Die Zeit-Moleküle D.G. Compton Die malerischen, schmucken Bauernhäuschen des kleinen Dorfes Penheniot Village in der Grafschaft Cornwall sind nur trügerische Fassade. Emmanuel Littlejohn hat sie errichten lassen, um den wahren Charakter der Ansiedlung vor den Blicken neugieriger Touristen zu verbergen. In den Räumen der Bauernhäuser steckt sein Lebenswerk – Ausdruck seines Ehrgeizes, alles zu beherrschen. Auch die Zeit soll sich seinem Willen fügen. Und so hat er riesige Laboratorien eingerichtet, in denen das Rätsel der Chronoküle, der Zeitkörperchen, gelöst werden soll. Englischer Originaltitel: Chronocules © Copyright 1970 by D.G. Compton Übertragen ins Deutsche von Bodo Baumann PROLOG Ungefähr zwanzig Jahre, bevor unsere Geschichte anfängt, wurde die trostlose Stille von Penheniot Village – einem Dorf über Penheniot Pill, das einen Bach in der Nähe des kleinen Hafens St. Kinnow in der Grafschaft Cornwall bezeichnet – durch das talentierte Furzen des jungen Roses Varco nachhaltig gestört. Er trottete die winzige, öde Hauptstraße hinunter und furzte behaglich bei jedem zweiten Schritt. Die halbverfallenen Häuser nahmen dieses Geräusch ergeben hin, wie sie auch das Wetter und (menschliche Schlamperei) seit Generationen hingenommen hatten. Doch eine weitverzweigte Familie von Krähen, die sich bereits in den hohen Ulmen bei der Sägemühle zur Nachtruhe niedergelassen hatten, erhob sich, erzürnt über dieses Geräusch, und störte noch gründlicher den efeuübersponnenen Frieden. Roses blickte zu ihnen hinauf und winkte, als wolle er einer Zuhörerschaft danken. Dann hielt er abrupt in seinen fahrigen Bewegungen inne und beobachtete statt dessen das waghalsige Kreisen der Vögel am Himmel. Wenn er sich nicht selbst daran erinnerte, daß es sich um Vögel handelte, konnte er sie für riesige schwarze Segelschiffe halten, die hoch über ihm kreuzten. Doch nach einer Weile zerstörte das Krächzen diese Illusion, und Roses setzte enttäuscht seinen Weg zum Pier fort. Dort setzte er sich auf die faulenden Bohlen, ließ die Füße über den Rand der Mole baumeln und starrte hinunter in den Schlamm. In jenen Tagen stieg das Meerwasser zur Flutzeit höchstens eine Stunde lang bis zur Mündung von Penheniot Pill hinauf, leckte ein paar trübe, armselige Zentimeter an den Pfählen der Mole empor und läpperte ein bißchen im Bachbett unter der Mole. Trotzdem hatte es eine Zeit gegeben, wo der Penheniot Pill tiefes Wasser führte. Man hatte ihn für Frachtschiffe ausgebaggert, die hier auf die Flut warteten, um flußaufwärts zu fahren. In jenen Tagen hatte Penheniot einen geschützten Ankerplatz für eine kleine Fischereiflotte gewährt. Auch eine kleine Werft war in der Nähe des Strandes errichtet worden. Der kleine Weiler am Ende des Tales blühte auf, und das Gehöft, das dem Fluß am nächsten lag, hatte sich sogar zu einer Sägemühle ausgewachsen. Das Dorf wuchs, und der Gemeinderat hatte sogar den steilen Weg pflastern lassen, der zur Hauptstraße nach St. Kinnow hinaufführte. Man sprach sogar schon von einem Rathaus, das man in Penheniot bauen wollte. Dann kam die große Depression. Die Küstenfrachter trafen nur noch selten ein, und die Ausflugsdampfer rosteten auf dem behäbigen Wasser des Pills, während sich der Schlick an ihren Rümpfen sammelte, Schlamm, den die Flut anschwemmte, Sand und Kiesel, vom Fluß aus dem trockenen Land heruntergetragen. Als schließlich die Dampfer fortgeschleppt wurden, um irgendwo zu verenden, ebnete der Schlick und Schlamm ihre Liegeplätze ein, und Penheniot starb mit seinen Dampfern. Da kein tiefes Wasser mehr um das Dorf herumfloß, hatte es auch keine Daseinsberechtigung mehr. Haus um Haus wurde die Siedlung aufgegeben, die Sägemühle schloß und überließ sich den Eulen und Dachsen zur Miete. Das Gras schob den Asphalt aus den Ritzen der Pflastersteine. Efeu wucherte über die Dächer, bis sie unter der üppigen Last einstürzten. Der Sieg der rücksichtslosen Natur war fast vollständig. Die Brut von Reuben Varco räumte als letzte das Feld, lange nachdem der Bäcker sich geweigert hatte, die Brötchen zuzustellen, und der Schulbus nicht mehr oben an der Kreuzung wartete, um die Varco-Kinder aufzulesen. Die alte Frau Varco hatte täglich vier Meilen bis zur Stadt laufen müssen, um Nahrungsmittel und den Tabak für ihren Mann einzukaufen. An dem Tag, als sie plötzlich starb – sie fiel mit dem Gesicht in das Herdfeuer, mußte aber (behauptete der Arzt) bereits tot gewesen sein, ehe sie wußte, was ihr geschah –, packte die älteste Tochter ihre und die Sachen ihrer Geschwister zusammen und verließ am nächsten Morgen das Dorf, ohne sich vom Fluchen des alten Reuben beirren zu lassen. Mit ihren vier Geschwistern zog sie in ein Gemeindehaus von St. Kinnow, in ein Milieu von verständnisvollen Sozialarbeitern, von Bingo, gebackenem Fisch und Fritten und Ladenbesitzern, die anschreiben ließen. Ihr Vater wählte die Verbannung an einen Ort, den er kannte. Schon einen Monat später starb er dort, im Wald verblutend, weil er sich den Fuß abgehackt hatte. Es gab Leute, die behaupteten, er hätte das absichtlich getan und seine Tochter hätte ihn zum Selbstmord getrieben. Clarice überlebte dieses Gerede, wie sie sich bereits siebzehn Jahre lang damit abgefunden hatte, daß man mit Fingern auf sie zeigte, weil sie die Tochter des Trunkenboldes Reuben Varco war. Clarice Varco überlebte, und als das nächste Kind nach ihr alt genug war, Verantwortung zu übernehmen, heiratete sie einen Schiffskoch. Der drehte ihr rasch hintereinander vier Kinder an und ließ sie dann sitzen. In ihrem Leben wiederholten sich die Schablonen, und vielleicht hielt sie diese Tatsache für ein sinnvolles Dasein. Die große Erschütterung in Roses’ Leben war vor sieben Jahren gekommen, als seine Mutter starb und er nach St. Kinnow ziehen mußte. Damals war er zehn Jahre alt gewesen und hatte als einziger von den vier Geschwistern seine neue Umgebung als abstoßend empfunden. Die vertrauten Dinge wurden ihm genommen und statt dessen verlangte man von ihm Fertigkeiten, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Deshalb bekam Clarice ihn immer seltener zu Gesicht, und der Haushalt mußte immer öfter auf das einzige Talent verzichten, das ihm angeboren war. Dafür hauste er – erst stundenweise, dann tagelang, schließlich auf unbefristete Zeit – in der moosüberwachsenen Hütte am Ende des Baches, die seinem Vater gehört hatte. Er hatte sich dort in der Küche mit den schimmelnden Möbeln eingerichtet, die Clarice verschmäht hatte. Die Jahre vergingen. Er hackte zwar regelmäßig den Efeu ab, ehe dieser das Dach und den Schornstein überwuchern konnte, war aber weder überrascht noch beunruhigt, als ein Septembersturm das halbe Dach abdeckte. Ein trockener Winkel im Haus genügte ihm, und der Zwischenboden über ihm garantierte ihm das. Wovon er lebte, wußte niemand zu sagen. Doch er litt nicht Hunger, und es gab Leute, die behaupteten, er hätte irgendwo unter den Dielen einen Geldschatz versteckt, den der alte, nichtsnutzige Reuben zusammengetragen hatte. Wenn dem so gewesen wäre, wäre Roses das einzige Familienmitglied gewesen, zu dem der alte Mann Zutrauen gehabt hätte. So absurd war das nicht, denn der arme, simple Roses war nie den fliegenden Bierflaschen ausgewichen und hatte dem alten Mann immer aufrichtige Liebe entgegengebracht. Roses teilte sein Heim mit ein paar mageren, hohnlachenden Katzen. Ihrer Meinung nach – und deshalb auch nach seiner Überzeugung – hatten sie den ersten Anspruch auf alle Bequemlichkeiten, die das Haus bieten konnte: auf den besten Platz am Feuer, die wärmste Stelle in seiner Decke, das magerste Stück Speck und den Rahm auf seiner Milch, wenn er mal eine Tasse voll davon ergatterte. Jetzt, da er auf der Mole saß und in seinem Buch las, lockte die Abendluft eine dieser Katzen ins Freie, die buckelte und dann auf der grasüberwucherten Pflastersteinstraße zum Strand lustwandelte. Als sie Roses’ ansichtig wurde, blieb sie stehen. Sie wußte, daß Roses, wenn er gereizter Stimmung war, Napfschnecken in ihren Schlupfwinkeln zwischen den Steinen überraschte und mit dem Messer loslöste. Und Napfschnecken waren, obwohl etwas zäh, ein Leckerbissen für die Katzen von Penheniot. Napfschnecken und frischgeborene Hasen, die sich die Katzen selbst jagten. Vielleicht warnte sie die Hingabe – um ihre Reaktion mit menschlichen Begriffen zu beschreiben –, mit der er die Seiten umblätterte, daß sie in diesem Augenblick nicht willkommen war, vielleicht lenkte sie auch eine fette Oktobermaus ab, die in den Sträuchern raschelte: Auf jeden Fall entging ihr eine Kette von Ereignissen, die für Penheniot (ja, für das ganze bekannte Universum) ungewöhnlich waren. Zuerst ereignete sich in Roses Varcos Küche eine sonderbare Explosion – oder Implosion oder Adplosion oder Intraplosion, was schwer zu unterscheiden war –, der ein Getöse vorausging, als käme ein Schnellzug durch die Hütte gebraust. Doch die nächste Eisenbahnstrecke war fünfzig Meilen vom Dorf entfernt und aus Rationalisierungsgründen längst eingestellt. Dann kam ein Schrei, der Schrei von einem Mann, der so rasch abriß, daß er keine Dauer besaß, einem geometrischen Punkt vergleichbar, der keine Ausdehnung besitzt. Dem folgte ein Auszug der Katzen aus der Küche, denen an wichtigen Stellen große Stücke Fell abhanden gekommen waren. Schließlich schloß das Ganze – wenn man die langsamen Reflexe von Roses zum Maßstab nimmt – mit einer gewaltsamen Erschütterung der Mole. So gewaltsam war die Erschütterung, daß die uralten Stützbalken der Mole brachen und das Buch mit dem Titel »Die Pantherfrau und der sich unglaublich ausdehnende Mann« unwiederbringlich im Schlamm von Penheniot Pill versank. Bis Roses fluchend ans Ufer gewatet war, hatte er bereits den Anlaß des Lärms weitgehend vergessen. Ihn bekümmerte eigentlich nur der Verlust seines Buches. Die Luft war kühl, und seine Hose, die immer viel zu knapp war, prickelte wie Eis auf seiner Haut. Er beschloß, sie zu Hause am Feuer zu trocknen und sich in seine Decke einzuwickeln. Er besaß nur noch eine Sonntagshose, die er nie anzog. Während er sich dem Haus näherte, stieg ihm ein fremdartiger Geruch in die Nase. Mit Gerüchen kannte er sich eigentlich aus, und so hielt er an der Ecke des Waschhauses an und sog die Luft tief in die Lungen. Ein paar Bestandteile waren andeutungsweise zu erkennen: der Geruch von überhitzten Radiogeräten, von Aspirintabletten, den Reibeflächen alter Streichholzschachteln und etwas Rinzinusöl. Doch für andere Geruchselemente fehlten ihm die Vergleichsmöglichkeiten. Von dieser Tatsache gefesselt, schlich er zur Hintertür und stieß sie auf. Der Geruch war hier so überwältigend, so scharf, daß sich die Muskeln in seiner Kehle zusammenzogen. Gleichzeitig bildete sich in seiner Erinnerung wieder der Umriß eines Geräusches, wie er es nur ein einziges Mal in seinem Leben gehört hatte. Und dann hatte er es wieder: Dieser Geruch war das organische Gegenstück zu dem Lärm, das ihn samt seinem Buch in den Schlamm des Bachbettes geworfen und ihm die nasse Hose eingebracht hatte. Ärgerlich zog er jetzt den Kopf ein und trat in die Küche. Eigentlich hätte es in dem Raum dunkel sein müssen. Das einzige kleine Fenster war mit Sackleinwand verhangen, und die Hintertür führte auf eine steile Böschung hinaus, über der ein dichtbewaldeter Hügel aufragte. Wenn er seine Lampe nicht anzündete oder das Feuer besonders stark auflodern ließ, war seine Küche ein dunkles Verließ. Er liebte sie so. In der Dunkelheit fühlte er sich sicher. Als er also jetzt in die Küche trat und sie hell erleuchtet fand, war das für ihn eine beunruhigende Erfahrung. Als käme er in seine Wohnung, die plötzlich ganz verfremdet war. Ein geringerer Mann als Roses wäre auf der Stelle umgekehrt und wäre geflohen. Doch Roses blieb, wartete, bis sich seine Augen der ungewöhnlichen Helligkeit angepaßt hatten, und erkannte dann im Gerümpel sein Eigentum. Er ging im Raum umher. Auch seine Nase hatte sich inzwischen angepaßt, bis der Gestank für ihn kaum noch wahrnehmbar war. Er blickte sich um. Nichts schien von der Stelle gerückt, nichts war gestohlen, aber … Aber da lag ein Buch auf dem Tisch, so nachlässig hingeworfen, daß die Konservenbüchse umgestürzt war, aus der er seinen Tee zu trinken pflegte. Und dieses Buch – überraschend, aber nicht bis zu einem Grad der Unglaublichkeit, weil es in Roses’ Leben nichts gab, was den Rahmen der Möglichkeit sprengte – war die Quelle dieses schattenlosen Lichtes, das selbst die schimmeligste Ecke des Raumes ausleuchtete. Das Licht brachte Einzelheiten zutage, die ihm bisher nie bewußt geworden waren: einen Kalender, den sein Vater vor neun Jahren neben der Treppe aufgehängt hatte; die Hasenfallen bei der Wanduhr; die vertrockneten Lilienstengel unter dem Ständer mit der Waschschüssel. Roses rückte vorsichtig näher und streckte eine schwarzbehaarte Hand aus. Das Buch strahlte keine Wärme ab. Es glühte nur sehr hell und mit kaltem Licht. Er berührte das Buch, ohne zu wissen, was er sich davon erwartete. Die Berührung löste angenehme Empfindungen aus. Er nahm es jetzt in beide Hände, und die angenehmen Empfindungen nahmen noch zu. Er schlug es auf und stellte enttäuscht fest, daß es keine Bilder enthielt. Er sah nur eine weiße Seite mit einem einzigen Wort in der Mitte. Das Buch spendete so viel Licht, daß man das Wort lesen konnte: NACKTHEIT Er wußte, was das Wort bedeutete. Es war ein schmutziges Wort, und deshalb wendete er das Blatt begierig um. Auf der nächsten Seite stand das gleiche Wort NACKTHEIT und auf der Seite gegenüber, jetzt schon ganz vertraut: NACKTHEIT Er hielt das Buch dichter unter die Augen, als wäre ihm etwas entgangen. Aber da war nichts anderes zu erkennen als gleißende Helle, während durch Fingerspitzen und Hände ein Strom angenehmer Empfindungen in seinen Körper floß. Er blätterte weiter und fand einen Block von Buchstaben, der ihn entmutigte, weil er so groß war. Immer noch Bilder erhoffend, blätterte er jetzt das ganze Buch durch. Hatte man schon einmal von einem schmutzigen Buch gehört, das keine Bilder enthielt? Ein paar von den Seiten sahen sehr merkwürdig aus, einige waren koloriert und andere wieder schienen Ausschnitte aus Zeitungen zu sein. Ein paar Blätter waren mit Handschrift versehen, und auf anderen Seiten wieder bewegten sich die Buchstaben, während er sie betrachtete. Doch nirgends ein Bild. Er setzte sich auf einen Stuhl und hielt das Buch im Schoß. Die angenehmen Empfindungen wallten durch seinen Körper, bis er die Zehen in seinen nassen Stiefeln auf und ab bewegte. Er kehrte wieder zur ersten Seite des Buches zurück. Die Länge der Worte schreckte ihn; aber vielleicht bewältigte er sie, wenn er jedes Wort langsam anging. Wenn es genug schmutzige Wörter gab, würden sie ihn schon bei der Stange halten. Er legte einen schwarzen Fingernagel auf das erste Wort des Absatzes und begann zu entziffern: Als Du zum erstenmal das Wort Nacktheit lasest, was hast Du Dir dabei gedacht? Die Nacktheit der Hügel? Die Nacktheit der Wahrheit? Oder dachtest Du an menschliche Nacktheit? Wenn ja, war es die Nacktheit Deines oder des anderen Geschlechtes? Dieses letzte Wort war ihm zuerst ins Auge gefallen, und er fuhr mit dem Fingernagel an den Zeilen entlang, bis er es erreicht hatte. Jetzt kam er sich vor, als würde er durch einen dunklen Dschungel wandern. Nachdem Du den Begriff mit Leben erfüllt hast, welche Empfindungen drängen sich Dir dabei auf? (In alphabetischer Reihenfolge): Aufregung? Ekel? Entzücken? Freude? Langeweile? Religiöse Ekstase? Schrecken? Diese Fragen haben tatsächlich einen Sinn, sind keine Zeitverschwendung. Denn um eine Epoche verstehen zu können, muß man zuerst einmal seine eigene Einstellung zu ihren fundamentalen … Roses las nicht weiter. Nicht die Spur von einer Geschichte und nur zwei schmutzige Wörter. Ärgerlich warf er das Buch auf den Tisch zurück. Gleißend lag es dort, vollkommen unbeeindruckt, fast schnurrend vor Behaglichkeit. Sobald ihm das Buch aus den Händen geglitten war, waren auch die angenehmen Empfindungen verschwunden. Er spürte jetzt die Kälte und das Zwicken der nassen, viel zu stramm sitzenden Hose. Der Schlamm in seinen Stiefeln glitschte zwischen seinen Zehen, das Wasser tropfte von seiner Jacke. Er fluchte auf das Buch, das die Ursache all dieser Widrigkeiten war. Er zog seine Jacke aus, wischte damit den Boden auf und hängte sie neben der kalten Herdstelle auf. Sein Hemd war nur ein bißchen feucht. Deshalb ließ er es an. Er kannte die Gefahren einer Erkältung, und deshalb hatte er das Hemd seit Ostern nicht mehr ausgezogen. Die Schnürsenkel an seinen Stiefeln hatten sich zusammengezogen und ließen sich nur schwer aufbinden. Das Leder war steif geworden, und die Stiefel ließen sich nur mit Mühe abstreifen. Die Hose klebte an seinen Beinen. Er fluchte, wie er es von seinem Vater gelernt hatte, weil er sich noch mit der Decke abmühen mußte, die er der Schicklichkeit wegen übergeworfen hatte. Als er die Hose endlich ausgezogen hatte und die Decke um die Hüften festzurrte, suchte er nach Papier, um ein Feuer anzünden zu können. Erst langsam formte sich der Gedanke, daß er ja das dumme, unverständliche Buch dafür verwenden konnte. Als der Gedanke ihm klar bewußt war, freute er sich, denn es war nur gerecht, daß er sich an diesem Buch für seine klägliche Lage rächte. Es sollte für den Verlust seiner »Pantherfrau« büßen, sollte brennen für jeden Halunken, der ihn mit langen, gelehrten Worten beschämt hatte. Er riß das Buch vom Tisch und zerrte an den Blättern. Sie gaben nicht nach. Er packte es fester, teilte es in zwei Hälften und riß daran, bis der Schweiß ihm über die Schultern lief. Doch das Buch blieb unversehrt, spendete ihm Trost, Güte und Wohlbehagen, solange es an seine Brust gepreßt blieb. Er warf das Buch auf den Boden, lief wütend im Raum auf und ab und trat das Buch jedesmal mit Füßen, wenn er daran vorbeikam. Dann fiel er wieder über das Buch her, stellte sich auf den Deckel und zerrte an einem einzigen, armseligen Blatt. Vergeblich. Je wütender er wurde, um so ungeschickter, ja tierischer, wurden seine Bewegungen. Er bearbeitete das Buch mit der Schere und mit dem Fleischmesser. Die Hütte erzitterte unter seinen wütenden Schlägen. Die Decke war längst von seinen Hüften herabgefallen und lag auf dem Boden. Er warf das Buch in den Herd, schüttete Petroleum darüber und ließ ein brennendes Streichholz darauffallen. Die Flüssigkeit brannte mit heißer, rauchender Flamme; doch das Buch blieb so hell und unberührt wie am Anfang. Draußen ging der Abend allmählich in die Nacht über. Die letzte Nachhut der Flut löste sich von den zerbrochenen Bohlen der Mole und ließ einen dünnen Saum aus braunem Schlick zurück. Eine Eule schwang sich aus den nackten Dachsparren der Sägemühle und breitete ihre Krallen in der Nachtluft aus. Roses kam mit fliegendem Hemd aus seiner Hütte und eilte zum Holzschuppen. Ein grünliches Licht begleitete ihn, das sich auf den Ranken spiegelte, die aus den Sträuchern nach ihm griffen. Er attackierte das Buch jetzt mit der Axt, schlug zu, bis ihm der Rücken schmerzte. Bei jedem Schlag gab das Buch ein wenig nach und nahm dann wieder seine ursprüngliche Form an, ohne daß eine Wirkung zu erkennen war. Roses schlug zu, bis er vor Erschöpfung die Axt nicht mehr heben konnte. Dann stand er keuchend, auf den Stiel der Axt gelehnt. Die Stille wurde bedrückend. Er begriff, daß das Buch ihm nichts als Schande gebracht hatte, und er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Er trug es hinunter zum Strand, hielt es jetzt behutsam in seinen blasenbedeckten Händen. Er watete ein paar Schritt hinaus in den Schlamm und schleuderte dann das Buch mit letzter Kraft von sich. Es schlitterte fast lautlos ein paar Meter über die Oberfläche und trieb dann mit der zurückweichenden Flut hinaus wie eine brennende Kerze. Roses beobachtete das Buch, bis er es nicht mehr sehen konnte. Dann überkam ihn ein seltsames Gefühl der Verlassenheit. Seine Füße waren kalt, seine Beine und sein ganzer Körper fröstelten. Er kehrte in seine Hütte zurück und zündete die Lampe an. Nur der Geruch erinnerte ihn noch an das Buch, der Geruch von überhitzten Radiogeräten, Aspirintabletten und den Reibeflächen von gebrauchten Streichholzschachteln. Und eine Spur von Rizinusöl. Der Geruch blieb die Nacht über und hielt sich auch noch am nächsten Morgen. Dann verschwand auch er. Und Roses tat alles, um die Erinnerung an diesen Geruch zu verdrängen. Bemerkung des Verfassers. Bis hierher ist diese Geschichte wahr. Wahr in dem Sinne, daß sie auf den Aussagen von Roses selbst beruht, die er nach vielem Zureden, vielen Gläsern Apfelwein und dem Versprechen machte, ihn ein Jahr lang mit seinem bevorzugten Lesestoff zu versorgen. Um dem Einwand zu begegnen, daß Roses die ganze Geschichte ja auch erfunden haben oder im Suff geträumt haben könnte, muß hier gesagt werden, daß das sonderbare Buch, das bisher eine so wichtige Rolle in der Geschichte spielte, keineswegs verloren war. Es befindet sich jetzt im Besitz des Verfassers dieses Werkes. Es wurde vor seinem Haus an der Mündung von Penheniot Pill angetrieben und dort am frühen Morgen nach jener Nacht, in der sich die eben erwähnten Ereignisse abspielten, von dem Verfasser selbst gefunden. Da Bücher ja ein wesentliches Element in der Berufsausübung des Verfassers darstellen, trug er das Buch sofort hinauf zu seinem Haus und las es in einem Zug von Deckel zu Deckel durch – zur Enttäuschung seiner Frau, die an diesem Tag einen Einkaufsausflug nach St. Kinnow machen wollte. Selbst wenn sie das merkwürdige Licht gesehen hätte, das das Buch ausstrahlte – was ihr aber in der Morgensonne tatsächlich entging –, hätte sie das nicht für einen ausreichenden Grund gehalten, auf einen Ausflug zu verzichten, auf den sie sich schon seit fünf Wochen gefreut hatte. So brach sie allein nach St. Kinnow auf und revanchierte sich dort durch ein paar vollkommen überflüssige Einkäufe. Das Buch existiert also tatsächlich. Und da das Material, aus dem es besteht, tatsächlich ungewöhnliche Eigenschaften besitzt, kann man auch getrost Roses’ Aussagen im wesentlichen Glauben schenken. Was den Inhalt des Buches anlangt, so kann der Leser sich selbst ein Bild von seiner Glaubwürdigkeit machen, da der Verfasser ja nichts anderes als eine Rekonstruktion von diesem Inhalt liefert. Der Autor verhält sich dabei völlig neutral. Er würde natürlich nicht die Zeit des Lesers beanspruchen, wenn er den Inhalt des Buches nicht für bemerkenswert hielte. Doch hier ist dem aufmerksamen Leser bestimmt wieder ein Zweifel gekommen. Wenn das Buch tatsächlich existiert, warum muß dann sein Inhalt neu erzählt werden? Warum wird das Buch nicht so veröffentlicht, wie es ist? Darauf gibt es eine doppelte Antwort. Einmal ist die Eitelkeit des Verfassers im Spiel. Natürlich möchte er, daß diese Geschichte so weitgehend wie möglich zu seiner Geschichte wird. Zweitens ist er wirklich überzeugt davon, daß dieses Buch, wie er es gefunden hat, ein Reinfall wäre, so gut wie ungenießbar. Der anonyme Autor (Autoren?) hatte versucht, mit den geschriebenen Worten so viel auf einmal auszusagen, so viel psychiatrischen Hokuspokus hineinzulegen, so viel doppelsinniges Feingespinst, so viel enzephalographisches Hierhin und Dorthin, daß das Ergebnis manchmal unverständlich, oft langweilig und immer schauderhaft herablassend ist. Kurz – das Buch, wenn man es im Original liest, ist schauderhaft. Nach dieser Erklärung und der Warnung, daß es sich im besten Fall um unbewiesene Übertragungen und im schlimmsten Fall um einen Haufen Lügen handelt, kommen wir endlich zu der Geschichte … I Das Experimentier- und Forschungsdorf Penheniot lag am Ende des Tals an der Mündung des Pill, der früher unter einer kleinen Holzbrücke hindurch und an einer verfallenen Mole vorbeigeflossen war. Die Gebäude des Forschungsdorfs waren diskret angelegt und aus dem Material und in dem Stil gebaut, wie es in der Gegend üblich war. Wo es ging, hatte man dazu die noch vorhandenen Wohnhäuser und Scheunen als Tarnung verwendet. Der Stab des Dorfes kleidete sich nach der traditionellen Trachtenmode von Cornwall, wenn das Wetter es nicht erlaubte, daß man nackt herumlief, wie es jetzt modern war. Es gab eine Post im Dorf, eine Dorfkneipe, ein Polizeirevier und mehrere Dorfköter, die sich am Kai herumtrieben, wenn sie nicht gerade für Experimente gebraucht wurden. Die Dorfkatzen hielten sich klugerweise zurück, damit sie nicht gleichfalls zu Experimenten herangezogen wurden. Im Dorf befanden sich ein großes Forschungslabor und mehrere Hilfswerkstätten. Die Sägemühle hatte man wiederaufgebaut, und sie diente der Turbine als Tarnung. Eine Seewasser-Aufbereitungsanlage und riesige unterirdische Versorgungsspeicher verhalfen zusammen mit dem Elektrizitätswerk dem Dorf zur Autarkie. Es war ein supermodernes, hervorragend ausgestattetes Forschungszentrum, das sich hier unauffällig zwischen den Hügeln versteckte und sich der Außenwelt darbot, als wäre es schon seit Jahrhunderten hier gewesen. Leider täuschte die Idylle niemand, weder die Einheimischen noch die Touristen. Besonders die Touristen wurden durch sensationelle, wenn auch vage »Enthüllungen« in der Presse in Scharen angelockt. Sie tuckerten während der Flut den Pill hinauf und versuchten, auf der Seite, wo das Dorf lag, anzulegen. Das führte zu nichts, wie die Einheimischen schon längst herausgefunden hatten. Der Gründer des Dorfes, Manny Littlejohn, hatte Sinn für Stil. Er rekrutierte Sicherheitsagenten mit freundlichen, rotbäckigen Gesichtern und Seemannsbärten, steckte sie in eine blaue Seemannskluft, setzte ihnen schäbige Fischermützen auf und ließ sie werktags in geflickten blauen Jeans herumlaufen. Trotzdem blieben sie Sicherheitsagenten und benahmen sich entsprechend. An ihrer Spitze stand der fette Hafenmeister, der Unbefugten jovial und freundlich entgegentrat (Paragraph 3a im Sicherheitshandbuch). »Privater Ankerplatz, leider. Fahren Sie doch ein Stück weiter den Fluß hinauf!« Wenn der ungebetene Gast sich nicht fügen wollte, ging es im gleichen freundlichen Ton weiter: »Die ausgebaggerte Fahrrinne muß freigehalten werden, leider. ’ne Menge Güter und Leute werden hier ein- und ausgeladen. Deswegen haben wir auch die vielen Schilder angebracht.« Und dabei deutete der Hafenmeister auf die nächstbeste Tafel, die hier am Ufer befestigt war und auf der in höflichen Worten geschrieben stand: Das ist eine private Wasserstraße, die für Versorgungsschiffe dringend gebraucht wird. Wir müssen deshalb die Ankerplätze für die Bewohner des Dorfes reservieren. Bitte, haben Sie dafür Verständnis. Eine halbe Meile flußaufwärts befindet sich am Südufer eine Bucht, die wir Ihnen zum Schwimmen und für Strandparties empfehlen können. »Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich Sie auf die Wasserstraßenordnung hinweisen muß. Wir können Sie tatsächlich wegen Verstoßes gegen diese Ordnung festnehmen lassen.« Ließ sich der Unbefugte auch jetzt noch nicht abschrecken, trat eine Laserkanone in Aktion, die auf der Fensterbank eines von Kletterrosen überwucherten Gehöftes installiert war. Lautlos kappte diese Kanone die Ankerkette der unerwünschten Motorjacht, so daß das Boot von der Strömung erfaßt und auf ein paar gefährliche Klippen zugetrieben wurde. Hiermit waren die Funktionen des Hafenmeisters beendet, und ein Trupp von rotbäckigen, freundlich aussehenden Fischerleuten trat jetzt auf den Plan. Sie kamen aus dem Polizeirevier, trabten im Laufschritt hinunter zum Strand und machten dort ein schwarzes Motorboot klar, das mit Greifhaken, allerlei unheimlichen Geräten und Seenot-Raketen bestückt zu sein schien. Das Boot war ganz deutlich am Bug mit den Buchstaben »P.E.R.V. Seenotkreuzer« beschriftet; aber bisher hatte sich noch kein Unbefugter lange genug in der Fahrrinne aufgehalten, um eine Rettungsaktion mitzuerleben. Würdevoll, soweit man im Adamskostüm würdevoll sein konnte, zogen sie sich aus dem Privathafen zurück. Auf der Landseite des Dorfes waren die Verteidigungsanlagen von Manny Littlejohn weniger taktvoll. Sie bestanden aus einem endlosen, neun Fuß hohen Elektrozaun. Doch er war wenigstens so diskret wie möglich angelegt, meistens im Gestrüpp verborgen, und die Ladung des Zauns war durch das Gesetz in Schranken gehalten, nur so stark, daß eine Kuh verwundert den Kopf geschüttelt hätte. Natürlich ließen sich nur wenige Menschen herbei, die Ladung an sich selbst nachzuprüfen. Die Verwandlung von Penheniot Village aus einem Haufen Ruinen in ein raffiniert angelegtes, wirtschaftlich unabhängiges Laboratorium hatte nicht einmal zwei Jahre erfordert. Als die Bagger an der Mündung des Pill den Schlamm entfernten, kamen gleichzeitig die Planierraupen auf dem gepflasterten Weg von der Hauptstraße herunter, und danach rückte eine Armada von Schallbohrern, Laserkanonen, Betonpressern und Steinzerstäubern ins verfallene Dorf. Das Genie des Gründers lag auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation und Projektplanung. Diese Eigenschaften, und die rücksichtslosen Ellenbogen, hatten ihn reich gemacht. Nun verwendete er seine Talente auf die Verwirklichung eines Jugendtraumes, auf sein Steckenpferd. Wahrscheinlich war dieses Dorf das kostspieligste Steckenpferd, das ein Mensch jemals geritten hatte. Es war ein Steckenpferd und eine Ausflucht. Penheniot veränderte sich so rasch, daß man kaum folgen konnte – schon gar nicht der arme Roses Varco. Man hatte ihn im Winkel der Küche eines Hauses entdeckt, das zur Sprengung vorgemerkt war. Man erklärte ihm, daß ein gewisser Mr. Manny Littlejohn die Gemeindeflur des gesamten Dorfes aufgekauft habe und er – Roses Varco – deshalb das Haus zu räumen habe. Bedauerlicherweise zu räumen habe. Doch dieses Ansinnen überstieg das Fassungsvermögen von Roses. Er hatte in diesem Haus zwanzig Jahre – vielleicht sogar dreißig Jahre – lang gelebt, und vor ihm sein Vater zwanzig Jahre – vielleicht sogar dreißig Jahre lang. Es war sein Haus. Sein Haus. Er blieb bockig auf seinem Küchenstuhl sitzen und weigerte sich, ihn zu verlassen. Man rief den Vorarbeiter und dann den auf sichtführenden Ingenieur. Vergeblich. Selbst der Ingenieur, der die Pläne entworfen hatte, konnte Roses nicht überzeugen, daß die Kontenverlagerung von ein paar der Manny-Littlejohn-Millionen in einer weit entfernten, nicht vorstellbaren Stadt ihm das Zuhause wegnehmen konnte, das einzige Heim, das er in seinen achtunddreißig Lebensjahren kennengelernt hatte. Er raffte seine Decken und ein paar seiner besseren Habseligkeiten – seinen Teetopf, den Kalender, den sein Vater neben der Treppe aufgehängt hatte, seinen Tontopf mit den Angelhaken und seine beste Hose – zusammen und zog sich in den entferntesten und dunkelsten Winkel der Küche zurück. Dort kauerte er sich furchtsam zusammen, verwirrt bis zur Schwachsinnigkeit. Der Vorarbeiter war ein humaner Mensch. Das gleiche traf auf den aufsichtführenden Ingenieur und den verantwortlich zeichnenden Ingenieur zu. Sie besaßen auch ausdrückliche Instruktionen vom Gründer, die Wünsche der einheimischen Bevölkerung weitgehend zu berücksichtigen. In dieser Hinsicht besaß die Firma einen guten Leumund und wollte diesen auch nicht aufs Spiel setzen. Schließlich gab es auf der Baustelle auch anderweitig genügend zu tun, und der Gründer hatte höchstpersönlich sein Erscheinen in drei Tagen angesagt. Man beschloß, ihm den Fall vorzutragen. Manny Littlejohn betrachtete Roses und sein Heim mit seinem geschulten analytischen Blick. »Ist er gefährlich?« fragte er. »Ganz im Gegenteil«, beeilte sich der aufsichtführende Ingenieur zu versichern. »Ich höre, daß er außerordentlich sanftmütig sein soll.« »Hat man sich über ihn erkundigt?« »Die Polizei in St. Kinnow meldete, daß nichts Nachteiliges über ihn bekannt sei.« »Aha.« Manny Littlejohn fuhr mit dem Zeigefinger am Rand des Küchentisches entlang und betrachtete ihn, ohne daß die Übelkeit ihn übermannte. »Sie vergeuden meine Zeit. Wir bauen ein Dorf wieder auf, und deshalb brauchen wir auch einen Dorftrottel. Er kommt auf die Lohnliste.« Er nickte anerkennend, als er sich noch einmal in der Küche umsah. »Vielleicht kann er in seiner Freizeit ein bißchen bei den Reparaturarbeiten helfen.« Nach dem ursprünglichen Bauplan sollte Roses’ Küche – und noch eine Menge anderer Baulichkeiten – Platz für das neue Labor schaffen. Deshalb mußte man ein geeignetes Quartier für Roses an anderer Stelle finden. Offensichtlich waren die Norm-Unterkünfte – vorgefertigte Plastik-Raumeinheiten, die sich paßgerecht in die Steinschalen der cornwallschen Häuser einfügen ließen – für Roses ungeeignet. Roses brauchte etwas, das seinen besonderen Bedürfnissen entsprach. Schon bei der flüchtigsten Sozialstudie zeigte sich, daß er nirgends so glücklich sein würde als in seiner eigenen erbärmlichen Küche. Deshalb änderte der verantwortliche Ingenieur eigenmächtig die Pläne und setzte den Boden des Laboratoriums fünf Fuß und neun Zoll über dem ursprünglichen Niveau ein, so daß die Küche darunter Platz fand. Sie nahm jetzt eine kleine Ecke in einem Lagerraum ein, in dem Wein und andere alkoholische Getränke untergebracht werden sollten. Der Ingenieur hatte nämlich plötzlich entdeckt, daß Lagerräume für diese wichtigen Konsumgüter auf dem ursprünglichen Bauplan gar nicht vorgesehen waren. So würde der Eingriff in Roses’ Leben so schonend wie möglich vorgenommen, und Roses spielte dafür die Rolle des Dorftrottels in meisterhafter Vollendung. An dem Tage, mit dem dieser Teil der Geschichte beginnt, war das Forschungsprogramm des Dorfes bereits mehr als zwei Jahre alt. In den letzten acht Monaten hat der Projektleiter einen entscheidenden Durchbruch prophezeit, der »jeden Tag« erwartet werden konnte. Kein Wunder, daß Manny Littlejohn in seinem Büro in Mayfair ungeduldig wurde. Die Aktennotizen, die er dem Projektleiter zukommen ließ, wurden immer stacheliger. Der Autosekretär hatte einen Brief von ihm gebracht, der ungeöffnet auf dem Schreibtisch des Projektleiters lag, weil der Magnetcode ihn als privat und vertraulich auswies. Langsam schälte der Projektleiter den Klebestreifen vom Kuvert und bereitete sich moralisch auf den Inhalt vor. Der Gründer war natürlich ein Mann, der Wunder erwartete. Alle Gründer sind von Natur aus unvernünftige Leute, die Wunder erwarten. Selbst die Amerikaner hatten mit ihrem Riesengeldaufwand Jahre gebraucht, bis sie ihre lächerliche Raumkapsel endlich zum Mond hinaufschießen konnten. Zwei Jahre waren gar nichts für so ein kompliziertes Projekt, das unter der Bezeichnung P.E.R.V. lief. Im Grunde war Manny Littlejohn gar nicht an den wissenschaftlichen Ergebnissen interessiert, sondern nur an seiner Haut und wie er sie retten konnte. David Silberstein schob den Brief in den Dechiffrier-Apparat und las das Band ab, das sich abspulte: ML an DS/P & C. 739 Lieber David, habe Ihre Kostenaufstellung erhalten und genehmigt. Das Geld ist bereits angewiesen. Die siebentausend Mehrausgabe im Vergleich zu letzter Woche mit Interesse registriert. Füttern Sie Ihre Leute mit Kaviar, David? (Ich befahl dem Autosekretär, diesen letzten Satz zu streichen; aber irgend ein Rädchen muß bei ihm versagt haben. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, nur liebe, nette Zeilen zu schreiben. Vergeben Sie mir, alter Freund.) Die Geschäfte gehen schlecht (und bei Ihnen?); deshalb will ich mir ein paar Tage freinehmen, um die Pechsträhne zu zerreißen. Vielleicht komme ich bei Ihnen vorbei. Warum ich Ihnen das verrate, weiß ich selbst nicht. Aber versprechen Sie mir bitte, daß Sie nichts Besonderes für mich auf die Beine bringen. Daddy Littlejohn will seine Kinder so erleben, wie sie wirklich sind. Bis dahin seien Sie brav und machen Sie es gut. Ihr alter Freund Manny. Der Projektleiter sah zu, wie sich das Band selbst zerstörte und die Asche in den Papierkorb fiel. Das war auch eines von den Hobbys des Gründers, daß er jeden seiner Briefe in den Rang eines Staatsgeheimnisses erhob. Natürlich waren seine Briefe nur von trügerischer Treuherzigkeit. Je süßer der Inhalt, desto tückischer war die Absicht, die dahinterstand. Je freundlicher Manny Littlejohn sich gab, um so gefährlicher wurde er. David Silberstein mußte nicht erst in seinem Handbuch nachlesen, was jetzt zu tun war. Seufzend massierte er seine Finger und speiste dann eine Botschaft in den zentralen Autosekretär von Penheniot ein: Der Projektleiter ist in den nächsten beiden Stunden nicht zu sprechen. Wenn etwas Dringendes vorliegt, ist er irgendwo auf der Tour 4a zu erreichen. Sein Weg führte ihn zuerst zur Polizeistation. Obwohl es noch sehr früh am Tag war, verströmten doch die Kletterrosen über der Tür bereits ihren betäubenden Duft und summten die Bienen im Lavendel unter den Fenstersimsen. Ein Reiher fischte sich im Wasser vor der Mole sein Frühstück. Es war ein herrlicher Sommermorgen, der einen heißen, windstillen Tag versprach. »Sergeant Cole!« Sofort tauchte ein pausbäckiger, gesund aussehender Dorf-Bobby im Türrahmen auf. Doch seine Augen waren so hart und grau wie Handschellen. Er nahm Haltung an. »Sir! Herrlicher Morgen, Sir!« »Falsch, Sergeant. Es ist ein Morgen, an dem Gefahren am Horizont lauern.« Sergeant Cole vollzog im Geist die notwendige Kehrtwendung. »Hört sich an wie Operation 4a im Handbuch, Sir.« »Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Doch frischen Sie mal mein Gedächtnis ein bißchen auf.« »Eine Gruppe von Leuten am Bahnhof von St. Kinnow, Sir. Vier Stunden Dienst, vier Stunden frei. Ein weiterer Trupp am Kai der Stadt. Als Reserve und Abdichtung, Sir. Ständige Fernsehbeobachtung der Flußmündung. Ein Überraschungsbesuch ist vollkommen ausgeschlossen, Sir.« Der Projektleiter starrte taktvoll in die Weite, auf die bewaldeten Hügel hinter dem Polizeirevier. »Falls man die Leute zur Rede stellt, Sergeant, was werden sie antworten?« »Sie besuchen die Regatta, Sir.« »Regatta, Sergeant? Am Bahnhof eine Regatta?« »Vom Bahnsteig aus kann man die Startlinie einsehen, Sir.« David Silberstein betrachtete jetzt eine vorüberziehende Wolke. »Ich habe Ihnen Unrecht getan, Sergeant. Es tut mir leid.« »Sie können sich auf mich verlassen. Für alles ist gesorgt, Sir.« »Natürlich, Sergeant. Machen Sie weiter, Sergeant.« Er wendete sich ab. Er wünschte sich nur, daß alle Stationen der Tour 4a so einfach sein würden wie diese. Ein paar Schritte weiter drehte er sich wieder um. »Es findet doch wirklich eine Regatta statt, oder?« »Erlauben Sie, Sir, die Frage ist etwas taktlos«, erwiderte der Sergeant beleidigt. David Silberstein entschuldigte sich noch einmal und ging weiter. Im Bäckerladen, der das Einkaufszentrum tarnte, legte Joseph die frischgebackenen Brote in die Regale. David wurde durch den Geruch des Brotes etwas aufgemuntert. Dieser Duft war für ihn die Garantie fester, solider Verhältnisse. Er stellte Kontinuität dar, eine Vergangenheit, die sacht durch die Gegenwart in eine vorhersehbare Zukunft floß. Das war natürlich Unsinn. Wenn er daran glaubte, war er hier im Dorf fehl am Platz. Der Gründer hatte recht: Der Sonnenschein, die Pflastersteine, die Perfektion jedes einzelnen Grashalms gehörten nur alle zu dem gleichen tödlichen Täuschungsmanöver. Etwas anderes zu glauben war töricht, Ketzerei. »Guten Morgen, Joseph.« »Ein wunderschöner Morgen, Projektleiter. Ein Morgen, der Labsal für die Seele ist.« »In der Tat, Joseph, es ist ein wunderschöner Morgen.« David war auf der Hut. Josephs Freude hatte etwas Unheimliches an sich. »Haben Sie die Zeitung schon gelesen, Projektleiter?« »Nein, Joseph.« David wußte jetzt, daß er recht gehabt hatte. Der Bäcker stäubte das Mehl von seinen Händen und griff dann in die Tasche seines Arbeitskittels. Er zog die Times hervor, die zu einem Rechteck zusammengefaltet und mit einem roten Kreis um eine Notiz herum versehen war. Er las laut vor und lachte dabei, daß er kaum sprechen konnte: »In weiten Bereichen des indischen Subkontinents gingen drei Tage lang wolkenbruchartige Regengüsse nieder, obwohl dort normalerweise jetzt eine Trockenzeit herrschen müßte, die mindestens noch sechs Wochen dauert. Der Regen enthält Chemikalien, die zwar für Menschen ungefährlich sind, sich aber schädlich auf Kleinlebewesen …« »Ich habe gestern abend eine Reportage im Fernsehen gesehen, Joseph. Ein ähnlicher Regen ging im letzten Monat über China nieder. Ein internationales Team von Mikrobiologen arbeitet an der Sache …« »Ist das nicht immer so? Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihm raten, Mikrobiologe zu werden. Kein Bauer, kein Lehrer, sondern ein nützliches Mitglied der Gesellschaft – Mikrobiologe.« Joseph lehnte sich an den Ladentisch und hielt sich den Bauch vor Lachen. »Harmlos für Menschen – das gefällt mir. Wird Ihnen dabei nicht gleich besser, Projektleiter?« In David Silberstein stieg der Zorn auf. Dieser Mann mußte weg. Er hatte kein Gefühl für Schicklichkeit. Sein Verstand war angekränkelt. »Schauen Sie mich nicht so böse an, Projektleiter. Ich muß entweder lachen oder -«, plötzlich wurde er ganz still, »mich aufhängen.« Das jähe Schweigen legte sich beklemmend auf Davids Haut. Er fühlte sich beschämt. In den Kantinenräumen hinter dem Laden klapperte Geschirr. An Davids Händen klebte jetzt der kalte Schweiß seines Zorns. Jeder fand sich so gut es ging mit der Lage ab. Joseph drehte sich um und zuckte mit den mächtigen Schultern. »Wer würde denn das Essen für Ihren erlauchten Gast kochen?« Der Projektleiter war dankbar für diese neue Wendung ihres Gesprächs, für den veränderten Tonfall. »Ein erlauchter Gast, Joseph? Wer hat Ihnen denn das gesagt?« »Der Büttel des Sergeanten ist ein Busenfreund von mir.« »Dann hat Ihnen wohl der Büttel auch berichtet, was in diesem besonderen Fall angebracht ist, nicht wahr?« »Selbstverständlich. Ein Essen, wie es einem König geziemt. Und dabei« – Joseph schwenkte seinen dicken Zeigefinger –, »und dabei muß es so zusammengestellt sein, als wäre es improvisiert worden. Ein Mahl, das ein gut vorbereiteter Küchenchef für einen unerwarteten Ehrengast auf den Tisch bringt.« »Der Büttel des Sergeanten ist gut unterrichtet, Joseph. Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.« Als der Projektleiter wieder ging, zog Joseph unter dem Ladentisch eine Schere hervor. Er tapezierte sein Wohnzimmer mit Zeitungsausschnitten. Zweieinhalb Wände seines Untergangszimmers hatte er bereits vollgeklebt. David Silberstein besuchte jetzt die Werkstätten. Hier waren keine besonderen Vorbereitungen vonnöten; doch der Cheftechniker war gleichzeitig der Leiter der Dorfkapelle. David wollte sich nur überzeugen, daß alle ihre Instrumente griffbereit neben ihrem Arbeitsplatz hatten. Das Repertoire, wie es sich für eine Dorfkapelle gehörte, war zwar beschränkt, aber dafür von Begeisterung getragen. Von den Werkstätten führte der Weg zum Mannschaftsraum. Dieser Besuch war leider unvermeidlich. Wie David im stillen gehofft hatte, traf er alle sechs Team-Mitglieder bei der morgendlichen Aussprache an. Diese Aussprache fand jeden Tag statt und dauerte eine Stunde. Die Team-Mitglieder unterhielten sich dabei ungezwungen mit ihrem Ausbildungsleiter, ihrem Trainer und dem Dorfpsychiater, ehe sie sich an ihre Lernmaschinen und Lehrgeräte setzten. Sie waren an der Fernseh-Universität eingeschrieben und hatten Kurse in folgenden Fächern belegt: angewandte Medizin Chemie vergleichende Religionswissenschaft Logik reine und angewandte Mathematik Sozialanthropologie Weltliteratur Betriebswissenschaft Verständigungslehre Linguistik Logistik Mikrobiologie Nuklearphysik Soziologie Nebenbei unterrichtete sie der Ausbildungsleiter – ein Diplomat im Ruhestand, den David Silberstein aus unerfindlichen Gründen einfach nicht ausstehen konnte – in gutem Betragen, protokollarischem Anstand, internationalem Humor, Aufrichtigkeit und öffentlichem Auftreten. Neben diesen vielen Fächern hatten sie auch noch ein hartes Pensum in körperlicher Ertüchtigung und in den wichtigsten Sportarten der Welt zu erfüllen. Diese Aussprache-Stunden waren deshalb ein wichtiger Bestandteil des Ausbildungsprogramms. Damit wollte man Isolierungstendenzen entgegenwirken und dafür sorgen, daß menschliche Beziehungen humaner Art nicht zu kurz kamen. Der Lärm im Mannschaftsraum war ohrenbetäubend. David Silberstein hatte unbemerkt eintreten können und war dankbar für die Frist, in der er sich anpassen und seinen ganzen Mut zusammennehmen konnte. In der Gegenwart der Team-Mitglieder fühlte er sich immer gefährlich unvollkommen, reduziert und kaum daseinsberechtigt. Drei brillante junge Männer, positiv, bronzefarben, muskulös, über alle Maßen gut aussehend, und dazu drei brillante junge Damen von ebenfalls überragender Qualität, dazu alle nackt – sie verwandelten ihn im Nu aus einem vollkommen normalen Mann mittleren Alters in einen schwächlichen, schwachsinnigen sexlosen Tattergreis, in eine Beleidigung für die menschliche Rasse. Selbst seine Kleider – bei anderen Gelegenheiten bezaubernd altmodisch und auch bei diesem Wetter seiner Altersstufe angemessen – schienen hier ein Eingeständnis seines Versagens. Als schämte er sich, nackt in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Was zutraf. In der Gegenwart seiner Team-Mannschaft versuchte er, aufrechter zu gehen, seiner Stimme mehr sonoren Klang zu geben und Sorgenfalten zu zeigen, die seine hohe Stellung unterstrichen. Das alles zusammen machte ihn vielleicht zu einem noch viel schlimmeren Narren, als er sich das eingestehen wollte. Doch hatte er keinen Beweis dafür, so hervorragend war sein Team im Betragen geschult. Der Ausbildungsleiter wurde endlich auf ihn aufmerksam, winkte, lächelte. Dieses Lächeln tat David wohl. Er bekam dadurch das Gefühl, daß er nützlich war, wichtig und unentbehrlich. Das Lächeln eines Experten. Sofort kehrte die alte Unsicherheit zurück. Er war überflüssig, entbehrlich. »Kommen Sie herein, Projektleiter!« Er war ja schon eingetreten. »Nett, Sie zu sehen. Ich würde Sie bitten, doch öfters zu uns zu kommen, wenn ich nicht wüßte, wie beschäftigt Sie sind. Fühlen Sie sich bei uns ganz zu Hause.« David wurde sanft auf einen tiefen roten Ledersessel geschoben. »Ich will das Team nicht unterbrechen, Projektleiter. Diese eine Stunde ist so wichtig für die jungen Leute. Sie tummeln sich so ausgelassen wie Hunde, die man plötzlich auf einem großen weiten Sandstrand frei läßt.« Dieser Satz war so typisch für Sir Edwin, so aufreizend. Weil er so treffend die Wahrheit umschrieb? David Silberstein rang mit seinen Vorurteilen. Er ermahnte sich zum wiederholtenmal, man könne einem Mann nicht vorwerfen, daß er so unendlich liebenswürdig sei … Er riß sich zusammen. »Die Leute machen Ihnen Ehre, Sir Edwin. Ihnen und der Menschheit.« Und das war nicht einmal geschmeichelt, besonders wenn sie nackt waren, was doch so vielen sehr schlecht stand. Vielleicht hatte der Ausbildungsleiter selbst seine Zweifel – obgleich er sie nicht zeigte –, wenn er sich unter seine Schüler mischte. Kein junger Mann mehr, nicht mehr genug Fleisch, um die Haut auszufüllen – wäre er nicht besser daran gewesen, wenn er sich etwas angezogen hätte? »Natürlich ist es wichtig«, sagte der Ausbildungsleiter, »sie nicht nur als Fleischkörper zu betrachten. Auch nicht als psychosomatische Komplexe. Sie sind Individuen. Sie haben ihre Fehler – wir kultivieren diese Fehler sogar. Perfektion wäre langweilig, sogar widerwärtig.« Der Ausbildungsleiter lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. David Silberstein ertappte sich bei der Beobachtung, was für eine peinliche Verlagerung männlicher Anatomie bei diesem Akt stattfand. Er blickte rasch zur Seite. Vielleicht litt er an einem Genitalkomplex, vielleicht sogar an Fetischismus. Er blickte sich jetzt im Mannschaftsraum um, zwang sich mit geistiger Disziplin dazu, nur Hände und Gesichter zu bemerken … nicht anstößige Brüste, Bäuche, Brustwarzen oder Schamhaare. Auch das war krankhaft. Manchmal verwirrten ihn bereits Worte dieser Art. Eines Tages mußte er seinen ganzen Mut zusammennehmen und den Dorfpsychiater um eine vertrauliche Unterredung bitten. »Sehr richtig, Sir Edwin.« David hatte gar nicht zugehört. »Ich stimme Ihnen vollkommen zu.« Die übereinandergeschlagenen Beine gaben einen schnalzenden Laut von sich. Die Worte erstickten in seiner Anstrengung, ja nicht hinzusehen. Doch eine Antwort war wieder fällig. »Ich wünschte, ich könnte noch bleiben, Sir Edwin. Ich möchte mir einmal das Ausbildungsprogramm ansehen, aber leider …« Wenn er den Mann gemocht hätte, hätte ihm vielleicht auch die schrumpelige Haut seines – Gott, selbst das Wort allein schon war undenkbar. Er mußte fort, mußte sein Bewußtsein mit Sonnenlicht und dem Anblick grüner Hügel sauberwaschen. »Aber leider« – er erhob sich aus dem Sessel – »leider habe ich heute morgen eine Menge zu erledigen. Ich habe nur hereingeschaut um – einen Vorschlag zu machen.« Der Ausbildungsleiter hatte sich ebenfalls erhoben, aber elegant und voller Würde. Er stand schräg vor ihm, so daß David Silberstein nicht umhin konnte, das Webmuster der Couchpolsterung reliefartig auf der Haut des Arsches von … Arsch? Wohin verirrte sich David Silberstein? Wohin verirrte sich die Welt? »Es wäre angebracht, Sir Edwin, wenn das Team sich in den nächsten drei Tagen zum physischen Training bereithielt …« Er redete fort, dachte nicht mehr an Arsch, redete nur. Schließlich war es wichtig, was er hier sagte. »Sagen Sie Ihren Schülern, sie sollen sich nicht so sehr in ihre Studien vertiefen, daß sie die Alarmglocke überhören.« Der Ausbildungsleiter blickte ihn lächelnd an. In einer früheren Epoche hätte das blitzende Monokel gut zu diesem Lächeln gepaßt. Vielleicht würde er nie die Freundschaft des Büttels gewinnen, aber dafür konnte er seine eigenen Schlüsse ziehen. »Ein schöner Anblick«, sagte er, »das Team bei der Freiübung auf dem Dorfrasen. Besonders beeindruckend für Leute, die für den Reiz der Physis sehr empfänglich sind und dem Intellekt instinktiv mißtrauen. Ich hoffe, das Wetter bleibt schon … für ihn.« Die Crew-Mitglieder waren ebenfalls auf Silberstein aufmerksam geworden. Jetzt bemerkten sie – ohne ihn unhöflich oder aufdringlich anzusehen –, daß er sich wieder zurückziehen wollte. Sie umdrängten ihn, erkundigten sich nach seiner Gesundheit, gaben ihm das Gefühl, daß er bei ihnen willkommen war. Ein schwacher Duft von Kölnisch Wasser stieg von ihnen auf. »Haben Sie gehört, daß Isaac gestern zum erstenmal den Weitsprung gewann?« »Sie hätten ihn erleben müssen. Bisher war er immer der Schlechteste in dieser Disziplin. Und der Psychiater meint, er hätte dabei nicht einmal seinen Proportions-Quotienten durcheinandergebracht.« »Wir denken oft an Sie, Mr. Silberstein. Es muß doch schlimm für Sie sein, immer allein im Büro zu sitzen und Verantwortung zu tragen. Sie sollten öfters ausspannen, sich mehr Freude gönnen. Es wird schon alles gutgehen …« Und Isaac stand schweigend daneben und kringelte die Zehen, als hätte er wirklich einen Grund sich zu schämen. Sie besaßen so viel Schönheit, so viel Enthusiasmus, so viel Intelligenz und Zuversicht. Welchen Anspruch hatten sie auf diese Dinge? David Silberstein verabschiedete sich so rasch, wie es ihm die Höflichkeit erlaubte. Nicht seine Körperlichkeit wurde von ihnen beschämt – es war sein Geist, der sich unterlegen fühlte. Er konnte ihre Hoffnungen nicht verstehen. Sie waren groß, begierig, unverdorben, während seine Hoffnungen lahm und schwankend waren. Diese jungen Leute waren keine Toren. Auch er war das nicht. Doch diese Jungen bildeten den Kontrast zu seiner Haltung, deuteten auf die Ambivalenz seiner Stellung im Dorf hin und auf die Widersprüche in seinem Denken. Auf dem Weg zum Laboratorium – der letzten Station seiner Tour – kam er an Roses Varco vorbei, der auf der Dorfmole saß und fischte. David blieb stehen und sah Roses beim Angeln zu. Roses trug eines der abgelegten Hemden des Vorarbeiters, die alte Hose des aufsichtführenden Ingenieurs und die Gummigaloschen des verantwortlichen Architekten, aus denen seine großen Zehen bereits herauslugten. Er hatte eine lange Weidengerte und warf den Haken weit hinaus in das stille Wasser. Der Schwimmkorken warf ein paar Wellen-Diagramme auf das Wasser und blieb dann bewegungslos liegen. Roses hatte auch keine Veranlassung, sich einem Betätigungsdrang hinzugeben. Obwohl er höchstens seit zehn Minuten auf der Mole sitzen konnte, sah er so aus, als habe er sich seit dem Bau der Mole hier nicht mehr vom Fleck gerührt. Etwa zehn Zoll unter der Wasseroberfläche ertrank ein Wurm langsam an einem Haken, während ab und zu ein Fisch neugierig herankam, um die Zuckungen des verendenden Wurms zu beobachten. Es war möglich – wenn auch nicht sehr wahrscheinlich –, daß einer dieser Fische den Wurm fraß und dann auf Roses Frühstückstisch endete … David Silberstein verharrte im Schatten des Labors und sah fasziniert zu. Das Ganze war paleolithisch, unglaublich, fast nicht zu begreifen, daß das Bild echt war und keine soziologische Rekonstruktion (Haken, Leine, Rute, Kleider, selbst Roses’ unergründliches Gesicht). Roses hätte innerhalb einer halben Stunde den ganzen Bach leerfischen können, wenn er ins Lager gegangen und sich das notwendige Gerät hätte ausliefern lassen: Sonarnetze, Schwingungsfelderzeuger, Blitzblinker. Statt dessen zog er es vor, hier auf dem Kai in der frühen Morgensonne zu sitzen und einem roten Korken zuzusehen, der von der Strömung langsam abgetrieben wurde, bis der Wurm auf einer Sandbank landete und vor lauter Aufregung starb. Wenn Roses den ganzen Morgen lang fischte und nichts fing, würde er ein bißchen enttäuscht sein. Wenn er aber mehrere Fische fing, würde er ein bißchen aufgeregt sein. Faszinierend. Silberstein ging auf die Mole und kauerte sich neben Roses nieder. Der Kontakt wurde hergestellt. »Du angelst?« »Ja.« Roses lächelte. Er liebte Fragen, die er beantworten konnte. »Bist du wieder hinter der Meeräsche her?« »Ja.« »Wärst du nicht besser dran, wenn du ein Netz verwendest?« »Natürlich wäre ich das. Hätte im Nu ein Netz voll Fische beisammen.« »Warum nimmst du dann kein Netz?« »Will gar kein Netz voll. Nur einen. Oder zwei. Frische Fische. So ist das … Außerdem muß man ein Netz nur flicken.« Und außerdem, dachte David Silberstein, steckte mindestens eine Hälfte von jedem Fisch voller Krankheiten. »Aber wenn du keinen Fisch fängst?« fragte Silberstein jetzt im scharfen Ton, gereizt von seinen eigenen Gedanken. »Ich werde einen fangen. Es wird heute sehr spät dunkel. Wenn er nicht am Morgen kommt, kommt er nachmittags.« »Aber wenn er nicht anbeißt?« »Einer beißt immer.« Vielleicht biß auch einer immer an. Vielleicht – ein sentimentaler Gedanke, über den einundfünfzig Prozent von David Silberstein nur den Kopf schütteln konnte – vielleicht gab es Leute, die selbst das Universum nicht aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Am liebsten hätte er Roses umarmt. Doch Roses – britisch, Außenseiter, in den vierziger Jahren aufgewachsen – hätte das nur mißbilligt. Deshalb blieben sie schweigend nebeneinander sitzen und sahen zu, wie der rote Korken auf die Untiefe zutrieb und der Wurm an seinem Haken starb. Die Sonne war heiß. David Silberstein schlug mit den Fersen gegen die grüngrauen Steine der Mole. Roses furzte friedlich neben ihm. So war das Leben. Und ein Teil seines Lebens war Manny Littlejohn. »Was hast du heute noch vor, Roses?« »Ich angle, bis ich etwas fange.« »Und danach?« »Danach? – Ich habe zu tun.« Manny würde sich freuen, wenn er Roses im Dorf antraf bei der Arbeit, für die er ihn bezahlte. In der Rolle des Dorftrottels. »Hast dir etwas Nettes ausgedacht?« »Dieses und das.« Roses war nicht ausweichend oder verschwiegen. Er beantwortete jede Frage so ehrlich, wie er konnte. »Wo wirst du es tun?« – »Hier.« David Silberstein blickte seufzend in das leicht bewegte Wasser hinunter … Eine beneidenswerte Tätigkeit. Er stand auf. »Ich muß weiter.« »Möchte Ihren Job auch haben«, sagte Roses. »Sie bekommen wenigstens immer frischen Kaffee.« Als David Silberstein das Laboratorium betrat, war tatsächlich schon Kaffeepause. Professor Krawschensky stand neben der Maschine, eine Rolle Computerband in einer Hand, eine Kaffeetasse in der anderen. Selbst wenn Professor Krawschensky regungslos dastand, gewann man den Eindruck, er wünschte sich weit weg von hier oder unter eine Tarnkappe. Wenn in David Silberstein noch eine Spur von Hochgefühl nach dem Gespräch mit Roses zurückgeblieben war, starb diese Euphorie in diesem Augenblick. Hier war alles auf dem Sprung, unter Nervenstreß – Professor Krawschensky, er selbst, das ganze Dorf (Roses allerdings ausgenommen). Deswegen waren sie ja hier, um zu rotieren, unter Nervenstreß zu spuren. Sie rotierten unter der Knute des Erzantreibers, Emmanuel Littlejohn, legten sich alle mit ihren nicht unbeträchtlichen intellektuellen Gaben und mit Unterstützung des nicht unbeträchtlichen Vermögens von Emmanuel Littlejohn ins Geschirr. Der Professor erblickte David Silberstein und lief auf ihn zu. Er verlagerte die Kaffeetasse aus seiner rechten Hand in seine linke, tauschte mit David einen Händedruck und nahm dann seine Tasse wieder in die rechte Hand. »Mein lieber Freund …« Er scharrte nervös mit den Füßen. »Es ist doch hoffentlich alles in Ordnung, oder? Ihr Besuch … Ich meine, es hat sich doch hoffentlich nichts verschlimmert, oder?« Der Professor las keine Zeitungen und sah sich auch nicht die Nachrichtensendungen der Fernsehanstalten an. In dem Wettlauf, den er mit der Außenwelt veranstaltete, sperrte er sich geistig gegen jede detaillierte Information, wie gut sein Gegner im Rennen lag. Deshalb befand er sich dauernd in einem chaotischen nervlichen Zustand und bettelte um etwas, was ihn angeblich doch nur belastete. Er blickte David Silberstein über den Rand seiner Tasse hinweg an. Er trank nicht, sondern versteckte sich nur. »Nein, sagen Sie mir nichts. Ich weiß auch so, was draußen vorgeht. Ersparen Sie mir die schockierenden Einzelheiten. Gott sei Dank mache ich Fortschritte in meiner Arbeit. Die Sonne scheint. Es ist gut, auf Gottes guter Erde noch am Leben zu sein. Das ist alles, was wir wissen oder wissen müssen.« Der Professor lief zu seiner Assistentin und drückte ihr die Rolle mit dem Computerband in die Hand. »Hier haben Sie die Beschleunigungssequenz für das Experiment Nr. 3376. Ich hoffe, wir können abfahren.« Ohne auf eine Antwort von Liza zu warten, wendete er sich wieder seinem Besucher zu. »Sie werden beeindruckt sein. Die Startphase haben wir jetzt vollkommen in den Griff bekommen. Selbst bei organischen Stoffen. Eine wesentliche Verbesserung seit unserer letzten kleinen Vorführung, wenn ich mich noch richtig erinnere. Aber ich hätte Ihnen längst eine Tasse Kaffee anbieten sollen. Liza, eine Tasse Kaffee für Mr. Silberstein!« Liza fädelte erst sorgfältig das Band ein, ehe sie sich der Kaffeemaschine zuwendete. Liza verstand es meisterhaft, mangelnde natürliche Anmut durch Fürsorge und Sorgfalt zu ersetzen. »Die Dosierung der Bremskraft beim Wiedereintritt macht uns augenblicklich Schwierigkeiten. Sie scheint schwieriger zu sein, als ich mir das vorgestellt hatte. Theorie und Praxis sind eben leider zwei Paar Stiefel … Doch wie geht es Ihnen eigentlich, alter Freund? Mir kommt es vor, als hätte ich Sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Was sage ich – seit Wochen nicht mehr! Tja, ich mache mich rar. Meiner Frau gefällt das überhaupt nicht. Sie meint, das schade der Gesundheit und wäre unfair den anderen gegenüber. Aber die Zeit drängt. Sie ist unersetzlich. Und immer die Hoffnung, daß das nächste Experiment endlich den entscheidenden Durchbruch bringt.« Der Professor eilte auf die Startbühne und prüfte Brennweiten und Skalen, während er, ab und zu über die Schulter blickend, weiter Konversation machte. David Silberstein hörte nicht mehr zu, nahm dankend die Tasse mit dem heißen Kaffee entgegen, die Liza ihm reichte. Sie tauschten miteinander einen Blick, waren sich einig in ihrem amüsierten Bedauern. Dann trat Liza neben den Professor auf die Bühne. David sah ihr zu, wie sie Skalen ablas und mit den Angaben verglich, die sie säuberlich in Listen eingetragen hatte. Offenbar hatte sie diese Prüfung schon einmal gewissenhaft vorgenommen. Doch sie zeigte keine Spur von Ungeduld, die die Harmonie stören konnte. Sie war nicht schon, wie es ihr auch an natürlicher Anmut fehlte, doch sie glich das durch Hingabe und Aufmerksamkeit für jedes Detail aus. Aber sie übertrieb nicht. Ihre Bescheidenheit rührte den maßvollen David Silberstein in der Tiefe seiner keuschen Seele. Sie war ein Wunder. Zu traurig, daß er bereits fünfundvierzig war und sie erst sechsundzwanzig. Traurig, aber kein unüberwindliches Hindernis. Silberstein wendete sich ab und überließ den Professor seinen Skalen und dem technischen Wechselgesang mit seiner Assistentin. Das Laboratorium besaß ein riesiges Fenster, das auf die Bucht hinausblickte und sich von außen dem Betrachter als Atelier eines profilierten Künstlers darbot. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt, wenn man durch das Glas die Knöpfe eines kleinen Bohn-446-Computers und die Hebel einer verstellbaren Bühne schimmern sah. Selbst die Pulsgeneratoren und Beschleuniger – falls man sie von draußen hätte sehen können – hätten durchaus Werkzeuge eines Bildhauers sein können, der mit Hologrammen experimentierte. Und die Startbühne ähnelte wirklich sehr der Bühne einer Akademie, auf dem das Modell, von einigen Scheinwerfern neugierig beleuchtet, saß. In dem gegebenen Fall war das Modell ein schlichter Holzstuhl. Allerdings, überlegte David Silberstein, mit Schattierungen eines van Gogh. Ein altmodisches Stück, aber nicht antik. Er bestand aus solidem Ulmenholz, war unbemalt und zeigte nur Spuren von Fett an Lehne und Sitz. Nägelköpfe schimmerten am Rand der Sitzfläche, wo die Beine mit dem Sitzgestell verbunden waren. Die Zahl der Molekularstrukturen, die dieser Stuhl darstellte, war in der Tat riesig. Wenn man nun schon den Start einer so großen Kombination beherrschte, konnte man wirklich von Fortschritt sprechen. Die Laboratoriumsuhr schlug in rascher, vehementer Folge die siebenundzwanzigste Stunde. Diese Uhr veräppelte sich selbst, war eine riesige, komplizierte Karikatur des Dorfes und der Zeit. Die Vorderwand der Uhr füllte die ganze Schmalseite des Labors aus, war mit Zifferblättern, Schlagwerken, Weckern, kleinen Klapptüren übersät, aus denen Männchen mit Regenschirmen, Herolde mit Trompeten und Kuckucks herauskamen und ein Hund, der eine Wurst bellend verteidigte. Auch ein Feuerwehrmann, der das Mundstück seines Schlauches auf den Zuschauer richtete, ohne ihn tatsächlich mit Wasser zu überschütten. Die Zeiger der Uhr sagten zwar, wann der nächste Zug von irgendeinem Dorf in Bengalen nach Kalkutta abging, und irrten in diesem Punkt nie. Sie sagten, wo die Züge wegen Überschwemmung, Waldbränden oder Seuchen ausfielen. Aber eines taten sie nicht – schon gar nicht an dieser Stelle – die richtige Zeit angeben. Sie zeigten nicht die wahre Zeit an. Nicht die richtige Sekunde, den richtigen Tag, den richtigen Monat oder das richtige Jahr. Wenn man das wissen wollte, mußte man sich schon an den kleinen Computer wenden, der auch für die Verrücktheit der Laboratoriumsuhr verantwortlich war. Dieser kleine Computer hatte natürlich immer recht. »… mein lieber Freund, ich vernachlässige Sie ja! Wie war der Kaffee? Fad, wie ich vermute. Komisch, daß man trotz all dem« – seine Handbewegung schloß die ganze zivilisierte Welt ein – »nicht einmal eine wirklich gute Tasse heißen Kaffees zustande bringt. Eigentlich gar nicht so komisch. Ein wirklich ungetrübter Segen für die Menschheit war doch von Anfang an nicht drin … Sollen wir endlich mit dem Experiment beginnen?« Der Professor starrte Silberstein an, als wäre dieser der Grund für alle Verzögerungen und Pannen. »Vergessen Sie nicht, sich die Ohren zu verstopfen. Der Start erfolgt ungefähr fünfzig Sekunden nach der Aktivation. Liza? Bitte, alle Hebel der Reihe nach schalten.« Das übliche elektronische Gejaule erfüllte den Raum mit anschwellender Tonhöhe. Wie der Trommelwirbel vor dem Zirkustrick. David Silberstein fragte sich, ob dieses Gejaule wirklich nötig war oder nur eine kleine Effekthascherei. Er hatte irgendwo einmal gelesen, daß man früher in amerikanischen Gefängnissen ein ähnliches Jaulen hörte, bevor ein Gefangener auf dem elektrischen Stuhl starb. »In dieser Phase«, erklärte Professor Krawschensky, »findet die Anti-Chronokül-Pufferung oder Bremsung statt. Wenn sich der Ton ändert, setzt die Beschleunigungsphase ein.« Der Ton änderte sich wie auf Kommando. Wie in einem schlechten Film oder in einem exakten wissenschaftlichen Experiment. »Diese Wechselphasen sind natürlich computergesteuert. Die Pufferung ist kein geradliniger Prozeß. Dementsprechend ist auch die Beschleunigungsphase variabel.« David Silberstein stopfte sich die bereitliegenden Wattebäuschchen in die Ohren und blickte automatisch auf die Uhr. Doch deren Zeiger drehten sich wie bei einer Windmühle im umgekehrten Uhrzeigersinn. Der Lärm wurde trotz der Watte fast unerträglich, aber die Trommelfelle hielten stand. Professor Krawschensky bewegte immer noch die Lippen, referierte hartnäckig weiter über sein Experiment. Dann brach der Lärm plötzlich ab und hallte schmerzvoll im ganzen Körper nach. Der Stuhl auf der Bühne flimmerte für den Bruchteil einer Sekunde auf und verschwand. Sogleich folgte der Knall der Implosion, als die Luft das Vakuum ausfüllte, das flimmernde Nichts im Fokus der sechs Beschleuniger. Trotz der lärmenden Umstände war das ein dramatischer Moment, ein erregender sogar. Beklemmend. Unheimlich für einen Mann, der nicht an Zauberei glaubte. Doch Erklärungen vernebelten meistens nur nüchterne Tatsachen. Hier fand aber echte Zauberei statt. Deswegen die Beklemmung. »Haben Sie genau hingesehen? Haben Sie es gesehen?« Der Professor war offenbar lange nicht so zuversichtlich gewesen, wie er getan hatte. Jetzt jubilierte er. »Sehen Sie? Ein vollkommener Start, ein totales Verschwinden. Ich habe von Anfang an recht behalten. Die Existenz der Materie innerhalb unserer drei Dimensionen hängt nur von dem Widerstand dieser Materie gegen den Zeitfluß ab. Man entferne den Widerstand, und es passiert, was sie jetzt sehen. Der Zeitfluß übernimmt die Kontrolle und – hui – der Stuhl, wie wir ihn kennen, existiert nicht mehr.« »Verraten Sie mir doch bitte, Professor, wo der Stuhl sich in diesem Augenblick befindet!« Bei dem letzten Experiment, dem David Silberstein beigewohnt hatte, hatte die Entpufferung eine Porzellankanne in ein Häufchen Asche verwandelt. Er hatte sich gefragt, ob der Gründer, ob nicht eigentlich alle in diesem Dorf einem kostspieligen Schwindel aufsaßen. »Wo der Stuhl sich befindet? Nirgends. Oder, falls Ihnen das lieber ist, dort, wo er immer war, nur in einem anderen Zustand. In einem Zustand der chronomischen Harmonie.« »Wann können wir ihn zurückerwarten?« »Wir geben den Entpufferungs-Werkstoffen nur eine kurze Lebensdauer. In diesem Fall drei Minuten. Unser Problem ist der Austritt und Wiedereintritt. Wenn wir diese Phasen fest in den Griff bekommen haben, ist die Dauer der chronomischen Harmonie an sich bedeutungslos.« »Wenn Sie von der chronomischen Harmonie sprechen, meinen Sie doch eine Zeitreise, nicht wahr?« Professor Krawschensky zog die Stirn in Falten und lief ein paar Schritte hin und her. Liza strafte David ebenfalls mit einem Blick, weil er den Professor gereizt hatte. Krawschensky würde nie die Grube sehen und immer hineinfallen. »Ich meine damit nicht, ich wiederhole, ich meine damit nicht eine Zeitreise. Dieser Ausdruck ist ein hundertprozentiges Mißverständnis des Phänomens Zeit. Denn wir sind es, die in diesem Moment Zeitreisende sind. Nicht der Stuhl, sondern wir.« Er ballte die Hand und deutete. »Sehen Sie, guter Freund, dort draußen ein Boot, das den Fluß hinaufdampft. Der Fluß ist stark; doch die Maschine an Bord ist es nicht. Es stemmt sich zwar gegen die Strömung, wird aber unbarmherzig abgetrieben. Doch betrachten wir den Fluß in seinem Zusammenhang, und das Boot reist trotzdem. Der Fluß treibt an dem Rumpf vorbei und trägt das Boot nicht ganz mit sich. Guter Freund, wir und das ganze Universum, soweit wir es kennen, befinden uns in der gleichen Lage wie dieses Boot.« Der Professor kam ganz dicht heran und blickte David mit Verschwörermiene an. »Doch was geschieht, wenn das Boot seine Maschine abstellen kann und sich ganz der Strömung des Flusses überläßt? Im Zusammenhang mit diesem Fluß, in Relation dazu, reist es nicht mehr. Das Wasser um seinen Rumpf verharrt auf der Stelle. Das Boot bildet jetzt eine harmonische Einheit mit dem Fluß. Das gleiche gilt für den Stuhl. Er bildet eine Einheit mit Chronos, mit der Zeit. Er reist nicht mehr. Wir sind es, mein guter Freund, die gegen den Strom ankämpfen und reisen.« Er seufzte und legte die Hände in ergebener Geste zusammen. »Und in diesem Prozeß altern wir. Der Stuhl aber altert nicht.« Es folgte eine kleine Detonation, ähnlich der ersten, nur gleichsam rückwärts gespielt, die Luft nach außen drängend, und der Stuhl erschien wieder. Die drei Minuten waren vergangen. Offensichtlich galt das auch für den Stuhl. Nur ein paar Sekunden stand er noch an genau der gleichen Stelle wie vorhin, unverändert bis auf diese sonderbare Tintenschwärze, die ihn jetzt überzog. Und dann sank er in sich zusammen und verwandelte sich in schwarzen Staub, während ein halbes Dutzend geschwärzter Nägel über die Bühne rollte. »Wieder dieser Holzkohle-Effekt«, seufzte der Professor, »wie enttäuschend.« Er lächelte nervös. »Der Wiedereintritt ist immer noch zu abrupt, scheint mir. Es ist nicht die Hitze, die ihn in Kohle verwandelt. Es ist die jähe Bewegung der Chronoküle, die daran schuld ist …« Liza bückte sich nach einer Kehrschaufel und einem Kehrbesen. In einer Ecke des Laboratoriums stand eine große Wanne, die schon zur Hälfte mit schwarzem Staub gefüllt war. II Liza Simmons kippte die Schaufel über der Wanne aus. Ein dünner Staubnebel erfüllte die Luft und schlug sich dann als schwarzer Belag nieder. Reiner Kohlenstoff, eine Tetrade, Atomgewicht H 12. Sie war viel zu müde, um sich deswegen noch zu sorgen. Das Adrenalin, das vor diesem Experiment freigesetzt worden war, war mit der Enttäuschung wieder verschwunden wie die Milch, die aus einem gesprungenen Tontopf rinnt. Sie fühlte sich abgeschlafft, leicht unwohl, unfähig zu einem sofortigen Neubeginn, den der Professor von ihr erwarten würde. Diese Abgespanntheit war nicht physischer Natur. Sie arbeitete erst seit zwei Stunden im Labor und hatte die ganze Nacht gut geschlafen. Es war die Angst, die an ihr nagte, die gebändigte Hysterie. Es war die stille Panik des Menschen, der an der Türsperre herumfummelt, während die Bremsen an abschüssiger Stelle versagen. Es war die Müdigkeit des Kleinhirns, das ständig im Krieg mit der Hirnrinde liegt. Die übrigen Bewohner des Dorfes gingen einigermaßen gelassen ihrer Arbeit nach. Das solide Gebäude in ihrer Mitte, das das Laboratorium beherbergte, war für sie ein beruhigendes Symbol (war mit dieser Absicht auch so entworfen), eine Bestätigung, daß ein Ausweg gefunden werden würde, wenn jeder seine Arbeit richtig tat. Liza hatte nichts, was ihr Ruhe und Zuversicht geben konnte. Nur sie allein im Dorf wußte – denn wer konnte schon sagen, was Professor Krawschensky sich zu glauben gestattete? –, sie allein wußte, daß die Tür des dahinrollenden Wagens noch immer so verschlossen war wie eh und je. Sie lehnte den Kopf an die Wand über der Wanne. Der Zeitpunkt schien ihr nahe, wo sie das Fummeln mit Instrumenten aufgeben und statt dessen sich in Würde und Demut fügen würde, daß jede Zukunft, jede Erosion, jeder Tod logisch und verdient ist und ein sehr unbedeutendes Ereignis im Schema der Dinge. Die Zukunft würde zwar noch etwas bedeuten, aber nicht als etwas, gegen das man sich wehrte, sondern in das man einstimmte. (Der Zeitpunkt für diese Idee war tatsächlich noch viel weiter entfernt, als sie ahnte, denn sie war noch sehr jung, und diese Idee war sehr alt.) Hinter ihr stand der Professor schon wieder am Pult, arbeitete an einer neuen Zahlenreihe, brummelnd, Voraussetzung auf Voraussetzung bauend, die Finger auf den Tasten, Märchen für den indifferenten Computer ersinnend, die dieser abwägte und verwarf. Und daneben stand Silberstein und sah durch ein Visier der Gleichgültigkeit zu. Ebenfalls urteilend und wägend. Sie ging aus dem Labor. Sie war nicht verantwortlich (auch wenn sie sich darum bemühte) dafür, daß der Professor einen Narren aus sich machte, für die Lückenhaftigkeit seines Genies. Sie ging die paar Stufen zum Garten hinunter. Der Professor bemerkte ihr Weggehen nicht. Auch David Silberstein nicht, dem sonst eigentlich nichts entging. Sie setzte sich auf eine grüngestrichene Bank am Rand der Wiese zwischen Stockrosen, Mauerblümchen, Rittersporn und Löwenmaul, bewußt gezogene Gartenblumen, die am Zaun wucherten. Die Leute sagten, wie zur Verteidigung, daß Manny Littlejohn Geschmack habe. Doch in ihrer gegenwärtigen Verfassung hielt sie dieses Organisationstalent, das nichts übersah, für vulgär. Und für unverschämt. David Silberstein kam die Stufen vom Laboratorium herunter. Sie wußte, daß er es war, ohne den Kopf wenden zu müssen. Sein gemessener Gang, weil er das Reiben der Gesäßbacken aneinander für ordinär hielt und es deshalb tunlichst vermied. Am Fuß der Treppe sang er, mehr für sich, die ersten zwei Verse eines mittelalterlichen Rundtanzes: Summer is icumen in, Lhude sing cucu! Gleich würde er sich neben sie setzen und zu ihr sprechen. Sie schloß die Augen und die Ohren und streckte sich unter der Sonne. Es war eine erotische Bewegung, doch sie konnte auch ganz unbewußt gewesen sein. David Silberstein kam zu ihr, setzte sich neben sie und sprach: »Sie sehen so niedergeschlagen aus, Liza. Manchmal müssen Sie wohl denken, daß Sie es nie schaffen werden.« Er wollte also über die Arbeit reden. Liza verharrte in ihrer gestreckten Haltung und bewegte sich nicht. »Nehmen wir einmal an, Sie schaffen es wirklich nicht, Liza. Das ist eine Möglichkeit, die man in Betracht ziehen muß. Vielleicht wäre das sogar die beste Lösung …« »… die beste Lösung?« Sie richtete sich jäh auf. Ältere Leute waren unerträglich. »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen!« »Ich meine, daß wir Verantwortung haben … Wenn unsere Umgebung zusammenbricht, wenn die Katastrophen sich häufen, werden wir dann nicht gebraucht? Sollten wir uns wirklich so beeilen, der Zeit zu entrinnen?« »Ich bin Wissenschaftlerin. Meine vornehmste Pflicht ist die Wissenschaft.« Das war nur eine These. Wie hatte sie sich nur in so eine Diskussion verwickeln lassen können? »Unsinn«, erwiderte David Silberstein. »Sie wollen sich einer Theorie verpflichtet fühlen? Einem bloßen Gedankengebäude?« Das war unerhört. Man drang in ihre Privatsphäre ein. Und wo blieb seine Reserve, sein liebenswertes Taktgefühl? Sie stand auf. »Es ist lächerlich, von Niedergeschlagenheit zu reden, nur weil ein paar Experimente nicht ganz hielten, was sie versprachen.« Sie legte absichtlich seine Worte als Attacke gegen den Professor aus. »Jedes Experiment ist ein notwendiges Glied in einer langen Kette. Professor Krawschensky weiß ganz genau, was er tut.« Silberstein hielt ihre Hand fest und verhinderte so, daß sie sich seiner Gegenwart entziehen konnte. »Meine Liebe, sie müssen die Dinge nicht so komplizieren.« Was sagte er da? Bei Vertretern seiner Generation wußte man nie, wo man dran war. Sie waren so scheinheilig. Vielleicht hatte er von Anfang an nur Sex im Sinn gehabt. Er fuhr sich mit der linken Hand durch das Haar und sah plötzlich zehn Jahre jünger aus. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe laut gedacht und Ihnen den Schluß einer langen, düsteren Gedankenkette verraten. Das war unverzeihlich. Aber setzen Sie sich doch wieder!« Sie setzte sich wieder. Sie überlegte, was sie antworten würde, wenn er sie direkt fragte. Doch solche Worte von diesem Mann mit dem milden, verklemmten Gesicht? Unmöglich. Und er hatte sie doch beschuldigt, sie kompliziere die Dinge. Sie drehte ihm das Gesicht zu. Er war auf der Hut, voller Ränke, anziehend. »Wollen Sie, daß wir Sex treiben, David?« In diesem Zusammenhang war es erlaubt, den Vornamen zu gebrauchen. Und die Frage verpflichtete keinen von ihnen. Doch er zuckte unmerklich zusammen. Wie ein Kind, das behauptet, es wäre nicht kitzlig. »Sex? Was für Gedankensprünge Sie machen, Liza. Ich weiß wirklich nicht …« Und jetzt blickte er doch tatsächlich auf seine Uhr! Du meine Güte, so umständlich, so ausweichend, anstatt einfach zu sagen »nein, danke!« Als ob es wichtig gewesen wäre! »Ich fürchte, ich … das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mir das anzubieten, aber … Nun, Tatsache ist, ich wollte Sie eigentlich um etwas ganz anderes bitten.« Die typischen losen Enden seiner Altersgruppe. Ihre Frage hatte sofort eine Erektion bei ihm ausgelöst, und trotzdem sagte er immer noch nicht ja. Sie tätschelte seine Hand, die die ihre noch hielt. Er entzog sie ihr, als ihm das zu Bewußtsein kam. Er war bedauernswert und ein Ärgernis zugleich. Niemals, niemals in seinem ganzen Leben würde er etwas aus reinem Vergnügen tun … »Ich hätte den Professor selbst darum gebeten; aber die Sache ist etwas heikel. Ich bin nicht gerade der Taktvollste. Wissen Sie, ich erwarte heute oder morgen den Besuch des Gründers. Einer seiner ›Überraschungsbesuche‹. Und da fragte ich mich …« Er war arg verlegen. Sie mußte ihn wirklich aus dem Konzept gebracht haben. Sie half ihm: »Sie fragten sich?« »Nun, wir müssen ein Experiment in der Zeitreise – äh, Pardon, ich meinte die chronomische Einheit – vorführen. Es gab doch Versuche, die hundertprozentig erfolgreich waren, oder nicht?« »Selbstverständlich gab es sie. Die einfachen Molekularstrukturen – Metalle zum Beispiel – machen überhaupt keine Schwierigkeiten.« »Das dachte ich mir. Der Gründer wird bestimmt das Laboratorium aufsuchen …« »… und Sie wollen, daß wir ihm ein gelungenes Experiment vorführen, auch wenn das für uns reine Zeitverschwendung ist.« »Auch dann, leider. Sie müssen verstehen, er wird unruhig.« Er nahm ihren Einwand voraus. »Ich weiß, daß das unvernünftig von ihm ist. Ich weiß, daß Sie gewaltige Fortschritte machen. Trotzdem …« »Trotzdem kosten wir ihn eine Menge Geld, und er will sich überzeugen, daß er etwas für sein Geld bekommt.« Ihre Abneigung gegen den Gründer wuchs. Bezahlung nach Resultaten, etwas haben wollen für sein Geld – als ob wissenschaftliche Forschung nach Kubikmetern Verkaufsraum im Supermarkt berechnet werden konnte, die in der Woche regelmäßigen Gewinn abwarf. Ein Supermarkt mit Kletterrosen und Löwenmaul, Pseudo-Bauernhäusern und einem Pseudo-Rathaus am Ende einer Pseudo-Dorfstraße. »Und was sagt er zu all den teuren Attrappen, die hier herumstehen, Mr. Silberstein? Wie kann er über Kosten klagen, wenn er selbst …« »Werden Sie nicht so bitter, Liza.« Er sprach jetzt mehr im Zorn als in Trauer. »Er darf schließlich sein Geld ausgeben, wie es ihm beliebt. Das ist sein gutes Recht.« Vielleicht war sie ein wenig zu weit gegangen. Es war gut, daß er sie zurechtwies. Sie hätte sich sonst noch mehr vergessen. »Bitter? Mein Gott …!« »Sie sind sehr abgespannt, Liza.« »Das behaupten alle Leute. Ich bin vollkommen in Ordnung.« »Sie sind abgespannt, und die Zeit ist jetzt besonders wichtig für Sie. Wichtiger als für uns andere. Professor Krawschensky erwartet viel von Ihnen.« »Nicht mehr, als ich gern zu geben bereit bin.« »Natürlich, ich weiß das. Ich bin kein Narr, Liza.« Er war so gelassen und altmodisch. Er zwang sie zu altmodischen Antworten. Trotz ihrer Gereiztheit hätte sie sich am liebsten an seiner Schulter ausgeweint und ihn danach in einen dunklen Winkel gezogen, wo er seine Scheu abgelegt hätte. Dort hätte sie ihn ausgezogen und Sex mit ihm getrieben. Es wäre der netteste, doch unwahrscheinlichste Weg gewesen, sich von ihren Spannungen zu befreien. Die Bienen summten. Der Garten duftete nach Lavendel und Goldlack. Und nach alten Filmen. Vielleicht hätte sie ihn sogar geküßt, wenn er sich nicht im gleichen Augenblick vorgebeugt hätte, um aufzustehen. Ihre Nasen stießen zusammen. Die Situation wurde den alten Filmen immer ähnlicher. »Ich werde das mit dem Professor schon regeln«, sagte sie. »Ein Bleiklumpen, der verschwindet, macht immer Eindruck. Wir werden das Experiment noch heute vorbereiten.« »Vielen Dank.« Er stand vor ihr und verbeugte sich leicht. »Es tut mir sehr leid, daß ich seine Zeit mit solchen Dingen vergeude; aber es muß eben sein … Und ich meinte wirklich, was ich vorhin über Sie gesagt habe. Sie sind kompliziert. Liza. Vielleicht das komplizierteste Mädchen vom ganzen Dorf.« Die typische Floskel, um sich aus der Affäre zu ziehen. Er ging rasch davon, um sich nicht weiter erklären zu müssen. Durch das Gattertor und die Straße hinunter, noch einmal winkend, ehe er hinter dem Fliederbusch vor der nächsten Haustür verschwand. Nur daß die nächste Haustür, die übernächste und überübernächste alle Attrappen waren, Tarnung für die Front des Laboratoriums. Was, zum Teufel, wußte er schon von Frauen und ihren Komplikationen? Sie kauerte sich verdrossen auf der Bank zusammen, die Hände in den Taschen ihres weißen Kittels, als friere sie. Es war eine verfluchte Zeit für alle Frauen … Aufgrund ihrer Jobs, der Pillen, ihrer Ausbildung und Muskelfortbildung wurden sie nicht mehr verhätschelt wie früher. Aufgrund ihrer Nacktheit und der Artikel über die Stimulation der Clitoris im Reader’s Digest waren sie keine geheimnisvollen Geschöpfe mehr, die man anbetete. Aufgrund des Männermangels und des Frauenüberschusses konnten die Männer nach Belieben wählen, statt zu werben. Sie waren nur noch Spiegel der männlichen Eitelkeit. Aufgrund der Übervölkerung der Erde versagten sie sich große Familien, obwohl das oft ihr innigster Wunsch blieb. Und wenn sie tatsächlich Kinder bekamen, handelten sie gegen den Rat der Kinderpsychologen, folgten ihrem Erziehungszwang, gaben die Kinder so früh wie möglich auf, um sich Jobs als Rechtsanwälte, Politiker, Statistiker und Jugendpsychologen zu suchen. Als Belohnung dafür bekamen sie ihr eigenes Bankkonto, ihre eigenen Hypotheken, ihre eigenen Namen nach der Heirat und eine erhebliche Zunahme öffentlicher Bedürfnisanstalten. Fürwahr es war eine herrliche Zeit für alle Frauen. Liza Simmons ließ ihre Gedanken wandern, während sie so auf der Gartenbank saß Niedergeschlagenheit, Gereiztheit, Trübsinn mischten sich in unklarer Folge, bis sie sich auf einen Punkt konzentrierten: David Silberstein. Sie hätte ihn dafür hassen können, daß er auf seine Uhr blickte, statt auf ihre Brüste, und daß er ihr die Aufgabe überlassen hatte, seine Befehle an Professor Krawschensky weiterzugeben. Der Professor würde sehr verärgert sein, denn es dauerte eine Weile, bis man die Pulsgeneratoren und die Beschleuniger auf das schmale anorganische Spektrum eingestellt hatte. Die Experimente mußten unterbrochen werden, weil man das Spektrum nur für die tote Materie verwenden konnte. Und die Zeit brannte ihnen auf den Nägeln. Das war alles so widersinnig. Wenn Manny Littlejohn wirklich ungeduldig wurde, warum wollte er dann, um seine Nerven zu beruhigen, eine Programmverzögerung? Ein Experiment, das im Grunde nur ein sinnloses Gleichnis bedeutete? Er konnte doch nicht so dumm sein, dachte Liza. Sie kehrte ins Laboratorium zurück, um Professor Krawschensky bei der Vorbereitung des nächsten Experimentes zu helfen. »Mein liebes Kind, wo haben Sie denn so lange gesteckt? Ich suche Sie schon überall.« Offensichtlich hatte er sich nicht einen Schritt von seinem Pult wegbewegt und sie unter seinen Papierbergen gesucht. »Und wo ist denn Mr. Silberstein geblieben?« »Er ging vor ein paar Minuten. Wahrscheinlich dringende Arbeiten in seinem Büro.« »Seltsam. Ich habe ihn gar nicht weggehen sehen … Meine Frau hat ganz recht. Ich sollte mehr auf meine Umgebung achten.« Er starrte sie an, sah sie vielleicht zum erstenmal seit Wochen wieder als Mensch und Frau. Liza wünschte, er wäre bei seinen abstrakten Vorstellungen geblieben. Die Dinge, die sich entwickeln konnten, wenn er sie als Frau sah, waren nicht sehr angenehm. »Ich wundere mich, warum er überhaupt gekommen ist. Vielleicht wollte er etwas von mir.« »Wenn das der Fall ist, warum hat er es Ihnen nicht gesagt?« »Wie wahr, Liza, und wie treffend.« Nachdem er dieses Problem erfolgreich beseitigt hatte, kehrte er in seine alten Gedankenbahnen zurück. »Gehen Sie hinüber in die Werkstätten, mein Kind. Holen Sie noch einen von diesen Stühlen. Sagen Sie Daniel, wir brauchen eine Sitzunterlage – . Er ist sehr geizig mit dem Inventar. Und bringen Sie auch eine Rolle von dem chronomischen Filtermaterial mit. Ich glaube, ich habe eine brauchbare Möglichkeit gefunden, wie man den Wiedereintrittsschock verringern kann. Unterwegs können Sie sich auch überlegen, ob wir Groß-C nicht einen neuen Wert geben können. Vielleicht können wir ihn aus den chronomischen Widerstandskoeffizienten ableiten. Ich habe schon ein paar neue Gleichungen dafür entworfen.« Er starrte sie an. Seine Aufmerksamkeit galt jetzt nicht mehr der anatomischen Wirklichkeit. Er sah ein T als Nase, zwei B’s als Ohren, ein Minuszeichen als Mund, Pluszeichen als Augen. Sie wandte sich wieder dem Ausgang zu und stapfte mit ihren etwas strammen Beinen die Straße hinunter. Wenn die Frau des Professors wüßte, zu welch traurigen gymnastischen Übungen ihr Rat manchmal führte, besser auf seine Umgebung zu achten, würde sie bestimmt den Mund halten. Liza diente dem Professor so widerspruchslos aus dem unausgesprochenen Grund, daß sie genauso brillant war wie er. Deshalb war ihr Dienst eigentlich nur Rücksicht und Respekt zwischen Gleichrangigen. Es gab auch keinen anderen Weg, um von dem Professor das zu lernen, was er ihr beibringen konnte. Sie ging rasch an der Post vorbei und in eine kleine Gasse hinein, die von Mauern gesäumt war. Fuchsien streiften ihre Wangen. Neue Werte für Groß-C glitten ebenfalls vorbei, drängten sich gewaltsam in ihr Bewußtsein und wurden wieder verdrängt. Ihre Gedanken strebten in andere Richtungen. Sie suchte den Seiteneingang zu den Werkstätten, um David Silberstein nicht begegnen zu müssen. Er war ein Pedant und würde sie fragen, ob sie schon Professor Krawschensky wegen des Experiments gesprochen hatte. Sie hatte nicht und hatte es auch nicht vor. Es war zehn Uhr dreißig, und in den Werkstätten hatten die Leute von der Gewerkschaft ihre Teepause. Der Motor für das Ersatz-Rettungsboot stand auf dem Bock der Reparaturabteilung. Ein paar Relais vom Labor waren ebenfalls zur Reparatur vorgemerkt und die Kaffeemühle von irgendeinem Mitglied der Dorfgemeinschaft. Hinter der Maschinenschlosserei standen die gehobelten und furnierten Platten für die neuen Pulte der Dorfschule. Das war die Schreinerei. Liza fand den Aufseher der Werkstätten in seinem Büro. Er hatte die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt und entspannte sich. Sie war genau im richtigen Moment gekommen. Sie mochte Daniel. Sie hatten schon ein paarmal miteinander Sex getrieben, und obwohl es nichts Besonderes gewesen war (war denn wirklich etwas Besonderes dran?), hatte es ihnen doch Spaß gemacht. Sie würde hier alle Komplikationen loswerden, die bei dem linkischen Gespräch mit David Silberstein entstanden waren. Sie erinnerte sich daran, daß Daniel nach dem Sex immer schläfrig wurde. In jenem Zustand würde er ihr alle Stühle für Professor Krawschensky überlassen, die sie von ihm forderte. »Daniel! Wie geht es dir? Ermüdet von der vielen Arbeit?« Er zuckte zusammen, und die Papiere, die er auf die Schenkel gelegt hatte, flatterten zu Boden. »Verdammt noch mal, Liza, kannst du denn nicht anklopfen?« »Du hast geschlafen.« »Das ist nicht wahr.« »Wenn ich jetzt der Gründer gewesen wäre?« »Dann hätte ich dich bereits gehört, wenn du noch eine halbe Meile entfernt gewesen wärest. Jede Arbeit – jede echte Arbeit – kommt zum Stillstand, wenn der Gründer im Dorf ist. Dann spielt die Dorfkapelle, die Raketen steigen in den Himmel, es gibt Turnübungen auf der Wiese und Inspektionstouren durch die Abteilungen.« Er versuchte, die Papiere vom Boden aufzusammeln, ohne die Füße vom Tisch zu nehmen. Liza trat näher und kitzelte ihn am leimbekleckerten Spann. »Hast du schlechte Laune, Dan?« »Damit du es gleich weißt, Liza« – er bewegte ungeduldig die Zehen –, »wenn Krawschensky dich hierhergeschickt hat, ist die Antwort ›nein‹.« »Was nein.« »Leider nein. Keine Kaffeekannen, keine Schirme, keine Stühle, keine Uhren, keine gestickten Pantoffeln. Ich habe meine Anweisungen. Wenn er Geräte aus den Werkstätten braucht, hat er Pech gehabt. Sag ihm, er soll seine verdammte chronomische Harmonie an dem Strandgut in der Bucht ausprobieren.« »Du bist gemein. Er hat mich hierhergeschickt, aber wegen einer Rolle chronomischen Filtermaterials.« Das andere hatte noch Zeit. Daniel war fünfunddreißig und liebte noch Ausdrücke der Twen-Generation. »Also hab dich nicht so.« Er nahm seine Füße vom Tisch und füllte bedächtig eine Ausgabeliste aus. Er war ein gutaussehender Mann. Obgleich er in einer leitenden Position war, vermied er das Image des Managers und hatte sich einen Bart stehen lassen. Er trug ein schickes Schulterholster für die Brieftasche, das Taschentuch und die Schreibstifte, und seine Haut war raffiniert tätowiert. Sie mochte Männer, die sich pflegten, gut entwickelte Brustmuskeln besaßen und sie vorteilhaft zur Geltung brachten. »Eine Rolle Filtermaterial.« Er setzte seine Unterschrift unter die Liste. »Ich werde einen der Männer das Zeug aus dem Lager holen lassen.« »Das hat noch Zeit.« Sie zog ihren weißen Kittel aus und hängte ihn an den Haken der Tür. Dann setzte sie sich auf den Schreibtischrand. »Die Leute haben Teepause. Außerdem ist es ein herrlicher Morgen. Ich dachte, wir könnten ein bißchen Spaß …« »Sag mal, Liza«, unterbrach er sie und schraubte umständlich die Kappe auf seinen Füllhalter, »sag mal, warum hat es denn der Professor so sehr mit den Artefakten? Tut mir leid, wenn ich dir stur vorkomme; aber ich sehe nicht ein, warum er nicht etwas anderes als Versuchskaninchen verwendet. Zumindest so lange, bis er sicher ist, daß er das Inventar nicht sofort wieder abschreiben muß.« Liza lehnte sich vor und glättete das bereits glatte Haar auf Daniels Brust. In einem anderen Jahrzehnt hätte sie eine bereits glatte Krawatte glattgezogen. »Er macht sich solche Sorgen, Daniel. Es besteht immer die Gefahr, daß er über das Ziel hinausschießt. Den genauen Zeitpunkt des Wiedereintritts einzustellen, ist sehr schwer. Wir haben dabei schon Gegenstände für immer verloren. Vielleicht können sie jede Minute wieder im Labor auftauchen, vielleicht aber auch erst, wenn wir alle längst tot und zu Staub zerfallen sind. Und der Professor will vermeiden, daß die Zukunft mit Treibgut von unserem Stand beglückt wird. Das wäre unhöflich. Siehst du das nicht ein?« Sie ging zum Wasserkühler, obwohl sie keinen Durst hatte. Ohne Kleider war es sehr schwer, Reize richtig zur Geltung zu bringen. »Wenn er alle Rechnungen bezahlen müßte«, erwiderte Daniel grollend, »würde er vielleicht das Ganze unter einem anderen Aspekt sehen. Ich muß schließlich für meine Bilanz geradestehen. Und ›Höflichkeit‹ als Rechtfertigung auf dem Ausgabezettel genügt leider nicht.« »Und noch etwas kommt dazu, Daniel. Die Zukunft wird uns an den Dingen messen, die wir ihr schicken. Diese Dinge sind Botschafter unserer Lebensweise.« »Dann müßten wir Scheiße in die Zukunft schicken, wenn wir nicht Heuchler sein wollen. Wir sollten Gase, Gifte, Müll und Scheiße schicken!« Sie trank das Wasser aus, obwohl sie gar nicht trinken wollte, und warf den Becher in den Müllschlucker. Offenbar trieben sie immer weiter von dem Ziel ihrer Wünsche ab. »Du solltest dich lieber etwas abregen, Dan. Jede Gesellschaft hat ihre zwei Seiten, auch unsere. An so einem Vormittag sollte man sich des Lebens freuen. In den nächsten zwanzig Minuten hast du Pause. Es täte uns beiden gut, wenn wir ein bißchen Sex treiben würden.« »Mag sein …« Er streckte sich und besann sich dann doch anders. »Mir wäre es lieber, wenn wir noch ein bißchen reden.« »Worüber?« Über Sex sprach man selten. Die Gewohnheit hatte dieses Thema seiner Wirksamkeit beraubt. Seltsamerweise brauchten die Nervenenden viel länger als die geistigen Zellkerne, bis sie abgestumpft waren. Sie kauerte sich auf die Lehne von Daniels Drehstuhl. »Worüber möchtest du reden?« »Worüber reden wir alle hier im Dorf wohl? Wir, die Uneingeweihten, die nicht wissen, was wirklich in eurem Labor vorgeht?« »Liest du denn nicht die Rechenschaftsberichte des Professors?« »Tu mir einen Gefallen. Verkaufe mich bitte nicht für dumm. Der Professor war jahrelang von der Regierung angestellt. Wenn er dort nicht gelernt hat, zehn Seiten einer Regierungserklärung mit nichtssagenden Phrasen zu füllen, sollte er sein Gehalt zurückzahlen.« »Wo hast du denn die Entwürfe für deine Tätowierungen her, Daniel? Die Farbschattierungen auf deiner Schulter sind große Klasse.« »Lenk nicht ab, Liza. Himmel, sind wir doch alle nur zu einem Zweck in diesem Dorf versammelt worden. Wir wollen weg. Er soll uns nicht mit solchen Nichtigkeiten abspeisen. Wir haben Angst. Deshalb haben wir auch ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.« »Ehrlich, Dan, du würdest auch die Wahrheit nicht verstehen, wenn wir sie dir Zeile für Zeile erklären würden. Sie ist viel zu kompliziert.« »Ich bin kein Dummkopf. Ich habe die chronomische Theorie genau studiert. Weshalb machst du keinen Versuch mit mir?« Sie legte die rechte Hand auf seinen Bauch und steckte den Mittelfinger in seinen Nabel. Er hatte den oberen Ansatz der Schamhaare zu einem Halbmond ausrasiert. Mit dem Daumen und dem kleinen Finger drückte sie auf die Haarspitzen, als wären es Knöpfe auf dem Computer-Schaltpult. »Ich werde mir Mühe geben, es dir zu erklären. Obwohl du wahrscheinlich halb soviel Angst bekämst, wenn du vorher mit mir ein wenig Sex treiben würdest.« Er nahm ihre Hand weg und hielt sie sanft, taktvoll zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie hatte »Fehltaste« gedrückt. »Ein andermal, Liz. Ich hatte schon zwei Orgasmen mit Sarah, und drei am Vormittag machen mich so schläfrig, daß ich heute gar nichts mehr zustande bringen würde.« Sarah war seine Assistentin. Liza spürte – und verdrängte – einen bemerkenswerten Rückfall in die Vergangenheit. Sie war eifersüchtig. »Du mußt es ja wissen. Ich dachte nur, es würde dir Spaß machen. Schließlich gibt es ja noch andere Gelegenheiten.« »Du bist mir deswegen nicht böse?« »Natürlich nicht. Du mußt schließlich deine Arbeit erledigen wie alle anderen auch.« Sie log. Natürlich hätte sie es jetzt gern gehabt. Er stand auf und legte ihr die Arme um den Hals. Eine Liebesersatzgeste. Als Antwort stupste sie ihn mit ihren harten Brustwarzen. Sechs Stupse, und sein Penis vor ihrem Venusberg reagierte immer noch nicht. Sie verlor den Mut. »Siehst du, Liza? Nichts als ein alter, abgewetzter Strick.« Sie versuchte, den Strick in die Hand zu nehmen, doch er wich ihr aus. »Das ist alles so ungerecht, Liz. Diese Sarah kann ein paarmal mit mir bumsen und anschließend sofort mit einem anderen Mann. Und was kann ich? Ich muß mich mit meiner vielen Arbeit herausreden … Das ist einfach erniedrigend. Wir Männer sind entschieden im Nachteil. Die dauernden Kraftakte und Stehmänner in den altmodischen pornographischen Filmen sind erstunken und erlogen. Da kannst du jeden Mann fragen.« »Das ist doch gar nicht so wichtig, Daniel.« »Für euch Frauen vielleicht nicht. Es stärkt euer Machtbewußtsein.« Er lehnte sich an den Tisch, den Rücken ihr zugewendet, und ließ ersatzweise seine Muskeln spielen. »Ihr könnt sexen, bis euch die Augen tropfen. Aber ich, ich muß nach der Pfeife einer alten, nutzlosen Banane tanzen. Es ist einfach nicht fair.« Er stellte ein ganzes Bild weiblicher Sexualität dar. Wahrscheinlich absichtlich. Die Rechte der Männer basieren oft auf verdrehten Argumenten. »Es ist nicht wahr, Dan, daß Frauen immer …« »Und dann, als Gipfel der Ungerechtigkeit, bist du noch gut zu mir.« Liza erinnerte sich nicht daran, gut gewesen zu sein. »Das ist der Punkt auf dem i. Wahrscheinlich hast du das auf der Schule gelernt – ›sei gut zu den armen Schlingeln, vielleicht brauchst du sie später noch einmal.‹ Deshalb bist du also gut und verständnisvoll zu mir. Immer so verdammt verständnisvoll …!« Sie konnte ihm ja nicht verraten, was ihre Vorbereitungskurse auf der Schule ihr wirklich beigebracht hatten, nämlich daß, wenn man erst die Phase der Güte und Anteilnahme erreicht hatte, der Zug längst abgefahren war. (Diese subtilen Unterschiede und Einsichten bei der Aufklärung der Geschlechter hatten die Wiedereinführung geschlechtlich getrennter Sexualerziehung notwendig gemacht.) »Hinter jeder Erektion, liebe Mädchen«, hatte der Aufklärer doziert, »hinter jeder Erektion steht das männliche Ego. Pflegt es, Mädchen. Das männliche Ego ist eine zarte Pflanze; aber es kann eine mächtige Blüte hervortreiben.« Der Aufklärer hatte mehr durch die Blume gesprochen, als der Aufklärung guttat. Liza entschloß sich, in letzter Minute der zarten Pflanze doch noch einen Schuß Dünger zu geben. »Du hast unrecht, Daniel. Ich war nicht gut zu dir. Ich habe nur meine Eifersucht auf Sarah nicht zeigen wollen. Du begreifst gar nicht, was du mir antust.« Sie fürchtete schon, sie hatte die Masche hoffnungslos überzogen; aber er hatte gar nicht zugehört. Er steigerte sich nur in sein Ego hinein. »Was sind wir denn schon? Tiere in Käfigen – gelangweilt, verzweifelt, immer in der Brunst. Wir sitzen in der Ecke und saugen an unseren sexuellen Daumen, drehen unsere sexuellen Finger, bohren in unseren sexuellen Nasen.« Mit jedem Wort, das er sprach, entfernte er sich immer mehr von der Wahrheit. Beim Sex zählten nur die uralten, simplen Dinge, hatte ihr Aufklärer doziert. (Das simple, uralte Ding zwischen seinen Schenkeln; das simple, uralte Ding zwischen ihren Beinen?) Alles übrige, der zivilisierende Fortschritt, war nur Schale, die man abwarf, um den Menschen in seiner ganzen Schönheit zu entblößen. Er hatte so Unrecht … »Betrachten unsere sexuellen Nabel. Zu Tode gelangweilt, Liza, zu Tode gelangweilt sind wir …« Er wendete sich plötzlich zur Seite, beobachtete sie über seine Schnurrbartspitzen. »Nur ich nicht. Ich bin schlaff vor Langeweile. Und das ist die äußerste Erniedrigung.« Er wartete die Wirkung seiner Worte ab. Liza lächelte zaghaft. Sie hoffte, er habe nur gescherzt. Er legte seinen nackten Arm um ihre nackten Schultern – eine unwiderruflich enttäuschende onkelhafte Geste. »Schau mich nicht so besorgt an, Liz. Ich hatte meine Schwellungen, und jetzt kommt nichts mehr. Es war wundervoll …« Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. Er lächelte ihr ermutigend zu. »Nun, Liz, kannst du mir jetzt vielleicht verraten, weshalb der Professor dich hierhergeschickt hat? Jedes Laufmädchen kann eine Rolle Filtermaterial holen. Er hätte mich nur anzurufen brauchen. Also – was ist der wahre Grund?« »Wir brauchen noch einen Stuhl.« Sie fühlte sich wie vierzehn, nahm ihren Kittel vom Haken und zog ihn über. Er hatte Unrecht gehabt. Sie wußte es. Sie wußte es, bis ihr Kopf schmerzte von der Anstrengung, ihm den Satz einzuhämmern. »Er braucht noch einen von diesen Stühlen aus Ulmenholz. Glaubst du, du könntest uns noch einen überlassen?« »Bettel mich nicht an, Mädchen.« Doch sie wollte ihn anbetteln. Wenn sie das tat, war das Leben so einfach, eine Welt voll klarer Beziehungen. »Sag zu mir, daß mich der Teufel holen soll. Ich bin dazu da, deine Abteilung mit allem und jedem zu versorgen, was du von mir verlangst. Sag mir, daß ich zum Teufel gehen soll.« »Und wie steht es mit der Rechtfertigung deines Budgets?« Sie knöpfte ihren Kittel zu, ließ keinen Knopf aus. »Liz, glaubst du denn, daß ein Forschungszentrum von dieser Größe nicht ein Dutzend oder zwei Dutzend Stühle verkraften kann? Oder eine Wagenladung Kaffeegeschirr?« »Weshalb dann der ganze Zirkus?« »Nur eine Machtprobe, Kind. Eine ganz simple Angelegenheit der Selbstbehauptung …« Er füllte einen zweiten Ausgabezettel aus. »Nun geh, mein Kind. Und laß dich nie mehr von mir einschüchtern.« Sie nahm den Zettel mit ausgestrecktem Arm entgegen und zog sich zurück. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln sein Ventilkornett auf dem Kasten mit den Mikrofilmen. Dorfkapellmeister Daniel. Sie registrierte das ganze Inventar – die Autosek-Konsole, den Lagerkontrollschinn, die Couch, die Klimaanlage, die Geranientöpfe auf dem Fensterbrett … Sie tastete nach der Türklinke und drehte sich um. »Noch etwas, Liza …« Er schob den Stuhl vom Schreibtisch weg und lehnte sich zurück, wobei ein erigierter, vorhautbeschnittener Perus violett über die Platte lugte … »Mir scheint, ich könnte jetzt doch wieder einen Sex verkraften, Liza. Wenn es nicht zu spät dazu ist.« Sie floh. Unerklärlich (nach der langen Serie von Dingen, die sie dafür akzeptiert und weggesteckt hatte), aber sie drehte sich um und floh. Sie floh gemessenen Schrittes, damit Sarah und die Männer in den Arbeitsräumen keinen Anlaß bekamen, sich zu wundern … Der Stuhl aus Ulmenholz war nicht schwer. Sie legte die Rolle mit Filtermaterial auf die Sitzfläche und trug den Stuhl die Fore Street hinunter. Vor der Poststelle hielt sie an. Vielleicht war Post eingetroffen, die sie mitnehmen konnte. Die Poststelle war eine Tarnung für die Kontrollabteilung, und selbst das war noch ein Euphemismus. Sie beugte sich der Notwendigkeit der Zensur, wie das jeder im Dorf tat. Das gehörte nun einmal zu jedem Geheimunternehmen. Doch an manchen Vormittagen hatten die »Kontrolleure« so viel Briefe durchzulesen, daß die Post nicht zum Austragen fertig wurde, und der Briefträger machte nur einmal am Tage die Runde. Die übrige Post lag abholbereit bei der Zensur, wenn Paul Kronheimer um acht Uhr morgens nach der Briefzustellung nach Hause ging, sein Frühstück einnahm und seine Uniform – naturgetreue Nachbildung – ablegte. Dann ging er seinem zweiten Beruf nach. Von Montag bis Freitag Sparkassenangestellter ab neun Uhr. Da die Sparkasse außer ihm niemand beschäftigte, war er mutmaßlich gleichzeitig Sparkassendirektor. Penheniot war, wirtschaftlich gesehen, das Ende einer finanziellen Sackgasse. Manny Littlejohns Geld floß in der Form von Lohntüten mit Bargeld in das Dorf, wurde ausgezahlt und anschließend (mindestens zu achtzig Prozent) in der Sparkasse wieder eingezahlt, um dort im Stahltresor zu schlummern. Niemand konnte bei seinen seltenen Ausflügen nach St. Kinnow mehr als einen winzigen Bruchteil seines beträchtlichen Gehalts ausgeben. Und jede Geldanlage außerhalb der Gemeinde war ausdrücklich verboten. Schließlich konnte man nicht an die Zukunft glauben (an die Flucht in die Zukunft, versteht sich), argumentierte der Gründer, und sich gleichzeitig auf die Zinsen von Staatsanleihen verlassen. Doch Bargeld behielt auch in der Zukunft seinen antiquarischen Wert. In dieser Hinsicht übte Manny Littlejohn ebenfalls eine strenge, wenn auch wohlmeinende, Kontrolle aus. Deshalb war Paul Kronheimer fünf Stunden täglich von Montag bis Freitag vollauf beschäftigt (und bei dieser Arbeit erheblich billiger als der billigste Computer), Münzrollen und Münztaschen zu wagen und zu verbuchen. Er schnalzte dabei mit der Zunge und schüttelte besorgt den Kopf. Wenn Professor Krawschensky nicht bald einen Ausweg in die Zukunft fand, würde er sich eine neue Tresorkammer zulegen müssen. Liza stellte den Stuhl vor der Poststelle ab und betrat den Schalterraum. Vielleicht war ein Brief von ihren Eltern eingetroffen. Seit Wochen hatte sie nichts mehr von ihnen gehört … Die Glocke über der Tür schlug an, als sie den düsteren Raum betrat. Die Posthalterin (Chefzensor) kam kauend aus dem Hinterzimmer, sich die Hände an einer geblümten Schürze abreibend. Liza beugte sich über den abgenützten Mahagonischalter. »Ist Post für Simmons da? Liza Simmons?« Hinter dem Maschengitter ließ Mrs. Kops den Zeigefinger an den Fächern entlanggleiten. »Ich glaube, ein Brief von Ihrem Onkel …« Sie fand den Brief, hielt ihn aber so, daß Liz ihn nicht gleich zu fassen bekam. »Schlechte Nachrichten, meine Liebe. Ihr Vater hat wieder mal Schwierigkeiten mit seinen Studenten. Ihre Mutter hat wieder einen Abtreibungsbefehl von der Gemeinde bekommen. Ihr Bruder wurde wegen Trunkenheit und anstößigen Benehmens in der Öffentlichkeit bestraft. Und außerdem liegt ein Stillegungsbefehl für Ihren Wagen vor, weil Sie noch keine neue Straßenfläche zugeteilt bekommen haben.« Mrs. Kops verschränkte die Arme vor der Brust, ihre schlaffen Brüste stützend. »Kurz«, fuhr sie tadelnd fort, »es ist ein Brief, den wir normalerweise nicht durchgehen lassen würden, wenn Sie nicht zu den Empfängern gehörten, die selten zur Panik neigen.« »Ich habe es schon vor Jahren aufgegeben, mich wegen meiner Eltern aufzuregen.« Das gehörte zu den Loyalitätspflichten von Liza, und sie glaubte wirklich, was sie da sagte. Nachdem ihr Vater lange vergeblich versucht hatte, sie unter seinem Dach zu behalten, hatte er ihre Koffer aus dem obersten Stockwerk auf die Straße hinuntergeworfen. Und da sie damals zu jung gewesen war, diesem Akt eine komische Seite abzugewinnen, hatte sie das als Zeichen ihrer unwiderruflichen Trennung aufgefaßt. »Sie sind so verbohrt kurzsichtig … Sie hätten ohne weiteres mit mir hierherziehen können. In der Schule war eine Stelle frei. Mein Vater hätte sie übernehmen können. Er wollte natürlich nicht. Deshalb …« Liza zuckte die Achseln, die typische aufgeklärte, fortschrittliche Person, die ihre Eltern kritisch wertete. Mrs. Kops betrachtete sie scharf und ließ sich täuschen. »Wir alle haben Angehörige in der Außenwelt, meine Liebe.« Sie saugte an ihren falschen Zähnen. Weiß der Teufel, wo Littlejohn diese Person aufgegabelt hatte. »Doch wir sind nicht alle in diesem Punkt so vernünftig wie Sie, Kleine.« Diese Herablassung war das Äußerste, was sie an Tadel wagte. Denn der Gründer hielt streng darauf, daß seine Angestellten einen klaren Trennungsstrich zwischen sich und der Außenwelt zogen. Sie beugte sich vor. Sie war neugierig, genoß sie mit fast sadistischer Wollust. »Ihr Onkel Wal schreibt auch noch von einem anderen Bruder. Er wohnt auch in London. Ist das Ihr Onkel Mortimer? Wenn ich mich nicht täusche, hat er doch die Tochter von einem Architekten geheiratet und ist nach Kanada gegangen. Und jetzt ist er wieder in London. Hoffentlich ist da nichts mit seiner Ehe schiefgegangen. In der heutigen Zeit nimmt man das ja nicht mehr so wichtig …« »Seine Ehe ist in Ordnung, Mrs. Kops. Er ist in London im Auftrag einer Studienstiftung, um das Entwicklungsprojekt bei den Hebriden zu studieren. Fischzucht außerhalb der verseuchten Wassergebiete. Vielleicht haben Sie schon mal davon gelesen, Mrs. Kops.« »Hoffentlich hat er auch Kinder«, meinte Mrs. Kops, obwohl sie beruflich nichts mit Hoffnungen oder Glück zu tun hatte. »Die kanadische Regierung hat ja keine Geburtenbeschränkung verordnet, wenn ich mich nicht täusche.« »Hübsche Kinder und gesund, Mrs. Kops. Kann ich jetzt bitte meinen Brief haben?« »Es ist eine schreckliche Welt, in der wir leben, Liza.« »Es ist eine schreckliche Welt, Mrs. Kops.« »Wir können Gott danken, daß wir den Gründer haben, sage ich immer.« – »Da haben Sie wirklich recht, Mrs. Kops.« Die Konversation plätscherte weiter. Das Mädchen beunruhigte Mrs. Kops irgendwie. Irgend etwas mußte ja an ihr dran sein – schließlich war sie ja Assistentin von dem berühmten Professor und dabei noch Mitte Zwanzig –, aber was das war, hatte Mrs. Kops bisher noch nicht herausfinden können. »Sie werden ja Ihren Brief jetzt endlich lesen wollen!« Mrs. Kops rückte ihr Pfand heraus. »Aber was wird Ihr Vater jetzt tun, meine Liebe? Noch mehr Schwierigkeiten, und man wird ihm Berufsverbot geben. Dann kommt er in eine Wohnung unter Sicherheitsüberwachung. Das wird ihm bestimmt nicht gefallen, oder?« Liza schloß die Tür der Poststelle höflich und leise hinter sich. Sie blieb einen Augenblick stehen, betäubt von der Helligkeit und der Hitze. »Ich habe keine Ahnung«, dachte sie laut, »was mein Vater tun wird.« Roses Varco saß immer noch am Rande des Kais und angelte. Der Mehlsack, in dem er seinen Fang gewöhnlich unterbrachte, lag leer auf den Steinen neben ihm. Liza wurde auf Roses aufmerksam, als sie schon in den Weg zum Laboratorium einbiegen wollte. Zum zweitenmal setzte sie jetzt den Stuhl und die Rolle mit dem Filtermaterial ab. Ruhig, sanft und losgelöst von seiner Umgebung saß er da. Alles drei Attribute der Weisheit. Sie runzelte die Stirn. Ein sentimentaler, unvernünftiger Einfall, Weisheit bei einem Dorftrottel zu vermuten. Trotzdem ließ sie den Stuhl im Garten des Laboratoriums zurück und ging bis zum vorderen Rand des Kais. Sie setzte sich neben Roses, wie David Silberstein das schon ein paar Stunden vor ihr getan hatte. Wie das viele im Dorf taten. Der ungeöffnete Brief ihres Onkels raschelte in der Kitteltasche. »Ist der Vater tot. Roses?« »Ja.« Einleitungsphrasen waren bei Roses überflüssig. »Wann starb er?« »Hat sich ins Bein gehackt. Oben im Wald.« »Schon vor langer Zeit?« Es spielte eigentlich keine Rolle. Für sie beide nicht. Aber sie mußte ja etwas als Antwort von ihm fordern. »Starb wie ein Fuchs in der Falle. Ich lege nie Fallen aus. Nicht die, die zuschnappen.« »Warst du noch ein Kind, als er starb?« »’ne Falle ist schon in Ordnung, wenn sie richtig aufgestellt ist. Ein Schnapper, und es ist hin.« Ihm fiel wieder ein, daß sie etwas von ihm wissen wollte, und er drehte ihr das Gesicht zu. »Hat mir einen Kalender hinterlassen, mein Vater. Den Buckingham-Palast.« Darauf wußte Liz keine Antwort. Sie lächelte freundlich. War der Kalender seine Selbstbehauptung, von der Daniel gesprochen hatte? Wahrscheinlich nicht. Triumph war ein Begriff, der Roses vollkommen fremd war. Eine Schwanenfamilie steuerte lautlos um die Biegung des Flusses und bewegte sich unter den tief herabhängenden Zweigen der Uferbäume. Roses würde diese Familie als Selbstverständlichkeit hinnehmen, doch sie konnte nur leben, nachdem man den Fluß entseucht hatte. Ein Projekt, das mehrere Millionen Pfund gekostet hatte. Die Vorstellung, daß die Weisheit aus dem Mund der Kinder kam, war so töricht wie sentimental. Doch sie ließ nicht locker, obwohl sie nicht wußte, was sie eigentlich Positives von ihm erwartete. »Nimm einmal an, dein Vater wäre noch am Leben, Roses. Nimm weiter an, er lebte weit weg von hier. Stell dir vor, er wäre in Schwierigkeiten. Was würdest du tun?« Er schwieg so lange, daß sie glaubte, er habe ihre Frage vergessen. Nicht daß seine Antwort wichtig gewesen wäre. Einer der Schwäne schwamm jetzt unter den Zweigen hervor und bewegte schwirrend die Flügel. »Was für Schwierigkeiten?« »Ich weiß nicht …« Es tat ihr jetzt leid, daß sie gefragt hatte. »Schwierigkeiten mit dem Gesetz vielleicht.« »Das ist leicht. Was ist denn das Gesetz, eh? Polizisten, Quälgeister. Und ein Haufen alte Bestimmungen. Plunder.« »Sie können ihn aber ins Gefängnis stecken, Roses.« »Ah …« Die Tragweite dieser Vorstellung machte ihn kleinlaut. »Hm – das ist natürlich etwas ganz anderes.« Er verfiel wieder in Schweigen – ein Schweigen, das diesmal endgültig zu sein schien. Wo blieb also die Weisheit? Ihr Fehler war, daß sie Geheimnis und Weisheit gleichgesetzt hatte. Doch auch ohne Weisheit war das Geheimnisvolle an ihm fesselnd. Besonders fesselnd – sie konnte diesen Gedankengängen gar nicht ausweichen – war seine Männlichkeit. Nicht, weil sie bekleidet war. Nicht, weil sie tabu schien oder unerzogen oder wahrscheinlich trotz seiner achtunddreißig Jahre noch unberührt war. Nein, seine Männlichkeit war interessant wegen ihrer … sie zögerte, als sich ihr das Wort aufdrängte, weil sie über die scheinbare Widersprüchlichkeit betroffen war … wegen ihrer Stärke. Ihrer Gewaltsamkeit. Sie suchte nach Erklärungen für ihre Begriffswahl und fand keine. »Ich sage Ihnen was – diese Schwäne wissen was.« Er legte eine Hand auf ihren Arm, die andere hielt noch die Angelgerte. Er war schmutzig, aber der Schmutz machte ihn nicht abstoßend. »Sehen Sie sich nur die Schwäne an. Haben eine glückliche Familie.« Die Vögel schwammen jetzt alle im freien Wasser. Die graugesprenkelten Jungschwäne tauchten die Schnäbel in das wuchernde Kraut, das um einzelne Felsblöcke herumwuchs. Die Alten spähten nach allen Seiten und achteten auf alles, was sich auf dem Wasser bewegte. »Eine glückliche Familie? Das ist alles, was man sieht. Aber im nächsten Frühjahr, wenn es ans Brüten geht, da ziehen die Alten los wie Schlachtschiffe und vertreiben die Jungen von diesem Jahr. Kein Platz, verstehen Sie? Nur Futter für eine Familie. Nicht für zwei. Ich wette, diese Schwäne kennen sich aus.« Liza stellte erstaunt fest, daß er eine Analogie verwendete. »Wir sind keine Schwäne, Roses. Wir sind Menschen. Wir sorgen für unsere Kinder, und wenn wir alt sind, sorgen die Kinder für uns. Oder sie sorgen dafür, daß der Staat sich um uns kümmert.« Zu spät erinnerte sie sich daran, daß der Vater Selbstmord im Wald begangen hatte. Sie hätte dieses Thema nicht weiterverfolgen sollen. »Tut mir leid, Roses. Das war dumm von mir.« »Dumm? Warum dumm?« Sie gab keine Antwort darauf. Wie er es getan hatte. »Du hast mir von den Schwänen erzählt.« Sie versuchte, nicht gönnerhaft zu wirken. »Du mußt ja eine Menge über sie wissen.« »Ich beobachte sie. Rudere ihnen nach. Stundenlang. Wo sie brüten. Wo sie ihre Nester bauen. Wo sie ihr Futter suchen …« Er wurde aufgeregt. »Hier – ich wette, Sie denken nur, sie sind böse und tückisch. Stimmt’s? Sie denken, sie sind einfach Biester, stimmt’s?« Sie nickte nur lächelnd. »Nun, sie sind es eben nicht.« Triumphierend. »Sie haben eben ihre Plätze, das ist alles. Genauso wie Sie und ich. Die verteidigen sie.« Er nahm seine Hand von ihrem Arm und gestikulierte, beschrieb Vierecke in der Luft. »Ich sag’ Ihnen, wenn sie woanders hinkommen, jagen sie keinen und niemand. Es ist eben nicht ihr Platz, verstehen Sie?« Seine Hand blieb vergessen in der Luft hängen, wie vorhin seine Hand auf ihrem Arm. »Passen Sie auf. Ich war mal hinter ihnen her, wie sie den Fluß hinaufgeschwommen sind. Es war in der Patton-Bucht, da kamen diese kleinen schwarzen Moorhühner heraus. Waren bestimmt nicht größer als Zwei-Penny-Münzen. Hätten mal sehen sollen, wie die Schwäne abdrehten. War eben nicht ihr Platz, verstehen Sie?« Wenn er etwas zu sagen hatte, konnte er auch reden. Und sie konnte zuhören, wenn es etwas zu hören gab. Er bewegte sein Gesäß auf den Steinen, um näher an sie heranzurücken, um sich mitteilen zu können. Er war eine Person, ein Mann, nicht länger mehr der Clown von Manny Littlejohn. Er redete immer weiter, und sie hörte ihm zu. Er wollte nichts von ihr, überhaupt nichts. Ihre Berührung war ohne Obertöne oder falsche Zwischentöne. Und es genügte ihr, dazusitzen, ihm zuzuhören, ihn zu betrachten und die Gewalt seiner Liebe zu teilen. Die Liebe, die er für seine Schwäne hatte. Sie saß auf dem Kai neben Roses, bis der Professor herauskam und von der obersten Stufe der Labortreppe nach ihr rief. Sie verließ Roses mit aufrichtigen und unnötigen Entschuldigungen: Er wunderte sich nicht über ihr Weggehen. Die Menschen traten und gingen aus seinem Leben ohne sichtbaren Grund. Sie kehrte zu ihrem Stuhl und der Rolle Filtermaterial zurück und trug beides hinauf in das Laboratorium. Sie kehrte fast mit einem sichtbaren Schaudern zu dem Computer, zur Startbühne, zu den Beschleunigern, den Pulsgeneratoren, der verrückten Uhr und … dem Professor zurück. Zu dem Professor, den sie respektierte und dem sie diente. Ein Mann, der zu alt war, um Sex zu treiben, bei dem sie sich so abgemüht hatten. Und der sie deshalb mit verstecktem Schamgefühl kalt behandeln würde, solange sie gemeinsam an diesem Projekt arbeiteten. Sie kehrte zu ihrem Leben zurück, zu ihrer Arbeit und zum Sex, zur Wirklichkeit. Und sie akzeptierte das alles mit fürsorglicher, heiterer Gelassenheit. David Silberstein, der die Fore Street überquerte und aus der Entfernung bemerkte, wie sie die Hand auf Roses’ Schulter legte, ehe sie ging, sah in dieser Geste weder Sorgfalt noch Heiterkeit noch gesunden Menschenverstand. Er sah nur – durch einen schwachen grünen Dunst hindurch – ein kleines Mädchen, das man vom Spiel nach Hause rief. Ein kleines Mädchen, das unter dem angeschwemmten Unrat am Strand etwas gefunden hatte, das ihm gefiel – ein Stück Glas etwa, dem es den Glanz eines Diamanten zusprach. Er beobachtete das Stück angeschwemmten Treibgutes, nachdem es wieder sich selbst überlassen blieb, und bemerkte, wie verletzlich es war. Und er sagte sich (mit klugem, heiterem, gesundem Verstand), daß er sich seinetwegen wirklich keine Sorgen zu machen brauchte. Und etwas was er sich da sagte, war wahr. Denn von allen hier im Dorf versammelten Menschen war Roses Varco bei weitem das verwundbarste Geschöpf. III Manny Littlejohn liebte es, auf Schienen zu reisen. Er liebte es so sehr, daß er einen eigenen Zug besaß, rosafarben, von seiner eigenen rosafarbenen Lokomotive gezogen. Das war ein kostspieliges Vergnügen, denn wenn man die Hauptstrecken von anderen Zügen räumen ließ, kostete das natürlich Geld. Doch Manny Littlejohn geizte nie mit dem Geld, wenn es um seinen eignen schlechten Geschmack ging. Zwar kam man mit diesem Verkehrsmittel nur langsam voran, und die Stationen waren lange nicht so günstig gelegen wie die Haltepunkte der Hubschrauber. Aber Manny Littlejohn war reich genug, um Zeit nicht länger als Geld zu betrachten. Er betrachtete Geld vielmehr als bequemes Mittel, um Zeit zu kaufen. Außerdem war dieses Verkehrsmittel altmodisch. Littlejohn war selbst altmodisch und alt genug, um sich einen Teufel darum zu scheren, was andere für modern hielten. In dieser Zeit war Modernität sowieso ein umstrittener Begriff. Wenn man Manny Littlejohns Vitalität kennt, sein Genie für den neuartigen Ansatz, seine organisatorischen Fähigkeiten, seinen Stil und vor allem seine Furcht, daß die Gesellschaft um ihn herum zusammenbrechen könnte, ehe er selbst es tat, dann versteht man das Experimentier- und Forschungsdorf Penheniot. Die meisten Leute verstehen weder ihn noch das Dorf. Doch das Ganze ist vollkommen logisch. Das Dorf, wenn auch größer und besser, war sein rosafarbener Zug. In ihm wollte er eines Tages (zum frühestmöglichen Termin) reisen. Doch an diesem bestimmten Nachmittag hatte Manny Littlejohns Zug – nicht die Metapher, sondern der Zug, in dem er tatsächlich saß – die Hauptstrecke vor ungefähr fünfzig Minuten verlassen und bummelte das Geleis hinunter, das parallel zum St.-Kinnow-Fluß verlief. Rechts stieg die bewaldete Hügelwand steil empor, nur ab und zu von einer winzigen Schlucht aufgespalten, in die sich ein Sturzbach über moosige Steinterrassen und zwischen Farm- und Brombeerzweigen hindurch ergoß. Links lag das Hochwasserbett des Flusses, ebenfalls durch steile, mit Eichen bewachsene Hügel begrenzt. Nirgends war ein Haus in Sicht, nur eine kleine Schar Möwen flatterte über dem Flußbett, vorübergehend aufgescheucht von rollenden Rädern. Diese Etappe seiner Reise gefiel Manny immer am besten, und er befahl dem Lokomotivführer, langsamer zu fahren. Am gegenüberliegenden Ufer schob sich eine Gruppe von Hausbooten langsam in Littlejohns Gesichtsfeld. Die Kabinen aus Plexiglas schimmerten trüb und schmutzig im Licht der Nachmittagssonne. Die Hausboote konnten noch nicht lange hier sein, gehörten sozialen Außenseitern und verdarben die Aussicht. Er hätte fast seinen Sozialpsychologen aus dem Nachbarwagen zu sich zitiert, unterließ es aber dann, weil die Situation auch allein und in kürzeren Worten analysiert werden konnte. Wäsche hing schlaff von Leinen, die an Deck ausgespannt waren. Holzrauch kräuselte sich aus ein paar Schornsteinen. Ein paar Beiboote tuckerten hin und her. Das schwache Echo von Stimmen wehte durch das offene Abteilfenster. Männer, Frauen und Kinder sangen zusammen irgendein Lied. Manny Littlejohn haßte solche improvisierten Gemeinden. Vögel waren nur noch wenige vorhanden und würden bald für immer verschwunden sein. Die Hausboote würden auch nicht viel länger dauern. Er gab ihnen höchstens noch drei oder vier Jahre. Doch er entdeckte ein paar Beete zwischen den Bäumen, wo die Leute Gemüse angebaut hatten. Die hatten bestimmt auch eine kleine Schule eingerichtet, diskutierten ernsthaft, gaben sich mystischen Anwandlungen und Halluzinationen hin und trieben eine Menge ernsthaften Sex. Er kannte diese Kommunen. Sie lebten von öffentlichen Unterstützungen, trichterten ihren illegalen Kindern ihre eigenen Normen ein und dachten nicht weiter voraus, als ihre Nasenspitze reichte. Manny lehnte sich zurück, als sich eine Steinböschung zwischen ihn und den Fluß schob. Zwei oder drei Jahre höchstens … Sein Waggon, das perfekte Dekor, seine Fernsehgeräte, sein Telex, sein Bett mit dem diskret eingebauten elektronischen Masturbator – nichts davon gab ihm Garantie und Gewißheit. Er hielt seine linke Hand ins Licht, als der Zug langsam unter einer Gruppe von Bäumen herausglitt. Die gesprenkelte Haut lag in lockeren Falten über den Fingerknochen. Er bemerkte ein deutliches Zittern, eine beunruhigende Aufdringlichkeit des Skeletts unter der Haut. Zwei oder drei Jahre höchstens noch … Er spreizte die Finger und stellte sich vor, wie die Zeit zwischen ihnen hindurchfloß. Professor Krawschenskys Zeit, seine Chronoküle, die ihn allmählich abnützten, deren Fluß er nicht ausweichen konnte. Nur indem er diesen Chronokülen Widerstand leistete, existierte er hier und heute und nicht dort und irgendwann. Jedes Materie-Atom besaß eine Ladung als Puffer gegen diesen Zeitstrom. Und in jedem seiner Finger waren hundert Millionen von Atomen, und der chronomische Strom zog über und zwischen ihnen vorbei wie das Wasser im Flußbett. In seinem Finger, in seiner Hand, in seinem ganzen Körper. Der Zeitstrom, der ihn abnützte. Deshalb alterte er. Zwei oder drei Jahre höchstens noch. Er legte rasch die Hand wieder aufs Knie. Doch er hatte mehr als diese Hausboot-Gemeinde. Er hatte Penheniot. Er hatte Zeit, viel Zeit. Denn irgendwann in naher Zukunft würden die Zusammenhänge der chronomischen Abnützung verstanden und sogar auf den Kopf gestellt werden. Krawschensky würde den Strom für ihn umkehren und ihm wieder einen jungen Körper geben. Krawschensky war kein Dummkopf. Oft bedarf es eines Genies, um ein zweites zu entdecken. Er und Krawschensky würden gemeinsam über das Hindernis der Zeit hinwegsteigen, als wäre es nur ein kleiner Gatterzaun. Und falls – Littlejohn lachte leise und beugte sich vor, um wieder aus dem Fenster zu blicken –, und falls sich diese chronomische Harmonie nur als ein anderes Wort für Tod entpuppen sollte, überließ er sich ihr doch mit viel größerer Hoffnung, daß er irgendwo in einem anderen Leben wieder aus dieser Harmonie herauskam, als ihm die Theologen jemals geben konnten. Der Zug hatte jetzt eine Biegung im Fluß erreicht. Das Wasser bedeckte sich jetzt mit Segel- und Motorbooten. Das waren Touristen, denen der Oberlauf des Flusses zu einsam und düster war. Die Ufer waren gepflastert mit Hotels und Restaurants, Jachtclubs und Plätzen, wo man Tretboote mieten konnte. Fährschiffe pendelten zwischen den Ufern hin und her, Wasser-Skier zogen ihre Schleifen über das Wasser, und die ersten Wasser-Reinigungswerke kamen in Sicht. Schließlich erreichte der Zug den Bahnhof von St. Kinnow – Littlejohns Bahnhof. Nachdem er zum Stillstand gekommen war, blieb Manny Littlejohn noch ein paar Minuten im Abteil sitzen. Er hatte es sich zum Prinzip gemacht, nie in Eile zu sein. Das Recht, andere Menschen warten zu lassen, war ein Luxus, den er sich gern leistete. Jeder Idiot konnte andere Menschen anschreien und in Trab bringen. Aber sie in nervöser Spannung und Ungewißheit warten zu lassen, während man selbst gar nichts tat, war ein genialer Zug von Menschenführung. Als Littlejohn endlich den Glockenzug – einen kleinen Elefanten aus Messing – betätigte, registrierte er befriedigt, wie die Leute aus allen Ecken hervorschossen, um zu liebdienern. Sie brachten es sogar fertig – eine wesentliche Auflage – zu erscheinen, ohne sich vorzudrängen oder ihre Wichtigkeit zu betonen. Deshalb behandelte er sie auch mit großer Höflichkeit: seine Autosek-Ingenieure, seinen Funker, seinen Kammerdiener, seinen Gitarristen, seine Masseuse, seinen Buchhalter, seinen Sozialpsychologen und seinen Leibwächter. Selbst den Stationsvorsteher – seinen Stationsvorsteher – sprach er höflich an, der sich im Schalter versteckt hatte, um ja nicht die Wagentür zu früh aufzumachen. Statt dessen öffnete er sie leider etwas zu spät. Höflichkeit war auch ein Luxus, den er sich leistete. So konnte er am wirksamsten seine Verachtung für Leute zeigen, die von ihm abhängig waren. Gemessenen Schrittes kam er die Stufen des Waggons herunter und trat auf den roten, mit Gold besäumten Teppich. Nur wenige Leute waren auf dem Bahnsteig versammelt, angelockt von dem seltenen Anblick eines Personenzuges. Schließlich blieb die Seitenlinie für alle Züge geschlossen, abgesehen von den Güterwagen, die bis zur Mole fuhren. Die Station (und der Stationsvorsteher) waren damals, als der Betrieb auf dieser Nebenlinie eingestellt wurde, von Littlejohn gekauft worden, und seine Kreaturen brachen jetzt in Hochrufe aus. Manny nahm die Begrüßung wohlwollend entgegen. Milde und bescheiden sah er in die Runde, wie das alte Männer so an sich haben. Dann lief er bis zum Ende des roten Teppichs und verhielt unschlüssig, das bezaubernde Bild eines alten Gentleman bietend. Doch seine geierartigen Schultern ruckten nach oben, als er nach links und rechts spähte und leise mit der Zunge schnalzte. Etwas war hier nicht in Ordnung. Die Autosek-Ingenieure stürzten vorwärts und bauten sich links und rechts von ihm auf, behutsam den roten Teppich meidend. Der Leibwächter, Krancz, zog seine Augen zu Schlitzen zusammen und marschierte auf und ab, mit seinem Betäubungsrevolver spielend. Es war das offiziell genehmigte Polizeimodell, war aber insgeheim etwas abgeändert worden, um die betäubende Wirkung der Geschosse unbegrenzt zu verlängern. Der Buchhalter rechnete rasch im Kopf, um wieviel sich Manny Littlejohns Vermögen seit seiner Abreise aus London vermehrt hatte. In diesen drei Stunden um mindestens vier Millionen siebenhundertzweiunddreißig Pfund. Der Gitarrist, der spanischer Herkunft und mit einer echten Seele geboren war, summte Villa-Lobos und griff in die Saiten. Und der Stationsvorsteher – ein Mann mit wenig Zivilcourage und ohne Spur einer Seele – machte sich in die Hose (nur ein paar Tröpfchen), weil er überzeugt war, daß alles, was hier schiefgegangen sein mußte, nur seine Schuld sein konnte. Etwas war tatsächlich schiefgegangen. Und das Niederträchtigste an diesem Fehler war, daß Manny Littlejohn hier in eine Grube stolperte, die er sich selbst gegraben hatte. Er hatte erwartet, daß auch jemand vom Dorf am Bahnhof aufkreuzen würde, um ihn zu begrüßen. Mit geradliniger Doppelsinnigkeit verlangte er, daß sein Besuch sowohl eine Überraschung als auch ein Ereignis mit dem ihm zustehenden Protokoll sein sollte. Bei seinen früheren Besuchen hatte man dieses Problem zufriedenstellend gelöst. Als unerwarteter Besuch sollte er natürlich unangemeldet im Dorf eintreffen. Aber als Gründer hatte er Anspruch auf den schuldigen Respekt. Bei früheren Gelegenheiten hatte eine Reihe von glücklichen Zufällen dieses Paradox möglich gemacht. Seitdem bestand er auf diese Zufälle. Aber wo waren sie? Wo? Er verließ seinen roten Teppich und ging, verfolgt von zehn ängstlichen Augenpaaren, bis zum Ende des Bahnsteiges, wo dieser in eine Terrasse mündete, die Ausblick auf den Fluß bot. Er verriet seinen Begleitern nichts – durfte ihnen ja gar nichts davon verraten – von dem Konflikt, der in seinem Innern tobte. Unter ihm tobten Motorboote über das Wasser. Die Luft war drückend. Nach sieben regenlosen Wochen wurde selbst das Wasser faulig. Er wartete eine Idee länger, als es seiner Würde zukam; doch kein glücklicher Zufall passierte. Das Dorf hatte keinen Abgeordneten geschickt. David Silberstein hatte das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht. Er kehrte zu seinen Kreaturen, die sich am Ende des roten Läufers wie zu einem Gruppenbild versammelt hatten, zurück. »Es ist ein schöner Tag heute«, sagte er. »Der Fluß scheint belebter als sonst.« Milde Worte, milde Stimme, mildes Lächeln. Jemand würde dafür büßen müssen. »Krancz«, sagte er zu seinem Leibwächter, »Sie kommen mit mir. Der Rest kann sich inzwischen mit einer geeigneten Beschäftigung die Zeit vertreiben. Ich schlage vor, daß der Stationsvorsteher etwas gegen den Schmutz auf seinem Bahnhof tut. Max sollte alles noch einmal in Ruhe überdenken und sich nicht einbilden, daß ich mich so leicht hinsichtlich meiner Finanzen täuschen lasse.« Er hob entschuldigend eine Augenbraue, um den Vorwurf etwas abzumildern. »Helga sollte ihre anatomischen Lehrbücher büffeln. Sie scheint unter der Zwangsvorstellung zu leiden, daß alle Muskelschmerzen nur durch die Massage des Penis beseitigt werden können. Und Manuel sollte ein paar Tonleitern üben. Der Paganini gestern abend war lausig.« Er tätschelte den Arm des Gitarristen, um ihm zu zeigen, daß er es nicht so meinte, wie er es sagte. »Die anderen widmen sich dringenden Aufgaben. Ich werde mir später anhören, wie weit sie damit gekommen sind.« Er winkte Krancz zu sich, und sie schritten nebeneinander energisch zum Ausgang. Die Gruppe hinter ihm löste sich erst auf, als Littlejohn ihr den Rücken zudrehte. Dann spritzten sie auseinander. Nur der Stationsvorsteher blieb zurück, um den roten Seidenteppich einzurollen. Vergeblich zermarterte er sich den Kopf, was er denn noch tun konnte, um seinen makellos sauberen Bahnhof noch makelloser zu machen. Draußen auf der Straße blieb Manny Littlejohn kurz stehen. Wenn er ging, tat er das rasch. Er hoffte nur, daß man nicht bemerkte, wie ihm der Atem dabei knapp wurde. »Ich habe mich schlecht aufgeführt, Krancz. Sie hätten mich unterbrechen müssen.« »Schlecht aufgeführt?« Ein unmöglicher Gedanke. »Ich glaube nicht, Sir.« »Ich hasse Speichellecker. Ich weiß, daß ich mich schlecht aufgeführt habe, und Sie wissen es auch.« Der Leibwächter verbeugte sich steif – eine europäische Geste, die man nach Belieben auslegen konnte. Manny Littlejohn deutete sie als formgerechte Entgegennahme einer Entschuldigung eines Arbeitgebers und setzte sich wieder in Bewegung, zufrieden und versöhnt mit sich selbst. Sie schritten zwischen den schmalbrüstigen, eiskremfarbenen Häusern dahin, Krancz immer einen Schritt hinter seinem Arbeitgeber, immer auf dem Sprung. Touristen drängten sich auf den Gehsteigen, teils nackt, teils klugerweise ihre nicht ganz perfekten anatomischen Stellen mit hellen Sommerkleidern bedeckend. Drogenberauschte Gruppen saßen auf Türschwellen und sangen von blauen Bäumen, tanzenden Bergen und menschlichen Elefanten und Strömen, die bergaufwärts flossen. Ein Mann mit weißen Brüsten stand unter der Tür eines Maxi-Sex-Ladens. Es war ein friedlicher Nachmittag, heiter und warm. Und die Menge war so glücklich, daß sie nicht einmal drei bewaffnete Polizisten auspfiffen, die ein Paar daran erinnerte, daß vor kurzem das Gesetz in Kraft getreten war, das den Coitus auf öffentlichen Plätzen verbietet. Manny Littlejohn marschierte energisch durch die buntgemischte Menge und verachtete sie mit gewohnter Höflichkeit. Vor der Kneipe zu den Goldenen Brüsten (die Ketchup-Flaschen aus Plastik, die sich der Wirt hatte extra anfertigen lassen, wurden ihm schon in der ersten Woche nach Eröffnung des Schankbetriebes gestohlen) wurde Manny Littlejohn auf eine Bewegung in der Menge aufmerksam. Krancz wollte vorwärtsstürzen, doch Littlejohn winkte ihn zurück. Er sah jetzt deutlich, was vorging. Ein freundlicher Fischer in blauem Hemd und Blue Jeans bahnte sich einen Weg durch die Menge müßiger Touristen. »Gründer! Was für eine Überraschung, Sie hier zu treffen, Sir!« »Ja. Obwohl etwas verspätet, ist es immer noch ein erfreulicher Zufall.« »Nun, Sir, wir sollten eigentlich – ich meine, wir wollten eigentlich bei der Regatta zuschauen und uns auf die Terrasse neben dem Bahnsteig stellen. Doch Merv dachte, wir hätten noch genug Zeit und könnten uns hier rasch einen Drink genehmigen.« »Regatta?« Das letztemal war es eine Sammlung für Witwen ertrunkener Fischer gewesen. »Ich habe keine Regatta gesehen.« Der Mann starrte auf die Zehen seiner schweren Fischerstiefel. »Es tut mir sehr leid, daß wir Sie nicht rechtzeitig abgeholt haben, Sir.« »Einen Fehler macht jeder einmal, James.« Er hoffte, sich damit die Anhänglichkeit des Mannes einzuhandeln, so daß er in Zukunft mehr als seine bezahlte Pflicht tat … »Sie heißen doch James, nicht wahr?« Das ganze Dorf wußte, wie stolz der Gründer auf sein Namens- und Personengedächtnis war. »Richtig, Sir«, sagte James, den seine Freunde unter dem Namen Maurice kannten. »Und Ihr Freund Mervyn? Wo ist der abgeblieben?« »Merv?« – er war so begierig, Auskunft zu geben – »Merv ist im Goldenen Pinsel und unterhält – äh trinkt sein Glas leer.« Es war zu spät. Der Zungenschlag war geschehen. Unterhaltungen mit Fremden war streng verboten. Eine Unterhaltung war der erste Schritt zu einer Bekanntschaft, und eine Bekanntschaft war der erste Schritt zum Verrat. Dorfbewohner, die redeten – mit irgend jemand außerhalb der Dorfgemeinschaft – waren nicht mehr tragbar. Manny nickte seinem Leibwächter zu, und Krancz glitt durch die Menge wie ein Ultraschallbohrer. James blieb nichts anderes übrig, als stehenzubleiben. Durch die Gasse, die Krancz hinter sich gelassen hatte, konnte Manny Littlejohn die Theke sehen, die übereinandergetürmt synthetischen Schinkenbrötchen und Merv im blauen Überzieher. Er plauderte mit dem Mädchen hinter der Theke. Untragbar. Als Krancz die Kneipe betrat, sah Merv ihn im Spiegel hinter dem Tresen. Er konnte sich nicht einmal mehr umdrehen, als Krancz schoß. Er glitt zu Boden. Sein Glas rollte über die Metallisee-Kacheln. Das Mädchen beugte sich interessiert vor. »Nur ein Beruhigungsschuß.« Krancz sagte das vage in den Raum hinein, falls jemand sich über die Störung beschweren wollte. Doch niemand wollte. Mann hatte so viel über Geschäfte zu reden, über Joints und Fixes und noch verschwiegenere Beschäftigungen. Krancz sammelte Mervs Körper vom Boden. Seine Leiche. Und warf sie über die Schulter. »Hat er für seinen Drink bezahlt, Ma’am?« »Nein, nein, ich glaube nicht, daß er das hat.« Das Mädchen hinter dem Tresen war entzückt über so viel Zuvorkommenheit. »Achtzehn Schilling fünf. Ja, genau achtzehn Schilling und fünf Pennies.« Krancz bezahlte auf den Penny genau und trug Merv dann auf die Straße hinaus. Das Mädchen schob das Geld in ihre eigene, private Tasche. »Sie sind Leibwächter und kein Hilfsarbeiter«, sagte Manny Littlejohn. »Geben Sie das an James weiter.« Sie setzten ihren Weg durch die Straße fort. Der Gründer ging jetzt langsamer, weil er beunruhigt war. Nicht durch den Tod des Mannes, sondern über seine eigene Empfindungslosigkeit dabei. In einer Welt, in der so viele Menschen starben, war es nötig, daß wenigstens einer an die Würde der Persönlichkeit glaubte und für die Unantastbarkeit menschlichen Lebens eintrat. Er fühlte sich kleiner als sonst, weil ihm das Gefühl der Tragik fehlte. Oder jedes Gefühl … Und die Leute hinter ihm, was dachten die wohl? An sich selbst natürlich, wie es diese Sorte Leute immer taten. Es war eine traurige, kranke Welt. An der nächsten Ecke, wo die Straße steiler wurde und eine scharfe Biegung um die Fassade des alten Zollhauses herummachte, standen ein paar Polizisten beisammen und warteten darauf, daß etwas passierte. Der Leiter dieser Handvoll Polizisten trat Manny Littlejohn in den Weg und sagte: »Einer Ihrer Männer, Mr. Littlejohn? Hat ein bißchen zu viel gehascht, wie?« »Gehascht?« Manny betrachtete den Polizeibeamten mißbilligend. »Meine Männer haschen nie. Das verstößt gegen die Bestimmungen in meinem Dorf. Dieser Mann ist tot. Er starb, genauer gesagt, er wurde in irgendeinem obskuren Café umgebracht. Das Café ist ein paar hundert Meter von hier entfernt. Auf der linken Straßenseite.« »Sie sollen Ihren Spaß haben, Mr. Littlejohn.« Der Beamte trat zu seinen Leuten zurück. Er hatte seine Pflicht getan. Noch deprimierter (oder doch wieder getröstet?) über die Tücke des Menschen im Verkehr mit Menschen, setzte der Gründer seinen Weg zum Kai fort. Der Stadtkai war eine verwirrende, durcheinanderschwirrende Woge von Leuten, Booten und Minicars. Letztere wurden von der Stadtverwaltung unentgeltlich an Touristen ausgegeben, da die Straßenverkehrsordnung alle anderen Kraftwagen in Wohnbezirken verbot. Sie waren auf der Parkrampe abgestellt, die über dem Wasser errichtet worden war, damit der Kai selbst von Fahrzeugen freigehalten werden konnte. Dort tummelten sich die Touristen, die Eiskremverkäufer, die Hasch-Kola-Verkäufer, die Wurst-Verkäufer, die Kaugummi-Verkäufer, die Porno-Verkäufer und die Leute, die Karten für die Rundfahrt durch die Bucht ausgaben. Eine Lokalband spielte Free-Association-Music, das durch Verstärker über den ganzen Kai verbreitet wurde. Boot-Jets wühlten das gereinigte Wasser zu glitzernden, silber- und goldschimmernden Kaskaden auf. Aha, dachte Manny Littlejohn, die Lemminge beim Spielen. Diese Vorstellung machte ihm Vergnügen. »Gründer! Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen!« Jemand sollte mal das Drehbuch ein bißchen verbessern. »Wir sind gerade herübergefahren, um der Regatta zuzusehen.« Zwei Männer standen jetzt neben ihm, bullige Fischer, hart und sehnig. Wie sie ihn in der Menge erspäht haben konnten, war Littlejohn schleierhaft. Offenbar verstanden sie etwas von ihrem Job, egal, wie gut oder schlecht das Drehbuch war. »Ich sehe nichts von einer Regatta«, sagte Littlejohn. »Sie hat noch nicht angefangen«, sagte der Mann zu seiner Rechten, der etwas schneller schaltete. »Wir haben ein Boot dabei«, sagte der Mann zu seiner Linken, etwas langsamer schaltend, aber trotzdem noch schlau genug, um das Thema zu wechseln. »Wenn Sie gern ins Dorf hinüber möchten, meine ich, Sir.« »Richtig, John. Ich dachte tatsächlich daran, das Dorf zu besuchen.« War das nicht John und sein Begleiter Mortimer? Natürlich waren das John und Mortimer. »Es trifft sich wirklich gut, daß ihr beide mit dem Boot hier seid.« Er blinzelte verschmitzt. »Hoffentlich verderbe ich euch nicht die Freude, bei der Regatta zuzusehen.« Sie verneinten verlegen. Der Gründer empfand leise Scham. Diese Leute waren so leicht aus der Fassung zu bringen. Und außerdem war es sowieso kein guter Witz. »Dann wollen wir mal.« Er hob die Hand. »Das ist noch ein kleines Problem mit eurem Freund Mervyn. Leider hat er sich als untragbar erwiesen. James wird es euch später noch erklären. Nehmt euch seiner an. Armer Kerl.« James trug den Toten jetzt über der Schulter. Keiner von den dreien sprach. Sie tauschten nur Blicke aus, während sie den Toten ins Boot hinunterhoben. Manny Littlejohn konnte die Blicke nicht ganz deuten. Er konnte mit den moralischen Skrupeln eines David Silberstein fertig werden, denn er teilte sie und wußte die Antworten darauf. Doch das Mitleid, daß die drei empfanden, wenn sie das Fleisch eines toten Kameraden berührten, die schlaffen Hände und den Kopf, der lose am Hals baumelte, den Fuß, der zwischen Kaimauer und Boot zerquetscht werden konnte, weil er nichts mehr bedeutete – gegen dieses Mitleid hatte er kaum Abwehrmittel. Er konnte weder rechtfertigen noch bitten. Vielleicht half ihm ein Sex-Witz. Er wartete, bis die Männer wieder aus dem Boot stiegen. »Wenn ich ihn Mr. Silberstein gemeldet hätte«, sagte Littlejohn, »hätte er dem armen Kerl mindestens sechs Monate Dorfarrest gegeben. Sechs Monate Zwangsarbeit bei Bessie.« (Bessie war eine sexhungrige Dame, die Krankenschwester des Dorfes, deren geschiedener Mann nach Nicaragua ausgewandert war. Sie war so impulsiv und leidenschaftlich, daß sie sich von ihrem Mann wegen chronischer Impotenz hatte scheiden lassen, nachdem sie ihm in der Hochzeitsnacht den Penis abgebissen hatte. Das war natürlich nur ein Gerücht, aber ein nicht ganz aus der Luft gegriffenes Gerücht, das ein gewisses Unbehagen im Dorf auslöste.) Die Männer lachten. Sie konnten es nicht unterdrücken. Mervyn hatte sich jetzt in Bessie-Futter verwandelt. Er war zu einer lächerlichen Figur geworden. Die Unflätigkeit der Anspielung verdrängte alles andere. Die Männer lachten und steckten die Hände in die Hosentaschen, um sich zu bestätigen, daß sie noch heil und gesund waren. Die Krise – wenn es überhaupt eine gegeben hatte – war gebannt. »Entschuldigung«, sagte Littlejohn, und sägte gleichsam den Ast ab, auf dem die Männer saßen, »das war kein sehr taktvoller Witz. Ich hätte so etwas nicht sagen dürfen.« Sofort versanken die Männer vor Scham fast in der Bucht. In diesem Augenblick, als Littlejohn gerade erfolgreich seine Arbeitnehmer auf die ihnen zukommende Größe zurückgeschraubt hatte, hörte er die Sirene eines näherkommenden gepanzerten Lieferwagens. Er war schon im Begriff, die Leiter zum Boot hinunterzusteigen, verharrte jetzt aber auf der obersten Sprosse. Er hoffte, es würde das sein, was er vermutete. Die Wirkung der Sirene bestand vorwiegend darin, daß sie mit zunehmender Stärke den Hörer lähmte. Sie löste ein Gefühl aus, das jenseits der Grenze zur Hysterie lag, das die Sinne überwältigte. Als der gepanzerte Wagen auf den Platz fuhr, der sich an den Stadtkai anschloß, war die Menge bereits von den mißtönenden Lauten gebannt. Das Sonnenlicht zitterte, die Straßenoberfläche pulsierte wie ein Trommelfell, die Häuser schwankten, und die Menschen schwenkten lautlos die Arme. Littlejohn schloß die Augen. Das war tatsächlich ein überwältigender Lärm. Und es war, was er sich erhofft hatte. Es war die Trompete des Reichtums. Manny Littlejohns Reichtum. Der Lieferwagen – er kannte ihn gut, hatte seinen Entwurf persönlich überwacht – lieferte die wöchentliche Portion an Reichtum, die das Forschungsdorf Penheniot zum Leben brauchte. Eine Portion, die sich nicht von der Steuer absetzen, nicht als Prestige erklären, nicht mal als Protzerei vor Freunden (Freunden?) verwenden ließ. Eine Portion, die sich nur mit privaten Begriffen rechtfertigen ließ, als Ausgabe für ein Privatvergnügen und vielleicht auch für eine leise, versteckte Hoffnung. Eine Portion, auf perverse Weise durch das Blöken eines Panzerwagens symbolisiert. Als der Wagen auf dem Kai hielt, löste sich das schwarze Rettungsboot drüben von der Mündung des Penheniot Pill auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens. Operation 4c des Handbuches, das die Sicherheit regelte, wenn der Gründer sich richtig erinnerte. Als die mit Stahlhelm und Masken versehenen Transportbegleiter den Wagen rückwärts an den Kairand manövriert und die Münzsaugleitung bereitgelegt hatten, lag das Boot bereits längsseits. Ein Sicherheitsagent des Dorfes nahm das bewegliche Mundstück der Münzsaugleitung und schloß es an der versiegelten Münzladeluke des Bootes an, während die anderen Männer Wache standen. Innerhalb von fünf Sekunden war die Saugleitung in Betrieb, und Münzen prasselten durch die Leitung. Innerhalb von neunzig Sekunden war der Geldaustausch beendet. Die stählerne Saugleitung wurde wieder pneumatisch im Panzerwagen verstaut, und das Boot entfernte sich rasch vom Stadtkai. Keine zwei Minuten hatte die Operation gedauert. Erst dann brach der lähmende Sirenenton ab. Die Leute konnten sich wieder bewegen. Sie konnten auch ihrem Zorn wieder freien Lauf lassen. Während das schwarze Boot in der Mündung von Penheniot Pill verschwand, erhob sich drohendes Murmeln auf dem Kai. Als Littlejohn sich umdrehte, um zu sehen, was in seinem Rücken vorging – obwohl er es bereits ahnte –, drängte sich Krancz schon durch die Menge. Er hatte vorher eine Lauerstellung auf der Parkfläche über dem Kai eingenommen. Die Panzerwagenbesatzung saß bereits wieder im Führerhaus, und der Wagen setzte sich eben in Bewegung. »In das Boot, Sir«, drängte Krancz, »es wird Ärger geben.« »Ich sehe das selbst, Krancz. Aber ich …« »Die können sehr gemein werden, Sir«, sagte der Mann, den er James nannte. »Es sind nicht die Einheimischen, Sir, denn die verdienen ja an dem Dorf. Es sind die Touristen. Sie …« In diesem Moment schaltete der Fahrer wieder die Sirene ein. Ein Fehler, weil sich eine Menge, die sich bereits in Bewegung gesetzt hat, nicht ein zweitesmal auf die gleiche Weise fangen läßt. Im Gegenteil, diesmal hatte der Lärm die entgegengesetzte Wirkung. Er lähmte nicht, er brachte zur Raserei. Manny Littlejohn wollte dableiben und zusehen. Alles konnte jetzt passieren. In einem von David Silbersteins Berichten (der dazu geführt hatte, daß man die Aufbauten der Lieferwagen elektrisch auflud) stand, daß die Menge einmal einen Panzerwagen zum Rand des Kais getragen und ins Wasser geworfen hatte. Alles konnte jetzt passieren. Er wollte das miterleben. Doch Krancz zog ihn am Ärmel, und drei Sicherheitsagenten drängten ihn zur Leiter. Er war ein alter Mann. Er konnte nicht mehr Massen mit der Kraft seiner Persönlichkeit besänftigen. Außerdem waren in jüngster Zeit zu viele vielversprechende Helden, Alte und Junge, bei diesem Versuch umgekommen. Ein einfacher Mob konnte durch eine laute Stimme, durch eine Hysterie, die größer war als die der Menge, umgedreht werden. Doch ein Mob im Drogenrausch kannte keine Schranken. Er brüllte am lautesten, war am hysterischsten. Deshalb drehte sich Manny Littlejohn auch gehorsam und weise um und kletterte die Leiter hinunter in das wartende Boot. Seine Abreise war keineswegs verfrüht. Ein apathischer Budenbesitzer, der sich an einen Poller lehnte, wartete, bis der alte Mann und seine Begleiter weit genug entfernt waren, und brachte dann den Mut auf, ihnen nachzuspucken. Seine Tat wurde von einem Mitglied des Mobs beobachtet, der ihn schon wegen seiner Untätigkeit ins Wasser werfen wollte. Die Sprache des Spuckens ist universal. Erklärungen waren dabei nicht nötig und wegen der blökenden Sirene auch unmöglich. Innerhalb weniger Sekunden war der Kairand eine zornige Menschenmauer, die alles, was sie in die Hand bekam, dem rasch davongleitenden Boot von Manny Littlejohn hinterherwarf. Der Panzerwagen war inzwischen von einem Rudel Minicars am Rückzug gehindert worden. Das Fenster des Fahrerhauses bekam Risse und Sprünge unter dem anhaltenden Trommelfeuer von Ziegelsteinen und Hitzeschaum. Als Antwort versprühte der Fahrer Juckgasspray. Die Menge zog sich einen Augenblick zurück. Ihr Heulen wurde immer noch von dem Blöken der Sirene übertönt. Sie kratzten sich an allen Stellen, wo sich auf ihrer Haut (harmlose) Blasen bildeten. Doch die Erfahrenen unter ihnen (die immer Medikamente für solche Fälle bei sich hatten), die Elite, der eigentliche Mob, umkreiste vorsichtig den Panzerwagen. Die Besatzung im Fahrerhaus wartete ab, hoffte, daß die Fenster durchhalten und der Hitzeschaum, der jetzt das ganze Dach bedeckte, sie nicht lebendig rösten würde, bis der Mob das Interesse an ihnen verlor und sich zerstreute. Denn wenn sie das Führerhaus verließen, würden sie in der momentanen Phase der Entwicklung entweder getötet oder sexuell verstümmelt. Der Hitzeschaum fraß die Reifen auf, bis der Wagen mit den Bremstrommeln aufsaß. Die Aufbauten erdeten sich selbst, und die elektrische Ladung schloß mit einem kleinen Blitz kurz. Als der Mob das sah, stürmten die Männer und Frauen sogleich den Wagen, rutschten auf den soße- und fetttriefenden Panzerplatten aus. Jemand fand die Öffnung für die Sirene, und das Blöken verstummte. Die Menge jubelte. Ein paar aktive Teilnehmer, die die Warnung vergessen hatten, kein Wasser auf die (harmlosen) Juckblasen aufzutragen, starben jetzt an den gewaltsamen chemischen Reaktionen. Die Menge jubelte immer lauter. Jemand stellte aus einer menschlichen Regung heraus wieder die Musik an. Die Menge auf dem Panzerwagen verlor das Interesse an der Belagerung. Das Verstummen der Sirene war immerhin ein Sieg. Ein paar von ihnen begannen zu tanzen, rutschten auf der Eiskrem aus und fielen auf den Hintern. Sie richteten sich auf und schüttelten sich, von sich selbst angewidert. Die letzte Pose, der krönende Abschluß, bildete ein junger nackter Mann mit roten Haaren, der auf die Motorhaube sprang, die Beine spreizte und einen goldenen Strahl gegen die Scheibe und die Männer dahinter richtete. Als seine Blase leer war, begleitete der Jubel der Menge die letzten Tropfen, die er von seinem Dingsda schüttelte. Doch für die Männer im Fahrerhaus war das eine verschwendete Geste. Der Fahrer hinter dem Panzerglas war bereits tot, die anderen bereits von der Hitze und dem Hitzschlag zu sehr mitgenommen, als daß ihnen das bißchen Urin noch etwas ausgemacht hätte. Erst jetzt schwärmten die Polizisten aus, in Gasmasken, Schutzkleidung, mit Schilden, Schlagstöcken und Betäubungsgewehren bewaffnet. Während sie sich eine Gasse durch die erschöpfte Menge hieben, kam vom Panzerwagen keine Reaktion mehr. Offenbar waren die Flanken des Wagens so heiß, daß man sie selbst mit Schutzhandschuhen nicht mehr anfassen konnte. Einer der Beamten räumte mit dem Knüppel den Hitzeschaum vom Dach, ein anderer bellte Befehle gegen die Schutzscheibe, ohne daß die Türen vom Fahrerhaus geöffnet wurden, die sich offensichtlich nicht von außen öffnen ließen. Nach einer kurzen Besinnungspause ließ der mit Befehlsgewalt bekleidete Beamte einen Abschleppwagen holen, um den Panzerwagen zum Revier zu bringen, wo man stahlbrechende Geräte und eine Leichenkammer zur Verfügung hatte. Das letzte, was Manny Littlejohn von seinem Panzerwagen sah, waren die Bremstrommeln, die über das Pflaster holperten, während das Führerhaus am Haken des Abschleppwagens baumelte. Die Lage der drei Männer im Führerhaus konnte man sich leicht ausdenken. Mit heraushängenden Zungen und geplatzter Gesichtshaut hüpften sie einträchtig nebeneinander auf dem Sitzpolster, bis ein besonders kräftiger Stoß sie auf den Boden beförderte, zwischen Bremshebel und Kisten mit Geräten zum Schutz der Ladung. Die Menge sah jetzt gelangweilt dem Abgang zu, nur hier und da noch ein wenig von einem Gummiknüppel aufgescheucht, worauf sie »We shall overcome« sang. Das schwarze Boot nahm inzwischen wieder Fahrt auf, nachdem Manny Littlejohn James den entsprechenden Befehl gegeben hatte. Es rauschte an der Hauptwasserreinigungsanlage vorbei und in das ruhige, von Sonnenflecken übersäte Wasser von Penheniot Pill hinein. Der Gesang wurde schwächer und verlor sich, bis man nur noch das leise Summen des Motors und das Gurgeln des Wassers hören konnte. Das Laub in den Eichen raschelte leise. Manny Littlejohn ließ sich auf dem Vorderdeck nieder, schloß die Augen und atmete die Luft tief ein. Das Leben war schön. Von Mortimers Armbandsender und dem Fernsehspion an der Mündung des Flusses rechtzeitig gewarnt, war Penheniot Village auf die Ankunft des Gründers gut vorbereitet. Als das Boot um die letzte Biegung kam, sah Manny Littlejohn ein paar Leute, die auf dem Dorfkai herumlungerten, zufällig in seine Richtung blickten, sich gegenseitig vor Überraschung auf die Schultern schlugen und dann zum nächstbesten Telefonapparat eilten. Innerhalb verblüffend kurzer Zeit, ehe Littlejohns Boot längsseits kam, hatten sich Dorfbewohner spontan versammelt und ergossen sich aufgeregt aus den Bauernhäusern, den Werkstätten und den getarnten Fabrikgebäuden. Und genau in diesem Moment, als das Boot festmachte, marschierten die Chrononauten aus ihrer Unterkunft, ohne auf das allgemeine Durcheinander zu achten, und begannen ihre Routineturnübung (sehr sehenswert) auf dem Dorfrasen. Selbstverständlich war dieser Platz vom Dorfkai aus sehr gut zu sehen. Das saftige grüne Gras, die gebräunten Gestalten der Athleten, der graue cornische Stein der Häuser, von der Sonne wie mit Goldstaub überzogen – ein entzückendes Bild. Manny Littlejohn war besonders dafür empfänglich, da er noch zu einer Generation gehörte, die bei dem doch so gewohnten Anblick von Brüsten, Bäuchen und Schamgürteln (die im Verlauf der Turnübungen heftig bewegt wurden) immer noch wollüstige Freude empfinden konnte. Er stand wie entrückt und genoß die Beine, die sich grätschten und spreizten, die tanzenden Brüste, die glänzenden Bäuche. (Am meisten freute er sich vielleicht über die Kraft seiner Erektion. Im Alter von 87 Jahren war das immerhin keine kleine Leistung.) David Silberstein schob sich durch die freudig erregte Menge. »Gründer! Willkommen – willkommen in Penheniot. Wenn wir nur gewußt hätten, daß Sie kommen, dann hätten wir …« Doch der Gründer hörte gar nicht zu. »Ich begrüße das Turnen im Freien«, sagte er. »Es wäre ein Jammer, wenn so – äh – gutgebaute junge Leute im Klassenzimmer einrosten würden. Ich werde ihnen das selbst sagen. Sagen Sie ihnen, daß ich froh bin, daß sie ihre Körper nicht vernachlässigen.« Er trat auf den Weg, der zum Kai führte, Krancz einen Schritt hinter ihm. Erst jetzt erinnerte er sich wieder an Mervyn, der immer noch wenig graziös im Heck des Bootes lag. Er drehte sich mit Würde um und wollte eine Erklärung dazu abgeben. Doch James war bereits wieder im Rückwärtsgang ins tiefere Wasser gefahren und steuerte jetzt in Richtung Polizeistrand, Manny Littlejohn war glücklich darüber. Diese Sicherheitsleute hatten ihren eigenen Stolz. Neben dem Dorfrasen blieb Littlejohn stehen, da er dieses hübsche Schauspiel nicht unterbrechen wollte. Es war heiß heute. Freunde drängten sich um ihn, Angestellte, seine Freunde … Sie waren in Festtagsstimmung, eiferten und buhlten um seine Aufmerksamkeit. Mrs. Kops in Plüschpantoffeln, ihr Stab mit Stricknadeln und Händen, die an Teetassen erinnerten. Daniel, anonym in seiner Nacktheit, wenn er nicht das Brett mit den Merkzetteln unter den Arm geklemmt hätte. Sir Edwin, der Ausbildungsleiter, trotz seiner Nacktheit unverkennbar in seiner Würde. Der Dorfarzt mit der Hornbrille. Sergeant Cole mit blauem Helm, an sein Fahrrad gelehnt, die Pfeife an der Signalschnur um den Hals. Joseph mit seinen mehlbestäubten Haaren … alle diese und Dutzende mehr näherten sich jetzt auf dem Umweg über David Silberstein, um Audienz zu erhalten. Auch Kinder waren gekommen, warfen einen respektvollen Blick auf ihn, bekamen vielleicht ein Tätscheln auf die Wange. Am Rande der Menge, mitgezogen von der allgemeinen Bewegung, die vom Kai zurückbrandete, stand Roses Varco, einen Grashalm im Mund, lächelnd, ohne zu begreifen. Er war ein Mensch, der niemand etwas nachtrug, obwohl das Boot seine Fische bestimmt für ein paar Stunden vertrieben hatte. Er wußte, daß diesen tumultartigen Bewegungen meistens ein Auftritt der Dorfkapelle folgte. Vor allen anderen menschlichen Werken schätzte Roses Varco besonders das Glitzern und Geschmetter der Dorfkapelle. Nachdem die Chrononauten ihre Freiübungen beendet hatten, führte ihr Trainer sie hinüber zum Gründer, um sie einzeln vorzustellen. Er drückte jedem die Hand, blickte hinauf in ihre hoffnungsvollen, begeisterten Gesichter. Sie bestärkten seine eigene Hoffnung. Sein Herz schmerzte vor Verlangen nach ihrer unerreichbaren, unveräußerlichen Schönheit. Sie eilten von dannen zu ihren Studien, um keine Zeit zu versäumen. Sie waren großartig. Und Krancz bewegte sich hin und her, immer wachsam und auf dem Sprung. Professor Krawschensky war einer der letzten, der zur Begrüßung eintraf. Vielleicht hatte er den Zufall zu ernst genommen, oder vielleicht war seine Zerstreutheit (wahrscheinlicher) daran schuld. Als er, gefolgt von Liza Simmons, die Stufen vom Labor herunterkam, wurde gerade der Maibaum (23. Juli!) in der Mitte der Dorfwiese aufgerichtet, und die Kapelle stimmte ihre Instrumente. Joseph war in seine Backstube zurückgeeilt. Das Dorf war mit bunten Bändern und Girlanden geschmückt. Der Tanz würde bald beginnen. Gegen Abend würde man dem Gründer die Wahl der Mädchen überlassen; doch er würde vorsichtig, um ihr Zartgefühl nicht zu verletzen, ablehnen, weil er ein Gentleman war (und 87 Jahre alt). Inzwischen bellten die Dorfhunde, die Raben stiegen aus den hohen Bäumen in den Himmel, und Mrs. Kops fand reißend Absatz für ihre Eiskrem, die sie in einem kleinen Eiswagen am Rand der Wiese entlangschob. In diese Idylle platzten Professor Krawschensky und Liza hinein. Zwei böse Figuren. Die Dorfbewohner ließen die beiden durch, weder respektvoll noch schadenfroh, sondern aus einem bestimmten Gefühl der Furcht. Der Professor knetete die Hände, suchte Manny Littlejohn und trippelte dann vorwärts. »Emmanuel!« »Igor!« »Emmanuel – wie lange habe ich dich schon nicht mehr gesehen!« »Viel zu lange nicht mehr, Igor. Dumme, belanglose Kleinigkeiten haben mich viel zu lange ferngehalten!« Sie hielten sich umschlungen. Zwei alte Männer, von jähen, ungewohnten Gefühlen überwältigt. »Du bist schmal geworden, Emmanuel. Wer sorgt denn für dich?« »Eine alte Vogelscheuche, Igor. Nicht wie bei dir – keine Frau, die mich füttert. Was ist ein Mann ohne Frau?« »Und warum ist das so? Du solltest heiraten, Emmanuel. Heirate wie ich. Wer würde sagen, daß es dafür zu spät ist?« »Nicht zu spät? Mit siebenundachtzig Jahren? Welche Frau würde mich noch nehmen?« »Sie würde dein Geld bekommen, Emmanuel.« Der Professor hatte leise gesprochen. Es waren Worte, die aus einem anderen Munde unmöglich gewesen wären … Worte, die man der Liebe zuschreiben mußte, die die beiden vielleicht verband. Sie schwiegen einen Moment, betroffen von der Wahrheit des eben Gesagten. Von einer bestimmten Altersgrenze ab (86?) konnte ein Mensch ungeniert kaufen. Die Dinge wurden von da ab einfacher … Die beiden Männer drückten sich gegenseitig die Oberarme und blickten sich über die Schulter. Doch diese intime Geste war nicht ganz echt. Sie war eine Imitation ihrer Väter, eine Erinnerung an ein vertrautes Bild ihrer Jugend, das sie nachspielten, da sie jetzt im »gleichen« Alter waren. Selbst der Tonfall war genau kopiert und die feuchten Augen. Diese Entrückung in die Erinnerung ließ sie sogar einen Moment vergessen, worüber sie eben gesprochen hatten. »Igor … Igor, was macht deine Arbeit?« »Großartige Fortschritte. Großartige … du mußt dich selbst davon überzeugen.« »Sofort, sofort. Wir wollen sofort ins Laboratorium gehen.« »Und die anderen?« Professor Krawschensky beschrieb einen Kreis mit der Hand, der den Maibaum, die freudig erregten Dorfbewohner, die Instrumente der Kapelle einschloß. Manny Littlejohn kehrte in die Gegenwart zurück, straffte den Rücken, verdrängte seine Vorfahren, sprach zu dem Projektleiter, David Silberstein, der zu jung war, um die Szene zu begreifen. »Ich gehe jetzt in das Laboratorium. Ich werde nicht lange abwesend sein. Lassen Sie die guten Leute gewähren … Und ich bin beeindruckt, Projektleiter. Sie leisten gute Arbeit.« David Silberstein blickte bescheiden zu Boden, die Finger übereinandergelegt, ein Kreuz bildend als Omen gegen dieses viel zu verfrühte Lob. Seine Gedanken huschten ängstlich voraus zu dem Experiment. Aber Professor Krawschensky wußte ja, was er machen sollte – ein todsicheres Experiment mit Blei. Die strahlende Laune des Gründers sollte demnach aller Wahrscheinlichkeit nach ungetrübt bleiben. Manny Littlejohn widmete sich jetzt wieder dem alten Professor. Er versuchte, ihm verwandtschaftlich gesinnt den Arm um die Schultern zu legen. Doch es klappte nicht mehr, die Illusion war verflogen, und er zog den Arm zurück. Sie schritten jetzt nebeneinander durch die Menge, die sich vor ihnen teilte – Meister und Diener fast –, durch die Fore Street und durch ein kleines Gatter, das den Weg zum Labor freigab. Liza Simmons folgte den beiden. Wenn der Gründer abwesend war, dachte sie nicht an das bedrückende Gewicht seiner Gegenwart und die schrecklichen Folgen seiner Unzufriedenheit. Sie wußte jetzt, da es zu spät war, daß sie David Silbersteins Auftrag an den Professor hätte weitergeben sollen. Wäre nur David nicht gewesen, der ihr seine Überlegenheit hatte zeigen wollen. Langsam kletterte sie die Stufen zum Labor hinauf. Sie hoffte das Beste und befürchtete das Schlimmste. Vom Rand der Menge aus beobachtete Roses Varco die kleine Gruppe. Er wußte, wer der Gründer war, doch empfand er weder Ehrfurcht noch Dankbarkeit. In ihm waren diese Gefühle für andere, kosmische Erscheinungen reserviert: für Stürme, Sonnenuntergänge, warme Füße, das Meer, eine Spinne in seiner hohlen Hand. Er hockte sich dort nieder, wo er gerade stand, und kraulte die Ohren eines Dorfköters, der gleich ihm von der Menge verwirrt war. Er wartete auf den Einsatz der Dorfkapelle. Der Köter ebenfalls. Er hatte ein geflecktes Fell und sollte bald auf eine Reise gehen. Krancz hatte am Fuß der Treppe Posten bezogen. Das Sonnenlicht flutete durch das große Atelierfenster in das Laboratorium hinein. Der Gründer sah sich forschend um, sah überall nur das Beste vom Besten, das sein Geld kaufen konnte. Auf der Startbühne stand ein Stuhl aus Ulmenholz. Das war so sehr tote Materie für ihn, so wenig das, was er in die Zukunft schicken wollte, daß er sich vor Furcht fast schüttelte. Und deshalb wurde er zornig. »Ein Rückzug, Igor?« »Rückzug? Ich verstehe nicht ganz.« »Experimente mit toter Materie. Die hast du doch schon vor Monaten abgeschlossen.« Drängend, ihm seinen Willen aufzwingend: »Das hast du doch, nicht wahr?« Liza, die jetzt auf der Schwelle des Labors stand, begriff nicht ganz. Wenn das Experiment mit dem Stuhl – das inzwischen mit Hilfe des Filters gelungen war – erfolgreich wiederholt werden konnte, mußte der Gründer vollauf zufrieden sein. Selbst das war schon ein Risiko, das sie gar nicht gern an des Professors Stelle übernommen hätte. Doch der Professor schien gebannt von dem durchbohrenden Blick des Versuchers. »Rückzug? Rückschritt … ja, in gewisser Hinsicht könntest du das so nennen, Emmanuel. Man muß manchmal« – entschuldigend, gleichzeitig bittend, daß man ihn zu einem Entschluß drängte, den er allein zu fassen nicht gewagt hätte – »man muß manchmal die Grundlagen noch einmal überprüfen, verstehst du?« »Nur, wenn die Mauern schief sind, Professor.« Nicht mehr länger Igor. Krawschensky blinzelte, begreifend, was in seinem Busenfreund vorgegangen war. Er schwankte zwischen verzweifelter Tollkühnheit und unentschuldbarer Feigheit. »Wir Wissenschaftler sind vorsichtige Leute, Gründer.« Er faßte wieder Mut – oder war es Angst? »Entdecken und bestätigen. Entdecken und bestätigen … Das ist die Methode des Wissenschaftlers.« »Hören Sie, Professor«, Manny lächelte, ein schrecklich wohlwollendes Lächeln, »einen Augenblick lang war ich in ernster Sorge. Es sah so aus, als würden Sie sich immer noch mit toter Materie befassen. Doch zwei Jahre Experimente mit toter Materie ist einfach zu lächerlich. Für einen Mann mit so brillanten Fähigkeiten.« »Natürlich, Gründer. Zu lächerlich.« Der Professor befreite sich aus seiner Erstarrung. Sein Blick wanderte durch die offene Labortür hinaus auf die Dorfwiese, wo die Menge in unbehaglicher Feststimmung verharrte. Man zwang ihn zu einem moralischen Kraftakt. Liza versuchte, ihn davor zu retten. »Der Generator ist nicht in Ordnung, Professor. Die Reparatur kann Stunden dauern.« »Nicht in Ordnung, Kind? Was ist daran nicht in Ordnung?« Sie kam zu spät. Der Kraftakt war nicht mehr aufzuhalten. Er wußte jetzt, daß es Momente gab, in denen man einen kühnen Schritt wagen mußte. Etwas, das außerhalb der mühsamen Routine stand, etwas, das den genialen Mann von dem bloß gewissenhaften Arbeiter unterschied. »Sie müssen sich irren, Kind. Ich habe keinen Fehler entdecken können. Wir können ein neues Experiment veranstalten, ein Experiment mit lebender Materie. Es wird nur ein paar Minuten Vorbereitung brauchen.« »Ich bin erfreut, das zu hören«, sagte Manny Littlejohn. Er setzte sich mit berechneter Würde, lächelte in die Runde, seinen Charme ausübend, um seine Ritterlichkeit zu beweisen. »Was die Versuchsperson betrifft, Igor, verbiete ich dir ausdrücklich, deine schöne Assistentin dazu zu verwenden. Ihre Jugend ist so strahlend und warm wie die Sonne selbst. Ich weigere mich, auch nur eine Sekunde lang die Gesellschaft der bezaubernden Miß … Simpson zu entbehren.« »Simmons«, sagte Liza, ihre Kälte ein Seitenhieb auf den aufgescheuchten (eingeschüchterten?) Professor. »Mein Name ist Simmons.« »Simmons … Simmons …« Er lauschte dem Klang des Namens, seine Schönheit genießend. Überraschenderweise entging ihm der Unterton ihrer Antwort. »Es tut mir so leid, Miß Simmons. Sie konnten mit Recht erwarten, daß ich mir wenigstens Ihren Namen richtig merkte.« Sie plapperten. Sie hätten noch eine ganze Weile so weitergemacht, wenn der Professor durch die offene Tür nicht etwas gesehen hätte, was seinen Entschluß besiegelte. Die Würfel waren gefallen. Würfel, die dem Dorfköter auf der Wiese neben Roses Varco zufielen. Pech für den Köter. Professor Krawschensky stand bereits auf dem Balkon und rief Roses zu, er sollte ihm den Hund bringen. Es dauerte eine Weile, bis Roses auf ihn hörte, ihn verstand und reagierte. Dann beschleunigten sich die Ereignisse. Der Köter mit dem gefleckten Fell wurde in einem Gestell festgebunden, gewogen und dann auf die Bühne gestellt. Die spezifischen Kräfte wurden berechnet und das Molekularspektrum erstellt. Liza Simmons, die eigentlich ihre Hände in Unschuld waschen wollte, arbeitete so angestrengt wie der Professor, teils aus Loyalität, teils von dem Gedanken angetrieben (der ihr eben gekommen war), daß es Zeiten gab, wo ein kühner Schritt notwendig war, etwas Außergewöhnliches, was den genialen Mann (oder Frau) von dem bloß gewissenhaften Arbeiter unterschied … Die Filterzusammensetzung wurde vom Computer überprüft, ein beruhigender Sicherheitsfaktor eingebaut. Es schadete nicht, wenn man vorsichtig blieb, obgleich eigentlich nichts schiefgehen sollte, wenn das Experiment mit dem Stuhl bereits gelungen war. Beide bestanden aus organischem Material, Stuhl wie Hund. Nun, es gab dabei allerdings einen Unterschied … Die Brennweiten der Beschleuniger wurden neu berechnet. Auch die Werte der Pulsfrequenzen. Und Roses Varco, der auf dem Umweg über den Dorfköter in das Experiment einbezogen war, ob ihm das bewußt wurde oder nicht, blieb im Flur stehen, fasziniert von dem fieberhaften Durcheinander. Die Uhr schlug siebzehn und zwei Fürze. Roses kicherte. Seit dieses Forschungszentrum bestand, hatte sich seine Diät so verbessert, daß sein Talent erschreckend nachgelassen hatte. Die andern waren viel zu beschäftigt, um auf die Uhr zu achten. Der gefleckte Köter begann zu winseln und die Lederriemen zu benagen, die ihn in seinem (bequemen) Gestell festhielten. Es war Roses’ erster Ausflug in das Labor, und da war etwas, das ihn unbewußt anzog. Etwas, das in seiner Erinnerung irgendeine längst verrostete Klingel auslöste. Ja, der Geruch war es, der daran schuld war. Ein Geruch der ihn erinnerte an … an ein heißes Radiogerät, Aspirintabletten, an die Reibeflächen von Streichholzschachteln und etwas, das vielleicht Rizinusöl sein konnte. Hinter ihm fing die Dorfkapelle zu spielen an. Sie begann mit »Land of Hope and Glory« und setzte ihren Vortrag mit »Ho-ro, My Nut-Brown Maiden« fort. Immer noch verharrte Roses im Flur. Der eigenartige Geruch ließ ihn nicht los. Eigentlich ein Zeitverlust, denn er erinnerte ihn an etwas, das er eigentlich vergessen wollte. Professor Krawschensky verteilte Wattebäusche (nicht an Roses, denn der war nicht eigentlich im Labor) und begann mit den vorgeschriebenen Handgriffen der Startphase. Der nun folgende Lärm trieb Roses auf den Balkon hinaus, wo er immer noch den Geruch wahrnehmen und gleichzeitig die Dorfkapelle hören konnte. Liza schloß die Augen – es waren Pannen möglich, die sie lieber nicht mit ansehen wollte. Im richtigen Moment hörte das singende Geräusch der Beschleuniger auf. Der gefleckte Köter, immer noch an seinen Riemen nagend, flimmerte und verschwand mit einem lauten Knall. Der Start hatte tadellos funktioniert. Im Labor herrschte dankbare Stille. Dann … »Igor … Igor, du bist ein Genie!« Manny Littlejohn hatte seine Wattebäusche wieder entfernt, stand bereits, noch zitternd von dem Erlebnis dieses Wunders. Er hatte die Sache beschleunigt, ohne sich einen Erfolg davon zu versprechen. Einen Fehlschlag hatte er eingerechnet. Er hätte ihn verwerten können. Als eine Garotte, die er auf seine höfliche, unnachahmliche Weise ausgenützt hätte. Aber jetzt … »Was soll ich sonst noch dazu sagen, Igor? Du bist ein Genie.« Das geistesabwesende Furzen von Roses, der draußen auf dem Balkon der Dorfkapelle zuhörte, wurde im Labor nicht bemerkt. »Dies ist ein Tag, von dem ich schon seit langem träumte. Ja, um den ich gebetet habe. Du hättest mir Bescheid sagen sollen, Igor!« Professor Krawschensky verharrte in weisem Schweigen. Seine persönliche Würde – und die Gegenwart von Liza Simmons, die die Wahrheit kannte – machte jede Verstellung unmöglich. Eine technische Erläuterung half vielleicht, auf jede Eventualität vorzubereiten. »Der Hund soll ungefähr drei Minuten im Zustand der Harmonie mit dem Zeitfluß bleiben«, sagte er und lehnte sich vorsichtig gegen den Computer. »Doch das läßt sich nicht exakt kontrollieren. Sobald man sich im Zustand der chronomischen Einheit befindet, gibt es kein Altern mehr. Selbstverständlich haben die Chronoküle keine abnützende Wirkung. Somit finden auch keine chemischen Veränderungen statt, denn sie sind die Folge eines chronokularen Drucks. Die einzig mögliche Zeitkontrolle geschieht auf elektro-chronomische Weise. Denn ich habe interessanterweise festgestellt, daß die Elektrizität sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Chronos existiert. Sie ist zwar nicht die zuverlässigste Kraft, leider, aber wir tun, was wir können …« Liza sah, daß der Gründer sich über sein Unvermögen, die Erläuterungen zu verstehen, ärgerte, und sagte rasch: »Was der Professor damit sagen will, ist, daß der Hund ein bißchen früher oder ein bißchen später, als vorausgesagt, in diese Dimension zurückkehren kann. Es ist sehr schwer, den Wiedereintritt exakt zu bestimmen.« Sie hielt es nicht für notwendig, zu erwähnen, daß eine Reihe von Artefakten vollkommen verschwunden waren. Oder das andere wieder stark verändert aufgetaucht waren … Roses Varco spähte durch die offene Tür. »Sie … Sie, was haben Sie mit dem kleinen, gescheckten Hund gemacht?« Die beiden Männer ignorierten Roses. Er gehörte zum Hintergrund, zur Kulisse. Liza meinte, daß Roses eine Antwort verdiente. »Er wird in ein paar Minuten wieder hier sein, Roses. Du mußt dir deswegen keine Sorgen machen.« »Was ich wissen will – was habt ihr mit ihm gemacht?« »Was«, sagte der Gründer, das Kommando mit einer Schärfe übernehmend, die bei Roses vollkommen verschwendet war, »was haben Sie hier zu suchen?« »Suchen?« »Haben Sie irgendeinen Job in diesem Labor übernommen?« »Ich? Ich habe keinen Job.« »Aha.« Unbeeindruckt, obwohl ein größerer oder geringerer Mann als er vor Ehrfurcht erstarrt wäre, rückte Roses noch ein paar Schritte vor. »Alles, was ich wissen will, ist, was Sie mit dem kleinen gesprenkelten Hund angefangen haben!« David Silberstein erschien jetzt auf dem Balkon, eine Explosion im richtigen Moment verhindernd. Er trat lächelnd in das Labor in Erwartung eines kleinen, todsicheren Experimentes mit Blei. Unten auf dem Dorfrasen stimmte die Kapelle gerade den Blumentanz an: Trompete, Posaune, Trommel, bum-bum Waldhorn und Harmonium … »Wie steht es hier bei Ihnen?« fragte David Silberstein den Professor. »Gut«, sagte Manny Littlejohn, »sehr gut. Sie sind so schrecklich britisch, P. L. Sie haben mich überhaupt nicht darauf vorbereitet, daß mich hier ein Wunder erwartet.« David lächelte geschmeichelt. Er sah zwar keinen Anlaß für so überschwengliche Worte; aber ihm konnte es recht sein. Wenn der Gründer lächelte, lächelte die ganze Welt. »Ich bin froh, daß Sie so zufrieden sind, Gründer. Vielleicht sind wir hier im Dorf ein bißchen verwöhnt von den Errungenschaften des Professors. Schließlich steckt eine enorme Arbeit in diesem Projekt, selbst wenn ein strukturell so einfacher Gegenstand wie …« Diesmal rettete Roses’ Hartnäckigkeit den Projektleiter vor einer Panne. »Was ich wissen will«, forderte er, »ist, was ihr mit dem kleinen gescheckten Hund gemacht habt!« Und genau in diesem Moment, als sich häufende Mißverständnisse, Ärger und Spannungen sich wie ein Gewitter über dem Kopf eines Anwesenden zu entladen drohten, bekam Roses seine Antwort. Mit lautem Knall und heftigem Luftdruck, fast eine Minute früher, als die Computeruhr die Rückkehr des Hundes ankündigte (und eine Dreiviertelstunde nach der Abfahrt des letzten Zuges von Melbourne nach Mumblejug) war die Bühne wieder besetzt. Der Lärm der Explosion verhallte rasch in dem schalldichten Raum. Man rückte näher an die Bühne heran, fasziniert, noch nicht bereit zu glauben, was man sah, noch unentschlossen, ob es etwas Schreckliches war oder nicht. Ein zweiter Blick genügte, um jeden (nur vielleicht Roses noch nicht) zu überzeugen. Entsetzlich. »Was ist das?« krächzte David Silberstein. Das war eine verständliche Frage. Auf der Startbühne stand ein kleines hölzernes Gestell, wie man es gebraucht, um Tiere für Experimentierzwecke festzubinden. Zwischen den Beinen des Gestells, offenbar aus den Riemen herausgerutscht, die es festhalten sollten, lag ein sonderbar geflecktes Fell. Es ähnelte irgendwie einem Bettvorleger mit vier plattgewalzten Beinen. Seltsam bisher, aber nicht schrecklich. Es wurde erst zu einem Alptraum, wenn man die Augen in dem Bettvorleger sah und begriff, daß der Bettvorleger lebte. »Jammerschade«, sagte Professor Krawschensky, »die Knochenstruktur scheint den Wiedereintritt nicht überlebt zu haben. Die Probleme sind so komplex, wissen Sie …« Dann gingen ihm die Worte aus. Wenn man seine Phantasie anstrengte, war dieser Bettvorleger wiederzuerkennen. Selbstverständlich würden bei einem Hundekopf, dem die Schädelknochen fehlten, die Trommelfelle nach außen gedrückt, da das freischwebende Gehirn darauf lastete. Erklärlich war auch das wirre Durcheinander der Zähne im knochenlosen Kiefer. Und die braune Lache unter dem Vorleger, die immer größer wurde, weil Eingeweide und Blase ihren Inhalt nicht halten konnten. Auch die absolute Reglosigkeit war verständlich, trotz des Lebens, das noch in den Augen war – ohne Knochen als Stütze war auch die kleinste Muskelkontraktion eine schreckliche Qual … Trompete, Posaune, Trommel, bum-bum Waldhorn und Harmonium … Liza trat zur Seite, obwohl sie wußte, was hier getan werden mußte – sofort, bitte, bitte, sofort –, und es doch nicht fertigbrachte. David Silberstein rückte noch näher heran, als wäre er Zeuge bei einem Autounfall, aber entlastet durch das noch nachwirkende Mißverständnis (hatte wirklich jemand vor ein paar Sekunden noch von einem Hund gesprochen?). Professor Krawschensky nahm seinen Bleistift aus dem Kittel, beugte sich vor und tippte vorsichtig auf das Fell, um sich zu überzeugen – ganz beseelt von der Neugier des Wissenschaftlers –, daß wirklich kein Knochen darinsteckte. Und Manny Littlejohn, der sich vielleicht in diesem Moment vorstellte, daß er eines Tages auch so aussehen würde – wendete den Kopf ab und erbrach sich leise in sein Taschentuch. Er war ein alter Mann und sollte von solchen Bildern verschont werden. Es war vorauszusehen, daß Roses Varco dieses »lebende Bild« zerstören würde. Endlich diesen Bettvorleger mit dem gescheckten Hund in Zusammenhang bringend, den er in das Labor gebracht hatte, trat er vor, drängte die anderen mit den Ellenbogen zur Seite und hob das klägliche Fellgebilde hoch, ehe ihn jemand daran hindern konnte. Es schrie gellend und starb. Ohne Brustkorb sprengte die Muskelanstrengung, die zu diesem Schrei nötig war, die Lungen und das Herz. Roses hatte den Hund nicht gekannt und bevorzugte von Natur aus Katzen. Trotzdem weinte er – obwohl die Dorfkapelle gerade seine Lieblingsmelodie spielte –, mit Exkrementen an den Händen und einem unbestimmten Haß in seinem Herzen. Manny Littlejohn konnte Leid besser tragen als Roses. Er zog sich in eine Ecke des Labors zurück und setzte sich über seinen Armbandsender mit seinem Salonzug in Verbindung. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß seine Trabanten dort ihre bezahlte Arbeit verrichteten, verließ er wortlos das Labor und setzte seine Besichtigungstour fort. David Silberstein begleitete ihn, wie seine Pflicht es verlangte. IV »Ich bin Mrs. Lampton. Guten Tag. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich so rasch empfangen haben.« David Silberstein blickte von seinem Schreibtisch hoch. »Ah, natürlich – die berühmte Mrs. Lampton, Mutter von vier Kindern.« »Wenn Sie sich über mich lustig machen wollen, Mr. Silberstein, sehe ich mich genötigt …« »Bedaure aufrichtig.« Er bedauerte nicht. »Ich dachte, ich hörte aus Ihren ersten Worten einen spöttischen Unterton heraus und reagierte ein wenig aggressiv. Das war natürlich töricht von mir.« »Ich glaube, das wird kein Routinegespräch, Mr. Silberstein.« »Ich hoffe es. Wenn Sie schon andere Forschungseinrichtungen besucht haben, sind Sie bestimmt mit den üblichen PR-Methoden vertraut. Ich wollte Sie nicht mit Routine beleidigen, Mrs. Lampton.« Das war nicht die übliche PR-Methode, aber trotzdem PR. Er hatte bereits mit Mrs. Lampton Bekanntschaft gemacht. Bei einem Gespräch, das er im Fernsehen verfolgt hatte. Sie schien zu glauben, daß man am ehesten in einer Atmosphäre der Gereiztheit die Wahrheit herausfinden konnte. In ira veritas. Deshalb beabsichtigte er, in der ihm bevorstehenden Auseinandersetzung mit Mrs. Lampton eine Politik zu verfolgen, die Herausforderung und Schmeichelei klug dosierte, um die Wahrheit erfolgreich zu vernebeln. »Was die Mutter von vier Kindern anbelangt«, sagte Silberstein, »glaube ich nicht, daß das Ihre Schuld ist. Die Zeitungen arbeiten so gern mit zugkräftigen Adjektiven.« »Tatsächlich empfinde ich es nicht als Schande, Mutter von vier Kindern zu sein, Mr. Silberstein.« »Natürlich nicht.« Es war ein Vorteil für ihn, daß sie keinen Sinn für Humor hatte. »Ich dachte nur, es stört Sie vielleicht, daß Sie Ihre Berühmtheit dem verdanken, was Sie sind – nicht wer Sie sind.« »Sie sind ein eigenartiger Mensch, Mr. Silberstein.« »Wieso eigenartig? Weil ich Sie als überdurchschnittlich intelligente Person behandle?« Sie würde Anstoß an dieser Antwort nehmen. Sie würde sie als Grobheit empfinden und sich trotzdem geschmeichelt fühlen. Sie lachte – ein unangenehmes Lachen – und trat ans Fenster. Ihr Urteil stand fest. Mit diesem Mann würde sie leicht fertig werden. Sie blickte hinunter auf das Dorf, das welk und verstaubt unter der gleißenden Sonne schmachtete. Die Hitzewelle dauerte nun schon neunundvierzig Tage. Sie würde mit diesem Dorf genausoleicht fertig werden wie mit seinem Vorsteher. Sie war eine energische, untersetzte Frau, mit vorspringendem Kinn und einem lose sitzenden Seidenkleid, das ihre großen Brüste nicht betonte. »Experimentier- und Forschungsdorf Penheniot …« Sie lehnte sich gegen das Glasfenster. »Eine verschwommene Bezeichnung. Was treiben Sie eigentlich hier?« »Erwarten Sie wirklich von mir, daß ich darauf antworte?« »Natürlich. Sonst hätten Sie mich gar nicht erst empfangen, oder?« Wenn ihr Brief nicht in einem so ungünstigen Moment eingetroffen wäre, hätte er sie bestimmt nicht empfangen. Er hatte einen vorgedruckten Briefbogen in seinem Schreibtisch, der höflich, aber bestimmt, neugierigen Wichtigtuern den Standpunkt klarmachte. Doch ihr Brief traf vier Tage nach der Inspektionsreise des Gründers ein, vier Tage, nachdem der Hund gestorben war, vier Tage nach Roses Varcos Tränen. David Silberstein mußte eine moralische Scharte auswetzen. Mrs. Lampton war Generalsekretärin des Komitees für moralisches Verhalten in der Wissenschaft. Soweit er über ihre Person unterrichtet war, war sie unbeliebt, penetrant neugierig, oft hysterisch. Doch sie vertrat eine Organisation die eine wichtige moralische Funktion erfüllte. Sie war deshalb eine Person, die gefährlich war und trotzdem respektiert werden mußte. Sie hatte an ihn geschrieben, am Tag seiner moralischen Niederlage. Sie hatte von Vorwürfen gesprochen, von Gerüchten, die dem Ruf des Dorfes schadeten. Sie hatte um eine Unterredung gebeten, um eine Chance, sich selbst zu überzeugen … »Ich habe Ihrer Bitte entsprochen, Mrs. Lampton -«, er stockte kurz, weil er seine große Lüge für später aufsparen wollte, »ich habe Sie hier empfangen, weil ich die Arbeit Ihres Komitees sehr schätze und weil ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um diese Arbeit zu unterstützen.« »Alles, was in Ihrer Macht steht … Aber was Sie hier wirklich tun, wollen Sie mir verschweigen.« »Sie haben doch sicher schon von Industriespionage gehört, Mrs. Lampton. Wer gibt mir eine Garantie für Ihre Verschwiegenheit?« »Ich würde meine Arbeit unmöglich fortsetzen können, wenn ich in diesem Punkt fahrlässig wäre, Mr. Silberstein.« Das war die logische Antwort darauf. Silberstein fand, daß er seine Lüge lange genug hinausgezögert hatte. Jetzt würde sie glaubhaft klingen. Deshalb öffnete er ihr sein Herz. »Teleportation, Mrs Lampton. Unser Gründer interessiert sich für die kommerziellen Möglichkeiten der Teleportation.« Sie würde bestimmt das Labor besichtigen wollen. Die Ausrüstung des Labors widerlegte seine Lüge nicht. »Doch bis jetzt ist unser Erfolg noch sehr bescheiden.« »Das klingt nach einem harmlosen Forschungsprojekt. Die Namen klingen immer so harmlos.« »Sie können sich ja selbst überzeugen.« Er spreizte die Finger und deute aus dem Fenster. »Hier stirbt niemand an geheimnisvollen Krankheiten. Wir verpesten nicht die Atmosphäre, treiben keinen Raubbau mit Bodenschätzen und verschandeln nicht die Landschaft. Wir wollen auch keine Macht ausüben, weder politisch noch wirtschaftlich.« »Fürwahr, eine ländliche Idylle.« Mrs. Lampton wendete sich vom Fenster ab und lächelte gefährlich. »Meines Wissens haben Sie keine Erlaubnis für Vivisektionen vom Innenministerium.« »Da wir keine Vivisektionen durchführen, brauchen wir auch keine Erlaubnis dazu.« Und was war mit dem gescheckten Hund? Hatte sie vielleicht etwas davon gehört? »In der Nachbarschaft ist man anderer Meinung.« Wenn sie konkrete Beweise gehabt hätte, hätte sie diese Meinung ausführlich zitiert. »Was die Nachbarschaft vermutet, ist falsch.« »Und wie steht es mit den Lieferungen lebender Tiere?« »Vollkommen aus der Luft gegriffen.« Gott sei Dank. »Ich habe Berichte von Augenzeugen, die die Käfige gesehen haben.« »Tut mir leid, Mrs. Lampton, die Behauptungen stimmen einfach nicht.« Mrs. Lampton versteifte sich nicht auf diese Behauptungen. David Silberstein konnte sich leicht vorstellen, wer ihr diese Behauptungen zugetragen hatte: drogensüchtige Spinner. Sonst wäre Mrs. Lampton mit ihren Zeugen sofort zur Polizei gegangen. Sie wählte einen anderen Angriffspunkt. »In den Akten steht, daß Sie einen eigenen Gesundheitsdienst haben, eigene Ärzte und sogar ein kleines Krankenhaus.« »Richtig. Es wird regelmäßig vom staatlichen Gesundheitsdienst überprüft.« »Weshalb diese betonte Absonderung und Autarkie, Mr. Silberstein?« »Sie haben selbst vier Kinder, Mrs. Lampton.« Er machte eine kurze Pause, damit seine Antwort genau ins Schwarze traf. »Würden Sie Ihre Kinder nicht lieber unter Bedingungen aufwachsen lassen, die eine ausreichende ärztliche Versorgung garantieren? Wo nicht nur ein Arzt auf zehntausend Patienten trifft?« Sie steckte das weg, ohne eine Miene zu verziehen. »Kann ich einmal Ihre Krankenkartei sehen?« »Natürlich. Wir sind hier ein gesunder Schlag. Die Lektüre wird Sie langweilen.« »Wie viele Leute von der Belegschaft sind gestorben, seit dieses Forschungszentrum besteht?« »Keiner.« Tatsächlich waren vierzehn Leute durch Todesfall ausgeschieden. Alles Fälle, die ein untragbares Sicherheitsrisiko darstellten. »Sie haben bestimmt schon unsere Statistik gelesen.« »Sie ist zu gut, um wahr zu sein, Mr. Silberstein. Und was ist dem Mann, den man vor zwei Tagen durch St. Kinnow getragen hat? Der Mann, von dem Ihr Gründer einem Polizisten gegenüber behauptete, er sei tot?« »Mr. Littlejohn macht gern solche Scherze … Der Mann hatte natürlich einen Drogenrausch. Das verstößt gegen unsere Dorfsatzungen.« »Kann ich diesen Mann sehen?« »Natürlich, Mrs. Lampton.« Er machte sich eine Notiz auf seinem Block, als wollte er später auf die Sache zurückkommen. David sah hier nicht das geringste Risiko für ihn und das Dorf. Mrs. Lampton war seiner Einschätzung nach viel mehr an Dingen interessiert, die sie nicht sehen durfte, als an Sachen, die man ihr freiwillig unter die Nase hielt. Schlimmstenfalls war Mervyn unabkömmlich oder unauffindbar. Mrs. Lampton mochte sich dabei denken, was sie wollte. Auf keinen Fall würde jemand vom Dorf sie aufklären. »Dieser Mann nahm also trotz Ihrer Satzungen Drogen zu sich, Mr. Silberstein. Sind Sie deswegen nicht beunruhigt?« »Natürlich macht mir das Sorgen. Aber dieses Dorf ist keine einsame Insel im Meer. Äußere Einflüsse drängen von allen Seiten herein. Vielleicht war seine Neugierde zu groß, um ihr widerstehen zu können. Das ist bedauerlich, doch keine große Überraschung.« »Das hatte ich von Ihnen erwartet, Mr. Silberstein. Ich hingegen begrüße es, wenn junge Leute einen gesunden Drang nach Experimenten verspüren.« (Der gesunde Drang nach Experimenten war eine liberale Phrase für alle möglichen merkwürdigen Exzesse, angefangen bei geschlechtlichen Umtrieben mit Eseln auf dem Strand von Bournemouth bis zum Menschenopfer – nach der schriftlichen Einwilligung des Opfers – bei Antikriegskulten am elften Elften um elf Uhr.) »Leider ist Mervyn nicht mehr so ganz jung, Mrs. Lampton.« Er hätte den Namen nicht erwähnen sollen. Wenigstens hatte er die Zeitform richtig gewählt. Überzeugend sprach er weiter: »Er ist alt genug, um es besser zu wissen und sich an die Regeln zu halten. Er sollte wissen, daß die Gesetze dem Menschen nur helfen.« »Ich will mich nicht mit Ihnen darüber streiten. Mr. Silberstein.« Er hatte dieses mitleidige Lächeln bei ihr schon oft auf der Mattscheibe seines Fernsehers gesehen. »Einrichtungen wie Ihr Dorf ziehen immer reaktionäre Elemente an.« Er muckte nicht auf. Solange sie glaubte, sie wäre die Überlegene, konnte er ganz beruhigt sein. »Wenn Sie keine Fragen mehr haben, führe ich Sie gern im Dorf herum.« »Ich hörte, daß Ihre Männer vor ein paar Tagen in eine Straßenschlacht in St. Kinnow verwickelt waren.« Sie war auf ihren Besuch gut vorbereitet worden, das mußte man ihr lassen. »So etwas kommt öfters vor. Wir haben schon Schlimmeres erlebt.« »Woher kommt es, daß dieses Dorf bei der Stadtbevölkerung so unbeliebt ist?« »Wenn wir bei der Stadtbevölkerung unbeliebt wären, Mrs. Lampton, dann hätten wir das sicher nur Leuten wie Ihnen zu verdanken. Leuten, deren Eifer gegen soziale Mißstände so weit geht, daß sie auch dort den Teufel sehen, wo er gar nicht ist. Tatsächlich ist Ihre Frage gegenstandslos. Wir sind keineswegs unbeliebt in St. Kinnow.« »Was mir von dieser Straßenschlacht berichtet wurde, Mr. Silberstein, klingt nicht nach brüderlicher Nächstenliebe!« »Die Rädelsführer waren ortsfremde Personen, Touristen, ohne Zweifel Leute, die einen gesunden Drang nach Experimenten verspürten.« Er konnte ihr mit genauso billiger Münze zurückzahlen. »Fünfzehn Leute kamen dabei um, Mr. Silberstein. Besser gesagt, sie wurden von Arbeitnehmern Ihres wertgeschätzten, humorbegabten Gründers ermordet.« »Zwölf Menschen, Mrs. Lampton. Zwölf Menschen und drei vollkommen unschuldige Sicherheitsbeamte.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen daß der gesunde Drang nach Experimenten oft teuer zu stehen kommt.« »Für mich jedoch ist dieser Aufstand ein Beweis, daß ich richtig handle, wenn ich mit dem Finger auf dieses Dorf zeige und einen Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit entfache. Er beweist mir, daß Sie sich wie fast alle Wissenschaftler gegenüber der Gesellschaft und der Umwelt verantwortungslos verhalten. Und zwar kriminell verantwortungslos!« Solche Schlußfolgerungen gehörten zu den Höhepunkten von Mrs. Lamptons Fernsehauftritten. Leider schauten ihr jetzt nicht Millionen zu. David stand auf, ging zur Tür und sagte: »Wollen wir jetzt nicht einen kleinen Rundgang durch das Dorf machen?« Während er Mrs. Lampton von Station zu Station begleitete – vom Elektrizitätswerk zu den Werkstätten und anschließend zum Supermarkt –, kehrten seine Gedanken zu der Besichtigungstour zurück, die er vor vier Tagen mit Manny Littlejohn veranstaltet hatte. Im Vergleich zu Manny Littlejohn war Mrs. Lampton ein reines Vergnügen. Der Gründer, der von dem Erlebnis mit dem gescheckten Hund so geschockt war, daß er sich nur durch Aggressionen wieder abregen konnte, hatte um sich gebissen wie ein tollwütiger Hund. Die Maibaumfeier hatte er mit einer kurzen Ansprache über Zeitverschwendung in Industrieunternehmen im Keim erstickt. Paul Kronheimer (und das öffentliche Vertrauen zu Kronheimers Bank) hatte er mit der Aufforderung vernichtet, ihm einen genauen Kontoauszug von jedem Arbeitnehmer zuzuschicken. Wofür das gut sein sollte, wußte niemand zu sagen. Die Frau des Chefingenieurs – eine attraktive, aber etwas unsichere Blondine – hatte Manny Littlejohn am Boden zerstört, indem er ihr laut und vernehmbar zuraunte, daß sie sich entweder einer Schönheitsoperation unterziehen oder Kleider anlegen sollte. Und so weiter, und so weiter. Selbst Josephs meisterhaftes Dinner, so koscher wie es nur koscher sein konnte, fand vor den Augen des Gründers keine Gnade. Der Höhepunkt von Littlejohns einfallsreicher Boshaftigkeit war die Begräbnisfeier, die er persönlich für den toten Sicherheitsagenten organisierte. Mervyn kam unter die Erde des kleinen Friedhofs unter den Bäumen, der gleichzeitig als Gemüsegarten für das Krankenhaus verwendet wurde. Es war ein Triumph des schlechten Geschmacks. Der Gründer bestand darauf, die Leichenrede selbst zu halten, und sprach mit Rührung und drohend erhobenem Zeigefinger. Mervyn, sprach er, wäre nicht das Opfer seiner eigenen Dummheit, sondern einer Krankheit geworden, die das ganze Dorf ergriffen hätte. Die Arbeitsmoral sei niedrig, Ideale vergessen, Bequemlichkeit und Zeitschinderei hielten überall Einzug. Er hoffte, sagte er, während die Sonne blutrot hinter den Baumwipfeln unterging, er hoffe, daß Mervyn nicht vergeblich gestorben sei. Sonst – seine Stimme sank zu einem traurigen Flüstern herab – sonst sei die Fortführung des ganzen Projekts gefährdet. Am Schluß seiner Rede bückte er sich, hob einen kleinen Kieselstein auf und legte ihn, ein Jahr zu früh, auf Mervyns Grabhügel. Es war eine Geste, die niemand – besonders Professor Krawschensky nicht – mißverstand. Mrs. Lampton, Davids schmerzliche Erinnerungen unterbrechend, deutete auf einen Platz unter den Bäumen hinter dem Krankenhaus. »Was ist das?« fragte sie. »Gemüse«, sagte David Silberstein, »nur Gemüse. Der Arzt und seine beiden Schwestern bauen es für ihren eigenen Bedarf an.« »Natürliche Düngemittel hoffentlich?« »Selbstverständlich.« Kein Düngemittel konnte natürlicher sein als Mervyn und seine dreizehn untragbaren Schicksalsgenossen. »Obwohl manchmal die Chemikalien, die die Bauern ringsum verwenden, bis hierher geweht werden.« »Es hat keinen Sinn, die Bauern dafür verantwortlich zu machen, Mr. Silberstein. Sie bedienen sich nur der Werkzeuge, die die Wissenschaft ihnen liefert.« Er führte Mrs. Lampton ins Krankenhaus, wo sie die Krankenkartei studierte. Eine Blinddarmoperation, ein paar resistente Fälle von Syphilis, ein paar Kranke, die an Umweltverschmutzung litten – alles Routinesachen. Die Dorfbewohner waren, wie der Projektleiter bereits erwähnt hatte, ein gesunder Schlag. Todesfälle wegen untragbaren Sicherheitsrisikos wurden nicht behandelt und deswegen auch nicht in der Kartei geführt. Die nächste Station waren die Werkstätten. Mrs. Lampton erwartete dort wohl schlecht abgeschirmte Isotopen und nachlässig verwahrte Bakterienkulturen. Aber in Wirklichkeit entdeckte sie dort nur frischgezimmerte Pulte für die Dorfschule und zwei Leute, die eine Kaffeemühle reparierten. Dann kamen die Quartiere der Chrononauten, die vom Projektleiter als Technologen in der Ausbildung ausgegeben wurden. »Sie sehen mir mehr wie Angehörige der Hitlerjugend aus«, meinte Mrs. Lampton bissig. Doch mit sechs Leuten konnte man noch keine Privatarmee aufbauen oder subversive Politik treiben. David ließ Mrs. Lampton alles sehen, was sie wollte, und überall fragte sie die gut vorbereiteten Dorfbewohner aus. Irgendwelche rätselhafte Krankheiten? Tiere, die für perverse Dinge mißbraucht wurden (wissenschaftlich perverse Dinge)? Irgendwelche Eingriffe in die Freiheiten des Individuums? Der Projektleiter hatte von seinen Leuten nichts zu befürchten. Von einer Ausnahme abgesehen. Und diese Ausnahme, der persönliche Freund des durch unglückliche Zufälle vivisektierten Hundes kam genau in dem Augenblick aus der Bücherei gestolpert, als Mrs. Lampton vorbeikam. Und er wurde seltsamerweise von Liza Simmons begleitet. Selbstverständlich redete Mrs. Lampton Roses Varco sofort an. Er versteckte sein Buch mit Science-fiction-Comics hinter dem Rücken und glättete mit feuchter Hand sein Haar. Er identifizierte Mrs. Lampton auf Anhieb als Sozialarbeiterin. David Silberstein seufzte. »Mrs. Lampton, das ist Liza Simmons, Assistentin im Labor, und das hier ist Roses Varco.« »Guten Tag, Mr. Varco«, zirpte sie, sich sofort den Empfänglicheren heraussuchend. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie lange Sie schon hier arbeiten?« »Arbeiten?« Ein typisches Sozialarbeiterwort. Sein Verstand entwich, als habe sein Schädel plötzlich überall Spalten und Risse. »Ich? Arbeiten?« »Aber, aber, Mr. Varco«, sie argwöhnte Vernebelungstaktik, die sie bisher vergeblich gesucht hatte. »Sie haben doch irgendeinen Job, den Sie hier in Penheniot ausfüllen.« »Job?« Erst vor kurzem hatte ihn jemand schon einmal nach seinem Job gefragt. Es erinnerte ihn … es erinnerte ihn … es erinnerte ihn an den Gründer. An die Dorfkapelle, den Maibaum, das Labor und den gescheckten kleinen Hund. Was an Verstand noch übriggeblieben war, entwich noch rascher. »Job? Ich weiß nichts von einem Job.« Er griff sich an den Hals. »Alles, was ich weiß, ist … Nun, wie sollte ich denn das wissen? Ich hatte keinen Grund … ich hob ihn eben einfach hoch … Woher sollte ich denn wissen, daß er … nun, er hat doch so schlimm …« Seine Augen füllten sich mit Tränen, und die Erinnerung übermannte ihn, daß er keinen Ton mehr herausbekommen konnte. Es war schon fast ein Wort zuviel gewesen, und Mrs. Lampton roch sofort den Braten. Sie wurde liebenswürdig. Professionell liebenswürdig. »Nun beruhigen Sie sich erst einmal, Mr. Varco. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Erzählen Sie mir, was er getan hat. Kein Mensch wird Ihnen einen Vorwurf machen.« Professionell liebenswürdig … Selbst in seiner momentanen Erschütterung verfügte Roses noch über ein genaues, intuitives Gespür. Da waren Untertöne, die er schon früher einmal gehört hatte, Töne, die ihn arglos machen sollten, Töne, die in ihm sofort das Mißtrauen der schutzlosen Kreatur weckten. Liza und David Silberstein warteten inzwischen in quälender Angst auf seine Antwort. Sie ahnten nicht – niemand konnte das ahnen –, was für Bilder sich in seinem Gedächtnis formten: die energische junge Dame, professionell liebenswürdig, die im Flur vor seiner Küche stand, die Männer professionell liebenswürdig, die ihn später in ihre Obhut nahmen; das Irgendwo, professionell freundlich, das sich später als Hospital entpuppte; dann das Ausziehen, die Scham und die Dinger aus buntem Plastik, die irgendwie nie in die Löcher hineinpassen wollten, das Tuscheln, professionell liebenswürdig, hoch über seinem Kopf, das er trotzdem genau verstand (sollte man ihn einsperren oder sollte man nicht?) – all das hörte man ganz deutlich aus Mrs. Lamptons Stimme heraus. Mrs. Lampton war eine Falle. »Was er getan hat?« Falle: Fragen mit Fallen dahinter schlossen die Gedanken kurz. »Was er getan hat? Er hat nichts getan. Weiß gar nicht, was Sie meinen. Hat niemand etwas getan. Ist immer dasselbe – fragen, bohren. Man soll einen in Ruhe lassen, sage ich. Jawohl, man soll die Leute in Ruhe lassen. Hat trotzdem keinen Zweck. Sie lassen einen nicht, sie lassen einen nicht, sie lassen einen …« »… aber Mr. Varco, ich …« David ließ es geschehen, daß sie sich abstrampelte. Sie trieb ihn immer weiter in ein unfaires, aber nützliches Chaos totaler Schwachsinnigkeit hinein. Schließlich konnte er es nicht mehr länger ertragen. Er rannte fort, kaum noch in der Lage, seine Bewegungen zu koordinieren. Liza entschuldigte sich und lief ihm nach. »Er ist sonst gar nicht so geistig verwirrt«, sagte David, während er sich in Gedanken damit beschäftigte, warum Liza sich so um Roses bemühte. »Ich glaube, er dachte, Sie wollten ihn in die Enge treiben.« »War er schon immer in diesem Zustand?« »Schon immer. Er hauste hier in einer Ruine, deswegen ließen wir ihn hier weiter wohnen. Der Gründer hat ein menschliches Herz.« »Sind Sie sicher, daß sein Zustand sich nicht erst später verschlimmert hat? Als Folge Ihrer Forschungsarbeit?« »Wenn Sie mir nicht glauben wollen, können Sie sich ja in St. Kinnow erkundigen. Er ist hier geboren und wohnte schon immer hier. In St. Kinnow kennen ihn alle.« »Ich verstehe.« Mrs. Lampton hütete sich, ihren Argwohn deutlicher zu zeigen. Sie glaubte, auf Gold gestoßen zu sein. Aber es war nur Eisenpyrit. David Silberstein begleitete Mrs. Lampton weiter durch das Dorf, während sein Blick zu dem Gattertor hinüberglitt, durch welches Roses verschwunden war, gefolgt von Liza. Das war nicht gerecht (richtig?). Nun, es schickte sich nicht, paßte nicht, war gesellschaftlich nicht akzeptabel. Er zensierte das Bild seiner Phantasie von den Dingen, die im Labor geschehen konnten, bevor es erregende Dimensionen bekam, und öffnete die Tür zur Poststelle. Liza hatte bisher keine Vorstellung von Roses’ Wohnung besessen. Die kleine Küche mit den Säcken als Vorhang war ein schockierender Anblick. Er versetzte sie in mittelalterliche Verhältnisse, die abstoßend, ansteckend wirkten. Ein Mann, der hier leben konnte, konnte ja kaum noch ein Mensch sein. Und Roses Varco glich in diesem Augenblick auch kaum noch einem Menschen. Er zuckte und stieß unzusammenhängende Laute aus. Trotzdem blieb sie bei ihm. Er saß am Tisch. Als sein Geist zurückkehrte – ohne den gescheckten Hund, ohne Erinnerung an Mrs. Lampton –, wollte das Mädchen gerade seinen Kessel auf den Spirituskocher stellen. Was ihre Bewegungen darstellten, verstand er nicht. Bis er endlich begriff, daß sie den Spiritusbrenner anzünden wollte, und nicht wußte, wie er funktionierte. Er zeigte es ihr, geduldig, ohne Worte, wie man es ihm vor langer, langer Zeit gezeigt hatte. Er hielt ihr die Spiritusflasche unter die Nase, damit sie riechen konnte, was das war. Dann goß er etwas Spiritus in die Pfanne und zündete ihn mit übertriebenen Gesten an. Dann zog er die Ventilschraube an und pumpte Luft hinein, bis ein Kranz von purpurroten Flammen aus dem Gasring loderte. Er wich einen Schritt zurück, als die Demonstration beendet war, und lächelte, lächelte … Der Kessel summte, und mit viel Zucker und heißem Wasser bereitete er Kakao. Man hatte ihm emaillierte Becher gegeben, die er wie einen Schatz hütete. Seine Konservenbüchsen hatten keine Henkel und verbrannten ihm oft die Fingerspitzen. Er reichte dem Mädchen einen Becher voll heißen Kakao, den sie nicht ablehnen konnte. Er erinnerte sich wieder, daß er von ihr weggerannt war, und war jetzt imstande, sich dafür zu entschuldigen. »Tut mir leid, daß ich weggerannt bin«, sagte er und glättete die Science-fiction-Comics auf den Knien. »Aber mit manchen Leuten kann man nicht reden. Sie setzen einem zu und behaupten Sachen, die man nie gesagt hat. Dann, ganz plötzlich, schnappt das Eisen zu, und dann haben sie dich. Sie wissen ja, wie das ist, Miß. Sie wissen, wie das ist.« Liza, die sich auf ihrer Ebene dauernd vor Fehlinterpretationen hüten mußte, wußte, wie das ist. Sie nickte. Sie griff nach dem Löffel in seinem Becher – eine Geste des Vertrauens – und rührte damit ihren Kakao um. Sie hob den Becher an den Mund. Das Getränk war viel besser, als sie gedacht hatte. Er sah ihr beim Trinken zu, als wäre sie ein Kind oder ein junges Kätzchen. »Das tut Ihnen gut«, meinte er, »bringt Mark in Ihre Knochen.« Redensarten, die er von seinem Vater gelernt hatte und in Situationen verwendete, die Vertrauen schaffen sollten. »Dann gehen wir in den Wald, wo wir vorhin hingehen wollten. Dann zeige ich Ihnen die Kaninchen.« Er leerte den Becher mit einem Zug, obwohl der Kakao glühend heiß war. Kaum menschlich … auch der Rülpser nicht, der darauf folgte. Sie unterdrückte diesen Gedanken. Dieser Widerwille, dieses vornehme sich Zieren war ein Erbe von ihrer Mutter. Es hing ihr um den Hals wie ein Mühlstein. Er mußte etwas gemerkt haben. »Meine Wohnung«, sagte er. »Gefällt sie Ihnen?« »Sie ist sehr nett.« »Sie sind wahrscheinlich etwas anderes gewohnt. Aber mir – mir gefällt sie.« War ihm plötzlich ihre Einsamkeit, ihre Abwehr inmitten dieses uralten, speckigen Plunders bewußt geworden? Sie setzte sich, um ihn nicht weiter aufzuregen. »Mir gefällt es hier, sage ich Ihnen. Es gefällt mir. Ist alles, was ein Mann zum Leben braucht.« Er schritt auf und ab in dem halbdunklen Raum, als ob seine Worte noch eine gewaltsame Bestätigung brauchten. »Hat auch meinem Vater gefallen. War alles, was er brauchte. Bis er sich im Wald umbrachte.« »Ich habe dir schon gesagt, Roses, es ist sehr nett hier.« »Nett, sagen Sie. Die da draußen hätte dasselbe gesagt – nett. Nett, sehr nett.« Er starrte sie an, forderte sie auf, ihrer Behauptung Wahrheit einzuhauchen. Ihn nicht mit Phrasen abzuspeisen, die auf ihn wie eine Beleidigung wirkten. Er forderte sie heraus, sich von dieser Mrs. Lampton zu unterscheiden. Sich deutlich von ihr abzusetzen. Er war sein Zimmer, und sein Zimmer war er. Sie würde das auf ihrer Ebene in gewisser Hinsicht nie schaffen. Gedrängt (und voller Fürsorge) tat sie das in dieser Situation einzig Mögliche, sie ließ den Becher auf dem Tisch stehen, stand auf, ging zum Ofen, wo er die Holzasche zusammenkratzte, legte ihre Arme um seine Hüften und legte den Kopf an seine Brust. Seine Wärme war ungeheuer, und sein Atem, sein Geruch und das Pochen seines Herzens. Sie fühlte, wie er erbebte. Sie spürte, wie er den Atem anhielt. Er wartete, von beinahe chaotischer Angst erfaßt, daß sie ihn wieder loslassen sollte. Sie tat es. Obwohl sie sich jetzt wieder umdrehen, zu ihrem Stuhl zurückgehen und den Kakao austrinken konnte, konnte sie ihm die nächsten Minuten nicht ersparen. Sie wußte nicht, wie sie das hätte tun können. Vielleicht rannte er zum zweitenmal von ihr weg. »Weiß nicht, warum Sie das tun, Miß.« Er blieb. »War kein Grund dazu, Miß.« »Warum nennst du mich nicht Liza?« »Weshalb?« Eine gute Frage. Nichts war bei ihm möglich. Er war achtunddreißig Jahre lang hinter der schützenden Mauer seiner Idiotie eingesperrt gewesen. Achtunddreißig Jahre hatte er in Schmutz und Scham gelebt. Er hatte nur mit sich verkehrt. War das hinreichend, was sie ihm zu bieten hatte? Sie beherrschte sich, unterdrückte eine Gereiztheit, die sie nur selbst treffen konnte. Sie konnte doch wenigstens vermeiden, die gleichen Fehler zu machen wie Mrs. Lampton. »Lassen wir das. Vielen Dank für den Kakao. Wollen wir jetzt gehen und die Kaninchen beobachten?« Auf dem Weg ins Freie trafen sie bedauerlicherweise wieder mit David und Mrs. Lampton zusammen, die das Labor besichtigen wollten. Roses hätte sich an ihr vorbeigedrängt, doch sie verstellte ihm den Weg. »Mr. Varco«, sagte sie, »ich hoffte, daß ich Sie noch einmal sehen würde. Ich wollte Ihnen sagen -«, er versuchte vergeblich, sich zwischen ihr und der Gartenmauer hindurchzuzwängen, »ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid es mir tut, daß ich Sie so aufgeregt habe. Das Leben hier muß für Sie ohnehin schon eine Last …« Liza ließ sich im Gegensatz zu Roses nicht von diesem Manöver des Wohlwollens einschüchtern. »… wollen Sie uns bitte vorbeilassen?« unterbrach sie. »Ich spreche mit Mr. Varco, meine Liebe. Ich glaube nicht …« »Er möchte jetzt nicht angesprochen werden, Mrs. Lampton. Das sehen Sie doch ganz deutlich!« »Es wäre mir lieber, er würde mir das selbst sagen, meine liebe.« Doch sie schwankte, als Liza sie mit kalter Feindseligkeit betrachtete, und Roses zwängte sich vorbei. Liza folgte ihm. Mrs. Lampton fing Roses noch einmal am Gartentor mit dem Lasso einer klug berechneten Reaktion ein: »Mr. Varco, warten Sie noch einen Moment!« Er blieb stehen, wie sie erwartet hatte. »Sie sind doch nicht zufällig ein Jude, oder?« Roses starrte die Blumen an, die im Garten wuchsen. Ehe er darauf antworten konnte – und seit Liza ihn beschützte, hatte er keine Angst mehr vor der Antwort –, hätte er Mrs. Lampton fragen müssen, was ein Jude ist. Dazu brauchte man Worte, ganze Sätze. Und in seinem Kopf war nur ein gleißendes Flimmern von Sonnenlicht und Blüten. »Ich dachte mir schon, daß Sie kein Jude sind«, sagte Mrs. Lampton. »Sie sollen wissen, daß Sie hier nichts zu befürchten haben. Sie haben jetzt einen Freund in der Außenwelt! Sie brauchen keine Angst zu haben!« Er blieb immer noch stehen, nicht begreifend, daß er entlassen war. Liza führte ihn mit sich fort. Sie ignorierte den sonderbaren Blick, den David ihr zuwarf. Sie mußte Roses vor Mrs. Lampton in Sicherheit bringen, die sie mit einer Heftigkeit haßte, als müßte sie ihr eigenes Kind vor ihr schützen. Und Mrs. Lampton … Mrs. Lampton schloß ihre Besichtigungstour nun in Begleitung von Professor Krawschensky ab. Sie plauderte mit ihm, lachte über seine komische Uhr, ging mit ihm zum Kai zurück und war so bezaubernd und aufgeräumt wie eine Katze, die ihre Krallen eingezogen hat. Die Hügel über Penheniot waren steil und mit Zwergeichen bewachsen. Liza mußte sich oft bücken, um unter den Zweigen hindurchzukommen. Auch unter dem dichtesten Gestrüpp war der Boden jetzt nach den langen, regenlosen Wochen trocken. Das Moos staubte von den Stämmen, die sie streiften. Fliegen folgten ihnen, durstig nach ihrem Schweiß. Es war keine Wanderung durch die Natur, wie Liza sich das vorgestellt hatte. Oben auf dem Kamm des Hügels, hinter den versteckten elektrischen Sensoren, hatte man eine breite Lichtung in den Wald geschlagen, die sich zu beiden Seiten des elektrischen Zaunes ausdehnte. Winzige Ginsterbüsche und Gras hatten sich hier inzwischen breitgemacht. Roses deutete auf die Losung der Kaninchen und auf einen kleinen Hügel, der gesprenkelt war mit den Höhleneingängen der Kaninchen. »Sie haben uns kommen hören. Wenn wir lange genug warten, kommen sie wieder heraus. Ein Stück weiter oben ist eine Quelle.« Zwischen den Ginsterbüschen schlängelten sich ein paar Fußpfade. Und in der Mitte der in der Sonne flirrenden Lichtung dehnte sich der Zaun, ein täuschend harmloses Gebilde aus Draht. »Die wissen jetzt über den Zaun Bescheid«, sagte Roses. »Halten Abstand davon.« Liza war außer Atem. »Können wir hier warten, bis sie wieder herauskommen?« fragte sie atemlos. »Sind ja deswegen hierhergekommen.« Er kauerte sich nieder. »Müssen ganz still sein, verstanden? Die hören uns auch unter der Erde. Sie haben schlechte Augen. Die Nase ist auch nicht viel besser. Aber hören tun die wie die Füchse.« Sie suchte sich einen Fleck aus, wo sie sich niedersetzen konnte. Die Fliegen versammelten sich in Scharen um sie. Sie sah zu, wie Roses geduldig still hielt, nur ab und zu mit der Wange zuckte wie ein Pferd. Das Schweigen war total und so drückend wie die Hitze. Im letzten Jahr hatten hier noch zwei Bussarde gekreist, wie sie sich erinnerte. Doch in diesem Jahr blieb der Himmel leer. Sie verlagerte ihr Gewicht auf einen Ellenbogen. Laub knisterte. Roses runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Sie fragte sich jetzt, weshalb sie überhaupt hierhergekommen war. Als Roses seinen Vorschlag machte, klang es nach einem guten Einfall, den sie nur auf seine Kosten ablehnen konnte. Sie war moralisch verpflichtet, sich für Kaninchen zu interessieren, wie alle Zeitgenossen. Aber kam ihr Interesse aus echtem Engagement? Hatte sie nicht immer nur an theoretischen, abstrakten, numerischen Begriffen gehangen? Liebe, kleine Kaninchen – was für einen Nutzen konnte ihr die Betrachtung dieser Kleinen bringen, abgesehen von einem Gefühl des unwiederbringlichen Verlustes? Wenn Roses’ Einfalt nur ein Ausdruck von Weisheit gewesen wäre. Wenn er sie nur hätte zur Einfachheit überzeugen können … Ihre Gedanken vertieften sich in das Rätsel Roses, ohne daß es ihr bewußt wurde. Endlich kamen die Kaninchen ins Freie. Die älteren saßen eine lange Zeit an einem Fleck, die steifen Ohren schräg auf den Boden gerichtet, manchmal in ihre Richtung blickend, ohne etwas Beunruhigendes zu sehen. Die jüngeren wagten sich schon tollkühn heraus. Sie hoppelten nach typischer Hasenmanier herum, jagten sich, zupften Gras, lagen japsend unter der Sonne. Viele waren verkrüppelt. Ihnen fehlte meistens ein Bein, doch bewegten sie sich auch so ganz leidlich durchs Gelände, da es keine Wiesel, Füchse und Marder mehr gab. Die schwerer betroffenen Jungkaninchen würden zweifellos sterben, wenn sie entwöhnt waren, weil sie nicht weit genug laufen konnten, um ausreichend Futter zu finden. Das Dioxin, das die Bauern versprühten, war an diesen Geburtsschäden schuld. Es wirkte genauso unberechenbar auf Nachkommenschaft wie vor vielen Jahren das Thalidomid. Liza überlegte, wie die Eltern mit so viel Fehlgeburten fertig wurden. Scharrten sie wohl in den Höhlen ein und zogen weiter … Roses hatte sie davor gewarnt. Vielleicht meinte er, es lohnte gar nicht mehr, so etwas zu erwähnen. Während ihre Gedanken wieder wanderten, sich mit dem sinnlosen Leiden junger Kaninchen, das ihnen so vollkommen unbewußt blieb, beschäftigte, waren sie plötzlich wieder wie vom Erdboden verschluckt. Im Schatten des Elektrozauns war das Gras ganz ruhig und unberührt, war es immer gewesen. Roses berührte ihren Arm und deutete dann den Trampelpfad hinunter, der sich zwischen gekappten Bäumen verlor. Ein Mann kam langsam auf sie zu, Sir Edwin, der Ausbildungsleiter der Chrononauten, im konservativen grauen Anzug. Er pfiff leise vor sich hin, während er näher kam. Liza konnte sich immer noch verstecken, konnte auch auf ihre Entdeckung warten oder ihr zuvorkommen, indem sie ihn anrief, um jedes Schuldbewußtsein auszuschließen. (Schuldbewußtsein? Hatte sie dazu überhaupt einen Grund?) Sie entschied sich trotzdem für die dritte Möglichkeit. »Überprüfen Sie unseren Schutzzaun, Sir Edwin?« rief sie. »Sie können einen wirklich aus der Fassung bringen, Liza Simmons«, erwiderte der Ausbildungsleiter. Doch er drehte ihr ziemlich langsam den Kopf zu, als habe er sich immer unter Kontrolle. »Sie tauchen an den verrücktesten Plätzen auf.« »Wir haben Kaninchen beobachtet«, sagte Liza. »Roses hat mich hierhergeführt, damit wir Kaninchen beobachten können.« »Das klingt so unwahrscheinlich, meine Liebe, daß es nur die Wahrheit sein kann.« Und warum sollte es nicht wahr sein? Und warum fühlte sie sich überhaupt verpflichtet, ihm einen Grund zu nennen? Sie stand auf und half auch Roses auf die Füße. Das Dorf hatte zwischen sie ein Messer des Standesunterschiedes geworfen. Sie fühlte sich wieder unsicher. »Auch Sie, Sir Edwin, sind ziemlich weit vom Mannschaftsraum oder der Salonbar entfernt.« Er nahm ihre Grobheit mit einem milden Lächeln hin. »Sie sind nicht nur verwirrend, sondern auch mit einer scharfen Zunge begabt«, sagte er. »Sehen Sie wirklich nur einen Mann in mir, der von Bar zu Bar torkelt?« Natürlich sah sie ihn nicht so. Er war vielleicht ein Geck, aber beileibe kein Dummkopf. Doch sie konnte ihr Wort nicht ganz zurücknehmen. »Gehört das Trinken nicht zu den Methoden der klassischen Diplomatie?« sagte sie. Er zuckte nur die Achseln, nahm schweigend ihre Entschuldigung an. Das war schon eine eigenartige Konversation zwischen den gekappten, staubgepuderten Bäumen und dem schweigenden Zaun. »Unten im Dorf ist eine fremde Dame«, sagte Sir Edwin, wollte damit vielleicht andeuten, daß er vor dieser Person hier herauf in den Wald geflüchtet war. »Sie will uns wohl Knüppel zwischen die Beine werfen. Wundere mich, daß der Projektleiter sie ins Dorf gelassen hat.« »Wieso Knüppel?« »Sie ist in einer schwierigen Lage, diese Dame. Intelligent genug, um die miserable Verfassung unserer Gesellschaft richtig einzuschätzen, doch dumm genug, ein paar Sündenböcke für diesen Zustand zu suchen. Ich traue ihr nicht über den Weg.« Roses wußte, von wem sie sprachen. Vor Sir Edwin hatte er keine Scheu. Sie hatten oft miteinander gesprochen, als er am Kai fischte. »Mistvieh« sagte er und hieb die Kappe seines Schuhs in den Waldboden. »Leider verfügt sie über viel Macht. Wir müssen in Zukunft noch vorsichtiger sein.« Doch der Zaun war ja neben ihnen mit Strom geladen, um solche Leute wie Mrs. Lampton vom Dorf fernzuhalten. Plötzlich fühlte sich Liza wohl in seinem Schatten. Der Zaun war zu ihrem Schutz errichtet worden. Auch die Sensoren und andere Dinge, die man ihr allerdings verschwieg. »Wir sind immer vorsichtig«, sagte Liza dann, »ich glaube nicht, daß wir von der Dame viel zu befürchten haben.« Sir Edwin blickte ihr fast eine halbe Minute lang ins Gesicht. Das Schweigen ist auch eine Art, einem Widersprechenden sein Mißfallen zu zeigen. »Nun«, sagte er schließlich, »ich verderbe Ihnen Ihre Flucht zurück zur Natur. Wiedersehen, ihr beiden. Und viel Glück bei der Beobachtung der Kaninchen!« Wenn sich ein Mann und eine Frau auf einer versteckten Lichtung trafen, wertete er das nicht mit einer Anspielung oder einem spöttischen Unterton aus. Er war ein Mann, der sich von Berufs wegen jeder Lage anpassen mußte, und er hatte sich auch den neuen Freiheiten angepaßt, bis sie zu seinem Wesen gehörten. Darin unterschied er sich vom Professor. Und von David Silberstein. Er nickte Roses und Liza kurz zu und ging weiter. Vielleicht sah er – wie Liza – im Zaun die Garantie seiner Sicherheit. Vielleicht auch die Stäbe eines Käfigs. Der Pfad schlängelte sich an den Bäumen entlang. Bald war Sir Edwin außer Sicht. Liza war er so gleichgültig wie Mrs. Lampton. »Wir haben genug von den Kaninchen gesehen«, sagte sie. »Wenn du nichts Besseres mehr vorhast, gehe ich jetzt zurück ins Labor.« Roses spürte ihre Gereiztheit. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür. In Zukunft wollte er sich lieber an seine Schwäne halten. Am Kai hatte sich David Silberstein inzwischen von seiner Besucherin verabschiedet. Sie hatte es so eilig, das Dorf zu verlassen, daß David Schwierigkeiten voraussah. Es war bereits Feierabend. Ein paar Leute vom Dorf schwammen im tiefen Wasser vor dem Kai. Sie kreischten, tauchten und planschten um die Wette. Trotz der Hitze spürte Silberstein kein Verlangen, sich dem Badevergnügen anzuschließen. Er liebte das Wasser auf eine sanfte Art – das Spiel der Wellen, das Plätschern unter dem Kiel, das Rinnen der Tropfen über die Hand. Doch der Konfrontation mit dem nassen Element ging er aus dem Weg – das Knacken in der Ohrmuschel und die kühle, totale Nässe, der man sich beim Schwimmen aussetzen mußte, behagten ihm nicht. Und das Paddeln, das ihm vielleicht Spaß gemacht hätte, vertrug sich nicht mit seiner Stellung. Deshalb setzte er sich auf eine Bank und genoß die Badefreuden nur akustisch. Nach einigen Minuten stieg Daniel aus dem Wasser, ließ dunkle, nasse Spuren auf den gebleichten Kieselsteinen zurück. David mochte Daniel nicht. Die ausrasierten Schamhaare und die Tätowierungen waren ihm widerwärtig. Er schüttelte sich wie ein Köter und frottierte sich den Rücken. Dann legte er seine Sandalen und das Schulterhalfter für seinen Schreibstift an. Er lümmelte sich neben David auf die Bank und strich sich die letzten Tropfen aus dem Spitzbart. »Das erstemal, daß ich mich den ganzen Tag abkühlen konnte«, sagte Daniel und ließ seine Zehen rollen. »Ein großartiges Gefühl. Sollten auch mal baden.« »Später«, murmelte David. Schließlich war er nicht schlechter gebaut als Daniel. »Habe noch nie einen so heißen Sommer erlebt«, sagte Daniel. »Großartig. Das Wetter soll noch einen Monat so bleiben.« »Das zöge auch Versorgungsprobleme nach sich«, meinte David, »verstopfte Kläranlagen.« »Typisch für dieses Land«, erwiderte Daniel. »Ein paar Zentimeter Schnee, und schon sind die Straßen verstopft. Zwei Tage Sonne, und die Wasserleitungen keuchen und spucken. Warum bewältigen wir nie unser Wetter und lassen uns jedesmal von neuem überraschen?« David wollte nicht pedantisch sein. Also unterdrückte er den Einwand, daß die Hitzeperiode bereits neunundvierzig Tage anhielt. Daniel betrachtete seine Zehen, blickte auf seine Uhr und schneuzte sich in sein Handtuch. »Haben Sie vielleicht Liza Simmons irgendwo gesehen?« fragte er dann. Was für ein Recht hatte Daniel, ihm so eine Frage zu stellen, dachte David. Er habe sie zum letztenmal mit Roses Varco zusammen gesehen, erwiderte er gelangweilt. »Sie steckt viel zu oft mit dem Trottel zusammen. Ich sehe Unheil voraus.« »Ich verstehe nicht, wie Sie zu dieser Behauptung kommen.« Der gelangweilte Ton gelang ihm diesmal nicht so ganz. »Wie ich dazu komme? Na hören Sie mal! Wenn der Kinder zeugt, haben die bestimmt den gleichen Dachschaden wie er. Ein Schwachsinniger in Lizas Familie – na, danke schön!« »Es wird keine Familie geben. Schließlich bekommt er die Pille wie wir alle.« »Hat jemand gesehen, daß er sie auch nimmt?« »Wir – äh – hielten in seinem Fall eine Kontrolle für nicht so wichtig.« Daniel lachte laut, als ob er eben den köstlichsten Witz seit Monaten gehört hatte. David biß sich auf die Lippen. Das war ein Verwaltungsproblem, hatte nichts mit der Vorstellung zu tun, wie sich Liza (seine Liza?) mit diesem stinkenden Dorftrottel paarte. »Liza ist eine vernünftige Frau. Sie würde niemals so ein Risiko eingehen.« »Sie würde sich diese Konsequenzen überhaupt nicht überlegen. Frauen denken in diesem Punkt nicht mehr nach. Sie hat einen gesunden Appetit. Wenn sie hungrig ist, würden solche Überlegungen sie nicht abschrecken.« Der Projektleiter glaubte, verletzte Eitelkeit herauszuhören. »Warum sagen Sie mir das?« stieß er nach und blickte zur Seite. »Paart sie sich denn nicht mehr mit Ihnen?« »Sie glauben wohl, ich sei eifersüchtig, wie? Warum, zum Teufel, soll ich wohl eifersüchtig sein? Wir paaren uns, mit wem wir wollen. Orgasmus ist Orgasmus. Man merkt Ihnen Ihr Alter an, Projektleiter. Das Leben ist nicht mehr so kompliziert wie früher.« Er stand auf. »Das Leben ist nicht mehr so kompliziert«, wiederholte er als Bestätigung (Selbstbestätigung?). »Wir wollen bloß keinen zweiten Dorftrottel in der Gemeinde haben. Ein Schwachsinniger in Lizas Familie – du meine Güte! (Daniel wiederholte sich schon wieder). Das arme Mädchen. Sie sollten mit ihr darüber sprechen.« Das war eine neue Wendung. Daniel hatte von Anfang an diesen Satz anbringen wollen. David seufzte. »Vielleicht.« Verdammt – konnte er überhaupt mit ihr darüber sprechen? »Oder vielleicht ist es besser -«, man muß liberal sein, »vielleicht sollte ich mir Roses vorknöpfen und ihn auf die Wichtigkeit seiner Pille hinweisen.« »Tun Sie das, wenn Ihnen das lieber ist. Ich persönlich würde jede Wette eingehen, daß der Idiot immer noch an den Storch glaubt.« Daniel stand auf und entfernte sich, unbeherrscht mit dem Handtuch schnalzend und die hohen Margeriten köpfend, die auf der Dorfwiese wuchsen. Er war sicher nicht stolz darauf, daß er gesagt hatte, was gesagt werden mußte. David Silberstein blieb still auf der Bank sitzen. Er liebte Liza Simmons. Vielleicht war seine Liebe anachronistisch, unziemlich, gefühlsselig – trotzdem, er liebte Liza. Es war seine Pflicht, sie zu retten. Tatsächlich hatte er eine doppelte Pflicht wahrzunehmen, einmal als Projektleiter und zum anderen als Mann. Und in so einer delikaten Situation war er doch berechtigt, seine männliche Qualität heranzuziehen, um seine dienstliche Funktion zu erfüllen. War er das? Vor ihm stieg ein Mädchen aus dem Wasser, balancierte am Rande des Kais und sprang dann wieder ins Wasser. Natürlich war er dazu berechtigt. Nicht seine Neigung trieb ihn an, sondern sein Pflichtgefühl. Unter dem Kai lachten die Badenden und spritzten sich gegenseitig Wasser ins Gesicht. Wenn seine Pflicht ihm einen Weg vorschrieb, mußte er ihn gehen. Eine delikate, intime Sache. Intime Sachen setzten intime Situationen voraus. Als Projektleiter, als Vater von einer Reihe über das Land verstreuter Kinder war ihm seine Pflicht klar und deutlich vorgezeichnet. Zweifellos hatte sie einen gesunden Appetit, wie Daniel behauptet hatte. Ein gesunder Appetit verlangt nach gesunder Nahrung. Als Mann, als ein Mann, den sie bestimmt nicht unsympathisch fand, war ihm seine Pflicht ebenfalls klar und deutlich vorgezeichnet. Wenn sie hungrig ist, richtig hungrig, würde sie über die Konsequenzen nicht nachdenken. Und die Folgen – bei einem so sensiblen Mädchen wie Liza – nicht auszudenken … Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Er stand auf und ging zurück in sein Quartier. Sein Entschluß stand fest. Das Dachfenster mit den Butzenscheiben blickte auf einen kleinen Hof hinaus. Geranien wuchsen dort in großen Töpfen. Neben einer verrosteten Wäschemangel schlief eine große, rotbraune Katze. Ober den weißgekalkten Wänden ragten schiefe Schornsteine und schräge Giebel auf. David Silberstein starrte aus seinem Schlafzimmerfenster, ohne das alles wahrzunehmen. David Silberstein versuchte, nicht realistisch zu sein. Et versuchte, sich zu erinnern, wie er – obwohl der Vorschlag, sich zu paaren, von ihr gekommen war – so verwirrt war, daß er sich außerstande sah, ihr Angebot anzunehmen. Er verdrängte die Erinnerung an zahllose Mädchen, deren Hand zu halten er sich nicht getraut hatte. Er dachte nicht an die langen Jahre, wo er sich in Enthaltsamkeit geübt und vor Frustration in das Kopfkissen gebissen hatte. Er dachte nicht an den einzigen Ausweg, der ihm geblieben war, das Masturbieren im Schlafzimmer mit vorgezogenen Vorhängen und zur Wand gedrehtem Spiegel. Doch bisher war er auch noch nie so verliebt gewesen, nicht so in Liebe entbrannt. Liebe (das altmodische Wort, das sich ihm flüsternd aufdrängte), Liebe verlieh einem Mann Mut. Es würde auch ihm Mut geben. Es mußte ihm Mut einflößen. Rasch jetzt, ehe es zu spät war. Wenn es nicht bereits zu spät war. Er stellte sich unter die Dusche, öffnete dann den Schrank und kramte in seinen Sommersachen, ob er nicht etwas besonders Jugendliches finden konnte. Die linke Tür schwang ganz zurück und fing sein Bild ein, weil die Innenseite mit einem mannshohen Spiegel versehen war. Er betrachtete seinen nackten Körper. Jugendlich und anziehend? Nun, bestimmt nicht alt oder sonderlich abstoßend. Auf jeden Fall nicht abstoßend für eine Frau. Wahrscheinlich nicht. Er betrachtete sich eingehend, wenn auch mit leichter Schamröte. Brust, Arme, Bauch, Penis, Hoden, Knie, Knöchel … alles das nicht anziehender oder abstoßender als bei allen anderen Männern, die er täglich in seiner Umgebung sah. Er schwang auf den Fersen herum, fand die Seitenansicht ein bißchen vorwitziger und drückte die Sache nach unten. Sie kam wieder hoch. Nun, ein Nachteil war das nun auch wieder nicht – vielleicht mochten Frauen, daß Männer vorwitzig waren. Auf jeden Fall hatte Gott ihn so geschaffen, und die Nacktheit sollte einem ja die Hemmungen nehmen … Seine Pflicht war ihm jetzt noch klarer vorgezeichnet. Er legte Socken und Schuhe an. Die Schuhe verdarben irgendwie den Eindruck. Also ersetzte er sie durch Sandalen. Die Sonnenbrille vervollständigte seinen Anzug. Die Sonnenbrille brachte ihm sichtlich Erleichterung. Er war angezogen. Mit der Brille glich er so sehr irgendeinem anderen, daß ihn vielleicht gar niemand wiedererkannte – ausgenommen Liza, wenn er die Brille abnahm. Nicht, daß ihn dieser Gedanke störte, wenigstens nicht ihn, als David Silberstein. Doch er war ja gleichzeitig der Projektleiter. Und die Schamteile des Projektleiters durften nicht leichtfertig herumgeschleudert werden, hatten immerhin auch rangrespektierliche Bedeutung. Doch mit der Sonnenbrille konnte er es durchaus schaffen, inkognito das Dorf zu durchqueren. Er ging die Treppe hinunter und zögerte vor der geschlossenen Tür seiner Herbergsmutter. Er hörte sie in der Küche hantieren, den Tisch decken. Es war nicht nötig, sie zu stören, wenn sie so viel zu tun hatte. »Vielleicht komme ich etwas später zum Abendessen, Mrs. Berman«, rief er laut. »Bitte, warten Sie nicht auf mich!« Er schlüpfte rasch durch die Vordertür und warf sie hinter sich ins Schloß. Ach, du meine Güte, dachte er. Die Tür war zu, und er hatte keine Hausschlüssel, da er ja auch keine Hose anhatte. Die Sonne schien auf seine Haut, der Wind blies auf seine Haut, und die Erde dehnte sich endlos um ihn bis hinauf zu den Sternen. Wenn er an der Hausglocke zog und Mrs. Berman öffnete, würde sie ihn … ihn … Er wich nicht von der Stelle. Die Frau vom alten Josef schlürfte vorbei. David Silberstein lehnte sich gegen die Tür, als sonnte er sich. Die alte Dame war schon ein bißchen konfus. Vielleicht erkannte sie ihn gar nicht. »Guten Abend, Mr. Silberstein.« »Guten Abend, Mrs. Engels.« »Ein herrliches Wetter, Mr. Silberstein.« »Ja, da haben Sie recht, Mrs. Engels.« Und er hatte an sein Inkognito geglaubt! Oh, du gütiger Himmel! Und wohin sollte er sich jetzt wenden? Liza würde sich wahrscheinlich im Labor aufhalten. Das Labor befand sich am anderen Ende des Dorfes. Oh, du gütiger Himmel! Vielleicht sollte er lieber einen Dauerlauf machen … Er stemmte sich von der Haustür ab. Schließlich waren auch die alten Griechen nackt um die Wette gelaufen. Die Chrononauten taten das ebenfalls. Sie vergaben sich nichts dabei. Oder doch? Er ging – er ging sogar ganz langsam und vorsichtig, so daß nichts schwappte und schlenkerte. Der Himmel war ihm gnädig. Er begegnete so gut wie gar keinem. Die verheirateten Paare waren jetzt alle zu Hause und bereiteten das Abendessen vor. Die Unverheirateten waren beim Schwimmen oder spielten Tennis oder legten – wie seine geliebte Liza – noch Überstunden ein. Die wenigen, die ihm begegneten, taten so (taten so?), als konnten sie nichts Ungewöhnliches an ihm entdecken. Er drückte sich unauffällig durch das Gittertor des Labors und kletterte die Vordertreppe hinauf. Obgleich die Liebe ihn inspiriert hatte, drängte die Pflicht ihn jetzt vorwärts. Es war schiere Pflichterfüllung, die ihn die Stufen hinaufzog, während sein Hintern sich allen Blicken darbot. Im Innern des Labors herrschte Zwielicht. Liza saß ganz allein vor dem Computer, eingehüllt in ihren sauberen, weißen Kittel. Trotz seiner Sonnenbrille erkannte sie ihn sofort. Er hatte das Gegenteil erhofft. Er fühlte sich entmutigt. »Suchen Sie den Professor?« fragte sie. »Eigentlich nicht. Ich – äh – suchte Sie.« »Der Professor ist heimgegangen.« Sie wendete sich wieder ihren Zahlen zu. »Ich habe mir den Nachmittag freigenommen. Deshalb arbeite ich jetzt und erledige die noch anstehenden Tagesprobleme.« »Nun, ja … Ich wollte doch nur dich sehen, geliebte Liza.« »Sie werden den Professor in seiner Wohnung finden. Obgleich ich bezweifle, daß Sie jetzt von ihm empfangen werden.« Sie hatte bisher noch nicht die Augen vom Lochstreifen gehoben. Deshalb faßte er neuen Mut. Er lehnte sich an die halb geöffnete Tür und pumpte sich weiter mit Mumm auf, bis er zu allem bereit war. Schließlich, sagte er sich, bin ich ja der Projektleiter. »Ich wollte den Professor gar nicht sehen. Ich wollte Sie sprechen, Liza Simmons.« Er wartete. Fünf, zehn, fünfzehn Jahre verstrichen. »So?« Jetzt endlich sah sie ihn doch an. Sie sah ihn jetzt, wie er wirklich war. Nicht alt, nicht unattraktiv, nicht einmal scheu … Er suchte in ihren Augen wenigstens das, was er das letztemal darin gefunden hatte, damals, als der Professor sie besucht hatte. Er suchte in ihren Augen und fand nichts darin, nichts als Distanz und kühle Überraschung. (Sie dachte, daß sie sich getäuscht hatte, als sie David Silberstein interessant fand. Er war nichts. Er war weder altmodisch, noch bescheiden, noch ein Vater, noch ein hilfloses Kind. Sie suchte nach einer Persönlichkeit, aber er war keine. Er war nur ein sexuelles Objekt.) »Wirklich?« All das lag jetzt in ihrer Stimme. »Was wollten Sie mir sagen?« Es war nichts mehr da, wofür es sich lohnte, Mut aufzubringen. Nur die Pflicht hielt ihn noch hier. Pflicht und immer nur Pflicht. Er räusperte sich. »Ich wollte Sie darauf aufmerksam machen«, seine Stimme wurde nicht einmal unsicher, während er auf die gegenüberliegende Wand starrte, »daß Roses Varco wahrscheinlich nicht regelmäßig seine Pille nimmt.« Es folgte ein kurzes Schweigen. »Ich dachte mir, Sie sollten das wissen.« Jetzt war seine Pflicht getan. Er konnte wieder entwischen. Seine Sandalen klapperten die Stufen hinunter. Er versteckte sich im Lagerraum unter dem Labor, bis es dunkel genug war und er seine Nacktheit ungesehen nach Hause brachte. Im Umgang mit Männern und Menschen, mit Verwaltungsproblemen, Verteidigungsanlagen, Intriganten und Querulanten war er ein Genie. In der Liebe war er … weniger gut. Mrs. Berman ließ ihn ohne Kommentar ins Haus, das heißt, sie verstand vollkommen, warum er keinen Schlüssel bei sich haben konnte. Sie hatte ihm das Abendessen warmgehalten, aber David hatte keinen Hunger. In diesem Moment bezweifelte er, daß er überhaupt noch einmal in seinem Leben hungrig sein könnte. Und Liza? Liza arbeitete im Halbdunkel des Labors, nur ab und zu von den Gongschlägen oder den Pfeifentönen der Laboruhr in ihrer Konzentration gestört. Sie hatte sich im stillen amüsiert, daß David Silberstein sie für so eine Draufgängerin gehalten hatte. Besonders deswegen, weil sie ja eine Pille in den Becher mit dem heißen Kakao von Roses Varco geworfen hatte. Nur zur Vorsorge … ZWISCHENBEMERKUNG An diesem Punkt meiner Geschichte enthält das Original, dem dieses Buch als phantasievolle Neuschöpfung in allen Fakten entspricht, einen Zeitungsausschnitt. Ich füge ihn an dieser Stelle aus ökonomischen und informativen Gründen bei. Meine Buchdrucker sind natürlich nicht die Drucker des Originals. Sie verfügen nicht über die technischen Möglichkeiten, jenem Zeitungsausschnitt sowohl absolute Dauerhaftigkeit als auch jenes undefinierbare Fluidum zu verleihen, was eben einen Zeitungsausschnitt ausmacht. Ich meine, jenen Geruch von Druckerfarbe und Papier, jene etwas grobe, graustichige Machart des Zeitungsbogens und den Beigeschmack von Fisch und Chips. All das muß sich der Leser eben hinzudenken: DIE MERKWÜRDIGEN VORGÄNGE IM FORSCHUNGSDORF PENHENIOT, ein Bericht von Mrs. L. Gestern traf ich einen traurigen und einsamen Mann. Er wohnt in einem kleinen Dorf, keine zwei Meilen von dem freundlichen Kurort St. Kinnow in Cornwall entfernt. Das Dorf ist kein gewöhnliches Dorf und der Mann kein gewöhnlicher Mann. Sein Name ist Varco, und sein Dorfspitzname ist Roses. Wenn man ihn anspricht, zittert und stammelt er. Er ist vollkommen verstört und hat seine Reflexe nicht mehr unter Kontrolle. Dieser Bedauernswerte wohnt in dem geheimnisvollen Experimentier- und Forschungsdorf Penheniot. DIE ÜBLICHEN DEMENTIS Der Boss dieser Forschungseinrichtung, David Silberstein, aalglatt und redegewandt, behauptet, daß Varco schon in dem Zustand auf die Welt gekommen sei, in dem er sich heute befindet. Die Experimente, die in dem Dorf durchgeführt werden, hätten nicht das geringste mit dem gestörten seelischen und geistigen Zustand von Mr. Varco zu tun. Auch der wissenschaftliche Leiter des Dorfes, Igor Krawschensky, der zu den Verfolgten des Naziregimes gehört, beteuert diesbezüglich seine Unschuld. Ich habe niemand im Dorf getroffen, der nicht das gleiche gesagt hätte. Das Forschungsprojekt wird von dem bekannten Großkaufmann und Abenteurer Emmanuel Littlejohn finanziert. DORFIDYLLE MIT POLIZEISTAAT-ORDNUNG Nur Mr. Varco – ein Mann, der in Cornwall geboren und aufgewachsen ist – macht eine Ausnahme. Er ist verstört, ängstlich und weicht jedem Interview aus. Das reizte mich, der Sache auf den Grund zu gehen. Doch Mr. Silberstein lehnte es ab, mich aufzuklären, wonach denn nun eigentlich in Penheniot geforscht wird. Auf jeden Fall ist es ein Projekt, zu dem ein drei Meter hoher elektrischer Zaun gehört, der das Dorf hermetisch abriegelt. Und dazu gehört auch totale Disziplin, eine Postzensur und strenge Isolierung von der Außenwelt. ES GEHT UNS ALLE AN Was soll man dazu sagen? Natürlich leben wir alle in einem Staat mit freiheitlicher Grundordnung. Doch erst vor ein paar Tagen griffen Bewohner von St. Kinnow eine Gruppe von Angestellten aus dem Forschungsdorf an. Diese Leute wissen doch Bescheid. Schließlich haben sie mehr als zwei Jahre in engster Nachbarschaft mit Penheniot und seinem Zaun gelebt. Die Lage in diesem Teil des sonnigen Cornwall ist gespannt. Es ist höchste Zeit, daß die Regierung das Leben und Treiben in jenem merkwürdigen Dorf genau unter die Lupe nimmt. Auf jeden Fall muß sie sich um Mr. Roses Varco kümmern, damit seine Leiden nicht noch schlimmer werden. V Es war schon spät. Roses und Liza waren mit dem alten Ruderboot von Varco den Fluß hinaufgefahren bis zu der Stelle, wo die Hausboote angebunden waren. Als Ausrede und Vorwand hatte Liza die Schwäne genommen. Sie hatte sich eingeredet, sie wollten nur die Schwäne beobachten. Aber sie hatten keinen einzigen Schwan entdecken können. Liza brach deswegen keineswegs das Herz. Sie konnte Roses Begeisterung für Schwäche nicht teilen. Sie hielt sie für bösartig, gefräßig und rücksichtslos. Roses ruderte ganz dicht an den Hausbooten entlang, so daß Liza durch die Bullaugen und Fenster blicken konnte. Sie blickte gleichsam durch ein rundes Schlüsselloch in eine andere Welt: Beratungsraum, Gemeindesaal, eine Reihe von würfelartigen Kabinen, als handle es sich hier um einen Tempel der Wissenschaft. Die Kinder an Deck blickten sie schläfrig an. Die Frauen hielten in der Arbeit inne, um sie ebenfalls anzustarren. Es waren Frauen mit langen Haaren, in eigenartigen, selbstgestrickten Gewändern, nicht ganz sauber. Niemand sprach sie an. Die Dorfbestimmungen hätten Liza sowieso verboten, Fragen zu beantworten; doch das totale Schweigen bedrückte sie. Über dieser Hausboot-Gemeinde lag wie eine Dunstglocke die Isolation der Verzweiflung, der totalen Beschränkung auf sich selbst und die Gemeinde, der Beschäftigung nur mit sich selbst. Selbst die drogenberauschten Kinder waren ganz anders als die drogenberauschten Kinder, die sie bisher erlebt hatte. Roses wendete dann hinter dem letzten Hausboot, und sie fuhren wieder flußabwärts. Die Luft war schwer und voller Gerüche. Der Abendhimmel glich einer Wunde, mit eitergelben Streifen und schwärigem Rot. Der Fluß wand sich, verdächtig schillernd, zwischen den dunklen, schweigenden Hügeln hindurch. Die Flut stemmte sich jetzt gegen das Boot, und sie bewegten sich nur langsam vorwärts. Roses stemmte sich gegen die Ruder, die Stirn gerunzelt vor Anstrengung, sein Atem überlaut in der bleiernen Stille. Liza hielt sich am Dollbord fest, spürte das Holz bei jedem Schlag arbeiten. Dreißig Jahre Farbanstrich unter ihren Fingern, darunter die Kerben und Narben abgenützten Holzes. Auf der Fahrt stromaufwärts hatten sie sich von der Flutwelle mittragen lassen. Jetzt hielt sich Roses an das träge wirbelnde Wasser in der Nähe des Ufers. Der Steuerbord-Riemen tauchte nur Zentimeter vor den tiefhängenden Zweigen ein, in denen sich grünlich verfärbte Plastikschachteln, graue Toilettenpapier-Rollen und anderer Abfall verfangen hatte. Nichts regte sich hier, weder am Ufer noch in der Luft. Liza blickte nach vorn. Gleich würden sie die Einmündung eines kleinen Baches kreuzen. Zwischen dem dichten, tangverhangenen Gestrüpp schimmerte etwas Weißes hervor. Vielleicht hatten sie den Nistplatz der Schwäne entdeckt. Sie berührte Roses’ Knie und deutete hinüber. Er blickte über die Schulter und bewegte jetzt die Riemen in entgegengesetzter Richtung. Das Boot wurde sofort langsamer, verharrte dann vor der Einmündung, während das Heck von der Strömung abgedrängt wurde. Er ruderte sacht, hielt das Boot parallel zum Ufer und betrachtete die Stelle in der kleinen Bucht, wohin Liza mit dem Finger deutete. Er lenkte das Boot noch dichter heran. Zwei Schwäne waren in der winzigen Bucht. Mit hängenden Flügeln schaukelten sie leise auf dem Wasser, die Hälse ausgestreckt, tot. Voll Entsetzen sah Liza, daß sie die Augen offen hatten. Roses schlug die Riemen energisch in das mit grünlich schillernden Kugeln gesprenkelte Wasser, schoß zwischen die Zweige hinein, lief auf dem steinigen Strand auf. Liza wurde auf der Ducht nach vorn geschleudert, doch Roses achtete jetzt nicht auf sie. Er beugte sich über den Bootsrand, um einen der toten Schwäne an Bord zu hieven. Er knurrte ärgerlich über das Gewicht des toten Körpers. Er fiel klatschend auf den Boden des Bootes, Schleim verspritzend. Im dämmrigen Abendlicht kam Liza der Schwan riesengroß vor. Und ekelerregend. »Teufel, Teufel …« Roses drehte den toten Schwan herum und untersuchte die Haut unter den Federn. »Was hat sie umgebracht? Kein Blut, nichts. Wer hat das getan?« Liza wußte es. Sie lehnte sich zurück. Der Geruch würgte sie im Hals. »Umweltverschmutzung«, sagte sie. »Was ist das denn?« »Der Schmutz im Fluß.« Lohnte es sich, das noch näher zu erklären? »Die Fäkalien, die Scheiße, die Chemikalien, die Abwässer, die wir tonnenweise in den Fluß gießen.« »Wir? Wir machen so etwas nicht.« »Ich meine die Leute, Roses. Wir Menschen.« Die Schuld einer Gesellschaft war ein Begriff, der sein Begriffsvermögen überstieg. »Wir werfen keinen Abfall in den Fluß, Miß.« Die Zweige schabten an der Bootswand. Der Gestank unter den Bäumen war kaum auszuhalten. »Rudern wir weiter«, sagte sie. »Die Schwäne sind tot. Wir können daran nichts mehr ändern.« Sie nahm einen der Riemen und stakte das Boot wieder vom Ufer weg. Roses war immer noch über den toten Vogel gebeugt. Sie berührte ihn sacht an der Schulter, wollte ihm andeuten, daß er den Schwan wieder aus dem Boot werfen sollte. Da hallte ein Ruf über das graue Wasser. »He, ihr da, in dem gelben Boot! Was treibt ihr denn dort?« Zwei Burschen aus der Gegend trieben in einem Polypropylen-Ruderboot mit der Flut flußaufwärts. Liza war viel zu sehr mit den toten Schwänen beschäftigt gewesen, so daß sie ihr Nahen nicht bemerkt hatte. Sie gab keine Antwort. Sie wollte jede Auseinandersetzung mit Außenstehenden vermeiden. »Seid ihr taub? Ich habe euch gefragt, was ihr da treibt! Ihr habt einen Schwan im Boot. Wißt ihr nicht, daß Schwäne gesetzlich geschützte Vögel sind?« Wovor geschützt? dachte sie bitter. Doch sie sagte nichts. Als Angestellte im Forschungsdorf hatte sie Angst, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Roses hatte in diesem Punkt keine Hemmungen. »Macht, daß ihr wegkommt«, sagte er. »Das hier geht euch nichts an. Wir haben ihnen nichts getan. Wir haben sie hier im Wasser liegend gefunden. Das ist alles.« Das andere Boot war inzwischen fast längsseits gekommen. Der Ruderer lehnte sich auf seine Riemen, sein Begleiter lachte. »Oh, arrr«, sagte er, Roses’ Stimme imitierend, »oh, arrr, Harry, das geht uns nichts an, sagt er. Harry, ich gehe jede Wette ein, daß dieser lange Lümmel der Dorftrottel aus Penheniot ist.« Der Bursche an den Riemen lachte jetzt ebenfalls. Liza konnte sich ausmalen, was sich jetzt entwickeln würde. »Häng die Riemen ein, Roses«, murmelte sie. »Es gibt nur Ärger. Hat keinen Zweck, mit den beiden zu diskutieren. Häng die Riemen ein und rudere los.« »Ärger?« meinte Roses fragend. Er war an das Gelächter seiner Mitmenschen gewöhnt. Trotzdem hängte er jetzt die Ruder ein. »Was für einen Ärger denn?« »Siehst du das, Harry? Die beiden flüstern miteinander. Mögen wir Dorftrottel, die flüstern? Dorftrottel, die hierherkommen und unsere Schwäne umbringen? Ich glaube nicht, daß wir so was mögen, nicht wahr, Harry?« Harry ruderte noch dichter heran. »Und wir mögen auch keine eingebildeten Zicken aus dem Dorf, nicht wahr, Harry? Sollen wir die beiden ins Wasser werfen, Harry? Sollen wir sie heimschwimmen lassen, Harry?« Roses fing immer noch nicht an zu rudern. »Ich habe keine Schwäne umgebracht«, sagte er. »Ich habe sie hier im Wasser gefunden. Der andere liegt noch unter den Zweigen. Überzeugt euch selbst.« »Der Bursche ist ja richtig redegewandt, Harry. Sollen wir ihm die Fresse polieren und dem Mädchen ein paar Ladungen zwischen die Beine verpassen?« Die beiden Boote trieben jetzt mit der Strömung in die Mitte des Flusses. Man hörte nur das Gluckern des Wassers vor den eingetauchten Ruderblättern. Am weißen Abendhimmel glitzerten schon ein paar Sterne, und ein beleuchtetes Giebelfenster stand irgendwo über den Baumwipfeln. Es war eine groteske Situation. »Er sagt die Wahrheit«, mischte Liza sich jetzt in die Auseinandersetzung ein. »Die Umweltverschmutzung ist schuld am Tod der Schwäne. Sie bringt auch alle anderen Vögel um. Jetzt sind eben auch die Schwäne an der Reihe.« »Das Mädchen weiß Bescheid, Harry. Man sieht es ihr an, daß sie Bescheid weiß. Dieser Typ ist immer so gescheit, Harry.« Sie verschwendete nur ihren Atem. »Rudere, Roses! Schauen wir, daß wir hier wegkommen.« Doch das andere Boot legte sich jetzt quer vor ihren Bug. »Laßt uns vorbei«, bat Roses. »Wir haben euch nichts getan.« »Ein Mädchen und ein Dorftrottel, Harry. Worauf warten wir noch?« Harry, der bis jetzt noch gezögert hatte, zog die Riemen scharf an. Sein Freund beugte sich herüber und packte den Ring am Bug. Roses wirbelte herum und schlug ihm mit der Faust auf die Finger. »Dieser Dreckskerl. Harry, du gibst es ihm! Gib es ihm mit dem Riemen!« Doch Roses war schneller als Harry. Er balancierte jetzt auf beiden Beinen im Kahn, schwang sein eigenes Ruder in Hüfthöhe und knallte Harry das Ruderblatt ins Gesicht. Liza fing den anderen Riemen auf, ehe er über Bord gehen konnte. Harry wurde zur Seite geschleudert. »Verdammt, Pete, er hat mir den Unterkiefer gebrochen.« »Idiot, du kannst ihn doch noch bewegen, oder etwa nicht?« Die beiden Boote waren durch die gewaltsame Aktion voneinander weggestoßen worden. Roses stand mit gespreizten Beinen schweratmend im Boot und beobachtete Pete und Harry, die in ihrem Kahn leise miteinander verhandelten. Dann wendeten sie ihr Boot und ruderten auf das Heck zu, wo Liza saß. Liza glaubte, Roses würde die Gelegenheit nützen und wegrudern. Doch er blieb abwartend im treibenden Boot stehen. Wenn er zuschlagen wollte, stand sie ihm im Weg. Sie sah sich nach einer Waffe um und fand nur einen alten Henkeltopf, den Roses dazu verwendete, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Die beiden Boote trieben jetzt hintereinander, Heck gegen Heck. Pete hatte einen Bootshaken in der Hand, eine Stange mit einer Speerspitze. »Setzen Sie sich hin, Miß«, hörte sie seine Stimme leise hinter sich. »Setzen Sie sich hin und halten Sie sich fest.« Sie gehorchte ihm. Was konnte sie schon anderes tun, da sie nur einen alten Kochtopf als Waffe besaß. »Laßt ihr uns jetzt vorbei oder nicht?« »Oh, arr, einen Teufel werden wir tun.« Sie schämte sich für ihn, weil er sich ihrem Spott aussetzte. Der Zwischenraum wurde rasch kleiner. Petes Bootshaken schimmerte weiß im Zwielicht. Wahrscheinlich wollte er damit ihr Boot leckschlagen. Der Gedanke, daß er aus Versehen auch sie treffen konnte, war so entsetzlich, daß sie ihn sofort verdrängte. Plötzlich schwang der Kahn gewaltsam herum, drehte sich um neunzig Grad, während Roses den Schwung pendelnd ausglich. Pete war jetzt keine zwei Meter mehr entfernt, Roses genau gegenüber. Er holte zu spät mit dem Bootshaken aus. Roses Ruder erwischte ihn genau am Nasensattel, zerschmetterte das Nasenbein, warf ihn zurück, färbte sein Gesicht blutrot. Pete blieb in seinem Kahn liegen und bewegte sich nicht mehr. Die beiden Boote stießen sacht zusammen. »Verdammte Brut …« Roses wartete, den Riemen stoßbereit in der Hand. »Ich habe euch gesagt, ihr sollt mich vorbeilassen. Könnt ihr nicht hören?« Niemand lachte ihn jetzt mehr aus. Er stieß das andere Boot von sich weg, setzte sich hin und hängte die Riemen ein. Harry kniete auf der mittleren Ducht und spritzte Pete Wasser ins Gesicht. Das war das letzte, was sie von den beiden sah. Einer von den Riemen des anderen Bootes trieb mit der Strömung ab. Die beiden würden noch eine Weile mit sich selbst zu tun haben. Und sie hatte immer geglaubt, Roses wäre ein Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte … Danach überlegte sie sich die Folgen dieser Begegnung, während Roses zügig ruderte und die drei Noten vor sich hinpfiff, die ihm immer in den Sinn kamen, wenn er mit sich sehr zufrieden war. »Du hättest das nicht tun dürfen«, sagte sie. »Du hättest sie gewähren lassen sollen. Wenn sie unser Boot versenkt hätten, hätten sie uns in Ruhe gelassen. Der Projektleiter wird toben, wenn er das hört.« »Mag sein«, sagte Roses und ruderte weiter. »Ist nur schade, daß ich nicht schwimmen kann. Habe nie begriffen, wie man das macht.« Später, dicht vor der Mündung von Penheniot Pill, warf er den toten Schwan über Bord. Er sagte kein Wort, schaute nur zu, wie die Strömung den Körper abtrieb, die Schwingen halb ausgebreitet, der Kopf auf den Wellen schaukelnd, als wolle er sich in die Luft erheben. Bald war er nur noch ein weißer Fleck im grauen Zwielicht, einem zerknüllten Bogen Papier gleichend … Liza hatte richtig vermutet. Als der Projektleiter von der Geschichte erfuhr, wurde er weiß vor Wut. Im Augenblick waren die Beziehungen zwischen dem Dorf und der Nachbargemeinde St. Kinnow sehr gespannt. Das letzte, was er in diesem Augenblick gebrauchen konnte, war eine primitive Schlägerei. Vor der Polizei hatte er keine Angst – der Gründer schien an höherer Stelle seinen Einfluß zu ihren Gunsten geltend zu machen. Doch diese Geschichte – mit phantastischen Zugaben versehen – würde spätestens in einer halben Stunde die Runde durch die ganze Stadt machen. David rief Sergeant Cole an und ließ sich bestätigen, daß alle Einrichtungen zur Verteidigung des Dorfes im perfekten Zustand waren. Es war das erstemal seit jenem Abend, als … als Mrs. Lampton das Dorf besuchte, daß er Liza zu einem Gespräch zu sich rief. Seiner Meinung nach hatte er die Sache damals bemerkenswert gut überstanden. Er hatte beschlossen, über der Sache zu stehen; denn offenbar hatte Liza nicht das geringste bemerkt. Also konnte er jetzt auch auf die beiden hinabschauen. Roses und Liza standen kleinlaut nebeneinander vor seinem Schreibtisch wie zwei Kinder, die etwas ausgefressen hatten. Wenn sie sich paarten, war das ihre Angelegenheit. Er war der Projektleiter. Er hatte keinen Haß auf Roses. Er hatte kein Begehren nach Liza. Er war nur der Chef. Nur stimmte das nicht ganz. Er hielt den beiden einen langen Vortrag (väterlich zwar, aber mit deutlicher Warnung) und schickte sie dann wieder fort. Dann diktierte er ein Memo in den Autosek, das am Anschlagsbrett ausgehängt werden sollte: Alle Ausflüge über die Dorfgrenze hinaus waren bis auf weiteres verboten. Vielleicht war es für diesen Anschlag bereits zu spät. Er hatte bereits einen Ordner voller Zeitungsausschnitte auf seinem Schreibtisch liegen, in denen flammende Proteste gegen das Dorf erhoben wurden. Und jetzt das … Er stand müde von seinem Schreibtisch auf und trat ans Fenster. Spitze Dächer, schöne, alte Bäume, hier und da Lichter aus kleinen Fenstern, in der Ferne das vom Mondlicht versilberte Wasser des Pill. Ein so idyllischer Friede konnte ja nicht von Dauer sein, hatte schon viel zu lange angehalten. Schließlich war der Friede von Anfang an eine Lüge gewesen, eine künstlich aufgebaute Täuschung. Und diese Täuschung zog ihren eigenen Unfrieden groß. Er wendete sich schroff vom Fenster ab und ging rasch, mit gesenktem Kopf nach Hause, wo Mrs. Berman wie eine Mutter für ihn sorgte. Trotz Silbersteins böser Vorahnungen blieb seine Nachtruhe ungestört. In St. Kinnow allerdings knallten die Fäuste auf die Tische, als Petes und Harrys Geschichte die Runde machte, und Fahrradketten schälten so manchen Span von unschuldigen Tischbeinen herunter. Doch der Anlaß war vage, so wenig unmittelbar und anschaulich. Es war lohnender, viel mehr high, wenn man seine Rachegefühle an den Schaufenstern und in den Läden an der Esplanade austobte. Am nächsten Morgen war Professor Krawschensky schon vor Liza im Labor, obwohl sie dort eine halbe Stunde vor der festgesetzten Zeit auftauchte. Der neue Beschleuniger wurde eingebaut, eine neue Anordnung von Filtern wurde installiert. Der Professor trippelte auf sie zu und rang vorwurfsvoll die Hände. »Immer, wenn ich Sie brauche, mein Kind, sind Sie nicht da. Nachmittags frei, abends ins Freie ausschwärmend … Arbeiten Sie noch für mich, oder täusche ich mich da?« Er erwartete keine Antwort von ihr. Vielleicht war sein Vorwurf berechtigt. Vielleicht verbrachte sie zuviel von ihrer Zeit mit Roses. Einer der großen Vorzüge von Roses bestand darin, daß er immer beschäftigt war, aber nie arbeitete … Sie konnte sich keine bessere Lebensweise vorstellen. Sie sagte dem Professor, daß ihr das alles sehr leid täte. »Leid? Was soll das bedeuten, es täte Ihnen leid? Letzte Nacht erlebte ich den Durchbruch, und es tut Ihnen leid.« Sie trat an ihren Platz vor dem Computer; aber er scheuchte sie fort. »Ich habe ihn einmal selbst gesteuert, also werde ich es auch das zweite Mal fertigbringen. Sie schauen zu. Manchmal glaube ich, daß Sie dazu am besten geeignet sind.« Sie nahm auch das von ihm hin. Sie stellte sich ans Fenster, wohin er sie abgeschoben hatte, und sah zu. Er war so glücklich, während er den holographischen Beobachter aufstellte, so glücklich, daß sie nicht im Labor gewesen war, um ihm zu helfen. Und die ganze Zeit über verschmolz die Szene vor ihr mit den Bildern von gestern abend. Sie sah das weiße Ruderblatt, das Blut, den toten Schwan. Professor Krawschensky redete ununterbrochen, bombardierte sie mit Formeln, mit chronomischen Koeffizienten, mit neuen Ideen. Das war das Zeug, aus dem ihr Leben sich zusammensetzte, sich immer zusammengesetzt hatte. »Unser Fehler, Kind, war es, daß wir die Pannen in der Wiedereintrittsperiode vermutet haben. Der Wiedereintritt ist gar nichts, so natürlich wie die Geburt und wahrscheinlich viel weniger schmerzvoll. In der vergangenen Nacht setzte ich den Hebel am anderen Ende an, unter der Voraussetzung, daß der molekulare Zusammenbruch beim Start passiert, gleich hinter dem sichtbaren Spektrum.« Er fingerte am Okular. Sie war jetzt interessiert; zwang sich aber zur Ruhe, bis seine hypernervösen, alten Finger zurechtkamen. »Da lag also mein Problem. Über das sichtbare Spektrum hinaus zu sehen.« Sie dachte sofort an den Barron-Lichtwellenunterbrecher; doch sie sagte kein Wort. »Was tat ich also? Ich benutzte den Barron-Lichtwellenunterbrecher. Er dehnte das Spektrum für mich aus. Nicht viel – nur eine hundertstel Sekunde. Dann war die Spektralverlängerung vorbei. Doch das genügte. Wenn ich mit Ultrazeitlupe filmte, war das genug.« Endlich hatte er das Okular des Bildwerfers richtig eingestellt. »Nun passen Sie auf, Kind, passen Sie auf!« Liza paßte auf. Im Beobachter flammte das Bild auf, ein Hologramm, das getreue Abbild eines viktorianischen Möbelstückes, ein unbezahlbares Stück, komplett mit rotem Samt, Quasten und gedrechselten Borden. Sie war entsetzt – Daniel mußte den Verstand verloren haben, als er sich von diesem Stück trennte. Oder hatte sie das Stück nicht in der Wohnung des Professors gesehen, gefüllt mit den kostbaren Erinnerungsstücken der Frau Professor? Sie sah, wie das Bild in Ultrazeitlupe verblaßte und dann wiederkehrte – das dauerte ungefähr so lange, wie man bis fünf zählt. Und das war das kurze Flackern, das jedem Start vorausging. Das Flackern dauerte ungefähr eine viertel Sekunde. Jetzt stabilisierte sich das Bild, so deutlich wie die Wirklichkeit, im Augenblick, ehe es in die chronomische Einheit hinüberwechselte. »Hier habe ich das Spektrum ausgedehnt. Passen Sie auf, mein Kind. Ohne Lichtwellenunterbrecher wäre jetzt nichts mehr zu sehen.« Und jetzt, in dem Moment vor der chronomischen Einheit, sah sie, was sich da veränderte. Die Quasten verblaßten, die Borde verwarfen sich, schienen in einen flüssigen Zustand überzugehen, die Intarsien aus Messing dehnten sich aus, als das Holz um sie herum … schmolz? Nicht das richtige Wort. Schrumpfte? Auch nicht besser. Sich verflüssigte, vermengte, verschrumpelte, verkohlte – kein Ausdruck wurde dem Anblick wirklich gerecht. Professor Krawschensky beugte sich vor und stellte den Bildbeobachter ab. »Hier haben Sie ihn«, sagte er, »hier haben Sie den Moment des molekularen Zusammenbruchs. Dauernd lag die Lösung zum Greifen nahe vor uns. Warum wir immer glaubten, der Zusammenbruch geschehe dicht vor dem Wiedereintritt in unseren irdischen Zeitfluß, ist mir jetzt unbegreiflich.« Liza war es durchaus begreiflich. Sie erinnerte sich an die vielen Diskussionen, die Streitgespräche. Sie erinnerte sich, daß man ihre Meinung verworfen hatte. Doch sie sagte nichts. Diese Dinge waren gar nicht so wichtig. Sie war jung. Sie hatte viel Zeit … (Hatte sie tatsächlich so viel Zeit? Waren die Tage denn nicht schon längst gezählt?) Sie konzentrierte sich wieder darauf, was der Professor ihr zu sagen hatte. »Sobald dieser Fehler entdeckt war, Liza, war alles andere ein Kinderspiel. Ich brauchte ja nur den Übertritt in die chronomische Einheit zu verzögern und beim Wiedereintritt die Bremse etwas zurückzunehmen.« Er spreizte kühn die Hände. »Ich tat es. Während Sie abwesend waren, unauffindbar, unsere Zeit verschwendend, leistete ich das alles. Es klappt perfekt. Erlauben Sie, daß ich es Ihnen vorführe.« Liza erlaubte es ihm. Er ließ Tische, Schirmständer und Zimmerpflanzen mit beeindruckender Zuverlässigkeit in die chronomische Einheit hinein- und herausgleiten. Die neue Technik funktionierte. Jedesmal. Selbst eine Wasserlilie aus Penheniot, die vom Professor mit japanischer Gewissenhaftigkeit in einer Milchflasche »arrangiert« wurde, verschwand und erschien wieder, ohne etwas von ihrer Frische zu verlieren. Liza war fasziniert. Gleichzeitig schämte sie sich, daß sie den alten Mann immer so gönnerhaft behandelt hatte. Es war sehr unfair von ihr gewesen, von einem bedeutenden Naturwissenschaftler auch noch zu verlangen, daß er eine bedeutende Persönlichkeit sein müsse. Nachdem lebende Materie erfolgreich in den Strom der Zeit versetzt und wieder zurückgeholt worden war, ließ der Professor nichts mehr zu wünschen übrig. Seine Theorien, sein ganzes Leben hatten hiermit ihr Bestätigung gefunden. Was noch blieb, war Abwicklung. Besonders der elektro-chronomische Zeitmechanismus ließ noch zu wünschen übrig. Im gegenwärtigen Zeitpunkt betrug die Fehlabweichung noch vierzig Prozent, wenn die Zeitzähler die Versuchsobjekte wieder aus der chronomischen Einheit in die Realzeit zurückholten. Doch das war nur ein untergeordnetes Problem. Im Computer steckte schon ein Entwurf für einen nuklearen Zeitzähler oder Zeitschrittmacher, dem man eine absolute Zuverlässigkeit zutrauen konnte. In Gedanken spielte Liza bereits mit einem Superpuffer, der den Zellstrukturen ermöglichen würde, die Chronoküle im umgekehrten Zeitsinn zu durchdringen. Der Simmons-Effekt – ein würdiges Gegenstück zur Zeittheorie von Krawschensky. Um zehn Uhr brach Professor Krawschensky seine Vorführungen ab. »Heute früh, als ich sah, daß die Technik reibungslos funktionierte, beschloß ich, ein Versuchsobjekt längere Zeit in der chronomischen Einheit zu belassen. Neun Stunden lang, Liza Simmons. Da wir unsere Zeitschrittmacher gut kennen, wissen wir, daß sie niemals die Objekte zu früh aus dem Zeitstrom zurückholen. Trotzdem wollen wir die Bühne jetzt freihalten – für alle Fälle.« »Was für einen Versuchsgegenstand haben Sie gewählt?« »Morgens um zwei ist man ja noch etwas benommen. Und unsere Versuchsobjekte sind immer so statisch …« Du meine Güte, dachte Liza. »Ich füllte einen emaillierten Badezuber voll Wasser und schüttete Badesalz hinein. Ich habe ein Schaumbad in chronomische Einheit versetzt. Ein Schaumbad mit Gardeniensalz …« Er seufzte vor Behagen. Dann wurde er wieder sachlich. »Ich fürchte, Sie werden das mißbilligen.« »Natürlich mißbillige ich nicht.« Sie war wieder als Partnerin zugelassen. Und ein bißchen Humor war besser als gar keiner. Während sie auf die Wiedererscheinung des Schaumbades warteten, rief Professor Krawschensky den Projektleiter an, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen. Der Projektleiter war begeistert, aber dabei eigenartig distanziert, als ob seine Aufmerksamkeit abgelenkt wäre, vielleicht von der Aussicht aus seinem Bürofenster. Doch Igor Krawschensky war heute nicht zu entmutigen. Er meldete sofort ein Gespräch nach London an. Jeder mußte die großartige Neuigkeit erfahren, selbst (ganz besonders?) der Gründer. Seit dem Debakel mit dem gescheckten Hund, hatte sich der Professor in eine beträchtliche Wolke des Schweigens gehüllt. »Emmanuel? Igor am Apparat. Störe ich bei wichtigen Entscheidungen?« »Nun, wenn du schon bei wichtigen Entscheidungen störst – was ist es diesmal? Erfolg, will ich hoffen. Oder totalen Fehlschlag.« »Erfolg, Emmanuel. Selbst mit lebender Materie. Hundertprozentigen Erfolg.« »Höre, Igor, diese Experimente mit lebenden Wesen gefallen mir nicht. Ich glaube, du überstürzt das alles.« »Nur eine blaue Wasserlilie, Emmanuel. Nur eine Wasserlilie.« Liza versuchte, nicht hinzuhören. Sie wollte nicht Zeuge werden, wie der Professor sich freiwillig erniedrigte. Und noch vor so einem Mann … Die Stimme des Gründers war jedoch so wenig zu überhören, wie man auch ein häßliches Tapetenmuster kaum übersehen kann. »Eine blaue Wasserlilie – okay, Igor. Blumen sind okay. Aber laß dich nicht hinreißen. Keine Katzen, keine Hunde und, bitte, Igor, keine Menschen.« »Natürlich nicht, Gründer.« »Schön. Und jetzt mußt du mir erzählen – das Zuckerbrot –, jetzt mußt du mir erzählen, was du geschafft hast.« Professor Krawschensky sagte es ihm. Sein Gesicht war verklärt. Der Gründer ließ eine lange Pause verstreichen und seufzte dann. »Ach, ja, all das Kommen und Gehen, Igor. Das ist doch Zeitreise, nicht wahr? Du läßt Dinge verschwinden. Schön. Sehr clever. Später erscheinen sie dann wieder. Sehr schön. Sehr clever. Aber ich frage mich – ist das Zeitreise oder ist das einfach ein Verschwinden und Wiederauftauchen von Dingen? Beweise mir, daß das Zeitreise ist, und du machst mich zu einem sehr glücklichen Menschen.« Der Professor schrumpfte zusammen. Er vergilbte gleichsam wie ein sterbendes Blatt. Er verbesserte nicht einmal die Wortwahl des Gründers. »Ich werde versuchen, es zu erklären«, sagte er dann. »Das Schaumbad – wenn es ist, wo es ist, ist es jetzt dort. Es ist jetzt dort, sofort, schon im Augenblick des Übertritts in die chronomische Einheit, treibt dort auf dem chronomischen Fluß. Wir, die wir uns dem Fluß des Chronos, der Zeit, entgegenstemmen, holen es nur langsam ein. Es erscheint nicht wieder – sondern wir holen es ein.« »Du solltest Vorlesungen halten, Igor. Das ist mein Ernst, Igor. Du meinst also, das Schaumbad steht die ganze Zeit über auf der Bühne, nur können wir es nicht sehen, nicht wahr?« »Selbstverständlich ist es nicht so. Passen Sie auf, ich erkläre es Ihnen. Im ersten Moment steckt das Schaumbad auf der Zwei-Uhr-Bühne. Im nächsten Moment steckt es auf der Elf-Uhr-Bühne. Die Drei-Uhr-, Vier-Uhr-, Fünf-Uhr-, Sechs-Uhr-Bühnen existieren überhaupt nicht. Das Schaumbad braucht nicht zu warten. Für uns ist der Zeitzwischenraum neun Stunden lang. Für das Schaumbad gibt es überhaupt keine Zeit, die verstreicht.« Warum mußte es ausgerechnet ein Schaumbad sein, fragte sich Liza. Der Dialog war auch schon banal genug. »Ich will nicht behaupten, daß du mich hinters Licht führen willst, Igor.« Natürlich behauptete er das. »Wenn ich das begreifen würde, würde ich sogar sagen, daß es überzeugend klingt. Aber ich bin ein einfacher Mann, alter Freund – ich möchte Beweise haben. Tu mir den Gefallen, Igor. Beweise mir, daß dazwischen überhaupt keine Zeit verstreicht.« »Was soll ich dazu sagen, Gründer?« Sein Überschwang war weg. Sein Triumph war durch leisen Spott vernichtet. »Vielleicht mit einer radioaktiven Kohle … Aber wir haben so etwas nicht in unserem Labor. Es gibt natürlich schlüssige mathematische Beweise; aber ich bezweifle, daß ich …« »Sie meinen, Sie können es nicht.« Das war keine Frage, sondern ein Sieg. Der Erfolg eines Mitmenschen war in dessen Niederlage verwandelt worden. Der Gründer konnte beruhigt weiterschlafen. Liza wunderte sich, warum man sich seinetwegen so viel Mühe gab. Sie wendete sich abrupt von ihrer Konsole ab und schrie fest in das Mikrophon: »Den Beweis, den Sie verlangen, liegt direkt vor Ihrer Nase, Mr. Littlejohn. Dieses verdammte Schaumbad, von dem Sie dauernd reden – Sie wissen doch, daß heißes Wasser abkühlt! Und eine Schaumblase hält sich auch nur wenige Sekunden. Ist es nicht klar, daß so ein Schaumbad …« »Gut, sehr gut – ich wartete darauf, daß bei Ihnen der Groschen fallen würde. Nicht bei dem Professor – solche Dinge liegen seinem Verstand nicht. Dazu ist er viel zu subtil und verschlungen.« Sie hätte vor Zorn fast geweint. »Sie sind Liza Simmons, nicht wahr? Sie sind sehr intelligent. Ihr Vater würde stolz auf Sie sein, Liza. Sie verdienen eine Gehaltserhöhung.« »Ich pfeife auf Ihre Gehaltserhöhung.« Im Telephon schepperte es. Manny Littlejohn lachte. »Verzeihen Sie mir, Miss Simmons.« Es schepperte wieder. »Aber die Menschen sind so leicht durchschaubar. Sie haben mir eben dreißig Pfund die Woche eingespart. Und ich werde Ihnen wohl kaum noch einmal eine Gehaltserhöhung anbieten.« Es summte, und dann kam die Stimme des Gründers noch einmal durch: »Und Sie können Professor Krawschensky ausrichten, daß ich mit seinen Fortschritten sehr zufrieden bin.« Diesmal hielt das Summen in der Leitung an. Vielleicht arbeitete man für Manny Littlejohn, weil er aus ganzem Herzen boshaft war. Er hatte aufrichtige Freude an diesem Spiel mit seinen »Kreaturen«. Sobald er jemand vor den Bauch getreten und mit Spikes auf dessen Geschlechtsteilen herumgetrampelt hatte, half er ihm mit dem liebenswürdigen Lächeln der Welt wieder auf die Füße. Deshalb hatten solche Mitarbeiter wie Professor Krawschensky am Ende noch das Gefühl, sie müßten ihm sogar dankbar sein. Der Wiedereintritt des Schaumbades in die irdische Zeit geschah eine Stunde und fünfundvierzig Minuten später. Trotz der Zeitdifferenz von zehn Stunden und fünfundvierzig Minuten war das Wasser noch genauso heiß, wie es beim Überwechseln in die chronomische Einheit gewesen war, und der Schaum war noch genauso blasig. Ein paar Blasen quollen sogar über den Rand des Badezubers und blieben auf der Bühne kleben. Beim Anblick dieser heißen Blasenpracht führte der Professor einen kleinen Tanz auf. Liza, die auch ihren Teil zu diesem Festakt beitragen wollte, zog ihren Kittel aus und tauchte genießerisch in das heiße Wasser ein. Der Anblick von seifenglänzenden Brüsten und Schenkeln, die von Gardenienschaum garniert waren (selbstverständlich mit wissenschaftlichem Hintergrund), ermutigten Professor Krawschensky so sehr, daß er es für angebracht hielt, seine Hose ebenfalls auszuziehen. Der Morgen hatte anstrengende Arbeit gebracht, und er hatte eine Erholungspause wohl verdient. Er und Liza beschäftigten sich rund vierzig Sekunden miteinander. Sie hielten das beide für einen geeigneten Klimax. Liza erwartete zwar nicht viel davon und wurde in dieser Hinsicht auch nicht enttäuscht. Igor erwartete viel und erhielt mehr, als er gedacht hatte. Tatsächlich glaubte er sogar einen Augenblick lang, ihm würde der Kopf bei zu hohem Blutdruck zerspringen. Es war der Anfang einer neuen Ära in ihren Laborbeziehungen. (Und zugleich das Ende, da Erfolg, Seife und Liza Simmons sich nie mehr zu so einer anregenden Konstellation vereinigten.) Währenddessen wartete David Silberstein vergeblich auf einen Anruf der Polizei. Doch als sich auch nach dem Mittagessen noch kein Beamter wegen des Vorfalls auf dem Fluß am Abend zuvor bei ihm beschwerte, beschloß er, von sich aus die Initiative zu ergreifen. Silberstein wollte sich nicht den Anschein geben, als weiche er irgendwelchen Konsequenzen aus. Auch wenn die Verbindungen des Gründers allmächtig waren, konnte es bestimmt nicht schaden, wenn man richtige, wohlmeinende Schritte unternahm. Er rief fünfmal bei der Polizei an, und fünfmal sagte ihm die Vermittlung, die Polizei sei besetzt. Als er endlich mit ihr verbunden wurde, teilte ihm ein Beamter mit abgehetzter Stimme mit, der Chef sei leider nicht erreichbar. Als David sich nicht damit abfinden wollte, sagte der Beamte kurz angebunden: »Ist Ihnen nicht bewußt, Sir, daß wir seit dem Ausbruch der Epidemie ununterbrochen im Einsatz sind?« David: »Nein … nein, das wußte ich gar nicht.« Doch die Leitung war bereits tot. David legte auf. So bald schon. Eine Epidemie. So früh also schon … Er saß da und starrte aus dem Fenster. Man hätte ihm das schon früher melden müssen. Irgend jemand mußte doch am Radio oder am Fernseher etwas davon erfahren haben. Es sei denn, daß die Regionalverwaltung die Sache herunterspielte, um eine Panik zu vermeiden, und abwartete. Konsum und Vollbeschäftigung war oberstes Gebot, und wenn in einem der traditionellen Urlaubsgebiete die Gesundheitskontrolle versagte, konnte das böse finanzielle Folgen haben. Vielleicht hatte man die Zeitungen gar nicht von der Epidemie unterrichtet. David saß am Schreibtisch und biß sich auf die Fingernägel. Egal, wie sehr man mit einem Ereignis gerechnet hatte, egal, wie oft man sich die Konsequenzen ausgemalt hatte, es war doch ein Schock, wenn es eintrat. Außerdem hätte ihm jemand Bescheid geben sollen … Er drehte das Radio an, doch BBC brachte nur sein übliches leichtes Musikprogramm für alle. Er drehte das Radio leise und rief Sergeant Cole an. Er solle seine Leute alarmieren, sagte David, weil man mit Schwierigkeiten rechnen müsse. Die Fernsehspione an der Mündung des Pill seien vierundzwanzig Stunden in Betrieb zu halten. Er kam in Schwung, zeigte, daß der Job des Projektleiters genau seine Kragenweite war. Er rief das Hospital an und ließ eine Massenimpfung vorbereiten. Er rief das Lagerhaus an und befahl, ihm eine genaue Aufstellung aller Lebensmittelvorräte zu übermitteln. Dann ließ er zum Chefingenieur durchstellen und beauftragte ihn, alle halbe Stunde an der Mündung des Pill Wasserproben zu entnehmen und zu analysieren. Auch die Leute vom Wasserwerk wurden alarmiert, denn das Dorf verfügte über eine eigene, große Wasseraufbereitungsanlage, falls die öffentliche Versorgung nicht mehr richtig funktionierte. Jetzt war der Augenblick da, wo er zeigen konnte, wie fähig er war. Er genoß ihn. Schließlich schaltete er die Dorfsprechanlage ein, an die jedes Haus angeschlossen war, und ließ das Band mit seinem Rufzeichen abspielen. Er mochte Schubert nicht und schon gar nicht dessen Forellenquintett; doch der Gründer (ein Mann mit leichtem Geschmack) hatte darauf bestanden. In jedem Büro, jedem Laden, in jeder Werkstätte, in jeder Wohnung (außer in Roses Varcos Wohnhöhle, bei dem eine solche Anlage nur eine verschwendete Ausgabe gewesen wäre) ertönte das banale Leitmotiv. David Silberstein räusperte sich. Seine Worte würden Geschichte machen, und er wußte es auch. »Ich halte den Zeitpunkt für gekommen, wo wir die Zugbrücke hochziehen müssen. Wie Sie wahrscheinlich alle wissen, hat die Umweltverschmutzung in den letzten Wochen stetig zugenommen. Heute habe ich die Mitteilung bekommen, daß irgendeine Epidemie in St. Kinnow ausgebrochen sein soll. Um was für eine Art von Epidemie es sich dabei handelt, habe ich noch nicht feststellen können. Sie wissen wahrscheinlich auch, daß die Beziehungen zwischen den Bewohnern der Stadt und uns sich in letzter Zeit verschlechtert haben. Wir können also nicht mehr mit dem Wohlwollen unserer Nachbarn rechnen. Wie Sie ebenfalls wissen, hatten wir für diesen Fall schon vor vielen Monaten vorgesorgt. Deshalb werden wir in Ruhe abwarten können. Von jetzt ab ist jeder persönliche Kontakt mit der Außenwelt verboten. Wir schicken auch keine Post hinaus und empfangen keine Post mehr. Wer von Ihnen Verwandte in der Außenwelt hat, bekommt bestimmte Termine zugeteilt, an denen er mit seinen Verwandten telephonieren kann, da wir unsere Vermittlung nicht überlasten dürfen. Auch werden die Gehälter in Zukunft nicht mehr in bar ausgezahlt, sondern Sie erhalten Kreditscheine. Die Sanitätsabteilung bereitet bereits eine Massenimpfung vor, und wir teilen Ihnen noch mit, wann die Impfung stattfinden wird. Doch jeder von Ihnen, der sich in den letzten achtundvierzig Stunden aus irgendwelchen Gründen außerhalb der Dorfgrenze aufgehalten hat, muß sich sofort im Krankenhaus melden. Wenn unser Arzt eine Quarantäne für notwendig hält, werden diese Leute vorübergehend im Krankenhaus zur Beobachtung isoliert. Das ist eine Maßnahme, die im Interesse der Gesundheit unserer Gemeinde unerläßlich ist. Im übrigen gibt es keinen Anlaß, sich Sorgen zu machen. Die Verwaltung ist selbstverständlich auf alle Eventualitäten vorbereitet. Wir haben unsere eigene Wasser- und Elektrizitätsversorgung, und unsere Lebensmittelvorräte reichen mindestens für ein halbes Jahr. Die Luftverschmutzung wird ständig überwacht, und das Seewasser wird ebenfalls ständig kontrolliert, damit schädliche Stoffe rechtzeitig ausgefiltert werden können. Auch Atemmasken gegen Luftverschmutzung liegen bereit, obwohl ich es für unwahrscheinlich halte, daß wir diese Gesichtsmasken in absehbarer Zukunft tragen müssen. Allerdings müssen wir damit rechnen, daß Unruhestifter und böswillige Leute aus der Umgebung unser Dorf angreifen werden. Doch unsere Verteidigungsanlagen sind so organisiert, daß sie jeden Angriff abschlagen können. Wenn es zu Schlägereien oder Schießereien kommen sollte, bitte ich Sie alle, in Ihren Häusern zu bleiben und sich ruhig zu verhalten. Unsere Sicherheitstruppe ist hervorragend ausgebildet und weiß genau, wie man solchen Elementen begegnen muß. Alle Maßnahmen, die jetzt von mir angeordnet wurden, werden noch heute schriftlich bestätigt und vor dem Rathaus ausgehängt. Heute abend um neun Uhr findet ein Gottesdienst statt, in dem wir um Gottes Fürsorge für unser Volk und unseren Staat bitten. Das wäre alles.« Er wollte schon wieder die »Forelle« einschalten, als ihm noch etwas einfiel. »Ich glaube, daß Sie sich alle freuen werden, wenn ich Ihnen mitteile, daß Professor Krawschensky inzwischen ein entscheidender Durchbruch in seiner Arbeit gelungen ist. Er ist jetzt zuversichtlich, daß er das ganze Projekt in sehr naher Zukunft erfolgreich abschließen kann. Sie werden sich sicher meiner Gratulation anschließen und den Professor und seine Assistentin für diese Leistung beglückwünschen. Jeder von Ihnen weiß, was dieser Fortschritt für uns alle bedeutet. Noch einmal, vielen Dank, auch für das Zuhören.« Sie würden bald aus dieser Misere heraus sein, in einem schöneren, freieren, gerechteren Land leben. Er schaltete das Mikrophon wieder ab und saß steil aufgerichtet in seinem Stuhl, die Hände flach auf den Tisch gelegt. Er überlegte, was er als nächstes tun sollte. Die Musik für jedermann von BBC schmeichelte im Hintergrund. Es wurde Zeit, das Drei-Uhr Bulletin herauszugeben. Er sah sich in seinem Büro um. Er rotierte, war beschäftigt, erfüllte seine Funktion. Er existierte. Dann sah er sich selbst und fühlte sich beschämt. Das hatte er allein Liza Simmons zu verdanken. Sie hätte ihn nicht so unterminieren dürfen – sie und dieser verdammte Roses Varco. (Warum eigentlich verdammt? Vor ein paar Wochen hatte er den Mann noch ganz entzückend gefunden, so erfrischend). Egal, das war vorüber. Als Mann zu existieren, war immer gefährlich. Als Projektleiter war er viel sicherer. Was nicht heißen sollte, daß er nicht beiden Funktionen gerecht geworden wäre, wäre nicht dieser verdammte Roses Varco gewesen. Roses Varco … Davids blendendes Gedächtnis, das ihn in die Position gebracht hatte, die er heute innehatte, präsentierte ihm die Tatsache, daß Roses Varco am vergangenen Abend die Gemeinde verlassen und seine Anordnungen wahrscheinlich nicht gehört hatte. Er mußte den Arzt anrufen, damit er Roses in sein Hospital holte. Und er würde dem Arzt auch sagen, er wolle sich mit der Angelegenheit von Roses’ Pillen befassen. Der konnte ihm das doch viel besser beibringen als er selbst. Das Radio brachte das Pausenzeichen für die Drei-Uhr-Nachrichten. »Und hier sind die Kurznachrichten für Dienstag, den 23. August. Warmes und sonniges Wetter über ganz England. Das Gesundheitsministerium gibt bekannt, daß die Berichte über eine Epidemie im Südwesten des Landes der Wahrheit nicht standhalten. Der Ausbruch einer fiebrigen Erkrankung in verschiedenen Erholungsgebieten gibt zu keiner Besorgnis Anlaß, und die Gesundheitsbehörden haben die Lage vollkommen unter Kontrolle. Der Premierminister befindet sich zur Zeit auf Urlaub in Sumatra, steht aber in ständiger Verbindung mit den zuständigen Behörden. Auch er hält besondere Maßnahmen für nicht erforderlich. Eine leichte Zunahme der Krankheiten ist zu bestimmten Jahreszeiten als durchaus normal zu betrachten. Trotzdem rät der Automobilclub von Ausflügen in das Erholungsgebiet D ab. Impfstellen sind eingerichtet, falls ein Besuch dieses Gebietes unerläßlich ist. Weitere Einzelheiten darüber hören Sie in den Regionalnachrichten … In Washington ist die Menge, die das Weiße Haus umzingelt hat, mit Juckgas zurückgetrieben worden. Einheiten der Nationalgarde unter dem Befehl von General Morgan …« David drehte das Radio ab. Die Probleme Amerikas waren nicht seine Probleme. Es war jetzt klar, daß die Lage im Südwesten des Landes ernst war. Wenn der Automobilclub von einem Ausflug in diese Gegend abriet, war das ein Euphemismus. David kannte die Pläne für Straßensperren und Quarantänegebiete. Daß man diese Pläne jetzt in die Tat umsetzte, war ein deutlicher Hinweis, daß sich hier eine Katastrophe abzeichnete. Man hatte keine statistischen Angaben gemacht, und – was noch bedenklicher war – man hatte die fiebrige Erkrankung nicht beim Namen genannt. Vielleicht gab es gar keinen Namen dafür. Es gab verdammt viele resistente Bakterienstämme oder mutierte Abarten, die möglicherweise jede Impfung fragwürdig machten. Man konnte eben nur tun, was man tun konnte. David Silberstein griff nach dem Telephon und gab Anweisungen, diesen verdammten Roses Varco ins Hospital zu schaffen. Roses Varco hielt sich gerade am Strand auf, als der Sanitäter ihn fand. Roses wollte nichts mit dem Krankenhaus zu tun haben, und man mußte erst zwei Sicherheitsbeamte, schließlich noch einen dritten herbeirufen, ehe man den Tobenden ins Krankenhaus schaffen konnte. Zum Glück war Liza Simmons bereits im Krankenhaus eingetroffen. Ihre Gegenwart wirkte beruhigend auf Roses Varco. Sie ging mit ihm in die chirurgische Abteilung, wo der Arzt seine Untersuchung vornahm. Zwischen Scham und Sicherheit hin und her gerissen entschied er sich schließlich für die Sicherheit. Liza fand seine schüchternen Versuche, seine Blößen zu bedecken, ganz zauberhaft. Die Ergebnisse aller Tests waren negativ. Der Arzt sah zu, wie sich Roses rasch wieder das Hemd überzog. Das würde bestimmt kein bequemer Patient werden, überlegte er. »Würden Sie nicht gern für ein paar Tage im Krankenhaus bleiben?« fragte er mit falscher Begeisterung. »Will ich nicht.« »Ich fürchte, das muß sein.« »Hier herinnen, meinen Sie? Nicht einen Tag. Nicht eine Minute.« Der Arzt seufzte. Er hatte zwar eine geschlossene Abteilung, konnte aber keine Leute entbehren, um sie zu überwachen. Er blickte Liza hilfesuchend an. »Der Arzt meint, wir hätten vielleicht gestern etwas einfangen können. Von den beiden Burschen auf dem Fluß.« »Von den beiden Kerlen? Denen hat nichts gefehlt, was eine Tracht Prügel nicht heilen könnte.« »Das kann man jetzt noch nicht wissen. Du willst doch nicht krank werden, oder?« »Bin nie krank gewesen. Außerdem habe ich noch einen Schrank voll Flaschen von meinem Dad. Die kurieren alles, was es gibt.« Der Arzt bedeckte das Gesicht mit den Händen und täuschte einen Hustenanfall vor. Liza nahm Roses’ Hand zwischen die ihren. »Ich werde auch hier sein. Willst du mir denn nicht Gesellschaft leisten?« Roses dachte nach. »Gleiches Zimmer?« Liza sah den Arzt fragend an. Der nickte zustimmend. »Ja, Roses. Das gleiche Zimmer.« Er bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. In einem Zimmer mit einem Mädchen zusammen zu wohnen, gehörte sich nicht. Es war nicht richtig … Er wußte zwar nicht, warum. Aber es schickte sich nicht, wenn er sich vor ihr auszog. Nun war sein Hemd ziemlich lang, und er konnte ja immer auf der anderen, von ihr abgewendeten Seite des Bettes aufstehen … Außerdem hatte sie ihn ja schon gesehen, als der Arzt an ihm herumklopfte. Es war nicht so schlimm gewesen wie bei den Schwestern, die ihn mit ihren verkniffenen Gesichtern taxiert hatten … »Also gut«, sagte er. »Ich bleibe.« Der Arzt blickte von einem zum anderen und wunderte sich über das ungleiche Paar. Kaum harmonisch im Geiste. Doch ein bißchen unkomplizierter Sex würde einem so verklemmten Mädchen wie Liza Simmons ganz gut tun. Auf jeden Fall würde ihr der Aufenthalt nicht langweilig werden. Dann erinnerte er sich wieder an die Warnung des Projektleiters. »Erinnerst du dich noch an die Pillen, die wir dir gegeben haben?« »Pillen?« »Die Pillen in der roten Flasche. Hast du die Pillen genommen?« »Oh, die. Habe sie weggeschmissen. War nicht krank. Brauche keine Pillen, wenn ich nicht krank bin.« »Das sind keine solchen Pillen. Das sind Pillen, die dich sterilisieren. Sie sterilisieren deinen Samen.« – Totale Verständnislosigkeit. – »Sie verhindern, daß ein Mädchen Babys bekommt.« »Das ist nicht anständig, was Sie da reden. Ich würde so etwas nicht tun. Das ist schmutzig.« Der Arzt vermied es, Liza anzusehen. Er machte einen Vorschlag, der vielleicht am ehesten weiterhalf: »Ich möchte aber, daß du von jetzt ab die Pillen nimmst, weil sie dir jetzt helfen, daß du nicht krank wirst. Du sollst jeden Tag eine Pille nehmen.« Ein Mann wie der mußte eine ungeheure Fruchtbarkeit haben. »Nein, am besten nimmst du zwei Pillen am Tag. Die verhindern, daß du krank wirst.« »Ekelhaftes Zeug.« »Die Pillen können doch nicht ekelhaft sein, wenn sie verhindern, daß du krank wirst – oder?« Roses murmelte etwas. Es waren halblaute, rebellische Laute. Der Arzt suchte Unterstützung bei Liza. »Sie sorgen doch dafür, daß er die Pillen nimmt, nicht wahr?« »Natürlich sorge ich dafür.« Obgleich sie natürlich eine Beleidigung für die Würde eines Menschen waren. Sie führte Roses in eine kleine Isolierabteilung mit zwei Betten und vollautomatischer elektro-medizinischer Überwachung. Sie redete ihm gut zu, bis er sich ins Bett bringen ließ. Sie vermittelte, als es um ein heißes Bad ging, und ebenfalls, als Roses sich um keinen Preis von seinem Hemd trennen wollte, um einen Pyjama anzuziehen. Er lag im Bett, starrte an die Decke und hatte die Decke bis zum Kinn hinaufgezogen. Sie zeigte ihm, wie er den Fernsehapparat bedienen mußte, aber auf keinem Kanal gab es eine Sendung, die ihn interessierte. Da in der Bücherei für Erwachsene keine Comic-Strips zu leihen waren, holte sie ein paar Comic-Hefte aus der Kinderabteilung. Dazu Puzzles und andere Spiele. Sie sah bald ein, daß ihre Quarantäne keine erholsame Zeit werden würde. Und sie wußte auch, wenn sie es bisher noch nicht gewußt hatte, daß sie ihn liebte. Die kommende Nacht, die Nacht von Dienstag auf Mittwoch (23. August) brachte den ersten Angriff der Nachbarn auf das Forschungs- und Experimentierdorf Penheniot. Den ersten und gefährlichsten Angriff. Gefährlich deshalb, weil er mit Unterstützung aus dem Dorf vorgetragen wurde. VI Als der erste Alarmax kam, schlief David Silberstein in seinem Bett. Das Telephon weckte ihn, und Sergeant Cole meldete einen Sensorenimpuls, der die Anwesenheit von sieben oder acht Leuten innerhalb des elektrischen Zaunes lokalisierte, und zwar in dem Waldstreifen westlich des Dorfes. Die Uhrzeit war zwei Uhr dreißig morgens, und der Mond war gerade untergegangen. David stand sofort auf und begab sich in sein Büro. Dort hatte er eine Monitoranlage zu allen im Dorf verteilten Sensoren und eine direkte Leitung zum Revier, so daß er über die laufenden Operationen im Bilde war. Offenbar hatten Harry und Pete sich gar nicht erst die Mühe genommen, bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten. Sie hatten offenbar gewußt, daß das nur eine Zeitverschwendung war. Statt dessen hatten sie ihre Freunde zusammengetrommelt und auf eigene Faust ein Kommandounternehmen gestartet. Solche Selbsthilfemaßnahmen lagen in der Luft – schließlich wurde das Dorf als Sündenbock für alle möglichen Pannen in der Außenwelt zitiert. Doch David war trotz dieses einkalkulierten Risikos besorgt. Er wunderte sich, daß diese Eindringlinge unentdeckt über den Zaun gekommen waren. Er hätte eigentlich erwartet, daß ein Teil des Zaunes kurzgeschlossen worden wäre, ehe die Invasion stattfand. Das hätte sich sofort als Warnlicht auf Coles Kontrolltafel bemerkbar gemacht. Statt dessen war die Gruppe offenbar mittels eines Leitersystems über den Zaun gestiegen, ohne den Zaun zu berühren. Die Gruppe war also viel besser vorbereitet und taktisch eingestellt, was auf ein gut vorbereitetes Unternehmen hindeutete. Trotzdem war kein wirklicher Anlaß zur Sorge gegeben. David saß vor dem Monitor und plauderte über die direkte Leitung mit Sergeant Cole. Das nächstemal verrieten sich die Eindringlinge am hinteren Rand des Dorfes bei dem Elektrizitätswerk. Das bedeutete, daß die Eindringlinge, nachdem sie die ersten Sensoren recht ungeschickt passiert hatten, vollkommen unbemerkt die Kette der zweiten Sensoren überwinden konnten. Dabei war es vollkommen unwahrscheinlich, daß die Lücken in der zweiten Linie der Sensoren nur durch Zufall gefunden hatten. Zu viele Zufälle. Auch die Sensoren für Kurzschluß am Zaun hatten sie nicht einfach vorausahnen können. Eine Kette, ein Muster entwickelte sich, das David beunruhigte und deprimierte. Er wartete ab, was die Eindringlinge als nächstes taten. Er hoffte, sie würden sich zu etwas entschließen, was sein Instinkt jedoch von vorneherein für unwahrscheinlich hielt. Das Elektrizitätswerk bot sich als gutes Ziel an, wenn man dem Dorf einen ernsthaften Schaden zufügen wollte. Man hatte es deshalb buchstäblich unzerstörbar gemacht. Der Generator war zehn Meter unter der Erde und mit einem Panzer umgeben, der aus zwei Meter dickem, mit Titan verstärktem Beton bestand. Was von dem Elektrizitätswerk über der Erde zu sehen war, bestand aus acht Zentimeter dickem Stahl. Und wenn die Sensoren, die die Gebäude umgaben, einen Impuls ausstrahlten, wurde das Gebäude sofort mit zweitausend Volt aufgeladen. Außerdem waren noch Gassprüher über die Landschaft verteilt und Radiofelder, die sofort Zeitzünder zur Explosion brachten oder ferngesteuerte Zünder erfolgreich blockierten. Die Vorsichtsmaßnahmen waren also so umfassend, daß man sie fast übertrieben nennen konnte. Doch ohne Kraftversorgung war das Dorf zum Tode verurteilt. Also waren diese Maßnahmen gerechtfertigt. Um das Elektrizitätswerk herum war ein Garten angelegt, in dem Stockrosen, Kapuzinerkresse, Bartnelken und Sensoren mit halbem Meter Zwischenraum eingepflanzt waren. Der Projektleiter wartete vergeblich auf ein Zeichen von diesen Sensoren. Die Eindringlinge wußten viel zu gut Bescheid. Obwohl das Elektrizitätswerk sich als Ziel geradezu aufdrängte, hatten die unbekannten Eindringlinge sich vorsichtig daran vorbei gedrückt. Dann meldeten die Sensoren wieder die Gruppe aus einer Gasse neben der Poststelle. Normalerweise würde man annehmen, daß die Hauptstraße besonders gut bewacht wird, und die Gassen hinter den Häusern benutzen. Doch diese Gruppe wußte es besser und war ganz frech die Hauptstraße hinuntergegangen. David runzelte die Stirn. Diese sorgfältige Planung war langsam unheimlich. Vor der Poststelle trennte sich die Gruppe. Die eine Hälfte marschierte in Richtung Laboratorium weiter, die andere in Richtung Schule. Die Art der jetzt einlaufenden Signale verriet, daß beide Gruppen keine Sicherheitsmaßnahmen gegen radioaktive »Markierer« getroffen hatten, die jetzt ständig anzeigten, wo die Leute sich gerade im Dorf bewegten. Ihre Kenntnisse von den verschiedenen Verteidigungsmethoden waren also lückenhaft. »Sollen wir die Leute hochgehen lassen, Sir?« fragte Sergeant Cole. »Nein.« Die Aufteilung in zwei Trupps interessierte David ungemein. »Nein, ich möchte erst herausfinden, was die linke Gruppe jetzt im Sinn hat. Was wollen sie denn in der Schule?« »Vielleicht eine Geisel fangen. Die Schule ist ein sehr schwacher Punkt in unserem Verteidigungssystem.« »Mag sein. Aber ich glaube nicht, daß die so etwas vorhaben.« Wenn die Unbekannten schon so viel von den Sicherheitseinrichtungen des Dorfes wußten, wußten sie auch, daß man lieber eine Geisel opfern als ihnen die Forschungsgeheimnisse preisgeben würde. »Aber lassen Sie jetzt Ihre Leute ausschwärmen, Cole. Wir wollen jedes unnötige Risiko vermeiden.« Die Gruppe, die sich dem Labor näherte, hatte sich so bewegt, wie er das vorausgesehen hatte – hinter den Werkstätten entlang und dann quer über den Rasen vor dem Quartier der Chrononauten. Hier hatten sie anscheinend keine Ahnung mehr, wo Sensoren verborgen sein konnten, denn sie vermieden keinen einzigen mehr. Vor dem Labor hielt diese Gruppe an, um vielleicht auf ein Signal zu warten oder eine bestimmte Zeit verstreichen zu lassen. David schaltete ein Mikrophon ein, das dieser Gruppe am nächsten war, konnte aber nichts hören außer leisem Geraschel. Die andere Gruppe, die sich auf die Schule zubewegte, verschwand plötzlich vom Monitor. David markierte ihre letzte bekannte Position und verglich den Lageplan des Dorfes damit. Sie waren jetzt im Bereich des Supermarktes, der Bank und des Krankenhauses. In diesem Teil des Dorfes gab es viele Höfe, Plätze und Zugänge, die nicht von Sensoren überwacht wurden. Hier konnte man sich auch am besten verschanzen, wenn es zum Zusammenstoß mit der Dorfbevölkerung kam. Diese Leute hätten kaum einen besseren Platz wählen können, um mit ihrem Kampf gegen die Dorfgemeinschaft zu beginnen. Jetzt war es erwiesen, daß diese Unbekannten mit Informationen aus dem Dorf versorgt worden waren. Und eine Vermutung, was sie jetzt vorhatten, ließ sich nur anstellen, wenn man wußte, wer dieser Informant war. Sogleich studierte der Projektleiter die Leuchtzeichen des Monitors. Was wußten diese Leute von den Verteidigungsanlagen des Dorfes oder –, was noch viel wichtiger war – was wußten sie nicht davon. Das Prinzip war sehr einfach. Es war (natürlich) von Manny Littlejohn entworfen worden, der grundsätzlich niemandem traute und dieses Prinzip erfolgreich in seinen zahllosen Niederlassungen und Büros angewendet hatte. Keiner wußte alles, doch jedem wurde so viel erzählt, daß er glaubte, man habe ihm alles erzählt. Man hatte die leitenden Angestellten des Dorfes – also die Leute, die für einen ernsthaften Umsturz am ehesten in Frage kamen – in drei Gruppen eingeteilt, und jede dieser Gruppen war einzeln über die Verteidigungsanlagen des Dorfes unterrichtet worden. Sie hatten alle einen Eid abgelegt, diese Anlagen streng geheim zu halten, und dabei die Genugtuung empfunden, eine privilegierte Vertrauensperson zu sein. Doch die Beschreibung, die jede dieser Gruppen bekam, war nicht einheitlich. Jedesmal wurden zwei verschiedene Stufen in diesem verwickelten Abwehrsystem verschwiegen. Demnach wußten zum Beispiel die Eindringlinge nichts von der ersten Linie der Sensoren und den radioaktiven Markierern. Und in diesem Dorf gab es nur drei Leute, denen man nichts von diesen beiden Systemen erzählt hatte. Der Projektleiter brauchte nicht erst in seiner Kartei nachzusehen. Er kannte die Namen und Einzelheiten auswendig. Die drei betroffenen Personen hießen Daniel Jefferies, Leiter der Werkstätten, Sir Edwin Solomons, der Ausbildungsleiter, und Paul Meyer, der Dorfarzt. Einer von diesen dreien war zum Verräter geworden. Diese Gruppe hatte etwas Bestimmtes gemeinsam – Weltoffenheit, Lebensgenuß. Drei Männer ohne Ballast einer Familie, ohne Idealismus, ohne Glauben. Welches Ziel würden diese Männer sich am liebsten aussuchen, die Bank, den Supermarkt oder das Krankenhaus? Diese Entscheidung war wohl einfach genug. In diesem Moment übermittelte das Mikrophon vor dem Labor den leisen Ruf einer Eule. In einer Gegend, wo Eulen praktisch ausgestorben waren. David seufzte. »Sergeant, sie greifen jede Sekunde an. Zwanzig Leute sofort hinüber zur Bank. Für das Labor genügen zehn Leute. Das ist nur eine Ablenkung. Den wichtigsten Schlag führen diese Leute gegen die Bank, vermute ich.« Ein paar Explosionen im Garten des Labors unterbrachen seine Worte. »Das ist kein ernsthafter Angriff, Sergeant. Sie werfen nur Granaten.« »Ich habe auch den Eindruck, Sir«, erwiderte der Sergeant mit leisem Sarkasmus. David achtete nicht darauf. Er beobachtete gespannt den Monitor, wartete auf die Bestätigung seiner Worte. Von der zweiten Gruppe war kein Laut und kein Signal zu hören. Vor dem Labor wurde der Lärm und das dumpfe Bersten der Granaten immer heftiger. Doch dieses Getöse war nicht laut genug, um die Explosion zu überdecken, als sie endlich kam. Das Signallicht für die Bank flackerte ununterbrochen. Das Büro des Projektleiters schwankte leise unter dem Druck der Explosionswelle. Er hatte recht behalten. Seine Gedankengänge waren logisch und gesund. Er konnte jetzt seine Kaltblütigkeit genießen. Das war überlegene Strategie. »Ich nehme an, Ihre Leute sind jetzt an ihren Posten, Sergeant.« »Besetzen sie gerade in diesem Moment, Sir. Haben Befehl, aus der Entfernung zu immobilisieren, Sir.« »Gut. Wir müssen daran denken, daß diese Leute sehr ansteckend sein können.« Die Aktivität vor dem Labor steigerte sich inzwischen zu einem wahren Inferno. Aber die Kerle waren durchschaut. »Kümmern Sie sich mal um diese Wühlmäuse vor dem Labor, Sergeant. Sie machen mir sonst noch die ganzen Stockrosen kaputt.« »Jawohl, Sir.« »Danach können Sie das Kommando selbst übernehmen, Sergeant. Ich denke nicht, daß es Pannen geben wird.« »Nein, Sir. Kaum.« David Silberstein schaltete das Außenbordmikrophon, den Monitor und den Lautsprecher ab. Er hatte seinen Moment der überlegenen Strategie genossen. Alles andere war Antiklimax. Er war mit sich zufrieden, doch nicht so zufrieden, wie das seinem kaltblütigen Handeln gemäß gewesen wäre. Er hatte das Richtige getan. Warum war seine Befriedigung darüber nicht größer? Draußen im Dorf gingen alle Scheinwerfer an. Salven aus automatischen Waffen betäubten die Eindringlinge auf der Stelle. Sie wurden mit antibakteriellem Schaum besprüht, um sie vorübergehend keimfrei zu machen. Die Leute, die in die Bank eingedrungen waren, wurden aus den eingebauten Gasdüsen besprüht und bewegungsunfähig gemacht. Man würde sie alle nach St. Kinnow zurückbringen und dort am frühen Morgen auf die Kais legen. Und der Polizei in St. Kinnow würde man eine scharfe Protestnote übermitteln (eine reine Zeitverschwendung). Alles so einfach. So unverschämt einfach. Und erst der Anfang einer Reihe von Widerwärtigkeiten. David Silberstein überlegte im taghell beleuchteten Büro um drei Uhr morgens, daß die Verdrossenheit oder Enttäuschung im Moment seines Sieges von den Widerwärtigkeiten kamen, die jetzt erst folgten. Es gab einen Verräter im Dorf, und er wußte auch, wer dieser Verräter war. Er hatte keinen Zweifel über dessen Person. Seine Aufgabe wäre viel leichter gewesen, wenn er diesen Mann respektiert oder gemocht hätte. Er stellte die Verbindung zu Sergeant Cole wieder her. »Schicken Sie zwei Ihrer Leute aus, Sergeant, und nehmen Sie Sir Edwin fest.« »Ist schon geschehen, Sir.« Davids Verdrossenheit nahm zu. Natürlich hatte auch Sergeant Cole eine Kopie von den leitenden Angestellten, die in getrennten Gruppen über die Sicherheitsmaßnahmen des Dorfes belehrt worden waren. Und selbstverständlich wußte auch der Sergeant, daß der Doktor und Daniel viel zu ungeschickt und unbeweglich waren, um so einen komplizierten Angriffsplan vorzubereiten, ohne sich verdächtig zu machen. Aber mußte Sergeant Cole seine Schlüsse so prompt ziehen? »Sie haben Sir Edwin wohl nie gemocht, wie, Sergeant?« »Das tut hier doch nichts zur Sache, Sir.« Recht hatte er. Es war unfair, seine eigenen Schwierigkeiten gefühlsmäßig auf den Sergeanten abzuwälzen. »Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, Sergeant. Ich habe ihn auch nicht gemocht.« Immer den aufrichtigen Mann spielen … Wenn er es sich genau überlegte, mochte er Daniel ebenfalls nicht. Und der Arzt entlockte ihm ebenfalls keine Freudenschreie. Gab es überhaupt jemand im Dorf, den er mochte? Abgesehen von Liza Simmons natürlich. Und die paarte sich jetzt mit diesem verdammten Roses Varco. »Sie lassen Sir Edwin soeben in mein Büro bringen, Sergeant?« »Jawohl, Sir. Er wird wahrscheinlich noch in seinem Bett liegen und den Unschuldigen spielen, Sir. Aber meine Männer werden nicht lange brauchen, um ihn zum Anziehen zu bewegen.« »Ich hoffe, es wird nicht zu Gewalttätigkeiten kommen, Sergeant.« »Aber Sir, keinesfalls kommt es dazu!« »Sehr gut, Sergeant. Sie haben sich sehr lobenswert verhalten.« Silberstein schaltete wieder ab. Er stemmte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Das Schweigen des frühen Morgens drang jetzt auf ihn ein. Es machte Geräusche in seinen Ohren. Und dann wurde ihm Sir Edwin vorgeführt. Er war von zwei Posten begleitet. Er sah überraschend zerknittert aus. Gar nicht der perfekte Diplomat, den David eigentlich erwartet hatte. »Setzen Sie sich, Sir Edwin. Meine Leute werden Sie wohl ziemlich erschreckt haben.« »Keineswegs. Sie waren sehr höflich. Außerdem habe ich nicht geschlafen.« »Nein. Das konnte ich mir denken.« Er hätte ihm eigentlich etwas Würdiges sagen sollen, etwas Überliefernswertes. Doch David hatte nur eine Frage im Kopf: Wie viele werden ihm nachfolgen? »In diesem Dorf leben dreihundert Erwachsene, Projektleiter. Ich würde ganz gern wissen, wie ausgerechnet mein Name aus der Trommel herausfallen konnte.« David zuckte nur die Achseln. »Beweise«, sagte er. Es hatte keinen Sinn, noch mehr Erklärungen abzugeben. »Das Mädchen, die Simmons, nehme ich an. Und dieser Dreckskerl, der loyale Dorftrottel. Obwohl ich doch ganz bestimmt auch einen Spaziergang hätte unternehmen können, um frische Luft zu schöpfen.« David hatte keine Ahnung, wovon Sir Edwin redete. Ihm war es auch egal. »Sie leugnen also nicht ab, daß Sie für dieses Unternehmen verantwortlich zeichnen«, erwiderte er. Sir Edwin riß sich zusammen, wurde schnell wieder sein früheres, geschmeidiges Image, das ihm Halt und imponierendes Wesen gab. Er starrte David an, die Lider fragend zusammengekniffen. »Sie haben Vollmacht, Projektleiter?« »Sie wissen, daß ich sie habe.« Sie wußten beide, wofür. »Belastete Sie das nicht? Schließlich sind Sie kein zweiter Littlejohn. Ich war selbst Zeuge, wie Sie Fragen stellten.« »Natürlich belastet mich das.« »Das stimmt mich froh.« Ein Schweigen dehnte sich jetzt zwischen ihnen aus, nachdem das Ende bestätigt war. Sir Edwin saß ganz still da, lächelnd, weil das Image es so verlangte, ein Lächeln ohne Hoffnung. »Verraten Sie mir noch etwas«, sagte er schließlich, das Thema anschlagend, das ihm trotzdem noch etwas bedeutete. »Sie sind kein Calvinist, nicht wahr? Sie glauben nicht an die Prädestination, oder?« »Sie haben Ihre eigene Frage bereits beantwortet.« David verstand nichts, wollte ihm aber eine Gnade erweisen. Gleichsam noch ein herzhaftes Frühstück, ehe das Urteil vollstreckt wurde. Doch beide zögerten, das Thema direkt anzuschneiden. Sir Edwins Denkstil steckte an. »Dann sind Sie also bereit, die Zeitreise blind anzutreten, als einen Akt des Glaubens?« David hätte jetzt das Echo von Professor Krawschenskys Thesen werden, einen semantischen Einwand machen können. Doch er tat es nicht. In diesem Moment seines Lebens sollte es Sir Edwin erlaubt sein, etwas Wichtiges zu sagen. Es würde etwas Bedeutendes sein. Mußte es sein. »Denn das wird es sein«, fuhr Sir Edwin fort, »ein reiner Akt des Glaubens. Sie haben ja keine Vorstellung, wohin sie reisen. Überhaupt keine Vorstellung.« Ein Apparat, der Desinfektionsmittel versprühte, glitt leise zischend unter dem Bürofenster vorbei. Sicherheitsbeamte gingen auf der Spur der Eindringlinge zurück und neutralisierten jede Ansteckungsgefahr. Notwendige, perfekte, anödende Tüchtigkeit. David wußte jetzt, warum ihn dieser Versuch, das Dorf zu überfallen, so sehr deprimiert hatte. Er zwang sich wieder zur Konzentration auf das, was Sir Edwin ihm zu sagen hatte. Wovon hatte der Mann soeben gesprochen? »Sie kennen das Programm, Sir Edwin. Was mich anbelangt, werde ich nichts aus blindem Gehorsam tun. Das bleibt den Chrononauten vorbehalten. Ich bewege mich keinen Zoll – oder keine Minute – aus der irdischen Wirklichkeit, bis einer von ihnen zurückgekehrt ist, um zu berichten, was mich dort erwartet.« »Zurückgekehrt ist? Aber mein lieber Projektleiter …« »Sie tragen ganz allein das Risiko der Reise ohne Wiederkehr. Professor Krawschensky wird sie ziemlich weit in die Zukunft schicken – dreißig oder vierzig Jahre weit. Doch bis dahin werden die Forschungsarbeiten im Dorf so weit fortgeschritten sein, daß wir auch das Rückholverfahren beherrschen. Für diese Aufgaben sind Leute wie Liza Simmons engagiert. Sie wird das Dorf nicht verlassen. Aber das wissen Sie ja alles selbst.« »Ich versuche ja nur zu erklären – wenn auch auf meine etwas umständliche Art, zugegeben –, warum ich tat, was ich tat. Haben Sie Geduld mit mir. Wenn Sie nicht an die Prädestination glauben, glauben Sie wenigstens an den freien Willen. Und wo bleibt der freie Wille des Menschen, wenn er aus der Zukunft in die Vergangenheit gereist ist?« David spürte leise Regungen von Panik. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte er mit fester Stimme. Oder war es Wunschdenken? »Ich tat, was ich tat, mein lieber Projektleiter – mein lieber David –, weil ich eines Tages klar erkannte, was nicht anders sein konnte. Ich erkannte, daß eine Reise zurück in die Vergangenheit eine philosophische Unmöglichkeit ist. Ich hörte auf, an das Projekt zu glauben.« »Ich will mir Ihre Gründe nicht anhören«, erwiderte David, »mit denen Sie sich rechtfertigen wollen.« Doch Sir Edwin sprach schon weiter. Er hatte ein Recht darauf, weiterzusprechen. Er hatte keine anderen Rechte mehr. Er beugte sich vor, verriet zum erstenmal ein echtes Engagement. »Denken Sie sich einen Menschen, der rückwärts durch die Zeit reist. Daraus folgt, daß ihm die Zukunft der ganzen Welt bekannt ist. Wie kann ein solcher Mensch sich wohl verhalten? Er weiß, wann der Regen fallen wird, er weiß, wann der Krieg ausbricht, er weiß, was seine Frau zum Abendessen kochen wird. Wenn Sie an den freien Willen glauben – können Sie sich das Leben dieses Mannes überhaupt vorstellen?« »Vielleicht gibt es mehr als nur eine Zukunft.« Ein Strohhalm. »Vielleicht gibt es unbegrenzte Möglichkeiten der Zukunft, in denen eine unbegrenzte Zahl von Möglichkeiten durchprobiert werden.« »Glauben Sie daran?« »Manche tun es.« »Ich frage Sie: Glauben Sie daran?« Draußen auf der dunklen Straße marschierte eine Gruppe von Sicherheitsbeamten. Draußen auf der dunklen Straße war das Dorf wieder sicher. David erinnerte sich an wissenschaftliche Tatsachen. Er war kein Physiker, doch die Reise in die Zukunft war eine Möglichkeit, die bereits bewiesen war. Gab es nicht ein Gleichgewicht der Kräfte? Stand nicht jeder Kraft eine gleichgroße Kraft gegenüber, die entgegengesetzt wirkte? Hier gab es ein Naturgesetz, und das ganze Gerede von Sir Edwin über philosophische Unmöglichkeiten konnte dieses Gesetz nicht aufheben. Sir Edwin ließ ihm seine kleine Denkpause. Ein Zappeln am Haken. Und dann … »Betrachten wir das Problem mal von einer anderen Seite, Projektleiter. Wenn es möglich ist, in die Vergangenheit zu reisen, ist es auch möglich, über den Ausgangspunkt hinaus zu reisen, zu einem Zeitpunkt, der vor der Abreise lag. Was ist dann? Werden zwei Exemplare von Ihnen zur gleichen Zeit auf der Erde wandeln? Werden Sie gleichzeitig in der Gegenwart und in Ihrer Vergangenheit existieren? Werden Sie als der in der Vergangenheit Lebende Ihre eigene Vergangenheit so ändern, daß Sie die Reise gar nicht machen werden, die Sie dorthin zurückbringt, wo sie gerade sind …?« Sir Edwin spreizte bittend die Hände. Nein. David Silberstein schloß die Augen. Wenn er sie wieder öffnete, würde die Nacht vorüber sein, würde keine Notwendigkeit mehr sein. Nein. Sir Edwin war von Beruf ein Manipulator – ein Manipulator vor Ideen und vor allen Dingen von Worten. Er war ein subversives Element. Alle seine Ausflüchte, seine Rechtfertigungen waren nichts als intelligentes Geschwätz, Verrat … David öffnete die Augen. Nichts hatte sich verändert. Die Nacht umgab ihn noch immer. Zwei Männer sprachen zusammen in einem hell beleuchteten Büro. Er ließ Sir Edwins Rechtfertigungen hinter sich. Er war mit ihnen fertig. »Haben Sie wirklich geglaubt, es gäbe noch einen Platz für Sie in der Außenwelt?« fragte er jetzt sachlich, ganz der Profi, der ein Verhör durchführte. »Ich hatte mir Hoffnung gemacht. Es gab gewisse Pläne. Mit Geld kann man eine Menge kaufen.« »Tatsächlich? In der unmittelbar vor uns liegenden Zukunft braucht man eine Waffe und ein gutes Auge, wie die Dinge stehen.« »Auch das kann man kaufen.« »Und das Fieber, Sie waren bereit, sich auch der Seuche zu stellen?« »Als der Überfall geplant wurde, war die Seuche noch nicht ausgebrochen. Ich wurde hier im Dorf ausreichend geimpft. Auch das Fieber war eines von zahlreichen Risiken, die man eingehen mußte.« »Mußte?« »Ich mußte es. Dieses Dorf lebt von einer falschen Hoffnung. Ich mußte ausbrechen, ehe die Ernüchterung kommt. Sie wird schrecklich sein.« Hier war endlich etwas, gegen das David ankämpfen konnte. Feigheit, Selbstbemitleidung, Grausamkeit. »Warum haben Sie mir das alles gebeichtet?« »Weil Sie mich danach gefragt haben.« »Sie können doch Ihre Verantwortung nicht einfach so abschütteln. Wenn ich das glauben würde, was Sie mir eben erzählt haben« – er glaubte es nicht, nein, er nicht –, »wäre ich auch ohne Hoffnung. Sie hätten mir meine Hoffnungen weggenommen. Warum?« »Ich habe Ihnen gar nichts genommen. Sie sind wie ich ein Mann ohne Zukunft, Projektleiter. Sie sind ein Zuschauer. Und Sie wissen das auch. Es gibt also nichts, was ich Ihnen wegnehmen könnte.« Ein Mann ohne Zukunft … Sir Edwin drosch intelligentes Stroh. Seine Worte bedeuteten nichts. David konnte Sir Edwin zwar widersprechen, aber damit überzeugte er niemand, nicht einmal sich selbst. Menschen zu überzeugen, sich selbst zu überzeugen, war ohne Bedeutung. Die Wahrheit – wenn es eine einzige Wahrheit gab – würde sich langsam herauskristallisieren. Sie würde aus sich selbst kommen. Er spürte jetzt kein Bedauern mehr für Sir Edwin. Auch keine Abneigung. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und begegnete dem Blick des Älteren. Wie sich das gehörte. »Sie müssen jetzt gehen«, sagte er dann. »Es gab nichts, was ich für Sie hätte tun können. Aber das wußten Sie schon vorher. Ich ließ Sie hierherbringen, weil ich sicher sein wollte, daß ich verstand.« Hatte er verstanden? »Sie müssen jetzt gehen.« Sir Edwin stand auf und ging hinaus zu seinen Wächtern im Korridor. Er wußte, aber er wußte nicht, wann. Sie erschossen ihn sofort, genau gezielt, aus nächster Nähe. Der Knall der Explosionen drang gedämpft durch die geschlossene Tür. Mit einem untragbaren, mit einem gewissermaßen toten Mann, so zu verhandeln, war obszön. David Silberstein verharrte lange bewegungslos hinter seinem Schreibtisch. Er dachte nichts, wie es einem Mann ohne Hoffnung zukommt. Dann suchte er sich eine Beschäftigung, Worte, Dinge, die er mit seinen Händen fassen und erledigen konnte. Es war seine Pflicht, wenn ein Dorfbewohner untragbar wurde, sofort den Gründer zu verständigen. Daß er den alten Mann zu so früher Stunde aus dem Schlaf schrecken würde, war für David Silberstein ein kleines, boshaftes Vergnügen. Im Hospital wurden Liza und Roses vom Kampflärm geweckt. Roses war erschrocken. Er stieg im Dunkeln aus dem Bett, zog sich seine Hose an und legte sich wieder hin. Dann wollte er das Licht anmachen; aber Liza sagte nein. Wenn draußen eine Schießerei stattfand, lockte das Licht doch nur eine Kugel an. Roses sah das ein. Er rollte sich im Bett zusammen, schlang die Hände um die Knie und beobachtete das helle Aufblitzen der Mündungsfeuer an der Decke, bis die Schatten wieder zusammenflossen. Das zog ihn zurück in seine nie weit entfernte Kindheit – Gewitter; seine Mutter, die die Spiegel zuhängte, die Vorhänge fest schloß, alle Zimmertüren öffnete und das Feuer mit Wasser löschte, falls ein Blitz durch den Schornstein hereinfuhr. Das kahle Krankenzimmer machte ihn so verwundbar. Wenn es nicht ununterbrochen geblitzt hätte, wäre er hinüber in seine Küche gerannt. Er zog sich die Decke über den Kopf. Dann kam ein Tappen. Er spürte, wie Liza zu seinem Bett kam und sich daraufsetzte. Er spürte, wie sie seinen Kopf streichelte und dann die Bettdecke herunterstreifte. Mit festgeschlossenen Augen drängte er den Kopf an sie. Sie gab beruhigende Laute von sich. Er hörte auf, zu zittern. Sie verbreitete eine Wärme um sich. Wie frische, warme Milch. Er klammerte sich daran. Draußen verstummte der Lärm im Dorf. Liza bewegte sich auf dem Bett, aber er hielt sie fest. Er brauchte ihre Wärme als Schutz vor der neuen Stille. Sie schob die Beine unter die Decke und streckte sich neben ihm aus. Ein Widerspruch zwischen damals und jetzt, denn das war kein Nachthemd aus rauhem Flanell, kein Duft nach gelber Seife. Auch die Stimme klang ganz falsch, und die Hände waren viel zu zart. Viel zu zart … Sein Körper ging darauf ein, während sein Geist immer noch auf der Schwelle hin und her schwankte. Jeder Nerv, den sie berührte, hatte ein Ende, das sofort in seinem Unterleib zuckte. Ein Hund hatte ihm einmal die Ohren geleckt. Es war das gleiche Gefühl, nur über seinen ganzen Körper verteilt. Seine Haut war elektrisch geladen. Und in seiner Hose wuchs sein Glied, daß er fast geschrien hätte, so viel Schmerz sammelte sich darin. Das Mädchen in seinem Bett war nackt, streichelte nackt seinen Kopf. Sein Körper gehörte ihm allein, war seine eigene Scham. Er riß sich los von ihr, wälzte sich herum, zog die Knie an den Unterleib und fing wieder an zu zittern. »Geh weg«, sagte er, »geh weg.« Seine Muskeln waren angespannt. Wenn sie sich bewegte, wenn sie wegrücken wollte, war er sprungbereit, sie für seine schreckliche Scham zu bestrafen. Liza fuhr mit der Zungenspitze über den Innenrand der Lippen. Sein Ellenbogen hatte ihren Mund getroffen, als er sich herumgewälzt hatte. Sie glaubte zu schmecken, daß ihre Lippen bluteten. Sie lag still, versuchte seine Verzweiflung zu begreifen. Sie war in seinem Bett, weil sie fror und weil sie ihm Wärme und Behagen schenken wollte. Warum nahm er dieses Geschenk nicht an? Sie starrte hinauf zur Decke, die in der anbrechenden Dämmerung grau schimmerte. Nein, sie machte sich nur etwas vor. Sie hatte sich eine Lüge zurechtgebastelt und daran geglaubt. Sie hatte nur seine Angst ausgenutzt, um ihn an sich zu gewöhnen. Sie war in seinem Bett um ihn an ihrer Seite zu spüren. Sie war in seinem Bett, um sich mit ihm zu paaren. Weshalb auch nicht? Sie hatte noch nie einen bestimmten Mann so sehr begehrt wie diesen. Und er hatte sie zurückgewiesen. Er war verklemmt in einem Ausmaß, das schon an Irrsinn grenzte. Sie versuchte Widerwillen gegen diesen halb-blöden Wilden zu empfinden, der immer noch zu einem Klumpen geballt neben ihr kauerte. Seine groben Kleider taten ihrer Haut weh. Ihn zu begehren, war im Grunde pervers, leicht ekelerregend. Er war unerreichbar, und vielleicht hungerte sie eben deswegen nach ihm. Unerreichbar. Er war ein seelischer Krüppel. Wahrscheinlich war er in seinem Alter bereits unheilbar. Er ging mit seinen Kleidern ins Bett und er roch. Sie war verrückt. Wenn sie sich schon auf eine Distanz von drei Metern an ihn heranwagte! Seine Verkrampftheit lockerte sich etwas. Nach einer langen Pause des Schweigens suchte er wieder Trost bei sich selbst. Ihr schmolz das Herz. Sie drückte ihn an sich. Sie nahm nicht sein großes, törichtes Haupt in ihre Hände. Aber sie hatte auch etwas davon, daß sie nur ganz still neben ihm lag und sein Hemd auf ihrer Haut spürte. »Ich möchte gern wissen, was der Lärm draußen zu bedeuten hatte«, sagte sie. »Hoffentlich ist niemand verletzt worden.« Sie erwartete keine Antwort. Sie hatte einen endlosen Monolog vorbereitet, nur um freundliche, beruhigende Worte von sich zu geben. Doch … »wenn es knallt, gehen meistens Leute drauf.« Er bewegte sich, schob die Beine wieder unter die Decke. Sie dachten beide darüber nach. »Vielleicht war es nur eine Übung«, sagte Liza. »Wenn es knallt, dann knallt es oder?« »Aber es gibt auch oft einen Knall, wo niemand verletzt wird. Zum Beispiel, wenn ein Feuerwerkskörper abbrennt.« »Das vorhin war kein Feuerwerk.« Sie ließ ihn gewinnen. »Ich glaube du hast recht«, sagte sie. Und sie glaubte tatsächlich nicht an eine Nachtübung. »Ich denke, das waren Pete und Harry. Ich denke, ihren Freunden hat das nicht gefallen, was wir mit den zweien gemacht haben.« »Was du mit ihnen gemacht hast, Roses.« »Hm, arrr. Du hast ganz recht.« Sie merkte, daß er lächelte. »Hätte es aber nicht ohne dich fertiggebracht. Andere Mädchen, die rennen weg.« »Ich konnte nirgends hinrennen.« »Stimmt.« Er seufzte glücklich bei dieser Erinnerung. Er bewegte seinen Arm, legte ihn über die Brust, fand das unbequem und schob den Arm über den Kopf, so daß er neben ihren Haaren lag. »Das war kein schlechter Abend, ganz bestimmt nicht … wenn die Schwäne auch keinen Grund hatten, zu sterben.« Er drehte den Kopf und blickte Liza im Dunkeln an. »Was war das, woran sie gestorben sind?« »Verschmutzung. Verdorbene Luft. Alle Vögel gehen ein. Hast du das nicht bemerkt?« Es gab ein Gesetzbuch. Es gab Dutzende davon. Was man brauchte, war ein Gesetz, das den Leuten das Scheißen verbot. »Roses – bist du nicht schläfrig?« »Noch nicht. Bald. Ich weiß immer, wann. Denn dann gehen die Gedanken durcheinander. Deshalb weiß ich es.« Sein Arm glitt unter ihren Kopf, und sie rückte etwas näher heran, paßte genau an seine Seite. Sie redeten noch eine Weile miteinander und dann gingen die Gedanken durcheinander. Schließlich schliefen sie ein. Als sie erwachten, war heller Morgen. Liza ging wieder in ihr eigenes Bett. Sie wollte nicht, daß Roses sich Sorgen machte, was wohl die Schwester sagen würde, wenn sie den Monitor für ihr Zimmer betrachtete. Mit der Morgenflut kam die erste Leiche. Von der Mündung bis zum Kai von Penheniot wurde sie vom Fernsehspion verfolgt. Es war die erste Leiche von vielen, da das Meer jetzt nicht nur eine Abwassergrube, sondern auch ein Bestattungsplatz geworden war. David Silberstein – er war in jenen Tagen überall zugleich – hatte bereits die Stelle, wo die Leiche angeschwemmt wurde, abgesperrt, und der Arzt stand in Bereitschaft. Die Leiche – eine ältere Frau, nur leicht aufgedunsen – wurde sofort in einen Metallsarg gelegt, versiegelt und in das pathologische Labor geschafft. Dort führte der Arzt unter absolut sterilen Bedingungen eine Autopsie durch und isolierte einen Mutantenstamm von Darmkatarrh-Erregern. Das war eine Krankheit, die in Westeuropa seit Jahrzehnten nicht mehr aufgetreten war. Wenigstens nicht außerhalb der regierungseigenen Forschungsstätten für (anti-) biologische Kampfstoffe. Und von diesen Forschungsstätten gab es mehrere hier im Südwesten von England. Aus dieser Tatsache würden die Mrs. Lamptons, wenn sie darüber aufgeklärt würden, möglichst rasch ihre agitatorischen Schlüsse ziehen. Dr. Meyer hielt sich jedoch in seinem Bulletin zurück. Das Fieber, so ließ er erklären, war zwar ansteckend, wurde aber von dem Mehrzweck-Impfstoff, den er vorbereitet hatte, ebenfalls abgeblockt. Die Inkubationszeit dieser Krankheit war kurz und wenn sich nicht außergewöhnliche Umstände entwickelten, könnte er alle Dorfbewohner, die sich augenblicklich in Quarantäne befanden, spätestens nach vierundzwanzig Stunden wieder entlassen. Er stellte weiterhin fest, daß die tote alte Frau nur mit einem Nachthemd bekleidet war, was darauf schließen ließ, daß die Frau in einem der Häuser am Fluß gewohnt haben mußte und von ihren Verwandten aus Angst vor Ansteckung einfach ins Wasser geworfen wurde. Wenn sich die Verwandten, fuhr Dr. Meyer fort, tatsächlich mit solchen drastischen Maßnahmen vor einer Ansteckung bewahren wollten, hätten sie die Frau schon drei Tage vor ihrem Tod ins Wasser werfen müssen. David Silberstein hörte sich den Bericht an und nickte, als habe er das alles vorausgesehen. Er schloß daraus auf einen Zusammenbruch der Ordnung auf eben jenen Gebieten, zu deren Festigung und Schutz das Dorf errichtet worden war. Diese Bereiche hießen private Intimsphäre und nationale Tradition und Struktur. Gesetz und Ordnung waren schon seit Jahren in Auflösung begriffen, und so sorgte David Silberstein wenigstens hier im Dorf für solide Verhältnisse. Er ordnete die sofortige Verbrennung der Leiche im Dorfkrematorium an. Dann ließ er sich mit der Gesundheitsbehörde von St. Kinnow verbinden – was einige Mühe kostete – und meldete, was er getan hatte. Die Leute dort schienen viel zu beschäftigt zu sein, um sich um den Fall zu kümmern. Dann versuchte er den Gründer in London zu erreichen. Wie er vermutet hatte, waren alle Leitungen besetzt. Während die BBC immer noch von einer entspannten Lage sprach (obgleich die Quarantäne bereits über Bristol und die Industriebezirke um Salisbury verhängt worden war), wurden Ferngespräche aus den gefährdeten Gebieten nach Möglichkeit blockiert. Er fragte sich, wie lange das Märchen von den geordneten Verhältnissen noch aufrechterhalten werden konnte. Inzwischen mußten ein paar Millionen Einwohner wissen, wie es wirklich im Land aussah. Wie zu erwarten, war es Mrs. Lampton, die zuerst den Bann offizieller Zensur durchbrach. Natürlich hatte sie nur die edelsten Motive und brachte dabei die Dinge so durcheinander, daß keiner mehr Herr der Lage wurde. Mittags im Regionalprogramm (das längst nicht so scharf überwacht wurde wie das überregionale) kam ein Interview mit der Generalsekretärin des Komitees für die moralische Verantwortung in Wissenschaft und Forschung. Der Projektleiter nahm die Ankündigung mit gemischten Gefühlen hin. Er ahnte, was kommen mußte. Sie begann das Interview mit der Behauptung, sie wolle unter keinen Umständen einen Wirbel machen. (Ihre Hysterie war schon immer ein angeborener Zustand, ein geistiges Gezeter, ein gedankliches Im-Kreis-Herumgaloppieren.) Doch habe die Öffentlichkeit ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. (Die Öffentlichkeit, in ihrem blinden Egoismus, hatte ein Recht darauf, daß man ihr überhaupt nichts sagte.) Was war das für ein geheimnisvolles Fieber? In welchem Ausmaß wütete es, und wie groß war die Gefahr der Ansteckung? Da die Fernmeldeverbindungen ständig unterbrochen waren, fragte sie sich, ob man beabsichtigte, ganz Südwest-England hinter einem cordon sanitaire zu verstecken. Und falls das zutraf, wo lagen die genauen Grenzen dieses cordon sanitaire? (Sie war vernarrt in dieses Fremdwort und verwendete es noch ein paarmal.) Und was passierte nun mit den Leuten hinter dem cordon sanitaire? Die Öffentlichkeit hatte ein Recht darauf, das zu erfahren. Und war es reiner Zufall, daß die Epidemie in den Gebieten wütete, wo sich die Forschungszentren befanden? Sie zählte fünf namentlich auf. Penheniot war auch darunter. (Damit servierte sie den Bewohnern dieser Bezirke einen Sündenbock auf dem Silbertablett. Man wußte jetzt, wer und was an dem Fieber schuld war. Nicht nur an dem Fieber, sondern an allem, was jemals schiefgegangen und in der Zukunft noch schiefgehen würde.) Sie fragte sich, ob nicht das, wogegen ihr Komitee so lange angekämpft hatte, jetzt eingetreten wäre. Es gäbe kein sicheres Mittel gegen menschlichen Irrtum und menschliches Versagen. Und deshalb … Doch David Silberstein hatte bereits genug gehört und schaltete das Fernsehgerät ab. Wenige würden seinem Beispiel folgen. Ob sie es nun wußte oder nicht – sie hatte öffentlich zum Kampf aufgerufen. Der Projektleiter verließ sein Büro und ging die Hauptstraße hinunter. Im Garten des Laboratoriums waren die Arbeiter aus den Werkstätten damit beschäftigt, neue Blumen zu pflanzen. Silberstein war in Gedanken schon bei Sergeant Cole, den er aufsuchen wollte. Er wollte dafür sorgen, daß wenigstens hier in Penheniot Mrs. Lamptons Aufruf zum Bürgerkrieg angemessen beantwortet wurde. Im Gemüsegarten hinter dem Hospital begruben die Chrononauten ihren Ausbildungsleiter, Sir Edwin. Solche Ereignisse, solche Bestattungen von Vertragsbrüchigen, waren immer etwas peinlich. Sie verscharrten ihn zwischen den Kohlköpfen und den anderen Quertreibern und sprachen ein kurzes Gebet. Dann marschierten sie zurück zu ihrem Quartier, schwitzend in ihren schwarzen Kleidern und Anzügen, die immer noch bei Beerdigungen üblich waren. Es schickte sich natürlich nicht, so einen Gedanken laut auszusprechen, aber die Chrononauten waren ihrem Ausbildungsleiter besonders dafür dankbar, daß er sein Hinscheiden so lange hinausgezögert hatte, bis ihr Ausbildungsprogramm fast abgeschlossen war. Die letzten noch vorgeschriebenen Übungen konnte Sir Edwins Stellvertreter, der Dorfpsychiater, mühelos wahrnehmen. Professor Krawschensky beobachtete mit leisem Besitzerstolz die vorbeimarschierende Gruppe der Chrononauten. In ein paar Tagen schon würden sie ihm gehören. Ihm … An diesem Morgen hatte er es gewagt, da sein wissenschaftlicher Zerberus Liza in die Quarantäne verbannt war, einen Käfer und zwei von Roses’ sich hartnäckig sträubenden Katzen in die chronomische Einheit zu schicken. Erfolgreich, wenn auch verfrüht. Zuerst also lebende Organe und dann sogar mit Wahrnehmungsorganen und Instinkt begabte höhere Lebewesen. Leider brauchte er jetzt Liza für die komplizierten Rechnungen, ehe er in seinen Experimenten fortfahren konnte. Er drückte seine fleischlose, uralte Nase gegen das Fenster, während die höheren Säugetiere, um die es bei den Berechnungen ging, stramm vorbeimarschierten und sich dann auf der Dorfwiese tummelten, strotzend vor Gesundheit und geschulter Intelligenz. Seufzend drehte sich Professor Krawschensky um, setzte seinen breitkrempigen Hut auf, um sich vor der Augustsonne zu schützen, und schritt dann stolz (nicht mehr trippelnd und aufgescheucht wie eine Ratte, denn er war jetzt Krawschensky, der Berühmte, Krawschensky, der Mann mit der blendenden chronomischen Zeitflußtheorie) auf das Hospital zu. Er brauchte Liza, und er war entschlossen, sie sich zu holen. Dr. Meyer war unbeeindruckt. Er ließ den Professor über die Fernsehleitung mit seiner Assistentin verbinden. Professor Krawschensky starrte auf ihr Bild, so nah und doch so weit entfernt. »Ich brauche Sie, Liza.« Seine Stimme glitt durch die Drähte. Plötzlich hatte er Angst, sie könnte seine Gründe nicht gutheißen. »Die Experimente mit lebender Materie fallen perfekt aus. Ich – äh – werde bald so weit sein, daß ich menschliche Wesen in den Zeitfluß schicke. Ich halte deswegen Ihre Anwesenheit im Labor für dringend erforderlich.« Menschliche Wesen auf der chronomischen Startbühne … Liza schrak zusammen. Hier waren Gegenproben, gründliche Beobachtungen, Wochen der Vorbereitungen nötig, ehe man sich an Experimente mit Menschen heranwagen durfte. Wenn der Professor das alles überging und sich gleich an das Höchste wagte, war das kriminell. Natürlich auch verführerisch (weil er im Augenblick allein die Verantwortung trug). »Ich werde morgen entlassen«, sagte sie. »Wenn sich bis dahin bei mir keine Anzeichen einer Infektion zeigen.« »Morgen? Erst so spät, mein Kind? Ich hoffte, Sie könnten Dr. Meyer überreden, daß er sie früher freigibt.« Vierundzwanzig Stunden waren so gut wie gar nichts. Seine unvernünftige Hast setzte ihr Gewissen in Bewegung. »Ich vermute, Sie haben bereits Säugetiere in den chronomischen Fluß geschickt.« »Natürlich, Kind. Der Veterinär teilte mir mit, daß sich bei diesen Säugetieren nicht die geringsten Nachwirkungen zeigten. Sie befinden sich in ausgezeichneter physischer Verfassung.« Sie fragte sich besorgt, wie viele Säugetiere, von welcher Größe und unter welchen Bedingungen. Aber sie fragte nicht, weil sie das gar nicht wissen wollte. Sie bot Mäßigung an, obwohl sie wußte, daß sie nur ihren Atem verschwendete. »Sie sollten wenigstens eine Woche damit warten, Professor. Vielleicht stellen sich Komplikationen ein, die momentan noch nicht erkennbar sind.« »Das ist lächerlich, Liza.« Betont schroff, eine logische Forderung leugnend. »Wenn die Struktur überlebt, überlebt sie. Ein Schaden durch eine zeitliche Verzögerung ist ausgeschlossen …« Ein neuer Gedanke kam ihm. »Außerdem können wir uns eine Woche Verzögerung gar nicht mehr leisten. Denken Sie an das Fieber in St. Kinnow und den Überfall in der vergangenen Nacht. Sie kennen doch die Einstellung des Gründers. Er ist gegen jede Pedanterie.« Er wälzte also wieder einmal die Verantwortung ab (wenn sie ihm allein aufgebürdet wurde). Der Gründer sollte sie jetzt tragen. »Haben Sie ihn gefragt?« fragte Liza. »Ich kann ihn nicht fragen.« Gott sei Dank nicht. »Alle Verbindungen über den Bezirk hinaus sind blockiert. Selbst die Amateurradios werden gestört.« »Dann tragen Sie also allein die Verantwortung.« »Natürlich, mein Kind. Natürlich.« Doch er trippelte jetzt wieder. »Und ich bin durchaus in der Lage, diese Verantwortung zu meistern.« Phrasen. Aber sie hatte sich ihr Alibi erobert, wenn es auch nicht ganz koscher war. Sie blickte zu Roses hinüber, der sich an einem Puzzle versuchte. Er war glücklich, daß die Leute sich in seiner Gegenwart über Dinge unterhielten, die er nie begreifen würde. Es war eine hübsche kleine Welt, dieses Krankenzimmer. Wenn diese Welt zugrunde ging, würden auch andere Dinge für immer vorüber sein. Sie wendete sich wieder dem Schirm und Professor Krawschensky zu. »Ich werde morgen wieder im Labor sein«, sagte sie. »Sie werden eine Menge Dinge vorbereiten müssen. Und das schaffen Sie vor morgen sowieso nicht, wenn Sie ganz allein sind.« »Aber sind Sie auch ganz gesund, mein Kind? Sie haben bestimmt keine Symptome? Sie und ihr – äh – Leidensgenosse?« Sie nickte. Er fragte nicht nach ihrem Wohlbefinden. Er bangte um sein Forschungsprogramm. Sie nahm ihm das nicht übel – vor vierzehn Tagen, ehe sie sich in Roses verliebte, hatte sie genauso gedacht. Falls Roses für nichts anderes gut war, eines hatte sie ihm zu verdanken: den humanitären Einfluß. Da sie dem Professor nichts mehr zu sagen hatte, lächelte sie und schaltete ab. Wie sich jedoch im Lauf des Tages herausstellte, wurden Professor Krawschenskys alten, zittrigen Schultern größere Verantwortungslasten erspart. Kurz nach vier Uhr nachmittags landete der Gründer mit einem Helikopter im Dorf. Die Royal Air Force gab ihm Geleitschutz. Die strengen Bestimmungen waren in seinem Fall etwas gemildert worden, weil er viele Freunde (sprich Feinde, die sich vor ihm fürchteten) in einflußreichen Stellungen hatte. Er wurde sofort in das Krankenhaus gebracht und unter Quarantäne gestellt. Man installierte mehrere Telephone in seiner Isolierstation und auch den Stab, soweit er in dem Helikopter Platz gefunden hatte. (Zu dem Stab gehörte auch eine junge Frau, die sich der Gründer offenbar nach Professor Krawschenskys Anregung zugelegt hatte.) Natürlich machte sich die Gegenwart des Gründers sofort bemerkbar, und Dr. Meyer mußte noch nie (und würde nie mehr) so einen schlimmen Patienten betreuen wie seinen obersten Chef. »Ich fühle mich hier ganz isoliert, Doktor. Mein Hauspsychologe behauptet, das sei sehr schädlich. Es ist schon schlimm genug, daß ich aus meiner Aufsichtsrats-Etage verbannt bin, weil eine eifersüchtige Regierung sich grundsatzwidriger Mittel bedient. Doch dieser Kerker ist zu viel.« Das war keine Alters-Paranoia. Er sperrte sich nur, um sich die Zeit zu vertreiben. Und Dr. Meyers war dagegen machtlos. »Entschuldigen Sie, Mr. Littlejohn.« Das war der fünfte Anruf in einer halben Stunde. »Könnten Sie und Ihre Frau nicht die nächsten zwei Tage als eine Art Neuauflage der Flitterwochen betrachten?« »Die Aufgabe meiner Frau besteht darin, junger Mann, mich zu verköstigen, zu verwöhnen und über meine Witze zu lachen. Dafür darf sie dann mein Geld ausgeben. Nicht wahr, mein Liebling? So eine Vereinbarung funktioniert nur, wenn die weitläufigen und luftigen Räume eines Millionärs zur Verfügung stehen. Doch zwei Tage des Zusammenlebens in einem Krankenzimmer dieser Art erfüllen den Tatbestand seelischer Grausamkeit.« Darauf wußte der arme Dr. Meyer keine Antwort. »Vielleicht mißbilligen Sie im stillen, daß ich sie mitgebracht habe, Doktor. Mein Hauspsychologe ist der gleichen Meinung. Es wäre viel weniger umständlich, wenn ich ihre Funktionen selbst übernähme. Doch meine Rechtsanwälte sind dagegen. Sie warnen mich vor den Konsequenzen des Ehegesetzes. Böswilliges Verlassen kann teuer zu stehen kommen. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, Doktor.« Ein paar Zimmer weiter machten sich Roses und Liza bereit, ins Bett zu gehen. Sie wußten nichts von Manny Littlejohns Einzug und den vielen Strapazen, die Dr. Meyer seinetwegen auszuhalten hatte. Der Tag war ruhig und friedlich verlaufen, wenn man von der kurzen Störung durch Professor Krawschensky absah. Da die beiden in der Isolierstation weilten, durften sie keine Besuche empfangen. Puls, Blutdruck, Blutzusammensetzung, Grundumsatz, Gehirnströme wurden automatisch aufgezeichnet, und ihre Ausscheidungsprodukte in einem entlegenen Labor automatisch analysiert. Das Essen wanderte durch luftdichte Schleusen. Liza nahm es im Krankenzimmer entgegen und servierte Roses und sich. Von Liza bekam Roses auch die gewissen Pillen, und er ging gehorsam in das angrenzende Badezimmer, wo Trinkwasser und ein Glas zur Verfügung standen. Liza hatte Freude daran, Roses zu bedienen. Und Roses nahm ihre Fürsorge hin, ohne darauf mit Schüchternheit oder Arroganz zu reagieren. Er war ein Mann, der in keiner Beziehung von anderen Menschen abhängig war. Trotzdem schien er sich über ihre Gesellschaft zu freuen. Solange er im Zimmer weilte, bewegte sie sich mit Vergnügen darin. Wenn er da war, schien es ihr sogar ganz natürlich zu sein, ein Kleid zu tragen. Sie fragte sich nur, ob er auch den Frieden mit ihr teilte, der sie so beglückte. Das war schwer zu sagen. Er schien sie nicht anders zu behandeln als all die anderen Dorfbewohner, die sich nicht fordernd aufdrängten und ihm seine Freiheit ließen. Er lächelte sie an, er antwortete bereitwillig und erzählte ihr manchmal etwas aus freien Stücken. Doch meistens blieb er bei den Sachen, mit denen er sich gerade beschäftigte. Wenn dieser Tag irgendeinen Abschluß finden sollte, wie sie ihn erwartete, gab er das mit keiner Miene zu verstehen. Sie putzte sich gerade die Zähne im Badezimmer, als er hereinkam. »Das hat meine Schwester auch getan«, meinte er stolz. »Und meine Mama ebenfalls.« Sie erschauerte leise bei ihrer Assoziation. Hatte sie wirklich daran gedacht, ihn zu küssen? »Warum probierst du das nicht auch einmal, Roses? Die Zahnpasta schmeckt wunderbar.« Er nahm ihr die Bürste aus der Hand, drückte auf den Knopf und sah zu, wie die Bürste sich drehte und hin und her bewegte. »Da ist dein Speichel dran«, sagte er dann. »Das gehört sich nicht.« Doch er ließ sich von ihr die Zahnpasta geben und zeigen, wie man sich damit den Mund ausspülen konnte. Sie verließ das Badezimmer und schloß die Tür hinter sich. Hoffentlich würde er sich jetzt waschen. Da sie kein Nachthemd mitgebracht hatte, behielt sie ihr Kleid an und räumte ein bißchen auf. Sie paßte die letzten Stücke in sein Puzzle ein, nahm sie dann aber wieder heraus. Sie wollte ihn nicht bevormunden, ihn sich nicht aneignen. Dann kam er aus dem Badezimmer. Er trug sein rotkariertes Hemd, sorgfältig über die Schenkel herabgezogen, und er kletterte so ins Bett, daß sie nur seinen Rücken sehen konnte. Dann legte er sich auf den Rücken, die Augen fest geschlossen. Liza schaltete das Licht aus und zog sich aus. Dann stieg sie in sein Bett. Es war jetzt oder nie. »Was soll das sein?« Er hatte wenigstens keine Angst mehr, mit ihr zu reden, wenn sie in seinem Bett lag. O Gott, laß es nicht zu kompliziert werden! »Ich liebe dich, mein Kleiner.« Das waren Worte, die er nicht mißverstehen konnte. »Arr, oh, nun … davon weiß ich nichts.« »Das hat nichts mit Wissen zu tun. So etwas fühlt und spürt man. Die Liebe gibt mir das Gefühl, daß ich hier neben dir liegen will.« Es folgte ein langes Schweigen. Es war so lange, daß Liza schon glaubte, sie habe verloren. Alles verloren. Dann … »Vielleicht sollst du dann doch lieber dableiben.« Sie blieb. Er spürte ihre Gegenwart. Sie verschlang ihn. Sie zog ihn in ihr Wesen hinein, so daß sie für ihn viel lebendiger und unmittelbarer existierte als alles, was er bisher gekannt hatte. Er war in ihr und an sie verloren. Sie verdrängte alles. Nur sie war noch gegenwärtig, der Druck ihres Körpers, der Geruch ihres Geschlechts. Lange lag er da, ohne etwas denken zu können, in einem gefährdeten Gleichgewicht zwischen Begehren und Zurückhaltung. Ganz neue Empfindungen bedrängten ihn. Sein Atem, der viel zu heftig ging, übermäßiger Speichelfluß, das Geräusch ihrer klaffenden Lippen, seine Hand auf ihrem Schenkel, das Zittern ihrer Beine, wenn sie sich berührten. Er lag ganz still, nicht weil er sie fürchtete, sondern weil er glaubte, sein Herz müsse unter den hämmernden Schlägen zerspringen. Phantastische Bilder bedrängten seinen Verstand. Begehren und Beherrschung. Die Bilder wurden heller, deutlicher, phantastischer. Er bewegte den Mund in der warmen, dunklen Luft. Das Begehren war stärker als je zuvor, überstieg zum erstenmal die Kraft seiner Selbstbeherrschung. Jetzt blieb nur noch die Ungewißheit, der Körper, der sich nicht wagte. Er wagte nicht, sie aufzuhalten. Er wagte nicht, ihre Hand festzuhalten, als sie sich an seinem Hemd hinunterbewegte, den Saum zurückschlug und an seinem Schenkel hinaufkroch. Er wagte nicht, ihre Finger festzuhalten, als sie mit seinen Schamhaaren spielten. Und als sich die Finger schlossen, schlossen sie sich um sein ganzes Wesen, um jeden Knochen, jeden Muskel, jede Zelle seines Körpers, um jedes Haar, um jeden Gedanken. Sie schlossen jede Unsicherheit aus. Sie schlossen die Möglichkeit aus, daß sein Körper nicht wagen durfte, nicht wagen konnte. Er drehte sich im Dunklen um und stürzte sich auf sie. Er schlief. Sie schluckte ihre Übelkeit gewaltsam hinunter, wagte nicht, ihren Kopf zu drehen, damit er nicht aufwachte. Ihr Mund blutete, und ihre linke Brust blutete. Auch der Muskel über ihrem linken Schulterblatt. Die Innenseiten ihrer weichen Schenkel waren wund. Sie konnte nur mühsam Luft holen. Sie fror und glühte gleichzeitig vor Scham. Sie war dankbar dafür, daß er schlief. Es gab nichts an ihm, das sie akzeptieren konnte. Stolz, Schuld, Arroganz, Buße, Vergnügen, Ekel, Anklage, Ausflucht, Paarung – nichts, was sie akzeptieren konnte. Er hatte sie zu ihrem Opfer gemacht. Sie hatte von ihm verlangt, daß er sie zu seinem Opfer machen sollte. Sie war dankbar dafür, daß er schlief, und wünschte sich, daß er nie mehr aufwachen sollte. VII Roses war ein Tier der Morgendämmerung. Er erwachte, als das Licht noch fahl wasserblau und grünlich im kahlen Krankenzimmer hing. Er lag ein paar Minuten lang still, wie das seine Gewohnheit war, füllte langsam sein Bewußtsein mit Geräuschen, Gerüchen und Geschmack. Diese Rückkehr zum Leben war jeden Tag für ihn neues, freudiges Ereignis. Ein Wiederfinden vertrauter Dinge. Doch an diesem Morgen gab es auch etwas Unvertrautes. Er dachte darüber nach. Er erinnerte sich, daß er in einem Krankenhaus war. Das war offenbar der wichtigste Grund seiner Befremdung. Nicht der feste, trockene Belag zwischen seinen Schenkeln, der das Haar dort verklebte. Nicht dieser eigenartige Geschmack im Mund und die leise Benommenheit. Er begriff jetzt, was das für ein Geschmack war, öffnete die Augen und erinnerte sich wieder. Er erinnerte sich, erinnerte sich so weit, daß es genügte … Nicht an jede Bewegung, jede Bedeutung, aber doch genügend. Erregung, Höhepunkt, Schrecken, Chaos. Er sah die schlafende Liza neben sich, sah genug. Wie eine Katze stahl er sich aus dem Bett. Sie bewegte den Kopf, runzelte die Stirn, aber wachte nicht auf. Er zog seine Hose an, blickte dabei nicht auf den weißen, klebrigen Belag seiner Schande, und schlüpfte in seine ausgetretenen Turnschuhe. Er flüchtete aus dem Zimmer, durch die verlassenen Korridore, bis er einen Ausgang ins Freie fand, in den tröstlichen, unschuldigen Morgen. Tau glitzerte auf dem Gras. Die Strahlen der aufgehenden Sonne zogen silberne Fäden über jeden Halm. Die Luft war still und kühl. Roses nahm die Stille dankbar auf – er hatte die sommerliche Morgenbetriebsamkeit, die früher einmal das Tal erfüllte, längst vergessen. Er ging rasch die Hauptstraße hinunter, spürte die Rundung jedes Pflastersteines durch die dünnen Sohlen, sah die Häuser. Als er den Dorfkai erreichte, hielt er an, denn dort patrouillierten zwei Sicherheitsbeamte. Sie sprachen ihn freundlich an, wunderten sich nicht, weil er schon so früh auf war, wunderten sich auch nicht, als er keine Antwort gab. Sie gingen weiter, überquerten die langen Schatten auf dem Dorfrasen und verschwanden zwischen der Chrononautenunterkunft und dem Dorfgasthaus. Ein Hund näherte sich freundlich und bekam ebenfalls keine Antwort. Roses rannte die Rampe hinunter zum Strand. Dicht neben der Kaimauer zog er die Schuhe und dann die Hose aus. Er watete ins Wasser hinaus, achtete nicht auf die empfindliche Kälte. Als der Saum seines Hemdes das Wasser berührte, raffte er ihn mit einer Hand hoch und beugte die Knie, um sich zu waschen. Er blickte nicht zurück auf das Dorf – wenn man nicht sah, wurde man auch nicht gesehen. Er spürte keinen Ekel, als er sich anfaßte. Das kalte Wasser erstickte alles Triebhafte. Außerdem wußte er, daß seine Schande nicht einfach abgewaschen werden konnte. Nachdem er sich gewaschen hatte, ging er rückwärts wieder aus dem Wasser und ließ allmählich seinen Hemdsaum wieder sinken. Im Schutz der Mauer zog er sich die Hose über die kalte, unempfindliche Haut. Die Hosenbeine klebten an den nassen Haaren, und die Turnschuhe quietschten bei jedem Schritt. Jetzt konnte er sich verstecken. Er ging heim in seine Küche, wo die jüngste Vergangenheit von den Assoziationen eines ganzen Lebens verdrängt werden konnten. Er versteckte sich hier nicht vor dem Dorf, nicht vor Liza, nicht einmal vor sich selbst. Er mußte sich eine Zuflucht vor den Ausbrüchen des Nicht-Selbsts suchen, vor dem grauenhaften Außer-sich-Sein, vor dem Begehren, dem er sich immer verschlossen hatte, seit er erwachsen war. Er mußte sich vor einem schrecklichen Traum verstecken. Seine Katzen erwarteten ihn. Lautstark machten sie sich bemerkbar, stießen mit unverschämter Ungeschicklichkeit alles um, was ihnen im Weg stand, weil er sie volle zwei Tage lang vernachlässigt hatte. Er fütterte sie und vergaß bei den einfachen, vertrauten Bewegungen seinen Traum. Er sprach mit ihnen. Er nahm ihnen ihre Verachtung nicht übel, ihr ausschließliches Interesse für die Nahrung. Selbst die Katze, die ihn nicht zu kennen schien, der schwarze Kater, der wütend spuckte, während er sein Futter verschlang, störte ihn nicht. Katzen kamen und gingen. Für ein paar von ihnen war seine Küche nur eine Anlaufstelle, wo sie sich verpflegen konnten. Er starrte den Kater an, und er kam ihm irgendwie bekannt vor. Doch Katzen waren eben Katzen, eine Clique, wild, unabhängig, leicht zu besänftigen, aber nicht zu beeinflussen. Er ging durch den Raum, nahm den Kalender vom Nagel in der Nische und hielt ihn ins Licht, damit er sich besser an seinen Vater erinnern konnte. Er schlang eine Decke um seine Knie und setzte sich in einen Klappstuhl, der mit rot und blau gestreiftem Stoff bespannt war. Achtunddreißig Jahre spannen einen dichten Kokon um ihn. Der Traum blieb draußen, war nicht länger sichtbar. Er hatte Krankenhäuser schon immer gehaßt. Es war schon sechs Uhr, als die Nachtschwester, die alle Sichtschirme kontrollierte, entdeckte, daß Roses Varco verschwunden war. Sie weckte seine Zimmergenossin, Liza Simmons, konnte ihr aber keine brauchbare Auskunft entlocken. Selbst als Liza mit allen Reflexen da war, blieb sie in einem seltsam benommenen Zustand, seltsam einsilbig. Man ließ sofort das ganze Dorf durchsuchen. Inzwischen wurden die analytischen Aufzeichnungen der Nacht ausgewertet. Obgleich Liza in einem leichten Schockzustand erwacht war, was auf ein einschneidendes, seelisches Erlebnis zurückzuführen war, das sie gegen elf Uhr in der vergangenen Nacht hatte, wie die Ausschläge auf dem Millimeterpapier bewiesen, war sie physiologisch gesehen völlig normal. Roses Varco ebenfalls. Bis zu seiner Flucht aus dem Krankenhaus um zehn Minuten nach fünf hatte er keine Krankheitssymptome gezeigt. Sofort ging ein Radiospruch hinaus. Da man Roses Varco sowieso an diesem Morgen entlassen hätte, war es nicht nötig, ihn ins Krankenhaus zurückzubringen. Eine letzte Untersuchung konnte auch dort durchgeführt werden, wo man ihn aufstöberte. Da der Suchtrupp mit seiner Nachforschung in Roses’ Wohnung angefangen hatte, befanden sich die Beauftragten bereits an Ort und Stelle, als der Radiospruch eintraf. Roses sah zu, wie sich die Wachleute und Ordonnanzen vom Krankenhaus miteinander berieten. Sie konnten mit ihm treiben, was sie wollten, solange sie ihn nur nicht wieder ins Krankenhaus schafften. Dieser Krankenhausaufenthalt war ein Trick gewesen, ein Verrat von … Doch die Dinge, die im Krankenhaus geschehen waren, mußte er vergessen, durften einfach nicht passiert sein. Ein Mann mit weißem Kittel stellte sich vor ihn hin und erklärte, was sie jetzt mit ihm tun würden. Roses hörte nur so lange zu, bis er die Gewißheit hatte, daß er nicht mehr ins Krankenhaus zurückkehren mußte. Danach nickte er nur noch lächelnd bei jedem Satz. Um so erschrockener war er dann, als die Männer versuchten, ihm das Hemd auszuziehen. Schließlich mußten ihn vier Männer festhalten, während der fünfte die notwendigen Untersuchungen durchführte. Und die ganze Zeit über brüllte Roses wie ein Stier. Liza Simmons wurde im Lauf des Vormittags entlassen. Auch sie schämte sich bei der letzten Untersuchung (wenn auch aus anderen Gründen als Roses Varco). Doch sie war zu diszipliniert, um ihre Scham zu zeigen. Sie hätte gern lautstark gegen die Rückschlüsse protestiert, die die Schwestern machten, als sie die Wunden und Blutergüsse sahen. Doch sie war zu gut erzogen, um sich etwas zu vergeben. Sollten sie sich doch denken, was sie wollten. Nein, sie sollten es eigentlich nicht, aber daran konnte sie auch nichts ändern. Sie war das Mädchen, das sich mit Roses Varco gepaart und mehr bekommen hatte, als sie erwartet hatte. Sie war … nun, man konnte es ja sehen. Sie ging mit hoch erhobenem Kopf aus dem Untersuchungszimmer, aus dem Krankenhaus. Doch über das, was sie erlebt hatte, konnte sie nicht hinwegkommen. Es war ein warmer Morgen, und ein paar von den Männern, denen sie begegnete, hatten sich der Hitze wegen bereits ihrer Kleider entledigt. Sie lächelte, als man sie grüßte, blickte nach innen und suchte die Wunden ihrer Seele. Die Blutergüsse waren nur oberflächlich und würden rasch abheilen. Doch sie fragte sich, ob sie jemals in ihrem Leben eine männliche Erektion sehen konnte, ohne daß sich ihr Magen erschrocken verkrampfte. Sie fragte sich, ob sie nicht bei jeder Annäherung einen schrecklichen, blinden Angriff fürchtete und mit Abscheu und Ekel reagierte. Sie erkannte die Gefahr sofort. Nach einem Unfall mußte man sofort wieder hinter das Steuer. – Sie mußte sich bald wieder paaren, diesmal mit einem höflichen, unbeteiligten Partner. Doch nicht heute. Ihre Schenkel waren wund, und der Riß in ihrer Unterlippe würde sofort wieder zu bluten anfangen. Nicht heute. Morgen vielleicht. Oder übermorgen. Nach dem Frühstück in ihrem Quartier (sie hatte den Tisch ans Fenster gerückt, doch der Ausblick auf die Hügel von Penheniot hatte diesmal nicht die gewünschte, beruhigende Wirkung), ging sie ins Labor. Sie brauchte jetzt die Arbeit und Formeln, die man, Gott sei Dank, unter seiner Kontrolle halten konnte. Der Professor stand am Haustelephon und unterhielt sich mit Littlejohn in dessen Quarantänezimmer. »Natürlich, Gründer. Zwei Katzen. Kleine wilde Biester. Das eine entwischte nach dem Experiment, doch wir haben es wieder eingefangen. Der Veterinär hat sie in seiner Beobachtungsstation. Er versicherte mir, sie seien beide in ausgezeichneter gesundheitlicher Verfassung.« Es gab eine Pause, in der Manny Littlejohn zu Wort kam. Der Professor, am anderen Ende einer mindestens achthundert Meter langen Leitung, bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und begrüßte Liza mit einem ungeduldigen Nicken seines Kopfes. Es war in die Richtung des Computers orientiert, wo ein Stapel neuer mathematischer Ansätze auf seine Erledigung wartete. Dann wendete er sich wieder tapfer dem Telephon zu und brachte seine Werbesprüche an, wenn der Gründer neuen Atem schöpfte. »Start perfekt, Wiedereintritt perfekt, alles so, wie ich mir das bisher nur erträumen konnte. Bis morgen abend, wenn Sie das Krankenhaus verlassen können, bin ich so weit, daß ich … Tatsächlich bereite ich für heute nachmittag bereits ein Experiment mit größeren Organmassen vor. Ich habe mich bereits erkundigt, wo ich ein Schaf herbekommen kann. Leider sind die Bauernhöfe in der Nachbarschaft wegen Seuchengefahr nicht in der Lage, uns das Gewünschte gegen Barzahlung zu … Wie bitte, Gründer?« Selbst Liza hatte die beiden Worte gehört, denn der Gründer hatte sehr deutlich gesprochen. »Es stehlen? Nun, sicher, natürlich – wenn Sie das sagen. Ja, ich weiß, sie weiden entlang unserer Nordgrenze …« Der Professor zappelte mit der Hand, die nicht den Hörer hielt. »Ich würde – ich würde vorschlagen, Sie geben Sergeant Cole die nötige Vollmacht. Oder vielleicht könnte der Projektleiter …« Wieder bellte der Gründer ein paar deutliche Worte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Gründer. Ich werde …« Es klickte in der Leitung. Der Professor legte den Hörer auf. »Emmanuel hat so einen klaren, praktischen Verstand«, sagte der Professor in die Stille hinein. »Ich wäre auf so etwas nie gekommen. Nicht in hundert Jahren.« Ein paar Minuten später sah Liza eine Gruppe von Sicherheitsbeamten am Laborfenster vorbeimarschieren. Sie lachten, während einer von ihnen ein Seil wie ein Lasso schwenkte und ein anderer einen großen Kescher über die Schulter warf, wie man ihn früher zum Einholen eines besonders großen Hechtes verwendete. Das sorglose Getue mit dem Gerät stand im Widerspruch zu dem Gelächter. Es hatte einen nervösen Unterton. Im Dorf verlief der Werktag wie immer. Die Kinder kamen um elf Uhr zur großen Pause aus der Schule auf die Dorfwiese und tollten übermütig herum. Joseph Engels, der wegen der Quarantänebestimmungen auf seine tägliche Zeitung verzichten mußte, nahm seinen Photoapparat aus dem Schrank und knipste die Szenen vom Katastrophenalarm und Volkstumulten auf dem Schirm seines Fernsehgerätes. Paul Kronheimer verzählte sich bei neuntausenddreihundertundvierzig Pfund (neue Währung) und mußte wieder von vorn anfangen. Die Chrononauten saßen bedrückt vor den leeren Fernsehschirmen, weil die Universität wegen des nationalen Notstandes ihre Fernkurs-Sendungen unterbrochen hatte. David Silberstein wechselte in seinem Büro ständig den Sender, weil auf allen Kanälen Mrs. Lampton ihre Volksreden hielt. Der Anmarsch der Flotte von St. Kinnow war natürlich längst elektronisch erfaßt worden, seit sie in das Wasser von Penheniot Pill eingedrungen war. Doch ein Junge aus der zweiten Klasse, der sich auf dem Dorfrasen tummelte, war der erste, der sie wirklich zu Gesicht bekam. Er deutete aufgeregt, und seine Kameraden blickten alle in die Richtung, wohin er deutete. Ausflugsboote, Fährboote, Motorboote und selbst Scooter hielten auf den Dorfkai zu, alle voll bis zum Kragen mit Leuten und Plakaten. Besonders mit Plakaten, die natürlich ausnahmslos Sprüche gegen Penheniot enthielten. Und dann deutete wieder einer auf das Bootshaus am Strand, wo sich ebenfalls etwas Aufregendes tat. Die Vorderseite des Hauses öffnete sich, und das Rettungsboot wurde klargemacht. Ein paar Laserkanonen tauchten urplötzlich aus ihrer Betonversenkung auf, und darunter war auch etwas, das einem Flammenwerfer sehr ähnlich sah. Ein Kontingent von fünfzig Sicherheitsleuten, alle bis zu den Zähnen bewaffnet, kam in Reihen aus einem Haus herausmarschiert und stellte sich in einer langen Kette auf dem Kai und am Strand auf. Wenn es eine Zugbrücke gegeben hätte, hätte man jetzt das Rasseln der Ketten hören können. Die Armada hielt plötzlich an. Nicht die Angst vor den aufgestellten Sicherheitsleuten, sondern irgendein verabredetes Signal schien sie zu diesem Schritt zu bewegen. Ein etwas größeres Schiff, das die Flagge des Hafenmeisters von St. Kinnow gesetzt hatte, kreuzte vor den übrigen Booten. Auf der Brücke stand ein Herr mit stahlgefaßter Brille und grauem Anzug und sprach laut und deutlich über ein weittragendes Lautsprechersystem (Brillen waren schon vor acht Jahren durch eine Erfindung der Chirurgie überflüssig geworden): »Guten Morgen«, sagte er, »guten Morgen, Penheniot. Hier spricht Narsius Harlien.« Er räusperte sich. Das Mikrophon war ihm zu Kopf gestiegen. Jetzt machte er eine ernsthafte Anstrengung, nicht mehr im Tonfall eines amerikanischen Präsidenten zu sprechen. Doch leider war das Drehbuch stärker als er. »Ich vertrete hier den Minister für moralische Verantwortlichkeit. Als persönlicher Referent des Ministers unternehme ich eine Besichtigungstour, um alle wissenschaftlichen Einrichtungen im Erholungsgebiet zu überprüfen …« Sergeant Cole hob den Telephonhörer ab und rief David Silberstein an. Doch das war gar nicht nötig. Narsius Harliens verstärkte Stimme war auch im Büro von David Silberstein ausgezeichnet zu verstehen. Der Minister für moralische Verantwortlichkeit – das war ein neuer Stuhl im Kabinett. Was den Minister betraf, brauchte David nicht lange zu raten, wer diesen Sessel bekommen hatte. Er hätte sich eben doch die Volksreden von Mrs. Lampton auf den drei Kanälen anhören sollen. Mrs. Lamptons Ernennung zum Minister war die typische Geste einer Regierung, die sich das Heft aus der Hand nehmen ließ. Sie versuchte, versöhnlich zu sein, wo versöhnliche Gesten schon längst überholt waren. David Silberstein erhob sich seufzend vom Schreibtisch und ging die Fore Street hinunter. Narsius Harliens Stimme war überall, wie die Stimme Gottes … »… und unter besonderer Vollmacht der Notstandsverfassung bin ich beauftragt, die Einrichtungen von Penheniot sofort zu inspizieren. Ganz besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Fall Roses Varco. Im Namen der Öffentlichkeit und der demokratischen Grundrechte verlange ich eine Untersuchung …« Laute Zurufe und Applaus hinter ihm von der Armada, die der Bevollmächtigte mit gnädiger Hand beruhigte. »Ich möchte betonen, daß die guten Leute, die mich begleitet haben, aus freien Stücken gekommen sind. Ich bin nicht gekommen, um jemand einzuschüchtern, sondern erfülle nur meinen Auftrag als Mitglied der Regierung Seiner Majestät.« »Privater Anlegeplatz, mein Junge«, unterbrach jetzt Sergeant Coles Stellvertreter den Referenten der Ministerin. Der Mann war für seinen Posten ausgesucht worden, weil er eine so joviale fette Stimme hatte. »Wollen Sie nicht mit Ihrem Kahn ein Stück weiter flußaufwärts fahren?« »Eben nicht, guter Mann. Ich bin nicht gekommen, um jemand einzuschüchtern. Ich habe aber auch nicht die Absicht, mich einschüchtern zu lassen. Als Stellvertreter des Ministers für …« »Sie verstopfen nämlich das Hafenbecken, verstehen Sie?« Operation 3a aus dem Handbuch der Sicherheitsvorschriften ging weiter. »Wir haben eine Menge Verkehr am Kai. Es wird viel verladen und entladen im Forschungszentrum. Deswegen haben wir auch überall Warnschilder angebracht.« »Guter Mann. Ich habe keine Autorität über die Leute, die mich begleiten. Als eine Demonstration der öffentlichen Überzeugung finde ich diese Aktion sehr beeindruckend. Auch eine Genugtuung. Hingegen kann ich nicht …« »Ich will ja nicht grob werden, mein Junge. Aber Sie verstoßen gegen öffentliche Vorschriften. Und in diesem Fall haben wir das Recht, jeden Verstoß gegen die öffentlichen Vorschriften zu ahnden.« »Quatsch. Und zielen Sie nicht immer mit Ihrer Waffe in meine Richtung. Kraft meiner Vollmacht nach Paragraph vier, Absatz 7k, des Notstandsgesetzes …« David war inzwischen auf dem Kai eingetroffen und nahm dem Hafenmeister das Mikrophon aus der Hand. Es gab Fälle, in denen die Operation 3a nicht mehr ausreichte. »Mr. Harlien«, sagte er, »Mr. Harlien, Sie sprechen jetzt mit dem Direktor der Forschungseinrichtung. Mein Name ist Silberstein.« Lautes Buhgeschrei von der Armada begrüßte Silbersteins Worte. Narsius Harlien ließ die Leute eine Idee zu lange brüllen, ehe er sie mit einer gnädigen Handbewegung zum Schweigen brachte. »Leute«, sagte er zu seinem Gefolge, »Leute, wir sind hier nicht vor Gericht. Ich bin kein Richter, und ihr seid keine Geschworenen. Ich bin hierhergekommen, um Untersuchungen anzustellen – mehr nicht.« Er beschäftigte sich jetzt wieder mit David. »Mr. Silberstein, ich besitze eine schriftliche Vollmacht. Kann ich an Land kommen? Ich meine, auf friedliche Weise?« »Ich begrüße es sehr, daß Sie eine schriftliche Vollmacht mitbringen«, erwiderte David. »Meine Sorge ist nur, daß Sie noch mehr mitgebracht haben.« »Das verstehe ich nicht.« »Sprechen wir offen miteinander, Mr. Harlien. Vielleicht sind Sie ein Zwischenträger des mutierten Darmfiebers. Oder der Zwischenträger der mexikanischen Grippe, wie Ihre Regierung die Krankheit zu bezeichnen pflegt.« »Mein lieber Mr. Silberstein …« »Vielleicht sind Sie selbst bereits krank.« Noch mehr Buhgeschrei. »Mag sein, wie es will, ich bedaure sehr, daß ich Sie nicht an Land lassen kann. Es sei denn, Sie unterziehen sich einer achtundvierzigstündigen Quarantäne in unserem Krankenhaus. Wenn Sie sich diesen Bedingungen fügen, sind Sie natürlich bei uns willkommen.« »Quarantäne? Quatsch und Blödsinn.« »In diesem Fall müssen Sie wieder dorthin zurückfahren, wo Sie hergekommen sind, Mr. Harlien.« Diesmal Jubelrufe von den Kindern, die man auf der Dorfwiese ganz vergessen hatte. »In unserem Dorf sind alle gesund. Und wir beabsichtigen, unsere Gesundheit zu verteidigen. Ich werde mich mit Ihrem Gesundheitsminister auseinandersetzen, Mr. Harlien, ehe Sie sich – und uns – unnötigen Gefahren aussetzen.« Der persönliche Referent des Ministers drehte seine Lautsprecheranlage ab und unterhielt sich mit seiner Begleitung. Sein Schiff fuhr die Linie der Armada entlang und wieder zurück. Seine freiwilligen Begleiter auf den anderen Schiffen wurden sichtlich unruhig. »Wenn Sie einen gewissen Einfluß auf Ihr Gefolge haben, Mr. Harlien«, fuhr David über den Lautsprecher fort, »möchte ich Ihnen den Rat geben, die Leute zur Umkehr zu bewegen. Wie Sie sehen, sind wir nicht unvorbereitet. Die Insassen der Boote, die wir versenken, dürfen das Land innerhalb der Dorfgrenze nicht betreten. Das bedeutet, daß die Schiffbrüchigen eine beträchtliche Distanz schwimmend zurücklegen müssen.« Narsius Harlien schaltete sein Lautsprechersystem wieder ein, räusperte sich und wechselte das Thema. Da war noch das Problem Roses Varco. Es seien eine Menge Beschwerden eingelaufen, und es war bestimmt im Interesse aller Beteiligten, diese Angelegenheit zu klären. Wenn er, Narsius Harlien, nicht an Land kommen konnte (er wollte sein Gesicht bewahren), dann konnte vielleicht Roses Varco ihn nach St. Kinnow begleiten. David Silberstein antwortete, daß niemand gegen seinen Willen in dem Dorf zurückgehalten werde, und schickte einen Mann nach Roses Varco aus. Er stellte Varco neben sich auf das Kai und fragte ihn – alles nach den Spielregeln der Fairneß –, ob er mit dem freundlichen Herrn im grauen Anzug nach St. Kinnow gehen wollte. Roses hatte keine Schwierigkeit mit dieser Frage. Der freundliche Herr erinnerte ihn viel zu sehr an den Vorsitzenden des Ausschusses für die Versorgung von geistig Behinderten, dem man ihn einmal vorgeführt hatte. Und die Verrückten in den Booten, die ihre Plakate schwangen, waren mustergültige Vertreter jener Eigenschaften, die er an seinen Mitmenschen am meisten fürchtete. Er scharrte mit den Füßen und murmelte nein. David schob ihm das Mikrophon vor das Gesicht und bat ihn, seine Worte zu wiederholen. Nur für das Protokoll. Roses’ Standpunkt wurde vielfach verstärkt allen Bewohnern des Tales klargemacht: »Mit dem alten Gockel im grauen Anzug? Ich mag keine Brillenschlangen. Und schon gar nicht die Burschen in den Booten. Mag sie nicht.« Damit wäre in einem freien Land die Angelegenheit erledigt gewesen. Narsius Harlien sah das ein. Er machte Anstalten, sich zurückzuziehen, allerdings mit der Warnung, er werde wiederkommen, nachdem er sich mit seinem Minister beraten hätte. Doch seine Begleiter, die der Ansicht waren, er habe sich ihrer Demonstration angeschlossen statt umgekehrt, waren nicht so einsichtig. Sie warfen ihre Plakate weg und zogen allerlei illegale Handwaffen unter den Sitzen und Duchten hervor. Gegen seine private Überzeugung wurde der persönliche Referent der moralischen Ministerin über die Grenzlinie des Hafens geschoben. Hundert Meter vor dem Stand war ein Doppel-Laser fünf Zentimeter unter der Wasseroberfläche eingebaut. Er funktionierte wie ein Schneidmesser für Wurstscheiben und schnitt der Barkasse von Mr. Harlien den Kiel weg, als sie über die Grenzlinie von hinten geschoben wurde. Auch die Absätze des Rudergängers gingen dabei flöten, und bedauerlicherweise in den schwerbelasteten Booten, die dem persönlichen Referenten folgten, auch mehrere Zehen, die zu tief im Wasser lagen. Als die Boote sanken, wurden die Laser wieder abgeschaltet, um die Passagiere zu schonen. Die übrigen Boote, die das natürlich nicht wußten, ruderten schleunigst rückwärts und kreuzten vorsichtig in größerem Abstand, um Überlebende aufzunehmen. Die Salven aus Pistolen und Revolvern, die auf das Dorf abgegeben wurden, waren dementsprechend harmlos, da die Entfernung und die Aufregung zu groß waren. Die wenigen Helden, die sich nicht retten lassen wollten, sondern tapfer auf die verbotene Küste zuschwammen, wurden rasch durch Unterwasserentladungen von Spezialabwässern vertrieben, die aus Druckröhren heraussprudelten. Narsius Harlien klammerte sich ohne Brille an das Heck eines Bootes, das viel zu voll war, um ihn an Bord nehmen zu können. Wenigstens behauptete das später ein Sprecher seines Ministeriums. An Land tat man alles, um die Niederlage der Städter nicht in eine Demonstration ihrer Ohnmacht zu verwandeln. Gelächter und spöttische Gesten waren strikt verboten. Selbst Zuschauer, falls sie nicht in amtlicher Eigenschaft zugegen waren, wurden sofort nach Hause geschickt. Joseph Engels, der viel Sinn für praktische, simple Späße hatte, mußte mit Gewalt in einen kleinen Raum hinter dem Waschhaus gebracht werden, wo man ihm den Mund zuhielt. Das Dorf lag ruhig und wie ausgestorben unter der Mittagssonne zwischen Wasser und Hängen. Trotzdem bleibt eine Niederlage immer eine Niederlage, wie höflich und schonend man sie dem anderen auch beibringt. Und in einem Krieg, den keiner gewinnen kann, zieht eine Kampagne die andere nach. David Silberstein schritt mit gefurchter Stirn zurück in sein Büro. Wenn man ein Gefecht dadurch gewinnt, daß man nur auf einen Knopf drückt, ist das schon ein eigenartiges Gefühl. Diese Knöpfe waren doch nur ein Ausdruck seiner eigenen, persönlichen Ohnmacht. Selbst die Demonstration von Varcos Unzurechnungsfähigkeit war gelenkt worden und kam als Verdienst nicht auf sein Konto. Für manche Leute war die Tat ein Vermögen, sich das Leben einfach zu machen. Für David Silberstein gab es kein einfaches Leben. Doch es war nicht ohne Hoffnung – oder etwa nicht? Als David sein Büro erreicht hatte, gab er ein paar Befehle, die zusätzlichen Wasseraufbereiter einzuschalten, um den Unrat wieder aus dem Fluß zu filtern. Dann setzte er sich vor das Fernsehgerät, um die wütenden Angriffe der Ministerin für moralische Verantwortlichkeit auf der Mattscheibe mitzuerleben. Im Labor war die Arbeit inzwischen zügig fortgeschritten. Man mußte schon Katastrophenalarm geben, um den Professor und Liza aus ihren Gedanken zu schrecken. Tatsächlich waren die beiden Wissenschaftler von dem Tumult am Kai viel weniger gestört worden als durch das Schaf, das von zwei verschwitzten Sicherheitsbeamten kurz nach dem Mittagessen eingeliefert wurde. Das aufgeregte Biest hat durch sein dauerndes Blöken die genaue Berechnung der chronomischen Koeffizienten sehr erschwert. Sie hatten an den Computerkonsolen gebrütet, während das Schaf auf der Bühne herumstampfte, schiß und die Flöhe in der sterilen Umgebung verstreute. Endlich hatte es sich wieder beruhigt und sich kauend hinter einen Ballen Heu gekauert, der von einem zweiten Stoßtrupp der Sicherheitstruppe herbeigeschafft wurde. Endlich stand es jetzt, in einem Spezialkäfig verwahrt, dösend und wiederkäuend, auf der Plattform, während die Beschleuniger auf Betriebstemperatur gebracht wurden. Liza fand diese lammfromme Haltung störend. Ein anderes Tier hätte in dieser Lage wenigstens nicht dauernd gekaut. Sie schaltete die Pulsgeneratoren ein und stimmte sie mit den Bremsschwingungskreisen ab. Der Geräuschpegel war langsam, aber stetig gestiegen. Hier konnte man auch studieren, wo die Geräusch-Toleranzgrenze bei den höheren Säugetieren lag. Als der Heulton zunahm und den Start ankündigte, hörte das Schaf zu kauen auf. Liza war dem Tier dafür irgendwie dankbar. Selbst ein Schaf war nicht so dumm und gefühllos, wenn der Zeitpunkt der chronomischen Metamorphose sich ankündigte. Doch sie täuschte sich. Das Schaf hob lediglich den Schwanz und ließ erneut Böllerchen fallen, als der Start einsetzte. Das Schaf, der Schwanz und die Böllerchen flackerten kurz und waren verschwunden. In welchem erbärmlichen Zustand, dachte Liza, wechselte dieses Lebewesen in die Ewigkeit hinüber. Die chronomische Einheit des Schafes war auf mindestens zehn Minuten angesetzt. Professor Krawschensky hatte Schwierigkeiten mit dem elektrischen Zeit-Schrittmacher. Die zweite Katze, die lohfarbene, war um fast drei Stunden falsch berechnet worden. Während Liza auf den Wiedereintritt des Schafes in die irdische Zeit wartete, studierte sie die Aufzeichnungen des Professors über die letzten beiden Experimente. In beiden Fällen war eine andere Ladung verwendet worden. Die erste Katze, der schwarze Kater, hatte eine nukleische Ladung erhalten, die ihn nur mit einer Abweichung von 0,01 Sekunde in die irdische Zeit zurückholte. Liza studierte auch die letzte Meldung des Veterinärs. Der schwarze Kater hatte nach schweren Anfangsstörungen (er war gleich nach dem Wiedereintritt in die irdische Zeit ausgerissen) wieder in ein normales Verhalten zurückgefunden. Er hatte guten Appetit, gute Reflexe und eine ausgezeichnete emotionale Verfassung. Seine Verfassung war identisch mit der des zweiten Versuchstieres, der lohfarbenen Katze, die mit einer peripherischen Zeitladung auf die Reise geschickt worden war. Doch die peripherische Ladung hatte eine Abweichung von drei Stunden gehabt. Deshalb schien das nukleische Verfahren nicht nur genauer, sondern auch vollkommen unschädlich zu sein. Sie wußte natürlich, daß dieser Schluß verdammt voreilig war. Und sie wußte auch, daß von ihrem Urteil – ihrer Intuition – in naher Zukunft das Leben eines Chrononauten abhängen würde. Die Verantwortung dafür – außer dem Gesetz gegenüber – lag allein bei ihr. Und trotzdem konnte sie eigentlich an nichts anderes denken als an ihre Sinnlichkeit und deren verheerende Folgen. Während sie Seite für Seite das tierärztliche Gutachten las, sah sie immer das Gesicht des halbtierischen Wesens vor sich, das sie für ihre Sinnlichkeit ausgenützt hatte. Und die Unschuld dieses Tölpels machte ihn nur noch schuldiger, noch verachtenswerter. Ihr war es gleichgültig, ob ihre wissenschaftliche Arbeit ein Erfolg oder ein Fehlschlag wurde. Sie begriff lediglich, daß es nur noch ein Wesen in der Welt gab, das sie mehr haßte als sich selbst, und dieses Wesen war Roses Varco. Sie runzelte die Stirn und konzentrierte sich wieder auf das Kauderwelsch des Veterinärs. Genau im richtigen Moment, dank des nukleischen Schrittmachers, kehrte das Schaf auf die Bühne zurück, ließ sein letztes Böllerchen fallen und kaute weiter. Professor Krawschensky war entzückt. »Liza, Liza, was für einen Beweis brauchen wir denn noch? Für uns zehn Minuten, für das Schaf – nicht eine Sekunde – nicht einmal für das – äh –, was es eben tut.« Er räusperte sich und haspelte weiter: »Und sehen Sie doch nur, Liza, welche Ruhe, welche Einfalt! Kann bei dieser Ruhe etwa ein Verdacht auf Schädigung der Gehirnzellen aufkommen?« Liza zweifelte im stillen, daß das Schaf über Gehirnzellen verfügte, denen man viel schaden konnte. »Rufen Sie den Veterinär an, Kind. Sagen Sie ihm, er soll jemand hierherschicken, weil wir das letzte Experiment durchführen. Wir werden bald diese irdische Welt verlassen, Liza – für immer.« Sie sah einen Funken greisenhafter Lust in seinen Augen, Offenbar regte der Erfolg seine Drüsen an. Sie fühlte einen leichten Schwindel, stand auf und ging ans Telephon. »Und Ihre Frau natürlich auch, Professor«, sagte sie mit der vulgären Deutlichkeit einer Marktfrau. »Sie werden sie doch nicht vergessen, oder?« Ihr Sarkasmus, ihr Mangel an Taktgefühl, schockierte ihn. Was hatte die Ehefrau mit seinem Erfolg zu tun? Seit wann besaß eine Ehefrau eine sexuelle Bedeutung? Liza wählte die Nummer des Tierarztes. An diesem Morgen brauchte Roses Varco ganz besonders den besänftigenden Einfluß der gewohnten Umgebung. Er mußte wieder zusammenwachsen. Die Nacht, der Morgen darauf und auch der Nachmittag hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Er brauchte eine Bestätigung, daß die Welt ganz anders war, als sie sich darstellte. Deswegen schulterte er am Abend seine Angelrute und ging zum Kai hinunter. Da er den Badebetrieb vermeiden wollte, machte er sich ziemlich spät auf den Weg. Diese Vorsichtsmaßnahme war unnötig. Nach der Farce am Nachmittag lag eine bleierne Ernüchterung über dem Dorf. Badefreuden hielt man plötzlich für fin de siècle und für geschmacklos, obwohl das Wasser bereits wieder gereinigt war. Deshalb war der Kai verlassen, als Roses dort eintraf. Er stand einen Augenblick verloren da, schwitzte in der letzten Hitze des Tages. Der Schweiß brannte in den langen, blutigen Rissen an den Armen und Beinen, die von den Krallen seiner Katzen herrührten. Auch das Wetter störte ihn. Die Hitze hätte jetzt, zu Beginn des Herbstes, bereits nachlassen müssen. Der Rhythmus war irgendwie gestört. Er kratzte sich geistesabwesend an Armen und Beinen und setzte sich auf den Rand des Kais. Er befestigte einen Wurm am Haken und warf die Angel aus. Es störte ihn nicht – oder vielleicht hatte er es gar nicht bemerkt –, daß sich schon seit Wochen kein Fisch mehr in der Nähe des Kais gezeigt hatte. Der Schwimmer pendelte im Wasser auf und ab. Die harte Steinkante schnitt ihm ins Gesäß. Es roch nach Seetang und, hinter ihm, nach Gras. Die Welt war wieder in Ordnung. Er vertiefte sich voller Behagen in dieses Gefühl der Beständigkeit, des Unwandelbaren. Vertraut war ihm auch die Gegenwart von Edwin Solomons, David Silberstein, Daniel Jefferies, Liza Simmons. Jemand fand sich immer auf dem Kai ein, um neben ihm zu sitzen. Sie ließen ihn nur selten allein. Sie redeten mit ihm. Das meiste davon verstand er nicht, aber sie machten diese Woche wieder zu einem vertrauten Ablauf wie die Woche zuvor und die Woche, die davor lag. »Hast du etwas gefangen?« Sie fingen immer mit dieser Frage an. Roses zog den Rotz in der Nase hoch und stieß mit den Fersen gegen die Kaimauer. »Ich kam zufällig hier vorbei. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich eine Weile zu dir setze, oder?« »Es ist eine freie Welt.« »Wirklich? Glaubst du das wirklich?« Es war eine Redensart seines Vaters gewesen. Er bewegte sich unruhig. Sein Behagen war wieder etwas getrübt. »Du glaubst das immer noch? Du hast doch miterlebt, was sich heute nachmittag abgespielt hat.« Das war David Silberstein, der zu ihm sprach, nicht einer von den anderen. Frei wofür? Frei, um dich selbst zu zerstören? Meinst du vielleicht das? – Roses summte immer die gleichen drei Töne und wartete darauf, daß der andere fortging. Normalerweise setzten sie ihm abends nie lange zu. »Ich habe nicht Recht getan, Roses. Ich kam hierher, um dich um Entschuldigung zu bitten.« »Entschuldigung? Warum entschuldigen?« »Für heute nachmittag. Daß ich dich vor allen Leuten gefragt habe.« »Oh, das. Das war nichts.« »Doch, Roses. Du mußt begreifen, daß ich dich ausgenützt habe.« Roses rieb sich die juckenden Stellen am Arm. »Verdammte Katze«, murmelte er. »Roses, ich habe dich bloßgestellt – ausgenützt, weil … Roses, es gibt keinen Grund, warum du dich nicht mit Liza paaren solltest. Es gibt nichts, das dich daran hindern könnte.« »Verrückt ist sie, glaube ich.« Er hörte nichts anderes, dachte an nichts anderes als an seine Katze. »Springt wie verrückt in der Küche herum. Läßt mich nicht an sich heran.« »Roses, du mußt mich anhören. Liza und du, ihr habt natürlich das Recht, euch zu …« »Werde jetzt lieber wieder gehen.« Er holte seine Angel ein. Er ließ sich nicht in die Enge treiben, um keinen Preis. »Hatte gedacht, wir beide wären echte Freunde. Da sieht man, man kann sich nicht darauf verlassen.« »Roses, wovon redest du überhaupt?« »Von meinem schwarzen Kater. Kann nichts mehr mit ihm anfangen. Ich glaube, er ist verrückt geworden. Sehen Sie mal die Kratzer.« Er entblößte kurz seinen Unterarm und raffte dann sein Angelgerät zusammen. Er blieb keine Sekunde lang mehr hier, nicht, wenn er so in die Enge getrieben wurde. David Silberstein starrte ihm nach. Seine Schuld an Roses war viel leichter zu ertragen als die namenlose Furcht, die Sir Edwin ihm hinterlassen hatte. Aber war es nicht pervers, sich selbst zu erniedrigen, um sich zu entschuldigen? Um eine Eifersucht zu bannen, die sich nicht verbannen ließ? Dieser Mann hatte kein Recht, sich mit Liza zu paaren. Überhaupt kein Recht! Er hatte Liza nicht mehr gesehen, seit sie das Krankenhaus verlassen hatte. Er wollte sie auch gar nicht sehen. Seine Phantasie raste: zwei Nächte, zwei gemeinsame Nächte zwischen sauberen Laken. Er beobachtete, wie Roses durch das Gattertor des Labors ging, breite Schultern, die Liza unter sich begruben, Hüften, die über ihr kreisten. Er starrte auf den Fleck, wo Roses gesessen hatte, und hörte den stöhnenden Laut von Lizas Ekstase. Er konnte sich mit dieser Vorstellung geißeln, mit der Vorstellung von Liza und Roses, solange er lebte … Er zwang sich, an anderes zu denken, hörte leises Gelächter im Dorf, das Klappern einer Heckenschere, das Rauschen eines Fernsehgerätes. Er würde freundlich zu Roses sein, so freundlich, wie er sich eben verhalten hatte. Es war eine Beruhigung für ihn, zu Leuten freundlich sein zu können, die man haßte. Er erhob sich langsam, Gelenk für Gelenk, und ging heim zu Mrs. Berman. In der vergangenen Nacht fanden zwei Überfälle auf das Dorf statt. Sie waren nicht harmlos wie die Idiotie vom Nachmittag. Die Angreifer stiegen über den Zaun, schlossen ihn auf primitive Weise kurz und machten gar keinen Versuch, den versteckten Sensoren auszuweichen. Es waren ortsansässige junge Leute. Der Grund ihres Eindringens war eindeutig. Sie hatten Angst, waren aufgeputscht, haßten das Dorf. Die erste Gruppe der Angreifer wurde ein paar hundert Meter innerhalb der Dorfgrenze mit Sprühgas außer Gefecht gesetzt. Dann wurden sie desinfiziert und behutsam zu der Straße getragen, die auf dem Kamm des Hügels in der Nähe des Zaunes vorbeilief. Die zweite Welle der Angreifer war schon viel besser vorbereitet. Sie trug Gasmasken und Schutzkleidung. Sie wurde von Sicherheitsbeamten eingekreist und mit Hitzeschaum besprüht, der an ihren Kleidern hängen blieb. Obwohl der Schaum eine durchaus noch erträgliche Temperatur entwickelte, steckten sich die Getroffenen gegenseitig mit ihrer Hysterie an. Ihre Schreie waren im ganzen Tal zu hören. Sie taumelten im Dunkeln umher, rissen sich die Kleider vom Leib und schienen fest davon überzeugt, daß man sie bei lebendigem Leibe verbrennen wollte. Es war nicht schwer, die Leute einzufangen, zu behandeln und dann für ihre Rückkehr nach St. Kinnow vorzubereiten. Das Geschrei weckte Manny Littlejohn, der in seinem Quarantänelager im Krankenhaus nichts zu befürchten hatte. Er rief sofort David Silberstein an, um sich zu erkundigen, was das Geschrei zu bedeuten habe. Er war beruhigt, als er erfuhr, daß sein Projektleiter die Lage vollkommen unter Kontrolle hatte. Er legte sich wieder in die Kissen zurück, doch das Schreien hielt an. Noch einmal wählte er Silbersteins Nummer und beklagte sich. Er konnte nur sehr schwer einschlafen, und da man ihn jetzt geweckt hatte, würde er bis zum Morgen wach bleiben müssen. Der Projektleiter sagte, das täte ihm schrecklich leid. Manny Littlejohn legte den Hörer wieder auf und stieß seiner schlafenden Frau den Ellenbogen in die Rippen. Ihr Friede, die feste Rundung ihres jungen Körpers, ging ihm auf die Nerven. »Du schnarchst, Margot. Während Männer im Dorf verbrennen, schnarchst du. Du solltest dich mehr zusammennehmen.« »Leute verbrennen?« Sie setzte sich auf und horchte in die Nacht hinaus. Das Geschrei war schon vor Minuten verstummt, und draußen war alles still. Vielleicht war das Ganze nur wieder einer seiner Scherze. Sie legte sich wieder hin. »Schnarche ich tatsächlich?« »Wie ein Schwein.« Sie schnarchte nie. Ihr Mann hingegen schnarchte so arg, daß manchmal am Morgen sein ganzer Hals entzündet war. »Manchmal gefällt es mir, dann komme ich mir nicht mehr so allein vor. Und ich zähle die Schnarcher wie andere Leute die Schafe. Das hilft mir beim Einschlafen.« »Du bist ein sonderbarer Mann.« Sie streichelte seinen Arm. Sie hatte ihn lieber, als sie sich das einzugestehen wagte. Sie hatte so getan, als hätte sie ihn nur seines Geldes wegen geheiratet. Er schien das ja von ihr zu erwarten. »Weshalb hast du mich dann geweckt?« fragte sie. »Das habe ich dir doch schon gesagt, Mädchen. Weil die Männer geschrien haben.« Margot dachte über seine Antwort nach. Vielleicht war es tatsächlich einer seiner Scherze. Vielleicht hatte er auch nur schlecht geträumt. Sie drängte sich näher an ihn, legte ihre Arme um seinen greisenhaften Brustkorb. Sein Herz schlug unter der schlaffen Haut in der Pause zwischen ihren Herzschlägen, und sie schob die Arme höher, bis sie seinen Puls nicht mehr spürte. Er stellte das Leben dar, wie es ohne schöne Larve war, schrecklich verletzlich, ein Mechanismus, der sich gerade noch behauptete. Sie mochte ihn zu sehr, als daß sie daran erinnert werden wollte. »Ich wünschte, wir wären nicht hierhergekommen«, sagte sie, um einen Schuldigen zu finden. »Im Gegenteil, wir hätten früher hierherkommen sollen. Krawschensky braucht jemand, der ihn antreibt. Das Dorf ist stark befestigt; aber gegen einen Luftangriff ist es machtlos. Wenn die anderen sich erst einmal organisiert haben, dauert es nur Tage, bis wir überrannt sind.« »Die anderen, Emmanuel? Wer sind die anderen?« »Die Leidenden, Margot. Die Sterbenden. Die Furchtsamen und die Menschen ohne Hoffnung, die Gemeinen und die Primitiven. Die Törichten. Seit vierundachtzig Jahren bin ich vor diesen Leuten auf der Flucht. Noch können sie mich einholen.« Margot konnte es nicht vertragen, wenn er sich in düsteren Gedanken erging. Sie tastete mit ihrer rechten Hand über seinen faltigen Bauch. »Keine Angst«, sagte sie. »Margot paßt schon auf dich auf. Und wo ist denn der kleine Emmanuel?« Selbst als sie den kleinen Emmanuel fand, blieb er schlaff in ihrer Hand. Manny Littlejohn weilte in Gedanken bei anderen, gemeineren Dingen – bei Männern, die brüllend das Dorf stürmten und ihn bedrohten. Er war alt und gerissen und mächtig und voller Angst. Das machte die Zukunftsaussichten von Roses nur noch düsterer. VIII Nachdem David Silberstein zwei Nächte hintereinander aus dem Schlaf gerissen worden war, blieb er an diesem Morgen ausnahmsweise zwei Stunden länger als sonst liegen. Normalerweise sprang er gleich nach dem Aufwachen aus dem Bett und redete sich ein, daß jeder neue Tag neue Möglichkeiten und neue Freuden brachte, die er auskosten konnte. Oft sang er sogar ein frisches, munteres Morgenlied. Doch als ihn heute die Vormittagssonne weckte, die heiß durch seine Vorhänge stach, blieb er in den Kissen liegen. Sein Mund war trocken. Er spürte nur schale Müdigkeit, Depression und Sterilität. An diesem Morgen gab es keine neuen Freuden, keine neuen Möglichkeiten. Da war Liza, die (was für ein altmodischer Gedanke) Roses gehörte. Da war der Gründer, der ihm im Nacken sitzen würde, wenn er aus seiner Quarantäne erlöst war. Da war Sir Edwin. Und da waren all die schrecklichen Dinge, die Sir Edwin ihm gesagt hatte. War das ganze Forschungsprogramm und alle Hoffnungen, die sich daran knüpften, nur eine Illusion? Natürlich nicht. Sir Edwin war ein alter Narr. David suchte angestrengt nach Gründen, warum er überhaupt noch aufstehen sollte. Er starrte an die Decke, auf der sich bunte Blumen abzeichneten, von der Sonne hingepinselt, die durch den hellgemusterten Vorhangstoff sickerte. Die Naturwissenschaft war erhaben über jedes nebulöse Philosophieren. Immer wieder in der Geschichte der Menschheit hatte die Wissenschaft die Philosophen in Erstaunen versetzt. Das würde wieder geschehen, war bereits im Gange. Und doch … Und doch war es verdammt schwierig, sich vorzustellen, wie ein Mensch in seiner eigenen Vergangenheit existieren konnte. Konnte ein Ereignis, das sich zugetragen hatte, so verändert werden, daß es sich eben nicht zugetragen hatte? Konnte eine Entdeckung noch einmal entdeckt werden? Oder nicht entdeckt werden? Konnte eine Erfindung wieder wegerfunden werden? Wenn die Chrononauten in die Zukunft reisten (falls sie zurückkehrten), würden ihre zukünftigen Entscheidungen bereits gewesen sein. Zweifellos würden diese Entscheidungen bereits in einem Geschichtsbuch aufgezeichnet sein, so daß sie nachlesen konnten, was sie tun würden. War das alles wirklich möglich? David zog sich die Decke über das Gesicht. Je mehr er nachdachte, um so verwirrter und verstörter wurde er. Immerhin lag es im Bereich des Möglichen, daß er in naher Zukunft seiner Zeit vorausreiste. Aber wohin reiste er dann? Diese Zukunft konnte alles enthalten – oder nichts. Er war keine Spielernatur … Das Telephon neben seinem Bett fing an zu läuten. David hielt sich die Ohren zu, um das Läuten zu verdrängen, um die ganze Außenwelt zu verdrängen. Im Laboratorium waren Liza und Professor Krawschensky bereits bei der Arbeit – sachlich und unpersönlich, wie das wissenschaftlichen Kollegen zukam. Wie es sich für einen alten Mann gehörte, der seine Begierden bereits überlebt hatte, und für eine Frau, die vor kurzem erst ihre eigene Vergewaltigung herausgefordert hatte. Sie führten eine Reihe von Experimenten durch, um die Überlegenheit der nukleischen über die peripherischen Zeit-Schrittmacher zu beweisen. Als Versuchsobjekte verwendeten sie jetzt Hunde (sie hatten nicht so scharfe Klauen wie Katzen, und ein Hundegebiß konnte man mit einem Maulkorb unschädlich machen). Der nukleische Schrittmacher erwies sich immer wieder als zuverlässig, während die peripherische Methode erhebliche Mängel zeigte. Ein kleiner, lebhafter Foxterrier, der mit der peripherischen Methode auf die Reise geschickt wurde, kam überhaupt nicht mehr zum Vorschein. (Tatsächlich kehrte er neunzehn Monate später in ausgezeichneter gesundheitlicher Verfassung aus der chronomischen Einheit zurück. Doch zu jenem Zeitpunkt brachte sein Fall keine wissenschaftlichen Aufschlüsse mehr.) »Trotzdem gefällt mir diese Methode noch nicht«, sagte Liza. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir mit diesem Verfahren nicht die Zellkerne beeinflussen.« »Aber, aber – was soll ihnen denn schon passieren, mein Kind!« Professor Krawschensky blickte von seiner Computerkonsole hoch und deutete auf eine Meute von Hunden, die nach beiden Methoden kurzfristig in die Zukunft verschickt worden waren. »Schauen Sie sich doch die Köter an. Wie das blühende Leben. Alle gleich lebhaft und vergnügt. Überzeugen Sie sich!« »Aber …« Was konnte sie schon vorbringen? Es war die warnende Stimme ihrer Intuition, etwas, was der Professor nie begreifen würde. »Ich würde mich lieber auf die peripherische Methode konzentrieren«, sagte sie. »Sie scheint viel sicherer zu sein. Und ich bin überzeugt, wir können das Verfahren noch erheblich verbessern, wenn wir konzentriert daran arbeiten.« »Wenn wir konzentriert daran arbeiten … Liza, mein Kind, der Gründer erwartet noch heute Fortschritte. Nicht in der der nächsten Woche und nicht im nächsten Monat – sondern heute.« »Wir sind Wissenschaftler. Wir haben unsere Verantwortung. Der Gründer soll sich inzwischen paaren oder masturbieren.« Liza zitterte. Sie wartete, daß der Professor sie wegen Majestätsbeleidigung ausschelten würde. Doch überraschenderweise tat er das nicht. Er tastete erst seine Formeln in den Computer ein, ehe er den Stuhl zurückschob und sie ansah. »Sie haben sich dazu verpflichtet, in der irdischen Zeit zu bleiben. Denken Sie daran, daß die meisten von uns nicht hierbleiben wollen. In der vergangenen Nacht wurden wir angegriffen. In der vorletzten Nacht ebenfalls. Wir haben Männer schreien hören. Diese Dinge werden sich wiederholen. Sie werden sich verschlimmern, denn wir leben in einer schlimmen Zeit. Denken Sie daran. Wenn meine Methoden Sie schockieren, denken sie daran. Wir leben in einer häßlichen Zeit, und Häßlichkeit färbt ab, auch wenn man sich dagegen sträubt.« Die Unterstellung, daß sie aus eigensüchtigen Motiven vor jeder Übereilung warnte, war so ungerecht, daß sie einen Moment lang sprachlos war. Es traf zu, daß sie zum Hierbleiben verpflichtet war; denn ohne ihre Mitwirkung in den kommenden Monaten und Jahren war die Rückkehr der Chrononauten, von der die Existenz des Dorfes abhing, ein Ding der Unmöglichkeit. Doch das hatte sie von Anfang an in Kauf genommen, ohne sich ausdrücklich dazu verpflichtet zu fühlen. Auch andere Dorfbewohner würden hierbleiben, das Dorf würde ausreichend geschützt bleiben. Und jetzt deutete dieser alte Mann an, daß sie … Oh, er hatte Angst. Das war es, die Angst. Und Angst macht häßlich. »Ich werde den Gründer anrufen«, sagte sie. »Wir brauchen seine Genehmigung, ehe wir einen Chrononauten als Versuchsobjekt anfordern können.« Der Gründer hatte soeben, einer dringenden Botschaft seines Projektleiters folgend, eine Reihe von erfolglosen Telephongesprächen mit Regierungsstellen geführt. Er hatte drei Ministerien angerufen (seitdem der offizielle Notstand ausgerufen worden war, wurden auch die Leitungen nicht mehr blockiert), und sieben einflußreiche, beeinflußbare Persönlichkeiten, angefangen bei der Mätresse des Premierministers bis zum Erzbischof von Canterbury. Zum erstenmal hatten selbst diese Leute versagt. In Sachen nationaler Moral – in der Propaganda, daß irgend etwas Nützliches in dieser Lage getan würde – war die Ministerin für moralische Verantwortlichkeit allein tonangebend. Und auf diese Persönlichkeit, auf Mrs. Lampton, hatte der Gründer nicht den geringsten Einfluß. Sie war neu im politischen Leben, hatte niemals einer Kirche oder einer Firma angehört und hatte keinerlei Dreck am Stecken. Manny Littlejohn saß bewegungslos in seinem Krankenzimmer, blaß unter seiner künstlich getönten Haut, wütender, um das durch schroffes oder verletzendes Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber abreagieren zu können. Der Projektleiter hatte ihm mitgeteilt, daß diese unglaubliche, überhebliche, bigotte Ziege, diese Mrs. Lampton, die Schließung jeder Forschungseinrichtung im Vereinigten Königreich von Großbritannien angeordnet hatte. Und er, Manny Littlejohn, OBE, war machtlos, sie daran zu hindern. Diese Einrichtungen sollten sofort geschlossen und das Personal aufgelöst werden … Aufgelöst, um am Fieber zu sterben? Um unter der Rache einer ignoranten, aufgeputschten Masse zu leiden? Um ein ganzes Lebenswerk zertrümmert zu sehen? Um den armen, reichen Manny Littlejohn der Gnade derjeniger Elemente auszuliefern, die er in seinem Leben schon immer am meisten gefürchtet hatte? Das war schon als Gedanke unerträglich. Als das Telephon jetzt wieder läutete – bestimmt ein speichelleckender Bürokrat, der ihm mitteilen wollte, wann er die Auflösung seiner Forschungsanlagen als vollzogen zu melden habe –, stellte er so gewaltsam um, daß der Hebel abbrach. »Sie können zum Teufel gehen«, sagte er, sich selbst verfluchend. »Wenn Sie wollen, daß wir auflösen, schicken Sie gleich die Armee hierher. Zwei Divisionen, wenn Sie noch so viele Soldaten zur Verfügung haben.« »Mr. Littlejohn?« Liza ließ sich durch nichts mehr überraschen, was der Gründer sagte oder tat. »Hier ist das Labor. Wir brauchen Ihre Genehmigung, Sir, ehe wir einen Chrononauten als Versuchsperson verwenden.« »Einen Chrononauten, Miß Simmons? Wann soll das Experiment denn stattfinden?« »Um fünfzehn Uhr, Sir.« Keine Sicherheitsreserven mehr. Angst, daß er vielleicht das – Ende nicht mehr erlebte. »Der Professor hat das Experiment eine Stunde nach Beendigung Ihrer Quarantäneperiode eingeplant. Sie werden natürlich dabeisein wollen, Sir.« »Natürlich, mein Kind, natürlich. Ich werde Ihnen die nötige Vollmacht sofort hinüberschicken.« Ihre Worte waren so formell gewesen, daß er einen Moment lang eine Beklemmung spürte. Sie war doch sonst nicht so – hoffentlich hatte er nicht in der elften Stunde noch Schwierigkeiten mit ihr und ihrem Gewissen. »Und, Miß Simmons, meine höchste Anerkennung. Alle Bewohner dieses Dorfes haben Ihnen außerordentlich viel zu verdanken. Ihr Pflichteifer und unermüdliches Wirken, uns unserem erhofften Ziel näherzubringen, waren beispielhaft.« Er fragte sich, ob das nicht schon reichte. Sie war schließlich eine feinfühlige Person. Es war so leicht, bei Intellektuellen die Schraube zu überdrehen. »Geben Sie mir jetzt bitte den Professor. Ich möchte ihm ebenfalls gratulieren. Eine großartige Leistung. Großartig …« Die Vollmacht, die von Manny Littlejohn unterschrieben und von David Silberstein und Professor Krawschensky gegengezeichnet war, wurde den angetretenen Chrononauten von dem Stellvertreter des verstorbenen Sir Edwin, also vom Dorfpsychiater, vorgelesen. Während sein Vorgänger und ehemaliger Vorgesetzter mit instinktivem Gespür für passende Gelegenheiten gehandelt hätte, machte das der Dorfpsychiater aus psychologischen Erwägungen. Schließlich war jetzt der Höhepunkt einer zweijährigen, intensiven Vorbereitungszeit gekommen, und dieser Höhepunkt verlangte nach einem Paukenschlag, nicht nur nach einem Zungenschlag. Die Chrononauten nahmen die Neuigkeit mit einem halblauten Hurra auf, mit echter, disziplinierter und temperierter Begeisterung. Dann marschierten sie in die Unterkunft, um das Los zu ziehen. Dort stand eine Maschine bereit, die extra für diesen Moment angeschafft worden war. Wenn man die Maschine in Gang setzte (sie war noch versiegelt), spuckte sie eine kleine goldene Uhr aus, auf der das Datum und der Name eines jeden Chrononauten aufgeprägt war. Das war ein passendes Andenken und ein persönlicher Einfall des Gründers. Wirklich schade, daß er der Ziehung nicht beiwohnen konnte. Wenn jeder Chrononaut im Besitz seiner Uhr war, wurden die hinteren Deckel der Uhren geöffnet. Und auf diesem Deckel stand dann auf der Innenseite, daß der Träger dieser Uhr die Ehre hatte, der erste (zweite, dritte, vierte und so weiter bis der zwölfte) Mensch zu sein, der in die chronomische Einheit eingehen durfte. Die Reihenfolge war nach wissenschaftlichen Zufallsfaktoren festgelegt worden. Und das Los für die erste »Zeitreise« wurde von einer Chrononautin gezogen, von Rachel Moser. Die anderen drängten sich um sie herum zeigten die von ihnen erwartete Kameradschaft, hinter der sich die erwartete Eifersucht versteckte und dahinter vielleicht auch noch die erwartete Erleichterung. Ihre Geschlechtsgenossinnen beherrschten dieses Spiel natürlich viel besser als ihre männlichen Kollegen. – »Wie wunderbar für dich, Darling! Und was wirst du für diese Reise anziehen?« »Du solltest dein rotes Kleid anziehen, Rachel. Du weißt ja, wie gut es dir steht.« »Und es ist so schlicht. Ganz recht – trage dein rotes Kleid. Man soll sich lieber bescheiden geben, bis man weiß, wie es um die Zukunft bestellt ist. Besser, wenn die Leute deinen Geschmack für altmodisch halten, als sich darüber aufzuregen, wie shocking du bist!« Einen Moment lang stand Rachel verträumt da, die Hände auf den nackten Hüften, und träumte davon, daß sie die Zukunft in ihrem roten Kleid eroberte. Doch dann riß sie sich wieder zusammen. »Unsinn«, sagte sie, »die ersten Zeitreisen werden doch nur zwei oder drei Minuten dauern. Dafür braucht man gar nichts anzuziehen.« »Trotzdem würde ich an deiner Stelle das Rote tragen, und wenn auch nur dem armen alten Krawschensky zuliebe.« Sie kicherten über diese respektlose Bemerkung und schielten rasch zu dem Dorfpsychiater hinüber. Das war echter Sportsgeist. Und trotz der gewaltigen Bildung waren sie doch alle typisch weiblich geblieben. Der Dorfpsychiater trat vor. Es standen immer noch die abschließenden Tests aus (körperliche und geistige). Er nahm artig ihren Arm und führte sie in die Testräume. Ihre Kolleginnen und Kollegen winkten und klatschten. Obgleich Gefühle bei Roses’ Erziehung und in seinen reiferen Jahren kaum eine Rolle gespielt hatten, war Roses doch entschieden sentimental. Und obwohl die Gerechtigkeit in seinem Leben nie Hilfestellung geleistet hatte, war der Glaube an sie in ihm fest verwurzelt. Als er deshalb die Katze, die ihm so wütend die Krallen über Arme und Beine gezogen hatte, tot in den Brennesseln hinter der Hoftüre fand, geriet er in einen ernsthaften Gefühlskonflikt. »Armes, kleines Biest«, stritt er sich, »das geschieht dir recht, du Teufel.« Ein paar Minuten lang rangen beide Gefühlsregungen miteinander. »Geschieht dir recht« gewann schließlich die Oberhand. Die Katze war ein undankbarer Bastard, hatte gekratzt und gefaucht, nachdem er sie aus den Händen des verrückten alten Professors gerettet hatte. Sonst hätte sie vielleicht am Ende noch auf der Bühne gelegen wie damals der gescheckte Hund … Dieser Gedanke führte nach einiger Zeit zu einer Generalverdammung des Professors und seiner Tätigkeit im Labor. Alles, was der Professor anfaßte, starb. Er wußte es. Er hatte es selbst gesehen. Er trat mit den Zehen auf das kalte Fell. Wenigstens schien hier noch alles an dem Platz zu sein, wohin es gehörte. Nicht so wie bei dem gescheckten Hund. In diesem Moment griff ein neuer Gedanke in den Wettkampf der Gefühle ein. Bis jetzt waren die Dinge in Roses’ Leben einfach gestorben. Es gab keinen Grund dafür. Er hatte auch nie nach Gründen gesucht. Sie starben eben. (Nur sein Vater hatte sich natürlich im Wald selbst umgebracht.) Doch hier lag der Fall anders. Alle Dinge, mit denen Professor Krawschensky sich befaßte, starben. Sie starben nicht einfach, sie starben, weil Professor Krawschensky mit ihnen zu tun gehabt hatte. Und Professor Krawschensky hatte auch den alten schwarzen Kater in den Fingern gehabt. Roses hob die tote Katze auf, trug sie in die Küche und legte sie auf den Küchentisch. Er setzte sich vor die tote Katze und starrte sie lange an. Er blickte ihr in die offenen, toten, milchigen Augen und berührte hin und wieder das platte Fell. Es war die Schuld des Professors. Natürlich war es seine Schuld. Fragte sich nur, was er, Roses, daran ändern konnte. »Das ist eine ganz besonders günstige Nachricht in Anbetracht der neuen Verfügung der Regierung«, sagte David Silberstein zu Professor Krawschensky, als er ihn kurz vor der Mittagspause in seinem Labor besuchte. »Mit Glück und Geschick werden wir sie noch ein paar Tage hinhalten können – lange genug, daß jeder in die Zukunft auswandern kann, der auszuwandern wünscht.« Er sprach nur darüber, weil er eine passende Überleitung brauchte, um dann den Professor beiseite zu nehmen und ihm die Fragen zu stellen, die ihn wirklich interessierten. Der alte Mann starrte ihn betroffen an. »Verfügung der Regierung? Was für eine Verfügung?« »Oh – ich dachte, der Gründer hätte Sie bereits davon unterrichtet.« »Nicht mit einer Silbe!« »Wir werden dazu gezwungen, das Dorf aufzulösen. Nicht nur wir – alle Forschungsstätten. Es ist ein Versuch, die Öffentlichkeit zu besänftigen. Forschung ist seit dem Ausbruch der Cholera-Seuche ein schmutziges Wort geworden. Das ist natürlich alles auf die Hetzreden dieser Mrs. Lampton zurückzuführen.« Er lächelte nervös. Jeder, der auswandern wollte, konnte auswandern … Stimmte das? Wollte er wirklich in die Zukunft verreisen, wenn es von dort kein Zurück mehr gab? »Ich habe gehört, daß man sogar eine Fabrik in Sussex geschlossen hat, die ein Impfserum gegen den mutierten Erreger dieser Seuche entwickelt. Mag was dran sein. Auf jeden Fall traue ich dieser Dame alles zu.« Professor Krawschensky sammelte seine verstreuten Gedanken zusammen. »Also haben wir nicht viel Zeit, wie? Zwei Tage, sagten Sie?« David nickte. Er hatte den Eindruck, daß der Professor sich Lizas wegen so eingehend nach ihrer Galgenfrist erkundigte. Als Liza sich abrupt umdrehte, wußte er, daß sein Eindruck richtig war. »Zwei Tage, wenn wir Glück haben«, sagte er. »Der Gründer will sich der Forderung zwar nicht beugen; aber er kann tatsächlich nichts dagegen unternehmen. Nicht gegen Luftlandetruppen, die im äußersten Fall von der Regierung eingesetzt werden können. Und sie warten ja nur darauf, daß sie an uns ein Exempel statuieren dürfen.« Er nahm Professor Krawschensky beim Arm. Er hatte genug geplaudert. Schließlich war er ja Projektleiter. »Ein Wort im Vertrauen, wenn Sie etwas Zeit für mich haben, Professor, ja?« Sie gingen in das kleine Büro des alten Herrn. Liza interessierte sich nicht dafür, was die beiden zu besprechen hatten. Sie arbeitete verbissen weiter. Wenn sie sich bis jetzt noch der Illusion hingegeben hatte, sie könnte das Experiment am Nachmittag noch aufhalten, so konnte sie jetzt jede Hoffnung begraben. Sie konnte nur noch – wissenschaftlich und vielleicht auch menschlich – ihr Bestes geben. Das winzige Büro erinnerte David an einen Beichtstuhl. Er teilte dem Professor seine Befürchtungen mit, und der Professor hörte geduldig zu. Als David ausgeredet hatte, saß der alte Mann noch eine Weile stumm da. Wahrscheinlich bereitete er, wie das alle Beichtväter tun, irgendeine Ausflucht vor. David wäre am liebsten wieder aufgestanden und gegangen – er hätte schon vorher wissen müssen, daß die Besprechung nur Zeitverschwendung sein würde. Doch an wen sollte er sich sonst wenden? »Das ist ein altes Argument«, sagte der Professor schließlich und legte die Fingerspitzen gegeneinander, »ein Argument, auf das ich keine positive Antwort geben kann. Alles, was Sie sagen, ist wahr. Trotzdem …« Er runzelte die Stirn und verdrehte die Augen nach oben, so komplex war das Rätsel, das er David erläutern wollte. »Trotzdem geht man ein großes Risiko ein, wenn man die Logik einer Disziplin auf eine andere Disziplin überträgt. Nehmen wir zum Beispiel das zweite thermodynamische Gesetz. Dieses wohlbekannte Gesetz, das Prinzip der Entropie, besagt, daß in jedem System eine Ordnung aus den Fugen gerät, wenn sie nicht von etwas aufrechterhalten wird, das von außen auf das System einwirkt. Ein allgemeiner Grundsatz, der offenbar selbstverständlich ist – bis man ihn auf das Leben anwendet und alle lebenden Wesen überhaupt. Dann wird aus diesem Grundsatz barer Unsinn. Auf dem Gebiet der lebendigen Formen sehen wir Strukturen, die seit zahllosen Generationen ihre festen Formen und Funktionen beibehalten haben.« Er ließ eine lange Pause verstreichen. Das war seine Trumpfkarte – seine einzige –, und er wollte sichergehen, daß man sie gründlich betrachtete. Draußen im Labor schwirrte und ratterte inzwischen der Bohn-Computer und rechnete für Liza die Mathematikaufgaben eines Jahres in zwei Sekunden aus. »Wir machen also die Erfahrung, mein lieber Projektleiter, daß ein unumstößliches Gesetz auf dem einen Gebiet auf einem anderen Gebiet wieder ein vollkommener Unsinn sein kann. Wir wissen eben so wenig … und über die Natur des Chronos wissen wir so gut wie nichts.« »So?« David war wütend auf sich selbst, weil er sich an einen Strohhalm geklammert hatte. »Mein lieber Freund; wenn Sie meiner Logik nicht gefolgt sind …« »Natürlich bin ich ihr gefolgt. Sie haben gesagt, Sie wissen es nicht.« »Eine begreifliche Einstellung, finden Sie nicht auch? Auf einem Gebiet der Wissenschaft, die erst seit drei Jahren existiert, ist eine andere Einstellung gar nicht möglich.« Ein geduldiges Lächeln, ein leises, bedauerndes Zucken der schütteren Augenbrauen. »Wir Wissenschaftler werden so oft der Arroganz beschuldigt. Doch da sitzen Sie und beschweren sich, wenn ich ein vollkommen menschliches, bescheidenes Geständnis meiner Ignoranz ablege.« Das war natürlich so manipuliert, eine so rhetorische Schaumschlägerei, daß David sich darauf jede Antwort sparte. Er stand auf. Er hätte gar nicht erst fragen sollen. »Ein bißchen Wagemut und Sinn für das Abenteuer, Projektleiter. Eine Bereitschaft, das kalkulierte Risiko auf sich zu nehmen – ist denn das wirklich zu viel verlangt?« Nein, nein, es war nicht zuviel verlangt. Er hatte wirklich schon gehen sollen, ehe er seine Schwächen bloßgelegt hatte. Vielleicht hatte er früher mal einen Sinn für Abenteuer besessen (nicht auf der Universität – schon früher, als er auf dem Fahrrad seines Bruders den Berg von Leckhampton hinuntergefahren war). Bestimmt besaß er diesen Sinn heute nicht mehr. Und was das kalkulierte Risiko anlangte – würde Liza heute nicht seine Geschlechtspartnerin sein, wenn er ein einzigesmal ein kalkuliertes Risiko eingegangen wäre? »Vielen Dank, Professor. Eine heilsame Erinnerung. Ich konnte sie wirklich gebrauchen.« Er ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um. »Ich freue mich schon darauf, das Experiment heute nachmittag als Zeuge miterleben zu dürfen, Professor. Ein historischer Augenblick. Wenn ich vorher keine Gelegenheit mehr habe, Sie noch zu sprechen – viel Glück.« Den Projektleiter kosteten Komplimente nichts. »Und nochmals vielen Dank.« Er ging rasch hinaus, den Kopf abgewendet, als er Liza passieren mußte, die Treppe hinunter in die steilen, strengen Schatten der Dorfstraße. Die hochstehende Sonne betonte die festgefügten Formen ihres kleinen Reiches: Jedes Haus, jede Mauer, jeder Pflasterstein besaß Dauer, Gewicht und seinen Raum. Astern blühten in den Gärten und riesige, gelbe Sonnenblumen. Sie versprachen Beständigkeit im Wandel, ein Hochsommer folgte dem anderen. Rauch stieg steil in die stille Luft aus dem Schornstein hinter Josephs Backstube. David fuhr mit der Hand über das weiße Steinkraut, das auf einer Gartenmauer wuchs. Wie lange würde es sich hier noch halten können. Wenn das Dorf von der Regierung aufgelöst wurde oder sich in die Zukunft versetzen ließ – wie lange würde diese Ordnung im Wandel der Zeit noch erhalten bleiben? Wenn Liza und ihr Team später hierher zurückkehren durften, würden sie das tun. Und die Stetigkeit gehörte ja zum Wesen des Menschen. Sie ruhte in ihm, reiste mit ihm, wohin er immer ging. Aber es würde nicht leicht sein … Manny Littlejohn nahm sein Mittagessen in seinem Krankenzimmer ein, ein Menü, das Joseph in seiner Küche für ihn speziell zubereitete. Er aß gut, denn seine Verdauung war genauso energisch und zielstrebig wie sein Geist. Margot hingegen war wählerisch und mäklerisch und schob das Essen auf ihrem Teller hin und her, als wäre eine Mausefalle darin verborgen. Manny Littlejohn hatte immer noch Zeit übrig, die schlechten Angewohnheiten anderer Leute zu korrigieren. »Hat dir denn noch niemand gesagt, daß man Gifte selten sehen kann, Frau?« Er selbst hatte es ihr bisher täglich dreimal gesagt, seit sie verheiratet waren. »Du kannst den ganzen Tag in deinem Essen herumstochern, und du siehst es nicht.« »Aber, Emmanuel, deswegen stochere ich doch nicht im Essen herum. Du weißt doch, daß ich keine Knorpel leiden kann.« »Warum keine Knorpel? Die harmloseste Substanz überhaupt? Du ißt doch auch das Blut und die Muskeln. Du ißt das Blut, das ununterbrochen durch das Herz des armen Tieres gepumpt wird. Du ißt die Muskeln, mit denen es herumgerannt ist und sich fortpflanzte. Das alles ißt du – weshalb dann nicht auch die Knorpel?« Margot schob den Teller von sich. »Ich glaube, ich werde Vegetarierin werden.« Da sie ihm das mindestens zweimal am Tag androhte, wurde er noch gereizter. Nach dem Mittagessen wurden Manny Littlejohn und sein Stab (in getrennten Zimmern entsprechend ihrem unterschiedlichen Status) noch einmal untersucht und dann aus der Quarantäne entlassen. Manny Littlejohn kam durch die Vordertür des Krankenhauses. Auf dem Weg durch das Dorf fiel ihm auf, daß die Leute jetzt in größerer Anzahl Kleider trugen als bei seinem letzten Besuch, obwohl die Hitze nicht nachgelassen hatte. Was für eine interessante Nebenwirkung der allgemeinen Unsicherheit, dachte er. Vielleicht könnte er seinem Sozialpsychologen den Auftrag geben, dafür eine Formel auszuarbeiten. Falls sich das noch lohnte. Sein erster Weg führte ihn zur Unterkunft der Chrononauten. Er haßte zündende Ansprachen – seine Gegenwart sollte als Inspiration genügen. Er plauderte mit den Chrononauten und betrachtete ihre Uhren. Er sprach von den letzten Tagen, die er in London verbracht hatte, von Unruhen, bewaffneten Polizisten, zensierten Zeitungen und erzählte eine lustige Episode von Verkehrsstockungen, die nur aus Kolonnen von Krankenwagen bestanden. Er wurde Rachel Moser vorgestellt und machte ihr Komplimente wegen ihrer schönen Haare. Er fand ein paar freundliche Worte für den Dorfpsychiater. Und um seinen Leuten zu zeigen, daß er sich vor nichts fürchtete und sich wegen nichts schämte, faßte er sogar das »heiße Eisen« Sir Edwin Solomons an. »Hier hat vor kurzem eine Beerdigung stattgefunden«, sagte er. Wenn ihr Geist wirklich so edel war wie ihr Körper, konnte er sie fast wie Ebenbürtige behandeln. »Leider war das notwendig. Was Sir Edwins Verfehlungen anbelangt, wird Sie der Projektleiter ja schon hinreichend aufgeklärt haben. Ihm können Sie vertrauen. Der Projektleiter, beschränkt und viel zu schwach, um wirklich skrupellos zu sein, ist ein schlechter Lügner und deshalb einer der zuverlässigsten Männer, die ich kenne. Sir Edwin war ein ganz anderer Mensch. Wir brauchten ihn, weil er brillante Eigenschaften hatte, nicht wegen seiner Charakterstärke. Ich wenigstens werde immer mit Respekt und Zuneigung an ihn denken.« Er verließ die Unterkunft der Chrononauten und ging jetzt, ein wenig langsamer, denn für ihn war es schon ein langer Tag gewesen und er wurde müde, die Fore Street zu der Veterinärstation hinauf, die am oberen Ende des Dorfes neben dem Elektrizitätswerk lag. Er wollte sich persönlich von dem Erfolg mit den größeren und kleineren Säugetieren überzeugen, von dem ihm Professor Krawschensky so begeistert erzählt hatte. Hinter dem Behandlungsraum und der Chirurgie war ein Zwinger angelegt, der ein paar Käfige aus starkem Maschendraht umfaßte. Diese Käfige enthielten acht Hunde, zwei Katzen und ein großes totes Schaf. Der Veterinär betrachtete es kopfschüttelnd. »Vor einer halben Stunde war es noch ganz munter«, sagte er. »Ich habe alles überprüft – Temperatur, Blutdruck. Pulsfrequenz, nachdem es sein Mittagsfutter bekommen hatte.« »Ist Ihnen nichts aufgefallen?« »Eine leichte Müdigkeit vielleicht. Das kann man bei Schafen immer schlecht sagen.« Der Veterinär zögerte und fuhr dann fort: »Wirklich bedauerlich. Das Forschungsprogramm machte gerade so zügige Fortschritte.« »Ein unnötiger Todesfall ist immer ein bedauerlicher Fall.« Manny Littlejohn schielte an seiner Nasenspitze vorbei. »Aber ich verstehe nicht, was dieser Kadaver mit dem Forschungsprogramm zu tun haben soll.« »Aber – Gründer! Dieses Schaf hat sich in chronomischer Einheit befunden! Und jetzt, vierundzwanzig Stunden später, ist es tot. Natürlich …« Der Gründer drehte sich um und wendete sich den anderen Käfigen zu. Hoffentlich machte der Mann ihm jetzt nicht noch Schwierigkeiten. »Sind Sie sicher, daß der Übertritt in die chronomische Einheit den Tod des Schafes verursacht hat?« »Natürlich nicht. Nicht in einer so frühen Phase. Ich müßte …« »Sagen Sie mal, Doktor -«, der Titel konnte als Schmeichelei oder als leise Drohung aufgefaßt werden, »gibt es nicht sehr viele Ursachen, an denen ein Schaf sterben kann? Ursachen, die nicht das geringste mit der chronomischen Einheit zu tun haben?« »Natürlich gibt es sie. Trotzdem …« »Wie viele solcher Ursachen gibt es?« »Das ist eine unmögliche Frage, Sir. Selbstverständlich eine große Zahl. Ich kann Ihnen sofort acht Hauptursachen aufzählen, an denen Schafe täglich sterben.« Manny Littlejohn blieb stehen. Sie standen jetzt neben einem Käfig, in dem ein schwarzer Kater und eine lohfarbene Katze untergebracht waren. »Acht natürliche Todesursachen, Doktor? Und nur eine unnatürliche Todesursache? Wenn also die natürlichen Todesursachen in so überwältigendem Verhältnis überwiegen, ist es dann nicht vernünftig, auf einen natürlichen Tod zu schließen, wenigstens so lange, bis Sie eindeutige Beweise für das Gegenteil haben?« »Sir? Bitten Sie mich vielleicht darum …« »Ich bitte Sie um gar nichts. Ich deute Ihnen nur an, daß jede Meldung von Ihnen über diesen Todesfall verfrüht wäre, solange Sie nicht eine gründliche Autopsie durchgeführt haben. Manche Leute würden es unverantwortlich nennen, wenn Sie anders handeln würden.« »Aber die Autopsie kann bis zu fünf Stunden dauern, Sir!« Richtig, dachte Emmanuel Littlejohn. Er lehnte sich gegen den Maschendraht und starrte auf die beiden Katzen hinunter. Die lohfarbene Katze wusch sich ausgiebig das Fell, während der Kater gelangweilt mit einem Ping-Pong-Ball spielte. »Auch zwei Versuchstiere, Doktor?« »Richtig. Und schon etwas länger zurückliegend als das Schaf. Trotzdem …« »Sehr normal in Aussehen und Verhalten, möchte ich sagen. Sie nicht? Und alle diese Hunde … Wenn man sie alle zusammenrechnet, Doktor, würde ich behaupten, daß Sie keinen sehr starken Beweis gegen die chronomische Einheit besitzen, um ihr den Tod des Schafs anlasten zu können.« »Ich glaube, ich verstehe, was Sie von mir verlangen, Sir.« Der Gründer beugte sich vor und tätschelte den Veterinär freundlich am Arm, wie alte Männer es öfters zu tun pflegen. »Ich möchte, daß Sie Ihre Arbeit tun, mein Junge. Führen Sie sofort Ihre Autopsie durch. Und melden Sie mir so rasch wie möglich das Ergebnis. Ich werde den ganzen Nachmittag im Labor bei Professor Krawschensky verbringen.« Er tätschelte noch einmal und wechselte dann das Thema, um seinen Abgang nicht so abrupt zu vollziehen. »Ich sehe, daß die Käfige entweder mit P oder mit N beschriftet sind. Vielleicht können Sie mir erklären, was das bedeuten soll?« »Es handelt sich hier um zwei verschiedene Methoden von Zeitschrittmachern, Sir. Die nukleische und die peripherische.« »Das klingt so schrecklich technisch … Und wie ich sehe, teilen sich noch vier Hunde und diese schwarze Katze hier mit dem verstorbenen Schaf auf die Käfige mit N auf.« »Die Hunde sind erst kurze Zeit hier, Sir. Sie sind erst vier oder fünf Stunden wieder aus der chronomischen Einheit heraus.« »Und unser schwarzer Freund hier?« »Nein, Sir, die beiden Katzen hier haben ihr Experiment bereits sechsunddreißig Stunden überlebt.« »Ausgezeichnet, junger Mann, ausgezeichnet.« Er bückte sich mühsam und rüttelte am Maschendraht des Käfigs, in dem die schwarze Katze eingesperrt war. Die Katze bewegte die Schwanzspitze, reagierte aber sonst nicht auf den Annäherungsversuch des Gründers. »Muschi, muschi, muschi …« Wenn die Menschen Narren aus sich machten, war das ausschließlich ihr Problem. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, wiederholte der Gründer noch einmal und bewegte sich mit steifen, arthritischen Schritten aus dem Zwinger. Doch draußen auf der Fore Street wurde er sofort wieder zum großen, denkwürdigen alten Mann, der energisch einherging und auf zivile Weise die vielen Dorfbewohner grüßte, die aus den Fenstern schauten. Er hatte es eilig, ins Labor zu kommen, um einen interessanten, langen Nachmittag zu erleben. Rachel Moser meldete sich pünktlich um zwei Uhr fünfundvierzig zum Dienst. Liza war ihr dankbar, daß sie ein schlichtes, rotes Kleid angezogen hatte. Schließlich gehörte es zu ihren Pflichten, den Professor vor allen Zerstreuungen und äußeren Ablenkungsmanövern abzuschirmen. Sie hatte sich längst mit ihrer abgeschlossenen Welt abgefunden, mit ihren chronomischen Koordinaten, den Formeln für Brennweiten, den Methoden der elektro-chronomischen Schrittmacher. Für sie war Rachel Moser nur ein Körper, den sie wiegen mußte, eine Zellstruktur, die sie auf eine Formel bringen mußte. Wie bei jeder anderen wissenschaftlichen Errungenschaft war auch hier am Anfang ein Risiko dabei. Es war ihre Pflicht, dieses Risiko so klein wie möglich zu halten. Sie gab Rachel Moser letzte Instruktionen. »Sie sitzen hier, auf diesem Stuhl. Sie brauchen sich nicht ganz still zu verhalten. Die Brennweite der Beschleuniger ist groß genug, daß sie einen gewissen Bewegungsspielraum vertragen können.« Das Mädchen setzte sich gelassen auf den Stuhl. Einen Moment lang wurde sie für Liza ein Individuum, eine Persönlichkeit, die entweder sehr vertrauensselig oder sehr tapfer war. Liza spürte einen Moment lang, daß sie diese Person nicht als Versuchsobjekt mißbrauchen konnte, daß sie es nicht fertigbrachte, sie in die unergründliche Leere zu werfen. Doch die Worte fehlten ihr, um ihr das zu sagen. Sie wären maßlos gewesen, und Maßlosigkeit war Liza Simmons vollkommen fremd. Deshalb drückte sie Rachel Moser nur die Hand und prüfte dann die Position ihres Stuhls auf der Startbühne. »Sie kennen die Routine, Rachel. Hier sind Ihre Ohrstöpsel. Stecken Sie sie nicht eher in die Ohren, bis ich es Ihnen sage. Was wir jetzt von Ihnen dringend brauchen, sind Ihre vollkommen subjektiven Reaktionen. Wir wollen alles haben, was Sie vom Augenblick an empfinden, denken, erleben, wenn die Maschinen eingeschaltet werden, bis zu dem Moment, wo Sie von der Bühne wieder heruntersteigen. Nichts ist so unwichtig, nichts ist so klein, daß wir es nicht wissen wollen. Kapiert?« Das Mädchen blickte zu ihr hoch. »Wir haben den Start und alles andere über ein Jahr lang geprobt«, sagte sie. »Und der stellvertretende Ausbildungsleiter hat uns dafür noch ein paar nützliche Tricks verraten.« Stimmen und Geräusche klangen am Eingang des Labors auf. Liza legte die Hand über die Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen, und sah, daß zwei neue Gäste eingetroffen waren: David Silberstein und Dr. Meyer. Der Gründer blieb auf seinem Stuhl am Fenster sitzen, und Professor Krawschensky trippelte nervös von Konsole zu Konsole und wieder zurück. Liza hoffte im stillen, daß er nichts mehr anfassen würde. Die Werte waren alle eingestellt, die Daten überprüft und noch einmal überprüft. Sie wendete sich wieder Rachel zu. »Ich muß Sie jetzt verlassen. Ich werde die Fernsehkamera so einstellen, daß Ihre Kollegen und Kolleginnen in der Unterkunft Ihren Start mitverfolgen können. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Und denken Sie daran: Sie brauchen keine Angst zu haben. Das Verfahren ist genau erprobt worden.« Genau erprobt? Kaum erprobt. Überhaupt nicht erprobt. »Seien Sie also unbesorgt.« Und dann war sie selbst überrascht, als sie Rachel Moser zum Abschluß kurz umarmte. Über ihr schlug die Wanduhr die neunte Stunde, neun Fanfarenstöße aus einer kombinierten Autohupe. Die tatsächliche Zeit war drei Minuten vor drei. »Angst?« sagte Rachel Moser leise, »ich habe keine Angst. Ich vertraue Ihnen, Liza. Der Gründer leidet an Altersparanoia. Der Professor ist ein besessener Neurotiker. Der Projektleiter ist ein Waschlappen. Aber Ihnen vertraue ich, Liza. Sie würden mich hier nicht sitzen lassen, wenn mir etwas passieren könnte.« Heute stimmt das nicht, Mädchen. Vergangene Woche vielleicht, aber nicht heute. Nicht nach der Nacht mit Roses. Traue niemand, Rachel Moser. Sie werden dich alle früher oder später enttäuschen und dich auffressen … Liza lächelte auf das Mädchen hinunter. So viel Bildung, so viel Ausbildung, so viel blindes Vertrauen. Sie ging von der Startbühne herunter und stellte die Fernsehkamera ein. Dann schaltete sie auch noch die Mikrophone zu, damit die Kameraden in der Unterkunft mithören konnten. Schließlich durchquerte sie den Raum und ging zu Dr. Meyer, um ihn ebenfalls in die Sache hineinzuziehen und ihm die unschuldige Außenseiterrolle an der Tür zu verderben. »Da sitzt sie, Dr. Meyer. Sie können noch eine abschließende Untersuchung vornehmen.« »Das ist erledigt, Miß Simmons. Die Leute vom Ausbildungsstab haben sie peinlich genau untersucht, ehe sie hierhergeschickt wurde.« Er sprach mit leiser Stimme. »Mein Auftrag ist, danach die Überreste einzusammeln. Wenn es überhaupt noch Überreste gibt.« »Haben Sie so wenig Vertrauen zum Professor?« »Ich habe immerhin eine wissenschaftliche Ausbildung genossen, Miß Simmons. Ich weiß so gut wie Sie, wann ein Forschungsprojekt überstürzt vorangetrieben wird.« Er behielt also seine Außenseiterrolle bei. Auch konnte sie das Gespräch nicht fortsetzen, denn von draußen drangen die Geräusche von Gewehrsalven in das Labor. Liza trat ans Fenster. Ein kleines ziviles Hovercraft-Fahrzeug kam rasch den Pill heraufgefahren. Als es sich dem Kai näherte, nebelte es sich ein. »Diese Idioten«, sagte der Projektleiter hinter Lizas Rücken, »können sie es denn gar nicht abwarten? Wissen sie denn nicht, daß wir spätestens in zwei Tagen sowieso schließen müssen?« »Sie wollen eben gewaltsam eindringen, solange das noch geht«, erwiderte Liza. »Treibjagd auf Wissenschaftler ist ja inzwischen zum Nationalsport geworden.« Er starrte sie einen Moment lang an. Sie war noch so jung und doch schon so verbittert, dachte er, während die Spannung zwischen ihnen etwas abebbte. Oder waren nicht die Jungen immer verbittert? Welche intelligente Person war denn nicht verbittert? Er drehte sich um, ging rasch zum Telephon und rief Sergeant Cole an. »Operation 3f, wenn ich richtig informiert bin, Sergeant Cole. Standardverfahren. Ich bin hier im Labor, falls Sie mich brauchen sollten. Und machen Sie es so unauffällig wie möglich – wir haben heute hier ein ganz besonderes Experiment. Sagen Sie den Leuten Bescheid. Sagen Sie ihnen, falls heute nachmittag hier alles gutgeht, können sie nach dem ursprünglichen Evakuierungsplan das Dorf sicher verlassen. Vielleicht schon morgen abend. Ehe das Ministerium hier einmarschiert.« Er schaltete ab und blickte zum Gründer hinüber, um nach der Tat die Erlaubnis einzuholen. Der Gründer nickte leise und blickte auf die Uhr. David tat es ihm nach und sah, daß es eine Minute vor drei Uhr war. Liza verteilte gerade Ohrenstöpsel. David behielt sie noch in der Hand. Er wollte hören, wie sich das Gefecht am Kai entwickelte. Die Sicht aus dem Laborfenster war schlecht, der Kai hinter einer Gruppe von kleinen Bäumen und dem spitzen Dach der Polizeistation versteckt. Die Nebelwand des Hovercraft-Fahrzeuges löste sich auf und trieb die Fore Street hinunter. David konnte die Sicherheitsbeamten bei der Arbeit sehen, Männer in Gasmasken, die eine Barrikade errichteten. Sie war für Notfälle gedacht und wurde unter Hochspannung gesetzt. Das Hovercraft-Fahrzeug gehörte zu einer Flotte von Mietfahrzeugen, die einer Gruppe von Abenteurern in Mevagissy gehörte. Sie wurden hauptsächlich dafür gebraucht, um Drogen auf die Insel zu schmuggeln. Er hatte davon gehört, daß Teenager den Eigentümern Leihgebühren zahlten, wenn sie damit eine kleine Rundfahrt veranstalten durften. Das war eine neue Art Nervenkitzel, eine Art Sport an Wochenenden und Feierabend. Für solche jungen Leute, die Abenteuer um jeden Preis suchten, war die Hetze auf Wissenschaftler genau das Richtige. Es kostete zwar ein bißchen mehr, aber dafür war die Sache auch dufte. Er hoffte, daß Sergeant Cole ihnen den Nervenkitzel verschaffte, den sie suchten. Hinter ihm fing die Elektronik zu jaulen an. Er drehte sich um, beobachtete die Startvorgänge, die inzwischen für ihn zur Routine geworden waren. Eigentlich sollte er heute besonders hochgespannte Erwartungen haben. Schließlich war Rachel Moser der erste Chrononaut, das erste menschliche Wesen, das sich in die chronomische Einheit begab. So ein hübsches Mädchen in so einem hübschen Kleid. Doch seine Erwartungen waren eher schlaff, und er mußte sogar ein Gähnen unterdrücken. Seine Gedanken wanderten zu Roses, zu den Kratzern an dessen Armen und Beinen und der fadenscheinigen Behauptung, eine Katze hätte ihm das angetan. Das muß ein Biest gewesen sein – verrückt mußte es gewesen sein, wenn es ihn so zugerichtet hatte. Wahrscheinlicher war es, daß Liza ihm in der Wut ihrer Leidenschaft diese Biß- und Kratzwunden beigebracht hatte. Das Jaulen wurde unerträglich, und David Silberstein steckte sich die Ohrenschoner in die Ohrmuscheln. Rachel Moser flackerte wie zahllose Stühle, Kaffeekannen, gestickte Pantoffel und echte viktorianische Standuhren vor ihr geflackert hatten. Wie acht Hunde, zwei Katzen und ein Schaf vor ihr geflackert hatten. Im Moment des Flackerns zeigte sich keine Veränderung ihres Gesichtsausdrucks, kein Anzeichen von Schmerz, Freude oder Überraschung. Sie flackerte nur und verschwand erwartungsgemäß. Zuerst sah man sie noch, und im nächsten Moment nicht mehr. Und die Implosion, die sie verursachte, war so stark, daß die Laborfenster erzitterten, und man den Knall noch hören konnte, obwohl draußen eine Handgranate aus dem Hovercraft geworfen wurde und die Beschleuniger noch schrecklich jaulten. Die Startbühne war plötzlich sehr leer. Die Apparate folgten ihrem Programm und stellten sich selbst ab. An dem Hauptcomputer verkündete eine Leuchtschrift: START O.K. Manny Littlejohn konnte von seinem Platz aus die Leuchtschrift zuerst erkennen und bedauerte, daß keiner sich die Mühe gemacht hatte, dem Computer das Sprechen beizubringen. Er war der erste, der sich im Laboratorium wieder bewegte, und das Knacken seiner Gelenke schien in der bedrückenden Stille einem berstenden Stuhl vergleichbar. Er war auch der erste, wie es seiner Position zukam, der das Wort ergriff. »Zumindest der Anfang des Experimentes«, sagte er mit milder Stimme, »scheint ausgezeichnet gelungen zu sein. Aber meine Glückwünsche will ich noch ein wenig aufschieben. Wie lange müssen wir warten, bis der Wiedereintritt in unsere Zeit stattfindet?« »Fünf Minuten.« Obgleich der Gründer die Frage nicht an Liza gerichtet hatte, gab sie ihm jetzt die Antwort. Der Gründer drehte ihr das Gesicht zu. Wenn sie einen Protest anmelden wollte, war er dankbar dafür, da sie, typischerweise, so lange damit gewartet hatte, bis es zu spät war. »Fünf Minuten, Sir. Es wird fast auf die Sekunde genau sein. Wir haben das nukleische Verfahren angewendet, weil es präziser arbeitet.« Der Gründer überhörte nicht – konnte gar nicht überhören –, wie einzigartig sie das vorletzte Wort betont hatte. »Sie deuten an, daß Sie mit diesem Verfahren nicht einverstanden sind, Miß Simmons.« Er war etwas interessiert. Schließlich mußte er sich fünf Minuten lang die Zeit vertreiben. »Präziser arbeitet, haben Sie gesagt. Präziser als was?« Professor Krawschensky drängte sich jetzt vor Liza. »Achten Sie nicht auf sie, Gründer.« Er war wütend, obwohl das die Umstände doch gar nicht rechtfertigten. Manny Littlejohns Interesse war jetzt erheblich größer. »Sie hat sich eine Theorie zusammengebastelt, daß das nukleische Schrittmacherverfahren die Zellstrukturen zu stark beansprucht. Das ist reine Spekulation. Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür.« »Mein lieber Igor, was Sie als Spekulation abtun, ist oft nur Instinkt, der auf strenger Logik beruht, sich aber nur im Unterbewußtsein äußert. Ich respektiere so etwas.« Manny Littlejohn legte eine Pause ein. Doch ehe der Professor sich eine passende Antwort zurechtgelegt hatte, fuhr er fort: »Sagen Sie mir, Igor – welches Verfahren haben Sie verwendet, als Sie das Experiment mit dem Schaf durchführten?« »Das ist mein Beweis, Gründer. Wir verwendeten das nukleische Verfahren. Und das Schaf hat dabei nicht den geringsten Schaden davongetragen.« Manny Littlejohn zuckte die Achseln und hob beide Hände. »Sie haben hier die Verantwortung, Igor. Sie müssen natürlich das tun, was Sie für richtig halten.« Es war ein Gegenangriff, der die Sieger von den Besiegten säuberlich trennen sollte. Doch die Wirkung seiner Worte, die in dem stillen Labor drohend nachhallen sollten, unterstrichen von dem Kampflärm draußen im Dorf, wurde verdorben. Denn in diesem Moment platzte Roses in das Labor hinein, eine große tote schwarze Katze unter den Arm geklemmt. Er kam rückwärts herein und schimpfte: »Verdammte Idioten! Knallen einfach so in der Gegend herum!« Er tastete eifrig an sich herum und entdeckte ein Loch im Hemd, zum Glück an einer Stelle, wo es sich am meisten bauschte. »Verdammte Idioten!« wiederholte er noch einmal mit Nachdruck. Erst jetzt drehte er sich um, wohl spürend, daß der Raum hinter ihm voller Leute war. Beim Anblick so vieler hochgestellten Figuren – Liza, David Silberstein, Dr. Meyer, Professor Krawschensky, Manny Littlejohn – verrauchte sein Unmut ziemlich rasch. »Wußte nicht, daß hier etwas los ist. Wollte nur den Professor sprechen. Wußte nicht, daß hier etwas los ist …« Er sah die Leute der Reihe nach an und scharrte verlegen mit den Füßen. Lizas erste Reaktion war Ekel und Abscheu. (Seit jener Nacht im Krankenzimmer hatte sie es immer so einrichten können, daß sie Roses nicht einmal zu Gesicht bekam.) Warum trat er immer wieder in ihr Leben und schleppte etwas Totes mit sich herum? Warum schien er immer so verletzt, so tief getroffen? Ihr zweiter Blick galt natürlich der Katze unter seinem Arm. Eine schwarze Katze. Nun, eine schwarze Katze war eine schwarze Katze. Und eine tote schwarze Katze war nur noch eine traurige Karikatur dessen, was sie einmal in ihrem Leben dargestellt hatte. Sie, Liza, hatte keinen Grund, überhaupt keinen Grund, zu vermuten, es könne sich bei dieser toten Katze um die gleiche schwarze Katze handeln, die sie vor knapp zwei Tagen auf der Bühne mühsam gebändigt und festgeschnallt hatte. Sie hatte keinen Grund, das zu vermuten; doch sie wußte sofort, daß es die gleiche Katze war. Und jetzt war sie tot. »Warum hast du die Katze hierher gebracht?« fragte sie. »Wir wollen sie hier nicht haben. Bringe sie sofort wieder weg!« »Ihr stellt mit Tieren Sachen an, daß sie sterben. Das ist nicht recht.« »Unsinn. Das ist nicht eines von unseren Versuchstieren. Die Katze, die wir verwendet haben, ist lebendig und wohlauf. Geh doch zum Veterinär, wenn du mir nicht glauben willst!« »Erinnerst du dich nicht mehr, daß die Katze ausgerissen ist? Erinnerst du dich nicht, wie sie im Garten herumgesaust ist? Immer im Kreise herum? Erinnerst du dich …« »Verschwinden Sie!« David Silberstein konnte Roses nicht mehr länger ertragen. »Sie sind ein Störenfried! Verschwinden Sie und lassen Sie sich hier nicht mehr sehen!« Es kamen jetzt Dinge zur Sprache, die er nicht mehr hören konnte. Für die er selbst verantwortlich war. »Hinaus, sagte ich! Gehen Sie zurück in Ihr Loch!« Doch vom Gründer kam der Gegenbefehl: »Nein, warte!« Zwei Worte, nicht besonders laut oder befehlend gesprochen, die absolute Autorität dadurch nur bestätigend. Keiner rührte sich. Der Gründer war jetzt ausgeruht. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging fast leichtfüßig auf Roses zu. Er betrachtete den Kadaver und sagte: »Ein hübsches, junges Tier. Offenbar unverletzt und auf der Höhe seiner Lebenskraft.« Dann, über die Schulter: »Ein Opfer der nukleischen Schrittmacher, Igor?« »Bestimmt nicht, Gründer. Sie haben gehört, was Liza gesagt hat. Alle unsere Versuchstiere sind …« »Können wir uns in dieser traurigen Auseinandersetzung nicht wenigstens die Wiederholungen sparen, Igor?« Der Gründer seufzte und blickte auf die Uhr. Draußen im Dorf verebbte der Gefechtslärm. Die Sicherheitsbeamten hatten mit ihrer fahrbaren Barrikade die Angreifer zum Strand zurückgedrängt. Ein bewaffneter Eindringling, der fast bis zum Labor vorgedrungen wäre, war tot. Der ganze Spuk hatte keine fünf Minuten gedauert. Der Gründer verglich seine Armbanduhr mit der Uhr am Hauptcomputer. Die letzten dreißig Sekunden von Rachel Mosers »Zeitreise« waren angebrochen. »Ein historischer Augenblick, Igor. Ich hatte mir so gewünscht, daß wir beide auf diesen Moment stolz sein könnten.« In einem zeitlosen Irgendwo (Irgendwo?) begannen die nukleischen Schrittmacher in Rachel Mosers Zellstrukturen sich zu regen. Sie reaktivierten den angeborenen Brems- oder Puffermechanismus, so daß Rachel Moser langsamer wurde, dem chronomischen Fluß Widerstand leistete, in das irdische Gleichgewicht zurückgerissen wurde. In dem Augenblick, als die Schubkraft ihrer Molekularstrukturen gegen den stetigen Strom der Chronoküle genau der Schubkraft des irdischen Universums entsprach, tauchte sie wieder auf der Bühne auf, pünktlich bis auf eine Hundertstelsekunde. Sie saß hübsch und bescheiden auf ihrem Stuhl, der Gesichtsausdruck noch genauso wie vorhin, ohne Zeichen von Schmerz, Vergnügen oder Überraschung. Sie war sich nicht bewußt, daß inzwischen fünf Minuten verstrichen waren, weil es für sie diesen Zeitraum nicht gab. Sie war jetzt genau fünf Minuten jünger als alle Menschen, die im gleichen Moment wie sie geboren worden waren. Und dieser Moment der »Zeitlosigkeit« ging jetzt natürlich zwangsläufig vorüber. Andere Momente folgten, brachten Verwirrung, brachten Schmerzen. »Kopf.« Sie runzelte die Stirn, hob die Hände, preßte sie gegen die Schläfen, schloß die Augen, riß sie wieder ganz weit auf. »Es tut weh – oh, tut das weh …« Der Arzt stürzte zu ihr. Noch bewegte sich keiner von den anderen Zeugen. Er nahm ihr Handgelenk, kauerte sich vor ihr nieder, blickte ihr in die Augen. Sie erkannte ihn wieder, versuchte zu lächeln. »Doktor … ich … ich müble und misch mascht … es mascht mich …« »Sprechen Sie jetzt nicht! Schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich. Versuchen Sie nicht zu reden …« »Esch hilft mir. Esch …« Sie versuchte aufzustehen; aber es gelang ihr nicht. »Doktor, es wird mir mübel – nein – es mascht mich schwimblig. Nein – Sie muschen – muschen -« Ihre Sprache verlor jetzt jede Form und jeden Zusammenhang. Der Arzt half ihr vom Stuhl hoch. Sie verstummte und lächelte jetzt nur noch, lächelte jeden an, der im Labor diesen historischen Augenblick miterlebte. Sie deutete auf ihren Mund und schüttelte, immer noch lächelnd, den Kopf. »Mübel«, sagte sie, »mübel?« Wer sollte diese Frage beantworten können? David Silberstein fing an zu weinen. Wenn Rachel Moser wenigstens nicht dauernd gelächelt hätte. Sie zuckte mit den Schultern, bewegte sich schwerfällig die Stufen von der Startbühne hinunter. Im gleichen Moment läutete das Telephon. Manny Littlejohn erreichte den Apparat als erster. »Hier spricht der Gründer.« »Mr. Littlejohn?« Der Tierarzt war am Apparat. Manny Littlejohn schaltete rasch den Lautsprecher ab, damit nur er verstehen konnte, was der Mann ihm zu melden hatte. »Mr. Littlejohn, ich bin mit der Autopsie des Schafes soeben fertig geworden. Ich hatte von Anfang an einen Gehirnschaden vermutet. Deshalb …« »Ich weiß«, unterbrach Manny Littlejohn, »ich weiß.« »Schwere Schäden in allen Gehirnsubstanzen, wo die Intelligenz …« »Ich weiß es. Wir wissen es. Geben Sie mir Ihren Befund schriftlich, ja?« »Aber, Gründer, ich habe jetzt den Beweis von einem progressiven Zellenzerfall im Gehirn höherer Lebe …« »Schriftlich, wenn ich bitten darf, junger Mann!« Er seufzte, wappnete sich für einen Nachsatz, den er unbedingt anbringen mußte: »Und außerdem hätten Sie uns das früher mitteilen müssen. Ja. Sofort, als das Tier starb. Jetzt ist es bereits zu spät.« Er fragte sich, ob er dem Tierarzt nicht zu viel zumutete. »Ich weiß zwar noch nicht, wie ich jetzt verfahren werde; aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihren Namen vielleicht gar nicht erwähnen müssen. Ja, ja.« Er hängte ein und drehte sich langsam den anderen zu. Er begegnete Lizas Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Hinter ihr stützte der Arzt Rachel Moser, die immer noch ein verwirrtes, verlorenes Lächeln auf ihrem Gesicht trug. »Der Tierarzt war am Apparat«, sagte der Gründer. »Er hat mir gemeldet, daß das Schaf gestorben ist.« Er brauchte nichts mehr hinzuzusetzen. Jetzt mußte er bereits an die Folgen dieser katastrophalen Panne denken. Er blickte Rachel Moser nach, die sich nur noch stolpernd vorwärtsbewegte. »Ich habe den Eindruck«, sagte er dann, »daß die nukleische Methode als brauchbare Lösung den Beweis schuldig geblieben ist. Würden Sie mir in diesem Punkt recht geben, Igor, alter Freund?« Inzwischen stolperte Rachel Moser die letzten Stufen der Labortreppe hinunter. Sie spürte die Sonne auf ihrem Gesicht und in ihrem Kopf den Anfang einer namenlosen Angst. Sie hängte sich noch fester beim Doktor ein und lächelte ihn an. Lächelte in eine dunkle Welt. Lächelte und nickte, den Kopf ein wenig schief gelegt. IX Roses Varco besaß die seltene menschliche Eigenschaft, überflüssig zu sein. Er war nicht wie die anderen: Er wußte nicht, was die anderen wußten; er fühlte nicht, was die anderen fühlten. Und wenn das Schlimmste zum Schlimmsten kam (obgleich das natürlich nicht passieren durfte), würde ihm keiner eine Träne nachweinen. Als menschliches Versuchskaninchen für die peripherische »Zeitreise« leistete er wahrscheinlich seinen ersten und voraussichtlich einzigen großen Dienst für die Menschheit. Er saß ganz ruhig auf der Startbühne, nicht im geringsten im Bilde, weshalb und wofür. Sein Weg hierher war so unerbittlich vorgezeichnet, wie der Sonnenaufgang am Morgen, seitdem Manny Littlejohn sich dafür entschieden hatte, daß Penheniot der ideale Ort für sein Forschungszentrum wäre. Und nun, da er es endlich geschafft hatte, war keiner über seine Rolle erstaunt. Sein Daseinszweck war jetzt offenkundig, der Grund, weshalb er auf die Welt gekommen war. Nachdem Dr. Meyer ihn gewogen, untersucht und für vollkommen gesund erklärt hatte, saß er jetzt auf der Startbühne und hörte sich die komischen Geräusche an, die sein Puls in seinen verstopften Ohren erzeugte. Er schluckte seinen Speichel, sah sein Gesicht ein dutzendmal auf den Linsen kopiert, und alle Leute waren so nett zu ihm, was ihm ganz gut gefiel. In den Köpfen der Spezialisten, die ihn umringten, herrschte eine beruhigende Ungewißheit darüber, wer von ihnen zuerst vorgeschlagen hatte, ihn als Versuchskaninchen zu verwenden. Zweifellos war es eine Gruppenentscheidung gewesen, streng demokratisch, das Ergebnis einer unbewußten Übereinstimmung, die aus der gegebenen Lage zwangsläufig herauswachsen mußte. Nicht, daß das jetzt noch eine Rolle gespielt hätte. Oft lagen im Leben ein Mangel und eine Möglichkeit, ihn zu beseitigen, dicht nebeneinander. Und da die Hauptgefahr bei der chronomischen Fahrt in die Zukunft in einem möglichen Gehirnschaden bestand, war es doch nur vernünftig, daß man Roses als Versuchskaninchen benutzte, den man kaum als ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft – selbst in der Blüte seines Lebens nicht – bezeichnen konnte. Falls die geringe Zuverlässigkeit des peripherischen Schrittmachers Roses weit über sein zeitliches Ziel hinausschießen lassen sollte, hatte man für ihn in aller Eile ein Plakat vorbereitet, das jetzt auf seinem Rücken hing. Ich komme aus dem Jahre 1988. Ich bin kein typischer Vertreter meiner Zeit. Bitte, schicken Sie mich zurück, wenn Sie das können, und schreiben Sie auf dieses Plakat, ob noch mehr von meinen Zeitgenossen bei Ihnen willkommen sind und welche Lebensbedingungen sie bei Ihnen antreffen werden. Ich stelle in keiner Weise eine Bedrohung für Sie dar. Nehmen Sie mich bitte freundlich auf. Niemand zeigte ihm den Text, der auf dem Plakat stand. Es hätte zu lange gedauert, ihm den Text zu erklären. Nach einem kurzen protokollarischen Streit zwischen Professor Igor Krawschensky, dem wissenschaftlichen Direktor des Forschungsdorfes Penheniot, und dessen Gründer, Manny Littlejohn, wurde das Plakat unterzeichnet. Das Plakat drückte etwas und scheuerte am Hals. Doch man fuhr ihn barsch an, als er versuchte, es zu entfernen. Liza arbeitete konzentriert am Computer. Sie berechnete die Werte, die sie aus dem peripherischen Schrittmacher wußte. Sie war nicht ganz zufrieden mit sich selbst. Sie hatte heftig protestiert, die unverletzlichen Grundrechte des Menschen zitiert und dabei heimlich mit der Faust Roses einen Stups in den Rücken gegeben, damit er sich schneller auf die Startbühne zubewegte. Sie wußte, was sie ihm angetan hatte. Daß David Silberstein sich an dieser Entscheidung beteiligte, machte die Lage nur noch schlimmer. Und jetzt berechnete sie die Ladung des Schrittmachers … Sie tastete das Gewicht und die Koeffizienten der Molekularstruktur ein. Sie fügte die üblichen 50 Prozent Toleranz als Sicherheitsfaktor hinzu. Dann betrachtete sie die Zahlen und blickte zu Roses hinüber, der schwitzend auf der Startbühne hockte. Er verrenkte den Hals und versuchte, die Inschrift auf dem Plakat zu lesen. Liza löschte die 50 Prozent Sicherheitszugabe wieder aus und tastete 75 Prozent ein. Es war wichtig, daß er keinen Schaden nahm – jetzt, wo alles zu spät war. Um ganz sicher zu gehen, verbesserte sie auf 80 Prozent. Oder vielleicht legte sie nur die 5 Prozent zu, weil er so verletzbar aussah. Oder vielleicht auch nur, weil sie sich schämte. Hätte man ihm wenigstens nicht sagen können, was man von ihm verlangte? Und ganz zuletzt, ganz verstohlen, erhöhte sie den Sicherheitsfaktor auf 85 Prozent, um ihr schlechtes Gewissen ein wenig zu erleichtern. Als Professor Krawschensky Roses Varco ins Auge faßte, sah er nur Haut, Haare und Kleider. Er sah das Muskelfleisch und die Knochen darunter, die aus zehntausendmillionen Atomen bestanden, die sein eigentliches Problem darstellten. Manny Littlejohn sah weder die Haut noch die Haare, sondern nur die Verwirklichung eines Traumes, die Apotheose von Manny Littlejohn und David Silberstein … Während David Silberstein Roses Varco auf dessen Stuhl betrachtete, blickte er durch all diese Nebensächlichkeiten hindurch auf ein breites Lotterbett, auf dem er sich mit Liza den ganzen Tag lang wälzte und paarte. Er glaubte fest daran, daß er einen Mord beging. Daß Roses Varco genauso sterben würde wie alle Versuchskaninchen des Professors vor ihm. Daß er, David Silberstein, als Mitwisser eines Mordes sich um Lizas Willen als Komplize hergab und sich deshalb zum ersten Mal stark fühlte, nicht nur als Zuschauer, sondern als würdiger Liebhaber von Liza, der einzigen Frau, die er jemals geliebt hatte. Die Wollust, die sich aus solchen Quellen speiste, mußte himmlisch sein, paradiesisch, jede Vorstellungskraft seiner Fantasie übersteigend. Aus der Todesqual von Roses würde für ihn eine goldene Zukunft aufsteigen, eine wonnige Folge von Tagen und Nächten mit Liza. Dieser verfluchte Kerl hatte schon immer mehr Umstände gemacht, als er wert war. Roses gab es auf, auf das Plakat zu schielen, das an seinem Hals befestigt war. Er beugte sich vor und zog die Zehen ein, daß sie nicht aus den Löchern in seinen Turnschuhen hervorlugten. Hätte er vorher gewußt, daß so viele Leute ihn anstarren würden, weil er mitten im Zimmer auf einem Stuhl saß, hätte er sich vorher … »Lehnen Sie sich bitte zurück, Mr. Varco!« dröhnte es in seinen Ohren, während sein Puls träge weiterpochte. »Lehnen Sie sich bequem zurück und halten Sie die Füße still ja?« »Wie beim Friseur?« »Richtig, wie beim Friseur.« Er wußte genau, wie es bei einem Friseur zuging. Man hatte zwei Leute gebraucht, um ihn zum Friseur zu schaffen – schließlich hatte er sich die Haare all die Jahre über selbst geschnitten –, aber beim drittenmal hatte es ihm auf dem Friseurstuhl ganz gut gefallen. Er war sich wichtig vorgekommen, und der Friseur hatte einen viel größeren und besseren Spiegel als er zu Hause an der Küchentür. Deshalb lehnte er sich jetzt bequem zurück und drehte Däumchen, wie ihm das seine Mutter beigebracht hatte und wie er das immer tat, wenn er beim Friseur warten mußte, bis er dran war. Er hatte keine Ahnung, was um ihn herum vorging und was man mit ihm machen wollte. Doch als er endlich eine Gedankenverbindung zwischen sich und dem gescheckten Hund herstellte, zwischen sich und dem alten schwarzen Kater, zwischen sich und dem Mädchen in dem schlichten roten Kleid, die so wirr dahergeredet hatte, als ob sie verrückt oder betrunken gewesen wäre, da war es bereits zu spät. Eine Wand von Lichtern und Geräuschen umringte ihn. Sein Gesicht starrte ihn aus Hunderten von Linsen an. Er schlug die Hände vor die Augen und rollte sich zusammen wie ein Igel. Er schaukelte vor und zurück, wimmerte und sabberte, weil ihm das Jaulen der Beschleuniger in den Ohren gellte. Ein Schrei war in seinem Kopf, der zum Teil mit den Anschlüssen zusammenhing. Dieser Schrei war so schrecklich, so andauernd, daß auch die Verbindungen abbrachen, als er endete. Er wartete in der Stille darauf, daß jemand zu ihm redete, ihm über den Kopf strich und in das Leben zurück brachte. Er zitterte auf seinem Stuhl, die Knie gegen die Brust gepreßt, das Gesicht zwischen den Schenkeln vergraben. Doch niemand trat zu ihm. (Die kurze Episode, die jetzt folgt ist in dem Buch natürlich nicht beschrieben, da sich die Episode erst dann zugetragen hat, als das Buch bereits geschrieben war. Deshalb wird an dieser Stelle die »phantasievolle Neuschöpfung« durch eine »intelligente Spekulation« ersetzt. Da ich weiß, wie die Geschichte endet, kann sich die Episode nur so, wie ich sie schildere, zugetragen haben.) X Endlich löste sich Roses aus seiner Igelstellung, öffnete die Augen und lugte durch seine Finger. Das Labor war verlassen. Alle Leute, die ihn eben erst angestarrt hatten, waren verschwunden. Die Scheinwerfer waren abgestellt, und draußen vor dem Fenster ging ein feiner Nieselregen nieder. Roses setzte sich gerade. Das Schweigen, das ihn einhüllte, war so dicht, als habe es jahrelang diesen Raum beherrscht. Er bewegte sich vorsichtig, kam sich wie ein Eindringling vor. Erst wird man geblendet von Lichtern, erschlagen von Geräuschen, angestarrt wie ein Wunder – und dann das. Das war nicht richtig. Er erhob sich vorsichtig, prüfte den Boden mit seinem Gewicht, bereit, sich in seine Igelstellung zurückzuflüchten. Die Bretter der Bühne knarrten. Das Plakat kitzelte hinter seinem linken Ohr. Er griff nach hinten und drehte es nach vorn unter sein Kinn. Jetzt wurden ihm auch kleine Unterschiede im Labor bewußt: Die Apparate standen nicht mehr an der alten Stelle. Neue Sachen waren hinzugekommen. Man hatte Metallständer auf dem Boden verteilt, die mit einer Silberschnur verbunden waren, so daß man einem vorgezeichneten Weg durch das Labor folgen mußte. Plaketten aus Metall waren hier und dort befestigt. Doch das, was darauf geschrieben stand, konnte er nicht entziffern. Und an den Wänden standen neue, mit Samt gepolsterte Bänke. Roses stieg von der Bühne herunter, kletterte über die Silberschnüre und ging vorsichtig bis an das Fenster heran. Er hatte das Gefühl, als durfte man hier nichts anfassen. Der Ausblick auf den Pill war von mächtigen Bäumen fast vollständig verstellt. Er reckte den Hals, damit er zwischen zwei Zweigen hindurchblicken konnte. Der Pill war sein Reich, er mußte wissen, daß der Fluß in seiner Nähe war. Er reckte sich auf die Zehenspitzen und sah Wasser, ein Stück Ufer, Eichengestrüpp – alles vertraut für ihn, sicherer Boden. Dann sah er das Heck eines Bootes, ein seltsames Gebilde, das er noch nie gesehen hatte. Er legte den Kopf schief und sah die bewaldete Landspitze, um die der Fluß eine Biegung machen mußte. Auch das war ihm vertraut, nur die seltsame schwarze Linie nicht, die quer über das Wasser verlief. Hinter der Linie war das Wasser rauh und bewegt, vor der Linie glatt wie ein Spiegel. Und der Himmel, von dem der Regen heruntertropfte, hätte eigentlich grau sein müssen. Doch er war wolkenlos blau. Angst und Neugierde hielten sich jetzt im Gleichgewicht. Trotzdem trat Roses jetzt fester auf, als er zur Tür ging. Durch die Glasscheibe sah er sonderbare Gebäude, seltsame Fahrzeuge, nichts, was er kannte. Er wich ein paar Schritte zurück und warf sich dann gegen die Tür, um sie aufzureißen. Sie war verschlossen. Er trommelte mit der Faust gegen das überraschend harte Glas, schrie, trat mit seinen zerschlissenen Turnschuhen gegen die Türfüllung. Er hatte Angst, schreckliche Angst. Dieser Ort war ihm unheimlicher als ein Zimmer, das ihm vollkommen fremd gewesen wäre. Diese Mischung aus Bekanntem und Unbekanntem war wie ein Alptraum, und er brüllte, daß man ihn endlich herauslassen sollte. Als er schon fast blind war vor Tränen, erschien ein Gesicht hinter der Glastür. Ein männliches Gesicht. Ein Mann mit einem sonderbaren steifen, schwarzen Hut. Der Mann vor dem Labor mußte ein paarmal brüllen, ehe Roses sich so weit beruhigt hatte, daß er zuhörte. »Die Tür ist abgesperrt«, sagte er. »Ich muß erst den Schlüssel holen. Hab keine Angst! Ich muß mir erst den Schlüssel besorgen. Ich bin spätestens in einer Minute wieder zurück. Hab keine Angst.« Er wiederholte diese Worte so oft, bis Roses sie kapiert hatte. Dann ging der Mann fort. Nachdem ein Anlaß zur Panik – die verschlossene Tür – beseitigt war, war auch das andere nicht mehr so bedrückend. Roses hatte jemand gefunden, der sich um ihn kümmerte, der ihm sagte, er brauche keine Angst zu haben. Und das Tal war immer noch sein Tal. Auch früher schon hatten sie alles mögliche darin geändert, aber es blieb dasselbe Tal, unter den Dingen, die sich veränderten. Er wendete sich von der Labortür ab, vor der bedrohlichen Unvertrautheit da draußen. Er bewegte sich unsicher. Seine Furcht blieb in Sichtweite, und er suchte jetzt Schutz bei den Dingen, die er kannte. Er tastete über das Schußloch in seinem Hemd, blickte sich ängstlich um, ob ihn nicht noch andere Schrecken im Labor erwarteten. Ein Tisch war vor einen Computer gerückt. Und auf dem Tisch, unter einem Glassturz, lag ein Buch. Er ging langsam auf den Tisch zu, voller Erwartung und unbegründeter Freude. Eine Erinnerung stieg in ihm auf. Das war das Buch, das er vor zwanzig Jahren zerstören wollte und zum letztenmal gesehen hatte, als es auf den Wellen des Penheniot Pill in der Dämmerung davontrieb. Er lehnte sich gegen den Tisch und starrte hinunter in den Glassturz. Auf dem Tisch war eine Plakette befestigt, deren Inschrift er lesen konnte: Die unsterbliche Geschichte von Penheniot und seinen Bewohnern. Mit bebenden Fingern hob er den Glassturz an. Er berührte das Buch mit den Fingerspitzen und erlebte das gleiche elektrisierende Gefühl wie damals. Er nahm das Buch in die Hand, schlug es auf und fand das gleiche Wort, an das er sich noch erinnerte NACKTHEIT Ja, das war an einem Abend gewesen, als er noch ein Junge war. Raben saßen in den Baumwipfeln, Rauch kräuselte sich aus seinem Schornstein, eine Eule schrie in der Stille. Damals, als Penheniot noch ihm allein gehört hatte. Nein, als Penheniot niemandem gehört hatte und er es für sich benutzte. Er wendete das Blatt NACKTHEIT Das Wort entsetzte ihn immer noch. Auf dem Blatt sah es immer noch geheimnisvoll aus, aufregend, prickelnd. Es hatte nichts gemein mit den Leuten, die in der Öffentlichkeit schamlos alles zeigten, was Gott ihnen gegeben hatte. Es bedeutete geheime, private, gehortete Freude. Er spürte, wie sein Körper darauf antwortete. Auf den Traum, auf den Blick durch das Schlüsselloch. Und dann wieder, auf der Titelseite – NACKTHEIT Es hatte eine Zeit gegeben – es mußte eine Zeit gegeben haben –, als er jung, frei und ungezwungen gelebt hatte. In einer goldenen Zeit. Er stand verzückt und träumte von diesem Zeitalter, während das Behagen durch seine Fingerspitzen in ihn einströmte. Hinter ihm sperrte Liza Simmons die Labortür auf und öffnete sie so leise, daß er es nicht bemerkte. Sie starrte ihn an wie seinen Geist. »Roses?« Sie hatte das Wiedertreffen oft geprobt. Sie hatte fest daran geglaubt, siebenundfünfzig Jahre lang. Sie beobachtete, wie er sich umdrehte, fürchtete seine Unsicherheit, das teilweise Wiedererkennen, auch den Schock, wenn er sie sah. »Miß Liz?« »Ja und nein.« Sie gab sich so, wie sie das vor der Öffentlichkeit tat. Sie sprach mit der Stimme der Präsidentin. Das war ihr bester Schutz. Und ein Wechsel des Themas. »Ich sehe, du hast unser Buch entdeckt. Was hältst du davon?« »Ich habe es schon einmal gesehen. Gute Arbeit.« »Unsinn. Du kannst es gar nicht gesehen haben. Es ist eben erst fertiggestellt worden. Es wird mindestens tausend Jahre bestehen, Roses. Menschen werden es lesen, nachdem alle unsere Fehler, Idioten und schlauen Einfälle längst vergessen sind. Sie werden es lesen und verstehen.« Sie sprach jetzt in dem lehrhaften Ton, den sie immer im Gerichtssaal anschlug. Roses war zu unmittelbar, zu sehr Bestandteil eines Mädchens, das längst gestorben war. »Eine ganze Lebensphilosophie steckt darin, Roses. Manchmal glaube ich, wir haben versucht, zu viel in das Buch hineinzupacken. Doch wenn unsere jungen Sprachkünstler sich gründlich damit befassen werden … Alles, was sie heute wissen, wissen sie aus Büchern, verstehst du?« Sie sah, daß Roses überhaupt nicht mitkam. Sie hatte ganz vergessen, was er war. »Warum sind denn hier so viele kleine Plaketten?« fragte er. »Und wo kommen denn plötzlich diese vielen Bäume her?« »Eine lange Zeit ist inzwischen vergangen. Die Bäume wachsen. Und das Labor ist jetzt ein Staatsmuseum.« Für ihn lag darin nicht die Spur einer Antwort. »Und wo sind die Leute geblieben? Mr. Silberstein, der alte, tapsige Professor und der andere alte Mann – wo sind die alle hin?« Sie seufzte. Es hatte keinen Sinn, wenn sie ihm erzählte, daß sie alle tot waren: Professor Krawschensky, der sechs Monate nach der Auflösung des Forschungszentrums bei einem Aufstand ums Leben gekommen war, ehe sein Kind zur Welt kam; der andere alte Mann, der Gründer, der sogar noch miterlebte, wie sie alle wieder ins Dorf zurückkehrten, und der dann ein paar Wochen später von seiner Frau mit der Schere erstochen wurde; und der Projektleiter, der sich selbst richtete, irgendwann in den Jahren, die danach folgten. Im Buch hatte Liza behauptet, Roses hätte bis zuletzt nicht gewußt, was mit ihm geschah. Manchmal, wenn sie sich vor sich selbst verteidigen mußte, hatte sie sich eingeredet, er hätte etwas gewußt, hätte etwas wissen müssen. Doch jetzt begriff sie, daß er nichts ahnte. »Sie sind … nicht hier«, sagte sie stockend. »Ich bin jetzt der Leiter des Dorfes.« Er trat wieder ans Fenster. Es gab zu viele Dinge da draußen, die nicht zueinander paßten. Er starrte auf die Bäume, auf das vom Regen benetzte Wasser. Es waren schöne Bäume im hellgrünen Schmuck ihrer Frühlingsblätter. Doch die Frau hinter ihm bedrückte ihn. Nichts an ihr war richtig. Bestimmt war sie Miß Liza – aber ihr Gesicht war jetzt plump und glatt wie ein Kissen. Ihre Stimme erinnerte ihn an ein Radio. Er reagierte viel mehr auf den Ton als auf die Bedeutung, und ihre Stimme erinnerte ihn an nichts so sehr wie an den anderen alten Mann, den Mr. Littlejohn. Nicht, daß sie so alt war wie er. Sie war eben nur nicht … richtig. Er rührte sich nicht, als er ihre Hände in seinem Nacken spürte. Sie band die Schnur seines Plakates los. »Ich wußte doch, daß ich mich an den Wortlaut genau erinnert habe«, sagte sie. Dr. Meyer, damals der einzige Überlebende neben ihr (er war jetzt auch schon fünf Jahre tot), hatte versucht, den Text im Buch pathetischer und feierlicher wiederzugeben. Doch sie hatte darauf bestanden, daß er die unangenehme Wahrheit berichtete. Sie war jetzt groß genug, um sich dieser Wahrheit zu stellen. Und die anderen waren alle tot. Sie zerriß das Plakat in kleine Stücke und schüttelte dann den Kopf. Sie wurde sentimental. Sie blickte auf seine groben Hände, seine breiten Schultern und erinnerte sich an die Gewalttätigkeit, die sie unter ihm erlitten hatte. Das Grauen und die Faszination. Sein Haar war noch zerzaust von dem Angriff des Hovercraft-Fahrzeuges, den er vor siebenundfünfzig Jahren erlebt hatte. »Die Leute werden dich sehen wollen«, sagte sie. »Sie haben in ihren Büchern von dir gelesen. Jetzt wollen Sie dich auch in Fleisch und Blut sehen.« »Gelesen? Von mir? In was für Büchern denn?« »Das Buch unter dem Glassturz auf dem Tisch.« Er wendete sich ihr zu. Offenbar fand er Gefallen daran, daß er in einem Buch verewigt war. »Zeig es mir«, bat er. Sie führte ihn zum Tisch zurück. »Das war schon immer dein Fehler«, sagte sie, »daß du dich deiner Lust und Freude geschämt hast. Wir haben das Buch so gestaltet, daß jeder, der es anfaßt, es auch lesen will.« »Zeig mir etwas daraus.« Er reizte sie. Wie kindisch war er doch trotz seiner neugewonnenen Berühmtheit. »Zeig mir eine Stelle, wo etwas über mich darin steht.« Sie schlug das Buch zu. »Man spricht nicht so mit mir«, sagte sie warnend. »Du mußt eine Menge dazulernen.« Und dann, als er sich duckte, spürte sie ihre Macht. Es war ein Gefühl, das nie verblaßte. »Ich habe Soldaten, die dich unterrichten werden. Du mußt lernen, daß die Dinge sich sehr verändert haben. Du, wir alle, haben uns viel zu sehr gehen lassen. Daraus entstand ein großes Unglück.« Roses hatte keine Angst vor ihr, sondern vor der Fremdartigkeit seiner Umgebung: vor den Bäumen, den Silberschnüren, vor den Leuten, die nicht zugegen waren. Das Mädchen, das vor ihm stand, konnte er entweder ignorieren oder demütigen, wie er das schon einmal getan hatte. Ihr Gerede von den Soldaten bedeutete ihm nichts. Doch das Boot am Ufer war ganz anders als jedes Boot, das er bisher gesehen hatte, und es regnete von einem blauen Himmel, der eigentlich grau sein mußte. Vor diesen Dingen fürchtete er sich. »Ich muß jetzt nach Hause«, sagte er. »Hab mein Mittagessen versäumt wegen der schwarzen Katze. Muß schon ziemlich spät sein, weil mein Magen so knurrt.« »Dein Heim existiert nicht mehr, Varco.« Genoß sie tatsächlich nicht ihren kleinen Triumph? »Am Anfang, als wir die Nachbarn unterwarfen, waren wir nicht sehr zimperlich mit unserer Tradition. Wir haben deine Küche in ein Gefängnis verwandelt. Es war ja dort immer schon dumpf und feucht gewesen.« Er folgte ihr nur bis zum Ende des ersten Satzes. Er glaubte ihr. Sein Heim bestand nicht mehr. Er wußte jetzt, daß alles vorbei und zu Ende war. Wimmernd rannte er zur offenen Tür, sah, daß ein Mann die nassen Stufen heraufkam, rannte zurück und kauerte sich auf eine der gepolsterten Bänke. Er war nicht hier. Er war nirgendwo. Er hörte den Mann über die Schwelle treten. »Mutter?« meinte er fragend. »Ich hörte, daß wieder eine Rückkehr in die irdische Zeit stattgefunden hat. Ein Mensch diesmal. Hast du Schwierigkeiten mit ihm?« »Absolut keine. Er sitzt da drüben.« Lizas Stimme wurde schärfer. »Steh auf, Varco. In der Gegenwart des zukünftigen Staatsoberhauptes erhebt man sich von seinem Stuhl.« »Das kann er doch nicht wissen, Mutter.« »Dann weiß er es jetzt. Steh sofort auf, Varco.« Roses stand auf und sah zum erstenmal Lizas Sohn. Sohn? Wieso konnte sie einen Sohn haben, der bereits ein erwachsener Mann war? Leute mit erwachsenen Söhnen waren alt. »Karl, das ist Roses Varco. Du erinnerst dich doch an ihn, nicht wahr?« »Natürlich erinnere ich mich an ihn.« Er blickte Roses von Kopf bis Fuß an: ein rotes, ernstes Gesicht, ungebügeltes Hemd, verwaschene Jeans, Löcher in den abgetragenen Turnschuhen. Fürwahr kein historisches Standbild. »Sie haben sehr lange gebraucht, um zu uns zurückzufinden. Die meisten von uns haben Sie längst abgeschrieben. Ich sollte Ihnen deshalb zuerst einmal gratulieren, daß Sie gesund hier eingetroffen sind.« Die Worte waren bedeutungslos, doch der Ton war verletzend. Roses sagte nichts vor dieser eingeimpften Überlegenheit. Karl sprach jetzt zu seiner Mutter, obwohl er seine Augen von Roses nicht abwendete. »Ich habe mich oft gefragt, ob du nicht etwas übertrieben hast, Mutter. Ich meine, in den Beiträgen, die du zu dem Buch geliefert hast. Doch jetzt sehe ich, daß deine Beschreibung haargenau zutrifft.« Er schlug Roses ins Gesicht, eine kaltblütige Geste, die die Möglichkeit einer Vergeltung absolut ausschloß. Roses ballte die Fäuste, aber er wehrte sich nicht. Hierzu gab es keinen Präzedenzfall, keinen Anknüpfungspunkt. Er tat nichts. »Das war dafür, was du meiner Mutter angetan hast. Allerdings nur der Anfang. Ein kleiner Anfang.« »Das reicht, Karl!« »Aber ich habe doch das Buch gelesen. Willst du ihn wirklich straflos ausgehen lassen?« »Ich sagte, es genügt, Karl. Widersprich mir nicht.« Sie dachte nicht über den Grund nach, warum sie ihm befohlen hatte, die Prügelei zu unterlassen. Er hatte in ihrer Gegenwart schon Männer bewußtlos geschlagen. Männer aus dem Ausland, die besser und weiser waren als Roses. Männer, die man formen mußte wie Roses hier. Sie dachte sofort an ihren Sohn und wartete darauf – wie sie immer darauf wartete –, daß er sich auflehnen sollte. Widersprich mir, bitte, widersprich mir. Sie hatte ihn zum Mann erzogen. Als Herrscherin hatte sie ihn zum Herrschen erzogen. Und trotzdem war er noch mit sechsundfünfzig ihr Speichellecker. War das nicht vorauszusehen gewesen, nicht zu erwarten von dem Sohn eines Tattergreises, den sie für unfruchtbar gehalten hatte? War das nicht zu erwarten von dem Kind einer greisenhaften Lust. Solange Karl lebte, hatte sie dieser Gedanke bedrückt und hatte sie sich gegen diesen Gedanken aufgelehnt. Er war ihr Sohn. Wenn er nicht das war, was er sein sollte, war das auch ihr Fehler. »Entschuldigung, Mutter. Ich werde es nicht wieder tun.« Er wischte sich die Hände an der Hose ab und setzte sich auf eine gepolsterte Bank. »Was wirst du jetzt mit ihm anfangen?« »Mit ihm anfangen? Er ist wertlos.« Sie hatte eine Eingebung. »Wir werden ihn als Spion aufhängen.« War er schon immer wertlos gewesen? Auch an dem Tag, als sie den unverhältnismäßig großen Sicherheitsfaktor eingebaut hatte, während sie seinen Wiedereintritt in die irdische Zeit programmierte? Wenn er wertlos gewesen war – warum dann dieser enorme Sicherheitsfaktor, der ihn siebenundfünfzig Jahre nach der geplanten Wiedererscheinung in das Universum zurückbrachte? Was mit der Zeit am meisten verblaßte waren die Motive, die einen früher beherrscht hatten. »Wir werden ihm den Prozeß machen, Karl. Er kann ja nur aus den ausländischen Provinzen stammen. Du brauchst ihn doch nur anzusehen. Zuerst ein Prozeß hier in der Hauptstadt und dann eine öffentliche Hinrichtung. Das Volk wird das von uns verlangen.« »Großartig. Man wird keinen Zeugen finden, der etwas zu seiner Verteidigung sagen kann. Brillant … Und die Wächter in der Stadt, die bereits wissen, daß er einer von den Zeitreisenden ist?« »Wie viele wissen es schon. Höchstens drei. Sie sind nicht mehr tragbar.« »Ich werde mich sofort darum kümmern.« Er stand auf und streckte sich gähnend. »Ein Exempel, das statuiert wird. Genau das brauchen wir jetzt. Ein paar von den äußeren Provinzen zeigen schon offen, daß sie uns nicht mehr so lieben wie früher.« »Nein, Karl, ich werde gehen. Du mußt auf ihn aufpassen, falls er zu toben anfängt. Gib mir eine halbe Stunde Zeit um die Sache mit den Wächtern zu erledigen. Dann schlägst du Alarm. Du behauptest, du hast ihn vor dem Gefängnis entdeckt und er sei dann hierher geflüchtet.« Sie ging zur Tür. »Und denke daran, daß er sich benimmt wie ein wildes Tier. Das leiseste Zeichen von Schwäche und Furcht, und er reagiert mit Gewalttätigkeit.« Sie sah sich noch einmal nach Roses um. Er starrte auf den Boden hörte nicht zu, sah vielleicht die Fliesen, die von den Füßen Hunderttausender von Besuchern abgewetzt waren. Das war einmal ihr Platz gewesen, der Bereich ihres Ehrgeizes. So wie er ein paar Tage lang das Ziel ihrer Wünsche gewesen war. Doch jetzt war er ein Tier, und sie würde nie mehr mit ihm allein sein. Sie würde ihn nur noch einmal im Gerichtssaal sehen und zum letztenmal auf der Gerichtsstätte. Sie mußte sich von ihm befreien, wie sie sich schon vor vielen Jahren von dem Mädchen befreit hatte, das sie jetzt neben ihm stehen sah. Er war es gewesen, der sie die Gewalttätigkeit gelehrt hatte. Daß er wie ein Tier enden würde, war gerecht und angenehm zugleich. »Kannst du dir vorstellen«, sagte sie, als sie durch die Tür ging, »daß ich einmal in das dort verliebt war?« Karl wartete, bis ihre Schritte verhallt waren, und setzte sich dann wieder. Er nickte Roses zu, sich neben ihn zu setzen. Doch der bewegte sich nicht. »Sie hat zu lange unter diesem Dach gelebt«, sagte Karl. »Sie glaubt, wir durchschauen sie nicht. Als ob unsere Psychiatrie auf dem Stand von 1988 stehengeblieben wäre. Du magst vielleicht nicht sehr hell sein, Varco, aber ganz bestimmt bist du kein Tier. Obgleich es für sie vielleicht notwendig ist, daß sie dich dafür hält.« Roses bewegte die Arme, spürte, wie die Spannung nachließ. Er machte sogar ein paar Schritte. Lizas Sohn, der Mann, der ihn geohrfeigt hatte, wollte sein Freund sein. Er hatte ihn Lizas wegen (aber weshalb?) geschlagen. »Weißt du überhaupt, daß sie schon dreiundachtzig Jahre alt ist?« fragte Karl. »Dreiundachtzig … Sie sieht natürlich nicht alt aus. In diesem Punkt hat sich das chronomische Pufferverfahren meines Vaters tatsächlich bewährt. Es ist die Gegenwart, die unserer Aufmerksamkeit und Kraft bedarf – nicht irgendeine Zukunft, in die wir uns flüchten wollen. Selbst nachdem das Dorf längst aufgelöst war, kam sie immer wieder hierher und schwitzte über ihrer kostbaren peripherischen Technik. Sie brauchte Jahre dazu, bis sie erkannte, daß hier ihre große Chance lag, in dem einzigen noch ausreichend ausgerüsteten wissenschaftlichen Gebäude, das in diesem Teil der Erde existierte. Ich war bereits sechzehn, als man ernsthaft damit begann, Leute hier anzusiedeln. Sie paßte sich nur langsam der neuen Lage an. Und jetzt, da sie alt ist, fällt ihr das noch schwerer.« Er blickte zu Roses hinüber und lachte. »Verstehst du überhaupt, was ich sage?« »Du sagst, Miß Liza wäre schon sehr alt. Eine Menge Unsinn. Sie ist nicht älter als …« »Ich will, daß du dich rettest, Varco.« »Rettest? Wovor denn?« »Ich denke doch, daß das vollkommen klar ist.« Roses blickte sich im Labor um und kletterte dann hinauf auf die hohen, schlanken Bäume. »Flüchten wohin?« fragte er. »Das ist allerdings eine kluge Frage.« Karl betrachtete ihn eingehend. »Wenn du zwanzig oder dreißig Meilen von hier fortgehst, triffst du auf Siedlungen, wo die Polizei dich nur sehr schwer finden wird … Aber ich bezweifle, daß du dich dort zurechtfinden wirst.« »Ich gehe nirgendwohin, was so weit weg ist. Sie sagte, mein Heim ist weg. Ich kann nicht wo hingehen, wo ich kein Heim habe.« »Begreife doch, Varco. Ich will keinen Prozeß haben. Ich habe meine eigenen Pläne. Eine Menge Leute sind darin verwickelt, und ein Prozeß zu diesem Zeitpunkt ist das schlimmste, was mir passieren kann.« Roses war vollkommen verwirrt. Als er Liza wiedersah, hatte er geglaubt, alles käme jetzt wieder in Ordnung. Doch sie … sie war nicht mehr dieselbe. Und jetzt sagte dieser Mann, ihr Sohn, er müsse wieder fortgehen. »Schleiche nirgendwo hin.« Und dann, um das Thema zu wechseln, deutete er auf die Plaketten. »Was steht denn darauf?« »Tut mir leid, Varco, aber dir bleibt gar keine andere Wahl. Vielleicht kann ich dich irgendwo verstecken. Das läßt sich natürlich in so kurzer Zeit nur schwer bewerkstelligen, aber …« »Was steht denn auf den vielen Plaketten?« »Bist du wirklich so blöd, Mann? Begreifst du denn nicht, daß ich dich vor deinem …« Er brach ab. Eine simple Alternative drängte sich ihm auf, wie er Roses’ Flucht ermöglichen konnte. Ein viel sicherer Weg, den Prozeß zu vermeiden, den er so sehr scheute. »Was auf den Plaketten steht?« Er redete und dachte gleichzeitig über seine Alternative nach. »Es ist eine computerfreundliche Schrift. Wir lehren sie in allen unseren Schulen. Damit ersparen wir uns eine Menge Zeit.« »Schrift ist gut. Ich habe das doch in der Schule gelernt. Das ist keine Schrift.« »Du wirst das neue Verfahren viel einfacher finden als die alte Schrift.« Er hatte einen Entschluß gefaßt und stand auf. »Varco, ich werde dir jetzt ein paar Pillen bringen.« Mit den Pillen ging es am einfachsten. Er konnte ja hinterher sagen, Varco habe die Pillen selbst mitgebracht. »Ich werde dir ein paar Pillen holen. Du hast eine schlimme Zeit hinter dir Varco. Wenn du die Pillen nimmst, wirst du dich viel besser fühlen.« »Ich nehme keine Pillen. Mag sie nicht. Man weiß nie, was darin steckt. Mein Vater hat in seinem ganzen Leben keine Pille geschluckt. Hat sich im Wald selbst umgebracht. Starb wie ein Fuchs in der Falle.« Es war eine lächerliche Selbstparodie, wortwörtlich aus dem Buch. Karl beherrschte sich mühsam. »Du hast Pillen eingenommen, Varco. Eine Menge sogar. Ich weiß es ganz genau.« »Nicht eine einzige. Und ich fange auch gar nicht damit an.« Es schien, als wäre Varco entschlossen, bei seiner perversen Weigerung zu bleiben. Karl stand auf, packte ihn bei seinen breiten Schultern. »Lüge mich nicht an, Varco. Ich weiß, daß du Pillen eingenommen hast. Zum Beispiel die Pillen im Krankenhaus. Sie haben dir überhaupt nicht geschadet, oder?« »Im Krankenhaus?« Er sah, wie Roses’ Gesicht leer wurde. »Krankenhaus? Welches Krankenhaus soll denn das gewesen sein?« »Du weißt verdammt genau, welches Krankenhaus.« »Oh – du meinst, das Krankenhaus. Nun …« Karl hatte sich bisher immer gegen eine augenscheinliche Tatsache verschlossen. Und die möglichen Folgen dieser Tatsache. Er mußte sich ihnen jetzt stellen. »Du hast sie nie genommen.« »Hab sie in den Ausguß gekippt. Sie hat nie nachgeschaut, ob ich sie genommen habe.« »Vielleicht …« Es dämmerte. Was hatte sie gesagt, als sie das Laboratorium verließ? »Vielleicht wollte sie es gar nicht wissen. Vielleicht hoffte sie sogar, daß du sie nicht nehmen würdest.« »Ist das nicht verrückt? Gibt mir Pillen und hofft, daß ich sie in den Ausguß werfe?« Nein, nicht verrückt. Typisch Weib. Nein, nicht typisch Weib. Human. Er nahm die Hände von Roses’ Schultern, als würde er sie sich daran verbrennen. Er wich ein paar Schritte zurück, immer noch diesen sanften, unberechenbaren Tölpel anstarrend, den seine Mutter einmal geliebt hatte. Dieser Mann in der Raserei einer Nacht? Dieser Mann oder der tapsige Vierzig-Sekunden-Professor? Dieser Mann natürlich. Dieser Mann, den seine Mutter geliebt hatte. Und Roses war ein junger Mann, während er, Karl, ein behandelter Sechsundfünfziger war. Es war unmöglich. Ein Mann. Sein Vater. »Wie ich dir schon sagte, habe ich mir nie was aus Pillen gemacht. Mein Vater auch nicht. Er hat in seinem ganzen Leben keine einzige Pille genommen, mein Vater …« Roses verstummte. Er konnte ganz deutlich erkennen, wenn er nicht richtig ankam, und hörte dann auf zu reden. Auch jetzt war das der Fall. Er kratzte sich am Kinn, trat von einem Fuß auf den anderen und bewegte die Arme auf und ab. Dann summte er seine drei Noten und trat verlegen zur Seite. Er ging zum Tisch, wo das Buch lag, nahm es auf und setzte sich damit in eine Ecke, wo er sich unauffällig machen konnte. »Varco« – wie anders konnte er ihn nennen? »Varco – wir müssen dich von hier fortbringen.« »Ich gehe nirgends hin. Und auch keine Pillen.« »Nein, da hast du vollkommen recht.« Sentimental und schwach. »Nein, Varco keine Pillen.« Die Minuten seiner Halb-Stunden-Frist tickten unwiederbringlich dahin. Varco saß immer noch auf seinem Stuhl in der Ecke. Karl konnte seinen Hinterkopf sehen. Ab und zu blätterte er um, aber Karl bezweifelte, daß er eine einzige Zeile las. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt, als höre er etwas. Er fühlte das Buch, gab sich dem simplen elektronischen Wohlbehagen hin. Sobald Karl erkannt hatte, wer Varco war, hatte er sofort gewußt, was er jetzt tun mußte. Doch von diesem Moment an hatte Karl sich nicht mehr gerührt, war gelähmt von der verwirrenden, beängstigenden Intensität einer Gefühle. Doch am größten war das Staunen, das ihn ergriff. Vaterschaft war ein Betrug, ein Unglücksfall, ein Muskelkrampf. Das hatte man ihm sein ganzes Leben lang erzählt, und er hatte natürlich daran geglaubt. Was war denn das, ein Vater? Und was konnte ein Sohn für so einen Mann empfinden? Was sich auch zwischen Sohn und Vater entwickelte, es wuchs erst später, wurde geschaffen, war das Verdienst beider Teile. Und Roses Varco, der nichts geschaffen und sich nichts verdient hatte, dessen Beitrag zur Vaterschaft – wenn er dem Buch und damit seiner Mutter glauben durfte – noch tierischer als üblich und rein zufällig gewesen war, dieser Roses Varco (simpel, fast unerträglich simpel) löste im Herzen seines Sohnes ein überwältigendes, vollkommen unbegreifliches Gefühl aus. Deswegen war Karl, der in der Rationalisierung dieses Gefühls einen Ausweg suchte, auch so erstaunt. Doch er wußte, was jetzt getan werden mußte. Er kannte auch die philosophischen Einwände. Seine Mutter hatte sie selbst entwickelt, ironischerweise zusammen mit der letzten Phase ihrer Forschungsarbeit, so daß das letzte, ihr Werk krönende Experiment nicht mehr durchgeführt wurde. Und erst dann hatte David Silberstein, jungfräulich und verschämt, sein Geheimnis preisgegeben, das er fünfzehn Jahre lang so streng gehütet hatte und das seine private Hoffnung nährte. Die Theorie seiner Mutter hatte man jetzt auf ein anderes Ziel angesetzt, auf die Probleme des Alterns. Und David Silberstein hatte sich dann, was er der Sachlage nach schon vor Jahren hätte tun sollen, selbst umgebracht. Genauso undelikat, wie er gelebt hatte. Die philosophischen Einwände bleiben. Doch Karl argumentierte verzweifelt, daß die gegenwärtige Situation – ein achtunddreißigjähriger Mann im gleichen Zimmer mit seinem sechsundfünfzig Jahre alten Sohn – philosophisch betrachtet, nicht weniger unwahrscheinlich war. Und er wußte, was hier getan werden mußte. Die Geschichte lehrte, daß es einmal ein goldenes Zeitalter gegeben hatte. Selbst in den perversen Schriften jener Epoche (wie verbittert, wie irreführend konnten Künstler schreiben, wenn ihre destruktiven Neigungen nicht von der Kirche oder dem Staat überwacht wurden!), selbst in den ätzenden Leitartikeln der Zeitungen und in den schlimmen Büchern schimmerte diese Wahrheit durch. Es hatte einmal ein goldenes Zeitalter gegeben, eine Zeit, als die menschliche Natur die Schlacht mit sich selbst fast gewonnen hätte. Ein goldenes Zeitalter, eine kurze Zeitspanne, ein halbes Lebensalter lang, um so köstlicher, weil es am Rand des Chaos balancierte. Und Karl hatte von Anfang an gewußt, daß er seinen Vater dorthin schicken mußte. Zurück hinter den Anfang seines eigenen Lebens. Dorthin zurück, wo er sicher sein würde. Dorthin zurück, wohin er gehörte. Karl zwang sich zum Handeln. »Varco«, sagte er und drückte sich so aus, daß sein Vater ihn auch verstehen konnte, »Varco, die Dinge scheinen für sich schiefgelaufen zu sein.« »Das mag stimmen.« »Ich glaube, sie gingen von dem Augenblick an schief, als du dich auf den Stuhl auf der Startbühne gesetzt hast. Ich glaube, wenn du dich noch einmal dorthin setzt, können wir das alles wieder berichtigen …« Es war so einfach, so schrecklich einfach. Karl begriff, daß man Roses Varco mit Geduld zu allem überreden konnte. Solange ihm das Buch Behagen und Wärme spendete, würde er überall hingehen und alles für ihn tun. Er saß auf dem Stuhl, drückte das Buch an die Brust und sah gleichgültig zu, wie Karl die komplizierte Maschine bediente. Draußen regnete es noch immer. Nach dem Regenplan würde es noch fünfzig Minuten so weiternieseln. Und die Hauptstadt – stark befestigt, uneinnehmbar, von einem Gewölbe geschützt – ging ihren stillen Geschäften nach. Dazu gehörte auch die Untragbarkeit dreier Wächter. Das Gesetz der Gewalt, das alles im Gleichgewicht hielt. Karl überließ seinem Vater das Buch. Er würde seinem Vater alles gewährt haben, doch das Buch konnte er am leichtesten entbehren. Es war die Unsterblichkeit seiner Mutter. Liza stand in der Tür und sah schweigend zu, wie ihr Sohn die letzten Vorbereitungen zum Start machte. Sie hinderte ihn nicht daran. Dazu hatte also ihre Erziehung geführt. Mitleid. Es konnte nichts anderes sein als Mitleid. Mitleid, vor die Anforderungen des Staates gestellt. Sie hatte ihn dazu erzogen, woanders seine Befriedigung zu suchen. Und hier hatte er endlich einen Weg gewählt, um ihr zu trotzen. Sie ließ ihn gewähren, bewahrte ihre Macht bis zuletzt. Von der Schwelle des Labors aus konnte sie das Buch nicht sehen, nur Roses’ Rücken, breit, stark und sinnlich erregend, gebückt in seiner typischen Haltung der Demut. Es war eine täuschende Pose, hinter der sich etwas Unbeugbares verbarg. In siebenundfünfzig Jahren war sie dem Haß entwachsen. Der Liebe ebenfalls. Ihr Sohn schickte Roses zurück in seinen Untergang. Doch ein verschwundener Spion war auch eine Lösung. Ein verschwundener Spion – verschwunden unter verräterischen, manipulierten Umständen – war sogar noch besser als ein lebender Spion, der sich in einem Prozeß noch wehren konnte. Ein verschwundener Spion, auch wenn er ihr Liebhaber war, ihr Liebhaber, konnte noch viel mehr Schuld auf sich geladen haben. Deshalb wartete sie, bis der Start erfolgt war. Sie wartete, bis die Maschine wieder verstummt war und die Bühne so leer, als wäre sie noch nie betreten worden. Dann rief sie seinen Namen, daß er sich umdrehen sollte, um sie zu sehen und sich zu fürchten. »Karl … Karl …« Doch er trotzte ihr sogar in diesem Moment und holte sich Stärke und Würde aus einem Irgendwo, wo es keine Furcht gab. Nachdem er tot war, trat sie wieder hinaus auf die Treppe. Der Regen tropfte ihr von den Haaren. »Wache!« rief sie. Nicht zu laut, weil sie seit Jahren nicht mehr laut rufen mußte, »Wächter, es ist ein Feind in unserer Stadt. Er hat unseren Sohn getötet. Er hat den zukünftigen Präsidenten umgebracht.« Eine Zeitlang hörte man sie nicht. Doch als man sie endlich hörte und herbeigeeilt kam, glaubte man ihr nicht. Denn sie konnte nichts anderes bezeugen als diese drei Sätze, und die Waffe in ihrer Hand war immer noch warm … EPILOG Unmittelbar nach dem Ende dieser Geschichte – und damit eigentlich am unmittelbaren Anfang – saß Roses Varco, achtzehn Jahre alt, auf einer halbverfallenen hölzernen Mole und las die Abenteuer von der Pantherfrau. Um ihn herum wurden die Schatten der Abenddämmerung größer, und hinter ihm bereiteten sich die verlassenen, abgedeckten Häuser von Penheniot auf eine neue, geruhsame Nacht vor. Unter ihm leckte das graue Wasser des Pill den Sandstrand hinauf und ließ kleine Schlammgebilde zurück. Und drüben zu seiner Rechten, im letzten Haus der Zeile, das noch nicht ganz so abgedeckt war wie die übrigen, spielten vier Katzen mit einer leeren Makrelenbüchse auf dem Boden. Ab und zu tropfte etwas Fischöl auf ihre Schnurrhaare. Diese Katzen waren die einzigen Lebewesen, die unter der Ankunft (Nicht-Ankunft) von Roses Varco II zu leiden hatten. Er kam mit einem Getöse an, als käme ein Schnellzug durch die Hütte gebraust. Er landete gerade noch am äußersten Rand des goldenen Zeitalters – eine krasse Fehlberechnung seines eigenen Sohnes – und wurde sofort als philosophisch unmöglich befunden. Er hörte auf zu existieren. Er hörte auf zu sein. Er hatte in dieser Agonie der Auflösung nur noch Zeit zu einem einzigen Schrei, der so rasch abriß, daß er eigentlich gar keine Dauer besaß, einem geometrischen Punkt vergleichbar, der keine Ausdehnung besitzt. Dann war er verschwunden. So eine gewaltsame Unterbrechung des Chronos wurde von einer ungewöhnlichen Aktivität der Chronoküle begleitet, so daß die Katzen, die unfreiwillig Zeuge des Ganzen wurden, große Stücke ihres Fells zurücklassen mußten, ehe sie sich ins Freie flüchten konnten. Und als sich Roses Varco, der erste Roses Varco, der einzige Roses Varco, denn es konnte ja niemals zwei Roses Varco gegeben haben – als Roses Varco sich wieder aus dem Schlamm des Flusses befreite, den Verlust seines Buches betrauerte, nach Hause ging, um sich seiner nassen Hose zu entledigen, stieg ihm dort ein fremdartiger Geruch in die Nase. Es roch nach überhitzten Radiogeräten, Aspirintabletten, den Reibeflächen alter Streichholzschachteln und nach etwas, das ihn an Rizinusöl erinnerte. Was er aber wirklich roch – obgleich ihm das natürlich nicht verriet, weil er es sowieso nicht begriffen hätte –, was er wirklich roch, war seine eigene Auflösung. Im achtunddreißigsten Jahr seines Lebens starb ein Mann, der aus einer Zeit zurückreiste, als er dem Kalender nach fünfundneunzig Jahre alt sein mußte, ein paar Wochen nach seinem achtzehnten Geburtstag. Ich wiederhole. Im achtunddreißigsten Jahr seines Lebens starb ein Mann, der aus einer Zeit zurückreiste, als er dem Kalender nach fünfundneunzig Jahre alt sein mußte, ein paar Wochen nach seinem achtzehnten Geburtstag. Und das Buch? Als eine wahrheitsgetreue Aufzeichnung einer Geschichte, die sich noch nicht ereignet hatte, ist natürlich nicht weniger und nicht mehr wahrscheinlich als Roses Varco II war. So hätte es eigentlich, philosophisch betrachtet, gar kein Recht gehabt, jenen Kräften zu widerstehen, die Roses Varco II samt Blue Jeans, Turnschuhen und ungebügeltem Hemd zur Auflösung zwangen. Man kann nur vermuten, daß seine bemerkenswerte Unzerstörbarkeit ein Beweis gegen diese Kräfte darstellt. Oder vielleicht war auch beschlossen worden – von einem (einem?), der eben solche wichtigen philosophischen Beschlüsse macht –, daß sowieso niemand von dem Buch Notiz nehmen und jeder so weitermachen würde, als wäre es gar nicht geschrieben worden. Und diese Annahme ist eigentlich gar nicht so weit weg von der Wahrheit … ENDE