18 Gaensehaut Stories Manfred Kluge Heyne Anthologie #53 Geschichten des Grauens und der Angst herausgegeben von Manfred Kluge Algernon Blackwood Die Spuk-Insel Honoré de Balzac Die Zaubernacht in den Hochlanden Lalcadio Hearn Der Fall Chugoro Philip Latham Jeanettes Hände Washington Irving Die Geschichte vom schläfrigen Tal Jonas Lie Das Seegespenst Nikolaj Gogol Die Johannisnacht Guy de Maupassant Die Angst Villiers de l’Isle-Adam Folter durch Hoffnung Edgar Allen Poe Der schwarze Kater H. P. Lovecraft In der Gruft Robert Bloch Das unersättliche Haus Alexandre Dumas Die Katze, der Gerichtsdiener und das Skelett H. G. Wells Spuk im Klub Andrew J. Offutt Sareva, meine Hexe Jack Sharkey Die Dämonin Lewis Hammond Die Witwe vom Belgrave Square I. M. Rymer Vampir zu sein dagegen sehr … 18 Gänsehaut Stories  Vorwort »Gänsehaut (Cutis anserina), meist reflektorisch durch Kältereiz oder durch psychische Faktoren bewirkte Hautveränderung. Das knöcherige Aussehen der Haut wird durch Zusammenziehung der an den Haarbälgen ansetzenden glatten Muskeln (Musculi arrectores pilorum) verursacht, die die Haarbälge hervortreten lassen und die Haare aufrichten.« Wer in »Meyers Enzyklopädischem Lexikon« unter dem Stichwort Gänsehaut nachliest, erfährt per definitionem und in lexikalischer Gedrängtheit, was sich unter physiologischem Aspekt über das Phänomen Gänsehaut sagen läßt. Über die »psychischen Faktoren«, von denen immerhin die Rede ist, schweigt sich der »Meyer« aus. Auch die Etymologen speisen den Ratsuchenden lediglich mit einem spröden Hinweis ab, nämlich damit, daß seit dem 16. Jahrhundert »vor Schreck oder Kälte schaudernde menschliche Haut« nach der Ähnlichkeit mit der Haut einer gerupften Gans »Gänsehaut« genannt werde. Der Schreck ist also dafür verantwortlich, wenn sich die Haare sträuben, kalte Schauer über den Rücken jagen und unser zarter Teint an die Haut einer gerupften Gans erinnert. Andere psychische Faktoren rufen die gleiche Wirkung hervor: Angst, Furcht, Grauen, das Unfaßliche und Unerklärbare, Gespenstische und Makabre, alles, was in unserer Seele traumatisch weiterlebt und von dem seit Urzeiten eine seltsame Faszination ausgeht. Nach wie vor ist das Interesse am Unheimlichen und Phantastischen lebendig, auch und gerade in der Kunst, in der Literatur. Dieses Unheimliche und Phantastische, wie es uns in den ausgewählten Geschichten begegnet, bedarf keiner Legitimation von außen, es entsteht in den Tiefen des Inneren, des Unbewußten, es ist an keine Grenzen gebunden, darin dem Traum verwandt, der eigenen Gesetzen gehorcht, ein zweckfreies Spiel in imaginären Bereichen, das uns mit lustvollen Schauern ergötzt und jene Gruseleffekte stimuliert, die unsere Hautbeschaffenheit auf so fatale Weise verändern. Freud schrieb, das Unheimliche sei etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das dem Menschen nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. Nun, in unseren Geschichten ist dieser Verdrängungsprozeß aufgehoben: Aus den dunklen Schächten des Unbewußten treten die schmählich verdrängten Lemuren und Schimären in das helle Licht literarischer Gestaltung, phantastische, janusgesichtige Wesen, die in amorphen Formen aus den Alpträumen ihrer Schöpfer hervorgewachsen sind. Denn das Unheimliche mit all seinen irrealen Begleiterscheinungen bildet das tragende Fundament dieser Geschichten. Es lauert in den Schatten einsamer Nächte, im flüsternden Schweigen leerer Häuser, in den verborgenen Ecken finsterer Orte, im Modergeruch alter Grabstätten. Und es lebt im bangen Schlag unseres Herzens, in den verschütteten Abgründen unserer Psyche. In einer Welt ohne Wunder gewinnt das Wunderbare wieder seine ursprüngliche Macht zurück; wo sich scheinbar alles rational erklären läßt, tritt das Unklärbare, Irrationale wieder in sein Recht, bedrohlich und erschreckend, aber auch befreiend und über die plane Realität triumphierend. Für die phantastische Literatur gilt, was Wieland Schmied über die phantastische Kunst im allgemeinen gesagt hat: »Das Phantastische kann traumhaft oder errechnet erscheinen, visionär oder surreal, als Nähe fremder Welten oder als Fremdsein des Nächsten, bei aller Traumhaftigkeit, Irrealität oder Verfremdung muß es erlebbar bleiben, um uns zu betreffen und uns erschrecken zu lassen.« Wenn sich dies Erschrecken in Form der vielberufenen Gänsehaut an der Oberfläche Ihrer Physis kristallisiert, dann haben die Geschichten gehalten, was der Titel verspricht: Gänsehautgeschichten. Manfred Kluge Die Spuk-Insel von Algernon Blackwood Algernon Blackwood (1869-1951) begann mit 36 Jahren zu schreiben. Sein erstes Buch, »The Empty House and Other Ghost Stories« (1906), war eine Sammlung von Geister- und Gruselgeschichten, in der – wie in allen späteren Sammlungen – das Phantastische, Unheimliche und Mystisch-Okkulte vorherrschte. Sein Lebenswerk umfaßt mehr als 20 Bände. H. P. Lovecraft, ein anderer Meister des Unheimlichen, nannte ihn einen der bedeutendsten Schriftsteller dieses Genres. Als Algernon Blackwoods erster Erzählband in deutscher Sprache erschien, schrieb die Schweizer Bücherzeitung »Domino« : »Langsam, kaum merklich wächst bei Blackwoods Erzählungen ein fremdes, andersartiges, ein bohrendes, unbestimmtes, quälendes Gefühl in die heitere Handlung hinein, ein Gefühl, das wächst, sich ausbreitet wie ein böses Geschwür, das den Verstand zernagt und das Hirn martert.« Die im folgenden berichteten Begebnisse haben sich auf einer kleinen, abgelegenen Insel zugetragen. Sie befindet sich in einem großen, kanadischen See, an dessen kühlen Wassern die Bewohner von Montreal und Toronto Zuflucht und Erholung vor der Hitze des Sommers suchen. Was aber die Vorfälle selbst betrifft, so muß man es zutiefst bedauern, daß Begebenheiten, die für jeden Adepten des Übersinnlichen von so einschneidendem Interesse sind, auf keine Weise erhärtet werden können. Allein, so unglückselig stellt sich der Sachverhalt nun einmal dar. Von unserer Gesellschaft – es waren an die zwanzig Personen gewesen, welche an eben dem Tage, da mein Bericht einsetzt, ihre Zelte abgebrochen hatten, um nach Montreal zurückzukehren –, von unserer Gesellschaft war als einziges Mitglied ich auf der Insel zurückgeblieben, mutterseelenallein, und das für ein bis zwei weitere Wochen. Ich tat dies in der Absicht, einiges Unerläßliche für mein Studium der Rechte nachzuholen, das ich törichterweise den Sommer über vernachlässigt hatte. Es war spät im September, und die riesigen Forellen und Maskinongen[1 - Eine große Hechtart, die in den nördlichen Seen Kanadas, im St. Lorenzstrom und im Ohio vorkommt. Anm. d. Übers.] waren schon unruhig geworden und hatten begonnen, in dem Maße an die Oberfläche zu kommen, als Nordwind und Frost der Frühe die vom Sommer durchwärmten Wasserschichten abkühlten. Schon loderte das Laub des Ahorns in herbstlich roten und goldenen Farben, und die geschützten Buchten waren nach all dem Frieden der Sommertage aufs neue erfüllt von dem wilden Gelächter der Tauchvögel. Mit einer Insel, die ganz allein mir zur Verfügung stand; mit einem einstöckigen Blockhaus darauf; ausgerüstet mit einem Kanu; zur lärmenden Gesellschaft einzig die keckernden Eichhörnchen und, einmal die Woche, den Farmer mit seinem Nachschub an Eiern und Brot: Günstiger, so sollte man meinen, hätten die Voraussetzungen für mein beabsichtigtes Einbringen des Versäumten gar nicht sein können. Doch es kommt, wie immer, auf die Umstände an! Die anderen, vor ihrem endgültigen Aufbruch von der Insel, hatten mich noch mit vielen, gutgemeinten Warnungen bedacht, des Inhalts, ich solle vor den Indianern auf der Hut sein und mich im übrigen ja nicht zu lange hier verweilen, damit ich nicht einem der unbarmherzigen Fröste zum Opfer fiele, bei denen vierzig Grad unter Null so gut wie nichts bedeuten. Sobald mir aber all die Heimkehrenden in Wahrheit aus den Augen waren, machte die Weltabgeschiedenheit meiner neuen Lage sich aufs Unbehaglichste bemerkbar. Innerhalb von sechs bis sieben Meilen gab es ja keine andere Insel, und auch der Umstand, daß mich nur einige wenige Meilen von den Wäldern des Festlandes trennten, hatte nicht viel zu besagen, denn jene Wälder waren über weite Entfernungen hin aller menschlichen Besiedlung bar. Indes, mochte meine Insel auch in vollkommener Verlassenheit und tiefster Stille daliegen – ihre Felsen und Bäume waren immerhin zwei Monate hindurch zu jeder Stunde des Tages dem Gelächter und den Rufen der Menschen ein Echo gewesen, und so mußte wohl noch ein Rest von Erinnern auf diesem einsamen Fleck Erde verblieben sein. Deshalb war ich durchaus nicht verwundert, auf meinen Streifzügen zwischen den Felsen ab und zu ein Auflachen, einen Ausruf zu vernehmen. Ja, zuweilen war’s mir sogar, als riefe jemand lauthals meinen Namen. In der Blockhütte gab es ein Halbdutzend winziger Schlafräume, die lediglich durch nackte, ungefirnißte Wände aus Kiefernbrettern voneinander geschieden waren. Und in jedem dieser Verschlage gab’s eine holzgezimmerte Pritsche mit Matratze sowie einen Stuhl. Doch fand ich insgesamt nur zwei Spiegel vor, und selbst von diesen zweien war der eine zerbrochen. Die Dielenbretter, sobald ich darauf umherging, knarrten so laut, und die Anzeichen kürzlicher Bewohntheit sprangen noch so sehr ins Auge, daß es mir schwerfiel, im Ernst an meine Verlassenheit zu glauben. So lebte ich halb und halb dahin in der beständigen Erwartung, plötzlich irgendeinem gleich mir auf der Insel Verbliebenen zu begegnen, ja, so versuchte ich noch immer, mehr von meinen Effekten in einem einzigen Verschlag unterzubringen, als hineingingen. Eine der Türen klemmte übrigens, widerstand für Sekunden dem öffnenden Druck der Hand, und es bedurfte nur geringer Mühe, sich einzubilden, jemand blockiere von innen die Klinke, und man werde, sobald die Tür erst aufgegangen, sich einem menschlichen Augenpaar gegenübersehen. Nachdem ich das gesamte Obergeschoß eingehend inspiziert hatte, entschied ich mich, zu meinem künftigen Nachtquartier jene kleine Kammer zu wählen, deren winziger Balkon sich überm Dach der Veranda befand. Der Verschlag war wirklich sehr klein, doch sein Bett war bequem und enthielt überdies die beste Matratze von allen vorhandenen. Übrigens lag diese Schlafkammer genau über dem Aufenthaltsraum, den ich für meine täglichen Studien ausersehen hatte, und von ihrem Miniaturfenster aus konnte man die Sonne aufgehen sehen. Mit Ausnahme eines schmalen Fußpfads, der vom vorderen Eingang und von der Veranda aus zwischen den Bäumen zum Bootsanlegeplatz hinunterführte, war ja die gesamte Insel von einem dichten Waldbestand aus Ahornbäumen, Schierlingstannen und Zedern bedeckt. Die Bäume umstanden das Blockhaus so nahe, daß ihre Äste und Zweige schon mit dem leisesten Lufthauch an Dach und Wänden zu scharren begannen. So herrschte denn auch wenige Augenblicke nach Sonnenuntergang schon die undurchdringlichste Finsternis, und keine zehn Schritt außerhalb des Lichtscheins, der von den Lampen des Aufenthaltsraumes durch die Fenster drang – es waren ihrer vier –, konnte man die Hand nicht mehr vor Augen sehen, geschweige denn einen Schritt tun, ohne sich am nächstbesten Baumstamm eine Beule zu stoßen. Den verbleibenden Rest jenes Tages brachte ich damit zu, meine Habseligkeiten vom Zelt zum Aufenthaltsraum zu schleppen, die Vorräte in der Speisekammer zu taxieren und einen ausreichenden Wochenvorrat an Brennholz zu hacken. Dies getan – es war kurz vor Sonnenuntergang –, umrundete ich um meiner Sicherheit willen zu mehreren Malen im Kanu die Insel. Nicht im Traum hätte ich mir früher dergleichen einfallen lassen, indes, das Alleinsein bringt einen Menschen dazu, Dinge zu tun, die ihm in turbulenter Gesellschaft wohl zu allerletzt in den Sinn gekommen wären. Wie verlassen die Insel doch wirkte, jetzt, da ich sie zum andernmal betrat! Die Sonne war schon unterm Horizont verschwunden, das Zwielicht der Dämmerung aber ist in jenen nördlichen Breiten so gut wie unbekannt. Der Tag weicht ohne Übergang der aufkommenden Nacht. So tastete ich mich, sobald ich das Kanu weit genug an Land gezogen und kieloben gedreht hatte, den schmalen Fußpfad zur Veranda hinauf. Bald erstrahlten die sechs Lampen des Tagesraumes im freundlichsten Licht, allein, in der Küche, wo ich zu Abend »speiste«, waren die Schatten so düster, war das Lampenlicht so ungenügend, daß man die Sterne zwischen den Dachsparren hindurchlugen sah. Ich ging in jener ersten Nacht früh zu Bett. Doch obwohl das Wetter abgekühlt hatte und kein Lufthauch sich regte, waren das Knarren meiner Schlafstelle und das melodische Schwappen des Wassers gegen die Uferfelsen nicht die einzigen Geräusche, welche mir ans Ohr drangen. So wuchs, während ich noch schlaflos lag, die entsetzliche Einsamkeit des Hauses immer größer um mich her. All die Gänge und leeren Zimmer rundum schienen belebt von unzähligen Schritten, von schlurfendem Schleichen, vom Rascheln der Röcke und von einem unablässigen, raunenden Geflüster. Und als der Schlaf mich doch noch überkam, gesellten all die Atem- und Flüsterlaute sich noch den Stimmen meiner Träume. So ging eine Woche dahin, und meine »Studien« gediehen aufs beste. Indes, am zehnten Tag meiner Einsamkeit widerfuhr mir etwas recht Sonderbares. Nach einer traumlos durchschlafenen Nacht erwachte ich mit einem deutlich ausgeprägten Widerwillen gegen das Zimmer. Mir schien, als wär’ noch die Luft in seinem Innern nicht atembar und brächte mich zum Ersticken. Aber je mehr ich solchem Ekelgefühl auf den Grund zu kommen trachtete, desto unvernünftiger erschien es mir. Dennoch, mit diesem Zimmer hatte es etwas auf sich, das mir Angst machte. So absurd es klingen mag, dieses Gefühl hing sich, während ich mich ankleidete, mit solcher Hartnäckigkeit an mich, daß ich mich mehr als einmal über einem innerlichen Schauder ertappte, ja des öftern versucht war, diese vier Wände Hals über Kopf zu verlassen. Doch je mehr ich das alles vor mir selbst ins Lächerliche zog, desto manifester wurde dies Angstgefühl. Und als ich schließlich angekleidet war und auf den Gang hinaustrat, um mich hinunter in die Küche zu begeben, geschah dies mit so großer Erleichterung, wie sie, so bildete ich mir ein, wohl nur ein Mensch empfinden mochte, welcher soeben dem Gefahrenbereich einer tödlichen Seuche entkommen war. Während ich mir mein Frühstück bereitete, rief ich mir aufs genaueste eine jede der Nächte ins Gedächtnis, die ich in dem Zimmer verbracht hatte, und tat dies in der Hoffnung, dadurch auf irgendeine dort erlebte, unliebsame Begebenheit zu stoßen, welche ich mit meinem gegenwärtigen Ekelgefühl in Zusammenhang bringen konnte. Aber ich entsann mich lediglich einer stürmischen Nacht, darin ich plötzlich erwacht war, weil die Dielenbretter im Korridor so vernehmlich geknarrt hatten, daß ich die felsenhafte Überzeugung gehegt, ein Fremder bewege sich durchs Haus. Und so gewiß war ich damals meiner Sache gewesen, daß ich mich erhoben hatte und mit schußbereitem Gewehr die Treppe hinuntergegangen war, um Nachschau zu halten – und dann doch nur Türen und Fenster gesichert und verschlossen, ja einzig die Mäuse und Küchenschaben als Besitzer des Bodens vorzufinden. Indes, dies Erlebnis reichte gewißlich nicht aus, die Intensität meines plötzlichen Widerwillens glaubhaft zu begründen. Den Vormittag verbrachte ich zur Gänze über meinen Büchern. Nachdem ich aber um die Mittagsstunde mein Studium unterbrochen hatte, um ein wenig schwimmen und danach essen zu gehen, war ich höchst überrascht, um nicht zu sagen besorgt, feststellen zu müssen, daß mein Widerwille gegen jenes Zimmer, falls überhaupt möglich, noch zugenommen hatte. Als ich nämlich nach dem Essen nach oben ging, um ein Buch zu holen, empfand ich die allerdeutlichste Abneigung davor, den Raum auch nur zu betreten, und war mir während des Aufenthaltes in jenen vier Wänden beständig eines zutiefst widerwärtigen, aus Unruhe und echter Furcht gemischten Gefühles bewußt. Das Ende von alledem war, daß ich Studieren Studieren sein ließ, den ganzen Nachmittag draußen auf dem See mit Paddeln und Angeln verbrachte und, als ich gegen Sonnenuntergang wieder ins Haus zurückkehrte, mit einem halben Dutzend wohlschmeckender Barsche für Abendbrot und Speisekammer versorgt war. Da mir in jenen Tagen ein gesunder Schlaf besonders wichtig schien, hatte ich schon beim Angeln beschlossen, daß ich, im Falle meine Abneigung gegen jene Kammer nach meiner Heimkehr sich noch ebenso deutlich bemerkbar machen sollte, mein Bett in den Aufenthaltsraum verlegen und dort die Nacht verbringen würde. Das wäre, so machte ich vor mir geltend, durchaus kein Zugeständnis an eine absurde und eingebildete Angst, sondern lediglich eine vorbeugende Handlung, um mir einen gesunden Schlaf zu sichern. Denn eine schlechte Nacht bedeutete ja, daß der darauffolgende Tag für das Lernen verloren war – und das konnte ich mir durchaus nicht mehr leisten. Dementsprechend transportierte ich also meine Lagerstatt nach unten, schlug sie im Tagesraum auf – in jener Ecke, die der Eingangstür gegenüberlag –, und verspürte eine ungewöhnliche Erleichterung, als diese Arbeit getan war und die Tür zur Schlafkammer sich endgültig vor all der Düsternis, Stille und sonderbaren Angst geschlossen hatte, welche jenen Raum erfüllten. Der heisere Schlag der Küchenuhr verkündete die achte Stunde, als ich mit dem Spülen des wenigen Geschirrs fertig war und, die Küchentür hinter mir schließend, in den Aufenthaltsraum hinüberging. Alle Lampen brannten, und ihre Reflexspiegel, die ich tagsüber auf Hochglanz poliert hatte, tauchten den Raum in eine Fülle von Licht. Die Nacht vor den Fenstern war lautlos und warm. Kein Lufthauch regte sich. Die Wellen gaben keinen Laut, die Bäume schienen erstarrt zu sein, und der Himmel war von schweren Wolken verhangen. Die Dunkelheit war heute besonders rasch hereingebrochen, und nicht einmal der Abglanz eines fernen Leuchtens zeigte an, wo die Sonne untergegangen war. Über allem hing eine unheilschwangere, überwältigende Stille, wie sie oft genug den fürchterlichsten Unwettern voranzugehen pflegt. Ich setzte mich mit ungewöhnlich klarem Kopf zu meinen Büchern, im Herzen das wohltuende Wissen, daß in der Eiskammer noch fünf delikate Barsche des Verzehrtwerdens harrten, und daß der alte Farmer schon am nächsten Morgen mit seinem Nachschub an Eiern und frischgebackenem Brot angerudert kommen werde. Nicht lange, und ich war bis über die Ohren in meine Bücher vertieft. Mit dem Voranschreiten der Nacht wurde die Stille rings um mich immer profunder. Selbst die Eichhörnchen waren verstummt, und nicht einmal die Dielenbretter und die Wandverkleidung knarrten und knisterten noch länger. Ich aber blieb weiterhin über die Bücher gebeugt, bis in der düstern Verschattung der Küche der heisere Uhrenschlag neuerlich anhub: Ich zählte neun Schläge. Wie laut sie doch hallten! Das war ja, als schlüge ein schwerer Hammer die Stunde! Ich klappte das eine Buch zu und öffnete das nächste, denn ich begann jetzt, Geschmack an meiner Arbeit zu finden. Allein, meine Arbeitslust hielt nicht lange vor. Unversehens ertappte ich mich dabei, daß ich dieselben Stellen zum zweitenmal überlas, noch dazu ganz einfache Abschnitte, die solcher Mühe durchaus nicht bedurft hätten. Und bald danach merkte ich, daß meine Gedanken abschweiften und daß es mir von Mal zu Mal schwerer wurde, sie zur Arbeit zurückzurufen. Meine Konzentration ließ jetzt zusehends nach, und plötzlich entdeckte ich sogar, daß ich zwei Buchseiten überschlagen hatte, doch merkte ich dies Versehen erst gegen Ende der betreffenden Seite. Das schien ja nachgerade bedenklich zu werden! Was war es nur, das mich so sehr ablenkte? Körperliche Müdigkeit konnte es nicht sein – mein Geist war ja, ganz im Gegenteil, ungewöhnlich wach und viel aufnahmebereiter als sonst. So wandte ich mich aufs neue mit aller Aufmerksamkeit meiner Lektüre zu, fest entschlossen, nicht mehr nachzugeben, und für kurze Zeit schien ich damit Erfolg zu haben. Doch nicht lange danach, und ich saß abermals in meinen Sessel zurückgelehnt und starrte ziellos ins Leere. Es lag auf der Hand: Mein Unterbewußtsein war wachgeworden. Ich mußte irgend etwas zu tun vergessen haben. Vielleicht war die Küchentür nicht versperrt, oder es standen die Fenster noch offen? Ich ging sogleich, um nachzusehen, aber es war alles in Ordnung! Vielleicht war’s das Feuer, um das man sich kümmern mußte? Aber auch der Ofen war wohlversorgt. Ich kontrollierte die Lampen, ging dann nach oben und warf einen Blick in jede der Schlafkammern, schritt auch noch um die gesamte Behausung herum, ja sah sogar im Eishaus nach. Aber ein jedes Ding befand sich an seinem gehörigen Ort. Dennoch – irgend etwas stimmte nicht! Das begann ich stärker und stärker zu fühlen. Als ich mich nach alldem doch wieder hinter die Bücher gesetzt hatte und neuerlich versuchte, in meiner Lektüre fortzufahren, wurde ich zum erstenmal gewahr, daß der Raum kühler zu werden begann. Dabei war es den ganzen Tag lang drückend schwül gewesen, und auch der Abend hatte keine Erleichterung gebracht. Überdies spendeten schon die sechs großen Lampen Wärme genug, um das Zimmer bei angenehmer Temperatur zu halten. Jetzt aber machte sich hier drinnen eine ziehende Kälte bemerkbar, die wohl vom See heraufkommen mochte, und veranlaßte mich, aufzustehen, um die Glastür zur Veranda zu schließen. Einen Atem lang hielt ich dort inne und blickte in den Schacht aus Licht hinaus, welcher sich durch die Fenster ins nächtige Dunkel bahnte und den Anfang des Fußpfads sowie einen Streifen Uferwasser erhellte. In eben diesem Moment sah ich ein Kanu den Lichtschacht kreuzen und schon wieder in der Nacht verschwinden. Es mochte etwa hundert Fuß vom Ufer entfernt gewesen sein und war mit großer Schnelligkeit dahingeglitten. Mein Erstaunen ob der Tatsache, daß um diese Nachtzeit ein Kanu die Insel entlangfuhr, war nicht gering, denn all die Sommergäste vom jenseitigen Seeufer hatten sich schon vor Wochen auf den Heimweg begeben, und überdies lag die Insel fernab allen Bootsverkehrs. Von dem Moment meiner neuen Entdeckung an wollte es mit dem Studieren nicht mehr recht weitergehen: Ich wurde das Bild jenes Kanus, das so rasch und verschwommen durch den schmalen Lichtstreifen über den dunklen Fluten hindurchgeglitten war, nicht mehr los. Der helle Umriß befeuerte meine Einbildungskraft aufs lebhafteste und schob sich beständig zwischen meinen Blick und die Seiten meiner Lektüre. Und je mehr ich den Vorfall bedachte, desto stärker ward meine Verwunderung. Das Kanu war ja von größerer Bauart gewesen denn irgendeines, das ich den Sommer über zu Gesicht bekommen, und hatte mit seinem hoch aufgebogenen Bug und Heck viel eher den alten, indianischen Kriegskanus geglichen. Auch war es ebenso breit gewesen wie sie. – Gleichviel, je mehr ich versuchte, mich auf meine Bücher zu konzentrieren, desto weniger Erfolg war mir beschieden. Schließlich klappte ich sie endgültig zu und trat auf die Veranda hinaus, um mir dort ein wenig Bewegung zu machen und das Kältegefühl aus meinen Knochen zu schütteln. Die Nacht war vollkommen still und so dunkel, wie man sich’s nur vorstellen mochte. Ich stolperte den Fußpfad zu dem kleinen Anlegeplatz hinunter, wo das Wasser mit fast unhörbarem Glucksen von unten gegen die Bohlen der Landeplattform schlug. Weit drüben, schon jenseits des Sees in den Wäldern des Festlands, brach krachend ein alter Baumriese nieder, und sein ferner Fall weckte das Echo in der reglosen Nachtluft, und der Nachhall pflanzte sich weiter und fort – und war wie das erste Geplänkel einer ferne anhebenden, nächtlichen Attacke. Sonst war da nichts, die allgewaltige Stille zu stören. Während ich noch auf der Plattform des Anlegeplatzes stand, inmitten der breiten Helle, die hinter mir aus den Fenstern des Tagraumes brach, sah ich ein zweites Kanu den überm Wasser sich verlierenden Lichtstreif durchqueren und sofort wieder in der undurchdringlichen Finsternis der anderen Seite verschwinden. Diesmal hatte ich es deutlicher gesehen: Es war von der nämlichen Bauart wie das erste gewesen, ein geräumiges Fahrzeug aus Birkenrinde mit stark überhöhtem Vorder- und Achterteil und mit breitem Kiel. Gerudert hatten zwei Indianer, von denen der hintere – der Steuerer – von ungewöhnlicher Körpergröße zu sein schien. Ich hatte das sehr klar unterscheiden können. Obschon aber das zweite Kanu so viel näher an der Insel vorbeigestrichen war als das erste, hielt ich doch dafür, daß beide sich auf dem Rückweg zu der Indianer-Reservation befanden, welche sich in einer Entfernung von etwa fünfzehn Meilen auf dem Festland erstreckte. Ich stellte noch immer Vermutungen darüber an, was denn einen Indianer bewogen haben mochte, diesen Teil des Sees zu so später Stunde aufzusuchen, als ein drittes Kanu von genau derselben Bauart, und wie die andern von zwei Indianern gerudert, lautlos am Anlegeplatz vorüberstrich. Diesmal aber war das Fahrzeug viel näher gewesen, und so schoß mir plötzlich der Gedanke durch den Sinn, daß die vermeintlichen drei ja in Wahrheit ein und dasselbe waren – ein einziges Kanu, das die Insel umkreiste! Diese Schlußfolgerung war keineswegs angenehm: Erwies sie sich wirklich als die zutreffende Erklärung für das ungewöhnliche Erscheinen dreier Kanus zu so später Stunde auf diesem abgelegenen Teil des Sees, so konnten die Absichten der beiden Ruderer vernünftigerweise nur mit meiner Person zusammenhängen. Zwar hatte ich noch nie gehört, daß die Indianer gegen Siedler, welche mit ihnen die weite, unwirtliche Einsamkeit dieser Landstriche teilten, gewaltsam vorgegangen wären, anderseits konnte man aber eine solche Möglichkeit nicht völlig ausschließen … Indes, gleich danach schlug ich mir derlei unangenehme Erwägungen aus dem Kopf und suchte in meiner Einbildung nach allerhand anderen Lösungen des Problems, die mir denn auch nur zu eilfertig in den Sinn kamen, jedoch meiner unvoreingenommenen Betrachtung nicht standhielten. Mittlerweile hatte eine Art Instinkt mich bewogen, den Lichtbereich, darin ich mich bisher aufgehalten, zu verlassen und in den tiefen Schatten eines Uferfelsens zu treten, wo ich abwartete, ob das Kanu sich neuerdings zeigen werde. Von meinem jetzigen Standpunkt aus konnte ich trefflich beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden – eine Vorsichtsmaßnahme, die mir durchaus angebracht schien. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als das Kanu, ganz wie ich vorausgesehen hatte, zum viertenmal mein Blickfeld kreuzte – diesmal nur mehr wenige Bootslängen vom Anlegeplatz entfernt, woraus ich ersah, daß die zwei Indianer beabsichtigten, die Insel zu betreten. Ich erkannte in ihnen die Ruderer von vorhin, und in der Tat, der eine, welcher das Kanu steuerte, war ein riesenhafter Bursche. Auch war es fraglos dasselbe Kanu, und so konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß seine Insassen aus irgendwelchen Gründen die Insel zunächst eine Zeitlang umkreist hatten, um eine günstige Gelegenheit zur Landung abzuwarten. Ich spähte mir die Augen aus dem Kopf, um die beiden auch noch im Finstern zu erblicken, aber das Dunkel hatte sie mit Haut und Haar aufgeschluckt, und auch nicht das leiseste Klatschen des kraftvoll ausgreifenden Paddelschlags drang an mein lauschendes Ohr. Das Kanu mußte nun innerhalb kürzester Frist seine neuerliche Runde vollendet haben, und diesmal mochte es geschehen, daß die Männer an Land kamen. So schien es mir durchaus am Platze, darauf vorbereitet zu sein, denn ich wußte nicht, in welcher Absicht die beiden gekommen waren. Und zwei gegen einen (zumal, wenn diese zwei so riesenhafte Indianer sind), noch dazu in tiefster Dunkelheit auf einer einsamen Insel – das entsprach nicht in allen Punkten meinen Vorstellungen von einem erfreulichen Zusammentreffen. In einer Ecke des Aufenthaltsraumes stand, gegen dessen Rückwand gelehnt, meine Marlin mit zehn Patronen im Magazin und einer elften, wohlverwahrten im gut gefetteten Verschluß. Es war nun wirklich höchste Zeit, ins Haus zurückzukehren und sich in jener Ecke zu verschanzen. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, eilte ich zur Veranda hinauf, wobei ich mich sorgsam im Schatten der Bäume hielt, auf daß ich in dem Lichtschein nicht gesehen würde. Beim Eintreten zog ich die Verbindungstür zur Veranda hinter mir zu und blies so rasch wie möglich die sämtlichen sechs Lampen aus. Sich in einem grell erleuchteten Zimmer aufzuhalten, wo auch die geringfügigste meiner Bewegungen von draußen beobachtet werden konnte, wogegen ich selbst durch jedes der Fenster nichts als undurchdringliche Finsternis erblickte, das war nach allen Regeln der Kriegführung ein durchaus unnötiges Zugeständnis an einen Gegner, der, falls er tatsächlich in feindseliger Absicht gekommen sein sollte, viel zu durchtrieben und gefährlich war, als daß man ihm auch nur irgendeinen Vorteil hätte einräumen dürfen. So stand ich denn in der Ecke des Aufenthaltsraumes, den Rücken zur Wand und die Hände auf den Gewehrlauf hinter mir gestützt. Zwischen mir und der Tür zur Veranda stand der Tisch mit meinen Büchern, doch war die Finsternis nach dem Verlöschen der Lampen so tief, daß man fürs erste überhaupt nichts wahrnehmen konnte. Nur nach und nach traten die Zimmerwände aus ihr hervor, hoben die Fenstergevierte sich ganz schwach von der sie umgebenden Dunkelheit ab. Nach einigen Minuten aber waren die Eingangstür (deren obere Hälfte verglast war) sowie die beiden auf die Veranda gehenden Fenster ganz deutlich zu unterscheiden. Ich war sehr erleichtert darüber, denn jetzt konnte ich, falls die Indianer sich wirklich dem Haus näherten, ihr Herankommen beobachten, ja sogar ihre Pläne erraten. Und ich sollte nur zu sehr recht behalten, denn schon drang auch der hohle Anprall eines am Landeplatz anlegenden Kanus an mein Ohr. Ich vernahm ganz deutlich, wie es vorsichtig den Uferfelsen heraufgezogen wurde, und wie die beiden Ruderer ihre Paddel unter das Fahrzeug schoben. Auch die folgende Stille deutete ich mir ganz richtig: Die Indianer waren jetzt im Begriff, sich an das Haus heranzuschleichen … Nun wäre es absurd, mit der Behauptung großzutun, ich wäre angesichts der ernsten Situation und ihres möglichen Ausgangs nicht aufgeregt oder gar geängstigt gewesen, doch ist es die reine Wahrheit, wenn ich sage, daß sich solcher Zustand nicht so sehr auf meine Person bezog. Es war mir durchaus bewußt, daß ich da mitten in der Nacht in eine seelische Verfassung geriet, darin meine Empfindungen nicht mehr als normal bezeichnet werden konnten. Indes, sie waren niemals von irgendwelcher physischen Angst begleitet, und obschon ich während des größeren Teiles der Nacht die Hände nicht vom Lauf meines Gewehres nahm, war mir beständig bewußt, daß sein Beistand mir gegen jenes echte Grauen, dem ich mich da gegenübersah, nur von geringem Nutzen sein konnte. Zuweilen kam’s mir vor – und das mit der größten Deutlichkeit –, als wäre ich in Wirklichkeit gar nicht an dem Geschehen beteiligt, ja nicht einmal darein verstrickt, sondern spielte dabei lediglich die Rolle des Zuschauers – eines Zuschauers überdies, der nicht so sehr auf realer denn auf okkulter Ebene sich befand. Auch waren viele der Empfindungen, die mich in jener Nacht heimsuchten, viel zu vage, als daß man sie hätte beschreiben oder gar analysieren können. Indes, das eigentliche Gefühl, welches mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen wird, ist jenes entsetzliche, die Begebnisse insgesamt einhüllende Grauen sowie das unbeschreibliche Preisgegebensein angesichts der Erkenntnis, daß ich, hätte jene äußerste Nervenanspannung auch nur um ein weniges länger angehalten als dies tatsächlich der Fall war – daß ich dann unweigerlich um den Verstand gekommen wäre. Dabei stand ich die ganze Zeit reglos in meiner Ecke und harrte geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Das Haus war so stumm wie ein Grab, aber die wortlosen Stimmen der Nacht tönten mir in den Ohren, und ich vermeinte zu hören, wie das Blut durch meine Adern strömte und in den Pulsen hämmerte. Falls die Indianer im Sinn hatten, sich von hinten an das Haus heranzumachen, so würden sie die Küchentür versperrt, die Fenster verschlossen finden. Von dieser Seite konnten sie also nicht ohne beträchtlichen Lärm eindringen, und den würde ich auf jeden Fall hören. Der einzige Zugang in das Haus führte demnach über die Veranda, und so heftete ich meinen Blick auf die Tür mir gegenüber und ließ sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Und diese meine Augen paßten sich der Finsternis mit jeder weiteren Minute besser an. Ich konnte jetzt schon den Tisch unterscheiden, der nahezu den ganzen Raum ausfüllte und zu beiden Seiten jeweils nur einen schmalen Gang frei ließ. Auch die geraden Lehnen der eng an den Tisch geschobenen Stühle vermochte ich nun zu erkennen, und sogar meine auf dem weißen Wachstuch ausgebreiteten Notizen zusamt dem Tintenzeug. Und mit einem Mal dachte ich an all die frohen Gesichter, welche sommersüber um diesen Tisch versammelt gewesen, und sehnte mich nach dem Licht der Sonne, wie ich mich noch nie zuvor danach gesehnt. Zur Linken zweigte, keine drei Fuß von mir, der Gang zur Küche ab, und gleich an seinem Anfang, fast noch im Aufenthaltsraum, mündete die Treppe, welche hinauf zu den Schlafräumen führte. Durch die Fenster konnte ich die verschwommenen, reglosen Umrisse der Bäume gewahren: Kein Ast bewegte sich, kein Blatt schien sich zu regen. Allein, dies grauenvolle Schweigen währte nur kurze Zeit. Schon waren verstohlene Tritte auf den Bohlen der Veranda vernehmbar, doch schlichen sie so leise heran, daß ich sie nicht so sehr mit dem Gehör wie mit dem Gehirn zu erlauschen meinte. Gleich danach verdunkelte eine schwarze Gestalt das Glasgeviert der Tür, und ich gewahrte, daß ein Gesicht sich gegen die oberen Scheiben preßte. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter, und durch meine Kopfhaut rieselte ein Gefühl, als stünden mir jetzt und jetzt die Haare zu Berge – ja als sträubten sie sich schon nach allen Richtungen um meine Schläfen! Es war die Gestalt eines Indianers – eines riesenhaften, breitschultrigen Indianers. Tatsächlich, sie war größer, als ich dergleichen jemals außerhalb von Schaustellungen gesehen hatte. Zufolge irgendeiner Lichtquelle, die sich aus meinem Hirn zu speisen schien, konnte ich die dunklen Züge, die breiten Backenknochen und die flach gegen die Glasscheibe gepreßte Adlernase deutlich unterscheiden. Die Blickrichtung freilich vermochte ich nicht zu erkennen, doch zeigte mir ein gelegentlich aufleuchtender Schimmer, welcher von dem Weiß der Hornhaut herrührte, daß dem Spähen dieser rollenden Augäpfel auch nicht die verborgenste Ecke des Zimmers entging. Volle endlose fünf Minuten, so schien es mir, wich die Gestalt nicht von der Tür – hielt sie die mächtigen Schultern gekrümmt, um durch die niedere Verglasung spähen zu können. Dahinter aber, wenn auch längst nicht so groß, wanderte die schattenhafte Gestalt des zweiten Indianers hin und her, und dies Schattenwandern gemahnte an die Bewegungen eines im Winde schwankenden Baumes. Und während ich noch in aller Aufregung und Gespanntheit des nächsten Schrittes meiner Widersacher harrte, lief mir ein eisiger Schauder das Rückgrat hinauf und hinunter, schien mein Herz abwechselnd stehenbleiben und gleich danach wieder mit jagender Schnelligkeit durchgehen zu wollen. Jetzt mußten die beiden das rasende Pochen, das Singen des Bluts in meinen Schläfen gehört haben! Und als mir gar der kalte Angstschweiß aus der Stirn brach und übers Gesicht rann, ward ich mir auch noch des dringenden Wunsches bewußt, aufzuschreien und heulend gegen die Wände zu trommeln wie ein Kind – auf irgendeine Weise Lärm zu schlagen oder sonst etwas zu tun, was diese unerträgliche Spannung lösen, was die Dinge zu einem raschen Ende bringen mochte! Vielleicht war es dieses Bedürfnis, das mich eine weitere Entdeckung machen ließ: Als ich nämlich versuchte, das Gewehr hinterm Rücken hervorzuziehen, um es schußbereit gegen die Tür zu richten, fand ich mich außerstande, auch nur die kleinste Bewegung zu machen. Die angstgelähmten Muskeln gehorchten meinem Willen nicht mehr! Das war nun freilich eine grausige Komplikation! Jetzt wurde ganz leise am Messingknauf der Tür gerüttelt – jetzt ward sie spaltbreit geöffnet! Einige Sekunden verstrichen – und nun ging sie vollends auf. Die beiden Gestalten glitten ins Zimmer, so lautlos, daß ich keinen Hauch vernehmen konnte – und dann drückte der zweite Eindringling die Tür behutsam ins Schloß. Nun hatten sie mich zwischen diesen vier Wänden ganz für sich. War’s möglich, daß sie mich erblickten, während ich so still und starr wie ein Stock in meiner Ecke stand? Hatten sie mich schon vorher erblickt? Mein Blut sauste, mein Puls trommelte mir in den Ohren! Und obschon ich nach Kräften bemüht war, mein Atmen nicht hören zu lassen, tönte es dennoch, als preßte der Wind sich durch ein viel zu enges Rohr. Mein gespanntes Warten auf den nächsten Schritt der beiden ward alsbald beendet – doch einzig, um einer neuen, noch ärgeren Beunruhigung Platz zu machen: Sie hatten sich ja bislang weder durch Worte noch durch Zeichen untereinander verständigt, doch schienen sie jetzt allem Anschein nach den Raum durchqueren zu wollen, und das bedeutete, daß sie in jedem Fall den Tisch umgehen mußten. Wählten sie dazu den Gang auf meiner Seite, so würden sie nur um Spannenlänge an mir vorüberkommen! – Während ich aber diese unbehagliche Möglichkeit noch erwog, bemerkte ich, daß der (vergleichsweise) kleinere Indianer plötzlich nach oben, gegen die Zimmerdecke wies. Sein riesenhafter Gefährte folgte mit den Augen der Richtung des emporgestreckten Armes. Nun erst verstand ich! Die beiden waren im Begriff, nach oben zu gehen, und die Kammer gerade über uns, der jene Armbewegung gegolten – sie war noch gestern nacht meine Schlafkammer gewesen! Ebendort hatte mich ja am darauffolgenden Morgen jene sonderbare Platzangst überkommen, ohne die ich jetzt gewißlich schlafend in dem schmalen Bett gegenüber dem Fenster gelegen hätte! Die beiden Indianer machten sich nun daran, in aller Lautlosigkeit den Tisch zu umgehen, um nach oben zu gelangen. Sie wählten dazu den Gang auf meiner Seite. Ihre Bewegungen waren so leise, daß ich, wären meine Nerven nicht bis zum Zerreißen angespannt gewesen, keinerlei Geräusch vernommen hätte. So aber konnte ich ihr katzengewandtes Schleichen deutlich unterscheiden. Wie zwei riesige, nachtschwarze Raubtiere kamen sie um den Tisch herum auf mich zu, und jetzt erst gewahrte ich, daß der kleinere von ihnen etwas hinter sich nachzog. In Anhörung so sachte schleifenden, an einen Kehrbesen gemahnenden Lautes gewann ich irgendwie den Eindruck, es handele sich um etwas Großes, Totes, mit ausgestreckten Schwingen, oder um den langen, sperrigen Ast einer Zeder. Doch was es auch immer sein mochte, ich konnte nicht einmal seine Umrisse erkennen und stand viel zu sehr unterm Eindruck meiner Furcht, als daß ich gewagt hätte – und wär’ ich auch Herr meiner Muskeln gewesen –, den Kopf vorzubeugen, um mich der Natur jenes Gegenstandes zu vergewissern. Näher und näher kamen die beiden heran, und der Anführer legte seine riesige Hand auf die Tischplatte. Die Lippen klebten mir aufeinander – mein Atem schien mich verbrennen zu wollen. Es drängte mich, die Augen zu schließen, auf daß ich nicht sähe, wie die beiden nun an mir vorüberstrichen, allein, meine Lider blieben starr geöffnet und versagten mir den Dienst. Würde dies denn nimmer an mir vorübergehen? Nun schien auch aus meinen Beinen alle Empfindung gewichen, und mir war’s, als stünde ich auf zwei Stützen von Holz oder gar von Stein! Ja schlimmer noch: Mein Gleichgewichtssinn drohte auszusetzen, die Kraft, welche mich bislang aufrecht gehalten, wollte mich verlassen – kaum, daß ich noch vermochte, mich rücklings gegen die Wand zu lehnen. Etwas in mir zwang mich unwiderstehlich nach vorn, und die Angst, das Gleichgewicht vollends zu verlieren und den Indianern geradewegs in die Arme zu taumeln, verursachte mir ein an Übelkeit grenzendes Schwindelgefühl. Indes, auch Momente, die sich zu Stunden zerdehnen, haben einmal ihr Ende, und so waren auch diese beiden Gestalten, noch ehe ich es recht wahrgenommen, an mir vorübergeglitten und hatten den Treppenaufgang zu den Schlafkammern im Oberstock erreicht. Nicht einmal eine Fingerspanne konnte uns voneinander getrennt haben, und doch hatte ich nichts gespürt als den hinterherwehenden Hauch einer ziehenden Kälte. Sie hatten mich nicht berührt, und ebenso gewiß war ich, daß sie mich nicht gesehen hatten. Ganz gegen meine Befürchtung war ich auch von jenem auf dem Boden nachschleifenden Etwas nicht gestreift worden, und man ist ja in derlei bedrohlichen Momenten dem Schicksal noch für die geringste Vergünstigung dankbar. Indes, dies Zurückweichen der unmittelbaren Gefahr brachte mir nicht viel Erleichterung. Vom Schauder geschüttelt stand ich in meiner Ecke, nicht fähig, auch nur um ein geringes freier zu atmen. Ich fühlte mich um keinen Deut weniger unbehaglich und mußte überdies noch gewahren, daß jenes eigentümliche Licht, das mich in den Stand gesetzt hatte, jeder Geste und jeder Bewegung der beiden zu folgen, mit ihrem Verschwinden aus dem Räume gewichen war. Eine übernatürliche Finsternis füllte nun das Zimmer bis in dessen letzten Winkel, so daß ich kaum noch die Fenster und die Glastür erkennen konnte. Wie schon erwähnt, war meine Verfassung alles andere denn eine normale. Die Fähigkeit, irgendwelche Überraschung zu empfinden, schien mir, wie dies im Traume geschieht, zur Gänze abhanden gekommen zu sein. Meine Sinne registrierten auch das kleinste Begebnis mit ungewöhnlicher Schärfe, doch war ich durchaus nicht imstande, mehr als die primitivsten Schlüsse daraus zu ziehen. Die Indianer waren alsbald bis zum oberen Ende der Treppe vorgedrungen und hielten jetzt für einen Augenblick inne. Ich hatte nicht die leiseste Vermutung, was sie als nächstes tun würden. Auch schienen sie zu zögern. Offenbar lauschten sie. Dann vernahm ich, wie einer von ihnen, nach dem Gewicht seiner schleichenden Schritte wohl der große, den engen Korridor querte und die Kammer mir zu Häupten betrat – mein eigenes, kleines Schlafgemach! Und wäre jene gestaltlose Morgenangst nicht so drängend gewesen, so hätte ich jetzt dort oben in meinem Bett gelegen, den riesenhaften Indianer ganz nah an meiner Seite! Eine endlose Minute lang herrschte so abgründige Stille, als stünde in der Schöpfung die Geburt des Lautes noch bevor. Urplötzlich aber zerriß ein langgezogener, entsetzensgeschüttelter Schrei das nächtliche Schweigen, lief jedoch, noch ehe er seine volle Stärke erreicht hatte, in ein ersticktes Röcheln aus. Im nämlichen Moment verließ auch der zweite Indianer seinen Posten am Ende des Treppenaufgangs und folgte seinem Gefährten in die Schlafkammer. Ich hörte, wie jenes Etwas hinter ihm über den Boden schleifte. Dann vernahm ich einen dumpfen Aufschlag, als wär’ ein schwerer Gegenstand zu Boden gefallen – und gleich darauf war alles wieder ruhig wie zuvor. So weit waren die Dinge gediehen, als ein blendender Blitz die Dunkelheit zerriß, und fast gleichzeitig ein fürchterlich krachender Donner das tödliche Schweigen spaltete: Nun entlud sich mit einem Schlag, was als Himmelselektrizität sich den ganzen Tag über in der Atmosphäre aufgestaut hatte! Sekundenlang war jeder Gegenstand in dem Zimmer mit erstaunlicher Klarheit zu erkennen, ja sogar das feierliche Spalier der Baumstämme vor den Fenstern konnte ich deutlich unterscheiden. Und der Donner rollte fort von Echo zu Echo, verlor sich grollend über der Weite des Sees und zwischen den fernen Inseln, während der Himmel schon seine Schleusen geöffnet hatte und seine Wasser in schäumenden Katarakten erdenwärts entließ. Die Regenflut brach mit zischendem Brausen über den bislang so reglosen See herein, dessen Wasser sich nun aufschäumend dem herniederstürzenden Element entgegenwarfen, und prasselte als ein himmlisches Salvenfeuer in die Laubkronen der Ahornbäume und auf das Dach der Blockhütte. Und schon im nächsten Moment erhellte ein zweiter Blitz den Himmel von Auf- und Niedergang, noch greller, noch anhaltender denn der erste, und tauchte das Zimmer urplötzlich in ein blendendes, wahrhaft schwindelerregendes Licht. Sogar draußen an den Blättern und im Gezweig konnte ich die Tropfen funkeln sehen. Mit einem Mal war auch der Wind erwacht, und noch keine Minute danach war er zum Sturm angewachsen, der nun heulend hereinbrach mit aller aufgestauten Wut eines ganzen, lastend-schwülen Nachsommertages. Dennoch: Der Aufruhr der Lüfte vermochte nicht, auch nur den leisesten Laut, der aus der Schlafkammer herunterdrang, zu übertönen. So ward ich inne, daß während der wenigen Augenblicke tiefster Stille, welche jenem Marter- und Entsetzensschrei gefolgt waren, das Rumoren dort oben erneut begonnen hatte. Die beiden Eindringlinge waren nun dabei, den Schlafraum zu verlassen, und bewegten sich wieder auf die Treppe zu. Ein kurzes Innehalten, und sie begannen mit dem Abstieg. Und hinter ihnen polterte – ich hörte es deutlich! – jenes nachschleppende unförmige Etwas von Stufe zu Stufe. Doch es war nun viel schwerer geworden! Ich sah dem Nahen der beiden mit einer Ungerührtheit entgegen, die schon an Apathie grenzte und ihre Erklärung nur darin zu finden vermag, daß nach Erreichen eines bestimmten Grades nervlicher Anspannung uns eine gütige Natur ihr ureigenstes Betäubungsmittel angedeihen läßt, indem sie unsere Sinne mit einer wohltätigen Empfindungslosigkeit umfängt. Allein, noch kam ja das Unheil auf mich zu – Schritt für Schritt, begleitet von dem schleifenden Geräusch der nachgezerrten Last, das von Stufe zu Stufe lauter wurde! Schon waren die gespenstischen Gesellen auf halber Höhe der Treppe angelangt, als mich prickelnd ein neues Entsetzen durchfuhr angesichts einer weitern, grauenvollen Möglichkeit: Es war die Erwägung, daß in dem Augenblick, da diese Prozession der Schatten zum andernmal dies Zimmer beträte, ja vielleicht sogar, da sie an mir vorüberschritte – daß dann ein neuerlich aufzuckender Blitzstrahl die Nacht zum Tag machen und mir das ganze Grauen vor Augen führen könnte, ja schlimmer noch: daß ich selbst gesehen würde! So blieb mir nichts anderes zu tun, als angehaltenen Atems zu warten – zu warten, indes die Minuten sich zu Stunden dehnten, und der schaurige Zug der Schatten sich erneut durch das Zimmer bewegte. Jetzt waren die Indianer am Fuße der Treppe angelangt. Jetzt tauchte die riesenhafte Gestalt des Anführers drohend an der Einmündung des Küchenganges auf, und in eben dem Moment schlug auch die nachgeschleppte Last mit unheilvollem Laut auf die Dielenbretter. Doch war mir eine Galgenfrist gewährt, da der Anführer sich erst noch umwandte und bückte, um seinem Gefährten behilflich zu sein. Aber schon bewegte die Prozession sich abermals voran, trat ganz knapp zu meiner Linken ins Zimmer und schob sich an meiner Seite zwischen Tisch und Wand auf den Ausgang zu. Schon war der Vordermann an mir vorüber, schon war auch der zweite herangekommen, welcher die Last hinter sich herschleppte, jene Last, deren Umrisse ich nur undeutlich wahrnehmen konnte, als die gespenstische Kavalkade plötzlich erstarrte. Und im nämlichen Moment setzte mit der allen Gewittern eigentümlichen Plötzlichkeit der herniederrauschende Regen aus, und auch der heulende Wind war einer abgründigen Stille gewichen. Sekundenlang schien auch mir das Herz stillstehen zu wollen – und dann kam das Ärgste: ein Blitzstrahl von doppelter Helligkeit riß das Zimmer samt allem, was sich darin befand, mit gnadenloser Klarheit aus dem Dunkel! Zu meiner Rechten stand, nahezu in Griffweite, der riesenhafte Indianer, das eine Bein zum Schritt gestreckt, die mächtigen Schultern jedoch zu dem Gefährten herumgewandt. So konnte ich die Züge des Riesen in ihrer ganzen, großartigen Wildheit erkennen. Sein Blick freilich war auf die Last geheftet, welche der andere über den Boden schleifte, doch das Profil mit der scharfen Adlernase, den hohen Backenknochen, dem glatten schwarzen Haar und dem kühn vorspringenden Kinn brannte sich in dieser flüchtigen Sekunde unauslöschlich in mein Gedächtnis ein. Gegen so gewaltige Erscheinung wirkte der zweite Indianer nahezu zwerghaft: Er stand noch nicht einmal ein Fuß von mir entfernt, nahezu neben mir, und verharrte in gebückter Stellung über seiner Last, in einer Haltung also, die ihm noch das zusätzlich Grausige der Krüppelhaftigkeit verlieh. Die Last aber, die auf einem über den Boden schleifenden Zedern-Ast hingestreckt lag, war der leblose Körper eines Weißen! Man hatte ihm kunstgerecht die Kopfhaut abgeschält, so daß Stirn und Wangen über und über mit Blut verschmiert waren. Solcher Anblick löste zum erstenmal in dieser Nacht den Zauberbann des Grauens, der mir Muskeln und Willen gelähmt hatte. Aufschreiend streckte ich die Arme, um dem Riesen an die Gurgel zu fahren! Doch was ich zu fassen bekam – es war die leere Luft! – Die Sinne schwanden mir, und ich schlug der Länge nach zu Boden. Ich hatte den Toten erkannt – sein Gesicht, es war das meine! … Es war schon heller Tag, als eine Männerstimme mich ins Bewußtsein zurückrief. Ich lag, wo ich in der Nacht lang hingeschlagen war, und über mir stand der Farmer, die Brotlaibe in Händen. Das Grauen der Nacht saß mir noch immer im Herzen, und während der stämmige Siedler mir auf die Beine half und sich nach dem Gewehr bückte, das mir im Hinstürzen entglitten war, wobei er unter allerlei Fragen sein Mitgefühl bekundete, kam mir zu Bewußtsein, daß meine einsilbigen Erwiderungen ihm keinerlei Auskunft bedeuten, ja nicht einmal verständlich sein konnten. Noch denselben Tag, nachdem ich das Haus ebenso gründlich wie ergebnislos durchsucht hatte, kehrte ich der Insel den Rücken und fuhr mit dem Farmer zum Festland hinüber, um die letzten zehn Tage meines hiesigen Aufenthalts unter seinem Dach zu verbringen. Und als die Zeit des Abschiednehmens herangekommen war, hatte ich mein Pensum aufgearbeitet, und auch mein nervliches Gleichgewicht war zur Gänze wiederhergestellt. Am Tage meiner Abreise brach der Farmer schon frühmorgens mit seinem geräumigen Ruderboot auf, um alle meine Habseligkeiten bis zu dem zwölf Meilen entfernten Anlegeplatz zu bringen, der zweimal wöchentlich von einem kleinen Dampfboot angelaufen wurde, das die Jäger mit allem Nötigen versorgte. Spät am Nachmittag machte auch ich in meinem Kanu mich auf den Weg, freilich in anderer Richtung: Ich wollte jener Insel, auf der ich einem so seltsamen Begebnis zum Opfer gefallen, noch einmal einen Besuch abstatten. Ich traf zur rechten Zeit auf ihr ein und durchstreifte sie ein letztes Mal. Auch die Blockhütte suchte ich noch einmal auf und betrat, nicht ohne die widerstreitendsten Empfindungen, meine Schlafkammer im Oberstock. Aber nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Ich hatte eben vom Ufer abgelegt, als ich voraus in meinem Fahrwasser ein Kanu bemerkte, das soeben hinter der Insel hervorgeglitten war. Ein Kanu um diese Jahreszeit war ein ungewöhnlicher Anblick, und jenes da vorn schien zudem noch wie aus dem Nichts gekommen zu sein! Sobald ich meinen Kurs ein wenig geändert hatte, konnte ich es im Auge behalten, bis es hinter dem nächsten, vorspringenden Uferfelsen verschwand. Es war an beiden Enden hoch aufgebogen und wurde von zwei Indianern gerudert. Gespannt verhielt ich auf der Stelle, um abzuwarten, ob es wohl hinter dem andern Ende der Insel wieder zum Vorschein kommen werde. Und wirklich, noch waren keine fünf Minuten verstrichen, als es neuerlich in Sicht kam. Es befand sich jetzt nahezu in Rufweite, die auf ihren Schenkeln kauernden Indianer hielten direkt auf mich zu und kamen rasch näher. Nie in meinem Leben habe ich rascher gepaddelt als in den nun folgenden Minuten! Indes, als ich mich umblickte, um abermals nach meinen Verfolgern Ausschau zu halten, hatten sie ihren Kurs schon wieder geändert und umrundeten wie vorher die Insel. Die Sonne war schon im Begriff, hinter den Wäldern des Festlands zu versinken, die im Abendrot lodernden Wolken verwandelten den Spiegel des Sees in ein purpurnes Feuermeer, als ich mich zum letztenmal wandte und das große Rindenkanu mit seinen zwei im Dämmerlicht verschwimmenden Insassen noch immer die Insel umkreisen sah. Dann senkte die Dunkelheit der Nacht sich auf raschem Fittich hernieder, der See ward wieder schwarz, der Nachtwind sprang mich an und blies mir seinen Atem ins Gesicht, mir, der ich da ein letztes Kap umrundete, dessen weit in den See hinausragendes Felsmassiv alsbald beide – so Insel wie Kanu – meinen Blicken entzog. Die Zaubernacht in den Hochlanden von Honoré de Balzac Honoré de Balzac (1799-1850), der bedeutendste französische Romancier seiner Epoche, wandte sich in seinen »Mystischen Geschichten«, aus denen die hier ausgewählte Erzählung stammt, den dunklen Seiten der menschlichen Seele zu, dem, was die deutschen Romantiker die »Nachtseite der Natur« zu bezeichn en pflegten. Vor dem Hintergrund spukhafter Ereignisse beschreibt Balzac das unheimliche Pandämonium menschlicher Leidenschaften und Triebkräfte. »Hallowe’en, Hallowe’en!« schrien sie alle. »Das ist der Abend der heiligen Nacht, die schöne Nacht der Skelpies[2 - Wassergeister] und Fairies[3 - Feen]! Carrick, und du, Colean, kommt ihr? Alle Bauern von Carrick-Border[4 - Name des Bezirks] sind da. Unsere Megs und Jannies kommen auch. Wir werden guten Whisky in zinnernen Krügen bringen und schäumendes Ale und den schmackhaften Parridge[5 - Ein schottischer Pudding]. Das Wetter ist schön, der Mond muß bald aufgehen; nie, Kameraden, sollen die Ruinen von Cassilis-Downans eine so heitere Gesellschaft gesehen haben.« Also sprach Jock Muirland, ein Landmann und junger Witwer. Er war, gleich den meisten schottischen Bauern, Theolog, ein wenig Dichter und ein großer Trinker, aber dabei sehr sparsam; Murdock, Will Lapraik und Com Duckat waren bei ihm. Die Unterhaltung fand in der Nähe des Dorfes Cassilis statt. Ihr wißt wahrscheinlich nicht, was der Hallowe’en ist: Es ist das die Nacht der Feen, in der Mitte des August; alle neckischen Geister tanzen dann auf der Heide, eilen über die Gefilde oder reiten auf des Mondes bleichen Strahlen. Der Hallowe’en ist der Fasching der Geister und Gnomen. In dieser Nacht gibt es keine Grotte und keine Felsen, wo nicht ein Ball und ein Fest gefeiert würde; nicht eine Blume, die nicht von dem Hauch einer Sylphide bewegt würde; keine Hausfrau, die nicht sorgsam ihre Türe verschlösse, damit der Spunkie[6 - Kobold] nicht das Frühstück für den folgenden Tag weghole oder seinen Freunden das Essen der Kinder opfere, welche in der Wiege nebeneinanderliegen. Eine feierliche Nacht legte sich über die Hügel von Cassilis. Denkt euch ein bergiges Land, wellenförmig wie das Meer, dessen zahlreiche Hügel mit grünem und glänzendem Moos bedeckt sind. In der Ferne, auf einem steilen Felsen, erblickt man die Mauern des zerstörten Schlosses, dessen Kapelle das Dach fehlt, die aber sonst fast unversehrt ist mit ihren schlanken Säulen. Der Boden ist unfruchtbar in jener Gegend, und der Mensch, welcher in der Verödung und dem Grauen eine höchste Macht erkennt, glaubt, daß diesem unfruchtbaren Boden das Siegel der Gottheit selbst aufgedrückt ist. Die Güte des höchsten Wesens flößt uns wenig Dank ein, aber seine Zuchtrute und Strenge beten wir an. Die Spunkies tanzten in dieser Nacht auf dem kümmerlichen Rasen von Cassilis, und der aufgegangene Mond scheint breit und rot. Die Spunkies tanzten. Der Spunkie hat einen Mädchenkopf, schneeweiß, mit langem flammenden Haar. Auch hat er Flügel, doch sitzen diese nicht an den Schultern, sondern an den weißen und dünnen Armen, mit denen sie bis an das Handgelenk verbunden sind. Der Spunkie ist Hermaphrodit – mit einem weiblichen Antlitz verbindet er die zarte Eleganz der männlichen Jugend. Der Spunkie hat keine andere Kleidung als seine Flügel, ein Gewebe, zart und fein, schmiegsam und dicht, undurchdringlich und leicht, wie der Flügel der Fledermaus. Eine bräunliche Färbung, durch welche es rot hindurchschimmert, zeichnet dieses natürliche Gewand aus, das sich um den ruhenden Spunkie zusammenlegt, wie die Falten der Fahne um den Schaft. Lange Rippen, welche in ihrer bläulichen Färbung dem Stahl gleichen, stützen diese langen Flügel, mit denen der Spunkie sich kleidet; eherne Krallen bewaffnen ihre äußersten Enden. Wehe der Hausfrau, die sich abends in die Nähe des Moores wagt, wo der Spunkie lauert, oder die in den Wald geht, den er durchläuft! An den Ufern der Doon tanzten die Spunkies, als eine heitere Gesellschaft von Frauen, Kindern und jungen Mädchen sich näherte. Sofort verschwanden die Kobolde. Sie breiteten ihre großen Flügel aus und verdunkelten den Mond. Sie gleichen einer Wolke von Vögeln, die sich plötzlich aus rauschendem Röhricht erheben. Muirland und seine Gefährten blieben stehen. »Mich graust«, sagte ein junges Mädchen. »Bah!« antwortete der Pächter. »Das sind wilde Enten, welche davonfliegen.« »Muirland«, sagte vorwurfsvoll der junge Colean, »du wirst ein schlechtes Ende nehmen; du glaubst an nichts.« »Wir wollen uns hier niederlassen«, entgegnete Muirland, ohne auf den Tadel seines Gefährten zu hören; »hier können wir unsere Körbe leeren, denn der Ort ist schön und geschützt, der Felsen deckt uns, und der Rasen bietet uns ein weiches Lager. Der Teufel selbst soll mich nicht in meinen Betrachtungen stören, die aus diesen Kannen und Flaschen hervorkommen werden.« »Aber die Bogillies[7 - Geister des Waldes] und Brownillies[8 - Geister der Heide] können uns hier finden«, sagte schüchtern eine junge Frau. »Der Craneuch[9 - Nordwind] hole sie«, unterbrach Muirland die Sprechende. »Schnell, Lapraik, mache hier bei dem Felsen ein Feuer aus trockenem Laub und Reisig; wir wollen den Whisky heiß machen, und wenn die Mädchen wissen wollen, was für einen Mann der liebe Gott oder der Teufel ihnen bestimmt hat, so haben wir hier alles, womit wir ihre Neugierde befriedigen können. Borne Lesley hat Spiegel, Nüsse, Leinsamen, Teller und Butter mitgebracht. Sagt, Mädchen, ist das nicht alles, was ihr zu euren Zaubereien braucht?« »Ja, ja«, antworteten die Mädchen. »Zuvor wollen wir aber trinken«, sagte der Pächter, der durch sein Vermögen, seine wohlgefüllten Keller und Speicher und seine landwirtschaftlichen Kenntnisse ein großes Ansehen in der Gegend genoß. Von allen Ländern in der Welt ist Schottland dasjenige, in welchem die geringeren Klassen die meiste Bildung in Verbindung mit dem größten Aberglauben besitzen. Fragt Walter Scott, jenen erhabenen schottischen Landmann, der seine Größe nur der von Gott erhaltenen Fähigkeit verdankte, auf symbolische Weise den ganzen Genius seines Volkes darzustellen. In Schottland glaubt man an alle Arten von Geistern und unterhält sich in den dürftigsten Hütten über Gegenstände der abstrakten Philosophie. Die Nacht der Hallowe’en ist vorzugsweise dem Aberglauben gewidmet. Man glaubt, in dieser Nacht einen Blick in die Zukunft tun zu können. Die Formeln und Zaubersprüche sind bekannt und unverletzlich. Keine Religion kann es genauer mit ihren Zeremonien nehmen. Der Zweck des nächtlichen Ausflugs der Bewohner von Cassilis war die Feier dieser Zaubernacht, bei welcher jeder Priester und Hexenmeister zu gleicher Zeit ist. Diese ländliche Zauberei hat einen unaussprechlichen Reiz. Man bleibt gewissermaßen auf der Grenze stehen, welche Dichtung und Wirklichkeit scheidet; man steht mit den höllischen Mächten in Verbindung, ohne dabei aber Gott zu verleugnen; man wandelt die gewöhnlichsten Dinge in magische um; man schafft sich mit einer Getreideähre und einem Weidenblatt Hoffnungen und Befürchtungen. Mitternacht ist die Stunde der Hallowe’en, denn dann ist die ganze Luft von überirdischen Wesen bevölkert. Um neun Uhr waren die Bauern zusammengekommen; sie verbrachten die Zeit bis Mitternacht mit Zechen; auch sangen sie jene alten, köstlichen Balladen, deren schwermütige, kindliche Melodien so unendlich ergreifen. Die jungen Mädchen mit ihren gewürfelten Tüchern und ihren sauberen Gewändern, die Frauen, auf deren Lippen ein Lächeln schwebte, die Kinder, geschmückt mit jenen roten Bändern, welche über den Knien zusammengebunden werden und als Strumpfbänder und Schmuck zugleich dienen, die jungen Leute, deren Herz schneller schlug, je näher die geheimnisvolle Stunde kam, in welcher das Schicksal befragt werden sollte, einer oder zwei Greise, die durch das schmackhafte Ale zu Jünglingen wurden, sie alle bildeten eine anziehende Gruppe, die, von Wilkie gemalt, alle empfänglichen Seelen Europas entzückt und alle die erfreut hätte, welche unter so vielen fieberhaften Anstrengungen noch der Wonne eines wahren und tiefen Gefühls zugänglich geblieben sind. Besonders Muirland überließ sich ganz und gar der lauten Heiterkeit, welche aus dem Bier aufstieg und sich der ganzen Versammlung bemächtigte. Er war einer von denen, die das Leben nicht kleinkriegt, die sich im Bewußtsein ihrer Kraft vor nichts fürchten. Seine junge Frau war nach zweijähriger Ehe gestorben, und Muirland hatte geschworen, nie wieder zu heiraten. Jedermann im Dorf kannte die Ursache von Tuilzies Tod: Muirlands Eifersucht hatte ihn herbeigeführt. Kaum sechzehn Sommer zählte Tuilzie, als der Pächter sie freite. Sie liebte ihn und kannte nicht seine Heftigkeit, nicht die Wut, die ihn ergreifen konnte, die täglichen Qualen, die er sich selbst und anderen bereitete. Jock Muirland war eifersüchtig; die kindliche Zärtlichkeit seiner jungen Gattin beruhigte ihn nicht. Eines Tages, es war mitten im Winter, ließ er sie eine Reise nach Edinburgh machen, um sie den vorgeblichen Nachstellungen eines jungen Lords zu entziehen, der die schlechte Jahreszeit auf seinem Landsitz zubringen wollte. Von den Bekannten des Pächters ließ es keiner an Vorwürfen fehlen; er antwortete nichts weiter, als daß er Tuilzie sehr liebe und am besten beurteilen könne, was zu dem Glück seiner Ehe beitrüge. Unter dem Dach Jocks hörte man oft Klagen, Geschrei und Seufzer. Tuilzies Bruder hatte seinem Schwager vorgestellt, daß sein Benehmen unverzeihlich wäre, und heftiger Streit zwischen den Gatten war die Folge dieses Schrittes gewesen; das junge Weib wurde kränker von Tag zu Tag. Endlich erlag sie dem Kummer. Muirland versank in tiefe Verzweiflung, die mehrere Jahre dauerte; da aber alles in dieser Welt vergänglich ist, so hatte auch er, indem er den Eid leistete, Witwer bleiben zu wollen, allmählich die Erinnerung an die Frau verloren, deren Henker er gegen seinen Willen geworden war. Die Frauen und Mädchen, welche ihn mehrere Jahre lang nur mit Angst angesehen hatten, verziehen ihm endlich, und die Nacht des Hallowe’en fand ihn als den wieder, der er früher gewesen war: heiter, witzig, unterhaltend, reich an trefflichen Erzählungen und Scherzen, welche die nächtliche Gesellschaft in die heiterste Laune versetzten. Schon hatte man die meisten alten Romanzen gesungen, als es Mitternacht schlug. Man hatte reichlich getrunken. Die Geisterstunde war da. Alle erhoben sich, nur Muirland nicht. »Wir wollen den Kail suchen! Den Kail wollen wir suchen!« riefen alle. Die jungen Männer und jungen Mädchen eilten davon und kehrten dann einer nach dem andern zurück; jeder brachte eine Wurzel mit, die er aus dem Boden gezogen – das war der Kail. Die erste Wurzel, die man findet, muß man ausziehen; ist die Wurzel gerade, so ist die zukünftige Gattin oder der zukünftige Gatte schön gewachsen und hübsch; ist sie gekrümmt, so heiratet man eine häßliche Person. Bleibt Erde an den Fasern der Wurzel hängen, ist die Ehe glücklich und fruchtbar; eine glatte und dünne Wurzel deutet darauf, daß man nicht lange verheiratet bleibt. Die Aussichten auf künftige Heiraten veranlaßten lautes Lachen und manchen Scherz. »Armer Will Haverel!« rief Muirland, während er auf die Wurzel blickte, die ein junger Bursche in der Hand hielt. »Du bekommst eine bucklige Frau; dein Kail gleicht dem Schwanz meines Schweines.« Dann setzten sie sich in einen Kreis und versuchten, wie die Wurzeln schmeckten. Eine bittere Wurzel deutet auf ein garstiges Ehegemahl; eine süße Wurzel auf einen schwachsinnigen Mann oder eine ebensolche Frau; eine wohlriechende Wurzel auf einen Gatten von fröhlichem Wesen. Dann kam das tap-pickle. Die jungen Mädchen gingen mit verbundenen Augen auf ein Feld, und jedes pflückte drei Getreideähren. Fehlt in einer derselben das Korn, so weiß man, daß der zukünftige Mann eine vor der Ehe begangene Schwäche zu verzeihen hat. O Nelly! Nelly! Deinen drei Ähren fehlte ihr tap-pickle, und man wird dich nicht mit Spöttereien verschonen! Du hattest gestern noch auf dem Heuboden eine lange, lange Unterredung mit Robert Luath. Muirland blickte die Mädchen an, ohne Anteil an ihrem Spiel zu nehmen. »Die Nüsse! Nüsse!« rief man nun. Aus einem Korb wurde ein Sack mit Nüssen hervorgezogen, und man näherte sich dem Feuer. Jeder nahm eine Nuß. Man stellte sich paarweise auf und gab der Nuß, die man gewählt hat, seinen eigenen Namen. Dann legte das Paar die Nüsse in das Feuer. Wenn die beiden Nüsse friedlich nebeneinander brennen, so wird die Ehe lange dauern und friedlich sein; wenn aber die Nüsse knacken und beim Verbrennen auseinanderspringen, so wird Unfrieden in der Ehe herrschen, und sie wird bald getrennt werden. Es schlug ein Uhr, und noch waren die Bauern nicht müde, ihre Orakel zu befragen. Die Spunkies begannen sich im Schilf zu regen. Die jungen Mädchen zitterten. Eine Wolke zog vor den Mond, welcher hoch am Himmel stand. Man befragte jetzt den Erdtopf, man blies das Licht aus, man schnitt Äpfel und gab sich noch manch anderer Zauberei hin. Willie Maillie, eins der hübschesten Mädchen, tauchte dreimal seine Hand in das Wasser der Doon und rief dabei: »Mein künftiger Mann, den ich noch nicht sehen kann, wo du bist, sag mir an. Meine Hand nimm an.« Dreimal wiederholte sie den Zauberspruch; da stieß sie plötzlich einen lauten Schrei aus. »Ach, gerechter Gott! Der Spunkie hat meine Hand ergriffen!« schrie sie. Man eilte zu ihr, und alle schrien, nur nicht Muirland. Das Mädchen zeigte seine blutende Hand; die, welche durch lange Übung geschickt in der Deutung solcher Orakel waren, kamen dahin überein, daß die Verwundung keineswegs, wie Muirland behauptete, durch Dornen hervorgebracht wäre, sondern daß die Hand des jungen Mädchens tatsächlich die Spuren der spitzigen Krallen eines Spunkie zeige. Maillie würde also einen sehr eifersüchtigen Mann erhalten. Der verwitwete Pächter hatte viel getrunken. »Einen Eifersüchtigen!« schrie er. Er glaubte in dieser Deutung eine Anspielung auf die Geschichte seiner Ehe zu erkennen. »Was mich betrifft«, fuhr Muirland fort und leerte eine Kanne, welche bis zum Rande mit Whisky gefüllt war, »so will ich mich hundertmal lieber mit dem Spunkie vermählen, als nochmals heiraten. Ich habe erfahren, was es heißt, in Fesseln zu leben. Lieber will ich mich mit einem Affen, einer Katze oder einem Teufel in eine Flasche einschließen lassen. Ich bin auf meine arme Tuilzie eifersüchtig gewesen und hatte damit vielleicht unrecht; doch was soll man tun, wenn man sich gegen die Eifersucht schützen will? Wo ist das Weib, welches nicht einer ewigen Aufsicht bedürfte? Ich schlief des Nachts nicht, verließ sie den ganzen Tag nicht und schloß keine Minute die Augen. Mein Gut ging zurück, alles ging zugrunde. Tuilzie selbst welkte dahin. Fünf Millionen Teufel mögen die Ehe holen!« Einige lachten, andere ärgerten sich und schwiegen. Nun sollte der Zauber mit dem Spiegel versucht werden. Hierbei stellt man sich mit einem Licht in der Hand vor einen kleinen Spiegel, haucht dreimal auf das Glas und wischt es dann ab, indem man dreimal wiederholt: »Komm heran, mein Mann!« oder »Daß ich dich schau’, meine Frau!« Dann zeigt sich über der linken Schulter der Person, die das Schicksal befragt, deutlich eine Gestalt, und zwar die der Gattin oder des Gatten. Niemand wagte nach dem, was Maillie zugestoßen war, noch ferner die übernatürlichen Mächte zu befragen. Die Wellen der Doon murmelten im Schilf; ein langer Silberschein, welcher in der Ferne auf dem Wasser schimmerte, war in den Augen der Landleute die leuchtende Spur der Skelpies oder Wassergeister. Muirlands Pferd, ein kleines Tier mit schwarzem Schweif und weißer Brust, wieherte laut, was stets ein Zeichen dafür ist, daß ein böser Geist in der Nähe weilt. Die Luft wurde kühl, die Halme des Schilfs wiegten sich rauschend im Wind. Alle Frauen begannen von der Rückkehr zu sprechen; sie tadelten ihre Männer und Brüder, daß sie zuviel tränken, rieten ihren Vätern, sich nicht länger der frischen Nachtluft auszusetzen. »Nun! Wer von euch will in den Spiegel blicken?« fragte Muirland. Niemand antwortete. »Ihr habt wenig Mut«, fuhr er dann fort. »Der Hauch des Windes macht euch zittern. Was mich betrifft, so will ich keine Frau haben, wie ihr wißt, weil ich schlafen will und meine Augen sich nicht schließen wollen, wenn ich verheiratet bin; daher darf ich nicht in den Spiegel sehen.« Als aber niemand den Spiegel ergreifen wollte, nahm Jock Muirland ihn doch zur Hand. »Ich werde euch ein Beispiel geben.« Mit diesen Worten nahm er den Spiegel; das Licht wurde angezündet, und mutig wiederholte er die Zauberworte. »Daß ich dich schau’, meine Frau!« Sofort zeigte sich über Muirlands Schulter ein bleicher Kopf mit blondem Haar. Er erbebte und blickte sich um, um sich zu überzeugen, daß keins der jungen Mädchen hinter ihm stehe. Allein niemand hatte gewagt, die Rolle des Gespenstes zu spielen, und obschon der Spiegel den Händen des Pächters entglitten war und zerbrochen auf der Erde lag, zeigte sich doch noch immer über seiner Schulter der bleiche Kopf mit dem flammend blonden Haar. Muirland stieß einen lauten Schrei aus und warf sich mit dem Gesicht auf den Boden. Alle Anwesenden flohen und zerstreuten sich nach den verschiedensten Seiten wie Blätter im Wind. An der Stelle, wo sie sich ihren ländlichen Freuden hingegeben hatten, blieben nur Reste des Festes, das halb erloschene Feuer, die geleerten Krüge und Flaschen – und Muirland, der mit dem Gesicht noch immer auf dem Boden lag. Der Wind heulte und ließ jenes lange Pfeifen hören, welches die Schotten mit dem Ausdruck sugh bezeichnen. Muirland erhob sich und blickte über seine Schulter – noch immer sah er den Kopf; er lächelte dem Bauern zu, sagte aber kein Wort, und Muirland vermochte nicht zu erkennen, ob dieser Kopf einem menschlichen Körper angehöre, denn er zeigte sich ihm stets nur über die Schulter. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen. Er versuchte eine Unterhaltung mit dem höllischen Wesen anzuknüpfen, er sprach sich selbst Mut zu, doch umsonst – sobald er die bleichen Züge und die flammenden Locken erblickte, zitterte er am ganzen Körper. Da floh er in der Hoffnung, sich so von diesem schrecklichen Wesen befreien zu können. Er eilte zu seinem Pferd, band es los und wollte den Fuß in den Steigbügel setzen, als er sich noch einmal umblickte. O Grausen! Noch immer war der Kopf neben ihm, schien sein unzertrennlicher Begleiter geworden zu sein. Er war an seine Schulter geheftet, gleich jenen Köpfen, welche gotische Bildhauer bisweilen an der Spitze einer Säule oder in der Ecke eines Gesimses anbrachten. Das Pferd des Bauern schnaubte; es teilte das Grausen seines Herrn. Der Spunkie, denn einer von diesen Bewohnern des Schilfes der Doon mußte es sein, der den Pächter verfolgte, richtete zwei flammende Augen auf Muirland, sooft dieser sich umblickte. Tiefblau waren diese Augen, keine Wimpern beschatteten, kein Augenlid milderte ihren unheimlichen Glanz. Beide Sporen schlug der Bauer dem Pferd in die Seiten, das davonjagte; immer wieder mußte er sich umdrehen, mußte sich überzeugen, ob seine Verfolgerin noch da war, und sie verließ ihn nicht; er galoppierte dahin. Muirland wußte nicht mehr, welchen Weg er verfolgte, welchem Ziel sein Pferd ihn entgegenführte. Er hatte nur einen Gedanken, den an den Spunkie, der ihn nicht verließ. Der Himmel überzog sich mit schwarzen Wolken. Der Wind heulte, als hätte er die Toten aufwecken wollen; der Regen klatschte. Flüchtige Blitze durchzuckten die Wolken. Der Donner glich einem dumpfen und lauten Gebrüll. Die Wut des Ungewitters steigerte sich mit jedem Augenblick; die Doon trat aus ihren Ufern, und Muirland erkannte, nachdem er eine Stunde galoppiert war, daß er an dieselbe Stelle zurückgekehrt war, von der er weggeritten war. Er jagte weiter. Die Kirche von Cassilis lag vor ihm. Eine Feuersbrunst schien ihre alten Pfeiler zu verzehren; Flammen schlugen aus den Fensterlöchern, und die Bildwerke erschienen in ihrer ganzen Schönheit auf dem unheimlich hellen Hintergrunde. Das Pferd wollte nicht weiter; allein der Pächter, dessen Vernunft nicht mehr sein Tun leitete, der die Last des furchtbaren Kopfes auf seinen Schultern zu fühlen glaubte, schlug dem armen Tiere so heftig die Sporen in die Seiten, daß es weiterraste. »Jock«, sagte eine sanfte Stimme, »heirate mich, und du wirst dich nicht mehr fürchten.« »Heirate mich«, wiederholte der Spunkie. Indes jagten sie auf die flammende Kirche zu. Am Weiterreiten durch die zerbrochenen Pfeiler und die zu Boden gestürzten Steinbilder der Heiligen gehindert, stieg Muirland vom Pferde. Mit festen Schritten trat er in die Kirche, deren Decke der Himmel bildete, aus welchem jene infernalischen Flammen kamen. Ein neues Schauspiel erwartete ihn hier. Eine Gestalt kauerte in der Mitte des Schiffes und trug auf ihrem gekrümmten Rücken ein achteckiges Gefäß, aus welchem eine grüne und rote Flamme hervorzüngelte. Der Hochaltar zeigte seinen alten Zierat aus der katholischen Zeit. Dämonen mit flammendem Haar, das sich auf ihrem Kopf sträubte, standen auf dem Altar und vertraten die Stellen der Kerzen. Alle grotesken und höllischen Gestalten, welche je die Einbildungskraft eines Malers oder Dichters erfunden hat, drängten sich durcheinander, liefen, rannten, flogen und schwebten. Im Gestühl der Domherren saßen ernste Gestalten in der Tracht ihres Standes. Die Hände, welche sie auf ihre Gebetbücher gelegt hatten, waren die Hände von Skeletten, und in ihren eingesunkenen Augen war keine Spur von Leben. Dämonen parodierten die heilige Messe. Vierzig von diesen Kobolden hielten schottische Dudelsackpfeifen von verschiedener Größe in den Händen. Ein ungeheurer schwarzer Kater, der auf einem Thron saß, den etwa zwölf von jenen Geistern umstanden, gab mit einem langgedehnten Miauen den Takt an. Diese höllische Symphonie ließ alles erbeben, was noch von der halb zerstörten Kirche übrig war, und von Zeit zu Zeit fiel ein Stein herab. Schöne Skelpies lagen während dieses Lärmens auf den Knien; man hätte sie für reizende Jungfrauen halten können, hätte nicht der Schweif unter dem Saum ihres Gewandes hervorgeguckt. Mehr als fünfzig Spunkies, die ihre Flügel teils ausbreiteten, teils zusammenlegten, tanzten oder ruhten. In den Nischen der Heiligen, die um das Schiff angebracht waren, standen offene Särge, in denen die Toten in ihrem weißen Leichengewand lagen und eine brennende Kerze in der Hand hielten. Was die Skulpturen betrifft, welche an den Pfeilern angebracht waren, so werde ich mich mit ihrer Beschreibung nicht befassen. Alle seit zwanzig Jahren in Schottland begangenen Verbrechen hatten das Ihrige dazu beitragen müssen, diese den Dämonen überlieferte Kirche zu schmücken. Man sah dort den Strang des Gehängten, das Messer des Mörders, die schrecklichen Überreste der Kindsmörderin, Herzen von Bösewichtern, die im Laster schwarz geworden waren, und weiße Haare von Vätern, welche noch an der Schneide des vatermörderischen Dolches klebten. Muirland blieb stehen und wandte sich um, das Antlitz, das ihn bei seinem Ritt begleitet hatte, befand sich noch immer auf seinem Posten. Eins von den Ungeheuern, welche den höllischen Gottesdienst zu versehen hatten, ergriff ihn bei der Hand; er ließ alles mit sich geschehen. Man führte ihn zum Altar, und er folgte willig seinem Führer. Man kniete nieder, und er kniete ebenfalls nieder; man sang wunderliche Hymnen, er aber hörte nicht; starr blieb er stehen und erwartete sein Schicksal. Indes wurden die höllischen Gesänge immer lauter; die Spunkies, welche das Ballett bildeten, drehten sich schneller in ihrer höllischen Runde; die Dudelsackpfeifen gellten, schnarrten, heulten und pfiffen. Muirland wandte wieder den Kopf, seine Begleiterin war verschwunden. Als sich aber seine geblendeten und verwirrten Blicke auf die Gegenstände richteten, welche ihn umgaben, war er sehr erstaunt, ein junges Mädchen zu erblicken, das auf einem Sarg neben ihm kniete und dessen Gesicht vollkommen dasselbe war, wie das des Gespenstes, welches ihn verfolgt hatte. Ein kurzes schottisches Hemd von feiner grauer Leinwand fiel kaum bis auf die Hälfte der Schenkel hinab. Man sah weiße Schultern, über welche blondes Haar herabfiel, einen jungfräulichen Busen, dessen Reize durch die Leichtigkeit der Kleidung erhöht wurden. Muirland war aufgeregt; diese so anmutigen und so zarten Formen standen im Widerspruch zu allem, was ihn umgab. Das Skelett, welches die Messe nachäffte, ergriff mit seinen gekrümmten Fingern Muirlands Hand und legte sie in die des jungen Mädchens. Muirland glaubte jetzt in der Berührung der seltsamen Braut den kalten Biß zu erkennen, welchen das Volk den Spunkies zuschreibt. Das war zuviel; er schloß die Augen und wurde halb ohnmächtig. Er glaubte zu fühlen, wie Geisterhände ihn auf sein treues Tier setzten, welches vor der Tür der Kathedrale wartete; allein seine Wahrnehmungen waren dunkel, unbestimmt seine Empfindungen. Was weiter geschah, wußte der Pächter nicht, der sich am nächsten Morgen in seinem Bett wiederfand und erstaunt war, als man ihm sagte, daß er in der Nacht des Hallowe’en eine Reise in das Hochland angetreten habe und einige Tage darauf mit dem jungen Weib zurückgekehrt sei, das er an seinem Bett sitzen sah. Er rieb sich die Augen und glaubte zu träumen, dann aber wollte er die betrachten, die er gewählt hatte, ohne zu wissen, und die nun Frau Muirland geworden war. Wie hübsch war sie! Welch sanftes Licht strahlte aus ihren glänzenden Augen! Doch überraschten Muirland diese großen Augen. Er sah keine Augenlider, große dunkelblaue Kreise zeigten sich unter den schwarzen Bogen der Augenbrauen, deren Schwung von bewundernswürdiger Leichtigkeit war. Muirland seufzte; die undeutliche Erinnerung an den Spunkie, an seinen nächtlichen Ritt und seine schreckliche Hochzeit in der Kathedrale wurde in ihm wach. Während er seine neue Gattin betrachtete, glaubte er, wenn auch gemildert, bei ihr alle charakteristischen Züge eines übernatürlichen Wesens zu erkennen. Die Finger des jungen Weibes waren lang und dünn, ihre Nägel lang und schmal, ihr blondes Haar reichte bis auf die Erde. Er versank in tiefe Gedanken; indes sagten alle seine Nachbarn zu ihm, daß die Familie seiner Frau in den Hochlanden wohne, daß er gleich nach der Hochzeit von einem heftigen Fieber ergriffen und es daher kein Wunder sei, wenn jede Erinnerung an die Trauung seinem Geiste entfallen wäre; bald aber würde er sich mit seiner Frau glücklich fühlen, denn sie sei schön, sanft und eine gute Hausfrau. »Sie hat aber keine Augenlider!« rief Muirland. Man lachte ihm ins Gesicht und behauptete, daß er noch immer an Fieberphantasien litte. Außer dem Pächter bemerkte niemand diese sonderbare Eigentümlichkeit. Die Nacht kam; es war für Muirland die Hochzeitsnacht; denn bisher war er nur dem Namen nach Ehemann gewesen. Die Schönheit seiner Frau hatte ihn erregt. Er gelobte sich, seiner Angst zu trotzen und das wunderbare Geschenk zu genießen, welches der Himmel oder die Hölle ihm gesandt hatte … Muirland erwachte, denn es war ihm, als hätte ein plötzlicher Sonnenstrahl das Zimmer erleuchtet, in welchem das eheliche Bett stand. Er fuhr rasch empor und erblickte die funkelnden Augen seiner Gattin, die sich zärtlich auf ihn richteten. »Verdammt!« rief er. »Mein Schlaf ist eine Beleidigung deiner Schönheit!« Er sagte zu Spellie, so hieß die junge Gattin, tausend liebenswürdige und zärtliche Dinge, auf welche das junge Mädchen aus den Bergen so gut sie konnte antwortete. Der Morgen brach an, und Spellie hatte noch nicht geschlafen. Wie sollte sie auch schlafen? fragte sich Muirland. Sie hat ja keine Lider. Die Sonne stand am Himmel. Muirland war bleich und erschöpft; die Augen der jungen Gattin strahlten feuriger als je. Morgens ergingen sie sich an den Ufern der Doon. Das junge Weib war so schön, daß der Bauer trotz des Fiebers, von welchem er ergriffen war, es nicht ohne Bewunderung betrachten konnte. »Jock«, sagte sie zu ihm, »ich liebe dich ebensosehr, wie du Tuilzie geliebt hast; alle jungen Mädchen beneiden mich. Sei du auf deiner Hut, denn ich bin eifersüchtig und werde dich sorgsam bewachen.« Muirlands Küsse unterbrachen ihre Worte; auf den Tag folgte eine neue Nacht, und während jeder Nacht wurde der Bauer durch Spellies glühende Augen seinem Schlummer entrissen; seine Kräfte erlagen dabei. »Aber, Liebste«, fragte Jock seine Frau, »schläfst du denn nie?« »Ich, schlafen?« »Ja, schlafen! Ich glaube, du hast, seit wir verheiratet sind, noch keinen Augenblick geschlafen.« »In meiner Familie ist es nicht Sitte, zu schlafen.« Die blauen Augen des jungen Weibes strahlten ein noch glühenderes Licht aus als vorher. »Sie schläft nicht!« rief der Bauer verzweifelt. »Sie schläft nicht!« Erschöpft und entsetzt sank er in die Kissen zurück. »Sie hat keine Augenlider, sie schläft nicht!« wiederholte er. »Ich werde nicht müde, dich anzusehen«, sagte Spellie, »und ich werde ein wachsames Auge auf dich haben.« Der arme Muirland! Die schönen Augen seiner Gattin ließen ihm keine Ruhe. Sie glichen ewig funkelnden Gestirnen, die ihn blendeten. Mehr als dreißig Balladen auf Spellies schöne Augen wurden von den Dichtern der Gegend gemacht. Was aber Muirland betraf, so verschwand er eines Tages. Drei Monate waren verflossen; die Marter, welche der Pächter erduldete, hatte seine Kräfte erschöpft; er glaubte, daß die Feuerblicke seiner Gattin ihn versengten. Mochte er auf das Feld gehen oder zu Hause bleiben oder sich in die Kirche begeben, stets traf ihn der schreckliche Strahl ihrer Augen, und ihr Glanz drang bis in das Innerste seines Wesens, ließ ihn erbeben und erfüllte ihn mit Schauder. Er verwünschte endlich die Sonne und floh den Tag. Dieselbe Marter, welche die arme Tuilzie erduldet, war nun sein Los geworden; anstatt jener inneren Unruhe, welche ihn während seiner ersten Ehe zum Henker seines jungen Weibes gemacht hatte, und welche von den Männern Eifersucht genannt wird, befand er sich jetzt unter dem physischen und forschenden Einfluß eines Auges, welches sich nimmer schloß; es war das auch Eifersucht, allein eine greifbar gewordene Eifersucht. Er verließ sein Landgut, ging über das Meer und eilte in die Wälder Nordamerikas, wo schon so mancher seines Volkes einen neuen Wohnsitz gesucht und eine friedliche Hütte gebaut hatte. Die Savannen des Ohio boten ihm ein sicheres Asyl, wie er glaubte; lieber wollte er als armer Kolonist leben, lieber sich mit grober und kärglicher Nahrung sättigen, als sich unter seinem schottischen Dach von einem eifersüchtigen und stets geöffneten Auge fortwährend quälen zu lassen. Nachdem er ein Jahr in dieser Einsamkeit zugebracht hatte, segnete er sein Los, fand er doch Ruhe inmitten dieser fruchtbaren Natur. Er unterhielt keinen Briefwechsel mit der Heimat, da er fürchtete, er könnte Nachrichten von seiner Frau erhalten; in seinen Träumen sah er noch bisweilen jenes stets geöffnete Auge, jenes Auge ohne Wimpern, und schrak dann heftig zusammen; allein das war auch alles, was er zu leiden hatte; er überzeugte sich bald, daß das stets wachsame und furchtbare Auge nicht mehr in seiner Nähe war, ihn nicht mehr durch seine unerträgliche Glut versengte. Die Narraghansetts, der nächste Stamm der Wilden, hatten als Sachem oder Häuptling einen kränklichen Greis namens Massasoit, der sehr friedlich war und dessen Wohlwollen sich Jock Muirland besonders dadurch zu erhalten wußte, daß er ihn bisweilen mit Branntwein bewirtete. Massasoit wurde krank; sein Freund besuchte ihn in seiner Hütte. In der Hütte dieses armseligen Palastes brannte ein Feuer, Büffelhäute lagen auf der Erde, und auf einer derselben kauerte der alte kranke Häuptling; die größten Zauberer des Stammes heulten, schrien und machten einen Lärm, durch welchen der Kranke nur noch elender gemacht werden mußte, einen Lärm, der selbst einen Gesunden hätte krank machen können. Der Medizinmann leitete den Chor und den Trauertanz; der Wald erscholl von dem Lärm, welchen diese wunderliche Feierlichkeit veranlaßte; den Gottheiten des Landes wurden Opfer und Gebete dargebracht. Sechs junge Mädchen waren damit beschäftigt, die nackten und kalten Glieder des Greises zu reiben. Eins von ihnen, ein sehr hübsches Mädchen von kaum sechzehn Jahren, weinte bei dieser Arbeit. Der Schotte erkannte, daß diese ganze Behandlungsweise nur Massasoits Tod bewirken würde. Als Europäer und Weißer galt er für einen geborenen Arzt. Er benutzte das Ansehen, welches er in dieser Hinsicht hatte, entfernte die Lärmenden und näherte sich dem Häuptling. »Wer kommt zu mir?« fragte der Greis. »Jock, der weiße Mann.« »Oh!« versetzte der Häuptling und reichte ihm die vertrocknete Hand. »Wir werden uns nicht wiedersehen, Jock.« Obgleich Jock wenig medizinische Kenntnisse hatte, so bemerkte er doch ohne Mühe, daß der Häuptling an einer einfachen Verdauungsstörung litt; er kam ihm zu Hilfe, befahl, daß man um ihn her schweige, setzte ihn auf eine kärgliche Diät und bereitete ihm dann ein ausgezeichnetes schottisches Gericht, welches die Stelle einer Arznei vertreten mußte. In drei Tagen war Massasoit wieder hergestellt. Das Heulen der Indianer und die Tänze begannen von neuem; allein dieses Mal drückten die Hymnen der Wilden nur noch die Gefühle des Danks und der Freude aus. Massasoit ließ Jock in seiner Hütte sich setzen, reichte ihm seine Pfeife und zeigte ihm seine Tochter Anauket, das jüngste und hübscheste von den Mädchen, welche Muirland in der Hütte gesehen hatte. »Du hast kein Weib«, sagte der alte Krieger zu ihm; »nimm meine Tochter und ehre mein weißes Haupt.« Jock erbebte; er dachte an Tuilzie und Spellie, er dachte daran, wie schlecht ihm seine früheren Heiraten gelungen waren. Allein das junge Mädchen war sanft und gehorsam. Eine Heirat in einer einsamen Gegend ist nur mit wenig Förmlichkeiten verknüpft und pflegt ebensowenig nachteilige Folgen für einen Europäer zu haben. Jock fügte sich daher, und die schöne Anauket gab ihm keinen Grund, seine Wahl zu bereuen. Es war an einem schönen Herbstmorgen, am achten Tage ihrer Vereinigung, als beide im Boot den Ohio hinunterfuhren. Jock hatte seine Jagdflinte mitgenommen. Anauket war an solche Züge gewöhnt, da das Leben des Wilden zum größten Teil aus ihnen besteht, weshalb sie ihren Mann unterstützte und ihm half. Das Wetter war prachtvoll; die Ufer des schönen Flusses boten den Liebenden bezaubernde Aussichten dar; Jock bemerkte ein Perlhuhn mit strahlenden Flügeln, er zielte, schoß, und der tödlich getroffene Vogel fiel in dichtes Gebüsch. Muirland wollte eine so schöne Beute nicht verlieren, band sein Boot an und stieg an Land, um den Vogel zu suchen. Vergebens durchstreifte er das Gebüsch; seine schottische Hartnäckigkeit trieb ihn immer tiefer und tiefer in den Wald. Bald sah er sich zwischen hohen Bäumen, als plötzlich ein strahlendes Licht durch das Laub fiel und bis zu ihm drang. Er zitterte. Das unerträgliche Licht zwang ihn, seine Augen zu schließen. Das Auge ohne Lid blickte ihn an. Spellie war über das Meer gekommen, hatte die Spur ihres Mannes gefunden und seine Fährte verfolgt; sie hatte ihr Wort gehalten, und ihre furchtbare Eifersucht überhäufte Muirland bereits mit gerechten Vorwürfen. Er eilte ans Ufer, verfolgt von dem lidlosen Auge, erblickte die reinen und klaren Wellen des Ohio und stürzte sich in seiner Angst in die Flut. Das war das Ende Jock Muirlands. Der Fall Chugoro von Lafcadio Hearn Lafcadio Hearn (1850-1904) stammte aus England, wo er sich als Schrittsteller bereits einen Namen gemacht hatte, bevor er 1890 nach Japan ging, eine Japanerin heiratete und sich neutralisieren ließ. Er lehrte als Dozent für englische Literatur an der Universität Tokio. In vielen Büchern versuchte er, seine Wahlheimat den Europäern nahezubringen. Die vorliegende Erzählung aus dem Band »Japanische Geistergeschichten« wurde von Gustav Meyrink übersetzt. Vor langer Zeit lebte im Koishi-Kawa-Quartier von Yedo ein Hatamoto namens Suzuki, dessen Yashiki an der Sandbank des Yedogawa lag, nicht weit von der Brücke, die Nakano-hashi heißt. Unter den Soldaten dieses Suzuki befand sich auch ein Ashigaru – ein Gefreiter –, ein gewisser Chugoro. Chugoro war ein hübscher Bursche, sehr liebenswürdig und anstellig und ungemein beliebt bei seinen Kameraden. Viele Jahre hindurch blieb Chugoro in den Diensten des Suzuki und führte sich so gut auf, daß kein Tadel an ihm haftete. Endlich entdeckten die anderen Ashigarus, daß Chugoro die Gewohnheit angenommen hatte, die Yashiki allnächtlich zu verlassen, und zwar auf dem Wege durch den Garten, um erst knapp vor Tagesgrauen zurückzukehren. Anfangs schwiegen sie dazu, da sich solches seltsame Unterfangen nicht mit den vorgeschriebenen Pflichten vertrug, und nahmen an, irgendein Liebesabenteuer stecke dahinter. Nach einiger Zeit jedoch fing Chugoro an, blaß und kränklich auszusehen, und da seine Kameraden eine ernstliche Torheit befürchteten, beschlossen sie, ihn auszufragen und ihm Vorstellungen zu machen. Dementsprechend nahm ein älterer Ashigaru Chugoro, als er sich eben wieder heimlich fortschleichen wollte, beiseite und sagte: »Chugoro, mein Junge, wir wissen gar wohl, daß du jede Nacht ausgehst und bis zum frühen Morgen fortbleibst! – Wir haben auch bemerkt, daß du elend aussiehst! Wir fürchten, du bist in schlechte Gesellschaft geraten und untergräbst deine Gesundheit! – Wenn du uns nicht triftige Gründe für dein Benehmen angibst, müssen wir es als Pflicht ansehen, den Vorfall dem Offizier zu melden. – Ob nun so oder so, da wir Kameraden und Freunde sind, ist es auf alle Fälle nur recht und billig, daß wir erfahren, warum du nachts das Haus verläßt, trotzdem das im Widerspruch mit den dienstlichen Vorschriften steht.« Chugoro geriet bei diesen Worten gänzlich außer Fassung. Nach kurzem Schweigen ging er seinem Kameraden voran in den Garten, und als sie außer Hörweite waren, blieb Chugoro stehen und sagte: »Jetzt will ich dir alles erzählen; aber ich muß dich bitten, strengstes Stillschweigen gegenüber jedermann zu bewahren; wenn du weitererzählst, was ich dir jetzt anvertrauen werde, stürzest du mich in unsagbares Unglück! Es war im Vorfrühling dieses Jahres, etwa vor fünf Monaten, da ging ich das erstemal des Nachts aus, und zwar wegen eines Liebesabenteuers. Eines Abends nämlich, als ich nach einem Besuch bei meinen Eltern zur Yashiki zurückkehrte, sah ich ein Frauenzimmer am Flußufer nicht weit vom Haupttor stehen. Sie war wie eine Person von Rang gekleidet, und ich wunderte mich nicht wenig, daß eine so fein gekleidete Frau allein dort stehen konnte und noch dazu zu so später Stunde. Ich sagte mir aber, daß ich deswegen noch kein Recht hätte, sie anzusprechen, und ich wollte gerade stumm an ihr vorübergehen, als sie einen Schritt vorwärts machte und mich am Ärmel faßte. Dabei sah ich, daß sie sehr jung und schön war. ›Möchtest du nicht mit mir nur bis zur Brücke dort gehen?‹ fragte sie mich. ›Ich habe dir etwas zu sagen!‹ Ihre Stimme war ungemein weich und einschmeichelnd, und dabei lächelte sie, während sie sprach, und ihrem Lächeln war schwer zu widerstehen. So ging ich denn mit ihr zur Brücke, und auf dem Weg erzählte sie mir, sie hätte mich oft gesehen, wie ich in der Yashiki aus und ein gegangen sei, und sie habe eine Vorliebe für mich gefaßt. – ›Ich wünsche dich zum Gatten zu haben‹, sagte sie. ›Wenn du mich liebhaben kannst, so werden wir einander sehr glücklich machen können.‹ Ich wußte zuerst nicht, was ich ihr darauf antworten sollte; gedacht habe ich mir: Sie ist entzückend! Als wir uns der Brücke näherten, faßte sie mich wieder am Ärmel und führte mich den Damm hinunter zum Flußufer. ›Komm mit mir hinein‹ flüsterte sie und zog mich zum Wasser hin. – Du weißt, Kamerad, es ist dort sehr tief, und ich bekam auf einmal Angst vor ihr und versuchte umzukehren. Sie aber lächelte nur, faßte mich am Handgelenk und sagte: ›Oh, fürchte dich doch nicht vor mir!‹ Und wie sie mich so hielt, wurde ich hilflos wie ein Kind. Ich kam mir vor wie ein Mensch, der im Traum davonlaufen will, aber plötzlich weder Hand noch Füße regen kann. – Sie stieg in das tiefe Wasser und zog mich mit, und ich sah und hörte und fühlte nichts mehr, bis ich bemerkte, daß ich neben ihr durch Räume schritt, die ein großer Palast, voll von Licht, zu sein schienen. – Ich fühlte weder Nässe noch Kälte, alles rings um mich war trocken, warm und herrlich schön. Ich konnte weder begreifen, wo ich mich befand, noch, wie ich überhaupt hierhergekommen war. Die Frau führte mich noch immer an der Hand, und wir gingen von einem Saal durch den anderen, durch viele, viele Zimmer; alle waren leer, aber wunderschön – bis wir schließlich in einen Gastraum mit tausend Matten kamen. Vor einem großen Alkoven, am äußersten Ende, brannten Lichter, und Kissen lagen umher wie für ein Fest, aber ich sah keine Gäste. Sie führte mich sodann auf den Ehrenplatz im Alkoven, setzte sich mir gegenüber und sagte: ›Dies ist mein Heim. Glaubst du, du könntest glücklich mit mir werden?« – Und als sie mich so fragte, lächelte sie dabei, und ich dachte mir, daß ihr Lächeln schöner sei als irgend etwas in der Welt, und aus tiefstem Herzen heraus antwortete ich: ›Ja …‹ Und im selben Augenblick erinnerte ich mich an die Geschichte von Urashima, und der Gedanke kam mir, sie müsse die Tochter eines Gottes sein; aber ich scheute mich, sie zu fragen. Gleich darauf kamen Dienerinnen herein, brachten Reiswein und viele Gerichte und stellten sie vor uns auf. Dann sagte die Frau zu mir: ›Heute nacht soll unsere Brautnacht sein, weil du mich liebhast, und dies ist unser Hochzeitsfest.‹ Und wir gelobten einander an für die Zeit von sieben Existenzen, und nach dem Bankett geleitete man uns in ein Brautgemach, das für uns bereitet war. – Es war noch sehr früh am Morgen, da weckte sie mich und sagte: ›Geliebter, du bist jetzt wirklich und wahrhaftig mein Gatte, aber aus Gründen, die ich dir nicht sagen kann und nach denen du mich auch nicht fragen darfst, ist es notwendig, daß unsere Ehe ein Geheimnis bleibt. Dich hierzubehalten, bis der Tag angebrochen ist, würde uns beiden das Leben kosten! Deshalb bitte ich dich, sei nicht böse, daß ich dich jetzt zurückschicken muß in das Haus deines Herrn. Du kannst heute nacht wieder zu mir kommen und von da an jede Nacht und immer um dieselbe Stunde, in der wir uns das erstemal begegnet sind. Warte immer an der Brücke auf mich – und du wirst nie lange zu warten brauchen! – Halte aber fest im Gedächtnis, daß vor allen Dingen unsere Ehe geheimgehalten werden muß, denn sprichst du darüber, so werden wir wahrscheinlich für immer getrennt.« Und ich versprach ihr, gehorsam zu sein in allen Dingen – ich mußte an das Schicksal Urashimas denken –, und sie geleitete mich durch die vielen Zimmer – alle leer und schön – zum Eingang zurück. Dort nahm sie mich wieder beim Handgelenk, und plötzlich wurde alles dunkel vor meinen Augen, und ich wußte nichts mehr von mir, bis ich mich allein am Flußufer stehend fand, dicht neben der Brücke Nakano-hashi. Als ich in die Yashiki zurückging, hatten die Tempelglocken noch nicht zu läuten angefangen. – Abends ging ich wieder zur Brücke – um die bestimmte Stunde –, und sie wartete dort bereits auf mich. – Wieder wie das erstemal zog sie mich in das tiefe Wasser und führte mich an den wundersamen Ort, wo wir unsere Brautnacht gefeiert hatten. – Und jede Nacht seitdem habe ich sie getroffen und bin denselben Weg mit ihr gegangen. – Auch heute nacht wartet sie sicherlich auf mich, und lieber möchte ich sterben, als ihr eine Enttäuschung bereiten, darum muß ich jetzt gehen. Aber nochmals laß dich bitten, Kamerad, sag niemand auch nur ein Wort von dem, was ich dir anvertraut habe!« Der alte Ashigaru war ebenso erstaunt wie beunruhigt durch diese Erzählung. Instinktiv fühlte er, daß Chugoro ihm die Wahrheit gesagt hatte; aber diese Wahrheit eröffnete böse Ausblicke. Möglicherweise war das Erlebnis Chugoros nichts als Sinnestäuschung, vielleicht aber eine von finsteren Mächten zu verderblichen Zwecken herbeigeführte Sinnestäuschung! War der junge Mensch nun tatsächlich behext oder nicht, jedenfalls war er zu bemitleiden und nicht zu tadeln; Gewalt anzuwenden war keinesfalls am Platze – deshalb erwiderte der Ashigaru freundlich: »Ich werde niemals über das sprechen, was du mir anvertraut hast, niemals, vorausgesetzt, daß du gesund und am Leben bleibst. Geh und suche das Weib auf, aber – hüte dich vor ihr! Ich fürchte, ein böser Geist hat dich in seine Netze gelockt.« Chugoro lächelte nur über diese Warnung seines alten Kameraden und eilte davon. Einige Stunden später kehrte er mit seltsam verstörter Miene in die Yashiki zurück. »Hast du sie getroffen?« fragte flüsternd der Ashigaru. »Nein«, erwiderte Chugoro, »sie war nicht dort. Das erstemal, daß sie nicht gekommen ist! Ich glaube, sie kommt nie mehr wieder! Ich hätte dir die Sache nicht erzählen sollen! – Narr, der ich war, mein Versprechen nicht zu halten …« Der Ashigaru versuchte vergebens, ihn zu trösten. Chugoro legte sich nieder und sprach kein Wort mehr. Er zitterte am ganzen Leibe wie von Kälte durchschauert. Als die Tempelglocken die erste Morgenstunde verkündeten, versuchte Chugoro aufzustehen, fiel aber bewußtlos zurück. Er war sichtlich krank – todkrank. Ein chinesischer Arzt wurde geholt. »Was ist das? Der Mann hat ja kein Blut mehr …«, rief er aus, als er Chugoro sorgfältig untersucht hatte. »Es ist nichts als Wasser in seinen Adern! Da wird es schwer sein, ihn noch zu retten. – Was für eine bösartige Sache mag das sein?« Man ließ nichts unversucht, Chugoro am Leben zu erhalten, aber umsonst. Er starb, als die Sonne unterging. Da erzählte der alte Ashigaru seinen Kameraden die ganze Geschichte. »Ah, hab’ ich mir’s doch gedacht!« rief der chinesische Arzt. »Keine Macht der Welt hätte ihn retten können. Er ist nicht der erste, den sie umgebracht hat!« »Wer ist diese ›sie‹ – oder was ist sie?« fragte der Ashigaru. »Ein Fuchsdämon?« »Nein, sie spukt hier am Flusse seit altersgrauen Zeiten. Sie liebt das Blut der jungen …« »Also ein Schlangenweib? Ein Drachenweib?« »Nein, nein! Wenn du sie bei Tageslicht unter der Brücke sähest, so würdest du wohl glauben, ein ekelhaftes Geschöpf gesehen zu haben.« »Aber was für ein Geschöpf?« »Ganz einfach: ein Frosch – ein großer, scheußlicher Frosch!« Jeanettes Hände von Philip Latham »Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß Hexen unweigerlich alt und häßlich sein müßten. Viele sind schöne junge Frauen; die meisten von ihnen sind verheiratet …« Es erscheint angebracht, solch scheinbar überflüssige Binsenwahrheiten einer Erzählung voranzustellen, deren Protagonistin offiziell zur Staatshexe von Kalifornien ernannt wird. Philip Latham, ein Pseudonym für den prominenten amerikanischen Astronomen Robert S. Richardson, eröffnet dem Leser eine Zukunftsperspektive, in der das Okkulte wieder in den Rang einer Haupt- und Staatsaktion eingesetzt ist – was sich im privaten Bereich natürlich verheerend auswirkt. Dagny saß im Bett, als Bob mit dem Frühstückstablett und der Zeitung heraufkam. Er hatte es sich angewöhnt, seiner Frau das Frühstück ans Bett zu servieren, als sie vor fünf Jahren kurz nach ihrer Hochzeit krank gewesen war, und er tat es noch jetzt einmal in der Woche. Es war kurz vor elf, aber die Archers standen sonntags nie früh auf. Dagny rieb sich noch blaß und verschlafen die Augen. »Willst du gleich eine Tasse Kaffee?« fragte er. »Ja, bitte.« Bob hatte wie üblich Mühe, einen Platz für das Tablett zu finden. Er hatte nichts gegen Hautcremes, Lippenstifte, Kosmetiktücher, Nagelfeilen und andere Toilettenartikel einzuwenden, die auf dem Tisch vor dem Spiegel lagen. Solche Dinge erwartete man auf einem Toilettentisch zu sehen. Was ihn wütend machte, waren diese verdammten Hände. Ursprünglich hatten die ›Hände‹ zu Jeanette gehört – einer Schaufensterpuppe in einer exklusiven Boutique drüben in Beverley Hills. Jeanettes Hände zählten zu Dagnys kostbarsten Besitztümern; sie waren die einzigen Körperteile der Puppe, die bei dem großen kalifornischen Erdbeben nicht beschädigt wurden, und die Besitzerin der Boutique, die mit Dagny gut befreundet war, hatte sie ihr als Andenken geschenkt. Die Hände sahen nicht nur echt aus, sondern fühlten sich auch echt an. Ihre Finger waren beweglich und bestanden aus einer Gummi-Glasfaser-Mischung, deren Zusammensetzung ein ängstlich gehütetes Firmengeheimnis des Herstellers war. »Du kannst wohl auch keinen anderen Platz für die Hände finden, was?« erkundigte sich Bob, während er versuchte, das Tablett abzustellen. »Ich verstehe nicht, warum du dich immer wieder über diese Hände aufregst«, murmelte Dagny. »Sie stören mich eben …« »Sie erteilen dir ihren symbolischen Segen«, sagte Dagny. »Das bedeutet, daß du dich im Stand der Gnade befindest.« »Quatsch!« »Ich verspreche dir, daß ich sie woanders hinstelle«, sagte Dagny lächelnd. »Nicht mehr nötig«, wehrte Bob ab. »Ich hab’ jetzt schon genug Platz.« Sie saßen einige Minuten lang schweigend nebeneinander, tranken Kaffee und lasen Zeitung. Den Schlagzeilen war zu entnehmen, daß dringend Sofortmaßnahmen ergriffen werden müßten, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Nachdem Bob hastig den Sportteil durchgeblättert hatte, warf er seine Zeitung aufs Fußende des Betts. »Ende des Haushaltsjahrs. Diese Woche ist die Mitteilung vom Großen Weißen Vater in Washington gekommen. Wieder mal keine Gehaltserhöhung.« Dagny studierte interessiert die Comics. »Wir kommen schon irgendwie zurecht«, erklärte sie. »Ich hab’ gestern unser Horoskop gestellt. Unsere Zukunft sieht vielversprechend aus.« Dagnys Beschäftigung mit Astrologie, Hexerei, Wahrsagerei und ähnlichem Unsinn hatte in der Zeit vor ihrer Ehe häufig zu Streit geführt. Heutzutage wird vieles toleriert: Ehen zwischen Negern und Weißen oder wilde Ehen rufen kaum noch ein Stirnrunzeln hervor. Aber ein Astronom, der eine Astrologin heiratet … nun, das geht doch etwas zu weit. Allmählich hatte Bob sich jedoch daran gewöhnt, Dagnys Interesse für das Okkulte mit jener resignierten Gelassenheit zu akzeptieren, mit der die meisten Ehemänner die kleinen Torheiten ihrer Frauen ertragen. In Bobs Fall war allerdings nur zu leicht einzusehen, warum er es aufgegeben hatte, Dagnys Glauben an das Übernatürliche erschüttern zu wollen. Seine Frau besaß andere Vorzüge, die ihn über solche Kleinigkeiten hinwegsehen ließen. Dagny gab ihm ein Blatt aus der Times. »Hier steht wieder etwas über deinen Freund Doktor Thornton.« »Schon wieder!« Das Foto zeigte einen Mann Anfang Vierzig mit markanten Zügen, der eine kurze Bruyerepfeife zwischen den Zähnen hielt. Er stand neben einem Meßgerät und betrachtete das Bild irgendeines Himmelskörpers. »Er sieht gut aus, was?« meinte Dagny. »Findest du?« »Sehr!« Bob schnaubte geringschätzig und las den dazugehörigen Artikel durch. »Nur ein halbes Dutzend Fehler«, kommentierte er. »Der Fotograf hat ihn absichtlich etwas von unten aufgenommen, damit man nicht sieht, daß er eine kahle Stelle auf dem Kopf hat. Er ist zweiundvierzig, nicht neununddreißig. Und was er da hat, ist M33 in Triangulum, nicht M31 in Andromeda.« »Doktor Thornton, der bekannte Astronom am weltberühmten Mount-Elsinore-Observatorium, wird im September nach London reisen, um die Goldmedaille der Königlichen Astronomischen Gesellschaft in Empfang zu nehmen. Diese Medaille ist eine der höchsten Auszeichnungen, die …«, las sie laut. Bob schnaubte wieder. »Das ist doch wohl auch der einzige Nutzen dieser Gesellschaften – daß sie Goldmedaillen verleihen.« »Doktor Thornton hat in jahrelanger Forschungsarbeit nachgewiesen, daß das Universum in Wirklichkeit etwa zehnmal älter ist als bisher angenommen …«, fuhr sie fort. »Manche Kollegen sind da aber ganz anderer Meinung!« »Auch jemand, den ich kenne?« »Zum Beispiel dein Mann.« Dagny betrachtete aufmerksam Thorntons Bild. »Nehmen wir einmal an, du hättest recht und er unrecht«, sagte sie nachdenklich. »Warum gibt die Königliche Gesellschaft ihre Goldmedaille dann nicht dir?« »Das ist schwer zu erklären«, antwortete Bob nach einer Pause. »Bei solchen Dingen spielt die Persönlichkeit des Betreffenden eine größere Rolle, als man es für möglich halten würde. Thornton ist der energische, dominierende Typ. Die Leute lesen, was er veröffentlicht. Kein Mensch kümmert sich um mein Zeug. Er hat einfach Glück. Er benimmt sich immer so, als sei ein Mißerfolg ausgeschlossen. Ich fürchte stets Mißerfolge – und habe sie deshalb. Je weiter man sich von Thornton entfernt, desto größer ragt er auf. Man verehrt ihn aus der Ferne und haßt ihn aus der Nähe.« »In welchem Punkt seid ihr verschiedener Meinung?« wollte Dagny wissen. »Das ist eine schwierige Frage …« »Gut, wenn das so streng geheim ist …« Bob zögerte. »Versprichst du mir, daß du keinem Menschen ein Wort davon erzählst?« Dagny zuckte mit den Schultern. »Gut, ich versprech’s dir.« »Paß auf, ich habe einen Teil von Thorntons Arbeiten überprüft, mit den gleichen Auswertungs- und Rechenmethoden, versteht sich. Und unsere Ergebnisse sind und bleiben unterschiedlich. Ich bringe beim besten Willen keine Übereinstimmung zustande.« »Ihr Wissenschaftler seid euch doch nie einig.« »Nicht hundertprozentig«, gab Bob zu. »Ich erwarte auch keine absolute Übereinstimmung. Aber in diesem Fall sind die üblichen Toleranzen weit überschritten.« Er senkte die Stimme. »Ich bin der Meinung, daß Thorntons Resultate frisiert sind – bewußt frisiert.« »Frisiert?« Dagny runzelte die Stirn. »Gerade genug verändert, daß sie besser aussehen als die seiner Konkurrenten. Solange er das größte Spiegelteleskop der Welt zur Verfügung hat, kann ihm nichts passieren. Wer sollte ihm etwas nachweisen können?« Dagny nahm diese erstaunliche Mitteilung verhältnismäßig gefaßt auf. »Liebster, ich dachte, du würdest mir erzählen, daß Thornton wirklich etwas verbrochen hat. Einen Bankraub oder einen Gemäldediebstahl. Aber was du da erzählst, betrifft schließlich nur das Universum.« »Bewußte Irreführung ist für einen Wissenschaftler keine Kleinigkeit«, versicherte ihr Bob. »Aber ich kann ihm natürlich nichts nachweisen. Er hat die Ergebnisse so frisiert, daß die Kosmologen ganz aus dem Häuschen sind. Sie reden jetzt schon von ›Thorntons Universum‹ – daher die Goldmedaille.« Dagny warf ihrem Mann einen nachdenklichen Blick zu. Dann kniff sie ihre blauen Augen zusammen. »Weißt du, was ich glaube, Liebster?« fragte sie. »Keine Ahnung, Schatz«, murmelte er. »Du bist neidisch, glaube ich.« »Ist es etwa ein Verbrechen, wenn ein Mann seine Arbeit anerkannt sehen möchte?« »Und du bist gekränkt – zutiefst gekränkt.« Bob gab keine Antwort. Dagny ergriff seine Hand. »Deine Zeit kommt noch, Robert. Ich weiß, daß sie kommt.« Sie lächelte. »Vielleicht schon bald … sehr bald.« Bob schüttelte allerdings energisch den Kopf. »Tut mir leid, ich bin eben nicht der Typ, der Goldmedaillen einheimst.« »Aber ich weiß, daß du …« Sie wurde unterbrochen, es klingelte unten. »Siehst du?« rief Dagny aufgeregt aus. »Die gute Nachricht – wie auf ein Stichwort hin!« »Wahrscheinlich Pfadfinderinnen, die Erdnüsse verkaufen wollen«, murmelte Bob. Er zögerte noch, aber als es zum zweitenmal klingelte, stand er widerwillig auf und schlurfte die Treppe hinunter. Eine Minute später kam er mit einem länglichen Umschlag zurück, der eindrucksvoll versiegelt war. »Durch Eilboten«, sagte er und überreichte Dagny den Brief. »Für dich.« Dagny wurde blaß. Sie griff zögernd nach dem Umschlag, fast ängstlich, als sei er eine Reliquie, die sie kaum zu berühren wagte. Dann riß sie ihn entschlossen auf und zog ein Blatt Pergament heraus, auf dem eine einzige handschriftliche Zeile stand. Sie blieb mindestens eine Minute lang unbeweglich liegen und starrte die Nachricht an; nur ihre Augen und Lippen bewegten sich, während sie die Worte immer wieder las, als wollte sie sie ganz auskosten. Dann drückte sie das Pergament mit zitternden Fingern an die Brust. Bob fand diese emotionelle Reaktion weniger besorgniserregend, als man hätte vermuten können. Seine Frau war eine gute Schauspielerin, eine so gute, daß er nie mit Sicherheit wußte, ob ihr Gefühlsüberschwang nur gespielt oder wirklich echt war. »Schlechte Nachrichten?« erkundigte er sich. »Wundervolle Nachrichten«, antwortete Dagny mit kaum hörbarer Stimme. »Na, die sind längst überfällig!« »Ich bin ernannt worden.« Bob starrte seine Frau mit einem unguten Gefühl im Magen an. »Ernannt? Wozu ernannt?« »Zur Staatshexe von Kalifornien!« Bob schluckte trocken. »Ich weiß, daß Kalifornien einen offiziellen Poefa laureatus hat. Ich weiß auch, daß es hier mehr Verrückte pro Quadratzentimeter gibt als in jedem anderen Bundesstaat. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich gewußt habe, daß es in Kalifornien eine Staatshexe gibt!« »Robert, Liebling, es gibt so vieles, was du nicht weißt.« »Meinst du wirklich offiziell? Wie der Gouverneur oder solche Leute?« »Nein, eigentlich nicht …« »Großer Gott!« rief er aus. »So tief sind wir schon gesunken!« »Unsinn!« widersprach Dagny energisch. »Stell dir vor, was das für eine Ehre ist. Was das bedeutet!« »Ich kann dir sagen, was das bedeutet«, knurrte Bob, stand auf und ging zwischen Bett und Fenster auf und ab. »Es bedeutet das Ende meiner Karriere. Früher … nun, ein bißchen Astrologie und dergleichen Unsinn hat nicht weiter geschadet. Die Leute haben mit einem Achselzucken darüber hinweggesehen.« Er holte tief Luft. »Aber das hier ist eine Katastrophe! Wer will schon mit einem Astronomen zu tun haben, dessen Frau sich mit Zauberei und Teufelsbeschwörung abgibt?« Aber er hatte keine Zuhörerschaft mehr. Dagny war in Trance verfallen. Lady Macbeth als Schlafwandlerin in einem Doppelbett. »Theodoris von Lemnos … Madelaine de Bovan aus Frankreich … Medea von Colchis … Und jetzt Dagny Archer aus Kalifornien! Eines Tages übertreffe ich sie alle!« Dagnys Ernennung zur Staatshexe wurde am nächsten Dienstag in der Los Angeles Times gemeldet. Bob hatte bis zuletzt gehofft, die Meldung werde irgendwo ganz klein stehen; statt dessen prangte sie auf der ersten Seite des Lokalteils. Als Blickfang diente ein Foto, das Dagny mit ihrer Siamkatze Margarita zeigte. Der junge Reporter, der sie interviewt hatte, wies besonders darauf hin, wie ungewöhnlich die äußere Erscheinung der neuen Staatshexe Kaliforniens sei: eine hübsche blonde Hausfrau, nicht eine häßliche alte Hexe, wie man sie aus Märchen kannte. Mrs. Archer hatte dem Journalisten erklärt, sie habe sich schon als Kind für das Okkulte interessiert und bedaure, daß die meisten Menschen eine ganz falsche Vorstellung von Hexen hätten. Ob Hexen jemand etwas antun könnten? Im Mittelalter habe man ihnen bekanntlich den bösen Blick nachgesagt, aber die Wissenschaft habe längst nachgewiesen, daß das, was man den Hexen vorwarf, nur der Ausdruck der bösen Triebe ihrer Mitmenschen war. Sie verkörperten die unbewußte Schlechtigkeit ihrer Richter. Und wie sei das mit den sogenannten ›Liebestränken‹ gewesen? Mrs. Archer hatte impulsiv gelacht und angedeutet, Frauen hätten doch wirksamere Mittel zur Verfügung, um einen Mann an sich zu fesseln. Was ihre Hobbys betraf, interessierte sie sich neben dem Okkulten vor allem fürs Theater. Obwohl sie eine geborene Russin war, war sie in Frankreich aufgewachsen und hatte ihr Debüt als Schauspielerin in Paris gegeben. »Meine beste Rolle war die Laura in Strindbergs Der Vater. Wie Sie wissen, war Laura Strindbergs Surrogat für seine erste Frau.« (Surrogat, dachte Bob. Das muß ich nachschlagen.) »Eine faszinierende Rolle, die mit größter Zurückhaltung gespielt werden muß. Eine bis zuletzt beherrschte Frau, die dann in dämonischer Wut die Vernichtung ihres Feindes betreibt.« Bob mußte zugeben, daß der Teil des Artikels, der sich mit Dagny befaßte, ziemlich gut war. Aber er ärgerte sich über den, der ihn betraf. Ja, ihr Mann war Astronom am Mount-Elsinore-Observa­to­rium. Und was er von Astrologie halte. Mrs. Archer fürchtete, seine Meinung lasse sich in einem angesehenen Blatt wie der Times leider nicht wiedergeben. Er sei jedenfalls ziemlich skeptisch. Zum Glück stand das ziemlich am Schluß des Artikels, wo es kaum jemand lesen würde. Als Bob ins Büro kam, wurde ihm jedoch sofort klar, daß alle Kollegen den verdammten Artikel gelesen hatten. Niemand sprach ihn geradewegs darauf an, aber Bob merkte, daß die anderen ihm aus dem Weg gingen. Bob verschwand in seinem Büro, schloß die Tür und machte sich an einige Berechnungen über die Hyaden. Aber obwohl er sich zu konzentrieren versuchte, blieben seine Gedanken nie lange bei Ambrosia, Eudora, Pedile, Coronis, Polyxo, Phyto und Thyene, sondern wanderten zu einer anderen Nymphe, die ihm etwa 135 Lichtjahre näher war und Dagny Archer hieß. Staatshexe! Er mußte verlangen … nein, darauf bestehen, daß sie auf der Stelle von diesem Amt zurücktrat, das seine eigene berufliche Position innerhalb kürzester Zeit schwer gefährden konnte. Bob überlegte sich auf der Nachhausefahrt, was er alles sagen würde. Aber als er heimkam, saß Dagny am Telefon, führte ein Ferngespräch mit irgendeinem Zauberer oder Werwolf und durfte auf keinen Fall gestört werden. Bob lungerte eine Weile in der Nähe des Telefons herum, aber als sich zeigte, daß die Okkulten ebensolche Verständigungsschwierigkeiten wie gewöhnliche Sterbliche hatten, verschwand er in der Küche, um Trost bei der Flasche zu suchen. Als erstes nahm er einen langen Zug aus der Whiskyflasche, dann mixte er sich einen Drink und zog sich auf die Veranda zurück, um wie ein Gentleman zu trinken. Margarita, die im Sessel gegenüber döste, warf ihm einen gleichgültigen Blick zu und schlief dann weiter. Nach einiger Zeit gesellte sich Dagny mit ihrem Glas Tomatensaft zu ihm. Sie rauchte nämlich nicht und trank keinen Alkohol; sie verabscheute alles, was ihre Sinneswahrnehmungen irgendwie hätte beeinflussen können. »Ich finde dieses wiedererwachte Interesse für das Okkulte einfach begeisternd!« schwärmte sie. »Paß auf, es erfaßt noch ganz Amerika. Und was ihr Astronomen manchmal treibt, unterscheidet sich eigentlich gar nicht so sehr von unserem Okkultismus. Wenn ich an Leptonen, Quasare und diese neuen Dinger, die … die schwarzen Löcher denke …« »Das ist für mich nichts Neues«, murmelte Bob. »Ich hab’ mein Leben lang in irgendeinem großen schwarzen Loch rumgegrapscht.« Dagny spürte sofort, wie deprimiert er war. »Ach, Robert, sei doch nicht so unausstehlich! Gut, ich bin die Staatshexe von Kalifornien. Bedeutet das etwa gleich den Weltuntergang? Was ist Wahrheit? Wer will entscheiden, wer von uns beiden recht hat? Schließlich gibt es auf jede Frage mehrere Antworten.« »Aber nicht für diese!« »Das ist unfair«, protestierte Dagny. »Denk doch selbst nach, Liebling!« forderte Bob sie hitzig auf. »Wie kann irgendeine dämliche Ansammlung von Materie wie Uranus, der über drei Milliarden Kilometer von uns entfernt ist, auch nur den geringsten Einfluß auf unser Leben haben?« Dagny streichelte Margarita. »Du hast selbst gesagt, die Entdeckung der Radiowellen habe die Astronomie revolutioniert. Kann es nicht noch andere Wellen geben, die uns ebenfalls erreichen? Bisher unbekannte Wellen?« »Vielleicht«, gab Bob widerwillig zu. »Ich weiß, daß es welche gibt. Ich spüre sie.« Bob spürte ebenfalls gewisse Schwingungen in sich, die allerdings nicht kosmischen Ursprunges waren. Er war angetrunken, und er wußte das. Morgen würde er sich scheußlich fühlen. Aber bis dahin war noch lange Zeit. Er überquerte die Veranda etwas unsicher und zog Dagny an sich. Sie war eben doch ein Engel – oder eine Hexe. Bob wußte es nicht, aber im Augenblick war es ihm auch gleichgültig. Er hatte richtig vermutet, daß er einen Kater haben würde. Aber diesmal war es ein besonderer Kater, der die höheren Nervenzentren nicht wie sonst beeinflußte. Bob spürte noch etwas vom Auftrieb des vergangenen Abends. Etwas stand jedenfalls fest: Dagny konnte jeden Mann dazu bringen, alles zu tun, was sie nur wollte – wenn sie sich Mühe gab. Er stürzte sich mit neuer Energie auf die Hyaden. Beim letztenmal hatte er entmutigt aufgegeben und seine Berechnungen in den Papierkorb geworfen. Diesmal kam er besser voran. Er trieb sich unbarmherzig an. Als seine Kollegen schon längst nach Hause gefahren waren, rechnete er immer noch. Jemand klopfte an seine Tür. Bob schrak auf. Hinter der Milchglas-Scheibe zeichnete sich eine dunkle Silhouette ab. »Herein!« Zu seiner Erleichterung war der Besucher MacGuire. MacGuire gehörte zu den wenigen Kollegen, die ihm wirklich sympathisch waren. MacGuire hatte als Sekretär des Observatoriums die undankbare Aufgabe, das Beobachtungsprogramm für die Spiegelteleskope auf dem Mt. Elsinore zusammenzustellen. Astronomen haben leider wenig Ähnlichkeit mit der Vorstellung, die sich viele Leute von ihnen machen: über Kleinigkeiten erhabene große Geister, die sich nur mit den Sternen befassen. In Wirklichkeit sind die meisten unfreundliche Eigenbrötler, die sich nur für ihr Spezialgebiet und sonst nichts interessieren. Das machte es um so schwieriger, ein von allen akzeptiertes Beobachtungsprogramm zu konzipieren. Die Astronomen bekamen selten die Nächte, die sie wollten, zu den Zeiten, die ihnen paßten, oder so viele, wie ihnen ihrer Meinung nach zustanden. MacGuires Gesichtsausdruck war ernst, wie es einem Mann ansteht, der schwere Verantwortung trägt. Er legte mehrere lange Papierstreifen auf Bobs Schreibtisch. Jeder der Streifen bedeutete ein bestimmtes Teleskop und war in Spalten und Quadrate unterteilt. Über jeder Spalte stand ein Datum. Etwa die Hälfte aller Quadrate trug bereits Namenszeichen. MacGuire zeigte auf den Streifen mit dem Aufdruck 250 Zoll. »Ich habe Sie für die drei Nächte vom neunundzwanzigsten bis dreißigsten Juli eingetragen. Okay?« »Okay«, stimmte Bob zu und notierte sich die Termine in seinem Vormerkkalender. »Und wie steht’s mit den anderen?« »Das sind alle.« »Das sind alle?« Bob starrte ihn entgeistert an. »Was soll das heißen, Mac? Sie wissen doch, daß ich mir M110 fotometrisch vornehmen will.« »Tut mir leid, Bob. Aber diesmal ist das ganze Programm durcheinander.« »Das ist es jedesmal!« »Richtig, aber diesmal ist der Wirrwarr noch größer. Weil Thornton nach Hawaii fliegt, wissen Sie.« »Nein, das hab’ ich nicht gewußt.« »Ich auch nicht, bis er mich letzte Woche damit überrascht hat.« »Was will er denn in Hawaii?« »Jupiter bedeckt am Morgen des Einunddreißigsten einen Stern sechster Größe. Thornton möchte diesen Vorgang durch das neue Teleskop beobachten, das er für Mt. Mauna Kea konstruiert hat. Das ist die beste Gelegenheit seit Jahren, die Dichte der Jupiteratmosphäre zu bestimmen.« »Der Teufel soll die Jupiteratmosphäre holen! Außerdem kann er die auch hier beobachten.« »Nein. Die Pazifikküste liegt bei Beginn der Bedeckung bereits in der Morgendämmerung.« »Und was hat das alles mit mir zu tun?« MacGuire machte ein unglückliches Gesicht. »Er braucht weitere Spektralaufnahmen von seinem neuen Sternhaufen. Bisher existiert nur eine einzige gute, aber wenn weitere sie bestätigen, ist der Nachweis für sein Modelluniversum gesichert.« »Ich verstehe noch immer nicht …« »Deshalb hat Thornton als Vorsitzender des Programmkomitees gedacht, Sie könnten vielleicht …« »Ich könnte vielleicht!« »Bob, daran ist wirklich nur diese verdammte Bedeckung schuld.« »Soll das heißen, daß ich als … als Thorntons Assistent arbeiten soll?« MacGuire zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Hören Sie, Bob, wir … wir müßten auch noch über etwas anderes reden«, fuhr er zögernd fort. Bob starrte finster geradeaus. »Wie Sie wissen, sind wir hier in mancher Beziehung recht nachsichtig«, sagte MacGuire. »Wir drücken ein Auge zu, wenn sich jemand einen antrinkt oder seine Freundin mit ins Observatorium bringt. Aber es gibt etwas, das man in einer rein wissenschaftlichen Institution auf keinen Fall tun darf: Astronomie und Astrologie vermengen.« »Meinen Sie damit zufällig meine Frau?« MacGuire nickte traurig. »Aber das ist doch nicht meine Schuld, verdammt noch mal!« protestierte Bob. »Mac, ich bin genauso dagegen wie …« »Klar, Bob, das habe ich dem Komitee auch gesagt. Und wenn Thornton nicht gewesen wäre, hätte es vielleicht gar keine Schwierigkeiten gegeben.« »Thornton?« »Sie wissen doch, daß er versucht hat, aus dem Ausschuß für astronomische Projekte ein paar Millionen für einen Schwerkraftwellendetektor herauszulocken. Der AAP will von Jahr zu Jahr weniger Mittel bewilligen, aber Thornton hat natürlich gute Beziehungen. Das Rennen schien bereits gelaufen zu sein, als bekannt wurde, daß Dagny zur Staatshexe von Kalifornien ernannt worden ist. Nun, damit war alles verloren. Die Abgeordneten haben uns ausgelacht. Sie haben behauptet, wir seien auch nicht besser als diese anderen Spinner.« Bob runzelte die Stirn. »Eine Frage, Mac. Hat Thornton Dagny namentlich erwähnt?« »Hmmm, daran kann man sich nicht ohne weiteres erinnern …« »Hat er von ihr gesprochen?« »Das möchte ich nicht ausschließen …« Bob sprang auf. »Dieser Schweinehund! Dafür reiße ich ihm den Arsch auf!« Aber MacGuire stieß ihn in seinen Sessel zurück. »Nein, erst hören Sie mir ganz ruhig zu«, sagte er streng. »Denken Sie gefälligst erst einmal nach, bevor Sie hier handgreiflich werden.« Bobs Alkoholkater machte sich plötzlich doch noch bemerkbar. Seine Hände, seine Arme begannen zu zittern. Er konnte dieses Zittern nicht unterdrücken. »Ich kündige«, sagte er benommen. MacGuire klopfte ihm auf die Schulter. »Unsinn, Bob. Fahren Sie nach Hause. Trinken Sie einen. Ich glaube, daß Sie einen anständigen Drink nötig haben.« Bob gab keine Antwort. Dagny und Margarita saßen auf der Veranda, als Bob sich mit einem Drink zu ihnen gesellte. Dagny schlürfte Tomatensaft mit Eiswürfeln. Margarita, die zusammengerollt auf ihrem Schoß lag, nahm Bobs Anwesenheit nur flüchtig zur Kenntnis und schlief dann weiter. »Du hast also heute Ärger im Büro gehabt?« erkundigte sich Dagny. Bob wünschte sich, ihren Gesichtsausdruck zu erkennen, aber auf der Veranda war es zu dunkel. »Ich glaube, du bist tatsächlich eine Hexe«, murmelte er. Dagny lachte. »Es gibt Dinge, die man weiß, ohne eine Hexe zu sein. Manchmal genügt es schon, Ehefrau zu sein.« Bob machte seinem Herzen Luft. Dagny hörte sich die ganze Geschichte schweigend an. »So sieht’s aus«, schloß er. »Thornton ist zur Jupiterbeobachtung auf Hawaii, während ich hier seine ganze Arbeit mache!« »Ist das wirklich so schlimm?« »Schlimm? Das ist eine Schande!« »Warum sprichst du nicht selbst mit Doktor Thornton? Vielleicht läßt er mit sich reden.« »Mit einem Kerl wie Thornton kann man nicht vernünftig reden.« »Ist er so ein Ungeheuer?« »Nein. In mancher Beziehung ist er gar nicht übel. Nur unmenschlich, das ist alles.« »Ausgeschlossen!« protestierte Dagny. »Freilich, er hat auch menschliche Züge. Soviel ich gehört habe, trinkt er manchmal ein bißchen zuviel.« Bob starrte in sein leeres Glas. Dagny schwieg nachdenklich. »Hast du dir schon einmal überlegt, daß dein Doktor Thornton vielleicht gar nicht so ist, wie er wirkt?« fragte sie nach einigen Minuten. »Seine Herrschsucht dient vielleicht nur dazu, etwas anderes zu tarnen. Ich glaube, daß er im Grunde seines Wesens sehr unsicher ist.« Bob zuckte mit den Schultern. Ihm war längst etwas anderes eingefallen. »Hör zu, du bist doch eine Hexe, nicht wahr?« fragte er. Dagny gab keine Antwort. »Und du hast doch noch Thorntons Bild?« Sie machte eine vage Handbewegung. »Irgendwo.« »Worauf wartest du dann noch?« fragte Bob. »Komm, ich möchte sehen, was an der Hexerei dran ist.« »Was schlägst du vor?« »Das ist deine Sache!« rief Bob ungeduldig. »Du sollst ihn verhexen. Weißt du keinen wirksamen Zauber?« »Ich verstehe nicht, was du …« »Ich hab’ schon oft gelesen, wie so was funktioniert. Da ist also ein Kerl, den man nicht leiden kann. Man besorgt sich sein Bild. Man sticht eine Nadel …« Er sprach begeistert weiter, ohne zu merken, daß seine Frau ihr Gesicht in den Händen begrub. Großer Gott, jetzt hatte er’s wieder geschafft! Bob eilte zu ihr und ergriff ihre Hände. Dagny schluchzte … sie schluchzte wirklich! Diesmal spielte sie keine Rolle. Er fühlte ihre Tränen, die auf seine Hände tropften. »Dagny … Liebste … Das war nur Spaß. Ehrlich! Ich dachte, du wüßtest, daß das nicht mein Ernst ist.« Diese Frau in seinen Armen war nicht die Staatshexe von Kalifornien. Sie war Dagny, seine Frau, der Mensch, den er am meisten liebte. »Du kannst ruhig mit deiner Hexerei weitermachen«, sagte er grimmig. »Wenn ich’s mir überlege, bist du auf deinem Gebiet viel besser als ich auf meinem.« Er küßte ihr die Tränen von den Wangen. »Weißt du, was wir tun?« rief er. »Wir verbringen meine drei Tage auf dem Berg gemeinsam. Ich lasse uns gleich ein Zimmer reservieren. Wenn ich Thorntons Arbeit tun muß, ist es halb so schlimm, wenn du bei mir bist.« Er sah sie besorgt an. »Einverstanden?« Dagny nickte. »Wunderbar!« Dagny ging früh ins Bett. Bob ging in die Bibliothek, ließ sich in einen Sessel fallen und versuchte, seine aus den Fugen geratene Welt wieder zurechtzurücken. Vielleicht noch ein Drink … nein, lieber nicht. Vielleicht ein Buch. Er nahm eins von Dagnys Büchern über Zauberei aus dem Regal, blätterte darin herum und las den erstbesten Absatz, der ihm ins Auge fiel. Astralflug: Das eigenartige am Astralflug ist die Tatsache, daß er von wissenschaftlich geschulten Menschen intuitiv abgelehnt wird, obwohl zahlreiche Beweise für ihn sprechen. Tatsächlich würden die vorhandenen Beweise als überwältigend gelten müssen, wenn dieses Phänomen nicht so unwahrscheinlich wäre. Allgemein läßt sich feststellen, daß … Wie konnte ein so intelligenter Mensch wie Dagny solchen Blödsinn glauben? Sein Blick fiel auf die Sonntagsausgabe der Times, die mit Thorntons Bild nach oben auf dem Tisch lag. Quer über Thorntons Gesicht zeichnete sich ein eigenartig gabelförmiger Schatten ab. Das kam Bob irgendwie bekannt vor. Aber warum? Jeanettes Hände! Dagny hatte ihm versprochen, einen anderen Platz dafür zu suchen, und hatte Wort gehalten. Jetzt standen sie mit gespreizten Fingern neben der Tischlampe. Bob schlug das Buch wieder auf und las an einer anderen Stelle weiter: … die Handhaltung, bei der Zeige- und Mittelfinger gestreckt sind, verkörpert Gott und den vervollkommneten Menschen, die ihren Segen spenden. Aber wie alle Kräfte der physischen Welt kann dieser Segen auch zum Fluch werden. Wird die Hand nämlich so gehoben, daß der Schatten der beiden Finger Kopf und Hörner der Ziege Baphhomet darstellt, ist der Person, auf die dieser Schatten fällt, ein schreckliches Schicksal gewiß. Für Bob war die Fahrt auf der kurvenreichen Straße zum Observatorium hinauf nur noch ein Teil seiner Arbeit. Der erste Blick auf die weißen Kuppen hoch über ihnen jagte ihm keinen erwartungsvollen Schauer mehr über den Rücken. Aber daß Dagny ihn diesmal begleitete, war etwas Besonderes, denn sie kam selten mit, wenn er zum Mt. Elsinore fuhr. Für sie war Astronomie keine Wissenschaft, sondern ein Geheimnis, obwohl sie sich durch ihr Interesse für Astrologie fundierte astronomische Grundkenntnisse hatte aneignen müssen. Sie wußte nicht nur über Sterne, Planeten und Sternbilder Bescheid, sondern verstand auch Fachausdrücke wie Stundenwinkel, siderische Zeit, Dekliniation oder Spektraltyp. Die Außentemperatur nahm rasch ab, je höher sie kamen. In 1500 Meter Höhe erschienen die ersten Nebelstreifen, und bei 2000 Meter war der Nebel so dicht geworden, daß Bob nur noch Schrittempo fahren konnte. Dagny war begeistert. Hier im Nebel schienen sie von der realen Welt isoliert zu sein. Einmal sahen sie ein weißes Eichhörnchen auf einem Ast am Straßenrand sitzen. Nach dem Mittagessen im Berghotel erklärte Bob seiner Frau, er müsse jetzt ins Observatorium, wo seine Kollegen, die für diese Beobachtungsperiode eingeteilt waren, sich aufhielten. Auch die Techniker und Assistenten, die ständig hier arbeiteten, wohnten im Observatorium. »Warum gehst du überhaupt hin?« fragte Dagny, während sie auspackte. »Der Nebel ist so dicht, daß man vom Fenster aus kaum unseren Wagen sieht.« »Das ist eine Frage des Prinzips«, erklärte Bob und zog sich um, weil er im Observatorium lieber bequeme alte Sachen anhatte. »Astronomen treffen ihre Vorbereitungen unabhängig vom Wetter. Der Nebel könnte in einer Viertelstunde aufreißen. Wo wäre ich dann, wenn ich nichts vorbereitet hätte?« »Peinlich«, murmelte Dagny. Bob lachte, als ihm etwas einfiel. »Ich weiß noch, wie ich zur Beobachtung einer Sonnenfinsternis in Neuguinea war«, sagte er. »Damals war ich allerdings noch Student. Am Morgen des entscheidenden Tages war die Wolkendecke so dicht, daß nicht einmal die Sonne zu sehen war. Ich hätte am liebsten zusammengepackt. Der Expeditionsleiter aber hat uns angefahren, wir sollten gefälligst weitermachen. Wir haben uns also an den ausgearbeiteten Zeitplan gehalten – und wenige Minuten vor Eintritt der totalen Sonnenfinsternis ist die Wolkendecke wie durch ein Wunder aufgerissen. Damit war das ganze Beobachtungsprogramm gerettet.« Bob machte eine Pause. Als Dagny sich nicht dazu äußerte, ging er verlegen zur Tür. Dagny runzelte die Stirn, während sie die auf dem Bett verstreuten Toilettenartikel und Kleidungsstücke betrachtete. »Ich hab’ die Zahncreme vergessen!« rief sie. Bob fühlte sich gedemütigt und herabgesetzt, wenn er daran dachte, daß er an Thorntons Programm mitarbeiten sollte. Aber sobald er eingewilligt hatte, spielten die Personen der Beteiligten keine Rolle mehr. Bob nahm sich vor, die Beobachtungen so gut wie irgend möglich durchzuführen – genau wie ein Chirurg, der einen Feind so gut wie einen Freund operierte. Sollte das Wetter jedoch die Beobachtungen verhindern, war das nicht seine Schuld. Bei Sonnenuntergang löste sich der Nebel auf, und der Abendhimmel wurde kristallklar. Bob wartete noch eine Weile, bevor er seinen Nachtassistenten im Observatorium anrief und ihn anwies, die Kuppel des großen Spiegelteleskops zu öffnen. Aber er hatte kaum die halbe Meile zum Observatorium zurückgelegt, als wieder Nebel aufstieg. Und so ging es die ganze Nacht weiter: Nebel, klarer Himmel, wieder Nebel, es gelang ihm keine einzige gut belichtete Aufnahme. Im Morgengrauen kam er müder und frustrierter ins Hotel zurück, als wenn er die ganze Nacht angestrengt gearbeitet hätte. Er schlich sich so leise wie möglich ins Zimmer, um Dagny nicht zu wecken. Seit Mitternacht hatte er sich auf den Augenblick gefreut, in dem er in seiner Hälfte des Doppelbetts unter die Decke kriechen und die Sterne vergessen konnte. Aber wie schon so oft nach anstrengenden Beobachtungsnächten war er in dem Moment hellwach, in dem sein Kopf das Kissen berührte. Manchmal kam er sich geradezu schizophren vor: Sein waches Ich lag neben dem anderen, das friedlich träumte. Schließlich verfiel er doch in unruhigen Schlaf, aus dem er gegen Mittag erwachte. Dagny war fort, und die Landschaft sah so trostlos aus wie zuvor. Dagny kam zurück, als er sich rasierte. Sie war munter und fröhlich und brachte Tannenduft von draußen mit. Sie hatte unten am Empfang Ansichtskarten gekauft. »Lauter Tierfotos«, sagte sie und breitete die Karten aus. »Füchse, Rehe, Eichhörnchen – und Blumen.« »Ja, das sehe ich.« »War’s schlimm heute nacht?« Bob nickte. »Eine schreckliche Nacht. Überhaupt kein Glück.« Die zweite Nacht war eine Wiederholung der ersten. Bob setzte ein entsprechend trübseliges Gesicht auf und bedauerte seine Kollegen, die an den anderen Teleskopen arbeiten wollten. Aber in Wirklichkeit mußte er sich beherrschen, um nicht lauthals zu lachen. Noch eine Nacht dieser Art, dann war Thorntons Auftrag erledigt, und er selbst konnte mit reinem Gewissen abfahren. Außerdem schlief er in dieser Nacht gut und war beim Essen bester Laune. (Frühstück für Bob; Mittagessen für Dagny.) Nach dem Abendessen am 31. rief er im Observatorium an. »Wir bleiben bis zwei Uhr auf«, erklärte er seinem Nachtassistenten. »Wenn es dann nicht besser aussieht, machen wir für diese Nacht Schluß.« Dagny und er setzten sich vor den alten Fernseher, den die Hoteldirektion ihnen ins Zimmer gestellt hatte. Zu ihrem Entzücken entdeckten sie in einem Programm einen alten Film aus ihrer Flitterwochenzeit. Sie hielten bald Händchen und wechselten wehmütige Blicke. Selbst die Werbespots waren ihnen willkommen, weil sie Bob Gelegenheit gaben, nach dem Wetter zu sehen. Zu seinem Vergnügen sah er sich jedesmal einer Nebelwand vor dem Fenster konfrontiert. Nach dem Happy-End gegen elf Uhr fand er die Welt jedoch verwandelt: Die Lichter im Tal waren bis zum Horizont sichtbar, und über ihnen die Sternbilder Schwan und Leier. »Jupiter«, flüsterte Dagny und starrte den riesigen gelben Stern im Osten ehrfürchtig an. »Richtig«, stimmte Bob zu, »Jupiter steht im Steinbock. Er ist aufgegangen.« »Was Doktor Thornton jetzt wohl in Hawaii tut?« »Wahrscheinlich nicht viel. Die Sternbedeckung tritt erst ein, wenn es hier schon hell ist.« Dann verschwanden die Lichter im Tal plötzlich. Auch Jupiter war nicht mehr zu sehen. Innerhalb weniger Sekunden war die Welt wieder so grau und undurchsichtig wie zuvor. Bob sah auf die Uhr. Noch drei Stunden, dann war er wieder frei. Er mixte sich einen Drink; Dagny blieb bei Tomatensaft. Als Bob ihr das Glas brachte, zog sie ihn zu sich herab und küßte ihn. Eine schöne Nacht, dachte Bob, als er Dagny lachend zum Bett trug. Ob Nebel oder nicht … Bob wachte mühsam auf und kämpfte sich durch eine zähe Masse voran, die ihn festhalten wollte. Irgendwo klingelte etwas. Er bildete sich zunächst ein, das schrille Klingeln gehöre zu einem Traum, dann begriff er, worum es sich handelte: das Telefon. Er tastete nach dem Telefonhörer. »Soll ich aufmachen, Doktor Archer?« fragte der Nachtassistent des 250-Zoll-Teleskops. »Ich dachte, wir hätten wieder Nebel.« »Der ist seit mehr als einer Stunde weg.« »Gut, fangen Sie bitte mit der Einstellung an. Ich bin gleich drüben.« Das war eine leichte Übertreibung. Bob hatte nicht damit gerechnet, sich in aller Eile anziehen zu müssen, und seine Kleidungsstücke waren im ganzen Zimmer verstreut. Außerdem mußte er leise sein, weil er Dagny nicht wecken wollte. Ihr Haar bedeckte fast ihr ganzes Gesicht, so daß Bob nur das Profil auf dem Kissen sah. Wie still sie dalag! Ihre langen dunklen Wimpern so unbeweglich wie die einer Puppe. Die Bettdecke hob und senkte sich nicht im geringsten, als ob Dagny überhaupt nicht atmete. Er beschloß zu Fuß zu gehen, anstatt mit dem Auto zu fahren. Ihr alter Wagen war ohnehin viel zu laut. Und auf dem Fußweg zum Observatorium brauchte er bestimmt nicht viel länger. Aber er hatte nicht mit der dünnen Höhenluft gerechnet. Bis er die Kuppel erreichte und die lange Treppe zum Kontrollpult hinter sich brachte, keuchte er und rang nach Atem. Er hing über dem Eisengeländer, von dem das Spiegelteleskop umgeben war, und kam sich wie ein Boxer vor, der groggy in den Seilen hängt. Die Kuppel war offen, aber das Teleskop stand wie üblich senkrecht. »Warum haben Sie’s nicht eingestellt?« fragte Bob, als er wieder sprechen konnte. Der Nachtassistent klopfte seine Pfeife aus. »Ich hatte die Position nicht.« »Ich habe sie hier auf den Schreibtisch gelegt!« »Tut mir leid, ich habe sie nirgends gesehen.« Dann folgten aufregende zehn Minuten, in denen sie den ganzen Schreibtisch, den Fußboden um den Schreibtisch herum, die Schubladen, das Beobachtungsbuch und dann auch noch die Dunkelkammer und das WC durchsuchten. Aber die wichtigen Informationen, ohne die man den winzigen Lichtpunkt weit außerhalb der Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Auges nicht anvisieren konnte, blieben verschwunden. Das ließ nur einen Schluß zu: Bei seinem hastigen Aufbruch hatte Bob die Einstellung und die Identifikationskarte im Hotelzimmer liegenlassen. Was sollten sie tun? Mindestens eine Stunde würde vergehen, wenn er die Unterlagen aus dem Hotel holen, das Spiegelteleskop einstellen und die Aufnahme beginnen wollte – vielleicht sogar länger, weil er das betreffende Sternfeld nicht kannte und sein Objekt unter Umständen nicht sofort würde identifizieren können. Im Juli wird es früh hell. Er konnte natürlich anrufen und Dagny bitten, ihm die Werte durchzugeben, aber die Position des Sternfeldes war praktisch wertlos, solange die dazugehörige Identifikationskarte fehlte. Das gesuchte Objekt konnte irgendeiner von einem Dutzend Sterne sein. Bob suchte eben zum drittenmal seine Taschen durch, als er die Eisentür am Fuß der Treppe ins Schloß fallen hörte. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann kamen langsame Schritte die Treppe herauf. Er und der Nachtassistent wechselten einen fragenden Blick. »Jemand von den beiden anderen Teleskopen?« fragte Bob. Der Assistent schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Bestimmt nicht. Die haben schon Schluß gemacht.« »Es muß aber jemand von hier sein. Wer hätte sonst einen Schlüssel?« »Keine Ahnung«, murmelte der Assistent. »Aber das wird sich gleich herausstellen.« Er schaltete die Kuppelbeleuchtung aus, so daß nur noch die Instrumente schwachrötlich leuchteten. Bob hörte ihn die eiserne Wendeltreppe bis zum Absatz auf halber Höhe hinuntereilen. Dort waren halblaute Stimmen zu hören, dann entfernten sich Schritte treppab, während der Assistent zurückkehrte. Er gab Bob einen Umschlag. »Sind das die Unterlagen, die Sie brauchen?« Bob warf einen Blick in den Umschlag. »Alles da!« rief er. »Aber wer …« »Keine Ahnung. Eine blonde Dame hat ihn mir gegeben.« Das muß Dagny gewesen sein. Sie war vermutlich aufgewacht, hatte den Umschlag auf der Kommode gesehen, Bobs Notlage erkannt und war mit dem Auto herübergekommen. Sie wußte, daß im Handschuhfach ein Schlüssel zur Kuppel lag. Bob warf einen Blick auf die Standuhr. Fast 23 Uhr. Sie würden rasch arbeiten müssen. »Gut, hier ist sie also«, erklärte er dem Assistenten und gab ihm die genaue Position. »Stephans Quintett, was?« fragte der andere. »Stephans Quintett? – Nein! Unser Objekt liegt viel weiter nördlich im Pegasus.« »Die Koordinaten sehen aber wie die von Stephans Quintett aus«, stellte der Assistent fest. »Ich habe sie schon oft genug eingestellt.« Bob runzelte die Stirn, während er die Zahlen auf dem Papierstreifen betrachtete. »Das ist doch Thorntons Schrift, oder?« Der Assistent blätterte im Beobachtungsbuch. »Das wird sich gleich herausstellen.« Er zeigte auf eine von Thornton abgezeichnete Eintragung. »Ja, das ist seine Schrift«, sagte er. »Die Zahlen sind typisch für ihn – die geschlossene Vier schreibt nur er. Alle anderen lassen sie oben offen.« »Ich habe die Einstellung direkt von MacGuire bekommen«, erklärte ihm Bob, »und MacGuire hatte sie direkt von Thornton. Folglich bleibt uns nichts anderes übrig, als Stephans Quintett einzustellen.« Danach kamen sie schnell voran. Wenige Minuten später verglich Bob die Sterne im Blickfeld des Spiegelteleskops mit denen auf seinem Negativabzug. Zum Glück war das Objekt leicht zu identifizieren. Er manövrierte das Abbild in den Spektrografen, suchte sich einen Leitstern und schaffte kurz vor Tagesanbruch noch zwei Aufnahmen. »Fertig!« rief Bob dem Assistenten triumphierend zu. »Sie können zumachen und nach Hause gehen!« Bob blieb in der Dunkelkammer, um die Platten zu entwickeln und zu trocknen. Auf diese Weise waren sie gegen Mittag trocken, so daß Dagny und er gleich nach dem Mittagessen zurückfahren konnten. Ein Blick auf die dunklen Streifen auf den Gläsern zeigte ihm, daß er Belichtung und Tiefenschärfe genau richtig eingestellt hatte. Bob setzte Dagny zu Hause ab, zog sich um und fuhr ins Büro. »Ich komme bestimmt erst spät nach Hause«, erklärte er ihr. »Ich will mir diese Aufnahmen genau ansehen.« Es war gut, daß er Dagny gewarnt hatte, denn er kam erst zurück, als es schon dunkel wurde. Nach der Kühle auf Mt. Elsinore kam ihm das Tal wie ein Backofen vor. Bobs Hemd war völlig durchgeschwitzt. Dagny, die ein leichtes Kleid im Empirestil trug, wirkte kühl und heiter wie eine antike Göttin. Sie saßen einige Minuten schweigend auf der Veranda. Bob trank einen Scotch mit Soda, Dagny blieb wie üblich bei Tomatensaft. Bob sprach als erster. »In den vergangenen drei Tagen ist eine Menge passiert«, sagte er. »So?« fragte Dagny und streichelte Margaritas seidiges Fell. »Hast du schon von Thornton gehört?« Dagny schüttelte den Kopf. »Thornton hat die Bedeckung nicht beobachten können.« »Nein? War der Himmel über Hawaii auch bewölkt?« »Thornton ist tot.« Dagny streichelte Margaritas Fell. »Tot? – Aber wie …« Bob zögerte. »Das steht noch nicht fest. Thornton scheint eine kleine Pause in der Bibliothek des Observatoriums gemacht zu haben. Seine Vorbereitungen waren jedenfalls abgeschlossen, und er hatte noch ein paar Stunden Zeit. Der Nachtassistent glaubt, Stimmen gehört zu haben – dann ist ein Schuß gefallen. Er ist sofort in die Bibliothek geeilt. Thornton war tot. Neben ihm lag ein Revolver.« Bob wünschte sich, er könnte Dagnys Gesicht sehen, aber dazu war es schon zu dunkel. »Thornton ist offensichtlich nicht allein gewesen«, fuhr Bob fort. »Auf dem Tisch standen zwei Gläser. An beiden wurden Fingerabdrücke gefunden. Die am ersten Glas stammten von Thornton. Am zweiten waren ebenfalls Abdrücke von Fingern festzustellen.« »Diese Fingerabdrücke … sind sie identifiziert worden?« erkundigte sich Dagny. Bob schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht Fingerabdrücke gesagt. Ich habe Abdrücke von Fingern gesagt. Keine typischen Schleifen, glatte Abdrücke, kein Muster.« »Wahrscheinlich Handschuhe.« »Die Polizei ist anderer Meinung. Anscheinend läßt sich das überprüfen. Im Augenblick weiß die Polizei noch nicht, was sie davon halten soll. Es kann fast alles sein: Unfall … Selbstmord … Mord.« »Ich glaube, daß er Selbstmord begangen hat«, sagte Dagny. »Erinnerst du dich daran, daß ich dir erklärt habe, Thornton sei im Grunde seines Wesens unsicher?« »Richtig, das hast du getan.« Es folgte eine längere Pause. »Vielleicht ist ihm dadurch einiges erspart geblieben«, meinte Bob schließlich. »Die Aufnahmen, die ich gemacht habe, waren … nun, recht merkwürdig. MacGuire und ich sind uns in diesem Punkt einig. Sie haben Thorntons Theorie mit ziemlicher Sicherheit widerlegt. Wahrscheinlich hat er irgend etwas in dieser Richtung vermutet. Jedenfalls hätte er die Goldmedaille der Königlichen Astronomischen Gesellschaft nicht mehr annehmen können, wenn er diese Aufnahmen gesehen hätte. Sie ändern unsere ganze bisherige Vorstellung vom Universum.« Dagny sah zu den Sternen auf. »Für mich sehen sie noch immer gleich aus.« Bob wischte die sichtbaren Sterne mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite. »Ach, die dort oben zählen doch gar nicht! Ich spreche von weiter entfernten Objekten. Von dem nicht mehr sichtbaren Universum.« »Welches nicht mehr sichtbare Universum meinst du?« fragte Dagny. »Zeit und Raum – für mich existieren sie nicht …« Sie lachte. »Die Hexen früherer Zeiten!« fuhr sie fort. »Ihre Fähigkeiten waren sehr beschränkt, weißt du. Medea – sie war kaum imstande, das ägäische Meer zu überwinden. Aber Dagnys Macht erstreckt sich bis zum entferntesten Stern! Sie reicht bis zu den Grenzen des Alls!« Bob blieb bis lange nach Mitternacht in der Bibliothek sitzen. Die Ereignisse der vergangenen 24 Stunden hatten ihn nervös gemacht. Er fand keine Ruhe. Wieder griff er nach Dagnys Buch über Zauberei und blätterte darin herum. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß Hexen unweigerlich alt und häßlich sein müßten. Viele sind schöne junge Frauen; die meisten von ihnen sind verheiratet. Um das Haus heimlich verlassen zu können, verzaubern sie ihre Ehemänner und verhindern eine zufällige Entdeckung mit Hilfe eines Surrogats. »Surrogat«, murmelte Bob vor sich hin. Da war das Wort wieder. Er schlug hinten bei den Worterklärungen nach. Surrogat: Im gewöhnlichen Sprachgebrauch ein Ersatzmittel oder Behelf, aber auch ein Agent oder Stellvertreter, der für jemanden auftritt. In der Zauberei ein Phantombild, das zurückgelassen wird, um andere zu täuschen. Die Times mit Thorntons Bild nach oben lag noch immer auf dem Schreibtisch. Aber es hatte sich etwas verändert. Wo waren die Schatten von Jeanettes Zeige- und Ringfinger, die über das Bild gefallen waren? Jeanettes Hände mit den glatten, samtweichen Fingern – ohne Muster –. Fort … fort? – Bob spürte, wie Angst in ihm aufstieg, eine unbestimmte Angst, die sich bisher unter einer dünnen Schicht wissenschaftlicher Überzeugung und Gewißheit verborgen hatte. Aber jetzt drang sie unaufhaltsam an die Oberfläche. Die Geschichte vom schläfrigen Tal von Washington Irving Washington Irving (1783-1859) gilt als Vater der amerikanischen Literatur und als Begründer der amerikanischen Short-Story. Sein »Skizzenbuch« (1819/20) machte den in Nordamerika schon bekannten Schriftsteller auch in Europa berühmt. In der folgenden Geschichte daraus gestaltet er in seiner humoristisch-hintergründigen Manier eine alte amerikanische Volkssage. Im Inneren einer der geräumigen Buchten, die sich am östlichen Ufer des Hudson gebildet haben, an jener Stelle, da sich der Fluß verbreitert, liegt ein kleiner ländlicher Hafen, der Greensburgh, aber auch Tarry Town genannt wird. Diesen Namen erhielt der Ort in früheren Zeiten, weil es die Männer an Markttagen nicht lassen konnten, sich ständig in den Schenken herumzutreiben. Nicht weit von diesem Dorf entfernt liegt ein kleines Tal zwischen hohen Bergen, das einer der stillsten Orte der ganzen Welt zu sein scheint. Ein kleiner Bach fließt hindurch, und das Wasser gibt ein einschläferndes Glucksen von sich. Ab und zu hört man den Ruf einer Wachtel oder das Picken eines Spechts, und dies sind beinahe die einzigen Laute, die diese eintönige Stille unterbrechen. Die Ruhe des Ortes und der seltsame Charakter seiner Bewohner, die von holländischen Einwanderern abstammen, haben dieser abgelegenen Gegend den Namen »das schläfrige Tal« eingetragen. Ein schläfriges, träumerisches Wesen scheint auf dem ganzen Land zu liegen. Einige Leute behaupten, der Ort sei von einem deutschen Doktor in den frühen Tagen der Kolonien behext worden, andere meinen, ein indianischer Häuptling habe dort Geisterbeschwörungen abgehalten. Jedenfalls ist es auch heute noch immer nicht recht geheuer in diesem Tal, und die Menschen, die dort wohnen, scheinen beständig im Traum umherzugehen. Sie glauben an Wunder und Erscheinungen, hören Musik und Geisterstimmen in der Luft, und der ganze Landstrich ist voller zwielichtigem Aberglauben, und man sagt, die Nachtmahr mit ihren neun Kindern zeige sich dort besonders gern. Der wichtigste Geist aber, der hier umgeht, und dem gewissermaßen alle anderen Spukwesen Untertan sind, ist ein Reiter ohne Kopf. Man hält ihn für das Gespenst eines hessischen Kavalleristen, dem eine Kanonenkugel in irgendeiner Schlacht des Revolutionskrieges den Schädel zertrümmert hat. Man sieht ihn von Zeit zu Zeit, wie er rasch wie der Wind durch die Dunkelheit davonreitet. Er läßt sich nicht nur im Tal sehen, sondern taucht auch auf der nahegelegenen Landstraße auf und erscheint auch bei einer bestimmten Kirche, auf deren Friedhof nach glaubhaften Angaben der Leichnam des Reiters beerdigt wurde. Und es geht die Rede, das Gespenst reite des Nachts zum Schlachtfeld, um dort seinen Kopf zu suchen. Die Bewohner aber nennen es »den kopflosen Reiter aus dem schläfrigen Tal«. In dieser spukhaften Gegend wohnte nun vor Zeiten ein Mann mit Namen Ichabod Crane, der es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, die Kinder jenes Landstrichs zu unterrichten. Dieser Schullehrer war groß und sehr dürr, hatte lange Arme und Beine, und seine Hände ragten unförmig weit aus den Ärmeln seiner Jacke hervor. Seine Füße hätten als Schaufeln dienen können, und seine ganze Gestalt sah schlotternd und wie aus den Fugen geraten aus. Wenn man ihn an einem windigen Tag vom Abhang eines Berges herabsteigen sah und seine Kleider um ihn wehten und flatterten, hätte man ihn für das Gespenst der Hungersnot halten können, das auf die Erde steigt, oder für eine aus dem Kornfeld entlaufene Vogelscheuche. Als Lehrer war er nachsichtig und milde, und da es den Bewohnern dieser Gegend schwerfiel, sich überhaupt einen Schulmeister zu leisten, machte er sich bei den Pächtern nebenher noch bei der Feldarbeit nützlich, half beim Heumachen, flickte Zäune, ritt die Pferde zur Tränke, trieb das Vieh von der Weide heim und spaltete Holz für den Winter. Auch stellte man ihn gelegentlich als Kindermädchen an, was ihm viel von der gebieterischen Würde nahm, die sonst solchen Personen anhaftet. Zudem war er auch der Gesangslehrer in diesem Landstrich, und seine Stimme war am Sonntag im Kirchenchor aus einer Anzahl schöner Stimmen deutlich herauszuhören. So schlug sich dieser edle Pädagoge mit Hängen und Würgen durch, und alle, die von den Mühen geistiger Arbeit nichts wußten, waren der Ansicht, er führe doch ein wunderbares bequemes Leben. Da er bei seinen mannigfaltigen Beschäftigungen viel herumkam, wurde er zu einer Art wandelnder Zeitung, die den Dorfklatsch von Haus zu Haus trug. Außerdem war er bei den Weibern wie bei den Männern hoch angesehen, hatte er doch mehrere Bücher ganz durchgelesen und kannte er sich doch in Cotton Mathers Geschichte der neuenglischen Zauberei gut aus. Er liebte es, sich selbst das Gruseln einzureden. Sah er in der Nacht einen Leuchtkäfer, so hielt er ihn für eine verzauberte Seele, erblickte er einen besonders großen Käfer, der wild mit den Flügeln um sich schlug, so war es für Ichabod klar, daß der arme Kerl von einer Hexe besprochen worden sei. All solche Wahrnehmungen genoß er halb ängstlich, halb mit freudiger Erregung darüber, dem Unheimlichen nahe zu sein. Schauerliches Vergnügen bereitete es ihm auch, an langen Winterabenden bei den alten Holländerfrauen in den Spinnstuben zu sitzen und ihre seltsamen Erzählungen von Gespenstern und Kobolden, von verhexten Feldern, Bächen und Häusern und besonders von dem kopflosen Reiter anzuhören. Dagegen wußte er sie mit Anekdoten von Hexerei, von schrecklichen Zeichen und seltsamen Erscheinungen und Tönen in der Luft zu unterhalten und jagte ihnen Schrecken ein, indem er ihnen von Kometen und Sternschnuppen berichtete und sie mit der Tatsache vertraut machte, daß sich die Welt ganz und gar drehe und sie alle die Hälfte ihrer Zeit auf dem Kopf stünden. Aber wie angenehm dies auch war, wenn man in einer warmen Stube, in die sich kein Gespenst hereinwagte, davon berichtete – es gab den Heimweg. Da lagerten furchtbare Gestalten und Schatten am Wegrand. Mit argwöhnischem Blick sah er auf jeden zitternden Lichtstrahl, der aus irgendeinem fernen Fenster auf die weiten Felder fiel. Ein verschneiter Strauch barg gewiß ein Ungetüm. Und fuhr ein Windstoß heulend durch den Wald, so sah er sich zu wilder Verzweiflung getrieben, denn er war sich fast sicher, daß das Geräusch von dem Reiter ohne Kopf herrührte, der wieder einmal nach dem Schlachtfeld unterwegs war, um seinen Schädel zu suchen. All dies war jedoch nur dem bösen Geist der Finsternis zuzuschreiben, der sich in der Nacht bewegt und die Phantome losläßt. Und wenn er auch schon manch Gespenst gesehen hatte und oft auf seinen Wanderungen vom Satan heimgesucht worden war, so vermochte er sich doch im tiefsten Schrecken immer damit zu trösten, daß dies alles bei Tagesanbruch ein Ende habe. So wäre der gute Mann trotz der nächtlichen Erscheinungen des Satans und seines Gefolges glücklich und zufrieden gewesen, wäre nicht sein Weg von einem Wesen gekreuzt worden, das den Sterblichen mehr Kummer und Verdruß bereiten kann, als alle Gespenster, Kobolde und das ganze Hexenvolk zusammen, nämlich – ein Mädchen. Unter den Gesangsschülern, die sich an einem Abend der Woche versammelten, um Unterricht in Psalmensingen zu nehmen, befand sich eine gewisse Katharina van Tassel, die Tochter und das einzige Kind eines wohlhabenden holländischen Pächters. Sie war schön, rundlich wie ein Rebhuhn und reif, weich und rotwangig wie einer von den Pfirsichen ihres Vaters. Da aber ihr Vater einer der reichsten Pächter weit und breit war, wurde sie nicht nur wegen ihrer äußeren Reize, sondern auch wegen ihrer großen Mitgift von den Burschen der Gegend umschwärmt. In dieses Mädchen also verliebte sich der Schulmeister Ichabod, und auch bei ihm spielte die Aussicht, auf diesem Umweg den prächtigen Besitz ihres Vaters zu erben, keine geringe Rolle. Er mußte jedoch feststellen, daß er außer einer Anzahl von Schwärmern, die sich wenig Hoffnung auf die Gunst des Mädchens machen konnten, sehr wohl einen ernstzunehmenden Rivalen besaß, dessen Art und Wesen es eben bewirkt hatten, daß die anderen Burschen mehr oder minder freiwillig zurückgetreten waren und dem Mädchen nur noch aus der Ferne schöne Augen machten. Der Bursche hieß Abraham, wurde aber Brom van Brunt genannt, und das ganze Land sprach von seinen Taten. Er war breitschultrig und sehnig, trug kurzes krauses schwarzes Haar und hatte ein grobes, aber nicht unschönes Gesicht, in dem sich Schalk und Hochmut mischten. Wegen seiner herkulischen Taten und seiner großen Kraft hatte er den Spottnamen Brom Bones, das heißt »Knochen-Brom«, erhalten. Er war ein guter Reiter, und mit drei oder vier lustigen Kumpanen, die ihn als Vorbild betrachteten, ritt er oft bei kaltem Wetter in einer Pelzmütze mit langem Fuchsschwanz über Land. Zuweilen hörte man dann seine Schar um Mitternacht mit großem Geschrei und Hussa wie ein Trupp Kosaken an den Häusern vorbeisprengen. Die alten Frauen fuhren im Schlaf hoch und murmelten: Das ist wieder Brom Bones mit seiner Bande. Bei allen tollen Streichen und bei jeder Schlägerei war er dabei und hatte sich so überall bekannt gemacht. Dieser tapfere Held hatte seit einiger Zeit die schöne Katharina zum Gegenstand seiner recht plumpen Zärtlichkeiten ausersehen, die, wenngleich sie etwas von den Tapsigkeiten eines Bären hatten, wie man sich erzählte, auf das Mädchen nicht ganz ohne Eindruck geblieben waren. Bones begann nun, Ichabod allerlei Streiche zu spielen. Mit seiner Reiterschar erschien er bei der Singschule und verstopfte die Schornsteine, so daß der arme Schulmeister schon vermutete, Hexen seien am Werk. Auch ließ Brom keine Gelegenheit verstreichen, Ichabod in Gegenwart des Mädchens lächerlich zu machen. Er besaß einen Hund, den er zum Jaulen und Winseln abrichtete, um ihn dann in die Singschule einzuschmuggeln, wo er Ichabods Gesänge in schaurigster Weise parodierte. So ging die Sache eine Zeitlang hin, ohne daß es zwischen den beiden Rivalen zu einer Entscheidung gekommen wäre, bis Ichabod an einem schönen Herbstnachmittag in seinem Schulhaus den Besuch eines Negers empfing, der ihm eine Einladung zu einem Festessen überbrachte, das noch am selben Abend im Hause des Mynheer van Tassel stattfinden sollte. Ehe sich Ichabod noch nach näheren Einzelheiten erkundigen konnte, war der Bote auch schon wieder verschwunden, angetrieben von der Wichtigkeit und Eile seiner Mission. Der Lehrer gab seinen Schülern frei und machte sich dann mit besonderer Sorgfalt an die Toilette. Er zog seinen verschossenen schwarzen Anzug an, borgte sich von seinem Nachbarn dessen Pferd »Gunpowder«, was Schießpulver bedeutet, und schwang sich schließlich, angetan mit einem wehenden schwarzen Mantel, dessen Schöße fast bis zum Schweif des Tieres flatterten, auf die recht magere Mähre und ritt davon. Es wurde Abend, bis Ichabod das Gehöft des Mynheer van Tassel erreichte. Dort waren die wohlhabenden Pächter der Nachbarschaft versammelt, aber auch Brom Bones war mit seinem Lieblingspferd »Gefahrenteufel« herbeigeritten, ein Tier voller Feuer und Teufeleien wie er selbst, das nur er regieren konnte. Man speiste feist und üppig, wie das bei den Holländern Brauch ist. Danach tanzte man, und dabei tat sich Ichabod recht hervor, wenngleich er in seinem alten Anzug eine ziemlich lächerliche Figur abgab. Doch davon merkte er nichts, hielt er doch die schöne Katharina in den Armen und durfte sie nach Herzenslust im Kreis herumschwenken, während sein Rivale Brom Bones, von wilder Eifersucht gequält, abseits in der Ecke saß und mit bösem Gesicht vor sich hinbrütete. Als der Tanz zu Ende war, setzte sich der Schulmeister zu einer Gruppe vernünftigerer Leute, die mit dem alten van Tassel auf der Veranda saßen, über alte Zeiten redeten und lange Geschichten aus dem Krieg zum besten gaben. Schließlich kamen auch Geister- und Spukgeschichten zur Sprache. Von Leichenzügen, Trauergeschrei und den Klagen der Nachtalben wurde erzählt, die man im schläfrigen Tal vernommen haben wollte. Man sprach auch von einer weißen Frau, die am Rabenfelsen in eben diesem Tal umginge und die man oft in Winternächten vor einem Sturm wehklagen hören könne, denn sie war dort im Schnee umgekommen. Die meisten Geschichten kreisten jedoch um das Lieblingsgespenst des schläfrigen Tales, den kopflosen Reiter, von dem man erst kürzlich des öfteren gehört hatte, er ziehe wieder durch die Gegend und binde bei Nacht sein Pferd an den Gräbern des Friedhofes an. Der Friedhof liegt an einer Kirche, und dieser Platz scheint schon immer ein Lieblingsort unseliger Geister gewesen zu sein. Die Kirche steht auf einem Hügel, von Akazien und hohen Ulmen umgeben, und dazwischen schimmern ihre weißgetünchten Mauern hervor. Ein Abhang führt von hier zu einer Wasserfläche, die von großen Bäumen umstanden ist, und zwischen ihnen hindurch kann man die blauen Hügel des Hudson sehen. Wenn man den mit hohem Gras bewachsenen Kirchhof betrachtet, so sollte man glauben, daß wenigstens hier die Toten ruhig schlummern. Auf der anderen Seite der Kirche aber zieht sich ein großes waldiges Tal hin, durch das zwischen Felsen und umgestürzten Baumstämmen ein Bach tost. Über eine tiefe schwarze Stelle führt eine Holzbrücke. Der Weg zu ihr hin und die Brücke selbst sind von überhängenden Weiden dicht beschattet. Dies war der Lieblingsaufenthalt des kopflosen Reiters, und der Ort, wo man ihn am häufigsten treffen konnte. Die Geschichte vom alten Bouwer, einem Mann, der selbst hartnäckig die Existenz von Geistern bestritt, wurde erzählt: wie er dem Reiter begegnete, als dieser von einem Streifzug ins schläfrige Tal zurückkehrte, wie er gezwungen wurde, sich hinter ihm aufzusetzen, wie sie über Stock und Stein, über Hügel und durch Morast galoppiert seien, bis sie an die Brücke kamen, wo sich der Reiter plötzlich in ein Gerippe verwandelte, den alten Bouwer in den Bach warf und unter Donnerschlag über die Baumwipfel davonritt. Hier aber mischte sich Brom Bones ein. Er meinte, der galoppierende Hesse sei ein durchtriebener Gauner, und behauptete, der mitternächtliche Reiter habe ihn überrascht, als er aus dem benachbarten Dorf Sing-Sing zurückkehrte, er habe ihm vorgeschlagen, mit ihm um die Wette zu reiten. Ein Glas Punsch für den, der gewinnen wird! Er, Brom, habe dann gewonnen und auf »Gefahrenteufel« das Geisterpferd weit hinter sich gelassen, als sie aber an die Kirchenbrücke gekommen seien, wäre der Reiter ohne Kopf davongeritten und in einer Feuerflamme verschwunden. All diese Geschichten, vorgetragen in einem murmelnden, gedämpften Tonfall, dazu im Dunkeln, das nur vom Aufglimmen einer Pfeife ein wenig erhellt wurde, prägten sich bei Ichabod tief ein, und auch er selbst steuerte nun zu der Unterhaltung noch einige unheimliche Begebenheiten bei. Die Gesellschaft brach nun langsam auf. Einer nach dem anderen fuhr mit seinem Wagen ab. Die jungen Mädchen stiegen zu den Burschen aufs Pferd und ließen sich von ihnen heimbringen. Nur Ichabod zögerte noch, denn er wollte mit Katharina ein Gespräch unter vier Augen führen. Dazu kam es auch, aber wie diese Unterhaltung vonstatten ging, davon weiß der Verfasser dieses Berichts nichts zu sagen, denn er war nicht dabei. Sicher ist, daß Ichabod traurig und niedergeschlagen den Schauplatz des Festes verließ. Wahrscheinlich war ihm klargeworden, daß das Mädchen ihn den ganzen Abend nur begünstigt hatte, um ihren anderen Verehrer aufzustacheln. Die Geisterstunde hatte begonnen, als sich Ichabod auf seinem Klepper auf den Heimweg machte. Die Stunde war so trüb wie sein Sinn. Weit unten lag die neblige Wasserfläche des Tappan Zee, ab und zu sah er den Mast eines Bootes, das am Ufer über Nacht festgemacht hatte. Auch das Bellen eines Kettenhundes klang von Zeit zu Zeit durch die nächtliche Stille. Kein Anzeichen von Leben zeigte sich in der unmittelbaren Nähe seines Weges, es sei denn man wollte das schwermütige Zirpen der Grillen oder das Quaken eines Frosches aus einem nahen Morast dafür nehmen. Alle Geistergeschichten kamen Ichabod bei seinem Ritt wieder in den Sinn, und er bekam Angst. Die Nacht wurde dunkler und dunkler. Die Sterne schienen immer tiefer zu fallen. Nie hatte er sich so verlassen und unglücklich gefühlt. Und nun näherte er sich einer Gegend, in der gleich mehrere Gespenstergeschichten sich zugetragen hatten. An dem großen Tulpenbaum, der allgemein Major Andres Baum genannt wurde, glaubte er etwas Weißes zu erkennen, das in der Mitte des Stammes hing. Als er genauer hinschaute, sah er, daß es ein Fleck war, an dem der Blitz die Rinde versengt hatte. Doch nun vernahm er ein Stöhnen. Seine Zähne klapperten, aber das Geräusch rührte nur von zwei Ästen her, die sich aneinander rieben. Ungefähr zweihundert Meter hinter dem Baum kreuzte ein kleiner Bach den Weg und floß in ein sumpfiges, dicht bewachsenes Tal, das man »Wileys Moor« nannte. Auch hier sollte es Gespenster geben. Sein Herz begann zu klopfen. Er nahm allen Mut zusammen, gab dem Pferd ein halbes Dutzend Fußtritte und versuchte rasch über die Brücke zu kommen. Aber statt vorwärts zu laufen, machte das widerspenstige Vieh eine Bewegung nach der Seite und rannte gegen das Geländer. Diese Verzögerung ließ Ichabods Angst wachsen; er riß die Zügel nach der anderen Seite und stieß das Tier mit dem Fuß; alles war vergebens; der Gaul ging zwar vorwärts, aber er geriet nun am Ufer auf der anderen Seite des Weges in ein Brombeer- und Holundergesträuch. Eben in diesem Augenblick hörten Ichabods feine Ohren im Morast an der Brücke Schritte. Im dunklen Schatten des Wäldchens dort erblickte er etwas Riesiges, Unförmiges, das schwarz aufragte. Es bewegte sich nicht, sondern schien im Dunkeln hinzukauern wie ein riesiges Ungeheuer, das einem Reisenden an die Kehle fahren will. Die Haare sträubten sich dem erschreckten Schulmeister. Er faßte sein letztes Quentlein Mut zusammen und fragte stotternd: »Wer bist du?« Er erhielt keine Antwort und wiederholte die Frage mit zitternder Stimme. Noch immer kam keine Antwort. Und wieder drosch er auf sein Pferd ein, schloß die Augen und begann eine Psalmenmelodie zu summen. In diesem Moment setzte sich der dunkle Gegenstand in Bewegung und stand plötzlich mitten auf dem Weg. Obwohl es sehr dunkel war, konnte man nun die Gestalt des Unbekannten einigermaßen erkennen. Er schien ein Reiter von gewaltiger Größe auf einem schwarzen Roß von riesigem Wuchs. Er machte keine Anstalten, ihn zu belästigen oder sich zu nähern, sondern blieb in einiger Entfernung auf der Wegseite stehen. Ichabod, der der Erzählung Brom Bones vom kopflosen Reiter gedachte, trieb jetzt sein Pferd an, in der Hoffnung, die Erscheinung hinter sich zu lassen. Aber auch der Fremde trabte an, und wie immer Ichabod ritt, schnell oder langsam, der Fremde blieb bei ihm. Der Schulmeister war von Entsetzen gelähmt, als er bemerkte, daß der Kopf des Fremden, der auf der Schulter hätte sitzen sollen, auf dem Sattelknopf lag. Sein Entsetzen steigerte sich zur Verzweiflung, er ließ einen Hagel von Schlägen auf sein armes Pferd niedergehen, das auch tatsächlich nun sehr rasch lief – aber das Gespenst sprengte so schnell dahin wie er. So jagte er durch dick und dünn davon. Steine flogen auf, Funken stoben. Ichabods dünnes Gewand flatterte. Sie kamen nun in das schläfrige Tal, und da bemerkte Ichabod, daß sich sein Sattel, oder vielmehr der Sattel seines Nachbarn Hans van Ripper, den ihm jener mit dem Pferd geborgt hatte, zu lockern begann. Er versuchte das Ding festzuhalten, aber es war unmöglich, denn das reitende Gespenst war ihm immer noch dicht auf den Fersen, und er hatte alle Mühe, seinen Klepper anzuspornen. So fiel der Sattel zur Erde. Eine Lichtung im Wald erweckte bei Ichabod neue Hoffnung. Die Kirchenbrücke konnte nun nicht mehr fern sein. Er sah tatsächlich nun auch die Mauern der Kirche zwischen den Bäumen und erinnerte sich daran, daß Brom Bones geisterhafter Rivale an dieser Stelle verschwunden war. Wenn ich nur diese Brücke erreiche, dachte Ichabod, dann bin ich in Sicherheit. Aber gerade jetzt hörte er das schwarze Pferd hinter sich schnauben, er glaubte schon, dessen heißen Atem zu spüren. Noch ein Fußtritt in die Rippen seines Kleppers, und dieser sprang auf die dröhnenden Bretter der Brücke und erreichte das andere Ufer. Von dort aus warf Ichabod einen Blick zurück, um zu sehen, ob sein Verfolger tatsächlich in einer Wolke von Feuer und Schwefel verschwinde. Dem war aber nicht so. Das Gespenst erhob sich vielmehr in den Steigbügeln und schleuderte seinen Kopf Ichabod nach. Der Schädel traf mit einem ungeheuren Krach den Schulmeister an der Stirn, während der gespenstige Reiter wie ein Wirbelsturm davonpreschte. Am nächsten Morgen wurde das alte Pferd ohne Sattel vor der Tür seines Herrn gefunden. Von Ichabod fehlte jede Spur. Doch entdeckte man an der Brücke den Hut des Verschwundenen und dicht daneben einen zertrümmerten Kürbis. Als Ichabod auch in den nächsten Tagen nicht wieder auftauchte, gaben die Vorfälle dieser Nacht zu allerlei Geschwätz Anlaß. Die alten Weiber behaupteten, er sei von dem galoppierenden Hessen entführt worden. Brom Bones, der kurze Zeit nach Verschwinden seines Nebenbuhlers die blühende Katharina im Triumph zum Altar führte, setzte immer eine schalkhafte Miene auf, wenn Ichabods Geschichte erzählt wurde, und wenn von dem Kürbis die Rede war, den man an der Brücke gefunden, brach er stets in schallendes Gelächter aus, und hieraus wollen einige schließen, daß er von der ganzen Angelegenheit mehr wußte, als er zu sagen für gut befand. Die alten Weiber im Dorf, die in solchen Dingen immer die besten Richter sind, behaupten jedoch bis auf den heutigen Tag, daß Ichabod auf übernatürliche Weise verschwunden sei, und es ist eine Lieblingsgeschichte, die in der Gegend häufig erzählt wird. Die Brücke flößt mehr denn je abergläubische Furcht ein. Das verlassene Schulhaus zerfiel bald, und man sagt, der Geist des unglücklichen Schulmeisters gehe dort um. Bauernknechte, die an stillen Sommerabenden nach Hause schlendern, meinen oft, eine Stimme in der Ferne zu hören, die in der verschwiegenen Einsamkeit des schläfrigen Tales eine schwermütige Psalmenmelodie singt. Das Seegespenst von Jonas Lie Jonas Lie (1833-1908) war zuerst Seekadett, studierte dann in Christiana und entschied sich für die Beamtenlaufbahn. Er lebte eine Zeitlang in Italien und später aufgrund politischer Schwierigkeiten in Deutschland, wo seine Gesellschaftsromane größere Beachtung fanden als in Lies norwegischer Heimat. In seiner Frühzeit und im Alter zeigte Lie ein besonderes Interesse für die Spuk- und Dämonengeschichten seiner Heimat. In den bürgerlichen Realismus seiner Romane dringen immer wieder Elemente surrealer Phantastik ein, wie in der maritimen Erzählung »Das Seegespenst«, die sich in Lies Roman »Der Hellseher« findet. Neben Björnson und Ibsen zählt Lie zu den Wegbereitern der modernen norwegischen Literatur. Auf dem Kvalholm da unten auf Helgeland wohnte ein armer Fischer namens Elias mit seiner Frau Karen, die früher bei dem Pastor in Alstadhaug gedient hatte. Sie hatten sich dort eine Hütte gebaut, und der Mann machte nun gegen Tagelohn die Lofotenfischerei mit. Auf dem einsamen Kvalholm war es nicht ganz geheuer. Wenn der Mann fort war, hörte die Frau mancherlei unheimlichen Lärm und Geschrei, das nicht von etwas Gutem herrühren konnte. Eines Tages, als sie auf die Hochebene gestiegen war und Gras zum Winterfutter für ihre Schafe mähte, hörte sie es sogar deutlich da unter dem Berge am Strande sprechen, aber sie wagte nicht nachzusehen, was es war. Jedes Jahr wurde ihnen ein Kind geboren, aber sie waren beide arbeitsam und fleißig. Als sieben Jahre vergangen waren, befanden sich sechs Kinder in der Stube; aber um diese Zeit hatte sich der Mann auch so viel zusammengespart, daß er glaubte, er könnte sich nun selbst ein sechsrudriges Boot kaufen, um dann auf eigene Hand auf die Fischerei auszusegeln. Eines Tages, als er mit einer Flunderpike in der Hand einherging und hierüber nachgrübelte, stieß er hinter einem Felsenvorsprung am Strande unvermutet auf einen ungeheuren Seehund, der dalag und sich sonnte und Elias wohl ebensowenig erwartet hatte wie dieser ihn. Elias jedoch bedachte sich nicht lange; er stieß ihm die lange schwere Pike gerade in den Rücken, dicht unter dem Genick. Aber gab es da ein Wesen! Der Seehund erhob sich mit einemmal auf dem Schwänze gerade empor in die Höhe, so hoch wie ein Bootsmast, und sah ihn dabei mit ein paar blutunterlaufenen Augen so boshaft und giftig an, während er ihm grinsend die Zähne zeigte, daß Elias vor Schreck beinahe den Verstand verloren hätte. Dann fuhr der Seehund mit einemmal hinunter ins Wasser, so daß der Schaum hinter ihm ganz rot von Blut war. Mehr sah Elias von dem Tier nicht; aber an der Landungsstelle in der Bucht, wo sein Haus stand, kam an demselben Nachmittag die Flunderstange mit abgebrochener Eisenspitze ans Land getrieben. Elias dachte jedoch nicht weiter hieran. Er kaufte sich im Herbst ein sechsrudriges Boot, für welches er bereits im Sommer einen kleinen Schuppen gebaut hatte. Eines Nachts, als er noch wach lag und an seinen Sechsruderer dachte, fiel es ihm ein, daß er, um das Boot ordentlich zu verwahren, vielleicht noch eine kleine Klammer zum Stützen an jeder Seite einsetzen sollte. Er war so unvernünftig froh über das Boot, daß es ihm ein wahres Vergnügen war, aufzustehen und es mit der Laterne in der Hand zu besichtigen. Wie er nun da stand und das Boot beleuchtete, glaubte er plötzlich, in einer Ecke auf dem Netzhaken ein Gesicht zu bemerken, das ganz dem des Seehundes glich. Es grinste ihn und die Laterne eine Weile boshaft an, der Rachen wurde gleichsam größer und immer größer, und schließlich fuhr ein großer Mann zur Tür hinaus, jedoch nicht so schnell, daß Elias bei dem Schein der Laterne nicht deutlich gesehen, wie eine lange Eisenspitze ihm aus dem Rücken hervorstand. Nun begann er doch das eine und das andere zu begreifen. Aber selbst jetzt war er mehr um das Boot als um sein Leben besorgt, und er setzte sich mit der Laterne in der Hand in das Boot und hielt Wache. Als seine Frau am folgenden Morgen hereinkam, fand sie ihn im Boote schlafend, mit der ausgebrannten Laterne neben sich. Als er eines Morgens im Januar mit zwei Männern im Boot auf den Fischfang auszog, hörte er in der Dunkelheit eine Stimme, die von einer Schare, gerade an der Ausfahrt der Bucht, höhnisch lachend sagte: »Wenn du ein großes Boot bekommst, so nimm dich in acht, Elias!« Es dauerte jedoch viele Jahre, bevor Elias es zu einem großen Boote brachte, und sein ältester Sohn Bernt war da bereits siebzehn Jahre alt. In demselben Herbst reiste Elias mit seiner ganzen Familie im Boot nach Ranen, um den Sechsruderer zugleich mit dem Aufgeld gegen ein großes Boot zu vertauschen. Zu Hause blieb nur ein soeben konfirmiertes Lappenmädchen zurück, das Elias vor einigen Jahren zu sich genommen hatte. In Ranen war nun wirklich ein Boot zu haben, ein kleineres Großboot, um das es ihm gerade zu tun war und welches der beste Bootsbauer just in diesem Herbst fertigbekommen und geteert hatte. Elias wußte sehr wohl, wie ein Boot beschaffen sein mußte, und er glaubte, niemals eines gesehen zu haben, das so vorzüglich unter der Wasserlinie gebaut war wie dieses. Über dem Wasser dagegen sah es wenigstens für einen weniger Erfahrenen etwas grob und gar nicht besonders schön aus. Der Baumeister sah dies alles ebensogut wie Elias. Er sagte, nach seiner Ansicht würde er der schnellste Segler werden, der je in Ranen gebaut worden sei; aber Elias sollte es trotzdem für billiges Geld haben, wenn er nur eines versprechen wollte, nämlich keine Änderung am Boote vorzunehmen, nicht einmal einen Nagel in die geteerten Steven zu schlagen. Erst als Elias ausdrücklich dieses Versprechen gegeben, bekam er das Boot. Aber der Mann, der den Baumeister diese Form unter der Wasserlinie gelehrt hatte – über dem Wasser mußte er arbeiten, wie er es selbst konnte, und das wurde oft schlecht genug –, war wahrscheinlich dort gewesen und hatte ihm befohlen, das Boot so billig zu verkaufen, daß Elias es erwerben könnte, und ihm zugleich eingeschärft, im voraus die Bedingung zu machen, daß es nicht gezeichnet werden dürfe. Auf diese Weise konnten nicht, wie es gebräuchlich war, am Vorder- und Hintersteven Kreuze angebracht werden. Elias gedachte nun wieder nach Hause zu segeln, aber erst ging er nach dem Handelsplatz und versorgte sich und die Seinen mit Weihnachtsvorrat, darunter auch eine Branntweinkruke. Sehr froh und zufrieden über den Handel, nahmen er sowohl wie seine Frau an diesem Tage vielleicht einen Schluck über den Durst, und auch Bernt, der Sohn, durfte ein wenig davon kosten. Dann segelten sie in dem neuen Boote nach Hause. Anderer Ballast als Elias selbst nebst Frau und Kindern und dem Weihnachtsvorrat befand sich nicht im Boote. Der Sohn Bernt saß vorn, die Frau, unterstützt von dem Zweitältesten Sohn, hielt die Segel, und Elias selbst saß am Ruder, während die beiden jüngeren zwölf und vierzehn Jahre alten Brüder sich beim Wasserschöpfen ablösen sollten. Sie hatten acht Seemeilen zu segeln, und als sie auf die See hinauskamen, zeigte es sich, daß sie das Boot gleich dies erstemal würden auf die Probe stellen müssen. Nach und nach steigerte sich der Wind zu einem Sturm, und die Schaumkämme der schweren Wogen begannen sich aneinander zu brechen. Jetzt sah Elias, was für ein Boot er hatte; es durchschnitt die Wellen wie ein Seevogel, ohne daß auch nur ein Tropfen ins Boot kam, und er meinte, daß er nicht ein ganzes Reff beizusetzen brauche, was auf einem gewöhnlichen Großboot bei solchem Wetter notwendig gewesen wäre. Später am Tage bemerkte er nicht weit von sich auf der See ein anderes Großboot mit voller Besatzung und viermal gerefften Segeln. Es hatte denselben Kurs, und er fand es etwas seltsam, daß er es nicht früher gesehen. Es schien, als wolle es mit ihm um die Wette segeln, und als er das merkte, konnte er es nicht unterlassen, sein Segel wieder aufzusetzen. Jetzt ging es mit rasender Schnelligkeit an Landzungen, Werdern und Schären vorüber, so daß es Elias schien, als sei er noch nie zuvor auf einer so prächtigen Segelfahrt gewesen, und nun zeigte es sich auch, daß das Boot wirklich das beste in Nordland war. Das Meer ging indes immer höher, und sie hatten bereits mehrere ordentliche Sturzwellen bekommen. Sie brausten vorn am Halse, wo Bernt saß, herein und flossen in der Nähe des Hinterverdecks wieder in die See hinaus. Als es dunkel geworden, war das andere Boot ganz in ihre Nähe gekommen, so daß sie sich einander etwas hätten zuwerfen können. So ging die Fahrt Seite an Seite auf der immer gefährlicher werdenden See in die Nacht hinein. Es hätte nun eigentlich wieder gerefft werden müssen, aber Elias wollte sich bei dem Wettfahren nicht gern für besiegt erklären und gedachte damit so lange wie möglich zu warten – bis die anderen es taten, wo es vielleicht ebenso notwendig war. Immer öfter ging nun die Branntweinkruke herum, da sie jetzt sowohl der Kälte wie der Nässe zu widerstehen hatten. Das »Meerleuchten«, das auf den schwarzen Wogen neben Elias’ Boot spielte, strahlte eigentümlich stark auf dem Schaumrande um das andere Boot, das gleichsam durch feurige Sturzwellen dahinsegelte. Bei dem hellen Phosphorschein vermochte er sogar die Taue am Boote zu unterscheiden. Er konnte auch deutlich die Leute an Bord sehen, mit ihren Südwestern auf dem Kopf; aber als ihre Luvseite zunächst lag, kehrten sie ihm alle den Rücken zu und wurden zudem fast gänzlich von dem hohen Rande des Bootes verdeckt. Plötzlich schlug eine schreckliche Sturzwelle, deren weißen Kamm Elias schon von weitem durch die Dunkelheit erblickt hatte, ins Boot, wo Bernt saß. Sie hielt gleichsam das ganze Boot einen Augenblick auf; die Planken erbebten und zitterten unter ihrem Druck, und dann strömte sie hinten über die Leeseite wieder hinaus, als das Boot, welches eine Weile halb gekentert dalag, sich wieder erhob und von neuem dahinschoß. Während dies geschah, schien es Elias, als ob von dem andern Boot her schrecklich geschrien würde. Aber als es vorüber war, rief die Frau, die hinten am Segel saß, mit einer Stimme, die ihm ins Herz schnitt:« Herr mein Gott, Elias, die Welle hat Martha und Nils mit sich genommen!« Das waren ihre zwei jüngsten Kinder, das erstere neun, das andere sieben Jahre alt. Sie hatten neben Bernt gesessen. Elias antwortete nur: »Laß das Segel nicht los, sonst wirst du noch mehr verlieren!« Es galt nun das viertemal zu reffen, und als das geschehen war, fand Elias, daß er sogar zum fünften Male reffen müßte, denn der Sturm ward immer ärger; aber um anderseits die immer schwereren Sturzwellen umsegeln zu können, durfte er das Segel nicht weiter einziehen, als durchaus notwendig war. Es kam jedoch so, daß sie das Segel mehr und mehr einziehen mußten. Die See peitschte ihnen ins Gesicht, und Bernt und der nächstälteste Bruder Anton, der bisher der Mutter am Segel geholfen, mußten sich schließlich an der Rah halten – ein Ausweg, zu dem man seine Zuflucht nimmt, wenn das Boot nicht einmal das fünfmal gereffte Segel mehr verträgt. Das benachbarte Boot, das eine Weile nicht sichtbar gewesen, tauchte plötzlich neben Elias’ Boot wieder auf, mit ganz derselben Takelage wie dieses; aber die Mannschaft dort an Bord wollte ihm jetzt nicht recht gefallen. Die beiden, welche die Rah hielten und deren bleiche Gesichter er unter den Südwestern erblickte, schienen ihm bei der seltsamen Beleuchtung der Schaumwoge mehr Gespenstern als Menschen zu gleichen; auch sprachen sie kein einziges Wort. Eine Strecke entfernt erblickte er jetzt wieder auf dem Wasser den hohen Kamm einer Sturzwelle, welche sich durch die Finsternis näherte, und er bereitete sich beizeiten darauf vor, sie zu empfangen. Das Boot wurde mit dem Steven direkt auf die Welle gelegt und das Segel so groß wie möglich geführt, um Schnelligkeit genug zu gewinnen, daß er die Welle durchschneiden und wieder aus ihr heraussegeln könnte. Herein brauste die Sturzwelle, tosend wie ein Wasserfall; wieder lagen sie einen Augenblick halb gekentert; aber als die Gefahr vorüber war, saß die Frau nicht mehr am Segel, und auch Anton stand nicht mehr da und hielt die Rah – sie waren beide über Bord gegangen. Auch diesmal schien es Elias, als hörte er denselben unheimlichen Ruf in der Luft. Aber dazwischen hörte er deutlich seine Frau angstvoll seinen Namen rufen. Als er begriff, daß sie über Bord gespült war, sagte er nur: »In Jesu Namen!« und schwieg dann. Es war ihm so zumute, daß er ihr am liebsten gefolgt wäre, aber er fühlte zugleich, daß es nun galt, den Rest der Last zu bergen, die er noch an Bord hatte, nämlich Bernt und seine zwei anderen Söhne, der eine zwölf, der andere vierzehn Jahre alt, die nun im Hintersteven hinter ihm Platz erhalten hatten. Bernt mußte allein auf die Rah achten; er und der Vater mußten sich so gut helfen, wie es gehen wollte. Das Steuerruder wagte Elias nicht loszulassen, und er hielt es mit eiserner Hand fest – sie war jedoch längst vor Anstrengung gefühllos geworden. Eine Weile darauf tauchte das andere Boot wieder auf; es war, wie das erstemal, eine Zeitlang nicht zu sehen gewesen. Nun sah Elias auch mehr von dem großen Mann, der auf demselben Platz wie er selbst im Hintersteven saß. Aus seinem Rücken unterhalb des Südwesters stand, als er sich umwandte, ganz richtig eine lange Eisenpike, die Elias wiederzuerkennen glaubte. Dadurch ward ihm zweierlei klar: Erstens, daß es niemand anders war als das Seegespenst selbst, das sein Halbboot dicht neben ihm lenkte und ihn ins Verderben geführt, und zweitens, daß es so bestimmt war, daß er in dieser Nacht seine letzte Fahrt machte. Denn der, welcher das Seegespenst auf dem Meere erblickt, ist verloren. Er sagte nichts zu seinen Söhnen, um ihnen nicht den Mut zu rauben; aber in der Stille empfahl er Gott seine Seele. Seit einigen Stunden hatte er den Kurs ändern müssen, um dem Sturm auszuweichen; zugleich entstand nun ein Schneegestöber, und so sah er ein, daß er auf die Landung warten müßte, bis der Tag graute. Die Fahrt ging indes wie bisher. Von Zeit zu Zeit klagten die Knaben im Hintersteven, daß sie frören, aber dagegen war ja bei der Nässe nichts zu machen, und Elias war zudem mit ganz anderen Gedanken beschäftigt. Es hatte ihn ein so heißes Verlangen ergriffen, sich zu rächen, und er würde es auch getan haben, wenn er nicht das Leben seiner drei übrigen Kinder zu verantworten gehabt hätte. Dann würde er durch eine plötzliche Wendung versucht haben, das verfluchte Boot in den Grund zu segeln, das noch immer wie zum Hohn sich neben ihm hielt und dessen böse Absicht er nur allzu klar durchschaute. Konnte die Flunderpike früher das Gespenst treffen, so ließ sich auch wohl jetzt mit einem Messer oder einem eisernen Fischhaken dasselbe erreichen, und er fühlte, er würde gern sein Leben hingegeben haben, um den ordentlich zu treffen, der ihm so unbarmherzig das Liebste auf Erden genommen und wohl noch mehr haben wollte. Als es zwischen drei und vier Uhr nachts war, erblickte Elias wieder in der Dunkelheit eine Schaumbrechung von solcher Höhe, daß er anfangs glaubte, es sei eine Brandung in der Nähe des Landes. Er erkannte jedoch bald, was es war, nämlich eine ungeheure Woge. Da glaubte er deutlich zu hören, wie es in dem anderen Boote lachte, und er vernahm die Worte: »Nun steure dein Großboot, Elias!« Dieser, der das Unglück voraussah, sagte jetzt laut: »Nun, in Jesu Namen!«, bat dann seine Söhne, sich mit aller Macht an den Ruderpflöcken festzuhalten, wenn das Boot untertauchte, und nicht eher loszulassen, als bis sie wieder über Wasser wären. Er ließ den ältern vorn zu Bernt gehen, er selbst behielt den jüngsten dicht neben sich, strich ihm heimlich mehrmals die Wange und vergewisserte sich, ob er sich recht festhielt. Das Boot wurde buchstäblich unter der Schaumwelle begraben, erhob sich jedoch nach und nach mit dem Vordersteven und ging dann unter. Als es mit dem Kiel nach oben wieder an die Oberfläche stieg, lagen Elias, Bernt und der zwölfjährige Martin neben dem Boot und hielten sich an dem Weidenbande fest; aber der dritte Bruder fehlte. Nun galt es zunächst, die Tauwände an der Seite zu durchschneiden, so daß der Mast an der andern Seite neben dem Boot schwimmen könnte, statt gewaltsam unter demselben zu arbeiten, und dann auf den Kiel zu gelangen, um den Zapfen aus dem Schlüsselloch zu entfernen und die Luft, die das Boot jetzt zu hoch im Wasser hielt, herauszulassen, damit es still liegen könnte. Nach großen Anstrengungen glückte dies, und Elias, der zuerst auf den Kiel gelangte, half nun auch den beiden Söhnen hinauf. Und dort saßen sie nun in der langen, finsteren Winternacht, mit Händen und Knien sich krampfhaft an den Boden des Bootes festklammernd, über welches eine Welle nach der andern schlug. Schon nach ein paar Stunden starb Martin, den der Vater die ganze Zeit über nach Möglichkeit gestützt hatte, vor Ermattung und glitt in die See hinunter. Mehrmals hatten sie um Hilfe gerufen, gaben es aber wieder auf, weil sie einsahen, daß es nichts nützen würde. Während die beiden nun allein auf dem umgeschlagenen Boote saßen, sagte Elias zu Bernt: Er glaube, auch er würde bald »der Mutter folgen«; er habe jedoch die feste Hoffnung, Bernt würde gerettet werden, wenn er nur wie ein Mann aushalte. Dann erzählte er ihm von dem Seegespenst, das er mit der Flunderpike in den Nacken gestoßen und wie dieses sich nun an ihm gerächt habe und wohl nicht nachgeben würde, bis sie quitt seien. Gegen neun Uhr morgens, als der Tag zu grauen begann, reichte Elias Bernt, der neben ihm saß, seine silberne Uhr mit der Messingkette, die er entzweigerissen hatte, um unter der zugeknöpften Weste die Uhr hervorzuziehen. Er blieb noch eine Weile sitzen; aber als es heller wurde, sah Bernt, daß des Vaters Antlitz totenbleich war und das Haar sich an verschiedenen Stellen geteilt hatte, wie es wohl bei einem Sterbenden zu geschehen pflegt, und durch das Festhalten am Kiel war ihm die Haut von den Händen abgerieben. Der Sohn begriff jetzt, daß es mit dem Vater zu Ende ging, und wollte, wenn’s ihm nur eben möglich sei, zu ihm hinrücken, um ihn zu stützen; aber als Elias dies merkte, sagte er: »Halt dich nur unverzagt fest, Bernt! In Jesu Namen geh’ ich nun zur Mutter!« Und damit warf er sich rücklings von dem Boot ins Meer. Als die See ihre Beute empfangen hatte, wurde sie, wie jeder weiß, der auf einem solchen umgestürzten Boot gesessen, eine Weile nachher ruhiger. Es ward jetzt Bernt leichter, sich festzuhalten, und mit dem heller werdenden Tage faßte er auch neue Hoffnung. Der Sturm legte sich, und als es ganz hell geworden, schien es ihm, als ob er die Gegend erkennte und seiner Heimat, dem Kvalholm, zutriebe. Er begann jetzt wieder um Hilfe zu rufen, setzte aber seine meiste Hoffnung auf eine Strömung, von der er wußte, daß sie an einer Stelle ans Land trug, wo eine Landzunge der Insel die Wogen brach, so daß das Wasser ruhig wurde. Er trieb auch ganz richtig immer näher und kam schließlich einer Schäre so nahe, daß der Mast, der neben dem Boote schwamm, zugleich mit den Wellen an der schrägen Klippe auf und nieder wogte. So starr seine Glieder von dem Sitzen und Festhalten auch waren, gelang es ihm jetzt doch unter großer Anstrengung, sich auf die Felsenklippe zu retten, auf die er den Mast hinaufzog und wo er das Großboot vertaute. Das Lappenmädchen, das allein zu Hause war, hatte seit ein paar Stunden Notrufe zu vernehmen geglaubt, und da dieselben nicht aufhörten, stieg sie auf eine Anhöhe, um zu sehen, was es wäre. Da gewahrte sie Bernt auf der Klippe und sah das umgekehrte Großboot an derselben auf und ab wogen. Sie lief sofort hinunter, schob das alte Ruderboot ins Wasser und ruderte um die Insel herum zu ihm hinaus. Bernt lag unter ihrer Pflege den ganzen Winter krank und ging in diesem Jahre nicht auf den Fischfang. Die Leute meinten auch, nach diesen Erlebnissen wäre er manchmal von etwas wunderlicher Art. Auf das Meer wollte er nicht wieder hinaus – er hatte den Seeschreck bekommen. Er heiratete das Lappenmädchen und zog hinauf nach Malangen, wo er sich ein Rodeland erwarb und wo er jetzt lebt und sich gut steht. Die Johannisnacht von Nikolaj Gogol Nikolaj Gogol (1809-1852) fand mit seinen ersten literarischen Versuchen kaum Beachtung. Erst als er sich der gesellschaftssatirischen, realistischen Schilderung der russischen Provinzverhältnisse zuwandte, stellte sich der Erfolg ein. Sein Hauptwerk, der Roman »Die toten Seelen«, erschien 1842. Seit 1836 lebte Gogol im Ausland, meist in Rom, wo er sich immer mehr religiösem Mystizismus und dumpfer Melancholie hingab. Heute zählt Gogol zu den Begründern der realistischen Prosa in der russischen Literatur. Foma Grigorjewitsch hatte eine merkwürdige Eigentümlichkeit: Er konnte es auf den Tod nicht leiden, ein und dieselbe Geschichte mehrmals erzählen zu müssen. Gab er aber schon einmal den Bitten nach und erzählte etwas zum zweiten Male, dann fügte er entweder hier eine neue Wendung hinzu, oder änderte dort etwas, so daß man die Geschichte kaum wiedererkennen konnte. Einmal hatte einer jener Herren – wir einfachen Leute wissen nicht recht, wie wir sie nennen sollen: Schreiber oder dergleichen, so was ähnliches wie die Makler auf unseren Jahrmärkten; sie kramen, betteln und stehlen sich allerhand Zeug zusammen und senden dann jeden Monat oder gar jede Woche ein Büchelchen so dick wie eine Fibel in die Welt hinaus – einmal also hatte einer jener Herren unserem Foma Grigorjewitsch die folgende Geschichte hier abgeluchst, und er hatte das ganz vergessen. Aber eines Tages kommt dasselbe Herrchen im erbsengrauen Kaftan aus Poltawa, von dem ich schon einmal sprach, und von dem ihr wohl die eine Geschichte schon gelesen habt, er kommt also, bringt ein kleines Büchelchen mit, schlägt’s in der Mitte auf und zeigt uns die Sache. Foma Grigorjewitsch war schon im Begriff, seine Nase mit der Brille zu besatteln, aber da fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, ein Stück Faden um sie zu wickeln und Wachs drauf zu kleben, und so gab er denn mir das Buch. Ich verstehe mich nun mal leidlich aufs Lesen und brauche keine Brille, und so begann ich denn. Aber ich hatte noch keine zwei Seiten umgewendet, als er mich fest bei der Hand nahm und unterbrach. »Halt, sagt mir zuerst, was Ihr da lest?« Ich muß gestehen, diese Frage verblüffte mich ein wenig. »Wie, Foma Grigorjewitsch? Was ich da lese? Das ist doch Eure Geschichte, es sind Eure eigenen Worte!« »Wer hat Euch das erzählt, daß das meine Worte sind?« »Was wollt Ihr denn noch mehr? Da steht’s doch gedruckt. Erzählt von dem Küster Soundso.« »Spuckt dem Jungen auf den Kopf, der das darauf gedruckt hat! Er lügt, der Saukerl! Das soll ich gesagt haben? Das ist ja fast so, als hätte der Satan einen Sparren! Hört zu, die muß ich Euch selbst erzählen. Wir rückten am Tische zusammen und er begann. Mein Großvater (Gott hab’ ihn selig! Möge er in jener Welt nur Weizenbrot und Mohnkuchen mit Meth zu essen bekommen!), mein Großvater verstand es wunderbar zu erzählen. Wenn der erst einmal damit anfing, so mochte man sich am liebsten den ganzen lieben Tag nicht vom Platze rühren und nur immer zuhören. Und er redete nicht etwa wie einer von den heutigen Faselhänsen; wenn so einer anfängt, sein Garn herunter zu spinnen, und dabei noch mit einem Maul, als hätte er drei Tage lang nichts zu essen gekriegt, dann möchte man am liebsten nach der Mütze greifen und davonlaufen. Ich erinnere mich noch, wie wenn es heute wäre – meine Mutter selig war noch am Leben –, an die langen Winterabende, wenn draußen heftiges Frostwetter herrschte und das schmale Fensterchen unserer Stube dicht mit Schnee verklebte, wie sie da am Spinnrocken saß, mit der Hand den langen Faden zog, mit dem Fuß die Wiege schaukelte und ein Lied dazu sang, das ich jetzt noch im Ohr habe. Das Lämpchen beleuchtete zitternd und wie im Schreck aufflackernd die Stube. Die Spindel surrte; und wir Kinder hörten alle, zu einem Haufen zusammengedrängt, dem Großvater zu, der vor Alter schon über fünf Jahre nicht mehr hinterm Ofen hervorgekrochen war. Aber keiner der wundersamen Berichte aus den alten Tagen von den Ritten der Saporoger, von den Polen, von den kühnen Taten des Podkowa, des Poltora-Koschucha oder des Sagajdatschny ergriffen uns so stark wie die Berichte über eine alte, sonderbare Begebenheit, bei der einem ein Schauer über den Leib lief und das Haar sich sträubte. Manchmal kam eine solche Angst über einen, daß man abends Gott weiß was für Ungeheuer zu sehen meinte. Hattest du mal nachts die Stube verlassen, um etwas zu besorgen, so glaubtest du sicher, es habe sich ein Fremdling aus jener Welt in dein Bett gelegt, um zu schlafen. Ich will auf der Stelle sterben, wenn ich nicht oft meinen eignen Kittel am Kopfende des Bettes für einen zusammengekauerten Teufel hielt. Aber die Hauptsache an den Erzählungen des Großvaters war, daß er sein Lebtag nie gelogen hat, und wie er’s sagte, genauso war es auch. Eine von seinen sonderbaren Geschichten will ich euch jetzt erzählen. Ich weiß wohl, es werden sich schon etliche Klüglinge finden, die Gerichtsschreiber sind oder gar neumodische Schriften lesen, welche zwar keinen Deut verstehen, wenn man ihnen ein Stundenbuch in die Hand drückt, aber dafür um so besser die Zähne zu fletschen wissen. Was man denen auch erzählen mag, sie lachen ja doch. Was hat sich doch jetzt für ein Unglaube in der Welt verbreitet! Gott und die unbefleckte Jungfrau mögen mir beistehen – ihr werdet’s vielleicht nicht glauben: Als ich einmal von Hexen sprach – da fand sich doch wahrhaftig so ein Springinsfeld, der nicht an Hexen glauben wollte! Gott sei Dank, ich lebe schon viele Jahre; ich habe schon Menschen gesehen, die solche Heiden waren, daß es ihnen leichter wurde, in der Beichte zu lügen, als unsereinem, eine Prise zu nehmen; aber auch die schlugen vor einer Hexe das Kreuz. Wenn denen einmal im Traum … na, ich will’s gar nicht erst über die Zunge bringen … was soll man über so was noch Redens machen. Vor vielen vielen Jahren, ’s werden wohl sicher über hundert sein – erzählte mein Großvater selig –, war unser Dorf noch etwas ganz anderes als jetzt! Da war’s noch ein Weiler, der aller­ärmste Weiler! Zehn ungetünchte und ungedeckte Hütten lagen mitten im Felde verstreut, und es gab weder einen Zaun, noch einen anständigen Schuppen, in dem man Vieh oder einen Wagen hätte unterstellen können. Und die, die so lebten, das waren noch die Reichen, was aber erst unsereiner von der Brüderschaft der Habenichtse für ein Leben hatte, das läßt sich kaum beschreiben! Ein Loch in der Erde – das war das ganze Haus! Nur an dem Rauch konnte man merken, daß da ein Menschenkind unseres lieben Herrgotts hauste. Ihr werdet nun fragen, warum lebten die wohl so? Armut allein war’s nicht, denn damals war fast jeder ein freier Kosak und hatte sich in fremden Ländern nicht wenig Reichtümer erbeutet; nein, man sehnte sich gar nicht nach einem richtigen Hause. Was trieben sich damals nicht allerorts für Menschen herum: Leute aus der Krim, Polen, Litauer usw. Oft geschah es auch, daß man von den eigenen Landsleuten geschunden wurde. Ja ja, da kam mancherlei vor. In diesem Weiler nun tauchte zuweilen ganz plötzlich ein Mensch oder richtiger gesagt, ein Teufel in Menschengestalt auf. Woher er kam und zu welchem Zwecke – das wußte niemand. Er soff, vergnügte sich – und auf einmal war er verschwunden, wie wenn er in die Erde gesunken wäre. Dann kam er wieder, wie vom Himmel gefallen, trieb sich auf den Straßen des Dorfes umher, von dem jetzt keine Spur mehr übrig ist, und das vielleicht nicht mehr als hundert Schritte von Dikanka entfernt war, sammelte die ersten besten Kosaken um sich, und dann ging ein Lachen und Singen an: Das Geld wurde nur so ausgeschüttet, und der Schnaps rann dahin wie Wasser. Dann ging er zu den Mädchen und schenkte ihnen Bänder, Ohrringe und Perlen – in vollen Haufen! Freilich, so manches Mädel wurde bedenklich bei diesen Geschenken: Weiß Gott, am Ende waren sie in der Tat durch unreine Hände gegangen. Die leibliche Tante meines Großvaters, die damals auf der heutigen Landstraße von Oposchnjani einen Ausschank hatte, in dem Bassawrjuk (so hieß dieser Teufelskerl) oft zechte, pflegte zu sagen, sie würde um keinen Preis in der Welt ein Geschenk von ihm annehmen. Aber wie konnte man wiederum etwas zurückweisen? Jedem wurde gruselig zumute, wenn er seine borstigen Brauen runzelte und einen finstern Blick auf einen warf, daß man am liebsten ausgerissen wäre; nahm man aber das Geschenk an, so konnte man schon in der nächsten Nacht einen Gast aus dem Moor, einen mit Hörnern auf dem Kopfe, erwarten. Und der würgte einen, wenn man Perlen am Halse trug, biß einen in den Finger, wenn ein Ring darauf steckte, oder riß einer Frau fast den Zopf aus, wenn sie ein Band darein geflochten hatte. Zehn Schritt vom Leibe mit solchen Geschenken! Eine neue Not aber war es, sie loszuwerden. Man wirft sie ins Wasser – aber der teuflische Ring oder die Perlen schwimmen obenauf und springen einem wieder in die Hand zurück. Im Dorfe stand auch eine Kirche, die, wenn ich mich recht besinne, dem heiligen Pantelej angehörte. Damals nun waltete in ihr ein Priester namens Vater Afanassi, seligen Angedenkens. Als er gewahrte, daß Bassawrjuk sogar am Ostersonntag nicht in die Kirche kam, wollte er ihn ausschelten und ihm eine Kirchenbuße auferlegen; aber sieh da, er kam kaum mit heiler Haut davon. »Hör mal, Herr!« brüllte ihn jener an. »Kümmere dich lieber um deine Geschäfte, anstatt dich in fremde zu mischen, wenn du nicht willst, daß dir dein Ziegenhals mit einem heißen Sterbekuchen verkleistert wird!« Was konnte man mit diesem Gottverdammten anfangen? Vater Afanassi erklärte nun jeden, der mit Bassawrjuk verkehren würde, für einen Römling und für einen Feind der Christenkirche und des ganzen Menschengeschlechts. In demselben Dorfe hatte auch ein Kosak namens Korsch einen Arbeiter, den die Leute Peter Heimatlos nannten, vielleicht deshalb, weil er weder seinen Vater noch seine Mutter kannte. Der Kirchenvorstand hatte zwar gesagt, sie wären schon in seinem zweiten Lebensjahr an der Pest gestorben; aber die Tante meines Großvaters wollte es nicht wahrhaben und war aus aller Kraft bemüht, ihm Eltern aufzudrängen, obgleich der arme Peter sich geradesoviel um diese Frage kümmerte, wie wir um den vorjährigen Schnee. Sie behauptete, sein Vater befinde sich jetzt noch in der Saporoger Gegend, sei in Gefangenschaft bei den Türken gewesen, habe Gott weiß welche Qualen erdulden müssen, und habe nur durch ein Wunder, als Eunuch verkleidet, Reißaus nehmen können. Die schwarzbrauigen Mädels und die jungen Weibsleute scherten sich wenig um seine Verwandtschaft. Sie äußerten nur, wenn man ihm einen feinen Rock – etwa einen neuen Schupan – anzöge, einen roten Gürtel umlegte, eine neue Mütze aus schwarzem Lammfell mit einer schmucken Kappe aufsetzte, ihm einen türkischen Säbel an die Seite schnallte und in die eine Hand einen langen Degen und in die andere eine hübsch eingefaßte Pfeife gäbe – dann würde er alle andern Burschen in die Tasche stecken. Aber der arme Petrusj besaß alles in allem nur einen einzigen grauen Kittel, der mehr Löcher hatte, als mancher Jude Dukaten in der Tasche. Doch das wäre noch nicht schlimm gewesen, was schlimm war, war vielmehr dies: Der alte Korsch hatte ein Töchterchen, eine Schönheit, wie ihr sie wohl kaum je gesehen habt. Die Tante des seligen Großvaters pflegte zu erzählen – und ihr wißt ja, ein Weib wird, mit Verlaub zu sagen, eher den Teufel küssen, als eine andere schön nennen –, daß die runden Bäckchen des Kosakenmädchens so frisch und glänzend waren wie die allerzarteste rote Mohnblume, die sich in Gottes Tau gebadet hat und nun aufleuchtet, ihre Blättchen ausbreitet und sich vor der aufgehenden Sonne putzt. Wie schwarze Schnürchen, die die Mädchen heutzutage bei den Hausierern in den Dörfern für ihre Kreuze und Schmuckdukaten kaufen, so zart schwangen sich die Brauen über ihren Augen, als spiegelten sie sich in ihrem klaren Kristall. Ihr Mündchen, nach dem der ganzen jungen Welt von damals der Mund wässerte, schien wie geschaffen für die Gesänge einer Nachtigall. Ihr Haar, schwarz wie Rabenfittiche und weich wie junger Flachs (denn damals flochten es die jungen Mädchen noch nicht zu kleinen Zöpfchen, durch die sie sich jetzt hübsche bunte Bänderchen ziehen) fiel in vollen Locken auf den goldbestickten Überwurf herab. Ei, da soll mich doch Gott von der Kanzel nie wieder das Hallelujah singen lassen, wenn ich sie nicht auf der Stelle abküssen möchte, und wenn auch der alte Wald auf meinem Schädel schon so ziemlich grau ist und meine Alte sich mir an die Seite heftet, wie ein Star ins Auge. Na, wenn ein Bursch und ein Mädel nah beieinander wohnen … ja, da wißt ihr schon, was draus wird. Man konnte stets in aller Herrgottsfrühe den Abdruck der Stiefeleisen auf der Stelle sehen, wo Pidorka mit ihrem Petrusj gestanden hatte. Korsch hätte immer noch nichts Schlimmes geahnt, aber einst – und das kam durch nichts anderes als durch die List eines Teufels –, da fiel es Petrusj ein, ohne sich genauer im Flur umzusehen, sozusagen von ganzer Seele einen Kuß auf die rosigen Lippen des Kosakenmädchens zu pressen. Und dieser selbe Teufel – mag doch der Hundesohn vom heiligen Kreuz träumen! – ritt den alten Knasterbart, daß er gerade zu dieser Zeit die Tür öffnete. Korsch stand da wie ein Holzklotz, sperrte den Mund auf und mußte sich an die Tür lehnen. Der verdammte Kuß schien ihn vollkommen betäubt zu haben. Er kam ihm lauter vor als der Schlag eines Mörserstößels auf ein Brett, mit dem zu unserer Zeit die Bauern in Ermangelung von Pulver und Flinte den Festschmaus zu Ehren Johannes des Täufers begleiten. Als er wieder zu sich gekommen war, nahm er seine Nagaika aus Urväter Zeiten von der Wand und wollte sie schon auf den Rücken des armen Peter niedersausen lassen, da erschien auf einmal Pidorkas sechsjähriges Brüderchen Iwasj, kam erschreckt herbeigelaufen, umschlang seine Beine mit den Händchen und schrie: »Vater, Vater, schlag den Petrusj nicht!« Was war da zu machen? Ein Vaterherz ist nicht von Stein: Er hing die Nagaika an die Wand und führte ihn leise aus dem Zimmer hinaus. »Wenn du dich jemals wieder hier im Hause sehen läßt oder auch nur am Fenster, so höre, Petrusj: Bei Gott, dein schwarzer Schnurrbart ist dahin und auch deine Kosakenlocke, die du dir doppelt ums Ohr wickelst – ich will nicht Terenti Korsch sein, wenn sie nicht von deinem Schädel Abschied nimmt!« Bei diesen Worten versetzte er ihm einen leichten Stoß in den Nacken, so daß Petrusj Hals über Kopf hinausflog. So weit hatten sie es mit dem Küssen gebracht. Ein schwerer Kummer überfiel unser Täubchen; dazu ging noch im Dorfe das Gerücht um, zu Korsch ins Haus käme ein goldbeladener Pole mit Schnurrbart, Säbel und Sporen, dessen Taschen so klirrten wie der Klingelbeutel, den unser Meßner Taras täglich in der Kirche umgehen läßt. Nun, man weiß ja, wozu man einen Vater besucht, der eine schwarzäugige Tochter hat. Einmal schlang Pidorka die Arme um ihren Bruder Iwasj: »Iwasj, mein Liebling, bester Iwasj! Lauf zu Petrusj, mein goldenes Kind, rasch wie ein Pfeil vom Bogen schnellt, und erzähl ihm alles: Ich möchte seine grauen Augen liebkosen und sein weißes Antlitz küssen, aber das Schicksal will es nicht. Manches Tuch habe ich mit meinen heißen Tränen benetzt, mir ist so bang und so schwer ums Herz. Mein eigner Vater ist mir feind und zwingt mich, dem ungeliebten Polen in die Ehe zu folgen. Sag ihm, man bereite schon die Hochzeit vor, doch es soll keine Musik auf unserer Hochzeit geben, und nur die Küster werden plärren, statt daß Zither und Schalmei erklingen. Und nicht werde ich mit meinem Gemahl zum Tanze gehen, sondern hinaustragen wird man mich aus dem Hause. Dunkel und düster wird mein enges Haus sein – aus Ahornbrettern wird es gezimmert sein, und statt eines Schlotes wird ein Kreuz auf dem Dache stehn!« Wie versteinert und ohne sich von der Stelle rühren zu können, hörte Petrusj das unschuldige Kind Pidorkas Worte nachlallen. »Dacht’ ich Unglücklicher nicht schon daran, in die Krim oder ins Türkenland zu ziehen, mir Gold zu erbeuten und mit vielen Gütern beladen zu dir zurückzukehren, du meine Schönste? Doch es sollte nicht sein. Ein böser Blick hat uns getroffen. Wohl werden wir Hochzeit feiern, mein teures Fischlein du, aber kein Küster wird auf unserer Hochzeit singen – statt eines Popen krächzt mir zu Häupten ein schwarzer Rabe, das weite Feld wird mein Haus und die graue Wolke mein Dach sein; meine grauen Augen hackt der Adler aus; der Regen wird mir die Kosakenknochen bleich waschen, und der Sturmwind wird sie austrocknen. Doch was tu ich? Wem klag’ ich was vor? Gott hat’s wohl so angeordnet! Verloren ist verloren!« – Und stracks zog er in die Schenke. Die Tante meines seligen Großvaters war nicht wenig erstaunt, als sie Petrusj in der Schenke sah, und dazu noch zu einer Zeit, wo ein braver Mensch zur Frühmesse geht. Sie glotzte ihn mit ihren Augen an, wie wenn sie noch im Schlafe läge, als er einen Krug – oder richtiger fast einen halben Eimer voll Branntwein bestellte. Allein vergebens suchte der Ärmste seinen Kummer zu ertränken. Der Schnaps brannte ihm auf der Zunge wie Nesseln und dünkte ihn bitterer als Wermut. Weit von sich warf er den Krug zu Boden. Da dröhnte es im Baß über seinem Kopfe: »Laß doch das Trauern, Kosak!« Er schaut auf: Es war Bassawrjuk! Uh, welche Fratze! Der hatte Haare wie ein Borstenvieh und Augen wie ein Bulle! »Ich weiß, was dir fehlt: das da!« rief er und klirrte teuflisch grinsend mit seiner ledernen Geldkatze, die ihm am Gürtel hing. Petrusj erbebte. »Hehe, wie die glühen!« brüllte er und schüttete sich die Dukaten auf die Hand. »Hehe, die klimpern! Und doch heißt’s nur eine einzige Tat vollbringen, um einen ganzen Berg solcher Schnipsel!« – »Satan!« schrie da Petrusj. »Her damit! Ich bin zu allem bereit!« Beide gaben sich den Handschlag und waren einig. »Sieh, Petrusj, du kommst gerade zur rechten Zeit: Morgen ist Johannistag. Nur in dieser Nacht des Jahres treibt das Farnkraut Blüten. Du darfst es nicht verpassen. Ich erwarte dich um Mitternacht in der Bärenschlucht.« Ich glaube, die Hühner warten nicht so auf den Augenblick, wo ihnen die Hausfrau Krumen streut, wie Petrusj auf den Abend wartete. Immerwährend blickte er aus, ob die Baumschatten nicht länger würden, ob nicht die tief herabgesunkene Sonne in Purpur erglömme, und je länger er wartete, um so ungeduldiger wurde er. Wie lange dauerte das doch! Gottes Tag konnte wohl kein Ende finden. – Nun ist die Sonne fort. Nur noch auf einer Seite rötet sich der Himmel noch. Und schon erlischt er. Es wird kälter im Felde; dunkler und dunkler wird’s, und alles liegt in nächtlicher Finsternis da. Endlich! Das Herz wollte ihm schier aus der Brust springen, als er sich auf den Weg machte und mit Vorsicht durch den dichten Wald zu dem tiefen Grunde herabstieg, der Bärenschlucht genannt wurde. Bassawrjuk wartete schon auf ihn. Es war so finster, daß man die Hand vor den Augen nicht sah. Hand in Hand schlichen sie durch die Sümpfe des Moors, verfingen sich im dichten Gestrüpp und strauchelten fast bei jedem Schritte. Endlich fanden sie einen ebenen Platz. Petrusj sah sich um: Er war noch nie hier gewesen. Auch Bassawrjuk blieb stehen. »Siehst du: Da vor dir liegen drei Hügel. Viel mannigfache Blumen wachsen dort; doch alle Mächte der Welt mögen dich bewahren, auch nur eine zu pflücken. Kaum aber erblüht der Farn, so greif nach ihm und blick dich nicht um, was du auch hinter dir dünken magst.« Petrusj wollte noch etwas fragen … aber jener war verschwunden. Er ging auf die Hügel zu: Wo waren die Blumen? Es war nichts zu sehen. Schwarz lag das wilde Steppengras da und überwucherte alles mit seinem Gestrüpp. Da blitzte ein Wetterleuchten auf, und vor ihm erschien ein ganzes Beet voll wundersamer und nie gesehener Blumen; darinnen sah er auch die einfachen Blätter des Farnkrautes. Voller Zweifel stemmte Petrusj beide Hände in die Hüften und stellte sich nachdenklich vor sie hin. »Was ist denn Wunderbares dabei? Zehnmal des Tages sehe ich solches Kraut: Was ist denn das für ein Mirakel? Am Ende macht sich die Teufelsfratze nur über mich lustig!« Auf einmal aber glüht ein kleines Knöspchen rot auf und rührt sich, wie wenn es lebendig wäre. Seltsam fürwahr! Rührt sich, wird immer größer und größer und glüht heiß wie eine rote Kohle. Da flammte ein Sternchen auf, etwas knisterte leise, und vor seinen Augen entfaltet sich die Blume wie eine Flamme, loht leuchtend auf und überstrahlt alles rings herum. »Jetzt ist’s Zeit«, dachte Petrusj und streckte die Hand aus. Aber siehe, da strecken sich noch hundert andere zottige Hände nach der Blume aus, und hinter ihm läuft raschelnd etwas von Ort zu Ort. Er drückte die Augen zu, riß am Stengel, und die Blume blieb in seiner Hand. Alles verstummte. Da tauchte Bassawrjuk, auf einem Baumstumpf sitzend, empor: ganz bläulich wie eine Leiche. Er rührte keinen Finger, seine Augen waren starr auf etwas gerichtet, das nur ihm allein sichtbar war; sein Mund stand halb offen, aber er sprach nichts. Ringsum rührte sich nichts. Wie furchtbar war Petrusj zumute! … Aber nun vernahm Petrusj ein Pfeifen, daß ihm das Herz im Leibe erstarrte, und es kam ihm so vor, als ob das Gras summe, und die Blumen sich mit dünnen Stimmchen unterhielten, die wie silberne Glöcklein klangen. Die Bäume donnerten grollend durcheinander … Bassawrjuks Antlitz wurde auf einmal lebendig. Seine Augen funkelten. »Endlich ist sie da, die Hexe«, grunzte er durch die Zähne. »Petrusj, schau, bald wird dir eine schöne Frau erscheinen: Tu alles, was sie dir befiehlt, sonst bist du auf ewig verloren!« Er zerteilte das Dickicht mit einem Knotenstock, und vor ihnen erschien ein Häuschen, das auf Hühnerfüßchen stand, wie es im Märchen heißt. Bassawrjuk schlug mit der Faust dagegen, und die Wand wankte. Ein großer, schwarzer Hund kam winselnd herausgelaufen, verwandelte sich plötzlich in eine Katze und warf sich ihnen entgegen. »Tobe nicht, wüte nicht, alte Teufelin«, rief Bassawrjuk und würzte seine Rede mit so einem Wörtlein, daß sich ein rechtschaffener Mensch dabei die Ohren zugestopft hätte. Da wurde die Katze zu einem alten Weibe mit einem so runzligen Gesicht wie ein gebratener Apfel, und krümmte sich wie ein Bogen; Nase und Kinn gleichen einem Nußknacker. »Welche herrliche Schönheit!« dachte Petrusj, und es überlief ihn kalt. Die Hexe riß ihm die Blume aus der Hand, beugte sich über sie, flüsterte einen langen Spruch vor sich hin und besprengte sie mit einer unbekannten Flüssigkeit. Funken stoben aus ihrem Munde, und Schaum trat ihr auf die Lippen. »Wirf sie hin«, rief sie, indem sie ihm die Blume reichte. Petrusj warf die Blume hin, aber – o Wunder: Die Blume fiel nicht gleich zur Erde, sondern leuchtete lange wie eine Feuerkugel mitten im Dunkel und segelte wie ein Kahn durch die Luft; endlich begann sie sich leise zu senken und fiel so fern von ihnen herab, daß das Sternchen kaum mehr zu sehen war und nicht größer erschien, denn ein Mohnkorn. »Hier!« krächzte die Alte dumpf, und Bassawrjuk reichte ihm einen Spaten hin und rief: »Grabe hier nach, Petrusj! Da wirst du so viel Gold finden, als weder du noch Korsch je geträumt haben!« Petrusj spie sich in die Hände, griff den Spaten, trat mit dem Fuß darauf und wühlte die Erde auf, einmal, noch einmal, ein drittes Mal, noch einmal … Da stieß er auf etwas Hartes! … Der Spaten klirrte und wollte nicht tiefer in die Erde hinein. Jetzt begannen seine Augen plötzlich ganz deutlich eine kleine, eisenbeschlagene Kiste wahrzunehmen. Schon wollte er sie mit der Hand erfassen, aber die Kiste begann immer tiefer und tiefer in die Erde zu sinken, und hinter sich vernahm er ein Lachen, das dem Zischen von Schlangen glich. »Nie sollst du das Gold erschauen, ehe du nicht Menschenblut herbeischaffst!« rief die Hexe und führte auf einmal ein etwa sechsjähriges Kind vor ihn hin, das mit einem weißen Tuch bedeckt war; sie deutete ihm mit Zeichen an, er müsse dem Kind den Kopf abhacken. Petrusj erstarrte. Ist’s denn eine Kleinigkeit, so mir nichts, dir nichts einem Menschen den Kopf abzuhacken, und dazu noch einem unschuldigen Kinde! Wütend riß er das Tuch vom Kopfe, und was sah er? Vor ihm stand Iwasj! Das arme Kind stand mit gekreuzten Händchen und gesenktem Köpfchen da … Wie ein Rasender sprang Petrusj mit dem Messer auf die Hexe los und erhob die Hand … »Was versprachst du, für das Mädchen zu tun?« donnerte ihn Bassawrjuk an, und versetzte ihm einen Schlag in den Rücken, der ihn traf wie ein Schuß. Die Hexe stampfte mit dem Fuße, und eine blaue Flamme sprang aus dem Boden. Das Innere der Erde strahlte auf und war wie aus Glas, und alles in der Erde wurde so deutlich sichtbar, gleich als läge es auf der flachen Hand! In Kisten und Kesseln waren Dukaten und Edelsteine haufenweise aufgestapelt, genau unter der Stelle, auf der sie standen. Des Petrusj Augen brannten, … sein Verstand verfinsterte sich … wie ein Toller packte er das Messer, und das unschuldige Blut spritzte ihm in die Augen. Ein teuflisches Gelächter toste auf allen Seiten. – Widerwärtige Ungeheuer sprangen scharenweise vor ihm auf und ab. Wie ein Wolf, die Hände in den enthaupteten Leichnam gekrallt, sog die Hexe das Blut. In Petrusj Kopf kreiste alles, und mit dem Aufwand seiner letzten Kräfte begann er zu laufen. Alles vor ihm versank in rotes Licht. Alle Bäume brannten in rotem Blut und stöhnten. In Rotglut getaucht wankte der Himmel hin und her. Feuerflecke zuckten glimmend vor seinen Augen auf. Entkräftet lief er bis in seine Hütte, sank dort auf den Boden wie eine Ähre, und ein totenähnlicher Schlaf umfing ihn. Zwei Tage und zwei Nächte schlief Petrusj, ohne zu erwachen. Als er am dritten Tage wieder zu sich kam, betrachtete er lange alle Ecken und Winkel seiner Stube, doch vergeblich suchte er sich an die Begebenheiten der letzten Zeit zu erinnern: Sein Gedächtnis glich der Tasche eines alten Geizhalses, aus der man keinen Heller herauslocken kann. Nachdem er sich ein wenig gereckt hatte, vernahm er plötzlich zu seinen Füßen ein Klirren. Sieh da: Vor ihm lagen zwei Säcke voll Gold. Erst jetzt erinnerte er sich wie in einem Traume, daß er einen Schatz gesucht hatte, und wie es grausig im Walde gewesen war … Aber um welchen Preis er ihn erhalten hatte, darauf konnte er sich durchaus nicht mehr besinnen. Sowie Korsch die Säcke erblickte, da wurde er seidenweich. »Petrusj, so ein Herzensjung’, den sollt’ ich nicht lieben? Der war mir doch stets wie mein eigner Sohn!« Und der alte Knurrhahn begann so zu schwefeln, daß dem Petrusj die Tränen in die Augen kamen. Da lief Pidorka bestürzt herbei und begann zu erzählen, Iwasj sei von vorüberziehenden Zigeunern gestohlen worden. Aber Petrusj konnte sich nicht einmal mehr auf ihn besinnen, so sehr stand er im Banne des verdammten Teufelsspukes! Nun war keine Zeit mehr zu verlieren. Der Pole wurde vor die Tür gesetzt, und man feierte Hochzeit: Da wurden Kuchen gebacken, Wäsche genäht, man rollte ein Fäßchen Schnaps herbei, das junge Paar ward an den Tisch gesetzt, das Hochzeitsgebäck aufgeschnitten, da klimperten Harfen und die Saiten des Zymbals, es kreischten die Schalmeien, und die Zithern summten – und die Lustbarkeit begann … Ein Hochzeitsfest aus alten Tagen ist nicht mit einem in unserer Zeit zu vergleichen. Die Tante meines Großvaters erzählte – hei juchhei! Ei wie da die Mädels im prächtigen Kopftuch mit den gelben, blauen und rosa Bändern und der Goldtresse daran darauf lossprangen. Sie hatten feine Hemden an, deren Nähte mit roter Seide bestickt waren und die kleine silberne Blümchen zierten, und hohe Saffianstiefelchen, die mit Hufeisen beschlagen waren; stolz wie Pfauen flogen sie gleich einem Wirbelwind rauschend durchs Zimmer. Wie da die jungen Frauen eine nach der anderen hervortraten mit ihrem bootsartigen Kopfputz, dessen Kappe aus Brokat gewirkt war, mit einem Nackenausschnitt, durch den das goldene Häubchen mit den zwei herabbaumelnden Zipfelchen aus feinstem schwarzen Lammfell hervorguckte, in ihren blauen Überwürfen aus herrlichstem Seidenstoff mit roten Aufschlägen – ei wie sie da gar würdig, die Hände auf die Hüften gestützt, eine nach der anderen hervortraten, und im Takt ihren Hopak tanzten. Wie da die Burschen in ihren hohen Kosakenmützen, in feinen Tuchkitteln mit silbergesticktem Gürtel und die Pfeife zwischen den Zähnen um sie herum scharwenzelten und ihr Licht durchaus nicht unter den Scheffel stellten! Korsch selbst konnte beim Anblick des jungen Volkes nicht mehr an sich halten und legte los wie in alten Tagen. Mit der Harfe in der Hand, aus der Pfeife paffend und ein Lied vor sich hin singend, so begann der Alte, mit dem Schnapsglas auf dem Kopf, beim lauten Geschrei der lustigen Kumpanei seinen Hopser herunter zu stampfen. Was die nicht alles in ihrer Lustigkeit anstifteten! Schon wenn man anfing, Mummenschanz zu treiben, Gott, was gab’s da nicht alles. Das war eine ganz andere Mummerei als auf unseren heutigen Hochzeiten. Was macht man denn heute? Man verkleidet sich als Zigeunerinnen und Moskowiter, das ist alles! Nein, damals verkleidete sich einer als Jude und der andere als Teufel; erst küßte man sich, und dann packte man einander beim Schopf … Ich bitt’ euch, das gab ein Lachen, daß man sich den Bauch halten mußte. Oder man legte türkische und tatarische Gewänder an, die da glühten wie das reine Feuer … Und wenn man erst wirklich anfing, Unsinn und Schabernack zu treiben … das war geradezu zum Platzen! Mit der Tante meines verstorbenen Großvaters, die mit auf dieser Hochzeit war, begab sich eine drollige Geschichte. Sie trug damals ein weites tatarisches Kleid und ging mit dem Schnapsglas in der Hand umher, um alle wohl zu versorgen. Da mußte einen der Teufel reiten, daß er sie von hinten mit Branntwein begoß, ein anderer mußte gerade in diesem Augenblick Feuer schlagen, und so setzten sie sie denn lichterloh in Brand. Die Flammen flackerten im Nu hoch auf: Die arme Tante begann sich voller Schrecken in aller Gegenwart die Kleider vom Leibe zu reißen … Was sich da für ein Lärm, Gelächter und ein wildes Durcheinander erhob, rein wie auf einem Jahrmarkt! Kurz, die ältesten Leute konnten sich nicht auf eine so lustige Hochzeit besinnen. Pidorka und Petrusj begannen ein Leben miteinander wie die feinsten Herrschaften. Alles war in Hülle und Fülle vorhanden, alles blinkte und funkelte nur so … Doch die lieben Nachbarn, die ihren Wohlstand mitansahen, schüttelten nur den Kopf. »Vom Teufel kommt nichts Gutes!« sagten sie alle einstimmig. »Woher hat er denn den Reichtum, wenn nicht vom Versucher aller rechtgläubigen Christen? Wo hätte er einen solchen Haufen Goldes wohl hergenommen? Warum ist Bassawrjuk gerade an demselben Tage verschwunden, als Petrusj zu seinem Reichtum kam?« – Und was die Leute noch alles redeten. Und in der Tat; es war noch kein Monat vergangen, da war Petrusj nicht mehr wiederzuerkennen. Was mit ihm geschehen war, das weiß Gott allein. Sitzt immer auf ein und derselben Stelle fest und redet kein Wort; er grübelt nur immer, als wollte er sich auf etwas besinnen. Wenn es Pidorka gelang, ein Wort aus ihm herauszupressen, so daß er sich vergaß, ins Gespräch kam und sogar ganz heiter wurde, dann brauchte er nur wie zufällig auf die Geldsäcke zu blicken, und sofort schrie er los: »Halt, halt, ich hab’s vergessen!« Und wieder verfiel er in Sinnen und quälte sich ab, eine Erinnerung heraufzurufen. Manchmal, wenn er lange Zeit still auf einem Flecke saß, kam es ihm so vor, als ob etwas Längstvergangenes wieder in sein Gedächtnis zurückkehrte … aber gleich darauf verschwand alles wieder. Es dünkt ihn, er sitzt in der Schenke, man bringt ihm Schnaps, der Schnaps brennt ihm auf der Zunge und widert ihn an; jemand tritt zu ihm – schlägt ihm auf die Schulter, und er … Aber dann schien alles vor ihm in einen Nebel zu sinken, der Schweiß rann ihm vom Gesicht, und er sank erschöpft wieder auf seinen Platz zurück. Was auch Pidorka tun mochte: Kluge Frauen befragen, Zinndeuten, Wasser besprechen – nichts wollte helfen. So verging der Sommer. Manch ein Kosak hatte schon sein Korn abgemäht und sein Heu geschnitten; manch kühnerer Kosak war ins Feld gezogen. Schwärme von Enten drängten sich auf unseren Weihern, und der Zaunkönig war schon längst verschwunden. Die Steppen färbten sich rot, Getreidehaufen lagen hie und da verstreut wie Kosakenmützen auf dem Felde. Auf den Wegen konnte man schon Wagen begegnen, die mit Reisig und Holz beladen waren. Die Erde wurde hart, und zeitweise gab es schon Frost. Schon rieselte der Schnee vom Himmel herab, und die Zweige der Bäume waren mit Rauhreif verziert wie mit Hasenpelzchen. Schon stolzierte in klaren Wintertagen der rotbrüstige Gimpel wie ein eitler, polnischer Schlachziz auf den Schneehaufen umher und suchte sich Körner, und die Kinder trieben mit Riesenstäben hölzerne Bälle übers Eis, während ihre Väter ruhig hinter den Öfen lagen und nur ab und zu mit der brennenden Pfeife im Munde vors Haus gingen, um tüchtig auf den russischen Frost zu schimpfen, um sich mal auszulüften, oder weil sie das Korn in den Schobern noch einmal durchdreschen wollten. Endlich begann der Schnee zu schmelzen, und der Hecht schlug mit dem Schwänze das Eis auf; Petrusj aber war derselbe geblieben, und nur um so düsterer geworden, je weiter die Zeit vorrückte. Wie angeschmiedet saß er mitten im Zimmer, die Säcke mit dem Golde zwischen den Beinen. Er verwilderte, war ganz und gar mit Haaren bewachsen, und wurde ein wahres Schreckbild; immer denkt er an ein und dasselbe, will sich etwas ins Gedächtnis zurückrufen, grollt mit sich und wütet, daß es ihm nicht gelingt. Oft springt er wild von seinem Sitze auf, fährt mit den Händen umher und heftet seine Augen auf etwas, als ob er es festhalten wollte; seine Lippen bewegen sich, als wollten sie ein längst vergessenes Wort aussprechen und – erstarren … Tobsucht packt ihn; wie toll nagt und beißt er an seinen Händen, und voll Grimm reißt er sich ganze Büschel von Haaren aus, bis er wieder still wird, bewußtlos hinsinkt, wieder zu sinnen anfängt; und dann wieder dieselbe Wut und dieselbe Qual … Was für eine Strafe Gottes war das! Was Pidorka durchmachen mußte, das war kein Leben mehr! Zuerst graute sie’s, allein im Hause zu bleiben, aber dann gewöhnte sich die Ärmste an ihr Unglück. Die Pidorka von einst war nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Gesicht hatte weder Farbe noch ein Lächeln mehr; abgehärmt und abgezehrt war’s, ausgeweint waren die klaren Augen. Einst gab ihr jemand aus Erbarmen den Rat, sie solle zu der Zauberin gehen, die in der Bärenschlucht hauste, und von der der Ruf ausging, sie könne alle Gebreste der Welt heilen. Sie beschloß, dies letzte Mittel zu versuchen. Nach vielem Hin und Her überredete sie endlich die Alte, mit ihr mitzugehen. Es war gegen Abend und gerade vor Johannisnacht. Petrusj lag besinnungslos auf der Bank und nahm den neuen Gast gar nicht wahr. Doch bald begann er sich nach und nach aufzurichten und um sich zu blicken. Plötzlich erbebte er wie auf dem Schafott; sein Haar sträubte sich … und er brach in ein solches Lachen aus, daß die Angst Pidorka ins Herz schnitt. »Ich hab’s, ich hab’s!« schrie er in fürchterlicher Lustigkeit, schwang das Beil hoch empor und ließ es aus aller Leibeskraft auf die Alte fallen. Das Beil sauste zwei Zoll tief in die Eichentür hinein. Die Alte war verschwunden, und mitten in der Stube stand ein Kind von sieben Jahren in weißem Hemdchen mit verhülltem Haupte … Das Tuch flog herunter. »Iwasj!« schrie Pidorka und stürzte auf ihn zu; doch das Gespenst war von Kopf bis zu Füßen mit Blut bedeckt und erglühte in rotem Lichte, das die ganze Stube in brennendes Rot tauchte. Voller Angst lief sie auf den Flur; als sie wieder ein wenig zu sich gekommen war, wollte sie ihm helfen; aber vergebens! Die Tür war so fest hinter ihr zugeschlagen, daß man nicht imstande war, sie wieder zu öffnen. Die Leute liefen zusammen, begannen zu klopfen, schlugen die Tür ein: Keine Seele war da! Die ganze Stube war voll Rauch, nur in der Mitte, wo Petrusj gestanden hatte, lag ein Haufen Asche, von dem hie und da ein Qualm aufstieg. Man eilte zu den Säcken, darin lagen statt der Dukaten nur zerbrochene Scherben. Mit glotzenden Augen, aufgesperrten Mäulern und ohne den Mut, sich zu regen, standen die Kosaken wie angewurzelt da. In solche Angst hatte sie dies Wunder versetzt. Was weiter geschah, das weiß ich nicht. Pidorka legte das Gelübde ab, eine Pilgerfahrt zu machen; sie suchte ihr Hab und Gut zusammen, das ihr vom Vater übrig geblieben war, und war in der Tat einige Tage später aus dem Dorfe verschwunden. Wohin sie sich begeben hatte, das wußte niemand zu sagen. Geschwätzige alte Weiber wollten wissen, sie sei dort, wo auch Petrusj sei; aber ein Kosak, der aus Kiew kam, erzählte, er habe im Kloster eine zum Skelett abgemagerte Nonne gesehen, die immerwährend betete und in der ihre Landsleute allen Anzeichen nach Pidorka wiedererkannt hätten. Bis jetzt, hieß es, habe noch niemand von ihr ein einzig Wörtlein gehört, sie solle allein zu Fuß gekommen sein und habe eine Fassung für das Heiligenbild der Mutter Gottes mitgebracht, eine Fassung, die mit solchen bunten Steinen besetzt gewesen sei, daß allen die Augen flimmerten, wenn sie sie ansähen. Mit Verlaub, aber damit war noch nicht alles zu Ende. An demselben Tage, als der Böse Petrusj zu sich genommen hatte, tauchte auch Bassawrjuk wieder auf; aber alle mieden ihn von nun ab. Man wußte jetzt, was das für ein Vogel war: Niemand anders als der Satan war’s, der Menschengestalt angenommen hatte, um Schätze zu heben; und da unreine Hände nicht Schätze heben können, so lockte er brave Burschen an sich. Noch in demselben Jahre ließen alle ihre Lehmhütten stehen und liegen und zogen ins Kirchdorf; aber auch dort hatte man keine Ruhe vor dem verfluchten Bassawrjuk. Die Tante meines verstorbenen Großvaters erzählte, er habe eine besondere Wut auf sie gehabt, weil sie ihre alte Schenke auf der Landstraße nach Ofoschnjany aufgegeben hatte, und er habe mit allen Mitteln versucht, seinen Zorn an ihr auszulassen. Einst waren die Dorfältesten in der Schenke beieinander; sie saßen und unterhielten sich, wie man so sagt, nach Amt und Würden am Tisch, auf dessen Mitte ein gewiß nicht allzu kleiner gebratener Hammel stand. Man schwatzte über dies und jenes, auch über mannigfache Wunder und Ungeheuerlichkeiten. Auf einmal schien’s, und nicht nur einem – was ja nichts bedeuten würde –, sondern allen, als ob der Hammel den Kopf erhob, die gebrochenen Augen wie lebendig leuchteten, und als ob plötzlich ein borstiger schwarzer Schnurrbart sich auf die Anwesenden zubewegte. Alle erkannten in dem Hammelkopf sofort die Fratze Bassawrjuks, und die Tante meines Großvaters dachte schon, er würde gleich Schnaps bestellen! … Die guten Leutchen griffen nach ihren Mützen und zogen ihres Weges. Ein anderes Mal sah der Kirchenvorstand in eigener Person, der es liebte, ab und zu ein Stündchen bei Großvaters Schnapsglas zu verbringen, noch ehe er zum zweiten Male das Glas geleert hatte, auf einmal, wie das Glas anfing, sich ehrerbietigst vor ihm bis zur Erde zu verneigen. »Hol’ dich der Teufel!« rief er und begann sich zu bekreuzigen … Aber da widerfuhr seiner Ehehälfte gleichfalls ein Wunder: Sie hatte gerade begonnen, Teig in einem mächtigen Trog zu kneten, da sprang der Trog auf einmal in die Höhe. »Halt! Halt! Wohin willst du?« rief sie. Aber da begann er, die Henkel in die Hüften gestemmt, ehrwürdig in der Stube umherzutänzeln … Ja, lacht nur! Aber unserem Großvater war’s nicht zum Lachen zumute. Vergeblich ging Vater Afanassi im ganzen Dorfe mit Weihwasser umher und suchte den Teufel durch Besprengen aller Straßen zu vertreiben. Es half nichts. Noch lange klagte die Tante meines verstorbenen Großvaters darüber, daß, sobald es Abend wurde, jemand aufs Dach klopfte und an den Wänden kratzte. Aber das ist noch nicht alles! Jetzt scheint ja auf der Stelle, wo unser Dorf steht, alles ruhig zu sein; aber es ist noch gar nicht so lange her – mein verstorbener Vater und ich haben es noch erlebt –, daß kein ehrenwerter Mensch an der verfallenen Schenke, die noch lange Zeit danach immer wieder von den unreinen Geistern ausgebessert wurde, ohne Furcht vorbeigehen konnte. Aus dem rußigen Schlot schlugen Säulen Qualms empor, die so hoch in die Luft stiegen, daß einem beim Hinaufsehen die Mütze herunterfiel, und aus dem Qualm fielen Kohlen über die ganze Steppe. Und der Teufel – gar nicht nennen dürft’ man den Hundesohn – schluchzte so jämmerlich in seiner Kammer, daß die Aasgeier erschreckt in ganzen Scharen emporstießen und mit wildem Geschrei am Himmel umherschossen. Die Angst von Guy de Maupassant Guy de Maupassant (1850-1893), einer der großen französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und ein Meister der kurzen novellistischen Prosa, schildert in seinen Romanen, Novellen und Kurzerzählungen mit unbestechlichem psychologischen Realismus die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit. Daneben hat auch das Unheimliche Eingang in sein umfangreiches Erzählwerk gefunden, ungreifbare Schemen aus einer phantastischen Wirklichkeit, die mit Maupassants fortschreitender Paralyse immer stärker hervortraten. Was ich berichten will, trug sich im letzten Winter in einem Wald im Nordosten Frankreichs zu. Die Nacht war zeitig herangebrochen, der Himmel war düster, und ich befand mich auf der Jagd. Als Führer hatte ich einen Bauern bei mir, der auf dem schmalen Pfad nicht von meiner Seite wich. Zwischen den Baumwipfeln sah ich Wolken dahinjagen. Sie schienen auf der Flucht vor etwas Entsetzlichem. Manchmal schien sich der ganze Wald unter heftigen Windstößen zu neigen. Die Kälte hatte mich gepackt, obwohl ich warm gekleidet war und tüchtig ausschritt. Wir wollten die Nacht bei einem Wildhüter verbringen, dessen Haus nicht mehr weit entfernt sein konnte. Manchmal hob mein Führer den Blick und murmelte: »Schlimmes Wetter!« Dann erzählte er von den Leuten, bei denen wir einkehren wollten. Der Vater hatte vor zwei Jahren einen Wilderer in diesem Revier erschossen, und seitdem war sein Sinn düster. Die Erinnerung an diesen Vorfall schien ihn nicht loszulassen. Seine beiden verheirateten Söhne lebten mit ihm zusammen in dem Haus, zu dem wir unterwegs waren. Es herrschte tiefe Finsternis. Ich sah nichts mehr vor mir und nichts neben mir. Die vom Wind gezausten Aste erfüllten die Nacht mit einem ständig anhaltenden Brausen. Endlich bemerkten wir ein Licht, und bald darauf klopfte mein Begleiter an eine Tür. Schrille Frauenschreie antworteten uns. Dann hörten wir eine erstickte Männerstimme, die fragte: »Wer da?« Mein Führer nannte seinen Namen. Wir traten ein. Das Bild, welches sich uns bot, werde ich nie vergessen. Ein alter Mann mit weißen Haaren, in den Augen Wahnsinn, ein geladenes Gewehr schußbereit in der Hand, stand mitten in der Küche, während zwei Burschen, mit Äxten bewaffnet, die Tür nicht aus den Augen ließen. Im dämmrigen Küchenwinkel konnte man zwei Frauen erkennen, die mit dem Gesicht zur Wand auf den Knien lagen. Wir stellten uns vor. Der Alte lehnte sein Gewehr an die Wand und ordnete an, daß man mir ein Zimmer richte. Dann, als sich keine der Frauen rührte, sagte er schroff zu mir: »Wissen Sie, mein Herr, heute nacht sind es zwei Jahre her, daß ich einen Mann getötet habe. Im vergangenen Jahr ist er hier erschienen, um mich zu rufen. Heute erwarte ich ihn wieder.« Und er fügte hinzu – ich mußte darüber beinahe lächeln –: »Wir sind etwas beunruhigt.« Ich versicherte ihm, daß es mir gelegen komme, ihm heute nacht gegen die Angst des Aberglaubens beistehen zu können. Ich begann, allerlei Geschichten zu erzählen, und es gelang mir, den Alten etwas zu beruhigen. Neben dem Eingang lag ein alter, fast blinder Hund. Er schlief mit der Schnauze zwischen den Vorderpfoten. Es war einer jener Hunde, die einen irgendwie an einen Menschen erinnern, den man gut kennt. Trotz meiner Bemühungen, die Leute zu beruhigen, fühlte ich sehr wohl, daß die Angst sie umklammert hielt, und immer, wenn ich meine Erzählungen unterbrach, lauschten sie auf die Geräusche draußen. Ich wurde es müde, weiter diesem unvernünftigen, abergläubischen Gehabe mit zuzusehen, und verlangte nach meinem Zimmer, als der Alte auf einmal seinen Stuhl zurückstieß und erneut nach seinem Gewehr griff. Verwirrt stammelte er: »Da ist er. Da ist er!« Die beiden Frauen fielen in der Ecke wieder auf die Knie und verbargen das Gesicht in den Händen. Die Söhne langten nach den Äxten. Ich wollte sie noch einmal beschwichtigen, als der Hund plötzlich erwachte, seinen Kopf hob, den Hals streckte, mit seinen fast erloschenen Augen in die Flammen des Kaminfeuers blickte und in ein schauerliches Geheul ausbrach. Alle Augen richteten sich auf das Tier. Es verharrte unbeweglich, auf die Pfoten erhoben, wie von einer Erscheinung gebannt, und begann wieder gegen etwas Unsichtbar-Unbekannt-Schreck­liches anzuheulen. Das Fell des Tieres sträubte sich. Der Waldhüter war bleiweiß im Gesicht geworden und schrie: »Er riecht ihn! Er riecht ihn! Er war doch dabei, als ich den Kerl tötete.« Eine Stunde lang heulte der Hund, ohne sich zu rühren. Er heulte und winselte wie in einem Angsttraum. Und die Angst, die schreckliche Angst, ergriff auch mich. Die Angst wovor? Wußte ich es? Nein. Es war die nackte Angst. Wir hockten da, unbeweglich und aschfarben. Wir warteten auf das Schreckliche, das sich ereignen würde. Wir lauschten gespannt, mit klopfendem Herzen, vom kleinsten Geräusch zu Tode erschreckt. Der Hund begann im Zimmer umherzulaufen, er schnüffelte an den Wänden und zitterte. Dieser Hund machte uns nahezu verrückt. Da warf sich der Bauer, der mich hierher gebracht hatte, auf ihn, öffnete die Tür, die auf den kleinen Hof hinausführte und stieß den Hund dort hinaus. Sofort verstummte das Tier, und wir tauchten in eine Stille ein, die noch schrecklicher war. Doch plötzlich fuhren wir alle zusammen hoch: Etwas strich an der Hausmauer entlang, die dem Wald zu gelegen war; dann ging es weiter gegen die Tür und schien sie mit zitternder Hand abzutasten. Zwei Minuten hörte man darauf nichts mehr. Wir verloren beinahe die Besinnung. Dann kam es zurück. Es streifte die Mauer und kratzte leise, wie es Kinder mit ihren Nägeln zu tun pflegen. Und da – plötzlich tauchte vor dem kleinen Fenster neben der Tür ein Kopf auf, ein weißer Schädel mit leuchtenden Augen. Ein Ton quälte sich aus seinem Mund, ein undeutlicher Wehlaut. Dann zerriß ein ungeheurer Lärm die Stille in der Küche. Der alte Waldhüter hatte sein Gewehr abgefeuert, und sogleich stürzten auch seine Söhne herbei. Sie verrammelten das Fenster mit dem großen Eßtisch und stellten auch noch den Geschirrschrank hinter den Tisch. Und ich kann Ihnen schwören, seitdem der Schuß gefallen war, hörte ich nichts mehr. Die Angst hatte mein Herz gepackt, meine Seele, meinen Leib. Ich fühlte meine Sinne schwinden und glaubte, vor Angst zu sterben. Wir verharrten so bis zur Morgendämmerung, unfähig, uns zu rühren oder ein Wort zu sprechen, gebannt von einer unsagbaren Verwirrung. Wir wagten nicht, die Barrikade fortzuräumen, bis durch einen Spalt das Tageslicht hereindrang. Am Fuß der Mauer, gegen die Tür gewandt, lag der alte Hund, die Schnauze von einer Kugel zerrissen. Er war durch ein Loch in der Umzäunung aus dem Hof entwichen. Ich würde lieber allen Gefahren meines Lebens wieder gegenüberstehen, als noch einmal jene Minute erleben, als der Alte auf den bärtigen Kopf im kleinen Fenster schoß. Folter durch Hoffnung von Villiers de I’lsle-Adam Auguste Graf von Villiers de l’Isle-Adam (1838-1889) stammte aus einer alten französischen Adelsfamilie, deren Glanz mit der Revolution verblichen war. Als Villiers 1857 in die Hauptstadt Paris übersiedelte, war er unter den jungen Dichtern seiner Zeit der einzige, mit dem der zurückhaltende Baudelaire engeren Umgang pflegte. Und Baudelaires Einfluß wurde für Villiers bestimmend; durch ihn lernte er auch Edgar Allen Poe kennen. Auf der Pariser Literaturszene zeichnete er sich alsbald durch Extravaganz und Genialität aus, und im Jahre 1884 begann endlich der Ruhm, von dem er so lange geträumt hatte. Villiers bekanntestes Werk sind die »Contes cruels«, in denen sich deutlich der Einfluß Poes und der deutschen Romantik zeigt. Es sind Erzählungen, in denen Grauen und Ironie, Traum und Todesahnungen einer seltsam morbiden Atmosphäre ineinanderfließen. Unter den Gewölben des Justizgebäudes von Saragossa stieg bei Anbruch eines Abends der ehrwürdige Pedro Arbuez d’Espila, sechster Prior der Dominikaner von Segovia, dritter Großinquisitor von Spanien, gefolgt von einem fra Redemptor – einem Foltermeister – und vor ihm zwei Späher des Heiligen Offiziums, die Laternen trugen, zu einer verlorenen Kerkerzelle hinunter. Das Schloß einer starken Türe knarrte; man trat in ein verpestetes in pace. Ein dürftiges Licht von oben ließ zwischen den an die Mauern gehämmerten Ringen eine blutgeschwärzte Lagerstatt erkennen, ein Kohlenbecken und einen Krug. Auf verdreckter Streu saß, in schweren Fesseln, den Eisenring um den Hals, verstört ein Mann von unbestimmbarem Alter, in Lumpen gehüllt. Dieser Gefangene war kein anderer als der Rabbi Aser Abarbanel, ein aragonischer Jude, des Wuchers und der unerbittlichen Ausbeutung der Armen angeklagt. Seit mehr als einem Jahr war er täglich der Folter unterworfen worden. Und doch, da »seine Verblendung ebenso hart war wie seine Haut«, hatte er sich geweigert, seinem Glauben abzuschwören. Stolz auf eine vieltausendjährige Abstammung, auf seine Ahnen – denn alle dieses Namens würdigen Juden sind stolz auf ihr Blut – war er dem Talmud nach ein Abkömmling Othoniels und infolgedessen Ipsiboes, der Gattin dieses letzten Richters in Israel; ein Umstand, der auch seinen Mut während der unablässigen Foltern sonderlich aufrechterhalten hatte. So näherte sich denn auch, Tränen in den Augen im Gedanken daran, daß diese starke Seele sich dem Heil verschloß, der ehrwürdige Pedro Arbuez d’Espila dem zitternden Rabbi und sprach die folgenden Worte: »Freue dich, mein Sohn, denn siehe, deine Prüfungen hienieden werden ein Ende finden. Wenn ich auch vor solcher Verstocktheit tiefbekümmert erlauben mußte, daß so manche Härte angewendet wurde, so hat doch meine Aufgabe brüderlicher Strafe ihre Grenzen. Du bist der widerspenstige Feigenbaum, der, so oft ohne Frucht, zu verdorren droht … doch bei Gott steht es, das Urteil über deine Seele zu fällen. Vielleicht wird die unendliche Milde auch dir im letzten Augenblick leuchten. Das müssen wir hoffen. Es gibt dessen Beispiele … so geschehe es! Ruhe denn heute abend in Frieden. Morgen wirst du dem Autodafe unterworfen, das heißt, daß du dem quemadero ausgesetzt wirst, dem Scheiterhäufen, der ein Vorspiel des ewigen Feuers ist; es brennt, du weißt es, nur in der Ferne, mein Sohn, und der Tod braucht mindestens zwei, häufig drei Stunden, um sich zu nahen, weil wir doch darauf bedacht sind, mit feuchten, eiskalten Tüchern Kopf und Herz der Opfer zu schützen. Ihr werdet nur dreiundvierzig sein. Bedenke, daß du, als Letzter, die nötige Zeit haben wirst, um Gott anzurufen und ihm diese Feuertaufe darzubringen, die der Heilige Geist ist. Hoffe darum auf die Erleuchtung und schlafe!« Dom Arbuez hatte geendet, auf seinen Wink wurde der Unglückliche von seinen Ketten befreit, und der Großinquisitor umarmte ihn zärtlich. Dann war der fra Redemptor an der Reihe, der mit leiser Stimme den Juden um Verzeihung der Leiden bat, die er ihm der Erlösung wegen angetan hatte. Dann umarmten ihn auch die beiden Spitzel, deren Kuß unter den Kapuzen geräuschlos blieb. Damit war die Zeremonie zu Ende, und der Gefangene blieb allein und verwirrt im Dunkel. Rabbi Aser Abarbanel, den Mund ausgetrocknet, das Gesicht vom Leiden abgestumpft, betrachtete zunächst ohne besondere Aufmerksamkeit die geschlossene Türe. Geschlossen? Dieses Wort weckte in seinem Innersten, in seinen wirren Gedanken eine Vorstellung. Hatte er denn nicht sekundenlang in der Spalte zwischen Mauerwerk und Türe das Licht der Laternen zu sehen geglaubt? Eine krankhafte Hoffnung, der Erschöpfung seines Hirns zuzuschreiben, rüttelte sein ganzes Sein auf. Er schleppte sich zu dem Ungewöhnlichen, das ihm erschienen war. Und ganz sachte, einen Finger mit höchster Behutsamkeit in die Spalte einführend, zog er die Türe auf sich zu. O Wunder! Durch einen außerordentlichen Zufall hatte der Spitzel beim Zusperren den mächtigen Schlüssel ein wenig früher gedreht, als der Riegel seine Öffnung in der Mauer erreicht hatte. Der Rabbi wagte einen Blick hinaus. Dank einer gewissermaßen fahlen Dunkelheit unterschied er zunächst einen Halbkreis von lehmigen Mauern, durchbrochen von Wendeltreppen. Und gewaltig vor ihm, fünf oder sechs Steinstufen hoch, eine Art schwarzer Vorraum, der zu einem breiten Gang führte, von dem sich von unten her nur die ersten Bögen erkennen ließen. Er legte sich auf den Boden und kroch bis zu dieser Stelle. Ja, es war tatsächlich ein Gang von unermeßlicher Länge. Ein blasser Schimmer, ein unklares Licht erhellte ihn; Nachtlampen, an den Wölbungen aufgehängt, gaben in gewissen Abständen der trüben Farbe der Luft einen bläulichen Schein. Das ferne Ende war nichts als Schatten. An den Seiten in dieser ganzen Länge keine Türe. Vergitterte Mauerlöcher ließen eine Dämmerung durch – es mußte die Abenddämmerung sein, denn rote Streifen überquerten in einiger Entfernung voneinander die Fliesen. Dennoch mochte in der Tiefe des Dunkels dort ein Ausgang in die Freiheit führen! Die schwankende Hoffnung des Juden war zäh – es war seine letzte. Ohne zu zaudern also, wagte er sich über die Fliesen, hielt sich an der Mauer unter den Luken, um mit der farbigen Dunkelheit der Steine zu verschmelzen. Langsam schleppte er sich kriechend vorwärts – und unterdrückte einen Schrei, als eine frisch entzündete Wunde auf der Brust ihn stach. Plötzlich drang das Geräusch einer Sandale, die sich näherte, im Widerhall dieser steinernen Allee bis zu ihm. Ein Beben schüttelte ihn, die Angst ließ seinen Atem stocken, sein Blick trübte sich. Nun? War es jetzt wirklich zu Ende? Zusammengekauert quetschte er sich in eine Mauerspalte und wartete, halbtot vor Angst. Es war ein Spitzel, der es eilig hatte. Rasch hastete er, ein Folterwerkzeug zum Zerreißen der Muskeln in der Hand, die Kapuze gesenkt, eine entsetzliche Erscheinung, vorüber und verschwand. Das Grauen, dessen Umklammerung der Rabbi eben gespürt hatte und das gleichsam alle Funktionen des Lebens stocken ließ, bewirkte, daß er fast eine Stunde verharrte, ohne auch nur eine Bewegung machen zu können. In der Angst vor einem Übermaß an Foltern, falls er ergriffen werden sollte, kam ihm der Gedanke, in seine Zelle zurückzukehren. Doch die alte Hoffnung flüsterte ihm jenes göttliche Vielleicht in die Seele, das im schlimmsten Elend zu trösten vermag. Ein Wunder war geschehen. Daran durfte er nicht mehr zweifeln! Und er begann abermals der möglichen Rettung entgegenzukriechen. Von Schmerzen und Hunger erschöpft, vor Angst zitternd schleppte er sich weiter. Dieser Gang, diese Gruft schien sich geheimnisvoll zu dehnen! Und er, der immer weiterkroch, blickte beständig in das Dunkel dort hinten, wo der rettende Ausgang sein mußte! Oh, oh, schon wieder tönten Schritte, diesmal aber langsamer, düsterer. Weiß-schwarze Gestalten, die Krempen der langen Hüte eingerollt, erschienen ihm; zwei Inquisitoren tauchten dort hinten aus der trüben Luft auf. Leise redeten sie miteinander und waren offenbar über einen wichtigen Punkt verschiedener Ansicht, denn ihre Hände gestikulierten. Bei diesem Anblick schloß Rabbi Aser Abarbanel die Augen. Sein Herz pochte, als wollte es ihn töten, seine Lumpen waren von einem feuchten Todesschweiß durchtränkt, mit offenem Mund, unbeweglich blieb er längs der Mauer ausgestreckt, unter dem Schein einer Lampe, und flehte reglos zu dem Gott Davids. Als die beiden Inquisitoren ihm gegenüber angelangt waren, machten sie unter dem Licht der Lampe halt – und das zweifellos durch einen Zufall, eine Folge ihres Gesprächs. Einer von ihnen betrachtete, während er seinem Gefährten zuhörte, den Rabbi. Und unter diesem Blick, dessen zerstreuten Ausdruck er zunächst nicht begriff, glaubte der Unglückliche zu spüren, wie die glühenden Zangen wieder in sein armes Fleisch bissen. Sollte er abermals zu Jammer und Wunde werden! Verzagend, mit stockendem Atem und blinzelnden Lidern, erzitterte er, als dieses Gewand ihn streifte. Doch, seltsam zugleich und natürlich, die Augen des Inquisitors waren offenbar die eines Mannes, der zutiefst mit dem beschäftigt ist, was er antworten sollte, völlig von dem Gedanken an das eingenommen, was er hörte; sie blickten starr – und schienen den Juden zu betrachten, ohne ihn zu sehen. Und wirklich, nach wenigen Minuten setzten die beiden unheimlichen Gesprächspartner ihren Weg nach dem Ort fort, von dem der Gefangene gekommen war. Man hatte ihn nicht gesehen! Und so gründlich nicht gesehen, daß in dem furchtbaren Wirrwarr seiner Gefühle der Gedanke sein Hirn durchkreuzte: Bin ich am Ende schon tot, daß man mich nicht sieht? Ein greulicher Eindruck riß ihn aus seiner Erstarrung; als er die Mauer vor seinem Gesicht ansah, glaubte er, seinen Augen gegenüber zwei wilde Augen zu erschauen, die ihn beobachteten … in jäher, heftiger Bangigkeit warf er den Kopf, die Haare gesträubt, zurück. Doch nein. Seine Hand, die Steine betastend, gab sich darüber Rechenschaft; es war der Widerschein der Augen des Inquisitors, was er noch immer in den eigenen Augen bewahrt und auf zwei Flecke der Mauer übertragen hatte. Vorwärts! Er mußte nach jenem Ziel hasten, das er sich, zweifellos in krankhaftem Wahn, als die Befreiung vorstellte. Nach jenen Schatten, von denen er kaum weiter entfernt war als etwa dreißig Schritte. So setzte er denn schneller, auf den Knien, auf den Händen, auf dem Bauch, seinen Leidensweg fort. Und bald war er in dem dunklen Teil dieses erschreckenden Ganges. Plötzlich spürte der Beklagenswerte eine Kälte in den Händen, die er auf die Fliesen stützte; das rührte von einem starken Luftzug her, der unter einer Türe hindurchwehte, bei der die beiden Mauern endeten. Gott! Das ganze Ich des kläglichen Flüchtlings wurde von dem Schwindel einer Hoffnung durchdrungen. Von oben bis unten musterte er die Türe, ohne sie doch, infolge des Dunkels rund um ihn, deutlich unterscheiden zu können. Er tastete, kein Riegel, kein Schloß. Eine Klinke! Er richtete sich auf, die Klinke gab unter seinem Daumen nach; die Türe öffnete sich geräuschlos vor ihm. »Hallelujah!« flüsterte in einem glühenden Dankgebet der Rabbi, aufrecht auf der Schwelle, bei dem Anblick, der sich ihm bot. Die Türe hatte sich auf die Gärten unter einem Sternenhimmel geöffnet! Auf den Frühling, die Freiheit, das Leben! Und von hier aus dehnte es sich nach den nahen Feldern, nach den Sierras, deren windungsreiche Umrisse sich blau vom Horizont abhoben. Dort, dort war das Heil! Oh! Nur fliehen! Er würde die ganze Nacht durch diesen Hain von Zitronenbäumen laufen, deren Düfte ihm entgegenschlugen. Einmal im Gebirge, wäre er gerettet; der Wind belebte ihn, seine Lungen atmeten wieder. Er hörte, das Herz geweitet, das Veni foràs des Lazarus. Und um noch einmal den Gott zu segnen, der ihm diese Barmherzigkeit spendete, streckte er die Arme vor sich aus, hob die Augen zum Firmament; es war reinste Verzückung. Da glaubte er zu sehen, wie der Schatten seiner Arme sich gegen ihn wendete, er glaubte zu spüren, wie diese Schattenarme ihn umschlangen, ihn preßten, zu spüren, wie er an eine Brust gedrückt wurde. Ja, eine hohe Gestalt erhob sich vor ihm. Vertrauensvoll senkte er den Blick auf diese Gestalt – und dann schwankte er, starrte er, den Blick getrübt, zitternd, die Backen geschwellt, vor Entsetzen geifernd. Ein Grauen! Er war in den Armen des Großinquisitors selbst, des ehrwürdigen Pedro Arbuez d’Espila, der ihn betrachtete, die Augen von schweren Tränen gefüllt, wie ein guter Hirt, der sein verirrtes Schaf wiederfindet … Der düstere Priester drückte in einem Aufschwung von so glühendem Erbarmen den unglücklichen Juden an sein Herz, daß die Stacheln des mönchischen Büßerhemds unter der Soutane in die Brust des Dominikaners eindrangen. Und während der Rabbi Aser Abarbanel die Augen unter den Lidern verdrehte, vor Angst in den Armen des asketischen Dom Arbuez röchelte und undeutlich erfaßte, daß alle Phasen des unheilvollen Abends nichts waren als eine wohlvorbereitete Folter, die Folter durch die Hoffnung, flüsterte der Großinquisitor im Ton ergreifenden Vorwurfs, nicht ohne Bestürzung im Blick, mit glühendem Atemhauch ihm ins Ohr: »Wie, mein Kind! An der Schwelle des Heils vielleicht, hast du uns verlassen wollen?!« Der schwarze Kater von Edgar Allen Poe Edgar Allen Poe (1809-1849) galt in seinem amerikanischen Geburtsland lange Zeit als ein Fremder, ehe man in Europa seine literarische Bedeutung erkannte. Heute gilt Poe auch in seiner Heimat als Klassiker der amerikanischen Literatur. Zahllose Legenden ranken sich um sein Leben. Er besuchte in London die Schule, studierte an der Universität von Virginia, ging 1827 zur Armee und 1830 für ein Jahr als Kadett nach West Point. Nach einem ernsthaften Zerwürfnis verstieß sein Vormund Allen den seelisch Labilen, der meist in großer Armut lebte, immer wieder an Alkoholismus und Drogensucht litt und an weitgehend ungeklärten Umständen in Baltimore starb. Seit 1833 fristete Poe ein kärgliches Leben als Schriftsteller, Journalist und Herausgeber literarischer Zeitschriften. Bis auf den heutigen Tag wurde Amerikas bedeutendster Dichter beim breiten Publikum im Gruselkabinett der »gothic novel« abgelegt, ein Mißverständnis, das Poes unbestrittenen literarischen Rang auf die Dauer nicht zu beeinträchtigen vermochte. Wenn Poe in unserem »Gruselkabinett« Aufnahme gefunden hat, so als Ahnherr und Klassiker einer Literaturgattung, die mit seinem Namen auf das allerengste verbunden ist: Daß Poe mehr war als ein beliebter Autor von Gruselgeschichten, steht außer Zweifel. Ich verlange und erwarte nicht, daß man die höchst seltsame und doch einfache Geschichte, die ich hier niederschreiben will, glaubt. Es wäre auch töricht, dies zu tun, denn ich selbst vermag dem Zeugnis meiner Sinne kaum zu trauen. Doch bin ich weder wahnsinnig, noch habe ich geträumt. Morgen aber muß ich sterben und möchte darum heute meine Seele entlasten. Zu diesem Zweck will ich der Welt klar und bündig und ohne weitere Erörterungen eine Reihe rein häuslicher Begebenheiten vor Augen führen. Die Folgen dieser Begebenheiten haben mich dem Entsetzen, haben mich der Qual anheimgegeben und mich schließlich zugrunde gerichtet. Doch will ich nicht versuchen, sie weiter zu erklären. Mir haben sie ein Schaudern verursacht; anderen mögen sie vielleicht weniger schrecklich als sonderbar erscheinen. Später vielleicht wird ein denkender Geist meine Wahngebilde auf Selbstverständlichkeiten zurückführen – er wird, ruhiger, logischer und viel weniger nervös als ich, in all den Umständen, die ich nun mit Grausen erzähle, die gewöhnliche Folge ganz natürlicher Ursachen und Wirkungen erkennen. Von früher Kindheit an war ich wegen meines gelehrigen, liebevollen Wesens bekannt. Die Zärtlichkeit meines Herzens war so ungewöhnlich, daß sie mich zum Gespött meiner Kameraden machte. Ich war ein großer Tierfreund, und meine Eltern gestatteten mir gütigst, eine ganze Anzahl solcher Lieblinge zu halten. Mit ihnen verbrachte ich den größten Teil meiner Zeit und fühlte mich nie so glücklich, als wenn ich sie fütterte und liebkoste. Diese Eigenheit meines Wesens wuchs mit den Jahren und war später im Mannesalter der Quell meiner größten Vergnügungen. Denen, die jemals Neigung für einen treuen und gelehrigen Hund gehabt haben, brauche ich wohl die Natur und die innige Befriedigung, die aus solch einer Liebhaberei entstehen kann, nicht weiter zu erklären. In der selbstlosen und aufopferungsfähigen Anhänglichkeit eines Tieres liegt etwas, das unmittelbar zum Herzen dessen spricht, der oft Gelegenheit gehabt hat, die Armseligkeit und Unbeständigkeit der Menschen – was Freundschaft und Treue angeht – zu erproben. Ich heiratete früh und war glücklich, bei meiner Frau eine meinem Wesen entsprechende Gemütsart zu finden. Als sie meine Vorliebe für Haustiere bemerkte, ließ sie keine Gelegenheit vorübergehen, mir die gefälligsten zu verschaffen. Und so besaßen wir denn Vögel, Goldfische, einen schönen Hund, Kaninchen, einen kleinen Affen und einen – Kater. Er war ein auffallend großes und schönes Tier, vollständig schwarz und erstaunlich klug. Meine Frau, die ein wenig abergläubisch war, machte oft, wenn sie von dieser Klugheit sprach, Anspielungen auf den volkstümlichen Aberglauben, nach dem alle schwarzen Katzen verkappte Hexen sind. Ich will nicht sagen, daß sie jemals ernsthaft daran glaubte, und ich erwähne es überhaupt nur, weil ich mich zufällig wieder daran erinnere. Pluto – so hieß der Kater – war mein bevorzugter Liebling und Spielgenosse. Ich allein fütterte ihn, und er begleitete mich auf Schritt und Tritt im ganzen Hause herum. Ich konnte ihm nur mit Mühe verwehren, mir auch auf die Straße zu folgen. Unsere Freundschaft hatte nun schon mehrere Jahre bestanden – Jahre, in denen mein Temperament und mein Charakter, wie ich mit Beschämung gestehen muß, durch den Dämon Unmäßigkeit allmählich eine vollständige Wandlung zum Schlimmen erfuhr. Ich wurde von Tag zu Tag trübsinniger, reizbarer, rücksichtsloser. Selbst meiner Frau gegenüber gestattete ich mir eine brutale Sprache und vergriff mich schließlich sogar tätlich an ihr. Meine Lieblinge mußten natürlich ebenfalls unter dieser Veränderung meiner Gemütsart leiden. Ich vernachlässigte sie nicht nur, sondern mißhandelte sie. Für Pluto jedoch empfand ich noch immer so viel Zuneigung, daß ich ihn wenigstens nicht quälte, obwohl ich mir kein Gewissen daraus machte, die Kaninchen, den Affen und selbst den Hund, wenn sie mir aus Zufall oder Anhänglichkeit in den Weg liefen, zu peinigen, wie ich nur konnte. Aber meine Krankheit gewann immer mehr Macht über mich – denn welche Krankheit ist an Hartnäckigkeit dem Hang zum Alkohol zu vergleichen? –, und zum Schluß mußte selbst Pluto, der anfing, alt und infolgedessen etwas mürrisch zu werden, die Wirkungen meiner Verdüsterung an sich erfahren. Eines Nachts, als ich vollständig betrunken aus einer meiner geliebten Kneipen in der Stadt spät nach Hause zurückkehrte, bildete ich mir ein, der Kater meide meine Gegenwart. Ich fing ihn ein, raffte ihn hoch, wobei er mir, wahrscheinlich aus Angst vor meiner Heftigkeit, mit den Zähnen eine kleine Wunde an der Hand beibrachte. In demselben Augenblick ergriff mich eine wilde Wut; ich kannte mich selbst nicht mehr, es war, als sei meine Seele aus dem Körper entwichen; eine mehr als teuflische, vom Schnaps noch angefeuerte Bosheit zuckte in jeder Fiber meines Leibes. Ich zog ein Federmesser aus meiner Tasche, öffnete es, packte das arme Tier an der Gurgel und stach ihm ganz bedächtig eins seiner Augen aus der Höhle heraus. Oh! – es überläuft mich abwechselnd ein glühender und eisiger Schauder, da ich diese fluchwürdige Scheußlichkeit hier niederschreibe. Als ich am anderen Morgen den Dunst meiner nächtlichen Ausschweifung verschlafen hatte und wieder zu Verstände kam, empfand ich über mein Verbrechen ein aus Abscheu und Gewissensbissen gemischtes Gefühl; doch war es nur eine schwache Empfindung, und in ihrer Tiefe blieb meine Seele von derselben unberührt. Ich überließ mich aufs neue meinen Unmäßigkeiten, und jede Erinnerung an die Tat ertränkte ich im Branntwein. Der Kater genas mittlerweile langsam. Seine leere Augenhöhle bot allerdings einen schauerlichen Anblick, doch schien er keine Schmerzen mehr zu leiden. Wie früher strich er im Haus umher, floh aber, wie leicht erklärlich, entsetzt davon, sobald ich in seine Nähe kam. Ich hatte mir noch so viel Gefühl bewahrt, daß mich die offenbare Abneigung eines Geschöpfes, das mir früher zugetan war, betrübte. Doch wich diese Empfindung bald einer tückischen Erbitterung. Und dann kam auch, um meinen endgültigen, unwiderruflichen Untergang zu besiegeln, der Geist der Perversität über mich. Die Psychologie hat sich noch nie mit diesem Dämon befaßt. Doch so wahr meine Seele lebt, ich glaube, daß die Perversität einer der Grundtriebe des menschlichen Herzens ist, eine der unteilbaren Unfähigkeiten oder Gefühle, die dem Charakter des Menschen seine Richtungslinie geben. Wem wäre es nicht hundertmal begegnet, daß er sich bei einer niedrigen oder törichten Handlung überraschte, die er nur deshalb beging, weil er wußte, daß sie verboten war? Haben wir nicht beständig die Neigung, die Gesetze zu verletzen, bloß weil wir sie als solche anerkennen müssen? Dieser Geist der Perversität kam also, wie ich schon sagte, über mich, um meinen Untergang zu vollenden. Jener unergründliche Drang der Seele, sich selbst zu quälen, ihrer eigenen Natur Gewalt anzutun und das Unrecht nur um des Unrechtes willen zu begehen, trieb mich an, das unschuldige Tier, das ich schon so gräßlich mißhandelt hatte, noch weiter zu quälen. Eines Morgens legte ich kaltblütig eine Schlinge um seinen Hals und hängte es an dem Ast eines Baumes auf; hängte es auf, während mir die Tränen aus den Augen strömten und Gewissensbisse mein Herz folterten; hängte es auf, weil ich wußte, daß es mich geliebt, und weil ich fühlte, daß es mir nie eine Ursache zu dieser Mißhandlung gegeben hatte; hängte es auf, weil ich fühlte, daß ich mit der Tat eine Sünde beging, eine Todsünde, die das Heil meiner Seele vernichten konnte, sie, wenn es noch möglich gewesen wäre, dem Bereich der Gnade des allbarmherzigen Gottes hätte entziehen müssen. In der Nacht, die dem Tage folgte, an dem ich die grausame Tat vollführt hatte, wurde ich durch Feuerlärm aus dem Schlafe geweckt. Die Vorhänge meines Bettes brannten, das ganze Haus stand schon in Flammen. Unter großen Gefahren entrannen meine Frau, unser Dienstbote und ich der Feuersbrunst. Alles wurde zerstört, mein ganzer Besitz an irdischen Gütern war dahin. Und ich selbst überließ mich von nun ab nur noch widerstandsloser dem Trunk. Ich bin längst über die Schwäche hinaus, ein Verhältnis von Ursache und Wirkung zwischen diesem Unglück und der vorhergegangenen Schändlichkeit zu erblicken. Ich stelle nur eine Kette von Tatsachen fest und möchte dabei kein Glied unerwähnt lassen. Am Tag nach dem Brand besichtigte ich die Trümmer. Die Mauern waren bis auf eine zusammengestürzt: und zwar war die nicht sehr dicke Scheidewand in der Mitte des Hauses, an der das Kopfende meines Bettes gestanden hatte, stehengeblieben. Die Wandverkleidung selbst hatte dem Feuer auffallend gut widerstanden – ich führte dies auf den Umstand zurück, daß sie erst vor kurzem neu angeworfen worden war. Um diese Mauer herum hatte sich eine dichte Menschenmenge versammelt und schien einen bestimmten Teil derselben einer eingehenden, eifrigen Prüfung zu unterziehen. Worte wie ›seltsam!‹ und ›sonderbar!‹ und ähnliche Ausrufe erregten meine Neugierde. Ich näherte mich und erblickte auf der weißen Oberfläche, wie im Bas-Relief eingegraben, die Gestalt eines riesigen Katers. Die Konturen waren mit wunderbarer Sorgfalt ausgeführt. Um den Hals des Tieres lag ein Strick. Als ich diesen Spuk – für etwas anderes konnte ich’s kaum halten – erblickte, geriet ich vor Staunen und Grausen außer mir. Schließlich erinnerte ich mich, daß ich den Kater in einem Garten erhängt hatte, der dicht an mein Haus anstieß. Bei dem Feuerlärm hatte sich der Garten sofort mit Menschen gefüllt. Einer von ihnen mußte das Tier abgeschnitten und durch ein offenes Fenster – wahrscheinlich in der Absicht, mich aus dem Schlafe zu wecken – in mein Zimmer geschleudert haben. Beim Einsturz der anderen Mauer mußte irgendein Zufall das Opfer meiner Grausamkeit in die frisch aufgetragene Masse des Mauerputzes fest eingedrückt haben. Das Feuer hatte dann in Verbindung mit dem tierischen Alkali des Kadavers seine Umrisse fest in den Kalk eingebrannt. Obgleich ich, was diese aufregende, rasch erzählte Tatsache angeht, meiner Vernunft, wenn nicht meinem Gewissen Genüge tat, machte sie nichtsdestoweniger einen tiefen Eindruck auf meine Phantasie. Monatelang konnte ich mich von der Spukgestalt des Katers nicht befreien, und eine unbestimmte Empfindung, die wie Reue erschien, es aber doch nicht war, kehrte in mein Gemüt ein. Ich fing sogar an, den Verlust des Tieres aufrichtig zu bedauern, und begann, mich in den niedrigen Schenken, die ich meist besuchte, nach einem anderen Tier derselben Art und von einigermaßen ähnlichem Aussehen umzusehen, das den Platz Plutos wieder ausfüllen konnte. Eines Nachts, als ich, schon halb stumpfsinnig, in einer der allerniedrigsten Lasterhöhlen saß, lenkte sich meine Aufmerksamkeit plötzlich auf einen dunklen Gegenstand, der oben auf einem riesigen Oxhoftfaß voll Branntwein oder Rum lag, das ein Hauptstück der Ausstattung des Lokales bildete. Einige Minuten lang blickte ich fest nach dem in die Höhe gerichteten Boden des Fasses, und es setzte mich in Erstaunen, daß ich den betreffenden Gegenstand nicht eher bemerkt hatte. Ich ging darauf zu und berührte ihn mit der Hand. Es war ein schwarzer Kater – ein sehr großer schwarzer Kater –, ganz so groß wie Pluto und ihm, mit Ausnahme einer einzigen Abweichung, vollständig ähnlich. Pluto hatte an seinem ganzen Körper kein einziges weißes Haar; dieser Kater hatte dagegen einen großen, wenn auch undeutlich gezeichneten weißen Flecken, der beinahe die ganze Brust bedeckte. Als ich das Tier berührte, erhob es sich sofort, begann laut zu schnurren, rieb sich an meiner Hand und schien über die ihm gespendete Aufmerksamkeit höchst erfreut. Dies war also wohl gerade das Tier, das ich suchte! Ich machte dem Wirt sofort ein Angebot, um es zu kaufen, aber der erhob überhaupt keinen Anspruch darauf, sagte, er kenne es nicht und habe es nie zuvor gesehen. Ich fuhr in meinen Liebkosungen fort, und als ich mich auf den Heimweg machte, schien das Tier mir folgen zu wollen. Ich gestattete es und stand unterwegs hin und wieder still, um es zu streicheln. Zu Hause angekommen, gewöhnte es sich gleich ein und wurde sofort der Liebling meiner Frau. In mir jedoch fühlte ich bald eine Abneigung gegen das Tier entstehen. Das war gerade das Gegenteil von dem, was ich erwartet hatte, aber – ich weiß nicht, wie und weshalb – seine augenscheinliche Anhänglichkeit an mich widerte mich an. Nach und nach verwandelte sich dies Gefühl des Widerwillens in erbitterten Haß. Ich mied die Katze; ein gewisses Gefühl der Beschämung und die Erinnerung an meine frühere Grausamkeit verhinderten jedoch, daß ich sie mißhandelte. Einige Wochen vergingen, ohne daß ich sie schlug oder sonst quälte. Aber allmählich – ganz allmählich – fing ich an, sie mit unaussprechlichem Abscheu zu betrachten und vor ihrer verhaßten Gegenwart wie vor dem giftigen Hauch der Pest schweigend zu entfliehen. Was ohne Zweifel meinen Haß gegen das Tier noch verschärfte, war die Entdeckung, die ich gleich am ersten Morgen machte: daß das Tier, gerade wie Pluto, des einen Auges beraubt war. Dieser Umstand machte es meiner Frau nur noch lieber, die, wie ich schon sagte, in hohem Maße jene Zärtlichkeit des Herzens besaß, die auch einst mein hervorstechendster Charakterzug und die Quelle einfachster und reinster Freuden gewesen war. Doch schien mit meinem Widerwillen gegen den Kater dessen Vorliebe für mich nur noch zu wachsen. Er folgte mir stets auf dem Fuße, mit einer Beharrlichkeit, die ich nur schwer beschreiben kann. Setzte ich mich nieder, so kauerte er sich unter meinen Stuhl oder sprang mir auf die Knie und überhäufte mich mit den häßlichsten Liebkosungen. Stand ich auf, um wegzugehen, so zwängte er sich zwischen meine Füße und warf mich fast zu Boden, oder er klammerte sich mit seinen langen, scharfen Krallen in meine Kleider und kletterte an mir fast bis zur Brust herauf. Und obgleich mich bei solchen Gelegenheiten das Verlangen packte, ihn mit einem Hiebe totzuschlagen, hielt mich immer irgend etwas davon zurück, teils die Erinnerung an mein früheres Verbrechen, jedoch hauptsächlich – ich will es nur gleich gestehen – eine wirkliche Angst vor dem Tier. Ich fürchtete mich nicht gerade vor einer körperlichen Verletzung durch Kater – und doch wüßte ich nicht, wie ich sonst dies Gefühl erklären sollte! Ich gestehe mit Beschämung, selbst in dieser Verbrecherzelle mit Beschämung, daß der Schreck und der Abscheu, den das Tier mir einflößte, durch ein nichtiges Hirngespinst – so nichtig, wie man sich nur eins vorstellen mag – noch gesteigert wurde. Meine Frau hatte mich gelegentlich auf die Form des weißen Fleckens hingewiesen, von dem ich schon gesprochen habe, und der den einzigen sichtbaren Unterschied zwischen diesem seltsamen Tiere und dem von mir getöteten ausmachte. Der Leser wird sich erinnern, daß dieser Fleck, obgleich er groß war, nur sehr undeutliche Umrisse aufwies. Aber in ganz allmählichen, kaum wahrnehmbaren Steigerungen, die meine Vernunft sich vergeblich als Einbildungen einreden wollte, erlangten dieselben eine fürchterliche Deutlichkeit. Sie stellten jetzt einen Gegenstand dar, den ich zu nennen schaudere und dessentwegen allein ich das Ungeheuer verabscheute und fürchtete und mich von ihm befreit haben würde, hätte ich es nur gewagt. Es war das Abbild eines scheußlichen, spukhaften Gegenstandes – ich spreche es aus: Es war die Zeichnung eines Galgens. O trauriges und furchtbares Mahnbild der Schande und der Sühne niedrigsten Verbrechens – voll Todesqual! Und nun war ich elend – elend über alle Grenzen menschlichen Elends hinaus. Und ein unvernünftiges Tier – von dessen Geschlecht ich eines verächtlich getötet hatte –, ein vernunftloses Tier bereitete mir, einem Menschen nach dem Ebenbilde Gottes, eine solch unerträgliche Qual! Ach! Weder bei Tage noch bei Nacht empfand ich mehr die Wohltat der Ruhe. Tagsüber ließ mich das Tier keinen Augenblick allein, und des Nachts fuhr ich stündlich aus Träumen voll unaussprechlichen Grausens auf, fühlte seinen Atem über meinem Gesicht und sein schweres Gewicht – wie einen körperlich gewordenen Nachtspuk, den ich abzuschütteln nicht die Kraft hatte – unablässig auf meiner Brust! Unter dem Druck solcher Qualen. schwand der schwache Rest dahin, der noch von Gutem in mir war. Schlimme Gedanken wurden meine einzigen Begleiter – schlimmste, finsterste Gedanken! Mein gewöhnlicher Trübsinn artete in Haß aus gegen alles in der Welt, ja gegen die ganze Menschheit: Meist war es meine still duldende Frau, die unter den plötzlichen zügellosen Wutausbrüchen, denen ich mich jetzt oft blindlings überließ, bitter zu leiden hatte. Eines Tages begleitete sie mich wegen irgendeiner häuslichen Angelegenheit in den Keller des alten Gebäudes, das zu bewohnen uns unsere Armut nötigte. Die Katze folgte mir die steilen Treppen hinunter und veranlaßte, daß ich stolperte und fast kopfüber hinuntergestürzt wäre. Dies erboste mich sehr. Ich ergriff eine Axt, vergaß in meiner kindlichen Wut die Angst, die bis jetzt meine Hand zurückgehalten hatte, und führte einen Streich auf das Tier, der sicher tödlich gewesen wäre, wenn er so getroffen hätte, wie ich es wünschte. Meine Frau jedoch hielt den Schlag auf. Dies versetzte mich in eine mehr als teuflische Raserei, ich riß meinen Arm aus den Händen meiner Frau los und hieb ihr die Axt in den Schädel. Ohne den geringsten Laut brach sie sofort tot zusammen. Kaum war dieser grauenvolle Mord geschehen, als ich mich auch schon daran machte, den Leichnam mit aller Überlegung zu verbergen. Ich sah ein, daß ich ihn weder bei Tag noch bei Nacht aus dem Hause schaffen konnte, ohne Gefahr zu laufen, von den Nachbarn bemerkt zu werden. Mancherlei Pläne kamen mir in den Sinn. Einmal dachte ich daran, den Körper in lauter kleine Teile zu zerschneiden und zu verbrennen, dann beschloß ich, ihn im Boden des Kellers zu vergraben, dann überlegte ich, ob ich ihn nicht in den Brunnen, der sich auf unserm Hofe befand, werfen solle – ja, ich dachte sogar daran, ihn wie eine Ware in eine Kiste zu verpacken und diese von einem Paketträger aus dem Hause wegschaffen zu lassen. Endlich blieb ich bei einer Idee, die mir bei weitem als beste erschien. Ich beschloß, ihn im Keller einzumauern, wie es nach verschiedenen Überlieferungen die Mönche des Mittelalters mit ihren Opfern gemacht haben sollen. Der Keller schien mir für einen solchen Zweck wohl geeignet. Die Mauern waren leicht gebaut und erst kürzlich mit grobem Mörtel beworfen worden, der in der feuchten Kellerluft noch nicht vollständig verhärtet war. Überdies befand sich an einer der Mauern ein Vorsprung, hinter dem sich ein falscher Kamin befand, den man ausgefüllt hatte, wodurch die Stelle den übrigen Wänden gleichgemacht war. Ich zweifelte nicht, die Ziegel an dieser Stelle leicht herausbrechen, den Leichnam in der Höhlung verbergen und das Ganze wieder so zumauern zu können, daß kein Auge irgend etwas Verdächtiges entdecken würde. Und diese Annahme täuschte mich nicht. Ich entfernte mittels eines Brecheisens mit leichter Mühe die Steine, lehnte den Körper gegen die innere Wand, befestigte ihn etwas in dieser Stellung und stellte die Mauer, genauso, wie sie ursprünglich gewesen, wieder her. Da ich mir mit Verbrecherschlauheit Mörtel, Sand und Stroh verschafft hatte, bereitete ich einen Bewurf, der von dem vorigen nicht zu unterscheiden war, und verstrich die neugemauerte Stelle auf das sorgfältigste. Als ich fertig war, empfand ich eine große Befriedigung darüber, daß nun alles in Ordnung sei. An der Wand war nicht das geringste zu bemerken, den Fußboden säuberte ich mit peinlichster Sorgfalt von dem übriggebliebenen Schutt. Dann blickte ich mit triumphierenden Blicken umher und sagte mir: »Hier ist meine Arbeit wenigstens keine vergebliche gewesen.« Mein nächster Gang galt dem Kater, der all dies Elend verschuldet hatte und den ich nun mit Bestimmtheit töten wollte. Hätte ich ihn in dem Augenblick gefunden, so wäre sein Schicksal entschieden gewesen, doch es schien, als habe das schlaue Tier noch Furcht vor meinem wilden Zorn und vermeide es, sich vor mir in meiner augenblicklichen Stimmung blicken zu lassen. Es ist unmöglich, das tiefe, selige Gefühl der Erleichterung, mit welchem mich die Abwesenheit des verhaßten Wesens erfüllte, zu beschreiben oder gar sich vorzustellen. Auch am Abend kam es nicht wieder zum Vorschein, und so verbrachte ich die erste Nacht, seit es ins Haus gekommen war, in gesundem, tiefem Schlaf, obwohl ein Mord meine Seele belastete! Der zweite und dritte Tag verging – mein Peiniger kam nicht wieder. Noch einmal atmete ich in Freiheit auf. Das Untier war vor Schrecken aus meinem Hause entflohen! Ich würde es nicht mehr sehen! Mein Glück war unbeschreiblich. Das Andenken an meine schwarze Tat beunruhigte mich so gut wie gar nicht. Man hatte einige Nachforschungen angestellt, doch hatte ich sie bald zu erledigen gewußt. Sogar eine Haussuchung hatte stattgefunden, die natürlich ergebnislos verlaufen war. Ich fühlte mich vollständig ruhig und sicher. Am vierten Tage nach dem Mord erschienen jedoch ganz unerwartet noch einige Abgesandte der Polizei und nahmen von neuem eine sorgfältige Haussuchung vor. Da ich jedoch vollkommen überzeugt war, daß man das verhängnisvolle Versteck nicht auffinden werde, blieb ich ganz kaltblütig. Die Beamten forderten mich auf, sie bei der Durchsuchung zu begleiten. Sie ließen keinen Winkel, keine Ecke außer acht. Endlich stiegen sie zum dritten- oder viertenmal in den Keller hinab. Ich zuckte mit keiner Wimper, und mein Herz schlug so ruhig wie das eines Menschen, der in Unschuld schläft. Ich durchschritt den Keller von einem Ende zum andern, kreuzte die Arme über die Brust und ging seelenvergnügt auf und ab. Die Beamten schienen befriedigt und schickten sich an, wieder hinaufzugehen. Die Freude meines Herzens war zu groß, als daß ich sie ganz hätte verbergen können. Es stachelte mich förmlich, meinem Triumph, wenn auch nur durch ein Wort, Ausdruck zu verleihen und sie in ihrer Überzeugung von meiner Unschuld zu bestärken. »Meine Herren«, sagte ich endlich, als die Gesellschaft schon die Stufen hinaufschritt, »ich freue mich, daß sich Ihr Verdacht als unbegründet erwiesen hat. Ich wünsche Ihnen ein herzliches Lebewohl und für die Zukunft etwas mehr Höflichkeit. Im übrigen, meine Herren, ist dies ein sehr solide gebautes Haus!« (In dem wahnsinnigen Verlangen, irgend etwas Anzügliches leicht hinzuwerfen, wußte ich kaum selbst mehr, was ich sprach.) »Man könnte es fast ein außerordentlich solide gebautes Haus nennen! Diese Mauern – Sie gehen schon, meine Herren? – diese Mauern sind fest gefügt.« Und hier klopfte ich aus purer Prahlerei mit einem Stocke, den ich in der Hand hielt, heftig gerade gegen den Teil der Mauer, hinter dem der Leichnam jener Frau verborgen war, die ich von Herzen geliebt hatte. Aber möge Gott mir gnädig sein und mich aus den Klauen des Erzfeindes befreien! Kaum war der Nachklang der Schläge in der Stille verhallt, als eine Stimme aus dem Innern des Grabes antwortete. – Es war ein Geschrei, anfangs gebrochen und halb erstickt, wie das Schluchzen eines Kindes, ein Geschrei, das dann zu einem langen, anhaltenden Laut anschwoll, der übernatürlich und unmenschlich klang – einem Geheul, einem kreischenden Wehklagen, in dem sich Schreck und Frohlocken zu mischen schienen, wie es sich nur den Kehlen der Verdammten in ihren Qualen und der Brust triumphierender Teufel entringen kann. Es wäre unnütz, von meinen Empfindungen sprechen zu wollen. Einer Ohnmacht nahe, taumelte ich gegen die Rückwand des Kellers. Einen Augenblick standen die Polizisten im Übermaß des Entsetzens und Grausens regungslos und starr, im nächsten jedoch arbeiteten bereits ein Dutzend kräftige Arme an der Mauer. Sie war bald niedergerissen, und der schon stark in Verwesung übergegangene, mit geronnenem Blut bedeckte Leichnam meiner Frau stand aufrecht vor ihren Augen da. Auf dem Kopf, mit aufgerissenem rotem Maul und seinem einzigen glühenden Auge, hockte das scheußliche Tier, dessen Gebaren mich zum Morde verleitet hatte und dessen verräterische Stimme mich jetzt dem Henker überlieferte. Ich hatte das Ungeheuer mit in das Grab eingemauert. In der Gruft von H. P. Lovecraft Howard Phillips Lovecraft (1890-1937), legendärer amerikanischer Chronist des Grauens, der in Providence, Long Island, das Leben eines Sonderlings führte, konnte zu seinen Lebzeiten nur ein einziges Buch veröffentlichen; seine Kurzgeschichten und Erzählungen erschienen in Magazinen, vor allem in der Zeitschrift »Weird Tales«. Lovecraft wurde erst nach seinem Tode berühmt, als seine unheimlichen Geschichten gesammelt zu erscheinen begannen und in viele Sprachen übersetzt wurden. Als in der von Kalju Kirde herausgegebenen »Bibliothek des Hauses Usher« die ersten Lovecraft-Bände erschienen, schrieb der Rezensent der »Kölnischen Rundschau« : »Was da aus den Schächten der Phantasie, aus den schwarzen Abgründen des Grauens auftaucht, wird mit exaktem, peniblem Realismus festgehalten, wie in der surrealistischen Malerei, die ihre Visionen mit naturalistischer Genauigkeit einfängt.« Meiner Ansicht nach gibt es nichts Absurderes als die gedankliche Assoziation der Begriffe ländlich und lebensfroh, obwohl die Psychologie der breiten Masse seit jeher zu diesem Irrtum neigt. Berichtet man eine Begebenheit aus New England und erwähnt als Hauptperson den tolpatschigen Totengräber, dem durch seine Sorglosigkeit ein Mißgeschick in einer Gruft zustößt, dann erwartet der Durchschnittsleser wohl selten mehr als eine herzhafte Komödie. Aber Gott weiß, daß diese Geschichte, die ich jetzt nach George Birchs Hinscheiden erzählen kann, Aspekte aufweist, im Vergleich zu denen einige der bekannteren klassischen Tragödien fast harmlos wirken müssen. Birch bat im Jahre 1881 plötzlich um seine Entlassung und gab seinen Beruf gänzlich auf, sprach aber niemals über die Gründe, die zu diesem Entschluß geführt hatten. Auch sein Hausarzt, Dr. Davis, der nun schon seit Jahren tot ist, bewahrte striktes Stillschweigen. Allgemein bekannt war nur, daß Birch Verletzungen und einen Schock erlitten hatte, als er neun Stunden in der Gruft des Friedhofs von Peck Valley zubringen mußte, bis er sich endlich selbst aus dieser mißlichen Lage befreien konnte. Die wahren Hintergründe dieser Geschichte erfuhr ich erst von Birch persönlich während der häufigen Krankenbesuche, die ich ihm in den letzten Wochen vor seinem Tod abstattete. Er hatte Vertrauen zu mir, weil ich sein Arzt war, vielleicht aber auch nur, weil er sich mit niemandem mehr aussprechen konnte, nachdem Dr. Davis gestorben war. Birch war Junggeselle geblieben und besaß keine Verwandten. Bis zum Jahre 1881 hatte Birch das Amt des Totengräbers von Peck Valley ausgeübt und war selbst für diesen Menschenschlag ungewöhnlich abgebrüht. Seine Arbeitsweise muß für unsere Verhältnisse geradezu unglaublich erscheinen, und die biederen Bürger von Peck Valley wären vermutlich entsetzt gewesen, hätten sie je erfahren, wie weitherzig dieser Mann den Eigentumsbegriff auslegte, wenn es sich um Wertgegenstände handelte, die ohnehin nicht mehr sichtbar waren, nachdem der Sargdeckel sich über den Toten geschlossen hatte. Dazu kam noch, daß Birch keine langen Umstände zu machen pflegte, wenn einmal eine Leiche nicht in den Sarg paßte, bei dessen Herstellung er es an der nötigen Sorgfalt hatte fehlen lassen. Er war verantwortungslos, roh und für seine Stellung denkbar ungeeignet, aber trotzdem glaubte ich nicht, daß er von Grund auf schlecht und böse war. Gedankenlosigkeit, Leichtsinn und Trunksucht im Verein mit seinem grobschlächtigen und ungebildeten Wesen führten schließlich jenen Unfall herbei, der bestimmt zu verhindern gewesen wäre. Ich weiß nicht recht, an welchem Punkt ich Birchs Geschichte beginnen soll, denn ich bin kein geübter Erzähler. Zu Anfang sollte man wohl den bitterkalten Dezember des Jahres 1880 erwähnen, in dem das Erdreich so tief gefror, daß bis zum Frühjahr keine Gräber mehr ausgehoben werden konnten. Glücklicherweise war das Dorf klein und die Zahl der Toten in diesem Winter besonders niedrig, wodurch Birch in der Lage war, seine leblosen Schützlinge in der leerstehenden Gruft auf dem Friedhof unterzubringen. Das kalte Wetter machte ihn noch mürrischer als sonst, und er schien sich selbst in bezug auf schlechte Arbeit übertreffen zu wollen. Nie zuvor hatte er schiefere Särge zusammengehämmert oder sich weniger um das rostige Schloß in der Tür zu der Gruft gekümmert, wenn er wieder einmal einen Toten zur vorläufigen Ruhe zu betten hatte. Schließlich kam der Frühling, und auf dem Friedhof wurden neun Gräber ausgehoben, denn in der Gruft lagen neun Opfer, die der Sensenmann während des langen Winters abberufen hatte. Birch, der die mit den Umbettungen und Wiederbestattungen verbundene Arbeit scheute, begann an einem trüben Apriltag damit, hörte aber schon bald wieder auf, weil der starke Regen sein Pferd unruhig zu machen schien. Am nächsten Morgen wollte er die zweite Leiche, den alten Matthew Fenner, in das vorbereitete Grab schaffen, hatte aber doch keine Lust dazu und nahm die Arbeit erst wieder am Karfreitag auf. Da er von Natur aus nicht abergläubisch veranlagt war, bedeutete ihm dieser Tag nichts, obwohl er später nie mehr an einem Freitag arbeitete. Am Nachmittag des fünfzehnten April machte Birch sich also mit Pferd und Wagen auf, um Matthew Fenners Leiche in das Grab zu bringen. Später gab er mir gegenüber zu, daß er dabei nicht ganz nüchtern gewesen sei, obwohl er damals noch nicht die Mengen Alkohol zu sich nahm, mit deren Hilfe er später diesen Tag zu vergessen versuchte. Ein eisiger Wind hatte die Wolken vom Himmel gefegt, und Birch war froh, als er endlich das schwere Eisentor erreicht hatte, das den Eingang zu der Gruft versperrte. Mancher andere hätte die feuchte, nach Moder riechende Kammer nur ungern und zögernd betreten, aber damals war Birch für dergleichen Gefühlsregungen noch völlig unempfindlich und hatte nur eine Sorge – den richtigen Sarg für das vorbereitete Grab zu finden. Nur zu gut konnte er sich noch an den Aufruhr erinnern, der entstanden war, als Hannah Bixbys Verwandte ihre Leiche in die Stadt hatten überführen lassen, wobei sich herausstellte, daß in Wirklichkeit Richter Capwell unter ihrem Grabstein ruhte. Die Beleuchtung innerhalb der Gruft war düster, aber Birch hatte gute Augen und nahm nicht etwa aus Versehen Asaph Sawyers Sarg mit, obwohl er sehr ähnlich aussah. Ursprünglich hatte er diesen Sarg für Fenner vorgesehen gehabt, aber dann hatte er sich daran erinnert, wie freundlich und zuvorkommend der kleine alte Mann stets zu ihm gewesen war. Deshalb hatte er ihn zur Seite gestellt und Matthew Fenner den schönsten und besten Sarg getischlert, den je ein Bürger von Peck Valley bekommen hatte. Andererseits war er aber sparsam genug gewesen, um den schlechten für den Tag aufzuheben, an dem Asaph Sawyer das Zeitliche segnen würde. Sawyer war allgemein unbeliebt und vielen sogar verhaßt, denn seine Rachgier hatte mit zunehmendem Alter geradezu unmenschliche Formen angenommen. Birch hatte keinerlei Gewissensbisse empfunden, als er Sawyers Leichnam in den schlecht gearbeiteten Sarg gelegt hatte, den er jetzt auf der Suche nach Fenners achtlos zur Seite schob. Er hatte gerade den richtigen Sarg erkannt, als der Wind die Tür ins Schloß warf, wodurch es in der engen Grabkammer noch finsterer als zuvor wurde. Zwischen Tür und Schwelle drang nur ein schwacher Lichtstrahl in das Innere der Gruft, so daß Birch sich mühsam an den Särgen entlangtasten mußte, um wieder an die Tür zu gelangen. Er rüttelte heftig an der Klinke und trat schließlich sogar mit dem Stiefel dagegen, gab diese vergeblichen Bemühungen dann aber wieder auf, als sein vom Alkohol umnebelter Verstand ihm sagte, daß diese Methode wenig erfolgversprechend sei. Das jahrelang vernachlässigte Schloß war offensichtlich durch den heftigen Aufprall gebrochen, wodurch der Totengräber zum Gefangenen der Gruft geworden war – ein Opfer seiner eigenen Sorglosigkeit. Dieser Vorfall muß sich etwa um vier Uhr nachmittags zugetragen haben. Birch, der von Natur aus phlegmatisch und praktisch veranlagt war, vergeudete keine Zeit mit vergeblichen Hilferufen, sondern machte sich auf die Suche nach einigen Werkzeugen, die er in einer Ecke der Kammer hatte liegen sehen. Es bleibt zu bezweifeln, daß er das Unheimliche und Furchterregende seiner Lage erfaßte, aber er war jedenfalls wütend darüber, sich ausgerechnet in der Gruft eingesperrt zu finden, die in der entferntesten Ecke des Friedhofs lag. Die Arbeit, die er sich für diesen Nachmittag vorgenommen hatte, würde er wohl kaum mehr beenden können, und wenn nicht der Zufall einen Menschen in diese Gegend führte, würde er unter Umständen die ganze Nacht und noch länger hier verbringen müssen. Die Werkzeuge waren schnell gefunden, Birch wählte einen Hammer und einen Meißel und kehrte über die Särge hinweg zur Tür zurück. Die Luft hatte sich bereits merklich verschlechtert, aber er achtete nicht darauf, sondern bearbeitete das schwere Schloß mit heftigen Schlägen. Als er erkannte, daß das Schloß mit den vorhandenen Mitteln nicht aufzubrechen war – jedenfalls nicht in dem Halbdunkel, in dem er kaum den Meißelkopf erkennen konnte –, suchte Birch nach einem anderen möglichen Ausweg. Die Gruft war in eine Felswand hineingehauen worden, die jeden Ausbruchsversuch nach oben von vornherein als aussichtslos erscheinen ließ. Über der Tür bildete jedoch nur Ziegelmauerwerk den Abschluß, das den Bemühungen eines entschlossenen Mannes keinen allzu großen Widerstand zu bieten versprach; deshalb sah er lange hinauf, während er fieberhaft überlegte, wie er es erreichen könne. In der Gruft befand sich nichts, was als Leiter geeignet gewesen wäre, und die Sargnischen an den Seitenwänden, die Birch selten genug benutzte, waren zu weit entfernt, um als Stufen zu dienen. Nur die Särge selbst blieben nach diesen Überlegungen übrig, und während er darüber nachdachte, suchte er nach der bestmöglichen Anordnung. Drei Särge übereinander, schätzte er, müßten genügen, um ihn das Mauerwerk erreichen zu lassen, aber vier wären bestimmt vorzuziehen. Die einzelnen Särge hatten etwa gleiche Ausmaße und konnten wie Bauklötze aufeinandergestellt werden; Birch überlegte also, wie er mit acht Särgen eine möglichst stabile Plattform errichten könne. Dabei war es unvermeidlich, daß er nachträglich bedauerte, die Einzelteile dieser improvisierten Treppe nicht doch etwas sorgfältiger und solider angefertigt zu haben. Daß er genügend Vorstellungskraft besaß, um sich zu wünschen, die Särge seien leer, muß bezweifelt werden. Endlich faßte er einen Entschluß und begann die Särge in folgender Anordnung übereinanderzutürmen: drei als Unterlage, dann zwei mal zwei übereinander und schließlich noch einen, von dem aus er arbeiten wollte. Dann benützte er aber doch nur zwei für die unterste Lage, nachdem er sich überlegt hatte, daß er unter Umständen noch einen brauchen würde, um durch das Loch über der Tür hinausklettern zu können. So plagte der unfreiwillige Gefangene sich also in der tiefen Dämmerung ab und errichtete vor Anstrengung keuchend Lage für Lage seinen Turm en miniature. Einige der Särge ächzten bedrohlich, und er hob sich Matt Fenners Sarg bis zuletzt auf, um seinen Füßen später bei der Arbeit eine möglichst sichere Unterlage zu bieten. Dabei mußte er sich vor allem auf seinen Tastsinn verlassen und stieß nur aus Zufall auf den richtigen Sarg, nachdem er ihn zunächst aus Versehen in die dritte Schicht eingebaut hatte. Nachdem der Turmbau endlich fertiggestellt war, gönnte Birch sich eine kurze Pause, um dann mit Hammer und Meißel bewaffnet an die Arbeit zu gehen. Das leichte Mauerwerk versprach keinen großen Widerstand zu bieten, so daß der wackere Mann nicht daran zweifelte, schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder in Freiheit zu sein. Als die ersten Hammerschläge fielen, wieherte sein Gaul auf, wobei allerdings nicht mit Sicherheit zu unterscheiden war, ob dieser Laut Ermunterung oder Spott bedeuten sollte. Keine der beiden Auslegungen war von der Hand zu weisen, denn das Mauerwerk erwies sich als überraschend massiv. Die Nacht folgte auf die Abenddämmerung, aber Birch arbeitete unermüdlich weiter. Allerdings mußte er sich jetzt weitgehend auf seinen Tastsinn verlassen, denn schwere Wolken verbargen den blassen Mond fast vollständig. Obwohl sein Werk nur langsam Fortschritte machte, fühlte Birch sich durch den allmählich entstehenden Durchbruch ermutigt, den er bis Mitternacht genügend erweitert zu haben hoffte, um hindurchkriechen zu können. Bezeichnend für seine Einstellung diesen Dingen gegenüber muß es genannt werden, daß er sich keine Sekunde lang Gedanken über Zeit, Ort und die leblosen Gestalten zu seinen Füßen machte. Er hämmerte ungerührt weiter, stieß nur ab und zu einen kurzen Fluch aus, wenn ihn ein Splitter ins Gesicht traf, und lachte einmal sogar lauthals, als ein anderer das Pferd streifte, das vor der Gruft unruhig scharrte. Im Laufe der Zeit hatte er die Öffnung so vergrößert, daß er bereits gelegentlich den Versuch unternahm, sich hindurchzuzwängen, wobei die Särge unter seinen Füßen gefährlich knarrten und schwankten. Dabei stellte er fest, daß es nicht nötig sein würde, den bestehenden Stapel um einen Sarg zu erhöhen, denn das Loch befand sich genau in der richtigen Höhe und mußte nur noch erweitert werden. Es muß zumindest bereits Mitternacht gewesen sein, als Birch zu der Überzeugung kam, daß der Durchbruch jetzt groß genug sei. Da er trotz häufig eingelegter Arbeitspausen erschöpft und schweißüberströmt war, stieg er noch einmal in die Gruft hinunter, um seine Kräfte für den bevorstehenden Ausbruchsversuch zu sammeln. Seltsamerweise verspürte er keine rechte Begeisterung mehr dazu und scheute zudem die damit verbundene Anstrengung, denn sein Körper wies bereits die ersten Anzeichen der Korpulenz auf, die bei Männern seines Alters so häufig anzutreffen ist. Als er wieder über die ächzenden Särge nach oben kletterte, empfand er sein nicht unbeträchtliches Körpergewicht als besonders hinderlich, vor allem als er den obersten erreicht hatte und unter seinen Füßen ein bedrohlich klingendes Krachen vernahm. Offensichtlich hatte er sich einer vergeblichen Hoffnung hingegeben, als er den am besten gebauten Sarg an diese Stelle gedrückt hatte, denn der Deckel gab unter seinem Gewicht nach, so daß Birch einen halben Meter weit in etwas hinabglitt, das nicht einmal er sich vorstellen mochte. Sein Gaul, der schon durch das Krachen erschreckt worden war, wurde durch den ins Freie dringenden unerträglichen Gestank vollends scheu gemacht und raste wie besessen mit dem Wagen davon. Birch befand sich nun in einer Lage, in der ein leichtes Entkommen durch die erweiterte Öffnung unmöglich war, aber er sammelte seine Kräfte zu einem entschlossenen Versuch. Er umklammerte den unteren Rand des Durchbruchs und wollte sich daran hochziehen, als er feststellen mußte, daß ihn etwas an den Knöcheln zurückzuhalten schien. Jetzt empfand er zum erstenmal in dieser Nacht Angst, denn selbst seine verzweifelten Bemühungen konnten ihn nicht davon befreien, seine Füße blieben umklammert. Gleichzeitig spürte er fast unerträgliche Schmerzen, die ihn noch mehr in Angst und Schrecken versetzten, aber trotzdem behielt er noch klaren Kopf genug, um sich zu vergegenwärtigen, daß die Wunden von Nägeln und Holzsplittern herrühren mußten. Vielleicht schrie er sogar, stieß und schlug aber jedenfalls wild um sich, obwohl er bereits einer Ohnmacht nahe war. Sein Instinkt muß ihm damals zu Hilfe gekommen sein, denn er brachte es schließlich doch fertig, sich durch die Öffnung zu zwängen und auf dem Boden weiterzukriechen, nachdem er jenseits des eisernen Tors hinabgeglitten war. Es muß schauerlich anzusehen gewesen sein, wie Birch mühsam auf das Häuschen des Friedhofswärters zukroch, während der schwache Mondschein die blutige Spur beleuchtete, die er auf dem kiesbestreuten Weg hinterließ. Seine Hände griffen nach den Grabsteinen, an denen er sich vorwärtszog, während sein Körper nur unwillig gehorchte, wie es immer der Fall zu sein scheint, wenn man sich von einem Wesen aus einem fürchterlichen Alptraum verfolgt fühlt. Offensichtlich gab es diesen Verfolger jedoch nicht, denn Birch war allein und lebendig, als Armington, der Friedhofswärter, ihm auf sein schwaches Klopfen die Haustür öffnete. Armington trug Birch in ein leerstehendes Bett, dann schickte er seinen Sohn Edwin zu Dr. Davis. Der Verwundete war bei vollem Bewußtsein, aber nicht zu irgendwelchen Auskünften bereit, sondern murmelte nur immer wieder vor sich hin: »Oh, meine Füße! Laß mich los! In der Gruft … eingeschlossen …« Dann kam der Arzt mit seiner schwarzen Tasche, stellte einige Fragen, zog Birch die Stiefel aus und schnitt vorsichtig die blutdurchtränkten Hosen und Socken auf. Die Wunden – beide Knöchel waren an der Achillessehne beträchtlich verletzt – schienen den alten Arzt zunächst in Erstaunen und schließlich sogar in Schrecken zu versetzen. Er stellte immer eindringlichere Fragen, und seine Hände zitterten merklich, als er die Verbände anlegte. Dabei arbeitete er rasch. Es entsprach keinesfalls dem Wesen des Arztes, der als zurückhaltend bekannt war, daß er den erschöpften Birch mit Fragen über den genauen Hergang des Unglücks bestürmte. Er zeigte sich merkwürdig daran interessiert, ob Birch sicher war – völlig sicher –, welchen Sarg er zuoberst auf den Stapel gestellt hatte, wie er ihn ausgesucht hatte, wie er ihn in der herrschenden Dunkelheit als Fenners Sarg erkannt hatte und wie er ihn von dem schlechteren unterschieden hatte, in dem der rachsüchtige Asaph Sawyer lag. War es tatsächlich möglich, daß der stabil gebaute Sarg Fenners so leicht hatte nachgeben können? Dr. Davis hatte beide Särge bei den jeweiligen Bestattungen gesehen, denen er beigewohnt hatte, da die beiden Verstorbenen zu seinen Patienten gehört hatten. Anläßlich Sawyers Beerdigung hatte er sich sogar darüber gewundert, wie es möglich gewesen war, daß der rachsüchtige Farmer in einem Sarg Platz hatte, der dem des wesentlich kleineren Fenner auffällig glich. Erst zwei Stunden später stand Dr. Davis von dem Bett des Verwundeten auf, nachdem er Birch eingeschärft hatte, überall und immer zu behaupten, die Wunden rührten ausschließlich von Nägeln und Holzsplittern her. Birch sollte überhaupt jedes Gespräch über diesen unglücklichen Vorfall tunlichst vermeiden und vor allem keinen anderen Doktor seine Verwundungen behandeln lassen. Der Totengräber befolgte diesen Rat für den Rest seines Lebens, bis er sich mir anvertraute, und als ich die Narben zu Gesicht bekam, stimmte ich mit ihm überein, daß er das Richtige getan habe. Er blieb für immer gelähmt, denn die Sehnen waren durchtrennt, aber ich glaube, daß die eigentlichen Wunden in seiner Seele zurückblieben. Sein Verstand war nun auf unerklärliche Weise verwirrt, und seine Reaktion auf Wörter wie Freitag, Gruft, Sarg und andere, die noch unverfänglicher klangen, war geradezu mitleiderregend. Er gab seinen Beruf auf, aber irgend etwas schien ihn zeit seines Lebens zu bedrücken. Es mag nur eine ungewisse Furcht gewesen sein, aber ich habe Grund zu der Annahme, daß sich darunter auch ein verspätetes Bedauern mischte, mit dem er an vergangene Taten zurückdachte. Nachdem Dr. Davis ihn in jener Nacht verlassen hatte, bat er den Friedhofswärter um eine Laterne und machte sich auf den Weg zu der Gruft. Der Mond warf ein geisterhaftes Licht auf die Ziegeltrümmer und das gähnende Loch oberhalb der eisernen Tür. Das rostige Schloß ließ sich von außen ohne großen Kraftaufwand betätigen, aber Dr. Davis war vorsichtig genug, das Tor durch einen Steinbrocken zu sichern, bevor er sich in die Gruft wagte. Er dachte an die zahllosen Obduktionen zurück, die er mitgemacht hatte, ließ sich von dem entsetzlichen Gestank nicht weiter beeindrucken und richtete den Strahl der Laterne auf die Särge, die wirr durcheinanderlagen. Zuerst stieß er einen lauten Schrei aus, dann gab er einen halb erstickten Laut von sich, der noch schreckerfüllter klang. Einen Augenblick später flüchtete er wie von Furien gehetzt in das Haus des Friedhofswärters zurück und verstieß gegen alle Regeln der ärztlichen Kunst, indem er seinen Patienten aufweckte, ihn bei den Schultern rüttelte und ihm aufgeregt etwas ins Ohr flüsterte. Seine Worte müssen auf Birchs verwirrten Verstand wie die Trompeten des Jüngsten Gerichts gewirkt haben … »Es war Asaphs Sarg, Birch, wie ich es mir gedacht habe! Ich habe sein Gebiß wiedererkannt, in dem die oberen Vorderzähne fehlten – um Gottes willen, zeigen Sie niemals jemand Ihre Wunden! Die Leiche ist schon ziemlich verwest, aber dieser rachsüchtige Ausdruck auf dem Gesicht – oder dem, was früher einmal ein Gesicht war! … Sie wissen doch, wie er sich für alles rächte – wie er den alten Raymond dreißig Jahre nach ihrem Grenzstreit ruinierte, wie er einmal einen Hund erschoß, der als Welpe nach ihm geschnappt hatte … Er war der leibhaftige Teufel, Birch, und ich glaube wirklich, daß seine Rachgier den Tod überwunden hat! Gott, dieser haßerfüllte Gesichtsausdruck! Warum haben Sie das getan, Birch? Sawyer war ein Schuft, und ich kann verstehen, daß Sie ihm den schlechten Sarg gegeben haben, aber mußten Sie denn gleich so weit gehen? Niemand hätte es Ihnen übelgenommen, wenn Sie das Ding für jemand anderen genommen hätten, aber Sie wußten doch, wie klein der alte Fenner war. Diesen Anblick werde ich nie wieder vergessen können, selbst wenn ich hundert Jahre alt werden sollte. Sie haben verzweifelt um sich geschlagen, als Ihre Sehnen zerbissen wurden, denn Asaphs Sarg lag auf dem Boden. Ich habe schon viel mitgemacht und gesehen, aber dieser Anblick war schauerlicher als alles andere je zuvor. Auge um Auge, Zahn um Zahn! Der zertrümmerte Schädel allein wäre schon genug gewesen, aber das andere war noch viel schlimmer – die säuberlich abgetrennten Füße, damit die Leiche in den für Matt Fenner vorgesehenen Sarg paßte!« Das unersättliche Haus von Robert Bloch Robert Bloch, 1917 geboren, gehört zu jenen amerikanischen Schriftstellern, die der lange Zeit vernachlässigten phantastischen Literatur wieder zu literarischem Ansehen verholten haben. In seiner »Einführung in die Alpträume« schreibt er: »Manchmal können wir nicht umhin, die Existenz der Furcht einzugestehen. Und wenn es nur aus dem Grunde geschieht, um unsere eigene Existenz erträglicher zu machen. Dann suchen wir Ritter ohne Furcht und Tadel nach einem offenen Ventil für unsere Furcht; nach einer Möglichkeit, unseren ängstlichen Gefühlen – die im ›wirklichen‹ Leben für uns nicht existieren – freien Lauf zu lassen. Und so kommen wir unweigerlich zu den Gruselgeschichten. Ich habe viele solcher Geschichten für den Film, das Fernsehen, den Funk und die Zeitschriften geschrieben. Damit habe ich mich wahrscheinlich von meinen eigenen Ängsten befreit. Und den Lesern helfe ich mit meinen Geschichten …« Als sie das Haus übernommen hatten, waren sie zu zweit. Sie und er. Dann kam es dazu. Vielleicht aber war es schon immer im Haus und hatte nur auf sie gewartet. Wie dem auch sei: Es war da, und man konnte nichts dagegen unternehmen. Es wäre natürlich eine Möglichkeit gewesen, aus dem Haus wieder auszuziehen; aber sie hatten einen Fünfjahresvertrag abgeschlossen und freuten sich über die billige Miete. Außerdem wäre es absurd, sich darüber beim Makler zu beschweren. Sie konnten es nicht einmal ihren Freunden erklären. Wohin hätten sie auch ziehen sollen? Sie hatten nach monatelanger Suche endlich dieses Haus gefunden. Zudem weigerten sich zu Beginn sowohl sie als auch er, die Gegenwart von es zur Kenntnis zu nehmen. Aber beide wußten, daß es existierte. Sie bekam es gleich am allerersten Abend zu spüren. Sie saß vor dem hohen, altmodischen Spiegel im Schlafzimmer und kämmte sich. Der Spiegel war noch nicht abgestaubt und hatte schmierige Flecke. Außerdem flackerte das Licht über dem Spiegel ein wenig. Darum dachte sie auch zuerst, es wäre ein zufälliger Schatten oder ein Fleck auf dem Glas. Sie runzelte die Brauen, als sie die schwankenden, verschleierten und schemenhaften Umrisse im Hintergrund wahrnahm. Dann glättete sich ihre Stirn, weil sie wußte, daß sich ihr spezielles Verheiratet-sein-Gefühl wieder einmal bemerkbar machte. Dieses Gefühl bestand darin, die Gegenwart des anderen zu spüren, ohne mit Bewußtsein gemerkt zu haben, daß der andere den Raum betreten hatte. Das war es. Er mußte jetzt genau hinter ihr stehen. Er mußte den Raum lautlos betreten haben. Gleich würde er versuchen, sie zu überraschen und die Arme um sie zu legen. Sie drehte sich um, um ihm entgegenzulächeln. Ihr Lächeln fror ein, denn der Raum war leer. Sie schaute wieder in den Spiegel. Die schemenhaften Umrisse waren immer noch da – genauso wie das Gefühl, daß sich noch jemand im Raum befinden mußte. Sie zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf und schnitt eine Grimasse. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, aber es war ein verunglücktes Lächeln. Durch das fleckige Glas und die schwache Beleuchtung wirkte es verzerrt und fremd – es war ein Lächeln, das nicht zu ihrem Gesicht zu gehören schien. Nun ja, dachte sie, dieser ganze Umzug war doch recht anstrengend. Dann fuhr sie sich energisch mit der Bürste durch die Haare und verbannte jeden abwegigen Gedanken. Trotzdem atmete sie erleichtert auf, als er plötzlich das Schlafzimmer betrat. Im ersten Augenblick wollte sie es ihm erzählen, aber dann überlegte sie es sich anders. Sie wollte ihn mit ihren »Nerven« nicht beunruhigen. Er hingegen war nicht so schweigsam. Er kam am nächsten Morgen aus dem Badezimmer gestürmt. Seine linke Wange blutete; und er fuchtelte mit dem Rasierapparat herum. »Was soll der Quatsch?« fragte er verdrießlich. »Warum schleichst du hinter mir her und erschreckst mich im Spiegel? Schau dir an, wie ich mich geschnitten habe! Ich finde das überhaupt nicht lustig!« Sie lag noch im Bett und setzte sich bei seinen Worten ruckartig auf. »Aber Schatz, wie soll ich dich erschreckt haben?« fragte sie verschlafen. Dann fuhr sie lebhafter fort: »Ich habe mein Bett überhaupt noch nicht verlassen.« »Nein?« Er hob erstaunt die Augenbrauen. Nachdem er offensichtlich kurze Zeit angestrengt nachgedacht hatte, war auf seinem Gesicht ein bestürzter Ausdruck. »Na ja«, brummte er. »Was, ›na ja‹?« Sie hatte die Decke beiseite geschleudert und saß auf der Bettkante. Während ihre Füße automatisch nach den Pantoffeln angelten, schaute sie ihn gespannt an. »Was ›na ja‹?« wiederholte sie. »Ach nichts«, murmelte er, »gar nichts. Als ich beim Rasieren in den Spiegel guckte, hatte ich nur das Gefühl, daß du – oder sonst irgend jemand – mir über die Schulter siehst. Und zwar ganz plötzlich, verstehst du? Das muß wohl an den verdammten Lampen liegen. Ich werde gleich heute neue Birnen besorgen.« Er tupfte sich mit dem Handtuch das Blut von der Wange und drehte sich um. Sie holte tief Luft. »Ich hatte gestern abend dasselbe Gefühl«, sagte sie dann und biß sich sofort ärgerlich auf die Lippen. »Was sagst du da?« Sie nickte. »Ja, ja –« Dann fuhr sie hastig fort. »Es muß an den Lampen liegen. Du hast recht – es muß ganz bestimmt an den Lampen liegen.« Er starrte gedankenverloren vor sich hin. Dann räusperte er sich geräuschvoll. »Nun ja – was sollte es auch sonst sein? – Ich werde die neuen Birnen bestimmt nicht vergessen.« « Das ist gut.« Sie nickte eifrig. »Bei der Einweihungsparty am Sonnabend muß alles in Ordnung sein.« Aber es war noch lange nicht Sonnabend. Bis dahin geschahen noch einige Dinge, die sie mehr verwirrten, als sie sich gegenseitig eingestanden haben würden. Als er am nächsten Morgen zur Arbeit gefahren war, machte sie sich daran, den Garten zu untersuchen. Der Anblick war alles andere als erfreulich. Der große Garten glich einem verwahrlosten Acker mit dunklen Bäumen, die eine drohende Haltung einzunehmen schienen. Der Herbstwind wirbelte die toten Blätter um das alte Haus. Sie stand auf einer kleinen Anhöhe und schaute nachdenklich auf die finsteren Hausgiebel aus einem anderen Jahrhundert. Das eigenartige Gefühl, das sie beschlich, hatte nichts damit zu tun, daß weit und breit keine Menschenseele war und das Haus des nächsten Nachbarn eine halbe Meile entfernt an der einsamen schmutzigen Straße lag. Sie kam sich auf einmal wie ein unerwünschter Eindringling vor – ein Eindringling in die Vergangenheit. Der kalte Wind, die sterbenden Bäume und der finstere Himmel waren willkommen – sie gehörten zum Haus. Sie war der Außenseiter. Weil sie jung war. Weil sie lebte. Das alles fühlte sie mehr, als daß sie es dachte. Solange sich ihr Verstand gegen diese Gedanken sträubte, konnte auch keine Angst bei ihr aufkommen. Die Angst, alleine zu sein, oder, was noch viel schlimmer war, die Angst, nicht alleine zu sein. Denn gerade jetzt, als sie auf das Haus schaute, schloß sich die Tür. Das war natürlich der Herbstwind. Selbstverständlich. Aber die Tür war weder zugefallen noch zugeschlagen. Sie hatte sich ganz einfach geschlossen. Aber trotzdem: Es war das Werk des Windes. Es mußte sein Werk sein! Denn es war keiner im Haus, der die Tür hätte schließen können. Sie griff in die Tasche ihres Hauskleides. Dann zuckte sie die Achseln, denn ihr fiel ein, daß sie den Hausschlüssel in die Küche gelegt hatte. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, so bald wieder ins Haus zu gehen, denn sie wollte sich den Garten genau ansehen und überlegen und ausmessen, wo man im nächsten Frühjahr Gemüsebeete anlegen und Blumen pflanzen konnte. Als sich jetzt aber die Tür geschlossen hatte, fühlte sie, daß sie zurückgehen mußte. Irgend etwas versuchte, sie auszuschließen. Aus ihrem eigenen Haus auszuschließen! Und dem durfte sie keinesfalls nachgeben. Irgend etwas kämpfte gegen sie. Irgend etwas war gegen ihre Anwesenheit und gegen jede mögliche Änderung. Sie mußte sich wehren und ihren Platz behaupten. Sie ging entschlossen auf das Haus zu, rüttelte am Türgriff und fand ihre Ahnung bestätigt, daß sie ausgeschlossen war. Die erste Runde hatte sie verloren. Aber es gab ja noch das Fenster. Das Küchenfenster befand sich in Augenhöhe und war einen Spalt geöffnet. Als sie auf eine kleine Kiste stieg, konnte sie es mühelos erreichen. Sie hob die Hand, um das Fenster weiter in die Höhe zu schieben. Es rührte sich nicht von der Stelle. Es mußte irgendwo klemmen. Aber es hatte vorher nicht geklemmt, denn ehe sie in den Garten ging, hatte sie es ohne Schwierigkeiten aufschieben können. Außerdem hatten sie bei ihrem Einzug alle Fenster ausprobiert und keine Mängel festgestellt. Sie versuchte es noch einmal. Mit großer Anstrengung konnte sie das Fenster vielleicht fünfzehn Zentimeter hochschieben, dann … Als das Fenster mit der Wucht einer Guillotine herabsauste, konnte sie gerade noch rechtzeitig ihre Hand zurückreißen. Sie biß sich auf die Lippen. Dann straffte sie die Schultern und versuchte es erneut mit dem Fenster. Dieses Mal schaute sie dabei in die Scheibe. Es war normales, durchsichtiges Fensterglas. Sie hatte es erst gestern geputzt und wußte, daß es sauber sein mußte. Es hatte keine Verschleierungen, keine Schatten und ganz gewiß keine Bewegungen gehabt. Aber jetzt war es voller Bewegung! Irgend etwas Wolkiges, Verschwommenes, irgend etwas eigenartig Undurchsichtiges schien sie anzustarren und die Fensterscheibe herunterzudrücken. Irgend etwas wollte ihr den Eintritt ins Haus verwehren. Plötzlich lachte sie hysterisch auf, denn ihr war zum Bewußtsein gekommen, daß sie auf ihr eigenes Spiegelbild zwischen den Schatten der Bäume starrte. Natürlich, es mußte ihr eigenes Spiegelbild sein, und es bestand überhaupt keine Veranlassung für sie, die Augen zu schließen und zu schluchzen und – als das Fenster endlich offen war – fast in die Küche zu taumeln. Sie war im Haus, und sie war allein. Ganz allein. Alles war in bester Ordnung. Sie brauchte ihn mit der Geschichte nicht zu beunruhigen. Sie würde ihm nichts erzählen. Er würde ihr auch nichts erzählen. Als sie am Freitag nachmittag den Wagen nahm, um in der Stadt Einkäufe für die morgige Party zu machen, blieb er zu Hause, um die letzten Dinge nach dem Umzug in Ordnung zu bringen. Aus diesem Grund schaffte er auch die Kleidersäcke auf den Boden. Die Sommersachen nahmen in den Schränken so viel Platz in Anspruch, daß er sie aus dem Wege haben wollte. Auf dem Boden war es dunkel. Er setzte die Kleidersäcke ab und arbeitete sich mit der Taschenlampe an der Wand entlang. Dabei stieß er auf einen Verschlag unter einem der Giebel. Er starrte auf die Tür und das Vorhängeschloß. Der Staub und der Rost sprachen ihre eigene Sprache. Hier oben war seit Ewigkeiten keiner gewesen. Er mußte an Hacker, den zungenfertigen Makler, der ihnen dieses Haus vermittelt hatte, denken. »Das Haus ist ein paar Jahre lang nicht bewohnt gewesen und muß etwas aufgemöbelt werden«, hörte er Hacker sagen. So wie es hier aussah, würde er eher sagen, daß das Haus einige Jahrhunderte lang nicht bewohnt gewesen war. Das hatte allerdings den Vorteil, daß er für dieses Schloß nichts weiter als eine einfache Feile benötigte. Er ging rasch hinunter und kam gleich darauf mit einer Feile zurück. Der Staub und Schmutz sprachen wirklich ihre eigene Sprache. Die vorigen Mieter mußten das Haus etwas überstürzt verlassen haben. Auf dem Boden herrschte ein heilloses Durcheinander. Überall waren Schutt und Gerümpel verstreut. Die tiefen Schrammen auf dem Fußboden deuteten daraufhin, daß jemand seine Kisten und Koffer in hektischer Eile zur Treppe geschleift hatte. Nun ja, er hatte den ganzen Winter über Zeit, alles wieder herzurichten. Jetzt wollte er nur die Sommersachen unterbringen. Er klemmte sich die Taschenlampe an den Gürtel und beugte sich mit der Feile in der Hand über das Vorhängeschloß. Es war wirklich ein Kinderspiel. Das Schloß sprang auf, und er drückte gegen die Tür. Als sie quietschend aufging, mußte er die Luft anhalten. Ihm strömte eine Woge von Moder und Fäulnis entgegen. Dann richtete er den Strahl der Taschenlampe in den engen, schmalen Verschlag. Ein tausendfaches Glitzern und Funkeln stach ihm in die Augen. Goldenes, glühendes Feuer brannte in seinen Pupillen. Er zuckte mit der Taschenlampe zurück und schloß geblendet die Augen. Dann richtete er den Lichtstrahl nach oben. Und wieder stach ihm gleißendes Licht wie Lanzen in die Augen. Er sprang zurück. Sein Atem ging rasch. Dann zwang er sich zur Ruhe und Vernunft und lugte noch einmal in den Verschlag. Auf einmal wußte er, woher dieses Glitzern und Funkeln kam. Er blickte in einen Raum voller Spiegel. Sie hingen von der Decke, lehnten in Ecken und standen an den Wänden. Da waren ein großer stattlicher Spiegel, der einmal eine Tür ausgefüllt haben mußte, zwei ovale Spiegel von einer altmodischen Frisierkommode, ein Spiegel, der aus einem Rahmen gebrochen war, und sogar ein komplettes, auseinandergenommenes Medizinschränkchen – fast haargenau das gleiche, das er gerade im Badezimmer angebracht hatte. Der Fußboden war mit Handspiegeln in allen Größen und Formen bedeckt. Er entdeckte einen zierlichen Handspiegel mit silbernem Griff, der einst auf der Frisiertoilette einer Frau gelegen haben mußte. Dahinter lehnte der eigentliche Spiegel der Frisiertoilette. Und rund herum Taschenspiegel, Spiegel aus Puderdosen und aus allen möglichen Etuis. An der gegenüberliegenden Wand stand gleich eine ganze Serie von gleichgroßen ungerahmten Spiegeln, die wahrscheinlich einmal in eine Schlafzimmerwand eingebaut gewesen waren. Er schaute auf ein halbes Hundert silbriger Oberflächen; er schaute auf ein halbes Hundert Wiedergaben seines bestürzten Gesichtes. Er mußte wieder an Hacker denken und an den Tag, an dem sie das Haus besichtigt hatten. Er hatte damals Hacker auf das Fehlen des Badezimmerschränkchens aufmerksam gemacht, aber Hacker war nicht näher darauf eingegangen. Es war ihm damals gar nicht aufgefallen, daß im ganzen Haus kein einziger Spiegel vorhanden war. Schön, sie hatten das Haus nicht möbliert gemietet, aber man sollte doch bei so einem alten Bau einen Spiegel in irgendeiner Türfüllung vermuten. Keine Spiegel? Warum? Und warum waren sie hier alle versteckt? Unter Schloß und Siegel? Das war interessant. Vielleicht würde seine Frau ein paar von den Spiegeln haben wollen. Zum Beispiel den Handspiegel mit dem silbernen Griff. Er mußte ihr das gleich erzählen, wenn sie zurückkam. Er trat vorsichtig in den Raum und zog die Kleidersäcke hinter sich her. Vielleicht gab es hier eine Kleiderstange oder wenigstens ein paar Haken. Als er nichts dergleichen fand, beschloß er, rasch ein paar Haken einzuschlagen. Als er sich bückte, um die Kleidersäcke auf einen Haufen zu legen, tanzte der Lichtstrahl der Taschenlampe auf tausend glitzernden Oberflächen. Vor seinen Augen war ein einziges Gleißen und Funkeln. Auf einmal verschwand das Funkeln. Die glänzenden Spiegel verdunkelten sich eigentümlich. Aber das war nur natürlich, denn sein Spiegelbild füllte sie aus. Sein Spiegelbild – und etwas, was dunkler war. Etwas Wolkiges, Verschwommenes, Quirlendes, etwas, was ein Teil der modrigen Luft war, etwas, was durch seine Gegenwart den Aufenthalt in dem Raum unerträglich werden ließ. Es war hinter ihm – nein, es war neben ihm – nein, vor ihm – es umgab ihn von allen Seiten – es wurde größer und größer und löschte ihn aus. Es verursachte, daß er zitterte und in Schweiß ausbrach. Es raubte ihm jetzt den Atem und zwang ihn, aus dem Raum zu stürzen, die Tür hinter sich zuzuwerfen und sich mit letzter Kraft erschöpft dagegen zu lehnen. Es hatte auch einen Namen – Platzangst. Genau das war es. Nichts weiter als neurotische Angstzustände … Nichts weiter als das beklemmende Gefühl, in einem engen Raum eingeschlossen zu sein. Außerdem wird jeder Mann nervös, wenn er zu lange in einen Spiegel schaut – geschweige denn in fünfzig Spiegel! Er zitterte heftig. Nur um seine Gedanken zu beschäftigen, damit sie sich nicht mit dem befassen konnten, was er halb gesehen, halb gefühlt, halb erkannt hatte, dachte er weiter über Spiegel nach. Über das In-den-Spiegel-Schauen. Für Frauen ist es eine Art Lieblingsbeschäftigung; aber Männer sind da anders. Männer – wobei er sich selbst einschloß – scheinen Spiegeln gegenüber eine Befangenheit zu haben. Er entsann sich an den Schock, den er bekommen hatte, als er sich in einem Bekleidungshaus zum erstenmal in einem jener Spiegel betrachtet hatte, in denen man sich von allen Seiten sehen kann. Ein Mann sieht im Spiegel verändert aus. Nicht mehr so, wie er sich einbildet, auszusehen. Ein Spiegel verzerrt. Warum summen und singen und pfeifen die Männer, wenn sie sich rasieren? Doch nur, um sich nicht mit ihrem Spiegelbild auseinandersetzen zu müssen. Denn sonst könnten sie leicht verrückt werden. Wie war doch der Name des Knaben aus der griechischen Mythologie, der sich in sein eigenes Bild verliebt hatte? Narzissus, richtig, Narzissus, der stundenlang in eine Quelle starrte, um sein Bild zu sehen. Frauen hinwiederum können es. Aus dem einfachen Grunde, weil sich Frauen selber nie wirklich sehen. Sie sehen einen Wunschtraum, dem sie mit Lippenstift, Puder und Lidschatten näherzukommen versuchen. Aber Frauen sind sowieso etwas verrückt. Hatte sie ihm nicht neulich gesagt, sie hätte ihn im Spiegel gesehen, obwohl er gar nicht da war? Vielleicht sollte er ihr besser nichts erzählen; zumindest nicht, bevor er mit dem Makler Hacker gesprochen hatte. Denn eine Erklärung wollte er auf alle Fälle haben. Irgend etwas war irgendwie faul. Warum hatten die vorherigen Mieter alle Spiegel hier oben aufbewahrt? Als er jetzt über den Boden zurückkehrte, zwang er sich, langsam zu gehen und an irgend etwas zu denken. An irgend etwas – nur nicht an die Angst, die er in dem Raum voller Spiegelungen empfunden hatte. Spiegelungen von etwas. Aber von was? Wer fürchtet sich vorm bösen Wolf? Wer fürchtet sich vor Spiegelungen? Fast ein neues Märchen, wie? Vampire. Wie wäre es mit Vampiren? Aber die haben keine Spiegelbilder. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Mr. Hacker, waren die Leute, die das Haus gebaut haben, Vampire?« Reizende Vorstellung. Wirklich eine reizende Vorstellung. So recht geschaffen für die Dämmerung, wenn die Dielen knackten, die Fensterläden klapperten und sich die Nacht langsam auf das Haus voller Schatten senkte; auf das Haus, in dem um jede Ecke etwas zu lugen schien, etwas, das einen auf Schritt und Tritt verfolgte und einem aus den Spiegeln entgegengrinste. Er setzte sich hin und wartete auf ihre Rückkehr. Er schaltete alle Lampen an und stellte das Radio auf volle Lautstärke. Er war heilfroh, daß er keinen Fernsehapparat hatte. Denn der hätte einen Bildschirm, und ein Bildschirm hätte eine Spiegelung, und eine Spiegelung war das letzte, was er jetzt sehen wollte. Aber heute passierte nichts weiter, und als sie mit Paketen beladen nach Hause kam, hatte er sich schon wieder in der Gewalt. Sie aßen und unterhielten sich ganz natürlich. So natürlich, daß es, wenn es zugehört hätte, nichts von ihrer Furcht gemerkt hätte. Nach dem Essen machten sie sich an die Vorbereitungen für die morgige Party. Sie riefen ein paar Leute an, und ihm kam der plötzliche Einfall, die Hackers ebenfalls einzuladen. Als dann wirklich nichts mehr zu tun war, gingen sie schlafen. Das Licht war überall aus. Das bedeutete, daß die Spiegel dunkel waren. Sie konnten beruhigt schlafen. Am nächsten Morgen bereitete ihm nur das Rasieren einige Schwierigkeiten. Und dann ertappte er sie, jawohl, er ertappte sie. Sie erledigte in der Küche hastig ihr Make-up, wobei sie die Hand schützend um den kleinen Taschenspiegel gelegt hatte, um die Spiegelung auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Aber er sagte nichts, und sie sagte nichts, und es unternahm nichts. Er fuhr zur Arbeit, und sie bereitete die Sandwiches, und wenn das Haus an diesem langen, trüben, trostlosen Sonnabend hin und wieder seufzte und krächzte und flüsterte, dann war das nur natürlich. Als er wieder nach Hause kam, schwieg das Haus völlig; und das war noch unangenehmer. Es war, als würde irgend etwas auf den Einbruch der Nacht warten. Deshalb machte sie sich auch so zeitig zurecht. Sie summte, während sie sich puderte und schminkte, und wirbelte vor dem Spiegel herum (man kann nicht so klar sehen, wenn man sich dreht). Deshalb mixte er für sie und für sich ein paar kräftige Drinks, ehe sie eine Kleinigkeit aßen (man kann nicht so klar sehen, wenn man trinkt). Dann strömten die Gäste herbei. Die Teters, die sich über die windigen, verwahrlosten Straßen durch die hügelige Landschaft beklagten. Die Valliants, die sich wortreich über die antike Täfelung und die hohen Decken äußerten. Die Ehrs, die lachten und kreischten, wobei Vic bemerkte, daß das Haus so aussähe, als wäre es von Charles Addams entworfen. Das war das Startzeichen zum Trinken. Als Mr. Hacker mit seiner Frau dazukam, war die Stimmung schon so ausgelassen, daß man nicht wußte, ob das plärrende Radio das Stimmengewirr der Gäste übertönte oder umgekehrt. Er trank, und sie trank, aber sie konnten es nicht aus ihren Gedanken verbannen. Die Bemerkung über Charles Addams machte alles auch nicht gerade besser. Und dann waren da die anderen Dinge, die nicht zu übersehen waren. Kleinigkeiten nur, aber dennoch … Die Talmadges hatten Blumen mitgebracht. Sie war in die Küche gegangen, um die Blumen in eine Kristallvase zu stellen. Als sie Wasser in die Vase füllte, verdunkelte sich plötzlich das geschliffene Glas zwischen ihren Fingern, und irgend etwas reflektierte von dem Kristall. Sie drehte sich rasch um, aber sie war allein. Ganz allein und hielt hundert nackte Augen in ihren Händen. Die Vase fiel klirrend zu Boden, und die Ehrs und die Talmadges und die Hackers und die Valliants und er stürzten in die Küche und versammelten sich um sie. Talmadge verurteilte sie wegen Trunkenheit, und das war Grund genug für eine neue Runde. Er sagte kein Wort, sondern holte stillschweigend eine andere Vase. Aber er mußte genau wissen, was vorgefallen war, denn als die Gäste lärmend den Wunsch äußerten, das ganze Haus zu besichtigen, bemühte er sich, sie davon abzuhalten. »Oben ist noch nicht alles eingerichtet«, murmelte er. »Es ist ein heilloses Durcheinander, und Sie würden vor Kisten und Koffern nicht treten können.« »Wer ist jetzt oben?« fragte Mrs. Teters, als sie mit ihrem Mann in die Küche kam. »Wir haben gerade einen furchtbaren Krach gehört.« »Irgend etwas muß umgefallen sein«, murmelte der Gastgeber; aber er schaute bei den Worten seine Frau nicht an, und sie vermied es ebenfalls, ihm in die Augen zu blicken. »Wie wäre es mit noch einem Drink?« fragte sie. Sie mixte und goß hastig ein, und ehe die Gläser halb leer waren, bereitete er schon den nächsten Drink vor. Der Alkohol löste die Zungen, und solange die Leute redeten, überhörten sie vielleicht andere Geräusche. Die Kriegslist bewährte sich. Die Gäste verzogen sich nach und nach wieder ins Wohnzimmer. Das Radio plärrte, und das Gelächter schwoll an. Das Stimmengewirr verscheuchte die Geräusche der Nacht. Er schenkte ein, und sie reichte die Gläser herum, und beide tranken. Aber der Alkohol verfehlte bei ihnen seine Wirkung. Sie bewegten sich so vorsichtig, als wären ihre Körper aus Glas, das nur darauf wartete, durch einen plötzlichen gellenden Schrei am Boden zu zerschmettern. Sie konnten soviel trinken, wie sie wollten, sie wurden nicht betrunken. Ihre Gäste waren gewiß nicht aus zerbrechlichem Glas. Sie tranken und fürchteten nichts. Sie blieben auch nicht sitzen, sondern wanderten herum, und es dauerte gar nicht lange, bis sich Mr. Valliant und Mrs. Talmadge auf eigene Faust auf Entdeckungsreisen in das obere Stockwerk verzogen. Das war zweifellos nicht ganz korrekt, aber glücklicherweise bemerkte niemand weder ihr Verschwinden noch ihre Abwesenheit. Die anderen wurden erst aufmerksam, als Mrs. Talmadge die Treppe heruntergestürzt kam und sich im Badezimmer einriegelte. Die Gastgeberin bemerkte den Vorfall und folgte Mrs. Talmadge. Sie rüttelte an der Badezimmertür, bat um Einlaß und bereitete sich auf ein paar diskrete Fragen vor. Aber nichts dergleichen war notwendig, denn Mrs. Talmadge fiel ihr förmlich entgegen. Sie weinte und rang die Hände. »Das ist eine solche Gemeinheit«, schluchzte sie, »uns nachzuschleichen und zu belauern. Dieser widerliche Kerl … ich gebe zu, wir haben ein wenig geschmust, aber das war auch alles. Er mußte sich auch noch verkleiden. Ich möchte nur wissen, wo er den Bart herbekommen hat. Ich habe mich zu Tode erschrocken.« »Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte die Gastgeberin und verstand alles. Sie fürchtete die nächsten Worte. »Jeff und ich waren im Schlafzimmer. Wir standen nur im Dunkeln – weiter nichts –, ich schwöre es. Auf einmal schaute ich über meine Schulter in den Spiegel, weil vom Flur her Licht kam. Jemand hatte die Tür geöffnet, und ich konnte das Glas und sein Gesicht sehen. Oh, natürlich, es war mein Mann, aber er trug einen Bart – und die Art, wie er hereingeschlichen kam und uns anstarrte …« Die nächsten Worte gingen in Schluchzen unter. Mrs. Talmadge zitterte so heftig, daß sie gar nicht bemerkte, wie sehr der Körper ihrer Gastgeberin bebte. Aber sie riß sich gewaltsam zusammen, um den Rest der Geschichte mit einiger Fassung anhören zu können. »… und wie er heimlich wieder hinausschlüpfte, ehe wir etwas sagen oder tun konnten. Du lieber Gott, wenn wir zu Hause sind, wird er mir die Hölle heiß machen und mir die Seele aus dem Leibe fragen – er ist so schrecklich eifersüchtig …« Mrs. Talmadge vergrub ihr Gesicht in die Hände. »Wenn Sie wüßten, wie sein Gesicht im Spiegel ausgesehen hat.« Sie beruhigte Mrs. Talmadge. Sie tröstete Mrs. Talmadge. Sie beschwichtigte Mrs. Talmadge. Aber für ihre eigene Unruhe und Angst gab es keine Beruhigung, keinen Trost, keine Beschwichtigung. Als sie sich nach ein paar Minuten wieder unter die Gäste mischten, schienen beide ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden zu haben. Aber in dem Augenblick, als sie das Wohnzimmer betraten, dröhnte ihnen Mr. Talmadges erregte Stimme entgegen. »Wenn ich eine kurze Verschnaufpause einlege, dann bedanke ich mich für Aufregungen!« Er leerte sein Glas in einem Zug. »Was soll das bedeuten, wenn ich im Badezimmer in den Spiegel sehe, und diese alte Hexe schneidet hinter meinem Rücken Grimassen?« Er schaute in die Runde, dann lachte er dröhnend. »Was für ein Haus unterhalten Sie hier?« fragte er den Gastgeber. Er hielt das Ganze für einen Witz, und die anderen schienen ebenfalls seiner Meinung zu sein. Nur der Gastgeber und die Gastgeberin standen erstarrt da und wagten nicht, sich in die Augen zu schauen. Ihr Lächeln war verzerrt und brüchig. Glas ist so zerbrechlich. »Ich glaube kein Wort«, lallte Gwen Hacker. Sie hatte einen oder drei zuviel getrunken. »Ich muß das gleich mal prüfen.« Sie winkte den Gastgebern herzlich zu und verschwand in Richtung Treppe. Er hob ruckartig die Hände. »He! Bleiben Sie hier!« Aber es war sinnlos. Sie rauschte, oder besser gesagt, sie wankte davon. Talmadge stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. »Aprilscherze, wie? – Na, schön. Aber trotzdem: Was wird hier eigentlich gespielt?« Er begann hilflos irgend etwas Sinnloses zu stammeln. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Er mußte alles tun, um die Gespräche in Gang zu halten. Sie rückte dicht zu ihm und hörte zu. Sie wollte um alles in der Welt nicht an Gwen Hacker denken, die alleine oben war, in einen Spiegel starrte und wartete – Die Schreie übertönten die Gespräche. Das war kein Schluchzen und kein Lachen – das waren gellende Schreie. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hinaufraste. Der dicke Mr. Hacker folgte ihm keuchend. Die anderen Gäste waren plötzlich verstummt und gingen zögernd zur Treppe. Man konnte die Stufen unter den Füßen knarren hören und das schwere Atmen der Gäste. Aber alles wurde übertönt von den fortgesetzten gellenden Schreien einer Frau, die etwas gesehen oder erlebt haben mußte, was sie schier um den Verstand gebracht hatte. Gwen Hackers Gesicht war verzerrt. Sie hatte keine Kontrolle über ihren Körper, als sie auf den Flur herausstakte und ihrem Mann fast in die Arme sank. Das Licht, das aus dem Badezimmer kam, fiel auf einen Spiegel, der keine Spiegelungen hatte, und auf das Gesicht einer Frau, das keinen Ausdruck hatte. Sie und er waren an Gwen Hackers Seite. Die Gäste standen dicht gedrängt ein paar Schritte entfernt. Sie brachten die Frau in ihr Schlafzimmer und legten sie mit Mr. Hackers Hilfe auf ihr Bett. Gwen Hacker war ohnmächtig geworden. Irgend jemand murmelte etwas von einem Arzt, ein anderer meinte, ach nein, sie wird schon wieder zu sich kommen, und wieder ein anderer räusperte sich und sagte, es wäre ohnehin langsam an der Zeit, zu gehen. Zum erstenmal schienen sich alle des alten Hauses und der Dunkelheit, der knackenden Dielen, der klappernden Fenster und der rasselnden Fensterläden bewußt zu werden. Mit einem Schlage waren alle nüchtern, erschreckt und bestrebt, so schnell wie möglich abzufahren. Hacker beugte sich über seine Frau, rieb ihre Handgelenke und flößte ihr ein paar Schlucke Wasser ein. Sie erwachte langsam wimmernd aus ihrer Ohnmacht. Währenddessen halfen die Gastgeber ihren Gästen schweigend in die Mäntel und ließen die höflichen Entschuldigungen, die hastig gemurmelten Gute-Nacht-Wünsche und die Phrase: ›Es war ein reizender Abend, meine Lieben‹ über sich ergehen. Die Nacht verschluckte die Teters, die Valliants und die Talmadges. Sie und er kehrten in das Schlafzimmer, in dem die Hackers waren, zurück. Es war auf dem Flur zu dunkel und im Schlafzimmer zu hell. Gwen Hacker wimmerte immer noch leise. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf und begann zu sprechen. Zu ihrem Mann und zu ihnen. »Ich habe sie gesehen«, begann sie zögernd, schaute ihren Mann an und fuhr dann hastig fort: »Glaub ja nicht, daß ich verrückt bin – ich habe sie gesehen! Sie stand auf Zehenspitzen hinter mir und starrte in den Spiegel. Sie hatte das gleiche blaue Band im Haar, das sie an dem Tag getragen hatte, als sie –« »Bitte, Gwen«, sagte Hacker beschwörend. Aber sie ließ sich nicht beirren. »Wenn ich es dir sage: Ich habe sie gesehen! Mary Lou! Sie hat mich im Spiegel angestarrt und eine Grimasse geschnitten – und sie ist tot. Du weißt, daß sie tot ist. Sie ist vor einem Jahr verschwunden, und keiner hat ihre Leiche gefunden –« »Mary Lou Dempster!« Hacker war ein fetter Mann mit einem Doppelkinn, das jetzt vor Erregung zitterte. Die Frau redete weiter. »Du weißt, daß sie hier oben gespielt hat, obwohl es ihr Wilma Dempster ausdrücklich verboten hatte. Mary Lou wußte alles über das Haus, aber sie hat trotzdem – o Gott – ihr Gesicht …« Sie begann haltlos zu schluchzen. Mr. Hacker tätschelte beruhigend ihre Schultern, aber er sah aus, als könnte er selbst ein beruhigendes Schultertätscheln gebrauchen. Doch keiner fühlte sich dazu verpflichtet. Sie und er standen da und warteten; warteten auf den Rest. »Sag es ihnen«, schluchzte Mrs. Hacker. »Sage ihnen die Wahrheit.« »Wenn du meinst … Aber ich sollte dich lieber nach Hause bringen.« »Ich kann warten. Ich will, daß du es ihnen erzählst. Du mußt es jetzt.« Hacker ließ sich schwer auf das Bett fallen. Seine Frau lehnte sich an seine Schulter. Er und sie schauten die beiden unverwandt an. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, wie ich es erklären soll«, stöhnte der dicke Mr. Hacker. »Wahrscheinlich ist es meine Schuld – ja, ganz sicher sogar –, aber ich wußte es nicht. Dieses ganze Gerede über verhexte Häuser – kein Mensch glaubt mehr an Gespenster. Das einzige, was es zur Folge hat, ist, daß der Wert des betreffenden Hauses sinkt. Darum habe ich nichts gesagt. Können Sie mir das zum Vorwurf machen?« »Ich habe ihr Gesicht gesehen«, flüsterte Mrs. Hacker. »Nun ja, ich weiß. Und ich hätte es Ihnen sagen sollen. Das von dem Haus, meine ich. Warum es seit zwanzig Jahren nicht vermietet worden ist. Das ist in der Gegend hier eine alte Geschichte, und Sie hätten sie früher oder später doch erfahren.« »Nun komm schon zur Sache«, drängte Mrs. Hacker. Sie war auf einmal die Stärkere, und er, mit seinem bebenden Doppelkinn, war der Schwache. Der Gastgeber und die Gastgeberin standen noch immer und hingen an Mr. Hackers Lippen. Sie wagten sich nicht zu rühren und warteten gebannt auf die Eröffnungen. Es war das Bellman-Haus, in dem sie lebten; das Haus, das Job Bellman in den sechziger Jahren für seine junge Frau gebaut hatte, das Haus, in dem seine junge Frau Laura das Leben geschenkt und dabei selbst den Tod gefunden hatte. In den siebziger Jahren, als Jobs Tochter noch ein Kind war, hatte er von früh bis spät geschuftet, und in den achtziger Jahren hatte er sich selbstzufrieden zur Ruhe gesetzt. Inzwischen war Laura Bellman herangewachsen und zur Schönsten im ganzen Land geworden – zur Schönsten der ganzen Welt, behaupteten einige, aber in jenen Tagen waren die Männer verschwenderischer mit ihren Komplimenten und Schmeicheleien als heutzutage. Und an Männern hatte es Laura damals nicht gemangelt. Sie gingen im Haus ein und aus. Ihre Schuhe waren auf Hochglanz poliert, sie dienerten und strichen ihre mit Brillantine getränkten Schnurrbarte glatt. Sie lächelten den alten Job an, sie zwinkerten den Hausmädchen zu und starrten in mondsüchtiger Verzückung auf Laura. Laura betrachtete diese Huldigungen als eine Selbstverständlichkeit, aber, du lieber Gott, von gewissen Dingen hielt sie nichts. Und nicht etwa, weil Papa noch lebte oder weil sie sich zum Heiraten zu jung fühlte. Nein, nur so. Sie hatte auch noch nie so recht davon gehört. Und warum auch das Ganze? Es war doch so herrlich, nur Freunde zu haben … Mondschein und Mandolinen, Parties und Picknicks, Ruderpartien und Schlittenfahrten, Konfekt und Blumen, Geschenke, Bälle und Punsch. Verehrer, Verehrer, Verehrer. Modesalons, Schönheitspflästerchen, Ritte über die weiten Felder und Radpartien. Und wieder Mondschein und Mandolinen. Die Jahre gingen dahin. Dann kam der Tag, an dem der alte Job die Augen für immer schloß. Der Arzt erschien, der Priester und der Rechtsanwalt, der lange über Erbschaft und jährliches Einkommen redete. Dann war Laura allein. Es gab im Haus außer ihr nur noch die Bediensteten und die Spiegel. Laura und ihre Spiegel. Der Tag begann mit den Spiegeln, in denen sie sich ausgiebig und sorgfältig betrachtete. Dann ging es so weiter: Spiegel am Vormittag, am Mittag, am Nachmittag und am Abend, ehe die Verehrer kamen. Spiegel, wenn die Kutschen vorfuhren, und Spiegel, ehe sie einem neuen Triumph entgegenwirbelte. Spiegel im Morgengrauen, die ihr zufriedenes Lächeln aufnahmen und den Erzählungen über die Erfolge des vergangenen Abends lauschten. »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« Die Spiegel sagten Laura die Wahrheit. Spiegel lügen nicht. Spiegel greifen nicht nach einem oder flüstern oder verlangen eine Gegenleistung, wenn sie die Schönheit preisen. Mochten auch die Jahre vergehen, die Spiegel veränderten sich nicht. Sie alterten nicht. Und Laura alterte nicht. Im Laufe der Zeit wurden die Verehrer rarer, und einige der alten Freunde waren seltsam verändert. Sie schienen irgendwie älter geworden zu sein. Aber wie war das nur möglich, denn Laura Bellman war so jung wie eh und je? Die Spiegel bestätigten es ihr täglich – und sie sagten immer die Wahrheit. Laura verbrachte immer mehr Zeit mit ihren Spiegeln. Sie puderte sich, suchte unentwegt nach Fältchen und färbte ihr langes Haar. Die Augenlider flatterten, aber sie lächelte und machte einen Schmollmund. Sie wirbelte vor den Spiegeln herum und konnte sich nicht genug an ihrer perfekten Schönheit sattsehen. Es kam auch vor, daß sie die Verehrer wieder nach Hause schickte. Sie ließ ihnen durch die Hausangestellten sagen, daß sie nicht da wäre, denn es schien ihr irgendwie eine Zeitverschwendung zu sein, von den Spiegeln wegzugehen. Aber diese Sorge brauchte sie nicht mehr lange zu haben, denn die Verehrer blieben nach und nach völlig aus. Die Hausangestellten kamen und gingen. Wenn einer starb, fand sich rasch ein Ersatz. Nur Laura und die Spiegel blieben. Die neunziger Jahre waren ausgesprochen fröhlich. Aber es gab Leute, die das nicht so recht verstanden. Sie schüttelten ihre Köpfe über die Art und Weise, wie Laura lachte, sich im Bett wälzte und ihre frivolen Geheimnisse mit den Spiegeln teilte. Die Zeit verging wie im Fluge. Aber Laura lachte nur. Sie kicherte und gluckste, wenn die Hausangestellten mit ihr sprachen, und sie fand es viel bequemer, die Mahlzeiten von einem Tablett in ihrem Zimmer einzunehmen. Nur mit den anderen stimmte etwas nicht. Mit den Hausangestellten und mit Doktor Turner, der sie häufig aufsuchte. Sie schauten Laura eigenartig an, wenn sie mit ihr sprachen. Wahrscheinlich dachten sie, daß Laura langsam alt würde. Aber sie wurde nicht alt. Die Spiegel logen nicht. Die falschen Zähne und die Perücke benützte sie nur, um den anderen – den Außenseitern – einen Gefallen zu tun. Sie brauchte diese Dinge wirklich nicht, denn die Spiegel sagten ihr, daß sie unverändert schön wäre. Obwohl die Spiegel jetzt wirklich zu ihr sprachen, sagte sie selbst niemals ein Wort. Sie nickte nur und wiegte sich, wenn sie, in eine Wolke von Parfüm eingehüllt, vor ihren Spiegeln saß. Sie strich sich mit der Hand über den Hals und lauschte hingebungsvoll den Worten der Spiegel, die sagten, wie schön sie wäre und welche Triumphe sie erleben könnte, wenn sie ihre Schönheit an die Welt verschwenden würde. Aber das kam gar nicht in Frage. Sie würde nicht weggehen. Niemals. Sie und die Spiegel sollten immer beisammen sein. Dann kam der Tag, an dem sie sie fortschaffen wollten. Sie wagten tatsächlich, nach ihr zu greifen – nach ihr, Laura Bellman, der schönsten Frau der Welt! War es ein Wunder, daß sie sich dagegen wehrte und wild um sich schlug? Konnte sie vielleicht etwas dafür, daß dabei einer der Diener einen solchen Schlag erhielt, daß er der Länge nach in einen ihrer herrlichen Spiegel fiel, sich den Schädel zertrümmerte und starb? Wenn er nicht gestorben wäre, hätte sie ihn entlassen, denn sein häßliches Blut befleckte das Spiegelbild ihrer Schönheit. Natürlich war das alles nicht ihre Schuld, sondern nur ein dummer, unangenehmer Zwischenfall. Das mußte Dr. Turner auch dem Polizeirichter erklärt haben, denn Laura brauchte mit dem Richter gar nicht selber zu sprechen, und sie brauchte auch nicht das Haus zu verlassen. Aber sie schlossen die Tür zu ihrem Zimmer ab und nahmen ihr alle Spiegel weg. Sie nahmen ihr alle Spiegel weg! Sie schlossen sie ein und ließen ein dürres, verhutzeltes Weib alleine, dem kein Spiegelbild entgegenlächelte. In dem Augenblick, als sie die Spiegel entfernten, machten sie sie alt. Sie war alt und häßlich und voller Angst. Sie weinte die ganze Nacht. Sie schluchzte und stolperte mit vor Tränen erblindeten Augen durch das Zimmer. Sie preßte ihre heiße, faltige Stirn gegen das kühle Fensterglas und erstarrte. Mit einem Schlag wußte sie, daß sie alt war und daß sie nichts retten könnte. Das Licht war hinter ihr, und das Fensterglas – wurde zum Spiegel! Mit vor Schrecken geweiteten Augen starrte sie auf die aufgetakelte alte Hexe, auf die Mumie, die gerade von einem Verrückten einbalsamiert worden zu sein schien. Alles begann sich zu drehen. Sie wußte, daß das ihr Haus war, in dem sie jeden Winkel kannte. Sie wußte, daß das ihr Zimmer war, in dem sie schon immer und ewig lebte. Aber das – dieser Alptraum – konnte nie und nimmer ihr Gesicht sein! Ein Spiegel könnte ihr jetzt die Wahrheit sagen. Aber für sie würde es nie wieder einen Spiegel geben! Nachdem sie sekundenlang in ihr wahres Gesicht gestarrt hatte, veränderte sich die glänzende Fensterscheibe gnädig. Ihr lächelte wieder die junge, unvergänglich schöne Laura Bellman entgegen. Sie richtete sich erleichtert auf, trat einen Schritt zurück und vollführte einen Freudentanz. »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« Sie tanzte und tanzte, und ihre welken Lippen umspielte ein selbstbewußtes Lächeln. Sie tanzte auf die Fensterscheibe zu und halb in sie hinein. Sie tanzte, bis die spitzen Glassplitter ihre dürre Kehle durchschnitten. So starb sie, und so fanden sie die anderen. Der Arzt und die Hausangestellten eilten herbei, aber sie konnten Laura nicht mehr helfen. Der Anwalt tat, was zu tun war. Das Haus wurde verkauft und wieder verkauft, bis es einem Makler übergeben wurde. Es fanden sich einige Mieter, aber keiner blieb lange wohnen. Alle hatten Ärger mit den Spiegeln. Ein Mann sollte einen Herzschlag erlitten haben, als er sich eines Abends vor dem Kleiderschrank die Krawatte umgebunden hatte. Seltsamerweise hatte er sich vorher bei seinen Bekannten über ›eigenartige Vorfälle‹ in seinem Haus beklagt. Nach seinem Tode redete seine Frau nur noch wirres Zeug. Ein Schullehrer, der das Haus in den zwanziger Jahren gemietet hat, verschied unter Umständen, die für Dr. Turner ein medizinisches Rätsel waren. Er war deshalb seinerzeit auch zum Makler gegangen und hatte gebeten, das Haus nicht mehr anzubieten. Diese Bitte war eigentlich überflüssig, denn die Geschichten über das Bellman-Haus hatten sich sowieso schon so verbreitet, daß sich kein Mieter mehr fand. Ob Mary Lou Dempster wirklich in diesem Haus verschwunden war, würde sich nie mit Sicherheit feststellen lassen. Fest stand allerdings, daß das kleine Mädchen zum letztenmal gesehen wurde, als es vor einem Jahr auf das Haus zuging. Obwohl die angestellten Ermittlungen nie etwas ergeben hatten, wollten die Gerüchte nicht aufhören. Dann kümmerten sich die Erben wieder selbst um das Haus. Es waren robuste Leute, die die Gerüchte als Weibertratsch abtaten. Das Haus wurde saubergemacht und wieder einem Makler zur Vermietung übergeben. So war es gekommen, daß jetzt er und sie – und es hier lebten. Das war die ganze Geschichte. Mr. Hacker räusperte sich. Er legte vorsichtig seinen Arm um Gwen und half ihr auf die Beine. Sein Gesicht war von Schamröte überzogen. Er schien wortlos um Entschuldigung zu bitten und vermied es, seinen Mietern in die Augen zu blicken. Er vertrat Mr. Hacker den Weg und stellte sich vor die Tür. »Mietvertrag hin – Mietvertrag her«, sagte er mit belegter Stimme. »Wir ziehen hier wieder aus. Und zwar sofort!« »Das läßt sich arrangieren. Aber – heute kann ich Sie nicht mehr woanders unterbringen, und morgen ist Sonntag …« »Wir werden packen und morgen ausziehen«, sagte sie bestimmt. »In irgendein Hotel. Hier bleiben wir keinesfalls.« »Ich rufe Sie morgen an«, meinte Hacker eilfertig. »Ich bin sicher, daß heute nichts passieren wird. Sie wohnen immerhin schon eine Woche hier und nichts, ich meine niemand ist –« Er hielt verstört inne. Es war auch nicht nötig, daß er noch etwas sagte. Als die Tür hinter den Hackers ins Schloß fiel, waren sie ganz alleine. Nur sie beide. Nur sie drei. Genau das war es. Aber sie – er und sie – waren zu müde, um sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Es war unvermeidlich, daß sie sich nach den Aufregungen und Belastungen dieses Tages in dem Augenblick gehenließen, als sie endlich allein waren. Sie sagten nichts, denn da war nichts zu sagen. Sie hörten nichts, denn das Haus – und es – hüllten sich in finsteres Schweigen. Während sie in ihr Zimmer ging und sich schon auszog, machte er noch einen Rundgang durch das Haus. Zuerst einmal ging er in die Küche und öffnete eine Schublade neben dem Ausguß. Er nahm einen Hammer heraus und zertrümmerte den Küchenspiegel. Es klirrte und krachte. Das war der Spiegel in der Diele. Danach kam der Spiegel im Badezimmerschränkchen an die Reihe. Nachdem er den Spiegel in der Tür seines Zimmers zerschlagen hatte, ging er zu ihr ins Schlafzimmer und donnerte den Hammer gegen das große Oval über ihrer Frisiertoilette. Er war weder betrunken noch zornig, noch aufgeregt. Er hatte sein Vernichtungswerk eher pedantisch vollzogen. Es gab nicht einen einzigen Spiegel mehr. Sie schauten sich sekundenlang wortlos an. Dann schaltete er das Licht aus, ließ sich in sein Bett fallen und suchte Schlaf. Die Nacht verging. Bei Tageslicht wirkte alles ein wenig albern. Aber sie schaute ihn am Morgen wieder lange an. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und machte sich daran, die Koffer herbeizuschaffen. Als sie das Frühstück zubereitet hatte, war er schon dabei, seine Anzüge auf dem Bett auszubreiten. Nach dem Essen ging sie wieder nach oben, um nunmehr ihre Kleider von Bügeln und Haken zu nehmen. Er brauchte nur noch die Kleidersäcke vom Boden zu holen. Sobald sie wußten, wohin sie ziehen würden, konnten die Möbelpacker bestellt werden. Das Haus war ruhig. Es unternahm nichts; auch wenn es von ihren Plänen gewußt haben sollte. Es war ein trüber, unfreundlicher Tag. Die schwarzen Wolken hingen sehr tief; und es wollte überhaupt nicht richtig hell werden. Sie und er taten so, als kämen sie überhaupt nicht auf den Gedanken, das Licht anzuschalten. Aber beide wußten ganz genau, daß sie es nur wegen der Fensterscheiben und der Geschichte mit der Spiegelung unterließen. Er hätte natürlich die Fensterscheiben zerschlagen können, aber das kam ihm doch zu dumm vor. Außerdem würden sie nicht mehr lange hier sein. Als sie das Geräusch hörten, schauten sie sich ruckartig an. Von irgendwoher kam ein Tröpfeln und Blubbern. Irgend etwas schien genau unter ihren Füßen zu plätschern. Sie rang nach Atem. Er legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Das Wasserrohr – im Keller«, meinte er und lächelte leicht. »Wir sollten besser nachsehen.« Ihre Stimme zitterte verdächtig, als sie zur Treppe gehen wollte. »Warum willst du denn hinuntergehen? Komm, laß, ich werde mich darum kümmern.« Sie schüttelte energisch den Kopf und machte sich auf den Weg. Eben war ihre Angst fast mit ihr durchgegangen, und sie mußte beweisen, daß sie sich nicht fürchtete. Sie mußte es ihm beweisen – und auch dem Es. »Warte einen Moment«, sagte er. »Ich hole rasch den Schraubenschlüssel aus dem Auto.« Er eilte zur Hintertür hinaus. Sie blieb erst unschlüssig stehen, dann ging sie achselzuckend auf die Kellertreppe zu. Das Plätschern war mittlerweile immer lauter geworden. Das Wasser, das aus dem undichten Rohr hervorschoß, bedeckte schon die ganze Bodenfläche des Kellers. Das Plätschern und Sprudeln war ein seltsames Geräusch. Es wirkte wie Lachen. Er hörte es ebenfalls, als er beim Auto angelangt war und den Kofferraum öffnete. Irgend etwas ist mit alten Häusern immer los; er hätte es eigentlich wissen sollen. Mal ein Wasserrohrbruch, mal dieses, mal jenes. Als er mit dem Schraubenschlüssel in der Hand wieder auf das Haus zuging, konnte er überdeutlich das gurgelnde Wasser und die Schreie seiner Frau hören. Und wie sie schrie! Die Schreie gellten aus dem Keller, aus der Dunkelheit. Er rannte und schwang den schweren Schraubenschlüssel. Die gellenden Schreie erschütterten ihn bis ins Mark. Er fiel fast die Treppe, die in die Dunkelheit führte, hinunter. Sie war gefangen. Es hatte sie erwischt. Sie wehrte sich verzweifelt, aber es war zu stark, viel zu stark. Neben dem zerbrochenen Rohr fiel ein Lichtschein in den Keller, der auf der Wasseroberfläche glitzerte und funkelte. Er sah, wie sich nicht nur ihr Gesicht widerspiegelte, sondern auch die Schatten von anderen Gesichtern, die um sie herumwirbelten und sie festhielten. Er hob die Hand mit dem Schraubenschlüssel und ließ sie auf die Dunkelheit der anderen Gesichter hinabsausen. Er schlug wild darauf los. Er schlug und schlug. Er schlug so lange, bis die Schreie erstarben. Dann erst hörte er auf und blickte auf sie hinunter. Es spiegelten sich keine Schatten mehr, aber sie war immer noch da. Sie war ganz ruhig – und sie würde für immer ruhig bleiben. Das Wasser färbte sich dort, wo ihr Kopf ruhte, rot. Genauso rot, wie das Ende des Schraubenschlüssels, den er in der Hand hatte. Er machte den Mund auf, um ihr alles zu erklären, aber dann merkte er, daß sie tot war. Jetzt gab es nur noch ihn und es. Er schleppte sich die Treppe hinauf. Seine Hand umklammerte immer noch den blutigen Schraubenschlüssel. Er wankte zum Telefon, um die Polizei anzurufen. Er sank auf den Hocker, der vor dem Telefon stand und grübelte, was er der Polizei sagen sollte, wie er das Ganze erklären könnte. Es würde nicht so einfach sein. Wissen Sie, da war diese Verrückte, die so lange in die Spiegel starrte, bis ihr Spiegelbild lebendiger als ihr Körper war. Deshalb lebte sie auch irgendwie weiter, nachdem sie Selbstmord begangen hat. Sie erscheint in Spiegeln und im Glas und in jedem Material, das etwas reflektiert. Sie tötet andere oder treibt sie in den Tod. Und die Spiegelbilder der Toten vereinen sich mit dem der Verrückten und gewinnen mehr und mehr an Macht. Eitelkeit, dein Name ist Weib. Und darum, meine Herren, habe ich meine Frau umgebracht. War das nicht eine feine Erklärung? Aber sie würde die Flut der Fragen nicht aufhalten. Die Flut! Das Wasser! Er hätte es wissen müssen. Es war doch klar, daß Wasser Spiegelungen hervorruft. Genauso wie die Fensterscheibe, in die er jetzt starrte. Und auf einmal war es hinter ihm, wollte aus dem Schatten heraus auf ihn zu. Er sah das bärtige Männergesicht, die starren, leeren Augen eines kleinen Mädchens und den glotzenden Blick einer aufgetakelten Greisin. Es war hinter ihm, neben ihm, um ihn herum, als er aufstand, schloß sich seine Hand fest um den Schraubenschlüssel. Es war nicht greifbar, aber er mußte es bekämpfen und sich damit auseinandersetzen. Er drehte sich um, taumelte zurück, aber der Ring der schattenhaften Gesichter schloß sich immer dichter um ihn. Dann sah er, wie ihr Gesicht durch die anderen hindurch auf ihn zukam. Es war ihr Gesicht – nur mit dem einen Unterschied, daß da, wo ihre Augen gewesen waren, jetzt gleißende Splitter funkelten. Dieses Gesicht konnte er nicht bekämpfen. Er konnte nicht noch einmal auf sie einschlagen. Es bewegte sich vorwärts. Es bewegte sich rückwärts. Sein Arm schnellte zurück. Er hörte, wie das Fensterglas hinter ihm zersplitterte, und mußte unwillkürlich daran denken, daß die alte Frau so gestorben war. Genauso, wie er jetzt starb: Er fiel durch das Fenster und schnitt sich die Kehle auf. Der Schmerz durchraste seinen Körper und zerriß sein Gehirn. Er baumelte hilflos in den Glasscherben und verblutete langsam. Dann war es vorbei. Auf dem Boden bildete sich eine Lache, die sich bewegte und anwuchs. Das Licht, das von draußen auf die Pfütze fiel, ließ eine Spiegelung erkennen. Irgend etwas erhob sich jetzt deutlich aus dem Schatten, schwoll an und quirlte und wirbelte und taumelte durch die Dunkelheit. Es hatte das Gesicht einer Greisin, das Gesicht eines Kindes, das Gesicht eines bärtigen Mannes, ihr Gesicht und sein Gesicht. Es veränderte sich ständig, verwischte die einzelnen Gesichter. Es tanzte und wand sich, bis es auf einmal zum Stillstand kam und ruhig verharrte. Nachdem es endlich allein im Haus war, kauerte es sich in eine Ecke und wartete. Es hatte weiter nichts zu tun, als auf den nächsten zu warten. Bis dahin konnte es sich in dem immer größer werdenden roten Spiegelbild auf dem Fußboden bewundern … Die Katze, der Gerichtsdiener und das Skelett von Alexandre Dumas Alexandre Dumas (1802-1870), der außerordentlich fruchtbare französische Dramatiker und Erzähler, Enkel eines Kreolen und einer Negerin, Sohn eines Generals der Revolutionszeit, fand mit seinen romantischen Stücken und vor allem mit seinem über 300 Bände umfassenden abenteuerlich bunten Romanwerk bei seinen Zeitgenossen begeisterte Aufnahme und weiteste Verbreitung. Sein größter Erfolg war der Roman »Die drei Musketiere« aus dem Jahre 1844. Dumas überlebte seine unvorstellbare Beliebtheit und starb arm und vergessen in Puy bei Dieppe. Der Arzt, der mit Walter Scott nach Frankreich kam, hieß Doktor Sympson; er war mit den angesehensten Personen der Stadt befreundet. Darunter befand sich auch ein Richter, dessen Namen er mir nicht genannt hat. Der Name war das einzige Geheimnis, das er in dieser ganzen Angelegenheit für sich behielt. Dieser Richter, den er gewöhnlich als Arzt behandelte, verfiel sichtlich, ohne daß seine Gesundheit gestört schien; eine finstere Schwermut hatte sich seiner bemächtigt. Seine Familie hatte wiederholt den Doktor befragt, und dieser hatte sich an die Freunde des Richters gewandt, ohne etwas aus ihnen herauszubringen als unbestimmte Antworten, die seine Befürchtung nur noch verstärkten. Endlich drang Dr. Sympson eines Tages in ihn, worauf der Richter mit traurigem Lächeln seine Hände ergriff und zu ihm sagte: »Ja, ich bin krank, und meine Krankheit, lieber Doktor, ist unheilbar, da sie nur in meiner Einbildung besteht.« »Wie? In Ihrer Einbildung?« »Ja, ich bin im Begriff, wahnsinnig zu werden!« »Sie und wahnsinnig! Ich bitte Sie, Sie haben einen klaren Blick, eine ruhige Stimme« – er ergriff ihn bei der Hand –, »einen ausgezeichneten Puls.« »Das ist ja gerade das Gefährliche meines Zustands, lieber Doktor: Ich sehe und beurteile es nämlich selbst.« »Aber worin besteht denn Ihr Wahnsinn?« »Schließen Sie die Tür, damit man uns nicht stört, Doktor, ich will es Ihnen erzählen.« Der Doktor verschloß die Tür und setzte sich neben seinen Freund. »Erinnern Sie sich des letzten Strafprozesses«, fragte der Richter, »in dem ich ein Urteil zu fällen hatte?« »Ja, über einen schottischen Räuber, der von Ihnen zum Galgen verurteilt und gehenkt worden ist.« »Ganz recht. Nun, in dem Augenblick, als ich das Urteil verkündete, sprühte eine Flamme aus seinen Augen, und er zeigte mir drohend die Faust. Ich achtete nicht darauf … Solche Drohungen sind bei den Verurteilten häufig. Aber am Tag nach der Hinrichtung erschien der Scharfrichter bei mir, er sagte, daß er geglaubt hätte, mich von etwas unterrichten zu müssen: Der Räuber war gestorben, indem er eine Art von Beschwörung gegen mich aussprach und erklärte, daß ich am folgenden Tag um sechs Uhr, der Stunde, in der er hingerichtet worden war, Nachrichten von ihm erhalten würde. Ich glaubte an irgendeinen Überfall durch seine Kameraden, an Rache von bewaffneter Hand, und als die sechste Stunde kam, schloß ich mich mit einem Paar Pistolen auf meinem Schreibtisch in meinem Zimmer ein. Die Standuhr meines Kamins schlug sechs. Ich hatte den ganzen Tag an diese Mitteilung des Scharfrichters gedacht. Aber der letzte Schlag erbebte auf der Glocke, ohne daß ich etwas anderes hörte als ein gewisses Schnurren, dessen Ursache ich nicht erklären konnte. Ich wandte mich um und sah eine große schwarz- und feuerrotgefleckte Katze. Wie war sie hereingekommen? Es war unmöglich, das zu erklären, denn Türen und Fenster waren verschlossen. Sie mußte während des Tages in das Zimmer eingesperrt gewesen sein. Ich läutete meinem Diener, aber er konnte nicht eintreten, da ich von innen zugeschlossen hatte; ich ging an die Tür und machte sie auf. Nun sprach ich von der schwarz- und feuerrotgefleckten Katze; aber wir suchten sie vergebens, sie war verschwunden. Ich kümmerte mich nicht weiter darum; der Abend verfloß, die Nacht brach an, der Tag kam und verging, und dann schlug es wieder sechs Uhr. In diesem Augenblick hörte ich dasselbe Geräusch hinter mir und sah dieselbe Katze. Diesmal sprang sie auf meinen Schoß. Ich habe keinen Widerwillen gegen Katzen, und dennoch machte diese Vertraulichkeit einen unangenehmen Eindruck auf mich. Ich jagte sie von meinem Schoß. Aber kaum war sie auf dem Boden, als sie von neuem auf mich sprang. Ich stieß sie zurück, aber ebenso vergebens wie das erstemal. Nun stand ich auf und ging im Zimmer auf und ab; die Katze folgte mir Schritt für Schritt; unwillig über diese Beharrlichkeit, läutete ich wie am Tage zuvor, mein Bedienter trat ein, aber die Katze floh unter das Bett, wo wir sie vergebens suchten; denn sobald sie unter das Bett gekrochen war, war sie verschwunden. Ich ging am Abend aus und besuchte mehrere Freunde; dann kehrte ich nach Hause zurück. Da ich kein Licht hatte, so ging ich aus Furcht, mich zu stoßen, vorsichtig die Treppe hinauf; als ich die letzte Stufe erreichte, hörte ich meinen Bedienten, der sich mit dem Mädchen meiner Frau unterhielt. Da mein Name fiel, hörte ich auf das, was er sagte, und nun hörte ich ihn das ganze Abenteuer von gestern und heute erzählen; nur fügte er hinzu: ›Der Herr wird wahnsinnig, denn es befand sich ebensowenig eine schwarz- und feuerrotgefleckte Katze in dem Zimmer wie in meiner Hand.‹ Diese Worte erschreckten mich; entweder war die Erscheinung wirklich, oder sie war falsch; wenn die Erscheinung wirklich war, so befand ich mich im Bann einer übernatürlichen Sache; wenn die Erscheinung falsch war, wenn ich etwas zu sehen glaubte, das nicht bestand, wie mein Bedienter gesagt hatte, so wurde ich wahnsinnig. Sie werden erraten, daß ich in mit Furcht gemischter Ungeduld das nächste Mal erwartete. Am folgenden Tag behielt ich unter dem Vorwand, etwas zu ordnen, meinen Bedienten bei mir; es schlug sechs Uhr, als er da war; bei dem letzten Glockenschlag hörte ich dasselbe Geräusch und sah meine Katze wieder. Sie saß neben mir. Ich blieb einen Augenblick ruhig, ohne etwas zu sagen, denn ich hoffte, daß mein Bedienter das Tier erblicken und zuerst davon sprechen würde; aber er ging in meinem Zimmer auf und ab und sah offenbar nichts. Ich wartete den Augenblick ab, da er in der Richtung, die er einschlagen mußte, um den Auftrag auszuführen, den ich ihm geben wollte, fast auf die Katze treten würde. ›Stellen Sie meine Glocke auf den Tisch, John‹, sagte ich. Er stand am Kopfende meines Bettes, die Glocke stand auf dem Kamin; um von da zum Kamin zu gehen, mußte er wohl oder übel über das Tier gehen. Er kam, aber in dem Augenblick, da sein Fuß das Tier berühren mußte, sprang die Katze auf meinen Schoß. John sah sie nicht oder schien sie wenigstens nicht zu sehen. Kalter Schweiß trat auf meine Stirn, und die Worte: ›Der Herr wird wahnsinnig‹, kamen mir wieder in furchtbare Erinnerung. ›John‹, sagte ich zu ihm, ›sehen Sie nichts auf meinem Schoß?‹ John blickte mich an. Dann sagte er wie ein Mensch, der einen Entschluß faßt: ›Doch, Herr, ich sehe eine Katze.‹ Ich atmete wieder auf. Ich nahm die Katze und sagte zu ihm: ›Dann tragen Sie sie hinaus, John, ich bitte Sie.‹ Seine Hände kamen den meinen entgegen; ich legte ihm das Tier auf die Arme, worauf er auf einen Wink von mir das Zimmer verließ. Ich war einigermaßen beruhigt; etwa zehn Minuten blickte ich noch mit einem Rest von Angst um mich; da ich aber kein lebendiges Wesen, das irgendeiner Tierart angehörte, bemerkte, wollte ich nachsehen, was John mit der Katze gemacht hatte. Ich verließ daher mein Zimmer, in der Absicht, ihn danach zu fragen. Als ich aber den Fuß auf die Schwelle der Salontür setzte, hörte ich lautes Gelächter, das aus dem Zimmer meiner Frau kam. Ich näherte mich leise auf den Fußzehen und hörte die Stimme Johns: ›Meine liebe Freundin‹, sagte er zu dem Zimmermädchen, ›der Herr wird nicht wahnsinnig, nein, er ist es schon. Wie du weißt, besteht sein Wahnsinn darin, daß er eine schwarz- und rotgefleckte Katze sieht. Heute abend hat er mich gefragt, ob ich diese Katze nicht auf seinem Schoß sähe.‹ ›Und was hast du geantwortet?‹ ›Bei Gott! Ich habe geantwortet, daß ich sie sähe‹, sagte John. ›Ich habe den armen, lieben Mann nicht ärgern wollen; und was meinst du, was er getan hat?‹ ›Wie soll ich das erraten?‹ ›Nun denn, er hat die vermeintliche Katze von seinem Schoß genommen, hat sie mir auf die Arme gelegt und zu mir gesagt: Trage sie fort! – Trage sie fort! – Ich habe die Katze hurtig fortgetragen, und er ist zufrieden gewesen.‹ ›Aber wenn du die Katze fortgetragen hast, so war die Katze also doch vorhanden.‹ ›Nicht doch, die Katze bestand nur in seiner Einbildung. Aber was hätte es geholfen, wenn ich ihm die Wahrheit gesagt hätte? Mich aus dem Hause werfen zu lassen? – Meiner Treu, nein, es geht mir hier gut, und ich bleibe. Er gibt mir fünfundzwanzig Pfund jährlich – um eine Katze zu sehen. Gut, ich sehe sie. Er soll mir dreißig geben, und ich werde zwei Katzen sehen.‹ Ich hatte nicht den Mut, länger zuzuhören. Seufzend kehrte ich in mein Zimmer zurück. Mein Zimmer war leer … Am folgenden Tag fand sich meine Gesellschafterin wie gewöhnlich um sechs wieder bei mir ein und verschwand erst am folgenden Morgen. »Was soll ich Ihnen sagen, mein Freund?« fuhr der Kranke fort. »Einen Monat lang hatte ich dieselbe Erscheinung jeden Abend, und ich gewöhnte mich allmählich an ihre Gegenwart; am dreißigsten Tage nach der Hinrichtung schlug es sechs Uhr, ohne daß die Katze erschien. Ich glaubte von ihr befreit zu sein, ich konnte vor Freude nicht schlafen. Den ganzen Morgen des folgenden Tages schob ich sozusagen die Zeit vor mir her; ich konnte kaum die verhängnisvolle Stunde abwarten. Von fünf bis sechs Uhr verließen meine Augen die Standuhr nicht. Ich folgte dem Gang des großen Zeigers von Minute zu Minute. Endlich erreichte er die Zahl XII, das Knarren der Uhr ließ sich vernehmen, dann tat der Hammer den ersten, den zweiten, den dritten, den vierten, den fünften, endlich den sechsten Schlag! – Bei dem sechsten Schlag ging meine Tür auf«, sagte der unglückliche Richter, »und ich sah einen Gerichtsdiener der Kammer eintreten, der die Uniform des Lord-Lieutenants von Schottland trug. Mein erster Gedanke war, daß der Lord-Lieutenant mir irgendein Schreiben sende, und ich streckte die Hand nach dem Unbekannten aus. Aber er schien auf meine Gebärde nicht zu achten und stellte sich hinter meinen Sessel. Ich brauchte mich nicht umzuwenden, um ihn zu sehen, denn ich saß dem Spiegel gegenüber und hatte ihn also im Blick. Ich stand auf und bewegte mich hin und her; er folgte mir in der Entfernung einiger Schritte. Ich ging an meinen Tisch und läutete. Mein Bedienter erschien, aber er sah den Gerichtsboten ebensowenig wie vorher die Katze. Ich schickte ihn wieder fort und blieb mit dieser seltsamen Person allein, die ich nach Herzenslust betrachten konnte. Er trug Hofkleidung, den Haarbeutel, den Degen an der Seite, eine gestickte Weste und seinen Hut unter dem Arm. Um zehn Uhr legte ich mich zu Bett; um offenbar die Nacht so bequem als möglich zuzubringen, setzte er sich meinem Bett gegenüber in einen Sessel. Ich wandte den Kopf nach der Seite der Wand; da ich aber nicht einschlafen konnte, so drehte ich mich zwei- bis dreimal wieder um, und jedesmal sah ich ihn beim Licht meiner Nachtlampe in demselben Sessel. Auch er schlief nicht. Endlich sah ich die ersten Strahlen des Tages durch die Läden in mein Zimmer dringen, ich wandte mich ein letztesmal nach meinem Mann um: Er war verschwunden, der Sessel war leer. Bis zum Abend des nächsten Tages war ich von meiner Erscheinung befreit. Am Abend war Empfang bei dem Großvikar der Kirche, und ich rief unter dem Vorwand, meinen Festrock auszubürsten, wenige Minuten vor sechs Uhr meinen Bedienten, indem ich ihm befahl, die Riegel der Tür vorzuschieben. Er gehorchte. Beim letzten Schlag der sechsten Stunde heftete ich die Augen auf die Tür; die Tür ging auf, und mein Gerichtsbote trat ein. Ich ging sofort nach der Tür – sie war wieder verschlossen; die Riegel schienen nicht verschoben zu sein, ich wandte mich um – der Gerichtsbote stand hinter meinem Sessel, und John ging im Zimmer hin und her, ohne ihn im geringsten zu bemerken. Er sah ihn offenbar ebensowenig wie vorher das Tier. Ich kleidete mich an. Nun geschah etwas Seltsames: Voll Aufmerksamkeit für mich, half mein neuer Hausgenosse John in allem, was er tat, ohne daß John es bemerkte. So hielt John meinen Rock beim Kragen – das Gespenst hielt die Schöße; John reichte mir die Hose beim Gürtel, das Gespenst hielt sie bei den Beinen. Ich hatte niemals einen diensteifrigeren Bedienten. Die Stunde des Besuchs kam. Statt mir zu folgen, ging der Gerichtsbote mir jedoch voraus, schlüpfte durch die Tür meines Zimmers, ging die Treppe hinab, hielt sich, den Hut unter dem Arm, hinter John, der den Schlag des Wagens aufmachte, und als John ihn geschlossen und seinen Platz hinter dem Wagen eingenommen hatte, stieg er auf den Bock des Kutschers, der nach rechts rückte, um ihm Platz zu machen. Vor dem Haus des Großvikars hielt der Wagen; John öffnete den Schlag, aber das Gespenst stand bereits hinter ihm auf seinem Posten. Kaum war ich ausgestiegen, als das Gespenst mir vorauseilte, indem es sich durch die Bedienten zwängte, die am Portal standen, und nachsah, ob ich ihm folgte. Nun wollte ich mit dem Kutscher denselben Versuch anstellen, den ich mit John gemacht hatte. ›Patrick‹, fragte ich ihn, ›wer war der Mann, der neben Euch saß?‹ ›Welcher Mann, Euer Gnaden?‹ ›Der Mann, der auf dem Bock saß.‹ Patrick machte große Augen, indem er erstaunt um sich blickte. ›Es ist gut‹, sagte ich, ›ich habe mich geirrt.‹ Ich ging in das Haus. Der Gerichtsbote war auf der Treppe stehengeblieben und erwartete mich. Sobald er mich kommen sah, lief er mir voraus, trat vor mir ein, wie um mich im Empfangssaal zu melden; dann, als ich eingetreten war, nahm er in dem Vorzimmer wieder den Platz ein, der sich für ihn geziemte. Wie für John und Patrick war das Gespenst für jedermann unsichtbar. Nun verwandelte sich meine Furcht in Entsetzen, und ich sah ein, daß ich tatsächlich wahnsinnig würde. Von diesem Abend an bemerkte man die Veränderung, die mit mir vorging. Jedermann fragte mich, welche Sorgen mich quälten. Ich fand mein Gespenst im Vorzimmer wieder. Wie bei meiner Ankunft eilte es mir auf dem Heimweg voraus, kehrte mit mir nach Hause und hinter mir in mein Zimmer zurück und setzte sich wie die Nacht zuvor in den Sessel. Nun wollte ich mich überzeugen, ob etwas Wirkliches und besonders etwas Fühlbares an dieser Erscheinung wäre. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und setzte mich rückwärtsschreitend auf den Sessel. Ich fühlte nichts, aber ich sah den Gerichtsdiener im Spiegel hinter mir stehen. Wie am Abend zuvor legte ich mich zu Bett. Sobald ich im Bett lag, sah ich ihn wieder auf seinem Sessel. Am folgenden Morgen verschwand er. Die Erscheinung dauerte einen Monat. Dann fehlte sie entgegen ihrer Gewohnheit und blieb einen Tag aus. Diesmal glaubte ich nicht mehr an ein gänzliches Verschwinden wie das erstemal, sondern an irgendeine schreckliche Veränderung, und statt mein Alleinsein zu genießen, erwartete ich den nächsten Tag voller Entsetzen. Am andern Tag hörte ich beim letzten Schlag der sechsten Stunde ein leises Rauschen in den Vorhängen meines Bettes, und an der Wand erblickte ich ein Skelett. Das Skelett stand regungslos dort und blickte mich mit seinen hohlen Augen an. Ich stand auf, machte mehrere Gänge in meinem Zimmer – der Totenkopf folgte allen meinen Bewegungen. Die Augen verließen mich keinen Augenblick, der Körper blieb regungslos. Diese Nacht hatte ich nicht den Mut, mich zu Bett zu legen. Ich schlief, oder ich blieb vielmehr mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl sitzen, in dem sonst das Gespenst saß, nach dessen Gegenwart ich mich nun sogar sehnte. Mit Tagesanbruch verschwand das Skelett. Am Abend befahl ich John, mein Bett von der Stelle zu rücken und die Vorhänge zuzuziehen. Beim letzten Schlag der sechsten Stunde hörte ich dasselbe Rauschen, ich sah die Vorhänge sich bewegen, dann erblickte ich zwei Knochenhände, die die Vorhänge meines Bettes zurückschlugen, dann nahm das Skelett seinen Platz ein wie die Nacht zuvor. Doch jetzt hatte ich den Mut, mich zu Bett zu legen. Der Kopf, der wie tags zuvor allen meinen Bewegungen gefolgt war, neigte sich nun zu mir. Die hohlen Augen, die mich wie in der vorhergehenden Nacht keinen Augenblick aus dem Blick verloren hatten, hefteten sich auf mich.« Am folgenden Tag kam der Doktor um sieben Uhr morgens in das Zimmer seines Freundes. »Nun«, fragte er ihn, »was macht das Skelett?« »Es ist soeben verschwunden«, antwortete dieser mit schwacher Stimme. »Gut, wir wollen es so einrichten, daß es heute nacht nicht wiederkommt.« »Tun Sie es.« »Sie sagen, daß es mit dem letzten Schlag der sechsten Stunde kommt?« »Jedesmal.« »Gut, fangen wir damit an, die Uhr anzuhalten«, und er hielt den Pendel an. »Was wollen Sie tun?« »Ich will Ihnen die Möglichkeit nehmen, die Zeit zu erkennen.« »Gut.« »Jetzt wollen wir die Läden schließen und die Vorhänge der Fenster zuziehen.« »Warum das?« »Immer zu demselben Zweck, damit Sie nicht wissen, welche Tageszeit es ist.« »Tun Sie es.« Die Läden wurden zugemacht, die Vorhänge zugezogen, und wir zündeten Kerzen an. »Halten Sie ein Frühstück und ein Mittagessen bereit, John«, sagte der Doktor, »wir wollen nicht zu bestimmten Stunden bedient sein, sondern nur dann, wenn ich rufen werde.« »Sie hören, John«, sagte der Kranke. »Ja, Herr.« »Dann geben Sie uns Karten, Würfel, Dominos, und lassen Sie uns allein.« John brachte die verlangten Gegenstände und entfernte sich. Der Doktor begann damit, den Kranken nach Kräften zu zerstreuen, indem er bald plauderte, bald mit ihm spielte; dann, als er Hunger hatte, läutete er. John brachte das Frühstück. Nach dem Frühstück begann das Spiel wieder und wurde später durch ein neues Läuten des Doktors unterbrochen. John brachte das Mittagessen. Sie aßen und tranken, nahmen Kaffee und spielten weiter. So für sich gelassen, erschien ihnen der Tag lang. Der Arzt glaubte, daß die verhängnisvolle Stunde vorüber sein müßte. »Nun denn!« Er stand auf. »Viktoria.« »Wie, Viktoria?« fragte der Kranke. »Es muß zweifellos zum mindesten acht bis neun Uhr sein, und das Skelett ist nicht gekommen.« »Sehen Sie nach Ihrer Uhr, Doktor, und wenn die Stunde vorüber ist, so werde ich wie Sie Viktoria rufen.« Der Doktor sah nach seiner Uhr, sagte aber nichts. »Sie hatten sich geirrt, nicht wahr, Doktor?« sagte der Kranke. »Es ist gerade sechs Uhr.« »Ja.« »Nun, da tritt auch das Skelett ein.« Und der Kranke warf sich mit einem tiefen Seufzer zurück. Der Arzt blickte nach allen Seiten. »Wo sehen Sie es denn?« fragte er. »An seinem gewöhnlichen Platz, hinter meinem Bett, zwischen den Vorhängen.« Der Doktor stand auf, zog das Bett vor, ging hinter dasselbe und nahm zwischen den Vorhängen den Platz ein, den das Skelett einnehmen sollte. »Und jetzt«, sagte er, »sehen Sie es immer noch?« »Ich sehe nicht mehr den unteren Teil seines Körpers, da der Ihre es mir verbirgt, aber ich sehe seinen Schädel. Über Ihrer rechten Schulter. Es ist, als ob Sie zwei Köpfe hätten, einen lebenden und einen toten.« So ungläubig der Arzt auch war, er schauderte doch unwillkürlich. Er wandte sich um, aber er sah nichts. »Mein Freund«, sagte er traurig, indem er zu dem Kranken zurückkehrte, »wenn Sie noch kein Testament gemacht haben, so beeilen Sie sich.« Und er entfernte sich. Als John neun Tage später in das Zimmer seines Herrn trat, fand er ihn tot in seinem Bett. Es waren genau drei Monate seit der Hinrichtung des Räubers vergangen … Spuk im Klub von H. G. Wells Herbert George Wells (1866-1946) war ein außerordentlich produktiver Autor, der sich in erster Linie als Reformer und Zeitkritiker verstand. Seine ersten Romane, naturwissenschaftliche Phantasien in der Art Jules Vernes, gehören längst in das Repertoire der klassischen Science Fiction-Literatur, so »Die Zeitmaschine« (1895) oder »Krieg der Welten« (1898). Manche seiner damals bahnbrechenden Ideen sind heute Allgemeingut geworden. Daß H. G. Wells auch Spukgeschichten geschrieben hat, mag zwar bei einem so fortschrittlichen, aufklärerischen Geist befremden, nimmt aber kaum noch wunder, wenn man sich die Tatsache vor Augen hält, daß er Engländer war. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie Clayton seine letzte Geschichte erzählte. Da saß er, am Schauplatz der Geschichte selbst, in einem Sessel neben dem offenen Kamin. Neben ihm Sanderson, die unvermeidliche Pfeife zwischen den Zähnen. Auch Evans war da und Wish, dieser großartige Schauspieler und bescheidene Mensch. Wir alle waren an diesem Sonnabend vormittags zum Golfspielen in den Mermaid Club gekommen – außer Clayton, der hier übernachtet hatte, was den Anlaß zu seiner Geschichte gab. Wir hatten bis zum Einbruch der Dämmerung Golf gespielt, dann gegessen. Und nun befanden wir uns in jener angeregten Stimmung, in der man seiner Phantasie gern freien Lauf läßt. Als Clayton zu erzählen begann, waren wir natürlich fest überzeugt, daß er log. Vielleicht log er wirklich – das mag der Leser selbst entscheiden. Zwar schilderte er sein Erlebnis ernsthaft und überzeugend, wie man eine wahre Begebenheit berichtet; aber wir hielten das nur für den Kunstgriff eines guten Erzählers. »Wißt ihr eigentlich, daß ich letzte Nacht allein hier war?« bemerkte er nach einer langen Gesprächspause, in der wir alle den Funkenflug im Kamin beobachtet hatten. »Außer der Dienerschaft«, berichtigte Wish. »Die schläft im anderen Flügel«, sagte Clayton. »Tja …« Er zog eine Weile an seiner Zigarre, als zögerte er immer noch, ob er sich uns anvertrauen solle. Und schließlich sagte er ruhig: »Ich habe ein Gespenst gefangen.« »So, ein Gespenst?« meinte Sanderson unbeeindruckt. »Wo ist es?« Und Evans, der Clayton bewunderte und vier Wochen in Amerika gewesen war, schrie: »Ein Gespenst gefangen? Ist ja toll! Erzählen Sie, Clayton!« Clayton versprach es und bat ihn, zuvor die Tür zu schließen. »Nicht, daß ich Horcher fürchtete – aber ich möchte unser ausgezeichnetes Klub-Personal nicht durch Spukgeschichten beunruhigen. Dieses alte Haus mit den vielen dunklen Winkeln und der Eichenholztäfelung hat ohnehin etwas Unheimliches. Übrigens war das auch kein ständiges Gespenst. Ich glaube nicht, daß es jemals wiederkommen wird.« »Ach – Sie haben es also nicht festgehalten?« fragte Sanderson. »Ich hatte nicht das Herz dazu.« »Da bin ich aber überrascht«, sagte Sanderson. Und wir lachten. Clayton sah etwas gekränkt drein. »Es war wirklich ein Gespenst«, erklärte er ernst. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie ich Sie jetzt sehe. Ich scherze nicht. Ich spreche ganz im Ernst.« Sanderson zog kräftig an seiner Pfeife, klappte ein Auge zu und stieß dann eine dünne Rauchsäule aus, die beredter als Worte war. Clayton übersah den stummen Einwurf. »Es ist das Merkwürdigste, das mir in meinem ganzen Leben passiert ist. Sie wissen, daß ich nie an Gespenster oder ähnliches geglaubt habe. Nie. Und unversehens läuft mir selbst eines über den Weg. Höchst sonderbar.« Gedankenvoll drückte er seine Zigarre aus und brachte eine zweite zum Vorschein, die er mit einem seltsamen kleinen Dolch abzuschneiden begann. »Haben Sie mit ihm gesprochen?« erkundigte sich Wish. »O ja. Ungefähr eine Stunde lang.« »Gesprächig?« warf ich im gleichen Ton trockener Skepsis ein. »Der arme Teufel hatte Kummer«, sagte Clayton und sah uns der Reihe nach mit mildem Vorwurf an. »Weinte er?« fragte jemand. Clayton stieß bei der Erinnerung einen schweren Seufzer aus. »Ja«, nickte er bekümmert. »Der arme Kerl. Ja.« »Hatten Sie ihm auf den Fuß getreten?« grinste Evans. Ohne auf ihn zu achten, fuhr Clayton fort: »Ich hatte keine Ahnung, was für ein armer Kerl so ein Geist sein kann.« Wieder schien er sich ganz in der Erinnerung zu verlieren, während er in seinen Taschen nach Streichhölzern suchte, um seine Zigarre anzuzünden. »Ich habe ihn überrumpelt«, murmelte er schließlich. Keiner von uns hatte es eilig. Wir ließen ihn seine Geschichte in aller Ruhe ausspinnen. »Ein Charakter«, erklärte er, »bleibt immer derselbe – auch in unkörperlichem Zustand. Das vergessen wir zu leicht. Ein Mensch, der Energie oder Gewandtheit besitzt, wird auch als Geist energisch und gewandt sein. Die meisten Spukgeister sind vermutlich beschränkt und eigensinnig wie Maulesel, daß sie immer wieder an denselben Ort zurückkehren. Mein Geist war nicht von dieser Sorte.« Er sah uns mit einem eigentümlichen Lächeln an. »Ich weiß, ihr glaubt mir nicht. Und doch ist alles wahr, was ich euch erzähle. Schon auf den ersten Blick erkannte ich, daß er schwach war.« Er lehnte sich zurück und unterstrich seine Erzählung mit seiner Zigarre. »Ich traf ihn draußen in dem langen Gang. Er stand mit dem Rücken zu mir. Ich wußte sofort, daß es ein Geist war. Er war hell und durchscheinend – durch seine Brust hindurch konnte ich das kleine Fenster am anderen Ende des Ganges sehen. Und nicht nur seine äußere Erscheinung, sondern auch seine ganze Haltung erschien mir schwach und weich. Er sah aus, als wüßte er nicht, was er tun sollte. Mit einer Hand stützte er sich gegen die Täfelung, die andere lag zitternd auf seinem Mund. So!« « Wie sah er aus?« fragte Sanderson. »Schmächtig und armselig. Schmale Schultern, schiefe Haltung. Ein dürrer Hals, über den sich hinten zwei tiefe Rillen hinunterzogen, darauf ein kleiner Kopf mit struppigem Haar und abstehenden Ohren. Dabei ein verhältnismäßig noch junger Mann. Er trug eine schlechtsitzende Jacke und ausgebeulte Hosen, die an den Beinrändern etwas ausgefranst waren. So stand er da, als ich leise die Treppe heraufkam. Ich trug kein Licht (Sie wissen ja, auf dem Treppenabsatz brennt immer eine Lampe) und hatte meine weichen Hausschuhe an, und so bemerkte er mich nicht gleich. Bei seinem Anblick blieb ich jäh stehen. Ich hatte überhaupt keine Angst. Komisch – in solchen Fällen ist man meist viel ruhiger, als man annehmen sollte. Ich war überrascht und interessiert. Ich dachte: Großer Gott, ein Geist! Seit fünfundzwanzig Jahren habe ich nicht mehr an Geister geglaubt!« »Hm«, machte Wish. »Ich mochte kaum eine Sekunde da sein, als auch er mich bemerkte. Er fuhr erschrocken herum, und ich sah das Gesicht eines unreifen jungen Mannes mit fliehendem Kinn und dünnem Schnurrbart. Sekundenlang standen wir da und starrten einander an. Dann schien er sich seiner Berufung zu erinnern. Er richtete sich gerade auf und breitete die Arme aus, wie Gespenster es zu tun pflegen. So kam er auf mich zu, wobei er ein zaghaftes Buuuh! ausstieß. Nein, es war nicht beängstigend – überhaupt nicht. Ich hatte gut zu Abend gegessen, hatte eine Flasche Sekt getrunken und, da ich ganz allein war, hinterher noch zwei oder drei Whisky (vielleicht auch vier oder fünf). Ich fühlte mich stark wie ein Fels und war nicht mehr erschrocken, als ob mich ein Hund angebellt hätte. ›Was heißt hier Buh!‹ sagte ich barsch. ›Und was haben Sie überhaupt hier zu suchen?‹ Er zuckte zurück und wiederholte matt: ›Buuh.‹ Ich sagte: ›Unsinn! Was wollen Sie hier? Sind Sie Mitglied?‹ Und um ihm zu zeigen, wie wenig ich mir aus ihm machte, trat ich einfach durch ihn hindurch, nahm mir eine Kerze vom Tisch und zündete sie an. ›Sind Sie Mitglied?‹ wiederholte ich und sah ihn mir von der Seite an. Er wich ein wenig zurück, und seine künstliche Pose fiel kläglich in sich zusammen. ›Nein, ich bin kein Mitglied‹, murmelte er dumpf. ›Ich bin ein Geist.‹ ›Das gibt Ihnen noch kein Recht, im Mermaid Club aus und ein zu gehen. Wollten Sie eine bestimmte Person besuchen?‹ Ich bemühte mich, die brennende Kerze möglichst ruhig zu halten, damit er meine Furchtlosigkeit nicht etwa dem genossenen Whisky zuschriebe. ›Was wollen Sie hier?‹ Er hatte die Hände sinken lassen und stand verlegen und niedergeschlagen da, der Geist eines schwächlichen und unbedeutenden jungen Mannes. ›Ich spuke‹, murmelte er unsicher. ›Dazu haben Sie kein Recht.‹ ›Ich bin ein Geist‹, verteidigte er sich schüchtern. ›Mag sein. Trotzdem haben Sie kein Recht, hier zu spuken. Das ist ein angesehener Privat-Klub. Manche Leute bringen gelegentlich ihre Familie mit. Bei Ihrer Unvorsichtigkeit könnte es leicht vorkommen, daß Sie irgendein junges Ding zu Tode erschrecken. Daran haben Sie wohl nicht gedacht, wie?‹ ›Nein, Sir‹, gab er zu. ›Schlimm genug. Haben Sie denn irgendwelche besonderen Beziehungen zu diesem Ort? Ich meine – sind Sie vielleicht hier ermordet worden oder so was?‹ ›Nein, das nicht. Aber ich dachte, weil das Haus so alt und dunkel und eichengetäfelt ist …‹ ›Das ist keine Entschuldigung‹, sagte ich fest. Und mit freundlicher Überlegenheit fügte ich hinzu: ›An Ihrer Stelle würde ich nicht bis zum Hahnenschrei hier herumlungern – ich würde lieber gleich verschwinden.‹ Er trat verlegen von einem Fuß auf den andern. ›Die Sache ist die, Sir‹, begann er. ›Ich würde gleich verschwinden‹, wiederholte ich nachdrücklich. »Es ist nämlich so, Sir – ich kann nicht.‹ ›Sie können nicht?‹ ›Nein, Sir. Ich muß irgend etwas vergessen haben. Ich treibe mich schon seit gestern um Mitternacht hier herum, verstecke mich in den Schränken der leeren Gästezimmer und so. Ich bin ganz durcheinander. Ich spuke nämlich zum erstenmal, müssen Sie wissen. Und jetzt ist die ganze Sache schiefgegangen.‹ ›Schiefgegangen?‹ ›Ja, Sir. Ich habe es schon ein paarmal versucht, aber es klappte nicht. Irgend etwas ist mir entfallen, und nun kann ich nicht zurück.‹ Sie können sich denken, daß ich ziemlich verblüfft war. Er sah mich so kläglich an, daß ich meinen strengen Ton nicht länger aufrechterhalten mochte. ›Merkwürdig«, sagte ich. Und weil ich glaubte, unten Schritte zu hören, schlug ich vor: ›Kommen Sie mit mir auf mein Zimmer, und erzählen Sie mir das genauer.‹ Ich wollte ihn am Arm nehmen, aber natürlich hätte ich ebensogut versuchen können, ein Rauchwölkchen festzuhalten. Ich hatte meine Zimmernummer vergessen und ging mit ihm durch mehrere Gästezimmer, bis ich mein Gepäck wiederfand; glücklicherweise war in dieser Nacht außer mir niemand in dem Gästeflügel. ›Da sind wir‹, sagte ich und setzte mich in einen Lehnstuhl. ›Nehmen Sie Platz und erzählen Sie. Mir scheint, Sie sind da in eine recht verzwickte Lage geraten.‹ Er sagte, er wollte nicht gern sitzen; ob es mir etwas ausmachte, wenn er dabei ein wenig im Zimmer herumgeisterte. Das tat er denn auch. Und bald waren wir in ein langes, ernsthaftes Gespräch verstrickt. Inzwischen waren auch die paar Whisky, die ich getrunken hatte, verdunstet, und mir wurde klar, wie grotesk und unglaublich diese Situation war. In dem sauberen, hübschen, chintzbehangenen Schlafzimmer huschte ein richtiges Gespenst auf und ab, lautlos bis auf seine Geisterstimme, halb durchsichtig – ich konnte durch ihn hindurch die kupfernen Kerzenleuchter und die gerahmten Stiche an den Wänden sehen. Und er erzählte mir über sein armseliges Erdenleben, das kürzlich ein Ende gefunden hatte. Er hatte kein besonders vertrauenerweckendes Gesicht. Aber er sagte die Wahrheit.« »Wieso eigentlich?« warf Wish plötzlich ein. »Das sehe ich nicht ein.« »Ich auch nicht«, meinte Clayton achselzuckend. »Aber ich kann Ihnen versichern, daß es wirklich so ist. Ich bin überzeugt, daß er nicht um Haaresbreite von der Wahrheit abgewichen ist. Er erzählte mir auch, wie er umgekommen war: Er ging in einem Londoner Mietshaus mit brennender Kerze in den Keller, um eine undichte Stelle in der Gasleitung zu suchen. Er war Englischlehrer an einer Londoner Privatschule gewesen, als das passierte.« »Armer Teufel«, sagte ich. »Das dachte ich auch. Er tat mir wirklich leid. Unnütz im Leben und unnütz im Tod. Er redete schlecht von allen, die er im Leben gekannt hatte. Niemand habe ihn je verstanden, niemand seine Vorzüge erkannt und geschätzt. Er hatte nie Freunde, nie Erfolg gehabt. Er sei eben zu gutmütig und zu sensibel gewesen. Er war verlobt gewesen (wahrscheinlich mit einer ebenso ungeschickten und übersensiblen Person), als die Sache mit der Gasleitung seinen Plänen ein Ende setzte. Ich fragte: ›Und wo sind Sie jetzt?‹ Über diesen Punkt drückte er sich nicht klar aus. Ich hatte den Eindruck, daß er sich in einer Art Zwischenreich befand, einem Reservat für Seelen, die so unbedeutend waren, daß man sie weder zu den Heiligen noch zu den Sündern rechnen konnte. Ich konnte ihn nicht dazu bringen, mir mehr über diesen Ort zu erzählen. Jedenfalls schien er dort in passender Gesellschaft zu sein: unter den Geistern ebenso schwacher und unbedeutender junger Leute, die sich mit Vorliebe über das Spuken unterhielten. Spuken – das galt bei ihnen als das große, prickelnde Abenteuer, das sie doch heimlich alle fürchteten. Eines Nachts hatte auch er es versucht – und so war er in den Mermaid Club gekommen.« »Also ich muß schon sagen …«, bemerkte Wish. »Er hat das alles natürlich nicht mit klaren Worten dargelegt«, erklärte Clayton. »Aber so ungefähr war der Eindruck, den ich von ihm hatte. Die ganze Zeit huschte er im Zimmer auf und ab, während er mit weinerlicher Stimme über sein armseliges Selbst redete. Mit seiner dünnen Stimme und seinem durchscheinenden Geisterleib wirkte er noch erbärmlicher, als wenn er ein Mensch von Fleisch und Blut gewesen wäre. Aber als Mensch von Fleisch und Blut wäre er wohl kaum in meinem Zimmer gewesen – ich hätte ihn natürlich hinausgeworfen.« »Ja, ja, es gibt schon solche Menschen«, meinte Evans. Und ich fügte hinzu: »Und warum sollten sie nicht ebensogut einen Geist haben wie jeder andere.« « Was für ihn sprach, war seine ehrliche Bestürzung«, sagte Clayton. »Er war entsetzlich deprimiert, weil er die Sache mit dem Spuk verpfuscht hatte. Alle hatten ihm erzählt, daß es ein Heidenspaß sein würde. Er hatte sich natürlich auch einen Heidenspaß erwartet – und nun war es nichts als ein neuer Mißerfolg auf seiner Liste von Fehlschlägen. Alles, alles im Leben war ihm danebengegangen – und selbst in der Ewigkeit schien es ihm nicht anders zu ergehen. Alles käme daher, sagte er, weil sich nie jemand um ihn gekümmert, niemand ihm Interesse oder Sympathie entgegengebracht hatte. Nach seiner Bemerkung brach er erstaunt ab und sah mich an. Ich sei eigentlich der erste, erklärte er verwundert, der sich je für seine Angelegenheiten interessiert hatte. Ich merkte gleich, worauf er hinauswollte, und beschloß, ihm etwas unter die Arme zu greifen. Ich mag ein alter Grobian sein – aber wenn so ein armer Schwächling (ob Mensch oder Geist) in mir seinen einzigen wahren Freund sieht, habe ich nicht das Herz, ihn zurückzustoßen. Ich ermunterte ihn also, sich nicht weiter mit solch düsteren Gedanken abzugeben. Für ihn gäbe es jetzt nur eines: so rasch wie möglich aus dieser Sache herauszukommen. ›Reißen Sie sich zusammen‹, sagte ich, ›und versuchen Sie es.‹ – ›Ich kann nicht«, sagte er. ›Versuchen Sie es!, beharrte ich. Und das tat er denn auch.« »Wie denn?« erkundigte sich Sanderson. »Gesten.« »Gesten?« »Nun ja, eine komplizierte Reihe von Gesten und Handbewegungen. So war er hereingekommen, so mußte er auch wieder hinaus. Meine Güte – was hatte ich für eine Plage mit ihm!« Ich begann: »Ich kann mir nur nicht vorstellen, wieso eine Reihe von Handbewegungen …« »Mein lieber Mann«, fiel er mir ungeduldig ins Wort. »Sie wollen immer alles ganz genau wissen. Ich weiß auch nicht, wieso. Ich kann Ihnen nur sagen, daß es so war. Eine qualvoll lange Zeit mühte er sich vergeblich ab. Aber dann bekam er wohl die richtige Reihenfolge heraus – und auf einmal war er verschwunden.« Sanderson erkundigte sich: »Haben Sie diese Gesten beobachtet?« »Natürlich«, antwortete Clayton nachdenklich. »Es war alles sehr seltsam. Wir beide allein in dem leeren Haus, ich und dieser schwächliche Geist. Alles still, kein Laut außer unseren Stimmen und dem schwachen Keuchen, das er bei seinen Übungen ausstieß. Nur zwei Kerzen brannten in meinem Zimmer, die ab und zu gespenstisch aufflackerten. Eine phantastische Situation! ›Ich schaffe es nicht‹, jammerte er immer wieder. ›Ich schaffe es einfach nicht!‹ Und plötzlich sank er auf den kleinen Stuhl am Fußende des Bettes und schluchzte und schluchzte. Ein jämmerliches Häufchen Elend. ›Nehmen Sie sich zusammen!‹ sagte ich und versuchte ihm auf den Rücken zu klopfen – wobei meine Hand natürlich ins Leere griff. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht mehr ganz so kaltblütig wie vorher auf dem Treppenabsatz. Die haarsträubende Situation begann mich doch etwas nervös zu machen. Ich erinnere mich, daß ich über diesen Griff ins Leere heftig erschrak und zurückzuckte. ›Nehmen Sie sich zusammen!‹ wiederholte ich. ›Versuchen Sie weiter!‹ Und um ihn anzuspornen, begann ich sogar mitzumachen.« »Was!« rief Sanderson. »Seine Gesten?« »Ja.« »Aber …« Ich beugte mich vor. »Das ist interessant«, sagte Sanderson, einen Finger im Pfeifenkopf. »Wollen Sie behaupten, daß er Ihnen alles …« »… daß er mir das Geheimnis preisgegeben hat? Ja.« »Unmöglich!« rief Wish. »Sonst wären Sie ja auch hinübergegangen!« »Genau!« rief ich eifrig. »Genau«, murmelte Clayton gedankenvoll. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann fragte Sanderson: »Und wie ging die Sache aus?« »Schließlich glückte es ihm. Ich mußte ihm immer wieder zureden und ihn anspornen, aber schließlich glückte es ihm doch. Und zwar ganz plötzlich. Er wollte wieder einmal aufgeben, wir hatten eine heftige Szene. Und dann stand er plötzlich auf und bat mich, die ganze Sache noch einmal mit ihm durchzumachen. Er sagte: ›Wenn ich es bei Ihnen sehe, komme ich vielleicht dahinter, was ich falsch mache.‹ Also machten wir alles noch einmal gemeinsam durch. Auf einmal sagte er: ›Jetzt weiß ich’s.‹ Aber nun hatte er plötzlich Hemmungen und behauptete, er könnte es nicht zu Ende führen, wenn ich ihn dabei ansähe. Ich sollte mich umdrehen. ›Ich bin nun einmal nervös und sensibel‹, erklärte er. ›Sie irritieren mich.‹ Wir stritten eine Weile herum, und schließlich hatte ich es satt. ›Also schön‹, sagte ich. ›Ich sehe nicht hin.‹ Ich drehte ihm den Rücken zu – aber ich konnte ihn im Spiegel neben meinem Bett sehen. Er begann sofort und haspelte seine Übungen in schnellem Tempo ab. Ich beobachtete ihn im Spiegel, denn ich war natürlich gespannt zu sehen, was er bisher falsch gemacht hatte. Er schwang die Arme herum, ungefähr so und so und so, und dann fiel er ruckartig in die letzte Pose – so: Man steht hochaufgerichtet, die Arme weit ausgebreitet. So stand er also da. Und auf einmal stand er eben nicht mehr da. Er war weg! Ich wirbelte auf dem Absatz herum. Nichts! Weg! Ich war allein mit den heftig flackernden Kerzen und meiner grenzenlosen Verwirrung. Was war geschehen? War überhaupt etwas geschehen? Hatte ich geträumt? Im selben Augenblick schlug die Uhr im Treppenhaus mit dröhnendem Schlag die erste Stunde. Mir war ganz schwach in den Knien, das können Sie mir glauben. Ich war nüchtern wie ein Staatsanwalt, der Sekt und der Whisky waren verflogen, und mir war ganz sonderbar zumute – ganz sonderbar – du liebe Zeit!« Er betrachtete die Asche an seiner Zigarre. »Das ist alles«, sagte er schließlich. »Und dann sind Sie zu Bett gegangen?« fragte Evans. »Was blieb mir andres übrig?« Wish und ich wechselten einen Blick. Wir wollten witzeln, aber irgend etwas (vielleicht etwas in Claytons Stimme oder Haltung) hemmte uns. »Und diese Gesten?« erkundigte sich Sanderson. »Ich glaube, ich könnte sie jetzt machen.« »So?« Sanderson brachte ein Taschenmesser zum Vorschein und begann in seiner Pfeife zu stochern. »Warum versuchen Sie es dann nicht gleich jetzt?« schlug er vor und klappte das Taschenmesser zusammen. »Gut«, antwortete Clayton. »Das klappt ja doch nicht«, meinte Evans. »Aber wenn es klappt, dann …«, gab ich zu bedenken. Wish streckte seine langen Beine aus. »Ich bin dagegen«, sagte er. »Warum?« fragte Evans. »Ich bin dagegen, daß er es versucht.« »Er kriegt es ja doch nicht fertig«, sagte Sanderson und stopfte zuviel Tabak in seine Pfeife. »Trotzdem bin ich dagegen«, wiederholte Wish. Wir widersprachen Wish. Er sagte, wenn Clayton diese Gesten wiederholte, so käme ihm das vor, als machte man sich über etwas sehr Ernstes lustig. »Aber Sie glauben doch nicht daran?« wandte ich ein. Wish sah Clayton an, der schweigend ins Feuer starrte. »Ich weiß nicht recht – halb glaube ich doch daran«, murmelte Wish. Ich sagte: »Clayton, Sie lügen etwas zu gut für mich. Ich meine – die ganze Sache war ja ganz nett. Aber der Schluß, dieses Verschwinden – das klang eigentlich zu echt. Sagen Sie, daß es nur eine erfundene Geschichte war.« Er stand auf, ohne mich anzusehen, stellte sich auf den Teppich vor dem Kamin und starrte einen Moment auf seine Füße hinunter. Dann hob er den Kopf und richtete den Blick auf die gegenüberliegende Wand, mit einem Ausdruck tiefster innerer Konzentration. Langsam hob er beide Hände in Augenhöhe. Und dann begann er … Nun muß man wissen, daß Sanderson Freimaurer ist. Er gehört der Loge der Vier Könige an, die sich so eifrig mit dem Studium der Mysterien der Freimaurerei aus Vergangenheit und Gegenwartbeschäftigt. Er folgte Claytons Bewegungen mit einem ganz besonderen Interesse in den kleinen, roten Augen. »Nicht schlecht«, meinte er, als Clayton fertig war. »Tatsächlich, Clayton, Sie haben diese Dinge erstaunlich gut erfaßt. Nur fehlte da noch eine Kleinigkeit.« »Ich weiß«, sagte Clayton. »Ich glaube, ich weiß sogar, welche.« »Nun?« »Diese«, sagte Clayton und vollführte eine merkwürdige kleine Serie von Wendungen und Verrenkungen der Hände. »Ja.« »Genau das ist es nämlich, was auch er nicht gleich traf«, erklärte Clayton. »Aber woher wissen Sie …?« Sanderson sagte: »Das meiste davon verstehe auch ich nicht. Und vor allem begreife ich nicht, wie Sie das erfinden konnten. Aber diese eine Phase kenne ich wirklich. Es ist zufällig eine Geste, die mit einem bestimmten Zweig der esoterischen Freimaurerei zu tun hat – vielleicht wissen Sie davon. Wenn nicht, begreife ich nicht, wieso …« Er überlegte eine Weile. »Ich glaube, es kann nichts schaden, wenn ich Ihnen die richtige Bewegung zeige. Entweder wissen Sie es sowieso – oder es hilft Ihnen auch nichts.« »Ich weiß gar nichts«, sagte Clayton. »Außer was dieser arme Teufel mir vorgemacht hat.« »Na schön«, sagte Sanderson und legte seine lange Tonpfeife vorsichtig auf das Kaminsims. Dann vollführte er sehr rasch ein paar Handbewegungen. »So?« fragte Clayton und ahmte ihn nach. »So.« Sanderson wiederholte die Gesten und griff dann wieder nach seiner Pfeife. »Ach ja«, sagte Clayton. »Ich glaube, jetzt kann ich es.« Er stand vor dem verglimmenden Kaminfeuer und lächelte uns der Reihe nach zu. Aber es war etwas Unheimliches in seinem Lächeln. »Wenn ich anfange …«, sagte er. »Lassen Sie es lieber«, fiel Wish ein. »Unsinn!« rief Evans. »Materie ist unzerstörbar. Ihr glaubt doch nicht wirklich, daß solcher Hokuspokus den guten Clayton ins Schattenreich befördern könnte! Ich jedenfalls glaube nicht an diesen Humbug. Meinetwegen können Sie Ihre Turnübungen machen, Clayton, bis Sie Muskelkater kriegen.« »Ich bin dagegen«, sagte Wish und stand auf und legte Clayton die Hand auf die Schulter. »Sie haben Ihre Geschichte so suggestiv erzählt, daß ich halb und halb daran glaube. Und darum mochte ich nicht, daß Sie das machen.« »Großer Gott!« lachte ich. »Wish hat Angst.« »Stimmt«, sagte Wish mit echtem oder gut gespieltem Ernst. »Ich glaube, daß Clayton wirklich hinübergeht, wenn er das macht.« »Kein Gedanke!« rief ich. »Es gibt nur einen einzigen Weg aus dieser Welt – und dazu hat Clayton noch dreißig Jahre Zeit. Sie glauben doch nicht im Ernst …« Wish machte ein paar Schritte von uns weg und blieb neben dem Tisch stehen. »Clayton, Sie sind verrückt, wenn Sie es tun«, sagte er. Clayton lächelte seltsam. »Wish hat recht, und ihr alle habt unrecht. Ich werde hinübergehen. Ich werde die Gesten richtig machen, und bei der letzten Bewegung – husch – wird der Kaminteppich leer sein. Ihr alle werdet Mund und Augen aufreißen – und ein seriös gekleideter Herr von hundertsiebzig Pfund wird in die Welt der Schatten hineinplatzen. Ich bin ganz sicher. Sie werden sehen. Hören wir auf, darüber zu streiten. Treten wir lieber den Beweis an.« »Nein«, sagte Wish und trat einen Schritt vor. Aber Clayton hob die Hände und begann die Gesten des Geistes zu wiederholen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns alle in einen Zustand äußerster Nervenspannung hineingesteigert. Ich glaube, daran war in erster Linie Wishs Verhalten schuld. Wir alle hatten die Blicke auf Clayton gerichtet. Ich zumindest saß stocksteif da und hatte das Gefühl, als ob mein Rücken vom Kopf bis zu den Hüften vereiste. Und vor dem Kamin stand Clayton und vollführte seine Bewegungen mit ernster Feierlichkeit und zugleich mit unerschütterlicher Gelassenheit. Er beugte und drehte seinen Körper, schwang die Arme und bewegte die Hände. Je näher er dem Ende kam, desto atemloser wurde die Spannung im Raum. Die letzte Geste bestand, wie gesagt, darin, die Arme weit auszubreiten und dann so dazustehen, mit aufwärts gewandtem Gesicht. Als er schließlich zu dieser Pose kam, stockte mir der Atem. Es war lächerlich, gewiß – aber wer kann sich schon diesem gewissen Gruseln verschließen, das einen bei Gespenstergeschichten überfällt. Es war spätabends, in einem alten, unheimlichen Haus. Würde er wirklich …? Einen endlosen Augenblick lang stand er so da, die Arme weit ausgebreitet, den Blick nach oben gerichtet, heiter und gelassen, im Lichtschein der Hängelampe. Der Augenblick schien uns eine Ewigkeit zu dauern. Und dann kam von uns allen so etwas wie ein stummer Seufzer grenzenloser Erleichterung. Denn körperlich war er nicht fort. Es war alles Unsinn. Er hatte uns eine Lügengeschichte aufgebunden, auf die wir beinahe hereingefallen wären – das war alles. In diesem Augenblick veränderte sich Claytons Gesicht mit einem Schlag. Es veränderte sich so wie ein erleuchtetes Haus, in dem plötzlich alle Lichter ausgehen. Sein Blick wurde starr, das Lächeln gefror auf seinen Lippen. Er stand still. Und dann begann er kaum merklich zu schwanken. Auch dieser Augenblick war eine Ewigkeit. Plötzlich polterten Stühle, scharrten Schritte – wir alle waren aufgesprungen und stürzten vor. Seine Knie schienen nachzugeben, er fiel vornüber, und Evans konnte ihn gerade noch in seinen Armen auffangen. Es traf uns alle wie ein Blitzstrahl. Eine Minute lang brachte keiner von uns ein Wort hervor. Wir glaubten es und konnten es doch nicht glauben … Als ich aus meiner schlotternden Betäubung zu mir kam, lag ich auf den Knien neben ihm. Sein Hemd war aufgerissen, und Sandersons Hand lag auf seiner Brust … Wir konnten es lange nicht fassen, was geschehen war. Aber das hatte auch keine Eile. Der Beweis lag vor uns, grauenhaft still und unübersehbar. So blieb er noch eine Stunde liegen. Clayton war wirklich in jene Welt hinübergegangen, die der unseren so fern und doch so nah ist. Er war den einzigen Weg gegangen, der dem Sterblichen offen ist. Ob wirklich die Gesten und Bewegungen, die der arme Geist ihm gezeigt hatte, diese Wirkung auslösten – oder ob er (wie es im Polizeibericht hieß) mitten im Geschichtenerzahlen von einem Schlaganfall getroffen worden war –, wer will das entscheiden? Es war eines jener unerklärlichen Rätsel, deren Lösung wir erst am Ende aller Tage kennen werden. Ich weiß nur eines: daß er in demselben Augenblick, in dem er diese ganz bestimmte Geste vollendete, vor unseren Augen tot zusammenbrach. Sareva, meine Hexe von Andrew J. Offutt Andrew J. Offutt, ein in Deutschland so gut wie unbekannter amerikanischer Autor, der neben SF-Stories für die einschlägigen Magazine in Amerika auch Geschichten aus dem Bereich des Übersinnlichen und Unheimlichen geschrieben hat, enthüllt in der nachstehenden Erzählung sein erstaunliches Talent, den gewöhnlichen Alltag einer amerikanischen Durchschnittsfamilie in einen Hexensabbat umzufunktionieren, in dem es kaum anders zugeht, als in eben diesem Alltag – mit einem Unterschied: Die liebende Gattin ist wirklich eine Hexe! An unserem Hochzeitstag war der Himmel grau und wolkenverhangen, und in der Ferne grollte der erste Donner eines heraufziehenden Gewitters. Aber meine schöne Braut sagte: »Regen, Regen, geh nur fort, such dir einen andren Ort!« Und als sie die Kirche betrat, wo ich auf sie wartete, schien draußen die Sonne und ließ die bunten Kirchenfenster im neuen Glanz erstrahlen. Ein halbes Jahr später hatten wir ein Picknick für einen Tag geplant, an dem es laut Wetterbericht in Rundfunk, Zeitung und Fernsehen mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit regnen sollte. Es regnete tatsächlich überall um uns herum, während meine junge Frau und ich wie von Wasserfällen umgeben picknickten. Aber wir blieben dabei trocken und hatten sogar Sonnenschein. Als ich sie zum erstenmal sah, war mir klar, daß es für mich nie eine andere geben konnte, obwohl es eigentlich seltsam war, daß ich mich auf den ersten Blick in ein schlankes Mädchen mit etwas zu langem Gesicht und etwas zu kleinem Busen verliebt haben sollte. Ihre Haut war blaß und wurde nicht leicht braun, so daß sie sich vor allzu starker Sonneneinstrahlung schützen mußte. Sie bekam leicht Sommersprossen, die im Feuerschein wie ihr Haar kupferrot waren. Aber am eindrucksvollsten waren ihre Augen, die einen nicht mehr losließen. Sie waren klar, hell und unglaublich grün, so daß ich bei unserer ersten Begegnung davon überzeugt war, sie trage farbige Kontaktlinsen. Aber sie brauchte keine. Ihre Augen waren völlig in Ordnung. Sie war Sareva. Sie war irischer Abstammung und als Waise aufgewachsen. Sie war meine Frau, und da ich sie so sehr liebte, verstand ich die alten Dichter besser, die so laut schworen, so schmerzlich stark geliebt zu haben. Sie war leidenschaftlich, und ich stand ihr in dieser Beziehung nicht nach. Selbst im dritten Ehejahr waren unsere Flitterwochen keineswegs zu Ende, und ich schwieg verlegen und bedauernd und verächtlich, wenn ich hörte, wie andere Männer von ihren Frauen sprachen: das Frauchen, die bessere Hälfte, die Chefin, der Klotz am Bein. Ich hielt den Filmstar Raquel Welch für ein dümmliches Wesen, das seine Bluse wie seinen Mund trug: ständig offen. Ich hatte keine Augen für andere Frauen, denn ich besaß Sareva und war von ihr besessen. Sie half mir sogar, Karriere zu machen. Ich war weder dumm noch faul gewesen, aber manche Dinge brauchen eben ihre Zeit, und ich war deshalb erst Werbetexter, als wir heirateten – wenn auch ein vielversprechender Texter. Sie interessierte sich nicht sonderlich für meine Arbeit, sondern nur für mich, und unterhielt sich auf der großen Weihnachtsparty acht Monate nach unserer Hochzeit nur kurz mit meinen Kollegen und einigen Repräsentanten unserer Klienten. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sehr ich Anderson von Redleaf beeindruckt hatte, aber als die Firma Anfang des Jahres ihre neue Zigarette auf den Markt brachte, bestand Anderson darauf, ich sollte die Kampagne planen. Clinton, der bisher für Redleaf zuständig gewesen war, benahm sich seitdem merkwürdig. Ich bemühte mich, ihm unauffällig aus dem Weg zu gehen. Das Taxi, mit dem er am 3. März ins Büro fuhr, wurde von einem mit Erdnußbutter beladenen Sattelschlepper gerammt, und ich war ab 10. März der neue Kundenberater für Redleaf. Mr. Dalby von Dalby, Lockwood & Marschak erklärte mir, die Firma habe praktisch keine andere Wahl gehabt, als mir diese Aufgabe zu übertragen, wenn sie den Klienten behalten wollte. Das hatte er von Anderson und von dem Präsidenten der Redleaf Company gehört, so daß er sich jetzt fragte, wie ich es fertiggebracht hatte, ihr Vertrauen und ihre militante Unterstützung zu gewinnen. Ich konnte es ihm nicht sagen. Dittmar wurde wenige Tage nach der Party, die wir gaben, um den Sieg zu feiern, den ich errungen hatte, als es mir geglückt war, uns den Werbeetat von Lady’s Maid zu sichern, auf unerklärliche Weise krank und ist seit Juni ein hilfloser Geistesgestörter, der ins Bett macht und sich Tag und Nacht über Spinnen beschwert, die über sein Gesicht kriechen. Dittmar war für drei wichtige Klienten zuständig gewesen, so daß beträchtliche Aufregung entstand, der eine große Konferenz folgte. Dalby, Lockwood & Marschak konnten es sich nicht leisten, auch nur einen dieser Klienten zu verlieren. Wir wurden alle aufgefordert, baldmöglichst – das heißt schon am nächsten Tag – einen Aktionsplan vorzulegen. »Was haben Sie mit dem armen alten Dittmar angestellt, Byron?« fragte mich Ted Lorenz, als wir den Konferenzraum verließen. »Hmm? Wie bitte?« Er klopfte mir grinsend auf die Schulter. Diese Masche war mir schon immer zuwider gewesen. »Ditty hat sich doch damals auf der Party übergeben und dabei Ihrer Frau das Kleid vollgespuckt, nicht wahr? Ein langes grünes Kleid, wenn ich mich recht erinnere – Anne hat auf der Nachhausefahrt zumindest von einem grünen Kleid gesprochen. Was haben Sie dem armen alten Dittmar angetan, Byron?« Ich gab keine Antwort. Ich hielt es für gemein, dumme Witze über den armen Dittmar zu reißen. Der Abend danach war schlimm. Oh, ich meine damit nicht etwa, daß Sareva und ich Streit gehabt hätten; wir stritten uns nie. Aber ich war natürlich nervös, hätte mich am liebsten betrunken und wußte, daß ich das nicht durfte. Mir war klar, daß ich mir etwas Brillantes einfallen lassen mußte. »Aber machst du dir denn etwas daraus, Liebling? Möchtest du einen dieser Klienten betreuen?« Ich lächelte. »Vor zwei Monaten habe ich eine so brillante Idee für Pixieware gehabt«, erklärte ich meiner Sareva, »daß ich den ganzen Tag an nichts anderes mehr denken konnte.« »Aber du hast Dittmar nichts davon gesagt?« Ihre leuchtenden grünen Augen beobachteten mich aufmerksam. »Nein«, antwortete ich seufzend. »Ich wollte, ich hätte ihm davon erzählt, dem armen Teufel. Aber … ach, du weißt schon. Er hätte die Idee nur zur Hälfte ausgewertet oder irgendwie Mist gemacht.« »Warum konzentrierst du dich dann nicht auf diesen einen Klienten und denkst gar nicht mehr an die beiden anderen, Liebling?« »Schatz, wenn jemand eine Idee hat, wie wir alle drei Kunden behalten können, müßte er schon Marschaks häßliche Frau beleidigen, um der Beförderung zum Vizepräsidenten zu entgehen!« Sie stand lachend auf. »Gut, dann störe ich dich am besten nicht länger. Ich gehe schon nach oben und lese ein bißchen. Soll ich dir irgendwas bringen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Liebling. Tut mir leid, daß ich heute abend so ungesellig bin.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Schatz«, versicherte sie mir. »Ich bin jetzt drei Jahre lang mit einem zärtlichen Liebhaber verheiratet – da kann ich’s wohl ertragen, eine Nacht mit einem strebsamen Werbefachmann, der Vizepräsident werden möchte, verheiratet zu sein. Außerdem müßte ich dieses dumme Buch wirklich bald lesen, weißt du. Es hat schließlich zweiundzwanzig Wochen auf der Bestsellerliste gestanden.« »Ich liebe dich«, erklärte ich meiner Sareva, und daraufhin kam sie natürlich zurück, um mich nochmals zu küssen, und ging dann hinaus und brachte mir ein Bier, weil Bier mich nicht beim Denken stört. Dann ging sie nach oben, und ich saß da und überlegte und kritzelte und träumte und grübelte – und wachte am nächsten Morgen im Sessel auf. So etwas war mir noch nie passiert. Sareva lachte nur. Sie behauptete, das sei eben der Preis, den wir dafür zu zahlen hätten, daß ich ein Genie sei. Ich erklärte ihr, ich würde früh nach Hause kommen. Aber daraus wurde dann doch nichts. Ich kam mit einem ganzen Aktenkoffer voller Entwürfe, Aufstellungen und Skizzen zu der Konferenz und zeigte kaum die Hälfte davon vor. Ich saß da, hörte kaum, was die anderen sagten, und hatte den Kopf so voll neuer Ideen, daß ich das Gefühl hatte, er müsse demnächst platzen. Ich muß sehr desinteressiert gewirkt haben, denn Dalbys Stimme klang unfreundlich, als er mich als letzten Diskussionsteilnehmer aufrief. Nach dieser Konferenz hatte ich starke Kopfschmerzen. Ich war aufgestanden und hatte einige einleitende Worte gesprochen, an die ich mich später nicht mehr erinnern konnte. Danach hatte ich für jeden der drei kritischen Fälle einen Vorschlag gemacht, der mir später nur noch bruchstückhaft in Erinnerung war. Dalby nahm mich mit zu Pixieware, wo wir kühl empfangen wurden, aber als wir gingen, wurden wir herzlich verabschiedet – und hatten einen besseren Vertrag als bisher ausgehandelt. Ich wäre am liebsten nach Hause gefahren, aber ich mußte Marschak zu dem zweiten Dittmar-Klienten begleiten, den wir uns ebenfalls sichern konnten. Marschak war von diesem Erfolg so beeindruckt, daß er mir versprach, er werde mir diesen Klienten zur Betreuung überlassen. Am nächsten Tag fuhr ich mit Marschak zu dem dritten Klienten. Dort erwartete uns eine unangenehme Überraschung: BBD & O hatte zwei ihrer Leute im Vorzimmer des Präsidenten sitzen. Aber die beiden wurden schon bald nach Hause geschickt, und wir hatten den dritten Klienten für uns gerettet. Das einzige Problem bestand darin, daß alle drei darauf bestanden, daß ich ihre Werbekampagne persönlich überwachte. Schließlich waren die Vorschläge dazu von mir gekommen. Das Endergebnis war natürlich, daß Dalby, Lockwood & Marschak drei Klienten, die ihre Werbeetats aufgestockt hatten, und einen neuen Vizepräsidenten hatten. Ich betreute zu viele Klienten, um nicht befördert zu werden; ich hätte wegen der Umsatzprovision mehr als alle meine Kollegen verdient, und das durfte nicht sein. Ein Vierteljahr danach starb Marschak mit 43 an einem Herzschlag, und Dalby fragte mich, ob mich das so erschreckt habe, daß ich nicht einverstanden sei, als Partner in die Firma einzutreten. Ich versicherte ihm, daß sei keineswegs der Fall. Ich hatte mich bisher kaum darum gekümmert, daß Sareva einmal im Monat abends zu einem Clubtreffen wegging, aber an diesem Abend war ich doch etwas enttäuscht, als ich nach Hause kam und unser teures Luxusapartment leer vorfand. Dann fiel mir ein, daß Sareva heute ihren Bridgeabend hatte. Und dabei brannte ich darauf, ihr das Neueste zu erzählen: Ich sollte Partner der Firma Dalby, Lockwood & Benford werden! Ich vergaß meine guten Vorsätze und feierte allein mit einer Flasche Cognac. Ich rauchte auch zuviel, und als ich die Zigarettenstummel im Aschenbecher sah, fiel mir ein, wie eifrig Sareva sich bemüht hatte, mich dazu zu bringen, weniger zu rauchen. Ich bemitleidete mich noch immer selbst, weil meine Frau nicht zu Hause gewesen war, als ich das goldene Vlies heimgebracht hatte, aber jetzt hatte ich noch dazu ein schlechtes Gewissen. Deshalb tat ich etwas Ungewöhnliches: Obwohl ich mir darüber im klaren war, daß ich damit auch mich selbst betrog, ging ich mit den beiden Aschenbechern in die Küche und stellte sie neben dem Mülleimer ab. Dann suchte ich einen Müllbeutel heraus und begann, einen Teil des Mülls aus dem Eimer zu holen. Ich wollte natürlich die meisten Zigarettenstummel und die meiste Asche in den Mülleimer kippen und mit Abfällen zudecken. In der Pfirsichbüchse klapperte etwas. Ich runzelte die Stirn, als ich sah, daß der Deckel nicht ganz aufgetrennt und später wieder zurückgeklappt worden war. Ich hatte eigentlich keinen Grund, ihn hochzubiegen und mir dabei auch noch in den Finger zu schneiden. Das war reine Neugier. In der Konservendose fand ich eine kleine Tonfigur: eine merkwürdige kleine Gestalt mit Schmerbauch, sorgfältig herausgearbeiteter Brille und altmodischer Fliege. Auf ihrer Brust war der Name wie mit einer Nadel eingekratzt: F. Edwin Marschak. In die linke Brustseite war ein Herz eingeritzt. Vielleicht mit der gleichen Nadel, die in dem Herzen steckte. Ich will nicht behaupten, daß ich mir bei diesem Anblick nichts oder nur wenig gedacht habe. Andererseits war ich weit davon entfernt, aus diesem Fund Rückschlüsse auf Marschaks Tod zu ziehen. Voodoo? Das war doch allzu unwahrscheinlich! Ich blieb auf dem Küchenfußboden hocken, betrachtete die kleine Tonfigur oder starrte sie vielmehr an und dachte lange angestrengt nach. Schließlich fiel mir wieder ein, wo ich war und was ich hier wollte. Ich leerte einen Aschenbecher in den Mülleimer, kippte die herausgenommenen Abfälle darauf und faltete den anderen Müllbeutel zusammen. Als ich ihn seitlich in den Abfalleimer stopfte, fragte ich mich, warum ich das nicht gleich mit den Zigarettenstummeln und der Asche getan hatte. Die Pfirsichbüchse blieb obenauf liegen. Ich ließ den Deckel zufallen, verteilte den Inhalt des zweiten Aschenbechers und ging damit ins Wohnzimmer zurück. Dort stellte ich die Marschak-Figur auf den Sims unseres rein dekorativen offenen Kamins. Dann setzte ich mich hin und machte meine Arbeit wieder zunichte, indem ich eine Zigarette nach der anderen rauchte, bis Sareva kurz nach ein Uhr nach Hause kam. »Oh, du bist noch auf? Aber du hast dich ja nicht einmal umgezogen, Liebster!« Sie schritt auf mich zu, denn sie ging nie, meine langbeinige, rothaarige, grünäugige Frau: Sareva schritt. »Hmm«, meinte sie lächelnd, »als ich die Flasche zuletzt gesehen habe, war sie noch ganz voll. Und … oh, Byron! So viele Zigaretten!« Sie meinte natürlich nicht Zigaretten, sie sprach von den zahllosen Stummeln in dem großen Aschenbecher auf dem Couchtisch. »Na, wie war’s beim Hexensabbat?« erkundigte ich mich lächelnd. Ich werde mir mein Leben lang wünschen, ich hätte diese Frage nie gestellt. Ich glaubte es nicht wirklich. Nicht richtig. Man kann manche Dinge halbwegs glauben, man kann Mutmaßungen darüber anstellen und sogar seiner Fantasie freien Lauf lassen. Aber ganz richtig glaubt man eben doch nicht daran. Sareva holte erschrocken tief Luft, und ihre Sommersprossen schienen plötzlich zu leuchten, weil sie leichenblaß geworden war. Und ihre grünen Augen wurden riesig. Wir starrten uns an – ich in meinem bequemen Sessel, den wir gemeinsam gekauft hatten, nachdem ich zum Vizepräsidenten befördert worden war, und sie vor mir stehend, eine schlanke weiße Hand an dem übervollen Aschenbecher. »Woher hast du das gewußt?« fragt der entlarvte Verbrecher, und der clevere Detektiv lächelt schwach und antwortet: »Oh, eigentlich gar nicht, bis du’s mir eben gesagt hast!« Und dann kommt die große Verfolgungsjagd oder die Prügelei. In diesem Augenblick glaubte ich plötzlich alles. Ich wußte, daß meine Sareva eine Hexe war. Sie richtete sich seufzend auf. »Jetzt läßt sich nichts mehr vertuschen, was? Ich habe mich nicht schnell genug von diesem Schock erholt.« »Richtig. Du hast dich nicht schnell genug davon erholt.« »Ja, ich bin eine Hexe.« »Das kann ich nicht glauben.« Ich schüttelte den Kopf, aber wir wußten beide, daß ich in Wirklichkeit anders darüber dachte. Sareva lächelte. »Wie hast du das herausbekommen?« Ich zeigte mit dem Daumen über die Schulter. Sie sah zum Kaminsims hinüber, wo der arme alte Marschak stand, mit einer Nadel im Herzen. Ich beobachtete sie, nicht Marschak. Sie seufzte. Ihre Schultern sanken etwas herab. Sie zeigte weder Schock noch Ärger; sie wirkte nur resigniert, als habe sie eine Niederlage erlitten. Meine Entdeckung bedeutete natürlich eine Art Niederlage für sie. »Wie … wie lange schon, Sareva?« Ich nannte sie kaum jemals Sareva, wie sie mich nur selten Byron nannte. Wir waren bei den Kosenamen geblieben, weil wir uns auch nach drei Ehejahren noch als Liebespaar fühlten. »Mein ganzes Leben lang«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. »Oder beinahe. Praktisch mein Leben lang.« »Dittmar?« »Ja.« »Großer Gott!« Ich hatte gehofft, sie würde nicht ja sagen. Nicht auch Dittmar! Aber ich mußte weiterfragen. »Und Ja, auch Clinton.« Sie hatte sich noch immer nicht umgedreht. »Barmherziger Gott! Dann … dann habe ich also gar nichts selbst erreicht«, sagte mein Ego und bemitleidete sich selbst. »Das und alles andere. Die drei Dittmar-Klienten …« »Dafür habe ich mich zu sehr angestrengt«, antwortete sie leise. »Ich war noch tagelang erschöpft. Aber du warst so aufgeregt, daß du gar nichts davon gemerkt hast. Und ich war so glücklich.« Sie drehte sich nach mir um. »Ich war so glücklich, Liebster! Wenn du Präsident hättest werden wollen …« »Der Firma?« fragte ich und legte den Kopf schief. »Oder der Vereinigten Staaten?« »Was würdest du denn wollen?« erkundigte sie sich eifrig. Ich merkte ihr an, daß sie zu allem bereit war, um mir auch diesen Wunsch zu erfüllen. »Sareva?« Ich sah, wie sie zusammenzuckte, als ich sie nur mit ihrem Vornamen ansprach, anstatt »Liebling« oder »Schatz« oder »Süße« zu sagen. »Ja?« Sie bewegte kaum die Lippen. »Gibt es … gibt es auch eine Byron-Figur?« »Oh, Liebster, nein, nein, nein!« Sie warf sich in meine Arme, und ich drückte sie an mich, hatte Angst vor ihr, liebte sie, fühlte mich von ihr abgestoßen, war wahnsinnig in sie verliebt, haßte sie, weil sie mein Ego gekränkt hatte, und liebte sie wie am Tag zuvor, weil sie Sareva war. Und sie brauchte es nicht einmal zu sagen. Sie hatte alles für mich getan. Aber nicht Dittmar. Dittmar hatte ihr grünes Kleid vollgekotzt. Der Rest war Zufall gewesen. Sie hatte eine Möglichkeit gesehen, meine Karriere zu fördern, während sie sich an einem Mann rächte, der sie durch seine Trunkenheit beleidigt hatte. Sie hatte ihn zerschmettert, ihn zu einem menschlichen Wrack gemacht, ihn in einen Geistesgestörten verwandelt, der ins Bett machte, sich beschmutzte und über unsichtbare Spinnen auf seinem Gesicht klagte. Ja, ich hatte Angst vor ihr. Und ich liebte sie noch immer. Noch immer? Ich liebte sie. Das war mein Zustand. Ich war außerstande, sie nicht zu lieben. »Versprich mir, daß du das nie wieder tust«, murmelte ich Minuten später, als wir uns noch immer aneinanderklammerten. »Laß mich mein Leben selbst gestalten, Sareva.« »Oh, natürlich, Byron, Liebster, wenn du das willst! Was du willst, Liebling!« Dann gingen wir ins Bett. Aber ich hatte Angst vor ihr. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn ich mich übergeben müßte und … Nein, das war bestimmt nicht schlimm genug. Bei mir würde sie hoffentlich nachsichtiger sein. Aber ich mußte immer wieder daran denken. Was wäre, wenn ich sie ärgerte, wenn ich sie wirklich gegen mich aufbrächte? Ich hatte mich nie an der Jagd nach den Sekretärinnen unserer Firma beteiligt und Abstand zu der blonden Kollegin gehalten, die es offenbar auf mich abgesehen hatte, seitdem sie vor einem Jahr zu uns gekommen war. Ich hatte keinen Anlaß zu Seitensprüngen, denn meine Bedürfnisse wurden zu Hause mehr als genug befriedigt. Aber in Zukunft würde ich schon aus Angst nicht mehr wagen, eine andere bewundernd anzusehen. Und dazu kam noch etwas anderes. Ich konnte Sareva nicht einfach fragen, ob irgendein neuer Erfolg oder Triumph mit ihrer Hilfe zustande gekommen war. Vielleicht hatte sie ihr Versprechen gar nicht ernst gemeint. Vielleicht mußte sie mir einfach helfen – oder konnte es nicht ertragen, mich hilflos alleinzulassen. Vielleicht hätte ich jämmerlich Schiffbruch erlitten und die Klienten, meine Position, mein Einkommen und unter Umständen sogar den Job verloren. Das wußte ich nicht sicher, aber ich konnte sie auch nicht danach fragen. Und ich konnte auch nicht mehr stolz nach Hause kommen und meiner Frau erzählen, was ich heute wieder erreicht hatte. Sie liebte mich, aber sie hätte mich nicht mehr quälen können, wenn sie mich gehaßt hätte. Manchmal beneidete ich Dittmar. Aber ich sprach nie von ihm. Ich hatte Angst davor. Ich wollte ihr vorschlagen, ihn sterben zu lassen. Oder ihn umzubringen. Aber ich kam zu keinem Entschluß, wenn ich zu überlegen versuchte, was in solchen Fällen angebracht war. Wann war der Tod dem Leben vorzuziehen? Das Baby kam neun Monate und drei Tage nach dem Abend, an dem ich die Marschak-Figur gefunden hatte, auf die Welt. Es war eine äußerst schwierige Schwangerschaft. Meine Frau, die ich liebte, war stark und tapfer, aber sie litt, und ich wußte, daß sie litt. Der Gynäkologe erklärte uns, bei der Geburt sei unbedingt ein Kaiserschnitt erforderlich, aber Sareva weigerte sich strikt. »Ich kann nicht«, sagte sie, nachdem er mich angerufen und aufgefordert hatte, meine Frau zur Vernunft zu bringen. »Ich kann einfach nicht, Liebling. Ich … ich …« Sie biß sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf, aber ich hatte noch gesehen, daß sie Tränen in den Augen hatte. »Das gehört zu meinem … zu meinem Pakt. Ich kann einfach nicht.« »Deinem Pakt!« Darüber hatten wir nie gesprochen. Wir hatten seit damals möglichst alles ausgespart, was damit zusammenhängen konnte. »Liebling, willst du etwa behaupten … hast du wirklich … Großer Gott, hast du einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen?« Sie warf mir einen traurigen Blick zu, denn sie war stets betrübt, wenn ich in irgendeinem Punkt meine Unwissenheit bewies. »Nein, nein, es gibt keinen Teufel, keine Verkörperung des Bösen wie im persischen Dualismus. Es gibt nur elementare Kräfte, die weder gut noch böse sind. Außer … nun, das hast du ja selbst miterlebt. Es ist so … schwierig, das Gute zu erreichen, ohne dabei das Schlechte in Kauf nehmen zu müssen. Was dem einen Glück bringt, bedeutet für den anderen nur allzu oft … äh … Pech.« Sie hatte diese Männer also nicht ermorden wollen. Sie hatte mir nur helfen wollen. Ich fragte mich, wohin das Gewitter, das an unserem Hochzeitstag gedroht hatte, gezogen sein mochte. Aufs Meer hinaus? Oder hatte es einer Familie einen lange geplanten Ausflug verdorben? War ein Liebespaar davon im Grünen überrascht worden? Sie konnte oder wollte mir ihre Gründe nicht näher erklären, aber sie bestand darauf, der Arzt dürfe keinen Kaiserschnitt vornehmen. Da sie davon überzeugt war, dabei zu sterben, versuchte ich, den Gynäkologen umzustimmen. »Sie ist felsenfest davon überzeugt, an einem Kaiserschnitt sterben zu müssen, Doktor«, erklärte ich ihm. »Und Sie wissen ja selbst, wie gefährlich solche Einbildungen sein können.« »Dann suchen Sie sich am besten einen anderen Arzt«, empfahl er mir barsch. Uns blieb also nichts anderes übrig, als uns nach einem anderen umzusehen. Eines mußte man ihm jedenfalls lassen: Er trat für seine Überzeugung ein. Und daß er kurze Zeit später in einer Abendsprechstunde von einem Rauschgiftsüchtigen überfallen und mit dreizehn Messerstichen ermordet wurde, war bestimmt nur ein Zufall. Etwa eine Woche vor der Geburt sagte Sareva eines Abends etwas völlig Uncharakteristisches. »Liebling? Du erzählst mir gar nichts mehr aus dem Büro. Ich meine … du kommst gar nicht mehr nach Hause und berichtest stolz, was du wieder erreicht hast. Das wäre doch eigentlich normal, nicht wahr?« Ich starrte sie betroffen an. Normal? fragte mein Blick. Wie kann es zwischen uns jemals wieder normale Zustände geben? Sie wußte sofort, was ich meinte. Sie warf sich wie damals in meine Arme, aber sie war jetzt schwerfälliger wegen unseres Kindes, das wirklich ein Kind der Liebe war. »Oh, Liebling, ich hab’s nicht getan! Das kann ich beschwören!« Wahrscheinlich war mein Blick auch diesmal vielsagend genug. Wen konnte sie zum Zeugen ihres Schwurs anrufen? Und was gab mir die Gewißheit, daß sie die Wahrheit sagte? Am nächsten Morgen fragte sie: »Du weißt nicht, ob du mir glauben kannst, nicht wahr? Das ist das ganze Problem, stimmt’s? Ich … ich quäle dich!« Ich wußte keine Antwort. Sie weinte, als ich die Wohnung verließ, um ins Büro zu fahren. Meine Frau, dachte ich und sah mir andere Männer an, denen ich auf der Straße begegnete, überlegte mir, wie sie auf meine Story reagieren würden. Meine Frau ist eine Hexe, wissen Sie, aber sie hat der Hexerei abgeschworen. Sie hat versprochen, nicht mehr zu hexen und mich erfolgreich zu machen. Weil sie mich liebt, wissen Sie, und ich liebe sie auch – wie Browning und Barrett, wie Abelard und Heloise, wie Philemon und Baucis, wie das dümmste Liebespaar in einem rührseligen Liebesroman. Aber sie quält mich. Ich weiß nämlich nicht bestimmt, ob sie wirklich geheilt ist. Sie liebt mich und wünscht mir Erfolg; wie soll ich beurteilen können, welche Kräfte sie besitzt? Wer sagt mir, daß es nicht schon genügt, wenn sie mir Erfolg wünscht? Pah, könnte irgendein Idiot antworten, ich wollte, meine Alte wäre eine Hexe! Ich könnte ein bißchen Unterstützung brauchen, und ich wäre nicht so dämlich wie Sie, Mister! Heutzutage ist jeder auf sich selbst angewiesen, und wer kümmert sich schon darum, wie man’s schafft? »Etwas mußt du mir glauben, selbst wenn du nichts anderes glauben kannst«, hatte sie mir letzte Nacht unter Tränen in den Augen erklärt. »Ich könnte dir nie etwas antun, Liebster. Ich will dich nicht quälen, wie ich es jetzt tue. Aber ich weiß nicht, wie ich’s nicht tun kann! Ich könnte dich nie verletzten. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich …« Und sie mußte in meinen Augen gesehen haben, daß ich mich heimlich vor ihr fürchtete, denn sie sprach nicht weiter, sondern weinte wie nie zuvor. Und ich schwieg hilflos. Wir waren jetzt auf etwas Neues gestoßen. Wir liebten einander, waren außerstande, einander zu verletzen, und quälten einander doch. Ich weiß nicht einmal, wie es mit ihrem Tod war. Vielleicht hätte sie den Kaiserschnitt nicht überlebt, wie sie stets behauptet hatte. Vielleicht wäre sie auch gestorben, wenn sie keine Hexe gewesen wäre. Aber ich hatte einen deutlichen Hinweis bekommen. Als sie in den Kreißsaal gefahren wurde, hatte sie mir noch zugeflüstert: »Ich werde dich nie mehr quälen, Liebling. Ich liebe dich.« Dann wurde sie hineingefahren, und als sie wieder herausgeschoben wurde, war ihr Gesicht zugedeckt. Sie war gestorben, noch bevor das Baby den ersten Atemzug getan hatte. Aber es hatte ihn getan, und ich hatte das Glück, der Vater einer gesunden Tochter zu sein. Sarevas Tod akzeptieren? Unmöglich! Nicht, wenn man sich so geliebt hat. Oder noch liebt. Ich konnte, ich wollte und will ihren Tod nicht akzeptieren. Er ist mir unfaßbar. Ich hätte sie lieber selbst getötet. Im Augenblick nach ihrem Orgasmus, um zu wissen, daß sie ekstatisch glücklich gestorben wäre, und um zu wissen, daß sie tot gewesen wäre. Ich konnte das Baby nicht Sareva nennen. Ich mußte es tun. Ich konnte es nicht. Ich mußte es tun. Ich gab ihr den Namen Sarah Evelyn. Eines Abends, als sie sieben Monate alt war, hatte unsere Mrs. Goodall ihren freien Tag – ich hatte natürlich ein Kindermädchen anstellen müssen –, und ich warf noch einen Blick in Sarah Evelyns Zimmer, bevor ich begann, mich wie gewöhnlich in den Schlaf zu trinken. Sie lag in ihrem Bettchen auf dem Rücken und sah zu dem bunten Mobile mit Walt-Disney-Figuren auf, das sich an der Decke bewegte. Ich wollte schon hinausgehen, als mir etwas einfiel. Irgend etwas stimmte hier nicht. Warum bewegte sich das Mobile? Ich trat näher heran und stellte fest, daß es in Bewegung geraten war, weil eine Spinne ihren Faden an einer der Figuren befestigt hatte und nun am anderen Ende weiterarbeitete. Sie krabbelte und spann, als setze sie das Mobile absichtlich in Bewegung, als gehe es ihr darum, es … mobil zu machen. Ich riß den im Mondschein leuchtenden Faden ab, schlug mit einer zusammengefalteten Zeitung nach der Spinne und erlegte sie beim zweiten Versuch. Bevor ich das Zimmer verließ, warf ich einen Blick in das Kinderbett, aus dem mich grüne Augen unverwandt beobachteten. Ich berührte ihre Pausbacken mit einem Finger. »Schlaf gut, Schatz«, sagte ich. »Daddy läßt nicht zu, daß eine Spinne seinem Baby etwas tut.« Und ich verließ den Raum und dachte dabei an Sarevas letzte Worte, bevor sie in den Kreißsaal gefahren worden war, wo sie versucht hatte – mit Erfolg? –, mich vom Übel zu erlösen. Von meinen Qualen. Ich werde dich nie mehr quälen, Liebling. Ich liebe dich. An diese Worte habe ich vor einigen Minuten wieder gedacht, als die Kleine zum erstenmal gesprochen hat. Ich bedaure jetzt, daß ich sie auf den Namen Sarah Evelyn habe taufen lassen. Ich hätte ihr den Namen Sareva geben sollen und habe sie schon oft versehentlich so genannt. Aber jetzt wünsche ich mir, ich hätte ihr irgendeinen idiotischen Vornamen wie Endora oder Samantha gegeben. Sie ist ein Jahr alt und hat vor wenigen Minuten zum erstenmal gesprochen. Sie hat mich mit ihren grünen Augen unter ihren hellroten Locken angesehen und langsam und deutlich gesagt: »Ich liebe dich nicht.« Ich weiß, was sie mir damit erklärt hat. Ich verstehe es. Und ich muß es akzeptieren, ich muß es ertragen, ohne zu wissen, was die Zukunft bringen wird. Ich darf Sarevas Kind nicht töten – ich darf Sarevas Tod nicht zum zweitenmal verursachen! Die Dämonin von Jack Sharkey Als Bob, von seiner Liebe zu Valerie geblendet, zum Traualtar schritt, gelobte er, eins zu sein mit ihr und sein Leben mit ihr zu teilen. Er braucht lange, um herauszufinden, daß Valerie gar kein Leben hat, sondern nur den Hunger und die Gier nach Leben … Die Ehe ist ein makabres Spiel, ohne Zweifel, aber sie verkehrt sich in schieres Grauen, wenn eine Dämonin das Gelöbnis des Teilens allzu wörtlich nimmt. Jack Sharkeys Story ist ein erschreckender Beweis dafür, wessen man sich alles vorsehen sollte, ehe man sich ewig bindet. Er spürte den Schmerz – einen kurzen, messerscharfen Stich –, als er sich nach dem Zähneputzen den Mund ausspülte. Um seine Ursache herauszufinden, schob er mit den Fingerspitzen die Oberlippe beiseite und sah in den Spiegel. Das rosige Zahnfleisch war gesund, und die Zähne waren weiß und ohne Fehler. Er drückte dagegen – und wieder spürte er den Schmerz. Unangenehm berührt, spülte er den Mund noch einmal aus, trocknete sich die Hände ab und ging ins Schlafzimmer zurück. Seine Frau lag noch im Bett. Ihre zusammengerollte Figur zeichnete sich unter den Decken ab. »Weißt du was?« fragte er nachdenklich. »Ich glaube, ich habe einen losen Zahn.« Die Figur unter der grünen Decke bewegte sich. Valeries Kopf erschien. Sie seufzte müde. Ihre Haare waren hellblond, und für einen Augenblick sah es so aus, als kröche ein hellblonder Schmetterling aus einem grünen Kokon. Sie betrachtete ihren Mann aus schläfrigen, braunen Augen. »Auf was Hartes gebissen?« »Nein – wenigstens kann ich mich nicht erinnern. Und wenn es so wäre, würde ich es bestimmt nicht vergessen haben.« »Laß mich mal sehen«, sagte Valerie und richtete sich auf. Sie schob das Kopfkissen zurück, damit sie sich dagegen lehnen konnte. Mit der freien Hand strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hatte ein hübsches, schmales Gesicht mit einem energischen Kinn. »Hier«, sagte Bob, setzte sich auf die Bettkante und beugte sich zu ihr hinab. Wieder schob er die Oberlippe hoch. Seine Stimme klang leicht verändert. »Der Schneidezahn, glaube ich.« Valerie nahm den bezeichneten Zahn vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und ruckte daran. Bob grunzte und wich zurück. Mit der Zunge befühlte er den schmerzenden Zahn. »Was gesehen?« erkundigte er sich einige Sekunden später. »Eigentlich nicht. Vielleicht liegt es an der Wurzel …« »Sicher ist es die Wurzel«, stimmte er ohne Begeisterung zu. »Ich habe vielleicht doch in etwas Hartes hineingebissen.« »Ich werde den Zahnarzt anrufen«, sagte seine Frau und griff nach dem Telefon neben dem Bett. »Wozu?« Seine Stimme klang scharf und ablehnend. Valerie veränderte ihre Lage nicht und sah ihn nur stumm an, bis er errötete und nickte. »Ja, rufe ihn an. Es wird besser sein.« Während sie die Nummer wählte, erhob er sich und begann sich anzuziehen. Er ignorierte das Gespräch, wenigstens versuchte er es. Als Valerie den Hörer auf die Gabel zurücklegte, setzte er sich erneut auf die Bettkante, um seine Strümpfe anzuziehen. »Heute?« fragte er erschrocken. Seine Frau glitt auf der anderen Seite aus dem Bett. »Das kann kein guter Zahnarzt sein, wenn er gleich Zeit für mich hat.« »Er ist ausgezeichnet.« Valerie ging ins Badezimmer. »Jemand hat abgesagt.« »Es tut schon gar nicht mehr so weh.« Bob fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Vielleicht ist es nur eine Erkältung oder so was.« In der Badezimmertür stand Valerie und unterdrückte ihr Lächeln. Sie sah ihn nur schweigend an, bis er verzweifelt nickte. »Schon gut«, murmelte er, »schon gut, ich werde gehen. Wann?« »Zwei Uhr. Ich werde dir um halb zwei Bescheid sagen.« »Ich vergesse es schon nicht«, sagte er und starrte auf die geschlossene Tür. »Ich glaube kaum, daß ich heute an etwas anderes denken kann.« Dr. Haufen stand lange Zeit am Fenster und betrachtete das noch feuchte Negativ der Röntgenaufnahme. Bob saß zurückgelehnt in dem Stuhl. Sein Kopf lag auf dem Polster der Stütze. Mit seinen Händen umklammerte er die Lehnen des Stuhles. Vergeblich versuchte er, die blitzenden Instrumente nicht zu sehen, die hinter den Glasscheiben standen. Dicht vor ihm hing der Bohrer. Fast vor seiner Nase. Der Arzt drehte sich langsam zu ihm um. »Wie alt, Mr. Terrill, sagten Sie, daß Sie sind?« Die Frage kam unerwartet. Bob setzte sich aufrecht und nahm den Kopf von der Stütze. »Sechsunddreißig.« Der Zahnarzt nickte langsam und hing das Negativ, das von einer Klammer gehalten wurde, an einen Nagel. Dann begann er in einigen Kästen zu stöbern. »Ist mit dem Zahn was nicht in Ordnung?« fragte Bob. »Ist er gebrochen? Eine Entzündung?« Dr. Haufen wandte sich ihm zu. Er sagte: »Ihr Zahn stirbt ab. Der Nerv ist erledigt und die Knochenhaut geschwächt. Er muß heraus, ganz klar.« »Raus?« Bob starrte ihn an. »Ein Schneidezahn? Ausgerechnet vorn?« Er überdachte die Möglichkeiten. »Ich werde aber doch keine Lücke haben? Sicher können Sie mir einen falschen Zahn einsetzen, Herr Doktor? Wie soll ich sonst meinen Beruf ausüben, mit einer Lücke im Gebiß? Ich komme mit vielen Leuten zusammen, muß viel lächeln und …« »Natürlich kann ich Ihnen künstliche Zähne einsetzen«, nickte der Arzt. »Aber auf lange Sicht gesehen wird es einfacher und billiger sein, wenn wir damit warten, bis auch die anderen Zähne gezogen sind.« Bob hatte das Gefühl, in seinem Magen sei nicht alles in Ordnung. »Die anderen?« stammelte er. »Wollen Sie damit sagen, daß noch andere Zähne gezogen werden müssen?« Dr. Haufen schien einen Entschluß gefaßt zu haben. Er kam etwas näher und blinzelte vertraulich. »Mr. Terrill«, sagte er sanft, »Sie haben eine noch sehr junge Frau, kaum dreißig Jahre alt. Ich habe größtes Verständnis dafür, daß Sie daher Ihre äußere Erscheinung ein wenig – hm, sagen wir angepaßt haben. Ein Mann ist so jung, wie er sich fühlt, das ist völlig richtig. Aber eine mathematisch festgelegte Tatsache läßt sich nicht umstoßen. Die Jahre allein zählen, nicht nur das Aussehen …« »Einen Augenblick, Doktor!« Bob unterbrach den Arzt und setzte sich nun ganz aufrecht. »Was wollen Sie eigentlich? Können Sie nicht deutlicher werden?« Auf dem Gesicht des Zahnarztes spielte ein nachsichtiges Lächeln, als er das Negativ an der Klammer vom Nagel nahm und demonstrativ in die Luft hielt. »Aus verständlichen Gründen versucht man oft, andere Menschen zu täuschen, aber Röntgenstrahlen lassen sich nicht betrügen, und Röntgenbilder lügen auch nicht.« »Ich verstehe kein Wort«, sagte Bob und fühlte sich ganz elend. »Was wollen Sie eigentlich von mir?« »Ich versuche Ihnen nur zu erklären, daß Ihre Behauptung, erst sechsunddreißig Jahre alt zu sein, angesichts dieser entwickelten Röntgenaufnahme geradezu lächerlich ist.« »Aber Doktor – ich bin sechsunddreißig!« »Nicht, wenn es hiernach geht.« Dr. Haufen hielt ihm das Negativ dicht vor die Augen. Bob starrte auf die grauweißen Konturen, die sich kaum gegen den schwarzen Hintergrund abhoben, dann schüttelte er den Kopf. »Davon verstehe ich nichts. Ich begreife überhaupt nicht, worauf Sie hinauswollen.« »Also gut«, sagte Haufen, »dann will ich es Ihnen erklären. Sie behaupten, sechsunddreißig Jahre alt zu sein, aber Sie haben die Zähne eines Mannes, der gut und gern doppelt so alt sein muß.« Bob ließ die Armlehnen los und sank zurück, bis sein Kopf auf der Stütze Halt fand. Er starrte Haufen an. »Ich bin sechsunddreißig …« Der Arzt lächelte nachsichtig und drehte sich um. Sorgfältig wählte er seine Instrumente aus. Als er wieder sprach, schien sein Interesse für das wirkliche Alter seines Patienten erloschen zu sein. »Wie Sie wollen, Mr. Terrill. Die Hauptsache ist, wir ziehen den Zahn. Später allerdings wäre ich Ihnen schon dankbar, wenn Sie mich darüber aufklären, wie Sie es schaffen, so jung auszusehen. Auch Ihre Stimme ist …« Er hatte sich inzwischen wieder umgedreht und verstummte. Der Stuhl, in dem Mr. Terrill gesessen hatte, war leer. Der Patient hatte unbemerkt das Weite gesucht. Dr. Haufen ließ den Wattebausch in den Abfalleimer fallen und zuckte die Achseln. Diesem Terrill würde er schon eine gepfefferte Rechnung schicken, auch ohne gezogenen Zahn. Schon von der Terrasse aus konnte er das flackernde Kerzenlicht bemerken. Er steckte den Hausschlüssel in die Hosentasche zurück, durchquerte das Wohnzimmer und ging aufs Schlafzimmer zu. Die Kerzen auf dem Tisch waren halb niedergebrannt. Das Silberbesteck reflektierte das Licht. Er sah auf die Uhr und stellte fest, daß es bereits halb acht war. Von der Küche her kam der Geruch kaltgewordenen Essens. Er hatte kein reines Gewissen, als er die Tür zum Schlafzimmer öffnete. Valerie saß aufrecht im Bett, bleich und abgehärmt. Die rechte Hand lag in der Nähe des Telefons. Als sie ihn sah, sprang sie auf, und die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. »Vom Büro aus haben sie angerufen.« Ihre sonst so ausgewogene Stimme klang schrill und nervös. »Sie fragten, ob dir was passiert sei.« Sie drängte sich an ihn. »Ich wollte gerade die Polizei anrufen.« »Es tut mir leid«, sagte er ernst. »War es schlimm?« Valerie lehnte sich zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Beim Zahnarzt, meine ich.« Bob legte den Arm um sie, damit sie sich nicht noch weiter zurücklehnen konnte. »Ziemlich schlimm«, betonte er, ohne lügen zu müssen. »Es war so ziemlich das Schlimmste, was ich bisher überhaupt erlebt habe.« »Laß mich den Zahn mal sehen«, bat sie und sah auf seinen Mund. »Tut er sehr weh? Hat der Arzt eine Füllung gemacht?« »Nicht direkt«, murmelte Bob. Sanft drückte er ihren Kopf gegen seine Brust, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte. »Er hat gesagt, der Zahn müsse gezogen werden.« »Oh Bob!« Das warme Mitgefühl in ihrer Stimme berührte ihn, gab ihm Vertrauen in ihre Liebe. Zögernd zuerst, dann fast hastig, berichtete er von dem, was er beim Zahnarzt erlebt hatte. Er schloß: »Erhat sich geirrt! Er muß sich einfach geirrt haben!« »Aber natürlich hat er sich geirrt«, sagte Valerie. »Du großer Dummkopf, warum bist du nicht sofort nach Hause gekommen, statt den ganzen Nachmittag ziellos in der Stadt herumzulaufen?« »Ich hatte Angst, es dir zu sagen.« »Angst? Vor mir?« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Warum solltest du Angst haben, es mir zu erzählen?« Er zuckte die Schultern und fühlte sich in die Enge getrieben. Wie dumm hatte er sich angestellt! Schließlich murmelte er: »Ich weiß es nicht. Ich wußte auch nicht, wie du es aufnehmen würdest. Sicher, du hättest mir den Kopf schon nicht abgebissen – ich weiß eben nicht, warum ich nicht gleich hierhergekommen bin.« Valerie nahm seinen Arm. Sie schien die verrückte Geschichte schon wieder vergessen zu haben. »Komm in die Küche, da habe ich noch was zum Essen für dich.« Er folgte ihr durch das Wohnzimmer in die Küche. Erneut überkam ihn das Schuldgefühl, als er den verwelkten Salat und den verbrutzelten Braten sah. Alles war für sechs Uhr vorbereitet gewesen, und er war nicht gekommen. »Tut mir leid, Kleines. Du hast es so gut gemeint, und ich …« »Ach, Unsinn«, sagte sie lachend. »Ich mache schnell ein paar Frikadellen. Öffne du inzwischen eine Dose Bier, und du sollst sehen, wie gut es dann schmeckt.« Ihre Hand lag schon auf dem Griff zum Eisschrank, als sie sich noch einmal umdrehte und hinzufügte: »Und das nächstemal, wenn dir die Welt über dem Kopf zusammenfällt, dann komm nach Hause, oder ruf mich an, oder schick mir ein Telegramm, ja?« »Ach, Liebes«, seufzte er, zog sie an sich und bedeckte ihr blondes Haar mit zärtlichen Küssen. »Nie wieder werde ich dich warten lassen. Immer werde ich sofort zu dir kommen und dir alles erzählen.« »Ja, tu das. Dafür sind wir Frauen nämlich da.« Sie stieß ihn von sich und machte ein ernstes Gesicht. »Keinen Unsinn jetzt! Erst wird gegessen, später kannst du dich dann an meiner Brust ausweinen.« Bob lachte und begann nach dem Büchsenöffner zu suchen. Am nächsten Morgen schmerzte der Zahn wie nie zuvor, und auch in der nächsten Nachbarschaft schien nicht alles in bester Ordnung zu sein. Valerie war ebenfalls wach geworden, und sie fragte gleich, wie es seinem Zahn ging. Tapfer belog er sie und ignorierte die fürchterlichen Schmerzen, als er den eisgekühlten Fruchtsaft zum Frühstück trank. Als er sich verabschiedete und sich auf den Weg ins Büro machte, sah er noch lange ihr liebes Lächeln vor sich, mit dem sie Abschied von ihm genommen hatte. Es tröstete ihn über den Schmerz hinweg. Im Büro nahm er sich als erstes das Branchenverzeichnis vor und sah nach, welche Zahnärzte in der Umgebung ihren Beruf ausübten. Er schrieb sich einige in sein Notizbuch und überlegte, daß es wohl recht dumm aussähe, heute wieder Urlaub zu nehmen. Er beschloß, seine Mittagsstunde zu opfern. Im übrigen war er um die Hüfte herum dick genug, sich einen Hungertag leisten zu können. Als er später dann kurz nach ein Uhr in sein Büro zurückkehrte, war sein Gesicht grauer als je zuvor. Zum Glück fiel das niemand auf. Zwei Dentisten hatte er aufsuchen können, und alle beide hatten genau das zu ihm gesagt, was auch Dr. Haufen gesagt hatte. Seine Zähne waren altersschwach und erledigt. Es waren die Zähne eines alten Mannes, obwohl er gerade erst sechsunddreißig war. Das ist ja völliger Blödsinn, dachte er verzweifelt und wütend. Es ist verrückt, und ich kann Valerie das auf keinen Fall sagen. Kein Mann kann seiner jungen Frau sagen, daß er plötzlich senil und krank wird. Vergeblich suchte er in seinen Taschen nach Zigaretten, dann stand er auf und ging durchs Hauptbüro, mitten durch die langen Tischreihen mit eifrig arbeitenden Angestellten, bis er die Vorhalle erreichte, wo ein Automat hing. Die notwendige Münze hatte er bereits gefunden und schob sie in den Schlitz. Er zog seine Lieblingsmarke, aber erst als er das Päckchen geöffnet und die erste Zigarette entzündet hatte, sah er rein zufällig in den Spiegel, der einen Teil der Frontverkleidung des Automaten ausmachte. Die Zigarette entglitt seinen Fingern und fiel auf den Boden. Es dauerte fast eine volle Minute, bis er es bemerkte und sie mit den Fußspitzen austrat. Ungläubig lehnte er sich dann weiter vor und starrte auf sein Spiegelbild. An der Beleuchtung lag es nicht, denn es war so hell in dem Vorraum, daß für Schatten kein Platz war. Das Licht der Neonröhren war kalt und grell. Was Bob sah, war die Wirklichkeit und keine Täuschung. Heute früh noch war sein Haar über der Stirn und an den Schläfen dicht und braun gewesen, jetzt war es mit silbernen Fäden durchzogen. Winzige Fältchen unter seinen Augen gaben seiner Haut das Aussehen rosafarbenen Kreppapiers. Er konnte nicht zu seinem Arbeitsplatz zurück jetzt. Er hätte durch das Hauptbüro gehen müssen, und diesmal wäre sicherlich jedem die Veränderung aufgefallen, die mit ihm geschehen war. Bob drehte sich um und verließ die Vorhalle durch die andere Tür. Ohne weiter zu überlegen, stieg er in den Lift und ließ sich nach unten bringen. Draußen auf der Straße fror er plötzlich. Zu dumm, daß er seinen Mantel im Büro zurückgelassen hatte. Er unterdrückte das Verlangen, laut zu schreien. Lange hielt er das nicht mehr aus. Er dachte an den Weg bis zur U-Bahn, an das Warten auf dem Bahnhof, an die lange Fahrt. Ein freies Taxi machte die Entscheidung leichter. Er winkte es heran und gab dem Fahrer seine Adresse. Als Valerie ihn rufen hörte, kam sie von der Terrasse. Ein blauer Bademantel hüllte ihre kleine und schlanke Gestalt ein. In der Hand trug sie noch ihre Tasse mit dem Frühstückskaffee. Bob brachte kein Wort hervor. Er sah sie nur an, während seine Hände lose herabhingen. »Wieder der Zahn?« fragte sie schließlich. Ein fremder Tonfall in ihrer Stimme ließ Bob ahnen, daß sie etwas anderes vermutete. »Ich wollte, es wäre nur der Zahn.« Er ging auf sie zu. Jetzt erst wurde er vom Sonnenlicht voll angestrahlt, das von der Glastür der Veranda her ins Zimmer fiel. Er sah, wie Valeries Augen sich entsetzt weiteten. Die Tasse glitt ihr aus der Hand und zerbrach am Boden. »Bob – deine Haare! Dein Gesicht …!« »Irgend etwas geschieht mit mir.« Seine Stimme verriet die ganze Angst vor dem Unbegreiflichen. »Ich war noch bei zwei Zahnärzten; sie bestätigten, was schon Dr. Haufen sagte. Und nun das noch!« Er sank in den nächsten Sessel. Auf dem Teppich breitete sich die Kaffeelache aus. »Sechsunddreißig Jahre alt bin ich, aber ich habe die Zähne eines Greises und das Aussehen eines Mannes über sechzig.« Valerie setzte sich in den anderen Sessel und nahm seine Hände zwischen die ihren. »Lege dich jetzt ins Bett, Bob. Ich werde den Arzt holen.« »Wozu?« Bobs Stimme war kalt und spöttisch. »Damit er mich angrinst und mich fragt, wie alt ich wirklich sei?« »Auf jeden Fall fehlt dir was, Bob. Vielleicht Vitaminmangel, oder du hast dich überarbeitet. Ein Virus …« »Virus!« stieß er zornig hervor. »Was ist das für ein Virus, das einen Menschen in wenigen Tagen um Jahrzehnte altern läßt?« »Ich weiß es nicht«, gab Valerie zu. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen. »Einfach hier sitzen hilft uns auch nicht weiter. Ich muß etwas für dich tun …« »Also gut.« Bobs Stimme klang zerknirscht. »Du hast recht, Kleines. Ruf den Arzt an, dann werden wir ja sehen, was er sagt.« Es war viele Stunden später. Bob lag in seinem Bett. Oben an der Decke glühten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Er rauchte lustlos, sprach nichts, dachte nur nach und wunderte sich. Vor einigen Stunden war der Arzt gekommen und hatte ihn untersucht. Er hatte nichts gefunden und betont, für sein Alter sei Bob kerngesund und in bester Verfassung. »Welches Alter?« hatte Valerie lauernd gefragt. Der Arzt, der Vertreter ihres Hausarztes, der in Urlaub gegangen war, sah sie neugierig und erstaunt an. »Ende der Sechzig, würde ich meinen.« Seine Stimme verriet Befremden über ihre ungewöhnliche Frage, aber als sie nicht reagierte, schloß er seine Tasche, schrieb ein Rezept aus und verabschiedete sich mit den schrecklichen Worten: »Ihr Vater sollte sich ein wenig ausruhen, Miss Terrill, dann wird er sich wieder besser fühlen.« Keiner war auf den Gedanken gekommen, ihn über seinen Irrtum aufzuklären und ihm die Wahrheit zu sagen. Der Arzt war gegangen. Bob konnte Valeries Blicke nicht mehr ertragen. Er hatte darauf bestanden, daß sie zur Apotheke ging und die Medizin holte. Um noch länger allein sein zu können, gab er später vor, ein unwiderstehliches Verlangen nach Pfefferminzschnaps zu verspüren. Er wußte, daß man diesen Schnaps nur im deutschen Viertel am anderen Ende der Stadt erhalten konnte. Sie half ihm ins Bett, küßte ihn und ging. Endlich war er allein. Er hoffte, sie würde lange ausbleiben, aber schon bald begann er sie zu vermissen. Doch lieber sehnte er sich nach ihr, als daß er ihre forschenden Blicke sah. Es wurde allmählich dunkel, und als es völlig finster geworden war, hörte er die Haustür gehen. Valerie kam zurück. Er verspürte keine Lust, den Pfefferminzschnaps zu trinken; er hatte ihn nie gemocht. Also schloß er die Augen und stellte sich schlafend. Er hörte, wie Valerie die Schlafzimmertür öffnete und auf seine regelmäßigen Atemzüge lauschte. Leise schloß sie die Tür wieder. Er verfolgte ihre Schritte bis zur Küche, wo sie die Flasche mit dem Schnaps in den Kühlschrank stellte. Die Geräusche verrieten ihm, was sie dann tat. Schranktüren wurden geöffnet und wieder geschlossen, Wasser rann, und dann wurde ein Topf auf den Herd gestellt. Aha, sie machte Kaffee. Vielleicht auch ein belegtes Brot dazu. Sicher hatte sie Hunger nach dem langen Weg. Bob richtete sich auf. Es war nur zu natürlich, daß Valerie jetzt Hunger hatte, aber irgendwie paßte es ihm nicht, daß sie aß, während er sich in ein … ja, in was verwandelte er sich eigentlich? Was war das für eine Metamorphose, die er durchmachte? Die alte Geschichte von Methusalem fiel ihm ein, und es lief ihm kalt über den Rücken. Valerie ging nebenan ins Wohnzimmer. Er legte sich ins Bett zurück und war bereit, den Schlafenden zu spielen, wenn sie hereinkam. Aber sie kam nicht, sondern ging nach einer kurzen Weile hinaus auf die Terrasse. Inzwischen war der Mond aufgegangen. Sein bläulicher Schein lag auf den Dächern der Nachbarhäuser und verwandelte sie in glitzernde Diamantenfelder. Vorsichtig stand Bob auf und ging zum Fenster. Wenn er sich ganz nach rechts lehnte, konnte er den Rand der Terrasse sehen. Dort stand Valerie, in der einen Hand die Untertasse, in der anderen die Tasse mit dem dampfenden Kaffee. Sie blickte zu den Häusern hinüber und drehte ihm den Rücken zu. Auf der niedrigen Steinmauer stand ein flacher Teller mit dem angebissenen Brot. Ihr lang herabfallendes, blondes Haar schimmerte wie Gold im Mondlicht. Sie bewegte sich nicht. Sie hätte eine Marmorstatue sein können. Noch nie zuvor war sie Bob so schön erschienen wie in diesem Augenblick. Er spürte ein plötzliches Verlangen danach, sie jetzt in seine Arme zu schließen. Abrupt drehte er sich jedoch um und ging zur Tür. Das sanfte Mondlicht würde gnädig sein, es würde seine grauen Haare und seine faltige Haut vor ihren Augen verbergen. Vielleicht war das jetzt die letzte Möglichkeit für ihn, noch einmal so wie früher mit ihr zusammenzusein. Sein plötzliches Altern konnte vom Mondlicht verschleiert werden. Vielleicht würde sein Haar nur durch seinen Schein versilbert; die Falten würden vage Schatten werden und seine gebeugte Gestalt eine Täuschung. Die Hand noch auf dem Türgriff, zögerte er plötzlich. Die Tür war halbgeöffnet, und er konnte das Wohnzimmer übersehen. Irgendwie fiel ihm auf, daß etwas fehlte. Der Raum schien leerer als sonst zu sein. Das Telefon! Es war nicht mehr an seinem gewohnten Platz. Die Schnur führte zur Terrasse. Valerie hatte das Telefon mit nach draußen genommen, um anzurufen. Wen anzurufen? Leise schloß Bob die Tür wieder und kehrte ins Bett zurück. Bis zum Kinn zog er die Decken hoch. Auf dem Nachtschränkchen stand das Anschlußtelefon. Er nahm den Hörer vorsichtig ab und lauschte. Das Freizeichen ertönte. Behutsam legte er den Hörer zurück. Er wartete. Als er das leise Klicken im Innern des Apparates hörte, wußte er, daß Valerie draußen auf der Veranda den Hörer abgenommen hatte. Schon wollte er nach seinem Hörer greifen, da fiel ihm ein, daß er das jetzt noch nicht tun durfte. Erst mußte die Verbindung hergestellt sein. Er zählte langsam bis zehn, hielt die Gabel mit einem Finger fest und nahm den Hörer ab. Dann erst ließ er die Gabel Millimeter für Millimeter los. Es summte entfernt. Dann ein Knacken und die Stimme eines Mannes: »Hallo.« »Marty«, sagte die ruhige Stimme seiner Frau. »Hier ist Val.« »Val?« erwiderte der Mann. »Val Morrison?« Bob fühlte einen Stich in der Herzgegend. Morrison war Valeries beinahe vergessener Mädchenname. Plötzlich stand Schweiß auf seiner Stirn, und er bedeckte das Mundstück des Hörers mit der Hand. Atemlos lauschte er. »Du hast mich doch wohl nicht für tot gehalten?« lachte Valerie. »Du warst so schnell von der Party verschwunden damals …« Party? Damals? Bob dachte nach, und ihm fiel ein, daß er in der vergangenen Woche geschäftlich unterwegs gewesen war. Er hatte auswärts geschlafen und spät am Abend Val angerufen. Niemand hatte sich gemeldet. Am anderen Tag hatte sie ihm erklärt, sie hätte eine Schlaftablette genommen und das Telefon nicht gehört. Es war die einzige Nacht, in der sie nicht zu Hause gewesen sein konnte. Wenigstens nahm er das an. Er lauschte weiter auf die Stimmen. Die Worte kamen ihm vertraut vor. So etwa hatte er mit Val gesprochen, bevor sie verheiratet waren. Aus seinem Unterbewußtsein stiegen Erinnerungen hoch, die plötzlich einen Sinn bekamen. Wie oft hatte sie Verabredungen nicht eingehalten oder war einfach davongelaufen? Nie hatte er etwas über ihre Vergangenheit erfahren, sie war allen solchen Fragen ausgewichen oder hatte geschwiegen. Auch dieser Marty wußte nichts von ihr, kannte ihre Adresse nicht und hatte keine Ahnung davon, daß sie verheiratet war. Hatten diese Sinnlosigkeiten doch einen Sinn? Bob runzelte die Stirn. Welchen Sinn wohl? Was steckte dahinter? Was sollte das alles bedeuten? Es fiel Bob schwer, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er hatte plötzlich Angst, ganz schreckliche Angst. Am liebsten wäre er einfach davongelaufen, weg von Valerie, die ihm unheimlich geworden war, ohne daß er hätte sagen können, warum. Sie war jung und schön und lebensfroh. Und er mußte weg von ihr, solange er noch denken konnte. Seine Hand zitterte, als er den Hörer vom Ohr wegnahm, aber er wagte es nicht, ihn auf die Gabel zu legen. Das Geräusch konnte ihn verraten. Er legte ihn unter das Kopfkissen und glitt vorsichtig aus dem Bett. Seine Beine schmerzten, und er humpelte bis zum Stuhl, auf dem seine Kleider lagen. Er mußte den Gürtel enger schnallen, und der Kragen war viel zu weit geworden. Erzog den Knoten des Binders so fest an, bis das Hemd saß. Das Haar fiel ihm in die Stirn, und im Mondlicht konnte Bob erkennen, daß es schneeweiß geworden war. Die Hand, mit der er es zurückstrich, war alt und nervig; blaue Adern durchzogen ihren Rücken. Er konnte sich nicht mehr bücken, um die Schnürriemen der Schuhe zu richten. Ihm war plötzlich übel. Er atmete schwer, und plötzlich fiel ihm auf, daß seine Sicht sich trübte. Das Augenlicht ließ rapide nach. Nur mit Mühe fand er die Tür und hielt sich am Griff fest, bis der Schwindelanfall vorüber war. Vorsichtig öffnete er dann die Tür und stolperte ins Wohnzimmer. Sein erster Blick galt der Veranda. Wie gebannt blieb er stehen. Die Furcht sprang ihn an wie ein wildes Tier. Gegen das Mondlicht zeichnete sich die Silhouette Valeries deutlich ab. Sie stand in der geöffneten Tür, das Gesicht dunkel und nicht zu erkennen; um ihren Kopf erstrahlte die goldene Aureole des Haares. Sie sah aus wie eine antike Rachegöttin. »Nanu, Bob«, sagte sie und kam langsam auf ihn zu. »Fühlst du dich wieder besser?« »Ja – das heißt nein, mir ist schwindelig.« Panik ergriff ihn. »Ich wollte nur frische Luft schöpfen, vielleicht ein Spaziergang.« Seine Stimme klang brüchig. Es war nicht mehr die Stimme, mit der Bob gestern noch gesprochen hatte. »Ja, ein kleiner Spaziergang würde mir vielleicht ausgesprochen guttun.« »Ich bringe dich auf die Terrasse. Es ist eine wunderbare Nacht heute.« Sie trat zu ihm und nahm seinen Arm. Er sah, wie sie lächelte – und auf ihn herab blickte. Er hätte nie geglaubt, daß Knochen so schnell austrocknen können. Er war kleiner geworden. Sein Anzug schlotterte am Körper. Er spürte Valerie, und wo ihr Fleisch das seine berührte, brannte es wie Feuer. Ihr Parfüm roch stark und betäubend. Er versuchte, sich zu wehren, aber er hatte keine Kraft mehr. Willenlos ließ er sich auf die Veranda führen. Er stammelte ein paar unartikulierte Laute, und der Speichel tropfte aus seinem Mund, fiel auf den Rockaufschlag und zu Boden. Er konnte kaum noch sehen. Valerie brachte ihn zu einem Stuhl und wartete, bis er sich gesetzt hatte. Jetzt konnte er sie wieder sehen, denn das Mondlicht war hell und unbarmherzig. »Du bist nur müde«, sagte sie. »Ruhe dich aus.« Die Mattigkeit überflutete ihn wie eine Woge. Sie spülte über ihn hinweg und drang bis in das Mark seiner Knochen. Ihm war übel, und er fühlte sich alt und verbraucht. Das Mondlicht schmerzte in den Augen. Das Leben erschien ihm sinnlos und wie eine Last. Mit letzter Kraft raffte er sich auf und sah in das Gesicht seiner Frau. Es war das Gesicht eines anmutigen, hübschen Mädchens von kaum zehn Jahren. Ein letzter Funke Lebenswille flackerte in ihm auf. Er bewegte seine spröden Lippen und krächzte mühsam: »Wer bist du? Was bist du …?« Sie stand da, eingehüllt vom Silber des Mondlichts, die Arme auf der Brust verschränkt, und sah ihn an. Kalt und erbarmungslos lag ihr Blick auf ihm. Dann sagte sie: »Hunger und Gier nach Leben erfüllen mich, aber ich habe kein eigenes Leben – ich kann es nur anderen wegnehmen. Ich und andere, die wie ich sind. Wir besitzen das geheime Buch des Lebens, in dem die Schicksale aller Menschen aufgezeichnet sind.« Ihre Stimme klang geisterhaft. Sie klang aber auch erschöpft und müde. »Um so etwas wie leben zu können, müssen wir anderen Menschen die Zukunft rauben, ihnen die Jahre stehlen. Du wärest achtzig Jahre alt geworden, Bob.« Sie setzte sich auf die Steinmauer der Terrasse und ließ ihn nicht aus den Augen. Bob verhielt sich ganz ruhig und beobachtete sie. Leise fragte er: »Wie macht ihr es?« Valerie lächelte. »Als du mich zur Frau nahmst, gelobtest du, eins mit mir zu sein und dein Leben mit mir zu teilen. Zu teilen, Bob. Aber ich habe kein eigenes Leben, nur den Hunger und die Gier danach. Jedesmal bei einer Berührung, bei einem Kuß, bei einer Umarmung, überhaupt immer, wenn wir uns nahe waren, saugte ich dich aus, nahm dir ein Stück deiner Zukunft. Aber was sind fünfzig oder sechzig Jahre gegen vollkommene Leere? Wir konnten nicht teilen, ich wollte alles. Deine Jahre gehören nun mir; ich werde sie leben.« Ihm wurde schwarz vor den Augen. Aber sein Wille war stärker als die Furcht. Schmerz raste durch seinen Körper, als er auf die Füße sprang. Seine Hände umklammerten die Stuhllehnen und gaben ihm Halt. »Nein, du kannst mir nicht mein Leben stehlen!« Jetzt konnte er Valerie wieder sehen. Sie starrte ihn an und schüttelte den Kopf. »Du kannst es nicht ändern, Bob. Schone dich jetzt, denn die Anstrengung tut dir nicht gut. Ob du an Altersschwäche oder durch einen Unfall stirbst, spielt keine Rolle mehr. Deine Jahre gehören mir.« Es waren tausend verschiedene Gedanken, die in diesem Augenblick von ihm Besitz ergriffen. Er dachte an die vielen kränkelnden Männer, deren Frauen jung und gesund blieben, an die Tatsache, daß die Lebenserwartung der Männer kürzer als die der Frauen war, und er entsann sich der Angewohnheit der Frauen, stets ein Geheimnis um ihr wahres Alter zu machen. »Dämonen!« stieß er mit zitternden Lippen hervor. »Ihr seid alle Dämonen!« Er begann zu schreien und sank in die Knie. Der Schmerz zuckte durch seine Beine, als sie einknickten und er lang am Boden lag, genau vor Valeries Füßen. Sie saß immer noch auf der niedrigen Steinmauer und sah auf ihn herab. »Gnade!« wisperte er mit versagender Stimme. »Val … bitte …« Sie lachte spöttisch. Es war dieses Lachen, das den Rest seiner Lebensglut neu anfachte und ihm die Kraft gab, sich noch einmal aufzurichten. Mit beiden Händen griff er nach ihren Füßen und hob sie an. Er ignorierte die furchtbaren Schmerzen im Rücken und richtete sich auf, ohne Valeries Füße loszulassen. Er hörte, wie sie entsetzt aufschrie, und dann wurden ihm ihre Füße von einem heftigen Ruck aus den Händen gerissen. Valeries Schrei kam plötzlich aus weiter Ferne und riß jäh ab. Bob fiel kraftlos auf den Rücken. Er sah, daß der Platz, wo Valerie gesessen hatte, leer war. In dem Augenblick, in dem sie unten auf der Straße aufschlug, fühlte er ihren Schmerz. Irgend etwas in ihm zerriß wie ein überspannter Bogen, dann verlor er das Bewußtsein. Als er eine halbe Stunde später erwachte, war er kräftig genug, um aufzustehen. Sein Anzug paßte ihm wieder. Im Spiegel der Garderobe sah er, daß seine Haare nicht mehr weiß waren, und auch die Zahnschmerzen waren verschwunden. Noch nie hatte er sich so wohl gefühlt. Schnell glitt der Lift nach unten. Draußen auf der Straße flutete der Nachtverkehr. Hier unten war es heller als oben unter dem Dach des Hochhauses. Die Leuchtreklamen verdrängten den Mond und tauchten Straße und Bürgersteig in eine grelle Lichtflut. Bob suchte den zerschmetterten Körper Valeries, aber er fand ihn nicht. Er fand auch keine Blutspuren, sondern nur ein Bündel verschmutzter Kleider. Es lag direkt in der Gosse neben einem Gulli. Er bückte sich. Es waren die Sachen, die Valerie eben noch angehabt hatte. Als er sich wieder erhob, streiften seine Füße den grauen Staub der Gosse. Er wirbelte auf und drang in seine Nase. Er roch modrig und alt. Sehr alt. Die Witwe vom Belgrave Square von Lewis Hammond Lewis Hammond (1861-1940) war ein englischer Arzt und Versicherungsmathematiker, der sich in jungen Jahren gelegentlich als Erzähler versuchte und hin und wieder bei Zeitschriften mitarbeitete. Eine Sammlung seiner Kurzgeschichten liegt nicht vor. 1940 kam Hammond in London bei einem Luftangriff ums Leben. Sir Neville Hulme, langjähriger Direktor der Sternwarte von Greenwich, war zweifellos einer unserer bedeutendsten Astronomen, und seine Forschungen auf dem Gebiet der novae fanden ja auch internationale Anerkennung. Aber was immer die Sterne ihm auch verraten haben mochten – über seine eigene Zukunft hatten sie ihm nichts erzählt, sonst hätte er es wohl nicht gewagt, noch im Alter von achtundfünfzig Jahren einen neuen Hausstand zu begründen, und zwar mit der beinahe vierzig Jahre jüngeren Jane Burleigh aus der wallisischen Linie der bekannten Familie. Die Hochzeit des berühmten Gelehrten, der eine große, schlanke und eindrucksvolle Erscheinung war, mit der auffallend schönen Jane, einem Mädchen keltischen Typs mit roten Haaren, grünen Augen und jener sinnlichen Fülle, wie sie nur noch westlich des Severn vorkommt, verdrängte für einen Tag sogar die Nachrichten von der Weltausstellung in Chicago vom gewohnten Platz, und ganz London beneidete Sir Neville um dieses prachtvolle Geschöpf. Aber dieses Glück währte eben nicht lange. War es die Notwendigkeit, seine Nächte zwischen den novae und Lady Jane zu teilen, oder war es ganz einfach die natürliche Erschöpfung des Leibes nach einem tätigen Leben: Sir Neville Hulme starb, noch ehe er die zweite Wiederkehr seines Hochzeitstages feiern konnte, im Mai 1895, wie man sich erinnern wird, und kein Geringerer als der Prinz of Wales selbst, der ein vielgerühmtes Kennerauge für weibliche Schönheit sein eigen nennt, stattete Lady Jane Hulme einen Kondolenzbesuch ab. Als seine königliche Hoheit weltmännisch Abschied genommen und seine sympathische Leibesfülle wieder in die wappengeschmückte Kutsche verfrachtet hatte, klingelte es abermals an der Tür des Trauerhauses am Belgrave Square, und Pamela, das dunkelhäutige Dienstmädchen, meldete Dr. Bruce Atkinson. Lady Jane hatte den Namen bereits gelesen, wenn ihr auch nicht sogleich einfiel, wo. Es war ein Dokument, ein amtliches Dokument, das sie eben erst unter den Augen gehabt hatte, und so ließ sie denn bitten. Atkinson war mit seinen dunklen Haaren, der Römernase und dem sinnlichen Mund keine sehr britische Erscheinung, aber groß und schlank und ganz zweifellos ein sehr schöner Mann. Er befreite die junge Witwe sogleich von allen Zweifeln: Er sei der Arzt, der von Amts wegen den Totenschein ausgestellt habe, wie bei allen Todesfällen zwischen Westminster und Kensington, er komme nun aber mit einer sehr persönlichen und beinahe delikaten Bitte. Jane Hulme wußte, daß sie ungehalten sein müßte, denn es war weiß Gott nicht der Tag, ihr mit persönlichen Anliegen zu kommen. Aber der samtige Blick des jungen Arztes umfing sie mit solcher Innigkeit, daß ihr nach Tagen und Nächten der Einsamkeit und des Schmerzes zum erstenmal wieder warm ums Herz wurde. Hier war endlich jemand, der nicht nur von dem toten Neville sprach, sondern auch für die am Leben gebliebene Jane ein Herz zu haben schien, und so ließ sie denn Tee bringen und warf einen prüfenden Blick in den großen venezianischen Spiegel über dem Kamin. Kein Zweifel: Schwarz kleidete sie, das züchtige Dekollete des schwarzen Kleides wirkte durch die weiße, glatte Eloquenz ihrer Haut nicht minder erregend als ein großer Ausschnitt, und die Fülle ihres roten Haares, mühsam gebändigt über ihrem von den Tränen noch verschleierten Blick, stand im Raum wie ein Fanal, das von ihrer ungebrochenen Schönheit kündete. In vielen wohlgesetzten, beruhigenden und aufmunternden Worten hatte Doktor Atkinson bald eine wahre Laube des Vertrauens, ja beinahe der Zärtlichkeit über dem kleinen Teetisch erbaut, und darum war es für Lady Jane wie ein harter, grausamer Fall ins Bodenlose, als er plötzlich düster und tonlos sagte: »Ja und sehen Sie, Mylady, meine Karriere als Arzt wird schon in zehn Tagen enden, ich werde bis an mein Lebensende den traurigen Posten eines Distrikts-Totenbeschauers bekleiden, weil ich zu meiner letzten, abschließenden Prüfung nicht werde antreten können!« »Noch eine Prüfung?« fragte Lady Jane nicht sonderlich interessiert, denn sie war vollauf damit beschäftigt, den Gewissenskonflikt zwischen ihrer Trauer um Neville und der immer deutlicheren Attraktion Bruce Atkinsons zu dämpfen. Warum gab es auch so schöne Männer in London! »Gewiß, Mylady, ich habe die akademischen Prüfungen hinter mir und bin Arzt, aber ich brauche noch eine Fachprüfung in dem von mir erwählten Spezialfach der Phrenologie, der Schädelkunde, um die ausgeschriebene einträgliche Stellung am Royal Institute for medical engineering zu erhalten.« »Und warum wollen Sie zu dieser Prüfung nicht antreten?« Doktor Atkinson reckte sein untadeliges Profil in tragischer Pose gegen den Plafond und sagte dumpf: »Ich habe doch keinen Schädel!« Zu ihrem eigenen Entsetzen mußte Jane lachen, silberhell, fröhlich, wie eine Zwanzigjährige eben lacht. Nur daß sie eben Witwe geworden war. »Nun«, sagte sie, als sie sich gefaßt hatte, »mit dem Ihren können Sie doch wohl zufrieden sein, Doktor!« Atkinson wandte sich voll Jane zu, tauchte seinen Blick in den ihren und sagte, als erkläre er einem Kind die Mysterien der Welt: »Ich brauche einen Schädel für jene Prüfung – den Kopf eines Toten. Ein Studien- und Prüfungsobjekt. Und ich kann nicht bestehen, ich kann die Prüfung nicht erfolgreich ablegen und die Stellung erhalten, wenn ich nicht einen tauglichen, einen überdurchschnittlichen Kopf auftreibe. Denn wir Phrenologen, wir sezieren nicht bloß: Wir erarbeiten uns aus der Kenntnis der einzelnen Hirnpartien ein Bild des neuen Menschen. Mit den exekutierten Leichen aus Old Bailey kann ich nichts anfangen, mit den Ertrunkenen aus der Themse, den Erschlagenen aus Soho, den schwammigen Säufern von den Docks kann ich meinen Konkurrenten nicht schlagen, denn Enver Bostic verfügt über ein hervorragendes Studienobjekt, über den Kopf eines eben zu rechter Zeit verstorbenen Onkels, der immerhin Maler war.« Lady Jane wurde unbehaglich. Sie verstand so wenig von dem, was der schöne Arzt ihr erzählte, und es war zuviel Fremdes. Sein Blick hatte eine narkotische Wirkung, die ihr neu war: Nach zwei Jahren an der Seite eines sehr viel älteren Mannes trat sie zum erstenmal wieder hinaus in jene Welt, in der die Männer begehrten und die Frauen begehrt wurden – ein Spiel der Kräfte, das in ihrem Heimatort in Wales relativ harmlos abgelaufen war, hier in London aber offensichtlich seine Gefahren hatte. »Dieser Konkurrent …«, begann sie. »Doktor Bostic!« »… ist sehr tüchtig?« »Er hat einen scharfen Verstand, kühne Ideen, bisweilen sogar allzu kühne. Aber er wird sich dank seines besseren Objekts auch besser ins Licht setzen und die Position erhalten, die einzige, die es derzeit für Phrenologen gibt. Und da er so alt ist wie ich, wird er sie innehaben und halten können, bis ich ein alter Mann bin.« Ein alter Mann … Wie oft hatte sie das gedacht, wenn ihr geliebter Neville, von der Sternwarte kommend, nach einem zärtlichen Kuß auf ihre Stirn eingeschlafen war. Nein, von alten Männern – bei aller Liebe und Verehrung – hatte sie genug. »Was kann ich für Sie tun, Doktor Atkinson?« fragte sie mutig, obwohl ein leises Grauen sie beschlich. Auch Atkinson mußte sich erst fassen, ehe er zu seiner Bitte ansetzte: »Geben Sie mir die Erlaubnis, Mylady, den Kopf des großen Astronomen Sir Neville Hulme bei meinem Examen zu behandeln.« Die Worte rauschten an Jane vorbei. Nevilles Kopf. Sie sah ihn vor sich, wie er aufgebahrt dalag und nur Kopf, Hals und Hände zu sehen waren. Und der Kopf, dieser im Leben so ehrfurchtgebietende Kopf, schmal, klar, vornehm und intelligent, war im Tod eine entsetzliche Maske greisenhafter Selbstüberhebung geworden, starr, steinern, arrogant und feindselig. »Wer wird es erfahren?« fragte sie leise. »Die Prüfer, Professoren und Ärzte, sie bindet das Berufsgeheimnis.« »Und Doktor Bostic?« »Der hat mir nichts vorzuwerfen, da er den Schädel eines Verwandten zur Prüfung mitbringt.« »Und nach der Prüfung, was ist dann?« »Dann wird der Schädel sogleich restituiert und gemeinsam mit dem Leichnam, den wir bis dahin im Institut einfrieren, beigesetzt.« »Aber die offiziellen Leichenfeiern … das Begräbnis morgen nachmittag? Sie sehen, Doktor Atkinson, ich kann Ihnen nicht helfen.« »Daran habe ich natürlich gedacht, Mylady, der Sarg würde mit Steinen gefüllt, bis das Gewicht des Verblichenen erreicht ist, und in vierzehn Tagen, wenn alles vorbei ist, schreiten wir mit behördlicher Genehmigung insgeheim zur echten Bestattung.« Die merkwürdige und durchaus unerwartete Komplikation in den letzten Stunden vor dem Staatsbegräbnis hatte Lady Jane auf das Glücklichste abgelenkt. Gesenkten Hauptes, in ihren Gedanken aber ausschließlich bei Doktor Atkinson, saß sie in der schwarzausgeschlagenen Kutsche, die dem Sargwagen folgte, und auch die Tage, Wochen und Monate, die dem Todesfall folgten, gehörten in immer stärkerem Maß der so unversehens in ihr Leben getretenen Bindung. Denn konnte es eine stärkere Bindung geben als die Gemeinsamkeit eines so düsteren Geheimnisses? Im Juni 1896, schicklicherweise erst vier Wochen nach Ablauf des Trauerjahres, trat Lady Jane mit Doktor Bruce Atkinson vor den Altar von Saint Marys Church in West-Brompton, und der junge Gelehrte, der im Royal Institute of medical engineering eine vielbeachtete Spezialabteilung aufgebaut hatte, eröffnete in dem geräumigen Wohnhaus seiner jungen Frau am Belgrave Square eine kleine, aber einträgliche Privatpraxis. In dieser mit den neuesten Apparaten und Behelfen ausgestatteten Ordination untersuchte Atkinson eines Tages, es war gegen Ende des zweiten Ehejahres, seine junge Frau. Jane war nun dreiundzwanzig Jahre alt, ihre Schönheit war, dank der Liebe und der Zärtlichkeit eines jungen Gatten, voll erblüht, ihre grünen Augen blitzten vor Lebenslust, und ihr Mund, den sie mitunter, wie einem fernen Lied lauschend, leicht öffnete, war eine Verlockung für jeden, der sie sah. »Ich bin zwar kein Gynäkologe«, sagte Atkinson, während Jane sich hinter dem Wandschirm entkleidete, »aber ehe ich meine schöne Frau einem Kollegen überlasse, will ich doch selbst einmal sehen, was dir Beschwerden macht. So bitte, nimm hier Platz. Lege dich zurück, keine Sorge, ich untersuche nur …« Jane hatte sich etwas scheu auf den großen wachstuchbespannten Tisch zubewegt. War Atkinson auch ihr Mann, hatten sie in vielen Nächten auch keine Geheimnisse voreinander, so war es doch das erstemal, daß sie sich hier, im hellen Tageslicht und zwischen den fremd anmutenden Gegenständen seiner Praxisräume, nackt vor ihm zeigte. Nach kurzer Untersuchung wußte er, was ihr Schmerzen bereitete: »Ein Abszeß, Jane, ein banales kleines Geschwür, nur an einer dummen Stelle … Deswegen brauchst du wirklich nicht zu Sir Edwin zu gehen, das mache ich gleich selbst.« »Du tust mir doch nicht weh, Bruce?« »Wo denkst du hin! Ich habe doch Lachgas … Ich binde dich nur fest, damit du mir im Lachgasräuschlein nicht vom Tisch kollerst. So, das hätten …« Atkinson unterbrach sich, denn es hatte eben geklingelt. »Pamela hat Ausgang«, sagte Jane, »aber ich bitte dich, gehe jetzt nicht öffnen, mir ist das hier doch ein wenig unheimlich.« Es klingelte abermals, und Atkinson wurde nervös. »Ich sehe doch einmal nach«, sagte er, »es kann die Nachmittagspost sein, die möchte ich doch lieber in Empfang nehmen. Ich bin gleich zurück.« Aber er kam nicht gleich zurück. Statt dessen vernahm Jane mit immer stärkerer Unruhe Stimmen in der Halle. Die ihr unbekannte Stimme des Besuchers wurde immer lauter, und nun vermochte sie jedes Wort zu verstehen: »Mit Ihrem Gelehrtenschädel haben Sie mich um meine Zukunft gebracht, Atkinson«, schrie der Fremde, »es war glatter Hokuspokus, damit im letzten Augenblick aufzuwarten, so daß ich mir keinen gleichwertigen Casus mehr beschaffen konnte. Und jetzt sitzen Sie hier im Fett. Wozu brauchen Sie denn das Amt im Institut, Ihre Frau ist doch reich, Sie haben eine Praxis …« Die leisere Stimme, die ihres Gatten, verstand Jane nicht. Zweifellos versuchte er, den Besucher zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Die Stimmen schwollen schließlich beide an, die Männer erregten sich, und nach ein paar undefinierbaren Geräuschen vernahm Jane, der der Atem stockte, einen dumpfen Fall. Verzweifelt versuchte sie sich zu befreien, aber ihre Arme waren einzeln mit Gurten festgeschnürt, die Beine, weit gespreizt, desgleichen. Unmöglich, aufzustehen und Bruce zu Hilfe zu kommen. In der nächsten Sekunde sprang krachend die Tür auf, und Jane schrie wider Willen laut auf: In der Tür stand Bruce, leichenblaß und mit erhobenen Händen, und hinter ihm tauchte ein untersetzter, bärtiger Mann auf, der Bruce nun mit einer Pistole zwang, in dem Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Ohne Jane mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken – er hielt sie wohl für eine Patientin – machte der Fremde sich auf die Suche nach Schnüren und Gürteln und fesselte Atkinson an seinen Schreibtischsessel, an die Rücken- und die Seitenlehne und die Beine, so daß der Arzt gerade noch die Finger und den Kopf bewegen konnte. Nun erst wandte sich der Besucher Jane zu, verbeugte sich knapp und sagte: »Doktor Bostic. Ich bin Arzt wie Atkinson, Sie brauchen sich nicht zu genieren, und Doktor Atkinson wird seine Behandlung gleich fortsetzen. Er muß mir nur schnell ein Dokument unterschreiben.« Dabei ließ er einen zerstreuten Blick über die nackte Jane gleiten, sah Atkinson verwundert an und sagte: »Abszeß am Scheideneingang … Seit wann arbeiten Sie als Gynäkologe, Atkinson? Wohl nur bei so hübschen Frauen?« »Lassen Sie den Unsinn, Bostic«, antwortete Atkinson mit belegter Stimme, »die Dame ist keine Patientin, sie ist meine Frau, darum mache ich den harmlosen Eingriff selbst!« Bostic hob den Kopf. Er sah aus, als erwache er aus einer Trance, aus einer Fixierung. In seinen Augen begann es zu flackern, als er rief: »Ihre Frau? Also die frühere Lady Jane Hulme, die liebenswürdige Schädelspenderin? Das ändert natürlich die Sachlage. Mylady werden gestatten müssen, daß ich mich auch bei Ihnen für jenen Zwischenfall bedanke, der meine Laufbahn ruinierte!« Bei diesen Worten trat Bostic auf Jane zu, schob ihr ein Kissen unter den Kopf und einen Wattebausch in den Mund und verklebte die vollen Lippen Janes mit einem breiten Streifen Leukoplast. »Nun kann ich Sie zwar nicht mehr küssen, zumindest nicht auf den Mund«, sagte er sarkastisch, »aber was Sie mir sonst bieten, Mrs. Atkinson, ist immer noch der Betrachtung wert … Und Sie, lieber Kollege, verhalten sich still, ganz still, wenn Ihnen das Leben Ihrer Frau und Ihr eigenes lieb ist. Sonst verklebe ich Ihnen nicht nur den Mund, sondern auch die Nasenlöcher, und dann möchte ich sehen, was für schöne Zuckungen Sie in ihrem Sessel aufführen.« »Bostic«, bat Atkinson leise, »ich werde tun, was Sie verlangen. Ich gebe Ihnen mein Wort als Arzt und Akademiker, daß ich morgen meine Demission im Institut einreiche und Sie als meinen Nachfolger vorschlage. Aber lassen Sie Jane aus dem Spiel, sie ist zu jung, sie hat das alles nicht verstanden, ich habe sie überrumpelt in der Sache mit dem Schädel!« »Daß sie jung ist«, antwortete Bostic genießerisch, »das sehe ich selbst. Sie ist ein schöner, junger Mensch, eine von denen, die das neue Jahrhundert erleben werden, mehr von ihm sehen werden als von diesem stinkenden alten viktorianischen England. Ich hätte auch gern an dem neuen Menschen gearbeitet, an seinem Bild, an seinem Schädel, an der Geographie seines Gehirns, aber der schöne Bruce, Ihr Mann, Verehrte, hat mich daran gehindert, und so will ich denn sehen, ob Sie das Zeug zu jenem neuen Menschen haben, ob Sie die Frau des kommenden Jahrhunderts sind, des Zwanzigsten, des Jahrtausend-Endes!« Mit diesen Worten trat Bostic neben Jane und begann, ihren Leib mit seinen kurzen, dicken Fingern zu erkunden. Er massierte die Brüste, stieß mit bösem Kichern die Finger zwischen ihre Rippen, streichelte die Innenseiten ihrer Schenkel und kitzelte sie schließlich so lange an den Fußsohlen, daß Jane im Gesicht puterrot anlief und ihr vor Atemnot die Augen aus den Höhlen quollen. »Ach ja«, sagte Bostic schließlich, als falle ihm etwas ein, »das Abszeß … Keine Sorge, Mrs. Atkinson, das haben wir gleich!« »Um Gottes willen, Bostic«, ächzte Atkinson, »vergreifen Sie sich doch nicht an einer wehrlosen Frau. Sie sind doch Arzt, seien Sie gnädig mit uns!« »Da ich mit diesen modernen Installationen nicht umgehen kann, verehrte Patientin«, sagte Bostic ungerührt, »liefen Sie Gefahr, von mir mit Lachgas erstickt zu werden. Ich sehe, daß Sie vorbildlich festgeschnallt sind. Ich werde Ihnen jetzt das Abszeß mit dem Messer öffnen. Ein kleiner Schnitt, wenn ich es gleich richtig treffe, was nicht sehr wahrscheinlich ist, denn ich habe vor meiner Demarche reichlich Whisky zu mir genommen. Also liegen Sie ganz ruhig und lassen Sie mich gewähren, das ist Ihre einzige Chance, daß ich da unten, wo sich Ihr schöner Gatte so gern zu schaffen macht, kein Blutbad anrichte.« Bostic zog den Wagen mit den Messern heran und wählte sorgfältig. »Sie müssen doch zuerst sterilisieren!« rief Atkinson unvorsichtig laut. »Psst, Atkinson, sonst kommt mir das Messer aus. Sterilisieren, wenn ich das schon höre. Sie glauben wohl, wir sind am Pasteurinstitut? Nee, mein Lieber, der Mensch des neuen Jahrhunderts stirbt nicht an ein paar Mikroben. Wie war’s mit diesem Messerchen, Madam? Soll ich mal an Ihren Brüstchen probieren, ob es die richtige Schärfe hat?« Bostic ließ das Messer mit dem langen Griff und der kurzen, scharfen Klinge unmittelbar vor den Augen Janes funkeln, die einer Ohnmacht näher war als jedem Versuch, sich zu wehren, strich dann damit ganz zart über die Warze der linken Brust, tat dann einen Schritt, stellte sich in Positur und führte einen blitzschnellen Schnitt durch das Abszeß. Jane stieß einen gurgelnden Schrei aus, Atkinson schleuderte mit den Zähnen seinen Briefbeschwerer durchs Fenster, so daß beide Scheiben klirrend zersprangen, und Bostic warf einen letzten, bedauernden Blick auf die schöne Frau, der das Blut zwischen den Schenkeln hervorschoß. »Mit dem Briefbeschwerer hätte ich ihnen den Schädel einschlagen sollen, Atkinson«, sagte Bostic und wusch sich Janes Blut von seinem Gehrock, »aber er gefiel mir so gut, daß ich ihn mir nachher mitnehmen wollte. Ein kleiner, marmorner Totenkopf auf einem bronzenen Sockel, schon als Sie noch studierten, habe ich Sie darum beneidet. Wenn Sie gestatten, hebe ich ihn mir draußen vom Pflaster auf, zur Erinnerung an diesen unvergeßlichen Nachmittag. Mrs. Atkinson, Herr Kollege, good bye.« Vampir zu sein dagegen sehr … von J. M. Rymer In seiner »Gothic Bibliography« verzeichnet Montague Summers, einer der profundesten Kenner der literarischen Horror-Szene, unter dem Stichwort »Varney« einen Vampir-Roman, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den meistgelesenen Büchern in England überhaupt zählte, später jedoch schnell in Vergessenheit geriet und erst in unserer Zeit durch einen Reprint wieder zugänglich gemacht worden ist. Eine gekürzte Fassung des ausufernd umfangreichen Romans liegt auch in deutscher Sprache vor (»Varney der Vampir oder das Fest des Blutes«, Heyne-Buch Band 5209). Summers schreibt: »Varney der Vampir gilt als Meisterwerk von Thomas Peckett Prest.« Aber nicht Prest, der König der beliebten »bloods«, ist der Autor – stilkritische Untersuchungen weisen vielmehr auf James Malcolm Rymer als Autor hin, Prests gleichermaßen erfolgreichen Schreibkollegen in der Trivialliteraturfabrik des damals marktbeherrschenden Verlegers Edward Lloyd, der dem Horror-Genre mit seiner Massenproduktion in England zum Durchbruch verhalf. »Varney der Vampir« erschien erstmals 1847, ein halbes Jahrhundert vor Bram Stokers berühmtem »Dracula«. Wir drucken hier eine in sich abgeschlossene Episode ab, die Vorgeschichte des ebenso blutrünstigen wie unglückseligen Vampirs betreffend. Während so manchen, kurzen Gedankenaustausches – und diese blieben immer kurz, wenn sie vertraulicher Natur waren – habe ich Überraschung ausgelöst, indem ich von Personen und Ereignissen sprach, die seither längst von der fast vergessenen Vergangenheit geschluckt worden sind. Auf diesen paar Seiten will ich mich eingehender erklären. Zur Regierungszeit Charles des Ersten residierte ich in einer schmalen Straße in der unmittelbaren Nachbarschaft von Whitehall. Es war eine schmale, gewundene Durchfahrt, durch die es zur Themse hinunterging; es spielt weiter keine große Rolle, womit ich damals meinen Lebensunterhalt bestritt, aber ich zögere nicht im mindesten zu sagen, daß ich ein gutbezahlter Agent in einer der politischen Bewegungen war, für die jene Epoche bekannt und berüchtigt ist. London war damals eine Masse schäbig aussehender Häuser mit hier und dort einem Gebäude, das im Vergleich zu seinen noch schäbigeren Nachbarn wie ein Palast wirkte. Beinahe jede Straße schien dabei unter dem Schutz irgendeines großen Hauses zu stehen, das sich irgendwo an ihr befand, aber jene Häuser, die den Verfall der Zeit überdauert haben, sind heute so verändert und gleichen so sehr ihren Nachbarn, daß selbst ich, der ich viele von ihnen gut gekannt habe, kaum noch sagen könnte, welche es waren oder wo sie einmal gestanden haben. Ich spielte keine prominente Rolle bei den politischen Aufruhren jener Epoche, aber ich sah den blutigen Kopf eines Königs in Whitehall aufgespießt als Spektakel für die Volksmenge. Es gab Tausende von Personen in England, die alle zu diesem Ende des Königs beigetragen, es aber beileibe nicht erwartet hatten und dann die ersten waren, die den gigantischen Mächten, die sie selber aufgerührt hatten, zum Opfer fielen. Unter diesen waren auch viele von meinen Auftraggebern; Männer, die durchaus willens gewesen waren, den Thron zu erschüttern, soweit es jenen betraf, der ihn gerade besetzt hielt, die aber ganz sicher niemals beabsichtigten, die Monarchie zu zerstören; so schufen denn der Tod von Charles dem Ersten und die Diktatur Cromwells eine Unzahl von Royalisten. Sie hatten damit einen Geist heraufbeschworen, den sie nun nicht mehr loszuwerden vermochten, und dies war eine Tatsache, der sich auch jener strenge, harte Mann, Cromwell, mit dem ich viele Unterredungen hatte, durchaus bewußt war. Mein Haus war in ganz besonderem Maße für diskrete und verschwiegene Zwecke geeignet, und ich wurde ein reicher Mann durch die großen Summen, die ich dafür erhielt, daß ich vornehmen Royalisten zur Flucht verhalf, von denen manche für eine beträchtliche Zeit perdu in meinem Hause lagen, bevor sich eine günstige Gelegenheit ergab, sie still und leise den Fluß hinunterzuschaffen zu irgendeinem Schiff, das sie nach Holland bringen würde. Mir wurde in der Tat so viel pro Kopf für jene Royalisten geboten, daß eines Tages Cromwell nach mir schickte; es gab da insbesondere einen, der Privatsekretär des Herzogs von Cleveland gewesen war, ein noch junger Mann ohne Familie und Rang, aber von großen Fähigkeiten, den Cromwell unbedingt in seine Gewalt bringen wollte. Ich glaube, es muß da ebenso auch noch ein paar private Gründe gegeben haben, die den Diktator des Commonwealth veranlaßten, derart wild hinter diesem Master Francis Latham her zu sein, welches der Name der Person war, auf die ich mich hier beziehe. Es war spät eines Abends, als ein Fremder zu meinem Haus kam und, da er mich diskret zu sprechen wünschte, in ein Privatzimmer geführt wurde, wo ich ihn sogleich empfing. »Ich weiß«, sagte er, »daß Sie vertraulich für den Herzog von Cleveland tätig gewesen sind, und ebenso ist mir bekannt, daß Sie schon so manchem Royalisten, der sich in der Klemme befand, sehr nützlich gewesen sind, aber dafür, daß Sie Master Francis Latham, dem Sekretär des Herzogs, helfen, wird Ihnen gestattet, beinahe jede beliebige Summe zu nennen.« Ich nannte einhundert Pfund, was zu jener Zeit eine weit größere Summe war als heute, wenn man den relativen Wert berücksichtigt. Die eine Hälfte davon sollte ich sofort erhalten; die andere wurde mir zur Zahlung innerhalb vierundzwanzig Stunden versprochen, nachdem Latham die Flucht gelungen war. Mir wurde gesagt, daß um halb zwölf Uhr in jener Nacht ein Mann in gewöhnlicher Arbeitskleidung, mit einem Besen über der Schulter, an meine Tür klopfen und fragen würde, ob man ein Nachtquartier für ihn wisse; durch diese Kennzeichen würde ich wissen, daß der Mann Francis Latham sei. Ein holländischer Lugger, wurde mir ferner gesagt, läge nahe von Gravesend, und an Bord von diesem sollte ich den Flüchtling bringen, um mir mein Geld zu verdienen. All dies wurde abgemacht; ich hielt ein Boot mit zwei Ruderern bereit, auf die ich mich absolut verlassen konnte. Ich war weit davon entfernt, bei der Durchführung dieses Unternehmens irgendwelche besonderen Schwierigkeiten zu erwarten. Ich hatte einen Sohn von damals etwa zwölf Jahren, der ein sehr gewitztes Bürschchen war, das mir schon bei mehreren Gelegenheiten von großem Nutzen gewesen war, und es waren mir niemals Bedenken gekommen, ihn bei solchen Affären wie jener, von der ich hier berichte, ins Vertrauen zu ziehen. Ein paar Minuten nach halb zwölf kam dann auch tatsächlich von meiner Haustür ein Klopfen, welches mein Sohn beantwortete; es war gemäß der Vereinbarung ein Mann mit einem Besen über der Schulter, der fragte, ob man nicht ein Nachtquartier für ihn wisse, und der daraufhin von meinem Sohn aufgefordert wurde, hereinzukommen. Der Mann wirkte ziemlich nervös und fragte mich, ob ich glaubte, daß bei der Sache ein großes Risiko bestünde. »Nein«, sagte ich, »kein größeres als gewöhnlich in solchen Fällen, aber wir müssen eine halbe Stunde bis zum Gezeitenwechsel warten, denn in einem Boot flußab gegen die auflaufende Flut anzukämpfen, würde bedeuten, die Aufmerksamkeit geradezu herauszufordern.« Dem stimmte er vollkommen bei und setzte sich vor meinen Kamin, um die Zeit bis dahin abzuwarten. Ich war ebenso wie er darauf bedacht, die Angelegenheit möglichst rasch hinter uns zu bringen, denn es war ein verflixt heikler Auftrag; wenn Oliver Cromwell die Sache zu Ohren kam und er mir nur im geringsten etwas nachweisen konnte, würde er ebenso selbstverständlich den Befehl gegeben haben, mich zu erschießen, wie er im Namen des HERRN sein Abendmahl einzunehmen pflegte. Ich ging deshalb sogleich zum Fluß hinunter, um mit den beiden Männern zu sprechen, die dort mit dem Boot lagen, und ließ mir von ihnen bestätigen, daß in etwa zwanzig Minuten in der Mitte des Stroms die Flut abzuebben beginnen würde, als mich plötzlich zwei Männer konfrontierten. Erfahren, wie ich in den Gewohnheiten und Erscheinungen jener Zeit war, erriet ich sofort, mit wem ich es zu tun hatte. In der Tat, zwei von Oliver Cromwells Dragonern waren ja auch wohl kaum zu verkennen. »Sie werden gesucht«, sagte der eine zu mir. »Sie werden sogar ganz dringend gesucht«, bekräftigte der andere. »Aber, Gentlemen, ich bin im Moment gerade sehr beschäftigt«, sagte ich. »In einer Stunde jedoch werde ich Ihnen gern das Vergnügen machen. Sie brauchen mir nur zu sagen, wo ich auf Sie warten soll, und ich werde dann ganz zu Ihrer Verfügung stehen.« Die einzige Antwort, die ich darauf bekam, war, daß ich von ihnen in die Mitte genommen und a tempo davongeführt wurde, an meiner eigenen Haustür vorbei. Ich wurde schnellen Schritts direkt nach St. James gebracht, wo man mich eilig durch einen der Innenhöfe führte; wir hielten kurz an einer kleinen Tür, vor der ein Posten stand. Meine beiden Begleiter verhandelten kurz mit ihm, woraufhin er uns durchließ. Wir kamen durch einen schmalen Gang ohne jedes Licht, dann zu einer weiteren Tür, an welcher ebenfalls ein Posten stand, der den Schein einer Laterne auf mich und meine beiden Führer richtete. Auch ihm wurde eine kurze Erklärung gegeben, während der ich die Worte Seiner Hoheit hörte, welches der Titel war, den Cromwell sich letzthin zugelegt hatte. Sie schoben mich durch diese zweite Tür, schlossen sie hinter mir und ließen mich im Dunkel allein. Da ich absolut unwissend war, wo ich mich befand, hielt ich es für das Klügste, ganz still stehen zu bleiben, denn jeder Schritt, den ich tat, hätte mich in Gefahr bringen können; der Rückzug war mir offensichtlich sowieso abgeschnitten. Darüber hinaus mußten jene, die mich hergebracht hatten, ja wohl irgendwelche Absichten damit verfolgen, und es war in jedem Falle besser, sie diese entwickeln zu lassen, statt selber Schritte zu unternehmen, was für mich höchst gefährlich hätte werden können. Ich erhielt auch bald die Bestätigung, daß dies die beste Politik gewesen war, denn plötzlich fiel ein greller Lichtschein auf mich, und ich hörte eine mürrische Stimme sagen: »Wer geht da? Los, hierher!« Ich ging in die angegebene Richtung und gelangte durch eine offene Tür in ein kleines Apartment, in welchem ich, vor einem gewöhnlichen Kartentisch und die geballten Fäuste darauf gestützt, niemand anderen als Oliver Cromwell selbst vorfand. »So, Sir«, sagte er, »Royalisten und andere Elemente wollen das Land also in Aufruhr und Verderb stürzen. Ist es nicht so? Los, antworten Sie mir.« »Ich habe keine Antwort, die ich darauf geben könnte, Eure Hoheit«, sagte ich. »So, bei Gott, keine Antwort können Sie mir geben, während in Ihrem eigenen Haus der für vogelfrei erklärte Sekretär des Herzogs von Cleveland versteckt ist.« Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen und war sicher, von jemandem verraten worden zu sein, aber ohne mir Zeit für eine Antwort zu geben, fuhr er in raschem Tonfall fort: »Der HERR ist gnädig, und ebenso sind wir es, aber der Bösewicht muß gefaßt werden, weshalb die beiden gottesfürchtigen Männer mit ihren kurzen Karabinern, geliebte Soldaten des Commonwealth, Sie jetzt begleiten werden. Sie werden den Bösewicht aus Ihrem Haus herausführen, während die beiden gottesfürchtigen Dragoner sich im Schatten hinter Ihnen halten werden. Sie bringen ihn dann zum Fluß hinunter, wo, sofern der HERR will, ein Boot mit einem kleinen blauen Zeichen am Bug warten wird, an Bord dessen Sie ihn setzen und ihm gute Reise wünschen werden.« Er hielt inne und fixierte mich scharf in dem schwachen Licht, das in dem Apartment herrschte. »Und dann, Eure Hoheit?« fragte ich. »Dann werden Sie morgen bei uns für eine beträchtliche Summe vorsprechen, welche Ihnen für den Dienst zusteht, den Sie dem Commonwealth geleistet haben. Ja, es soll sich für Sie als höchst profitabel erweisen, für die Sache des HERRN gekämpft zu haben.« Ich muß gestehen, ich hatte von diesem Gespräch ein ganz anderes Resultat erwartet; ich hatte sogar gefürchtet, daß meine Freiheit, mein Leben in Gefahr wäre. Cromwell war ein Mann, mit dem nicht gut Kirschen essen war. Ich kannte diese Gefahr und war nicht gewillt, mich etwa für Master Latham zu opfern. »Ich werde tun, wie Eure Hoheit befehlen«, sagte ich deshalb auch sofort. »So, wirklich?« erwiderte er. »Nun, wenn Sie mir nicht gehorchten, würden Sie auch sofort meinen starken Arm zu spüren bekommen. Ho, hallo? Gottfürchtiger Simpkins, sind Sie da draußen?« »Ja, so der HERR will«, sagte ein Dragoner, der in der Tür erschien. Cromwell machte ihm lediglich mit der Hand ein Zeichen, woraufhin Simpkins mich fest am Oberarm packte, als wäre ich ein ertappter Dieb, und mich wieder durch den Gang führte, in welchem die beiden Posten standen. Ein paar Augenblicke darauf fand ich mich wieder in der Obhut meiner beiden früheren Wächter wieder; äußerst forschen Schrittes setzten wir uns in Richtung meines Hauses in Marsch. Es war keine sehr angenehme Affäre, in welchem Licht ich es auch betrachten mochte; aber was Cromwell betraf, so kannte ich meine Zwangslage, und es würde mir übel bekommen sein, wenn ich auch nur eine Sekunde gezögert hätte, ihm zu gehorchen. Andererseits wußte ich, wie großzügig er solche Dienstleistungen zu belohnen pflegte, und rechnete mir daher aus, daß ich durch die Transaktion in den Besitz einer guten runden Summe kommen würde, wozu noch die fünfzig Pfund kamen, die ich bereits von den Royalisten erhalten hatte. In der Tat, die Sache war so lukrativ, daß ich, während wir durch die nächtlichen Straßen zu meinem Haus zurückgingen, schon überlegte, ob ich mich nicht ganz in die Dienste des Protektors von England stellen sollte. »Wenn ich das tue«, argumentierte ich im stillen, »und dabei weiterhin meine Beziehungen zu den Royalisten unterhalte, müßte sich daraus eigentlich ein flottes Geschäft entwickeln lassen.« Aber es wird gleich zu sehen sein, daß widrige Umstände all diesem Träumen ein jähes Ende setzten. Als wir zu meinem Hause kamen, war das erste, was ich sah, daß mein Sohn, der mir die Tür geöffnet hatte, sich mit der Hand über die Augenbraue fuhr, als sei er müde geworden; er kam auf mich zugerannt, klammerte sich an meinen Arm und flüsterte mir aufgeregt etwas zu. Ich war im Moment jedoch so verärgert, daß ich die Beherrschung verlor, ohne die Folgen zu bedenken, mit der geballten Faust ausholte und ihn zu Boden schlug. Er fiel mit dem Hinterkopf genau auf einen der großen runden Steine, mit denen die Straße gepflastert war, und atmete sein Leben aus. Ich hatte ihn ermordet. Ich weiß nicht, was unmittelbar nach dieser schrecklichen Tat geschah; ich kann mich nur noch erinnern, daß es eine große Konfusion gab, ein Herumblitzen von Lichtern, und es schien mir, als ob mich irgend etwas plötzlich mit großer Gewalt zu Boden schleuderte. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich auf einer kleinen schmalen Liege wieder, aber in einem sehr großen, nur dämmrig erhellten Raum, in dem noch viele andere solcher kleinen Betten entlang den Wänden standen. Das dürftige Licht ermöglichte mir gerade noch, mich ein wenig umzusehen und ein paar herumschleichende, finster aussehende Gestalten zu erkennen. Ich war in dem Hospital, das der Protektor kürzlich in der City hatte errichten lassen. Ich versuchte zu sprechen, konnte es aber nicht; die Zunge schien mir am Gaumen festgeklebt zu sein; und auch mein Gesichtssinn trübte sich jetzt; ich konnte die schemenhaften, düsteren Gestalten um mich herum kaum noch erkennen. Dann faßte jemand mein Handgelenk, und ich hörte den Betreffenden ganz deutlich sagen: »Mit dem hier geht es jetzt zu Ende.« Plötzlich schien es mir, als ob sich irgend etwas mit erdrückender Kraft auf meine Brust senkte, und ich war mir dumpf bewußt, daß ich verzweifelt nach Atem rang; dann glaubte ich, ich befände mich auf dem Grund des Meeres. Einen Moment, wirklich nur einen Moment lang, spürte ich eine schreckliche Todesqual, und dann kam da ein zischendes Geräusch wie das Rauschen von Wasser, wonach ich ganz deutlich spürte, daß ich von jemandem auf den Armen hochgehoben wurde. Ich wurde dann wieder hingelegt, und meine Glieder fühlten sich taub und kalt an; ein heftiger Krampf durchlief meinen ganzen Körper; ich schlug die Augen auf und fand mich im Freien liegend wieder, neben einem frisch ausgehobenen Grab. Der Vollmond stand hoch am Himmel, und seine kühlen Strahlen fielen auf mein Gesicht. Eine Stimme klang mir in den Ohren, eine tiefe und feierliche Stimme; schmerzlich deutlich war jedes Wort, das sie sprach. »Mortimer«, sagte sie, denn das war mein Name, »Mortimer, in deinem Leben hast du eine Tat begangen, die dich ein für allemal der Hoffnung beraubt, daß man sich an irgend etwas aus diesem deinem Leben in jener Welt, die nach dem Tode kommt, zu deinem Vorteil erinnern wird. Du hast den reinen Quell der Gnade vergiftet, und auf jemanden wie dich kann niemals auch nur ein Schimmer der Großzügigkeit und Vergebung des Himmels fallen. Mörder, Mörder jenes Wesens, das dir vom großen Schöpfer zur unverletzlichen Obhut anvertraut war, lebe hinfort als für immer verflucht. Sei dir selbst eine Widerwärtigkeit und ein Ekel, gemieden von allem, was gut und rechtschaffen ist. Stehe allen Menschen als Feind gegenüber, und alle Menschen sollen als Feinde dir gegenüberstehen: Varney, dem Vampir.« Taumelnd kam ich auf die Beine und sah, daß die Szene um mich herum ein Friedhof war. Ich war hager und ausgemergelt; meine Kleider hingen an mir wie an einem Skelett, und der klamme Geruch des Grabes haftete ihnen noch an. Ich begegnete einem alten Mann und fragte ihn, wo ich sei. Er sah mich an mit einem Erschaudern, als wäre ich gerade irgendeinem Beinhaus entkommen. »Wieso, dies ist Isledon«, sagte er. Helles Glockenläuten klang plötzlich durch die laue Nachtluft. »Was bedeutet das?« fragte ich. »Wieso, dies ist der Jahrestag der Restauration.« »Der Restauration? Welcher Restauration?« »Wieso, der königlichen Familie der Stuarts auf den Thron, das ist doch klar. Genau heute vor einem Jahr kehrte sie auf ihren Thron zurück. Haben Sie so lange geschlafen, daß Sie das überhaupt nicht wissen?« Ich erschauderte und ging weiter, entschlossen, eingehendere Erkundigungen einzuziehen, aber mit solcher Vorsicht, daß das Ausmaß meiner Unwissenheit nicht sichtbar wurde; das Resultat war für mich höchst erstaunlichen Charakters. Ich fand heraus, daß ich beinahe zwei volle Jahre in Todestrance gelegen hatte und in dieser Zeit große politische Veränderungen stattgefunden hatten. Die ins Exil getriebene königliche Familie war wieder in den Thron eingesetzt worden; die wohl erstaunlichste Umkehr der Gefühle, die jemals in einer Nation registriert worden ist, hatte sich in England vollzogen. Aber ich persönlich war noch nicht zu dem ganzen Schrecken dessen erwacht, was ich an Worten an mich gerichtet gehört hatte, sondern maß dem noch keine sehr klar umrissene Bedeutung zu. Nein, ich war mir noch beileibe nicht des ganzen Horrors dessen bewußt, was ich nunmehr war, aber ich sollte bald genug herausfinden, was die Worte, welche jenes mysteriöse Wesen zu mir gesprochen hatte, bedeuteten. Ich war ein verfluchtes Wesen, das von allen Menschen gemieden wurde, ein Abscheu, eine Widerwärtigkeit und ein Ekel. Ich fühlte mich ganz krank und schwach, als ich durch die Straßen der Stadt ging, und doch ekelte mich der Anblick von allem Eßbaren, das ich irgendwo sah. Ich kam zu meinem einstigen Haus und sah, daß es niedergebrannt worden war; nur noch ein Haufen verkohlter Ruinen befand sich dort, wo es einst gestanden hatte. Aber selbst an jener Ruine hatte ich noch lebhaftes Interesse, denn von Zeit zu Zeit hatte ich beträchtliche Summen Geldes unter dem Boden des untersten Zimmers vergraben, und da von diesem geheimen Schatz nur ich etwas wußte, hatte ich allen Grund zu der Annahme, daß er dort unberührt geblieben war. Ich wartete ab, bis der Mond von ziehenden Wolken verdunkelt wurde, und dann, mit meiner intimen Kenntnis der Örtlichkeit, begann ich in der Ruine zu graben, entfernte den Schutt, bis ich fast zu jener Stelle vorgedrungen war, an der immer noch mein Gold versteckt liegen mußte. Aber dann überraschte mich der Morgen, ich konnte nicht mehr weitergraben, und so versteckte ich mich in der Ruine, die einmal mein Heim gewesen war, den ganzen langen Tag, ohne mich auch nur einmal aus meinem Versteck herauszurühren. Oh, es war ein elend langer, qualvoller Tag. Ich konnte das fröhliche Plappern spielender Kinder hören. Ganz in der Nähe war ein Gasthaus, und ich konnte dort geräuschvolle Zecher Lieder gröhlen hören, die während des Commonwealth strengstens verboten gewesen waren. Ich sah in der Nähe von dort, wo ich verborgen lag, einen armen Unglückswurm, der beinahe zu Tode gejagt worden war; denn der Art seiner Kleidung und der Fasson seines Haarschnitts nach gehörte er jener Partei an, die inzwischen die Macht verloren hatte und deren Mitglieder unerbittlich verfolgt wurden. Aber endlich kam die langerwartete Nacht. Sie war so dunkel wie die vorige, was mir natürlich sehr willkommen war. Ich hatte in den Trümmern ein altes, rostiges Messer gefunden, mit dem ich mich nun daran machte, meinen Schatz auszugraben. Und das Glück war mir hold, denn ich fand alles so, wie ich es einst gelassen hatte. Nicht eine Guinea war entfernt worden, obwohl es in der unmittelbaren Nachbarschaft Leute gab, die für einen solchen Goldschatz, wie ich ihn gehortet hatte, bedenkenlos ein Menschenleben geopfert hätten. Ich zog keinerlei Erkundigung über irgend jemanden ein, der zu meinem Haus gehört hatte, denn ich fürchtete, nur schreckliche oder allenfalls ausweichende Antworten zu bekommen. Aber eine kleine, höchst interessante Information erhielt ich doch, als ich die Ruine verließ, obwohl ich nicht darum gebeten hatte. »He«, sagte einer von zwei Männern, die vor dem Grundstück stehengeblieben waren, »hast du schon jemals einen derart armen Teufel gesehen?« »Du meine Güte, ja«, sagte der andere. »Sein Anblick würde genügen, einem den Kanarienvogel sauer zu machen. Er scheint aus der Ruine des Mortimer-Hauses herausgekommen zu sein. Apropos, hast du jemals gehört, was aus dem eigentlich geworden ist?« »Ja, sicher. Der wurde doch bei irgendeinem Krawall von zwei von Cromwells Dragonern erschossen.« »Ja, jetzt entsinne ich mich. Er hatte seinen Sohn ermordet, nicht wahr?« Ich ging weiter. Jene Worte schienen mir wie ein Feuerstrahl durch das Gehirn zu fahren, und ich fürchtete, der Sprecher könnte das Thema noch breiter ausführen. Ein leiser Nieselregen hatte inzwischen zu fallen begonnen, der bewirkte, daß die Straßen völlig verlassen dalagen, aber bestens vertraut, wie ich mit der Stadt war, ging ich weiter, bis ich in jenes Viertel kam, das hauptsächlich von Juden bewohnt wird, von denen ich wußte, daß sie mein Geld nehmen würden, ohne mir lästige Fragen zu stellen, was ich benötigte. Und so geschah es auch. Kaum war eine weitere Stunde vergangen, da tauchte ich reich gekleidet wie ein Kavalier jener Epoche auf und hatte dem geflissentlichen Israeliten für die Kleidung kaum mehr als das Vierfache gezahlt, was sie in Wirklichkeit wert war. So stand ich nun mitten in London mit mehreren hundert Pfund in der Tasche und der schrecklichen Ungewißheit im Herzen, wer oder was ich selber war. Ich wurde langsam immer schwächer und schwächer; ich fürchtete, ohne eigenes Quartier bald jemandem zum Opfer zu fallen, der – wenn er sah, wie entkräftet ich war – mich trotz des formidablen Rapiers an meiner Seite um alles berauben würde, was ich besaß. Meine ganze frühere Karriere ist viel zu lang und wildbewegt gewesen, als daß ich von ihr hier auch nur eine kurze Schilderung geben könnte. Alles, was ich hier berichten will, ist, wie ich zu der Überzeugung kam, daß ich ein Vampir war und das Menschenblut die einzige mir bekömmliche, meine neue Existenz erhaltende Nahrung war. Ich ging weiter, bis ich in eine Straße kam, wo sehr große, aber unmoderne und heruntergekommene Häuser standen, die sich jetzt zumeist im Besitz von Personen befanden, die sich ein Gewerbe daraus machten, einzelne Apartments zu vermieten; dort hoffte ich, eine sichere Bleibe zu finden. Da ich keinerlei Schwierigkeiten über die Mietbedingungen machte, fand ich auch bald etwas Passendes; ich wurde in eine leidlich hübsche Suite von Zimmern in dem Haus einer anständig aussehenden Witwe geführt, die zwei junge, blühende Töchter hatte, die mich, den neuen Mieter, mit allem anderen als wohlgefälligen Blicken betrachteten; mit meinem gespenstischen, kadaverhaften Aussehen versprach ich ihnen wohl kaum, ein angenehmer Hausgefährte zu werden. Nun, darauf war ich vorbereitet gewesen, denn ich hatte inzwischen einen Blick in den Spiegel geworfen, und der hatte genügt; ich kann wohl behaupten, niemals ist ein schrecklicheres Skelett, angetan mit Samt und Seide, durch die Straßen der City gewandelt. Als ich mich auf mein soeben erst gemietetes Zimmer zurückgezogen hatte, fühlte ich mich so schwach und krank, daß ich kaum noch einen Fuß dem anderen nachziehen konnte; verzweifelt überlegte ich, was ich dagegen tun könnte, als plötzlich ein seltsames Gefühl über mich kam, was mir vielleicht schmecken würde – was, nun was? Blut, ja, rotschäumendes, frisches Blut, das gleich Fontänen aus den Venen eines keuchenden Opfers sprudelt. Eine Uhr im Treppenhaus schlug ein Uhr nachts. Ich stand von meinem Bett auf und horchte; im Haus war alles still – still wie in einem Grab. Es war ein großes, altes, weitverzweigtes Gebäude, das zweifelsohne einmal einem reichen und bedeutenden Mann seiner Zeit gehört hatte. Mein Zimmer war eines von sechs, die von einem Korridor von beträchtlicher Länge abgingen, der quer durch das ganze Haus führte. Auf diesen Korridor schlich ich hinaus und horchte erneut, volle zehn Minuten lang, aber ich hörte nicht das leiseste Geräusch, außer meinem eigenen verhaltenen Atem. Das erkühnte mich in meinem mit jedem Augenblick noch wachsenden Appetit auf frisches Blut so, daß ich mich zu fragen begann, aus wessen Venen ich mir am besten diese Stärkung und Nahrung holen könnte. Aber wie hatte ich da vorzugehen? Wie sollte ich wissen, welchen Schläfer in dem großen Haus ich am ungefährdetsten attackieren konnte, denn daß ich dazu jemanden attackieren mußte, war mir inzwischen natürlich klar. Ich stand da wie ein böser Geist, der über die Mittel und Wege nachsann, sich ein Opfer zu holen. Und gerade da kam wieder ein neuer Schwächeanfall über mich, jenes entsetzliche Schwächegefühl, das mit jedem Moment stärker wurde und mich völlig zu übermannen drohte. Ich fürchtete, daß ich nach einem neuerlichen Schwächeanfall nicht mehr imstande sein würde, wieder aufzustehen; und so seltsam das auch erscheinen mag, ich hing plötzlich verzweifelt an diesem neuen Leben, das mir da gegeben worden war. Ich schien bereits mit allen dessen Schrecken, aber noch nicht mit dessen Freuden vertraut zu sein. Plötzlich lichtete sich das Dunkel in dem Korridor, weicher Silberschein fiel herein, und ich sagte mir: »Der Mond muß aufgegangen sein.« Ja, tatsächlich war der helle und schöne Mond, der solch einen wiederbelebenden Einfluß auf mich gehabt hatte, als ich inmitten der Gräber gelegen hatte, hinter einer Wolkenbank am östlichen Himmel hervorgekommen, und sein Schein fiel zu einem kleinen Fenster herein. Das Mondlicht erfüllte von dort aus den ganzen Korridor, ihn zwar nur schwach, aber wirksam genug erhellend, um mich ganz klar die verschiedenen Türen erkennen zu lassen, die in die diversen Zimmer führten. Und so kam es, daß ich zwar genügend Licht hatte für alles, was ich unternehmen wollte, aber sonst keinen weiteren Anhalt. Die Mondstrahlen, die mir ins Gesicht fielen, schienen mir jedoch vorübergehend neue Kräfte zu verleihen. Erst viel später lernte ich aus Erfahrung kennen, daß sie auf mich immer eine solche belebende Wirkung haben, aber schon damals spürte ich es, obwohl ich diese Wirkung noch keineswegs dem königlichen Himmelsgestirn der Nacht zuschrieb. Ich ging den Korridor entlang und spürte plötzlich einen Einfluß, der mich zu einer bestimmten Tür hinzog. Ich weiß nicht, wie und woher das kam, aber ich legte meine Hand auf den Türgriff und sagte mir sofort: »Da drinnen werde ich mein Opfer finden.« Ich hielt jedoch erst noch einen Moment inne, denn plötzlich wurde mir bewußt, welch schreckliche Tat ich zu begehen im Begriff war und welch schwere Konsequenzen sich daraus vielleicht für mich ergeben konnten. Selbst nachdem ich so weit gegangen war, wäre ich vielleicht immer noch vor der Tat selbst zurückgezuckt, wenn ich nicht gerade im nämlichen Augenblick einen neuen Schwächeanfall gespürt hätte, so entsetzlich und verheerend, daß ich überzeugt war, es würde mein sicherer Tod sein, wenn ich nicht sofort etwas dagegen unternähme. Daraufhin zögerte ich nicht mehr länger; ich drückte die Klinke nieder, glaubte aber sicher, dadurch entdeckt zu werden. Und so ließ ich die Tür etwa einen Zollbreit offenstehen und floh zu meinem eigenen Zimmer zurück. Ich horchte gespannt, aber es erfolgte weder ein Alarm, noch rührte sich etwas in irgendeinem der anderen Zimmer – die gleiche totenähnliche Stille wie vorher lag über dem Haus, und ich hatte das Gefühl, daß ich immer noch sicher war. Ein weicher Strahl von gelbem Licht war durch den Spalt jener Tür gefallen, als ich sie geöffnet hatte. Er mischte sich seltsam mit dem silbrigen Mondlicht, und ich schloß daraus, korrekt genug, wie ich später feststellte, daß in dem Zimmer eine Lampe brannte. Es dauerte weitere zehn Minuten, bis ich mich wieder soweit gefaßt hatte, daß ich aus meinem Zimmer schlüpfen und zu jenem des mir vom Schicksal bestimmten Schläfers zurückschleichen konnte; aber schließlich sagte ich mir, daß ich es nun gefahrlos tun könnte; außerdem schwand die Nacht schnell dahin. Wenn überhaupt, dann mußte ich sofort handeln, ehe das erste Licht des Morgengrauens die Geister der Nacht vertrieb, und vielleicht blieb mir dann gar keine Kraft mehr, noch zu handeln. »Was«, sagte ich mir, »wird nach weiteren vierundzwanzig Stunden Erschöpfung aus mir geworden sein? Werde ich dann noch die Kraft haben, die Wahl zu treffen, was ich will und was ich nicht will? Nein, noch einmal vierundzwanzig Stunden Entkräftung werde ich wahrscheinlich nicht überleben.« Dies war es, was für mich den Ausschlag gab. Mit äußerster Vorsicht und auf Zehenspitzen näherte ich mich erneut jener Schlafzimmertür, die ich spaltbreit geöffnet hatte. Diesmal zögerte ich nicht mehr, sondern überquerte sofort die Schwelle und sah mich um. Es war die Schlafkammer der jüngeren Tochter meiner Wirtin, die nach meiner Schätzung etwa sechzehn Jahre alt war. Wohl aufgrund meiner schrecklichen Erscheinung waren mir die Töchter soweit wie möglich aus dem Weg gegangen, so daß ich mir noch gar kein genaueres Urteil über ihr Alter und ihr Aussehen hatte bilden können. Ich wußte nur, es war die jüngere, denn sie trug ihr Haar lang, und sie trug es in Locken, die lose über das Kissen fielen, auf welchem sie schlief, während ihre ältere Schwester, wie ich bemerkt hatte, ihr Haar glatt und vom Nacken aus hochgesteckt trug. Ich stand neben dem Bett und sah auf dieses hübsche Mädchen herab, das in dem ganzen Stolz seiner jungen Schönheit schlummerte. Seine Lippen waren geteilt, als sähe es in seinem Traum irgendein angenehmes Bild, das es selbst im Schlaf noch lächeln ließ. Sie murmelte auch zweimal ein Wort, welches ich für den Namen von irgend jemandem hielt – vielleicht das Idol ihres jungen Herzens –, aber er war zu undeutlich ausgesprochen, als daß ich ihn verstand; und es kümmerte mich auch nicht, was da vielleicht ihr gehütetes Geheimnis war. Ich legte keinen weiteren Wert auf ihre Zuneigung, noch war ich irgendwie eifersüchtig; bald würde sie mich sowieso verabscheuen und abgrundtief hassen. Einer ihrer zarten, exquisit gerundeten Arme lag auf der Bettdecke; auch ihr alabasterweißer Hals war teilweise meinem Blick ausgesetzt, aber ich empfand keine Liebesleidenschaft – Nahrung war es, was ich wollte. Ich sprang auf sie drauf. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, aber nicht, bevor ich mir einen langen Zug von Lebensblut aus ihrem Hals gesichert hatte. Der genügte mir. Ich spürte, wie er mir wie Feuer durch die Venen rann, und ich fühlte mich sofort gekräftigt. Von diesem Moment an wußte ich, was künftig meine Nahrung sein würde; es war Blut – das Blut von Zarten und Schönen. Das Haus war sofort alarmiert und aufgeschreckt, aber nicht, bevor ich mich zurück auf mein eigenes Zimmer hatte flüchten können. Ich war nur teilweise angezogen, und jene paar Kleider warf ich ab, stieg in mein Bett und täuschte vor zu schlafen. Und als dann der Gentleman, der gleichfalls im Haus schlief und von dessen Anwesenheit ich bis dahin nichts gewußt hatte, laut an meine Tür klopfte, tat ich so, als würde ich erschreckt erwachen, und rief mit ängstlicher Stimme: »Was ist? Was ist? Um Gottes willen, sagen Sie mir, steht das Haus in Flammen?« »Nein, nein – aber stehen Sie auf, Sir, stehen Sie auf. Jemand Fremder ist im Haus. Ich glaube, ein Mordversuch ist gemacht worden, Sir.« Ich stand auf und öffnete die Tür, so daß er bei dem Licht der Kerze, die er in der Hand hielt, sehen konnte, daß ich mich erst ankleiden mußte; er war selbst nur halb angezogen, unter dem Arm trug er seinen Degen. »Eine merkwürdige Sache«, sagte er, »aber ich habe ganz deutlich einen Alarmschrei gehört.« »Ich ebenfalls«, sagte ich, »aber ich glaubte, ich hätte nur geträumt.« »Hilfe! Hilfe! Hilfe!« schrie die Witwe, die aufgestanden war, aber noch auf der Schwelle ihrer eigenen Kammer stand. »Diebe! Diebe!« Bis dahin hatte ich mich soweit angekleidet, daß ich geziemend in Erscheinung treten konnte; ebenfalls meinen Degen unter dem Arm, kam ich in den Korridor hinaus. »Oh, Gentlemen – Gentlemen!« jammerte die Wirtin. »Haben Sie auch etwas gehört?« »Ja, einen Schrei, Madam«, sagte mein Mitmieter. »Haben Sie schon in die Schlafkammern Ihrer Töchter geschaut?« Das Zimmer der jüngeren Tochter lag am nächsten, und in dieses ging sie deshalb zuerst. Einen Moment darauf erschien sie wieder auf der Schwelle, im Gesicht weiß wie ein Laken, rang die Hände und stöhnte: »Mord! Mord! Mein Kind – mein Kind ist ermordet worden, Master Harding.« Das war der Name meines Mitmieters. »Reißen Sie eines der Fenster auf und rufen Sie nach der Wache«, sagte er zu mir. »Ich werde das Zimmer durchsuchen, und wehe jedem, den ich unerlaubt in dessen Wänden finde.« Ich tat, wie er gesagt hatte, lehnte mich aus dem Fenster und rief nach der Wache, aber keine Wache kam; dann, bei einem zweiten Besuch im Zimmer ihrer Tochter, stellte die Wirtin fest, daß diese nur ohnmächtig war und daß sie sich durch das Blut an ihrem Hals hatte täuschen lassen, sie sei ermordet worden; daraufhin kam das Haus wieder halbwegs zur Ruhe, und da jetzt sowieso der Morgen nahe war, zog Mr. Harding sich wieder auf sein Zimmer zurück und ich mich auf das meine, und wir überließen es der Wirtin und ihrer älteren Tochter, am Bett der jüngeren zu wachen. Wie herrlich wiederbelebt ich mich fühlte – ich war eine völlig neue Kreatur, als die hellen Sonnenstrahlen in mein Zimmer fielen. Ich kleidete mich an und wollte gerade das Haus verlassen, als Mr. Harding aus einem der Zimmer im Parterre trat und mich abfing. »Sir«, sagte er, »ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen, aber ich bin sicher, ein allgemeines Gefühl von Anstand und Ritterlichkeit wird Sie veranlassen, alles in Ihren Kräften Stehende zu tun, einer so schrecklichen Bedrohung wie in der letzten Nacht vorzubeugen, damit sie sich nicht wiederholen kann.« »Bedrohung, Sir?« sagte ich. »Bedrohung von wem und durch was?« »Eine sehr berechtigte Frage«, sagte er, »aber gleichzeitig eine, die ich kaum beantworten kann. Das Mädchen behauptet, sie sei davon erwacht, daß jemand sie in den Hals biß, und als Beweis dafür weist sie auch tatsächlich Bißspuren vor. So entsetzt ist sie darüber, daß sie erklärt, niemals wieder schlafen zu können.« »Sie erstaunen mich«, sagte ich. »Sicher, die Sache ist so erstaunlich, daß man niemandem die Zweifel verdenken kann, die er haben mag. Aber wenn Sie und ich, die wir beide Bewohner dieses Hauses sind, heute nacht in dem Korridor Wache halten würden, könnte das auf die Einbildung des jungen Mädchens eine beruhigende Wirkung haben, und vielleicht gelingt es uns dadurch, dem nächtlichen Störenfried auf die Spur zu kommen.« »Gewiß«, sagte ich, »ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, und es wird mir ein Vergnügen sein.« »Gut, machen wir dann gleich jetzt aus, daß wir uns um elf Uhr abends in Ihrem oder meinem Apartment treffen.« »In welchem immer Sie wollen, Sir. Welches Sie für das geeignetere halten.« »Ich schlage meines vor, welches die letzte Tür im Korridor ist und wo ich mich glücklich schätzen werde, Sie um elf zu sehen.« Es war da etwas an den Manieren dieses jungen Mannes, das mir nicht ganz gefiel, und doch konnte ich nicht zu einem positiven Schluß kommen, ob er mich verdächtigte; daher hielt ich es für voreilig, zu fliehen, wenn dafür vielleicht überhaupt kein Anlaß bestand. Im Gegenteil, ich entschloß mich, das Ergebnis des Abends abzuwarten, das vielleicht verhängnisvoll für mich sein würde, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls glaubte ich, mich schon irgendwie aus der Klemme ziehen zu können. Wenn mir tatsächlich vom Schicksal bestimmt war, in meiner neuen schrecklichen Existenz als ein von der menschlichen Gesellschaft Ausgeschlossener zu leben, gewöhnte ich mich lieber beizeiten daran und sah zu, wie ich mich aus solchen Schwierigkeiten retten konnte, die sich immer wieder ergeben würden. Also verließ ich mich auf meine eigene Stärke und gedachte, diese skrupellos zu nutzen; ich wartete in leidlich gefaßter Haltung die Nacht ab. Während des Tages vergnügte ich mich durch Spazierengehen und bemerkte die vielen Veränderungen, die in lediglich zwei Jahren in London vor sich gegangen waren. Aber es waren eben zwei sehr bedeutsame, schicksalhafte Jahre gewesen. Die Gefühle und Gewohnheiten der Leute hatten eine völlige Revolution durchgemacht, über welche ich noch mehr erstaunt war, als ich dann erfuhr, mit welch heimtückischem Verrat die Restauration der exilierten Stuart-Familie bewirkt worden war. Der Tag ging weiter. Ich verspürte keinerlei Bedürfnis nach irgendwelchen Erfrischungen; ich fühlte mich längst wieder vollends hergestellt, und wenn ich ab und zu einen kräftigenden Schluck köstliches Lebensblut bekam, wie in der letzten Nacht, würde das genug frisches Mark für meine Knochen sein. Davon war ich überzeugt. Als ich das Haus betrat, das ich zu meinem zeitweiligen Heim gemacht hatte, konnte ich sehen, daß mein Gefühl, mein Aussehen hätte sich inzwischen grundlegend verbessert, nicht von anderen geteilt wurde, denn die gesamte Familie schrak vor mir zurück, als sei ich mit einer ansteckenden Krankheit behaftet und als wäre die bloße Luft, die ich atmete, hassenswert und verderblich. Ich war überzeugt, daß in der Zwischenzeit über mich gesprochen worden war und daß ich jetzt wieder im höchsten Grade verdächtigt wurde. Sicher hätte ich das Haus unverzüglich leise und still verlassen können, aber eine Art Trotzgefühl wurde in mir wach, das mich davon abhielt. Ich harte das Gefühl, als sei ich verletzt worden und müßte mich deshalb gegen etwas wehren, das nach Unterdrückung aussah. »Warum«, sagte ich, »bin ich eigentlich aus dem Grab gerettet worden? Nur um einem böswilligen Schicksal als Spielball zu dienen? Gewiß, mein Verbrechen war schwer, aber dafür habe ich auch genug gelitten, durch meine Todesqualen genug gebüßt. Oder man hätte mich lieber gleich da im Grab ruhen lassen sollen.« Diese Gefühle gewannen immer mehr Platz in meinem Denken, beherrschten mich bald völlig, und in einer Art trotziger Verzweiflung glaubte ich deshalb, alle Pläne, mich noch weiter zu strafen, vereiteln zu müssen, selbst wenn dieses der Vorsehung selbst zuwiderlaufen sollte. Dies war letztlich der Grund, warum ich mich nicht als Feigling zeigen und beim ersten Anzeichen von Gefahr fliehen wollte. Ich saß in meinem Zimmer, bis die Stunde meiner Verabredung mit Mr. Harding kam, ging dann zuversichtlichen Schrittes den Korridor hinauf, wobei ich die Spitze meiner Degenscheide über den Boden klappern ließ, und klopfte kühn an seine Tür. Es schien mir, als zögerte er ein wenig, ehe er mich bat, hereinzukommen, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Er saß voll angekleidet an einem Tisch, und außer seinem Degen hatte er vor sich auf dem Tisch eine riesige Pistole liegen, beinahe halb so lang wie ein Karabiner. »Ich sehe, Sie sind gut vorbereitet«, sagte ich, indem ich auf die Pistole deutete. »Ja«, sagte er, »und ich werde keineswegs zögern, sie zu gebrauchen.« »Was wollen die jetzt wieder?« »Wer will was?« fragte er. »Ich weiß nicht«, sagte ich, »aber mir war so, als hätte da gerade jemand unten im Haus Ihren Namen gerufen.« »So, wirklich? Dann entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, vielleicht haben sie unten etwas entdeckt.« Es stand eine Karaffe Rotwein auf dem Tisch, und während Harding weg war, goß ich ein Glas voll vorn in den Lauf der Pistole hinein. Dann wischte ich die Mündung sorgfältig mit der Manschette meines Jacketts ab, so daß äußerlich nichts davon zu merken war, daß ich das Pulver durchnäßt hatte. Als er zurückkam, sah er mich argwöhnisch an und sagte: »Niemand hat mich gerufen. Wie kommen Sie denn dazu, zu behaupten, jemand hätte mich gerufen?« »Weil ich glaubte, ich hätte gehört, wie jemand Sie rief. Es wird einem Menschen ja wohl noch gestattet sein, sich dann und wann einmal zu irren.« »Ja, aber ich bin dennoch überrascht, wie Ihnen ein solcher Irrtum unterlaufen konnte.« Es war nicht ganz einfach, ohne zu zucken seinem durchdringenden Blick standzuhalten, aber schließlich wandte er ihn ab, nahm seine Pistole in die Hand und überprüfte das Zündhütchen. Das war natürlich in Ordnung, und offenbar befriedigt legte er die Pistole wieder hin. »In den Korridor wird ein Tisch mit zwei Stühlen gestellt werden«, sagte er, »so daß wir dort ganz bequem sitzen können. Ich will keineswegs voraussagen oder behaupten, daß etwas geschehen wird, aber wenn, dann werde ich von diesen Waffen hier rücksichtslos Gebrauch machen; das möchte ich noch einmal wiederholen.« »Daran zweifle ich nicht und kann Ihnen das nur empfehlen«, sagte ich. »Jene Pistole da muß eine schreckliche Waffe sein. Hat sie manchmal auch Fehlzündungen?« »Nicht, daß ich wüßte«, sagte er. »Außerdem habe ich sie mit besonderer Sorgfalt geladen, und deshalb ist es beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, daß sie ausgerechnet diesmal nicht losgehen sollte. Trinken Sie ein Glas Wein?« Genau in diesem Augenblick kam von der Haustür lautes Klopfen. Ich sah einen Ausdruck von Genugtuung über sein Gesicht kommen, er sprang auf die Beine und brachte die Pistole auf mich in Anschlag. »Wissen Sie, was jenes Klopfen zu bedeuten hat?« sagte ich. »Zu solch einer Stunde?« Gleichzeitig schleuderte ich mit einer Armbewegung seinen Degen vom Tisch und damit außerhalb seiner Reichweite. »Ja«, sagte er ganz aufgeregt, »Sie sind mein Gefangener. Sie waren es, der letzte Nacht das Unheil und Durcheinander gestiftet hat. Das Mädchen ist bereit zu schwören, daß Sie es waren, und wenn Sie jetzt zu fliehen versuchen, blase ich Ihnen mit einer Kugel das Gehirn aus.« »Feuern Sie nur auf mich, und nehmen Sie die Konsequenzen in Kauf«, sagte ich. »Aber auch die Drohung allein genügt mir schon, Sie werden für Ihre Unverschämtheit sterben.« Ich zog meinen Degen, und er wähnte sich offenbar in unmittelbarer Lebensgefahr, denn er drückte sofort die Pistole ab, mit der Mündung direkt in mein Gesicht. Natürlich ging bei der nur das Pulver in der Pfanne los, sonst nichts, aber einen Moment darauf ging dafür mein Degen durch ihn hindurch wie ein Blitz. Es war eine gute Klinge, die mir der Jude verkauft hatte – das Heft stieß gegen sein Brustbein, und er schrie auf. Bum, bum, bum, kam es indessen wieder von der Haustür. Ich zog die blutige Klinge zurück, rammte sie, während ich die Treppe hinunterraste, in die Scheide und kam unten gerade zurecht, meine Wirtin davon abzuhalten, die Haustür zu öffnen. Ich packte sie am Genick, schleuderte sie ein ganzes Stück weit in den Flur nach hinten, öffnete dann selber die Haustür, trat hinter sie und ließ drei Männer an mir vorbei ins Haus stürzen. Dann kam ich hinter der Tür hervor, verließ unauffällig das Haus und war frei. Dieses letzte Abenteuer hatte mich weder besonders beeindruckt, noch verursachte mir der Tod Hardings irgendwelche Gewissensbisse; ich hatte ganz einfach nur getan, was getan werden mußte, um mir die Freiheit zu erhalten. Eilig ging ich die Straße entlang und schaute mich nicht ein einziges Mal um, bis ich weit genug weg war und mich sicher fühlte, daß jede Verfolgung ausgeschlossen war. Ich begann dann nachzudenken, was ich als nächstes zu tun hatte. Ich fühlte mich durch die Blutmahlzeit, die ich bereits zu mir genommen hatte, zwar wieder kräftig belebt, aber ich war noch so neu in meiner Vampir-Existenz, daß ich nicht die mindeste Ahnung hatte, wie lange eine solche Mahlzeit in der Wirkung anhalten würde, mir weiter Leben und Kräfte zu geben. Dabei war es eine ganz merkwürdige übernatürliche Art von Kräften, die ich in mir spürte und die absolut nichts gemeinsam hatten mit jenen, die ein normaler Mensch empfindet, wenn er sich im Vollbesitz seiner Vitalität fühlt. Nein, bei mir war es mehr; ich spürte eine geradezu magische Kraft, der nichts widerstehen konnte, die alle Hindernisse einfach hinwegfegen würde. Als ich schließlich stehenblieb, fand ich mich in der Pall Mall wieder, nicht weit vom St.-James-Palast entfernt, der letzthin so viele Wechsel erlebt hatte und Zeuge so vieler bemerkenswerter Veränderungen in den Affären von Monarchen gewesen war, daß allein die nackten kommentarlosen Chroniken darüber einen dickleibigen Wälzer ergeben hätten. Ich schlenderte bis zu dem offenen Gitter des königlichen Palastes vor, doch als ich jenes Viereck betreten wollte, das der Colour-Court genannt wurde, wies ein Wachtposten mich rüde zurück. So war es zu Zeiten Cromwells nicht gewesen, aber im Moment hatte ich völlig vergessen gehabt, daß sich die Dinge inzwischen grundlegend geändert hatten. Ich beuge mich immer der Autorität, wenn ich sehe, daß kein Weg an ihr vorbeiführt, und so wandte ich mich auch jetzt sofort zur Seite, ohne irgendeine Bemerkung zu machen. Aber gerade, als ich das tat, sah ich, wie sich nicht weit von dort, wo ich stand, eine kleine Tür öffnete, und zwei in dicke, braune Mäntel gehüllte Gestalten traten heraus. Auf den ersten Blick sahen sie nicht gerade wie Standespersonen aus, aber wenn man ihre Gesichter, ihre Gestalten und ihr Gehabe ein paar Sekunden lang genauer beobachtete, wie ich es tat, kam man zwangsläufig zu dem Schluß, daß es irgendwelche sehr hochgestellte Persönlichkeiten sein mußten. Abenteuer war für mich das Leben selbst, jetzt, da ich alle anderen Bande an die irdische Welt abgeschüttelt hatte, und ich hatte eine rücksichtslose Verachtung für alle Gefahren, was bei meiner einzigartigen gefeiten Art von Existenz nur natürlich war. Ich beschloß, diesen beiden Männern dicht genug zu folgen. »Sollen wir uns ein Vergnügen machen?« sagte der eine. »Ich bin sicher, daß uns die Ladies welches liefern werden«, entgegnete der andere. »Und doch waren sie bei unserem letzten Zusammentreffen ziemlich schüchtern, finden Sie nicht auch, Rochester?« »Eure Majestät –« »Pst, Mann, pst! Seien Sie doch nicht so unvorsichtig, mich in öffentlichen Straßen mit Majestät anzureden. Wenn ein Lauscher das hört, könnte es einen Hofskandal geben. Ich muß Sie doch bitten, etwas vorsichtiger zu sein.« »Aber der Name Rochester, den Sie gerade fallenließen, könnte ebenso leicht einen Hofskandal heraufbeschwören wie der –« »Pst, pst! Sagte ich tatsächlich gerade Rochester? Nun, nun, Mann, behalten wir Namen und Titel also für uns und kommen Sie schnell. Wenn wir die Ladys überzeugen können, herauszukommen, können wir mit ihnen in den Garten des Palastes gehen. Ich habe den Schlüssel zu jener bequemen kleinen Tür in der Mauer, die uns schon mehr als einmal gedient hat.« Natürlich hatte ich danach keinerlei Schwierigkeiten mehr, in dem einen Sprecher den restaurierten Monarchen, Charles den Zweiten, zu erkennen und in dem anderen seinen Favoriten und ausschweifenden Begleiter, Rochester, von dem ich schon allerhand gehört hatte, obwohl ich noch nicht lange genug wieder in dem Reich der Lebenden weilte, um schon einmal Gelegenheit gehabt zu haben, einen von ihnen zu sehen. Aber nachdem sie solchermaßen selbst bekannt hatten, wer sie waren, würde ich sie von nun an jederzeit wiedererkennen. Ich hatte mich sorgfältig außer Sicht gehalten, während der kleine Dialog geführt worden war, und so entdeckten sie mich nicht, obwohl sie mehr als einmal argwöhnische Blicke um sich geworfen hatten. Befriedigt, daß ihr unvorsichtiges Gespräch keinen Schaden angerichtet hatte, gingen sie eilig weiter in Richtung Pimlico. Charles und sein Begleiter hatten also nicht die mindeste Ahnung, welch ein schreckliches Wesen sich an ihre Fersen geheftet hatte. Wenn der König auch leichtsinnig genug war, so daß man ihm gefahrlos hätte folgen können, warf Rochester ständig lauernde, argwöhnische Blicke um sich, und mehr als einmal war ich dicht davor, von ihm entdeckt zu werden, entging dem aber durch mein geschicktes Verhalten und meine Behendigkeit. Pimlico war zu jener Zeit eine trostlose Gegend und weit von dem entfernt, was es heute ist. Aber sowohl der König als auch Rochester schienen sich dort bestens auszukennen; sie gingen eine beträchtliche Strecke schnurstracks weiter, bis sie in eine schmale, öde und verlassen daliegende Straße kamen, die auf beiden Seiten nicht von Häusern, sondern von Gartenmauern eingefaßt war. Nach der Höhe und Festigkeit dieser Mauern zu urteilen, mußten die Häuser, die dahinter standen, von einiger Bedeutung sein. »Bravo, bravissimo«, sagte der König. »Es ist uns gelungen, derart weit in feindliches Territorium vorzudringen, ohne bisher beobachtet worden zu sein.« »So scheint es«, entgegnete Rochester. »Glauben Sie, daß wir jene bestimmte Mauerstelle jetzt auch wiederfinden werden?« »Aber sicher finden wir die wieder. Ich habe die Ladys doch gebeten, dort ein Taschentuch oder irgendein anderes Zeichen hinzuhängen, damit es uns im Nachtdunkel den Weg weist, und dort flattert es auch schon.« Der König zeigte auf eine Stelle der Mauerkrone, an der ein Taschentuch geschwenkt wurde. Ein menschlicher Kopf erschien gegen den Nachthimmel, und eine Stimme, so süß, wie ich noch niemals im Leben gehört hatte, sagte: »Gentlemen, ich bitte Sie, gehen Sie wieder weg.« »Was?« sagte der König. »Wieder weggehen? Nachdem wir den ganzen weiten Weg gekommen sind. Ist das eine Weiberlaune?« »Nein«, sagte die Stimme. »Wir fürchten vielmehr, Gentlemen, wir werden beobachtet.« »Wir?« sagte Rochester. »Sie sagen wir, und doch ist Ihre hübsche Begleiterin nirgendwo zu sehen.« »Edler Sir«, sagte die Lady. »Es ist für unsereins nicht die leichteste Sache der Welt, auf einer Leiter zu stehen. Und noch viel weniger ginge es zu zweit.« »Hübsche Lady«, sagte der König. »Wenn Sie es nur irgendwie schaffen könnten, über die Mauer zu kommen, werden wir alle vier einen der angenehmsten und amüsantesten Spaziergänge der Welt machen. Ein Freund von mir, der ein Hauptmann in der Königlichen Garde ist, wird uns auf meine Bitte erlauben, in dem Privatgarten des St.-James-Palastes zu lustwandeln.« »Wirklich?« »Ja, meine Schöne. In jenem Garten, von welchem Sie vielleicht schon gehört haben, daß er der Lieblingsaufenthalt des fröhlichen Charles’ ist.« »Aber wir sind in Angst«, sagte die Lady, »unser Onkel könnte nach Hause kommen. Es ist wirklich sehr unschicklich, sehr indiskret, und wir sollten eine solche Sache eigentlich überhaupt nicht in Betracht ziehen. In der Tat, Gentlemen, sie wäre regelrecht skandalös – aber wie sollen wir jetzt über die Mauer kommen?« Alle zusammen lachten sie kichernd auf. Es war gewißlich eine höchst raffinierte kleine Rede, welche die Lady auf der Mauer gehalten hatte; sie ließ ganz trefflich erkennen, wie hier Neigung und Klugheit miteinander rangen. Und es war auch genau die Art von Rede, welche jene ansprach, an die sie gerichtet war. Nachdem das Gelächter ein wenig abgeebbt war, sagte Charles: »Aber mit Hilfe der Leiter können Sie doch, wenn Sie mit ihr auf der anderen Seite heraufgekommen sind, auf dieser ebenso leicht wieder hinab. Ich vermute, Ihnen fehlen wohl nur die Kräfte, sie herüberzuheben.« »Genauso ist es«, sagte die Lady. »Nun, ich glaube, mit Unterstützung meines Freundes Smith hier würde ich es schaffen; auf die Mauer heraufzukommen, und ich werde Ihnen dann helfen.« Mit Hilfe von Rochester schaffte Charles es auch tatsächlich, die Mauerkrone zu erklimmen, um den Schönen hinüberzuhelfen, die so ängstlich, aber doch auch so willens waren, ein wenig Gefahr für ihren Ruf zu riskieren, um im Königsgarten von St. James lustwandeln zu können. Mir kam jetzt der Gedanke, einen Zwischenfall zu inszenieren, aber andererseits wollte ich lieber nicht stören, sondern vielmehr beobachten, wie sich die Sache weiterentwickeln würde. Nachdem die beiden Ladys oben auf der Mauer waren, zog der Monarch die Leiter nach, und während Rochester diese, an der anderen Seite der Mauer angelehnt, hielt, stiegen die beiden Schönen ganz bequem und sicher auf ihr herab. Eilig entfernte sich dann die Gesellschaft in Richtung St. James. Ich folgte ihr mit großer Vorsicht, nachdem ich die Leiter genommen und rasch ein paar Grundstücke weitergetragen hatte. Die vier redeten und lachten in der denkbar fröhlichsten Art, bis sie zum Buckingham-Palast kamen, wo sie einen verschwiegenen Pfad einschlugen, der sie in den Garten von St. James bringen würde. Überhängende Bäume warfen hier solch undurchdringliche Schatten, daß ich mich der Gruppe gefahrlos auf Hörweite nähern konnte. So bekam ich mit, daß die Ladys inzwischen leicht alarmiert waren über soviel Geheimnistuerei und Verstohlenheit, in den königlichen Garten zu gelangen. »Gentlemen«, sagte die eine, »wir kommen nicht in den Garten mit, wenn Sie dazu nicht eine ordnungsgemäße Erlaubnis haben.« »Aber die haben wir«, sagte der König. »Nachdem mir diese Erlaubnis für einige Zeit genommen war, habe ich sie kürzlich wiedererhalten und noch ein paar andere Privilegien dazu, nach denen es mich schon sehnlichst verlangt hatte.« »Sie brauchen nicht das mindeste zu fürchten«, fügte Rochester, zu den Ladys gewandt, hinzu. Zu viert standen sie alle vor einer kleinen Tür, während der König ein paar Minuten lang mit einem Schlüssel fummeln mußte, bevor er das Schloß aufbekam. Endlich hatte er es geschafft, die Tür schwang auf. Der König ließ dann versehentlich den Schlüssel fallen, konnte ihn nicht wieder finden und mußte die Tür deshalb angelehnt lassen. So war es mir ohne weiteres möglich, der Gruppe zu folgen, als sie durch die Tür gegangen war. Die Örtlichkeit lag in tiefstem Dunkel. Unter meinen Schuhen konnte ich den feinen, weichen Kies knirschen hören; aus Angst, das könnte meine Anwesenheit verraten, ging ich zur Seite, bis ich auf einen weichen Rand kam, der aus Turf zu bestehen schien. Der Duft süßer Blumen drang mir in die Nase, und wenn der Nachtwind leise durch die Bäume strich, kam von ihnen ein Säuseln, so angenehm und zart wie Musik. Der weiche Boden verhinderte absolut, daß meine Schritte gehört werden konnten, und so war ich bald ganz dicht an der Gruppe dran, die ich vor dem Eingang eines kleinen Lustpavillons stehend fand, aus dessen buntverglastem Fenster Lichtschein fiel. Die Ladys schienen ziemlich nervös zu sein, und doch hatte sich die Affäre für sie als so charmantes und romantisches Abenteuer angelassen, daß sie jetzt wohl niemals mehr umgekehrt und zurückgegangen wären, selbst wenn sie alle Möglichkeiten der Welt dazu gehabt hätten. Schließlich gingen sie alle in den Pavillon hinein. Ich schlich hinterher und fand ein Fenster, durch das ich einen guten Blick ins Innere hatte. Ich war höchst amüsiert über das, was ich sah. Das Innere war höchst geschmacklos dekoriert, obwohl es ein wenig zum Frivolen neigte, und die Bilder, als Fresken an die Wände gemalt, waren wohl auch nicht gerade das, was strikte Prüderie als korrekt betrachtet haben würde, wiewohl an ihnen auch nichts eigentlich Anstößiges war. Ein Tisch stand in der Mitte und war mit reichem Konfekt und Wein gedeckt, während die Lampe, deren Schein durch das buntverglaste Fenster gefallen war, an drei massivgoldenen Ketten von der Decke hing. Alles in allem war es ein höchst geschmackvoll eingerichteter kleiner Liebespavillon. Der König und Rochester drängten die Ladys jetzt, Wein zu trinken, und zum erstenmal hatte ich nun Gelegenheit, mir die Gesichter der verschiedenen Personen, denen ich gefolgt war, genauer anzusehen. Ich muß gestehen, daß ich es mit einiger Neugier tat. Die Ladys mußte man fraglos als sehr hübsch bezeichnen, vor allem die jüngere, die dem König zugefallen war. Sie hatte ein Gesicht, so unschuldig und süß, daß ich sie unwillkürlich bedauerte. Der König war ein kleiner dunkler Mann mit einem scharf geschnittenen, nicht unhübschen Gesicht, aus dem mir jedoch Tücke und Verschlagenheit zu sprechen schienen. Was Rochester betraf, so war er ausgesprochen häßlich. Sein Gesicht war ziemlich flach und von fahlgrauer Farbe; sicher war es nicht dazu angetan, ihm die Gunst einer Lady zu gewinnen. Aber dazu mochte er eine Zunge haben, die selbst einen Engel des Himmels betören würde. Solche Fähigkeiten zählen bei Frauen, die außer Schönheit auch Verstand haben, weit mehr, und Frauen ohne Verstand sind es gar nicht wert, gewonnen zu werden. »Nein«, hörte ich den König jetzt sagen. »Sie haben hier nur ganz erlesene Weine, und den hier können Sie ganz beruhigt trinken.« Aber das jüngere der beiden Mädchen schüttelte den Kopf. »Geben Sie her«, sagte Charles daraufhin lachend, nahm das Glas, von dem das Mädchen kaum genippt hatte, und kippte es in einem Zug hinunter. »Ich werde Sie schon noch überzeugen, wie hervorragend dieser Wein ist.« Die Lady, mit der Rochester in leiser Unterhaltung beisammenstand, hatte keine solche Skrupel, sondern trank zwei Gläser so schnell, wie sie ihr nacheinander gereicht wurden, auf einen Zug aus und redete völlig ungeniert, bewunderte den Pavillon, die Fresken, die Wandbehänge und die Möbel; schließlich fragte sie noch, ob manchmal auch der König selber hierherkäme. Rochester erging sich daraufhin, um sie an der Nase herumzuführen, in mystifizierenden Reden, während ich meine Aufmerksamkeit wieder dem König und der jüngeren Frau zuwandte, die von den beiden zweifellos die begehrenswertere war. Der König hatte leise auf sie eingesprochen, als sie plötzlich zwei Schritte vor ihm zurückprallte, mit hochrotem Kopf und allen Anzeichen tiefster Empörung. »Louisa«, erklärte sie laut, »ich fordere deinen Schutz, denn in deiner Obhut wurde ich gelassen. Bringe mich sofort nach Hause, oder ich werde meinem Onkel sagen, daß du sein Vertrauen schändlich verraten hast, indem du mir einredetest, es sei nichts weiter dabei, sich mit diesen Gentlemen zu treffen.« »Pah, das Kind muß verrückt sein«, sagte Louisa. »Ja, völlig verrückt«, sagte der König, indem er erneut auf die Jüngere zuging. Diese wandte sich um und floh zur Tür des Pavillons. Ich weiß nicht, was für ein Impuls mich dazu trieb, aber ich verließ sofort das Fenster, rannte von außen her zur Tür des Pavillons und kam dort gerade zurecht, das herausstürzende Mädchen in meinen Armen aufzufangen. Das Licht fiel mir voll ins Gesicht, während ich dem König gegenüberstand. »Wache!« schrie er. »Wache!« Louisa heuchelte, in Ohnmacht gefallen zu sein, während sich das jüngere Mädchen verzweifelt an mich klammerte als seinen einzigen Beschützer und ausrief: »Retten Sie mich! Oh! Retten Sie mich!« »Die Gartentür ist offengeblieben«, raunte ich ihr zu. »Folgen Sie mir rasch, wir dürfen nicht einen Moment verlieren.« Zusammen flohen wir. Ich hatte sie gerade durch das kleine Gartentor geschoben und wollte selber hindurchschlüpfen, als ein Schuß von einer der Wachen mich traf; ich wurde zu Boden geschleudert, als hätte die Faust eines Riesen mich niedergeschlagen. Blut rauschte mir vom Herzen in den Kopf; ein, zwei Sekunden lang spürte ich einen brennenden Schmerz, der ganz entsetzlich war. Dann schien mich ein Meer von gelbem Licht zu umfangen. An mehr erinnere ich mich nicht mehr. Hinterher fand ich dann heraus, daß dies mein zweiter Tod gewesen war und daß Rochester, der Günstling des Königs, ausdrücklich den Befehl gegeben hatte, mich zu erschießen, statt mich gefangenzunehmen oder gar fliehen zu lassen, denn er fürchtete wohl noch mehr als der Monarch die Enthüllung seiner Laster. Ich glaube nicht, daß Charles, falls er die Befehle gegeben hätte, mich in dieser Art hätte niedermachen lassen, obwohl es schwer vorauszusagen ist, was Könige tun und was nicht, wenn sie ihre Pläne durchkreuzt sehen.  notes Примечания 1 Eine große Hechtart, die in den nördlichen Seen Kanadas, im St. Lorenzstrom und im Ohio vorkommt. Anm. d. 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