktplatz. Vor dem Haus des Kongreßvorsitzenden der Vereinigten Staaten. Schwungvoll stieg er ab, stieg mit der langsamen Leichtigkeit von mit Erschöpfung vermengtem Fieber ab. »Wenn im Verlauf der menschlichen Geschichte …‹ Wenn im Verlauf der menschlichen Geschichte ein Mann, ob krank oder gesund, einhundert Meilen weit geritten ist, hat er ein unveräußerliches Recht darauf, müde zu sein. Der Colonel dachte nicht daran, diese Adaption von Mr. Jeffersons Unabhängigkeitserklärung auf seine eigene Lage anzuwenden. Er dachte überhaupt nicht an seine unveräußerlichen Rechte. Mit traumhaften Bewegungen erklomm er die Stufen zur Tür des Kongreßvorsitzenden, hob den Türklopfer und klopfte einmal. Drinnen war es still. Er klopfte nochmals, und wieder blieb es ruhig. Er wiederholte das einmalige Pochen mehrfach, und schließlich klopfte er jeweils zwei- und dreimal. Nichts geschah. Er betrachtete die Tür. Sie war mit weiß emaillierter Ziselierung verziert. Sie war teilnahmslos schön. Er sah sie nicht wirklich. Eine Tür? Eine Sandbank, eine steife Brise, langsame Postpferde, hartmäulig und steifbeinig, ein Fieber, Hindernisse. Er hob seinen Arm und schlug mit der Faust gegen die schöne Täfelung. Und während er das tat, erhob er auch seine Stimme zu einem Schrei, der durch die ganze Stadt schallte. »Eine Botschaft!« rief er. »Eine große Nachricht! Für den Kongreß!« Und dann sprach er es aus. »Cornwallis hat KAPITULIERT!« Cornwallis hatte kapituliert? O nein. Nicht Cornwallis. Wer war er schon? Ein Mann, ein Offizier, ein General mit einer Armee unter seinem Befehl. Er kapituliert? Nicht er, nicht irgendein Mann, nicht irgendeine Armee – sondern die Tyrannei selbst. Die Tyrannei hatte kapituliert. Die Freiheit war befreit. In diesem Sinne sprach Colonel Tilghman. Und eine feste Hand legte sich auf seine Schulter, und als er sich umdrehte, stand er vor zwei Männern. Einer trug eine Laterne mit runden Scheiben, der andere hielt eine Pike gesenkt. Die beiden waren Angehörige der Wache und erklärten Colonel Tilghman, er stehe wegen Störung des Stadtfriedens unter Arrest. In diesem Moment hätte er alles tun können. Er hätte die beiden erschießen können. Er hätte lachen können. Er hätte sich erniedrigen lassen und zum Schlaf hinlegen können. Wie es sich ergab, brauchte er gar nichts zu tun. Im zweiten Stockwerk des Hauses öffnete sich ein Fenster, und heraus schaute der mit einer Nachtmütze bedeckte Kopf des Kongreßvorsitzenden der Vereinigten Staaten. Er erkannte General Washingtons Kurier und ließ ihn ein. Die Depesche gelangte zum Empfänger. Und die Wache rief vor den dunklen Häuserfronten, während sie ihre Runde machte, nicht aus, daß es drei Uhr und alles friedlich sei, sondern daß um drei Uhr jenes außergewöhnlichen Morgens Cornwallis kapituliert habe. Und einige Menschen waren wach und hörten es und kamen aus ihren Türen, und andere erwachten und hörten es und kamen aus ihren Türen, und alsbald waren die Straßen voller freudig gestimmter Amerikaner. Und man läutete die Freiheitsglocke. Die Stimme aus dem Jenseits von Werner Gronwald Werner Gronwald, der am 24.12.1917 im ostpreußischen Königsberg geboren wurde und seit Kriegsende in Oberbayern lebt, hat eine Reihe von Romanen, Erzählungen und Hörfeatures geschrieben. Er arbeitet heute vorwiegend als Lektor und Übersetzer in München. Sein besonderes Interesse gilt der modernen Horrorstory. —————————— Wenn ich doch nur nie an dieser spiritistischen Sitzung teilgenommen hätte! Seither bin ich von einer marternden Unruhe befallen. Ich glaube einem furchtbaren Geheimnis auf der Spur zu sein und wage mich dennoch keinem Menschen anzuvertrauen. Dabei hat es wie ein harmloser Scherz angefangen. Wir waren zu fünft auf Freddys Bude, als Tina vorschlug, nur so als Experiment einmal Verbindung mit dem Jenseits aufzunehmen. Bei mattem Kerzenlicht war der Kreis um den runden Tisch schnell geschlossen. Zuerst spürte ich gar nichts. Der Tisch stand fest am Boden – kein Poltergeist rührte sich – gar nichts. Aber dann hatte ich mit einem Male das Gefühl, leichter und leichter zu werden. Die vier anderen Gesichter im matt flackernden Kerzenlicht verschwammen zu blassen Schemen, und wie aus einem unendlich hohen Gewölbe herab hörte ich plötzlich eine hallende Stimme: »Pamela –! Pamela –!« »Ich komme!« hörte ich mich gegen meinen Willen antworten. »Ich komme.« Im nächsten Moment erfaßte mich ein glühend heißer Luftstrom und wirbelte mich empor, bis ich in einem Element von ungeheurer Helligkeit fast zu ersticken und zu zerschmelzen drohte. Und um mich her – überall – war die hallende Stimme und rief: »Warne sie! Warne die Fliegenden vor dem neunten Tag! Wenn du nicht hilfst, werden sie alle am neunten Tag abstürzen und sterben in Feuer und Rauch!« »Wer bist du?« Meine Stimme klang dünn und kläglich in dieser unermeßlichen weißen Wolke, in der ich zu schweben schien. »Wer wird stürzen? Welche Fliegenden?« Aber die hallende Stimme wiederholte nur beschwörend: »Am neunten Tag!« Und noch einmal leiser und wie ein verschwindendes Echo: »Am neunten Tag – warne sie – von der Frau im Meer –« »Wer bist du, Frau im Meer?« konnte ich noch einmal fragen. Doch dann packte mich wieder der glühend heiße Luftstrom, und jetzt wirbelte er mich aus der schwindelerregenden Höhe herab und wie in einen schwarzen Höllenschlund. Ich stürzte und stürzte und schrie auf, als ich plötzlich aus der Schwärze über mir gespenstisch bleiche Fratzen auftauchen sah. Sie grinsten mich böse und höhnisch an, und ihre Lippen bewegten sich. Doch ich hörte immer noch nichts anderes als dieses Rauschen und Brausen in den Ohren wie von dem Sturz in unergründliche Tiefen. Bis dann die Dunkelheit sich lichtete und die Gesichter deutlicher wurden. Da erkannte ich, daß es meine vier Partner von der spiritistischen Sitzung waren. Sie standen über mich gebeugt, und ich lag auf der Couch. »Pamela-Mäuschen, hat dich der Geist von Tante Frieda umgeschmissen?« fragte Freddy mit gutmütigem Spott. »Kippt einfach um und benimmt sich dann wie ein echtes Medium. Das war ja eine prima Schau. Was hat dir denn der Geist von Tante Frieda erzählt?« Da waren meine Lippen mit einem Male wie versiegelt. Irgend etwas Unheimliches schien noch außer uns fünf in diesem Zimmer mit dem unruhig flackernden Kerzenschein zu sein: ein Geist – ein Wesen, das mir das Sprechen verbot. Aber warum? Ich konnte mit dieser Botschaft aus dem Jenseits nichts anfangen und hätte sie am liebsten vergessen. Bis mir Freddy wenige Tage später erzählt, daß er für seine Firma nach New York fliegen soll. Da erinnere ich mich an die Warnung der hallenden Stimme, und ein eisiger Schreck packt mich. »Etwa am neunten?« frage ich bestürzt. Da sieht mich mein Freund Freddy erstaunt an. »Stimmt. Woher weißt du das?« »Du darfst am neunten nicht fliegen«, sage ich beschwörend. Gleich darauf hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Denn Freddy lacht in seiner sorglosen Art, gibt mir einen Kuß auf die Wange und fragt spöttisch: »Hängt das etwa mit der Hokuspokus-Schau von vorgestern abend zusammen? Du glaubst doch nicht etwa im Ernst an diesen Quatsch mit Stimmen aus dem Jenseits?« Was soll ich da sagen? Und doch ahne ich – spüre ich mit jeder Faser meines Wesens, daß Freddy in Todesgefahr ist – und mit ihm viele andere ahnungslose Menschen, die an diesem 9. Dezember nach New York fliegen wollen. Ohne daß ich sie rufe, erscheint mir die Frau aus dem Meer in jener Nacht zum 9. Dezember als gespenstische Erscheinung. Sie steht plötzlich mit strähnig nassem Haar und mit grünlich durchsichtig schimmerndem Körper vor mir. Starr vor Angst und Entsetzen liege ich im Bett. Dabei glaube ich zu spüren, wie sich mir buchstäblich die Haare sträuben. Die Frau aus dem Meer hebt warnend die Hand und raunt mir etwas zu. »… die Uhr … buntes Papier … nicht mitnehmen …« Mehr als diese sinnlosen Satzfetzen verstehe ich nicht. Aber während ich noch starr vor Grauen daliege und diese Geistererscheinung mitten im dunklen Zimmer stehen sehe, erkenne ich plötzlich das Gesicht von Freddys älterer Schwester Myrna, von der er mir Fotos gezeigt hat. Kaum habe ich sie erkannt, da wird das Gesicht, wird die ganze Erscheinung undeutlicher und zerfließt und verschwindet in der Nacht. Sofort mache ich Licht. Mein Puls rast. Meine Hände zittern, als ich mir eine Zigarette anzünde. An Schlaf ist in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Mehrmals greife ich zum Telefonhörer und lasse jedesmal die Hand mutlos wieder sinken. Freddy würde mich für verrückt erklären, wenn ich ihn jetzt mitten in der Nacht fragen würde, wie seine Schwester Myrna voriges Jahr ums Leben gekommen ist. Darüber hat er noch nie mit mir gesprochen. So weiß ich nur auf Umwegen, daß Myrna vor vierzehn Monaten tödlich verunglückt ist. Als vor den Fenstern meines Apartments neblig trüb der Morgen dämmert, ist mein Entschluß gefaßt. In wenigen Stunden startet Freddys Maschine nach New York. Mir bleibt nur noch diese kurze Zeitspanne. Eine Stunde später habe ich telefonisch von einer schläfrigen Stimme in der Friedhofsverwaltung erfahren, daß Myrna Thompson am 12. Oktober 1970 gestorben ist. Gleich darauf bin ich auf dem Wege zum Zeitungsarchiv. Aber ich muß warten, bis ich endlich in nervöser Hast die Zeitungen vom 13. bis 17. Oktober 1970 durchblättern kann. Wenige Minuten später habe ich drei Zeitungsnotizen gelesen, und jetzt ist mir alles klar! Ich rase zur nächsten Telefonzelle und rufe Freddy an. Gottlob! Er ist noch da! »Freddy, war dein Stiefbruder Malcolm etwa heute morgen noch bei dir?« frage ich sofort. »Ja, der war da«, antwortet er ungeduldig. »Aber Pamela, ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr. Das Taxi wartet schon. In einer Stunde geht mein Flugzeug. Bis nächste Woche –« »Freddy!« rufe ich verzweifelt. »Dein Gepäck! Du mußt sofort nachsehen –« Aber er hat schon abgehängt. Mein Gott! Was soll ich nur tun? Die Polizei alarmieren? Die würden mich doch nur auslachen! Ich bin mitten in der City, und Freddy wohnt nur zehn Autominuten vom Flughafen entfernt. Dreimal sause ich noch bei Rot über die Kreuzung und übertrete mit meinem Mini-Morris sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen. Aber ich muß es schaffen! Ich muß! Dreihundert Menschen fliegen mit dieser Jumbo-Jet nach New York! Als ich durch die Halle renne, werden die Passagiere für Flug Nummer B 609 um 11 Uhr 03 nach New York gerade per Lautsprecher aufgerufen. Ich haste durch die Paßkontrolle und höre Beamte hinter mir wütend rufen. »Freddy!« Ich erwische ihn, als er mit seinem Bordkoffer gerade zum Ausgang schlendert. Er starrt mich ganz verblüfft an. »Hat dir Malcolm etwas mitgegeben?« rufe ich atemlos. Er nickt erstaunt. »Ja, für seine Freundin eine Schachtel Weinbrandpralinen. Die sind drüben verboten, und ich habe sie hier –« Da zerre ich schon den Reißverschluß der Außentasche seines Bordkoffers auf und ziehe die Schachtel im bunten Geschenkpapier hervor. »… die Uhr … buntes Papier … nicht mitnehmen«, höre ich die Geisterstimme der Frau aus dem Meer wieder raunen. Und als ich die Schachtel jetzt ans Ohr halte, höre ich auch ganz deutlich ein dumpfes Ticken! Polizeibeamte umringen uns inzwischen schon. Ich halte ihnen die Schachtel im bunten Geschenkpapier hin und gebe eine hastige Erklärung. Zehn Minuten später haben wir die schreckliche Gewißheit. Die ›Pralinenschachtel‹ enthält eine Zeitzünder-Uhr und eine hochexplosive Sprengladung, die die Jumbo-Jet in zwei Stunden mit über dreihundert Menschen an Bord hoch über dem Atlantik zerrissen hätte. Seither ist mir die Frau aus dem Meer nie mehr erschienen. Vielleicht weil der Mord an ihr jetzt seine Sühne findet. Man hat Freddys Stiefbruder Malcolm verhaftet. Er steht unter Mordanklage, nachdem festgestellt wurde, daß er auf Freddys Leben für den Flug nach New York eine Unfallversicherung in Höhe von zwanzigtausend Pfund abgeschlossen hatte. Genauso hoch hatte Malcolm seinerzeit die Insassenversicherung abgeschlossen, bevor er die bedauernswerte Myrna am 12. Oktober 1970 mit der versteckten Zeitzünderbombe an Bord seines Motorbootes in ihren sicheren Tod schickte. Seither macht Freddy keine spöttischen Bemerkungen mehr, wenn von Geistern und Stimmen aus dem Jenseits gesprochen wird. Ich habe auch keine spiritistische Sitzung mehr mitgemacht. Ich habe Angst – vor meinen eigenen übersinnlichen Fähigkeiten.  notes Примечания 1 Das Ouija-board, eine sehr umstrittene parapsychologische Versuchsmethode, wird in spiritistischen Sitzungen zur Anrufung und Befragung der Geister verwendet: Ein Glas, von der Hand der Sitzungsteilnehmer leicht berührt, rutscht auf einem Brett, das mit den Buchstaben des Alphabets versehen ist, hin und her und bildet durch die Abfolge der Buchstaben Worte, die man als Botschaften aus dem Jenseits lesen kann. (Anm. d. Übers.) 2 Die Regenz ist ein altertümliches Gebäude unweit der Kopenhagener Universität, in welchem eine Anzahl ärmerer Studenten freie Wohnung erhält. Anm. des Übersetzers.