Tochter des Feuers Elizabeth Haydon Rhapsody #3 Offene Feindseligkeiten, Intrigen und grausame Kämpfe haben die neue Welt an den Rand des Chaos getrieben. Die drei Gefährten Rhapsody, Achmed und Grunthor ahnen, dass ihnen nur mehr wenig Zeit bleibt, jenen Dämon zu töten, der ihre Welt seinem ureigenen Element des Feuers opfern will. Eines Morgens wird die Himmelssängerin von einer entsetzlichen Vision heimgesucht: Tausende von Angreifern nähern sich aus allen Richtungen den Bolg-Landen und färben die Ebene rot vom Blut der Opfer. Angetrieben von den Schreckensbildern begeben sich Rhapsody und Achmed auf die Mission, die Kinder des Rakschas aufzufinden, jenes aus dem Blut der Wölfe und des Dämons gezeugten Wesens. Mithilfe des geheimnisvollen Fürstenpaares Rowan, deren Reich hinter dem Schleier von Hoen liegt, will Rhapsody das verseuchte Blut der Kinder reinigen; die dämonische Essenz aber soll Achmed helfen, die Spur des F’dor aufzunehmen. Indessen treibt der Dämon seinen Plan voran, große Teile des Heeres unter seinen Bann zu bringen. Doch auch der Fürbitter Llauron ersinnt undurchsichtige Ränke, zumal ihm die Liebe seines Sohnes Ashe zu Rhapsody missfällt. Nichts ahnend vertraut diese sich ihm an und schwebt bald darauf in höchster Gefahr. Als der Tod nach ihr greift, besinnt sie sich auf eine Lektion ihrer Schwertmeisterin: den Ruf der cymrischen Blutsverwandten. Doch es ist nicht Ashe, der die magischen Worte als Erster vernimmt... Elizabeth Haydon Tochter des Feuers Dieses Buch ist gewidmet: der anderen Hälfte meiner Seele, meinem Reisegefährten in die Ewigkeit, meinem Mit-Elternteil, besten Freund, meiner Traumerfüllung und allgemein bevorzugten Person, dem herzlosen Tölpel, der einige meiner Lieblingsdialoge ausradiert hat, der Stellen gestrichen hat, an denen ich sehr hart gearbeitet habe, der glaubt, »ja, ganz nett« sei das beste Kompliment, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht und ohne den keines dieser Bücher existieren würde. Für Bill in Liebe ewiglich Die Prophezeiung der Drei Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf, spät treten sie in Erscheinung, Die Lebensalter des Menschen: Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels. Ein jeder Mensch, entstanden im Blute und darin geboren, Beschreitet die Erde, wird von ihr genährt, Greift zum Himmel und genießt seinen Schutz, Steigt indes erst am Ende seiner Lebenszeit zu ihm auf und gesellt sich zu den Sternen. Blut schenkt Neubeginn, Erde Nahrung. Der Himmel schenkt zu Lebzeiten Träume im Tode die Ewigkeit. So sollen sie sein, die Drei, einer zum anderen. Die Prophezeiung des ungebetenen Gastes Er geht als einer der Letzten und kommt als einer der Ersten, Trachtet danach, aufgenommen zu werden, ungebeten, an neuem Ort. Die Macht, die er gewinnt, indem er der Erste ist, Ist verloren, wenn er als Letzter in Erscheinung tritt. Unwissend spenden die, die ihn aufnehmen, ihm Nahrung, In Lächeln gehüllt wie er, der Gast; Doch im Geheimen wird die Vorratskammer vergiftet. Neid, geschützt vor seiner eigenen Macht Niemals hat, wer ihn aufnimmt, ihm Kinder geboren, und niemals wird dies geschehen, Wie sehr er sich auch zu vermehren trachtet. Die Prophezeiung des Schlafenden Kindes Das Schlafende Kind, sie, die Jüngstgeborene, Lebt weiter in Träumen, doch weilt sie beim Tod, Der ihren Namen in sein Buch zu schreiben gebot, Und keiner beweint sie, die Auserkorene. Die Mittlere, sie liegt und schlummert leise, Zwischen dem Himmel aus Wasser und treibendem Sand, Hält stille, geduldig, Hand auf Hand, Bis zu dem Tag, an dem sie antritt die Reise. Das älteste Kind ruht tief, tief drinnen Im immerstillen Schoß der Erden. Noch nicht geboren, doch mit seinem Werden Wird das Ende aller Zeit beginnen. Die Prophezeiung des letzten Wächters Im Innern des Kreises der Vier wird stehen ein Kreis der Drei, Kinder des Windes sie alle, und doch sind sie’s nicht, Der Jäger, der Nährer, der Heiler. Furcht führt sie zueinander, Liebe hält sie zusammen, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind. Höre, o Wächter, und besehe dein Schicksal: Der, welcher jagt, wird auch beschützen, Der, welcher nährt, wird auch verlassen, Der, welcher heilt, wird auch töten, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind. Höre, o Letzter, auf den Wind: Der Wind der Vergangenheit wird sie geleiten nach Haus Der Wind der Erde wird sie tragen in die Sicherheit Der Wind der Sterne wird singen das Mutterlied, das ihrer Seele am vertrautesten klingt, Um das Kind vor dem Wind zu verbergen. Von den Lippen des Schlafenden Kindes werden kommen Worte von höchster Weisheit: Hüte dich vor dem Schlafwandler, Denn Blut wird das Mittel sein, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind. Die Prophezeiung des Soldatenkönigs Bei dem Anbeginn jeden Lebens wird Blut zusammengeführt, doch auch vergossen; es teilt sich zu leicht, um den Riss zu heilen. Die Erde teilen sich alle, doch geteilt ist auch sie, zwischen Vorfahr und Nachkomme. Nur der Himmel umfasst alles, und der Himmel ist nicht teilbar; daher ist er das Mittel, das Frieden und Einheit bringen wird. Wenn du den Riss heilen willst, General, achte auf den Himmel, damit er nicht herniederfällt. Zuerst musst du den Riss in deinem Innern heilen. Durch Gwylliams Tod bist nun du der König der Soldaten, doch erst wenn du den Niedrigsten deines Volkes gefunden hast und diesen Hilflosen beschützt, bist du würdig der Verzeihung. Und so sei es, bis du entweder erlöst wirst oder ohne Vergebung stirbst. Der Ruf des blutsverwandten Beim Stern werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden. Der Orden der Filiden Llauron, der Fürbitter Hauptpriester: Khaddyr, Llaurons Tanist (Nachfolger) und Heiler Lark, lirinsche Kräuterfrau Gavin, Hauptwaldhüter Ilyana, Vorsteherin der Landwirtschaft Der Kreis (niedere Ebene der Priester und Förster) Die patriarchische Religion Sepulvartas SILINEUS, DER PATRIARCH Die Segner: Philabet Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne Nielash Mousa, der Segner von Sorbold Lanacan Orlando, der Segner von Bethe Corbair Ian Steward, der Segner von Canderre-Yarim Colin Abernathy, der Segner der Neutralen Zone Die Basiliken der Elemente: Äther: Lianta’ar, Sepulvarta Feuer: Vrackna, Bethania Wasser: Abbat Mythlinis, Avonderre Luft: Ryles Cedelian, Bethe Corbair Erde: Terreanfor, Sorbold Am Rande der Krevensfelder Die Zeit neigte sich dem Ende zu; das wusste Meridion Das siebeneinhalb Fuß große Ungeheuer im Kettenhemd warf den Kopf zurück, entblößte hauerähnliche Fänge und brüllte. Das Wutgeschrei hallte durch die Dunkelheit, die sich an die zahnähnlichen Felsspitzen schmiegte, und löste lockere Schieferplatten sowie Schneeschichten, die über eine Meile tief in die Schlucht stürzten. Achmed die Schlange, der König der Firbolg, warf rasch einen Blick auf Rhapsody und Krinsel, die Hebamme, die ihnen bei den Reisevorbereitungen half. Dann wandte er sich wieder seinen eigenen Geschäften zu und grinste hinter seinem Gesichtsschleier über das Entsetzen in den großen grünen Augen der Sängerin. »Worüber regt sich Grunthor denn so auf?«, fragte sie und reichte der Hebamme einen Beutel mit Wurzeln. Krinsel schnupperte daran und schüttelte den Kopf, worauf Rhapsody den Beutel wieder fortlegte. »Anscheinend ist er mit dem Quartiermeister und dessen Regiment nicht einverstanden«, antwortete Achmed, als ein neuerlicher Strom von bolgischen Flüchen über die Heide toste. »Ich glaube, er ist weit mehr beunruhigt über die Tatsache, dass er uns nicht begleiten kann«, meinte Rhapsody und betrachtete im grauen Licht der ersten Dämmerung mitfühlend die entsetzten Soldaten und ihren Anführer, der krampfhaft stillzustehen versuchte und unter der harten Standpauke des Majors erbebte. Die Hebamme reichte ihr eine Börse, und Rhapsody lächelte. »Zweifellos, aber daran ist nichts zu ändern.« Achmed schnallte einen Lederbeutel zu und stopfte ihn in die Satteltasche. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt darf man die Bolglande nicht führerlos zurücklassen. Hast du alles, was du für die Entbindung benötigst?« Das Lächeln der Sängerin wich einem ernsten Ausdruck. »Vielen Dank, Krinsel. Mach’s gut, und kümmere dich bitte um meine Enkel, während ich fort bin, ja?« Die Bolg-Frau nickte, verneigte sich flüchtig vor dem König und verschwand dann durch einen der vielen Fluchttunnel des Kessels. »Ich habe keine Ahnung, was ich für diese Entbindung brauchen werde«, sagte sie leise und mit einer Spur von Anspannung. »Ich habe noch nie ein Kind zur Welt gebracht, das von einem Dämon gezeugt wurde. Du etwa?« Achmeds dunkle, ungleiche Augen starrten sie kurz unter dem Schleier hinweg an, dann schaute er beiseite und packte weiter seine Sachen zusammen. Rhapsody strich sich eine goldene Haarsträhne aus dem Gesicht, stieß die Luft aus und legte sanft eine Hand auf den Unterarm des Bolg-Königs. »Entschuldige meine Gereiztheit. Diese Reise bereitet mir große Sorgen.« Achmed warf sich die mit Schnee bedeckte Satteltasche über die Schulter. »Ich weiß«, sagte er gleichmütig. »Das ist richtig so. Ich nehme an, wir sind hinsichtlich dieser Kinder immer noch einer Meinung? Du begreifst die Voraussetzungen, unter denen ich meine Hilfe gewähre?« Rhapsody erwiderte sein durchdringendes Starren mit einem milden, aber ebenso entschlossenen Blick. »Ja.« »Gut. Und jetzt sollten wir den Quartiermeister vor Grunthors Zorn retten.« Der frisch gefallene Schnee des frühen Wintertages knirschte unter ihren Füßen, als sie über die Heide gingen. Rhapsody blieb kurz stehen, wandte sich vom westlichen Vorgebirge und der weiten Ebene der Krevensfelder ab und betrachtete den schwarzen östlichen Horizont hinter den Gipfeln der Zahnfelsen, deren gezackte Umrisse nun vom blassen Grau erhellt wurden. Eine Stunde bis Sonnenaufgang, vielleicht weniger, dachte sie und versuchte zu schätzen, wann sie und Achmed sich trennen würden. Es war für sie wichtig, an einem Ort zu sein, wo sie die Morgendämmerung mit den rituellen Liedern der Liringlas, der Rassee ihrer Mutter, begrüßen konnte. Sie sog die klare, kalte Luft ein, atmete wieder aus und sah den gefrierenden Wölkchen im bitter kalten Wind nach. »Achmed«, rief sie dem König zu, der etwa zwanzig Schritte vor ihr stand. Er wandte sich um und wartete schweigend, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. »Ich bin dir für deine Hilfe in dieser Angelegenheit wirklich dankbar.« »Das brauchst du nicht zu sein, Rhapsody«, meinte er ernsthaft. »Ich will dir nicht dabei helfen, die Brut der F’dor vor der Verdammnis zu retten. Meine Beweggründe sind vollkommen selbstsüchtig. Das solltest du inzwischen wissen.« »Wenn deine Beweggründe völlig selbstsüchtig wären, würdest du mich nicht auf dieser Suche begleiten, sondern allein gehen und sie zur Strecke bringen«, sagte sie und entwirrte den Riemen ihrer Tasche. »Ich schlage dir einen Handel vor: Ich behaupte nicht mehr, deine Beweggründe seien selbstlos, und du beharrst nicht mehr darauf, dass sie eigensüchtig sind. Einverstanden?« »Ich bin mit allem einverstanden, wenn du dich nur beeilst und endlich zur Abreise bereit machst. Wenn wir nicht losziehen, bevor die Sonne hoch am Himmel steht, könnten wir gesehen werden.« Sie nickte. Beide eilten über die Heide und hinunter zu den tiefer gelegenen Verteidigungsanlagen, in denen Grunthor und die Truppen des Quartiermeisters warteten. »Ihr seid ’ne Schande für dieses Regiment, ihr alle!«, knurrte Grunthor gerade die zitternden Bolg-Soldaten an. »Noch ein falsch ausgeführter Befehl, und ich werd euch auspeitschen, in Scheiben schneiden und fürs Abendessen in Öl sieden jeden Einzelnen von euch! Und du, Hagraith, du bist der Nachtisch!« Achmed räusperte sich. »Sind die Pferde bereit, Sergeant-Major?« »So bereit wie möglich«, brummte Grunthor. »Die Ausrüstung kommt auch gleich, sobald der Obergefreite Hagraith den Kopf aus dem Hintern nimmt, sich die Hrekin aus den Ohren puhlt und die zusammengerollten Verbände holt, die ich schon vor zwei Stunden verlangt habe!« Der Soldat rannte sofort los. Rhapsody wartete in rücksichtsvollem Schweigen, bis Grunthor den Rest der Versorgungstruppen entlassen hatte, dann trat sie hinter ihn und schlang die Arme um seine ausladende Hüfte. Es war ein Gefühl, als umarmte sie einen ausgewachsenen Baum. »Ich werde es vermissen, dass deine Truppen nicht mehr vor meinem Zimmer auf und ab marschieren und mich mit ihrem Gesang wecken«, sagte sie scherzhaft. »Die Morgendämmerung wird nicht mehr dieselbe sein, wenn so schöne Choräle wie ›Und kein Knochen bleibt ungebrochen fehlen.« Auf dem ledrigen Gesicht des Riesen machte sich ein entspanntes Lächeln breit. »Also, du könntest doch für immer hier bleiben«, meinte er und betrachtete nachdenklich ihre schimmernden Locken. Wenn er sie so ansah, erstaunte es ihn immer wieder, wie sehr sie dem Großen Feuer glich, das sie auf jener Reise vor so langer Zeit zusammen durchschritten hatten. Als sie an den Wurzeln der Sagia, des Weltenbaumes, entlanggekrochen waren, die sich um den inneren Kreis der Erde wanden, hatte er gelernt, vor dieser kleinen Frau Hochachtung zu haben, obwohl seine eigene Rasse die ihre in der alten Welt als Beute gejagt hatte. Rhapsody seufzte. »Wie gern ich das täte.« Sie sah, wie sich seine bernsteinfarbenen Augen traurig verdunkelten. »Wirst du zurechtkommen, Grunthor?« Ein scharfer Laut der Verärgerung ertönte hinter ihrer Schulter. »Den Berg zu bewachen ist ein Kinderspiel für Grunthor.« »Überhaupt nich. Ich erinner mich kaum an Kinderspiele. Aber das hier gefällt mir ganz und gar nich«, murmelte der Firbolg-Riese und verzog das Angst einflößende Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse. »Wir hätten dich fast schon mal an ’n Bastardkind von so einem Dämon verloren. Ich will nich, dass du dein Leben oder dein Nachleben wieder aufs Spiel setzt, Herzchen. Ich wünschte, du würdest dir’s noch mal überlegen.« Sie klopfte ihm auf den Arm. »Das kann ich nicht. Wir müssen es tun; es ist der einzige Weg, das Blut zu bekommen, das Achmed braucht, um den Wirt des F’dor aufzuspüren.« »Er muss es vielleicht tun«, sagte Grunthor. »Aber kein Grund für dich mitzugehn, Gräfin. Seine Hoheit arbeitet sowieso am besten allein. Wir haben schon Jo verloren, und ich seh keinen Grund, warum wir dich auch noch verlieren sollten.« Als Grunthor den Tod des Straßenkindes erwähnte, das sie als Schwester adoptiert hatte, brannten Rhapsody die Augen, doch sie zeigte keine äußerlichen Anzeichen von Trauer. Sie hatte Jos letztes Grablied erst vor wenigen Tagen zusammen mit den Totenklagen für all die anderen gesungen, die sie ebenfalls verloren hatten. So schluckte sie eine bittere Antwort herunter, denn sie erinnerte sich daran, dass Grunthor Jo beinahe so sehr geliebt hatte wie sie selbst. »Jo war kaum mehr als ein Kind. Ich hingegen bin eine von den besten Kämpfern ausgebildete Kriegerin. Ich kann mich selbst verteidigen. Außerdem bist du ja die höchste Obrigkeit, der unter allen Umständen zu gehorchen ist. Befehle mir doch einfach zu überleben, dann muss ich es wohl tun. Ich würde es niemals wagen, deinen Zorn heraufzubeschwören, indem ich entgegen deinem Befehl sterbe.« Grunthor ergab sich mit einem Lächeln. »In Ordnung, sieh es als Befehl an, Herzchen.« Er drückte sie gefühlvoll mit seinen gewaltigen Armen. »Pass auf dich auf, Hoheit.« »Das werde ich.« Rhapsody sah hinüber zu Achmed, der die Sättel an den Pferden festschnallte, die Grunthor für sie hatte bereitstellen lassen. »Bist du so weit, Achmed?« »Bevor wir aufbrechen, solltest du noch etwas sehen«, antwortete der König, während er die Schnallen überprüfte. »Wie bitte? Wolltest du nicht vor Sonnenaufgang Losreiten?« »Es wird nur wenige Augenblicke dauern, doch es ist jede Verzögerung wert. Ich möchte die Dämmerung im Observatorium verbringen.« Freude huschte über ihr Gesicht, das nun so hell strahlte, wie es bald die Sonne tun würde. »Im Observatorium? Sind die Arbeiten an der Treppe beendet?« »Ja. Und wenn du dich beeilst, können wir uns einen Überblick über die Inneren Zahnfelsen und die Krevensfelder verschaffen, bevor wir sie bereisen.« Er drehte sich um und deutete auf den Eingang zum Kessel, jenes dunkle Netz aus Tunneln, Kasernen und Staatsgemächern, das Sitz seiner Macht in Ylorc war. Rhapsody drückte Grunthor ein letztes Mal, befreite sich sanft aus seiner Umarmung und folgte dem König durch die düsteren, fensterlosen Hallen und an den alten Statuen vorbei, die nun von bolgischen Kunsthandwerkern gesäubert und in ihrer alten Pracht wieder hergestellt wurden. Sie waren über eintausenddreihundert Jahre alt und stammten aus dem cymrischen Zeitalter, in dem Ylorc, das damalige Canrif, erbaut worden war. Sie betraten die Große Halle durch ausladende Doppeltüren, die aus Gold bestanden und mit verschlungenen Symbolen verziert waren, und durchquerten den weiten Thronsaal, in dem bolgische Steinmetzen vorsichtig den Schmutz der Jahrhunderte von dem blauschwarzen Marmor der vierundzwanzig Säulen entfernten, welche die Stunden des Tages darstellten. »Die Restaurierungen machen gute Fortschritte«, bemerkte Rhapsody, als sie durch die Flecken aus staubiggrauem Licht eilten, die aus Glasblöcken fielen, welche vor vielen Jahrhunderten in die runde Decke eingelassen worden waren und nicht nur für Beleuchtung sorgten, sondern auch den Blick nach oben auf die Inneren Zahnfelsen freigaben. »Als ich das letzte Mal hier war, bestand dieser Ort nur aus Schutt.« Achmed umrundete ein gewaltiges, sternenförmiges Mosaik im Boden; es war das letzte einer Reihe von Abbildern des Himmels aus vielfarbigem Marmor, das durch den Staub von den Bauarbeiten nur verschwommen sichtbar war. »Pass hier gut auf. Wenn ich mich recht erinnere, bist du beim letzten Mal an dieser Stelle von einer Vision überwältigt worden.« Rhapsody erzitterte und ging schneller. Die Gabe des Vorhersehens besaß sie, so lange sie sich erinnern konnte. Doch jedes Mal, wenn sie von einer Erinnerung heimgesucht wurde, die nicht ihre eigene war, wenn ihr eine Vision etwas über die Vergangenheit offenbarte oder schlimmer noch sie vor der Zukunft warnte, erwischte es sie unvorbereitet. Dann blieb ihr nichts anderes, als die intensiven Gefühle zu durchleben, die am Ort zurückgeblieben waren wie die qualmenden Überreste eines lange erloschenen Waldbrandes. Auch ihre nächtlichen Albträume quälten sie wieder, denn nun war Ashe nicht mehr da, der sie regelmäßig vertrieben hatte. Bei dem Gedanken spürte Rhapsody, wie ihr Hals trocken wurde. Sie bezwang die Erinnerung an ihren früheren Liebhaber, indem sie noch schneller lief. Ihre gemeinsame Zeit war vorbei. Er hatte seine eigenen Pflichten, von denen die wichtigste darin bestand, die cymrische Frau aus der Ersten Generation zu finden und sie zu heiraten, damit sie mit ihm herrschen konnte, wie der Ring der Weisheit es vorgesehen hatte. Sie hatten beide von Anfang an gewusst, dass ihre Beziehung nur von kurzer Dauer sein würde, doch dieses Wissen hatte das Ende nicht weniger schmerzhaft gemacht. Achmed war durch eine offene Tür hinter der Empore verschwunden, auf der die Throne des Herrn und der Herrin der Cymrer standen. Bei diesen Sitzen handelte es sich um zwei der wenigen Altertümer, welche die Plünderungen Canrifs durch die Bolg am Ende des cymrischen Krieges überlebt hatten. »Beeil dich«, hallte Achmeds Stimme durch den kreisrunden Saal. »Ich laufe so schnell ich kann«, gab Rhapsody zurück, während sie durch die Tür huschte. »Du bist einen Kopf größer als ich, Achmed, und du machst längere Schritte.« Dann verstummte sie und bewunderte die Schönheit der wieder hergestellten Treppe zum Observatorium hoch oben in einem der Gipfel der Zahnfelsen. An der einen Seite des Raumes wand sich eine Wendeltreppe aus poliertem dunklem Holz mit einer leichten Blautönung in vielen Drehungen hoch zu dem Turm über ihnen empor. An der anderen Seite stand ein seltsamer Apparat auf dem Boden, an dem offenbar noch gearbeitet wurde. Er glich einem kleinen, sechseckigen Zimmer mit Glaswänden. »Das ist eine Art von senkrecht fahrendem Förderwagen, so wie wir sie in den Minenschächten benutzen«, erklärte Achmed, der ihre Gedanken gelesen hatte. »Eine weitere von Gwylliams Erfindungen. Er hat genaue Pläne für die Errichtung und Wartung gezeichnet. Anscheinend hat er damit Höflinge und ähnliche Leute befördert, die zu bequem waren, um die Stufen zu ersteigen. Ein pfiffiges Gerät.« »Bemerkenswert. Ich gehe trotzdem lieber zu Fuß, selbst wenn es bereits einsatzbereit wäre. Mir gefällt die Vorstellung nicht, in einem Glaszimmer über einem Steinboden zu schweben.« Achmed verbarg ein Grinsen. »Wie du willst.« Sie erkletterten die polierte Treppe und stiegen immer höher in den hohlen Berggipfel hinein. Als sie sich der Spitze näherten, griff Achmed in seinen Stiefel und zog einen großen Messingschlüssel hervor. Rhapsody warf einen Blick über das Geländer auf den fernen Fußboden und erbebte leicht. »Ich bin durchaus beeindruckt von deinen Neuerungen, Achmed, aber warum konnten wir mit dieser Besichtigung nicht bis zu unserer Rückkehr warten? Der Blick über die Krevensfelder ist auch von der Heide oder vom Turm der Hohen Warte aus sehr schön. Aber dann wären wir wenigstens schon in westlicher Richtung unterwegs.« Der König der Firbolg steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn mit einem hörbaren Klicken herum. »Vom Observatorium aus kannst du etwas sehen, was dir auf der Heide oder dem Turm der Hohen Warte entgeht.« Die schwere, von stark verrostetem Eisen gehaltene Tür schwang knarrend an den kürzlich geölten Scharnieren auf und gab den Blick in einen überwölbten Raum frei. Rhapsody hielt den Atem an. Das Observatorium war noch nicht restauriert worden. Weiße, mit dicken Staubschichten überzogene Decken waren über Möbel und andere frei im Raum stehende Gegenstände gebreitet. Sie schimmerten im Ungewissen Licht des Zimmers wie Geister in der Dunkelheit. Achmeds starke Hand packte ihren Arm; er zog sie in den Raum und schloss rasch die Tür hinter ihnen. Der Raum war rechteckig; seine Decke wölbte sich zu einer Kuppel, die von Strebepfeilern gehalten wurde. Sie war in die Spitze des Berggipfels eingelassen; die Wände waren so blank und glatt wie Marmor. In jeder der vier Wände steckte ein großes Fenster verschlossen, von der Zeit selbst vergessen. Uralte, seltsame Fernrohre mit großen Okularen standen vor jedem Fenster. Magie und Geschichte hingen erstarrt in der Luft dieses so lange verschlossen gewesenen Raumes. Sie hatte einen bitteren Geschmack, einen Geschmack nach Staub aus der Krypta, nach leuchtender Hoffnung, die so lange schon verweht war. Rhapsody überblickte rasch den Rest des Raumes: Regale mit alten Tagebüchern und Karten, verschlungene Fresken in den Deckengevierten, welche die vier Elemente Wasser, Luft, Feuer und Erde in jeder Richtung darstellten, während das fünfte Element, der Äther, durch eine Kugel symbolisiert wurde, die vom Schlussstein herabhing. Rhapsody hätte den Raum gern eingehend untersucht, doch Achmed stand vor dem westlichen Fenster und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Hier«, sagte er und deutete auf den gewaltigen Horizont, der sich unter ihnen in alle Richtungen ausdehnte. »Sieh dir das an.« Sie trat vor das Fenster und blickte nach draußen auf das Land, das im ersten Licht des Tages erwachte. Diese Aussicht war großartiger als alles, was sie bisher erblickt hatte. Hier, im höchsten Gipfel der Zahnfelsen, fühlte sie sich, als schwebte sie in der Luft hoch über den wispernden Wolken, mit der ganzen Welt buchstäblich zu ihren Füßen. Kein Wunder, dass sich die Cymrer für Götter gehalten haben, dachte sie ehrfürchtig. Sie standen im Himmel und schauten durch das Werk ihrer eigenen Hände auf die Erde hinab. Es muss ein sehr tiefer Sturz gewesen sein. Einst hatte dieses Observatorium über Canrif geblickt, das Wunder seiner Zeit, ein Königreich aller Rassen, aus den erbarmungslosen Bergen herausgemeißelt durch den schieren Willen des cymrischen Herrschers Gwylliam, den man bisweilen einen Visionär genannt, doch in jüngerer Zeit mit weniger schmeichelhaften Bezeichnungen bedacht hatte. Nun, Jahrhunderte nach dem Krieg, in dem sich die Cymrer selbst und ihre Herrschaft über den Kontinent zerstört hatten, waren ihre alten Bergstädte, ihre Observatorien und Bibliotheken, Grüfte und Vorratsräume, Paläste und Straßen Eigentum der Bolg geworden, der Abkömmlinge der plündernden Stämme, die Canrif gegen Ende des blutigen cymrischen Krieges überrannt hatten. Das graue Licht des frühen Morgens glättete das Panorama der Zahnfelsen zu dichten Lagen aus Halbdunkel. Wenn die Sonne höher stieg, würde sie eine atemberaubende Landschaft beleuchten, in unzähligen Spitzen und Ritzen glimmern, ihr Licht über die zahlreichen Schluchten und Hochwälder sowie die Ruinen der alten Stadt Canrif ergießen über die gewaltigen Gebäude einer Zivilisation, die aus dem Antlitz der vielfarbigen Berge herausgemeißelt worden war. Nun aber, in den letzten Augenblicken der Nacht, erschienen die zerklüfteten Gipfel flach und stumpf, schweigend und tot vor dem Angesicht der Welt. Rhapsody beobachtete, wie die ersten zögernden Strahlen der Morgensonne die schwarze Gruft der Nacht zerbrachen und einige der Gipfel mit ihrem reinsten Licht beschenkte einem Licht, in dem die ewigen Eiskappen auf den Spitzen der Zahnfelsen hoffnungsvoll erglühten. Eine bemerkenswerte Metapher für die Bolg, dachte sie. Die Bewohner der angrenzenden Reiche erachteten diese primitive Kultur als monströs und nur halbmenschlich. Die Bolg waren für sie nichts weiter als ein verstreuter Schwärm von kannibalischen Jägern, welche die Berge durchstreiften und jedes lebende Wesen zur Beute nahmen. Sie hatte diesen Legenden selbst einmal Glauben geschenkt, vor langer Zeit, bevor sie auf Grunthor und Achmed gestoßen war, der aufgrund seiner Abstammung ein halber Bolg war. Nun sah sie die Bolg, wie sie wirklich waren. Die Neigungen, um deretwillen man sie fürchtete, entbehrten nicht unbedingt jeder Wahrheit. Bolg waren grimmig und kriegerisch, und wenn sie keinen starken Anführer hatten, waren sie bei den Mitteln, die ihnen das Überleben sicherten, nicht wählerisch, was auch den Verzehr von menschlichem Fleisch einschloss. Aber inzwischen, da sie unter einem solch starken König lebten, bewunderte Rhapsody diese einfache Rasse, diese primitiven Überlebenden, diese von Natur und Menschheit Ausgestoßenen, die sich auch unter den härtesten Bedingungen ihre Werte und Legenden bewahrt hatten. Es war ein schlichtes Volk, schön und einfach in seiner Handlungsweise, jedem Selbstmitleid abhold und zielstrebig in der Erhaltung ihrer Gesellschaft. Während blutende Krieger unbeachtet auf dem Schlachtfeld lagen und an nicht tödlichen Wunden starben, wurde alle ärztliche Aufmerksamkeit den gebärenden Frauen geschenkt, weil man der Ansicht war, dass Kinder die Zukunft bedeuteten, während der Soldat lediglich die Gegenwart darstellte. Alles, was sich auf die Vergangenheit bezog, war unwesentlich mit Ausnahme einiger Geschichten und all jener Dinge, die für den alles umfassenden Überlebenswillen notwendig waren. Die ersten langen Sonnenstrahlen stiegen über den Horizont. Das dünne Schneetuch der Krevensfelder glitzerte wie ein diamantenes Meer. Das Licht wurde vom heller werdenden Himmel zurückgeworfen und enthüllte die vielen Gebirgszüge in all ihrer Schönheit. Silberne Bäche ergossen sich wie Bänder über das Antlitz der Hänge in den Strom tief unten am Boden der Schlucht. Der Anblick der Dämmerung über den Zahnfelsen benahm Rhapsody regelmäßig den Atem. Leise begann sie mit ihrer Aubade, dem Liebeslied an die aufgehende Sonne, das seit Anbeginn der Zeit von den Liringlas in der Morgendämmerung angestimmt wurde. Die Melodie pulsierte gegen das Fenster, schwebte durch die frostige Luft hinter dem Glas und verwehte dann im Wind, als wäre sie gleich Flachs über die weiten Felder und Hügel unter ihr ausgestreut worden. Als ihr Lied endete, spürte sie Achmeds Hand auf der Schulter. »Schließ die Augen«, sagte er ruhig. Rhapsody gehorchte. Sie lauschte der Stille der Berge und dem Gesang des Windes, der über das Gestein hinwegtanzte. Achmed nahm die Hand von ihrer Schulter. Sie wartete darauf, dass er weitersprach, doch er sagte nichts mehr. »Nun?«, fragte sie. Als auch darauf keine Antwort kam, klang ihre Stimme gereizt. »Achmed?« Als sie immer noch nichts hörte, öffnete Rhapsody die Augen. Die Verärgerung, die ihr die Wangen gerötet hatte, verschwand beim Anblick des Grauens im Tal unter ihr. Die ganze Weite der Krevensfelder, die sanft gewellte Steppe, die vom Fuß der Zahnfelsen nach Westen durch die Provinz von Bethe Corbair bis nach Bethania reichte, ertrank in Wellen aus Blut. Die rote Flut stieg im Tal drunten und schlug wie eine aufgewühlte Blutsee gegen die Felsen des Vorgebirges, das die Berge umschloss. Rhapsody keuchte und schaute hoch zu den Bergen. Die glitzernden Wasserfälle, welche die Bergflanken durchfurchten, waren ebenfalls rot; es regnete blutige Tränen auf die Heide und die Schlucht tief unten. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Fenstersims und schloss wieder die Augen. Sie wusste, dass es nur eine Vision war. Die Gabe des Vorhersehens hatte sie schon gehabt, bevor sie und die beiden Bolg die alte Welt verlassen hatten und an diesen neuen und rätselhaften Ort gelangt waren, wo die Geschichte ein Lobgesang auf großes Trachten und Streben war, das durch böswillige Dummheit vernichtet wurde. Sie wusste jedoch nicht, was diese Vision bedeutete ob sie ihr die Vergangenheit oder, was noch schrecklicher wäre, die Zukunft zeigte. Langsam schlug sie wieder die Augen auf. Das Tal war nicht mehr rot, sondern grau wie nach einem verheerenden Feuer. Aber jetzt sah sie statt der weiten Ebene, die sich noch vor wenigen Herzschlägen dort unten erstreckt hatte, das hügelige Ackerland, das eigentlich eine halbe Welt entfernt von hier lag. Es waren die weiten Weiden von Serendair, wo sie geboren worden war. Es war ein Ort aus ihrer Jugend, den sie die Flickendecke genannt hatte. Die Wiesen und Dörfer aus ihrer Kindheit waren verbrannt, das Weideland schwelte, die Gehöfte und Stallungen lagen in Schutt und Asche. Alles war dem Erdboden gleich gemacht, und Schlacke erstreckte sich von den Zahnfelsen bis zum Horizont. Das war der Anblick, den sie in vielen Träumen gesehen hatte in Albträumen, die bereits genau so lange ihr Fluch waren, wie das Vorhersehen eine Gabe gewesen war. Rhapsody erbebte. Sie wusste aus Erfahrung, was als Nächstes kam. Sie spürte große Hitze um sich und hörte das Knistern von Flammen. Dieses Feuer war nicht das warme und reine Element, durch das sie und ihre Gefährten während der Reise durch das Erdinnere auf dem Weg hierher geschritten waren. Es war ein dunkles, gefräßiges Inferno, das Zeichen des F’dor, des Dämons, den sie jagten und der zweifellos auch sie jagte. Die Wände und Fenster des Observatoriums waren verschwunden. Nun stand sie in einem Dorf oder Feldlager, das von schwarzem Feuer verzehrt wurde, während Soldaten durch die Straßen ritten und jeden töteten, dem sie begegneten. Ein Crescendo aus Schreien erfüllte ihre Ohren. In der Ferne sah sie am Ende des Horizonts rot umrandete Augen, die sie inmitten des jammernden Todeschores stumm angrinsten. Im Donner der Pferdehufe drehte sie sich um, wie sie es immer in diesem Traum tat. Er war da, unwandelbar, der Blutbespritzte Krieger auf dem wütenden Ross, der mit leblosem Blick auf sie zuritt. Rhapsody blickte hoch in die vom Rauch verpestete Luft. Wie immer in diesem Teil des Traumes wurde sie von der Klaue eines großen, kupfernen Drachens in die Luft gehoben, der plötzlich in den schwarzen Wolken erschien und sie rettete. Doch jetzt befand sich über ihr nichts außer dem ungeteilten Himmel aus wogenden schwarzen Wolken und Schauern flammender Funken in der rußigen Luft. Der donnernde Lärm wurde lauter. Rhapsody drehte sich wieder um. Der Reiter war über ihr. Er hielt ein zerbrochenes Schwert in der Hand, von dem Blut und schwarzes Feuer her unter tropfte. Er hob es über den Kopf. Mit großer Schnelligkeit, die sie von Oelendra, der lirinschen Kampfmeisterin gelernt hatte, zog Rhapsody die Tagessternfanfare, das Schwert des Feuers und ätherischen Lichts, das sie als Iliachenva’ar trug. Noch während sie einatmete, lag es schon in ihrer Hand, und als sie die Luft ausstieß, schlug sie die flammende Klinge gegen die Brust des Kriegers und warf ihn von seinem Schlachtross. Blut, das wie Säure dampfte, spritzte ihr auf die Stirn und brannte ihr in den Augen. Bebend erhob sich der Krieger und hielt seine triefende Waffe aufrecht. Die Zeit verlangsamte sich, als er auf sie zu wankte. Eine große, klaffende Wunde teilte seinen Brustkorb. In den Augenhöhlen war nichts außer Dunkelheit. Rhapsody holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Sie berechnete die Bahn seines Angriffs. Als dieser mit qualvoller Langsamkeit erfolgte, sprang sie aus dem Weg. Ihre Glieder fühlten sich an, als wären sie aus Marmor. Mit großer Anstrengung hob sie die Arme, zielte mit der Tagessternfanfare auf die Nackennaht in der Rüstung des Mannes und schlug zu. Der Lichtblitz, der so hell wie ein berstender Stern war, zeigte die hergestellte Verbindung an. Eine Fontäne dampfenden Blutes schoss in den Himmel, benetzte sie erneut und ätzte ihre Haut. Der Hals des Kriegers zuckte schrecklich, dann rollte der Kopf nach vorn, trennte sich vom zerfetzten Fleisch der Schultern und fiel vor ihren Füßen zu Boden. Die blicklosen Augen starrten sie an; in ihnen sah Rhapsody winzige Flammen, die schnell erstarben. Rhapsody stand nach vorn gebeugt und keuchend da und stützte die Hände auf den Knien ab. Im Licht der Tagessternfanfare beobachtete sie, wie der kopflose Rumpf zur Seite schwankte und umzukippen drohte. Während sie ihn ansah, richtete er sich plötzlich wieder auf. Der Rumpf drehte sich ihr mit dem Schwert in der Hand erneut zu und ging ihr entgegen. Als er das Schwert hob, hörte sie Achmeds Stimme aus weiter Ferne, als riefe er ihr von der anderen Seite der Zeit etwas zu. Rhapsody. Sie wandte sich um und sah, dass er hinter ihr stand und sie aus dem Inneren des Observatoriums anstarrte. Dann warf sie rasch wieder einen Blick über die Schulter. Der kopflose Soldat war verschwunden. Nichts von ihrer Vision war geblieben. Sie stieß den angehaltenen Atem aus und legte die Hand gegen die Stirn. Einen Augenblick später stand der König der Firbolg neben ihr. »Was hast du gesehen?« »Es geht mir gut, vielen Dank, es geht mir wirklich gut«, murmelte sie leise. Sie war zu erschöpft für Sarkasmus. Achmed packte sie bei den Schultern und schüttelte sie heftig. »Bei allen Göttern, sag es mir«, zischte er. »Was hast du gesehen?« Rhapsody verengte die Augen zu smaragdenen Schlitzen. »Du hast das absichtlich getan, nicht wahr? Du hast mich hier hinauf geführt, an diesen Ort, der voller Magie und alter Erinnerungen steckt, damit er in mir eine Vision entzündet, oder etwa nicht? Das hast du gemeint, als du gesagt hast, ich könnte hier etwas sehen, was ich von der Heide oder der Hohen Warte aus nicht erkennen kann. Du hinterhältiger Bastard!« »Ich muss wissen, was du gesehen hast«, sagte er ungeduldig. »Das hier ist der höchste Aussichtpunkt in den Zahnfelsen und der beste Ort, um einen bevorstehenden Angriff frühzeitig zu erkennen. Und es wird ein Angriff erfolgen, Rhapsody. Ich weiß es, und du weißt es auch. Ich muss wissen, aus welcher Richtung er kommt.« Seine unnatürlich kräftigen Hände packten noch ein wenig fester zu. Rhapsody drückte sie fort und entwand sich seinem Griff. »Ich bin nicht deine persönliche Sklavin. Beim nächsten Mal fragst du mich vorher. Du hast keine Vorstellung, was mich diese Visionen kosten.« »Ich weiß, dass es ohne sie dein Leben kosten wird mindestens«, knurrte Achmed. »Natürlich nur, wenn du Glück hast. Aber die anderen Möglichkeiten sind wahrscheinlicher und weitaus schlimmer. Und weitaus üblicher. Hör endlich auf, dich wie ein verdrießlicher Balg zu benehmen, und sag mir, was ich wissen muss. Aus welcher Richtung erfolgt der Angriff?« Rhapsody sah wieder aus dem Fenster auf die glitzernde Ebene und die Berge, die im Licht der Morgendämmerung zu rosigem Leben erwachten. Einen Augenblick stand sie schweigend da, atmete die frostige Luft ein und lauschte der Stille, die nur von dem gelegentlichen Jammern des bitteren Windes durchbrochen wurde, der immer kälter wurde. »Überall«, sagte sie. »Der Angriff erfolgt von überall her.« Von seinem hohen Beobachtungspunkt in der Zukunft aus starrte Meridion voller Abscheu auf die Personen in dem runden, gläsernen Observatorium zwischen den Fäden der Zeit, mit deren Hilfe er die Geschichte dieses Ortes in der Hoffnung verändert hatte, sie würden den feurigen Tod abwenden, der nun die Überreste der Erde verzehrte. Er ließ den Kopf auf die Instrumententafel des Zeit-Editors sinken und weinte. Das Licht ergoss sich über die ganze Weite der Krevensfelder, als Achmed und Rhapsody aufbrachen. Sie trugen Umhänge, Handschuhe und Kapuzen und ritten auf den Pferden, die Grunthor für sie ausgewählt hatte, durch das dünne Schneetreiben, das mit dem Morgenwind eingesetzt hatte. Der Weg, der vom Vorgebirge hinab in die Steppe führte, war steinig und erlaubte nur ein langsames Fortkommen. Rhapsody betrachtete nachdenklich den Himmel; ihre Gedanken waren nun dunkler als in der Stunde vor Tagesanbruch. Es war nicht zu übersehen, dass sie still und grüblerisch geworden war, und schließlich unterbrach Achmed das Schweigen. »Was beunruhigt dich?« Rhapsody wandte ihm ihren smaragdenen Blick zu. Ihr Gang durch das reine Feuer im Inneren der Erde hatte dazu geführt, dass sie dieses Element in sich einsaugte und auf eine hypnotische Weise anziehend geworden war, genau wie das Element selbst. Wenn sie erregt war, war sie atemberaubend; wenn eine Unterströmung von Sorge in ihren Zügen lag, war sie vollkommen bezaubernd. Achmed stieß vernehmlich die Luft aus. Es nahte die Zeit, wo seine Theorie über die Macht ihrer Schönheit einer Überprüfung unterzogen werden würde. »Glaubst du, dem Erdenkind wird es gut gehen, so lange wir weg sind?«, fragte sie. Achmed schaute in ihr sorgenvolles Gesicht und dachte ernsthaft über diese Frage nach. »Ja«, sagte er nach einem Augenblick. »Der Tunnel zum Loritorium ist fertig, und die anderen Eingänge sind versiegelt. So lange ich fort bin, zieht Grunthor aus der Kaserne in meine Gemächer und bewacht den Eingang.« »Gut«, meinte Rhapsody. Sie hatte in der Dunkelheit des frühen Morgens vor dem Tunneleingang gestanden und dem Schlafenden Kind, dem seltenen und wunderbaren Geschöpf aus Lebendigem Gestein, das auf ewig in den Grüften meilentief unter Achmeds Gemächern schlummerte, ein Lied gesungen. Es war ihr schwer gefallen, die Stimme ruhig zu halten, denn sie wusste, dass der F’dor, nach dem sie suchten, seinerseits auf der Suche nach dem Kind war. Lass das, was in der Erde ruht, ungestört schlafen, hatte der dhrakische Weise gesagt. Sein Erwachen kündet von ewiger Nacht. Von allem, was sie während ihrer Zeit in dieser neuen Welt gelernt hatte, ängstigte sie am meisten der Umstand, dass solche Prophezeiungen meist mehr als nur eine Bedeutung hatten. Yarim, dachte sie traurig, warum musste die erste Dämonenbrut in Yarim stecken? Diese Provinz lag im Nordwesten, an der dem Wetter abgewandten Talseite der unfruchtbaren Ebene, die an die nördlichen Zahnfelsen grenzte. Sie war früher einmal mit Ashe in der verkommenen, verfallenden Stadt gewesen und hatte in dem untergehenden Tempel Manwyns, der Seherin der Zukunft, nach Antworten gesucht. Diese Antworten hatten sie zu der Reise veranlasst, die sie nun unternahmen. Rhapsody schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an das irre Lachen der Wahnsinnigen zu vertreiben. »Bist du bereit?« Achmeds Stimme zerschmetterte ihre Gedanken. Rhapsody sah sich um. Sie hatten die Steppe und das felsige Land am Fuß der Berge erreicht. Sie streichelte ihr Pferd. »Ja«, sagte sie. »Bringen wir es hinter uns.« Gemeinsam trieben sie ihre Pferde zu einem gleichmäßigen Galopp an. Sie schauten nicht zurück, als die vielfarbigen Gipfel ihrer Bergheimat hinter ihnen wie eine Erinnerung verblassten. In den Schatten des Griwen, eines der höchsten Berge der Zahnfelsen und des westlichsten militärischen Außenpostens, folgten vier Bolg-Augenpaare, Nachtaugen einer Rasse, die sich aus den Höhlen erhoben hatte, den Pferden, bis diese die Steppe durchquert hatten und in der gewaltigen Weite des orlandischen Plateaus verschwunden waren. Als der Bolg-König nicht mehr zu sehen war, wandte sich einer der Bolg an die anderen und nickte bedächtig. Die vier Männer tauschten einen letzten Blick und verschwanden dann in vier verschiedene Richtungen in den Bergen. Auch Meridion beobachtete sie und kämpfte darum, seine Verzweiflung im Zaum zu halten. Das Licht aus dem Zeit-Editor, der nun schlummernden Maschine vor ihm, ergoss sich über die Glaswände seines runden Turmes, der zwischen den Sternen hing. Unten wurde es dunkel in der Welt; das schwarze Feuer, das sie verzehrte, hatte beinahe das Landende erreicht. Bald würde es auch ihn verschlingen. Angesichts der übrigen Zerstörungen aber bedeutete das kaum etwas. Er lehnte sich zurück gegen das Vibrationsfeld, das von seinem Namenslied erzeugt wurde und nun wie ein gepolsterter Sessel geformt war. Er faltete die Hände und versuchte Ruhe zu bewahren. Überall um ihn herum glühten die Lichter seines Laboratoriums einsatzbereit. Meridion seufzte. Er konnte nichts mehr tun. Er streckte die Hand aus und legte den Schalter um, der das blendende Licht aus der Kraftquelle der Maschine von dem Hauptstrang des Editors abschnitt. Mehr nicht. In der neuen Dunkelheit sah er nur noch den Bildschirm und die geisterhaften Projektionen der letzten Stränge des Zeitfilms, die er zusammengebunden hatte, wobei er Fäden aus der Vergangenheit benutzt hatte. Er hatte sie gespalten und gehofft, er könne das Unheil abwenden, das hinter ihm lauerte. Angesichts des heraufziehenden Albtraums war ihm nie der Gedanke gekommen, dass seine Lösung noch schlimmer sein könnte als das ursprüngliche Problem. Woher hätte ich es wissen sollen?, dachte er. Der Untergang der Erde in Blut und schwarzem Feuer war ihm absolut und schrecklicher als jedes andere Schicksal erschienen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass die Pfade, die er eingeschlagen hatte, zu einer noch größeren Verwüstung führen mochten, die gar den Tod überdauern und bis in die Ewigkeit hineinreichen konnte. Bitte, flüsterte er still. Öffne die Augen und schaue. Bitte. Während er zusah, wurde der Zeitstrang trübe und wechselte von der Vergangenheit in die Gegenwart. Bald würde es die Zukunft sein. Was immer geschah, er konnte nichts mehr dagegen unternehmen; der Faden würde nie wieder so fest sein, dass er veränderbar war. Meridion lehnte sich in den summenden Sessel zurück, schloss die Augen und wartete. Bitte... 1 Yarim Paar, Provinz Yarim Im Winter glich die trockene, rote Erde, die Yarim ihren Namen gegeben hatte, dem Wüstensand. Körniger Staub hing schwer in der stechend kalten Luft der zugrunde gehenden Provinz und peitschte sie wie ein rächender Winddämon. Dieser blutrote, lehmige Sand war nun von dünnem, kristallenem Frost überzogen und glitzerte im ersten Licht des Morgens. Der Frost tünchte die zerfallenden Steingebäude und vernachlässigten Straßen und kleidete sie für kurze Zeit in ein leuchtendes Gewand, wie es Yarims Hauptstadt zweifellos vor langer Zeit einmal getragen hatte. Doch diese Anmut gab es jetzt nur mehr in der Erinnerung und den flüchtigen Augenblicken des rosafarbenen Dunstes zur Zeit des Sonnenaufgangs. Achmed brachte sein Pferd auf der Spitze eines sanft gewellten Hügels zum Stehen, der zur zerfallenden Stadt hin abfiel. Er starrte auf das Tal, als Rhapsody nachdenklich neben ihm anhielt. Der Blick auf Yarim erregte in ihm das Entgegengesetzte Gefühl eines Blickes von der Steppe am Rande der Krevensfelder hoch zu Canrif. Während die Bolg das Gebirge für sich beanspruchten, das sich mit seinen Gipfeln hoch in den Himmel reckte, lag Yarim gebrochen, stinkend und vergessen am Fuß dieses Hügels wie festgebackener Schlamm, den ein ausgetrockneter Tümpel hinterlassen hat. Wo einstmals Größe geherrscht hatte, war nun nicht nur Verfall, sondern auch Mutlosigkeit eingekehrt, als hätte die Erde selbst die Ruinen des einstigen Yarim vergessen. Es war eine Schande. Rhapsody stieg als Erste ab und ging zum Rand des Hügelkamms. »Im Licht der frühen Sonne sieht es schön aus«, sagte sie geistesabwesend und sah bis hinter die Stadtmauern. »Flüchtig wie die Schönheit der Jugend«, meinte Achmed und saß ebenfalls ab. »Der Dunst wird rasch unter der brennenden Sonne verschwinden, und wenn das Glitzern fort ist, bleibt nichts als ein großer verwesender Leichnam übrig. Dann sehen wir in dieser Stadt die alte Hexe, die sie wirklich ist.« Er wäre froh gewesen, wenn sich der schimmernde Dunst schon aufgelöst hätte, denn der feuchte Nebel verbarg alle Schwingungen. Er könnte auch das Kennzeichen des alten Blutes verschleiern, das durch die Adern der F’dor-Brut floss, die irgendwo in diesem Schutthaufen versteckt war. Ein unerklärlicher Schauer durchströmte ihn, und er wandte sich an Rhapsody: »Hast du etwas gespürt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nichts Ungewöhnliches. Was war es?« Achmed schloss die Augen und wartete darauf, dass die Schwingungen zurückkehrten. Doch nun spürte er nichts mehr außer den kalten, stillen Windstößen. »Ein Pricken auf der Haut«, sagte er nach einem Augenblick, als er erkannte, dass er dieses Gefühl nicht mehr heraufbeschwören konnte. »Vielleicht spürst du Manwyn«, meinte Rhapsody. »Wenn ein Drache etwas mit seinen Sinnen untersucht, verspürt man manchmal ein Frösteln, eine Gegenwart. Es ist beinahe wie ... ein Summen; es prickelt.« Achmed beschirmte die Augen. »Ich habe mich gefragt, was du wohl in Ashe gesehen hast«, sagte er bitter und starrte auf die morgendlichen Schatten, die sich allmählich westwärts von der Stadt entfernten. »Jetzt ist es mir klar. Manwyn weiß also, dass wir hier sind.« Er knirschte mit den Zähnen. Sie hatten gehofft, der Aufmerksamkeit der verrückten Seherin zu entgehen. Sie war ein unberechenbares Drachenkind, das vom Vater die alte Macht des Vorhersehens und von der Drachenmutter die Herrschaft über die Elemente geerbt hatte. Rhapsody schüttelte den Kopf. »Manwyn wusste bereits, dass wir kommen, noch bevor wir hier ankamen. Wenn jemand sie vor einer Woche, einem Tag oder einer Minute danach gefragt hätte, wäre sie in der Lage gewesen, es ihm zu sagen. Aber nun sind wir hier, und das ist die Gegenwart. Manwyn kann jedoch nur die Zukunft sehen. Ich glaube, es ist vorbei. Wir sind aus ihrem Bewusstsein verschwunden.« »Hoffentlich hast du Recht.« Achmed sah sich um und suchte nach einer hohen Erhebung oder einem Gipfel, auf dem man Ausschau halten konnte. Schließlich erspähte er einen Felsen im Osten. Er stellte sein Gepäck auf den Boden und zog daraus ein Stück Tuch hervor, das einmal mit dem Blut des Rakshas getränkt gewesen war. Nun war es getrocknet und hatte dieselbe Farbe wie die Erde in Yarim. »Das ist die richtige Stelle. Warte hier.« Rhapsody nickte und zog den Mantel enger um sich, während sie beobachtete, wie Achmed die kleine Erhebung hochlief. Sie war schon einmal Zeugin seines Jagdrituals gewesen und wusste daher, dass er vollkommene Stille und Reglosigkeit benötigte, um einen unruhigen Herzschlag im Wind zu erlauschen. Sie streichelte sanft die Pferde und hoffte, sie auf diese Weise stillhalten zu können. Achmed erkletterte die Spitze des Vorsprungs. Er stand im Wind, der ihn von allen Seiten umgab, und schaute hinunter auf das Skelett der Stadt. Irgendwo in ihren zerfallenen Gebäuden versteckte sich eine befleckte Seele, eines von neun Kindern, die vom alten Bösen in einem absichtsvollen Feldzug von Vergewaltigung und Vermehrung gezeugt worden waren. Bei diesem Gedanken brannte das Blut in Achmeds Adern. Mit einer einzigen sanften Bewegung zog er den Schleier fort, der sein Hautgewebe verdeckte, das Netz aus empfindlichen Nerven und hervortretenden Venen, die Hals und Gesicht durchfurchten. Er warf Rhapsody einen letzten Blick zu. Sie lächelte, blieb aber reglos. Achmed wandte sich ab. Rhapsody wusste, dass er wegen seines dhrakischen Erbes empfänglich für die Beseitigung, nicht aber für die Rettung von allem war, was das Blut des F’dor in sich trug. Wenn er Erfolg hatte, wäre es das erste Mal, dass jemand aus seiner Rasse ein Geschöpf, das von einem F’dor gezeugt war, nicht sofort nach der Gefangennahme tötete. Die natürliche Gleichgültigkeit, welche die Dhrakier verspürten, wenn sie diesem böswilligen Abschaum gegenüberstanden, hatte ihn verlassen. Er zitterte vor Hass. Er musste unbedingt die Ruhe bewahren und seine rassistischen Neigungen unterdrücken, damit seine Wut nicht die Oberhand gewann. Er durfte dieses Dämonenkind und all seine abscheulichen Geschwister nicht einfach abschlachten. So schluckte er, atmete flach und versuchte all seine Gedanken auf das große Ziel zu richten. Jenes alte Blut, das sanft in der Ferne wie ein Hauch von Parfüm auf einem quirligen Markt pulsierte, konnte ihm dabei helfen, den F’dor selbst zu finden. Achmed schloss die Augen und verdrängte die Landschaft aus seinem Bewusstsein. Er leerte den Kopf von allen bewussten Gedanken und richtete die ganze Aufmerksamkeit auf den Rhythmus seines eigenen Pulses. Wie immer in dieser Phase der Jagd konnte er beinahe die Wachskerzen in dem Kloster riechen, in welchem er aufgewachsen war, und er hörte wieder die Stimme seines Lehrers. Kind des Blutes, hatte Pater Haiphasion leise mit seiner rauen Stimme gesagt. Bruder aller Menschen, aber verwandt mit niemandem. Der dhrakische Weise war nun schon seit mehr als tausend Jahren tot. Die Jagd forderte von ihm ein gewaltiges Opfer, sowohl geistig als auch spirituell. Der Macht dieser Worte war es zuzuschreiben, dass es ihm möglich war, sein kirai, die Suchschwingungen, die allen Dhrakiern gegeben waren, auf die Herzschläge von Nicht-F’dor einzustellen, was eine einzigartige Gabe darstellte. Bruder aller Menschen. Während beinahe seines ganzen Lebens war er immer nur als der Bruder bekannt gewesen, ein tödlicher Verwandter jener Opfer, deren Puls für kurze Zeit mit seinem im Einklang geschlagen hatten. Dein Selbst muss sterben, hatte ihn seine Großmutter gelehrt. Sie, die alte Lehrerin und Wächtern, war erst kürzlich verstorben. Es war aber mehr als sein Selbst. In dem Augenblick, da er seine eigenen Schwingungen unterdrückte, verschwand sogar der Teil von ihm spurlos, den er seine Seele nennen konnte, und wurde von dem fernen, pochenden Rhythmus seines Zieles ersetzt. Er hatte sich gefragt, was wohl geschehen würde, wenn er einmal nicht der erfolgreiche Pirschjäger wäre, sondern unterliegen würde, während er seinem kirai folgte. Der Ort, an den sich sein Selbst während der Jagd zurückzog, war zweifellos die Leere, ein gewaltiger leerer Raum, das Gegenteil des Lebens. Er vermutete, dass jeder Gedanke daran sein Glück wenden und seinem Opfer die Gelegenheit geben könnte, ihn zu überwältigen und zu töten. Dann würden sich alle Teile seines Selbst sofort auflösen und in jenem leeren Raum zu winzigen Teilchen werden, die auf ewig wie Funken brennen und ihn jeglichen Seins im Nachleben berauben würden. Das war eine Gefahr, mit der er sich abfinden konnte. Alle Gedanken wichen zurück und wurden von einem fernen Pochen ersetzt, das mit jedem Atemzug lauter wurde. Der Puls war für ihn gleichzeitig fremd und vertraut. Es lag eine Ahnung der alten Welt darin, ein Summen, das in den Adern jeder Seele auf serenischem Boden gesteckt hatte. Die tiefe Magie der Insel Serendair hatte einen ganz eigenen Klang und durchdrang das Blut aller, die dort gelebt hatten. Doch das war nur eine winzige Spur in dem Rhythmus, der den ganzen Herzschlag ausmachte. Als er zum ersten Mal gelernt hatte, auf seine Haut zu lauschen, hatte er das Dröhnen von Trommeln gehört. Zahllose chaotische, kakophone Rhythmen waren unmittelbar auf ihn eingedrungen; sie hatten gedroht, ihn zu überwältigen und wie die Echowellen in einer Schlucht zu überspülen. Hier aber hörte er kaum ein Wispern. Weil das Blut, das durch das Herz der Dämonenbrut floss, beinahe ausschließlich von dieser Welt war, konnte er dessen Rhythmus nicht erkennen und es nicht ausmachen. Das Blut der neuen Welt umwirbelte das verschwindende Flattern der alten Welt wie Meereswellen, wie ein Sturm aus vertrockneten Blättern die letzten Spuren des Herbstes. Bisweilen vermochte er einige ihrer Merkmale zu er spüren; er jagte ihnen mit seinem Atem nach, schmeckte die Mischung und Würzung der Töne und suchte nach dem tiefen Schattenlaut, hinter dem er her war. Es war wie die Wärme eines Pulses, der über ihn hereinbrach und der von der unbekannten Mutter des Kindes kommen musste, gefolgt jedoch von einer Eiseskälte, die sein Vater, der Rakshas, hinterlassen hatte, jenes künstliche Wesen, das all diese verfluchte Nachkommenschaft für seinen dämonischen Meister gezeugt hatte. Auch lag etwas Brutales darin, etwas Rotäugiges, Wildes, Grausames. Rhapsody hatte gesagt, der F’dor habe bei der Erschaffung des Rakshas das Blut von Wölfen und anderen Nachtgeschöpfen verwendet. Vielleicht verhielt es sich so. Mit jedem Augenblick wurde der alte Rhythmus ein wenig lauter und klarer. Achmed öffnete die linke Hand und hielt sie hoch, damit die Windstöße über die Innenfläche tanzen konnten. Jedes neue Atemholen wurde langsamer und tiefer, und jedes Ausatmen abgemessener. Als sein Atem mit dem des in der Ferne schlagenden Herzens zusammenfiel, wandte er alle Aufmerksamkeit seinem eigenen Herzen und dem Druck zu, den es auf die vom Blut durchpulsten Venen und Adern ausübte. Mit reiner Willenskraft verlangsamte er den Schlag, bis er gerade noch ausreichte, um ihn am Leben zu erhalten. Er vertrieb alle streunenden Gedanken aus seinem Kopf und leerte ihn vollkommen bis auf die Farbe Rot. Alles andere verblasste und ließ vor seinem inneren Auge eine Vision von Blut zurück. Blut wird das Mittel sein, hatte es in der Prophezeiung geheißen. Kind des Blutes. Bruder aller Menschen, aber verwandt mit niemandem. Achmed hielt sich vollkommen reglos und still. Er lockerte den Schlag seines eigenen Herzens, damit er mit dem in der Ferne zusammenfiel. Wie beim Fangen eines Schwungrades gelang es ihm zuerst nur bei jedem fünften Herzschlag, dann bei jedem zweiten, bevor völliger Gleichklang herrschte. Er klammerte sich an den winzigen Halt des alten Blutes, folgte ihm durch ferne Adern, jagte seinem Fluss nach, griff nach dem Anschwellen und Verebben, bis er schließlich in den Rhythmus seines Opfers kroch. Die Herzschläge gerieten in Gleichklang. Doch dann, als die Fährte klar wurde und sich seine Beute unfehlbar mit ihm verbunden hatte, zerschmetterte ein anderer winziger, misstönender Rhythmus den Einklang. Achmed packte sich an die Brust und taumelte zurück, während Schmerzen wie ein Vulkan in ihm explodierten. Hinter seinem schmerzerfüllten Ächzen hörte er Rhapsodys Keuchen. Sein Körper rollte den felsigen Hang hinunter; die Glieder schlugen gegen einen gefrorenen Sims. Achmed kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, sah von Zeit zu Zeit etwas und sank dann in die Dunkelheit dazwischen. Die beiden Herzschläge, die er aufgespürt hatte, rangen mit seinem eigenen; ihm ging die Luft aus. Er biss die Zähne zusammen. Der Himmel schwamm in blauen Kreisen und wurde dann schwarz. Er spürte, wie Wärme ihn umgab. Der Wind, der ihm in der Nase juckte, war plötzlich süßer geworden. Achmed öffnete die Augen und sah Rhapsodys Gesicht vor den Kreisen schwimmen. »Gute Götter! Was ist passiert?« Ihre Stimme zitterte seltsam. Achmed machte eine unbeholfene Handbewegung und rollte sich in Seitenlage zu einem Ball zusammen. Er sog mehrmals sorgfältig und abgemessen die Luft ein. Der kalte Wind stach in seiner brennenden Brust. Er bemerkte beiläufig, dass Rhapsody noch neben ihm war, doch er unterließ es, sie zu berühren. Sie lernt, dachte er und war seltsam zufrieden. Mit Sand zwischen den Zähnen und unter schmerzhaftem Stöhnen zwang er sich, sich hinzuhocken. Sie kauerten schweigend auf dem windigen Hügel oberhalb der zerfallenden Stadt. Er atmete heftig ein und richtete sich dann zitternd auf, wobei er auf Rhapsodys angebotene Unterstützung verzichtete. »Was ist passiert?« Ihre Stimme war ruhig. Langsam schüttelte er den Sand aus den Kleidern, legte wieder den Schleier vor und starrte hinunter auf Yarim. Die Stadt hatte sich ein wenig belebt, während er allmählich zu sich gekommen war. Nun tröpfelte menschlicher und tierischer Verkehr durch die ungepflegten Straßen und erfüllte die ferne Luft mit Lärm. »Hier ist noch jemand«, sagte er. »Noch ein Kind?« Achmed nickte langsam. »Noch ein Herzschlag. Noch eine Brut.« Rhapsody ging zurück zu den Pferden und zog eine der Satteltaschen auf. Sie holte ein in Öltuch gebundenes Notizbuch heraus und trug es zu Achmed auf den Hügelkamm. »Rhonwyn hat gesagt, es gebe nur einen in Yarim«, meinte sie und blätterte das Buch durch. »Hier steht es: Einer in Sorbold der Gladiator , zwei in Hintervold, einer in Yarim, einer in der östlichsten Provinz der Neutralen Zone, einer in Bethania, einer in Navarne, einer in Zafhiel, einer in Tyrian und das Ungeborene Kind in den lirinschen Feldern südlich von Tyrian. Bist du sicher, dass der zweite Herzschlag einem dieser Kinder gehört?« »Nein, natürlich bin ich mir nicht sicher«, spuckte Achmed gereizt aus und schüttelte weiteren Sand aus Haaren und Mantel. »Vielleicht ist es gar kein anderes Kind. Aber irgendwo hier in der Nähe gibt es einen weiteren Puls mit demselben Makel und vom selben umwölkten Blut.« Rhapsody zog ihren Mantel noch enger um sich. »Womöglich ist es der F’dor selbst.« 2 Keltar’sid, an der Grenze von Sorbold, südöstlich von Sepulvarta Das Innere des Wagens bildete eine Zuflucht vor der brennenden Sonne; hier war es dunkel und angenehm kühl. Er sehnte sich trotzdem danach, endlich zu spüren, dass die Räder für immer stehen blieben. Dann könnte er aussteigen und in das Licht und die sengende Hitze der sorboldischen Wüste treten, wo die Erde die feurige Wärme sogar noch zu Beginn des Winters speicherte. Dem Klang nach zu urteilen war der Augenblick beinahe gekommen. Er streckte die Arme des alten Körpers aus, den er bewohnte jenes menschliche Gefäß, das schon seit vielen Dekaden sein Wirt war. Doch nun spürte er, dass die Zeit es allmählich geschwächt hatte. Doch es würde nicht mehr lange so bleiben. Bald musste er wieder den Wirt wechseln und sich einen neueren, jüngeren Körper nehmen. Dazu wäre wie immer ein wenig Anpassung notwendig. Er erinnerte sich deutlich an den letzten Übergang, auch wenn er schon seit sehr langer Zeit keinen mehr unternommen hatte. Bereits bei dem Gedanken daran zitterten seine arthritischen Hände vor Erregung. Mit der Erregung kam das Brennen, das Flackern des Feuers, welches sein Innerstes darstellte. Es war das uranfängliche Element, aus dem alle seiner Art hervorgegangen waren und in das sie eines Tages zurückkehren würden. Doch alles zu seiner Zeit. Er wusste, dass jetzt nicht der geeignete Augenblick war, darüber nachzudenken. Sobald sich der Funke der Hoffnung einmal entzündet hatte, wurde es immer schwieriger, seine unterweltliche Seite zu verbergen, den dunklen und zerstörerischen Geist des Chaos, der seine wahre Gestalt darstellte, denn an Fleisch und Knochen eines menschlichen Körpers hing er nur aus schierer Notwendigkeit. In den Momenten der Erregung war der üble Geruch am stärksten, der Gestank, der ihm und den anderen seiner Rasse anhaftete der Duft von Fleisch im Feuer. Und im Nervenkitzel der Erwartung stieg ihm die Farbe des Blutes bis in die Augen und ränderte sie rot. Er zwang sich wieder zur Ruhe. Es wäre nicht gut, auf einer so wichtigen Mission erkannt zu werden. Es wäre nicht gut, wenn man ihn nicht mehr als den frommen religiösen Führer ansah, der er war. Als der Wagen zu einem bebenden Halt kam, beugte er sich vor, lehnte sich schließlich wieder gegen den gepolsterten Sitz und atmete flach. Die Tür wurde geöffnet. Gleißendes Licht ergoss sich gemeinsam mit brennender Hitze in den dunklen Raum. »Euer Ehren, wir haben Keltar’sid erreicht. Euer Ehren, der Segner von Sorbold hat ein Ehrenregiment zu Eurer Begrüßung geschickt.« Er blinzelte, während seine Augen sich dem Sonnenlicht anpassten. Keltar’sid war die nördliche Hauptstadt von Sorbold und der Paradegrund der sorboldischen Heere, welche die nördlichen und westlichen Ausläufer der Zahnfelsen schützten. Es war ein soldatischer Stadtstaat und in höchstem Grade einschüchternd, es sei denn, man reiste unter dem Banner einer Kirche oder religiösen Sekte. Genau hier wollte er sein. »Wie überaus freundlich«, sagte er. Die kultivierte Stimme seines menschlichen Wirtes klang seidig in seinen Ohren. Die Dämonenstimme, die in seinem Innern sprach, ohne auf dem Wind zu gleiten, war viel härter, so wie das Knistern einer unheilvollen Flamme. »Bedanke dich bitte, während ich aussteige.« Er lächelte, wies die Hände ab, die ihm helfen wollten, und trat aus dem Wagen. Zwar bewohnte er einen etwas ältlichen Körper, aber dieser war noch flink und besaß Reste jugendlicher Kraft. Er musste die Augen vor der blendenden Helligkeit der Sonne beschirmen. Das Feuer war die Essenz seines Lebens, doch handelte es sich dabei um dunkles Feuer, ein uranfängliches Element, das schwarz wie der Tod brannte und keinesfalls so hell und freundlich wie das falsche Feuer in der oberirdischen Welt. Er ertrug das Sonnenlicht, aber er mochte es nicht. Eine Abordnung von zehn sorboldischen Wachmännern stand in ehrfurchtsvollem Abstand; ihre dunklen Gesichter waren Masken feierlicher Aufmerksamkeit. Er lächelte sie wohlwollend an und hob dann die Hand in einer Segensgeste. Er kämpfte darum, gleichgültig zu wirken. Schließlich war es dieser Augenblick, für den er hergekommen war. Leise flüsterte er die Worte der Verführung, den unhörbaren Gesang, der die Männer seinem Willen unterwarf, wenn auch nur zeitweise. Alles, was länger anhielt, erforderte ausgiebigen Augenkontakt und unmittelbarere Einwirkung, als es für einen heiligen Mann schicklich war, der eine Truppe ausländischer Wachmänner besuchte. Um sie endgültig zu binden, benötigte er ein wenig Soldatenblut, doch sie alle schienen gesund und ohne Wunden zu sein, welche der Segnung eines Heilers bedurften. Nun gut. Die Fäden der Fesselung, unsichtbar für alle Augen außer den seinen, verankerten sich leicht in seinen neuen Dienern und wehten im Wind auf ihn zu. Er fing die Fäden mit einer sanften Bewegung ein, die nichts weiter zu sein schien als eine Geste des Segnens. Er sah, dass sein Zauber sich in ihren Augen festgesaugt hatte. Im Glitzern der Sonne erkannte er deutlich das Glimmern des dunklen Feuers in ihnen, das sein Gebet entzündet hatte. Er lächelte erneut. Dies war schließlich alles, was er mit seinem Besuch in Sorbold beabsichtigt hatte. Alles andere, was sich aus der langen und anstrengenden Reise ergab, war nur eine Zutat. Er hatte schon bekommen, was er wollte. 51 Ein Kolonnenführer erschien; er wurde von vier Männern begleitet, die die Pfähle eines weißen, leinenen Baldachins trugen Sorbold war berühmt für sein Leinen , und ein weiterer niederrangiger Adjutant brachte ein Tablett mit einer Wasserflasche und einen Kelch herbei. Der Soldat verneigte sich aus der Hüfte heraus. »Willkommen, Euer Gnaden.« Mit einer Handbewegung befahl er den Soldaten, sich um den heiligen Führer aufzustellen. Sofort erhoben sie den Baldachin, damit der hohe Besuch vor der Sonne geschützt wurde. Dafür erhielten sie ein warmes Lächeln und ein Zwinkern aus den blauen Augen, in denen nicht mehr die geringste Spur von Rot lag. Er nahm den Kelch mit Wasser entgegen und trank dankbar; dann stellte er ihn zurück auf das Tablett. Der Soldat, der die Erfrischung gebracht hatte, trat einige Schritte zurück, blieb aber nah genug bei dem Gast, falls dieser noch etwas von ihm verlangen sollte. »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, sagte der Kolonnenführer zögernd. »Ach?« »Seine Gnaden, der Segner von Sorbold, wurde an das Krankenbett Ihrer Durchlaucht, der Kaiserinwitwe, gerufen. Der Segner bittet vielmals um Entschuldigung und hat mich angewiesen, Euch zur Basilika im Nachtberg zu geleiten, wohin er sich begeben wird, sobald die Kaiserin seiner Hilfe nicht mehr bedarf. Mir wurde befohlen, es Euch und Eurem Gefolge so angenehm wie möglich zu machen.« Die schwarzen Augen des Soldaten funkelten nervös, und der heilige Mann unterdrückte ein Lachen. Die sorboldische Sprache war mit höfischer und religiöser Etikette nicht vertraut, da diese Kultur mit solcherlei Dingen keinen Umgang pflegte. Die Sorbolder waren ein raues und schlichtes Volk. Der Kolonnenführer hatte zweifellos intensive Studien betrieben, um überhaupt auf diese Weise reden zu können, und war sich des Ergebnisses in keiner Weise sicher. »Das ist sehr freundlich, aber ich fürchte, es ist unmöglich. Mein Besuch hier ist äußerst kurz, da ich in Bälde in mein eigenes Land zurückkehren muss. Die Wintersonnengleiche steht bevor, und außerdem will ich den Karneval in Navarne besuchen.« »Vielmals Entschuldigung wegen der Umstände«, stotterte der Kolonnenführer erneut. »Bitte teilt mir mit, wie ich Euch zu Diensten sein kann. Ich stehe Euch zur Verfügung, Euer Gnaden.« Die Augen des heiligen Mannes funkelten in dem gefilterten Licht unter dem Baldachin. »Ach, wirklich? Wie großzügig. Wie lautet dein Name, mein Sohn?« »Mildiv Jephaston, Anführer der Dritten westlichen Kolonne, Euer Gnaden.« »Also gut, Mildiv Jephaston, es freut mich überaus, dass du zu meiner Verfügung stehst, und ich werde dieses sehr großzügige Angebot wirklich irgendwann annehmen, aber im Augenblick verlange ich nichts als sicheres Geleit zurück zur sorboldisch-rolandischen Grenze.« »Wie Ihr wünscht, Euer Gnaden. Der Segner wird sehr enttäuscht sein, dass er Euren Besuch verpasst hat.« »Genau wie ich; das versichere ich dir, Mildiv Jephaston.« Er klopfte dem Soldaten mitleidig auf die Schulter und segnete ihn dann wie zuvor schon die anderen. In der Ferne erkannte er das unendlich schwache Flackern schwarzen Feuers, viele hundertmal wiederholt in einem Meer dunkler Augen, denn alle, die diesem Kolonnenführer eidlich verpflichtet waren, standen nun auch unter dem Bann des heiligen Mannes. Wegen der unzähligen Abhängigkeitsverhältnisse waren Truppen seine bevorzugte Beute. Man musste nur den Anführer fesseln, und all seine Gefolgsleute sowie deren Untergebene gehörten einem ebenfalls. Ah, Treue ist eine wunderbare Sache, eine hirnlose Falle aus Stahl, so einfach zu beeinflussen, dachte er freudig. Aber so schwierig zu überwältigen, wenn sie nicht freiwillig erfolgt. »Er hatte gehofft, Euch die Basilika im Nachtberg zeigen zu können.« Der Soldat schluckte. »Er weiß, dass Ihr sie noch nicht gesehen habt.« Die wahre Bedeutung dieser Worte war klar. Das Angebot des Segners, ihm Zutritt zum geheimsten der Elementartempel, der Basilika des Lebendigen Gottes Terreanfor des Herrschergottes, Königs der Erde zu verschaffen, war eine große und schmeichelhafte Ehre, die nur selten gewährt wurde. Die Basilika lag tief versteckt im Nachtberg, einem Ort alles verschlingender Dunkelheit in diesem Reich der endlosen Sonne, und war zweifellos der mystischste der heiligen Schreine ein Ort, dessen Leben noch von den ersten Tagen der Schöpfung herrührte. Seine Ablehnung einer Führung, wie höflich sie auch erfolgt sein mochte, war für die sorboldischen Soldaten verblüffend. Er unterdrückte ein weiteres Lachen. Narren, dachte er verächtlich. Verdammnis über die großzügigen Angebote eurer Nation, genau wie über euch selbst sehr bald. Er konnte den Tempel nicht besuchen, auch wenn er es gewollt hätte. Die Basilika war geweihter Boden. Seine Rasse vermochte heiligen Boden nicht zu betreten. »Es tut mir ausnehmend Leid, dass es mir nicht möglich ist, die Einladung des Segners anzunehmen«, sagte er abermals und nickte seinen eigenen Wachen zu. Sein Gefolge kehrte zu den Wagen und Reittieren zurück und bereitete die Abreise vor. »Soweit ich weiß, liegt der Nachtberg viele Tagesreisen südlich von hier. Ein Besuch dort würde mich zu sehr aufhalten. Ich danke dir nochmals, aber ich fürchte, ich muss das Angebot ablehnen. Überbringe bitte meine besten Wünsche dem Segner und auch Ihrer Durchlaucht für eine baldige Genesung.« Er drehte sich rasch um und eilte in die dunkle Stille des Wagens. Die sorboldischen Soldaten schauten ihm erstaunt nach, während sein Diener die Tür zuschlug und der Wagen allmählich außer Sichtweite rollte. Der gewaltige leinene Baldachin, der den Besucher noch einen Augenblick zuvor von der Sonne abgeschirmt hatte, hing nun schlaff wie eine entmutigte Kapitulationsflagge in der windstillen Luft. 3 Haguefort, Provinz Navarne Der Winterkarneval war eine alte Tradition in Navarne und wurde zu Ehren der Sonnenwende abgehalten. Er fiel mit heiligen Tagen sowohl der patriarchalischen Religion von Sepulvarta als auch des Ordens der Filiden zusammen, der Naturpriester des Kreises von Gwynwald. Stephen Navarne, der Herzog der Provinz, war ein Anhänger der Ersteren, doch ein wohlbekannter Freund der Letzteren. Die Bevölkerung der Provinz war seinem Beispiel gefolgt, hatte sich gleichmäßig auf die beiden Glaubensrichtungen verteilt, alle religiösen Streitigkeiten beigelegt und feierte nun gemeinsam das Nahen des Schnees. In früheren Jahren hatten sich die Festlichkeiten über die weiten, welligen Hügel von Navarne ausgebreitet, so weit das Auge reichte. Haguefort, Stephens Festung und der Ort der Feierlichkeiten, lag auf einer sanften Erhöhung am westlichen Rande des Waldes und bot einen wunderbaren Blick auf die Gehöfte und Weiden, die sich in den drei übrigen Richtungen bis zum Horizont erstreckten. Einige der anderen orlandischen Provinzen, vor allem Canderre, Bethania und Avonderre sowie das ferne Bethe Corbair hatten schon vor langer Zeit ihre eigenen Sonnenwendfestlichkeiten aufgegeben, um an Stephens Feier teilnehmen zu können; der Herrscher galt als unübertroffen im Ausrichten von Festen. Schon seit zwei Jahrzehnten öffnete der junge Herzog, dessen entfernte cymrische Abstammung ihm die Kraft der Jugend verlieh, in deren Genuss alle Flüchtlinge aus Serendair kamen, seine Besitzungen beim ersten Anzeichen des Winters und bestimmte die Wettbewerbe und Preise für das jährliche Fest unter Trompetenfanfaren und mit einem Prunk, der für dieses Zeitalter Rolands unüblich war. Der cymrische Krieg hatte den Pomp des Ersten Zeitalters, das dem Aufbau und der Aufklärung gewidmet gewesen war, zu einem traurigen Ende gebracht und das augenblickliche Zweite Zeitalter farblos und langweilig zurückgelassen, so wie es sich meistens in den Zeiten des Wiederaufbaus und Überlebenskampfes verhält. Stephens Feste boten die einzige regelmäßige Ausnahme von dieser Regel. Wie schon sein Vater vor ihm, so begriff auch Stephen, wie wichtig eine farbenfrohe weltliche Feier für das harte Leben der Bevölkerung in seinem Herzogtum war. Aus diesem Grunde kümmerte er sich zwar vornehmlich um die Sicherheit seiner Untertanen und ihres Eigentums, aber auch um ihre seelischen Bedürfnisse, denn er war der Meinung, dass vor allem der Mangel an Freude für die Schwierigkeiten verantwortlich war, die das Land heimgesucht hatten. Jedes Jahr bot das Fest einen neuen Wettbewerb: eine Schatzsuche, einen Dichterwettstreit, ein Rennen mit ungewöhnlichen Hindernissen und daneben natürlich auch die üblichen Glücksspiele und Sportereignisse sowie Preise für die besten Lieder Stephen war ein glühender Verehrer guten Gesangs , Vorträge und Tänze, ferner Schlittenrennen, Wettstreite im Bauen von Schneeskulpturen und magische Darbietungen. Dies alles wurde von einem großen Feuer bekrönt, das die winterliche Nacht erhellte und Funken in den Himmel schickte, als wollte es die Sterne herausfordern. So war es nicht verwunderlich, dass sogar Reisende aus den fernen, warmen Gefilden Yarims, Rolands östlichster Provinz, sowie aus Sorbold, dem unfruchtbaren Land der Berge und Wüsten im Süden, sich auf den Weg landeinwärts in die Provinz Navarne machten, um an Stephens Winterkarneval teilzunehmen. Sogar viele Lirin aus Tyrian taten es ihnen gleich, zumindest in guten Zeiten. In jüngster Zeit aber hatten blutige Angriffe und Gewalttaten die Zahl der Besucher verringert, da Überlandreisen immer gefährlicher wurden, und so sanken die Feierlichkeiten allmählich wieder zu einem Provinzfest herab. Die in diesem Jahr erwartete Verringerung der Besucherzahlen war in Stephens Augen sowohl traurig als auch gut. Er hatte vor kurzem die Errichtung einer großen Mauer vollendet; es war ein mehr als zwei Mann hohes und gleichermaßen dickes Bollwerk, das die gesamten königlichen Lande Hagueforts sowie einen großen Teil des benachbarten Ortes und der angrenzenden Ländereien umschloss. Dieses Unternehmen hatte für mehr als zwei Jahre beinahe jede Minute beansprucht, doch es war ausnehmend wichtig für die Sicherheit seiner Untertanen und Kinder. Als Stephen nun auf dem Balkon hinter den Fenstern seiner riesigen Bibliothek stand, betrachtete er die neue Steingrenze mit schweigendem Entsetzen. Früher war der Blick in die Landschaft ungehindert gewesen, doch nun wurden die ehemals unverdorbenen Wiesen und Weiden von diesem hässlichen Bollwerk mit seinen ernsten Wachtürmen und Zinnen verschandelt. Statt des weiten, leuchtenden Horizonts aus Schnee zog sich nun eine scharfe, schlammige Trennlinie im Land um seine Festung. Von Anfang an hatte er um dieses Ergebnis gewusst. Aber es war eines, es zu ahnen, und ein anderes, es schließlich mit eigenen Augen zu sehen. Das Winterfest musste sich auf die neue Wirklichkeit Rolands und seiner Nachbarn einstellen: auf die grimmige Erkenntnis, dass unerklärliche und unvorhersehbare Gewalt allerorts überhand nahm. Der schiere Wahnsinn hatte mehr als nur Stephens Felder heimgesucht. Er hatte sein Leben zerrissen, ihm seine junge Frau und den besten Freund, Gwydion von Manosse, genommen und unter seinen Untertanen viele Leben gefordert. Und er hatte Stephen das Gefühl der Glückseligkeit geraubt. Es war nun fünf Jahre her, dass Stephen eine ganze Nacht lang erholsam geschlafen hatte. Am Tag war es einfach. Eine endlose Reihe von Aufgaben beanspruchte seine Aufmerksamkeit; außerdem kümmerte er sich um seinen Sohn und seine Tochter. Sie waren die größte Freude in seinem Dasein und für ihn so lebenswichtig wie Sonne oder Luft. Er kämpfte nicht mehr um seine Glückseligkeit wie kurz nach dem Tode Lydias. Nur nachts fühlte er sich traurig und entmutigt, wenn er seine Kinder in Decken aus wärmsten Eiderdaunen gesteckt, neben Mellys Bett gewacht hatte, bis sie eingeschlafen war, und in der tröstenden Dunkelheit Gwydions Fragen über Leben und Mannsein beantwortet hatte. Jede Nacht fanden die Fragen schließlich ein Ende und wurden ersetzt durch leises, rhythmisches Atmen, und der süße Atem des Kindes wurde zu dem salzigeren eines jungen Mannes an der Schwelle des Erwachsenseins. Stephen genoss diesen Augenblick, wenn der Schlaf seinen Sohn zu den Abenteuern des Traumes fortgeleitete; dann stand er widerstrebend auf, bückte sich, küsste Gwydion auf die glatte Stirn und wusste, dass er dies bald nicht mehr tun konnte. Unabwendbar durchfuhr ihn dann die Traurigkeit, während er zu seinen eigenen Gemächern zurückkehrte, zu dem Raum, in dem er und Lydia geschlafen, sich geliebt und in ihrem unvergleichlichen Glück vielerlei Pläne geschmiedet hatten. Gerald Owen, sein Kammerherr, hatte nach dem blutigen Anschlag der Lirin, der Lydia das Leben gekostet hatte, in freundlicher Sorge angefragt, ob er ein anderes der vielen Schlafzimmer Hagueforts für Stephen herrichten solle, doch Stephen hatte mit derselben Freundlichkeit abgelehnt, die er immer walten ließ. Woher sollte Owen wissen, was er brauchte? Sein treuer Kammerherr verstand nicht, wie sehr Lydia noch in diesem Raum gegenwärtig war in den Damastvorhängen am Fenster, im Baldachin über dem Bett, im Spiegel neben ihrem Toilettentisch und dem silbernen Kamm darauf. Es war nun alles, was ihm von ihr geblieben war, alles außer den Erinnerungen und den Kindern. Er lag Nacht für Nacht in jenem Bett, unter jenem Baldachin und lauschte den Stimmen der Geister, bis ihn schließlich ein ruheloser Schlaf überfiel. Der Klang kindlicher Stimmen schwoll hinter Stephen an, während die Tür zur Bibliothek geöffnet wurde. Melisande, die am ersten Frühlingstag sechs Jahre alt geworden war, rannte auf ihn zu, als er sich umdrehte, und schlang ihm die Arme um das Bein. Als er sie hochhob, pflanzte sie ihm einen Kuss auf die Wange. »Schnee, Vater, Schnee!«, rief sie freudig. Diese Worte brachten ein breites Grinsen auf Stephens Gesicht. »Du hast dich offenbar in ihm gewälzt«, sagte er mit einem gespielten Aufstöhnen und wischte sich die kalten Klumpen aus gefrorenem weißem Pulver vom Wams, während er das Mädchen wieder absetzte; dann legte er den Arm um Gwydions Schulter. Melly nickte aufgeregt. Dann aber wich ihr Lächeln einem missbilligenden Blick. »Wie hässlich das ist«, sagte sie und deutete über den Grundbesitz ihres Vaters zu der endlosen Mauer, die ihn nun umschloss. »Und es wird noch hässlicher werden, wenn die Leute ihre Häuser innerhalb der Mauer wieder aufbauen«, sagte Stephen und zog Gwydion näher zu sich heran. »Genießt die Ruhe, so lange sie noch herrscht, Kinder. Beim nächsten Winterfest wird das hier eine Stadt sein.« »Warum denn, Vater? Warum sollten die Leute ihre schönen Ländereien aufgeben und hinter eine hässliche Mauer ziehen?« »Um der Sicherheit willen«, antwortete Gwydion ernsthaft. Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über das haarlose Kinn und nahm damit genau die Haltung seines Vaters ein, wenn dieser über etwas nachdachte. »Dann befinden sie sich im Schutz der Festung.« »So schlimm wird es nicht werden, Melly«, meinte Stephen. Er fuhr dem Mädchen durch die goldenen Locken und lächelte angesichts des Funkeins, das in ihre schwarzen Augen zurückgekehrt war. »Es wird mehr Kinder hier geben, mit denen du spielen kannst.« »Hurra!«, rief sie aus und tanzte freudig erregt durch den dünnen Schnee auf dem Balkon. Stephen nickte dem Kindermädchen zu, als dieses an der Balkontür erschien. »Warte noch ein paar Tage, mein Sonnenstrahl. Der Winterkarneval wird stattfinden, und es wird so viele farbige Banner und Flaggen geben, dass man glauben könnte, es schneit Regenbögen. Komm jetzt. Rosella wartet auf euch.« Noch einmal drückte er Gwydions Schulter und küsste seine Tochter, als sie an ihm vorbeilief. Dann wandte er sich wieder ab und dachte über die veränderten Zeiten nach. 4 Yarim Paar, Provinz Yarim Die Überlieferungen der Entudenin Im Gegensatz zu den Hauptstädten von Bethania, Bethe Corbair, Navarne und den anderen rolandischen Provinzen war Yarim nicht von den Cymrern erbaut worden; die Stadt war weitaus älter. Yarim Paar das zweite Wort bedeutete in der Sprache der Einheimischen Lager war in der Mitte des ausgedehnten Dürregebietes errichtet worden, welches den größten Teil der Provinz ausmachte, und lag zwischen den trockenen Winden der Zahnfelsen im Osten und dem Eise Hintervolds im Norden. Weiter im Westen, näher an Canderre und Bethania, wurde das Land fruchtbarer, doch der Hauptteil des Reiches bestand aus trockenem Land voller Gestrüpp und rotem Lehm, der in der kalten Sonne buk. Yarims Nachbargebiete, die versteckten Länder östlich der Zahnfelsen, waren fruchtbar und bewaldet; es schien, als reichten die Berge bis in den Himmel hinein und zögen den kostbaren Regen aus den dünnen Wolken, die ihre Gipfel umschwebten. Der Seewind strich aus Westen über den Kontinent, brachte Feuchtigkeit mit und schenkte auf diese Weise den Küstenregionen von Gwynwald und Tyrian sowie den angrenzenden binnenländischen Provinzen Gewänder aus tiefgrünem Forst und Feld. Wenn aber der Wind auf dem Weg nach Osten endlich Yarim erreicht hatte, konnte er keine Wohltaten mehr bringen; die Wolken hatten den größten Teil des Regens bereits ihren bevorzugten Kindern gespendet. In besonders trockenen Jahren gab es in Yarim mehr Staub als Getreide. Früher einmal war ein Nebenfluss des Tar’afel aus den Eiswüsten Hintervolds gekommen und hatte sich mit dem Erim Rus vereinigt, dem Blutfluss, wie ihn die frühen Siedler genannt hatten einem schlammigen roten Wasserlauf, der mit mineralischen Ablagerungen verdreckt war, welche die Berghänge verkrusteten. Am Zusammenfluss dieser beiden Läufe, die nur selten Wasser führten, stand die Wiege der Stadt Yarim Paar. Obwohl dieses Gebiet den frühen Bewohnern des Kontinents als Wüste erschienen war, konnte doch nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ein König, dessen Name in Vergessenheit geraten war, hatte die Länder von Yarim blasiert als den Nachttopf der Eiswelt und der östlichen Berge bezeichnet. In diesen Worten lag eine unbeabsichtigte Wahrheit. Die Lage an der Kontinentalscheide verhalf Yarim zu reichen Mineralvorkommen und, was noch wichtiger war, zu großen Salzablagerungen. Unter der bescheidenen Oberfläche verliefen dicke Adern von Mangan und Eisenerz in Richtung der östlichen Berge, und weiter westlich befand sich ein ausgedehnter unterirdischer Salzsee. Als ob diese Reichtümer nicht ausreichten, um die unwirtliche Gegend zu segnen, waren die zugigen Steppen gespickt mit gewaltigen Opalvorkommen, deren Steine wie gefrorene Regenbögen in unzähligen Farben schimmerten. Eine der Abbaustätten des Opals trug den Namen Zbekaglou, was in der Eingeborenensprache so viel wie »das Ende des Regenbogens« oder »Ort, wo die Himmelsfarben die Erde berühren« bedeutete. Yarims östliche Berge boten der Provinz große Schätze an Mangan und Kupfer, Eisenerz und Rysin, einem bläulichen Metall, das bei den Nain sehr geschätzt wurde; die westlichen Felder steuerten das begehrte Salz bei, das durch seichte Brunnen hochgepumpt wurde, die bis in den unterirdischen Ozean aus Sole und Pottasche reichten. Das Salz wurde dann in ausgedehnten Steinbetten ausgebreitet, damit das Wasser an der Sonne verdunsten konnte und nur das kostbare Konservierungsmittel zurückblieb. Die östliche Steppe aber brachte Edelsteine von unschätzbarem Wert hervor. Im Gegensatz dazu war Yarim Paar weder mit nennenswerten Mineralvorkommen noch mit Salzseen oder fruchtbarem Ackerland gesegnet. Es war eine öde Wüstenei aus trockenem rotem Lehm. Dennoch war es gerade das arme Gebiet von Yarim Paar im Süden, welches den Reichtum der Provinz ermöglichte, denn Yarim Paar hatte vom Schöpfer ein Geschenk erhalten, das keinem der übrigen Gebiete der Provinz zuteil geworden war das Geschenk des Wassers. Neben dem Erim Rus und dessen Nebenfluss Tar’afel, die selbst große Wasserreiche in einem dürren, durstigen Land waren, war Yarim Paar überdies der Sitz der Entudenin, einem Wunder, dessen Name später für gewöhnlich mit Brunnenquell übersetzt wurde. Noch weiter bekannt war es unter der Bezeichnung Quellfels oder einfach »Wunder« die Yarimeser besaßen nur wenige Naturwunder, die sie bestaunen konnten, und ersonnen daher viele Namen für dieses eine , doch eine genauere Bedeutung des Wortes in der alten Sprache wäre »die Arterie« gewesen. In der Zeit der Namensgebung war die Entudenin ein hoher Geysir gewesen, der einem Obelisken aus Mineralien entsprang, die sich während der Jahrhunderte immer höher aufgetürmt hatten. An seiner Spitze war der Obelisk so hoch wie zwei Männer oder vielleicht wie zwei Grunthor und so breit wie ein zweispänniger Ochsenkarren, doch nach oben hin verjüngte er sich zu einem schmalen, rechteckigen Schaft. Auch ohne die phantastische Gabe des Wassers in der Wüste wäre die Entudenin ein Wunder gewesen. Die gelösten, an dem Obelisken heruntergelaufenen Mineralien waren zahllos und hatten die gewaltige Formation mit einer Vielzahl kräftiger Farben überzogen. Man sah Schattierungen aus Zinnoberrot und Rosa, tiefem Rostbraun und Aquamarin, Schwefelgelb und einen breiten Streifen Erdbraun, das wie ein Hohn für den sandigen roten Lehm war, über dem sich der große Wasserspeier erhob. Die Mineralformation glitzerte in der Sonne und wirkte beinahe wie gezuckertes Marzipan. Im Gegensatz zu den heißen Quellen, die den Gerüchten zufolge den Mittelpunkt der mythischen Stadt Kurimah Milani gebildet hatten dem uralten Zentrum der Kultur, das angeblich am Rand der Wüste errichtet und eines Tages spurlos im Sande versunken war , war das Wasser, das aus dem Mund der Entudenin hervorschoss, kühl und klar, wenn auch schwer von mineralischen Sedimenten. Die Legende von Kurimah Milani berichtete, wie diejenigen Glücklichen, die in den heißen Quellen hatten baden oder von ihnen hatten trinken dürfen, mit den besonderen Gaben des Heilens oder anderen magischen Vorzügen beschenkt worden waren, die unzweifelhaft von den reichen mineralischen Teilchen im Wasser herrührten. Den Einwohnern von Yarim Paar gelüstete es nicht nach diesen Heilquellen; das kühle, Lebensspendende Wasser, das sich aus der Entudenin ergoss, war für sie Magie genug. Die Entdeckung des wunderbaren Geysirs inmitten des Nichts war denn auch der Anlass zur Errichtung eines befestigten Außenpostens, der später zu einem Lager, dann zu einem Dorf und schließlich zu einer Stadt wurde. Die Verfügbarkeit von Wasser brachte den Sieg der Form über die Funktion und der Größe über die Schönheit mit sich. Ausgedehnte hängende Gärten, anmutige Springbrunnen und Skulpturenparks mit stillen, spiegelnden Teichen wurden angelegt und verwandelten das Zusammengewürfelte kleine Lager in ein großartiges Beispiel für luxuriöse Wüstenarchitektur. Innerhalb weniger Jahrhunderte spendete die Entudenin nicht nur die gewaltigen Wassermengen, die zur Erhaltung dieses Juwels einer Hauptstadt nötig waren, sondern auch das ganze Wasser für alle entfernt gelegenen Städte, Dörfer, Außenposten und Bergbaulager. Während seiner Lebenszeit war der Quellfels ungefähr den Zyklen des Mondes unterworfen. Zu Beginn eines Zyklus schoss aus dem Brunnenquell das Wasser in einer gewaltigen, wütenden Fontäne hervor und sprühte es glitzernd dem Himmel entgegen, um schließlich den durstigen Boden zu besprengen. Das Geräusch, das dieses Ereignis begleitete, reichte von einem tiefen Röhren bis zu einen frohen Ruf, wenn der Strom aus der Dunkelheit der Erdentiefe in Luft und Licht hinaustrat. Eine ganze Woche lang floss das Wasser reichlich. Am ersten Tag des Ausbruchs, der als das Erwachen bekannt war, versammelten sich die Einwohner zum rituellen Dankgebet an den All-Gott, doch sie unterließen es, von den flüssigen Wohltaten des Brunnenquells zu trinken oder sie aufzufangen. Einerseits war dieser Brauch ein Opfer zum Dank an den Schöpfer, doch andererseits entsprang die Haltung auch dem gesunden Menschenverstand, denn der aus der Entudenin hervorschießende Wasserstrahl war so kräftig, dass er einem Menschen das Rückgrat brechen konnte. Innerhalb eines einzigen Tages machte der Ausbruch einem gewaltigen Sprühregen Platz. Den Legenden zufolge wechselte der Brunnenquell nun seine Stimmung von Wut zur Sanftmut. Sobald dieser Wechsel vollzogen war, ernteten die Leute von Yarim Paar und auch ihre Nachbarn das Wasser und lagerten es in Zisternen, von denen die größte jene war, die man am Fuß des Obelisken ausgehoben hatte. Die kleinsten Behältnisse hingegen stellten die Kübel dar, welche die Stadtkinder auf dem Kopf balancierten. Der Sprühregen, der die Luft am Rand der Fontäne erfüllte, ergoss sich in weitem Bogen und wurde von den Stadtbewohnern als öffentliches Bad benutzt. Nach einer Woche der Fülle kam eine Woche der Ruhe. Die Entudenin wechselte von der gewaltigen Dusche zu einem ruhigeren, sprudelnden Fließen. Die geduldigeren Stadtleute, die vorausgeplant und mit dem Schöpfen ihres Wassers bis zur zweiten Woche gewartet hatten, zogen nun den Nutzen aus ihrer Haltung, denn in dieser Zeit war das Wasser angeblich am süßesten und gereinigt von den bitteren Mineralien, die sich während der Zeit des Schlafes angereichert hatten. Die dritte Woche, die Woche des Verlustes, sah immer noch Wasser aus der Entudenin hervorquellen, doch es war zu einem bloßen Rinnsal geworden. Während dieser Zeit war es nur jenen, die einen ernsten Krankheitsfall in der Familie hatten, erlaubt, Wasser aus dem Quellfels zu nehmen. Im Gegensatz zu der wilden Ernte der ersten beiden Wochen wurde das Abschöpfen nun mit großer Demut und Ehrerbietung vorgenommen und von erheblichen Opfergaben in Form von Nahrungsmitteln oder Münzen an die Priesterinnen begleitet, welche die Entudenin bewachten. Schließlich verschwand auch das Rinnsal. Der Quellfels trocknete aus, und in dieser Woche, der Woche des Schlummers, überkam ganz Yarim Paar zumindest den Legenden zufolge ein Gefühl von Anspannung, gepaart mit Entsetzen. Obwohl der Geysir seit Menschengedenken regelmäßig ausbrach und seine Gaben spendete, erhob sich immer wieder die unausgesprochene Angst, jedes Mal könnte das letzte sein. Während die Yarimeser gelernt hatten, dass Sonne und Mond den Regeln des All-Gottes folgten, hegten sie doch immer die Befürchtung, die Entudenin könnte es sich anders überlegen und ihre Kinder dem Staub der Wüste überlassen, weil sie an irgendetwas Anstoß genommen hatte. Die Aufgabe, sich um den Brunnenquell zu kümmern, war einem Klan übertragen, der als die Shanouin bekannt war. Dabei handelte es sich um eine Gruppe früherer Nomaden, die angeblich aus Kurimah Milani stammten. Die Wasserpriesterinnen der Shanouin besaßen das höchste gesellschaftliche Ansehen in Yarim und wurden nur vom Herzog und dem Segner übertroffen, die Yarim mit der benachbarten Provinz Canderre teilte. Weil die Entudenin einem Monatszyklus folgte, wurde sie als weiblich angesehen; deshalb war es nur den Frauen der Shanouin erlaubt, den Obelisken während der Ruhephase zu säubern und zu pflegen sowie den Zugang der Leute zum Brunnenquell zu regeln. Die Männer und Kinder des Klans hingegen legten die Wasserbecken an und stellten die Versorgung der wichtigeren Haushalte sicher. Der Fuhrmann, der jeden Monat die Fässer zum Haus des Herzogs brachte, hatte eine Stellung inne, die jene des Kammerherrn an Wichtigkeit noch übertraf. Als die Jahrhunderte vergingen und der Erim Rus mit Blutfieber verseucht wurde sowie der Nebenfluss Tar’afel austrocknete, blieb die Entudenin beständig und treu und versorgte das trockene Reich in jedem Mondzyklus zwanzig Tage lang mit dem Elixier des Lebens. Die grünen Wüstengärten verdorrten, weil nun einiges vom Wasser des Brunnenquells in die umliegenden Dörfer und Städte sowie in die Außenposten und Bergbaulager geleitet wurde. Das Paradies, zu dem Yarim Paar geworden war, wich einer gesetzteren, verständigeren Stadt, einer hübschen Matrone, die den Platz der einst wunderschönen Braut einnahm. Und so ging es Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, bis die Entudenin in Schlaf fiel und nicht mehr aufwachte. Zuerst hatten die Shanouin Gelassenheit gezeigt. Die Brunnenquelle hatte ihre Zyklen nie auf den Tag genau begonnen, obwohl sich niemand daran erinnern konnte, dass sie jemals mehr als drei Tage von ihrem Schema abgewichen war. Als aber der vierte und auch der fünfte Tag vergangen waren, wurde der Segner von Canderre und Yarim durch einen geflügelten Boten von seiner Basilika in Bethania nach Yarim Paar in der Hoffnung gerufen, seine heilige Weisheit, die ihm durch den Patriarchen vom Schöpfer selbst verliehen worden war, könne den Grund für das Schweigen der Entudenin herausfinden und Genugtuung für eine mögliche Beleidigung leisten. Der Segner kam in gebührender Eile; er ritt auf seinem Wüstenpferd in Begleitung von nur acht Wachen, anstatt den langsameren königlichen Wagen zu benutzen. Als er eintraf, war der Brunnenquell schon seit zehn Tagen trocken, und die allgemeine Besorgnis drohte nicht nur in Yarim Paar, sondern auch in den anderen Städten und Außenposten Yarims in Panik umzuschlagen, denn sie alle hingen vom Wasser der Entudenin ab. Rasch verbreitete sich der Aufruhr auch in den anderen rolandischen Provinzen, denn viele orlandische Herzöge besaßen Grundbesitz und Kapitalanlagen in Yarim. Als es dem Segner nicht gelang, durch seine Gebete den Brunnenquell wieder zum Leben zu erwecken, wandten sich viele Bewohner von Yarim von den monotheistischen Praktiken der Religion von Sepulvarta ab. Sie hörten nicht mehr auf den Segner und den Patriarchen und kehrten zur heidnischen Vielgötterei zurück, die sie vor dem Eintreffen der Cymrer gepflegt hatten. Der Göttin der Erde, dem Herrn des Meeres, dem Gott des Wassers und jeder anderen möglichen Gottheit, welche den Fluch des Durstes von ihnen nehmen könnte, brachten sie öffentliche und private Opfer dar, die manchmal wohlwollend, manchmal auch böswillig waren. Doch all ihre Bitten stießen auf taube Ohren. Schließlich kam man auf eine Idee. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, dass die Shanouin die Schuld trugen. Die Aufwarterinnen der Entudenin hatten diese angeblich beleidigt und sie dazu gebracht, sich von ihrem Volk zurückzuziehen. Die Wasserpriesterinnen und der Rest des Klans flohen bei Nacht aus Yarim Paar, während schon das Holz für ihre Scheiterhaufen gesammelt wurde. Doch auch die Flucht der Shanouin beeindruckte die Entudenin nicht; sie weigerte sich immer noch, ihr Herz zu öffnen. Als wegen der Herrschaft über die austrocknenden Zisternen mörderische Tumulte ausbrachen, verfiel die Stadt Yarim Paar unter der Regentschaft des Herzogs in grämliches Schweigen und dachte darüber nach, wie sie ohne Wasser überleben sollte. Bald wurde der halbherzige Versuch unternommen, Brunnen zu graben, doch man gab schnell wieder auf. Niemand hatte je so etwas versucht, und so wusste auch keiner, wie man richtig einen Brunnen anlegte, zumal sich die Entudenin immer wie eine großzügige Amme um das benötigte Wasser gekümmert hatte. Selbst wenn jemand gewusst hätte, wie man sich durch die trockene Erde bohrt, wäre die Aussicht auf eine Entdeckung einer Wasserader der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichgekommen. Wenn tatsächlich irgendwo Wasser unter dem Sand lag, konnte es sich auch am anderen Ende der Welt befinden. Schließlich dachte der Herzog daran, dass die Shanouin zwar vielleicht den Brunnenquell beleidigt hatten, aber alles über das Wasser in dieser Dürreregion wussten. Er schickte sein Heer aus, auf dass der ganze Stamm Zusammengetrieben und nach Yarim Paar zurückgebracht wurde. Gemeinsam mit den Shanouin wurde eine Ratsversammlung einberufen, an der die Verwaltung von Yarim Paar, die Aufseher über die verschiedenen Bergbaulager und Abgesandte anderer yarimesischer Städte teilnahmen. Auf dieser Zusammenkunft versprach der Herzog von Yarim den Shanouin erneut die freien Bürgerrechte und den Schutz des yarimesischen Heeres, wenn es ihnen gelänge, Wasser aus dem trockenen Lehm hervorzubringen und das Leben der durstigen Städte zu erhalten. So erlangten die Shanouin allmählich ihr früheres soziales Ansehen zurück, indem sie erfolgreich Wassersammelstellen errichteten, welche die ganze Provinz Yarim versorgten, doch es war nie so viel wie in den besten Tagen. Obgleich sie nun ohne die Arterie leben mussten, die das Leben aus dem Herzen der Erde heraufgepumpt hatte, gab es immer noch etliche kleine Venen in Oberflächennähe, welche die früheren Priesterinnen der Entudenin aufzuspüren in der Lage waren. Diese Arbeit war schwierig und die Ergebnisse ungewiss, doch irgendwie überlebte Yarim die Apokalypse. Die einst so prächtige Hauptstadt Yarim Paar welkte an der Hitze dahin, trocknete unter der Sonne aus und wurde dabei spröde und rissig. Die Entudenin erhob sich immer noch fest in den Himmel, aber nun schwieg sie. Das große Marmorbecken um sie herum trocknete ebenfalls aus und zerfiel. Der Obelisk buk in der Sonne und verlor seinen Glanz und seine Farben, bis er schließlich so trocken und rot wie der übrige Lehm war, aus dem man Yarim erbaut hatte. Von Zeit zu Zeit wurde er von Pilgern aus den Gegenden jenseits der Wüste besucht, die an seinem Fuß standen, hinauf zum Leichnam des toten Quellfelsens schauten und den Kopf schüttelten, weil sie traurig über den Verlust waren oder die Übertreibungen in den Geschichten erkannten, die sie über die Fontäne gehört hatten. Wenn sich des Nachts die Dunkelheit herabsenkte und das Zwielicht den Himmel verließ, konnte jemand, der in diesem Augenblick den alten Felsen beobachtete, einen winzigen goldenen Schimmer sowie ein silbernes Funkeln zarten Glimmers bemerken, welche die Hitze für immer in den dunklen, aufschießenden Felsen eingeschmolzen hatte, der hoch zu den Sternen wies. »Ich nehme an, Ashe hat dich bei eurem Besuch in Yarim auch hierher geführt?« »Nein, warum?« Achmed blickte an dem hohen, sich verjüngenden Schaft des Obelisken empor. »Ich könnte mir vorstellen, dass dieser gigantische Phallus seine Minderwertigkeitsgefühle nur verstärkt. Gerechtfertigte Gefühle, wie ich hinzufügen darf.« Rhapsody lächelte unter den Schleiern ihrer Pilgerverkleidung, die ihr Gesicht verhüllte, aber sie sagte nichts. Stattdessen wartete sie, bis die drei ältlichen Frauen, die wie sie in fließende weiße Gewänder gekleidet waren und die Gesichter hinter Schleiern verborgen hatten, ihre Gebete beendet hatten und weitergingen. Dann trat sie näher an die uralte Felsformation heran. Die Entudenin war kleiner und dünner, als sie erwartet hatte, und wirkte irgendwie zerbrechlich. In der Tat waren sie zweimal an ihr vorübergegangen, ohne sie zu sehen, denn sie stand in der Mitte des Marktplatzes wie ein wenig geschätztes Standbild, an dem die Ochsenkarren und Viehkarawanen achtlos vorbeizogen. Die drei Frauen, die sich soeben wieder auf den Weg gemacht hatten, waren die Einzigen aus dem ganzen geschäftigen Treiben Yarim Paars gewesen, die an jenem Morgen stehen geblieben waren und den Obelisken angeschaut hatten. Die mineralischen Ablagerungen, aus denen er geschaffen worden war, hatten sich nun zu hartem rotem Stein verfestigt, der mit tiefen Aushöhlungen und Löchern übersät war. Rhapsody bemerkte, dass er entfernt wie ein abgeschlagener Arm aussah, der auf dem Boden balancierte und dem die Hand fehlte. Sie warf einen Blick auf den quirligen Marktplatz und schaute sofort wieder weg, als ein Trupp yarimesischer Soldaten mit ihren unverwechselbaren gehörnten Helmen vorbeiritt. Sobald das Hufgetrappel verklungen war, sah sie wieder zu Achmed hinüber. Er schaute südwärts. »Was ist deiner Meinung nach mit dem Wasser geschehen? Warum ist die Entudenin ausgetrocknet?« Achmed grinste. »Hältst du mich für Manwyn, nur weil wir uns zufällig in derselben Stadt befinden?« »Wohl kaum. Sie ist viel angenehmer als du.« Rhapsody erschauerte, als sie sich an das scheußliche Lachen des Orakels erinnerte, an die grundlose Verspottung Ashes und ihre schlimmen Prophezeiungen. Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben. Ashe hatte sich über die Worte erbost. Als er eine Erklärung verlangte, hatte sie auch ihn mit rätselhaften Worten bedacht. Gwydion ap Llauron, deine Mutter ist gestorben, als sie dich zur Welt brachte, aber die Mutter deiner Kinder wird bei ihrer Geburt nicht sterben. Da war noch etwas gewesen, aber Rhapsody erinnerte sich nicht mehr daran; es schien so, als wäre es aus ihrem Gedächtnis entfernt worden. Sie blinzelte und bemerkte, dass Achmeds ungleiche Augen sie anstarrten. Rhapsody schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen. »Wenn ich eine Seherin fragen wollte, was mit der Entudenin geschehen ist, würde ich mich an Anwyn wenden«, sagte sie. »Sie ist diejenige, die in die Vergangenheit schaut. Aber ich glaube, das lasse ich lieber. Da frage ich besser dich, auch wenn du nur eine Vermutung abgeben kannst. Was ist das deiner Meinung nach für eine Beleidigung gewesen, um deretwegen der Quellfels ausgetrocknet ist?« Sie sah, dass er unter seinem Schleier lächelte. »Die Beleidigung durch einen mineralischen Pfropfen oder die Verlagerung einer Gesteinsschicht innerhalb der Erde.« »Wirklich? Das ist alles?« »Wenigstens meiner Meinung nach. Hast du je bemerkt, dass alles Wunderbare und Gute als Geschenk des All-Gottes, alles Schlimme und Schreckliche aber als Versagen der Menschen angesehen wird? Vielleicht ist alles, was im Guten oder Schlechten geschieht, bloßer Zufall.« »Vielleicht«, sagte sie rasch. Sie zog das Buch hervor und blätterte es hastig durch. »Rhonwyn sagte, das Kind befinde sich in Yarim Paar, unter der Entudenin, nicht wahr?« Achmed nickte, ohne den Blick von dem versteinerten Geysir abzuwenden. »Es war eine Tortur für mich, wie du Namen, Alter und Aufenthaltsort dieser Dämonenbrut aus der verrückten Seherin herausgelockt hast.« Rhapsody kicherte. »Tut mir Leid. Es ist nicht leicht, Informationen von einer wahnsinnigen Seherin zu bekommen, die sich schon einen Augenblick später nicht mehr erinnern kann, wer du eigentlich bist, weil sie nur die Gegenwart sieht. Einen Herzschlag später ist die Gegenwart schon zur Vergangenheit geworden, und sie erinnert sich nicht mehr an das, was sie gesagt hat, und erst recht nicht daran, was du gesagt hast. Und wenn du glaubst, Rhonwyn sei schlimm, dann freu dich, dass du Manwyn nicht begegnet bist.« Sie beugte sich vor und versuchte, über den Kuppeln der Gebäude den zerfallenden Tempel des Orakels zu erkennen, doch nirgendwo sah sie das Minarett. »Der Fontänenplatz ist der Mittelpunkt der Stadt. Glaubst du, ›unter‹ bedeutet so viel wie ›südlich‹?« Der Fir-Bolg-König zuckte die Achseln und versuchte sich zu konzentrieren. Die Herzschläge klangen nun gedämpft und wurden von dem Brummen der vielen Menschen verschluckt sowie vom Weinen des Winterwindes in den engen Gassen, dem Schachern der Frauen und dem Lärm der Kaufleute, die ihre Waren auf dem Marktplatz feilboten. Dazu kam die Dämpfung durch die Schleier, die beinahe jeder in Yarim trug, um den treibenden Sand von Augen und Nase fern zu halten. Noch immer schmerzte ihm die Brust vom Schock der Arrhythmie, von dem Schlag der Dissonanz, die sein eigener Herzschlag erfahren hatte, als der zweite Puls von ihm abgeprallt war. Er begriff nun, was Rhapsody mit Namensliedern und Liedern des Selbst meinte und was es bedeutete, dass sie ihre Musik in Gleichklang mit dem wahren Namen eines Menschen oder Gegenstandes bringen konnte. Ihre musikalischen Fähigkeiten wirkten auf dieselbe Weise wie seine Gabe der Spurenlese. Sie beide schlössen sich an die einzigartigen Schwingungen an, die jedes Lebewesen aussandte. Er hatte schon immer gewusst, wie verwundbar er war, wenn er seinen eigenen Herzschlag dem eines anderen anpasste. Nun fragte er sich, ob es sich bei ihr genauso verhielt. In der Ferne hörte er immer noch beide Rhythmen. Es war so unendlich wenig Blut aus der alten Welt in den Kindern, dass er eigentlich nicht in der Lage sein sollte, es zu hören. Einer der Herzschläge war schwächer und ruckartiger als der andere. »Einer von ihnen der Erste ist am südöstlichen Rand der Stadt«, sagte er schließlich. »Und was den anderen angeht, so könnte er überall sein.« Rhapsody richtete nervös den Schleier vor ihrem Gesicht. »Das schafft nicht gerade große Sicherheit.« »Tut mir Leid.« »Sei nicht wütend. Es ist nur so, dass deine Fähigkeit, diese Kinder aufzuspüren, die einzige Hoffnung ist, die wir haben.« Achmed fasste sie am Ellbogen und zog sie von der ausgetrockneten Fontäne weg. Er führte sie zu einer geschützten Nische in einer Seitenstraße, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, beugte er sich zu ihrem Ohr vor. »Ich hätte es dir schon vor langer Zeit erklären sollen«, sagte er mit so leiser Stimme, dass sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Du begreifst nicht die Schwierigkeit dessen, um was du mich bittest. Auf der Insel konnte ich leicht den Herzschlag eines jeden Menschen ausfindig machen und ihm folgen. Wie bei dem Weg durch einen vertrauten Wald gab es immer Ungewissheiten und Gefahren, aber ich wusste, wo sie waren und wie ich mit ihnen umzugehen hatte. Diese Fähigkeit ist verschwunden; ich kann sie nur noch bei denjenigen ausüben, die ebenfalls auf Serendair geboren wurden. Ich kann meinen Herzschlag mit Grunthors, deinem und dem von einer Hand voll Cymrer der Ersten Generation in Einklang bringen. Das ist alles.« Seine Stimme wurde noch leiser. »Einen F’dor zu jagen war schon immer schwieriger; wie du weißt, habe ich noch nie einen in den Bann schlagen können. Dass es mir diesmal gelingen könnte ich wiederhole: könnte , liegt an dem Zusammenspiel meiner Blutgabe und der Fähigkeit der Dhrakier. Dazu ist es aber nötig, dass wir das Blut des Dämons von dem der Kinder zu trennen vermögen. Immer wenn ein F’dor-Geist aus seiner zerschmetterten Gruft innerhalb der Erde hervorkam, nahm er sich einen Wirt. Es musste ein ziemlich machtloser sein, ein Kind zum Beispiel oder ein schwacher Mann. Der Geist benötigte einen Wirt, der schwächer war als er selbst oder höchstenfalls genauso stark, denn wenn er frisch aus der Erde kommt, ist er erst einmal schwach. Dann wird Blut vergossen vielleicht nur ein einziger Tropfen, doch jedes Mal werden dabei Blutsbande geschmiedet. Der Geist benötigt das Blut, um sich mit einem lebenden Wesen zu verbinden. Dieses Blut wird zum eigenen des Dämons. Auch wenn er wächst, bleibt es sein eigenes Blut, obwohl es sich vermischt und vom Blut jedes neuen Wirtes befleckt und verdünnt wird. Der F’dor, der diese Kinder gezeugt hat, war ein Geist aus der alten Welt. Er hatte zweifellos viele Wirte auf Serendair. Und wir wissen, dass er noch mehr gehabt hat, seit er hier ist.« Er verstummte, und beide schauten hinter sich, wo ein Kichern ertönte. Eine Gruppe Kinder, die sie fälschlich für Liebende gehalten hatten, welche sich in einer verschwiegenen Gasse küssten, starrte sie kurz an und zerstreute sich dann unter Achmeds wütenden Augen, die als Einziges von seinem Gesicht zu sehen waren. Er blickte finster drein und hielt dann wieder die Lippen an Rhapsodys Ohr. »Wir wissen, wie mächtig er inzwischen ist. Bestimmt hat er den ersten Tropfen durch das Blut von hunderten, vielleicht tausenden anderer Wirte verschleiert. Dann hat er den Rakshas erschaffen. Er hat das Blut von wilden Tieren mit dem seines menschlichen Wirtes gemischt. Der Rakshas hat die Mütter dieser Kinder geschwängert und damit das Blut des F’dor sogar noch weiter verdünnt. Du musst verstehen, dass das Blut des F’dor in den Adern dieser Kinder für mich wie der Hauch eines Parfüms ist, das ich zuvor nur ein einziges Mal gerochen habe. Du bittest mich darum, diesen Hauch in der Luft dieser Stadt unter all den anderen Gerüchen wiederzufinden. Darüber hinaus hat der Betreffende das Parfüm schon vor Monaten aufgelegt.« »Vielleicht hat er in der Zwischenzeit nicht gebadet. Das könnte uns helfen«, sagte Rhapsody leichthin. In ihren grünen Augen funkelte es, doch dann wurde sie wieder ernst. »Es tut mir Leid, dass ich ein so großes Gewicht auf deine Schultern lade. Was sollen wir als Nächstes tun?« Achmed seufzte und lehnte sich zurück; dann stand er auf. »Wir richten uns nach Südosten und sehen nach, was wir dort finden. Falls wir weder dieses Kind noch die anderen entdecken, müssen wir mit dem vorlieb nehmen, was wir finden, selbst wenn es nur das Kind ist, von dem wir wissen, dass es in neun Wochen in Tyrian geboren wird. Für dieses haben wir die genauen Angaben von Zeit und Ort. Alles, was ich brauche, ist eine winzige Menge reinen Dämonenblutes.« »Wir sollen die anderen der Verdammnis preisgeben? Der Leere?« Achmed blinzelte nicht. »Ja.« »Würdest du das wirklich tun?« »Beim nächsten Herzschlag sozusagen. Also bitte! Die Möglichkeit, dieses Wesen zu finden, wird mit jedem Augenblick geringer.« Achmed streckte die Hand aus, die in einer dünnen Lederscheide steckte, und Rhapsody ergriff sie. Gemeinsam überquerten sie die Gasse und verschwanden in den Tiefen von Yarim Paar. 5 Ziegelbrennerei, Yarim Paar Omet mochte den neuen Lehrling nicht. Unter gewöhnlichen Umständen wäre Omet so beschäftigt gewesen, dass er den Neuen gar nicht bemerkt hätte. Als er selbst zwei Jahre vor seiner Gesellenzeit Lehrling gewesen war, war ihm die Arbeit unendlich und das Leben schlaflos erschienen. Er hatte keine Zeit für Meinungen, Gefühle oder irgendetwas anderes gehabt, das ihn davon ablenkt hätte, die Temperatur der backenden Ziegel zu überprüfen oder alle zwei Stunden aufzustehen, um die Feuer der Öfen während der Nacht mit Torf, Kohle, Dung und seltener Holz zu bestücken. Der rote Lehm von Yarim taugte nicht zum Ackerbau, doch er ergab wunderbare Ziegel. In seiner besten Zeit hatte Yarim den größten Teil aller Nutz und Pflastersteine produziert, aus denen die cymrischen Städte bestanden, sowie die Mosaiken und Keramikziegel, mit denen sie geschmückt waren. Yarim selbst hatte sich von den glitzernden Wasserbecken, die den Herzogspalast umgaben, bis zu den Wänden des Orakeltempels mit den schönsten Stücken herausgeputzt. Selbst jetzt, in den Jahren des Niedergangs und unter den Beschränkungen der Wasserknappheit, stellte Yarim noch immer Ziegel und Töpferwaren für den Export her. Die gewaltige Brennerei war neben den verschiedenen Verwaltungsgebäuden und dem Tempel des Orakels das größte Bauwerk der Stadt. Zum Teil leer, stand es am südöstlichen Rand der Stadt, in der Nähe der größten Fernstraße. Ätzender schwarzer Rauch von den Tag und Nacht brennenden Feuern hing schwer in der Luft über dem Gebäude und den angrenzenden Straßen und machte das Atmen zur Qual, weswegen in der Nähe nur wenige andere Gebäude und keine Wohnhäuser lagen. Als seine Mutter ihn zur Eigentümerin der Ziegelei in die Lehre geschickt hatte, war ihr sehr wohl bewusst gewesen, zu welchem Leben sie ihren Sohn damit verdammte. Die Eigentümerin der Ziegelei war eine kleine Frau von halb menschlicher, halb lirinscher Abstammung und hieß Esten. Man kannte ihren Anblick, Namen und Ruf nicht nur in der ganzen Provinz Yarim, sondern auch im Westen bis Canderre und im Süden bis Bethe Corbair. Estens geringe körperliche Größe stand in unmittelbarem Gegensatz zu ihrem sozialen Rang; sie war die Eigentümerin und Betreiberin von Yarims größter Ziegelbrennerei. Noch weiter bekannt war ihre Stellung als Vorsteherin der blutrünstigen Rabengilde, eines eingeschworenen Zirkels aus Erpressern, Raubmördern und Dieben, welcher in Yarim während der dunklen Stunden herrschte. Trotz ihres abenteuerlichen Rufs hatte Esten ein hübsches, exotisches Gesicht mit klaren Linien und hohen Wangenknochen, die sie vermutlich ihrem Lirin-Blut verdankte. Dass es überhaupt schon jemand gesehen hatte, war ein Zeichen für ihre Stellung, denn die meisten Frauen in Yarim trugen den Schleier. Das Ungewöhnlichste an ihrem Gesicht waren die Augen: dunkel und stechend wie die des Vogels, nach dem ihre Gilde benannt worden war. In diesen Augen lag immer eine gewisse Belustigung, selbst wenn sie schwarz vor Wut waren, und sie waren durchdringender als ein Eispickel. Omet hatte sich bei seiner Annahme als Lehrling vorgenommen, ihren Blick so weit wie möglich zu meiden. Die wenigen Sekunden, in denen er zu dessen Ziel geworden war, hatten ihn so erschreckt, dass er schon befürchtet hatte, vor Angst in die Hose zu machen. Es überraschte ihn nicht, dass seine Mutter ihn in den letzten fünf Jahren nicht besucht hatte. Die meiste Zeit war es ihm gelungen, Estens Aufmerksamkeit zu entgehen. Sie kam jeden Neumond her, um die Fortschritte beim Tunnelbau zu überprüfen, und wenn sie sah, dass er die Kindersklaven ausreichend fütterte und die Öfen gut schürte, beschränkten sich ihre Begegnungen auf reine Zufälle. Vielleicht war seine Entscheidung, ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen, ein Fehler gewesen. Seit Vincane, der neue Lehrling, aus dem Tunnel gezogen worden war und neben Omet und den anderen arbeitete, war er diesem aus dem Weg gegangen, denn Vincane tat alles, um sich bei Esten einzuschmeicheln und ihre Gunst durch etliche sklavische Dienste zu erringen, die Omet den Magen umdrehten. Seine Possen schienen Esten den Kopf verdreht zu haben. Nun zog sie Vincane vor, brachte ihm kleine Leckereien und zauste ihm das Haar. Sie lachte mit ihm und neckte ihn. In Vincanes Augen lag etwas Dunkles und Neugieriges, das Esten stark ähnelte, und es verhalf ihm zu seiner Stellung als ihr Schoßtier. Doch es war nicht diese Vorzugsbehandlung, die Omet beunruhigte; es war eher die kalte Grausamkeit, die Vincane manchmal Omet und den anderen Lehrlingen, häufig aber den Sklavenkindern gegenüber herauskehrte, ohne dafür getadelt zu werden. Meistens sah man nicht viel von diesen Kindern. Nahrung und Wasser wurden mehrmals am Tag als Belohnung für die Erfüllung der Förderquote den Schacht hinuntergelassen. Fünfzig Lehmkübel kamen hoch, ein Eimer Wasser wurde in die Tiefe geschickt. Hundert Lehmkübel kamen hoch, eine Kiste mit Essen nahm den Weg nach unten. Hoch, hinunter, hoch, hinunter. So sah das Leben eines Lehrlings im fünften Lehrjahr aus: Er zog die Kübel aus dem Schacht, schüttete den Lehm aus, warf den Kübel wieder hinunter und bedachte die dunklen, kleinen Wesen, die wie Ratten auf dem Boden des Schachts und in dem Tunnel dahinter herumhuschten, zuweilen mit ein wenig Brühe oder Brot. Dazwischen trugen sie die Bretter mit Ziegeln und Mörtel umher, wobei sie es peinlich vermieden, den Öfen zu nahe zu kommen. Sie überprüften die großen Fässer mit Lehm, der in der gewaltigen Hitze buk, und läuteten die Glocke, um die Gesellen aus dem Nebengebäude herbeizurufen, in dem sie lebten und arbeiteten, wenn die Feuerungen ausgebrannt waren. Bis vor kurzem war Vincane selbst eines der Sklavenkinder gewesen. Er war eine Unterschicht-Waise und entweder gestohlen oder verkauft worden und hatte erstaunliche Zähigkeit beim Graben gezeigt. Überdies war seine Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, beinahe übermenschlich. Omet hatte einmal gesehen, wie er die Hand mitten in den Brennofen gesteckt und ein Rost mit grün glasierten Ziegeln herausgeholt hatte, ohne zurückzuzucken, als er den glühend heißen Draht berührte. Dies und seine Bereitschaft, die kleinen Geheimnisse seiner Mitsklaven zu verraten sie hatten den Tunnel einige Hand breit erweitert, um zusätzlichen Schlafraum zu schaffen; sie hatten die zerbrochenen Stücke einer Kelle versteckt, anstatt sie zurückzugeben , hatten ihm Estens Zuneigung und dadurch die einzigartige Möglichkeit verschafft, dem Tunnel zu entkommen und als Lehrling zu arbeiten. Zuerst hatten die Gesellen befürchtet, die Sklavenkinder könnten sich nun gegeneinander wenden, um dieselben Vorteile zu bekommen, wodurch die Grabungen gestört würden, doch Esten hatte diese Gefahr im Keim erstickt. Jeglicher Aufruhr würde dazu führen, dass Vincane zurück in den Tunnel kam, hatte sie mit süßlicher Stimme während des morgendlichen Luftholens zu den Sklavenkindern gesagt. Und es würde ihm erlaubt sein, einige seiner Spielzeuge mitzubringen. Die Sklaven hatten ihr Frühstück plötzlich noch stiller gegessen, und in ihren beinahe blinden Augen hatte sich ihr Entsetzen widergespiegelt. Omet verspürte kein besonderes Mitleid mit den Sklavenkindern, denn schließlich war auch sein eigenes Leben nichts, um das man ihn beneiden konnte; dennoch war er von Vincanes Grausamkeiten erschüttert. Manchmal ließ dieser ein Brett mit Essen herunter, nach dem zwei Dutzend schmutziger Hände gierig griffen, auf dem sich aber lediglich zwei harte Semmeln und ein wenig Seil von der Verpackungsabteilung befanden. Vincanes hohes, kreischendes Gelächter angesichts des blutigen Aufruhrs, der dann einsetzte, hatte Omet trotz der Hitze aus den Öfen eine Gänsehaut bereitet. Immer wenn es Vincanes Aufgabe war, die Körbe mit den Sklaven zur monatlichen Frischluft hochzuziehen, wurde die Hälfte dabei blutig verletzt und gegen die Ziegelmauern des Schachtes geschlagen. Wütendes Gejammer und Faustkämpfe setzten regelmäßig ein, wenn er die monatlichen Rationen austeilte. Vincane erklärte sich jeweils unschuldig daran und klagte die anderen selbstgerecht an. Es beunruhigte Omet sehr, dass Vincanes Augen noch erregter funkelten, wenn er sah, wie ein Sklavenkind auf seine Anklage hin durchgeprügelt wurde. Manchmal dachte Omet daran, Vincane zurück in den Schacht zu werfen, wenn er gerade einmal nicht aufpasste. Vincane hatte sogar einmal zum Scherz Omet im Schlaf die Haare gestutzt; dieser hatte sich die ganze Nacht in schrecklichen Träumen hin und her gewälzt und darin Vincane grinsend und mit einem Messer über ihn gebeugt gesehen. Er war inmitten seiner unregelmäßig abgeschnittenen Haare erwacht. Omet hatte daran gedacht, Vincane die verdiente Prügel zu geben, doch selbst wenn es ihm gelungen wäre, hätte es Estens Aufmerksamkeit erregt, und das war etwas, das niemals geschehen durfte. Also hatte er den Ärger heruntergeschluckt, sich den Kopf völlig kahl geschoren und empfand dies angesichts der Hitze zwischen den Öfen als durchaus angenehm. Der einzige Fehltritt, der Vincane bisher unterlaufen war, hatte darin bestanden, dass er in den Wassereimer uriniert hatte, bevor er ihn herunter gelassen hatte; er hatte das als einen tollen Spaß angesehen. Er hatte mit dem Rücken zur Tür gestanden und nicht bemerkt, dass Esten bereits für ihre monatliche Inspektion des Tunnels eingetroffen war. Diese Wasserverschwendung war in Yarim Paar ein Verbrechen, und obwohl Esten täglich etliche Gesetze selbst brach, war dieses offenbar eines, das sie als sehr wichtig ansah. Sie hatte Vincane an den Ohren gepackt und sie so heftig gezwirbelt, dass sie diese beinahe ausgerissen hätte; darauf waren Schläge auf beide Seiten seines blutenden Kopfes gefolgt. Aus dieser Erfahrung hatte Vincane gelernt und seinen Scherz nicht wiederholt; zumindest hatte Omet es nicht bemerkt. Doch die Schmerzen schien er kaum wahrgenommen zu haben. Selbst die wenigen Eigenschaften Vincanes, die man als eher angenehm ansehen konnte, wurden auf die eine oder andere Weise in ihr widerwärtiges Gegenteil verkehrt. Im Gegensatz zu den übrigen Lehr jungen hatte Vincane keine Bedenken, die Leichname der Sklavenkinder, die im Tunnel gestorben waren, herauszuholen und in den Ofen im Gesellenflügel zu werfen. Der Gesellenofen wurde seit jenem unglücklichen Tag als Krematorium benutzt, als einer der Sklavenjungen den Fehler begangen hatte, während der monatlichen Frischluft entkommen zu wollen. Esten hatte ihn in den größten Brennofen gesteckt und die Tür zugeschlagen. Der Gestank hinterher war gering gewesen, doch das Brenngut war wegen der zusätzlichen Feuchtigkeit verdorben; sechs Bretter mit Ziegeln waren ruiniert gewesen. Daher benutzte Vincane von jenem Tag an nur den Ofen in dem weit entfernten Gebäudeteil, um die Leichname der Sklavenkinder zu verbrennen. Einmal war Omet dorthin gegangen, um herauszufinden, warum der Lehrling so lange fort war, und hatte sich übergeben müssen, als er mit angesehen hatte, welche Rituale Vincane vor der Einäscherung durchführte. Glücklicherweise war in letzter Zeit nur einer aus der gegenwärtigen Belegschaft gestorben; der Haufen schien diesmal ziemlich zäh zu sein. Niemand sprach im Tunnel; es war bei Todesstrafe verboten, sich außerhalb der Brennerei zu unterhalten. Die Brennerei selbst war nur die Fassade für das Graben, das weder bei Tag noch bei Nacht ein Ende fand. Die Vorderseite der Brennerei, die auch als Vorzimmer bekannt war, enthielt einen kleinen Ofen und einige Keramiköfen für das Steingut und die Ziegel, die in ganz Yarim und Roland verkauft wurden. Dort dienten die Lehrlinge im ersten und zweiten Jahr und lernten die richtige Zusammensetzung und das rechte Maß für das Brenngut sowie das Herstellen von Gussformen. Außerdem mussten sie die schweren Ziegelbretter aus den kleineren Öfen umschichten. Aber die wirkliche Arbeit wurde im rückwärtigen Teil hinter großen Doppeltüren geleistet, wo die größeren Öfen standen. Die Lehrlinge im dritten, vierten und fünften Jahr lebten und arbeiteten hier und stellten Ziegel für Bewässerungsanlagen und Straßenpflasterungen her. Die kunstvollere Arbeit fand man in den Seitenflügeln der Gesellen. Die Lehrlinge im sechsten Jahr sowie im ersten Gesellenjahr verbrachten ihre Tage damit, unter der Leitung ihrer Meister architektonische Zeichnungen und Handbemaltes Porzellan herzustellen. Während seines vierten Jahres hatte Omet als Aufseher für die jüngeren Lehrlinge gearbeitet und rasch die wichtigste Lektion der Beaufsichtigung gelernt: die Peitsche bei denjenigen anzuwenden, die unter einem selbst standen. Es war eine einfache Zeit gewesen, und er freute sich darauf, wieder der angenehmen Tätigkeit eines Aufsehers nachzugehen, sobald sein Gesellenjahr vorbei war. Früher war die Tätigkeit, in der er ausgebildet wurde, einmal eine künstlerische Berufung für ihn gewesen. Nun aber hasste Omet Ziegel, hasste die harte Arbeit des Gießens und Backens, des Formens und Schleppens, und er hasste den roten Lehm, der Hände und Arme mit der Farbe getrockneten Blutes sprenkelte. Und Omet hasste den neuen Lehrjungen. Estens Stimme hallte durch den Schacht hoch. »Erledigt.« Omet fuhr damit fort, die zerbeulten Zinnteller aus den schmutzigen Händen der Gräber entgegenzunehmen, und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie zwei Gesellen auf den Schacht zustürmten und den Haken herabließen. Einen Augenblick später erschien Estens Kopf. Einer der Gesellen bot ihr die Hand und zog sie über den Rand des Schachtes. Sie klopfte sich den lockeren Lehm von den dunklen Kleidern bei ihren monatlichen Inspektionen trug sie jedes Mal ein einfaches schwarzes Hemd und eine schwarze Hose und schüttelte den langen schwarzen Zopf. Ihr Gesicht verzog sich zu einem blitzenden Lächeln, als sie sich an die kleine Gruppe verwilderter Seelen wandte, die sich an der anderen Wand der Ziegelei zusammendrängten und von bewaffneten Gesellen umstellt waren. »Prima gemacht, Jungs, ihr seid sehr gut«, sagte sie besänftigend. Die Augen der Kinder, das einzig deutlich Sichtbare in den Feuerschatten der offenen Öfen, leuchteten in den dunkelroten Gesichtern. Sie schlenderte hinüber zu dem Beutel, den sie neben der Tür abgestellt hatte, ergriff ihn und kehrte zu der Gruppe zurück. Beinahe jedes dünne Glied zuckte zurück, denn die Jungen drückten sich bei ihrem Herannahen noch enger gegen die Wand. Esten öffnete den Sack, kramte darin herum, holte eine Hand voll Süßigkeiten heraus und warf sie in die zitternde Menge. Sofort erhob sich tosender Lärm, und sie lachte zufrieden. »Sind sie nicht süß?«, sagte sie zu den Gesellen und kniete sich, um die einzelnen Mitglieder der Gruppe besser betrachten zu können. »Omet, wo ist Tidd?« Omet spürte, wie seine Kehle trockener als die Entudenin wurde. »Tot, Mutter«, sagte er. Die Worte kamen in einem Krächzen heraus. »Tidd tot? O je.« Das Lächeln verschwand, und Esten betrachtete die Gruppe eingehender. »Welch eine Schande. Er hatte einen guten Richtungssinn. Hm, wen sollen wir jetzt zum Anführer machen?« Ein ganzer Wald von Armschösslingen ging hoch und winkte verzweifelt, begleitet von dünnen Rufen. Estens Lächeln kehrte zurück. Sie stand wieder auf. »Das sind meine Jungen. Welch eine eifrige Bande. Mal sehen. Haverill, Avery, nein, ihr seid blind wie eine Fledermaus, nicht wahr, meine Lieben? Iyn, Collin, nein. Gume, hm, du auch nicht. Du machst immer die Arbeit der anderen und hast ein zu weiches Herz. Hallo, Vincane, wen haben wir denn hier?« Sie blieb vor einem kleinen, gelbhaarigen Jungen mit großen Augen und kantigem Gesicht stehen, der heftig zitterte und die Arme um die gebeugten, spindeldürren Knie geschlungen hatte. »Das ist Arie«, krähte Vincane wichtigtuerisch. »Er ist neu Ersatz für Tidd.« »Kein guter Tausch, nicht wahr, mein Knabe?« Esten drehte sich wieder um und lächelte einen großen Jungen an, dessen Haare früher weißblond gewesen, nun aber genauso schmutzig rot wie die der anderen waren. »Ernst, was ist mit dir? Würdest du gern Anführer sein?« Der große Junge grinste breit und zeigte dabei die Zähne, die ihm noch verblieben waren. »Ja, Mutter.« »Gut, gut. Dann komm, Junge. Wir gehen zurück in den Tunnel und unterhalten uns über die Richtung, in der ihr diesen Monat graben sollt.« Nachdem Esten aus dem Schacht zurückgekehrt war und sich die Kinder wieder unten befanden, trat sie zur Tür und nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken. Dann ging sie durch die Doppeltür hinaus, ohne einen Blick zurück zu werfen. Omet schnappte einige Worte auf, die sie zu dem Gesellen im Vorzimmer sagte. »Hast du gesehen, wie groß Ernst geworden ist? Womit füttert ihr ihn?« »Mit demselben wie die anderen. Sie prügeln sich drum, ’s gibt keine milden Extragaben.« »Hm. Das könnte bald zum Problem werden. Sag den Lehrlingen, sie sollen den Schacht gut bewachen und die Ohren offen halten. Wir werden nächsten Monat entscheiden, wie es weitergehen soll falls wir bis dahin noch nicht durchgestoßen sind.« Ihr Lächeln glitzerte in den dunklen Schatten der Brennkammer. »Ich vermute, wir müssen dann eine Versammlung einberufen. Die Gesellen sollen mich sofort rufen, wenn die Zeit gekommen ist.« »Ja, Mutter.« Von fern hörte Omet, wie sich die Tür öffnete; das Heulen des Winterwindes lag noch immer in der Luft, als die Tür bereits geschlossen war. Nach einer Weile erkannte er jedoch, dass das leise Jammern nicht mehr die Stimme des Windes war, sondern aus dem Schacht heraufdrang. Dann war es verschwunden. 6 Aus der Ferne war schwer zu sagen, ob die Ziegelbrennerei arbeitete oder verlassen war. Zwar quoll Rauch aus den offenen Kaminen in der Mitte des Gebäudes, doch nach einer Beobachtung von zwei Stunden hatte niemand den Komplex betreten oder verlassen. Als sich die Nacht herabsenkte, brannten die Öfen weiter, doch immer noch kam niemand. »Sehr seltsam«, meinte Rhapsody hinter der zerfallenen Mauer, an der sie ihren Beobachtungsposten errichtet hatten. »Glaubst du, dass diese Brennerei von Geistern betrieben wird?« Achmed gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen und versuchte dem Muster des besudelten Herzschlages innerhalb des Bauwerks aus Ziegeln und Mörtel zu folgen. Obwohl er ihn bisweilen spürte, hatte er den Eindruck, er verlangsame sich, als bereitete er seinen Körper auf den Schlaf vor. Der dunkle Himmel befand sich fest im Griff des Winters; mit der herannahenden Nacht war der Wind kalt geworden. Rhapsody zog den Saum ihres Ghodin enger, damit das Kleidungsstück nicht in der starken Brise flatterte. Der Rauch von den Feuern rollte noch immer schwer durch die Luft, doch der beharrliche Wind jagte und zerstreute ihn ein wenig. Der wolkenverhangene Himmel warf das Licht der Feuer zurück, das nun hinter den fernen, inneren Fenstern flackerte. Achmed erhob sich aus seiner gebückten Stellung und machte die Cwellan einsatzbereit. »Warte hier. Ich suche die Umgebung ab. Pass auf.« Nachdem Rhapsody zustimmend genickt hatte, verschwand er in den zuckenden Schatten. Im vorderen Teil des Gebäudes war es still und dunkel. Achmed schlich an der südöstlichen Mauer vorbei. An diesen Teil des Bauwerks grenzten keine größeren Seitenflügel. Schlierige Fenster, die nur zur Belüftung dienten, waren die einzigen Öffnungen in der langen Ziegelmauer. Es gab eine kleine Lieferantentür auf der anderen Seite des Gebäudes, näher an den langen Seitenflügeln. Achmed schlüpfte leise hindurch und schloss sie rasch hinter sich. Das Vorzimmer der Ziegelei war leer. Zwei erkaltete große Öfen standen offen und enthielten Bretter mit gebrannten Steinguttöpfen und Schüsseln. Lange Tische mit einer dicken keramischen Staubschicht trugen weitere Töpferwaren in verschiedenen Stadien der Fertigstellung. Farbtöpfe und abgedeckte Fässer mit Lack erfüllten den Raum mit einem ungesunden Gestank. Achmed war sofort klar, dass die Waren in diesem Raum keinesfalls der gesamte Ertrag der andauernd brennenden Öfen waren. Vorsichtig umrundete er die schweren Tische und achtete darauf, keine Fußabdrücke im Staub auf dem Boden zu hinterlassen. Er schlängelte sich zu der schweren Tür mit den Messingbeschlägen, die er bereits von den Schatten des hinteren Vorzimmers aus bemerkt hatte. Die Tür war fest verschlossen. Achmed legte die Hand auf das roh gezimmerte Holz und spürte die Hitze dahinter. Licht flackerte durch die Ritzen. Langsam zog er einen seiner Handschuhe aus. In der Dunkelheit fuhr er mit den Fingern über die schweren Eisenangeln und stellte fest, dass sie mit einer dicken Rostschicht überzogen waren. Zweifellos werden sie beim Öffnen knarren, dachte er. Er lehnte sich gegen die Tür und stieß die Luft aus. Das Gespür für den richtigen Pfad, das er beim Kriechen durch die Eingeweide der Erde erworben hatte, hatte ihm so etwas wie das zweite Gesicht gegeben eine Vision der Richtung, die er suchte. Bisher hatte er diese Gabe noch nicht eingesetzt, um einen Herzschlag ausfindig zu machen. Achmed schloss die Augen und ließ seinem zweiten Gesicht freien Lauf. Vor seinem geistigen Auge erschien der Raum, in dem er stand, dann mit Töpferwaren bestandene Tische, das gebrannte Steingut und die Farbtöpfe, die schwach in der Finsternis leuchteten. Der Herzschlag der Dämonenbrut schwoll in seinen Ohren an und prickelte auf der Haut. Sein Magen krampfte sich zusammen und bereitete sich auf einen Schlag vor. Übelkeit quoll in ihm auf, als die Vision plötzlich forthuschte, aus dem Raum floh und in einem seltsamen Winkel durch die Tür raste. Die Suche dauerte nicht lange. Seine Sinne drangen in das Zimmer hinter der Tür ein. Es war ein höhlenartiger Raum, offenbar eine Brennkammer mit drei gewaltigen Öfen, die auf niedriger, stetiger Flamme brannten und vor denen etliche leere Ziegelbretter standen. Eine mächtige gusseiserne Glocke hing an der Wand hinter der offenen Tür. Die Vision kam mit einem bebenden Schlingern zum Stillstand. Achmed sog zitternd die Luft ein und versuchte, sich an die Vision zu klammern. Die Schatten aus den offenen Öfen zuckten wie verrückt hin und her und flackerten durch das Zimmer. Auf dem Boden hinter der Tür lagen Kübel und Stangen mit Haken daran, Seile, Gussformen und verschiedene Werkzeuge. Der gewaltige Raum beherbergte fünf riesige Fässer mit einer dicken Flüssigkeit. Jedes hing zwischen Steinsäulen und brodelte über einem Kohlenfeuer; daneben lagen Haufen aus rotem Schmutz. Nahe bei den Fässern befanden sich drei Pritschen, auf denen unter Laken drei schlafende Körper lagen. Einer rollte sich gerade herum. Die Vision zuckte erneut, und die Farbe des Blutes erfüllte seinen Geist, während der fremde Puls, der jetzt mit seinem eigenen Gleichklang, in seinen Ohren zu einem schweren Crescendo anschwoll. Als ob ihm Kopf und Schultern von unsichtbaren Händen zur Seite gedreht würden, wechselte sein Blick zur Pritsche links neben einem dunklen Alkoven, rückte näher und erkannte einen dunklen Kopf unter einem dünnen Laken, während das Pochen lauter wurde. Die Farbe von Blut erschien vor ihm und tauchte seinen Blick in einen roten Nebel. Dann verschwand die Vision. Geschwächt wischte sich Achmed kalte Schweißperlen von der Stirn, holte mehrmals tief Luft, durchquerte dann still den Raum und schlüpfte aus der Tür in die Nacht. Rhapsody betrachtete einen Moment lang sein Gesicht, während er aus dem Wasserschlauch trank, und suchte dann in ihrem Gepäck nach der Zunderbüchse. Sie rieb den Feuerstein so lange, bis er Funken schlug, zündete dann einen kurzen Docht an, hielt ihn dicht an ihre Augen und sah zu Achmed hinüber. »Du siehst nicht gut aus. Ist alles in Ordnung mit dir?« Achmed wischte sich das Wasser von den Lippen. »Ja. Bist du bereit?« »Ja. Ich habe etwas Anisöl; das sollte die hungrigen Angeln sättigen.« Er verkorkte den Schlauch und steckte ihn zurück in sein Gepäck. »Es sind Seile da, mit denen du die Lehrlinge fesseln kannst falls es solche sind. Kümmere dich zuerst um die Brut. Bei ihr handelt es sich um denjenigen auf der Bahre im linken hinteren Alkoven, den mit dem schwarzen Haar. Ich nehme mir die beiden anderen vor den blonden Bengel und den ohne Haare.« Rhapsody nickte. »Noch etwas, Rhapsody. Wenn er dich bedroht, bring ihn sofort um, oder ich werde es tun. So war es abgemacht. Ist das klar?« »Ja.« Achmed suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen der Sorge, sah aber keine. Nun atmete er leichter als noch vor einem Augenblick. Seit Jos Tod schien sie zurückhaltender und sachlicher zu sein, als ob die Rolle der Iliachenva’ar, der Trägerin der alten Tagessternfanfare, nicht mehr so schwer auf ihr lastete. Doch noch immer lauerte etwas hinter ihren Augen, das er nicht ermessen konnte; beinahe war es, als fehlte etwas. Er zog sich die Kapuze über und machte die Cwellan bereit. Achmed fühlte sich immer noch von der Vision und vielleicht auch von der Arrhythmie geschwächt, doch er musste das hier durchstehen und es beenden ihnen allen zuliebe. Als er schwach nickte, zog sich Rhapsody die Kapuze ihres Capes über den Kopf und folgte ihm in die dunkle Ziegelei. Die Tür in den hinteren Teil öffnete sich ohne das geringste Geräusch. Rhapsody hatte die Angeln eingeölt und flüsterte den Namen des Schweigens in einem leisen Refrain, während Achmed an der Klinke zog und die Tür langsam aufdrückte. Die Feuer der Brennöfen brüllten zur Begrüßung und spiegelten sich auf Rhapsodys Gesicht. Die zuckenden Flammen warfen einen Moment lang grelle Helligkeit in den Raum und beleuchteten alles in ihm. Ziegelbretter und Säcke mit Mörtel lehnten gegen die Wand. In einer gegenüberliegenden Ecke hingen Regale mit Vorräten und Nahrung und erschufen in dem Raum ein Schattenlabyrinth. In die hintere Wand war ein tiefer Alkoven hinter den Pritschen der drei Lehrlinge eingelassen. Rhapsody hielt den Stofffetzen hoch, den Achmed ihr als Knebel gegeben hatte, und deutete damit ihre Einsatzbereitschaft an. Dafür erhielt sie ein Nicken. Wie Quecksilber glitt Achmed durch die flackernden Schatten zu den Pritschen der beiden Lehrlinge, die rechts von dem Alkoven schliefen. Ein Seil lag neben ihren Betten. Er hob es auf, schnitt es in Stücke und warf eines Rhapsody zu; dann machte er sich daran, die schlafenden Jungen zu fesseln. Er beugte sich über den ersten, einen großen, dünnen Knaben mit drahtigem blondem Haar, und drückte ihm mit dem Finger gegen die Halsschlagader. Als der Junge die Augen aufschlug und nach Luft schnappte, presste ihm Achmed den Knebel in den Mund. Er war zwar grob, erstickte den Jungen aber nicht. Bevor der Lehrling wieder ausatmen konnte, waren ihm schon die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. »Beweg dich nicht«, murmelte Achmed dem anderen Lehrling zu, einem kahlköpfigen Jungen, der durch die Geräusche aufgewacht war. Achmed richtete die ganze Aufmerksamkeit auf seine Handlungen, erkannte aber an dem Lärm hinter ihm, dass die Dämonenbrut Rhapsody Schwierigkeiten machte. »Au! Halt still, du Bastard autsch! Du hast mich gebissen!« Achmed wirbelte herum und sah, wie Rhapsody mit dem Seil kämpfte, während der Junge auf der Pritsche sie kratzte. Sie zog sich kurz zurück und wendete dann den Heuwender-Schlag an, dessen begeistertes Opfer auch Grunthor bereits einmal geworden war. Nun erzielte sie damit denselben Erfolg. Der dunkelhaarige Lehrling fiel mit einem Uff! auf die Pritsche zurück, und ein beängstigendes Knirschen zerriss die Luft. Der Junge, den Achmed gerade fesselte, krümmte sich zusammen. Rhapsody rieb sich die Handkante. »Versuch das nicht noch einmal, wenn du deine Zähne behalten willst«, sagte sie mit zusammengekniffenen Lippen. Achmed nahm ihre Hand, zog den Handschuh aus und untersuchte sie in dem flackernden Licht. »Blutest du?«, fragte er auf Bolgisch. »Nein, aber er.« Sie warfen einen Blick auf den Lehrling, der sie mit blutendem Mund höhnisch anlächelte. »Sei vorsichtig mit dem Blut; ich brauche es noch«, sagte Achmed ebenfalls auf Bolgisch. Rhapsody lächelte, während sie ihren Handschuh wieder anzog. Der blutende Lehrling versuchte sich aufzurichten, doch Rhapsody versetzte ihm erneut einen Schlag, hockte sich dann auf ihn und fesselte ihn. »Mach den Schweineknoten so«, rief Achmed ihr zu, als er dem blonden Lehrling Hände und Füße hinter dem Rücken zusammenband. Rhapsody zuckte zusammen. »Ist das wirklich nötig? Das sieht schmerzhaft aus.« »Ja. Ich habe gesehen, wie alle drei mehr als einmal auf die Glocke geschielt haben. Bestimmt kann man mit ihr Verstärkung herbeirufen.« »Was ist in dem Alkoven?«, fragte Rhapsody, als sie das Dämonenkind zusammengeschnürt hatte und versuchte, den tödlichen Blick seiner durchdringenden schwarzen Augen nicht zu beachten. Achmed drückte einen Finger gegen die Kehle des anderen Lehrlings, der wie ein Blatt im Sturm zitterte. »Was ist in dem Alkoven?«, fragte er auf Orlandisch. Der kahle Junge versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus. Er schluckte und versuchte es erneut. »Der Tunnel«, flüsterte er. »Wohin führt er?« »Ich ... ich weiß nicht.« Der Junge wurde blass, als er Achmeds Gesicht sah. »Ich glaube, er sagt die Wahrheit«, mischte sich Rhapsody rasch ein, als sie sah, dass er den Druck auf die Schlagader des Jungen erhöht hatte. »Der Ton in seiner Stimme beweist es. Ich werde ihn zu Ende fesseln; dann kannst du es dir ansehen.« Achmed stand angeekelt auf, nachdem sich Rhapsody vor den glatzköpfigen Lehrling gekniet hatte, und trat langsam in den dunklen Alkoven. Er war leer bis auf eine gewaltige Scheibe aus Metall, die an der Wand lehnte. Achmed warf einen Blick in das Loch im Boden. Es schien ein geziegelter Schacht wie bei einem Brunnen zu sein, so tief wie zwei große Männer und so schmal, dass man vermutlich mit ausgestreckten Armen die Wände berühren konnte. Am unteren Ende der südlichen Wand klaffte ein dunkles Loch, aus dem stoßweise ein kleines Rinnsal floss. Zerbrochene Ziegelbretter und Eimer lagen verstreut auf dem nassen Boden. Sonst sah er kaum etwas im Widerschein der Feuer aus den offenen Brennöfen. Rhapsody fesselte die Hände des Lehrlings so sanft wie möglich. »Wie heißt du?« »Omet.« »Wer wäre gekommen, wenn du die Glocke geschlagen hättest, Omet?« Der Gesichtsausdruck des Jungen wurde schlaff, als er sie ansah; dann blinzelte er. »Die Gesellen. Sie leben im nächsten Flügel.« Sie nickte. »Warum ist ein Tunnel unter eurem Arbeitsraum?« »Da unten graben die Sklavenjungen.« »Die Sklavenjungen?« Ihre Frage blieb unbeantwortet, als Achmed benommen zu Boden fiel. 7 »Was ist los? Bist du in Ordnung?« Achmed streckte die Hand aus und drückte Rhapsody ungeduldig beiseite, damit er das Kind des Rakshas sehen konnte. Der dunkelhaarige Lehrling lag noch immer an Händen und Füßen gefesselt da, starrte ihn wütend an und kämpfte gegen seine Stricke. »Lass ihn nicht aus den Augen, nicht einmal für einen Moment«, knurrte Achmed. Rhapsody wand das Seil in ihrer Hand zu einer Schlinge und schlug es plötzlich wie eine Peitsche. Es traf den Lehrling an den nackten Beinen und entlockte ihm einen unterdrückten Wutschrei. Er zuckte unter dem Schlag zusammen, dann lag er ganz still da. »Was ist passiert?«, flüsterte sie erneut. »Der andere Herzschlag ist dort unten.« »In dem Brunnen?« »Nein, noch tiefer.« Achmed wischte sich über die Brauen; sein Gesicht war bleich im Schein der Brennfeuer. »Dieser Schacht, dieser Brunnen ist nur ein Eingang. Am Boden gibt es einen langen horizontalen Tunnel geziegelt, mehr als eine halbe Meile lang, so etwas wie eine Katakombe. In Richtung Südwesten.« Er hatte sein zweites Gesicht losgeschickt; es war durch den dunklen, engen Gang gehuscht und hatte Platzangst in ihm verursacht, doch das war nichts gegen den Anblick gewesen, der am Ende des Tunnels auf ihn gewartet hatte. »Bleib liegen und beweg dich nicht«, befahl Rhapsody der Dämonenbrut. Das Kind kämpfte immer noch gegen seine 94 Fesseln an und machte zischende, gurgelnde Drohlaute. Sie beachtete den Jungen nicht, sondern ging bis zum Rande des Schachts. »Warum diese Heimlichtuerei? Was machen sie da unten?« »Es sind menschliche Ratten, zweifellos die ›Sklavenjungen‹, von denen vorhin die Rede war. Einer von ihnen hat den anderen verseuchten Herzschlag, aber es ist schwer, sie voneinander zu unterscheiden, weil sie in Schlamm gebadet sind und bis zu den Knöcheln im Wasser stehen. Ich vermute, dass sie es sind, die den Tunnel graben; möglicherweise ziegeln sie auch die Wände.« Er wandte sich an den blonden Lehrling, der mit schreckensweiten Augen über seinen Knebel hinwegstarrte. »Was glaubst du? Klingt das verständlich für dich?« Der Junge nickte. Seine Augen waren glasig vor Schrecken. »Welch ein hilfsbereiter junger Welpe du bist. Ich glaube, ich lasse dich leben.« »Aber warum ziegeln sie den Tunnel?«, fragte Rhapsody und beugte sich in dem Versuch vor, bis zum Boden des Schachtes zu sehen. »Und warum ist der Tunnel so eng, wenn sie bloß Lehm für ihre Ziegel daraus fördern sollten? Wenn sie ihn breiter gemacht hätten, müssten sie nicht so weit graben.« »Vielleicht kann uns das unser neuer Freund sagen«, schlug der König der Firbolg vor. »Irgendeine Idee?« Der Lehrling schüttelte rasch den Kopf und zuckte übertrieben heftig die Achseln. Achmed stieß verärgert die Luft aus. »Sie sind ganz tief da unten, Rhapsody. Einige von ihnen schlafen in der Mitte des Tunnels und die übrigen am Ende, das etwa eine halbe Meile entfernt liegt. Von hier aus kann man gar nichts sehen.« »Wie viele sind es?« Achmed rieb sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Langsam löste er seinen eigenen Puls von dem Herzschlag des finster blickenden Lehrlings, der noch immer gegen seine Fesseln ankämpfte, und richtete den Blick auf die Glocke neben dem offenen Brennofen. »Schwer zu sagen. Das Wasser verschleiert sie. Du weißt, wie sehr ich Wasser liebe.« Rhapsody nickte und trat von dem Alkoven zurück. Achmed sah sie an, als ihr Gesicht plötzlich im flackernden Licht der Öfen blass wurde. Die Feuer wurden unvermittelt lebendig, als der Schrecken über ihr Gesicht flog. »Bei den Göttern«, flüsterte sie. Sie ging rasch hinüber zu Achmed und flüsterte ihm ins Ohr: »Wasser. Unter der Entudenin. Das ist es, was sie hier tun sie graben einen Tunnel zu der Arterie, die früher die Entudenin gewesen ist.« Achmed warf einen Blick auf die gewaltige Metallscheibe, die gegen die Wand des Alkovens lehnte. »Es ist tatsächlich ein Brunnen eine Wasserleitung«, sagte er. »Sie bauen eine Wasserleitung, um das Wasser von der Quelle herzuleiten, die früher den Geysir gespeist hat. Eine gute Idee; sie sollte sich als unglaublich gewinnträchtig erweisen, falls sie vorhaben, das Wasser zu verkaufen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass der Herzog das erlauben würde.« »Das ist wohl der Grund, warum sie es im Geheimen tun«, fügte Rhapsody hinzu und warf einen nervösen Blick über die Schulter auf die gefesselten Lehrlinge. Der blonde Junge und Omet sahen sie hoffnungsvoll an, während die Dämonenbrut knurrte und am Rande ihres Knebels vorbeispuckte. »Deshalb benutzen sie Sklavenkinder für die Grabungsarbeiten«, sagte Achmed schroff und rollte den dunkelhaarigen Lehrling mit einem raschen Fußtritt auf den Bauch. »Niemand sonst würde diese gefährliche Arbeit machen.« Rhapsody erzitterte. »Sobald sie zur Arterie durchstoßen, sind diese Kinder tot«, sagte sie. »Es heißt, die Kraft der Entudenin sei groß genug gewesen, um am ersten Tag des Wasserzyklus einem Mann das Rückgrat zu brechen. Stell dir nur die Gewalt vor, die sie haben wird, wenn sie durch den ersten Riss im Lehm schießt.« Achmed ging wieder hinüber zum Alkoven und spähte den Schacht hinunter. »Wenn jetzt schon Wasser dort unten ist, haben sie bereits die Wasserader angestochen. Sie hatten Glück, im Niedrigstand des Zyklus auf sie zu treffen die Zeit des Schlummers, wie es deine Überlieferungen genannt haben. Wenn das Erwachen stattfindet, wird das Wasser her vorschießen. Also sollten wir das andere Kind sofort herausholen.« »Kind? Du meinst Kinder. Achmed, wir müssen sie alle dort herausholen.« Der Fir-Bolg-König rollte mit den Augen. Er zog sein langes, dünnes Schwert aus serenischem Stahl und gab es ihr. »Kneble den Glatzköpfigen. Wenn einer von ihnen sich auch nur um Haaresbreite bewegt, während ich fort bin, schneidest du ihm die Kehle durch«, sagte er in der orlandischen Mundart, damit er sicher sein konnte, dass die Lehrlinge ihn verstanden. Achmed wartete, bis er sicher war, dass Rhapsody alle drei Lehrlinge gleichzeitig bewachte, bevor er sich in den Brunnenschacht hinabließ. Die Ziegel waren glatt und schlüpfrig, und Achmed musste beide Arme und Beine ausstrecken, um sich gegen die Schachtwand abzustützen. Mit qualvoller Langsamkeit kletterte er den vertikalen Tunnel hinab. Am Boden des Brunnens nahm er zuerst den einen und dann den anderen Fuß von der Wand und sprang vorsichtig auf den mit zerbrochenen Brettern und Lehmablagerungen übersäten Ziegelboden. Er bückte sich und starrte in den dunklen Tunnel, der sich in eine noch schwärzere Dunkelheit bohrte. Einige Augenblicke später zog er sich wieder hoch und kehrte zu Rhapsody zurück, die im zuckenden Licht der Brennfeuer stand. Die Scheite unter den großen Lehmfässern brannten unbeaufsichtigt zu Asche herunter und der Lehm wurde allmählich immer dicker. »Da kann man nichts machen, ich passe nicht in die Wasserleitung«, sagte er und bürstete sich den Lehm vom Mantel. Er beobachtete sorgsam ihr Gesicht im unbeständigen Licht und wusste, was nun kommen würde. »Könnte ich hindurchpassen?« »Ja«, sagte er ruhig und überlegte. »Es wäre wieder so, wie an der Wurzel entlangzukriechen.« Er hatte erwartet, dass sie schauderte, doch sie nickte bloß und legte ihr Gepäck ab. »Vielleicht noch enger«, fügte er hinzu. »Ich verstehe. Kannst du mich hinunterlassen? Meine Arme sind nicht lang genug, um auf deine Weise hinunterzuklettern.« Achmed warf einen raschen Blick durch den Brennraum. Die Dämonenbrut war in dumpfe Stille verfallen und lag immer noch mit dem Gesicht nach unten auf dem schmutzigen Boden. Die Kohlen unter den auskühlenden Fässern warfen zuckende Schatten, die seine Züge verzerrten. Die anderen beiden Lehrlinge lagen in seiner Nähe, waren starr vor Angst und beobachteten Achmed eindringlich. Er deutete auf das erste Fass. »Wenn du je eine Statue von dir haben wolltest, solltest du dich jetzt auf den Weg machen.« Er drehte sich um und ergriff einen Stab mit einem Haken daran, der offensichtlich dazu benutzt wurde, Lehmkübel aus dem Schacht zu ziehen. Achmed hielt ihn über das Loch. Rhapsody trat auf den Haken und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Ihr Blick war ruhig, auch wenn ein heller Glanz in ihren Augen lag. »Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte er leise auf Bolgisch. »Bleibt uns eine andere Wahl? Außerdem bin ich die Iliachenva’ar. Es ist meine Pflicht, Licht an einen dunklen Ort zu bringen.« Achmed schnaubte und ließ den Stab hinab. »Vielleicht solltest du mir dann dein Schwert mit der Breitseite in den Kopf stecken. Dort hat es schon seit langer Zeit keine Erleuchtung mehr gegeben, und seit du mich in deinen Kreuzzug verwickelt hast, fehlt jeglicher Verstand. Beeil dich. Und denk daran: Bring die kleinen Bastarde beim geringsten Zögern oder der leisesten Drohung um. So lautet unsere Abmachung.« »Ja, so lautet unsere Abmachung.« Ihr Lächeln war einen Herzschlag lang so strahlend wie ihre Augen, doch dann verschwand es in der trüben Dunkelheit am Boden des Brunnenschachts. Einen Augenblick später wurde der dunkle Schacht von einem grellen, pulsierenden Lächeln und einem Summen erfüllt, das wie silberner Hörnerschall klang. Achmed warf einen Blick über den Rand des Brunnens. Rhapsody sah ihn vom Boden aus an und hielt die Tagessternfanfare in der Hand. Das Schwert aus dem miteinander verschmolzenen Feuer und Sternenlicht brannte hell und schickte funkelnde Lichtwellen durch das geziegelte Loch in den Brunnen wie auch in den Tunnel. Sie lächelte erneut, watete dann zu dem Loch im Schacht und kroch in den Tunnel, wobei sie das Schwert wie eine Fackel vor sich hielt. Achmed sah zu, wie das gleißende Licht der Tagessternfanfare im Tunnel zu einem schwachen Glimmern wurde. Er drehte sich gerade rechtzeitig um und bemerkte, wie sich das Kind des Rakshas auf die Seite drehte und in die Kohlen rollte, die unter einem der dampfenden Lehmfässer brannten. Achmed schlug mit der Stange zu, aber es war zu spät. Ein Schauer aus brennenden Kohlen sprühte ihn an, während sich die Dämonenbrut im Feuer von den Beinfesseln befreite und die Kohlen und den brennenden Dung unter dem Fass hervortrat. Dann kroch der Junge unter dem heißen Metall des Kessels hindurch zur anderen Seite. Achmed hörte die erstickten Schreie der Lehrlinge hinter ihm. Vermutlich hatten sie eher Angst als Schmerzen, als die Funken auf den schmutzigen Boden trafen und in staubigen Rauchfahnen erloschen. Achmed sah, wie der Junge unter dem Fass die Hände in die feurigen Kohlen steckte und auch die letzten Fesseln löste. Dann zog sich der Lehrling noch weiter hinter den Kessel zurück; das Feuer hatte ihn offenbar nicht verletzt. Achmed stieß den langen Stab unter das Fass und versuchte, einen Fuß des Jungen zu erwischen, doch er hatte kaum Zeit, zur Seite zu springen, als der Junge an der Kette des Kessels zog, das gewaltige Gefäß umstülpte und den kochenden, schlammigen Inhalt auf den Boden kippte. Rasch schwang Achmed den Stab nach dem näheren der beiden Lehrlinge, dem kahlköpfigen Jungen rechts von dem Alkoven, und erwischte ihn an den Handfesseln. Daran zog er ihn aus dem heißen Schlammstrom. Der andere Lehrling, der unmittelbar im Weg des kochenden Lehms gelegen hatte, wurde innerhalb weniger Sekunden unter der Schlacke begraben. Seine blonden Haarlocken verschwanden in dem dampfenden Dreck, als die schlammige Flüssigkeit seinen Körper verschluckte, ihm in Bruchteilen einer Sekunde erst den Mund, dann die Nase und schließlich die Augen füllte und ihn damit erstickte. Mit einem heftigen Zittern ließ Achmed den bebenden Lehrling vom Haken der Stange. Der Junge keuchte vor Furcht und kauerte hinter einem Haufen zerbrochener Ziegelbretter. Achmed drehte sich um und sah, dass die Dämonenbrut nun an der anderen Seite des umgekippten Fasses in der Nähe des Ofens stand und eine Form nach der gusseisernen Glocke warf. Der schwere Gegenstand schlug gegen die Glocke und erzeugte einen lauten, schwingenden Ton, dessen Wellen Achmed Haut und Augenlider zerrissen und Schmerzstiche bis zu den Haarwurzeln schickten. Er schluckte seine Wut herunter, durchquerte mit einem Sprung den Raum zwischen ihm und dem Dämonenkind und schlug diesem gegen die Schulter, als es den Wurfarm senkte. Er hörte das Krachen, als das Schlüsselbein brach. Der schwarzäugige Lehrling keuchte laut auf. Zum ersten Mal bemerkte Achmed, dass der Junge Schmerzen litt, doch einen Moment später erkannte er, dass es auch ein Schock gewesen sein konnte. Der Junge blickte in Richtung des Gesellenflügels, wandte sich dann wieder ab und starrte Achmed an. Er machte sich zum Sprung bereit, hatte aber kaum Zeit, einem zweiten Stabhieb auszuweichen. Der schwere Eisenhaken zerschmetterte ihm das Handgelenk und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der anmaßende Blick in den Augen der Dämonenbrut verschwand und hinterließ nichts als Panik. Einen Moment lang versteifte er Arme und Beine, dann schoss er auf die leeren Ziegelbretter zu und suchte verzweifelt nach Schutz. Doch Achmed war zu schnell für ihn. Er schwang den Stab in die andere Richtung und erwischte den Lehrling mit solcher Gewalt an den Rippen, dass der Stab zerbrach. Der Bolg-König trieb das Ende des Stabes erneut in die Schulter des Jungen und schleuderte ihn so mit voller Kraft auf den Boden vor dem offenen Ofen. Bevor der Junge Atem holen konnte, war Achmed über ihm, packte seinen Seilgürtel und sein versengtes Hemd und warf ihn durch die Öffnung. Wegen der gebrochenen Hand und Schulter bot er nur wenig Widerstand. Achmed verschloss die Tür fest und legte den Riegel vor; dann wischte er die noch heiße Asche von seinen Handschuhen. Er lauschte. Einen Augenblick später hörte er sie kommen. Schritte und Alarmrufe drangen aus den Quartieren der Gesellen. Achmed sah sich rasch in dem Raum um und maß die Schatten ab. Ein besonders tiefer lag hinter dem letzten Ofen, neben dem eine Reihe Töpferwaren in verschiedenen Stadien des Brennens standen und ein dunkles Labyrinth bildeten. Er tauchte in den Schatten, als die dröhnenden Stiefelschritte näher kamen. In den Raum stürmte ein Trupp Männer, mehr als ein Dutzend, einige davon sehr stämmig. Die meisten versuchten, mit schlaftrunkenen Augen die Verwüstungen in der Brennkammer zu begreifen. Diejenigen am Kopf der Gruppe waren entsetzt über den umgestürzten Kessel und den Hügel aus härtendem Lehm auf dem Boden. An ihren Ausrufen erkannte Achmed, dass sie glaubten, wegen eines schrecklichen Unfalls gerufen worden zu sein. Dann entdeckten sie Omet gefesselt und geknebelt hinter den zerbrochenen Ziegelbrettern. Darauf setzte ein großes Schweigen ein, während die nun bewaffneten Gesellen den Raum absuchten. Achmed griff hinter seinen Rücken und zog still die Cwellan, die asymmetrische, armbrustähnliche Waffe eigener Herstellung, und lud sie lautlos mit einigen Scheiben. Leise glitt er an der Wand neben dem Labyrinth aus Regalen entlang, denn er wollte seine Angriffsposition eingenommen haben, bevor die Gesellen seine Gegenwart bemerkten. Es dauerte länger, als er erwartet hatte. Beinahe eine ganze Minute verging, bevor das Murmeln zu einem plötzlichen Ende gelangte und einer der dünneren Männer nach der Glocke sprang. Achmed trat aus dem Schatten, feuerte drei rasiermesserscharfe Scheiben, die so dünn wie Springmesserklingen waren, aber aus gezacktem Stahl bestanden, in den Nacken des Mannes und trennte ihm so den Kopf vom Rumpf. Der Körper beschrieb einen Halbkreis, bevor er zu Boden sackte. Die Waffe, die er in der Hand gehalten hatte, schlug gegen einige der steinernen Gussformen auf dem schlammigen Boden. Einen Augenblick später starben zwei weitere Gesellen, gefällt von den tödlichen Scheiben. Dann trat Achmed wieder in die Schatten. Die Gesellen zerstreuten sich wie Ratten, in deren Nähe plötzlich eine Laterne angezündet wird, und flohen in alle Ecken des Brennraums. Achmed zählte sie still; er hatte dreizehn hereinkommen sehen und drei ins Jenseits befördert. Also musste er sich noch um zehn weitere kümmern. Er war eindeutig im Vorteil; das gefiel ihm. Still kroch er durch die Schatten, die sich über die Wand in Richtung Alkoven schlängelten, und kam an der Stelle vorbei, wo der gefesselte Lehrling noch immer hinter den Brettern kauerte. Achmed blieb lange genug stehen, um auf den an Armen und Beinen verschnürten Jungen hinuntersehen zu können die Gesellen hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu befreien , und legte den Finger vor die Lippen. Der Lehrling bewegte sich nicht und gab keinen Ton von sich, sondern blinzelte nur und zeigte so, dass er verstanden hatte. Langsam umrundete Achmed den Jungen, den Rhapsody Omet genannt hatte, und etliche zerbrochene Ziegelbretter, bis er an den Rand des neuen Schlammberges kam. Der Schatten eines Mannes mit einem langen Messer lauerte in der Öffnung des Alkovens und wartete auf Achmed, um ihn von hinten zu erdolchen. Achmed lehnte sich gegen die Außenwand und lauschte dem abgerissenen Atmen der Gesellen auf der anderen Seite. Er betrachtete die Schatten der vier verbliebenen Fässer und der beiden offenen Öfen und wartete, bis ein besonders heller Schein gegen die Wand fiel. Als das Licht anbrandete, streckte er die Faust aus und warf einen verlängerten Schatten in den Alkoven. Wie er erwartet hatte, sprang der Geselle hervor und stach nach dem Schatten. Er traf auf kein festes Ziel, sondern erhielt von Achmed einen raschen Tritt gegen das Schienbein. Der Mann taumelte mit weit hervorquellenden Augen an den Rand des Schachtes. Er warf wild die Arme umher, verlor dann den Kampf gegen die Schwerkraft und fiel kopfüber in den Brunnen. Ein Schrei ohne jede Spur von Männlichkeit folgte ihm hinunter und endete in einem beeindruckenden Crescendo aus scheppernden Eimern und zerbrechenden Brettern. Aus der Ferne drang Rhapsodys Stimme den Schacht hoch. »Was ist da oben los?« Achmed schwenkte herum und feuerte mit der Cwellan in die hinterste Ecke neben der zweiflügeligen Tür. Silberne Scheiben drehten sich durch die Feuerschatten und fingen das Licht ein. Ein schwerer Körper brach im Türrahmen zusammen. »Entschuldige«, rief er in den Brunnen hinein. »Habe etwas fallen gelassen. Mach weiter.« »Versuch, leiser zu sein«, hallte die ferne Stimme. »Man könnte dich hören.« Achmed trat über den gefesselten Lehrling und suchte Schutz hinter der offenen Tür des zweiten Ofens neben dem Schattenlabyrinth, in dem, wie er wusste, weitere Gesellen lauerten. »Das würde mir gar nicht gefallen«, murmelte er. Ein Wutgeheul ertönte hinter ihm. Achmed duckte sich und wich dem Angriff des Mannes aus. Er versetzte ihm einen Schlag gegen den Kopf, worauf der Mann bewusstlos zusammenbrach. Achmed kauerte sich neben ein Regal, wartete und beruhigte seinen Atem, bis er kaum mehr wahrzunehmen war. Diese Gegner stellten für ihn eine so geringe Herausforderung dar, dass er keinerlei Kräfte auf sie verschwenden wollte. So wartete er in aller Ruhe, bis die restlichen sieben alle gleichzeitig in sein Blickfeld traten. Noch eine Runde oder höchstens zwei, dachte er. Das spart Scheiben. 8 Als Rhapsody in den Tunnel kroch, fühlte sie sich überhaupt nicht an ihren Weg entlang der Wurzel erinnert. Im Gegensatz zur feuchten Dunkelheit der Sagia, deren Umhüllung ungleichmäßig hoch und voller faseriger, haarähnlicher kleinerer Wurzeln gewesen war, hatte man den Tunnel sorgfältig und gleichmäßig geziegelt, sodass er eher einem Aquädukt in Canrif glich einem Teil des großartigen Belüftungs- und Bewässerungssystems, das Gwylliam entworfen und in den Berg gebaut hatte. Außerdem brannte die warme und stetige Flamme der Tagessternfanfare über dem schlammigen Wasser, durch das sie watete, und erleuchtete die Tunnelwände wie der helle Tag. Sie verdrängte alle Gedanken an Eingeschlossensein und Tiefe und konzentrierte sich stattdessen auf das ätherische Licht unter den Flammen des Schwertes. Sie starrte so gebannt auf die Waffe und war so sehr damit beschäftigt, ihre Panik im Zaum zu halten, dass sie kaum die beiden glitzernden Augen in der fernen Dunkelheit vor ihr wahrnahm. Sobald Rhapsody sie bemerkte, blieb sie stehen. Die Flammen des Schwertes, die durch ihren Pakt mit dem Elementarfeuer eng an sie gebunden waren, schössen zusammen mit ihrer Erregung auf. Ein Kreischen der Angst und Qual hallte durch die Katakombe, als das Sklavenkind, das vom Graben und Leben in der endlosen Dunkelheit blind geworden war, die Augen bedeckte und schluchzend davonhuschte. Rasch steckte Rhapsody das Schwert in die Scheide und löschte so das Licht. Sie verspürte Gewissensbisse, weil sie nicht daran gedacht hatte, welchen Schrecken ein Leuchten denen bereiten mochte, die an diesem Ort der unendlichen Nacht lebten. »Alles in Ordnung«, rief sie sanft in den Tunnel hinein. »Alles in Ordnung. Es tut mir Leid.« Nur Schweigen und der Klang tröpfelnden Wassers antworteten ihr. Nun selbst blind, ertastete sie sich den Weg über den geziegelten Boden und bemerkte erst jetzt die Ratten, die am Rand des Tunnels entlang liefen, die Schlangen, die sich in den tiefsten Stellen des Rinnsals wanden, und die Würmer. Da das Licht erloschen war, kehrte das Ungeziefer zurück. Die glatte Haut einer Schlange, die ihr über die Hand schoss, erinnerte sie an die schneckenähnlichen, Fleisch fressenden Larven, welche die Wurzel der Sagia heimsuchten, und ließ sie heftig schaudern. Rhapsody schluckte, kroch weiter vorwärts und versuchte in der vollkommenen Schwärze etwas zu erkennen. Vor sich hatte sie raschelnde Bewegungen gehört. Vielleicht waren es nicht nur große Ratten, sondern etwas, das größer als Ratten war. Ihr inneres Band mit dem Schwert, das nun in seiner Scheide aus schwarzem Elfenbein steckte, schien fern und verführerisch. Schwarzes Elfenbein war ein undurchdringliches Material, das keine Schwingungen durchließ und verhinderte, dass alles, was sich innerhalb einer solchen Hülle befand, entdeckt wurde. Das war ein großer Schutz für die Iliachenva’ar. Der Nachteil bestand jedoch darin, dass die Macht des Schwertes sie nicht erreichte und sich seine Kraft nicht mit der ihren verband, wie es der Fall war, wenn die Tagessternfanfare ungeschützt in ihrer Hand lag. Vorsichtig tastete Rhapsody sich durch das schlammige Wasser vor ihr und erschauerte abermals, dann zwang sie sich weiter vorwärts. Die Wände des geziegelten Tunnels waren näher, als es im Licht den Anschein gehabt hatte. Sie hörte ihre eigene Stimme, wie sie in dem feuchten Tunnel entlang der Wurzel dem riesenhaften Sergeant-Major, der damals noch ein Fremder für sie gewesen und heute einer ihrer liebsten Freunde war, gegenüber gestanden hatte: Ich bin Lirin. Und unsereins tut sich schwer unter Tage. Das seh ich. Ihr stülpte sich der Magen um. Sie bekämpfte den Brechreiz, während sich die Welt um sie herum drehte. Wie hat es sich für dich angefühlt!, hatte Elynsynos, die alte Drachin, mit ihrer vieltönigen Stimme gefragt. Hast du als Lirin dich dort, in der Erde, abgeschnitten vom Himmel, wohlgefühlt? Ihre Antwort war jetzt wie damals nur ein Flüstern. Es war wie ein Tod bei lebendigem Leibe. Ihre Arme zitterten. Da sie auf Händen und Knien balancierte, erbebten die Ellbogen unter dem Druck und krümmten sich für einen Augenblick. Sie zuckte nach vorn, fiel mit dem Gesicht voran in das stinkende Wasser und schlug mit dem Kinn auf den nassen Tunnelboden. Rasch richtete sie sich wieder auf. Sie wollte nach Achmed rufen, wie sie es getan hatte, als das Schwert den Tunnel erhellt hatte, nur damit sie seine Stimme hörte, doch sie erkannte gleich darauf, dass sie nicht in Panik geraten und nach Hilfe rufen durfte. Die Sklavenkinder, die irgendwo vor ihr in dem dunklen Tunnel hockten, waren nun still und hatten vermutlich vor Rhapsody genauso viel Angst wie sie vor der Katakombe, den Schlangen und den Ratten. Doch wenn sie auch nur ein Anzeichen von Schwäche zeigte, könnten sie die Gelegenheit ergreifen und sie im Verbund angreifen, denn auf diesem heimatlichen Grund, in diesem dunklen Land, das ihre Wohnstatt war, hatten sie einen klaren Vorteil. Rhapsody zweifelte nicht daran, dass sie hart, grausam und von dem schrecklichen Leben, das sie führen mussten, gestählt waren. Sie könnten Rhapsody in Stücke reißen. Ihr Herz raste. Sie dachte verzweifelt an Grunthor und seine Verbindung zu Erde und empfand den widersinnigen Wunsch, er wäre hier. Kind der Erde, hatte Manwyns Prophezeiung ihn genannt. Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf, spät treten sie in Erscheinung, Die Lebensalter des Menschen: Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels. Wenn ihre Vermutung sich als richtig herausstellen sollte und sie, Achmed und Grunthor die drei Personen aus der Weissagung waren, dann war sie das Kind des Himmels ein Ausdruck, mit dem sich die Lirin selbst zu beschreiben pflegten. Es ist falsch; es ist falsch, dass ich hier bin, dachte sie benommen und kämpfte gegen die wachsende Übelkeit an. Sie sollte an der frischen Luft sein, unter den Sternen und ihre Morgen und Abendlieder in den Himmel singen. Tod lag in der Luft; sie spürte, wie er sie schmutzig und dick umgab. War ein Kind an diesem Ort gestorben, oder vielleicht viele, die der mörderischen Arbeit, den schrecklichen Bedingungen oder dem Luftmangel unterlegen waren? Sie spürte, dass die Kinder nun näher waren. Hatten sie genug Mut gesammelt, um Rhapsody anzugreifen? Feigling, dachte sie, als ihr Zittern stärker wurde. Du bist die Iliachenva’ar, die das Licht in die Dunkelheit trägt. Und du willst dich wie ein Kind im Mutterleib zusammenrollen. Mama, meine Täume jagen mich. Komm in mein Bett und bring Licht mit. Die Worte der Liringlas-Aubade, des morgendlichen Liebesliedes an den Himmel, drängten sich wie von selbst auf ihre Lippen. Zitternd stimmte sie das Lied an und sang leise die Worte, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte Worte, die sie so oft zusammen mit ihrer Lehrerin Oelendra gesungen hatte; Worte, die an einem Platz in ihrer Seele geboren worden waren, der so alt war wie die Zeit selbst. An diesem tiefen Platz spürte sie ein Flackern von Wärme und ein Pulsieren von Licht, als ob sie mit ihren Sinnen das Band berührt hätte, das sie an das Schwert geschmiedet hatte. Der Gedanke verlieh ihr Mut, und sie sang mit etwas festerer Stimme und so laut, dass sie hörte, wie die Töne von den schwarzen Tunnelwänden vor ihr widerhallten. Einen Moment später vernahm sie ein anderes Echo, leiser als das erste und von einer anderen Stimme einer Stimme, die ihr vertraut war, die sie aber nicht erkannte. Einer hohen und verängstigten Stimme. Einer Kinder stimme. Mimen? Dieses Wort klang ihr in den Ohren; es war zögerlich auf Alt-Lirin gesprochen worden, der Sprache der Liringlas, dem Volk ihrer Mutter. Seine Bedeutung war unmissverständlich. Mama? Rhapsody hob den Kopf. Im Tunnel vor ihr erkannte sie schemenhaft einen Kopf, Schultern dürr schienen sie zu sein und hager. Oder vielleicht war es nur ihre Einbildung; die Dunkelheit war so vollkommen, dass ihre Augen keinen Haltepunkt fanden. Sie spürte, wie sie die Luft heftig ausstieß. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie den Atem angehalten hatte. »Nein«, sagte sie leise. »Hamimen.« Großmutter. »Hamimen?« »Ja«, antwortete sie noch immer in der alten Sprache der Liringlas, nun aber lauter und etwas deutlicher. »Wie lautet dein Name, mein Kind?« »Arie.« Der Umriss des Kopfes schwankte in der Dunkelheit. »Soll ich Licht bringen, Arie? Diesmal schwächer?« Ein schlurfendes Geräusch der Kopf zog sich zurück. »Nein! Nein!« Hinter ihm, vorn im Tunnel eine raschelnde Bewegung. »Arie, warte. Ich bin gekommen, um dich aus der Dunkelheit zu führen euch alle.« Schweigen. Verzweiflung verkrallte sich in ihrer Kehle. »Arie?« Es gab keine Antwort. Rhapsody glitt mit der Hand über den Schwertgriff. Sie umfasste ihn und zog die Klinge ein Stück weit aus der Scheide. Rhapsody atmete langsam aus und versuchte sich zu beruhigen. Als sie ihre Gelassenheit wieder fand, brannte das Schwert gleichmäßig; ein leises Flackern strömte aus der Scheide. Die Nachtmahre des Tunnels wichen zurück und tauchten den geziegelten Aquädukt in ein schwächeres Licht als zuvor. Am Rande des Glimmens zweigten vor ihr zwei kleinere Tunnel ab zweifellos das Gebiet, in dem nach Achmeds Angaben die Kinder schliefen. Sie bewegte sich langsam vorwärts, hielt das Schwert neben sich und spähte in die abzweigenden Tunnel. Sie endeten in Nischen, in denen dreckige Stofffetzen, die vielleicht einmal als Laken Verwendung gefunden hatten, in dem schmutzigen Wasser schwammen. Rhapsody bemühte sich, nicht vor dem überwältigenden Gossengestank zurückzuweichen. Ein blondes, langknochiges Kind mit durchscheinender Haut hatte sich gegen die hintere Wand der Nische gedrückt und zitterte vor Angst. Rhapsodys Kehle wurde trocken, als die Erinnerung kam. Es war dasselbe ätherische Aussehen, dieselbe zarte Gesichtsbildung, die auch ihre eigene Mutter ausgezeichnet hatten. Doch da war noch etwas, etwas beinahe Wildes, die Andeutung eines nichtmenschlichen Vaters. »Arie«, sagte sie sanft, »komm zu mir.« Das Kind schüttelte den Kopf und drehte das Gesicht zur Wand. Rhapsody kroch noch ein paar Schritte vor und blickte dann hinunter auf ihre Arme. Das Wasser stand ihr nun bis zu den Ellbogen. Von Angst befeuerte Ungeduld überkam sie. »Komm endlich, Arie!« Das Kind zitterte nun noch heftiger. Plötzlich überkam sie ein Gedanke. Sie kroch auf Händen und Knien rückwärts aus der Nische. Sobald sie in einer gewissen Entfernung zu dem Kind war, sang sie ein Kinderlied aus Serendair. Es war eine Melodie, die sie scherzhaft auch Grunthor einmal vorgesungen hatte. Wach auf, kleiner Mann, Lass die Sonne in die Augen Der Tag lockt dich zum Spiel heraus. Sie wich noch weiter zurück und webte ihren Zauber in die Töne und Wörter des alten Liedes. Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Rhapsody sah am Rande des hellen Flammenglanzes, den das Schwert ausströmte, neue Gesichter erscheinen und hörte Bewegungen. Sie nickte knapp und zog sich weiter zurück, wobei sie sang: Lauf, kleiner Mann, Zu des Himmels Ende, Wo die Nacht den Kamm des Tages berührt. Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Weiter hinten im Tunnel erschienen noch mehr Gesichter. Sie glänzten im schwachen Licht, waren ausgezehrt und wie die Geister, die manchmal durch ihre Träume pirschten. Noch immer kroch sie zurück und sang ihr verzauberndes Lied. Spiele, kleiner Mann, Bis du weise wirst, Und jage deinen Träumen nach. Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Als Rhapsody den Brunnenschacht erreicht hatte, krabbelte eine kleine Herde abgerissener dürrer Jungen jeder Größe, etwa zwölf an der Zahl, hinter ihr her und füllte den Tunnel so aus, dass Rhapsody nicht mehr erkennen konnte als Köpfe und Gesichter, blass unter den verschmierten Masken aus rotem Dreck, mit hervorquellenden, umwölkten Augen und alle waren nackt. Menschliche Ratten hatte Achmed sie genannt. Sie hatte bisher keine Vorstellung davon gehabt, wie zutreffend dieser Ausdruck war. Eine Rampe aus Ziegelbrettern und anderem Abfall aus dem Brennraum war in den Brunnenschacht eingebaut worden, um die Aufgabe des Hakens zu übernehmen erst später würde Rhapsody herausfinden, dass sie den Leichnam des Gesellen verbarg, der kopfüber in den Schacht gestürzt war. Achmed starrte sie von oben herab an. Er warf einen kurzen Blick auf die scheinbar endlose Reihe dreckiger Kinder, stieß die Luft aus, nahm ein Seil, das neben ihm gelegen hatte, und warf ihr das eine Ende zu. »Warum hat das so lange gedauert? Heb schnell die Bälger hoch; wir müssen von hier verschwinden.« Rhapsody packte das Liringlas-Kind, das unter ihrer Berührung zusammenzuckte, sich aber nicht losriss, und ergriff das Seil, das Achmed ihr zugeworfen hatte. »Hattest du Schwierigkeiten mit der Dämonenbrut?«, fragte sie, während sie das Seil um Arics Hüfte schlang und ihm auf die Rampe half. Sie hielt ihn fest, bis Achmed ihn aus dem Schacht zog. »Nur ein bisschen«, sagte er lässig. »Er steckt im Brennofen.« Rhapsody wirbelte herum und starrte den Brunnenschacht hoch. »Im Brennofen?« »Setz dich dort hin«, befahl Achmed dem ersten Kind und deutete auf Omet, der sich zwar wieder auf seiner Pritsche befand, aber immer noch an Händen und Füßen gefesselt war. Er beugte sich wieder über den Abgrund. »Ja, im Brennofen. Wie du und einige andere verfluchte Häscher seines dämonischen Vaters scheint er unempfindlich gegen die Auswirkungen des Feuers zu sein und auch Schmerzen sehr gut ertragen zu können. So lange er genug Luft hat, sollte es ihm dort drinnen ganz gut gehen.« Mit neuem Schwung zog Rhapsody den nächsten Jungen hervor und band ihm das Seil um. »Wie lange ist er schon da drin?«, fragte sie nervös. Achmed zerrte an dem Seil und zog das Kind rasch die Rampe hoch. »Eine Weile. Beeil dich, wenn du willst, dass ich ihn heraushole, bevor er zu einer Vase geworden ist.« Hintereinander bestiegen die Kinder in völligem Schweigen die Rampe. Als der Letzte draußen war, warf Achmed das Seil noch einmal hinunter und zog Rhapsody aus dem Schacht in den Alkoven. »Was, um alles in der Welt, ist hier geschehen?«, fragte sie und sah sich entsetzt in dem Brennraum um. Sie starrte auf den Berg aus erkaltendem Lehm und die säuberlich aufgestapelten Körper an der Außenmauer des Alkovens. Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Hättest du sie nicht wenigstens aus dem Blickfeld räumen können? Sieh doch nur, wie verängstigt die Kinder sind.« »Genau. Wenigstens hat keines von ihnen mich belästigt oder Lärm gemacht, während ich die anderen hochgezogen habe.« Er durchschnitt Omets Fesseln mit seinem Dolch, stellte sich dann neben Rhapsody und deutete auf die Tür, durch welche die Gesellen hereingekommen waren. »Wo die hergekommen sind, gibt es noch hundert andere. Sie schlafen in Schichten in den Baracken hinter diesem Eingang. Außerdem nehme ich an, dass jemand diesen Ort sehr genau beobachtet, wenn man bedenkt, wie nahe sie ihrem Ziel sind. Wir haben keine Zeit mehr, uns um diese Kinder zu kümmern. Wem immer dieser Ort gehört, er wird nicht begeistert sein, dass wir sie befreit haben. Jetzt, wo du unsere Lage kennst, möchte ich vorschlagen, dass du die Dämonenbrut aus dem Ofen holst er sollte inzwischen hübsch braun sein und wir in aller gebotenen Eile verschwinden. Die Hoffnung, lebend hier herauszukommen, wird mit jeder Sekunde geringer. Das meine ich ernst, Rhapsody. Du weißt, dass ich nicht zu Übertreibungen neige.« Rhapsody nickte und eilte zu dem geschlossenen Ofen, zog den Riegel zurück und öffnete die Tür weit. Die Dämonenbrut war im hinteren Ende bewusstlos zusammengesackt und atmete sehr flach. Diejenigen Sklavenkinder, deren Augen sich an das flackernde Licht gewöhnt hatten, beobachteten erstaunt, wie sie in den rot glühenden Ofen kletterte, den Jungen packte und ihn an den Füßen hinauszog. Sie untersuchte ihn oberflächlich und zerrte ihn dann hinüber zu Omets Pritsche, wo sich die Sklaven zusammengedrängt hatten. »Fasst ihn nicht an, wenn es nicht unbedingt sein muss. Er ist noch heiß, und ihr würdet euch verbrennen. Wartet, bis er abgekühlt ist«, sagte sie in orlandischem Dialekt zu den Jungen. »Aber wenn er sich bewegt, springt alle auf ihn und setzt euch auf seinen Rücken.« Sie warf einen Blick zurück auf Achmed. »Wie kommen wir hier heraus?«, fragte sie auf Bolgisch. »Durch dieselbe Hintertür wie bei unsere Ankunft. Wir können durch die innere Gasse gehen auf dieser Seite des Gebäudes gibt es keine Fenster und durch die Hinterhöfe aus der Stadt verschwinden. Wir könnten sie zu den nördlichen Außenposten von Ylorc mitnehmen ...« Er hob die Hand, um ihrem Widerspruch zuvor zu kommen. »Darüber reden wir später. Jetzt ist keine Zeit dazu.« »Einverstanden. Aber etwas muss ich noch tun, bevor wir gehen. Ich muss den Tunnel schließen. Ansonsten wird es bald eine neue Sklavengruppe geben, die dort so lange hinuntergeschickt wird, bis sie durchbrechen, wenn es nicht schon so weit ist. Ich will nicht, dass für dieses selbstsüchtige Vorhaben eine ganze Gruppe Kinder ertrinkt.« Achmed ging hinüber zu der Dämonenbrut, bückte sich und maß seine Körpertemperatur. Dann fesselte er das Kind grob an Händen und Füßen, wobei er dem herabbaumelnden Handgelenk und dem gebrochenen Schlüsselbein keine Beachtung schenkte. Er nahm den Jungen auf und warf ihn sich über die Schulter. »Und wie willst du das schaffen? Grunthor ist nicht hier.« »Ich weiß. Gib mir genau fünf Minuten. Ich verspreche, dass es auf keinen Fall länger dauern wird.« Achmed schüttelte den Kopf, während er die Sklavenkinder herbeirief, die sofort von der Pritsche sprangen und sich vor ihm aufstellten. »So viel Zeit bleibt uns möglicherweise nicht.« »Dann geht. Ich hole euch schon wieder ein. Los.« Sie beachtete den harten Blick nicht, den er ihr schenkte, sondern rannte zur Tür und sprach das Wort der Stille aus. Die Tür öffnete sich ohne einen Laut. Der Auszug der Sklavenjungen war gleichermaßen still, doch das lag wohl an dem Entsetzen, das der Anblick von Achmeds Gesicht bei ihnen hervorrief. Sobald alle im Vorraum der Ziegelei waren, ging Rhapsody zurück in die Brennkammer. Sie starrte einen Moment lang auf das Gemetzel; dann ging sie zum ersten der vier verbliebenen Fässer, kippte es um und schüttete den Inhalt auf den Boden. Wie ein schlammiger Fluss strömte er in den Alkoven. Sie ging zum nächsten Fass, dann zum übernächsten, zog grimmig an den Ketten und hielt sich von dem Strom des glühenden Schlammes fern. Als genug in den Alkoven geflossen war, um den Brunnenschacht bis zum Rand aufzufüllen, zog sie ihr Schwert. Die Flammen der Tagessternfanfare tanzten in der schattigen Dunkelheit und leuchteten mit großer Macht. Sie loderten tausendmal heller als die Feuer, die nun unter den großen Öfen heruntergebrannt waren. Inmitten der Lehmströme schloss Rhapsody die Augen und suchte in ihrer Seele nach dem Band zu der Waffe und dem Elementarfeuer, das zum Mittelpunkt ihres Seins geworden war, seit sie im Herzen der Erde durch die Feuerwand geschritten war. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Brunnenschacht, in dem nun der flüssige Lehm gurgelte, und hob langsam das Schwert, bis es auf den Alkoven deutete. »Luten«, sagte sie mit starker Befehlsgewalt. »Backe.« Ein Flammenbogen schoss aus dem Schwert hervor und erfüllte den Alkoven mit einer Hitze, die weit größer als in den Brennöfen war; sie war heißer und heller als das Licht der Sonne. Rhapsody spürte, wie ein Schauer sie durchlief, als das Feuer in den Alkoven zischte und innerhalb von Sekunden den Lehm härtete. Der Schacht war nun mit einem unnachgiebigen Pfropfen verstopft, der so hart wie die Keramiksäulen von Manwyns Tempel war. Das obere Ende des Schachtes glühte rot und sank dann zur stumpfen Farbe gebrannten Tons herab. Das ist alles, was ich tun kann, dachte sie, steckte das Schwert in die Scheide und beeilte sich, zu Achmed und den Jungen aufzuschließen. Für die Jungen und die Entudenin. Als sie sich in jener Nacht aus Yarim Paar fortstahlen, an den yarimesischen Wachen mit ihren gehörnten Helmen vorbeischlichen und durch die Gassen einer Stadt huschten, die wie ein trunkener Taugenichts oder ein überwinternder Bär im Schlafe lag, hielt Rhapsody einen Moment lang inne und warf einen Blick zurück auf die ausgetrocknete Fontäne und den toten Quellobelisken. Mögest du eines Tages wieder lebendig werden, dachte sie, und Yarim zu neuer Blüte führen. Obwohl sie viele Straßen entfernt war, glaubte sie in dem stumpfen roten Lehm ein kurzes Schimmern wie das Zwinkern eines Sterns zu sehen. 9 Auf den Krevensfeldern, südliches Bethania Der heilige Mann hatte das Gesicht zur Sonne gerichtet und stand am Rande des Winters und der Krevensfelder. Die Berge von Sorbold hatten sie in die südöstliche Ferne wie in einen Albtraum zurückgezogen. Nun lag die endlose, frostige Ebene vor ihm, und der Himmel dehnte sich an allen Seiten bis zum blauen Rand des Horizonts, der nicht mehr von klauenähnlichen Erdhügeln unterbrochen wurde. In der Jahreszeit des Mondes brach die Nacht schneller herein; eine rote Sonne brannte am Rande der Welt und tauchte die Weiden in blutiges Licht, das sich immer weiter ostwärts erstreckte. Er lächelte. Wie prophetisch. Seine Gardisten lagerten in einiger Entfernung um ein kleines Feuer im gefrorenen Gras und bereiteten ihr Abendessen vor. Er hatte sie um Nachsicht gebeten und ging langsam zum Rand eines tiefen Tales, angeblich um Luft zu schöpfen. Nun stand er allein und ungestört da und beobachtete, wie der westliche Horizont unter der herannahenden Nacht ein immer dunkleres Rot annahm. Seit beinahe dreihundert Jahren lagen diese Ländereien brach. Es waren weite, fruchtbare Weidegebiete, in denen sich in späteren Jahrhunderten hier und da Bauern niedergelassen hatten. Diese unerschrockenen Siedler waren in Gruppen von vier bis sechs Familien gekommen, trotzten den bitterkalten Winterwinden sowie den sommerlichen Buschfeuern und lebten unter dem endlosen Himmel. Ohne Ausnahme waren diese Siedler Neuländler, Einwanderer aus dem Süden oder Westen, die keinen Tropfen cymrisches Blut in den Adern hatten. Wenn sie es gehabt hätten, wäre ihnen nicht einmal der Gedanke gekommen, sich hier niederzulassen oder gar Häuser zu bauen und ihre Kinder auf dieser verfluchten Erde großzuziehen. Die Zeit hatte die meisten Wunden aus dem cymrischen Krieg verwischt. In Tyrian und Sorbold waren die großen Schlachten zu scheußlichem Gemetzel und rücksichtslosen Blutbädern ausgeartet und hatten die Erde unter den unzähligen Gefallenen rot gefärbt. In den nachfolgenden Jahrhunderten jedoch hatte der Wald in Tyrian jene Orte zurückerobert, an denen sich keine lirinsche Seele zum Schlaf niedergelegt hätte. Außer in stürmischen Nächten hatte der Gesang des Windes in den Blättern der neuen Bäume das Gewisper der Schlachtfeldgeister übertönt. Doch bei Sturm versammelten die Lirin-Väter ihre Nachkommen um die warmen Herde ihrer Langhäuser und erzählten ihnen Geschichten von Kriegshexen Gespenster von Witwen, die auf ewig über den Boden des Gemetzels schwebten und ihre Soldatenmänner beweinten, welche noch länger tot waren als sie selbst. Im Süden, in Sorbold, hatten die Berge die Kriegspässe wieder für sich beansprucht. Im Norden, so hieß es, hatte das Blut der Toten Yarims Lehm seine rubingleiche Tönung gegeben; die rote Farbe des Flusses rührte angeblich vom Blut her. Jeder Überlebende aus der Ersten Generation wusste, dass dies eine Legende war. Yarims Boden und Fluss waren seit unvordenklichen Zeiten rot gewesen; der Grund dafür waren die Ablagerungen von Mangan und Kupfer im Vorgebirge der nördlichen Zahnfelsen. In allen Ländern rings um Roland waren es weder Anwyn noch Gwylliam, sondern die Zeit, die den Sieg davongetragen hatte. Die Zeit hatte zuletzt die Erinnerungen an das große Sterben verwischt, auch wenn andere Narben, die Wunden an Seele und Erinnerung, geblieben waren. Doch hier, in der Senke des Kontinents, im Land zwischen dem Meer und den Bergen, war das Blut der vielen zusammengeflossen, die in jenem glorreichen Krieg gefallen waren. Es war in den Boden eingesickert und hatte ihn fruchtbar und die Luft schwer von Tod gemacht so schwer, dass selbst der stärkste Wind und der heftigste Regen ihn nicht fortwischen konnten. Das war wirklich das Reich der Geister, auch wenn die Bolg diese Bezeichnung für Kraldurge, ihren eigenen Ort der rastlosen Gespenster mitten im Gebirge, gestohlen hatten. Es war beinahe so weit. Noch ein paar Sonnenuntergänge, ein paar Tage, eine Jahreszeit, vielleicht zwei, und die Zeit war gekommen. Nach all den Jahrhunderten, die er gewartet hatte, würde seine Geduld bald belohnt werden. Bald hätte er sein Heer beisammen. Dann würde er den Berg einnehmen. Das Kind haben. Sobald er es besaß, war ihm das letzte Ziel sicher. Die Rippe des Kindes, gebildet aus dem Lebendigen Gestein, öffnete die Gruft tief in der Erde, die seit der Vorzeit das Gefängnis für seine Rasse war. Die Gedanken der Vernichtung, die ihn durchrasten, musste er zurückhalten, denn er durfte seine Erregung nicht verraten. Bald kam der Tag. Alles zu seiner Zeit. Er warf einen Blick über die Schulter auf die Wachen, die lachten und die Flasche kreisen ließen, dann wandte er sich mit einem Lächeln wieder nach Westen. In einer plötzlichen Aufwallung von Gewalt biss er sich auf die Zunge und sog das Blut in sich. Dann öffnete der den Mund ganz leicht. Der heilige Mann atmete die Abendluft ein, füllte sich die Nase mit der stechenden Kälte und dem Geruch trockenen, brennenden Grases. Leise sang er in den Wind so leise, dass es die betrunkenen Lümmel, die sich stolz seine Eskorte nannten, nicht hören konnten. Wenn sein Gefolge aufmerksam gewesen wäre, hätte es gehört, wie der Geistliche die Namen alter Schlachten flüsterte Augenblicke des Gemetzels, erstarrt in der Zeit. Er atmete ihre Namen ein und wieder aus, umhüllt vom Geschmack und der Schwingung des Blutes. Doch der Tag war lang und ereignislos gewesen, wie die ganze Reise bisher, und die Soldaten waren zu sehr mit ihren Scherzen beschäftigt, zu vertieft in ihre Würfel und Pfeilspiele, um es zu bemerken. Doch um den Wachen kein Unrecht zu tun, musste der heilige Mann sich eingestehen, dass sie sich hier recht sicher fühlten. Schließlich war nicht zu befürchten, dass sie inmitten dieser endlosen Wiesen und einer Ebene angegriffen wurden, die sich meilenweit in den Horizont erstreckte. Nirgendwo konnte sich ein Feind verstecken; es gab keine Möglichkeit für einen Hinterhalt. Er kicherte beim Gedanken an die Falschheit dieser Unterstellung. Der Wind wurde kälter. Seine Worte bildeten flüchtige Wolken aus frierendem Dampf und schwebten vor ihm im karmesinroten Himmel, als ob sie zu kummerschwer wären, um auf der Brise Fortzureiten. Der Überfall auf die Niederung von Farrow, flüsterte er. Die Belagerung von Sethe Corbair. Der Todesmarsch der cymrischen Nain, die Verbrennung der westlichen Dörfer. Kesel tat, Tomingorllo, Lingental. Eines nach dem anderen, eine Litanei aus Tod und Schande, sanft in den Wind gesprochen. Die Schlacht bei der Festung von Wynnarth, der Überfall auf das Wasserlager von Yarim. Der Anschlag auf das Gesicht des Südostens. Die Verstümmelung der vierten Kolonne. Die Massenexekution der Bauerngehöfte der Ersten Flotte. Nur der Schnee antwortete ihm, und selbst dieser schien nicht zuzuhören. Eisflocken umwirbelten ihn in der steifen Brise und umhüllten seine Worte und den frostigen Atem, der sie ausgestoßen hatte. Er spürte, wie die Erregung ihn überkam. Sie begann in den Eingeweiden und strahlte mit jedem Schlag seines schwächer werdenden Herzens weiter nach außen. Die Geister der Toten riefen im Wind, wie sie es seit Jahrhunderten taten; die Qualen in ihren Schreien zitterten in köstlicher Verzückung über seine Haut. Es war der Klang oder genauer das Gefühl des grausamen Leidens und der Gewalt, das in Erde und Luft verblieben war und bei den andauernden Erinnerungen über die Jahre nur langsam versickerte, wie Blut am Boden einer tiefen Schüssel. Selbst diejenigen, die seine einzigartigen Fähigkeiten nicht besaßen, hörten den Lärm und eilten rasch fort von hier. Er konnte ihn natürlich nicht nur spüren; in gewisser Weise durfte er ihn sich sogar zum Verdienst anrechnen. 120 Der heilige Mann sog die Schwingungen des Leidens im Wind auf, schmeckte den Tod in seinem Mund und fand ihn köstlich. Sein innerer Dämon schrie vor Entzücken auf, erging sich in orgiastischen Vergnügungen der Vernichtung, die hier stattgefunden hatte und bald wieder stattfinden würde. Es war schwer, nicht von der Ekstase blutiger Erinnerung fortgetragen zu werden. Nun, Mildiv Jephaston, flüsterte er in den Wind. »Euer Gnaden?« Der Leutnant stand unmittelbar hinter ihm. Er drehte sich rasch um und versuchte seine Verärgerung zu verbergen. »Ja, mein Sohn?« »Ist alles in Ordnung, Euer Gnaden?« Er bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen. »Ja, natürlich, mein Sohn«, sagte er und steckte die Hände in die Ärmel seiner Robe. »Wie nett von dir, dass du dich um mich sorgst. Brennt das Feuer gut?« »Recht gut, Euer Gnaden«, sagte der junge Soldat, als sie zusammen zurückgingen. »Das Holz ist ein wenig feucht und fängt schlecht Feuer.« Der heilige Mann lächelte, als er mit dem jungen Soldaten im Lager ankam. »Vielleicht kann ich behilflich sein«, sagte er. »Ich hatte schon immer eine gute Hand für Feuer.« Als sie die felsigen Täler östlich der Stadt Yarim Paar erreicht hatten, war es Achmed klar, dass die Leben der Sklavenkinder mit dem Auflesen mindestens eines weiteren Dämonenkindes erkauft waren. Angesichts seiner Abneigung gegen Menschen im Allgemeinen und Kinder im Besonderen war er nicht sonderlich betrübt über diese Entwicklung, aber er vermutete, dass Rhapsody es war. Neun lebende Bälger des Rakshas und noch eines, das geboren werden musste, über den ganzen Kontinent verstreut es wäre bereits eine entmutigende Aufgabe in einer schneelosen Jahreszeit und wenn die Zeit nicht gegen einen arbeitete. Doch nun, am Beginn des Winters, nur neun Wochen vor der Geburt des letzten Kindes und mit diesem neuen Problem zweifelte er an Rhapsodys Plan, sie alle zu retten. Er wusste nicht, wie vieler verdorbener Kinder es bedurfte, um die nötige Menge Blut für die Auffindung des F’dor zusammen zu bekommen, und ob diese verrückte Suche wirklich zum Erfolg führen würde. Denn Blut wird das Mittel sein, um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind, lautete die alte dhrakische Prophezeiung. Rhapsody hatte sie gedeutet, den Plan aufgestellt und mit Oelendra, ihrer lirinschen Lehrerin vereinbart, die Kinder nacheinander aufzuspüren und sie zu bewachen, bis alle gefunden waren. Wenn das gelungen war, wollte Rhapsody sie zum Schleier des Hoen bringen, einem Ort, der ihrer Angabe nach berühmt für seine Heilkräfte war. Mit jedem weiteren Tag war Achmed ungeduldiger und unsicherer geworden, sowohl was den Erfolg dieses Planes als auch die Wahrscheinlichkeit ihres eigenen Überlebens anging. Rhapsody war sicher, dass das Herrscherpaar Rowan, jene rätselhaften Gestalten, die hinter dem Schleier des Hoen lebten, das Blut entnehmen würden, ohne die Kinder zu töten. Sie haben Ashe geheilt, als seine Seele entzweigerissen war, hatte sie behauptet. Die Fürstin ist Hüterin der Träume, Wächterin des Schlafes, Yl Breudivyr. Der Fürst ist die Hand der Sterblichkeit, der Friedliche Tod, Yl Angaulor. Sie sind die Einzigen, die das Blut des Dämons herausziehen können, ohne die Kinder zu töten. Ich weiß, dass das der richtige Ort ist. Wenn ich es bloß rechtzeitig bis dorthin schaffe die Zeit vergeht dort anders. Das weiß ich, weil Oelendra es mir gesagt hat. Wenn uns jemand helfen kann, dann sind sie es. Er hatte keine Zeit gehabt, mit ihr über eine Abänderung des Plans zu reden; es war eine verzweifelte Flucht aus Yarim Paar gewesen, bevor die Dämmerung anbrach. In der Ferne hinter ihnen hörten sie schwach das Schlagen der Alarmglocken, oder zumindest erschien es ihm so. Vielleicht war es auch bloß Einbildung und Angst. Schließlich hatten sie nur Sklavenkinder gestohlen, die ungesetzliche Arbeit geleistet hatten. Und welcher Dieb zeigt den Diebstahl seines Diebesgutes an? Diejenigen der rattengleichen Kinder, die bereit waren, menschlichen Kontakt zu ertragen, hatten sich auf der Flucht um Rhapsody versammelt; die anderen versuchten, so weit wie möglich von den beiden fern zu bleiben. Insgesamt waren es zweiundzwanzig. Einige von ihnen ritten abwechselnd paarweise auf den Pferden mit, während andere es vorzogen, die ganze Reise zu Fuß zu machen. Vier hatte man zu je zweien zusammenbinden müssen, damit sie zwar bei der Gruppe, aber fern von den schwächeren Kindern und den Lehrlingen blieben, denen sie ihre schlechte Behandlung während der Gefangenschaft zutiefst verübelten. Das führte zu einer quälend langsamen Reise, aber Rhapsody schien es gleichgültig zu sein. Auf dem Marsch verbrachte sie viel Zeit mit dem kahlen Lehrling namens Omet, und während der Ruhepause tröstete sie das gelbhaarige Kind, dessen Mutter eine Liringlas gewesen war. Sein Bein war entzündet und würde bald eitern. Sie sang ihre Heillieder und anderes, was die Kinder willfährig machte, und setzte ihre Heilkräuter ein. Als sie nun bei Sonnenuntergang das Lager aufschlugen und für die vielen hungrigen Mäuler die Rationen anbrachen, die eigentlich für eine viel längere Reise gedacht waren, schaute Achmed nach Osten und dachte schweigend nach. Bis zum Bakhran-Pass, dem zweitnördlichsten Außenposten der Firbolg in den Zahnfelsen, war es eine Reise von weiteren zwei Tagen. Sie waren übereingekommen, alle Kinder mit Ausnahme der beiden Dämonensprösslinge dort in den Händen der bolgischen Garnison zu lassen. Außer Omet waren alle Kinder, die sie gerettet hatten, Waisen, und der Lehrling versicherte Rhapsody, dass auch er nichts in Yarim Paar zurückgelassen hatte. Achmed verspürte einen Schauer beim Anblick von Rhapsody, die vor dem knisternden Lagerfeuer saß und den Jungen namens Arie im Schoß hielt. Wie Rhapsody selbst, so hatte auch das Kind eine rosige Haut und goldenes Haar; sie waren eindeutig von gleicher Abstammung. Aber an Arie war etwas, das ihn fremdartig machte; es war etwas Wildes, das Achmed beunruhigte. Beinahe schien es ihm, als ob Rhapsody einen in Laken gewickelten Dachs im Schoß wiegte und ihn behandelte, als wäre er ein Liringlas-Kind. Sie schien seine tiefere, gefährliche Natur nicht zu bemerken. Das verhieß nichts Gutes für die Zukunft. Viele Meilen weiter im Süden, am nördlichsten Rand der Berge von Sorbold, hatte soeben die Wache gewechselt. Die dritte westliche Kolonne war erst vor einer halben Sonnenspanne von den Manövern in Otar zurückgekehrt, einem fernen Stadtstaat, der vor allem wegen des Leinens von Otar’sid, der Hauptstadt, berühmt war. Es war ein recht leichter Dienst gewesen, die Untersegner zu beschützen, die ihre jährliche Pilgerreise nach Sepulvarta unternahmen, um dem Patriarchen neue weiße Roben für die Zeremonie der Jahressegnung zu bringen, welche in einem halben Jahr zum Frühlingsäquinoktium stattfinden würde. Die Mission war ohne Zwischenfall beendet worden, und nun lagerten die Soldaten an der westlichen Windschattenseite. Ihre Feuer loderten in der dünnen, kalten Luft auf und bildeten einen hellen See aus Fackeln in der wachsenden Dunkelheit. Am Morgen würden sie nach einem kurzen Marsch wieder im Basislager von Keltar’sid sein. Die Bodentruppen hatten es besonders eilig, in den Stadtstaat der Soldaten zurückzukehren und weiter mit den seltsamen Waffen aus der Produktion der Bolg zu üben, mit denen sie vor ihrer Abreise nach Otar ausgerüstet worden waren. Mildiv Jephaston, der Kolonnenführer, kam von der Wache zurück und bereitete sich gerade auf ein Abendessen und den Schlaf vor, als eine Stimme, die warm auf dem Winterwind ritt, in seinen Ohren prickelte. Nun, Mildiv Jephaston. Der Soldat schüttelte den Kopf. Er war es gewöhnt, seltsame Dinge im Wind zu hören, besonders nach einem langen Marsch, doch nie zuvor hatte die Brise so deutlich zu ihm gesprochen. Und nie zuvor hatte sie ihn beim Namen genannt. Er hielt inne, rieb sich die Ohren, schüttelte erneut den Kopf, wischte den eingebildeten Ruf beiseite und setzte sich vor das größere der beiden Lagerfeuer, nachdem er sich bei dem Kolonnenkoch seinen Eintopf abgeholt hatte. Er hatte es sich bequem gemacht und wollte essen, als er es wieder hörte diesmal sanfter. Nun, Mildiv Jephaston. Wärmer und sanfter, als er es sich selbst hätte zuflüstern können. Jephaston blickte sich um zu der lagernden Kolonne fünfhundert schliefen, dreihundert hielten Wache, und die hundertzwanzig Kavalleristen befanden sich auf der Weide bei ihren Pferden. »Wer ruft mich?«, fragte er den anderen Kommandanten, der neben ihm saß. Der Mann sah von seinem Eintopf auf, schaute umher und schüttelte dann den Kopf. Der Kolonnenführer lauschte abermals, hörte aber nichts mehr. Er entschied sich, den Ruf nicht zu beachten, und wandte sich wieder dem Essen zu. Vielleicht war es das Geräusch seines eigenen Kauens gewesen, das Mahlen der Zähne, das Klappern des Löffels gegen den Metallnapf, das Knistern des Feuers, das Gespräch der Männer, das Lärmen, Johlen, Fluchen, das bei jedem Würfelwurf durch die Nacht gellte. Vielleicht waren eins oder mehrere dieser Geräusche für die Veränderung verantwortlich und verschleierten die stillen Worte, die durch das Ohr in sein Gehirn krochen und eine Verbindung herstellten, schlummernd dort lagen, erst vor kurzem eingepflanzt, und auf die Ankunft des Dämonenbefehls warteten. Obwohl die Verwandlung kaum merklich war, spürte er sie doch, auch wenn ihm nicht bewusst war, was vor sich ging. Wie Wellen überkam es ihn, endlose Meereswellen, Hitzewellen von einem pulsierenden Feuer, Wellen aus dem warmen Blut eines schlagenden Herzens, die ihn einschläferten, in ihn einsanken, nur in die Oberfläche seiner Seele eindrangen, da kein Blutpakt geschlossen und kein andauerndes Band geschmiedet worden war. Er war nicht auf ewig an den Dämon gebunden. Aber im Gegensatz zu den anderen, die bei ihren eigenen Feuern lagen und sich ihren eigenen Hitzewellen und Rufen ergaben, hatte Mildiv Jephaston dem F’dor seinen Namen gegeben. Er war ganz und gar einverstanden mit der neuen Vergrößerung seines Blickfeldes. Alle Gegenstände, ob nah oder fern, konnte er gleichermaßen deutlich erkennen, als ob die Welt ganz flach geworden wäre. Seine eigenen Arme und Beine schienen angenehm weit entfernt zu sein, und die Schmerzen in seinem Rücken ließen nach und verschwanden. Er fühlte sich sehr leicht und stark, als ob er Luft, Wärme und unaussprechliche Ruhe aus der Luft und Wärme um ihn herum zöge. Und während der Befehl in sein Bewusstsein eindrang und es umgarnte, breitete er sich auch bei jenen aus, die ihm den Treueid geleistet hatten und ohne Zögern seinem Kommando folgten. Als er schließlich entschlossen aufstand, seine Ausrüstung zusammenpackte, auf sein Kriegspferd stieg und der Kolonne den Befehl zum Ausfall gab, zog niemand auch nur eine Augenbraue hoch, und niemand stellte eine Frage. Die Kolonne marschierte los und folgte ihm in zwei Divisionen, vier Fünftel der Soldaten in der Front, die restlichen kriegsbereit im Abstand von einem Tagesritt vom Gebirge herab auf die Krevensfelder. Und auf dem Weg nach Navarne. 10 An der Grenze von Ost Yarim und Nord Ylorc Die Fir-Bolg-Soldaten auf dem Wachtposten in der nördlichen Wüstenei des Bakhran-Passes nahmen die Sklavenkinder ohne nachzufragen in ihre Obhut. Die Kinder wurden in Decken der Soldaten gewickelt und auf zwei Wagen gepackt, die mit der Karawane der zweiten Woche nach Canrif aufbrechen sollten und pünktlich eintrafen. Achmed gab den Bolg-Soldaten , welche die Sklavenkinder bis zur Übergabe an Grunthor bewachen sollten, ausführliche Anweisungen. Man würde sich in Ylorc um sie kümmern, bis er und Rhapsody zurückkehrten; dann würde ihnen erlaubt werden, entweder hier zu leben oder nach Navarne zu gehen. Die Jungen waren gut gelaunt; schon beim ersten Blick auf die seltsamen Waffen und Rüstungen der Bolg raste die Aufregung wie ein Buschfeuer durch die Gruppe. Nur der kahle Lehrling schien zurückhaltender zu sein und beäugte die Soldaten ängstlich. Als sich die Karawane für die Reise zum Kessel fertig machte, nahm Rhapsody Omet beiseite. »Ist mit dir alles in Ordnung?« Der Lehrling lächelte schwach. »Ich hoffe es. Ich glaube nicht, dass ich eine gute Mahlzeit abgebe, da ich eher zu den Dünnen gehöre.« »Die Geschichten über Kannibalismus sind stark übertrieben«, beruhigte sie ihn und fuhr liebvoll mit den Fingerspitzen über die Stoppeln, die inzwischen seinen Schädel dunkelten. »Bei den Bolg bist du sicher. Sprich mit Grunthor und sage ihm, dass ich dich als Arbeiter zu ihm geschickt habe. Sieh ihm in die Augen und sei stark. Das wird dir seine Achtung einbringen. Mach Gebrauch von deinen Fähigkeiten und deiner Phantasie. Ich glaube, du kannst einer der großen Handwerker bei den Restaurierungsarbeiten werden.« »Vielen Dank.« »Aber wenn du dich unwohl fühlst oder dir das Leben im Berg nicht gefällt, werde ich bei meiner Rückkehr dafür sorgen, dass du dorthin gebracht wirst, wo du hingehen möchtest.« Omet nickte. »Kümmere dich in der Zwischenzeit bitte um die Jungen.« »Das werde ich tun.« Sie wandte sich nach Südosten, wo eine Spur von Rosa über dem blauen Horizont lag. »Irgendwo in diesen Bergen ereignet sich etwas Großartiges«, sagte sie. »Du kannst ein Teil davon sein. Geh hin und schreibe deinen Namen in den zeitlosen Fels, damit es die Geschichte sehen kann.« Omet nickte, kletterte in den Wagen zu den Sklavenjungen und fuhr inmitten vieler winkender Hände und Abschiedsrufe über den harschen Schnee davon. Die Dämmerung traf die Reisenden insgesamt vier auf einem Felsen über dem Ufer des Mislet an, eines roten Nebengewässers des Flutflusses. Das Wasser war nun gefroren und schimmerte unter der heranrückenden Dunkelheit in verschwommenem Rosa. Das Lagerfeuer knisterte im bitterkalten Wind und erfüllte die Luft mit Funkeln. Rhapsody zog ihren Winterumhang enger um sich und versuchte, Wind und Einsamkeit fern zu halten. Wie lange wird es noch so weitergehen?, dachte sie und schürte das Feuer mit einem langen, dünnen Schilfrohr, das durch die Winterkälte trocken und rissig war. Wie viele Nächte muss ich noch auf der Wanderschaft verbringen? Wann wird sie enden? Wird sie je enden? Neun lebende Kinder des F’dor und noch eines, das bald geboren wurde. Sie hatten zwei gefunden. In wenig mehr als acht Wochen würde das Kind südlich von Tyrian zur Welt kommen. Wie können wir sie alle rechtzeitig finden? Rhapsody kämpfte die Panik nieder, die sich in ihren Magen verkrallt hatte. Das Wissen, dass Oelendra an der Grenze zu Canderre schon seit drei Tagen auf sie wartete, um die Kinder, die sie bereits entdeckt hatten, in Empfang zu nehmen, machte das unangenehme Gefühl nur noch schlimmer. Ein leises, bebendes Seufzen gesellte sich zum Heulen des Windes. Sie riss sich von ihren Gedanken los und schaute auf. Arie hatte sich entschieden, neben den Pferden zu schlafen, fern von den Erwachsenen und Vincane, der nun vor dem Feuer in einen Kräuterschlaf versunken war. Rhapsody stand auf, spürte die Kälte in ihren Knochen und ging zu dem Kind. Sie kniete sich neben es und untersuchte sein entzündetes Bein. Dabei sang sie ein leises Lied, das seine Schmerzen im Schlaf lindern sollte, und begab sich schließlich zurück zu ihrem Platz am Feuer neben Achmed. Er starrte nach Westen in die Ferne, hatte das Gesicht verhüllt, und in seinen Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck. Rhapsody wartete darauf, dass er etwas sagte. Erst als die Sonne hinter den Horizont sank, redete er. »Wir schaffen es nicht bis zum Karneval oder bis nach Sorbold, bevor das letzte Kind geboren wird.« Rhapsody seufzte. Wie immer sprach Achmed ihre Gedanken aus. Das älteste Kind des Rakshas war ein junger Mann, ein Gladiator in Sorbold, in der im Nordwesten gelegenen Stadt Jakar. Achmed war nie von dem Gedanken begeistert gewesen, dieses Kind zu retten, doch Rhapsody hatte darauf beharrt, und schließlich hatte er eingewilligt, falls es die Zeit erlauben sollte. Vor ihrem Rückweg nach Ylorc hatten sie beabsichtigt, den Gladiator, dessen Name Constantin lautete, außerhalb von Sorbold auf dem Winterkarneval von Navarne anzutreffen. Doch wenn sie dort ankommen würden, wäre der Karneval bereits vorbei und Constantin nach Sorbold zurückgekehrt. Es schien, dass die Rettung der Sklavenkinder mit der Verdammnis des Gladiators erkauft worden war. »Das Kind wird in den Lirin-Feldern südlich des Waldes von Tyrian zur Welt kommen«, sagte sie milde und beobachtete den Sonnenuntergang. »Wir werden bald in diesem Gebiet sein. Wir könnten nach Sorbold gehen, wenn Oelendra uns das Kind aus den Händen genommen hat.« »Nein.« Achmed warf ein wenig gefrorenes Gras ins Feuer. »Das ist zu gefährlich. Wenn ich geschnappt werde, während ich heimlich in Sorbold bin und ein so wertvolles Gut wie einen Gladiator stehle, wird das als kriegerische Handlung angesehen. Wie ich dir von Anfang an gesagt habe, besteht diese Mission nicht darin, die Seelen der Kinder zu retten, sondern das Blut einzusammeln, das wir aus ihnen gewinnen können.« »Das ist vielleicht deine Meinung.« Rhapsody sah ihn nicht an. »Wie ironisch«, fuhr sie mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme fort. »Das bedeutet, dass wir nicht besser sind als der Rakshas. Wir binden Kinder wie die Schweine zusammen und schlachten sie im Haus der Erinnerung. Ich vermute, das Blut ist alles, ob du nun gute Absichten hast oder nicht.« »Es kommt auf den Blickwinkel an, Rhapsody.« »Ich werde ihm folgen«, sagte sie sanft, während sie die versinkende Sonne betrachtete. »Ich schätze sehr, was du getan hast und noch tun wirst, aber ich werde ihn nicht aufgeben. Ich verstehe deine Bedenken und darf dich nicht darum bitten, dein Königreich für diese Angelegenheit aufs Spiel zu setzen. Aber ich gehe nach Sorbold, selbst wenn ich allein gehen muss.« Achmed seufzte. »Das würde ich dir nicht raten.« »Ich kann Llauron um Hilfe bitten.« »Das würde ich dir noch weniger raten.« »Du lässt mir keine andere Wahl«, sagte Rhapsody und suchte den Himmel nach den ersten Sternen ab. Sie wartete auf ihr Erscheinen, um die Abendgebete zu verrichten. »Lass ihn laufen. Wenn diese Sache vorbei ist, werde ich ihn zur Strecke bringen und aus seinem Elend erlösen. Du weißt, dass ich als Dhrakier es nicht ertragen kann, wenn jemand mit F’dor-Blut am Leben gelassen wird.« »Damit verdammst du ihn in die Gruft der Unterwelt.« Es war eine rein mechanische Bemerkung; sie hatten schon viele Nächte ohne Ergebnis über diesen Punkt gestritten. Achmed zuckte die Schultern. »Wenn du willst, besprenge ich die Asche seines Leichnams mit heiligem Wasser.« 130 »Nein, vielen Dank.« »Nun, da ist immer noch Ashe. Er könnte die anderen zusammentreiben. Du hast ihn einmal im Wind gerufen, und er ist gekommen.« Rhapsody erzitterte. »Ja, das habe ich getan, aber da stand ich auf einer Aussichtsterrasse in Elysian, die als natürlicher Verstärker wirkte. Ich weiß nicht, ob es im Freien auch funktioniert. Außerdem weißt du sehr wohl, dass ich Ashe nichts von diesen Kindern sagen will, solange ich nicht vom Schleier des Hoen zurück bin.« Achmed ballte die Faust noch fester, aber sein Gesicht zeigte keine Regung. »Er hat den Schutz nicht verdient, den du um ihn legst wie eine Kinderdecke«, sagte er verbittert. »Vielleicht würde es ihm gut tun, seine eigenen Schlachten zu schlagen und für seinen Hintern selbst verantwortlich zu sein. Es macht mich krank, wenn ich mit ansehen muss, wie du ihm als Fußabtreter dienst.« Das licht der untergehenden Sonne füllte ihre Augen; schmerzende Erinnerungen suchten sie heim. »Warum hasst du ihn?« Achmed sah sie nicht an. »Warum liebst du ihn?« Schweigend schaute sie über die endlosen Felder zum Horizont, der sich nun verdunkelte. Der rosafarbene Schimmer des Sonnenuntergangs wich aus den Wolken und ließ ein verschwommenes Grau zurück, wo noch vor einem Augenblick strahlende Pracht geherrscht hatte. Schließlich sagte sie mit sanfter Stimme: »Es gibt keinen Grund für Liebe. Sie ist einfach da. Und wenn sie da ist, hat sie Bestand, auch wenn sie es nicht haben sollte. Selbst wenn man versucht, sie fortzuscheuchen. Es ist schwer, sie zu ersticken. Ich habe gelernt, dass es außerdem unnötig ist und unklug. Es erniedrigt dich bloß. Du musst sie annehmen. Schließ sie weg oder nimm sie an. Du kannst Liebe nicht vorsätzlich töten. Man kann nichts gegen sie unternehmen.« Sie warf einen Blick in seine Richtung und bemerkte, dass er hinter den Rand der Welt schaute. Er hatte die gefalteten Hände an die Lippen gelegt und war in Gedanken verloren. »Aber Hass ist anders. Wenn du hasst, solltest du wenigstens einen Grund dafür haben.« Achmed sog den kalten Wind der herannahenden Nacht ein und stieß die Luft langsam wieder aus. »Ich hasse nicht. Ich habe das Hassen aufgegeben. Aber ich verachte Ashes Versprechungen, seine unangebrachte Loyalität, seine Schwäche.« Rhapsody fuhr mit der Hand über einen dürren, hohen Grashalm, der ausgebleicht und erstarrt aus dem Schnee hervorstach. »Er ist nicht mehr schwach. Ich habe gesehen, was er aushalten kann, Achmed. Selbst in all seinem Schmerz und seiner Einsamkeit hat er seine Zeit damit verbracht, die Unschuldigen zu schützen und den Dämon zu finden, der seine Seele gefangen hielt. Er ist jetzt vollständig. Er ist stark.« »Du missbrauchst dieses Wort. Ich hatte geglaubt, Benenner seien genauer in der Anwendung von Sprache. Er ist geheilt. Aber die Heilung hat keinen Gott aus ihm gemacht. Er wird dich wieder betrügen, im Stich lassen, den Griff um dich lockern, während du in der Luft schwebst, Augenblicke zu spät eintreffen. Das alles habe ich bei ihm schon beobachtet.« Er sah sie an; ihre Blicke trafen sich. »Und du auch.« Sie zog den Grashalm aus dem gefrorenen Boden. »Du weißt nicht, wovon du sprichst.« »Ich glaube, ich weiß es.« Die Samenkörner glitten zwischen ihren Fingern hindurch und verteilten sich auf dem Schnee. »Es ist leicht, etwas zu bemäkeln, das du als Schwäche ansiehst, weil du es nie erlebt hast. Aber wenn du selbst nie verliebt gewesen bist und nie die Liebe gegen die Pflicht hast abwägen müssen, dich niemals ganz in der Liebe verloren hast, kannst du nicht...« »Halt ein!« Die Worte kamen so heftig hervor, dass Rhapsody die Überreste des Grashalms fallen ließ. »Woher willst du das wissen? Woher willst du wissen, dass mir unbekannt ist, wie schwach die Liebe dich machen kann? Wieso wagst du es anzunehmen, dass ich jemanden verdammen könnte, ohne selbst auf diesen Pfaden gewandelt zu sein?« Endlich sah Achmed sie wieder an; seine Augen strahlten in dunklem Licht. »Ich weiß alles über die Versprechungen der Jugend. Ich kenne diese dumme Niederlage, dieses Verlangen, das Unrettbare zu retten, von dem dir die Liebe einredet, es sei möglich. Das ist es, was ich am meisten an Ashe verachte: dass er dich zu dem Glauben verführt hat, er könne dich retten oder du ihn. Dass er dir eingeredet hat, du müsstest gerettet werden. Dass er es wert sei, gerettet zu werden, auch um den Preis, den du gezahlt hast.« Er wandte den Blick ab und starrte auf die frische Dunkelheit am Rande des Horizonts. Rhapsody betrachtete Achmed einen Moment lang und schaute dann selbst nach Westen. »Wer war sie?« Der Fir-Bolg-König seufzte und senkte den Blick. »Bitte. Das sind Geschichten, die Vergangenheit bleiben sollen. Sieh es als mein eigenes Schlafendes Kind an, das man nicht wecken sollte.« Rhapsody nickte. »Weiß Grunthor es?« »Er weiß alles, weil er weder richtet noch mich daran erinnert. Du könntest ihn nach seiner Ansicht über Ashe fragen, wenn du wirklich eine sachliche Meinung hören willst.« Sie stand auf und streckte die Arme. »Das will ich nicht. Es ist gleichgültig. Er ist fort.« »Er wird zurückkommen.« »Nein, das wird er nicht. Er macht einer Frau aus der Ersten cymrischen Generation einen Heiratsantrag einer Frau, die der Weisheitsring des Patriarchen als eine gute Wahl für ihn bestätigt hat.« Achmed lehnte sich zurück und schaute in das Feuer. »Wieder ein Beweis für das, was ich vorhin über seine Schwäche und unangebrachte Loyalität gesagt habe.« »Ich bin nicht der Meinung, dass seine Loyalität unangebracht ist«, entgegnete Rhapsody. »Wir wussten von Anfang an, dass dies seine Bestimmung ist. Er war geboren worden, um der Herr der Cymrer zu sein, ob er will oder nicht. Er braucht eine adlige Braut. Das wusste ich, bevor ich mich in ihn verliebt habe ich wusste es, als ich mich in ihn verliebt habe. Und ich weiß es jetzt. Nichts hat sich verändert. Er ist fortgegangen, um seine Bestimmung zu erfüllen, so wie wir eines Tages unsere eigene erfüllen werden.« »Das ist gut zu hören, aber ich vermute trotzdem, dass wir ihn irgendwann wieder sehen werden.« »Das ist egal. Es ändert nichts.« Sie betrachtete das tiefe Blau des Himmels und suchte nach dem Abendstern, doch Nebel verbarg den Horizont und machte es schwer, ihn zu entdecken. »Wenigstens hat er mir das gegeben.« »Was?« »Ein Ende. Das ist es, was ich mehr als alles andere will. Ich will, dass die Ereignisse, die sich seit unserer Begegnung ergeben haben, zu einem Ende kommen. Ich bin müde, Achmed.« Sie drehte sich um und sah ihn an. Ihre Augen hatten den inneren Funken verloren und wurden nur noch von Müdigkeit gespeist. »Ich habe es satt, nach einem versteckten Dämon zu suchen. Ich habe es satt, in der Erwartung zu leben, dass jede Person, der wir begegnen, der Wirt des F’dor sein könnte. Ich will wissen, wer er ist, und ihn töten, ein für alle Mal, während du seinen Geist in deinem Bann hältst, damit er nicht entkommen kann.« Sie wandte sich wieder der untergehenden Sonne zu. »Ich habe die Albträume satt. Ich will all das beenden; ich will, dass es vorbei ist. Ich will endlich wieder einmal friedlich schlafen können.« Ein ersticktes Lachen stieg in der Dunkelheit hinter ihr auf. »Das wird nicht geschehen. Es tut mir Leid.« »Warum nicht?« Ein kalter Wind wehte durch ihre Haare und trocknete den Schweiß, der bei seinen Worten ausgetreten war. Achmeds Stimme war sanft. »Weißt du, dass wir nie sterben werden, wenigstens nicht die nächsten tausend Jahre, falls wir nicht vernichtet werden? Du, Grunthor und ich, wir scheinen wie die Cymrer der Ersten Generation die Zeit mit unserer kleinen Reise durch die Erde hintergangen zu haben. Doch dieser angenehme Segen der Unsterblichkeit kostet etwas. Du willst, dass es vorbei ist. Es wird nie vorbei sein, Rhapsody. Genau wie die Großmutter jahrhundertelang das Schlafende Kind bewacht hat, wird unser Leben eine endlose Wachsamkeit sein. Nachdem du gesehen hast, was in der Erde überwintert, und weißt, dass dort draußen Dämonen sind, die nichts anderes wollen, als es freizulassen, wie kannst du da je wieder friedlich schlafen? Nur die Unwissenden und die Dummen schlafen gut. Nur die hoffnungslos Naiven glauben, es könnte je vorbei sein.« Mit einer plötzlichen, wütenden Bewegung zog sie ihr Schwert. Die Tagessternfanfare blitzte über der Hülle aus schwarzem Elfenbein auf und brannte sich tief in die kalte Nacht. Ihr pulsierendes Licht wurde vom Schnee zurückgeworfen. Rhapsody sah Achmed an. «Gut. Dann werde ich eben dumm und unwissend sein. Ich werde hoffnungslos naiv sein. Du verstehst mich nicht, Achmed. Ich muss glauben, dass es eines Tages vorbei ist. Ich muss es, oder ich kann nicht weitermachen.« Sie wandte sich von ihm ab, ging zum Kamm des nächsten Hügels und suchte wieder den Himmel ab. Der Abendstern flackerte hinter einer frostigen Wolkendecke hervor. Rhapsody schob alle Gedanken beiseite und begann mit ihrem Abendgebet. Achmed lächelte schwach, als die klaren Töne in die Luft stiegen. »Vertrau mir, du wirst es können«, sagte er mehr zu sich selbst. 11 An der Grenze, nordwestliches Bethania, südöstliches Canderre Rhapsody hörte Oelendra, bevor sie sie sah. Achmed hatte erklärt, dass ihr früheres Ungeschick es gefährlich machte, lange durch Yarim zu reisen; daher durchquerten sie die Provinz so rasch und unauffällig wie möglich. Nach drei Tagen fanden sie sich in einem bewaldeten Gebiet zwischen dem nördlichen Zipfel von Bethania und dem östlichen Rand des üppigen Ackerlandes von Canderre wieder. Achmed, der die ganze Reise über den starken, klauenähnlichen Griff um Vincanes Hals nicht gelockert hatte, nickte am Ende eines langen Reittages und zügelte sein Pferd in der Mitte eines sanft ansteigenden Hügels. Rhapsody stieg rasch ab, streckte die Arme nach Arie aus und hob das Kind vorsichtig aus dem Sattel, um sein entzündetes Bein zu schonen. Als sie ihr Lager aufschlugen, ging die Sonne bereits unter; ein einzelner Stern erschien in dem Himmelsfleck über den blattlosen Bäumen. Rhapsody stand auf und bürstete sich den Dreck von ihrer Hose; dann sah sie sich nach einem Platz für die Abendvesper um. Dabei hörte sie, wie in der Ferne eine Stimme mit dem uralten Gesang begann. Es war eine zeitlose Stimme, warm und rau; sie sang mit der Kraft und Qual eines Wesens, das Welten entstehen und untergehen gesehen hat, das die schrecklichsten aller Albtraumschlachten erlebt hat und wieder aufgestanden ist, zwar nicht triumphierend, aber siegreich, und das sich im Licht jeder neuen Morgendämmerung wieder erhebt. Tränen der Erregung traten in Rhapsodys Augen. Sie ergriff Achmeds Arm. »Oelendra! Das ist Oelendra!« Achmed nickte knapp und fuhr damit fort, Vincane an einen Baum zu binden, sodass er ihn zu jeder Zeit sehen konnte, aber Zugang zu Wärme und Nahrung hatte. Er wusste bereits, dass sie in der Nähe war; er war dem Herzschlag der alten lirinschen Kriegerin bis hierher gefolgt. Sie war eine der wenige tausend zählenden Seelen, die auf der Insel Serendair geboren waren und die er mit seinen Blutsinnen aufspüren konnte. »Sie ist nahe genug. Vielleicht solltest du zu ihr gehen.« Er warf einen Blick über die Schulter. Rhapsody war schon fort. Der Hain, in dem sie lagerten, wurde gegen Osten dünner und erstreckte sich über die Flanke eines großen Hügels. Rhapsody rannte auf die Spitze und kümmerte sich dabei nicht um den zerbröckelnden Fels, die Wurzeln und die rutschigen Blätter unter dem Schnee. Sie wurde von einem Drang tief in ihrem Herzen angetrieben. Auf dem Kamm des Hügels hielt sie an, erstarrt vom Anblick ihrer Lehrerin, die die Arme ausgestreckt und die Handflächen in demütiger Bitte an die Sterne nach oben gerichtet hielt. Die Tränen der Erregung wurden zu Tränen quälender Liebe. Von der Seite und im grauen Licht der Dämmerung sah Oelendra ganz wie ihre Mutter aus, während sie das Loblied sang, das sie ihr vor einem ganzen Leben beigebracht hatte. Rhapsody hatte ihre Mutter schon lange nicht mehr im Traum sehen können; sie schluckte und fiel in den abendlichen Lobgesang ein; ihre Stimme verschmolz mit der anderen in einer hohen Harmonie. Am Ende des Gebets drehte sich Oelendra um und lächelte. Nun sah Rhapsody in ihr nicht mehr die Mutter, sondern ihre Freundin und Lehrerin, die lirinsche Meisterin im Kampfanzug und mit Schultern, die so breit wie die von Achmed waren. Ihren langen, dünnen Zopf aus grauem Haar hatte sie säuberlich im Nacken zusammengebunden, und in ihren großen silbernen Augen strahlte ein freudiges Licht, als sie Rhapsody sah. Die beiden Frauen, die gegenwärtige Ilianchenva’ar und diejenige, welche die Tagessternfanfare in einem vergangenen Leben getragen hatte, umarmten sich auf dem windigen Hügelkamm. »Du bist müde«, bemerkte die lirinsche Meisterin und strich eine goldene Haarlocke aus Rhapsodys Augen. Rhapsody lächelte. »Und außerdem bin ich zu spät«, entgegnete sie. »Das tut mir Leid.« Oelendra nickte. »Was hat dich aufgehalten?« Rhapsody schlang den Arm um die Hüfte ihrer Lehrerin. »Komm mit mir, und ich werde es dir zeigen.« Achmed hatte den herannahenden Frauen den Rücken zugewandt. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen, und der Himmel war dunkel, als sie Oelendras Reittiere, zwei Rotschimmelstuten, in eine kleine Baumgruppe neben Achmeds und Rhapsodys Pferde führten. Rhapsodys Augen leuchteten, als sie ihre Lehrerin zum Feuer brachte und Achmed vorstellte. »Achmed, das ist Oelendra. Oelendra, das ist Seine Majestät, König Achmed, Kriegsherr des Reiches von Ylorc.« Achmed stand langsam auf und wandte sich in die Feuerschatten. Sein zweifarbiger Blick ruhte nun auf der lirinschen Meisterin, die ihn ernst erwiderte. Einen Moment später wurde ihr Blick etwas härter, dann entspannte sie sich wieder, blieb aber zurückhaltend. Der Fir-Bolg-König betrachtete die lirinsche Meisterin flüchtig und wandte sich dann ab. Er streckte die behandschuhte Hand aus und zog einen Kessel vom Lagerfeuer. »Hungrig?« Oelendra betrachtete ihn immer noch. Rhapsodys Blick lief vom einen zum anderen, während die Stille immer drückender wurde. Schließlich ergriff sie Oelendras Hand. »Ich schon. Warum verteilst du es nicht, Achmed?« Sie führte ihre Lehrerin zur anderen Seite des Feuers, wo der Lirin Junge kauerte, und kniete sich neben ihn. »Das ist Arie, Oelendra. Arie, Oelendra ist meine Freundin. Sie wird dir nichts tun.« Sie wandte sich an die lirinsche Meisterin, die den Jungen eingehend ansah. »Ja«, sagte Rhapsody, als sie ihre Gedanken las. »Seine Mutter war offenbar eine Liringlas.« »Ja.« Oelendra fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Verstehst du, was das bedeutet?« »Dass es hier auf dem Kontinent noch weitere Liringlas gibt, von denen du und Rial nichts wusstet?« »Möglich.« Oelendra starrte einen Moment lang ins Feuer. »Es könnte auch bedeuten, dass der Rakshas das Meer nach Manosse oder vielleicht nach Gaematria, der Insel der Meeresmagier, überquert hat. Dort gibt es Liringlas, oder wenigstens hat es sie gegeben. Wenn das der Fall ist, wer weiß, wie viele Frauen er dann geschwängert hat?« Rhapsody erzitterte, schüttelte aber den Kopf. »Nein. Rhonwyn sagte, es seien nur neun lebende und eines, das noch geboren wird. Und als wir sie fragten, war der Rakshas schon tot.« Oelendra seufzte erleichtert. »Gut. Das hatte ich vergessen. Gut.« Ein schwaches Lächeln flog über ihr Gesicht, während sie nachdenklich das Kind ansah. »Hallo, Arie«, sagte sie in der Sprache der Liringlas. »Haben sie dich gut behandelt?« Das Kind erbebte. »Ja«, antwortete es flüsternd. Oelendra wandte sich wieder an Rhapsody. »Er kennt die Sprache unseres Volkes, aber er ist offensichtlich nicht von Liringlas aufgezogen worden. Was sagt dir das?« Rhapsody streichelte dem Kind über den Kopf. »Glaubst du, er hat ein angeborenes Talent zum Sänger?« Achmed reichte beiden Frauen Krüge mit Suppe; Arie erhielt einen eingedellten Stahlbecher. Oelendra nickte zum Dank und hob das Gefäß an die Lippen. Sie nahm einen tiefen Schluck und betrachtete dann wieder das Kind. »Das weißt du besser als ich«, sagte sie schließlich. »Aber das ist die wahrscheinlichste Erklärung.« »Nun, es gibt nur einen Weg, um es herauszufinden«, meinte Rhapsody. Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen neben das Kind. »Arie, würdest du bitte den Strumpf herunterziehen und Oelendra dein Bein zeigen? Ich verspreche dir, dass sie es nicht anrühren wird«, fügte sie hastig hinzu, als sie die Angst im Gesicht des Kindes bemerkte. Oelendra nickte zustimmend. Langsam und mit zitternden Händen zog der Junge den Strickstrumpf herunter. Im Feuerschein war das entzündete Bein schwarz und die heilende Haut deutlich am Rande sichtbar. Es roch schwach nach Thymian. »Ich habe es mit Kräutern eingerieben, seit wir ihn zu uns genommen haben. Allmählich wird es besser; zuerst war es brandig«, erklärte Rhapsody Oelendra. Sie wandte sich wieder an den Jungen: »Kannst du mir deinen Namen vorsingen, Arie?« »Wie bitte?«, fragte das Kind nervös. »Wähle einen Ton aus, der dir richtig erscheint, und singe deinen Namen, etwa so.« Rhapsody stimmte seinen Namen an: Arie. Der Junge schluckte und kam dann der Bitte nach. Arie, sang er leise. Rhapsody sah Oelendra an. »Sol«, sagte sie. »Sein Namenston ist Sol, die fünfte Note der Tonleiter. Möglicherweise hat er irgendwo ältere Geschwister. Wenn er der Erstgeborene wäre, wie du, Oelendra, dann würde sein Ton Ut lauten.« Sie sah Achmed nicht an, der ebenfalls ein Erstgeborener war. Oelendra nickte ernst. »Also gibt es irgendwo auf diesem Kontinent weitere Liringlas-Kinder, die jetzt mutterlos sind.« Rhapsody seufzte. »Ja.« Sie besah das Bein eingehend; es hatte sich nicht verändert. »Versuch es bitte noch einmal, Arie. Denk einfach daran, dass dein Bein besser wird.« Das Kind sang die Note erneut, doch ohne erkennbaren Erfolg. Oelendra zuckte die Achseln. Rhapsody seufzte stumm, dann kam ihr ein Gedanke. »Vielleicht hat seine Mutter nicht lange genug gelebt, um ihn zu sehen«, meinte sie leise zu Oelendra. »Alle Kinder des Rakshas sind Waisen; ihre Mütter sind bei der Geburt gestorben. Vielleicht ist Arie nicht sein richtiger Name.« »Möglich. Aber woher willst du wissen, wie sein richtiger Name lautet?« Rhapsody streichelte den Jungen und setzte sich zurück. Das Feuer wärmte ihre Schultern. »So etwas herauszufinden ist ein langer und schwieriger Prozess, wenn der Betreffende nicht weiß, welcher Name ihm gegeben wurde«, sagte sie nachdenklich. »Es würde viel mehr Zeit beanspruchen, als wir haben, da wir uns auf Versuch und Irrtum verlassen müssen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Mutter ihrem Kind überhaupt einen Namen gegeben hat. Vielleicht ist sie gestorben, bevor sie das tun konnte.« »Du könntest leider Recht haben. Er könnte seinen Namen von einem filidischen Priester oder einem Liringlas-Benenner bekommen haben, falls es noch welche gibt. Oder von einem zufällig vorbeikommenden Fremden oder sogar von einem Feind, da er als Sklave geendet ist.« Die Hitze in Rhapsodys Rücken erinnerte sie an Bäder in ihrer Kindheit vor dem brennenden Ofen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen. Es gelang ihr nicht. »Vielleicht hat sie ihn bloß ›Kind‹ genannt, weil sie in ihrer Schwäche nicht einmal wusste, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.« Sie aß ihre Suppe auf, wartete darauf, dass auch der Junge sein Mahl beendete, und beugte sich wieder vor. »Arie, kannst du ein anderes Wort für mich singen?« Das Kind nickte. »Gut! Hör dir das Wort an, das ich gleich sage, und dann singe es, wie es dir richtig erscheint. Hier ist es: Pippin.« Sie schenkte dem Kind ein ermutigendes Lächeln und sah, wie sich die Wärme in seinen klaren blauen Augen widerspiegelte. Arie holte tief Luft, zuckte vor Schmerz zusammen und sang dann das Wort Pippin in der Note Sol. Oelendra und Rhapsody lauschten verzückt. Nach einem Augenblick untersuchten sie eingehend sein Bein und sahen sich danach gegenseitig an. Es war keine sichtbare Veränderung eingetreten. Die lirinsche Meisterin klopfte dem Kind sanft auf die Schulter und wollte aufstehen, doch Rhapsody bedeutete ihr zu warten. »Das war sehr gut, Arie. Ich werde jetzt mein Schwert ein wenig aus der Scheide ziehen das ist schon in Ordnung«, fügte sie rasch hinzu, als sich die klaren blauen Augen des Kindes mit Furcht umwölkten. »Nur ein kleines bisschen, damit ich es anfassen kann. Ich verspreche dir, dass es nicht heller als das Lagerfeuer sein wird. Einverstanden?« Das Kind war bezaubert vom Leuchten ihrer grünen Augen und nickte wieder, als wäre es hypnotisiert. Rhapsody packte die Tagessternfanfare am Griff unmittelbar über dem Querstück und zog sie langsam aus der schwarzen Elfenbeinscheide. Sie zwang sich zur Ruhe und sandte diesen Gedanken auch in das Schwert. Zur Antwort auf ihren Befehl brannte die winzige Flamme still und tief. Das elementare Band des Feuers zwischen ihnen flammte auf, und sie war wieder eins mit dem Schwert. Sein Gesang erfüllte ihre Seele, während sich ihr Geist aufhellte. Sie sah das Kind wieder an und versuchte sich seine tragische Geburt und den hastigen Aufbruch der gemarterten Seele seiner Mutter ins Licht vorzustellen, als es auf die Welt kam, vor etwa acht oder neun Jahren, wenn sie richtig geschätzt hatte. Tränen von Mitleid und Wut traten ihr in die Augen, als sie sich vorstellte, wie sich die Frau im Griff der Schmerzen wand, die sie unzweifelhaft gespürt hatte Schmerzen, die mit ihrer Vergewaltigung vor einem Jahr oder mehr begonnen hatten und die sie sicherlich jeden Tag der vierzehnmonatigen Schwangerschaft einer Liringlas begleitet hatten. Ihre Hände zitterten aus einem ihr unbekannten Grund, und sie hörte die harsche, vieltönige Stimme Manwyns wieder in ihrem Kopf. Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor der Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben. Was hat die Wyrmkin damit gemeint?, fragte sich Rhapsody benommen. War dies das Kind? Oder war es das noch nicht geborene Lirin-Kind? Oder hatte Manwyns Prophezeiung etwas mit ihr selbst zu tun? Konzentriere dich auf das Kind vor dir. Rhapsody schüttelte den Kopf, und sofort klärten sich ihre Gedanken. In den Tiefen ihres Seins hatte sie eine Stimme gehört eine Stimme, die sie nie zuvor vernommen hatte. Vielleicht war es die Stimme des Schwertes. Oelendra hatte ihr vor vielen Monaten während der Ausbildung gesagt, das Schwert habe eine Stimme, wenn sie es bei sich trage eine Stimme, die erst dann schweigen würde, wenn das Schwert und Seren, der Stern, aus dem es geformt war, für immer getrennt werden sollten. Vielleicht war es auch nur die Stimme ihrer eigenen Vernunft gewesen, die zu ihr sprach und sie zur Besinnung brachte. Sie lächelte Arie abermals an. »Noch einmal? Willst du es mir zuliebe noch einmal versuchen, Arie?« »Ja.« Seine Stimme war fast unhörbar. »Gut. Singe nun das für mich: Y Pippin.« Mein Kind. Y Pippin, sang der Junge mit brechender Stimme. Erneut untersuchten die beiden Frauen das Bein. Am Rande der eiternden Wunde, wo die Haut zuvor noch rot gewesen war, hatte sich die Entzündung vor ihren Augen zurückgezogen. Das eiterige Innere war zu einem dunkleren Rot und das Schwarz zu Rosa geworden. Die Wunde war noch da, aber sogar im schwachen Licht des Lagerfeuers war deutlich zu sehen, dass sie sich gebessert hatte. »Sieh dir das an«, murmelte Oelendra. »Ich wusste von Anfang an, dass er etwas Besonderes ist«, sagte Rhapsody stolz. »Das ist ein Beweis dafür, dass auch aus dem Bösesten noch etwas Gutes erwachsen kann.« Oelendra tätschelte das Kind und stand plötzlich auf. Sie starrte über den Feuerkreis hinweg auf den Baum, an dem Achmed Vincane angebunden hatte. »Und was haben wir da?«, fragte sie. »Zwei Huren und den hässlichsten Bastard der Welt«, antwortete der Junge mit einem höhnischen Grinsen. Mit übertriebener Langsamkeit ging Oelendra über die Lichtung und hockte sich vor Vincane, sodass sie auf Augenhöhe mit ihm war. Die Muskeln an ihrem Rücken zuckten bedrohlich, als sie sein Gesicht betrachtete. Selbst von ihrem Platz aus konnte Rhapsody erkennen, wie Vincane unter dem Blick der lirinschen Meisterin erschlaffte. Sie kicherte, denn sie hatte bei mehr als einer Gelegenheit diesen kriegerischen Blick auf sich ruhen gespürt. Es war ein tödlich gelassener, eindringlicher Blick, und er durchbohrte die Seele aus grauen Augen, die mehr Zerstörung gesehen hatten, als man sich vorstellen konnte. »Entschuldigung«, sagte Oelendra mit fester Stimme. »Ich fürchte, ich habe dich nicht verstanden. Was hast du gesagt?« Der Junge versuchte sich noch enger gegen den Baum zu drücken. Seine Frechheit war verschwunden; Panik hatte ihn ergriffen. »Dein Name«, sagte Oelendra. »Vincane«, antwortete der Junge mit brechender Stimme. »Wie schön, dich zu treffen, Vincane. Ich bin sicher, wir werden hervorragende Reisegefährten sein. Ich glaube, ich werde dich während unserer Reise nicht mehr ermahnen müssen, nicht wahr?« »Nein«, sagte der Junge hastig. »Das hatte ich auch erwartet.« Sie kehrte zum Feuer zurück, wo Rhapsody Arie gerade in eine Decke wickelte, und nickte Achmed zu, der sich zu ihnen gesellte, nachdem er Vincanes Fesseln überprüft hatte. »Ihr wollt also die anderen holen?«, fragte Oelendra. »Ja«, antwortete Rhapsody. »So viele, wie es unsere Zeit erlaubt«, warf Achmed ein, der nach einem bedeutungsschweren Blick auf den Gefangenen in die alte lirinsche Sprache fiel. »Wir hatten gehofft, den Gladiator bei oder nach dem Winterfest zu fangen, aber das ist jetzt nicht mehr möglich.« Oelendra nickte. »Was habt ihr als Nächstes vor?« Rhapsody schaute hinüber zu den beiden Kindern. Arie schlief fest, und Vincane schien in einen leichten Schlummer gefallen zu sein, doch es war schwer zu sagen, ob er das nicht nur vorspielte. »Hintervold«, erwiderte sie. »Rhonwyn sagte, dass es dort zwei Kinder gebe, und eines in Zafhiel. Die anderen befinden sich in Roland und der Neutralen Zone, also näher bei dir. Es sollte uns möglich sein, sie alle zu bekommen, doch es wäre gut, wenn wir den Ältesten erwischen, bevor das Kind geboren wird. Danach werden wir entscheiden, wie wir an den Gladiator herankommen.« Achmed stieß verärgert die Luft aus. Er sprach nur wenig Alt-Lirin, doch er hatte ihre Worte erwartet. »Vielleicht erwischen wir nicht einmal die anderen. Der Winter wird immer härter. Noch ein paar Schwierigkeiten wie die in Yarim, und wir müssen einen oder sogar mehrere laufen lassen.« »Nein«, sagte Rhapsody fest. »Wir werden sie alle bekommen. Wir müssen es. Jemand muss es. Es sind doch Kinder.« »Es sind keine Kinder, sondern Abscheulichkeiten«, warf Oelendra ein. Sowohl Rhapsody als auch Achmed sahen sie erstaunt an. »Ich kann nicht glauben, dass dir das nicht klar ist, Rhapsody. Sieh sie dir doch einmal an. Vielleicht sind sie süß und scheu, vielleicht auch böse und grausam auf alle Fälle sind sie halb dämonisch. Kannst das nicht erkennen?« Achmed lächelte schwach. »Vielen Dank.« Er wandte sich wieder an Rhapsody. »Jetzt hast du es von jemand anderem gehört; vielleicht schenkst du mir nun Glauben.« »Ich bin verblüfft«, murmelte Rhapsody nach einem Augenblick. »So etwas hätte ich von Achmed erwartet, nicht aber von dir, Oelendra. Wie kannst du diese Kinder wegen ihres Vaters verdammen? Sie haben es schon schwer genug. Es sind doch nur Kinder, genau so, als wenn ihr Vater ein Dieb oder Mörder wäre. Sieh dir Arie an. Um Himmel willen, er ist ein Liringlas!« »Seine Mutter war eine Liringlas«, sagte Oelendra ernst. »Er ist eine Missgeburt mit Liringlas-Vorfahren; das ist nicht dasselbe. In den Adern dieser beiden Kinder fließt das Blut des Dämons, Rhapsody, eines F’dors. Du scheinst nicht zu begreifen, was das bedeutet. In den alten Zeiten gab es viele F’dore, aber ihre Anzahl war begrenzt. Es existierte ein ganzes Pantheon, und die mächtigsten wurden sogar in alten Manuskripten mit Namen und Neigung genannt. In der Ober und Unterwelt bedeutete es eine Plage weniger, wenn einer von ihnen durch einen Dhrakier getötet wurde, während er sich noch in einem Körper befand. Irgendwie hat ein besonders gewitzter F’dor einen Weg gefunden, sein Blut weiterzugeben, ohne sich dadurch zu schwächen. Das ist eine höchst beunruhigende Wendung. Durch den Rakshas hat der F’dor seine dämonische Linie weitergeführt, was eine sehr gefährliche Tür in die Zukunft aufstößt. Diesem Problem werden wir uns sehr bald stellen müssen. Ich weiß, dass du nur Kinder in ihnen siehst. Du musst lernen, tiefer zu blicken, damit du erkennst, was sie wirklich sind. Du musst hinter die Fassade schauen, wie niedlich sie auch sein mögen. Ansonsten wirst du irgendwann eine böse Überraschung erleben.« Rhapsody seufzte. »Bitte sage mir, dass ich keinen Fehler mache, wenn ich sie dir anvertraue«, erwiderte sie. Ihre Stimme war ruhig, doch in ihren Augen leuchtete es eindringlich. »Wir müssen unseren Weg gehen und bei unserem Plan bleiben. Wenn es uns gelingt, sie zu dem Herrscherpaar Rowan zu bringen, und das Dämonenblut aus ihnen geschieden wird, haben wir damit nicht nur die Möglichkeit, den Dämon zu finden, sondern können auch die Kinder von dem Makel befreien, den sie in sich tragen. Sie werden vor der Verdammnis der Gruft gerettet sein. Sie werden nicht auf ewig dämonisch sein. Aber du musst ehrlich zu mir sein, Oelendra. Kannst du in dieser Sache einen kühlen Kopf bewahren? Wenn nicht, muss ich mir etwas anderes ausdenken. Ich werde es nicht zulassen, dass du durch deinen Hass auf den F’dor ihre Sicherheit aufs Spiel setzt.« Verärgerung brannte in den Augen der lirinschen Meisterin. »Soll ich das wirklich so verstehen, dass du soeben meine Fähigkeit in Zweifel gezogen hast, einen kühlen Kopf zu bewahren?« Rhapsody seufzte und verschränkte die Arme. Oelendra versteifte sich und setzte nach: »Sag mir, was du damit meinst, Rhapsody.« »Das habe ich schon getan«, meinte Rhapsody tonlos. »Du hasst den F’dor so sehr, dass du alle anderen Beweggründe beiseite schiebst. Du musst erkennen, dass es nicht nur deine Aufgabe ist, Achmed beim Aufspüren des Dämons zu helfen, sondern auch die Kinder zu beschützen. Sie sind vielleicht eine Dämonenbrut, aber sie wurden von unschuldigen Frauen geboren und haben unsterbliche Seelen. Daran musst du dich immer erinnern. Sie dürfen nicht zur Zielscheibe deines Hasses auf ihren Vater werden. Ansonsten sind wir nicht besser als der Dämon.« Ein belustigtes Flackern trat in ihre Augen. »Das ist meine Antwort auf deine Frage. Vielleicht verstehst du sie besser, wenn ich sie vertone und auf meiner Laute spiele. Warte. Wo ist denn die Laute?« Oelendra blinzelte, zuckte zusammen und kicherte schuldbewusst, als sie sich daran erinnerte, wie sie das Instrument in ihrer Wut auf den Dämon zerschlagen hatte. Rhapsody lachte und umarmte ihre Lehrerin. Dabei fragte sie: »Vergibst du mir?« »Dafür, dass du die Wahrheit gesagt hast?«, erwiderte Oelendra. »Dafür sollte sich niemand entschuldigen, vor allem kein Benenner. Ich schwöre dir, Iliachenva’ar, dass ich die Kinder unter Einsatz meines Lebens schützen werde.« »Das weiß ich«, flüsterte Rhapsody ihr ins Ohr. Sie drückte Oelendras breite Schultern ein letztes Mal und wandte sich dann wieder Achmed zu, während Oelendra sich um ihre Pferde kümmerte. »Hat Vincane gegessen?« »Wen?« »Das ist nicht witzig. Oelendra muss unverzüglich aufbrechen, und wir sollten uns ebenfalls auf den Weg machen.« »Er war nicht sonderlich hilfsbereit, aber er hat etwas Suppe durch verschiedene Löcher in seinem Kopf aufgenommen. Ich war versucht, ihm noch ein paar weitere zu schlagen.« »Es wird ihm vermutlich nichts ausmachen, wenn er hungert, bis Oelendra das nächste Lager aufschlägt.« Während Achmed den Lehrling an dem Sattel eines der Rotschimmel festband, kam Oelendra zu Rhapsody zurück und überreichte ihr einen kleinen Käfig aus Schilfrohr. In ihm flatterte ein schwarzer Wintervogel; dann beruhigte er sich und starrte sie neugierig an. »Das ist ein weiterer geflügelter Bote für dich. Ich werde dir zu jedem Treffpunkt einen mitbringen, damit du mir immer sagen kannst, wo du bist.« »Vielen Dank«, sagte Rhapsody und umarmte Oelendra noch einmal. »Du musst wissen, dass ich deine Hilfe über alles schätze und es bedauere, dich damit in Gefahr zu bringen. Aber du bist die Einzige, die diese Sache erfolgreich zu Ende bringen kann.« »Das Vertrauen der Iliachenva’ar ehrt mich«, entgegnete Oelendra und lächelte, als Achmed Arie auf ihr eigenes Pferd setzte, damit er in gehöriger Entfernung von Vincane mit ihr reiten konnte. »Pass auf dich auf, Rhapsody. Und mach dir keine Sorgen mehr um diese Kinder. Sie stehen jetzt unter Bewachung.« »Unter der besten Bewachung, die sie bekommen können. Ich wünsche dir eine sichere Reise. Ich werde es dir mitteilen, wenn wir die nächsten beiden haben.« Oelendra nickte und sah dann wieder in Achmeds Gesicht. Einen Moment lang starrten sie sich gegenseitig an; dann nickte Oelendra erneut, stieg auf und ritt davon. Die Zügel von Vincanes Pferd hielt sie fest in der Hand. »Übrigens«, rief sie Achmed über die Schulter hinweg zu, »sobald das hier vorbei ist, erwarte ich von dir, dass du sie als Entschädigung zu mir schickst, damit sie uns dabei hilft, die abgespaltenen Teile des lirinschen Königreiches wieder zusammenzufügen. Wir werden jede lirinsche Seele dazu brauchen.« Achmed verbarg ein Lächeln, als Rhapsody ihr nachwinkte. Die lirinsche Meisterin ahnte nicht, dass er ihr in einem anderen Leben bereits eine Entschädigung geleistet hatte, indem er in der alten Welt die vielen Aufträge, sie zu ermorden, nicht angenommen hatte. 12 Die alten cymrischen Schmieden, Ylorc Grunthor bog mit seinen zwei Gehilfen um eine Kurve des dunklen Korridors und flötete fröhlich. An diesem Morgen war er in ausgezeichneter Stimmung. Alle Wachen waren gut gelaufen, die Rekruten waren gefügig, und die Verstärkungen im Versteckten Reich sowie im großen Wachtturm des Griwen verhielten sich wie erwartet. Er war auf dem Weg zu den letzten Stationen seiner morgendlichen Inspektionsrunde, zu den beiden gewaltigen Schmieden, in denen die Waffen für den Export und die Bewaffnung des Firbolg-Heeres hergestellt wurden. Er traf bei der ersten ein; es war eine gewerbsmäßige Schmiede, deren Produkte auf weniger raffinierte Waffen beschränkt waren, die nach Achmeds und Grunthors Meinung durchaus in die Hände der Handelspartner aus Roland gelangen durften. Wenn sie auch nur den Hauch einer Bedrohung darstellen würden, hätte ich ihnen niemals den Zugang zu diesen einfachen Waffen verschafft, hatte Achmed ihm und Rhapsody bei einer Flasche Wein erzählt, die Stephen ihnen im letzten Frühling für einen Handelsabschluss zum Geschenk gemacht hatte. Aber soweit ich sehe, stellt Roland kein Problem dar, solange es sich nicht wiedervereinigt, und selbst dann würden sie am Berg scheitern, bevor wir ihnen eine Lektion erteilen müssten. Sie könnten kühn werden, wenn diese kleineren Waffen in den Handel gelangen, aber sie werden eine falsche Vorstellung davon bekommen, zu was wir fähig sind. Der König hatte sein Weinglas geschwenkt und es dann geleert. Nein, ich mache mir keine Sorgen wegen Roland, hatte er gesagt und durch das Glas ins Feuer geblickt. Aber Sorbold wird mich immer beunruhigen. Die besseren Waffen, die in der zweiten Schmiede hergestellt wurden, hatte Achmed selbst entworfen: ein schweres, aber gut ausbalanciertes Wurfmesser mit drei Klingen, kurze, gedrungene Armbrüste mit einem besonderen Rückstoßverhalten zum Gebrauch in den Tunneln Ylorcs, gespaltene Pfeilspitzen und schwere Pfeile für Blasgewehre, die auf ein besonders tiefes Eindringen berechnet waren, mitternachtsblaue Stahlmesser, die eigentlich rasiermesserscharfe Haken waren, welche die behelfsmäßigen Nahkampfwaffen vieler Bolg ersetzten, und natürlich die Scheiben seiner eigenen Cwellan, jener seltsamen, asymmetrischen Waffe, die er noch auf der Insel Serendair erfunden und erfolgreich in seinem mörderischen Geschäft eingesetzt hatte. Grunthor lächelte, als ein Hitzeschwall ihm beim Betreten der ersten Waffenschmiede entgegenschlug. Er schaute stolz zu dem halben Dutzend Galerien von Ambossen und Feuern auf. Der längst verstorbene Gwylliam hatte den Schmiedebereich entworfen, als habe er selbst vorgehabt, hier zu arbeiten. Die Schmieden waren an ein zentrales Belüftungssystem angeschlossen, das den Ruß rumpelnd inmitten des Lärms hoch zu den Gipfeln leitete, wo die Hitze zunächst sinnvoll verwendet wurde, bevor sie endgültig austrat. Das System erlaubte es, dass die einzelnen Schmieden nur von je zwei oder drei Arbeitern bedient wurden, die von einigen Dutzend Wasserträgern und Kohlenschütterträgern unterstützt wurden. Zusätzlich zum natürlichen Gebrüll der künstlichen Wasserläufe machte jede Schmiede ihre eigenen Kurbelgeräusche, unter denen auch kühle Luft zur allgemeinen Zirkulation herbeigepumpt wurde, wodurch der Ort weniger wie ein Inferno, sondern eher wie der Übungsraum eines genialen, wenn auch wahnsinnigen Orchesters wirkte. Der Schmiedemeister gab Grunthor die Bestandsliste und sah angespannt zu, als der Riese sie durchlas und dann die 151 Reihen der schmelzenden und hämmernden, feilenden und härtenden Handwerker überprüfte. Er zählte die fertig gestellten Waffen, verglich sie mit der Bestandsliste und fand dort alle wieder. Außerdem war die Anzahl des Ausschusses während der Ausbildung beträchtlich gesunken. Sie lernten allmählich. Zufrieden gab er die Bestandsliste zurück und ging mit seinen Gehilfen weiter, während er ein Kneipenlied schmetterte. Sein dröhnender Bass echote aus der Berghalle vor ihm und warnte die nächste Gruppe von Schmieden vor seinem unmittelbar bevorstehenden Eintreffen. Ihre Augen sind wie zwei Eier so groß, Und ihre Haut ist so grün wie die See. Öffne die Börse, sie öffnet die Hos’, Sie ist mein Mädchen in Terilee. Als seine Stimme verwehte, wechselten drei der Borgschmiede einen raschen Blick und kehrten dann in den zuckenden Schatten des reinen, hellen Feuers aus dem Herzen der Erde an ihre Arbeit zurück. Nimeth, nordwestliches Sorbold Die Glocke, die das Öffnen der Hintertür anzeigte, schlug heftig. Der alte Ned, der Kesselflicker, hatte seinen Laden bereits vor einigen Stunden geschlossen und es sich mit einem Krug Bier sowie einer Schüssel Lammeintopf vor dem Kamin gemütlich gemacht. Schnell griff er nach einem seiner Hämmer neben dem Kamin. Ächzend erhob er sich und streichelte den Hammer, bevor er ihn zwischen die Falten seiner fleckigen Lederschürze steckte. Der alte Ned war am Abend seines Lebens angekommen, doch er hatte noch immer starke Arme und einen zupackenden Griff. »Wer bist du? Wer ist da?« In den schwachen Feuerschatten, die von den Kohlen im Kamin geworfen wurden, erschienen zwei Gesichter neben der Hintertür. Sogar in der Dunkelheit wirkten sie struppig und grob, aber nicht ganz so grob, wie man es bei Bolg-Gesichtern erwartet hätte; zumindest war das die Ansicht des alten Ned. Wie immer sahen sie Ned nachdenklich an; sie wirkten ernst, aber nicht bedrohlich. Der alte Ned lächelte und legte den Hammer beiseite. »Guten Abend, meine Herren«, sagte er und rieb sich die Kälte aus den Händen. »Ist wohl schon einen Monat her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Bringt ihr mir die letzten Sachen?« Die Männer wechselten einen raschen Blick; dann zogen sie einen Sack aus Ölhaut hervor, die von der Dunkelheit zwischen ihnen zusammengehalten zu werden schien. Sie setzten ihn auf den Dielen ab und lehnten ihn gegen die Rückwand, die als Theke diente; dann zogen sie sich in einen sicheren Abstand in die Schatten zurück. Der alte Ned humpelte gewandt hinüber zur Ladentheke, zog die Schnur auf und öffnete den Sack hastig. Ungeduldig schüttete er ihn aus und kicherte vor Vergnügen, als er den Inhalt sah: Ein seltsames, rundes Wurfmesser mit drei Klingen, das den kleinen glich, die sie ihm vor einigen Monaten gebracht hatten, aber dieses hier war viel schwerer; ein Paar langer, breiter Schwerter mit gebogenen, gefältelten Spitzen; eine kleine Scheibe, dünn wie die Klinge eines Schnappmessers, aber scharf wie eine Rasierklinge. Waffen aus der Fertigung der Bolg. »Ha!«, rief der alte Ned, der seine Erregung nicht verbergen konnte. »Was für Schönheiten, Jungs, was für Schönheiten. Die werden wirklich einen guten Preis bringen.« In seinen Augen glühte die Habgier, als er den Blick wieder auf die dunklen Gesichter in den Schatten richtete. Er nahm die hauchdünne Scheibe auf. »Von denen brauche ich noch zwei, dann ist unser Vertrag erfüllt, ja, dann ist er’s.« »Nein.« Einer der Schatten, die tiefer im Raum standen, als er erwartet hatte, spuckte dieses Wort aus. Der alte Ned drehte sich um und sah, wie die Augen in dem kantigen Gesicht ihn anblitzten. »Jetzt. Gib.« Der alte Ned richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ergriff wieder den Hammer. Er lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Augen in der Dunkelheit und wollte den Mann wie einen Hirsch oder eine Ratte in der Gosse niederstarren. »Blödmann«, knurrte er. »Ich bestimme den Preis, und ich entscheide, wann es genug ...« Seine Stimme erstarb, als ihm der zweite Bolg von hinten eine Klinge, gekrümmt und dünn wie ein Seil, gegen den Hals drückte. »Lass ... los ...«, stotterte Ned. »Bitte ...« »Gib jetzt«, sagte sein Gegner mit harscher Stimme. »Du hast Waffen. Gib jetzt.« »Ja!«, quiekte Ned und hustete rau. »Ich tu’s! Ich tu’s! Lass mich los!« Er machte einen Sprung nach vorn, als ihn der Bolg losließ, und stolperte dann zur Ladentheke, die er mit beiden Händen umklammert hielt. Keuchend beugte er sich über sie. »Es ist... es ist hier hinten«, murmelte er und umrundete die Theke. Er griff unter sie, wobei er beide Bolg im Blick behielt, und zog einen einfachen, zerbeulten Metalltopf mit abgebrochenem Henkel hervor. Er warf ihn dem Bolg zu, der ihn bedroht hatte. »Keine Ahnung, was ihr damit wollt«, murmelte er. »Hässlich wie die Nacht. Überhaupt nichts wert.« Der Bolg, der den Topf nun in der Hand hielt, untersuchte ihn kurz, überprüfte das Innere und nickte dem anderen knapp zu. Sie schlüpften in die Schatten. Die Glocke schlug nicht an, als sie durch die Hintertür verschwanden. Der alte Ned murmelte eine ganze Reihe von Flüchen und wandte die Aufmerksamkeit dann den Bolg-Waffen zu. Er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand so einzigartige, ausgezeichnet gefertigte Waffen gegen einen Topf eintauschte, der nichts als Abfall war. Das beweist, was über die Bolg gesagt wird, dachte er, als er die spiegelnde Scheibe gegen das Licht des ersterbenden Feuers hielt. Nicht ein Körnchen Vernunft bei ihnen zu finden, aber sie machen feine Waffen. 13 Winterfest, Haguefort, Provinz Navarre Die Reihe von Wagen vor den rosig braunen Toren von Haguefort erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Ein großer Strom von Gefährten verstopfte den Eingang nach Haguefort und drückte sich zwischen zwei schlanken Glockentürmen hindurch, die die Grenze zu Stephen Navarnes Land markierten und die Kutscher zur Kriechgeschwindigkeit zwangen. Der heilige Mann seufzte innerlich auf und nippte an seinem Likör. Geduld, ermahnte er sich und schaute aus dem Wagenfenster auf die wogenden Fahnen aus farbiger Seide, die von den Glockentürmen herabhingen und fröhlich in der eisigen Brise flatterten. Unablässig warnte er sein inneres dämonisches Selbst und schmeichelte: Geduld. Er hatte sich dazu entschieden, in seinem Wagen zu bleiben, anstatt in einen der Schlitten zu wechseln, die von den Dienern des Herzogs an der Ostgrenze von Navarne bereitgestellt worden waren. Stephens gut gepflegte Straßen würden eine schnellere Reise nach Haguefort erlauben als eine Schlittenfahrt über den dünnen Schnee, der die Felder und sanft gewellten Hügel überzog. Er hatte die Temperatur falsch eingeschätzt; es war während der vergangenen Tage warm geblieben, sodass der Schnee schließlich in Regen übergegangen war, doch über Nacht war es kalt geworden, und Frost hatte die Felder in glitzernde Eisdecken verwandelt, für die ein Schlitten sehr gut geeignet gewesen wäre. Nun aber steckte er in einer großen Schlange aus Wagen, Karren und Fußverkehr fest. Das Schreien der Tiere, die zum Karneval gebracht wurden, trieb ihn im Verbund mit den auf geregten menschlichen Stimmen dazu, seinen Likör zu trinken und darauf zu hoffen, dass er den Freudenlärm um ihn herum ertränkte. Geduld. Bald würde es beginnen. Bald würde das Warten ein Ende haben. Bald würde seine Geduld belohnt werden. Stephen Navarne blinzelte in die Sonne, beschirmte seine Augen und folgte mit dem Blick dem ausgestreckten Finger von Quentin Baldasarre, dem Herzog von Bethe Corbair. Baldasarre zeigte von ihrem Platz an der Bergseite der Burgtore aus auf den gewaltigen Verkehr unter ihnen. »Da! Ich glaube, ich sehe Tristans Wagen ... er steckt genau in der Mitte fest, zwischen deinen beiden Glockentürmen«, sagte Quentin und senkte den Arm, während Stephen zustimmend nickte. »Armer Kerl. Ich wette, er steckt dort mit Madeleine fest.« »Gute Götter, der arme Tristan«, meinte Dunstin Baldasarre, Quentins jüngerer Bruder. Stephen unterdrückte ein Lächeln. »Schämt euch beide. Ist Madeleine nicht eure Kusine?« Dunstin seufzte theatralisch. »Das ist leider nur allzu wahr, wie ich gestehen muss«, sagte er und hielt sich die Hand in vorgespielter Scham vor das Gesicht. »Aber bitte, freundlicher Herzog, richtet nicht zu unbarmherzig über unsere Familie, weil sie diese Frau hervorgebracht hat. Niemand außer dem All-Gott ist vollkommen.« »Nur sind einige es noch weniger als andere«, meinte Quentin und leerte seinen Becher mit gewürztem Rum. Die Kutscher ließen ihre Passagiere sehr langsam und umsichtig aussteigen, damit sie nicht von den Karren der Stadtbewohner überrollt wurden. Stephen wandte sich an Owen, seinen Kammerherrn. »Owen, schick das dritte Regiment aus, damit ein Teil des Verkehrs auf die Waldstraße und durch das Westtor umgeleitet wird«, befahl er. Er wartete, bis Owen nickte und ging; dann redete er wieder mit den Brüdern Baldasarre. »Wenn es nach Tristan geht, wird Madeleine eines Tages unsere Königin sein«, sagte er ernsthaft. »Vielleicht ist es das Beste, sich nicht über sie lustig zu machen.« »Na, heute sind wir wirklich ziemliche Miesepeter«, sagte Dunstin frech. »Anscheinend hast du uns nicht genug von deinem herrlichen Glühwein gegeben.« »Weil du schon die Ration einer ganzen Legion versoffen hast und für keine andere lebende Seele mehr etwas übrig geblieben ist«, gab Quentin zurück, bevor Stephen etwas erwidern konnte. »Das nächste Mal solltest du vielleicht einen Trog damit füllen und deine Schnauze hineinhängen, du Suffkopp!« »Wenigstens ist Cedric hier«, sagte Stephen rasch, als Dunstin Quentin einen wütenden Stoß gab. »Sein Wagen wird gerade entladen, zusammen mit den Bier wagen des Grafen.« »Hurra!«, schrie Dunstin. »Kannst du erkennen, welcher der von Andrew ist?« Stephen schaute wieder in die Sonne und erspähte einen großen und schlanken jungen Mann mit einem dunklen Bart, der vier Wagen voller Holzfässer einwies. »Der Erste, der jetzt auf die Waldstraße abbiegt. Da hinten siehst du ihn?« Er winkte dem Mann zu und erhielt ein Winken als Antwort. Stephen lächelte. Cedric Canderre, der Onkel der Baldasarres und Madeleine Canderres Vater, der zukünftige Herrscher Rolands, war Herzog und Regent der Provinz, die seinen Namen trug. Obwohl sein Land politisch nicht so mächtig war wie die meisten anderen Provinzen, wurde Cedrics Ankunft beim Winterkarneval immer mit großer Freude aufgenommen. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war Cedric Canderre ein berühmter Spaßvogel, ein stattlicher, fröhlicher Mann mit einem großen Hunger auf alle feineren Dinge des Lebens sowie die Ausschweifungen, zu denen sie führen konnten. Als Madeleines Mutter noch gelebt hatte, waren einige dieser Vergnügungen eine Quelle großer Bestürzung und gelegentlicher Peinlichkeiten für die Familie gewesen. Ihr zu früher Tod hatte es Cedric ermöglicht, seinen Neigungen zu frönen, was er nun mit einer Heftigkeit tat, die es besonders bei Festen angenehm machte, in seiner Nähe zu sein. Der zweite und möglicherweise wichtigere Grund waren die Gaben seiner Provinz, die mit ihm in den Wagen reisten. In Canderre wurden wahre Luxusgüter hergestellt; bei ihnen handelte es sich um Dinge, deren unübertroffene Qualität in der ganzen Welt bekannt war. Dazu zählten auch verschiedene alkoholische Getränke: Weine, Liköre, Branntweine und anderes mehr. Cedrics Kaufleute verlangten hohe Preise für diese Waren und zahlten keine Zölle im zwischenstaatlichen Handel, sodass die freie Verteilung dieser seltenen und teuren Schätze auf Stephens Karneval immer mit großer Freude erwartet wurde. Sir Andrew Canderre, der Vicomte de Paige, der nordöstlichen Gegend von Canderre, die an der Grenze zu Yarim und Hintervold lag, war Cedrics ältester Sohn und wichtigster Ratgeber sowie ein guter Freund Stephen Navarnes. Graf Andrew war das genaue Gegenteil seines Vaters. Während Cedric wohlbeleibt war und gewichtig daherschritt, war Andrew schlank und gewandt und arbeitete oft stundenlang zusammen mit den Kaufleuten und Fuhrmännern seiner Provinz. Es war auch bekannt, dass er beim Unterhalt seiner Besitztümer selbst Hand anlegte; die Stallungen und Scheunen der Adligen waren berühmt für ihre Sauberkeit. Während Cedric selbstgefällig, witzig und aufbrausend war, war Andrew zurückhaltend, großzügig und geduldig. Daher war das Haus Canderre in Roland, jenseits des Meeres und im größten Teil der Seehandelswelt hoch angesehen. Stephen beschirmte wieder die Augen, während sein Lächeln breiter wurde. Andrew bahnte sich einen Weg auf sie zu; es war ihm gelungen, seine Karawane durch die Tore zu steuern. »Das sieht mal wieder gut aus, Stephen«, sagte er und streckte die Hand aus. »Gut gemacht, Andrew«, antwortete Stephen und ergriff die Hand. »Da ist er, der Biergraf, der Baron der Brauereien, der Herr der Zecherei«, meinte Dunstin und hielt ihm einen Bierkrug entgegen. »Wunderbar pünktlich, wie immer, Andrew. Du kommst gerade recht, um uns von Stephens Schweinetrank zu erlösen. Nimm einen Schluck, und du weißt, was ich meine.« »Es ist wie immer eine Freude, dich zu sehen, Dunstin«, meinte Andrew trocken. »Quentin.« »Andrew, du siehst blendend aus; ich wünsche dir einen guten Winter«, sagte Quentin. »Wie geht es Jecelyn von Bethe Corbair, deiner zukünftigen Frau?« »Ich wünsche dir gute Gesundheit. Möge die nächste Wintersonnenwende dich im selben Zustand antreffen«, erwiderte Andrew. »Jecelyn geht es gut, vielen Dank. Stephen, darf ich kurz deine Zeit beanspruchen? Ich möchte sicherstellen, dass die Fuhrleute die Fässer genau dorthin bringen, wo du sie haben willst.« »Natürlich. Bitte entschuldigt uns.« Stephen verneigte sich höflich vor den Gebrüdern Baldasarre, ergriff Andrews Ellbogen und geleitete ihn den Weg zur Speisekammer der Festung hinunter, wo die Waldstraße endete. »Vielen Dank«, sagte er zu Andrew, sobald sie außer Hörweite waren. »Es war mir ein Vergnügen.« Llauron, der Fürbitter der Filiden, lächelte, als er zusah, wie die Seligpreiser des Patriarchen zu den fröhlichen Klängen von Stephens Hoforchester aus ihren Wagen stiegen. Die verschiedenen Segner waren zum Teil schon vor fünf Stunden eingetroffen, doch einige waren die ganze Zeit in ihren Wagen geblieben, damit sie sicher sein konnten, ihren großen Auftritt zu haben. Berichten aus Sepulvarta zufolge nahten die letzten Tage des Patriarchen, und unter den Adligen und der Priesterschaft kochten die Gerüchte, wer wohl sein Nachfolger werden mochte. Der Erste, der seinen Wagen verließ, war Ian Steward, der Bruder von Tristan Steward, des Herrschers von Roland. Er war der Segner der Provinzen Canderre und Yarim, obwohl Vrackna, seine Basilika, der Rundtempel des Elementarfeuers, in der Provinz Bethania stand. Bethania hatte einige Gläubige zum Gebet in die Sternen-Basilika Lianta’ar geschickt, die Basilika des Patriarchen im heiligen Stadtstaat von Sepulvarta. Trotz Tristans Einfluss war es Llaurons Ansicht nach unwahrscheinlich, dass der Patriarch Ian zu seinem Nachfolger bestellen würde. Zwar war Ian Steward ein liebenswerter Mann mit anscheinend gutem Herzen, aber er war noch recht jung und zu unerfahren, um eine solch gewaltige Verantwortung übertragen zu bekommen. Doch vielleicht würde gerade wegen seiner Jugend die Wahl des Patriarchen auf ihn fallen. Einige andere Seligpreiser waren fast so alt wie der Patriarch und würden für eine unausweichliche Unbeständigkeit sorgen, wenn sie selbst in wenigen Jahren den Lohn des jenseitigen Lebens empfangen würden. Zwei der besten Beispiele für dieses Problem waren die nächsten beiden, die ausstiegen und sich dabei gegenseitig stützten. Lanacan Orlando, der kräftigere der beiden, war der Segner von Bethe Corbair und hielt die Gottesdienste in seiner Stadt unter dem heiligen Glockenturm in der wundervollen Basilika von Ryles Cedelian ab, der dem Wind geweihten Kathedrale. Der stille und bescheidene Lanacan war als fähiger Heiler berühmt und womöglich genauso begabt wie Khaddyr, doch große Menschenansammlungen machten ihn nervös, und er besaß keine wirkliche Ausstrahlung. Llauron hielt ihn kaum für einen wahrscheinlichen Nachfolger und war recht sicher, dass Lanacan erleichtert wäre, wenn er wüsste, dass er nicht auf der Liste stand. Colin Abernathy, der Segner der Neutralen Zone im Süden, der sich auf Lanacan stützte, während sie über den gefrorenen Pfad schritten, war älter und gebrechlicher als sein Freund, aber politisch mächtiger. Doch er hatte keine Basilika, in der er Messen lesen konnte. Dieser Umstand kam Llauron oft in den Sinn, wenn er darüber nachdachte, wer der Wirt des F’dor sein könnte. Ein dämonischer Geist wäre nicht in der Lage, auf geweihtem Boden zu stehen, und die Basiliken waren der heiligste Grund und Boden, den es gab. Die fünf Elemente selbst heiligten den Boden, auf dem sie errichtet waren. Sogar ein F’dor mit gewaltiger Macht könnte an einem solchen Ort nicht überleben. Aber Colin Abernathy musste das auch nicht. Seine Messen las er in einer großen Arena, einer ungesegneten Basilika, wo er sich um eine Gemeinde kümmerte, die sich aus vielen verschiedenen Gruppen zusammensetzte Lirin aus der Ebene, Einwohner von Sorbold, die zu weit entfernt von ihrer eigenen Kathedrale lebten, um dorthin zu pilgern, Seeleute aus den Fischerdörfern noch weiter im Süden und die große Gruppe der Unzufriedenen. Abernathy war die zweite Wahl bei der Nachfolge des letzten Patriarchen gewesen und dem gegenwärtigen unterlegen, und seitdem zürnte er der Kirchenführung. Wenn er der Wirt des F’dor war, würde er sich bald nach einem jüngeren Körper umsehen; das wusste Llauron. Aber der Fürbitter war eher geneigt zu glauben, dass die Bestie nicht in einem Mitglied der Geistlichkeit steckte, sondern in einem der Provinzführer, was die Möglichkeit eröffnete, dass es sogar sein guter Freund Stephen war. Der vierte Seligpreiser wartete eine große Fanfare ab, um auszusteigen. Philabet Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne, der über die große Wasser-Basilika Abbat Mythlinis herrschte, war jünger als die beiden ältlichen Seligpreiser, aber alt genug, um die Weisheit des fortgeschrittenen Lebens für sich zu beanspruchen. Er war prunksüchtig und wichtigtuerisch; Llauron empfand seine Anmaßung abwechselnd als ärgerlich und belustigend. Griswold hatte kein Geheimnis aus seinem Verlangen gemacht, Patriarch zu werden, und mit dem Aussteigen gewartet, bis die heilige Hymne von Sepulvarta gespielt wurde. Sein Gefühl für den richtigen Augenblick war unfehlbar; es hatte den Anschein, als werde die Hymne ihn zu Ehren gespielt. Das dunkle Gesicht Nielash Mousas, des Segners von Sorbold, glich einer Gewitterwolke, als er kurz hinter Griswold aus seinem Wagen stieg. Ihr Wettstreit um das Patriarchat, den sie aus politischen Gründen lange geheim gehalten hatten, war nun zu einem offenen Kampf um den kirchlichen Thron von Sepulvarta geworden. Mousa war aus seinem kargen Land hergekommen, hatte dem Schnee und den schlechten Reisebedingungen getrotzt, um beim Winterkarneval öffentlich aufzutreten. Seine Basilika war die einzige der fünf Elementarkathedralen, die sich nicht innerhalb des Staatsgebiets von Roland befand. Terreanfor, der Tempel der Erde, lag tief in den nördlichen Zahnfelsen von Sorbold, versteckt innerhalb des Nachtberges. Seine Kandidatur für das Patriarchat war ein harter Kampf; das wusste Llauron. Der Wettstreit zwischen Mousa und Griswold würde blutig werden. »Ah, Euer Gnaden, ich sehe, Ihr seid gut angekommen. Willkommen!« Stephens Stimme drückte echte Freude aus. Llauron drehte sich lächelnd um und begrüßte den jungen Herzog. »Eine gute Sonnenwende, mein Sohn«, sagte er und ergriff Stephens Hand. Er warf einen Blick über den Festplatz, dessen helles Gepränge sich gegen den jungfräulichen Schnee unter einem klaren, blauen Himmel abhob. »Es scheint ein wunderbares Fest zu werden, wie immer. Was ist die offizielle Schneeskulptur in diesem Jahr?« »Sie haben ein maßstabgetreues Modell des Gerichtsgebäudes in Yarim gebaut, Euer Gnaden.« Llauron nickte anerkennend. »Ein wirklich wunderschönes Gebäude. Ich bin gespannt, wie sie es geschafft haben, den Schnee bei den Minaretten in Form zu halten.« »Darf ich Euch einen Branntwein anbieten? Graf Andrew Canderre hat ausgezeichneten Nachschub gebracht, unter dem sich ein ganz besonderes Fass befindet.« Stephen hielt ein silbernes Schnapsgläschen hoch. »Ich habe Euch etwas von meinem Vorrat mitgebracht.« Das Gesicht des Fürbitters erhellte sich, und er nahm den Branntwein dankbar entgegen. »Er sei gesegnet, und du auch, mein Sohn. Es geht nichts über etwas Wärme im tiefsten Winter.« »Ich sehe, Eure Vertrauten sind auch hier. Sehr gut«, sagte Stephen und winkte Khaddyr zu, als der Heiler hinter den weißen Gästezelten in Sicht kam. »Ist es möglich, dass auch Gavin hier ist?« Llauron lachte. »Ja, wirklich, die Planeten müssen bei dieser Sonnenwende alle hintereinander stehen, sodass Gavins Terminplan es ihm erlaubt, hier zu sein. Erstaunlich, nicht wahr?« »Allerdings! Da ist er, hinter Lark. Und Ilyana, mit Bruder Aldo. Ich bin so froh, dass ihr alle kommen konntet.« Llauron beugte sich vor und flüsterte Stephen verschwörerisch ins Ohr: »Nun, hier wimmelt es vor Fürbittern. Ich musste alle filidischen Anführer mitbringen, um einen Massenabfall vom Wahren Glauben zu verhindern.« Tristan Steward reichte seiner Verlobten die Hand und half ihr höflich aus dem Wagen, wobei er sich bemühte, nicht die Beherrschung zu verlieren und sie mit dem Gesicht voran in die tiefste Schneewehe zu stoßen, die er finden konnte. Ich bin gestorben, und die Unterwelt sieht genauso aus wie diese hier, allerdings bin ich dazu verdammt, die Ewigkeit in der dauernden Gegenwart dieser Seelen verzehrenden Hexe zu verbringen, dachte er müde. Welche verdammenswürdigen, bösen Taten habe ich wohl begangen, dass ich dies verdiene? Er hatte auf der Reise von Bethania zu Stephens Festung eine neue Fähigkeit erlernt: die Fähigkeit des halben Zuhörens. Da Madeleines endloses Plaudern keine Anzeichen des Nachlassens zeigte, nicht einmal während des Ausstiegs, wandte er diese Fähigkeit nun an. Er warf einen Blick auf Haguefort und die Felder dahinter, die im hellen Licht des Morgens glitzerten. Stephen und die Natur hatten sich wunderbar ergänzt. Leuchtende Eis Juwelen, die der Sturm der vergangenen Nacht übrig gelassen hatte, schmückten die Zweige der Bäume, welche die Wege zur Festung säumten und mit wolligen Wolken aus frischem Schnee überzogen waren. Stephen wiederum hatte Hagueforts Zwillingstürme mit leuchtenden weißen und silbernen Bannern ausgestattet, welche das Wappen seines Hauses tru gen, und die hohen Laternenpfähle, die gewissenhaft im Hof und an den Wegen verteilt waren, mit langen Spiralen aus weißen Bändern umwickelt, die wie stille Maibäume in der steifen Brise flatterten. Es sah bezaubernd aus. Die fernen Felder waren für die Schlittenrennen und andere winterliche Wettbewerbe vorbereitet, und man hatte große Zelte für die Herdfeuer und die unzähligen Besucher von außerhalb der Provinz errichtet. Banner in allen Farben des Regenbogens schmückten die welligen Felder bis hin zu dem jüngst errichteten Wall, von dem Stephen hoffte, er werde sein Land und seine Untertanen schützen. Tristan sah, dass die gewaltige Grube schon mit trockenem Unterholz für das feierliche Feuer angefüllt war, das am letzten Abend stattfinden würde ein Schauspiel, für das der Gastgeber berühmt war. Der frische Winterwind biss ihm in die Nase, und er roch brennendes Nussbaumholz. Dieser Geruch erinnerte ihn an seine Kindheit und die Feste, die Stephens Vater gegeben hatte. Als Jungen hatten er, sein Vetter und ihre Freunde Andrew Canderre, die Gebrüder Baldasarre und der schon seit zwanzig Jahren tote Gwydion von Manosse sowie eine Menge anderer jedes Jahr der Wintersonnenwende mit einer Erregung entgegengefiebert, die größer gewesen war als bei jedem anderen Anlass. In ihrer Süße schmerzlicher als alle anderen Erinnerungen waren die an Prudence, seine Freundin aus Kindertagen, seine erste Geliebte, ein lachendes Bauernmädchen mit rotblonden Locken und einem großartigen Sinn für Humor, seine Liebste, sein Gewissen. In seinen Jugendtagen war sie ein Teil des Wolfsrudels gewesen, wie er und seine Freunde genannt wurden, und hatte mit ihnen an Schlittenrennen und Tauziehen, an Pastetenwettessen und Schneeballschlachten teilgenommen. Sie war genauso gut darin gewesen wie die anderen. Besser. Hatte seinen Freunden das Herz gestohlen. Prudence. Wie er sie damals geliebt hatte, mit der Unschuld eines Jungen, die zu etwas Größerem heranwuchs. Tristan schnürte es die Kehle zu, als er und Madeleine durch Hagueforts Haupteingang schritten. Es war der Ort, an dem Prudence in der Nacht auf ihn gewartet hatte, bis er aus den Gästezimmern seiner Familie in jenem Teil der Festung, der den Adligen vorbehalten war, hatte forthuschen können. Er hatte sie vom Balkon aus gesehen, und ihre rotblonden Locken hatten im Fackelschein geleuchtet; sie hatte auf ihn gewartet, auf ihn allein. Selbst Jahre später, als die Herzogswürde auf ihn übergegangen und sie seine Dienerin geworden war, hatte sie ihn noch im selben Hof erwartet, heimlich seiner geharrt und ausgelassen gekichert, wenn er schließlich zu ihr geschlichen war, mit ihr ein Versteck aufgesucht und unter unzähligen betrunkenen Zechern geschlafen hatte und sie zusammen ihre Jugend, ihre Verbindung, ihr Leben gefeiert hatten. Wie sehr er sie immer noch liebte! Ihr grausamer Tod durch die Bolg hatte ihm jede Freude geraubt eine Freude, die immer zu Prudence gehört und die er nur von ihr empfangen hatte, was ihm nie bewusst gewesen war. Ohne sie waren seine Tage voller Melancholie und Schuldgefühle, da er ihren Tod seiner eigenen Selbstsucht zuschrieb. Er hatte sie in die Klauen der Ungeheuer geschickt, und sie war nie zurückgekehrt. Keiner seiner Freunde und Mit-Herzöge, nicht einmal Stephen, glaubte, dass ihr Tod das Werk der Bolg war, wie sehr er sie auch davon zu überzeugen versucht hatte. Aber das wird bald vorbei sein, dachte er verbittert. Bald würden die Streitgespräche beendet sein. »Tristan?« Er blinzelte und zwang sich zu einem kleinen Lächeln, als er hinunter auf Madeleines unangenehmes kantiges Gesicht schaute. »Ja, meine Liebste?« Seine Verlobte seufzte verärgert. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört, nicht wahr?« Rein mechanisch hob Tristan ihre behandschuhte Hand an die Lippen und küsste sie. »Meine Liebe, mir entgeht keines deiner Worte.« 166 Auch wenn die gesamte Elite und die Einflussreichen von Roland Stephens Fest dazu benutzten, sich der Öffentlichkeit zu zeigen und geheime Geschäfte abzuschließen, war es doch das einfache Volk, für das dieses Fest in Wirklichkeit stattfand. Im größten Teil Rolands war der Winter eine harte und entbehrungsreiche Zeit, eine Zeit, in welcher sich der durchschnittliche Bürger in sein Haus zurückzog, nachdem er es so gut wie möglich abgedichtet hatte, und darum kämpfte, die bitteren Monate zu überleben. Der Karneval verschaffte ihm die Gelegenheit, die Jahreszeit zu feiern, bevor der Winter Grund zum Fluchen gab, wie es jedes Jahr der Fall war. Stephen zählte auf das zu dieser Zeit übliche Wetter und richtete wie jedes Jahr den Karneval in den mildesten Tagen des frühen Winters aus. Mit einer einzigen Ausnahme in zwanzig Jahren hatte er damit Erfolg gehabt. Seine Freundschaft mit dem Fürbitter der Filiden, des Ordens, der die Natur anbetete, verschaffte ihm Zugang zu ihren Informationen über heraufziehende Stürme, Tauwetter, gefrierende Winde und Schneefall. Ihre beeindruckende Gabe, das Wetter vorherzusagen, garantierte ein erfolgreiches Fest. Es wurde allgemein angenommen, dass der Orden der Filiden das Wetter nicht nur beobachtete und vorhersagte, sondern es auch beeinflussen konnte, was besonders auf den Fürbitter zutraf. Wenn das wirklich stimmte, waren sie angesichts des beständig guten Wetters beim Sonnenwendfest Stephen gegenüber sehr freigebig. Die ersten beiden Tage der Feierlichkeiten waren von Prunk gekennzeichnet; es gab Spiele und Rennen, Wettkämpfe und Darbietungen, Tanz und Lustbarkeiten, die von Überfluss an gutem Essen und Trinken befeuert wurden. Der dritte und letzte Tag war den religiösen Bräuchen der Wintersonnenwende gewidmet; die Zeremonien wurden nach beiden Regeln abgehalten. Hier setzte sich das religiöse Posieren fort, Filide gegen Patrizianer, sehr subtil und schlimmer denn je, weil der Patriarch seinem Ende entgegensah. In den Jahren, in denen der Fürbitter einen Sturm oder schlechtes Wetter vor der Sonnenwende vorhersagte, dem besseres 167 Wetter folgte, wurde die Reihenfolge des Festes umgekehrt, die religiösen Bräuche zuerst begangen und an den beiden folgenden Tagen das Fest gefeiert. Wenn das geschah, war der Karneval regelmäßig verdorben; daher war Stephen erfreut, dass das Wetter in diesem Jahr mitspielte und es zuließ, dass die Festlichkeiten zuerst kamen. Nun saß er zusammen mit Tristan, Madeleine und den religiösen Führern, die sich ausschließlich miteinander unterhielten, auf der Paradetribüne, schaute den verschiedenen Rennen und Spielen zu und nahm manchmal selbst an einem teil. Sein Sohn Gwydion Navarne hatte sich als sehr geschickt bei den Schneeschlangen erwiesen, einem Wettbewerb, bei dem lange, biegsame Stangen durch Eiskanäle im Schnee gesteckt werden mussten. Stephen hatte das königliche Protokoll vergessen, war erregt am Rande des Kampfplatzes herumgesprungen, hatte Gwydion im Halbfinale angefeuert und ihn getröstet, als er am Ende doch verloren hatte. Eigentlich hatte der Junge keinen Trost benötigt; bei der Ausrufung des Gewinners, eines rothaarigen Bauernsohnes namens Scoutin, hatte er gelächelt und ihm die Hand zur Gratulation entgegengestreckt. Als die Jungen einander die Hände schüttelten, musste Stephen Tränen des Stolzes und Verlustes zurückhalten. Sie sehen aus wie Gwydion von Manosse und ich, dachte er und erinnerte sich seines Freundes aus der Kindheit, des einzigen Sohnes von Llauron. Er warf einen Blick zurück auf den Fürbitter. Dem Nicken und Lächeln nach zu urteilen, das er Stephen schenkte, war ihm soeben derselbe Gedanke gekommen. Nun wartete er gespannt auf das Ergebnis von Melisandes Rennen, einem witzigen Wettkampf, in dem die Teilnehmer kleine Schlitten mit je einem fetten Schaf darauf an Stricken um die Hüfte voranzogen. Es war notwendig, dass sowohl Schaf als auch Kind gemeinsam über die Ziellinie kamen, doch an diesem Nachmittag hatten die Schafe andere Pläne. Mellys fröhliches Kichern war unüberhörbar; es trieb in der dampfenden Luft über ihn hinweg, als sie in den Schnee fiel und dann wieder auf den Start zulief, weil sie einem blökenden Mutterschaf nachjagen musste. Widerstrebend ließ sie sich von ihrem Vater in den Arm nehmen und wurde in eine grobe Wolldecke gewickelt, die Rosella, die Gouvernante, ihm gegeben hatte. »Vater, bitte! Mir ist nicht kalt, und wir werden die Schneesüßigkeiten verpassen.« »Die Schneesüßigkeiten?«, fragte Tristan lächelnd. »Das bringt Erinnerungen zurück, Navarne.« Madeleine hob eine Augenbraue, und der Herrscher von Roland wandte sich ihr zu. »Du musst etwas davon probieren, Liebes, es ist wunderbar. Die Köche bringen gewaltige Fässer mit Karamellzucker zum Kochen und schütten ihn in Linien in den Schnee, wo er • in der Kälte hart wird; dann tunken sie ihn in Schokolade und Mandelkrem. Es kommt immer zu ziemlichen Tumulten, weil jeder den ersten Schub haben will.« »In den Schnee?«, fragte Madeleine entsetzt. »Nicht auf den Boden«, beeilte sich Stephen zu sagen und zupfte an Melisandes Haar, damit das Erstaunen über Madeleines Reaktion aus ihrem Gesicht verschwand. »Es wird sauberer Schnee gesammelt und auf großen Kuchenbrettern ausgebreitet.« »Es klingt trotzdem ekelhaft«, bekundete Madeleine. Stephen erhob sich, als Tristan in eine andere Richtung schaute und seufzte. »Komm mit, Melly. Wenn wir uns beeilen, bekommen wir vielleicht etwas vom ersten Schub ab.« Er versuchte nicht in Tristans Gesicht zu sehen, doch es entging ihm nicht, dass sein Vetter wie ein Mann aussah, der die ganze Welt verloren hatte. An diesem Fest der längsten Nacht des Jahres brach die Dämmerung früh, aber nicht zu früh herein. Als das Licht vom Himmel schwand, begaben sich die Feiernden und Zecher zum festlichen Mahl, das selbst ein Ereignis war. Rosella stand im Schatten des Kochzeltes und beobachtete die Feiern mit Freude. Melisande und Gwydion hüpften um ihren Vater in der Nähe des Freiluftgrills herum, in dem vier Ochsen über den glühenden Kohlen brieten, und erfüllten die frostige Luft mit fröhlichem Gelächter und freudigen Rufen. So lange sich die Kinder in seiner Obhut befanden, hatte der Herzog Rosella von ihren Pflichten entbunden und ihr vorgeschlagen, sie solle sich auf dem rauschenden Fest umschauen. Sie hatte gehorcht. Verborgen stand sie da und betrachtete das, was ihr Herz am meisten erfreute. Seit jenem Tag vor vier Jahren, als sie im Alter von noch nicht zwanzig Jahren nach Haguefort geschickt worden war, um für die Kinder des kürzlich verwitweten Herzogs zu sorgen, war Rosella in Stephen verliebt. Im Gegensatz zu Baron MacAlwaen, zu dem ihr Vater sie ursprünglich hatte schicken wollen, war Stephen freundlich und rücksichtsvoll und behandelte sie nicht wie eine Bedienstete, sondern wie ein Mitglied seiner Familie. Zuerst war er zurückhaltend freundlich gewesen; Lydia Navarne, seine junge Frau, war vor wenigen Wochen brutal ermordet worden, und Stephen war lange Wochen wie benommen umhergelaufen und hatte sich um die Angelegenheiten seines Herzogtums und seiner Familie mit der Gründlichkeit eines Menschen gekümmert, dessen Verstand ganz bei der Sache ist, aber dessen Seele sich anderswo befindet. Allmählich war der Herzog lebendiger geworden, als ob er aus einem langen Schlaf aufwachte. Hauptsächlich spornte ihn die Notwendigkeit an, seinen mutterlosen Kindern ein guter Vater zu sein. Rosellas Zuneigung zu ihm wuchs, als sie beobachtete, wie liebevoll er mit Meslisande und Gwydion umging, die sie wie ihre eigenen Kinder liebte. Ihre Tagträume waren erfüllt von den romantischen, dummen Unmöglichkeiten eines Klassenkampfes, von dem Überwinden des klaffenden Abgrunds zwischen Herr und Dienerin, von einer Brücke zwischen ihrer beider Leben. Die Tatsache, dass Stephen nichts von ihren Gefühlen bemerkte, gab ihr die Freiheit zum Träumen, ohne dabei Schuldgefühle zu entwickeln, die eine andere Wirklichkeit mit sich bringen könnten. »Frohe Sonnenwende, mein Kind.« Rosella zuckte zusammen und drückte sich in das flatternde Tuch des Kochzeltes, als sie die tiefe Stimme hörte. Der schwere Geruch von Braten stieg ihr in die Nase zusammen mit einer säuerlichen Andeutung brennenden Fleisches. »Frohe Sonnenwende, Euer Gnaden.« Das Herz schlug ihr heftig gegen die Rippen. Sie hatte nicht gesehen, wie der religiöse Führer aus den Schatten der Feuergrube getreten war. Es war beinahe so, als wäre er ein Teil der tanzenden Flammen gewesen, bevor er sie angesprochen hatte. Wegen Stephens engen Beziehungen zu den religiösen Führern beider Glaubensrichtungen, des patriarchalischen Ordens und des Ordens der Filiden, war die Gegenwart heiliger Männer in der Festung nichts Ungewöhnliches. Rosella war als Anhängerin des Patriarchen erzogen worden, fühlte sich aber in der Gesellschaft beider Arten von Geistlichen unwohl. Der heilige Mann lächelte und streckte die Hand aus. Als hätte ihre Hand einen eigenen Willen, spürte sie, wie sich die Innenfläche nach oben drehte und die Finger sich langsam öffneten. Sie konnte den Blick nicht von den funkelnden Augen abwenden, in denen sich die Flammen des Kochfeuers widerspiegelten. Ein kleiner Beutel aus weichem Stoff fiel auf ihre offene Handfläche. »Ich vermute, du weißt, was du damit tun sollst, mein Kind.« Rosella wusste es nicht, aber ihr Mund antwortete für sie. »Ja, Euer Gnaden.« Die Augen des heiligen Mannes glänzten rot im Feuerschein. »Gut, gut. Möge dein Winter gesegnet und gesund sein; möge der Frühling dir dasselbe bescheren.« »Vielen Dank, Euer Gnaden.« »Rosella?« Rosella sah hinunter auf Melisande, die sie ungeduldig am Rock zupfte. Sie schaute auf die bratenden Ochsen, während der Herzog von Navarne und sein Sohn Rosella fragend ansahen. »Komm, Rosella, komm! Der Ochse wird gleich angeschnitten, und Vater hat dich eingeladen, mit uns zu essen!« Rosella nickte benommen und schaute sich nach der Stelle um, wo der heilige Mann gestanden hatte, aber er war verschwunden. Die Lagerfeuer knisterten in der Dunkelheit und schickten Ranken aus Rauch himmelwärts. Heisere, trunkene Gesänge und fröhliches Lachen hallten über die frostigen Felder von Haguefort. Der wilde und chaotische Festlärm kratzte wie ein Nagel über Tristans Trommelfell. Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück gegen die kalte Wand der dunklen Veranda, auf der er saß, und nahm einen weiteren Schluck aus der besonderen Portweinflasche, die Cedric Canderre ihm nach dem Sanges Wettstreit an jenem Abend zugesteckt hatte. Früher waren die orgiastischen Laute des Winterfestes Musik in seinen Ohren gewesen. Ein Gefühl schierer Unbeherrschtheit hatte während der Sonnenwende in der Luft gelegen, eine ungestüme, rastlose Erregung, die sein Blut aufgewühlt hatte. Da nun Prudence den Nervenkitzel nicht mehr mit ihm erlebte, war alle Leidenschaft zur bloßen Kakophonie geworden. Er trank den Portwein in großen Schlucken, um den Lärm auszublenden oder ihn wenigstens zu einem dumpfen Röhren herabzudrücken. Noch stärker versuchte er, die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Tristan war es lange Zeit nicht gelungen, dem Flüstern zu entkommen oder denjenigen auszumachen, der die Worte zu ihm gesprochen hatte. Er erinnerte sich schwach an den ersten Tag, an dem er sie gehört hatte. Es war nach einem schrecklichen Treffen im Sommer gewesen, zu dem er alle orlandischen Geistlichen und Adligen in dem fruchtlosen Versuch eingeladen hatte, sie von der Zusammenlegung ihrer Heere zu überzeugen und an den Bolg Rache zu nehmen, angeblich wegen ihres Angriffs auf seine Wachen, in Wahrheit aber als Vergeltung für Prudences grausamen Tod. Seine Mitherrscher hatten ihn für verrückt gehalten und sich einmütig geweigert, ihn zu unterstützen. Unter ihnen hatte sich sogar sein Vetter Stephen Navarne befunden, der ihm so nahe wie ein Bruder stand. Es war ihm so vorgekommen, dass nach diesem Treffen jemand versucht hatte, ihn zu trösten. Stephen vielleicht? Nein, dachte er, während er benommen den Kopf schüttelte. Nicht Stephen. Ein älterer Mann mit freundlichen Augen, die an den Rändern ein wenig zu brennen schienen. Ein heiliger Mann, dachte er, aber ob er aus Sepulvarta oder Gwynwald kam, wusste Tristan nicht zu sagen. Er versuchte sich das Bild des Mannes ins Gedächtnis zu rufen, den Raum um die körperlosen Augen auszufüllen, doch sein Geist wollte ihm nicht gehorchen. Es blieb ihm nichts anderes als die Worte, die andauernd wiederholt wurden, sobald er sich in der Stille verlor. Schließlich könntest du derjenige sein. Plötzlich war es Tristan kalt. Er erinnerte sich an dasselbe Gefühl, als er die Worte zum ersten Mal gehört hatte an eine Kälte, welche die Wärme in den Augen des heiligen Mannes Lügen gestraft hatte. Er zog seinen Mantel enger um sich, rutschte auf der eisigen Steinbank herum und versuchte, die kalten Beine zu wärmen. Derjenige wofür?, hatte er gefragt. Der Eine, der Roland wieder Frieden und Sicherheit bringt. Der Eine, der den Mut hat, das Chaos aufzuhalten, welches in der Adelsstruktur dieses Landes grassiert, und den Thron zu besteigen. Wenn du die Herrschaft über ganz Roland hättest, nicht nur über Bethania, dann würdest du sämtliche Heere kontrollieren, die du heute vergeblich zusammenzubringen versucht hast. Deine Kameraden, die Herzöge, können Nein zum Prinzregenten sagen, doch dem König könnten sie sich nicht widersetzen. Deine Linie ist so würdig wie jede andere, Tristan, und sogar würdiger als die meisten. Nun brannte Säure in seinem Hals, wie damals; es war der bittere Geschmack der Erniedrigung, der Abweisung. Tristan nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ich bin nicht derjenige, den Ihr überzeugen müsst, Euer Gnaden, hatte er mürrisch erwidert. Falls das Fiasko heute Morgen nicht schon Beweis genug war, dann lasst mich Euch versichern, dass meine Mitregenten die zukünftigen Ereignisse nicht so klar erkennen können wie Ihr. Die Augen hatten gelächelt. Überlass das ruhig mir. Deine Zeit wird kommen. Sorge nur dafür, dass du bereit bist, wenn es so weit ist. Und noch etwas. Ja? Du wirst über das nachdenken, was ich dir gesagt habe, ja? Tristan erinnerte sich, dass er wie betäubt genickt hatte. Er hatte sein Wort gehalten; die Stimme war endlos in seinem Kopf und in seinen Träumen erklungen, sobald er allein oder in der Stille war. Dem König können sie sich nicht widersetzen. Tristan nahm einen weiteren tiefen Schluck und wischte ein paar vergossene Tropfen mit dem groben Ärmel seines Mantels ab. In der Ferne lachte eine Frau; Tristan schreckte benommen aus seinem trunkenen Tagtraum hoch. Er sah, wie auf der anderen Seite des Hofes ein Liebespaar von Säule zu Säule lief; sie spielten Verstecken, lachten sanft, verrückt, brachten einander in angeheiterter Freude wieder zum Schweigen. Das blonde Haar der Frau leuchtete im Fackelschein kurz auf und verschwand dann in den Schatten. Wie weichendes Fieber verstummte die Stimme, als Tristan die Gedanken auf seine andere Obsession richtete. Er war bitter enttäuscht gewesen, als Stephen ihm mitgeteilt hatte, dass keiner der eingeladenen Gäste aus den Bolgländern gekommen war. Die einzige Ablenkung von der qualvollen Aussicht darauf, mit Madeleine das ganze Fest verbringen zu müssen, hatte für ihn die Hoffnung geboten, dass Rhapsody auch hier sein würde. Hitze durchpulste ihn, verkrallte sich in seinen Eingeweiden und breitete sich bis zu den schwitzenden Handflächen aus, als er an sie dachte. Er wurde beinahe krank vor Enttäuschung über ihr Fortbleiben. Wann immer er die Gedanken auf sie richtete, verstummte die Stimme. Es war beinahe so, als hätte die Sängerin als Erste seinen Geist in Besitz genommen, ihm ihren Stempel aufgedrückt und ihn damit als ihr Eigentum gebrandmarkt. Der spätere Bann, mit dem er belegt worden war und der ihn dazu trieb, andauernd die leisen Worte zu hören, war nicht so stark wie sein Verlangen nach Rhapsody. Langsam erhob sich Tristan von der Steinbank und trat schwankend auf die Veranda. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen und mit ihr die frühen Festlichkeiten des zweiten Karnevalstages. Er ließ die leere Flasche auf der Bank zurück und eilte aus der kalten Nachtluft in die rauchige Wärme von Stephens Festung und zu seiner Schlafkammer. Als er ging, umheulte ihn der Wind. Tief in der Nacht, als alle Feiernden still waren, schlüpften zwei umhüllte Gestalten getrennt voneinander hinaus auf die Felder. Die ältere trug eine Kapuze und wartete am Rande der Schatten, die von den ersterbenden Feuern geworfen wurden. Der andere Mann, der ebenfalls eine Kapuze trug, wurde zu einem schnellen Schritt gezwungen und mit Macht zu dem Treffen gezogen zu einem Treffen zweier heiliger Männer in einer heiligen Nacht zu einem unheiligen Zweck. Wolken trieben über ihnen dahin und vertieften die Finsternis, in die weder das Mondlicht noch der Feuerschein drangen. Am Rande von Stephen Navarnes Reich warf das Licht ferner Feuer lange Schatten über das verschneite Feld und erhellte die Wälder. Die Augen des ersten Geistlichen, des Wartenden, spiegelten ein ähnliches Licht wider, mit einem Hauch von Rot an den Rändern. Er wartete geduldig, während der andere Mann nach Luft rang. »Wie ich sehe, haben meine Worte in Euch geklungen. Vielen Dank für dieses Treffen, Euer Gnaden.« Der andere Mann nickte. »Bisher habt Ihr nicht verstanden, um was Ihr gebeten werdet. Ihr seid lediglich einem Zwang gefolgt, hmm?« Das Flüstern des zweiten Mannes war rau. »Ja.« »Aber jetzt, jetzt versteht Ihr allmählich, nicht wahr, Euer Gnaden? Seid Ihr bereit, Euer Schicksal selbst zu bestimmen? Ich bin so froh, dass Ihr Euch entschieden habt, mein Angebot anzunehmen. Habt Ihr es aus freiem Willen getan? Versteht Ihr, um was ich bitte und was ich Euch dafür biete?« »Ich glaube, ja, Euer Gnaden.« Die Worte klangen heiser. »Ich will Euch nicht beleidigen, ich will nur sicherstellen, dass Ihr Euch der Macht klar seid, die auf Euch wartet in dieser Welt und im Nachleben.« »Ja.« Die Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern herabgesunken. Die Erwiderung war ebenfalls nicht mehr als ein Wispern. »Unangezweifelte Autorität. Unverwundbarkeit. Und endloses Leben.« »Ja.« »Gut, gut.« In der Dunkelheit glitzerte die kleine Klinge. Der zweite Mann schluckte schwer und zog den Ärmel seiner Robe hoch. Seine Augen leuchteten so hell wie das Messer. »Nur ein einziger Tropfen, um den Handel zu besiegeln; dann ist Eure Stellung als Oberhaupt des Ordens gesichert.« Der zweite Mann nickte. Er zitterte, aber nicht wegen der Kälte. Die dünne, nadelähnliche Klinge durchbohrte rasch die Haut an seinem Unterarm und verursachte dabei keine Schmerzen. Ein dunkelroter Blutstropfen trat hervor, zuerst winzig, dann quoll er zur Größe einer Regenperle auf. Ein graues Haupt beugte sich über den Arm. Er erbebte, als der erste Mann seine warmen und gierigen Lippen gegen das Fleisch des Unterarms drückte und dann heftig den Blutstropfen aufsaugte. Er verspürte, wie ihn eine Welle durchspülte und ein Feuerblitz durchzuckte, wie bei einem sexuellen Höhepunkt, den die Regeln seines Ordens verboten. In seiner Magengrube hatte es die ganze Nacht über gebrannt. Die fressende Säure verschwand schließlich auf wundersame Weise und ließ ihn benommen und schwindlig vor Erleichterung zurück. Das Gefühl, das ihm den Magen umgedreht hatte, trat durch den Schädel aus. Nun fühlte er sich erregt und seltsam lebendig. Er erste Mann lächelte warmherzig. »Willkommen, mein Sohn. Willkommen im wahren Glauben. Sobald wir alle Hindernisse ausgeräumt haben, kannst du tun und lassen, was du willst.« 14 Das Gemetzel begann in dem Augenblick, als die Preise für das Schlittenrennen verliehen wurden. Die Schlittenrennen waren eines der angesehensten und am heißesten umkämpften Ereignisse des Winterkarnevals und beschränkten sich auf die schiere Kraft und Schnelligkeit der vierköpfigen Mannschaften im Wettstreit um die begehrten Preise, als da waren ein ganzes Fass canderianischen Whiskeys, ein gesalzener und gebratener Ochse, ein gehämmertes Goldmedaillon und ein Jagdrecht in ganz Roland. Die Mannschaften setzten sich anlässlich dieses Ereignisses meistens aus Familienmitgliedern zusammen und bekamen ihre Trophäen von Stephen persönlich in einer humorvollen Zeremonie voller Glanz und Gloria überreicht, gekrönt von einer großartigen Prozession über den gesamten Festplatz. Die Gewinner saßen dabei auf Ehrenplätzen in ihren großen Schlitten und wurden unter dem triumphierenden Klang eines Marsches und etlicher Fanfarenstöße von den Mitgliedern der Verlierer bis vor die Wettrichtertribüne gezogen, wo sie ihre Preise erhielten. Die Schlittenrennen waren schon seit langem Stephen Navarnes Lieblingswettbewerbe, und so stand er pfeifend und anfeuernd inmitten der Massen, als die Gewinner die Unterlegenen bei ihrem Zug über den Festplatz mit Schneebällen und Heu von ihren hohen Sitzen aus bewarfen. Daraus hatte sich eine freundliche Schneeballschlacht ergeben, und Stephen lachte lauthals, als die unterlegenen Mannschaften die Schlitten hin und her schaukelten und die Gewinner so in den Schnee warfen. Für Stephen lag etwas ungeheuer Befreiendes darin, ein solches Ereignis zum ersten und einzigen Mal außerhalb seiner neuen Wallanlagen zu beobachten. Die Schutzmauer hatte das Fest behindert und dafür gesorgt, dass der Schnee innerhalb der Einfriedung unter den tausenden Stiefeln festgetreten wurde. Die Schlittenrennen hatten mehr Raum erfordert; also waren die Teilnehmer durch das Osttor vor die Mauer gezogen und befanden sich nun in einem großen, losen Oval, das den jungfräulichen Schnee des Hinterlandes in dem Gebiet hinter der Mauer umgab. Die Frische dieses Ortes war ideal für die Austragung des letzten Wettkampfes. Sobald die Preise vergeben sein würden, würde die Menge hinter die Schutzmauern zurückkehren und das Fest beginnen, das sicherlich im großartigsten von Stephens berühmten Freudenfeuern enden würde. Stephen lauschte dem fröhlichen Lachen seiner Kinder, das sich mit den verspäteten Freudenrufen der Menge vermischte, und sah einen Augenblick lang auf das Medaillon in seiner Hand. Das Gold fing das Licht der Wintersonne ein und warf es in die große Arena, wo es für einen Moment auf Melisandes Haar spielte und die Zöpfe aufleuchten ließ. Sein Blick wurde wieder auf das Medaillon gezogen, dann auf den gebratenen Ochsen, der in eine grobe Sackleinwand gewickelt war und schwer nach Gewürzen und Holzrauch duftete. Eine kleine Welle des Erstaunens durchströmte ihn. Das Fass Whiskey fehlte. Der Herzog sah sich nach Cedric Canderre um und entdeckte ihn, als er gerade lachend den Arm um ein Tavernenmädchen legte. Er schüttelte den Kopf und hielt Ausschau nach Canderres Sohn. »Andrew!«, rief Stephen dem Biergrafen zu. Andrew hörte ihn und wandte sich von dem fröhlichen Schauspiel ab. »Das Fass es ist nicht da.« Andrew warf von seinem Platz aus, wo er die Spiele beobachtet hatte, einen Blick auf den Stand mit den Preisen und nickte verstehend. Er drehte sich wieder um und rief nach einem seiner Diener, damit dieser das Fass hole, doch alle waren gerade damit beschäftigt, die Teilnehmer der Schneeballschlacht anzufeuern. Sie pfiffen und johlten, als der Schlitten umkippte und das Oberhaupt des Gewinnerklans kopfüber in den Schnee stürzte. Andrew wollte ihr Vergnügen nicht unterbrechen. Lächelnd machte er sich auf den Weg zum Vordertor von Haguefort, wo auf der westöstlichen Durchgangsstraße der Bierwagen abgestellt war. Stephen war zufrieden, dass der Preis nun auf dem Weg war, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Schneeballschlacht zu, die sich zwischen den Gewinnern und den Verlierern des Schlittenrennens und deren Familien entspann. Er legte die Hand auf Mellys Schulter und fuhr mit den Fingern durch ihre hellen Locken. Dabei genoss er unbewusst die letzten Augenblicke ihrer Unschuld. »Hallo, Andrew, warte!« Andrew seufzte. Dunstins Stimme war schwer vom Trinken Bier, dem hohen Ton nach zu urteilen. Er rief Andrew vom inneren Hof Hagueforts aus. Andrew war sich deutlich der Tatsache bewusst, dass de Gastgeber des Festes gleich einen Preis verleihen musste, den er noch nicht in der Hand hielt; also behielt er seinen schnellen Schritt bei und winkte dem jüngeren der Baldasarre-Brüder nur zu. »Keine Zeit, Vetter«, rief er zurück. »Ich muss Stephens Preis für das Schlittenrennen holen.« »Das Fass?«, schrie Dunstin zurück, während er vergeblich versuchte, zu Andrew aufzuschließen, und dabei über den glatten Hof schlitterte. »Warte doch! Ich helfe dir! Du kannst es allein nicht tragen.« Andrew lächelte in sich hinein, aber er verlangsamte seinen Schritt nicht. Trotz seiner Schmächtigkeit war er stark und kernig; die schweren Arbeiten, die er regelmäßig in seinen Ställen und Kellern leistete, hielten ihn in Form. Er hörte, wie Dunstin, der als verschwenderischer Bruder eines Herzogs an ein müßiges Leben gewöhnt war, hinter ihm herschnaufte. »Warte, du Schuft!«, brüllte der jüngere Baldasarre. Schließlich wurde Andrew langsamer, als er das Haupttor erreichte. Dunstin seufzte gereizt. »Was ist denn los? Hast du Angst, dass ich deinen Whiskey unterschlage? Du Lump! Sehe ich etwa wie ein Straßenräuber aus?« »Nein, Dunstin, du siehst aus wie ein verdrießlicher, betrunkener Bastard«, entgegnete Andrew und klopfte sich den Schnee ab, der an den Absätzen seiner Stiefel hing. »Es schmerzt mich, wenn ich mir vorstelle, wie viel von meinem guten Bier im Augenblick durch deinen Bauch schwappt.« Dunstin hatte ihn unter dem Torbogen endlich eingeholt. Sein rotes Gesicht zeigte keine Anzeichen einer Beleidigung durch die zwar sanft ausgesprochenen, aber ungewöhnlich harschen Worte des Grafen. »Ich bin nicht verdrießlich«, sagte er, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und beugte sich leicht vor, um Luft zu holen. »Und es ist tatsächlich gutes Bier, das kann ich dir versichern. Zu gut, um es an solche Leute zu verschwenden.« Er neigte den Kopf in Richtung Osten, wo die sonst endlosen Felder Navarnes schwarz vor Menschen waren, und grinste. »Sollen sie doch Navarnes Bilgenwasser trinken, oder vielleicht das von Bethania. Du solltest sowieso den canderianischen Schnaps den Adligen vorbehalten.« »Nur wenn die Adligen das Schlittenrennen gewinnen, das diesmal aber, soweit ich weiß, die Familie eines Schmieds aus Yarim für sich entschieden hat«, gab Andrew zurück und betrat die breite, lange Treppe, die hinunter zur Durchgangsstraße führte. Er nickte den Wachen zu, als er durch das Tor schritt. Die Festung und die sie umgebenden Mauern waren verlassen; die gesamte Bevölkerung des Herzogtums befand sich im Hinterland und schaute zusammen mit dem Rest Rolands den Rennen zu. »Übrigens, Dunstin, falls sich noch einmal einer meiner Stallburschen darüber beschweren sollte, dass du seine junge Tochter bespringst, werde ich ihm meinen Segen dazu geben, wenn er dich mit dem glühenden Ende eines Brandeisens aufspießt. Vielleicht halte ich dich dabei sogar noch fest. Irgendwo hat auch Familienloyalität eine Grenze, die du immer weit überschreitest.« »Ah, jetzt verstehe ich«, sagte Dunstin und trottete hinter dem Grafen die Steinstufen hinunter. »Jecelyn hält dich immer noch hin, nicht wahr? Gräme dich nicht, alter Knabe. Es ist nicht mehr lange bis zur Hochzeit. Willst du nicht sogar noch vor Tristan heiraten, also in etwa einem Monat?« »Ja«, sagte Andrew knapp. Er blieb am Fuß der Treppe stehen und schaute nach Süden, dann schüttelte er den Kopf und überquerte das breite Feld, das die Schwelle zu Stephens Festung bildete. »Was ist los?«, fragte Dunstin, der endlich neben ihm war und nun mithielt. Sie hatten den Bierwagen erreicht, der nur von einem einzelnen Fahrer bewacht wurde. Andrew zuckte die Achseln. »Ich habe geglaubt, etwas am südlichen Horizont zu sehen.« Er nickte dem Wächter zu und zog die Plane zurück. Dort stand das Fass, mit goldener Farbe bemalt und mit einem Siegel verschlossen. Er schulterte das Fass und wollte soeben wieder das Feld durchqueren, als das ferne Glitzern erneut seine Aufmerksamkeit erregte. Nun hatte auch Dunstin es gesehen; er starrte in südliche Richtung, und sein rosiges Gesicht wurde plötzlich fahl. »Was ist das?«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Andrew. Die helle Sonne leuchtete am blauen Rand des Horizonts, blitzte einen Augenblick lang auf und spiegelte sich tausendfach im aufwirbelnden Schnee wider. Einen Moment später verdunkelte sich der Horizont mit einem ganzen Heer aus sorboldischen Soldaten, Kavalleristen, Infanteristen mit Lanzen und Armbrustschützen, die über den Hügel am Rande der Wiese galoppierten und marschierten und fünf Wagen mit dampfenden Katapulten hinter sich herzogen. Der Schnee erbebte unter den donnernden Hufen, flog in den Himmel auf und umhüllte das näher rückende Heer mit Wirbeln aus weißen Schleiern. Die Erde unter dem Bierwagen bebte, und die Pferde tänzelten ängstlich. »Heiliger All-Gott«, flüsterte Andrew, als die zweite Reihe des Heeres am Horizont auftauchte. Die Absicht der Soldaten und ihr Ziel waren unmissverständlich. Mit voller Geschwindigkeit rannten sie auf den Festplatz außerhalb von Stephens Schutzmauer zu. Das Fass Whiskey fiel zu Boden, zerschmetterte und bespritzte das Hinterrad des Bierwagens. Gleichzeitig warfen Andrew und Dunstin einen Blick zurück auf die ferne Festung, in der nur eine Hand voll Soldaten Wache hielten; dann sahen sie wieder auf das herannahende Heer. Eine dritte und eine vierte Reihe tauchten nun auf dem Hügel auf und marschierten in Richtung des Hinterlandes. Stephens Mauer würde sie nicht aufhalten und auch den Anschlag mit den brennenden Fässern, die auf den Armen der Katapulte lagen, nicht abwehren können. Sie würden den Angriff nur verschleiern, bis das gesamte Heer herangekommen wäre. Andrew und Dunstin waren zwischen den Sorboldern und der Festung gefangen und schauten gleichzeitig nach Süden. Vor ihnen erhoben sich in einiger Entfernung die beiden Glockentürme von Haguefort, die hauptsächlich dekorativen Zwecken dienten und mit Bannern behängt waren. Die Türme waren Teil einer größeren Schutzwehr aus den Tagen des cymrischen Krieges gewesen. Mit dem Frieden war die Niederlegung des äußeren Verteidigungswalls und die Umwandlung der Wachttürme in schlanke, frei stehende Türme einher gegangen, deren Glocken die Stunden schlugen und bisweilen Musikstücke spielten. Die Türme standen zwischen ihnen und dem heranrückenden Heer. Die beiden jungen Adligen wechselten einen raschen Blick und nickten mit einem schwachen, grimmigen Lächeln, dann teilten sie sich auf. Dunstin lief nach links, Andrew nach rechts. Sie schössen über die Durchgangsstraße zu dem braunen Schnee, der von den Füßen, Hufen und Karrenrädern der unzähligen Gäste zertrampelt war, und rannten dem Heer entgegen. Andrew rief dem Fahrer des Bierwagens zu: »Zum Tor! Warne die Wachen!« Sie waren beide tausend Schritte von ihrem Ziel entfernt, als die Sorbolder sie bemerkten. Die linke Flanke der dritten Kolonne schwenkte ab und griff nun die Festung und die Glockentürme an, während das restliche Heer weiter auf den Festplatz zumarschierte. Dunstin hörte das zischende Pfeifen des Pfeils, bevor er ihm in die Schulter drang und ihn zu Boden schleuderte. Der Aufprall warf ihn nach hinten. Er rappelte sich wieder auf und taumelte vorwärts. Mühsam kämpfte er gegen die Schmerzen und die Panik an, die ihn befiel, als der Boden unter ihm schwankte und sich der Horizont verdunkelte. Im Laufen packte er sich an die Schulter. Das hervorquellende Blut wärmte ihm die Finger. Der Turm war in Sicht; die alten Steine leuchteten in der Morgensonne unter den flatternden Bannern. Er spürte, wie sein Atem ungleichmäßig wurde und die Schmerzen sich in der ganzen Brust ausbreiteten. Der Atemdunst bildete eisige Wolken, die vor seinem Gesicht schimmerten, als er durch sie hindurchlief. Die Reiter kamen näher. Dunstin schlug einen Haken nach rechts und rannte im rechten Winkel durch ihr Blickfeld. Im Angesicht des Todes kehrte die Erinnerung an seine Ausbildung zurück. Pfeile aus der näher rückenden Linie zischten durch die Luft. Er stolperte und taumelte voran, fing sich wieder und betete, dass Andrew schneller und sicherer auf den Beinen war und seine eigene Nähe zu den Soldaten ihm mehr Zeit verschaffte. Das war nur ein kleiner Gefallen für das, was er nun bezahlen musste. In dem schwarzen Sturm, der über den Horizont peitschte, hörte er einen festen, metallischen Laut, als ein Katapult gespannt und bestückt wurde. Er hatte den Glockenturm beinahe erreicht; dennoch fuhr ihm das Geräusch durch Mark und Knochen und machte seine Muskeln starr. Wie angefroren blieb er stehen. Der metallische Laut ertönte wieder gegen das Knirschen von gespanntem Holz. Eine Welle von Energie durchfloss Dunstin. Er schoss nach vorn, rannte mit aller Kraft und hielt die Augen auf den Turm gerichtet, der mit jedem Schritt und jedem schmerzenden Atemzug größer wurde und näher kam. In der hinteren Wand befand sich eine kleine Tür, zweifellos für den Aufseher. Dunstin hielt den Blick darauf gerichtet, er wollte sie unbedingt erreichen. Er kämpfte sich immer weiter voran und versuchte, weder die Schmerzen in Schulter und Brust noch das Blut zu beachten, das daraus hervorquoll. Seine Hand lag auf der Klinke, und kalter Stahl stach ihm in Handfläche und Finger, als sich die Welt in Feuer und niederstürzenden Steinblöcken auflöste. Dunstins schwankendes Bewusstsein spürte den Steinregen, als der Turm zersprang, und bemerkte, wie die öligen Flammen ihm die Haut abschälten und ihn verzehrten. Der Staub von den zusammenfallenden Turmmauern, die bald wie Brotkrumen über das frostige Feld verstreut lagen, erfüllte seine blutende Nase, und als die Dunkelheit am Rande seines verschwommenen Blickfeldes herankam, erinnerte er sich an die Schwärze seiner Kindheitsalbträume und wünschte sich, seine Mutter käme mit einer Kerze herbei. Die Gewalt des Sturzes warf Dunstin auf die Seite. Als der Tod den Adligen heimholte, gewährte er ihm zwei letzte Gnaden. Durch das Bersten der letzten Mauerreste und das Knistern der Flammen hörte er das wilde Tönen der Glocken aus Andrews Turm; es war der Ruf zu den Waffen, der Stephen warnen würde. Trotz der Schmerzen zog Dunstin die geschwärzten Lippen zurück und lächelte über diesen Laut. Er war aus der Welt geschieden und schon auf dem Weg ins Licht; daher blieb ihm der Anblick des aus dem Turm fallenden Andrew erspart. 15 Das Läuten der Turmglocken überraschte anfangs nur Stephen. Als das Geläut begann, vermuteten die Zuschauer, die noch immer die Sieger des Schlittenrennens anfeuerten, es handle sich um einen weiteren Teil der Festlichkeiten. Der Herzog von Navarne hatte das Glockengeläut jedoch selbst geplant und wusste, dass es noch nicht an der Reihe war. Er schaute von seinem Richterstuhl in dem Augenblick auf, in welchem die sorboldische Kolonne den letzten Hügel überschritt, der zur westöstlichen Durchgangsstraße und dem Eingang zur Festung abfiel. Er stand zitternd auf und packte die Armlehnen seines Sessels. »Guter All-Gott«, wollte er sagen. Seine Lippen bewegten sich zwar, aber er brachte kein Wort heraus. Stephen sah sich schnell auf dem Festplatz um und schätzte die Lage zwischen zwei Schlägen seines pochenden Herzens ab. Sein erster Gedanke galt seinen Kindern. Beide waren bei ihm, zusammen mit Gerald Owen und ihrer Gouvernante Rosella. Die Geistlichkeit sowohl die Seligpreiser von Sepulvarta als auch der filidische Fürbitter und seine Hohepriester saßen zusammen mit ihm und den anderen Herzögen auf einer behelfsmäßigen Erhöhung, die als Wettrichterstand diente und aus senkrecht gestellten hölzernen Pritschen bestand, die mit Seilen zusammengebunden waren. Das Podest befand sich dicht neben dem Osttor der Schutzmauer und schaute nach Osten auf das offene, hügelige Land, das als Kurs für die Schlittenrennen gedient hatte. Die Würdenträger waren recht leicht in Sicherheit zu bringen. Als Nächstes richtete sich Stephens Blick auf die Festteilnehmer. Es waren sicherlich mehr als zehntausend, die sich in dem weiten Oval versammelt hatten, das sich mehr als eine Meile nach Osten in das Landesinnere von Navarne erstreckte. Der niedere Adel und die Landedelmänner befanden sich dem Richterstand am nächsten. Mit abnehmender sozialer Stellung nahm die Entfernung zu, sodass die Ärmsten am weitesten weg standen. Wie immer waren sie diejenigen, deren Tod am wahrscheinlichsten war. Der Magen drehte sich ihm um. Beim nächsten Herzschlag war Stephen bereits von seinem Platz auf der Richtertribüne gesprungen und zog Melisande mit sich. »Zum Tor!«, rief er den Würdenträgern zu. »Lauft!« Er wirbelte herum, erregte die Aufmerksamkeit seines Hauptmannes und deutete auf die näher rückende Kolonne. »Alarm!« Er schätzte, dass es etwa hundert berittene Soldaten waren und weitere siebenhundert zu Fuß, mit einigen großen Katapulten im Schlepptau. Als sie näher rückten, schienen sie sich aufzuteilen. Die Reiter strebten zu der Mauer hinter ihm, die Infanterie marschierte nach Osten, auf die Masse der Feiernden zu. Tristan war an seiner Seite und packte ihn am Ellbogen. »Sie reiten auf die Mauer zu!«, rief der Regent durch den Lärm der Menge, die immer noch fröhliche Rufe ausstieß. »Sie werden uns den Weg zum Tor abschneiden ...« »... und alle abschlachten«, beendete Stephen den Satz für ihn. Die Hörner bliesen Alarm, während Stephens Wache dem Ruf des Hauptmanns folgte. Der Herzog wandte sich an den ältlichen Kammerherrn hinter ihm. »Owen! Bring meine Kinder in Sicherheit!« Der Kammerherr, der so weiß wie Milch war, nickte und packte dann beide Kinder am Arm, die aus Protest aufschrien. »Quentin!«, rief Tristan Steward dem Herzog von Bethe Corbair zu. »Nimm Madeleine mit. Los!« Wild deutete er auf das Tor, drehte sich dann um und ergriff den Arm seines Bruders lan, des Seligpreisers von Canderre-Yarim. Er wandte die Augen von dem entsetzten Blick seiner Verlobten ab, als Baldasarre sie über die Seile hinter der Richtertribüne auf das Tor zu zerrte. Aus der westlich gelegenen Kaserne war Hufdonnern zu hören, als ein Kontingent von Stephens Soldaten Losritt und sowohl die Feiernden als auch die Heuballen auseinander trieb, welche den Rennkurs markiert hatten. Inzwischen hatten die meisten Leute den Aufruhr bemerkt und sahen die schwarze Reihe sorboldischer Soldaten, die den Hügel herabstiegen, in der Ferne durch den Schnee marschierten und unablässig näher kamen. Ein Keuchen zerriss die Luft und wurde von einem misstönenden Chor aus Schreien gefolgt. Eine gewaltige Welle der Panik fuhr durch die Menge. Wie eine Flut aus Menschenleibern brandeten die Leute nach vorn auf das Tor im Wall zu und eilten in den Schutz von Stephens Festung. Innerhalb weniger Sekunden war der Durchgang verstopft, und Gewalt brach aus. Schreie der Wut und des Schmerzes ertönten, als die Leute gegeneinander und gegen den unnachgiebigen Stein getrieben wurden. »Herr!«, rief Gerald Owen. »Die Kinder werden dieses Geschiebe der Menge nie überleben!« Stephen starrte verzweifelt auf die Menschen, die sich durch die einzige Öffnung in der Mauer drückten. Owen hatte Recht. Gwydion und Melisande könnten zu Tode gequetscht werden. Über sich hörte er gebrüllte Befehle und das Schlagen von Türen in den Wachttürmen auf der Mauer, während die Bogenschützen ihre Positionen einnahmen. Als ein breitschultriger junger Mann seine Pfeile herrichtete, kam Stephen eine Idee. »He, du!«, rief er dem Bogenschützen auf der Mauer zu. »Mach dich bereit!« Er ergriff die Seile von der Richtertribüne, riss sie von den Pfosten ab und trug sie zur Mauer in einiger Entfernung von dem Tor. »Owen! Komm mit mir!« Stephen blieb vor der Mauer stehen und warf die Seile mit aller Kraft hoch. Still dankte er dem All-Gott dafür, dass er sie vor einigen Monaten vom König der Firbolg gekauft hatte. Die 188 Bolg hatten eine Methode entdeckt, mit der man Seile um ein Vielfaches leichter machen und gleichzeitig ihre Reißfestigkeit erhöhen konnte. Ein gewöhnliches Seil wäre so schwer gewesen, dass man es niemals auf diese Weise in die Luft hätte werfen können. Nach zwei Versuchen fing der Bogenschütze auf dem Wehrgang das durchgescheuerte Ende und zeigte mit einem Handzeichen den Erfolg an. Hinter sich hörte Stephen die Soldaten vorbeireiten, die den Angriff abwehren wollten. »Rosella, halt Melisande fest«, sagte Stephen zu der verängstigten Dienerin. »Lass sie keinesfalls los.« Rosella nickte stumm, während Stephen ihr das Seilende zweimal um die Hüfte wand. »In Ordnung, mein Mädchen, jetzt geht es aufwärts.« Er nickte dem Bogenschützen zu und drehte Rosella in Richtung der Wand. Grob packte er ihr Hinterteil und half ihr beim Aufstieg inmitten des absplitternden Gesteins und zerreißender Kleidung. Er versuchte, Melisande ermutigend zuzulächeln, doch das Kind jammerte vor Entsetzen. »In Ordnung, Sohn, du bist der Nächste«, sagte er zu Gwydion. Der Knabe nickte und packte das Seil, sobald es von der Mauer heruntergeworfen wurde, die zweimal so hoch wie er selbst war. »Ich kann klettern, Vater.« Stephen band das Seil um die Hüfte des Jungen, während Gwydion es mit beiden Händen ergriff. »Das weiß ich. Halt dich jetzt gut fest.« Der Bogenschütze zog, während Gwydion die Mauer hochstieg. Erleichtert seufzte Stephen auf, als die langen Beine des Jungen hinter der Brustwehr verschwanden. Dann wandte er sich an Gerald Owen. »Du bist der Nächste, Owen.« Der alte Kammerherr schüttelte den Kopf. »Mein Herr, ich sollte hier bleiben, bis Ihr ebenfalls in Sicherheit seid.« »Ich gehe nicht nach drinnen, nicht bis die Sache hier beendet ist.« Stephen erhob die Stimme, damit man ihn durch den schrecklichen Lärm hindurch hören konnte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Tristan seine Bemerkung verstanden hatte. »Bring meine Kinder fort von der Mauer und zieh so viele hoch wie möglich, du da oben!«, rief er dem Bogenschützen am Seil zu. »Ja, Herr.« »Bleib auf diesem Posten. Ein Bogenschütze weniger macht nichts aus. Die Feinde sind sowieso noch nicht in Reichweite. Zieh so viele Leute in Sicherheit wie möglich.« Er streckte die Hand aus und packte einen stämmigen Bauern, der mit seinen Kindern auf das Tor zueilte. »Hier, Mann, gib die Kinder nach oben und hilf dabei, andere hochzuziehen Frauen, Alte, jeden, der beim Übersteigen der Mauer Hilfe braucht.« »Ja, Herr.« »Nach drinnen, Owen. Versuch die Leute zu besänftigen. Halte alle im Innern von der Mauer fern. Die Sorbolder haben Katapulte.« Er warf einen Blick über die Schulter auf die entschlossen vorrückende Kolonne und wandte sich dann wieder an Gerald Owen. »Sag dem Mauermeister, er soll den Leuten Feuerschutz mit den Bögen geben und auf die Sorbolder schießen, sobald sie in Reichweite sind. Und suche die Kommandanten der dritten und vierten Division. Sag ihnen, sie sollen sich auf einen Angriff aus Westen vorbereiten und das Nordtor halten.« Der Kammerherr nickte verständnisvoll, packte dann das Seil und wurde über die Brustwehr gezogen, fort von dem Kampf, der unter ihm nun blutig wurde. Tristan brüllte dem Kommandanten seines persönlichen Gefolges Befehle zu. »Treibt so viele Leute wie möglich um die Mauer nach Norden. Dort gibt es ein weiteres Tor. Es ist von hier aus nicht zu sehen.« Ein Schock durchfuhr ihn, als er von hinten einen Schlag erhielt. Einige Leute, die angesichts der heranstürmenden Reiter in Panik von dem Feld flüchteten, waren gegen ihn gerannt. Tristan, ein starker, breitschultriger Mann, behielt das Gleichgewicht und trat einer weiteren Welle von Dorfbewohnern aus dem Weg. Ihre Gesichter glichen Masken des Grauens, und die Augen waren glasig vor Schrecken. Aus der Ferne hörte er, wie Madeleine mit schriller Stimme seinen Namen rief. »Stellt zwei Fronten auf«, rief er seinem Kommandanten zu. Er wies auf die herannahende Kolonne, die im Osten auf die Festbesucher zumarschierte. »Stellt einen Zaun aus Pikenieren und Fußsoldaten sowie allen Bauern auf, die ihr finden könnt. Gebt ihnen alles Mögliche Stecken, Heugabeln, Ballenhaken und errichtet eine Linie vor den Armbrustschützen gegen den Angriff der Infanterie. Stephens Kavallerie kann sich um die Reiter kümmern, die auf die Mauer zuhalten, bis sie in Reichweite der Bogenschützen auf der Brustwehr kommen.« Um ihn herum schwoll das Chaos an. Er hielt nach seinem Vetter Ausschau, als der Kommandant vor ihm salutierte und seine Befehle ausgab. Bei der Mauer stellte Stephen einen weiteren Bogenschützen auf der Brustwehr dazu ab, jene Leute, die sich in der Nähe des Bollwerks aufhielten, über die Brüstung in Sicherheit zu ziehen. Dann trat der Herzog von Navarne von der Mauer zurück, beschirmte kurz die Augen und rief den Soldaten auf dem Wehrgang etwas zu. Einer von ihnen verschwand und kehrte kurze Zeit später mit einer Hand voll Waffen zurück, die er über die Mauer warf. Stephen nahm die Klingen aus dem Schnee und verteilte sie rasch an die Männer und Frauen in der Warteschlange. Dann lief er zu Tristan hinüber und warf ihm ein Langschwert zu. »Jetzt werden wir erfahren, ob uns Oelendras Ausbildung noch von Nutzen ist, Vetter«, sagte er ruhig, obwohl es in seinen Augen glitzerte. Tristan nickte und wandte sich der angreifenden Kolonne zu. Unter donnerndem Gebrüll kam eine zweite Welle von Kavalleristen aus den nördlichen Kasernen in Sicht und vereinigte sich mit dem hinteren Ende der ersten Welle aus den östlichen Quartieren. Die beiden berittenen Linien galoppierten auf die sorboldischen Reiter zu, während Stephens Fußsoldaten sich mit klappernden Rüstungen und klirrenden Waffen der herannahenden Infanterie entgegenstellte. Verstreut standen Männer und Frauen mit allem, was als Waffe dienen konnte, herum und beobachteten entsetzt das An und Abschwellen der Menge, die sich durch das östliche Tor zu quetschen versuchte. Sie waren die letzte verzweifelte Verteidigungslinie zwischen den Einwohnern und der Mauer. »Ich stelle mich dem Kampf«, rief Tristan Stephen zu. »Du bringst die Leute in Schwung. Es gibt noch hunderte, die dazu in der Lage sind, die Mauer zu verteidigen.« Stephen nickte, und die beiden Adligen trennten sich. Tristan rannte nach vorn der feindlichen Kolonne entgegen und Stephen auf die behelfsmäßige Tribüne zu, auf der er noch vor wenigen Minuten gesessen hatte. »Ihr«, rief der Herzog einer Gruppe stämmiger Männer zu. Wahrscheinlich waren es Teilnehmer an dem Schlittenrennen gewesen; jetzt drückten sie sich an der Mauer herum, hatten Äxte und Spaten in der Hand und bereiteten sich auf den kommenden Angriff vor. »Nehmt diese Tribüne auseinander! Werft ihnen Hindernisse in den Weg. Errichtet Barrikaden!« Wie unter einem zerschmetternden Zauberspruch fiel die Benommenheit von ihnen ab, die sie gefangen genommen hatte. Mit schwellendem Gebrüll bemächtigten sich die Männer der behelfsmäßigen Tribüne und schlugen sie entzwei. Sie zerteilten das Geländer mit Äxten, Fässern, bloßen Fäusten was immer sich in ihrer Reichweite befand. Bald war die große Plattform in Einzelteile gehackt, welche die Leute am Rande der Mauer und in den Feldern aufschichteten, damit sie den Angreifern unmittelbar im Weg standen. Die wahllos verstreuten Teile dienten auch als Schutz vor dem Pfeilregen, der jetzt von dem sorboldischen Heer ausging. Die Luft wurde vom Pfeifen der Geschosse zerrissen, die in Wellen heranflogen. Ein krank machendes Stakkato aus dumpfen und knallenden Lauten ertönte, gefolgt von Schmerzensschreien und erschüttertem Keuchen, als die Körper der Festbesucher fielen und die einst so makellose Rennstrecke befleckten. »Haltet eure Position!«, rief Tristan zu der doppelten Reihe von Fußsoldaten aus Stephens nördlichen Kasernen, die Pikeniere vorn und die Bogenschützen hinten. »Richtet die Bogen auf die Frontlinie und wartet, bis sie das Feld erreicht haben. Pikeniere haltet die Waffen nach unten! Haltet diese Linie gegen den Angriff!« Er sah fort. Der Blick in die Gesichter der zwangsverpflichteten Bauern drehte ihm den Magen um. Nun erkannten sie, welchem Unheil sie gegenüberstanden. Stephen spürte, wie der Wind kälter wurde; er stach ihm in Wangen und Augen und wirbelte einen Schleier aus schneidenden Schneekristallen hoch. Er sah in Richtung der beiden Tore in seinem Schutzwall. Die Menge kämpfte immer noch um Einlass, doch sie dünnte sich aus, denn die Soldaten, die Tristan abkommandiert hatte, errichteten eine brüchige Ordnung innerhalb der Menschen. Kinder rannten entsetzt umher und folgten Erwachsenen, die blind um die Mauer auf das nördliche Tor zuliefen. Schneewehen umschwirrten sie und warfen einige zu Boden. Er drehte sich um und sah auf das heranrückende Heer. Wie ein sanft fließender Strom näherten sich die sorboldischen Soldaten unbarmherzig und ohne Eile. Eines der Katapulte kam an einer unmöglichen Stelle zum Stillstand und wurde auf die zerstreute Menge von Verteidigern gerichtet, welche die Mauer schützten. Stephen runzelte die Stirn. Dann schnürte es ihm die Kehle zu, als er erkannte, dass der Feind nicht die Festung angreifen, sondern so viele Verteidiger wie möglich töten wollte. Hinter ihm wurde der Wind schärfer und bedrängender. Stephen beschirmte die Augen und wandte sich ab. Der Ausdruck der Besorgnis auf seinem Gesicht zerschmolz zu Erstaunen. Llauron, der Fürbitter, stand in der Mitte des Feldes, das die Schlittenbahn gewesen war, auf einem kleinen Schneehaufen, auf dem der Zeitnehmer gestanden und das Rennen gestartet hatte. Er war allein; nur Gavin, sein Oberwaldhüter, hatte sich neben ihm auf ein Knie niedergelassen. Das heranrückende Heer befand sich noch nicht im Schussfeld seines schweren Bogens, mit dem er als einziger Wächter Llauron verteidigen wollte. Der Fürbitter schien den Aufruhr um ihn herum nicht wahr zunehmen. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, beinahe heiter; er hielt die Arme gesenkt und den weißen Eichenstab zum Zeichen seines Amtes in der Hand. Llauron hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Nachmittagssonne zugewandt, die bald in der langen Dunkelheit der Nacht untertauchen würde. Llauron hob die leere Hand. Stephen schaute nach oben. Der Wind wurde noch stärker, kreischte mit einem jammernden Geheul über das weite Feld und warf Schleier aus gefrorenen Kristallen in die wirbelnde Luft. Der Herzog schloss die Augen vor dem Ansturm der Kälte, die ihm in das Gesicht stach. Er legte die Hand an die Stirn und sah hinüber zu Tristan. Der Herr von Roland hatte den Fürbitter nicht bemerkt; er kämpfte um einen sicheren Stand und positionierte seine Soldaten gegen die heranrückende Kolonne. Das Tageslicht verblasste rasch. Dunkle Wolken bildeten sich vor der Sonne; das trübe Licht des Nachmittags ging ein in das Grau der Dämmerung, während ganz plötzlich Schneefall einsetzte und dick die Luft durchzog. Der Schnee fiel und stieg in verzerrten Mustern auf dem klagenden Wind. Der Fürbitter hob die andere Hand und hielt seinen Stab hoch. Das goldene Blatt an der Spitze des weißen Holzes leuchtete wie ein Signalfeuer in der anbrandenden Dunkelheit. Stephen glaubte zu hören, wie Llauron eine Beschwörung sang, doch sie wurde von dem Klagen übertönt, das in seinen Ohren kreischte. Er sah wieder zu Tristan hinüber, der nun aufrecht dastand und unmittelbar vor sich starrte. Stephen rannte zu seinem Vetter und zog die Kapuze über den Kopf, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen. »Was ist los?«, rief er. Der Herr von Roland sagte nichts. Stephen folgte seinem Blick und sah, wie die Reiter der Mauer von Navarne näher kamen. Neben den galoppierenden Rössern türmte sich der Schnee bedrohlich, und der Wind heulte wild und schrill. Aus den weißen, treibenden Wolken drang ein abgehackter, rumpeln der Laut und hallte in tausend ohrenbetäubenden Schüssen über das Feld. Der Schnee selbst erhob sich und nahm Form an. Die Männer aus Roland sahen erstaunt zu, wie er mit Klauen nach den Läufen der Pferde griff, wie eine Schnauze zuschnappte und brüllte. Erst einer, dann ein Dutzend, dann hundert von ihnen flüchtige Wölfe, so weiß wie der Winter, schienen sich aus dem Schnee selbst zu bilden und nach den Beinen der nun stark verängstigten Pferde zu fassen. Der Wind stieß ein wildes Jammern aus. Einer der sorboldischen Soldaten zerrte an den Zügeln seines Pferdes, das sich vor Entsetzen aufbäumte. Ein zerschmetternder Luftstoß durchwirbelte erneut die Eiskristalle. Mit ihm erstanden neue Wolfsgestalten, zügellos, wütend, schnappend, an den sorboldischen Angreifern zerrend. Das eisige weiße Laken, das die Wiese eingehüllt hatte, zerwirbelte in tausend weitere wilde Wölfe, welche die Pferde und die Fußsoldaten mit einem schrecklichen Chor aus Knurren und Heulen angriffen, der dem des Windes gleichkam. Ein kontrapunktischer Angstschrei stieg von dem entsetzten Heer auf und schwebte misstönend im Wind. »Heiliger All-Gott«, flüsterte der Herr von Roland. Die sorboldische Kavallerie brach in Chaos aus, als sich die Pferde wild aufbäumten und den Phantomwölfen zu entkommen versuchten. Der Prinz und der Herzog sahen zu, wie die Soldaten abgeworfen wurden, manche gegen die Mauer und in das wogende Meer aus Verwirrung und stampfenden Hufen. An der östlichen Flanke zerfaserten die sauberen Linien der Kolonne zu abgerissenen Reihen. Tristan lachte grimmig und verwundert, als die Infanterie sich auflöste. Einige missachteten den beißenden Schnee, der an ihren Fersen zerrte, andere unterlagen der Magie des Fürbitters, ergaben sich in die allgemeine Raserei und schlugen nach den wirbelnden Schneedämonen in Wolfsgestalt. Navarnes Kavallerie ritt herbei und stürzte sich mit rasender Wut in den Kampf. Der Herr von Roland drückte fest Stephens Arm. »Er hat es geschafft. Stephen, er hat es geschafft! Llauron hat den Angriff aufgehalten!« Plötzlich drang das grausige Geräusch zusammenprallenden Metalls durch das Heulen des Windes. Einen Augenblick später wurde die Luft von dem wiederholten Lärm des Katapultfeuers zerrissen, und die Verteidigungsreihen der Bogenschützen und Fußsoldaten vergingen in beißendem Feuer. Stephen und Tristan wurden vom Aufprall zurückgeschleudert, und Wolken aus öligem Rauch explodierten vor ihnen. Um sie herum ertönten Schmerzensschreie, und gleißendes Licht verzehrte die getroffenen Soldaten. Tristan drückte heftig Stephens Arm, als eine scharlachrote Blutfontäne in den Himmel spritzte. Er kämpfte sich hustend wieder auf die Beine. »Haltet die Verteidigungslinie aufrecht!«, schrie er den Bauern zu, die wie rasend ihre brennenden Kameraden durch den Schnee wälzten. Er drehte sich gerade der Mauer zu, als gewaltige Explosionen die Luft und die Mauer zerrissen; der Aufprall der Geschosse aus den Katapulten streute Steinbrocken in alle Richtungen. Vor Entsetzen zog sich ihm der Hals zu, als er sah, wie Stephen verzweifelt das Feuer in den Kleidern einer Bäuerin zu löschen versuchte, die neben den Verteidigern gestanden hatte und nun von den Pechflammen verzehrt wurde. Auch Stephens Kleider brannten am Rücken. »Stephen! Lass dich fallen!« Während Tristan auf seinen Vetter zustürzte, bemerkte er in den Augenwinkeln ein goldenes Schimmern. Der Wind heulte; mit einem Auf jaulen ging eine Fallbö nieder und bedeckte ihn und alle, die neben ihm standen, mit Eisregen. Graupelschauer fielen in Schleiern herab. Schnell waren alle Flammen erstickt und hinterließen treibende Wolken aus dickem, öligem Rauch. Durch nasses Haar und Wimpern hindurch schaute Tristan zurück auf die Kampfbahn, in der Llauron stand. Der Fürbitter deutete mit dem goldenen Eichenblatt seines Stabes auf Stephen; er stolperte nach vorn gegen Gavin und stützte sich erschöpft auf die Schulter des Waldhüters; dann senkte er den Stab und packte ihn mit beiden Händen. Die Graupelwolken verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Ein Hörnerschall, der den Rückzug befahl, schallte über Navarnes Mauer. Die beiden cymrischen Adligen schauten nach Westen. Der größte Teil der Menge hatte innerhalb der Festungsmauer Schutz gefunden oder drängte sich an dem Wall vorbei zum Nordtor. Der Mauermeister signalisierte, dass alle, die man hatte retten können, in Sicherheit waren. Die Bogenschützen standen bereit. »In Ordnung. Reiter, zurück!«, rief Tristan seinem Hauptmann zu. Der Mann hob das Hörn an die Lippen und blies zum Rückzug. Die berittenen Soldaten von Navarne, die sich ein heißes Gefecht mit der sorboldischen Kavallerie lieferten, kämpften sich frei und ließen ihre Toten sowie die reiterlosen Pferde zurück. Die Feinde versuchten immer noch, den Schneewölfen auszuweichen, die an ihren Pferden zerrten. Als die Reiter um die zerbrochenen Barrikaden preschten und das gemeine Volk hinter ihnen in Wartestellung stand, schickten Stephens Bogenschützen auf der Mauer einen Sturm aus Pfeilen in die sorboldischen Linien und erzwangen den Rückzug. Nun wich Tristans Benommenheit. »Feuer!«, rief er seiner lückenhaften Reihe von Armbrustschützen zu. Die Soldaten schössen auf die zersprengten Linien der sorboldischen Infanterie, von der sich viele Soldaten nun im Schnee wanden und gegen die Geisterwölfe kämpften. Der Wind wurde wieder stärker, fachte den schweren Rauch an und erfüllte die Luft mit beißendem Graupel, der wie Nadeln stach. »Zum Tor!«, schrie Stephen. »Zieh dich zurück, Tristan! Die Bogenschützen geben dir Feuerschutz!« Über zweihundert Mann standen nun auf der Brustwehr und schössen einen methodischen Pfeilregen auf die beiden Flanken des sorboldischen Heeres ab. Tristan gab den Anführern mit heftigen Handbewegungen ein Zeichen; die Ruhe der bloßen Übung wich dem Schrecken der Wirklichkeit. »Zurück! Zurück! Hinter die Mauer!«, kreischte er. Aus der Ferne hörte er, wie die Katapulte neu bestückt wurden. Die Zeit schien still zu stehen, alles um ihn herum bewegte sich mit schmerzlicher Langsamkeit. Seine Glieder waren plötzlich wie Blei, der Kopf schwer vom Lärm, und in seinen Ohren brummte es wie verrückt. Tristan schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Überall um ihn herum lagen die Toten und Sterbenden Soldaten, aber in der Mehrzahl Einwohner von Roland und sogar von Sorbold, Kinder, alte Leute, Frauen und Männer, die entweder vor Qual jammerten oder ganz verstummt waren. Ihr Blut befleckte den Schnee mit einem rosigen Rot, ihr Fleisch war verbrannt. Tristan hustete und versuchte, den Geschmack von Pech aus dem Mund zu vertreiben. Er bemerkte, dass er während seiner Flucht das Blut eines armen Menschen eingeatmet hatte, das jetzt an seiner Kehle haftete. Der Magen drehte sich ihm um. Er musste sich übergeben und sank in dem blutigen Schnee auf die Knie. Sein Kopf zuckte herum, als Stephen ihn am Arm packte und gewaltsam auf die Beine zog. »Komm, Tristan. Komm!« Hinter ihnen gingen hohe Heuballen in Flammen auf und loderten in feurigem Orange mit schwarzen Strähnen verdorrten Strohs darin. Es sah aus wie Berge von brennenden Vogelkäfigen. Die Hitze sandte Schockwellen durch den Herrn von Roland, und er spürte einen plötzlichen Ausbruch von Energie, als sein Vetter ihn auf das Tor im Schutzwall zuzog. Undeutlich war er sich des rhythmischen Knallens der Bogensehnen bewusst; er sah, wie Gavin den erschöpften Fürbitter vor ihnen in die Festung schleifte. Die letzten der zwangsverpflichteten Bauern, die verteidigungsbereit vor der Mauer gestanden und den anderen zur Flucht verholfen hatten, eilten nun ebenfalls in Sicherheit. Tristan verspürte eine Woge der Zuneigung zu ihnen, als er sie laufen sah. Gute Leute, dachte er, während Stephen ihn um die zerschmetterten Barrikaden zog, die noch vor kurzem die Tribüne für den Adel gebildet hatten. Meine Leute. Die Tore türmten sich vor seinen Augen auf. Große Stücke fehlten in der Mauer vom Aufprall der Geschosse, aber sie hatte gehalten. Tristan schloss die Augen und befreite sich aus Stephens Griff. »Lass mich los«, sagte er fest. »Ich kann allein gehen.« Sobald Stephen innerhalb der Festung war, bahnte er sich einen Weg durch die Menge und rief: »Aus dem Weg! Zurück! Zurück von der Mauer!« Er blendete den wilden Lärm um sich herum aus das Jammern der Verletzten, die Freudenschreie von wiedervereinigten Familienmitgliedern, die wilden Rufe der Eltern nach ihren vermissten Kindern, die gebrüllten Befehle verschiedener Regimentshauptmänner, das Aufkreischen von Holz und Metall, als die Tore geschlossen wurden und erstieg rasch die Brustwehr. Er eilte zu der Stelle neben dem Wachtturm, der von einem Katapultgeschoss zertrümmert worden war. Draußen vor der Mauer marschierte, schritt, humpelte und kroch das, was vom sorboldischen Heer übrig geblieben war, das jetzt nicht mehr von Llaurons Geisterwölfen belästigt wurde. Einer nach dem anderen taumelte in den Pfeilregen der Bogenschützen auf der Mauer. Stephen war entsetzt über die völlige Leere in ihren Augen und die Unbarmherzigkeit ihrer Handlungen. Von der ganzen Streitmacht waren nur einige Dutzende übrig geblieben; die Kavallerie war von den Bogenschützen dezimiert worden, und hundert reiterlose Pferde rannten ziellos über das blutige Feld. Der Mauermeister trat an Stephens Seite, stand still neben ihm und starrte genau wie der Herzog auf das Feld jenseits des Schutzwalls. Nach einem Augenblick fand Stephen die Sprache wieder. Seine Kehle war trocken und zugeschnürt; daher klang sie in seinen Ohren jung und ängstlich. Er hustete und setzte erneut an. »Befiehl der Hälfte deiner Männer, so viele Versprengte wie möglich zu retten. Die Piken sollen gesenkt werden. Holt sie einfach nur ins Innere der Festung.« »Warum fliehen sie nicht?«, wunderte sich der Mauermeister laut. »Sie marschieren geradewegs in den Pfeilregen hinein.« Stephen zitterte und kämpfte grausige Erinnerungen nieder. »Ich fürchte, sie werden damit fortfahren, bis auch der Letzte gestorben ist. Sag deinen Schützen, sie sollen auf die Katapulte zielen und dort so viele abschießen wie möglich. Ich werde dem Kommandanten des dritten Regiments befehlen, eine Truppe auszusenden, die sie gefangen nimmt. Befiehl den Bogenschützen in der Zwischenzeit, nicht zu töten, sondern nur zu verletzen. Wir müssen einige der Sorbolder lebend in die Hände bekommen, damit wir den Grund für diesen Albtraum erfahren.« Der Mauermeister nickte und verschwand dann aus Stephens Blickfeld. Der Herzog betrachtete weiterhin das scheußliche Gemetzel und den Ort, wo noch vor kurzem das Sonnenwendfest stattgefunden hatte. Die hellen Banner flatterten zerrissen im heftigen, Qualmgeschwängerten Wind; die glitzernden Maibaumbänder drehten sich weiterhin in der Brise. Sie waren schwarz vor Ruß. Er wusste schon, was die Sorbolder sagen würden. Warum? Keine Ahnung, Herr. Ich kann mich nicht erinnern. 16 Die Bibliothek von Haguefort war gewaltig; ihre hohen Decken warfen das geringste Geräusch zurück. Schritte hallten auf dem Marmorfußboden wider und wurden bisweilen von den Seidenteppichen geschluckt. Sogar ein leises Räuspern hätte man aus allen Ecken des Raumes vernommen. Trotz dieser Hellhörigkeit war außer dem Knistern des Feuers und dem Ticken der Uhr kein Laut zu vernehmen. Cedric Canderre ließ sich schwer auf eines der Ledersofas neben dem Kamin sinken und starrte mit leerem Blick in die Flammen. Sein Gesicht wirkte um Jahrzehnte älter als noch am Morgen. Neben ihm saß Quentin Baldasarre, der Herzog von Bethe Corbair, Dunstins Bruder. Sein Schweigen war ganz anders; seine Augen glühten in einem Feuer, das kaum den Zorn im Zaum zu halten vermochte, und selbst sein leiser Atem war mit Wut geschwängert. Lanacan Orlando, der Seligpreiser seiner Provinz, saß neben ihm im Schaukelstuhl und drückte ihm die Hand in dem Versuch, ihn zu trösten. Dabei wurde Orlando immer nervöser. Er schien beinahe erleichtert zu sein, als Quentin ihn mit einer wütenden Handbewegung fortschickte. Ihrman Karsrick, der Herzog von Yarim, goss sich ein weiteres Glas Branntwein ein und stellte dabei fest, dass Stephens Karaffe dringend nachgefüllt werden musste. Von allen Herzögen Rolands hatte er allein keinen Verlust eines Verwandten oder engen Bekannten zu beklagen, obgleich es sich bei dem Oberhaupt der siegreichen Schlittenmannschaft, das bei dem Angriff ums Leben gekommen war, um ein beliebtes Gildenmitglied in seiner Provinz sowie seinen persönlichen Schmied gehandelt hatte. Den heiligen Männern war es Karsricks Meinung nach nicht gelungen, Trost zu spenden. Colin Abernathy hatte das Weinen für kaum länger als ein paar Augenblicke eingestellt. Lanacan Orlando, der gemeinhin als großer Heiler und Quelle des Trostes galt, verärgerte offensichtlich seinen Herzog weitaus mehr, als er ihm beistand. Philabet Griswold, der aufgeblasene Segner von Avonderre-Navarne, hatte zunächst über Sorbold und die Notwendigkeit einer sofortigen Vergeltung schwadroniert, war aber von Stephen Navarne, einem Mitglied seines eigenen Sprengeis, mit einem Blick zum Schweigen gebracht worden. Stephen war inzwischen nicht mehr anwesend; er besuchte seine Kinder und die behelfsmäßigen Krankenzimmer, die in seinen Gemächern eingerichtet worden waren, um die Verwundeten zu versorgen. Nielash Mousa, der Segner von Sorbold, saß allein in einer Ecke; seine sonst so dunkle Haut war fahl und feucht. Nur Ian Steward schien die Ruhe zu bewahren. Die Tür zur Bibliothek wurde geöffnet, und Tristan Steward trat ein. Leise schloss er sie wieder. Er hatte sich damit entschuldigt, nach Madeleine und den Verwundeten aus seiner Provinz sehen zu wollen, und hatte sich danach im Hof mit den Hauptmännern seines Regiments getroffen. Sein Gesicht war eine Maske der Ruhe, als er eintrat, aber Karsrick erkannte am Ausdruck der Augen, dass er etwas plante und den rechten Moment für seine Enthüllungen abwartete. Martin Ivenstrand, der Herzog von Avonderre, stand auf, als Tristan an ihm vorbeiging. »Die Verluste, Tristan wie schlimm sind sie?« »Über vierhundert Tote, zweimal so viele verwundet«, sagte Tristan, als er vor einem hölzernen Pult stehen blieb, auf dem Stephens kostbarer Atlas von Serendair lag. Das uralte Manuskript befand sich unter einer Glaskuppel, welche die brüchigen Seiten, auf denen die seit langem untergegangene Insel dargestellt war, vor den Verheerungen der Zeit schützte. Wie ironisch, dachte Tristan geistesabwesend. Eine sorgfältig geschützte Karte einer Welt, die schon vor tausend Jahren gestorben ist. Wegweiser ins Nichts. »Heiliger All-Gott«, murmelte Nielash Mousa, der Segner von Sorbold. »Ist das ein Segen oder eine Bitte um Vergebung?«, giftete Philabot Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne. Karsricks Augen richteten sich zusammen mit allen anderen im Raum auf die beiden heiligen Männer, die hinter der Bühne erbitterte Feinde und Rivalen um das einzige Recht waren, den Weisheitsring des Patriarchen, seine weiße Robe und den sternförmigen Talisman zu tragen. Als die Nachricht aus Sepulvarta drang, dass die letzten Tage des Patriarchen gekommen waren, hatte sich die Feindschaft der beiden Männer bis zur Weißglut erhitzt. Während der ganzen Festlichkeiten hatten sie einander angegiftet und verhöhnt und sich mit verschiedenen Adligen gezeigt, sich heimlich getroffen und verstohlen miteinander geredet. In Karsricks Augen war all dieses Gehabe reine Zeitverschwendung gewesen. Der Patriarch konnte seinen Nachfolger selbst bestimmen und seinen Ring an einen Seligpreiser seiner Wahl weitergeben, auch wenn eine solche Erklärung wohl nicht bevorstand. Wenn er das nicht tat, würde die große Waage von Jierna Tal, dem Ort der Gewichtung, entscheiden, wo der alte Ring der Weisheit auf die eine Waagschale gelegt wurde, während der zu richtende Mann auf der anderen Schale saß. Wie dem auch sei, die Anstrengungen der beiden heiligen Männer, an die Macht zu gelangen, waren völlig sinnlos. Auf dem Fest hatte Griswold scheinbar die Oberhand gewonnen. Er war bei weitem der mächtigste Seligpreiser in Roland, was noch dadurch unterstrichen wurde, dass der Karneval in seinem eigenen geistlichen Herrschaftsgebiet stattfand. Eingeweihte aus dem Hof des Patriarchen verbreiteten jedoch das Gerücht, dass Mousa, der einzige nichtcymrische Seligpreiser und Segner eines ganzen Landes, die bevorzugte Wahl des Patriarchen war. Falls sich die Nachfolge tatsächlich an der Waage entscheiden sollte, würde es sicherlich nicht gegen Mousa sprechen, dass Jierna Tal in Sorbold lag. In welcher Gunst Mousa vor dem Fest gestanden haben und welches Vergnügen er aus diesem Gerücht gezogen haben sollte, nun war alles verloren. Obwohl niemand das Schweigen in der Bibliothek aus Rücksicht auf den Kummer von Cedric Canderre und Quentin Baldasarre gebrochen hatte, war es aufgrund des schon beinahe sichtbaren Frostes in der Luft nur allzu deutlich, wem die Geistlichen und Adligen Rolands die Schuld an dem Angriff gaben. Der Segner von Sorbold, ein sonst unerschütterlicher Mann mit dunkler Haut und sanften Zügen, war grau geworden. Das Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen und mit Schweißperlen bedeckt. Als Griswold auf ihn zukam, stand er langsam auf. »Das ... das war eine unerklärliche Tat«, sagte er und stützte sich mit der Hand auf dem Tisch vor ihm ab, um das Gleichgewicht zu wahren. »Sorbold das heißt, die Krone weiß nichts davon, dessen bin ich mir sicher.« Er betastete nervös das heilige Amulett an seinem Hals, das wie die Welt geformt war. Griswold verschränkte die Arme über der Brust, wobei das Amulett, das er trug und das die Gestalt eines Wassertropfens hatte, deutlich klirrte. »Man sollte doch wohl davon ausgehen können, dass eine Kriegshandlung, an der eine gesamte Kolonne königlicher Soldaten beteiligt ist, wenigstens unter stillschweigender Erlaubnis des Prinzen oder der Königin durchgeführt wird«, sagte er überheblich. »Was insbesondere für eine Handlung gilt, die Friedensverträge verletzt und Scheußlichkeiten an den Einwohnern eines benachbarten Landes begeht einer früher einmal verbündeten Nation.« Er blieb vor seinem Widersacher stehen. Der Segner von Sorbold richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und wandte sich an die anderen. »Ich kann euch versichern, dass dieser schändliche Angriff nicht von der Regierung Sorbolds gebilligt war«, erklärte Mousa mit einer Stimme, die nichts von der Angst verriet, die auf seinen Zügen lag. »Ich will ausdrücklich hervorheben, dass Sorbold keinerlei Feindschaften mit Roland oder einem anderen seiner Nachbarn wünscht. Selbst wenn es so wäre: Der Kronprinz hält am Krankenbett seiner Mutter, Ihrer Durchlaucht, der Königinwitwe, Wache und hätte niemals diesen Zeitpunkt für einen Angriff gewählt.« »Wie kannst du dir da so sicher sein?«, höhnte Griswold. »Ich bin hier, bei aller Liebe des All-Gottes!«, brummte Mousa. »Glaubst du, sie würden das Leben ihres einzigen Seligpreisers auf diese Weise gefährden?« »Vielleicht will dir der Kronprinz damit etwas sagen«, meinte Griswold. Mousas dunkles Gesicht wurde rot vor Zorn. »Möge die Ceere dich schlucken, Griswold! Wenn du nicht an meinen Wert in meinem Lande glaubst, will ich dir wenigstens versichern, dass wir in Roland mit einer hundertfach größeren Streitmacht einmarschiert wären, wenn wir es hätten angreifen wollen! Du Narr! Unser eigenes Volk befand sich hier auf dem Fest! Du hast sämtliche Anschläge auf die Einwohner von Tyrian und andere orlandische Provinzen durch dein eigenes Volk stets als ›zufällig‹ oder ›unerklärlich‹ abgetan. Du hast nie Verantwortung für all diese Gewalttaten übernommen! Kannst du nicht begreifen, dass das hier genau dieselbe Situation ist?« »Das ist sie nicht«, sagte Stephen Navarne ruhig. Die anderen drehten sich um und sahen, dass der Herr von Haguefort in der offenen Tür stand. Er war so leise eingetreten, dass niemand ihn kommen gehört hatte. Der Herzog von Navarne durchquerte de» weitläufigen Raum und blieb unmittelbar vor Nielash Mousa stehen, der bei diesen Worten wieder blass geworden war. Stephen legte die Hand unbeholfen auf den Oberarm des Seligpreisers und stellte fest, dass dieser zitterte. »Es ist nicht dasselbe, weil es bisher noch keine Raubzüge von Sorbold aus gegeben hat. Das ist der erste, von dem ich weiß. Die Tatsache, dass der Wahnsinn, der die anderen Angriffe verursacht hat, jetzt auch auf Sorbold übergegriffen hat, ist höchst beunruhigend, aber nicht gänzlich unerwartet. Bisher hatten sich die Überfälle auf Tyrian und Roland beschränkt.« »Und auf Ylorc«, sagte Tristan Steward mit fester Stimme. »Ich habe dir letzten Sommer gesagt, dass die Bolg meine Untertanen angegriffen haben, aber du hast dich nicht darum gekümmert.« »König Achmed hat es verneint«, meinte Quentin Baldasarre. In Tristans Augen glühte es. Er griff in seinen Stiefel, zog ein kleines Wurfmesser mit drei Klingen hervor und warf es Baldasarre vor die Füße. Es schlug laut klappernd auf dem Steinboden auf. »Er hat auch verneint, Waffen an Sorbold zu verkaufen. Hier kannst du sehen, wie viel sein Wort wert ist.« Der Herr von Roland sah Baldasarre kalt an. »Für dieses wertlose Wort musste dein Bruder sein Leben lassen.« Baldasarre sprang von dem Ledersofa auf und hatte den Raum schon halb durchquert, als die letzten Worte aus Tristans Mund kamen. Seine Muskeln zuckten vor Wut. Lanacan Orlando war es gelungen, den Arm des Herzogs zu packen. Der Seligpreiser wurde von ihm mitgeschleift und stellte sich nun zwischen Tristan und Quentin. »Bitte«, flüsterte der Seligpreiser. »Nicht noch mehr Gewalt, bitte. Entehre in deiner Wut nicht das Andenken deines Bruders, mein Sohn.« »Er ist in der Wärme des Nachlebens und hat uns alle gerettet«, sagte Ian Steward. »Dunstin Baldasarre ist einen Heldentod gestorben«, psalmodierte Philafoet Griswold. »Wie Andrew Canderre«, fügte Ian Steward rasch hinzu. Cedric Canderre wollte gerade etwas dazu sagen, doch seine Worte wurden von dem Knarren der Doppeltüren erstickt, die sich nun öffneten und Llauron, dem Fürbitter der Filiden, Einlass gewährten. Die Generäle des Fürbitters hatten Stephens Heer unterstützt, und Khaddyr hatte sich zusammen mit den Heilern von Navarne um die Verwundeten gekümmert, während Gavin den Spähtrupp anführte, der den sorboldischen Angriff untersuchte. Llauron nickte Stephen zu, ging dann still zum Schrank neben Ihrman Karsrick und goss sich einen Finger breit vom Branntwein ein. Nun war die Karaffe leer. Als Cedric Canderre seine Stimme wiedergefunden hatte, war sie fest und widersprach dem Schmerz in seinen Augen. »Ich will nicht mehr darüber reden«, sagte er nur. »Madeleine und ich müssen in mein Land zurückkehren, um Andrews Beerdigung vorzubereiten und Jecelyn zu trösten.« Er räusperte sich und warf einen scharfen Blick auf die anderen Herzöge; dann sah er Ian Steward an, den Seligpreiser von Canderre-Yarim. »Sie braucht jetzt viel Unterstützung und Trost, Euer Gnaden. Sie erwartet im Herbst Andrews Kind.« Eine schwere Stille setzte ein und legte sich über die Bibliothek, als die heiligen Männer und Regenten einander ansahen. Schließlich sagte Tristan Steward: »Hab keine Angst, Cedric. Madeleine und ich werden uns um das Kind und seine Erziehung kümmern, als wäre es Andrews richtiger Erbe.« Canderres Kopf schnellte zurück, als wäre er geschlagen worden. Stephen Navarne spürte, wie er in Wut über Tristans Worte unbewusst die Fäuste geballt hatte. Der Herr von Roland hatte Andrews Kind soeben als Bastard bezeichnet. Diese Andeutung war niemandem der Anwesenden entgangen. Nach dem Recht der Thronfolge wäre Madeleine und bis zu ihrer Hochzeit Tristan der Erbe von Canderre, nicht aber Andrews ungeborenes Kind. Quentin Baldasarre, Andrews Vetter, war bereits wütend auf Tristan. Er trat vor, doch Lanacan Orlando, sein Seligpreiser, ergriff seinen Arm. »Das Kind ist Andrews rechtmäßiger Erbe, mein Sohn«, sagte Orlando ruhig zu Tristan. Nun schwankte seine Stimme nicht mehr. Er wandte sich an die Geistlichen und die Provinzführer. »Ich habe die geheime Hochzeit von Andrew und Jecelyn im letzten Sommer durchgeführt. Ihre Vereinigung wurde gesegnet; das Ritual der Einswerdung ist vollzogen. Daher ist jedes Kind aus ihrer Verbindung legitim und Erbe von Canderre.« Der Feuerschein glitzerte auf seiner Halskette, die den Wind symbolisierte und daher keinen Talisman trug. Stephen warf Llauron einen raschen Blick zu, doch der Fürbitter zeigte keine Anzeichen von Überraschung oder auch nur Neugier. Er sog den Duft des Branntweins ein und nahm einen kleinen Schluck. Zu Stephen hatte Andrew nichts von seiner Hochzeit gesagt. Tristan schien entsetzt zu sein, während sein Bruder Ian, der für gewöhnlich sehr gelassen war, rot anlief. Die Spirale aus roten Juwelen im sonnenförmigen Talisman um seinen Hals blitzte ebenso wütend im Feuerschein auf. »Warum ist er zu Euch gekommen, Euer Gnaden?«, wollte Ian Steward wissen. »Er ist ein Mitglied meines Sprengeis, nicht des Euren.« Der Seligsprecher von Bethe Corbair öffnete milde die Hände in einer Geste der Versöhnung. »Aber Jecelyn ist es. Es war zweifellos ein romantischer Impuls. Sie wollten nicht so lange aufeinander warten, doch beide haben sich auf die wichtige, formelle Zeremonie gefreut, der Ihr im nächsten Monat vorgestanden hättet, Euer Gnaden. Ich nehme an, sie wollten Euch nicht zweimal in Anspruch nehmen.« Die Herzöge tauschten rasche Blicke aus. Sie begriffen, dass Lanacan Orlando eine Ehrenrettung für Andrew Canderre unternahm, obwohl sich der Seligsprecher nichts anmerken ließ. Tristan Steward stieß heftig die Luft aus, zeigte aber keine Anzeichen dafür, dass er sich über den Fehlschlag seines Versuches ärgerte, in die Thronfolge Canderres zu gelangen. Schließlich sagte Cedric: »Ich danke Euch, Euer Gnaden, für alle Wohltaten, die Ihr meinem Sohn erwiesen habt.« Er wandte sich an seine Mitregenten. »Ich werde euch jetzt verlassen. Ich habe Tote zu begraben, wie ihr alle.« »Du wirst noch mehr zu tun haben, wenn du nicht noch einen Moment zuhörst«, sagte Tristan Steward. Der harsche Ton erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Raum. Die blauen Augen des Herrn von Roland brannten in einem Feuer, das er nur mühsam unter Kontrolle halten konnte. Er schaute die anderen ernst, beinahe verächtlich an und heftete den Blick kurz auf Nielash Mousa. »Geht nun, Euer Gnaden«, sagte er in kaum mehr höflichem Ton. »Kehrt zu Seiner Hoheit, dem Kronprinzen, zurück und sagt ihm, was geschehen ist. Teilt ihm mit, dass ich bald mit ihm reden will. Mein Gefolge wird Euch zur Grenze bringen.« Der Segner von Sorbold starrte ihn eine Weile an, dann nickte er widerstrebend. Er wandte sich an die Herzöge. »Ich entschuldige mich zutiefst im Namen meiner Landsleute für das, was Euren Untertanen zugestoßen ist«, sagte er und sah dann die anderen Seligpreiser an. »Ich hoffe, meine Brüder in der Gnade, ihr erinnert euch daran, dass wir alle Kinder des All-Gottes und Söhne des Schöpfers sind. Welches Böse auch immer diese tragische Gewalt unter den orlandischen Einwohnern und den Lirin von Tyrian angerichtet hat, greift nun auch nach Sorbold über, aber es wird in keiner Weise von der Krone entschuldigt. Bitte erinnert euch immer daran und behaltet einen kühlen Kopf. Ich versichere euch, dass der Prinz eine Wiedergutmachung leisten und alles in seiner Macht Stehende tun wird, damit so etwas nie wieder geschieht.« Er wartete auf eine Reaktion, doch die Herzöge und Seligpreiser Rolands schwiegen auf seine Worte. Nach einigen peinlichen Augenblicken verneigte er sich und verließ die Bibliothek. Tristan Steward wartete, bis sich die Tür hinter Mousa geschlossen hatte, dann drehte er sich mit kaum verhohlenem Zorn um und stellte sich gegen die Regenten und Geistlichen. »Ich habe euch alle seit einiger Zeit gewarnt, dass so etwas geschehen wird und wir dagegen etwas unternehmen müssen, aber ihr habt meine Warnungen nicht beachtet jeder Einzelne von euch.« Er sah Stephen scharf an. »Nun ist die Wintersonnenwende verflucht und mit dem Blut der Einwohner aus all unseren Provinzen und sogar aus Sorbold befleckt. Ich werde diesen schändlichen Mangel an Vorbereitung nicht länger hinnehmen. Wenn ihr blind gegen das bleiben wollt, was um euch herum vorgeht, soll es mir Recht sein. Aber ich werde nicht mehr danebenstehen, wenn orlandische Untertanen abgeschlachtet werden. Daher berufe ich mich auf meine Rechte als Hochregent und Prinz der Hauptprovinz. Ich erkläre hiermit meine Oberherrschaft über alle Heere von Roland und übernehme ihr Kommando. Es ist höchste Zeit, diesen Wahnsinn zu beenden und unsere Streitkräfte unter eine gemeinsame Führung zu stellen unter meine Führung. Jede Provinz, die sich meinem Willen widersetzt, wird aus dem orlandischen Bündnis ausgeschlossen und nicht länger unter dem Schutz Bethanias stehen.« »Also erklärst du dich zum König?«, wollte Ihrman Karsrick wissen. »Noch nicht, obwohl das die natürliche Folge sein könnte.« Tristans Blick wanderte von Gesicht zu Gesicht und schätzte die Reaktionen der einzelnen Herzöge und Seligpreiser ab. »Mein Titel ist nicht wichtig, das Überleben Rolands dagegen sehr. Der cymrische Krieg hat dieses Land in eine lächerliche Ansammlung von Einzelstaaten und Streitereien aufgeteilt und uns an den Rand der Katastrophe gebracht. Nie wieder! Zu lange haben wir uns voreinander verneigt und angebiedert und sind dieser Frage ausgewichen, um unsere lächerliche eigene Wichtigkeit zu bewahren. Nun schützt mein Heer eure Regionen. Es sind Bethanias Soldaten und Bethanias Versorgungstruppen gewesen, die schon seit Jahren den Frieden in Roland aufrechterhalten haben...« »... mithilfe einer großen Summe von Steuergeldern«, beendete Martin Ivenstrand, der Herzog von Avonderre, den Satz. »Jeder Einzelne von uns hätte eine so große Streitmacht wie deine aufbauen können, wenn wir die Steuern zur Verfügung gehabt hätten, die an dich geflossen sind.« »Sei dem, wie es ist, keiner von euch hat den Schneid, so etwas zu tun«, gab Tristan wütend zurück. »Es ist mein Recht als Hochregent, das Oberkommando zu beanspruchen, und das tue ich hiermit. Alle, die gegen mich sind, stehen nicht länger unter meinem Schutz. Ich werde sämtliche Handelsabkommen mit abtrünnigen Provinzen aufkündigen und auch alle diplomatischen Bande kappen.« »Das kannst du nicht ernst meinen«, platzte Quentin Baldasarre heraus. »Ich meine es völlig ernst. Ich werde eure Provinzen von der Hauptroute der Karawanen abschneiden, die Weizenlieferungen aufhalten und euch so vollkommen ächten, dass ihr in jeder Hinsicht ein fremdes Land sein werdet. Ich habe genug von diesem Albtraum mehr als genug. Er hat mich schon weitaus mehr gekostet, als ich zu zahlen bereit bin.« Seine Stimme schwankte, als er an Prudence dachte, an ihren zerstückelten Leichnam, der im Gras von Gwylliams großem Versammlungsplatz in Ylorc gelegen hatte. »Entscheidet euch. Seid ihr für mich? Oder seid ihr draußen?« Die anderen Herzöge sahen sich entsetzt an. Tristans Stimme war tief vor Kraft; seine Schultern zitterten im Zorn. Die Luft im Raum war so trocken wie in einem Yarim-Sommer geworden. Stephen glaubte, Blut an seinem Gaumen zu schmecken. Die Stille lastete schwer auf der Bibliothek und wurde nur unterbrochen vom Knistern des Feuers und dem anklagenden Ticken der Uhr. Schließlich wandte sich Colin Abernathy, der Segner der Neutralen Zone, an Tristan. »Ich werde jetzt gehen, mein Sohn«, sagte er freundlich. »Es ist nicht richtig, dass ich an diesem Gespräch beteiligt bin, denn mein Sprengel befindet sich nicht innerhalb des Reichs von Roland. Ich möchte jedoch sagen, dass mir dein Plan richtig erscheint. Meiner Meinung nach sollte Roland seine Thronfolgeregelungen abschaffen und sich unter einem einzigen Königshaus vereinigen. Als Ausländer kann ich euch versichern, dass die Klarheit, die sich daraus ergeben wird, sowohl Roland als auch seinen Verbündeten zugute kommen wird.« Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, lächelte Tristan schwach. »Vielen Dank, Euer Ehren.« Abernathy verneigte sich schwankend vor Stephen Navarne. »Ich werde zusammen mit deinem Kammerherrn Vorkehrungen treffen, um die sterblichen Überreste unseres Volkes zu versammeln, das an diesem Tag auf deinem Grund und Boden sein Leben gelassen hat, mein Sohn.« »Vielen Dank, Euer Gnaden«, erwiderte Stephen. »Er hält sich bereit.« »Sehr gut. Dann lebt wohl, meine Brüder in der Gnade und meine Regenten. Ich wünsche euch Weisheit bei euren Gesprächen und Entscheidungen.« Abernathy richtete sich auf, verneigte sich vor den Geistlichen und Adligen, durchquerte die Bibliothek und schloss die Tür vernehmlich hinter sich. Tristan wandte sich wieder an die übrigen Regenten Rolands. »Manchmal ist es einfacher, die Weisheit eines Vorhabens von außen zu beurteilen«, sagte er. Er drehte sich zu Stephen Navarne um und brachte die anderen Herzöge mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Kommen wir zur Sache. Du, Stephen du, mein eigener Vetter hast dich mir in den Weg gestellt, als ich schon einmal die Einheit herstellen wollte. Siehst du jetzt, wohin deine Narrheit geführt hat? Zu vierhundert Toten, vielleicht sogar zu doppelt so vielen, weil etliche der Verletzten noch sterben werden. Ihr Blut klebt an deinen Händen, Stephen, weil du nicht auf meine Warnungen gehört hast. Du hast geglaubt, deine klägliche Mauer könne dich schützen. Sie konnte deine Festung nicht einmal vor dem Bauernaufstand im letzten Frühling schützen, vor dem ich dich retten musste. Was ist noch alles nötig, um dich zu überzeugen? Hat die Enthauptung deiner Frau etwa nicht gereicht?« Ein allgemeines Aufstöhnen hallte durch den Raum. »Tristan!«, entfuhr es Griswold. »Deine Zunge ist gefährlich locker, Tristan«, sagte Quentin Baldasarre beißend, befreite sich aus Lanacan Orlandos nervösem Griff und stellte sich zwischen Stephen und den Herrn von Roland. »Klebe sie fest, bevor du sie zufällig herunterschluckst.« »Wenn du ihn herausfordern willst, Stephen, werde ich gern dein Sekundant sein«, fügte Martin Ivenstrand wütend hinzu. »Nein«, sagte Stephen, drückte Quentin zur Seite und richtete den Blick auf Tristan. Schweigen senkte sich wieder über den Raum. »Nein«, wiederholte Stephen. »Er hat Recht.« Tristan blähte die Nasenflügel und stieß die Luft tief aus. Er öffnete die Fäuste. »Wirst du mir ab jetzt endlich zur Seite stehen?«, verlangte er zu wissen. Stephen spürte, wie die Blicke der anderen auf ihm ruhten. Er wusste, dass Tristan ihn absichtlich als Ersten herausgefordert hatte, weil sich die anderen Herzöge hinter Stephen stellen würden, egal wie er sich entschied. Schließlich nickte er, wobei er Tristans Blick standhielt. »Ja«, sagte er. Ein allgemeines Luftholen sog die Luft aus dem Raum und machte das Atmen für Stephen schwierig. »Du würdest ihn als König unterstützen?«, fragte Ivenstrand Stephen ungläubig. »Nein«, antwortete Stephen und beobachtete Tristans Gesicht. »Aber es ist nicht die Krone, die er für sich beansprucht. Wenigstens noch nicht.« Er wandte sich an die anderen, deren Gesichter in verschiedenen Ausdrücken erstarrt waren, die von Abscheu bis Entsetzen reichten. »Wie kann ich die Wahrheit dessen verleugnen, was er sagt? Vor zwanzig Jahren wurde Gwydion von Manosse, der Beste unter uns, mein bester Freund und die größte Hoffnung auf ein neues Zeitalter, beim Haus der Erinnerung ermordet auf meinem eigenen Land. Meine Frau ...« Seine Stimme schwankte, und er senkte den Blick zum Boden. »Meine Frau, die Kinder meiner Provinz und jetzt die geladenen Gäste zu meinem Fest, Dunstin, Andrew, zahllose andere wie könnte ich leugnen, dass Tristan Recht hat? Wie könnte einer von uns dem widersprechen?« »Du würdest uns wieder in die Hand eines Herrn, eines Königs geben?«, fragte Ihrman Karsrick zweifelnd. »Hast du, der cymrische Historiker, vergessen, wohin das beim letzten Mal geführt hat? Zum Völkermord, der von den vorigen machtgierigen Verrückten angezettelt wurde, die unbedingt auf einer einzigen Führerschaft bestanden.« Sein Blick fing den von Llauron ein, der neben ihm stand, und Karsrick verstummte, als er erkannte, dass er soeben die Eltern des Fürbitters beleidigt hatte. Llauron lächelte nur, prostete ihm mit dem letzten Rest Branntwein in seinem Glas zu und nahm einen Schluck. »Ich möchte, dass wir Frieden haben«, sagte Stephen mit schwerer Stimme. »Ich will, dass dieser Wahnsinn ein Ende hat. Das, was diese blutigen Übergriffe verursacht, ist offensichtlich zu stark und zu allgegenwärtig geworden. Und es wird immer stärker. Ich bin nicht einmal mehr in der Lage, meine eigenen Untertanen zu schützen. Und wir wissen immer noch nicht, was es ist. Es ist höchste Zeit, dass wir es herausfinden.« Er drehte sich um und sah seinen Vetter an. »Tristan glaubt, es werde ihm gelingen, wenn wir ihn gemeinsam unterstützen. Ich bin der Meinung, dass er es versuchen soll.« Die anderen Regenten von Roland Cedric Canderre, Quentin Baldasarre, Martin Ivenstrand und Ihrman Karsrick tauschten ernste Blicke aus, während Stephen und Tristan sich weiterhin anstarrten. Schließlich senkte Cedric den Blick und schüttelte den Kopf. »Also gut, Tristan. Ich werde meinen Marschall sofort nach meiner Rückkehr in den Hohen Turm zu dir schicken. Du kannst mit ihm alles Weitere ausarbeiten.« Tristan nickte dankbar und wandte den Blick erstmals wieder von Stephen ab. Cedric sagte zu Quentin Baldasarre: »Ich hoffe, du wirst dich meinem Beispiel anschließen, Neffe, und zur Beendigung dieser bitteren Angelegenheit beitragen. Es ist ein tragischer Tag für unsere Familie gewesen; jetzt will ich nur noch meinen Sohn beerdigen und trauern. Ich schlage vor, du unterstellst deine Truppen Tristans Kommando und kümmerst dich dann um deinen Bruder.« Baldasarre schaute Tristan einen Moment lang an und nickte dann zögernd. Er sah plötzlich alt aus und war aschfahl geworden. »Ich werde es tun, Tristan, aber ich muss dich warnen: Missbrauche mein Heer nicht. Wenn du diese neue Truppe zu einem so närrischen Unternehmen wie dem Frühjahrsputz einsetzt, in dem du zweitausend deiner eigenen Soldaten den Bolg zum Fraß vorgeworfen hast, verurteilst du damit Roland zum sicheren Tod. Das solltest du wissen.« »Das weiß ich«, erwiderte Tristan unwirsch. »Aber ich will nicht, dass du meine Befehlsgewalt infrage stellst, Quentin. Entweder erkennst du meine Autorität an, oder Bethe Corbair wird gezwungen sein, das Königreich zu verlassen und sich selbst zu verteidigen. Ist das klar?« »Ja«, spuckte Baldasarre aus. »Gut. Und was sagst du, Ihrman? Und du, Martin? Seid ihr mit mir, oder seid ihr draußen?« Martin Ivenstrand sah zuerst Philabet Griswold an, der widerstrebend nickte, und dann Stephen Navarne. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Avonderre ist mit dir, Tristan. Ich übergebe dir das Kommando über mein Heer, aber nicht über die Seestreitkräfte. Mir gehört die einzige Provinz mit einer Küste, die ich schützen muss.« »Das wird erst einmal reichen«, erwiderte Tristan, ging zum Schrank und ergriff die Karaffe mit dem Branntwein, die jedoch leer war. Er stellte sie wieder ab. »Und du, Ihrman? Willst du Yarims Los mit Roland teilen?« »Ja«, sagte Karsrick eisig. »Gut. Dann geht nach Hause, ihr alle, und schickt nach den Staatsbegräbnissen eure Kommandanten zu mir. Bitte plant diese Zeremonien so, dass ich an beiden teilnehmen kann, denn sowohl Andrew als auch Dunstin waren Madeleines Verwandte.« Cedric Canderre und Quentin Baldasarre, die wie benommen ihre Sachen packten, nickten bloß. Tristan deutete mit der Hand auf die Segner. »Ich wäre Euch dankbar, Eure Gnaden, wenn Ihr so freundlich wäret, in meinem Namen ein paar Gebete für den Patriarchen zu sprechen, damit ich meine Führerrolle mithilfe der Weisheit des All-Gottes ausfüllen kann.« »Und natürlich auch für die Seelen der Verstorbenen«, sagte Llauron. Der Herr von Roland fing den Blick des Fürbitters der Filiden auf und räusperte sich. »Natürlich«, sagte er hastig. Er schaute in die blauen Augen des Fürbitters und entdeckte Milde darin. »Vielen Dank für Eure Hilfe heute, Euer Gnaden. Welch ein Glück, dass der Hauptpriester der Natur unter uns weilte.« Llauron nickte nachlässig und leerte dann sein Glas mit einem letzten Schluck. »Ich glaube, das ist ein ergreifender Augenblick für Euch«, sagte Tristan. Llauron lächelte schwach. »Es ist für mich ein mehr als ergreifender Tag gewesen, mein Sohn«, sagte er höflich. »Zweifellos. Es gab eine Zeit, in der wir alle glaubten, Gwydion könne derjenige sein, der Roland wieder zu einem einzigen Reich zusammenfasst. Ich bin sicher, dies bringt schmerzhafte Erinnerungen zurück.« Llauron drehte sich um, sodass Tristan sein Gesicht nicht sehen konnte, als er das Glas auf dem Schrank abstellte und antwortete: »In der Tat.« Stunden später, in den Tiefen seines Wagens, der heimwärts über die gefrorene Straße fuhr, lächelte der heilige Mann. Insgesamt gesehen, hatten sich die Dinge recht gut entwickelt. 17 Die Krevensfelder, südlich von Sepulvarta Achmed war der Ansicht, dass sein Reittier seit der letzten Ruhepause einen langen, stetigen Galopp durchhalten könne; daher ritt er stetig ostwärts über die gefrorene Steppe der Krevensfelder und beugte sich leicht über den Hals des Pferdes, um dem schneidenden, gelegentlich mit Eiskristallen durchsetzten Wind zu entgehen, der von Zeit zu Zeit aus Süden heranpeitschte. Der Wind war merklich kälter geworden, seit er und Rhapsody sich am nördlichen Rand des Waldes von Tyrian getrennt hatten. Vielleicht war dies dem fortschreitenden Winter zuzuschreiben, oder ihre Gabe des Feuers hatte selbst in den Tiefen der Kälte für eine warme Umgebung gesorgt. Neun Dämonensprösslinge waren erfolgreich aufgespürt. Die Informationen der verrückten Seherin der Gegenwart waren dabei nur teilweise hilfreich und lediglich halbwegs genau gewesen. Als sie endlich die Kinder ausfindig gemacht hatten, hatten sich drei von ihnen einschließlich des Liringlas namens Arie nicht mehr an den Orten befunden, an denen sie sich an dem Tag aufgehalten hatten, als Rhapsody und Achmed Rhonwyn in ihrem zerfallenden Klosterturm aufgesucht hatten. Dennoch hatten sie sie aufgespürt und eingefangen, manche ohne Schwierigkeiten, manche mit Blutvergießen, doch am Ende hatten alle in ihrem Gewahrsam gestanden. Es war beinahe schmerzhaft gewesen, sie aufzuspüren. Sein dhrakisches Blut hatte ihm in den Adern geschrien, sobald er eine Spur des Rakshas-Blutes aufgenommen hatte, und es hatte ihn regelrecht verbrannt, als er seinen Herzschlag dem Puls der Dämonenbrut angepasst hatte. Es war jedes Mal ein Kampf gewesen, sich von seinem eingewurzelten Verlangen nach Vernichtung zu befreien und jede Spur des F’dor von der Erde zu tilgen, doch er hatte sich unablässig daran erinnert, dass sie ihre Beute lebend benötigten, damit das reine, uranfängliche Blut des Dämons in ihren Venen dazu benutzt werden konnte, den F’dor selbst aufzuspüren. Rhapsodys Ermahnungen, dass es sich bei der Beute ausschließlich um Kinder handelte, bedeutete ihm weniger als nichts. Als sie schließlich alle bis auf einen in ihrer Gewalt hatten, waren sie am Rande des Waldes auseinander gegangen. Rhapsody hatte die beiden verbliebenen Kinder zu Oelendra gebracht, und er hatte sich auf den Rückweg in sein Königreich begeben. Es war eine schwierige Trennung gewesen. Er hatte einen letzten Versuch unternommen, ihr die Narrheit ihres Vorhabens klar zu machen, dem Ältesten, dem Gladiator namens Constantin, nachzusetzen, vor allem da nun der Winterkarneval in Navarne vorbei war. Die Besucher aus Sorbold waren zweifellos in ihre Heimat und der Gladiator in die Sicherheit der Arena in Jakar zurückgekehrt, wo er lebte. Sie hatte sich wie immer in ihrer verrückten, halsstarrigen Art dagegen ausgesprochen; daher hatte er sich in die Tatsache gefügt, dass sie sich nun wohl zum letzten Mal trennten, als er ihr auf der Schwelle zu Tyrian Lebewohl gesagt hatte. Während er über die weite Ebene zurück in den Kessel von Ylorc ritt, klärten die Windstöße seinen Geist und trugen so viele Sorgen fort wie nur möglich. Die eisigen Flocken, die in den Luftströmungen schwebten, stachen ihm in die Haut, doch er ertrug sie und versuchte ihnen auszuweichen und seine Gedanken in Schwung zu halten. Daher war er unvorbereitet, als der Wind, der ihn in der Senke der Krevensfelder traf, einen starken Geschmack von Salz mitbrachte. Achmed verlangsamte den Ritt und öffnete den Mund, damit er die salzige Luft einatmen konnte. Er spuckte auf den Boden. Die Brise enthielt den Geschmack von Schweiß und Blut; irgendwo in der Nähe wurde eine Schlacht ausgefochten. Zusätzlich hatte das salzige Wasser im Wind den unverkennbaren Geruch der See. Da die See aber tausend Meilen entfernt war, konnte dies nur eines bedeuten. Ashe war in der Nähe. Augenblicke später hörte er die Stimme von Llaurons Sohn, die von einem Hügel im Süden drang. »Achmed! Achmed! Hier! Komm!« Achmed seufzte, trieb sein Reittier langsam auf den Kamm des Hügels und schaute in das kleine Tal unter ihm. Noch bevor er den Kamm erreicht hatte, schmeckte er das Gemetzel auf den Schwingen des Windes. Der Geruch von Pech vermischte sich mit dem von Feuer und Blut. Er durchzog noch die Luft und schickte Fahnen aus saurem Rauch in den Winterhimmel. Sobald er den Gipfel erreicht hatte, zuckte Achmed unwillkürlich vor dem Anblick zurück. Das Tal war mit Leichen übersät. Einige waren von dem brennenden Pech versengt, das noch auf dem verschneiten Boden rauchte. Reiterlose Pferde liefen ziellos umher; einige trugen ihre menschliche Last auf dem Rücken. Die Überreste eines Wagens brannten in der Mitte des Schauspiels. Nach einem raschen Zählen ergab sich, dass etwa zwanzig Pferde die Farben von Sorbold und ein weiteres Dutzend mattes Grün oder Braun trugen, aber nirgendwo auf den Decken war eine Standarte abgebildet. Anscheinend hatte das sorboldische Kontingent etwa einhundert Fußsoldaten und zwanzig Reiter betragen. Die Opfer waren eine kleinere Gruppe gewesen, vielleicht insgesamt ein Dutzend. Offenbar waren sie im Tal in einen Hinterhalt geraten. Die meisten von ihnen waren muskulöse, ältere Männer mit unterschiedlichen Waffen und Rüstungen gewesen. Es schien, dass sie sich für eine Weile verteidigt hatten, doch nun lagen ihre Leichen im Tal verstreut, und ihr Blut befleckte den Boden mit einem rosigen Rot. In der Mitte dieses Gemetzels stand Ashe. Sein Gesicht war von den Schwaden seines Nebelumhangs verdeckt. Er wachte über einen übrig gebliebenen Soldaten in Zusammengewürfelter Kleidung und verteidigte den Verletzten gegen die sieben verbliebenen Sorbolder, von denen einer auf dem Boden zu seinen Füßen lag. Achmed heftete den Blick auf diesen Soldaten; er schlug nach Ashe mit einem Hakenspeer, der verdächtig wie diejenigen aussah, die in den Tunneln von Ylorc verwendet wurden. Aus der Ferne sah es so aus, als hätte Ashe die Oberhand, auch wenn er zahlenmäßig unterlegen war. Einen Moment später erwies sich die Richtigkeit dieser Annahme, als Ashe mit dem hölzernen Schaft einer zerbrochenen Wagenbremse in der rechten Hand drei Sorbolder niederstreckte und mit Kirsdarke, dem Elementarschwert des Wassers in der linken Hand, einen vierten in einem Strom aus fließendem Blau ausweidete. Er blickte über die Schulter nach Achmed, der reglos auf seinem Reittier sitzen blieb. Obwohl sein Gesicht von der Kapuze des Mantels verdeckt wurde, war die Erleichterung in seiner Stimme nur allzu deutlich. »Achmed! Den Göttern sei Dank, dass du hier bist!« Gestärkt drehte er sich wieder um, durchbohrte die Brust des Sorbolders mit dem Hakenspeer und parierte den Angriff der beiden letzten mit dem hölzernen Schaft. Achmed sprang von seinem Pferd und lief den Abhang hinunter, doch auf halbem Weg blieb er stehen. Er bückte sich im blutigen Schnee und hob ein Kurzschwert auf, das neben dem Leichnam eines Sorbolders lag. Es leuchtete mitternachtsblau im Morgenlicht, und die rasiermesserscharfe Klinge glitzerte gefährlich. Es war eines der Firbolg-Messer, eine Waffe, die nur von Achmeds Bolg-Eliteregiment geführt werden durfte. Seine dünnen und starken Hände zitterten in den Lederhandschuhen vor Wut. Ashe zog sein Schwert aus der Brust des gefallenen Sorbolders, wirbelte herum und versetzte dem Sorbolder rechts von ihm einen schweren Schlag gegen die Schläfe. Dem Sorbolder zu seiner Linken schlitzte er mit Kirsdarke den Hals auf und schlug ihre Köpfe mit zerschmetternder Gewalt gegeneinander. Er sprang gerade rechtzeitig über die Leichen, um dem Angriff der drei verbliebenen Sorbolder auszuweichen, und sah sich nach Achmed um. Der Fir-Bolg-König ging von Leichnam zu Leichnam, sammelte die Waffen ein und fluchte stumm. Ashe kehrte schnell in den Kampf zurück und beförderte die restlichen Sorbolder mit rasend schnellen Hieben des glühenden Wasser-Schwertes ins Jenseits. Er bückte sich und sah nach dem gestürzten Mann, den er verteidigt hatte, dann wandte er sich verärgert ab und rief dem Firbolg-König, der soeben eine hauchdünne Scheibe vom Boden aufhob und nun näher kam, sarkastisch zu: »Danke für die Hilfe.« »Du hast nicht um Hilfe gebeten«, meinte Achmed, der nicht von den Waffen aufsah, die er gerade untersuchte. »Du hast gesagt, ich soll kommen, also bin ich gekommen. Sei das nächste Mal genauer.« Ashe seufzte auf, drehte sich wieder dem Verletzten zu und bedeckte ihn mit einer Satteldecke von einem reiterlosen Pferd. Einen Augenblick später war Achmed neben ihm. Er ließ die Waffen mit einem Klappern auf den verschneiten Boden fallen alle außer der Cwellan-Scheibe. »Was ist hier passiert?«, fragte er scharf. Ashes Augen blitzten ihn unter der Kapuze an. »Zeige ein wenig Respekt. Weißt du, wer dieser Mann ist?« »Nein, und ich kann nicht behaupten, dass es mich kümmert, es sei denn, er kann meine Fragen beantworten.« »Es war so etwas wie ein Hinterhalt«, sagte Ashe und schaute nach der Atmung des Bewusstlosen. »Es hat den Anschein, dass sich ein Teil der sorboldischen Kolonne von den anderen abgespalten hat. Ich weiß nicht, was mit dem Rest der Kolonne geschehen ist. Es gibt zwei Spurenstränge, die etwa einen halben Tag oder mehr entfernt verlaufen. Dabei handelt es sich zweifellos um weitere Ausbrüche der Gewalt, die das Land schon seit zwanzig Jahren erlebt, doch es ist das erste Mal, dass Sorbolder daran teilhaben.« Achmed verschränkte die Arme und dachte still nach. Er hatte auf seinem Weg durch die Provinz Navarne große, lang gezogene Karawanen gesehen, die auf dem Rückweg in ihre Heimatländer waren, während er in einiger Entfernung von ihnen geblieben war. Für Festteilnehmer hatten sie sehr ernst gewirkt regelrecht traurig. Er holte tief Luft bei dem Gedanken, was sich wohl in den Wagen am Ende der Karawanen befunden haben mochte. »Wenn du nach Navarne unterwegs bist, möchtest du vielleicht nach Stephen sehen, falls dir das aus der Ferne gelingt«, sagte er. »Ich sehe, du versteckst dich noch, auch wenn ich mir den Grund dafür nicht vorstellen kann.« »O Götter das Fest der Wintersonnenwende«, sagte Ashe leise. »Es wäre auch hilfreich, wenn du beim nächsten Mal jemanden leben lässt, damit wir ihn befragen können.« »Das bringt nichts. Sie stehen alle im Bann des Dämons. Sie erinnern sich nie an etwas.« Achmed nickte verdrießlich. »Wer ist dieser Mann?« Ashe schaute hinunter auf das blutleere Gesicht. »Sein Name lautet Dorndreher«, sagte er nach einem Augenblick. »Er ist ein Cymrer der Ersten Generation, der früher Gwylliam und nun Anborn verpflichtet ist.« »Glaubst du etwa, dass mich diese Information kümmert?« Ashe überprüfte die Schnur, mit der er Dorndrehers blutenden Arm gefesselt hatte, und holte seinen Wasserschlauch hervor. »Nein, das habe ich nicht geglaubt«, sagte er bitter. »Er ist nur einer der Letzten deiner Art, der auf der anderen Seite der Welt über denselben Boden gewandelt ist wie du und deine Geschichte mit dir teilt. Einer der wenigen, die schon so lange leben und noch die geistige Gesundheit bewahrt haben. Er ist nur ein menschliches Wesen, das sein Leben auf den Boden unter ihm ausblutet. Es tut mir ehrlich Leid: Warum um alles auf der Welt sollte das jemanden kümmern?« Achmed nahm das Wurfmesser von dem Haufen und hielt es Ashe unter die Nase. »Weißt du, was das ist?« »Ein Hühnerbein.« Ashe goss Wasser aus dem Schlauch auf ein blutbeflecktes Taschentuch und legte es Dorndreher auf die Stirn. »Oder vielleicht ein langstieliges Gänseblümchen.« »Dieses Hühnerbein ist eine Bolg-Waffe, für die es außerhalb des Berges keine Handelserlaubnis gibt«, knurrte Achmed. »Die Erfindungen sind geheim. Wenn sie sich in sorboldischen Händen befinden, bedeutet das, dass sie gestohlen oder aus dem Grund hier abgelegt wurden, die Schuld für dieses scheußliche Verbrechen Ylorc zu geben, so wie es schon im letzten Sommer versucht wurde, als angenagte Leichname auf den Versammlungsplatz geworfen wurden!« Er warf die Waffe zurück auf den Haufen und starrte nach Süden, zum Vorgebirge der südlichen Zahnfelsen, welche die nördliche Grenze von Sorbold bildeten. Ashe beschattete die Augen und schaute in dieselbe Richtung. »Es hat den Anschein, dass jemand einen Krieg gegen euch anzetteln will.« »Offenbar.« Ashe beugte sich hinunter und hielt das Ohr an die Brust des Verwundeten. »Er wird sterben, wenn wir ihn nicht zu einem Heiler schaffen.« Achmed hob weitere der Waffen auf. »So scheint es.« »Das ist ziemlich hart, selbst für dich. Ich habe kein Pferd. Hilfst du mir, ihn nach Sepulvarta zu bringen?« Achmed sah ihn durchdringend an und deutete dann auf das Feld. »Dort rennen mehr als ein Dutzend Pferde herum. Nimm dir eins und setz ihn darauf.« Er blickte hinunter auf das Gesicht des Soldaten. Es war ein altes Gesicht, verhärmt und faltig wie das eines Seemanns. Zwischen den Augen klaffte eine grausame Wunde. »An deiner Stelle würde ich aber meine Zeit nicht in der Basilika von Sepulvarta verschwenden. Als Rhapsody im Herbst lebensgefährlich verwundet wurde, habe ich sie dorthin gebracht. Der Patriarch und seine Priester waren mehr als nutzlos.« Er betrachtete Ashes Finger. »Der Grund dafür bestand natürlich darin, dass Rhapsody dir seinen Ring gegeben hatte, damit du geheilt wirst. Du bist jetzt Inhaber dieses Amtes; der Patriarch ist nur noch eine Repräsentationsfigur. Warum versuchst du nicht selbst, ihn zu heilen?« Der Mann mit der Kapuze starrte schweigend in den Wind. Dann streifte er den ledernen Handschuh ab, der seine linke Hand schützte, und zog den Ring vom Mittelfinger. Der Ring war schlicht; es handelte sich um einen durchsichtigen, glatten Stein in einer Platinfassung. In dem Stein befanden sich wie eingeritzt zwei Symbole auf den beiden Seiten der ovalen Gemme; sie glichen den Symbolen für das Negative und das Positive. Sanft ergriff er die Hand des Verletzten. Es war eine Soldatenhand: rau, dickfingerig und blutig. Mit großer Vorsicht steckte er ihm den Ring an den kleinen Finger. Beide Männer beobachteten ihn eingehend. Die Drachennatur in Ashes Blut summte neugierig unter seiner Haut. Er kämpfte darum, sie zurückzuhalten, während er zu erfahren versuchte, was sie ihm erzählte. Der Drache in ihm spürte nur einige kleine Veränderungen, eine gelinde Besserung, die aber nicht ausreichte, um den Cymrer der Ersten Generation viel länger am Leben zu erhalten. Ashe vermutete, er würde noch einige Tage überleben, wenn er gut bewacht wurde, aber nicht länger. Vorsichtig entfernte er den Ring von Dorndrehers Finger und steckte ihn wieder an die eigene Hand; dann zog er den Handschuh an. »Der Ring ist seiner Art nach kein Ring der Heilung, sondern ein Ring der Weisheit«, sagte er, während er aufstand. »Er verschafft seinem Träger das Wissen, wie man die Fähigkeiten verstärken kann, die einem bereits eingeboren sind. Der Patriarch war seiner Ausbildung und seinen Fähigkeiten sowie seinem Amt nach ein Heiler. Er hat den Ring Rhapsody gegeben, die aufgrund ihrer natürlichen Anlagen und ihrer Ausbildung ebenfalls eine Heilerin ist. Sie konnte mich mit diesem Stein heilen. Ich bin aber kein Heiler. Er teilt mir Weisheit auf anderen Gebieten mit.« Achmed lachte trocken. »Ja, das stimmt. Er wird dich in deinen Entscheidungen als Herr der Cymrer beraten, falls es je wieder ein Konzil geben sollte, so wie dein Vater es hofft. Und er hat dich darauf aufmerksam gemacht, dass noch einige Cymrer der Ersten Generation uns mit ihrer Gegenwart in dieser Welt beglücken. Hast du deshalb gewusst, wer dieser Mann ist?« »Nein. Ich habe ihn seit seiner Kindheit gekannt. Er ist ein großer Mann, ein freundlicher Mann. Er muss gerettet werden.« Ashe schaute nach Westen über die Krevensfelder. »Wenn ihm in Sepulvarta niemand helfen kann, ist der nächst gelegene andere Ort Bethe Corbair. Dort gibt es eine Basilika, und Lanacan Orlando, der dortige Seligpreiser, ist ein berühmter Heiler. Könntest du ihn dorthin bringen? Es liegt auf dem Weg ins Bolgland.« Achmed bückte sich und sammelte die gestohlenen Waffen ein. Wut loderte in seinen Augen. »Nein. Ich kann mir keinen Umweg mehr leisten. Ich habe mich schon viel zu sehr verspätet. Es gibt für mich nichts Wichtigeres als die Rückkehr nach Ylorc. Ich muss herausfinden, was mit meinem Königreich los ist, falls es überhaupt noch besteht. Bring ihn selbst dorthin oder geh mit ihm nach Gwynwald zum Tanisten deines Vaters, was noch besser wäre. Es heißt, Khaddyr sei der beste Heiler auf dem Kontinent. Wenn er diesem Mann nicht mehr helfen kann, befürchte ich, dass es niemandem möglich ist.« »Er schafft es nicht mehr bis Gwynwald, es ist zu weit.« »Dann bring ihn selbst nach Bethe Corbair. Ich werde es nicht länger verheimlichen, dass du dich versteckt hältst. Du bist geheilt und hast deine Seele zurückerhalten. Was willst du noch? Es könnte einem mehr als nur ein wenig feige vorkommen, wenn du weiterhin im Luxus der Unerkanntheit durch die Welt spazierst, während dein Freund hier stirbt.« »Mit eurer Erlaubnis«, ertönte eine brummende Stimme unter ihnen, »würde ich gern zu Anborn gebracht, wenn es euch nichts ausmacht. Außerdem sterbe ich nicht; das wäre gegen meine Befehle.« Ein qualvolles Keuchen unterbrach seine Worte; der alte Mann glitt wieder in die Bewusstlosigkeit. Achmed und Ashe starrten auf den zerschmetterten Mann zu ihren Füßen und sahen sich dann gegenseitig an. »Nun, es hat den Anschein, dass ihm der Ring in seinem Schicksal ebenfalls Weisheit geschenkt hat, nicht wahr? Weißt du, wo man Anborn finden kann?«, fragte Achmed, während er die Waffen in die vom Pech besudelte Decke eines toten Schiachtrosses einwickelte. Ashe dachte einen Moment lang nach, dann nickte er. »Klingt wie ein vernünftiger Plan. Nun gut, dann überlasse ich dich deiner Weiterreise.« Achmed machte sich auf den Weg zu seinem Reittier. »Warte!«, rief Ashe. Achmed seufzte verärgert und drehte sich wieder um. »Was ist mit Rhapsody? Geht es ihr gut?« »Sie hat mir gesagt, dass ihr beiden nicht mehr zusammen seid«, gab Achmed ungeduldig zurück. »Wenn das stimmt, dann sind ihr Wohlbefinden und alle anderen Informationen über sie für dich nicht mehr von Belang. Vergiss sie. Sie hat dich bereits vergessen.« Er stieg auf, warf das Bündel Waffen vor sich auf den Sattel und trieb sein Pferd zu einem Galopp an. Einen Augenblick später hatte er den Hügel in westlicher Richtung erklommen und war aus Ashes Blickfeld verschwunden. Ashe wartete einen Augenblick, als wäre die Zeit plötzlich angehalten worden, dann fing er einen vorbeilaufenden Wallach ein und brachte ihn hinüber zu Dorndreher, der flach atmete. »Hab keine Angst«, sagte er zu dem Bewusstlosen, während er ihn in den Sattel hob. »Ich werde dafür sorgen, dass du es bis zu deinem Ziel schaffst.« 18 Östliches Avonderre, nahe der Grenze zu Navarne Versprengte Wolken aus frischem Schnee wirbelten unter den Hufen des Wallachs hoch und mischten sich mit dem Dunst, der Ashes Umhang entstieg und einen harten weißen Vorhang um ihn und das dahingaloppierende Reittier bildete. Aus der Ferne schienen die beiden kaum mehr als ein Windstoß zu sein, der den Schnee aufpeitschte. Der südliche Rand des Waldes kreuzte die Grenze zwischen Navarne und Avonderre dort, wo die Ausbrüche von Gewalt das größte Blutvergießen verursacht hatten. Als Ashe allein dieses Gebiet bereist hatte, war er immer zu Fuß gewesen, schweigend, und hatte vorsichtig alle lebenden Wesen gemieden, die seine Drachensinne ihm gemeldet hatten. Doch nun, mit wiederhergestelltem Körper, im Besitz seiner eigenen Seele, wich er niemandem aus, sondern richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Verwundeten, der vor ihm quer über dem Rücken des Pferdes lag, und auf die Suche nach seinem Kommandanten. Dorndreher jammerte bisweilen und flüsterte unzusammenhängende Worte, doch meistens lag er still über Ashes Knien. Manchmal spürte der Drache in Ashes Blut, wie der Puls des Mannes verebbte und sein Atem flach wurde. Wenn das geschah, legte Ashe ihm die Hand mit dem Ring des Patriarchen in die Nähe des Herzens und ermunterte ihn wortlos, sich an das Leben zu klammern, bis sie Anborn erreicht hatten. Die Macht des Rings schien stark genug zu sein, um den Mann in seiner irdischen Hülle gefangen zu halten, wenigstens für den Augenblick. Ashe beschirmte die Augen vor dem beißenden Wind und den brennenden Eiskristallen, die ihm ins Gesicht schlugen, und erinnerte sich an das letzte Mal, als er einen Cymrer der Ersten Generation mit dem Tod hatte kämpfen sehen. Es war Talthea gewesen, Talthea die Gütige, auch bekannt als die Witwe. Diese Frau hatte unter dem Schutz Khaddyrs gestanden, des großen Heilers der Filiden, der auch der Tanist seines Vaters und dessen voraussichtlicher Nachfolger war. Sie hatte zuckend vor Schmerzen in wildem Kampf mit den Kräften dieses und des nächsten Lebens auf dem Altar des Letzten Opfers gelegen, des uralten Stumpfes eines schon lange toten Baumes von großem Umfang, der im Zentrum des Kreises stand und den Mittelpunkt des filidischen Ordens bildete. Ashe war damals noch ein Kind gewesen. Er hatte hilflos daneben gestanden, winzig inmitten der trauernden Menge, und mechanische Gebete gemurmelt, von denen er instinktiv gewusst hatte, dass sie keinen Sinn ergaben. Er hatte sich verzweifelt gewünscht, dass sie wieder gesund würde, obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte. Nun, mehr als ein Jahrhundert später, erkannte er durch die Weisheit der Erinnerung, dass der Schmerz, den er empfand, hauptsächlich eine Widerspiegelung der Trauer war, die der Rest des filidischen Ordens empfand ein mit Händen zu greifender Kummer, der ihn umstürmte. Weder damals noch heute verstand er, warum das Ziel ihres schrecklichen Kampfes nicht das Leben, sondern der Tod gewesen war. Khaddyr hatte unermüdlich darum gekämpft, sie zu retten und sie auf dieser Seite des Tores des Lebens zu halten, doch am Ende war sie den Wunden erlegen, die niemals hätten tödlich sein dürfen. Zu jener Zeit war Ashe ein junger Knabe gewesen und hatte niedergeschmettert zugesehen, wie Khaddyr den Kopf über den Körper der Frau geneigt hatte und dann weinend zusammengebrochen war. Noch immer spürte er die tröstende Hand seines Vaters auf der Schulter. Llaurons Stimme hatte ihm ins Ohr geflüstert, so wie sie es jetzt in seiner Erinnerung tat. Sie wollte gehen, Gwydion. Sie wollte nicht länger in diesem Leben bleiben und hat die erste Gelegenheit zum Gehen ergriffen. Warum?, hatte er gefragt, als die filidischen Priester Khaddyr sanft weggeführt hatten. Er hatte auf das alabasterne Gesicht des Leichnams gestarrt, dessen Todesgrimasse davon gesprochen hatte, dass ein heftiger Kampf verloren worden war. Llauron hatte seinen Griff ein wenig verstärkt und dann den Arm um Gwydions Schulter gelegt. Langlebigkeit, die an Unsterblichkeit grenzt, ist genauso Fluch wie Segen, mein Junge, und vielleicht überwiegt sogar der Anteil des Fluches. Sie mag dir jugendlich erschienen sein, doch nur deshalb, weil sie als junge Frau in dieses Land gekommen war. Sie hatte ihr Herz in Serendair zurückgelassen in ihrer Heimat, die reich an Magie war. Nachdem sie fortgegangen war, kam sowohl ihr Herz als auch ihre Heimat still unter den Wellen des Meeres zur Ruhe; außerdem verlor sie viel bei der Überfahrt. Sie hat noch ein halbes Jahrtausend gelebt und ist in dieser Zeit Zeugin so vielen Leides geworden, doch keines war größer als ihr eigenes. Und nun ist sie dort, wo sie immer sein wollte. Warum sieht sie dann so unglücklich aus, Vater?, hatte er gefragt und dabei die verzerrten Züge der Frau angestarrt und die Furchen des Schmerzes, die für immer in dem ansonsten wunderschönen Gesicht eingegraben waren. Ihre glasigen Augen hatten das von dem Blätterdach gefilterte Sonnenlicht widergespiegelt. Es war ein erbitterter Kampf. Sie hat einen hohen Preis dafür bezahlt, dieses Leben hinter sich lassen zu können. Aber warum? Die Hand hatte ihm grob auf die Schulter geklopft und ihn dann losgelassen. Weil sie eine Cymrerin war wie wir. Die Zeit hält uns alle fest, Gwydion. Khaddyr ist ein mitleidsvoller Mann und ein großer Heiler, aber er hat die tödliche Wunde in Talthea nicht erkannt, die im Lauf der Jahrhunderte geeitert hat, denn er ist kein Cymrer. Wie alle sterblichen Menschen, die den Launen der Zeit unterworfen sind, kämpft er darum, den Tod so lange wie möglich hinauszuschieben, denn er kennt nicht den Segen, der zuweilen mit dem Sterben verbunden ist. Komm jetzt, es ist an der Zeit, dass wir zu unserem Unterricht zurückkehren. Für dich und mich läuft die Zeit weiter. Ashe schüttelte die Erinnerung ab. Sie hatte ihn stärker heimgesucht als erwartet, mit einer Klarheit, die über eine gewöhnliche Erinnerung hinausging; es waren schon beinahe berührbare Bilder gewesen. Der Geruch des Scheiterhaufens, die Hand seines Vaters auf der Schulter, der Geschmack bitterer Galle im Mund, als er Taltheas Sterben beiwohnte all die Gefühle, die ein Teil dieser Erfahrung gewesen waren, kehrten nun zu ihm zurück. Er blinzelte, um die Augen von den kindischen Tränen zu befreien, die in ihm hochgestiegen waren wie vor einem Jahrhundert. Er erinnerte sich nicht bloß an dieses Ereignis. Er durchlebte es wieder. Eine Welle aus Hitze nahm ihren Ausgang in seiner Hand, schoss den Unterarm hoch und führte dazu, dass sich die Muskeln leicht zusammenzogen, während die Kraft den Weg in sein Gehirn nahm. Jeder kleinste Nerv in seinen Fingern zuckte, als der Ring des Patriarchen summte und ihm die Weisheit vergangener Zeitalter mitteilte. Ashe verstärkte den Druck seiner Beine gegen die Flanken des Wallachs und umarmte sich selbst, als er die Welle aus Erleuchtung von dem uralten Artefakt empfing. Als würde er von einer anschwellenden Meereswoge umtost und eingehüllt, legte sich das Wissen um ihn und durchdrang sein Bewusstsein. Silberne Funken erhellten die Luft vor Ashes Augen und beleuchteten einen glitzernden Pfad zwischen seinem Geist und Dorndreher, der in schmerzerfülltem Halbbewusstsein vor ihm lag. Sein Geist dehnte sich aus, und er begriff zumindest teilweise, was der Ring ihm sagen wollte. Die tiefe Klarheit der Erinnerung war in irgendeiner Weise mit dem Mann vor ihm auf dem Sattel verbunden. Ashe sah hinunter in Dorndrehers Gesicht und bemerkte, wie er unter den Stößen und Sprüngen des unebenen Waldweges zusammenzuckte. In seinen Augen schien auch Angst zu flackern; er wirkte wie ein Mann, der noch nicht durch das Tor des Lebens schreiten wollte. Mehr brauchte Ashe nicht, um ihn noch stärker anzutreiben, nach seinem Onkel zu suchen, einem Mann, den er in seinem Leben nur selten und seit seinem Beinahe-Tod gar nicht mehr gesehen hatte. Die Zeit hält uns alle fest, Gwydion. Seine Gedanken verweilten bei Dorndreher, während er den Blick wieder auf die Straße richtete. Mag sie dich noch ein wenig festhalten, Dorndreher, dachte er. Bei Sonnenuntergang frischte der Wind auf. Beißende Kälte durchdrang die Laken, in die er den Bewusstlosen eingewickelt hatte. Ashe spürte das kommende Zittern, noch bevor es bei Dorndreher einsetzte. Gegen seinen Willen musste er schließlich eingestehen, dass Dorndreher Wärme und Ruhe brauchte, die er nicht bekommen konnte. Es bestand die Gefahr, dass er starb. Er verlangsamte den Wallach zu einem Trott und hielt ihn schließlich sanft an. Er stieg ab, hob den Körper des alten Cymrers vom Sattel und erlaubte dem Tier, Fortzugehen und sich zu strecken. Eine Laube aus großen Mondrianbüschen bildete einen guten Schutz gegen den Wind; von allen Frucht tragenden Gewächsen in den Wäldern des Westens widerstanden sie allein den Flammen des Feuers, das er nun entfachen musste. Ashe setzte Dorndreher auf einer kleinen Schneewehe ab, nachdem er einige Laken untergelegt hatte, und sammelte Brennholz. Als das Feuer brannte, starrte er in die Flammen, als hätten sie ihn bezaubert. Sie spendeten der eisstarren Dunkelheit eine Wärme und ein Licht, das ihn schmerzlich an Rhapsody erinnerte. Sie war nie ganz aus seinen Gedanken verschwunden, doch nun, allein mit dem bewusstlosen Cymrer und dem heulenden Wind im Schutz der Brombeerhecke, kam sie im Feuerglanz wieder zu ihm. Sie lächelte, wie sie es im Licht der Lagerfeuer getan hatte, als sie erstmals zusammen über Land gezogen waren. In den einsamsten Zeiten kehrten seine Gedanken stets zu ihrer Reise und der Suche nach der Drachin Elynsynos zurück. Er hatte sich immer mehr in die Sängerin verliebt, als sie gemeinsam durch ein Land gereist waren, das in seiner Erinnerung gerade zum süßesten Frühling erwachte. Ashe schüttelte den Kopf und versuchte, die Erinnerungen zu vertreiben. Wenn er sich erlaubte, länger als einen Augenblick an sie zu denken, so würde die Leere zurückkehren und ihn in den Tiefen des kahlen Winters heimsuchen. Das Wissen schmerzte, dass sie sich zu seiner Frau gemacht hatte, als ihre Erinnerung noch ihr selbst gehört hatte. Sie hatte ihm die Doppelzüngigkeit vergeben, die er sich selbst nicht vergeben konnte. Jetzt gehörten ihre Erinnerungen ihr nicht mehr allein. Durch seine eigenen Handlungen hatte er sie verloren. Daran zu denken und dabei geistig gesund zu bleiben war mehr, als er ertragen konnte. Dorndreher jammerte im Schlaf und riss Ashe aus seinen qualvollen Gedanken. Er entkorkte den Wasserschlauch, hielt ihn an die Lippen des Verwundeten und stützte ihm den Kopf, als er mit schwachen Schlucken trank. Als er den Schlauch wieder verschloss, spürte er ein fernes Prickeln auf der Haut, ein unendlich feines Summen, das sich zugleich fremd und vertraut anfühlte. Er hatte im Wind den Geschmack und den Atem von Anborn aufgefangen. Der einstige Marschall der Cymrer war noch meilenweit entfernt, aber schon so nah, dass die Drachensinne ihn spürten. Er hatte ein Schwingungsmuster, das schwer von Macht und Bedrohung war. Ashe stieß seufzend die Luft aus; sein Atem bildete flüchtige Wolken aus treibendem Dampf, der kurz in Dunkelheit und Feuerschein schwamm und dann mit dem Wind verschwand. »Halte noch ein wenig durch, Großvater«, sagte er sanft zu Dorndreher, wobei er den cymrischen Namen der Hochachtung gebrauchte, mit dem man vor langer Zeit in Serendair die älteren Leute angeredet hatte. »Vor Sonnenaufgang wirst du wieder bei deinen Gefährten und deinem Kommandanten sein.« Der scharfe Geruch brennenden Holzes erfüllte Ashes Nase, als der letzte Lichtfleck den Himmel verließ. Jeder anderen Nase wäre es unmöglich gewesen, in einer Entfernung von vielen Meilen etwas zu riechen, doch die Drachensinne waren so scharf, dass sie sogar unmerkliche Änderungen im Wind oder in der Erde spürten; daher schloss er die Augen und folgte dem Geruch bis zu dessen Ursprung. Durch die Erde fühlte er die Quelle der Wärme, die den scharfen Geruch hervorgebracht hatte: kleine, aber helle Flammen, die unruhig im Winterwind brannten. Fackeln, dachte er. Tief in diesen Wäldern musste ein kleiner Weiler oder ein Dorf liegen. Dort würde er Anborn zweifellos finden. Der Cymrer regte sich, als hätte er Ashes Gedanken gelesen. Dorndrehers Körper erbebte, als er aufwachte. Ashe klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, während der Mann die Augen aufschlug, die mit Blut aus seinen Verletzungen gesprenkelt waren. Die Pupillen glänzten schwarz im Feuerschein. »Ruh dich aus, Großvater«, sagte er auf Alt-Cymrisch. Dorndreher öffnete die blutigen Augen weiter. »Wer bist du?«, keuchte er. »Im Augenblick dein Beschützer«, erwiderte Ashe und schaute hinter sich auf die dunklen Vorhänge aus Schnee, die durch den beißenden Wind trieben. »Deine Eskorte. Du hast mich darum gebeten, zu Anborn gebracht zu werden. Wir sind nicht weit von ihm entfernt, glaube ich.« Dorndreher blinzelte rasch, als wollte er den fallenden Schnee von den Augenlidern schütteln. »Wer bist du?«, wiederholte er schwach. »Ist das von Bedeutung?« Der alte Cymrer kämpfte sich unter seinen Decken in eine sitzende Lage, dann gelang es ihm, sich ohne Hilfe gegen den verfaulten Stamm eines umgestürzten Baumes aufzurichten. »Ja, das ist es«, murmelte er gereizt. »Nicht für mich, aber für Anborn. Und für dich, wenn du von mir eine Belohnung haben möchtest.« Ashe lächelte. »Ich habe um keine gebeten.« Dorndreher schloss die Augen. »Dann bist du ein Narr und verdienst keine.« Schmerz blitzte in seinem zerfurchten Gesicht auf. »Ich muss den All-Gott stärker beleidigt haben, als ich es mir vorgestellt habe, wenn er mich dazu verdammt hat, die letzten Stunden in der Gesellschaft eines Feiglings zu verbringen, der sein Gesicht und seinen Namen vor mir verbirgt.« Er fiel wieder in erschöpftes Schweigen. Die winterliche Luft wurde trocken, als der Drache sich unter dieser Beleidigung sträubte. Ashe holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, während sein Gesicht unter der Kapuze des geschmähten Nebelumhangs heiß erglühte. Die Worte des Cymrers hatten ihn tief getroffen. Er wusste, dass alle, die unter den Händen des F’dor gelitten hatten, jeden ablehnten, der seine Identität zu verbergen schien, denn das war das Rüstzeug des Dämons. Mehr noch von jemandem Feigling genannt zu werden, der Zeuge des Kataklysmus geworden war und den Krieg überlebt hatte, klang berechtigter, als er ertragen konnte. Nun war er wieder eine Einheit. Selbst wenn Dorndreher der Wirt des Dämons sein sollte, gab es keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Er hob die Hände und schob die Kapuze zurück. Die kupfergolden leuchtenden Locken seines Haars warfen einen Glanz auf das Gesicht des alten Mannes. Dorndreher spürte das Licht und öffnete wieder die zerrissenen Augen. Das mit Grauen gemischte Erstaunen in ihnen strahlte zurück zu Ashe. »Unmöglich«, murmelte Dorndreher. Sein Gesicht wurde noch blasser. Ashe lächelte und griff in die Tasche seines Umhangs. Er zog eine Börse hervor, löste den Strick, mit dem sie verzurrt war, und schüttelte sich etwas Kleines auf die Handfläche. Es fing das Licht des Feuers in derselben Weise ein, wie es auch sein Haar getan hatte. Es war eine dreizehnseitige Kupfermünze von äußerst seltsamem Aussehen. »Erinnerst du dich daran?«, fragte er. »Du hast sie mir vor vielen Jahren gegeben, als ich noch ein Knabe war, weil du mir an einem Versammlungstag die Langeweile vertreiben wolltest.« Der alte Mann reckte unter großen Anstrengungen den Hals und sackte dann wieder gegen den Baumstamm. »Ich erinnere mich.« Mit zitternden Fingern zog er sich die grobe Decke über die Schultern. »Ich erinnere mich an jede unserer Begegnungen, Gwydion, weil sie mir endlose Freude bereitet haben. Immer wenn ich dich angesehen habe, habe ich deinen Großvater Gwylliam in seiner ganzen Pracht und deine Großmutter Anwyn in ihrer ganzen Weisheit gesehen. Du warst unsere Hoffnung, Gwydion das Versprechen einer helleren Zukunft für ein vom Krieg zerrissenes Volk. Unser Trost. Dein Tod war das Ende aller Hoffnungen für mich und für alle Cymrer.« Die Anstrengung des Sprechens überwältigte ihn. Dorndreher hustete und verstummte. »Vergib mir, Großvater«, sagte Ashe sanft. »Ich bin mir der Verletzungen bewusst, die meine Familie und meine Freunde durch meinen Betrug erlitten haben. Ich bedauere auch alle Schmerzen, die ich dir zugefügt habe.« Dorndreher hustete erneut; diesmal war es heftiger. »Also warum?« »Erst einmal war es nicht meine eigene Tat. Außerdem ist es notwendig gewesen. Darüber hinaus kann ich es nicht erklären. Aber du hast Recht. Es ist feige, mich weiterhin zu verstecken; ich werde es nicht mehr tun.« Dorndreher lächelte schwach. »Hast du also vor, den Schild von deinem Gesicht zu entfernen?« Nun lächelte Ashe und legte die Oberarme auf die Knie. »Sobald es mir passt.« »Passt es dir jetzt?« Ashe lachte. »Kannst du mich sehen?« Der alte Mann schnaubte vor Verärgerung und Schmerz. »Es ist gemein von dir, in meinen letzten Minuten mit mir zu spielen. Bist du bereit, den Anblick der Zeit zu ertragen und deinen Namen in den Wind zu schicken oder nicht?« Ashes Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an; seine Drachenhaften Pupillen verengten sich. »Ja«, sagte er. Dorndreher drückte sich etwas höher gegen den Stamm und lächelte. »Dann kann ich dir schließlich doch noch eine Belohnung anbieten, Gwydion.« 19 Die Nacht schien sich um das kleine Feuer zu verdichten. Dorndrehers Augen glitzerten heller; es war, als hätte er das Licht aus der Luft in sich hineingesogen. Nun saß er vor den Flammen und hatte sich in seinen eigenen Gedanken verloren. Ashe wartete schweigend und beobachtete ihn eingehend. Obwohl neues Leben in die verletzten Augen des alten Mannes gekommen war, wurde seine Haut immer fahler. Der Drache in Ashes Blut spürte, wie Dorndrehers Körper allmählich schwächer wurde, wie sein Leben langsam verebbte, auch wenn seine Seele im Schein des hellen Feuers erstarkte. Als der Wind schließlich erstorben und die Nacht so still geworden war, dass man hören konnte, wie der Schnee in sanftem Gewisper auf den Boden fiel, sprach Dorndreher. »Mein Schwert«, sagte er ruhig. »Ist es noch hier?« Ashe stand auf und ging zu dem Wallach, der etwa zwanzig Schritte in einem Wäldchen stand und vom treibenden Schnee halb verborgen war. Er band das Krummschwert von der Satteltasche los und gab es Dorndreher zurück, indem er es ihm vorsichtig in die Hände legte. Als der alte Mann es berührte, schlug sein Herz schneller. »Den Göttern sei Dank«, murmelte er. Mit großer Anstrengung zog er die Waffe aus der Scheide und hielt sie vor seine Augen. Es war eine alte Klinge von bescheidener Handwerkskunst und ohne Verzierungen, alt und beschädigt wie ihr Träger. Ashe erkannte die Krümmung; es war der Säbel eines Seemanns, in derselben Weise gekürzt wie die Schwerter auf den cymrischen Schiffen, die in den staubigen Schaukästen in Stephens Museum lagen. Dorndreher betrachtete noch eine Weile die Widerspiegelung des Feuers in dem dunklen Stahl und wandte sich dann wieder Ashe zu. »Hör gut zu, Sohn Llaurons, und ich werde dir deine Freundlichkeit vergelten. Ich habe deinen Großvater, König Gwylliam, an dem... Tag... getroffen, als das letzte Schiff der Dritten Flotte die Segel setzte. Ich war Bootsmann auf der Serelinda, dem Schiff, das den ... König für alle Zeiten von der Insel fortbrachte.« Dorndreher lehnte sich gegen den verfaulten Baumstamm und schloss die Augen. Die Anstrengungen des Redens hatten ihn erschöpft. »Ruhe dich aus, Großvater«, sagte Ashe sanft. »Ich bin sicher, dass wir noch Zeit zum Reden haben werden, bevor wir eine Unterkunft erreichen und dich ein wenig pflegen. Sicherlich wird Anborn mich nicht sofort hinauswerfen. Du kannst mir deine Geschichte erzählen, wenn es dir besser geht.« Dorndreher riss die Augen auf; in ihnen loderte Feuer. »Du bist ein größerer Narr, als ich dachte, Gwydion ap Llauron«, murmelte er. »Was weißt du schon von Zeit?« Er kämpfte sich in eine aufrechtere Lage und blitzte ihn an. »Ich bin der Herr der letzten Augenblicke, der Wächter dessen, was niemand wieder sehen soll. Diesen Namen hat mir dein eigener Großvater verliehen. Willst du behaupten, dass es nichts solches in deiner eigenen Vergangenheit gibt? Würdest du nichts dafür geben, deine eigene ... Seele wieder zu sehen, und sei es nur ein einziges Mal?« Ashes seltsame blaue Augen blinzelten unter dem Schock über diese harsche Antwort. »Nein«, sagte er nach einer kurzen Pause, »das würde ich nicht so sagen. Es gibt vieles, was ich sehr gern ändern würde, wenn ich es könnte.« Er wandte den Blick vom Feuer ab und schaute hinaus in die Finsternis, die nur von den Wellen des Kristallschnees durchbrochen wurde. Dorndreher schnaubte verächtlich. »Ich habe nichts von ändern gesagt«, murmelte er und atmete noch heftiger. »Ich kann die Zeit für dich nicht ändern, Gwydion genauso wenig, wie ich es für deinen Großvater konnte.« Er stützte sich auf einen Ellbogen und wischte sich den Schnee vom Kopf. »Willst du jetzt meine Geschichte hören oder nicht?« »Vergib mir meine Grobheit. Ich höre zu.« Der alte Mann atmete tief aus und sog dann heftig die Luft ein. Er drehte das Schwert, damit es den Feuerschein widerspiegelte, und sah dann in den Himmel über ihm. Seine Augen schauten hinter den fallenden Schnee in eine andere Nacht, in einen anderen Himmel. »Dein Großvater war ein Mann von großen Stimmungsschwankungen, Gwydion«, sagte er schließlich. »Noch bevor er seine Vision von der Vernichtung Serendairs hatte, erzählten sich die Seeleute Geschichten über seine berühmten Launen, sein fröhliches Lachen, das in der Spanne eines Herzschlages in Wut oder Verzweiflung umschlagen konnte und einen Augenblick später wieder ganz das alte war. Wenn man bedenkt, dass er dabei war, seine Geburtsrechte und alles andere zu verlieren, was ihn mit den gewöhnlichen Menschen verband, war es nicht überraschend, dass er sich am Tag der Abreise in einer düsteren Stimmung befand, denn er verließ die Insel für immer.« Dorndreher verstummte. Ashe reichte ihm den Wasserschlauch, aus dem er einen tiefen Schluck nahm. Dorndreher verkorkte ihn und gab ihn zurück; dann sah er seinen Zuhörer wieder an. »Die See kochte, das Feuer unter ihr wütete; die Hitze ging von dem Schlafenden Kind aus«, sagte er, und seine Augen verdunkelten sich angesichts der Erinnerung. »Wir hatten große Angst, dass wir nicht mehr rechtzeitig fortkommen könnten wir alle außer Seiner Majestät, der verzagt an der Achterreling stand und gramvoll zusah, als wir zum letzten Mal aus dem Hafen liefen. Die Serelinda schwankte vor und zurück wie ein Korken auf dem Meer. Es war ein Wunder, dass die Gegenströmungen uns nicht zerrissen.« Ashe, selbst Seemann, nickte. »Niemand wagte es, den König von der Reling fortzuholen, auch wenn es in der Mannschaft hieß, sein Gefolge befürchte, er könne über Bord gehen. Hague, sein bester Freund, blieb immer an seiner Seite, redete mit ihm, hielt ihn ruhig. Nie gab es einen Mann mit einem größeren Geschick, deinen Großvater zu beruhigen.« Ashe lächelte und nickte stumm. Hague war ein direkter Ahne von Stephen Navarne, Ashes bestem Freund, als sein Leben noch ihm selbst gehört hatte. Vielleicht zog sich mehr als nur das Merkmal der blauen Augen durch die königlichen Familien der Cymrer. Er atmete so leise ein wie möglich, denn er wollte den alten Cymrer nicht von seiner Geschichte ablenken. Dorndrehers Atmen war stärker geworden; die Pausen zwischen den Wörtern kamen seltener; anscheinend hielten ihn die Geschichte und die Erinnerungen, die sie mitteilte, aufrecht. In seiner Stimme lag nun eine Kraft, die Ashe mit Ehrfurcht erfüllte. Es war, als ob er die Geschichte sich selbst erzählen hörte. »Als wir uns dem Rand des Horizonts näherten, wurde der König noch besorgter, schritt das Deck ab und rang die Hände. Er hielt den Blick gen Süden gerichtet, sah zu, wie die Insel mit dem Schlingern des Schiffes unterging und wieder auftauchte, und hatte jedes Mal Angst, sie könne für immer aus seinem Blickfeld verschwunden sein. Es tat weh, ihm zuzusehen. Als er sie schließlich nicht mehr sah, als kein Wellenkamm sie mehr zurückbrachte, wurde er hysterisch. Wahnsinn lag in seinem Blick, Gwydion. Ein Dutzend Seeleute und Adlige standen in der Nähe und erwarteten seinen Zusammenbruch. Hague legte die Hand auf die Schulter des Königs, und Gwylliam brach verzweifelt zusammen. Damals war ich auf dem Ausguck. Meine Augen waren so scharf, dass ich eine Seeschwalbe in einer Entfernung von hundert Meilen gegen die Sonne erkennen konnte. Sie sind immer noch besser als die der meisten Menschen, das kann ich dir versichern. Ich hielt Wacht im Krähennest und beobachtete von dort aus die Vorgänge. Gwylliam jammerte wie ein Mann auf dem Totenbett und tobte gegen Hague. ›Ich habe den letzten Blick gehabt, Hague. Sie ist fort. Für immer fort. Was würde ich darum geben, sie noch einmal zu sehen, Hague, nur noch ein einziges Mal!‹ Es ist traurig mitzuerleben, wie ein Mann den Tod all dessen erleidet, was er gewesen ist und hätte werden können. Ich konnte es nicht ertragen, musste wegsehen, und als ich das tat, erhaschte ich einen Blick auf den höchsten Gipfel von Balatron an der Nordseite dieses purpurfarbenen Gebirgszuges, der in den Strahlen der untergehenden Sonne badete. Ich rief hinunter zu deinem Großvater, Gwydion, und teilte ihm die Lage mit, sodass er es selbst sehen konnte. Der Erste Maat gab ihm ein Fernglas, und anscheinend konnte der König es jetzt auch erkennen, denn er wurde sehr erregt und freudig und stieg aus der Grube der Hoffnungslosigkeit auf wie eine Möwe in den Aufwinden. Lange starrte er in die Ferne und wurde wieder schweigsam. Als er schließlich das Fernglas absetzte, sah er hoch zum Krähennest. Er schaute mich mit seinen hellblauen Augen an und rief vom Deck aus: ›Ho, mein Bester, komm herunter, damit ich dir danken kann!‹ Und wenn einen der König so ruft, dann eilt man sofort zu ihm.« Dorndreher kicherte angesichts der Erinnerungen, und Ashe lächelte. Er spürte beinahe die salzige Gischt, roch den Duft der Wellen, hörte das Knirschen des Decks und war Zeuge der Erregung in den Augen des alten Mannes. »Als ich das Deck erreicht hatte, lächelte der König wieder. Das hatte ich bei ihm nicht erlebt, seit er an Bord gegangen war; ich hatte es sogar noch nie erlebt, da ich vorher nicht die Gelegenheit gehabt hatte, mit ihm zusammenzutreffen oder ihn gar von fern zu sehen. Ich gestehe, dass mir seine ersten Worte zu denken gaben: ›Hast du ein Schwert, guter Mann?‹ In Anbetracht seiner wilden Stimmungsschwankungen befürchtete ich einen Moment lag, mein Leben könne in Gefahr sein und er sei irgendwie wütend auf mich. Dennoch übergab ich ihm meinen Säbel und leistete somit dem Befehl des Königs Folge. Er fragte nach meinem Namen, und ich nannte ihn. ›Knie nieder, Dorndrehen, sagte er, und ich wartete auf meine Enthauptung. Stell dir meine Überraschung vor, als er mir leicht auf beide Schultern schlug, mir dankte und mich ›Herr des Letzten Augenblicks und Wächter dessen, was niemand wieder sehen soll‹ nannte. Das hätte mich beinahe umgehauen, mein Knabe.« »Das kann ich mir vorstellen«, meinte Ashe lächelnd und schüttelte sich den angehäuften Schnee vom Mantel. Dorndrehers Gesicht wurde ernst. »Ich glaube, er hat einen Scherz gemacht, als er das sagte, Gwydion. Aber es war ein seltsamer Augenblick, nicht wegen seiner eigenen unvorhersehbaren Stimmung, sondern wegen des Zeitpunkts. Wir befanden uns am Ende eines Zeitalters, des letzten Zeitalters an jenem ersten Ort, wo die Zeit begann, und wurden auf einer kochenden See hin und her geworfen, in der sich ein Stern erhob. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, so ist doch das Wort eines Königs ein seltsames und mächtiges Ding. Damals war es ein Scherz, doch später habe ich erkannt, dass in einem Eid, wie auch immer er gegeben sein mag, die Fähigkeit wohnt, das Schicksal zu bestimmen.« Das Lächeln schwand aus Ashes Gesicht. Er dachte an die vielen Male zurück, als Rhapsody ihm geduldig erklärt hatte, wie wichtig es für einen Benenner war, immer nur die Wahrheit zu sagen und sich aller Worte bewusst zu sein, auch wenn sie im Scherz ausgesprochen wurden, weil die Worte zur Wirklichkeit werden konnten. Dorndreher keuchte wieder. »Der langen Rede kurzer Sinn ist, dass ich nun tatsächlich der Herr des Letzten Augenblicks bin, Gwydion, und der Wächter ... dessen, was niemand je wieder sehen wird. Über die Jahre fand ich heraus, dass ich deinem Großvater Augenblicke aus seinem Heimatland zurückholen konnte, weil er mir die Macht dazu gegeben hatte. Das spendete ihm Trost in seinen dunkelsten Zeiten.« Er zog die Decke bis zum Hals, seine Hände zitterten. »Also, deiner Großmutter gefiel das gar nicht. Sie meinte, nur sie dürfe in die Vergangenheit schauen; das war ihr ureigener Bereich.« »Das überrascht mich nicht«, meinte Ashe trocken. »Anwyn ist eine Drachin; sie glaubt, dass alles auf der Erde ausschließlich ihr gehört.« »Sie musste das Gegenteil lernen.« »Zu einem ungeheuren Preis«, murmelte Ashe und hielt dann inne, als er die Schmerzen in Dorndrehers Gesicht sah. »Vergib mir, Großvater. Ich bin sicher, deine Bemühungen haben Gwylliam großen Trost gespendet, und es freut mich, dass du ihm Blicke in seine verlorene Zeit gewähren konntest.« Dorndreher wurde von einem Hustenanfall durchgeschüttelt; dann richtete er die verletzten Augen wieder auf Ashe. »Mit dir kann ich dasselbe tun. Willst du immer noch warten, bis du mich zu Anborn gebracht hast?« »Wenn du mir den letzten Anblick Serendairs zeigen kannst, wäre das für mich das Schönste«, sagte Ashe. »Aber ich will deine Gesundheit nicht für eine solche Vision aufs Spiel setzen.« »Dein letzter Augenblick, du Dummkopf«, brummte Dorndreher. »Etwas, das du verloren hast, das du gesehen hast und niemand je wieder sehen wird. Gibt es einen solchen Augenblick in deiner Erinnerung?« Ashe richtete sich im Feuerschein auf. Für einige Zeit herrschte Schweigen in dem verborgenen Waldlager, das nur ab und zu von Dorndrehers schwerem Atmen und Husten unterbrochen wurde. Als Ashe wieder sprach, klang seine Stimme sehr sanft. »Ja«, sagte er langsam. »Ich glaube, da gibt es etwas.« Dorndreher nickte und deutete dann schwach auf das niedergebrannte Feuer. »Bring mich näher heran, mein Knabe.« Ashe stand auf und setzte den Wasserschlauch auf dem gefrorenen Boden ab. Er griff mit den Armen sanft unter Dorndrehers Schultern und zog ihn vorsichtig näher an die brennenden Kohlen heran. Dorndreher brummte zustimmend, als er nahe genug war. Ashe ging zurück zu dem Holzstück, auf dem er gesessen hatte, und beobachtete von dort aus den alten Mann eingehend. Unter großer Anstrengung hob der alte Cymrer sein zerbeultes Schwert und hielt es so, dass sich der Feuerschein in der Klinge widerspiegelte. »Sieh in das Feuer, Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’ Anwynan o Manosse.« Rasch streckte Ashe die Hand aus. »Warte, Großvater. Wenn du mir etwas im Feuer zeigen willst, lass es sein. Ich verzichte auf die Vision.« »Warum?« Ashe lachte verbittert auf. »Es sollte reichen, wenn ich dir sage, dass ich diesem Element nicht traue. Ich will nicht, dass meine Erinnerungen für seine Bewohner sichtbar werden.« Dorndreher hustete heftig und erschauerte. »Ich kann dir die Vergangenheit nicht zeigen, ohne sie in einer der Fünf Gaben zu spiegeln in den uranfänglichen Elementen. In ihrer Kraft allein kann etwas so Flüchtiges wie ... alte Erinnerung einen Moment lang festgehalten werden. Wir sind nicht in der Nähe des Meeres; der Schnee verbirgt die Sterne, und die Erde ... schläft jetzt. Das Feuer ist das einzige Element, das uns nun zur Verfügung steht.« »Wie wäre es mit einem Teich? Könntest du es mir in seinem Wasserspiegel zeigen?« Dorndreher schüttelte den Kopf. »Ja, aber jetzt ist Winter. Alle Teiche sind zugefroren; es würde ein verschwommenes Bild nur noch stärker verzerren.« Ashe stand auf und zog sein Schwert. Kirsdarke glitt aus der Scheide; das Elementarwasser seiner Klinge kräuselte sich wie die Wellen des Meeres. In dem blauen Licht, das die kleine Lichtung nun durchströmte, wurden Dorndrehers Augen groß. »Kirsdarke«, flüsterte er. »Kein Wunder, dass du allein überleben und allem entgehen konntest, was dich die ganze Zeit über gejagt hat.« »In der Tat.« Mit einem sanften Strich beschrieb Ashe einen Kreis in das verbrannte, gefrorene Gras des Feuerrings. Die Flammen erloschen sofort, während Wolken wogenden Rauchs aufstiegen und sich in der feuchten, schweren Luft verteilten, bis sie mit dem weiten, dünnen Nebel verschmolzen, der dicht über dem Boden hing. Wo das Feuer gewesen war, lag nun ein kleiner Teich aus klarem Wasser, tief und vollkommen glatt. »Genügt das?« Dorndreher nickte und sah weiterhin dem Dunst nach, der vom Wind ergriffen und mit dem fallenden Schnee vermischt wurde. Er drehte sich um und schaute den frisch erschaffenen Teich an. »Sehr gut, also wollen wir es noch einmal versuchen. Sieh in das Wasser, Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’ Anwynan o Manosse.« Ashe steckte das Wasserschwert sanft zurück in die Scheide und löschte damit das Licht auf der Lichtung. Er beugte sich über den Teich und starrte in dessen Dunkelheit. Schneeflocken fielen federleicht auf die Oberfläche. Lange erkannte er nichts außer der alles umgreifenden Schwärze des Wassers, das den dunklen Himmel widerspiegelte. Er schüttelte den Kopf und wollte gerade zu Dorndreher zurückschauen, als eine flackernde Bewegung im Teich seine Aufmerksamkeit erregte. Er sah, dass das, was zuvor noch der weiße Mantel aus fallendem Schnee gewesen war, nun das Spiegelbild des Mondlichtes war, verschwommen und undeutlich in der Hitze eines lange vergangenen Sommers. Sein Strahlen vereinigte sich in dem flachsfarbenen Haar einer jungen Frau, beinahe noch ein Kind, die auf einem sommerlichen Hügel in der süßen Düsternis einer Sommernacht neben ihm gesessen hatte. Die flackernde Bewegung war das Zwinkern ihres Auges gewesen, weit geöffnet vor Verwunderung, erstrahlend in einem Licht, das heller als der Mond war. Sie lächelte ihn in der Dunkelheit an, und Ashe fühlte nun, wie seine Knie schwach wurden, wie sie es auch damals, vor so langer Zeit, geworden waren. Sam? Ja?, murmelte er nun, genau wie damals. Sein heller Bariton klang in seinen Ohren viel jünger, erfüllt von ängstlicher Erregung, am Rande des Brechens. Glaubst du, dass wir das Meer sehen werden? Irgendwann einmal? Er erinnerte sich daran, wie er gefühlt hatte, dass er ihr alles versprechen wollte, worum sie ihn bat. Natürlich. Wir könnten, wenn es dir gefällt, auch am Meer leben. Hast du es noch nie gesehen? Ich bin noch nie hier herausgekommen, Sam, kein einziges Mal. Aber ich habe mich schon immer nach dem Meer gesehnt. Mein Großvater ist Seefahrer, und er hat mir versprochen, dass er mich irgendwann einmal auf eine große Fahrt mitnimmt. Bis vor kurzem habe ich mir auch Hoffnung darauf gemacht. Ich habe schon einmal sein Schiff gesehen. Wie ist das möglich, wenn du noch nie am Meer warst? Sie hatte so weise ausgesehen, so empfindsam, als sie ihn bei dieser Frage angelächelt hatte. Es war der Abend ihres vierzehnten Geburtstages gewesen. Nun, es ist in Wahrheit sehr klein ungefähr so groß wie meine Hand , jedenfalls da, wo es jetzt liegt: in einer Flasche auf dem Kaminsims. Ashe würgte an dem Knoten, der sich in seinem Hals gebildet hatte, und kämpfte das Stechen an den Augenrändern nieder. Damals war Rhapsody so wunderschön gewesen. Ihr Gesicht hatte noch nicht die Ehrfurcht einflößende Großartigkeit gezeigt, die sie nun mit einer Kapuze bedeckte, sondern nur die einfache, frische Unschuld des lebhaften jungen Mädchens, das sie zu jener Zeit gewesen war eines Mädchens, das ihre Familie Emily genannt hatte. Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, sie bei Tageslicht zu sehen. Wann immer das Schicksal ihn in der Zeit zurückgeworfen hatte, war ihm nur eine Nacht mit ihr vergönnt gewesen, eine gesegnete Nacht im hügeligen Bauernland von Serendair, wo sie geboren worden war mehr als dreizehn Jahrhunderte vor seiner eigenen Geburt. Der Augenblick, den Dorndreher ihm gezeigt hatte, war der Augenblick gewesen, in dem er erkannt hatte, wer sie wirklich war und warum die Zeit sie so verändert hatte. Sie war die andere Hälfte seiner Seele, geboren vor vielen Lebensspannen und in einer entfernten Welt, aber begabt mit einer Magie, die so stark war, dass sie Zeit und Ferne trotzte und sie dennoch zusammenbrachte. Ashes Magen drehte sich heftig um, als er die Ironie spürte. Sie hatten diese wenigen Augenblicke miteinander verbracht, nur um dann durch Ereignisse und Abläufe von scheußlichen Ausmaßen getrennt zu werden. Das Schicksal, das eher grausam als freundlich war, hatte sie ein zweites Mal zusammengeführt, und sie hatten sich wieder ineinander verliebt, nur um erneut getrennt zu werden. Diesmal aber war derjenige, der ihnen die Möglichkeit des Beisammenseins geraubt hatte, Ashe selbst gewesen. Die Schmerzen wurden unerträglich. Ashe atmete schwer. Das Bild in dem neu geschaffenen Teich verblasste. Er flüsterte noch einmal das, was er zu ihr gesagt hatte, als die Vision in dem reflektierten Mondlicht verschwamm und schließlich verschwand. »Du bist die wunderbarste Frau der Welt.« Die einzige Antwort war das Heulen des Winterwindes. Ashe sah auf, die Augen rot vor ungeweinten Tränen. Dorndreher lag unter der Lagerdecke in der Dunkelheit und atmete flach. Ashes Drachensinne warnten ihn sofort, dass es mit dem alten Mann eine schlechte Wendung genommen hatte und er um sein Leben kämpfte. Ashe stand rasch auf und zog das Laken enger um Dorndreher, dann hob er ihn vom Boden auf und trug ihn zum Pferd. »Keine Angst, Großvater, wir sind schon fast bei Anborn«, sagte er, während er hinter Dorndrehers zusammengesacktem Körper aufsaß. »Lehne dich gegen mich und ruh dich aus. Wir sind bald da, und dann wirst du deinen Trost finden.« Dorndreher konnte nur noch nicken und brach dann unter einem heftigen Hustenanfall zusammen. Ashe trieb den Wallach voran und folgte den Schwingungen, die er aus der Ferne von Anborn empfangen hatte. »Vielen Dank, dass du mir das gezeigt hast«, sagte er leise. Dorndreher hörte ihn nicht mehr. 20 Ashe fing den Geruch von Asche als Erster auf; nun war er stärker und wehte mit dem Wind aus Westen heran. Dorndreher war bewusstlos geworden; seine Haut war grau und vom kalten Schweiß gesprenkelt, und er atmete flach. Sein Leben hing am seidenen Faden, und Ashe wusste, dass noch mindestens zwei Meilen vor ihnen lagen, bis er die Brände erreicht hatte, die die Asche in die Luft entsandten. Seine Drachensinne tasteten sich voran, als er sich dem Wirtshaus näherte, in dem er Anborn finden würde. Aus einer Entfernung von fünf Meilen in jeder Richtung überschwemmten ihn wahllos alle Arten von Informationen wie eine Meeres welle: die Veränderungen im Herzschlag seines galoppierenden Reittieres, das unterschiedliche Gewicht des Schnees auf den einzelnen immergrünen Zweigen in dem ausgedehnten Wald; der Ruß im Gefieder des Schneezaunkönigs, der über ihnen in einem eisigen Aufwind kreiste. Ashe schluckte und schärfte seine Aufmerksamkeit. Er trieb den Drachen in seinem Blut dazu, sich auf das zu richten, was er suchte. Er spürte es sofort. Eine kleine Herberge, erbaut aus dem verfaulenden Holz des Waldes, zwischen den Balken dick mit getrocknetem Lehm und Mörtel verschmiert, anderthalb Stockwerke hoch, die durch eine Treppe von zweifelhafter Standfestigkeit verbunden waren. Strohgedecktes Dach, der Boden mit Strohmatten belegt. Die Farbe abgeblättert von dem Schild vor dem Haus, auf dem einst nichts als ein krähender Hahn abgebildet war. Acht Feuerstellen zwei kürzlich entfachte, fünf halb aufgezehrte und eine kurz vor dem Erlöschen erhellten den Pfad vor der Herberge. Ashe wusste genau, wie lange sie schon gebrannt hatten; die Menge geschmolzenen Schnees um sie herum verriet es ihm. Dorndreher jammerte bewusstlos, als Ashe den Wallach vorantrieb. Vier Reiter näherten sich ihnen, alle aus Nordwest. Er wusste, dass Anborn seine Gegenwart nicht verborgen geblieben war, auch wenn er zweifellos nicht ahnte, dass es Ashe war. Er hatte die Kapuze übergezogen und der Nebelumhang verhüllte ihn noch immer. Er rief, sobald seine Drachensinne ihm sagten, dass Ohren in der Nähe waren; sein Ruf traf mit dem verwehenden Jammern des Windes zusammen. »Hilfe! Helft mir! Ich habe einen Verwundeten!« Die Reiter, die die Worte durch das Geheul hörten, wandten sich nach Osten in seine Richtung und ritten so schnell, wie es der schlammige Waldweg erlaubte. Ashe verlangsamte sein Pferd, denn er wollte nicht mehr in Bewegung sein, wenn Anborns Männer auf ihn stießen. Bis dahin schien es eine Ewigkeit zu dauern. Es war eine Zusammengewürfelte Gruppe von Soldaten, gekleidet in verschiedene Arten von Rüstungen und ohne die Standarte eines königlichen Hauses. Ashe erkannte drei der Männer: Knapp, Garth und Solarrs. Sie waren Anborns Gefährten gewesen, so lange Ashe seinen Onkel kannte. Der Weisheitsring des Patriarchen, den er an der rechten Hand trug, sagte ihm, dass Knapp und Solarrs wie Dorndreher Cymrer der Esten Generation waren. Den vierten Mann kannte er nicht. »Halt, im Namen von Anborn ap Gwylliam!«, rief er. Die Reiter bremsten ihre Tiere. Jeder trug eine schwere Armbrust, die auf Ashe gerichtet war. »Ich habe Dorndreher! Er ist verwundet!« Drei der Reiter zügelten ihre Pferde, während Solarrs, Anborns Hauptspäher, vorsichtig Weiterritt. Er senkte die Armbrust, die anderen jedoch wiesen weiterhin auf Ashe. »Dorndreher?«, rief Solarrs. »Er stirbt«, brüllte Ashe zurück in den Wind. »Führt mich zu Anborn, wenn euch sein Leben lieb ist.« »Du solltest für seine Verletzungen nicht verantwortlich sein, falls dir dein Leben lieb ist«, erwiderte Solarrs. Er wandte sich um und gab den anderen ein Zeichen. Knapp und der Mann, den Ashe nicht kannte, warteten, während er und Solarrs vorbeiritten und Garth sich zu ihnen gesellte. Die anderen beiden bildeten die Nachhut, und die Gruppe begab sich mit aller gebotenen Eile zu der Herberge, deren glühende, gelegentlich vom fallenden Schnee gesprenkelte Feuer jetzt auch menschliche Augen in der Ferne erkennen konnten. Als die fünf Reiter bei der Herberge ankamen, hielt Ashe sein Pferd an und wartete darauf, dass die anderen Dorndreher mitnahmen. Anborns Männer saßen hastig ab; Solarrs und Knapp eilten auf ihn zu, nahmen ihm den sterbenden Cymrer vom Schoß und trugen ihn vorsichtig in das Wirtshaus. Bei ihrer Ankunft wurde die Tür aufgerissen, und das flackernde Licht eines brausenden Feuers ergoss sich in die verschneite Dunkelheit. Einige weitere Schatten rannten in die kalte Nacht hinaus; jeder schlang einen Arm oder eine Hand unter eines von Dorndrehers Gliedern oder seinen Leib und half ihn zu tragen. Einen Augenblick später wurde das Licht gelöscht, das aus der Tür fiel, weil sich ein Schatten davorschob. Ashe atmete tief ein. Anborn. Der alte Krieger warf einen Blick auf Ashe, dessen Gesicht durch ein Feuer nahe der Tür erhellt wurde. Anborn gab ihm brüsk ein Zeichen, er solle in die Herberge kommen, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Dorndreher zu, während die Soldaten den Verwundeten über die Schwelle trugen. Ashe stieg ab, warf die Zügel über den Rücken des Pferdes und klopfte ihm dankbar auf die Flanke. Kurz sah er hoch in den schwärzer werdenden Himmel. Ein Sturm zog herauf, aber er würde vor Sonnenaufgang vorbei sein. Er atmete tief ein und füllte die Lunge mit frischer Luft. In Nase und Hals brannte es vor Asche. Als der Lärm der Soldaten verebbt war, ging er über den kurzen, in den Schnee getrampelten Pfad zur Herberge. Der Wirt sah ihn nervös an, als er die Tür hinter sich schloss. Sie waren allein in der Schankstube der Herberge; Anborn und seine Soldaten waren nirgendwo zu sehen. Der Mann deutete besorgt auf die wacklige Treppe, an deren oberem Ende zwei Türen sichtbar waren. Ashe nickte. Er nahm seine besudelten Handschuhe ab und legte sie zum Trocknen über das Feuereisen. Schließlich räusperte sich der Herbergswirt. »Wollt Ihr ein Bier, Herr?« Ashe nickte und trat sich am Herdgitter den Schnee von den Stiefeln, während ihn der Dampf seines Nebelumhangs noch umgab. »Vielen Dank.« Der Wirt eilte hinter die Treppe und kehrte einen Augenblick später mit einem zerbeulten Krug voll dünnem Bier wieder. Ashe nahm den Krug an und kehrte zum Feuer zurück, wo er ihn leerte. Er drehte sich um und wollte ihn dem Wirt zurückgeben, doch dieser war verschwunden. An seiner Stelle stand der cymrische General, der Marschall von Gwylliams schändlicher Armee. Anborns Gesicht war ausdruckslos; er sah Ashe nicht direkt an. Ashe verneigte sich leicht. »Marschall.« »Ich bin keiner mehr.« Anborn verschränkte die Arme. »Was ist Dorndreher zugestoßen?« Er setzte sich auf einen Tisch in der Nähe der Treppe. Einen Moment später kamen drei Männer die wacklige Treppe herunter. Anborn sah sie fragend an, und einer von ihnen nickte. Der Mann ging wieder die Treppe hinauf, während die beiden anderen sich zu Anborn und dem Tisch begaben, auf dem Krüge und eine Kanne warteten. Im Licht des Kamins beobachtete Ashe seinen Onkel; es war immer bemerkenswert, die Dinge wahrzunehmen, die seinen Drachensinnen entgangen waren oder die sie nicht erkennen konnten. Anborns Gesicht hatte sich nicht wesentlich verändert, seit Ashe ihn das letzte Mal gesehen hatte; es lag mindestens zwanzig Jahre zurück. Es war das Gesicht eines Mannes von mittlerem Alter, obwohl sein muskulöser Körper eher zu einem Mann in den späten Jugendjahren gepasst hätte. Haare und Bart, schwarz wie die Nacht, hatten einige Silbersträhnen mehr, als Ashe in Erinnerung geblieben waren. Er trug dasselbe schwarze Kettenhemd wie immer; die dunklen Ringe waren mit Bändern aus gleißendem Silber verflochten. Wundervolle Stahlepauletten hielten für gewöhnlich seinen schweren schwarzen Umhang. Ashe wusste, dass dieser Umhang sich nun oben befand, sorgfältig um Dorndrehers Körper gewickelt, und ihn wärmte. Die azurblauen Augen des Generals glühten wild in einem ansonsten gleichgültigen Gesicht. Er starrte in das Feuer. »Ich habe ihn sterbend am Rand der Krevensfelder gefunden«, sagte Ashe. Er näherte sich dem Tisch, an dem die Männer saßen, und stellte den leeren Krug ab. »Er ist zusammen mit seinem Gefolge in einen Hinterhalt sorboldischer Soldaten geraten.« Die Männer sahen auf; seine Worte hatten sie verwirrt. Sie tauschten einen raschen Blick aus, doch Anborn nickte bloß; seine Aufmerksamkeit war noch immer auf das Feuer gerichtet. »Warum hast du ihn nicht nach Sepulvarta oder Bethe Corbair gebracht, damit er dort geheilt wird?«, fragte einer von Anborns Männern. »Du hast sein Leben aufs Spiel gesetzt, indem du mit ihm in diesem schlimmen Zustand weiter gereist bist.« »Er hat darum gebeten, zu euch gebracht zu werden. Er hat eindrücklich darauf bestanden.« Anborn nickte wieder. »Ich schulde dir große Dankbarkeit. Falls du etwas über mich weißt, dann ist dir bekannt, dass dies für dich ein wertvolles Gut ist.« »In der Tat.« »Wenn du einmal meine Dankbarkeit in Anspruch nehmen musst, erinnere meine Männer daran, dass du Dorndreher gerettet hast; dann werden sie dir sofort helfen.« Der Krieger erhob sich von seinem Stuhl, aber Ashe bewegte sich nicht. Anborn stand einige Zeit schweigend da, doch schließlich verdunkelte Ungeduld sein Gesicht. »Geh, Mann. Ich muss mich um einen Verwundeten kümmern.« »Sehr wohl.« Ashe holte seine Handschuhe vom Kamingitter, ging zur Tür und öffnete sie. »Vielleicht willst du meinen Namen erfahren?« Anborns Augen, die so klar wie der azurne Himmel waren, wurden plötzlich dunkel. Zum ersten Mal richtete er seinen starren Blick auf Ashe. Nach einem kurzen Moment gab er seiner Gefolgschaft ein Zeichen. »Verlasst uns«, sagte er zu den Männern am Tisch, ohne den Blick von Ashe zu wenden. »Kümmert euch um Dorndreher.« Eilig stiegen die Soldaten die Treppe hoch und verschwanden in dem Zimmer am oberen Ende; der Letzte schloss die Tür geräuschvoll hinter sich. Als die Männer fort waren, erlaubte Anborn seinem Blick, über den Nebelvorhang zu wandern, der Ashe vor gewöhnlichen Augen verbarg. »Schließ die Tür«, befahl er. Ashe gehorchte. »Ich verabscheue Geistesspiele und die Männer, die sie spielen«, murmelte der General dunkel. »Ich habe angenommen, du wolltest deine Identität verbergen, und habe dir die Achtung erweisen wollen, dir dies zu erlauben. Es kommt selten vor, dass jemand mit mir spielt, und überdies ist es sehr unklug. Wer bist du?« »Dein Neffe.« Anborn schnaubte. »Ich habe keinen.« Ashe lächelte unter seiner Kapuze. »Mein Name ist Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’Anwynan o Manosse«, sagte er geduldig. »Aber du kannst mich auch ›Nutzloser‹ nennen, so wie du es früher zu tun pflegtest.« Anborns Schwert lag in seiner Hand; die Bewegung, mit der er es gezogen hatte, war für Ashe unsichtbar gewesen, obwohl der Drache in seinem Blut sie gespürt hatte und dem Bogen elektrischer Funken folgen konnte, die noch in der Luft hingen. »Enthülle dich.« Vorsichtig nahm Ashe den Rand seiner Kapuze in die Hand. Er zog sie langsam zurück und sah zu, wie sein leuchtendes Kupferhaar den Feuerschein einfing und in Anborns sich weitende Augen warf. Beinahe genauso schnell verengten sich die azurnen Augen wieder, doch sie hielten das gleißende Licht gefangen. Er steckte das Schwert nicht zurück in die Scheide. Ashe fühlte das Gewicht von Anborns Blick, der prüfend über sein Gesicht glitt; er spürte denselben Drachensinn, der auch in seinem eigenen Blut floss winzige Nadelstiche aus Energie dort, wo Anborns innerstes Wesen Veränderungen in der Gestalt seines Neffen wahrnahm. Am längsten dauerte die Untersuchung der Augen, die Reptilienpupillen erhalten hatten, nachdem ihn sein Onkel zum letzten Mal gesehen hatte. Er stand so still wie möglich und wartete darauf, dass Anborn fertig wurde. Er versuchte, nicht weiter auf die Panik zu achten, die sein eigener Drachensinn bei diesem Eindringen empfand. Schließlich hob der alte cymrische Krieger an zu sprechen. »Dein Vater behauptet seit zwanzig Jahren, du seiest tot«, sagte er in drohendem Tonfall. »Das Trauergewand meiner Frau für deine Beerdigung war überzogen mit einer königlichen Auswahl von Perlen, um das tragische Dahinscheiden des Thronerben zu ehren. Die Kosten dieses verfluchten Dings haben mich beinahe ruiniert.« »Das tut mir Leid.« »Wie traurig unangemessen. Doch das sollte mich nicht überraschen. Du bist schließlich ein Nachkomme Llaurons. Was hat dich so verwandelt?« Ashe schüttelte die Kränkung ab. »Das ist nicht von Bedeutung. Von Bedeutung ist nur, dass ich hier bin, und obwohl ich mich entschlossen habe, nicht zu wagemutig zu sein, werde ich mich nicht mehr verstecken. Weder vor Menschen noch vor Dämonen.« »Selbstsicher wie immer. Ich glaube, nicht einmal der nahe Tod kann einen sorglosen Narren ändern.« Schließlich steckte Anborn das Schwert zurück in die Scheide. Er ging wieder zum Tisch, nahm einen der Krüge und leerte ihn, dann sah er noch einmal Ashe an. Er füllte den Krug erneut. »An deiner Stelle wäre ich etwas vorsichtiger, Gwydion. Deine neu erworbene Weisheit wird dich zu einem noch schmackhafteren Ziel machen, als du es bisher warst.« »Es macht mich auch zu einem gefährlicheren.« Anborn lachte harsch und nahm einen weiteren Schluck, sagte aber nichts. Ashe stand still da und wartete darauf, dass sein Onkel weiterredete. Schließlich deutete Anborn auf die Tür. »Was hält dich noch hier? Geh.« Ashe war verblüfft, zeigte dies aber nicht. Er beobachtete, wie Anborns Blick durchdringender wurde, während er sich das Bier grob mit dem Unterarm von den Lippen wischte. Die Luft im Raum wurde wärmer, trockener und erhielt eine Unterströmung von Bedrohung. »Wolltest du sonst noch etwas?«, fragte Anborn. »Ich hatte gehofft, wir könnten die alten Feindseligkeiten beiseite schieben und miteinander reden.« »Warum?« Anborn stellte den leeren Krug hart auf dem Tisch ab. »Ich habe dir nichts zu sagen, du Welpe meines einstigen Bruders. Warum sollte ich noch weitere Zeit mit einem sinnlosen Gespräch verbringen, wenn mein Abendessen kalt wird, mein Soldat meine Hilfe braucht und dort oben eine Bettgespielin auf meine Aufmerksamkeiten wartet?« Ashe ergriff die Türklinke. »Ich kann es mir nicht vorstellen.« Er zog die Kapuze wieder über. Anborn kniff die Augenbrauen zusammen, als sein Neffe die Tür öffnete. Er griff rasch in seine Tasche und zerrte einen kleinen Leinensack hervor, den er Ashe vor die Füße warf. »Da. Das sollte genug Bezahlung für deine Mühen sein.« Ashe trat das Säckchen zurück zu ihm. Die Luft im Raum war so aufgeladen, dass sie beinahe knisterte. »Behalte es. Dein Angebot enttäuscht mich.« Anborn lachte drohend. »Nicht genug? Ich hatte vergessen, dass du den Inhalt des Säckchens bis auf die letzte Münze kennst, weil es dir deine inneren Sinne sagen. Nenne also deinen Preis, damit ich dich loswerde.« Ashe bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten, obwohl der spottende Tonfall den Drachen in ihm entflammt hatte und sein Zorn hinter den Augen pochte. »Du kannst mich loswerden, indem du mich bloß bittest zu gehen. Das sind nicht gerade die warmherzigen Familienbande, auf die ich gehofft hatte, aber ich will gehen, wenn es das ist, was du wünschst, Onkel.« »Was hast du erwartet, Gwydion ein Rasenfest zu deinen Ehren? Du und dein verfluchter Vater habt mich seit so vielen Jahren belogen.« Der General leerte den nächsten Krug. »Es war notwendig.« »Das mag sein. Weiterer Kontakt mit dir ist es aber nicht. Um die Wahrheit zu sagen, Neffe, hege ich dir gegenüber keine Feindschaft, aber ich habe auch nur wenig Trauer über deinen Verlust gespürt. Deine Rückkehr mag deinen Verbündeten, Navarne und dem Haus deiner Mutter in Manosse Freude bereiten, aber mir bedeutet sie nichts. Kaum etwas könnte mich weniger kümmern als dein weiteres Schicksal. Ich stehe in deiner Schuld, weil du meinen Soldaten zurückgebracht hast. Wenn du mich um einen Gefallen bitten willst, werde ich ihn dir erfüllen. Doch darüber hinaus habe ich kein Verlangen nach deiner Gesellschaft. Mach dich also auf den Weg.« Ashe zog sich die Kapuze über. »Wie du willst, Onkel«, sagte er nur. »Du hattest es verdient, die Wahrheit über mich zu hören, und nun kennst du sie. Auf Wiedersehen.« Er zog die Tür weit auf und verschwand in dem Schneedurchzogenen Nebel. Anborn wartete, bis er das Hufgeklapper von Ashes Pferd nicht mehr hören konnte, dann nahm er einen weiteren tiefen Zug aus dem Krug. Er sah schweigend zu, wie das Feuer herunterbrannte und in ohnmächtiger Wut zischte und knisterte. Dann erhob er sich langsam, wischte sich das Bier von den Lippen und ging über die wackelige Treppe in den oberen Raum. Im blassen Licht einer rostigen Laterne standen seine Männer um die Strohmatratze und kümmerten sich still um seinen Waffenbruder und Freund. Dorndreher schlug die verletzten Augen auf, als sich Anborn an das Fußende des Bettes stellte, und schaute rasch von einem Mann zum anderen, bis sein Blick auf dem General zur Ruhe kam. Er zuckte vor Schmerzen zusammen, als er sich an seine Gefährten wandte. »Lasst uns allein«, sagte Dorndreher; seine Stimme war nicht mehr als ein abgerissenes Flüstern. Die Soldaten schauten Anborn fragend an, er nickte schweigend. Rasch sammelten sie die Schüssel und die blutigen Stoffteile ein, die als Verbände gedient hatten, und verließen still das Zimmer. Der General nahm ein sauberes Stück Stoff und legte es in das Wasser der Schale auf dem Boden. Er hockte sich neben Dorndrehers Bett und wischte ihm sanft das getrocknete Blut aus den Augen. Dorndreher drehte sich um und richtete den brechenden Blick auf den Kommandanten. »Danke den Göttern, dass ich lange genug leben durfte, um dich wiederzusehen«, sagte er stockend. »Das werde ich tun«, erwiderte Anborn und lächelte schwach. »Hol... den ... Säbel.« »Später«, sagte Anborn. »Ruh dich jetzt aus.« »Verdammtes Später!«, zürnte Dorndreher. »Vielleicht kommt es nie. Es könnte das letzte Mal sein, dass ich es dir zeige, Anborn. Möchtest du diese Gelegenheit verstreichen lassen?« Anborn schwieg, während er dem Verwundeten das kühle Stück Stoff auf das graue Gesicht legte. »Nein«, gab er schließlich zu; Zögern lag in seiner Stimme. »Dann hol ihn.« Anborn stand mühsam auf und ging in die Ecke, in die man Dorndrehers Sachen hastig geworfen hatte. Er suchte darin herum, fand den zerbeulten Säbel und hielt ihn kurz in der Hand, bevor er ihn an das Bett trug. »Das kann warten, bis du stärker bist«, sagte er zu Dorndreher, der erneut finster dreinblickte. »Möge dich die Leere holen. Sieh in die Laterne.« Anborn streckte eine Hand aus, die deutlich zitterte, und hob die angelaufene Laterne vom Nachttisch. Er hielt sie vor seine Augen. Dorndreher sah zu, wie diese azurnen Augen, das Zeichen des cymrischen Königshauses, aufleuchteten. Er lehnte sich gegen das Strohkissen, schloss die Augen und atmete abgehackt. 21 Tief in den Tunneln von Ylorc Die Überlieferungen der Finder Seit den ältesten Tagen, in den dunkelsten Ecken der Firbolg-Geschichte, hatte es Finder gegeben. Die Bolg von Canrif besaßen keine schriftlich festgehaltenen Legenden, keine dauerhaft aufgezeichneten Traditionen; sie waren eine Rasse von Analphabeten, zumindest bis Achmed, der selbst nur zur Hälfte von ihnen abstammte, wie durch Magie von der anderen Seite der Welt zu ihnen gekommen war und den Berg beinahe auf das eigene Verlangen des Volkes in Besitz genommen hatte. Den Berg zu unterwerfen war in der Tat ein einfaches Unternehmen gewesen. Einer der ersten Orte, welchen die Drei in der verlassenen Ruine gefunden hatten, dem früheren Herrschaftssitz Gwylliams, war die königliche Bibliothek gewesen, das Herz von Canrif. Sie enthielt eine gewaltige Sammlung von Landkarten, Plänen und Manuskripten; einige stammten von der untergegangenen Insel Serendair, und alle waren sorgfältig katalogisiert, steckten in runden Schutzbehältern aus Marmor oder altem Elfenbein und lagerten unter dem wachsamen Blick eines gewaltigen Freskos an der gewölbten Decke, das einen rotgoldenen Drachen darstellte, dessen versilberte Krallen in einer stummen Drohgebärde ausgestreckt waren. In der Bibliothek lagen auch die Eingänge zu den tiefer gelegenen Schatzgrüften und Reliquienschreinen, in denen Gegenstände aufbewahrt wurden, die für den schon lange toten König von großem Wert gewesen waren. Dort hatte sich sogar sein Leichnam befunden. Sie hatten Gwylliams mumifizierten Körper auf dem Rücken liegend inmitten der verfaulenden Staatsroben entdeckt; seine verdorrte Brust war grausam aufgerissen gewesen. Seine schlichte Krone aus reinstem Gold hatte achtlos neben ihm gelegen und davon gezeugt, wie der Mächtige gefallen war. Am wichtigsten für die Eroberung Ylorcs waren Achmed aber die Maschinen gewesen, die der cymrische König gebaut hatte, um Bewegungen innerhalb des Labyrinths aufzuspüren, sowie die Reihe von Hör und Sprechröhren, die teils sichtbar, teils unsichtbar durch den gesamten Berg liefen, zum größten Teil noch funktionierten und allesamt sehr nützlich waren. Es war kaum mehr nötig gewesen, als diese Erfindungen ein wenig zu verändern und das Ventilationssystem wieder in Gang zu setzen, das frische Luft und Wärme nach Canrif brachte, um die gegenwärtigen Bewohner davon zu überzeugen, dass sie auf ihrem eigenen Boden aus dem Felde geschlagen waren. Die Bolg hatten sich mehr oder weniger fügsam ihrem neuen Kriegsherrn ergeben, der die Bergstädte der »Willums«, wie sie die Cymrer nannten, zu ihrer früheren Pracht zurückführen konnte, diesmal unter der Hand eines Anführers, der wenigstens ein halber Firbolg war. Sie wussten nichts von seiner anderen Seite, seiner dhrakischen Natur, die vor allem danach trachtete, die Dämonengeister des F’dor zu finden. Sie waren aus der großen Gruft des Lebendigen Gesteins entkommen, die die Drachen errichtet hatten, um sie dort in der VorZeit einzusperren. Es war ein Bluteid, der weitaus älter war als jeder, den er den Firbolg als ihr neuer König geschworen hatte, doch das wussten sie nicht. Als Achmeds Herrschaft über Ylorc begonnen hatte, hatte Rhapsody darauf bestanden, die Bolg andere Dinge als nur die Kriegskunst zu lehren, denn sie sollten ihren Berg nicht nur gegen die blutdürstigen Männer aus Roland halten, sondern überdies eine Kultur aufbauen können, die auch außerhalb des Berges Bestand hatte. Bis zu diesem Jahr hatten jene Männer immer wieder an einem jährlich stattfindenden Morden teilgenommen, das als »Frühjahrsputz« bekannt war, einem Schlachtritual, in dem die Bolg ihre Alten, Schwachen und Kranken im Gegenzug dafür herausgaben, für den Rest des Jahres in Ruhe gelassen zu werden. Doch seit diesem Frühling wehte ein anderer Wind um die Gipfel der Zahnfelsen. Die Soldaten Rolands waren wie gewöhnlich gekommen, auf Tristan Stewards Befehl zweitausend Mann stark. Sie hatten zu ihrem Leidwesen herausgefunden, dass die Ungeheuer, die sie mit Gleichgültigkeit zu töten gewohnt waren, leider inzwischen selbst das Abschlachten von ihnen gelernt hatten. Achmed hatte die Nachricht vom Massaker an der orlandischen Brigade durch die Bolg dem Herrn von Roland persönlich überbracht, ihn in seinem eigenen Schlafzimmer geweckt und ihm ein Ultimatum gestellt, das zehn Tage später zu einem widerstrebend abgeschlossenen Friedensvertrag geführt hatte. Ich bin das Auge, die Klaue, der Fersensporn und der Beuschel des Berges. Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass dein Heer aufgerieben wurde. Der Herr von Roland war bebend aus dem Schlaf erwacht und hatte nicht aufgehört zu zittern, während er der sandigen Stimme gelauscht hatte, die ein Teil der Finsternis selbst zu sein schien. Falls es dir gelingt, noch eine Weile am Leben zu bleiben und unser Treffen geheim zu halten, wirst du in zehn Tagen ein Handels und Friedensabkommen mit uns abgeschlossen haben... Meine Abgesandte wird dich in genau zehn Tagen an der bestehenden Grenze zwischen meinem Reich und Bethe Corbair erwarten. Bist du nicht pünktlich, rückt die Grenze mit jedem Tag ein Stück zurück. Wenn du aus irgendwelchen Gründen nicht reisen möchtest, brauchst du also nur hier zu warten. In etwa vierzehn Tagen würde die Grenze gleich hier durch deine Festung verlaufen. Tristan Steward, sein Vetter Stephen Navarne, der Herzog der Provinz, die seinen Familiennamen trug, und Tristans Bruder Ian Steward, der Seligpreiser von Canderre-Yarim, waren tatsächlich an der Grenze erschienen. Die ersten beiden hatten politische Ziele verfolgt, der Seligpreiser religiöse. Rhapsody hatte ihre Verhandlungen sanft begleitet und sie zu Handelsabkommen verführt, die sehr vorteilhaft für die Bolg waren, sowie Friedensverträge abgeschlossen, die Roland knebelten. All das hatte sie mit einem unbewussten Zwinkern ihrer grünen Augen erreicht. Tristan Steward war in seine Zentralprovinz und zu seiner unangenehmen Verlobten zurückgekehrt und hatte das beunruhigende Gefühl gehabt, dass er sowohl seine Geburtsrechte als auch seine Seele an Ylorc übergeben hatte. Was Tristan Steward nicht erkennen konnte, war die Art der Zündschnur, die seine falsche Entscheidung, eine ganze Brigade gegen Achmeds Truppen zu schicken, in Brand gesetzt hatte. Der natürliche Prozess, diplomatische Bande mit einer neuen Herrschaft zu knüpfen, ist üblicherweise lang, und das aus gutem Grund. Ein frisch gekrönter König braucht Zeit, alles über sein Reich in Erfahrung zu bringen, was er wissen muss, und die guten und schlechten Aspekte der Beziehungen zu seinen Nachbarn, Verbündeten und Feinden kennen zu lernen. Die Vernichtung von Tristans Heer hatte diesen Prozess beschleunigt. Die Schreckenstat hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Provinzen von Roland und die angrenzenden Länder Sorbold im Süden, Gwynwald im Westen und Hintervold im Norden und sogar in den Nationen hinter den Zahnfelsen im Osten verbreitet. Nur das Lirin-Reich von Tyrian, jener ausgedehnte Wald, der an die südöstliche Küste grenzte, hatte keinen Botschafter nach Ylorc geschickt und nicht erkennen lassen, ob die Besteigung von Gwylliams Thron durch einen Firbolg-Kriegsherrn irgendeinen Eindruck hinterlassen hatte. Von dieser Ausnahme abgesehen, waren die Nachbarländer Ylorcs eifrig darauf bedacht, so viele Friedensvereinbarungen wie möglich mit den Bolg einzugehen und auch den Handel ein wenig voranzutreiben. Besonderes Interesse fand sich in Sorbold, dem dürren Land der Sonne, das früher Teil des cymrischen Reiches gewesen war, nun aber allein stand und eine unabhängige Nation war, die mit Roland nur durch Beziehungen zum alten Patriarchen von Sepulvarta verbunden war, dem religiösen Haupt beider Länder. Die Sorbolder wollten unbedingt Zugang zu den ausgezeichneten Waffen haben, die in den Feuern der Firbolg-Schmieden hergestellt wurden. In ihrem Land gab es nur wenige Bodenschätze, und die Stahlproduktion war teuer und schwierig. So brachten sie diese Frage durch ihren Botschafter Syn Crote vor, der für seine Überredungskunst bekannt war. Doch während Achmed Verträge für andere Güter unterzeichnete, weigerte er sich, Waffen an Sorbold zu verkaufen, denn es war äußerst unklug, eine Nachbarnation mit den eigenen Beständen auszurüsten, wie freundlich ihr Botschafter auch immer sein mochte. Der Kronprinz von Sorbold biss sich auf die Zunge und lächelte gequält, doch jeder Narr konnte sehen, dass diese Weigerung früher oder später mindestens zu weiteren Diskussionen und möglicherweise zu Schlimmerem führen würde. Doch im Augenblick herrschte Frieden. Sobald die Handelsabkommen unterzeichnet waren, entwarf Achmed einen Plan, diese Abschlüsse und andere Übereinkommen und Schriftstücke vor der wahllosen und unerklärlichen Gewalt zu schützen, die das neue Land geißelte, seit er, Rhapsody und Grunthor hier aus der Wurzel ans Licht gekrochen waren. Eine Reihe von bewachten Karawanen, die in wöchentlichen Abständen von fünfzig Soldaten Tristan Stewards begleitet wurden, machte die Runde in allen miteinander verbundenen Ländern des mittleren Kontinents: von Ylorc nach Bethe Corbair, nach Sorbold, nach Sepulvarta, über die Krevensfelder nach Bethania und Navarne, dann weiter nach Tyrian, nach Avonderre, nach Gwynwald und Canderre, nach Norden in das Eisstarrende Hintervold, dann ostwärts in die Hitze Yarims und zurück und schließlich wieder nach Ylorc. Die Route war einfach zu bereisen, auch wenn sie durch unterschiedliches Gelände führte und dabei auf das alte cymrische Straßennetz zurückgriff, das in den besseren Tagen des Reiches erbaut worden war. Mit der Wiedereinführung der verhältnismäßig sicheren Post und des Reisens ging ein Gefühl der Erleichterung einher, denn in den letzten zwanzig Jahren hatten sich die verschiedenen Gebiete des Kontinents sehr isoliert gefühlt, während die Gewalt ein schreckliches Ausmaß erreicht hatte. All jene, die in Wagen und Händlerkarren unterwegs waren, planten ihre Reisen so, dass sie möglichst mit den wöchentlichen Karawanen zusammenfielen, und waren dankbar für deren Schutz. Für eine Gruppe aber, eine unbekannte, geheime Gruppe in einer kleinen Stadt, bedeuteten die Postkarawanen etwas völlig anderes. Für die Finder stellten sie die erste Möglichkeit in ihrer Geschichte dar, etwas an einem weit entfernten Ort zu suchen, das ihnen dabei helfen könnte, die Stimme wieder zu ihnen zurückzubringen. Selbst die Bolg-Bevölkerung, die seit fünf Jahrhunderten in denselben Bergen lebte, dieselben Wachen hielt und dasselbe Reich bewohnte, wusste nichts von der Existenz der Finder, die unter ihnen lebten. Es handelte sich um eine Geheimgesellschaft, deren Mitgliedschaft unregelmäßig in verschiedenen Klanen weitergegeben wurde und unklaren Linien folgte. Die harte Wirklichkeit des Firbolg-Lebens verband sich mit einem entschiedenen Mangel an Kultiviertheit, soweit es Ahnenforschung anging; daher war es ihnen nicht möglich, gewisse Entwicklungen zu durchschauen. Selbst innerhalb der einzelnen Familien wurde das Geheimnis gut gehütet. Der Vater sprach nicht mit dem Sohn darüber, der Ehemann nicht mit seiner Frau. Niemand wusste etwas von den Findern außer den Findern selbst, und selbst sie versuchten nicht, die Namen aller herauszubekommen, welche den Ruf verspürten. Es war ein Ruf im wahrsten Sinne des Wortes, der sie zusammenbrachte. Sie hatten sonst nichts gemeinsam keine körperlichen Eigenschaften, die sie als verbindend bezeichnet hätten. Zum Teil lag der Grund dafür in der weit verbreiteten Verunreinigung des bolgischen Blutes. Es war eine rechte Bastard-Rasse, deren Blut von jeder anderen Rasse verfälscht worden war, mit der sie Kontakt gehabt hatten; daher gab es keine reinen Bolg-Merkmale. Ein anderer Grund bestand jedoch darin, dass sie sich im Schutz der Dunkelheit trafen und daher nicht sehen konnten, wer die anderen waren und dass es bei den meisten von ihnen ein einzigartiges Merkmal gab ein etwas menschlicheres oder vielleicht auch nur etwas edleres Aussehen als bei den anderen Bolg. Doch das Aussehen war nicht der Hauptzug, den die Finder gemeinsam hatten. Wenn das Bolg-Leben weniger tückisch gewesen und nicht so häufig im frühen Tod geendet wäre, hätte man vielleicht bemerkt, dass die Finder eine Neigung zur Langlebigkeit hatten, jedenfalls im Vergleich zu Firbolg-Maßstäben. Aber da die tägliche Wirklichkeit in Ylorc hart war, gab es so viele Fälle frühen Todes, dass diese Anlage nie zu einer offenkundigen Tendenz wurde. Sogar die neue Vierergruppe des Kriegsherrn, die im vergangenen Winter im Berg eingetroffen war, hatte schon einen Todesfall erlebt. Die Zweite Frau, ein junges, gelbhaariges Mädchen namens Jo, von dem die Bolg geglaubt hatten, sie sei König Achmeds weniger geschätzte Kurtisane, war gestorben, als die Blätter fielen, kaum ein Jahr nach ihrer Ankunft. Obwohl den Findern keine ihnen allen gemeinsame körperliche Eigenschaft oder aber ihre Neigung zu einem etwas längeren Leben bewusst war, bemerkten sie doch eine sehr besondere Fähigkeit, die in ihrer unausgesprochenen Gefährtenschaft einzigartig war. Sie hatten einen Sinn für den Aufenthaltsort von Willum-Objekten, besonders für jene, die das Zeichen trugen. Die Bolg waren kein Volk der Geschichtenerzähler; daher waren die Berichte über ihre Geschichte sowohl unzusammenhängend als auch spärlich und weit verstreut. Aber eine Geschichte war bei allen Klanen der Bolg mehr oder weniger Allgemeingut. Sie handelte von den Augen, den Spionen auf den Berggipfeln, von den Klauen, jenen Bolg, welche die westlichen Gebiete von Ylorc bewohnten, die ihre Grenze an der breiten, trockenen Schlucht und der darüber liegenden verdorrten Heide hatten, und von den Mutigen, den wilden, kriegslüsternen Klanen des Versteckten Reiches, der tiefen Länder hinter der Schlucht. Unabhängig vom Klan kannten alle Bolg die Geschichte, wie sie dem Willum-König den Berg abgenommen hatten. Bevor sie Canrif bewohnt hatten, einst eines der Weltwunder, dann für Jahrhunderte eine Ruine und nun langsam im Wiederaufbau begriffen, waren die Bolg Höhlenbewohner gewesen, ein unmenschliches Volk, das kaum anders war als die Höhlenbären und unterirdischen Wölfe, die ihnen nachjagten und denen sie im Gegenzug ebenfalls nachstellten. Sie hatten in endloser Dunkelheit gelebt und sich mit allen kleinen Gruppen von Außenseitern gepaart, die sie unterwerfen konnten. Die Firbolg lebten über die ganze Welt verstreut, doch die einzelnen Mitglieder hätten dies niemals erfahren, weil ihre Vorstellung von der Welt auf die Höhlen und Berge beschränkt war, in denen sie ein karges und zuweilen grausames Dasein fristeten. Zumindest bis die Willums kamen. Die Firbolg hatten die Cymrer beinahe von dem Augenblick an bemerkt, als die Reisenden aus Serendair bei den Zahnfelsen angekommen waren. Die zerzauste Karawane sturmgepeitschter Überlebender aus der stürmischen Überfahrt der Dritten Flotte hatte zunächst wie ein erstklassiges Angriffsziel ausgesehen: verwundbar, erschöpft, völlig hoffnungslos zumindest hatte es so geschienen. Bolg konnten so etwas riechen. Als jedoch ihre Anzahl offenkundig wurde es waren mehr als fünfzigtausend , stahlen sich die Bolg zurück in die Schatten ihrer Höhlen. Sie sahen zu, wie die Neuankömmlinge die Berge in hoch aufragende Städte, weit ausgedehntes Ackerland, gut gepflegte Wälder und tiefe Labyrinthe verwandelten. Es war das Reich, das Gwylliam Canrif nannte, das cymrische Wort für Jahrhundert, weil er geschworen hatte, dass es in hundert Jahren zu einem Weltwunder werden würde. Als so das cymrische Reich wuchs und sich ausdehnte, zogen sich die Bolg tiefer und tiefer in die Erde und nach Osten in die Wüste zurück, bis der Krieg kam. Gwylliams Kampf gegen seine Frau und Königin Anwyn, die Halbdrachentochter des Wyrm Elynsynos, hatte seinen Ausgang in einem Ereignis genommen, das die Cymrer den Schweren Schlag nannten. Dabei hatte es sich um einen Schlag in Anwyns Gesicht gehandelt, der aus einem ehelichen Zank unbekannter Ursache hervorgegangen war. Der daraus folgende Krieg war sowohl für den Kontinent als auch für die cymrische Bevölkerung, die sich in zwei Lager gespalten hatte, verheerend. Einige folgten Anwyn, andere blieben Gwylliam treu ergeben. Es war ein blutiger Konflikt, der Familien auseinander riss. Selbst Anwyns und Gwylliams eigene Söhne Llauron und Anborn stellten sich gegeneinander und veranlassten so Edwyn Griffyth, den ältesten Sohn, der ganzen Familie den Rücken zu kehren. Die Bolg kannten keine Einzelheiten. Sie wussten aber, dass die einst unzugängliche Festung in den Zahnfelsen an den Rändern abbröckelte; die Grenzpatrouillen, die die Berge in eisernem Griff gehalten hatten, waren nach den ersten zweihundert Jahren des sieben Jahrhunderte dauernden Krieges kaum mehr zu sehen. Nachdem die Bolg fünfhundert Jahre dieses Konflikts mitbekommen hatten, fassten sie endlich den Mut, Vorteile aus dieser Situation zu ziehen. Zuerst langsam und dann, ermutigt durch ihren Erfolg, kühner werdend, errichteten einige Klane kleine Enklaven am Rande von Gwylliams riesigem Reich. Der Herr der Cymrer war so beschäftigt, dass es ihm gleichgültig war, ob eine rattenhafte Bevölkerung von Höhlenbewohnern den Weg durch die östliche Steppe fand und in einige der älteren Abschnitte seines gewaltigen Labyrinths eindrang. Kleinere Berichte über verschwundene cymrische Patrouillen oder unerklärliche Lagerstätten gingen in den größeren und blutigeren Bilanzen über die Schlachten mit Anwyn unter. Seine Gleichgültigkeit sollte sich am Ende als Grund für den Untergang seines Königreiches erweisen. Als Anwyns Heer näher rückte und sich anschickte, eine letzte Reihe von erfolglosen Angriffen gegen den Berg zu beginnen, nutzten die Bolg die Gelegenheit und überrannten Canrif. Gwylliam war verschwunden, und Anborn, Gwylliams jüngster Sohn und sein General, sah sich der schweren Entscheidung gegenüber, entweder den Berg zu evakuieren, so lange es noch möglich war, oder eine Schlacht an zwei Fronten zu schlagen, innerhalb des Berges und außerhalb. Er erkannte richtig, dass er nicht beide Stellungen würde halten können und der Berg eigentlich schon an die Firbolg verloren war. Canrif, das Kronjuwel des cymrischen Reiches, das sich von den Bergen bis zur westlichen Meeresküste erstreckte, das große Provinzstädte umfasste, tausende Meilen von Straßen und Aquädukten gebaut und Basiliken mit visionärer Architektur und Häfen errichtet hatte, die tausend Schiffe gleichzeitig beherbergen konnten, zerbröckelte wie Sand und fiel für immer in die eifrig ausgestreckten Hände eines Volkes, welches die Menschen als Ungeheuer ansahen. Mit dem Überrennen von Canrif gingen natürlich Plünderungen einher, und alle zurückgelassenen Schätze wurden gesammelt, aufgeteilt, umkämpft oder vernichtet zumindest diejenigen Dinge, die nicht in den Grüften der Bibliothek verborgen waren, denn die Bibliothek war mit einem Musikschloss versehen, das die Bolg nie hatten öffnen können. So war vieles, was die Cymrer hoch geschätzt hatten Schriften, Kunstwerke, Landkarten und Artefakte aus der alten Welt, Museumsstücke und technische Erfindungen , für die Bolg von geringem oder keinem Nutzen und endete als verschmähte Kriegsbeute. Eine ganze Bibliothek alter Manuskripte wurde zu Brennmaterial für ein Freudenfeuer bestimmt. Diejenigen Hinterlassenschaften der Cymrer, mit denen die Bolg etwas anfangen konnten, wurden freudig aufgeteilt oder heiß umkämpft, manchmal wieder und wieder. Nutzvieh, Stoffe, Waffen und Rüstungen sowie Nahrungsmittelvorräte wurden fortgeschafft. Schmuck war ebenso hoch geschätzt. Selbst jetzt, fünf Jahrhunderte später, war es kein ungewöhnlicher Anblick, wenn die Zerlumptesten Frauen oder sogar Männer der Bolg, deren Körper wegen fehlender Kleidung und des der Sonne Ausgesetzt seins hart und ledrig waren, durch die Korridore von Canrif wandelten und dabei Ohrringe in den Haaren oder reich verzierte Halsketten wie Kronen auf dem Kopf trugen. Goldmünzen waren zunächst wegen ihres Leuchtens von Wert gewesen, wurden aber bald von den meisten Bolg abgelehnt. Ihre Kultur kannte keine Währung, wenngleich sie Tauschhandel betrieben; aber die Bolg wussten nur, wie man nützliche Güter gegen andere nützliche Güter eintauschen konnte. Leuchtendes, schweres Metall war zwar hübsch, aber so weich, dass man daraus keine vernünftige Waffe herstellen konnte, und hatte daher keinen wirklichen Wert. Deshalb blieb es unbeachtet, wenn die Bolg die verlassenen Hallen und Gemächer plünderten, in denen einst die Cymrer gewohnt hatten. Aber diese Münzen hatten einen großen Wert für die Finder, denn sie trugen das Zeichen. Das Zeichen war in der Willum-Stadt häufig zu sehen. Es war ein Symbol, das den Bolg nichts bedeutete, und enthielt Bilder von Dingen, die sie nie zuvor gesehen hatten. Im Vordergrund befand sich ein Stern, der über den Köpfen eines wilden Löwen und eines Greifen leuchtete. Hinter diesen Bestien sah man das Abbild der Erde. Auf ihr wuchs eine Eiche, die ihre Wurzeln tief in den Boden gesteckt hatte. Das war nichts, was eine primitive Kultur hätte deuten können. Die Finder schätzten alles, was sie von den Willums finden konnten, doch um einen Platz in dieser geheimen Bruderschaft zu erhalten, musste sich ein Mann oder eine Frau als wahrer Empfänger des Rufes erweisen, indem er oder sie etwas fand, was das Zeichen trug. In der ersten Zeit, nachdem die Willums aus dem Berg vertrieben waren, war das sehr einfach gewesen. Doch mit den fortschreitenden Jahrhunderten wurde beinahe alles, was in den Tumulten verloren gegangen war, wiedergefunden, falls es nicht so tief in die Ruinen der unterirdischen Stadt eingesunken war, dass seine Entdeckung schieres Glück war. Jeder neue Fund löste große Aufregung aus, denn vielleicht war er das, wonach die Stimme verlangt hatte. Doch irgendwann hatte es den Anschein, dass alles, was sich in dem Berg befunden hatte, entdeckt worden war. Aber die Finder der späteren Generationen spürten die Anwesenheit einiger wertloser Stücke hier und da an weit entfernten Orten. Die meisten befanden sich auf dem Gebiet von Roland, und daher kam es nicht infrage, sie zu »finden«. Bei einigen wenigen Stücken hatte man jedoch gespürt, dass sie sich in Sorbold befanden, doch vor den Handelsabkommen und den großen Karawanen war es nicht möglich gewesen, die Berge zu verlassen und sie zu holen. Hagraith wartete in den Schatten des Kasernenfeuers. Sein unangerührter Eintopf in dem zerbeulten Metallnapf wurde kalt. Während die Soldaten seines Regiments, die aus den robusten Klanen des Auges und der Klaue aus den inneren Zahnfelsen ausgesucht waren, lachten und gierig im flackernden Licht aßen, lauschte er auf das Zeichen, von dem nur er allein wusste, dass es kommen würde. Zuerst hätte er es beinahe überhört. Es wurde durch das Klappern des Metallgeschirrs, das Grunzen und Geraufe gedämpft. Doch tief und deutlich, zweimal wiederholt, hörte er die Töne, insgesamt fünf, zweimal gesungen. Er senkte den Blick auf seinen Becher. Heute Nacht würden sie sich an der Hand treffen. In den dunkelsten Korridoren des Labyrinthabschnittes, der als Sigreed, die Krypta oder genauer das Dorf der Toten bekannt war, trafen sich heimlich vier Leute. Aus der Ferne hörten sie das Klirren der alten Schmieden, die neue Waffen, neue Rüstungen, neuen Stahl für den Wiederaufbau ausstießen; es war ein hohles, klapperndes Geräusch, das mehr als nur ein wenig nervös machte. Wenn die Bolg des Lesens mächtig gewesen wären, hätten sie es vielleicht auch als unangenehm empfunden, sich zwischen unzähligen Reihen von Grabplatten zu verstecken, die die Wände der Korridore be deckten und die Gräber von Vizekönigen, Kanzlern und Ratgebern aus der cymrischen Zeit anzeigten, deren Weisheit nun tief in der Erde begraben lag. Hagraith hockte nervös im Daumen der Hand, dem östlichen Tunnel, der zum zentralen Gebiet der so genannten Handfläche führte, in der sich vier weitere Tunnel trafen. Unter seinem Wams versteckt hielt er ein in gegerbtes Leder eingeschlagenes Bündel, den Preis für die Zulassung zur Bruderschaft. Er hatte ihn ziemlich zufällig bei Manövern tief im Versteckten Reich entdeckt und seinen Ruf sofort heftig verspürt. Der Porzellanteller, den er unter seinem Wams versteckt hielt, hatte ganz unten in einer verfaulenden Holzkiste gelegen, die in einem Torfmoor versenkt worden war, welches die Ruinen einer lirinschen Stadt bedeckte. Dieses Stück war aus vielen Gründen ein Wunder. Es trug nicht nur recht deutlich das Zeichen, sondern es war überdies nicht zerbrochen und von der Zeit unberührt. Falls es ihm gelang, endlich nicht mehr zu zittern, blieb es vielleicht in diesem Zustand, bis er es zeigen konnte. Krinsel, eine der mächtigsten Finderinnen und eine beliebte Hebamme der Bolg, nickte ihm in der Dunkelheit zu. Sie hielt eine Talgkerze, an deren Docht eine winzige Flamme züngelte; es war das einzige Licht in der alles verschlingenden Dunkelheit. Krinsel saß mit überkreuzten Beinen in der Handfläche, von wo aus sie die anderen Finder sehen konnte, die in den Fingertunneln kauerten, welche zum zentralen Platz führten. Vor ihrem linken Fuß lagen die Seile, die jeden Tunnel versiegeln würden, sobald ein anderes Geräusch als das Klappern der Schmieden fern über ihnen näher kommen sollte. Als sich Hagraith nicht regte, verengten sich Krinsels Augen und wurden zu Schlitzen in der Dunkelheit. »Gib her.« Hagraith versuchte, nicht zu zittern. Er kroch zu der Öffnung, wo der Daumen in die Handfläche mündete, und zog vorsichtig das Lederpäckchen unter seinem Wams hervor. Er hielt es Krinsel entgegen, die es mit festem Griff entgegen nahm mit den Händen, die eine ganze Generation von Kindern und mehr als nur ein paar Schätze mit dem Zeichen darauf ans Licht des Tages geholt hatten. Er schlitterte zurück zum Beginn des Daumens und keuchte. Mit großer Zartheit wickelte Krinsel den Teller aus und hielt ihn mit einer Hand hoch, während sie mit der anderen die Kerze nahe an ihn heranbrachte, damit sie ihn untersuchen konnte. Ihre Augen weiteten sich, und sie verzog das Gesicht zu einem entspannten Lächeln. »Es ist das Zeichen«, sagte sie ehrfürchtig. Nach einem Augenblick richtete sie ihre dunklen Augen auf Hagraith. »Ein Finder bist du nun.« Hagraith neigte erleichtert den Kopf und spürte, wie sich der Stein in seinen Eingeweiden auflöste. Der Schweiß, den seine Angst zurückgehalten hatte, floss ihm nun von der Stirn. Er durfte seine Hoden behalten. Sie waren der Preis für eine falsche Deutung des Zeichens oder das Vorzeigen eines falschen Fundes. Krinsel hielt den Teller mit beiden Händen hoch und schloss die Augen. »Ist es dieses hier, Stimme?«, fragte sie ruhig. Die anderen Bolg in den Tunneln schlössen die Augen und lauschten angestrengt, aber sie hörten nichts außer dem Lärm aus der Schmiede und dem stetigen, langsamen Schlag der Hämmer. Kurz darauf öffnete sie die Augen und schüttelte gleichmütig den Kopf. »Für den Hort ist dies. Gut, Hagraith. Ein Finder bist du.« Sie drehte sich zu dem Tunnel um, der an der Stelle des kleinen Fingers lag. »Gebt her.« Nach und nach untersuchte sie die Gegenstände: eine Münze wie tausend andere im Hort, der schwer zerkratzte Deckel einer Holzkiste mit einer bläulichen Färbung und schließlich ein Topf, in den das Zeichen eingeritzt war und der den ganzen Weg von Sorbold bis hierher gefunden hatte. Jedes der Dinge erklärte Krinsel als echt und hielt es hoch, damit die Stimme es erkennen konnte. Wie immer, so gab es auch diesmal keine Antwort. Gewandt stand Krinsel auf und nickte in den leeren Tunnel, der den Zeigefinger bildete und in einem endlosen Korridor hinab zum Hort führte. Die Finder folgten ihr und trugen ihre Schätze an jenen Ort, wo solche Dinge aufbewahrt wurden. 22 Der Kessel, Ylorc Die Nacht war schon hereingebrochen, als Achmed in den Kessel zurückkehrte. Die Lampen waren angezündet und erfüllten die hellen Hallen mit dichtem Rauch und dem ranzigen Gestank brennenden Fettes, das rasch in seine empfindlichen Nasenlöcher und Nebenhöhlen eindrang. Es machte seine dunkle Stimmung noch dunkler. Auch die Leuchter in der Großen Halle waren entzündet worden; die Renovierungsarbeiten waren beinahe abgeschlossen. Trotz seiner Wut blieb er stehen und nahm den Ehrfurcht gebietenden Anblick der polierten Marmorsäulen sowie der frisch restaurierten Symbole des Sterns Seren, der Erde, des Mondes und der Sonne in sich auf, die mit großer Kunstfertigkeit in den Boden eingelegt worden waren. Die gewölbte Kuppel über ihm bestand aus einem dunklen Himmelblau und war besetzt mit winzigen Kristallen, die das Licht einer Spiegelvorrichtung im Mittelpunkt des Bodens reflektierten, sodass es wie das von Sternen übersäte Firmament aussah. Der Schein aus der Feuergrube im Boden, das diese falschen Sterne erhellte, war das einzige Licht in dem gewaltigen Raum und beließ viele Ecken im Dunkeln. Achmed trat in den Schatten und atmete gleichmäßig, um seinen Zorn zu besänftigen. Grunthor saß auf einem der Marmorthrone und hatte das gewaltige Bein über die Steinlehne geschwungen. Er sang eines seiner Lieblingslieder und war zweifellos befeuert vom Inhalt einer großen Karaffe, die auf dem Thron neben ihm einen Ehrenplatz gefunden hatte. Wenn der Lärm der heißen Schlacht Schon lange verklungen in der Nacht Und der Eingeweide und des Blutes süßer Duft Verfliegt in Sturmzerwühlter Luft Grüß, mein Freund, mich einmal mehr Denn ich streune nicht länger umher. Ich zögere nicht mehr . Und überlasse den Aasfressern Den Glanz eines guten Krieges wenn das Morden vorbei ist Was soll’s? Wo bleibt der Spaß? Oh, ich streune nicht mehr umher. An diesem bittersüßen Tag Wenn keine Feinde mehr zu schlachten sind Unser Leben als Krieger nur noch Langeweile ist, Bauen wir uns ein paar Throne Aus ihren Schädeln und Knochen Und streunen nicht mehr umher. Die Wut explodierte hinter Achmeds Augen. Aufgebracht schritt er den langen Mittelgang entlang bis zu den Thronen. Als Grunthor zum nächsten Lied ansetzte, hörte er Achmed kommen. Er verstummte, nahm rasch Haltung an und brach in ein breites Grinsen aus, das sofort wieder verschwand, als der König vor dem Thron stehen blieb und das Bündel mit den Waffen auf den Boden warf. Stahl und Metall klapperten und schepperten heftig. Grunthor sah ihn erstaunt an. »Was ist das denn?«, fragte er. Achmed verschränkte die Arme. »Als ich dich gebeten habe, über den Thron zu wachen, hatte ich damit nicht gemeint, dass du ihn mit deinem beträchtlichen Hintern anwärmst, während jemand das Königreich hinter meinem Rücken verscherbelt.« Grunthor stand in militärischer Haltung und wurde nun sogar noch steifer. Die Muskeln in seinen baumstammdicken Armen zuckten vor Wut, und sein Gesicht wurde zu einer steinernen Maske blinden Zorns. Achmed winkte leidenschaftslos. »Steh bequem, Sergeant. Ich sollte dich nicht in deiner Eigenschaft als mein Oberbefehlshaber schelten, sondern dich eher als Freund anknurren.« Grunthor nahm eine bequeme Paradehaltung an; sein Gesicht war jetzt eine unerschütterliche Maske, in der zwei mit Feuer gefüllte Augen brannten. »Was ist das denn?«, wiederholte er gefasst. »Ein geheimes Waffenlager, das ich zwischen den Leichnamen einer Kolonne sorboldischer Soldaten gefunden habe«, sagte Achmed und schob die Waffen mit dem Stiefel von sich. »Glücklicherweise sind es aussortierte Stücke. Die Sorbolder sind so hirnlos, dass sie die Fehler und das mangelnde Gleichgewicht nicht einmal erkennen. Aber sie besaßen sie. Hast du eine Idee, wie das hat geschehen können?« »Nein«, antwortete der Sergeant steif. Achmed sah Grunthor einen Moment lang an und drehte ihm dann den Rücken zu. Es war Zeit für das alte Ritual. »Erlaubnis, frei zu sprechen?«, fragte Grunthor mechanisch. »Gewährt.« »Ich biete meinen Rücktritt an.« »Abgelehnt.« »Erlaubnis, frei zu sprechen?«, wiederholte der Sergeant. »Gewährt.« Er lauschte, noch mit dem Rücken zu Grunthor, auf das Lockern der militärischen Disziplin und das gewaltige Luftholen, das immer dann einsetzte, wenn Grunthor von einem treuen Soldaten zu einem wütenden Gleichgestellten wurde. Achmed schlang die Arme um sich, als der gewaltige Luftstrom durch Grunthors große, platte Nase drang. Der Sergeant-Major warf den Kopf zurück und brüllte aus vollem Hals. Der Schrei gellte durch die große Halle; die Säulen erzitterten. Einen Augenblick später hörte Achmed hinter sich das Reißen eines Teppichs und das Knacken eiserner Bolzen. Einer der alten Throne Anwyns und Gwylliams, geschaffen aus massivem Marmor und schwerer als drei Männer in voller Rüstung, segelte über Achmed hinweg durch die Luft, prallte von dem polierten Steinboden ab, rutschte über das Bild des Sterns und kam mit einem gewaltigen Donnern auf der Seite liegend zum Halt. Stille durchzitterte die Große Halle. Achmed drehte sich wieder zu Grunthor. »Fühlst du dich nun besser?« Der Sergeant wischte sich über die graubraune Stirn. »Ja, ein bisschen.« »Gut. Jetzt will ich wissen, wie du darüber denkst.« »Wenn ich rausfinde, wer den Eid gebrochen hat, ramm ich ihm eine von den Waffen ins Auge, röst ihn überm Feuer und setz ihn den Truppen fürs Festmahl im Kartoffelbett und mit ’nem Apfel im Hintern vor.« »Rhapsody sagt immer, man sollte besondere Ereignisse feiern, indem man Freunde zum Essen einlädt. Sonst noch etwas?« Der Bolg-Riese nickte. »Es muss jemand aus der dritten Wache sein; dann wird der Ausschluss vernichtet.« »Mehr als wahrscheinlich. Aber in der dritten Schicht arbeiten zweitausend Männer, und es wird ungeheuer lange dauern, die Verantwortlichen zu finden. Stimmt’s?« »Ja, aber wir müssen die Verräter kriegen.« »Natürlich, doch es gibt noch andere, drängendere Sorgen. In den Monaten, während ich fort war, ist der größte Teil unserer Geheimwaffen in die Hände eines benachbarten Heeres gefallen. Wenn Sorbold die Bühne für den Angriff auf Ylorc sein sollte, haben sie weitaus mehr Kenntnisse über unsere Arbeiten, als mir lieb ist. Wir müssen rasch reagieren.« Grunthor nickte. »Steh ich noch unter der Erlaubnis, frei zu sprechen?« Achmed schaute über die Schulter auf Gwylliams Thron, der auf der Seite lag. »Ja.« »Dann sag ich, wenn’s schon sein muss, dann sei’s drum.« »Etwas genauer, bitte.« Grunthor lief auf und ab und konzentrierte sich. »Wenn wir in den Krieg ziehn, ziehn wir halt in den Krieg. Wir müssen jeden tauglichen Erwachsenen und Jugendlichen einziehen. Die Schule schließen und den Bälgern beibringen, Wasser zu holen, Verbände zu rollen, Rationen hochzuziehen. Jedes Dorf muss gemustert werden, jede Enklave, alle Frauen und Männer, jedermann.« Er hielt lange genug an, um Achmeds Blick zu erwidern. »Der Gräfin wird’s nich gefallen.« »Ist das für dich von Bedeutung?« »Nich im Geringsten.« »Gut. Was sonst noch?« »Dreierschicht in der Schmiede. Die Bergwacht soll patrouillieren und sich um den Abfallhaufen und das Inventar kümmern. Wir sollten die Spezialsachen zurückstellen und uns auf Waffen mit großer Reichweite konzentrieren und auf schwere Geschosse für die Katapulte. Zapf die Anthrazit-Adern noch tiefer an, bau die Schieferkohle in Tag und Nachtschichten ab. Koch ’nen ganzen Ozean an Pech. Nimm uns das menschliche Mäntelchen ab und lass uns wieder Ungeheuer sein. Wenn wir in den Krieg ziehn, dann machen wir was draus, damit sie noch in späteren Jahrhunderten Totenlieder komponieren können. Ich will, dass mein Name mit trauriger Musik vertont und von den Witwen bis nach Avonderre gesungen wird.« Ein leises Lächeln stahl sich auf Achmeds Gesicht. »Wäre das nicht wundervoll? In Ordnung, Sergeant, an die Arbeit. Mach den Berg unbezwingbar. Wir haben von Anfang an gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Wer immer der verdammte Dämon ist, wenn er Ylorc und das Schlafende Kind haben will, muss er erst einmal an mir vorbeikommen. Aber bevor er zu mir durchdringt, wird der Berg auf jeden niederfallen, der ihn begleitet.« Grunthor nickte, salutierte und schritt aus dem Raum. Seine Wut hatte sich in etwas noch Tödlicheres verwandelt in entschlossene Rache. Die Stimme der Großmutter hallte in seinen Ohren. Du musst Jäger und Wächter sein. Das ist so vorausgesagt. Er zog sich das Kissen über den Kopf und sprach die Erwiderung, die er damals gegeben hatte. So eine Prophezeiung kann mich mal. Eine noch ältere Stimme, die von Pater Haiphasion, dem Lehrer aus seiner Jugendzeit auf der anderen Seite der Welt, an einem Ort, der nun unter den Wellen einer ruhelosen See schlief. Der, welcher jagt, wird auch beschützen. Achmed blinzelte in der Finsternis. Warst du derjenige, der die Prophezeiung in den Wind gesprochen hat?, fragte er benommen und stumm. Vor all diesen Jahren warst du das, Pater? Nichts außer der Dunkelheit antwortete ihm. Vor Jahrhunderten hatte sich Achmed entschlossen, die Rolle des Beschützers zu meiden. Während seiner langen, seltsamen Existenz hatte er herausgefunden, dass Liebe, Leben und Loyalität vergänglich waren. Daher bedeutete es unfehlbar Scheitern und Ruin, wenn man etwas schützen wollte, auch wenn es sich dabei um ein ewig schlafendes Kind oder sogar einen Berg handelte. Nun lag er auf seinem Seidenbezogenen Bett, dem einzigen wahren Luxus, den er sich erlaubte. Die schlüpfrige Glätte der Laken besänftigte das ewige Jucken, das gereizte Brennen auf seiner Haut, und zusammen mit den dicken Basaltmauern hielt sie die Schwingungen der Welt im Zaum oder wenigstens hatte sie das früher getan. Nun aber, da die Schmieden bereits heftig in schnellerem Rhythmus schlugen und andauernd Schritte vor seiner Tür laut wurden, war bei all den Vorbereitungen des Krieges kein Frieden mehr denkbar. Achmed stand langsam auf und schlüpfte in seine Kleider. Er wartete in der Tür seines Schlafzimmers, bis die schweren Schritte erstorben waren. Dann lauschte er dem nahen Lärm der Kriegsmaschinerie, die in dem wohlgeordneten Berg erwachte. Er musste nicht erst die befehlende Stimme seines Sergeant-Major hören, um die Ergebnisse zu spüren. Die sanften Kräuselungen der Luft, die regelmäßig die empfindsamen Nerven seines Hautgewebes berührten, waren bereits durch dicht aufeinander folgende Schläge ersetzt. Wilde Energie zeigte das Herannahen des Kampfes an. Er seufzte tief und spürte zum ersten Mal, seit er zu diesem dunklen und nicht gerade stillen Ort gekommen war, das Werk der Zeit an seinem Körper und Geist. Er drückte die Türen des schlichten Zedernschranks am Fußende seines Bettes auf und trat in einen Geheimgang. Die Ränder der Laken flatterten kurz durch den Staub des Tunnels unter dem Bett; dann schloss er die Türen hinter sich. Er erlaubte sich einen Seufzer, als er durch den geheimen Gang schlich und über die Mysterien der Wächterschaft nachdachte. Grunthor brauchte seinen Schutz oder seine Schelte nicht. Rhapsody war zwar erfrischend, aber verrückt unabhängig und erwartete keineswegs von ihm, dass er ihren Beschützer spielte. Sein halbes Leben hatte er mit der Ausbildung zum vollkommenen Wächter verbracht und die andere Hälfte mit dem Beweis, dass nichts sicher war, nirgendwo. Der König schüttelte den Kopf, als er sich dem zuwandte, was vom Loritorium übrig geblieben war. Er war sich nicht sicher, welche Hälfte seines Lebens er verschwendet hatte. Die Leute in diesen Bergen und die Geheimnisse, die er früher als Schutz gegen eine alte Nemesis angesehen hatte, lagen nun schwer wie eine Rüstung auf ihm wie eine Rüstung, die zwar schützt, aber auch hinderlich oder sogar gefährlich sein kann. Er war einmal in einer solchen Rüstung vom Pferd in einen Fluss gefallen; die Strömung hatte ihn untergetaucht und die Rüstung hinab in das Wasser gezogen, das er so wenig schätzte. Seine Verantwortung für die Bolg lastete nun ähnlich schwer auf ihm. Er nahm seine ganze Entschlossenheit zusammen, hier zu bleiben und einen Schutz für jene zu errichten, für die er sich verantwortlich fühlte. Wenn es nach ihm ginge, würde er allein und mit der Cewllan in der Hand hinausgehen, bis es vorbei war. Achmed bahnte sich einen Weg durch die Asche und den Schutt bis zu den Überresten von Gwylliams großer Gruft. Nur wenig von Wert war übrig geblieben: einige geschmolzene Metallleuchter, ein paar Schieferplatten aus nie fertig gestellten Mosaiken; alles andere war in der Feuersbrunst untergegangen, die Rhapsody entfacht hatte, um die Dämonenranke zu zerstören die Bastardwurzel des Großen Weißen Baumes, den der F’dor entweiht hatte, und die den Berg hatte sprengen sollen, damit er das Schlafende Kind den schon lange toten Dhrakiern entreißen konnte, die versucht hatten, es zu beschützen. Achmed sprang von einem großen Schutthaufen herunter und stand nun unter der großen Kuppel des Loritoriums, des sanft ansteigenden Gewölbes, in dem einst ein Behälter gesteckt hatte, der Feuer von einem Stern der alten Welt enthielt von Seren selbst. In dem weiten Kreis, der früher einmal der zentrale Hof hatte werden sollen, sah er den Altar des Lebendigen Gesteins und den großen, ruhenden Schatten darüber. Der Körper des Kindes war so groß wie sein eigener, doch eine ungeheure Zerbrechlichkeit umwebte es, obwohl es von der lebenden Erde selbst gebildet war. Es lag auf dem Rücken und schlummerte unter Grunthors Umhang, mit dem er es bedeckt hatte, als sie das letzte Mal an diesem Ort gewesen waren. Von der Seite sah es wie eine Totenstatue auf einem Katafalk aus. Die süßen Gesichtszüge des Mädchens waren die eines Kindes, und seine Haut leuchtete im kalten Glanz polierten grauen Steins. Unter der hauchdünnen Haut war das Fleisch dunkler, wies gedämpfte Tönungen von Braun und Grün, Purpur und Dunkelrot auf, die wie Bänder aus farbigem Lehm ineinander gewunden waren. Die Züge waren zugleich grob und sanft, als wäre das Gesicht mit stumpfen Werkzeugen gemeißelt und dann sorgfältig ein ganzes Leben lang poliert worden. Achmed näherte sich langsam dem Altar, denn er wollte das Kind nicht stören. Lass das, was in der Erde ruht, ungestört schlafen, hatte die Großmutter, die letzte Überlebende der dhrakischen Siedlung und Wächterin des Kindes gewarnt. Sein Erwachen kündet von ewiger Nacht. Er trat neben das Kind und blieb stehen. Als er auf es Niederschaute, bemerkte er, dass es unter dem Umhang zitterte. Tränen lagen auf den Wimpern, die aussahen wie aus trockenen Grashalmen gebildet und wunderbar zu dem langen, weizengleichen Haar passten. Seit er es das letzte Mal gesehen hatte, war dieses Haar vom Gold Frostgebleichten Weizens zu Weiß geworden, sogar an den Wurzeln, die einmal an das Gras des Frühlings erinnert hatten, nun aber das Schneetuch spiegelten, das die Erde umhüllte. Achmed schluckte schwer. »Psst, meine Kleine«, flüsterte er in seiner trockenen Stimme; die Worte drangen kaum über seine Lippen. Das Erdenkind hatte Angst; er spürte es in seiner Haut und den Tiefen seiner Knochen. Die Erde um es herum erzitterte unter den Hammerschlägen, den gebrüllten Befehlen, der schrecklichen Kakophonie der Kriegsvorbereitungen. Achmed kniete sich neben das Kind und zog ihm sanft den Umhang über die Schultern. Er räusperte sich. »Ähem, hab keine Angst«, sagte er. Er zuckte unter der Unangemessenheit seiner eigenen Stimme zurück, rückte näher an das Erdenkind und fuhr ihm vorsichtig mit dem Finger über die Hand. Er schloss die Augen, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den schnellen Atem des Kindes und passte ihm seinen an, dann verlangsamte er beide. »Ich weiß, dass du jetzt fühlst, wie die Erde entzwei gerissen wird«, sagte er so sanft wie möglich. »Ich bin sicher, dass es dich schmerzt. Aber hab keine Angst. Fürchte den Lärm nicht; er ist zu deinem Schutz da. Du bist in Sicherheit, das schwöre ich dir.« Eine einzelne Träne quoll unter dem geschlossenen Augenlid des Kindes hervor und lief an seinem Gesicht entlang. Achmed fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare und kam noch näher heran. »Ich werde dein Wächter sein«, sagte er leise; kaum verlieh er seinen Worten Stimme. »Nur deiner allein.« Er stand auf und beugte sich über das Mädchen. Mit seinen empfindlichen Lippen fuhr er ihm über die Stirn. »Schlaf jetzt«, sagte er. »Ruh dich aus. Ich halte Wacht.« Das Kind seufzte im Schlaf, das Zittern hörte auf. Nun lag es zwischen den sanften Wogen des Atmens so still wie eine Statue. Achmed glättete den Umhang; er hatte Angst, das Kind noch einmal zu berühren. Schnell wandte er sich um und ging zurück zu dem Schutthaufen, den er hinter dem Tunnel erklommen hatte. Als er gerade hinaufsteigen wollte, hielt er plötzlich an und starrte auf die dunkle Wand vor ihm. Der rußgeschwärzte Stein veränderte sich und wirkte an manchen Stellen wie Brotteig. Achmed sog scharf und still die Luft ein, als die Mauer sich zu verflüssigen und dann zum konvexen Relief einer linken Hand zu verdrehen schien. Er sah zurück auf das Kind, aber es hatte sich nicht bewegt; eher schien es in einen noch tieferen Schlaf gefallen zu sein. Er richtete den Blick wieder auf die Hand in der Mauer. Einen Moment lang behielt der Stein diese Form. Dann verlängerten sich der Daumen und die anderen Finger, streckten sich nach außen, bis sie Kanäle bildeten und langen, dünnen Tunneln glichen. Die Innenfläche des Handreliefs blieb unverändert, auch als die Fingertunnel zu tiefen, dunklen Linien verdorrten und dann verschwanden. Es war eine Karte, aber er wusste nicht, welches Gebiet sie bezeichnete. Achmed zog den Handschuh aus und berührte die Wand. Das Bild war verschwunden; die Basaltoberfläche war zu ihrer früheren Gestalt zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen. »Vielen Dank«, flüsterte er. Er erstieg den Schuttberg und eilte durch den Tunnel auf die rasenden Kriegsvorbereitungen zu, die sich wie ein Buschfeuer durch den ganzen Berg und über die Heide bis zu den hintersten Gebieten des Versteckten Reiches fraßen. 23 Bei der Stadt Tyrian, im Wald von Tyrian Ein Vogelruf stieg von den Grenzwächtern Tyrians auf, während sie sich der kastanienbraunen Stute und ihren Reitern näherten. Oelendra lauschte dem Triller: Ein Reiter mit einem Kind. Sie lächelte, als sie die Codenamen hörte: Es ist die Göttin ohne Sünde. Sie verließ das Zelt, um Rhapsody zu begrüßen. Ein kleiner, braunhäutiger Junge ritt vor ihr auf der Stute, ein Kind mit leuchtendem schwarzem Haar und großen, dunklen Augen. Der Junge starrte mit der Ehrfurcht eines Wüstenbewohners umher, der nie zuvor in einem Wald gewesen war. Rhapsody sprach immer wieder mit sanfter Stimme zu ihm, was ihn zu beruhigen schien. In ihrem Arm, in seinem Rücken und damit außerhalb seines Blickfeldes hielt sie ein Bündel, von dem Oelendra annahm, dass das Kind darin eingewickelt war. Einen Moment später ertönte ein dünnes Kreischen und bestätigte ihre Vermutung. Oelendra kicherte, als die Vogelstimmen sofort die Anzahl der Kinder bei der Reiterin neu nannten. Vier lirinsche Wachen begrüßten sie am Rande der inneren Waldgrenze, wie es jedes Mal der Fall war. Einer ergriff den Zügel, den sie ihm entgegenwarf, während ein anderer diejenigen Satteltaschen abnahm, die sie ihm bezeichnete, und sie zu Oelendras Haus trug. Die anderen beiden Grenzwächter schritten den Weg ab, den sie genommen hatte, um sicherzustellen, dass ihr niemand gefolgt war, während der Erste ihr den Zügel zurückgab. Sie alle waren an dieses Reglement gewöhnt; es war das dritte Mal, dass Rhapsody Oelendra Kinder brachte, damit diese sie in ihre Obhut nahm. Doch nun war sie zum ersten Mal allein gekommen. Bei den früheren Gelegenheiten war sie zusammen mit Achmed erschienen. Die Lirin hatten den Fir-Bolg-König als Rhapsodys Gast ehrerbietig behandelt, doch sie hatten ihm nicht den königlichen Pomp gewährt, mit dem sie einen anderen möglicherweise empfangen hätten. Dies war die Vereinbarung, mit der sie alle einverstanden gewesen waren, als sie die Strategie entworfen hatten, mit der die Kinder des F’dor aufgespürt und eingesammelt werden sollten. Oelendra genoss es, nach der wachsenden Schar zu sehen, bis Rhapsody zurückkehren und sie hinüber zu Fürst und Fürstin Rowan bringen konnte. Zu Beginn hatte Oelendra gezögert, die Brut des Dämons aufzunehmen, den sie mehr als alles andere hasste, doch schließlich hatte sie sich überreden lassen und war froh darüber. Obwohl einige der Kinder sehr wild waren und besonders eines sich als ausgesprochen unangenehm erwies, erkannte sie allmählich an, dass sie zumindest in gewisser Hinsicht trotz ihrer dämonischen Veranlagung Kinder wie alle anderen waren. In der Zeit zwischen Rhapsodys Besuchen waren sie Oelendra ans Herz gewachsen selbst Vincane, der sie mehr ärgerte als jedes andere Kind, dem sie je begegnet war. Auch Rhapsody fühlte sich zu ihnen hingezogen. Die meisten hatte sie unter schlimmen Umständen angetroffen, denn alle waren Waisen. Sie hatte stets versucht, wenigstens ein paar Tage damit zu verbringen, es ihnen in dem Wald schön zu machen, bevor sie und Achmed wieder aufbrachen und nach den anderen suchten. Ohne seine Fähigkeit, das Blut aus der alten Welt aufzuspüren, wäre es unmöglich gewesen, sie zu finden. Das hatte Rhapsody Oelendra gesagt, und es stimmte. Abgesehen von der unsichtbaren Zeichnung, die nur Achmed erkennen konnte, und einem gelegentlichen wilden Blick waren sie von anderen Kindern nicht zu unterscheiden. Rhapsody schnalzte mit der Zunge, und die Stute ging weiter. Sie war offenbar müde und brauchte Wasser. Eine Ziege, vom Pferd verdeckt, war an den Sattel gebunden und folgte hinterher. Oelendra sah, wie das Lächeln der Sängerin heller wurde, als diese sie bemerkte. Rhapsody band etwas von ihrem Gürtel los, als Oelendra sich neben sie stellte. »Ich bin froh, dass du wieder hier bist; es hat länger gedauert als erwartet.« »Das Wetter hat mich in Zafhiel festgehalten. Der Schneesturm war schlimmer als der in Hintervold, als wir Anya und Mikita geholt haben. Hat die Salbe ihre Frostbeulen geheilt?« »Ja, es geht ihnen viel besser.« »Und Arie?« »Er hat noch einige Schwierigkeiten mit seinem Bein«, antwortete Oelendra, während Rhapsody mit einer Hand Schwert und Scheide vom Gürtel nahm. »Ansonsten geht es ihm gut.« »Ich werde mir sein Bein heute Nachmittag ansehen, wenn sich alles beruhigt hat. Vor ein paar Tagen ist mir eine Idee für eine andere Behandlung gekommen. Da wir jetzt wenigstens einen Teil seines richtigen Namens kennen, können wir es bestimmt ganz heilen.« »Mari stiehlt keine Lebensmittel mehr; ich glaube, er hat es einfach nicht mehr nötig, weil es genug davon gibt. Und Ellis hat etwas für dich gemacht.« Die Lirin-Kriegerin sah ihrer Freundin ins Gesicht, während diese von den Kindern erzählte; sie glühte vor Freude. Rhapsody hielt das Schwert von der Stute fort. »Hier, Oelendra«, sagte sie und hielt ihr die Tagessternfanfare mitsamt der Scheide entgegen. »Bewache sie für mich, ja? Wenn ich allein in Sorbold bei dem Versuch sterben sollte, einen Preisgladiator zu stehlen, will ich nicht, dass es ihnen in die Hände fällt. Es könnte Krieg nach Tyrian bringen.« Oelendra sah sie einen Moment lang an und nickte dann. Sie schien kurz zu zögern und griff dann nach der Tagessternfanfare. Rhapsody legte ihrer Lehrerin das Schwert in die Hand. »Ich sollte es dir sofort geben, sonst könnte ich es vergessen; es ist wie eine Verlängerung meiner selbst.« »So sollte es sein.« Oelendra nahm die Waffe und steckte sie an ihren Gürtel. Sie versetzte der Stute einen sanften Klaps, um sie zu beruhigen, dann streckte sie die Arme nach dem Kind aus. Es wich zurück und hielt sich an Rhapsody fest; Angst zeigte sich auf seinem braunen Gesicht. Die Sängerin lehnte sich vor und redete sanft mit dem Jungen im Dialekt der fernen westlichen Provinzen. »Es ist alles in Ordnung, Jecen. Das ist Oelendra. Sie ist meine Freundin, und sie ist sehr nett. Sie wird dir beim Absteigen helfen. Hab keine Angst.« Die Angst in den dunklen Augen des Jungen löste sich unter dem warmen Lächeln Rhapsodys auf. Er drehte sich nach Oelendra um und streckte die rundlichen Arme aus. »Welch ein netter kleiner Mann. Du musst hungrig sein«, sagte die grauhaarige Frau, hielt ihn gegen ihre Hüfte und nahm die Satteltasche, die Rhapsody ihr entgegenstreckte. »Das Mittagessen ist fast fertig. Kommst du mit dem Säugling allein zurecht, Rhapsody?« »Ja«, erwiderte Rhapsody, wiegte das Kind im linken Arm und hielt sich mit dem rechten am Sattel fest. Sie schwang sich vom Pferd und schlang ihr Gepäck über die Schulter, während einer der lirinschen Wächter wieder das Zaumzeug nahm. »Vielen Dank«, sagte sie zu dem Mann und erhielt dafür einen seltsamen Blick. Sie fuhr mit den Fingern durch die Mähne der Kastanienbraunen. »Gutes Mädchen«, sagte sie sanft. »Hol dir etwas zu essen und mach ein Nickerchen. Du hast es dir verdient.« Die Stute wieherte, als stimme sie ihr zu. Rhapsody strich der Ziege über den Kopf und kraulte ihr die Ohren, bevor die Tiere weggeführt wurden. »Wir wollen uns dieses Kleine einmal ansehen«, meinte Oelendra und schaute dem Baby ins Gesicht. Das hässlichste Lirin-Neugeborene, das Oelendra je gesehen hatte, war in eine lederne Flagge eingewickelt, doch Rhapsody schaute mit einem sanften Blick auf es herab, der ihrem Gesicht etwas strahlend Mütterliches verlieh. »Ist sie nicht niedlich?«, gurrte sie. »Sie ist während der langen Reise so geduldig gewesen. Du wirst sie mögen, Oelendra. Sie ist so gut.« Oelendra musste lächeln. Die Wachen führten das Pferd fort, und die beiden Frauen brachten die Kinder in Oelendras Quartier. Oelendra gab Jecen ein paar von den Kiranbeeren, die sie in der Tasche hatte. »Hattest du Probleme auf der Reise?«, fragte sie, während das Kind die Früchte aus ihrer Hand naschte. »Nein, es sei denn, du zählst den Umstand dazu, dass die Kleine andauernd gesäugt werden wollte.« Rhapsody lachte. »Vermutlich ist das einer der Gründe, warum ich sie so mag. Sie ist die erste Person, die glaubt, ich hätte etwas Wesentliches unter dem Hemd verborgen.« Oelendra lächelte erneut. »Irgendwie bezweifle ich das.« »Ich wünschte, ich hätte dem armen Kind helfen können. Ich habe mich schnell daran gewöhnt, mit den beiden, der Ziege und einem Wasserschlauch voll entrahmter Ziegenmilch zu reiten, der mir aus dem Hemd ragte. Glücklicherweise hat mich niemand angehalten.« Oelendra lachte wieder und öffnete die Zeltklappe. Vor dem Zelt stand Quan Li, das Älteste der Kinder, die Rhapsody zu Oelendra gebracht hatte. Das Gesicht der Sängerin erhellte sich, als sie das Mädchen sah. Sie umarmten sich, und Rhapsody drückte ihr einen raschen Kuss auf die Wange. »Wie geht es dir, Quan Li?«, fragte sie, als Oelendra Jecen auf dem Boden absetzte. Rhapsody nahm seine Hand und legte sie in die des Mädchens. »Das ist Jecen, und er ist sehr hungrig. Glaubst du, du kannst ihn mit nach drinnen nehmen und ihm einen Platz für das Mittagessen zuteilen? Geh mit Quan Li, Jecen. Ich komme gleich nach; ich will nur noch kurz mit Oelendra reden.« Jecen winkte ihr zu, als er weggeführt wurde, und sie winkte zurück. Die Frauen warteten, bis die Kinder im Zelt waren, und entfernten sich dann einige Schritte. »Wie war die Geburt?«, fragte Oelendra und fuhr mit der Hand zärtlich über den spitzen Kopf des Säuglings. »Wenn das Schicksal freundlich ist, werde ich nie wieder so etwas sehen müssen«, sagte Rhapsody und erblasste unter der Erinnerung. »Ich habe versucht, das Leid der Mutter so gut wie möglich zu lindern, aber es ist mir nur gelungen, das Kind zur Welt zu bringen und die Mutter so lange am Leben zu erhalten, dass sie es in den Arm nehmen konnte.« Sie zog das Kleine an ihre Wange und küsste es. »Ich erschrecke bei dem Gedanken, wie es bei den anderen gewesen ist, wo kein Heiler dabei war. Sie haben ihre Kinder vermutlich nicht einmal gesehen. Es macht mich krank, wenn ich daran denke.« Ihr Blick verschwamm, und Oelendra legte ihr den Arm um die Schulter. »Wenigstens war es das Letzte«, sagte sie. »Nicht ganz«, berichtigte Rhapsody sie grimmig. »Ich muss den Ältesten noch holen. Mit ein wenig Glück wird Llauron dazu etwas einfallen. Achmed ist schon nach Ylorc zurückgereist, und ich bin nicht gerade erpicht darauf, ohne ihn loszuziehen. Seine Hilfe bei der Suche nach den Ersten neun war unschätzbar.« »Wenn du die richtige Verstärkung bekommst, wird es schon gehen«, sagte Oelendra. »Sorboldische Gladiatoren sind im Ring und beim Kampf Mann gegen Mann gefährlich, aber sie sind nicht gewöhnt, gegen mehrere Feinde gleichzeitig zu kämpfen. Sieh nur zu, dass du nicht allein bist. Und denk daran, dass du ihn umbringst, falls du in eine unhaltbare Lage gerätst. Es ist schön und gut, dass du ihn retten willst, aber dein Leben ist es nicht wert.« »Ja, das stimmt«, pflichtete Rhapsody ihr bei. Das Neugeborene streckte sich und gähnte und rief bei beiden Frauen eine freudige Reaktion hervor. »Du hast Recht, was sie betrifft«, sagte Oelendra. »Sie ist schön.« »Sie ist eine Kämpferin«, meinte Rhapsody stolz. »Sie hat wirklich einen unaussprechlichen Albtraum durchgemacht. Ich wünschte, du hättest das Gesicht ihrer Mutter gesehen, als sie ihr Kind in den Armen gehalten hat. Sie konnte nicht reden, aber...«Ihr versagte die Stimme, und sie neigte den Kopf. Als sie wieder aufschaute, hatte ihr Gesicht einen harten Ausdruck angenommen. »Dieser Dämon hat mir wirklich einen guten Grund gegeben, ihm das Herz herauszureißen«, sagte sie gefühllos. »Ich will es ihm heimzahlen.« »Mäßige deinen Hass; er wird ihn gegen dich einsetzen«, sagte Oelendra. Sie fuhr mit ihren langen Fingern durch das schwarze Haar des Kindes. »Dein Grund, ihn zu vernichten, sollte nicht die Vergangenheit der Mutter, sondern die Zukunft des Kindes sein. Wenn du das beherzigst, wirst du Erfolg haben, weil es das Richtige ist, und nicht, weil du Rache üben willst. Im Ersteren steckt mehr Macht als im Letzteren. Das ist etwas, das ich nicht tun kann. Mein Hass ist zu tief eingewurzelt, aber du, Rhapsody, hast die Möglichkeit, die Dinge gerade zu rücken. Die Scheußlichkeit seiner Taten aber sollte deine Beherrschung nicht zerstören.« »Wenn du so redest, klingst du wie meine Mutter«, meinte Rhapsody lächelnd. »Ich frage mich oft, ob ihr beiden verwandt seid.« »Sie und ich haben einiges gemeinsam«, sagte Oelendra und erwiderte ihr Lächeln. »Wie sollen wir die Kleine benennen?« Sie sah zu, wie die Runzeln im Gesicht des Neugeborenen tiefer wurden, als es im Schlaf die Lippen schürzte und saugende Bewegungen machte. »Schon wieder«, lachte Rhapsody. »Da kommen mir einige lustige Dinge in den Sinn, aber ich glaube, ich würde sie gern Aria nennen.« Sie liebkoste die kleine Hand, und die Erinnerung an Ashe stieg in ihr auf. Schmerzlich spürte sie seinen Verlust, als sie daran dachte, dass nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war. So würde sie nie wieder hören, wie er ihren Namen rief. Sie dachte an die Zukunft, die mit jedem Tag näher kam eine Zukunft, an der er nicht teilhaben würde. Sie fuhr mit dem Finger über die winzigen Knöchel und dachte daran, dass diese Kinder ein gewisser Trost sein würden, wenn es so weit war. Oelendra hatte ihre eigenen Erinnerungen bei diesem Namen. »Ausgezeichnet«, sagte sie leise und dachte an damals zurück. »Mein erstes Geschenk für sie war ein Lied das Lied, das ihrer Mutter ein paar Augenblicke zusammen mit ihr geschenkt hat«, sagte Rhapsody und blinzelte einige Tränen fort. »Wenn es nicht zu anmaßend ist, würde ich eines Tages gern jedem Kind in Tyrian dasselbe Geschenk machen: ein Lied, das nur ihnen allein gehört. Glaubst du, das ist dumm?« »Nein«, antwortete Oelendra und lächelte sie freundlich an. »In Serendair hat die Königin, der ich gedient habe, etwas Ähnliches getan, doch durch eine andere Art von Geschenk. Du würdest eine schöne Tradition fortsetzen. Komm, wir wollen nach den anderen sehen. Ich weiß, dass sie auf dich warten.« Sie zog die Zeltklappe zurück, damit Rhapsody eintreten konnte, und hörte den Chor erregter Kinder, die sie sofort umschwärmten und alle gleichzeitig auf sie einredeten. Sie sah, wie das Gesicht der Sängerin vor Freude glühte, während sie sich niederbeugte, um die Kinder zu umarmen und ihnen das Neugeborene zu zeigen. Sie wusste, dass es nicht die einzige Tradition der Königin von Serendair war, die Rhapsody eines Tages wiederholen würde. »Dann bist du also auf dem Weg zu Llauron?«, fragte Oelendra später, als sie das schlafende Kind in die Wiege legte. Sie bedeckte es mit einem Laken aus gesponnener Wolle und strich ihm sanft über den Rücken, bevor sie sich in ihren Sessel setzte. Rhapsody nickte. Sie wiegte zwei der kleinsten Kinder in dem Schaukelstuhl vor Oelendras Herd; der Feuerschein spielte auf ihrem Gesicht. »Er weiß mehr als jeder andere über sorboldische Kultur. Obwohl dieses Land an Achmeds Grenze liegt, kennt er nicht viel davon.« »Die Berge haben die Eigenschaft, Informationen und Feinde zurückzuhalten«, meinte Oelendra. »Bist du sicher, dass du Llauron vertrauen kannst?« »Meinst du, ich kann es nicht?« »Nein.« Die lirinsche Meisterin nahm ihren Becher mit gewürztem Met und hob ihn an die Lippen. Nachdem sie getrunken hatte, bemerkte sie, dass Rhapsodys samaragdene Augen auf sie gerichtet waren und den Feuerschein widerspiegelten. »Erinnerst du dich an den Blutsverwandtenruf, den ich dir beigebracht habe, als du zur Ausbildung zu mir kamst?« Rhapsody nickte, aber sie ließ den Blick nicht von Oelendra. »Ja. Beim Stern werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.« Oelendra nickte. »Ich saß auf einem Pferd und wollte gerade Sepulvarta verlassen, um den Patriarchen zu verteidigen; daher erinnere ich mich nicht an mehr. Was hat das mit Llauron zu tun?« »Mit Llauron hat es nichts zu tun; wir kommen gleich auf ihn zurück. Es ist wichtig, dass du dich an diesen Ruf erinnerst. Du hast gesagt, du habest in der Nacht in Sepulvarta einen Flüsterton im Ohr gehört, als du Wache gestanden und für den Patriarchen gekämpft hast?« »Ja.« Das Gesicht der älteren Frau nahm das Leuchten des Feuers auf. »Ich glaube, du bist jetzt selbst eine Blutsverwandte, Rhapsody. Im alten Land waren die Blutsverwandten eine Bruderschaft von Kriegern und Meister in der Kunst des Kampfes; sie waren dem Wind und dem Stern geweiht, unter dem du geboren wurdest. Aus zweierlei Gründen wurden sie in die Bruderschaft aufgenommen: Sie mussten ein unglaubliches Kampfgeschick aufweisen, das sie sich in einem langen Soldatenleben erworben hatten, und sie mussten selbstlos anderen dienen und die Unschuldigen mit dem eigenen Leben schützen. Meiner Meinung nach hat dich der Umstand, dass du in jener Nacht in der Basilika den Patriarchen vor dem Rakshas geschützt hast, als eine dieses Ordens bestätigt.« »Aber das war in der alten Welt«, sagte Rhapsody und kraulte Jecens Hals. Das Kind seufzte im Schlaf. »Gibt es diese Blutsverwandten denn noch?« »In diesem neuen Land habe ich noch nie einen getroffen«, antwortete Oelendra und schaukelte sanft Arias Wiege. »Ich weiß nicht, ob die Bruderschaft noch existiert. Wenn ja, dann wird jeder Blutsverwandte, der dich hört, deinen Hilferuf auf dem Wind beantworten, falls du selbst zu ihnen gehörst. Genauso musst du antworten, wenn du den Ruf hörst.« »Das werde ich tun«, versprach Rhapsody. »Reden wir bitte wieder über Llauron. Was sind deine Bedenken? Achmed hegt schon seit langem den Verdacht, dass er der Wirt des F’dor sei. Glaubst du das auch?« »Nein«, antwortete Oelendra knapp. In ihrer Stimme lag eine Endgültigkeit, die Rhapsody dazu trieb, ins Feuer zu schauen. Oelendra schwieg einen Moment und betrachtete ihr Gesicht. »Hast du Angst, Llauron könnte Gwydion ... äh, Ashe ... von den Kindern erzählen?« »Eigentlich nicht«, meinte Rhapsody und küsste die schlummernden Köpfe. »Llauron wird seinem Sohn durchaus Dinge vorenthalten, die für seine Ziele wichtig sind. Du solltest die Briefe sehen, die er mir nach Ylorc geschickt hat. Er hat mich in höflichen Worten angeklagt, weil ich der cymrischen Wiedervereinigung nicht genug Zeit gewidmet habe. Als Ashe ihm über uns berichtet hat, wurden die Briefe sogar noch schlimmer. Er wollte wissen, ob ich der Grund dafür sei, dass sein Sohn kaum mehr da sei. All das war im dunklen Dialekt des Alt-Serenne geschrieben und überdies verschlüsselt. Ich habe übrigens Ashe nur deshalb noch nichts von den Kindern gesagt, weil ich ihn nicht verletzen will. Er wird am Boden zerstört sein, wenn er erkennt, dass die Taten, deren Zeuge seine Seele war, diese Situation nach sich gezogen haben. Er wird glauben, es sei seine Schuld.« Oelendra starrte in das Feuer. »Nein, es ist sicherlich nicht seine Schuld«, sagte sie abwesend. Rhapsody sah sie an und wartete darauf, dass sie weitersprach, doch sie tat es nicht. »Weißt du, wo diese Kinder doch so verschieden sind, ist es erstaunlich, dass nicht eines von ihnen kupferfarbenes Haar hat.« »Wieso?«, fragte Oelendra und tauchte aus ihren Gedanken auf. »Der Rakshas mag wie Gwydion ausgesehen haben, aber sein Blut war das des F’dor. Es gibt zwischen ihnen keine Blutsbande.« »Das weiß ich, aber für Ashe wird es immer noch diesen Anschein haben«, sagte Rhapsody und streichelte Mikita, die im Schlaf wimmerte. »Das Fragment seiner Seele, das dem Rakshas Macht gegeben hat, hat viele unaussprechliche Dinge mit angesehen, und Ashe verfügt über Teile dieser Erinnerung. Jenseits der Vernunft spürt er Schuld, gerade so als wäre er an diesen Taten beteiligt gewesen. Ich bin froh, dass keines der Kinder ihm irgendwie gleicht.« »Nun, der Drache in ihm wird wissen, dass es nicht seine Kinder sind«, sagte Oelendra. »Da wir schon über Ashe reden, wo ist er eigentlich?« »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Rhapsody. »Als wir uns getrennt haben, wollte er nach Süden über die Krevensfelder. Ich glaube, dort sind Feindseligkeiten zwischen einem menschlichen Außenposten und den sorboldischen Wachen ausgebrochen. Wir haben geplant, uns in Bethania zur Hochzeit des Fürsten von Roland zu treffen. Vielleicht sehe ich ihn dort. Wer weiß?« »Seltsam«, bemerkte Oelendra. »Ja, alles ist seltsam. Hoffentlich ist es bald vorbei.« »Ich habe dich genau angesehen, als du gesagt hast, du wissest nicht, wo Ashe ist. Du vermisst ihn, nicht wahr?« »Ja. Warum?« »Du zeigst es nicht.« Rhapsody seufzte. »Ich wusste die ganze Zeit, dass er nie der meine sein kann, Oelendra. Was du über Pendaris und dich gesagt hast, hat mir überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, ihn zu lieben. Ich glaube, in unserer kurzen Zeit zusammen haben wir so viel geliebt wie andere in einem ganzen Leben.« Oelendra lächelte. »Der Unterschied, Rhapsody, besteht darin, dass ihr beide noch lebt. Beurteile nie den Wert eines ganzen Lebens, so lange es noch andauert.« Die Flammen knisterten zustimmend. Die beiden Frauen saßen in verstehendem Schweigen vor dem Feuer, bis es in der Dunkelheit des Zeltes zu Kohlen heruntergebrannt war. 24 Der Kreis, Gwynwald Llauron warf ein weiteres Scheit ins Feuer und beobachtete, wie es aufloderte. Sie würde gleich herunterkommen, und es war immer bemerkenswert zu beobachten, wie das Feuer sich in ihrer Nähe veränderte und sich ihrer Stimmung anpasste. Es war eine angeborene Fähigkeit, die Llauron gern selbst gehabt hätte, wenn auch vielleicht in einem größeren Rahmen. In der Dunkelheit seines Studierzimmers spürte Llauron ein Gefühl des Friedens herabsteigen, ein seltenes Gefühl in diesen letzten Tagen. Er lehnte sich gegen den Türrahmen. Die Zeit nahte, und bald wären das Warten und all die mit der Unsicherheit verbundenen Unannehmlichkeiten vorbei. Rhapsody erschien am oberen Rand der Treppe. Sie trug nicht mehr ihre staubige Reisekleidung, sondern eine zarte weiße Bluse aus canderischem Leinen, eingefasst mit weißen Spitzenmustern, und einen langen Rock aus weinfarbener Wolle. Sie hatte sich das Haar gebürstet und zu einem fülligen Knoten hochgesteckt. Llaurons Augen funkelten in liebevoller Wärme, als sie herunterkam und ihn begrüßte. Er ergriff beide Hände, die sie ihm entgegenstreckte, und küsste sie auf die Wange. Dann hakte er sich bei ihr ein und führte sie in sein Studierzimmer. »Du siehst bezaubernd aus, meine Liebe«, sagte er galant und hielt ihr die Tür auf. »Vielen Dank«, erwiderte sie lächelnd. »Es ist erstaunlich, wie zivilisiert man sich nach einem Bad und einem Kleiderwechsel fühlt.« »Ja, allerdings. Vera hat uns ein schönes Tablett mit unserem Abendessen gebracht, und irgendwo habe ich noch eine gute Flasche Branntwein, mit der wir feiern sollten.« Rhapsody lehnte sich gegen das Pferdehaarsofa vor dem Feuer und warf einen hungrigen Blick hinüber zu dem Tablett. »Feiern? Was haben wir zu feiern?« »Also, mir ist immer nach Feiern zumute, wenn du da bist, meine Liebe, selbst wenn es sich um weniger angenehme Geschäfte handelt, und besonders, wenn du ohne deine ... äh ... Gefährten gekommen bist.« Er holte aus seiner Kiste eine Flasche hervor, stöberte herum und fand schließlich zwei staubig aussehende Branntweingläser. »Ich frage mich, was deine Abwesenheit für Gwydion bedeutet. Glaubst du, er kommt ohne dich zurecht?« Rhapsody war von seiner freimütigen Erwähnung Ashes überrascht. »Ich bin sicher, es geht ihm gut«, sagte sie. Unbehagen über dieses Thema kroch in ihre Miene. »Eigentlich habe ich ihn schon lange nicht mehr gesehen.« »Das ist gut zu wissen«, sagte Llauron, zog den Korken aus der Flasche und stellte die Gläser auf den niedrigen Schrank. »Vielleicht kann er jetzt wirklich etwas von seiner Arbeit erledigen und sich um seine Verpflichtungen kümmern.« Er goss eine großzügige Menge der dunkelgoldenen Flüssigkeit in jedes Glas. Rhapsody spürte, wie ihr warm im Gesicht wurde, während sie ihm zuhörte. »Ich hoffe, du glaubst nicht, ich wollte Ashe von seinen Pflichten abhalten«, meinte sie mit Unbehagen in der Stimme und wünschte sich sofort, sie hätte nichts gesagt. »Wenigstens sollten die Schritte, die Achmed, Grunthor und ich unternommen haben, ihn in eine weitaus bessere Lage versetzen, seinen Verpflichtungen nachzukommen.« Der verehrungswürdige Herr hob die Gläser vom Schrank. »Diese Schritte ... nun, was können das für Schritte sein? Beziehst du dich damit auf die zweifellos angenehme Ablenkung, für die du während des Sommers gesorgt hast, während du ihn in irgendeinem Liebesnest versteckt und ihn von den Pflichten abgehalten hast, die ich ihm aufgetragen hatte? Ich hege keinen Zweifel daran, dass er die Aufgaben, die du ihm gestellt hast, viel mehr genossen hat als meine.« »Ich fürchte, du verstehst nicht, was ich mit Ashe getan habe, Llauron«, antwortete Rhapsody und versuchte die Beleidigung herunterzuschlucken. »Ich habe ihn nicht irgendwo weggeschlossen. Ich habe sehr hart gearbeitet, um seine Lage zu verbessern.« Llauron schenkte die Gläser ein und durchquerte dann den Raum. »Ich verstehe, meine Liebe, dass mein Sohn dich sehr mag. Und ich bin froh darüber, denn er hat einen ausgezeichneten Geschmack. Mir ist durchaus klar, dass er körperliche Bedürfnisse hat, die befriedigt werden müssen.« Rhapsody spürte, wie sich ihr die Kehle unter dem zwinkernden Blick ihres Lehrers zusammenzog; bei seinen Worten drehte sich ihr der Magen um. Sie bemühte sich darum, dass kein beleidigender Unterton in ihrer Antwort lag. »Dann weißt du auch, Llauron, dass das dringendste körperliche Bedürfnis deines Sohnes die Heilung seiner verwundeten Brust war. Und der körperliche Aspekt dieses Bedürfnisses war im Vergleich zu den anderen Faktoren unbedeutend.« »Ja, ja, natürlich«, sagte der alte Mann lächelnd. Er gab ihr ein Glas und setzte sich in seinen Sessel. »Ich bin dir und den anderen unendlich dankbar für die Rolle, die ihr bei der Rettung aus dieser Lage gespielt habt. Er schuldet dir viel, wenn er einmal den Thron des cymrischen Fürsten besteigt.« »Er schuldet mir gar nichts, und ich will nichts von ihm. Auch Achmeds und Grunthors Hilfe waren kostenlos. Ashe steht nicht in unserer Schuld, weil das, was wir getan haben, einfach richtig war.« »Das ist sehr großzügig von dir, meine Liebe. So weit es dich angeht, überrascht es mich allerdings nicht. Du bist ein liebenswürdiges Mädchen, und vom ersten Augenblick an habe ich gewusst, dass du ein edles Herz hast. Aber glaubst du wirklich, du kannst für deine Firbolg-Gefährten sprechen? Woher willst du das wissen?« Rhapsody schwieg, schaute in das Branntweinglas und atmete den Duft des Getränks ein. »So lautet die Abmachung. Das habe ich von Beginn an sichergestellt.« »Und was sind die Garantien dafür?« Nun verlor sie allmählich die Geduld. »Meine Freundschaft mit ihnen. Wenn all das vorbei ist, wird Achmed sein Wort nicht brechen. Außerdem glaube ich, dass Ashe durchaus in der Lage ist, auf sich selbst aufzupassen, selbst wenn Achmed sich alter Vorteile bedienen sollte. Unsere Hilfe war ohne Bedingungen, Llauron. Ich weiß, dass so etwas fremd für dich ist, aber du musst mir einfach vertrauen.« Sie trat ans Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit des Waldes; dabei kam sie am Kamin vorbei. Die Flammen grollten wütend, als sie vorüberging, und beruhigten sich kurz darauf wieder. Llaurons Gesicht nahm einen aufmerksamen Ausdruck an. »Das tue ich, meine Liebe mehr, als du weißt. Vielleicht wärest du so freundlich, mir eine weitere Frage zu beantworten, bevor wir uns den Dingen widmen, die dich heute Abend hergebracht haben.« Sie drehte sich nicht um. »Was könnte das sein?« »Ich möchte wissen, welche Rolle du im Leben meines Sohnes spielen willst, wenn das hier vorbei ist. Ich weiß, dass du ehrlich antworten wirst, und ich möchte Einzelheiten erfahren.« Rhapsody sah hinunter auf den Fenstersims und beobachtete, wie sich der Schein des Feuers im Glas spiegelte. Wieder blickte sie in die Dunkelheit. »Ashe wird immer auf mich als Freundin und Verbündete zählen können.« »Mehr nicht?« Schließlich drehte sie sich doch um und sah ihm in die Augen. »Ist das nicht genug?« »Für mich schon«, antwortete Llauron ernst. »Für dich auch?« Das Blut pochte in Rhapsodys Ohren und kroch ihr ins Gesicht, das schon rosig von der Flammenhitze war. »Was willst du, Llauron? Was willst du wirklich von mir?« Llauron stand langsam auf und durchquerte das Zimmer. Er blieb dicht vor ihr stehen und sah hinunter in ihr Gesicht. »Ich will sicher sein, dass du dich nicht zwischen meinen Sohn und die Frau stellst, die er als Gemahlin wählen wird. Obwohl du von niedriger Geburt bist, weiß ich, dass du Ashes Bestimmung verstehst. Gwydion muss seinen Pflichten als Führer der vereinigten cymrischen Völker gerecht werden und darf sie nicht seines Herzens wegen aufs Spiel setzen.« Rhapsody stellte ihr Glas ab; sie hatte es so fest umschlossen gehalten, dass sie schon befürchtete, es könne zerbrechen. »Du hast mich gebeten, ehrlich zu sein. Nun gut, hier ist meine Antwort. Erstens glaube ich nicht, dass dich das etwas angeht. Dein Sohn ist ein erwachsener und weiser Mann, und ich glaube, er hat dein Vertrauen verdient, soweit es um die Erfüllung seiner Pflichten geht. Zweitens habe ich mich nie in meinem Leben zwischen einen Mann und seine Frau gestellt, und das habe ich auch in Zukunft nicht vor. Was immer du von mir halten magst, Llauron, so solltest du doch wissen, dass eine niedrige Geburt nicht zwangsläufig Unehrenhaftigkeit bedeutet. Von königlichem Geblüt zu sein gibt einem genauso wenig eine Garantie, dass man ehrenhaft ist. Drittens: Falls du befürchten solltest, dass ich in irgendeiner Weise versuchen werde, mich in deine königliche Familie einzuschleichen, kannst du ganz beruhigt sein. Ich sorge mich um deinen Sohn nicht wegen, sondern trotz seines Erbes. Ich habe gesehen, wie unglücklich Erbschaften machen können, und bin froh, keine zu bekommen. Und schließlich glaube ich, dass ich mich als Freund deiner Sache erwiesen habe deines Ziels, welches du unter Ausschluss alles anderen erreichen möchtest. Es hat mich schon mehr gekostet, als du je wissen wirst, und vielleicht werde ich mir das nie vergeben. Mögen jene, die dich lieben, dir wegen dem vergeben, das es sie ebenfalls gekostet hat.« Sie wandte sich ab und sah wieder durch das Fenster. Sie zitterte vor Wut und Angst. Llauron beobachtete sie kurz, dann hob er sein Glas an die Lippen und leerte es. Er ging zurück zum Kamin und stellte es auf dem Sims ab; dann schaute er Rhapsody wieder an. »Vielen Dank für deine Ehrlichkeit, meine Liebe«, sagte er freundlich, »und für deine weisen Entscheidungen, was immer sie dich auch gekostet haben mögen. Weißt du, mein Sohn ist nicht der Einzige in dieser Familie, der dich liebt. In vieler Hinsicht bist du für mich wie eine Tochter. Du würdest einem glücklichen Mann eine wunderbare Frau sein und eine ausgezeichnete Mutter abgeben.« Rhapsody sah ihn nicht an. »Anscheinend bedeutet das nicht viel.« Llauron seufzte. »Nein, im großen Plan der Dinge wohl nicht. Ich werde nach Gwen sehen; sie sollte die Verkleidung inzwischen bereit haben. Warum isst du nicht etwas? Dabei können wir unsere Reise zu diesem Gladiator planen. Ich bin gleich zurück.« Rhapsody wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, dann lehnte sie sich gegen das Fenster und stieß einen tiefen, schmerzerfüllten Seufzer aus. Sie legte die brennende Stirn gegen die Kühle der Glasscheibe. Sie vermisste Ashe schrecklich und fühlte sich schuldig deswegen. Ihre Augen suchten den Trost des dunklen Himmels, doch durch die trübe Scheibe waren keine Sterne zu sehen. Sie ergriff noch einmal ihr Glas und trank den Rest des Branntweins. Dann ging sie zum Kamin und stellte das Glas neben das von Llauron auf den Sims. Die geschwungenen Gefäße fingen das dunkle Licht ein wie ein grimmiger Trinkspruch auf eine Zukunft, von der sie wünschte, sie würde nie eintreten. 25 »Sag mir bitte, dass das ein Scherz ist.« Gwen lächelte unbehaglich und zog dann einen dünnen, eisfarbenen Schleier über Rhapsodys Kopf und Schultern. »Ich fürchte nicht, meine Liebe. Das tragen sie in Sorbold.« »Wo ist der Rest davon?« »Das ist alles, meine Liebe. Die meiste Zeit des Jahres ist es dort warm, und die Nähe der Arena zu den heißen Quellen bewirkt, dass es drinnen sehr feucht ist. Jeder zeigt seinen Körper; das wird dort als völlig natürlich angesehen.« »Was ist das Problem, Rhapsody?«, fragte Llauron mit einem Unterton der Verärgerung. Ein leichtes Glühen trat aus seiner Hand; er betastete eine kleine Kugel aus Wasser, in der eine winzige Flamme brannte. Es war Crynellas Kerze, das Liebeszeichen, das Merithyn, sein Großvater, seiner Drachengroßmutter Elynsynos gegeben hatte. Es verband die Elemente des Feuers und des Wassers und diente ihm als Schlüsselring. Llauron hatte einmal gesagt, er habe dieses Objekt von einem Antiquitätenhändler gekauft. Er drehte es immer dann zwischen den Fingern, wenn er enttäuscht war. Rhapsody schluckte nervös und wandte sich wieder dem Spiegel zu. Angewidert starrte sie in das Glas. »Erstens haben wir Winter; ich werde mir den Tod holen. Und zweitens: Willst du wirklich, dass ich so in die Kasernen der Gladiatoren gehe? Llauron, bist du verrückt?« »Also bitte, Rhapsody, sei doch nicht so provinziell. Ich hätte nicht geglaubt, dass eine so aufgeschlossene junge Frau wie du die Gepflogenheiten anderer Kulturen verhöhnt.« »Ich verhöhne nichts«, antwortete Rhapsody, drehte dem Spiegel den Rücken zu und errötete, als sie sah, wie wenig von ihrem Körper bedeckt war. »Ich will bloß nicht, dass man mich verhöhnt. Um Himmels willen, Gwen, was soll diesen Fetzen denn zusammenhalten? Reine Entschlossenheit?« Sie deutete unwillig auf die ineinander verschlungenen Schals, die das Leibchen ihrer Garderobe bildeten. »Na, Rhapsody, so flach bist du oben herum doch nicht«, sagte Llaurons Dienerin. »Gwen, du bist die Erste, die das sagt. Unter anderen Umständen wäre ich dir dafür sehr dankbar, doch im Moment möchte ich mich nur gern anziehen.« Llauron stand ungeduldig auf. »Weißt du, Rhapsody, eigentlich hatte ich den Eindruck, dir sei es Ernst mit dieser Mission. Ich hatte keine Ahnung, dass du nur mit der Idee spielst. Wenn mir das bewusst gewesen wäre, hätte ich weder meine noch Gwens Zeit verschwendet.« Rhapsody wirkte beschämt. »Es ist mir Ernst, Llauron; ich hatte bloß nicht diese Art von Kleid erwartet.« »Es tut mir Leid, aber wenn du dir zu einem bestimmten Ort Zugang verschaffen willst, bleibt dir nichts anderes übrig, als dich wie die Leute dort zu kleiden. Wenn dir der Ort nicht gefällt, musst du deinen Gladiatorfreund anderswohin locken. Aber wenn du in deinem Abendkleid nach Sorbold gehst, wirst du sofort in die Sklaverei verkauft und endest zweifellos in etwas noch Luftigerem. Also, was ist? Willst du weitermachen oder aufgeben?« Rhapsody seufzte. »Natürlich gebe ich nicht auf«, sagte sie und sah sich nach einem wärmeren Kleidungsstück um. Schließlich ging sie zu einem Kleiderständer, nahm ihren Umhang ab und wickelte sich in ihn. Sie setzte sich in einen Ohrensessel nahe dem Flügelspiegel, vor dem Gwen sie angezogen hatte. »Können wir jetzt unsere Strategie beraten?« Llauron schien sich zu entspannen. Er steckte Crynellas Kerze zurück in die Tasche und entrollte eine lange pergamentene Landkarte. »In gewisser Weise hast du Glück«, sagte er. »Der Vergnügungskomplex befindet sich in dem Stadtstaat Jakar, der nahe am südlichen Rand des orlandischen Waldes liegt eigentlich genau südöstlich davon. Das heißt, du musst nicht lange durch Sorbold reisen, um an dein Ziel zu kommen. Das ist gut. Sorbold ist ein viel kriegerischerer Ort als Roland, und du würdest zweifellos angehalten, wenn du lange durchreisen müsstest.« Rhapsody nickte. Llauron warf einen Blick auf Gwen, die sich wortlos empfahl und den Raum verließ. »Nun«, fuhr Llauron fort und kehrte zu dem Pergament zurück, »hier ist ein Plan des Vergnügungskomplexes. Das große Gebäude in der Mitte ist natürlich die Arena. Es wird dir leicht fallen, dich an einem Kampftag unter die Menge zu mischen. Ich bezweifle, dass du je in deinem Leben mehr Menschen gesehen hast als an diesen Tagen auf den Durchgangsstraßen. Wenn ich mich nicht irre, kämpfen sie nach dem Mondzyklus; es gibt jeden Tag einen Wettkampf außer bei Neumond und Vollmond. Dein Gladiator hat die besten Aussichten, auf dem Programm zu stehen, wenn du einen Tag nach dem letzten Brachtag eintriffst.« »Sein Name lautet Constantin. Hast du je von ihm gehört?« »Ja«, sagte Llauron. »Er ist schon seit einiger Zeit aktiv. Ich weiß nicht viel über ihn, aber er ist zweifellos der typische sorboldische Gladiator: viele Muskeln, wenig beweglich.« »Oelendra sagte, der Trick sei, ihn nicht zum Einzelkampf herauszufordern.« Bei der Erwähnung der Lirin-Kämpferin zog Llauron die Lippen leicht hoch. Rhapsody hatte diese kaum merkliche Reaktion schon mehrfach bemerkt und war sich nie sicher, ob es nur eine Einbildung war. »Das wird etwas schwierig sein, nicht wahr? Ich dachte, dies sei eine sehr geheime Mission.« »Das ist sie auch.« »Warum planst du dann, Hilfe zu haben, wenn du doch allein gehst?« Rhapsody blinzelte. »Allein? Hattest du nicht gesagt, Khaddyr sei meine Unterstützung? Ich hatte angenommen ... nun ja, ich hatte geglaubt, er würde Truppen mitbringen oder wenigstens ein paar Waldläufer.« »Das wird er auch, aber nicht in den Vergnügungskomplex selbst. Ich werde Khaddyr und einen oder zwei sehr vertrauenswürdige Männer losschicken, die in den Wäldern außerhalb der Arena auf dich treffen. Sie werden dort mit Pferden und Vorräten warten und dich durch den Wald zurück nach Tyrian geleiten. Bist du mit diesen Wäldern vertraut?« »Nein, aber ich glaube, ich bin einmal auf dem Weg zu Stephen durch sie gewandert.« »Ja.« »Das war allerdings nur der nördlichste Zipfel. Ich habe keine Ahnung, wie es im Süden aussieht.« »Dort werden Khaddyr und seine Männer dir weiterhelfen.« Llauron schaute in das Kaminfeuer; es brannte unregelmäßig. Auch Rhapsodys Gesichtsausdruck war zweifelnd. »Llauron«, sagte sie nachdenklich, »wenn ich so etwas mit Achmed und Grunthor planen würde, dann würde ich einfach hineingehen und ihn zu ihrem Versteck locken, aber ich glaube nicht, dass sie von mir erwarten würden, mich allein dort hinzubegeben.« Ein Reptilienhaftes Glitzern trat in die Augen des alten Mannes. »Dann möchtest du vielleicht lieber nach Ylorc zurückkehren und sie dir zur Verstärkung holen, Rhapsody?« Rhapsody starrte ihn kalt an. Sie wussten beide, dass das unmöglich war. Grunthor konnte sich nirgendwo einschleichen, nicht einmal in einen Ort wie Sorbold, und wenn Achmed auf sorboldischem Gebiet geschnappt würde, wie er gerade einen wertvollen Sklaven entführte, konnte das Krieg bedeuten. Als Llauron sah, wie sich Eis in ihren Augen bildete, wurde sein Ton freundlicher. »Kopf hoch, Rhapsody. Ein einzelner Gladiator ist doch kein ernst zu nehmender Gegner für die Iliachenva’ar. Du bist von der lirinschen Meisterin ausgebildet worden, dir steht die Macht der Sterne und des Feuers zur Verfügung, um deine Musik gar nicht erst zu erwähnen. Und wenn alles andere versagen sollte, hast du deinen flinken Verstand und ein freundliches Lächeln; das wird dich überall hinbringen. Unterschätze deine eigenen Kräfte nicht. Du hast zu lange als Teil eines Trios gearbeitet.« Sie sagte nichts darauf, sondern hielt seinem Blick stand. Schließlich warf Llauron die Hände hoch und gab nach. »In Ordnung. Ich werde dafür sorgen, dass Khaddyr und seine Männer außerhalb der Kasernen des Gladiatorenkomplexes warten, sodass sie dir helfen können, ihn dort hinauszuholen, sobald du ihn bewusstlos gemacht hast. Und nun sieh dir die Zeichnung des Komplexes noch einmal an. Hier an der Außenseite ist eine Nische, in der du dich verstecken kannst. Ich schlage vor, dass du die Stadt hier betrittst; das ist der einfachste Zugang und Ausgang, besonders wenn ihr einen bewusstlosen Gladiator hinter euch herzieht.« »Wie soll ich ihn bewusstlos machen?« Llauron ging zum Tisch. »Dafür habe ich Vorbereitungen treffen lassen.« Er hob eine kleine Börse hoch und zog eine durchsichtige, verstöpselte Flasche hervor. »Das wird ihn innerhalb weniger Sekunden ohnmächtig machen, nachdem er es eingeatmet hat. Pass übrigens auf, dass du es nicht selbst in die Nase bekommst. In dieser Flasche ist genug, um ihn betäubt zu halten, bis ihr wieder in Tyrian seid. Verschwende nichts davon.« Er steckte die Flasche zurück in den Beutel und gab ihn ihr. »Vielen Dank«, meinte Rhapsody. »Versuche es so einzurichten, dass er keucht, wenn er es einatmet, dann wirkt es besser.« »Und wie soll ich das schaffen indem ich ihn erschrecke? Ihm einen Witz erzähle?« Llaurons Augen funkelten auf eine Weise, die Rhapsody verstörend fand. »Ich bin sicher, du wirst dir etwas einfallen lassen, Rhapsody.« Seine Antwort führte dazu, dass sie den Mantel enger um sich zog. »Ich bin mir wegen des Kleides noch nicht sicher.« »Um Himmels willen, sie werden glauben, dass du eine Heilerin bist. Die Heilerinnen laufen immer in einem solchen Aufzug durch die Gegend. Außerdem ist das Einzige, was der Gladiator nach einem Kampf um Leben und Tod von dir will, medizinische Betreuung und vielleicht eine Massage. Du brauchst keine Angst zu haben, dass deine Tugend in Gefahr ist.« In seiner Stimme lag eine Schroffheit, die Rhapsody nicht gefiel. Llaurons Stimme wurde sanfter, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Den Gladiatoren ist es verboten, vor einem Kampf sexuelle Beziehungen einzugehen, und danach sind sie nicht mehr dazu in der Lage. Du wirst für ihn nicht mehr als ein Paar Hände sein, die seine Schmerzen lindern. Er wird dich kein zweites Mal ansehen, oder glaubst du, du hast etwas Besonderes an dir, das die Männer anzieht, wenn sie es gewöhnt sind, alle Frauen in dieser Kleidung herumlaufen zu sehen?« »Nein«, gab sie zu. »Dann entspann dich bitte. Es wird für dich eine wertvolle Erfahrung sein, wenn du siehst, wie Menschen in anderen Kulturen leben. Ich glaube, du solltest dein Schwert hier lassen, während du fort bist nur für alle Fälle.« »Darüber habe ich schon nachgedacht«, sagte sie und schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Ich habe es Oelendra gegeben.« Dasselbe Prickeln lag in der Luft, wenn Ashe gereizt oder wütend war, es aber nicht zugeben wollte. »Sehr gut. Wir haben also einen Plan. Falls du dich in dem Komplex verlaufen solltest, folge der Hitze; sie wird dich zu den heißen Quellen neben der Arena führen. Ich werde Khaddyr und die anderen erst im letzten Augenblick darüber informieren, um sicher zu stellen, dass uns niemand belauscht. Da wir gerade von Khaddyr reden ich muss mich um einige seiner Patienten kümmern. Es sind Opfer einer dieser sinnlosen Überfälle.« Rhapsody setzte sich auf. »Brauchst du Hilfe? Ich habe meine Kräuter und meine neue Harfe dabei.« »Nein, nein; sie haben nur kleinere Verletzungen und schlafen jetzt bestimmt schon. Außerdem wollen wir, dass deine Anwesenheit geheim bleibt. Hat dich jemand durch den versteckten Eingang hereinkommen sehen?« »Nein, bestimmt nicht. Ich war vorsichtig.« »Wer weiß, dass du bei mir bist?« »Nur Oelendra. Und Gwen.« »Gut. Und jetzt schlaf ein wenig, meine Liebe. Du musst morgen sehr früh aufstehen.« Llauron gab ihr einen Kuss auf die Wange und verließ ihr Zimmer. Er schloss die Tür leise hinter sich. Rhapsody sah ihm nach und saß dann lange schweigend da. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie wusste nicht, was es war. Wenn sich Llauron bei einem Punkt des Plans geirrt haben sollte, konnte das schreckliche Folgen haben, aber darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken. Sie zog den Mantel und die dünnen Schals des Sklavenmädchenkleides aus, suchte nach ihrem Schlafanzug, streifte ihn über und dachte dabei an Ashe. Er wäre sofort mit ihr losgezogen; nichts hätte ihn zurückhalten können. Das war der Grund, warum sie ihm nichts von dieser Mission erzählt hatte. Sie zog die Laken zurück, schlüpfte unter sie und dachte dabei an ihr Zuhause. Ryle hira, lautete das alte lirinsche Sprichwort. Das Leben ist so, wie es ist. All das rührte von der Bösartigkeit des F’dor her. Evet ra hira mir lumine aber du kannst es besser machen, lautete ihr eigenes Motto. Wenn sie die Kinder zu retten vermochte, auch dieses eine, und es ihnen gelang, das Blut zu filtern, damit es Achmed als Fährte und zur Heilung der Kinder diente, würde vielleicht alles gut und schmerzlos ausgehen, bevor sie Ashe die ganze Geschichte erzählen musste. Sie seufzte bei diesem Gedanken und trieb in die Albträume, die mit dem Verlust des Drachen, der ihre Träume bewacht hatte, wiedergekehrt waren. 26 Die nördliche Wüste jenseits von Hintervold Sie stand am Fenster und hörte dem Nordwind zu, wie er durch die blassen Felsspitzen heulte und sein Jagdlied jammerte. Das Feuer in dem gewaltigen Kamin brannte kalt und still in den Schatten ihres ansonsten dunklen Nestes. Das Licht spiegelte sich vor ihr in den großen Scheiben aus dickem Glas wider und glühte in ihrem kupferigen Haar. Wellen aus rotgoldenem Leuchten umhüllten die frostigen, kahlen Gipfel dahinter. Eine weitere einsame Nachtwache, nicht anders als die anderen in den letzten Jahrhunderten hier innerhalb der toten Berge. Die Seherin sah hinunter auf das trübe Fernglas in ihren Händen, das ebenfalls im Widerschein des Feuers matt glänzte. Sie schloss die Augen und spürte das beinahe erotisch intensive Zerren der Nacht, das in diesem Artefakt schlummerte. Sie hob erneut das Instrument vors Auge und suchte die Zeitwellen nach einer tröstenden Erinnerung ab, die sie in einer froststarrenden, leeren Nacht warm zu halten vermochte, doch sie entdeckte nichts Beruhigendes, nur eine Geschichte schweigender Anklagen. Sie ließ das Glas sinken. Meine Flamme. Sie wirbelte entsetzt herum, als sie die volle und süße, leise und knisternde Stimme hörte. Ihre sprühenden blauen Augen blickten mit schlangenhafter Schnelligkeit in dem großen Zimmer umher; die vertikalen Pupillen vergrößerten sich im Takt mit dem Schlag ihres dreikammerigen Herzens. Hier, Süße. Langsam legte sie das Fernglas zurück auf den Altar und ging vorsichtig zum Feuer, das nun dunkler brannte. Die Flammen tanzten und wanden sich bei ihrer Annäherung. »Zur Leere mit dir«, flüsterte sie. »Du wagst es, zu mir zu kommen? Nach all der Zeit?« Aus dem kalten, dunklen Feuer hörte sie ein unmissverständliches Kichern. Bitte, meine Liebe, sei nicht so verdrießlich. Ich komme, wenn ich kann. Das weißt du. »Vierhundert Jahre?«, spuckte sie aus und zog ihren Brokatmantel enger um die Schultern. »Du kommst nur, wenn es dir passt. Was willst du diesmal?« Das Licht des Feuers zuckte beinahe fröhlich, doch mit einer düsteren Unterströmung. Ich habe dich vermisst. In einem wirbelnden Rascheln von alter Seide wandte sie sich ab. Und bald ist die Zeit gekommen. Ich habe geglaubt, du willst vorbereitet sein. »Verflucht seien deine Rätsel! Was willst du?« Eine Kohle prasselte und explodierte dann mit einem scharfen Plopp, gefolgt von einem anhaltenden Zischen. Dich, meine Liebe, flüsterte die seidene Stimme aus den Flammen. Etwas in den Tiefen ihrer Einsamkeit stach sie schmerzhaft. »Fort mit dir«, murmelte sie und blieb mit dem Rücken zum Feuer stehen. »Ich habe getan, was du wolltest. Sieh dir doch an, was daraus geworden ist.« Sie deutete wütend auf das gewaltige, zerfallene, leere Schloss. »Du hast mir die Alleinherrschaft versprochen, und du hast deinen Eid gehalten. Hier weile ich, die unangefochtene Königin der erfrorenen Welt, verbannt von allen, die mir lieb waren, vergessen von der Welt und den Menschen. Ein Wesen der Vergangenheit wie ironisch. Ich will deine leeren Versprechungen nicht mehr; ich will dich nicht mehr. Geh weg.« Komm näher, Süße. »Nein.« Bitte. Verschwunden war der schmeichelnde Tonfall, ersetzt von etwas Dunklerem, Glühenderem. Es war die heisere Klangfarbe, die sie vor langer Zeit gehört hatte, und das Fleisch zwischen ihren Beinen brannte wieder. Widerstrebend drehte sie sich um; das Feuer sprang erregt auf, als sich ihre Blicke trafen. Gwydion lebt. Die Schlangenaugen öffneten sich weit und verengten sich dann sofort wieder. »Unmöglich«, sagte sie trotzig. »Dieser pathetische Lirin-Verräter hat ihn zum Schleier des Hoen getragen, wo er gestorben ist. Er ist nie zurückgekehrt; das hätte ich gesehen.« Setz dich neben mich, meine Süße. Das Feuer knisterte einladend. Bitte. Sie starrte weiterhin in das kalte Inferno und sank langsam zu Boden. Ihr Mantel umwisperte sie, als er in seidenen Wogen von ihr abglitt. Das Feuer schien noch heller, warf flackernde Schatten und schließlich auch Hitze in das kalte Zimmer. Schweißperlen befeuchteten ihren Haaransatz und Nacken. »Unmöglich«, wiederholte sie. Anscheinend gibt es Dinge auf dieser Welt, die deinen Augen verborgen bleiben, meine Flamme. Ein Aufbrausen neuer Hitze erfolgte, dann fiel das Feuer zurück und brannte warm weiter. Es ist gleichgültig. Ihn suche ich nicht mehr. »Warum?« Überraschung ließ sie das Wort aussprechen. Sie schluckte hastig, als könnte sie es damit zurückholen. Die Kohlen glimmerten. Er muss jetzt noch stärker sein als damals. Aber wie ich schon sagte: Es ist gleichgültig. Ich habe einen anderen ausgewählt. Ein zweites pulsierendes Glimmern. Dann wieder die Stimme in tiefem Geflüster: Löse dein Haar für mich. Bitte. Als ob ihre Hand einen eigenen Willen hätte, streckte sie sich zu der dichten Mähne aus ineinander verschlungenen Locken und berührte die Juwelenbesetzte Spange in ihrem Nacken. Ihre Hand zitterte, während die Finger den Verschluss lösten. Schließlich öffnete er sich, und die Masse aus glänzendem Kupferhaar fiel ihr schwer auf die Schultern. Sie hörte deutlich, wie in dem Feuer die Luft eingesogen wurde. »Du wirst ihn also verschonen?« Sie hasste die zitternde Note, die sich in ihre Stimme geschlichen hatte. Die Flammen brannten einen Moment lang dunkel und lösten sich dann wieder in helle Hitze auf. Stell keine Fragen, auf die du nicht wirklich eine Antwort haben willst, meine Süße. Das trübt die Stimmung. Die Seherin lachte scharf auf. »Aha, du willst nicht an deine eigenen Fehlschläge erinnert werden, nicht wahr? Ich habe den Tod des Patriarchen, den du schon so lange vorhersagst, noch nicht gesehen. Warum? Ist dein Plan genau wie meiner fehlgeschlagen? Oder ist der Patriarch jetzt dein Wirt?« Bei ihren Worten wurden die Flammen unvermittelt schwarz, und das Feuer brüllte wütend. Sachte, meine Süße. Das ist kein Gelände, auf das du dich wagen solltest. Das Feuer brannte heiß und fiel dann wieder zurück in glimmende Wärme. Die Drei sind schließlich gekommen. Ich nehme an, du weißt das. Sie lachte. »In der Tat. Und sie haben Canrif eingenommen, aber ihre Taten trotzen meiner Gabe. Ich kann nicht in den Berg sehen.« Ihr Ton wurde dunkler. »Als Gwylliam mich verbannt hat, hat er dieses Gebiet vor meinen Augen versiegelt; es ist für immer jenseits meiner Reichweite.« Die Flammen knisterten erotisch. Zieh deinen Mantel aus. Sie lachte erneut. »Möchtest du mir Lust schenken?« In der Tat. Zieh deinen Mantel aus, meine Flamme, und ich werde dir sagen, was jenseits deines Blickfeldes liegt. Ich werde dir von der Zukunft berichten. Die vertikalen Schlitze in ihren blauen Augen dehnten sich vor Neugier, obwohl sie darum kämpfte, ihre Miene ruhig zu halten. Die Finger flogen zu ihrem Leibchen und nestelten hastig daran herum. Die Stimme in dem Feuer kicherte. Ah, dich verlangt immer noch danach, nicht wahr, meine Süße? Es muss schmerzhaft sein, die Gegenwart erst dann zu erfahren, wenn sie schon zur Vergangenheit geworden ist. Die Flammen tanzten, als ihre Finger die Bänder gelöst hatten. Hör nicht auf, meine Süße. Meine Zeit wird knapp. Langsam öffnete sie das Leibchen und streifte sich die hauchdünnen Ärmel ab. Das Feuerlicht leckte über ihre goldene Haut, die wie kleine Schuppen von winzigsten Linien durchzogen war, wodurch sie wie poliertes Metall glänzte. Sie senkte den Blick, als sie nackt bis zur Hüfte in dem widerspiegelnden Glanz saß. Du bist auf ewig wunderschön, meine Süße. Die warmen Worte riefen bei ihr eine wilde Röte hervor, die ihren Ausgang im einsamen Herzen nahm und bis zu den Spitzen der langen Finger ausstrahlte. Die Zeit hat dich nicht einmal mit einem einzigen Tag gezeichnet, seit wir uns zum letzten Mal in großer Leidenschaft auf dem Boden der Großen Halle geliebt haben. Erinnerst du dich daran, meine Flamme? »Ja.« Komm näher. Zieh den Mantel aus. Langsam stand sie auf. Sie hielt das Leibchen und die Ärmel gegen die Hüfte gedrückt. Dann, mit einer fließenden Bewegung, ließ sie alles los, und der seidene Nachtmantel rollte wie eine Meereswelle zu Boden. »Warum kommst du nicht im Fleisch zu mir?«, flüsterte sie. »Es ist so einsam hier in dem kalten Berg.« Gewisse Verpflichtungen meines gegenwärtigen Wirtes verwehren mir im Augenblick diese Freude des Fleisches. Aber hob keine Angst, meine Süße. Bald werde ich diesen Körper aufgeben und in einen wandern, den du sicherlich mehr schätzen wirst. Das Feuer fiel in die Kohlen zurück. Komm in mich. Sie lachte. Es war nicht das helle Lachen einer jungen Frau, sondern der durchdringende Laut von Siegesposaunen. »Worte, die ich einst zu dir gesagt habe.« Ich erinnere mich. Die Flammen wurden noch schwächer. Komm in mich, meine Süße. Langsam näherte sie sich dem Kamin und kniete vor dem Feuer nieder. Zitternd vor Vorfreude legte sie sich auf den Rücken und schob die langen Beine vorsichtig in den Rachen des gewaltigen Kamins. Die Kohlen glänzten zuerst sanft, dann stärker. Kleine Flammen erschienen und leckten an ihren Beinen entlang, tanzten über ihren Körper und erhitzten ihr Blut. Sie keuchte und kroch noch näher heran. Die wachsende Hitze schmolz die bittere Schärfe zwischen ihren Beinen. Süße. Schweiß tropfte nun zwischen ihren Brüsten herab, während die Flammenzungen über ihre Schenkel leckten und sie noch eingehender zu erforschen suchten. Die harte Einsamkeit, die sich in ihr verwurzelt hatte, erwärmte sich und verdorrte zu Asche. Zurück blieben nur Wollen, Verlangen, schweigendes Rufen und ein Stimmenchor in ihrem Wyrm-Blut. Die Flammen brandeten hoch, rollten über ihre Hüfte und erhellten die Brüste mit glänzendem Schein. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf die segensreichen Dienste des Feuers und redete erst wieder, als ihre Erregung stieg. »Sag es mir«, flüsterte sie leise. »Berichte mir von der Zukunft.« Eine Hitzewoge drückte ihr die Beine weiter auseinander, reichte tief in sie hinein, und sie keuchte vor Vergnügen. Bald werde ich das Patriarchat übernehmen, flüsterte die Stimme aus den Flammen zurück. Der Rückschlag in der Heiligen Nacht war nur vorübergehend. Wenn ich Patriarch bin, werde ich Tristan Steward zum König krönen und auch ihn einnehmen, und zwar kurz bevor die Krone seine Stirn berührt, während er noch der Schwächere von uns beiden ist, und ich werde den alten Körper wie Spreu wegwerfen. Das Feuer brandete wieder auf und drang völlig in sie ein. Sie schrie vor Lust auf. Schließlich wird das Heer mein sein; Roland wird sich mit Sorbold und Gwynwald vereinigen. Wir werden den Berg einnehmen. Dann werde ich das Kind haben. Und dann den Schlüssel. Und dann die Gruft. Und dann die ganze Erde. »Von außen? Aber...« Die Flammen knackten und durchfuhren sie heiß. Sie keuchte wieder auf. Nein, meine Süße, darüber habe ich schon nachgedacht. Selbst du könntest deinem verfluchten Gemahl den Berg nicht gewaltsam entreißen. Der Berg ist sowohl von innen als auch von außen bereits gefallen. Plötzlich pulsierte die Flamme und überflutete sie mit Funken. Die Mittel sind schon in Stellung gebracht. Sie atmete nun flacher, streckte die Arme träge über den Kopf, spürte das Feuer, das sich in Flammenwogen um ihre Brüste ergoss und ihren Hals liebkoste. Ihr ekstatisches Wimmern erstickte die stilleren Worte. Ich brauche deine Hilfe, meine Süße. Sag, dass du es tust. »Wie...« Nein. Das Wort war knapp und kalt. Unter ihm erstarb das Feuer und schwelte nur noch in den wütenden Kohlen. Sie erzitterte heftig unter dem Verlust. Nein, meine Flamme. Frage nicht zuerst nach dem »Wie.« Du hast mir einmal gelobt, zur Erreichung deiner Ziele alles zu tun, was ich von dir verlange, und ich habe die Abmachung eingehalten. Du stehst noch in meiner Schuld, meine Süße. Du wirst mir nichts verweigern. Sag, dass du alles tun wirst, was ich von dir verlange. »Bitte«, flüsterte sie, verloren im Schmerz verwehrter Leidenschaft und im Griff der Ungewissheit. Soges. »Ich werde es tun«, knurrte sie. Die Luft im Raum wurde dünn und lud sich auf; es war ein Zeichen dafür, dass ihr Drachenblut außer Kontrolle geriet. »Aber dann sind alle Schulden beglichen, ja?« Einverstanden. Das Feuer brüllte wieder auf und verschluckte sie. Flammenzungen schössen schlangengleich an alle Stellen, die nach seiner Berührung lechzten. Sie legte sich wieder zurück, mit offenem Mund, keuchend, als die Flammen sie verzehrten und ihrem alten Blut und einsamem Fleisch Lust verschafften. Sie schrie vor Wut und Entzücken auf; Donner rollte durch die blassen Berge, erschütterte die Schneekappen und schickte Lawinen in die fernen Täler. Später, als sie still in den Schatten des flackernden Kamins lag, lauschte sie geistesabwesend den Worten, die das Feuer flüsterte. Sie nickte leicht und bemühte sich, wieder gleichmäßig zu atmen. Ich brauche deine Erinnerungen. »Ich verstehe.« Ylorc, in den tiefen Tunneln Achmed stand verloren an der Kreuzung von fünf Tunneln. Das war gewiss der Ort, zu dem das Schlafende Kind ihn durch die handförmige Karte in der Steinwand seiner Kammer geschickt hatte. Er hatte stundenlang vor dem Gerät in Gwylliams verborgener Bibliothek gestanden, das ihm die Bewegungen der Bolg im ganzen Berg zeigte, und diesen Ort beobachtet, aber nie kam jemand hierher. Er hatte mit unendlicher Geduld dem Apparat gelauscht, der mit den Sprachrohren von ganz Canrif verbunden war, um herauszufinden, was direkt vor seiner Nase geschah. Doch all seine Bemühungen brachten ihn nicht weiter. Als er nun verborgen an diesem seltsamen, handartigen Kreuzweg wartete, fühlte er etwas, das er noch nie gefühlt hatte. Es war eine Art wachsender Verzweiflung darüber, dass das, dem er jetzt entgegentrat, seine Fähigkeiten und Mittel überstieg. Die Kontrolle über diesen Berg zu erlangen war wie der Versuch, den ganzen Rauch eines Buschfeuers einzuatmen. Wie sehr man ihn auch einsog, es entwischten immer wieder Rauchschwaden und zogen zu verlorenen, unbekannten Orten, zu alten cymrischen Landen oder den Zufluchtsstätten der Toten. Und er konnte nicht für immer die Luft einsaugen. Nur ein einziges, durch den alten Tunnel geflüstertes Wort war in all den langen Stunden des Wartens an sein Ohr gedrungen. Es war ein einfaches und zugleich seltsames Wort ohne jede Erklärung, gewechselt zwischen einer Hebamme und einem einfachen, vorbeigehenden Soldaten. Finder. Dennoch war dieses einzelne Wort der Schlüssel. Er wusste es in seinem tiefsten Innern, das den Herzschlag des bolgischen Königreichs spürte und ihm Macht über das Land und seine Bewohner verlieh. Seit er der Herr in dieser verlassenen, von Ungeheuern seiner eigenen Art bevölkerten Ruine geworden war, begriff er das Konzept des Herrschens und der königlichen Autorität in seinem Blut besser. Doch es floss nicht nur in seinem Blut. Achmed spürte es auch in den Nerven, in den Zähnen, im Haupthaar und dem Hautgewebe. Es war sein Volk, und es verbarg ein Geheimnis vor ihm ein so wohl gehütetes Geheimnis, dass es sogar in Gwylliams grenzenloser Bibliothek keinen Hinweis darauf gab. Als er nun an dem Ort wartete, den ihm das Erdenkind genannt hatte, spürte er sie wie Mäuse im Dunkel oder wie das erste Regen von Läusen. Nun begriff er, wie Gwylliam sich gefühlt haben musste, als er versucht hatte, vor dem drohenden Ende den Berg zu retten. Obwohl die Bolg eine veränderliche Rasse waren, gab es gewisse fest stehende Eigenschaften: Sie schätzten Stärke, achteten Kinder, verlangten nach Bewegung, lebten genügsam und reisten mit leichtem Gepäck. Sogar ihre Sprache war ganz Funktion und Tat und besaß nur wenige Objekte. Daher wusste er, dass in jenem Wort Finder eine große Macht lag, die tief und wahrhaftig zu diesem Ort gehörte. Er sollte alles über sie wissen, wusste aber nichts. Außer der Cwellan und einem versteckten Häutungsmesser, das nur Grunthor kannte, trug er keine Waffen. Das Messer hatte eine dunkle, beinahe schwarze Stahlklinge und war ein Abschiedsgeschenk aus der alten Welt. In den meisten Fällen konnte er sich auf seine Fähigkeit des Pfadfindens verlassen, aber nun war er nicht sicher, was er überhaupt suchte. Langsam ging Achmed im Mittelteil der Tunnel auf und ab und lauschte in jeden der Finger hinein, doch er hörte nichts. Zweifellos befanden sich in einem oder mehreren von ihnen die Finder, nach denen er suchte. Sie versteckten sich am Rande seines Bewusstseins, verspotteten ihn, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, wie Kinder, die Blindekuh spielen. Es war nicht mehr wichtig, ob sie diejenigen waren, die seine Waffen an Sorbold verkauften. Wichtiger war, dass sie ein Geheimnis vor ihm verbargen und er sich damit nicht abfinden konnte. Aber er würde sich noch eine Weile damit abfinden müssen. Vielleicht würde er selbst zum Finder werden, wenn Rhapsody mit dem Blut des Dämons zurückkam. Er hatte oft über das Ritual nachgedacht, das er vollziehen würde, sobald sie ihm das Blut abgeliefert hatte. Es musste an einem besonderen Ort stattfinden, der vor Wind und den Augen der Welt geschützt war. Als er die Öffnungen der Hand untersuchte, fragte er sich, ob dies der richtige Ort war. Der beste Ort wäre eigentlich jener unter dem großen Pendel der seit langem untergegangenen dhrakischen Kolonie, wo es keine Möglichkeit des Entkommens gab. Dort hatte er zusammen mit der Großmutter das Bannritual geübt und die Geheimnisse seiner dhrakischen Abstammung gelernt. Er hatte die uranfängliche Kraft erkannt, die ihnen erlaubte, beide Seiten des F’dor festzuhalten, den Mann und den Dämon. Es war eine Fähigkeit, die ihnen von den Gefangenen verliehen worden waren, welche ihr Leben dem Wind zurückgegeben hatten; sie waren aus jenem Wind geboren worden, um Wache über die große Gruft der Unterwelt zu stehen, in der die F’dor eingekerkert gewesen waren. Aber jener Ort war nun versiegelt; es gab keinen Weg, dorthin zurückzukehren, ohne die Sicherheit des Schlafenden Kindes zu gefährden. Bei dem bloßen Gedanken daran spuckte er auf den sandigen Boden. Die fünf Eingänge der Hand zeigten eine gewisse Ähnlichkeit mit der hohen Kammer, in der das Pendel schwang. In gewisser Weise schwollen die hierher dringenden Signale genauso an und ab wie Wasser in unterirdischen Höhlen, das mit den Gezeiten aus der Tiefe abfließt, dann aber wieder zurückflutet, ohne Aussicht auf ein Entkommen. Das hier war der richtige Ort. Die letzte Botschaft, die Rhapsody mit einem Vogel geschickt hatte, hatte den Erfolg ihres Unternehmens angedeutet; sie würde bald nach Hause zurückkehren. Dieser Gedanke war schmerzhaft. Achmed lauschte erneut und eilte dann durch den Korridor, der ihn hierher gebracht hatte. Aus der Ferne sahen ihm die Finder nach; ihre weit aufgerissenen Augen blinkten in der Dunkelheit. 27 Sorbold Der Vergnügungskomplex von Sorbold bildete die größte Häusergruppe im Stadtstaat Jakar und breitete sich bedrohlich am südlichen Ende des Bezirks von Nikkid’saar aus. An Tagen, an denen keine Gladiatorenkämpfe angesetzt waren, lag er mehr oder weniger ruhig da, wenn man von gelegentlichen Versorgungskarawanen und dem Strom der Sklaven und freien Arbeiter absah, deren Bemühungen den Komplex am Leben erhielten. Aber an den Kampftagen erzitterte dieser Teil des Bezirks vor menschlichem und tierischem Leben, wenn Zehntausende die Straßen um die Arena verstopften. Alles wimmelte vor Geschäftemacherei mit dem blutigen Sport, alles bebte vor Aufregung. Rhapsody erkannte, dass Llauron Recht gehabt hatte, was das Schema der Ereignisse anging. Heute war ein Wettkampftag gewesen, und ein gewaltiger Menschenstrom einschließlich des dazugehörigen Lärms und Gestanks floss zurück in die Straßen um die Arena und erfüllte die Gassen mit Gedränge, Geschrei, Gelächter und Gezänk. Es war leicht, in diesem Chaos verloren zu gehen. Das tat Rhapsody mit Vergnügen. Sie verschmolz mit der Menge, bis sie den Eingang zur Arena fand, welcher dem wuchernden Anbau an der Rückseite des Komplexes am nächsten lag. Sie vermutete, dass sich in diesem Anbau die Quartiere der Gladiatoren befanden, und hielt nach einem Ausgang in der Nähe des südlichen Tores Ausschau, wo sie das Pferd zurückgelassen hatte und sich Khaddyr und die Verstärkung mit ihr treffen würde. Rhapsody fand einen geschützten Ort, wo sie warten konnte, während ein leichter Schneefall einsetzte, der die Straßen in Matsch verwandelte und die Stimmung der Menge senkte. Während ihres Wartens sah sie sich aufmerksam um und bemerkte, dass es in der Tat einige Frauen gab, die ähnliche Kleidung wie die trugen, die ihr Mantel verbarg. Im Vergleich schienen die Kleider der anderen dezenter als ihr eigenes zu sein, aber vielleicht lag das nur an ihrem Unbehagen über die enthüllende Art dieser Kostümierung. Außerdem wurden die Frauen, die wie sie angezogen waren, oft in den Komplex hinein und wieder aus ihm Herhausgetrieben, häufig unter Peitschenschlägen. Rhapsodys Blut kochte; sie spürte, wie das Feuer in ihr aufstieg, doch sie schluckte den Ärger über diesen Anblick herunter und wurde nur noch entschlossener. Sie war hier, um den Gladiator zu retten, und nicht, um die sorboldische Kultur zu verändern, so gern sie das auch getan hätte. Die Straßen in der Umgebung der Arena bestanden unter anderem aus Zubringern, die in kleine Innenhöfe führten. In jedem dieser Höfe, durch die Rhapsody gegangen war, hatte sie kleinere Kämpfe inmitten einer lockeren Menge aus Zuschauern, Bauern und Kaufleuten gesehen, die immer dann in besonders laute Freudenrufe ausbrachen, wenn ein außergewöhnlich blutiger Schlag gelandet worden war. Die an diesen Straßenkämpfen Beteiligten schienen manchmal noch Kinder zu sein, Jungen und bisweilen sogar Mädchen von vielleicht neun Sommern, die einander mit so grimmiger Wildheit angriffen, dass der Sieger oft davon abgehalten werden musste, seinen zu Boden gegangenen Gegner auszuweiden. Rhapsody erschauerte, als sich bei einem dieser Kämpfe ein großer Freudenschrei erhob, der von hervorschießendem Blut begleitet wurde. Bei den beiden Gegnern handelte es sich um Jungen, die nicht älter als ihr adoptierter Enkel Gwydion Navarne waren. In den der Arena näher gelegenen Höfen herrschten die Halbprofessionellen; Gladiatoren, die noch nicht für würdig erachtet wurden, in der Arena zu kämpfen, die sich aber in den meisten Fällen schon eine große und ergebene Gefolgschaft unter den Zuschauern errungen hatten. Außerdem wurde überall gespielt; erfahrene Spieler heizten die Menge an und versuchten den Leuten die sorboldischen Goldsteine abzuknöpfen, die sie mitgebracht hatten, um damit in der Arena zu wetten. Im letzten dieser Höfe unmittelbar vor der Gladiatorenarena stand eine hölzerne, von brüchigem Metall gehaltene Waage mit zwei riesigen Scheiben darauf, die groß genug für das Wiegen eines Ochsen war. Rhapsody erkannte das Instrument als eine gröbere Version der Waagen, die in den einzelnen Kampfgruben innerhalb des Komplexes standen. Im Rahmen ihrer Planung hatte Llauron ihr den Sinn dieser Waagen erklärt. Am entscheidenden Punkt eines jeden größeren Kampfes wurde ein Gladiator, der entwaffnet oder verletzt war, durch den Gong des Arenameisters als Towrik oder Angeschlagener ausgewiesen. Dann wandte sich die Menge den gewaltigen Waagen zu und entschied mit ihnen das Schicksal des Kämpfers. Zum größten Teil lag das Land Sorbold auf der windgeschützten Seite der Zahnfelsen, wodurch es dort trocken und unfruchtbar war ein Reich beinahe endloser Sonne und Wüste. Obwohl Sorbold eine dem Patriarchen in Sepulvarta treu ergebene Diözese war, hatte sich hier noch etwas von der Verehrung aus alten heidnischen Tagen gehalten, eine Hingabe an das Gleichgewicht in der natürlichen Welt. In einem Land, in dem die Überbewässerung eines Feldes den endgültigen Verlust der Trinkwasserquellen eines ganzen Dorfes bedeuten konnte, war das Gleichgewicht der Natur eine Sache auf Leben und Tod. So war es auch in der Gladiatorenarena. Beim Klang des Gongs nahm die Menge ihren Gesang auf: Towrik, Towrik, Towrik. Diese Worte hallten dann zitternd durch die ganze Arena, wurden stärker und drängender, wütender, bis die Sitze erzitterten; zumindest hatte Llauron es so beschrieben. Während der Sieger des Kampfes zum Gewinnerthron ging, um dort die Schmeicheleien und Preisungen der Menge und des Adels entgegenzunehmen, wurde der unglückliche Verlierer wie ein Götteropfer in die Mitte der Arena geschleppt und unsanft auf eine der Wiegeplatten geworfen. Je zwei Karrengäule mit angeschirrten Wagen standen zu beiden Seiten des Mechanismus; jede der Wiegeplatten ruhte auf einem Wagen. Nun setzte das Handeln ein. Wenn der Kämpfer ein Sklave und für seinen Besitzer wertvoll war, hielt dieser oft eine Tafel mit einem Angebot für sein Leben hoch. Auf ein Zeichen des Arenameisters hin wurden große, bunte Gewichte, die dem Angebot des Besitzers entsprachen, auf die andere Waagschale gelegt. Anderen Mitgliedern des Adels und schließlich auch der Menge wurde es erlaubt, ihre Angebote für das Leben des Verlierers ebenfalls in die Waagschale zu werfen. Manchmal wurden sogar andere Sklaven, sowohl Männer als auch Frauen, angeboten, besonders wenn der Kämpfer im Ruf der Geschicklichkeit und Nützlichkeit stand. Wenn der Kämpfer ein Freier war, wurden die Lebensangebote der Masse seiner Bewunderer innerhalb der Adelsschicht überlassen, wodurch auf altehrwürdige Weise der hohe Preis der Freiheit versinnbildlicht wurde. Daher zogen es viele der besten Gladiatoren von, in der Sklaverei zu bleiben, obwohl sie genug persönlichen Reichtum und genug Kredit erworben hatten, um sich freizukaufen, denn auf diese Weise erhöhte sich ihre Aussicht, gerettet zu werden, wenn sie sich im Towrik befanden. Constantin war keiner von ihnen. Wenn alle Lebensangebote abgegeben waren, schlug der Gong des Arenameisters erneut, und die Pferde wurden langsam von der Waage weggeführt. In der Arena wurde es völlig still, während die Menge darauf wartete, dass die gewaltige Maschine das Gewicht ermittelte. Wenn die Waagschalen im Gleichgewicht waren oder zum Vorteil des Kämpfers ausschlugen, nahmen die Ärzte der Arena ihn von der dicken Scheibe herunter und führten oder trugen ihn unter Beifall und Hohngezischel fort. Die Hälfte der Lebensangebote wurden beiseite geschafft, um die Schatztruhen des Herrschers zu füllen, dessen Stadtstaat die Arena gehörte, während die andere Hälfte unter Jubelgeschrei dem Sieger zum Geschenk gemacht wurde. Wenn die Waage aber gegen den Verlierer ausschlug, ertönte ein noch lauteres Brüllen aus der Menge. Dann wurde der gesamte Inhalt der Schale dem Sieger geschenkt, und die Vorbereitungen für das Ereignis, auf welche die Menge ihr höchstes Interesse richtete, wurden getroffen. Ein langes Schwert mit einer Sägeklinge wurde so vor die Waage gelegt, dass es von der Herrscherloge aus zu sehen war, während um die Fußknöchel des Verlierers lange Lederriemen gebunden wurden, die ihn an die Pferde fesselten. Dann kippte man ihn von der Schale. Der Arenameister wartete so lange, bis die Waage wieder im Gleichgewicht war, bevor er den Gong ein letztes Mal schlug. Wenn es dem unglücklichen Kämpfer gelang, in der Zwischenzeit zu dem Schwert zu kriechen, konnte er die ihm angebotene Möglichkeit ergreifen und sein Leben auf eine halbwegs ehrenhafte Weise beschließen, indem er sich in die Waffe stürzte. Solche gelungenen Versuche wurden stets von wütendem Zischen begleitet, da sie die gierige Menge ihrer eigentlichen Freude beraubte. Denn wenn der Kämpfer das Schwert nicht erreichte, bevor der Gong wieder ertönte, wurden die Pferde losgebunden, die unter dem taub machenden Lärm umherrasten. Die Menge brach in orgiastisches Geschrei aus, und die Tribünen erzitterten, während der Unglückliche einen schrecklichen und schmählichen Tod erlitt. Oft wurden die Pferde erst dann angehalten, wenn der Kopf des Toten abgerissen und irgendwo liegen geblieben war. Rhapsody schüttelte diese Gedanken ab und stählte ihre Entschlossenheit. Sie wartete auf den richtigen Augenblick, die Arena zu betreten. Als die Nacht hereinbrach, ebbte der Menschenstrom ab. Sie überquerte vorsichtig die Straße und schlüpfte in den Eingang, der sie wahrscheinlich zu ihrem Ziel bringen würde. Als sie drinnen war, drückte sie sich gegen die dunkle Mauer und huschte still durch die stinkenden Korridore, bis sie vor sich hallende Geräusche hörte, die sie als eine Versammlung von Menschen erkannte. Sie nahm rasch den wollenen Mantel ab und zog ihre Stiefel aus, denn sie hatte draußen vor der Arena an den Füßen der Sklavinnen keine Schuhe bemerkt. Sie sah sich einen Moment lang um und entdeckte schließlich eine kleine Nische, wo sie ihre Kleidungsstücke verstecken konnte. Hoffentlich wären sie noch da, wenn sie später wieder nach draußen kam. Dann befestigte sie an ihrem Hüftband den kleinen Beutel mit der Flasche, die Llauron ihr gegeben hatte, um den Gladiator bewusstlos zu machen. Sie bemerkte die Kleider der weiblichen Sklaven. Einige waren sehr enthüllend, wie ihre eigenen, doch öfter sah sie einfache Hemden und Kniehosen. Die Frauen, die diese Kleidung trugen, schienen auf einer höheren Ebene der Ausbildung zu stehen und hatten oft Verbände umgelegt. Rhapsody wünschte sich, sie hätte davon gewusst, doch andererseits kannte Llauron die sorboldische Kultur gut, und sie vertraute seiner Entscheidung. So zog sie den eisgrauen Schleier vor das Gesicht und folgte dem Korridor in den Bauch der Arena, wobei sie über Pfützen aus geschmolzenem Schnee sprang, der durch Risse und Spalten hereingeweht worden war. Je tiefer sie kam, desto bevölkerter wurde der Korridor, bis sie schließlich vor dem unterirdischen Haupteingang zur Arena stand, von dem aus viele Tunnel zurück zu den Unterkünften der Kämpfer führten. Aus der Ferne hörte sie einen tief dröhnenden Gong, dem eine Welle aus Geschrei folgte: Tovvrik, Tovvrik, Tovvrik. Sie eilte den rollenden Freudenschreien voraus, huschte in den Tunnel zurück und floh vor dem schrecklichen Lärm der Lustbarkeit. Eine grobe Liste der Gladiatoren und ihrer Kämpfe war mit Kreide auf die Wand des Gewölbes geschrieben, das in die Eingeweide der Arena führte. Bei jedem Kampf war einer der beiden Namen durchgestrichen. Es war nicht schwer, den von Constantin zu finden. Es war der letzte Kampf am Abend des Hauptprogramms, und wenn sie das Nummernsystem der sorboldischen Sprache richtig deutete, war es der Kampf mit den höchsten Wetten. Sklaven irrten in den muffigen Hallen umher und trugen Essen, Medizinflaschen und Wein, und die Frauen, die wie Rhapsody gekleidet waren, hatten sich in einem pferchartigen Bereich links von dem Durchgang versammelt. Rhapsody zog den Schleier enger um den Kopf und reihte sich in den Strom des menschlichen Verkehrs ein, der sie in den Pferch trug, wo sie hoffte, an der richtigen Stelle zu sein. Einen Moment später wurde ihre Vorahnung bestätigt. Ein kleiner, muskulöser Mann mit ausgedünntem grauem Haar und viel wertvollerer Kleidung, als die Sklaven sie trugen, erschien am anderen Ende des Tunnels. Als er sich näherte, verstummten die Frauen, sahen einander an und warteten ahnungsvoll. Er schlenderte durch den Tunnel, trat in den gewölbten Durchgang und stieg dann einige Stufen zu einem Podest vor dem Pferch hoch, wobei er den Blick abwechselnd auf die Masse der Sklavenfrauen und die Kreideinschriften hinter ihm richtete. Er drehte sich um und rief einem der Diener im Gewölbe etwas zu. Kurz darauf kam ein weiterer Mann den Korridor hinunter und übergab ihm ein Pergamentblatt. Der Sklave verneigte sich respektvoll vor ihm und nannte ihn Treilus. Rhapsody merkte sich den Namen und versuchte hinter den größeren, eifrigeren Frauen zu verschwinden, bis Constantins Name an die Reihe kam. »Ich brauche Heilerinnen für diesen Abend«, kündigte Treilus an. Ihr drehte sich der Magen um, als sie dem Prozess der Auslese zusah. Die meisten Sklavinnen wetteiferten um die Gelegenheit, auserwählt zu werden, und stellten ihren Körper so vorteilhaft wie möglich zur Schau. Rhapsody vermutete, dass es für sie noch schlimmere Pflichten gab. Erinnerungen an ihre eigene, ferne Vergangenheit drohten sie mit einer Art psychischer Galle zu überfluten. Sie kämpfte hart darum, diese Gedanken im Zaum zu halten. Angesichts von Llaurons Naivität wurde ihr übel. Treilus sagte zwar, er suche Heilerinnen, aber sie erkannte einen Zuhälter sofort. Ihr Plan zerplatzte in einem Knall der Verzweiflung. Die Rettung t Constantins war zweitrangig geworden. Nun ging es erst einmal darum, das Kommende zu überleben. Die ersten beiden Kämpfer, für die die Frauen ausgewählt wurden, hatten eindeutig Verbindung zu mächtigen Leuten, denn die Sklavinnen kratzten und balgten sich, um sich selbst am vorteilhaftesten darzustellen. Dann wurde Constantins Name aufgerufen, und das Drücken und Putzen hörte auf. Die Masse der Sklavinnen wurde unheimlich still. Das verhieß für Rhapsody nichts Gutes. Sie schluckte ihre Angst herunter, senkte den Schleier, der Gesicht und Haare bedeckt hatte, und stellte sich ins Blickfeld, als Treilus auf seine Liste sah. Als er den Blick von dem Dokument hob, schaute er sie an. Er erbebte, als er den Mund aufsperrte und sich die Liste vor den Unterleib hielt, um eine plötzliche Veränderung in dieser Körperregion zu verbergen. Sie hoffte, dass ihm seine Aufgabe wichtiger als alles andere war; es war ihr bisher nicht in den Sinn gekommen, dass er nicht nur nach medizinischer Betreuung für seine Gladiatoren, sondern auch nach einem eigenen Vergnügen für den Abend Ausschau halten könnte. Treilus schritt die Stufen herunter und bahnte sich einen Weg durch die Menge der Sklavenfrauen, bis er unmittelbar vor ihr stand. Er wanderte mit den Augen unverfroren über ihren Körper, während er sie umrundete und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtete. Als er wieder vor ihr stand, packte er den Schal, der ihr als Leibchen diente, und zog sie roh zu sich. Er glotzte auf ihre Brüste unter dem dünnen Stoff. Dann ließ er den Schal mit einer kalten, berufsmäßigen Bewegung wieder los und streckte geistesabwesend die Hand aus, um eine ihrer Haarlocken zu untersuchen. Er liebkoste mit den Fingern die goldenen Strähnen und zog sie durch seine Lippen, als schmeckte er sie oder prüfte ihre Weichheit. Anscheinend fand er sie befriedigend, denn er hüstelte und sah zu ihr herunter, während sich Zustimmung über sein Gesicht legte. »Ich kenne dich nicht«, sagte er mit unangenehm hoher Stimme. »Wer bist du? Wem gehörst du?« Rhapsody starrte ihn an und versuchte so auszusehen, als habe sie ihn nicht verstanden. »Sprichst du Altlirin?«, fragte sie in ihrer Muttersprache. Er sprach es eindeutig nicht, aber der ausdruckslose Blick, der bei ihrer Antwort über sein Gesicht huschte, wurde beinahe sofort von einem erfreuten Lächeln abgelöst. »Eine Gefangene!«, sagte er und rieb sich freudig die Hände. »Constantin wird sehr erfreut sein.« Die Sklavenfrauen sahen einander an. Einige wirkten grimmig, andere erleichtert. Treilus winkte nach einem der Diener, der eine Flasche mit einem Öl herbeibrachte und ihm übergab. »Kannst du mich verstehen?«, fragte er mit erregter Stimme. Sie nickte leicht und versuchte, weiterhin ein wenig verwirrt zu wirken. »Gut, dann hör mir zu«, fuhr er fort und reichte ihr die Flasche. Rhapsody steckte sie in den Schal zwischen die Brüste und schenkte ihm ein dümmliches Grinsen. Treilus brach in Gelächter aus und rieb sich wieder die Hände. »Oh, du bist vollkommen«, sagte er und streichelte ihr die Wange. »Man wird dich zu Constantins Raum bringen, wo du all seine Bedürfnisse befriedigen wirst. Bist du in Massage geübt?« Rhapsody nickte eifrig. »Du bist eine Kröte«, sagte sie sanft in bestem Altlirin. »Ausgezeichnet«, rief Treilus aus und wurde noch erregter. »Erinnere dich aber an Folgendes: Was immer du tust, du musst vor morgen früh seine Muskeln an Schultern und Rücken massieren. Morgen Nachmittag muss er in guter Kampfverfassung sein. Wenn er das nicht ist, werde ich dich gnadenlos durchprügeln lassen. Verstehst du das?« »Natürlich. Mögest du mit unaufhörlichem Durchfall gesegnet sein«, antwortete sie und senkte ehrfürchtig den Blick. »Am besten fängst du mit diesem Teil an«, sagte er, während sich ein bösartiger Ausdruck in seine Augen stahl. »Danach bist du vielleicht nicht mehr in der Lage dazu. Geh also und diene ihm gut.« »Ich hoffe, du wirst dafür unter schrecklichen Schmerzen sterben«, sagte sie in ihrer unverständlichen Sprache. »Und ich hoffe, dass ich dir persönlich dazu verhelfen kann.« Sie verneigte sich und folgte dem Diener in den Korridor, der zu den Schlafquartieren der Gladiatoren führte. »Welch ein wunderschönes Geschöpf«, sagte Treilus zu einem anderen Diener. Er stemmte die Faust in die Seite und versuchte die plötzliche Gaswelle zu unterdrücken, die durch seine Eingeweide wehte. »Sorge dafür, dass sie morgen früh in meine Gemächer gebracht wird, wenn Constantin mit ihr fertig ist falls sie dann noch lebt.« Palast des Fürbitters, der Kreis, Gwynwald Es klopfte an der uralten Tür. Llauron schreckte aus seinem Tagtraum hoch. »Herein.« Die Tür wurde geöffnet und Khaddyr blieb auf der Schwelle stehen. Er wirkte ungewöhnlich atemlos. »Ihr wolltet mich sprechen, Euer Gnaden?« Llauron lächelte. »Ja, Khaddyr. Vielen Dank, dass du so schnell gekommen bist.« Der Fürbitter erhob sich aus seinem Sessel und bedeutete seinem Hauptheiler hereinzukommen. Khaddyr gehorchte und schloss die Tür hinter sich. »Hier ist ein Tablett mit Abendessen. Bitte bediene dich.« Khaddyr nickte, nahm aber nichts von den Speisen, sondern hängte stattdessen seinen schweren Wintermantel an einen der Haken neben der Tür. Dann ging er zum Kamin, stellte sich vor den Rost und wärmte sich auf. Der Wind war bitter kalt geworden, und ein Sturm zog auf. Auf der Reise von der Herberge bis hierher waren ihm beinahe die Hände erfroren. Llauron goss sich ein Glas Branntwein ein. »Wie geht es den Patienten?« »Die meisten erholen sich ganz gut, Euer Gnaden.« »Gut, gut. Mir ist besonders am Zustand der Überlebenden des Lirin-Überfalls auf Herzog Stephens Grenzpatrouille heute Morgen gelegen.« »Von ihnen hat keiner überlebt, Euer Gnaden.« Llauron riss überrascht die Augen auf. »Keiner?« »Nein, sie waren offenbar viel schlimmer verwundet, als wir ursprünglich vermutet hatten.« Der Fürbitter sog den Duft des Branntweins ein, nahm dann einen Schluck und ließ sich die Flüssigkeit durch den Mund und über die Zunge gleiten. Dann schluckte er sie herunter. »Sogar diese ... wie heißt sie noch gleich ... diese Cedelia, die nur eine Beinwunde hatte?« »Ja, Euer Gnaden. Sie muss sich entzündet haben.« Llaurons kalte blaugraue Augen verengten sich beinahe unmerklich. »Ich verstehe. Konntest du irgendetwas aus ihnen herausbekommen, bevor sie gestorben sind?« Khaddyr ging zu dem Tablett und nahm sich einen Teller. Er füllte ihn und warf dabei einen Blick zurück auf den Fürbitter, der aus dem Fenster schaute. »Das Übliche, Euer Gnaden. Angeblich wussten sie nicht, warum sie in Navarne waren oder dass sie durch Avonderre gereist sind und an einer solchen Sachte teilgenommen haben. Sie erinnerten sich nur daran, dass sie in Tyrian gewesen waren, und dann wachten sie verwundet auf dem navarnischen Waldboden auf. Ich wünschte, sie hätten mehr gewusst.« »In der Tat.« Llauron ließ sich schwer in seinen Sessel sinken. Khaddyr nahm vor ihm Platz. »Um ein anderes Thema anzusprechen: Wann wollt Ihr Eure Reise beginnen?« Llauron leerte das Branntweinglas. »In etwa einem Monat. Der genaue Zeitpunkt hängt von einigen Umständen ab, die noch nicht geklärt sind. Ich werde dafür sorgen, dass während meiner Abwesenheit alles zu deiner Zufriedenheit laufen wird.« Khaddyr lächelte. »Vielen Dank, Herr. Ich bin sicher, dass alles gut gehen wird, so lange Ihr unterwegs seid. Ich werde mich darum kümmern.« Llauron erwiderte sein Lächeln. »Dessen bin ich mir sicher.« »Stimmt es, was die Wachen gesagt haben? Dass Rhapsody vorhin hier gewesen ist?« Khaddyr rieb sich die Hände, um die Kälte aus den Knöcheln zu vertreiben. Llauron faltete die Hände. Das war höchst interessant, denn sie war durch den geheimen Eingang gekommen. Die Lücke in seinem Sicherheitssystem war breiter, als er vermutet hatte. »Ja«, sagte er. »Sie war hier, um Heilkräuter und Salben für die Krankenhäuser von Ylorc zu holen. Sie ist inzwischen dorthin zurückgekehrt. Es tut mir Leid, dass du sie verpasst hast, aber sie wollte die Bolg keine Minute länger als nötig allein lassen. Anscheinend befinden sie sich mitten in einer schrecklichen Grippewelle.« »Wie schade«, sagte Khaddyr mitfühlend. »Können wir unsere Hilfe anbieten? Ich habe ein paar Schüler, die gerade ihre medizinische Ausbildung beendet haben; Ihr könntet sie mit der nächsten Postkarawane nach Ylorc schicken, damit sie in den Krankenhäusern aushelfen.« Der Fürbitter stand auf und ging zum Tablett mit dem Abendessen. Er nahm sich einen Teller, füllte ihn und versuchte, einen Appetit vorzutäuschen, der ihm völlig vergangen war. »Welch ein freundlicher Gedanke. Ich fürchte aber, dazu ist es zu spät. Sie war sehr aufgeregt. Als sie aus Ylorc fortging, war schon der größte Teil des Heeres erkrankt. Ich fürchte, bei ihrer Rückkehr werden nur noch Reste der Bevölkerung übrig sein. Solche Epidemien sind eine schreckliche Sache, und für primitive Kulturen sind sie sogar noch verheerender.« »Ich verstehe. Es tut mir sehr Leid, das zu hören. Wollt Ihr sonst noch etwas mit mir besprechen, Euer Gnaden?« Llauron drehte sich zum Feuer um. »Nein, nichts Besonderes. Ich wollte dich nur zum Abendessen einladen. Es ist lange her, dass wir ein gutes Gespräch miteinander hatten. Ich vermute, ich wollte nur sehen, wie es meinem alten Schützling geht.« 28 Sorbold Als Rhapsody dem jungen Diener fort von der Arena und in den Teil des Komplexes folgte, in dem sich die Gladiatorenkasernen befanden, ertönte plötzlich hinter ihnen ein Rufen. Einige Sekunden später stürmte ein Mann in verrutschter, doch reicher Kleidung von derselben Farbe, wie Treilus sie getragen hatte, durch den Korridor und drückte sich schnell an ihnen vorbei. Sein Gesicht war von Panik verzerrt. Er rief wieder. Der Diener zog Rhapsody zur Mauer, als der Mann einige Schritte vor ihnen stehen blieb. Er rief noch einmal, und diesmal waren rennende Schritte die Antwort. Zwei Frauen und ein Mann, gekleidet in unterschiedliche Heileruniformen, wie sie Rhapsody seit dem Betreten dieses Komplexes schon mehrfach gesehen hatte, rannten auf ihn zu, hielten an und schauten ernst drein. Sie beredeten sich still auf Sorboldisch. Rhapsody schnappte einige Worte auf Treilus, Gesäß explodiert, Exkrement, Blut , bevor sich die Gruppe eilig umdrehte und an ihr und dem Diener vorbei zurücklief. Sie drückte sich noch dichter an die Wand, damit sie ihnen nicht im Weg stand, und trat erst hervor, als sie hinter der nächsten Ecke verschwunden waren. Eine dumpfe Betäubung breitete sich in ihr aus, als sie begriff, was geschah. Mögest du mit unaufhörlichem Durchfall gesegnet sein, hatte sie zu Treilus gesagt. Es schien, dass sie unbewusst ihre Fähigkeiten als Benennerin bemüht hatte. Sie hatte ihre Beleidigungen zwar nicht wörtlich gemeint, doch ihr Eid, immer die Wahrheit zu sagen, war damit nicht gebrochen worden. Rhapsody erzitterte und erinnerte sich an ihre letzten Worte. Ich hoffe, du wirst dafür unter schrecklichen Schmerzen sterben. Und ich hoffe, dass ich dir persönlich dazu verhelfen kann. Seit sie Achmed zufällig umbenannt und damit von seiner dämonischen Last befreit hatte, war sie sich der Macht ihrer Worte immer schmerzlich bewusst gewesen. Diesmal aber war es ihr entgangen; sie hatte sich von ihrer Wut überwältigen lassen. Und nun starb ein Mann einen schrecklichen Tod wegen ihrer dummen Beleidigungen. Selbst wenn er ein tadelnswerter Mann war, drehte sich ihr der Magen bei diesem Gedanken um. Der Diener wartete, bis der Lärm aus der Gruppe von den riesigen Korridoren verschluckt wurde, und deutete dann auf den Eingang zu den Kasernen. Rhapsody nickte und wandte sich ab, damit sie den Ausdruck des Mitleids in seinen Augen nicht sehen musste. Sie folgte ihm in den Flügel der Kämpfer. Sie hielt den Kopf gesenkt und die Augen auf den Boden gerichtet, während sie gehorsam den Gang entlang lief. Dieser Teil des Komplexes war viel vornehmer eingerichtet als die Höhlen unter der Arena. Hier gab es polierte Böden und mit Messing beschlagene Türen, deren Holz dick und massiv war, und dennoch konnte sie im Vorübergehen gelegentliche Schreie der Lust und des Schmerzes hören. Es waren Laute, die ihr die Kehle zuschnürten. Der Diener blieb vor der Tür am Ende des Ganges stehen und deutete auf sie. Dort war ihr Ziel. Sie sah, wie sich sein mitleidiger Blick in Abscheu verwandelte, und schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Dann scheuchte sie ihn mit einer Handbewegung fort und nickte, um ihm zu zeigen, dass sie wusste, was sie tat. Sie wartete, bis er den Korridor verlassen hatte und außer Sichtweite war. Dann zog sie aus ihrem Hüftband den kleinen Beutel hervor, den Llauron ihr gegeben hatte. Sie entfernte die Flasche mit dem Öl aus ihrem Leibchen, steckte sie in den Beutel, richtete ihr Kleid und berührte den Knoten, der Gesicht und Nacken vom Haar befreite. Sie hielt den Atem an, warf noch einen Blick in die Runde, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete, und klopfte dann an der schweren Holztür. »Herein«, sagte eine Stimme im Zimmer. Ihre Tiefe und Kraft bereitete Rhapsody eine Gänsehaut. Sie öffnete die Tür geräuschlos und spähte in den Raum. Er war geräumig und karg, und eine große Anzahl von Kerzen brannte in vielarmigen Leuchtern. In der Mitte des Zimmers stand ein riesiges hölzernes Bett, und selbst von der Tür aus konnte sie erkennen, dass die Laken aus feinster Seide waren. An den Wänden hingen Waffen und Kriegstrophäen, und schmutzige Wäsche lag in einem Haufen vor dem Bett. Der Gladiator brachte sich in eine sitzende Position. Rhapsody hatte erwartet, dass er kräftig und groß war, aber sie war auf seine wahre Größe nicht vorbereitet gewesen. Er war beinahe so gewaltig wie Grunthor, hatte ungeheure Schultern und eine titanische Brust. Sein Gesicht war überraschend hübsch, und er hatte dunkelblondes, welliges Haar und Augen, die sogar in der Dunkelheit blau wie der Himmel bei Sonnenuntergang leuchteten. Er strömte eine Kraft aus, die den Schweiß auf Rhapsodys Handflächen trieb, aber sie hatte keine Angst, zumindest jetzt noch nicht. Sie wusste nicht, ob es das Dämonenblut in ihm oder nur die Stärke war. Die Verwundbarkeit, die sie in ihrem allzu knappen Kleid empfand, ließ sie frösteln, doch jetzt war es zu spät für einen Rückzug. »Constantin?« Er kniff die Augen zusammen. »Ja?« Rhapsody schluckte und wünschte, sie hätte sich einen anderen Plan ausgedacht. »Treilus schickt mich«, sagte sie und hoffte, dass ihr Sprachgebrauch richtig war. »Er hat mich beauftragt, dir den Rücken zu massieren, wenn du willst.« »Komm herein«, antwortete er knapp. Rhapsody betrat den Raum. Sie spürte, wie seine Blicke über sie wanderten. Selbst von der Tür aus bemerkte sie die Erregung. Sie sah sich in dem Zimmer um und suchte nach einem Fenster oder einem anderen Ausgang, fand aber keinen. »Mach die Tür zu.« Sie tat so, als gehorchte sie, ließ sie aber um Haaresbreite offen stehen. »Komm näher.« Rhapsody holte tief Luft, durchquerte den Raum und hielt einige Schritte vor dem Bett an. Krank machende Erinnerungen wühlten sie auf, doch sie kämpfte sie nieder und versuchte, ruhig zu bleiben. »Setz dich hier hin«, befahl Constantin und deutete neben sich auf das Bett. Die Tiefe seiner Stimme und die Schärfe seines Blicks übten eine zwingende Wirkung auf sie aus. Rhapsody kam näher und öffnete ihren kleinen Beutel. »Ich habe ein Öl, das deine Muskeln besänftigt«, sagte sie und hoffte, ihn damit an das zu erinnern, wozu sie angeblich hier war. »Dann fang mit diesem hier an«, sagte er und schlug das Laken zurück. Er war nackt und hatte eine volle Erektion, dessen Größe zum Rest seines Körpers passte. Rhapsody spürte, wie Ruhe sie überkam. So war es immer, wenn sie in unmittelbarer Gefahr schwebte. Nun war es offensichtlich, dass Llauron sie in die Irre geführt hatte. Sie wollte gern glauben, dass er es nicht absichtlich getan hatte, aber das spielte keine Rolle. Sie verfluchte sich, weil sie so dumm gewesen war zu glauben, dass sie in ihrer Gewandung sicher sei. Sie schüttelte den Kopf und setzte eine verwirrte Miene auf. »Nein, mit deinem Rücken. Ich will deinen Rücken massieren«, sagte sie. »Du hast heute gekämpft, ja?« »Ja«, antwortete Constantin; seine Stimme wurde tiefer. »Setz dich.« Sie kam näher, denn sie wollte ihn nicht verärgern. »Hast du gewonnen?« Er sah sie verachtungsvoll an. »Natürlich.« Sie nickte und blieb einige Schritte vor dem Bett stehen. »Hat es einen Towrik gegeben?«, fragte sie nervös. Constantin lächelte kalt. »Ich lasse nie einen Gegner lebend zurück.« Dann schössen seine Hände mit einer Geschwindigkeit hervor, die der von Achmed glich, und zogen sie auf das Bett neben sich. Er riss ihr den verschlungenen Schal ab, der ihre Brüste bedeckt hatte, und starrte sie an. Sein Blick wurde entspannter und damit noch erschreckender. »Morgen wirst du Treilus sagen, dass er eine gute Wahl getroffen hat«, sagte er mit einem bewundernden Unterton in seiner donnernden Stimme. »Deine Brüste sind wie der Rest deines Körpers: klein, aber vollkommen und begehrenswert. Du bist in Ordnung.« Dann küsste er sie grob. Mit einer Hand umfasste er ihre Schulter, und mit der anderen liebkoste er rau ihre Brüste. Sie spürte, dass seine Erektion noch härter geworden war. Rhapsody dachte nach, als er die Hand auf ihren Bauch legte. Sie konnte ihn töten, wenn es zum Schlimmsten kam, aber sie war sich nicht sicher, ob sie seinem Griff entkommen konnte, so lange er noch lebte. Seine Hände waren so groß, dass er damit ihre Hüfte umschließen konnte, was er nun auch tat. Die Fingerspitzen berührten sich hinter ihrem Rücken und die Daumen vor ihrem Bauch. Er konnte ihr alle Rippen brechen, falls sie ihn wütend machte. Gleichgültigkeit überkam sie; sie blendete alles aus, was im Augenblick mit ihr geschah, damit sie sich besser konzentrieren konnte. Es war ihr nicht möglich, ein Lied zu singen, da er ihr seine Zunge in den Mund gesteckt hatte und den Atem raubte. Sein Griff lockerte sich ein wenig, als er die Hände an ihrem Körper Hochgleiten ließ, ihre Brüste umfasste und sie brutal mit den Handflächen und Fingerspitzen liebkoste, deren Schwielen wohl von vielen Jahren des Waffengebrauchs herrührten. Sie hatte keine Waffe, und es war ihr klar, dass er unempfindlich gegen jeden Schmerz sein würde, den sie ihm bei einem Angriff bereiten konnte. So etwas zu tun wäre dumm. Sie konnte ihre Feuer gegen ihn entfachen, aber das würde ihn wohl töten, und ihr Ziel war es nicht, ihn zu vernichten, sondern ihn zu retten. Ihre Überlegungen führten zu einem Ergebnis, das sie fürchtete. Es war denkbar, dass sie ihre eigene Vergewaltigung nicht vermeiden konnte, wenn sie ihn nicht tötete oder bei dem Versuch sterben würde. Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben. Er steckte ihr eine Hand unter den Rock und erzwang sich den Weg zwischen ihre Beine. Bei seiner Berührung verspürte sie ein seltsames Gefühl, das zu ihrem großen Entsetzen genau dort zu einem Zittern führte, wo seine Finger zur Ruhe kamen. Sie spürte, wie er lächelte, als er ihr weiterhin seine Küsse aufzwang. Er war sich der falschen körperlichen Reaktion bewusst, die er in ihr hervorgerufen hatte, und freute sich darüber. Sie war vertraut genug mit den Elementarkräften, um ihren wahren Grund zu erkennen, aber sie war nicht vertraut mit dem, was er mit ihr machte. Es schien eine Reaktion in ihrem Blut auszulösen, und als sie darüber nachdachte, erkannte sie, dass ihre Vermutung richtig war. Sein Erfolg als Gladiator war einfach zu erklären, wenn auch er an sein Blut gefesselt war wie Achmed es gewesen war. Vielleicht besaß er die Fähigkeit, es seinem Willen zu unterwerfen. Rhapsody keuchte auf, als seine Finger tiefer wanderten und sie streichelten, bis sie die unnatürliche Feuchtigkeit erreicht hatten, die von seiner anfänglichen Berührung herrührte. Er liebkoste sie dort und wollte ihre Erregung in dem gleichen Maße steigern, wie seine eigene stieg. Dann verlagerte er sein Gewicht und versuchte, sie in eine bequemere Lage zu bringen. Wenn ihm das gelänge, hätte sie keine Möglichkeit mehr, ihm zu entkommen. Daher zuckte sie mit aller Kraft vor ihm zurück, rollte blindlings vom Bett und auf den Boden und sprang auf, bevor er sie packen konnte. Sie sah ihn wild an, mit nacktem Oberkörper und gelöstem Haar. Sie dachte kurz daran, ihre Brüste mit den Haaren zu bedecken, doch verwarf diese Idee sofort wieder; vielleicht würde ihn das noch mehr erregen. Auf seinem Gesicht zeigte sich Überraschung, die sich schnell in Wut verwandelte. »Bitte«, sagte sie und tat ihr Bestes, um erschrocken auszusehen, wobei sie sich nicht allzu sehr anstrengen musste. »Das ist nicht das, wozu Treilus mich hergeschickt hat. Ich bin hier, um deine Rückenmuskeln zu massieren. Wenn du später nicht in Kampfkondition bist, wird er mich schlagen. Bitte lass mich tun, weswegen ich hergekommen bin.« Ihre Augen glitzerten unter einigen losen Haarsträhnen, und sie setzte ihr ganzes Geschick ein, damit ihre Stimme flehend klang. Der Gladiator starrte sie an. Seine Wut verschwand, und seine Miene wurde ausdruckslos. Er betrachtete Rhapsody von oben bis unten. »Sehr gut«, sagte er schließlich und rollte sich auf die Seite. »Fang endlich an.« Rhapsody seufzte erleichtert und nahm ihren Beutel. Sie zog die Flasche mit der Flüssigkeit heraus, die ihn bewusstlos machen würde, und trat wieder neben das Bett. »Wenn du dich auf den Bauch drehst, kann ich mich auf deinen Rücken setzen, während ich dir die Muskeln einreibe«, sagte sie und legte die Arme vor ihre Brüste. »Das wäre schwierig; dem steht ein größeres Hindernis im Weg«, sagte er, aber es gelang ihm trotzdem, ihrer Aufforderung nachzukommen. Wie er so auf dem Bauch lag, wirkte er weitaus weniger erschreckend. Rhapsody kletterte auf seinen Rücken und wollte gerade die Flasche entkorken. Schnell wie ein Blitz rollte er sich wieder auf den Rücken, packte sie um die Hüfte und zog sie zu sich, sodass sie mit gespreizten Beinen auf ihm saß. Rhapsody war nun hilflos. Mit einer Hand hielt sie die Flasche und konnte nichts tun, als er ihr den Rest des Kleides vom Körper riss und sie auf seinem Bauch nach unten drückte, bis sie in Kontakt mir seiner Unheil verkündenden, pulsierenden Hitze kam. Er schlang einen Arm um ihre Hüfte. Sie war so klein, dass er sie ganz umfassen und gegen seine Brust drücken konnte. Mit der anderen Hand erforschte er wieder eindringlich die Gegend zwischen ihren Schenkeln, während sein Mund ihren Hals suchte. Sie spürte, wie seine Zunge langsam ihre Kehle hinaufwanderte und zum Halten kam, als sie das Ohr erreicht hatte und in es eindrang. Dann redete er. »Hör mir zu«, sagte Constantin harsch mit tiefer und erregter Stimme. »Du wirst mich jetzt massieren, obwohl ich schon wieder in guter Kampfform bin.« Er fühlte ihre Angst, die nicht länger gespielt war, und das schien ihn noch mehr zu erregen. »Mit deinen Händen kannst du die Muskeln, die ich im Sinn habe, nicht richtig massieren.« Seine Stimme wurde sanfter, beinahe seidig, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Ich werde dich haben. Ich werde dich auf jede Weise nehmen, die ich mir vorstellen kann, und ich bin sehr erfinderisch. Mein nächster Kampf findet erst morgen Nachmittag statt, also haben wir die ganze Nacht bis in den Morgen hinein Zeit. Du hast die Wahl. Du kannst dich entspannen und dich hingeben; dann verspreche ich dir, dass du etwas erleben wirst, was du noch nicht kennst. Vielleicht wirst du es sogar mögen. Oder du kämpfst weiter dagegen an. Ich hoffe, dass du das tun wirst, denn das mag ich noch mehr. Deine Muskeln, die gegen meine kämpfen wer, glaubst du, wird gewinnen? Das ist die Massage, die ich nach jedem Sieg haben will.« Er nahm die Hand zwischen ihren zitternden Beinen fort und drückte sie noch enger an sich, bis seine klopfende Erektion nur noch knapp außerhalb ihres Körpers war. Rhapsody kämpfte darum, ihre Angst unter Kontrolle zu halten. »Ich will nicht kämpfen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Aber du bist zu groß für mich.« Sie meinte es anders, als er es verstand, doch ihre Worte erfreuten ihn. Er drückte ihre Hüfte wieder herunter. Sie keuchte auf, als er einen weiteren neckischen Versuch machte, in sie einzudringen. »Bitte«, flüsterte sie. »Lass mich vorher das hier benutzen. Es wird alles leichter machen. Bitte.« Sie hielt die Flasche hoch. Bitte erlaube es mir, dachte sie. Sie spürte, wie die Kraft des Feuers unter der Oberfläche ihres Bewusstseins loderte und darauf wartete, dass sie entfesselt wurde. Bitte zwing mich nicht dazu, dich zu töten. Sie sah in sein Gesicht; echte Tränen flössen aus ihren smaragdgrünen Augen. Seine grausame Erregung schien sich ein wenig zu legen; er dachte kurz nach und drückte sie dann in eine sitzende Position auf seinen Schenkeln, wobei er wieder nach ihren Brüsten griff. »Sehr gut«, sagte er. »Reib mich ein.« Er schloss den Mund um eine Brust, während sie mit heftig zitternden Händen die Flasche entkorkte. Mit der Zunge umkreiste er die Brustwarze und griff nach der anderen Brust, damit auch sie die Aufmerksamkeiten seiner Lippen spürte. Als er den Kopf hob, um auch die andere Brust in den Mund zu nehmen, hielt er plötzlich inne und sah auf. Auf seinem Gesicht lag ein unangenehmer Ausdruck. Rhapsody wusste sofort, warum er innehielt. Die Flüssigkeit in der nun offenen Flasche verströmte einen harten, strengen Geruch. Llaurons Stimme klang in ihren Ohren. Versuche es so einzurichten, dass er keucht, wenn er es einatmet, dann wirkt es besser. Ich bin sicher, du wirst dir etwas einfallen lassen, Rhapsody. Sie konnte wieder nüchtern handeln. Rasch legte sie den Daumen auf die Öffnung und umfasste die Erektion des Gladiators mit der anderen Hand. Sein besorgter Ausdruck wich der Überraschung und dann dem Vergnügen. Rhapsody würgte ihren Ekel herunter, lehnte sich rasch vor und küsste ihn. Er schloss die Augen und umfasste ihren Kopf mit den Händen, während ihre freie Hand ihn mit einer sinnlichen Technik liebkoste, die sie in einem anderen Leben gelernt hatte. Sie arbeitete rhythmisch und setzte ihre Reize mit großem Erfolg ein. Er löste den Mund von ihr, atmete schwer, umspannte ihren Oberkörper mit den Händen und drückte die Daumen gegen ihre Brustwarzen. Als sie spürte, wie der Druck seiner Hände zunahm, verstärkte sie ihre Bewegungen und hielt ihm die Hand mit der Flasche über den Kopf. Sie versuchte, die stoßenden Bewegungen, die er nun mit dem Unterkörper machte, zu verhindern. Constantin keuchte vor Lust, packte ihre Hüfte und versuchte, in sie einzudringen. Als es ihm gelang, goss sie ihm den größten Teil der Flüssigkeit über den Kopf. Seine keuchenden Laute wurden kratzend, dann würgend, als er nach hinten fiel und auf dem Rücken landete. Sie ergriff ein Kissen und drückte es ihm auf den Kopf, während er kämpfte und sie mit dem Unterkörper in die Luft hob. Seine Finger vergruben sich in ihren Seiten mit einer Stärke, unter der sie aufschrie. Er quetschte die Stellen, die erst kürzlich verheilt waren und von den Dornen der dämonischen Schlingpflanze herrührten, die versucht hatte, Jo in Leben und Tod zu binden. Ekelhafte Geräusche gurgelten unter dem Kissen hervor, dann wurde sein Körper schlaff, und seine Erregung fiel in sich zusammen. Rhapsody blieb noch einen Augenblick auf ihm hocken, weil sie sicher sein wollte, dass die Flüssigkeit wirkte. Dann kletterte sie langsam von ihm herunter. Ihr Körper zitterte heftig. Sie ließ zunächst das Kissen auf seinem Gesicht liegen und nahm es schließlich fort, damit er Luft bekommen konnte. Er hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. Vorsichtig beugte sie sich zu seinem Ohr hinab. »Towrik«, flüsterte sie. »Aber du bist nicht nur in der Arena wertvoll, Constantin. Daher gebe ich jetzt ein Gebot für dein Leben ab.« Immer noch zitternd kniete sie sich neben dem Bett auf den Boden und suchte die Überreste ihres Kleides zusammen. Sie zog es rasch an, wobei ihre Hände so stark bebten, dass es ihr kaum gelang, den Schal umzulegen. Sie warf einen Blick zurück auf Constantin, um sicher zu sein, dass er noch bewusstlos war; dann ging sie zur Tür und lauschte, ob jemand von den Geräuschen ihres Zusammenseins aufgeschreckt worden war. Als sie nichts hörte, öffnete sie die Tür, spähte in den verlassenen Korridor und schloss sie leise wieder. 29 Palast des Fürbitters, der Kreis, Gwynwald Llauron wartete, bis seine Hausdiener sich für den Abend zurückgezogen hatten, bevor er sich zu dem nördlichen Turm des Baumpalastes begab, in dem die Voliere untergebracht war. Llauron durchquerte die labyrinthischen, Holzgetäfelten Gänge des Palastes, hielt kurz an einem rautenförmigen Fenster an und schaute hinaus. Er beobachtete den dunkler werdenden Himmel, in dem der Sturm stärker wurde und durchscheinende Schleier aus Schnee in verzwickten Mustern über die schlafenden Gärten trieben. Weiter draußen in der Dunkelheit schwankten die niedrig hängenden Äste des Großen Weißen Baumes im Wind; die kahlen Zweige zuckten in einem unheimlichen Tanz. Llauron seufzte. Wie immer lag Weisheit in dieser Warnung. Leise öffnete er die Tür zur Treppe des Turms und stieg die alten Stufen hoch, die noch immer so glatt und glänzend waren wie damals zu seiner Kinderzeit. Es war eine glückliche Zeit gewesen. Angesichts der Ereignisse seit damals war es schwer zu glauben, dass es hier einmal Liebe oder etwas Ähnliches gegeben hatte. Die Treppe wand sich über drei Stockwerke hoch zu der runden Voliere, die Gwylliam gebaut hatte, um seine Sperlingspapageien unterzubringen, wenn die Familie im Baumpalast Urlaub machte. Als ihre Kinder noch klein gewesen waren, hatte Anwyn darauf bestanden, die schönen, dunklen Berge von Canrif mindestens einmal im Jahr zu jeweils verschiedenen Jahreszeiten zu verlassen, sodass ihre Söhne einige Zeit am Fuß des Großen Weißen Baumes verbringen, ihn hegen und seine Geschichte lernen konnten, damit sie Achtung vor dem Land ihrer Großmutter, der Drachin Elynsynos, entwickelten, die so lange hier gelebt hatte. Llauron hatte den Baum seit dem ersten Blick geliebt. Es war eine bis in die Tiefen der Seele reichende Hingabe, die während der ganzen Jahre seines Lebens alle anderen Sehnsüchte bis auf eine verdrängt hatte. Er allein begriff die Bedeutung des Baumes und wusste, was es hieß, wenn er unterginge. Doch die Zeit würde kommen, in der Llauron ihn nicht mehr beschützen konnte. Als er die Treppe hochstieg, sah er die Zweige durch die offene Decke der Voliere. Obwohl der Stamm in einer Entfernung von mehreren hundert Fuß auf einer Lichtung stand, war seine Krone so gewaltig, dass die äußersten Zweige bis zum Dach des Palastes reichten und sich mit den Ästen der Waldbäume vermischten, zwischen denen das Gebäude errichtet war. Auch in der Winterkahlheit hoben sich die weißen Zweige von den anderen ab und leuchteten silbrig in der Dunkelheit. Ein winterlicher Luftstoß umwirbelte ihn. Llauron zog die Kapuze seiner grauen Robe enger um den Hals und trat hinaus auf den Boden der Voliere, der mit einem dünnen, frostigen Teppich aus Eiskristallen bedeckt war. Die Käfige umgaben kreisförmig das Innere des Raumes, und die Brutplätze bildeten einen Ring hinter ihnen. Bei seiner Ankunft zwitscherten und trillerten einige der Vögel; sie waren nicht an seine Anwesenheit bei Nacht gewöhnt. Llauron wischte sich den Schnee von den Schultern und antwortete mit einem Gurren. Beim Klang seiner Stimme beruhigten sich die Vögel wieder. Er ging an den offenen Käfigen vorbei, von denen jeder ein Wunder der Tischlerkunst war, das eines der großen cymrischen Bauwerke darstellte, und begab sich in den geschützten Bereich, wo sich sein Schreibtisch und Tintenfass befanden. Dort setzte er sich auf den hölzernen Stuhl, öffnete die unterste Schublade, nahm einige kleine Papierbögen heraus und tastete nach seinen Streichhölzern. Ein warmes Leuchten erschien, als er eines der Hölzer entflammte und die Öllampe unter dem gefrorenen Tintenfass anzündete. Seine Schreibfeder war verschwunden; möglicherweise hatte der Wind, der durch das offene Dach hereinblies, sie fortgeweht. Llauron stand gereizt wieder auf, ging zu den Brutkästen und suchte nach einem Ersatz. »Mit Eurer Erlaubnis, Madame«, sagte er zu einem Raben auf dem Nest, der ihn argwöhnisch anschaute. Er zog eine lose Feder rasch aus dem Nest, weil er den Raben nicht stören wollte, und kehrte zum Schreibtisch zurück, wo er sein Federmesser herausnahm. Nach einigen Schnitten war das Schreibgerät fertig. Er tauchte das Ende in die tauende Tinte, schüttelte den Eisüberzug ab und schrieb in kleinen Buchstaben: An König Achmed von Ylorc Eure Majestät! In großer Sorge habe ich Rs Geschichte über die schreckliche Krankheit gehört, die Euer Volk befallen und Euch auf tragische Weise Eures Heeres beraubt hat. Ich spreche Euch meine Anteilnahme aus und biete jegliche Hilfe an, die Ihr in medizinischer Hinsicht oder bei den Begräbnissen benötigt. Llauron, Fürbitter Gwynwald Zufrieden schrieb er diese Botschaft siebenmal ab und löschte dann die Bögen. Als die Tinte trocken war, blies er die Öllampe aus, rollte die Botschaften zusammen und steckte sie in die Tasche. Er kehrte zu dem Kreis der Käfige zurück und stand einen Moment nachdenklich davor. Jeder Käfig enthielt sowohl Brüter als auch Botenvögel, die darauf abgerichtet waren, zu dem Gebäude zu fliegen, das ihren Käfig symbolisierte. Die Boten flogen heim zu besonderen Käfigen, wo sie gefüttert wurden, sich ausruhen konnten und oft mit einer Rückantwort versehen wurden, während die Brüter nur innerhalb des Bauwerks blieben und für Nachkommen zu sorgen hatten. Der Gebrauch der Brüter hatte eine schändliche Geschichte. Anwyn hatte sie mit großem Erfolg im Krieg gegen Gwylliam eingesetzt, um Krankheiten zu verbreiten oder Giftfläschchen zu verschicken, und in einer scheußlichen Schlacht hatten sie glühende Kohlen getragen, die sie über den Strohdächern von Bethe Corbairs Dörfern abgeworfen und sie völlig niedergebrannt hatten. Diese Waffe war doppelt erfolgreich gewesen, denn Gwylliam hatte die Vögel geliebt und gewusst, dass Anwyn sie nun benutzte, um seine Ländereien zu vernichten. Es war eine beschämende Episode in einer beschämenden Zeit gewesen, und Llauron war froh, dass die Tiere nicht mehr für solche Zwecke eingesetzt wurden, wenngleich das, was er vorhatte, einen ähnlichen Stempel trug. Das Vogelsystem funktionierte gut, wenn es darum ging, wichtige Botschaften an andere Staatsoberhäupter oder religiöse Führer zu schicken, auch wenn es im Winter nicht so verlässlich wie in den wärmeren Jahreszeiten war. Mit der Einsetzung der königlichen Postkarawane, die Achmed vor einiger Zeit eingeführt hatte, war das Vogelsystem in Vergessenheit geraten. Llauron schaute nachdenklich in die Käfige, die bis in die Einzelheiten jeweils einem der herzoglichen Paläste glichen: der Großen Halle von Avonderre; Haguefort, der Festung von Herzog Stephen; dem Hohen Turm, wo Cedric Canderre in der Provinz Hof hielt, die seinen Namen trug; dem Richtersitz von Yarim, der Heimat von Ihrman Karsric, ihrem Herzog; Grünhall, dem Provinzsitz von Bethe Corbair, sowie dem Regentenpalast von Bethania, wo Tristan Steward lebte. Einer der Käfige war ein Modell von Sorbolds Jierna Tal, dem Ort des Gewichtes, wo die großen Gerichtswaagen standen und die verschrobene Königinwitwe mit ihrem Schwächling von Kronprinz lebte. Er vermutete schon seit langem, dass der Wirt des F’dor einer dieser Männer oder jemand von hohem Rang war, doch trotz seiner jahrelangen Suche war es ihm nicht gelungen, ihn zu entdecken. Der Schreibkrampf, den er sich soeben zugezogen hatte, war den Schmerz und die Anstrengung wert, sobald die falsche Nachricht ihr Ziel gefunden hatte, auch wenn diese ersten sieben Vögel nicht die entscheidenden waren. Llauron nahm eine Hand voll Beinhülsen aus dem Regal unter den Käfigen. Still griff er in jedes Haus, wählte brütende Vögel aus, die aus Protest über die Störung ihres Schlafes kreischten und zwitscherten. Llauron kraulte ihnen freundlich den Nacken mit dem Finger und machte sanfte Geräusche, damit sie sich beruhigten. »Es tut mir sehr Leid, deinen Schlaf zu stören und dich aus der Wärme zu nehmen«, sagte er zum ersten Vogel, einer Schneetaube, während er ihr die kleine Büchse an das Bein band. »Aber ich fürchte, es ist unvermeidbar.« Er trug sie vorsichtig zum Fenster, das auf den Großen Weißen Baum hinausschaute, blieb dort einen Moment lang stehen und sah den Schneeflocken nach, die im dunklen Wind tanzten. Dann öffnete er das Fenster, schirmte sich gegen den kalten Luftzug ab, warf den Vogel hinaus in die Nacht und schloss das Fenster schnell wieder. Er wiederholte diesen Vorgang, bis auf jedes der Staatsgebäude ein Brüter zuflog. Dann begab er sich zu dem gewaltigen Käfig, der wie das Gebirgsreich von Canrif aussah. Die Botenvögel in diesem Käfig waren schwarze Mauerschwalben, kleine und zähe Wintervögel mit einer beachtlichen Reichweite, von schlichtem Gefieder und völlig unauffällig. Sie waren sehr verlässlich und häufig für Botschaften an Rhapsody benutzt worden, als sie sich noch in Ylorc aufgehalten hatte. Llauron wählte Oberlan aus, einen Hahn, seinen Favoriten in diesem Nest, und trug ihn zum Fenster. Er sah dem Vogel in die Augen. »Du allein musst deinen Weg ohne Fehler finden, alter Knabe. Kann ich mich auf dich verlassen?« Die Augen des Vogels glitzerten in der Dunkelheit. Llauron lächelte. »Das habe ich mir gedacht. Fliege zu Rhapsodys Voliere. Wer immer dich empfängt, wird dich zwar nicht so verzärteln wie Rhapsody, aber man wird dich willkommen heißen; daran habe ich keinen Zweifel. Firbolg-Gastfreundschaft! Oje! Du Glücklicher.« Er ließ den Boten los und sah zu, wie er eine warme Luftströmung erwischte, dann nach Osten in die Nacht abdrehte und aus dem Blickfeld verschwand. Er wartete so lange, bis er den Vogel nicht mehr im Bereich seines Landes spürte, dann ging er zurück zu dem hölzernen Stuhl und ließ sich erschöpft darauf niedersinken. Der Fürbitter griff in die Falten seiner Robe und holte langsam den Schlüsselring mit Crynellas Kerze hervor. Die kleine Kugel aus Feuer und Wasser glimmerte sanft in der verschneiten Dunkelheit. »Es tut mir so Leid, Rhapsody«, flüsterte er. Sorbold Es schien übermäßig lange zu dauern, Kleidung für den Gladiator zu finden; es war kaum etwas im Zimmer außer einem Seidenhemd und einigen langen Musselinschals, die zu Lendentüchern gebunden waren, wie Rhapsody schließlich herausfand. Schließlich entdeckte sie unter dem Bett eine fortgeworfene Hose und ein schweres Wollhemd sowie ein sorgfältig zusammengelegtes Taschentuch unter einem Ende des geflochtenen Flickenteppichs. Sie hatte Angst, er könnte wieder zu sich kommen, während sie auf dem Boden lag und unter dem Bett nachschaute. Daher blickte sie immer wieder verstohlen auf die stille Gestalt in den zerwühlten Laken. Trotz ihrer Besorgnis blieb er jedoch selbst dann noch bewusstlos, als sie ihn anzog, ihm Hände und Füße fesselte und in das schwerste der Bettlaken einwickelte. Rhapsody zog sein Seidenhemd an und brachte schließlich den Mut auf, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie hoffte, ihn mit dem Kissen nicht verletzt zu haben. Ein Speichelfaden war ihm aus dem Mund getreten. In seiner Starre schien er weitaus weniger erschreckend zu sein als zuvor. Ihr Magen war noch in Aufruhr, und sie atmete flach, um möglichst ruhig zu bleiben. Jetzt war nicht die richtige Zeit, die Kontrolle über sich zu verlieren. Trotz allem, was vorgefallen war, empfand sie Mitleid mit ihm. Mit der möglichen Ausnahme von Treilus hielt sich keiner der Leute aus freiem Willen an diesem Ort auf. Da sie wusste, woher er kam, wünschte sie, dass sie sich unter anderen Umständen getroffen hätten. Dennoch zweifelte sie nicht daran, dass er ihr das Mitleid, das sie für ihn empfand, nicht zurückgeben würde, wenn sie ihn nicht von hier fortbrachte und in die Obhut der Verstärkung gab, die hinter der Grenze auf sie wartete. Mit dem Taschentuch, das sie unter dem Teppich gefunden hatte, wischte sie ihm den Speichel aus dem Gesicht und stand auf. Dabei fiel ein silberner Blitz aus dem Leinen. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben. Es war das Halsband einer Frau, roh aus Silber gearbeitet, ohne Reiz. Vielleicht ein Liebeszeichen von einem Sklavenmädchen? Rhapsody erinnerte sich daran, wie die Frauen still geworden waren, als Treilus seinen Namen ausgerufen hatte, und entschied, dass das sehr unwahrscheinlich war. Was immer es war, es musste warten. Sie steckte das Halsband zusammen mit den Resten der Flüssigkeit in ihren Beutel und schlich wieder zur Tür. Der Gang zu den Quartieren der Gladiatoren war leer und still mit Ausnahme der unterdrückten Schreie, die gelegentlich durch die schweren Türen drangen. Die Bewohner, die in diesem Gang lebten, waren eindeutig mit anderen Dingen beschäftigt und würden sie nicht gehen sehen. Ihre Partnerinnen für diesen Abend verdienten sich gerade ihren Unterhalt und erfüllten die Nacht bisweilen mit übertrieben ekstatischen Lauten, weil sie zweifellos vermeiden wollten, als unwillig zu gelten. Rhapsody erschauerte. Sie eilte hinunter zu den Türen mit den eingelassenen Fenstern zu dem Hof, in dem Khaddyr und seine Soldaten warten sollten. Als sie den Hof erreicht hatte, spähte sie hinaus in die verschneite Nacht. Niemand war dort. Das Fenster reichte vom Boden bis zur Decke und schaute auf einen leeren Hof hinaus, der offenbar den Kämpfern als Übungsplatz vorbehalten war. Der Schnee fiel leicht, als sie die Tür öffnete und auf den gefrorenen Boden trat. Die Pflastersteine stachen ihr in die nackten Füße. Sie krümmte sich und dachte an den langen Marsch zum Treffpunkt, falls die Verstärkung nicht bald eintraf. Nach einigen Minuten wurden ihre Füße gefühllos. Rhapsody ging zurück durch die Tür, schloss sie vorsichtig und hastete wieder in die Quartiere der Gladiatoren. Sie überprüfte erneut Constantins Atmung. Er war noch bewusstlos, lebte aber. Nach einem weiteren vorsichtigen Blick den Gang entlang packte sie das Laken und zog es aus dem Zimmer. Als sie schließlich wieder vor der Tür zum Hof stand, gab es immer noch kein Zeichen von Khaddyr. Ein tiefes Seufzen erklang aus dem Laken, doch der Gladiator bewegte sich nicht. Rhapsody öffnete die Tür. Schnee fegte über ihren beinahe nackten Körper. Nun zitterte sie vor Kälte genauso stark wie vorhin vor Angst. »Sei still«, murmelte sie. »Wenigstens bist du angezogen und hast ein Laken. Ich hätte dich auch in einen Lendenschurz stecken können; dann wüsstet du, wie ich mich jetzt fühle.« Nur der heulende Nachtwind antwortete ihr. Als Rhapsody den Treffpunkt erreicht hatte, waren ihre stechenden Füße von Blut gestreift. Sie verfluchte ihr fehlendes Schuhwerk und wünschte, es wäre ihr möglich gewesen, ihre Schuhe an einem Platz zu verstecken, wo sie sie hätte holen können, doch der Ausgang war mindestens eine halbe Meile von der Arena entfernt, und sie hatte keine Möglichkeit, nach ihnen zu suchen. Khaddyr und die Verstärkung waren bisher nicht eingetroffen, doch Rhapsodys Stute stand noch im selben Dickicht, wo sie das Tier angebunden hatte. Keine Spuren außer denen von den Hufen des Pferdes unterbrachen die geschlossene Schneedecke, die sich seit Rhapsodys Abwesenheit gebildet hatte. Das Tier schien froh zu sein, sie zu sehen. Rhapsody durchsuchte die Satteltasche und holte eine Ration Weizenmehlkuchen hervor, die sie dem Pferd als Entschädigung für das lange Warten gab. Dann zog sie die wenigen Kleidungsstücke heraus, die sie mitgebracht hatte eine Hose und Handschuhe und streifte sie rasch über. Inzwischen war der Schneefall heftiger geworden. Rhapsody beschirmte die Augen und schaute in den dunkler werdenden Himmel. Ein Sturm zog auf. In der Ferne, aus der sie gekommen war, sah sie, wie der Wind auffrischte und die Felder zwischen Sorbold und dem Wald niederdrückte. Die Lichter des Stadtstaates von Jakar blitzten am Rande ihres Blickfeldes auf und verschwanden allmählich, als der Schneefall heftiger wurde. Rhapsody rieb sich die Arme und versuchte, sich warm zu halten. Das Seidenhemd, das sie aus Constantins Zimmer mitgenommen hatte, hielt kaum den Wind und schon gar nicht die Kälte ab. Khaddyr und die Verstärkung sollten schon längst hier sein, dachte sie kläglich, als der Gladiator erneut unter seinem Laken ächzte. Er musste vom Boden verschwinden, ansonsten würde er erfrieren. Sie entdeckte einen starken Baum in dem Wäldchen und führte ihr Pferd zu ihm. Sie wand ein Seil um ihn, schlang es um ihre Hüfte und die des Tieres und hievte Constantins schlaffe Gestalt mithilfe dieses Flaschenzuges auf den Rücken der Stute. Der Gladiator war mindestens dreimal so schwer wie sie. Es gelang ihr gerade noch, ein Unglück zu verhindern, als ihr das Seil aus den tauben Fingern rutschte. Der schwere Körper hätte das Pferd verletzen können, wenn sie das Seil nicht rechtzeitig gepackt hätte. So aber wurde sie eine kurze Strecke auf dem Bauch durch den Schnee geschleift. Schließlich hatte sie ihn sicher untergebracht und wickelte ihn noch fester in das Laken und einige Fetzen, die sie bei sich hatte. Sie gab ihm etwas vom Inhalt ihres Weinschlauches und ihrer Essensration ab, als er ein wenig zu sich kam. Nach dem Essen schickte sie ihn mit dem Rest des Schlafmittels zurück in die Bewusstlosigkeit. Die Dämmerung nahte, und der Schnee mischte sich mit Regen und Eis und brannte auf Rhapsodys nackter Haut. Sie suchte den Horizont ab, sah aber weit und breit niemanden herankommen. Der schreckliche Gedanke, den sie die ganze Nacht über verdrängt hatte, fand nun neue Nahrung in ihrem Herzen. Vielleicht würde Khaddyr überhaupt nicht kommen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Sie hatte keine nennenswerten Vorräte an Essen und Wasser, und sie waren den Elementen derart ausgesetzt, dass keiner von ihnen die Kälte lange überleben würde. Rhapsody benutzte ihre Feuermacht, um sich und ihren Gefangenen zu wärmen, doch nach Sonnenuntergang forderte der eisige Wind seinen Tribut, und ihre Kraft verebbte. Als schließlich ein ganzer Tag vergangen war, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie auf sich allein gestellt war und das auch bleiben würde. Sie hatte keine Ahnung, ob ihre Verstärkung überfallen oder getötet worden war oder sich nur verirrt hatte, doch nun konnte sie nicht länger warten. Sie wusste, dass Llauron sich um ihr pünktliches Eintreffen gekümmert hatte; also waren sie sicherlich nicht mehr in der Lage, ihr zu helfen. Rhapsody überprüfte ihre winzigen Vorräte sowie die verbliebene Ausrüstung und zog die Riemen fest, mit denen sie den Gladiator auf das Pferd gebunden hatte. Sie dachte daran, wie ihre Mutter immer darauf bestanden hatte, dass sie einen Ersatzschal mitnahm, wohin sie auch ging. Dieser Rat stellte sich nun verspätet als richtig heraus. Der Wald war ihr unbekannt; sie hatte erwartet, sich für den Rückweg nach Tyrian auf Llaurons Männer verlassen zu können. Vielleicht waren sie und Ashe hier vor langer Zeit durchgereist. Falls das stimmte, würde sie möglicherweise auf dem Weg die Orientierung wieder finden. Jedenfalls konnte sie nicht länger an diesem Ort bleiben. Sie gab der Stute einen geschnalzten Befehl und ritt in den dichter werdenden Schnee und den Wind hinein. Ihre Füße wurden taub, und ihr Herz sehnte sich nach Oelendras knisterndem Kamin und der Wärme, die sie dort finden würde. 30 Haguefort, Provinz Navarne Es war ein langer, schwieriger Tag gewesen. Ein bitterkalter Wind hatte Hagueforts hellbraune Steinmauern und Fenster fast eine ganze Woche lang umtost, Herzog Stephens Kinder in der Festung eingeschlossen und dafür gesorgt, dass die großen Winterfeuer andauernd in Gang gehalten werden mussten. Die Luft im Schloss war beißend vom Rauch, und das Atmen fiel schwer. Dass heute zufällig der Geburtstag des schon vor zwanzig Jahren verstorbenen Gwydion von Manosse war, machte das Atmen kaum leichter. Die Trauer bei der Erinnerung daran, wie er seinen Kinderfreund vor so langer Zeit zerschmettert und blutüberströmt auf dem Gras unter dem ersten sommerlichen Vollmond gefunden hatte, bedrückte Stephen und öffnete ihm die Türen für das Gefühl des Verlustes, das er auch bei Lydia empfand und das wie Ziegelsteine auf seiner Brust lag. Er brachte Melisande ohne das übliche Wiegenlied zu Bett, gab Gwydion ohne das gewohnte Gespräch einen Gutenachtkuss und berief sich dabei auf seine hämmernden Kopfschmerzen. Gegen Mitternacht erstarb der Wind, und Stephen entschied, für einen Moment hinaus in die Kälte zu gehen. Er öffnete die Balkontüren, trat nach draußen und drückte sich gegen die Wand, als ein beißender Windstoß hereinfuhr und ihm Hände und Gesicht gefühllos machte. Trotz der Kälte war die Luft süß und rein, als er sie einatmete, doch noch immer schmeckte er Reste von Rauch, der aus den vielen Kaminen des Schlosses aufstieg. Die Leuchttürme waren dunkel; die Lampenanzünder hatten es aufgegeben, die Lichter in diesem Wind immer wieder zu entzünden, und daher war es im Hof unter ihm finsterer als gewöhnlich. Stephen erkannte die Gebäude dennoch: den Stall und die Kasernen, die niedergebrannt und wieder aufgebaut worden waren Schäden eines unerklärlichen Bauernaufstandes im vergangenen Frühling , und das cymrische Museum, das den Hof an der Nordseite begrenzte und dessen massive Steinwände zwar von Ruß geschwärzt, aber ansonsten unbeschädigt waren. Alles schien ruhig zu sein, als ob der Wind Welt und Zeit eingefroren hätte. Dann sah er es. Zuerst glaubte er, es sei nur eine Einbildung, ein bläuliches Schimmern, das einen Moment lang im einzigen Fenster des Museums aufblinkte und rasch wieder verschwunden war. Stephen blinzelte das Wasser fort, das der stechende Wind ihm in die Augen getrieben hatte. Es war da gewesen; er war sich sicher. Schon wieder. Stephen überquerte den vereisten Balkon, zog sein Hemd enger um sich und rutschte über den Schnee, der zwischen den Steinen des erhöhten Bodens gefroren war. Er stand am Geländer und starrte hinunter. Er war ganz sicher, dass er es gesehen hatte. Da war es. Es würde lange dauern, zum Museum zu gehen, denn dafür musste er die Festung durchqueren. Stephen verwarf diesen Gedanken und kletterte behutsam über das Geländer auf die oberste Stufe der äußeren Wendeltreppe, die von dem halbkreisförmigen Balkon hinunter in den Hof führte. Er eilte die Stufen hinab und über die Schneehaufen hinweg, die der Wind auf ihnen angehäuft hatte. Als er den Hof durchquert hatte, stachen ihm die Beine vom Waten durch die knietiefen, Eisverkrusteten Schneeverwehungen. Seine Ohren und Hände schrien in stummem Protest auf, als der Wind wieder einsetzte. Die Museumstür war verschlossen, und es gab keine Anzeichen von Licht, sei es blau oder hell, im einzigen Fenster des Gebäudes, einer halbmondförmigen Scheibe über einer Tür im ersten Stock. Stephen tastete mit Händen, die vor Kälte zitterten, nach seinem Schlüssel. Als er den großen Messingschlüssel an seinem allgegenwärtigen Bund gefunden hatte, steckte er ihn rasch in das rostige Schloss und drehte ihn um. Die Tür ächzte unwillig, als er sie aufdrückte, doch ihr Jammern wurde bald vom Wind verschluckt. Stephen eilte nach drinnen und zog die Tür hinter sich zu. Das fensterlose Erdgeschoss erinnerte eher an ein Mausoleum als an einen Ausstellungsraum von Artefakten. Es war zu einer Zeit errichtet worden, als cymrische Abstammung beschämend war oder man zumindest nicht mit ihr prahlte. Viel hatte sich seitdem nicht verändert. Die Bevölkerung des Kontinents hatte unter dem Krieg zwischen Anwyn und Gwylliam schwer gelitten und daher wenig Verständnis für die Abkömmlinge all jener, die den Herrschern treu ergeben gewesen waren und so viel Vernichtung nicht nur über sie selbst, sondern auch über die Nachbarvölker gebracht hatten. Aus zwei Gründen war das Museum ohne Fenster gebaut worden. Der erste bestand darin, die historischen Schätze vor den Einwirkungen der Sonne zu schützen. Der zweite bestand darin, sie vor rachsüchtigen Barbaren zu bewahren. Als Stephen nun einen Blick auf die Ausstellungsstücke warf, verstand er den Drang der nichtcymrischen Bevölkerung, all dies zu zerstören, und gleichzeitig auch den Drang der cymrischen Abkömmlinge, ihre Abstammung zu verheimlichen. Die düster dreinblickenden Statuen und Bruchstücke cymrischer Geschichte hatten ihn seit seiner Jugend begeistert, doch für andere mochten es Überreste aus einer Zeit der Prahlerei sein, in der die Leute mit Kräften begnadet waren, die sie nicht verstanden und die sie verführten, sich selbst als göttergleich anzusehen. Angesichts der Zerstörung, die ihre einst so große Zivilisation über die Welt gebracht hatte, war dieser Groll verständlich. Verständlich, aber traurig. Stephen betrachtete sein historisches Werk: die sorgfältig geschützten Artefakte, die genauen Reproduktionen alter Manuskripte, die polierten Statuen Ausstellungsstücke, die liebevoll präsentiert waren, aber von niemandem besichtigt wurden. Dem cymrischen Zeitalter wohnte eine Großartigkeit inne, die niemand außer einem Historiker würdigen konnte; es lag ein Funke von Genialität und Erregung darin, ein tiefes Interesse am Leben selbst und seinen Möglichkeiten, mit dem Stephen seit seiner Geburt gesegnet war und das er noch immer in seinem Blut spürte, sogar im Angesicht der Traurigkeit und Verrücktheit seines eigenen Lebens. Über seinem Kopf polterte etwas auf den Steinboden. Stephen fuhr zusammen. »Wer ist da?«, rief er. Ein blaues Licht antwortete ihm. Es erfüllte die Treppe am hinteren Ende des kleinen Gebäudes. Stephen ging rasch zu einem der Waffenständer und ergriff ein Breitschwert es war die Waffe, die Faedryth, der König der Nain, auf der letzten cymrischen Versammlung im großen cymrischen Gerichtshof getragen und dort zurückgelassen hatte. Es hieß, dass Faedryth das Schwert voller Abscheu in die Schale des Gerichtshofes geworfen und damit auf ewig seine Bande und die seines Volkes zu der cymrischen Dynastie durchschnitten habe. Danach war er mit seinen Untertanen in Länder jenseits von Hintervold gezogen. Langsam näherte er sich der Treppe, wo das Licht nun in Wellen herunterwogte. »Wer ist da?«, wollte er erneut wissen. Wie zur Antwort wurde das Licht heller, zwingender. Stephen kamen die gewaltigen Glasblöcke in Erinnerung, die in den Wänden der großen Seebasilika Abbat Mythlinis steckten, in der er oft betete. Die Glasblöcke waren unterhalb des Meeresspiegels eingelassen, sodass man das Wasser durch die Wände des riesigen Tempels sehen konnte. Es erfüllte die Basilika mit einem verschwommenen blauen Licht, das in Wellen über die Betenden hinwegrollte. Er schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, und ging langsam und schweigend die Treppe hoch. Am oberen Ende glitzerte die Kupferstatue der Drachin Elynsynos in dem azurnen Licht; die Juwelen und Vergoldungen blinkten gefährlich. Stephen bückte sich und behielt seine Deckung. Dann verschwand das Licht. »Hallo Stephen.« Die sanfte und entfernt vertraute Stimme kam aus der hinteren linken Ecke des Raumes. Beim Klang seines Namens richtete sich Stephen auf und betrat mit dem Königsschwert in der Hand das erste Stockwerk. Eine Gestalt in Mantel und Kapuze stand in der Dunkelheit des Raumes und betrachtete die kleine Ausstellung, die Stephen aus den Habseligkeiten des Gwydion von Manosse zusammengetragen hatte. Der Mann fuhr sanft mit der Hand über das bestickte Tuch, das den Tisch bedeckte. Die Finger kamen auf dem Gestell mit den jungfräulichen Votivkerzen zur Ruhe, das vor der Ausstellung stand. »Geburtstagskerzen?« Die Stimme der Gestalt war warm und enthielt eine Spur von Neckerei. Stephen packte das Schwert fester und hob es ein wenig. »Erinnerungskerzen. Wer bist du? Wie bist du hier hereingekommen?« Der Mann wandte sich ihm zu. »Zuerst zur zweiten Frage. Ich bin mit dem Schlüssel hereingekommen, den du mir gegeben hast.« Stephen trat näher. »Lüge. Außer mir hat niemand einen Schlüssel. Wer bist du?« Der verhüllte Mann seufzte. »Vielleicht kein Lebender.« Er hob die Hände und nahm die Kapuze ab. »Ich bin es, Stephen. Gwydion.« »Entferne dich, oder ich hole die Wachen.« Stephen trat einen Schritt zurück und tastete nach dem Treppengeländer. Ashe packte den Schwertgriff und zog die Waffe aus der Scheide. Kirsdarkes blaues Licht strömte still hervor und glitzerte in Wellen wie fließendes Wasser. Es beleuchtete seine Haare und sein Gesicht, die eine Spur von Kupfer in das Blau mischten. »Ich bin es wirklich, Stephen«, sagte er sanft und nahm eine passive Haltung ein. »Und ich lebe tatsächlich noch, teils dank deiner Dienste an dem Tag, als du mich auf dem Waldboden gefunden hast.« »Das ist unmöglich«, murmelte Stephen. Der Schock hatte ihn betäubt. »Khaddyr ... Khaddyr konnte dich nicht retten. Du bist gestorben, bevor ich mit ihm zurückgekommen bin.« Ashe stieß einen Seufzer des Unbehagens aus und fuhr sich mit der Hand durch die kupfernen Locken. »Es tut mir Leid, dass man dich belogen hat, Stephen. Man kann es einfach nicht hinreichend erklären.« »Verdammt richtig!«, rief Stephen, warf das Nain-Schwert auf den Boden und zuckte zusammen, als es klappernd auf dem Stein aufschlug. »Du lebst? Seit all den Jahren? Welch ein ekelhafter Scherz war das?« »Eine Notwendigkeit, fürchte ich«, sagte Ashe sanft. Das schmerzverzerrte Gesicht seines Freundes bedrückte ihn tief. »Es ist kein Scherz, Stephen. Ich habe mich versteckt gehalten.« Und das weißt du, falls du der Wirt des F’dor bist, flüsterte seine Drachennatur misstrauisch. »Vor mir? Du konntest nicht einmal mir vertrauen? Du hast es zugelassen, dass ich die ganzen Jahre über geglaubt habe, du seiest tot? Möge die Leere dich holen!« Stephen drehte sich wütend um und machte sich daran, die Treppe hinunterzulaufen. »Das hätte sie beinahe getan, Stephen. Manchmal weiß ich nicht, ob es ihr nicht schon gelungen ist.« Der Herzog von Navarne hielt inne. Er sah zurück auf den Umriss seines Freundes, der in den blauen Schatten stand. Sein Blick glitt an der wässerigen Klinge entlang. »Kirsdarke«, sagte er mit brechender Stimme. »Ich habe es Llauron gegeben, nachdem du ... nachdem er mir gesagt hat, dass...« »Ich weiß. Vielen Dank.« Stephen kam zurück in den ersten Stock und rieb sich linkisch die Hände. »Ich hatte Angst davor, es an mich zu nehmen, und noch mehr Angst davor, es dort zurückzulassen, wo du so schwer verwundet gelegen hast«, sagte er langsam. Innerlich krümmte er sich vor den Bildern seiner Erinnerung. »Ich ... wir ... hatten immer Witze darüber gemacht, dass ich es dir stehlen würde, sobald du es errungen hättest...« Ashe ließ das Schwert fallen und lief auf seinen Freund zu. Sie trafen sich auf halber Strecke in einer verzweifelten Umarmung. Stephen zitterte vor Schock, und Ashe verfluchte wieder einmal sich selbst und seinen Vater. »Es tut mir Leid«, flüsterte er und drückte die breiten Schultern des Herzogs. »Ich hätte es dir gesagt, wenn es mir möglich gewesen wäre.« »Möge der All-Gott mir verzeihen, weil ich seinen Segen verschmäht habe«, antwortete Stephen und gab die Umarmung zurück. Er löste den Griff von seinem Freund und ging durch das wabernde blaue Licht zu der Stelle, wo das Schwert lag. Er bückte sich, hob es auf und gab es Ashe zurück. Ashe nahm es an sich und steckte es in die Scheide, wodurch er das Licht wieder löschte. »Komm mit mir in die Festung«, bat Stephen und drehte sich nach der dunklen Treppe um. »Hier drinnen ist es so kalt wie in einer Hexenzitze. Wir setzen uns vor den Kamin und ...« »Ich kann nicht, Stephen.« »Musst du dich immer noch verstecken?« »Meistens.« Ashe ging zurück in die Ecke und betrachtete wieder die Dinge auf dem Tisch. Rhapsody hatte sie einmal einen Schrein genannt; nun verstand er den Grund für diese Bezeichnung. Abgesehen von dem Altartuch und den Kerzen befanden sich hier die letzten Dinge, die er an jenem Tag bei sich gehabt hatte, als er dem Dämon gefolgt war: der goldene Siegelring, ein zerbeulter Dolch und das Armband, das Stephen ihm in seiner Jugend geschenkt hatte. Es bestand aus geflochtenen Lederbändern, die an einer Seite aufgerissen waren. An der Wand hinter dem Tisch hing ein Messingteller, der fein verziert und mit seinem Namen versehen war. Seine Drachensinne bemerkten, dass dieser Teller im Gegensatz zu den anderen im Museum nicht angelaufen war. »Warum? Warum zeigst du dich mir jetzt?« »Vielleicht weil heute mein Geburtstag ist«, meinte Ashe scherzhaft. Doch sein Lächeln löste sich zu etwas Dunklerem auf. »Ich verstecke mich nicht mehr so wie in den letzten zwanzig Jahren. Ich habe in dieser Zeit niemandem mein Gesieht gezeigt, Stephen, nicht einmal Llauron. Jetzt überlege ich sehr genau, wann und wem ich mich offenbare. Der Dämon sucht zweifellos noch immer nach mir. Ich will derjenige sein, der den Zeitpunkt auswählt, wenn ich entdeckt bin.« »Ich erinnere mich daran, Berichte über deine Erscheinung gehört zu haben, einige sogar vor kurzer Zeit, aber ich habe sie als Gerüchte und Legenden abgetan.« Ashe erzitterte. »Es war keins von beiden, fürchte ich. Aber ich war es nicht.« »Kannst du mir sagen, was passiert ist?« »Deswegen bin ich heute Abend hergekommen. Jawohl.« Zum ersten Mal lächelte Stephen. »Das glaube ich dir nicht«, sagte er gut gelaunt. »Du hast bloß gehofft, ein Stück vom Geburtstagskuchen und ein gutes Tröpfchen zu schnorren. Komm, ich bringe dich unbemerkt in die Festung. Wir können durch die Stallungen zum Weinkeller gehen. Vielleicht finden wir auf dem Weg etwas, womit wir deinen Geburtstag feiern können.« 31 Rhapsody spürte ihre Füße nicht mehr. Der beißende Schnee hatte sie völlig betäubt. Wie viele Tage und Nächte sie bereits hier draußen war, wusste sie schon nicht mehr. Sie wusste nur, dass ihre Kraft verebbte und ihr Ziel nirgendwo in Sicht war. Sie hatte keine Ahnung mehr, wo sie sich befand. Der Wind umkreischte sie, und der Wald dehnte sich unendlich vor ihr aus. Baumgruppen und Unterholz verschmolzen zu gleichartigen Bäumen und Büschen, bis die Landschaft in einem weißen Wirbel aus krank machender Verwirrung verschwamm. Rhapsody war erschöpft und hatte sich verirrt. Sie versuchte, ihren Standort durch die Sternbilder zu bestimmen, wie ihr Großvater es ihr beigebracht hatte, doch die Sterne wären ihr fremd gewesen, selbst wenn sie sie durch den heraufziehenden, alle Sicht nehmenden Sturm hätte erkennen können. Der Gladiator versuchte nicht einmal mehr aufzuwachen; sie dehnte all ihre schwindende Feuergabe auf ihn aus, damit er auf dem Pferderücken nicht erfror. Schließlich konnte sie nicht mehr weitergehen. Sie sank im Schnee auf die Knie; die scharfe Eiskruste stach ihr in die Beine. Die Haare flatterten im Wind, und sie beobachtete ihren Tanz vor den Augen. Sie waren wie Zweige eines goldenen Baumes, der sich in demselben Wind wiegte wie die peitschenden Arme des Waldes. Der Wind biss ihr in die Ohren; sein Heulen war ein fließender Ton, der von Schlaf und dunklen Träumen sang. Und von etwas anderem. Es lag Macht im Wind Macht, die sie erkannte. Dann fiel er ihr ein der Blutsverwandtenruf, den Oelendra ihr beigebracht hatte. Rhapsody rollte sich zusammen, legte den Kopf auf die Schenkel und versuchte, das eindringliche Kreischen um sie herum auszublenden. Ihr Atem schenkte ihr keine Wärme mehr. Sie steckte die Hände unter die Arme, damit sie sich konzentrieren konnte, und suchte in dem Geheul und Gebrüll nach dem einzelnen Ton, die ihren Hilfeschrei zu den Brüdern des Windes tragen würde. Schließlich fand sie ihn; es war der klare, ruhige Ton unter all dem Aufruhr, der beständig summte, während der Wind aufbrauste und abebbte. »Beim Stern«, flüsterte sie mit einer Stimme, die vor Kälte brüchig war, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.« Der Sturm um sie herum wurde unmerklich schwächer, und der stille Ton klang nun ehrlicher. Rhapsody nahm all ihre Stärke zusammen. »Beim Stern«, sang sie erneut mit den Worten ihres Geburtsortes und in der Sprache ihrer Kindheit, wobei sie beständig lauter wurde, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.« Der Ton klang jetzt klar und hell und sank schließlich zu einem summenden Atmen herab, kleidete sich in den Wind und verschwand in der Nacht. Rhapsody lauschte ihm, als er verwehte, und betete, die Hilfe möge eintreffen, doch ihr Herz erinnerte sie daran, dass der Stern, bei dem sie geschworen hatte, nun den Himmel über dem Meer in einer anderen Welt erhellte. Der Ort, an dem der Wind lebte, der den Ruf der Verwandten beantwortet hatte, war schon lange unter den Wellen verschwunden. Doch vielleicht würde Oelendra ihn hören. Nur um sicher zu sein, sang sie den Namen ihrer Lehrerin und schickte ihr sowie den Kindern und Freunden Liebesbotschaften. Ashe erwähnte sie dabei nicht, denn sie hatte Angst, er könne kommen. Die Zeit verging ohne Eile und Besonderheiten. Das Pferd zitterte und versuchte sich warm zu halten, indem es umhertrottete. Rhapsody griff nach dem Zügel und packte daneben. Sie fiel mit der Brust voran auf den gefrorenen Boden. Als sie sich mit den Händen wieder aufrichtete, glaubte sie, den Umriss eines anderen Pferdes am Rande ihres Blickfeldes zu sehen, das am Horizont zwischen den schwarzen Bäumen hindurchhuschte; dann war es verschwunden. Der Schnee verhärtete sich, als die Temperatur noch stärker fiel. Die weichen Flocken verwandelten sich in Eiskristalle und flirrten durch die Luft, als die Windstöße heftiger wurden. Sie stachen Rhapsody ins Gesicht und blendeten sie. Nun konnte sie nicht einmal mehr sehen, wo sie war. Rhapsody versuchte voranzukommen; sie rutschte auf den Knien neben das Pferd. Das Gesicht ihres Vaters tanzte vor ihr, er rief ihren Namen, und Wärme stieg herab. Sie wusste nun, dass sie schon bald erfrieren würde. Die Gestalt schien sich in ihre Richtung zu bewegen. Offenbar war es ein großer, breitschultriger Mann mit fließenden Umrissen, die im kreischenden Wind flatterten. Er kam ohne die Schwierigkeiten voran, die sie behinderten. Die Gestalt schien zu wallen. Rhapsody bemerkte, dass der Grund dafür das heftige Zittern war, das ihren Körper befallen hatte. Sie kämpfte darum, wach zu bleiben, war aber schon in einen Zustand der Benommenheit gefallen, gegen den sie nicht mehr ankämpfen konnte. Sie streckte einen zitternden Arm aus, um das Pferd zu berühren, und griff gleichzeitig nach dem Bein des Gladiators. Es war noch warm unter der schützenden Schicht aus Laken und Mänteln. Sie zwinkerte wiederholt, um einen klaren Blick zu behalten. Falls der herannahende Mann sie bedrohen sollte, würde sie das Pferd mit dem letzten Rest ihrer Feuer und Benennergabe antreiben und nach Hause schicken. Rhapsody streichelte entschuldigend das muskulöse Bein und wusste, dass ihr Versuch, ihn zu retten, fehlgeschlagen war. Als die Dunkelheit hereinbrach, betete sie, dass sie ihn nicht an einen schlechteren Ort als den geführt hatte, an dem er vorher gewesen war. »Rhapsody?« Die Dunkelheit verdichtete sich, während die junge Frau um ihr Bewusstsein kämpfte. Sie glaubte, der Wind rufe ihren Namen. Dann knirschte der Schnee, als die Gestalt schneller herankam, und Rhapsody hörte wieder ihren Namen, während eine beißende Bö ihr um die Ohren peitschte und in ihrem Kopf widerhallte. »Rhapsody? Götter, bist du das?« Nun war die Stimme deutlicher und tief. In ihrer zunehmenden Bewusstlosigkeit erkannte Rhapsody sie, doch sie wusste nicht mehr woher. Die Stimme zitterte und dehnte sich aus, und Rhapsody wurde schwindlig. Sie versuchte aufzustehen, stellte aber fest, dass sie keine Gewalt mehr über ihre Beine und nicht einmal mehr Gefühl in ihnen hatte. Sie griff nach dem Zaumzeug des Pferdes und hielt sich daran fest. Mit der Hüfte scheuerte sie über den Boden, als das Tier wegen der Gewichtsverlagerung herumtänzelte. Dann stand er über ihr, zerrte sie auf die Beine und aus dem Schnee. Mit ihrem verschwommenen Blick erkannte sie, dass sie einem Kettenhemd aus schwarzen und silbernen Ringen gegenüberstand. Darüber trug die Gestalt einen schwarzen Umhang, der ihr vertraut erschien, auch wenn sie ihn weder einordnen noch entscheiden konnte, ob sie sich in Gefahr befand oder nicht. Ihr Blickfeld schwankte wieder, als er mit einer Hand ihren Oberarm losließ. Sie spürte, wie sein Umhang sie in einer Kreisbewegung aus weißem Schnee und schwarzer Wolle einhüllte und ihren gefühllosen Körper mit einer Wärme beschenkte, die noch vor einem Herzschlag die seine gewesen war. »Criton! Bei allen Blutsverwandten, du bist es! Was im Namen alles Guten machst du hier draußen? Du bist beinahe nackt. Ich weiß, dass du nicht helle bist, aber ich hatte nicht gewusst, dass du verrückt bist. Oder willst du dich umbringen?« Rhapsody versuchte durch ihre vom Frost verklebten Wimpern zu blicken, aber sie konnte sein Gesicht nicht deutlich erkennen. Flecken aus Licht und Dunkelheit lagen darüber, als ob er einen Bart trüge, und seine Augen hatten dieselbe Färbung wie die von Ashe, aber keine vertikalen Pupillen. Er hielt sie vor sich über dem Boden; seine Arme waren so stark, dass sie Rhapsody mühelos trugen. Sie konzentrierte sich so eingehend wie möglich auf die Schwingungen, die von ihm ausgingen, bis sich in ihrem Innern ein verschwommenes Bild von der letzten Begegnung mit ihm bildete. Es war ebenfalls hier gewesen oder zumindest in unmittelbarer Nähe, falls sie den Ort richtig einschätzte. Schließlich nahm das Bild Gestalt an. Es war Llaurons Bruder. Anborn, Gwylliams jüngster Sohn. Ashes Onkel. Der Soldat, der sie vor einem Jahr auf einer Waldstraße beinahe niedergeritten hätte. Sie glaubte sich an seinen Namen zu erinnern. »Anborn? Anborn ap Gwylliam?« In ihrer Benommenheit erkannte sie kaum die eigene Stimme, die brüchig, zitternd und rau wie die einer alten Frau war. »Ja«, sagte er, legte einen Arm unter ihre Knie und zog die erfrierenden Füße unter den Umhang. »Bist du es gewesen, die im Wind gerufen hat? Bei allen Göttern, wenn ich gewusst hätte, dass du es bist, hätte ich noch weitere Leute benachrichtigt Heiler.« »Nein«, keuchte sie. Ihre Stimme befreite sich nur widerwillig aus der Kehle. »Nicht. Niemand ... darf wissen. Bitte.« »Was soll das bedeuten?«, fragte Anborn und deutete auf ihr Pferd. Rhapsodys Zähne klapperten so heftig, dass sie das Wort kaum herausbrachte. »Gladiator.« Anborn schlang das Ende seines Umhangs enger um ihre Füße und zog sie an seine Brust. Er versuchte sie mit der Hitze seines Oberkörpers zu wärmen. »Du hast einen Gladiator gestohlen? Von wo? Aus Sorbold?« Sie nickte. »Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür. Er ist doch gewiss nicht zu deinem privaten Vergnügen bestimmt, oder?« Rhapsody zitterte unkontrolliert, als ihre frierenden Glieder die Wärme allmählich aufnahmen, und sie schüttelte den Kopf im Einklang mit dem übrigen Körper. »Du bist in diesem Aufzug allein nach Sorbold gegangen, um einen Gladiator zu entführen? Wessen glorreiche Idee war das?« Er stieß ein Pfeifen aus, und sein Pferd lief sofort auf sie zu. Sie steckte wieder die Hände unter die Arme und versuchte, sie zu wärmen und die Zuckungen zu unterdrücken, die ihren Körper zu überwältigen drohten. »Llaurons.« Als das Pferd neben ihnen war, zog Anborn die kleine Satteldecke herunter, die den Hals des Tieres geschützt hatte. Er hob Rhapsody in den Seitensattel und machte sich daran, ihre Beine in die Satteldecke zu wickeln. »Wenn du bei diesem Abenteuer beide Beine verlieren solltest, erinnere mich bitte daran, dass ich diesen Narren durchprügele. Was ist geschehen? Warum bist du hier?« Rhapsodys Ohren schmerzten in dem beißenden Wind, als das Gefühl in die Ränder der Ohrläppchen zurückkehrte. »Verstärkung ... ist nicht gekommen.« Anborn sah hoch zu ihr und bedachte sie mit einem düsteren Stirnrunzeln auf seinem breiten Gesicht. Aus der Satteltasche holte er eine Metallflasche hervor und streckte sie ihr entgegen. »Trink das.« Sie versuchte danach zu greifen, doch ihr Arm zitterte so heftig, dass Anborn es sich anders überlegte und ihr die Flasche an die Lippen hielt, während er mit der anderen Hand ihren Rücken stützte. Die brennende Flüssigkeit ließ sie würgen. Als sie hustete, vergoss sie einige Tropfen über die Lippen und machte sie damit für den beißenden Wind noch verwundbarer. Anborn wischte ihr die Tropfen mit dem Rand seines Umhangs ab. »Bist du wach?«, wollt er wissen und packte ihr Kinn mit festem Griff. »Wenn nicht, musst du jetzt aufwachen, oder du wirst sterben. Kannst du mich hören? Du bist dem Tod näher, als du vielleicht glaubst. Wie lange bist du in diesem Aufzug schon hier draußen?« Rhapsody versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, und bekämpfte die Anflüge der Bewusstlosigkeit, die sie bedrängten. »Sieben Tage, acht? Vielleicht noch länger«, flüsterte sie. Die Anstrengungen des Sprechens drohten sie zu überwältigen. Anborn sagte nichts, doch der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht wurde noch bedrohlicher. Er nahm ein Seil aus der Satteltasche und band sie damit an den Sattel, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, sich auf dem Pferd zu halten. Dann führte er das Tier zu Rhapsodys Stute. Rhapsody hatte sich in seinen Umhang gekuschelt und regte sich nicht mehr, während er den bewusstlosen Gladiator untersuchte. Sie sah zu, als er Constantin in eine etwas andere Lage brachte und ihm ein wenig Flüssigkeit aus der Flasche zwischen die Lippen goss. Als sich der Gladiator regte, versetzte Anborn ihn mit einem einzigen Schlag wieder in Bewusstlosigkeit. Dann kehrte er zurück, saß hinter ihr auf und band den Zaum ihres Pferdes an seine eigenen Zügel. »Du bist wirklich eine Verrückte«, sagte er und blickte sie finster an. »Die Bestie ist warm eingewickelt, und du hast sie auf deine Kosten gefüttert. Du kannst froh sein, dass du nicht unter meinem Befehl stehst. Ich hätte dich dafür auspeitschen lassen, dass du ein wertvolles Leben für ein wertloses aufs Spiel gesetzt hast.« Er sah ihr in die Augen und fand keine Reaktion in ihnen. Ihr Blick war glasig. Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände. Anborn berührte ihre Lippen mit den seinen und atmete Hitze in ihren Mund. Leidenschaftslos stieß er die Luft aus und füllte ihre Lunge mit Wärme, die sich auch über ihr Gesicht ergoss. Nach einigen Atemzügen wartete er und suchte nach Anzeichen für eine Reaktion. Als er keine bemerkte, kehrte er zu seinen Bemühungen zurück, sie innerlich zu wärmen. Kurz darauf öffneten sich Rhapsodys Augen flatternd und Anborn sah belustigt zu, wie sich ein Ausdruck der Überraschung auf ihr Gesicht legte, als sie sich Lippe an Lippe mit ihm wieder fand. »Bleib wach, oder ich muss es noch mal tun«, sagte er, zog ihr den Umhang über den Kopf und drückte sie gegen seine Brust, während er für sie beide und die Pferde einen Schutz vor dem Sturm suchte. 32 Viele elende Stunden später hielten die Tiere schließlich an und traten auf der Stelle, während sie allmählich zur Ruhe kamen. Die Nacht hatte sich schon vor langer Zeit gesenkt, und immer wenn Rhapsody einzuschlafen drohte, wurde sie schmerzhaft von Anborns Fingern wach gehalten, die sich scharf zwischen ihre Rippen bohrten, wobei er ihr hässliche Bezeichnungen in die klingelnden Ohren knurrte. Sie fiel in einen Zustand des Halbbewusstseins, konnte aber meistens auf seine Frage, ob sie wach sei, antworten. Schließlich kamen sie an einer dunklen Hütte an. Rhapsody erkannte kaum ihre Umrisse zwischen den Bäumen und im noch immer fallenden Schnee. Sie lag in der Waldlichtung so gut versteckt wie die Häuser der lirinschen Grenzwächter. Die Tür und Läden der Hütte waren fest und massiv; auf den Oberflächen verliefen tiefe Kratzer. Anborn stieg ab und hob Rhapsody vom Pferd. Er warf sie sich wie einen Sack Mehl über die Schulter, während er seine Satteltasche abnahm. Dann trug er sie in die Hütte und setzte sie in einen großen, muffig riechenden Sessel. Er lief in dem Zimmer umher, öffnete das Abzugsrohr des Kamins und entfachte ein Feuer. Rhapsody regte sich nicht und weigerte sich, den Umhang, der sie während der Reise warm gehalten hatte, auch nur ein wenig zu öffnen. Mit trüben Augen sah sie sich in dem Raum um. Die Wände waren kahl, und die kalte Luft schmeckte alt und abgestanden. In der Düsternis erkannte sie neben dem Sessel, in dem sie saß, ein Einzelbett und einen Tisch sowie Türen nach draußen und in einen anderen Raum, bei dem es sich möglicherweise um eine Abstellkammer handelte. Einen Moment später füllte sich die Hütte mit schwachem Licht, als Anborn eine Laterne entzündete und das Feuer allmählich knisterte und aufloderte. Er verließ die Hütte und blieb einige Zeit fort. Rhapsody nutzte seine Abwesenheit und fiel in einen leichten Schlaf. Sie wurde rüde geweckt, als die Tür heftig zufiel. Anborn trat in den Raum und trug ein großes Fass, das wie ein Trog wirkte. Nachdem er einigen Abfall herausgenommen und auf den Lehmboden geworfen hatte, stellte er das Fass vor den Kamin; dann verließ er das Zimmer erneut und kehrte mit einem großen schwarzen Topf zurück, den er über das Feuer hing. Ein drittes Mal ging er nach draußen. Während das Feuer kräftiger wurde, verspürte Rhapsody Schmerzen in den Gliedern, als diese langsam auftauten. Sie versuchte, Arme und Beine unter dem Umhang zu reiben, doch ihre Hände reagierten noch immer nicht. Panik überfiel sie. Da kam Anborn zurück. Diesmal trug er zwei gewaltige Kübel und füllte das Fass vor dem Kamin. Dann ging er zu dem Topf über dem Feuer, nahm ihn vorsichtig mit einem Ledertuch ab, das seine Hand vor dem glühenden Griff schützte, und goss auch dieses Wasser in das Fass. Dampf stieg unter das Strohdach. Anborn ging hinüber zu Rhapsody, nahm ihr den Umhang fort, hob sie aus dem Sessel und steckte sie grob in das Fass. Ein unterdrücktes Keuchen entwich ihr, und sie weinte tränenlos, als das heiße Wasser ihren noch frierenden Körper sprengte. Das Gefühl kehrte in ihre Gliedmaßen zurück, und Schmerz durchfuhr ihren Leib. Sie zitterte unbändig, als sich die Haut von den Zehen und Fingern abschälte, an die Wasseroberfläche stieg und zwischen den dünnen Schals umhertrieb, die sie immer noch trug. Anborn verließ das Haus abermals ohne ein Wort oder einen Blick. Kurz darauf kam er mit neuem Wasser zurück, mit dem er den Topf über dem Feuer auffüllte. Dann trat er an das Fass, ragte über ihr auf und sah sie weinen. Er beugte sich zu ihr herunter, betrachtete sie kühl, streckte die Hand aus und zerrte an dem Schal, der kaum ihre Brust bedeckte. »Zieh das aus«, sagte er und deutete auf den unteren Teil ihrer Kleidung, der teilweise zusammen mit Blättern, Zweigen und anderen Waldspuren auf der Wasseroberfläche schwamm. Rhapsody versuchte, den Stoff zu entfernen, doch sie konnte die Hüfte nicht hoch genug heben. Anborn griff ungeduldig in das Fass, zerrte den Schal los und warf ihn hinter sich auf den Boden. Sein Blick fuhr über ihren Körper und blieb so unbeteiligt, als schätzte er ein Tier auf einer Viehauktion ab. Dann ging er zurück zum Feuer und rührte den Topf um. »Kehrt das Gefühl zurück?«, fragte er mit dem Rücken zu ihr. »Ja«, schluchzte Rhapsody und versuchte, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Sie sah zu, wie sich schwarze Haut von ihren Knien löste, in das Wasser glitt und rosafarbene Flecken hinterließ. »Wo ist der Gladiator?« Anborn wandte sich um und schaute sie angeekelt an. »Du begreifst nicht, was Vorrang hat«, sagte er mit Verärgerung in der Stimme. »Du solltest dich fragen, ob wir deine Hände und Füße retten können. Dein Spielzeug ist dagegen völlig unwichtig.« Er hob den Topf vom Feuer, goss noch mehr dampfendes Wasser in das Fass und beobachtete mit grimmiger Befriedigung, wie Rhapsody erneut vor Schmerzen aufschrie. »Das hört sich viel versprechend an«, bekundete er und hing den Topf wieder über das Feuer. »Was wolltest du mich fragen?« Rhapsody atmete flach und versuchte, den Schmerz unter Kontrolle zu halten, der sie bis auf die Knochen durchströmte. »Bitte, Anborn«, stammelte sie, »wo ist er?« Anborn sah sie wieder an; seine Augen waren dunkel und durchdringend. Schließlich verschränkte er die Arme vor der Brust und sagte scharf: »Er ist im Vorratskeller. Ist er dein Liebhaber?« Das Geschehen in Sorbold durchflutete sie wieder, und die schiere Ironie seiner Frage überwältigte sie. Ekel, den sie bis her unterdrückt hatte, überschwemmte sie. Sie zuckte vor Schmerzen und der Erinnerung an die vergangenen Ereignisse zusammen. Sie hatte versucht, die Gefühle zurückzuhalten, und gehofft, warten zu können, bis sie in Oelendras starken Armen lag, doch der Schock war zu groß und ihre Verteidigung zusammengebrochen. Sie weinte laut. Das Grauen, das sie in der Umarmung durch den Gladiator empfunden hatte, vermischte sich mit ihren körperlichen Schmerzen. Anborn drehte sich rasch wieder zum Feuer um, nahm den Kessel, doch diesmal goss er das Wasser langsam am Rand des Fasses ein. Als er fertig war, legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »In Ordnung«, sagte er. Seine Stimme war schroff, aber nicht gänzlich unfreundlich. »Das reicht. Du kannst später weinen; es beleidigt meine Ohren. Ich sehe das als Nein an. Warum also hast du diese eselhafte Entführung begangen?« Er griff in das Wasser, nahm eine Hand voll und goss es über ihre Schultern und die Teile ihres Körpers, die sich oberhalb der Wasserfläche befanden. Rhapsodys Blick klärte sich ein wenig und wanderte von dem Raum zu dem Mann, der sie badete. Beide waren sehr karg. Die Hütte in der Wildnis wirkte mit ihren Lehmwänden und ohne jeglichen Schmuck so wie Anborn selbst. Sie bekam einen Schluckauf und sah zu, wie er Fetzen abgestorbener Haut aus dem Wasser fischte und auf den Lehmboden hinter ihm warf. Dann packte er ihre Schultern und hob sie so weit aus dem Fass, dass ihr Kopf über Wasser blieb, so wie sie selbst es getan hatte, als sie die Kinder des F’dor vor Oelendras knisterndem Kaminfeuer gebadet hatte. Rhapsody zitterte. Als sie sich etwas beruhigt hatte, versuchte sie, ihren Plan und die bisherigen Ereignisse zu schildern. Während sie sprach, wurde ihre Stimme sanfter, und bald war der Schluckauf, der sie zu Beginn nach beinahe jedem Wort unterbrochen hatte, zu einem gelegentlichen Husten abgeflaut. Als das Gefühl in ihre Hände zurückkehrte, fuhr sie mit ihnen an den Armen und Beinen entlang und badete sie in dem dampfenden Wasser, während Anborn ihren Oberkörper behandelte. Entsetzten trat in ihr Gesicht, als sich weitere Hautfetzen lösten und schmerzhafte Wunden hinterließen, die ungeschützt gegen die Hitze des schmutzigen Fasses waren. Als sie schließlich mit ihrer Geschichte fertig war, schüttelte sich Anborn das Wasser von den Händen und sah sie ernst an. »Hast du Llauron Lehenstreue geschworen?«, fragte er. »Nein«, antwortete Rhapsody. »Aber er hat mir vieles über Heilwesen und Gartenbau beigebracht. Ich versuche dem Weg zu folgen, den er mir vorgezeichnet hat.« Anborn schnaubte verächtlich. »Hör mir zu. Hier ist die erste Regel: Wenn du jemandem Treue geschworen hast, musst du den Anweisungen dieser Person folgen, ohne Fragen zu stellen, und zwar bis in den Tod oder sogar darüber hinaus. Verstehst du das?« »Ja«, sagte Rhapsody gereizt. »Was willst du damit sagen?« »Die zweite Regel«, fuhr Anborn fort, »lautet: Wenn du diese Treue nicht geschworen hast, schuldest du niemandem etwas und darfst dich niemals in eine Lage bringen, die dir schaden oder dich sogar töten könnte, es sei denn, du ziehst einen Gewinn daraus. Du hast dich in die Gefahr gebracht, vergewaltigt und verletzt zu werden, Gliedmaßen zu verlieren und sogar zu sterben und das alles für jemanden, dem du keinen Treueeid geschworen hast. Das ist reine Dummheit, Mädchen. Du schuldest Llauron nichts.« »Du verstehst es nicht«, antwortete sie. Sie erzitterte unter seinem düsteren Blick; entweder war die Verachtung in seinen Augen oder die fallende Temperatur des Wassers daran schuld. »Llauron hat mir nicht befohlen, den Gladiator zu entführen. Ich bin es, die alle Kinder des F’dor eingesammelt hat.« »Wie schön für sie. Wenn ich gewusst hätte, wer sie sind, hätte ich sie persönlich mit dem Schwert hingerichtet. Vielleicht werde ich das noch tun.« Er stand auf, ging zu der Ecke, in der er sein Gepäck abgestellt hatte, und holte daraus ein gewaltiges Schwert hervor, das im schwachen Licht glitzerte. Rhapsody sah entsetzt zu, wie er zur Tür schritt. Auf seinem Gesicht lag Mordlust. Sie versuchte, aus dem Fass zu kommen und ihn aufzuhalten, doch die Beine gehorchten ihr nicht und verweigerten jede Bewegung. Verzweifelt rief sie seinen Namen und benutzte dabei ihre tiefsten Kräfte des Benennens. »Anborn ap Gwylliam, bleib stehen«, befahl sie. Die Luft im Raum wurde warm und still, und Anborn gefror mitten in der Bewegung. Er blieb mit dem Rücken zu ihr stehen. Sie sah, wie Wut durch seine Schultermuskeln tobte, und hörte ihn zornig atmen. »Du wirst ihm nichts tun, Anborn. Er steht unter meinem Schutz.« »Wirklich?«, höhnte Anborn, der sich noch immer nicht nach ihr umdrehen konnte. »Und wer wird dich jetzt beschützen, Rhapsody? Du kannst dich nicht einmal selbst schützen. Du bist in einer schlechten Position, mit jemandem wie mir allein zu sein.« Seine Stimme pulsierte vor unausgesprochener Bedrohung. »Du wirst mich beschützen, Anborn«, antwortete Rhapsody in Demut und Ehrerbietung. »Du wirst es tun, weil du es tun musst, und du bist ein edler Mensch. Du hattest keinen Grund, mitten in der eiskalten Nacht auf den Ruf der Blutsverwandten zu antworten, aber du bist trotzdem gekommen.« Seine Schultern waren nicht mehr so angespannt, doch er verharrte weiterhin in seiner Position. »Das ist etwas anderes«, sagte er knapp. »Dazu bin ich als Blutsverwandter verpflichtet. Ich habe aber keine Pflichten gegen diesen Abschaum. Oder gegen dich.« »Blutsverwandte erscheinen in allen Gestalten und Größen, Anborn«, sagte sie sanft. »Sie kommen in allen möglichen Stationen des Lebens vor, und manche sind sogar Sänger. Einige von ihnen sind nicht besonders groß; man könnte sogar sagen, sie sind schmächtig.« Damit entließ sie ihn. »Du hast MacQuieth und die alten Krieger geehrt und jene, denen du nun dienst. Manchmal ist es die größte Heldentat eines Soldaten, den Hilflosen beizustehen. Das hast du getan. Ich schenke dir dafür meine Hochachtung und danke dir.« General, zuerst musst du den Riss in deinem Innern heilen. Durch Gwylliams Tod bist nun du der König der Soldaten, doch erst wenn du den Niedrigsten deines Volkes gefunden hast und diesen Hilflosen beschützt, bist du der Vergebung würdig. Und so sei es, bis du entweder erlöst wirst oder ohne Vergebung stirbst. Anborn drehte sich langsam um und bedachte sie mit einem Blick, den sie vorher nicht bei ihm bemerkt hatte. Er schlug die Augen nieder, als würde er sich zum ersten Mal ihrer Nacktheit bewusst, kehrte dann langsam in die Ecke zurück und steckte das Schwert wieder in die Scheide. »Du bist eine der Drei«, sagte er. Diese Frage war nicht gestellt worden, aber trotzdem gegenwärtig. »Ja«, antwortete Rhapsody, »und du hast die Prophezeiung erfüllt. Möge deswegen die Gnade mit dir sein.« Wenn du den Riss heilen willst, General, achte auf den Himmel, damit er nicht herabfalle. Anborn sah sie noch einmal an. Seine Augen zeigten keine Spur von dem Zorn, den sie zuvor noch in seiner Stimme vernommen hatte. Er ging in das zweite Zimmer und kam mit einem groben Laken sowie einem Kleid über dem Arm heraus. Ohne ein Wort reichte er ihr das Laken und half ihr aufzustehen. Sie wickelte sich in den Stoff; er hob sie aus dem lauwarmen Wasser und rieb sie trocken. Dann gab er ihr das Kleid. Es war eine weiche Tunika aus farngrüner Wolle mit langen Ärmeln, tailliert und eindeutig für eine Frau genäht, auch wenn diese erheblich größer als Rhapsody gewesen sein musste. Während sie sich mit dem Tuch abtrocknete und dann das Kleid überstreifen wollte, verließ Anborn die Hütte. Als er zurückkehrte, war Rhapsody angezogen und trocknete die Haare vor dem Feuer, das still, aber stetig brannte. Er trug einen klumpigen Leinwandsack, aus dem er einen Winterapfel hervorzog und ihr entgegenreichte. Sie lächelte und nahm ihn mit Händen, die kaum mehr zitterten. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen«, sagte er und sah ernst auf sie hinab. »Ich hoffe, du vergibst mir all meine Beleidigungen.« »Die Einzige, an die ich mich erinnern kann, bestand darin, dass du mir das Leben gerettet hast. Das ist eine ziemlich große Beleidigung für einige meiner Bekannten«, sagte Rhapsody und lächelte wieder. »Anborn, die Vorhersage meiner Ankunft hier bedeutet nicht, dass ich eine mythische Gestalt bin. Ich bin nur ein gewöhnlicher Mensch mit einer sehr bunten Vergangenheit, und ich würde es vorziehen, wenn du in meiner Gegenwart ganz du selbst wärest, anstatt mich als ein legendäres Geschöpf anzusehen, das ich nicht bin. Du wirst dich daran erinnern, dass du mich bei unserer ersten Begegnung eine Missgeburt genannt hast, was ich dir nicht vorhalte. Also beleidige mich ruhig ich werde schon darüber hinwegkommen.« Anborn lächelte. Es war das erste Mal, dass Rhapsody dabei keine sarkastische Note feststellte. Jetzt gefiel ihr der Ausdruck seines Gesichts. »An dir ist nichts gewöhnlich, Rhapsody. Es ist mir eine Ehre, dass ich dir helfen durfte. Ich glaube, jetzt ist dir warm genug. Warum legst du dich nicht hin und schläfst ein wenig?« Er deutete auf das Bett. »Nur wenn du mir versprichst, deine Knöchel von meinen Rippen fern zu halten«, sagte sie grinsend. Das Feuer brannte sicher und ruhig. Sie ging hinüber zum Bett, das aus einer Heumatratze und einem wollenen Laken bestand, und ließ sich langsam darauf sinken. »Und wenn du mir versprichst, mich für meine Wache zu wecken. Schließlich solltest du ebenfalls auf diesem Bett etwas Schlaf finden.« »Wir werden sehen«, sagte Anborn unverbindlich, während er eine Flasche aus seinem Gepäck zog. Er gab sie ihr, und sie nahm einen tiefen Schluck. Sie hustete, als die Flüssigkeit ihr die Kehle verbrannte. »Was, um alles in der Welt, ist das für ein Hrekin?« Sie reichte ihm die Flasche zurück und wischte sich mit dem Ärmel der grünen Tunika die Schweißperlen von der Stirn. Anborn lachte. »Glaub mir, das willst du nicht wissen.« Rhapsody sah neugierig den grünen Ärmel an. »Es hat nicht den Anschein, dass es mir besonders gut passt. Wem gehört es?« »Es hat meiner Frau gehört«, sagte Anborn und setzte sich in den muffigen Sessel. »Sie würde nichts dagegen haben, dass du es trägst. Sie ist schon seit elf Jahren tot.« In seiner Stimme lag keine Spur von Bedauern. »Übrigens steht es dir viel besser.« Rhapsody erschrak über die Gefühllosigkeit dieser Bemerkung. »Es tut mir sehr Leid«, sagte sie und suchte in seinen Augen nach Spuren tieferer Trauer. Sie fand keine. »Nicht nötig«, antwortete er unverblümt. »Wir haben uns nicht sehr gern gehabt. Wir haben nicht zusammen gelebt, und ich habe sie nur selten gesehen.« Rhapsody biss in den Apfel. Er war trocken, mehlig und verschrumpelt und hatte eine schwere Süße, die von reiferen, schöneren Tagen kündete. Diese Ironie machte sie traurig. »Aber du musst sie früher einmal geliebt haben«, sagte sie und fühlte sich auf gefährlichem Boden, doch sie musste es wissen. Anborn lächelte sie an und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er einfach. »Für eine so kluge Frau kannst du bezaubernd naiv sein, Rhapsody.« Das Zittern in Rhapsodys Körper war zu einem milden, gelegentlichen Zucken geworden; sie spürte, wie Kraft und Wärme zurückkehrten. »Warum habt ihr dann geheiratet?« Anborn nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Sie war eine hübsche Frau aus einer alten Familie, und sie hatte hohe Grundsätze. Falls sie mich je betrogen hat, habe ich es nie erfahren, und ich glaube, es wäre mir nicht unbekannt geblieben. Ich habe ihr ebenfalls bis zu ihrem Tod die Treue gehalten.« Rhapsody wartete, aber es folgten keine weiteren Bemerkungen. »Das ist alles?«, fragte sie erstaunt. »Warum?« »Eine verständliche Frage«, sagte Anborn, während er sich die Stiefel auszog. »Ich fürchte, ich habe keine Antwort darauf.« »Hattet ihr Kinder?« »Nein«, sagte er. Der Ausdruck seiner Stimme änderte sich nicht. »Es tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, Rhapsody. Du kennst sicherlich meine Familie und weißt, dass wir nicht gerade eine sehr romantische Geschichte haben. All dieses phantasievolle Gewäsch über meine Großeltern ist nichts als Phrasendrescherei. Merithyn wurde von Elynsynos verführt, weil die menschliche Gestalt, die sie absichtlich angenommen hatte, derjenigen entsprach, die er tief in seinem Herzen als anziehend empfand und der alte Knabe außerdem jahrelang auf See gewesen war. Sie hätte sich in ein Schaf verwandeln können, und er hätte sie trotzdem besprungen.« Er blickte hinüber zu Rhapsody und lachte laut auf, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Es tut mir Leid, meine Liebe, wenn ich deine Idealvorstellungen zerstöre. Und als ob das nicht reichen würde, kann ich dir auch noch versichern, dass es auf Elynsynos’ Seite keine Liebe war. Er war der erste Seren, den sie je gesehen hatte, und sie wollte die Kontrolle über ihn haben. Von Anfang an hatten geschlechtliche Liebe und Paarbildung in unserer Familie etwas mit Macht und Kontrolle zu tun, und so ist es bis heute geblieben. Ich kann nicht vorhersehen, wann sich das ändern wird. Du musst wissen, dass Drachenblut dominant ist.« Rhapsody seufzte tief, denn sie wusste aus persönlicher Erfahrung, wie wahr seine Worte waren. »Es tut mir wirklich Leid, dich zu enttäuschen. Ich hoffe, meine Bemerkungen über Merithyn haben dich nicht beleidigt.« Sie legte sich langsam auf das Bett zurück und bemerkte erst jetzt, wie erschöpft sie war. »Warum sollte ich beleidigt sein? Er war dein Großvater. Außerdem wäre es viel schlimmer, wenn du Achmed wärest. Ich könnte es allerdings nicht ertragen, wenn du mir von einer mythischen Person berichten würdest, deren geschlechtliche Neigung auf Bäume mit Astlöchern in passender Höhe gerichtet ist. Deshalb werde ich jetzt schlafen, falls du nichts dagegen hast.« Anborn lachte brüllend. »Ich glaube, das ist eine sehr kluge Idee. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn du völlig ernüchtert wirst. Außerdem hast du ein paar ziemlich harte Tage hinter dir, nicht wahr? Ruh dich aus; morgen früh wer den wir Weiterreisen. Heute Nacht werde ich mich um deinen Gladiator kümmern, und morgen machen wir uns auf den Weg zu Oelendra.« Rhapsody war bereits eingeschlafen. Das Feuer prasselte die ganze Nacht hindurch; es loderte in der Dunkelheit und Stille dieses abgeschiedenen Ortes immer stärker. 33 Haguefort Herzog Stephen griff hinter die Flaschen in der ersten Reihe des Regals und tastete herum, bis er den Reservebranntwein fand. »Hier«, sagte er und gab Ashe in der Dunkelheit die Flasche. »Das hast du früher sehr gemocht.« Ashe lächelte. »Ich muss dir glauben, denn sehen kann ich nichts.« Sein Drachensinn hatte den Branntwein bereits abgeschätzt, wie auch alle anderen Tropfen in Stephens Keller. Stephen hatte eine kluge und großzügige Wahl getroffen. »Natürlich ist er aus Canderia«, sagte Stephen und nahm die Flasche zurück. »Er hat eine schöne Farbe und eine ausgezeichnete Blume. Du wirst ihn im Schein des Feuers noch mehr schätzen.« »Nein«, sagte Ashe brüsk. Seine Stimme war harscher, als er beabsichtigt hatte, und er spürte, wie Stephen zusammenzuckte. »Es tut mir Leid. Lass uns einfach hier miteinander reden.« Stephen zuckte die Achseln. »Es ist dein Geburtstag. Wenn du ihn mit den Ratten in meinem Weinkeller verbringen möchtest, soll mir das recht sein.« »Hier fühle ich mich wohl«, kicherte Ashe. »Du kennst doch meine Familie.« Stephen lachte, setzte sich auf ein großes Fass und lehnte sich gegen die feuchte Wand. Er zog eine Branntweinflasche minderer Qualität aus dem vorderen Regal, entkorkte sie und nahm einen tiefen Schluck. »Ich fürchte, ich habe hier unten keine Gläser. Du musst dein Geburtstagsgeschenk aus der Flasche trinken, aber daran bist du als Barbar ja gewöhnt.« »Ich würde es sogar dann tun, wenn du Gläser hier unten hättest.« Ashe zog den Korken vorsichtig aus der Flasche und war überrascht, wie natürlich er diese Technik des Kenners nach zwei Jahrzehnten der Erfrischungen in Waldbächen und Straßenrinnsalen noch beherrschte. Er hielt die Flasche unter die Nase und sog die reiche Blume ein. »Ah, Stephen, du bist viel zu gut zu mir.« »Wahrere Worte wurden nie gesprochen. Trink und erzähl mir, was vorgefallen ist.« Ashe setzte sich auf ein Fass neben Stephen. Er schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Wand. Widerwillig holte er die schrecklichen Erinnerungen zurück, die Rhapsody aus seinem Inneren vertrieben hatte. Er versuchte mit all seinen Sinnen herauszufinden, ob er Stephen vertrauen konnte; im Hinterkopf flüsterte der Verfolgungswahn des Drachen ihm unablässig Warnungen zu. Trotzig zerschmetterte er sie. »Es war in der ersten Nacht des Sommers.« Ashe verstummte plötzlich, als die Erinnerungen ihn überfluteten. Stephen saß schweigend da, während die Stille seinen Freund verschluckte. Als der Herzog schließlich sprach, lag ein scherzhafter Ton in seiner Stimme. »Ich erinnere mich. Ich habe Wache für den Patriarchen geschoben, wie wir vom wahren Glauben es in der ersten Nacht des Sommers zu tun pflegen. Vielleicht erkennst du jetzt endlich den Irrtum deines Lebens und bekehrst dich.« Der Scherz lockerte den Griff, mit dem die Erinnerungen Ashe gepackt hatten, und er lachte. »In Ordnung. Ich war zum Haus der Erinnerung gegangen, weil ich ein Gespräch meines Vaters mit Oelendra über den F’dor mit angehört hatte. Irgendwie waren sie der Meinung gewesen, er befinde sich dort und sei verwundbar; also wollte Oelendra ihn vernichten. Als sie den Baumpalast verlassen hatte, ging ich zu Llauron und sagte ihm, ich stünde bereit, ihr zu helfen. Zuerst wollte er nichts davon hören, aber ich vermute, er sah schließlich die Weisheit dieses Gedankens ein. Es gab sonst niemanden, dem er vertrauen konnte. Er ... wir haben dieses Ding gejagt, so lange ich denken kann. Es war das alles verzehrende Ziel seines und daher auch meines Lebens.« »Ich erinnere mich«, sagte Stephen sanft und betrachtete die Decke des Weinkellers. »Als ich mit Oelendra loszog, warnte Llauron mich, ich solle nicht Meister auf ihrem Gebiet werden wollen, denn er hatte vor, mich selbst auszubilden.« »Mein Vater glaubt, dass jeder nur lebt, um seinen eigenen Zwecken zu dienen«, murmelte Ashe. »Selbst wenn seine Ziele hehr sind, ermüdet es manchmal, immer nur als Werkzeug angesehen zu werden. Auch wenn er es mir verboten hätte, wäre ich gegangen. Du hast mich gekannt; ich war kühn und stur und hatte nichts, wofür zu leben sich lohnte.« Stephen warf Ashe einen raschen Blick zu. »Hast du es jetzt?« Ashe seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich habe es geglaubt.« Seine Gedanken wanderten zu Rhapsody und dem vernichtenden Feuer in ihren Augen, das sie beim letzten Abschied hinter einer tapferen Miene verborgen hatte. Ich bewahre die Erinnerung für dich, Aria. Eines Tages werden wir sie wieder miteinander teilen können. Nein. Vielleicht gehört sie eines Tages wieder mir, aber für dich ist es Zeit, mit jemand anderem neue Erinnerungen zu beginnen. Morgen. Jetzt bin ich noch hier bei dir. Er schloss die Augen und vertrieb die Gedanken. »Danach erinnere ich mich an vieles nicht mehr. Ich bin Oelendras Route zum Haus der Erinnerung gefolgt. Es ist kaum möglich, diese Frau aufzuspüren.« Stephen nickte. »Ich habe sie nicht gefunden. Als ich zum äußeren Tor des Hauses kam, war niemand dort; alles war totenstill. Es war schon nach Mitternacht und die Sonnenwende vorbei. Damals hatte ich das noch nicht gewusst, aber es bedeutete, dass auch die Zeit der Verwundbarkeit des Dämons vorüber war. Ich erinnere mich nicht daran, den F’dor oder was immer es war, getroffen zu haben. Alles war dunkel. Ich erinnere mich nur an eine Explosion dunklen Feuers und an die schrecklichsten Schmerzen, die ich je erlitten habe Schmerzen, die nur der Tod stillen konnte. Und dann nahm mir das Wesen ein Stück von meiner Seele. Es griff in mich hinein und breitete sich in mir wie ein Schlinggewächs aus, das an meinem Rückgrat hochrankte, bis es sich in meinem ganzen Brustkorb festgesetzt hatte und mein Innerstes packte.« Obwohl er die Augen geschlossen hielt, bemerkte er, wie Stephen erschauerte. »In diesem Augenblick hätte ich den Tod dem vorgezogen, was gerade mit mir geschah. Ich spürte den Willen des Geschöpfes. Es wollte mich haben als Wirt. Es wollte meine Seele fressen und zu dem werden, was von mir übrig blieb. Ich habe die Leere gesehen, Stephen. Ich habe sie gesehen. Und irgendwie ist es mir gelungen, das Schlinggewächs mit Kirsdarke zu durchschneiden, wenngleich ich wusste, dass ich damit ein Stück meiner Seele in seiner Gewalt zurücklassen würde. Es war das Einzige, was ich tun konnte.« »Gütiger All-Gott!« »Und das ist alles. Ansonsten erinnere ich mich nur noch an Lichtblitze und Bruchstücke, die in meinen Träumen zu mir gekommen sind. Ich erinnere mich daran, wie ich durch den Wald auf Haguefort zugekrochen bin; es war meine bewusste Entscheidung gewesen, deine Hilfe zu suchen. Ich habe oft von deinem Gesicht geträumt, als du mich in deinen Mantel gewickelt hast, obwohl ich mir nicht sicher bin, was Erinnerung und was Einbildung ist. Vieles aus dieser Zeit ist nur verschwommener Traum, begleitet von unerträglichen Schmerzen.« »Was geschah, nachdem ich dich verlassen und nach deinem Vater gesucht hatte?« Ashe zögerte. Obwohl ihm sein Herz sagte, dass Stephen vertrauenswürdig war, flüsterte ihm der Drache Zweifel ein, so wie er es bei Anborn getan hatte. »Ich bin mir nicht sicher. Ich war gesund genug, um mich zu verstecken, auch wenn die Schmerzen kaum nachgelassen hatten. Seelenschmerz übersteigt alles, was du dir vorstellen kannst.« »Hast du noch immer Schmerzen?« Ashe nahm einen tiefen Schluck von dem ausgezeichneten Branntwein und legte dann die Arme auf die Knie. »Es ist jetzt besser«, sagte er schließlich. »Aber die Schmerzen waren nicht das Schlimmste. Der F’dor hat das zurückgelassene Stück meiner Seele dazu benutzt, den Rakshas zu formen, ein dämonisches Geschöpf aus seinem eigenen Blut und dem wilder Tiere. Es erhielt mein Seelenbruchstück, meinen Geist und sah beinahe genauso aus wie ich. Es war geistlos und intelligent zugleich und stellte lange Zeit für den Dämon ein machtvolles Werkzeug dar. Über Roland und Tyrian hat er Tod und Verwüstung gebracht. Ich weiß das, weil ich so viel Zeit wie möglich damit verbracht habe, ihn aufzuspüren und einiges von dem wieder gutzumachen, was er angerichtet hatte, sowie für Llauron seine Bewegungen auszuspionieren. Es war dieses Geschöpf, das die Kinder deiner Provinz entführt und ihr Blut zum Nutzen des F’dor genommen hat.« Stephen stand auf und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, während er noch immer die Flasche hielt. »Ich werde dieses Wesen töten, das schwöre ich«, sagte er und lief auf und ab. Ashe lächelte. »Nicht nötig, das ist schon geschehen.« »Und deine Seele?« »Ist wieder ganz.« »Dem All-Gott sei Dank.« Stephen lief immer schneller auf und ab; seine rasende Aufregung suchte nach einem Ventil. »Wie kann ich dir helfen?« Ashe stand ebenfalls auf und ergriff seine Schultern. »Behalte mein Geheimnis für dich.« Er lächelte seinen besten Freund an. »Und zeige mir meinen Namensvetter und seine Schwester.« »Abgemacht.« Stephen warf die Flasche beiseite und führte ihn den dunklen Gang hoch zur Festung. »Bist du sicher, dass sie schläft? Ich will ihr keine Angst einjagen. Mit meiner Kapuze sehe ich aus wie der Inbegriff eines Albtraums.« »Ihr Schlaf ist tiefer als das Meer«, sagte Stephen zärtlich und fuhr liebevoll mit den Fingern durch Melisandes goldene Locken. »Und ohne Kapuze siehst du genauso aus. Das war schon immer so.« Er küsste die Stirn des Mädchens und zog ihr das Laken bis zum Hals. Melisande lächelte, bewegte sich aber nicht. »Sie ist wunderschön, Stephen.« »Ja, das ist sie. Sie hat die schwarzen Augen ihrer Mutter. Es tut mir Leid, dass du sie nicht in wachem Zustand sehen kannst.« »Wer war ihre Mutter?« »Lydia von Yarim.« Ashe kicherte. »Ah ja. Gute Wahl.« Seine Stimme wurde wieder sanft. »Es tut mir Leid, Stephen.« »Das sollte es dir auch. Sie hätte dir gefallen, Gwydion.« »Eine außergewöhnliche Frau. Eine sehr außergewöhnliche Frau.« In die Wärme von Ashes Stimme hatte sich eine Spur Melancholie gemischt. »Dein Sohn ist schon so groß. Ich habe viele Jahre verpasst; er ist beinahe ein Mann.« Stephen seufzte zustimmend und streckte die Hand durch einen Vorhang aus Nebel, der in der Luft des dunklen Raumes schwebte. »Woher kommt er?« Sag es ihm nicht, zischte der Drache. »Von Kirsdarke«, meinte Ashe rasch und drängte die Wyrm-Stimme zurück. »Er umgibt meinen Umhang mit der Macht des Wassers. Er schützt mich vor jenen, die mich durch Schwingungen oder ähnliche Methoden finden könnten.« »Deswegen ist es dir möglich gewesen, dich so lange zu verstecken.« Herzog Stephen stand auf und ging auf die Tür zu. Ashe folgte ihm. »Ja.« Als sie durch die Tür von Melisandes Zimmer schritten und hinaus in den Korridor traten, blieb er stehen. »Wer schläft im Zimmer gegenüber von Melly?« Stephen hielt ebenfalls inne. »Rosella, das Kindermädchen. Warum?« »Sie hat eine beträchtliche Menge Natterblume in ihrem Besitz. Das ist ein tödliches Gift.« Stephens Gesicht wurde schlaff. »Woher weißt du das?«, flüsterte er und warf einen Blick zurück auf seine Tochter. Sag es ihm nicht, beharrte der Drache in ihm heftig. Sag es ihm nicht! Ashe schluckte. »Meine Sinne sind geschärft«, sagte er leise. »Ich kann es riechen.« Es war nur eine kleine Lüge; offenbar hatte Stephen vieles von seinen Kräuterlektionen bei Lark vergessen. Natterblume hatte weder Geruch noch Geschmack. »Kann man es noch für etwas anderes verwenden?« Ashe zuckte die Schultern. »In geringen Mengen ist es ein Fixiermittel für Kleider färben. Weber geben es Farbstoffen wie Lavendel oder Butternuss bei, damit der Stoff die Farbe behält.« Stephens besorgter Gesichtsausdruck lockerte sich ein wenig; er seufzte erleichtert auf. »Das ist unzweifelhaft der Grund«, sagte er. »Rosella ist eine begabte Näherin und stellt viele Kinderkleider selbst her. Für einen Moment hast du mir einen schönen Schrecken eingejagt, alter Knabe. Aber Rosella würde den Kindern niemals etwas antun. Dessen bin ich mir sicher.« Ashe lächelte seinen besten Freund an. »Es tut mir Leid. Äußerstes Misstrauen gegenüber jedermann und allem ist das Einzige, was mir in all den Jahren das Überleben ermöglicht hat. Wenn ich wieder ein normaler Mensch werden will, muss ich all das wohl hinter mir lassen.« »Allerdings. Komm, meine Gemächer liegen in dieser Richtung.« Als sie Stephens Schlafzimmer erreicht hatten, ging Ashe zur Balkontür und spähte aus dem Fenster. »Deine Mauer sieht aus, als hätte sie etwas gelitten«, sagte er trocken. »Schlimmer Winter?« Der Herzog von Navarne lehnte sich gegen seinen Schreibtisch. »Hast du vom Sonnenwendfest gehört?« Ashe nickte und schaute weiter hinaus in die Dunkelheit. »Ja. Es tut mir Leid, Stephen.« Stephen nickte. »Dann weißt du auch, dass Tristan den Oberbefehl über das Heer an sich gerissen hat?« »Ja.« Der Herzog rieb sich das Kinn mit Daumen und Zeigefinger. »Hast du vor, etwas gegen ihn zu unternehmen? Jetzt, wo du zurück bist?« Ashe kicherte. »Warum sollte ich das tun?« »Weil ... nun, weil man immer angenommen hat, du würdest derjenige sein, der Roland wiedervereinigt. Du bist dafür geboren.« Ashe lachte und drehte sich nach seinem Freund um. »Nun, das würde einige interessante Namensspiele ermöglichen«, sagte er. »Wie gefällt dir ›König Gwydion der Tote‹? Nein? Was ist mit ›der tot Gewesenem ›Der Nichtmehr-Tote‹? ›Der Untote‹? Wohl kaum.« Er nahm seine Handschuhe aus den Manteltaschen und zog sie an. »Vielen Dank für den Geburtstagstrunk.« »Du willst schon gehen?«, fragte Stephen mit tiefer Enttäuschung in der Stimme. Ashe nickte und legte seinem Freund ein letztes Mal die Hand auf die Schulter. »Ich muss. So wie ich heute Nacht herkommen und dir sagen musste, was wirklich geschehen ist.« »Es gibt noch so vieles, was ich wissen will«, meinte Stephen. Verzweiflung umwölkte seine blaugrünen Augen. »Wann kommst du zurück?« »Sobald ich kann. Ich wünschte, ich könnte einen genauen Zeitpunkt angeben. Stephen, du sollst wissen, dass ich in all den Jahren immer an dich gedacht habe. Zu sehen, dass es dir gut geht und du in Sicherheit bist, ist ein großer Trost für mich. Es wird der Tag kommen, an dem wir uns wir wieder in aller Öffentlichkeit zusammen zeigen können.« Der Herzog lächelte. »Ich hoffe, er kommt bald. Dein Namensvetter wird allzu schnell erwachsen. Sein Pate sollte ihm ein wenig bei der Ausbildung und der seiner Schwester helfen. Er braucht dich, Gwydion. Ich brauche dich auch; zwischen den beiden werde ich jeden Tag ältlicher und schwächer.« Ashe lachte und umarmte seinen Freund. Er ließ ihn ungern wieder los. »Wenn das hier vorbei ist, können wir das Leben wieder genießen. Wir werden dort weitermachen, wo wir damals aufgehört haben; wir werden große Taten vollbringen, ein heldenhaftes Leben führen, außergewöhnliche Frauen lieben, und...« »... man wird uns in ganz Roland Statuen errichten«, beendete Stephen das Motto ihrer Jugend und lachte. Als sich ihre Blicke trafen, löste sich sein breites Grinsen in ein schwaches Lächeln auf. Es war seltsam, dass sie diese Ziele aus der Kindheit bereits erreicht und wieder verloren hatten; es war ein schmerzlich hohles Gefühl. »Ich bin inzwischen eher dafür, dass wir uns in meine Küche setzen, nachdem die Köche zu Bett gegangen sind, die Brotkanten essen und bis in den Morgen hinein reden, so wie wir es früher getan haben.« »Darauf freue ich mich«, sagte Ashe. »Wir können für den Rest unseres Lebens die Freuden des Gewöhnlichen genießen. Wir kommen sowieso schon bald ins Greisenalter. Wir können uns in deinem Weinkeller verstecken, uns fein betrinken und die Geschichten erzählen, die alle anderen zu Tode langweilen würden.« »Abgemacht.« Stephens Miene wurde ernst. »Du sollst wissen, dass ich immer bereit bin, dir zu helfen, wenn du mich brauchst, Gwydion. Das Land befindet sich am Rande eines Krieges. Vielleicht erspart deine Rückkehr vom Tod dem Land seinen eigenen Untergang.« »Lebe wohl, Stephen«, sagte Ashe. »Pass vor allem auf dich und deine Kinder auf. Wir werden uns bald wieder sehen.« Er öffnete die Balkontür und war rasch verschwunden. Stephen starrte hinaus in die Finsternis und den treibenden Schnee, während der beißende Wind ihn umheulte und durch die Fenster und Türen von Haguefort peitschte. 34 Ylorc Soeben wurden die Fackeln in den dunkelnden Gängen des Kessels angezündet, als Greevus an die Tür des Versammlungsraumes hinter der Großen Halle klopfte. Achmed sah nicht von seiner Landkarte auf, die er schon seit einiger Zeit betrachtete; aber Grunthor winkte ihn herein und wandte sich dann ebenfalls wieder der Karte zu. Greevus wartete schweigend, während sich der Sergeant-Major weiter mit dem König unterhielt. Schließlich rollte Achmed die Landkarte zusammen; Verärgerung lag in seinen schroffen Bewegungen. »Ja?« Greevus räusperte sich. »Mein Herr, ein Vogel ist im Grivven-Posten mit einer Botschaft für Euch angekommen. Scheint etwas Seltsames zu sein.« Zum ersten Mal, seit der General den Raum betreten hatte, sah der König auf. Er richtete kurz seinen verwirrten Blick auf Greevus und streckte dann eine behandschuhte Hand aus. Der Soldat legte den Fetzen Ölpapier in die Hand des Königs und zog sich in die tanzenden Schatten des großen Kamins zurück. Achmed und Grunthor wechselten einen raschen Blick; dann schritt der Sergeant-Major zum Kamin hinüber, nahm einen Holzscheit vom Stapel und entzündete ihn mit einem Funken aus der Feuerstelle. Er kehrte zum Tisch zurück und brachte damit eine Lampe zum Brennen, während der König das kleine Stück Ölpapier entrollte, sich darüber beugte und es betrachtete. Einen Augenblick später las er es laut vor. An König Achmed von Ylorc Eure Majestät! In großer Sorge habe ich Rs Geschichte über die schreckliche Krankheit gehört, die Euer Volk befallen und Euch auf tragische Weise Eures Heeres beraubt hat. Ich spreche Euch meine Anteilnahme aus und biete jegliche Hilfe an, die Ihr in medizinischer Hinsicht oder bei den Begräbnissen benötigt.      Llauron, Fürbitter Gwynwald Der König und der Sergeant sahen sich erneut an; dann entließ Grunthor Greevus mit einem Nicken. Der General verneigte sich und schloss die Tür hinter sich. Kurz darauf nahm Grunthor seinen Helm ab, kratzte sich am Kopf und fuhr sich mit den sauber manikürten Händen durch die dichten Haare. »Was hältst du denn davon? Was denkst du?« Achmed hielt das Ölpapier vor das Feuer und las die Worte noch einmal. Dabei beobachtete er, wie die Flammen hinter dem Papier zitterten; ihre Farbe und Stärke war gedämpft. Schließlich sprach er. »Dass ich mich in Llauron geirrt habe.« Er warf das Ölpapier ins Feuer, wo es hell aufloderte und in einer Wolke beißenden Rauchs verschwand. Grunthor wartete geduldig, als sich Achmed in einen Sessel vor dem Kamin fallen ließ und die Fingerspitzen an die Lippen legte. Der König starrte in das Feuer, als wollte er ihm seine Geheimnisse entreißen. »Llauron ist nicht der F’dor«, sagte er. »Woher weißt du das?« »Rhapsody hätte so etwas nie zu Llauron gesagt. Ich bezweifle, dass sie überhaupt etwas von dieser Nachricht weiß. Die Geschichte über diese Krankheit und die Schwächung des Heeres ist natürlich eine Lüge, und Rhapsody lügt nie. Diese Botschaft ist sowohl an sie wie an mich gerichtet; es liegt eine verschlüsselte Mitteilung darin.« Der Sergeant nickte. »Weißt du, was es ist?« Achmeds Stirn legte sich über dem Schleier in Falten. »Ich glaube ja. Llauron hat diese Lüge aus einem guten Grund verbreitet; er glaubt selbst nicht an sie. Das ist seine Art, mir mitzuteilen, was er getan hat. Wenn er der F’dor wäre, hätte er mir niemals diese Botschaft geschickt.« Grunthor nickte, als Achmed sich nach vorn beugte und noch tiefer in das Feuer starrte. »Vielleicht versucht er, den F’dor aus seinem Versteck zu locken, indem er die Nachricht verbreitet, die Bolg seien verwundbar. Das würde den Teil mit der Schwächung des Heeres erklären.« Grunthors Gesicht nahm in den flackernden Schatten einen ernsten Ausdruck an. »Und du weißt, was das heißt.« Dunkle Wut brannte in den Augen des Königs. »Ja. Er glaubt, der Wirt des F’dor sei in der Lage, einen Vorteil aus dieser Information zu ziehen. Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich ihm dafür danken kann, dass er mein Königreich als Dämonenköder benutzt falls wir den Angriff überleben, der zweifellos in diesem Augenblick geplant wird.« Herrscherpalast, Bethania »Komm herein, Evans. Es ist unschicklich, in Eingängen zu lauern.« Evans, Tristan Stewards ältlicher Ratgeber und Botschafter, hatte schon seit einiger Zeit in der Tür zum Speisezimmer des Herrscherpalastes gestanden. Er seufzte auf und durchquerte den großen Raum. Seine Schritte hallten von dem polierten Marmorboden laut gegen die hohen Scheiben der vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster, die ein architektonisches Wahrzeichen des Palastes in Bethanias Hauptstadt waren. Das Licht aus dem Kamin warf lange Schatten, durch die er schnell und nachdenklich schritt. Beim Klang der Stimme des Herzogs von Roland hatte er seinen Zorn heruntergeschluckt. Sie klang vom Wein berauscht und troff vor Selbstmitleid. Es war eine Klangfarbe, die er in den letzten Wochen nur allzu oft gehört hatte. Evans war sich nicht sicher, ob der Herrscher die tragische Wendung der Ereignisse auf dem Winterfest betrauerte, unter dem extremen Druck des kürzlich übernommenen Oberbefehls über die orlandischen Truppen litt oder nur in Panik angesichts seiner bald bevorstehenden Hochzeit geraten war, doch all diese Umstände stellten eine ausreichende Entschuldigung dar. Dieser Mann war schließlich mit Madeleine verlobt, dem Biest von Canderre. In Botschafterkreisen lief der Witz um, Cedric Canderre brenne seine guten, starken Tropfen nur deshalb, weil er sicherstellen wolle, dass eines Tages jemand betrunken genug war, um seine Tochter zu heiraten. Tristan muss ein ganzes Fass getrunken haben, hatte Bois de Berne, der anvonderrische Botschafter, scherzhaft gesagt, als die Verlobung bekannt gegeben worden war. Evans erinnerte sich, wie er darüber gelacht hatte, doch jetzt war ihm beim Klang von Tristans Stimme und angesichts all der Ereignisse seit jenen Tagen nur noch zum Weinen zumute. »Ich dachte, Ihr wollt das hier sehen, mein Herzog«, sagte er, während er sich dem Tisch des Herrschers näherte und bemerkte, dass Tristan sein Abendessen kaum angerührt hatte, obgleich die Branntweinkaraffe neben seinem Glas leer war. »Es wurde bei Sonnenuntergang von einem der Bogenschützen auf dem westlichen inneren Turm in der Fußkapsel eines Botenvogels entdeckt, der sehr wahrscheinlich in einen der letzten Stürme geraten ist und sich verflogen hat.« Tristan starrte in das Glas, schwenkte den letzten Rest Branntwein und beobachtete, wie das Licht des Feuers den reich geschnitzten Esstisch umtanzte. Er seufzte, als Evans ihm das Ölpapier entgegen hielt, hob das Glas und spülte den Branntwein hinunter, bevor er die Hand nach dem Papier ausstreckte. Evans sah zu, wie die Miene des Herrschers von Roland sich veränderte, als die Schatten während des Lesens über sein Gesicht glitten. Erst war es Verwirrung, dann Entsetzen, das sich zu Verwunderung wandelte, und schließlich eine beinahe manische Freude. Evans rieb sich die Arme, um die plötzliche Kälte zu vertreiben, die ihn überkam, als der Prinz das Ölpapier niederlegte, den Kopf zurückwarf und brüllend lachte. In der Dunkelheit seiner Studierstube hörte der heilige Mann den Herzog von Roland lachen. Er wusste nicht, ob dieser Laut durch den Wind, das Herdfeuer oder nur durch die Tiefen seines Geistes, in denen er und Tristan miteinander verbunden waren, zu ihm getragen wurde, doch er hörte ihn so klar und deutlich wie das Knistern der Flammen. Er wusste nicht, warum der Prinz lachte, doch die Blutlust unter der fröhlichen Oberfläche erfreute ihn gewaltig. 35 Gwynwald, nördlich des Tar’afelflüsses Der Fluss, der von dem Wasserfall ausging, war eisverkrustet und vom Schnee gefleckt. Ashe kniete am Ufer zwischen den Zweigen der kahlen Holzapfelbäume nieder und verlor sich in seinen Gedanken. Er war hergekommen, um im klaren Wasser dieses Ortes von seinem Schwert das Blut abzuwaschen, das er als sein eigenes ansah, doch jetzt bereute er die Entscheidung. Es schien falsch und sogar selbstsüchtig zu sein, das eisige Wasser und den makellosen Schnee mit dem Blut zu beschmutzen, das er seit seinem letzten Kampf in den sanften Wäldern des nördlichen Navarne mit sich herumgetragen hatte. Nachdem er Stephens Festung verlassen hatte, war er auf eine lirinsche Räuberbande gestoßen, die zwar klein an der Zahl, aber äußerst mordlüstern gewesen war. Die Einwohner des Walddorfes, die noch vom Massaker des Wintersonnenwendfestes gezeichnet waren, hatten einen guten Kampf geliefert und ihre Häuser mit Mistgabeln, Eggen und Sensen verteidigt. Ashe hatte das brennende Stroh der Dächer gerochen, welche die Lirin aus einer Entfernung von mehreren Meilen angezündet hatten, und seine Aufmerksamkeit und sein Schwert daher zuerst dem Schmelzen des Schnees zugewandt, der auf den schweren Zweigen der immergrünen Bäume gelastet hatte, in deren Schutz das Dorf lag. Kirsdarkes Klinge war zu blauweißen Flüssen geronnen, als er sie über den Kopf gehoben und dem Element des gefrorenen Wassers befohlen hatte, zu tauen und sich von den Bäumen zu ergießen, damit es das Feuer löschte. Einen Moment lang hatten sowohl die Dorfbewohner als auch die Banditen in stiller Verwunderung dagestanden und ihn angestarrt, als wären sie von den Lichtwellen auf dem glitzernden Wasserschwert hypnotisiert worden. Doch kurz darauf hatte eine noch tiefere Besessenheit wieder die Herrschaft übernommen, und die Lirin waren mit ihren Verwüstungen Fortgefahren. Ashe war keine andere Wahl geblieben, als sich auf die Seite der Dorfbewohner zu schlagen, bis auch der letzte Lirin tot gewesen war. Er hatte sich von der klammernden Dankbarkeit freigemacht und war durch den Rauch davon getaumelt, bis er diesen Ort erreicht hatte, wo er das Grauen von seinem Schwert und seiner Seele abwaschen konnte. Doch auch jetzt, als er neben dem Bach kniete, fühlte er sich unbehaglich. Wir sind nicht allein, flüsterte der Drache in seinem Blut. Er seufzte zustimmend. Am Rand seiner Sinne näherte sich jemand. Der Drache zuckte unter seiner Haut vor Aufregung. Lass mich allein, beharrte seine Wyrm-Natur. Ashe sah keine andere Möglichkeit und ergab sich seinem tieferen Selbst. Einen Augenblick später hatte er die Antwort. Der Drache in seinem Blut erkannte die eigene Art. Anborn näherte sich dem Bach. Ashe steckte Kirsdarke zurück in die Scheide. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen; also ahnte Anborn zweifellos, dass er hier war. Er nahm die Handschuhe ab, durchbrach die Eisdecke, nahm ein wenig von dem eiskalten Wasser in die hohle Hand und spritzte es sich ins Gesicht. Erneut schöpfte er Wasser und trank es; dann drehte er sich nach seinem Onkel um. Anborn war abgestiegen und näherte sich dem Fluss zu Fuß. Als er nur mehr wenige Schritte von Ashe entfernt war, blieb er stehen und nickte. »Neffe.« Ashe lächelte. »Onkel.« Anborn schnaubte. »Wenn du willst, kehren wir zu unseren alten Bezeichnungen zurück. Ich kann dich ›Nutzloser‹ nennen und du mich aufgeblasener Bastard.‹« »Das habe ich nur ein einziges Mal getan, Onkel, und ich glaube, ich habe mich dafür entschuldigt. Ich spüre immer noch den Griff meines Vaters im Nacken; das war ein bleibender Eindruck.« Der cymrische General nickte. »Ich komme gerade vom Palast deines Vaters. Er hat noch gelebt, als ich ihn verlassen habe.« »Daran hatte ich keinen Zweifel, Onkel«, erwiderte Ashe freundlich. »Aber ich weiß nicht, warum du hier bist so tief im Gwynwald.« Anborn kicherte. »Ich habe diese Lichtung schon neun Jahrhunderte vor deiner Geburt gekannt, mein Knabe. Du wirst dich erinnern, dass ich es war, der sie dir gezeigt hat.« Ashe nickte. Anborn hatte ihn tatsächlich einmal in seiner Jugendzeit beim Spielen im Wald angetroffen, ihm die Lichtung mit den Apfelbäumen gezeigt und ihn gelehrt, die kleinen, harten Äpfel zu werfen sehr zum Missfallen seines Vaters, der später die filidischen Priester hatte besänftigen müssen, deren Fensterscheiben Ashes bevorzugtes Ziel gewesen waren. Er verspürte ein seltsames Gefühl von Wärme. Er hatte wenigstens eine angenehme Erinnerung an seinen Onkel, wie kurz sie auch sein mochte. Diese Wärme war allerdings mit Angst vermischt. Die Lichtung war die Schwelle zu dem Wasserfall, und der Wasserfall verbarg sein geheimes Versteck eine Torfhütte mit nur einem Zimmer hinter der schieferfarbenen Wand des herabstürzenden Wassers. Nur eine andere Person kannte diese Hütte: Rhapsody. Tief unter der Oberfläche rührte sich seine Drachennatur wieder und knisterte vor Spannung. Die Sicherheit der kleinen Hütte war für ihn von allergrößter Bedeutung; es war einer der wenigen Orte auf der Welt, wo er vor jeder Nachstellung sicher war. Mehr noch, er hatte Rhapsody ermutigt, ihn dort zu treffen, falls sie ihn jemals brauchte oder ein Versteck suchte. Anborns Gegenwart schien den Irrsinn dieses Angebotes zu beweisen. Mein, flüsterte der Drache wütend. Sein Onkel und dessen Anwesenheit an diesem Ort stellten nun eine Bedrohung dar. Gerade als sich die eifersüchtige Habgier seiner Wurmseite zu regen begann, wichen seine pragmatischen menschlichen Ansichten zurück. Zwischen zwei Herzschlägen griff er in sich selbst hinein und suchte den Ort, an dem er mit dem Element des Wassers verbunden war, der reinen, elementaren Flüssigkeit seiner Seele. Dieses Wasserband, das in ihm schlummerte, erhob sich nun zu glitzerndem Leben und sang zu den Wassern der gefrorenen Kaskade, die zu einem bloßen Rinnsal unter dem grauen Frost des Winters geworden war. Zuerst war der Strom still, doch dann antwortete die ruhige Stimme des schlafenden Wasserfalls unter der Eisschicht. Niemand ist gekommen, flüsterte der Wasserfall. Er weiß es nicht. Der Ort, den ich bewache, gehört noch immer dir allein. Ich habe ihn gut beschützt. Vielen Dank, erwiderte Ashe still durch das elementare Band. Falls die Frau kommen sollte, lass sie hinein bewache sie gut. Beschütze sie für mich. Das Knirschen von brechendem Eis antwortete ihm; es war nur die Spanne eines Herzschlages vergangen. »In der Tat«, sagte er zu seinem Onkel. »Ja, das hast du getan. Aber warum bist du jetzt hier? Sicherlich nicht, weil du sehen willst, ob ich die Technik des Apfelwerfens noch beherrsche.« »Bestimmt nicht«, pflichtete Anborn ihm knapp bei. »Ich bin hergekommen, um dir zu sagen, dass ich dir einen Gefallen erweisen will.« »Ich erinnere mich nicht, dass ich dich um einen gebeten habe.« »Nein, aber ich vermute, du wirst ihn trotzdem schätzen.« »Dann vielen Dank dafür«, sagte Ashe milde. »Hast du etwas dagegen, wenn ich frage, worum es geht?« »Überhaupt nicht. Ich habe das Leben deines Vaters verschont, auch wenn sein Tod schon überfällig ist und er ihn wahrlich verdient hat. Er blieb unangetastet, weil du so freundlich zu meinen Soldaten warst nur deshalb. Meine Schuld dir gegenüber ist nun beglichen, Neffe. Die Waagschalen sind im Gleichgewicht.« Ashe lächelte schwach über diesen sorboldischen Ausdruck und versuchte seine Verwirrung zu unterdrücken. »Ich schätze deine Nachsicht. Weswegen wolltest du Llauron umbringen? Ich wäre vielleicht geneigt gewesen, dir zu helfen, wenn der Grund gut genug ist.« Der cymrische General sah ihn nachdenklich an und streckte dann die Hände in den ledernen Handschuhen aus. »Du wärest geneigt gewesen ...«, sagte er nach einem Augenblick. »Jeder Mensch mit einem fühlenden Herzen wäre es gewesen, wenn er die Frau gesehen hätte, die dein Vater im Schnee des südlichen Waldes hatte sterben lassen wollen.« Ashe schüttelte den Kopf. »Llauron? Er wollte eine Frau sterben lassen?« »Verleugne nicht, dass er zu solchen Dingen fähig ist. Dein Vater hat mehr Schändlichkeiten begangen, als du Haare auf dem Kopf hast mehr, als ich auf dem Gewissen habe«, sagte Anborn mürrisch. »Ich bezweifle nicht, dass mein Vater zu allem fähig ist, zu Gutem oder Bösem, solange es seinen Plänen dient«, erwiderte Ashe. »Aber es passt nicht zu ihm, dass er eine Frau absichtlich in einer ausweglosen Lage zurücklässt, vor allem, wenn es jemand aus seinem Gefolge sein sollte.« »Das ist sie wohl nicht.« »War sie eine Lirin?« »Zum Teil.« Plötzlich schnürte sich Ashes Magen zusammen. »Wer war sie?« Anborn sah fort und flötete. Der Drache in Ashes Blut folgte sogleich den Schwingungen des Lautes bis zu den Ohren des Pferdes in einer Entfernung von tausend Schritten; es stand versteckt in einem Wäldchen aus Winterbirken. Der Lärm drang an die Gehörknochen des Tieres und schickte ein Signal ins Gehirn, welches das Pferd herbeirief. Sekunden später gehorchte es. Er spürte die Huftritte des Tieres, lange bevor er sie hören konnte, und maß instinktiv die Atemzüge, das Augenblinzeln und die langen Schritte, die das Tier trotz einer Wunde am rechten Vorderlauf machte. Ashe schüttelte den Kopf. Der Drache lauerte zu dicht unter der Oberfläche und war so wach, dass Ashe keine Ruhe fand. Der General wandte sich wieder an seinen Neffen. »Es ist unwichtig. Sie war jemand, die ihn um Hilfe gebeten hatte und um einen Rat in einer wichtigen Angelegenheit, und er hat sie in Gefahr gebracht. Die Verkleidung, die er ihr gegeben hat, hätte sie nicht einmal neben einem warmen Kamin vor dem Frost schützen können, geschweige denn draußen in den gefrorenen Wüsten des südlichen Waldes und dazu noch in einem Schneesturm. Keine Nahrung, kein Wasser, keine Verstärkung, keine Hilfe jedweder Art. Jämmerlich und dumm und vor allem ein Beweis, dass Llauron genauso blind wie herzlos ist.« Ashe atmete flach und versuchte, sein hämmerndes Herz unter Kontrolle zu bringen. Er spürte, wie die Hitze, die ihren Ausgang auf seinem Gesicht genommen hatte, durch seinen gesamten Körper strömte und seine Wyrm-Natur noch stärker entflammte. »War diese Frau hübsch?« Das Pferd trottete auf die Lichtung. Es war ein schöner schwarzer Hengst mit einer geflochtenen Mähne. Er blieb neben Anborn stehen und wieherte leise. Der General klopfte ihn auf die Wange und schwang sich dann mit einer fließenden Bewegung in den Sattel. Er hob die Zügel auf, sah zu Ashe hinunter und grinste. »Man könnte es so sagen.« Er gab dem Hengst einen geschnalzten Befehl, und das Tier folgte seinem Kopfnicken zum eisigen Fluss, wo es an einer seichten, getauten Stelle trank. Als sein Durst gelöscht war, hob es den Kopf. Anborn warf sich den Mantel über die Schulter und war zur Abreise fertig. Ashe lehnte sich lässig gegen einen Baum und versuchte, das Zittern in seinem Körper zu unterdrücken und nicht dem steigenden Zorn des Drachen nachzugeben. Sein Kopf schmerzte wegen des heftigen Summens, das in seinem Blut brauste, als das Tier in ihm alle Einzelheiten von Anborns Mantel in sich aufnahm. Er war mit Blut von mehr als einer Person befleckt Dorndrehers war zweifellos dabei, denn es passte zu ähnlichen Blutflecken auf seiner eigenen Satteldecke. Und dann fand sein Drachensinn verborgen in einer Falte der Kapuze das, was er zu finden befürchtet hatte. Eine Strähne goldenen Haars, rein wie das Sonnenlicht. »Geht es dieser Frau gut?«, fragte er. Seine Stimme verriet seine Sorgen mit einem leichten Zittern. »Ist sie verletzt?« Anborn kicherte leise und zog die Kapuze hoch. »Kommt darauf an.« »Worauf?« Ashe packte den Baum fester, als Wellen aus fremder Kraft ihn durchfluteten und ihm Übelkeit verursachten. »Ob du glaubst, dass ich meine tiefere Natur beherrschen kann, wenn ich mit einer rasend schönen Frau einer dankbaren Frau zusammen bin, die bloßgestellt, nackt und allein in meiner Hand ist. Ein vernünftiger Spieler würde dagegen setzen. Auf Wiedersehen, Neffe.« Er streichelte den Hals des Pferdes und ritt in den Wald. Sobald Anborn aus der Reichweite seiner Sinne verschwunden war, ließ Ashe den Baum los, an dem er sich festgehalten hatte. Er packte den Griff seines Schwertes und zog es wütend aus der Scheide. Dann drehte er sich um und stieß es in den klaren, fließenden Bach, befleckte das sprudelnde Wasser und drehte es in den Strömungen, bis diese rot wurden. 36 Der Baumpalast im Kreis, Gwynwald Llauron seufzte, als die schwere, beschnitzte Tür seines Hauses aufschwang und mit dem Lärm eines Donnerschlages wieder zufiel. Er hatte erwartet, dass Ashe früher oder später hier auftauchen würde, seit Anborn vor zwei Wochen diese Tür aus den Angeln gehoben hatte. Als seine Wachen kurz darauf die Tür wieder öffneten und in den Raum strömten, gab er ihnen ein Zeichen. »Alles in Ordnung, meine Herren. Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten.« Er stand auf, ging an seinem finster blickenden Sohn vorbei und schloss die Tür sanft. »Ich wünsche auch dir einen guten Tag, Gwydion. War der Hintereingang versperrt, oder ist es für dich und deinen Onkel ein Zeitvertreib geworden, die alte Tür der Herberge bei den Wegkreuzungen zu zerstören? Ich sehe, du hast dich entschlossen, dich ihm zu zeigen. Glaubst du wirklich, das war klug?« »Nenn mir einen guten Grund, warum ich diesen Ort nicht sofort unter deinem Hintern anzünden sollte.« Das Feuer in Ashes Stimme hätte den ganzen Baumpalast in Brand setzen können. »Hmm, mal sehen: Wie wäre es mit bloßer Verschwendung? Was hat mein Heim dir getan, dass es deinen Zorn verdient? Du musst wirklich lernen, dein Temperament zu zügeln. Dieser Gefühlsausbruch macht dich lächerlich. Wenn du ein cymrischer Herzog wärest, würdest du wie ein Esel wirken.« »Vielleicht wird das eines Tages wirklich der Fall sein. Doch zu diesem Zeitpunkt suchst du bestimmt nach einem cymrischen Herzog außerhalb deiner Familie, denn sowohl Anborn als auch ich überlegen uns, alle Ansprüche zu widerrufen und unsere Bande mit der Familie zu lösen.« Zum ersten Mal seit seiner Ankunft sah Ashe, wie sein Vater die dunklen Augenbrauen zusammenzog und sich schwarze Wut über sein Gesicht legte. »Vorsicht, Gwydion, das klang wie eine Drohung. Ich brauche dich wohl nicht daran zu erinnern, wie ich auf Drohungen reagiere.« Ashe war das inzwischen völlig gleichgültig. »Wieso? Wie konntest du Rhapsody das antun? Warum versuchst du, sie umzubringen?« Llaurons Gesicht wurde wieder so sanft wie zuvor. Offenbar hatte Anborn seinem Sohn von Rhapsodys Rettung berichtet, nicht aber von dem Plan. »Welch ein Mist. Ich werde diese Bemerkung nicht dadurch billigen, dass ich darauf antworte.« »Was, im Namen deines heiligen All-Gottes, hat sie überhaupt für dich in diesem Wald gemacht? Du hast jede Menge Waldhüter und Späher, die dieses Gebiet kennen; sie kannte es nicht.« »Darüber möchte ich mit dir nicht reden. Hättest du es vorgezogen, wenn ich den Plan so vorangetrieben hätte, wie sie es wollte? Ich hatte vorgehabt, ihr Khaddyr als Verstärkung zu schicken. Während du unglücklicherweise anderweitig beschäftigt warst und dich irgendetwas davon abhielt, zu den vereinbarten Zeiten zu erscheinen, stellte sich heraus, dass er in Wirklichkeit der Verräter in unserer Mitte ist.« Ashes Worte kamen in einem erstickten Keuchen heraus. »Khaddyr? Es ist Khaddyr? Nicht Lark?« »Anscheinend war meine ursprüngliche Information falsch. Lark könnte ebenfalls in die Verschwörung verwickelt sein; ich bin mir nicht mehr sicher. Aber gerade als ich Khaddyr erzählen wollte, wo Rhapsody war, stellte ich fest, dass er Dinge wusste, die nur die Abtrünnigen wissen konnten, besonders dass die lirinschen Banditen durch Avonderre gezogen waren. Außerdem sind etliche der unter seiner Obhut stehenden Kranken, die möglicherweise den Wirt des F’dor identifizieren konnten, auf geheimnisvolle Weise umgekommen. Unter diesen Umständen schien es mir besser, niemanden zu schicken.« »Du hast niemanden geschickt? Bist du verrückt? Sie hatte erwartet, Khaddyr zu treffen, und du hast niemanden geschickt?« »Ich hatte niemanden, der vertrauenswürdig war.« Die Sehnen an Ashes Hals standen hervor wie Eisenbänder. »Niemanden? Und was ist mit mir? Du weißt, dass ich schon seit Wochen in der Nähe gewesen bin.« »Du warst ebenfalls nicht die richtige Wahl.« Die blauen Drachenaugen verengten sich zu Schlitzen. »Würdest du mir das bitte erklären?« Llauron gab den durchdringenden Blick ohne Blinzeln zurück. »Nein.« Ashe lief wütend durch den Raum. »Also hast du entschieden, dass es richtig sei, Rhapsody allein den Elementen zu überlassen? Anborn hat gesagt, du wolltest sie ohne Nahrung und Verstärkung im Schnee sterben lassen. Er hat gesagt, ihre Kleidung hätte sie nicht einmal innerhalb eines Feuers vor Erfrierung geschützt, geschweige denn im Wald.« »Nun, sie ist deine Geliebte. Vielleicht solltest du selbst mit ihr über ihre unpassende Kleidung sprechen.« »Es war dein Plan!«, explodierte Ashe. Llauron sagte nichts darauf. Ashe ging zum Fenster, starrte auf die windgepeitsche Wiese hinaus und fuhr sich wütend mit den Fingern durch die Haare. Als er sich wieder zu Llauron umdrehte, glühte in seinen Augen ein blaues Feuer. »Das ist das Ende, Vater das Ende, verstehst du? Ich werde deinen verrückten Plänen ein für alle Mal ein Ende setzen. Rhapsody ist nicht länger deine Schachfigur; du musst dir jemand anderen suchen, um deine Ziele zu erreichen. Lass sie aus dem Spiel.« Der belustigte Blick des Fürbitters wich einem kalten Starren. »Du willst dich mir entgegenstellen?« »Ja.« »Wie?« »Ich werde ihr deinen Plan verraten, Vater. Ich werde sie warnen und ihr verbieten, mit dir irgendwohin zu gehen.« Llauron kicherte. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du mich einmal in ziemlich bösen Worten angeklagt, sie schamlos zu missbrauchen, indem ich für sie die Entscheidungen treffe. Und was machst du jetzt, mein Sohn? ›Es gibt Dinge, die du nicht beeinflussen kannst, und einiges kann man nicht wieder gutmachen‹, hast du gesagt. Wie wird sie sich wohl fühlen, wenn sie deine Rolle in der ganzen Sache entdeckt?« Ashe rieb sich die Faust mit der anderen Hand. »Sie wird mir vergeben. Sie wird mich verstehen.« »Wird sie das?« Der Fürbitter goss einen Schluck Branntwein in ein Kristallglas und hielt es gegen den Feuerschein. »Was hast du mir noch letzten Frühling erzählt? Du könnest nicht erwarten, dass jemand zu dir hält, wenn du ihn als Spielfigur benutzt hast, um zu ihrem Nachteil deine eigenen Ziele durchzusetzen ... Ja, das war es.« Er nippte an dem Getränk und sah Ashe ernst an. »Wenn du dich jetzt einmischst und den Lauf der Ereignisse änderst, wirst du damit nicht nur meinen Tod meinen wirklichen Tod heraufbeschwören, sondern auch Khaddyr den Stab des Fürbitters übergeben. Willst du das?« »Nein, natürlich nicht.« »Und was Rhapsody angeht: Was wird Khaddyr mit ihr machen, wenn er sie nicht mehr als nützlich für sich ansieht, da sie ihm nicht länger als Botin zur Verfügung steht?« Llauron spürte quer durch den Raum die Kälte, die von Ashes Erschauern ausging. Als er sprach, klang seine Stimme freundlich. »Du musst den Dingen nun ihren Lauf lassen, Gwydion. Rhapsody muss ihre Rolle spielen, so wie wir alle. Sie wird es überleben wir alle werden es überleben. Mit ein wenig Glück werden wir am Ende das bekommen, was wir haben wollen.« »Warum soll ich deinem Urteil über Rhapsodys Schicksal vertrauen? Du hast ihr Verstärkung versprochen, aber sie allein im Sturm zurückgelassen. Wie konntest du das jemandem antun vor allem Rhapsody? Wie konntest du von ihr unerschütterliche Treue verlangen und sie dann dem Tod in die Arme treiben?« »Bist du jetzt nicht ein bisschen theatralisch? Sie ist schließlich nicht gestorben, oder?« »Was nicht dein Verdienst ist. Du solltest dich in Grund und Boden schämen, aber ich bezweifle, dass du so viel Ehrgefühl besitzt.« »Verschone mich mit deiner selbstgerechten Entrüstung. Davon hat mir dein Onkel schon genug gegeben.« »Würdest du eine mörderische Wut bevorzugen? Das kommt dem, was ich fühle, sowieso viel näher.« »Fühle, was du willst, aber lass mich damit in Frieden. Ich habe kein Verständnis für diese Respektlosigkeit und werde sie nicht hinnehmen.« »Hast du eine Vorstellung davon, was ihr in ihrem Aufzug in Sorbold hätte zustoßen können?« »Nichts, was ihr nicht früher schon zugestoßen ist.« Ashes Augen verengten sich noch stärker vor Zorn. »Was soll das heißen?« »Also bitte, Gwydion. Als sie herkam, war sie nicht gerade eine errötende Jungfrau. Das weißt du doch genauso gut wie alle anderen.« Eine Blumenvase zerplatzte hinter ihm und ließ Wasser und Porzellanscherben auf seinen Schreibtisch regnen. »Nein, wie männlich. Willst du mir damit sagen, du findest es beleidigend, dass sie keine Ehre mehr hat, die du verteidigen kannst?« »Rhapsody hat mehr Ehre in einer Haarsträhne als du in deinem ganzen selbstsüchtigen Leben. Ich hoffe, du willst nicht behaupten, sie habe das verdient, was ihr zugestoßen ist. Ich möchte Vatermord der Liste meiner Verbrechen nur ungern hinzufügen.« »Keineswegs. Ich war lediglich der Meinung, dass Rhapsody mit allem fertig werden würde, was ihr widerfahren könnte. Sie ist schließlich die Iliachenva’ar.« »Sie hat dir immer geholfen und war stets freundlich zu dir. Warum hasst du sie so?« Llauron starrte seinen Sohn ungläubig an. »Hast du den Verstand verloren? Wovon redest du? Ich liebe dieses Mädchen wie meine eigene Tochter und habe die größte Hochachtung vor ihr.« »Oh, natürlich, wie eine Tochter. Kein Wunder, dass du geglaubt hast, du könntest sie ungestraft missbrauchen und manipulieren.« Nun war der Zorn in beiden Augenpaaren gleich groß. »Warum willst du ihr wehtun? Bist du eifersüchtig? Hast du Angst, sie könnte die Herzen der Cymrer auf eine Weise gewinnen, die dir immer verschlossen geblieben ist? Bezweifelst du ihre Klugheit, falls sie Rhapsody als ihre Führerin erwählen würden?« »Natürlich nicht. Rhapsody wäre eine großartige Führerin. Sie hat ein edles Herz und ein wunderbares Aussehen. Ich habe überhaupt nichts gegen sie.« »Warum also? Wenn du sie liebst, sie respektierst und glaubst, dass sie eine großartige Führerin ist, warum versuchst du dann, sie umzubringen? Oder bist du etwa der Meinung, dass ich sie nicht verdient habe? Ist es das? Versuchst du, sie für dich selbst zu behalten?« »Das ist absurd.« »Warum dann? Sag es mir, Vater. Warum? Warum versuchst du das einzige Glück zu zerstören, das ich möglicherweise je haben werde? Hasst du mich so sehr, dass du mich wieder im Unglück sehen willst?« Wut erfüllte Llaurons Gesicht, als er sich abwandte. »Welch ein dummes Geschwätz.« »Dann erkläre es mir, Vater. Erkläre mir, warum du mein Glück gestört und meine Hochzeit mit der einzigen Frau hintertrieben hast, die mich wieder zu einem ganzen Menschen machen kann. Die mich zu einem ganzen Menschen gemacht hat.« Einen Moment lang sagte der Fürbitter nichts. Er ging zum Fenster und starrte hinaus in die Dunkelheit; seine Gedanken beschriften alte Pfade. Endlich meinte er mit tonloser Stimme: »Sag mir, Gwydion, glaubst du, deine Drachenseite ist ein stärkerer Teil von dir, als es bei mir der Fall ist?« »Ja, offensichtlich, sonst würden wir nicht deinen wahnsinnigen Plan verfolgen.« »Also gut. Ich vermute, du weißt, was deiner eigenen Mutter passiert ist, als sie dem Kind eines Drachen das Leben geschenkt hat?« Llauron spürte, wie unter der Kapuze das Blut aus Ashes Gesicht wich. »Ich habe dir die Einzelheiten bis jetzt erspart. Willst du sie hören? Willst du wissen, wie es ist, einer Frau, die man zufälligerweise auch noch liebt, zuzusehen, wie sie unter Schmerzen stirbt, während sie versucht, dein Kind zur Welt zu bringen? Ich will es dir gern beschreiben. Da das Drachenjunge instinktiv die Eierschale durchbrechen und sich mit den Krallen einen Weg hinausbahnen will...« »Halt«, befahl Ashe mit einer Stimme, die so beißend wie Säure war. »Warum tust du das?« »Um deine Frage zu beantworten, undankbarer Sohn. Ich weiß, dass du sie liebst. Ich wusste, dass du sie lieben würdest, noch bevor du sie gesehen hattest. Wer würde sie nicht lieben? Wie hättest du ihr widerstehen können? Und ich wusste auch, dass deine Ausbildung und die natürliche Gelassenheit unserer Familie bei dir keine tiefen Auswirkungen hatten. Du warst immer schon verrückt, hast von deiner toten Seelengefährtin geplappert und Anwyn andauernd mit Fragen über etwas belästigt, das nur ein Traum war. Als es offensichtlich wurde, dass du dein Herz an diese Frau verloren hattest, musste ich dazwischen treten und dich an deine Verpflichtungen erinnern, die wichtiger als die Glut deiner Lenden sind und nicht nur die verantwortungsvolle Wahl einer Ehepartnerin, sondern auch die Zeugung eines Erben beinhalten. Und das wird aller Wahrscheinlichkeit nach bedeuten, dass deine Frau wie die meine bei der Geburt sterben wird. Dein Kind wird noch drachenähnlicher sein als du; also sind die Aussichten der Mutter auf ein Überleben nicht groß. Wenn schon deine eigene Mutter es nicht geschafft hat, wie wird es dann wohl deiner Gemahlin ergehen? Du wirfst mir vor, dass ich dich hasse wie dumm bist du doch! In Wirklichkeit ist es die Liebe zu dir, die meine Handlungen bestimmt. Ich will nicht, dass du so leidest wie ich. Wenn die Lirin-Königin meinen Heiratsantrag angenommen hätte, wären mir die Schmerzen angesichts von Cynrons Tod erspart geblieben, doch das Leben geht nun einmal eigene Wege. So musste ich mit Entsetzen und der größten Trauer meines Lebens dem zusehen, was eigentlich meine größte Freude hätte sein sollen. Und ich will nicht, dass du meinen Fehler wiederholst. Ich will nicht, dass Rhapsody für unsere Welt verloren geht. Du würdest kraftlos werden, und diese Welt wäre noch dunkler. Du kannst mich in deiner Enttäuschung gern schlagen, aber die Wahrheit ist, dass ich versuche, dir Schmerzen zu ersparen, von denen du dich nie erholen wirst.« Llauron hörte nicht das leiseste Geräusch, als er verstummte; es war, als hätte sogar die Luft den Raum verlassen. Er drehte sich langsam nach seinem Sohn um, der starr am anderen Ende des dunklen Studierzimmers stand. Llauron machte einen Schritt auf ihn zu und sah, wie Ashes Körper sich entspannte. Das war ein Anzeichen dafür, dass er die Dinge überdachte. »Wir werden auf Kinder verzichten«, sagte er mit einer Stimme, die von Trauer angerührt und schwach vor Erleichterung war. »Rhapsody adoptiert jedes Kind, das ihre Hilfe benötigt. Wir werden also nicht kinderlos sein. Es wird mehr als genug Liebe in unserem Leben geben, mit ihnen oder ohne sie.« »Das ist keine Wahlmöglichkeit«, sagte Llauron kalt. »Du weißt es inzwischen besser. Du hast die Verantwortung, einen Erben zu zeugen, und er muss von deinem Blut sein. Wie könnte ein Kind ohne cymrische Abstammung ein so mächtiges Volk regieren? Du hast die Gnade, von der Linie MacQuieths abzustammen, das Blut der Seren-Könige und die elementaren Bande des Drachen zu besitzen. Wer sonst könnte sicherstellen, dass die Menschen in Frieden leben? Wer sonst könnte den Schaden wieder gutmachen, der von deinen Großeltern angerichtet wurde?« Ashe spürte, wie die Erleichterung gleich einer Eierschale über ihm auseinander brach. »Manwyn.« »Wie bitte?« »Manwyn. Sie hat es bereits vorhergesagt. Sie hat mir ganz deutlich gesagt, dass die Mutter meiner Kinder bei deren Geburt nicht sterben wird, obwohl meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist. Sie ist außer Gefahr, Vater. Rhapsody ist sicher. Die Seherin hat es gesagt.« Llauron dachte nach. »Woher willst du wissen, dass sie Rhapsody gemeint hat?« Wut funkelte in Ashes Augen. »Wie ich dir schon gesagt habe, werde ich keine andere Frau als sie haben. Keine andere Frau wird meine Kinder empfangen; daher ist sie nicht in Gefahr.« Llauron seufzte. »Es bleibt mir nicht mehr viel Zeit mit dir, Gwydion. Daher will ich meine letzten Ratschläge an dich sorgfältig auswählen und hoffen, dass du einmal auf mich hören wirst. Nimm dich vor Prophezeiungen in Acht; sie sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen. Die Gabe, in die Zukunft zu sehen, ist oft den Preis der Irreführung nicht wert.« »Vielen Dank für diesen Ratschlag. In der Zwischenzeit höre ich auf, in den Schatten der Angst zu leben, und nehme, was mir rechtmäßig gehört.« »Gut, gut.« Llauron rieb sich die Hände, als wolle er sie wärmen. »Das ist schon besser. Ich freue mich zu sehen, dass du wieder zu dir kommst und Frieden mit deiner Bestimmung schließt.« Ashe lächelte unter seiner Kapuze. »Das ist überhaupt nicht das, was ich gemeint habe. Was mir rechtmäßig zusteht, ist mein eigenes Leben, und ich habe lange genug gelebt, ohne selbst darüber entscheiden zu können. Ich werde meine Bestimmung ehren und meinen Verpflichtungen nachkommen, so gut es mir möglich ist. Ich werde alles tun, um Rhapsody zu meiner Frau und der Herrin der Cymrer zu machen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Bessere dafür gibt das hast du selbst gesagt.« Llauron seufzte. »Du hast Recht, das habe ich gesagt, oder? Ein Wort der Warnung noch: Erinnere dich an deine Großeltern. Erhebe niemals die Hand gegen sie und lasse niemals zu, dass eure persönlichen Streitereien Auswirkungen auf eure Untertanen haben.« »Natürlich nicht.« Ashe war zutiefst beleidigt, auch wenn er es nicht zeigte. »Also gut. Da du darauf bestehst und die Zeit knapp wird, möchte ich dir hiermit meinen Segen geben.« Ashes Kinn klappte herunter. »Wie bitte?« Llauron lächelte, aber in seiner Stimme lag eine Spur von Verärgerung. »Verdirb nicht diesen zärtlichen väterlichen Augenblick, Gwydion. Knie nieder.« Ashe kniete sich vor ihn, und Llauron legte eine Hand auf die kupfernen Locken; etwas Sehnsüchtiges lag in seinem Blick. »Sei vor allem glücklich. Achte und ehre Rhapsody.« Ashe wartete, doch es kam nichts mehr. »Ist das alles?«, fragte er schließlich. »Keine Belehrungen?« Llauron lachte. »Nein, keine Belehrungen. Ich habe dir gesagt, dass die Zeit knapp wird. Zu viele Worte verwässern die Bedeutung. Ich will wirklich, dass du glücklich bist, und wenn du das tust, was ich dir vorgeschlagen habe, wirst du es sein. Wie wäre es mit etwas Branntwein? Es gibt einen Aspekt am Menschsein, den ich vermissen werde: dann und wann ein gutes Glas dieses Elixiers.« Ashe ging mit ihm zum Schrank, und das warme Licht des Sonnenuntergangs malte die Umrisse des Fensters rosafarben und golden auf den Boden. »Vater, du musst nicht ohne das leben, nur weil du ein Drache bist. Ich kenne einen Ort, an dem ich dir einen großen Trog machen lassen kann. Es sollte dir möglich sein, von Zeit zu Zeit einen guten Schluck zu nehmen.« »Barbar.« Die Wachen vor der Tür hörten Lachen nach draußen dringen und seufzten. 37 Haguefort Gerald Owen, der Kammerherr von Haguefort, war auf dem Weg zu seinem Schlafgemach und wollte sich für den Abend zurückziehen. Dabei kam er an der Tür zur Bibliothek vorbei. Obwohl die Doppeltür geschlossen war, blies ein eisiger Windstoß unter ihr hervor. Gerald blieb erstaunt stehen und legte die Hand gegen die Mahagonitäfelung. Sie war eiskalt. Vielleicht ist der Herzog noch auf, dachte er, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Herzog Stephen hatte sich bereits vor einigen Stunden zurückgezogen, da er Ruhe brauchte, um früh am nächsten Morgen zusammen mit dem Befehlshaber seines Regiments die neu wieder aufgebauten Kasernen und die Mauer zu besichtigen. Gerald öffnete die Tür. Die kalte Luft stach ihm in Gesicht und Haut. Gerald war zwar kein alter Mann, hatte aber die Jugendjahre schon lange hinter sich gelassen und war schon anfällig für die Schmerzen geworden, die seinen Vater in dessen späteren Jahren geplagt hatten. Wie sein Vater beschwerte sich auch Gerald nie und sah jedes Zucken und jeden Stich als etwas an, das er still und in Würde zu erdulden hatte, damit er nicht die Aufmerksamkeit des Herzogs oder des ihm anbefohlenen Hauspersonals auf sich zog. Dieselbe Verhaltensweise verlangte er allerdings auch von seinem Personal. Der riesige, dunkle Raum war mit Schatten und Balken aus weißem Licht erfüllt, die durch die hohen Fenster hereinfielen und Widerspiegelungen des Schnees waren. Diese sich auftürmenden Schatten tanzten zur Musik des Windes über die Möbel. Ein unharmonisches Jammern stieg und fiel, als der Wind um die Festung fegte und wild mit den Vorhängen der offenen Balkontür spielte. Der Kamin war kalt und dunkel, die Asche tot. Gerald betrat leise die Bibliothek und schloss die Tür. Das Heulen des Windes verringerte sich ein wenig, und die Vorhänge beruhigten sich; anstatt zu flattern, raschelten sie nur noch. Seine Schritte wurden von dem heulenden Wind verschluckt, während er quer durch den großen Raum zur Balkontür ging. Dabei wanderte er abwechselnd über dichte Seidenteppiche und breite Felder aus Schneeschatten, die auf dem polierten Marmor schimmerten. Als er die Tür erreicht hatte, schaute er hinaus auf den Balkon. Die Steinbänke waren hoch mit reinem Schnee bedeckt, genau wie das Steingeländer, das mit reichen Verzierungen geschmückt war und den halbrunden Balkon umschloss. Der Schneeteppich auf dem Boden des Balkons jedoch war von zahlreichen Tritten aufgewühlt, die kaum größer als die eines Kindes waren. Die Abdrücke der Zehen erinnerten ihn an die eines verzweifelten Kätzchens; sie führten mehrfach zum Rand und wieder zurück. Niemand befand sich auf dem Balkon. Gerald eilte hinaus in die bitterkalte Nacht, bedeckte die Ohren mit den Händen und sah hinunter auf den Boden. Der Schnee auf den Tannen und im Hof war unversehrt; es hatte sich eine glatte und klare Eisschicht gebildet, die von Kristallen aus den beharrlichen Windstößen bestäubt wurde. Der Kammerherr stellte beruhigt fest, dass niemand hinuntergefallen war, und eilte zurück in die Bibliothek, schloss die Balkontüren und verriegelte sie. Die Schreie des Windes verklangen zu einem fernen Gejammer. Gerald Owen nahm sein Taschentuch heraus. Er bückte sich langsam und wischte die Schneekristalle auf, die sich auf dem Boden der Bibliothek angesammelt hatten, während die Tür offen stand. Dann rieb er sich die Hände und war schon wieder auf halben Weg zurück zum Ausgang, als ein weißer Schatten, der etwas fester und stetiger als die anderen war, seine Aufmerksamkeit erregte. Dieser Schatten kauerte zwischen der tanzenden Schwärze auf dem Boden neben dem Schrank und zitterte. Gerald ging langsam hinüber zu der Gestalt. In der Dunkelheit wirkten ihre riesigen Augen noch größer, und das hellbraune Haar hing ihr in losen Wellen über die dünnen Schultern. Ihre Hände umfassten einen kleinen Leinensack; die Karaffe des Herzogs mit dem Dessert-Branntwein stand auf dem Boden neben ihr, und das Glas lag in ihrem Schoß. »Rosella?« Als die Frau in dem weißen Kleid ihren Namen hörte, sah sie erschrocken auf. Ihre Augen spähten wild durch den Raum, ruhten kurz auf Geralds Gesicht, wandten sich dann wieder ab, als ob sie fliegende Gegenstände verfolgten, die nur sie sehen konnte. Gerald verlangsamte seine Schritte noch mehr. Als er eine Armeslänge vor ihr stand, begann das Kindermädchen wild zu flüstern. »Ja, ich liebe die Kinder, Herr, ich liebe sie, und den Herzog, natürlich, auch der Herzog hat meine ewige Ergebenheit. Die hat er. Ja, ich liebe sie alle, würde für jeden von ihnen sterben, Ihr müsst mir glauben, Herr, das würde ich, für jeden von ihnen. Ich liebe sie.« Gerald hockte sich neben sie und streckte ihr die Hand entgegen, doch das Mädchen zuckte vor ihm zurück. Er nahm die Hand fort und redete mit ihr so sanft wie möglich. »Natürlich tust du das, Rosella, wie wir alle. Niemand würde jemals deine Treue gegenüber Herzog Stephen und den Kindern anzweifeln.« Nun ruhte Rosellas Blick auf seinem Gesicht und verharrte dort. Gerald sah den Wahnsinn in ihren Augen brennen. »Das tue ich, Herr, ich liebe sie alle.« »Ja, ja, natürlich tust du das.« »Ich liebe sie.« »Ich weiß.« Vor den Fenstern frischte der Wind wieder auf und heulte wütend. Rosellas dunkle Augen wandten sich pfeilschnell wieder ab, und sie wimmerte wie ein verängstigtes Kind. Gerald streckte noch einmal die Hand nach ihr aus, doch wieder schreckte sie davor zurück. »Es ist alles in Ordnung, Rosella«, sagte der Kammerherr besänftigend. »Alles ist in Ordnung.« Das Kindermädchen murmelte unzusammenhängende Dinge. Als Gerald erneut ihren Blick einfing, war er umwölkt und spiegelte das Licht des Schnees wider. »Der Herzog«, flüsterte sie immer wieder. »Der Herzog.« Gerald Owen blieb eine lange Zeit neben ihr hocken, achtete nicht auf die Proteste von Knien und Rücken, und regte sich nicht, bis ihr Gemurmel schließlich abbrach. Er hatte Angst vor dem, was sie tun könnte, wenn er sie erschreckte, doch schließlich stand er auf und wich vor ihr zurück. Er streckte abermals die Hand aus. »Rosella?« »Der Herzog«, flüsterte sie. Das Grauen auf ihrem Gesicht bohrte sich bis in Geralds Seele. »Ich hole ihn«, sagte er. »Rühr dich nicht von der Stelle, Rosella.« Als sich die Tür hinter dem Kammerherrn schloss, wurde die Stimme im Wind lauter. Jetzt, Rosella. Die Stimme heulte ihr schon seit Stunden zu, lenkte Rosella nach ihrem Willen, schalt sie wegen ihrer Unfähigkeit und ihrer Dummheit. Sie drohte nicht länger, knurrte nicht länger, sondern flüsterte nur leise in der Dunkelheit hinter den geschlossenen Fenstern. Jetzt, Rosella. Das Gesicht des Kindermädchens verhärtete sich, und das Zittern hörte auf. Die Schmerzen in ihren frierenden Füßen ebbten ab und verschwanden; sie hatte lange am Rand des Balkons im Schnee gestanden. Langsam rappelte sie sich auf und ging zum Schrank. Der schwere Stöpsel der Karaffe fiel aus dem Schoß ihres Kleides und auf den Boden, wo er in weiten Kreisen unter den Tisch rollte. Ein kleiner Glassplitter, der sich durch den Sturz gelöst hatte, glitzerte im Licht. Sie nahm das Kristallglas und hob es gegen das tanzende Licht des Schnees. Das geschwungene Glas fing das Licht ein und hielt es wie flüssiges Mondlicht fest. Jetzt, Rosella. Rosella setzte das Glas auf dem Schrank ab und zog dann die kleine Schnur des Leinensäckchens auf, das feucht und zerknittert vom Griff ihrer Hände war. Sie schüttete den Inhalt des Säckchens in das Glas, nahm dann die Karaffe vom Boden und goss ein wenig von der Flüssigkeit ein. Sie schwenkte sie sanft und sah zu, wie das feine Pulver durch den Branntwein wirbelte und sich in ihm auflöste; dann hielt sie das Glas wieder gegen das schneeige Licht. Jetzt, Rosella. Sie setzte das Glas an die Lippen. »Wenn du mich oder meine Kinder liebst, wirst du das nicht trinken.« Rosella wirbelte herum. Herzog Stephen stand im Schlafanzug vor ihr. Im Licht, das aus dem Korridor hereindrang, sah sie auch Gerald Owen bei der Tür stehen. »Gib mir das Glas.« »Mein Herzog...« »Jetzt, Rosella.« Die Worte ihres geliebten Herrn zerschmetterten den Griff der Stimme aus dem Wind, die sich um ihren Verstand gewunden hatte. Sie streckte die Hand mit dem Glas aus und zitterte heftig. Stephen löste sanft ihre Finger vom Glas und nahm es an sich. Er ging zu dem kalten Kamin und warf es zwischen die dunklen Steine ganz hinten; dann kehrte er zum Schrank zurück. »Wer hat dir den Natterblumenextrakt gegeben?« Rosellas Lippen zitterten, doch ihr Blick war klar. »Ich weiß es nicht, mein Herr.« »Du weißt es nicht?« »Vergebt mir, mein Herr«, flüsterte sie. »Ich kann mich nicht erinnern.« Stephen fühlte, wie sein Herz einen Satz machte. Es waren dieselben Worte; er hatte sie schon einmal gehört. Sie waren von den Lippen eines lirinschen Soldaten gekommen, kurz bevor ihm der Henker den Strick um den Hals gelegt hatte. Der Mann war zusammen mit dem Rest seiner Bande gefasst worden, als er gerade Stephens Frau die Kehle durchgeschnitten hatte. Er hatte weiter gesägt und sie enthauptet, selbst als Stephens Soldaten ihn bereits fortgezerrt hatten. Es war ihm wichtiger gewesen, seine schreckliche Aufgabe zu vollenden, als zu kämpfen oder zu fliehen. Warum?, hatte Stephen wissen wollen. Ihm war die Stimme wie auch das Herz gebrochen, als er Auge in Auge mit dem Mann vor dem Galgen gestanden hatte. Sag mir wenigstens, warum. Ich weiß es nicht, Herr. Wer hat dir den Befehl dazu gegeben? Ich... ich kann mich nicht erinnern. Bei jedem der Soldaten, die an jenem Tag hingerichtet worden waren, war es dasselbe gewesen, selbst bei dem letzten, dessen Urteil er im Gegenzug für eine Information aufzuheben angeboten hatte. Ich kann mich nicht erinnern. Es tut mir Leid, Herr. Die Soldaten der sorboldischen Einheit, die den Winterkarneval angegriffen hatten, hatten mit leerem Gesicht in den Ruinen des Festes gestanden. Warum? Ich... ich weiß es nicht, Herr. Wer hat euch den Befehl dazu gegeben? Ich kann mich nicht erinnern. Die Frau vor ihm zitterte heftig. Stephen sah ihr in die Augen, die voller dunkler Angst und Unsicherheit waren, und er hatte einen Moment lang den Eindruck, als könnte er bis in ihr Herz blicken. Er nahm sie in den Arm. »In Ordnung, Rosella«, sagte er schließlich. »Alles in Ordnung.« Er gab Gerald Owen ein Zeichen. Der Kammerherr öffnete die Tür ganz und befahl den beiden Wachen, die auf Stephens Wunsch draußen gewartet hatten, die Bibliothek zu betreten. »Bring sie in den Turm«, sagte er ruhig zu dem Kammerherrn, als die Wachen sie wegführten. »Mach es ihr bequem; behandle sie nicht wie eine Gefangene. Sie ist krank.« »Soll ich eine Nachricht zu Llauron schicken, Herr? Vielleicht könnte Khaddyr etwas für sie tun.« Stephen schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde darüber nachdenken, Owen. Bis ich mich entschieden habe, was zu tun ist, möchte ich niemanden hineinziehen, nicht einmal Llauron.« »Ich verstehe, Herr.« Gerald Owen nahm die Flasche und den kleinen leeren Sack an sich, verneigte sich und verließ die Bibliothek. Stephen seufzte, als sich die Tür schloss. »Ich wünschte, ich würde es verstehen.« 38 In den Tiefen des Waldes von Tyrian, am Schleier des Hoen Das Morgenlicht ergoss sich über den Wald und schien durch die Flocken des still fallenden Schnees. Überall im Wald war es ruhig, und das Fehlen jeglicher Geräusche schien mit jedem Schritt noch vollkommener zu werden. Manchmal jammerte eins der Kinder auf oder kicherte nervös, doch insgesamt spürten sie die schwere Stille in der Luft und ergaben sich ihr. Oelendra hielt an, und Rhapsody tat es ihr gleich, indem sie ihrer Stute leise zuschnalzte. Sie befanden sich in einer Waldlichtung, die in ihrer Erscheinung wenig bemerkenswert war. Zu allen Seiten hin erhob sich der dichte Wald, undurchdringlich für den Blick. Diesem Ort wohnte eine Feierlichkeit inne, eine tiefe und alte Melodie von Macht, die Rhapsody bis in die Knochen spürte. Sie sah ihre Freundin an. Oelendra spähte angestrengt in den Wald, als versuchte sie, die Richtung auszumachen. Schließlich öffnete sie die Augen weiter und deutete auf einen Punkt in der Ferne. »Da ist sie die Erle mit dem gespaltenen Stamm. Das war mein Orientierungspunkt.« Rhapsody folgte Oelendras Geste mit dem Blick und sah ebenfalls den Baum. Sie nickte. »Wie weit ist es von dort aus?« Oelendra schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise; ihre Stimme war im Schweigen der Lichtung kaum mehr zu hören. »Du wirst gleich begreifen, was ich damit meine. Hier irgendwo gibt es eine Schleife in der Zeit. Ich habe sie vor jener Nacht schon tausendmal passiert und den Schleier des Hoen noch nie gesehen.« Rhapsody nickte und schaute wieder in die Ferne. Der Schleier des Hoen, der cymrische Begriff für Freude, war der Eingang in das Reich des Fürsten und der Fürstin Rowan, jener Wesen, über die Oelendra ihr am ersten Abend ihrer Zusammenkunft erzählt hatte. Es war etwas Mystisches um diese legendären Gestalten, den Wächter der Träume und seine Gemahlin, die Bringerin des friedlichen Todes etwas, das Rhapsodys Verstehen überstieg. Wenn ihr jemand anderes als Oelendra die Geschichte von Ashes Errettung erzählt hätte, wäre sie geneigt gewesen, an einen verrückten Verstand oder eine Unmenge Bier zu glauben, doch Oelendra wog ihre Worte immer bedächtig ab und trug überdies den Ring des Wissens. Der Fürst und die Fürstin mischten sich nur ein und nahmen Gäste auf, wenn es um Leben und Tod ging. Sie schluckte und hoffte, die beiden würden diese Situation als ihrer Hilfe würdig befinden. »Vielleicht ist der Eingang nur sichtbar, wenn man ihn wirklich braucht«, meinte sie und klopfte der Stute auf die Flanke. Oelendra zuckte die Achseln. »Vielleicht«, sagte sie, kniff die Augen zusammen und schaute wieder in den Wald. Dann drehte sie sich um und packte Rhapsody an den Schultern. »Etwas musst du bedenken. Die Zeit vergeht dort nicht so wie hier. Ich war ein paar Stunden in ihrem Reich, vielleicht auch Tage, als sie an Gwydion gearbeitet haben.« Eine Wolke flog über ihre silbernen Augen, oder vielleicht war es auch nur die Ironie der Erinnerung. Oelendra hatte die Nachricht vom Überleben Ashes mit ernstem Schweigen aufgenommen, als Rhapsody nach Tyrian zurückgekehrt und sie um ihre Hilfe bei den Kindern des F’dor gebeten hatte. Sie hatte sich oft gefragt, was die lirinsche Kriegerin dachte, doch Oelendra teilte diese Gedanken nicht mit Rhapsody. »Als er ... nachdem ich nichts mehr tun konnte und Fürst Rowan mich zurückschickte, hatte sich seit dem Moment, als ich hinter den Schleier getreten war, nichts geändert, Rhapsody. Mein Sattel war noch warm. Du bleibst vielleicht eine lange Zeit, Monate oder möglicherweise Jahre, aber wenn du zurückkehrst, ist es vielleicht nur einen Augenblick später als bei deinem Weggang. Es könnte schwierig für dich werden, deinen Platz in der Zeit wieder zu finden.« Rhapsody strich ihr über die Hand. »Vielen Dank«, sagte sie. »Ich weiß, an wen ich mich zuerst um Hilfe wende, wenn ich mich verirre.« Zum ersten Mal, seit sie den Wald betreten hatten, lächelte Oelendra. »Nun, das ist eine Lektion, die du gut gelernt hast. Meine Tür steht immer offen für dich, meine Liebste. Mein Heim ist dein Heim. Und jetzt werde ich hier mit den Kindern und mit ihm warten.« Sie deutete auf den Gladiator, der gegen den Sattel des Rotschimmels gelehnt saß; seine Augen waren trübe von den betäubenden Kräutern. »Ich hoffe, du findest sie.« Rhapsody schluckte schwer. Sie hatte nicht daran zu denken gewagt, was geschehen würde, wenn sie versagte. Langsam zog sie die Tagessternfanfare und hielt sie vor sich. Sie beobachtete, wie die wispernden Flammen über die Klinge zuckten, die im Licht der Sterne leuchtete. Sie fuhr mit den Fingerspitzen durch das Feuer und spürte den summenden Puls auf der Haut. Bei ihrer Berührung sprangen die Flammen hoch und zischten auf, beruhigten sich aber kurz darauf in einem Windstoß. Mit einem entschiedenen Stoß rammte sie das Schwert in den Schnee, damit es ihr als Orientierungszeichen diente, und ging los, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Der Weg durch den knöcheltiefen Schnee schien ihr sehr lang zu sein. Sie hinterließ beinahe keine Spuren. Hier wehte der Wind nur sanft, und die Brise war trotz des tiefen Winters warm. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wohin sie ging, und kaum wusste, woher sie kam, hatte Rhapsody nicht den Eindruck, sich verirrt zu haben. Sie schloss die Augen und trank das Lied des Waldes, das tiefer und feierlicher als das Lied von Tyrian war, welches sie inzwischen so gut kannte. Das Lied erklang im Westen lauter. Sie folgte ihm blindlings und hielt die Hände vor sich ausgestreckt. Es war eine tiefe, warme Melodie, wie der Gesang der Arbeiter in den Eingeweiden der Berge, oder wie die Erde selbst, so wie Rhapsody sie gehört hatte, als sie entlang der Wurzel gewandert war. Das Lied wallte im Wind und wurde in der einen Richtung immer stärker. Rhapsody drehte sich ihr zu und öffnete die Augen. Die Luft vor ihr und überall um sie herum war in Nebel gehüllt, der dick vor silbernem Dampf war. Die Tröpfchen funkelten in der Luft und warfen das Licht der aufgehenden Sonne zurück. Es war, als stünde sie in einer Wolke; Himmel und Wald waren nicht mehr zu sehen. Sie streckte eine Hand aus und wollte den Dunst fortwischen, aber er bewegte sich nicht, sondern hing weiterhin schwer in der Luft wie Regen, den die Zeit gefroren hatte. Rhapsody wanderte eine Weile weiter und versuchte die andere Seite des nebligen Schleiers zu finden, doch der Dunst war allgegenwärtig und undurchdringlich. Sie rief im Abstand von wenigen Minuten, hörte aber nichts; keine Stimme, kein Vogelgesang antwortete ihr. Es wurde schwierig, die Richtung beizubehalten, und bald war es ihr nicht mehr möglich. Nun befürchtete sie doch, sich zu verirren. Schließlich seufzte sie auf; der Laut wurde von den dichten Nebelschwaden geschluckt. Sie drehte sich um zu Oelendra und den Kindern. Nach einigen Minuten erkannte Rhapsody sie am Rande ihres Blickfeldes, wie sie sich in einem fernen Teil des Nebels auf den Pferden und um sie herum zusammendrängten. Rhapsody beschleunigte ihre Schritte und watete durch den Schnee, bis sie einen klareren Blick auf die Gruppe hatte. Sie blieb abrupt stehen. Die Kinder des Dämons waren so, wie Rhapsody sie verlassen hatte. Doch die Person, welche die Zügel hielt, war nicht Oelendra, sondern eine kleine, blasse Frau mit Haaren, die so weiß und silbern wie der Nebel waren. Sie trug eine schlichte weiße Robe. Sie lächelte und hielt Rhapsody die Zügel der Stute entgegen. Rhapsody ergriff sie wie in Trance. Dann drehte sich die Frau um und ging in den dichter werdenden Nebel hinein. Einen Moment später schüttelte Rhapsody den Kopf, als wollte sie den Schlaf vertreiben, und folgte der Frau. Dabei führte sie das Pferd und die Kinder ebenfalls in den Dunst. Nach langer Zeit löste sich der Nebel endlich auf. Zuerst bemerkte Rhapsody es gar nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt, der Frau in Weiß zu folgen, doch schließlich erkannte sie hier und da einige Bäume, dann Waldstücke, bis schließlich der Nebel wie Rauch in der Wärme der Sonne verdampfte, die nun hoch am Himmel über ihnen stand. Rhapsody fand sich in einem Wald wieder, der dem von Tyrian nicht unähnlich war, aber es war Frühling oder Frühsommer. Der Boden war grün, genau wie die Blätter und die neuen Schösslinge der Bäume, bei denen es sich hauptsächlich um Weißbirken, Eschen, Silberahorn und blasse Buchen handelte, deren elfenbeinfarbene Rinde dem Wald ein unweltliches Aussehen verliehen. Die Kinder, die bis dahin still gewesen waren, redeten nun leise miteinander, dann lachten sie, und schließlich rannten sie umher und genossen die Sonne. Es schien so, als wäre ein gewaltiges Gewicht von ihnen genommen. Nun fühlten sie sich, als könnten sie fliegen, und sie versuchten es, indem sie die Arme ausbreiteten, zwischen den Bäumen umhertollten und kleine Hügel hochrannten, herumsprangen und kicherten. Rhapsody lächelte, als sie die Kinder ansah und dabei den Blick der Fürstin auffing, die sie eingehend beobachtet hatte. Sie errötete unter dem starren Blick, doch die Frau lächelte nun ebenfalls. Dann drehte sie sich zum dichteren Teil des Waldes um, und zwei junge Männer erschienen. Sie waren wie die Frau in weiße Gewänder gekleidet. Sie hoben den halb bewusstlosen Gladiator von dem Rotschimmel und führten ihn sowie das Pferd zu einer Siedlung aus kleinen Hütten, die Rhapsody erst jetzt bemerkte. Rhapsody wollte sich wieder den Kindern zuwenden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie waren verschwunden. Nur die Frau in Weiß war zurückgeblieben. Sie näherte sich der Sängerin langsam und mit ausgestreckten Händen. Rhapsody ergriff sie. Sie waren warm wie die ihrer Mutter, als diese ihr in der Zeit ihrer Kindheit vor dem Feuer die Haare gebürstet hatte. Schmerzen, die sie gar nicht mehr wahrgenommen hatte, verschwanden plötzlich gemeinsam mit den rauen, schwarzen Erfrierungen und ließen sie in einem Gefühl der Ruhe und Ganzheit, aber doch ein wenig benommen zurück. Die blasse Frau sprach. Ihre Stimme war wie das sanfte Säuseln des warmen Windes. »Du brauchst dich nicht zu fürchten, es geht ihnen allen gut. Ich werde dir deinen Platz hier zeigen.« Sie führte Rhapsody an der Hand über einen niedrigen Hügel zu einer kleinen, strohgedeckten Hütte, wie sie auch in der Siedlung standen. Sie nickte in Richtung des Hauses. Rhapsody versuchte, ihren inneren Nebel wegzublinzeln. »Aber was ist, wenn sie in der Nacht aufwachen und weinen?«, fragte sie. Sie hatte zuvor nicht einmal an diese Frage gedacht; es war, als ob sie unter Umgehung ihres Gehirns unmittelbar in ihren Mund geflossen wäre. »Das werden sie nicht«, antwortete eine Stimme hinter ihr. Rhapsody drehte sich um und sah einen bleichen Mann, der die gleiche Art von Robe trug, allerdings in der Farbe der Nacht. Seine Augen waren pechschwarz und tief; Rhapsody spürte, dass sie in diese Augen hineinstürzen konnte. Sie waren von schwarzen Brauen überwölbt, die von schneeweißem Haar abgelöst wurden. Plötzlich erkannte sie, dass man ihr die Frage in den Mund gelegt hatte, damit sie die Antwort hören konnte. Sie spürte, wie die Betäubung wie ein wollener Umhang von ihren Schultern abglitt und sich ihr Verstand klärte. »Vielen Dank dafür, dass Ihr sie hereingeholt habt, Fürst«, sagte sie. »Ich werde tun, was ich kann, um zu helfen.« »Gut«, sagte der Mann. Sein Gesichtsausdruck war ernst. »Sie brauchen deine Hilfe mehr, als du dir vorstellen kannst.« »Komm, mein Kind«, sagte die Frau und lächelte. Sie streckte wieder die Hand aus. Rhapsody ergriff sie erneut und folgte der Fürstin Rowan tiefer in den friedlichen Wald hinein. Das Reich der Rowans war allem Anschein nach ein heiteres. Die Kinder rannten umher und spielten im Sonnenschein. Ihre freudigen Stimmen kreischten, hallten durch den Wald und durchbrachen die Stille. Rhapsody sah den Gladiator nicht, doch alle anderen Kinder waren da und tollten zwischen den Bäumen herum, sogar Quan Li, das älteste Mädchen, das bisher sehr ernst und zurückhaltend gewesen war. Dieser Anblick erfreute Rhapsodys Herz. Sie spürte, wie eine Hand sie am Ellbogen berührte, und drehte sich um. Die Fürstin winkte ihr zu. Sie erkletterten einen kleinen Hügel und blieben in einer Baumgruppe aus weißen Birken stehen. In dem Tal am Fuß des Hügels stand ein großes hölzernes Gebäude ohne jede Verzierung mit Ausnahme eines schlanken Holzturmes, der von einem silbernen Stern gekrönt wurde. Sie folgte der Fürstin den Hügel hinunter und in das Gebäude. Drinnen war es dunkel und kühl. Von einer Rotunde zweigten etliche Türen ab. Die Fürstin öffnete eine gegenüber dem Eingang und wich zurück, damit Rhapsody eintreten konnte. Auch in diesem Raum war es dunkel. Viele Bienenwachskerzen lagen in Schachteln umher, und der minzige Geruch von Pipissewa, einem Kraut, das die Schmerzen der Sterbenden linderte, durchzog die Luft. Offene Beutel mit anderen medizinischen Kräutern, Wacholderbeeren und Schafsgarbe lagen auf einem Tisch; ihr Inhalt war zum Teil auf der Platte ausgestreut. In der Mitte des Raumes standen ein schlichtes Bett mit kurzen Beinen und mehrere Tische mit seltsam aussehenden Werkzeugen und Behältern. Die Fürstin bot ihr eine Kerze an, und Rhapsody nahm sie in die Hand. Das Bienenwachs war weich und duftend; es in den Fingern zu halten hatte etwas Hypnotisches an sich. Sie streckte einen Finger aus, um es anzuzünden, doch die Fürstin schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« Rhapsody steckte den Finger schnell wieder in die Faust zurück. Die Fürstin lächelte beruhigend. »Bevor du die Kerze anzündest, musst du begreifen, dass es ein Versprechen ist.« »Ein Versprechen?« »Ja, und zwar eines, das du vielleicht nicht gern gibst.« Rhapsody blinzelte. »Was ist das für ein Versprechen?« »Komm, ich will es dir zeigen.« Die Fürstin verließ das Zimmer und öffnete die nächste Tür. Rhapsody sah einen identischen Raum, doch hier lag der schlafende Gladiator auf dem Bett. Sie drehte sich um und sah die Fürstin fragend an, die in Richtung des ältesten Dämonenkindes nickte. Rhapsody blickte Constantin wieder an. »Bleib hier.« Fürstin Rowan betrat den Raum, beugte sich neben dem Bett nieder und berührte sanft die Stirn des Gladiators. Hinter sich hörte Rhapsody, wie die Tür des Hauses geöffnet wurde. Die beiden jungen Männer traten ein und gesellten sich zu der Fürstin neben Constantins Bett. Sie trugen einen Kristallbecher und einige scharfe Metallwerkzeuge sowie Glasröhrchen, deren Anblick Rhapsody gar nicht gefiel. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch die Frage wurde sofort durch einen scharfen Blick der Fürstin Rowan erstickt. Einen Moment später nahm die Fürstin den Männern die Instrumente ab und legte sie auf den Tisch neben dem Bett. Die Männer packten die Hände und Füße des Gladiators. Die Fürstin Rowan nickte ihren Gehilfen zu und wandte sich mit einer langen, ahlengleichen Nadel in der Hand zu Constantin. Unter Rhapsodys entsetzten Blicken trieb sie die Nadel in dessen Brust. Er erwachte unter Schmerzen und schrie auf. Rhapsody versuchte in das Zimmer zu laufen, doch der Weg wurde ihr von einer unsichtbaren Kraft versperrt. Sie kämpfte machtlos dagegen an und schlug gegen den Türrahmen, verursachte jedoch keinerlei Geräusch. Sie schrie, aber auch ihr Mund gab keinen Laut von sich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als entsetzt zuzuschauen, wie sich Constantin in Qualen wand und seine Peiniger anbettelte aufzuhören. Tränen rannen ihm über das Gesicht und fanden bei Rhapsody einen Widerhall. Das Verfahren schien endlos zu dauern. Schließlich aber hielt die Fürstin ein dünnes Glasröhrchen mit einer roten Flüssigkeit hoch, in der ein Strich aus Schwärze schwamm. Sie nickte den Gehilfen zu und entfernte die Nadel aus der Brust des Gladiators, wobei er noch einmal vor Schmerzen zuckte. Dann übergab sie das Röhrchen einem der Männer und verband sorgfältig die Brustwunde, wobei sie leise zu Constantin sprach, der schluchzend auf dem Bett lag. Rhapsodys Herz verkrampfte sich vor Sorge. Ein Schmerz, der so stark war, dass der Gladiator deswegen weinte, musste wirklich unerträglich sein, wenn sie Constantins Leben und Beruf in Betracht zog. Fürstin Rowan beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn auf die Stirn. Das Zittern verschwand, und er fiel sofort wieder in tiefen Schlaf. Die Fürstin verließ das Zimmer, ergriff Rhapsody am Ellbogen und führte sie wieder in den leeren Raum. Die Sängern zitterte. »Das ist das Verfahren, das wir nun jeden Tag und bei jedem Kind anwenden werden, um das Blut ihres Vaters von ihnen zu trennen«, sagte die Fürstin schlicht, wobei sie die Tränen der Sängerin nicht beachtete. »Es muss unmittelbar aus dem Herzen genommen werden. Wie du gesehen hat, ist es außerordentlich schmerzhaft.« Rhapsody keuchte. »Sogar bei dem Baby?« »Ja.« »Nein«, stammelte Rhapsody und versuchte ihre Übelkeit zu bekämpfen. »Bitte nicht.« »Die andere Möglichkeit ist noch weitaus schlimmer, oder etwa nicht?« Rhapsody senkte den Kopf. »Ja.« Die Fürstin sah sie durchdringend an; Rhapsody spürte den Blick der Frau auf ihr ruhen. »Wie lange wird es dauern?« »Jahre. Mindestens fünf, vielleicht sieben. Es schneller zu machen würde bedeuten, bei jeder Sitzung mehr Herzblut zu entnehmen, und das könnte sich als tödlich erweisen. Wenn sie sterben, bevor der Prozess der Trennung abgeschlossen ist, gehen sie zu ihrem Vater in die Leere der Unterwelt, und zwar für immer.« »Gute Götter«, flüsterte Rhapsody. Sie warf einen Blick auf den Tisch und die Werkzeuge, die mit jenen identisch waren, die man bei Constantin benutzt hatte. »Bitte sagt mir, dass es noch einen anderen Weg gibt.« »Es gibt keinen anderen Weg, das Blut zu trennen«, sagte die Fürstin unverblümt. »Es gibt aber etwas, das du tun kannst, wenn du willst.« »Was immer es ist, ich will es tun«, antwortete Rhapsody schnell. »Bitte sagt mir, wie ich helfen kann.« Die Augen der Fürstin verengten sich. »Du bist vorschnell, mein Kind; das ist nicht gut. Die Kinder werden dich brauchen, damit du dich um ihre täglichen Bedürfnisse kümmerst und ihnen Trost und Liebe schenkst. Du solltest nicht zu etwas deine Zustimmung geben, von dem du noch nichts weißt.« »Es tut mir Leid«, sagte Rhapsody demütig. »Bitte sagt mir, was ich tun kann.« Die Fürstin sah sie gleichmütig an. »Du kannst die Schmerzen von einem oder zwei von ihnen übernehmen, wenn du willst.« »Die Schmerzen übernehmen?« »Ja. Du bist eine Sängerin, eine Benennerin. Du kannst ihr Namenslied zu deinem eigenen machen und ihre Schmerzen zu deinen. Das ist eine große Bitte und würde sehr viel von dir verlangen. Wenn du es ablehnst, wird dir niemand einen Vorwurf machen. Ich weiß, dass du gern eine Heilerin wärest; es wird dich viel lehren. Es wird dich mitfühlend machen und in die Lage versetzen, andere zu heilen, indem du ihre Verletzungen auf dich nimmst. Aber du wirst die Schmerzen in ihrer Fülle spüren, wenn du einem oder zwei der Kinder die täglichen Qualen ersparst, die du eben beobachtet hast. Es wird dir fürchterliche Schmerzen bereiten.« Rhapsody starrte auf den Boden. »Einem oder zwei? Wie um alles in der Welt sollte ich sie aussuchen?« Ein mitfühlendes Lächeln flog über das Gesicht der Fürstin. »Auch das wird nicht leicht sein. Es könnte sinnvoll sein, die beiden jüngsten auszuwählen, aber Schmerz ist Schmerz, egal wer ihn spürt, wie du soeben gesehen hast.« Rhapsody dachte über ihre Worte nach. »Wird es mir körperlichen Schaden verursachen?« »Nein. Es ist nur der Schmerz, den du übernimmst, nicht das Verfahren selbst. Du wirst weder eine Wunde noch eine Narbe davontragen.« Rhapsodys Blick klarte auf. »Ich mache mir keine Sorgen über Narben außer denen, die die Schmerzen in den Seelen der Kinder hinterlassen. Bedeutet es das Versprechen, für ein Kind zu wachen und seine Schmerzen zu übernehmen, wenn ich die Kerze entzünde?« »Ja.« Die Fürstin lächelte sie an. »Willst du es tun?« »Ja.« »Ich hatte es mir gedacht. Soll ich eine oder zwei Kerzen nehmen?« Rhapsody erwiderte ihr Lächeln und nahm zwei Kerzen aus der nächsten Schachtel. Sie stellte sie auf den Tisch. »Hier?« »Ja. Du bist sehr tapfer.« »Soll ich sie jetzt anzünden?« »Ja, aber dann musst du die Kinder nennen, für die du Wache halten willst.« Rhapsody streckte den Finger aus und berührte die erste Kerze. »Aria«, sagte sie leise. Die Flamme flackerte zwischen ihrem Daumen und Zeigefinder auf, zuckte zunächst und brannte dann ganz ruhig. Sie griff nach der nächsten Kerze. »Mikita«, sagte sie und entzündete sie. Dann drehte sie sich um und stellte sich vor die Fürstin, die anerkennend nickte. »Du solltest dich jetzt hier hinlegen, mein Kind. Ich werde dir alle Kräuter geben, die deine Schmerzen lindern können, aber ich muss dich warnen. Ich habe sie auch dem Gladiator vor dem Beginn des Eingriffs verabreicht. Ich muss meinen Gehilfen befehlen, diese beiden Kinder auszusondern.« Rhapsody griff in die Schachtel, holte zwei weitere Kerzen hervor und stellte sie neben die bereits brennenden. Sie berührte die erste. »Jecen«, sagte sie, als die Kerze Feuer fing. »Arie.« Die Fürstin streckte die Hand aus und packte Rhapsody am Handgelenk. »Was tust du da, mein Kind?« »Ihr habt gesagt, es würde mir keinen körperlichen Schaden zufügen. Ich übernehme nur die Schmerzen.« »Ja, aber...« Rhapsody befreite ihre Hand und entzündete zwei weitere Kerzen. »Ellis. Anya.« Sie warf einen Blick zurück auf die Fürstin. »Wie könnte ich eine Wahl treffen? Wie könnte ich es zu lassen, dass auch nur eines der Kinder die Schmerzen erleidet, die ich sowieso auf mich nehme?« »Unterschätze nicht die Auswirkungen der kombinierten Schmerzen. Dein Herz mag willig sein, aber dein Körper wird gequält werden. Du hast dich immer noch nicht von den Strapazen deiner Reise hierher erholt. Ich glaube nicht, dass du verstehst, was du da tust.« Zwei weitere Flammen sprangen auf. »Mari. Vincane.« Sie lächelte die Fürstin an. »Mag sein, aber ich habe nichts Besseres zu tun, so lange ich hier bin. Außerdem welche ihrer Mütter wäre dagegen gewesen? Sie sind nicht hier, also muss jemand sie vertreten.« »Aber du bist nicht die Mutter dieser Kinder.« Rhapsodys Augen schimmerten im Licht des heller werdenden Raumes. »Quan Li.« Sie sah auf. »Nein«, sagte sie lächelnd. »Ich bin ihre Großmutter. In meinem Leben gibt es vieles, für das ich Buße leisten muss. Vielleicht ist das hier ein Anfang.« Die letzte Kerze strahlte auf. »Constantin«, sagte sie. 39 Fröhliches Kreischen erfüllte das schläfrige Tal. Rhapsody lächelte, als die Kinder ihr nachjagten, wie aufgeregte Bienen ausschwärmten, um ihre Aufmerksamkeit buhlten und alle gleichzeitig erregt durcheinander plapperten. Sie presste die Hände auf die Ohren. »Um Himmels willen, beruhigt euch doch«, sagte sie lachend. »Ich werde noch taub.« Sie schloss die Tür ihrer Hütte hinter sich und trat hinaus in das Licht des späten Morgens. Sie hatte die Kleidung angezogen, in der sie für gewöhnlich mit den Kindern spielte, und hatte einen Leinensack dabei. Acht Kinder waren da, das Älteste und das Jüngste fehlten. Ihr heutiges Ziel war, mehr über ihre persönlichen Lernbedürfnisse zu erfahren, was sowohl die körperliche als auch die geistige Seite anging. Zu diesem Zweck hatte sie beinahe die ganze Nacht damit verbracht, Spielzeuge anzufertigen, mit denen sie die Wendigkeit der Kinder auf die Probe stellen konnte. Es handelte sich um Dinge, welche bei den Liringlas als Knöchelsänger bekannt waren. Nun nahm sie eines davon aus dem Sack. »Hier. Ich habe etwas für euch.« Rhapsody hielt den Knöchelsänger hoch, und die Kinder versammelten sich neugierig um sie. Er war grob gemacht, aber glatt, und erfreute Rufe drangen durch den Wald, als er von Kind zu Kind gereicht wurde. »Wie geht das, Rhapsody?« »Gebt ihn mir; ich werde es euch zeigen.« Sie nahm ihn wieder an sich und hielt ihn hoch, sodass alle ihn sehen konnten. Er bestand aus zwei hölzernen Scheiben, die mit einer Schnur verbunden waren. Die eine Scheibe hatte in der Mitte ein großes Loch, die andere mehrere kleine Löcher. Rhapsody setzte sich ins Gras, streckte ein Bein aus und schlüpfte mit dem Fuß durch den Ring. Dann stand sie wieder auf. »Also gut, geht jetzt ein Stück zurück, meine Lieben, und ich werde es euch zeigen. Das habe ich nicht mehr gespielt, seit ich klein war.« »Aber du bist immer noch klein«, sagte Vincane. Seit er im Reich der Rowans war, hatte er viel von seiner Schärfe und der Straßenkindnatur verloren, die ihn in der Welt hinter dem Schleier zu einem so gefährlichen Feind gemacht hatten. Jetzt schien er nur noch ein Junge an der Schwelle des Erwachsenwerdens zu sein, größer als Rhapsody und körperlich voll ausgebildet. Sie lachte über die anmaßende Ausgelassenheit in seinem Gesicht. »Also gut, ich habe es nicht mehr gespielt, seit ich jung war. Und, Vincane, verwechsle nicht ›groß‹ mit ›stark‹. Wenn du willst, zeige ich dir später, was ich damit meine. Wir können noch einmal so ein Spiel wie in der Ziegelei spielen.« »Nein, vielen Dank«, sagte der Junge hastig. Rhapsody lächelte; sie wusste, dass er sich am Morgen versteckt und ihren Übungen zugesehen hatte. »Es funktioniert so«, sagte sie. Sie hüpfte über die Schnur, schwang den Ring an ihrem Knöchel im Kreis und hüpfte jedes Mal über die Schnur, wenn sie herankam. Nach einigen Umdrehungen summte das Gerät leise um ihren Fuß, und immer wieder sprang sie über die Schnur. Die zweite Scheibe vibrierte nun, pfiff und brachte schließlich einen klaren, süßen Ton hervor. Die Kinder lachten und klatschten und wollten es selbst ausprobieren. »Streitet euch nicht darum, ich habe einen für jeden von euch.« Rhapsody hielt den Knöchelsänger an. Sie zog ihn vom Fuß und gab ihn Jecen, der vor Freude aufschrie. Rhapsody ging zu ihrem Leinensack und holte die Spielzeuge heraus. Sie drückte sie in die zupackenden Hände, trat zurück und beobachtete neugierig, wie die Kinder sie anzogen und in Gang zu setzen versuchten. Einige waren geschickter als andere; es war ein guter Gradmesser für ihre Gewandtheit. Rhapsody überlegte, wie sie mit den behänderen Kindern arbeiten und die ungeschickteren fördern konnte. »Ich habe eure Namen eingeritzt«, sagte sie, als die Kinder müde wurden und das Spiel allmählich beendeten. »Jeder bringt einen anderen Ton hervor, und wenn ihr euch an sie gewöhnt habt, könnt ihr Lieder spielen, wenn ihr zusammenarbeitet. Ich höre, dass Cyndra euch ruft; es ist wohl Zeit für das Mittagessen.« Glückliches Kreischen hallte durch das schläfrige Tal, und nach einem Aufruhr aus Küssen und Umarmungen rannten die Kinder davon und ließen Rhapsody allein und atemlos zurück. Sie stand auf, bürstete sich die Blätter und den Lehm von der Hose, ging zurück zu den weißen Gebäuden, in denen man sich um die Kinder kümmerte, und lauschte dabei einem Vogellied. Hinter einigen Bäumen ganz in der Nähe spürte sie plötzlich eine fremde Schwingung und konzentrierte sich darauf. Sie erkannte das Muster. Es war Constantin. Er hatte sie und die Kinder beobachtet und folgte ihr nun in geringem Abstand. Rhapsody behielt ihren Schritt bei und ging weiter auf die Hütten zu. Sie spürte, wie er die Richtung änderte, damit sich ihre Wege kreuzen würden. Ein seltsames Gefühl von Sicherheit überschwemmte sie. Als sie den Waldrand erreicht hatte, trat er vor sie und schnitt ihr den Weg ab. Er hatte sich von der Operation erholt und schien bei guter Gesundheit zu sein, auch wenn er etwas dünner geworden war. Der Gladiator war in ein weißes Hemd und eine Hose gekleidet. Als er sich ihr in den Weg stellte, blieb Rhapsody widerwillig stehen. Constantin streckte den Arm zu dem Baum vor ihr aus und versperrte ihr so den Weg. Er starrte sie mit einem durchdringenden Blick an, unter dem sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Sie hielt seinem Blick gelassen stand, ohne Angst oder Aggression, und wartete, was er zu sagen hatte. Es vergingen einige Augenblicke, während denen er nicht redete, sondern sie eingehend betrachtete. Am Rande ihres Blickfeldes bemerkte Rhapsody eine leise Bewegung. Als sie den Kopf drehte, sah sie Fürst Rowan gegen einen Baum gelehnt stehen und sie beide beobachten. Sie stieß erleichtert die Luft aus. Im Gegensatz zur vergangenen Nacht war seine Kleidung heute waldgrün; es war, als hätte er nun mehr Körperlichkeit als bei ihrer ersten Begegnung. Schließlich fragte sie: »Was ist los, Constantin? Was willst du?« Er starrte sie noch einen Moment länger an und antwortete schließlich: »Dich.« »Wie bitte?« »Ich hätte dich haben sollen«, sagte er mit leiser, aber unangenehmer Stimme. »Du hast mir einen Streich gespielt und schuldest mir etwas. Ich hätte dich haben sollen.« Rhapsody spürte, wie ihr die Röte vom Hals bis ins Gesicht stieg. »Es tut mir Leid, dass ich dich hintergangen habe«, sagte sie und vergewisserte sich, dass der Fürst noch in der Nähe war. »Es gab keinen anderen Weg; es war nicht meine Absicht, dich zu reizen.« Er lachte; es war ein scharfer, hässlicher Laut. »Ich musste dich an diesen Ort bringen, und es tut mir Leid, wenn ich deine Gefühle verletzt habe.« Er neigte ihr den Kopf zu; sie spürte seinen Atem an ihrem Hals. »Oh, das hast du getan. Ich bin sehr verletzt. Aber du kannst das wieder gutmachen. Du hast genau die richtige Medizin für mich, Rhapsody das ist doch dein Name, oder? Er ist schön und passt gut zu dir. Weißt du, du bist wirklich erstaunlich. Ich bin froh, dass ich nie in der Arena gegen dich kämpfen musste. Du wirkst so zerbrechlich und hilflos, aber das bist du nicht, oder? Du spielst mit den Gefühlen eines Mannes, aber du bist stärker als die meisten, und das spielst du aus.« »Hör auf«, sagte Rhapsody, die langsam zornig wurde. »Was ist los? Du kannst schwören, die Wahrheit zu sagen, bist aber nicht in der Lage, sie zu hören? In gewisser Weise hast du mich belogen. Du bist in mein Bett gestiegen, hast dich mir angeboten und wolltest mich in deinem Kleid verführen. Du hast gesagt, der Zuhälter Treilus habe dich geschickt. Was sollte ich denn glauben?« Sie sah fort. »Vermutlich genau das, was du geglaubt hast.« Obwohl sie ihn nicht ansah, spürte sie sein Lächeln. »Gut; dann stimmst du mit mir überein, dass ich zu dem richtigen Schluss gekommen bin.« Rhapsody sah ihn wieder an. Sie dachte daran, mit ihm über die Fakten zu streiten und ihn an das zu erinnern, was sie wirklich gesagt und dass sie ihm bedeutet hatte, sie wolle ihn nur massieren, doch diese Worte waren für sie zu schwer auszusprechen. Llauron hatte genau gewusst, was Constantin über sie denken würde, und sie war eine Närrin gewesen, wenn sie etwas anderes geglaubt hatte. Sie legte den Kopf schief. Der Gladiator beugte sich vor, bis seine Lippen kurz vor ihrem Ohr waren. »Du schuldest es mir«, sagte er ruhig. »Vielleicht nur ein einziges Mal, aber du schuldest es mir, und das weißt du. Ohne etwas zu sagen, hast du mir eine Nacht mit dir in meinem Bett versprochen. Und du willst doch nicht etwa dein Wort brechen du, eine Benennerin? Ich weiß übrigens, dass du eine bist. In der vergangenen Nacht habe ich gehört, wie du meinen Namen tief in meine Seele eingeflüstert hast, und die wunderbarsten Gefühle haben mich überkommen. Willst du raten, wo sie am deutlichsten sichtbar geworden sind?« Sie blinzelte, sagte aber nichts. Er hatte zweifellos gespürt, wie sie die Kerze entzündet und geschworen hatte, für ihn zu wachen und seine Schmerzen auf sich zu nehmen. Das Lächeln des Gladiators wurde zuversichtlicher. Er streckte seine gewaltige Hand aus, grub vorsichtig den Zeigefinger in ihr Haar und fuhr an einer Locke entlang bis in ihr Gesicht. Als er ihre Wange erreicht hatte, streichelte er sie mit seiner rauen Fingerspitze. »Komm mit mir«, sagte er besänftigend. »Ich bin nicht mehr wütend; ich werde ganz zärtlich zu dir sein. Du hast nichts zu befürchten; ich werde ihn nicht ganz hineinstecken. Bezahle deine Schulden, Rhapsody.« Er beugte sich vor; sein Atem erwärmte ihren Hals. »Ich muss dich haben«, sagte er. Fürst Rowan erschien links von ihr. Sowohl Rhapsody als auch Constantin schauten auf und bemerkten seine Gegenwart; dann senkte Constantin den Arm und drehte sich um. Dabei fuhr er mit den Lippen über ihr Haar. »Ich werde dich haben«, flüsterte er. »Das verspreche ich dir.« Als er fortging, spürte Rhapsody, wie ihre Stimme zurückkehrte. »Constantin?« Er sah zu ihr. In ihren Augen lag nicht die geringste Angst, und ihre Miene war wieder ruhig. »Du könntest Recht haben«, sagte sie unverblümt. »Aber wenn es so ist, dann nur, weil wir beide es wollen. Hast du mich verstanden?« Er starrte sie einen Augenblick lang an, dann ging er. Rhapsody spürte, wie eine warme Hand sie an der Schulter berührte. Nun durchfuhr sie ein Friede, den sie nie zuvor gespürt hatte, und erfüllte sie mit einem großen Verlangen nach Schlaf. »Ist alles in Ordnung mit dir, mein Kind?«, fragte Fürst Rowan. Seine Stimme war so seidig wie warmer Wein. »Ja, Fürst«, erwiderte sie und drehte sich nach ihm um. »Ich werde mit ihm reden.« Rhapsody öffnete den Mund, um die Lage zu erklären. Doch dabei spürte sie, wie die Angst vor der Zukunft zurückkehrte die scheußliche Angst davor, dazu verdammt zu sein, denselben Fehler bis in alle Ewigkeit wiederholen und für alle Zeiten die Auswirkungen ihrer Taten beobachten zu müssen. Erschöpfung überkam sie, als Ashes Worte aus fernen Tagen zu ihr zurückkehrten: Du wirst niemals sterben. Stell dir vor, wie es ist, immer wieder Menschen zu verlieren, deine Geliebten, deinen Mann, deine Kinder. Rhapsody fühlte sich so müde wie noch nie. Sie blickte in das ernste Gesicht Fürst Rowans, und ungerufene Tränen quollen tief aus ihrem Innern hervor. »Warum weinst du?« »Es ist nicht wichtig«, antwortete Rhapsody und schaute in Rowans schwarze Augen. »Fürst Rowan, werdet Ihr mir einen Gefallen tun? Bitte.« »Was wünschst du von mir?« »Dass Ihr mich eines Tages zu Euch holt. Bitte.« Das ernste Gesicht wurde vom Flackern eines Lächelns erhellt. »Faszinierend«, murmelte er. »Für gewöhnlich werde ich nur gebeten, fernzubleiben, auch wenn du nicht die erste Cymrerin bist, die um meinen Beistand bittet. Du bist aber die Erste, die in der Blüte der Jahre steht.« »Bitte, Fürst«, beharrte Rhapsody. »Bitte sagt, dass Ihr mich eines Tages zu Euch nehmt.« Fürst Rowan betrachtete sie einen Moment lang. »Ich werde es tun, wenn ich es vermag, mein Kind. Das ist das einzige Versprechen, das ich dir geben kann.« Rhapsody lächelte durch ihre Tränen. »Das reicht«, sagte sie nur. »Vielen Dank.« 40 Die Abendschatten wurden länger in dem friedlichen Wald. Rhapsody blieb vor der Tür der kleinen Hütte stehen, atmete tief durch und versuchte ruhig zu bleiben. Dann klopfte sie. »Herein.« Sie erzitterte unter der Erinnerung, die dieses Wort und Constantins tiefe Stimme bei ihr hervorriefen. Langsam öffnete sie die Tür. Der frühere Gladiator saß auf dem Bett. Als er sie sah, stand er sofort auf und durchquerte das Zimmer bis zur Tür. Rhapsody schluckte nervös, als sie die Geschwindigkeit bemerkte, mit der er sich bewegte. Es war kein Wunder, dass er in der Arena als tödlicher Gegner gefürchtet gewesen war. Er stellte sich zwischen sie und den Rest des Zimmers, füllte beinahe den ganzen Türrahmen aus und sah sie mit einem durchdringenden Blick an. »Was willst du?«, fragte er barsch. Rhapsody lächelte und hoffte, seine Feindseligkeit und sein Misstrauen zerstreuen zu können. »Ich habe etwas, von dem ich glaube, dass es dir gehört.« Seine Augen verengten sich. »Das glaube ich kaum.« An seinem Gesichtsausdruck erkannte Rhapsody, dass er eine Unterredung mit Fürst Rowan gehabt hatte. »Ich werde dich nicht lange belästigen«, sagte sie kess. »Darf ich hereinkommen?« Constantin starrte einen Moment lang auf sie herunter, hielt ihr dann die Tür auf und machte ihr ein wenig Platz. Rhapsody ging unter seinem Arm hindurch und betrat das Zimmer. Es glich dem der anderen Kinder, hatte aber keine Verzierungen oder Ausschmückungen. Es sah in der Tat ziemlich genau wie ihr eigenes aus; nur das Bett und die Möbel waren viel größer. Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Constantin sah sie fest an, senkte dann den Blick und lächelte in sich hinein. Er beobachtete unter den Lidern hindurch, wie sie in den kleinen Beutel griff, den sie bei sich hatte. Rhapsody zog die silberne Kette hervor, die sie in seinen Gemächern gefunden hatte, und hielt sie ihm entgegen. »Gehört das dir?« Constantin riss entsetzt die Augen auf; ein Ausdruck der Panik legte sich über sein Gesicht. Er verschwand so schnell, wie er gekommen war, und wurde wieder durch das vertraute Starren ersetzt. »Woher hast du das?« »Ich habe es in jener Nacht unter deinem Bett gefunden.« Sein Gesicht verfärbte sich schwarz vor Wut. »Und jetzt hast du vor, es mir zu verkaufen.« Rhapsody öffnete den Mund vor Überraschung. »Nein, ich dachte...« »Natürlich habe ich hier nichts von Wert, womit ich dich bezahlen könnte«, sagte er. Seine Muskeln spannten sich unter der mühsamen Selbstbeherrschung. Er wich vor ihr zurück. Rhapsody betrachtete ihn mit Mitgefühl. Sie wusste, dass seine Gefühle heftig waren, und sie sah, wie sehr er darum kämpfte, sie unter Kontrolle zu halten. »Du verstehst mich nicht«, sagte sie gelassen. »Ich wollte es dir zurückgeben.« Constantin beäugte sie misstrauisch. »Was hättest du davon?« Rhapsody runzelte die Stirn. »Nichts. Sollte ich etwas davon haben? Wenn das hier dir gehört, hast du einen Anspruch darauf, Constantin. Hier musst du nicht um das kämpfen, was dir gehört; wir sind nicht mehr in Sorbold.« »Warum hast du es dann überhaupt gestohlen?« Rhapsody schluckte die Beleidigung herunter. »Ich habe es nicht gestohlen«, sagte sie so freundlich wie möglich. »Ich wollte es dir geben, weil ich geglaubt habe, es bedeute dir viel. Ich hatte nicht vor, dich je zu den Gladiatoren zurückzubringen, also habe ich das mitgenommen, was du möglicherweise behalten wolltest.« Sie stand auf und ging hinüber zu ihm, ergriff seine Hand und legte die Kette hinein. Dann schloss sie seine Finger darum. Constantin sah auf die Kette in seiner Hand. Sein Blick verlor ein wenig von der Eindringlichkeit, die er kurz zuvor noch gehabt hatte, und wurde von einem tieferen, schwer zu deutenden Ausdruck ersetzt. Er starrte das Schmuckstück lange an und sah dann wieder zu Rhapsody. »Vielen Dank«, sagte er. Seine Stimme klang außergewöhnlich ruhig. Sie nickte. »Nichts zu danken. Und jetzt gehe ich dir aus dem Weg.« Sie drehte sich um und öffnete die Tür. »Du hast Recht«, sagte er schnell. Sie wandte sich ihm überrascht zu, denn sie hatte geglaubt, ihr Gespräch sei zu Ende gewesen. »Womit?« Er senkte kurz den Blick. »Das hier ist etwas, das ich brauche und bei mir haben will.« So nahe an eine richtige Unterhaltung war er noch nie herangekommen. Rhapsody spürte, dass er fortfahren wollte. Sie schloss die Tür, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen das Holz. »War es ein Geschenk von einer besonderen Person?« Constantin sah sie an; sie gewöhnte sich allmählich an seinen verwirrenden Blick. Dann ging er zum Bett und setzte sich. »Ja«, sagte er. »Von meiner Mutter.« Es dauerte einen Moment, bis Rhapsody bemerkte, dass ihr Mund offen stand. »Du hast deine Mutter gekannt?« Der Gladiator schüttelte den Kopf; das durch das Fenster hereinfallende Sonnenlicht fing sich in seinem hellblonden Haar und machte für einen Augenblick einen goldenen Brand daraus. »Nein. Alles, was ich habe, ist ein Erinnerungsfetzen, von dem ich nicht einmal weiß, ob er echt ist.« Sie trat an das Bett und setzte sich neben ihn; er regte sich nicht, wie er es wohl getan hätte, wenn ihm ihre Nähe unangenehm gewesen wäre. »Was ist es, wenn ich fragen darf?« Constantin ließ die Kette durch seine Finger gleiten; sie glitzerte ebenfalls im Sonnenlicht. »Es ist nur das Bild einer Frau mit Liebe im Blick und mit einem Geschenk.« Rhapsody spürte bei seinen Worten einen stechenden Schmerz in den Augen. Sie strich ihm über die Schulter. Es sollte eine Geste des Mitleids sein, doch der Gladiator zuckte davor zurück und krümmte sich zusammen. Rhapsody erstarrte vor Angst. »Es tut mir sehr Leid«, stammelte sie. »Ich wollte dich nicht aufregen.« Sie stand hastig auf und eilte wieder zur Tür. »Warte, Rhapsody.« Constantin stand auf und trat neben sie, hielt aber einige Schritte Abstand. Sie senkte den Blick zu Boden. Das Letzte, was sie wollte, war, ihn weiter aufzuwühlen. »Du hast mich nicht aufgeregt. Ich will versuchen, dich nicht mehr zu verletzen oder zu erschrecken.« Rhapsody begegnete seinem Blick. Seine Augen glitzerten vor blauer Eindringlichkeit, doch es lag nicht mehr die Wildheit in ihnen wie in der Nacht, als sie ihn aus Sorbold entführt hatte. Vielleicht hatte ihn bereits die geringe Menge von Dämonenblut, die ihm entzogen worden war, menschlicher gemacht. »Constantin, was immer in Sorbold geschehen ist, war allein meine Schuld. Der Plan war dumm und schlecht überlegt, und deine Handlungen waren eine Folge meiner Fehleinschätzungen. Ich bitte dich um Verzeihung und hoffe, du siehst ein, dass ich dir wirklich helfen wollte, wie gefühllos und ausgeklügelt es auch erschienen sein mag.« Constantin nickte. »Ich habe schon bemerkt, dass du dich oft zu solchen Maßnahmen gedrängt fühlst.« Die Tiefe in seiner Stimme ließ ihn viel älter erscheinen. »Wenn dich meine Gegenwart stört, werde ich gehen ...« »Das ist es nicht«, unterbrach er sie. »Sie ist eher, äh, verwirrend.« Er sah aus dem Fenster; je rosiger der Sonnenuntergang wurde, desto sanfter klang seine Stimme. »Ich fürchte, ich habe noch nie einen wirklich freundlichen Menschen gekannt. Ich weiß nicht, wie ich mich in deiner Gegenwart verhalten soll.« Rhapsody lachte. »Es gibt einige Leute, die deine Beschreibung von mir als sehr belustigend empfinden würden. Du machst es wirklich gut.« »Es ist ein Kampf«, sagte er. Seine so unbedacht herausgerutschten Worte schienen ihn einen Moment später bereits zu überraschen. »Die Kette ist nicht das Einzige, das ich brauche und haben will.« Er wandte die Augen ab, als die Farbe des Sonnenuntergangs sich über sein Gesicht legte. Rhapsodys Kehle zog sich zusammen, und Hitze durchpulste sie. Unbewusst glitt ihre Hand hoch zum Hals. Sie berührte das Medaillon, das sie immer trug. Ihr kam ein Gedanke. Sie öffnete vorsichtig den Verschluss und zog die Kette aus. Als Constantin den Mut aufbrachte, sie wieder anzusehen, hielt sie ihm das Medaillon entgegen. »Ich glaube, wir haben etwas gemeinsam«, sagte sie. »Das ist alles, was mir von meiner Mutter geblieben ist.« Die Tränen, die ihr in die Augen gestiegen waren, rannen ihr nun über die Wagen. »Träumst du von ihr?« Rhapsody drehte sich um. »Nicht mehr«, sagte sie traurig. »Ich habe es oft getan, aber jetzt kommt sie in meinen Träumen nicht mehr zu mir. Ich kann ihr Gesicht nicht mehr erkennen.« »Ich träume jede Nacht von meiner Mutter«, meinte Constantin. »Ich habe keine Ahnung, ob sie so war, wie ich sie in meinen Träumen sehe.« »Wie siehst du sie?« »Freundlich. Ich vermute, das beweist, dass es keine Erinnerung, sondern nur ein Traum ist.« Er setzte sich wieder auf das Bett. »Warum?« Der Gladiator schaute hoch zu ihr und lächelte spöttisch. »Offenbar glaubst du nicht an Familienmerkmale.« Rhapsody trat einen Schritt zurück, damit sie ihn besser sehen konnte. »Willst du damit sagen, dass du unfreundlich bist?« Das Lächeln des Gladiators traf sie unvorbereitet. Sie zuckte zusammen. Sie wartete, bis er verstummte, und sah ihn dann ernst an. »Ich habe keinen Scherz gemacht.« Constantins Gesicht verlor das Lächeln. »Ja, es sollte selbst dir klar sein, dass die Freundlichkeit und ich uns noch nicht offiziell vorgestellt worden sind.« Er schaute weg. »Ich habe sie aber von fern gesehen, wenn auch vielleicht nur einmal.« Rhapsody betrachtete ihre Hände. »Möglicherweise bist du mit der Freundlichkeit besser befreundet als du weißt.« Sie spürte, wie er sie fragend ansah, und kämpfte darum, unter seinem Blick nicht zu erröten, doch es gelang ihr nicht. Das Blut rauschte ihr ins Gesicht und stach in die sich rötenden Wangen. Unbeholfen setzte sie sich wieder auf den Stuhl. »Würdest du mir bitte erklären, wovon du redest?« »Du hättest mir in jener Nacht wehtun können, wenn du es gewollt hättest«, sagte sie und starrte auf die Schwielen an ihren Fingern. »Ich weiß, dass dich meine Angst erregt hat. Ich habe die Grausamkeit in deinem Blick gesehen. Wie deine Welt auch immer ausgesehen hat, du hast dir trotzdem ein wenig Erbarmen bewahrt, wenn auch vielleicht nur in der Größe eines Samenkorns.« Ihre Worte klangen für sie entfernt vertraut; sie dachte an die Nacht zurück, als Ashe in Elysian zum ersten Mal zu ihr gekommen war. Ich freue mich, dass du den Untergang deiner ganzen Welt überlebt und unter Ungeheuern gelebt hast und doch den Menschen immer noch ehrenwerte Eigenschaften zuschreibst. Constantin lächelte wehmütig. »Du hast Unrecht, Rhapsody. Ich hatte nicht vor, dich in jener Nacht gehen zu lassen. Ich hätte dich verletzt und es genossen. Du kennst mich nicht sehr gut.« Rhapsody fand schließlich den Mut, ihm in die Augen zu schauen. »Vielleicht. Aber vielleicht kenne ich dich sogar besser, als du glaubst. Willst du mich immer noch verletzen?« Der Gladiator stand plötzlich auf und begab sich in die hinterste Ecke des Zimmers. »Vielleicht ist es das Beste, wenn du jetzt gehst.« »Wie du willst.« Rhapsody stand ebenfalls auf und ging zur Tür. Sie drehte sich um und betrachtete seinen Rücken. Seine Muskeln waren gespannt wie Sprungfedern. »Ich habe keine Angst vor dir, Constantin.« »Ich muss dir leider sagen, dass du nicht sehr helle bist.« Sie lachte. »Das will ich nicht abstreiten, aber ich habe weitaus grausamere Männer als dich gesehen. Ich habe unter ihren Händen viel größere Scheußlichkeiten erlitten, als du mir je antun könntest. Ich kenne den Unterschied zwischen einem verbogenen und einem bösen Geist. Deine Seele ist verkrümmt, Constantin, nicht verrottet. Sie braucht nur etwas Zeit, um sich zu strecken, und ein wenig Sonnenlicht, das sie wieder reinigt. Du wirst bald wieder so gut wie neu sein.« Constantin schaute aus dem Fenster. »Falls ich die Folter überlebe.« Rhapsody ließ die Türklinke los. »Folter?« Er bedachte sie wieder mit seinem eindringlichen Blick. »Spiel nicht den Narren. Du hast mich hergebracht. Du musst wissen, was sie hier machen.« Sie ging auf ihn zu, drehte ihn um und nahm die Hände nicht von seinen Armen. »Meinst du das, was letzte Nacht geschehen ist?« Er versuchte sich loszumachen. »Natürlich.« Rhapsody seufzte. »Es tut mir sehr Leid. Ich wünschte, du müsstest dieses Verfahren nie wieder durchlaufen, aber ich kann dir zumindest versprechen, dass du nie wieder die Schmerzen spüren wirst. Von jetzt an wirst du schmerzfrei sein.« »Warum machen sie das? Ich habe vorher schon geblutet, aber nie aus dem Herzen.« Sie nahm seine Hand, führte ihn zurück zum Bett und setzte sich dann auf den Stuhl ihm gegenüber. Langsam und eingehend erklärte sie ihm seinen Ursprung, berichtete von dem F’dor und dem Rakshas sowie dessen systematischen Vergewaltigungen. Constantins ruhiges Gesicht verwandelte sich zu Stein, während sie sprach, doch seine Augen leuchteten auf eine Weise, die bei Rhapsody den Wunsch erweckte, sie hätte es dem Fürsten überlassen, diese Geschichte zu erzählen. Schließlich berichtete sie ihm von der Rettung der Kinder des Dämons und dem Plan, sie vor der Verdammnis zu retten, indem man ihnen das Blut ihres Vaters entzog und es für die Suche nach dem F’dor einsetzte. Als sie fertig war, sah er sie ernst an. »Und du weißt nicht, wer meine Mutter war?« »Nein.« Sie erkannte die Enttäuschung in seinem Gesicht. »Ich wünschte, ich würde sie kennen. Du siehst, sie war ein unschuldiges Opfer. Es ist durchaus möglich, dass sie die Frau aus deinem Traum ist jemand, der dich sehr geliebt hat, trotz allem, was sie bei... bei deiner Geburt erlitten hat.« Constantin sah durch das Fenster in die Dunkelheit. Während sie geredet hatten, war die Nacht herangekommen, und nun war das stille Tal in Finsternis gehüllt. »So unwahrscheinlich das alles klingt, ich glaube dir.« Sie streichelte ihm die Hand. »Ich wünschte, ich könnte es dir leichter machen. Ich habe einmal geglaubt, ich hätte die Macht dazu.« »Und wieso glaubst du das nicht mehr?« Rhapsody atmete langsam aus. »Wegen des Todes meiner Schwester. Sie war eigentlich nur eine Freundin. Sie war die erste Person in diesem Land, der ich zu helfen versucht habe, und das hat sie umgebracht. Wenn ich sie in ihrem Leben auf der Straße in Ruhe gelassen hätte, würde sie jetzt noch leben.« Der Gladiator drehte sich um und sah sie an. »Woher willst du das wissen?« Rhapsody blinzelte. »Jeden Tag sterben Straßenratten. In Sorbold habe ich viele davon mit meinem Schwert niedergemacht, nur weil sie sich mir in den Weg gestellt haben. Bestraf dich nicht selbst, Rhapsody. Wenigstens hast du den Versuch gemacht, sie zu retten. Das ist mehr, als die meisten Leute tun würden.« »Und was ist mit dir? Vergibst du mir für die Schmerzen, die ich dir zugefügt habe, weil ich dich retten wollte? Bist du bereit, den Scherbenhaufen zusammenzufegen, den meine guten Vorsätze hinterlassen haben?« Constantin seufzte. »Rhapsody, in meinem ganzen Leben hat noch nie jemand versucht, mir zu helfen. Ich verstehe nicht, warum du es tust, und kann erst recht nicht ausdrücken, was ich dabei fühle. Wenn du damit meinst, dass meine Hände einfach zittern, wenn du in meiner Nähe bist und jede Sekunde, die du länger hier bleibst, mehr in Gefahr gerätst, so ist das meine eigene Angelegenheit. Nachdem der Fürst und ich uns über meine Zukunft unterhalten haben, ist es für mich weitaus wichtiger, dass ich dir keine Schmerzen zufüge. Das ist eine große Klemme. Ich habe das Gefühl, dass es besser für mich wäre, wenn ich dich nie wieder sehe, weil das der einzige Weg ist, kein Verlangen mehr nach dir zu haben. Aber gleichzeitig brauche ich dich, und sei es nur zum Reden; ansonsten gibt es hier niemanden. Vielleicht vergisst du mich am besten und überlässt mich mir selbst. Aber eines kann ich dir versichern: Jetzt geht es mir weitaus besser, als wenn du nicht versucht hättest, mir zu helfen. Ewige Verdammnis ist vielleicht das Schicksal, das ich verdiene, aber ich möchte es trotzdem gern umgehen.« »Was auch immer geschehen wird, ich kann dir versprechen, dass ich dich nie vergessen werde, Constantin.« Rhapsody wünschte, sie könnte ihn umarmen. Sie hätte es so gern getan, aber sie durfte ihn nicht noch mehr enttäuschen. Der Ursprung ihrer Beziehung war Sex gewesen. Trotz ihrer gegenteiligen Auffassung hatte sie ihn dazu gebracht, sie besitzen zu wollen, und sie war erfolgreich gewesen. Es stand zwischen ihnen wie eine versperrte Tür, und so würde es bis zum Ende bleiben. Sie dachte daran, sich ihm hinzugeben. So etwas hatte sie schon früher getan; sie hatte aus weitaus geringeren Gründen mit Männern geschlafen, die sie nicht gekannt oder sogar gehasst hatte. Sie könnte sich Constantin hingeben; es würde die Heilung erleichtern, die notwendig war, um die Dinge zwischen ihnen zurechtzurücken. Dieser Gedanke drückte ihr Herz wie ein Schraubstock. Sie würgte. Ashes Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge. Er lächelte sie auf eine Art an, die sie nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Aber Ashe war nicht mehr ihr Liebhaber; er würde bald einer anderen gehören. Es war an der Zeit, ihn für immer aus ihrem Herzen zu vertreiben. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Constantin, ich muss etwas holen. Ich bin gleich zurück.« Er sah ihr überrascht zu, wie sie von dem Stuhl aufsprang, zur Tür rannte und in den mondhellen Schatten des Waldes verschwand. 41 Kurze Zeit später kehrte sie mit Armen voller parfümierter Kerzen zurück, und ihre Laute hing ihr über dem Rücken. Constantin öffnete die Tür und fing einige der Kerzen auf, die ihr aus den übervollen Händen fielen. Sie waren ein Geschenk der Fürstin Rowan aus der vergangenen Nacht. Etwas, um deine Traume zu verbessern, hatte sie gesagt. Rhapsody hatte vor dem Einschlafen einige der zartfarbigen Kerzen entzündet und festgestellt, dass ihre Träume süß und frei von Nachtmahren waren, so wie es gewesen war, als sie in Ashes Armen oder bei Elynsynos in deren Höhle geschlafen hatte. Außerdem waren die Träume von ihrer Heimat klar und eindringlich gewesen und hatten bei ihr nach dem Erwachen das Gefühl zurückgelassen, tatsächlich die Familienmitglieder besucht zu haben, von denen sie geträumt hatte. Sie hatte ihren Vater gesehen und umarmt, dazu all ihre Brüder und viele ihrer Freunde, doch ihre Mutter hatte sich ihr entzogen; Rhapsody war über die Felder ihrer Heimat gewandert und hatte vergeblich nach ihr gesucht. »Es scheint genug Mondlicht herein«, sagte Constantin, als sie die Kerzen auf den Nachttisch stellte. »Sie sind nicht da, um Licht zu spenden, sie sind für deine Träume«, erklärte Rhapsody. Sie berührte die größte Kerze und sah zu, wie die Flamme hochzuckte. Als sie alle anderen angezündet hatte, bemerkte sie, dass der Gladiator sie im sanften Glanz des Kerzenlichts anstarrte. »Die Fürstin wird auch Yl Breudivyr genannt die Wächterin der Träume und des Schlafes. Unter ihrem Auge scheinen die Träume in diesem Reich wirklicher als gewöhnlich zu sein. In der anderen Welt sind es nur Bruchstücke dessen, was in dieser Welt geschieht. Hier ist es, als würde man das, wovon man träumt, tatsächlich erleben.« »Wozu dienen dann die Kerzen?« Rhapsody lächelte. »Ich weiß nicht, woraus sie bestehen, aber sie könnten dabei helfen, die Wiedervereinigung beinahe greifbar zu machen.« »Die Wiedervereinigung?« »Ja. Hast du nicht gesagt, du träumst jede Nacht von deiner Mutter?« Sorge und noch tiefere Empfindungen erfüllten Constantins Gesicht. »Unter anderem.« »Nun, diese Kerzen halten die unangenehmen Träume in Schach und holen diejenigen hervor, in denen dein Herz spricht. Wenn du es mir erlaubst, spiele ich auf der Laute, während du einschläfst. Vielleicht kann ich den Traum ermuntern, eine Weile bei dir zu bleiben. Ich kann die Kerzen länger als gewöhnlich brennen lassen; das gibt dir mehr Zeit mit deiner Mutter. Meine Lehrerin hat immer gesagt, dass Erinnerungen die erste und stärkste Lektion sind, weil du sie dir selbst gibst. Nur du hast diese Erinnerung die Erinnerung an deine Mutter. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir sie möglicherweise herbringen, wenn auch nur für ein paar Augenblicke.« Der durchdringende Blick kehrte zurück. »Das würdest du für mich tun?« »Nur, wenn du es willst. Ich will nicht, dass du dich unwohl fühlst.« Constantin lächelte. »Ich fühle mich geehrt«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Ich bin bestimmt nicht derjenige, der sich dabei unwohl fühlen wird.« Der Gladiator schlief schon seit mehr als einer Stunde. Die Kerzen brannten hell, doch Rhapsody bemerkte noch keine Anzeichen eines Traumes. Er lag auf der Seite zusammengerollt in dem großen Bett und schnarchte leicht. Rhapsodys Finger verkrampften sich leicht. Es hatte eine Weile gedauert, bis er eingeschlafen war. Der Geruch der Traumbringenden Kräuter, die sie mitgebracht hatte Fingerkraut, Ackermennig, Brustwurz und Anis machten sie allmählich schwindlig. Insgesamt hatte sie mehr als zwei Stunden auf der Laute gespielt und fragte sich, ob es gut war, gerade jetzt aufzuhören. Im nächsten Moment erhielt sie die Antwort. Durch den Schleier des Kerzenlichts und den leichten Rauch im Zimmer glaubte sie zu sehen, wie die Tür sich öffnete. Im Türrahmen stand eine große, breitschultrige Frau mit graublondem Haar, das von weißen Strähnen durchzogen war. Ihr Gesicht war hübsch, und sie hatte die gleichen durchdringend blauen Augen wie ihr Sohn, der sich bei ihrem Eintreten im Schlaf aufrichtete. Rhapsody beobachtete verzaubert, wie die Traumfrau Constantin umarmte, sich zu ihm auf das Bett setzte und ihn wie einen verlorenen Schatz in den Armen wiegte. Der Gladiator weinte im Schlaf. Rhapsody nahm das Lautespiel sanft wieder auf. Als der Duft der Kerzen sie erreichte, kämpfte sie darum, nicht ebenfalls ihrem Zauber zu erliegen. Die beiden saßen lange zusammen und redeten in einer Sprache, die Rhapsody als Sorboldisch erkannte, aber sie verstand wegen des Lautespiels nicht, was die beiden sagten. Sie wollte keineswegs in das Gespräch eindringen, hatte jedoch Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten und die Hände weiterhin über die Saiten zu bewegen. Schließlich erhob sich die Frau, küsste ihren lächelnden Sohn auf die Wange und flüsterte ihm Abschiedsworte ins Ohr. Dann verließ sie das Zimmer. Constantin legte sich wieder nieder, fiel in tiefen Schlaf und lächelte immer noch. Rhapsody brachte das Lied zu einem Ende, als sich Constantin auf die Seite rollte. Die Tür wurde erneut geöffnet; diesmal sah sie, wie ein Traumbild ihrer selbst den Raum betrat und die Tür leise hinter sich schloss. Rhapsody schlug das Herz bis zum Hals. Alles, was sie nun tun konnte, war weiterzuspielen. In der Dunkelheit seines Traumes trug sie dasselbe weiße Kleid wie alle anderen im Reich der Rowans. Das Traumbild zog es aus und stellte sich neben das Bett. Rhapsody sah den Blick in Constantins Augen, als er die Erscheinung anstarrte. Sie musste für ihn nun wirklicher denn je sein, was er den Kerzen, deren verbleibendes Leben nicht mehr lang war, und dem Lied der Laute zu verdanken hatte. Ihr Magen drehte sich um, als er die Erscheinung näher an sich heranzog und ihr die Hände auf die Hüfte legte. Sie wusste, was nun geschehen würde, und wollte nicht dabei zusehen. Ihre Haut brannte, als Constantin seine Phantasien in die Tat umsetzte. Rhapsody hätte gern die Augen geschlossen, fühlte sich aber gezwungen zuzusehen, denn an seinen Handlungen war etwas bemerkenswert. Sie waren zart und sanft und hatten nichts von der grausamen Wildheit, die er in Sorbold gezeigt hatte. Er schlief mit der Gestalt, die er als Rhapsody ansah, aber er vergewaltigte sie nicht, wie er es in dem Schlafzimmer des Arenakomplexes vorgehabt hatte. Die Erkenntnis, dass dieser Mann, den sie als gefährlichen Jäger angesehen hatte, zu solch sanften und liebevollen Handlungen fähig war, schnürte ihr den Hals zu. Sie hatte Recht gehabt, was seine Verwandtschaft mit der Tugend der Freundlichkeit anging. Sie schloss die Augen, überließ ihn sich selbst und zupfte fester an den Saiten ihrer Laute, um mögliche Geräusche zu übertönen. Als sie sicher war, dass der Traum geendet hatte, ging sie zum Bett und stellte sich neben ihn. Sie sah ihn im Schattenlicht der beiden verbliebenen, heruntergebrannten Kerzen zärtlich an. Seine ungeheure Größe und die Wunden an seinem Körper täuschten über sein Alter hinweg. Er war wie sie selbst: scheinbar jung, doch gebeugt unter dem Gewicht seiner Erfahrungen. Mit den geschlossenen Augen und dem zufriedenen Gesichtsausdruck wirkte er sehr verwundbar. Du hast mir eine Nacht mit dir in meinem Bett versprochen. Du willst doch dein Wort nicht brechen, oder? Rhapsody löschte die Kerzen und zog die Laken wie in Trance zurück. Sie kroch ins Bett und zwischen die Decken, wobei sie darauf achtete, ihn nicht zu wecken. Dann rutschte sie unter dem groben Stoff heran, bis sie ihn neben sich spürte. Sie legte sanft den Kopf auf seine Schulter und schlang den Arm um seine Hüfte. Sie drängte sich an ihn, so wie sie es bei Grunthor getan hatte, als sie entlang der Wurzel gereist waren. Im Schlaf zog Constantin sie enger an sich heran und seufzte. Der Laut drang unmittelbar in Rhapsodys Herz. Ryle hira, dachte sie. So ist das Leben. Sie wünschte sich nur, es wäre manchmal nicht so verdammt traurig. Sie erhob sich kurz vor Sonnenaufgang und ging, als die ersten Strahlen den Zimmerboden berührten. Als der erste Lichtpfeil über die Bettlaken fiel, legte sie ihm die Hände auf die Schulter und beugte sich über ihn, so wie es ihr Abbild in seinem Traum getan hatte. Sie gab ihm einen langen, warmen Kuss auf die Stirn, wobei ihre Haare auf seine Brust fielen. Er sog den Duft ihrer Haut mit dem ersten Atemzug des Erwachens ein. Er schlug gerade die Augen auf, als sie seine Hände ergriff und auch sie küsste. »Nun sind die Schalen im Gleichgewicht«, sagte sie leise. Sie ging zum Stuhl, auf dem ihre weiße Robe lag. Sie zog sie an und lächelte ihm zu, während er sie erstaunt beobachtete; dann öffnete sie die Tür, trat hinaus und schloss sie sanft hinter sich. Rhapsody schlief in jener Nacht selbst unter dem warmen Glanz einer der Kerzen; es war eine schöne Säule rosenfarbenen Bienenwachses, parfümiert mit Lilabella, einer Pflanze, die für ihre beruhigende und reinigende Wirkung bekannt war. Der würzige Duft drang in ihren Geist und klärte viel von ihrer Verwirrung, hinterließ aber einen leichten Kopfschmerz. Dunstige Rauschwaden sammelten und zerstreuten sich in ihrem Traum, als würden sie von einem kalten, reinigenden Wind fortgeblasen. In der Benommenheit des schmerzhaften Schlafes öffnete Rhapsody die Augen. Vor ihr stand Fürst Rowan, gekleidet in Waldgrün, und stützte sich auf einen Stab aus Winterholz. Begreifst du jetzt, wofür du kämpfst? Die Worte erfüllten ihren Verstand, auch wenn er sie nicht laut ausgesprochen hatte. Ihre Antwort kam wie ein Lied, an das sie sich nicht mehr erinnerte, das sie aber vor langer Zeit einmal gekannt hatte. Für das Leben selbst, erwiderte sie. Die F’dor hassen das Leben und versuchen, es auszulöschen. Wir kämpfen um das Leben selbst. Ja, und um noch mehr. Der Fürst ging in den nebligen Wald ihres Traumes hinein, drehte sich kurz um und sah sie an. Du kämpfst auch um das Nachleben. Das verstehe ich nicht. Die Schlacht wird nicht nur um dieses Leben geführt, sondern auch um das Nachleben. Es gibt das Leben, und es gibt die Leere. Die Leere ist der Feind des Lebens und wird es verschlucken, wenn sie kann. Das Leben ist stark, aber die Leere wird stärker. Fürst Rowan verschwand im Nebel; nur seine Worte hingen noch in der dunstigen Luft ihres Traumes. Du darfst nicht verlieren. 42 Die zäh verstreichende Zeit weigerte sich, vorwärts getrieben zu werden. Frische Morgen verwandelten sich in warme Nachmittage aus schräg einfallendem Sonnenlicht, die sich hin zu süßen, trägen Abenden und der tiefen Dunkelheit der Nächte wandten, nur um mit der aufgehenden Sonne den Kreislauf von neuem zu beginnen. Es war genau so wie überall, doch irgendwie schienen Rhapsody die Tage länger zu sein, wobei sie dies sehr schätzte. Im Reich der Rowans war es friedlich und schläfrig, obwohl die Kinder recht unempfindlich gegen die einschläfernde Atmosphäre zu sein schienen. Die Kinder waren glücklich hier; sie wurden stärker und gesünder unter den wachsamen Augen des Fürsten und der Fürstin sowie unter der tröstenden Liebe ihrer schönen, jungen Großmutter. Die Jahreszeiten in der Lichtung änderten sich nicht; es war immer Frühling, kurz vor dem Sommer. Obwohl der Herbst Rhapsodys Lieblings-Jahreszeit war, vermisste sie ihn nicht. Auch das war ein Teil des Zaubers dieses Ortes: geliebte Freunde und vertraute Dinge verblassten zur reinen Erinnerung; man bemerkte ihre Abwesenheit kaum. Die Zeit verstrich einfach, blind gegen alles. Die einzige Schwierigkeit waren die Nächte. Wenn die Sonne unterging, sah Rhapsody über die Schulter; der Fürst oder die Fürstin nickten ihr zu und bedeuteten ihr, es sei Zeit. Sie hatte diesen Zeitplan selbst gewählt; er gab ihr die Gelegenheit, ihre Abendgebete zu singen, und sie wusste, dass die Fürstin in ihrer himmelblauen Robe am Ende des Verfahrens jedes Kind in den Schlaf küsste. Also war das der beste Zeitpunkt. Ihre Nächte wurden sowieso seit langem von verstörenden Träumen heimgesucht; sie war der Ansicht, es könnte kaum schlimmer werden. Sie hatte Unrecht. Sie gewöhnte sich einfach nicht daran. Die Schmerzen waren unerträglich. Sie schrie unter ihnen laut auf, weil sie wusste, dass niemand sie in dem runden Gebäude hören konnte, welches alle Geräusche schluckte. Zu Beginn hatte sie sich am Rand des Bettes festgehalten und an das Holz geklammert, bis ihr die Finger wehtaten. Verzweifelt hatte sie nach einem Weg gesucht, die Schmerzen zu lindern. Es war sinnlos. Sie spürte jeden Nadelstich so stark, als würde ihr ein Stück Fleisch aus der Brust gerissen und ihr Herz zerfetzt. Es waren Schmerzen, die sie sich nie hätte vorstellen können. In gewisser Weise war es eine letzte Gemeinschaft mit Ashe; wenigstens verstand sie nun die Qualen, die er ertrug. Sie versuchte sich auf die Kinder zu konzentrieren und auf das Wissen, dass sie nichts verspürten, weil Rhapsody ihnen die Schmerzen wegnahm, doch das funktionierte nur bis kurz nach dem Beginn des Verfahrens. Schließlich erkannte sie die Nutzlosigkeit all ihrer Versuche und akzeptierte, dass es ihr nicht gelang, gleichmütig oder tapfer zu sein. Sie musste an Stelle der Kinder leiden. Sie hatte es freiwillig auf sich genommen. Als sie zwischen den Operationen auf dem Boden lag, weil sie in ihren Zuckungen aus dem Bett gefallen war, tröstete sie sich mit dem Bewusstsein, dass die Kinder in Frieden schliefen. Es gab ihr ein wenig Kraft, damit sie weitermachen konnte. Als sie nach einer besonders grausamen Sitzung schluchzend auf dem Boden lag und Luft zu holen versuchte, betrat Fürstin Rowan den Raum und nahm Rhapsody in die Arme. Sie fuhr mit ihren warmen Händen über das goldene Haar der jungen Frau. Die Schmerzen und Schluchzer verebbten. Sie nahm das tränenüberströmte Gesicht der Sängerin zwischen die Hände und sah ihr tief in die Augen. »Sie sind stärker und älter geworden. Aria ist kein Baby mehr, und Quan Li ist schon beinahe eine Frau. Einige von ihnen können es jetzt selbst ertragen. Warum lässt du es nicht zu?« Rhapsody schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es geht mir gut.« Die Fürstin sah sie ernst an. »Du verbirgst etwas vor mir. Was ist es?« Rhapsody schaute fort, doch die warmen Finger drehten ihren Kopf wieder zurück. »Sag es mir«, meinte die Fürstin. Rhapsody wusste, dass sie die Antwort schon kannte und nur darauf wartete, dass die Sängerin es selbst aussprach. Ihre Blicke trafen sich. »Meine Mutter«, sagte sie. »Was ist mit ihr?« »Ich weiß jetzt, was sie gefühlt und wie sie gelitten hat, als ich ging. Es war, als würde ihr ein Stück des Herzens herausgerissen. In gewisser Weise glaube ich, dass ich jetzt dafür Buße leiste.« Die Fürstin berührte zart ihr Gesicht. »Du trägst großen Schmerz um deine Mutter im Herzen, nicht wahr?« Rhapsody senkte den Blick. »Ja.« Sie spürte die Wärme des Lächelns über sich. »Du hast nun schon seit einem Zeitraum, der drei Jahren entspricht, die körperlichen Schmerzen dieser Kinder ertragen, wie es eine Mutter tun würde, weil der Gedanke, dass die Kleinen diese Schmerzen selbst erleiden müssten, für dich noch schlimmer ist. Was glaubst du, wie würde sich deine Mutter fühlen, wenn sie wüsste, dass ihr Kind so große und unnötige Schmerzen um ihretwillen erleidet?« Rhapsody schaute in die himmelblauen Augen der Fürstin. Die Erkenntnis kam langsam. Als sie da war, nahm Fürstin Rowan ihre Hand. »Meine Schuld schmerzt sie noch mehr.« Die Fürstin lächelte. »Lass es zu, dass du geheilt wirst, mein Kind, denn ansonsten wird deine Mutter es nie sein.« Als Rhapsody in jener Nacht in der tiefen Dunkelheit ihres Zimmers schlief, öffnete Fürstin Rowan die Tür und trat ein. Sie hatte eine kleine, parfümierte Kerze bei sich, die mit Duftholz umwunden war. Rhapsody schlug die Augen auf, doch die Fürstin schüttelte nur den Kopf und stellte die Kerze auf den Tisch neben dem Bett. Sie beugte sich über die ruhende Sängerin und küsste sie sanft auf die Stirn, dann ging sie so leise, wie sie gekommen war. Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut. Rhapsody setzte sich überrascht auf, als die junge Frau lächelnd hereinkam, sich auf den Stuhl setzte und die Füße auf das Bett legte. Sie holte ein langes, dünnes Messer hervor, legte die Hand auf das Knie und stach sich mit der Klinge spielerisch zwischen die Finger. »Hallo, Rhaps«, sagte Jo. Für einen Moment konnte Rhapsody nur die Bettdecke packen und aufzuwachen versuchen, doch der süße Duft der Kerze lag schwer auf ihren Lidern. Schließlich brachte sie genug Stärke auf, um sich zu erheben und nach dem Knie ihrer Schwester zu greifen. »Nicht«, sagte Jo freundlich, ohne von ihrem Messerspiel aufzusehen. Rhapsody lehnte sich rasch gegen das Rückenteil des Bettes. Plötzlich war ihr Kopf leicht, und ein Unwohles Gefühl von Entsetzen und Freude erfüllte ihren Magen. »Bist du das wirklich, Jo?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte. Sie erkannte sie durch den dichten Schleier selbst nicht wieder. »Natürlich nicht«, erwiderte Jo, die noch immer mit ihrem Spiel beschäftigt war. »Du siehst nur das, was deine Erinnerung dir eingibt.« Sie schaute hoch, und ihre Blicke trafen sich zum ersten Mal. »Aber meine Liebe ist bei dir. Du musstest mich sehen, also bin ich hergekommen, zumindest für kurze Zeit.« Rhapsody nickte, als verstünde sie, aber sie tat es nicht. »Du bist also hier? Im Reich der Rowans? Zwischen den Welten?« Jo schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin im Nachleben. Aber ich werde immer hier sein, wenn du mich brauchst, Rhaps. Das ist das Wenigste, was ich für dich tun kann, nach allem, was du für mich getan hast.« Rhapsody rieb sich benommen den Kopf. »Ich verstehe das nicht.« »Natürlich nicht.« Jo steckte das Messer wieder in ihren Stiefel, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust. »Du wirst es nie verstehen. Und ich kann es dir auch nicht erklären. Es übersteigt dein Begriffsvermögen.« Ein schiefes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Komisch, nicht wahr? Im Leben war es immer so, dass du mir die Dinge zu erklären versucht hast, die ich nicht verstanden habe.« »Erzähle mir vom Nachleben, Jo«, bat Rhapsody mit erstickter Stimme. »Das kann ich nicht. Nun, ich kann es, aber du wirst es nicht verstehen. Du kannst es nicht. Um es zu begreifen, muss man durch das Tor des Lebens getreten sein. Hier an diesem Ort kannst du nur wenig von dem sehen, was dort hindurchgegangen ist, weil es ein Ort des Übergangs ist. Jetzt kennst du nur die Dinge, die du auf deiner Seite des Schleiers der Freude gekannt hast. Sobald du durch das Tor geschritten bist, weißt du alles. Es tut mir Leid, Rhaps. Ich wünschte, ich könnte es dir erklären.« »Bist du glücklich, Jo?« Ihre Schwester lächelte. »Ich bin zufrieden.« »Aber nicht glücklich?« »Glücklich ist ein Wort von deiner Seite des Tores. Es ist nur ein Teil der Zufriedenheit. Du kannst es nicht verstehen; wenn du dich dabei besser fühlst, solltest du glauben, dass ich glücklich bin. Das stimmt genau so wie alles andere.« »Ich will, dass du glücklich bist, Jo. Und es tut mir so Leid, was ich dir angetan habe.« Das Bild ihrer Schwester betrachtete sie nachdenklich. »Nun, wenn du willst, dass ich glücklich bin, darfst du dich nicht schuldig fühlen. Das ist etwas, das ich ebenfalls empfinden kann. Rhaps, du hast mir die Möglichkeit gegeben, ewig zu leben. Du bist die erste Person gewesen, die mich je geliebt hat. Weißt du, das ist der Schlüssel. Es sind die Verbindungen, die wir im Leben eingehen und die es uns ermöglichen, im Nachleben die Liebe zu empfinden. Du hast mir gesagt, dass meine Mutter mich geliebt hat, und du hattest Recht. Sie liebt mich. So hast du mir geholfen, sie hinter dem Tor zu finden.« Jo stand auf. »Ich muss gehen. Nicht!«, sagte sie, als Rhapsody sich wieder aufrichten wollte. »Arbeite mit diesen Kindern weiter, Rhapsody. Du machst dir einen Spaß daraus, dich als ihre Großmutter zu bezeichnen, aber die Bande zwischen ihnen und dem Nachleben verlaufen in beide Richtungen, wenn du weißt, was ich meine. Du sprengst gerade die Ketten, die sie in den ewigen Tod in der Gruft der Unterwelt ziehen könnten. Du weißt, dass ich Kinder nicht besonders mag, aber so etwas hat niemand verdient. Auf Wiedersehen.« Die Tür schloss sich hinter ihr. Rhapsody blieb glückselig wie auch verwirrt zurück. Auch in den nächsten Nächten besuchte ihre Schwester sie. Der Traum dauerte jeweils nur wenige Augenblicke; daher gewöhnte sich Rhapsody daran, sofort das zu sagen, was ihr am meisten auf dem Herzen lag, sobald ihre Schwester durch die Tür kam. Sie versuchte immer noch, leichthin ›Auf Wiedersehen zu sagen, als Jo ihr eines Nachts eröffnete, sie könne nun nicht mehr kommen. »Du hast die Antworten erhalten, die du am dringendsten gebraucht hast«, sagte sie, als Rhapsody gegen die Tränen ankämpfte. »Ich liebe dich; da ist nichts, was dir vergeben werden müsste. Und deiner Definition nach bin ich glücklich. Du solltest es auch sein, Rhaps.« Sie stand auf, beachtete die Bitten der Sängerin, sie solle doch bleiben, nicht weiter und schritt durch die Tür. Trotz der beruhigenden Gerüche der Kerzen senkte Rhapsody den Kopf und überließ sich ihrem Kummer. Nun spürte sie eine sanfte Hand auf ihrer Stirn. Rhapsody sah im Schlaf auf und bemerkte, wie das Gesicht, das ihrem eigenen so ähnlich sah, sie anlächelte. »Weine nicht, Emmy.« Die Hände ihrer Mutter waren sanft und schmeichelten ihr die Tränen aus dem Gesicht. Schließlich war es überstanden. Eines klaren Tages, der sich nicht von den anderen unterschied, traf die Fürstin Rhapsody im Wald und streckte ihr die Hand entgegen. In ihr befand sich eine pfeildünne, kleine Phiole mit einer Flüssigkeit, die schwarz wie Pech war. Als Rhapsody sie verwirrt anschaute, lächelte die Fürstin. »Nach all deinem Leiden hatte ich geglaubt, du würdest es sofort erkennen.« Rhapsody riss die Augen weit auf. »Das ist es? Das ist das Ergebnis von sieben Jahren und von allen zehn Kindern?« »Das ist alles, was übrig bleibt. Es ist bis zur Essenz seiner dämonischen Natur destilliert worden das Böse in seiner reinsten Form.« Ein Schaudern durchlief die Sängerin. »Ist es in dieser Flasche sicher verwahrt?« »Für eine Weile. Nicht für lange. Ich schlage vor, du legst es so schnell wie möglich in die Hände des Dhrakiers.« Sie öffnete die Handfläche; in ihr lag ein weiterer Behälter aus silbernem Hämatit, einem Mineral, den die Lirin Blutstein nannten. Er war wie ein Dachsparren geformt, und der Boden war mit Kork überzogen. Die Fürstin öffnete das steinerne Gefäß und steckte das gläserne hinein, dann verschloss sie es. Sie streckte Rhapsody die Hand entgegen. »Das sollte in die Spitze der Scheide deines Schwertes passen, wohin die Klinge nicht reicht. Die Elementarkraft des Feuers und der Sterne wird es beschützen, bis du es demjenigen gibst, der damit nach dem F’dor suchen wird.« Rhapsody nickte; sie hatte immer noch Angst davor, den Behälter zu berühren. »Soll ich jetzt gehen?« »Ja.« »Und was wird aus den Kindern?« »Alle, die mit dir gehen wollen, dürfen das. Alle anderen können hier bleiben, wenn es ihr Wunsch ist. Sie haben sich das Recht des ewigen Friedens erkämpft.« Rhapsody nickte und brachte ein Lächeln zustande. »Ich bin Euch für Eure Freundlichkeit und die des Fürsten ewig dankbar.« Widerstrebend nahm sie den Behälter entgegen. Die Fürstin sah sie ernst an. »Das musst du nicht sein, Rhapsody. Gefälligkeiten gehen für gewöhnlich mit Opfern einher. Daran brauche ich dich wohl nicht zu erinnern.« Sie wollte gerade fragen, ob sie noch etwas schuldig sei, als die Kinder aus einer der Hütten strömten und lachend und rufend auf sie zuliefen. Die Fürstin lächelte sie noch einmal an und wurde dann undeutlicher, als die Luft um sie herum sich bewölkte. Rhapsody sah sich ängstlich um und bemerkte, dass Constantin in einiger Entfernung zu ihr stand. Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er kam herbei. »Komm mit uns«, sagte sie und ergriff seine Hand. Der Gladiator schüttelte den Kopf. »Nein, ich will hier bleiben.« Tränen traten ihr in die Augen. »Warum?« »Die Zeit ist noch nicht gekommen.« Seine Stimme war sanft und tief wie das Meer. Verzweiflung kroch in ihre Worte; der Schleier des Nebels wurde dichter. »Bitte komm mit, Constantin. Ich werde dich sonst nie wieder sehen.« Alles, was von ihm sichtbar blieb, waren die klaren blauen Augen, die den Dunst wie Saphirstrahlen durchdrangen. »Du wirst mich wieder sehen, eines Tages.« Er schloss die Augen und verschwand im Nebel. Sie rief seinen Namen, doch es antwortete nur der Wind in den Bäumen des Waldes. Rhapsody vergrub das Gesicht in den Händen und spürte das eisige Stechen ihrer Tränen. »Rhapsody, sieh nur! Das Schwert!« Sie schaute hoch; einige Fuß entfernt sah sie die Klinge der Tagessternfanfare, deren Flammen im Wind aufloderten. Es steckte noch immer mit der Spitze im Schnee. Die fallenden Flocken hatten den Griff bestäubt und bedeckten ihn bis zum Knauf mit einer dünnen weißen Kruste. Sieben Jahre waren im Reich der Rowans vergangen, doch es schien, als wäre sie weniger als einen Tag fort gewesen. Sie dachte an Constantin, an den Blick seiner Augen in jener Nacht, als er ihr Abbild in den Armen gehalten hatte, an dieselben Augen, wie sie im Nebel hinter dem Schleier des Hoen verschwunden waren. Der Schleier der Freude, dachte sie und erinnerte sich an die traumhaften Tage dort und an die schrecklichen Nächte. Vor allem wirst du die Freude kennen lernen, hatte der Patriarch gesagt. Vielleicht konnte Constantin nun, da sie fort war, etwas davon finden. Ein Schwall winterlicher Luft riss sie aus ihren Träumen. Sie sah hinunter auf die kleinen Gesichter, die sie erwartungsvoll anstarrten. »Wohin gehen wir jetzt, Rhapsody?« Sie lächelte sie an. »Nach Hause. Wir gehen nach Hause.« 43 Haus der Erinnerung, Navarne Achmed bemerkte, dass es hier sogar im tiefsten Winter Vögel gab. Er hatte sein Pferd auf einer Lichtung außerhalb des Gebietes zurückgelassen, das bereits bei seinem letzten Besuch verseucht gewesen war. Es war nicht schwierig gewesen, die Grenzen der Fäulnis zu finden. Dieser alte Hain, dessen dunkle Bäume sich meilenweit über die sanften Hügel Navarnes erstreckten, war in der Mitte mit neuen weißen Birken, Pappeln und blassstämmigen Föhren bewachsen. Es handelte sich um junge Bäume, deren fahle Strünke der Gegend ein käsiges und blässliches Aussehen verliehen, als wäre sie krank. Einige Zeit war vergangen, seit der Rakshas hier vertrieben worden war und Achmed zusammen mit seinen Gefährten den auf Befehl des F’dor verübten Blutopfern von Kindern ein Ende gemacht hatte. Doch immer noch hing eine schwere Stille in der Luft, ein greifbares Fehlen von Leben. Wenigstens gab es inzwischen Vögel hier, unverwüstliche kleine Wintervögel, die durch den Schnee hüpften oder auf den Ästen spärliche Rufe ausstießen und nach Nahrung suchten. Wenn die Vögel bereit waren, die getrockneten Beeren und gefrorenen Samen dieses Ortes zu fressen, mussten die Fäulnis und der Makel des Bösen, die in den Waldboden eingesickert waren, wirklich verschwunden sein. Vorher war keinerlei wildes Leben hier gewesen. Er hörte, wie in westlicher Richtung die Schneedecke brach. Die Zweige raschelten. Diese Störung wurde nicht von einem Vogel, sondern von einem Menschen verursacht. Rhapsody würde im Hof des Hauses warten, dachte er, als die Geräusche näher kamen. Er spürte den Herzschlag der Sängerin weiter vorn; sie war dort, wo sie sein sollte. Achmed sah nach seiner Cwellan. Er zwang sich, ganz langsam zu atmen, und stand so still und reglos da wie ein Schatten, der von der untergehenden Sonne geworfen wird. Er fluchte schweigend; in der alten Welt, wo er noch seine Blutgabe besessen hatte, wäre es ihm möglich gewesen, auch den Herzschlag dieses Fremden zu spüren und sofort zu wissen, wo er sich befand und an welcher Stelle er verwundbar war. Doch seit er in dieses neue Land gekommen war, war er blind und konnte sich zum Überleben nur auf sein Kampfgeschick verlassen. Und auf das von Rhapsody. In einiger Entfernung links von ihm bemerkte er, wie sich etwas langsam zwischen den blassen Bäumen bewegte. Der Puls in seinem behandschuhten Finger klopfte gegen das Gewicht des Cwellan-Abzuges. Plötzlich teilte sich einen Steinwurf entfernt zu seiner Rechten das Gebüsch. Achmed wirbelte herum und legte die Cwellan mit einer Schnelligkeit an, die jahrhundertelanger Erfahrung entsprang. Der Hirsch in der Brombeerhecke vor ihm gefror. Einen Augenblick erstarrte auch Achmed. Dann senkte er langsam die Waffe und atmete tief durch. Das Tier starrte ihn einen Moment lang an, drehte sich dann um und sprang zurück in die Tiefen des Waldes, wobei es wütend schnaubte. Im Westen hörte er die Geräusche seiner Partnerin, die durch die Schneekruste brach und Zweige knickte, während sie gemeinsam mit dem Hirsch floh. Achmed sog die Luft wieder ein, ließ sie langsam entweichen und eilte dann zu dem Haus in der Ferne vor ihm. Hundert Schritte, bevor er die Stelle erreichte, wo das Haus gestanden hatte, erkannte Achmed die Schäden, die der Feuerball angerichtet hatte, der an diesem Ort niedergegangen war. Schnee hatte die Asche und Schlacke bedeckt, sodass bei jedem Schritt seine Abdrücke unter dem weißen Grund schwarz wurden. Die Bäume in dieser Gegend waren verkohlt, die Rinde verbrannt oder von Ruß geschwärzt; es war umso schlimmer, je näher sie dem Haus gestanden hatten. Der äußere Ahornring war eine Ansammlung von geschwärzten Strünken, während die Birken in der Nähe des äußeren Hofes nur noch feiner, rußiger Staub waren. Von dem Haus selbst waren nicht mehr als ein Turmgerippe und Berge verkohlten Schutts übrig geblieben. Die weiße Eiche in der Mitte aber hatte überlebt. Es war ein Ableger der Sagia, des Weltenbaumes, den Rhapsody mit dem endlosen Spiel ihrer Harfe gerettet hatte, die sie bei ihrer Abreise zwischen die Zweige gesteckt hatte. Selbst das Inferno des Elementarfeuers ein halbes Jahr später, das den Baum von seiner verseuchten Wurzel gereinigt und auch das Haus angezündet hatte, hatte nicht ein einziges Blatt versengt. Der Baum stand immer noch da wie in ewigem Sommer; weiße Blüten schaukelten im Wind, der durch die Zweige pfiff. Rhapsody kauerte unter dem Baum und warf etwas auf die verschneiten Ziegel des Hofbodens, in dem eine kleine Gruppe Wintervögel sich versammelt hatte. Sie zerstreuten sich, als Achmed durch die Bäume brach. Rhapsody schaute auf, erhob sich und wischte sich dabei die Hände an ihrer Hose ab. In Achmeds Haut stach es heftig, als er sie ansah. Es hatte eindringlich in ihm gesummt, seit er vor einer Woche eine Nachricht von ihr erhalten hatte die Nachricht, auf die er seit dem Moment gewartet hatte, als sie sich auf den Krevensfeldern getrennt hatten. Der BolgSoldat, der ihm das Stück Ölpapier gebracht hatte, war vor seiner Reaktion zurückgeschreckt, obwohl sich der König während des Lesens überhaupt nicht gerührt hatte. Anscheinend hatte der Blick in seinen Augen ausgereicht, den Wächter doppelt so schnell zur Voliere zurückzuscheuchen. Achmed hatte das Papier stundenlang angeschaut; es war ein einfaches, zerknittertes Stück Ölpapier gewesen, auf dem nur ein einziges Wort gestanden hatte: Ja. Dieses Wort war der Schlüssel zum Anfang des Endes. Von diesem Zeitpunkt an war es ein Krieg des Willens gewesen. Der tiefe, ihm eingeborene Drang nach Vernichtung hatte ihm endlos ins Ohr geflüstert und ihn zur Jagd getrieben. Alles, was Achmed tun konnte, war, dem Blutdrang nicht nachzugeben. Es war ein Zwang, den jeder von dhrakischem Geblüt in sich spürte: den alles verzehrenden Drang, die F’dor zu vernichten. Er hatte beizeiten gelernt, dass die angeborenen Instinkte seines dhrakischen Blutes sowohl gegen als auch für ihn arbeiteten. Nun kontrollierte er seine Atmung und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Rhapsody sah ihn genauso durchdringend an und stemmte die Hände in die Hüften. Es war nur wenige Wochen her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, doch es schienen Welten dazwischen zu liegen. Ihr Gesicht hatte einen ruhigen Ausdruck angenommen, ihre Augen aber brannten in einer stillen Eindringlichkeit. Das Haar, das sie wie immer mit einem schwarzen Samtband zusammengebunden hatte, reichte ihr bis auf die Knie. Als sie sich getrennt hatten, war es ihr nur bis auf den Rücken gefallen. Sie betrachtete sein Gesicht; schließlich winkte sie ihn hinüber in die Mitte des Hofes und unter die dünnen Zweige des jungen Baumes, der aus ihrer Heimat auf der anderen Seite der Welt stammte. Er spürte, wie der Herzschlag der Welt in seinen Ohren dröhnte, während er zu ihr ging. Er wusste, was sie ihm mitgebracht hatte. »Brombeeren«, sagte sie, als er unter den Zweigen des Baumes stehen blieb. »Was?« Sie deutete auf den Boden. Einige der Vögel waren zurückgekehrt und pickten vorsichtig herum. »Brombeeren. Aus dem Gebüsch auf der Lichtung. Als wir zum letzten Mal hier waren, waren die Hecken verseucht und zerrissen. Ich hätte nie geglaubt, dass sie noch einmal Früchte tragen würden. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen.« Achmed nickte. »Davon können wir nicht genug haben. Wo ist es?« Seine Frage klang barscher, als er es vorgehabt hatte. Zur Antwort nahm sie die Tagessternfanfare ab und hielt sie mit der Spitze nach oben. Langsam glitt die Waffe aus der schwarzen Elfenbeinscheide. Ein ruhiger, silbriger Klang wie von einem unterdrückten Trompetenruf wisperte durch den leeren Hof. Der Korkboden des kleinen, dreieckigen Behälters ruhte auf der Schwertspitze. Er war von den Flammen angesengt. Rhapsody packte beherzt in die Flammen und zog ihn von der Spitze der Waffe. »Hier«, sagte sie und hielt ihn Achmed entgegen. »Mach etwas Gutes daraus.« Er hielt es vor seine Augen. »Das ist alles? Von den Dämonenkindern?« »Ja. Es ist bis zur reinen Essenz destilliert. Ansonsten ist nichts mehr darin, kein mütterliches Blut und auch nicht das des Rakshas. Es ist rein. Es wird kein Irrtum möglich sein, wenn du den Wirt findest.« Ihre smaragdenen Augen loderten auf. Es wirkte wie Erregung, aber Achmed vermutete, es war eher Angst. »Was wirst du jetzt damit machen?« Achmed betrachtete weiterhin den Hämatitbehälter. Der Stein fühlte sich warm an. Vielleicht kam das von dem Feuer des Schwertes, doch es war wahrscheinlicher, dass der Inhalt des Gefäßes die Wärme selbst erzeugte. Es war zwar versiegelt, aber trotzdem schwang etwas darin; sanfte Stimmen sangen dunkle Hymnen in den knisternden Feuern der Unterwelt. Er spürte die Kraft und das Böse durch den Stein. Sie riefen ihn schmeichelnd, befehlend, und spotteten seiner dhrakischen Seele. Das Blut hinter seinen Augen brannte. Öffne es. Lass und heraus. Lass uns aus der Gruft. Achmed steckte den Hämatitbehälter in sein Hemd. »Nichts.« Die grünen Augen ihm gegenüber weiteten sich bedenklich. »Nichts? Nach all dem? Was willst du damit sagen?« »Du hast gefragt, was ich jetzt damit machen werde. Ich habe gesagt: Nichts. Grunthor ist nicht hier, und wir können den Dämon noch nicht jagen. Wir müssen zusammen sein, wie ich vermute. Ansonsten hätte diese schwachhirnige Seherin nicht von den Drei geplappert.« Er warf einen Blick in den Hof, durch den der Wind pfiff, welcher den jüngst gefallenen Schnee zu gewundenen Laken aus eisigem Weiß aufwirbelte. »Bevor ich etwas unternehme, werde ich warten, bis du wieder in Ylorc bist. Ich muss mich vorbereiten.« »Bis ich wieder in Ylorc bin?« Auch Rhapsody schaute sich in dem Hof um. »Gehe ich nicht mit dir?« »Vielleicht. Aber ich war der Meinung, du brauchst ein paar Tage Ruhe.« Achmed griff in eine Falte seiner Robe, holte eine cremefarbene Leinenkarte mit einem erbrochenen Goldsiegel hervor und reichte sie ihr. »Was ist das?«, fragte Rhapsody und drehte sie in der Hand. »Tristan Stewards Hochzeit ist offenbar angesetzt worden. Die Zeremonie wird in drei Tagen in Bethania stattfinden.« Rhapsody betrachtete die Einladung. »Ja. Oelendra hat mir bei meiner Rückkehr vom Schleier des Hoen davon erzählt. Rial will auch teilnehmen. Aber was hat das mit unserer Suche zu tun? Die Hochzeit ist im Vergleich zu dem, was wir vorhaben, völlig bedeutungslos. Es gibt doch wohl nichts Wichtigeres als die Jagd nach dem Dämon, auf die wir so lange gewartet haben.« »Das stimmt«, pflichtete Achmed ihr bei. »Aber ich habe so etwas noch nie getan. Es erfordert Vorbereitung und Konzentration. Und das gelingt am besten in der Abgeschiedenheit, Ruhe und Sicherheit des Berges. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern oder was es mich kosten wird. Es ist der Kampf gegen eine Bestie, die noch gar nicht da ist. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass Tristan jede Gelegenheit ergreifen wird, um gegen die Bolg zu hetzen. Wir müssen bei der Hochzeit anwesend sein; das ist eine Staatsangelegenheit.« »Du willst, dass ich zu dieser Hochzeit gehe?« »Ja.« »Nach all dem?« »Ja.« »Du willst, dass ich zu der Hochzeit gehe?« »Glaubst du, es ist besser, wenn ich gehe?«, knurrte Achmed. Rhapsody starrte ihn an. »Natürlich nicht. Ich hatte angenommen, wir senden ihnen unser Bedauern. Das habe ich schon getan, als der Bote die Einladung zum ersten Mal bei mir abgegeben hat.« Achmed seufzte. »Seit deiner Abreise hat sich vieles verändert, Rhapsody. Es droht Krieg, und die Feinde sind innen wie außen. Der Angriff könnte aus jeder Richtung erfolgen. Ich begreife allmählich deine Vision, als du sie von allen Seiten hast kommen sehen. Das Einzige, was mich jetzt aus der Bergfestung herauslocken könnte, ist diese Einladung, obwohl Grunthor sicherlich schon plant, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen.« Rhapsody sagte nichts darauf, sah ihn aber fragend an. Der Fir-Bolg-König blickte finster drein. »Wir hatten einige Schwierigkeiten mit Verrat und dem ungesetzlichen Verkauf von Bolg-Waffen nach Sorbold. Sie sind zum ersten Mal aufgetreten, als ich mit dir die Dämonenbrut gejagt habe.« »Gute Götter!« »Ja, gute Götter. Mögen sie all jenen Bolg helfen, die dumm genug sind, es noch einmal zu versuchen, während ich weg bin. Grunthor liegt auf der Lauer. Falls du bei deiner Rückkehr Körperteile als Wandschmuck im Griwen sehen solltest, weißt du warum. Aber vorher wirst du Ylorc auf Tristans Hochzeit vertreten. Damit kannst du uns wenigstens etwas Zeit verschaffen. Vielleicht hörst du etwas über ihre Kriegsvorbereitungen. Verhalte dich weiterhin so, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Ich werde dir eine Nachricht schicken, wenn ich bereit bin, falls du bis dahin noch nicht zurückgekehrt sein solltest.« Rhapsody erwiderte nichts darauf. Obwohl das Summen der Harfe in den Zweigen des jungen Baumes ihre Worte überlagern würde, konnte sie ihren Gefühlen noch keinen Ausdruck verleihen, denn sie wusste, dass fremde Ohren im Winterwind mithörten. Vor allem wollte sie ihrem Freund vom Schleier des Hoen berichten; sie wollte ihm sagen, was sie dort gesehen und über die Bedrohung des Lebens und Nachlebens erfahren hatte und wie lange sie fort gewesen war, aber sie wagte es nicht, nicht hier, nicht unter dem offenen Himmel. Wie er gesagt hatte, war es besser, zu warten, bis sie sich in der Dunkelheit des Berges befanden, verborgen vor allen neugierigen Blicken und abgeschirmt vom Wind. Sie sah zu den Ruinen des Hauses der Erinnerung, in dem ihr Weg zum ersten Mal deutlich geworden war. Dieser Aufbewahrungsort der Geschichte, dieser Außenposten der ersten cymrischen Welle war vor vierzehn Jahrhunderten mit so großen Hoffnungen erbaut worden, die so brutal enttäuscht worden waren. Der Rakshas hatte sogar versucht, die Wurzel des Sagia-Schösslings dazu zu benutzen, in den Firbolg-Berg einzudringen und das Schlafende Kind zu entführen. Es war die schreckliche Wendung einer Lage, die als so großes Versprechen begonnen hatte. Sie hatten diesen Ort für ihr heutiges Treffen ausgesucht, um einen Neuanfang zu machen, zum Guten oder Schlechten. Es war eine kaum zu ertragende Ironie des Schicksals, dass Rhapsody gerade hier, wo der F’dor das Blut der Kinder zu seinen Zwecken benutzt hatte, dem Dhrakier das Blut des Dämons aus den Adern der Kinder gab, um ihn aufzuspüren. Rhapsody sah Achmed an. Er stand jetzt vor ihr, der widerwillige Retter, der Schlüssel zum Aufspüren des Dämons und dessen endgültiger Vernichtung, und gab ihren Blick fest zurück. Plötzlich drehte sich ihr der Magen um, und die Welt schwankte. Er musste es bemerkt haben, denn er streckte die Hand aus, packte sie am Arm und brachte sie wieder ins Gleichgewicht. »Ich weiß nicht, ob ich das tun kann«, flüsterte sie. Sie wollte ihn jetzt, da das Blut in seiner Hand war und bald die Entscheidung fallen würde, nicht allein lassen. »Ich will es endlich hinter mich bringen. Ich will nach Hause gehen.« Der Fir-Bolg-König zuckte die Achseln. »Unmöglich. Du musst erst an der Hochzeit teilnehmen. Das ist Teil des Plans.« Er beugte sich vor und sprach ihr ins Ohr: »Es ist deine Bestimmung, dein Schicksal.« Die Windgepeitschte Stille des Hofes wurde noch tiefer. Bestimmung allein der Klang dieses Wortes machte sie schwach. Wie oft habe ich das schon gehört, seit ich an diesen Ort gekommen bin, in dieses neue Land der Dämonen und Nachtmahre?, dachte sie verbittert und schluckte ihre Wut herunter. Die Worte der Großmutter, der verstorbenen Wächterin des Erdenkindes, kamen ihr in den Sinn. Es ist deine Bestimmung, dein Schicksal. Verleugne es, und es wäre besser, dich sofort in den Abgrund zu stürzen. Schicksal. Es war ein Wort, das erfunden worden war, um zu bedrohen. Auch Oelendra hatte es gebraucht. Dein Schicksal ist vorherbestimmt. Du kannst darüber die Achseln zucken, aber du wirst den F’dor töten oder bei dem Versuch sterben. Du hast keine Wahl. Ryle hira, sagten die Liringlas. So ist das Leben. »Mist«, schnaubte Rhapsody. »Gewäsch. Wir können unser Schicksal selbst bestimmen.« Achmed lächelte. Rhapsody lachte. »Das hast du nur gesagt, um mich wütend zu machen, nicht wahr?« »Ja.« »Es ist dir gelungen.« »Ich weiß. Gehst du also zur Hochzeit?« Rhapsody warf die Hände in gespielter Verzweiflung hoch. »Ich habe nichts Passendes zum Anziehen, Achmed. Soweit ich weiß, handelt es sich um ein förmliches Ereignis.« »Du hast meine Schatztruhen bereits um unanständige Summen erleichtert, nur um dir tausende von sinnlosen Kleidern zu kaufen, die du in Elysian stapelst, und du sagst, du hast nichts anzuziehen? Verschone mich damit.« »Wenn die Hochzeit schon in drei Tagen ist, muss ich von hier aus dorthin reiten. Ich habe leider keines dieser angeblich sinnlosen Kleider bei mir.« Der Bolg-König seufzte. Er griff wieder in seine Robe und zog ein gefaltetes Stück Leder hervor, das er ihr gab. »Hier sind ein paar orlandische Münzen und ein wenig Papiergeld. Damit kannst du dir etwas zum Anziehen kaufen. Halte auf der Hochzeit Augen und Ohren offen; vielleicht erfährst du etwas über die Bolg oder Bolg-Waffen.« »Irgendwie bezweifle ich, dass eines dieser Themen zur Sprache kommen wird.« »Vielleicht nicht. Doch möglicherweise lenkt deine Anwesenheit Tristan so sehr ab, dass er sich verspätet, wenn er derjenige ist, der den Angriff plant. Versuche, den Botschafter von Sorbold zu finden; ich befürchte eher, die Gefahr kommt von dort. Tu, was du für richtig hältst, und komm dann nach Hause.« »In Ordnung.« »Gut.« Er drehte sich um und wollte gehen, doch vorher warf er einen Blick zurück über die Schulter. »Es dauert nicht mehr lange. Alles zu seiner Zeit.« Sie lächelte; ihre Augen glitzerten im dämmernden Licht. »Ich weiß.« »Ich wünsche dir eine gute Reise«, sagte er. Sie nickte. Er schaute ihr nach, wie sie im Wald verschwand. Mit dem Verlust ihrer angeborenen musikalischen Schwingungen kehrten die wispernden Stimmen zurück, kratzten in seinen Ohren und kreischten in seinen Adern. Achmed holt das hermetisch verschlossene Behältnis aus der Hemdtasche unter seinem Umhang. Er hielt sich die glatte, silberne Flasche vor die Augen und fuhr geistesabwesend mit dem Finger über den schlüpfrigen Stein. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er. 44 Hauptstadt Bethania, am westlichen Stadttor Rhapsody hatte Bethania erst ein Mal besucht. Ihr erster Eindruck war der von einer Stadt im Belagerungszustand gewesen. Es war eine gewaltige Stadt mit einem runden Grundriss und ehrgeiziger Architektur. Soweit sie wusste, besaß keine andere noch existierende cymrische Stadt den Luxus von Steinpflaster, Gassenbeleuchtung, Schnellstraßen, öffentlichen Bädern, Bauwundern, Pferdekoppeln und all den anderen Annehmlichkeiten, die Rhapsody mit der Vorstellung von Reichtum verband. Roland schien seinen Wohlstand nicht so sehr dem erfolgreichen Handel, sondern dem Eintreiben von Steuern zu verdanken. Dieses Eintreiben der Steuern war ein sicheres Zeichen dafür, wo die Macht lag. Bethania hatte alle Anzeichen einer königlichen Stadt, obwohl hier kein König auf dem Thron saß. Der Eindruck der Belagerung rührte von den vielen Soldaten sowohl am Rande der Stadt als auch auf den gepflegten Straßen im Innern her. Die acht Tore und die vier Hauptdurchgangsstraßen wurden unablässig kontrolliert. Der Viehhandel war in bestimmte Viertel verbannt, während die anderen Straßen vor allem die um den zentralen Palast und die ausgedehnten Privatgärten in seiner Umgebung für den Fußgängerverkehr makellos sauber gehalten wurden. Die Märkte und Geschäftsviertel befanden sich in den nördlichen und südlichen Teilen der Stadt. Der Palast des Prinzen und die große runde Feuerbasilika stellten die Mitte der Stadt dar. Nur die Kasernen von Bethanias riesigem Heer waren in jedem Viertel zu finden. Als Rhapsody die westlichen Vorstädte passiert hatte, die früher den äußeren Ring der Stadt gebildet hatten, wurde ihr klar, dass innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit in Bethania dramatische Veränderungen stattgefunden hatten. Als sie zum ersten Mal mit Achmed, Grunthor und Jo hier gewesen war, hatte das Leben im äußeren Ring der Stadt pulsiert. Wuchernde Massen von Bauern, Mittellosen, Arbeitern, Händlern und Bettlern, die alle zu arm waren, um innerhalb der makellos sauberen Stadt zu leben, hatten dennoch glücklich hier von jenen gelebt, die durch die Stadttore hereinkamen. Rhapsody hatte einmal unbeabsichtigt einen Aufruhr ausgelöst, als sie einen Mann daran gehindert hatte, seinen Sohn zu schlagen. Nur dank der raschen Hilfe von Grunthor und Achmed hatte sie das folgende Handgemenge überlebt. Nun war die Bevölkerung dieser Vorstadt verschwunden. An ihrer Stelle standen neue Kasernen, an einigen wurde noch gebaut, und zusätzliche Wehrmauern wurden vor der eigentlichen Stadtmauer errichtet. Es hatte nicht den Anschein, dass diese Vorbereitungen einem zeitlich begrenzten Zweck dienten; sie wirkten dunkel und dauerhaft. Rhapsody beschlich bei diesem Anblick ein ungutes Gefühl, und ihr Herz krampfte sich in plötzlicher Angst zusammen. Ist das alles etwa für die Hochzeit erbaut worden?, fragte sie sich, als sie aus dem Wagenfenster schaute, während sie in einer Reihe mit anderen Gefährten vor einem neu errichteten Wachtposten vor dem westlichen Stadttor wartete. Sie zog die Kapuze ihres wollenen Mantels eng um den Kopf. Hinter dem Tor sah sie, dass die Stadt selbst im Licht des Wintermorgens glitzerte. Silberne Flaggen flatterten an jeder Laterne, und große Girlanden schlangen sich von Dach zu Dach. Die Mosaike an den Wänden und auf den Straßen waren glänzend poliert, und an jedem Baum hing ein silberner Stern, das Symbol des Patriarchats. Es überraschte Rhapsody, dass in so kurzer Zeit so viele weit reichende Vorbereitungen getroffen worden waren. Die Vermählung des Prinzen mit seiner Braut Madeleine von Canderre war ursprünglich auf den ersten Frühlingstag festgesetzt gewesen. Rhapsody hatte die Einladung immer wieder gelesen, seit sie vom Schleier des Hoen nach Tyrian zurückgekehrt war. Oelendra hatte ihr beiläufig gesagt, dass der Termin wegen des schrecklichen Gemetzels auf dem Winterfest nach vorn verschoben worden war. Diese Geschichte hatte Rhapsody das Blut gefrieren lassen. Rial, Tyrians treuer Schutzherr, war auch zu der Hochzeit eingeladen. Sie hatte ihn an der Waldstraße getroffen und war mit ihm und seinen Wachen gereist. Sie war sehr dankbar für die Gelegenheit, im Winter statt auf dem Pferderücken in einer Kutsche unterwegs sein zu dürfen. Ursprünglich war ihre eingeladene Begleitung Achmed gewesen, doch er hatte sich darüber auf eine Weise verächtlich gemacht, die keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er nicht mitkommen würde. Als er im vergangenen Sommer die Einladung in das Kaminfeuer der Großen Halle von Canrif geworfen und überdies noch darauf gespuckt hatte, war ihr so manches klar geworden. Auch im Hinblick auf die Ereignisse im Haus der Erinnerung war es kaum überraschend für sie, dass sie allein Ylorc bei dieser Staatsangelegenheit repräsentieren musste. Insgeheim freute sie sich auf das Ereignis. Im serenischen Bauerndorf Myrfeld, in dem sie aufgewachsen war, hatte eine Hochzeit unausweichlich ein großes Fest bedeutet, und sie hatte schon immer gern getanzt. Seit Achmed ihr grummelnd ein wenig Geld für Kleidung und passenden Schmuck gegeben hatte, war ihre Aufregung mit jeder Meile gestiegen, die sie auf ihrer Reise zurückgelegt hatte. Außerdem wünschte sie sich tief in ihrem Herzen, dass auch Ashe dort war, so wie sie es damals geplant hatten. Trotz aller üblen Warnungen Llaurons hoffte sie, ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor er selbst heiratete. Doch als sie nun in Rials Kutsche in einer Reihe mit anderen Gästen vor dem Westtor darauf wartete, in die Stadt eingelassen zu werden, wurde sie nervös. Überall waren Soldaten zu sehen; es waren mindestens viermal so viele wie beim letzten Mal, und ihre Haltung war weitaus bedrohlicher. Während sie warteten, legte sie Rial eine Hand auf den Arm. Der Schutzherr, der einen Wildledermantel über seinem üblichen roten Umhang trug, wandte sich ihr zu und lächelte. Das Lächeln verblasste, als er den Blick ihrer Augen unter der Kapuze bemerkte. »Stimmt etwas nicht, Rhapsody?« Sie deutete aus dem Fenster. »Sieht das nicht... nicht noch kriegerischer aus als je zuvor?« Rial lächelte. »Darauf kann ich dir keine Antwort geben, meine Liebe. Ich bin zum ersten Mal in Bethania. Aber ich habe von der Postkarawane erfahren, dass Tristan Steward inzwischen den Oberbefehl über alle Heere Rolands innehat. Vermutlich ist das der erste Schritt auf die Krone zu.« Rhapsody erschauerte. »Wer begehrt Einlass?« Die Stimme war barsch und tief und schien unmittelbar rechts von ihr zu kommen. Rhapsody drehte sich um und sah in die Augen eines braunbärtigen Soldaten, der den Kopf durch das Kutschenfenster gesteckt hatte. Nun befanden sie sich am Tor. Elf weitere Soldaten waren in der Gegend verteilt, standen Wache, durchsuchten die Händler, die ihre Waren zur Hochzeit bringen wollten, und verboten anderen den Zugang in die Stadt. Sie wandte den Blick ab, während Rial antwortete. »Rial, Schutzherr von Tyrian, eingeladen zur Hochzeit«, sagte er mit seiner weichen, warmen Stimme. Er nahm Rhapsody das Einladungsschreiben aus der Hand, legte sein eigenes dazu und reichte es dem Wachtposten durch das Fenster. »In meiner Begleitung befindet sich Rhapsody, die ... äh ... Herzogin von Elysian«, fuhr er mit einem Zwinkern fort. Rhapsody verbarg ein Lächeln über den Scherztitel, den ihr Achmed verliehen hatte, als er ihr die versteckte Inselhütte gegeben hatte. Der Soldat hatte beide Einladungen durchgelesen und die von Rial ohne Bemerkung zurückgegeben; Rhapsodys drehte er mehrmals in den Händen hin und her, dann starrte er die Sängerin an. »Zeig dein Gesicht.« Bevor sie sich bewegen konnte, lehnte sich Rial vor und spannte den Körper an. »Warum?«, wollte er wissen. »Wie kannst du es wagen, mit einem geladenen Gast des Prinzen so zu reden? Die Einladung ist in Ordnung. Tritt beiseite, Soldat. Es ist kalt. Lass uns durch.« Der Wächter zog drohend sein Schwert. Die anderen am Tor richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Kutsche. Rhapsody wandte sich rasch an Rial. »Es ist in Ordnung, Rial«, sagte sie hastig. »Sie sind nur vorsichtig.« Sie schaute wieder die Wache an und nahm die Kapuze ab. Der Soldat riss die Augen auf. Er blinzelte rasch, wandte den Blick ab und legte sich eine Hand über die Augen, um die Fassung wiederzuerlangen. Er gab Rial die zweite Einladung zurück und bedeutete dem Kutscher, in die Stadt einzufahren. Rhapsody setzte ihre Kapuze wieder auf. »Gehst du direkt ins Gästehaus, Rial?« Der Schutzherr lächelte. »Ja, weil ich keinen anderen Ort in dieser Stadt kenne. Möchtest du anderswohin gebracht werden, Rhapsody?« Sie nickte und schaute abwesend aus dem Fenster auf die Massen von Händlern und Soldaten, die durch die Straßen strömten. »Ich brauche einen Schneider. Ich habe keine passende Garderobe bei mir; ich bin schon seit langer Zeit unterwegs.« Mehr als sieben Jahre, auch wenn auf dieser Seite des Schleiers währenddessen keine Zeit vergangen ist, dachte sie im Stillen. Sie drehte sich Rial zu, der sie eindringlich ansah, und lächelte. »Ich freue mich darauf, Achmeds Geld auszugeben.« Der heilige Mann seufzte still. Schon wieder ein Kutschenstau. Er schüttelte den Kopf und bat die harsche, schmeichelnde Stimme in seinem Inneren, still zu sein. Leider erwartete ihn bei der Hochzeit kein wirkliches Vergnügen. Tristans Streitkräfte, die ihm als Herrscher und Oberbefehlshaber treu ergeben waren, waren bereits vereidigt und daher unmöglich dazu zu bewegen, ihm oder seinen Interessen Schaden zuzufügen. Die Truppen waren erstaunlich angeschwollen; die Heere von Roland, die noch in ihren Heimatprovinzen untergebracht waren, aber nach und nach in Bethania zusammengezogen wurden, würde bald mehr als hunderttausend Mann zählen. Bei diesem Gedanken brannten seine Augen vor Erregung. Dennoch war es hart, eine solch ausgezeichnete Gelegenheit, großen Schaden anzurichten, nutzlos verstreichen zu lassen. Eine königliche Hochzeit, die erste seit vielen Jahren, war ein erstklassiges Jagdgebiet und eine beinahe unwiderstehliche Möglichkeit, einen Gewaltausbruch hervorzurufen. Er hatte bereits für eine kleine Überraschung dieser Art gesorgt, auch wenn er bezweifelte, dass sie die Feierlichkeiten ernsthaft stören würde. Er seufzte wieder. Welch ein Verlust. Er zog den Vorhang des Kutschenfensters zurück und lehnte sich in den Wind. Nun, mein gutes Volk, darfst du erscheinen, flüsterte er. Außerhalb der Innenstadt, am westlichen Ufer des Phon, der wichtigsten Wasserstraße der Provinz, weit hinter dem Blickfeld der Soldaten und versteckt in den dunklen Ödnissen aus behelfsmäßigen Hütten und wackeligen Ställen, die für die umgesiedelten Einwohner von Bethanias Vorstädten errichtet worden waren, brannten plötzlich die Augenränder der Hufschmiede, die noch vor einigen Tagen die Pferde beschlagen hatten, welche den Wagen des heiligen Mannes zogen. Und tief in ihrem Inneren entzündete sich ein dunkleres Feuer. Schweigend beendeten sie ihre Arbeit, verließen ihre Hütten und sammelten im bitterkalten Wind ihre Werkzeuge ein. 45 Vier Straßenecken östlich vom zweiten Wall des Stadtviertels im Norden, dann elf Straßen nach Süden. Rhapsody zählte schweigend mit, als sie den Fußgängern und Karren folgte. Sie hielt den Kopf gesenkt und den großen Kleidersack fest unter dem Arm, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass sie ihn nicht durch den gefrorenen Dreck der gepflasterten Straße zog. Ihr vom schnellen Schritt und der Angst in der Luft um sie herum warmer Atem bildete dünne Wölkchen aus weißem Nebel, die bei jedem Ausatmen und jedem eiligen Schritt wieder im Wind verwehten. Im Mittsommer, während ihrer Liebestage, hatte Ashe ihr Anweisungen zum Auffinden sicherer Orte in verschiedenen Städten im ganzen Land gegeben; dabei handelte es sich um Dachstuben, Keller und Lagerräume, die er bei Bedarf selbst aufsuchte. Jede Anweisung hatte er mit der Warnung begleitet, dass diese Orte möglicherweise bereits nicht mehr existierten. Er hatte die meiste Zeit mit Reisen über Land verbracht und sich nur sehr selten in ein Dorf oder eine Stadt gewagt; daher verging immer viel Zeit zwischen den einzelnen Besuchen dieser Verstecke. Er hatte ihr gesagt, dass sie schon beim nächsten Besuch vielleicht nicht mehr sicher wären. Es gab nur ein Versteck die Torfhütte hinter einem Wasserfall im nördlichen Gwynwald , das er für alle Zeiten als ungefährdet ansah. Dennoch hatte er sie dazu gedrängt, von diesen Zufluchten Gebrauch zu machen. Eine war hier irgendwo in Bethania, wo sie sich vor und vielleicht auch nach der Hochzeit hatten treffen wollen, vorausgesetzt sie fand diesen Ort. An der achten Straße, die nach Süden führte, bemerkte sie, dass der Verkehr abnahm. Sie blieb stehen und sah sich um. In unmittelbarer Nähe von ihr erhoben sich drei gewaltige Türme; jeder wurde von einer großen Zisterne gekrönt, die das Regenwasser für die Stadt sammelte. Damit wurden die öffentlichen Gärten bewässert, das alte cymrische Abwassersystem in Gang gehalten und Trinkwasser für den Palast und die Basilika bereitgestellt. Die Straßen um die Türme wurden von kleineren Steinzisternen und Regenwassertanks sowie mit Baracken für die Arbeiter und Soldaten gesäumt, die das System erhielten und verteidigten. Jeder Turm hatte einen Wachtposten, denn die Zisternen wurden Tag und Nacht bewacht, damit der königliche Wasservorrat nicht vergiftet wurde. Rhapsody folgte der scheinbar endlosen, gebogenen Steinmauer drei weitere Straßen, bis sie zu der Stelle kam, an der sich die Tür befinden sollte, falls sie sich richtig an Ashes Anweisungen erinnerte. Sie schaute sich verstohlen um. Da niemand in der Nähe war, huschte sie in eine Seitengasse, die vor einer Mauer endete, welche wie alle Mauern des Bewässerungssystems mit dichtem Dornengestrüpp überwuchert war. Diese immergrüne Vegetation, die bei den Filiden von Gwynwald als Unterdorn bekannt war, stellte im ganzen westlichen Teil des Landes eine beliebte Verteidigungseinrichtung dar. Es handelte sich dabei um eine natürliche Barriere mit gezahnten Stacheln, die in Doppelreihen wuchsen und sehr schmerzhafte Wunden verursachten, welche auch dann noch bluteten, wenn sie sich eigentlich schon lange geschlossen haben sollten. Rhapsody hatte während ihres Aufenthalts in Gwynwald den Unterdorn sowohl mit Llauron als auch mit Lark, der scheuen Kräuterexpertin des Fürbitters, studiert und kannte daher die Gefährlichkeit dieser Pflanze. Sie wusste, wie man sich vor ihr schützen konnte; die Techniken dazu hatte sie zum Teil in Gwynwald gelernt, zum Teil verdankte Rhapsody sie ihren Fähigkeiten als Benennerin. Sie sah sich noch einmal um, als der Lärm einer Pferdekutsche durch die Gasse hallte, dann aber wieder verebbte. Gut, dachte sie. Die Straßen waren nicht fern; es würde einfach sein, eine Kutsche für die Fahrt zur Hochzeit zu mieten. So bald der Lärm verklungen war, wandte sie sich wieder der Dornenbewehrten Mauer zu und glitt mit der Hand in Gegenrichtung der Dornen unter die erste struppige Schicht. Verlyss, sang sie sanft und sprach damit den wahren Namen der Pflanze aus. Sie spürte die musikalische Schwingung der rauen Rinde, der Stacheln und Dornen in der Luft, während sich die Pflanze in den Ruf einschwang. Evenee, sagte sie. Samtmoos. Die wilden Dornen, die sich gegen die Haut auf ihrem Handrücken drückten, wurden weich, glitschig und harmlos. Nun waren sie so sanft wie die grünen Flechten, die im Frühling die umgestürzten Bäume bedeckten. Sanft zog sie den Vorhang aus Vegetation zur Seite. Dahinter befand sich eine Steintür ohne Klinke, so wie Ashe es gesagt hatte. Sie ertastete die Ränder der Tür, bis sie eine Einkerbung fand, die als Griff diente, und daran zog. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Rasch trat Rhapsody ein und schloss die Tür hinter sich. Sie befand sich in einem kleinen, dunklen Raum, der in cymrischer Zeit Teil einer Zisterne auf Straßenhöhe oder das Zimmer eines Aufsehers gewesen sein mochte, das hinter der Wand aus schwertähnlichen Dornen vergessen worden war. Ein winziges, zurückgesetztes Gitter diente als Fenster. Es ließ Licht, aber keinen Laut in das Zimmer. Rhapsody tastete in ihrem Gepäck nach einer Kerze. Als sie eine gefunden hatte, entzündete sie diese mit ihrer Willenskraft. Während die Flamme aufschoss, spürte sie eine Welle angenehmer Gefühle aus ihrem inneren Feuer auflodern, die sich sofort mit dem elementaren Band in ihr zusammenschlössen. Sie hob die Kerze und sah sich um. Der Raum enthielt ein Bett, eine Kommode und einen türlosen Alkoven. Ein durchgescheuerter Armlehnsessel wie jener in Ashes Zimmer hinter dem Wasserfall stand am Fenster neben einem kleinen Tisch mit einer Lampe darauf. Das Zimmer war bemerkenswert frei von Schimmel und angenehm trocken, aber kalt. Überall auf dem Boden und der Kommode befanden sich große Bienenwachskerzen. Rhapsody ging zu dem türlosen Alkoven und hing dort den Kleidersack auf, der ihre Garderobe für die Hochzeit enthielt. Ihr restliches Gepäck legte sie auf die Kommode. Dann machte sie sich daran, die Wachskerzen mit einem Zündholz anzustecken. Sie setzte sich auf das Bett und beobachtete, wie die Flammen immer stetiger brannten und das Licht heller wurde. Während sie sich zurücklehnte, um auf Ashe zu warten, lächelte sie, als sie die Stimme ihrer Mutter vernahm. Bei Kerzenschein ist selbst das einfachste Haus ein Palast. Rhapsody schloss die Augen und rief sich das Gesicht ihrer Mutter in Erinnerung. Es erschien und gab das Lächeln zurück. »Vielen Dank, Fürst und Fürstin Rowan«, flüsterte sie. »Vielen Dank dafür, dass ihr sie mir zurückgegeben habt.« Auf dem Balkon des oberen Ballsaals in Tannenhall, der königlichen Residenz, in der die Hochzeitsgäste untergebracht waren, verschränkte Llauron die Arme vor der Brust und atmete die frostige Luft ein, die mit dem Herannahen der Nacht noch kälter wurde. Er blickte in den westlichen Himmel und beobachtete die Wolken, die in verschwommenen, goldenen Spiralen die Sonne hinter dem Rand des Horizonts jagten. Wie wunderschön, dachte der Fürbitter und rieb sich geistesabwesend mit den Händen über die Arme, um sich zu wärmen. Bald weiß ich aus erster Hand, wie es ist, Teil dieser Schönheit zu sein. Der Abendstern erschien am Himmel und glitzerte hell am Firmament. Als ob sie darauf gewartet hätten, dass jemand die Führung übernimmt, leuchteten die Sterne nacheinander auf, glitzerten kalt, brannten hell, ewig. Tränen erschienen in Llaurons alten blauen Augen. Ich komme, meine Brüder, flüsterte er in den Wind. Ich komme. Die Balkontür wurde geöffnet. Llauron wandte sich von der dunklen Schönheit der Nacht ab und dem Licht und der Feier im königlichen Ballsaal zu. Der Umriss eines Dieners hob sich vor dem Hintergrund aus schwebenden Gestalten und Lachen ab. »Ist alles in Ordnung, Euer Gnaden? Kann ich etwas für Euch tun?« Der Fürbitter lächelte. »Nein, vielen Dank, mein Sohn«, sagte er und ging langsam zur Tür. »Ich habe nur gerade den Wunsch zum Abendstern geschickt, dass morgen alles gut gehen möge.« 46 Die weiße Leinenbluse unter Tristan Stewards himmelblauem Samtwams schmiegte sich unangenehm fest um die Muskeln an Brust und Armen. Sie war durchnässt von Angstschweiß. Seit Sonnenaufgang lief er auf und ab und eilte durch die langen Korridore außerhalb der Großen Halle seines Palastes. Bisweilen erinnerte er an einen Verurteilten, bisweilen auch an ein gefangenes Tier. Er trat einen Pfad in den Seidenteppich seines Arbeitszimmers, das als Ankleideraum eingerichtet worden war, fuhr sich immer wieder mit der Hand durch die Haare und verrückte dabei jedes Mal das zeremonielle Staatsband, das kunstvoll in seine Stirnlocken gewoben war. Zum dritten Mal in dieser Stunde rief er James Edactor, den Kammerherrn, und blickte finster drein, als sich die Tür öffnete und hinter dem Mann rasch wieder schloss. »Ja, Herr?« »Ist sie schon da?«, platzte der Fürst von Roland heraus, drehte sich vor seinem Schreibtisch um und warf dabei einen Stapel Landkarten und Papiere zu Boden. »Fürstin Madeleine?« »Nein, du dämlicher Tölpel.« Tristan Steward sah ihn drohend an. »Habe ich dir nicht schon dreimal gesagt, dass die Abgesandte des Bolglandes sofort zu mir geschickt werden soll?« Der Kammerherr räusperte sich. »Ja, Herr, aber wir konnten sie noch nicht finden.« Der Fürst von Roland wurde blass. »Was? Was hast du gesagt?« »Wir können sie nicht finden, Herr, es tut mir Leid. Sie hat gestern ihre Einladung am westlichen Tor vorgezeigt, aber sie ist nicht in Tannenhall erschienen, um ihr Quartier zu beziehen. Zweifellos ist sie irgendwo in der Stadt; vielleicht besucht sie Freunde.« Der Fürst von Roland wirbelte herum und fuhr mit dem Arm wütend über den jüngst aufgestellten Ankleidetisch. Ein silbernes Tablett flog herunter und ein Hagel aus Parfumflaschen, Kämmen und Rasiermessern ging auf den Boden nieder. Der Kammerherr sprang aus dem Weg, um den umherfliegenden Glassplittern zu entgehen. »Oh, du weißt es, nicht wahr?«, knurrte er und stürmte durch die Trümmer auf die Tür des Arbeitszimmers zu. »Sie ist entführt oder geschändet worden oder Schlimmeres.« Oder sie trifft sich mit einem der anderen Herzöge und Adligen in ihren privaten Gemächern im Innern Bethanias, dachte er. Du weißt, Edactor, dass sie mit Juwelen behängt wurde, dass man ihr Reichtum und eine Flucht aus dem Bolgland im Gegenzug für ihre Dienste versprochen hat. In diesem Augenblick könnte sie nackt und mit schimmernder Haut in feinsten Seidenlaken liegen und die wunderbaren Beine um einen bleichen Brustkorb schlingen; sie könnte sich Ivenstrand oder Baldasarre oder MacAlwaen hingeben, während ich an ihrer Stelle sein sollte. Bei diesem Gedanken quollen frische Schweißperlen aus seiner schon feuchten Stirn. Vielleicht war alles längst vor ihrer Ankunft vorbereitet gewesen; vielleicht hatte einer der Botschafter um sie geworben, der an den Hof von Ylorc gekommen war, um für einen von Tristans Rivalen dem verachteten Bolg-König seinen Tribut zu entrichten. Vielleicht lagen sie jetzt miteinander im Bett, lachten ihn aus, liebten sich zwischen Ausbrüchen von Scherzen auf seine Kosten und kicherten zwischen ihren sengend heißen Ausschweifungen über seine drohende Heirat mit dem Biest von Canderre. Das Entsetzen auf dem Gesicht des Kammerherrn half wenig, seine Gedanken zu klären. Wut und manchmal auch etwas Dunkleres hämmerten hinter seinen Augen und erfüllten ihn mit schmerzhafter Erregung. Seine Hände zitterten wild. »Geh zum Hauptmann des Palastes und sag ihm, er soll die Straßen durchkämmen. Sucht sie. Ich will sie vor der Hochzeit sehen, hier in meinem Arbeitszimmer. Ich muss wichtige diplomatische Dinge mit ihr besprechen. Erst danach kann ich mich ganz darauf konzentrieren, mein Leben fortzuwerfen und mich für alle Zeiten an diese Hexe von Canderre zu binden. Ist das klar, Edactor?« Er ergriff die Klinke und zog die schwere Tür auf, deren eiserne Angeln ein nachdrückliches Kreischen ausstießen. »Finde diese Frau und ...« Er hielt inne. Beim letzten Wort brach seine Stimme wie die eines Jugendlichen. Vor der Tür stand ein zitterndes kleines Mädchen in einem aufgeplusterten weißen Kleid und mit Blumen in den Haaren. Sie war eine von Madeleines Mägden und brachte ihm das traditionelle Bräutigamsmahl. Das Tablett war beladen mit Torten, dampfendem Tee, frischem Haferbrei und duftenden Würsten. Das Bräutigamsmahl wurde üblicherweise von der Braut am Morgen der Hochzeit selbst zubereitet und war ein Versprechen auf die zukünftigen Mahlzeiten, die sie als Ehefrau kochen würde, doch zweifellos hatte Madeleine lediglich angeordnet, dass es von den Palastdienern gekocht werden solle. Das konnte Tristan ihr kaum zum Vorwurf machen. Er hatte dasselbe mit den Blumen gemacht, die er eigentlich mit eigener Hand hätte pflücken und ihr als Bräutigam übergeben müssen. Er sah das Mädchen angeekelt an und hustete. »Finde diese Frau, Edactor, und wenn es dir gelungen ist, danke Madeleine für dieses wunderbare Frühstück. Sage ihr, dass ihr ergebener Bräutigam seine Liebste vor dem Feueraltar in der Basilika erwartet.« Ashe war beinahe am nordwestlichen Tor Bethanias angekommen, als er ein seltsames Zittern auf der Haut verspürte. Die Sonne erklomm soeben den Horizont, beleuchtete sein Gesicht, erhellte den Weg vor ihm und warf seinen grotesk verlängerten Schatten nach hinten. Vor ihm erhoben sich die Türme von Bethania in den Himmel, um die aufgehende Sonne zu begrüßen; sie glänzten vor Verheißung. In der Tiefe dieser Straßen, hinter der Stadtmauer, wartete Rhapsody auf ihn. Es war ein heimliches Treffen, das sie bereits im vergangenen Herbst geplant hatten. Er bemühte sich, seine freudige Erregung im Zaum zu halten. Die Schmerzen, die ihm früher andauernd Brust und Leib durchbohrt hatten, waren fort. Freude lag im Einatmen der frischen, kalten Luft Freude am Leben, zum ersten Mal seit seiner Kindheit. Doch jetzt, kaum eine Meile vom nordwestlichen Tor entfernt, knisterte etwas in der Luft hinter ihm und weckte den Drachen in ihm. Ashe zügelte den Wallach, den er vom Schlachtfeld auf den Krevensfeldern mitgenommen hatte, drehte sich um, schmeckte den Wind und erlaubte seiner Drachennatur ein tieferes Erspüren. Am äußersten Rand seines Bewusstseins fühlte er verstohlene Bewegungen. Dunkle Schatten, verlängert wie sein eigener unter der Morgensonne, krochen von jenseits des westlichen Phon-Ufers heran. Auch wenn der Drache alle Einzelheiten der Welt in seiner Umgebung deutlich spürte, konnte Ashe nicht in die Herzen der Menschen blicken. Doch er zweifelte nicht daran, dass seine unheilvollen Vorahnungen berechtigt waren. Schwarze Wut zuckte durch seine Gedanken und hallte in seinem ganzen Körper wider. Ein weiterer Einfall, eine weitere Machenschaft des F’dor. Ein weiterer Angriff, der es dem Dämon unzweifelhaft erlauben würde, die Arglosen zu überraschen und unschuldiges Blut zu vergießen. Er war es gewohnt, solche Einfälle zunichte zu machen. Nicht aber dann, wenn die Frau, die er liebte und die von ihm eine scheinbare Ewigkeit getrennt gewesen war, sich ganz in der Nähe befand. Sein Verlangen, Rhapsody in ihrer Hochzeitsgarderobe zu sehen, war in den letzten Monaten das Einzige gewesen, das ihn vom Wahnsinn ferngehalten hatte. Ashe sah zurück auf die erwachende Stadt, die in der Morgendämmerung zum Licht fand. Er brummte eine Reihe hässlicher Flüche, zerrte an den Zügeln, wandte sich wieder nach Westen und ritt auf Bethania im strahlenden Licht des Tagesanbruchs zu, das nun längere, zornigere Schatten vor ihm warf. Allmählich verzweifelte Rhapsody. Die große Uhr im Glockenturm des Herrscherpalastes hatte schon zweimal die Viertelstunde geschlagen, seit sie an der Straßenecke stand und versuchte, eine vorbeifahrende Kutsche anzuhalten. Sie hatte den ganzen Nachmittag über vorsichtig aus dem Gitterfenster der verlassenen Zisterne gespäht und dabei festgestellt, dass in geringen zeitlichen Abständen Kutschen vorbeifuhren, deren Fahrer nach Kundschaft riefen. Jetzt aber lagen die Straßen des nördlichen Bethania verlassen da. Alle Bewohner waren entweder in der Palasthalle und bereiteten sich auf die Hochzeit vor, oder sie standen vor der Feuerbasilika und hofften, einen Blick auf das königliche Paar zu erhaschen. Zweifellos wurde augenblicklich jede verfügbare Kutsche dazu benutzt, die geladenen Gäste von Tannenhall zur Basilika zu fahren, auch wenn diese nur wenige Straßen entfernt lag. Enttäuscht stampfte sie mit dem Fuß auf. Wie dumm war es von ihr gewesen, die Annehmlichkeiten und die räumliche Nähe eines Gästehauses gegen eine einsame Nacht in einer steinernen Zisterne einzutauschen. Ashe war nicht gekommen. Sie hatte die Nacht damit verbracht, bei Kerzenschein Sonette in ihr zerfleddertes Sudelbuch zu schreiben und ihr Herz davon abzuhalten, sie zu verraten. Bei Sonnenaufgang hatte sie es aufgegeben, einschlafen zu wollen, und war zum nördlichen Brunnen gegangen. Sie hatte Wasser geholt und sich gewaschen, bevor sie sich zur Hochzeit umgezogen hatte. Der Platz, auf dem der Brunnen stand, war von zänkischen Männern und Frauen, kreischenden und vor Aufregung über die Hochzeit wie verrückt herumrennenden Kindern überfüllt gewesen. Es war einfach gewesen, herzukommen und wieder zu gehen, ohne dass jemand sie bemerkte. Nun war sie angezogen und fertig, wusste aber nicht, wie sie zur Hochzeit kommen sollte. Das Kleid aus steifer Amethystseide war wundervoll; sie hatte sich in der vergangenen Nacht an der Berührung des Stoffes erfreut und war mit den Händen an ihm auf und ab gefahren, um alle Falten zu glätten, die sich auf dem Weg in ihr Versteck gebildet hatten. Im Morgenlicht war die Farbe sogar noch wunderbarer dunkel und voll und genau zu dem glitzernden Schmuck passend, den sie dafür gekauft hatte. Ihre Schuhe aus Satin in der Farbe des Kleides würden den langen Weg zur Basilika durch den dreckigen Schnee auf dem Straßenpflaster nie überstehen. Und ihrem Kleid würde es auch nicht besser ergehen. Sie schaute nervös die leere Straße hinauf und hinunter und fragte sich, ob ihre Einkäufe und ihre Vorbereitungen, ja diese gesamte Reise nach Bethania zwecklos gewesen waren. In diesem Augenblick hörte sie in der Ferne das Klappern von Pferdehufen. Einen Augenblick später umrundete der Karren eines Kesselflickers eine nahe Straßenecke. Ein alter Maulesel, dessen geflecktes Fell unter der zerfetzten Decke sichtbar war, stapfte langsam und mit Scheuklappen versehen durch die gepflasterten Straßen und zog einen wackeligen Wagen voller Nachttöpfe, Bratpfannen, matter Öllampen und einem Dutzend anderer Metallgegenstände, die in einer stillen Kakophonie gegeneinander schlugen. Rhapsody kicherte. »Entschuldigung«, sagte sie zu dem ergrauten Kesselflicker, als der Karren näher kam. »Mein Herr, dürfte ich bitte auf Eurem Wagen mitfahren? Ich muss zur königlichen Hochzeit.« Der Mann, der eine Klappe über einem Auge trug, drehte sich um und starrte sie an. Offenbar war der Anblick eines Hochzeitsgastes in Kleid und Samtmantel sehr verwirrend, und einen Moment lang war das Erstaunen im Gesicht des Mannes so übermächtig, dass Rhapsody schon befürchtete, er könne vom Bock fallen. Die Zügel fielen ihm aus den Händen, und das Maultier, das die neue Freiheit spürte, blieb langsam stehen. Rhapsody raffte die Röcke, eilte über die Straße und kletterte geschickt auf den Wagen neben den Kesselflicker. »Vielen Dank«, sagte sie erleichtert. »Ich hatte schon befürchtet, ich würde die Feier verpassen.« Der Mann nickte verständnislos und starrte sie immer noch mit seinem einen Auge an. Rhapsody wartete kurz, nahm dann die Zügel auf und drückte sie dem Kesselflicker sanft in die Hand. »Können wir jetzt weiterfahren?«, fragte sie höflich. Der Mann räusperte sich nervös, und das Maultier, das die Zügel nun wieder spürte, trottete vorwärts. Mit klappernden Waren rumpelte der Wagen auf den Herrscherpalast und die Feuer-Basilika zu. 47 Der zeremonielle Vorbeizug der Adligen hatte gerade begonnen, als Rhapsody zu ihrem Sitz neben Rial im zweitinnersten Ring der runden Basilika eilte. Die Menschenmenge, die nun den gesamten zentralen Platz Bethanias füllte und sich durch die Straßen bis nach Tannenhall ergoss, murmelte vor Erregung, schob und drängelte, um einen besseren Blick auf die Hochzeitsgesellschaft zu erhaschen. Nacheinander kamen die Herzöge jeder orlandischen Provinz sowie die unwichtigeren Adligen, deren Linie für Roland eine historische Bedeutung hatte, über einen leuchtenden Teppich aus Königspurpur herunter, der den Südgang zum Tempel bedeckte. Ein ähnlicher Teppich schmückte den nördlichen Zugang und endete in der Mitte der runden Basilika. Jeder Stein in den Flammenmosaiken, welche das Äußere des runden Gebäudes schmückten und ihm das Aussehen der Sonne verliehen, waren auf Hochglanz poliert worden. Bei jedem vorüberflanierenden Adligen brach die Menge in Jubelrufe aus. Quentin Baldasarre, der Herzog von Bethe Corbair, betrat gerade die Basilika, als Rhapsody sich setzte. Das Gesicht des Herzogs wirkte ausgezehrt und blass, und seine brennenden Augen sprachen der ansonsten unerschütterlichen Erscheinung Hohn. »Wo bist du gewesen, meine Liebe?«, fragte Rial besorgt. »Ich hatte schon befürchtest, du hättest dich anders entschieden und wärest nach Ylorc zurückgekehrt.« Er ergriff ihre Hand und steckte sie durch seine Armbeuge. »Du siehst wunderbar aus.« »Vielen Dank. Ich entschuldige mich für meine Verspätung; ich hatte mehrere Umstände falsch eingeschätzt.« Rhapsody erschauerte, als Ihrman Karsrick, der Herzog von Yarim, eintrat. Er war in eine schwarze Seidenhose, ein weißes Hemd und ein silbernes Wams gekleidet und trug auf dem Kopf einen großen gehörnten Helm wie die Gestalt, die dem Rakshas geholfen hatte, als sie im vergangenen Sommer in der Sternen-Basilika gegen ihn gekämpft hatte. Kurz darauf bemerkte sie, dass der Seligpreiser am Altar einen ähnlich gehörnten Helm trug, auch wenn seine Robe wie sein Helm rot war. Das muss Ian Steward, der Segner von Canderre-Yarim und Tristans Bruder sein, dachte sie und betrachtete das nüchterne Gesicht des jungen Mannes durch die Flammen des Feuers aus dem Herzen der Erde, das im Mittelpunkt der Basilika brannte. Eine Trompetenfanfare erschallte und verursachte in der Menge einen wilden Aufruhr. Die geladenen Gäste erhoben sich. Es ertönte ein lautes Rufen, als Tristan in seinem himmelblauen und weißen Hochzeitsgewand sowie einem langen, weißen Umhang aus Hermelin am Rand des nördlichen Gangs erschien. Er suchte mit den Augen die Kreise der Basilika ab und richtete den Blick schließlich auf den Abschnitt, in dem Rhapsody und Rial standen. Dann schritt er mit zwei jungen Pagen im Schlepptau keck den Gang herab zum Altar des Feuers in der Mitte der Basilika und verneigte sich flüchtig vor seinem Bruder. Ein weiteres Jubeln setzte ein, lauter als alles andere. Rhapsody und Rial schauten nach Süden. Madeleine von Canderre war in eine wundervolle weiße Seidenrobe gekleidet, die im Glanz von tausend aufgesetzten Perlen erstrahlte. Ihre Hand lag auf dem ausgestreckten Arm ihres Vaters Cedric Canderre. Sie war modisch blass, hatte sich Gesicht und Hals weiß gepudert, das lange schwarze Haar streng zurückgekämmt und mit Staatsbändern sowie Blumen aus Canderre geschmückt. Das Gesicht des Herzogs wirkte milde, doch Rhapsody glaubte sogar aus der Ferne in den Augen eine große Traurigkeit zu erkennen. Als die Braut und ihr Vater den Gang entlang schritten, gefolgt von zwei kleinen Mägden, die ähnliche Truhen trugen wie die Pagen, die Tristan hinter seiner lächerlich langen Schleppe zum Altar folgten, spürte Rhapsody eine sanfte Berührung am Ellbogen. »Da bist du ja, meine Liebe«, hörte sie Llaurons warme, kultivierte Stimme sagen. »Ich freue mich so sehr, dass es dir gut geht und du an der Hochzeit teilnehmen kannst.« Er beugte sich verschwörerisch mit einem Augenzwinkern vor. »War das ein Kesselflickerwagen, aus dem du ein paar Straßen entfernt ausgestiegen bist? Ein bemerkenswertes Transportmittel für einen Gast des Herrschers.« »Hallo, Llauron«, erwiderte sie, küsste den Fürbitter höflich auf die Wange und sah ihn misstrauisch an. Trotz der sieben Jahre, die sie bei den Rowans verbracht hatte, war sie immer noch wütend darüber, dass er ihr keine Verstärkung nach Sorbold geschickt hatte. »Wir Landleute reisen für gewöhnlich in solchen Karren und werden nur selten zu höfischen Ereignissen eingeladen.« Sie drehte sich wieder um und sah beeindruckt zu, wie Madeleine den Altar des Feuers erreichte. »Ich habe noch nie eine rolandische Hochzeitszeremonie gesehen.« »Sie ist barbarisch«, meinte Rial belustigt und beugte sich dem Fürbitter zu. »Ich nehme an, Ihr stimmt mir zu, Euer Ehren?« Llauron kicherte. »Allerdings. Wir vom wahren Glauben bevorzugen Einfachheit und halten nichts von diesen rohen Ritualen. Das ist doch seltsam, wenn man bedenkt, dass wir die Natur in all ihrer ungezähmten Pracht anbeten, während die Leute hier der angeblich zivilisierteren Sekte angehören. Nun gut.« »Für mich hat es nichts Barbarisches«, wandte Rhapsody ein, als Tristan auf ein Knie sank und sich vor seiner Braut verneigte. »Warte ab, meine Liebe«, sagte Llauron mit einem Lächeln. »Die Vereinigung hat noch nicht einmal begonnen.« »Welchen Brautpreis bietest du?«, fragte der Seligpreiser Cedric Canderre. »Vierzigtausend Goldstücke, hundert orlandische Platinbarren, fünfzig Stangen altes Zinn«, erwiderte Cedric Canderre fest. »Das ist der Preis, den wir in Einklang mit den Gebräuchen der Kirche und Gesetze Rolands festgesetzt haben.« »Ich wette, er hätte viel mehr bezahlt, um seine Tochter loszuwerden, wenn Tristan es verlangt hätte«, flüsterte ein Gast vor Rhapsody zu der elegant gekleideten Dame neben ihm, die ernsthaft nickte. »Was ist ein Brautpreis?«, fragte Rhapsody Llauron. »Die Summe, die der Vater bereit ist, Tristan Steward zu zahlen, damit er seine Tochter nimmt«, erwiderte der Fürbitter kichernd. »Das ist der Brauch bei allen Hochzeiten, doch in diesem Fall ist die gewaltige Summe außerordentlich bemerkenswert.« Rhapsody beobachtete zweifelnd, wie Cedric Canderre ein Pergament und einen Federkiel hervorholte. »Ich vermute, es ist nichts anderes als die Mitgift, die in der bäuerlichen Gesellschaft gezahlt wurde, aus der ich stamme«, sagte sie verunsichert, während Tristan das Schriftstück las, nickte, den Kiel nahm und das Pergament auf einem Wachstablett unterzeichnete, das ihm der Seligpreiser hinhielt. »Das Geld wurde aber üblicherweise als Geschenk der Brautfamilie angesehen, das dem Paar einen guten Anfang ermöglichen sollte.« »Das war vielleicht bei euch so. Wenn bei uns der Bräutigam innerhalb eines Jahres zu der Meinung gelangt, dass seine Frau den Brautpreis nicht wert ist, kann er sie ihrem Vater zurückgeben und muss ihm die Hälfte zurückzahlen.« »Die Hälfte?«, fragte Rhapsody ungläubig, als Cedric Canderre Madeleine auf die Wange küsste und sich zu seinem Sitz im Inneren Kreis zurückzog. »Nur die Hälfte? Warum?« »Sie hat an Wert verloren, weil sie ... äh ... nicht mehr unberührt ist.« »Aber...« »Ganz ruhig, Rhapsody, es ist eine gute Regelung«, sagte Llauron scherzhaft. »Im Glauben des Patriarchen ist der erste Jahrestag ein besonders festliches Ereignis, weil er bedeutet, dass der Mann sich entschieden hat, die Frau auf Dauer zu behalten. Wie ich hörte, sind diese Feiern ganz besonders glanzvoll. Sei doch nicht so verblüfft, meine Liebe. Dein Gesicht ist so rot wie eine Rübe und passt gar nicht mehr zu deinem hübschen Kleid. Ich war der Meinung, du hättest gelernt, nicht über die Gebräuche anderer Völker zu höhnen.« Er beugte sich näher zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie er erleichtert ich bin, dass du dein Schicksal gemeistert hast und Khaddyrs Versagen dich nicht das Leben gekostet hat. Im Gegenteil, du bist sogar erfolgreich gewesen. Ich bin sehr stolz auf dich.« »Was...« »Psst, meine Liebe. Die Zeremonie geht weiter.« Llauron richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Altar. Rhapsody kniff die Augen zusammen. Ihr Ärger verflog; gegen ihren Willen verspürte sie eine gewisse Belustigung. Llaurons freundliche Art war wie immer entwaffnend. Sie nahm sich vor, ihn nicht in Ruhe zu lassen, bis er ihr eine Erklärung für die Missgeschicke im Wald gegeben hatte, und wandte sich wieder der Hochzeitszeremonie zu. Ian Steward sprach nun seinen Bruder an. »Tristan Steward, Sohn des Malcolm Steward, Herrscher über Roland und Prinz von Bethania, was gelobst du dieser Frau?« Tristan richtete sich auf; sein kastanienbraunes Haar glänzte im Licht des Altarfeuers schweißnass und dunkel. »Feld und Vermögen, Familie und Treue im Glauben des Feuers, das gelobe ich ihr«, stimmte Tristan an. Als der Seligpreiser dasselbe von Madeleine verlangte und erhielt, sah sich Rhapsody um und suchte Ashe. Obwohl sie sich nicht bei der Zisterne getroffen hatten, hoffte sie, er werde ihr auf der Hochzeit begegnen. Ob er sich jetzt irgendwo in der Menge befand, war unmöglich herauszufinden, vor allem da ihn sein Nebelumhang vor den Blicken gewöhnlicher Menschen verbarg. Sie seufzte, lehnte sich zurück und beobachtete weiter die Zeremonie. Der Ruf des reinen Feuerelements aus der Quelle drang ihr ins Ohr. Musik lag in den Flammen eine Musik, die süßer war als die Weisen des Orchesters, das in der Basilika spielte. Wie lange sie gedöst hatte, wusste sie nicht, aber bei den nächsten Worten des Seligpreisers war sie plötzlich wieder hellwach. »Das Gelöbnis des Feldes«, sagte er. Die Stimme war eine trockenere, klarere Version seines Bruders. Tristan drehte sich um und nickte seiner Dienerschaft zu, Madeleine tat dasselbe. Rasch wurden je eine Truhe geöffnet und zwei Pergamentschriften Braut und Bräutigam übergeben. Dabei handelte es sich um eine Karte der Besitztümer. Sie legten die beiden Karten auf den Altar und setzten sie zusammen, um damit die Einheit ihrer Ländereien zu dokumentieren. »Das Gelöbnis des Vermögens«, sagte der Seligpreiser. Die Truhen wurden erneut geöffnet und zwei große, mit schweren Juwelen besetzte Halsketten hervorgeholt. Bei den Steinen in der Staatskette von Bethania handelte es sich um Diamanten und Rubine, während das königliche Halsband von Canderre aus Smaragden bestand, die so grün wie die Felder dieser Provinz waren. Der Seligpreiser nahm das Halsband von Canderre und legte es vorsichtig Tristan Steward um den Hals, der sich dabei verneigte. Dann verfuhr er bei Madeleine mit dem Halsband von Bethania auf dieselbe Weise; auch sie verneigte sich. »Da haben wir’s. Mit einem einfachen Austausch von Landkarten und Schmuckstücken wurde soeben das Schicksal zweier Länder besiegelt«, sagte Rial gelassen. »Die Leute aus den Provinzen schwören durch die Adligen, denen ihr Land gehört, nicht einer Person, sondern einem Halsband ihre Treue einer Juwelenkette, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, ohne dass auf die Weisheit ihrer Träger geachtet würde. Tristan hat gerade nicht nur das Gelöbnis seiner Frau, sondern auch aller Einwohner ihres Landes erhalten, bloß weil sie ihm ein Halsband geschenkt hat. Ich finde das seltsam.« Llauron nickte. »Zu früheren Zeiten wurden der Herr und die Herrin immer durch die Menschen selbst auf dem großen Gerichtshof bestätigt. Das Land, auf dem das Konzil stattfand, war magisch; es hatte die Macht, die Bestätigungen der Menschen zu zählen und den Anspruch auf den Thron entweder zu bejahen oder zu verneinen. Aber wie bei fast allem aus jenen Tagen ist auch diese Bedeutung verloren gegangen. Es war so wie bei der Religion des Patriarchen, wo der Einzelne zu Vermittlern betet; diese wiederum wenden sich an höher stehende Vermittler, diese an die Seligsprecher und diese an den Patriarchen, der allein das Recht hat, zu ihrem Gott zu beten.« Rhapsody erwiderte nichts darauf. Sie war als Bauernmädchen in einem Dorf aufgewachsen und hatte noch nie die politischen Gepflogenheiten eines Landes aus der Nähe beobachtet. Daher überraschte sie keines der Rituale anlässlich dieser Machtübergabe. So etwas hatte schon immer jenseits ihres Verständnisses gelegen. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter als Lirin unter Menschen dasselbe gesagt hatte wie Rial. »Das Gelöbnis der Familie«, fuhr der Seligpreiser fort. Ein erregtes Murmeln brandete durch die Menge. An jedem Ende des mit Teppichen belegten Ganges erschien ein Soldat, gekleidet in die Uniformen von Canderre und Bethania. Die beiden Männer zogen gleichzeitig das Schwert und schritten den Gang hinab, während sie das Paar grüßten. »Was geschieht jetzt?«, flüsterte Rhapsody Rial zu. Der Oberste Schutzherr neigte den Kopf in Richtung des Altars. »Das Siegel des Blutes«, sagte er. Die kleinen Pagen griffen wieder in die hölzernen Truhen und zogen weiße Leinenlaken in der Form großer Taschentücher hervor. »Ich glaube nicht, dass ich mir das ansehen will«, meinte Rhapsody. »Wie du bemerkt haben wirst, hält die Menge das für den besten Teil des Ganzen«, sagte Llauron, während das Paar die Handgelenke entblößte. »Es wäre sehr angemessen, wenn die Braut dabei ohnmächtig wird.« Rial sah besorgt aus. »Wenn es dich wirklich zu sehr aufregt, begleite ich dich hinaus«, bot er an. Rhapsody zog eine Grimasse, als das Hochzeitspaar die Handgelenke über die reglosen Klingen der Soldaten zog und sie dann zusammenpresste. »Der Anblick von Blut macht mir nichts aus. Aber das soll eine Hochzeit sein?« Sie sah verblüfft zu, als sich Madeleine gelassen das Handgelenk mit dem Leinentuch abwischte, das ihr Page ihr hinhielt, und dann theatralisch zu Boden sank. »Das ist ein Symbol für die Vereinigung des königlichen Blutes und das Gelöbnis, die Zukunft mit der Zeugung von Kindern zu segnen«, erklärte Rial. »Vor fünfzehn Jahren habe ich die Hochzeit von Herzog Stephen in Navarne gesehen. Er und seine Frau haben sich stattdessen geküsst. Ich wette, das tun die meisten Paare patrizianischen Glaubens. Vielleicht will der Fürst von Roland sicherstellen, dass er eine große Nachkommenschaft haben wird.« »Madeleines und Tristans Kinder nun, das ist ein netter Gedanke«, murmelte Llauron, als der Herr von Roland seine Frau vom Boden der Basilika aufhob. Rial kicherte. Rhapsody schüttelte den Kopf. »Ihr beiden seid schlimmer als alte Fischweiber. Ehrlich.« »Beim Feuer, es ist vollbracht«, erklärte der Seligpreiser. Dem frisch verheirateten Paar wurde ein Messingstab mit einem langen Docht daran übergeben. Gemeinsam hielten sie ihn in das Feuer des Altars und entzündeten dann eine Schale mit Öl am Ende eines Kanals, der bis zum Dach der Basilika lief. Blitzartig sprang eine Flamme auf, verbreitete sich durch den Kanal bis zur runden Decke des Tempels und loderte in einer silbernen Pfanne höher auf als eine menschliche Gestalt. Als die Menge jubelte, winkte das königliche Paar und gab sich unter dem brennenden Bild der Sonne die Hand. »Jetzt wird es viele Vergnügungen geben, die leider von langen und gewichtigen Reden getrübt werden«, sagte Llauron und drehte sich zum Palast um, auf dem die Flaggen von Bethania und Canderre in der steifen Winterbrise flatterten. Er wandte sich wieder an Rhapsody und lächelte herzlich. »Ich hoffe, meine Liebe, du wirst deinen alten Lehrer mit einem oder zwei Tänzen erfreuen.« Es war schwer, der Wärme in seiner Stimme zu widerstehen 48 Ashe bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Seine Wunden stachen ihm in Haut und Lunge. Es war nicht mehr weit bis zu dem Zimmer in der verlassenen Zisterne, und er betete darum, Rhapsody möge sich an diesen Treffpunkt erinnern. Er hatte sie in der Hochzeitshalle und der Basilika von Bethania gesucht. Vielleicht hatte sie ihren Plan vergessen, sich heimlich mit ihm auf der Hochzeit zu treffen. Wenn es wirklich so war, würde er es nicht ertragen können. Die Häscher des Dämons waren keine Soldaten, sondern Dorfbewohner gewesen, Schmiede und Fuhrleute, eine besonders schwer zu bekämpfende Gruppe, denn er wollte keine unschuldigen Bürger töten. Sie hatten sich mit ihm an der Brücke über den Phon einen erbitterten Kampf geliefert, denn sie hatten den Fluss unbedingt überqueren und er sie davon abhalten wollen. Er hatte gesiegt, aber um einen hohen Preis. Er öffnete müde die Tür und lächelte. Sie war da, saß in dem alten Sessel mit den zerschlissenen Lehnen, und trug noch ihren Hochzeitsputz. Ihr Kleid hatte die Farbe von rauchigem Amethyst und sich um sie gebauscht, während sie schlief. Das goldene Haar bildete einen Wirbel über ihrem Kopf und fiel allmählich nieder. Einer ihrer Schuhe war unter ihrem kleinen nackten Fuß zu Boden gefallen. Um den Hals trug sie eine enge Kette: ein großer Amethyst von derselben Farbe wie ihr Kleid, der von kleinen Perlen umgeben war und von drei Strängen aus milchig weißen Perlen gehalten wurde. In ihrem Schoß lagen ein Paar Ohrringe und zwei zerknitterte Handschuhe. Er sah sie schweigend an und sog ihren Anblick in sich auf. Verlangen und ein Gefühl von Leere überkamen ihn so heftig, wie er es vor ihrem Eintritt in sein Leben nie gespürt hatte. Als er endlich begriff, dass sie tatsächlich da war und auf ihn wartete, verschwanden seine Schmerzen. Er eilte auf sie zu, hob sie vorsichtig aus dem Sessel, drückte sie an seine Brust und fuhr ihr mit den Lippen über Gesicht und Haare. Er atmete ihren Duft ein und schwelgte in ihrer Weichheit, als sie sich in seinen Armen regte und lächelnd erwachte. »Ich habe dich vermisst«, sagte sie und strahlte ihn auf eine Weise an, die ihm immer wieder bis in die Seele fuhr. »Hat man dir aufgelauert?« Er trug sie zum Bett und legte sie darauf nieder. Sie sah, dass es ihn unerwartet große Mühe kostete. »Ashe?«, fragte sie mit Besorgnis im Blick. »Was ist los? Bist du verletzt?« »Nicht der Rede wert«, sagte er, setzte sich neben sie und nahm sie wieder in den Arm. Aber ihr Blick verdüsterte sich vor Sorge. Sie fuhr ihm mit den Händen über die Brust und suchte nach Anzeichen für eine Verletzung. Sanft öffnete sie sein Hemd und keuchte vor Entsetzen auf, als sie die Schnittwunden und Quetschungen sah, die bereits allmählich verheilten. »Was ist passiert?«, fragte sie erschüttert, zog ihm das Hemd ganz aus und befreite sich aus seiner Umarmung, damit sie ihn eingehender untersuchen konnte. »Bitte bleib ganz dicht bei mir«, sagte er und versuchte, das Gesicht nicht vor Schmerzen zu verziehen. »Ich muss dich festhalten. Es geht mir gut. Bitte umarme mich nur bitte.« Vorsichtig schlang sie die Arme um ihn, wobei sie versuchte, seine wunden Stellen nicht zu berühren. »Ich hoffe, du machst dir das nicht zur Gewohnheit«, sagte sie mit einer Spur Humor in der Stimme. »Ich habe wirklich Besseres zu tun, als mich andauernd um deinen verwundeten Brustkorb zu kümmern.« Seine Antwort bestand aus einem langen, tiefen Seufzer. Er legte den Kopf auf ihre Schulter. Das Glücksgefühl, wieder in ihren Armen zu liegen, überwältigte ihn. Sie streichelte seine Haare und summte eine wortlose Melodie, die seine Kopfschmerzen vertrieb und dazu führte, dass der pochende Schmerz in seinen Wunden verging. Sanft rieb sie seine Schultermuskeln und verschaffte so seinem Körper und seiner Seele Erleichterung. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als er aufwachte, lag er auf dem Bett mit dem Kopf in ihrem Schoß, während sie noch immer leise Worte sang, die er nur selten verstand. Er drehte sich auf den Rücken und sah sie an. Wenn ihr Bild auf dem Kopf stand, war sie genauso schön. Nun stemmte sich ihr Haar gegen seine Fesseln und drohte ihr jeden Augenblick auf die Schultern zu fallen. Ashe begab sich nie leichtfertig in Gefahr, doch jetzt streckte er die Hand aus und löste vorsichtig den juwelenbesetzten Verschluss in ihrem Nacken. Er lächelte, als ihr die goldene Seide um den Hals und bis zur Hüfte fiel. Er blinzelte erstaunt; diese Bewegung war für ihn mühelos und ohne jeden Schmerz gewesen, als wäre er nie verletzt gewesen. Außerdem waren die wunderbaren Locken, die er so liebte und mit denen er sehr vertraut geworden war, weitaus länger als noch vor einigen Monaten, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Wenn Rhapsody gestanden hätte, wären ihr die Haare bis in die Kniekehlen gefallen. »Was ist denn das?«, fragte er und hielt verwirrt eine lange Locke in der Hand. »Ich glaube, in deiner Sprache nennt man es für gewöhnlich ›Haare‹«, erwiderte Rhapsody schalkhaft. »Benötigst du weitere Informationen? Zum Beispiel: Wo du bist, welches Jahr wir haben, wie dein richtiger Name lautet? Die ersten beiden Fragen kann ich beantworten, aber für die dritte habe ich nicht genug Zeit; ihre Beantwortung wäre länger als die meisten zwölfversigen Märchen.« Ashe richtete sich auf und sah sie an. Seine Drachensinne strichen über sie. Er spürte die Reste von Schmerz in ihrem Körper; es war wie eine Reihe von fast verheilten Wunden. Entsetzt riss er ihr Leibchen auf. Grauen huschte über sein Gesicht, als er sah, wie sich seine eigenen Verletzungen auf ihrem Körper spiegelten. Sie waren zu einem schwachen Rosa verblasst, als würden sie bald verschwinden. »Gute Götter, Rhapsody! Was hast du getan?«, wollte er wissen. Seine Stimme war erstickt von Entsetzen. Rhapsody sah ihn an und drückte seine Hände weg. Rasch zog sie das steife Leibchen wieder an. »Entschuldige bitte«, meinte sie in verärgertem Tonfall. »Könntest du mir wenigstens erst einen Blumenstrauß schicken? Was bin ich deiner Meinung nach bloß für ein Mädchen?« »Auf alle Fälle ein verwegenes«, antwortete er und berührte den Rand der Wunde, die über ihrem Ausschnitt hervorlugte. »Wie ist das passiert?« »Das ist ein neues Kunststück, das ich vor kurzem gelernt habe«, erwiderte sie und drückte seine Finger wieder weg. »Halt deine Hände bei dir.« »Ein neues Kunststück? Heilung anderer durch eigenes Leiden?« »Praktisch, nicht wahr?« »Du bist krank«, sagte er und beruhigte sich ein wenig, als er feststellte, dass dieses neue Kunststückchen sie nicht wirklich gefährdet hatte. »Weißt du nicht, wie du diese Wunden bekommen hast und wie ernst sie waren?« »Nein«, gab sie zu, stand vom Bett auf und bürstete ihre Hose. Die Haare flössen ihr den Rücken herab. »Aber das ist egal. Fühlst du dich jetzt besser?« Ashe erhob sich und folgte ihr. Er packte sie bei den Schultern und drehte sie zu sich um. Er sah auf seine Frau hinunter auf die Frau, die ihn nur als früheren Liebhaber betrachtete , und eine Welle der Zärtlichkeit überspülte ihn. Sie gab ihm wie immer den Vorzug, selbstlos wie sie war. Er beugte sich hinunter und wollte sie küssen, doch sie wich vor ihm zurück und wandte sich ab. Sie ging quer durch den Raum zu seinem Sessel und hob ihre verstreuten Habseligkeiten auf. »Ja«, sagte er ermunternd und hoffte, sie damit zu sich zurückzuholen. »Gute Götter, Rhapsody, die Erinnerung an dich ist wunderbar, kommt aber an die Wirklichkeit nicht heran. Was ist mit deinen Haaren geschehen?« »Sie sind gewachsen«, meinte sie nur, faltete die Handschuhe und legte die Ohrringe auf den Tisch. »Das erzähle ich dir später. Wieso bist du verletzt worden?« »Ich bin in eine Gruppe bethanischer Dörfler geraten, die unter dämonischem Einfluss standen und unterwegs zur Hochzeit waren. Sie hatten wohl vor, einigen Gästen aufzulauern. Ich war der Meinung, es sei nicht falsch, ihre Pläne in letzter Minute ein wenig zu ändern«, antwortete er und rieb sich dabei geistesabwesend die Schulter. »Durch reinen Zufall war der Phon über die Ufer getreten, sodass sie bis zur Hüfte im Schlamm feststeckten. Ich wünschte, ich hätte Kirsdarkes Macht eingesetzt, bevor sie mich durchgeprügelt haben. Falls ihr Befehl lautete, die Hochzeit zu stören, hoffe ich, dass der Bann des F’dor nun von ihnen genommen ist, denn die Zeremonie ist schließlich vorbei. Wie war sie übrigens?« Rhapsody zog sich gerade die Schuhe an. Seine Frage brachte sie in Aufruhr; sie schwankte auf den Absätzen und wäre beinahe wie ein Kind umgekippt, das gerade laufen lernt. »Oh, es war wunderbar«, sagte sie mit glühendem Gesicht. »So viele Kerzen und so schöne Musik; und das Brautpaar sah so hübsch aus. Und der Ballsaal war mit den besten Kleidern gefüllt, die ich je an einem Ort versammelt gesehen habe. Es war ganz anders als bei den Hochzeiten, an denen ich bisher teilgenommen habe. Es tut mir Leid, dass du nicht da warst; ich glaube, du hättest es genossen.« »Da bin ich mir sicher«, sagte er und beobachtete, wie die Erinnerungen durch ihre Augen tanzten, die wie Sonnenlicht auf dem Wasser glitzerten. »Das Hochzeitskleid muss unglaublich schwer gewesen sein. Es hatte eine Schleppe, die eine ganze Meile lang war. Während man ihr noch durch den Mittelgang der Basilika folgte, stand die Braut schon am Altar des Feuers. Ich muss zugeben, dass ich so etwas niemals tragen wollte. Ich wette, morgen schmerzt ihr der Rücken.« Sie kicherte hämisch. »Es ist jedenfalls schade, dass du es verpasst hast. Sie war sicherlich die schönste Braut, die du je in deinem Leben hättest sehen können.« Ashe lächelte zusammen mit ihr und spürte ihre Freude. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte er zärtlich und dachte an einen Augenblick, an den sie sich nicht erinnern konnte. Sie ging zum Alkoven und holte einen Weidenkorb mit einem Deckel hervor. »Bist du hungrig? Magst du vielleicht etwas essen?« Ashe dachte darüber nach. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, ich könnte etwas gebrauchen.« »Bitte bediene dich«, meinte sie, während sie den Deckel abnahm und ihm den Korb hinhielt. »Hier haben wir ein wenig kalten Schinken und Früchte und eine Flasche von Achmeds bestem Wein bitte keine hämischen Kommentare, er ist wirklich nicht schlecht.« »Ich wäre niemals so undankbar und würde eine beleidigende Bemerkung über etwas machen, das du mir gibst«, sagte er, nahm ihr den Korb ab und stellte ihn auf den kleinen Tisch in der Ecke. »Was ist mit dir? Worauf hast du Appetit?« »Nur auf etwas Wein und Brot, bitte«, antwortete Rhapsody und setzte sich wieder in den abgeschabten Sessel. »Ich habe auf der Hochzeit peinlich viel gegessen.« »Das hätte ich gern gesehen.« Er stellte ihnen ein Essen zusammen und reichte ihr mit einer militärischen Verbeugung ein Glas Wein. »Wie fühlst du dich? Sind die Wunden inzwischen verschwunden?« Rhapsody spähte unter ihr Leibchen. »Alle weg.« »Beweise es mir«, meinte Ashe neckisch. Sie lächelte ihn an, kam seinem Wunsch aber nicht nach. Stattdessen nahm sie einen großen Schluck Wein. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Korb, denn er wusste, dass der Abstand, den sie zu ihm hielt, aus ihrem Glauben erwuchs, ihre Liebesbeziehung sei zu Ende. Dafür verfluchte er still seinen Vater und Großvater ein weiteres Mal. »Wieso ist dein Haar so schnell gewachsen?«, fragte er, als er mit seinem Teller auf dem Bett saß. Rhapsody nahm einen weiteren Schluck und senkte dann das Glas. »Eigentlich ist es gar nicht schnell gewachsen«, sagte sie. Ihr Blick verdunkelte sich. »Ich werde dir alles darüber berichten, aber es hat mit einer anderen Sache zu tun, über die ich mit dir reden muss. Ich weiß nicht, ob es ein Gespräch nach deinem Geschmack ist. Falls du noch ein wenig Ruhe haben willst, sollten wir etwas warten. Wenn wir es hinter uns haben, muss ich gehen. Morgen unternehme ich mit deinem Vater eine kleine Reise.« Ashes Herz klopfte schneller. »Morgen? Du begleitest ihn morgen?« »Ja«, erwiderte sie. »Llauron und ich haben uns auf der Hochzeit getroffen. Wir reisen den Cymrerweg entlang zu den Orten, wo die Erste Flotte an Land gegangen ist. Das sollte sehr aufschlussreich sein.« Ashes Appetit verschwand. »Das ist zu schnell«, sagte er und stellte den Teller auf den Tisch. »Du bist noch nicht in der Verfassung, mit Llauron über Land zu reisen, Rhapsody. Du hast erst vor kurzem Jo verloren. Du trauerst und bist ernsthaft verwundet worden. Du solltest einige Zeit in Elysian verbringen und dich auskurieren.« Rhapsody lächelte und fuhr mit dem Finger am Rand ihres Weinglases entlang. Ein leiser, melodischer Ton erklang. Sie begleitete ihn mit ihrem Gesang, einem Lied ohne Worte, und schickte ihn nach ihrem Willen durch den Raum wie einen Diener. Einen Moment später verschwand er. Sie trank den Rest des Weines und stellte das Glas neben seines. »Ich bin auskuriert, Ashe«, sagte sie sanft und sah ihm in die Augen. »Es ist schon etwa sieben Jahre her.« »Was willst du damit sagen?«, fragte Ashe. Sein Gesicht verlor jede Farbe. »Wo bist du gewesen, Rhapsody?« Sie stand auf, kam zum Bett und setzte sich neben ihn. »Ich habe Fürst und Fürstin Rowan besucht«, sagte sie und hielt dabei seinem Blick stand. »Wie du weißt, vergeht dort die Zeit anders als hier. Aus diesem Grund ist mein Haar so lang. Während ich dort war, habe ich Jo gesehen mehrere Male sogar, besonders dann, wenn ich unter den Augen der Fürstin geschlafen habe. Sie ist jetzt glücklich, Ashe, und sie hat mir vergeben. Beim Gedanken an sie habe ich keine Schmerzen mehr, auch wenn ich sie noch vermisse. Ich glaube, ich werde eines Tages bei ihr sein. Fürst Rowan hat mir versprochen, dass er mich holt, wenn er kann.« Ashe bekämpfte den Drang, sich zu übergeben. »Du bist zu den Rowans gegangen und hast sie tatsächlich gefunden? Gute Götter, Aria, ich hatte keine Ahnung, dass dir die Sache mit Jo so zugesetzt hat. Gewöhnlich nehmen die Rowans keine Gäste auf, es sei denn, es geht um Leben und Tod.« »Ich weiß«, sagte sie und sah weg. »Aber ich bin nicht wegen Jo oder einer eigenen Krankheit dorthin gegangen. Ich hatte einen anderen Grund. Bevor ich dir davon erzähle, will ich dich fragen, ob du noch an mich glaubst. Ich meine, glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich dich nicht anlüge?« »Völlig.« »Das freut mich«, sagte sie und sah ihn wieder an. »Dann musst du mir glauben, wenn ich dir sage, dass sich die Probleme gelöst haben und alles gut werden wird.« Ashe erzitterte. »Rhapsody, du machst mir Angst. Wovon redest du? Sag es mir, bevor ich einen Herzschlag bekomme.« Rhapsody ergriff seine Hände, holte tief Luft und sagte mit glänzenden Augen: »Ich habe zehn neue Enkel. Sie sind alle unterschiedlicher Abstammung und nicht gleichaltrig, einschließlich eines Lirin-Kindes, das ich selbst auf die Welt geholt habe. Seine Mutter ist bei der Geburt gestorben.« Sie wartete darauf, dass er ihre Worte in sich aufnahm. Der Ausdruck auf Ashes Gesicht wandelte sich von Furcht zu Erleichterung. »Bei der Geburt? Die Mutter ist gestorben, aber das Kind lebt? Wie in Manwyns Prophezeiung?« »Ja.« Nun atmete Ashe wieder regelmäßig. »Es tut mir sehr Leid, das zu hören«, sagte er und streichelte ihr geistesabwesend die Wange. »Das war noch nicht der schlimme Teil, Ashe.« »Was kommt denn noch?« Rhapsody senkte den Blick. »Diese Kinder haben alle denselben Vater. Sie sind ausnahmslos Nachkommen des F’dor.« Ashe hörte zu, verstand aber nicht. Auch nach einem Moment des Nachdenkens begriff er noch immer nichts. »Das ist unmöglich. Die Prophezeiung hat gesagt, dass der Dämon nicht den Körper von jemandem bewohnen kann, der Kinder gezeugt oder geboren hat oder dazu in der Lage wäre.« Rhapsody seufzte und fuhr fort: »Das alles sind Kinder aus Vergewaltigungen, Ashe. Der F’dor hat die Mütter durch die Hilfe des Rakshas geschwängert. Das Blut des Rakshas war sein eigenes, und daher sind es auch seine Nachkommen. Er hat einen Weg gefunden, die Prophezeiung zu umgehen.« Ashe starrte sie weiter an. Rhapsody spürte ein Summen; es war eine Schwingung, die sie ängstigte; es steckte in den Wänden des Zimmers und in der Luft. Die Sängerin wusste, dass nun der Drache zum Vorschein kam. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und versuchte ihn dazu zu bringen, ihr in die Augen zu sehen. »Hör mir zu, Gwydion ap Llauron«, befahl sie und setzte ihre Macht als Benennerin ein. Das Summen wurde nicht mehr stärker, blieb aber in der Luft hängen, als sein Gesicht wieder Farbe bekam und das Feuer in die Augen zurückkehrte. »Es mag schrecklich klingen, aber eigentlich ist es sehr gut. Die Kinder haben unsterbliche Seelen, jedes Einzelne von ihnen, weil der Rakshas ein wenig von dir hatte. Ohne dich wären sie rein dämonisch gewesen. Aber deinetwegen werden sie zur Vernichtung des Rakshas beitragen, denn aus ihrem Blut wurde der dämonische Anteil geschieden, mit dem Achmed den F’dor aufspüren kann.« Ihre Worte kämpften im tiefsten, dunkelsten Teil seiner Seele, der früher einmal die Kraftquelle gewesen war, welche in der eiskalten Gestalt des Rakshas Form angenommen hatte. Die Erinnerung an die Ereignisse, unter denen diese Abscheulichkeit erschaffen worden war, kehrte wie eine Flutwelle zurück; es war eine Reihe so grausamer Taten gewesen, die man nur als Morde bezeichnen konnte. Jede einzelne Scheußlichkeit erfüllte gleichzeitig seinen Geist mit Geschrei und dem Lärm seines eigenen kranken Lachens. Ashe verspürte das Grauen so stark, als beobachtete er die ganzen Vorkommnisse noch einmal aus nächster Nähe. Er entwand sich dem Griff ihrer Hände und schrie auf. Es war ein Brüllen wie ein Erdbeben. Kleine Dinge flogen von dem Nachttisch und der Kommode, und der Korb fiel vom Tisch; sein Inhalt ergoss sich auf den Boden. Als der Raum unter ihnen und um sie herum erzitterte, warf Rhapsody Ashe die Arme um den Hals und hielt ihn so fest wie möglich. Wellen aus Kraft und Schmerz wurden nun deutlich und umwirbelten die beiden rot und zornig. Sie hing an ihm und fürchtete, sie würde ihn an den Abgrund verlieren, der sich über ihnen bildete. Er klammerte sich an sie, versuchte sie abzuschütteln, doch in seiner Trauer und Wut zerkratzte er ihr nur das Gesicht. Rhapsody blickte über ihre Köpfe in die wirbelnde Finsternis und erbebte. Das Dunkel kam näher und wollte sie gemeinsam in das Vergessen saugen. Sie versuchte, wieder Blickkontakt mit Ashe herzustellen. »Gwydion! Gwydion ap Llauron, hör mir zu.« Ihre Stimme klang ruhig und stark und schwang im Einklang mit der alten Macht der Musik in ihrer Seele. »Lass los. Lass los.« Er sah ihr in die Augen; die vertikalen Schlitze seiner Pupillen waren so dünn wie ein Flüstern. Sein Name würde ihn einen Moment lang im Bann halten, dann wollte sie ihn wieder seinem Zorn überlassen. Rhapsody konzentrierte sich darauf, die Schwingungen aufrechtzuerhalten, damit er ihr weiter zuhörte. »Ich liebe dich«, sagte sie und gebrauchte dabei die Macht des Wahrsprechens. »Ich liebe dich aus ganzer Seele, Gwydion ap Llauron. Ich würde dich nicht belügen, und ich sage dir wahrhaftig, dass alles so richtig ist, wie es ist, auch wenn es dir jetzt Schmerz bereitet. Daraus wird Gutes erwachsen. Bitte, bitte glaube mir.« Ashe wich ihrem Blick nicht aus, doch sein Gesicht verwandelte sich langsam in das eines Reptils. Er erzitterte unter dem Innersten seines Wesens. Rhapsody wusste, dass der Drache sprungbereit und wütend war, doch was ihn anstachelte, lag jenseits ihres Verstehens. Sie spürte, wie er ihr entglitt, und fasste ihn fester, weil sie versuchen wollte, die Verwandlung nicht geschehen zu lassen. Es war ein Fehler. Ein durchdringender Schrei quoll aus seinem Mund, der in Raserei weit offen stand, und mit einer Kraft, die sie nie zuvor an ihm bemerkt hatte, machte er sich von ihr los. Er zuckte vor ihr zurück, wand sich heftig und versuchte zu fliehen. Die Gewalt seines Fluchtversuchs schleuderte Rhapsody durch den Raum und gegen die Wand. Sie segelte mit unglaublicher Gewalt durch die Luft, schlug mit einem ekelhaft dumpfen Geräusch gegen die Mauer und sank zu Boden. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, verfluchte sie ihre Dummheit und betete darum, dass Ashe nicht lostoben und das Land in Schutt und Asche legen würde. Das Entsetzen über ihren Aufprall bewirkte, dass Ashe inne hielt. Als er sah, was er getan hatte, wurde er ruhiger. Der Drache, der jetzt wieder unter Kontrolle war, erkannte mit Schrecken, dass sein Schatz schlaff auf dem Boden lag und sich nicht mehr bewegte. Die menschliche Seele in ihm geriet in Panik und erkämpfte sich die Vorherrschaft. Er rannte zu ihr und nahm sie zitternd vor Angst in die Arme. Die wirbelnde Kraft, die den Raum noch einen Augenblick zuvor zerrissen hatte, fiel zusammen wie eine Schneeflocke und sank schimmernd zu Boden, während Ashe Rhapsody auf das Bett legte. Seine Hände bebten vor Sorge. Er ging zu dem Krug auf dem Nachttisch und bespritzte ihr Gesicht mit Wasser, aber es erfolgte keine Reaktion. Er blieb neben ihr, wurde immer besorgter, streichelte ihr Gesicht und flehte sie an aufzuwachen. Nach einer Zeitspanne, die ihm wie Stunden erschien, jammerte und ächzte sie endlich. »Rhapsody? Rhapsody, bitte sag etwas. Bitte.« Sie öffnete ein Auge und sah ihn benommen an. »Ist dein Wutanfall vorbei?«, fragte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ashe brach in Tränen aus, die er bisher nicht zu vergießen gewagt hatte. Er beugte den Kopf über sie und weinte, wobei er das Gesicht gegen ihren Bauch drückte. Rhapsody strich ihm fahrig mit der Hand über den Kopf. »Ashe«, sagte sie sanft, aber nachdrücklich. »Bitte hör auf damit. Es geht mir gut, und ich verstehe, dass es nicht deine Schuld ist. Außerdem machst du meine Kopfschmerzen nur noch schlimmer und ruinierst mein Kleid.« »Es tut mir Leid. 0 Götter, es tut mir so Leid ...« »Nicht«, sagte sie mit etwas stärkerer Stimme. »Bitte nicht. Das ist nicht nötig. Ich wusste, dass es geschehen würde... das konntest du nicht ertragen. Ich war darauf vorbereitet. Aber ich hatte erwartet, du würdest ausschlagen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du mich gegen die Wand werfen könntest, weil du mir nicht wehtun wolltest. Ein taktischer Fehler. Es war mein Fehler, dass ich mich genau in diesem Moment an dich geklammert habe.« »Dein Fehler?«, fragte er ungläubig. »Wie, im Namen des ...« »Ashe«, unterbrach Rhapsody ihn; sie klang verärgert. »Wir sollten nicht mehr darüber reden. Bitte. Um meinetwillen. Es wird mir gleich besser gehen. Aus diesem Grund habe ich den Wein getrunken. Ich hatte diese Reaktion erwartet. Ich weiß, dass du mich nicht verletzen wolltest. Können wir das Thema damit beenden? Ich will nicht, dass wir unsere letzten gemeinsamen Minuten auf diese Weise verleben. Hilf mir auf.« Vorsichtig schlang er die Arme um ihre Hüfte, half ihr aufzustehen und spürte dabei den Schaden, den er bei ihr angerichtet hatte. Sie hatte blaue Flecke, aber es war nichts gebrochen. Ihre Schulter schmerzte, doch sie blutete nicht. Sie humpelte zum Sessel und griff nach dem Krug. Nachdem sie sich ein wenig Wasser ins Gesicht gespritzt und es mit einem Tuch, das er ihr reichte, abgewischt hatte, setzte sie sich, streckte die Hand nach ihm aus und zog ihn zu sich. Er kniete sich vor ihr auf den Boden, damit er auf Augenhöhe mit ihr war. Sein Gesicht war noch angstverzerrt. »Ich bin in Ordnung«, versicherte sie ihm und streichelte ihm über das Gesicht. »Ich habe nur versucht, dir zu sagen, dass es den Kindern gut geht. Sie sind bei Oelendra, und wenn der F’dor tot ist, werde ich sie zu mir holen. Sie werden geliebt und umsorgt werden und eine weitaus bessere Zukunft haben als früher.« »Und ihre Mütter? Was ist mit den Frauen geschehen?« Rhapsody nahm seinen Kopf zwischen die Hände und küsste ihn auf die Stirn. »Die Mütter haben alle ihren Frieden gefunden«, sagte sie, weil sie ihn nicht aufregen, aber auch nicht anlügen wollte. »Aria ... das ist das Neugeborene ... ihre Mutter konnte sie noch halten, bevor sie gehen musste, und ich weiß, dass sie glücklich in das Licht eingegangen ist.« »Du hast sie Aria genannt?« Sein Gesicht wurde sanfter. Sie sah, wie gerührt er war. »Es ist wunderbar, so genannt zu werden«, sagte sie und lächelte schwach. »Es ist ein so schöner alter Name, der in dieser Welt verloren gehen würde, wenn niemand ihn gebraucht, und das wäre doch eine Schande, oder etwa nicht?« Ashes Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Ja. Ja, das stimmt.« »Und wenn du dich fragst, wieso ich dir vergeben kann, dass du mich verletzt hast, findest du die Antwort in dem, was du vorhin gesagt hast. Du weißt, ich bin kein wehrloses Opfer, Ashe. Du hast bereits meine Wut geschmeckt und meine Faust gespürt. Aber du hast gegen mich gewütet, weil der Gedanke an die Schmerzen, die du sehen musstest, dich überwältigt hat. Du hast das Gefühl, daran beteiligt oder vielleicht sogar der Grund dafür gewesen zu sein. Ich habe diese Schmerzen ebenfalls gespürt, auch wenn ich im Gegensatz zu dir nicht dabei war. Es war so schrecklich, dass man es einfach nicht ertragen und dabei geistig gesund bleiben kann. Du bist ein guter Mann, Ashe. Du musst dich für nichts entschuldigen, weil du nichts falsch gemacht hast. Auch du warst ein Opfer, falls du das vergessen hast. Trotzdem fühlst du dich noch verantwortlich, auch wenn du es nicht bist. Du wirst einen wunderbaren Fürsten der Cymrer abgeben, weil du der Erste mit einem Gewissen sein wirst und auf alle Fälle auch der Erste, der gewillt ist, auf sein Herz zu hören. Erinnerst du dich an das alte lirinsche Sprichwort? Ryle hira. So ist das Leben. Wir können nur versuchen, es besser zu machen; diese Kinder sind ein Teil des Versuchs. Vertrau mir bitte. Die Lage ist unter Kontrolle. Geh jetzt und sei glücklich. Tu, was du tun musst.« Er sah sie mit einem Blick an, der ihr das Herz brach. »Ich verdiene dich nicht. Wirklich nicht.« Sie lachte. »Ich weiß, aber nun hast du mich am Hals, mein Freund.« Sie stand langsam auf und ging zum Schrank, packte ihre Habseligkeiten zusammen und nahm den Mantel vom Ständer neben der Tür. Aus dem Alkoven holte sie ein Paar Stiefel und zog sie an; die Satinschuhe steckte sie in die Taschen. Sie ging zur Tür und öffnete sie gerade, als er sagte: »Rhapsody?« Sie drehte sich ein letztes Mal nach ihm um. »Ja?« Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. »Liebst du mich noch? Auch nach der ganzen Zeit bei den Rowans?« Sie sah ihn an; ihre Augen schimmerten und leuchteten wie die Tiefen des Meeres. »Für immer.« Er seufzte; ein Lächeln legte sich wieder über sein Gesicht. »Dann wird sich alles Weitere ergeben.« »Das tut es sowieso«, meinte sie nur. »Weißt du, ob es draußen schneit? Vielleicht sollte ich etwas Wärmeres anziehen.« Er drehte sich um, ging zum Fenster und schaute hinaus in den klaren, mit Sternen übersäten Nachthimmel. »Nein, ich glaube nicht...« Als er sich wieder umdrehte, war sie verschwunden. Sie hatte ihm den Schmerz erspart, sie gehen zu sehen; selbst in ihrer letzten Handlung hatte sie an ihn gedacht. Er schloss die Augen und wartete, bis die letzte feine Schwingung der geschlossenen Tür erstorben war. Dann sah er wieder aus dem Fenster in den Nachthimmel. »Auf Wiedersehen, Emily«, sagte er. 49 Die Wahrzeichen des cymrischen Zuges zusammen mit Llauron zu sehen war so, wie sie zum ersten Mal zu sehen. Dass sie diesmal zu Pferde waren, machte einen Teil des Unterschiedes aus. Llauron hatte ihr einen Apfelschimmel geliehen und seinen hoch geschätzten weißen Madrianer für sich selbst behalten. Rhapsody hatte lächeln müssen, als der alte Mann aufstieg. Anwyns Söhne bevorzugten exquisite Pferde. Anborns schwarzer Hengst war eines der schönsten Tiere, die sie je gesehen hatte. Llaurons Ross war beinahe genauso beeindruckend. Sie reisten als Erstes zum Haus der Erinnerung und fanden eine Ruine vor; nur einige der Grundmauern standen noch. Rhapsodys Herz zog sich zusammen, als sie es sah. Sie dachte an die wunderbare Bibliothek und die historische Bedeutung dieses Außenpostens, um deretwegen sie sich beim ersten Besuch des Hauses die Zeit genommen hatte, das Feuer zu löschen, das während der Schlacht aufgeflammt war. Der zerstörerische Feuerball, der die dämonischen Gewächse vernichtet hatte, welche Ylorc auf der Suche nach dem Erdenkind durchdrungen hatten, hatte auch das Haus der Erinnerung in Schutt und Asche gelegt. Wenigstens war damit das Grauen der Opferungen getilgt worden; nichts als geschwärztes Holz und Asche waren übrig geblieben. Besorgt sah sie Llauron an, dessen Familiengeschichte eng mit diesem Außenposten verbunden war, doch der Mann schien recht gelassen zu sein. Er bückte sich, fuhr mit der Hand über einen Haufen aus grauem Holz und schwarzer Asche, in welchem die Überreste von Ledergebundenen Büchern steckten, und ließ den Staub durch seine Finger rieseln. Nach kurzem Nachdenken sah er zu ihr hoch und lächelte sanft. »Eine Schande, nicht wahr? Es war ein so wunderbares Museum.« Llauron warf die Asche zu Boden und stand auf, wobei er sich die Hände an seiner grauen Robe säuberte. »Da sich nun das nächste cymrische Zeitalter abzeichnet, wird es nötig sein, neue Außenposten und neue Museen zu errichten, nicht wahr, meine Liebe?« Rhapsody erwiderte sein Lächeln. »Vermutlich.« Llauron wurde wieder ernst, während sie über die rußigen Pflastersteine schritten, welche die Überreste des Hofes mit Ausnahme seines Mittelpunktes bedeckten, in dem der große Ableger der Sagia, der Eiche der tiefen Wurzeln von Serendair, gesund und stark inmitten all der Zerstörung stand. »Du weißt, Rhapsody, dass es in deiner Macht steht, diesem Land das größte Vermächtnis zu hinterlassen, das es je erhalten hat. Das ist eine großartige Gelegenheit für ein Mädchen niedriger Herkunft; es ist die Möglichkeit, die Geschichte so zu beeinflussen, wie es keiner der cymrischen Fürsten je getan hat.« Rhapsody schluckte die sarkastische Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag. »Und was ist das für eine Gelegenheit, Llauron?« Das Funkeln in Llaurons blauen Augen verschwand. »Den Baum zu beschützen.« Rhapsody warf einen Blick auf die junge Sagia-Eiche und erinnerte sich daran, wie krank und hoffnungslos sie ausgesehen hatte, als sie sie vor so langer Zeit zum ersten Mal gesehen hatte. Llauron selbst hatte ihr die Salbe gegeben, die sie bei der Heilung verwendet hatte; sie hatte die vergifteten Wurzeln damit eingerieben und sie mit einem Heillied geschützt. Nun erhoben sich die glänzenden Äste weit über ihren Kopf; weiße hölzerne Arme waren tief in den klaren Winterhimmel gereckt und mit weißen Blüten übersät. Sie lächelte und deutete auf die kleine Schäferharfe, die in der untersten Astgabelung steckte und unablässig ihren Refrain spielte. »Ich glaube, das habe ich schon getan«, sagte sie. Das Lächeln des Fürbitters kehrte zurück. »Verzeihung, meine Liebe, ich habe mich falsch ausgedrückt. Natürlich hast du diesem Baum schon deinen Schutzmantel umgelegt. Aber ich meinte den Großen Weißen Baum.« Sie schüttelte überrascht den Kopf. »Den Großen Weißen Baum?« »Ja.« Ein plötzlicher winterlicher Windstoß kräuselte ihr den Mantel und fuhr mit kaltem Atem über ihre zitternden Arme. »Ich verstehe nicht, Llauron. Beschützt du als Fürbitter diesen Baum nicht selbst?« »Doch.« Die Stimme des alten Mannes wurde sanft und tief wie zu jenen Tagen, als er sie in Geschichte oder Baumkunde unterrichtet hatte. »Und damit werde ich bis zum Ende meiner Tage fortfahren. Aber es scheint mir, dass deine Dienste diesem jungen Schössling einen besonderen Schutz verliehen haben, meine Liebe, den selbst der Große Weiße Baum nicht genießt einen Schutz vor den Verheerungen des Feuers.« Er lächelte, während er eine weit ausholende Geste machte. »Sieh dich um. Jahrhunderte voller Geschichte, was sowohl das Gebäude als auch seinen Inhalt angeht, sind in wenigen Augenblicken zu bloßem Ruß und Schutt geworden. Aber der Baum steht noch immer unversehrt da; er weist nicht einmal eine Brandspur oder einen Fleck auf. Das ist wirklich sehr bemerkenswert und beispiellos. In den verschiedenen Kämpfen des cymrischen Krieges und etlichen schlimmen Gewittern und Blitzeinschlägen hat der Große Weiße Baum Schaden gelitten und wäre einmal sogar beinahe in der Schlacht um den Äußeren Kreis vernichtet worden. Sogar ich als vereidigter Wächter kann ihn nicht so schützen wie du.« In seinen Augen blitzte es. »Du, meine Liebe, scheinst in der Lage zu sein, das Feuer in seine Schranken zu weisen und ihm den Anspruch auf all das zu verweigern, was unter deinem Schutz steht und was du liebst. Ich beobachte dich schon seit langer Zeit, Rhapsody, und habe gesehen, wie das Feuer auf jede deiner Bewegungen reagiert. Ich habe gesehen, wie es aufspringt, um dich zu begrüßen, wie es zu einem stetigen, schwachen Brennen niedersinkt, wenn du es willst. Das ist eine große Gabe, die zweifellos in den besten Händen ruht. Ich als dein alter Lehrer bitte dich nur um einen einzigen Gefallen. Gewähre diesen Schutz dem heiligsten Lebewesen auf unserem Kontinent: dem Baum selbst. Er ist das Kennzeichen des letzten der fünf Orte, an denen die Zeit ihren Ursprung hat. Was könnte wichtiger sein?« »Llauron...« »Rhapsody, du erinnerst dich an die Legenden über die Insel Serendair, die ich dir erzählt habe, als du bei mir gelernt hast, nicht wahr?« Ihre Kehle wurde trocken. »Ja.« »Diese Insel war einst ein Ort tiefer Magie, Rhapsody, und das Mutterland vieler verzauberter Wesen ein Ort, wo die alte Macht schwer in der Luft hing. Die Welt ist seit dem Untergang der Insel ein viel einfacherer Ort geworden. Weißt du warum?« Rhapsody hatte darüber ihre eigenen Vorstellungen, aber sie schüttelte nur den Kopf. »Es war der Verlust des Baumes, meine Liebe, der großen Eiche der Tiefen Wurzeln, der Sagia. Der Tod der Sagia hat viel von der Magie der Welt mit sich genommen. Jeder der Großen Bäume der Legende zufolge waren es fünf wuchs an einem der fünf Geburtsorte der Zeit, wo je eines der fünf Elemente seinen Ursprung nahm. Die Sagia wuchs an der Stelle, wo der Äther geboren wurde und das Sternenlicht zuerst die Erde berührte. Der Äther war das erste aller Elemente, und seine Magie war die stärkste. Die Sagia versank in den Fluten, als Serendair unterging. Der Verlust, den die Welt erlitt, als die Insel vom Feuer des Schlafenden Kindes verzehrt wurde, ist unermesslich.« Plötzlich keuchte Llauron und hustete trocken und stoßweise. Rhapsody streckte ihm die Hand entgegen, doch er stieß sie fort und redete weiter. »Die Große Weiße Eiche wächst am letzten der Geburtsorte der Zeit, wo das Element der Erde erschaffen wurde. Sie beschützt die Erde und erhält deren Magie am Leben. Stell dir vor, welch ein Ort die Erde wäre, wenn wir auch diesen Baum verlieren würden. Sie wäre so farblos, so bedeutungslos, dass das Leben kaum mehr lebenswert wäre. Vor allem du, eine Canwr, eine Benennerin, wirst dir nicht wünschen, dass etwas so Schreckliches geschieht, nicht wahr?« Rhapsody verbarg ein Lächeln angesichts des dramatischen Endes von Llaurons Rede. »Nein, natürlich nicht.« »Ausgezeichnet. Nun, meine Liebe, tu mir bitte diesen Gefallen. Versprich mir, dass du nach unserer Rückkehr in meine Festung in Gwynwald den Großen Weißen Baum mit demselben Zauber belegst, den du bei diesem jungen Schössling angewendet hast. Betrachte es als ein Geschenk an deinen demütigen Bewunderer.« Rhapsody schluckte, sagte aber nichts. Das Feuer, welches das Haus der Erinnerung zerstört hatte, war in gewisser Weise ihr eigenes Werk gewesen; es war das Mittel gewesen, mit dem sie und die Bolg die Dämonenpflanze vernichtet hatten, die zwischen den Wurzeln des Schösslings gewachsen war. Sie hätte auch den Baum vernichten können; Rhapsody wusste nicht genau, was ihn vor dem Untergang bewahrt hatte. Llauron schien geradezu verzweifelt zu sein und großen Wert darauf zu legen, dass sie der heiligen Eiche unter seiner Obhut denselben Schutz gewährte. Warum sollte sie es ihm nicht versprechen? »In Ordnung, ich werde es versuchen«, sagte sie, lächelte und zupfte den Mantel des Fürbitters zurecht, der ihm von der Schulter gerutscht war. »Dafür musst du mir versprechen, vorsichtiger mit deiner Gesundheit umzugehen, Llauron. Wenn du in diesem beißenden Frost den Hals entblößt, wirst du dir eine Erkältung holen.« »Dann sollten wir einen Handel eingehen«, meinte Llauron fröhlich. »Ich werde Hut und Handschuhe anziehen und den Hals bedeckt halten, wenn du bei dem Großen Weißen Baum dasselbe Schutzritual anwendest wie bei dem Schössling, damit er vor der Vernichtung durch Feuer bewahrt wird. Dann sind die Waagschalen im Gleichgewicht. Einverstanden?« Er streckte die Hand aus. Rhapsody sah ihn seltsam an. Den Ausdruck, die Waage schalen seien im Gleichgewicht, hatte sie zuerst in Sorbold gehört; vielleicht war er weiter verbreitet, als sie geglaubt hatte. Im Hinterkopf hörte sie wieder den schrecklichen, tiefen und donnernden Gesang: Tovvrik, Tovvrik, Tovvrik. Sie erschauerte unwillkürlich und sah in Llaurons erwartungsvolles Gesicht. In der Art, wie seine Augen im Winterlicht glitzerten, lag etwas, das sie beunruhigte, doch seine Bitte erschien ihr durchaus berechtigt. Sie dachte noch einen Moment lang nach, dann ergriff sie seine Hand und schüttelte sie. »Einverstanden. Ich habe allerdings nicht vor, mit dir in den Kreis zurückzukehren, Llauron«, sagte sie. »Ich muss mich bald auf den Weg nach Ylorc machen. Aber ich glaube, ich kann es auch von dort aus machen, nämlich durch die Wurzeln des Schösslings. Sie sind mit denen des Großen Weißen Baumes verschlungen; zumindest hat Grunthor das gesagt.« »Wie wunderbar«, meinte Llauron. Er ging rasch zu seinem Pferd, öffnete die Satteltasche an der linken Flanke und holte aus den Tiefen ein Paar Handschuhe, einen Hut und einen Schal hervor, alles aus weicher, ungefärbter Wolle. Rhapsody warf einen Blick auf die Ruine des Hauses der Erinnerung und versuchte die tiefe Kälte zu vertreiben, die sich wie eine Schneedecke auf sie gelegt hatte. Sie wartete, bis Llauron zurückkehrte. Nun war er wärmer angezogen und ging sogleich zum Stamm des Schösslings. »Kennst du den wahren Namen des Großen Weißen Baumes?«, fragte sie. Llauron bedachte sie mit einem ernsten Blick und schüttelte dann den Kopf. »Ich fürchte, nein«, sagte er widerstrebend. »Wird dich das davon abhalten, deine Magie bei dem Baum einzusetzen?« Rhapsody seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Ich kenne ein paar der Namen, die die Filiden und die Lirin ihm gegeben haben, aber es wäre besser, den wahren Namen zu kennen.« »Leider muss es uns auf andere Weise gelingen«, sagte Llauron. »Versuch es, meine Liebe. Ich werde so still wie möglich sein.« Sie schaute hoch in das glatte, weiße Geäst, das im Winterwind schaukelte. Die hellen Blüten raschelten unter dem klaren Himmel. Sie schloss die Augen und lauschte dem Gesang des Windes, der im Einklang mit dem Lied des Baumes stand. Es war dasselbe Lied, das sie im Innern der Erde gehört hatte, als sie und die beiden Bolg entlang der Sagia-Wurzel, der Mutter des Baumes, gereist waren ein reiches Lied voller Weisheit und Macht, eine langsam sich vorwärts bewegende Melodie mit unendlich oft wechselnden Tönen, ohne den Zwang, schneller werden zu müssen, und doch jünger und heller als unter der Erde und zusammenschmelzend mit der Musik des Himmels, die den Baum einhüllte. Sanft legte Rhapsody die Hand auf den Stamm des Schösslings, schwang sich auf ihn ein und sang. Sie rief jedes einzelne uranfängliche Element außer dem, vor welchem sie den Baum schützen wollte, denn sie wusste, dass diese Elemente die ganze magische Kraft enthielten. Grüne Erde unter den Wurzeln bewache dich Weiter Himmel über den Zweigen schütze dich Kalter Wind umhülle dich, Regen überschütte dich Feuer aber soll dich nie verletzen. Nach einigen Augenblicken spürte Rhapsody, wie das Lied durch den Stamm des jungen Baumes und bis hoch zu seinen Ästen pulste, bis zu den Blüten, welche seine Zweige schmückten. Sie spürte, wie das Lied dem Pflanzensaft gleich durch den Baum und in den Boden bis zu den Wurzeln wanderte. Langsam sang sie einige der Namen, mit denen die Filiden den Großen Weißen Baum benannten, und hoffte, ihr Lied auf diese Weise zu ihm zu schicken. Zeichen des Anfangs, lebe Mutter des Waldes, gedeihe Tempel der Vögel, wachse Feuer soll dich nie verletzen. Eine unendliche Harmonie strömte von dem Schössling aus, zu der sich einen Augenblick später ein tiefer, reicher Kontrapunkt gesellte, bei dem es sich nur um die Stimme des Großen Weißen Baumes handeln konnte, der singend Antwort gab. Es war ein silberner Klang, der ein Zittern durch ihr Blut jagte und Erinnerungen aus alter Zeit mitbrachte, an ein verlorenes Land, in dem sie zum ersten Mal die Stimme des Wurzelbruders des großen Baumes gehört hatte des Baumes, der sie und ihre beiden Gefährten vor allen Gefahren bewahrt und sie in die Sicherheit und das Leben dieses neuen Landes geführt hatte. Sie kam zum letzten Vers und benannte die Eigenschaften des Feuers, das den Baum berühren konnte, ohne ihm zu schaden. Licht des Frühlings erleuchte dich Heiße Sommersonne wärme dich Blattwerk aus flammenden Farben bekröne dich Doch Feuer soll dich nie verletzen. Die Harmonie brandete auf und wurde zu dem Heillied, das die Harfe seit einem Jahr spielte. Rhapsody lächelte zufrieden und wandte sich an Llauron, der sie mit großer Neugier beobachtete. »Ich fürchte, mehr kann ich nicht tun. Ich weiß nicht, ob es ausreicht.« Llauron schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Ich bin sicher, das wird es. Und ich schätze deine Bemühungen, meine Liebe. Vielen Dank.« Rhapsody nickte und zog die Kapuze über. »Keine Ursache. Jetzt sollten wir uns aber auf den Weg machen. Wir haben noch einen langen Ritt und viel Arbeit vor uns.« Sie reisten auf dem alten Weg, führten ihre Pferde durch den Wald und hielten manchmal an, um Hinweiszeichen zu betrachten, die völlig überwuchert und zugeschneit waren; selbst die Zeit hatte sie vergessen. Rhapsody hatte den Drachenkrallendolch bei sich; sie benutzte ihn nun, um die Erde abzukratzen und auf diese Weise etwas Gutes damit zu tun. Die Erinnerung an die Rolle, welche der Dolch in Jos letzten Augenblicken gespielt hatte, war zu stark, um ihn je wieder als Waffe einzusetzen. Vorsichtig entfernte sie die gefrorenen Unkrautbüschel und Dornen, welche die verschiedenen Gedenktafeln und Steine überwucherten, und bemerkte dabei Llaurons immer wärmer werdendes Lächeln. An jedem Ort sang sie ein beschützendes Lied und rief die Windrosen hervor, die noch unter dem Schnee schliefen, in der Hoffnung, dass der Frühling diesem Ort neue Schönheit schenken möge. Der Weg hatte für sie kaum eine Bedeutung; sie hatte die Cymrer nicht gekannt und sah sie als seltsames und sorgenvolles Volk an, aber es war sehr wichtig für Llauron, wie sie mit seiner Geschichte umging. Daher machte sie nicht den Vorschlag, gleich umzukehren. Sie überquerten die unsichtbare Grenze nach Navarne, wo viele Wegweiser überwuchert und vernachlässigt waren. »Weißt du, eigentlich bin ich überrascht, dass Herzog Stephen sich nicht besser um diese Zeichen kümmert«, sagte Rhapsody, als sie aufstand und ihren Dolch wegsteckte, nachdem sie sich um den dritten cymrischen Ort in Navarne gekümmert hatte. »Er ist doch schließlich ein Erforscher der cymrischen Geschichte.« »Es ist in unserer Zeit schwierig, ein orlandischer Herrscher mit cymrischer Abstammung zu sein«, entgegnete Llauron, beugte sich vor und betrachtete das alte Zeichen. »Das königliche Geblüt wird anerkannt, aber wegen des Krieges und der Gräueltaten Anwyns und Gwylliams ist ein Makel zurückgeblieben. Stephens Verhaltensweise ist in gewisser Hinsicht typisch für viele Cymrer der späteren Generationen. Es ist annehmbar, ein kleines Museum im eigenen Schloss zu haben, doch die übrigen Überbleibsel des cymrischen Erbes bleiben unbeachtet. Aber das wird sich bald ändern, nicht wahr, meine Liebe? Gwydion wird uns allen Grund dazu geben, wieder stolz auf unser Erbe zu sein.« Rhapsody lächelte, als sie aufstieg. »Ja, dessen bin ich mir sicher.« In ihrem Versteck in dem südlich gelegenen Wäldchen bedeutete Lark den anderen, still zu sein, und lauschte dann dem Hufgetrappel, das sich allmählich entfernte. Als sie Llaurons Madarian nicht mehr hören konnte, wandte sie sich an die anderen, die ebenfalls abtrünnige Filiden waren, und nickte. »Seid Ihr fertig, Mutter?« Lark nickte erneut. »Also gut«, meinte Khaddyr und befingerte nervös den Gürtel seines Umhangs. »Folgt ihnen nicht zu dicht. Er muss von der Reise erschöpft sein, klar?« Das zustimmende Nicken zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. »Gut. Wir sollten aufbrechen.« 50 Es dauerte drei Tage, den Weg im Nordwesten Navarnes außerhalb des Gwynwaldes hinter sich zu bringen, denn es handelte sich größtenteils um raues Gelände. Rhapsody bemerkte, wie sehr die Reise Llauron anstrengte. Er hatte in der Nacht neben dem Feuer nicht gut geschlafen und schien sehr anfällig für Kälte zu sein. Ein leichter Husten hatte sich in seiner Brust festgesetzt, und obwohl Rhapsody ihm alle Kräuter und Tränke gegeben hatte, die sie bei sich führte, schienen sie kaum zu helfen. In jeder der Nächte auf dem Weg hatte sie ihm ein Heillied gesungen, woraufhin sein Zustand sich jedes Mal ein wenig gebessert hatte, doch sobald die Sonne aufging, verfiel er wieder in schwindsüchtiges Husten. Schließlich sprach sie ein Machtwort. »Llauron, das ist verrückt. Es macht dich krank. Wir müssen uns auf den Heimweg machen. Ich werde im Frühling zurückkommen und mich um die ganzen Tafeln und Zeichen auf dem Weg kümmern; man muss sie sowieso immer wieder säubern.« »Es gibt nur noch drei in diesem Teil von Navarne, meine Liebe, und sie sind in unserer Nähe. Wir sollten versuchen, bis Mittag mit ihnen fertig zu sein, dann können wir Stephen einen Besuch abstatten. Seine Festung ist mit dem Pferd von hier aus gut zu erreichen, und ich bin sicher, dass er dich gern wieder sehen würde.« Rhapsody dachte nach und kam zu dem Schluss, dass Llaurons Vorschlag vernünftig war. Er war zu erschöpft, um es bis nach Gwynwald zu schaffen, und Stephen würde sich zweifellos um ihn kümmern und es ihm in Haguefort, seinem Schloss aus rosigbraunem Stein, gemütlich machen. »In Ordnung«, stimmte sie zu und küsste ihn auf die Wange. »Aber versuch nicht, mich auf dem Weg zu etwas anderem zu überreden. Noch drei, dann ist Schluss. Ich will nicht in den nächsten Sturm kommen, so wie die armen Waldläufer, die du mir zur Hilfe nach Sorbold geschickt hast. Ich will nicht auch noch dich auf dem Gewissen haben.« »Einverstanden«, sagte der alte Mann, und seine Augen funkelten im Morgenlicht. Sie waren gerade dabei, eine Steintafel mit den Namen der ersten Siedler des westlichen Navarne zu säubern, als Rhapsody einen kalten Schauer aus der Lichtung heranwehen spürte. Llauron hatte hinter ihr gestanden und sie beobachtet, während sie den Stein freigelegt und die Brombeeren zur Seite gebogen hatte. Als sie sich umdrehte, sah sie Khaddyr hinter ihnen auftauchen. Rhapsody erhob sich und stellte sich neben den Fürbitter, als vier Männer und eine Frau hinter Llaurons oberstem Ratgeber die Lichtung betraten. Sie warf Llauron einen raschen Blick zu. Bei der Frau handelte es sich um Lark, Llaurons Kräuterkundige und eine der Hauptpriesterinnen, die Rhapsody unterrichtet hatte. Der alte Mann zog die Brauen zusammen. »Khaddyr. Ich war der Meinung, du bist mit den Vorbereitungen der Frühlingssonnenwende beschäftigt.« Khaddyr nickte, während die Priester den Kreis enger zogen. »Das bin ich, Euer Ehren. Ich kümmere mich darum, dass sie unter der Führung eines neuen Fürbitters gefeiert wird.« Rhapsody Magen wurde plötzlich so eiskalt wie der Boden unter ihren Stiefeln. »Was soll das heißen?« »Es heißt, dass er ein altes Ritual des Übergangs vollziehen will, meine Liebe«, sagte Llauron ruhig. »Er fordert mich nach dem Gesetz des Buda Kai heraus.« Rhapsodys Hand stahl sich zum Griff der Tagessternfanfare. Buda Kai war der filidische Kampf um die Oberherrschaft ein Ritus, der seit den Tagen des cymrischen Krieges nicht mehr vollführt worden war. Llauron war genauso wenig wie sein Vorgänger auf diese Weise zu seiner Stellung gekommen. Das hatte ihr Khaddyr selbst gesagt, als er ihr Lehrer gewesen war. Der Sieger würde der neue Fürbitter sein. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. »Mach dich nicht lächerlich«, sagte sie zu Khaddyr. »Du hast selbst gesagt, es sei ein barbarisches und überholtes Ritual, das niemand mehr begeht.« Khaddyr lächelte, und Rhapsody erzitterte unwillkürlich. In seinen Augen und hinter der angenehmen Stimme lagen Härte und Grausamkeit. »Ich sehe, wir beide sind eines Geistes. Du stellst die Monumente der verblassten Glorie eines entehrten Volkes wieder her, während ich einen alten Ritus wieder belebe, weil ich die Ehre einer religiösen Sekte erneuern will, die von einer zerfallenden Bastion derselben Abstammung geführt wird. Wie ironisch. Lark wird meine Sekundantin sein. Es scheint, Llauron hat niemand anderen als dich. Es tut mir Leid, dass du Zeuge dieses Schauspiels bist, meine Liebe. Ich hätte es dir gern erspart.« »O nein, Khaddyr, ich will es nicht anders«, sagte Rhapsody mit brodelnder Wut in der Stimme. »So kann ich ihm wenigstens beistehen. Du musst zuerst mich besiegen.« »Entschuldige uns bitte für einen Moment«, sagte Llauron zu Khaddyr, der daraufhin nickte. Der Fürbitter nahm Rhapsody beim Arm und führte sie zwanzig Fuß fort hinter einen Wall aus Birken. »Rhapsody, es tut mir Leid, dass das gerade jetzt geschieht, wo wir noch ein wenig Zeit miteinander verbringen wollten. Ich fürchte, ich muss mich ihm stellen. Ich bin verpflichtet, diese Herausforderung anzunehmen.« »Das ist absurd«, meinte Rhapsody und warf einen Blick über die Schulter auf Khaddyr und seine Sekundantin. »Diese Narren. Erlaube mir, dass ich ihm das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht prügele. Das wäre eine gute Gelegenheit, ihm seine Übergriffe heimzuzahlen, als er mich zum ersten Mal zu dir führte.« Llaurons Griff war sanft, als er sie bei den Schultern nahm und ihr ins Gesicht lächelte. »Nein, meine Liebe, das werde ich dir nicht erlauben. Aber ich freue mich natürlich über dein Angebot.« Rhapsody war erstaunt. »Was willst du denn damit sagen? Kommt sonst noch jemand? Ist Ashe in der Nähe? Oder Anborn?« »Nein, ich fürchte nicht. Das ist eine Schlacht, die ich allein zu schlagen habe. Sie ist ein Teil meines Amtes.« Rhapsodys Stimme klang sanft, aber der Unterton der Besorgnis war nicht zu überhören. »Llauron, das ist lächerlich. Deine Stärke ist dein Geist, deine Weisheit, aber nicht dein Körper. Außerdem ist es meine Pflicht, in solchen Fällen Beistand zu leisten. Aus diesem Grund habe ich schließlich mein Schwert. Geh einfach zu Khaddyr und sage ihm, dass ich gegen ihn oder Lark kämpfen werde. Ich hoffe, es wird der Bastard persönlich sein, denn ich habe noch eine Schuld mit ihm zu begleichen mit Zins und Zinseszins. Darauf freue ich mich wirklich.« »Hör mir zu, Rhapsody«, sagte Llauron mit befehlendem Ton in der Stimme. »Ich werde nicht um deinen Beistand bitten. Du begreifst nicht die Feinheiten meines Amtes. Das ist ein Kampf, den ich allein auszufechten habe. Ich will trotzdem, dass du etwas für mich tust.« »Sag, was es ist, Llauron.« »Du musst meine Zeugin sein und als Botin dienen, wenn es vorbei ist. Was immer du siehst, musst du in allen Einzelheiten berichten. Davon hängt das Schicksal des filidischen Ordens ab. Als Benennerin garantierst du dafür, dass du die Wahrheit sagst.« »Natürlich, aber...« »Du musst auf dein Schwert einen heiligen Eid schwören, dass du dich hier nicht einmischen wirst, egal was geschieht. Halte dich von dem Kampf fern.« »Bist du verrückt geworden?«, keuchte Rhapsody, bevor sie ihre Worte oder ihren Zorn mäßigen konnte. »Llauron, ich bin für solche Situationen ausgebildet worden, und zwar von dir selbst. Diese ganze Sache ist verrückt; du bist erschöpft und krank. Bitte, geh einfach fort und lass mich die Dinge in die Hand nehmen.« »Rhapsody, die Zeit wird knapp. Hör mir zu. Entweder schwörst du jeglicher Einmischung ab und bist meine Zeugin, oder ich bin gezwungen, dich von dem Kampf zu verbannen. Hier sind meine Kräfte stärker als deine, meine Liebe. Ich kann dich aus diesem Wald verbannen, aber dann verdammst du mich dazu, die Sache allein und ohne Herold oder Freund durchzustehen. Ich glaube nicht, dass du das willst, oder? Würdest du, eine Benennerin und lirinsche Sängerin, mir im Angesicht des Todes die Freundschaft verweigern?« Rhapsody erzitterte. »Nein.« »Das hatte ich mir gedacht.« Llaurons Gesicht und Stimme wurden wieder sanft. »Ich erkenne deine selbstlosen Absichten an, meine Liebe, aber das hier ist eine vorherbestimmte Angelegenheit, und du kannst kein Teil davon sein. Du würdest alles entehren, was mir heilig ist, wenn du deinen Eid brächest und in irgendeiner Weise an dem Kampf teilnähmest. Hast du das verstanden?« Sie senkte den Blick; ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ja.« »Gut, gut. In Ordnung, wir nehmen die Herausforderung an.« Rhapsody versuchte es ein letztes Mal. »Zögere doch wenigstens ein bisschen«, sagte sie mit einem erstickten Flüstern. »Bitte, Llauron, verlange einen kleinen Aufschub. Stell dich erst, wenn du frisch, ausgeruht und auf dem Höhepunkt deiner Kraft bist.« Llauron lachte. Er streckte eine faltige Hand aus und streichelte Rhapsody sanft über die Wange. »Du bist so gut, meine Liebe«, sagte er, während ihm die Tränen aus den Augen rannen. »Bitte, Llauron, bitte.« Der Schmerz und die Tränen in ihren Augen ließen Llauron an einen Regenschauer im Wald denken, bei dem man hoch zum Blätterdach schaute. Er lächelte sie wieder an. »Mein Sohn ist ein glücklicher Mann«, sagte er sanft. Seine Stimme klang ernst. Ihr Gesicht verzerrte sich in Qual. »Ich werde deinen Sohn nicht mehr sehen, Llauron«, meinte sie traurig. »Ich habe getan, was du von mir verlangt hast. Wir haben uns getrennt.« Llauron wirkte überrascht. »Wie schade«, sagte er wie zu sich selbst. »Und das, nachdem ich ihm meinen Segen gegeben habe. Eine Schande. Es tut mir Leid, meine Liebe.« Rhapsodys Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen. Llaurons Worte mochten gut gemeint sein, doch sie rissen eine weitere Wunde in ihre Seele. Wenn er seine Bedenken aufgegeben hatte, bedeutete das, dass Ashe selbst sie als unwürdig erachtet hatte. Sie schluckte die Galle herunter, die in ihrer Kehle aufstieg, und zog ihr Schwert. »Bitte überlege es dir noch einmal«, bat sie ihn erneut. »Ich habe Angst, bald deinen Tod beobachten zu müssen, und ich habe geschworen, das unter Einsatz meines Lebens zu verhindern. Ich werde dafür verantwortlich sein.« »Ich entbinde dich hiermit von allen Pflichten«, sagte Llauron feierlich. »Ich bitte dich nur um eines, Rhapsody.« Sie nickte. »Wenn ich hier sterben sollte, will ich, dass du meinen Körper unverzüglich den Sternen und dem Feuer übergibst. Errichte einen Scheiterhaufen; es hat keinen Sinn, mich zurück zum Baum zu bringen. Befreie meine Seele mit dem Sternenfeuer der Tagessternfanfare. Und wenn du mir das Lied des Übergangs singst, werde ich dich anlächeln, wo immer ich mich befinden mag.« Er fuhr mit der Hand an einer goldenen Locke herab, die sich aus dem schwarzen Band gelöst hatte. Rhapsody brach in Tränen aus. »Bitte, tu es nicht.« »Rhapsody, es reicht. Reiß dich zusammen, mein Kleines.« Llauron stützte sich auf den weißen Eichenstab; das goldene Eichenblatt blitzte in der Sonne auf. »Knie nieder und lege deine Waffe vor mich.« Sie schluckte ihre Tränen herunter. Angst stieg in ihr auf. Sie fiel auf ein Knie und streckte ihr Schwert nach vorn. »Jetzt musst du bei allem schwören, was dir heilig ist, bei deinem Leben und auf dein Schwert, dass du meinem Befehl, dich nicht einzumischen, Folge leistest«, sagte er. Seine Augen glommen schwach in dem Licht, das auf sie fiel, als der Wind die dicksten Zweige zur Seite peitschte. Er wartete auf ihre Antwort. Nach einem Augenblick sagte sie: »Ich schwöre es.« Ein triumphierendes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, doch Rhapsody, die noch immer den Blick gesenkt hielt, sah es nicht. »Gut, gut. Und du wirst den Scheiterhaufen mit dem Schwert entzünden?« Sie hob den Blick. »Du erwartest nicht zu gewinnen, oder?« Die Traurigkeit in ihrer Stimme berührte ihn tief. »Im Gegenteil, meine Liebe«, sagte er beruhigend, »das ist das Einzige, was ich erwarte.« Aus der Ferne sah Ashe zu. Sein Mund wurde immer trockener, und seine Hände zitterten vor Wut. Er musste sich mit Gewalt davon abhalten, herbeizueilen, sein Schwert zu schwingen und alle zu töten. Selbst aus dieser Entfernung spürte er die Qualen, die seine Frau ausstand. Ihm wurde so übel, dass er sich übergeben wollte. Er tastete tief in sich selbst hinein, wo er den Teil seiner Seele spürte, der mit der ihren verbunden war, und versuchte mit aller Macht, sie zu beruhigen; doch er wusste, dass er sie nicht erreichen konnte. Der Drache in seinem Blut regte sich; er war unruhig, seit Ashe hier angekommen war. Die Drachenworte wisperten in seinem Kopf; hinter seinen Augen brannte es mit sengender Wut. Sie hat Schmerzen, flüsterte es zornig. Unser Schatz leidet Qualen; er weint. Wenn sich seine Wut entzündete, würde er vielleicht nicht mehr in der Lage sein, sich zurückzuhalten. Ashe zwang sich zu anderen Gedanken, aber es gelang ihm nicht. Als sein Zorn allmählich Feuer fing, spürte er, wie ein neuer Schrecken und eine neue Panik ihn durchströmten. Er rannte bis zum Rand der Lichtung. Das Grauen schnürte ihm die Luft ab. In der Ferne sah er eine weiße Rauchsäule über die Baumkronen in einen zornigen Himmel steigen in einen aufgewühlten Himmel, schwarz vor Widerwillen. Der Baum war in Gefahr. Nun explodierte seine brodelnde Wut zu einem Inferno aus scheußlicher Raserei. Er wusste, dass dieses Ablenkungsmanöver seine Aufmerksamkeit fesseln und ihn davon abhalten sollte, Llauron beizustehen. Die Dummheit dieses Plans fachte die Flammen seiner Wut nur noch stärker an. Wenn er nun seinem Zorn Luft machte, würden ihn alle auf der Lichtung sofort bemerken. Also schluckte er ein aufquellendes Brüllen herunter, doch die Erde hatte es bereits gehört und leitete es mit einem heftigen Beben durch den Wald. Er wusste, dass Rhapsody es spüren konnte, und er bedauerte, dass er ihr auf diese Weise noch mehr Unbehagen verschaffte. Er bahnte sich mit dem Schwert einen Weg durch das Unterholz, wie eine Lawine, wie der Wind, zog Kraft aus der Luft und der Erde, sammelte sie, wurde stärker, rannte mit der Schnelligkeit einer Windbö und der alles zermalmenden Kraft einer Meereswelle. Wenn er sein Ziel erreichte, würde er Verdammnis bringen. Khaddyrs Mitverschwörer würden den Lohn, den er ihnen versprochen hatte, nicht mehr erhalten. Llauron gab Rhapsody einen Augenblick Zeit, um sich zu fangen, dann kehrten sie auf die Lichtung zurück, wo Khaddyr wartete. Sie betrachtete ihn mit schlecht verhohlener Verachtung, doch sie begriff, dass sie unbedingt ein gelassenes Gesicht aufsetzen musste, was auch immer geschehen mochte. »Also gut, Khaddyr, Rhapsody hat versprochen, sich zurückzuhalten.« »Es freut mich, das zu hören. Ich habe nichts gegen dich, Rhapsody.« »Heute nicht«, antwortete sie mit ruhiger Stimme, die aber vor gefährlichen Untertönen brodelte. »Unser Tag wird noch kommen.« »Möchtest du jetzt dein Vorbereitungsritual ausführen?«, fragte Khaddyr Llauron. »Ich habe das meine abgehalten, während ich auf dich gewartet habe.« »Ja«, antwortete Llauron ohne eine Spur von Feindseligkeit. »Wenn du mich bitte entschuldigst, ich bin gleich zurück.« Während der ältliche Priester die Lichtung verließ, betrachtete Khaddyr Rhapsody von oben bis unten. Als er zufrieden feststellte, dass sie ihren Zorn im Griff hatte, trat er auf sie zu. Dabei senkte sie den Blick. Diese Geste bezauberte ihn. Sie war ein Zeichen der Ehrerbietung, und nach dem heutigen Tag erwartete er, sie regelmäßig zu sehen. Das Aufblitzen der Klinge war die einzige Warnung, stehen zu bleiben. Die Spitze ihres Schwertes durchbohrte den Boden nur eine Haaresbreite von seinen Zehen entfernt. Khaddyr hielt entsetzt inne. Wellen aus Übelkeit erregender Kälte durchströmten ihn; sie nahmen ihren Ausgang am Hals und strahlten von dort aus in seinen ganzen Körper aus. Als er darauf wartete, dass sich sein Körper erholte, begriff er, dass er nicht die geringste Bewegung gesehen hatte, mit der das Schwert in den Boden gerammt worden war. Rhapsodys Augen blieben weiterhin auf den Untergrund gerichtet. »Ich habe dir nichts zu sagen.« Khaddyr schluckte. Er bemühte sich, eine ruhige Stimme zu behalten; es wäre nicht gut, wenn ihn eine spätere Untergebene krächzen hörte. »Welche Feindseligkeit«, sagte er und versuchte es mit einem milden, aber maßregelnden Tonfall. »Warum bist du so voller Hass, meine Liebe? Dieser Kampf hat nichts mit uns beiden zu tun; es handelt sich um ein altes Ritual des Übergangs. Sicherlich hat Llauron es dir erklärt. Es ist nicht einmal ein Zeichen von Feindschaft zwischen Llauron und mir. Auf diese Weise wählt unsere Sekte den neuen Führer und frisches Blut.« »Wie ironisch«, entgegnete sie, während sie immer noch den Blick gesenkt hielt. »Welchen Ritus würdest du vollziehen, wenn du ihm deine Treue erweisen wolltest, Khaddyr ein zeremonielles Verbrennen seines Hauses, während er schläft?« Der Blick in Khaddyrs Augen wurde kalt. »Das ist ein beleidigender Vergleich.« Schließlich sah Rhapsody ihn an, und Khaddyr machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihre Augen brannten grün wie die frischen Triebe im Frühling, doch das Feuer in ihnen war heiß und weiß. »Das war noch geschmeichelt im Vergleich zu dem, was ich dir eigentlich sagen will, aber ich weigere mich, Llauron noch mehr zu entehren, als du es schon getan hast. Du bist gerade der Richtige, um sich über Beleidigungen zu beschweren. Du beleidigst meinen Verstand mit deinen schmierigen Lügen über die Riten des Übergangs. Glaubst du, ich kenne die gebräuchlichen Riten des Übergangs nicht? Llauron wurde durch die Rituale der Tanisten zum Fürbitter bestimmt, so wie du selbst zu seinem Tanisten wurdest. Es gibt niemanden in deiner Sekte mit einem Funken Selbstachtung, der glauben würde, die Herausforderung eines alten Mannes am Ende einer langen Reise könnte ein geeignetes Mittel zu Regelung der Nachfolge darstellen. Ich hatte geglaubt, die Filiden schätzen Weisheit und Ehre höher ein als körperliche Überlegenheit. Wie abscheulich.« Khaddyr schluckte seine Wut herunter. »Es tut mir Leid, dass du es so siehst, Rhapsody. Ich glaube, während unserer kurzen Bekanntschaft habe ich dir keinen Grund gegeben, so feindselig gegen mich zu sein. Ich habe dich aufgenommen, als du kaum mehr ein Mensch warst; ich habe dich Medizin gelehrt. Was habe ich getan, das in dir eine so große Bosheit gegen mich erzeugt hat?« Ihre glimmenden Augen verengten sich. »Zum Beispiel, dass du mich in Sorbold allein gelassen hast. Du wolltest, dass ich im Schnee sterbe. Hast du das schon vergessen? Es ist doch noch gar nicht so lange her.« Khaddyrs Gesicht erschlaffte; die Wut ebbte ab. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Rhapsody lauschte auf die Rhythmen und Töne seiner Stimme. Es war klar, dass er die Wahrheit sagte oder es für dieselbe hielt. Der Zorn in ihrem Blick verringerte sich, als sie Llauron näher kommen sah. Sie schaute Khaddyr wieder an. »Tu es nicht«, sagte sie schnell. »Bitte.« Khaddyr starrte sie wie versteinert an. Sie spürte, wie in ihm die Erregung stieg, als er den Blick über ihren Körper gleiten ließ. Vielleicht würde er eine fleischliche Bedingung stellen. Rhapsody hoffte es, denn das würde ihr einen guten Grund geben, ihn an Ort und Stelle zu töten. Doch als würde er von einer unsichtbaren Kette zurückgerissen, klarte sein Blick plötzlich auf und sein Gesicht verhärtete sich. Er wandte sich an den Fürbitter, der soeben wieder die Lichtung betreten hatte. »Bereit, Euer Gnaden?« Llauron stützte sich auf seinen Stab; das goldene Eichenblatt an der Spitze warf ein schimmerndes Nachmittagslicht auf den Schnee. »Ja, Khaddyr, ich bin bereit.« 51 »Kniet nieder.« Die fünf filidischen Priester, die Khaddyr begleitet hatten, knieten sich vor ihm nieder. Llauron, der neben Khaddyr stand, nickte Rhapsody zu, und auch sie kniete nieder, wobei sie den Blick abwandte, denn sie wollte nicht brennende Löcher in Llaurons Gegner bohren. Khaddyr sah Llauron an. Sanft sang der Fürbitter das Gelöbnis der Sekundanten vor. Unter der Schönheit seiner volltönenden Stimme schnürte sich Rhapsodys Kehle zu, aber sie hatte sich entschlossen, die letzte Träne schon geweint zu haben. Das Gelübde, mit dem Llauron die Sekundanten band, verlangte von ihr das Einverständnis, niemandem in dem filidischen Kreis vor dem nächsten Sonnenaufgang etwas anzutun. Lark schwor als Erste, gefolgt von den anderen Priestern. Schließlich gab auch Rhapsody ihr Wort und wünschte sich, sie wäre sofort mit ihm zu Stephen Navarne geritten. Mehr konnte sie nicht tun, um das Grauen abzuwehren, das sie zu verschlingen drohte. Die beiden Seiten zogen sich an Entgegengesetzte Stellen auf der Lichtung zurück. Als Khaddyr an ihr vorbeiging, schenkte er ihr ein letztes Lächeln. Rhapsody ergriff die Gelegenheit, um seinen Körper nach Anzeichen von Schwäche abzusuchen. Sie schloss die Augen und spürte ein winziges Ungleichgewicht in seinem Schritt; irgendwie belastete er das linke Knie stärker. Außerdem wurde sein Atem schneller, wenn er erregt war, und sie erkannte, dass sein Herz nicht so stark war, wie es hätte sein können. Sie gab diese Erkenntnisse an Llauron weiter, während er ihr seine Überkleider aus händigte und schließlich in der schlichten Robe aus ungefärbter Wolle dastand, die auch Khaddyr trug. »Versuche, auf sein linkes Knie zu zielen«, riet sie ihrem Lehrer und bemühte sich, zuversichtlich zu wirken. »Vielen Dank«, sagte Llauron. Er klang ernst, doch in seinen Augen blitzte es. »Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Alles wird gut. Falls aber doch ein Unglück geschieht, vergiss nicht dein Versprechen, den Scheiterhaufen anzuzünden.« Rhapsody nickte. Sie spürte, wie hinter ihr Khaddyr und die anderen ihre Positionen einnahmen. »Viel Glück, Llauron«, sagte sie und drückte ihm die Hand. »Wenn du ihn schnell genug tötest, schaffen wir es noch, rechtzeitig zum Abendessen bei Herzog Stephen zu sein.« Llauron lachte laut auf. Rhapsody sah die verwirrten Blicke von Khaddyr und seinem Gefolge und freute sich im Stillen darüber. Der Fürbitter küsste sie auf die Wange. »Reiß dich jetzt zusammen; zeig ihnen nicht, dass du Angst hast.« Rhapsody beobachtete ihn, wie er mit dem weißen Eichenstab in der Hand gegenüber Khaddyr Stellung bezog. Er hatte nichts über Ashe gesagt. Lark übergab Khaddyr ebenfalls einen Stab. Im Gegensatz zu dem glatten, geschliffenen Holz, aus dem Llaurons Stab bestand, der ein Geschenk von Elynsynos an einen seiner Vorgänger gewesen war, handelte es sich bei Khaddyrs Waffe nur um einen dünnen, rauen Zweig von einem Baum, der Rhapsody unbekannt war. Aber irgendetwas an ihm war beunruhigend vertraut, etwas, das sich in ihr Denken bohrte. Nachdem Lark ihrem Anführer die Waffe ausgehändigt hatte, kehrte sie zum Rand der Lichtung zurück, wo die Sekundanten wachsam warteten. Rhapsody war der Platz vor ihnen gewährt worden. Als Benennerin erwartete man von ihr, dass sie den Mitgliedern der Kirche sowie dem Staatsoberhaupt, in diesem Fall Stephen Navarne, einen wahrheitsgetreuen Bericht ablieferte. Sie fühlte sich unbehaglich, als Khaddyrs Gefährten einen Halbkreis um sie bildeten, doch falls etwas Unvorhergesehenes eintreten sollte, konnte sie sich ihrer Gegner entledigen, auch wenn sie von ihnen umzingelt war. Auf Llaurons Signal begannen die beiden filidischen Priester mit dem Kampf. Trotz des fortgeschrittenen Alters war Llauron flink und bewegte sich anscheinend mit derselben Leichtigkeit wie Khaddyr. Der gegnerische Filide war selbst kein junger Mann mehr, und Rhapsody bemerkte, dass für ihn jede Bewegung genauso anstrengend war wie für Llauron. Sie umkreisten einander, hielten die Stäbe bereit und suchten nach Fehlern in der Deckung. Rhapsody sah viele, die die beiden nicht ausnutzten, und kam zu dem Schluss, dass sie ihre Kraft für einen Großangriff oder eine bessere Gelegenheit aufsparten. Einen Moment später bewies ihr Khaddyr, dass sie den falschen Schluss gezogen hatte. Mit einem beeindruckenden Ausfall schlug er kurz hintereinander dreimal nach Llaurons Waffe, benutzte dabei abwechselnd beide Seiten seines Stabes und zielte beim dritten Angriff auf die Brust des Fürbitters. Llauron wurde voll getroffen und taumelte zurück. Rhapsody keuchte auf. Die Filiden schlössen den Ring enger um sie, da sie wohl befürchteten, die Sängerin könnte ihren Eid brechen. Sie starrte Lark an, und die Filidin trat sofort einen Schritt zurück. Llauron fuhr sich mit der Hand an den Brustkorb und holte mehrfach zitternd Luft, begleitet von einem abgerissenen Husten. Als sich Khaddyr ihm näherte, griff Llauron wieder nach seinem weißen Stab und parierte mit überraschender Schnelligkeit den zweiten Angriff seines Herausforderers. Er trieb Khaddyr zurück, schwang den Stab wie ein Schwert und schlug seinem Gegner damit die Füße weg. Khaddyr schlug hart mit dem Rücken auf dem gefrorenen Boden auf. Ein kleines Blutrinnsal tropfte zwischen seinen Lippen hervor und verteilte rote Flecken auf Llaurons Robe. Jetzt waren es die Filiden, die aufkeuchten. Diese Laute erregten Rhapsody unerwartet, während sie weiterhin dem Kampf aufmerksam folgte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als Llauron Khaddyr einen heftigen Schlag versetzte. Der jüngere Mann rollte sich auf die Seite, packte seinen Stab und rammte ihn aufrecht neben sich in den Boden. Llauron machte sich bereit, ihn zu töten. Plötzlich erfüllte ein scheußlicher Gestank die Lichtung. Es war ein Geruch, den Rhapsody schon kannte, aus Sepulvarta und den Kammern des Schlafenden Kindes; vor nicht langer Zeit hatte sie ihn auf der frostweißen Ebene von Orland wahrgenommen. Der Gestank war eindeutig. Die Sängerin riss die brennenden Augen voller Entsetzen auf. Der Stab, den Khaddyr in die Erde gesteckt hatte, erzitterte. Zuvor war er noch dünn und rau gewesen, doch jetzt bog er sich und rollte sich auf und streckte rasch Fortsätze in Llaurons Richtung aus. Schlangenartige Schlingarme schössen aus dem borkigen Stab, packten den Fürbitter und wickelten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit um ihn. Sie wanden sich wie Peitschen um seinen Hals, zogen sich zu und entlockten dem alten Mann mit ihrem Todesgriff ein tiefes, hässliches Krächzen. Dornen sprangen aus den Ranken und zerschnitten ihm Arme und Gesicht. »Nein!«, schrie Rhapsody und stürmte vor. Die Filiden fingen sie sofort wieder ein. Sie hatten auf diesen Augenblick gewartet. Sofort warfen sie Rhapsody zu Boden und zerrten sie aus der Lichtung, während sie vergeblich versuchte, auf Llauron zuzukriechen. Ihre Feuergabe drängte an die Oberfläche, ihre Haut verbrannte die Hände ihrer Gegner. Lark und die Männer ließen sie los und rieben sich die schmerzenden Hände. Ihre Überraschung gab Rhapsody die Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen. Sie legte die Hand auf die Tagessternfanfare, doch als sie den Griff berührte, schoss ein gewaltiger Schock durch sie hindurch. Das Schwert war in das Gelöbnis einbezogen, sich nicht einzumischen, und es hielt Wort. Das ganze Grauen beim ersten Kampf mit diesem dämonischen Gewächs des F’dor kehrte zurück. Jos tote Augen schwammen durch ihre Erinnerung. Rhapsodys Blick traf Llaurons, als die Filiden sie wieder packten und auf die Knie zwangen. Sein Gesicht war purpurn angelaufen und zu einer Maske tödlicher Überraschung verzerrt. Der alte Mann öffnete den Mund, als wollte er etwas entgegnen, doch dann schloss er ihn wieder. Er stieß einen letzten Seufzer aus und erschlaffte im Würgegriff der dämonischen Schlingpflanze. »Nein!«, keuchte Rhapsody; ihre Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern. Die Filiden ließen sie unsanft los, und sie fiel nach vorn auf den gefrorenen Boden; ihre Hände steckten bis zu den Knöcheln im Schnee. Sie kämpfte sich auf die Beine und rannte in die Mitte der Lichtung, wo Llauron lag und blind in den klaren Winterhimmel starrte. Die Schlingpflanze wurde undeutlich und löste sich in der frischen Brise auf, die mit eisigem Hauch über die Lichtung blies. Rhapsody sank zu Boden und nahm den Fürbitter in die Arme. Mit zitternder Hand tastete sie unter der wollenen Robe nach seinem Brustkorb, doch sie fand keinen Herzschlag. Seine Pupillen waren geweitet, und tief in ihnen bemerkte sie einen vertikalen Schlitz wie bei seinem Sohn, nur ruhend und fern. Sie hatte dies nie zuvor wahrgenommen. Sanft schloss sie ihm die toten Augen und beugte trauernd den Kopf über ihn. Nichts außer dem Pfeifen des Windes war auf der Lichtung zu hören. Die Winterbrise wirbelte ihr die Haare um den Kopf. Keine helle Seele trat hervor, um in das Licht aufzusteigen. Rhapsody schnürte es die Kehle vor Grauen zu. Er ist verdammt, dachte sie wehmütig; diese Erkenntnis drehte ihr den Magen um. Die Pflanze hat ihm die Seele geraubt, wie es auch bei Jo gewesen ist. Sie warf einen Blick zurück und sah, dass Khaddyr mit ausdrucklosem Gesicht hinter ihr stand. Er versuchte die Blutung an seiner Lippe mit dem Handrücken zu stillen. Schließlich sagte er: »Es tut mir Leid, Rhapsody.« Ihre Augen verengten sich. »Geh weg von ihm.« Khaddyrs Miene wurde kalt. »Es ist mein Recht als Sieger, den Leichnam zu untersuchen und seinen Amtsstab an mich zu nehmen.« »Rühr ihn nicht an.« Sie spuckte diese Worte so giftig aus, dass Khaddyr zusammenzuckte. Sie hob Llaurons Arm und ließ ihn wieder fallen. Er schlug schlaff in ihren Schoß. »Welche zusätzliche Untersuchung benötigst du noch?« Khaddyr nickte und versuchte immer noch, wieder zu Atem zu kommen. »Keine. Gib mir den Stab.« Rhapsody schaute unter Llaurons steif werdende Hand. Auf dem Boden darunter lag das weiße Zepter; das goldene Blatt hatte der Schnee begraben. Sie warf Khaddyr einen scharfen Blick zu und zog dann den Stab unter dem Arm des Fürbitters hervor. Sie warf ihn dem Sieger entgegen. Als er ihn auffing, brach auf seinem Gesicht ein strahlendes Lächeln aus. Hinter ihm ertönte ein Freudengeheul von den fünf filidischen Geistlichen. Khaddyr sah zu, wie Rhapsody aufstand, dann sagte er mit sanfter Stimme: »Es tut mir wirklich Leid, dass du das mit ansehen musstest, Rhapsody. Ich hoffe, du wirst eines Tages verstehen, warum ich gezwungen war, das zu tun.« »Das verstehe ich jetzt schon vollkommen«, erwiderte Rhapsody mit tödlich ruhiger Stimme. »Du bist die Hure des Dämons.« Khaddyrs Augen weiteten sich vor Entsetzen und verengten sich dann in Wut. Doch nach einem Augenblick lächelte er nur noch. Er deutete mit seinem neuen Stab auf ihren Bauch. »Welche Ironie«, sagte er sanft und grinste dabei abscheulich. »Nun, die Zeit wird es zeigen. Wir werden sehen, wer die Hure des Dämons ist.« Er gab seinen Gefährten ein Zeichen. Sie versammelten sich um ihn und bereiteten sich auf die Abreise vor. »Vergiss nicht, Rhapsody, dass es von dir abhängt, die Welt über meinen Sieg aufzuklären. Versuche, deine Arbeit als Benennerin besser als die der Iliachenva’ar zu machen.« Er lächelte sie noch einmal an, drehte sich dann um und ging. Sein Gefolge eilte hinter ihm her und versuchte mit dem gewaltigen Schritt eines Mannes mitzuhalten, dessen Einsatz gerade belohnt worden war. Rhapsody wartete, bis sie den schrecklichen Geruch von Khaddyrs Truppe nicht mehr roch, bevor sie sich wieder dem Leichnam zuwandte. Sie beugte sich zu ihm herab und berührte zärtlich die alten Hände, die im Griff des Todes und des Winterschnees allmählich abkühlten. Benommen wiegte sie seinen Kopf in den Armen und schaukelte ihn, als wäre er ein Kind, so wie sie es mit Jo getan hatte. Doch diesmal trauerte sie nicht nur um sich selbst, sondern auch um Ashe. Sie spürte den Riss in ihrem Herzen, als es wieder einmal in Scherben fiel. »Llauron«, flüsterte sie gebrochen. Der Wind fuhr ihr über das Gesicht; er fühlte sich trocken an, denn sie hatte keine Tränen vergossen. Sie hörte, wie Oelendras Stimme auf dem Wind zu ihr drang. Es klang so, wie der Ruf der Blutsverwandten für Anborn geklungen haben musste. Eine Stimme aus der Erinnerung. Die Iliachenva’ar ist eine geweihte Kämpferin ... eine Begleiterin oder Beschützerin der Pilger, Kleriker und anderer heiliger Männer und Frauen. Du musst all die beschützen, die dich brauchen, um Gott was immer sie darunter verstehen verehren zu können. Sie hatte versagt. In der Mitte des Winters setzte die Dunkelheit früh ein. Rhapsody stand auf dem Gipfel eines kahlen Hügels und wartete auf das Heraufdämmern der Sterne. Zum ersten Mal konnte sie nicht die Stimme erheben und sie begrüßen. Es war, als hätte die Musik ihre Seele verlassen, auch wenn sie wusste, dass sie die Klänge wieder finden würde, und sei es nur, um Llaurons Totenlied zu singen. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben. Der Scheiterhaufen, den sie errichtet hatte, war feucht; sie hatte unter dem Schnee nur sehr wenig trockenes Holz gefunden. Es war egal. Selbst ein lebender Baum würde sofort unter dem Sternenfeuer auflodern. Sie erinnerte sich an ihren Traum bei Oelendra, an den Nachtmahr, in dem sie das Sternenfeuer auf Llauron niedergeschickt und ihn bei lebendigem Leibe verbrannt hatte. Obwohl sie wusste, dass das unmöglich war, untersuchte sie seinen Leichnam noch mehrere Male, nur um sicher zu sein. Er war kalt und leblos, sein Gesicht weiß wie das Sternenlicht, in ewigem Schlaf, friedvoll auf seinem Bett aus Reisig und Brombeergestrüpp. Bei seinem Anblick tat ihr das Herz weh. Er hatte sich ihrer Beziehung zu Ashe entgegengestellt, hatte sie ständig an ihre Unwürdigkeit erinnert, doch er war auch freundlich zu ihr gewesen und hatte ihr geholfen, als sie Hilfe benötigt hatte. Weißt du, mein Sohn ist nicht der Einzige in der Familie, der dich liebt. In vieler Hinsicht bist du für mich wie eine Tochter. In ihrer neuen Heimat war er ihrem Bild eines Vaters am nächsten gekommen, und sie würde ihn wie ihren eigenen Vater betrauern. Sie versuchte, nicht an Ashe zu denken, während sie die herannahende Dunkelheit erwartete. Die Pferde schienen ihre Stimmung zu erkennen. Sie hielten sich ganz still und beobachteten sie, als sie geistesabwesend Llaurons Kleider faltete und in den Satteltaschen des Madrianers verstaute; sie sonderte nur ein Stück aus, an dem Khaddyrs Blut klebte. Als sie seinen Gürtel in die Tasche stopfte, spürte sie etwas Kaltes, das sie genauer untersuchte. Es war die winzige, mit Wasser gefüllte Kugel, die ein glühendes Licht enthielt: Crynellas Kerze, Merithyns erstes Geschenk an Elynsynos. Sanft löste sie die Kugel vom Gürtel und steckte sie zusammen mit Llaurons befleckter Robe in ihren Beutel. Sie gehörte nun Ashe; es war eine Hinterlassenschaft an die dritte und am schrecklichsten verfluchte cymrische Königsgeneration. Sie hoffte, sie werde ihm Trost spenden. Sie spürte nichts, nicht einmal Traurigkeit bei dem Gedanken, dass der Mann, der ihr Liebhaber gewesen war, nun zum Rächer seines Vaters werden würde. Die erste Person, die er dem Gesetz nach zu vernichten hatte, war Llaurons erfolglose Beschützerin, die Iliachenva’ar. Sie hoffte, auch diese Tat werde ihm Trost spenden. Zumindest würde es bei ihr so sein. Als schließlich ein Stern am Horizont erschien, zog Rhapsody die Tagessternfanfare und deutete mit ihr in den Himmel. Dann sprach sie wie in ihrem Traum den Namen des Sterns aus und rief sein Feuer herbei. Ein Lichtstrahl, heller als ein Blitz, schoss aus dem Himmel und rollte wie eine weiße und flammenfarbene Welle über den Scheiterhaufen auf der Hügelkuppe. Rhapsody stand in der Nähe und hoffte in ihrem Innersten, dass das Feuer auch sie verzehren würde, doch das Inferno schwappte über sie hinweg; die blendende Hitze erhellte ihr goldenes Haar wie ein Leuchtfeuer, das meilenweit zu sehen war. Der Grabhügel ging in Flammen auf, verkohlte Llaurons Körper in Sekunden und hob seine Asche in den Wind, wo sie wie schwarze Blätter tanzte, bevor sie in der Dunkelheit über dem Feuer verschwand. Rhapsody öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Sie schluckte wütend und zwang das Lied ihre Kehle hoch; die Melodie verbrannte ihr den Hals. Das Lied des Übergangs kam krächzend heraus und war kaum mehr als ein Flüstern. Sie sang, bis das Feuer niedergebrannt war und sich alle Spuren von Holz und Stoff in weißer, heißer Asche aufgelöst hatten. »Es tut mir so Leid, Llauron«, flüsterte sie. Nur der Winterwind antwortete ihr mit einem leisen Jammern, das ihr durch die Haare fuhr und in ihre trockenen Augen stach. Sie stand bis zum Morgen Wache und sah stumm zu, wie der Tagestern verblasste und es am östlichen Horizont dämmerte. Dann nahm sie eine Hand voll Asche aus dem erkalteten Scheiterhaufen und füllte sie in einen Sack, den sie dem Wallach um den Hals band. Sie saß auf und ritt der aufgehenden Sonne entgegen, um Stephen Navarne von Llaurons Schicksal zu berichten. Ashe wartete im Rauch der Schlacht. Im Morgenlicht war das Ausmaß der Zerstörung deutlich sichtbar. Er wusste, dass Rhapsody bald herkommen würde. Der Baum war drei Tagesreisen von der Stelle entfernt, wo Llauron gefallen war, doch sie würde sich beeilen. Die treuen filidischen Priester eilten in dem Kreis herum, kümmerten sich um die Verletzten und räumten die menschlichen Überreste aus Ashes Ein-Mann-Rettungsaktion fort. Der Überfall war mit erstaunlicher Geschwindigkeit zum Ende gekommen. Als Ashe eingetroffen war, hatte nichts mehr die Verwüstungen aufhalten können, die seine Wut mit sich brachte. Das Wissen, dass viele der Angreifer keinen eigenen Willen besaßen und unter dem Bann des Dämons standen, besänftigte seinen Zorn keineswegs. Rhapsodys Tränen hatten ihn in eine Raserei getrieben, die kein Halten mehr kannte. Nun konnte er seinen Vater spüren, wie er sich durch die Erde bewegte und im Wind lachte. Ist es das wert?, dachte er, als er das Bild der Vernichtung und des Todes betrachtete. Bist du jetzt zufrieden, Llauron? Wie viele Herzen müssen noch brechen, wie viele Leben enden, bevor deine Gier nach Macht gestillt ist? Der Wind umwirbelte ihn und spielte mit den Zipfeln seines Mantels. Ashe seufzte. Llaurons letzter Wunsch war gewesen, eins mit den Elementen zu sein. Es war unmöglich zu wissen, was ihm der Wind gerade zu sagen versuchte. »Bist du sicher, dass ich nichts für dich tun kann, Rhapsody?« Rhapsodys Blick begegnete dem von Herzog Stephen. Sie sah die Besorgnis in seinen Augen, war aber nicht in der Lage, sein Lächeln zu erwidern. »Ja«, sagte sie nur. »Es geht mir gut, vielen Dank. Bitte kümmert Euch um die Pferde. Falls es Euch möglich ist, mit Anborn Kontakt aufzunehmen, wird er Euch sagen, wie man mit ihnen umgehen muss.« Eine Haarsträhne fiel ihr in die Augen. Sie schob sie beiseite und sah zu der geschwärzten Hülse des einzelnen Glockenturms. Der kalte Wind fuhr durch die Glocken, die Navarne während des sorboldischen Angriffs gerettet hatten. Der Herzog ergriff sanft ihre Hand. Er fuhr mit dem Daumen über die kleine, vom Schwertgriff schwielige Innenfläche und war über die Kälte ihrer für gewöhnlich warmen Haut entsetzt. Ihr ansonsten so fester Griff war schlaff und matt. »Wohin wirst du jetzt gehen?«, fragte er mit tiefer Besorgnis in den Augen. »Zum Haus der Erinnerung«, antwortete sie nur. »Llauron hat mich um zwei Dinge gebeten: dass ich den Ausgang seines Kampfes mit Khaddyr verkünde, was hiermit geschehen ist, und dass ich mich um den Großen Weißen Baum kümmere. Für den Schössling habe ich ein Schutzlied gesungen, das den Baum ebenfalls geschützt haben sollte. Ich werde es wiederholen, um sicherzugehen. Ich würde zu dem Baum reisen, aber Gwynwald ist so weit entfernt, und ich bin nicht nach Westen, sondern nach Osten unterwegs. Es ist das Letzte, was ich für ihn tun kann, und ich werde es tun. Dann werde ich nach Hause, nach Ylorc, zurückkehren, wo ich hingehöre.« Herzog Stephen nickte. »Kannst du ein paar Tage hier bleiben und die Kinder besuchen? Sie haben schon nach dir gefragt.« Rhapsody schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das klug wäre«, antwortete sie. »Bitte überbringt ihnen meine Liebe.« Die Haut um die blaugrünen Augen zeigte Fältchen, als der Herzog von Navarne auch ihre andere Hand ergriff. »Du weißt, Rhapsody, dass du eigentlich zur Familie gehörst. Glaubst du, es wird eine Zeit geben, in der du mich einfach mit meinem Vornamen anreden wirst?« Rhapsody dachte über diese Frage so lange wie möglich nach. »Nein, mein Herzog«, sagte sie. Sie verneigte sich tief vor ihm, verließ seine Festung und lief in die peitschenden Arme des Winterwindes. 52 In der Grotte von Elysian, unter Kraldurge Der See von Elysian war nicht völlig zugefroren. Ashe war den ganzen Weg von Kraldurge hierher geeilt und entschied, dass es das Beste war, das Boot zu nehmen, und sei es nur, um Rhapsodys inneres Band zu der Grotte nicht zu stören. Sie würde ihn spüren, wenn er seine Wassermacht einsetzte, um hinüber zu der Insel zu gelangen, und das könnte sie verärgern. Vermutlich befand sie sich in einem Schockzustand, zweifellos in Trauer, doch wie zerbrechlich sie im Augenblick war, würde er erst wissen, wenn er sie sah. Er wollte es nicht riskieren, dass sie noch mehr litt. Das Haus war dunkel; nicht ein einziges Licht brannte hinter dem Fenster. Es schien, als wäre Elysian tot. Die Gärten waren braun vom Frost und das Licht im Turm erloschen. Ashe schluckte und ruderte schneller. Sogar das Lied, das die Kaverne erfüllt hatte, war verstummt, und die Wärme von Rhapsodys innerem Feuer fehlte völlig. Panik stieg in Ashe auf. Sobald das Boot das Ufer berührte, sprang er heraus und rannte auf das Haus zu. Er öffnete die Vordertür und eilte in die Diele, wo seine Sinne sie erfühlt hatten. Zunächst sah er sie nicht; es brannten keine Lampen, und der Kamin war kalt. Nur ein kaum merkliches Glimmern wehte durch den Raum. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er sie. Sie saß auf dem Boden vor dem Kamin und starrte verloren auf die geschwärzten Ziegel. Er fuhr mit seinen Sinnen über sie. Dabei schnürte sich seine Kehle zusammen. Sie hatte an Gewicht verloren, was sie sich nicht leisten konnte; ihr früher makelloses Gesicht war eingesunken, und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Ihre Augen verwirrten ihn am meisten. Sie waren zwar offen, schienen aber auf nichts gerichtet zu sein, und ihr Blick war trübe. Sie saß im Schneidersitz, hatte die Arme um die Brust geschlungen und die Hände unter die Unterarme geschoben. Er verfluchte sich dafür, dass er nicht gewusst hatte, wohin sie gehen würde. Er hatte sie zu lange allein gelassen. Als er auf sie zulief, sah sie kurz auf. Bevor er sie erreicht hatte, neigte sie den Hals ein wenig und zog den Kragen ihres Hemdes herunter. Gleichzeitig schob sie die Kette zur Seite. Ashe verstand diese Geste, und sie brach ihm das Herz. Sie machte sich freiwillig verwundbar und erwartete den Todesstreich. Bei den letzten Schritten ging er auf die Knie und warf die Arme um sie, als er sie endlich erreicht hatte. Er vergrub das Gesicht in ihrem Nacken, küsste sie immer wieder sanft und versuchte ihr wortlosen Trost zu spenden. Sie öffnete die Hand; Crynellas Kerze fiel heraus. Sie beugte sich noch tiefer und versteifte sich. Er erkannte an ihren Handlungen, dass sie seine Rache erwartete und er sie für ihr Versagen bei Llauron töten sollte. Bei diesem Gedanken drehte sich ihm der Magen um. Sie flüsterte etwas, das er niemals gehört hätte, wenn sein Ohr nicht dicht an ihren Lippen gewesen wäre. »Bitte beende es schnell.« Ashe packte sie bei den Armen und drehte sie um, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Mit den Augen sog er ihre verheerende Furcht auf. Er schüttelte sie leicht, und als ihr Blick sich kurz klärte, sah er sie mit aller Tiefe an, die er aufbringen konnte. »Hör mir zu, Aria. Es war nicht deine Schuld. Du hast nichts Falsches getan. Bitte, Rhapsody, lass nicht zu, dass deswegen etwas von dir stirbt. Bitte.« Sie sah auf den Boden und sagte nichts. Ashe nahm sie in die Arme, wiegte sie und versuchte, sie wieder zu sich zu bringen. Schließlich hob sie sanft an zu sprechen. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Ashe, es tut mir so Leid. Ich konnte es nicht aufhalten; ich konnte ihn nicht retten. Er hat es nicht zugelassen.« Der Schmerz in ihrer Stimme lockte ihm die Galle in die Kehle. Sie fuhr hastig fort: »Es war meine Aufgabe, ihn zu beschützen; das ist es, was die Iliachenva’ar tun muss. Ich habe mich entehrt, ich habe das Schwert und das Amt entehrt. Es tut mir Leid.« »Nein. Nein, das stimmt nicht, Rhapsody.« »Ich hätte Khaddyr erledigen sollen, bevor sie mit dem Kampf angefangen haben. Ich hätte diesen dämonischen Bastard ohne Schwierigkeiten töten können. Entweder steht er im Bann des F’dor, oder er ist der Dämon selbst. Es war meine Aufgabe, und ich habe versagt. Ich habe Schande über mich, Oelendra, die Götter und die Tagessternfanfare gebracht. Ich war unwürdig, und sie haben nicht auf mich gehört.« Sie erzitterte in seinen Armen. »Ich konnte deinen Vater nicht retten, Ashe. Es tut mir so Leid.« Ashe hielt es nicht mehr aus. »Das solltest du auch nicht, Rhapsody.« Sie schien ihn nicht zu hören. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und sah ihr in die Augen. Sie waren grüngrau und glanzlos. »Hast du mich verstanden? Ich habe gesagt, du solltest ihn nicht retten. Es war ein Streich. Llauron ist nicht tot. Man hat dich benutzt. Es tut mir Leid; ich wünschte, ich hätte es dir auf angenehmere Weise sagen können, aber du machst mir Angst. Du darfst nicht mehr glauben, dass du für all das verantwortlich bist. Und dass ich dir das Leben nehmen will...« Seine Stimme brach; er verstummte. »Ich liebe dich, ich liebe dich«, sagte er, als er wieder sprechen konnte. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder einen klareren Blick bekam und seine Worte in sie einsanken. Als sie schließlich begriff, spannte sich ihr Körper in seinen Armen. Sie drückte ihn fort und schaute ihn an. »Llauron ist nicht tot?« »Nein.« Er überlegte, welche tröstenden Worte er ihr sagen und wie er ihr die Sache erklären konnte, doch kein Ton kam über seine Lippen. Die Verwandlung in ihrem Gesicht nahm ihm die Worte. »Es war ein Streich?« »Ja.« »Das ist unmöglich«, sagte sie und stand auf. »Ich habe selbst den Scheiterhaufen angezündet. Ich habe die Totenklage gesungen.« Ashe schluckte und schmeckte erneut die Galle, die ihm bis in den Mund gestiegen war. »Ich weiß, Aria. Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht täuschen. Dein Sternenfeuer war notwendig, damit er seinen elementaren Zustand erlangen konnte, den er ohne dich nicht bekommen hätte.« »Was soll das bedeuten?« Er versuchte, sich an die Worte zu erinnern, die er ihr beim ersten Mal gesagt hatte in jener Nacht, an die sie keine Erinnerung mehr hatte. »Llauron war der Begrenzungen müde geworden, die ihm seine menschliche Existenz auferlegten. Sein Blut war zum Teil das eines Drachen, doch es schlummerte. Er wurde alt, krank und hatte Schmerzen, und er sah sich seinem Tod gegenüber. Er hätte in menschlicher Gestalt nicht mehr lange leben können. Doch er wollte seine Wyrm-Persönlichkeit ganz ausleben. Das Sternenfeuer, das du auf ihn herabgerufen hast, gab ihm die Kraft, seine Gestalt zu wandeln und ihn zu einem Drachen zu machen, so wie es auch bei mir der Fall gewesen ist. Es hat ihn beinahe unsterblich gemacht, wie Elynsynos, und ihm die Möglichkeit verschafft, eins mit den Elementen zu werden.« Sie dachte über diese Erklärung nach. Als sie begriff, verhärtete sich ihre Miene. »Warum hat er es mir nicht gesagt? Warum hast du es mir nicht gesagt?« Ashe sah fort. »Ach, das war es, oder? Das war die Erinnerung, die du mir an jene Nacht genommen hast, nicht wahr, Ashe?« Er konnte sie nicht anlügen. »Eine davon, ja.« »Es gab noch andere?« Sie seufzte bedrückt. Ihre Wut war noch nicht voll ausgebrochen, aber er spürte, wie sie unter der Oberfläche brodelte. »Was sonst noch?« Es schnürte ihm die Kehle zu. Er hatte in der Zeit ihrer Trennung nach jener wunderbaren gemeinsamen Nacht die Gefahr erkannt, die ihnen eine Heirat bringen würde. Ihre Seelen waren vereinigt. Wenn der F’dor dies herausfand, würde er Rhapsody benutzen, um ihn zu finden. Oder, schlimmer noch, wenn er als Erster entdeckt und getötet würde, wusste der F’dor, dass seine Seele nicht mehr vollständig war, da ein Stück davon inzwischen in Rhapsody lebte. Er würde sich auf die Suche nach ihr machen. Das Einzige, was sie schützte, war der Umstand, dass sie nichts von dieser Hochzeit wusste. Er war bereits zu der schrecklichen Erkenntnis gekommen, dass er ihr nichts von der Hochzeit sagen durfte, bis der Dämon tot war. Doch als sie nun zitternd vor ihm stand und unaussprechliche Kränkung und wilde Wut in ihren Augen wuchsen, hätte er nichts lieber getan, als ihr die Erinnerungen zurückzugeben, ihr zu sagen, dass er ihr Mann war, und sie auf jede erdenkliche Weise zu trösten. Doch er musste das alles für sich behalten. Die Gefahr war zu groß. »Ich kann es dir noch nicht sagen. Glaube mir, Aria, es gibt nichts auf dieser Welt...« »Dir glauben?«, unterbrach Rhapsody ihn. Ihr entfuhr ein ersticktes Lachen. »Verzeih mir, wenn ich das ein wenig ironisch finde.« »Du hast jedes Recht dazu.« Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich vor ihm zurück. »Aria, bitte ...« »Nenn mich nicht mehr so«, sagte sie ernst. »Ich bin nicht mehr deine Geliebte, Ashe. Ich bezweifle, dass die zukünftige Herrscherin der Cymrer das schätzen würde. Ich würde es jedenfalls nicht.« »Rhapsody...« »Warum, Ashe? Warum konnte er es mir nicht sagen?« Ashe seufzte. Er schaute ihr in die Augen; ihr Blick brannte in seiner Seele. »Llauron brauchte dich, damit du als sein Bote auftrittst. Er brauchte dich, damit du die Nachricht von seinem Tod glaubwürdig verbreitest, und das hast du getan. Da er der letzte mächtige Mensch war, der dem F’dor im Weg stand, war seine Hoffnung, dass sein angeblicher Tod den Dämon aus der Deckung locken würde.« »Aber das ist eine Lüge. Du hast eben noch gesagt, er sei gar nicht tot.« »Ich weiß.« »Und du kanntest seinen Plan?« Er senkte den Kopf. »Ja«, sagte er leise. Rhapsody schlang die Arme um den Bauch, als ob sie sich gleich übergeben müsste. »Du hast zugelassen, dass ich lüge, Ashe. Du hast zugelassen, dass ich etwas Unwahres glaube und es mit meinen eigenen Lippen im ganzen Land verbreite. Begreifst du eigentlich, was das heißt?« Er begriff es. Er nickte bloß. »Es bedeutet, dass ich keine Benennerin mehr bin. Ich habe meinen Eid gebrochen. Ich habe die Möglichkeit verloren, dass man mir glaubt. Meine Glaubwürdigkeit ist dahin.« Wut überkam sie; ihr Zittern wurde stärker und wütender. »Kannst du nachvollziehen, dass ich neben meiner Berufung auch mich selbst verloren habe? Dass ich wegen dieser Sache zu einer anderen Person geworden bin?« »Nein, Rhapsody, so wird es nicht sein, wenn du es nicht zulässt. Du hattest keine Ahnung; du hast die Wahrheit so weitergegeben, wie du sie gesehen hast.« »Dann ist es also in Ordnung, weil es eine unbewusste Lüge war?« Darauf wusste Ashe nichts zu erwidern. Rhapsody wandte sich von ihm ab und packte sich an den Kopf. Sie fuhr sich mit den Fingern grob durch die Haare und versuchte sich zu beruhigen. Ashe blieb ihr aus dem Weg, doch die Worte, die ihn beinahe erstickt hatten, kamen schließlich doch über seine Lippen. »Es tut mir Leid, Rhapsody. Ich liebe dich.« Sie hörte auf zu zittern, drehte sich wieder zu ihm um und verharrte still wie eine Statue. »Trotz der unglaublichen Ironie in deinen Worten glaube ich, dass du es ernst meinst.« »So ist es.« In seiner Stimme lag jetzt ein harscher Unterton, der von seiner zweiten Natur kündete. »Hör auf damit«, sagte sie sanft; ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern. »Du kennst mich nicht einmal mehr, Ashe; ich kenne mich ja nicht einmal mehr selbst. Außerdem bin ich der Meinung, dass die cymrische Dame, die du erwählt hast, deine völlige Treue und Hingabe verdient hat, welche nicht von Gedanken an eine andere Frau getrübt werden sollten. Oder?« »Ja.« Etwas in seinen Augen, ein tiefer Schmerz, erregte ihre Aufmerksamkeit. Nun wusste sie, dass er etwas vor ihr verbarg. »Was ist es, Ashe? Was hast du mir noch nicht gesagt?« Das Atmen fiel ihm immer schwerer. »Bitte frag mich nicht, Rhapsody.« Ihr Blick wurde ganz klar, und ihr Atem ging sacht und regelmäßig. »Du hast sie gesehen, nicht wahr?« »Ja.« Er wandte sich ab. »Sieh mich an«, befahl sie. Ashe schluckte und wandte sich ihr wieder zu. »Hast du ihr einen Heiratsantrag gemacht?« »Ja.« Was hätte er sonst sagen sollen? »Hat sie angenommen?« »Rhapsody...« »Sag es mir, Ashe«, meinte sie geduldig, aber fest. »Ich habe mehr Lügen gehört, als ich in einem Leben ertragen kann.« »Ja, sie hat angenommen.« Sie nickte wieder. Ashes Drachensinne bemerkten die Beschleunigung ihres Herzschlages und die leichte Röte im Gesicht, als sie sich wieder abwandte, sowie den Schweiß auf ihren Handflächen. Ihre Stimme verriet sie jedoch nicht. »Du bist also verlobt?« »Nein.« Rhapsody drehte sich überrascht um. »Nein? Was soll das heißen?« Ashe überlegte, wie er es vermeiden konnte, ihr die Wahrheit zu sagen, doch der Blick ihrer Augen machte seinen Vorsatz zunichte. »Sie hielt es für keine gute Idee, sich nur zu verloben.« Es dauerte eine Weile, bis sie seine Worte aufgenommen hatte. Als sie begriff, spürte es sein Drachensinn, auch wenn ihr Gesicht wiederum keine ihrer Regungen verriet. »Du bist verheiratet.« Ashe hüstelte. »Ja«, flüsterte er. »Rhapsody ...« Sie lächelte ihn an; es war ein tapferes Lächeln. Hinter ihren Augen erspürte Ashe keine kleine Explosion; es war, als ob feines Kristall zerplatzte. »Es ist in Ordnung, Ashe«, meinte sie tröstend. »Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. Wir haben schließlich beide gewusst, dass es so kommen würde.« Schließlich fand er seine Stimme wieder. »Rhapsody, es gibt vieles, was du nicht verstehst. Wenn der Dämon tot ist, werde ich dir alles sagen.« »Das ist weder nötig noch ratsam, Ashe«, sagte sie freundlich. »Du schuldest mir nichts mehr. Du hast es nie getan. Aber du schuldest ihr etwas. Sie hat Anspruch auf deine ganze Aufmerksamkeit. Verschwende sie bitte nicht an mich. Ich brauche sie weder, noch will ich sie haben.« Er stellte sich so aufrecht hin, wie es ihm möglich war. »Wenn das hier vorbei ist...« »Wenn das hier vorbei ist, habe ich vor, den cymrischen Rat einzuberufen. Es ist vermutlich das Beste, wenn du ernsthafte Vorbereitungen triffst, um die Regentschaft zu übernehmen, Ashe. Der Rat wird dich zweifellos dazu drängen. Dein Leben wird anders und besser werden.« »Wenn der Dämon tot und die Ratsversammlung vorbei ist, werde ich dich meiner Frau vorstellen, und dann wirst du es verstehen.« »Wir werden sehen«, sagte Rhapsody unverbindlich. »Ich bin sicher, dass ich sie früher oder später kennen lernen werde. In der Zwischenzeit gehe ich zurück nach Tyrian. Ich glaube, es wäre gut, wenn ich die verschiedenen lirinschen Gruppen wieder zusammenbringen könnte. Auf deinem Weg zur Ratsversammlung solltest du Halt in Tomingorllo machen. Dort besagt eine Legende, dass die Lirin den cymrischen Herrscher als ihren Regenten anerkennen und sich mit den Cymrern vereinigen werden, wenn es ihm gelingt, die Teile des reinen Diamanten, aus denen nun das Diadem der Lirin besteht, wieder zum Leben zu erwecken. Das wäre gewiss ratsam, wenn du Rassenhass und Grenzstreitigkeiten unterdrücken möchtest.« Er nickte. »Dann werde ich dich dort treffen.« »Nein, ich werde schon in Ylorc sein. Sobald ich das Hörn geblasen habe, muss ich in Canrif bleiben, bis der ganze Rat zusammengetreten ist. Ich werde also nicht dort sein, Ashe; es wird für dich und deine Gemahlin nicht peinlich werden.« Ashe seufzte und sagte einen Moment lang nichts. »Kann ich noch etwas für dich tun, Rhapsody?« Ein trauriges Lächeln flog über ihr Gesicht. »Ja, ich glaube, da gibt es etwas, das du für mich tun könntest.« »Was immer es ist, sag es.« Sie sah ihn nachdenklich an. Der Ausdruck in ihren Augen enthielt weder Wut noch Hass, doch Ashe erzitterte unter der Kälte. Es war ein Blick völliger Resignation. »Du kannst gehen«, sagte sie nur. »Ich will dich jetzt nicht mehr sehen. Ich will dich nicht mehr sehen, bis der Rat zusammentritt. Und danach will ich dir vielleicht nie wieder begegnen. Ich wünsche dir alles Gute, Ashe; das wünsche ich dir wirklich, und du hast meine besten Wünsche für eine lange und glückliche Ehe, aber bitte geh jetzt.« Ashes Gesicht wurde länger, als Rhapsody es je bei einem Mann für möglich gehalten hätte. »Aria, ich ...« »Hör auf«, sagte sie mit fester Stimme. »Du hast mich gefragt, was du für mich tun kannst, und ich habe es dir gesagt. Es ist mir nicht leicht gefallen. Bitte geh.« »Ich kann nicht gehen, wenn du so wütend bist, Rhapsody.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch der Ausdruck ihrer Augen änderte sich nicht. »Warum nicht? Du machst alles nur noch schlimmer. Ich bin immer noch deine Freundin und Verbündete, und wenn du zum Herrscher gewählt wirst, werde ich deine treue Untertanin sein. Wenn du die Cymrer vereinigen willst, werde ich dir auf jede erdenkliche Weise helfen. Aber im Augenblick erinnert mich dein Anblick nur an all die Lügen und Machenschaften, die die Cymrer in ihren schrecklichen Krieg getrieben haben. Vielleicht liegt es an der Natur deines Volkes, auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann. Die Geschichten, die ich über den Seren-König gehört habe, haben stets seine große Wahrheitsliebe und seine Achtung vor der Einheit hervorgehoben. Vielleicht hat es der Dämon allen unmöglich gemacht, ehrlich zu sein, aber irgendwie glaube ich, der Einzige, der alle entschuldigt, bist du. Inzwischen begreife ich, warum Oelendra angeekelt den cymrischen Hof verlassen hat und für immer bei den Lirin leben wollte. Ihr als Volk seid unfähig, die Wahrheit zu sagen, besonders euch selbst gegenüber.« Sie hielt inne, als der betroffene Ausdruck in seinem Gesicht unerträglich für sie wurde. »Es tut mir sehr Leid, Ashe«, sagte sie. In ihrer Stimme lag Mitgefühl. »Es tut mir Leid, dass du dazu verdammt zu sein scheinst, ein Leben in ständiger Selbsttäuschung führen zu müssen zusätzlich zu der Täuschung durch die anderen. Achmed hatte Recht. Es war meine Selbsttäuschung anzunehmen, dass es eine hoffnungsvolle Antwort auf dieses ganze Durcheinander gibt. Ich vermute, ich bin eine echte Cymrerin; mögen die Götter mir helfen. Ich wünschte mir, fern von alledem zu sein. Ich weiß, dass ich keine Benennerin sein könnte, wenn ich kein ehrliches Leben führte, aber da das nicht länger meine Berufung ist, möchte ich den Rest meines Lebens wenigstens ehrenhaft hinter mich bringen. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht, um dir und deinem Vater zu helfen. Jetzt will ich nichts weiter als Frieden. Bitte komm nicht zurück.« Ashe schluckte die Tränen und die Galle herunter, die wieder in ihm aufstiegen. »Rhapsody, ich hoffe, du weißt, dass ich dich nie verletzen wollte, was immer ich auch getan habe.« Er verstummte, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Dieses Gesicht hatte bei seiner Ankunft unendliche Schmerzen und Sorgen ausgedrückt und war inzwischen zu Ekel und Abscheu übergegangen. Sie hasst mich, dachte er, und einen Moment lang befürchtete er, der Drache in ihm könnte sich erzürnen, doch selbst dieser Teil seiner Seele vermochte ihr nicht das Recht auf ihre Gefühle abzusprechen. »Was soll ich denn sagen, Ashe? Dass alles in Ordnung ist? Du hast mich verletzt. Ich werde es überleben. Das war das Erste, was Achmed mir beigebracht hat: runter mit dem Kinn, denn man wird dich verprügeln. Erwarte nichts anderes und sei auf der Hut. Eigentlich ist es meine Schuld. Ich vergesse andauernd, dass der Ausgang unvermeidlich ist, und kümmere mich zu wenig um meine Deckung. Ich denke, du wirst jegliche Achtung vor mir verlieren, wenn ich dir sage, es sei wieder alles in Ordnung. Ich weiß, dass ich auf alle Fälle meine Selbstachtung dabei verlieren würde. Ich will keine einzige Sekunde meines Lebens mehr damit verbringen, dir zuzuhören, wie du dich dafür entschuldigst, dass du mich belogen, gegen die Wand geworfen oder erschreckt hast. Bitte lass es auf sich beruhen, Ashe. Geh zurück zu deiner Frau, damit ich mich erholen kann. Früher oder später wird alles vorbei sein. Bitte geh jetzt.« »Rhapsody...« »Geh«, sagte sie sanft. Sie ging zur Treppe und stieg langsam nach oben. »Auf Wiedersehen, Ashe. Möge dein Leben lang und glücklich sein. Bitte schließ die Tür hinter dir.« Sie ging nach oben auf die Turmstube zu. Ashe sah ihr nach. Er spürte, wie sie sich zum Fenster begab, im Fenstersitz saß und darauf wartete, dass er sein Boot bestieg und Elysian für immer verließ. Er ging zum Kamin und öffnete die Tür daneben, hinter der das Holz gestapelt war. Rasch machte er Feuer für sie. Er wollte sie nicht allein in dem kalten Haus zurücklassen, dessen eisige Atmosphäre mehr von den Ereignissen in ihrem Leben als von den winterlichen Temperaturen herrührte. Dann hob er Crynellas Kerze vom Boden auf. Sie hatte dieses Erinnerungsstück für ihn mitgebracht. Selbst in ihrer elenden Lage hatte sie an ihn gedacht. Ein Kloß saß ihm in der Kehle, als er zusah, wie das Holz Feuer fing. Rhapsody hatte nicht einmal die Bedeutung dessen erkannt, was sie getan hatte. Trotz Khaddyrs Vermutung, dass alle Amtsgewalt in Llaurons Eichenstab steckte, befand sich diese tatsächlich in dem Schmuckstück, das sich in seinem Gürtel befunden hatte: in dem alten Gemisch aus Feuer und Wasser. Das Amt des Fürbitters lag jetzt bei Ashe. Als die Flammen aufloderten, verließ er das Haus und ging zum Boot, ohne zurückzusehen. Als er sich schließlich in einiger Entfernung vom Ufer befand, drehte er sich nach Rhapsody um, die ihn von dem Bogenfenster aus beobachtete. Er streckte eine Hand in die Luft und hielt die Wasserkerze hoch. Sie winkte ihm zu, als die Dunkelheit der Kaverne ihn allmählich schluckte. Er atmete flach und konzentrierte sich darauf, seine Wut unter Kontrolle zu halten, bis er die andere Seite des unterirdischen Sees erreicht hatte. Später in der Nacht erglühte der Himmel über der sorboldischen Ebene in blutigem Licht; es war wie die Ruhe vor einem Sturm. Donner rollte durch das Firmament, und die Bolg, die vom Rand der Zahnfelsen aus zuschauten, suchten hastig Unterschlupf, als das Feuer aus dem Himmel regnete, das Land versengte und die Luft in beißenden Staub verwandelte. Im fernen Wald, in der Bettkammer seiner neuen Behausung, erwachte der Fürbitter Khaddyr schweißgebadet aus einem Traum beruhigender Dunkelheit. Er fühlte die Verheerung des Landes unter dem Atem des Drachens. Der Baum spürte jede knisternde Flamme, die sich auf die Erde stürzte und alles in Brand setzte. Und in seinem Herzen wusste Khaddyr, dass der Drache ihn suchte. 53 Gwylliams Gruft, Ylorc Als Rhapsody die alte Bibliothek betrat, war sich Grunthor einen Augenblick lang sicher, dass sie ein Geist war. Er widerstand dem dummen Drang, sie wild zu umarmen, und stieß stattdessen nur hörbar die Luft aus, schob den Teller mit dem Schinken beiseite, an dem er genascht hatte, und kam still zu ihr herüber. Im Abstand einer Armeslänge hielt er vor ihr inne. »Willkommen daheim, Gräfin. Hatte schon gedacht, du hättest den Heimweg vergessen.« Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war dünner geworden, seit sie vor vielen Monaten fortgegangen war. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen, doch die dramatischste Veränderung lag in den Augen selbst. Sie waren klar, wie sie immer gewesen waren, doch etwas lag in ihren Tiefen. In der Hand trug sie eine Kapuze aus ungefärbter Wolle wie jene, welche die filidischen Priester trugen. Sie hatte einen braunroten Fleck. »Ich habe Blut von jemandem, der möglicherweise der Wirt des Dämons ist; vielleicht steht er auch nur unter seinem Bann«, sagte sie ohne weitere Umschweife. »Es tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, es herzubringen.« Achmed stand von dem Tisch neben dem Sprech- und Lauschapparat auf, dessen Pfeifen sich durch die Berge wanden und durch die er soeben neue Wehrverpflichtungen bekannt gemacht hatte. Bei ihren Worten summte seine Haut genau so stark wie damals, als sie ihm die Blutsteinphiole gegeben hatte. Sein Herz hämmerte. Der tiefe und feste Hass in seinem Blut loderte mit mörderischer Wut auf, doch er war nicht sicher, ob der Grund dafür seine Gier nach dem F’dor oder Rhapsodys unglaubliche Erschöpfung und Müdigkeit war, wo sie doch noch vor kurzem so gesund und zufrieden gewirkt hatte. Still verfluchte er sich dafür, dass er sie allein nach Bethania hatte gehen lassen. »Was ist auf der Hochzeit geschehen?«, wollte er wissen. »Tristan und Madeleine wurden verheiratet.« »Verärgere mich nicht. Was hast du in Erfahrung gebracht?« Rhapsody gab ihm die Kapuze, wandte sich um und wollte gehen. »Nichts über die Bolg oder irgendwelche Angriffspläne. Es tut mir Leid, dass ich in dieser Mission versagt habe. Aber es ist gut, wieder zu Hause zu sein. Übrigens sind die Leichname, die am Griwen hängen, ein entzückender Schmuck. Musstest du sie wirklich so drapieren, dass es aussieht, als würden sie miteinander Sodomie treiben?« Der Sergeant und der König tauschten einen kurzen Blick. Während Achmed fort gewesen war, hatte Grunthor die Bolg-Soldaten dabei überrascht, wie sie den Haufen mit den aussortierten Waffen durchsucht hatten. »Aber klar doch«, meinte Grunthor. »Hätte noch schlimmer kommen können. Wird’s auch werden, wenn ich mehr von denen fange. Wird ’ne richtige Party da oben aufm Gipfel werden.« »Wunderbar. Wenn wir hier fertig sind, gehe ich zurück nach Elysian. Kommt zu mir, wenn es Zeit ist, den Dämon zu jagen.« Sie ging auf die Tür zu. »Warte ’nen Augenblick, Herzchen«, sagte Grunthor streng. »Wo willst du hin? Du bist den ganzen Winter weg gewesen und willst jetzt einfach so wieder abhaun? Das glaub ich kaum.« »Ich fürchte, ich bin im Augenblick keine gute Gesellschafterin, Grunthor«, antwortete sie mit gesenktem Blick. »Ich will nicht die Atmosphäre dämpfen und dir dein Abendessen verderben.« »Noch einen Schritt, und du bist mein Abendessen«, erwiderte Grunthor. »Und ehrlich gesagt bist du nie ’ne gute Gesellschafterin beim Essen gewesen. Hast immer auf deinen feinen Lirin-Manieren bestanden, wie keine Knochen auf n Boden werfen und mit Besteck essen. Setz dich, Herzchen. Ich will aufm Tisch sitzen und dich ansehn und dann entscheiden, ob ich’n Dessert will oder nich.« Er breitete die Arme aus. Rhapsody drehte sich um und warf sich in seine mächtige Umarmung. Sie blieb lange in seinem Griff und lauschte dem hämmernden Schlag von Grunthors Herzen; es war ein Rhythmus, den sie aus der Zeit gut kannte, als sie während ihrer endlosen Reise auf seiner Brust geschlafen hatte. Plötzlich wurden ihre Ohren von dem Spruch erfüllt, den Gwylliam einst dem Eroberer Merithyn und allen Flüchtlingen aus Serendair gegeben hatte und mit dem sie die Leute in der neuen Welt begrüßen sollten. Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land. Kommen wir in friedlicher Absicht, den Klauen des Todes entronnen, um in diesem schönen Land zu leben. Sie schüttelte den Kopf über den seltsamen Zeitpunkt, zu dem ihr dieser Gedanke gekommen war. Wie all jene, welche die Insel verlassen hatten, waren auch sie, Grunthor und Achmed der Umklammerung des Todes entronnen. Ob dieses neue Land ein neues Leben für sie oder etwas Schlimmeres als das bereithielt, was sie zurückgelassen hatten, wusste sie noch immer nicht zu sagen. Endlich ließ der Sergeant sie los, und sie setzte sich in einen Sessel auf der anderen Seite des Tisches, wobei sie den Teller mit dem Schinken zu sich zog. Kurz durchlief sie ein Zittern. Die Stelle, an der sie saß, war genau die, wo sie Gwylliams mumifizierten Leichnam gefunden hatten; seine leeren Augenhöhlen hatten zur hohen Decke gestarrt. Sie schüttelte den Gedanken ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Schinken. Achmed hielt das Stück Tuch hoch, das sie mitgebracht hatte. »Wem gehört das?« »Khaddyr.« Der Bolg schnaubte. »Das bezweifle ich. Er ist ein zu großer Weichling. Aber man kann nie wissen.« »Nein, man kann nie wissen. Wärest du so freundlich, mir zu erklären, was seit meiner Abreise in Ylorc geschehen ist?«, fragte sie, zog ein Messer aus dem Stiefel und schnitt ein Stück Schinken ab. »Draußen sieht es schrecklich aus; ich habe einen Moment lang geglaubt, ich wäre beim falschen Berg angekommen, als ich den aufgegebenen Außenposten beim Grivven gesehen habe. Ich hatte mir bereits Sorgen gemacht, bis ich an den Barrikaden vorbei war und die Musterung mitbekommen habe. Es müssen hundertmal so viele Wachen durch die Gänge patrouillieren wie bei meiner Abreise. Ich bin fünfmal angehalten worden. Woher kommen all diese Soldaten? Was ist mit den Schulen und der Landwirtschaft passiert?« »Wir sind wieder zu Ungeheuern geworden.« »Warum?« Achmed lehnte sich zurück und sah zu dem großen Drachenfresko an der Decke. »Ungeheuer werden den sich abzeichnenden Angriff besser überleben.« Rhapsody hörte auf zu kauen. »Von welcher Seite?« Der Bolg-König zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber du hast es selbst vorhergesehen.« Er fuhr mit der Hand durch einen Stapel mit Pergamenten und zog ein Stück Ölpapier hervor, das er ihr zuwarf. »Das habe ich von Llauron durch einen Vogelboten erhalten, während du weg warst.« Rhapsody legte ihr Messer beiseite, nahm das Stück Papier und hielt es gegen das Feuer. Sie runzelte die Stirn, während sie die winzige Handschrift las. Schließlich warf sie das Papier wieder Achmed zu. »Er war ein großer Lügner. So etwas habe ich nie zu ihm gesagt.« Die Bolg tauschten einen raschen Blick. »War?«, fragte Achmed. Rhapsody setzte sich in ihrem Sessel zurück und seufzte. »Habt ihr keine Nachrichten über Llauron von der Postkarawane erfahren?« »Nein. Was ist passiert?« »Khaddyr hat ihn nach dem Recht von Buda Kai herausgefordert, um seine Nachfolge anzutreten. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, dessen Sieger der neue Fürbitter ist. Llauron hat verloren.« »Interessant ausgedrückt«, bemerkte Achmed. »Ich habe bemerkt, dass du nicht die Worte ›er ist tot‹ gebraucht hast. Was also willst du damit wirklich sagen?« Rhapsody schob den Rest ihres Abendessens fort und steckte das Messer wieder in den Stiefel. »Ich bin für eine Weile in Elysian gewesen und habe versucht, mich von dem zu erholen, was ich gesehen habe. Ashe kam gestern dort an und hat mir gesagt, es sei nur ein Streich gewesen. Llauron habe die ganze Zeit gewusst, dass er herausgefordert werden würde, und war darauf vorbereitet. Es war für ihn eine Möglichkeit, das zu bekommen, was er haben wollte. Er hat es so aussehen lassen, als wäre er getötet worden. Ich finde es überraschend, dass er damit sogar Lark hinters Licht geführt hat, denn sie kennt sicherlich all die Kräuter, die er genommen haben muss, um einen todesähnlichen Zustand hervorzurufen. Es war schrecklich. Ich war sein Zeuge und Bote und bin danach sofort zu Herzog Stephen gegangen, weil er das nächste Staatsoberhaupt war. Ich habe ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass Llauron herausgefordert wurde und im Kampf starb. Nun ist Khaddyr der neue Fürbitter.« Sie hustete, als bei der Erinnerung bittere Galle in ihr aufstieg. Grunthor schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum hat er das getan?« »Weil er schon immer seine menschliche Gestalt hinter sich lassen und in eine elementare schlüpfen wollte in eine Drachengestalt, so wie es auch Ashe kann, zumindest teilweise, denn er trägt in der Brust einen Sternensplitter, den ihm Fürst und Fürstin Rowan eingesetzt haben. So wie Ashe vom Abgrund des Todes zurückgeholt wurde und dadurch sein ererbtes Drachenblut erwachte und in den Vordergrund trat, wollte auch Llauron dem drohenden Tod seiner sterblichen Hülle entgehen und in eine elementare Gestalt überwechseln, indem er sein Wyrmblut zum Leben erweckte. Er wusste auch, dass ich dem nie zugestimmt hätte, wenn mir klar gewesen wäre, dass er überleben würde. Er hat das Ganze geplant, seit er uns begegnet ist. Er hat mich benutzt, und ich habe ihm in die Hände gearbeitet.« Grunthor gab ihr eine Flasche und sah zu, wie sie tiefe Schlucke daraus nahm. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, rülpste dann laut auf Bolg-Art und erntete dafür ein Grinsen von beiden Männern. Schließlich lehnte sie sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Außerdem hoffte er, der F’dor könne kühner werden oder sich sogar zeigen, wenn er von seinem Tod erführe. Ich hasse es, dich enttäuschen zu müssen, aber alle Freudenfeste, die du vielleicht wegen der Nachricht seines Todes feiern möchtest, sind möglicherweise verfrüht. Mir ist klar, dass du ihn nicht gemocht hast.« »In dieser Hinsicht hast du Recht«, sagte Achmed und machte es sich mit seiner eigenen Flasche gemütlich. »Aber das ist kaum ein Anlass zum Feiern. Der Gedanke, einen weiteren Wurm wie Elynsynos irgendwo dort draußen im Äther zu haben, erscheint mir nicht gerade wie eine Quelle des Trostes. Aber ich vermute, jetzt ist er eher ein Verbündeter als in menschlicher Gestalt.« Rhapsody kniff die Augen zusammen. »Warum?« Der Bolg-König hielt mit der behandschuhten Hand das Blutstein-Gefäß gegen die glitzernden Kristalllaternen der Bibliothek. »Da nun die Sorgen des Lebens von ihm genommen sind, bleiben ihm nur die Dinge, die für ihn am wichtigsten sind. Was sind seine beiden Hauptziele?« »Den F’dor zu finden und zu töten sowie die Wiedervereinigung der Cymrer, wobei er am liebsten Ashe als Herrscher einsetzen würde.« »Richtig. Endlich stimmen seine Ziele mit unseren überein, zumindest teilweise. Es ist mir völlig egal, wer Herrscher über die Cymrer wird; ich vermute, Ashe ist so gut wie jeder andere.« Der Schock auf Rhapsodys Gesicht entlockte ihren beiden Freunden ein lautes Lachen. Nachdem sie die Fassung wieder erlangt hatte, setzte sie sich aufrecht hin. »Wie lange war ich fort?«, fragte sie verwundert. »Wollt ihr etwa sagen, dass die Wiedervereinigung der Cymrer eine gute Sache ist?« Achmed sah sie ernst an. »Das hängt davon ab, welche Gestalt sie annimmt. Die Länder, über die Gwylliam und Anwyn geherrscht haben, werden nie wieder unter einem einzigen Regenten stehen. Sorbold und Ylorc haben inzwischen ihre eigenen Führer, und es würde in einem Blutbad enden, wenn jemand versuchen sollte, sie zu entmachten. Roland ist in verschiedene Provinzen zersplittert. Gwynwald und Sepulvarta befinden sich mitten im Machtwechsel Letzteres sobald unser Freund, der Patriarch, des Lebens Weben hinter sich lässt. Auf dem gesamten Kontinent herrscht Chaos, und das macht ihn zu einem ausgezeichneten Jagdgebiet und Rückzugsort des F’dor. Je mehr Bündnisse geschmiedet werden, desto besser, wenigstens von meinem Standpunkt aus gesehen. Wenn die alten cymrischen Loyalitäten wiedererweckt werden, sind sie möglicherweise tief und altehrwürdig genug, um jede neue Bedrohung abzuwehren, die der F’dor für ein einzelnes Heer oder einen einzelnen Führer darstellen könnte.« Er trank aus der Flasche und stellte sie dann mit einem lauten Geräusch auf dem Tisch ab. »Außerdem ist Ashe ein so unfähiger Narr, dass er lediglich ein Strohmann sein wird und der Rest von uns sich selbst überlassen bleibt.« »Du gehst davon aus, dass die Cymrer Ashe auf dem Konzil wählen?«, fragte Rhapsody. »Es gibt eine ganze Menge königlicher Häuser, einschließlich all der Herzöge von Roland, die ebenfalls einen Anspruch auf die Herrschaft haben, Gwylliams Sohn Anborn sowie Edwyn Griffyth gar nicht zu erwähnen, falls Letzterer noch lebt. Es könnte unangenehmer sein, einen Anführer zu wählen, als für sich zu bleiben.« »Für sie vielleicht. Soweit es mich angeht, ist der größte Feind das Chaos.« Rhapsody nickte. »Mit Tyrian ist es dasselbe. Es war nie Teil des cymrischen Reiches, aber die Lirin waren mit Anwyn und der Ersten Flotte verbündet, was schließlich ihren Untergang herbeiführte. Sie bilden ein zerfallenes Königreich. Die Leute aus Tyrian sind von den Lirin des Meeres, der Städte und sogar jenen in Manosse getrennt, mit denen sie früher einmal starke Bande hatten. Ich weiß nicht, ob man sie in ein cymrisches Bündnis aufnehmen kann, aber es wäre sicherlich einen Versuch wert. Vielleicht wünschen sie eine Verbindung zu ihrem eigenen Besten.« Sie warf einen Blick auf die dunklen Regale, die endlosen Reihen von Manuskripten, Schriftrollen und Elfenbeinröhren, die uralte Handschriften enthielten. Achmed starrte sie an. »Du bist also auf dem Rückweg?« »Bist doch hier zu Hause«, protestierte Grunthor. Rhapsody seufzte. »Ich weiß es nicht mehr. Es war mein Plan, die Wiedervereinigung voranzutreiben. Ich habe mit Oelendra und Rial ausführlich darüber gesprochen. Aber da ich keine Benennerin mehr bin, weiß ich nicht, welche Fähigkeiten ich dazu mitbringe und ob ich überhaupt noch glaubwürdig bin. Ich bin dort eine Außenseiterin, ein Halbblut. Vielleicht ist es das Beste, wenn sie es unter sich selbst abmachen.« »Du sagst, du bist keine Benennerin mehr?«, fragte Grunthor. Sie lächelte ihn traurig an. »So ist das nun einmal. Ich habe gelogen, und es war eine Lüge in einem wesentlichen Bereich. Ich habe in einer wichtigen Angelegenheit etwas Falsches behauptet: in der Angelegenheit von Llaurons Leben und Tod. Ich habe meinen Eid verletzt. Alles, was ich von nun an sage, ist lediglich eine Behauptung, die jedermann aufstellen kann. Ohne die Kräfte, die ich aus dem Singen und Benennen gezogen habe, bin ich für die Lirin von nur geringem Nutzen. Meine Glaubwürdigkeit war bei ihnen mein größtes Kapital.« »Hrekin«, spuckte Achmed aus. »Du bist die Iliachenva’ar. Man sollte doch glauben, dass dir das bei ihnen Glaubwürdigkeit verschafft. Hör endlich auf, dich deswegen zu grämen. Ich habe eine Weisheit für dich. Hör gut zu: Wahrheit ist subjektiv. Llauron hat dir das bewiesen. Was genau hast du zu Stephen gesagt?« Rhapsody dachte kurz nach. »›Ich bringe Neuigkeiten. Eine Herausforderung nach dem Gesetz von Buda Kai wurde von dem filidischen Tanisten Khaddyr ausgesprochen. Der Kampf wurde bei zunehmendem Mond im Einklang mit den Gesetzen des Glaubens ausgetragen. Khaddyr hat gesiegt. Der Fürbitter Llauron ist tot. Nun trägt Khaddyr den Stab des Fürbitters.‹« Achmed schlug entschieden mit der Hand auf den Tisch. »Da hast du es. Der Fürbitter Llauron ist eindeutig tot. Wenn du stattdessen seinen vollen Namen ausgesprochen hättest, wäre es eine andere Sache, aber niemand würde bestreiten, dass das, was du gesagt hast, der Wahrheit entspricht.« Er lehnte sich nach vorn, um seinen Worten größeren Nachdruck zu verleihen. »Und selbst wenn das jemand täte, liegst du falsch. Deine Macht als Benennerin kommt von deinen Studien und deiner Ausbildung, nicht aber von deinem Eid. Wenn dein Lehrer nicht vor der Beendigung deiner Ausbildung gestorben wäre, hätte er dir genau das gesagt. Der Eid, den du abgelegt hast, schützt deine Kunst vor falschem Gebrauch; er verleiht dir aber keine Macht. Du hast die Macht immer noch. Es ist nur dein Gefühl für Ehre und Pflicht, das dich davor schützt, sie zu missbrauchen.« Die beiden Bolg sahen sie an, während sie wegschaute und überdachte, was er gesagt hatte; dann wechselten sie einen raschen Blick. »Du kannst es doch ausprobieren, Herzchen«, meinte Grunthor kurz darauf. »Geh zu den Lirin und sieh zu, wie du ihnen helfen kannst. Für diesen besonderen Kampf hast du ’ne Menge Waffen in der Hinterhand.« Schließlich hob Rhapsody den Blick und sah ihn an. »Willst du jetzt also doch, dass ich gehe? Nachdem ich endlich heimgekommen bin?« Achmed zuckte die Achseln. »Geh oder bleib; es ist ganz allein dir überlassen. Aber ich glaube nicht, dass du schrecklich begeistert davon sein wirst, wie sich die Dinge hier entwickelt haben. Ich musste die Schule, die Hebammenschulung und die landwirtschaftlichen Programme für den Export auflösen. Wir befinden uns mitten in den Kriegsvorbereitungen. Im ganzen Reich finden Aushebungen statt, sowohl von Männern als auch von Frauen. Die Kinder und Alten dienen als Versorgungstruppen. Die Schmieden arbeiten Tag und Nacht. Vermutlich war es während des Großen Krieges hier genauso; es war derselbe Wahnsinn, der zur Vernichtung der dhrakischen Kolonie führte. Ich bin mehr als glücklich, an einem friedlichen Bündnis teilzuhaben, aber ich bin auch an allen Fronten auf Krieg vorbereitet. Deine Vision hat mir klar gemacht, dass ich das sein muss. Ich werde dir das cymrische Hörn geben; dann ist es deine Entscheidung, ob du sie damit rufen willst oder nicht. Du kannst bleiben, wenn du willst, aber du musst begreifen, dass ich keinerlei Ablenkung von den Kriegsvorbereitungen dulde, nicht einmal von dir. An der Oberfläche und in den Augen der Welt scheinen wir tot zu sein. Es ist mein Wille, dieses Erscheinungsbild aufrechtzuerhalten, aber keinesfalls ihm zu entsprechen.« Er stand aus seinem Sessel auf und hielt den Blutsteinbehälter hoch. »Vielen Dank dafür«, sagte er kühl. »Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss ihn einsetzen.« Er schaute immer noch das kleine Blutbehältnis an und deutete auf Grunthor. »Bring mir das Hörn.« Sobald diese Worte ausgesprochen waren, erfüllten sie Rhapsodys Ohren und hallten leise in ihr wider. Die Worte wiederholten sich, dehnten sich, die Stimme wurde tiefer, wechselte ein wenig den Dialekt und wurde zu der Sprache, die man in dem alten Land gesprochen hatte. Ihr Essmesser fiel ihr aus der Hand, klapperte auf den Tisch und schlug auf den Steinboden. Bring mir das Hörn. Die Worte eines Königs, der nun mit der Phiole voller Blut vor ihr stand, sie anschaute, flüchtig wurde wie Rauch in einem unfühlbaren Wind, ersetzt durch dieselben Worte in einem tieferen Tonfall, erstickt vor Schmerz und Angst. Die Worte eines anderen Königs. Eines Königs, der dort gestorben war, wo sie nun saß. Bring mir das Hörn. 564 565 Rhapsody hielt sich am Tisch fest, während die Stimme in ihrem Geist tiefe Wurzeln schlug. Sie biss die Zähne zusammen, drehte den Kopf unter großen Anstrengungen Grunthor zu, der besorgt von seinem Stuhl aufgesprungen war, und schloss die Augen. Die Worte wanden sich durch ihren Geist und Mund. Bring... mir das ... Hörn! Um der Götter willen ... Beide Bolg fuhren unter dem Klang der Stimme zusammen. Es war eine Stimme, die sie nicht erkannten; die Stimme eines Mannes, der in Todesqualen keuchte. Schmerz zerfurchte Rhapsodys Stirn, und sie packte den Tisch noch fester. Anborn! Bareth! Irgendjemand... o Götter... Achmed streckte rasch die Hand aus und ergriff Grunthors Arm, als dieser auf Rhapsody zutreten wollte. »Lass sie«, sagte er knapp. Der Bolg-Riese schüttelte wütend seine Hand ab, tat aber nichts. Nein, keuchte Rhapsody. Mein gutes Volk ... bitte ... helft mir. Bringt mir das Große Siegel. Ich muss ... ich muss ... Sogar Achmed bekam Angst, als Rhapsody sich auf den Rücken rollte, auf dem Tisch zum Liegen kam, mit glasigen Augen die Decke anstarrte und keuchte. Das Siegel, sagte sie mit Gwylliams Stimme. Bitte ... das Große Siegel ... und Wasser, bitte, irgendjemand ... gebt mir Wasser. Die Bolg sahen einander an. Grunthor packte den Stuhl vor ihm so fest, dass der hölzerne Rücken zerbrach. Wie oft er auch Zeuge dieser Visionen wurde, so waren sie doch etwas, das er nie ertragen konnte, ohne die Fassung zu verlieren. Ein glasiger Ausdruck der Verwunderung legte sich über Rhapsodys Gesicht. Das kann nicht sein, sagte sie traurig. Sie verdrehte die Augen und starrte blind auf das gewölbte Firmament über ihr, in dem die kupfernen Schuppen des Drachenfreskos zwischen den kristallenen Sternen an der kobaltblauen Decke funkelten. Der Drache hielt die silbernen Klauen ausgestreckt. Ah, Anwyn. Schließlich hast du mich doch besiegt, sagte Gwylliams Stimme sanft und belustigt. Welch eine Ironie des Schicksals deine Schwestern aufbieten. Ich sterbe hier, unter dem grausamen Bild des großen kupfernen Wurms, den ich an dieser Stelle habe anbringen lassen, um deine Mutter zu ehren. Selbst in meinen letzten Augenblicken bin ich dazu gezwungen, dich zu sehen dieses Leben mit dem Bild von dir vor Augen zu verlassen. Die Farbe wich aus Rhapsodys Wangen; ihre Haut verblasste von rosigem Rot zu totengleichem Elfenbein. Als ihr Atem immer rauer wurde, bekam Achmed Panik. Er legte die Phiole beiseite, schoss um den Tisch herum, gefolgt von Grunthor, zog sie herunter und schlug ihr mit der linken Hand ins Gesicht. »Es reicht, Rhapsody«, sagte er ruhig. »Genug hör auf mit dieser Vision.« Sie sah an ihm vorbei, als ob sie hinter den Schleier des Hoen schaute. Ihre Lippen waren blutleer, blass und ausgetrocknet. Alles umsonst, sagte sie dumpf. Alles Licht floss aus ihren Augen. All meine... großen Taten, meine großen Träume. Umsonst. Hague, du hattest Recht. Du hattest Recht. Achmed schüttelte sie sanft und versuchte, die Macht ihrer Vision zu brechen, doch sie hatte sich fest in Rhapsody verankert. Hinter ihm atmete Grunthor flach und versuchte, ruhig zu bleiben. »Alles in Ordnung«, sagte Achmed zu dem Sergeanten. »Es muss bis zum Ende durchlaufen.« »Das Ende ist der Tod«, knurrte Grunthor. »Na los, Herzchen, komm zu dir, sofort.« Ich schaue in die Gruft der Unterwelt, flüsterte die raue Stimme. Aber es ist eine Gruft, die ... ich selbst erschaffen habe. Das Große ... Siegel. Anwyn ... vergib mir. Mein Volk ... vergib mir. Das Siegel... »Rhapsody...« Wir kommen in ... friedlicher Absicht ... den Klauen des Todes ... entronnen ... um in diesem ... schönen Land ...zu leben... Mit einem heftigen Keuchen erschlaffte Rhapsody in Achmeds Armen. Sie wurde ganz still. Dann kniff sie die Augen zusammen, und ihr Blick wurde klarer. Als sie in die angstverzerrten Gesichter ihrer Freunde blickte, seufzte sie tief auf. »Ich sollte mir wirklich eine andere Freizeitbeschäftigung zulegen«, sagte sie. Achmed schaute finster drein, schüttelte sie noch einmal kräftig durch, ließ sie dann los und nahm die Phiole in die Hand. »Was sollte dieser Unsinn über das Große Siegel bedeuten?« Rhapsody schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er hatte Angst; das ist alles, was ich gefühlt habe. Mit jedem Herzschlag floss das Blut aus ihm; er spürte, wie er stückweise starb. Welch eine schreckliche Empfindung. Ich hoffe, ich werde einmal rasch gehen.« Sie dachte über ihre Bitte nach, die sie an Fürst Rowan gerichtet hatte, und an sein Versprechen, ihr zu helfen, soweit es ihm möglich war. Diese Erinnerung beruhigte sie. »Jetzt kenne ich die letzten Worte des cymrischen Herrschers.« Achmed nickte. »Sie könnten sich eines Tages als nützlich erweisen.« Grunthor schloss sie in die Arme. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist mit dir?« Als sie nickte, sah er sie ernst an. »Na, das sollte dir so einiges über deinen Stand als Benennerin klar gemacht haben. Wünschte, du hättest Recht und’s war vorbei, aber nee, du willst mich wohl weiterhin mit diesen verdammten Anfällen zu Tode erschrecken.« »Glaubst du, dass er mit dem Großen Siegel das königliche Wappen gemeint hat?«, fragte Rhapsody Achmed. »Wenn ja, welches ist es? Es gibt zwei in den Schlafgemächern: das Wappen des serenischen Königshauses, das sich auch auf den Rückseiten der Münzen in der alten Welt befunden hat, und das über Anwyns Bett der Drache am Rande der Welt.« »Keine Ahnung«, erwiderte er und ging auf die Tür zu. »Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun. Wenn du nach Tyrian gehen solltest, wünsche ich dir eine gute Reise. Gib Bescheid, wenn du den Rat einberufst. Wir behalten das Hörn hier, bis du zurückkommst. Falls du vorhast, hier zu bleiben, halt dich außer Sicht weite. Ich will, dass jeder, der den Berg einnehmen will, nichts als einen Kadaver, eine Hülle sieht. Wenn er närrisch genug ist, einen Angriff zu wagen, soll er die Freuden, die ihm bei der Entdeckung des Inneren blühen, bis zur Neige auskosten.« Tief im Innern des Berges hatten die Bolg sorgfältig den Ankündigungen des Königs gelauscht und den Wechsel in den Einberufungen und anderen Befehlen bemerkt, die nun täglich zusammen mit anderen militärischen Anweisungen ergingen. Als die in bolgischer Sprache erteilten Anweisungen beendet waren, begaben sie sich wieder an ihre Arbeit und beachteten nicht die fernen Gespräche, die in menschlicher Sprache durch die Korridore drangen. Es war eine Sprache, die sie nicht verstanden. König Achmed besaß die Macht, den Berg zum Reden zu bringen, doch er tat es nicht immer in ihrer Sprache. Die Bolg wussten nichts von den Sprachröhren oder dem Horchapparat. Sie nahmen an, der König sei die Stimme des Berges und dessen Ohren. Er hatte die Herrschaft über die Erde unter ihren Füßen und die sie umgebende Luft angetreten. Mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt, von einem Gott beherrscht zu werden. Deshalb hörten die meisten Bolg nicht weiter auf das Gespräch zwischen dem König, dem Sergeant-Major und der Ersten Frau, das im Lärm der Schmieden und marschierenden Füße unterging. Doch die Finder lauschten ihm. Jedes Mitglied der geheimen Gesellschaft, jeder Bolg, der von einem unerklärlichen inneren Drang auf die Suche nach Willum-Dingen mit dem Siegel darauf getrieben wurde, stand wie verzaubert da, als die Stimme zum ersten Mal seit mehr Generationen sprach, als sie zählen konnten. Wie ihre Vorväter kannten sie sie nur aus alten Erzählungen, doch sie spürten in ihren Seelen einen Widerhall, in ihrem Blut einen Befehl, bis in die Knochen tief, schmerzlich in seiner Beharrlichkeit, unverständlich und unwiderstehlich. Bringt mir das Hörn. 54 In den Tunneln der Hand Der schwache Moder einer unterirdischen Behausung, der Geruch von Keimen, Sex und Urin, lag schwach über dem dünnen Staub. Grunthor hatte endlich die Angst vor den Tunneln überwunden, nachdem die Flamme den ganzen Weg bis zum Haus der Erinnerung ausgebrannt hatte. Er war daran gewöhnt, durch die Wüste zu streifen und mit seinem Gewicht und seinen Waffen gegen jeden Feind zu kämpfen. In den Tunneln aber war er nur selten ohne Begleitung wie heute. An diesem Ort, dem Zeigefinger der Hand, welche die Verknüpfung fünf alter cymrischer Tunnel darstellte, hatte die Erde etwas Todgeweihtes an sich. Er befand sich so tief im Innern des Berges, so weit entfernt von den Gebieten, in denen die Restaurierungsarbeiten vor sich gingen, dass es Jahre dauern konnte, bevor jemand an diesen Ort gelangte. Grunthor wäre niemals hierher gekommen, wenn er nicht das suchen würde, vor dem das Erdenkind Achmed gewarnt hatte. Sehr wahrscheinlich waren die Tunnel nichts anderes als die Kanäle des Abwassersystems, das in den tieferen Bereichen des cymrischen Labyrinths noch nicht in Stand war. Er war stundenlang blind umhergestolpert und hatte nach etwas gesucht, nach irgendetwas, doch er war auf nichts gestoßen, nicht einmal auf einen Hinweis dafür, dass jemand diese Tunnel benutzt hatte. Sogar die Fußabdrücke, die man im Schmutz auf dem Boden hätte sehen können, waren sorgfältig verwischt worden, falls sie überhaupt je da gewesen waren. Schließlich hatte er am Ende des Zeigefingertunnels eine trockene Zisterne passiert, eine von vielen an diesem Ort. Seine Haut summte leicht, als er an ihr vorüber ging. Er nahm den Schirm von seiner Laterne und hielt sie vor die bernsteinfarbenen Augen. Auf der Wand, inmitten von zerfallenden Flechten, befand sich der Abdruck einer Hand. Grunthor grinste breit und entblößte dabei seine makellos gepflegten Hauer. »Vielen Dank, Kleines«, sagte er. Er beugte sich tiefer über die trockene Zisterne. Ihre Zugvorrichtung war verstopft, unrettbar überwuchert von alter Vegetation und blockiert von allerlei anderen Hindernissen. Grunthor setzte die Laterne ab, packte den zerbröckelnden Stein auf der Zisterne und drückte ihn mit großer Kraft zur Seite. Er bewegte sich leicht so leicht, dass Grunthor beinahe gestolpert wäre und die schwere Steinplatte fallen gelassen hätte. Unter der Abdeckung der Zisterne befand sich ein weiterer dunkler und freier Tunnel. Der Sergeant packte den Griff der Laterne und kletterte hinein. Es war ein enger Gang, doch nach seiner Reise entlang der Wurzel war er an solche Schwierigkeiten gewöhnt. Grunthor kroch aus der Röhre, hielt die Laterne vor sich und trat hinaus in einen gewaltigen Hohlraum, der zweifellos einmal der Haupttank der Zisterne gewesen war. Das Laternenlicht enthüllte einen Hort von sowohl kostbaren als auch wertlosen Dingen, einen Schatz von Reliquien und Abfall aus Gwylliams Zeit. Haufen von Münzen aus Gold, Silber, Platin, Kupfer und Zinn waren genauso nachlässig zusammengekehrt wie verfaulte Blätter, während auf behelfsmäßigen Regalen Uhren, zerbrochene Schwertgriffe, Bettwärmsteine, sorgfältig zusammengerollte, trocken gehaltene Kleiderfetzen mit polierten Knöpfen, Essbestecke, Bürsten ohne Borsten, Medaillen, Ringe, Rangabzeichen, Tintenfässchen aus schwarzem Ton, goldene Trinkbecher, Bucheinbände, Töpferwarenscherben und unzählige andere Dinge standen; einige gehörten zum Kriegshandwerk, einige in den häuslichen Bereich, doch alle hatten etwas gemeinsam. Sie alle trugen das königliche Wappen von Serendair. Grunthor zog seinen gehörnten Helm aus und kratzte sich verwundert am Kopf. »Was soll das alles?«, murmelte er. Im Vordergrund, wie auf einem Ehrenplatz, standen vier Gegenstände, die vermutlich in neuer oder gar vor kurzer Zeit gefunden worden waren: ein Keramikteller, eine Münze wie tausend andere in diesem Hort, der zerkratzte Deckel eines Kästchens aus blau schimmerndem Holz und schließlich ein Nachttopf mit einem abgebrochenen Henkel. »Verdammich«, flüsterte der Sergeant. Er sah sich genau um und entdeckte schließlich hinter einer Reihe verrotteter Fässer mit dem königlichen Siegel auf den Zapfen einen schweren hölzernen Gegenstand, der wie ein Stundenglas aussah. Er hob ihn vorsichtig an und drehte ihn um. Auf dem Boden befand sich das Wappen auf einem matten Silberbeschlag mit getrockneten Wachsresten in der Gravur. Ein Siegel. Ein königliches Siegel. Bringt mir das Große Siegel. Rasch steckte Grunthor alle kürzlich entdeckten Dinge ein. Er kroch aus der Zisterne und verhüllte dabei seine Laterne. Kammer des Schlafenden Kindes Tiefe und unergründliche Stille erfüllte die Ruine des Loritoriums und verlieh ihm das Aussehen einer Krypta, wenn da nicht die Wärme des Flammenquells gewesen wäre, der in der Mitte der zerstörten Wege brannte. Es war eine kleine, sonnenhelle Flamme, die schwache, flackernde Schatten in das unterirdische Gewölbe warf. Die Stille war feierlich, nicht bedrückend. Selbst in der völligen Abwesenheit aller Geräusche lag etwas wie eine langsame und süße Musik. Die roten Winterblumen in Rhapsodys Hand leuchteten in dem schwankenden Licht. Sie hatte die letzten Blüten in den Gärten von Elysian gepflückt, nachdem sie das Haus vor ihrer langen Reise geschlossen hatte. Nun stand sie über dem Erdenkind und wunderte sich über dessen Schönheit und Wandelbarkeit. Die Haut war grau und wirkte poliert wie bei einer Statue; das Fleisch war braun und grün und rötlich und purpurn gestreift wie Marmor. Die Schwere der Gesichtszüge wurde ausgeglichen durch eine Zartheit, die gleichzeitig eine seltsame Schärfe hatte. Grasgrüne Wimpern ruhten unter Lidern, die durchscheinend wie Eierschalen waren. Sanft bedeckte Rhapsody das Schlafende Kind mit einer Decke aus Eiderdaunen, die sie aus Tyrian mitgebracht hatte, und wickelte die Ränder um den Mantel, den Grunthor ihm gegeben hatte, um es warm zu halten. Rhapsody legte die Winterblumen neben das Kind auf den Altar des Lebendigen Gesteins, auf dem es schlief. Sie beugte sich nieder und küsste vorsichtig die Stirn. »Von deiner Mutter, der Erde«, sagte sie leise. »Sogar in den kältesten, dunkelsten Tagen gibt sie uns Farben, an denen wir uns wärmen können.« Die Mundwinkel des Kindes verzogen sich leicht, entspannten sich wieder und erschlafften im Schlaf. Rhapsody streichelte das lange weiße Haar, das brüchig und trocken wie vom Frost gebleichtes Korn war, und erinnerte sich daran, dass es bei ihrer ersten Begegnung golden gewesen war und Wurzeln so grün wie das Sommergras gehabt hatte. Wie die Erde unter ihrem Tuch aus Schnee schlummerte, so schlief auch das Kind tief und friedlich. Die Worte der dhrakischen Großmutter kamen ihr wieder in den Sinn, als sie den kaum merklichen Atem beobachtete. Du musst dich um das Kind kümmern. Wie soll ich mich um es kümmern? Du musst jetzt sein amelystik sein. »Ich weiß, dass du sie vermisst«, sagte Rhapsody vernehmlich und glättete geistesabwesend das Laken. »Aber ihr Geist ist hier bei dir. Du kannst ihn um mich herum in der Kammer spüren.« Das Kind reagierte nicht darauf, sondern atmete weiterhin auf stete, hypnotische Weise. Rhapsody spürte, wie Wärme und Schläfrigkeit sie überkamen. Langsam und ohne nachzudenken streckte sie sich neben dem Kind auf dem Altar des Lebendigen Gesteins aus und legte dem kleinen Wesen die Hand auf das Herz, wie es die Großmutter sie gelehrt hatte. Es war ein seltsames Gefühl unter ihrer Hand. Da war kein wirklicher Herzschlag, sondern eher eine Schwingung, vielleicht aus den Schmieden und Minen, in Zielgerichteter Gleichmäßigkeit, vielleicht auch ausgehend von dem Herz der Erde unter dem Flammenquell. Beinahe klang es wie Atmen. Man hätte glauben können, dass das Kind unter der Berührung kalt oder hart wäre, doch die Sinne vermittelten ein anderes Bild: Das Kind gedieh an diesem warmen Ort, auf dieser Platte aus Lebendigem Gestein. Es strahlte Wärme, den Atem der Geschichte und den Geruch der Erde sowie des tiefen Berggesteins aus. Es war ein reicher, grüner Geruch, der dazu führte, dass Rhapsody, die nun neben ihm schlief, von ihrer Kindheit träumte. Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, kehrten alte Träume zu ihr zurück Träume über das Verlassen der bäuerlichen Gemeinschaft ihrer Kindheit, über das Bestaunen der Wunder jener Welt und die Suche nach dem eigenen Weg. Die Jugend, die Unschuld, die sie damals gehabt hatte, erneuerte sich in diesen Träumen, glättete die Sorgenfalten auf ihrer Stirn und ließ ihre Haut in der strahlenden Erregung eines jungen Mädchens an der Schwelle des Lebens erglänzen. Mit jedem Augenblick, den sie im Schlaf verbrachte, wurde sie erneuert. Als Achmed sie fand, im tiefen Schlummer neben dem Kind, waren alle Sorgen des Lebens aus ihrem Gesicht getilgt. Er stand lange Zeit über den beiden, verloren in melancholischen und zärtlichen Gedanken. Er hatte gewusst, dass jemand ins Loritorium eingedrungen war, und vermutet, um wen es sich dabei handelte. Er hatte sie während ihres Schlafes in dem dunklen, verschatteten Gewölbe beobachtet und darüber nachgedacht, dass dieser Ort dazu errichtet worden war, Reichtümer zu beherbergen, die er nie beherbergt hatte, doch nun gab es hier die beiden größten Schätze der Welt: zwei schlafende Kinder. Als er sie anschaute, verspürte er einen Zusammenprall von Erinnerung und Vision. Die Erinnerung, die in seinem Kopf pochte, war die an die Begegnung mit dem Rakshas, nach der sie dem Tode nahe am Boden gelegen und geschlafen hatte, blutlos und sich hartnäckig im Schatten des Freundes, den sie getötet hatte, an das zerbrechliche Leben klammernd. Die Vision betraf die unausweichliche Zukunft, in der sie, obwohl sie eine langlebige Cymrerin war, irgendwo liegen würde, nicht länger schlafend, sondern gestorben, wie alles Leben sterben muss steinern, ein Schatten ihrer selbst. Eine Welle des Grauens überschwemmte ihn wie das Feuer, das die Überreste der Kolonie verschlungen hatte. Er hatte Angst, dass dies die einzige Möglichkeit für ihn war, sie ganz für sich zu haben: im Tod. Und er wusste, dass er alles tun würde, um sie zu retten, auch wenn er dafür die ganze Welt opfern müsste. Wie sonst niemand auf der Welt verstand er die Zwänge, denen der F’dor ausgesetzt war, und wusste deshalb, warum es gute Gründe gab, sich zu fürchten. Als Rhapsody erwachte, spürte sie, dass er sie beobachtete, noch bevor sie ihn in den Schatten des Loritoriums bemerkte. Sie kannte dieses Gefühl gut; sie war schon tausendmal aus dem Schlaf erwacht und hatte festgestellt, dass er sie vorsichtig wie eine Jagdbeute ansah. Sie richtete sich auf, wobei sie sorgsam darauf bedacht war, das Kind nicht zu stören, erwiderte seinen Blick und fühlte sich wie so oft, als schaute sie durch den Spiegel der Welt und erblickte ihn darin, wobei sie niemals die Dunkelheit begriff, in der er lebte. In all ihrer Zeit zusammen hatte sie noch kein beständig offenes Fenster zu seiner Seele entdeckt; sein Atmen und Essen waren für sie immer noch ein Rätsel. In der Dunkelheit jedoch gab es manchmal ein Schlüsselloch, einen winzig kleinen Riss, den er zu seinen inneren Gedanken offen ließ, die ihn so rätselhaft machten. Er fühlte sich in der Dunkelheit sicherer; bei Tageslicht war es fast unmöglich, etwas aus seinen Worten, Taten oder Gebärden zu erfahren. Immer wenn sie auf diese Weise erwachte und er sie anstarrte, wünschte sie, er möge zuerst reden und etwas Erhellendes sagen, bevor die Sonne aufging und ihn wieder völlig unerforschlich machte. Diesmal tat er es. »Ich wusste, dass jemand hergekommen ist«, sagte er ein wenig unbeholfen. »Ich wollte sichergehen, dass du es bist.« Sie sah ihn an. Er steckte in seiner Robe und war bewaffnet. Sie nickte, streckte sich und streichelte das Erdenkind, wie sie den Bolg-Riesen gestreichelt hatte, als er sie in den Tunneln beschützt hatte. »Wo ist Grunthor?« »Er hat Bereitschaftsdienst. Es sind einige Waffen verschwunden.« Er holte einen Weinschlauch hervor und bot ihn ihr an, doch sie lehnte ab und schüttelte den Kopf. »Hast du das Blut benutzt?« »Noch nicht. Ich warte darauf, dass du den Berg verlässt.« »Warum? Ich hatte geglaubt, du wartest, bis ich zurückkehre.« Ihre Frage klang sanft. Es lag etwas Nachdenkliches in Achmeds Verhalten, und sie wollte ihn nicht erzürnen. Zum letzten Mal war er in einer solchen Stimmung gewesen, als sie auf einem Gipfel gesessen hatten, der eine schon lange tote Schlucht unter ihnen überblickt hatte. Sie hatten über die verdorrte Heide geblickt, und Achmed hatte über die erste große Niederlage seines Heeres nachgedacht. Was ihnen nun bevorstand, war viel größer und zerstörerischer; man konnte es nur mit klarem Kopf überdenken. »Ich weiß nicht, was geschehen wird«, sagte er nur. »Es wäre besser, wenn du dich auf den Weg machtest und den Lirin etwas Vernunft beibrächtest, während ich mit dem Ritual beginne. Ich muss einiges wieder gutmachen. Wie du, so habe auch ich meinen Lehrer früh verloren. Er hätte sich in seinen wildesten Träume nicht vorgestellt, was in dieser Welt und der vergangenen geschehen ist.« Rhapsody seufzte und schlang die Arme um die Knie. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich den Lirin von Nutzen sein kann. Es ist eine so weite Reise.« Achmed schnaubte verächtlich. »Wollen wir schon wieder deine Fähigkeiten als Benennerin infrage stellen?« »Ich bin mir über meine Fähigkeiten nicht im Klaren. Ich will nicht, dass sie mich mitten in einer wichtigen Sache verlassen.« »Das werden sie nicht. Ich war der Meinung, das Nacherleben von Gwylliams traurigem Tod hätte dich eines Besseren belehrt.« Er sah einen Moment lang die ferne Flamme aus dem Schlot in der Mitte des Loritoriums an und richtete dann seinen starren Blick wieder auf Rhapsody. »Damals, in der ersten Nacht am Lagerfeuer, habe ich dich gefragt, was du kannst. Du hast geantwortet: ›Ich weiß, was wahr ist, und kann, indem ich die Wahrheit ausspreche, Dinge verändern/ Und genau das ist es, was du getan hast. Die Vorstellung, dass eine Benennerin wie ein Albino oder eine Jungfrau von Geburt an mit ihrer Gabe ausgestattet ist und nie wieder mit derselben Macht oder Überzeugung sprechen kann, sobald sie sich einmal geändert hat, ist wie die Annahme, eine Heilerin müsse jede verwundete oder sterbende Person retten können, um Heilerin zu bleiben, oder dass ein Mörder nie sein Ziel verfehlen und Werkzeug oder Waffe für jemand anderes sein darf, oder dass ein Sergeant-Major niemals mehr Anführer sein kann, wenn seine Kompanie getötet wurde. Du musst wissen, Rhapsody, dass in jeder Berufung zumindest teilweises Versagen möglich ist. Das soll dich nicht erschrecken. Wenn du dein Selbstvertrauen verlierst, wird deine Kraft, die dir der Dämon nie hätte nehmen können, bestimmt abnehmen. In gewisser Weise ist der F’dor ein Entnenner. Er lügt, um die Welt zu einem Ende zu bringen. Verträge, Leben und Tod, ja sogar die Gestalt, die der Dämon annimmt, gehören zu seinem Versuch, die Welt ungeschehen zu machen, die Überlieferungen zu verbergen und das Gefängnis zu zerbrechen, damit die Erde nicht länger ein Ort des Lebens ist, sondern des kosmischen Staubes, der nicht mehr ist als die zerschmetterte Eierschale einer undenkbaren Bestie. Bei unserer Reise durch die Welt haben wir alles gesehen. Wir haben berührt, was man sich nicht einmal vorstellen kann; wir reden hier und jetzt in Anwesenheit einer Rasse, die so alt wie deine ältesten Überlieferungen ist, und doch sagen wir nicht alles, was wir wissen. Wir wagen es nicht. Was würden die Lirin tun, um das Erwachen des Wurms zu erklären, zu verhindern oder zu überleben? Man kann nirgendwohin fliehen; es gibt keinen sicheren Unterschlupf. Wie tief müssen sich die Nain vergraben, um sich zu schützen? Kann ein Seemann weit genug segeln, ein Soldat hart genug trainieren? Während unsere eigene Rasse Ryle hira sagt so ist das Leben , hast du dich stattdessen entschieden, die Wahrheit zu sagen, nämlich dass unser persönliches Leben eine Bedeutung hat. Obwohl es nicht die Wahrheit dieser Schatten und dieses Kindes ist, hat sie doch ausgereicht, um dich durch die Flammen im Mittelpunkt der Erde zu geleiten.« Er drehte sich um und ging ein paar Schritte zurück durch den Tunnel. »Die Welt so zu sehen, wie sie ist, führt sicherlich in den Wahnsinn. Es ist besser, die Welt so zu sehen, wie man sie sehen möchte. Ich glaube, du warst es, die mir diese Wahrheit als Erste erklärt hat.« »Und welche Welt möchtest du sehen?« Er blieb stehen, drehte sich langsam um und sah sie mit dem Schwert an der Hüfte dastehen und das Haar ausschütteln. Er lachte stumm. »Ich möchte eine Welt sehen, in der es keine F’dor mehr gibt und sie nur noch alte Legenden sind«, sagte er. »Und du willst eine Welt sehen, in der die Lirin vereinigt sind. Vielleicht sollten wir beide unsere Weltsicht in Einklang bringen, damit sie eines Tages von Benennern exakt ausgedrückt werden kann.« Rhapsody war von der Musik in seiner Stimme und der unterschwelligen Bedeutung seiner Worte tief beeindruckt. Er wusste nicht, ob er sie je wieder sehen würde, wenn sie nun ginge. Sie verschränkte die Arme und sah ihn freundlich an. »Du musst mir etwas sagen.« »Was willst du wissen?« »Grunthor hat mir ein wenig davon erzählt, wie und wo ihr euch getroffen habt.« Achmed sah zu Boden und schüttelte langsam den Kopf. »Grunthor wird alles Mögliche sagen, nur um dich im Berg zu halten. Obwohl er einer der gewitztesten Männer ist, die ich kenne, ist er auch mit der Gabe einer gewissen Naivität gesegnet. Er hatte all diese Jahre, um zu begreifen, wie er verflucht wurde, und er wird es glücklicherweise nie verstehen.« »Verflucht?«, fragte Rhapsody verblüfft. »Wie kannst du so etwas sagen? Grunthor ist ein so reines Wesen. Er kann doch nicht verflucht sein.« »Grunthor ist stärker verflucht als du mit all deinen Nachtmahren und deiner absichtlichen Blindheit Dingen gegenüber, die du nicht sehen willst. Grunthor trägt den Fluch der Erde, denn er ist ihr Kind.« »Ich hasse es, wenn du so rätselhafte Dinge sagst. Erkläre das.« »Grunthor hat die Gabe des Beschützens und auch das Bedürfnis danach. Das hast du sicherlich schon bemerkt. Er beschützt deinen Hintern seit dem Augenblick, in dem wir dich in dem Hinterhof in Ostend getroffen haben. Bei Jo war es dasselbe, und es ist genauso mit dem Erdenkind und mit den Bolg-Soldaten , die er misshandelt und liebt. Es war dasselbe im alten Land. Es war und ist bei mir dasselbe. Wenn er alles, was ihm lieb und wert ist, unter seine Haut stecken und mit seinem Blut und Leben umkleiden könnte, würde er dieses Beschützertum einfacher finden, aber hier und jetzt trägt alles, was mit der Erde verbunden ist, eine Spur des Wurms in sich. Dein Schutz wird ihn eines Tages töten. Und er kann es nicht ertragen zu sterben, weil es dir Schmerzen bereiten würde. Er ist verdammt, genau wie die verseuchte Erde. Sie saust durch den Äther, und selbst die Götter kennen ihren Weg nicht. Tief in ihrem Herzen trägt sie das erste und letzte Schlafende Kind die Last, deren Geburt das Ende ihrer Mutter bedeuten kann. Wie die Erde, wie die Großmutter, so ist auch Grunthor bereit, sein Leben zu deinem Schutz zu verlieren.« Rhapsody schüttelte den Kopf, während sie ihre Ausrüstung überprüfte. »Nein. Es gibt keinen Grund, mich weiterhin zu beschützen. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Grunthor weiß das besser als jeder andere er hat mich schließlich ausgebildet.« »Ich weiß. Aber du scheinst darauf zu bestehen, gefährliche Risiken auf dich zu nehmen. Wenn du das weiterhin tust, dann tu es wenigstens in Bezug auf Dinge, für die es sich lohnt. Falls du oder Grunthor dabei sterbt, war es wenigstens für einen guten Zweck.« Sie sah ihm in die Augen und hielt seinem starren Blick stand. »Und was würdest du als lohnenswert ansehen?« »Die Bolg zu einer Nation aus ungeheuerlichen Menschen zu machen.« »Das habe ich schon getan. Du hast all meine Beiträge dazu ausradiert.« Der Fir-Bolg-König rieb sich die Augen. »Nicht alle. Außerdem ist das nur vorübergehend, vorausgesetzt wir überleben den Angriff. Und da ist noch die Vereinigung der Lirin. Bei ihnen solltest du wenigstens für eine Weile sicher sein. Auch könnte sich die Bildung eines cymrischen Bündnisses als nützlich erweisen, obwohl sie vielleicht zunächst ärgerlich ist.« »Welches Risiko bin ich denn bisher eingegangen, das du als nicht lohnenswert ansiehst?« Er griff in seine Robe und holte die Blutsteinphiole hervor. Der glatte Stein fing das Licht des Flammenquells auf und glänzte matt. »Du hast die Notwendigkeit verspürt, diese Kreaturen, diese Dämonenbrut zu retten, obwohl das für uns alle das Ende hätte bedeuten können. Das Blut von einem der Kinder wäre genug gewesen; wir hätten den Rest hinrichten sollen. Aber du hast darauf bestanden und dich immer wieder jeder Gefahr in den Weg gestellt, die ihnen drohte, auch wenn es sich letztlich als dein Ende hätte erweisen können.« Rhapsody zuckte die Achseln. »Ich sah es als vernünftig an, dass wir das ganze Blut sammeln und du dadurch eine bessere Möglichkeit hast, die Spur des Dämons aufzunehmen. Wenn du dich recht erinnerst, wirst du zugeben müssen, dass du es warst, der gesagt hat, den F’dor aufzuspüren sei so, wie den Geruch eines Parfüms in einem quirligen Basar aufzunehmen. Manchmal erinnerst du mich an den Rakshas, Achmed. Diese Kinder sind nicht bloß verdammte Blutgefäße. Sie haben Seelen, unsterbliche Seelen. Es ist abscheulich, sie nur für unsere eigenen Zwecke zu benutzen und dann fortzuwerfen, als wären sie nichts. Wenn wir wirklich ewig leben oder unser Leben so lang ist, dass es uns als ewig erscheint, will ich damit mein Gewissen nicht belasten. Ich glaube auch nicht, dass du das ertragen könntest.« Der Bolg-König lief auf dem mit Bruchsteinen gepflasterten Boden des ausgebrannten Raumes hin und her. »Du hast keine Ahnung, was ›nichts‹ ist und wie lange ›ewig‹ sein kann. Du warst nie nichts. Du warst ein Bauernmädchen, eine Hure, eine Harfespielerin. Auch im schlimmsten und erniedrigendsten Augenblick deines Lebens warst du irgendetwas wert: ein Stück Vieh, eine Münze, einen Augenblick der Aufmerksamkeit. Es mag dir zwar als verdammt wenig erschienen sein, aber du hattest einen Ort, ein Schlupfloch in der Welt, wo du hingehörtest. Du glaubst, du wärest nichts gewesen, aber das stimmt nicht, Rhapsody.« Sie streckte die Hand aus, hielt ihn in seinem Lauf auf und drehte ihn zu sich. Als sie sein Gesicht betrachtete, bemerkte sie darin etwas, das sie nie zuvor gesehen hatte. »Emily«, sagte sie sanft. »Meine Familie hat mich Emily genannt. Und du hast Recht, Achmed: Selbst zu der Zeit, bevor du mich gekannt hast, war ich nie nichts. Und du auch nicht.« Das Licht des Feuers hinter ihnen flackerte, und Achmed sah das Grün in ihren Augen, bevor die Schatten zurückkehrten und wieder das Grau der Düsternis über sie breiteten. »Ich habe nicht absichtlich deinen Namen von ›Bruder‹ in ›Achmed‹ geändert. Ich hatte nicht vor, dich herabzuwürdigen.« Der Blick des Bolg-Königs wurde noch eindrücklicher und so durchdringend, dass es ihr beinahe wehtat. Er starrte sie lange an und sah dann hoch zur Spitze der zerrissenen Kuppel. »Du warst die zweite Benennerin, die meinen Namen geändert hat«, sagte er mit schwerer Stimme, als kostete ihn jedes seiner Worte sehr viel. »Es war mein Lehrer, der mich ›Bruder‹ nannte, denn er sagte, ich sei ein Bruder für alle, doch mit keinem verwandt. Wenn ich seinen Lehren und dem Pfad gefolgt wäre, den er für mich ausgelegt hatte, hätte ich meine Blutgabe vielleicht genauso eingesetzt wie du deine Musik zum Heilen. Auch er hat geglaubt, ich sei nicht nichts.« Er lachte bitter. »Mein ganzes Leben scheint ein Beweis dafür zu sein, dass sein Vertrauen in mich ungerechtfertigt war. Vielleicht ist der Name, den wir bei unserer Geburt erhalten, das beste Maß für das, was aus uns werden wird.« »Wie lautete deiner?« In ihrer Stimme lag eine Ehrfurcht, bei der er einen Kloß im Hals verspürte. Der Bolg-König starrte sie weiterhin mit seinen ungleichen Augen an; sie verdunkelten sich in alten, fast vergessenen Gefühlen. »Ysk das ist der Name, den man mir bei der Geburt gegeben hat. Er bedeutet Speichel oder Gift oder Beleidigung oder auch Anzeichen für eine Infektion.« Er atmete langsam aus. »Stell dir vor, als Bolg mit diesem Namen geboren zu sein.« Achmed nahm den Schleier, der alles von seinem Gesicht außer den Augen verdeckte, und gab einen Teil seines Kopfes und Nackens dem Blick preis. Die Blutgefäße pulsierten dicht unter der olivdunklen Haut und saugten jede Empfindung und jedes Wort auf, als ob sein ganzer Körper mit einem feinfühligen Trommelfell bedeckt wäre, das selbst unter der atemsanften Berührung ihres Blickes erzitterte. »Jeder abfällige Blick, jedes ängstliche Starren, jedes verachtende Schweigen schmerzt. Lange Zeit glaubte ich, dass dunkle Geister freudig über mich wachen. Wenn ich gewusst hätte, was der Tod ist, hätte ich einen Weg zu ihm gefunden, ihn in mich eingesogen und wäre fort gewesen. Ich weiß, wie es ist, nichts zu sein, Rhapsody weniger als nichts. Ich will dein Mitleid nicht. Du musst aber wissen, dass ich diese dämonischen Kinder besser verstehe als du.« Rhapsody schüttelte den Kopf. Die Flamme in ihrem Haar erhellte die Dunkelheit um sie herum und fing regenbogenfarbene Funken aus dem fernen Licht in ihren ewig wechselnden Tanz ein. Sie lockerte den Griff um seinen Arm, fuhr sanft mit den Fingern seine Schulter hoch und legte sie ihm auf den Kiefer. »Sie wussten nicht, dass du zur Hälfte Dhrakier bist und hätten es nicht verstanden, wenn es ihnen bekannt gewesen wäre. Die Bolg in deinem Königreich wissen es ebenfalls nicht. Niemand auf der ganzen Welt weiß es außer dir selbst, Grunthor und mir und Oelendra, die genauso verbissen den Dämon jagt wie wir. Etwas, das niemand über dich weiß, wird unsere Rettung und die Rettung dieses Landes sein. Es ist egal, was der Bolg dachte, der dir deinen Namen gab. Du warst niemals nichts, selbst damals nicht.« Er atmete tief, schweigend und sehr langsam ein. »Ich war das besondere Vorhaben eines sehr heiligen Mannes. Er hat versucht, mich zum Heiler zu machen. Sieh doch nur, was aus all seinen guten Vorsätzen geworden ist und dabei habe ich nicht einmal einen einzigen Tropfen Dämonenblut in mir. Der kommende Krieg wird schrecklich sein. Aber noch schrecklicher ist, dass ich ihn eigentlich nicht vermeiden will. Die Männer aus Roland und Sorbold werden wegen ihres Hasses auf die Bolg sterben. Wenn da nicht mein Sinn für Gerechtigkeit wäre, würde es mich überhaupt nicht berühren. Die Bolg werden ebenfalls sterben. Dazu kommt all das, was Grunthor, du, das Erdenkind, die Dämonenbrut und die anderen schon erlitten habt. Wozu hat meine Ausbildung geführt? Wen habe ich je geheilt? Wen hätte ich je gerettet?« »Dafür darfst du dir nicht die Schuld geben.« »Was habe ich denn je bewirkt?« »Wen wolltest du retten?« Noch bevor sie die Frage beendet hatte, spürte sie, wie sich Türen in ihm öffneten, denen sie sich freiwillig nie genähert hätte. In der Finsternis von Gwylliams Schatzgruft, die nie einen von Gwylliams Schätzen beherbergt hatte, im Besitz des Blutes, das ihn besitzen könnte, im Bewusstsein der Finder, die ihn nicht finden konnten, sah Achmed Rhapsody an, die soeben aus ihrem Schlaf neben dem Erdenkind aufgewacht war. Sie war ausgeruht, aber noch nicht bereit für alles, was auf sie zukam. Er bewunderte ihr wasserweiches Haar, dessen Glanz allein Zorn, Verzweiflung und Erinnerungen abwaschen konnte. Er atmete durch das kalte Gefühl, das ihre Finger auf seinem Gesicht hervorriefen, nahm sanft ihre Hand, küsste sie und wiegte sie in seinen Händen. »Nur eine Person. Eine, die möglicherweise gar nicht weiß, dass sie der Rettung bedarf«, sagte er. »Und dabei die ganze Welt. Ich vermute, das bedeutet, dass wir mehr gemeinsam haben, als ein Unbeteiligter erahnen könnte. Wir sind die beiden Seiten derselben Münze, Rhapsody.« »Nun, wenn wir eine Münze sind, dann haben wir einen Wert.« Sie nahm ihren Mantel und das Gepäck auf. »Ich muss gehen. Ich werde dir so oft Botschaften schicken, wie ich kann. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir noch eine Frage stellen.« Achmed nickte. »Was wolltest du mir wirklich sagen, seit du hier unten bei mir bist?« »Stirb nicht.« Sie drückte seine Hand. Die Wärme ihrer Berührung strahlte durch das Leder seines Handschuhs. »Das habe ich nicht vor. Doch das Leitprinzip meines Lebens lautet nicht, für dich oder Grunthor am Leben zu bleiben.« Sie ließ seine Hand los, beugte sich über das Erdenkind und küsste es auf die Stirn. Während sie sich umdrehte, hörte sie Achmeds Worte. »Dann tu es für dich selbst.« Als sie sich wieder umdrehte, war er verschwunden. 55 Die Hand Fast nackt in der Dunkelheit, umgeben von allen Geräuschen des Labyrinths, entsiegelte Achmed vorsichtig die Blutsteinphiole und untersuchte die Blutessenz mit seinem Atem und seiner Haut. Zuerst war er vom Fehlen jeglichen Geruchs überrascht. Er kannte den Gestank des F’dor, den schrecklichen Geruch von brennendem Fleisch, und hatte sich darauf vorbereitet. Doch es gab nur einen schwachen Geruch nach Stein. Der Blutstein, der nach Rhapsodys Angaben silberschwarz gewesen war, als Fürstin Rowan ihn ihr übergeben hatte, war nun mit grünen und braunen Striemen durchsetzt; es waren vergiftete Adern, welche das Steingefäß durchzogen. Vielleicht hatte der Stein den Gestank, das Brennen und Ätzen des dämonischen Blutes aufgesogen. Er nahm sich vor, die Phiole sofort zu vernichten, sobald er das Ritual im Feuer seines heißesten Schmiedeofens hinter sich gebracht hatte. Er bedeckte die Öffnung der Phiole mit dem Finger, stellte sie dann auf den Kopf und goss sich einen Tropfen schwarzen Blutes auf die Fingerspitze. Die bloße Berührung verursachte ein Stechen. Er prallte zurück und spürte, wie die Nadeln des Hasses durch seine Adern kreisten. Das Blut war zähflüssig, dick und undurchsichtig; nicht einmal eine Andeutung von Licht war durch es hindurch zu erkennen. Das war keine Überraschung an diesem Ort der Finsternis. Achmed spürte ein tiefes Klopfen in den Ohren. Das Böse in diesem einzelnen Tropfen auf seinem Finger war geradezu mit der Hand zu greifen, es trat ins Leben; man konnte unmöglich sagen, welche Auswirkungen es auf jemanden haben mochte, dessen Herz seit Jahren eher dem Morden als der Gnade zugeneigt war. In fernen Regionen seines Geistes glaubte er Gesang zu hören, tief und rau inmitten der knisternden dunklen Flammen. Er untersuchte wieder das Blut. Vielleicht war es für ihn kein Werkzeug, sondern verwandelte ihn selbst in eines. Die größte Gefahr bestand darin, dass es ihn durchdrang und übersättigte, bevor er es in seinem Herzen geschmeckt und sich seine klebrige Sanftheit am ganzen Körper eingeprägt hatte. Vielleicht würde er diesen Geruch nicht mehr von seinem eigenen unterscheiden und ihn nur als Teil der umkreisenden Luft eines Zimmers wahrnehmen können, anstatt darin den Geschmack des Dämons, das Stechen des hautlosen Geistes und die geschwollene Zunge eines erstickenden Empfindungsvermögens zu spüren. Er schluckte seine Angst herunter. Es war Zeit. Sanft atmete er das Bukett des Blutes ein. Er packte die Phiole fest und goss es sich in die Nase, schmeckte es, rieb einige Tropfen in die Poren seiner Wangen, damit es seinem Bewusstsein gegenwärtiger wurde. Sein Herz raste, und die Haut prickelte vor Aufregung. Sein eigenes Blut floss rasch durch die Adern, er schwoll an, und die Hautoberfläche wurde lebendig vor Hitze. Er rieb sein Hautgewebe ein, das Netz aus empfindlichen Venen und Nervenenden, die Brust und Hals überzogen, und spürte, wie ein aus ekstatischem Schmerz geborener Schrei in ihm aufstieg und abgerissen durch seine trockene Kehle quoll. Als der anfängliche Schmerz nachließ, konnte Achmed wieder klar denken. Er stand beinahe nackt im Mittelpunkt der Hand ein blutbefleckter Kobold in einer steinernen Handfläche. Er war mit staubroten Streifen von der Stirn und den Ohrläppchen bis beinahe zu den Knien bedeckt und schmeckte die beißende Schärfe und den Rauch des Blutes. Er spuckte in die Phiole, um die letzten Tropfen der dämonischen Essenz auszuspülen und sie in die wärmsten Spalten seines weichen Gaumens zu saugen. Als schließlich auch der letzte Tropfen des dämonischen Blutes ein Teil von ihm geworden war, schloss er die Augen und spürte den Rhythmus seines Herzens. Dieser Rhythmus würde ihn eines Tages mit der Bestie verbinden. Zwischen den Kadenzen sprach er laut mit dem fremden Blut, mit seiner Beute, seinem Jagdopfer, seinem Blutsbruder. So wie ich jetzt dein Blut an meinen Händen habe, wird es auch eines fernen Tages wieder sein. Die Kapuze, die Rhapsody ihm gegeben hatte, lag neben ihm auf dem Boden. Langsam bückte er sich und hob sie auf; es kostete ihn größte Anstrengung. Der Blutfleck war ihm unvertraut, hatte keine Resonanz; er warf das Stück Stoff beiseite. Wie sie schon vermutet hatten, war Khaddyr nicht der Wirt des Dämons. Achmed schloss die Augen und zwang das Blut mit seinem Willen tiefer in die Haut. Er wusste nicht mehr, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Eine Stunde, vielleicht auch fünf, des Austrocknens ohne Verdampfung, während er mit dem Ungeheuer in sich gekämpft hatte. Er spürte Reste von jedem Kind, dessen Blut zu der Menge beigetragen hatte. Wenn er von böser Natur gewesen wäre, hätte dies eine Möglichkeit sein können, einen weiteren Rakshas zu erschaffen. Ganz leicht schmeckte er den Sand um die Entudenin, den frostharten Lehm Hintervolds, das Harz der tyrianischen Kiefern und safranartiges Sägemehl aus einer Gegend, die er nie gesehen hatte. Alles war mit dunklen Flammen gewürzt. Als sein Atem ihm wieder ganz gehörte und das trockene Blut nur noch roter Staub war, bemerkte er erschöpft Laute, die schon seit einiger Zeit ertönen mussten; es waren die Geräusche einer Zusammenkunft. Außerhalb seines Blickfeldes versammelten sich die Finder. Zitternd kauerte sich Achmed auf den Boden und griff nach seinem Messer. Die Knie versagten, und er fiel nach vorn, wobei er die Hände mit seinem eigenen hellen Blut benetzte. Er war schwach, schwächer als er je gewesen war, und verletzlich. Wenn die Finder, wer immer sie waren, feindliche Absichten haben sollten, würde er sich kaum gegen sie verteidigen können. Er drückte sich vom Boden ab und versuchte aufzustehen, doch in seinen Muskeln war keine Stärke mehr. Er benötigte seine ganze Kraft, um sich hinzukauern und den Bauch zu schützen. Achmed hob den Kopf. Fern in den Tunneln bemerkte er das Glimmern von Augen. Es waren hunderte, oder wenigstens schien es seinem verdämmernden Geist so. Innerlich verfluchte er sich, denn er hatte sich verrechnet und es zugelassen, allein und ausgeliefert zu sein, nachdem er das beißende Blut eingenommen hatte, das ihn kraftlos machte. Was habe ich erreicht?, fragte er sich. Jetzt kann ich den Wirt des F’dor erkennen. Schade, dass ich gleich unter der Hand einiger hundert meiner eigenen Leute sterben werde dieser furchtsamen Höhlenkriecher, die bei meinem bloßen Anblick die Flucht ergreifen würden, wenn ich nicht so beeinträchtigt wäre. Der Kopf sank ihm auf die Brust, als er sie näher kommen hörte. Mit großer Anstrengung versuchte er sich wieder aufzurichten, aber er war erfolglos. Sein Atem kam abgehackt und flach, als eine Schattengestalt nach der anderen aus der vollkommenen Dunkelheit des Tunnels heraustrat und ihn anstarrte wie ein Wolfsrudel, das ein verletztes Reh gestellt hat. Er kniete vor ihnen, war fast ganz entkleidet, unbewaffnet und mit dem Opfer bemalt, das ihm vom Schleier des Hoen geschenkt worden war. Aus den Augenwinkeln sah er das Glitzern von Waffen und hörte, wie Armbrüste aufgezogen und geladen wurden. Sein Kopf wurde so schwer, dass er ihn nicht mehr aufrecht halten konnte. Er kämpfte darum, ihn so hoch zu heben, dass er ihnen in die Augen sehen konnte in die hellen Augen, die innerhalb der dunklen Umrisse in Blautönungen schimmerten. Sie hatten eine Lichtquelle mitgebracht, aber er erkannte sie nicht. Er bemerkte diese Seltsamkeit: Die Augen der meisten Bolg waren so schwarz wie die Höhlenfinsternis, aus der sie gekommen waren. Er versuchte zu sprechen, ihnen den Rückzug zu befehlen, doch seine Stimme versagte. Das unmissverständliche Geräusch von Metall, das aus Lederscheiden gezogen wird, verband sich mit weiterem Spannen von Armbrüsten. Achmed fluchte wieder nicht über seinen bevorstehenden Tod, sondern über dessen völlige Sinnlosigkeit. Als die Menge der Finder einen Schritt vortrat, zerriss ein schrecklicher Schrei die Luft des Tunnels. Es war ein Brüllen, das Achmed das Blut gefrieren ließ und gleichzeitig sein Herz wärmte. Aus dem Zeigefingertunnel der Hand ertönte der Lärm stampfender Stiefel und klappernder Waffen, unter dem die Erde erbebte. Es waren die Geräusche von Muskeln in Bewegung, angespornt durch Wut und Sorge. Ein weiterer Schrei, diesmal verbunden mit deutlichen Worten: »Was soll denn das hier?« Im Bruchteil einer Sekunde zerstreuten sich die Finder und verschwanden in den Tunneln, aus denen sie so vorsichtig hervorgekrochen waren. Achmed konnte den Kopf gerade genug heben, um die herannahende Gestalt des Sergeant-Majors zu sehen, die beinahe so groß wie der Tunnel selbst und so breit wie ein Brauereipferd war und sich aus der Dunkelheit auf ihn zuwälzte. Im nächsten Augenblick war Grunthor bei ihm angelangt und sah in einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen auf ihn herab. »Alles in Ordnung?« Achmed nickte schwach, was ihn seine ganze verbliebene Kraft kostete. Ohne ein weiteres Wort hob Grunthor ihn auf, warf ihn sich über den Rücken und trug ihn in das stumpfe Licht und die Wärme der Gebirgskammern von Ylorc. »Warm genug?«, fragte Grunthor. Achmed nickte knapp. »Vielen Dank.« Er richtete sich zwischen den schwarzen Seidenlaken seines Bettes auf und rutschte wieder ein wenig zurück. »Zeig mir deine Beute.« Vorsichtig packte der Sergeant die Gegenstände aus, die er im Hort der Finder entdeckt hatte. Achmed schaute sie sich an und hielt bei dem Topf mit dem abgebrochenen Henkel inne. »Ein Nachttopf?«, fragte er verachtungsvoll. »Sie haben mein Königreich für einen Nachttopf verkauft?« »Die Bolg wissen nich, was’n Pisstopf ist«, sagte Grunthor und fuhr mit dem Zeigefinger über das eingravierte Siegel. »Sie wissen nur, dass er das Wappen hat.« Er übergab dem Bolg-König das Wachssiegel. »Warum hat wohl der alte Gwylliam im Sterben das hier haben wollen? Wollte er noch ’ne Bekanntmachung siegeln, bevor er ins Gras beißt?« Achmed zuckte die Achseln. Allmählich kehrte seine Kraft und damit auch das Selbstbewusstsein zurück. Tief in seinem Unbewussten jedoch spürte er das Blutband, das ihn mit dem noch unentdeckten Wirt des F’dor verband, der irgendwo westlich der Zahnfelsen lauerte. »Er hat gleichzeitig danach und nach dem Hörn gerufen«, sagte er und drückte sich gegen die Kissen. »Gib mir das Manuskript über das Hörn, das ich für Rhapsody herausgeholt hatte. Vielleicht gibt es irgendeine Verbindung.« Grunthor stand auf, holte die Schriftrolle vom Schreibtisch des Königs und brachte sie ihm ans Bett. »Vielleicht solltest du dich jetzt ’n bisschen ausruhen«, meinte er. »Bin sicher, du brauchst es. Ich weiß, dass ich es brauch, nachdem ich dich in deiner ganzen Pracht gesehen hab. Werd mich davon wohl nicht so schnell erholen.« Zum ersten Mal seit der Rückkehr aus den Tunneln lächelte Achmed. »Nur ein kurzer Blick, Sergeant«, sagte er und entrollte das Schriftstück. Grunthor seufzte und setzte sich auf einen Stuhl neben ihm. Seiner Erfahrung nach dauerte ein kurzer Blick mindestens zwei Stunden. Er war schon lange eingenickt, als er plötzlich eine Veränderung in der Luft des Raumes spürte. Er setzte sich sofort auf und wandte sich Achmed zu, der jetzt an seinem Schreibtisch saß und über dem alten Pergament brütete. Grunthor reckte und streckte sich. »Also?«, fragte er mitten in einem Gähnen. Die Augen des Fir-Bolg-Königs waren hell vor Erregung, als er sich nach Grunthor umdrehte. »Ich habe es gefunden«, sagte er. »Und?« »Das Hörn ...ist das Große Siegel. Es ist das Testament und die Zeugenbestätigung des Bundes, den sie alle eingehen mussten im Gegenzug für ihr neues Leben in diesem Land. Als die Drei Flotten in See stachen, wussten sie genau, dass sie die ganze Welt durchqueren mussten, um ihre Kultur am Leben zu erhalten. Und nach Gwylliams Auffassung beinhaltete diese Kultur sicherlich auch das Abstammungsrecht. Er wollte nicht nur seine Untertanen retten, sondern auch sein eigenes Königtum.« Er hielt die Schriftrolle gegen das Licht, damit auch Grunthor sie sehen konnte. Der Sergeant warf einen Blick über die Schulter auf die Illustrationen des Horns und der Docks der drei Hafenstädte von Serendair. »Anscheinend war der Preis für einen Platz auf einem der Schiffe, die die alte Welt vor der Katastrophe verlassen haben, ein Eid, ein Versprechen, beim Klang des Horns herbeizueilen. Jeder Flüchtling legte die Hand darauf, wenn er das Schiff betrat, und schwor Gwylliam und dessen Erben Treue auf alle Zeiten. Das Hörn ist das Siegel dieses Versprechens. Es muss vergleichbar mit Rhapsodys Macht als Benennerin sein der feierlichste aller Eide in Gegenwart einer undenkbaren Macht, nämlich dem sich erhebenden Schlafenden Kind im Wasser vor der Küste, wo die Zeit ihren Anfang nahm, ausgesprochen vom Hochkönig jenes Landes. Aus diesem Grund fühlen sich die Cymrer durch alle Generationen hindurch verpflichtet, sich bei seinem Klang zu versammeln. All diese uralten, mächtigen Leute, die entweder selbst oder deren Vorfahren dem Hörn Treue geschworen haben, sind mit tiefen Blutsbanden an den Rufer gefesselt, und zwar durch den stärksten aller Treueeide.« Achmed lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte in sich hinein. »Und was ist daran so lustig?« Der König rollte hastig das Manuskript zusammen und warf es auf den Tisch. »Rhapsody wird das Hörn blasen.« 56 Der Kreis, Gwynwald Seit den ersten erinnerten Tagen berichteten die Legenden von den Verwüstungen der Drachin Elynsynos und erzählten die Geschichte, wie sie den westlichen Teil des Kontinents aus Wut über die Landung der Ersten Flotte in Schutt und Asche gelegt hatte. Als die Flotte anlandete und Merithyn, der Erforscher und Liebhaber der Drachin, nicht dabei war, erschuf den Geschichten zufolge Elynsynos aus Zorn einen großen Feuerball, der aus ihrem kupferfarbenen Bauch hervorkam und voll zerstörerischer Kraft und Raserei war. Die Flammen dieses wütenden Atems setzten den uralten Wald in Brand, der den Großen Weißen Baum umgab, mauerten Gwynwald in endlosen Feuerwänden ein und zerstörten bis zur Küste alles außer dem Großen Weißen Baum selbst; doch es ging das Gerücht um, dass seine obersten Zweige noch immer Zeichen des Rußes und schwärzenden Feuers trugen. Wie die Legenden erzählten, verbreitete sich das Feuer rasend schnell ostwärts, bis es die innere Provinz Bethania erreichte, wo es in Berührung mit dem offenen Schlot aus dem Innern der Erde kam, der sich in einem feurigen Geysir entzündete, welcher in den Nachthimmel schoss und meilenweit sichtbar war. Glücklicherweise diente die Elementarfontäne als Feuerbrecher und verschonte so den Rest des Kontinents vor den Auswirkungen des Drachenzorns. Khaddyr hatte schon immer gewusst, dass diese Legenden Lügen waren. Die Filiden wussten es ebenfalls. Der Wald von Gwynwald war ein jungfräuliches Gehölz, frei von Feuereschen und anderen Bäumen, die aus der Asche eines so großen Brandes hervorgegangen wären. Hier hatte es nie ein nennenswertes Feuer gegeben; nichts hatte je ein Dorf oder einen Außenposten bedroht außer dem gelegentlichen Brand nach einem Blitzeinschlag oder außer Kontrolle geratenen Lagerfeuern sowie dem zerstörerischen Gefolge von Gwylliams Streitkräften während des cymrischen Krieges. Nur jemand, der keinerlei Ahnung von Waldwirtschaft hatte, konnte diesen Geschichten über die Raserei der Drachin Glauben schenken. Dennoch träumte er von der Wut der Drachin. Die Festung des Fürbitters war ein seltsam schöner, hölzerner Palast, der unter, zwischen und über den Bäumen am Rande des Waldes stand, welcher an den Kreis grenzte. Es war ein lebendiges Gebäude, ein sich aus geschlagenem Holz und wachsender Flora zusammensetzender Ort, ein wahrhaftiger Teil des Waldes. Dieser merkwürdige Palast war eine der Annehmlichkeiten seiner neuen Stellung, und Khaddyr hatte ihn mit großer Genugtuung für sich beansprucht. Als er das alte Bauwerk zum ersten Mal als dessen Herr betreten hatte, war er von widerstreitenden Gefühlen erfüllt gewesen: von einer ungestümen Erregung, die immer wieder vom Schrecken der Schuld abgelöst wurde. Wie schon sein Vater vor ihm, so war auch er mit dem Wissen aufgewachsen, dass diese wunderbare Behausung Llaurons Heim war. Seine eigenen Besuche in dieser Festung waren immer nur auf Llaurons Geheiß erfolgt. Es lag etwas pervers Befriedigendes darin, als neuer Herr durch die gewundenen, polierten Gänge zu gehen. Gwen und Vera, Llaurons alte Hausdienerschaft, hatten ihn höflich, aber kalt begrüßt und waren seinem Blick ausgewichen, doch sie gehorchten seinen Befehlen widerspruchslos. Nachdem er am Abend das Essen bestellt hatte, hatte Khaddyr das geschnitzte Bett in Llaurons Schlafzimmer betrachtet, das mit frischen Laken aus sorboldischem Leinen bezogen war, und ein Kichern unterdrückt, als er den entsetzten Blick der ältlichen Dienerschaft gesehen hatte. »Sorge dafür, dass die Wärmsteine unter den Laken sind, bevor ich meinen Likör nach dem Abendessen genommen habe«, hatte er Vera befohlen. »Der Nachtwind ist bitterkalt. Ich will es gemütlich im Bett haben.« Dazu hatte er eine junge Gehilfin angestellt, eine besonders hübsche Frau, die er vor einiger Zeit in den medizinischen Künsten unterrichtet hatte. Sie sollte zusammen mit ihm seine Befreiung aus dem Zölibat feiern, das ihm auferlegt worden war, als er noch der Tanist des Fürbitters gewesen war. Er hatte dafür gesorgt, dass sie in dieser ersten Nacht vor dem Abendessen hinaufgebracht wurde, und war nicht erfreut über den Widerstand gewesen, den sie geleistet hatte. Es schien, als müsste er ihr noch einige Lektionen in Gehorsam und Dienstbarkeit erteilen. Wenn er die weinende junge Frau des Nachts von den Bettfesseln befreit hatte und sie in ihre eigene Kammer gebracht worden war, fiel Khaddyr in einen tiefen, zufriedenen und stillen Schlaf im Bett des Fürbitters. Die Stimme seines Herrn, die lange seinen Geist heimgesucht hatte, war endlich verstummt und verlangte nicht mehr nach der Erfüllung seiner Anweisungen. Alles war nach Plan gelaufen. Llauron war tot. Das Amt des Fürbitters hatte Khaddyr inne. Der Geschlechtsverkehr war besser, als er es sich je erträumt hatte, und mit den unerwarteten Lustgefühlen der Macht und des Sieges über den Widerstand verbunden. Khaddyr hatte entdeckt, dass Bitten und Schreie um Hilfe sein Vergnügen nur noch steigerten, und glitt in die Dunkelheit, während er über neue Methoden der Luststeigerung nachdachte. Nach einem besonders guten Orgasmus waren seine Visionen des Drachens immer besonders stark. In der Finsternis seiner Träume wurde dann der Himmel blutig. Zuerst war er überzeugt, dass dieser Eindruck von den befleckten Laken herrührte, die Vera auf seine Anweisung in der Mitte der ersten Nacht hatte wechseln müssen. Doch nach dieser ersten wunderbaren Erfahrung verblieb das Bild des blutigen Himmels in seinen Albträumen, in denen nun auch Feuerwände bis in ein Firmament aus Wolken reichten, die aus Rauch und Asche bestanden. Sein geistiges Auge erhob sich über das Feuer in den Himmel und starrte auf einen Wald hinter dem Horizont. In der weiten Ferne sah er eine große, geflügelte, schlangenähnliche Bestie mit kupfernen Schuppen, die im Licht des lodernden Feuers glitzerten. Der Drache hatte sich um den Stamm einer hohen, dünnen, weißen Eiche geschlungen, einen Baum mit weißen Blüten, die dem Winter trotzten. Der Große Weiße Baum aus den Kindertagen der Erde, dachte Khaddyr. Und Elynsynos persönlich. Der Wurm streckte sich im Feuerschein und machte den Baum ganz klein, während das Untier sich erhob, die Flügel über den Rauch breitete und in der wirbelnden Asche verschwand. Sein innerer Blick kehrte zu dem Wald zurück, in dem er stand. In der Ferne hörte er die entsetzten Schreie der umherirrenden Filiden. Feuer züngelte über ihre Roben. Sie fielen auf den Waldboden und entzündeten die trockenen Blätter unter dem Schnee. Die Worte der Ruhe, die er im Traum gesprochen hatte, erklangen nicht in seiner eigenen Stimme, sondern in der melodischen von Llauron. Es war gleichgültig. Die entsetzten Opfer hörten ihr nicht zu; sie erlitten einen so schrecklich lebendigen Verbrennungstod, dass er den Gestank sogar noch roch, als er schon wach war. Der Drache, hörte Khaddyr eine Frau kreischen, als der Traum verblasste. Der Drache kommt. Es hatte einige Stunden gedauert, bevor er beim ersten Mal das Gefühl des Schreckens hatte abschütteln können, doch als der Traum regelmäßig wiederkehrte, gewöhnte sich Khaddyr an die nachfolgenden Erschütterungen und den kalten Schweiß. Seit er in den Bann geraten und zum Diener des Dämons geworden war, hatte er jede Angst vor Feuer und die Schwäche des Mitleids verloren. Nur wenig bereitete ihm noch Sorgen. Er stand im Dienst der vollkommenen Macht und hatte selbst große Gewalt errungen. Sein ganzes Leben hatte er darauf gewartet, Fürbitter zu werden. Er hatte nicht vor, sich das Vergnügen daran von Gewissensbissen nehmen zu lassen. »Du bist ein Mythos«, rief er der hölzernen Decke des Schlafzimmers entgegen, als er eines Nachts aus der Vision erwachte. »Ich fürchte mich nicht vor einer Lüge, auch nicht vor einer, die so alt wie die Zeit selbst ist! Verbrenn dich doch zu Asche!« Die Stille in seiner Festung umwehte ihn. Navarne Kalte Asche lag in durchweichten Haufen zwischen den ausgebrannten Ruinen des Hauses der Erinnerung. Sie schwärzte den fallenden Schnee und hinterließ eine öde Grube aus Schlamm, wo einst der Außenposten gestanden hatte, ein Denkmal der Standhaftigkeit und Tapferkeit, nun bloß noch Zeugnis von Feigheit und Bosheit. Der erste Außenposten des cymrischen Zeitalters, eine stolze und glänzende Festung, die den Gefahren des Landes und des Krieges sowie zahlloser Jahre getrotzt hatte, war erst vor wenigen Monaten zu einem Haufen bedeutungslosen Schutts geworden. Mit Ausnahme einer handtellergroßen Harfe. Sie steckte fest im ersten Astloch des Sagia-Schösslings, der dort stand, wo einmal der Innenhof gewesen war. Das winzige Instrument spielte leise, aber beharrlich in der Dunkelheit und wob ein Lied des Schutzes und der Heilung um den jungen Baum und den Boden, auf dem er stand. Dort, in den silbernen Armen jenes Kindes des uralten Baumes, der an einem Ort geboren worden war, wo das Sternenlicht zum ersten Mal auf die Erde gefallen war, brannte die Hoffnung eine kleine Kerze des Glaubens, die sich weigerte auszugehen, weder durch Feuer noch durch Sturm oder die Dunkelheit der herannahenden Nacht. An diesem einzigartigen Ort, innerhalb der eiskalten Ruine, herrschten ewiger Frühling und eine Liebeswärme, die so tief war, dass sie den Eichenschössling zum Hervorbringen von Blüten aus reinstem Weiß brachte, die sich mit dem fallenden Schnee messen konnten. Ashe erhob sich müde von einem bleiernen Schlaf unter dem Schössling, wo er sich zur Ruhe niedergelegt hatte. Hier, auf dem warmen Grund, den sie mit ihrem Lied gesegnet hatte, war es leicht, sich Rhapsody nahe zu fühlen. Sicherlich hatte dieser Ort einiges von dem Elementarfeuer aufgenommen, das in ihrer Seele brannte. Seine Träume waren glücklich gewesen, wenigstens zu Beginn, waren dann aber zu Nachtmahren dunklen Bedauerns und schrecklicher Vereinsamung geworden. Nun kehrten ihre Worte im kalten Wind zu ihm zurück. Ich will dich nicht mehr sehen, bis der Rat zusammentritt. Und danach will ich dir vielleicht nie wieder begegnen. Die Welt summte um ihn herum, so wie sie es auf seiner Flucht hierher getan hatte. Sanft berührte er die Borke des jungen Baumes. Sie war wunderbar warm unter seinen frierenden Händen. »Ich liebe dich, Aria«, sagte er leise. Seine Finger zitterten und stachen, als sich seine zweite Natur erhob und ihm unter die Haut kroch. Auf Wiedersehen, Ashe. Möge dein Leben lang und glücklich sein. Bitte schließ die Tür hinter dir. Die Wut brannte wieder hinter seinen Augen. Er erinnerte sich an andere Worte, die sie vor sehr langer Zeit gesagt hatte, als sie einander als Liebende erkannt hatten, zusammen gereist waren, sich in einem Raum hinter dem Wasserfall versteckt hatten. Es waren melancholische Worte gewesen, ausgesprochen in geteiltem Vertrauen vor einem knisternden Feuer. Meine Vergangenheit ist ein Korridor mit Türen, die ich offen gelassen habe und nie schließen wollte. Ich habe nie eine Tür geschlossen, wenn ich es nicht musste, in der Hoffnung, dass alles eines Tages wieder in Ordnung sein würde, wenn ich mir immer alle Möglichkeiten offen halte. Der Ton der Endgültigkeit in ihrer Stimme zerdrückte ihm die Brust, machte ihm das Atmen schwer und entflammte den Drachen in seinem Blut. Bitte schließ die Tür hinter dir. Ashe spürte, wie der Damm seiner menschlichen Entschlossenheit mit einem Knall auseinander riss. Über den schlüpfrigen Boden, auf dem er sich so unsicher hielt, brüllte der Drache hinweg. Als ob es in einer dunklen Flut ertränke, ergab sich sein Bewusstsein der Bestie, und er wurde von der Leere in sich selbst verschluckt und verschwand an einen Ort, der dunkler als der Tod selbst war, während der rasende Drache sich erhob. Gwynwald Als der Angriff erfolgte und die ersten Bäume am Waldrand den flammenden Pfeilen erlagen, die aus dem Himmel regneten, setzte sich Khaddyr im Bett auf. Er war hellwach und zitterte. Obwohl er wusste, dass die Nachtmahre nichts anderes als Heimsuchungen der Angst waren, die sich mit den alten Legenden vermischte, spürte er deutlich, dass sich nun etwas verändert hatte. Er spürte es durch die Erde. Er wusste, dass der Drache nach ihm suchte. Zuerst war er so entsetzt, dass er befürchtete, er könnte das Bett benässen. Nach einem Augenblick des Nachdenkens aber kehrte seine Ruhe zurück. In Gwynwald lag viel mehr Macht als in jedem Drachen, selbst als in Elynsynos. Die Stärke des Gwynwaldes war der Große Weiße Baum, das lebende Gefäß der Erdenergie, der letzte der Orte, an dem die Zeit begonnen hatte. Er war der Grund dafür, dass die Filiden in dem Kreis wohnten und ihr Leben der Erhaltung und Pflege des Baumes geweiht hatten. Der Baum war das Zeichen des Anfangs der Welt; der Fürbitter des Ordens, der ihn hegte, konnte durch seine Kraft den heiligen Wald schützen. Er hatte oft gesehen, wie Llauron das getan hatte. Llauron war tot. Nun war er der Fürbitter. Und während er damit begonnen hatte, die Erde um die Wurzeln des mächtigen Baumes mit seinem Blut zu beflecken, um ihn dem Willen seines Meisters zu beugen, wusste er, dass er wegen der Verbannung des Wyrms aus dem heiligen Wald leicht die Kraft des Baumes nutzen konnte. Drei Jahrzehnte lang war er Llaurons Tanist gewesen. Nun war er der Fürbitter, von einer Benennerin als solcher bekannt gemacht und unangefochten. Langsam erhob sich Khaddyr aus seinem wunderbaren Bett und zog die einfache graue Robe an. Er schlurfte zum Abtritt, wusch sich dann Hände und Gesicht in dem Keramikbecken. Das Gesicht, das ihn aus dem Spiegel anstarrte, war ein edles, entschied er. Es war frei von den Furchen der Sorgen und anstrengenden Pflichten, die sich so lange in ihm eingegraben hatten, als er nur ein einfacher Heiler gewesen war. Das Amt des Fürbitters hatte ihn sowohl mit einem starken Gesichtsausdruck als auch mit der Macht der Erde bedacht. Er griff nach seinem Stab und genoss es, wie das goldene Eichenblatt an der Spitze im Feuerschein glitzerte. »Sie soll kommen«, sagte er lächelnd. Das Gesicht im Spiegel lächelte mit zuversichtlicher Stärke zurück. »Die Drachin soll kommen.« Als das Feuer den inneren Wald erreicht hatte, war klar, dass die Bestie das, was sie vernichtete, genau auswählte. Im Gegensatz zu den Beschreibungen in den alten Manuskripten verdunkelte kein gewaltiger Schlangenschatten das Land. Kein Erdbeben ereignete sich, keine Wasserwand erschien am Meereshorizont. Man hätte die ersten Phasen der Drachenraserei auch als winterliches Buschfeuer ansehen können, das durch den heiligen Wald mit brutaler, vom Wind angefachter Gewalt brauste. Die Bewohner der weit draußen liegenden Siedlungen befürchteten genau das und waren in Massen in den Schutz des Kreises gekommen, wo sie unter den Armen des Großen Weißen Baumes Zuflucht suchten. Beinahe genauso schnell gingen sie wieder und kehrten in ihre Behausungen zurück, als die Flammen entlang der Waldstraßen ausbrachen, aber die Dörfer, Herbergen und Ausbildungslager der Waldläufer verschonten, welche die cymrischen Straßen als Pilgerführer bereisten. Wenigstens einer der Bauern sagte über die Macht des neuen Fürbitters, sie sei so allgegenwärtig, dass selbst das Element des Feuers den Allgewaltigen nicht anrühren könne. Gesegnet seid Ihr, Euer Gnaden. Khaddyr stand unter dem Baum und sah ihrem Fortgang zu. 57 Lark trat zitternd aus den Feuerschatten. Der Wald brannte. Obwohl das Feuer an den Dörfern und Herbergen vorbeigerast war, schien es die Gläubigen zu verschonen und seinen Zorn von den äußeren Siedlungen fern zu halten. Stattdessen brach es mit großer Gewalt über den Kreis herein. Sowohl der Kräutergarten als auch Larks Ländereien, die einige Meilen entfernt lagen, waren von der Feuerwalze verschlungen worden, die vom Waldrand aus heranrollte und den weißen Schnee sowie die braune Erde in orangefarbenes Licht tauchte. Zweige über Lark entzündeten sich, obwohl das Feuer dieses Gebiet noch nicht erreicht hatte; sie regneten herab, fielen um sie herum zu Boden und schienen ihr zu folgen, als sie losrannte. Khaddyr, dachte sie verzweifelt. Ich muss den Fürbitter erreichen. Als sie vor der Feuersbrunst über die Waldstraße eilte, sah sie hunderte, vielleicht sogar tausende Gläubige durch den Forst irren und hörte ihre angstvollen Gespräche. Geschichten wehte der Wind hin und her, Erzählungen von einem umherziehenden dunklen Mann, der unbeschadet durch das Inferno lief, kaum mehr als ein in Nebel gekleideter Schatten. Lark konnte mit solchen Gerüchten nichts anfangen und beachtete die Worte der Fliehenden nicht, bis sie ein besonderes auffing. Drache. Sie hielt kurz an und rang nach Luft. Bei diesem Wort drückte es ihr das Herz zusammen und die Luft aus der Lunge. Als sie wieder Luft bekam, bedeckte sie die schmerzenden Augen mit dem Arm und eilte zum Kreis. Der Fürbitter stand im Schatten des Großen Weißen Baumes und stützte sich auf seinen weißen Holzstab. Die goldene Spitze schimmerte unter der herannahenden Nacht. Khaddyr atmete tief durch und sog den Geruch des Rauchs und der brennenden Blätter ein. Überall um ihn herum waren die Filiden in Panik geraten und hasteten nach Westen, wo das Feuer den inneren Wald noch nicht eingekreist hatte. Er hatte versucht, sie ruhig zu halten und ihnen zu erklären, dass sie unter den Zweigen des Großen Weißen Baumes sicher waren, doch die Angst war stärker. Er konnte ihnen nichts mehr befehlen, sondern nur dabeistehen und zusehen, wie sie dem Tod in die Arme liefen. »Euer Gnaden.« Die Worte waren geflüstert und hinter dem Brüllen des Feuers kaum hörbar. Khaddyr drehte sich um und sah, dass Lark hinter ihm stand. Ihr Gesicht war eine Maske aus Rauch. Er lächelte schwach. »Ah, Lark, ich hätte wissen sollen, dass du allein stark genug bist, um zu bleiben.« »Ich gehe, Euer Gnaden, und das müsst Ihr auch. Kommt mit mir. Wir haben noch Zeit, nach Westen zu fliehen. Der Drache naht.« »Fliehen? Wohin? Zum Meer? Zum Nest des Drachen? Das ist lächerlich.« Khaddyr lächelte wohlwollend und streckte ihr die Hand entgegen. »Hab keine Angst, Mutter. Elynsynos würde den Baum niemals verbrennen.« Lark starrte in den sich rötenden Himmel; ihr sonst so gelassener Gesichtsausdruck, das Erbe ihrer lirinschen Herkunft, verhärtete sich vor Entsetzen. »Der Drache naht«, wiederholte sie. »Ihr müsst Euch beeilen und sofort aufbrechen, Euer Gnaden.« Khaddyr strich ihr über die Schulter und kämpfte darum, seine Hand ruhig zu halten. »Die Drachin kann nicht in den Kreis eindringen, Mutter«, sagte er so tröstend wie möglich. »Ob Wyrm oder nicht, Anwyns Familie hat keine Gewalt mehr über Gwynwald; diese liegt nur noch in den Händen des lebenden Fürbitters.« Er drückte den weißen Eichenstab. Das stärker werdende, Licht des Feuers in der Ferne spiegelte sich auf dem goldenen Blatt an der Spitze wider. Lark warf einen raschen Blick über die Schulter auf die dunklen Wolken, die in blutigem Licht schwammen. »Zu seiner Zeit konnte Llauron den ganzen Wald verteidigen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Erinnert Euch nur an die Plage der gelben Heuschrecken oder an den großen Sommersturm vor zehn Jahren. Er befahl den Insekten, Gwynwald zu verlassen; er hat den Winden geboten, still zu sein, und sie gehorchten. Etwas stimmt nicht, Khaddyr. Es sollte Euch möglich sein, diese Bedrohung aus dem äußeren Wald zu verbannen. Doch sie kommt näher; der Wald brennt vor Zorn! Ich flehe Euch an, geht jetzt und rettet Euch.« Khaddyr deutete wütend nach Westen, wo das Feuer sich zwischen den Bäumen ausbreitete. »Geh du doch«, sagte er angespannt. »Verlass diesen Ort, Lark, wenn du Angst hast. Ich fürchte mich nicht vor dem Drachen. Hier ist meine Macht absolut, absolut! Du hast gesehen, wie ich sie Llauron entrissen habe; du hast gesehen, wie ich ihm den Stab aus den leblosen Fingern genommen habe. Du bist jetzt meine Tanistin; wenn du an mir zweifelst, kannst du gehen. Du bist hier nicht mehr von Nutzen.« Larks Miene verhärtete sich im Licht der herannahenden Flammen. »Nun gut. Macht Euch selbst etwas vor. Bleibt hier und verbrennt mitsamt Eurer absoluten Macht. Das wird einen schönen Scheiterhaufen ergeben.« Sie wirbelte herum und rannte durch den Hagel flammender Blätter, die im aufkommenden Wind zu Asche verweht wurden. Das wütende Inferno kam immer näher, aber Khaddyr fürchtete sich nicht. Glaube, beschwor er sich selbst. Harre aus auf deinem Weg. Nun kehrten die sanften, in die Schatten gesprochenen Worte seines Meisters zurück zu ihm, die er beim Freudenfeuer des Winterfestes gehört hatte. Unbezweifelte Autorität. Unverwundbarkeit. Und endloses Leben. Khaddyr fasste seinen Stab noch fester und versuchte, seine Erregung unter Kontrolle zu halten. Ich werde sie töten, so wie ich Llauron getötet habe, dachte er und spürte den Schweiß der Hitze und Erregung, welche die ihn durchströmende Macht verursachte. Ich werde derjenige sein, der die mächtige Elynsynos besiegt und sie zurück in den Äther schickt. Nun habe ich die Macht dazu. Er lachte laut. »Soll die Drachin doch kommen!«, rief er in den brennenden Himmel. »Soll sie doch kommen!« Zur Antwort erzitterte der Boden unter ihm. Khaddyr riss die Augen auf. Die Feuerwände, die inzwischen den Kreis erreicht hatten, schienen sich zu teilen und öffneten einen dunklen Korridor in den pulsierenden Lichtschleiern. Trotz der versengenden Hitze um ihn herum spürte Khaddyr plötzlich eine große Kälte. Inmitten der tobenden Flammen und des wogenden Rauches stand der Schatten eines Menschen. Die Kapuze seines Mantels war zurückgeschlagen und gab den Blick auf Haare frei, die im Feuerschein wie Kupfer auf einem Herd wirkten. Mit Ausnahme des leuchtenden Haars waren alle anderen körperlichen Merkmale in Dunkelheit gehüllt. Das Feuer schien ihn zu umtanzen, als ob er lediglich ein Schatten wäre. »Das kann nicht sein«, flüsterte Khaddyr. »Gwydion?« Ist er von den Toten auferstanden?, dachte er; sein Geist weigerte sich, diese Möglichkeit anzuerkennen. Zitternd vor Alter und Angst stand der Fürbitter auf. Er deutete mit dem Eichenstab der Filiden mit Llaurons Stab auf den Mann im Mittelpunkt der Feuersbrunst. »Slypka«, flüsterte er und wollte damit die Flammen löschen. Das Feuer wurde etwas dunkler, wodurch sich die Umrisse des Mannes deutlicher abzeichneten. Khaddyr holte tief Luft, steckte dann den Stab in das verdorrte Gras neben ihm und stützte sich darauf ab. Als er endlich reden konnte, klang seine Stimme ganz ruhig. »Ich befehle dir, Gwydion ap Llauron, durch die Macht des Kreises, dich aus diesem heiligen Wald zu entfernen«, sagte er. Er sog erneut die Luft ein; der beißende Rauch verbrannte ihm Nase und Lunge. Die Macht des Waldes, die Macht von Gwynwald würde diese Bestie bannen, das wusste er. Und seine eigene Macht. Er war der Fürbitter. Die dunkle Gestalt regte sich nicht. Khaddyr fasste den Stab noch fester; das goldene Eichenblatt an der Spitze blitzte im Licht des Infernos um ihn herum. »Ich bin der wahre Fürbitter, Gwydion«, sagte er durch den Lärm des Feuers zu dem Schatten mit der glänzenden Haarkrone. »Die Übernahme des Amtes ist durch das Gesetz von Buda Kai gerechtfertigt; eine Canwr war als Herold und Zeuge anwesend. Du kannst mich hier nicht herausfordern; der Mond nimmt ab. Er muss aber zunehmen, wenn das Ergebnis einer Herausforderung gesegnet sein soll. Außerdem würdest du Llaurons Andenken entehren, wenn du ...« Der Stab in Khaddyrs Hand brach in Flammen aus. Mit einem Schrei ließ der Fürbitter den brennenden Stab zu Boden fallen. Entsetzensstarr sah er zu, wie das Symbol des Amtes, für das er seine Seele verkauft hatte, zu Asche wurde. Es dauerte nur wenige Sekunden. Der rauchgeschwängerte Wind wirbelte die Asche auf, und sie verschwand. Nur das goldene Blatt auf dem Boden blieb zurück. Bald schmolz es in der Hitze zu einer leuchtenden Pfütze, die im Widerschein des Feuers glänzte. Die Schattengestalt öffnete die Augen, und Khaddyr keuchte unwillkürlich auf. Zwei Punkte wilden Lichts, blau und hell wie die Flammen aus dem Mittelpunkt der Erde, erschienen in der ansonsten undurchdringlichen Dunkelheit seines Gesichts unter dem strahlenden Haar, das sich mit den leckenden Feuerzungen hinter und über ihm verband. Khaddyr trat einen Schritt zurück und versuchte, aus seiner Stimme das Grauen fern zu halten, das sich auf seinem Antlitz wohl bereits abzeichnete. »Gwydion...« »Wo ist der Wirt des Dämons?« Die Stimme aus dem Schatten ließ die Erde unter Khaddyrs Füßen erzittern. Er stolperte und fiel auf ein Knie. Es war eher ein Röhren als gesprochene Worte und erklang in den verschiedenen Tonlagen von Sopran, Alt, Tenor und Bass; überdies knisterte die Stimme mit der Wildheit eines vom Wind angefachten Feuers. Aus Khaddyrs Mund drang nur noch ein erstickter Laut. »Sag es mir«, forderte die dunkle Gestalt. Das Feuer wurde heftiger und glich sich der Hitze in seiner Stimme an. »Ich ... ich weiß es nicht«, keuchte Khaddyr. Der Baumpalast fing Feuer und ging in Flammen auf. Die Glasscheiben in den Fenstern spiegelten das pulsierende Licht in den Himmel, als das Dach jedes seltsam gewinkelten Flügels aufbrach und ein Funkenregen auf die schlummernden Gärten niederprasselte, die Llaurons Festung umgaben. Flammen kletterten den Turm hoch, der über das Blätterdach hinausreichte, und verwandelten ihn in eine Feuersäule. »Gütiger All-Gott«, flüsterte Khaddyr. Vor dem Hintergrund des fließenden Feuers trat eine neue Gestalt heran; sie war verschwommen und flüchtig. Ihr Schlangenkopf streckte sich in den Himmel und reichte bis über die brennenden Baumkronen. Die Augen glänzten in demselben wilden blauen Licht, das auch aus dem Gesicht des Schattenmannes fiel. Die gewaltigen Pupillen hatten rasiermesserscharfe vertikale Schlitze, die noch dünner wurden, als das Inferno an Stärke zunahm. Große Schwingen aus schimmernden Kupferschuppen, im Lichte durchscheinend, breiteten sich über das Land des Kreises und warfen dunkle Nebeltücher, während sie sich entfalteten. Die gewaltige zischende Stimme sagte dasselbe wie der Mann, über dem die Bestie thronte. »Wo ist der Wirt?« Der donnernde Befehl erschütterte die Erde. Khaddyr schluckte und schmeckte Blut in seiner Kehle. »Vergib mir, Gwydion, aber das kann ich nicht sagen. Ich fürchte dich im Leben, aber ich fürchte ihn im Tod noch mehr. Hab Mitleid mit mir.« Der Schattendrache stieß ein wütendes Brüllen aus. Über die Kakophonie des brennenden Waldes und die Schreie der flüchtenden Filiden hinweg zerschmetterte er die verbliebenen Fensterscheiben und erschütterte die Zweige des Großen Weißen Baumes, der allein und unberührt in der Mitte des flammenden Albtraums stand. Die menschliche Gestalt schloss die durchdringenden blauen Augen; sie verschwanden in der Dunkelheit des Gesichts. »Ich habe dir nicht erlaubt, schon zu sterben«, sagte Ashe; seine Worte dröhnten in den vielen Tonlagen des Wyrms. Er hob den Arm und deutete auf den Filiden-Priester, den großen Heiler, der nun niedergestreckt auf dem Waldboden lag. »Luhtgrin«, sagte er in der Sprache der Filiden. Kehr dich um. »Cartung.« Halte durch. Khaddyr spürte, wie seine Füße taub wurden. Einen Moment später fuhr ihm ein entsetzlicher Schmerz in die Zehen, die sich in einem unmöglichen Winkel abspreizten. Er stieß einen Schrei aus, als sich die Haut zurückrollte, Nerven und Muskeln, Adern und Knochen bloßlegte und dann langsam die Beine hochkroch. Das Grauen über das, was da mit ihm geschah, huschte durch sein Hirn und betäubte ihn zusätzlich. Sein Innerstes wurde nach außen gekehrt. Khaddyr kreischte erneut auf; es war ein hohes Jammern markerschütternden Entsetzens. »Sag es mir«, verlangte die dunkle Gestalt erneut in einer Stimme, die halb menschlich und halb drachenhaft war. »Sag es mir, oder ich werde dich in diesem Zustand zurücklassen lebendig.« Khaddyrs Kniescheiben machten ein schreckliches Geräusch, als sie sich von innen nach außen schoben. »Bitte, hör auf«, ächzte Khaddyr. Der Schattenmann und seine zweite Natur, der Umriss des Drachens, gingen langsam durch das brennende Gras auf Khaddyr zu, bis sie unmittelbar über ihm standen und der gewaltige Schatten des Wyrm in der rauchgeschwängerten Luft schwebte. Als der Mann und der Drache ihn erreicht hatten, zuckte er vor Schmerzen; die langen Oberschenkel lagen entblößt auf dem blutigen Gras. Mit einem weiteren schnalzenden und krachenden Geräusch zuckten seine Hüftknochen und Genitalien in Haut und Muskelgewebe, und die großen Arterien pulsierten scheußlich. Khaddyr gab ein unablässiges Murmeln von sich. Mit großem Schwung zog Ashe Kirsdarke aus der Scheide an seinem Rücken und drückte dem alten Mann die Spitze gegen die Kehle. Einen Moment lang klarte Khaddyrs Blick auf, und er starrte auf die gekräuselten Wellen der Waffe. Blauweißes Wasser floss wie Meereswellen über die alte Klinge. »Bitte«, flüsterte er, als sich sein Brustkorb nach außen stülpte und das rasende Herz sowie die kämpfende Lunge freilegte. Die keuchenden, klatschenden und reißenden Geräusche verschluckten beinahe seine Worte. »Du ... brauchst ... mich, Gwydion. Einen ... Heiler. Rhapsody ... braucht...« Die Schwertspitze drückte sich fester gegen seine Kehle. »Was ist mit Rhapsody?«, wollte Ashe wissen. Die mächtige Stimme schüttelte brennende Blätter von den versengten Zweigen. »Was braucht Rhapsody?« »Wenn ... sie ...«, keuchte Khaddyr. Er drehte sich und sah seine Finger an, die sich ebenfalls von innen nach außen wendeten. »Wenn... sie...« In den Tiefen seiner entblößten Eingeweide erschien eine winzige Wurzel. Innerhalb eines Herzschlages sprangen viele weitere hervor und peitschten um Khaddyrs Organe. Die Gewächse verdickten sich rasch und bildeten seilartige Fäden mit Dornen daran, die sich eng um das Herz des angeblichen Fürbitters wanden und plötzlich zudrückten. Ein schrecklicher Gestank wogte über den Brandgeruch. »Was braucht Rhapsody? Verflucht sei deine Seele, Khaddyr, wo ist der F’dor?« Khaddyr stieß ein gurgelndes Röcheln aus und wandte sich ein letztes Mal mit glasigen und vor Schmerz blicklosen Augen an Gwydion. »Töte mich«, flüsterte er, als Perlen blutigen Schweißes auf seine Stirn traten. »Gnade ...« Der Schattenmann beugte sich tief herab, damit der Fürbitter ihn hören konnte. »Sag deinem Meister, ich bin hinter ihm her«, meinte er mit zusammengebissenen Zähnen. Die Gewächse pulsierten heftig. Khaddyrs Herz zerbarst. Helles Blut schoss in die Luft; das wütende Feuer bedachte es mit Schauern aus rotem Licht. Ashe trat zurück, als das Gewächs über Khaddyrs geöffneten Magen und die Eingeweide zuckte. Sofort sprossen Dutzende weiterer Schlingpflanzen hervor und umgaben ihn vollständig. Dann wurde Khaddyr mit einem knallenden Laut über einen brennenden Busch und einige Baumstämme in ein großes, gleißendes Feuer gezerrt. Der Gestank wurde unerträglich, als sein Körper auf die Flammen traf. Ashe musste die Augen vor der folgenden Explosion aus schwarzem Feuer schützen. Der F’dor hatte sein Eigentum zurückgefordert. Zum zweiten Mal in diesem Winter stand Ashe erschöpft unter dem Baum inmitten der Zerstörung des Feuers. Die Filiden huschten wie Schlafwandler durch die Verwüstungen, starrten die Ruinen des Baumpalastes an, eilten zwischen den Schuttbergen umher, die von dem strahlenden Schloss im Herzen des Kreises übrig geblieben waren. Am Rande seiner Wahrnehmung spürte Ashe, wie Gwen vorsichtig durch die Überreste der Zimmer schritt, die sie einst für seinen Vater sauber gehalten hatte. Sie verlor sich in diesem Ort, den sie wie niemand sonst gekannt hatte. Er schloss die Augen und vertrieb ihre Gegenwart aus seinen Gedanken. Der Drache in seinem Blut schlief nun, seine zerstörerische Wut war gesättigt. Das Bewusstsein um seine zweite Natur schmerzte ihn wie ein überbeanspruchter Muskel. Die filidischen Priester, die Llauron die Treue gehalten hatten, starrten bedrückt die Ruinen des heiligen Baumkreises an, der den Großen Weißen Baum umgab. Vor dem Feuer hatte ein Exemplar aus jeder bekannten Gattung hier seinen Platz gehabt; manche waren die letzten Überlebenden ihrer Art gewesen. Nun waren von den Bäumen nur geschwärzte Stämme und verkohlte, zerfetzte Rauchsäulen übrig geblieben, die wie gebrochene Finger in den Himmel wiesen. Allein der Große Weiße Baum stand noch unversehrt und unbeschädigt da, auch wenn er mit Ruß und Asche befleckt war. Seine blattlosen Zweige schimmerten in der verschwommenen Sonne und ragten durch den Rauch, der schwer in der Luft hing, hoch in den Himmel. Feuer wird dich nicht verletzen. Der Wind frischte auf und zauste die rotgoldenen Locken seines Haares. Im Rauschen hörte Ashe die Stimme seines Vaters. Vielen Dank, alter Knabe. Ashe drehte sich um und ging in den rauchenden Wald, um Lark und die anderen zu suchen. 58 Tyrian Jeder der Hügel in der Stadt Tyrian enthielt einen Teil des ausgedehnten königlichen Komplexes, der in dem Thronraum über Tomingorllo gipfelte. Im unteren Teil des ersten Hügels namens Newydd Dda befanden sich die Haupthalle und einige der Privatgemächer des nicht existierenden Monarchen und seiner Ratgeber. Hier wartete Rhapsody auf ihr Treffen mit Rial, dem Schutzherrn von Tyrian. Sie stand mit Oelendra in der großen Rotunde und bewunderte das handwerkliche Können sowie die Architektur. Im Gegensatz zur einfachen, nüchternen Ausführung der Großen Halle über Tomingorllo war der Hauptpalast in der Basis des Newydd Dda das Prunkstück Tyrians, wo früher die Botschafter gewohnt hatten und die internationalen Geschäfte getätigt worden waren. Er befand sich in einem gewaltigen Hof und war umgeben von einem massiven Wall mit steinernen Wachttürmen, die bei weitem den Glanz der Festung des Herrn von Roland in Bethania übertrafen. Rhapsodys Augen, die allmählich von den bitteren, irrtümlichen Tränen genasen, welche sie kürzlich geweint hatte, nahmen den Anblick verwundert in sich auf. Die Rotunde enthielt in der Mitte einen gewaltigen kreisrunden Kamin, dessen Feuer den ausgedehnten Palast und dessen Flügel wärmte und sie das ganze Jahr über bei gleich bleibender Temperatur hielt. Der Palast war um viele große Bäume herum errichtet worden, die nun in seinem Innern wuchsen, so wie eine Vielzahl von grünen Pflanzen und Blumen, die durch die Wärme im Hauptkamin unablässig gediehen und einem das Gefühl gaben, sich in einem Treibhaus zu befinden. Ein geschliffener Kristallschirm umgab den Kamin, und die prismatischen Reflektionen hatten einen hypnotischen Effekt auf Rhapsody. Sie und Oelendra setzten sich auf eine der mit Kissen belegten Holzbänke vor dem Feuer und warteten auf den Schutzherrn. Ihre Blicke wanderten über das zierlich beschnitzte Holz des Palastes, das auf Hochglanz poliert war. Der Boden war ein gigantisches Mosaik aus hellem Marmor, dessen Muster die früher vereint gewesenen Gruppen der Lirin mit abstrakten Darstellungen des Meeres, der Ebenen, Wälder und Städte von Manosse ehrte. Rhapsody war gerade vom Besuch zweier dieser Gruppen zurückgekehrt. Die Neuigkeiten, die sie mitgebracht hatte, waren nicht viel versprechend. Sie schaute auf und bemerkte, dass Rial lächelnd auf sie zuging. Die beiden Frauen erhoben sich, als er sich ihnen näherte und sie mit freundlichen Blicken bedachte. Er ergriff Rhapsodys Hand und verneigte sich darüber, dann verbeugte er sich vor Oelendra, die die Geste erwiderte. »Herzlich willkommen, Rhapsody«, sagte er und zog sanft ihre Hand unter seine Armbeuge. »Wie war dein Besuch in der Ebene?« »Beunruhigend, fürchte ich«, entgegnete sie, während die drei zu Rials Büroräumen im östlichen Flügel des Palastes gingen. »Die Gewalt in der Ebene ist anscheinend noch schlimmer als hier; ihr fehlender Schutz bietet bessere Möglichkeiten für wahllose Angriffe, was ich erwartet hatte. Ihr Heer ist gut ausgebildet, aber klein. Die Raubzüge eskalieren.« »Haben sie um Hilfe gebeten?« »Nein, es hat ihnen nicht behagt, Hilfe aus dem Wald anzufordern, obwohl sie früher einmal ein Teil von Tyrian waren. Ein Bündnis wäre empfehlenswert. Tyrian könnte einige seiner Wacheinheiten erübrigen, um das Heer der Ebene zu verstärken, und diese wiederum könnte eure Südgrenze bewachen.« »Aber werden sie damit einverstanden sein?« Rhapsody seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich vermute, es hängt davon ab, wie zwingend sie meinen Vorschlag für eine Wiedervereinigung finden.« Rial hielt ihnen die Tür zu seinem kleinen Büro auf, das zwar sauber war, aber vor Manuskripten und Schriftrollen überquoll. Rhapsody schaute sich um und schüttelte den Kopf. »Warum ziehst du nicht in das große Arbeitszimmer des Monarchen, wo es doch augenblicklich keinen König gibt? Es ergibt keinen Sinn, dass du, der du den ganzen Handel und die Botschaftsangelegenheiten regelst, hier in dieser winzigen Kammer hockst, während der große Raum hinter der Halle leer steht, und zwar seit hundert Jahren.« Rial bot den Frauen zwei Stühle an, während er selbst sich gegen die Schreibtischkante lehnte und lachte. »Weißt du, Rhapsody, du siehst zwar vielleicht wie eine orlandische Cymrerin aus, aber du redest ganz wie eine Lirin.« Rhapsody lächelte ihn an. Trotz ihrer monarchischen Tradition waren die Lirin eine gleichmacherische Gesellschaft. Es gab keine Heiratslotterie; sowohl Männer als auch Frauen dienten im Heer, als Wachen und Botschafter. Die Erbfolge bevorzugte das älteste Kind, nicht den ältesten Sohn, und jeder Monarch musste vom lirinschen Rat und der Diamantsplitterkrone selbst bestätigt werden. Es war eine monotheistische und monogame Gesellschaft, die Rhapsodys Idealen vollkommen entsprach. »Vielen Dank«, sagte sie ernsthaft. Dann kam ihr ein Gedanke. »Interessanterweise hat mir Herzog Stephen einmal gesagt, dass ich zwar wie eine Cymrerin aussehe, aber die Manieren einer Bolg habe.« »Aus dem Mund eines Cymrers ist das ein großes Lob, auch wenn er es vielleicht nicht weiß«, bemerkte Oelendra trocken. Rial und Rhapsody lachten. »Wie sollen wir deiner Meinung nach vorgehen?«, fragte Rial und setzte sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch. »Nun, ich glaube, wir sollten uns im Thronraum mit allen lirinschen Botschaftern zusammensetzen. Die Macht des Dämons wächst, weil es ihm irgendwie möglich ist, Soldaten jeglicher Truppen auf Mordmissionen zu schicken, an die sie sich danach nicht mehr erinnern können. Ich bin sicher, dass es sich mit dem Eindringen der Menschen in die Länder der Lirin genauso verhält. Der erste Schritt besteht also darin, die kleinen Zwistigkeiten zwischen den verschiedenen lirinschen Gruppen beizulegen und sie wieder zusammenzubringen. Auf diese Weise wird der F’dor weniger Lager haben, die er gegeneinander aufwiegeln kann.« »Und dann?« »Zweitens treffen wir uns mit Tristan Steward und seinen Herzögen. Wir gehen ein Bündnis mit Roland ein.« Rial stieß einen Pfiff aus. »Ich fürchte, du begreifst nicht die Schwierigkeiten dessen, was du da vorschlägst, meine Liebe.« »Doch, und genau das ist der Grund, warum sie so weise ist, einen Versuch zu wagen«, sagte Oelendra und lächelte Rhapsody an. »Manchmal braucht man ein neues Auge, das nicht weiß, warum ein Erfolg angeblich unmöglich ist.« Rial nickte. »Die Bolg und Roland haben bereits ein Abkommen miteinander; Sorbold hat eines mit diesen beiden Ländern und mit den Lirin. Die Neutrale Zone hat ihre eigenen Probleme, aber der Dämon scheint sich nicht sehr um sie zu kümmern, auch wenn ich vorhersagen kann, dass sie die Nächsten sein werden. Wer immer diese Überfälle befiehlt, hat Zugang zu den Soldaten dieser Länder. Sobald wir alle miteinander verbündet sind, können wir diese Person bestimmen. Es kommt nur eine Hand voll Leute infrage, die unbehelligt von Lager zu Lager wechseln können.« »Prostituierte? Kaufleute?« »Vielleicht«, sagte Rhapsody mit einem Nicken. »Was ist mit Anborn ap Gwylliam?«, fragte Oelendra. »Er hat den von dir erwähnten Zugang zu allen Ländern, selbst zur Neutralen Zone und den Ländern jenseits von Hintervold. Er hat auf allen Seiten und gegen alle gekämpft. Wer wäre besser in der Lage, unverdächtig hin und her zu wechseln?« Rhapsody dachte an ihre Rettung aus der Hand der Blutsverwandten, an Anborns grobe, aber sorgfältige Dienste, nachdem er sie vor dem Sturm gerettet hatte. Der Gedanke an ein mögliches Doppelspiel Anborns schnürte ihr den Magen zu, doch sie konnte diese Möglichkeit nicht ausschließen. Dann kam ihr ein noch schrecklicherer Gedanke. Falls Anborn der Dämon war, hatte sie allein in seiner Hütte geschlafen und war in seiner Gegenwart verwundbar gewesen. Vielleicht stand sogar sie selbst unter seinem Bann in diesem Augenblick, unwissend. Diese Vorstellung war zu viel für sie. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir niemanden ausschließen«, sagte sie und stand auf. »Was sagst du dazu, Rial? Ist es einen diplomatischen Einsatz wert?« Rial lächelte. »Das ist es, Rhapsody, und sei es nur, um mit anzusehen, wie du diese hart gekochten Knicker um den Finger wickelst.« »Knicker« war ein viel zu nettes Wort für das Verhalten der lirinschen Botschafter, entschied Rhapsody viele Stunden später, als sich die Dunkelheit über das Land legte. Sie hatten ohne Unterbrechung gestritten, seit die beiden in der Großen Halle oberhalb von Tomingorllo angekommen waren, und je mehr Abgesandte an dem Gespräch teilgenommen hatten, desto scheußlicher war es geworden. Schließlich schlug Rhapsody gegen die hölzerne Bank, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Das ist doch lächerlich«, sagte sie erschöpft. »Ich könnte dieses Verhalten in Roland verstehen. Dort gibt es so viele widerstreitende Erbfolgen sowohl bei den Cymrern als auch bei den anderen, dass es beinahe als Entschuldigung für ihr Verhalten angesehen werden kann, auch wenn es dem Kampf um die Süßigkeiten bei einem Kindergeburtstag ähnelt. Aber ihr, meine Damen und Herren, verwirrt mich. Ihr seid Lirin, die älteste aller Rassen in diesen Ländern. Ihr habt Jahrhunderte voller Kämpfe und Blutvergießen gesehen. Ihr habt es selbst durchgemacht, nicht aus Legenden erfahren, sondern mit eigenen Augen gesehen und am Tod eurer eigenen Verwandten gespürt. Was muss noch passieren, damit ihr aufwacht und begreift, was hier geschieht? Bald wird der Feind es nicht mehr nötig haben, eure Länder zu zerstören. Ihr werdet es selbst getan haben! Ihr solltet diejenigen sein, die am leichtesten zu überzeugen sind, aber ihr scheint es darauf anzulegen, euch über Nichtigkeiten zu streiten. Offenbar stimmt ihr nur darin überein, dass ihr Roland und seiner cymrischen Linie nicht traut, obwohl auch viele eurer eigenen Leute von dieser Linie abstammen. Nun gut, ich will euch etwas fragen. Wenn es Anborn war, der den Diamanten zerstört und eure Thronnachfolge im Unklaren gelassen hat, warum wollt ihr das fortführen? Die Ahnen Rolands werden euch für alle Zeiten getrennt und schwach halten. Erhebt euch darüber! Wählt unter euch selbst einen aus, der nicht zwischen See-Lirin, Wald-Lirin, manossischen Lirin oder Ebene-Lirin unterscheidet, sondern der nur Lirin kennt! Das sollte doch nicht so schwer sein.« Die Botschafter starrten sie verblüfft an. Schließlich schüttelte Temberhal, der Abgesandte Tyrians in Manosse, seine Erstarrung ab und redete sie höflich an. »Wie sollen wir das deiner Meinung nach erreichen?« »Zuerst müsst ihr mit der Wiedervereinigung einverstanden sein. Behaltet eure unabhängigen Anführer, aber stellt sie unter einen Herrscher, der ihre innere Unabhängigkeit anerkennt, und schwört ihm oder ihr Treue. Könntet ihr euch damit wenigstens theoretisch einverstanden erklären?« Die Botschafter sahen einander an. Einer nach dem anderen nickte. »Gut. Als Nächstes verspricht jeder von euch diese Treue auch der Krone. Sie wurde schon immer als Richterin der Weisheit angesehen. Bittet sie darum, einen würdigen Kandidaten auszuwählen. Stimmt zu, euch mit ihrer Entscheidung abzufinden. Geht dann in eure Länder zurück und kehrt mit jemandem wieder, der eurer Meinung nach die Fähigkeit zum Hochkönig oder zur Hochkönigin aller Lirin hat, und seht, wen die Krone davon auswählt. Krönt ihn oder sie sofort. Ist das gerecht?« Schweigen hing einen Moment lang über dem Thronraum, dann kehrten die Botschafter zu ihren Diskussionen zurück. Diesmal aber schienen die Gespräche etwas zu bringen. Rhapsody sah Oelendra an, die lächelte und leicht nickte. Sie stieß einen Seufzer aus und sah durch die Öffnung in der Mitte der Decke hoch zu den Sternen, die allmählich in dem dunkler werdenden Himmel erschienen. Sie hatte ihren Gruß bei Sonnenuntergang leise auf dem eisigen Hügel außer halb der Großen Halle gesungen und damit den ersten Durchbruch bei den Gesprächen erzielt. Als sie und Oelendra zurück in das Gebäude gegangen waren, hatten sie festgestellt, dass die Botschafter sie von der Tür aus gemeinsam anglotzten. Der Friede war allerdings nur von kurzer Dauer gewesen, und einige Augenblicke später wurden die Kämpfe wieder aufgenommen. Jetzt redeten sie wenigstens freundlich miteinander. Oelendra stand auf, als die Gespräche der Botschafter kein Ende nehmen wollten, kam herüber zu Rhapsody und setzte sich neben sie auf die große runde Bank. »Wie sieht dein nächster Schritt aus? Was ist, wenn sie sich nicht einigen können?« »Ich will sie aushungern, bis sie mitmachen«, antwortete Rhapsody feierlich. »Ich habe Rial gesagt, dass keine Nahrung hereingebracht werden und niemand essen darf, bis sie einverstanden sind. Das ist zwar keine gute Art, Zustimmung zu erzeugen, aber allmählich geht mir die Geduld aus. Als Nächstes wird kein Holz mehr im Kamin nachgelegt; dann frieren sie so lange, bis sie zur Vernunft kommen.« Oelendra kicherte, und Rhapsody schüttelte den Kopf. »Weißt du, Oelendra, diese Erfahrung hat mir die Augen geöffnet. Ich weiß nicht, was ich hier erwartet habe, da ich in dieser Gesellschaft eigentlich keinen richtigen Platz innehabe, aber was immer ich zu erreichen gehofft hatte, ist gescheitert. Ich fürchte, ich bin nicht für die Diplomatie geschaffen.« »Unsinn«, sagte Oelendra. »Zusätzlich zu deinen anderen Fähigkeiten hast du den großen Vorteil, dass du keiner dieser Gruppen angehörst. Du bist nicht voreingenommen. Außerdem hast du keine Vorstellung davon, wie bemerkenswert es ist, dass diese Leute so lange im selben Raum sitzen; das ist zweifellos ein Rekord. Das ist schon für sich genommen eine großartige Leistung, was immer sonst noch hier geschehen mag, Rhapsody. Es kommt nicht oft vor, dass eine Kriegerin als Schlichterin dient.« »Eigentlich glaube ich, dass ich zu keinem davon tauge«, sagte Rhapsody ernsthaft. »Jetzt hör aber auf«, meinte Oelendra streng. »All das haben wir doch schon auf dem Weg zum Hof der See-Lirin besprochen. Du hast bei Llauron nicht versagt; er hat deine Dienste abgelehnt. Die Ilianchenva’ar muss die Gebräuche der religiösen Führer anerkennen, die sie beschützt, Rhapsody. Du hättest nichts anderes tun können.« Rhapsody schaute fort. Sie hatte ihrer Freundin nicht gesagt, dass Llauron noch lebte, obwohl sie dies gern jemand erzählt hätte. Sie bezweifelte, dass sie sich dazu durchringen könnte, es Achmed oder Grunthor zu berichten, obwohl sie sicher war, dass Ashe Verständnis dafür hätte, wenn sie es täte. Sie rieb sich die Augen und versuchte, den bohrenden Kopfschmerz zu besänftigen. Sie war es leid, die Geheimnisse anderer Leute mit sich herumzutragen. Ihre eigenen wogen schwer genug. »Meine Dame?« Rhapsody schaute auf und bemerkte, dass Temberhal vor ihr stand; die anderen Botschafter warteten hinter ihm. Die edle Anrede verursachte bei ihr immer ein Lächeln, so wie es auch der Titel einer Herzogin von Elysian tat, der ihr zum Scherz verliehen worden war. »Ja?« »Wir haben eine Übereinstimmung erzielt. Wir sind einverstanden, uns zu vereinigen.« Bei diesen Worten verschwanden Rhapsodys Kopfschmerzen. Sogleich stand sie auf und umarmte Oelendra. »Wunderbar«, sagte sie und lächelte Temberhal und die anderen an, deren Gesichter nun ihr Grinsen widerspiegelten. »Den Sternen sei Dank. Aber eines nach dem anderen. Jetzt werden wir erst einmal etwas essen, Rial. Ich sterbe vor Hunger.« Nachdem die Palastdiener die Reste des Abendessens abgeräumt hatten, nahmen die Botschafter ihre Plätze um die Krone herum ein. Als Schutzherr fiel es Rial zu, das Gelübde zu erbitten. Er wirkte nervös und aufgeregt, als er mit der Hand auf dem Glaskasten dastand, unter dem die Krone ruhte. Rhapsody lächelte ihn an, sie las die Aufregung in seinen Augen. Insgeheim hoffte sie, dass die Krone ihn erwählen würde. Sie spürte, dass seine Weisheit und Freundlichkeit viel dazu beitragen konnten, das zersplitterte lirinsche Volk wieder zusammenzubringen. Dann kam ihr ein Gedanke. »Rial, soll ich das Sternenlicht auf die Krone herabrufen und sie segnen, bevor du beginnst?« Sie sah ihn an; ihr Grinsen wurde breiter, als er nickte, dann wandte sie sich den anderen zu, die ebenfalls einverstanden waren. Rhapsody zog die Tagessternfanfare und spürte die Macht, als das Schwert seine Freiheit genoss. Ein helles Licht blitzte auf, sobald die Klinge die Scheide aus schwarzem Elfenbein verließ und die Botschafter und sogar Oelendra sich die Augen beschirmen mussten. Rhapsody begab sich in die Mitte des Raumes, hob das Schwert gegen den Nachthimmel und schloss die Augen. Sie sang aus dem Stegreif und rief die Sterne, damit sie die Krone ihrer Kinder mit Licht und alter Weisheit segneten. Zur Antwort stieg ein Strahl von großer Helligkeit aus dem Himmel durch die kreisrunde Öffnung in der Decke herab und badete die Krone und ihren Sockel sowie die umstehenden Botschafter in weißem Licht, das heller als die Sonne war. Mit geschlossenen Augen erfühlte Rhapsody das Licht und hörte einen Moment später ein tiefes Lied im Thronsaal. Es war der Gesang der Krone, der seit unvordenklicher Zeit nicht mehr gehört worden war. Ihre Musik erreichte die Herzen aller Anwesenden und lähmte sie. Sie öffnete die Augen und schaute das Diadem an. Es glitzerte in den Farben unzähliger Regenbögen. Jede Facette des Diamanten leuchtete in gebrochenem Glanz. Das Licht und die Farben, die es erschaffen hatte, blieben auch noch, als der himmlische Schein, den die Tagessternfanfare herabgeholt hatte, verschwunden war. Der dunkle Raum erhellte sich nun unter dem Strahlen der Krone. Rhapsody sah hinüber zu Oelendra, die das Diadem mit Tränen in den Augen betrachtete. Als sich die Sängerin umschaute, stellte sie fest, dass auch in den Augen von Rial und den Botschaftern Tränen standen. Plötzlich überkam sie ein seltsames Gefühl der Unsicherheit. Es war, als drängte sie sich in etwas hinein, das den Leuten dieses Landes heilig war. Sie war keine von ihnen und würde es vermutlich nie sein, auch wenn man sie willkommen geheißen und auf sie gehört hatte, als sie die Art der hiesigen Regierung kritisiert hatte. Rhapsodys Gesicht wurde rot in der Dunkelheit, doch die verzauberten Lirin bemerkten es nicht. Ihre Stellung als Halbblut wurde ihr bewusst und war ihr plötzlich peinlich; sie fühlte das Bedürfnis fortzurennen. Doch da dies dem Prozess gegenüber respektlos gewesen wäre, den sie in Gang gesetzt hatte, wich sie nur zurück, bis sie sich bei der Bank vor der Wand befand, und ließ sich schweigend darauf niedersinken. Nach einigen Minuten blinzelte Rial und hob die Hand langsam über den Glasbehälter. Er berührte das Glas, und die übrigen Botschafter folgten seinem Beispiel. Dann sprach er feierlich und mit vor Aufregung tiefer Stimme das Versprechen aus, die Lirin unter einem einzigen Herrscher zu vereinen, und stellte ihm sein Leben zur Verfügung. Die Botschafter stimmten ein, genau wie Oelendra, die lirinsche Wächterin. Als das Gelöbnis vorbei war, kehrte wieder Stille ein. Rial riss die Augen noch weiter auf und warf einen Blick quer durch den Raum auf Rhapsody. Ihre Kehle zog sich zusammen. »Was hast du getan?«, fragte er mit rauer Stimme, als er wieder reden konnte. Unter dieser Anklage wurden ihre Hände schweißfeucht. »Ich ... ich weiß es nicht. Was stimmt denn nicht?« Rial deutete auf die Krone. »Das Diadem spiegelt nicht das Sternenlicht wider. Es erschafft das Strahlen selbst.« Rhapsody kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Verstehst du nicht? Das ist die Erfüllung des Versprechens von Königin Terrell, unter deren Führung die Splitter des Diamanten sorgfältig eingesammelt und in das Diadem eingesetzt wurden. Du hast den Diamanten geheilt, Rhapsody. Du hast dem Stein das Sternenlicht zurückgegeben.« Rhapsody erzitterte. »Es ... es tut mir Leid«, stammelte sie. Rial wandte sich an Oelendra. »Du bist die Einzige von uns, die die Krone lebendig gesehen hat«, sagte er zu der lirinschen Meisterin. »Hat sie damals so ausgesehen?« Die Tränen in den Augen der Kriegerin quollen über und rannen ihr an den Wagen herunter. »Nein«, sagte sie sanft. »So hat die Krone noch nie ausgesehen. Nur der Diamant in seiner ursprünglichen Form hat das Licht der Sterne in sich getragen. Jetzt übertrifft das Leuchten der Krone noch das Licht, das er als einzelner Stein hatte. Vielleicht ist die Strahlkraft durch die unzähligen Splitter erhöht worden.« Das Verlangen nach Flucht verzehrte Rhapsody. Sie stand langsam und so leise auf wie möglich, während die anderen verzaubert das Diadem anstarrten, und wich still zur Tür zurück. Sie hatte sich eben umgedreht und die Schwelle überschritten, als die Stimme ihrer Lehrerin die Luft durchschnitt wie damals während ihrer Ausbildung. »Halt. Wohin willst du gehen?« Widerstrebend drehte sie sich um. »Komm hierher zurück, Rhapsody.« Ihr Zittern wurde immer heftiger. »Oelendra, ich ...« »Sei kein Feigling.« Die Worte ihrer Lehrerin waren barsch, aber in ihren Augen lag das mitfühlende Lächeln von jemandem, der für eine Sache, die größer war als er selbst, schon viele Dinge gegen seinen Willen unternommen hatte. »Komm her.« »Ich kann nicht«, flüsterte Rhapsody. Unvermittelt verspürte sie den Ruf der Krone, der stärker als der des Schwertes war, durch ihren Körper kreisen. »Bitte, ich muss nach Hause gehen.« Rial schüttelte seine Verzückung ab, kam auf sie zu und ergriff sanft ihre Hände. »Es scheint mir, dass du zu Hause angekommen bist.« Er lächelte sie ermutigend an. »Hab keine Angst. Zweifelst du etwa die Weisheit der Krone an?« »Nein.« Ihre Stimme war kaum hörbar. »Dann unterwirf dich ihrem Willen. Du bist ein Kind des Himmels, Rhapsody. Wenn die Sterne der Meinung sind, dass die Lirin dich brauchen, wirst du uns doch wohl nicht den Rücken zukehren? Deinem eigenen Volk?« »Ich habe alles getan, was ich tun kann«, stammelte sie und drehte sich nach den Botschaftern um. Nun schauten alle sie an; auf ihren Gesichtern zeichneten sich verschiedene Grade der Freude ab. »Ihr versteht nicht. Ich bin ein Bauernmädchen.« Die Botschafterin der See-Lirin, eine Frau namens Marceline, verließ den Sockel und kam auf Rhapsody zu. »Du bist diejenige, die nicht versteht«, sagte sie sanft. »Bei den Lirin gibt es keine Bauern. Wir alle sind Kinder desselben Himmels, der sich über uns wölbt. Du bist so würdig wie alle anderen, uns anzuführen, falls du dazu berufen werden solltest.« »Es wäre ziemlich scheinheilig von dir, die Krone nicht anzunehmen, wenn man bedenkt, wie du uns ermuntert hast, nicht wahr?«, fügte Hymrehan hinzu, der Minister aus der Ebene. Oelendra erschien neben ihr und ergriff ihren Ellbogen. »Komm«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. »Wir wollen sehen, ob das Diadem noch etwas zu sagen hat.« Sie geleitete Rhapsody hinüber zu dem Glasbehälter, ließ ihren Arm los und legte die Hand leicht auf den Rücken der Sängerin. »Hab keine Angst. Öffne den Behälter und sieh, was geschieht falls überhaupt etwas geschieht. Vielleicht wurdest du nur dazu gebraucht, der Krone das Sternenlicht zurückzugeben, und sie wählt einen anderen aus, der sie tragen wird.« Mit zitternden Händen öffnete Rhapsody den Deckel. Sofort leuchteten die winzigen Steine des Diadems noch heller und stoben, wie vom Wind aufgewirbelt, aus dem Behälter und um ihren Kopf, den sie wie ein Kranz aus kleinen Sternen umgaben. Die Botschafter traten einen Schritt zurück, als sich das Licht der glitzernden Krone über ihre Gesichter ergoss und kurz in ihren Augen brannte, bevor es zu einem Glühen um Rhapsodys Kopf herabsank. Oelendra lächelte und sah ihre Schülerin zärtlich an. »Na, vielleicht nicht.« Rhapsody brach in Tränen aus. »Bitte, bitte tut mir das nicht an. Ich habe nicht geschworen zu führen, sondern zu dienen.« Rial berührte ihren Arm. »Habt keine Angst, meine Dame«, sagte er förmlich. »Wir alle haben geschworen, Euch zu unterstützen und in jeder erdenklichen Weise zu helfen, nicht wahr, meine Freunde?« Die Botschafter nickten einmütig und lächelten. »Ihr habt mein Versprechen, dass Ihr alle Hilfe bekommen werdet, die Ihr braucht.« »Wie lautete noch gleich Euer Plan?«, fragte Temberhal mit ernster Stimme, aber zwinkernden Augen. »Wir sollten einer Wiedervereinigung zustimmen und einem Anführer oder einer Anführerin Treue geloben, der oder die unsere Unabhängigkeit anerkennt. Das haben wir getan. Wir haben der Krone Treue gelobt und uns ihrer Entscheidung unterworfen.« »Ja«, sagte Jyllian, der Botschafter Manosses am Hof von Tyrian. »Danach sollten wir sehen, wen die Krone erwählt. Ich glaube, auch das haben wir getan. Nun bleibt nur noch der letzte Schritt übrig.« »Ja«, meinte Hymrehan lächelnd. »Und was war das noch gleich, Jyllian?« »Die sofortige Krönung.« 59 Haus des Patriarchen, Sepulvarta Vier Seligpreiser warteten ungeduldig vor der reich beschnitzten Tür aus schwarzem Walnussholz auf die erste Audienz seit mehr als zwei Jahren bei dem Führer ihres Glaubens. Alle waren aufgeregt, doch Philabet Griswold war besonders nervös, denn Nielash Mousa, dem Segner von Sorbold, war es gelungen, vor wenigen Minuten eine Privataudienz zu bekommen, und nun befand er sich bei dem Patriarchen. Zweifellos versuchte er gerade, seinen eigenen Weg zum Ring von Sepulvarta freizumachen. Griswold kämpfte darum, seine Wut unter Kontrolle zu halten, doch er verlor diesen Kampf kläglich. »Wie lange sollen wir denn noch in dieser schrecklichen Halle warten?«, giftete er Gregor an, den Küster des Patriarchen. »Keinen einzigen Augenblick mehr, Euer Gnaden«, erwiderte Gregor trocken und zog die Tür auf. »Der Patriarch wünscht Euch nun zu sehen. Bitte erinnert Euch daran, Euer Gnaden, dass er bei sehr schlechter Gesundheit ist und nicht aufgeregt werden darf.« Griswold starrte ihn an und lief dann rasch in den Raum. Die anderen drei Seligsprecher nickten, und Lanacan Orlando klopfte Gregor auf den Arm, als er an ihm vorbeiging. Man hatte den Raum, der für gewöhnlich kalt war, in Ermangelung eines Kamins heute mit heißem Wasser geheizt, das über erwärmte Steine gegossen wurde, damit der angeschlagene Patriarch keine Erkältung bekam. Dampfwolken stiegen auf und senkten sich wieder; sie wogten wie Nebel über den silbernen, in den Boden eingelassenen Stern, den einzigen Schmuck des Zimmers. In dem schweren schwarzen Walnussholzsessel auf einem marmornen Podest saß in seinen bauschigen silbernen Roben der zerbrechlich wirkende und ausgemergelte Patriarch. Seine hellen blauen Augen leuchteten aus dem Gefängnis des verfallenden Körpers. In der Klauenhaften, heftig zitternden Hand hielt er eine kleine Schriftrolle. Er deutete auf die fünf Stühle inmitten der wogenden Nebel; auf einem saß bereits der Segner von Sorbold. »Bitte setzte euch«, sagte er. Trotz seiner gebrechlichen Erscheinung war seine Stimme klar, wenn auch dünn. Die Segner setzten sich; Griswold nahm mit einem offenen Stirnrunzeln den Stuhl, der am weitesten von Mousa entfernt stand. Der Blick des Patriarchen glitt von einem zum anderen und zuletzt zu Gregor, der ihm eine kleine weiße Karte überreichte. »Vielen Dank ... dass ihr alle so schnell gekommen seid. Ich habe euch drei Dinge mitzuteilen, meine ... Brüder in der Gnade«, sagte er stockend, warf einen Blick auf die Karte und sah dann wieder die Segner an. »Wie ihr sicherlich ... vermutet, läuft meine Zeit auf dieser Welt ab, und deshalb will ich ... mich auf das beschränken, was ... am wichtigsten ist. Ich muss euch das Folgende sagen: Erstens habe ich ausführlich mit... dem Segner von Sorbold über die schreckliche ... Tragödie auf dem Winterfest in ... Navarne gesprochen und die Sendschreiben des ... Kronprinzen und der Königinwitwe gelesen, das sie diktiert hat. Ich bin überzeugt... dass dies ein unerklärlicher und ... einzelner Akt der Gewalt war, der jenen ähnelt, die ... während der letzten Jahre verübt wurden, und nicht ein Angriff, der ... von der Krone von Sorbold ... oder dessen Segner ausgeführt wurde.« Der Patriarch hustete schwer und sah dann Philabet Griswold scharf an, der schon aus Protest halb aufgestanden war. »Daher ist es die ... Auffassung des Ringes, dass ... Sorbold in keiner Weise für diesen Raubzug noch stärker leiden soll, als wir alle ... es schon getan haben.« »Euer Gnaden«, platzte Griswold heraus. »Zweitens«, fuhr der Patriarch fort und schaute auf seine Karte, »hat der Ring eine ... Einladung erhalten, vermutlich wie ihr alle, an der... Krönung der neuen lirinschen Königin in Tyrian teilzunehmen.« Er sah mit dem Anflug eines Lächelns auf. »Ich will hingehen. Und ich sähe es gern, wenn ... ihr alle mitkämet.« Ian Steward von Canderre-Yarim und Lanacan Orlando aus Bethe Corbair sahen sich zweifelnd an. »Aber Tyrian hängt dem Glauben von Gwynwald an, Euer Gnaden«, sagte Steward. »Ja, und er steht unter der ... Führerschaft eines neuen Fürbitters. Aber ich mag die ... neue Königin sehr; ich verdanke ihr mein Leben. Und wenn ich schon ... nicht mehr lange leben werde, möchte ich es so ... verbringen, wie ich es für richtig halte. Ich lade euch ein, mich ... zu begleiten.« Jeder der Segner nickte, Griswold nur ganz knapp, während Nielash Mousa seinem Blick auswich. Die Reise, die der Patriarch vorgeschlagen hatte, würde bedeuten, dass er zum ersten Mal seit seiner Einsetzung Sepulvarta verlassen würde. »Schließlich«, fuhr der Patriarch fort, »weiß ich, dass ... ihr alle sehr besorgt über die Frage meiner Nachfolge seid.« Er schnaufte heftig, wobei Colin Abernathy und Ian Steward aufsprangen. »Sobald meine ... Entscheidung gefallen ist, wird sie ... in dieser Schriftrolle festgehalten. Es ist meine große Hoffnung, dass ... ihr es nicht zulassen werdet, persönliche ... Gründe nach meinem Ableben in den Vordergrund zu stellen. Der Schöpfer... spricht nur zu demjenigen, der als Patriarch... mit einem klaren Bewusstsein und dem Wunsch ... eingesetzt ist, sich Seinem Willen zu unterwerfen. Erinnert euch immer daran.« Die Hand, welche die Schriftrolle hielt, zitterte noch stärker. Der Küster ging hoch zum Thron und hielt dem religiösen Führer die Hand. »Wollt Ihr jetzt zum Hospiz zurückgehen, Euer Gnaden?«, fragte er, während er dem Patriarchen einen Becher Wasser an die Lippen hielt. Der Patriarch nahm einen Schluck und nickte. »Sehr gut. Dank sei euch, eure Gnaden, jedem von euch. Die Kutsche fährt morgen früh bei Sonnenaufgang ab; ich hoffe, bis dahin seid ihr reisefertig.« »Einen Moment, Euer Gnaden«, rief Colin Abernathy, als sich der Patriarch bebend erhob. Er beachtete den Blick des Küsters nicht und fügte hinzu: »Ich sehe, dass Ihr heute Morgen nicht den Ring der Weisheit tragt. Gibt es dafür einen besonderen Grund?« Der gebrechliche alte Mann richtete sich auf und ließ für einen Moment den Arm des Küsters los. Ein böswilliges Glänzen trat in seine Augen. »Allerdings, Colin. Man könnte denken, dass ... in meinem Alter und bei meinem Zustand eine solche Reise nur ... gegen den Ratschluss der Weisheit unternommen werden kann. Man kann sie nur ... als eine sehr unkluge Idee ansehen, die meiner Gesundheit und der Fortführung meiner Existenz zum Schaden gereicht.« Er lehnte sich ein wenig vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Aber ich werde es trotzdem tun!« Er packte wieder Gregors Arm, machte einige Schritte auf die Marmorstufen zu und sah dann ein letztes Mal über die Schulter, bevor er sich auf den Rückweg zu seinem Krankenbett machte. »Seid versichert, Colin und ihr anderen, dass der Ring da sein wird, wenn der neue Patriarch den Thron besteigt, wer immer es sein mag.« Herrscherpalast, Bethania Das Arbeitszimmer des Herrn von Roland war kalt; das Feuer im Kamin war während der Nacht heruntergebrannt. Tristan Steward saß davor, hielt ein Glas Whiskey in der einen Hand und in der anderen das Pergament mit der Einladung und dachte über sein Leben und darüber nach, wie er es verbessern könnte. Zum ersten Mal seit beinahe einem Jahrhundert hatten die Lirin eine Königin gewählt. Ihre Wahl war für ihn keine Überraschung. Er starrte das kalligraphierte Sendschreiben an und trank sein Glas leer. Als die Flüssigkeit in seinem Schlund brannte, biss er die Zähne zusammen. Welch eine gigantische Verschwendung, dachte er und drehte die Einladung spielerisch in der Hand. Ich habe ein Ungeheuer geheiratet, um Canderre meinem Besitz hinzuzufügen, und wenn ich meine Herzensdame geheiratet hätte, wäre mir letztlich die Herrschaft über Tyrian zugefallen. So etwas war im Zuge der Geschichte noch nie geschehen. Wie traurig. Nun, er hatte ein Jahr Zeit, um seinen Fehler zu berichtigen. Wenn er Madeleine dem Haus ihres Vaters zurückgab und ihre Verbindung löste, würde das sicherlich für einen gewaltigen Aufschrei in den Herrscherhäusern von Roland sorgen. Cedric Canderre würde zweifellos versuchen, ihn aus ihren gemeinsamen Kreisen zu verbannen und vielleicht auch seine Truppen aus dem Bündnis nehmen. Doch ein Umstand, der noch nicht eingetreten war, würde alles ändern. Innerhalb eines Jahres würde er König sein. Zeit war alles. Der Fürst von Roland stand entschlossen auf und rief nach seinem Botschafter. »Evans. Evans!« Als der alte Mann noch im Nachthemd an der Bibliothekstür erschien, gab Tristan Steward den umhereilenden Dienern bereits seine Anweisungen. Er hielt nur kurz inne, um einen Blick über die Schulter auf den alten Botschafter zu werfen. »Evans, pack deine wichtigsten Reiseutensilien zusammen. Wir müssen an einer Krönung teilnehmen.« Diener freigab. Er lehnte sich vor und machte eine Geste, die den Fahrer davon abhalten sollte, den Patriarchen und die vier anderen Segner zu wecken, die auf den kleinen Bänken an den Innenwänden des Gefährts schliefen. »Was ist los, mein Sohn?«, fragte der heilige Mann. »Die Brücke ist in einem schlechten Zustand, Euer Gnaden. Eis hat die Hauptstütze zerbrochen. Wir müssen umkehren und nach Norden zu Fischers Landung fahren; das ist von hier aus die nächste Stelle, an der wir den Phon überqueren können.« Der heilige Mann nickte, und das kleine Fenster wurde wieder geschlossen. Er sah verächtlich auf die anderen Männer, die in verschiedenen disharmonischen Tonlagen schnarchten und hässliche Knacklaute von sich gaben. Jeder von ihnen hatte sich in die Arme des Schlafes gehüllt. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Vielleicht im Sommer oder noch davor; seitdem hatte er kein Bedürfnis nach Schlaf mehr, sondern verbrachte seine Tage und Nächte in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit. Der menschliche Körper, den er bewohnte, wurde manchmal müde, fiel aber nie in völlige Bewusstlosigkeit. In den ruhigen Augenblicken trieb sein Geist in einer Art von Meditation durch Gedanken und Träume, die sowohl den Platz des Schlafes als auch den des Wachseins eingenommen hatten. In gewisser Weise war er ein Schlafwandler: immer auf der Hut und auf den Tag wartend, an dem der Schlaf völlig enden würde. Und der Albtraum beginnen konnte. Es war beinahe so weit. An der Brücke über den Phon in Bethania Die massive Kutsche des Patriarchen kam in der Dunkelheit zu einem plötzlichen Halt. Der heilige Mann setzte sich aufrecht hin, als sich das kleine Fenster am vorderen Ende des Wagens öffnete und den Blick auf das Gesicht eines der vier[...] 60 Südwestliches Navarne, am Rande des Waldes von Tyrian »Hatte ja keine Ahnung, dass du auch Flöten machen kannst«, bemerkte Grunthor, während er das erlöschende Feuer mitten in ihrem Lager am Rande von Tyrian betrachtete. »Du bist wirklich ’n Mann mit vielen Talenten.« Er blickte in die Dunkelheit des Waldes und rechnete nach, dass sie bei ihrer Geschwindigkeit einen Tag vor der Krönung eintreffen würden. Achmed trieb langsam einen spitzen Schneckenbohrer in das lange, lackierte Instrument, das er in Gwylliams Schatzgruft in einer Kiste mit Messingbändern gefunden hatte. »Mir gefällt die Vorstellung nicht, unbewaffnet zu sein. Diese Flöte ist ein Geschenk für Rhapsody; ich glaube, es ist eine Antiquität. Falls nicht, dann sieht sie jedenfalls so aus, wenn ich mit ihr fertig bin.« Seine Stimme schwang in den Rhythmus seiner Arbeit ein. Verstehen legte sich in Grunthors Stimme. »Erwartest du ’n Problem bei der Krönung? Von wem?« »Von keinem und jedem. Die Lirin nehmen ihre ›Keine Waffen‹ Regel sehr ernst. Als ich das hier mitgenommen habe, habe ich mir gedacht, es könnte als Stock dienen, aber ich will unbedingt vorbereitet sein, falls jemand erscheint, der nicht eingeladen ist.« Grunthor nickte. »Ich erwarte zwar, dass die Lirin Rhapsody gut bewachen, aber ich will nicht hilflos sein, falls es eine Panne gibt.« »Was für Pfeile willst du denn in deiner ›Flöte‹ benutzen?« »Die schweren. Aus diesem Grund muss das Innere gefurcht sein.« »Klingt wie Hrekin.« »Das wird ihr egal sein. Es ist der gute Vorsatz, der zählt. Besonders wenn er ihr das Leben rettet.« Die Reisenden arbeiteten eine Weile weiter und hörten erst auf, als der Feuerkreis völlig dunkel geworden war. Grunthor fütterte die Pferde, die ein paar Schritte entfernt standen, und deckte sie für die Nacht zu; dann begab er sich in das geschützte Gebiet zwischen Achmeds Wachtposten und dem Feuerkreis und legte sich schlafen. Er sah in die Richtung des Fir-Bolg-Königs und erkannte schwach seine Umrisse. »Wirst du ihr etwas von dem anderen Zweck der Flöte sagen?« »Nein. Das ist nicht nötig, wenn du die Pfeile aus den Körpern entfernst, bevor Rhapsody sie bemerkt.« Achmed kauerte sich dichter über den Boden. »Es ist wichtig, dass sie es nicht weiß. Sie hat jetzt ihren Platz gefunden, und wenn sie sich das Leben erobern möchte, das sie haben will, muss sie das Gefühl haben, allein für sich verantwortlich zu sein.« Ein verärgertes Seufzen kam von der Stelle, wo Grunthor lag, und in der Antwort des Riesen war ein tiefes Grummeln zu hören. »Ich hass es, sie hinters Licht zu führen. Ihr lebt alle mit so vielen Lügen. Ich weiß nich, wie ihr das aushaltet.« »Alle außer dir, mein Freund; ich weiß. Wenn man über einige Dinge die Wahrheit sagt, bedeutet das, dass man sie über alles sagt. Die Lügen helfen uns dabei, uns selbst auszuhalten. Ich hoffe, du lebst lange genug, um zu verstehen, was ich meine.« Grunthor, der den Klang der verwirrenden Stimme schon so lange kannte, war bereits eingeschlafen. Der Lirin Palast in Newydd Dda Rhapsody sah aus dem Balkonfenster in die Dunkelheit des Hofes. Den ganzen Tag und bis tief in die Nacht waren Vorbereitungen getroffen und die Bäume von Tyrians Wald mit Winterblumen und Windspielen behangen worden. Im Hof hatte man ein Podest errichtet, wobei man die bereits bestehenden Tribünen benutzt und so hingestellt hatte, dass die Ehrengäste vor der frisch gekrönten Königin vorbeidefilieren konnten. Das andauernde Hämmern und Sägen vor dem Fenster erinnerte Rhapsody an die Errichtung eines Galgens. Das war ein passendes Bild, denn sie fühlte sich in der Tat wie eine Gefangene, die am nächsten Morgen hingerichtet werden sollte. Als der Lärm verstummt war, öffnete sie die großen Glastüren, um die Nachtluft hereinzulassen. Die Vorhänge bauschten sich im Wind, der das Schlafzimmer mit dem süßen Duft einer warmen Winternacht erfüllte. Die Blätter der Bäume, die den Baldachin des Bettes bildeten, raschelten über ihr, als sie sich untröstlich niedersetzte und wünschte, sie wäre in Elysian. Die Vorhänge flatterten wieder auf und eine verhüllte Gestalt trat aus dem Schatten auf den Balkon und kam in das Zimmer. Rhapsody schaute auf und war entsetzt über die Lücke in den Sicherheitsvorkehrungen. Doch dann legte sich ein breites Grinsen der Erleichterung auf ihr Gesicht. Sie sprang aus dem Bett und lief auf den Eindringling zu. »Du bist gekommen! Ich hatte es so gehofft. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen.« »Das Schafott ist fast fertig«, sagte Achmed mit einem trockenen Lächeln. »Noch ist Zeit zur Flucht.« »Führe mich nicht in Versuchung. Ich habe gehofft, du würdest mich davon abhalten.« Rhapsody nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn in ihren Schrank. »Es gibt keine neuen Welten mehr, in denen du Zuflucht suchen könntest«, sagte Achmed und goss aus der Karaffe auf der Anrichte Branntwein in ein schweres Kristallglas. Rhapsody erzitterte. Selbst nach dieser langen Zeit war die Erinnerung an die Wurzel noch sehr lebendig in ihr. »Ich dachte, du bist hier, um mich aufzumuntern.« »Das Fenster ist offen; wir können gehen«, sagte er und setzte sich in einen der samtenen Ohrensessel vor dem Kaminfeuer. »Warum machst du es dir dann bequem?« »Weil ich finde, dass es an der Zeit ist, es mir bequem zu machen.« Achmed sah das Feuer an, das verführerisch brannte. »Jetzt musst du dir einen Platz aussuchen, an dem du leben möchtest. Dieser hier scheint so gut wie jeder andere zu sein.« Rhapsody seufzte. »Wunderbar. Damit bin ich wohl aus Elysian verbannt. Bist du den ganzen Weg bis hierher gekommen, nur um mir mein Herzogtum wegzunehmen?« »Natürlich nicht.« Achmed nahm einen Schluck. »Du brauchst es dringender denn je.« Rhapsody ging zurück zum Fenster und schloss die Balkontüren. Sie drehte sich um und lehnte sich dagegen, verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte Achmed mit einem langen Blick. »Warum ist es ein so seltsames Gefühl? Bedeutet das, dass es unklug war?« »Ich würde mir an deiner Stelle Sorgen machen, wenn ich kein seltsames Gefühl hätte«, sagte er. »Dann nämlich wären deine natürlichen Instinkte umwölkt. Wenn du nervös bist, ist das ein gutes Zeichen. Wenigstens gehst du die ganze Sache mit offenen Augen an.« Sie kam hinüber zu seinem Sessel, bückte sich neben ihn, nahm sein Kinn in die Hand und zwang ihn, sie anzusehen. »Hilf mir«, sagte sie. Er sah sie mitleidslos an. »Du brauchst meine Hilfe nicht. Du hast alles unter Kontrolle. Du hast ganze Heere, falls du Schutz brauchst. Du hast Ratgeber, falls du Rat brauchst. Du hast einen Staatsschatz, falls du neue Kleider und anderes Spielzeug haben willst, auch wenn die Götter allein wissen, warum das der Fall sein sollte. Du hast meine Schatztruhen geleert, um all das zu kaufen. Welche Hilfe könnte ich dir also geben?« »Sag mir, ob ich das Richtige tue.« »Nein. Das weißt du bereits. Du bekommst nicht erst morgen deine Krone, du hast schon eine, die dir um den Kopf wirbelt. Wenn du die Zeremonie absagen willst, dann tu es. Darin sieht hier außer dir niemand ein Problem.« »Ist das alles? Das ist dein bester Rat?« Er kicherte. »Meinen besten Rat habe ich dir schon vor langer Zeit gegeben: Zieh das Kinn ein, denn du wirst eine Abreibung bekommen. Rechne damit und sei bereit; vielleicht siehst du es sogar kommen. Das bezieht sich nicht nur auf Schlachten und Taktik.« Gegen ihren Willen musste Rhapsody lächeln. »Davon gehe ich aus. Kannst du hier bleiben?« »Eben hast du mich noch gefragt, warum ich es mir bequem mache.« »Da hatte ich noch gehofft, du würdest mich mitnehmen.« »Du musst selbst entscheiden, ob du gehen oder bleiben willst. Das kann ich dir nicht abnehmen.« Rhapsody seufzte ein weiteres Mal und trat wieder zum Fenster. Sie schaute hinaus in die Finsternis des Hofes, erkannte aber weder die Tribüne noch das Podest. Sie lehnte den Kopf gegen das kühle Glas. »Ich bleibe.« Hinter ihr lächelte Achmed. »Wie dem auch sei, brauchst du dich nur umzudrehen, wenn du fertig bist. Ich werde immer dicht hinter dir sein.« »Äh, Herrin, darf ich Euch für einen kurzen Augenblick belästigen?« Rhapsody zog den Gürtel um ihr Seidenkleid und öffnete die Tür zu ihren Gemächern. »Ja, Sylvia?« Sie schirmte die Augen vor der Morgensonne ab, deren Licht sich durch das Fenster neben der Tür ergoss. Die Kammerdienerin rang nervös die Hände. Sie war eine ältere Frau, die Rhapsody sehr mochte. Ihre mandelförmigen Augen, obsidianschwarz wie die der Lirin der Städte, blinzelten im Morgenlicht, als sie mit ruhiger Stimme zu sprechen versuchte. »Da ist ein ... ein Herr, der Euch sehen möchte und der sagt, er sei ein herbeigebetenes Mitglied Eurer Ehrengarde.« Rhapsody ergriff beruhigend die Hände der Frau. Vielleicht war es Anborn; seine Schroffheit übte oft eine einschüchternde Wirkung auf die Leute aus. »Worum geht es?« »Er ... nun ja ...«, stammelte die Kammerdienerin ängstlich. »Er ist groß, Herrin.« Ein erfreutes Lächeln legte sich über das Gesicht der zukünftigen Königin. »Oh, natürlich! Bitte führe ihn sofort herein.« Sylvia erblasste. »Hier herein, Herrin?« Rhapsody streichelte der Frau über die Wange. »Es ist schon in Ordnung, Sylvia. Er ist ein alter Freund einer meiner liebsten. Bitte bring ihn her.« Sylvia starrte sie an, nickte dann und verschwand. Einen Augenblick später betrat ein gewaltiger, grinsender Firbolg den Raum. Rhapsody rannte erfreut in seine Arme. »Grunthor! Ich bin so froh, dich zu sehen.« »Ganz meinerseits, Herzchen«, erwiderte der Sergeant und gab die Umarmung zurück. Dann setzte er sie vorsichtig wieder auf dem Boden ab und schlug die Hacken zusammen. »Ich dank dir dafür, dass du mich in deine Ehrengarde aufgenommen hast.« »Aufgenommen? Sie steht unter deinem Kommando.« Grunthor grinste vor Freude. »Oh, wundervoll. Also, ich bin sicher, das wird ihnen gefallen!« Rhapsody lachte. »Nun, es wird bestimmt eine große Freude sein, euch zuzusehen. Es muss an diesem schrecklichen Tag doch wenigstens etwas geben, worauf man sich freuen kann.« »Na na, das will ich aber nich hören«, meinte Grunthor ernst. »Das is’n wichtiger Tag, wirklich. Hab schon immer gedacht, so was hast du verdient, nachdem du von zu Hause fort musstest und so weiter. Dein Wald ist bestimmt’n schöner. Bist du glücklich hier?« »So glücklich wie ich sein kann, wenn ich von dir und Achmed getrennt bin, glaube ich«, meinte Rhapsody und hielt ihm das Frühstückstablett entgegen. »Bist du hungrig? Sieht hier irgendetwas verlockend für dich aus?« »Hast du ’n paar von diesen kleinen mit Lirin gefüllten?«, fragte der Bolg ernsthaft, während er mit der Klaue über eine der Pasteten strich. »Die hab ich am liebsten.« »Das ist nicht witzig«, sagte Rhapsody, obwohl auch sie lachen musste. Grunthor betrachtete das unangerührte Tablett und gönnte sich dann einige der Delikatessen. »Hast ja keinen Bissen gegessen, Herzchen. Na jetzt aber, na los, iss was. Sonst wirst du noch mitten in deiner eigenen Feier ohnmächtig.« »Gut«, meinte Rhapsody und stellte das Tablett ab. »Vielleicht glauben sie dann, ich sei plötzlich gestorben, und krönen jemand anderen. Aber leider werde ich nie ohnmächtig.« Sie nahm eine Pastete und biss hinein. Ein Klopfen ertönte an der Tür. »Seid Ihr fertig, Herrin? Die Prozession stellt sich auf.« »Mmmment«, nuschelte Rhapsody mit dem Mund voller Pastete. Sie schluckte rasch. »Ich bin gleich fertig, Sylvia.« Gedankenlos zog sie ihr Kleid vor Grunthor aus, glättete den Unterrock und rannte in das Ankleidekabinett. Das wunderbare Kleid, an dem die Näherinnen endlos gearbeitet hatten, hing auf einem Satinbügel. Sie nahm es vorsichtig ab und schlüpfte hinein. »Grunthor, machst du bitte mal den untersten Knopf zu?« Sie reichte ihm den Knopfhaken. Er starrte das Instrument hilflos an, als Sylvia noch einmal klopfte und eintrat. Sie hielt eine glitzernde Perlenkette in der Hand, ein Geschenk der See-Lirin, das in Rhapsodys Haar gewoben werden sollte. »Lass mich das tun«, sagte sie rasch und knöpfte eigenhändig den unteren Teil von Rhapsodys Kleid zu. »Dreht Euch um, Herrin, und lasst Euch anschauen.« Rhapsody gehorchte. Sowohl der Firbolg-Riese als auch die kleine lirinsche Kammerdienerin sahen sie erstaunt an. Ihr wunderbares Haar war über der Stirn zu Mustern gelegt, die an kleine goldene Blumen erinnerten. Die vorderen Locken waren zurückgekämmt, sodass ihr schönes Gesicht ganz frei war. Der Rest der Haare war am Hinterkopf zu einem weichen Knoten zusammengesteckt und mit einer Nadel gesichert, die jene sandkorngroßen Splitter des Diamanten enthielt, welche zu klein gewesen waren, um bei der Herstellung der Krone Verwendung zu finden. Das Kleid selbst war ein Wunder. Es passte vollkommen zu Rhapsodys Figur und Farbe, schimmerte irisierend und bestand aus einem Seidenstoff, der alle Farben des Regenbogens enthielt und gleichzeitig weiß glänzte. Die lirinschen Näherinnen wussten besser als alle anderen, wie man einen lirinschen Körper bekleidete, und sie hatten Rhapsodys Figur betont, indem sie das Kleid ihren schlanken Linien angepasst hatten. Die langen Ärmel liefen an den Handgelenken spitz zu; die Taille war unter dem Bauch angesetzt und in einem Unterteil fortgeführt, das bis auf den Boden reichte. Ein Umhang aus weißem Satin lag um die Schultern des Kleides, sowohl zur Zierde als auch um sie in der Winterkälte warm zu halten. Als sie sich umdrehte, lugten die Spitzen winziger Schuhe hervor. »Du siehst toll aus«, meinte Grunthor begeistert. »Nu aber los. Hab noch nie ’ne Ehrengarde befehligt. Da will ich nich zu spät kommen.« Der Krönungszeremonie wohnten nur die höchstrangigen Lirin aus dem Wald, den Ebenen, von der See und aus Manosse sowie Rhapsodys engste Freunde und die Ehrengarde bei. Grunthor war als Befehlshaber ausgewählt worden, weil die Soldaten die Einzigen waren, die von dem Verbot des Waffentragens ausgenommen waren, und Rhapsody wusste, dass er ohne seine Waffen verloren gewesen wäre. Zusätzlich zu ihrem riesigen Firbolg-Freund hatte sie trotz Oelendras Einwänden Anborn gefragt sowie Gwydion Navarne, den Sohn von Herzog Stephen, ob sie auch in der Ehrengarde dienen wollten. Anborn schien erfreut zu sein, auch wenn er zusammen mit einem Dreizehnjährigen unter dem Befehl eines Bolg stand. Er winkte Rhapsody auf skandalöse Weise zu, als sie die Rotunde des Palastes von Newydd Dda betrat. Er machte eine geschwungene Handbewegung und deutete damit an, dass sie hinreißend aussah. Rhapsody lachte; sie war ihm dankbar dafür, dass er die Feierlichkeit durchbrach, die sie bereits in Panik zu versetzen drohte. Sie küsste Gwydion Navarne, ihren ersten adoptierten Enkel, und sah, wie sein Gesicht die Farbe von Rials scharlachroter Schärpe annahm. Er zitterte vor Erregung, denn er war der Kompanie des legendären cymrischen Helden und des massigen Sergeant-Majors zugeteilt worden, der ihm während der Wartezeit gezeigt hatte, wie man Nissen aus Hautfalten und anderen intimen Körperteilen entfernen konnte. Ein silbernes Hörn ertönte und kündete die Ankunft ihres Schlittens an. Die großen Portale des niedrigen Palastes von Newydd Dda wurden aufgestoßen. Rhapsody schaute zu, wie vier zueinander passende Rotschimmel unregelmäßiger Färbung einen reich verzierten hölzernen Schlitten herbeizogen und genau vor der Tür stehen blieben. Rotschimmel waren Rösser, welche die Lirin sehr schätzten, besonders die Gefleckten, denn sie waren im Wald am besten getarnt und gut zu verstecken. Die Pferde waren sorgfältig gestriegelt und fein geschmückt, und ihr warmer Atem bildete Dampfwolken und Eiskristalle in der frostigen Luft. Rial geleitete Rhapsody über den ausgelegten Teppich, half ihr auf den gepolsterten Sitz und richtete den Umhang für sie. Dann ging die Prozession los, zog langsam durch den Schnee und den Berg hoch nach Tomingorllo und in den Thronsaal, wo die Krone wartete. Kein Geistlicher oder Adliger krönte die neue Königin, denn es gab keine solchen. Das Waldvolk von Tyrian war eher der Religion von Gwynwald als der von Sepulvarta verbunden, obwohl mehrere Jahrhunderte zuvor Repräsentanten beider Glaubensrichtungen hier vertreten gewesen waren. Rhapsody hatte den Vorschlag abgelehnt, dass der Fürbitter sie offiziell segnete, und keinen Grund dafür angegeben. Es stellte sich sowieso als unmöglich heraus, denn einige Tage vor der Zeremonie wurde die Nachricht überbracht, dass Khaddyr, der neue Inhaber dieses Amtes, verschwunden und seit dem großen Waldbrand vor vierzehn Tagen nicht mehr gesehen worden sei. Die lirinschen Priester, die unter Llauron ausgebildet worden waren, erboten sich, beim großen Empfang einzuspringen, was auf Zustimmung stieß. Doch wie an dem Abend, als Rhapsody das Diadem ins Leben zurückgebracht hatte, krönte es die neue Königin selbst. Sie stand vor dem silbernen Sockel und öffnete langsam den Behälter. Die glitzernden Juwelen entflammten unter ihrer Berührung zu feurigem Leben. Sie wurden durchscheinend, wirbelten aus dem Behälter und wanden sich ihr um den Kopf. Selbst diejenigen, die diesen Anblick schon gesehen hatten, schauten ehrfürchtig zu. Als sich das Strahlen zu einem Kreismuster aus ätherischem Licht verdichtete, blickte Rhapsody zu Achmed und lächelte. Sie erhielt ein Nicken als Erwiderung. Dann sah sie rasch Oelendra an und hielt den Kopf hoch. Die lirinsche Meisterin verneigte sich leicht und schenkte Rhapsody einen anerkennenden Blick. Rial kniete nieder und sprach die uralte Segensformel, die bei Krönungen aus der Zeit vor der Ankunft der Cymrer auf dem Kontinent vorgetragen worden war. »Inde aria tiron seth severim vur amasmet voirex.« Mögen die Sterne dir ihre Augen und Weisheit geben, damit du uns so leitest, wie sie es tun würden, wenn sie sprechen könnten. Mit Ausnahme der Ehrengarde knieten alle nieder und wiederholten die Worte des Schutzherrn. Die schiere Absurdität und Lächerlichkeit des Ganzen, die Rhapsody bisher insgeheim verspürt hatte, schmolzen mit einem Mal dahin. Sie neigte den Kopf und fügte ihr eigenes Gebet hinzu, sie möge sich dieser Leute, die an sie glaubten, als würdig erweisen. Als die Zeremonie vorbei war, brachen die Anwesenden in gedämpften Jubel und Applaus aus und umarmten sich lachend. Zuerst umarmte Rhapsody Oelendra und dann Rial auf dem Weg durch den kreisrunden Raum zu der Stelle, wo Achmed wartete. Sie ergriff seine Hände und küsste ihn auf die Wange. »Nun, mit deiner Hilfe habe ich überlebt«, sagte sie und grinste ihn an. »Du hast dich behauptet, und zwar aus eigener Kraft«, antwortete er freundlich. »Ich habe dich von der Flucht abgehalten, damit du das tun konntest, was du sowieso vorhattest.« Ihr Blick wanderte zu der seltsamen, sonnenartigen Brosche an seiner Robe. »Das ist eine hübsche Anstecknadel«, sagte sie geistesabwesend. »Ist das das neue Zeichen der Bolg?« Sie streckte die Hand aus, um es zu untersuchen. Achmed ergriff sie rasch und küsste sie. Rhapsody sah ihn erstaunt an. »Berühren verboten«, sagte sie neckisch. »Eure Majestät«, ertönte Rials Stimme durch die Große Halle, »Eure Gäste warten unten auf Euch.« 61 Der Hof von Newydd Dda war zum Bersten voll. Lirinsche Bürger und die Staatsgäste verstopften die Straßen der Stadt und ergossen sich bis auf die große Lichtung, welche die Stadtmauern umgab. Jedermann hoffte auf eine Gelegenheit, die frisch gekrönte Königin zu sehen. Lirinsche Abordnungen waren aus allen Teilen gekommen, aus Manosse, der Ebene, den Städten der Neutralen Zone und von der See. Roland und Sorbold waren genauso vertreten wie Ylorc und die Länder jenseits von Hintervold. Achmed war erstaunt; es schien unmöglich, dass die Nachricht von der Krönung diese Länder so schnell erreicht hatte, aber alle hatten Abgesandte geschickt, die sich nun aufstellten, um Rhapsody zu begrüßen oder zu segnen. Er warf einen Blick zurück auf die Königin; sie fuhr den Berg in ihrem reich beschnitzten Schlitten herunter. In ihren Augen lag ein Ausdruck der Gelassenheit, der die Panik überdeckte, welche sie beim Anblick der Menge unter ihr sicherlich verspürte. Grunthor ritt vor ihr her. Achmed hatte keine Ahnung, wo die Lirin dessen Pferd für diese Prozession aufgetrieben hatten, doch es war beinahe halb so groß wie der Schlitten selbst. Es war ihm gelungen, sich an die Spitze des Zuges zu setzen, als diese den Hügel herunterkam, damit er die Menschenmenge, in deren Nähe Rhapsody stehen würde, genau in Augenschein nehmen konnte. Ein Mordversuch war nicht wahrscheinlich, wenn man die Anzahl der gut ausgebildeten lirinschen Wachen in Betracht zog, die die ganze Stadt absicherten und alle Waffen sowie andere Unheil stiftenden Gegenstände an sich genommen hatten. Als er am Morgen die Stadt zu betreten versucht hatte, hatten sie die Flöte gewogen, die er als Geschenk für die neue Königin mitgebracht hatte, und das Gewicht des Instruments mit Argwohn betrachtet. Nur das Dazwischentreten Rhapsodys hatte es ihm ermöglicht, in die Stadt zu gelangen. Trotz dieser Unannehmlichkeit war Achmed glücklich über die Fähigkeit der Wachen. Er lehnte sich gegen die Palastmauer und wartete darauf, dass Grunthor vorbeikam. Die Prinzen von Sorbold und Bethania befanden sich in der ersten Reihe; über diese Ironie des Schicksals musste Achmed lächeln. Er hätte sich unter ihnen befunden, wenn er nicht als gleichwertig mit Rhapsodys Familie angesehen worden und zu der privaten Zeremonie eingeladen gewesen wäre. In der Gesellschaft dieser Männer wäre er der Erfreuteste der drei gewesen. Rhapsodys feindselige Haltung gegenüber Tristan Steward war in ganz Ylorc Legende, und der Prinz von Sorbold war ein griesgrämiger, ausgelaugter alter Mann, der ungeduldig darauf wartete, dass seine uralte Mutter endlich starb, damit er endlich den Thron besteigen konnte. Rhapsody hatte ihn nur einmal getroffen und war über seine Verdrießlichkeit so verärgert gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie vernarrt er in sie war. Nachdem sie sich mit Ashe auf die Reise zu Elynsynos begeben hatte, hatte der Prinz Botschafter zu Achmed geschickt, die bei ihm um Rhapsodys Hand angehalten hatten. Der König der Bolg hatte sich hämisch darauf gefreut, ihr bei ihrer Rückkehr diese Neuigkeit zu überbringen. Das Feuerwerk ihres Zorns wäre gewiss so eindrucksvoll gewesen, dass es sich gelohnt hätte, dazu Gäste einzuladen. Aber er hatte es ihr nie gesagt. Hinter den Prinzen kamen die orlandischen Herzöge Martin Ivenstrand von Avonderre und Stephen Navarne, die Herrscher von Yarim und Bethe Corbair, die ihm freundlich zugenickt hatten, als sie in den Hof gekommen waren. Stephen hatte ihm bedeutet, dass er ihn später noch sehen wollte. Den Herzögen folgte eine kleine Gesandtschaft filidischer Priester unbedeutenden Ranges aus Gwynwald, die nur gekommen waren, um in der Abwesenheit Khaddyrs und seiner Häscher die Religion zu repräsentieren. Die Priester wurden von der Kammerdienerin und ihren Untergebenen neu aufgestellt, da vor einigen Augenblicken eine neue Gruppe eingetroffen war. Laute des Staunens hatten sich erhoben, als die Gruppe aus einer gewaltigen Kutsche ausgestiegen war, die von den Toren Tyrians aus bis hierher von den Wachen eskortiert worden war. Aus der Kutsche waren die orlandischen Seligpreiser Ian Steward von Canderre-Yarim, Lanacan Orlando aus Bethe Corbair und Colin Abernathy gestiegen, dessen Sitz sich in der Neutralen Zone im Süden Tyrians befand. Sie wurden gefolgt von Nielash Mousa, dem Segner von Sorbold, der als Einziger die Robe seines Landes trug, deren frohe Farben sich von den blassen Gewändern Rolands eindrucksvoll abhoben. Schließlich stieg auch Philabet Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne aus; auf seinem Gesicht lag ein überhebliches Lächeln. Er streckte die Arme in das Innere der Kutsche und half freundlich einem gebrechlichen Mann in goldenen Kleidern und mit einer hohen Mitra aus dem Wagen. Es war der Patriarch von Sepulvarta. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass einer der Anwesenden ihn zuvor schon einmal gesehen hatte, wussten alle sofort, dass dies der Patriarch war. Sein Erscheinen war es, das die Laute des Erstaunens hervorgerufen hatte. Nach einem Augenblick des Schocks brach hier und dort verhaltener Beifall aus, schwoll an zu einem höflichen Klatschen und wurde schließlich von einer Welle froher Rufe abgelöst. Als der Patriarch langsam vorwärts torkelte, traten seine Seligpreiser sowie die orlandischen Herzöge zurück und machten ihm Platz in der ersten Reihe. Die beiden Prinzen, die darum gewetteifert hatten, die ersten Gratulanten zu sein, gaben ihre Positionen auf und reihten sich hinter ihm ein. Falls sie Groll gegen ihn verspürten, verbargen sie ihn gut. Der Patriarch schüttelte den Kopf und verneigte sich leicht. Damit wollte er andeuten, sie sollten ihre Plätze behalten. Nielash Mousa und Philabet Griswold traten rechts und links an seine Seite und halfen ihm die Schritte zur Tribüne hoch. Die anderen Segner folgten ihnen; dahinter kamen die Herzöge, die übrigen Ehrengäste und das Volk von Tyrian. Die Menge schwoll noch mehr an, als Rhapsodys Zug den Rand der Stadtmauer erreichte, und wartete darauf, dass die Königin und ihre Ehrengarde ausstiegen und das Podest Hochschritten, um die Segnungen und Grüße aller Wohlwollenden entgegenzunehmen. Die Ehrengarde näherte sich gerade der Tribüne, als sich plötzlich die Welt um Achmed drehte. Die offen liegenden Nerven und Venen seines Hautgewebes stachen und pochten in pulsierendem Leben; der Rhythmus seines Pulses glich sich einem fremden an, einem sehr nahen. Einen Moment später war es vorbei, doch dann kehrte es zurück. Er atmete die kalte Winterluft ein und hoffte, dadurch wieder einen klaren Kopf zu bekommen, doch stattdessen roch er die Luft der alten Welt und seines vorigen Lebens. Es machte ihn krank; es schwappte in seine Lunge wie brackiges Wasser. Er sah sich um, und zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, wie die Menge umherwirbelte und wie Meereswellen gegen ihn anströmte, als befände er sich in einer starken Brandung. Er hatte Grunthor aus den Augen verloren, ebenso die Mauer, gegen die er sich gelehnt hatte, und die ganze Welt einschließlich seiner eigenen Existenz. Genauso plötzlich kam er wieder zu sich. Anstatt das Gefühl des Ertrinkens zu bekämpfen, das durch den Geruch verursacht wurde, sog er diesen tief in seine Lunge. Er öffnete dem Gestank Mund, Hände und Augen, so wie er es in den alten Jagdtagen gemacht hatte, und wie ein Blitz schlug es in seinem Geist ein: F’dor. Er war auf ihn gestoßen. Er war hier. Achmed schüttelte den Kopf, um Augen und Geist zu klären, und stellte fest, dass er sich an derselben Stelle befand, wo er zum ersten Mal seinen Feind aufgespürt hatte. Der gemeinsame Blutrhythmus klopfte in seinen Adern und schlug wie eine Kriegstrommel in seiner Brust, dann bewegte er sich wieder fort. Grunthor war abgestiegen und ging auf seinem Weg zur Tribüne in diesem Augenblick an Achmed vorbei. Achmed berührte ihn am Ellbogen. Ohne aufzusehen, bückte sich der Riese in einigem Abstand und lauschte den Worten seines Freundes. »Er ist hier; der Meister des Rakshas ist hier.« Grunthor beobachtete Achmeds Blick, um die Richtung zu erfahren. Die Augen des Königs waren weit aufgerissen und starr; er suchte noch immer die Menge ab. Dazu benutzte er nicht nur seine Augen, sondern atmete die Spuren von Geruch und Atem und Identität ein, die durch den Winterwind strömten, und verglich sie mit dem Blut, das er aufgenommen hatte. Die anderen beiden Mitglieder der Ehrenwache gingen an ihm vorbei; Anborn warf ihm dabei einen misstrauischen Blick zu. Der Gestank brennenden menschlichen Fleisches wurde stärker und verschwand dann wieder, als der Wind auffrischte. Rhapsody befand sich jetzt auf der Tribüne. Das Podest war so errichtet, dass sie es von hinten betreten und sich daher nicht durch die Menge davor kämpfen musste. Anborn, Gwydion Navarne und Grunthor nahmen ihren Platz hinter ihr ein; der Bolg-Sergeant stellte sich unmittelbar vor ihren Rücken. Ihr Blick wanderte von Achmed zu der Menge und erwartete das Zeichen des Dhrakiers. Achmed musste näher herankommen, aber wenn er den Dämon spürte, bestand die Möglichkeit, dass dieser ihn ebenfalls bemerkte, falls er nicht besonders vorsichtig war. Er suchte den Hof nach einer geeigneten Nische ab, von der aus er unbemerkt beobachten konnte. Während er umherging, wickelte er ein Lederband über die Löcher der Flöte und verbarg sie in den Falten seines Umhangs. Die kalten Metallpfeile hatte er zu einer komplizierten Brosche zusammengefügt, die nun gefährlich nah über seinem Herzen auf und ab hüpfte; es war die Nadel, über die Rhapsody ihre Bemerkungen gemacht hatte. Er spürte die Schärfe der vergifteten Geschosse durch das feine, dünne lirinsche Zeremonialhemd, das er auf Rials Wunsch trug. Als er sich dem Thronpodest näherte, dünnte sich der Geruch aus und wich dem beißenden Gestank des F’dor. Er war in der offenen Luft des Hofes viel deutlicher zu riechen als in jeder Basilika. Achmed sog den Geruch ein und nahm ihn mit den Handflächen auf. Er schloss die Augen und versuchte, seinen Herzschlag mit dem des F’dor in Einklang zu bringen und nicht wieder zu verlieren. Rasch gelang es ihm, aber es war immer noch unmöglich zu sagen, wem in der großen Menschenmenge dieser Herzschlag gehörte. Die Spannung des Ereignisses verband sich mit den Räucherungen und dem Reichtum der Düfte, welche die Abgesandten aus mehr als einem Dutzend verschiedener Länder ausströmten. Er kämpfte darum, den uralten Geruch von all den anderen, unwichtigen zu trennen und auf die Stimme seines Blutes zu vertrauen, welche die ganzen Nachtmahre dieser Welt mit dem Grauen der vergangenen verband. Absichtlich suchte er nach dem bitteren Geschmack und fühlte das beängstigende Schlagen. Er verband sich selbst damit. Tristan Steward und der Prinz von Sorbold hatten Rhapsodys Hand geküsst und ihr alles Gute gewünscht und waren dann von dem Podest zurück in den Kreis ihrer eigenen Wachen getreten. Nun näherten sich ihr der Patriarch und seine fünf Seligpreiser, die sie ebenfalls segnen wollten. Plötzlich tat Achmeds Herz einen Satz, und einen Moment lang konnte er durch die Augen des Dämons sehen. Er musste sich entweder in der Gruppe des Patriarchen oder in deren Nähe befinden. Ansonsten befanden sich nur die Mitglieder der Ehrengarde so nahe bei der Königin. Zur gleichen Zeit, als sein Blick mit dem des F’dor verschmolz, sah er auch in dessen Geist. Da war nirgendwo ein Mordvorsatz; er war gekommen, um die neue Königin unter seinen Bann zu stellen und sie zu verzaubern. Er spürte, wie der F’dor zum Sprung bereit war und Rhapsody besitzen wollte, wie er die anderen besessen hatte. Achmed wusste, dass sie den Tod dieser Aussicht bevorzugen würde. Furcht durchpulste ihn, und die kurzzeitige Verbindung mit dem Dämon verschwand. Achmed musste seinen Drang unter drücken, Rhapsody zuzurufen, sie solle fortlaufen und das Risiko eingehen, damit dem F’dor zu zeigen, dass sie ihn erspüren konnten. Doch es wäre sinnlos gewesen; eher hätte er die Aufmerksamkeit einer Braut quer über einen Marktplatz kurz nach der Hochzeit erringen können. Er musste den F’dor auf andere Weise daran hindern, ihr zu nahe zu kommen, ohne dass dieser etwas von seiner Enttarnung bemerkte. Achmed richtete sich auf und jagte den flüchtigen Identitätsbanden durch die Luftströmungen und Windlandschaften nach. Die Stimme der dhrakischen Großmutter, die ihm das Bannritual beigebracht hatte, ertönte in seinem Kopf. Lass dein Selbst sterben. Achmed nickte kaum merklich und zwang seinen Herzschlag, langsamer zu werden. Rufe in deinem Geist jeden der vier Winde. Singe jeden einzelnen Namen und verankere ihn dann an einem deiner Finger. Bien, dachte Achmed. Der Nordwind, der Stärkste. Er öffnete seine erste Kehle und summte den Namen; der Klang hallte durch seine Brust und die erste Herzkammer. Er hielt den Zeigefinger hoch; die empfindliche Haut an der Spitze prickelte, als sich ein Luftzug um sie wickelte. Jahne, flüsterte er in Gedanken. Der Südwind, der Ausdauerndste. Mit seiner zweiten Kehle rief er diesen nächsten Wind und setzte dabei die zweite Herzkammer ein. Um den Mittelfinger spürte er, wie sich ein weiterer Luftzug verankerte. Als beide Schwingungen deutlich und stark geworden waren, fuhr er fort und öffnete die beiden anderen Kehlen und Herzkammern. Lenk. Der Westwind, der Wind der Gerechtigkeit. Thas. Der Ostwind. Der Wind des Morgens; der Wind des Todes. Ein Netz aus Wind. Höre, o Wächter, und besehe dein Schicksal: Der, welcher jagt, wird auch beschützen; der, welcher nährt, wird auch verlassen; der, welcher heilt, wird auch töten, hatte Zephyr, der letzte dhrakische Weise, in der letzten dhrakischen Prophezeiung gesagt. Hüte dich vor dem Schlafwandler, denn Blut wird das Mittel sein, um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind. Es ist an der Zeit, sich nicht länger zu verstecken, dachte Achmed. Komm heraus und spiel mit mir, du Bastard. Er warf das unsichtbare Netz in die Richtung, in der er den dämonischen Rhythmus gespürt hatte. Die hoch empfindlichen Nerven seines Gesichts spürten, wie die prickelnde Brise für einen Moment erstarb, als sich die Winde zu einer Schlinge verbanden. Dann passte plötzlich alles zusammen: der Geruch, der Herzschlag, die Position. Er hatte den F’dor gefunden. Nun, da er den Wirt des Dämons identifiziert hatte, wusste er, dass er einen sauberen Schuss abgeben konnte, doch ohne eine Waffe für den Einsatz nach dem ersten Schlag würde es keine Überlebenden in der ganzen Schar geben, wenn er den Schreien seines Blutes und seiner Natur folgte und das Gewehr abfeuerte. Sein Pfeil könnte sich für einen Menschen als tödlich erweisen, nicht aber für einen Dämon. Er würde entweder aus dem sterbenden Körper fliehen oder alle anderen umbringen. Bei der unbewaffneten, wunderbar gekleideten Rhapsody würde er beginnen. »Adieu, Vater«, flüsterte er, als er die Flöte an die Lippen setzte. Grunthor hatte Achmeds Bewegungen gesehen und bemerkt, wie er die Flöte verborgen hatte. Er stand nahe genug neben Rhapsody, um mit einem Schritt bei ihr zu sein; es war ihm leicht möglich, sich zwischen sie und jegliche Bedrohung zu werfen, die er sah oder spürte. Achmeds Bewegung verwirrte ihn, doch er vermutete, dass er der Einzige auf dem Podest war, der sie bemerkt hatte. Rhapsody hatte ihre Ehrengarde nur ein einziges Mal angesehen, als sich das Kontingent aus Gwynwald genähert hatte. Der Sergeant versuchte, die Art der Bedrohung zu erkennen. Wen hatte Achmed im Verdacht? Er sah eingehend die beiden Prinzen am Beginn der Gratulationsreihe an. Die nächste Gruppe war die des Patriarchen und seiner Hand voll Seligpreiser. Sie begrüßten die Königin. Erneut versuchte Grunthor, die Gesichter und Bewegungen der Gäste zu deuten, doch er bemerkte weder Feindseligkeiten noch Waffen. Der Patriarch war Rhapsodys Liebling. Er war sehr gebrechlich und auf die vielen Hände angewiesen, die ihn selbst und seine Organisation am Leben erhielten. Rhapsody hatte ihn vor einigen Monaten gegen den Rakshas verteidigt und geglaubt, der F’dor sei an diesem Angriff beteiligt gewesen. Es schien unwahrscheinlich zu sein, dass er von dem Dämon besessen war oder ihn erkennen konnte. Grunthor sah sich wieder nach Achmed um und konnte ihn nirgends mehr entdecken. Rhapsody umarmte den Patriarchen mit ihren Gefühlen; er flüsterte ihr einen Segen ins Ohr. Freude legte sich über ihr Gesicht, während sie ihn sanft entließ und seinen Blick auffing. Sie lächelten einander an. Mithilfe seiner Seligpreiser trat der Patriarch zurück und gab ihnen die Gelegenheit, Rhapsody zu begrüßen. Plötzlich zuckte er heftig zusammen und brach in den Armen der Seligpreiser zusammen. Ein Schrei erhob sich aus der Menge. Grunthor reagierte blitzartig und warf sich zwischen Rhapsody und den Aufruhr. Er wusste, dass man nicht so stürzte, wenn der Körper versagte, und verfluchte still Achmeds Wahl des Zeitpunkts. Obwohl er ihn nicht sehen konnte, wusste er, dass es sein Werk war. »Zurück, Euer Majestät«, sagte er höflich. Er spürte, wie sie hochgehoben wurde, als Anborn hinter ihm hervorwirbelte und sie auf den hinteren Teil des Podestes stellte. So brachte er seinen eigenen Körper zusätzlich zwischen sie und die Menge. Grunthor war froh, dass sie aus der Schusslinie war. Er bahnte sich den Weg in die kleine Gruppe entsetzter Seligpreiser, die sich um den Zusammengebrochenen drängten. »Lasst mich mal«, sagte er grob. Rasch und mühelos hob er den sterbenden Patriarchen vom Boden auf und trug ihn zu einem Tisch in mehreren Schritten Entfernung, auf dem Staatsgeschenke gestapelt waren. Mit dem Ellbogen wischte er den Tisch leer und legte den alten Mann wie eine Feder darauf. Dabei entfernte er den schweren Pfeil aus seinem Nacken, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wie Grunthor gehofft hatte, folgten ihm alle Seligpreiser, beteten für ihren gefallenen Anführer, kümmerten sich um ihn, und einige brachen gar in Tränen aus. Lanacan Orlando, der Segner von Bethe Corbair, war der Erste und flüsterte Worte des Trostes. Er kümmerte sich sogleich um den Sterbenden und untersuchte Herz und Handgelenke. Philabet Griswold und Nielash Mousa waren die Nächsten; beide schoben den ersten Seligpreiser zur Seite und flüsterten dem sterbenden Mann etwas ins Ohr. Sie baten ihn, das Bewusstsein wiederzuerlangen, damit er den Namen seines Nachfolgers sagen konnte. Abernathy und Ian Steward starrten benommen auf den Aufruhr; Abernathy murmelte stumme Gebete. Orlando drängte wütend Mousa fort und machte sich wieder an die Arbeit. Enttäuschung schien seine Bewegungen zu hemmen; seine berühmte Heilgabe vermochte nichts zu bewirken. Er untersuchte die Brust des alten Mannes, öffnete die Robe besonders weit, befühlte die Handgelenke und war wütend und gereizt, statt sich in das Schicksal zu ergeben, als klar wurde, dass der Tod unmittelbar bevorstand. »Zurück!« Die Stimme, klar wie eine Glocke, klang durch den Hof, und die Menge verstummte vor Erstaunen. Rhapsody benutzte Anborn, um an den Seligpreisern vorbeizukommen, und begab sich sofort an die Seite des Patriarchen, der noch immer auf dem Tisch lag. Grunthor unterband sofort jeden Versuch, sich dem Würdenträger von der anderen Seite zu nähern. Rhapsody sah ihre Kammerfrau an. »Sylvia, hol sofort meine Harfe.« Die Kammerfrau tippte einem Pagen auf die Schulter und zeigte mit dem Finger an, wo er hingehen sollte. Er schoss mit halsbrecherischer Geschwindigkeit davon. Die neue Königin beugte sich über den hinfälligen Mann, der auf dem Tisch zusammengekrümmt wie ein aus dem Nest gefallenes Küken lag, und ergriff seine Hand. »Euer Gnaden, habt Ihr diesen Männern etwas zu sagen?« Sie nickte den Seligpreisern zu. Der alte Mann blinzelte und schüttelte mit großer Anstrengung den Kopf. Mit zitternder Hand fuhr er unter seine Robe und tastete unbeholfen umher, dann zog er eine Pergamentrolle hervor und drückte sie ihr in die Hand. »Sehr gut. Anborn, bitte geleite die Seligpreiser an einen Ort, wo sie ungestört beten können.« Der cymrische Krieger trat vor den Tisch und trieb die Seligpreiser zu einer dicht gedrängten, protestierenden Menge zusammen. Er führte sie hinaus und achtete nicht auf ihre Bitten, zu dem sterbenden Anführer durchgelassen zu werden. Der Patriarch deutete wortlos auf die Pergamentrolle in Rhapsodys Hand. Sie hielt sie ihm vor die Augen. »Wollt Ihr, dass ich das laut vorlese?«, fragte sie ruhig. Der Patriarch nickte. »Sehr gut«, sagte sie. Sanft ließ sie seine Hand los, die ihre eigene noch immer im Krampf des nahenden Todes umfasst hielt, und entrollte das Pergament. »Hört mich an«, sagte sie. Die Stimme der Benennerin trug weit. »Hiermit gebe ich das letzte Sendschreiben des Patriarchen von Sepulvarta bekannt. Es besagt: Im Fall der Amtsnachfolge sollen der Ring und die Waage entscheiden.« In der Menge setzte lautes Murmeln ein, während die Seligpreiser in entsetztem Schweigen gefroren und abwechselnd wutrot und schreckensbleich wurden. Einen Moment später kehrte der Page mit Rhapsodys Harfe zurück. Er hielt sie hoch; sie wurde von Hand zu Hand bis zu Anborn weitergereicht, der sie der Königin übergab. »Grunthor, kannst du mir hinauf helfen?«, fragte sie und deutete auf den Tisch. Der Bolg hob sie mühelos auf die Tischplatte, wo sie sich neben den Patriarchen setzte und seinen Kopf und die Schultern auf den Schoß nahm. Sie machte es ihm so bequem wie möglich und begann mit ihrem leisen Harfenspiel, wobei sie darum kämpfte, die Tränen zurückzuhalten. Der alte Mann lächelte sie an. Und schließlich sprach er. »Es ... es tut mir Leid, mein Kind«, keuchte er und rang nach Luft. »Ich wusste nicht, dass es ... jetzt kommen würde. Ich hatte nicht vor, dir das Fest... zu verderben ...« »Ihr habt nichts verdorben«, versicherte ihm Rhapsody. »Euch das Totenlied zu singen und Eure letzten Worte hören zu dürfen ist eine große Ehre für mich. Ich will sie allen verkünden und den Überlieferungen hinzufügen, damit sie und das Angedenken an Euch ewiges Leben haben. Dass wir beide in dem Augenblick zusammen sind, da Ihr uns in Richtung auf das Licht verlasst, ist das größte Geschenk, das Ihr mir je machen konntet. Ruht Euch aus.« Sie unterbrach ihr Spiel nur so lange, bis sie ihm das Büschel silberner Haare aus den Augen gestrichen hatte, die trübe wurden und die Sonne widerspiegelten. Dann zupfte sie wieder die Saiten der Harfe und sang eine süße, wortlose Melodie. Der Atem des Patriarchen kam stoßweise. Rhapsody hatte genug Leute sterben gesehen und wusste, dass es nun so weit war. Sie beugte sich zu seinem Ohr hinunter. Eine Träne aus ihren glitzernden grünen Augen fiel auf sein Gesicht. »Meine letzten Worte sprich sie für mich«, flüsterte er. »Du... kennst sie.« »Ja«, erwiderte sie. Sie legte dem Sterbenden die Hand auf die Brust und ließ seine Stimme durch ihre eigene klingen; sie war nun tief, voll und wohltönend, wie sie in seiner Jugend gewesen sein musste. »Vor allem wirst du die Freude kennen lernen.« Ein glückseliges Lächeln legte sich auf das Gesicht des Geistlichen. Er schloss die Augen. Rhapsodys Melodie wurde stärker, und als er den letzten Atemzug tat, begann sie mit dem lirinschen Lied des Übergangs. Sie sang es so innig wie möglich für den alten Mann, der den Klang der Harfe so sehr liebte. Der wolkige Tag wurde etwas heller, als sich die Fesseln der Erde lockerten gerade lange genug, damit die Seele des Patriarchen hinüberwechseln konnte. Mit Ausnahme einer kleinen Welle aus Sonnenlicht bemerkte die Menge nichts von diesem Übergang, doch Rhapsody sah ihn und schickte einen Kuss in den Himmel. Dann sah sie hinüber zu den Segnern, die in verblüfftem Schweigen in der Ecke standen. Ian Steward und Colin Abernathy hielten einander die Hände; sie zitterten und waren blass. Lanacan Orlando stand schweigend da; sein Gesicht war eine unerschütterliche Maske, während Philabet Griswold und Nielash Mousa ihre Wut kaum beherrschen konnten. »Euer Ehren, vielleicht wäre das eine gute Gelegenheit, gemeinsam zu beten.« Achmed goss sich ein besonders großes Glas canderianischen Whiskey ein und gab die Flasche an Grunthor weiter. Der Sergeant sah den König kurz an, setzte dann die Flasche an die aufgeworfenen Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Der Tag war albtraumhaft gewesen. Rhapsodys Fähigkeiten als Benennerin hatten dabei geholfen, die verängstigte Menge ruhig zu halten, und sie war bis nach Mitternacht im Hof geblieben und hatte die Trauernden getröstet und die Glückwünschenden begrüßt, die zu ihrer Krönung angereist waren. Nun nahm sie ein Bad und hoffte, die Auswirkungen des Chaos abwaschen zu können, das ihre Krönungszeremonie gewesen war. Ihre Firbolg-Freunde saßen in ihrem Gemach vor dem Feuer und unterhielten sich über die nächsten Schritte, bevor sie zurückkam. »Glaubst du, sie hat den Pfeil nicht bemerkt?« Achmed nahm einen weiteren Schluck und biss die Zähne zusammen, als die brennende Flüssigkeit seine Kehle herunterrann. »Eindeutig nicht«, sagte Grunthor und setzte die Flasche noch einmal an. »Sie glaubt, der alte Ziegenbock is einfach so zusammengefallen, was ja schon monatelang zu erwarten war.« »Gut. Wir sollten sie in diesem Glauben belassen. Ich bezweifle, dass sie es gut fände, wenn sie erfährt, dass der Tod ihres Freundes ein Ablenkungsmanöver war.« Er bemerkte eine Verfinsterung auf Grunthors Gesicht, doch der Riese sagte nichts. Einen Moment später betrat Rhapsody das Hauptzimmer in ihrem Morgenmantel, mit nassem Haar und einem Badetuch in der Hand. Sie ging zum Feuer, das aufloderte, als sie sich ihm näherte, und beugte sich darüber, während sie sich die Haare mit dem Badetuch abtrocknete. Schließlich schüttelte sie den Kopf. Die halb trockenen Locken peitschten ihr um das Gesicht, das rosig vom Bad und dem Feuerschein war. Dann kam sie zu Grunthor und nahm ihm die Flasche aus der Hand. Sie trank einen Schluck und gab sie ihm zurück. Dann setzte sie sich auf seine Knie. »Bald will keiner mehr auf eine Feier kommen, die ich ausrichte«, sagte sie. Grunthor kicherte; Achmed lächelte nur. Seine Augen verdunkelten sich. »Vielen Dank für all eure Hilfe heute. Ohne euch hätte ich das nie durchgestanden.« »Es war noch ein wenig schlimmer, als du weißt«, sagte Achmed, schluckte den Rest seines Whiskeys hinunter und goss sich ein weiteres Glas ein. »Unser Freund aus der Gruft der Unterwelt hatte sich entschlossen, an deiner Feier teilzunehmen.« Rhapsody sah ihn fragend an. »Ich habe heute herausgefunden, wer der F’dor ist.« Rhapsody richtete sich auf; beinahe wäre sie von Grunthors Knien gefallen. »Wer?« Achmed setzte sein Glas ab. Sein Gesicht wurde ernst im Feuerschein. »Lanacan Orlando, der Segner von Bethe Corbair.« »Bist du sicher?«, fragte sie und riss die Augen weit auf. »Vollkommen. Ich konnte ihn riechen, als die Gruppe des Patriarchen aus der Kutsche stieg. Ich bin ihm gefolgt und habe seinen Herzschlag erwischt. Er ist der Dämon.« Rhapsody lehnte sich gegen Grunthors Schulter und war in tiefen Gedanken verloren. »Nun, das ergibt einen Sinn. Der Patriarch sagte, Lanacan sei der Priester, den er aussenden würde, um die Verwundeten zu heilen und die Heere zu segnen. Das hat ihm Zugang zu ihnen verschafft, als sie völlig offen für ihn waren. Er konnte sie bannen, während er sie segnete, und ihnen den Samen einsetzen, der sich später in den Morden Bahn brach. Dieser Bastard! Oelendra hat Anborn verdächtigt, weil er ebenfalls diesen Zugang hat.« »Ist die ganze Zeit bei uns gewesen«, murmelte Grunthor, als Achmed sich die Whiskeyflasche nahm und sich ein weiteres Glas eingoss. »Kein Wunder, dass er unser persönlicher Geistlicher sein wollte. Den Göttern sei Dank, dass wir Bolg gottlose Heiden und auf dem Weg zur Verdammnis im Nachleben sind.« Achmed nickte. »Jetzt habe ich noch eine gute Nachricht. Er weiß nicht, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind. Das zeitige ... äh, unzeitige Ableben des Patriarchen hat meine Entdeckung verhindert; daher mussten wir noch nichts gegen ihn unternehmen.« »Ja, was für’n Zufall«, brummte Grunthor. Achmed schenkte ihm einen giftigen Blick. Rhapsody wirkte verwirrt. »Aber etwas verstehe ich noch immer nicht«, sagte sie und nahm wieder einen Schluck aus der Flasche. »Ich weiß, dass der Segner jede Woche in der Basilika von Bethe Corbair Gottesdienste abhält. Das tun alle Segner jeweils in ihrer eigenen Basilika außer Colin Abernathy, denn die Neutrale Zone hat keine Basilika. Diese Basiliken sind heiliger, von den Elementen selbst gesegneter Boden. Auch der mächtigste Dämon kann so etwas nicht umgehen. Wenn er versucht hätte, den heiligen Boden auf irgendeine Weise zu entweihen, damit er wenigstens auf ihm stehen kann, hätte das Element, dem er geweiht ist, ihn sofort wieder gesegnet.« »Erinnerst du dich daran, welchem Element die Basilika von Bethe Corbair gewidmet ist?« Rhapsody dachte einen Moment lang nach und versuchte sich an ihre Unterhaltung mit Stephen Navarne zu erinnern. »Ich glaube, dem Wind«, sagte sie schließlich. »Ja, natürlich. Erinnerst du dich an den Klang der wunderbaren Glocken? Man konnte sie überall in der Stadt hören.« »Ist schwierig, drumrum zu kommen«, sagte Grunthor. »Aber natürlich is nichts unmöglich.« »Richtig«, meinte Rhapsody. »Was sollen wir jetzt tun?« »Grunthor und ich werden heute Abend abreisen und Orlandos Karawane folgen«, sagte Achmed und genoss den Rest seines Whiskeys. »Ich habe Sylvia gebeten, sie solle uns sagen, ob und wann die Segner sich wieder auf den Weg machen. Es sollte leicht sein, ihre Spur zu finden.« »Und was ist mit mir?«, fragte die frisch gekrönte Königin entrüstet. »Du wirst erst einmal hier bleiben und dich in deinem neuen Königreich einrichten. Wenn du sofort nach deiner Krönung fortgehst, werden sich Gerüchte entwickeln. Wir spähen aus, was los ist, dann kommen wir zurück und planen den Tod des Dämons. Wir haben bestimmt ein paar Wochen Zeit, und alles in Ordnung zu bringen. Ist das in Ordnung?« »Vermutlich«, sagte Rhapsody und schaute aus dem Fenster. »Aber wir sollten nicht zu lange warten, ja? Ich will nicht, dass noch mehr Unschuldige sterben müssen.« Grunthor und Achmed tauschten einen Blick. Es war schon ein Unschuldiger mehr gestorben, als ihr bekannt war. 62 Am östlichen Rand der Krevensfelder Der Segner von Bethe Corbair war ein geduldiger Mann. Das war er schon immer gewesen. Auch in den Tagen vor der Besessenheit durch den Dämon hatte Lanacan Orlando Ausdauer bewiesen. Sein Temperament sowie seine Position waren nicht geeignet, mit Mousa oder Griswold um die Oberherrschaft zu kämpfen. Stattdessen hatte er den Weg des entbehrungsreichen, erniedrigenden Dienstes an dem Patriarchen übernommen in der Hoffnung, dass dieser und der All-Gott die Tiefe seiner gläubigen Hingabe erkennen würden. Doch die Jahre waren vorbeigezogen, Jahre, in denen er mehrfach den innigsten Dank des Patriarchen für seine beschwerlichen Dienste entgegengenommen hatte. Er heilte die eiternden Wunden der Soldaten und der Armen aus Bethe Corbair und den Bauerndörfern in den Krevensfeldern, während Macht und Ansehen für gewöhnlich den anmaßenderen und kampfbereiteren Seligpreisern vorbehalten waren. Lanacan wartete darauf, dass der Patriarch, ein sanfter Mann mit einer Abneigung gegen Streit, ihn letztlich für all seine guten Werke und sanften Manieren belohnen würde, doch dazu kam es nie. Der einzige Dank für all seine Geduld war die gute Meinung, die der Patriarch von ihm hatte. Als Lanacan Orlando schließlich sein Abkommen mit dem Dämon geschlossen hatte, stellte er fest, dass auch dieses Wesen geduldig war. Im Gegensatz zu den anderen seiner Art, die mit allen Mitteln Chaos und Vernichtung verbreiten wollten, nach Macht gierten und Missgunst streuten, war der F’dor, der ihn genommen hatte, atemgleich in ihn eingedrungen, in seiner Lunge wie schwerer Dunst geblieben und hatte sich unter sein Blut gemischt. Er verfügte über eine weite Sicht der Welt und wollte warten, bis alle Teile seines Plans an der richtigen Stelle waren. Mit den Jahren, als er immer dämonischer wurde, schien es sogar so, als ob die Gier des F’dor durch Orlandos einstige Geduld ein wenig besänftigt worden sei. Nun kam der Frühling. Der Seligpreiser stand im dünnen Schnee der Krevensfelder, und die Wut darüber, dass seine Pläne in solch einem wichtigen Augenblick verhindert worden waren, wurde immer wilder und größer wie ein sich rasch ausbreitendes Feuer. Der Patriarch war nicht in Sepulvarta, sondern in Tyrian gestorben. Er war gegangen, ohne einen Nachfolger bestimmt zu haben und wichtiger noch ohne dabei den Ring zu tragen. Wäre er in Sepulvarta geblieben, wo er seit seiner Amtseinsetzung das ganze Leben verbracht hatte, wäre Orlando derjenige gewesen, der ihm in den letzen Tagen Trost gespendet hätte. Orlando hätte ihm den Übergang leichter gemacht nach eigenem Gutdünken. Und er hätte sich darum kümmern können, dass alles für seinen Aufstieg zum neuen Patriarchen bereit war, was ihm die Gelegenheit verschafft hätte, seinen Vasallen zum König von Roland zu machen. Ach, egal, dachte er und versuchte, die kreischende Stimme in seinem Ohr zu unterdrücken. Er hat bereits die Heere. Nun, Tristan Steward, flüsterte er in den Wind. Beginne. Er wartete, bis der Westwind seinen Befehl einfing, dann wandte er sich an seinen livrierten Diener und die Soldaten, die ihm als Eskorte dienten, und lächelte wohlwollend. »Meine Herren, wir sind nur noch einen Tag von zu Hause entfernt. Ich kann beinahe die süße Musik der Glocken von Bethe Corbair im Wind hören. Sollen wir aufsatteln und Losreiten?« Bethania Tristan Steward riss gerade die Tür auf, als McVickers, der neue Marschall des vereinigten Heeres von Roland, klopfen wollte. »Komm herein, McVickers«, sagte er mit belegter Stimme. Der Soldat betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er stand in Habacht-Stellung und wartete darauf, dass der Prinz etwas sagte, doch Tristan kehrte nur zu seinem Schreibtisch und dem gewaltigen Haufen von Pergamenten zurück, die er kurz zuvor noch durchgeblättert hatte. Nach einigen Minuten sagte McVickers: »Womit kann ich Euch dienen, mein Herr?« »Du kannst still dort stehen bleiben, während ich die Karten zusammensuche, McVickers.« Die Stimme des Prinzen troff vor Gift. Der Soldat holte tief Luft und behielt seine stramme Haltung bei. Schließlich fand Tristan, was er gesucht hatte. Er breitete die Blätter auf dem langen Tisch neben dem Fenster aus und winkte McVickers ungeduldig zu. Der Soldat kam herbei und stellte sich zu seinem Herrn. Er betrachtete die Landkarten, die der Prinz auf dem Tisch zurechtlegte. Nach einer Weile fragte er: »Canrif, mein Herr?« »Ja«, antwortete Tristan und glättete die Ecken einer alten Landkarte, die sich beinahe selbst wieder aufgerollt hatte. »Die Bolglande.« »Mein Herr?« Stewards Augen glitzerten vor Ungeduld. »Was verstehst du daran nicht, McVickers? Ich habe Stephen Navarne gerufen und ihn gebeten, aus seinem Museum die Zeichnungen von den Tunneln und Bergdurchgängen mitzubringen, die in cymrischer Zeit gebaut wurden. Ich glaube nicht, dass es seitdem viele Veränderungen gegeben hat. Die meisten Umbauten werden die äußeren Verteidigungsanlagen, die Außenposten und vielleicht die Feldtunnel betreffen, die als Brustwerke bekannt sind.« »Ich ... ich verstehe nicht, mein Prinz«, stammelte McVickers, als ihm die gewaltige Dimension dessen aufging, was der Prinz plante. »Ihr ... ihr wollt doch nicht etwa ... die Bolglande angreifen, mein Prinz?« Der Wahnsinn in Tristans Augen leuchtete heller als das Morgenlicht draußen vor der Bibliothek. Seit der Krönung war er wütend und enttäuscht, als der unerwartete Tod des Patriarchen eine Panik verursacht und ihn dadurch einer Privataudienz bei der neuen lirinschen Königin beraubt hatte, nach der es ihn so sehr verlangt hatte. Er war gezwungen gewesen, sofort zusammen mit den Seligpreisern und den anderen Provinzfürsten abzureisen und zur Beerdigung nach Sepulvarta zurückzukehren. Rhapsody hatte nicht daran teilgenommen; sie hatte dem alten Mann bereits Lebewohl gesagt. Aber wenigstens hatte sie sich nun in Tyrian niedergelassen. Fern von den Bolg-Landen . Aus der Schusslinie. »Ja, McVickers«, sagte er mit düsterer Stimme. »Ja, das will ich. Der Berg ist sowieso im Moment nur noch eine leere Hülle. Irgendeine Seuche hat das Heer und die meisten Einwohner vernichtet. Die übrig gebliebenen Bolg müssen an Ort und Stelle bleiben, damit sich die Seuche nicht bis nach Roland ausdehnt. Versammle deine Generäle und beginne mit den Einberufungen. Ich will ausrücken, sobald alle Provinzen ihre Soldaten geschickt haben. In zwei Monaten werden die letzten Truppen aus Yarim hier eintreffen.« McVickers nickte und spürte dabei das Beil des Henkers über sich schweben. »Ja, mein Prinz.« Lianta’ar, die Basilika des Sterns, Sepulvarta Die schieren Ausmaße der Kathedrale, deren gewaltige Kuppeldecke eine Halle von der Länge und Breite mehrerer Hauptstraßen überwölbte, machten Achmed nur noch nervöser. Der Bolg-König hatte Grunthor bis zur Sprachlosigkeit verblüfft, als er angekündigt hatte, er wolle noch einige Momente in der Nähe der Stern-Basilika bleiben, nachdem die Seligpreiser gemeinsam mit den Trauernden gegangen waren und die Nacht am Ende der Begräbnisriten für den Patriarchen hereinbrach. Lanacan Orlando, der es abgelehnt hatte, an der Zeremonie teilzunehmen, um im Hause des Patriarchen zurückbleiben zu können und den trauernden Abt und die Priester zu trösten, war bereits auf der Heimreise nach Bethe Corbair. Sein Gefolge bewegte sich nach Norden auf die Kreuzung der Hauptstraßen durch Orland zu, die zu cymrischen Zeiten gebaut worden waren und Roland von der Küste bis zu den Zahnfelsen teilten. Achmed vermutete, dass sie ihn ohne Schwierigkeiten einholen konnten, wenn sie über Land reisten. Du weißt, warum er im Haus geblieben ist?, hatte Achmed gefragt. Um noch mehr Leute zu bannen? Ja, und weil er die Basilika nicht betreten kann. Sie steht auf geheiligtem Boden. Der riesige Sergeant-Major stand noch immer verwirrt bei der Hintertür in der dunklen Vorhalle neben dem Eingang zum Hauptschiff, dem größten Teil der Basilika, in dem die Gläubigen während der Zeremonien saßen oder standen. Er stieß mit den Zehen den Abfall beiseite, der von der Beerdigungszeremonie übrig geblieben war: verstreute Federn, die von der Versammlung hochgeworfen worden waren, um der Seele des Patriarchen schneller zum Licht zu verhelfen, und nun verschmutzt von den Sohlen zehntausender Füße inmitten einer Wachsflut und zerfetzten Blumenblättern lagen. Er fragte sich müßig, ob etwas von der Asche des Leichnams, der in einem großen Becken auf dem Altar verbrannt worden war, in den Ruß eingegangen war, der die wunderbaren Mosaike auf dem Boden unter seinen Stiefeln schwärzte. Achmed schaute zum fünften Mal über die Schulter und vergewisserte sich, dass er wirklich allein in der großen Kathedrale war. Dann machte er sich zögernd auf den Weg durch einen der Hauptgänge zum Heiligtum, wo der Brandaltar auf einem großen Podest stand, zu dem viele Stufen hinaufführten. Vor der Kathedrale läuteten endlos im Turm die Totenglocken. Als er den Fuß der Stufen erreicht hatte, blieb er stehen und räusperte sich nervös in dem Rauch, der noch immer schwer in der Luft hing. »Ich hasse Priester«, sagte er laut und hielt die Augen auf die Kohlen gerichtet, die verglüht waren, nachdem man sie mit heiligem Wasser übergössen hatte. Er sah das Brandbecken an, aus dem sich ein vorwitziger Rauchfaden erhob. Achmed rieb sich den Nacken, während er in Richtung des schwelenden Haufens aus Gezweig und Asche sprach. »Ich bin hergekommen, um auszudrücken, dass es mir Leid tut«, sagte er ruhig. »Ich hätte es nicht getan, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte.« Die Kathedrale antwortete mit Schweigen, wenn man von den endlosen Schwingungen der läutenden Glocken absah. »Dein Tod hat ihr das Leben gerettet. Wenn du die Wahl gehabt hättest, wärest du sicherlich damit einverstanden gewesen, auch wenn ich dich nicht gekannt habe.« Eine plötzliche Welle des Unbehagens durchflutete Achmed. Er drehte sich schnell auf dem Absatz um und eilte durch den Gang auf die schattige Vorhalle zu. Als er sie beinahe erreicht hatte, drehte er sich noch einmal in die Richtung des Altars, der nun in völliger Finsternis lag. »Lebe wohl, Vater«, sagte er. 63 Tyrian Ihre Arbeit an den Listen war an diesem Morgen besonders ermüdend gewesen, und Rhapsody hatte ihr Bad in Dankbarkeit genossen. Sie kam erfrischt in ihre Bettkammer, gekleidet in eine der schlichten, kunstvollen Roben, welche die lirinschen Näherinnen für sie entworfen hatten. Diese Kleidung war angenehm zu tragen und verschaffte dem Körper ein Gefühl der Freiheit und Ungebundenheit, und die Farbe passte wunderbar zu ihren Augen. Mit einem tiefen Seufzer fiel sie auf das Bett und betrachtete die anmutigen Bäume, die als Bettpfosten dienten, die ineinander verschlungenen Zweige, die den Baldachin bildeten, und die spitzenartigen Blätter, die Sonnenumrandete Schatten in tanzenden Mustern auf das Bett und über sie warfen. Das Feuer knisterte im Kamin, vertrieb die Kälte aus dem Raum und wärmte die Bäume, die auf diese Weise sogar im Winter einen Sommer erlebten. Aus dem Hof unter ihr hörte sie das Hallen ferner Schritte. Sie stand auf und ging zum Fenster, wischte die Eisblumen ab und schaute hinaus. Am Rande der Palastmauern sah sie, wie eine große Anzahl von lirinschen Wachen und eine ungeheure Besuchermenge eine ungerade Linie bildeten. Die Linie wurde länger und länger, als sich noch mehr Leute in sie einreihten. Sie lachten und rempelten sich an; hier und da entstanden Streitereien. Die Kälte dämpfte ihren Lärm nicht; Luftschwaden stiegen von den fernen Gesprächen auf. Rhapsody legte sich einen weichen Mantel um, zog die Stiefel an und verließ ihre Gemächer. Sie suchte nach Rial, der nun Vizekönig und Hauptratgeber war. Während der kurzen Zeit ihrer bisherigen Regentschaft hatte sie sich ganz auf ihn verlassen, wenn es um die Verwicklungen bei Hofe oder um Staatsangelegenheiten ging. Sie vertraute darauf, dass er wusste, was dort vorging. Sie fand ihn in der Nähe der Mauer, nicht weit entfernt von der Versammlung, und beobachtete mit finsterer Miene, wie die Wachen und Schreiber die Besucher und die Gegenstände verzeichneten, die jeder von ihnen mitgebracht hatte. Sie stellte sich neben ihn und berührte ihn am Ärmel. »Rial, was um alles in der Welt geht hier vor?« Rial drehte sich zu ihr um, ergriff rasch ihren Arm und führte sie von der Menge fort. Sie gingen bis zur gekrümmten Mauer des Wachtturms. Als sie außer Sichtweite der Menge waren, nahm er ihre Hand und küsste sie. »Guten Morgen, meine Dame.« Er lächelte auf sie herab, und sein ältliches, runzliges Gesicht nahm jenen freundlichen Ausdruck an, der Rhapsody so lieb geworden war. »Ich hatte geglaubt, Ihr wäret auf dem Übungsplatz.« Sein Atem bildete eine eisige Wolke in der Luft zwischen ihnen. »Das war ich auch, aber ich ertrage nicht viel körperlichen Missbrauch. Hiledraithe und Kelstrom haben heute ein besonderes Vergnügen darin gesehen, mich zu unterwerfen. Was ist los? Wer sind diese Leute?« Rial seufzte. »Freier, Euer Majestät.« »Freier? Freier für wen? Du hast mir doch gesagt, dass die Lirin keine Hochzeitslotterie haben und die Frauen ihre Männer frei wählen können.« »Das können sie auch, Euer Majestät. Diese Männer halten um Eure Hand an, oder es sind Abgesandte derjenigen Adligen, die um Euch zu werben gedenken.« Rhapsody ging bis zum Rand des Turms und spähte um die Ecke. Die Reihe war noch länger geworden, und der Lärm war ohrenbetäubend. »Das kann doch nur ein Witz sein«, sagte sie und starrte die Menge an. »Das sind ja Dutzende!« »Hunderte, würde ich vermuten. Es tut mir sehr Leid, Euer Majestät. Ich hatte gehofft, Euch ihren Anblick ersparen zu können.« Rhapsodys Gesicht verfinsterte sich vor Entsetzen. »Das verstehe ich nicht, Rial. Warum sind sie hier, vor allem an einem so kalten Tag? Ich habe nicht gesagt, dass ich einen Mann suche, oder?« Rial bot ihr seinen Arm an; sie nahm ihn, und er führte sie zurück zum Palast. »Nein, Rhapsody, aber sie sind hinterhältig. Gewöhnlich hätten wir in den ersten Jahren ein paar von ihnen gesehen, die sich mit Tyrian durch eine Staatsheirat verbinden wollen. Eigentlich sind die Ersten immer die Adligen der älteren lirinschen Häuser, weil sie es zuerst erfahren, wenn eine neue Monarchin gekrönt wird. So war es zumindest in der alten Zeit bei Königin Terrell. Damals war mein Vater Page, und er hat mir die Szene oft beschrieben. Anscheinend kam etwa ein Dutzend zur Palastmauer und wartete die ganze Nacht nach ihrer Krönung. Tagelang schwirrte der Palast vor Aufregung. Aber das ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit unserer Situation. Viele da draußen sind nicht einmal Lirin. Es sind Regenten anderer Länder, einige kommen sogar aus Hintervold. Zweifellos wollen sie ihre Reiche mit dem Euren verbinden. Aber wenn Ihr mich fragt, vermute ich, dass sich die Neuigkeit aus anderen Gründen verbreitet hat. Ich nehme an, es hat mehr mit Euch selbst zu tun als mit dem Verlangen, über Tyrian zu herrschen.« »Was willst du damit sagen? Keiner dieser Männer kennt mich; wenigstens sehe ich niemanden, dem ich schon einmal begegnet wäre.« Rial kicherte. Langsam gewöhnte er sich an ihr Selbstbild, das ihn wahrlich belustigte. »Es wäre doch möglich, dass einige Dinge an Euch die Neuigkeit schneller weitergetragen haben, als es sonst der Fall gewesen wäre.« Rhapsody erzitterte. »Was haben sie mitgebracht? Etwa das Brautgeld?« »Eigentlich nicht. Es sind Staatsgeschenke wie die, die Ihr anlässlich Eurer Krönung erhalten habt, aber diese hier sind wertvoller. Wenn Ihr einen Gatten wählt, wird der Tradition gemäß sein Geschenk in der Großen Halle ausgestellt; das ist eine Art Verlobungsanzeige. Die übrigen Geschenke werden Teil Eures Vermögens und der Staatskasse von Tyrian. Daher könnt Ihr Euch vorstellen, welch ein Wettbewerb darin besteht, ein Geschenk zu haben, das Euch beeindruckt, den guten Geschmack des Schenkers zur Geltung bringt und den Reichtum des Landes aufzeigt, aus dem der Bewerber kommt.« Rhapsody machte ein düsteres Gesicht. »Gib die Geschenke bitte zurück und schick die Männer heim, Rial. Ich will nicht jetzt schon Bewerber um meine Hand empfangen.« Als sie die Palastrotunde betraten, blieb Rial stehen, ergriff ihre Hände und blickte sie ernst an. »Davon rate ich Euch ab, Euer Majestät«, sagte er sanft und versuchte, sie nicht wütend zu machen. »Das würde als große Beleidigung verstanden. Es ist besser, die Geschenke anzunehmen und die Bewerbungen zu verzeichnen, so wie es die Schreiber tun. Dann werden die Männer in ihre Länder zurückkehren und Eure Einladung an jene abwarten, deren Werbung Ihr entgegennehmen wollt. Auf diese Weise können Eure Wünsche erfüllt werden, und das Heer muss nur diejenigen abwehren, die vielleicht etwas ungeduldig werden.« Selbst im Licht der fauchenden Flammen des großen Kamins erkannte Rial, dass Rhapsodys Gesicht blass wurde. »Was soll das heißen? Willst du damit andeuten, dass sie möglicherweise Tyrian angreifen, wenn ich ihre Bewerbung nicht annehme?« Rial hielt eine vorbeihuschende Dienerin an. »Bring Ihrer Majestät bitte etwas Apfelwein«, sagte er. Das Mädchen nickte und eilte davon. Er führte die Königin näher zum Feuer und setzte sich mit ihr auf die breite Bank vor dem Kamin. »Bis Ihr heiratet und damit die Möglichkeit für alle anderen Bündnisse ausschließt, ist es möglich, dass einige der Regenten den Versuch machen, Eure Entschlossenheit mit Gewalt auf die Probe zu stellen. Macht Euch keine Sorgen, Herrin. Das ist unwahrscheinlich, wenigstens eine Zeit lang, und das lirinsche Heer wird mit ihnen fertig werden, da Ihr jetzt alle Gruppen vereinigt habt. Euch gehört nicht nur die Loyalität der Soldaten, sondern auch ihre Herzen, und sie werden freudig Euer Recht verteidigen, zur gegebenen Zeit einen Mann zu nehmen. Tyrian ist ein Albtraum für Angreifer, und die Verluste auf ihrer Seite werden unsere bei weitem übersteigen. Da muss jemand schon ein ernsthaftes Verlangen haben, bevor er versucht, in den Wald einzudringen. Also macht Euch bitte keine Gedanken. Lasst Euch Zeit. Es ist eine wichtige Entscheidung, die Ihr in Ruhe und Frieden treffen solltet.« Die Dienerin kehrte mit einem schweren Kelch zurück und bot ihn Rhapsody an. Sie nahm ihn wie betäubt entgegen. Mit einer höflichen Geste entließ Rial die Dienerin und sah der Königin ins Gesicht. Er beobachtete fasziniert, wie sich der unbedachte Glanz in ihren Augen zu einer Maske der Entschlossenheit verhärtete. Sie hob den Kelch und nahm einen Schluck. »Ich werde deinem Rat folgen, Rial, wie immer«, sagte sie fest. »Bitte schicke einen Boten in mein Arbeitszimmer, sobald es dir möglich ist. Ich muss eine Botschaft versenden.« »Das war eine wunderbare Mahlzeit«, sagte Anborn, trank den Rest seines Weines und setzte den Kelch auf dem Tisch ab. Er warf einen Blick über den Balkon auf die kahlen, glitzernden Bäume, die sich über die reich verzierte Brüstung streckten. Der Tag war kühl gewesen, aber auf dem Balkon zu essen war angenehm und eine erfrischende Abwechslung zu dem schweren Rauch der Winterfeuer. Er war froh, dass er so früh auf Rhapsodys Einladung reagiert hatte. Gewöhnlich ließ er solche Einladungen lange unbeantwortet, weil er es liebte, sich verhasst zu machen. Aber er war glücklich über die Möglichkeit, Rhapsody allein zu sprechen und sich ein Bild von ihrer Gesundheit und geistigen Verfassung zu machen, was während der Krönung unmöglich gewesen war. Es schien ihr viel besser zu gehen, als er nach ihren Erlebnissen in Sorbold und dem Wald für möglich gehalten hätte, aber sie war schließlich bei den Rowans gewesen und hatte zweifellos dort viel mehr Zeit verbracht, als der Rest der Welt bemerkt hatte. Bei der Begrüßung hatte sie das Diadem getragen. Fasziniert hatte er gesehen, wie es über ihrem Kopf schwebte und in einem gleißenden Nimbus aus winzigen Juwelen wirbelte, die wie glitzernde Lichtpunkte wirkten. Sobald sie aber allein waren, hatte sie das Diadem ausgezogen und wurde nun nur noch von ihrem prachtvollen Haar bekrönt, das zu verwickelten Mustern gesteckt war, die nur geübte lirinsche Hände weben konnten. Sie leistete beim Essen wunderbare Gesellschaft, unterhielt ihn mit amüsanten Geschichten und lachte unerschrocken über seine rohen Scherze. Trotzdem hatte sie eine Reserviertheit an sich, die er nicht genau festmachen konnte; es war, als fehlte ein Stück von ihr. Als das Essen vorüber war, beugte sie sich vor und bedachte ihn mit einem eingehenderen Blick, als er je bei ihr festgestellt hatte. »Ich habe mich gerade gefragt, ob wir uns über etwas unterhalten können, was rein hypothetisch ist. Ich gebe dir Ideen vor, und du spinnst sie weiter, aber keiner von uns wird durch die Diskussion in irgendeiner Weise gebunden.« Anborn wischte sich mit der Leinenserviette über den Mund und legte sie gefaltet neben den Teller. »Natürlich. Über was möchtest du sprechen?« Ihr Blick fesselte ihn; bei früheren Begegnungen hatte ihn die bemerkenswerte Offenheit ihres Gesichts beeindruckt. Nun sprach ihre Miene von Vorsicht, und ihr Verhalten war geradezu kühl, beinahe unbeteiligt. Obwohl ihre frühere Schönheit durch die Aufregung und Heiterkeit in ihren Augen noch erhöht wurde, hatte sie nun eine Vornehmheit und Distanziertheit an sich, die er weitaus interessanter fand. »Ich habe mich gefragt, ob du jemals wieder heiraten willst«, meinte sie und sah ihn dabei nüchtern an. »Nein«, antwortete er. »Warum fragst du?« »Nun, wenn es etwas ist, über das man reden kann, dann will ich genau das tun.« Anborn lehnte sich verblüfft auf seinem Stuhl zurück. »Ich bin bereit, über alles zu reden«, sagte er und lächelte leicht. »Bitte sag mir, was du auf dem Herzen hast.« »Ich frage mich, was du von einer Ehe mit mir halten würdest, falls das nicht eine allzu unangenehme Vorstellung für dich ist«, sagte sie, während sie ihn weiterhin scharf beobachtete. Ihm entfuhr ein kurzes Lachen, und er hustete in die Hand, während er sich vorbeugte. »Entschuldigung, ich habe gerade den ohrenbetäubenden Lärm von Millionen brechender Herzen gehört. Habe ich dich richtig verstanden? Machst du mir einen Heiratsantrag?« »Noch nicht«, sagte Rhapsody ruhig. »Wie ich schon sagte, wollte ich dein Interesse überprüfen.« »Natürlich«, erwiderte Anborn und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Auf den ersten Blick bin ich verblüfft. Welche Folgen würde das nach sich ziehen? Warum solltest du mich heiraten wollen?« Rhapsody schob den Teller aus dem Weg und legte die Arme verschränkt auf den Tisch. »Nun, ich fürchte, diese Antwort besteht aus zwei Teilen. Die Frage lautet: Warum will ich heiraten, und warum gerade dich? Erstens würde ich eigentlich lieber nicht heiraten, aber dann könnte ich nicht mehr Königin der Lirin sein. Es hat den Anschein, dass ich keine Wahl habe.« Anborn nickte; ihre Aufrichtigkeit erfreute ihn. »Seit meiner Krönung werde ich von Anfragen anderer Herrscher bedrängt, die aus Staatsgründen unbedingt eine Ehe mit mir eingehen wollen. Ich habe kein Verlangen, die Staatsgrenzen von Tyrian auszudehnen, und will auch nicht in die politischen Ränkespiele hereingezogen werden, sie sich daraus zwangsläufig ergäben. Ich bin mir aber auch bewusst, dass ich als unverheiratete Herrscherin andauernd zur Überprüfung meiner Entschlossenheit und Stärke herausfordere. Dazu fehlt mir die Geduld, und ich will nicht, dass jemand aus einem so dummen Grund verletzt oder gar getötet wird. Deswegen habe ich mich damit abgefunden, dass ich heiraten muss.« Der Schatten eines Lächelns huschte über Anborns nachdenkliches Gesicht. »Irgendwie sieht dir das gar nicht ähnlich, meine Liebe«, sagte er trocken. »Ich hätte eine beträchtliche Summe darauf gewettet, dass du wie eine Löwin gegen solche Bedrohungen kämpfst.« »Dann wärest du jetzt ein sehr viel ärmerer Mann.« Alle Spuren von Freundlichkeit verschwanden aus Rhapsodys Miene. Sie schloss kurz die Augen und schüttelte alle Erinnerungen an den Wyrm ab, der in den Eingeweiden der Erde schlief. Die gewaltige Tunnelwand, gegen die sie sich einmal gelehnt hatte, war nur eine einzige Schuppe seiner ungeheuren Haut gewesen, und sein Fleisch war inzwischen ein wesentlicher Bestandteil der Erde. Als sie diesen Gedanken verbannt hatte, öffnete sie die Augen wieder und sah Anborn an. »Wir sollten uns nicht so geziert unterhalten, General. Wir beide wissen, dass ein Krieg bevorsteht; er kommt mit jedem Augenblick näher. Und während du den Krieg aus eigener Anschauung kennst, habe ich unseren Gegner gesehen oder wenigstens einen von ihnen. Wir brauchen alles, was wir haben alles , bloß um sein Erwachen zu überleben, vom Besiegen erst gar nicht zu reden. Ich will weder das Blut noch die Zeit der Lirin verschwenden, um etwas so Dummes wie eine Kriegserklärung wegen meiner Verlobung abzuwenden. Eine Vernunftheirat ist ein geringer Preis für die Sicherheit und den Frieden Tyrians. Wir brauchen jede lebende Seele, wenn die Zeit gekommen ist. Du hast mich einmal gefragt, ob ich mich Llauron verschworen habe. Jetzt habe ich mich den Lirin verschworen. Ich werde alles tun, was ich tun muss, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, egal was es mich kostet.« Anborn drehte den Stiel seines Weinglases zwischen den Fingern und nickte, während sein Grinsen breiter wurde. Er erhob das Glas zu einem stummen Gruß, trank rasch, nickte wieder und stellte es ab. »Bitte fahre fort.« »Nun kommt der Grund, warum ich glaube, dass du der Richtige bist. Du liebst mich nicht, und das verlange ich auch nicht von dir. Ich bezweifle, dass du es je tun würdest. Ich hoffe, du bist nicht beleidigt, wenn ich dir sage, dass ich dich schätze und dich eines Tages vielleicht mögen werde, aber ich glaube nicht, dass ich mich in dich verlieben könnte. Das macht eine Heirat durchführbar und frei von all den Schwierigkeiten, die sich üblicherweise dabei einstellen. Ich bitte dich nur um sehr wenig. Bring mich nie in Verlegenheit und versuche nicht, mir oder dem lirinschen Volk zu schaden. Darüber hinaus stelle ich keine Forderungen. Ich erwarte von dir keine Treue, aber ich würde eine gewisse Diskretion sehr gern sehen. Natürlich brauche in anderen Angelegenheiten durchaus deine Loyalität. Du kannst jedoch kommen und gehen, wann du willst.« »Interessant«, meinte Anborn. »Kommen wir nun zu den Vorteilen. Für mich würde es außer der vorhin erwähnten Befreiung von allen Nachstellungen bedeuten, dass ich einen Gatten habe, den ich achte und dessen Ruf mögliche Schwierigkeiten gar nicht erst aufkommen lässt. Ich weiß nicht, welche Vorteile du aus dieser Sache ziehen könntest. Das lirinsche Heer stünde dir in Notfällen zur Verfügung, wenngleich ich es nicht für unethische Taten hergebe. Es gibt natürlich ein wenig Reichtum und einen bestimmten gesellschaftlichen Rang, aber beides besitzt du bereits. Vielleicht sind die Gründe für dich nicht so gut wie für mich, und es könnte darauf hinauslaufen, dass du mir bloß einen großen Gefallen erweist. Aber du hättest immer einen Ort, an den du heimkehren könntest und wo man dich mag, ehrt und schätzt. Ich würde alles tun, um dir eine gute Gesellschafterin zu sein, und keine Forderungen an dich stellen. Zumindest ist das meine Absicht. Hast du noch Fragen?« »Ein paar.« »Dann stell sie bitte.« »Mal sehen, was ich zuerst frage. Erwartest du Kinder?« »Nein. Wie ist es bei dir?« »Nein, ich hätte lieber keine.« »Ich könnte vielleicht hin und wieder eines adoptieren, aber ich glaube, es würde nicht als dein, sondern allein als mein Kind angesehen. Die Lirin sind in solchen Angelegenheiten sehr genau.« »Damit habe ich keine Schwierigkeiten.« »Sehr gut. Was ist sonst noch?« »Wie steht es um, äh, eheliche Verpflichtungen? Sind sie Teil der Vereinbarung?« Rhapsody zuckte nicht zusammen; ihre Miene blieb gelassen. »Das ist deine Entscheidung«, sagte sie. »Wenn du sie erwartest, habe ich nichts dagegen. Wenn nicht, ist das genauso gut.« Sie lächelte, und eine Spur ihres alten Humors flammte auf. »Ich glaube, du hast genug gesehen, um zu einer wohl bedachten Entscheidung zu kommen.« Anborn schüttelte den Kopf und lächelte verwundert. »Bemerkenswert«, sagte er in einem Tonfall der Belustigung. »Ich sitze vor der hübschesten Frau, die ich je gesehen habe und der die Männerwelt zu Füßen liegt, und sie bespricht eine mögliche geschlechtliche Vereinigung mit derselben Begeisterung wie einen Grundstückskauf oder ein Gesetzesvorhaben. Das ist beinahe unwirklich, Rhapsody. Darf ich dir eine weitere Frage stellen?« »Natürlich.« »Was ist mit dir geschehen? Du bist eindeutig nicht mehr das Mädchen, das ich vor einiger Zeit beinahe in den Straßenstaub getreten hätte.« »Nein, das bin ich nicht mehr«, stimmte sie ihm zu. Seine Stimme wurde ungewöhnlich sanft. »Ist es dasselbe, was mit dem Gladiator passiert ist?« »O nein, überhaupt nicht. Ich bin einfach nur erwachsen geworden und habe begriffen, was möglich ist und was nicht, Anborn. Ich musste feststellen, dass mich praktische Erwägungen weniger kosten als mein früherer Idealismus, und es ermüdet mich, Dinge haben zu wollen, die ich nicht haben kann. Alles, was ich jetzt noch ersehne, ist Frieden. Und dass die Erde das Kommende überlebt.« Anborn stützte das Kinn in die Hände und sah sie an. »Wie schade«, meinte er schließlich. »Auch wenn ich zugebe, dass du viel angenehmer im Umgang bist, muss ich doch gestehen, dass ich die andere Rhapsody vermisse. Du bist viel zu jung und schön, um so alt und müde zu klingen.« »Ich bin alt und müde, Anborn übrigens viel älter als du.« »Nur theoretisch.« »Zugegeben. Aber du sollst nicht glauben, dass ich immer so sachlich bin. Es gibt immer noch Dinge, die mir sehr wichtig sind, und ich habe noch meine Musik. So lange das so bleibt, werde ich hoffentlich nicht allzu langweilig sein.« Anborn sah sie lange an. Sie wandte den Blick nicht ab und wirkte nicht unangenehm berührt, sondern hob bloß ihren Kelch und trank ihren Wein aus. Schließlich sagte er mit einem schwachen Lächeln: »Nein, das wirst du nicht sein. Nun, ohne ein Zugeständnis zu machen denn das war nicht Teil der Gesprächsvereinbarung , muss ich sagen, dass ich sehr interessiert bin. Und ich fühle mich übrigens auch überaus geehrt. Ich glaube, du wärest die beinahe vollkommene Frau für mich, Rhapsody. Solange du mir die Freiheit zugestehst, zu kommen und zu gehen, wann ich will, würde ich die Aussicht darauf genießen, dein Beschützer und Wächter zu sein. Ich glaube, wir teilen viele Interessen. Es gibt etliches, was wir einander beibringen können. Und auf alle Fälle würde ich eine körperliche Beziehung mit dir sehr genießen wenn dem nicht so wäre, müsste ich schon tot sein. Du hast Recht: In der Ehe wird die Liebe überbewertet und ist keinesfalls der wichtigste Bestandteil.« »Das habe ich nie gesagt«, meinte Rhapsody ernsthaft. »Ich habe nur gesagt, ich glaube nicht, dass es für uns der wichtigste Bestandteil wäre.« »Ich gebe meinen Irrtum zu.« Sein Blick wanderte über ihr Gesicht und den Oberkörper, als suchte er etwas; einen Herzschlag später schien er es gefunden zu haben. »Weißt du, die Lirin mögen mich nicht sehr. Es ist eine verständliche Feindschaft, die aus dem Krieg herrührt. Könnte das für dich zu einem Problem werden?« Rhapsody lächelte. »Wenn die Lirin ein Problem damit haben, werde ich gern abdanken. Was ich an der tyrianischen Gesellschaft am meisten schätze und was der Hauptgrund dafür gewesen ist, dass ich die Krone angenommen habe, ist der Umstand, dass sie einem nicht vorschreiben, wen man zu heiraten hat. Vielleicht tragen wir ein wenig zum lange überfälligen Heilungsprozess nach dem Krieg bei.« Ein Ausdruck offener Bewunderung schlich sich in seine Augen. »Du bist eine erstaunliche Frau, Rhapsody äh, Euer Majestät.« Sie zog eine komisch saure Schnute. »Ach, bitte.« »Ich fühle mich durch deinen Vorschlag wirklich geehrt. Ja, wenn du einen Ehegatten haben willst und närrisch genug bist, mich zu nehmen, dann wäre mir an dieser Stellung sehr gelegen.« »Vielen Dank«, sagte sie, lächelte und setzte sich auf. »Ich werde über deine Worte nachdenken und schätze deine Aufrichtigkeit.« »Wenn du bei deinen Einladungen zum Essen immer über solche Themen reden möchtest, können wir das zu einer regelmäßigen Veranstaltung machen«, sagte Anborn, erhob sich und verneigte sich höflich. »Ich glaube, du weißt, wie du mich erreichen kannst, wenn du zu einer Entscheidung gekommen bist.« »Ja«, sagte sie und stand gleichzeitig mit ihm auf. »Vielen Dank für dein Kommen. Ich gehe mit dir bis zu Oelendras Haus. Ich muss mit ihr noch ein paar Dinge besprechen.« »Übermittle ihr meine besten Grüße«, meinte Anborn und hakte sich bei ihr unter. »Hast du übrigens schon mit ihr über diese Angelegenheit gesprochen?« »Natürlich nicht«, antwortete Rhapsody. »Ich war der Meinung, du solltest der Erste sein, der davon erfährt.« Anborn lachte. »Wir werden gut miteinander auskommen, Rhapsody«, sagte er. Gemeinsam schlenderten sie zu Oelendras Haus. An der Abzweigung zur Kate der lirinschen Meisterin nahm Anborn Rhapsodys Hand und küsste sie. »Auf Wiedersehen, Euer Majestät.« Er nickte höflich Rial zu, der soeben den Pfad entlangkam. Der lirinsche Vizekönig gab das Nicken kühl zurück. »Vielen Dank für das bemerkenswerte Essen. Ich werde über Eure Worte nachdenken.« »Vielen Dank und gute Reise.« Rial wartete, bis Anborn im Wald verschwunden war, und schloss zu ihr auf. »Wenn Eure Majestät erlauben ...« »Rhapsody, bitte.« »Ja, Verzeihung. Es gibt einige Dinge, über die ich mit Euch gern reden möchte.« Rhapsody drehte sich um und ging weiter auf Oelendras Haus zu. Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Worüber?« »Die Lirin aus der Ebene erbitten Euren Beistand wegen einer Steuersenkung für ihre landwirtschaftlichen Ausfuhren nach Manosse und Groß-Overward. Da das Reich jetzt vereinigt ist, seid Ihr dafür zuständig ...« Rhapsody beschleunigte ihre Schritte. »Glaubst du, ich sollte ihrer Bitte entsprechen, Rial?« »Nun, es gibt viele gute und ...« »Dann sei es so. Bitte kümmere dich darum. Noch etwas?« »Die Zinnen auf der südlichen Brustwehr müssen erneuert werden.« »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich auch darum kümmern würdest.« »Die Grenzpatrouillen bitten um den Bau zweier neuer Langhäuser...« Rhapsody blieb stehen. »Rial, wer hat sich um diese Dinge gekümmert, bevor ich gekommen bin?« Der ältliche Vizekönig zuckte zusammen. »Ich, Euer ... Rhapsody.« »Glaubst du etwa wirklich, dass ich Kenntnisse über die Erneuerung von Brustwehren habe, nur weil ich eine Frau bin?« Rial kicherte. »Nein.« »Sicherlich erkennst du, dass ich in dieser Hinsicht unterqualifiziert bin, selbst wenn du zu höflich bist, um genau hinzuschauen. Hundert Jahre vor meiner Ankunft warst du der Schutzherr dieses Königreiches, Rial. Du weißt viel mehr über all diese Dinge als ich. Bitte triff weiterhin selbstständig deine Entscheidungen. Rede mir nicht mühsam ein, ich sei wichtig, indem du mir Fragen stellst, auf die du die Antworten schon kennst, ich aber nicht.« Ein Gejohle, gefolgt von heiserem Gelächter erhob sich vor dem Tor, an welchem die Freier noch immer versammelt waren. Rhapsody schaute in Richtung dieses Tores und dann wieder zu Rial. »Ich habe im Augenblick andere Dinge im Kopf.« »Welch eine angenehme Überraschung«, sagte Oelendra lächelnd, als sie die Tür öffnete. »Es ist immer wunderbar, Euch zu sehen, Euer Majestät.« »Oelendra, ich liebe dich, aber wenn du nicht aufhörst, mich so zu nennen, werde ich dich köpfen lassen.« Die ältere Frau lachte. Sie gab ihre Erwiderung auf Alt-Lirin: »Mithilfe welchen Heeres?« »Natürlich mit deinem eigenen«, erwiderte Rhapsody lächelnd in derselben Sprache. Oelendra legte den Arm um Rhapsodys Schultern und führte sie nach drinnen; dabei warf sie ihren Mantel über eine Stuhllehne. »Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen deines Besuches?« »Ich muss eine Menge mit dir besprechen. Ist es gerade Ungelegen?« Oelendra seufzte in gespielter Verzweiflung. »Rhapsody, du bist jetzt die Königin. Jemand wie du kommt niemals Ungelegen.« Sie ging zum Herd und schöpfte zwei Becher dol mwl, drehte sich um und gab Rhapsody einen davon. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass du die Privilegien deiner neuen Stellung noch immer nicht genießt?« Ihr Lächeln schwand, als sie der Sängerin in die Augen schaute und in ihnen einen fernen, verschlossenen Blick fand. »Was stimmt nicht?« »Nichts«, antwortete Rhapsody und nippte an dem Glühwein. »Kennst du Anborn ap Gwylliam besser als nur vom Hörensagen?« »Ja«, sagte Oelendra und setzte sich in einen der Sessel vor dem Kamin »Von Anwyns und Gwylliams drei Söhnen ist er der Einzige, den ich wirklich kenne. Als sie noch Kinder waren, habe ich an all ihren Namensgebungsfeiern teilgenommen, aber als der Krieg begann, waren sie schon junge Männer. Ich habe sie als Kinder gelegentlich gesehen, doch nach dem Krieg hat Llauron viel Zeit im Kreis mit der Pflege des Baumes und der Leitung der Filiden verbracht, und Edwyn Griffyth bin ich noch vor dem Krieg nicht mehr begegnet. Ich habe gehört, dass er in den Schmieden seines Vaters gelernt hat und dann zur See gefahren ist. Anborn aber war schon als Kind immer begierig darauf, den Schwertkampf zu erlernen. Deshalb hat ihn seine Mutter zu mir geschickt. Ich habe Anborn ausgebildet und kenne ihn daher recht gut. Warum fragst du?« Rhapsody setzte sich in den Sessel ihr gegenüber und nahm noch einen Schluck. »Ich überlege, ob ich ihn heiraten soll. Übrigens soll ich dich ganz herzlich von ihm grüßen.« Oelendra sah sie kurz von oben bis unten an. »Warum?« »Vermutlich weil er dich mag.« Oelendra schnaubte verächtlich. »Warum willst du ihn heiraten?« »Um diese aufdringlichen, dämlichen Freier loszuwerden und den Bedrohungen, die sie darstellen, ein Ende zu setzen. Aus all den Gründen, die wir schon besprochen haben, Oelendra. Warum nicht? Stimmt mit Anborn etwas nicht?« Oelendra stellte ihren Becher ab, beugte sich vor und sah Rhapsody ernst an. »Ich glaube, es gibt einen sehr deutlichen Grund.« »Ich sehe keinen.« »Sei doch nicht so zimperlich, Rhapsody, das passt nicht zu dir«, gab Oelendra zurück; ihr Ton wurde hart. Rhapsody sagte im gleichen Tonfall: »Ich bin nicht zimperlich«, und sah Oelendra mit einem Blick an, den die Kriegerin noch nicht kannte. »Wenn du mir keinen Grund angeben kannst, den ich unbedingt berücksichtigen sollte, werde ich nach dem cymrischen Konzil die entsprechenden Vorbereitungen treffen.« Oelendra sah sie weiterhin an, wandte dann den Blick ab, trank ihren Becher leer und stellte ihn fort, während sie die Königin erneut anschaute. »Was ist mit Gwydion?«, fragte sie schließlich widerwillig, weil sie nun als Erste nachgegeben hatte. Rhapsody erwiderte Oelendras Blick. »Was soll mit ihm sein, Oelendra? Er ist verheiratet. Bedeutet das für dich nichts? Für mich schon.« »Und deine Antwort darauf lautet, seinen Onkel zu heiraten? Wie sinnig. Gwydion ist mir egal«, entgegnete Oelendra und versuchte, die Schärfe aus ihrer Stimme zu nehmen. »Um dich mache ich mir Sorgen. Du bist noch so, wie du warst, als du zum ersten Mal hierher gekommen bist: ohne Kummer und Tränen. Du trägst ihn in deinem Herzen, Rhapsody. Noch ist da kein Platz für jemand anderen, vor allem nicht für Anborn.« »Und so wird es für den Rest meiner Tage bleiben. Was soll es also? Anborn versteht, welchen Platz er in meinem Leben einnehmen soll und ich in seinem. Vermutlich wird er mein Recht, sich nicht um ihn zu kümmern, noch mehr respektieren als du. Es handelt sich um eine Vernunftehe, und wir beide wissen das. Was willst du also von mir? Soll ich mein ganzes Leben lang trauern, unverheiratet bleiben und zusehen, wie unsere Soldaten aufeinander losrennen und ihr Blut und Leben für die Forderung nach einer Verbindung mit mir einsetzen? Wie kannst du glauben, dass ich so selbstsüchtig bin, Oelendra? Ich war der Meinung, von allen würdest du mich am besten verstehen.« Ihr versagte die Stimme. Sie schwieg und schaute ihre Lehrerin an. Oelendra stand auf, ging zu ihr und hockte sich vor Rhapsody, wie sie es bei Kindern tat. Sie streichelte Rhapsodys Gesicht. »Ich verstehe dich vermutlich besser als du selbst, mein Liebes«, sagte sie sanft. »Du bist verwundet und hast Schmerzen, und du suchst nach einem Zufluchtsort. Komm zu mir, Rhapsody. Ich kann dich beschützen, bis du wieder gesund bist.« Rhapsody schob ihre Hand fort. »Nein, Oelendra, ich kann auf mich selbst aufpassen. Wenn ich das immer noch nicht könnte, sollte ich meine Sachen packen und zurück nach Ylorc gehen. Außerdem weißt du genauso gut wie ich, dass dieser Unsinn erst dann aufhört, wenn etwas geschieht.« Oelendra versuchte es auf einem anderen Weg. »Es ist also eine Vernunftheirat, und Anborn ist damit einverstanden?« »Ja.« »Dann wollt ihr wirklich als Mann und Frau leben? Auch Vernunftehen sind erst dann gültig, wenn sie vollzogen werden.« Sie suchte in Rhapsodys Gesicht nach Anzeichen des Errötens, wie es gewöhnlich der Fall, war, wenn sie geschlechtliche Dinge zur Sprache brachte, doch sie sah keine. »Natürlich«, erwiderte Rhapsody bloß. »Ich habe Anborn die Wahl gelassen, und er war damit einverstanden.« »Überrascht dich das?« »Eigentlich nicht.« »Und das hältst du für richtig? Du wirst es zulassen, dass er mit dir schläft?« »Ja. Das gehört zu unserer Abmachung.« Oelendra schüttelte traurig den Kopf. »Ich bin schon zu alt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass du einmal so sprichst. Rhapsody, bitte überleg dir gut, was du sagst. Du willst dich an einen Mann verkaufen, den du nicht liebst, und dich über die wahren Gefühle deines Herzens hinwegsetzen.« Sie hielt inne. Der Ausdruck auf Rhapsodys Gesicht ängstigte sie. Die Königin zitterte vor Wut; ihre Augen brannten in grünem Feuer. »Ich hasse es, dich zu enttäuschen, Oelendra, aber es wäre nicht das erste Mal. Jedenfalls habe ich diesmal einen guten Grund. Ich verkaufe mich nicht, weil ich selbst überleben will, sondern damit die lirinschen Soldaten überleben. Glaubst du nicht auch, dass das ein guter Tausch ist? Ich habe dir die ganze Zeit gesagt, dass ich die Ansprüche, die an meine Position gestellt werden, nicht erfüllen kann, aber du wolltest mir ja nicht glauben. Daher sollte es dich nicht wundern, wenn ich jetzt wieder die alten Wege gehe und die Hurerei als den Weg des geringsten Widerstandes ansehe. Das ist der einzige Weg, den ich kenne, Oelendra. Das bin ich nun einmal. Du kannst eine Schlampe mit alten Diademen krönen und sie in so viele seidene Gewänder stecken, wie du willst, doch das wahre Wesen zeigt sich immer. Sie wird eher auf dem Rücken liegen, als aufstehen und kämpfen. Und wage es bloß nicht, mir mit Ashe zu kommen. Wenigstens er versteht mich. Er weiß, wer ich war, und er akzeptiert es. Er hat mich nicht zu einer Respektsperson oder Anführerin stilisiert. Er hat in mir jemanden gefunden, der einen eigenen Wert hat. Er hat sich mir gegenüber wie ein König verhalten, und dafür respektiere ich ihn. Also quäle mich bitte nicht. Hilf mir, Oelendra. Es ist schon hart genug für mich, auch wenn du dich nicht als meine Mutter aufspielst. Dem Schicksal sei Dank, dass es sie zu sich genommen hat, bevor sie die armseligste Führerin sehen musste, die die Lirin je hatten. Dem Schicksal sei Dank, dass sie gestorben ist, ohne in mir die Hure sehen zu müssen, die ich bin.« Bevor sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, wurde Rhapsodys Kopf herumgerissen. Eine klatschende Ohrfeige hatte sie mitten ins Gesicht getroffen. Sie zuckte zusammen und versuchte, den körperlichen und geistigen Schock zu verarbeiten. Blut quoll unter der Haut hervor. Sie sah in Oelendras silberne Augen und erkannte den Zorn unter der ruhigen Oberfläche. »Du hast gerade die Ehre meiner Königin und, schlimmer noch, meiner Freundin beleidigt«, sagte Oelendra mit kalter, leiser Stimme. »Wenn du jemand anders wärest, hätte ich dich dafür an Ort und Stelle getötet.« Schwaches Mitgefühl dämpfte allmählich ihre Wut. »Du bist vielleicht eine Meisterin des Schwertes, Rhapsody, aber du vergisst bereits die wichtigsten Lektionen, die du hier gelernt hast. Mir ist egal, was du warst oder wie du überlebt hast. Wir alle tun, was wir tun müssen, wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen. Ich liebe dich für das, was du bist und für das, was noch aus dir werden kann.« Rhapsody senkte den Blick, als schämte sie sich. »Es tut mir Leid, Oelendra«, sagte sie sanft. »Ich kann nichts dafür. Ich weiß, was ich tun muss, aber es schmerzt mich so sehr, dass ich befürchte, es bringt mich um. Es wird entweder Anborn oder Achmed sein. Sie sind die einzigen Gatten, die stark genug sind, die anderen im Zaum zu halten. Ich will Achmed aber keinen Zutritt zu Tyrian geben, es sei denn, als Verbündeter. Ich liebe ihn, aber ich mache mir keine Illusionen darüber, was er tun würde. Bitte hilf mir bei dem, was ich tun muss, Oelendra. Ich kann es nicht ertragen, jemanden für meine Verteidigung sterben zu sehen. Bitte, Oelendra. Ich brauche deine Stärke. Hilf mir, wenn du mich liebst.« Oelendra nahm ihre Königin in die Arme und hielt sie fest, während sie weinte. »Wir alle brauchen Schultern, an denen wir uns ausweinen können, Liebes. Du bist an meiner jederzeit willkommen. Aber du brauchst meine Stärke nicht. Du musst nur das befolgen, was ich dir schon gesagt habe, und auf die Stimme deines Herzens achten.« »Nein, das kann ich nicht, Oelendra«, schluchzte Rhapsody. »Mein Herz ist eigensüchtig, und diesmal bekommt es nicht das, was es will, denn das gehört jetzt jemand anderem. Also muss ich auf meinen Bauch hören. Er sagt mir, dass meine Seele stirbt, wenn für meine Ehre, die sowieso ein lächerliches Zerrbild ist, Blut vergossen wird.« Ihre Tränen trockneten und sie bemühte sich, wieder ruhig zu werden. »Hilf mir, Oelendra. Wenn mich jemand versteht, dann bist du es. Du hast dieses Leben hier die ganze Zeit über gelebt, wo du doch bei deinen Lieben hättest sein können, nur weil dich dein Pflichtgefühl gegenüber diesem Volk dazu bestimmt hat. Wie kannst du mich darum bitten, so etwas nicht zu tun? Falls du etwas über Anborn weißt, das ihn gefährlich macht, sag es mir bitte. Dann werde ich mit Achmed reden. Vielleicht kommen wir zu einer eng begrenzten Übereinkunft. Aber tu mir das da bitte nicht an.« Sie deutete in die Richtung des Lärms, der sogar in Oelendras Haus zu hören war. Vier Tage nach dem Beginn wurden immer noch die Anträge von den müden Sekretären aufgenommen. Oelendra hörte zum ersten Mal hin und wandte den Kopf ebenfalls in die Richtung des Tumults jenseits des Fensters. Das Gelächter und die Streitereien hatten in den letzten vier Tagen abgenommen, doch das schrille Pfeifen und fröhliche Lärmen, das Zanken und die hässlichen Drohungen und zahllosen Sprachen und Dialekte waren noch deutlich unterscheidbar. Es war der Lärm einer Hetzjagd, nicht unähnlich dem Aufruhr vor den Gladiator-Arenen in Sorbold und den fernöstlichen Provinzen. Allmählich begriff Oelendra. Sie drehte sich wieder zu Rhapsody um, deren Gesicht den ruhigen und zugleich panischen Ausdruck eines Fuchses unmittelbar vor der Jagd trug. Oelendra verspürte Mitleid mit ihrer Freundin und Herrscherin. Wie schrecklich muss es sein, solch unvergleichliche Schönheit zu besitzen, die einem aber nichts als Verzweiflung bringt, dachte sie traurig. Sie fuhr mit den Fingern sanft an den goldenen Locken entlang, packte Rhapsody bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Natürlich werde ich dir helfen«, sagte sie und lächelte, um der zitternden Königin Mut zu machen. »Du kannst dich immer auf mich verlassen. So lange ich lebe, werde ich dir helfen. Nicht nur weil du meine Königin bist, sondern auch für alles andere, was du für mich bist. Wenn du jemals bezweifelst, dass du es wert bist, die Herrscherin dieses Volkes zu sein, dann erinnere dich an die Wahl, die du heute treffen wolltest. Es bedeutet vollendete Führungsqualitäten, wenn man bereit ist, für die Untertanen das zu opfern, was einem das Liebste ist. Die Lirin könnten sich nicht in besseren Händen befinden. Ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um das hier zu beenden, und ich werde dir bei allen schwierigen Entscheidungen helfen. Du bist nicht allein. Aber zunächst musst du mir ein wenig Zeit lassen. Ich muss einiges tun und mit ein paar Leuten reden. Vertraust du mir?« »Ja, vollkommen. Aber...« »Gut, dann hör mir zu. Versprich mir, dass du keine Entscheidung triffst, bis ich zurück bin.« »Und was ist, wenn Ansprüche an mich gestellt werden oder ich eine kriegerische Herausforderung erhalte?« »Das wird nicht der Fall sein; ich bin nicht lange fort. Rial soll Sendschreiben an alle vertretenen Orte schicken und ihnen mitteilen, dass du über die vielen attraktiven Angebote nachdenkst und dich zurückziehen wirst, um dir über den Wert eines jeden Freiers klar zu werden.« »Dann werde ich genau das tun. Ich will nicht lügen.« »Gut. Vielleicht lernst du dabei einiges Interessante über deine Verbündeten und Feinde. Stürz dich nicht blindlings in die Arme von Achmed oder Anborn, bis du die Gelegenheit hattest, genau das zu tun, um was du die Freier bitten wirst. Ich werde dir helfen, aber du musst mir die Zeit dazu geben.« »In Ordnung, das werde ich tun. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Bevor ich mich um diese Dinge kümmern kann, muss ich den F’dor töten. Achmed und Grunthor werden bald herkommen und den Einsatz planen; dann werden wir ihn jagen. Aber ich will dich trotzdem fragen, welche Bedenken du wegen Anborn hast. Mir scheint er ein guter Mann zu sein.« »Es gibt eine ganze Menge Gründe, Liebes. Die Lirin hassen Anborn. Er hat im Krieg sehr erfolgreich gegen sie gekämpft und war ein brillanter General. Seine Angriffe gegen die tyrianischen Stellungen waren verheerend.« »Das ist Vergangenheit, Oelendra. Ich hatte geglaubt, du willst mir helfen, die Wunden zu heilen und die Völker miteinander zu versöhnen. Wenn die Lirin ihn nicht als meinen Ehemann akzeptieren können, werde ich zurücktreten.« »Bedenke, was du sagst, Rhapsody. Du kannst im Augenblick nicht klar denken. Auch wenn du Anborn weder haben willst noch liebst, planst du, ihn zu heiraten, weil du die lirinsche Königin bist und als solche einen Gatten brauchst, damit du die Bedrohungen durch deine Nachbarn abwehren kannst. Und jetzt sagst du, dass du abdanken möchtest, wenn die Lirin deine Wahl missbilligen. Was willst du tun, wenn das der Fall ist? Anborn trotzdem heiraten? Dann hast du einen Ehemann, den du nicht liebst, und nicht einmal mehr einen Grund für eine Heirat. Das ergibt doch keinen Sinn. Du hast mich gefragt, was an einer Ehe mit Anborn falsch wäre. Falsch daran ist vor allem, dass du ihn kaum kennst. Du handelst aus freien Stücken. Du glaubst, weil du ihn nur ein wenig kennst, ist er dir gleichgültiger als Gwydion. Auch das ist falsch gedacht. Vielleicht willst du einige Dinge nicht sehen, aber sie sind trotzdem da. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass Llauron die Seite seiner Mutter und Anborn die seines Vaters ergriffen hat. Er war Gwylliams Kämpfer und sein Mörder. Er ähnelt Achmed mehr, als du erkennen willst, Rhapsody. Und er hat einen gesetzmäßigen Anspruch darauf, Herrscher der Cymrer zu sein, genau wie Gwydion, wenigstens bei der Zweiten und Dritten Flotte. Wenn du ihn heiratest, stellt du damit möglicherweise sicher, dass er niemals den Thron besteigen wird. Vielleicht kommt es sogar zu einem neuen Krieg. Denk sorgfältig darüber nach, meine Liebe. Und jetzt will ich mich ein wenig umhören. Es wird nicht lange dauern.« Oelendra ging zum Waffenregal, gürtete sich ein Schwert um und nahm den seltsam gekrümmten weißen Bogen. Sie warf Rhapsody eine Kusshand zu, während sie den grauen Mantel mit dem hohen Kragen vom Haken nahm und die Tür zum Garten öffnete. »Bitte schließ hinter dir ab, wenn du gehst.« Sie zog die Tür hinter sich zu. Rhapsody ging hinüber zum Kamin, bückte sich und stocherte in den Kohlen herum. Einen Augenblick später öffnete Oelendra die Tür wieder und betrat das Haus mit einer Schriftrolle in der Hand. »Also, Oelendra, du hältst wirklich Wort. Du warst überhaupt nicht lange fort.« Rhapsodys Lächeln verschwand, als sie in Oelendras Gesicht schaute. »Was ist los?« Oelendra hielt die Rolle hoch. »Sie ist von Achmed.« Rhapsody nahm das Papier an sich, brach das Siegel und entrollte die Botschaft. Die spinnenartige Handschrift war unverkennbar, und die Firbolg-Sprache war in den alten Geheimcode eingebettet. Die Königin las das Dokument so schnell, wie sie es entschlüsseln konnte, und ließ sich dann auf die Bank vor dem Feuer sinken. »Worum geht es?« Sie schaute nicht auf. »Ich muss morgen früh nach Bethe Corbair abreisen.« 64 Haus der Erinnerung, Navarne Oelendra schürte mit einem langen Stock die Glut und sah zu, wie die Funken in den Himmel stoben. Die kalte Luft war schwer von Feuchtigkeit, unter der ihre alten Wunden schmerzten, doch sie war inzwischen daran gewöhnt und achtete nicht weiter darauf. Stattdessen dachte sie an den alten Außenposten, der noch vor kurzer Zeit auf dieser Lichtung gestanden hatte. Von ihm waren nur der ausgebrannte Turm und verstreute Balken übrig geblieben, die früher das Dach getragen hatten. Im früheren Innenhof stand immer noch der Baum. Er war wunderschön und unberührt vom Rauch und der Verwüstung, die das Haus verzehrt hatten. Eine kleine Harfe steckte in der Gabelung der Hauptäste und spielte eine sich ewig wiederholende Melodie. Oelendra erinnerte sich an damals, als der Turm erbaut worden war, und an die Zeiten, deren Sinnbild er war. Sie wandelte uralte Pfade entlang und sprach mit lange toten Freunden. Von fern fragte sie die Könige der Vorzeit, was aus ihrer edlen Linie geworden war. Sie warf den Zweig in die Flammen. Ihr Gast war eingetroffen. Er stand am Rande der Lichtung; sein Gesicht wurde von dem schweren Mantel verborgen. In der einen Hand hielt er einen weißen hölzernen Stab, in der anderen Kirsdarke. Sogar in der Dunkelheit waren die blauen Ziermuster auf den Kräuselungen der flüssigen Klinge zu sehen. Oelendra fragte sich, wie lange er dort schon gestanden hatte. Sie lächelte einladend. »Oelendra?« Die Stimme der schattenhaften Gestalt klang sanft. »Du erinnerst dich also an mich?« »Nein, eigentlich nicht«, gab Ashe zu, als er das Schwert in die Scheide steckte und zum Feuer hinüberkam. »Zumindest nicht deutlich. Ich erinnere mich nur an deine Stärke und Freundlichkeit, die ich seit vielen Jahren in meinem Herzen bewahre. Ich schulde dir viel, aber ich fürchte, ich erinnere mich an kaum etwas außer verschwommenen, schmerzerfüllten Träumen. Als ich dich sah, erriet ich, dass du es bist. Es gibt nicht viele Leute, die wissen, dass ich noch lebe.« »Ich war keiner von ihnen, bis Rhapsody es mir vor kurzer Zeit erzählte.« Ashe klang überrascht. »Mein Vater hat es dir nicht gesagt?« »Nein, und auch Fürst Rowan nicht.« Er trat in das Licht, das die Luft in der Nähe des Feuers umgab, schlug die Kapuze zurück und enthüllte damit sowohl sein kupferfarbenes Haar als auch die kleine Kristallkugel, die er um den Hals trug. Crynellas Kerze, dachte Oelendra. Es war die alte Verbindung von Feuer und Wasser, die von der schon lange verstorbenen Königin von Serendair für ihren seefahrenden Liebhaber erschaffen worden war und nun die Kehle eines anderen verlorenen Seemannes zierte, verliehen von der Hand einer anderen Seren-Königin. Die Kugel schimmerte durch den Dunstmantel wie ein Leuchtfeuer durch den Nebel. Ashe war schöner, als Oelendra ihn in Erinnerung hatte, doch das überraschte sie nicht. Bei ihrem letzten Treffen hatte er sich an der Schwelle des Todes befunden. »Du siehst gut aus«, sagte Oelendra, während sie ihm mit einer Geste bedeutete, Platz zu nehmen. Ihre Stimme klang barsch; das Willkommenslächeln war zu reiner Höflichkeit verblasst. »Und du siehst besorgt aus.« Er trat über den Stamm eines vor langer Zeit umgestürzten Baumes und setzte sich darauf. Der Feuerschein glänzte rotgolden auf seinen Haaren. »Was ist los? Warum hast du mich herbestellt?« »Ich war der Meinung, die Ruinen dieser alten Festung seien ein passender Ort für unser Treffen.« »Kann ich etwas für dich tun?« Die lirinsche Kriegerin schaute ihn nachdenklich an. »Möglicherweise. Ich komme im Auftrag meiner Königin.« Ashe lächelte und erinnerte sich an die berüchtigten Worte, die sie der Legende nach lange vor seiner Geburt zu seiner Großmutter gesagt hatte. »Ich war der Meinung, du dienst nicht einem Herrscher, sondern einem Volk.« »In meiner Königin sind beide vereint.« Er nickte. »Gut. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass sich die Zeiten ändern. Sicherlich wäre es eine Veränderung hin zum Besseren.« »In der Tat.« Sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche und bot sie danach ihm an. »Offenbar versteckst du dich nicht mehr. Ist das ein Anzeichen dafür, dass du dich auf die Stellung eines Herrschers vorbereitest?« Ashe schüttelte den Kopf und lehnte das Wasser ab. »Diese Stellung wird verliehen; man kann sie sich nicht nehmen.« »Deine Großeltern waren anderer Ansicht.« »Ich bin nicht meine Großeltern.« Die lirinsche Kampfmeistern beobachtete den Mann auf der anderen Seite des Feuers eingehend. Sie sah ihn nicht unmittelbar an; sie machte nicht den Fehler, in die Augen eines Drachen zu schauen. Sie war ein wenig überrascht, dass er nicht versuchte, ihren Blick auf sich zu lenken, so wie es seine Großmutter immer getan hatte. Oelendra hatte sich oft gefragt, welche Rolle die Drachenhaften Augen der Seherin bei ihrer Erwählung als Hofdame gespielt hatten. Anwyn hatte den Leuten immer in die Augen geschaut und versucht, sie in sich hineinzuziehen, wenngleich nur wenige dies bemerkt hatten. Oelendra hatte diesem Blick widerstehen können und sowohl ihre Lockungen als auch ihren Hass ertragen. Erfreut stellte sie fest, dass Ashe ihren Willen nicht auf die Probe stellte, und sah fort von ihm, indem sie sich wieder dem Feuer zuwandte. »Ich hoffe es«, sagte sie nach einer Weile. »Aber davon muss ich mich persönlich überzeugen.« »Du hast das Recht, mir und meiner Abstammung zu miss trauen«, meinte Ashe geduldig. »Sicherlich hat dir meine Familie nie einen Grund gegeben, ihr zu vertrauen. Ich hoffe, es dir durch meine Taten beweisen zu können, falls du bereit bist, mich an ihnen zu messen.« Er zwinkerte ihr zu. Ihre silbernen Augen fingen das Licht des Feuers ein, als sie ihn unmittelbar anschaute. Mehr als nur eine Spur von Feindseligkeit lag in ihnen. Er räusperte sich, bevor er wieder mit ihr sprach. »Ich habe meine Deckung nicht verlassen, um die Gewalt an mich zu reißen, sondern in der Hoffnung, den F’dor auszulöschen. Der Rakshas ist tot, Khaddyr ist tot. Was nun noch übrig bleibt, ist der Wirt des Dämons. Ich hoffe, ich kann seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen und ihn töten, indem ich mich offen zeige.« »Glaubst du etwa, dass dir das ohne fremde Hilfe gelingt? Du bist allerdings sehr selbstsicher.« Ashe fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf und glättete die Haare, die sich bei ihrem harschen Ton aufgerichtet hatten. »Ja, ich bin selbstsicher, aber ich bin nicht dumm. Mein Vater ist selten weit fort, und ich hoffe, bald wieder mit Rhapsody zusammen zu sein. Zusammen mit ihren Bolg-Freunden könnten wir siegreich sein.« »Dein Vater? Ich hatte mich gefragt, ob er wirklich tot ist. Rhapsody hat nichts anderes gesagt, aber ich hatte bereits einen Betrug vermutet.« »Er war notwendig.« Oelendra lachte verbittert. »In Ordnung«, gab Ashe gelassen zu, »vielleicht ist es genauer, wenn ich sage, dass es für ihn notwendig war.« »Genauer und auch ehrenhafter, wenn man den Preis für diese Entscheidung bedenkt.« Ashe sah fort. »Du hast Recht. Aber in gewisser Hinsicht ist er tatsächlich gestorben. Seine menschliche Seite ist vergangen; er hat ihr die Ruhe verschafft, nach der sie sich gesehnt hatte. Ich will dich aber nicht belügen, denn in Wirklichkeit war sein Tod eine Scharade, die bezwecken sollte, dass seine Feinde aus der Deckung kommen und er durch die Elemente des Feuers und Äthers zu seiner wahren Drachennatur findet, so wie ich es auch getan habe. Jetzt ist er mir nur selten fern. Er bleibt als Beobachter in den Schatten und wartet darauf, dass der F’dor den nächsten Zug macht. Aber heute Nacht ist er nicht hier. Ich hätte ihm nicht erlaubt, an diesem Treffen teilzunehmen.« »Ihm erlaubt? Das ist eine Veränderung.« Ashe starrte sie an. Ihr Gesicht wirkte im Widerschein des Feuers verbissen, und ihr Blick war bohrend. In der Stimme seines Vaters hatte immer ein ähnlicher Ton mitgeschwungen, wenn ihr Name gefallen war, doch bisher hatte er das nicht als besonders bedeutsam erachtet. Er sagte mit fester Stimme und milder Miene: »Vermutlich ist es das. Es zeigt ein Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten. Das ist etwas, was ich von Rhapsody gelernt habe.« »Hast du es gelernt, bevor oder nachdem du es zugelassen hast, dass sie deinen Vater bei lebendigem Leib verbrennt? Bevor sie im gesamten filidischen Orden und in der rolandischen Adelsschicht das verbreitet hat, was ihrer Ansicht nach die Wahrheit über die Niederlage Llaurons durch Khaddyrs Hand war?« Ashes Augen verengten sich. Der Drache strotzte vor Wut. »Warum tust du das? Versuchst du, mich zu etwas anzustacheln, Oelendra? Du befindest dich auf brüchigem Eis.« Oelendra beugte sich vor in den Feuerschein. »Ich versuche herauszufinden, ob ich das Band, das mich mit der Tagessternfanfare verbunden hat, durchschnitten habe. Ob ich den Sternensplitter, den ich den Rowans gegeben habe, damit sie ihn dir in deine zerfetzte Brust einnähen, an einen weiteren hintertriebenen Abkömmling von Anwyn und Gwylliam verschwendet habe. Ich will dich verstehen, Gwydion. Erkläre mir, warum du die Frau so verletzt, die ich wie mein eigenes Kind liebe und die du vermutlich ebenso liebst.« Bei ihren Worten wallte Wut in Ashe auf. Er kämpfte darum, seinen Zorn im Zaum zu halten, und wusste tief in seinem Herzen, dass sie Recht hatte. »Zweifle niemals meine Liebe für sie an. Niemals«, sagte die harte, vieltönige Stimme des Drachen, die sich zwischen seine Worte gedrängt hatte. Oelendra zuckte bei diesem Klang nicht zusammen. »Warum hast du sie getäuscht, wenn du sie geliebt hast? Hast du eine Ahnung, was der angebliche Tod deines Vaters bei ihr bewirkt hat? Sie hat schon so viel verloren!« Ashes Zorn verflüchtigte sich und wurde von tiefer Trauer angesichts der Erinnerung an Rhapsody ersetzt, wie sie vor dem dunklen Kamin gesessen und ins Nichts gestarrt hatte. Ihm tat das Herz weh, als er sich daran erinnerte, wie sie ihren Kragen abgelegt und das Medaillon beiseite gezogen hatte, weil sie seinen Todeshieb erwartet hatte. »Ja«, sagte er hohl, »ich glaube, ich weiß nur zu gut, was es bei ihr bewirkt hat.« »Warum hast du es dann getan? Warum hast du die Machtspiele deines Vaters unterstützt, wo du doch wusstest, welche Verheerungen sie anrichten?« Ashe schaute in die Finsternis. »Nicht ich habe sie unterstützt, sondern Rhapsody.« Die Augen der lirinschen Kriegerin verengten sich im Feuerschein zu Schlitzen aus Quecksilber. »Was willst du damit sagen?« Ashe starrte weiterhin in die Nacht. In Gedanken war er in den Zahnfelsen und erinnerte sich an eine Frau im Wind. Schließlich stand er auf und schaute sie an. »Es tut mir Leid, Oelendra«, sagte er und hob den Stab auf. »Wenn du hergekommen bist, um zu erfahren, ob du deinen Sternensplitter verschwendet hast, dann lautet die Antwort: Ja.« Er drehte sich um und trat aus dem Feuerkreis. »Halt«, befahl ihm die lirinsche Kampfmeisterin. Ihre Stimme hätte auch einem ganzen Heer einen Befehl geben können. Er gehorchte unwillkürlich. »Komm zurück. Nicht du entscheidest das, sondern ich. Setz dich.« Ashe lächelte und kehrte zu dem Baumstamm zurück. »In Ordnung, erkläre es mir. Hatte sie eine Wahl?« »Eigentlich nicht, fürchte ich. Alles, was sie von mir hören wollte, war die Wahrheit, und diese habe ich ihr vor allem geschuldet. In der Nacht vor meiner Abreise habe ich ihr Llaurons Pläne und Listen enthüllt und noch anderes, was sie unbedingt wissen musste.« Im Schein des Feuers wurde sein Gesicht dunkler, als er sich daran erinnerte. »Sie begriff, dass es nicht in unserer Macht steht, die Dinge aufzuhalten, die bereits in Gang gesetzt sind. Ihr war klar, dass Llauron endgültig und für nichts gestorben wäre, wenn sie den Scheiterhaufen nicht in Brand setzen würde. Für mich war das in Ordnung. Es war nicht ihre Aufgabe, ihn aus dieser selbst gemachten Falle zu befreien. Aber sie hat sich entschlossen mitzuspielen, obwohl sie genau wusste, was es bedeutet. Wenn es meine Entscheidung gewesen wäre, hätte ich es nicht erlaubt, aber da ich Rhapsody liebe, will ich ihr das Recht einräumen, ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. Wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich sie verschont.« Seine Stimme versagte. Oelendra lehnte sich zurück und betrachtete ihn nachdenklich. Ihre Wut ließ ein wenig nach. »Warum kann sie sich daran nicht erinnern?« Ashe erwiderte zum ersten Mal ihren Blick. Mit ruhigerer Stimme sagte er: »Ich fürchte, das ist der Preis für die Wahrheit. Vor einiger Zeit haben wir Manwyn besucht. Es war wichtig für sie, obwohl sie mir den Grund dafür nicht sagen konnte. Ich glaube jetzt, dass es etwas mit den Kindern des Dämons zu tun hatte. Das Orakel hat ihr während einer seiner irrsinnigen Tobsuchtsanfälle einen Teil von Llaurons Plan enthüllt. Diese Informationen haben Rhapsody verwundbar gemacht. Mit dem Wissen hätte sie lügen müssen. Doch da war noch etwas, das sie erfahren musste. Deshalb habe ich in unserer letzten gemeinsamen Nacht eine Perle mit dem Bildnis meines Vaters darin genommen, die eigentlich ein Andenken an ihn sein sollte, und sie Rhapsody gegeben, nachdem ich das Bild entfernt hatte. Ich habe sie gebeten, die Erinnerung an diese Nacht in die Perle zu bannen, unter der Bedingung, dass sie sich erst daran erinnern kann, wenn sie das gesamte Bild kennt. Dann habe ich ihr die ganze Geschichte erzählt. Am Ende war sie der Ansicht, dass ihr Wissen für Llauron den ewigen Tod bedeuten könnte. Um das zu verhindern, hat sie vieles geopfert, einschließlich ihrer Erinnerung. Er hat sie nicht verdient.« Ashe schaute wieder in die Finsternis. »Und ich habe sie nicht verdient.« »Nun, diesbezüglich hast du zumindest halbwegs Recht«, sagte Oelendra. »Aber ich begreife nicht, warum Rhapsody durch ihr Wissen verwundbar wurde. Was ist in jener Nacht sonst noch geschehen?« Ashe seufzte tief. »Ich fürchte, das kann ich dir nicht erzählen, Oelendra, auch wenn du es gern hören würdest. Das sind ebenfalls Rhapsodys Erinnerungen. Sie hat das Recht, sie vor allen anderen zu erfahren.« »Das verstehe ich. Wann willst du ihr ihre Erinnerungen wiedergeben?« »Sobald ich es gefahrlos tun kann und der F’dor vernichtet ist. Ich habe die Perle in Elysian versteckt, falls ich bei der Dämonenjagd sterben sollte. Bisher ist es mir gelungen, seine Gefolgschaft zu töten, aber ich habe gegen dieses Ungeheuer schon einmal verloren; das weißt du besser als alle anderen. Seit einer Weile habe ich seine Spur verloren, weil ich Lark und die anderen filidischen Verräter gejagt habe. Damit bin ich jetzt fertig. Ich war gerade auf dem Weg nach Ylorc, um Rhapsody zu sehen, als ich im Wind deinen Ruf hörte. Als ich erfuhr, wo du mich treffen wolltest, habe ich das Schlimmste befürchtet. Bevor ich gesehen hatte, dass du es bist, hatte ich geglaubt, wieder dem F’dor gegenüberzustehen. Das war der Grund, warum ich mit gezogenem Schwert gekommen bin. Üblicherweise gehe ich nicht mit dem Schwert in der Hand zu einem Treffen.« »Trotzdem bist du ohne den Schutz deines Vaters hier?« »Er ist nicht weit weg. Wenn ich ihn rufe, ist er im nächsten Augenblick da. Ich bin inzwischen viel stärker als bei meinem letzten Kampf. Ich kann den F’dor vielleicht noch nicht besiegen, aber ich könnte ihn in Schach halten, bis Llauron kommt. Zusammen sind wir stark. Außerdem ist Elynsynos ebenfalls nicht weit entfernt. Wenn ich sie rufe, kommt sie bestimmt.« Oelendra starrte in das Feuer und dachte über etwas nach. Als sie wieder aufschaute, lag ein Ausdruck der Befriedigung auf ihrem Gesicht. »Drei Drachen, Kirsdarke und ich. Gute Bedingungen für einen zweiten Schlag.« »Wie bitte?« Sie sah Ashe in die Augen. »Achmed hat den F’dor identifiziert.« Sofort spannten sich seine Muskeln an, und die Hand fuhr zum Schwertgriff. »Es ist Lanacan Orlando, der Segner von Bethe Corbair.« Ashes Augen glommen heller im Feuerschein, doch seine ganze äußerliche Regung bestand nur in einem Nicken. Er ließ das Schwert los und stützte die Ellbogen auf die Knie. Gedankenverloren schlang er die Finger ineinander. »Natürlich. Dieser heiligtuerische Bastard. Da segnet er demütig die Truppen und belegt sie für seine Zwecke mit einem Bann. Bethe Corbair ... gute Götter, er befand sich kurz vor ihrer eigenen Haustür.« Er erzitterte. »Kein Wunder, dass der Rakshas so leicht nach Ylorc eindringen konnte. Wie abscheulich. Wie viele Generationen hat der Dämon gewartet und sich vorbereitet? Er hat die Heere gesegnet und verzaubert. Er hätte Sepulvarta, Sorbold und das ganze Roland eingenommen.« Entschlossen schüttelte er diese Gedanken ab. »Bist du deshalb hier um mir zu sagen, dass die Vorbereitungen für die Jagd getroffen werden?« »Sie sind schon getroffen worden.« Er nickte und stand auf. Erregung leuchtete auf seinem Gesicht. »Wo soll ich mich zu ihnen gesellen?« »Nirgendwo.« Ashe erstarrte. »Was soll das heißen?« »Das ist ihre eigene Aufgabe, Gwydion. Du wärest ihnen keine große Hilfe. Deine Seele trägt noch die Wunden von zwanzig Jahren der Unterdrückung. Wenn du ihm nachstellst, könnte dieses alte, böse Wesen dich erneut mit einem Bann belegen.« Wut blühte in seinem Gesicht auf. »Das ist unmöglich; das weiß ich.« »Vielleicht. Aber selbst wenn es so ist, bleibt nicht mehr genug Zeit. Am Tag nach meiner Abreise aus Tyrian sind sie nach Bethe Corbair aufgebrochen. Wenn sie so schnell wie erwartet vorangekommen sind, tobt die Schlacht möglicherweise bereits, während wir uns hier unterhalten.« Ashe erschauerte; seine Stimme zitterte vor Wut. »Sie ist allein gegangen? Mit den anderen? Ohne mich?« Oelendra sah ihn seltsam an. »Gwydion, das ist ihre Suche, ihre Zeit, so wie es Jahrhunderte vor deiner Geburt vorhergesagt wurde. Du kannst ihnen nicht helfen; sie leben für dieses Ziel. Glaube mir, ich wünschte, ich wäre bei ihnen. Ich wünsche es mir mehr, als du dir vorstellen kannst. Aber das ist nicht unsere Aufgabe.« Ihr Tonfall wurde ernster. »Außerdem muss es eine zweite Verteidigungslinie geben, falls sie unterliegen. Zwischen dir und deinem Vater...« Sie hielt inne. Ashe wurde rasend vor Wut. »Sie können nicht unterliegen«, sagte er in Panik. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie ... ich könnte es nicht ertragen, nicht noch einmal. Warum hast du mir das nicht sofort gesagt? Warum haben sie mir keine Nachricht geschickt? Ich habe das Recht, bei ihnen zu sein!« Oelendra öffnete die Augen weit vor Zorn. Sie stand auf, stellte sich ihm entgegen. In ihrer Stimme schwang unverhohlene Wut. »Das Recht? Du hast Rechte? Welche Rechte? Wenn jemand das Recht hat, diese verdammte Bestie abzuschlachten, dann bin ich das! Ich habe durch ihre Bosheit mehr erlitten als jedes andere lebende Wesen. Und wenn ich mein Recht, den F’dor zu töten, abtreten kann, wieso beanspruchst du es dann für dich?« »So habe ich das nicht gemeint«, sagte er mit zitternder Stimme. »Es ist mir egal, wer dieses verfluchte Ding tötet. Die Hauptsache ist, dass es stirbt. Das Recht, das ich gemeint habe, ist das Recht, an Rhapsodys Seite zu sein, wenn sie ihm gegenübersteht, für den Fall, dass ... dass sie unterliegt.« Seine Worte verhallten in einem Flüstern. »Warum?«, fragte Oelendra ungläubig. »Welche Rechte hast du an Rhapsody und ihren Entscheidungen? Du hast alle Rechte aufgegeben, als du eine andere geheiratet hast.« Er schüttelte den Kopf, vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte sich zu beruhigen. »Ich habe keine Rechte aufgegeben.« Die Stimme der lirinschen Kämpferin wurde eisig. »Ich glaube, jetzt habe ich eine Antwort auf die zweite Hälfte meiner Frage. Du bist deiner Großmutter ähnlicher, als ich befürchtet hatte. Glaubst du, dass Rhapsody auf ewig mit dir verbunden ist, obwohl du mit einer Frau von Rang verheiratet bist?« Ashe sah sie an. »Sie würde es dir niemals sagen, aber du hast sie genau so tief verletzt, wie es der Verlust deines Vaters, der Verlust Jos und vielleicht auch ihrer Heimat und ihres vorherigen Lebens getan haben. Sie hat dich geliebt, und du hast diese Liebe deinem Machtstreben und dem deines Vaters geopfert. Du hast Recht. Du verdienst sie nicht. Du hast sie in eine Heirat ohne Liebe gedrängt. Eigentlich bin ich hergekommen, um dir genau das zu sagen.« Er wurde bleich. »Was?« »Du weißt doch, dass sie jetzt die Königin der Lirin ist, oder?« »Was?« »Du hast nicht davon gehört? Du hast es nicht gewusst?« Ashe schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe Lark und Khaddyrs andere Gefolgsleute zur Strecke gebracht und war an der Grenze der Neutralen Zone. Ich habe zwar gehört, dass die Lirin eine Königin gekrönt haben, wobei ich immer gehofft hatte, Rhapsody würde die Krone nehmen, aber ich habe auch gehört ...«Er verstummte. »Was hast du gehört?« »Dass die Königin sich einem der Freier versprochen hat. Ich weiß, dass Rhapsody so etwas niemals tun würde. Es wäre gegen ihre Überzeugung.« Er schloss die Augen vor Schmerz angesichts der Erinnerung an die süße Sommernacht vor einem ganzen Leben im alten Land. Er sah sie noch, wie sie kaum mehr als ein Kind gewesen war, sich hinter einer Reihe Fässer vor den bäuerlichen Freiern versteckt hatte, die ihr nachgestellt und gehofft hatten, sie in der Hochzeitslotterie des Dorfes zu gewinnen. Kommt dir all das hier nicht, nun ja, barbarisch vor? In der Tat, da ist was dran. Na, dann kannst du dir ja vorstellen, wie ich mich fühle. Oelendra lächelte humorlos. »Hast du etwa erwartet, dass sie nach dir schmachtet und für immer allein und unverheiratet bleibt? Sie muss heiraten, ob sie will oder nicht, um die Heere ihrer Nachbarn zu besänftigen. Du kennst das doch, Gwydion; du bist damit aufgewachsen. Sie braucht einen starken Mann und hat nur die Wahl zwischen Anborn und Achmed. Und sie hat ihre Wahl getroffen.« Es war sehr still im Wald geworden. Aus Kühle war Kälte geworden. Oelendra schaute Ashe in die Augen und sah darin ein unnatürliches Glimmen. Sie erkannte dieses Licht als die Seele des Drachen, doch dieser schien weder wütend zu sein, noch zum Schlag ausholen zu wollen. Er war verängstigt. Sie erlaubte ihren Augen, die übrigen Teile seines Gesichts abzusuchen, und erkannte auch die Zerstörungen, die seine menschliche Seite erlitten hatte. Es war das Antlitz eines Mannes, der soeben zu der Erkenntnis gekommen war, dass er alles verloren hatte. Ashe starrte vor sich hin und versuchte das unerträgliche Bild von Rhapsody in Achmeds Armen zu vertreiben. Es war ein Bild, das ihn heimsuchte, seit sie einmal beiläufig von dieser Möglichkeit gesprochen hatte. Du würdest dich doch niemals mit Achmed vermählen, nicht wahr? Der Gedanke hat mir die letzten Stunden schwer im Magen gelegen. Weißt du, Ashe, mir gefällt deine Einstellung ganz und gar nicht. Und offen gestanden geht dich die Sache überhaupt nichts an. Ihm wurde übel. Du hast nie meine Frage nach dir und ihm beantwortet. Welche Frage? Die Frage, ob du Achmed nehmen würdest ich meine, ob du ihn heiraten würdest. Vielleicht. Wie ich dir schon gesagt habe, erwarte ich nicht, dass ich jemals heirate, aber wenn ich lang genug leben sollte, wäre das vielleicht die beste Aussicht. »Sie ... das kann sie nicht tun«, sagte er und bemühte sich, nicht zu würgen. Oelendra sah ihn mitleidig an. »Du hast ihr keine Wahl gelassen. Sie braucht einen Verbündeten, einen Mann, den niemand infrage zu stellen wagt. Sie hat bereits mit Anborn gesprochen, und er ist einverstanden. Es wird eine Heirat ohne Liebe sein, eine Vernunftheirat. Das ist ein endloser Schmerz für eine Frau wie Rhapsody. Aber es löst ihre politischen Probleme, auch wenn es dir vielleicht einige hinzufügt. Schließlich hat Anborn das gleiche Recht auf die Stellung des Herrschers wie du, zumindest wenn es um die Erste und Dritte Flotte geht. Jetzt, wo auch noch Rhapsody im Spiel ist, könnte er möglicherweise den Wunsch verspüren, seine Rechte entschlossener durchzusetzen.« »Anborn kann diese verdammte Herrscherposition haben! Mir geht es allein um Rhapsody.« Oelendras Stimme knisterte geradezu. »Darüber hättest du vor deiner Heirat nachdenken sollen.« »Ich habe nicht geheiratet.« Oelendra kniff die Augen zusammen. »Du hast Rhapsody erzählt, du seiest verheiratet. Warum solltest du sie belügen?« Ashe lief erregt und ängstlich auf und ab. »Ich habe nicht gelogen. Ich konnte sie nicht anlügen. Ich habe ihr bloß nicht gesagt, mit wem ich verheiratet bin. Ich konnte es nicht, weil ich wusste, dass ich Khaddyr gegenüberstehen würde, nicht, solange der F’dor dort draußen war und immer noch den Geschmack meiner Seele kannte. Ich habe mich als Köder benutzt, um ihn aus der Deckung zu locken. Was wäre gewesen, wenn ich versagt hätte? Wenn ich gestorben wäre? Sie hätten mich dazu benutzen können, sie zu finden, und sie hätten sie erwischt. Solange Rhapsody es nicht weiß, ist die Ehe nicht bindend. Wenn ich gefangen genommen oder getötet werde, können sie diese Bande nicht dazu benutzen, Rhapsody aufzuspüren. Sie ist in Sicherheit.« Oelendra streckte die Hände aus. »Willst du mir damit sagen, dass die Frau, die du geheiratet hast, Rhapsody ist?« Ashe kämpfte die Tränen zurück. »Ja. In jener Nacht in Elysian, als ich ihr von meinem Vater und seinen Plänen erzählt habe, als wir herausgefunden haben, wer wir sind und gewesen waren, haben wir geheiratet. Wir standen zusammen auf der Aussichtsterrasse, haben uns den Eid abgenommen und unsere Seelen auf ewig vereint. Das war die andere Erinnerung, von der ich dir gesagt habe, dass Rhapsody das Recht hat, sie als Erste zu erfahren. Die Erinnerung an unsere Hochzeit, unsere Verbindung. Ich musste die ganze Zeit darüber schweigen, damit kein Lebender Kenntnis davon hatte, nicht einmal meine Frau, während ich es doch so gern der ganzen Welt erzählt hätte. Niemand sonst wusste es. Und jetzt sagst du mir, dass sie losgezogen ist, um gegen den F’dor zu kämpfen. Soll sie denn niemals wissen, wer ich bin? Was wir beide sind? Darf es sein, dass sie möglicherweise stirbt und glaubt, ich sei mit einer anderen Frau verheiratet? Dass ich sie erneut verlassen habe? Dass ich sie wieder verliere?« Oelendra schüttelte ihn sanft. Gwydions Blick wurde wieder etwas klarer. »Wovon redest du?«, fragte sie ihn. Zum ersten Mal in dieser Nacht lag eine Spur von Mitleid in ihrer Stimme. »Was willst du damit sagen, dass du sie erneut verlässt und verlierst?« Er setzte sich traurig auf den Baumstamm und fuhr sich mit der Hand durch das leuchtende Haar, das nass von Angstschweiß war. Oelendra setzte sich neben ihn und streichelte ihm sanft den Unterarm, um ihn zu beruhigen. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, erzählte er ihr die ganze Geschichte über ihre Begegnung in der alten Welt, über den Betrug seiner Großmutter und was seitdem geschehen war. Er erzählte die Geschichte in allen Einzelheiten und mit einer Genauigkeit, die nur den Drachen zu Eigen war und deutlich den Verliebten zeigte. Oelendra lauschte mitfühlend, bis plötzlich die Erkenntnis über ihr Gesicht huschte. Ihre Hand, die ruhig auf seinem Gelenk lag, wurde zur zupackenden Klaue. Gwydion beendete seine Geschichte sofort; ihr Gesichtsausdruck machte ihn unverzüglich stumm. »Die alte Welt? Ihr habt euch in der alten Welt getroffen? Ihr habt euch in der alten Welt ineinander verliebt?« Die ältere Frau zitterte heftig. »Was ist denn mit dir los, Oelendra?« Die lirinsche Kriegerin stand zitternd auf und taumelte aus dem Lichtkreis. Sie hastete zum ersten Baum, den sie in der Dunkelheit erreichen konnte, und lehnte sich mit dem Kopf dagegen. Sie kämpfte gegen die Galle an, die bei der Erinnerung an sich und Llauron in ihr aufstieg, als sie vor dem Orakel mit den Spiegelaugen gestanden hatten. Hüte dich, Schwertträger. Vielleicht wirst du den zerstören, den du suchst, aber wenn du heute Nacht gehst, trägst du ein großes Risiko. Wenn du versagst, wirst du nicht sterben, aber was dir im alten Land geschah, wird abermals geschehen: Wieder wird dir ein Stück deines Herzens und deiner Seele entrissen, wie damals, als du die Liebe deines Lebens verlorst, doch dieses Mal an deinem Körper. Und das Stück, das dir weggenommen wird, soll dich verfolgen bei Tag und bei Nacht, bis du um den Tod bettelst, denn er wird es als Spielzeug benutzen, es nach seinem Willen verdrehen, es einsetzen, um seine Missetaten zu vollführen, und selbst dazu, um Kinder für sich zu zeugen. Oelendra spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Während sie würgte, fühlte sie eine starke Hand im Nacken und eine andere, die ihren Rücken hielt. Sie taumelte in die Kühle jenseits des Lagerfeuers. Ashe hielt sich an ihr fest. Die Welt drehte sich um sie. Dann erlangte sie das Gleichgewicht wieder und sah in das Gesicht des Mannes, der freundlich auf sie hinablächelte. »Du warst das«, flüsterte sie. »Ich hatte geglaubt, dass sie mich meint, aber du bist es.« Sein Lächeln verschwand. »Wovon redest du? Komm, setz dich.« Ashe führte sie zu einer verschneiten Stelle unter einer großen Ulme und setzte sie sanft auf dem Boden ab. Er entschied, einen unbekümmerten Ton anzuschlagen. »Wenn alle Freunde Rhapsodys so auf unsere Hochzeit reagieren, brauchen wir nicht viele Einladungen zum Essen auszusprechen.« Die ältere Frau lächelte nicht darüber, sondern legte ihm die Hand auf die Wange. »Vergib mir, Gwydion«, sagte sie leise. »Ich bin verantwortlich für dein Leid in den Händen des F’dor. Es tut mir so Leid.« Ashe sah sie ungläubig an. »Wovon redest du? Du hast mir das Leben gerettet.« Oelendra schüttelte den Kopf. Ihr Blick ging in eine andere Richtung; sie erinnerte sich an ganz andere Begebenheiten. Dann wiederholte sie für sich selbst die Prophezeiung. »Nimm dich in Acht, Schwert«, flüsterte sie schwach. »Vielleicht wirst du jene Person, die du suchst, vernichten, doch wenn du diese Nacht aufbrichst, ist die Gefahr sehr groß.« »Ist das ein Rätsel?« Sie nickte schwach. »Ein schreckliches Rätsel. Eine uralte Prophezeiung Manwyns.« Ashe ergriff ihre Hand und versuchte sie zu beruhigen. »War das alles, oder gab es noch mehr?« Oelendra nickte erneut. Ihr Blick war auf das knisternde Feuer gerichtet, das glimmernde Funken in die kalte Nachtluft entsandte. »Wenn du versagst, wirst du nicht sterben, doch da dir im alten Land durch den Verlust der Liebe deines Lebens ein Teil deines Herzens und deiner Seele auf geistige Weise entrissen wurde, wird dasselbe wieder geschehen, aber diesmal auf körperliche Weise.« Sie zitterte noch heftiger. »Rhapsody hat mir von deinem Gatten Pendaris erzählt«, sagte Ashe sanft. »Es tut mir sehr Leid.« »Und der Teil, der dir entrissen wurde, wird dich alle Tage heimsuchen, bis du um deinen Tod betest«, fuhr sie fort, »denn er wird ihn als Spielzeug hernehmen und ihn nach seinem Willen beugen und ihn dazu benutzen, seine bösen Taten zu begehen und sogar Kinder für ihn hervorzubringen.« »Gute Götter«, murmelte Ashe. »Welch eine scheußliche Voraussage. Kein Wunder, dass du Angst hattest.« Oelendra kniff die Augen zusammen. Schließlich drehte sie sich um und sah Gwydion an. »Hat dir dein Vater je von dieser Zukunftsschau berichtet?« »Nein.« Er rieb sich die Arme, um sich zu wärmen, doch Oelendra erkannte an seinem Blick, dass er zu derselben Schlussfolgerung gekommen war wie sie. »Die vollkommene Eitelkeit«, sagte sie sanft. »Ich hatte vermutet, dass ihr Fluch an mich gerichtet war, weil Llauron der einzige andere in Manwyns Tempel war, und er trug kein Schwert. Doch sie hat nicht mich mit ihrer Prophezeiung verdammt, Gwydion. Du warst gemeint. Du bist das Schwert, du bist der Kirsdarkenvar. Ich hatte weder an dich noch an sonst jemanden, sondern nur an mich gedacht.« »Natürlich hast du nicht an mich gedacht.« Ashe lächelte schwach. »Ich war der Empfänger von Manwyns Prophezeiungen. Sie kann nicht lügen, aber sie ist nicht gezwungen, in ihren pathetischen Reden klar und deutlich zu sein. Sie ist verrückt. Eines der letzten Dinge, die mein Vater zu mir gesagt hat, bevor er ... er sagte mir, ich solle mich vor Prophezeiungen in Acht nehmen, denn sie bedeuteten nicht immer das, was sie zu sein scheinen.« Er streichelte ihren Arm. »Er hat dich also begleitet? Warum? Ich hatte immer angenommen, du wärest mit meinem Vater nicht gut zurecht gekommen, weil er im Großen Krieg Anwyns Heer anführte und du vernünftigerweise nicht in es eingetreten bist. Solche Missstimmigkeiten zwischen den älteren Cymrern, die den Krieg durchgemacht haben, sind nicht gerade selten.« Die lirinsche Meisterkämpferin seufzte. »Nein, Gwydion. Es gab eine Zeit vor dem Krieg, in der dein Vater und ich uns recht gut verstanden haben. Er blieb mir trotz meiner Entscheidung herzlich zugetan, obwohl ich nicht behaupten kann, dass ich ihm die Schrecklichkeiten, die er über unsere cymrischen Mitbürger gebracht hat, ganz vergeben kann, ob er es nun absichtlich getan hat oder nicht. Wenn du die ganze Geschichte hörst, wirst du unsere gegenwärtige Feindschaft verstehen.« Sie schaute in den sternenvollen Himmel, vor dem Wolkenfetzen dahintrieben und das Licht für eine Weile dämpften. »Es ist viele Jahrhunderte her, seit ich die faulige Luft des F’dor im Wind zum ersten Mal gespürt habe. Ich habe zahllose Meister für die Suche nach ihm ausgebildet, doch keiner ist je zurückgekehrt. Es war mir nicht gelungen, den F’dor auf andere Weise zu finden. Ich war verzweifelt. Ich wusste, dass die Bestie immer stärker wurde. Dein Vater war einer der Wenigen, die wie ich glaubten, dass der F’dor noch lebe, sich irgendwo in einem menschlichen Wirt versteckt halte und auf den geeigneten Zeitpunkt warte. Also haben Llauron und ich gemeinsam Manwyn aufgesucht in der Hoffnung, sie könne uns sagen, wo sich der F’dor befindet, damit wir ihn endlich zur Strecke bringen. Wir mussten die Frage auf eine bestimmte Weise stellen, da Manwyn nur in die Zukunft schauen kann, nicht aber in die Vergangenheit oder Gegenwart. Sie war sehr hilfsbereit. Sie hat uns den genauen Zeitpunkt mitgeteilt, wann er sich hier im Haus der Erinnerung aufhalten werde, um den Ableger des Baumes zu stehlen.« Sie deutete auf die blühende Eiche, deren glänzende Blätter im Schein des Feuers schimmerten. »Manwyn sagte, wir sollten in der ersten Nacht des Sommers herkommen, wenn der Patriarch das neue Jahr in Sepulvarta einsegnen würde und die Filiden ihre Riten der Heiligen Nacht in Gwynwald abhielten. Es ist eine Nacht großer Kräfte; eine Nacht, in welcher der All-Gott seine Kinder mit seiner Liebe sicher einhüllt.« Oelendra schaute in das Feuer, als blickte sie in die Vergangenheit. »Eine Nacht, in der die Bestie verwundbar ist. Da dein Vater der Fürbitter war, musste er bei den Filiden seines Ordens sein und ihre Riten überwachen; also musste ich ohne ihn gehen. Aber schließlich hatten wir die Informationen, die wir brauchten, um das Ungeheuer zu töten. Llauron und ich sahen uns an. Wir konnten angesichts der Bedeutung dessen, was wir erfahren hatten, nichts mehr sagen. Wir würden uns aus der Hand des Bösen befreien können. Doch als wir gerade Manwyns Tempel verlassen wollten, spuckte sie die andere Prophezeiung aus.« Oelendras Blick verschleierte sich unter der Erinnerung. »Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so gefürchtet wie damals, als ich diese Worte hörte. Zum ersten Mal in dieser Welt hatte ich Panik. Du musst wissen, Gwydion, dass ich den F’dor schon in der alten Welt bekämpft habe. Ich habe dabei alles verloren, was mir je etwas bedeutet hat, und alle, die ich geliebt habe. Mein Mann und ich wurden von ihnen gefangen genommen; sie haben ihn umgebracht. Zu mir waren sie nicht so freundlich. Ich habe die Prophezeiung falsch verstanden. Ich dachte, das Schwert beziehe sich auf mich selbst; mir ist nie der Gedanke gekommen, es könne sich um ein anderes Schwert als die Tagessternfanfare handeln. Die Aussicht, ein Dämonenkind auszutragen ...« Oelendra verstummte und zuckte unkontrolliert. Ashe nahm sie in die Arme und drückte sie gegen die Brust, um sie warm zu halten. »Psst«, sagte er sanft. »Denk nicht mehr daran. Es ist vorbei.« »Es wird nie vorbei sein«, sagte Oelendra mit hohler Stimme. »Nie. Anstatt die Informationen zu nutzen, die sie mir gegeben hatte, und die einzige Gelegenheit wahrzunehmen, diese Bestie für immer zu vernichten, floh ich und versteckte mich. Ich wartete, bis die Dämmerung gekommen war, und lief ein wenig umher, um einen klaren Kopf zu bekommen und die Beschuldigungen loszuwerden, die in mir herumschwirrten. Ich konnte ihnen nicht entkommen. Als Iliachenva’ar war es meine Pflicht zu gehen, auch wenn es für mich gefährlich sein könnte. Also stählte ich meine Nerven und begab mich zum Haus der Erinnerung. Ich hoffte, dass er noch dort war, auch wenn seine Macht mit jedem Augenblick stärker wurde. Dort fand ich dich vor, Gwydion, gebrochen und sterbend im Gras des Waldes von Navarne. Llauron hatte gesagt, er werde Verstärkung schicken, doch ich hatte keine Ahnung, dass es sich dabei um dich handelte und du allein hineingehen würdest. Meine Feigheit hat dein Leben zerstört. Es ist meine Schuld, dass du in Schmerzen leben musstest, versteckt vor deiner Familie und deinen Lieben, zwanzig Jahre lang tot in den Augen der Welt. Es ist meine Schuld, dass der Rakshas diese Kinder in die Welt gesetzt hat.« Tränen strömten aus ihren silbernen Augen. Asche drückte sie gegen seine Schulter und versuchte etwas zu sagen, das ihr in ihrer Verzweiflung ein wenig Trost zu spenden vermochte. »Rhapsody liebt diese Kinder«, sagte er leise. »Sie haben Achmed die Waffe verschafft, die er brauchte, um den Segner zu finden. Ich hätte niemals so lange überlebt, wenn ich mich nicht versteckt und vorgegeben hätte, tot zu sein. In Anbetracht meiner Abstammung wäre ich sowieso einer der Ersten gewesen, die man getötet hätte. Mein eigener Vater hat mich gegen den Dämon ins Feld geschickt. Wieso sollte ich dich und nicht ihn hassen? Ich tue es nicht, wenn du erlaubst. Was sagt ihr Liringlas noch gleich? Ryle him. So ist das Leben. Vergib dir selbst. Glaube mir, dann sieht die Welt besser aus, das weiß ich. Es ist etwas, das Rhapsody und ich zusammen gelernt haben.« Bei der Erwähnung ihres Namens veränderte sich sein Gesicht und verzerrte sich erneut in Angst. »Rhapsody! Vermutlich kämpft sie gerade gegen den F’dor. Gute Götter, vielleicht liegt sie im Sterben, und ich kann nichts tun, um ihr zu helfen.« Er zitterte wieder. Oelendra wischte sich die Augen. »Es ist schwierig, nicht wahr?«, meinte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist viel leichter, dem eigenen Tod ins Auge zu blicken, als hilflos dazusitzen, wenn jemand, den man liebt, in Lebensgefahr steckt. Ich wünschte, ich könnte losziehen, den F’dor für sie töten und sie in Sicherheit bringen. Du hast keine Vorstellung davon, wie viele Männer und Frauen ich in ihr Schicksal habe laufen sehen, Gwydion. Man könnte glauben, dass man sich nach einer gewissen Zeit daran gewöhnt, aber das ist nicht der Fall. Nicht, wenn es sich um jemanden handelt, den man liebt.« Seine Stimme war voller Schmerz. »Wie erträgst du es?« »Die beste Art ist, mit jemandem zu wachen, der sie ebenfalls liebt. Dann kann man die Last gemeinsam tragen.« Ashe schaute auf. Sein Blick traf den von Oelendra. Sie nahmen sich bei der Hand, saßen gemeinsam da, warteten. Nach einer Weile erzählten sie sich gegenseitig Geschichten über Rhapsody und teilten ihre Liebe und Erinnerungen miteinander. Doch bald wurden die Sorgen übermächtig, und sie schwiegen. Schließlich schaute Ashe in den Himmel. Die Morgendämmerung brach an; die Sterne verblassten allmählich am heller werdenden Horizont. »Gute Götter, jetzt ist es vorbei, nicht wahr?« »Es ist vorüber.« Oelendra seufzte und hatte den Blick noch in die Dunkelheit des Himmels über ihr gerichtet. »Es muss vorbei sein.« Sie standen auf. Oelendra war sehr langsam und verspürte starke Schmerzen in den Knien. Ashe zog die Kapuze seines Mantels über. »Ich gehe nach Elysian und warte.« »Tu das«, sagte Oelendra und nahm ihr leichtes Gepäck auf. »Sie wird sich freuen, dich zu sehen. Und bitte schick eine Botschaft.« »Das werde ich bestimmt tun.« Ein schrecklicher Gedanke überfiel ihn. »So oder so. Falls sie es nicht geschafft haben sollten...« »Falls sie es nicht geschafft haben, werden wir uns einen Weg ausdenken, wie wir den Segner herlocken, und ihn dann hier töten.« Ashe nickte wortlos und wandte sich ab. »Gwydion«, sagte Oelendra, als sie am Rande der Lichtung stand, »du erinnerst mich mehr an die Könige von Serendair als an den Fürsten der Cymrer. Ich freue mich zu sehen, dass der Stern an der richtigen Stelle sitzt.« Ashe lächelte die alte Frau an. »Vielen Dank.« Er machte einen Schritt und schaute wieder zurück. »Und ich bin froh, dass Rhapsody mich gebeten hat, sie zu dir zu begleiten. Zum Glück hat sie dich zur Freundin.« Oelendra lächelte. »Das macht uns beide wohl zu Schwiegerfreunden.« Ashe erwiderte ihr Lächeln und ging dann schweigend in den Wald. Oelendra kehrte zum ersterbenden Feuer zurück und trat geistesabwesend Erde über die verlöschenden Kohlen. Sie warf einen letzten Blick auf die Ruine des Hauses der Erinnerung und betrat den Wald. 65 Im Süden von Bethe Corbair Der Wind über den Krevensfeldern wehte bis in die Senken und ließ das versteckte Feuer kurz knistern und zucken. Funken flogen himmelwärts. Kurz darauf sank es wieder zu einem dumpfen Schwelen herab. Die drei schauten sich um und suchten den Horizont nach Augen ab, die möglicherweise die Glut bemerkt hatten. Die beiden kleineren Reisenden wandten sich an den Riesen, der den Kopf schüttelte, sich wieder zurücksetzte und leise ausatmete. Grunthor kannte die Erde. Wenn sich jemand in Sichtweite befunden hätte, wäre er nicht unbemerkt geblieben. Rhapsody griff in die Kohlen. »Slypka«, sagte sie. Verlöscht. Die Flammen sanken sofort zu Asche zusammen und nahmen das Licht mit. »Versuch ein wenig zu schlafen«, sagte Achmed zu ihr und zog sich den Kapuzenmantel über die Schultern. »Du siehst müde aus.« Grunthor legte den Arm um sie und zog sie an seine Brust. »Nichts zu befürchten, Liebes. Wir kriegen ihn. Ruh dich jetzt aus. Wie in alten Zeiten.« Er grinste sie an. Seine Hauer standen auf eine Weise aus dem Mund, die Rhapsody inzwischen lieb gewonnen hatte, auch wenn sie wusste, dass ein Fremder diesen Anblick entsetzlich gefunden hätte. Er las ihre Gedanken. Die Tötung des Dämons war letztendlich ihre Aufgabe. In der Dunkelheit mitten in der Nacht mit nur den Sternen als Zeugen ihrer Pläne fühlte sie sich plötzlich klein und verwundbar. Sie fürchtete nicht um ihren eigenen Tod. Es war die Möglichkeit des Versagens, unter der sie nun stärker als unter der Kälte erzitterte. Dankbar schlüpfte sie in den Überzieher, den der Sergeant für sie offen hielt. Er hüllte sie mit Wärme ein, so wie er es vor so langer Zeit an der Wurzel getan hatte. Sie stieß einen Seufzer der Erinnerung aus. Mit Ausnahme der Drachen, neben denen sie geschlafen hatte, war Grunthor der Einzige auf der Welt, der sie vor ihren eigenen Träumen beschützen konnte. Sie legte einen Arm um seine breite Hüfte und hoffte verzweifelt, er würde auch in der nächsten Nacht noch leben und sie wieder bei ihm einschlafen können. Das Wissen darum, dass sie noch nie an einem Kampf wie dem teilgenommen hatte, der sie am nächsten Tag erwartete, erschreckte sie zutiefst. Die gewaltige Hand strich ihr ungelenk über den Kopf, und entspannt sank Rhapsody in Schlaf. Grunthor wartete, bis ihr rhythmisches Atmen ihren tiefen Schlummer anzeigte, sodass er reden konnte, ohne befürchten zu müssen, sie könne ihn hören. Er sah Achmed an. »Wie lautet der Plan?« Achmed schaute in den Himmel und erinnerte sich an eine Nacht unter anderen Sternen vor so langer Zeit, die von einem Sommerregen durchzogen war. Nun befanden sie sich auf der anderen Seite der Welt und suchten nach einem Dämon wie dem, vor dem sie damals geflohen waren. Der Name, den der Bolg-König trug, war nun sein eigener und stellte nicht länger ein unsichtbares Band um seinen Hals dar. Und sie waren nicht zu zweit, sondern zu dritt den Wahrsagern zufolge eine Unglückszahl, auch wenn das schwer zu glauben war, wenn man sich den Neuzugang zu ihrer Gruppe ansah, der sich gerade in Grunthors Arme kuschelte. »Sobald es beginnt, ist es ihr Kampf und deiner. Ich kann mich nur auf das Bannritual konzentrieren«, sagte er leise. Der übliche Sand in seiner Stimme wurde noch trockener. »So lange das Bannritual steht, werde ich mich nur darum kümmern. Falls Rhapsody nicht mehr kämpfen kann, musst du ihr Schwert nehmen und die Bestie töten.« Der Bolg nickte. »Wenn das Bannritual aufhört, muss der Dämon aus seinem gegenwärtigen Wirt fliehen. Bring jeden um, der noch atmet.« Grunthor nickte erneut. »Sie kriegt das hin, nicht wahr?«, meinte er gedämpft und strich ihr mit der Hand über den Rücken. Rhapsody nickte im Schlaf und flüsterte Worte, die nicht einmal sie verstand. Achmed sah hoch zum Himmel. »Ich hoffe, du hast Recht.« »Euer Gnaden?« In der Dunkelheit seiner Studierstube wandte sich der Seligpreiser dem einsamen Rechteck aus Licht zu, das durch die offene Tür fiel. »Ja?« »Aus Sorbold ist die Nachricht eingetroffen, dass die Lirin-Königin Tyrian verlassen hat. Sie ist vor zehn Tagen gesehen worden, wie sie allein über die Ebene an der Grenze der nördlichen Stadtstaaten geritten ist.« »Wohin war sie unterwegs?« »Man hat sie bis zum Rand der Zahnfelsen verfolgt und dort ihre Spur verloren.« Von der Tür aus konnte Gittelson nur den Umriss des Seligpreisers erkennen, der in seinem Sessel saß. Dann öffnete Lanacan Orlando die Augen. Zwei weiße Punkte leuchteten im Dunkel auf und waren umrandet von der Farbe des Blutes. Er lächelte. Ein dritter Lichtfleck erschien in der Finsternis und glitzerte vor Freude. »Vielleicht ist die Hure läufig«, sagte das Gespenst mit warmer und sanfter Stimme. »Ihr erwählter Hengst jagt hinter Khaddyrs armen Gefährten her. Vielleicht will sie dem Fir-Bolg-König in die Arme laufen.« »Vielleicht, Euer Gnaden.« Der Stuhl drehte sich wieder langsam von ihm weg. »Sei kein Narr, Gittelson. Sie kommt her.« »Das Essen an diesem Ort war entsetzlich. Warum willst du dorthin zurückkehren?« Rhapsody gab dem Fir-Bolg-König einen freundschaftlichen Stups. »Mit dem Herbergsessen war alles in Ordnung«, sagte sie. »Es war die Gesellschaft, gegen die du etwas hattest. Dort hast du Ashe zum ersten Mal getroffen.« »Das erklärt alles. Kein Wunder, dass sich mir der Magen umgedreht hat.« Achmed schaute sich auf der Straße um, sah aber Grunthor nirgendwo. Die Mittagssonne warf nur unbedeutende Schatten. Vermutlich lauerte der Sergeant irgendwo im Hauseingang einer Seitenstraße und wartete auf einladendere Schatten. Er hielt Rhapsody einen Stuhl hin und sah zu, wie sie sich die Kapuze enger um den Kopf zog, während sie sich setzte. Der Wind war kalt; sie waren die einzigen Gäste, die vor der Taverne saßen, während die anderen im Innern und näher beim wärmenden Feuer und dem Bier Platz genommen hatten. Die Glocken der Basilika läuteten wild im Wind; süße, beiläufige Musik schwebte durch die Straßen und über den Gebäuden von Bethe Corbair. Es waren Laute, die in Rhapsodys Seele widerhallten, doch das Wissen, dass irgendwo unter dem Glockenturm das undenkbar Böse lauerte, nahm ihr die Freude an der Musik. Sie neigte den Kopf und schlug die Augen nieder, als Achmed Rum und Lamm für sich selbst und Suppe für sie bestellte. Dann warf sie noch einen Blick über die Schulter auf die Kirche, als der Wirt wieder hineinlief. Achmed schloss die Augen. Als er das Gebiet in der Nähe der Basilika zum ersten Mal abgesucht hatte, war ihm an den Schwingungen nichts Ungewöhnliches aufgefallen, doch der Geruch des Dämons war unverkennbar. Grunthor hatte sofort die Grenzen des verseuchten Gebiets aufgespürt. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt. Die Basilika war auf eine Weise entweiht worden, die dem Auge und den anderen Sinnen unsichtbar war. Die Verseuchung erstreckte sich bis in die benachbarten Straßen. Tausende unwissender Kirchgänger schritten über die faule Erde und wussten nichts von der dämonischen Besessenheit. Achmed zuckte unter der Erinnerung an die erste Begegnung mit Ashe in den Schatten der Basilika zusammen. Er hatte die Verunreinigung für den Bruchteil einer Sekunde gespürt und angenommen, Llaurons Sohn sei deren Quelle. Das war ein Fehler gewesen. Rhapsody lauschte angestrengt der Musik des Glockenspiels. Ihre Suppe wurde gebracht. Sie rührte sie nicht an, sondern saß gedankenverloren da und sah geistesabwesend zu, wie sie kalt wurde. Schließlich schaute sie Achmed an. Unnatürliches Licht schimmerte in ihren smaragdgrünen Augen, und ihr Gesicht glühte. »Ela«, flüsterte sie. Erregung flackerte in ihren Augen auf. Sie ergriff seine zitternde Hand. »Ela«, sagte sie erneut. »Was brabbelst du da? Ich verstehe kein Alt-Lirin.« »Das war kein Alt-Lirin, sondern ein Ausdruck aus der Musik«, erklärte Rhapsody leise. »Es ist die letzte Note der alten, aus sechs Tönen bestehenden Tonleiter. Auf diese Weise wurde Musik zur Zeit der Erbauung der Basilika vor vielen Jahrhunderten aufgeschrieben. Ut, re, mi, fa, sol und la oder ela erst viele Jahre später nahm man das ti dazu, die siebte Note der Oktave, und do, derselbe Ton wie ut, aber eine Oktave höher. Zufällig ist es meine Namensnote die Note, auf die ich gestimmt bin.« »Rhapsody, hör mit diesem Gerede auf. Was hat dich so aufgeregt?« »Sie fehlt.« »Was fehlt?« »Ela. Die letzte Note der Tonleiter fehlt im Glockenspiel; es hat nur fünf Noten.« »Und wie viele Glocken betrifft das?« »Nun, Fürst Stephen sagte, dass im Turm achthundertsechsundsiebzig Glocken hängen eine für jedes cymrische Schiff, das die alte Welt verlassen hat. Wenn das der Fall ist und ma: die Glocken im Sechstonsystem in je gleicher Anzahl aufgehängt hat, müssten etwa einhundertvierzig diese Note haben.« »Einhundertsechsundvierzig.« »Richtig. Ich kann die anderen Gruppen heraushören, und genauso viele fehlen. Es ist ein sehr feiner Unterschied, und wenn sich das Glockenspiel schon seit langer Zeit so anhört, wird es niemand außer einem Sänger oder einer Sängerin bemerken, und auch dann nur, wenn er oder sie genau hinhört. Lanacan muss die Klöppel aus den Glocken entfernt haben, denn es wäre zu offensichtlich gewesen, die Glocken selbst abzuhängen. Das hätte er niemals geschafft, ohne Aufsehen zu erregen. Die größte wiegt bestimmt mehrere Tonnen.« Achmed schüttete den Rest des Rums herunter. »Er ist ein kluger Hund. Das sind alle F’dor. So hat er also die Heiligung des Bodens durch den Wind umgangen. Wie können wir das wieder in Ordnung bringen?« Rhapsody lächelte. »Ich glaube, ich weiß es. Wir sollten Grunthor finden, denn wir müssen Pläne schmieden.« Sie war allein auf dem Marktplatz und kaufte Pfeile bei dem Waffenmacher, als Gittelson sie erspähte. Sie war kaum zu übersehen, obwohl sie sich hinter der schlichten braunen Reisekleidung einer Bäuerin versteckte. Das weiche, goldene Haar war ordentlich mit einem einfachen schwarzen Band zusammengebunden. Es spiegelte das Nachmittagslicht wider und zog die Blicke einer Hand voll Städter auf sich, die tapfer dem eisigen Wind auf dem Platz standhielten. Sie hatte Glück; es war nur das Wetter, das sie davor bewahrte, von den Händlern belästigt zu werden, die sie aus ihren Geschäften hinter den Feuern anstarrten, mit denen sie ihre Waren warm hielten. Gittelson merkte sich sorgfältig die Art und Anzahl der Pfeile, die sie kaufte es waren hauptsächlich feuerbeständige mit silbernen Spitzen , und achtete darauf, dass sie ihn nicht bemerkte. Danach machte sie bei einem Gewürzhändler Halt, dessen Zelte sich beinahe über einen ganzen Straßenblock erstreckten und vorn offen waren. Große Leinensäcke mit Hülsenfrüchten, Wurzeln, Bohnen, Pfefferschoten und Getreide standen entlang der Straße zusammen mit Beuteln voller Kräuter und Krügen mit scharfen Gewürzblättern. Rhapsody verbrachte viel Zeit damit, eingehend den Inhalt aller Säcke zu untersuchen. Schließlich kaufte sie einige scharfe Knoblauchknollen, je zwei Bündel weißen Andorn, Beifuß und Datura sowie drei Dutzend lange, dicke Vanillestangen. Sie stopfte ihre Einkäufe hastig in einen Beutel und sah sich eilends um. Unzufrieden warf sie einen letzten Blick auf den Glockenturm, der sich über die Dächer erhob, bevor sie sich wieder in die Schatten der Nebenstraßen begab, in denen sich ihr menschlicher Schatten von ihr löste, und auf die dunkle Basilika zueilte, während die Abenddämmerung allmählich einsetzte. »Wie enttäuschend.« Die Gestalt in der Robe blieb vor einem versilberten Spiegel in der Sakristei stehen und betrachtete das eigene Gesicht. Das Antlitz eines älteren Mannes, eines freundlichen Mannes mit schütterem weißem Haar und Lachfältchen um die Augen blickte zurück. Es war das Gesicht eines typischen Großvaters oder geliebten Dorfpriesters. »Was glaubt sie, wer ich bin, Gittelson? Ein Nosferatu Sieh in den Spiegel. Erkennst du mein Spiegelbild?« »Natürlich, Euer Gnaden.« »Ja, natürlich. Und wenn du, Gittelson, wenn sogar du das weißt, wie viel besser müsste es dann die Iliachenva’ar wissen. Knoblauch, Beifuß, silberne Pfeile! Also wirklich! Na, ich vermute, ich erwarte zu viel. Nach zwei Jahrzehnten hätte man denken sollen, dass Oelendra ein helleres und besser ausgebildetes Mädel als das letzte findet, aber leider scheint das nicht der Fall zu sein. Das wird viel zu einfach werden. Hat sie sonst noch etwas gekauft?« Gittelson warf einen weiteren Blick auf die Liste, die er auf dem Markt gemacht hatte. Er hatte bereits alle Einkäufe Rhapsodys aufgezählt. »Nein, Euer Gnaden. Danach hat sie den Markt verlassen und ist in eine Seitenstraße gegangen.« »Gut. Wenigstens wird unser kleines Treffen kurz sein, und wir können ein wenig mit ihr spielen. Offenbar wird es mir nicht vergönnt sein, ihre ganzen ... Reize zu genießen, aber dich wird nichts aufhalten, nicht wahr, Gittelson? Der Rakshas hat gesagt, sie sei die Wucht in Tüten, das achte Weltwunder. Sobald sie ihre Unterweisung erhalten hat, gehört sie dir für die Nacht.« »Vielen Dank, Euer Gnaden.« Der Seligpreiser drehte sich in der Sakristei und legte seinen Schal um. »Nicht sabbern, Gittelson, das steht dir nicht gut.« Der riesige Bolg schüttelte heftig den Kopf. »Das gefällt mir immer noch nicht.« Rhapsody klopfte ihm beruhigend auf den Arm. »Ich weiß, ich weiß, Grunthor, aber es ist das Beste. Sag es ihm, Achmed.« Die ungleichen Augen schauten sie kühl an. »Ich sage Grunthor nie, was er zu denken hat. Das solltest du inzwischen wissen.« Seit den letzten zehn Minuten stritten sie sich. Der Sergeant wehrte sich standhaft dagegen, dass Rhapsody als Erste und allein losgehen sollte. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du wirst vor der nördlichen Tür stehen, und Achmed wird sich dicht vor dem Sakristeieingang im Süden befinden. Ich bin nicht in Gefahr.« »Du bist zu lange allein da drinnen ...« »Welche Wahl habe ich denn?«, unterbrach sie ihn verzweifelt. »Wenn du unserem Plan nicht folgst, wird er rasch wissen, dass ihr beide hier seid. Er wird zwei und zwei zusammenzählen, wenn du verstehst, was ich meine. Ich sage dir etwas, Grunthor: Ich werde im Mittelschiff bleiben, bis du an deiner Position bist. Ich werde mich nicht einmal in die Nähe der Altartreppe begeben, bis du ihn geschnappt hast. In Ordnung?« Der Bolg sah sie ernst an. »Versprochen?« »Versprochen.« »Du gehst nicht in seine Nähe? Du bleibst weit genug von ihm weg, damit er nicht in dein schönes Gesicht sehn und uns angreifen kann?« Rhapsody stand auf den Zehenspitzen, während er den Kopf zu ihr herunterbeugte. Sie küsste sein großes grünes Gesicht. »Weit genug von ihm weg. Ich habe dir doch gesagt, dass ich warte, bis du ihn hast. Ich bin sicher, dass er mich nicht quer durch die ganze Basilika besessen machen kann.« Achmed lächelte säuerlich. »Ich wusste gar nicht, dass du eine Expertin in Dämonenfragen und Besessenheit bist, Rhapsody. Wir können nur hoffen, dass deine Kenntnisse zielgenauer sind als diese Pfeile.« Die beiden Bolg traten in den Schatten, der bereits die Kopfsteingepflasterten Straßen verschluckt hatte, und prüften die Windrichtung, bevor sie sich auf den Weg in die Stadtmitte machten, wo die Basilika in der Dunkelheit auf sie wartete. »Warum? Was stimmt nicht mit meinen Pfeilen?« Rhapsody beeilte sich, mit ihnen Schritt zu halten, doch ihre Freunde gaben keine Antwort. Sie waren so still wie die Finsternis, mit der sie sich verwoben hatten. 66 Als sie die nördliche Seite der Basilika erreicht hatten, wo der Küster gerade den Dreck und die Asche für den Müllmann auskippte, packte Rhapsody Grunthor am Ellbogen. »Ich muss dir etwas sagen, Grunthor.« Der Sergeant sah auf das kleine Gesicht herab und lächelte breit. Am Ausdruck ihrer Augen erkannte er, was sie ihm sagen wollte. Rhapsody war für ihn so durchsichtig wie ein canderischer Kristall. »Nee«, meinte er barsch und zog seinen Arm fort. »Du hattest die Gelegenheit, jetzt musst du bis danach warten.« »Das kann ich nicht«, sagte sie besorgt. »Es ist wichtig, Grunthor.« Er grinste. »Ich fürchte, du musst erst das hier hinter dich bringen. Kannst es mir sagen, wenn du fertig bist, klar, Herzchen?« Er achtete nicht darauf, dass sie ihn am Ärmel zupfte, blieb aber lange genug stehen, sodass Achmed sich zwischen die beiden stellen konnte. Wie immer ging ihre Unterhaltung über das gesprochene Wort hinaus. Dann trat er wieder in die Schatten, die den Haufen aus Sand und Asche umgaben. Rhapsody sah ihm bestürzt nach. Einen Moment lang erkannte sie ihn noch, wie er vor dem gewaltigen Berg aus Abfall von den Feuern der Basilika stand. Dann war sie nicht mehr sicher, was in der Dunkelheit Grunthor und was Erde war. Sie kniff die Augen zusammen, und auch der letzte Rest seines Schattens war verschwunden. Er war so leicht mit der Asche und dem Dreck verschmolzen wie mit der Dunkelheit einen Moment zuvor. Grunthors Füße berührten die Grenzlinie des verseuchten Bodens. Er wartete, bis er sicher auf dem Teil des Bodens stand, der von dem Dämon nicht entweiht worden war, und wurde dann eins damit. Er atmete langsam und bewusst, bis sich auch sein Körper so weit abgekühlt hatte, dass er die Temperatur der Straße erreichte. Er spürte den Herzschlag der Erde durch ihn pulsieren und zu seinem eigenen werden. Augenblicke später eilten zwei Männer vorbei und stritten miteinander. Sie gingen dicht an dem Firbolg-Riese n vor dem Abfallhaufen vorüber, schenkten ihm aber keinen Blick. Rhapsody und Achmed sahen sich an und lächelten. Das war der erste Streich, schien ihr gemeinsames Grinsen sagen zu wollen. Dann streckte Achmed die Hand aus, und sie ergriff sie. Gemeinsam umrundeten sie das westliche Ende des Bauwerks und gingen an der Linie der Verseuchung entlang, die Grunthor ihnen gezeigt hatte. Als sie die südwestliche Ecke der Basilika erreichten, zerrte Rhapsody an Achmed und blieb stehen. »Weigerst du dich auch, mir zuzuhören?« Eine behandschuhte Hand legte sich an ihr Gesicht und bewegte sich zu den Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Rhapsody wunderte sich über die Zartheit seiner Berührung durch das dünne Leder. Kein Wunder, dass er die Schwingungen des Windes spüren und sich in ihnen verbergen kann, dachte sie lächelnd. Seine Antwort war leise. »Die Zeit für Worte ist vorbei. Wir dürfen den Bastard nicht warten lassen.« »Na gut, dann gehe ich nicht weiter.« Sie ergriff seine Hand. Er schaute sie an, ihre Blicke trafen sich. Schließlich trafen sich auch ganz sanft ihre Lippen. Es war das erste Mal, und Rhapsody betete, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Ihr Mund hing noch einen weiteren Moment an seinem; sie teilten einen letzten Atemzug, dann trat sie zurück. Achmed zog bereits die Kapuze auf; es war das Zeichen für sie, die Ecke zu umrunden. Sie hingegen streifte ihre Kapuze ab und schaute die Straße hinunter. Sie war verlassen. Der Nachtwind war zu einer steifen Brise erstarkt und blies Fetzen aus Schnee und Abfall in Schwallen eisiger Luft durch die düstere Stadt. Rhapsody umrundete die Ecke und ging rasch die Straße entlang bis zum südlichen Ende der Basilika. Dabei kam sie am Fenster der Sakristei vorbei. Sie wandte sich zur südöstlichen Ecke und ging auf den Haupteingang in der östlichen Vorhalle zu. Gittelson sah aus dem kleinen Sakristeifenster. Hinter dem schweren Vorhang war er unsichtbar. Seine bleichen Hände waren nass von Angstschweiß und wirkten weißlich im Dämmerschein der nur schwach brennenden Kerzen. »Sie kommt, Euer Gnaden.« Der Seligpreiser stand im Mittelschiff, dem zentralen Teil der Basilika, inmitten der Bänke für die Gläubigen. Seine alten Hände liebkosten den Rücken eines glänzenden hölzernen Kirchenstuhls. Sein Lächeln glimmerte im Schattenspiel der Kerzen, die in den Lüstern über ihm brannten. »Gut«, sagte er leise. »Ich bin bereit.« Er ging das Seitenschiff entlang bis zu den polierten Marmorstufen, die hoch zum Allerheiligsten führten, wo der steinerne Altar stand, und stieg die Treppe hoch. Auf halbem Weg drehte er sich um und schaute zurück zur Sakristei und der Gestalt im Türrahmen, die sich vor dem Licht des kleinen Umkleidezimmers abhob. »Schließ die Tür, Gittelson, du lässt das Licht herein.« Eine behandschuhte Hand wurde ausgestreckt und schloss die Tür. Der Seligpreiser drehte sich wieder um und erkletterte die restlichen Stufen. Er lächelte in sich hinein. Rhapsody zog an dem Griff der Haupttür der Basilika. Sie leistete hartnäckigen Widerstand, denn sie war aus schwerem, geschmiedetem Eisen gefertigt und geschmückt mit den heiligen Symbolen, die sie in Sepulvarta gesehen hatte. Panik, die von den Haarspitzen ausging, durchströmte sie. Sie hatte die Möglichkeit nicht bedacht, dass die Basilika abgeschlossen sein könnte. Sie zog ein zweites Mal an der Tür; diesmal öffnete sie sich so leicht, als würde sie von einem unsichtbaren Diener aufgezogen. Sie sah sich in der Vorhalle um, erkannte aber nichts außer den ärmlichen Ständern mit Bittkerzen, von denen einige im Wind flackerten, als die Tür geöffnet wurde. Rhapsody trat nach drinnen. Die Luft in der Basilika war schwer und bedrohlich, als ob sie sich gegen Rhapsodys Gegenwart wehrte. Sie machte einen weiteren Schritt und spürte in ihren Zehen ein brennendes Gefühl. Der entweihte Boden wollte sie genauso wenig, wie sie selbst hier sein wollte. Sogar jede Bewegung durch die Luft war ein Kampf. Rhapsody riss sich zusammen und ging weiter auf die Türen zu, die in den Hauptteil der Basilika führten. Das zentrale Heiligtum war am Rande ihres Blickfeldes durch die Türen sichtbar. Sie ging schweigend bis zum Ende der Vorhalle und blieb stehen, bevor sie das Mittelschiff betrat. Die Gestalt in der dunkelroten Robe am Altar drehte sich nicht um. »Kommt herein, Euer Majestät«, sagte der Mann mit einem leichten Kichern in der Stimme. Die Luft um Rhapsody veränderte sich leicht, während der Dämon seine Einladung aussprach. Es war, als lockerten sich die unsichtbaren Fesseln, die sie zurückhielten, und der verseuchte Boden hieße ihre Schritte nun willkommen. Rhapsody zögerte, denn sie wusste nicht, ob sie den entweihten Boden, der zum Herrschaftsgebiet des Dämons gehörte, betreten sollte, doch es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie betrat den Hauptteil der Basilika. Sie war gewaltig und dunkel. Kerzenleuchter aus Eichenholz mit Messingbeschlägen hingen von der hohen Decke und verströmten das Licht tausender kleiner, kraftloser Kerzen. Die Basilika war nüchtern eingerichtet. Bänke aus unverziertem Holz standen im Mittelschiff. Sie war auch fensterlos; unter den mächtigen Glocken befand sich die einzige Öffnung in der Decke, durch die der Wind den hoch über dem Mittelaltar in die Dunkelheit ragenden Turm umspielen konnte. Eine lange Galerie zog sich an allen vier Seiten des erhöhten Teils entlang; eine Wendeltreppe führte in jeder Ecke hinauf. Dort waren die Bänke mit dunklen Stoffkissen ausgepolstert, vermutlich zur Bequemlichkeit der reicheren Gläubigen von Bethe Corbair. Rhapsody stand nun mitten im Gang und schaute nach vorn auf das Allerheiligste, vor dem der Seligpreiser wartete und ihr immer noch den Rücken zudrehte. Der Steinboden der Basilika führte zu den polierten Marmorstufen, die ähnlich wie in Sepulvarta, aber dunkel waren. Adern aus Weiß und Silber verliefen durch den Stein. Die Stufen endeten in einer halbrunden Apsis; die Rückenwand war aus uraltem Mahagoni geschnitzt, deren aufsteigende Säulen mit sorgfältig eingesetzten Löchern eine natürliche Orgel bildeten. Rhapsody wusste, dass der Wind schon seit vielen Jahren nicht mehr die Rückseite des Heiligtums erreicht hatte. Schließlich wandte sich der Seligpreiser von dem schlichten Steinaltar ab und sah Rhapsody an. Sie erkannte seine Augen, obwohl sie so weit von ihm entfernt war. Sie funkelten im Dämmerschein. »Willkommen, meine Liebe. Bitte bestehe nicht auf einer Zeremonie. Komm einfach her. Hier auf dem Altar steht Tee für dich. Wenn deine beiden Freunde kommen, können sie mittrinken.« Er lachte leise, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Natürlich habe ich dich erwartet. Ich habe schon seit einigen Jahrzehnten keine Schülerin Oelendras mehr gesehen; daher ist es für mich ein seltenes Vergnügen.« Er wandte sich kurz ab und drehte sich dann wieder mit einer Teetasse in der Hand um. Er streckte sie Rhapsody entgegen, so wie er es in ihrem Traum von dem Patriarchen getan hatte. Zur Antwort zog sie ihr Schwert. Die Klinge blitzte in der Dunkelheit der Kirche auf; die Flammen loderten wütend über die ganze Länge der Tagessternfanfare. Der Seligpreiser lachte. »Ach ja, die Tagessternfanfare. Ich bin gebührend beeindruckt. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig entsetzt war, als ich dich damals in Sepulvarta damit gesehen habe. Keiner anderen von Oelendras jungen Kriegern ist sie je anvertraut worden. Wie hast du sie ihr nur entreißen können? Niemand sonst wusste, wer oder wo ich war, bis es zu spät war. Ist das der Grund? Hat sie dir das Schwert anvertraut, weil du meine Identität herausfinden konntest?« Er richtete den Blick auf sie. Das Weiß in seinen Augen verdunkelte sich an den Rändern zu Rot. »Nun, es ist gleichgültig. Ich vermute, du weißt, dass keine der etwa vier Dutzend Kriegerinnen je zu ihr zurückgekehrt ist. Sie gehören zum Wertvollsten, was ich je besessen habe, wenn du mir dieses Wortspiel erlaubst.« Rhapsody schüttelte den hypnotischen Effekt der weichen Stimme ab und schritt langsam den Mittelgang entlang. Kalte Wut bildete sich in ihrer Seele, die sie ebenfalls auszublenden versuchte, denn sie störte ihre Konzentration. Nun befand sie sich unmittelbar unter der Öffnung in der Decke, als die Worte sie erneut innehalten ließen. »Aber du bist sehr gut mit dem Letzten bekannt, der es versucht hat, nicht wahr, meine Liebe? Gwydion muss den Sternen für dich gedankt haben. Wer hätte geglaubt, dass einer der Drei Mitleid mit ihm hat und ihn sogar ins Herz schließt, wo er doch solch ein menschliches Wrack war? Und ihn sogar ins Bett lässt?« Der Seligpreiser schüttelte den Kopf und kicherte leise; dann schaute er sie wieder an. Selbst auf die große Entfernung konnte Rhapsody sehen, wie er ihr böse zuzwinkerte. Hass blitzte in seinen alten Augen auf. »Nun, meine Liebe, ich danke dir dafür, dass wir jetzt einiges gemeinsam haben. Wenn du nicht gewesen wärest, hätte ich nie erfahren, dass er noch lebt. Ich hätte ihn niemals gefunden.« Rhapsody schloss auch die andere Hand um den Schwertgriff und hob es, bis die Spitze auf den Seligpreiser wies. Lanacan Orlando lachte laut auf. »Bitte, meine Liebe, versuch es und komm her. Kämpfe gegen mich auf meinem eigenen Boden. Es wird lustig werden, auch wenn es ungerecht dir gegenüber ist. Aber sicherlich bist du kein so großer Dummkopf, oder? Wir haben schließlich schon einmal gemeinsam an diesem Ort gestanden einer von uns am Altar, der andere hinten in der Basilika und völlig hilflos. Aber diesmal sind die Rollen umgekehrt, nicht wahr, Euer Majestät? Diesmal stehst du auf meinem Grund und Boden.« »Das hier ist göttlicher Boden, Euer Ungnaden.« Rhapsody hob das Schwert über den Kopf und sprach seinen Namen aus. Blendendes Licht erhellte den Glockenturm und ergoss sich von oben in das Kirchenschiff. Das war das Vermächtnis des Tagessterns, nach dem die Waffe benannt war. Einen Moment später erschütterte ein Fanfarenstoß die Basilika und den Turm. Die Glocken dröhnten in einer Ohrenzerfetzenden Kakophonie. Der Seligpreiser lächelte bloß. »Oh, wie beeindruckend.« »Das war nur ein Zeichen.« Der Seligpreiser zuckte die Achseln. »Zu spät. Wenn die Leute aus der Stadt hier eintreffen, gehörst du schon mir und wirst dich bei ihnen dafür entschuldigen, dass du ihre Ruhe so harsch gestört hast. Jetzt bin ich an der Reihe. Komm zu mir.« Die statische Luft in der Basilika schlug gegen Rhapsodys Haut. Große, uranfängliche Hitze hüllte sie ein, leckte durch ihre Kleidung bis in die Knochen, ließ ihr Herz schneller schlagen und ihr Blut heiß kreisen. Die Bannworte des Dämons, die er sanft mit der beruhigenden Stimme des Seligpreisers aussprach, liebkosten sie und streichelten ihre Seele, wie eine Mutter ihr Kind streichelt. Rhapsody schüttelte wieder den Kopf und biss die Zähne zusammen, bis es ihr in den Ohren brauste. Die einschmeichelnde Stimme prickelte in ihrem Trommelfell, die warmen Worte wickelten sich besänftigend um ihren Hals und schickten ihr ein Schauern, ein silbernes Zittern den Rücken entlang. Sie schloss die Augen und versuchte, die Auswirkungen der dämonischen Worte abzuschütteln. Nein, beim All-Gott, dachte sie, während sie immer wütender wurde. Ich ergebe mich deinem Bann nicht. Ich bin stärker als du, du Stück Unrat. Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen, schüttelte noch einmal heftig den Kopf, und die Wärme des dämonischen Banns zerfiel wie Zucker und löste sich in der knisternden Luft auf. Zorn brandete durch sie. »Ich komme zu meinen eigenen Bedingungen«, sagte sie gelassen und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. »Und wenn ich bei dir bin, werde ich mein Schwert durch dein elendes Herz stoßen, es dir aus dem Körper reißen, es verbrennen und zusehen, wie es zu Asche zerfällt. Ich werde dein verworrenes Innerstes auslöschen und deine böse Seele in den Flammen des Elementarfeuers verbrennen, so wie es war, bevor deine Art es geschwärzt hat.« Der Seligpreiser kicherte. »Wirklich? Das ist allerdings eine tapfere Behauptung, auch wenn sie aus dem Mund einer Königin ein wenig unfreundlich und krass klingt. Ihr enttäuscht mich, Euer Majestät, ja, wirklich. Du bedienst dich einer alten Waffe eigentlich kaum mehr als ein brennender Zahnstocher und glaubst deshalb, du verstündest etwas vom Elementarfeuer?« Er lachte wieder. Der Ausdruck ehrlicher Belustigung wandelte sich einen Moment später zu Nachdenklichkeit, die seine Miene vor Rhapsodys Augen immer dunkler machte. Er sagte matt: »Erlaube mir, dir etwas über das Feuer beizubringen, was du noch nicht weißt.« Mit einer Hand machte er eine beiläufige Geste. Eine Kugel aus schwarzem Feuer erschien in seiner Handfläche. Er warf den Ball in ihre Richtung. Als er sich ihr näherte, wurde er immer größer und zischte bedrohlich, während er rasch an Geschwindigkeit zunahm und Kraft aus der vom Bösen geschwängerten Luft zog. Die Flammen breiteten sich wie ein Netz aus Schwarz und Orange aus und tasteten mit gierigen, zuckenden Feuerfingern nach ihr. Anstatt zur Seite zu springen, öffnete Rhapsody den Mund und sang leise die Note ela, die letzte der uralten Tonleiter ihre eigene Namensnote. Ihre Stimme blieb fest, als die kleinste der Glocken im Turm den Ton aufnahm und zu summen begann, was die anderen Glocken, die sich noch von der Kakophonie erholten, zunächst nicht bemerkten. Die Luft in ihrer Umgebung knisterte und zischte unter dem Ton, als wollte sie ihn bekämpfen. Rhapsody beschrieb in der Luft über ihr mit dem Schwert rasch einen Kreis um sich und versuchte damit den Ton und den Wind, für den der Klang bestimmt war, zu schützen. Sie hatte keine Angst vor dem Feuer; es würde ihr nichts antun. Kurz bevor das schwarze Feuer sie traf, spürte Rhapsody, wie sich etwas in ihr regte. Das Feuer war von dem Zeitpunkt an ihr Freund gewesen, als sie im Mittelpunkt der Erde durch es hindurchgeschritten war. Es hatte sich in ihre Seele gebrannt, war mit ihrem Innersten verschmolzen und hatte sie unauflöslich mit diesem Element verbunden. Von dieser Zeit an hatte ihr zweites Ich kein Feuer gefürchtet, weil dieses Rhapsody niemals hatte verletzen wollen. Es war ihr möglich gewesen, unversehrt durch die heißesten Brände zu schreiten. Doch in dem Bruchteil einer Sekunde vor dem Aufprall des schwarzen Feuers spürte Rhapsody, wie ihre Seele zusammenzuckte. Das war kein Feuer, zumindest kein wirkliches Feuer, wie sie es kannte. Es roch anders und wirkte anders auf die Luft. Es war dünn, beißend, böse, voller Übel und Gemeinheit. Es war die blendende, zerfressende Essenz des Hasses. Und in diesem letzten Augenblick wusste sie, dass sie gegen seine Auswirkungen nicht gefeit war. Slypka, flüsterte sie. Das schwarze Feuer verblasste ein wenig, aber es verlosch nicht. Ihr blieb gerade noch genug Zeit, um den Kopf abzuwenden und die Augen zu beschirmen, bevor der schwarze Feuerball explodierte, den Schutzkreis zerschmetterte und ihre Kleidung in Brand setzte. Mit einem Keuchen des Schmerzes geriet Rhapsody ins Taumeln und schlug rasend auf ihre rauchende Kleidung ein, um die Flammen zu ersticken. Die Haut an Armen und Beinen stach unter der Berührung mit den sengenden Flammen. Lanacan Orlando schloss langsam die Faust, hielt aber den Arm ausgestreckt. Plötzlich verdrehte er ihn. Die Säure in dem schwarzen Feuer quoll wütend auf, die Hitze wurde stärker, und Rhapsody keuchte erneut. Schmerzen durchschossen sie und wurden von kaltem Entsetzen gefolgt. Es war so lange her, dass sie in der Gegenwart von Feuer ein Zaudern oder gar Angst empfunden hatte. Daher erwischten sie die Verheerungen, welche die schwarze Kugel angerichtete hatte, völlig unerwartet. Doch wenigstens war ihr noch ein letzter Rest von Immunität verblieben. Auf ihrer Haut stach es, aber weder verbrannte sie, noch wurde sie schwarz. Rauch stieg aus ihren Kleidern auf, doch ihr Körper entzündete sich nicht. Der Dämon am Altar starrte sie verwundert an. Wut überflutete sein Gesicht. Er verdrehte noch einmal die Hand. Seine Augen verfinsterten sich an den Rändern zu einem blutigen Rot. Die ältliche Stirn des menschlichen Kopfes legte sich in tiefe Falten. Der Seligpreiser ballte die Faust noch fester, sodass die Muskeln des schwachen Armes zitterten, und drehte diesen erneut. Ein Schmerzensschrei entwand sich Rhapsodys Kehle, während sie auf die Knie sank und mit letzter Kraft das Schwert hielt. Nein, dachte sie verzweifelt, Nein! Ich versage! In den Tiefen ihres Geistes hörte sie die Stimme des Drachen aus ihrem Traum. Was ist, wenn ich versage? Das wäre möglich. Sie versuchte auf die Beine zu kommen und stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab. Sofort gab der ebene Boden unter ihr nach. Eine Ranke, glatt wie Glas, schwarz wie die Nacht, mit weißen Adern, schoss mit der Macht einer Peitsche hervor, wickelte sich um ihren Unterarm und zog sich immer fester zusammen. In der Gasse vor der Basilika spürte Grunthor durch die Erde, wie Rhapsody niederfiel. 67 Der Seligpreiser lachte laut, als eine weitere Ranke aus dem Untergrund hervorbrach, sich um Rhapsodys Bein legte und sie gegen die Bodenplatten drückte. »Oje, die Lirin werden enttäuscht sein«, sagte er in gespieltem Mitgefühl. »Und das nach all dem Pomp. Die Krönung hat so viele Mühen gekostet und war wirklich ein hübsches Ereignis. Vielleicht treffen sie beim nächsten Mal eine bessere Wahl.« Rhapsody kämpfte gegen den Griff der dämonischen Ranken an. Sie trat aus und riss an ihnen, doch es half nichts. Ihre Haut prickelte vor kalter Angst, als sie sich an Jos und Llaurons schrecklichen Tod erinnerte. Selbst in der großen Entfernung zu dem Altar roch sie den schrecklichen Gestank, den die Erregung des F’dor verströmte. Es war der krank machende Geruch von brennendem Fleisch. Überall wuchsen aus dem Boden winzige glasähnliche Dornen empor. Wie Ströme von Kakerlaken krochen sie durch die Ritzen zwischen den Steinplatten. Es waren schreckliche Schösslinge, die im nächsten Augenblick selbst zu fesselnden und erstickenden Ranken wurden. Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Die gewaltige Größe dessen, was vor ihr lag, ließ ihr Herz im Gleichklang mit der Drehung der Welt schlagen. Ein Versagen könnte das Ende der Welt nach sich ziehen, hatte sie in ihrem Traum zu Elynsynos gesagt. Daran darf ich nicht einmal denken. Ein weiterer Fortsatz schoss plötzlich hervor und zielte auf ihren Hals. Rhapsody wich ihm aus und stellte fest, dass ihre Bewegungsfreiheit schon stärker eingeschränkt war, als sie bemerkt hatte. Die Ranken schnitten ihr noch tiefer in den Arm, in das Bein, und ihr Herz und Puls gingen unregelmäßig. Die Drachenworte flüsterten durch das ungleichmäßige Schlagen ihres Herzens. Du befindest dich an dem Ort, wo der Anfang der Zeit zu seinem Ende gekommen ist. Auch das Ende der Zeit wird hier seinen Anfang nehmen. Du kannst es nicht ändern, auch wenn es dir vielleicht gelingt, es hinauszuzögern. Sie kämpfte die Panik zurück, drängte sich gegen den Druck der Ranken, rollte sich auf die Seite und kämpfte mit der Tagessternfanfare in der Rechten darum, die andere Hand zu befreien. Das Schwert blitzte wütend in der Finsternis der Basilika auf. Die schwarzen Flammen der Kerzen in den Lüstern zischten eine dunkle Antwort darauf. Der Seligpreiser verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Altar. »Ihr bietet eine gute Vorstellung, Euer Majestät. Erstklassige Unterhaltung. Ich fürchte bloß, es wird allzu schnell zu Ende sein.« Der Seligpreiser lehnte sich ein wenig nach vorn. »Ich werde deine Seele essen, Rhapsody, und die deiner Bolg-Freunde, die sich am äußeren Rand meines unheiligen Grundes herumdrücken. Es wird eine so süße Seele sein. Ich bin sicher, dass ich sie genießen werde. Ich glaube, ich werde dich währenddessen noch ein wenig am Leben lassen, damit du zuschauen kannst, wie ihre Teile in meiner Kehle und dem Mund der Unterwelt verschwinden.« Nimm dich zusammen, dachte Rhapsody. Er darf dich nicht ablenken. Sie blendete die Worte des Dämons aus ihren Gedanken aus, schärfte ihre Konzentration und zerrte mit ihrem gefesselten Arm kräftig an den Ranken, wobei sie diese so weit wie möglich dehnte. Den anderen Arm benutzte sie dazu, die gedehnten Fesseln mit dem Feuerschwert in tausend Stücke zu hauen. Nun hatte sie beide Hände frei, wich einem schlangenähnlichen Stoß einer Ranke aus, die nach ihrem Hals gezielt hatte, und hieb sie an der Basis durch. Ein Stoß reinsten Feuers ergoss sich aus dem Schwert, als sie das Mark traf. In einer Welt der Finsternis war es ein strahlender Sonnenschein, der den Fortsatz verätzte, welcher innerhalb weniger Sekunden zu Staub verwelkte. Die Schlinge um ihren Fuß zog sich noch enger zusammen und zerrte sie aus dem Gleichgewicht auf den rauen, zerbrochenen Boden. Rhapsody konzentrierte sich, nahm den Schwertgriff in beide Hände und schlug mit aller Macht auf das Rankengewächs ein. Splitter der berstenden Steinplatte trafen sie, als das Gewächs in einem Hagel aus Feuer und Stein explodierte. Als ihr hämmerndes Herz zu einem regelmäßigeren Rhythmus zurückfand, hatte sie eine Vision von Elynsynos und einer Frage, die sie ihr stellen wollte. Warum? Warum ich? Warum ist diese drückende Verantwortung mir aufgebürdet worden? Rhapsody kämpfte sich auf die Beine und lauschte auf die Antwort der Drachin. Weil du nicht allein bist. Ein schreckliches Brüllen, ein Kriegsschrei entsetzlicher Eindringlichkeit hallte durch die dunkle, fensterlose Basilika. Die Lüster schwankten heftig; die Glocken im Turm nahmen den Schrei auf und warfen ihn zurück. Dem Schrei folgte der Lärm berstender Gegenstände und das schwere Dröhnen herannahender Schritte. Daraufhin erhob der Seligpreiser die Arme. Der verseuchte Boden brach zu einem Meer aus dunklen Flammen auf und zu zuckenden Wällen blendenden Feuers, das den Dämon umgab und die gesamte Basilika verschlang. Ein Schmerzesheulen drang hinter dem Feuerwall hervor und verkrallte sich in Rhapsodys Herz. Es war Grunthor. Ihre Seele erkannte den Klang seiner Qualen, denn sie hatte ihn schon einmal gehört. Eine Welle gewaltiger, boshaft knisternder Hitze überspülte sie. Sie trieb kurz in der brennenden Woge feuriger Luft umher, schützte die Augen mit dem Unterarm und versuchte einen Blick auf Grunthors Schatten links von dem Dämon zu erhaschen, wo der Sergeant auf das zweite Signal hin hatte erscheinen sollen. Doch alles verlor sich in einem schwarzen Inferno: der Dämon, ihr Freund, das Mittelschiff der Basilika. Es war, als steckte sie erneut im Herzen einer ganz anderen Erde einer Erde, in welcher der F’dor triumphiert hatte. Zorn loderte in ihrer Seele bei dem Gedanken hoch, dass diese Möglichkeit jetzt nicht mehr weit entfernt war. Die Flut würde kommen vielleicht unter einem sanften Wind, vielleicht auch in einer Woge aus Blut. Verstehst du jetzt, worum du kämpfst? Um das Leben. Ja, und um noch mehr. Die Schlacht wird nicht nur um dieses Leben geführt, sondern auch um das Nachleben. Du darfst nicht versagen. Sie stellte sich aufrechter und verlagerte den Druck auf die Tagessternfanfare ein wenig, wie Achmed es ihr einmal beigebracht hatte. Wie immer du das Schwert anfangs gepackt hast, veränderst du erst einmal den Griff, damit du dich darauf konzentrieren kannst, wie du es hältst. Nimm deine Waffe nie als selbstverständlich hin. Der Griff ihrer Waffe fühlte sich an, als wäre er ein Teil ihrer Hand oder eine Fortsetzung ihres Körpers. Es ist, wie es sein soll. Als Oelendras Stimme in ihrem Kopf widerhallte, dachte Rhapsody an ihre Lehrerin, an all das, was sie erlitten hatte, an all die anderen vor und nach ihr, die ihr Leben, ihre Seele und geistige Gesundheit in einem jahrhundertealten Kampf gegen den Dämon hingegeben hatten. Dieser freundliche Seligpreiser, der Tee auf seinem Altar brühte, war nichts anderes als die jüngste Verkörperung des Bösen, das so alt war, dass es bereits vor der Rasse der Menschen, vor der Bildung der Landmassen, der Erbauung der Städte, der Einrichtung von Nationen existiert hatte. Die ganze Geschichte zerbröckelte im Vergleich zu der Zeitspanne, die das Böse bereits existierte, Lügen säte, Tod wirkte und wartete, bis es seine Gefährten aus der Gruft der Unterwelt erlösen und den uranfänglichen Wyrm wecken konnte, der alles Leben in einer schrecklichen Sintflut des Chaos verschlingen würde. So viele Seelen würden ihm zum Opfer fallen, so viele in seiner Spur sterben. Die fernen Stimmen all jener, die gegen es gekämpft hatten, ob sie noch lebten oder schon gestorben waren, schrien ihr durch die windstille Luft zu, dröhnten ihr durch den Griff des Schwertes entgegen, hallten in ihrem Blut wider. Rhapsodys Mund öffnete sich aus eigenem Willen, und die Stimmen drangen aus dem Mund der Sängerin. Me wieder. Nie wieder. Eine Kugel aus schwarzem Feuer bildete sich in dem tobenden Inferno und kam wie eine Lawine auf sie nieder. Durch das jammernde Heulen des Feuers hörte sie den Dämon lachen. Rhapsody schluckte und schloss die Augen vor dem herannahenden Feuerball. Sie drückte das Flammenschwert gegen ihre Brust. Die reine Hitze des Elementarfeuers wärmte ihre Seele und half ihr dabei, einen klaren Kopf zu bekommen, obwohl ihr der Tod drohte. Sie holte tief Luft, sammelte die Gedanken mithilfe der Kraft aus dem Schwert und sang leise den einzelnen Ton ela , mit dem sie in Einklang stand und der ihr das ganze Leben hindurch Weisheit und Urteilskraft bei jeder Unsicherheit verliehen hatte. Die Klarheit dieses süßen und reinen Tons klang über das Brüllen des Feuers, durchdrang es und erstickte das Gelächter, als die kleinsten Glocken im Turm zunächst summten, dann ohne Klöppel läuteten und schließlich fest und stark dröhnten. Me wieder, riefen sie, sangen ohne Klöppel und hallten von nichts anderem wider als von der Macht der Sängerstimme. Me wieder. Jetzt überrollte sie die Wand aus Feuer. Sie spürte, wie die Säure in den Augenlidern stach und die Bösartigkeit in den Flammen mit dunkler Stimme sang fern, kreischend vor Wut und Schmerz, in sinnloser Raserei. Sie steigerte die Macht des Tons ganz gleichmäßig und hörte, wie immer mehr Glocken ihrem Ruf antworteten. Stärke schwoll in ihr an. Mit einem mächtigen Stoß hielt sie das Schwert hoch und schickte den Ton mit der ganzen Kraft ihres Atems hinauf. Als die schwarzen Flammen der Unterwelt sie umbrandeten, hörte sie, wie die größten und tiefsten Glocken zu schwingen und dann ohne Klöppel zu läuten begannen und die Basilika mit harmonischer Musik erfüllten, welche alle Verderbnis des Dämons vertrieb. Rhapsody steckte ihr Schwert zurück in die Scheide. Der Wind blies vom Turm herab, wirbelte ihre Haare durcheinander, und das Feuer verschwand. Der Seligpreiser stand in wütendem Schweigen und heftigem Schmerz da und hörte das Läuten einer der hundertsechsundvierzig Glocken, die nun das ela sang. Der Boden in seiner Umgebung war nicht mehr entweiht, sondern wurde allmählich wieder geheiligt. Gleichzeitig spürte er, wie seine Kräfte abnahmen. Er öffnete den Mund und wollte die Worte der Verdammnis sprechen. Aber er konnte sich nicht mehr an sie erinnern. Lanacan schloss die Augen und konzentrierte sich. Es gab noch einen anderen Laut hier, einen viel älteren und schrecklicheren. Die Glocken im Turm verstummten, als das Schwert wieder in der Scheide steckte; die fremdartige Schwingung summte von allein weiter. Es war ein sandiges Geräusch, an das er sich in der gegenwärtigen Lebensspanne nicht erinnerte. In dieser Welt hatte er es noch nie gehört. Es zerrte an den tiefsten Bereichen seiner Erinnerung und kratzte an seinen Schläfen. Es wurde lauter. In seinem Kopf pochte es, als wäre der Schädel nicht länger ein geeigneter Behälter für das Gehirn, das im Rhythmus des Lärms anschwoll. Es war ein Laut, der vom Tod flüsterte. Kalter Schweiß prickelte auf seiner Haut. Irgendwie hatten die Glocken die Hirnschale dieses Körpers zerbrochen. Das Mädchen hatte den Ton gefunden, mit dem es seinen Wirtskörper töten konnte. Er starrte es an. Es stand aufrecht in der Dunkelheit des Gangs unter ihm und hatte die Arme gegen die Hüften gelegt. Im Zwielicht sah Rhapsody aus wie das Windkind aus den Legenden; die goldenen Locken umwirbelten ihren Kopf. Er brannte ihr Bild in seinen Geist ein. Er musste sich an sie erinnern, wenn er einen neuen Körper gefunden hatte, der ihm als Wirt dienen würde. Dann würde er sie aufspüren und vernichten. Da kam ihm ein noch angenehmerer Gedanke. Sie selbst gab einen wunderbaren Wirt ab. Er bekämpfte die bohrenden Kopfschmerzen, die ihn bisweilen blendeten, und versuchte krampfhaft, sich an diese Vorstellung und an sein Bewusstsein zu klammern. Wenn er sie binden konnte, würde sie das vollkommene Werkzeug für seine Herrschaft sein. Ursprünglich hatte er geplant, sie bei ihrer Krönung in den Bann zu nehmen. Er hätte es versucht, wenn der alte Narr sich nicht entschlossen hätte, gerade in jenem Augenblick zu sterben. Doch als der Körper, den er seit Jahrzehnten bewohnte, jetzt plötzlich nutzlos wurde und versagte, dachte er daran, welche Macht ihm als lirinsche Königin zu Füßen liegen würde als Iliachenva’ar, als Frau von einer so engelsgleichen Schönheit, dass sie ganze Nationen mit einem Blick blenden konnte. Er hatte auch früher schon Frauen besessen, es aber enttäuschend empfunden, weil sie geringere gesellschaftliche Macht besessen hatten als die männlichen Wirte, in denen er gelebt hatte. Doch diese Frau war stärker als alle Wirte, in die er je eingedrungen war, seien es Männer oder Frauen. Erregung durchströmte ihn, als er sich darauf vorbereitete, seinen eigenen Tod vorzutäuschen, denn dann würde sie sich ihm nähern und ihn untersuchen. Er streckte die Hand aus und bereitete seinen Geist darauf vor, den Körper zu verlassen. Das kratzende Geräusch entwickelte sich plötzlich zu einer Tonleiter aus sechs Noten und hing in andauernder Wiederholung rechts von ihm in der Luft. Lanacan spürte ein Gefühl der Beengung um ihn herum. Es legte sich um ihn wie eine zudrückende Faust, und Herz, Lunge und Brust wurden in einen Schraubstockhaften Griff genommen. Mit großer Anstrengung drehte er sich den Lauten zu. Dort stand eine große, scheußliche Gestalt in einer schwarzen Robe und sang das quälende Lied. Ihre Laute waren von einem Klicken und einem insektenhaften Summen aus den Tiefen der Kehle begleitet und drangen aus Lippen, die krampfhaft versuchten, nicht zu lächeln. Die dünne, behandschuhte rechte Hand hob sich langsam und blieb mit der Handfläche nach oben steif vor Lanacan in der Luft hängen. Die Lösung von dem menschlichen Körper, die er auf metaphysische Weise bereits begonnen hatte und die nach dem immer gleichen Muster ablief, kam sogleich zum Stillstand. Die linke Hand des Geschöpfes, die ebenfalls verhüllt war, streckte sich neben Lanacan aus. Die Finger pulsierten im Rhythmus des dämonischmenschlichen Herzens. Jedes Zucken der Finger bereitete ihm schreckliche Schmerzen. Dann drehte sich die Hand langsam und wickelte sich Lanacans metaphysische Schlingen wie das Seil eines Segeldrachens um die Finger. Die Gestalt zerrte an ihm und zog die vier Winde zu einem erstickenden Netz zusammen. Sie würgte Lanacan mit der ganzen Macht der physischen und metaphysischen Welt. Der Seligpreiser schrie auf. Er konnte sich nicht mehr bewegen, konnte nicht fliehen. Er war gefangen. »Lass mich raten. Du hast zwar schon von den Dhrakiern gehört, bist aber noch nie einem begegnet, richtig?« Lanacans Augen waren das Einzige, was er noch bewegen konnte. Sie schössen zur anderen Seite. Dort stand, einen Schatten über den ganzen Altar werfend, ein gewaltiges Ungeheuer in voller Rüstung, mit Schwertern und Streitäxten bewaffnet. Dieses gigantische Monstrum war das Mitglied der königlichen Ehrengarde, das den Patriarchen aus dem Weg gezogen und Lanacan davon abgehalten hatte, weiter nach dem verlorenen Ring zu suchen, der das Amt des Sterbenden symbolisierte. Mit zwei Schritten war der große Bolg über ihm, drehte ihm die menschlichen Arme auf den Rücken und brachte ihn in eine noch unbeweglichere Lage. Der Riese hob ihn vom Boden. Schmerzen brandeten durch den Wirtskörper, der jetzt genauso gefangen war wie seine dämonische Seele. »Weißt du, ich hab ja nich so viel Ahnung, aber die Dhrakier sehen Dämonenabschaum wie dich als Appetithäppchen an«, sagte der Bolg freundlich. »Doch für mich bist du die Nachspeise.« Wut tobte durch das Herz des Seligpreisers. Das Straßenkind namens Jo, das für einige Zeit in seinem Bann gewesen war, hatte dem Rakshas von dem Riesen und dem König erzählt, aber nur gesagt, beide seien Firbolg. Offenbar hatte sie nichts von der Existenz der dhrakischen Rasse gewusst und erst recht keinen ihrer Angehörigen erkennen können, vor allem nicht, wenn es sich um einen Mischling handelte. An diesem besonderen Dhrakier war irgendetwas Vertrautes eine Macht, der man nicht trotzen konnte. Lanacan wusste, dass der Kampf sinnlos war. Rasch überdachte er die Lage und suchte eine verwundbare Stelle und einen Weg, den Spieß umzudrehen. Er schaute vom Allerheiligsten auf die kleine Frau, die jetzt still den Gang hinunterschritt und sich ihm näherte. Innerlich lächelte der Seligpreiser. Es war an der Zeit, die Trumpfkarte auszuspielen. »In Ordnung, meine Liebe«, sagte der Riese zu der lirinschen Königin, als sie dem rechteckigen Allerheiligsten näher kam. »Reiß ihm das Herz raus. Ich sterb vor Hunger.« Rhapsody legte die Kapuze ab. Die winzigen Sterne in der Lirin-Krone, die unter dem Stoff des Mantels verborgen gewesen waren, wirbelten in dem sauberen Wind, der vom Glockenturm herabwehte, über Rhapsodys Kopf. Trotz ihrer Entfernung von dem Seligpreiser, der sich in Grunthors zerquetschendem Griff befand, sah sie, wie das Licht der gleißenden Diamantsplitter in seinen Augen glitzerte. Die F’dor fürchteten Diamanten, doch es gelang ihr nicht ganz, das Blinken in seinen Augen als reinen Schrecken zu deuten. Für sie wirkte es eher wie Erregung. Sie ging langsam auf die Apsis zu. Ihr Herz klopfte so laut, dass bestimmt alle drei Männer es hören konnten. Der Seligpreiser sah vom Allerheiligsten auf sie herab. Seine gefangene Hand schwebte wie beim Beginn des Bannrituals vor ihm. Zweifellos hatte er vorgehabt, das schwarze Feuer auf sie herabzurufen. Dazu würde es nun nicht mehr kommen. Der Dämon deutete mit einem Finger auf sie. »Virack urg caz«, sagte er mit warmer, weicher Stimme, die kaum einen hörbaren Laut erzeugte. »Empfange.« Tief in ihren Eingeweiden spürte Rhapsody ein Zucken und dann einen kneifenden Schmerz. Ihre Bauchmuskeln zogen sich zusammen und zwischen den Schenkeln fühlte sie etwas scheußlich Brennendes. »Merlus«, flüsterte er. Seine Lippen bewegten sich nicht. »Wachse.« Sie sprang unter dem Krampf nach vorn, der in ihrem Bauch ausbrach. Dann entspannten sich ihre Muskeln, und sie spürte, wie ein Gefühl von Kälte durch sie leckte. Es ging von ihrer Mitte aus und verbreitete sich in der ganzen Bauchhöhle. Rhapsody schüttelte das Gefühl ab und ging zu den Altarstufen hinüber. »Du glaubst, du bist wütend auf mich, meine Liebe«, sagte die Stimme in ihrem Kopf. »Dabei ist es eigentlich Gwydion, den du verachten solltest. In gewisser Weise ist er es, der dich mir übergeben hat, und das weißt du noch nicht einmal.« Rhapsody vertrieb die hasserfüllten Worte aus ihrem Kopf und ging weiter auf die Treppe zu. Sie richtete all ihre Gedanken auf Ashe auf das warme Zwinkern seiner Drachenhaften Augen, auf die Sanftheit seines Lächelns. Sie versuchte, nicht an die Tiefen seines Leides unter den Händen des Seligpreisers zu denken, denn dann würde ihr Zorn zurückkehren, hinter ihren Augen brennen und sie für den höheren Zweck ihrer Mission blind machen. Sie setzte den Fuß auf die erste Stufe. »Du glaubst, er sei mein Opfer, nicht wahr? Du könntest dich nicht stärker irren. Seine Seele war ein williger Gefangener. Es war überhaupt nicht schwer, ihn zu beeinflussen. Dein Geliebter ist ein sehr kreativer und kluger Mann, aber ich bin sicher, dass ich dir das nicht erst sagen muss. Vieles von der Neigung des Rakshas zu Vergewaltigung und ritueller Folter floss aus der Inspiration seiner Seele. Wusstest du das? Da ich ein zölibatärer Geistlicher bin, konntest du doch nicht im Ernst annehmen, dass ich ihm seine sexuellen Kenntnisse vermittelt habe, oder? Nein, das war alles Gwydions Werk.« Die Augen des alten Mannes in Grunthors Griff blinzelten böse. »Welche Freuden seine verdrehte Seele meinem Spielzeug doch geschenkt hat, als es noch lebte! Besonders hat der Rakshas es genossen, deine Schwester zu vergewaltigen. Sie war ein so williges Opfer. Sie hat sich einfach ins Gras gelegt und die Beine breit gemacht. Sie hat nicht so gehandelt wie die anderen. Sie wollte ihn, meine Liebe. Das sollte dir wenigstens etwas Trost spenden, wenn du ihren unzeitigen Tod betrauerst. Sie hat ihre eigene Vergewaltigung genossen. Natürlich kann man es eigentlich nicht Vergewaltigung nennen, wenn die Frau ihren Vergewaltiger in sich drückt und ihn reitet, oder? Ich bin selbstverständlich kein Experte, aber ich würde sagen, eine unwillige Frau schüttelt ihren Bedränger nicht mit ihrem Körper durch, sie wackelt nicht mit den Hüften, keucht nicht seinen Namen und ist nicht enttäuscht, wenn er langsamer wird. Ich muss gestehen, dass es mich selbst erregt hat, als er mir erzählte, wie er sie mit der Zunge befriedigt und ihren Saft getrunken hat. Du weißt, warum sie so heiß war? Es waren nicht nur seine Hände zwischen ihren Beinen, sein Mund auf ihrer Brust. Du warst der Grund dafür. Es war der Glaube, dass sie mit deinem Geliebten schläft. Wer hätte vermutet, dass eine Frau, die dir so nahe steht, dich so hasst, dass sie sich deinem Liebhaber hingibt und sich von ihm willig verführen lässt, selbst wenn sie dabei stirbt, nur damit sie es dir richtig heimzahlen kann?« Hass floss durch Rhapsody. Ihr Gesicht wurde rot und das Blut heiß, doch am Rande ihres Verstandes verspürte sie Zweifel. Sie erinnerte sich an den verhärteten Ausdruck auf Jos Gesicht, als sie Rhapsody die Geschichte erzählt und ihr dabei fest in die Augen geschaut hatte. Ich sehe niemanden. In Wirklichkeit siehst du ihn. Wovon redest du, Jo? Es war Ashe. Ich habe mit Ashe gevögelt. In der Nacht, als ihr euch im Beratungszimmer getroffen habt, als ich weggelaufen bin, ist er mir nachgegangen und hat mich draußen auf der Heide gefunden. Er hat dir nichts davon gesagt, oder? Wahrscheinlich hat er dir gesagt, er hat mich nicht gefunden, ja? Alles Unsinn. Ich hob versucht, ihn wegzuschicken, aber er wollte einfach nicht. Und dann, na ja, dann haben wir’s getan. Ich werd seinen Gesichtsausdruck nie vergessen. Er hat mich regelrecht um den Verstand gevögelt. Ehrlich, Rhapsody, ich weiß nicht, was du an ihm findest. Hast du denn nichts Besseres zu tun, als dich von ihm bespringen zu lassen? Rhapsodys Magen zog sich bei dem kalten Gedanken des Betrugs zusammen. Damals hatte sie sich nicht so gefühlt. Sie war zu besorgt um Jo gewesen und hatte an nichts anderes als an ihre Schwester gedacht. Sie hatte sich die Tat nicht einmal vorgestellt. Doch jetzt kam das Bild der beiden im Gras in ihre Gedanken, wie sie gegeneinander stießen und in den Zuckungen des gemeinsamen Orgasmus aufschrien. Ihr Herz zog sich in schrecklichem Zorn zusammen, als sie wieder die Tagessternfanfare mit kreisendem Schwung zog und die Stufen zum Altar hochstieg. Ihr Gesicht hatte einen mörderischen Ausdruck angenommen. Der Seligpreiser lächelte, als er es sah, und Rhapsody spürte plötzlich, wie etwas in ihr einrastete. Oelendras Warnung klang ihr in den Ohren. Lass deinen Hass vorübergehen, denn sonst wird er sich gegen dich wenden. Dein Grund für die Vernichtung des F’dor sollte nicht die Vergangenheit des Kindes, sondern seine Zukunft sein. Wenn du das in Erinnerung behältst, wirst du die Tat nicht aus Rache begehen, sondern weil sie richtig ist. Im Letzteren liegt mehr Kraft als im Ersteren. Ich kann das nicht mehr tun; mein Hass ist zu stark, aber du, Rhapsody, hast die Möglichkeit, die Dinge richtig zu stellen. Die Scheußlichkeit seiner Taten sollte dich nicht in Verwirrung bringen. Rhapsody holte tief Luft und entspannte sich. Sie trat auf den Boden des Allerheiligsten und überquerte ihn, weil sie sich vor den Seligpreiser stellen wollte. Dabei hörte sie wieder die Stimme in ihrem Kopf. »Sei nicht eifersüchtig, Rhapsody. Dem Rakshas hat es mit dir viel besser gefallen als mit ihr.« Rhapsody blieb wie erstarrt stehen. »Ach, das wusstest du nicht? Nun, das überrascht mich keineswegs. Eure beiden Liebhaber sahen gleich aus. Was hatte ich für ein Glück, dass du dich in Llaurons Sohn verliebt hast. Dadurch wurde es für den Rakshas so viel einfacher, dich zu besitzen. Du hast geglaubt, es sei immer Gwydion gewesen, der mit dir geschlafen hat, nicht wahr? Nachdem deine Schwester meinem Geschöpf von euch beiden erzählt hatte, war es ganz einfach. Außerdem ist es nachts in den Zahnfelsen sehr dunkel, nicht wahr, meine Liebe?« Die stumme Stimme in ihrem Kopf lachte, und das Geräusch hallte in ihrem Gehirn wider. Ihr drehte sich der Magen um, als die Erinnerung an Jos letzte Nacht sie einholte der kreischende Wind über dem Gebirgspass in der undurchdringlichen Dunkelheit, der blinde Aufstieg durch die Felsspalten bis in den Schutz des Bogens. Wahrscheinlich liegt es nur daran, dass mein erstes Mal ein bisschen, na ja, ein bisschen grob war. Das Blut strömte aus ihrem Gesicht, als sie sich an ihren verzweifelten, beinahe gewalttätigen Akt mit Ashe in jener Nacht erinnerte, als sie sich gegen die Felswand gelehnt hatten. Die übliche Zärtlichkeit war wilder Eindringlichkeit und heftigen Schmerzen gewichen. Es war Ashe gewesen. Oder nicht? Das kann nicht sein, dachte sie in Panik, doch das Lachen in ihrem Kopf wurde lauter, als sie begriff, dass sie damals sein Gesicht nicht gesehen hatte. Selbst wenn sie es erkannt hätte, wäre sie möglicherweise nicht in der Lage gewesen, in ihrer Verzweiflung und bei dem heulenden Wind den Unterschied zu bemerken. Was mit Jo geschehen ist, war nicht deine Schuld. Wenn jemand daran schuldig ist, bin ich es. Er war aus der Dunkelheit zu ihr gekommen, nachdem Ashe gegangen war. Vielleicht war er in den Zahnfelsen herumgewandert, so wie es gewesen war, als er Jo gefunden hatte. Lanacans Lächeln war ekelhaft wissend, als er auf ihren Bauch deutete. Nun, die Zeit wird es zeigen. Wir werden sehen, wer die Hure des Dämons war. Die lautlose Dämonenstimme lachte erneut. »Und die ganze Zeit über hast du nicht gewusst, dass du schwanger bist. Der Same ist zwar vor langer Zeit in dich gelegt worden, aber er wächst erst, seit ich das Wort ausgesprochen habe. Sicherlich hast du nicht geglaubt, dass du die Einzige mit der Fähigkeit des Benennens bist, nicht wahr? Nein, bestimmt nicht. Dazu bist du viel zu bescheiden, nicht wahr, meine Liebe? So bezaubernd. Du wirst eine wunderbare Mutter abgeben, Rhapsody, wenigstens so lange das Kind sich in deinem Leib befindet. Es ist eine Schande, dass du die Geburt nicht mehr erleben wirst.« Die Stimme in ihrem Kopf wurde einen Moment lang durch Manwyns Stimme ersetzt. Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben. Ihre Hände wurden klamm, und sie löste den Griff um das Schwert. »Ja, meine Liebe, es stimmt. Du trägst mein Kind, so wie es auch die anderen getan haben. Aber ich glaube, deines wird seinen Vater noch mehr verehren. Der Same hat lange geschlummert und dabei die Gelegenheit gehabt, sich mit meinem Blut zu durchtränken wie der Tee hier auf dem Altar. Je mehr Zeit vergeht, bevor das Blut der Mutter dazu kommt, desto dämonischer ist die Natur des Kindes.« Rhapsody erzitterte. Sie hatte beinahe sieben Jahre bei den Rowans verbracht. Wenn die Worte des F’dor der Wahrheit entsprachen, würde das Kind völlig dämonisch sein. »Ist das nicht eine wunderbare Ironie: Die wunderschöne Sternenmutter, Retterin der verlorenen Kinder, Schutzheilige der Dämonenbrut, der Himmel in der Prophezeiung der Drei, der aus der Vergangenheit selbst heraustritt, um die Wunden der verwaisten Welt zu heilen und sie zusammenzufügen, wird mich wiedergebären. Du bist es, die den F’dor erneut in die Welt setzt. Du bist die Tür, durch die ich zurückkehren werde. Du bist diejenige, die das Böse lebendig erhält. Oh, ist das großartig! Was könnte vollkommener sein?« Das Schwert fiel klirrend zu Boden. Grunthor starrte sie an. Alle Farbe war aus Rhapsodys Gesicht gewichen. Die Augen waren weit aufgerissen und starrten blind umher. Jo hatte im Augenblick ihres Todes ähnlich ausgesehen. Rhapsody zitterte unkontrolliert. Sie führte die Hände zu ihrem Bauch. Er spürte, wie mit jeder Sekunde der Dämon stärker wurde. Er sah wild hinüber zu Achmed, der vor Anstrengung schwitzte, den Bann aufrechtzuerhalten. Der Seligpreiser gab keinen Ton von sich, doch ein Lächeln kroch über sein ältliches Gesicht, in dem die Augen wie Feuer aus der Unterwelt brannten und Rhapsody nun wie wahnsinnig anstarrten. Die Erde unter Grunthors Füßen schwankte. Als sie zu schreien anfing, fühlte Grunthor es. Ihre Schmerzen rannen wie Säure durch seine Adern. Er wusste instinktiv, dass etwas völlig falsch lief. Das Blatt wendete sich gegen sie, und er verstand nicht, warum. Nun fühlten sich seine Arme warm an. Innerhalb weniger Sekunden waren sie bereits kurz davor, sich zu entzünden. Schmerzen durchrasten ihn und verbrannten seine Haut dort, wo sie mit der Bestie in Berührung kam. Es schien, als schwölle der alte Mann an. Der zerbrechliche greise Körper dehnte sich und wurde mit jeder Sekunde stärker. Der Gestank des Grabes quoll aus dem Mund des Seligpreisers und brannte in Grunthors Augen. Der Bolg musste würgen. Grunthors Herz schlug laut; sein Rhythmus wurde von einer Angst begleitet, die er nie zuvor verspürt hatte. Er begriff, dass ihm die Bestie die Arme brechen würde. Und dann frei wäre. Er grunzte vor Pein auf, als sein Hemd versengte, und versuchte, die Augen vor dem beißenden Rauch zu schützen. Er sah hinüber zu Achmed und keuchte auf. Der Dhrakier war auf die Knie gesunken. Blut floss ihm aus Nase und Ohren. Seine sonst braune Haut war totenbleich, und die Glieder zitterten heftig in dem Versuch, den Bann aufrechtzuerhalten. Er rang nach Luft. Aus seiner Kehle kamen unregelmäßige, abgerissene, gurgelnde Laute. Die Adern an seinem Hals vibrierten und standen kurz vor dem Zerreißen. Während Panik Grunthor zu verschlingen drohte, sah er hinüber zu Rhapsody. Sie starrte den Seligpreiser an. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, ihre Augen hatten einen seelenlosen Ausdruck und sahen weit, weit fort. Gute Götter, dachte er, der Bastard verzaubert sie. »Euer Liebden?«, keuchte er und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Rhapsody starrte an ihm vorbei; ihr Blick hatte sich in den des Dämons verkrallt. Er spürte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Seine Stärke schwand, schon bald würde der Dämon frei sein. In Grunthors Kopf dröhnten dunkle Stimmen und der Druck seines eigenen Blutes. Ein dumpfer Aufprall, der Schlag von Metall gegen Stein Achmed war gestürzt und lag bäuchlings auf dem Boden. Eine Blutlache breitete sich unter ihm aus. Sein Gesang war so schwach geworden, dass er kaum mehr zu hören war. Die noch immer erhobene Hand zitterte und drohte ebenfalls niederzusinken. Die Stirn war in zuckende Falten gelegt; sie pulsierte und schien zu bersten. Sein letzter Blick auf Achmed wurde von einem schwarzen Vorhang verdeckt, als sein Blut zu kochen begann. Mit der Kraft eines Sturmbocks kämpfte sich der Dämon frei und schleuderte Grunthor quer durch die Basilika gegen die Mauer des Allerheiligsten. Benommen legte er die Hand auf den Kopf und versuchte die Schmerzen zu stillen. Er kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, die ihn zu überwältigen drohte, und ließ es zu, dass Wut ihn durchströmte. Dann tastete er sich in den Teil seiner Seele vor, der mit der Erde verbunden war. Der Marmorboden und der Grund darunter, der vor kurzem noch verseucht gewesen war, antworteten ihm mit einem Summen. Haltet ihn für mich fest, dachte er. Selbst von der gegenüberliegenden Seite des Allerheiligsten aus spürte er, wie die Erde unter den Füßen des Dämons weicher wurde. Die Schmerzen in seinem Kopf verebbten, als er sah, wie der Seligpreiser nun in dem Schlamm einsank, der vorhin noch fester Marmor gewesen war, und sich freizukämpfen versuchte. Das wahnsinnige Glitzern in seinen Augen schwankte und sein Lächeln verschwand allmählich. Grunthor holte tief Luft, als sich die Erde wieder härtete und den Dämon festhielt. Er spürte, dass Achmed das Bannritual nur noch wenige Sekunden aufrechterhalten könnte. Entschlossen drehte er sich auf den Knien um und kämpfte sich auf die Beine, wobei er sich an der Mauer abstützte, die fleckig von seinem eigenen Blut war. Dann taumelte er zurück zum Allerheiligsten und packte wieder die Arme des Seligpreisers. Der Dämon kämpfte nicht einmal. Er richtete den Blick auf Rhapsody. Seine Augen brannten Löcher in ihre Seele. Die Stimme in ihrem Ohr wurde lauter. »Ah, Rhapsody, ich sehe, dass du glücklich bist. Du hast Kinder immer geliebt, nicht wahr? Und du hattest befürchtet, unfruchtbar zu sein, stimmt’s? Ich weiß, wie es in deinem Herzen aussieht. Ich sehe deine tiefsten Geheimnisse, weil ich mitten in ihnen stecke. Du solltest vorsichtiger sein, für wen du die Beine breit machst, meine Liebe. Manchmal lassen sie mehr zurück, als das kurze Vergnügen wert ist.« Die warme Stimme sank noch tiefer in sie ein. Komm jetzt zu mir. Gegen ihren Willen machte sie einen Schritt nach vorn. Ihr Verstand schrie vor Qual auf. Sie kämpfte gegen den Klang der süßen Stimme und kniff die Augen zusammen, um die Worte zu vertreiben, doch ihre Hände waren schon erstarrt. Mechanisch machte sie einen weiteren Schritt voran. Das ist richtig, ermutigte sie die Stimme des Seligpreisers sanft. Komm zu mir, Rhapsody. Die Worte hallten in ihrem Herzen wider. Trost und Sicherheit lagen in ihnen. Der Seligpreiser würde ihr nichts antun. Sie sehnte sich danach, seinem Befehl zu gehorchen. Ein Verlangen, ursprünglich und beinahe von sexueller Natur, durchströmte sie und erhitzte ihr Blut. Sie machte einen weiteren Schritt. Komm zu mir, meine Liebe, ermunterte sie die Stimme; sie klang wie die eines Liebhabers. Wärme umgab Rhapsody wie die Dunkelheit eines gemeinsamen Bettes. Rhapsody verspürte ein Schauern im Rücken; auf ihrer Haut prickelte es. Komm zu mir, dem Vater deines Kindes und zugleich deinem Kinde. Ich bin beides: dein Kind und Vater deines Kindes, und du liebst mich. Gemeinsam haben wir dieses Kind gezeugt. Du würdest doch niemals deinem eigenen Kind wehtun, oder? Sie schüttelte den Kopf. Nein, natürlich nicht. Komm, bring mir das Schwert... »Schlag zu!«, brüllte Grunthor und zerstörte damit die Worte des Seligpreisers. »Streck endlich deinen schönen Kopf aus dem Sand und hör mir zu, sonst hau ich ihn dir ab und steck ihn auf meine Axt!« Die Stimme ihres ersten Lehrers war wie ein Leuchtfeuer in der dichter werdenden Dunkelheit. Sie riss Rhapsody aus ihrer Benommenheit und trieb die stummen Worte des Dämons aus ihrem Kopf. Eine ältere, viel tiefer eingewurzelte Loyalität durchfuhr sie und zerstreute die augenblickliche Besessenheit, welche die Worte des Dämons in ihr verankert hatten. Die Stimme des Sergeanten hallte laut und deutlich in ihr wider. Sie hatte sich ihm verschworen. Sie hatte ihm vor langer Zeit einen Namen gegeben. Der Herr der tödlichen Waffen. Ihr Freund. Dero untertänigst zu gehorchende Autorität. Sie schüttelte den Kopf, als vertriebe sie den Schlaf, und sah auf den Boden neben sich, wo die Tagessternfanfare lag und machtlos schwelte. Sie bückte sich und hob das Schwert auf, dann ging sie zielstrebig über den Marmorboden auf das Allerheiligste zu. Die Augen des Seligpreisers weiteten sich vor Schreck. Die Schwertklinge wurde in ihrer Hand lebendig, und die schimmernde Flamme sprang auf, als Rhapsody ihren Griff verstärkte. Sie hob das Schwert mit der Spitze nach unten über den Kopf. Der Dämon kämpfte gegen Grunthors stämmige Arme an, doch es war eine sinnlose Anstrengung. Neben sich hörte Rhapsody, wie die Musik von Achmeds Bannritual lauter wurde, und Grunthors Stimme ertönte hinter dem Seligpreiser. »Das ist ’n Mädchen! Ich hab ihn, Euer Liebden. Und jetzt ein guter, glatter Stich.« Der Dämon sah ihr ins Gesicht und erkannte darin keine Angst, sondern nur ernste, tödliche Ruhe. Als sich ihre Blicke trafen, begriffen sie beide. Ich werde dich bald wieder sehen, sagte der Seligpreiser in ihren Gedanken. »Vielleicht schneller, als du dir vorstellen kannst«, erwiderte Rhapsody. Sie trieb das alte Schwert, die Waffe der Könige und Krieger, die unsichtbare Feinde getötet und eine Nation vereinigt hatte, tief in das Herz des Dämons, riss ihm mit ihrer ganzen Kraft den Brustkorb auf und durchtrennte sein Rückgrat. Der üble, beißende Gestank des F’dor ergoss sich aus dem Körper des Seligpreisers, und brennendes Blut schoss auf den Boden des Allerheiligsten. Achmed lag bäuchlings auf dem Marmorboden des Heiligtums und hob langsam den Kopf. Seine ausgestreckte Hand, um die er das Netz der vier Winde gewickelt hatte, ging in Rauch auf, als das brennende, schwarzrote Blut auf seine Handfläche spritzte. Trotz seiner Schmerzen schürzte er die Lippen zu einem Grinsen. Gurgelndes Lachen mischte sich mit den Klängen des Bannrituals. So wie ich jetzt dein Blut an meinen Händen habe, wird es eines Tages wieder sein. Der Dämon kreischte auf. Es klang eher nach Wut als nach Schmerz. Er streckte die Hände nach Rhapsody aus, als sie die Tagssternfanfare in seinem Körper umdrehte und herauszog. Grunthor ächzte unter der Anstrengung, die es kostete, den Körper festzuhalten. Dem Seligpreiser gelang es, mit eisig kaltem Blick Rhapsody in die Augen zu sehen, bevor der Firbolg-Riese den blutigen Körper aus dem Marmorboden der Basilika zog. Er sah sie an, und sie nickten sich zu. Dann wuchtete Grunthor mit letzter Kraft den zuckenden Körper auf den Altar unter der Öffnung in der Decke. Im selben Augenblick beschwor Rhapsody das Sternenfeuer aus dem Himmel durch den offenen Glockenturm herab. Mit einem wilden Brüllen ergossen sich die ätherischen Flammen auf den Altar, trieben die Drei aus dem Allerheiligsten und verzehrten es. Die Schreie des Dämons waren im Lärm des Feuerstoßes unhörbar, doch Rhapsody spürte sie in ihrem Kopf. Die menschliche Gestalt zuckte und schrumpfte, bevor sie in dem blendenden Feuer verschwand. Sekunden später war alles wieder wie zuvor, allerdings von den Flammen geschwärzt. Rhapsody starrte das ausgebrannte Allerheiligste an und suchte nach Anzeichen für Überleben nach Teilen, die vom Sternenfeuer verschont geblieben waren, doch sie sah nichts als Rauch und Asche. In der Ferne läuteten die Glocken der Stadt drängend, und in der Nacht waren erschrockene Stimmen zu hören. Grunthor öffnete die Arme. Rhapsody rannte auf ihn zu und hielt sich mit ganzer Kraft an ihm fest. »Es tut mir so Leid, es tut mir so Leid«, keuchte sie. »Warum? Du warst toll, Liebes, genau wie ich dir’s beigebracht hab. Du hast für ’nen Moment die Konzentration verloren, aber das kommt bei den Besten von uns vor, nicht wahr, Achmed?« Am Boden hob Achmed schwach den Kopf. »Auf alle Fälle.« Er sah Rhapsody eindringlich an und wandte den Blick auch nicht ab, als Grunthor ihn auf die Beine zog und den Arm zur Unterstützung um ihn legte. »Nichts wie weg hier, Euer Liebden«, drängte Grunthor und setzte sie ab. Er packte sie sanft, aber bestimmend am Arm. Rhapsody blieb gerade lange genug stehen, um mit ihrem Mantel das Blut von Boden und Wand abzuwaschen; dann folgte sie den beiden durch die Sakristei und trat über Gittelsons Leichnam hinaus auf die Straße, wo sie in der Dunkelheit warteten, bis sie sich unter die Bevölkerung mischen konnten, die herbeilief und sehen wollte, was in der Basilika geschehen war. Als der Küster viele Stunden später schließlich die Basilika geräumt und verschlossen hatte, traten die Drei aus den Schatten und untersuchten noch einmal das Allerheiligste. Rhapsody machte die Augen zu und lauschte der Glockenmusik, die schon seit beinahe einer ganzen Stunde ertönte. Sie war süß und harmonisch und von einer Klarheit, die anzeigte, dass der Wind wieder ungehindert durch den Turm strömte. »Klar und hell«, sagte sie zu ihren Gefährten. »Der Boden wird wieder geheiligt. Wie fühlt es sich an, Grunthor?« »Ist noch schwer zu sagen, aber die Verseuchung verschwindet eindeutig«, meinte er, bückte sich und berührte den Boden. »Is aufm richtigen Weg. Glaube, die Glocken brauchen ihre Klöppel zurück, damit es ganz klappt. Und du, Liebes, wie geht’s dir? Hast mir für ’nen Augenblick Sorgen gemacht, weißt du?« Sie streckte die Arme aus, und ihr riesenhafter Freund hob sie erleichtert vom Boden auf. »Mir geht es gut. Wirklich gut«, sagte sie und schaute in seine bernsteinfarbenen Augen. »Bin mir nich sicher, ob ich dir glauben kann.« »Das solltest du aber.« Rhapsody drückte Grunthor noch eine Zeit lang fest an sich, dann reckte sie den Kopf und küsste ihn auf die monströse Wange. »Grunthor, gehst du bitte und suchst uns einen Ausgang? Ich muss allein mit Achmed reden.« Grunthor sah Achmed an. Dieser nickte. »In Ordnung, Euer Liebden, ich vermute, ich kann mich darum kümmern.« Er setzte sie sanft ab und strich ihr über den Kopf; dann ging er auf die Marmorstufen des Allerheiligsten zu. »Grunthor?« Er drehte sich um und schaute zu ihr zurück. »Ja?« »Ich liebe dich.« Ein breites Lächeln legte sich über sein Gesicht. »Das is gegenseitig, Liebes.« Er schlug die Hacken zusammen, drehte sich wieder um und lief zur Tür der Basilika. Rhapsody wartete, bis der riesige Bolg die Kirche verlassen hatte, und sah dann den Fir-Bolg-König an. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Belustigung, der sofort verschwand, als sie sich an ihn wandte. Sie schaute ihm eindringlich in die Augen; dabei krochen Angst und Schmerz in ihren Blick zurück. Achmed bemerkte es sofort. Er nahm sie in die Arme. Rhapsody drückte sich zitternd an ihn. Wortlos strich er ihr mit der Hand über den Rücken und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Sie wusste, dass er auch ohne Worte die Tiefe ihrer Furcht kannte. Er hielt sie lange fest, und die Unmittelbarkeit ihrer Panik ging vorbei. »Weißt du«, sagte sie, als sie wieder aufschaute, »wir beide sind wirklich zwei Seiten derselben Münze.« »Ich weiß.« Sie nickte und verlor sich einen Moment lang in ihren Gedanken. Dann blickte sie ihm wieder ins Gesicht. »Gibt es etwas, das du für mich nicht tun würdest, wenn ich dich darum bäte?« »Nein.« »Das hatte ich gehofft.« Sie löste sich aus seinen Armen und ging die Treppe des Allerheiligsten hinunter. Sie hatte die Arme um ihre Hüfte geschlungen und überblickte den gewaltigen Raum der Basilika, in dessen Finsternis die Lüster brannten. Sie setzte sich auf eine Stufe; einen Augenblick später gesellte sich Achmed zu ihr. Sie warteten schweigend eine lange Zeit und sahen zu, wie es in der Basilika immer dunkler wurde. Dabei lauschten sie dem Lärm der Menge, der vor den Türen allmählich abnahm. Ich will nur, dass es vorbei ist. Ich will endlich wieder einmal ruhig schlafen. Du willst, dass es vorbei ist? Es wird nie vorbei sein. Rhapsody. Schließlich sah sie ihn an. Ihre Augen leuchteten, doch sie spiegelten nicht ihre üblichen Gefühle. »Hast du in der alten Welt während der Ausübung deines Berufes je die Gelegenheit gehabt, ganz schnell und ohne große Schmerzen zu töten?« »Ja. So habe ich es die meiste Zeit versucht.« »Natürlich.« Sie sah wieder fort und überblickte die Schäden auf der Empore und an den Bänken. »Vielleicht brauche ich deine Dienste bald nach dem cymrischen Konzil.« Achmed nickte. »Für wen?« Rhapsody sah ihn direkt an. »Für mich.« Achmed nickte abermals. Er verstand. 68 Das Feuer im Kamin des Konzilraums hinter der Großen Halle des Kessels brannte knisternd und knackend und roch viel besser als in Grunthors Erinnerung, was zum Teil an den drei großen Vanilleschoten lag, die Rhapsody hineingeworfen hatte, als sie zum Abendessen hergekommen waren. Beim Mahl war es erstaunlich still gewesen, was hauptsächlich an dem nachdenklichen Blick der Sängerin und ihrer Abneigung gegen ein Schwätzchen gelegen hatte. Das bedeutete für Grunthor, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. So war es den ganzen Weg von Bethe Corbair gewesen. Seine eigene Hochstimmung hatte sich nicht auf seine beiden Gefährten übertragen. Kurz zuvor hatte er einen Blick in Achmeds Richtung geworfen und die Warnung in seinen Augen deutlich gesehen. Also stellte er keine Fragen, sondern versuchte die Stimmung mit einem Scherz oder was er dafür hielt zu verbessern. »Köstliches Mahl, Herzogin«, sagte er heiter und tätschelte ihr grob den Kopf. »Erinnere mich nich, dass dein Eintopf schon mal so gut geschmeckt hat.« »Das liegt an dem Knoblauch aus Bethe Corbair«, erwiderte sie, stand auf und nahm seinen Teller an sich. »Ich glaube nicht, dass ich je zuvor so dicke, feste Knollen gesehen habe. Ich habe ein paar übrig behalten, um sie einzupflanzen. Möchtest du noch eine Portion?« »Na klar.« Grunthor nahm einen Schluck Tee und zog eine Schnute. »Ist das auch etwas, das du gekauft hast?« »Ja, das ist der weiße Andorn. Er war auch in den Süßigkeiten.« Sie lächelte, als sie seine Grimasse sah. »Du magst ihn nicht, oder?« Grunthor machte große Anstrengungen, heiter auszusehen. »Oh, er ist wunderbar, Liebes.« »Lügner. Aber das ist schon in Ordnung. Ich bin es gewöhnt, dass die Leute meinen Tee beleidigen. Das kommt von dem Öl der Blätter. Du sagtest, du hast Halsschmerzen. Deshalb muss er so schmecken.« Der große Bolg schluckte. »Ist wohl ne Frage der Gewöhnung. Was willst du mit dem ganzen Dämonenzeugs machen mit dem Beifuß und der Datura? Sind die nich giftig?« »Das hoffe ich. Ich habe alle Kakerlakennester damit eingerieben.« Achmed unterdrückte ein Lächeln. »Was hast du mit all diesen Pfeilen vor?« »Die sind für Gwydion Navarne, meinen Enkel. Er ist ein Bogenschütze wie sein Vater, oder wenigstens will er einer werden. Er liebt die brennbaren Pfeile.« »Dann sollte er nicht in der Nähe der Festung oder entzündlicher Dinge üben. Die Pfeile haben einen Drall.« Rhapsody machte ein bestürztes Gesicht. »Wirklich? Das habe ich nicht bemerkt.« Der Fir-Bolg-König lehnte sich zurück und verschränkte die Beine. »Natürlich nicht. Du warst zu sehr damit beschäftigt, möglichst auffällig zu sein, damit Gittelson dich auf dem Markt bemerkt.« »Er war ziemlich dumm, nicht wahr?« »War ist das treffende Wort.« »Der arme Kerl«, sagte Grunthor mitleidig. »Is doch so schwer, heutzutage gute Leute zu kriegen.« Er grinste, als er sah, wie ein Lächeln um Rhapsodys Mundwinkel spielte. »Besonders da, wo er sich jetzt befindet«, meinte Achmed und sah die Sängerin ebenfalls an. »Es ist überhaupt schwierig, dort irgendetwas Gutes zu bekommen.« Rhapsody drückte ihren Stuhl zurück. »Hört auf, mich anzustarren. Ich ertrage das nicht.« Sie stand auf, ging zum Feuer und schaute in die wogenden Flammen. »Willst du uns nicht sagen, was los ist?« Die tiefe Stimme klang sanft. Grunthor erkannte, wie sich Rhapsodys Rückenmuskeln bei seinen Worten spannten, doch ansonsten erfolgte keine Reaktion. Rhapsody sah noch einen Moment lang ins Feuer. Schließlich drehte sie sich um und lächelte die beiden an. »Ich weiß nicht mit Sicherheit, ob etwas los ist, Grunthor«, sagte sie ruhig. »Ich muss nach Tyrian zurückgehen, und der Gedanke, euch beide zu verlassen, macht mich traurig.« »Dann bleib hier«, sagte Achmed nur. Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Es ist Zeit, das cymrische Konzil einzuberufen, und ich habe in meinem Land Vorbereitungen dafür zu treffen. Doch danach komme ich zurück und muss bestimmt mehrere Monate warten, bis alle Cymrer eingetroffen sind. Ich werde bis dahin in Canrif bleiben, also werden wir einige Zeit miteinander verbringen können.« »Das bezweifle ich«, murmelte Grunthor düster. »Immer wenn wir ’n bisschen Spaß miteinander haben, taucht dieser alte Wasserjunge auf, und du haust mit ihm ab.« Das Lächeln verschwand aus Rhapsodys Gesicht. »Nein, das wird er nicht«, sagte sie entschieden. »Er spielt jetzt nicht mehr mit, Grunthor. Und falls er kommt, will ich ihn sowieso nicht sehen.« Die Bolg schauten einander an. »Das ist eine erfrischende Nachricht«, sagte Achmed. »Was brauchst du von uns für die Versammlung?« »Ich habe eine Liste gemacht. Sie betrifft hauptsächlich Unterkunft und Sicherheit, was nicht gerade wenig für hunderttausend erwartete Gäste ist. Natürlich gibt es da auch noch ein paar andere Dinge. Ich gehe auf mein Zimmer und hole die Liste.« Sie entzog sich den aufmerksamen Blicken der beiden und eilte aus dem Versammlungsraum. Als sie fort war, starrten die beiden immer noch auf die Tür, durch die sie verschwunden war. »Was macht ihr so Sorgen, Achmed?« Achmed schaute in das Feuer. »Ich glaube, sie kämpft mit ihren eigenen inneren Dämonen.« Achmed ritt mit ihr bis zur Grenze zwischen Ylorc und Bethe Corbair. Sie hatten ein einfaches Lagerfeueressen miteinander geteilt und zugeschaut, wie die Sterne an einem Himmel erschienen, der sich mit dem herannahenden Ende des Winters allmählich später verdunkelte. Sie hatten schweigend dagesessen und ihren Gedanken nachgehangen. Schließlich stand Rhapsody auf und machte sich für die Weiterreise bereit. »Vielen Dank für das Abendessen und für alles andere.« Achmed nickte. Ihre Augen wurden etwas heller, und sie schüttelte ihm die Hand. »Erinnerst du dich daran, was du mir am Abend vor der Krönung gesagt hast? Dass du immer hinter mir stehst?« »Ja.« Rhapsody lächelte. »Als ich in der Basilika stand, bevor du hereinkamst, konnte ich dich spüren, der Dämon aber nicht.« »Ich weiß.« »Das war der einzige Grund, warum ich nicht einfach weggelaufen bin.« Achmed schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Aber es ist egal; es wird immer so sein.« »Ich weiß.« Sie schwang die Satteltasche über den Rücken ihres Pferdes und drehte sich dann wieder nach Achmed um. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?« »Selbstverständlich.« »Wirf einen Blick auf Elysian, wenn ich weg bin. Es ist schon so lange her, dass ich dort gewesen bin. Meine Gärten sind inzwischen bestimmt verdorrt, aber ich will wissen, ob das Haus noch steht.« Achmed warf seine eigene Tasche auf sein Reittier. »Alle Gärten sterben im Winter. Es ist schon beinahe Frühling. Deine Anpflanzungen werden es schaffen; die schwierigste Zeit ist schon fast vorbei.« Rhapsody beobachtete ihn, während er sein Pferd packte. »Nicht unbedingt«, sagte sie. »Manchmal tötet der Frost noch.« Er kam zu ihr herüber und ergriff ihre Hand. »Nicht, wenn man sich um den Garten kümmert.« Sie lächelte ihn wieder an und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. Sanft küsste sie ihn, wie sie es in jener Nacht vor der Basilika getan hatte. Die Wärme ihrer Lippen verweilte kurz auf seinen. Dann trat sie zurück und ließ den Blick über sein Gesicht schweifen. »Ich hatte befürchtet, ich würde nie wieder die Gelegenheit haben, das zu tun«, sagte sie leise. »Ich ebenfalls«, sagte er. Er ging mit ihr zu ihrem Pferd und sah zu, wie sie aufstieg. »Gute Reise.« »Danke. Bleib gesund, mein Freund.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und ritt durch die tintenschwarze Nacht dem aufgehenden Mond entgegen. Als Achmed über den stillen See von Elysian ruderte, murmelte er unterdrückte Flüche. Er hasste Wasser. Nur Rhapsodys Bitte hatte ihn hierher gebracht, nur ihretwegen steuerte er dieses schreckliche Boot über den riesigen See. Er verfehlte wiederholt die Anlegestelle und gab schließlich verärgert auf. Kurz entschlossen sprang er in das knietiefe Wasser und watete an Land. In dem Augenblick, als seine Füße trockenen Boden berührten, wusste er, dass etwas in Elysian nicht stimmte. In der Luft lagen unwillkommene Schwingungen. Ashe war hier irgendwo. Wie zur Bestätigung öffnete sich die Vordertür. Kurz darauf erschien Ashe unrasiert und mit wilden Blicken im Türrahmen. Selbst aus einigen hundert Fuß Entfernung war der Ausdruck tiefster Panik auf seinem Gesicht unverkennbar. Achmed ließ sich Zeit, zog die durchnässten Stiefel aus und goss das Seewasser aus ihnen. Dann watete er zurück ins Wasser und zog das widerspenstige Boot ans Ufer. »Wo ist sie?« Ashes Stimme ertönte unmittelbar hinter ihm. »Ja, vielen Dank, ich kann ein wenig Hilfe gut gebrauchen«, meinte Achmed sarkastisch. Er band das Boot an und drehte sich zu Llaurons Sohn um. Seine vollendete Abneigung und sein Misstrauen gegen Ashe legten sich ein wenig. Er schaute in ein Gesicht, das von gewaltiger Angst und furchtbaren Sorgen verzerrt war. Er hat te Ashes Gesicht bisher nur ein oder zweimal bei unangenehmen Feiern hier in Elysian in jenem Sommer gesehen, den dieser lästige Mensch mit Rhapsody verbracht hatte. Die Luft hatte vor Spannung geknistert, während sich die beiden misstrauisch beäugt und kleine Gemeinheiten ausgetauscht hatten; Rhapsody hatte indessen das Essen aufgetragen und so getan, als bekäme sie all das nicht mit. Jetzt war sein Rivale im Nachteil. Er hatte hier offenbar auf ihre Rückkehr gewartet. Wenn er irgendwo mitten in der Welt gewesen wäre, hätte er die Neuigkeiten über den Seligpreiser von Bethe Corbair gehört. Unter der Panik sah sein Gesicht älter aus als damals, als er selbst gejagt worden war. Achmed erinnerte sich aus der eigenen, tiefsten Vergangenheit an dieses Gefühl. Es war schwer vorstellbar, dass es noch schrecklichere Gefühle gab, doch das war offenbar der Fall, und in diesem Moment verspürte Achmed zum ersten Mal so etwas wie Mitleid für den Mann, dessen Gegenwart er nicht ertragen konnte. »Sie lebt«, sagte er, wickelte das Tau auf und warf es auf die Böschung. »Inzwischen ist sie vermutlich auf halbem Wege nach Tyrian.« Erleichterung machte sich auf Ashes Gesicht breit, doch kurz darauf wurde sie von Besorgnis und einem anderen, schwieriger zu deutenden Gefühl abgelöst. »Ist sie verletzt?« »Nein. Du brauchst dir jetzt keine Sorgen mehr um sie zu machen.« »Warum ist sie nach Tyrian gegangen?« Achmed schenkte ihm seinen gewohnten starren Blick. »Sie lebt dort. Hat dir das niemand gesagt?« Ashe kniff unbehaglich die Augen zusammen. »Ja. Nein. Ich meine, ich hatte geglaubt, sie käme zuerst hierher. Sie lebt auch hier.« Achmed nickte und wandte sich ab, um einen Blick auf die Gärten von Elysian zu werfen. Wie Rhapsody vorhergesagt hatte, schlummerten sie. Frost hatte die Blätter verwelkt, und sogar die unterirdischen Schösslinge waren verdorrt. »Vielleicht hatte sie geahnt, dass du das annimmst, und ist nach Tyrian geritten, um dir aus dem Weg zu gehen. Sie will dich nicht mehr sehen, Ashe.« Er sah zu, wie Ashes Gesicht rot anlief. »Hat sie das gesagt?« »Mit genau diesen Worten.« »Ich verstehe.« Ashe wandte sich kurz ab und fuhr sich mit der Hand durch das unglaublich kupferige Haar. »Bist du aus diesem Grund hergekommen? Um mir das zu sagen?« Achmed schnaubte verächtlich. »Wohl kaum. Ich bin nicht dein Bote. Rhapsody hat mich gebeten, nach dem Haus und den Gärten zu sehen. Sie wusste nicht, dass du schon hier bist. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich nicht hergekommen.« Ashe nickte. »Na, wenigstens vielen Dank für die Neuigkeiten. Ist der Seligpreiser tot?« »Ja.« »Gut. Das ist gut.« Er warf wieder einen Blick auf Elysian und wirkte, als wüsste er nicht, was er als Nächstes tun sollte. »Wohin wirst du jetzt gehen, Ashe?« Ashe drehte sich wieder zu ihm um. Neue Ruhe hatte sich auf sein Antlitz gelegt. »Ich weiß nicht. Vielleicht nach Tyrian.« Achmed grinste. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« »Doch. Aber das heißt weder, dass ich dir glaube, noch dass ich deinen Rat benötige.« Der Fir-Bolg-König kicherte. Widerspruch machte Rhapsody widerspenstig bis an die Grenze der Ungebärdigkeit. Er wünschte, er könnte ihr Gesicht sehen, wenn sie das gehört hätte. »Wie du willst. Ich vermute, das Haus ist in Ordnung?« Ashe errötete ein wenig. »In Ordnung, aber nicht ordentlich.« »Ich verstehe. Bitte mach sauber, bevor du gehst. Ich hasse es, wenn sie noch wütender wird, als sie schon ist.« Ashes Miene verfinsterte sich. »Du sähest uns gern getrennt, nicht wahr?« Achmed zuckte die Achseln. »Ihr seid bereits getrennt. Such dir ein neues Ziel, Ashe. Wir haben den Dämon für dich getötet; Rhapsody hat dich geheilt und dir unglaubliche Macht verliehen. Du bist jetzt Fürbitter und Patriarch und hast beides ihr zu verdanken. Was willst du sonst noch? Such dir ein neues Leben. Wenn du noch länger in Elysian bleibst, muss ich dich mit Bürgersteuern belegen.« Er nahm seine noch immer feuchten Stiefel auf und ging zurück zum Boot. »Steuern? Erhebst du sie auch von Rhapsody? Auf welche Weise soll sie sie denn entrichten?« Achmed blieb stehen und warf Ashe einen säuerlichen Blick zu. »Ich war der Meinung, du würdest verstehen, aber warum eigentlich? Du glaubst, du seist ein Drache, Ashe, aber in Wirklichkeit bist du nur ein riesiger Blutegel. Du bist gerade der Richtige, um von Rückzahlung zu reden. Sie hat dir alles gegeben, und was hat sie dafür bekommen? Was haben wir alle für unsere Investitionen bekommen? Früher oder später wirst du sie auf der cymrischen Versammlung sehen. Eigentlich wäre es die verdammte Pflicht deiner Familie gewesen, dieses Konzil einzuberufen. Wenn sich all die Lumpen treffen, werden sie dich zweifellos zum Herrn der Cymrer machen, wofür du, wenn ich das anfügen darf, wunderbar geeignet bist. Schlechter als dein Großvater zu sein ist kaum möglich, und ich glaube, das schaffst selbst du nicht. Du bist kein Taugenichts, du bist nur nutzlos. Du hast die Möglichkeit, der größte Fels in der Brandung der Geschichte zu sein du musst bloß in den See fallen , aber du schaffst es nicht einmal, die kleinste Kräuselung zu verursachen. Du magst zwar viele Titel haben, aber bilde dir nicht ein, dich mit Rhapsody vergleichen zu können. Sie wird dich überdauern, Ashe. Wir alle werden dich überleben. Du bist wie faules Getreide oder ein böser Nachbar. Geh fort. Wir mussten diese Insel schon einmal reinigen.« Er drehte sich um und ging zum Boot. Allmählich dämmerte es Ashe. Er blickte durch die Beleidigungen auf das, was der Fir-Bolg-König ihm eigentlich sagen wollte. »Herzukommen war deine Art, ihr nahe zu sein.« Achmed ging weiter, wurde aber langsamer. »Wenn ich ihr nahe sein wollte, hätte ich sie bloß nach Tyrian begleiten müssen. Hör auf zu glauben, dass jeder dieselben Beweggründe hat wie du.« »Du vermisst sie, und du bist hergekommen, um in gewisser Weise bei ihr zu sein, oder?« »Was du glaubst, ist völlig egal, Ashe. »Früher oder später wirst auch du das verstehen.« Achmed näherte sich dem Boot und warf seine Stiefel hinein. »Du liebst sie auch, nicht wahr?« Ashes Stimme war milde und voller Verständnis. Achmed blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Eine Weile schwieg er. Als er schließlich sprach, war seine Stimme trocken, aber ohne seinen üblichen Sarkasmus. »Nein, Ashe, du liebst sie auch. Willst du etwas Lustiges hören? Sie glaubt immer noch, dass ich den Rakshas für dich umgebracht habe.« Er kletterte in das Boot, legte die Ruder in die Dollen und ruderte außer Sichtweite. Als Ashe in Tyrian ankam, war Rhapsody bereits wieder abgereist. 69 Oelendra war gerade damit beschäftigt, einen Schild zu reparieren, als sich die Tür ihres Hauses öffnete. Überraschung, Freude und Entsetzen flogen über ihr Gesucht, als Rhapsody hereinkam und Mantel und Waffen neben der Tür aufhing. Oelendra stand auf und umarmte die Königin. Erleichterung erfüllte ihre Seele und erlaubte ihr, zum ersten Mal seit vielen Wochen freier zu atmen. »Den Sternen sei Dank«, murmelte sie, vergrub das Gesicht in Rhapsodys schimmerndem Haar und zog sie noch fester an sich. »Es geht dir gut. Danke den Sternen dafür.« »Das habe ich wie üblich zweimal am Tag getan«, antwortete Rhapsody und machte keine Anstalten, sich aus der Umarmung zu lösen. »Der F’dor ist tot.« »Ich weiß«, sagte Oelendra, zog sie zum Herd hinüber und setzte sie in den Schaukelstuhl aus Weidengeflecht, den sie so mochte. »Die Nachricht hat sich rasch verbreitet. Rial kam gestern aus Roland über Bethania mit der Neuigkeit hierher. Aber niemand wusste etwas über dich zu berichten.« Rhapsody nickte und nahm den Becher an, den Oelendra ihr entgegenhielt. »Gut. Wir haben versucht, uns so weit wie möglich im Hintergrund zu halten. Was hat man sich erzählt?« »Dass Lanacan Orlando gerade mitten in seinen Riten steckte, als der Glockenturm der Basilika vom Blitz getroffen wurde. Arme Seele, er verbrannte sofort, gemeinsam mit dem Allerheiligsten der Basilika.« Ein schiefes Lächeln legte sich über das Gesicht der Königin. »Welch ein überaus großes Glück, dass der Glockenturm unbeschädigt blieb, nicht wahr?« Oelendra lachte. »Stimmt. Und was ist wirklich geschehen?« Rhapsody berichtete die Einzelheiten über den Kampf. Oelendra hörte gebannt zu, nickte hin und wieder oder zuckte zusammen, wenn die Geschichte es erforderte. Als sie fertig war, setzte Oelendra ihren Becher ab und schlang die Arme um die Knie. »Ich bin sehr froh, dich zu sehen, aber warum bist du nicht nach Elysian gegangen, sondern hierher zurückgekommen?« Rhapsody erschauerte innerlich bei dem Gedanken. »Warum sollte ich dorthin gehen? Der Ort ist von alten Erinnerungen heimgesucht.« »Nun ja«, meinte Oelendra unbeholfen, »eine dieser alten Erinnerungen wartet in großer Sorge dort auf dich.« Als Rhapsody ihr einen verwirrten Blick zuwarf, seufzte Oelendra. »Gwydion.« »Ashe ist in Elysian? Woher weißt du das?« »Ich habe ihn vor kurzem gesehen in der Nacht, als du in den Kampf gegen den Dämon gezogen bist.« »Was macht er in Elysian?« »Ich würde sagen, inzwischen pflegt er seine Angst«, antwortete Oelendra. »Er wartet auf dich und will sich vergewissern, dass du den Kampf überlebt hast.« »Ich bezweifle, dass er noch immer Angst hat«, sagte Rhapsody und nahm einen Schluck dolmwl. »Ich habe Achmed gebeten, auf dem Rückweg in Elysian vorbeizuschauen und sich zu vergewissern, dass mit dem Haus und den Gärten alles in Ordnung ist. Er wird Ashe mitteilen, dass ich überlebt habe.« »Ich glaube, er würde es gern von dir selbst hören«, meinte Oelendra. »Du solltest mit ihm reden, Rhapsody.« Rhapsody verschluckte sich an ihrem Getränk und hustete. »Nein, vielen Dank, Oelendra, das ist das Letzte, was ich jetzt brauche. Ich habe Ashe gesagt, dass ich ihn auf dem cymrischen Konzil sehe. Das ist übrigens der Grund, warum ich hier bin.« »Das cymrische Konzil?« »Ja. Es ist so weit. Ich bin hier in Tyrian, um Vorbereitungen für eine längere Abwesenheit zu treffen. Wenn ich die alten Manuskripte Gwylliams richtig verstanden habe, dann muss derjenige, der das Konzil einberuft, von dem Zeitpunkt an im Land bleiben, wo das Konzilhorn bläst, bis die ganze Versammlung vollständig ist; ansonsten könnten die Cymrer den zwingenden Wunsch herzukommen möglicherweise nicht länger verspüren.« »Ja, das ist der richtige Weg.« »Es kann mehrere Monate dauern, bis sie versammelt sind; daher muss ich hier zunächst alles in Ordnung bringen. Ich möchte mich heute noch mit dir und Rial treffen, wenn es passt.« »Wie du willst. Du willst also die Cymrer zusammenrufen?« »Ich will es wenigstens versuchen«, sagte Rhapsody und stellte ihren leeren Becher ab. Sie schüttelte den Kopf, als Oelendra auf den Kessel deutete. »Nein, danke. Ich habe nur etwas gebraucht, um meine Nerven zu beruhigen.« Sie bemerkte, dass Oelendra sie eindringlich anschaute. Sie stand rasch auf, wandte sich ab, ging zum Fenster und sah hinaus in das Licht des Vorfrühlings. Es war zu spät gewesen. Oelendra hatte alles gesehen, was sie sehen musste. Sie entschied, es leicht zu nehmen. »Du solltest zuerst nach Elysian gehen, meine Liebste. Geh zu Gwydion. Dann kann wenigstens er sich beruhigen.« Der Königin entfuhr ein hässliches Lachen. »Nein. Er muss sich damit zufrieden geben, es von Achmed zu erfahren, Oelendra. Er ist nicht mehr Teil meines Lebens, und ehrlich gesagt habe ich im Augenblick Wichtigeres zu tun. Ich finde es übrigens abscheulich, dass er seine neue Frau allein lässt, um in Elysian auf mich zu warten.« Oelendra musste husten. »Dieser Bemerkung stimme ich aus ganzem Herzen zu«, sagte sie. »Aber du solltest ihn aufsuchen, Liebes. Er wartet darauf, dir deine Erinnerungen zurückzugeben.« Rhapsody schaute sie in gelinder Überraschung an. »Hat er dir das gesagt?« »Jawohl. Sei nicht wütend auf ihn, Rhapsody. Er war sehr aufgeregt, als ich ihn zuletzt gesehen habe.« Rhapsody blickte wieder aus dem Fenster. »Ich will diese Erinnerungen nicht zurückhaben, Oelendra. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er mir ein wenig davon erzählt. Ich glaube, ich kann keine weiteren Täuschungen und Lügen mehr ertragen. Wusstest du, dass Llauron gar nicht tot ist?« »Ja, Gwydion hat es mir gesagt. Ich kann nicht behaupten, dass mich das überrascht hat.« »Mich hat es überrascht, das kannst du mir glauben. Weißt du, wie es ist, wenn man als Verteidigerin des Patriarchen das Sternenfeuer auf den Fürbitter herabruft auf das Oberhaupt der Religion, mit der das Volk von Tyrian und ich so eng verbunden sind und ihn bei lebendigem Leibe verbrennt? Wie es ist, wenn die beiden Männer, für die ich am meisten getan habe, seit ich in dieses Land gekommen bin, mich auf unerträgliche Weise für ihre eigenen Ziele missbrauchen?« Rhapsody drehte sich wieder zu ihrer Lehrerin um, und Oelendras Herz gefror beim Blick in die Augen der Königin. Sie glühten in grünem Feuer und funkelten vor Tränen der Wut. »Du hast keine Ahnung, was diese kleine Dämonenjagd mich gekostet hat, Oelendra.« Oelendra stand auf. »Ich glaube doch.« »Nein, du weißt es nicht«, spuckte Rhapsody aus. Sie umfasste das Fensterbrett und versuchte, die Kontrolle über sich zu behalten. Sie musste noch vieles erledigen, bevor sie ihren Ängsten freien Lauf lassen konnte. Oelendra trat hinter sie und packte sie bei den Schultern. »Ich weißt sehr wohl, wie es ist, jemanden, den man aus ganzem Herzen liebt, an einen F’dor zu verlieren, Rhapsody. Ich weiß, dass du Jo vermisst, aber Gwydion ist noch da. Du musst ihm erlauben, dir deine Erinnerungen zurückzugeben, wie schmerzhaft sie auch sein mögen, denn ohne sie fehlt dir etwas.« Rhapsody schüttelte Oelendras Hände ab und drehte sich langsam um. Die Seele der Kriegerin erzitterte unter dem Blick der verheerenden Verzweiflung. »Mir wird immer etwas fehlen, Oelendra. Ich kann Ashe jetzt nicht sehen. Bitte hör auf damit. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich mit ihm erst auf dem cymrischen Konzil treffe, und ich habe nicht vor, mein Wort zu brechen. Lass mich in Ruhe.« Sie wandte sich ab und ging zur Tür. »Kann ich dich heute Nachmittag bei mir erwarten?« »Sag es mir«, bat Oelendra mit ruhiger Stimme. »Sag es mir, Rhapsody.« Rhapsody wusste, dass Ausflüchte ihr nichts nutzten. »Ich kann nicht.« »Kannst du nicht, oder hast du Angst davor?« »Beides.« Oelendra streckte schweigend die Arme aus. Rhapsody stand eine Weile vor der Tür und hatte bereits die Hand auf die Klinke gelegt. Dann schüttelte sie den Kopf. »Bitte nicht, Oelendra. Wenn du mich jetzt tröstest, werde ich es nicht durchstehen. Ich brauche räumlichen Abstand.« »Dann sag es mir von dort drüben aus.« Oelendra ging zurück zum Feuer, setzte sich in den Schaukelstuhl und deutete auf einen kleinen hölzernen Schreibtischstuhl neben dem Fenster. »Berichte es mir so, als gäbest du mir einen Lagebericht. Oder als plantest du das Frühlingsfest oder teiltest mir neue Pläne für die Kinder mit.« Die Königin wurde bleich. »Setz dich, Rhapsody«, sagte Oelendra sanft, aber bestimmt. Benommen gehorchte Rhapsody. Oelendra wartete geduldig und schweigend. Schließlich schaute Rhapsody auf ihren Schoß und presste die Hände zusammen, bis das Blut aus den Knöcheln wich. »Es besteht die Möglichkeit, dass ich schwanger bin«, sagte sie mit hohler Stimme, die sich kaum über ein Wispern erhob. Oelendra atmete langsam aus. Sie verbarg ein Lächeln, denn sie wusste, welche Freude diese Nachricht für Gwydion bedeuten und wie begeistert Rhapsody sein würde, sobald sie die Wahrheit erfuhr. Sie musste bloß die falsche Auffassung überwinden, dass ihr Mann mit einer anderen verheiratet war. »Grund genug, es ihm sofort zu sagen, meine Liebe«, sagte sie mitfühlend. »Er hat ein Recht, es zu wissen.« »Es ist nicht sein Kind.« Oelendra war wie vom Donner gerührt, doch nach außen hin ließ sie sich kaum etwas anmerken; sie kniff nur die Augen zusammen. »Oh. Wer ist dann der Vater?« Rhapsody hob langsam den Blick und sah Oelendra starr an. »Der F’dor.« Jetzt war es an ihr zu beobachten, wie ihre Freundin unkontrolliert zu zittern begann. »Es tut mir Leid, Oelendra, aber du wolltest es ja unbedingt wissen.« Oelendra stand aus ihrem Stuhl auf und lief vor dem Kamin auf und ab. Sie versuchte, ihr Gesicht vor Rhapsody zu verbergen. Als sie ein wenig von ihrer Selbstsicherheit wiedergewonnen hatte, ging sie hinüber zu der Königin, hockte sich vor sie und ergriff ihre Hände. »Erkläre mir das, Rhapsody. Was ist geschehen?« Rhapsody schaute fort. »Ich wünschte, ich könnte es mit Gewissheit sagen. Der Dämon konnte in meinem Inneren sprechen; Achmed und Grunthor haben ihn nicht gehört. Er sagte mir, dass der Rakshas Ashes Platz eingenommen und ... und ... seinen Samen in mich gepflanzt habe. Der F’dor wusste über die Nacht Bescheid, in der es ... es passiert sein könnte. Er wusste vieles, was er eigentlich nicht hätte wissen dürfen, Oelendra, und als er das Wort aussprach, unter dem die Saat wächst, habe ich es in mir gespürt. Er sagte, der Same sei mit seinem Blut durchtränkt und nun nicht mehr menschlich wie die anderen, sondern dämonisch.« »Glaubst du ihm das alles?« »Nicht unbedingt«, antwortete Rhapsody ruhig. »Aber es ist schwer, es beiseite zu wischen, weil er Dinge gewusst hat, die er kaum je hätte erraten können.« »Aber es wäre nicht unmöglich?« Sie dachte nach. »Nein, vermutlich nicht. Seitdem ist mir andauernd übel, und ich habe Schmerzen.« »Das könnten die Nerven oder die Angst sein oder beides. Ich habe mich selbst schon einmal so gefühlt.« Rhapsody verlor beinahe die Geduld. »Ja, Oelendra, es könnte sein. Es könnte aber auch sein, dass ich das Medium bin, durch das der F’dor auf die Erde zurückkehrt.« Sie stand auf, ging zum Kleiderständer und nahm ihren Mantel ab. Oelendra gelang es nicht, ihr zuzusehen. »Ist es wirklich möglich, Rhapsody? Dämonen sind vollendete Lügner. Ein F’dor kann das kleinste Stückchen Wahrheit nehmen und daraus etwas Schreckliches bauen, indem er mit deinen dunkelsten Ängsten spielt. Könnte er dich vielleicht einfach davon überzeugt haben, obwohl es unmöglich ist?« Rhapsody gürtete ihr Schwert und kam zu Oelendra zurück, die noch immer am Boden hockte. Sie kniete sich neben die Meisterin und legte ihr eine Hand auf die Wange. Oelendra drehte sich kurz darauf um und schaute ihr in die Augen. Sie zuckte unter dem zusammen, was sie sah. »Ich weiß, dass du es nicht glauben willst, aber es ist durchaus möglich«, sagte Rhapsody leise. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher wird es für mich. Aber es spielt keine Rolle, Oelendra. Jetzt kann ich die Antwort noch nicht erfahren. Wenn ich sie wüsste, könnte ich nicht weitermachen. Also hilf mir bitte, wie du es immer getan hast. Ich muss das Konzil hinter mich bringen und die Wiedervereinigung der Cymrer zu einem glücklichen Ende führen. Und vorher muss ich mich vergewissern, dass Tyrian in guten Händen ist. Dabei kannst du mir helfen. Wenn diese beiden Dinge erledigt sind, werde ich nach der Wahrheit suchen. Aber eines kann ich dir versichern, Oelendra, und ich gebe dir mein Wort und meine Seele dafür: Wenn es stimmt und ich dieses dämonische Kind in mir trage, wird es nicht zur Welt kommen. Es wird dieses Land nicht wieder sehen. Vorher sterbe ich. Ich habe schon alles vorbereitet. Nachher treffen wir uns mit Rial. Vielen Dank für den dol mwl.« Sie küsste die ältere Frau, stand auf und ging zur Tür. »Rhapsody?« Sie drehte sich um und sah, dass die alte Kriegerin aus dem Fenster schaute. »Ja?« Oelendra hatte den Blick starr in die Ferne gerichtet. »Ich liebe dich, als wärest du meine eigene Tochter. Ich wünsche mir mehr, als du dir vorstellen kannst, du wärest es wirklich. Pass auf dich auf.« Rhapsody sah sie einen Moment lang an, dann ging sie so leise, wie sie gekommen war. 70 Mit dem Wissen, dass Tyrian in guten Händen war, brach Rhapsody nach Nordosten zu den Bolg-Landen auf. Die Erde um sie herum reckte und streckte sich in der Erleichterung des kommenden Tauwetters; Büschel aus gefrorenem Gras und nackter Erde lugten hier und dort hervor. Die Bäume in den Wäldern und die Felder bereiteten sich darauf vor, winzige Knospen als Vorboten der neuen Blätter auszutreiben, die sich im Frühling entfalten würden, und die widerstandsfähigsten frühen Schneeglöckchen blühten bereits überall. Rhapsody betrachtete diese Anzeichen nachdenklich. Sie bemühte sich, all das wahrzunehmen, was sie schon immer als schön empfunden hatte, und es in der Erinnerung zu speichern, denn vielleicht würde sie all das nie wieder sehen. Es jetzt zu sehen war nicht dasselbe wie damals, als sie sich daran so erfreut hatte. Es war eine freudlose Zeit. Ihr Bauch war zwar noch glatt und geschmeidig, aber er verkrampfte sich mit jedem Tag mehr, und das wenige Essen, das sie herunterbekam, blieb oft nicht im Magen. Außerdem waren ihre Alb träume gewalttätiger und eindringlicher denn je geworden. Sie hatte Visionen des Seligpreisers, der lachte, als der Rakshas sie wieder und wieder vergewaltigte und mit Ashes Stimme sprach, sich dann in ihr zusammenrollte und seine entsetzliche Wiedergeburt erwartete. Selbst die zahmeren Träume von Ashe und der Zeit mit ihm, von ihrer sanften, beruhigenden Liebe endeten immer mit seiner Verwandlung in das Geschöpf des F’dor. So sehr sie es auch versuchte, konnte sie doch den Albtraum, der sich an sie geheftet hatte, nicht abschütteln. Daher schlief sie nur gerade so lange, wie es für ihr Überleben nötig war. Sie wurde in ihrer Erscheinung und Rede abgehärmt und konnte manchmal keine zusammenhängenden Sätze mehr formen oder einfache Gedanken zu Ende denken. Rial war besorgt gewesen und hatte versucht, sie vom Alleinreisen abzuhalten. Oelendra hatte sich angeboten, sie zu begleiten, doch sie hatte abgelehnt und nur gesagt, bald werde sie wieder lange und gut schlafen. Vor ihrer Abreise hatte sie allen Leuten aus Tyrian, die ihr viel bedeuteten, Lebewohl gesagt: Sylvia und den Dienern im Palast, Rial, den Bewohnern der Stadt Tyrian, den Soldaten und lirinschen Kindern, ihren adoptierten Enkeln und vor allem natürlich Oelendra. Ihre Lehrerin hatte sich aller gut gemeinten Ratschläge enthalten und mit ihr nur geschwiegen oder über belanglose Dinge geredet, ins Feuer geschaut und unter den Sternen gesessen. Die ältere Kriegerin hatte Rhapsodys Hand gehalten und Rhapsodys Gebete für sie gesungen, als ihr die Stimme versagt hatte. In der Nacht vor ihrer Abreise hatte Rhapsody die Tür zu ihren Gemächern in Newydd Dda geöffnet und davor die alte Frau angetroffen, wie sie ein Bündel im Arm gehalten hatte. Sie hatte es eilends in Rhapsodys Hände gedrückt und die Einladung, doch bitte hereinzukommen, abgelehnt. »Ich will, dass du das bekommst, meine Liebe«, hatte sie als Antwort auf Rhapsodys fragenden Blick gesagt. »Es war ein Geschenk von Pendaris an mich, und es steckt mehr Liebe darin, als du dir vorstellen kannst. Ich hoffe, es wird dir genauso viel Trost bringen, wie es mir gebracht hat. Wir werden uns auf dem Konzil wieder sehen.« Rhapsody hatte den Mund aufgemacht, weil sie etwas hatte entgegnen wollen, doch bevor die Worte zwischen ihren Lippen hervorgedrungen waren, war Oelendra schon gegangen. Rhapsody war zum Balkon ihres Zimmers getreten und hatte der Kriegerin nachgesehen, deren breite Schultern sich wie unter einem großen Gewicht gebeugt hatten. Dann hatte sie das Paket zum Bett getragen und es geöffnet. Darin hatte sich die rote Seidenrobe mit dem Aufgestickten Bild eines Drachens befunden, die Oelendra ihr in der ersten Nacht im Hause der Kriegerin überlassen hatte. Der Magen hatte sich ihr umgedreht; das Bild hatte sie an Ashe erinnert. Eilig hatte sie die Robe wieder zusammengepackt und sie vorsichtig außer Sichtweite in ihre Satteltasche gesteckt. Anborn hatte sie besucht, ihr nützliche Informationen über die verschiedenen cymrischen Häuser und ihre Anführer zuteil werden lassen und ihr erfrischende und grausam ehrliche Einblicke in die zu erwartenden Feindseligkeiten und Rivalitäten zwischen ihnen gewährt. Rhapsody hatte es wie immer angenehm gefunden, mit ihm zu reden. Als er gegangen war, hatte er sie tröstend in den Arm genommen und ihr einen herzlichen Lebewohlkuss gegeben. Dann war er einen Schritt zurückgetreten und hatte sie belustigt angesehen. »Ich vermute, ich muss erst die Hochzeit abwarten, bevor ich mit dir ins Bett gehen kann.« »Natürlich«, hatte sie kess geantwortet. »Das ist der einzige ehrenhafte Weg für mich. Ansonsten könntest du befürchten, dass ich dich nur benutze und dich als gebrochenen und verzweifelten Mann dann vor dem Altar verlasse. Ich weiß, dass dich der Schmerz verzehren würde.« Sein Gelächter hatte ihr noch lange, nachdem er sich von ihr in jener Nacht verabschiedet hatte, in den Ohren geklungen. Als sie nun über die Felder Avonderres und des westlichen Navarne ritt, vertrieb sie die Gedanken an die Menschen, die sie liebte, aus ihrem Kopf. Der F’dor war tot, aber sie hatte mehr Angst denn je. Nach einer Woche harten Reitens erreichte sie schließlich bei Sonnenuntergang jenen Ort, den sie gesucht hatte. Es war eine abgelegene Lichtung am Fuß der Hügel, die sie vor einem Jahr auf einer Wanderung um einen stillen See entdeckt hatte. Als sie die Höhle fand, spürte sie, wie der Wind auffrischte und angenehm durch ihre Haare blies. »Willst du mich sehen?«, flüsterte sie. »Ich will meine Freundin immer sehen«, ertönte die vielgestaltige Stimme warum und luftig. »Komm herein, Schöne.« »Ich komme möglicherweise mit einem Kind, und wenn es so ist, dann ist es von einem Dämon gezeugt«, flüsterte sie mit so leiser Stimme, dass niemand außer der Drachin sie hören konnte. Es war etwas, dem sie nun erst zum zweiten Mal Ausdruck verlieh. Sie würgte an den Worten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Weine nicht, Schöne«, antwortete die harmonische Stimme. »Ich liebe dich.« Oelendra zuckte beim Anblick von Ashes Gesicht zusammen. Er war offenbar im Palast gewesen und abgewiesen worden. »Es tut mir Leid, mein Lieber«, sagte sie sanft und öffnete die Tür ihres Hauses, um ihm Eintritt zu gewähren. »Sie ist fort. Komm herein und ruh dich eine Weile aus.« Ashe wich zunächst ihrem Blick aus. »Nein, vielen Dank, Oelendra. Ich muss sie finden. Bitte sag mir, wo sie hingegangen ist, damit ich mich sofort wieder auf den Weg machen kann.« »Komm herein«, sagte Oelendra befehlend in derselben Stimme, der sie sich bedient hatte, um Rhapsodys Geheimnis aus ihr herauszupressen. »Ich habe dol mwl auf dem Feuer; das ist ein Getränk, das Rhapsody seit ihrer Kindheit liebt. Vielleicht macht es dir das Herz ein wenig leichter.« Ashe seufzte widerstrebend und zog seinen Kapuzenumhang aus; dann folgte er ihr in das Innere des Hauses. Er setzte sich in den Schaukelstuhl aus Weidengeflecht vor dem Feuer, während Oelendra ihm einen Becher mit dem dampfenden Getränk füllte. »Du musst zur Küste gehen, Gwydion«, sagte sie, während sie ihm den dol mwl hinhielt. »Die Zweite Flotte wird bald als Antwort auf das Konzilhorn eintreffen. Als Oberhaupt des Hauses von Neuland ist es deine Pflicht, sie zu begrüßen und zum Großen Gerichtshof zu führen.« Ashes verwirrende blaue Augen öffneten sich weit über dem heißen Dampf, der aus dem Becher strömte. »Sie beruft das Konzil ein?« »Ja.« Oelendra betrachtete sein Gesicht. »Beunruhigt dich das?« Er nahm einen tiefen Schluck und füllte den Mund mit dem müden Getränk. Als es ihm die Kehle hinunterrann, wärmte es wunderbar. »Nur ein bisschen.« »Warum?« Ashe schaute ins Feuer. Es brannte ruhig, ohne eigenen Willen, so anders als in Rhapsodys Nähe. »Weil ich erwarte, dass das Konzil viele Dinge in ihrem und unser aller Leben ändern wird. Mehr als alles andere auf der Welt will sie nur ein Zuhause im Wald finden und ihre Tage in Ruhe verbringen. Wenn ich ihr etwas schenken könnte, wäre es genau das. Aber es wird niemals so sein. Sobald die Cymrer sie sehen, werden sie Rhapsody zum Idol machen. Man wird sie andauernd belästigen und stören. Ich will sie mit niemandem teilen, Oelendra; sie verdienen Rhapsody nicht mehr als ich. Wenn es um Aufmerksamkeit und Liebe geht, werde ich ganz am Ende stehen.« Oelendra nickte wissend. »Es ist bestimmt jetzt sehr schwierig für dich.« »Schwierig?« Sein Lachen war beinahe ein Bellen. »Ich fürchte, das beschreibt es nicht einmal annähernd. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, mir jemandem wie ihr verheiratet zu sein, und sie weiß es nicht einmal? Sie hasst mich, Oelendra.« Er klang eher verängstigt als verbittert. »Nein, Gwydion, das tut sie nicht. Sie liebt dich. Sie steht unter großem Druck und kennt die Wahrheit nicht.« Ashe nickte und nahm noch einen Schluck, von dem er hoffte, er werde den würgenden Knoten in seinem Hals lösen. »Es ist wahrscheinlich nicht gerade hilfreich für sie, dass jeder Dummkopf auf der Welt sie gnadenlos verfolgt, bedrängt und wie ein Hirsch in der Brunftzeit gegen alle anderen kämpft.« »Zweifellos«, sagte Oelendra bedeutsam. »Bist du einer von ihnen?« Ashe setzte den Becher mit einer heftigen Bewegung ab. »Natürlich. Ich habe nie verleugnet, dass ich ein Dummkopf bin. Sie ist nach Ylorc zurückgegangen. Verdammt, ich komme gerade von dort. Wenigstens habe ich alle Abkürzungen gefunden, sodass der Rückweg schneller sein wird.« »Hör mir zu, Gwydion«, sagte Oelendra streng. »Geh nicht nach Ylorc; geh zur Küste. Sie will dich jetzt nicht sehen. Warte, bis das Konzil vorbei ist. Dann wird sich alles geklärt haben, und du weißt, woran du bist.« Ashe stand auf. »Du verlangst von mir, dass ich Monate warten soll, bis ich meine eigene Frau sehe? Oelendra, ich fürchte, du verstehst mich nicht. Ich habe mich zwanzig Jahre lang vor der Welt verborgen und immer befürchten müssen, dass mir der nächste Augenblick Tod und Verdammnis bringt. Es war eine unbeschreibliche Folter. Aber ich würde mich lieber sofort wieder in diesem Zustand befinden, als die gegenwärtigen Qualen noch länger auszuhalten. Wenn sie endlich einverstanden sein wird, mich zu sehen, wird sie bereits Anborn oder Achmed geheiratet haben oder was die Götter verhüten mögen gegen ihren Willen von einem ihrer Freier entführt worden sein.« »Das bezweifle ich«, warf Oelendra ein. Er stand bereits neben dem Kleiderständer und nahm seinen Mantel vom Haken. »Vielleicht nicht; es ist mir egal. Ich kann nicht mehr. Ich könnte dieses Geheimnis für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen, wenn ich der Meinung wäre, dass es besser so ist, aber das stimmt nicht. Eines Tages wird sie herausfinden, was wir uns versprochen haben. Wenn sie dann schon einen anderen geheiratet hat, wird es sie umbringen. Es wird wie bei Llauron sein, nur noch viel schlimmer.« Die alte Krieger in seufzte. »Jetzt weißt du, warum sie Lügen so hasst, Gwydion. Ich biete dir meinen Rat noch einmal an, und es liegt an dir, ob du ihn annimmst. Lass es. Warte noch ein wenig. Was sind ein paar Monate für einen Mann, der praktisch unsterblich ist?« »Es ist ganz einfach unerträglich«, erwiderte Ashe, während er die Tür öffnete. »Vielen Dank, Oelendra. Ich werde sie von dir grüßen.« Er verbeugte sich höflich vor ihr und zog die Tür leise hinter sich zu. Oelendra sah die geschlossene Tür an und seufzte traurig»Ich fürchte, dazu wirst du nicht einmal kommen.« In der Stille eines Traumes trafen sie sich an einem nebligen, unwirklichen Ort: Rhapsody und die große Drachin Elynsynos. Alle Geräusche, alle Schwingungen, alles Weben der Welt war zu Stille verstummt, erstickt von der Macht des Wyrm über die Elemente. Rhapsody konnte vor lauter weißen Wolken fast nichts erkennen, konnte kaum die großen, leuchtenden Augen sehen, kaum das prismatische Glitzern auffangen, das durch die dunstige Magie zu ihr drang. Sie erkannte undeutlich, dass sie durch ihre geschlossenen, durchscheinenden Augenlider hindurch auf den sicheren Ort hinter ihren quälenden Nachtmahren blickte, den die Drachin für sie zwischen der Welt des Traumes und der Wirklichkeit erschaffen hatte. Und an diesem Ort erzählte sie der Drachin von ihren größten Sorgen. Was ist, wenn ich versage? Die warmen, schillernden Augen des Wyrm verschwanden, als Elynsynos zwinkerte. Das ist möglich. Trotz dieser Antwort verspürte Rhapsody keine Angst und keine Panik im Herzen. Es war, als hätte die Drachin auch alle Gefühle von diesem ätherischen Ort verbannt und nur solche Worte zurückgelassen, die zwar auf einer geschriebenen Seite stehen mochten, aber im Herzen keinen Widerhall fanden. Ich habe den Tod einer Welt überlebt. So etwas will ich nicht noch einmal mitmachen. Ich weiß. Durch den Dunst bewegte sich das Gesicht der Drachin fort, wurde ferner. Rhapsody versuchte, an den wogenden Wolken vorbeizuschauen, doch es verblieb nur ein schwacher Umriss der Drachin. Ein Versagen könnte das Ende der Zeit nach sich ziehen, flüsterte sie wortlos. Ich darf nicht einmal daran denken. Die Wärme in den fernen Augen strahlte durch den Nebel. Du befindest dich an dem Ort, wo der Beginn der Zeit sein Ende hat. Und das Ende der Zeit wird auch seinen Anfang hier nehmen. Du kannst es nicht ändern, auch wenn du in der Lage bist, es zu verzögern. Warum? Warum ich? Warum wurde mir diese erdrückende Verantwortung übertragen? Die verschwommenen Umrisse der Drachin lösten sich auf. Von ihrer Stimme verblieb nur ein Wispern im Nebel. Weil du nicht allein bist. In jener Nacht schlief Rhapsody tief und traumlos in Elynsynos’ Armbeuge. Sie erwachte viele Stunden später erfrischt, aber noch immer gequält. Der große Wyrm betrachtete sie mit Mitgefühl und Besorgnis. »Etwas Böses wächst in dir, meine Schöne«, sagte die Drachin ernst und richtete den vielfarbigen Blick auf Rhapsodys verweintes Gesicht. »Genau da.« Die Klaue fuhr ihr sanft über den Bauch. »Es fühlt sich falsch und unnatürlich an, aber mehr kann ich dir darüber nicht sagen.« Rhapsody nickte. »Ich weiß.« Sie kämpfte sich auf die Beine. »Ich gehe jetzt.« Die Drachin schüttelte den Kopf. Dabei flogen Sandwolken durch die Höhle und stachen in Rhapsodys wunde Augen. »Nein. Bleib bei mir. Leiste mir Gesellschaft. Was in dir wächst, ist gleichgültig. Ich will dir helfen, was auch immer geschehen wird.« Die Sängerin lächelte. »Ich weiß. Ich weiß, dass du das tun wirst. Du hast es schon getan. So viel Schlaf wie in der letzten Nacht habe ich seit vielen Wochen nicht mehr gehabt.« »Es ist seltsam, etwas Wachsendes in sich zu tragen, das nicht von der eigenen Art ist«, sagte Elynsynos und zog Rhapsody wieder in ihre Armbeuge. »Als ich Merithyns Kinder getragen habe, war das eine traurige Zeit für mich. Der Leib, in dem ich gefangen war, war so klein wie deiner, und die Kinder bewegten sich wie Maulwürfe in der Erde. Sie haben mich getreten und gestoßen und wollten herauskommen. Es war schrecklich. Ich war so einsam und habe jeden Tag gewartet, Ausschau gehalten und mir gewünscht, er wäre bei mir. Er ist nie zurückgekommen, meine Schöne. Er wusste nicht einmal, dass er mich geschwängert hatte.« Rhapsody streichelte den schuppigen Unterarm. »Es muss schrecklich gewesen sein. Es tut mir so Leid für dich, Elynsynos. Ich wünschte, ich hätte bei dir sein können. Die Lirin haben ein Lied, das sie den Frauen in den Geburtswehen vorsingen, um ihnen die Schmerzen zu nehmen.« Ihre Augen umwölkten sich bei der Erinnerung an Arias Geburt. Sie schüttelte den Kopf und vertrieb das grässliche Bild aus ihren Gedanken. Die Vorstellung, dass ihr eigenes Schicksal nun mit jener Erfahrung untrennbar verbunden sein könnte, empfand sie als unerträglich. »Aber wer wird für dich singen, meine Schöne?« Sie zwang die Tränen zurück. »Niemand«, sagte sie leise. »Niemand wird es tun.« »Aus diesem Grund ist es besser, sich mit einem Drachen zu paaren«, meinte Elynsynos klug. »Dann kannst du vielleicht Eier legen wie normale Tiere. Es tut etwas weher, wenn sie herauskommen, aber es ist schneller vorbei.« Rhapsody lachte. »Ich werde es mir merken«, sagte sie und blinzelte rasch. »Das werde ich auf alle Fälle beim nächsten Mal tun, falls ich überlebe. Schließlich habe ich mir einen Drachen als Gemahl ausgesucht, und er ist mit mir einverstanden.« Anborns Gesicht tauchte vor ihren rasch trocknenden Augen auf. Die schillernden Drachenaugen zwinkerten. »Gut. Dann werde ich vielleicht bald Kinder meiner eigenen Abstammungslinie hier haben, mit denen ich spielen kann.« »Vielleicht.« Rhapsody schaute fort. Sie sagte der Drachin nichts über ihre Vereinbarung mit Achmed. Rhapsody blieb einige Tage bei Elynsynos. Sie schlief friedlich und gewann in dem magischen Nest ihre Stärke zurück. Sie sang der Drachin die Meereslieder vor, welche die Lirin ihr beigebracht hatten, und ertrank beinahe in Elynsynos’ wehmütigen Tränen. Sie zeigte ihr auch die Krone. Elynsynos war von dem Diadem begeistert und versuchte, die wirbelnden Sterne zu fangen, die Rhapsodys Kopf umkreisten. Sie war bezaubert wie ein kleines Kind von einem neuen Spielzeug. Die Drachin war erfreut, dass Rhapsody das cymrische Konzil einberufen wollte, und verbrachte viele Stunden damit, ihr Geschichten über die frühen Tage der Ersten Flotte zu erzählen. In jener Zeit hatte sie großen Gefallen an den Fertigkeiten der Cymrer gefunden, auch wenn sie sehr um Merithyn getrauert hatte, von dem sie oft sprach. Rhapsody lächelte jedes Mal, wenn Elynsynos dieselbe Geschichte wiederholte. Merithyns und Elynsynos’ Zeit als Liebende war kurz gewesen und die Lebensspanne eines Drachen lang. Daher gab es nur eine begrenzte Anzahl an Geschichten, von denen jede ein gut gehüteter Schatz war. Immer wenn die prismatischen Augen bei der Erinnerung einen sanften Glanz bekamen, dachte Rhapsody an Anborns zynische Bemerkungen über seine Großeltern. Offenbar hatte er Elynsynos nicht gut gekannt. Wie auch immer ihre Gefühlswelt beschaffen sein mochte, war es doch unmöglich, die tiefe Liebe zu übersehen, die diese Drachin für ihren verschwundenen Seemann empfunden hatte. Ihre Heftigkeit bereitete Rhapsody Herzschmerzen. Die Schwefelhitze des Drachenatems stachelte ihre Erinnerungen an, und in ihrem Kopf erhob sich das Bild einer anderen Nacht vor langer Zeit, die sie im Schatten eines knisternden Lagerfeuers verbracht hatte. Deshalb habe ich gesagt, du könntest ein Problem haben, hatte Ashe gemeint. Er war in den Nebelfalten seines Umhangs verborgen gewesen und hatte sie eindringlich über das Feuer hinweg angesehen. Wenn du eine Cymrerin einer späteren Generation bist, dann wirst du sehr lange zu leben haben und dich zweifellos dem. gegenüber sehen, was auch die anderen verkraften müssen: der Aussicht zuzusehen, wie deine Liebe alt wird und stirbt, in einem Zeitraum, der dir vorkommt wie ein Augenblick. Und wenn du eine Cymrerin der Ersten Generation bist, dann ist es noch viel schlimmer, denn wenn du nicht getötet wirst, lebst du ewig. Stell dir vor, wie es ist, immer wieder jemanden zu verlieren, der dir nahe ist: deine Geliebten, deinen Mann, deine Kinder... Hör auf. Als ihr Ashes Worte über die Unsterblichkeit in den Ohren klangen, fragte sich Rhapsody, ob es ihr wohl auch bestimmt war, dieselben glücklichen Momente mit ihm immer wieder durchleben zu dürfen. Doch dann erinnerte sie sich an die Worte des Dämons. Du wirst eine wunderbare Mutter abgeben, Rhapsody, wenigstens während sich das Kind in deinem Leib befindet. Es ist eine Schande, dass du die Geburt nicht überleben wirst. Vielleicht war die Einsamkeit der Unsterblichen doch keine so schreckliche Sache. Ich bezweifle, dass ich lange genug lebe, um das Ende der Ereignisse mitzubekommen, und unsterblich bin ich erst gar nicht. Achmeds Stimme sprach zu ihr durch die Dunkelheit ihrer Erinnerungen. Er ist verdammt, genau wie die verseuchte Erde. Sie taumelt durch den Äther auf ein Ziel zu, das nicht einmal die Götter kennen, und trägt tief in ihrem Herzen das erste und letzte Schlafende Kind die Last, deren Geburt das Ende ihrer Mutter sein kann. Genau wie ich, dachte sie mürrisch. Als Rhapsody schließlich das Nest im verlorenen Meer verließ, um auf ihre letzte Mission zu gehen und die Menschen dieses neuen Landes zu vereinigen, weinte Elynsynos. Nach einigen Wochen wilder, gedankenloser Reise traf die Sonne Rhapsody an, wie sie auf dem Kamm des cwm saß. Der Große Gerichtshof des cymrischen Konzils war früher ein Gletschersee gewesen, gebildet von gefrierendem Wasser und tauendem Eis an den Hängen der Zahnfelsen, als diese noch jung waren. Der Gletscher hatte die Senke des Gerichtshofes als Gefäß für die schmelzenden Tränen der großen Mauer aus kriechendem Eis ausgehöhlt. Als sich das Land erwärmte, war der See entweder in die Erde gesunken oder hatte sein Wasser in den warmen Himmel geschickt und das Amphitheater in den Bergen zurückgelassen. Es war ein Ort tiefer Kraft. Rhapsody spürte sie, als sie auf dem Kamm saß, in die Senke schaute und zusah, wie die Morgendämmerung den Gerichtshof mit rosigem Licht erfüllte. Während sie sich im Nest der Drachin aufgehalten hatte, war der Frühling ins Land gezogen. Als sie in die Welt zurückgekehrt war, war der Schnee geschmolzen, und die Bäume erwarteten das Aufbrechen der Knospen. Die Staubwüstenei, die im Sommer den Grund der Senke beherrschte, war jetzt üppig begrünt. Frisches Frühlingsgras bildete einen grünen Teppich auf dem Grund, der sich bis zu den terrassenförmigen Wänden hochzog. Der seit Jahrhunderten verlassene Ort wartete wie in Vorfreude. Als das hellgoldene Licht des oberen Sonnenbogens den Horizont berührte, schaute Rhapsody hinter sich, denn sie spürte, wie ein Schatten auf ihre Schulter fiel. Es waren die anderen beiden Drittel der Drei. Sie hatten nicht vergessen herzukommen. Schweigend standen sie hinter ihr und sahen sich um. Rhapsody blieb sitzen und beobachtete, wie das Morgenlicht auf die seltsamen Felsvorsprünge fiel, welche das natürliche Rund des Gerichtshofes bildeten. In Gwylliams Manuskripten waren die beiden bedeutendsten Merkmale dieses Ortes beschrieben. Das erste wurde die Rednerkanzel genannt; dabei handelte es sich um eine hohe Kanzel aus Kalkstein, die vor Jahrmillionen von einem Gletscher geformt worden sein musste. Die unregelmäßige Erosion hatte einen gewundenen Weg geschaffen, der sich spiralförmig bis zur Spitze zog, auf der ein Redner aufrecht stehen und von der ganzen Versammlung gesehen werden konnte. Außerdem war der Redner überall im Gerichtshof deutlich zu hören, was der außergewöhnlichen Akustik des Ortes zu verdanken war. Die zweite Besonderheit war als Rufersims bekannt. Es war eine lange und breite Steinplatte, die völlig flach war, aber einen einzelnen Vorsprung in Form einer Kanzel aufwies und auf dem höchsten Hügel der Umgebung über zwei großen Felsen lag. Von diesem Aussichtspunkt aus überblickte man die ganze orlandische Ebene sowie den gesamten Gerichtshof und hatte die Schatten der Zahnfelsen im Rücken. Es war die beste Stelle, von der aus man einen Ruf entsenden konnte, der weit über das Land hallen und sogar in der Erde selbst weiter schwingen sollte. Alle, deren Vergangenheit und Zukunft mit dem Hörn verbunden war, wären in der Lage, diesen Ruf zu hören. Rhapsody erschauerte. Es war ein langer, gefährlicher Weg bis zu diesem unsicher wirkenden Ort, und ein noch längerer Weg nach unten, wenn man dort das Gleichgewicht verlor. Die Senke selbst war gewaltig; sie war größer als die Arena in Sorbold. Was die Natur hier nicht vollbracht hatte, hatten die Cymrer vollendet. So viele Jahrhunderte waren vergangen, seit sie zum letzten Mal als Versammlungsort gedient hatte, dass es inzwischen kaum mehr möglich war herauszufinden, was den Naturkräften und was Menschenhand zuzuschreiben war. Eine Reihe aufsteigender Simse war rund um die Senke in den Fels geschlagen und folgte den Gletscherlinien. Hier konnten Tausende Platz finden. Aus einigen Bereichen an den Seiten der Senke waren Keile herausgeschlagen, durch die man den Gerichtshof betreten und verlassen konnte. Obwohl dieser Ort überwuchert und von allem außer der Zeit selbst vergessen war, handelte es sich doch um den idealen Platz für eine Zusammenkunft. Die Luft hier war schwer vor Feuchtigkeit und bösen Vorahnungen. »Fertig, Herzogin?« Das tiefe Brummen von Grunthors Stimme zerschnitt die Luft und zerschlug die tiefe Stille. »Ich glaube ja«, sagte sie und schaute nach Osten, wo sich der untere Rand der Sonne gerade über den Berg erhob. »Das ist ermutigend«, meinte Achmed mit einem schiefen Grinsen. »Du bist die Ruferin und weißt nicht einmal, ob du es sein willst? Warum machen wir es dann überhaupt?« »Weil es an der Zeit ist«, erwiderte Rhapsody mit einem tiefen Seufzer, während sie aufstand. »Roland wie auch Sorbold stehen kurz vor einem Krieg. Die Lirin sind wiedervereinigt, aber es gibt keinen einzelnen Anführer, der im Namen der Menschenreiche einen Vertrag mit ihnen garantieren kann. Der einzige Ort, der nicht kurz vor einem Blutvergießen steht, ist Ylorc.« »Ironie des Schicksals.« »Ich finde, das is traurig«, sagte Grunthor mit einem melancholischen Unterton. »Da hab ich nun ein Heer, auf das ich stolz sein kann, und keiner will mit mir spielen.« Rhapsody klopfte ihm auf die Schulter. »Sieh es einmal so, Grunthor: Wenn die Cymrer einen Herrscher und eine Herrscherin wählen und das genauso gut machen wie bisher, wird es jede Menge Gelegenheiten für bewaffnete Auseinandersetzungen geben, und zwar mit einem größeren, mächtigeren Gegner. Dann hast du ganz Roland, Sorbold, Tyrian und vermutlich auch die Neutrale Zone zum Spiel.« »Oje.« »Wir sollten allmählich mit der Vorstellung beginnen«, sagte Achmed und reichte Rhapsody die schmale Kiste, in der sich das cymrische Hörn befand. Rhapsodys Augen glitzerten im klaren Morgenlicht. »Wenn ich mich nicht irre, ist das Doktor Achmeds reisende Schlangenschau.« Sie warf einen Blick auf Grunthor; das war eine Anspielung auf eine Bemerkung, die er vor langer Zeit in der Wurzel gemacht hatte. Der Bolg-Riese grinste. Sie öffnete die Kiste und nahm das Hörn vorsichtig heraus; dann kletterte sie langsam und vorsichtig auf die Spitze des Rufersimses. Die steinerne Kanzel warf im Morgenlicht einen langen Schatten. Achmed und Grunthor folgten ihr hinauf. Einen Moment lang standen die Drei ehrfürchtig da. Der Ausblick vom Sims nahm sie gefangen. Vom Observatorium im höchsten Gipfel der Zahnfelsen aus hatte die ganze Welt unter ihnen gelegen. Auch hier, vom Rand der Senke aus, erstreckte sich eine ungeheure Weite vor ihnen. So weit das Auge reichte, gab es fruchtbares Land, braune bis schwarze Erde. Es war ein verblüffender Anblick. Rhapsody kam sich sehr klein vor. Ein starker Wind fegte über die Ebene unter ihnen und das Gesims. Es war ein klärender Wind, der den Geruch von Hoffnung und Schicksal in sich trug. Rhapsody schloss die Augen, hob das Hörn an die Lippen und blies hinein. 71 Ein silberner Ton, wie von einem Jagdhorn, aber voller im Klang, zerriss die Luft und die Stille des Morgens. Er hallte von den Zahnfelsen und den niedrigeren Hügeln wider, rollte in einer Klangwelle über das Land und breitete sich aus wie Kräuselungen auf einer Wasseroberfläche. Rhapsody spürte, wie der Ton durch die Senke strömte. Er durchdrang die Sängerin und bildete ein Band zwischen ihren Füßen und dem Stein, auf dem sie stand. Plötzlich begriff sie, warum sie innerhalb von Canrif bleiben musste. Der Rufer war das Instrument, durch welches das Hörn in die Macht des Gerichtshofes eindrang. Es war wie der Ruf, den sie auf dem Wind vor langer Zeit zu Ashe geschickt hatte, um ihn zu ihr nach Elysian zu holen. Das Hörn verkündete einen zwingenden Befehl, welcher an die Person gebunden war, die es blies. Der Rufer war die Landmarke, wie das Leuchtfeuer in Elysian. Durch den Verbleib des Rufers innerhalb der Senke wurden die Schwingungen und der Ruf bewahrt, bis alle Cymrer eingetroffen waren. Sie waren ein unsichtbarer Faden, dem alle folgen konnten, um Canrif zu finden, denn sie verbanden sich untrennbar mit dem Herzen der Sängerin. Rhapsody schloss die Augen. Sie war mit dem Ruf verschmolzen, und ihr Geist folgte ihm, während er durch die Luft und Erde fuhr, über die orlandische Ebene hallte und bis in die hügeligen Steppen und Wüsten von Sorbold drang. Er tönte durch die Strömungen des Tar’afel und bis in die Wälder von Gwynwald und Tyrian, eilte über das Meer und stieß tausend Meilen entfernt mit den Wellen am Strand von Manosse zusammen. Der Ruf verbreitete sich wie ein Befehl des Königs in jeder Seele, die sich im alten Land durch ihr Versprechen an das Hörn gebunden hatte vor all den schrecklichen Reisen, den Wanderungen durch die Wildnis, dem neuen Reich, vor Tod und Krieg. Das große Hörn schallte nur zu Anfang aus eigener Kraft durch die Luft, dann schien der Ton zu verblassen, so wie es bei jedem Hörnerschall üblich war. Doch Rhapsody wurde von der Welle davongetragen und hörte, wie der Ton neue Formen annahm. Er besaß eine uralte Magie, die aus ihm selbst hervorströmte. Er ging von Hand zu Hand im Klimpern der Münzen, im Hämmern der Axt gegen den Baum, im Ruf des Eseltreibers und dem Knallen der Peitsche. Er rumpelte durch die Huftritte der Boten und wisperte in den Pfeilen der Jäger. Er wohnte im Knirschen des Sattels, des Mastes, der Radachse, dem Grunzen der Tiere, dem Feilschen der Kaufleute, dem Klirren der Schmieden und Knattern der Segel und trug den Ruf des Erbauer-Königs in jeden Blutstropfen, der ihm vor mehr als tausend Jahren beim Auszug Treue geschworen hatte. Der Ruf wogte und flog, reichte über den gesamten eroberten Kontinent und forderte die Erfüllung des Eides. Jeder Ziegel, der in seinem Namen gelegt worden war, jeder für ihn eingeschlagene Nagel, jedes Artefakt, jedes Monument hallte von dem Ruf wider und brummte und summte. Als die Nacht hereinbrach, erstickte die gebieterische Stille alles: Wölfe, Wind und Wasser. Der Ruf aus Gwylliams Hörn vertrieb die Erschöpfung der vom Alter erstarrten Überlebenden der frühen Reisen. Müde Augen blinzelten plötzlich ihren Irrsinn fort. Kraftvoller Atem kehrte in die Lungen zurückgetretener Patriarchen zurück. Steife Finger dehnten sich und sehnten sich nach dem Gefühl alter Schwerter. Jene, die den ursprünglichen Eid geleistet hatten, spürten ihn eher, als dass sie ihn hörten. Sie fühlten die Gegenwart des Königs. Sie erhoben sich, unterbrachen ihr Mahl, ihre Beratungen, ihr Bad. Als ob der Geruch und der Geist des Königs mitten unter sie getreten wäre, wurde das Gefühl vom Vater auf den Sohn wie mit einer Geste weitergegeben, nach einem Augenblick der Stille, der Erinnerung an die verlorene Vergangenheit. Es brauchte eine tiefe Gemütsruhe, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie alle auf die Pilgerschaft gerufen wurden. Jene aber, die keine Blutsbande mit den Cymrern hatten, fragten sich verwundert, was die Erde für einen kurzen Augenblick in ihrem Lauf angehalten hatte ... Während Rhapsodys Visionen am Beginn der Schallwelle dahinflogen, in den Ziegelglöcklein sangen, in den Eggen raspelten, wurde Achmed von dem Gefühl, dass sich die Luft in seiner Umgebung neu zusammensetzte, beinahe wahnsinnig. Die dünnen Vorhänge aus Wind, die er für gewöhnlich sah und durchschritt, wurden zu dichtem, ätherischem Seetang, der ineinander verschlungen war, an ihm klebte und zerrte und ihn atemlos machte, sodass er schwamm, wo er eigentlich hätte gehen sollen. Der Klang war nicht nur eine Kräuselung, sondern eine Fühlbarkeit, als wäre die Senke zu einem riesigen Magen geworden, zu einem Wyrm, der alles in sich einsaugte. Rhapsody war der leuchtende Mittelpunkt, der Köder, und Achmed trieb unstet und in der Größe von Plankton unter dem Ruf des Großen Siegels dahin, der womöglich weiter als das Tageslicht reichte. Auch Grunthor spürte den Laut eher, als er ihn hörte, doch er reagierte nicht auf das Pulsieren in der Luft. Er folgte dem Widerhall durch die Erde. Wie ein Beben, das sich den Weg von einer Verwerfung bahnt, kroch er durch die Ebene eine sich ringelnde Schlange, begraben und aufgescheucht. Er raste und hämmerte, schmetterte durch das Gebirge hinter ihnen, laut, kreischend, als ob jede Stimme, jedes Geräusch aus den Bergwänden geklaubt und in die Luft geschleudert worden sei, doch keinen Ort hatte, an den es fliehen konnte. Rhapsody wirkte fern und verloren. Achmed krümmte sich zusammen und lehnte sich gegen einen Stein der Plattform. Grunthor hielt sich die Hände gegen die Ohren; er hatte die Augen fest geschlossen, als die Stille in ihn eindrang. Der Ruf des Horns war verwirrend und eindringlich gewesen, doch das Warten auf Antwort bedrückte noch ärger. Es verwandelte Achmeds Blick von Wasser zu Eis. Rhapsody spürte, wie jenseits des Meeres, im entferntesten Dunkel, welches der Klang erreicht hatte, hunderte verbliebener Cymrer, die tatsächlich noch auf das Große Siegel geschworen hatten, den Atem und das Leben anhielten, als ob sie mitten auf ihrem Weg in die alltägliche Zukunft von einer unsichtbaren Peitsche der Vergangenheit zum Stillstand gezwungen worden wären. Einige starben tatsächlich aus Angst oder vor Erleichterung. Der Rest atmete weiter, doch die allgegenwärtigen Gespräche wurden nicht mehr weitergeführt. Alle fünfzig Generationen wandten sich wie ein Mann um und wollten ihre Schulden begleichen. Dies war seit tausend Jahren erst das zweite Mal, dass sie den Ruf gehört hatten. Die ursprünglichen Cymrer hörten den Ruf als Erste, doch die Söhne lauschten den Vätern, die Töchter den Müttern und spürten die Antwort, die sie zu geben hatten, nur Sekunden später. Jede der fünfzig Generationen empfand den Ruf als so drängend wie die Bedürfnisse, Hunger und Durst zu stillen, Wasser zu lassen, zu schlafen oder sich dem Tod zu beugen. Die Familien mit direkterer Abstammung fühlten die bevorstehende Reise und machten sich einmütig an die Vorbereitungen. Sie wussten, was sie erwarten konnte. Einige hatte man sogar darauf vorbereitet, dass der Ruf möglicherweise erschallen würde und zuvor Grauen und Untergang angekündigt hatte; dennoch war es ihnen bestimmt, auf ihn zu antworten. Sie standen so tief in der Pflicht des uralten Treueschwurs, dass ihnen keine andere Möglichkeit des Weiterlebens blieb. Bastardlinien, vermischte Abstammungen, Einzelne ohne Überlieferungen und Interesse an ihrer Herkunft wurden gleichermaßen berührt. Das Blut begehrte auf und schwoll in den Adern an, war wie wolkensanfte Blitze, zernagte jedes Zögern, jeden Widerstand, sodass nur Tage oder Stunden zwischen dem unwissenden Abkömmling und seiner Reise standen. Überall auf dem Kontinent machten sich Männer, Frauen und Kinder auf die Pilgerfahrt. Sie gehorchten einem toten Herrscher. Die jüngste aller cymrischen Linien hörte den Ruf als Letzte. Sie waren nicht langlebig, und die meisten von ihnen trennte daher ein Abstand von fünfzig Generationen von den Ereignissen, doch sie hatten zwei Vorteile. Der erste war ihre Kultur. Sie waren von Natur aus Nomaden und Aasesser und verspürten wenig Widerstand gegen den Ruf. Der zweite war die Nähe. Sie hausten bereits in den Katakomben unter den Zahnfelsen. Das cymrische Erbe war das höchste und wunderbarste Geheimnis der Finder. Sie stammten von denjenigen ab, die in Gwylliams letzten Tagen von den Bolg gefangen genommen worden waren. Ihre Langlebigkeit, ihre blauen Augen zeugten von ihrer Herkunft. Sie waren die unglücklichen Opfer gewesen, die Canrif nicht mehr rechtzeitig hatten verlassen können, als die Bolg den Berg überrannt hatten. Tief in den Schächten, nahe der Hand, bei den Ambossen, in den Herbergen und Höhlen, in denen sie hausten, verspürten die Finder den Ruf gleich einem silbernen Blitz, der ihnen bis in die Knochen fuhr. Wie ein Mann legten die Bastardkinder der cymrischen Linie ihre Werkzeuge oder ihr Essen beiseite, wandten sich von ihren Arbeiten ab und machten sich auf den Weg ins Sonnenlicht des Vorgebirges. Wie blinde Fische blinzelten sie und schützten die Augen vor der Helligkeit. Stunden nachdem sie das Hörn geblasen und das Große Siegel eröffnet hatte, befand sich Rhapsody immer noch in Verzückung und folgte dem Ruf. Achmed war wieder zu sich gekommen. Er hatte sich vom Zwang des Hörnerschalls befreit, war jedoch noch empfindsam genug für dessen Macht, um das Vakuum, das es als Zeichen für die Cymrer hinterlassen hatte, schmerzhaft in den Ohren zu spüren. Grunthor war von der Lautstärke des Instruments überrascht, bemerkte aber kaum etwas Unangenehmes, bis die gerufenen Cymrer allmählich antworteten. So tief war ihre Schuld, so überwältigend ihr Eid, dass selbst die treuen Toten dem Ruf folgten. Überall auf und in der Ebene und den Bergen kratzten, zitterten und regten sich die Knochen. In der gewaltigen, windstillen und reglosen Stille erstreckte sich das Gefühl des Riesen wie die Aussicht auf ein endloses, schweigendes Meer, in dem eine einzelne Flosse wie ein Mast über die Oberfläche ragt. Grunthors Aufmerksamkeit war ungeheuerlich geschärft. Tausend kleine Kräuselungen vertrockneter Knochen verbreiteten sich durch die Särge und Massenbegräbnisse oder schwammen wie Treibholz unter Sanddünen und Erdhügeln hindurch. Zum ersten Mal begriff er das Ausmaß des Todes, welcher die Hinterlassenschaft der Cymrer darstellte. Als seine Sinne ihm wieder die wirkliche Stille über der Erde vermittelten, da eine Auferstehung jenseits der Macht des Horns lag, erhaschte er aus den Augenwinkeln einen Blick auf Bewegungen über den Felsklippen. Er starrte nach Osten in das blendende Morgenlicht. »He, Dank und abermals Dank, Euer Hoheit, hast mir grade grässliche Kopfschmerzen gemacht.« Rhapsody sah ihn zärtlich an, als die Strahlen der aufsteigenden Sonne seinen Kopf berührten. Er erglühte in dem Licht wie eine mythische Firbolg-Gottheit. »Tut mir Leid, Grunthor. Sie werden bald vergehen.« »Wie bald?« Sie sah sich um, während zuerst das Bild des fernen Ufers von Manosse aus dem Blickfeld ihres inneren Auges schwand und dann die Küste von Avonderre sowie die Neutrale Zone, Tyrian und Gwynwald, die orlandische Ebene und Sorbold folgten und schließlich nur noch der Ausblick zu ihren Füßen übrig blieb. Sie zuckte die Achseln und legte das Hörn auf der Steinkanzel ab. »Ich schätze, in zwei Monaten.« Bei dem Klang des Hornes, das über die Bolglande schallte, rannten die Einwohner des einstigen Canrif verängstigt umher, versteckten sich in ihren Hütten und Grotten und fürchteten, das Zeitalter des Todes sei zurückgekehrt. Die Bolg hasteten in großer Sorge umher und machten sich bereit, wieder in die Tiefen der Berge zurückzuweichen, wo sie sich in den Jahrhunderten vor der Ankunft von Achmed und Grunthor verborgen hatten. Sie warteten auf die Heere der Menschen, die ihre Dörfer ein weiteres Mal verwüsten und die lange erwartete Rache für den Sieg über die rolandischen Legionen üben würden. Von ihrem hoch gelegenen Aussichtspunkt über der Senke und den Bolg-Landen schaute Rhapsody ihnen traurig zu. Sie beobachtete die Panik der Firbolg, die sich über die ganze Heide zerstreuten und ängstlich in den Höhlen der Zahnfelsen Unterschlupf suchten. Mit ihrem Herzen war sie bei ihnen. Das Letzte, das sie mit dem Hörnerschall hervorrufen wollte, war Furcht. Doch einige Momente, nachdem der Klang verebbt war, sah sie Schatten aus den Höhlen hervorkriechen und wie verzaubert in das helle Sonnenlicht treten. Es waren höchstens einige hundert, die der Ruf des Hornes hervorgelockt hatte. Sie sahen sich um, als hätten sie sich verirrt. Schließlich wandten sich alle der Senke des Gerichtshofes zu und begaben sich dorthin. Sie versuchten, das Bedürfnis zu stillen, das in ihnen aufgestiegen war. »Was ist da los?«, fragte Rhapsody Achmed, der auf seine Untertanen herunterschaute. Ein Schimmern trat in die Augen des Fir-Bolg-Königs, und ein Lächeln kroch über sein Gesicht. »Ich glaube, deine geladenen Gäste sind eingetroffen. Hier sind die ersten Cymrer, die deinem Ruf gefolgt sind.« Er schaute hinüber zu Rhapsody. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelten. Grunthor hatte sich bereits an den Abstieg vom Sims gemacht. Die beiden anderen folgten ihm langsam und vorsichtig, denn sie wollten keinen Stein auf dieser Klippe aus dem Gleichgewicht bringen. Als sie den Boden der Senke erreicht hatten,, wartete Rhapsody, während der König und der Sergeant-Major die benommenen Firbolg befragten, warum sie den Ruf als zwingend empfunden hatten. Es gab keinerlei Aufzeichnungen über Bolg, die aus Serendair angereist waren; daher war es sehr unwahrscheinlich, dass sie Abkömmlinge einer der Flotten waren. Schließlich kehrten Achmed und Grunthor zurück. Rhapsody eilte auf sie zu, um zu erfahren, was sie herausgefunden hatten. »Also? Woher sind sie gekommen?« Achmed sah verärgert aus. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass es Cymrer oder wenigstens deren Abkömmlinge sind. Als die Bolg in Canrif eindrangen, gab es immer noch einige Hartnäckige, die Gwylliams Festung und die Ländereien, um die sie sieben Jahrhunderte lang gekämpft hatten, nicht aufgeben wollten. Falls du es nicht schon erraten hast: Sie haben gegen die Bolg verloren. Es sind Abkömmlinge der Cymrer, die von den Bolg versklavt wurden. Ich nehme an, die Gefangenen haben nicht mehr lange gelebt, nachdem sie den Ahnen dieser wenigen Versprengten das Leben geschenkt hatten.« Rhapsody nickte. »Sie nennen sich die Finder, weil sie einer uralten Weisung unterstehen. Als Gwylliam hinter einer verschlossenen Tür, die niemand aufbrechen konnte, auf dem Boden der Bibliothek lag und das Leben aus ihm strömte, waren die Sprachröhren geöffnet, die zur Unterwerfung dieses Berges benutzt wurden. Die Bolg mit cymrischem Blut wussten, dass seine Stimme einen Befehl aussprach, dem sie sich nicht verweigern konnten. Ihre Vorfahren hatten vor Jahrhunderten geschworen, dem König in Zeiten der Not bedingungslos beizustehen. Aber sie konnten ihn nicht finden und begriffen nicht, was er wollte, denn das Hörn lag in der Bibliothek neben ihm. Seit all den Jahren, seit all den Generationen warten sie darauf, dass die Stimme wieder ertönt und ihnen sagt, was sie tun sollen. Außerdem haben sie die Neigung, cymrische Überbleibsel zu suchen, denn sie hoffen bei jeder neuen Entdeckung, dass es das ist, um was die Stimme gebeten hatte.« »Wenn sie Firbolg und Cymrer sind, sollte man sie vielleicht zur Ehrenwache verpflichten. Wäre das für dich in Ordnung, Grunthor?« »Wäre bestimmt ’ne Ehre für sie, Euer Liebden. Werd ihnen aber trotzdem meine ›EinfalscherSchrittundihrseidheuteAbendmeinNachtisch‹Rede halten.« »Sie sollten fürs Erste die einzigen sichtbaren Bolg sein, wenn die Cymrer eintreffen«, bemerkte Achmed. »Was müssen wir als Nächstes tun?« »Wir warten. Ich werde unsere ersten Gäste begrüßen.« Der König nickte. »Ich möchte einen Vorschlag machen.« Rhapsody hatte bereits einige Schritte auf die Bolg zugemacht. Sie blieb stehen und drehte sich um. »Ja?« Er sah sie von oben bis unten an. Sie steckte in ihrer üblichen Arbeitskleidung, einem weißen, langärmligen Batisthemd, einer weichen, lohfarbenen Wildlederweste sowie einer braunen Hose. »Du hast dich beschwert, dass das Leben in den Bolg-Landen dir nie die Gelegenheit gibt, eines deiner teuren, extravaganten Kleider zu tragen. Du hast meine Staatskasse ihretwegen um viel Geld erleichtert. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, eines davon anzuziehen.« Ihr Gesicht erhellte sich. »Welch ein Spaß! Welches sollte ich als Erstes tragen?« »Also, wenn ich auch mal was sagen darf: Ich mag das Braune oder das Grüne, aber lass das mit dem Roten erst mal, bis mehr Leute da sind. Willst bestimmt nicht, dass ein paar von den Bolg aus der Ferne glauben, du bist verletzt. Macht dich zu ’nem guten Ziel.« Rhapsody seufzte. Plötzlich vermisste sie Tyrian, wo man sie nie als mögliche Nahrung angesehen hatte, was immer man dort von ihr auch halten mochte. Mit jedem Tag trafen neue Reisende ein. Einige ritten zu Pferd in die Senke oder fuhren in Wagen, doch die größte Gruppe bildeten die Wanderer. Wie die verwirrten Firbolg hatten sie keine Ahnung, wo sie sich befanden oder warum sie den Zwang empfunden hatten herzukommen. Sie waren Teil der cymrischen Diaspora, der großen Gruppe von Abkömmlingen aus den cymrischen Häusern ohne Wahlrecht, die durch Anwyns und Gwylliams Krieg auseinander gerissen worden waren. Ein weiterer unschätzbarer Verlust, dachte Rhapsody, als sie ihnen in die Augen blickte und ihre Angst und Verwirrung erkannte. Wie viele Generationen cymrischer Kinder waren durch den Konflikt von ihren Häusern getrennt worden und hatten eine Bevölkerung hervorgebracht, die nichts von ihrer eigenen Abstammung wusste? Sie grüßte sie freundlich, hieß sie willkommen und brachte sie in den Zelten und Hütten unter, die Achmed auf ihren Wunsch hatte errichten lassen, während sie in Tyrian gewesen war. Beinahe sofort ergab sich eine Schwierigkeit. Aus Gründen, die Rhapsody nicht verstand, schienen sich die nervösen Cymrer genauso zwanghaft zu ihr hingezogen zu fühlen wie zu dem Gerichtshof. Sie standen mit offenem Mund und glasigen Augen vor ihr und konnten den Blick nicht von ihr wenden. Sie folgten Rhapsody unablässig und bildeten schließlich große menschliche Herden, die nur dann auseinander stoben, wenn Grunthor dazwischen trat. Achmed fand all das außerordentlich belustigend. Rhapsody hatte wie üblich eine Erklärung dafür gefunden, die nichts mit ihrer Ausstrahlung zu tun hatte: Sie war der Meinung, dass es sich dabei um eine Auswirkung des Hörnerschalls handelte. Er hatte die Lage selbst zu verantworten. Auf seinen Vorschlag hin zeigte sich Rhapsody jeden Tag in einem verblüffenderen Kleid. Die Kleider waren aus schimmernder Seide, glänzendem Satin und wundervoll gewebtem Leinen aus Sorbold und Canderre gefertigt. Die Kleidung hob ihre Schönheit hervor und trug so dazu bei, dass die Neuankömmlinge von ihr bezaubert waren. Die Krone aus wirbelnden Sternen auf ihrem Kopf machte alles nur noch schlimmer. Für den Fir-Bolg-König war die Nutzbarmachung dieser Macht ein interessantes Experiment. Rhapsodys Ausstrahlung könnte ein nützliches Werkzeug werden, wenn das Konzil nicht den gewünschten Verlauf nähme. Und daran hegte er keinen Zweifel. Außerdem hatte Achmed die Macht des ersten Eindrucks erkannt. Rhapsody war diejenige, die jeden Neuankömmling begrüßte, ihn willkommen hieß und den meisten erklärte, warum sie hier waren. Sie hinterließ bei den früheren Cymrern einen guten Eindruck und den Wunsch, zum selben Volk wie Rhapsody zu gehören. Auf diese Weise sicherte sie sich den Erfolg bei ihrer Mission, diese reizbare Bevölkerung zu vereinigen. Die Diaspora umfasste jedoch nur einen kleinen Teil aller Cymrer. Allmählich zeigte sich, dass nur etwa dreißigtausend der häuserlosen Abkömmlinge erschienen waren. Das bedeutete, dass der größte Teil der Gruppe noch fehlte. Die Häuser der Ersten, Zweiten und Dritten Flotte trafen sich vor den Zahnfelsen und festigten ihre lockeren Bündnisse. Zweifellos warteten alle darauf, dass die Versprengten aus ihren eigenen Reihen noch eintrafen, damit sie die Senke in so großer und beeindruckender Zahl wie möglich betreten konnten. Von Anfang an lagerten sie auf dem orlandischen Plateau. Ihre Feuer erinnerten in der Nacht an ein Belagerungsheer. Dieser Vergleich gefiel Rhapsody nicht, doch weder Achmed noch Grunthor schienen sich Sorgen zu machen. »Irgendwie ziemlich theatralisch«, meinte der riesige Firbolg-Kommandant. »Als ob sie irgendjemanden beeindrucken wollten. Ganz schön kindisch, wenn ihr mich fragt.« »Bist du wirklich sicher, dass du diese Dummköpfe wiedervereinigen willst?«, fragte Achmed Rhapsody ungläubig. »Warum?« »Nun, bei denjenigen, die schon hier sind, ist der Grad der Dummheit bereits so hoch, dass ich es gefährlich finde, das Schicksal noch weiter herauszufordern, indem wir so viele Hohlköpfe gleichzeitig an diesem Ort versammeln. Ich befürchte, wir werden in einen hirnlosen Abgrund gesogen, aus dem wir nicht mehr entkommen können.« Rhapsody lachte. »Die Cymrer sind nicht dumm, sondern ungebärdig«, sagte sie und versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Außerdem sind sie jetzt hier. Wir müssen das Beste daraus machen.« »Ich wüsste schon, was wir mit ihnen machen können, aber wahrscheinlich findet ihr meinen Vorschlag nicht so toll«, meinte Grunthor düster. »Ich will erst gar nicht nachfragen.« »Sie als Übungsziele benutzen.« 72 An der Grenze von Ylorc Es war ein schöner Tag, an dem man das Leben genießen konnte, fand Tristan Steward, als sein Kriegspferd, dessen kastanienbraunes Fell und die Mähne unter der metallenen Rüstung verschwanden, den Gipfel eines Hügels in der orlandischen Steppe erreichte. Der Wind kündete vom nahenden Sommer und war warm und wohlriechend; die Erde duftete üppig. An der Spitze von hunderttausend starken Männern und zehntausend Berittenen zu stehen war das großartigste Gefühl, das er je verspürt hatte. Es war eine mächtige, beinahe geschlechtliche Erregung. Er hatte den Eindruck, die Erde selbst bewege sich im Einklang mit ihm. Heftige Schwingungen und der ohrenbetäubende Lärm seines vorrückenden Heeres begleiteten ihn, und die Landschaft hinter ihm war geschwärzt von seinen Mannen. Je näher das Kontingent den Manteiden, den Zahnfelsen, kam, desto größer wurde seine Erregung. Während etliche der Männer, die in seiner Nähe ritten, und sogar viele Fußsoldaten genau wie er auf den Ruf des cymrischen Hornes reagierten, glaubte die überwiegende Mehrheit, die nicht von serenischer Abstammung war, man wolle die Bolglande überrennen. Anfangs war es seltsam gewesen, die Verwirrung zu beobachten, welcher die wenigen cymrischen Soldaten offenbar ausgesetzt waren. Der Gerichtshof war den Legenden zufolge ein Ort großer Kraft, an dem das Land selbst die Gesetze des Konzils durchsetzte, die ein Minimum an Höflichkeit und gutem Benehmen vorschrieben und es den vielen Parteien des cymrischen Königreichs ermöglichten, Verhandlungen über Frieden und die Errichtung eines cymrischen Reiches zu führen. Daher war es für all jene Männer von cymrischem Geblüt quälend, in vermeintlich kriegerischer Absicht mit Tristan Steward zu reiten. Erfreut hatte der Herrscher entlang der transorlandischen Verbindungsstraßen verlassene Wachtposten bemerkt, die sonst mit rohen Gestalten besetzt waren, welche die Grenze schützten. Seit er die Steppe betreten hatte, die zu den Bergen führte, hatte er keinen einzigen Firbolg mehr gesehen. Die Ebene wirkte noch öder, als er erwartet hatte. Eine Seuche konnte eine wunderbare Waffe sein. Er wandte sich an McVickers, seinen Marschall, der mit ernstem Gesicht neben ihm ritt. »Wie weit noch, McVickers?« »Morgen sollten wir in Sichtweite des Gerichtshofes kommen, Herr.« »Ausgezeichnet«, sagte Tristan Steward und tätschelte sein Pferd. »Wir werden unser Lager außerhalb des Gerichtshofes aufschlagen. Diejenigen, die an dem Konzil teilnehmen, werden dann entlassen, damit sie sich dazugesellen können. Sorge dafür, dass alle Truppen wissen, wo sie sich nach dem Konzil versammeln sollen.« »Ja, Herr.« Tristan seufzte vergnügt. Er legte den Kopf zurück, damit die Sonne sein Gesicht bescheinen konnte. Alles in allem war es ein schöner Tag. Nach Monaten quälenden Wartens dämmerte endlich der Tag des Konzils herauf. Es war unmöglich, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. In der Nacht war es in der Senke plötzlich ganz still geworden; der Lärm zehntausender Stimmen war zu tiefem Schweigen verstummt. Der Sonnenuntergang war in dieser letzten Frühlingsnacht besonders prächtig gewesen. Die Feuerfarben der herannahenden Nacht hatten sich in einer letzten blutroten Wolke verdichtet, die zu sanftestem Rosa geworden war, bevor sie hinter dem Rand der Welt in der Finsternis verschwand. Der Himmel war zu Azurblau verblasst, dann zu Kobaltblau und schließlich zu tintigem Schwarz. Zaghaft hatten sich die Sterne gezeigt, als ob Rhapsodys Abendgebet sie allmählich hervorgelockt hätte. Wie jede Nacht hatte die Senke ihren Vespergesang aufgenommen; das war der einzige Zeitpunkt während der langen, lärmenden Tage, an dem die Cymrer jedes Mal zur Ruhe kamen und verzückt lauschten, wie die Sängerin die Sterne in der Abenddämmerung begrüßte. Als in dieser Nacht der letzte süße Ton verweht war, schoss ein Schauer aus Sternschnuppen herab und entlockte der Menge ein erstauntes Seufzen. Kurz darauf war ein tiefes, gemeinsames Luftholen aus den Lagern auf der anderen Seite der Zahnfelsen zu hören. Die cymrischen Häuser hatten das Omen ebenfalls gesehen und begriffen es. Jedermann begriff es tief in seinem Innern. Es war Zeit zusammenzukommen. Es war eine ruhige Nacht. Rhapsody mied ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Kessel und hielt Wache auf dem Feld. Sie beobachtete, wie die Feuer in den äußeren Lagern gelöscht wurden eines nach dem anderen. Achmed und Grunthor waren bei ihr geblieben; Rhapsody sah sie zärtlich an. Grunthor saß mit seinem gewaltigen Schwert auf den Knien da und hatte die Ellbogen aufgestützt. Das Kinn auf die Fingerspitzen gestützt, dachte er angestrengt nach. Die Bürde, den kleinen Stadtstaat zu überwachen, zu dem der Gerichtshof geworden war, war ihm zugefallen. Er hatte diese Aufgabe ausgezeichnet gelöst, was insofern erstaunlich war, als dass der König ihm als Truppe nur einige Finder-Soldaten zur Verfügung gestellt hatte. Achmed stand neben ihm und hatte den Blick ebenfalls auf die Lager der cymrischen Häuser und die lange Karawane der Reisenden gerichtet, die sich mit jedem Tag erneuerte. Er hielt das Gesicht in den Wind; diesmal hatte er es nicht hinter seinen Schleiern versteckt, doch sein Ausdruck war steinern. Dennoch wusste Rhapsody zumindest teilweise, was er gerade dachte. Es war diese Gruppe von Cymrern, die für seine unangenehme Stimmung verantwortlich war, denn sie stellte eine Bedrohung dar. Es waren die stolzen Abkömmlinge der Meeresreisenden, die Städtebauer, die Architekten von Basiliken und die Gelehrten einer großen Zivilisation. Sie waren aber auch die Kinder von kriegerischen Anführern, die vergewaltigenden und zerstörenden Heere, die schweigenden Verräter der Menschheit. Zwar hatte Rhapsody Vertrauen zu ihnen als Volk, doch Achmed hegte Zweifel daran, ob es vernünftig war, sie wieder zusammenzubringen und aus ihren Reihen einen Thronfolger zu bestimmen. Er traute diesen Leuten nicht, auch wenn er im Grunde einer von ihnen und vielleicht älter als sie alle war. Aber Rhapsody war mit den Bolg in ähnlicher Weise verfahren und hatte unerwarteten Erfolg gehabt. Vielleicht hatte sie auch in diesem Fall wieder Recht. Seine Worte zu ihr und ihre Antwort erklangen in seiner Erinnerung. Es waren Worte aus einer lange vergangenen Nacht, bevor sie ausgezogen war, um einem verirrten Wanderer zu helfen, in dessen Armen sie gelandet war. Es ist vermutlich besser, wenn du nicht einmal versuchst, es zu verstehen. Du hast vermutlich Recht. Ich glaube, es ist besser für mich, einfach zu entscheiden, wie es sein soll, und dann wird es so sein. Es war Rhapsody gewesen, die sie beide zu dem gemacht hatte, was sie nun waren. Sie hatte ihn einen Pfadfinder genannt, und er hatte die Gabe des zweiten Gesichts erhalten Grunthor, stark und zuverlässig wie die Erde selbst, hatte si gesagt. Die Zuneigung in ihrer Stimme hatte die Seele des Sergeanten mit der Erde vermählt. Sie war der Optimismus gegen seinen Zynismus, die Hoffnung gegen seine Zweifel. Wir si wirklich zwei Seiten derselben Person, hatte sie einmal gesagt Was immer bei der Versammlung am nächsten Morgen h rauskommen würde, würde ihr Verhältnis zueinander nich beeinflussen. Allerdings wusste sie nicht, dass er beinahe di‹ Erinnerung an sein früheres Leben verloren hatte, bevor si in es eingetreten war, ihm einen neuen Namen gegeben und ihm den Weg aus seiner Vergangenheit gewiesen hatte. Er wollte nicht in jene Zeit zurückkehren. Rhapsody saß noch immer Wache, als die ersten Strahlen der Morgensonne sie berührten. Der Himmel war schon seit einiger Zeit heller geworden und hatte das Muster der Blaufärbungen vom Abend spiegelverkehrt wiederholt. Die tintenhafte Dunkelheit war einem reichen Kobaltblau und dann einem sanften Azurblau gewichen, das den herannahenden Morgen ankündigte. Sie schloss die Augen und bot ihre Brust den Sonnenstrahlen dar, die sie mit dem Ton ihres Liedes erfüllten. Sie lächelte; es war ela, und in ela sang sie das Liebeslied der Lirin an den Morgen. Sie hörte, wie in der Ferne eine Stimme in ihren Gesang einfiel, und erkannte sie. Oelendra war zum Gerichtshof gekommen. Dann hörte sie, wie eine Stimme nach der anderen das Lied aufnahm, bis es zehntausende waren, welche die aufgehende Sonne priesen. Mit Oelendra waren die cymrischen Lirin gekommen Rhapsodys eigene Untertanen und die Abkömmlinge derjenigen, die lieber in Tyrian als in den großen Städten Anwyns und Gwylliams gelebt hatten. In ihrer kurzen Zeit als Königin hatte Rhapsody das Morgenlied dem Lande Tyrian beigebracht, und der Wald hatte es die Menschen gelehrt. In noch größerer Ferne erkannte sie weitere Stimmen, die sie nie zuvor gehört hatte. Sie nahmen ihre Melodie auf und fügten die eigene hinzu. Die Modulation der fernen Sänger passte wunderbar zu Rhapsodys eigener, und ihr Herz hüpfte bei der Erkenntnis, dass auch die Liringlas gekommen waren. Sie waren von Manosse über das Meer gesegelt oder kamen aus den Ländern jenseits von Hintervold. Dann hob ein letzter Chor vom Ende der gewaltigen Karawane zu singen an, die sich den Weg durch die Felder von Bethe Corbair nach Ylorc gebahnt hatte. Die Lieder dieser Sänger besaßen eine uralte Harmonie, die bis in Rhapsodys Seele reichte und sie zum Klingen brachte, wie es nie zuvor der Fall gewesen war. Sie wandte sich von der Sonne ab, beschirmte die Augen und versuchte herauszufinden, woher diese wundervollen Klänge kamen, doch sie sah lediglich ein Meer von Menschen, die in einer langen, schlangengleichen Prozession auf die Zahnfelsen zumarschierten. Als schließlich der letzte Ton erstarb, setzte eine andere Musik ein. Trompeten schmetterten über die Ebene, und in der Senke nahmen die Hörner den Ruf auf und kündigten die Ankunft der cymrischen Häuser an. Es war ein erregender Klang. Die vollen Bläsertöne ließen Rhapsody erschauern. Es war ein Gefühl, das sie bisher nur ein einziges Mal verspürt hatte. Alte Erinnerungen wurden wach Erinnerungen an das alte Land und den Tag, an dem die jüngste Prinzessin in der elysianischen Festung des Seren-Königs geboren worden war. Im ganzen Land waren Boten zu jedem kleinen Dorf ausgesandt worden, damit die frohe Nachricht rasch verbreitet wurde. Als sie Rhapsodys Dorf erreicht hatten, hatten sie die großen Trompeten geblasen, welche eine königliche Geburt ankündigten. Damals war Rhapsody ein kleines Kind gewesen und hatte nie zuvor solch wunderbare Musik gehört. Noch viele Wochen später hatte sie davon geträumt und bei ihren Eltern um ein eigenes Instrument gebettelt. Immer wieder hatte sie sich auf den Hügelkamm gesetzt, wo sie die Trompeter gesehen hatte, und auf ihre Rückkehr gehofft. Doch es war vergeblich gewesen. Rhapsodys Augen füllten sich bei dieser Erinnerung mit Tränen. Sie lächelte. Sie kehrte gerade rechtzeitig in die Gegenwart zurück, um das erste Haus, das Haus Faley, in die Senke einrücken zu sehen. Es waren fünfhundert, zumeist Menschen mit ein wenig lirinschem Blut. Sie kamen vor der großen Prozession der Cymrer zu Fuß und zu Pferd; einige gingen allein, viele in kleinen Familiengruppen, Kinder und Erwachsene. Rhapsody begrüßte das Oberhaupt der Familie mit einer Verbeugung; der Mann winkte freudig zurück. Als die ersten Cymrer eingetroffen waren, hatte sie jeden Einzelnen begrüßt und war oft bis nach Mitternacht aufgeblieben, damit sich alle wohl fühlten und wussten, warum sie hier waren. Doch die wachsende Menschenmenge hatte es ihr bald unmöglich gemacht, weiterhin jeden willkommen zu heißen. Die Woge an Menschen ergoss sich nun in den Gerichtshof wie ein See, der einen Damm durchbricht. Einige riefen freudig Leuten, die sie kannten, etwas zu, andere nickten alten Gegnern zu, wobei die Luft um sie herum vor Spannung knisterte. Sie schritten hinter gewaltigen Bannern her, die ihre Abstammung kundtaten, oder hatten sich zu uneinheitlichen Gruppen zusammengerottet. Sie waren die teils größeren, teils unwesentlicheren Häuser, die letzten Überbleibsel des cymrischen Zeitalters, die Abkömmlinge der Drei Flotten, die ihre gegenseitigen Bande bis nach dem Ende des Krieges aufrechterhalten hatten. Dies war die politische Struktur, welche das Konzil vor zwölfhundert Jahren gebildet hatte. Einige der größeren, angeseheneren Häuser bestanden aus den Adligen von Roland, Sorbold und den umgebenden Ländern. Rhapsody verneigte sich tief vor Tristan Steward, dem Prinzen von Bethania, der hinter Herzog Cunliffe herritt, einem kleineren Adligen aus seinem Hofstaat, welcher das Oberhaupt seines Hauses Glyden war. Rhapsody bemerkte eine unruhige Bewegung in dem Meer von Menschen unter sich. Lord Stephen Navarne und seine Kinder befanden sich am Ende des Hauses Glyden, und alle drei winkten nervös. Melisande hockte auf den Schultern ihres Vaters und winkte ihr wild zu. Rhapsody lächelte und winkte zurück. Nach der anfänglichen Aufregung anlässlich des Eintritts der ersten Häuser wandelte sich die Atmosphäre. Die Gruppen teilten sich nicht nur nach Häusern, sondern auch nach den Flotten auf, auf denen sie oder ihre Vorfahren gesegelt waren, oder aber nach Rassen. Als die Lirin einschritten, begaben sie sich sogleich zum Fuß des Rufersimses und stellten sich unter Rhapsody auf. Sie kam herunter und begrüßte sie, umarmte Oelendra und Rial sowie einige ihrer engeren Freunde aus Tyrian. Dann kehrte Stille ein, und die Augen vieler anderer Cymrer ruhten auf ihr. Oelendra spürte es auch. »Komm«, sagte sie und nahm die Königin am Arm, »ich will dir bei dem Kleid helfen, das Miresylle dir für die Willkommensrede genäht hat.« Rhapsody stimmte zu und führte Oelendra zu ihrem Zelt. Von drinnen hörten sie, wie der Lärm wieder einsetzte und die gelegentlichen Streitereien heftiger wurden, als immer mehr Häuser in die Senke einschritten. Rhapsody seufzte. »Der Morgen ist noch jung, und zehntausende sind noch gar nicht eingetreten, aber sie quäken schon wie die Kinder«, sagte sie und öffnete einen Kleidersack. »Ich hoffe, sie bringen sich nicht gegenseitig um, bevor alle hier sind.« Oelendra ergriff den Saum des Rocks und verhinderte, dass er durch den Dreck geschleift wurde. »Sie werden nicht kämpfen, nicht beim Konzil. Das verbietet die Macht des Gerichtshofes. Als sich diese Leute das letzte Mal gesehen haben, standen sie sich auf dem Schlachtfeld gegenüber. Sie müssen ihre Meinungsverschiedenheiten austragen; das ist schon lange überfällig. Es ist wichtiger, dass du als Ruferin neutral bleibst. Nur so kannst du die Befehlsgewalt über die Versammlung ausüben.« Rhapsody nickte und schlüpfte aus ihrer Kleidung, um das neue Gewand anzuziehen. Miresylle, ihre Lieblingsnäherin, war eine mütterliche Frau, die Rhapsodys Körper kannte und ihr jegliche Kleidungsstücke nähte, ohne dass Rhapsody sie anprobieren musste. Dieses Kleid war aus alter cymrischer Seide geschneidert, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammte. Sie war silbern und mit Goldfäden durchwirkt. Man sah entweder die eine oder andere Farbe, je nachdem von welchem Winkel aus man das Gewand betrachtete. Miresylle hatte Dutzende kleiner Knöpfe am Rücken und den Ärmeln eingenäht. Oelendra half Rhapsody dabei, das Kleid zu schließen und den gebauschten Rock zu glätten; dann drehte sie die Sängerin um die eigene Achse und betrachtete das Ergebnis. Die lirinsche Meistern keuchte unwillkürlich auf. Der Anblick war atemberaubend. Der alte Stoff glimmerte im Licht des Diadems, das sich in dem Gesicht, den Augen und dem Haar der Königin widerspiegelte. Oelendras Augen füllten sich mit Tränen, doch sie trockneten rasch wieder, als sie den Ausdruck der Verärgerung in Rhapsodys Gesicht bemerkte. »Was ist los?« Rhapsody wandte sich von ihr ab und schlüpfte in ihre Schuhe. »Nichts.« »Sag es mir.« Die smaragdenen Augen, deren Blick dem der silbernen Augen Oelendras begegnete, kündeten von tiefer Besorgnis, die jedoch schnell wieder verschwand und von Ernsthaftigkeit ersetzt wurde. »Es ist nichts, Oelendra«, wiederholte sie. »Der Stoff ist über dem Bauch ein wenig eng, das ist alles. Miresylle muss vergessen haben, dass mir der Bauch anschwillt, wenn ich gegessen habe.« Oelendras Miene bewölkte sich. »Wann hast du zum letzten Mal gegessen, Rhapsody?« »Gestern Abend. Mach dir bitte keine Sorgen, Oelendra. Es kneift nur ein klein wenig. Miresylle hat mich längere Zeit nicht mehr gesehen. Vielleicht hat sie meine Maße vergessen.« Oelendra nickte. »Zweifellos. Sollen wir zurück zum Konzil gehen?« Rhapsody gürtete die Tagessternfanfare um und ergriff die Hand der alten Frau. Zusammen verließen sie das Zelt und umarmten sich noch einmal, bevor Oelendra sich wieder in die Reihen der Lirin begab. Rhapsody nahm erneut ihren Platz auf dem Rufersims ein und blickte hinunter auf die anwachsende Menschenmenge. Die meisten der Cymrer, die sich bisher versammelt hatten, waren Menschen oder Lirin oder eine Kombination von beiden, doch gelegentlich bemerkte sie auch Leute anderer Rassen, die sie seit ihrer Abreise aus Serendair nicht mehr gesehen hatte. Manche waren ihr sogar völlig unbekannt. Die erste dieser Gestalten war klein und ging am Fuß des Rufersimses entlang. Sie sah sich um, als suchte sie einen Unterschlupf. Es war eine Gwaddi-Frau, kaum vier Fuß hoch, mit riesigen grüngrauen Augen, einem herzförmigen Gesicht mit hohen Wangenknochen und karamellfarbenem Haar, das sie zu einem langen Zopf geflochten hatte. Wie die anderen Mitglieder ihrer Rasse war sie schlank, hatte übermäßig große Hände und lange, schmale Füße. Sie schien sich in der Gesellschaft von Menschen nicht wohl zu fühlen, doch bevor Rhapsody sie zu sich rufen konnte, war sie in der Menge untergetaucht. Rhapsody war höchst erstaunt; sie hatte befürchtet, dieses kleine, sanfte Volk sei während des schrecklichen cymrischen Krieges vernichtet worden. Nun war sie tief erleichtert, dass ihre Angst zumindest teilweise unbegründet war. Nach und nach fielen ihr noch weitere unbekannte Rassen ins Auge Männer und Frauen mit einzigartigem Körperbau und Aussehen, dunkle lirinhafte Gestalten mit Augen, die schwärzer als die vergangene Nacht waren; geschmeidige Menschen mit Haaren und einer Haut, die so golden wie Weizen auf einem Sommerfeld waren, gedrungene, stämmige Männer mit breiten Schultern und langen, silbernen Barten, eine Gruppe umherrennender Kinder in Silber und Blau, die wie die Sonne auf dem Meer leuchteten, und dazwischen Menschen und Lirin in den Farben ihrer Nationen. Es war etwas Einzigartiges an ihnen allen, eine Schönheit, die tief in Rhapsodys Seele drang und in ihr den Wunsch hervorrief, sie zu beschützen, als ob sie diese Leute ihr ganzes Leben lang gekannt hätte, auch wenn sie nicht zu ihnen gehörte. Sie dachte an das, was Elynsynos über die Cymrer zu ihr gesagt hatte, und lächelte über die Weisheit der Drachin. Sie waren Magie. Sie hatten die Erde überquert und dabei die Zeit angehalten. In ihnen fanden alle Elemente ihren Ausdruck, auch wenn sie nicht wussten, wie sie diese anwenden sollten. Einige stammten von Rassen ab, die man in diesen Gegenden nie zuvor gesehen hatte; es waren Gwadd und Liringlas und Gwenen und Nain, Alt-Serener und Dhrakier und Mythlin ein menschlicher Garten voller verschiedener, wunderbarer Blumenarten. Sie waren etwas Besonderes, meine Schöne, ein einzigartiges Volk, das es verdient, geschätzt und beschützt zu werden. Rhapsody fragte sich, wo sich diese fremden Völker aus einem Land, das vor mehr als tausend Jahren untergegangen war, nur versteckt gehalten hatten. Sie hatte keine Zeit, lange über diese Frage nachzudenken, denn von Osten ertönte ein neuerlicher Trompetenstoß, und Huftritte kündeten die Ankunft einer weiteren Cymrergruppe an. 73 Grunthor sah zu, wie das rolandische Heer eintraf. Er schirmte die Augen vor dem Sonnenglast mit der Klinge seiner gewaltigen Streitaxt ab, die er Sal nannte, was die Abkürzung von Salut war. Falls ihn die scheinbar endlosen schwarzen Wellen orlandischer Soldaten in den Senken vor den Zahnfelsen nervös machten, so zeigte er es nicht. Er verharrte reglos; sein Gesicht zeigte stärkste Konzentration. Er zählte. »Mindestens zehntausend Männer Kavallerie, zehnmal so viele zu Fuß«, berichtete er. Achmed nickte. Er stand mit einer kürzlich fertig gestellten Cwellan über dem Rücken da, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete, wie sich die Streitkräfte Rolands über das Vorgebirge vor dem Gerichtshof ausbreiteten. »Wir wussten, dass es früher oder später so weit kommen würde«, sagte er leidenschaftslos. »Ich hätte es aber nie für möglich gehalten, dass Tristan so schnell ein so großes Heer zusammenstellen kann, und ich hätte nie geglaubt, dass er es wagt, den Zorn der Cymrer auf sich zu ziehen, indem er seine Truppen zum Konzil führt.« Er spuckte aus und schaute dann gedankenverloren nach Süden. »Hast du von unseren Spähern Meldungen über weitere Streitkräfte aus Sorbold gehört?« »Nein.« Grunthor schaute in dieselbe Richtung wie Achmed. »Meinst du, dass wir noch mehr davon bekommen?« Achmed nickte erneut. »Ein Heer von dieser Größe ist zwar gefährlich, aber es ist zu klein, um die Vision auszulösen, die Rhapsody vor unserem Aufbruch nach Yarim hatte. Sie hat gesehen, wie die Bergflüsse von Blut rot gefärbt waren und die Erde sich unter dem Himmel schwärzte. Ich glaube, zumindest das sorboldische Heer muss sich noch dazugesellen, bevor wir derart unterlegen sind, dass ein solches Szenario Wirklichkeit werden könnte.« »Roland hat fünf Schießgruppen und fünfhundert Katapulte«, sagte Grunthor. »Könnte ’ne harte Sache werden, je nachdem, was sie vorhaben.« Der Bolg-König spuckte wieder aus, um den bitteren Geschmack von Galle aus dem Mund zu bekommen. »Wir sollten herausfinden, welche Pläne Tristan in Wirklichkeit hat.« Der Prinz von Bethania hatte seinem Marschall vorläufige Befehle gegeben und unterrichtete soeben seine Generäle, als die Späher das Signal sandten, auf das er gewartet hatte. Der Fir-Bolg-König kam. Er versuchte, seine Erregung im Zaum zu halten, doch seine Hände zitterten. Am Morgen, als er zur Eröffnung des Konzils mit seinem Haus in den Gerichtshof eingeritten war, hatte er das Ungeheuer auf dem hohen Aussichtspunkt stehen sehen. Als der Lärm innerhalb der Senke angeschwollen war und sich damit der baldige Beginn der Versammlung angekündigt hatte, war er fortgehuscht, um sich mit seinem Heer zu besprechen, bevor die Ruferin die Leute zur Ordnung mahnte. Zum Glück blieb ihm nun noch genug Zeit, um dem Bolg-Kriegsherrn, der mit seinem gewaltigen Sergeanten herbeikam und sicherlich vom Anblick des rolandischen Besatzungsheeres eingeschüchtert war, den letzten Mut zu rauben. Tristan Steward stand trotzig da und versuchte ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken, das sich über sein Gesicht legen wollte. Als der Bolg-König nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, blieb dieser stehen. Seine schwarze Robe flatterte im Wind. In seinen verschiedenfarbigen Augen lag keine Angst. Er grinste anmaßend und warf einen herablassenden Blick auf das Feld hinter Tristan. »Ich hoffe, du hast deine eigenen Versorgungswagen mitgebracht, um deine kleinen Freunde ernähren zu können. Die Einladung erstreckte sich nur auf die Cymrer. Es ist schon schlimm genug, dass wir für diese Bande von Taugenichtsen sorgen müssen. Ich habe nicht vor, unsere Gastfreundschaft auf ungebetene Gäste zu erstrecken.« Tristans Kinnlade klappte herunter. Seit langem hatte er sich auf den Augenblick gefreut, in dem er mit den hunderttausend Männern seines Heeres vor den Toren Ylorcs stehen und das widerwärtige Grinsen aus dem Gesicht dieses albtraumhaften Geschöpfs tilgen würde, das ihn seit so langer Zeit bedrohte. Doch dessen Lächeln wich nicht; es war wie in Stein gemeißelt. Rasch schloss er wieder den Mund und betrachtete das Antlitz des Bolg-Königs. Es war ein Gesicht, das kürzlich die Zerstörung seines Königreiches mit angesehen hatte. Sicherlich war es von Wut verzerrt gewesen, als sein Träger sich einen Überblick über die tausende von Toten verschafft hatte und Zeuge der Massenbegräbnisse geworden war. Er erinnerte sich an seinen Geschichtsunterricht über Seuchen in Roland und Sorbold. Einer seiner Vorfahren war angeblich aufgrund der Seuche, die sein Herzogtum heimgesucht hatte, verrückt geworden und hatte Selbstmord begangen. Doch war zweifellos der Verlust eines Königreiches voller Ungeheuer nicht so schrecklich, wie es bei menschlichen Geschöpfen der Fall gewesen wäre. Vielleicht war der Bolg-König pragmatisch in Hinsicht auf seine Verluste, da er das Leben der Bolg genauso wenig schätzte wie die Menschen. Wie gewonnen, so zerronnen. »Ich erlaube dir, die Reste deiner Bevölkerung friedlich zu evakuieren, bevor wir den Berg erobern. Wenn das Konzil vorbei ist, werde ich Canrif besetzen.« Das böse Lächeln wurde breiter. »Du persönlich? Canrif ist groß, Tristan. Du bist zwar ein wenig fett um die Hüfte, aber ich bezweifle, dass du ein ganzes Königreich für deinen übergewichtigen Körper benötigst. Ich habe eine besonders große Hütte, die ich dir zur Verfügung stellen kann, falls dir die Unterbringung in deinem Feldlager zu unbequem ist. Aber ich befürchte, dass alle Gästehäuser besetzt sind. Rhapsody hat sich um diese Dinge gekümmert.« Bei der Erwähnung ihres Namens wurde Tristan rot. Achmed bemühte sich, nicht laut aufzulachen. Er beugte sich verschwörerisch vor. »Sie hat die Diplomatenquartiere denjenigen Gästen vorbehalten, die sie als besonders wichtig erachtet. Ich habe deinen Namen nicht auf der Liste gesehen. Du bist doch nicht einmal das Oberhaupt deines Hauses, oder? Selbst wenn du es wärest, hättest du wohl kaum ein Zimmer bekommen, wenn man bedenkt, was Rhapsody von dir hält. Aber wie ich schon sagte, habe ich eine große Hütte, in der du während des Konzils schlafen kannst.« Eine Ader an der Schläfe des Herrn von Roland pulste so stark, dass Achmed schon befürchtete, sie könne platzen. Tristan blähte die Nüstern, machte einen Schritt auf den Bolg-König zu und senkte die Stimme zu einem mörderischen Flüstern. »Du überheblicher Bastard! Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, dein Volk vor weiterem Blutvergießen zu bewahren, und was tust du? Du beleidigst mich! Ich werde es genießen, dich und deine monströsen Untertanen unter meinen Stiefeln zu zertreten. Ich werde Canrif von all deinen Überbleibseln reinigen, bis hin zur verpesteten Luft, die du in den Berg gesogen hast. Ich werde ihn wieder für menschliche Wesen bewohnbar machen, sobald alle Spuren der Verseuchung getilgt sind.« Als er geendet hatte, bemerkte er, dass ihn der Mann, den die Bolg das finstere Auge nannten, durch seine Schleier streng ansah. »Und wie willst du diese Drohung in die Tat umsetzen?« Tristan Steward starrte den Fir-Bolg-König einen Moment lang an, als wäre dieser verrückt. Das Meer aus Soldaten schwärzte die Hügelkämme. Vielleicht konnte das Ungeheuer im Gleißen der unzähligen Waffen und Rüstungen nicht mehr richtig sehen. »Es tut mir Leid«, sagte er mit gespielter Höflichkeit. »Habe ich etwa vergessen, dir das vereinigte Heer von Roland vorzustellen?« Die unterschiedlichen Augen des Bolg-Königs starrten ihn noch eine Weile an, dann richteten sie sich beiläufig auf die Krevensfelder. Die Ahnung eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Nett von dir, etwas zum Essen mitzubringen«, erwiderte er trocken. »Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du mich aus dem Berg vertreiben willst. Egal. Geh zurück zum Konzil, Tristan, und verschwende nicht länger meine Zeit.« Achmed drehte sich um und ging fort. Der Herr von Roland blähte wütend die Nasenflügel und fuhr mit der Hand zum Griff seines Schwertes. »Ich warne dich zum letzten Mal, Ungeheuer...« Achmed wirbelte schneller herum, als Tristan es mit seinem Blick erfassen konnte. Das Langschwert des Herrn von Roland flog mit dem Griff voran in das schlammige Gras. Tristan spürte den plötzlichen Schmerz des schraubstockgleichen Griffs, der sich um sein Handgelenk wand, dann sah er die vor dunkler Wut glühenden Augen des Königs eine Haaresbreite von seinen eigenen entfernt. Hinter sich hörte er, wie Schwerter klirrend aus der Scheide gezogen und Bögen knirschend gespannt wurden. »Anscheinend geben wir beide nicht viel auf die Warnungen des anderen«, sagte er mit ruhiger und leiser Stimme, die nur für Tristan hörbar war. »Erinnere dich daran, dass ich dich vor langer Zeit in der Stille deines Schlafzimmers gewarnt habe, mir in die Quere zu kommen. Du wirst bald herausfinden, aus welchem Holz Ungeheuer geschnitzt sind. Bist du bereit für diese Lektion? Hier, vor deinen schwachsinnigen cymrischen Gefährten? Bist du bereit, die Schlacht von Bethe Corbair oder die Auslöschung der vierten Kolonne zur Unterhaltung deiner Freunde noch einmal aufzuführen?« Tristan zog den Arm aus der Umklammerung des Bolg-Königs. »Du klägliches, untermenschliches Wesen. Dein Heer ist tot, dein Berg leer. Du könntest dein Reich nicht einmal mit Lampenlicht gegen die herankommende Nacht verteidigen und schon gar nicht meine Soldaten aufhalten.« Unter den zeremoniellen Schleiern war Achmeds Lächeln deutlich erkennbar. »Wirklich? Eine bemerkenswerte Theorie. Sollen wir sie überprüfen?« Silberner Hörnerschall zerriss die Luft und zerschmetterte die fühlbare Spannung zwischen den beiden. Sie schauten hoch zum Rand der Senke und sahen Rhapsody auf dem Rufersims stehen. Sie starrte auf die Männer herunter und war kaum mehr als eine winzige silberne Scheibe, die in der Sonne glitzerte und einen langen Schatten warf. Die Juwelen in der Krone wirbelten um ihren Kopf und waren selbst aus großer Entfernung sichtbar. Achmed grinste noch breiter, als er Tristans verzauberten Blick bemerkte. »Die Ruferin befiehlt uns zu sich, höchster Herrscher«, sagte er launig. »Sollen wir ihren Ruf missachten und sofort anfangen? Möchtest du das Konzil mit dem Blut der armen, geschundenen Überlebenden meines Königreiches taufen?« Er beugte sich vertraulich vor. »Rhapsody ist die beste Heilerin in den Bolg-Landen . Sie leidet mit dem Verlust jeder Firbolg-Seele und jedes kranken Kindes. Das war auch ihr Volk, Herr von Roland. Du weißt, wie sie vor langer Zeit zu dir gekommen ist und die Bolg vor dem weiteren Abschlachten durch deine Truppen retten wollte. Willst du, dass sie wieder dabei zusieht? Bist du deswegen mit deinem Heer gekommen für einen neuen Frühjahrsputz?« Nun hielt Tristan dem Blick des Bolg-Königs stand. »Kiernan?«, rief er zu seinem General. »Herr?« »Lager aufschlagen. Wir werden nach dem Konzil weitermachen.« »Ja, Herr.« Tristan drehte sich um und hob sein Langschwert auf. Er säuberte es an seinem Mantel und steckte es mit einer hastigen Bewegung zurück in die Scheide. Während der Befehl, das Lager aufzuschlagen, in Wellen durch die Soldatenmenge schwappte, drehte er sich noch einmal zu Achmed um. »Wenn dieses Konzil vorbei ist, wird nicht nur das Heer von Roland, sondern auch die Macht und Stärke der ganzen Versammlung meinem Befehl unterstehen.« »Noch besser. Dann haben wir genug Fleisch zum Abendessen.« »Ich werde dein Land vor dem nächsten Einbruch der Nacht besitzen.« Tristan Steward gab seinen Generälen und Gehilfen ein Zeichen und schritt dann durch die großen irdenen Tore der Senke und des Gerichtshofes, um sich zu seinem eigenen Haus zu gesellen, während das Heer sich zur Belagerung bereit machte. Achmed sah dem Herrn von Roland nach, bis dieser im Gerichtshof verschwunden war, und wandte sich dann an Grunthor. »Gut. Ich wusste, dass ihre unglaubliche Schönheit eines Tages von wirklichem Nutzen sein würde.« Er schaute zurück zu den Bergen, die sich kalt und still hinter ihm erhoben. »Ich höre schon Grummeln aus den cymrischen Reihen über Tristan und sein Heer. Viele sind wütend, dass er es zu einem Friedenskonzil mitgebracht hat.« »Ja.« Grunthor warf einen kurzen Blick auf die lagernde Streitmacht, die das Land um den Gerichtshof schwärzte. »Vielleicht tragen sie’s untereinander aus. Könnte ganz nett werden.« »Allerdings. Und jetzt sollten wir uns selbst quälen.« Grunthor nickte. Gemeinsam erkletterten sie den oberen Rand der Senke und nahmen ihre Plätze als Gastgeber der Versammlung neben der Ruferin ein. 74 Der Schall der Hörner hätte für Rhapsody und die anderen Cymrer das erste Signal sein können, das ihnen die Ankunft einer weiteren Gruppe ankündigte, doch Achmed wusste schon seit Stunden, dass sie im Anmarsch war. Seine Späher und Spione hatten ihn gewarnt. Als die Menge am Horizont erschien, sah sie eher wie ein Heer und nicht wie eine Abordnung aus, denn sie war in leuchtende Uniformen gekleidet, und ihre Banner flatterten. Es waren weder Menschen noch Lirin. Die Männer waren fünf bis fünfeinhalb Fuß groß, hatten lange, fließende Barte, muskulöse Brustkörbe und Schultern, die so breit wie bei einem Menschen waren. Die Mehrheit der Versammelten hatte diese Leute noch nie in ihrem Leben gesehen, aber alle hatten die alten Geschichten über den Krieg und das cymrische Zeitalter gehört und erkannten die Neuankömmlinge als diejenigen, welche den Nachtberg und das Gebiet hinter ihm bevölkerten. Es waren die Erdbewohner, die Kinder der Schmiede, die Nain, die auf den cymrischen Schiffen in die neue Welt gekommen waren, aber im fernen Osten unter ihresgleichen lebten. So wie Gwylliam zum König der Menschen sowohl der Cymrer als auch der Ureinwohner erwählt worden war, hatte man den Anführer der cymrischen Nain in der neuen Welt zum König der Nain gemacht. So war es auch während des Krieges geblieben, bis die beiden Völker sich völlig vermischt hatten. Faedryth, Herr und Herzog des Hauses Alexander, war zugleich ein alter Cymrer der Ersten Generation und der König eines eingeborenen Volkes. Seit Jahrhunderten hatten die Nain in selbst auferlegter Abgeschiedenheit gelebt. Im Krieg hatten sie hauptsächlich gegen die Lirin gekämpft und waren Teil des Konzils geblieben, sich aber fast ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert. Die Ankunft der Nain-Häuser rief eine plötzliche Stille hervor. Dann setzte ein rasch anwachsendes Murmeln ein, als die Bedeutung ihrer Teilnahme heftig erörtert wurde. Als die gesamte Abordnung eingetroffen war, stellten sich die Nain gegenüber den Lirin auf, deren Häuser sich am Fuß des Rufersimses zusammengedrängt hatten. Spannung lag in der Luft. Die Massen teilten sich nun auf in Häuser, Rassen oder Flotten, mit denen die Vorfahren gesegelt waren. Die Bolg-Cymrer blieben bei Achmed, der sich als Gastgeber am oberen Rand der Senke hinter Rhapsody gestellt hatte. Die Spannung in der Luft wurde beinahe handgreiflich. Einige der Häuser beanspruchten Mitglieder aus der Diaspora für sich, wenn sie unter ihnen entfernte Verwandte oder andere Familienmitglieder erkannten. Andere schienen Mitglieder freizügiger aufzunehmen, ohne Kenntnis der Abstammung und aus politischen Gründen. Dies führte zum Ausbruch vieler Streitereien. Die Gemüter waren erhitzt, Waffen wurden gezogen, obwohl jegliche Aggression während des Konzils verboten war. Rhapsody sah all dem unglücklich zu. Wenn sie das Konzil nicht so schnell wie möglich zur Ordnung rief, würde sich niemand mehr um die allgemeinen Verhaltensregeln kümmern. Mit einem Mal stieg aus der Versammlung ein gewaltiges Geschrei auf. Rhapsody stellte sich auf die Zehenspitzen und wollte sehen, was den Aufruhr verursachte. Schon öffnete sich eine Gasse in der Menschenmenge, und eine Gestalt in leuchtender, schwarzer Rüstung ritt auf einem schwarzen Schlachtross herbei. Rhapsody erkannte das Pferd sofort. Als der Mann vor dem Rufersims anhielt, nahm er den Helm ab. Erneut ertönte wildes Gelärme. Es war Anborn. Selbst aus der Ferne erkannte Rhapsody das Lächeln auf seinem Gesicht, als ihre Blicke sich trafen. Er winkte ihr zu. Dann stieg er ab und ging durch die leere Mitte des Amphitheaters. Er blieb stehen und wartete schweigend. Sofort bildete sich eine Menschenmenge um ihn. Einige grüßten ihn mit stiller Verehrung, andere mit offener Freude. Plötzlich erkannte sie in ihm mehr denn je den General, der er war den großen Marschall der Cymrer und nicht den griesgrämigen Stümper, den sie kennen gelernt hatte und der vielleicht ihr Gemahl würde. Er war ein geborener Führer, und nun begriff sie die Macht seiner Gegenwart. Der König der Nain kam zu ihm herüber und reichte ihm die Hand in einer Geste alter Freundschaft. Unter den Lirin erhob sich unwilliges Gemurmel. Rhapsody nahm böse Blicke und verächtliche Gesten wahr. Mit Anborns Ankunft begannen sich die Häuser in die Flotten aufzuteilen, mit denen sie in ihre neue Heimat gesegelt waren. Auch innerhalb der einzelnen Flotten gab es große Unterschiede. Obwohl die cymrischen Lirin nun hauptsächlich bei der Ersten Flotte standen, sah man doch viele Lirin in der Dritten. Ihnen war ihre Herkunft wichtiger als die Seite, auf der sie während des Krieges gestanden hatten. Die Nain begaben sich zwischen Anborn und die Abordnung der Dritten Flotte, die sich im südlichen Teil des Gerichtshofes niedergelassen hatte, auch wenn man hier und da einige Nain inmitten der anderen Gruppen sah. Kleinere Rassen wie die Gwadd hatten sich abgesondert und entfernt von den größeren Gruppen zusammengefunden. Einige aus der Diaspora, sogar solche, die in den anderen Häusern willkommen waren, sonderten sich ebenfalls von dem Rest ab und bildeten ihre eigenen Gruppen. Rhapsody war sich nicht sicher, ob sie dies aus Verwirrung taten, ob sich während des Wartens neue Bündnisse gebildet hatten oder ob sie einfach nicht mit den allgemeinen Feindseligkeiten in Verbindung gebracht werden wollten. Noch waren nicht alle Gäste eingetroffen, und schon zeichneten sich Kämpfe ab. Sie schaute hinüber zu Oelendra, die in ein einfaches Kettenhemd und einen fließenden blauen Umhang gekleidet war, und rollte mit den Augen. Oelendra lächelte sie an. Dann aber wurde die Aufmerksamkeit der beiden auf die nächste Gruppe gelenkt, welche die Senke betrat. Ein ungemütliches Schweigen setzte ein. Einige in der Prozession waren Lirin oder sahen wie Lirin aus, hatten aber eine dunklere Haut und wirkten älter. Andere waren Riesen, so groß wie Grunthor, doch von dünner, geschmeidiger Gestalt. Ihre Haut war golden, und die Gesichter wirkten uralt. Bei ihrem Anblick hielt Rhapsody den Atem an. Obwohl sie niemand aus diesem Volk je zuvor auf der Insel gesehen hatte, erkannte sie es als die Alten Seren, die Legendenhaften Erstgeborenen von Serendair, die schon lange vor ihrer Geburt als ausgestorben gegolten hatten. Sie vermutete, dass die dunkleren Lirin die Kith waren, ein weiteres, rätselhaftes Erstgeborenen-Volk aus den alten, uranfänglichen Wäldern der Insel. Es war dieses Haus, das die letzte Strophe ihres Morgenliedes gesungen hatte. Niemand führte das Haus der Erstgeborenen an. Am Kopf der Prozession lief ein Mann, stämmig wie Anborn, aber behäbig und weich, wo dieser geschmeidig und muskulös war. Seine Abstammung war deutlich zu erkennen. Die Adlernase, das silberne Haar: es war Edwyn Griffyth, der älteste Sohn von Anwyn und Gwylliam, der zu Beginn des Krieges angeekelt fortgegangen war und seither auf Gaematria, der Insel der Meeresmagier, zwischen den beiden Kontinenten gelebt hatte. Nun verstand Rhapsody endlich die Herkunft der Meeresmagier und den Grund für ihre Macht. Sie waren Erstgeborenen und deren Abkömmlinge, die bereits vor dem Ausbruch des Krieges getrennt von den anderen Cymrern gelebt hatten und daher von ihm nicht berührt worden waren. Ein Jahrtausend lang hatten sie sich in Wohlstand entwickeln können. Sie hielten sich von beiden Flotten fern und bildeten eine eigene Gruppe. Als der letzte der Meeresmagier seinen Platz eingenommen hatte, traf die Zweite Flotte ein. Rhapsodys Herz schlug höher. Ashe befand sich am vorderen Ende. Er ritt auf einem grauen Hengst und führte die Häuser in den Gerichtshof. Wie die Nain hielten sie Banner hoch, auf denen Zeichen ihrer Herkunft abgebildet waren, aber sie trugen keine Rüstungen, sondern Reisekleidung. Die letzte, größte Flotte war die uneinheitlichste der drei. In ihren Reihen waren alle Rassen vertreten, und es gab eine große Zahl von Mischlingen. Sie nahmen ihren Platz zwischen der Ersten und der Dritten Flotte ein und mischten sich nicht unter sie, obwohl es viele herzliche Begrüßungen gab. Ashes Ankunft erregte den größten Aufruhr, denn die meisten hatten zweifellos geglaubt, er sei tot. Eine Welle des Wiedererkennens hatte bereits außerhalb der Senke eingesetzt und begleitete seinen Eintritt. Unter lauten Rufen und Freudenschreien ritt er umgeben von seinen Verwandten aus dem Haus Neuland in den inneren Kreis und blieb vor dem Rufersims stehen. Einen Moment lang sah er Rhapsody an. Sein Gesicht war außer einem tiefen Verlangen ausdruckslos. Rhapsody spürte ihr Herz höher schlagen wie vor einem Jahr, als sie nach ihrer ersten Liebesnacht aus dem Fenster auf ihn geschaut und er sich am Ufer des Sees von Elysian befunden hatte. Damals hatte sie sich selbst verdammt. Nun hielt sie Ausschau nach seiner Frau. In der ersten Reihe des Zuges gab es viele junge Frauen, doch es war unmöglich zu sagen, ob eine davon die neue Herrin von Neuland war. Ashe verneigte sich vor ihr und kehrte dann in die Mitte der Zweiten Flotte zurück. Sobald er wieder an seinem Platz war, erkannte sie seinen Aufzug besser. Er trug den Stab des Fürbitters. Rhapsody schloss daraus mit grimmiger Befriedigung, dass Khaddyr aus diesem Amt entfernt worden war. Über dem Rücken flatterte der Nebelmantel, der ihn für so lange Zeit vor der Welt verborgen hatte. Aber statt aus dunstiger Dunkelheit schien er nun aus azurblauen Meereswellen zu bestehen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, die er früher verhindert hatte. Um Ashes Hals funkelte Crynellas Kerze und erleuchtete den Brustpanzer, der wie blaugrüne Fischschuppen in den goldenen Strahlen der Vormittagssonne glitzerte. Doch mehr noch als die Rüstung fing das Haar des Kirsdarkenvar das Sonnenlicht ein, sodass er wie das Urbild eines großen und edlen Herzogs oder Königs alter Abstammung wirkte. Auch Rhapsodys Augen leuchteten im Licht. Es war leicht zu erkennen, warum sie seiner unwert war. Achmed, Grunthor und die cymrischen Bolg hatten sich inzwischen zur Diaspora gesellt und bildeten nun eine eigene Gruppe. Sie standen auf einer Erhöhung östlich des Rufersimses und nahmen dort die Ehrenplätze der Gastgeber ein. Rhapsody drehte sich nach ihnen um und bemerkte, dass sich aus der neuen Gruppe vierzehn Gestalten in Mantel und Kapuze schweigend hinter den Fir-Bolg-König gestellt hatten. Zuerst drückte es ihr vor Besorgnis die Kehle zu. Sie hatte diese Cymrer nicht ankommen gesehen und wusste nicht, von welcher Flotte sie stammten. Dann bemerkte sie die dünnen Hände und die vage Ähnlichkeit zu Achmed in ihrer Haltung. Achmed lächelte und schaute Rhapsody an. Sogleich schmolzen ihre Sorgen. Es handelte sich um Dhrakier. Rhapsody verspürte eine Welle der Freude, als sie begriff, dass Achmeds Rasse doch noch nicht ausgelöscht war. Ein rumpelnder Lärm vertrieb das Lächeln aus ihrem Gesicht. Als ihr Blick zur Versammlung zurückkehrte, stellte sie fest, dass sich die gesamte Senke im Aufruhr zahlloser Streitereien und offener Feindseligkeiten befand. Die Flotten stritten miteinander und mit sich selbst, und das Gebrüll zwischen den Nain und den Lirin drohte in Gewalt umzuschlagen. Rhapsody seufzte verärgert. Das Konzil war noch nicht einmal zusammengetreten, und schon befanden sich die Cymrer am Abgrund eines neuen Krieges. Sie holte tief Luft und sang. Im selben Ton wie das cymrische Hörn sang sie die alten Worte von Gwylliam, dem Visionär, die Merithyn in die Höhle der Drachin gemeißelt und welche die Cymrer selbst auf jeden Pfosten entlang ihres Weges zur Wiedervereinigung in der neuen Welt geschrieben hatten. Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land. Wir kommen in friedlicher Absicht, den Klauen des Todes entronnen, um in diesem schönen Land zu leben. Wie das Läuten der großen Glocke im Turm von Bethe Corbair hallte ihr Lied durch den Gerichtshof. Die Senke verstärkte den Klang und erstickte das unzufriedene Gemurmel. Zweihunderttausend Augen richteten sich auf Rhapsody, die auf dem Sims über ihnen stand die Sterngekrönte Königin, die Benenner in, die die Cymrer rief und zur Ordnung mahnte. Die Versammlung starrte sie mit offenen Mündern an. Der Erste, der wieder zu sich kam, war Anborn. Er brach in breites Grinsen aus und seufzte erleichtert. Zehntausende taten es ihm gleich. Die Spannung in der Luft löste sich auf, und die Stille wurde ehrfurchtsvoll. »Das war hübsch, nicht wahr?« Eine raue Stimme voller Kraft und Tiefe, wie brechende Wellen oder brüllendes Feuer, hallte durch die Senke und zerschmetterte die angenehme Stille. Ein Keuchen erhob sich aus dem Konzil. Rhapsody gefror das Blut. Sie sah, wie die Cymrer rasch aus der Mitte des Amphitheaters wichen. In der Mitte des Eingangs standen drei Gestalten. Vor ihnen hatte sich eine Gasse in der Menge gebildet, die sich hinter ihnen wieder schloss. Die wieder einsetzende Stille war schwer vom Zorn. Drei Frauen standen dort, groß wie ihr Vater und aufrecht in stiller Würde. Die Gesichter der cymrischen Versammlung waren verzerrt vor Hass und Angst. Rhapsody erkannte die ersten beiden der Schwestern sofort. Rhonwyn war in den schwarzen Habit ihres Klosters gekleidet. Sie war blass und wirkte zerbrechlich und traumverloren. Im Gegensatz zu ihr wirkte Manwyn keck. Ihr flammend rotes Haar flatterte im Wind; ihre Spiegelaugen warfen das Sonnenlicht zurück. Doch alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die dritte Schwester, eine Frau, die größer als Achmed oder Ashe und nicht viel kleiner als Grunthor war, mit breiten Schultern und einem Gesicht, das beinahe schmerzhaft schön war. Anwyns Erscheinen hatte Rhapsody keineswegs erwartet. Sie war verblüffend und beängstigend. Ihre Haut war golden, wie wohl die ihres Vaters gewesen war. Das Gesicht wirkte zwar bezaubernd, aber die Linien waren so hart, als wären sie in Metall geschnitten. Und das Haar war kupfern wie bei Ashe. Die Sonne, die unmittelbar über ihr stand, spiegelte sich darin und blendete viele in der Senke. Sie schaute sich mit Drachenhaften Augen in der Versammlung um; ihre Augen aus stechendem Blau durchschnitten jeden, der es wagte, ihren Blick zu erwidern. Ihr Verdruss war unübersehbar. Achmed beobachtete sie mit großem Interesse. Unter all den mächtigen und alten Leuten hier besaß allein Anwyn eine ähnlich verblüffende Vollkommenheit wie Rhapsody. Er hatte zugesehen, wie die Cymrer als Volk unter Rhapsodys Bann gefallen waren und ein Blick auf die Sängerin oder ein Wort von ihr sie völlig verzaubert hatten. Doch während Rhapsody Liebe und Verlangen hervorrief, brachte Anwyns Erscheinen Einschüchterung und Angst mit sich. Sie wusste es; das war an dem Lächeln ihrer Augen abzulesen, nachdem sie sich einen Überblick über das Konzil verschafft hatte. Mit der Ankunft der Seherinnen war die Versammlung vollständig, und in der Senke wurde es ruhig. Die tiefe Stimme des Nain-Königs grollte zwischen den Reihen seiner Untertanen. Verärgerung lag darin. »Wer hat uns herbestellt? Mit welchem Recht wurde dieses Konzil zum ersten Mal seit tausend Jahren wieder ins Leben gerufen?« Achmed sah hoch zu Rhapsody, die auf dem Rufersims stand. Sie wirkte erstaunlich gelassen, selbst bei der Ankunft der Seherinnen, und als sie antwortete, war ihre Stimme ruhig und melodisch. »Ich bin diejenige, die das Hörn geblasen hat, Euer Majestät.« »Mit welchem Recht?«, wollte der alte Nain wissen. »Wir sind kein Konzil mehr, und viele haben nicht den Wunsch, noch einmal eines zu bilden.« Aus der Liringruppe am Rande der Ersten Flotte ertönte Oelendras Stimme und schnitt durch den Lärm in der Senke. »Sie ist die Königin der Lirin und die Iliachenva’ar«, verkündete sie. Sogleich erhob sich ein Murmeln und Flüstern unter den Nain. »Unwichtig«, rief Anwyn. »Du hast nicht einmal das Recht, dieses Hörn zu berühren, Mädchen. Dieses Recht steht der Herrin oder dem Herrn der Cymrer zu, genau wie das Recht, das Konzil einzuberufen.« »Unsinn«, rief Anborn aus der Dritten Flotte. »Das ist das Hörn der Cymrer und dient dazu, in Notzeiten oder zur Einberufung des Konzils geblasen zu werden, wozu jede cymrische Seele das Recht hat. Sein Gebrauch unterliegt keinerlei Beschränkungen, und es handelt sich bei ihm nicht um persönliches Besitztum.« Sein eiserner Ton führte dazu, dass jedermann in der Versammlung die Luft anhielt. Anwyns Wut loderte auf, und ihre Augen leuchteten in einem noch kräftigeren Blau. »Du solltest vorsichtig sein, Anborn. Ich habe dich vor vielen Jahrhunderten verstoßen. Willst du mich jetzt hier herausfordern?« Anborn erwiderte ihren Blick, sagte jedoch nichts. Die Luft wurde knisternder, und der Himmel verdunkelte sich, als dünne Wolken sich verdichteten und regenschwer wurden. Einen Moment später lächelte Anwyn. »Ich glaube nicht. In Anwesenheit von Zeugen ist es für einen Verräter besser zu schweigen.« »Verräter?«, rief einer der Lirin aus der Ersten Flotte »Wieso kannst du einen anderen des Verrats anklagen?« Zustimmendes Gemurmel stieg um den Sprecher auf. Anwyn drehte sich langsam um und starrte den Mann an, der unter ihrem Blick im Boden zu versinken schien. Er zitterte vor Angst und konnte den schlangenhaften Blick der Drachin nicht abschütteln. »Großmutter!«, rief Ashe. Seine Stimme war in der wieder eingekehrten Stille deutlich zu hören. »Wir befinden uns im Konzil! Das Gesetz des Gerichtshofes verbietet dir, jemanden aus der Versammlung anzugreifen. Das weißt du besser als alle anderen!« »Seit wann hält sich Anwyn an das Gesetz?«, rief jemand aus der Zweiten Flotte. Anwyn beachtete diese Einwürfe nicht und richtete ihren stechenden Blick auf Ashe. »Wendest du dich ebenfalls gegen mich? Schlägst du dich auf die Gegenseite?« »Es ist nicht nötig, sich auf eine Seite zu schlagen. Ich betone nur, dass du gerade dabei bist, deine eigenen Regeln zu brechen. Ob es dir gefällt oder nicht unsere Anwesenheit hier beweist, dass wir uns offiziell zum Konzil zusammengefunden haben, und Ihre Majestät hat uns hergerufen.« »Wenn wir wirklich ein Konzil bilden, dann hat dieses Mädchen nicht das Recht, ihm vorzustehen«, gab Anwyn zurück und wandte sich wieder an Rhapsody. »Es gibt kein Konzil ohne den Vorsitz eines Herrschers oder einer Herrscherin. Es gab, gibt und wird immer nur eine Herrin der Cymrer geben. Ich bin die Vorsitzende dieses Konzils! Komm herunter, Mädchen!« Sie schritt durch die Senke bis zum Fuß des Sprecherhügels und wollte zur Kanzel hinaufsteigen. In der Senke brach ein Aufruhr aus. Worte der Verdammnis und des Unglaubens erfüllten die Luft und erstickten alle Versuche Rhapsodys, wieder Ordnung zu schaffen. Achmed glaubte zu erkennen, dass Anwyns Lächeln breiter wurde, als der Tumult sich verstärkte. Anborn sprach heftig mit Edwyn Griffyth, der in den Himmel schaute und wütend auf Anwyn deutete. Die Flotten und die Diaspora hatten sich im Chaos verloren. Böse Rufe waren zu hören, und überall wurden Fäuste geschüttelt. Als Anwyn den ersten Kamm der Anhöhe erreicht hatte, stellte sie sich aufrecht und grinste stolz. Sie genoss die Verwirrung, die sie hervorgerufen hatte. Einen Augenblick später wurde die Luft von dem Schall des Horns zerrissen. Die Versammlung erstarrte, und selbst Anwyns Gesicht wurde bleich vor Entsetzen. Das letzte Echo des Tons verhallte und nahm das böse Gemurmel mit sich. Rhapsodys Gesicht drückte eine große Ruhe aus, als sie das Hörn von den Lippen nahm. Achmed lächelte über die Anmut, mit der sie handelte. Nur an der Farbe ihrer Augen konnte er ablesen, wie wütend sie war. »Es scheint Uneinigkeit über deinen Anspruch zu geben, Anwyn«, sagte sie höflich. »Was der Pöbel sagt, ist ohne Bedeutung für mich«, antwortete diese. Der stumme Hass, der sich in beinahe greifbaren Wogen vom Boden der Senke erhob, berührte sie nicht. »Ich bin die Herrin der Cymrer. So lange ich lebe, kann es keine andere geben.« Wieder wurde die Luft von hässlichen Rufen erfüllt. Freiwillige boten sich an, diese Situation sofort zu ändern. Wütende Stimmen erhoben sich allerorten. Anwyn starrte kalt auf die Menge herab, die von ihr forderte herunterzukommen. Die tiefe Stimme eines der alten Seren übertönte alle anderen. »Trotz deiner Behauptung wirst du aus diesem Konzil verbannt und deiner Stellung entkleidet. Hier trägst du keinen Titel mehr.« »Ich erkenne die Autorität des Konzils zu einem solchen Akt nicht an«, erwiderte Anwyn eisig. »Du erkennst sie nicht an?«, rief Anborn wütender, als man ihn je gesehen hatte. »Wieso maßt du dir das Recht an, überhaupt irgendetwas anzuerkennen? Das alte Konzil hat dich zur Herrin ausgerufen. Nachdem du dich selbst entehrt und uns beinahe vernichtet hast, haben wir dich verbannt!« Anwyn richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und starrte den ihr fremd gewordenen Enkel an, dessen Worte die Menge wieder zum Verstummen gebracht hatten. »Du bist genau der Richtige, jemanden der Entehrung zu bezichtigen, du Nichtswürdiger. Mein Recht auf dieses Land entspringt einem Erbe, das älter als alles andere ist. Mein Blut ist das älteste in diesem Land. Ich bin das Kind Merithyns, des Entdeckers, und der Drachin, deren Reich dieses hier war, lange bevor ihr herkamt. Ich bin das Bindeglied! Meine Existenz ist das Symbol für den Bund zwischen den Cymrern und diesem Land und für die Einheit des Blutes der Ältesten von der Insel Serendair und der hier lebenden Erstgeborenen. Wer kann das sonst noch von sich behaupten? Wer kann mein Recht infrage stellen?« »Eigentlich ...«, begann Edwyn Griffyth, doch seine Worte wurden von Anwyns weiterem Wortschwall erstickt. »Ich bin die Seherin der Vergangenheit, das Kind der Alten, das lebende Zeichen für die Einheit des Volkes mit dem Land. Ohne mich wäret ihr in das Meer zurückgetrieben worden, aus dem ihr hervorgekrochen seid! Ihr verdankt mir euer Leben. Was glaubt ihr, wer ist verantwortlich für eure Langlebigkeit, eure Unsterblichkeit? Wer unter euch hat das Recht, mich in Verruf zu bringen?« Schweigen setzte ein. Als das Echo ihrer Stimme verhallte und keine Antwort erfolgte, blickte Anwyn mit siegreichem Lächeln hinab auf die stille Menge. Sie sah sich in der cymrischen Versammlung um. Mit durchdringenden blauen Augen starrte sie die Menschen an, über die sie einst geherrscht, mit denen sie einst gekämpft und gegen die sie einst gefochten hatte. Einen Moment lang ruhte ihr Blick auf Oelendra. Das Lächeln wich aus ihrem Gesicht und wurde von sengendem Hass abgelöst. Die lirinsche Kriegerin erwiderte ihren Blick, ohne die Augen niederzuschlagen. Anwyn zitterte vor Wut, erhob die Hand und deutete anklagend auf die alte Frau. »Ich habe das Recht, dich in Verruf zu bringen.« Ashes Stimme durchbrach die Stille, und aller Augen wandten sich in seine Richtung. »Du hast deine Stellung als Seherin missbraucht. Du hast mich belogen.« Leises Gemurmel schwang erneut durch die Menge, diesmal eher von Erstaunen als von Wut gefärbt. Anwyns goldenes Gesicht nahm eine beinahe purpurne Färbung an. »Blasphemie! Ich habe dir nicht die Unwahrheit gesagt.« »Nein, du hast mir eine Halbwahrheit gesagt. Du hast das, was du gesehen hast, verändert und mir nur das berichtet, was ich wissen sollte, aber nicht das, was ich wissen musste oder worum ich gebeten hatte. Das ist dasselbe wie eine Lüge, Großmutter. Du hast den letzten Rest von Vertrauen zerstört, den ich noch in dich hatte. Deine Lüge hat mir das Herz gebrochen, doch das betrifft nur mich allein, und deshalb könnte ich dir vergeben. Aber indem du dich entschieden hast, mir die Wahrheit zu verheimlichen und mich unter deinem Daumen zu halten, hast du die Natur der Drei vor mir verborgen. Viel zu viele sind deshalb gestorben, Großmutter. Das war ein weiterer Verrat am cymrischen Volk und ihren Meisterkriegern, die umsonst auf der Suche nach einem Dämon abgeschlachtet wurden, den wir auch ohne den Einsatz ihres Lebens hätten besiegen können. Du wirst nie mehr Vergebung finden.« Er richtete den Blick auf Rhapsody. Der Rest der Versammlung vermutete, er werde nun weichen, doch Achmed, der knapp unter Rhapsody stand und in dieselbe Richtung wie sie blickte, sah mehr. Er wusste nicht, auf welche Lüge sich Ashe bezog, doch sie schien etwas mit der Sängerin zu tun zu haben. Er schaute hoch zu Rhapsody. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Vermutlich hatte auch sie keine Ahnung, wovon er redete, doch die plötzliche Aufmerksamkeit, die sich auf sie richtete, trieb ihr die Schamesröte auf die Wangen. Er war nicht der Einzige, der das bemerkte. Auch Anwyn starrte die lirinsche Königin an. Ihre Miene wurde hart; sie sah von Rhapsody zu Oelendra und zurück. »Komm herunter, Mädchen«, befahl sie. »Das ist mein Volk und mein Konzil. Ich bin die Herrin der Cymrer und räume dir nicht das Recht ein, hier den Vorsitz zu führen.« Rhapsody lächelte. Die Menge holte leise, aber hörbar Luft, um der Wut Ausdruck zu verleihen. Seit die Ersten in der Senke eingetroffen waren, hatte das cymrische Volk sein Herz an die sanfte Sängerin und die bescheidene Königin verloren, und Achmed wusste, wie stark ihre Verehrung war. Nun brodelte in ihnen tiefer Zorn über die beleidigende Art, in der Anwyn Rhapsody behandelte. Achmed war klar, dass sie dies genau begriff. Das war der Grund, warum sie lächelte. Es war ein Weg, die Lage zu entspannen, bevor es zu Ausbrüchen von Gewalttätigkeit kam. »Du solltest mich nicht Mädchen nennen, denn ich bin einige Jahrhunderte vor dir geboren«, sagte sie ruhig. Ein höhnisches Grinsen kräuselte die Lippen der Seherin. »Was soll das bedeuten, Mädchen?« Achmed verspürte keine Notwendigkeit, höflich zu sein. Seine sandige, kühle Stimme durchschnitt das Gemurmel wie ein Schwert. »Es bedeutet, dass dem Mädchen die Art nicht gefällt, wie sie von der Hexe angesprochen wird.« Lachen mischte sich in das schockierte Keuchen, das die Menge durchlief. Anwyns Gesicht verzerrte sich in Wut, und selbst Rhapsody wirkte erschrocken. »Du vergisst dich, Achmed«, sagte sie tadelnd. »Anwyn ist keine Hexe.« »Du hast Recht«, ertönte die gewaltige Stimme Grunthors. Die ganze Versammlung drehte sich bei diesem Laut um und sah den riesigen Firbolg-Kommandanten um Beherrschung kämpfen. Er schien die Schlacht zu verlieren, was eine schreckliche Aussicht war. Der Zorn, den die Cymrer wegen Rhapsody empfunden hatten, verblasste im Vergleich zu der Raserei in den Augen ihres lieben Freundes. »Sie ist ’ne blutige Harpye. Du solltest besser deine Zunge im Zaum halten und respektvoller mit Ihrer Majestät umgehn, oder ich reiß dir das raus, was eigentlich dein Herz sein sollte, und ess es roh.« Es handelte sich keineswegs um eine leere Drohung. Rhapsody gab Achmed, der neben dem Sergeanten stand, ein Zeichen. Er packte den Riesen am Ellbogen. Anwyn war blass geworden. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden, du untermenschliches Ungeheuer? Du Missgeburt der Natur! Deine Gegenwart besudelt diesen edlen Boden. Als deine Herrscherin befehle ich dir, den Gerichtshof sofort zu verlassen. Wenn du je wieder dein kannibalisches Gesicht in meiner Gegenwart erhebst, werde ich dich in den Schlamm drücken, aus dem du und dein Volk hervorgekrochen seid.« Sie warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Es war derselbe Angriff des Drachenauges, der zuvor den lirinschen Sprecher in eine zitternde Masse auf dem Boden der Senke verwandelt hatte. Grunthor zeigte keinerlei Reaktion. »Dann versuch’s doch, du Luder!«, brüllte er. Sein wütendes Rufen hallte von den Felswänden der Senke wider und erhob sich über die Zahnfelsen, wo sogar die Bolg in den Bergen es hörten und erschauerten. Er hastete von dem Vorsprung herunter, auf dem er gestanden hatte, und schoss auf den Sprecherhügel zu. Bei seinem schrecklichen Anblick keuchte die Menge auf. Er war die vollkommene tierische Stärke in Bewegung, siebeneinhalb Fuß hohe, wütenden Muskulatur, die nichts anderes als Töten im Sinn hatte. Er wäre im nächsten Moment am Fuß der Erhebung gewesen, wenn Achmed sich ihm nicht in den Weg geworfen hätte. Die lirinschen Cymrer, die unter Rhapsody gestanden hatten, waren indessen rasch zurückgewichen. »Erniedrige dich nicht selbst, Sergeant-Major«, sagte Achmed mit ernster Stimme. »Sie ist es nicht einmal wert, dir die Stiefel zu putzen. Besudele deine Hände nicht, indem du ihr die Kehle herausreißt, wie sehr sie es auch verdient haben mag.« Er sah dem Riesen ins Gesicht. Grunthor keuchte vor Zorn. Er hatte jeden Muskel angespannt, um zu verhindern, dass er Achmed einfach aus dem Weg schleuderte. »Als dein König befehle ich es dir.« »Nicht wert?«, ertönte die mächtige Trompetenstimme. Anwyn lachte, und dieser Laut fuhr der Menge schmerzhaft in die Ohren. »Ich, die Herrin der Cymrer, die Siegerin im Großen Krieg, bin es nicht wert? Das beweist, dass Prophezeiungen für gewöhnlich eine Enttäuschung sind.« Manwyn fuhr bei ihren Worten hoch und ballte die Hände zu Fäusten. »Mein Volk, seht euch die Drei an, eure angeblichen Retter, von denen meine Schwester gesagt hat, dass sie uns alle vom Zorn eines unsichtbaren Dämons erlösen werden. Seht sie in all ihrem Glanz. Da haben wir zunächst diese gigantische Missgeburt, ein Tier, das anscheinend vor kurzem aus einem Reisezirkus entkommen ist. Neben ihm sein edler Herr, Hoflieferant des Todes, der Mörder, der wie eine Hure jedem diente, der ihn bezahlte, und unterschiedslos jeden tötete, der ihm aufgetragen war...« »Ich glaube, sie meint mich«, sagte Achmed zu der Menge und hob die Hand. Er drehte sich zu Anwyn, deren Rede er mit seinem Einwurf unterbrochen hatte. Ein höhnisches Lächeln legte sich auf sein Gesicht. »Oh, es tut mir Leid, Annie, das war anmaßend. Oder hast du dich selbst gemeint? Sicherlich hast du dir diesen Titel besser verdient als ich. Hoflieferant des Todes? Meine Trophäen verblassen im Vergleich zu deinen. Im Gegensatz zu dir kann ich nicht behaupten, ein Viertel meines Volkes wegen eines häuslichen Streits ausgelöscht zu haben. Wenn Gwylliam dich härter geohrfeigt hätte, hätte er dir vielleicht das Genick gebrochen, und keiner von uns müsste jetzt deinen Wortschwall ertragen. Schade, dass er es nicht getan hat. Hure? Ich vermute, das trifft auch auf dich zu. Wer sonst würde sein Königreich und das seiner Verbündeten, der Lirin, an denselben Dämon verschachern, der schon einmal beinahe eine ganze Nation vernichtet hat? Und ihm die Möglichkeit verschaffen, es wieder zu tun? Und das alles nur, um sich an einem Narren von Gemahl zu rächen? Du bist die vollendete Hure, Anwyn. Komm von dem Grat herunter und verlasse mein Land, bevor ich beiseite trete und es zulasse, dass Grunthor dir den Kopf abreißt und deinen Schädel als Nachttopf benutzt.« Die Stille in der Senke war vollkommen; selbst die Natur gab keine Geräusche mehr von sich. Anwyns Gesicht war in Verwunderung erstarrt. Ihr ganzes Leben lang hatte niemand gewagt, so mir ihr zu reden. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, während sie ihre Antwort überdachte. Als sie damit fertig war, lächelte sie grausam. »Ich danke dir dafür, dass du mir den Titel einer vollendeten Hure gegeben hast, aber ich fürchte, ich kann ihn nicht annehmen. Er gehört jemand anderem in dieser Versammlung.« Sie wandte sich an Rhapsody. »Tretet vor, Euer Majestät, und ...« »Genug!« Ashes Stimme donnerte durch die Senke und hallte wider von den vielen verschiedenen Tonfärbungen des Drachen in seinem Blut. Er wusste, was jetzt kommen würde, und wollte lieber sterben oder Anwyn an Ort und Stelle töten, als das zuzulassen. Er wandte sich an die Seherin der Gegenwart. »Rhonwyn, wer ist die Herrin der Cymrer?« Die zerbrechliche Seherin schaute in den Himmel, während sich die Blicke der Menge auf sie richteten. »Es gibt keine Herrin der Cymrer«, sagte sie selbstverloren und wie im Traum. »So spricht die Seherin der Gegenwart, die unbestrittene Autorität!«, rief Ashe. »Meine Gefährten, in diesem Augenblick gibt es keine Herrin der Cymrer. Dein Anspruch wurde soeben zurückgewiesen, Großmutter!« 75 Nach einem Moment des Schweigens erbebte die Senke unter Rufen und Freudenschreien. Anwyn war wie vom Donner gerührt. Sie starrte hinüber zu Achmed und Ashe, die wie zufällige Mitverschwörer einander ansahen. »Ruhe!«, knurrte sie, und der donnernde Applaus verebbte. »Ihr seid ein führerloser Haufen und unfähig, den Unterschied zwischen königlichem Geblüt und einem selbstherrlichen Opportunisten zu erkennen, der ein Reich von Ungeheuern übernommen hat und sich selbst König nennt.« »Du irrst dich«, sagte Oelendra mit befehlender Stimme. »Ich glaube, jedermann hier ist in der Lage zu erkennen, wer der selbstherrliche Opportunist ist. Gib auf, Anwyn. Erspare dir weitere Demütigungen. Dieses Konzil ist zusammengekommen, um das wieder aufzubauen, was du zerstört hast, und das Vertrauen wiederherzustellen, das du und Gwylliam vernichtet habt. Die Drei haben dieses Land von dem Dämon befreit, für den nur du die Verantwortung trägst. Wenn du eine wirkliche Führerin wärest, hättest du uns nicht für deine kleinlichen Zwecke an den F’dor verkauft. Geh zurück in deine Höhle. Du gehörst der Vergangenheit an in jeder Hinsicht.« Anwyn drehte sich langsam in die Richtung Oelendras. Im Gegensatz zu den anderen, die sie bisher angegriffen hatten, war ihr diese Rede nicht gleichgültig. Die Bedachtsamkeit, mit der sie sich umwandte und sich der Anklägerin stellte, blieb der Menge nicht unbemerkt. Das ganze Konzil wurde still, als die Seherin in die Augen der Krieger in blickte. Unmaskierter Hass verzerrte ihr Antlitz. »So spricht die so genannte lirinsche Meisterin«, sagte Anwyn höhnisch und lachte spöttisch, als Oelendra die Nasenflügel blähte und ihre Augen in einer Abneigung blitzten, die jener der Seherin gleichkam. »Nun gut. Sehr bemerkenswert. Da es um Verrat und selbstsüchtiges Verhalten geht, hättest du besser geschwiegen, Oelendra, und über dein eigenes Verhalten nachgedacht. Ich vermute, du bist genauso dumm wie feige.« Laute, wütende Protestrufe ertönten hauptsächlich aus der Ersten Flotte und den Lagern der Lirin, doch der Lärm wurde beinahe sofort von einer Vibration in der Senke verschluckt. Anwyn hatte die Oberhand gewonnen, und sie wusste es. Triumph leuchtete in ihren Augen, während sie auf dem Felsvorsprung westlich des Rufersimses höher kletterte. Als sie auf dem höchsten Punkt des Rednerhügels angekommen war, streckte sie die langen Arme in einer feierlichen Geste gen Himmel, als ob sie Kraft sammeln wollte. Dann deutete sie auf Oelendra und lachte. Es war ein lautes, hässliches Lachen, das von den Felswänden der Senke widerhallte. »Du pathetische Heuchlerin!«, rief Anwyn und schaute herunter auf Oelendra. Unbewusst zog sich die Menge um die lirinsche Kampfmeisterin ein wenig zurück. Obwohl Oelendra noch von ihren Leuten umringt war, war sie doch allein. Rhapsodys Blut kochte. Sie versuchte, vom Rufersims herunterzukommen. Wenn niemand sonst Oelendra beistand, wollte wenigstens sie es tun. Doch ihre Füße waren wie angefroren. Sie konnte den Sims nicht verlassen. »Da steht sie, die heilige Kriegerin, der erklärte Feind des mythischen Dämons. Du hast dir einen guten Ruf geschaffen, nicht wahr, Oelendra? Die leidenschaftliche Kämpferin, einzigartig in ihrem Bemühen, uns von allem Bösen zu befreien, das Gwylliam unbeabsichtigt heraufbeschworen hat. Du lehnst die Anführerschaft ab, verweigerst dich der Macht und willst nichts anderes, als die Welt von den F’dor zu befreien. Du bist so edel. Wie viele sind zu dir gekommen und haben versucht, deine Ziele zu den ihren zu machen und gnadenlos ausgebildet zu werden, nur um dann ausnahmslos in den Tod zu gehen? Weinst du noch um sie, Oelendra? Trauerst du um die Blumen der Cymrer? Wo du doch die Macht hattest, sie alle zu retten?« Die Stille in der Senke wurde schwer. Selbst aus der großen Entfernung bemerkte Ashe, wie Oelendra die Lippen zusammenpresste. Der Hass in ihrem Blick wuchs. »Sag ihnen doch, Oelendra, warum sie alle hier sind. Sag ihnen, dass du schon vor Jahrzehnten den genauen Zeitpunkt und Ort kanntest. Manwyn hat dir in Gegenwart meines Sohnes gesagt, wann und wo du den Dämon vernichten würdest, als er noch so schwach war, dass du es ohne die Hilfe der Drei geschafft hättest. Leugnest du das etwa?« Ihre Augen blitzten, und ihre Stimme wurde rauer. »Leugnest du es?« Hunderttausend Augenpaare starrten Oelendra an Sie hielt den Kopf hoch erhoben, den Rücken und die Schultern gerade, doch etwas war aus ihrem Blick gewichen. »Nein«, antwortete sie. Ihre Stimme war kaum hörbar. Ein widerliches Lächeln kroch über Anwyns Gesicht. »Ich glaube nicht, dass jemand dich gehört hat, Oelendra«, höhnte sie und richtete sich noch mehr auf. »Was hast du gesagt?« Oelendra seufzte unhörbar. Rhapsody sah, wie das Licht aus ihrem Gesicht wich. »Nein«, wiederholte sie, und ihre Gegenwehr zerbrach. Ungläubiges Murmeln huschte durch die Senke; überall wurde geflüstert. Anwyn lächelte strahlend, weil es ihr gelungen war, ihre alte Feindin zu erniedrigen. »Du wusstest es und hast dich geweigert, zu gehen. Du hast dich vor deiner Verantwortung als Iliachenva’ar gedrückt, um deine Verpflichtungen als große und ruhmreiche lirinsche Meisterkriegerin erst gar nicht zu erwähnen. Gib es zu, Oelendra. Du hattest das, was du sonst niemandem zugestehst: Angst. Du hattest die Warnungen gehört, und das Risiko erschien dir zu groß, nicht wahr? Stattdessen hast du andere an deiner statt losgeschickt, die tausendmal mehr wert waren als du, damit sie für dich die Konsequenzen tragen. Mein Enkel, die Hoffnung der cymrischen Völker, ein Unschuldiger, hat unbeschreibliche Qualen erlitten und wegen deiner Feigheit seine Seele verloren. Deine Tatenlosigkeit hat ihn in die Fänge des F’dor getrieben. Gibst du das zu?« »Hör auf damit!«, rief Ashe. »Wer bist du, dass du sie so beleidigen darfst? Du, die den Diamanten der Reinheit zerstört hat, unsere einzige Waffe gegen den Dämon? Ich bin allein gegen den Dämon ins Feld gezogen; es war meine Entscheidung. Wenn ich sie für mein Schicksal nicht verantwortlich mache, warum tust du es?« »Warum?«, fragte Anwyn verächtlich. »Soll ich ihm den Grund dafür sagen, Oelendra? Vielleicht will er wissen, warum er nicht der Einzige ist, den du auf diese Weise ausgeliefert hast. Soll ich ihm und allen anderen von Pendaris berichten?« Oelendra zog ungläubig die Brauen zusammen. »Ja, Oelendra, vielleicht solltest du es ihnen selbst sagen. Sag ihnen, wie dein Gemahl gestorben ist. Sag ihnen, ob es auch geschehen wäre, wenn du deinen Verpflichtungen nachgekommen wärest.« Oelendras Gesicht wurde weiß. Selbst von seiner Position am Kopf der Zweiten Flotte aus spürte Ashe, wie ihr die Luft ausging. Diese Anklage war neu und riss eine frische Wunde in ihr. Anwyn stieß ein freudiges Krähen aus und deutete wieder auf die Kriegerin. »Aus diesem Grund sollte ich den Titel einer Herrscherin behalten. Ich allein kenne die Vergangenheit und die Geschichte der Cymrer. Ich kenne deine Geheimnisse. Nun, Oelendra? Sag es ihnen! Sag ihnen, wen du damals an den F’dor ausgeliefert hast. Wirst du uns allen in der Zukunft ein ähnliches Schicksal bereiten?« Nun brach die Versammlung in lautes Geschrei und Gerede aus, das noch verbitterter und heftiger war als zuvor. Ashe schaute hinüber zu Achmed; ihre Blicke trafen sich. Beide hatten denselben Gedanken: es bahnte sich ein Aufruhr an. Sie schauten hoch zum Rufersims und zu Rhapsody, doch sie hatte sich vorgebeugt und war ihren Blicken entzogen. Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkten die Männer, dass sie ihr Gepäck durchsuchte. Ihr Gesicht war ruhig, und als sich ihre Blicke mit denen Achmeds trafen, lächelte sie. Rhapsody nahm ihre Harfe und spielte darauf. Sofort er kannte Ashe die Melodie. Es war das Lied, das sie während seiner Benennungszeremonie gespielt hatte. Es hallte von den Wänden des Gerichtshofes wider; die Vibrationen verstärkten sich mit jedem Ton. Die Erde leuchtete überall dort auf, wo die Musik auf sie traf. »Anwyn«, sagte sie. Ihr sanftes Wort erstickte alle anderen Geräusche im Gerichtshof. Zornig über die Unterbrechung, wandte sich die Seherin zu ihr um. »Anwyn«, wiederholte Rhapsody. »Sei still.« Anwyn riss schockiert die Augen auf. Sekunden später hatte sie sich bereits wieder erholt, und ihr Gesicht brannte vor Zorn. Ihr Körper wand sich wie der einer Schlange, die gleich zustoßen würde. Während sie sich darauf vorbereitete, eine Antwort zu geben, versteiften sich ihre Halsmuskeln. In ihrem Blick lag ein Hass, den die Sängerin noch nie gesehen hatte. Rhapsody erwiderte den Blick. Ihr Gesichtsausdruck wirkte gelassen, sogar freudig schimmernd. Nur die Farbe ihrer Augen zeigte an, dass sie angespannt war. Sie hatten nun die Färbung von Frühlingsgras und blitzten in einem Licht, unter dem sogar die Seherin einen Moment lang zögerte. Dann sprach Anwyn, oder sie versuchte es wenigstens. Ihr Mund bewegte sich, doch kein Wort, kein Ton kam heraus. Mitleid stahl sich in Rhapsodys Blick, als Anwyn sich an den Hals griff, doch ansonsten blieb die Miene der Sängerin gelassen. Die Seherin zuckte vor Wut und wand sich in einem stummen Schrei. Als sie Rhapsody wieder ansah, war ihr Zorn der Angst gewichen. »Du hast wiederholt verlangt, dass andere deine Fragen beantworten sollen. Du hast dein Amt als Seherin der Vergangenheit verletzt, indem du eine Antwort für die Zukunft haben wolltest. Anwyn ap Merithyn, tuatha Elynsynos, ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit. Deine Handlungen sind nicht mehr im Gleichgewicht. Von nun an wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat. Du wirst nichts mehr über den Herrschaftsbereich deiner Schwestern, die Gegenwart und die Zukunft, sagen können. Niemand wird dich mehr aus einem anderen Grund aufsuchen. Also solltest du dein Wissen besser darbieten, denn sonst wirst du bald vollkommen vergessen sein.« Sie sang, und die Masse der Cymrer wurde still vor Erstaunen. Rhapsodys Stimme war süß, aber rauchig, erfüllt von Sorge, und ihr Lied erzählte von der Geschichte des Volkes, von seinem Grauen und Schmerz. Der Text war auf Alt-Lirin verfasst, sodass nicht jedermann ihn verstand, doch jene, die es taten, fingen an zu weinen. Ihre Tränen waren nicht die einzigen, denn um die Botschaft zu begreifen, war es nicht nötig, die Worte zu verstehen. Das Lied berichtete vom Krieg, dem Krieg in ihrer Heimat, und von der verzweifelten Flucht und dem Versuch, der Vernichtung zu entkommen. Es schwang sich zu einem schrecklichen Crescendo auf und mündete in eine Meeresarie, eine Geschichte ihrer Reise durch den Großen Sturm in die neue Welt, und erzählte schließlich von dem Wunder der Entdeckung des Landes. Auch Ashe weinte ergriffen, doch er spürte, wie sich ein Lächeln über sein Gesicht legte, als das Lied sich abermals wandelte. Er erkannte, dass es sich bei dem Lied um eine Rhapsodie handelte, deren einzelne Sätze sich bei jeder Legende änderten. Diese Vorstellung erfreute ihn irgendwie. Er lauschte verzückt, als sie das Wunder besang, durch das sie den Weißen Baum gefunden hatten. Es folgte das Treffen mit den Ureinwohnern, die Vereinigung der Drei Flotten und all die ruhmreichen Tage des cymrischen Zeitalters, in dem die großen Städte erbaut wurden, tiefes Wissen erworben und ein besseres Leben für das Volk erzielt wurde. Als die Herzen der Masse in der bewegenden Erinnerung schwangen und Stolz auf allen Antlitzen lag, wechselte die Melodie erneut. Nun wurde sie heimtückisch, heimlichtuerisch und gefährlich. Dissonanzen deuteten den Zusammenbruch der vorangegangenen traumgleichen Melodie an. Das Licht in den Gesichtern der Cymrer schwand, und ihre Augen verdunkelten sich, als das Lied vom großen Krieg berichtete, von der Zerstörung Tomingorllos und der lirinschen Festung Haner Til, der Niederlage der Dritten Flotte und den Schlachten in Canrif und Bethe Corbair sowie von Verwüstung und Völkermord sprach, welche die schwärzesten Stunden der siebenhundertjährigen Geschichte des sinnlosen Blutvergießens markierten. Die Schmerzen, die das Lied zum Ausdruck brachte, spiegelten sich in den Mienen der Anwesenden wider, und sie schluchzten haltlos. Die Melodie wurde noch zermürbender, unbarmherziger, war wie der Krieg selbst. Kurz bevor sie den Mut der versammelten Cymrer vollends brach, sank sie zu Stille herab und wurde nur noch durch einen einzigen, langen und schwingenden Ton aufrechterhalten. Aus diesem einen Ton erblühten sanfte Harmonien, dann einfache Weisen, die sich zu einem Konzert steigerten, das von tiefen Tönen akzentuiert wurde. Das dunkle, einfache Mantra der Harfe verlieh dem frischen, frühlingshaften Lied große Tiefe. Es war eine Sinfonie des Wiederaufbaus, des Wechsels, der Wachsamkeit, der Angleichung und standhaften Aufrechterhaltung von Traditionen. Es war das vollkommene Zeugnis der Cymrer, wie sie jetzt waren. Nun lächelte Rhonwyn, die zarte Schwester, und sagte: »Wir sind hier. Das ist das Jetzt.« Rhapsodys Musik brach abrupt ab. »Du hast Recht«, sagte sie zu Rhonwyn mit einem Lächeln unübertrefflicher Sanftheit. »Und daher müssen wir aufhören, denn das ist nicht mehr deine Zeit, Anwyn.« »Was ist mit der Zukunft?«, rief eine Stimme mitten aus der Versammlung. »Sag es uns! Gib uns Hoffnung!« Der Ruf wurde von der Menge aufgenommen. Zehntausende Stimmen forderten das Ende des Liedes zu hören. Die Stimmen waren wie ein Erdbeben, das durch den Gerichtshof zitterte. »Habt einen Augenblick Geduld«, antwortete Rhapsody ihnen. »Das ist nicht ihre Sache, sondern unsere. Ehrt Anwyn. Sie verlässt uns jetzt.« Der Hass in Anwyns Augen war verschwunden und von Tränen der Trauer und Verwunderung ersetzt worden. Sie versuchte noch einmal zu sprechen, konnte es aber nicht. Sie sah Rhapsody an und fand in ihrer Miene keine Schadenfreude, keinen Sieg, sondern nur Frieden. Das Entsetzen über die Erkenntnis, dass sie nicht mehr die einzige cymrische Herrin war, welche die Vergangenheit des Volkes verstand, war für alle Zuschauer deutlich zu sehen. Zum ersten Mal in der Erinnerung des cymrischen Volkes neigte sie den Kopf. »Meine Huldigung an dich ist zu Ende. Geh jetzt, Herrin der Vergangenheit«, sagte Rhapsody freundlich. »Geh und bringe deine Erinnerungen in Ordnung. Wir werden großartige neue erschaffen, die du schon bald berücksichtigen kannst.« Anwyn sah Rhapsody noch einmal böse an, verließ dann den Gerichtshof und verschwand. Rhapsodys Blick suchte Oelendra und lächelte, als sie die alte Kämpferin entdeckt hatte. Sie hielt die Harfe hoch wie eine Waffe, und die beiden Frauen tauschten einen Blick tiefen Verstehens aus. Das war es, was ich gemeint hatte, sagte sie damit. Es gibt viele Arten von Waffen, und alle sind zur gegebenen Zeit mächtig. Oelendra erwiderte ihr Lächeln nicht. Sie nickte, drehte sich um und verschwand in der Menge. Das Brüllen der Masse überschwemmte Rhapsody wie eine Meereswoge. Es fuhr durch ihren Körper und ihre Seele, und mit einem Mal fühlte sie sich im Einklang mit ihnen. Sie suchte in der Menge nach bekannten Gesichtern. Ihr Blick fiel auf Ashe. Das Sonnenlicht war durch den wolkenverhangenen Himmel gebrochen und erleuchtete das rotgoldene Haar, dass es wie Feuer loderte. Die stechenden blauen Augen waren selbst aus der großen Entfernung deutlich zu erkennen. Sie waren auf Rhapsody gerichtet und brannten mit einer Eindringlichkeit, unter der sie errötete. Plötzlich fühlte sie sich schlecht, allzu deutlich den Blicken ausgesetzt, und sah sich nach einem Zufluchtsort um. Doch Ashes Starren war dasselbe wie bei all den anderen in der Menge. Wohin sie auch schaute, waren die gleichen bohrenden Blicke auf sie gerichtet. Am liebsten wäre sie von dem Sims verschwunden. Mit jedem Schlag ihres Herzens wurde der Lärm lauter. Man rief nach der Fortführung ihres Liedes, man bat darum, den Rest zu hören, man bedrängte sie, die Zukunft zu enthüllen. Rhapsody räusperte sich und wischte sich heimlich den Schweiß von den Handflächen. »Geht nicht so rasch über die Vergangenheit hinweg«, sagte sie zu der lärmenden Menge. »Bevor ihr entscheiden könnt, was geschehen wird, ist es notwendig zu entscheiden, was in diesem Augenblick geschehen soll. Ich wollte gerade Eure Frage beantworten, warum sich alle hier versammelt haben, Euer Majestät, als es zu dieser kleinen Unterbrechung kam.« Gekicher wurde laut, während Rhapsody sich vor Faedryth verneigte, dem König der Nain, der sie anlächelte und die Verbeugung erwiderte. »Wenn ihr der Prophezeiung Glauben schenkt, wisst ihr, dass der Tod des Dämons das Zeichen ist, diesem Land und dem cymrischen Volk Einheit und Frieden wiederzugeben. Der Dämon ist tot. Es ist Zeit, die Meinungsverschiedenheiten beiseite zu schieben und wieder ein Volk zu werden.« Eine mit Trauer erfüllte Stimme erhob sich aus der Versammlung der Meeresmagier. »Wie kannst du nach dem, was wir gerade mit angesehen haben, nur darauf hoffen? Auch bevor diese Teufelin in unsere Mitte trat, gab es in dieser Versammlung Feindseligkeit und Hohn. Ist es nicht besser, wenn wir wie zuvor mit den Ureinwohnern zusammenleben, ein Teil von ihnen werden und vergessen, was wir einst gewesen sind?« Zustimmendes Gemurmel und Widerspruch regten sich überall. »Aber das tut ihr doch«, meinte Rhapsody. »Die Cymrer leben mit den Völkern der verschiedenen Länder zusammen. Als ihr in dieser Welt angekommen seid, wart ihr ein abgesondertes Volk. Ihr wart Flüchtlinge und habt ein einiges Königreich gebildet. Das ist nicht mehr der Fall. Jahrhunderte des Krieges und der Anpassung haben das geändert. Seht euch doch um. Beinahe die Hälfte von euch sind heute einem Ruf gefolgt, den ihr nicht verstanden habt. Ihr wusstet nicht einmal, wer ihr seid, aber dennoch waren die Macht, die euch als Cymrer gerufen hat, und das Verlangen, diesem Ruf zu folgen, stark genug. Ihr seid ... wir sind Teil des Landes, in dem wir leben. Wir sind Leute verschiedener Nationen, verschiedener Rassen, haben verschiedene Könige und Königinnen, Prinzen und Herzöge, doch wir stehen hier als Gleiche, als Cymrer. Wenn etwas Gutes aus dem Grauen von Anwyns und Gwylliams Krieg erwachsen ist, dann ist es der Umstand, dass wir keine Flüchtlinge mehr sind, sondern Teil dieses Landes.« »Und warum sollte es nicht so bleiben?«, fragte ein kleiner Mann aus der Gruppe der Gwadd, die vorn in der Zweiten Flotte standen. »Wir haben schon so viel Krieg und Blutvergießen ertragen.« »Genau das ist der Grund«, antwortete Rhapsody. »Der große Krieg war schrecklich, aber er ist noch nicht wirklich vorbei. Überall um uns herum gibt es Raubzüge und mörderische Überfälle, die dieses Land erneut an den Rand eines Krieges geführt haben, und diesmal wird alles noch viel schrecklicher sein. Anstatt um die Ehre unehrenhafter Anführer zu kämpfen, werdet ihr aus Hass und Vorurteilen ins Feld ziehen. Die Saat dazu wird schon seit mehr als vierhundert Jahren gesät. Nun habt ihr die Gelegenheit, zu einem Konzil zusammenzukommen, das die Herrschaft der verschiedenen Königreiche anerkennt, aber für friedliche Beziehungen über den ganzen Kontinent hinweg sorgen kann. Schuldet ihr diesem Land, das euch aufgenommen hat, als ihr vom Sturm hin und her geworfene Flüchtlinge wart, nicht wenigstens dies? Nach allem, was dieser Ort euch gewährt hat? Nach all dem Schrecken, den ihr über ihn gebracht habt? Wenn ich eine Botschaft für euch habe, dann diese: Die Vergangenheit ist vorbei. Lernt aus ihr und lasst sie los.« Rhapsody schluckte heftig, um den Knoten aufzulösen, der sich in ihrem Hals bildete. Tränen füllten ihre Augen. Sie lernte diese Lektion selbst, während sie zu dem Volk unter ihr sprach. Sie sah auf Anborn, der im Mittelpunkt der Senke stand und sie breit anlächelte. Ein Ausdruck der Ermunterung erschien auf seinem Wettergegerbten Gesicht. »Wir müssen einander vergeben. Wir müssen uns selbst vergeben. Nur dann werden wir wahren Frieden finden.« Sie sah sich nach Oelendra um, konnte sie in der Menge aber nicht entdecken. Stattdessen ruhte ihr Blick nun auf Ashe, der sie mit einer Eindringlichkeit anstarrte, die ihr Herz schneller schlagen ließ. »Ich weiß, ich bin keine von euch. Ich bin mit keiner der Flotten gesegelt. Ich habe Serendair vor dem Krieg verlassen und bin erst nach ihm hier eingetroffen. Ich habe nicht so gelitten wie ihr, aber selbst ich habe so viel ertragen, dass ich am Ende bin. Die Lirin haben mich aufgenommen, mir eine Heimat geboten und mir die Ehre verschafft, sie zu repräsentieren. Das Konzil kann ein Ort sein, an dem sich die Nationen von Roland, Tyrian und Sorbold treffen und miteinander unter der Führerschaft eines Herrschers und einer Herrscherin verhandeln, die ihre Unabhängigkeit anerkennen, selbst aber Hochkönig und Hochkönigin sind. Es läge in ihrer Verantwortung, für dauerhaften Frieden zu sorgen. Jedes dieser Länder wird von Cymrern beherrscht, genau wie das Reich der Nain, Manosse und die Insel der Meeresmagier. Ich schlage euch dieses vor: Lasst eure Länder unter der gegenwärtigen Führerschaft und vereinigt euch als cymrisches Reich unter einem Hochkönig und einer Hochkönigin. Tretet zum Konzil zusammen, um Krieg zu vermeiden, den Frieden zu festigen und die Nationen wieder groß zu machen. Seid ein einiges Volk. Lebt in euren eigenen, getrennten Gebieten, aber steht zusammen in euren Zielen, so wie es war, als ihr in dieses Land gekommen seid. Lebt gemäß Gwylliams Worten. Wenn ihr das tut, verspreche ich euch, dass die Lirin die Worte der Königin Terrell erfüllen und sich euch im nächsten cymrischen Zeitalter als neue loyale Nation zugesellen werden.« Erneut brandete der Lärm der Menge über sie hinweg. Sie stemmte sich dagegen wie gegen einen Sturm. Nun frohlockte die Versammlung, sie klatschte Beifall und brüllte ihre Zustimmung heraus. Der Felssims unter ihren Füßen summte, als wäre er vor Kraft lebendig, und in ihrer Seele spürte sie, wie das gemeinsame Einverständnis der Cymrer von der Erde selbst bestätigt wurde, aus der die Senke herausgeschnitten war. Sie lachte in lauter Verwunderung. Der Gerichtshof war ein Ort, der die Weisheit der Leute dem Konzilsvorsteher offenbar machte, indem er sie durch den Rufersims leitete. Die gesamte Menge konnte eine Abstimmung tätigen, ohne dass Stimmzettel ausgefüllt oder Hände gezählt werden mussten. Einen Augenblick später löschte ein ernüchternder Gedanke das Lächeln aus ihrem Gesicht. Als Anwyn und Gwylliam hier gestanden hatten, hatten sie die Wünsche und das Verlangen ihres Volkes gespürt. Sie hatten sich darüber hinweggesetzt, um das zu bekommen, was sie haben wollten. Das war ein weiterer Betrug gewesen. Es drehte Rhapsody den Magen um. Die Versammlung hatte sich zu erregtem Geschnatter aufgelöst, als die Cymrer darüber redeten, was sie als Nächstes tun sollten. Rhapsody hielt die Hand hoch und zuckte unter der sogleich einsetzenden Stille zusammen. »Ich bin fertig für heute«, sagte sie. »Ich habe euch zusammengerufen. Jetzt müsst ihr dafür sorgen, dass ihr eure Ziele unter einer geeigneteren Führerschaft erreicht. Sind einer oder mehrere unter euch, die die Verantwortung für den Vorsitz des Konzils übernehmen wollen?« Hunderttausend Augenpaare blinzelten bei ihren Worten. »Bitte«, sagte sie etwas ängstlicher. »Ihr habt viel Arbeit vor euch, viele Streitigkeiten beizulegen, und das kann nicht jeder für sich selbst tun. Möchte wenigstens jemand die Rolle eines Sprechers für jede der drei Flotten übernehmen? Vielleicht sollten die Herrscher jedes Fürstentums und die Regenten der verschiedenen Länder vortreten. Sie bleiben hier, nachdem die allgemeine Versammlung beendet ist, damit sie die Einzelheiten des neuen Bündnisses besprechen können.« Die Cymrer in der Menge sahen einander an. Achmed trat vor. »Ich spreche für die Firbolg«, sagte er, »sowohl für diejenigen von cymrischer Abstammung als auch für die gesamte Nation als mögliches Mitglied des Bündnisses.« »Und ich für die Nain«, sagte Faedryth und erntete Zustimmung. »Ich vertrete die Fürstentümer von Roland«, ertönte die Stimme von Tristan Steward. Seine Bemerkung wurde ebenfalls mit allgemeiner Anerkennung bedacht. Einer nach dem anderen traten die Sprecher vor, um die verschiedenen Länder, Rassen und gewachsenen Vereinigungen zu repräsentieren. Rhapsody sah sich um und versuchte Oelendra zu finden, doch sie war nirgendwo zu sehen. Schließlich ernannte sie Rial als Sprecher für die Lirin, denn sie verließ sich auf seine Kenntnisse über den Krieg sowie auf seine gegenwärtige Stellung als Vizekönig von Tyrian. Ashe wurde als Oberhaupt des Hauses Neuland gewählt, um für die Zweite Flotte und die Cymrer aus Manosse zu sprechen. Schließlich wurden Sprecher für alle Gruppen außer den anderen beiden cymrischen Flotten nominiert und bestätigt. Aus der Dritten Flotte erhob sich der Ruf: »Anborn! Wir nominieren Anborn ap Gwylliam!« Die Senke hallte von der Zustimmung der Flottenmitglieder wider, auch wenn viele aus der Ersten Flotte in steinernes Schweigen verfielen. »Seid ihr damit einverstanden?«, fragte Rhapsody die Dritte Flotte gemäß dem Wahlvorgang. »Ja«, kam die einstimmige Antwort. Anborn trat ohne eine Spur seiner sonstigen Anmaßung hervor. Wie jeder der Sprecher vor ihm verneigte er sich vor der Ruferin, doch als er sich wieder aufrichtete, sah Rhapsody, wie er ihr verstohlen zuzwinkerte. Sie spürte, wie ihr Widerstreben gegen die bevorstehende Hochzeit allmählich schwand. Ihre Beziehung würde angenehm und unkompliziert sein. Sie gewann ihn lieb. Sie hatte Ashe nicht mehr angesehen, seit er an der Reihe war. Schließlich kam die letzte und schwierigste Frage. Wer sollte für die Erste Flotte sprechen für die Cymrer, die auf Anwyns Seite gekämpft hatten, und für ihre Abkömmlinge? Die größte Anzahl der Überlebenden des Krieges stammte aus dieser Gruppe, auch wenn viele sich in andere Gemeinschaften begeben hatten und Bewohner anderer Länder geworden waren. Diese Frage wurde unter heftigem Geflüster und Gemurmel auf dem Boden der Senke beredet. Rhapsody stand geduldig da und wartete auf die Antwort, während sie sich wünschte, sie hätte bequemere Schuhe gewählt. Dann ertönte ein Ruf aus einer Menschengruppe. »Ich schlage Gwydion ap Llauron auch als Sprecher der Ersten Flotte vor.« Die Menge lärmte wieder. Diese Nominierung erregte viele Diskussionen und großen Beifall. Rhapsody trat vor und stellte der Ersten Flotte dieselbe Frage wie der Dritten, als Anborn sie mit einer Stimme unterbrach, bei der die Menge sogleich verstummte. »Ich protestiere«, sagte er. 76 Anborn wandte sich an Ashe, während die Menge wieder die Stimme erhob. »Es tut mir Leid, Junge, das ist nicht persönlich gemeint. Ich fürchte, die Lage ist ein wenig komplizierter.« Ashe nickte schroff und sah wieder Rhapsody an. Viel komplizierter, dachte er wehmütig. Streit brach aus. Es war keine drohende Gewalt wie zuvor, doch eine heftige Debatte darüber, wer der geeignete Führer der Ersten Flotte wäre. Eine Stimme war über allen anderen zu hören. »Das Recht über die Erste Flotte steht Edwyn Griffyth zu«, sagte Hyllion, ein lirinscher Adliger, der um Rhapsodys Hand angehalten hatte. Die Erste Flotte spendete ihm Beifall. »Führe uns an, Edwyn Griffyth!« »Lasst mich aus dem Spiel«, knurrte Edwyn Griffyth, und die Menge verstummte für einen Moment. Es war das erste Mal, dass die Versammlung ihn sprechen hörte. »Ich würde sonst in Versuchung kommen, euch bis zum Ende der Welt zu führen und über den Rand zu stoßen. Vor kurzem habe ich noch den närrischen Glauben gehegt, es könnte Hoffnung für euch alle geben. Aber ihr macht es schon wieder. Ihr legt denselben blinden Gehorsam an den Tag, aus dem ihr meiner Mutter in eure Vernichtung gefolgt seid! Wählt jemanden, der für euch spricht und dem ihr nicht untersteht, bloß weil er mit dem Schiff eurer verdammten Vorfahren hergekommen ist. Schwört euren Treueid dem neuen Herrn und der neuen Herrin.« Die versammelten Cymrer beredeten sich erneut. »Dann Oelendra«, schlug eine andere Stimme vor, und nun gab es eine Veränderung im Ton des Gemurmels. »Sie hat uns nach dem Sturm angeführt, der Merithyn verschlungen hat, und uns sicher in dieses Land gebracht, wo wir uns in Frieden niedergelassen haben.« Die Menge murmelte zustimmend und sang dann ihren Namen. »Ich lehne ab«, ertönte eine ruhige Stimme von einem Hügel in einiger Entfernung der Versammlung. Rhapsody schaute auf und sah die alte Kriegerin am Rande der Senke stehen. Sie drehte sich um und entfernte sich noch etwas weiter. Rhapsody sank das Herz. Sie wusste, dass es ihre Pflicht als Ruferin war, neutral zu bleiben, doch sie wollte unbedingt etwas Ermutigendes sagen. Sie sah hinunter auf Grunthor und lächelte. »Wir müssen uns selbst vergeben«, wiederholte sie sanft. Ihre Worte hallten durch die Senke. »Richtig«, pflichtete ihr der riesige Firbolg bei. »Geht mich zwar nichts an, aber ich glaub, du bist die richtige Wahl. Wenn die Flotte auf dich gehört hätte, wäre sie nie in diesen dämlichen Krieg geraten. Und wenn die Lirin auf dich gehört hätten, wär’s ihnen besser ergangen, nich wahr? Und wenn die alte Annie auf dich gehört hätte, warn wir alle schon zu Hause beim Abendessen und müssten nicht ’nen verdammten Kontinent zusammenführen, oder? Was sagst du, Mädchen? Gib ihnen die Gelegenheit, es diesmal richtig zu machen.« Nach einem Augenblick voll des stillen Erstaunens über die Rede des Sergeanten brach die Erste Flotte in Jubelrufe aus und rief laut ihren Namen. Rhapsody warf Grunthor eine Kusshand zu. Dann drehte sie sich nach Oelendra um. Selbst aus der großen Entfernung erkannte Rhapsody das Schimmern der Tränen in den Augen der Kriegerin. »In Ordnung«, sagte sie, und die Jubelrufe wurden zu lautem Beifall. »Gut«, meinte Rhapsody und blinzelte die eigenen Tränen fort. »Ich schlage vor, die einzelnen Sprecher kommen in einem der Tagungszimmer in Ylorc zusammen, während der Rest feiert und sich besser kennen lernt. Vielleicht erzeugt das genug guten Willen, der uns in den nächsten Tagen weiter hilft, damit wir einen Herrscher und eine Herrscherin wählen und noch weitere Aufgaben in Angriff nehmen können. Ihr habt nach der Zukunft gefragt. Hier machen wir sie.« Sie ergriff wieder ihre Harfe. Die ganze Versammlung schöpfte gespannt Atem. »Wisst ihr, ich bin nicht Manwyn«, sagte Rhapsody, während eine Spur von Humor in ihren Blick zurückkehrte. »Ich kann euch nur sagen, was meiner Meinung nach möglich ist. Es liegt an euch, ob ihr es wahr macht oder nicht.« Sie gab einem kleinen, goldhaarigen Kind aus der Abordnung der Lirin ein Zeichen. »Arie, du bist die Zukunft. Komm her und sing mit mir.« Das Kind rannte zum Fuß des Rufersimses. Sie spielte wieder. Diesmal war es eine flotte Melodie: ein Gwadd-Lied aus dem alten Land mit dem Titel »Hell fließt der Wiesenstrom«, ein Liebeslied an die welligen Hügel und Weiden, welche die Heimat des kleinen Volkes waren. Während sie sang, traten einige von ihnen gemeinsam mit weiteren kleineren Rassen, mit denen sie sich vermischt hatten, neben den goldhaarigen Jungen. Sie standen gebannt da und lauschten. Einige wagten mitzusingen. Die kleinen, spitzen Gesichter leuchteten; die großen Augen glitzerten, und die schlanken Gestalten der Gwadd warfen lange Schatten in der Nachmittagssonne. Als das Lied von ihnen aufgenommen wurde, wob Rhapsody ein anderes hinein, das einzige Nain-Lied, das sie je gelernt hatte. Es handelte sich um ein Minenlied, das in den Höhlen gesungen wurde, während das Volk im Nachtberg seiner endlosen Arbeit nachging und die Schätze der Erde hervorholte. Das Lied wurde sofort von zehntausend Nain-Stimmen aufgenommen, von Stimmen, so reich und tief wie die Erde, in der sie lebten. Rhapsody hatte eine Tonart gewählt, die mit dem Gwadd-Lied harmonierte, und als sie gemeinsam sangen, hallten ihre Stimmen durch den Gerichtshof und drangen den versammelten Cymrern durch Mark und Bein. Sie fügte ein Lied nach dem anderen hinzu, Choräle, Hymnen, einfache Bauernlieder, welche die Filiden sangen, während sie auf dem Feld arbeiteten, die Seemannslieder von Serendair, und jede Gruppe fiel ein, wenn sie ihr Lied hörte. Die Rhapsodie der Vergangenheit, die sie als Tribut an Anwyn gesungen hatte, war zu einer strahlenden Sinfonie geworden, deren Sätze so unterschiedlich waren wie die Völker, die in der Senke vor ihr standen, doch im Zusammenspiel klang es wunderschön. Die Gesichter der Cymrer spiegelten den Glanz der Nachmittagssonne wider, die allmählich hinter den Zahnfelsen versank, und zum zweiten Mal fühlte sich Rhapsody im Herzen eins mit ihnen. Sie teilte Elynsynos’ Liebe zu diesem Volk. Es war, als schaute sie ein letztes Mal auf die Flickendecke in ihrer Heimat, auf die Wiesen und Kornfelder, die der Landschaft unter dem Himmel ein wunderbares Muster verliehen. Schließlich war das Werk vollendet, und Stille verankerte sich in der Senke, als Rhapsody die Harfe weglegte. Die leuchtende Aura hypnotischer Macht, die sie umgeben hatte, seit sie dem Feuer im Innern der Erde getrotzt hatte, schien verschwunden zu sein. Jetzt schwebte sie in der Luft über dem Gerichtshof, erhellte jede einzelne Seele, die den Gesang gehört hatte, und verband sie miteinander. Sie wandte sich nach Westen und begann mit ihren Abendgebeten. Sie sang die untergehende Sonne und den Abendstern an, der über dem höchsten Gipfel von Achmeds Bergen stand. Das Abendgebet wurde von Zehntausenden lirinschen Stimmen aufgenommen, von denen viele aus der tyrianischen Abordnung stammten, andere wiederum aus den verschiedenen Flotten, aus Roland und von der Insel der Meeresmagier. Das Gebet erhob sich zum Abendstern, hallte durch die Senke, über die orlandische Ebene, durch die Zahnfelsen, über die Heide und bis darüber hinaus. Sie sangen die Sonne hinab, und der Himmel füllte sich mit strahlenden Bändern aus Orange und Rot, die sich in das Azurblau des westlichen Horizonts woben, welches sich der herannahenden Dunkelheit entgegenstreckte. Als das Echo des letzten Tons verhallt war, schulterte Rhapsody ihr Gepäck. »Meine Dienste für euch sind nun beendet«, sagte sie zu der Versammlung. »Wenn ihr mich in euren Reihen haben wollt, werde ich mich gern zu euch gesellen und den Vorsitz des Konzils jenen überlassen, die ihr unter euch auswählt.« Als der Beifall seinen Höhepunkt erreichte, sprang Ashe vor und gab der scheidenden Ruferin ein Zeichen. »Euer Majestät, darf ich das Wort ergreifen?« Rhapsody seufzte leicht. Sie hatte den ganzen Tag über gestanden, und ihre Füße waren wund. »Selbstverständlich«, antwortete sie und war dankbar für die Unterbrechung. Sie setzte sich auf einen ausgemeißelten Stein, der im Rücken des Simses als Bank diente. Ashe löste sich aus den Reihen der manossischen Abordnung und erkletterte den Sprecherhügel. Er bestieg den höchsten Kamm und schaute hinunter auf das Meer seiner cymrischen Gefährten. Im roten Licht der untergehenden Sonne leuchtete sein Haar, als wäre es eine Feuerkrone. »Als Sprecher der Zweiten Flotte bitte ich darum, dass wir unsere Aufmerksamkeit sofort auf unsere Führerrolle als Konzil richten. Wie Anwyn gesagt hat, sind wir ein Konzil ohne Herrscher und Herrscherin. Gwylliam ist tot, und obwohl Anwyn noch lebt, hat sie sich eindeutig als unfähig erwiesen, unsere Führerin zu sein.« Zustimmendes Gemurmel setzte ein. Selbst diejenigen, die am Ende des Krieges für sie als Herrscherin gestimmt hatten, standen ihr jetzt nicht mehr bei. Dafür hatten die Zeit und Anwyns eigenes Verhalten gesorgt. »Zu diesem Zweck«, fuhr Ashe mit lauterer Stimme fort, »nominiere ich Ihre Majestät Rhapsody, Königin der Lirin, als cymrische Herrin.« Er musste schreien, damit er in der allgemeinen Aufregung überhaupt noch gehört wurde. »Sie stammt aus der Ersten Generation, ist aber mit keiner Flotte gesegelt und hat daher keine Vorliebe für irgendeine Gruppe. Sie ist eine der Drei, von denen Manwyn gesprochen hat. In der Prophezeiung ist sie der Himmel, die Liringlas, die alles umfasst und nicht geteilt werden kann. Sie ist das einzige Mittel, durch das Frieden und Einheit kommen wird. Sie hat den F’dor getötet, den alten Feind unseres Volkes und Bringer so vielen Elends seit unserer Flucht aus Serendair. Sie hat die Lirin vereinigt und Frieden zwischen ihnen und dem Fürstentum Bethania gestiftet, mit dem sie sich beinahe im Krieg befunden hätten. Sie hat den Bolg geholfen, in ein neues Zeitalter des Friedens und Wohlstandes einzutreten. Sie ist ein Mischling, was ein neues Band zwischen den Rassen bedeutet. Ihr wurde vorhergesagt, unsere Herrin und Anwyns Gegenspielerin zu sein. Sie ist diejenige, die uns zusammenbringen kann, während Anwyn uns voneinander entfernt hat. Falls das noch nicht ausreicht, hat sie meine Großmutter zum Schweigen gebracht, was bereits für sich genommen höchsten Beifall verdient.« Bestürzung war mit seinen Worten in Rhapsodys Blick getreten, doch sie hatte ihn nicht unterbrechen können, denn sie hatte ihm das Wort erteilt. Als die Menge bei seinen letzten Worten auflachte und seinen Vorschlag bejubelte, sprang sie auf die Beine. Entsetzen bleichte ihr Gesicht. »Seid ihr von...« »Ich unterstützte deine Nominierung«, rief Anborn, und der Beifall wurde noch heftiger. »Wartet«, sagte Rhapsody. Sie verspürte aufsteigende Panik. »Ich lege Widerspruch ein.« »Rhapsody, du bist es, die von Sinnen ist«, meinte Ashe. In seinen Augen lag ein spitzbübischer Ausdruck. »Es wurde ein Antrag gestellt und unterstützt. Als Ruferin ist es deine Aufgabe, dass dieser Antrag dem gesamten Konzil vorgelegt wird, damit man über ihn abstimmen kann. Sei bitte so freundlich und tu es.« Rhapsody schaute ihn wütend an. Dann wandte sie sich an das Konzil und versuchte, die Verzweiflung aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Gibt es weitere Nominierungen?« Das Konzil verfiel in Schweigen. »Überhaupt keine?« Die Stille wurde nur durch leises Gemurmel und geflüsterte Bemerkungen unterbrochen. »Was ist mit Einwänden? Hat niemand Einwände?« »Anscheinend nicht, Herrin«, ertönte wieder Ashes Stimme. »Das Konzil scheint geschlossen einer Meinung zu sein. Es ist sich so einig, wie es in der Prophezeiung vorhergesagt worden ist. Habe ich Recht?« Donnernde Zustimmung brüllte durch das Tal. Rhapsody spürte, wie der Felssims, auf dem sie stand, machtvoll vibrierte, als der Jubel durch die Senke bis zu ihren Füßen hinaufgrollte. Sie fühlte eine Welle der Stärke durch Körper und Seele fließen, wie sie es nicht mehr wahrgenommen hatte, seit sie durch die Feuer der Erde geschritten war. Es schien so, als verliehe der Gerichtshof, der auf die einmütige Stimme des cymrischen Konzils antwortete, ihr die Weisheit und Stärke, die sie als Anführerin benötigte. Es war ein neues Band, das sie an Volk und Land kettete. Schließlich begriff sie, was verliehene Macht war. Nun war sie zur Herrin der Cymrer geworden. Sie hatte sich nicht darum bemüht oder es erwartet. Allein die Weisheit, die sie durch die Freude der Versammelten verliehen bekommen hatte, hielt sie davon ab, in bittere Tränen auszubrechen. »Meine Freunde«, brüllte Edwyn Griffyth, »das sollten wir feiern!« Ashe sah Rhapsodys Blick, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er wandte sich noch einmal an die Menge: »Ich sehe, dass Seine Majestät, der Firbolg-König, unser Gastgeber, auf dem Feld ein Bankett errichtet hat.« Er deutete über die Senke hinaus auf die Zelte, die Achmeds Truppen errichtet hatten. »Wir sollten das Brot brechen und erst wieder zur letzten Sitzung der Nacht zurückkehren, wenn der Mond über den Zahnfelsen steht.« Freudige Zustimmung schlug ihm entgegen. Die Menge teilte sich in Gruppen auf, die sich untereinander vermischten. Alte Freunde trafen sich und weinten, alte Feinde reichten sich die Hand. Alle feierten fröhlich die Möglichkeiten, welche das neue cymrische Zeitalter, das neue Konzil und die neue Herrin mit sich brachten. Ashe drehte sich wieder um und wollte sehen, wie Rhapsody die Lage einschätzte, doch sie war fort. Helle Fackeln und sanfte Laternen spendeten dem weiten Feld am Fuß der Zahnfelsen ein freundliches Licht. Mit Essen beladene Tische standen bereit, Wein wurde großzügig herumgereicht, und fröhliches Lachen hallte durch das Gebirge und über die Heide. Seit der Hochzeit von Anwyn und Gwylliam waren die Cymrer nicht mehr zu einer Feier zusammengekommen. Ihre blendende Laune war ansteckend, und ihr guter Wille fuhr wie ein starker Wind durch die Menge. Beim Abendessen sah sich Ashe nach Rhapsody um. Er spürte ihre Gegenwart und fühlte ihr Missfallen über die Ereignisse. Als er sich entschieden hatte, sie zur Herrin zu machen seine Entscheidung war durch den Ring des Patriarchen in der Mittsommernacht des vergangenen Jahres bestätigt worden, doch er selbst war schon viel früher auf diesen Gedanken gekommen , war ihm bewusst gewesen, dass ihr fest verwurzelter Glaube an das veraltete System des Adels es für sie schwierig machen würde, sich als Herrscherin anzusehen. Er hoffte inständig, dass sie sich in diese Rolle fügen würde, so wie es ihr als Königin der Lirin gelungen war, doch als er nun die Abneigung empfand, die sie in sich trug, machte er sich große Sorgen. Vielleicht hatte er sie doch falsch eingeschätzt. Es gelang ihm nicht, während des Mahls mit ihr zu sprechen. Seine manossischen Gefährten und viele Mitglieder der anderen Flotten und der Adelshöfe von Roland hielten ihn an jeder Ecke auf. Sie drückten ihre Freude darüber aus, dass er noch lebte, und hießen ihn in ihren Reihen willkommen. Waffengefährten aus den Schlachten, die er geschlagen hatte, und Freunde aus lange vergangenen Tagen, besonders Herzog Stephen, erwarteten von ihm, dass er sie mit seinen Abenteuern unterhielt und so die zwanzigjährige Lücke seiner Abwesenheit füllte. Auch Rhapsody wurde von Bewunderern umschwärmt. Führer aus allen Fürstentümern, aus der sorboldischen Nation und der Neutralen Zone bemühten sich darum, mit ihr zu sprechen und neue Bande zu knüpfen, noch bevor sie gekrönt war. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Ashe einen Blick auf sie erhaschte, wirkte sie heiter und gelassen, doch er wusste, dass ihr ruhiges Äußeres die wachsende Aufregung verbarg, die sie in Wirklichkeit empfand. Ihre Augen trugen den Ausdruck eines gefangenen Rehs oder eines in die Ecke getriebenen Kaninchens. Schließlich stieg der Mond über den höchsten Gipfel der Zahnfelsen. Das Hörn ertönte und rief die Cymrer wieder in den Gerichtshof. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis das Konzil erneut vollständig zusammengetreten war, so unwiderstehlich waren die Feierlichkeiten. Rhapsody blickte über die cymrische Bevölkerung, das Meer verschiedenster Gesichter, die zu ihr hinaufschauten und im Licht des über ihnen hängenden Vollmonds leuchteten. Als an diesem Tag die Sonne aufgegangen war, hatte Rhapsody gehofft, eine von ihnen zu werden, zu dieser Flüchtlingsbevölkerung gehören zu dürfen, die aus ihrer eigenen Heimat stammte, doch nun war sie ihre Herrscherin. Es war unwirklich bis an die Grenze des Absurden. Sie holte tief Luft, atmete langsam wieder aus und zwang sich zur Ruhe. Jetzt sprach sie nicht mehr als Ruferin, sondern als Herrin. »Was sollen wir als Erstes in Angriff nehmen?«, fragte sie die Menge. Die Frage erhob sich in vielen verschiedenen Formulierungen, doch der Inhalt war immer derselbe: »Wer soll unser Herr sein?« Ihre Wahl und Bestätigung als Herrin der Cymrer hatte ihr zu einem neuen Verständnis des cymrischen Volkes verholfen. Daher war es ihr nun möglich, die Bemerkungen der Leute deutlicher zu verstehen. Zuvor waren die Rufe für sie nichts anderes als Lärm gewesen; jetzt waren es die ausgesprochenen Gedanken einzelner Wesen, die ihr Hirn umbrandeten wie Wellen den Strand. Etwa so muss es sein, Drachensinne zu haben, dachte sie. Ashe hatte es als jederzeitiges Bewusstsein aller Dinge um ihn herum beschrieben. Etwas Ähnliches fühlte sie jetzt. »Die eigentliche Frage lautet: Wer hat das Recht dazu?«, meinte ein Nain-Krieger namens Gar. »Das Recht hat jeder von uns. Jeder kann Herr sein«, antwortete jemand aus der Ersten Flotte. »Aber der Herr der Cymrer war Gwylliam, ein Abkömmling der alten Seren-Könige. Sollten wir nicht wieder jemanden aus diesem Haus wählen? Es war schließlich das Haus, das uns sicher von der Insel geführt hat«, sagte Calthrop, ein weiterer Mann aus der Abordnung der Nain. »Es war auch diese Linie, die uns in den Krieg geführt hat«, erwiderte Harklerode, einer der Soldaten aus dem Heer von Canderre. »Die Fehler eines Mannes sollte man nicht dessen Nachkommen anlasten.« »Der Ruhm eines Vorfahren sollte nicht über den eigenen Wert entscheiden.« »Die Herrin stammt aus der Ersten Generation. Sollte der Herr nicht in diesem Land geboren sein? Sollte er nicht das Blut dieser Leute in den Adern haben? Ist das nicht der Grund, warum wir früher dem Herrn und der Herrin gefolgt sind? Weil er aus der alten Linie kam und sie aus der neuen?« »Aber sie waren verheiratet. Sollten der Herr und die Herrin nicht ebenfalls heiraten?« »Herr und Herrin waren verheiratet, um eine Wiedervereinigung und ein festes Bündnis zu garantieren.« »Es war die Ehe, die den Krieg verursacht hat, falls ihr euch erinnert.« »Wir müssen einen Herrn und eine Herrin haben, die miteinander verheiratet sind. Niemand mit der nötigen Weisheit, die er für die Wahl durch dieses Konzil braucht, wird dumm genug sein, unsere erwählte Herrin zu schlagen, wie Gwylliam es getan hat. Die gesamte Bevölkerung würde sein Blut fordern.« »Außerdem ist sie die Iliachenva’ar. Wenn sie einen Dämon besiegen kann, wird sie wohl auch in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen.« »Gut gesprochen. Es ist sinnvoll, dass sie verheiratet sind, besonders weil es die Frage der Nachfolge löst.« »Halt.« Die Stimme der frisch ernannten Herrin hallte über den Gerichtshof. Im Tumult war ihr entgangen, dass sie in eine Lage gedrängt wurde, die ihr unerträglich schien. Nun überfiel sie dieses Bewusstsein mit großer Macht. »Ihr alle seid vermessen. Wie könnt ihr es wagen, über mich zu reden, als wäre ich eine Zuchtstute? Glaubt ihr, dass ich jetzt euer Eigentum bin und ihr plötzlich das Recht habt, alle Aspekte meiner Zukunft zu entscheiden? Ich empfinde es als höchst beleidigend, dass ihr annehmt, ich würde mich für eine arrangierte Heirat zur Verfügung stellen. Woher wollt ihr wissen, dass ich nicht bereits verheiratet bin? Niemand hat mich nach meinem Familienstand gefragt. Und falls ich noch nicht verheiratet sein sollte, wäre es doch möglich, dass ich bereits verlobt bin. Ihr seid ein Volk mit guten Anlagen, aber ihr verärgert mich. Wenn ihr die Notwendigkeit verspürt, diese Wahl für eure Herrin zu treffen, dann bin ich sie nicht länger. Ich gebe meinen Titel gern zurück, falls die Unterredung über dieses Thema weitergeht.« Rhapsody schritt zum Rand des Rufersimses und versuchte hinunterzusteigen. Doch wie zuvor, als Anwyn Oelendra angegriffen hatte, war es ihr nicht möglich, den Felsen zu verlassen, denn überall unter ihr erhob sich Widerspruch. »Nein!«, ertönte es aus dem gesamten Gerichtshof. Die Rufe schwangen durch den Wind und erinnerten an die Buhrufe in der sorboldischen Arena. Das Geschrei erstarb, als Anborn auf die Spitze der Sprecherkanzel eilte. »Vergebt uns, Herrin«, sagte er lächelnd. Seine Stimme klang befehlend und hatte den Unterton eines Mannes, der es seit langem gewohnt war, ein Heer zu führen. »In der Aufregung, wieder ein einiges Volk zu sein, sind wir in unsere alte Anmaßung und Überheblichkeit verfallen. Die Dritte Flotte und unsere cymrischen Genossen erkennen Euch demütig das Recht zu, selbst die Wahl zu treffen.« Er wandte sich an die Menge. »Habe ich Recht?« Das zustimmende Geschrei hätte Rhapsody beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht und sie von dem Sims gestoßen, wenn es ihr möglich gewesen wäre, ihn zu verlassen. Sie richtete sich mühsam auf und sah Anborn an. Er grinste ihr noch zu, und sie erwiderte sein Lächeln unsicher. In seiner Miene lag etwas, das sie beunruhigte. Sie verspürte ein seltsames Zerren in sich und sah sich im Fackelschein in der Menge um. Ashe starrte sie wild an. Sein Gesicht war zu einer Regung erstarrt, die wie Panik wirkte. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen. Rasch schaute sie fort. »Was für’n Mädchen, diese Herrin«, hörte sie Grunthor in der Menge flüstern. Sie wandte sich ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln. »Also gut«, sagte sie und räusperte sich. »Machen wir noch einen Versuch.« 77 Die ermüdenden Streitereien gingen beinahe bis Mitternacht weiter. Rhapsodys Kopf pochte unter der Eintönigkeit der Redner, die sich andauernd wiederholten und einander widersprachen. »Warum sollte es nicht zwei Herrinnen und keinen Herrn geben?« »Ich glaube, auf dem Sitz der Macht müssen die Geschlechter in gleicher Stärke repräsentiert sein.« »Ich habe keine Lust, von einem Nain-Herrn regiert zu werden!«, rief einer der Lirin, als Faedryth für die Position des Herrschers ins Spiel gebracht wurde. »Und ich habe keine Lust, im Blumengarten eines Lirin-Hofes zu sitzen«, beschwerte sich ein verärgerter Nain. «Dann müssen wir jemanden finden, der alle Rassen vereinen kann«, sagte Oelendra. »Und jemanden, der nicht auf der anderen, sondern auf dieser Seite der Welt geboren wurde«, erklärte jemand aus dem großen, goldenen Volk um Edwyn Griffyth. »Ansonsten wird die Einheit des Volkes mit dem neuen Land nicht deutlich genug.« »Wenn ich könnte, würde ich von diesem Sims in den Tod springen«, seufzte Rhapsody. »Ich will, dass der Herr der Cymrer jemand ist, der Ordnung in diesen Sauhaufen bringt, damit ich gehen kann, wann ich will.« Die Cymrer sahen ihre neue Herrin entsetzt an, kamen dann aber zu dem Schluss, dass sie einen Scherz gemacht hatte, um die Stimmung aufzuhellen. Sie lachten schallend, bevor sie weiterdebattierten. Sie kennen mich nicht sehr gut, dachte Rhapsody. Sie blickte geistesabwesend in der Senke umher und fing Ashes Blick auf, der sie mitfühlend anlächelte. Sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Konzil. »Es gibt nur eine Linie, welche die alte Welt mit der neuen verbindet, und das ist Anwyns Linie«, sagte Oelendra gerade. Ihre Bemerkung hatte entsetztes Schweigen zur Folge. Ihre Feindschaft zu Anwyn war wohlbekannt und erst kürzlich bestätigt worden. »Welches andere Blut verbindet die alten Völker von Serendair, die ältesten der alten Welt, mit dem Blut des Drachen, dessen Innerstes in diesem Land steckt? Der Erstgeborene verbindet sich mit der Erstgeborenen. Noch wichtiger ist der Umstand, dass in dieser Linie durch Gwylliams Blut das Recht der Königswürde liegt. Er war ein Abkömmling des Hochkönigs von Seren, des Herrn aller Rassen.« »Willst du damit sagen, dass wir noch einmal der Linie vertrauen sollen, die uns in den Untergang geführt hat?«, fragte Nielsen, ein sorboldischer Herzog. »Ich sage, dass sie das einzige Haus sind, das Verbindungen zu uns allen hat, und dass sie vielleicht mehr als alle anderen aus den Fehlern ihrer Ahnen gelernt haben«, antwortete Oelendra. »Aber wer soll es sein?« »Das Recht der Königs würde ging jeweils auf den ältesten Sohn über«, sagte jemand aus der Dritten Flotte. »Das wäre Edwyn Griffyth.« »Anscheinend hast du nicht richtig zugehört«, sagte der oberste Meeresmagier und zog die silbernen Augenbrauen zusammen. »Ich habe keine Lust, über jemanden oder etwas zu herrschen. Falls ich gewählt werde, fliehe ich auf den höchsten Berg oder in die tiefste See und verstecke mich, bis ihr euch wieder gegenseitig umbringt. Ich werde niemals ich will es für diejenigen unter euch wiederholen, die völlig taub sind niemals den Titel eines Herrn der Cymrer annehmen.« Rhapsody seufzte innerlich auf. Sie war nicht für eine Führungsrolle geboren und hatte nicht gewusst, dass man sie auch von vornherein ablehnen konnte. Das musste sie sich unbedingt merken. »Damit wäre der Titel an Llauron gefallen, aber er ist ja tot«, sagte derselbe Mann, der den ältesten Bruder vorgeschlagen hatte. »Nun, in gewisser Hinsicht stimmt das«, sagte eine tiefe, gepflegte Stimme, die aus den Felsen der Senke drang und alle Streitereien erstickte. Jedermann in der Senke spürte diese Stimme in seinen Füßen. »Ich bin trotzdem gekommen und hoffe, dass es niemandem etwas ausmacht. Ich habe den Ruf schließlich auch gehört.« »Was ist das für ein dämlicher Trick?«, verlangte Gaerhart aus der Zweiten Flotte zu wissen. »Ich versichere dir, es ist kein Trick«, lautete die Antwort. Aus der lebendigen Erde trat ein großer, grau schillernder Umriss hervor. Einen Moment später nahm er die Gestalt einer aus Nebel geborenen Schlange an, die über hundert Fuß lang war. Gewaltige Schwingen entfalteten sich an den Flanken, und der Glanz von Silber und Kupfer schillerte auf den Schuppen. Seine Größe war schwer abzuschätzen, denn er hatte sich zusammengeringelt, doch als er den gewaltigen Kopf hob, wusste Rhapsody, dass er kaum kleiner als Elynsynos war. Ungeheure Arme drückten den Oberkörper vom Boden, als sich das Wesen aufrichtete und über die cymrische Versammlung blickte, von der beim Anblick des Drachen etliche in Panik zurückgewichen waren. Ein starker, heißer Wind fuhr sie an, als er sprach. Sie schlössen die Augen und zitterten vor Angst. Der Drache öffnete die Augen und enthüllte zwei gewaltige Kugeln, die wie blaues Feuer leuchteten. Die Cymrer fielen vor Furcht zu Boden, nur die Drei und Anwyns Erben blieben stehen. »Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du Mutter ähnlicher geworden«, sagte Anborn lächelnd zu Llauron. Edwyn Griffyth sah seinen jüngeren Bruder verächtlich an. »Auch ich freue mich, dich zu sehen«, erwiderte der Drache. »Bin froh, dass du es bis zum Konzil geschafft hast, Ed.« »Ich bedauere es in diesem Moment doch sehr«, meinte Edwyn Griffyth. Er machte keinen Versuch, den Abscheu in seiner Stimme zu verbergen. »Hat dir keiner gesagt, dass große Auftritte nur bei Hofe angebracht sind?« »Das hier ist doch ein Hof. Ich bin hergekommen, um der neuen Herrin der Cymrer meine besten Wünsche zu übermitteln. Und dem Konzil möchte ich meine Glückwünsche für seine weise Wahl aussprechen.« Der gigantische Wyrm verneigte sich in Rhapsodys Richtung, doch die lirinsche Königin und neue Herrscherin der Cymrer reagierte nicht darauf. Sie starrte den Drachen an, ohne etwas zu sagen, aber sie vermied es, ihm direkt in die Augen zu blicken. Der Drache räusperte sich laut; es war ein Geräusch, das den hunderttausend Anwesenden eine Gänsehaut verursachte. »Ja, nun, also ... hiermit gebe ich allen bekannt, dass ich Llauron, der Sohn Anwyns und Fürbitter der Filiden bin beziehungsweise war.« »Bist du hier, um die Herrscherrolle für dich zu beanspruchen?«, fragte Edwyn Griffyth. »Um Himmels willen, nein«, sagte der Drache. »Das wäre doch ziemlich dumm, nicht wahr? Keine der Kronen oder Prunkgewänder würde mir passen. Nein, meine ganzen Rechte habe ich aufgegeben, indem ich das Menschsein aufgegeben habe. Ich bin hier, um euch mitzuteilen, dass ich diese Rechte und Ansprüche an meinen Sohn übergebe, der sie wegen der selbstlosen Tapferkeit verdient hat, mit der er die Mitglieder aller Flotten gegen die Ränke des F’dor verteidigt und meinen, ähem, Tod durch die Hand des Verräters Khaddyr gerächt hat, der im Bund mit dem Dämon stand. Ist das für die Versammlung annehmbar?« »Erwartest du eine ehrliche Antwort, solange du dich in dieser Gestalt zeigst?«, fragte Anborn unbeeindruckt. »Oh, so bin ich jetzt, aber dein Einwand ist gerechtfertigt.« Mit diesen Worten schrumpfte die gigantische Schlange, bis sie nicht mehr die ganze Senke mit ihrer Gegenwart anfüllte. Das ätherische Schimmern verschwand, und Laurons Gestalt wurde fester. Sie wandelte sich zu einer Drachenhaften Eidechse von etwa fünfzehn Fuß Länge. Llauron kroch über den Boden der Senke, während sich die Cymrer in alle Richtungen zerstreuten, und legte sich vor Ashe auf den Grasbewachsenen Boden. Belustigt blickte er zu seinem Sohn auf, der gedemütigt wirkte. »Es tut mir Leid, mein Sohn, aber das ist Familientradition. Die Eltern in unserer Linie leben nur zu dem einzigen Zweck, ihren Söhnen peinlich zu sein.« Ashe seufzte. »Das ist der Grund, warum Anborn und ich keine Erben haben«, meinte Edwyn Griffyth unwirsch. Rhapsody sah zu, wie die Cymrer langsam wieder in die Mitte der Senke zurückkehrten, aber einen weiten Bogen um Ashe und den Drachen zu seinen Füßen schlugen. Sie spürte, wie bei diesem Anblick unwillkürlich ein Lächeln über ihr Gesicht flog. Ashe sah hoch zu ihr und lächelte zurück. Dies war eine Situation, über die sie zwischen den Laken ihres elysianischen Bettes in den Schatten des Feuers gekichert hätten. Dieser geteilte Gedanke bewirkte jedoch, dass ihrer beider Lächeln schwand und sie fortschauten, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Die Diskussionen setzten wieder ein. Für eine Weile wurden die Alternativen zum Haus Gwylliam beredet. Die verschiedenen Gruppen stellten ihre Kandidaten für das Amt des Herrschers auf, bis Rhapsody den Eindruck gewann, dass sie weiter denn je von einer Entscheidung entfernt waren. Letztlich wurden sogar Achmed und Grunthor vorgeschlagen, was ihre Auffassung bestätigte. Es war wohl die mögliche Nominierung Achmeds, welche die Beratungen wieder in die richtigen Bahnen lenkte. Er machte dem Konzil sehr deutlich, dass er seine Macht an Rhapsody abtreten würde, wenn er gewählt werden sollte, denn er sah überhaupt keinen Grund, dass es unbedingt einen Herrscher geben musste. »Ihr habt eine Anführerin gewählt, und nun wollt ihr sie einem anderen unterordnen«, sagte er verachtungsvoll. »So etwas wie eine erfolgreich geteilte Führerschaft gibt es nicht. Wer hat traditionell das letzte Wort, wenn Herr und Herrin uneins sind?« »Der Herr«, antwortete Longinotta, eine Gwaddi-Frau aus der Ersten Generation, die am Hof von Anwyn und Gwylliam als Wachtmeisterin gearbeitet hatte. Achmed nickte. »Seht ihr? Wenn sie eure Wahl ist, solltet ihr sie so respektieren, dass ihr euch von ihr führen lasst. Warum wollt ihr die Dinge unnötig schwer machen?« »Blödsinn.« Die Stimme Tristan Stewards hallte durch den Gerichtshof, unterbrach die Debatte und brachte alle Gespräche zum Verstummen. »Ihr überseht das Nächstliegende nämlich denjenigen, der Erfahrung im erfolgreichen und gerechten Teilen von Macht besitzt.« Er schaute die Versammlung scharf an. »Und wer soll das sein, Tristan?«, fragte Stephen Navarne vorsichtig. Sein Gesichtsausdruck deutete an, dass er bereits die Antwort kannte. Tristan wandte sich an Herzog Cunliffe, das Oberhaupt seines Hauses, und nickte. Herzog Cunliffe räusperte sich. »Es scheint... nun ja, es scheint angemessen, dass wir Tristan zum neuen Herrn der Cymrer wählen«, sagte Cunliffe zögernd. »Als Regent von Bethania hat er Großes geleistet. Er war uns ein Führer in führerloser Zeit und hat unser Heer wieder stark gemacht.« Tristan Steward beugte sich vor und flüsterte Herzog Cunliffe etwas ins Ohr. »Ja, natürlich. Neben all seinen anderen bewährten Tugenden würde der Herr von Roland gut zu der neuen Herrin der Cymrer passen, ihre Autorität respektieren und ihr dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Er ist ein Mann von großer Rechtschaffenheit. Tristan Steward sollte der Herr der Cymrer werden.« »Tristan Steward sollte von den Ratten gefressen werden!«, donnerte Edwyn Griffyth mit dröhnender Stimme, die von den Felsen widerhallte. »Tristan Steward soll ein Mann von großer Rechtschaffenheit sein? Tristan Steward ist ein Esel.« Nicht das leiseste Geräusch war zu hören, als Gwylliams ältester Sohn aufstand und mit seinem Stab auf den zitternden Herrn von Roland deutete. »Wie kannst du es wagen, ein Heer an diesen Ort zu führen vor allem eine Streitmacht von derartiger Größe? Bist du der anmaßendste Mann der Geschichte, oder bist du nur ein Dummkopf von gigantischem Ausmaß? Das hier ist ein Ort des Friedens; es ist der Ort des Konzils. Jeder Cymrer, selbst jene, die so wie du nicht eingehend in unserer Geschichte geschult sind, kennt die Gesetze des Gerichtshofes. Angriffe sind an diesem Ort streng verboten. Wie kannst du es wagen, hier zu erscheinen, als wolltest du die Senke belagern? Ich verurteile dich dafür, Mann. Ich würde lieber die Herrscherrolle selbst annehmen, als sie in deinen Händen zu wissen, und ich glaube, ich habe deutlich gemacht, wie wenig ich diese Rolle anstrebe. Weiche, du Narr. Brich dein Lager ab und krieche nach Roland zurück, sobald die Herrin das Konzil auflöst.« Eine Welle schallenden Gelächters und Beifalls schwappte durch die Senke und verschwand, als die Herrin der Cymrer sich erhob. »Hört auf damit«, sagte sie ernst. »Der Herr von Roland ist der erwählte Sprecher der Provinzen von Roland, eines wichtigen Teils des neuen cymrischen Bündnisses. Er hat eine wichtige Rolle inne, und ich werde seinem Ratschluss sehr aufmerksam lauschen, wenn die Sprecher nach der Generalversammlung zusammenkommen. Ich freue mich darauf, mit ihm zu reden, nachdem er sein Heer heimgeschickt hat. Und ich will über niemanden hören, dass ihn die Ratten fressen sollen.« Sie sah Edwyn Griffyth mit übertriebener Strenge an. Der Meeresmagier kicherte und verneigte sich ehrerbietig. Rhapsody setzte sich wieder. Edwyn Griffyths Bemerkungen hatten eine neue Debatte in Gang gesetzt, die zum Ergebnis hatte, dass die Herrscherrolle einem von Anwyns und Gwylliams Erben verliehen werden sollte. Grunthor zog sich enttäuscht zurück, aber Achmed zuckte bloß die Achseln. Er sah hoch zu Rhapsody, die bäuchlings aus dem Sims lag und den Kopf in die Arme gelegt hatte. »Ihr ermüdet die Herrin der Cymrer«, sagte Rial wütend. »Wir sollten diese Sitzung entweder ohne Ergebnis beenden oder bald zu einem Ergebnis kommen. Das ist doch lächerlich.« Ein allgemeines zustimmendes Murmeln lief durch die Menge. »Wenn wir dem Recht der Könige folgen, ist Edwyn Griffyth erbberechtigt«, sagte Longinotta. »Stimmt es, dass Ihr den Titel abgelehnt habt, Euer Ehren?« »Ich wüsste nicht, wie ich es noch klarer sagen könnte«, brummte der Anführer der Meeresmagier verärgert. »Dann geht das Recht auf die verbleibenden Erben über, ohne Rücksicht auf die Rangfolge«, fuhr Longinotta fort. »Das würde Llauron...« Llauron war des Geredes müde geworden und hatte sich halb zusammengerollt am Kopf der Zweiten Flotte unter dem Banner des Hauses Neuland auf die Erde gelegt. Er schien zu schlafen, doch als sein Name genannt wurde, öffnete er das Auge einen Spalt breit und sandte ein unheimliches blaues Licht über den Boden der Senke bis zu der kleinen Wachtmeisterin. Das metallische Kratzen der Schuppen war deutlich zu hören, als er sich auf dem Boden ausstreckte und entrollte. Seine Stimme war würdevoll, aber kalt und reptilienhaft. Sie verursachte bei fast allen, die ihn hörten, eine Gänsehaut. »Ihr scherzt wohl«, sagte er, schloss die Augen wieder und nahm eine bequemere Lage ein. »Wir haben deine Meinung zur Kenntnis genommen«, sagte Rhapsody schnell, und das Konzil schien ihr zuzustimmen. Es dauerte einen Moment, bevor Longinotta fortfahren konnte. Schließlich sagte sie: »Übrig bleiben also Gwydion, der Sohn Llaurons, der in direkter Linie von Anwyn und Gwylliam abstammt, und Anborn ap Gwylliam. Zwischen diesen beiden können wir wählen. Weder dem einen noch dem anderen gebührt der Vorzug.« Sofort brandeten neue Diskussionen in der Senke auf, und Lärm erfüllte die Luft. »Aber Anborn hat die Truppen gegen die Erste Flotte geführt!« »So wie Llauron es gegen die Dritte Flotte getan hat. Ist sein Erbe etwa besser?« »Anborn hat die äußeren Wälder von Tyrian abgebrannt! Wie können wir ihm das je vergeben?« »Und Anborn hat die Lirin kaum siebzig Jahre später vor dem Angriff der khadzanianischen Piratenflotte gerettet. Ist das etwa vergessen worden?« »Die Gunst der Nain besitzt Anborn«, sagte Faedryth mit donnernder Autorität, und viele im Gerichtshof verstummten. Dann erhob sich eine weitere Stimme. »Nicht die der Nain von Manosse. Wir stehen zu Gwydion.« »Wir brauchen ein Zeichen. Vielleicht sollte die Herrin die Sterne befragen.« »Die Sterne sagen mir, dass ich schon seit Stunden im Bett liegen sollte«, murmelte Rhapsody, und die Menge lachte gezwungen. »Auch die Gwadd unterstützen Gwydion. Er hat uns immer beschützt, selbst als er unsichtbar durch die Welt gestreift ist.« »Allerdings hat Anborn das Gwaddi-Dorf -Finidel vor fünfzehn Jahren gerettet...« »Wenn wir wollen, dass die Herrin heiratet, sollten wir vielleicht sie fragen, wen von beiden sie mehr mag.« »Ich sage nochmals, dass Anborn die politische und militärische ...« »Unternehmen wir das Ganze nicht, um gerade zu vermeiden, dass die militärische...« »Natürlich hat sich Gwydion tapfer geschlagen, damals in der Schlacht von...« Rhapsody hielt sich die Ohren zu; sie konnte es nicht mehr ertragen. Verzweiflung quoll in ihrem Herzen auf und fand den Weg zu den Augen. Ihr Blick fiel auf Ashe, oder Gwydion, wie er nun genannt wurde. Er stand still da und vermied es, in die Diskussionen über seine Würdigkeit hineingezogen zu werden. Er hatte denselben traurigen Gesichtsausdruck wie sie. Es schien ihm gleichgültig zu sein, welches Ergebnis die Diskussionen bringen würden. Sie begriff, dass es ihm so egal war wie ihr selbst. Während sie ihn beobachtete, sah er hoch zu ihr und lächelte. Unbeabsichtigt erwiderte sie sein Lächeln. Sein metallisches Haar warf den Fackelschein zurück, und seine blauen Augen leuchteten ihr entgegen. Wie in den Tagen ihres Zusammenseins hüpfte ihr Herz bei diesem Blick. Seine geschuppte Rüstung glänzte in dem sanften, nebligen Licht von Crynellas Kerze; es sah aus wie Mondlicht auf den Meereswellen. In der linken Hand hielt er den weißen Stab des Fürbitters, und an derselben Hand steckte der Ring des Patriarchen. Sie erinnerte sich an die Worte, die sie vor langer Zeit gesprochen hatte. Bist du dir bewusst, dass die ursprüngliche Religion die Gebräuche von Gwynwald und Sepulvarta vereinte und erst die cymrische Spaltung das Schisma erzwungen hat? Wenn du vorhast, den Riss in der Führung des cymrischen Volkes zu heilen, warum heilst du dann nicht auch den religiösen Riss? Ich habe die heiligen Riten in beiden Kirchen beobachtet, und sie ähneln sich mehr, als man erwarten könnte. Wer braucht einen Patriarchen und gleichzeitig einen Fürbitter? Warum kannst du nicht beides sein? Oder warum kann der Herrscher der Cymrer nicht das Haupt beider Sekten sein und die kirchlichen Regeln den Führern jeder einzelnen Gruppe überlassen? Damit würde man das Recht der Leute auf die verschiedenen Glaubensrichtungen anerkennen, sie aber trotzdem als monotheistisches Volk einigen. Er sah sie nicht mehr so an wie damals, als sie noch Liebende gewesen waren. Obwohl sie sein Gesicht kannte, hätte sie ihn nicht mehr als den verhüllten Landstreicher erkannt, den sie an jenem Morgen in den Straßen von Bethe Corbair getroffen hatte, oder als den einsamen Waldläufer, der ihr als Führer und Reisegefährte gedient hatte. Jetzt sah er ganz wie ein König aus, als er vor den Mitgliedern seines Hauses stand. Macht strahlte von ihm aus, ein Drache lang zu seinen Füßen. Sein Bild gehörte auf ein Wappen oder einen Schild oder auf ein Hofgemälde. Trotz der Tatsache, dass er der Herrscherrolle gerecht werden würde, hoffte sie, dass man ihn überginge, denn sie wollte nicht in seine Nähe gezwungen werden. Sie schaute sich verstohlen nach seiner Frau um nach der Frau, von der er ihr vor etwa einem Jahr erzählt hatte , doch niemand stand in seiner Nähe. Rhapsody vertrieb den selbstsüchtigen Gedanken. Er war gut so, und sie wusste es. Nun spürte sie andere Blicke auf sich ruhen. Sie sah auf und bemerkte, dass Anborn sie eingehend beobachtete. Auch er hatte während der Diskussion über die Führerschaft geschwiegen. Auch er wirkte wie ein König und hatte gesehen, wie sie Ashe angeschaut hatte; dessen war sie sich sicher. Auf sein Gesicht legte sich nun ein berechnendes Lächeln mit einer Spur Grausamkeit darin. Sie fröstelte. Inzwischen hatte sie das Reptilienhafte auf den Gesichtern dieser Familie erkannt. Es war dieses Aussehen, das sie annahmen, bevor sie losschlugen. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, als Anborn plötzlich aufstand und zu der Sprecherkanzel ging. Da niemand sonst reden wollte, ergriff er die Gelegenheit. »Leute aus dem Konzil!«, rief er. Sofort schwieg die Menge. »Ich habe gehört, wie zahllose Beschuldigungen gegen mich wegen meiner Rolle im Großen Krieg ausgesprochen wurden, und ich will meinen Befürwortern die Mühe ersparen, mich zu verteidigen. Ich bekenne mich hinsichtlich der Anklagen als schuldig. Ich war der General von Gwylliams Truppen. Ich habe den lirinschen Wald verwüstet und zahllose Mitglieder der Ersten Flotte getötet. Doch die lautesten Anschuldigungen kommen von Leuten, die selbst auf dem Schlachtfeld schuldig geworden sind, auch wenn sie vielleicht nicht so geschickt im Austeilen des Todes waren wie ich. Es war Krieg ein fürchterlicher Krieg. Wer von euch, die ihr mich als schuldig befindet, hat darin keine unheilvolle Rolle gespielt?« Das Schweigen in der Senke wurde durch nichts unterbrochen. Anborn lächelte. Es war ein siegreiches Lächeln, das einen Atemzug später einem ernsten Ausdruck wich. »Ich habe nur meine Pflicht getan, nicht aus Liebe zu meinem Vater oder Hass gegen meine Mutter, sondern aus demselben Grund wie mein Bruder und ihr alle. Ich wollte das verteidigen, was ich für verteidigenswert hielt. In all dem Wahnsinn bin ich über mein Ziel hinausgeschossen, und dafür entschuldige ich mich. Besonders bitte ich die neue lirinsche Königin und ihr Volk um Entschuldigung nicht nur für die Belagerung ihrer Städte, sondern auch für das, was meine Mutter und mein Vater ihnen angetan haben. Es war nicht ihr Krieg, aber sie haben trotzdem sehr unter ihm gelitten. Neben unseren Grausamkeiten in diesem Krieg gab es jedoch auch zahllose Taten des Mitleids. Wir alle haben nur versucht, dem zu dienen und treu zu sein, was wir lieben. Die Einzigen, von denen das nicht stimmt, waren Anwyn und Gwylliam selbst. Wir haben in dieser Nacht viele Beschuldigungen gegen meine Mutter gehört, während die Verbrechen meines Vaters anscheinend übergangen wurden, aber ich sage als sein Erbe und General, dass Gwylliam genauso viel Schuld an diesem Krieg trug wie meine Mutter. Er war es, der ihn begann, und sein Stolz gebot ihm, ihn immer weiter zu treiben. Als sein Erbe und Sprecher der Dritten Flotte, seines Heeres, entschuldige ich mich in seinem Namen bei der Ersten Flotte für die Verbrechen, die an ihr verübt wurden.« Es folgte ein Augenblick betroffener Stille. Dann trat Oelendra vor. »Als Sprecherin für die Erste Flotte nehme ich deine Entschuldigung an und entbiete unsere wiederum der Dritten Flotte.« Eine Welle des Beifalls schwoll an und brach in Pfiffen und Jubelrufen zusammen. Anborn hielt das Konzil in seinem Bann, und er wusste es. Er räusperte sich und fuhr fort: »Wie unsere neue Herrin gesagt hat, müssen wir uns vergeben. Ich habe versucht, unsere Verbrechen wieder gutzumachen, indem ich den neuen Ländern, die sich nach dem Krieg gebildet haben, so gut wie möglich gedient habe. In Roland und Dronstal, in den Gebieten der Nain und von Sorbold und in vielen anderen Königreichen bin ich als Soldat und Anführer bekannt. Als solcher spreche ich heute Nacht zu euch, nicht als Gwylliams Erbe oder Sprecher der Dritten Flotte, sondern als ein Mann, der mehr unter den Völkern dieses Landes gelebt hat als jeder andere. Deshalb habe ich heute Nacht einige Wahrheiten begriffen. Die erste ist, dass die Verantwortung für die Zusammenführung der Völker dieser neuen Welt bei uns selbst liegt, denn dies ist nicht mehr die neue Welt, sondern unsere Heimat, und wir sind verantwortlich für ihre Politik und ihren Frieden, wie wir es vor dem Krieg waren, der das Land auseinander gerissen hat. Und die Völker dieses Landes brauchen Frieden einen Frieden, den ihnen nur die Cymrer geben können. Doch wir können dieses Land nur zum Frieden führen, wenn wir selbst von jemandem geführt werden, der wie ich inmitten der Bevölkerung gelebt hat.« Rhapsody schnürte es die Kehle zu. Anborn riss unter ihren Augen die Herrschaft an sich. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. »Es wurde auch gesagt, dass mein Haus allein den Führer stellen kann. Auch das stimmt, denn wir bilden das Band zwischen den Rassen und Königreichen. Allein die Kinder von Anwyn und Gwylliam binden die neue und die alte Welt zusammen. Nur im Haus der Seren-Könige sind die Rassen zusammengekommen. Nur ein einziger Mann unter uns kennt die Heere und Hospitäler, die Bauern und Könige, als wäre er einer von ihnen. Nur ein Mann stammt von allen Flotten ab und hat sowohl das Amt des Fürbitters als auch des Patriarchen inne. Er stammt nicht nur von der Ersten und Dritten Flotte ab, sondern auch von der Zweiten. Und deshalb nominiere ich, Anborn ap Gwylliam, Sohn von Anwyn, Herzog Gwydion ap Llauron ap Gwylliam aus dem Hause Neuland, Sprecher der Zweiten Flotte, Sohn von Anwyns erwähltem Erben, Kirsdarkenvar, zum Herrn der Cymrer. Er hat im Krieg keiner Seite gedient, sondern sein ganzes Leben selbstlos der Heilung des Risses gewidmet, der durch den Krieg entstanden ist. Könnte jemand anderes diese Rolle besser ausfüllen?« Brüllende Zustimmung schwappte durch die Senke und ergoss sich über die Felder. Sie rollte die Zahnfelsen hoch, drang in die Höhlen der Bolg ein und störte erneut ihren Schlaf. Der Lärm hallte über das Heer von Roland hinweg und rief in ihr silberne Schauer der Hoffnung auf Frieden wach, obgleich sie für den Krieg gerüstet waren. Durch den Rufersims spürte Rhapsody, wie der Gerichtshof entschied, dass Gwydion die beste Wahl war, und ihn als Herrn benannte. Ashe aber starrte Anborn erschrocken an. Sein Onkel lächelte nur und streckte ihm die Arme entgegen, als ob er ihn der Menge vorstellte. »Das Haus Fergus enthält sich!«, rief jemand aus der Zweiten Flotte. Die Gruppe brach in Gelächter aus. Anscheinend handelte es sich um eine alte Rivalität und war kaum mehr als ein Witz. »Ja, wenigstens haben sie nicht dagegen gestimmt«, sagte jemand zu Ashe mit freundlich plärrender Stimme. Der Jubel wurde lauter, und die rasende Menge hob Gwydion auf die Schultern und feierte ihn. Gleichzeitig erstürmten einige den Rufersims, auf dem Rhapsody stand, und hofften, mit ihr reden oder sie berühren zu können. Rhapsody wich vor ihnen zurück. Sie rannte über den Grat, der von dem Rufersims herunterführte, und warf sich Grunthor in die Arme. »Hol mich hier heraus!«, keuchte sie. Der riesige Firbolg nickte, trug sie über die Felsvorsprünge und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Als sie zu einer Stelle kamen, welche die Cymrer noch nicht erreicht hatten, setzte er sie ab, ging neben ihr her und verbarg sie vor den Blicken der anderen. Sie eilten auf den Ausgang der Senke zu, der neben dem Eingang zum Kessel lag. Auf ihrem Weg aus der Senke hörte Rhapsody, wie eine Stimme ihren Namen rief. Es lag eine Dringlichkeit darin, die sie nicht ignorieren konnte. Sie drehte sich um und sah eine Liringlas-Frau, die mit offenen Armen auf sie zulief. Sie war etwa so alt wie Rhapsodys Mutter, als sie diese zum letzten Mal gesehen hatte, und obwohl die Frau ganz anders aussah, schnürte sich Rhapsody der Hals zu. Als die Frau auf Armeslänge herangekommen war, streckte sie die Hände aus. Rhapsody ergriff sie, obwohl sie immer noch nicht wusste, wer diese Frau war. Sie starrte die Sängerin verwundert, aber ohne Scheu an. Tränen lagen in ihren Augen; sie glitzerten in der Dunkelheit, als sie über die feinen Linien liefen, welche die rosige Haut des Gesichtes durchzogen. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte sie sanft. Es war etwas Vertrautes an ihr, doch auch nachdem Rhapsody sie aufmerksam betrachtet hatte, konnte sie die Frau nicht einordnen. Die Menge der erregten Cymrer kam näher. »Nein, ich fürchte nicht. Es tut mir Leid«, antwortete sie. »Ich bin es, Analise«, sagte die Frau und schluchzte auf. Rhapsody dachte nach, und dann weiteten sich ihre Augen vor Verwunderung. Sie war das Kind, das Michael, der Wind des Todes, Petunia genannt und das sie ihm entrungen hatte. Zum letzten Mal hatte sie Analise an jenem Tag gesehen, als sie unter dem Schutz von Nanas Wachen in die Weiten Wiesen gegangen waren, um die Führerin der Lirin zu suchen, die dort lebte. Es war eine traurige Trennung gewesen, aber Rhapsody hatte schon so oft einer geliebten Person Lebewohl sagen müssen. Die Lirin hatten das Kind freundlich aufgenommen, und Rhapsody hatte sich lange mit dem Bild getröstet, wie sie vor der Führerin auf deren Pferd saß, Rhapsody zuwinkte und lächelte. Beide hatten gewusst, dass man gut für Analise sorgen würde. Tränen traten in ihre Augen, und die beiden Frauen umarmten sich heftig. Rhapsody schluchzte auf, als sie erkannte, dass dies die erste Person von der Insel war, die sie gekannt und die überlebt hatte, wenn sie von ihren beiden Bolg-Freunden absah. Analise war jemand, der aus ihrem früheren Leben stammte. Sie warf Grunthor einen raschen Blick zu und zog Analise beiseite, als er zwischen sie und die Menge trat, die auf sie zustürmte, und sie so ein wenig abschirmte. Sie unterhielten sich in ihrer alten Sprache. Analise erzählte Rhapsody ihre Geschichte und beantwortete die Fragen, welche die Lirin-Königin nicht zurückhalten konnte. Sie war mit der Zweiten Flotte gesegelt, hatte sich in Manosse niedergelassen und dort ein angenehmes Leben geführt. Der Krieg, der so viele vernichtet hatte, war an ihr vorübergezogen. Sie hatte von der Krönung der neuen Königin gehört und sich entschlossen, die Reise als Geste der Hochachtung zu machen, als sie den Ruf des Horns verspürt hatte. Sie war zutiefst erstaunt, als sie herausfand, dass Rhapsody und die Königin ein und dieselbe waren. »Ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast«, sagte sie mit einer Stimme, die unter ihren tiefen Gefühlen brach. Rhapsody erschauerte. »Bitte tu es. Ich habe es auch versucht.« »Ich kann nicht«, meinte Analise und schenkte ihr ein Lächeln. »Du hast mich vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt, als ich es mir hätte vorstellen können, Rhapsody. Wegen dir habe ich ein glückliches Leben führen können und den Krieg auf der Insel überlebt. Ich bin zufrieden in Manosse und habe jetzt eine eigene Familie. Ich werde dir meine Enkel später vorstellen, damit sie die Frau kennen lernen, der sie ihr Leben zu verdanken haben.« Rhapsody wirkte verlegen. »Sag ihnen das bitte nicht, Analise. Ich würde sie aber gern sehen. Du bist jederzeit in Tyrian willkommen.« Erschöpfung übermannte sie, und Traurigkeit zerrte an ihrer Seele. Sie gab Analise einen Kuss und versprach ihr, sich am nächsten Tag mit ihr zu treffen. Als sie sicher war, dass keiner der feiernden Cymrer sie sehen konnte, machte sie sich in aller Heimlichkeit auf den Weg nach Elysian. Aber damit hatte sie keinen Erfolg. Tausende riefen in Feierlaune und Weinseligkeit ihren Namen und umjubelten sie. Rhapsody hatte geglaubt, beim Abendessen mit den meisten Leuten geredet zu haben, doch als sie sich umsah, bemerkte sie eine endlose Reihe von Staatsmännern und Leuten, die ihr Glück wünschen wollten. Es war unmöglich, sie alle zu begrüßen. Allein die Unterredungen mit den Staatsoberhäuptern würden bis zum Morgengrauen dauern. Sie musste unbedingt von hier verschwinden. Der Andrang der bewundernden Untertanen verursachte Rhapsody Übelkeit. Sie fühlte sich gefangen, und Panik durchfuhr sie. Schweiß bildete sich auf ihren Handflächen, und ihr Herz raste. Als die Wand aus Menschen auf sie zuraste, sah sie aus den Augenwinkeln ein kupfernes Schimmern. Ashe, der selbst von Glück Wünschenden umringt war, versuchte so höflich wie möglich, sich einen Weg zu ihr zu bahnen. Die Aussicht darauf, mit ihm zu reden, war mehr, als Rhapsody ertragen konnte. Sie lief auf Rial zu, den sie an der anderen Seite des Ausgangs stehen sah. Als sie sich ihm näherte, grinste er breit, doch sobald er den Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte, wandelte sich seine Erheiterung zu Besorgnis. Er streckte die Arme aus, während sie auf ihn zurannte. »Was ist los?« Er drückte sie beruhigend, machte sich von ihr los und sah ihr in die Augen. »Bitte, Rial«, keuchte sie mehr aus Angst als aus Erschöpfung, »hol mich hier heraus. Bitte! Sonst breche ich zusammen.« Ihr Vizekönig verstand sofort. Er drehte sich rasch halb um und legte dabei den Arm um sie. Sein langer roter Umhang wallte um sie beide, während sie davoneilten, und er redete besänftigend auf sie ein, so wie sie es bei verängstigten Kindern tat. »Macht Euch keine Sorgen, Euer Hoheit. Ihr hattet einen anstrengenden Tag, und jeder wird es verstehen. Ich denke, Ihr wart so lange auf dem Fest, wie es die Höflichkeit gebietet. Ich bringe Euch von hier fort und werde Euch bei der Versammlung entschuldigen.« Er streichelte sanft ihre Hand, und sie ergriff die seine und hielt sich mit aller Kraft an ihr fest. 78 Ashe kämpfte darum, auf den Beinen zu bleiben, so stark war der Druck der Menge. Es gelang ihm, jeden anzulächeln, der ihn bei der Schulter packte, seine Hand ergriff oder ihm auf den Rücken klopfte. Er wusste, dass Rhapsody dies von ihm erwartete. Es war ausschließlich ihre mögliche Missbilligung, die ihn davon abhielt, sein Schwert zu ziehen und sich den Weg durch die ärgerlichen Esel frei zu schlagen, die ihm den Weg versperrten. Die lärmenden Stimmen und Jubelrufe bereiteten ihm Kopfschmerzen. Er konnte es nicht erwarten, endlich von hier zu fliehen und in Rhapsodys Armen zu liegen. Auf diesen Moment hatte er mehr als ein halbes Jahr gewartet. Wenn er noch einen Augenblick länger von ihr fern gehalten wurde, würde er sich nicht mehr beherrschen können. Als er sich von einer weiteren Menschenansammlung gelöst hatte, sah er zu der Stelle, wo Rhapsody gestanden hatte. Sie war fort. Er wirbelte herum und entfesselte seine Drachensinne, doch er erfühlte sie nicht. Er wusste sofort, dass sie nach Elysian unterwegs war, aber Kälte griff nach ihm, als Zweifel in ihm aufstiegen. Während der Zeit ihrer Trennung war Rhapsody an vielen merkwürdigen Orten gewesen und hatte gelernt, sich sogar vor ihm zu verbergen. Vielleicht ging sie gar nicht nach Elysian. Er hatte nicht die Zeit, einer falschen Vermutung zu folgen, wie es nach Llaurons vorgeschobenem Tod der Fall gewesen war. Wenn er den richtigen Ort nicht fand, wäre sie verschwunden, bevor er sie eingeholt hätte, und das Konzil würde fortgesetzt, bevor er ihr ihre Erinnerungen zurückgegeben hatte. Das durfte nicht geschehen. Er suchte nach Hinweisen, und zufällig fiel sein Blick auf Oelendra. Sie hatte sich von der Menge frei gemacht und ging langsam am Rand der Senke in die Nacht hinein. Er schoss auf sie zu und packte sie am Arm. Die Worte schössen ohne jede höfliche Floskeln aus ihm hervor. Oelendra sah ihn mitleidig an. »Herzlichen Glückwunsch, mein Herr der Cymrer. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute...« »Wo ist Rhapsody? Sag es mir, Oelendra, oder ich werde ...« Oelendra kniff die Augen zusammen. »Oder du wirst was? Fang nicht am falschen Ende an.« »Es tut mir Leid, Oelendra«, erwiderte Gwydion eingeschüchtert. »Mit Ausnahme einer einzigen anderen Person gibt es niemanden, dem ich so viel verdanke wie dir. Aber wenn ich noch eine Sekunde von meiner Frau fern gehalten werde...« »Hast du sie gefragt, bevor du sie als Herrin nominiert hast?« Gwydions Miene versteinerte. »Was willst du damit sagen?« »Hast du dir die Mühe gemacht, sie zu fragen oder ihr gegenüber wenigstens anzudeuten, was du vorhattest?« »Wann denn?«, fragte er ungläubig. »Ich habe sie doch seit drei Monaten nicht einmal mehr gesehen, Oelendra. Ich bin langsam verrückt geworden, während ich auf die Erlaubnis gewartet habe, mit meiner eigenen Frau zu sprechen, und sie ist mir nicht erteilt worden.« »Vielleicht gab es einen Grund dafür.« »Es gab zweifellos viele Gründe, aber keiner davon war wesentlich. Ich muss sie sehen, Oelendra. Ich muss sie sofort sehen, bevor etwas schief geht und Anborn oder Achmed Ansprüche auf sie erheben. Gute Götter, ich muss ihr die Wahrheit sagen. Bitte, bitte hilf mir. Ist sie in den Kessel zurückgekehrt? Oder ist sie nach Elysian gegangen?« Oelendra sah ihm in die Augen. In ihnen lagen bereits die neue Weisheit und der Blick eines wahren Königs. Aber in den Tiefen lauerten die schreckliche Angst und Verzweiflung eines furchtsamen Ehemannes, der dabei war, seine Seele zu verlieren. Er hatte ihr Mitgefühl, aber ihre Loyalität stand zwischen ihm und der Information, die er brauchte. Ashe wusste um ihren Zwiespalt. »Oelendra, ich kenne und bewundere deine Treue gegenüber Rhapsody, aber du musst wissen, dass ihr zu den Entscheidungen, die sie zu treffen hat, wichtige Informationen fehlen. Bitte stell dir vor, was sie von dir erwarten würde, wenn sie alle Tatsachen wüsste. Glaubst du nicht auch, dass es ihr sehr wehtun würde, wenn sie etwas unternähme, was ihren Entscheidungen aus jener Nacht vor sechs Monaten widerspricht? Was wird wohl mit ihr geschehen, wenn sie schließlich herausfindet, was wir einander versprochen haben, sich aber in der Zwischenzeit mit einem anderen verbunden hat?« Oelendra verstand ihn. Ashe beobachtete den Widerstreit in ihren Augen und hielt den Atem an. Schließlich erkannte er, dass sie sich entschieden hatte. »Wohin sollte sie wohl gehen, um sich zu verstecken und Trost zu finden? Wo niemand sie aufspüren kann?« Ashe begriff. »Sie ist in Elysian.« Oelendra lächelte. »Ich wünsche dir viel Glück.« Als Rhapsody den Rand der Ebene durchquerte, die zum Pass in den Kessel führte, warf sie einen Blick zurück auf die flackernden Fackeln in der Ferne und bemerkte, wie eine dunkle Gestalt ein dunkles Pferd belud. Der Mann sah auf und lächelte breit. Trotz ihres Verlangens, unbemerkt aus der Senke zu entkommen, verspürte sie den Drang anzuhalten. Sie ging zu ihm hinüber und vergewisserte sich dabei, dass ihr keine Cymrer gefolgt waren. Sie hatte Glück gehabt. Nun flössen der Wein und die stärkeren Getränke aus den Destillerien Ylorcs und Canderres, und lautes, trunkenes Singen hallte durch die Senke. Anborn hörte auf zu packen und sah sie eingehend an. »Sie wissen, wie man feiert, nicht wahr?« »Ich vermute, das kommt von all den Jahren, in denen sie keinen Grund dazu hatten«, sagte Rhapsody. Ihre Augen funkelten in der Dunkelheit. »Warum hast du das getan?« »Was getan?« Er wand sich unter ihrem wissenden Blick. »Ach, das mit Gwydion? Ich habe gemeint, was ich gesagt habe. Er ist am besten zum Anführer geeignet. Die Götter wissen, dass er viel mehr Geduld für diese Art von Unsinn hat als ich. Außerdem hatte ich schon befürchtet, dass wir alle den Rest unseres Lebens in diesem verdammten Gerichtshof verbringen würden. Die Erste Flotte hätte mindestens noch hundert Jahre lang argumentiert, und ehrlich gesagt habe ich Wichtigeres zu tun.« Rhapsody legte ihm eine Hand auf den Arm. »Warum glaube ich wohl, dass mehr dahinter steckt?« Anborn seufzte und warf die Satteltasche über den Rücken des Pferdes. »Weil du abgesehen von deiner Neigung, dich in außerordentlich dumme Situationen zu bringen, eine sehr weise Frau bist, die klug genug ist, nicht mehr wissen zu wollen, als für sie nötig ist.« Er sah ihr in die Augen und lächelte. Sie verstand ihn. »Du bleibst nicht bis zum Ende des Treffens?« Anborn schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht das Oberhaupt meines Hauses, und außerdem bin ich der Meinung, dass ich hier genug getan habe, oder etwa nicht?« Sie lachten beide. Dann ergriff Anborn ihre Hände und wurde wieder ernst. »Ich muss dich um etwas bitten um etwas, das schwieriger ist als alles, was ich je tun musste.« Seine Augen funkelten. »Du kennst meine Lebensgeschichte und weißt deshalb, wie schwer es sein wird.« Auch Rhapsody wurde ernst. »Du kannst alles von mir erbitten. Ich werde ohne Fragen und Zögern alles für dich tun.« »Vorsicht, meine Liebe. Ich habe dich schon vor langer Zeit gewarnt, allzu rasch Versprechen zu machen besonders jemandem gegenüber, der dich seit dem Augenblick begehrt, an dem er dich zum ersten Mal gesehen hat. Ich könnte dich hier leicht nehmen; der Boden ist weich und verhältnismäßig warm.« Blut schoss ihr ins Gesicht, und Anborn lachte. »Es tut mir Leid, Rhapsody, das war ungehörig. Was ich dir sagen will, ist dies: Ich muss dich bitten, mich von meinem Heiratsversprechen zu entbinden.« Rhapsodys Gesicht wurde ausdruckslos, und das Blut, das ihr ins Gesicht geschossen war, verteilte sich nun durch ihren ganzen Körper. Sie wurde schwach und fühlte sich krank. »In Ordnung«, sagte sie zögernd. »Darf ich fragen, warum?« Der große Krieger drückte ihre Hände ein wenig fester. »Aus drei Gründen. Erstens haben die Cymrer dich als ihre Herrin erwählt. Ich habe die Führerschaft abgelehnt, weil sie mich gelangweilt hätte. Wie du weißt, liebe ich nichts auf der Welt so sehr wie meine Freiheit. Als dein Mann hätte ich sie behalten können, aber wenn ich einer Rolle hätte nachkommen müssen, wäre diese Freiheit unter einem Berg von Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten erstickt worden. Das hätte ich nicht einmal deinetwegen auf mich genommen.« Sie nickte. »Das verstehe ich«, sagte sie voller Achtung für seine Ehrlichkeit. »Und was sind die anderen Gründe?« Anborn seufzte und schaute zu Boden. »Ich habe zwar deinen Bedingungen zugestimmt, aber es gefiele mir nicht, mit einer Frau verheiratet zu sein, die einen anderen liebt. Du hast es gut vor mir verborgen, meine Liebe. Ich bezweifle, dass es sonst noch jemand weiß. Aber mir ist es klar; es ist in deinen Augen zu sehen. Ich gebe es zwar nicht gern zu, aber ich bin ein eifersüchtiger Mann.« Rhapsody wurde wieder rot, doch in Anborns Augen lagen nur Milde und Verständnis. Die Spannung lockerte sich, und sie lächelten einander an. »Und der letzte Grund?« Zuerst zögerte Anborn, doch dann sagte er: »Ich fürchte, ich kann der ersten Bedingung, die du gesetzt hast, nicht gerecht werden. Du wirst dich daran erinnern, dass du mich vor allem deshalb erwählt hast, weil ich dich nicht liebe.« Er schaute fort, und Rhapsody spürte den schmerzlichen Stich in seinen Worten. Sie legte die Arme um ihn und umarmte ihn herzlich. »Das ist seltsam«, sagte sie leise. »Ich glaube, ich würde dieser Bedingung auf Dauer selbst nicht gerecht werden.« Anborn lachte und erwiderte ihre Umarmung. »Das sind Worte aus deinem Munde, nach denen ein Mann glücklich sterben kann«, sagte er. Er machte sich von ihr frei und sah auf sie herunter. Die Härte seiner Gesichtszüge glättete sich kurz, und er kniete vor ihr nieder. »Du hast meine Treue als Untertan, Rhapsody. Ich schwöre sie dir als Herrin der Cymrer, als Königin der Lirin und als einfache Frau. Mein Schwert und mein Leben setze ich zu deinem Schutz und nach deinem Willen ein.« Rhapsody begriff die Bedeutung dieses Eides. »Ich fühle mich sehr geehrt«, sagte sie sanft und half ihm aufzustehen. »Vielen Dank, Anborn.« »Wenn du erlaubst, werde ich jetzt meiner Fast-Frau einen Abschiedskuss geben und mich dann auf den Weg machen, bevor meine niederen Instinkte die Oberhand gewinnen und ich es mir anders überlege.« Rhapsody lächelte und warf sich noch einmal in seine Arme. Sie waren stark und grob, so wie er, und dennoch sanft, als sie sich um ihre Hüfte schlangen. Er drückte seine warmen Lippen auf ihre, zuerst sanft, doch dann fordernder. Sie spürte, wie ihr inneres Feuer aufloderte, sie ausfüllte und nach ihm rief. Dieses Gefühl entsetzte sie, aber sie ergab sich ihm in der traurigen Gewissheit, dass es nie befriedigt werden würde. Sie konnte weder ihn noch einen anderen Mann lieben, aber sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, mit ihm als seine Frau in tröstender Gemeinschaft zu leben. Sie würde ihn vermissen. Der Kuss wurde noch inniger. Sie spürte, wie Anborns Herz raste. Er drückte sie enger an sich und schob sie dann von sich fort. »Das ist keine gute Idee«, murmelte er zu sich selbst. »Es macht das Reiten unbequem. Auf Wiedersehen, meine Liebe. Du weißt, wie du mich durch den Wind rufen kannst, falls du mich jemals brauchen solltest.« »Bedenke, dass es in beide Richtungen wirkt«, sagte sie und schenkte ihm ein herzerweichendes Lächeln. »Werde für mich nicht zum Fremden.« Anborn lachte. »Das brauchst du nicht zu befürchten. Auf Wiedersehen. Genieße deine neue Herrscherrolle.« Er stieg auf seinen großen schwarzen Hengst. Das Pferd schnaubte und tänzelte, während er sie noch einmal anschaute. »Ach, übrigens, Rhapsody: willkommen in der Familie.« Er blinzelte ihr verschwörerisch zu und galoppierte nach Westen. Sie schaute ihm verblüfft nach, während er langsam außer Sicht kam. Auf der Ebene, etwa eine Meile entfernt und noch immer von der Menge in der Senke gefesselt, spürte Ashe, wie Rhapsody die Lippen gegen Anborns presste. Er stieß einen Verzweiflungsschrei aus, unter dem sich die Cymrer in seiner Nähe hastig zurückzogen und ihm Platz machten. Er rannte blindlings in die Nacht und eilte wie Rhapsody Elysian entgegen. 79 Die elysianischen Gärten standen in voller Blüte. Sie waren wild gewuchert und voller Reife und Süße. Rhapsody hatte den letzten Monat vor dem Konzil mit Achmed und Grunthor in Ylorc verbracht und nachts allein in ihrem einsamen, fensterlosen Quartier innerhalb des Kessels gegenüber der Halle geschlafen, hinter der sich Jos Zimmer befunden hatte. Sie hatte es gehasst, aber sich dort sicher gefühlt. Vor einiger Zeit war sie nur einmal von der Senke aus nach Elysian zurückgekehrt und hatte dort eine Liebesnachricht und einen Strauß aus Winterblumen auf dem Esstisch vorgefunden. Anscheinend konnte Ashe noch über die Ebene wandern, nicht aber die Sicherheitsmaßnahmen der Zahnfelsen und des Kessels durchbrechen. Also war Rhapsody dort geblieben, denn sie hatte gewusst, dass er nicht herkommen konnte. Sie öffnete die Tür des dunklen Hauses und roch den Duft der würzigen Kräuter und getrockneten Blumen, der sie begrüßte. Trotz ihrer Verletzlichkeit und der schlimmen Erinnerungen flößte ihr Elysian ein beruhigendes Gefühl ein. Es war für sie die Heimat, die sie nie gehabt hatte. Rhapsody hing den Satinmantel auf und zog die dazu passenden Schuhe aus. Die Sohlen waren von dem stundenlangen Stehen auf dem Sims abgeschabt und gerissen. Mit müder Hand rieb sie sich die Füße. Dann ging sie durch die Dunkelheit nach oben in ihr Schlafzimmer. Sie öffnete die Tür und fand alles so vor, wie sie es verlassen hatte. Das Bett war gemacht. Sie hockte sich vor den Kamin im Schlafzimmer. Er war sauber, und es lag Holz für ein Feuer darin, aber er brannte nicht. Heute war sie dankbar dafür, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, Brennholz aufzuschichten. Vielleicht war es Achmed gewesen, vielleicht auch Ashe, der ihr diesen Dienst bereits erwiesen hatte. Sie sprach ein einziges Wort, und das Feuer entzündete sich. Die kleinen Zweige knisterten und zischten, als sie für kurze Zeit zu feurigem Leben erwachten, sich dann in Rauch auflösten und zu Asche zusammenfielen. Rhapsody sah sich im Zimmer um, als das Licht beständiger wurde. Die Feuerschatten huschten über die geliebten Möbel und in die vertrauten Ecken und erweckten Erinnerungen in ihrer Seele, deren Schönheit sie schmerzte. Zwar liebte sie Elysian und vermisste es, wenn sie in Tyrian war, doch sie wusste, dass sie nicht lange hier bleiben konnte. Es war einfach zu qualvoll. Als die Dunkelheit wich und es hell im Zimmer wurde, fing etwas Helles ihren Blick ein. Über dem zusammengefalteten Paravent in einer Zimmerecke hing ein weißes Hemd das Hemd, um das sie Ashe in jener Nacht hatte bitten wollen, als er ihr die Erinnerungen genommen hatte. Offenbar hatte sie sich daran noch erinnert, und er hatte ihrem Wunsch entsprochen. Rhapsody ging zu dem bemalten Paravent und nahm das Hemd herunter. Sie untersuchte es kurz und fuhr sich damit über die Wange. Es trug noch seinen Geruch, sauber und stürmisch, mit einer Spur der salzigen Ozeangischt. Dieser Duft trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie verfluchte sich, weil sie so verwundbar war. Selbst die Schuldgefühle, die den Tränen folgten, konnten sie nicht veranlassen, das Hemd wegzulegen. Rhapsody stand lange Zeit da und liebkoste ihr Gesicht mit dem Kleidungsstück. Als es im Raum wärmer wurde, spürte sie, wie Erschöpfung und Traurigkeit sie überkamen. Sie warf sich das Hemd über die Schulter und ging ins Badezimmer. Sie pumpte eisiges Wasser in die Wanne, berührte es und steigerte die Temperatur, bis sie angenehm war. Dann wusch sie sich hektisch das Gesicht, als wollte sie die unsichtbaren Tränenflecken und die gelassene Miene abreiben, die sie den ganzen Tag als Maske getragen hatte. Sie starrte ihr Spiegelbild im Glas an. Es war ein menschliches Gesicht, für ihre Augen unbedeutend, aber von einer Müdigkeit durchdrungen, die aus allen Poren der erschöpfungsblassen Haut atmete. Es war kein schönes Gesicht. Sie begriff die Reaktionen nicht, die es hervorrief. Es muss die Krone sein, dachte sie. Ich vermute, eine blendende Gloriole aus kreisenden Sternen zwingt jeden zur Ehrfurcht. Mit einer Gleichgültigkeit, die von ihrer immer stärker werdenden Müdigkeit hervorgerufen wurde, zog sie die Kämme aus dem Haar und bürstete es langsam. Dabei versuchte sie, über die Ereignisse des Tages nachzudenken. Sie putzte die Zähne und spülte den Mund mit einer Flüssigkeit aus, der Anis und Pfefferminze zugegeben waren. Damit hoffte sie, den bitteren Geschmack zu vertreiben, doch es gelang ihr nicht. Die Säure, die ihn verursachte, steckte tief in ihr. Sie schüttelte noch einmal den Kopf, damit sich die langen Haarsträhnen legten, und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Das Feuer brannte nun gleichmäßig und sprang vor Freude auf, als sie den Raum betrat. Rhapsody warf das Hemd auf das Bett, ging zu ihrem Wandschrank und suchte nach einem Knopföffner. Am Morgen hatte ihr Oelendra beim Anziehen geholfen, doch jetzt musste sie allein mit den vielen kleinen Knöpfen am Rücken ihres Kleides kämpfen. Als Ashe da gewesen war, hatte sie nie einen Knopfhaken gebraucht. Die Hilfe beim An und Ausziehen war eines der Dinge, an deren Fehlen sie sich gewöhnen musste, auch wenn Ashes Unterstützung beim Ankleiden oft eher nachteilig gewesen war. Sie lachte über das Bild, das sie abgab. Die lirinische Königin und neue Herrin der Cymrer suchte nach Hilfsmitten, um ihren Körper von den Kleidern zu befreien. Schließlich fand sie den Haken auf dem Boden hinter einigen Hutschachteln. Ashe hatte auch einen nachteiligen Einfluss auf ihre Ordnungsliebe gehabt. Sie fuhr sich mit dem Haken über den Rücken und löste die Knöpfe mit einer Geschicklichkeit, die von ihren einsamen Tagen herrührte. Es lag ein gewisser Trost darin, dass sie in ihr altes Leben zurückkehren konnte und es trotzdem weiterging. Das Kleid fiel ihr von den Schultern. Sie trat daraus hervor und schaute es einen Moment lang an. Zum ersten Mal in ihrem Leben ließ sie die Kleidung in einem Haufen auf dem Boden liegen. Sie zog den Unterrock über den Kopf, warf ihn auf den Haufen und kehrte zum Bett zurück. Sie hob das Hemd auf und starrte es an. Die Ärmel waren etwas zerknittert, und ein einziger weißer Weinfleck zeugte noch davon, dass er in jener Nacht beim Essen das Glas umgekippt hatte. Er muss sehr nervös gewesen sein, dachte sie und erinnerte sich, wie sich ein Lachen über sein hübsches Gesicht gelegt hatte. Wie gern sie ihn lachen gesehen und gehört hatte! Das Gefühl des Verlustes quoll wieder in ihrer Kehle hoch. Sie drückte das Hemd gegen ihre nackte Brust und versuchte die Schmerzen zu vertreiben. Das Leinen auf der bloßen Haut erinnerte sie blass daran, wie sie ihn in den Armen gehalten hatte. Gekleidet in nichts als ihre Unterhose, zog sie das Hemd an, schlang die Arme um sich und versuchte dieses Gefühl zurückzuholen. Es funktionierte nicht, doch sein Duft füllte ihre Lunge. Sie rollte die langen Ärmel hoch. Das Hemd hing ihr bis fast auf die Knie; es war ein wenig wie eine Umarmung. Das war alles, was Rhapsody von ihm geblieben war, und es würde ihr genügen müssen. Sie zog die geblümte Bettdecke zurück und kroch in ihrem seltsamen Nachtgewand zwischen die Laken. Dann überließ sie sich den Tränen der Verzweiflung und hoffte, sie würden ihr Herz auf immer von ihm rein waschen. In diesem Zustand fand er sie: zusammengerollt im Bett unter der Decke, gekleidet in sein Hemd und schluchzend, als bräche ihr das Herz. Sie hatte ihn weder hereinkommen gehört noch seine Gegenwart gespürt. Er trug seinen Nebelumhang und war unbemerkt hereingeschlüpft. In ihrem Elend erkannte sie ihn erst, als er schon beinahe über ihr stand. »Aria? Ist mit dir alles in Ordnung?« Wie ein abgeschossener Pfeil sprang Rhapsody aus dem Bett. In ihrem Gesicht spiegelten sich Entsetzen und Panik wider. Sie schoss hinter den Paravent. Die Überraschung hatte ihre Tränen gestillt. »Ashe! Was, um alles in der Welt, tust du hier? Gute Götter, geh! Bitte.« Ein Durcheinander von Empfindungen durchfuhr Gwydion, als sie an ihm vorbeistürmte: Schmerz angesichts ihres Leids, Belustigung über ihre Reaktion, der Wunsch, sie in den Arm zu nehmen, Verlangen nach ihrem Anblick, besonders in diesem Aufzug. Er kämpfte darum, das Lächeln aus seinem Gesicht zu verbannen, und bemühte sich um einen ernsten Tonfall. »Es tut mir Leid, ich hätte anklopfen sollen.« »Nein, du hättest erst gar nicht herkommen sollen. Was hast du dir dabei bloß gedacht? Es ist mir egal, ob du der Herr der Cymrer bist. Verlasse dieses Haus sofort!« Ashe zog den Nebelmantel aus und hing ihn an den Haken neben der Tür. Dann nahm er eine große, schimmernde Perle aus der obersten Schublade des Schrankes und legte sie auf den Schrank. Als Nächstes setzte er sich in einen der Armlehnsessel vor dem Feuer, wo er den Paravent besser im Blick hatte. Er legte die Füße hoch, schaute auf den Haufen zerknüllter Kleider am Boden und lachte laut auf. »Ich bin erstaunt, Rhapsody. Du wirst nachlässig.« »Hinaus mit dir!«, befahl sie eindringlicher. »Was bildest du dir ein, einfach herzukommen?« »Ich wollte dich meiner Frau vorstellen«, erwiderte er mit steigender Belustigung. »Vielleicht erinnerst du dich, dass ich das nach dem cymrischen Konzil tun wollte.« Rhapsody keuchte entsetzt auf. »Wie bitte? Du hast sie hergebracht? Gute Götter, was ist denn mit dir los? Das Konzil ist noch gar nicht vorüber. Ich dachte, ein paar Tage oder Wochen später...« »Oder Monate, oder Jahre ... Mir war klar, dass du so denkst. Du wärest nicht lange genug hier geblieben, damit ich sie dir vorstellen kann. Du vergisst, dass ich dich sehr gut kenne, Rhapsody.« Seine Augen leuchteten im Feuerschein. Er genoss diesen kleinen häuslichen Streit. »Wie kannst du es wagen«, flüsterte sie. In ihren Augen bildeten sich Tränen der Wut. »Du hast kein Recht, mir zu sagen, was ich tun und lassen soll. Das ist mein Haus, falls du es vergessen hast. Und jetzt geh!« Gwydion sprang auf. »Sag das nicht«, meinte er ernst. Er kannte ihre nächsten Worte schon: Du bist hier nicht willkommen. Er wollte auf keinen Fall, dass ihre Fähigkeit des Benennens dies zur Wahrheit machte. »Es tut mir Leid. Komm heraus, damit wir reden können.« Allmählich geriet Rhapsody in Panik. »Wo ist sie? Ich spüre ihre Anwesenheit in meinem Haus nicht einmal. 0 nein! O nein! Bitte. Ashe, geh jetzt. Wir können morgen auf dem Konzil miteinander reden, das verspreche ich dir. Aber jetzt geht beide!« »Ich gehe nirgendwohin, solange du nicht hervorkommst und mit mir sprichst. Und es ist niemand sonst hier; wir beide sind allein. Komm schon. Stell dich dieser Sache, wie du dich allem stellst, Rhapsody. Es sieht dir nicht ähnlich, dich zu verstecken.« Ihre Wut wurde immer stärker. »Es geht dich nichts an, wie ich mich verhalte oder was ich von nun an außerhalb der Politik tue, Ashe.« »Falsch. Komm heraus, ich gehe sowieso nicht.« »Und ich bin nicht angezogen.« »Das habe ich bemerkt. Umso besser. Komm heraus. Bitte.« Sie lugte hinter dem Paravent hervor. Ihr Gesicht war ein Kaleidoskop aus Wut, Entsetzen und Raserei, und Gwydion lachte schallend über die Verwandlungen ihres wunderschönen Antlitzes. Rhapsody nahm ein Buch aus dem Regal, das neben dem Kamin in die Wand eingelassen war, und warf es ihm entgegen. Es traf ihn mitten auf die Stirn. »Was ist bloß los mit eurer Familie?«, fragte sie in rasender Wut. »Kaum ernennt man euch zu den Herren der Cymrer, und schon verwandelt ihr euch in Narren.« »Hallo!«, rief Gwydion in gespielter Verärgerung. »Spricht man so mit seinem Herrn und Mitregenten?« Das Wutgekreisch hinter dem Paravent erinnerte ihn an einen pfeifenden Teekessel, und er krümmte sich vor Vergnügen. »Hau ab!« »In Ordnung, in Ordnung, Rhapsody«, sagte er und brachte sein Vergnügen mühsam unter Kontrolle. »Ich schlage dir einen Handel vor. Du kommst heraus und hörst dir an, was ich zu sagen habe. Wenn du dann immer noch willst, dass ich gehe, werde ich das sofort tun, ohne jedes weitere Wort. Ist das gerecht?« »Nein. Ich bin nicht angezogen.« »Du siehst wunderbar aus. Und nun komm endlich hervor.« »Himmel, du bist ein verheirateter Mann. Hast du keine Scham?« »Nicht die geringste. Komm jetzt heraus, oder ich verlange von dir, dass du mir sofort mein Hemd wiedergibst.« Er stellte sich zwischen sie und den Schrank. Für kurze Zeit kam kein Geräusch mehr hinter dem Paravent hervor. Dann hörte er ein tiefes, trauriges Seufzen, und schließlich kam sie mit einem Ausdruck schwerer Demütigung hervor. Gwydions Herz machte einen Satz. »O Rhapsody, es tut mir so Leid«, sagte er, trat auf sie zu und nahm ihre Hand. Er führte sie zu dem Sessel, in dem er gesessen hatte, und reichte ihr eine ihrer Decken. Er seufzte, als ihre schönen Beine darunter verschwanden. Sie starrte ins Feuer und sagte nichts. Gwydion sah, wie sehr die Monate der Bedrängnis an ihr gezerrt hatten, und verfluchte sich dafür, so mit ihren Gefühlen gespielt zu haben. Er setzte sich auf den Boden zu ihren Füßen, wie am ersten Tag, als sie ihn hergerufen hatte. Aus seiner Tasche zog er ein kleines Kästchen und öffnete es. Kurz schaute er in das Innere. Dann hielt er es ihr hin. »Erinnerst du dich noch daran, Aria?«, fragte er mit sanfter Stimme. Rhapsody schaute ihn kurz an und richtete den Blick wieder auf das Feuer. »Nein.« »Sieh genauer hin«, bedrängte er sie und versuchte, ihre Aufmerksamkeit Zurückzugewinnen. »Ist es dir nicht vertraut?« Sie sah noch einmal in das Kästchen. Darin befand sich ein kleiner Ring, zusammengesetzt aus winzigen Fragmenten des lirinischen Diadems, mit einem wundervollen Smaragd im Mittelpunkt. Sie ergriff das Kästchen und schaute sich den Inhalt genauer an. Bei ihrer Berührung loderte das Feuer der Diamanten auf, wie es bei der Krone der Fall gewesen war. Der Smaragd fing das Licht ein und leuchtete wie eine Sternbeglühte See. »Es ist wunderschön«, sagte sie und gab ihm das Kästchen zurück. »Aber ich erinnere mich nicht daran.« Gwydion seufzte. »Na gut. Streif ihn über den Finger.« Rhapsody kniff die Augenbrauen zu einem Runzeln zusammen. »Mach dich nicht lächerlich.« »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie ernster gewesen. Bitte, streife ihn über.« »Ich auch nicht. Nein.« Damit hatte er nicht gerechnet. »Rhapsody, um ...« Sie stand auf und hielt sich das Laken vor den Leib. »In Ordnung. Ich habe gehört, was du zu sagen hattest. Jetzt will ich, dass du gehst. Sofort und ohne ein weiteres Wort. Das hast du mir versprochen.« »Aber...« »Nein, nein«, unterbrach sie ihn und hob die Hand. »Sei still. Du hast vorhin die Herrschaft über das vereinigte cymrische Volk angetreten. Es wäre nicht gut, wenn du schon an diesem Tag dein Wort brächest. Du hast es mir versprochen und musst jetzt gehen. Ich werde morgen früh mit dir reden oder zumindest irgendwann während des Konzils, falls es keinen neuen Aufstand gibt.« Er starrte sie ungläubig an. Sein Humor war seine Verteidigung gegen den überwältigenden Drang gewesen, sie zu packen und nie wieder loszulassen. Drei endlose Monate lang hatte er, der Mann und Drache, Schmerzen gelitten, ihre Magie vermisst, ihre Liebe vermisst, sie vermisst. Er hatte ungeduldig jeden Tag gezählt, war durch die Randgebiete der Zahnfelsen gepirscht und hatte gehofft, einen Blick auf sie erhaschen zu können. Schließlich hatte er eine so große Entfernung wie möglich zwischen sie beide gelegt und sich mit dem Wissen getröstet, dass seine Zeit kommen würde. Und nun war sie da, doch Rhapsody hatte Angst vor ihm und fühlte sich in seiner Gegenwart verlegen. Er hatte Närrischerweise geglaubt, er brauche ihr nur den Ring an den Finger zu stecken. Er hatte versucht, es so langsam anzugehen, wie er es ertragen konnte, damit all das, was er ihr zu sagen hatte, sie nicht überwältigte. Und wegen seiner Skrupel hatte er sich soeben für wenigstens einen weiteren Tag aus ihrer Gesellschaft ausgeschlossen. Sicherlich würde sie morgen die Gelegenheit finden, niemals mit ihm allein zu sprechen nur um des Anstandes willen. Tränen traten ihm in die Augen und rollten an den Wangen herab. Er versuchte, gefasst zu bleiben, aber es gelang ihm nicht. Schnell wandte er sich von ihr ab und ging zum Kleiderhaken, nahm seinen Nebelumhang und rannte die Treppe hinunter. Er verfluchte sich wieder dafür, über ihre Tränen gelacht zu haben. Nun war sie von seinen sicherlich unbeeindruckt. Als Gwydion die Schwelle der Vordertür erreicht hatte, hörte er Rhapsody von oben rufen. »Ashe?« Er drehte sich um, ging zurück zum Fuß der Treppe und schaute hoch zu ihr. Ihre Augen waren vor Angst geweitet, und die unordentlichen, schimmernden Haare umwallten ihre Schultern. Sie trug immer noch nichts als sein Hemd und sah wie die perfekte Männerphantasie in Bedrängnis aus. Langsam kam sie die Treppe herunter. Als sie nur noch wenige Stufen über ihm stand, bewegte sich ihre Hand, die vom viel zu langen Ärmel verborgen wurde, zum Kragen des Hemdes und enthüllte ihren schönen Hals mit der goldenen Kette. Ihre Bewegungen waren zögernd, doch ihre Augen blickten voller Mitgefühl. »Ich entbinde dich von deinem Versprechen«, sagte sie. »Was wolltest du mir mitteilen?« »Ich liebe dich«, sagte er. Die Worte kamen ungebeten aus dem einsamsten Ort seines Herzens. Obwohl es nicht das war, was er hatte sagen wollen, war es doch die ehrlichste Antwort auf ihre Frage und das Einzige, zu dem er fähig war. In den 885 Worten schwangen Verlangen, Tiefe und so viel Schmerz mit, wie ihn alle Ozeane zusammen nicht aufnehmen konnten. Diese Worte verbanden zwei Welten, zwei Leben, und ihre Heftigkeit erfüllte Rhapsodys Herz mit Trauer und ihre Augen mit Tränen. »Du solltest gehen«, sagte sie sanft. Durch seine eigenen Tränen sah er kaum die ihren. »Willst du mir damit sagen, dass du mich nicht mehr liebst, Aria?« Sie sah zu Boden. »Nein«, sagte sie, den Blick auf die Füße gerichtet. »Ich habe dir gesagt, ich werde dich immer lieben. Das wird sich nie ändern. Aber es ist nicht mehr von Bedeutung.« »Das siehst du falsch, Rhapsody. Es ist das Einzige, was von Bedeutung ist. Das Einzige.« Er seufzte und spürte, wie die Pein ein wenig nachließ und allmählich Wärme in seine Seele zurückkehrte. »Ich weiß, dass ich kein Recht habe, das noch einmal von dir zu erbitten, aber willst du mir ein letztes Mal vertrauen? Willst du einfach nur hören, was ich dir zu sagen habe? Diesmal bis zum Ende?« Rhapsody erkannte die Dringlichkeit in seinen Augen. »In Ordnung«, sagte sie zögernd. »Aber dann gehst du.« »Ja. Wenn du es dann noch verlangst, werde ich gehen. Das verspreche ich.« Ein unwilliges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du solltest aufhören, etwas zu versprechen, was du nicht halten willst.« »Ich will mein Versprechen unter allen Umständen halten«, sagte er. »Können wir wieder nach oben gehen? Ich glaube nicht, dass die Treppe der beste Ort für dieses Gespräch ist.« Rhapsody errötete. »Vermutlich hast du Recht«, meinte sie und sah verlegen drein. »Kann ich mir wenigstens einen Morgenmantel umlegen?« Sie sah auf ihre bloßen Beine, und auch der Rest ihres Körpers wurde rot. Sie drehte sich um und ging die Treppe hoch. »Warum so viele Umstände?«, fragte er. Eine Spur seines alten Humors kehrte zurück. »Vielleicht gehe ich ja gleich wieder; das ist kaum der Mühe wert.« Rhapsody kehrte in den Sessel zurück und zog die Decke über sich. Gwydion setzte sich wieder auf den Boden und zog noch einmal das Kästchen mit dem Ring hervor. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, ich hatte dich gebeten, das hier anzuziehen. Weißt du, Rhapsody, wenn du das tust, wirst du alles verstehen. Es wird uns viele Stunden des Erklärens ersparen. Obwohl ich unseren kleinen Streit genossen habe, kann ich auch gut ohne den Zusammenstoß mit einem Buch leben. Bitte erweise mir den Gefallen, meine Mitregentin. Wenn du das tust, wird meine Frau dadurch in keiner Weise bloßgestellt, das schwöre ich.« Rhapsody musste lächeln. »In Ordnung«, sagte sie und nahm den Ring aus dem Kästchen. In ihrer Hand glitzerte das Schmuckstück mit einer Helligkeit, die sich in ihren Augen widerspiegelte. Sie dachte an andere Augen und einen Nachthimmel in einem anderen Leben. Sie drückte den Ring kurz und spürte die Musik, die von ihm ausging. Ganz Elysian schien in sie einzuschwingen und sanft zu summen, als spielte es die Ouvertüre zu einer bevorstehenden Sinfonie. »An die linke Hand«, erklärte Gwydion leise. Sie sah ihn misstrauisch an. »Bitte. Vertrau mir.« Rhapsody steckte sich den Ring an den Finger. Einen Moment lang schaute sie ihn an und wartete auf die große Enthüllung, doch es kam keine. Ihr gegenüber begann die große Perle zu summen. Das Strahlen der Diamanten und des Smaragds im Ring wurde so heftig, dass sie wegschauen musste. Dabei erhob sich Gwydion auf ein Knie, beugte sich vor und küsste sie liebevoll im grellen Leuchten des Rings. Die Musik wurde lauter, und jeder Ton wurde von einer neuen Harmonie abgelöst. Sie schwoll an, erfüllte zuerst den Raum, dann das Haus, die Insel, die Grotte und schließlich das gesamte unterirdische Herzogtum von Elysian mit dem schönsten Lied, das sie je gehört hatte. Es baute sich zu einem donnernden Crescendo auf und verflüchtigte sich wieder zu den leisesten Tönen, wobei es seine Harmonie beibehielt. Wie eine Flagge, die der Wind von ihrem Pfahl reißt, befreite sich das Lied plötzlich und schwang davon. Es tanzte durch die Luft und über den See und berührte jede Ecke der Höhle mit Freude. Rhapsodys Blick kehrte zu Gwydion zurück, der sie eindringlich ansah. Als sie sein Gesicht betrachtete, sah sie es auch vor ihrem inneren Auge: undeutliche Bilder aus der vergessenen Nacht, die allmählich zurückkehrten. Sein Antlitz nahm verschiedene Ausdrücke an, alle zeugten von großer Freude. Rhapsody war auf den Ansturm der Erinnerungen schlecht vorbereitet und prallte zurück. Sie streckte die Arme nach Ashe aus. Er packte sie, als sie im Sessel schwankte. Ihre Augen bettelten um Hilfe, bevor sie nach oben rollten und die Welt im Brausen der Erinnerungsflut dunkel wurde. 80 »Ich hätte dich nie für eine der Frauen gehalten, die Ohnmachtsanfälle erleiden, aber in letzter Zeit kommt so etwas bei dir wohl öfter vor.« Gwydions klare Stimme drang durch den Nebel, der ihre verwirrten Gedanken umgab. Die anderen Stimmen, die sie hörte, waren von der Erinnerung unterdrückt und kämpften um die Herrschaft in ihrem Verstand. Rhapsody bemühte sich, zu Bewusstsein zu kommen, doch sie erkannte nur, dass sie auf ihrem Bett lag, denn ihre Wange schmiegte sich gegen die steife Spitze, die das Kissen aus Flanell umrahmte. Sie verlor den Kampf um die Gegenwart und ergab sich den Stimmen aus der Vergangenheit. Sie hörte die Worte ihres Eheversprechens, die so schön waren, wie nur eine Sängerin und ein Drache sie sprechen konnten, die jemanden zwei verschiedene Leben hindurch geliebt hatten. Sie hatte den Gesang, den die Gelöbnisse hervorgebracht hatten, an die Grotte gerichtet, sodass Elysian selbst zur Zeugin ihrer Liebe geworden war. Das Lied schwang immer noch in der unterirdischen Welt und erhellte die Höhle nun, da die Erinnerung zurückkehrte, mit Freude. Dann änderte sich das Bild, und sie sah andere Gesichter und hörte andere Stimmen. Ich werde deinen Sohn nicht mehr sehen, Llauron. Ich habe getan, was du von mir verlangt hast. Wir haben uns getrennt. Wie schade. Und das, nachdem ich ihm meinen Segen gegeben habe. Es ist eine Schande. Es tut mir Leid, meine Liebe. Rhapsody warf sich in ihrem Komaähnlichen Zustand von einer Seite auf die andere. Es sind alles Lügner, hatte Achmed beharrlich behauptet. In der alten Welt wusste man wenigstens, wer die Bösen waren, weil sie es frei heraus zugegeben haben. Hier sind die angeblich Guten berechnend. Das alte Böse hätte niemals einen solchen Schaden anrichten können wie der Herr und die Herrin der Cymrer. Und du willst dich auf einem Silbertablett dem größten Lügner von allen anbieten. Wenn ich das mache, dann aus freiem Willen. Ich gehe das Wagnis ein und lebe oder sterbe aus eigenem Willen. Falsch. Wir alle können dieses Schicksal erleiden. Du begibst nicht nur dich selbst in Gefahr, sondern bringst unser aller Neutralität ins Spiel. Wenn du überreizt, verlieren wir alle. Sie spürte heiße Tränen im Nacken und Arme, die sie fest, aber sanft umschlossen. Keine Sorge, Sam. Du wirst mir schon nicht wehtun. Ganz bestimmt nicht. Emily, ich würde dir nie, nie willentlich wehtun. Das musst du mir glauben. Rhapsody? Rhapsody, sag doch etwas. Bitte. Ist dein Wutanfall vorbei? Gute Götter, es tut mir Leid. Es tut mir so Leid... Die Haare, die ihr in die Augen gefallen waren, wurden sanft zurückgestrichen. Ich sag, wir bringen ihn um. Und wenn wir’n Fehler machen und ’n anderer kommt, bringen wir den halt auch um. Du kannst doch nicht einfach so Leute umbringen. Warum nich? Hat doch bisher immer geklappt. Euer Liebden, da darf man kein Risiko eingehn, das is’n zu großes Ding. Das hervorschießende Licht hatte die frisch erblühten Blumen im Garten berührt, ihre Farben aufgenommen und gen Himmel gesandt und war dann zu einem strahlenden Feuerwerk explodiert, als es gegen die Kuppel des Firmaments gestoßen war. Ashes Gesicht lächelte in ihrer Erinnerung auf sie herab. Bist du sicher? Ich bin sicher. Benommen drückte sie die Hand fort, die ihre Stirn streichelte. Du scheinst dich zur Wächterin meines Herzens gemacht zu haben, Rhapsody. Warum machst du mich nicht zum Beschützer des deinen? Ich verspreche dir, dass ich es in Sicherheit halten werde. Es war ein Streich. Llauron ist nicht tot; du bist benutzt worden. Es tut mir Leid. Ich wünschte, ich hätte es dir auf angenehmere Weise sagen können. Bitte sei, was du zu sein scheinst. Bitte, bitte tu mir nicht weh. Ich bin der, der ich zu sein scheine. Und ich werde dir niemals wehtun. Bitte begreife, dass ich lieber in diesem Augenblick sterben als dir sagen würde, was ich vorhabe. Warum? Weil ich weiß, dass das, was ich dir sagen werde, dich verletzt. Er hatte sie von der Stelle aufgehoben, wo er sie geheiratet hatte, und vorsichtig über die Schwelle und die Treppe hoch zu ihrem Brautgemach getragen. Er zitterte, als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, und als er ihr in die Augen sah, erkannte sie in ihm denselben Jungen, in den sie sich in der vergangenen Welt verliebt hatte, in einer mondhellen Sommernacht unter den Spitzenschatten einer Weide. Sie hörte die Stimme ihres Vaters: Wenn du in deinem Leben findest, woran du vor allem anderen glaubst, musst du unbedingt dazu stehen. Es wird nie wieder deinen Weg kreuzen, mein Kind. Und wenn du standhaft daran glaubst, wird die Welt es irgendwann mit deinen Augen sehen, denn wer kennt es besser als du? Habe keine Angst vor Schwierigkeiten, mein Schatz. Finde das, was für dich von Bedeutung ist. Alles andere ergibt sich von selbst. Rhapsody schlug die Augen auf. Gwydion schaute auf sie herab; Besorgnis lag in seinem Blick. Als er sah, dass sie erwachte, grinste er vor Erleichterung, dann wandelte sich sein Grinsen zu einem besorgten Lächeln. Er verspürte mehr als nur eine Spur Angst. »Willkommen im Leben. Geht es dir gut?« Sie schloss die Augen, legte den Handballen auf die Stirn und versuchte, die pochenden Kopfschmerzen aus dem Schädel zu vertreiben. »Ich weiß es nicht. Was passiert jetzt?« »Das hängt davon ab, wie du dich fühlst«, sagte Gwydion mit einer Spur Nervosität in der Stimme. »Wenn du meine Meinung hören willst, schlage ich vor, dass wir uns eine Schäferhütte suchen und dort bis an unser Lebensende glücklich sind.« Ein Ausdruck unverfälschter Liebe huschte über sein Gesicht und wurde von ihrer Unsicherheit gedämpft. »Ich liebe dich, Aria. Ich will dir das alles schon seit so langer Zeit sagen. Aber ich will dich nicht überrumpeln. Ich weiß, dass du in der letzten Zeit genug für ein ganzes Leben durchgemacht hast. Deshalb folge ich deinen Wünschen. Sag mir, was du wissen willst oder fühlst. Bitte sag mir, was in deinem Herzen ist.« Rhapsody sah ihm ins Gesicht und betrachtete seine Augen. Nicht die geringste Täuschung lag in ihnen, und Hoffnung befand sich dicht unter der Oberfläche, oder zumindest glaubte sie das. Er hielt den Atem an und wartete auf ihre Antwort. Sie kramte all ihre Gefühle des Verrats und der Verbitterung zusammen und stellte sie für den Augenblick beiseite, damit sie besser spüren konnte, wie sie sich fühlte. Sie wusste, dass sie ihn noch liebte. Anscheinend liebte er sie ebenfalls noch. Aber da gab es etwas, das sie erfahren musste, bevor sie weitere Entscheidungen treffen konnte. Sie setzte sich unter großen Schwierigkeiten und mit ein wenig Hilfe von Gwydion auf. »Ich muss etwas wissen, aber ich habe Angst vor der Antwort. Ich habe vor ihr mehr Angst als vor allem anderen in meinem Leben«, sagte sie. Sie versuchte, ihre Frage in Worte zu kleiden, doch nachdem sie den Mund mehrmals geöffnet und wieder geschlossen hatte, fing sie an zu weinen. »Ich kann mich nicht einmal dazu bringen, dich zu fragen«, schluchzte sie. Gwydion wiegte sie in seinen Armen. »Mal sehen, ob ich die Frage für dich stellen und sie gleichzeitig beantworten kann, damit du es nicht tun musst. Sind wir wirklich miteinander verheiratet? Ja.« Rhapsodys Tränen trockneten, doch sie wurde blass und machte sich von ihm frei. »Das kann nicht sein.« »Bin ich wirklich dein Sam, und bist du wirklich mein Liebling Emily? Ja.« »Ashe ...« »Ist das etwa auch nicht das Richtige? Nun gut. Liebe ich dich noch? Ja. Ich kann unmöglich ausdrücken, wie sehr.« »Bitte...« »Bin ich oder war ich je verliebt in jemand anderen oder sogar mit einer anderen Frau verheiratet? Nein.« »Hörst du endlich auf damit?«, knurrte Rhapsody. Gwydion war überrascht und nahm die Hände von ihren Armen. Der qualvolle Ausdruck auf seinem Gesicht zerriss Rhapsody das Herz, und Tränen quollen ihr wieder aus den Augen. »Es tut mir Leid, Sam«, flüsterte sie. »Das wollte ich nicht sagen. Ich muss nachdenken.« Gwydion nickte benommen. Sie wusste, wie lange er gewartet hatte, um die Dinge ins Lot zu bringen, und wie sehr er ihr altes Leben zurückhaben wollte, doch das war unmöglich, bevor sie nicht eine letzte Frage gestellt hatte. Sie schloss die Augen und dachte an die Worte, die sie so gern aus ihrem Kopf vertrieben hätte. Sei nicht eifersüchtig, Rhapsody. Dem Rakshas hat es mit dir viel besser gefallen als mit deiner Schwester. Ach, das wusstest du nicht? Nun, das überrascht mich keineswegs. Eure beiden Liebhaber sahen gleich aus. Was hatte ich für ein Glück, dass du dich in Llaurons Sohn verliebt hast. Dadurch wurde es für den Rakshas so viel einfacher, dich zu besitzen. Du hast geglaubt, es sei immer Gwydion gewesen, der mit dir geschlafen hat, nicht wahr? Nachdem deine Schwester meinem Geschöpf von euch beiden erzählt hatte, war es ganz einfach. Außerdem ist es nachts in den Zahnfelsen sehr dunkel, nicht wahr, meine Liebe?« Rhapsody wurde bleich und erzitterte, und die Angst in ihren Augen fuhr bis in Gwydions Herz. »Frag nur, Emily. Was immer es ist, ich schwöre, ich sage dir die Wahrheit.« »Das weiß ich«, sagte sie und versuchte, ruhig zu bleiben. »Also gut. Erinnerst du dich an die Nacht im Kessel, als ich dir von Jo und dem Rakshas erzählt habe?« Gwydion erschauerte. »Wie könnte ich das vergessen? Ja, unglücklicherweise erinnere ich mich daran.« »Sag mir, was geschehen ist, nachdem du den Kessel verlassen hast.« Er wirkte verwirrt. »Nachdem ich gegangen bin? Woher soll ich das wissen?« Verzweiflung stahl sich in Rhapsodys Blick. »Ich meine nicht den Kessel. Was ist mit dir geschehen?« »Ich bin auf unser gegenseitiges Betreiben hin gegangen und habe mich auf den Weg zur Küste gemacht. Geht es darum, dass ich nicht da war, als du verletzt wurdest, Aria?« »Nein«, antwortete sie zitternd. »Bleib bitte bei der Sache. Was genau ist in jener Nacht passiert? Du bist ein Drache. Ich will die Einzelheiten wissen.« »Ich bin durch die Barrikaden ins Gebirge gegangen und von dort aus in Richtung Steppe. Ich war gerade auf dem Abhang, als ich dich nach mir rufen gehört habe. Ich dachte zuerst, es sei der Wind.« »Und was hast du getan?« »Ich bin zurückgekommen und habe dich in diesem Unterschlupf gefunden. Du hattest beinahe nichts am Leib. Darüber müssen wir übrigens noch einmal reden. Ich liebe es, wenn du fast nackt bist, aber nicht mitten im Winter.« Rhapsody hätte ihn beinahe angegriffen. »Weiter!« Ashe zuckte die Achseln. »Du bist in der Dunkelheit auf mich zugekrochen. Ich musste schwören, dass ich den Rakshas nicht jage, und wider besseres Wissen habe ich zugestimmt. Dann haben wir uns geliebt. Es war nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte. Es war so verzweifelt, und die ganze Zeit über hatte ich Angst, ich könnte dir wehtun, aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Wir waren beide so erregt, dass ...« Seine Worte verstummten, als sichtbare Erleichterung sich auf ihrer Miene breit machte und sie vor Freude laut schluchzte. »Was? Jetzt bin ich vollkommen verwirrt.« Rhapsody konnte die Tränen nicht zurückhalten, doch jetzt mischte sich freudiges Lachen darunter. Die Schmerzen, die sich in ihrem Unterleib verkrallt hatten, ließen nach, und sie warf die Arme um Gwydion. Sie verwirrte und erfreute ihn gleichzeitig. »In Ordnung«, sagte er und zog sie näher. »Ich verstehe das nicht, aber ich könnte mich daran gewöhnen.« Rhapsody trocknete die Augen an den Ärmeln ihres Hemdes. »Nein, tu das nicht«, sagte sie und lächelte. »So lange ich lebe, will ich nie wieder eine solche Erleichterung spüren, denn ich will vorher nie wieder solche Angst haben.« Gwydion streichelte ihre Wange. »Kannst du mir das erklären?« Rhapsody nickte, während sie in die Tasche seines Umhangs griff und nach einem Taschentuch suchte. Gwydion lächelte und seufzte erleichtert. Die alte Rhapsody kehrte zurück. Nachdem sie sich die Nase geputzt hatte, berichtete sie ihm in allen Einzelheiten das, was in der Zwischenzeit vorgefallen und was aus dem Dämon geworden war. Er erblasste, als er das Ausmaß des Schmerzes begriff, den sie mit sich herumgetragen hatte. Selbst seine eigenen Qualen über den Verlust seines Seelenstücks konnten kaum an die Angst heranreichen, die sie verspürt haben musste. Er nahm sie wieder in die Arme. »Gute Götter, Aria, warum bist du nicht zu mir gekommen? Warum hast du mir nicht erlaubt, dich zu sehen? Ich hätte dir gesagt, dass ich in jener Nacht in den Zahnfelsen dein Liebhaber war, und du hättest nicht so leiden müssen.« »Weil deine Antwort auch anders gelautet haben könnte«, meinte Rhapsody ruhig. »Und wenn sich das, was der Dämon gesagt hatte, als wahr herausgestellt hätte, wäre ich zusammengebrochen. Es wäre mir niemals möglich gewesen, dieses verdammte Konzil durchzustehen.« »Du hast diese Angst zum Wohl der Cymrer ausgehalten?«, fragte Gwydion ungläubig. »Das haben sie nicht verdient.« »Wie dem auch sie, sie mussten gerufen und vereinigt werden zum Segen aller, die diese Welt mit ihnen teilen. Ich habe übrigens noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen.« »Oh?« In seinen Augen glitzerte es. »Ich stehe dir ganz zur Verfügung. Du hast meine Aufmerksamkeit und auch alles andere von mir.« Sie sah ihn ernst an. »Was hast du dir dabei gedacht, mich zur Herrin des Konzils zu nominieren? Bist du verrückt?« »Warum?« »Wir reden darüber seit der ersten Nacht, in der wir ... seit unserer ersten Nacht als Liebespaar«, sagte sie. »Du kennst meine Stellung. Warum hast du mich in diese Position gehoben? Ich will nicht die Herrin der Cymrer sein. Du kennst meine Abstammung. Ich bin dazu nicht geeignet.« Gwydion lachte. »Offenbar stimmt das Konzil nicht mit dir überein, denn du bist einstimmig gewählt worden. Das muss schön sein. Über meine Eignung haben sie sich stundenlang gestritten.« Rhapsodys Gesicht wurde heiß. Sie senkte den Blick. Ashe hörte auf zu lachen und ergriff ihre Hände. »Rhapsody, ich habe dir die ganze Zeit zu erklären versucht, dass es wohl kaum einen so guten Führer für diese Leute gibt wie dich und sicherlich keinen besseren.« »Das ist eine traurige Feststellung.« »Vorsicht«, meinte Gwydion ernst. »Du sprichst von meiner Herrin und von der Frau, die ich liebe. Hast du mir nicht einmal gesagt, dass wir die Verpflichtung haben, auf jede erdenkliche Weise zu helfen? Wer außer dir hätte diesen Pöbel besänftigen und erreichen können, dass sie zum ersten Mal seit Jahrhunderten zivilisiert miteinander reden? Die Mitglieder der Ersten und Dritten Flotte haben wie alte Freunde zusammengestanden und sich auf deine Gesundheit zugeprostet. Begreifst du, was das bedeutet? Wer außer dir hätte Anwyn ohne eine Spur von Erbitterung zum Schweigen bringen und sie dorthin zurückschicken können, wo ihr Platz ist, um ihr danach ein Ehrenlied zu singen? Wer sonst hätte sie zum Weinen aus Liebe zu dir bringen können?« »Ich bezweifle, dass Anwyn dir in deiner Einschätzung ihrer Gefühle zustimmen würde.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und betrachtete sie ernst. »Wer sonst hätte eine so scheußliche Überzeugung und den Gedanken an den sicheren Tod mit sich herumgetragen, nur um Leuten zu helfen, denen er sich verpflichtet fühlt, obwohl er keine Macht über sie ausüben will? Wenn das nicht deinen Wert beweist, was sonst? Ich habe dich nicht zu meiner Frau gemacht, damit du die cymrische Herrin wirst, und ich habe dich auch nicht zur Herrin der Cymrer gemacht, damit du meine Frau wirst. Ich habe es getan, weil es für beide Rollen keinen anderen Bewerber gegeben hat einfach niemanden! Und ich bin hier, um dir zu helfen. Ich werde mich zumindest anfangs um die Fangrechte der Fischer, die Pflanzzyklen, die Steuern auf Ochsen aus den orlandischen Provinzen und die Waffenankäufe kümmern, während ich dir alles darüber beibringe...« Rhapsody stieß einen gespielten Seufzer aus. »Ich kann es kaum erwarten. In Tyrian habe ich schon viel über diesen Unsinn gehört.« Er wurde wieder ernst. »Wirst du mir vergeben, Rhapsody? Lässt dein Herz es zu, wenn du mich wieder aufnimmst? In der Nacht unserer Hochzeit konnte niemand vorhersehen, was geschehen würde. Ich wusste, dass du schreckliche Qualen leiden würdest, aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie schlimm sie wirklich waren. Liebst du mich noch?« Sie seufzte. »Ja. Immer.« »Reicht das für dich?« Sie sah ihn ernst an. Die Schmerzen waren vernichtend gewesen, und die Lügen hatten sie beide beinahe in den Untergang getrieben. Doch es waren nicht ihre eigenen Lügen gewesen, und jetzt waren sie die Führer und diejenigen, die die Entscheidungen fällten. Ungebeten kam die Erinnerung an ihre Hochzeit und an das unglaubliche Glück zurück, das sie gefühlt und in seinen Augen gesehen hatte, als sie sich einander versprochen hatten; an die Zärtlichkeit des Liebesaktes, als sich ihre Seelen berührt hatten und in dem Wissen um ihr eigenes Selbst vereinigt waren; an das Hochgefühl des Gelächters zwischen den Laken, das Teilen von Geheimnissen und Plänen in jener Nacht; an die Hoffnungen, die sie einander erzählt hatten. Es war für sie die erste Erfahrung echter und vollkommener Freude gewesen, und diese Erkenntnis rief ihr eine andere Stimme der Weisheit in Erinnerung. Sie sah das Lächeln auf dem Gesicht des Patriarchen. Vor allem wirst du erfahren, was Freude ist. Es wurde zu einer einfachen Entscheidung. Sie stellte sich das Bündel schlechter Gefühle vor und setzte es mit Gedankenfeuer in Brand. Es verkohlte rasch zu Asche und ließ nur jene Dinge zurück, die ihr heilig waren. Ryle hira. »Ja«, sagte sie und sah, wie sein Gesicht in der Freude erglühte, die sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte. »Ja, ich glaube, das hast du mir beigebracht. Es ist genug. Es ist sogar mehr als das. Es ist etwas, für das man voller Demut dankbar sein soll, und das bin ich.« »Dann nimmst du mich wieder auf?« Rhapsody lachte. »Ich glaube nicht, dass ich dich je verstoßen habe. Vielleicht vergebe ich dir eines Tages sogar, dass du mich zur Herrin der Cymrer gemacht hast, aber verlass dich nicht darauf.« »In Ordnung, solange du begreifst, dass ich dein dir ergebener Gemahl bin. Es gibt keine andere als dich; es gab nie eine andere.« »Ich glaube, das habe ich inzwischen verstanden.« »Es gibt da eine kleine Bemerkung von dir, über die ich in den letzten sechs Monaten gern mit dir geredet hätte.« »Wirklich?« »Ja. Erinnerst du dich an die Nacht unserer Hochzeit, als du mir von unserer gemeinsamen Zeit im alten Land erzählt hast? Als du noch nicht wusstest, wer ich bin?« »Ja.« »Wenn ich mich recht erinnere, hast du unser Liebesspiel unter dem Sternenhimmel von Serendair, unser erstes Mal, unsere gegenseitige Entjungferung, als ›eine Nacht mit bedeutungslosem Sex auf einer Weide‹ bezeichnet. Ist das richtig?« Seine Augen glitzerten, während er die Stirn in gespielter Verärgerung runzelte. Rhapsody lachte, obwohl sie rot vor Verlegenheit wurde. »Ja, ich glaube, das waren meine Worte. Ich fürchte, du hast Recht.« »Oh, ich habe Recht«, sagte er, während Belustigung seine gespielte Wut zu verdrängen drohte. »Für mich war das ein wunderbarer, geheiligter Augenblick, Rhapsody.« Ihr Lachen wurde zu einem ernsten Lächeln. »Das war es für mich auch, Sam«, sagte sie nachdrücklich. »Es war wie der Vollzug einer Ehe, die ihren Segen schon erhalten hatte.« »Genau! Genau so habe ich es empfunden. Ich kann mich nicht einmal erinnern, dir ein Heiratsversprechen gemacht zu haben. Es war, als hätten wir gegenseitig erklärt, wir seien nun verheiratet.« »Ja, so war es.« »Da dem so ist, halte ich wohl den Rekord für eheliche Enthaltsamkeit, denn zwischen den Liebesakten mit dir lagen etwa einhundertundvierzig Jahre, und noch viel mehr, wenn du sie nach deiner Zeit berechnest. Dann wären es Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende.« Rhapsody lachte wieder. »Herzlichen Glückwunsch! Das ist eine Leistung, auf die du stolz sein kannst.« »Und seit wir verheiratet sind, uns das Eheversprechen gegeben und die Ringe getauscht haben, sind sechs Monate vergangen. Sechs Monate, Rhapsody. Kein Mann, der dich je gesehen oder von dir gehört hat, könnte glauben, dass eine solche eheliche Enthaltsamkeit möglich ist.« »Es war auch für mich nicht leicht, Sam.« »Ich werde allmählich zum Herrn der Geduld, nicht wahr?« »Eindeutig. Ich habe deine Selbstbeherrschung schon immer bewundert. Was willst du sonst noch?« »Das ist eine dumme Frage.« »Lass mich raten. Möchtest du einen weiteren Enthaltsamkeitsrekord aufstellen?« »Das ist nicht witzig.« Trotz seiner Bemerkung kicherte er. Rhapsody grinste ihn an. »Bedeutet das, dass du von mir erwartest, ich soll dich irgendwie dafür entschädigen?« »Ja.« »Oh. Ich glaube nicht, dass mir das heute Nacht in vollem Umfang möglich ist. Tut mir Leid.« Er beugte sich über sie, legte die Stirn gegen ihren Kopf und sah ihr tief in die Augen. »Du könntest es wenigstens versuchen.« »Vermutlich. Bis zum Sonnenaufgang habe ich keinen Termin mehr.« »Vergiss den Sonnenaufgang. Die Cymrer trinken immer noch auf uns. Bis Mittag oder noch später werden sie sich kaum bewegen können.« Rhapsodys Augen leuchteten. »In Ordnung.« Sie legte ihm die Arme um den Hals. Gwydion rieb die Nase an ihrer. Er kletterte dabei auf das Bett und stützte sich auf Armen und Knien ab. »Wenn dieses verdammte Konzil vorbei ist, hast du für die nächsten sechs Monate keine Zeit mehr für jemand anderen.« »Sechs Monate? Das glaube ich nicht, Sam. Vielleicht zwei Wochen. Ich bin schon so lange von Tyrian weg.« Ein drachenhaftes Grollen ertönte. »Es tut mir Leid. Wenn du mich für dich allein haben willst, musst du mich öffentlich heiraten, ansonsten ...« »Sprich nicht weiter. Abgemacht.« »Gut.« »Dann gehörst du ausschließlich mir, so lange du es ertragen kannst. Richtig?« Ihre Augen glänzten in der Dunkelheit. »Richtig.« Ein verwirrendes Lächeln legte sich über sein Gesicht. »Gut. Und jetzt gib mir mein Hemd zurück.« Die Freudenfeuer hatten sich durch den ganzen Gerichtshof und über die angrenzenden Felder ausgebreitet. Es gab inzwischen zehntausende von ihnen, und im Mittelpunkt der Senke loderte ein flammendes Inferno. Die zuckenden Flammen erhellten den Nachthimmel, der orangefarben durch die dichten Schichten schwarzen Rauchs schimmerte, die allmählich zu Grau und Weiß wurden, je näher sie auf die Sterne zutrieben. Die beachtlichen Vorräte an Wein und Spirituosen, die Achmed für die Versammlung angelegt hatte, waren schon nach den ersten Stunden aufgebraucht. Das berauschte, glückliche Volk schwelgte dennoch weiter in seinen wilden Feierlichkeiten. Lauter, trunkener Gesang hallte über die Berge und ängstigte die Bolg in Canrif, denn die Lieder wurden immer lauter. Als der Mond unterging, erbot sich Achmed, der das Fest mit nüchterner Neugier beobachtet hatte, den Alkoholvorrat aus den Lagern in der Nähe des Griwen aufzufüllen. Dieser Vorschlag wurde begeistert aufgenommen. Faedryth und sein Gehilfe Therion stellten Freiwillige auf, die beim Transport des Nachschubs helfen sollten. Die Nain waren eine der wenigen Gruppen, die noch aufrecht stehen und etwas von Wert bewegen und tragen konnten. Schon bald begleitete eine kleine Schwadron Freiwilliger den Fir-Bolg-König zum Ausgang der Senke. Sie nahmen Karren mit und schlurften unsicher durch die Steppe in die Richtung, die der König ihnen gewiesen hatte. Sie folgten den bolgischen Cymrern, die den Weg kannten. Achmed blieb am Eingang zum Gerichtshof stehen, während die anderen in der Nacht verschwanden, und lauschte dem Knarren der Wagenräder, den unzähligen Liedern aus den verschiedensten Kehlen und dem fröhlichen Lachen und Brüllen, das gegen das Gewebe aus blank liegenden Nerven und Adern prallte, welches seine Haut bildete. Einen solchen Lärm hatte er nie zuvor erlebt, selbst im Krieg nicht. Grunthor hatte einmal gesagt, das Beängstigendste am Krieg sei der Lärm, das Donnern der Pferde und das Klirren der Waffen, die in Position gebracht wurden, der schreckliche Klang von Raserei und Vernichtung, das Jammern und die Geräusche, welche die Menschen machten, wenn sie innerlich explodierten. Dieser Lärm hier war anders; es lag etwas Faszinierendes und zugleich Verwirrendes in ihm. Es war eine Ansammlung kreischenden Lachens und Gesanges, knisternder Flammen, splitternden Holzes, von Gebrüll aus Freude und jahrelangem Schmerz, alles in einem unheiligen Röhren zusammengemischt. Auf ihn wirkte es wie das Meer, das einzelne Laute verhüllte, indem es sie in eine scheußliche Anti-Sinfonie einbettete, die für seine Ohren so schrecklich war, wie Rhapsodys Lied schön gewesen war. Das schwankende Licht der Freudenfeuer fiel auf ihn, flackerte einen Moment lang mit blendender Helligkeit und wurde dann dunkel vor Rauch und fliegender Asche. Da die Dunkelheit etwas länger als gewöhnlich anhielt, schaute Achmed auf und sah, dass sein Sergeant-Major neben ihm stand. Der Lärm hatte ausgereicht, um seinen Puls zu übertönen, der bis zu diesem Konzil einer der beiden gewesen war, die er andauernd vernommen hatte. Nun ging er im Pochen aller Herzschläge der Ersten Generation unter. Es war erstaunlich angenehm und rief in Achmed beinahe nostalgische Gefühle wach. Grunthor reichte ihm einen zerbeulten Humpen, der von billigem Bier überfloss. »Die wissen, wie man ’n Fest feiert, das muss man ihnen lassen, was?« Achmed sagte nichts darauf, sondern hob den Humpen an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Der Rand der Senke neben der Rednerkanzel war von dichtem Rauch aus den Freudenfeuern verhüllt, durch den bisweilen blendende Helligkeit drang. Niemand hätte die Gestalt erkennen können, die dort stand und still dem Freudentaumel zusah nicht einmal die Bolg-Wachen, welche den Hügel flankierten und den Weinschlauch unter sich kreisen ließen. Niemand sah, wie sich die Gestalt kurz darauf umdrehte und wie ein Schatten aus der Vergangenheit mit dem Rauch verschmolz. In der Finsternis kroch sie zu der Kanzel, ergriff das cymrische Hörn und ging damit durch die Aschewolken in die Nacht hinein. 81 Der süße Duft von warmem Zimt und Kardamom kitzelte ihn in der Nase. Es folgten reichere, schwerere Aromen, die Gwydion sanft zwangen, die Augen zu öffnen. Er richtete den Blick auf seine glühende Frau, die neben ihm auf dem Bettrand saß und ein Frühstückstablett auf dem Schoß hielt. Sie fächelte mit der Hand den aufsteigenden Dampf in seine Richtung und lächelte ihn an. »Guten Morgen, mein Herr«, sagte sie in ihrer besten Dienstmädchenstimme. »Wie wäre es mit einem kleinen Appetithäppchen vor der Rückkehr zum Konzil?« »Sehr gern, aber es hat das Bett bereits verlassen und mag es gar nicht, wenn man es als klein bezeichnet.« Er grinste sie durch den Dampf an und ergab sich der aromatischen Sinfonie. »Welch ein himmlischer Duft.« »Es freut mich, dass du ihn magst. Der Zimt und die süßeren Gewürze sind wie die Flöten und Pikkoli. Sie reizen deine Nase, während...« »Ich meinte nicht das Essen«, sagte er verschmitzt. »Und wer hat dir erlaubt, unsere königlichen Arme zu entfernen?« Rhapsody sah an sich herunter. »Entfernen? Sie sind doch noch dran.« »Oh, stimmt. Du solltest dich übrigens an das königliche ›wir‹ gewöhnen, denn du bist schließlich die Herrin der Cymrer.« »Erinnere mich nicht daran«, sagte sie mit gespielter Grimmigkeit. »Das ist alles deine Schuld.« »Ich bekenne mich mit Freude als schuldig. Das ist wahrscheinlich das Einzige, für das mir das cymrische Konzil je danken wird.« »Verlass dich nicht darauf«, sagte sie. »Iss jetzt dein Frühstück. Da sind Zimtstangen ...« Sein Lachen hätte beinahe das Tablett aus dem Gleichgewicht gebracht. »Vorsicht! Außerdem habe ich dir diesen schrecklichen Kaffee gemacht, den du so magst, igitt!« »Oh, danke vielmals.« Gwydion nahm die ihm dargebotene Tasse dankbar entgegen und hielt sie fest, während Rhapsody Schlagsahne hineingab. Er nahm einen Schluck und grinste. »Wunderbar. Vielen Dank.« Sie seufzte in gespielter Verzweiflung. »Er hasst meinen Tee, aber wenigstens liebt er meinen Kaffee.« »Er liebt auch deinen Tee, das hat er dir schon vor Jahrhunderten gesagt. Er liebt alles, was von dir kommt. Ich vermute, das bedeutet, dass ich morgen das Frühstück machen muss?« »Richtig«, sagte sie ernst. »Wir sollten jeden Morgen wechseln, damit wir beide die Gelegenheit bekommen, einmal auszuschlafen.« Er nahm noch einen Schluck. »Machst du Scherze? Du schläfst doch niemals aus. Immer machst du sauber oder singst oder tust sonst etwas in den drei Stunden, bevor ich aufstehe. Wenn du aufgestanden und angezogen bist, dauert es noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang. Es ist draußen noch dunkel, Emily.« Sie kreuzte die Arme über den Knien. »Noch ein paar Nächte wie die letzte, und das wird nie wieder passieren. Ich hatte fast erwartet, beim Aufwachen einen tiefen, rauchenden Spalt im Bett zu entdecken. Ich werde ausschlafen müssen, damit ich überlebe.« Sie sah zu, wie sein Gesicht hinter der Tasse rot wurde. »Ist der Kaffee zu heiß?« »Nein, er ist prima, danke.« Ihr Lachen perlte wie Glockenklang; die Schwingungen durchliefen ganz Elysian. »Sam, du wirst ja rot!« Gwydion stellte die leere Tasse zurück auf das Tablett. »Ja, an jeder Stelle meines Körpers. Willst du es sehen?« Sie lachte und drückte seine Hand von ihrem Knie weg. »Hier, meine Dame«, sagte er und lächelte heimtückisch. Sobald sie es gesehen hatte, stand sie auf. Seine ausgestreckten Armen beachtete sie nicht. »Nein, es tut mir Leid«, sagte sie und entfernte sich von ihm. »Wir müssen bald wieder auf dem Konzil sein. Ich kenne diese Masche.« »Das ist keine Masche, das ist ein königlicher Erlass.« »Ich hasse es, dich zu enttäuschen, aber es warten hunderttausend Leute auf uns, und sie könnten unsere Abwesenheit bemerken.« Ashe fuhr sich mit der Hand durch die ungekämmten Haare. »Kein Wunder, dass Anwyn nicht gegen dich ankommen konnte«, sagte er. »Du bist hart. Bitte, Emily, komm zurück ins Bett. Vergiss das Konzil. Ich werde in einer schrecklichen Stimmung sein, wenn du nicht kommst.« »Tut mir Leid«, wiederholte sie, doch ihr Lächeln drückte Mitgefühl aus. »Wie ich es sehe, ist eine schreckliche Stimmung auf dem Konzil sowieso unvermeidlich. Bei mir war es jedenfalls gestern so. Aber ich werde jetzt ein Bad nehmen Verzeihung, ein königliches Bad. Möchtest du mitkommen?« »Ja!« Er machte eine theatralische Pause. »Ich hoffe, du meinst es ernst.« »Du bist wirklich schlimm. Komm mit.« Sie ergriff seine Hand und zog ihn aus dem Bett. Als sie zum Badezimmer gingen, legte er den Arm um sie. »Schlimm? Wie schlimm, so etwas zu sagen, meine Dame. Ich versichere dir, meine Absichten sind ...« »Rein ehrenhaft, das habe ich schon einmal gehört. Willst du vorher ein Buch lesen?« »Keine schlechte Idee«, meinte er und schaute nachdenklich drein. Er bückte sich, hob den Band auf, den sie ihm in der vergangenen Nacht an den Kopf geworden hatte, und klemmte ihn sich unter den Arm. »Ohne es fühle ich mich sicherer«, lachte Rhapsody, zog es ihm unter dem Ellbogen hervor und warf es auf den Haufen zerknitterter Kleider. »Komm«, sagte er, während seine Augen gefährlich glänzten. »Wir machen unsere eigene Version von Crynellas Kerze.« »Wie bitte?« Er küsste ihr Haar, als er die Tür für sie aufhielt. »Du weißt schon: Wasser in Feuer.« Gwydion lehnte sich in der lauwarmen Wanne zurück und seufzte. Das Wasser floss durch das Loch am Boden der Wanne ab es handelte sich um eine von Gwylliams wunderbaren Erfindungen und setzte Ashes Brust und Hüfte der warmen, dampf schweren Luft des Badezimmers aus. Mit dem Wasser flössen auch die Angst und Einsamkeit des letzten halben Jahres von ihm ab. Er sah hinüber zu seiner Frau auf der anderen Seite des Badezimmers und seufzte erneut. Er war glücklich. Rhapsody stand unbekleidet vor dem langen Silberspiegel und betrachtete sich aus verschiedenen Perspektiven. Ihre Augen schienen starr auf den Bereich des Bauchs gerichtet zu sein, und ihr Gesicht wirkte sehr nachdenklich. Gwydion packte den Rand der Wanne und erhob sich tropfend aus dem abkühlenden Wasser. Er trat hinter sie, nahm sie in die Arme und lachte, als sie sich unter ihm wand. »Iiiiiihhhhh, hol ein Handtuch!« Sie küsste ihn und drehte sich dann wieder dem Spiegel zu. Er zog sie näher zu sich heran und liebkoste sie mit der Nase. »Nein, ich ziehe es vor, am Feuer zu trocknen«, sagte er neckisch und genoss das Gefühl ihres warmen Rückens auf seiner Haut. Ihre ganze Aufmerksamkeit war noch auf den Spiegel gerichtet. Das hatte er bei ihr noch nie erlebt. »Was schaust du dir so genau an?« Rhapsody warf noch einen Blick in den Spiegel, dann antwortete sie: »Ich versuche herauszufinden, warum sich mein Bauch angefühlt hat, als ob er sich ausdehnt, warum Elynsynos glaubte, es wachse etwas Böses in mir, und ob wirklich du es warst in jener Nacht in den Zahnfelsen. Du warst es doch, nicht wahr? Oder habe ich es nur geträumt?« Gwydion fuhr mit der Hand besänftigend durch ihre Haare, während sich ihre Augen in Besorgnis weiteren. »Ja, ja«, sagte er rasch, drehte sie um und nahm sie in die Arme. »Das war ich, Aria, in jedem unbeholfenen, dummen Augenblick. Und vor diesem geschmacklosen Stelldichein habe ich dich seit dem Beginn unserer Liebe keinen Augenblick allein gelassen. Falls du in jener Nacht nach meinem Weggang nicht mit jemandem verkehrt hast, der genauso aussieht wie ich, hat der Dämon eindeutig gelogen.« Rhapsodys Gesicht, das gegen die harten Muskeln seiner Brust gepresst war, nahm ein halbherziges Lächeln an. In seiner Stimme lag eine Frage, die er niemals offen stellen würde, also antwortete sie ihm: »Nachdem du gegangen bist, habe ich mit niemandem mehr geschlafen, Sam. Ich dachte, seit letzter Nacht wäre dir das klar. Aber das erklärt noch nicht, warum ich dieses Gefühl in meinem Bauch habe und was Elynsynos wahrgenommen hat.« Gwydion sah sie nachdenklich an, nahm sie bei der Hand und führte sie zurück in das Schlafzimmer und auf das Bett. »Leg dich hin«, sagte er sanft. »Vielleicht entdecke ich etwas.« Sie legte sich auf die Kissen, während er sich neben sie setzte und eine Hand auf ihren flachen Bauch legte. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Schwellung. Er nahm sich Zeit und untersuchte sie mit allen geschärften Sinnen seiner Drachennatur, erhielt jedoch nur das bestätigt, was er von Anfang an gewusst hatte. Sie war unverändert. Er hatte jede Einzelheit ihres Körpers bis in ihr tiefstes Selbst in der Erinnerung bewahrt, wie es nur einem Drachen möglich war, und wusste unwiderlegbar, dass sie nicht schwanger war oder etwas Lebendiges in sich trug. Es gab allerdings eine winzige Spur von Verunreinigung in ihrem Blut, die mit jedem Herzschlag abnahm, als ob das endlose Kreisen des Blutes sie auflöste. Dazu war ein Glühen in ihr, das er nicht benennen konnte, eine undeutliche Energie, vielleicht ihr Band zum Element des Feuers. Er lächelte sie beruhigend an und hoffte, damit die Unsicherheit in ihrem Blick zu tilgen. »Was hat der Dämon gesagt?«, fragte er sanft. Sie dachte kurz nach. ›»Virack urg caz‹«, sagte sie schließlich und erschauerte angesichts der Erinnerung. »Dann sagte er: ›Empfange.‹ Und danach ›Merlus‹ oder etwas Ähnliches, und schließlich: ›Wachse.‹« Ein Zittern lief über Ashes Rücken. »In Ordnung, meine Liebe. Ich kann dir versichern, dass nichts mehr in dir wächst.« Rhapsody erschauderte. »Nichts mehr?« Gwydion streichelte ihren Arm. »Da war nie etwas Wirkliches. Du weißt, dass es verschiedene Arten gibt, auf die der F’dor jemanden besitzen kann, wie die Soldaten, die nur seinen Befehlen folgten und sich an nichts erinnerten.« Sie nickte. »Der Dämon wusste zweifellos, dass er in der Falle saß und sterben würde. Daher hat er einen letzten Versuch unternommen und einen Samen gepflanzt. Nicht den Samen für ein Kind, sondern den Samen des Zweifels. Er hatte dich vorbereitet und die ganze Zeit mit dir gesprochen. Er kannte die Schwingungen deines Hirns und wusste, wie er dich etwas glauben machen konnte. Die F’dor sind die Väter der Täuschung. Aber weil du eine Benennerin bist, Rhapsody, bist du für so etwas besonders empfänglich. Wie oft hast du mir schon gesagt, dass du gern das glaubst, was du willst, und es dann wahr werden lässt, anstatt die Wirklichkeit hinzunehmen?« »Ja«, gab sie widerwillig zu. Gwydion liebkoste ihr Gesicht. »In gewisser Weise hast du ihn dazu eingeladen und es nicht einmal gewusst«, sagte er leise und versuchte den Ausdruck der Angst aus ihrem Gesicht zu vertreiben. »Sobald du die Möglichkeit in Betracht gezogen hast, dass er die Wahrheit sagen könnte, hast du ihm bei dir Eintritt verschafft. Er hat ein kleines Stück von dir besetzt, und je mehr du ihm geglaubt hast, desto mehr hat er von dir Besitz ergriffen. Die Saat des Zweifels ist gewachsen. Wenn du nicht mehr daran gezweifelt, sondern es als wahr angesehen hättest, wäre deine Seele in seinen Besitz übergegangen. Dann hättest du ganz ihm gehört.« Er streichelte ihren Bauch, als er sah, wie er sich zusammenzog. »Die gute Nachricht ist, dass diese Besessenheit aufgehört hat, da dieser Glaube jetzt ausradiert ist. In gewisser Weise haben dich deine Hoffnung und dein Glaube gerettet. Seitdem du die Wahrheit erkannt hast, hat jeder Atemzug und jeder Herzschlag deinen Körper von den Überbleibseln dieser Besessenheit gereinigt. Jetzt bist du davon befreit. Du gehörst wieder ganz dir selbst.« Rhapsody lächelte. Sie ergriff seine Hand und küsste sie. »Das stimmt nicht«, sagte sie. »Ich gehöre ganz dir.« Gwydion grinste. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest«, meinte er schelmisch und beugte sich über sie. »Warum wohl habe ich dir gesagt, du sollst dich auf das Bett legen?« Sie zog ihn zu sich herab, küsste ihn und umschlang ihn mit ihren schlanken Beinen. »Mal sehen, ob ich es errate.« 82 Obwohl sie weit vom Gerichtshof entfernt war, hörte sie das Kreischen und Grölen und sah die Flammen der Freudenfeuer in der Ferne vor dem dunklen Himmel. Der Wind, der um den Ring der Senke blies, auf dem sie stand, brachte den Geruch von Asche und den Geschmack einer bitteren Vergangenheit mit, die wiederum von Hoffnung gesüßt wurde. Anwyn schaute auf das Hörn in ihrer Hand herunter. Selbst ohne Mondlicht glänzte es wie eine leuchtende Perle in der Finsternis. Das Metall war noch warm; zweifellos war es die Hitze der Frau, die sich das Instrument angemaßt, ihren vollkommenen Mund daran gelegt und Anwyns eigenes Volk zu sich gerufen hatte. Natürlich waren sie gezwungen gewesen, auf der Versammlung zu erscheinen. Niemand, der aus Serendair gekommen oder von altem Geblüt war, konnte sich dem Befehl des Horns widersetzen. Dafür hatte Gwylliam gesorgt. Das war keine Entschuldigung, auch nicht für den Verrat, unter dem sie litt. Überhaupt keine Entschuldigung. Sie schloss die Augen, hielt das Hörn hoch, streckte die Arme der Sternerhellten Himmelsdunkelheit entgegen. Die Worte der anmaßenden Dirne kamen ihr wieder in Erinnerung, wie sie ihr im lachenden Nachtwind voller Feiertrunkenheit entgegengeweht waren. Anwyn ap Merithyn, tuatha Elynsynos, ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit. Deine Handlungen sind nicht mehr im Gleichgewicht. Von nun an wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat. Du wirst nichts mehr über den Herrschaftsbereich deiner Schwestern, die Gegenwart und die Zukunft, sagen können. Niemand wird dich mehr aus einem anderen Grund aufsuchen. Also solltest du dein Wissen besser darbieten, denn sonst wirst du bald vollkommen vergessen sein. Die Seherin lachte auf. Zuerst brach sich ihre Fröhlichkeit in einem Kichern Bahn, dann im Keuchen. Sie warf den Kopf zurück und brüllte vor Freude genauso wild wie ihre Schwester Manwyn, aber viel heimtückischer. Sie lachte, bis nicht mehr zu erkennen war, ob sie vor Vergnügen kreischte oder in Wahnsinn brüllte, auch wenn keine lebende Seele sie durch das Knacken der Freudenfeuer hören konnte, die den Gerichtshof noch immer mit tanzendem Licht erfüllten. Ab nun wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat. Anwyn packte das Hörn noch fester. Ihre sengenden blauen Augen durchglühten die Finsternis. »Sehr gut«, sagte sie. »Wie Ihr befehlt, Euer Majestät.« Ich brauche deine Erinnerungen, hatte der Dämonengeist aus dem Feuer geflüstert. Ihre Antwort mischte sich mit dem zischenden Wind. »Ich verstehe«, sagte sie. Anborn war in ungewöhnlich guter Stimmung, als er nach Westen durch das Vorgebirge zu den weiten Krevensfeldern ritt. Wenn man bedachte, wie der Tag begonnen hatte, war es erfrischend, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten fühlte sich der Marschall frei und unbeschwert. Der Wind brauste, die Nacht war sternenklar, die dunstige Luft erfüllt vom frischen Duft des Sommers, gefärbt vom scharfen Rauch der fernen Freudenfeuer. Anborn nahm den Helm vom Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das schweißnasse Haar. Der sanfte Schritt des Pferdes, das Trappeln der Hufe über die Erde es gab noch Dinge im Leben, die man genießen konnte. Nach so vielen Jahrhunderten der Enttäuschung war die Steingruft um sein Herz schließlich aufgebrochen. In seiner Jugend war Anborn ein Idealist gewesen. Er erinnerte sich an die Kraft, mit der er das Leben gelebt hatte, an die unsterblichen Eide, die er zu Beginn seiner Kampfausbildung auf die Statuten der Blutsverwandten abgelegt hatte, der alten Kriegerbruderschaft, die er um Aufnahme ersucht hatte. All diese leidenschaftlichen Ideale waren auf den Schlachtfeldern des Großen Krieges gestorben, zusammen mit seiner Seele das zumindest hatte er angenommen. Er erinnerte sich an die Worte seiner Schwertkampflehrerin Oelendra Andaris. Ich diene keinem Herrn, sondern einem Volk, hatte sie gesagt. Wenn jene, die herrschen, auch dienen, dann werde ich meine Treue einer Krone geloben. Aber erst dann. Für sie beide, Oelendra und Anborn, beide Blutsverwandte, keiner unwiderruflich vom Krieg verletzt, war die Zeit gekommen, in der sie wieder an etwas glauben konnten. Friede erschien wie die heraufziehende Dämmerung am Himmel. Er richtete seine Gedanken auf Rhapsody, wie so oft, wenn er an nichts Besonderes dachte. Anborn fragte sich, was sie in diesem Augenblick wohl tat, aber er unterdrückte diese Überlegungen. Er hatte die Blicke gesehen, die sie und Gwydion sich zugeworfen hatten. Falls sein Neffe kein völliger Narr war, konnte er sich gut vorstellen, was sie nun taten, und es wäre nicht schicklich, weiter darüber nachzudenken. Er lachte und erfreute sich an der Wendung der Ereignisse und dem Versprechen eines Neuanfangs. Freude überrollte ihn gleich einer Welle und fuhr ihm durch die Haare, die wie sein Mantel flatterten. Sein Glück war so groß wie der Sternenhimmel über ihm, der fern am Horizont ein wenig heller wurde und den herannahenden Tag ankündigte. Anwyn setzte das Hörn an die Lippen und blies hinein. Der Schall wurde nicht in dieser Zeit und von keiner lebenden Seele vernommen. Er hallte durch das Reich der Vergangenheit, wie schon viele Jahrhunderte zuvor. Er quoll aus dem silbernen Hörn und schwebte in der schweren Luft uralter Erinnerungen. Nach langem Widerhall regnete er langsam aus der Luft herab und ließ sich in der Erde nieder. Anwyn lächelte und schloss die Augen. Mit einer Stimme, die hohl vor lauter Erinnerung klang, setzte sie zu ihrem Lied an. Der Überfall auf Farrows Hügel. Die Belagerung von Bethe Corbair. Der Todesmarsch der cymrischen Nain. Der Brand der westlichen Dörfer. Kesel Tal Tormingorllo. Das Lingen-Tal. Die Schlacht an der Wynnarth-Festung. Die Vergewaltigungen im Wasserlager von Varim. Der Angriff auf das südöstliche Gesicht. Die Ausweidung der vierten Kolonne. Die Massenexekution der Bauernsiedlungen der Ersten Flotte. Die Schlacht auf den canderianischen Feldern. Geduldig zählte sie eine schreckliche Geschichte nach der anderen auf jeden Konflikt aus dem Großen Krieg, der von dem F’dor angestachelt, aber durch einfachere Umstände entfacht worden war: Wut, Verrat, Eifersucht, Machthunger. Und Hass, der noch älter war als die Vorzeit. Als sie all die großen Verluste des Krieges genannt hatte, ging sie über zu jedem einzelnen Scharmützel, zu jedem einzelnen Ort, an dem Menschen den Machenschaften des Dämonengeistes zum Opfer gefallen waren. Als die Litanei vollendet war, setzte sie abermals das Hörn an die Lippen und blies es. Anwyn öffnete die Augen. Sie lächelte. Als Anborn den Kamm eines großen Hügels erreichte, scheute sein Pferd vor Angst. Anborn zügelte es und besänftigte das Tier. Dann warf er einen Blick über die Schulter, weil er sehen wollte, was das Tier erschreckt hatte. Einen Moment lang bemerkte er nichts in der Finsternis. Als er allmählich Einzelheiten erkannte, loderte das Blut des Drachen in ihm vor Panik auf. »Guter Schöpfer«, murmelte er. Die Worte blieben ihm im Halse stecken. Die Dunkelheit unter seinen Füßen bewegte sich. Die ganzen weiten Krevensfelder bewegten sich. Sofort lenkte Anborn sein Pferd von dem Hügel herunter und galoppierte zurück zum Gerichtshof, während der Boden hinter ihm aufbrach. 83 Dunst hing über dem Gerichtshof. Es war nicht nur der wabernde Nebel, der sich des Morgens in der Senke sammelte, sondern eine Wolke aus menschlichem Atem, ergänzt von den Ausdünstungen des Alkohols. Der Große Cymrische Nebel, wie er später scherzhaft genannt wurde, hob sich, wie Ashe vorhergesagt hatte, etwa zur selben Zeit, als die Sonne ihre höchste Position einnahm und auch den hartnäckigsten Tagesschläfer zwang, zu blinzeln, aufzustehen und sich für die zweite Sitzung des Konzils bereit zu machen. »Welch eine Verschwendung«, flüsterte Rhapsody Gwydion zu, als sie die menschlichen Wracks beobachteten, die in der Senke umhertaumelten und ächzten, während die cymrischen Aufseher wieder einen klaren Kopf zu bekommen versuchten. »Ich kann mir eine nettere Form von Ausschweifung vorstellen, als sich einfach bewusstlos zu saufen.« »Guter Gedanke«, meinte Gwydion und streichelte ihre Hinterbacken. Rhapsody hatte Oelendra aufgespürt und ihr die Neuigkeiten mitgeteilt. Die lirinische Meistern weinte vor Freude und bedachte ihre Königin mit einer Umarmung, die mütterlicher war als alles, was Rhapsody seit ihrer Abreise aus der Heimat erlebt hatte. Der neuen cymrischen Herrin schnürte es die Kehle zu. Als sie sich losmachte, schimmerten ihre Augen wie die ihrer alten Freundin. Sie hatte ein Kleid aus azurblauer Seide angelegt, das an Armen und Hüfte eng anlag, bevor es sich zu einem weiten Rock bauschte, um den sie die Tagessternfanfare in einer Hüftscheide gegürtet hatte. Gwydions Augen hatten geleuchtet, als er sie in dieser Aufmachung gesehen hatte, und er hatte ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt. »Welch ein wunderbares Kleid, wirklich königlich.« Rhapsody schüttelte den Kopf. »Das ist nur Tarnung. Ich hoffe, ich verschmelze mit dem Himmel. Vielleicht sehen sie mich dann nicht und lassen mich in Ruhe.« Der Beifall, mit dem der neue Herr und die Herrin begrüßt wurden, war verhaltener als in der Nacht ihrer Wahl, was hauptsächlich den Kopfschmerzen zuzuschreiben war, die allzu heftiges Klatschen und Pfeifen der Versammlung zugefügt hätte. Die Atmosphäre schien sich jedoch rasch zu klären, als Ashe auf die Kanzel stieg, seine Herrin präsentierte und dann um Ruhe für eine wichtige Ankündigung bat. »Mit großer Freude und vollendeter Demut verkünde ich euch die wunderbare Neuigkeit, dass die cymrische Herrin gnädig zugestimmt hat, meine Gemahlin zu werden.« Die cymrische Menge schwieg für kurze Zeit. Dann rauschte eine Woge der Erregung durch die Senke und schwoll zu einem zustimmenden Brüllen an. Beifall und Hochrufe in unzähligen Sprachen brachen aus. Die so genannten Bergmesser, die Abordnung der Nain, die Ashe ihr in der Mittsommernacht des vergangenen Jahres beschrieben hatte, stießen ein Kriegsgeschrei aus, das den Gerichtshof erschütterte. Viele ihrer cymrischen Gefährten fühlten sich dabei, als würde ihnen der Kopf gespalten. Rhapsody lächelte die johlende Menge an. Die Sonne spiegelte sich in ihren Rüstungen und Bannern mit einer Helligkeit wider, die Hoffnung auf ein neues Zeitalter machte. Eine Stimme, die sie vom Tag zuvor als Zwischenrufer aus dem Hause McLeod erkannte, rief durch den fröhlichen Lärm: »Gwydion ap Llauron, Enkel von Gwylliam dem Misshandler und Anwyn der Beeinflusserin, wie hast du diese Dame bekommen? Sie stammt nicht aus deiner Linie. Was der Grund dafür ist, dass sie so gut aufgenommen wurde? Kannst du der Versammlung garantieren, dass bei dieser Übereinkunft keinerlei Gewalt im Spiel war?« Das Gebrüll verstummte. Gwydions Gesicht wurde weiß, und seine Hände zitterten vor wachsender Wut. Die Freude, die noch einen Moment zuvor in seinen Augen gelegen hatte, verschwand bei dieser Beleidigung und wurde von etwas Dunklem, Reptilienhaftem ersetzt. Am vergangenen Tag hatte er viele Beschimpfungen und Verleumdungen seiner Familie und seines Hauses ertragen und alle mit Freundlichkeit aufgenommen, doch die Unterstellung, er könne die Hand gegen seine Braut erheben, ging über seine Kräfte. Bevor er etwas sagen konnte, hob Rhapsody die Arme. »Ich kann es garantieren«, sagte sie. Ihre Worte trugen den Stempel der Wahrheit, und in ihnen lag eine Spur Belustigung. »Ich bin froh, sagen zu dürfen, dass ich zu solchen Mitteln keine Zuflucht nehmen musste. Er hat freiwillig zugestimmt. Ich fürchte, ich habe das Schwert und die Daumenschrauben umsonst gekauft.« Die Menge nahm ihre Worte zunächst schweigend auf, dann brach sie in Gelächter und Beifall aus, der die Wände des Gerichtshofes erschütterte und von den Zahnfelsen widerhallte; er brandete über Gwydion hinweg und spülte seinen Zorn fort. Gwydion blinzelte und sah hinunter auf Rhapsody. Sie lächelte ihn an und schenkte ihm einen Blick vollsten Vertrauens, der ihr Antlitz geradezu ätherisch machte. Auch auf Gwydions Gesicht zeigte sich nun ein Lächeln. Rhapsody nahm seinen Kopf zwischen die Hände, reckte sich und küsste ihn vor den Augen des Konzils. Er zog sie in seine Umarmung, und die fröhlichen Rufe schienen zu verstummen. Es war, als ob sie die Einzigen an diesem Ort wären. Ihre Lippen trafen sich sanft, dann wurde der Kuss drängender, und als sein Körper darunter erzitterte, wurde sich Gwydion wieder des donnernden Lärms aus der Versammlung bewusst. Der Aufruhr erschütterte den Boden unter ihren Füßen. Zumindest glaubte er, es sei der Lärm der Menge. Er wusste, dass es sich genauso angefühlt hätte, wenn er Rhapsody allein auf der Heide oberhalb von Elysian geküsst hätte. Der süße Duft von Rhapsodys Haut und die Freude darüber, sie endlich wieder in den Armen zu halten, waren wohl verantwortlich für die Verdunkelung seiner Sinne. Sie waren der Glücksschild, der ihn vor dem anwachsenden Rumpeln in der Erde abschirmte. Es wurde von einer unheimlichen Stille begleitet, die über die Menge hinwegfuhr und den Jubel er stickte. Und als er endlich erkannte, was geschah, war es schon zu spät. 84 Grunthor war der Erste, der die Veränderung spürte. Der Druck in seinem Kopf pflanzte sich fort wie das Gefühl im Ohr, wenn er einen hohen Berg erstieg. Dann schien etwas in ihm zu platzen, als sich die Erde unter seinen Füßen auf schlimme Weise veränderte. Achmed sah seinen Freund fragend an. Die Veränderung, welche den Sergeant-Major überkommen hatte, war unübersehbar. Die weit aufgerissenen bernsteinfarbenen Augen wurden glasig, die Haut in der Farbe eines Blutergusses wurde rot, und er blähte die gewaltigen Nasenflügel, während sein Herz große Mengen Blut pumpte. Er starrte kurz nach Westen, spannte die Muskeln an und schoss vom Rand der Senke hinunter auf die gespannt wartende Versammlung. »Runter vom Hügel!«, brüllte er Rhapsody zu und rannte mitten in die Menge der verwirrten Cymrer, die noch vor einem Augenblick fröhlich gefeiert hatten. »Bewegt euch! Bewegt euch!« Seine Stimme donnerte durch die Luft und über die erstaunte Bevölkerung hinweg, die vor Angst erstarrt war. Er trieb sie in alle Richtungen fort von der sanften Erhebung in der Mitte der Senke. Es war nur für den Bolg-Riesen spürbar, dass sie bebte. Rhapsody hatte sich nach Grunthors Ruf aus Gwydions Umarmung befreit und sah in die entsetzten Gesichter der cymrischen Menge, die sich rasch vor Grunthor teilte und zerstreute. Noch waren keine Schreckenslaute zu hören; alles war unheimlich still. Sie schaute zurück zu der Kanzel und riss entsetzt die Augen auf. »Das Hörn ist fort«, sagte sie zu Gwydion und rief dann auch Achmed zu: »Das Hörn ist fort!« Achmed drehte sich nicht um, sondern nickte nur. Im nächsten Augenblick hörte er Alarmrufe von den Wachen und von Tristans Heer im Westen. Er wirbelte herum und schirmte die Augen vor der hellen Mittagssonne ab. Ein Reiter galoppierte über die Krevensfelder und trieb sein Pferd gnadenlos an. Selbst aus der großen Entfernung hörte der Bolg-König seine heiseren Warnrufe. Das orlandische Heer regte sich und sammelte Waffen und Rüstungen ein. Plötzlich ertönte ein weiterer Ruf. »Es ist Anborn! Macht das Tor auf!« Hinter ihm schwebte es schwarz im Himmel. Rauchwolken türmten sich auf, als wäre ein Vulkan mitten in der Luft ausgebrochen. Während Anborn näher kam, holte ihn der schwarze Rauch beinahe ein. Es war eine so breite Wand, dass sie von einem gewaltigen, durch heftigen Wind angefachten Buschfeuer herrühren konnte, doch bald wurde deutlich, dass es kein Feuer gab. Es war die Erde selbst, die sich auf der weiten Ebene geöffnet hatte und durch die schiere Kraft dieser Verwerfung Staub und Schotter ausspie. Im Schatten dieser Dunkelheit marschierte ein Heer. Zuerst schienen es Legionen von Tieren zu sein, denn viele gingen nicht aufrecht, sondern schleppten sich über das Land, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft vorangezogen. Rhapsody keuchte auf und packte Gwydion am Arm. Sie erinnerte sich an ihre Vision im Turm des Observatoriums. »Das sind die cymrischen Toten, die Gefallenen, die im Großen Krieg getötet wurden.« Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Anwyn hat sie aus der Vergangenheit herbeigerufen.« Das Meer aus wandelnden Leichnamen erstreckte sich bis zum Horizont und tauchte den Rand der Welt in Schwärze. Die Überreste jedes Leichnams, der auf der Ebene oder in den Bergen geblieben war und nicht geopfert oder sich in anderer Weise völlig aufgelöst hatte, war durch die schiere Kraft der Erinnerung wieder belebt worden und kroch, taumelte oder glitt nun auf den Gerichtshof zu. Sie befanden sich inmitten eines Meeres aus Tod, Verwesung, Krankheit und menschlichen Fragmenten, die im Bann von Anwyns Zorn standen. Von den Gipfeln der Zahnfelsen drang ein Brüllen wie gefangener Donner durch die Berge. Lawinen aus Geröll und Erde lösten sich vom Griwen und tosten durch Canrif und über alle kleineren Gipfel des Vorgebirges hinweg, bis sie in einem gewaltigen Hagel aus Schutt auf den Gerichtshof herabregneten. Aus den Bergen kamen weitere Soldaten Anwyns. Es waren wieder belebte Nain und Lirin, Menschen und Halbmenschen, Erwachsene und Kinder, allesamt Opfer von Anwyns und Gwylliams großem Irrsinn, die aus den Grüften der Toten krochen und dem Schall des Horns antworteten, wie sie es vor langer Zeit schon einmal getan hatten. Vor dem Gerichtshof stellte sich das Heer von Roland, hunderttausend Mann stark, in Schlachtreihen und Legionen auf. Rhapsody erschauerte bei diesem Anblick. Zuvor waren sie ihr als gewaltige Streitmacht erschienen, die durch ihre schiere Zahl Achmeds Herrschaft über den Berg bedrohte, doch jetzt waren sie etwa hundert zu eins in der Minderheit. Sie hatte keine Zeit zum genauen Zählen. Aus dem Bauch der Senke drang ein donnerndes Rumpeln. Der Boden warf Blasen und brach kurz darauf auf. Er zerschmetterte und schluckte Cymrer aus allen Flotten, denen es nicht gelungen war, aus dem Weg zu springen. Unter den Entsetzensschreien der Cymrer krochen weitere Totenkrieger aus vergessenen Massengräbern herbei. Sie steckten in Grabgewändern oder Resten von Leichensäcken und hielten verrottete Speere und Schwerter in der Hand. Ihre blicklosen Augen richteten sich auf die zerstiebenden Massen, die wie Krähen vor einem Sturm flohen. Grunthor und einer kleinen Gruppe, die er eingezogen und aus seinem persönlichen Bestand bewaffnet hatte, war es gelungen, sich zwischen die fliehenden Pilger und die unzähligen herannahenden Beerdigten zu stellen. Gleichzeitig schrie Grunthor Befehle in Richtung des Walls, um das verborgene Heer der Bolg zu mobilisieren. Inmitten des Erdbebens spürte Rhapsody, wie sich ein Gefühl der Ruhe um sie legte und den Zorn dämpfte, der hinter ihren Augen brannte. Rasch warf sie einen Blick in die Senke, die nun überall unter den Füßen der Lebenden aufbrach. Sie schäumte und wogte wie eine irdene See und füllte sich mit Wellen aus Toten. Eine Gruppe von zumeist menschlichen Kindern war in der anfänglichen Sintflut von ihren Familien getrennt worden, als sich der Boden gehoben hatte. Ihre Angstschreie waren nur wenig lauter als die der Erwachsenen, die darum kämpften, zu ihnen zu gelangen. Von ihrem Platz am Rand der Senke sah Rhapsody einen Fluss aus noch ruhiger Erde, der möglicherweise als Brücke dienen konnte. Gwydion drückte ihre Hand und löste dann seinen Griff, während sie einander zunickten. »Öffnet das Tor!«, rief er der wirbelnden Masse panischer Leute in der Nähe der großen, irdenen Tore des Gerichtshofes zu. Er schoss den Hang hinunter und auf den Eingang zu, während Rhapsody in die Entgegengesetzte Richtung eilte, zu dem Riss zwischen den Kindern und Erwachsenen, wo der Boden in Erwartung einer weiteren Spaltung erbebte. »Hier! Hier! Folgt dem unzerbrochenen Boden!«, rief sie. Ihre Stimme von königlichem Klang und mit der Befehlsgewalt der Benennerin hallte über den Aufruhr und schnitt durch den Lärm wie ein Diamant. Die Kinder drehten sich sofort um und sahen sie an. »Kommt! Kommt zu mir!« Rhapsody streckte die Arme aus und lockte die Kinder über die Erhebung in der Erde. Auf der anderen Seite der Senke hatte Gwydion einen Hoffnungsschimmer im Blick. »Stephen!«, rief er von einem der niedrigeren Simse der Senke aus. Der Herzog von Navarne wirbelte in dem Mahlstrom aus lebenden und toten Cymrern herum, als er den Ruf seines Freundes vernahm. »Stephen, öffne die Tore! Evakuiere den Gerichtshof!« Gwydion sah, wie sein Freund verstand. Stephen nickte, übergab seine kreischende Tochter in die ausgestreckten Arme eines Wachmannes neben ihm und bahnte sich einen Weg durch die Menge auf die irdenen Tore zu. 922 Gwydion drehte sich um und sah, wie die Leute von den Seiten des Gerichtshofes in das Innere herabregneten und sich dabei in ihrer Angst umwarfen und überrannten. Die felsigen Dämme und Sitzreihen erzitterten unter dem Aufruhr im Innern der Erde wie auch unter der Flut der Flüchtenden, die von den oberen Bereichen der Senke herabtaumelten. Er ergriff den Arm einer fallenden Halb-Lirin und stellte sich dann dem Strom der Fliehenden entgegen. »Bewahrt Ruhe!«, sagte er befehlend. Das Grollen der bedrohlichen Wyrm-Flamme lauerte knapp unter der menschlichen Oberfläche. »Ich befehle euch, langsamer zu werden und vorsichtig die Senke zu verlassen.« Die Menge schwoll an und blieb dann stehen. Der neue Herr der Cymrer hob eine auf dem Boden liegende Frau hoch, stemmte sie mühelos über die auseinander gebrochenen Erdhügel und geleitete sie zum Ausgang. Dann wandte er sich wieder an die Masse. »Langsam«, gebot er. »Seid vorsichtig.« Er zog den ersten Mann vor und half ihm durch den Staub, der aus der aufgebrochenen Erde strömte und über dem frischen Riss schwebte. Dann gab er den anderen das Zeichen, ihm zu folgen. Auf der inneren Erhebung der Senke zählte Grunthor die Truppen und Opfer und änderte grimmig jeden Augenblick seine Schätzungen, während sich immer mehr Leichname aus den Bergen ergossen, aus den Tälern hervorkamen und aus der Erde strömten. Die Cymrer waren zwar mächtig und langlebig, aber nicht auf eine Schlacht vorbereitet. Mit Ausnahme von Tristans Heer, das sich jetzt darauf vorbereitete, der nächsten Welle der Toten entgegenzutreten, waren die Teilnehmer des Konzils nicht für einen Kriegszug, sondern für die Pilgerschaft gerüstet. Der Sergeant-Major wusste, dass er sehr, sehr schnell sein musste, wenn er wenigstens entscheiden wollte, welche Gruppen geopfert werden mussten, anstatt auch dies Anwyn zu überlassen. »Hätt der Hexe den Kopf von den Schultern reißen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte«, brummte er düster und schützte dann die Augen vor der blendenden Helligkeit der 923 Sonne und dem Hagel aus Kies und Staub, der mit frischen und schon lange getrocknetem Blut vermischt war. Ihm drehte sich der Magen um, als er seine kleine Freiwilligentruppe in einem Halbkreis aufstellte, um diejenigen zu schützen, die Rhapsody in ihrer Obhut hatte. Die Erde selbst erfüllte seine Ohren mit Schreien wie das entsetzte Opfer einer brutalen Vergewaltigung, wie eine Mutter, die das Abschlachten der Kinder vor ihren Augen beweint. Gegen seinen Willen öffnete er den Mund und brüllte als Antwort einen wilden und drohenden Kriegsruf, der sich kurz über den allgemeinen Lärm erhob, dann aber von dem Grauen und der Panik um ihn herum geschluckt wurde. Rhapsody hörte den Ruf, der ihr Blut in Eis verwandelte. Sie reichte das letzte der Kinder über die gekrümmte Landbrücke in der Mitte der Senke und kroch danach über die aufgeworfene Erde zu Grunthor. Dabei wich sie dem Meer aus Knochenhänden aus, das aus der Gruft der Erinnerung hervorquoll. Das Licht der Sonne verschwand hinter wirbelnden Wolken aus Schwärze, die wie das Meer in einem Sturm rollten. Als die Dunkelheit zur Mittagszeit über den Gerichtshof fiel, verstummten die verstreuten Cymrer. Dann erhob sich ein Schrei und wogte durch die Senke. Wortfetzen drangen durch den wieder einsetzenden Lärm. »Die Tore! Die Tore sind offen!« Inzwischen hatten sich die Leichen zu einer gewaltigen Welle aufgetürmt, welche die Erde und jene verschlang, die noch auf ihr standen. Das taumelnde Heer strömte über die Bergpässe wie Flüsse aus Blut. Die schimmernden Wasserfälle färbten sich rot mit dem Lehm der aufgebrochenen Erde. Der Boden des Gerichtshofs spuckte weitere Tote aus, und der Horizont verdunkelte sich immer neu unter dem Ansturm der Soldaten der Vergangenheit, die Anwyns Ruf beantworteten und die Luft mit dem Gestank des Grabes verpesteten. Wellen aus blauem Licht fingen Rhapsodys Blick ein. Sie drehte sich um und sah, wie Ashe das Wasserschwert Kirsdarke, das in seinen Händen kochte, in großem Bogen schwang und die Schlachtreihe der Gefallenen zurücktrieb. Er hielt seine Stellung auf einem unversehrten Hügel. Um sich herum hatte er einige alte Krieger versammelt, und gemeinsam schlugen sie die Leichen mit Stecken, Laternen und allem anderen zurück, was man als Waffe einsetzen konnte. Die Männer kämpften Seite an Seite mit ihrem neuen Herrn, dem Enkel der Frau, die dieses Unheil über sie gebracht hatte. Der Herr der Cymrer, der die Nachfolge seiner Großeltern angetreten hatte, hielt die Welle der Toten so gut auf wie möglich. »Arial«, rief er durch den Aufruhr. »Führe sie nach draußen!« Sie wandte sich wieder um. Hinter ihm hatte sich eine große Menge zitternder Gwadd und Menschen versammelt, die zwischen dem aufquellenden Boden und den anbrandenden Leichen gefangen waren. Ein kleiner Streifen unversehrten Bodens war alles, was über dem klaffenden Loch übrig geblieben war, das den Weg zum Tor versperrte und von Dunkelheit umhüllt war. Die verängstigten Cymrer konnten entweder die Landbrücke nicht sehen, oder sie hatten zu viel Angst, den Abgrund zu überqueren. Rasch zog sie die Tagessternfanfare. Die Klinge aus Elementarfeuer und Sternenlicht rauschte aus der Scheide und stieß ihren Ruf über dem Gebrüll im Gerichtshof aus. Die Verängstigten hörten den Laut, sahen den hellen Lichtblitz, scheuten zurück und zitterten. Im Kopf hörte sie die Stimme Oelendras, ihrer Lehrerin, die sie geduldig unterwies. Iliachenva’ar. Das Wort bedeutet »die das Licht an einen dunklen Ort bringt«. Oder aus einem dunklen Ort. Genau. Rhapsody hielt das Schwert hoch. Es war ein großes, brennendes Leuchtfeuer, das durch die körnige Dunkelheit des Todes schnitt, die schwer in der Luft hing. »Kommt!«, rief sie. Ihre Stimme schwang durch die Luft. Sie sprang von dem Hügel, auf dem sie gestanden hatte, auf den Streifen Erde, hielt das Schwert vor sich und schritt auf der Brücke über den Abgrund in Richtung des Tores. Sie betete, dass das Heer, welches Tristan mitgebracht hatte, um Achmed zu bedrohen, jetzt vor dem Gerichtshof den Truppen der Toten standhielt. Der Glanz des Schwertes fiel auf die Landbrücke; die Flammen warfen ein helles, ungleichmäßiges Licht und beleuchteten den Pfad. Die Massen, die in Entsetzen erstarrt gewesen waren, folgten ihr nun. Sie wurde schneller, schlug bisweilen nach einer fleischlosen Hand, die unter ihren Füßen aus dem Abgrund auftauchte, und führte die Menge entsetzter Seelen näher und näher an die Türen des untergehenden Gerichtshofes heran. In der Ferne sah sie das blendend blaue Licht von Ashes Schwert, das die Wogen der Dunkelheit zurücktrieb, die sich noch immer aus dem Bauch der Erde ergossen. Hinter ihr schwoll die Menge an. Rhapsody wurde auf einer geschwinden Welle getragen, die durch das zerbrochene Tor brandete, das von Stephen und seinen Streitkräften aufgerissen worden war. Die Cymrer, die dem sicheren Tod in der Senke entkommen waren, sahen sich jetzt dem herannahenden Heer gegenüber. Von überall her, aus allen Bergen und Tälern drangen geschundene Körper zum Kampf herbei. Manche lebten noch, manche waren schon lange tot, und alle waren in der Umarmung gegenseitiger Vernichtung gefangen. Außerhalb des Gerichtshofes verschwand die Kraftlosigkeit, doch Verzweiflung breitete sich aus. Frauen und Männer kämpften mit Fahnenmasten, Esskörben, bloßen Händen und allem, was sie zu fassen bekamen und beteiligten sich an der Schlägerei, vor der sie sich vorhin noch versteckt hatten. Stephen Navarne, Quentin Baldasarre und Martin Ivenstrand, die Führer der Provinzen, hatten große Gruppen zusammengeschlossen und eine zweite Front hinter den Soldaten von Roland errichtet. Stephen wandte sich an Tristan, der mit der letzten Welle aus dem Gerichtshof entkommen war. »Gut, Vetter«, keuchte er und zog sein Schwert. »Ich weiß nicht, warum du dieses Heer zu einem Friedenstreffen mitgebracht hast, aber es war trotzdem ein Glücksfall.« Tristan nickte bloß. Seine Kleider waren zerrissen und vom getrockneten Blut seiner Vorfahren besudelt. »Seht sie euch ein letztes Mal an«, sagte Baldasarre und deutete mit dem Griff seines Schwertes auf die Unglücklichen. »Mit den Zahnfelsen im Rücken und den Toten vor und neben ihnen haben sie keine Chance. Überhaupt keine.« »Gute Götter«, flüsterte Ivenstrand und stellte sich neben die anderen. Die Truppen der Gefallenen befanden sich jetzt in der Reichweite der Soldaten von Roland. Das orlandische Heer hatte jedes Katapult in Stellung gebracht und schleuderte brennendes Pech auf den herannahenden Wall der Toten, doch es nützte nichts. Sie waren in der Minderzahl. Die Opfer der schrecklichen Schlachten aus dem Großen Krieg bildeten eine endlose Flut und strömten in Wellen voran. Sie hatten nichts anderes im Sinn als Vernichtung, mit der Anwyn ihre Demütigung rächen wollte. Mitten im Getümmel hatte Achmed die Kanzel von Leichen gesäubert. Er erhaschte einen Blick auf seinen Sergeant-Major, der auf den Trümmern des Gerichtshofes stand. Der riesige Bolg nickte, und der König erwiderte seine Geste. Grunthor warf den Kopf zurück und brüllte. Sein Schrei durchdrang den Lärm unter ihm. Er vibrierte durch die Erde, lockerte Steinplatten von den Bergen und rumpelte durch die Felsen. In der Hitze der Schlacht, die auf den Feldern um die Senke tobte, spürten die Kämpfer die Erschütterungen. Sogar die erweckten Toten, die Gefallenen, schienen bei diesem Laut innezuhalten. Einen Augenblick später öffneten sich große Spalten in den Zahnfelsen. Die Wehre und Wachttürme wurden geöffnet. Die Berge schwärzten sich, als das Firbolg-Heer ausströmte und sich über die Felsen in die Steppe ergoss. Grunthors Kriegsschrei wurde von einer halben Million Kehlen aufgenommen, über die Gipfel geschleudert, auf die Felder gebrüllt und in die Erde gebohrt. Die Soldaten von Roland, die in den Kampf mit den Toten verwickelt waren, spürten die Bolg kommen, so wie es vor einem Jahr gewesen war, doch dieses Mal zogen sie gegen einen gemeinsamen Feind ins Feld. Der wirbelnde Mahlstrom des Krieges wurde noch schwärzer, als die Bolg herankamen und sich zu den Menschen gesellten. Gemeinsam versuchten sie, die Toten zurück in ihre Gräber zu treiben. Martin Ivenstrand ergriff Tristan Stewards Arm, als das Meer der Firbolg wie eine Welle über die Krevensfelder schwappte. »Du hast doch gesagt, sie seien vernichtet«, rief er durch den ohrenbetäubenden Lärm. »Das ... das waren sie«, murmelte der Herr von Roland. »Sie...« Die Herzöge hatten gerade noch Gelegenheit, in Deckung zu gehen, als eine Kolonne Bolg-Soldaten dort entlang stapfte, wo sie soeben noch gestanden hatten. Sie grölten ein Kriegslied und lechzten nach Vernichtung. Rhapsody stand über einem aufgerissenen Tal in der Ebene. Rings um sie herrschte das Chaos. Der Boden rumpelte unter den Erschütterungen des Kampfes und dem Donnern der Pferdehufe. Es fiel ihr schwer, in dem Getümmel aufrecht zu bleiben. Zwischen dem Kreischen und Klappern, das die Luft erfüllte, hörte sie ein beängstigend vertrautes Kriegssignal, eine schreckliche Kadenz, die immer näher kam. Sie sah zitternd auf. In nicht allzu großer Ferne stieg ein wirbelnder Sturm aus Staub und schwarzen Erdklumpen unter dahinpreschenden Hufen in die Luft und kam mit jeder Sekunde näher. Im Innern dieses Sturmes ritt der blutbefleckte Krieger aus ihren Albträumen auf sie zu. Seine blauen Augen funkelten wild, und er trieb sein erschöpftes Reittier unbarmherzig an. Die Adern an seinem Hals und der Stirn traten aus seinem Gesicht hervor, das grimmig zusammengekniffen war. Es war Anborn. Er rief etwas; er schrie regelrecht, doch Rhapsody verstand ihn in dem Lärm nicht. Er lehnte sich aus dem Sattel nach rechts und streckte ihr den Arm entgegen. Der Horizont hinter ihm war schwarz vor Bewegung, die so fern und heftig war, dass Rhapsody keine Einzelheiten erkennen konnte. Rhapsody hielt die Arme ausgestreckt und wartete darauf, von ihm auf das Pferd gehoben zu werden. Als sie dies tat, verdunkelte sich der Himmel über ihr. Die sengende Hitze der Schlacht wurde plötzlich von einem Wind vertrieben, der ihr durch Mark und Bein fuhr. Als ob sich die Zeit verlangsamt habe, sah sie, wie die Adern an Anborns Hals steif wurden, wie er die Zähne bleckte und den Mund zu einem gewaltigen Kriegsruf öffnete, der von dem allgemeinen Lärm übertönt wurde. Er blickte von ihr zum Himmel. Sie schaute gerade hoch, als die Klaue des Drachen, der die Sonne verfinsterte, blitzschnell zuschlug und sie hochhob. Der Drache hielt sie zwischen seinen Krallen und entführte sie rasend schnell in die Luft wie die hilflose Beute eines Raubvogels. 85 Ashe stand auf einem geborstenen Hügel und drängte die verbliebenen Cymrer aus den Ruinen des Gerichtshofes, als er Anwyn im Himmel herbeikommen fühlte. Ein großer Energieblitz durchzuckte die Luft und trocknete sie aus, sodass sie beinahe spröde wurde, was er deutlich in der Nase spürte. Eine Hitzewelle folgte dem Auslöschen des Sonnenlichts einen Augenblick später. Die Drachin hatte formlos im Äther gehangen und sich auf ihren Angriff vorbereitet, und als sie schimmernde Gestalt annahm, saugte dies alle Energie und Materie in der Luft zusammen. Gegliederte Schwingen, so groß wie zwei Ochsenkarren und mit Klauen wie Krummschwerter versehen, erschienen zuerst und wurden rasch fest, dann folgten der dunstigere, wurmartige Körper der Bestie, der über ihren Körper glitt und wie eine Schlange dorthin zu Boden schoss, wo Rhapsody stand. In der nächsten Sekunde flog die Drachin bereits wieder dem Himmel entgegen, und der Boden unter ihr war kahl und leer. Anborn galoppierte an der Stelle vorbei, wo Rhapsody gestanden hatte, zügelte dann sein Pferd und sah sich wild um. Ein Wort aus der Vergangenheit, ein qualvoller Schrei der Seele entwand sich Ashes Kehle. Neeeeeeeeeeiiiin. Tief in seinem Innern, an der Stelle, wo die Rowans vorsichtig ein Stück Stern in ihn eingesetzt hatten, um ihm das Leben zu retten, am Geburtsort seiner Doppelnatur und dem Ursprung seines Drachengeistes spürte Ashe den Beginn eines Wechsels. Der Wyrm in seinem Blut schoss brüllend hervor wie ein Buschfeuer. »Hier!«, schrie er mit seiner Stimme und der des Drachen, dem uranfänglichen, vieltönigen Klang des Windes in seinem Schlund. »ANWYN/ Hier!« Grunthor blutete im Gesicht; sein Wangenknochen war teilweise bloßgelegt. Er bahnte sich einen Weg zu Ashe, der auf die Wesen im Himmel blickte und Racheschwüre und Drohungen in einer wortlosen Wyrm-Sprache ausstieß, wobei jede sichtbare Ader anschwoll. Der Riese glaubte, Bewegungen unter Ashes Rüstung und dem Nebelumhang zu erkennen, der nun wie tosende Meereswellen flatterte. Er packte den kleineren Mann an der Schulter und erwischte gleichzeitig ein Büschel der kupfernen Haare. Schnell zog er Ashe von der rutschenden Steinplatte in dem zerfallenden Gerichtshof fort und hob ihn hoch, bis er auf Augenhöhe mit Grunthor war. Ashe erwiderte seinen Blick nicht. Er wand sich in Grunthors Griff, damit er sein Ziel nicht aus den Augen verlor, und wurde mit jeder Sekunde schwerer. Sein Körper zerrann beinahe zu Dunst. »ANWYN! Hier! HIER!« »Hör mir zu!«, schrie Grunthor Ashe ins Gesicht. Der Herr der Cymrer versuchte sich von dem Sergeanten zu befreien. Als der Bolg ihn nicht losließ, griff er nach seinem Schwert. Seine Pupillen waren vertikale Schlitze, die vor wahnsinniger Wyrm-Wut leuchteten. Es reichte Grunthor. Er ließ das Haar los, legte den ganzen Arm um Ashe und presste die Klauen fest gegen die Kehle des cymrischen Herrschers. »Sei still! Hör mit dem Toben auf. Sei ein Mann! Sonst reiße ich dich an Ort und Stelle auseinander.« Ashe blinzelte. Er sah in das ernste Gesicht des Bolg-Kommandanten und spürte, wie der Einfluss des Drachen in ihm nachließ. Er schluckte und versuchte mit fester Stimme zu reden. »Ich muss zu ihr. Ich darf sie nicht schon wieder verlieren.« Grunthor schaute in Ashes blaue Augen und kam sich vor, als betrachtete er einen Gletscher. Er sah, wie sich die tiefen, vertikalen Pupillen in Angst zusammenzogen. In derselben Sekunde wusste er, dass die Angst des cymrischen Herrschers allein Rhapsody galt. Sein Ärger schmolz dahin, denn er fühlte dasselbe für dieselbe Frau. Er kniff die Lippen zusammen, packte Ashe grob am Unterarm und hielt dem Herrn der Cymrer den Ring der Weisheit vor die Drachenhaften Augen. »Was sagt er dir?«, rief er durch den Lärm der Angst und Panik. Ein scharfer Wind voller schwelender Glut erhob sich aus dem Gerichtshof. Ashes Gesicht wurde schlaff. Der Drache verschwand allmählich aus seinen Zügen, die Stirn wurde wieder glatt. Er schaute von dem Ring zum schwarzen Himmel und dann in Grunthors erwartungsvolles Gesicht. »Wenn ich mich auf einen Luftkampf mit Anwyn einlasse, wird Rhapsody sterben«, sagte er. Ruhe kehrte in seine Stimme zurück. »Und was jetzt?«, brummte Grunthor barsch. »Anwyn ist alles egal. Wenn ich sie angreife und Rhapsody zu schonen versuche, werden wir beide sterben.« »Richtig. Also sei der Herrscher, zu dem wir dich gemacht haben. Wenn sie unbedingt sterben muss, sollte sie von dir als Letztes nicht den Drachen, sondern den Mann sehen. Gib ihnen Befehle.« Er deutete ungeduldig auf die wirbelnde Masse unter ihnen. »Das ist’s, was Ihre Majestät von dir erwartet.« Ashe sah den Firbolg-Riese n schweigend an, dann nickte er. »Ja«, sagte er langsam. »Das ist es, was sie erwartet.« Er drehte sich zu dem Gerichtshof unter ihm um. Die Menge versuchte immer noch in blinder Hast zu entkommen. Er bemerkte eine Gruppe Nain nahe dem Ausgang und rief ihnen in ihrer Sprache zu: »Männer der Schmieden! Haltet diesen Hügel!« Die Nain hörten seinen schallenden Befehl, gaben ihre Flucht auf und sahen ihren neuen Hochkönig an, der nun einer Gruppe Bauern zuwinkte und sie zu einem Riss in der Mauer führte. Die Bergmesser gesellten sich zu ihnen und griffen wie besessen ein Meer aus toten Kriegern an. Sie verdrängten den Gedanken, dass einige der verwesenden Leichname ihre eigenen Vorfahren sein konnten. Verzweifelt blickte Ashe in den Himmel. 932 Ein ekelhafter Luftzug traf Rhapsody, als die Drachin eine Kurve über die Krevensfelder flog, die blutig und pockennarbig wie das Gesicht eines Aussätzigen waren. Die Krallen des Wyrm drückten ihr die Arme gegen den Körper und nahmen ihr die Möglichkeit, an ihr Schwert zu kommen. Es baumelte ohnmächtig neben ihrer geschwollenen Hand. Sie spürte, wie das Feuer an Beinen und Rock leckte, wenn die Waffe gegen sie stieß. Über ihrem Kopf, außer Reichweite und um das Klauengelenk der Drachin gewickelt, schaukelte das cymrische Hörn. Sein Gehäuse war gesplittert. Anwyn ballte die Faust, presste die Luft aus Rhapsodys Lunge und quetschte ihr die Rippen. »Ein netter Anblick, nicht wahr, meine Dame?« Die harsche Stimme der Drachin kratzte ihr in den Ohren. »Sieh dir dein Volk gut an. Sieh dir an, wohin du es gebracht hast. Kind des Himmels! Wie gefällt dir der Ausblick von hier oben?« Eine weitere plötzliche Kurve. Rhapsody kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, während die Drachin mit den Flügeln schlug und eine Drehung machte, unter der die Welt für kurze Zeit schwarz wurde. Die Stärke der Drachin war zu viel für Rhapsody. Sie versuchte sich freizukämpfen oder zumindest ein wenig Luft zu bekommen, aber es war vergebens. »Deine Seele sei verdammt, Anwyn!«, rief sie und drehte die Schulter in dem Versuch, an das Schwert zu kommen. »Zu spät.« Die Drachin kicherte. Es war ein tiefes, kehliges Lachen, in dem mahlendes Glas und berstende Knochen mitklangen. »Hör auf damit«, keuchte Rhapsody, als die Bestie spielerisch knapp über den Boden flog und dann wieder in den Himmel tauchte. »Sie waren ... dein ... Volk. Diene ihnen! Rette ... sie.« »Sie haben mich verraten«, zischte die Drachin und schwebte über dem Kampfgetümmel, in dem die Menschen und Bolg gegen die Überreste von Menschen und Bolg fochten. »Sie alle haben mich einmal verraten. Genau wie du. Und ...« Ein pfeifendes silbernes Geräusch ertönte, dreimal. Helles 933 Blut, brennend rot, schoss über Rhapsodys Gesicht. Die Bestie taumelte heftig und stieß einen Schrei von Wut und Schmerz aus. Rhapsody spürte, wie Anwyns Griff nachließ. Eine abgetrennte Kralle hing nur noch an einer einzigen Sehne und fiel schließlich ab; Anwyn drehte sich in ihrem Sinkflug zur Erde um sich selbst, genau wie das Hörn. Rhapsodys Schwertarm war frei. Sie hielt sich an dem knochigen Unterarm fest, damit sie nicht fiel. In den Knöchel hatte sich bis zur Mitte eine schimmernd blaue Cwellanscheibe eingegraben. Zweifellos waren vor ihr bereits zwei eingedrungen. Achmed schoss seine Munition immer zu dritt ab. Die Drachin kreischte wieder auf. Ihr Bein zitterte heftig. Sie flog in Übelkeit erregenden Schleifen, streifte den Boden und spie Feuer. Rhapsody schlang den Arm enger um das Bein des Untiers und stieß ihr das Schwert in das Gewebe zwischen den Flügelknochen. Die brennende Klinge glitt in das Fleisch des Wyrms, als wäre es Leinwand, und riss ein geschwärztes Loch. Anwyn heulte vor Schmerz auf, streckte die Krallen aus und schlug heftig mit dem verletzten Flügel. Sie versuchte, die Beute abzuwerfen, die zu ihrer Peinigerin geworden war. Rhapsody drehte sich der Magen um, als die große Bestie durch die Luft torkelte. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie wusste, dass sie einen freien Fall aus dem Himmel nicht überleben würde. Je länger sie die Drachin vom Kampfgetümmel fern halten konnte, bevor diese endlich zu Boden ging, desto sicherer waren auch die Menschen am Boden. In ihrer Benommenheit kam ihr eine Idee. Es gab etwas, das die Drachin am meisten fürchtete. Sie holte Luft und schrie: »Anwyn ap Merithyn, tuatha Elynsynos, ich benenne dich die Leere Vergangenheit, die Vergessene Vergangenheit. Ich übergebe dich der Erinnerung an jene, die dir vorangegangen sind, verdammte Bestie!« »Nein!«, kreischte die Drachin. Auf dem zerrissenen Hügel lud Achmed erneut die Cwellan. Seine dünnen Hände schwitzten, als er die Feder zurückzog und die schweren Scheiben einlegte, die vor Jahrhunderten von Gwylliam zu genau dem Zweck erfunden worden waren, den sie jetzt erfüllten. Er wartete, bis die Drachin sich wieder im Sinkflug befand und dem Boden so nahe wie möglich war. Dann gab er Anborn, der unter der taumelnden Drachin hergaloppierte, ein Zeichen, damit er nicht von einem verirrten Feuerschwall ihres Atems versengt wurde. Anborn trieb sein Pferd an. Achmed zielte auf das prismatische Auge, das so blau wie das Feuer im Herzen der Erde war. Er brachte die Waffe in Anschlag, bedachte die Geschwindigkeit, mit der die Drachin flog, und sprach ein kleines Gebet zu allem, was heilig sein mochte. Dann schoss er. Seine Schulter knackte vom Rückstoß der Cwellan; Schmerzwellen strömten durch seinen Körper. Sogar aus der Ferne spürte er das Durchschneiden der Luft und das Reißen des Augengewebes. Er sah, wie die Drachin sich aufbäumte und vor Qualen brüllte. Sah das flammende Schwert in fernen Händen, winzig vor dem schwarzen Rauch im Himmel. Es verschwand, als Rhapsody die Tagessternfanfare wieder in die Bestie stieß, diesmal unterhalb des ausgestreckten Flügels. Die große Klaue öffnete sich, und Rhapsody fiel heraus. Sie rollte über den gepanzerten Bauch des Ungeheuers und zog das Schwert während ihres Sturzes durch den ganzen Echsenkörper. Dann schoss sie auf die Erde zu. Das Schwert fiel weit von ihr entfernt wie ein brennendes Holzscheit aus dem Himmel nieder. Anborn trieb sein Pferd wieder gnadenlos an. Mann und Tier waren in einem Todesrennen verbunden, in einem verzweifelten Vorpreschen, um den stürzenden Körper aufzufangen. Manwyns Worte hallten ihm in den Ohren wider. Die Seherin der Zukunft hatte sie vor langer Zeit auf dem Konzil ausgesprochen. Sie wurden wiederholt in der Stimme Rhonwyns, als die Zukunft zur Gegenwart wurde. Wenn du den Riss heilen willst, General, achte auf den Himmel, damit er nicht herabfällt. Achte auf den Himmel, damit er nicht herabfällt. Damit er nicht herabfällt. Er sah, wie Rhapsody fast innerhalb seiner Reichweite auf die Erde zustürzte. Der Bolg-König hatte seinen Schuss gut gesetzt. Mit einem letzten Tritt zwang er das Pferd nach vorn. Rhapsody fiel ihm in die Arme. Er packte sie, riss sie aus der Luft, taumelte mit ihr und dem Pferd zu Boden. Etwas knackte, und einen Moment später ging die Schockwelle in Schmerz über, der ihn blendete und die süße Erleichterung der Bewusstlosigkeit mit sich brachte. Von fern hörte Rhapsody, wie Grunthor ihren Namen brüllte. Benommen versuchte sie sich zu bewegen, aber sie war gefangen. Sie lag auf Händen und Knien, und über ihrem Rücken und den Schultern hockte ein schweres Gewicht, unter dem sie kaum zu atmen und das sie keineswegs zu heben vermochte. Die Stimme wurde lauter und kam näher. Rhapsody spürte, wie sich das Gewicht verlagerte und die Last von ihr fiel. Dann wurde sie von warmen und freundlichen Armen in die Luft gehoben. Sie öffnete die Augen und blickte in das große, grüne Gesicht ihres Freundes, der sie entsetzt anschaute. »Euer Liebden? Alles in Ordnung? Lebst du noch?« Sie nickte; es war ihr nicht möglich, Luft zu holen. Als sie den Kopf bewegte, schmerzte ihr ganzer Körper. »Den Göttern sei Dank«, murmelte Grunthor und drückte seine Stirn gegen ihre. Ein Feuerstoß explodierte hinter ihnen. Der Riese warf sich mit Rhapsody hinter einen aufgeworfenen Erdhügel. Die wütende, verletzte Drachin flog nun weite Kreise. Ihr ätzendes Blut tropfte auf die Erde, und ihr Feueratem regnete auf sie herab. Rhapsodys Blut kochte. 936 »Es reicht«, sagte sie und wischte sich wütend Erde und Brombeerranken vom zerfetzten Kleid. »Wo ist Achmed?« »Hinter dir«, ertönte die sandige Stimme. »Wie immer.« Rhapsody drehte sich um und sah, wie der Fir-Bolg-König neben sie trat. Sie breitete die Arme aus und umfing ihn rasch; dann deutete sie auf einen Hügel am Rande des Gerichtshofes. »Kommt«, sagte sie zu ihren beiden Freunden und suchte dabei zornig den Himmel ab. »Wir müssen noch mehr verdammte Prophezeiungen erfüllen.« »Hrekin«, meinte Achmed. »Ich wünschte, wir hätten es hinter uns.« 86 Der Schlachtenlärm zerriss die Luft, als die Drei über die Spalten und Risse kletterten, die früher einmal die sanften grünen Wiesen gewesen waren, die zu den Krevensfeldern geführt hatten. Leichen, die sich schon lange in diesem Zustand befanden, und solche, die erst kürzlich in ihn geraten waren, lagen überall herum. Das Sonnenlicht war nun verschwunden, ausgelöscht durch den Einbruch von Nacht und Tod, der wie bittere Erde in der Luft und dem Wind über dem Schlachtfeld hing. Rhapsody hatte ihr Schwert nicht weit von der Stelle gefunden, wo sie aufgeprallt war; sein Leuchten hatte ihr den Weg gewiesen. Sie steckte es in die Scheide. Nun krochen die Drei in der Dunkelheit durch die Ruinen des Großen Gerichtshofes, des zerstörten Symbols von Gwylliams Friedenstraum. An diesem Ort hatte sich die einst große Nation zum Konzil getroffen und ein neues Reich geplant und errichtet, das nur kurz Bestand haben sollte. Es warf ein helles Licht auf die Menschheitsgeschichte, doch es war wie Sand unter der selbstsüchtigen Gier nach Macht und Beherrschung zerbröckelt. Im Gerichtshof blieb Ashe still stehen. Er wehrte die Toten ab und hielt sie zurück, während sein Volk entkam. Er war umzingelt und allein wie auf den Krevensfeldern, als er Dorndreher verteidigt hatte. Achmed nahm die Cwellan ab und richtete sie auf die schrecklichen Überreste der Soldaten, die den Herrn der Cymrer angriffen. »Ashe!«, rief er durch die Senke. Ashe drehte sich um und sah ihn an. »Willst du diesmal Hilfe haben?« Zwischen zwei Schwerthieben nickte der Herrscher ihm zu. Achmed feuerte. Die hellen Scheiben wirbelten wie Funken durch die Luft, schnitten durch den Wind und gruben sich in die zerfetzten Hälse der Leichname, die sich auf Ashe gestürzt hatten. Im Handumdrehen hatte Achmed mehrfach nachgeladen, und ein Hagel von Cwellanscheiben umwirbelte Ashe. Die Feinde fielen wie Spreu zu Boden. Dann eilten die Drei hinter einen Felsvorsprung, als die blutende und taumelnde Drachin im Tiefflug heranschoss. Unter ihrem Wutgebrüll erzitterten die Berge in ihrem Innersten. Der Himmel füllte sich mit blendendem, orangefarbenem Licht, als das Feuer ihres Atems den Boden traf und Felsbrocken und Staub in den Himmel wirbelte. Rhapsody trat auf Grunthors Umhang, der Feuer gefangen hatte. »Ashe!«, rief sie, als sie auf den Rufersims zukletterten. »Raus aus der Senke!« Sie folgte den Bolg über die Felsen und den Schutt, der noch vor kurzem in den Stein gemeißelte Sitzreihen gewesen war. Ihr Kleid trug weitere Risse davon, und sie schlug sich die bloßen Knie an den Gesteinsblöcken auf, die noch immer den langen, flachen Granitsims trugen, von dem aus sie das Konzil einberufen hatte. Als sie die Spitze erreichten, starrte Rhapsody entsetzt auf die fernen Felder, auf denen noch immer der Kampf wogte. Das Firbolg-Heer hatte sich mit den rolandischen Soldaten zusammengeschlossen; sie bekämpften mit jeder lebenden cymrischen Seele den Zorn der Drachin und hielten auf dem Land, mit dem sie seit Jahrhunderten verbunden waren, die Stellung gegen die Nachtmahre der Vergangenheit. Rhapsody blickte hinunter auf den Gerichtshof, der durch die Auferstehung der Gefallenen entzweigeborsten war. Eine große Spalte teilte den Boden des Versammlungsplatzes in zwei Hälften, wo noch am Morgen die Cymrer den Beginn eines neuen Zeitalters gefeiert hatten. Sie wandte sich an Achmed und Grunthor. »Dort?«, fragte sie. Die beiden Bolg nickten. Hinter ihr hörte sie das Knirschen von Steinen und rasselndes Atmen. Achmed schwang die Cwellan herum und zielte in die Schatten. Einen Moment später erschien Ashe blutig, abgerissen und von der schwarzen Erde des Grabes verschmiert. Rhapsodys Augen füllten sich mit Tränen. Auch wenn er stark mitgenommen aussah, war er doch mit jedem Zoll der Herrscher, zu dem man ihn ernannt hatte. Er nahm sie in die Arme, doch sie drückte ihn rasch von sich, denn sie suchte noch immer den Himmel nach der Drachin ab. Nun sah sie, wie Anwyn in der Ferne ihre Kreise drehte und feurigen Tod auf die Bolg herabschickte, während sie nach Rhapsody suchte. Zorn loderte hinter den Augen der Sängerin auf. Sie zog die Tagessternfanfare, deren Flamme hell wie eine Fackel in der schwarzen Nacht brannte und vor gerechter Wut zischte und tönte wie ein Glockenspiel, das alle anderen Laute erstickte. »Anwyn!«, rief sie. Ihre Stimme erschütterte die Erde. Felsplatten lösten sich und donnerten an den Bergen herab ins Tal. »Anwyn, du Feigling! Hier bin ich!« In der Ferne wandte sich die Drachin um. Einen Moment lang schwebte sie über einem Dunst aus blutigem Feuer, dann schoss sie auf den Gerichtshof zu. Rhapsody hielt das Schwert hoch. Grunthor und Achmed packten ebenfalls den Griff und halfen ihr, es noch höher zu halten. Sie suchte den Himmel nach einem Stern ab. Bald fand sie Carendrill, den winzigen, blauweißen Stern, unter dem die Lirin Friedensabkommen unterzeichneten. »Seid ihr bereit?«, fragte sie und bemühte sich, das Schwert still zu halten. »Dies ist der Augenblick, der seit dem Ende des Ersten Zeitalters erwartet wurde. Unsere Worte werden mächtig sein. Wir müssen sie abwägen.« Die beiden Bolg schauten himmelwärts auf die nahende Drachin und nickten. Hinter den zischenden Flammen des Schwertes hörte Achmed, wie Stille einsetzte. Sein Herz klopfte so laut, dass es ihm in den Ohren widerhallte. Sein Blut wurde heiß, summte vor Leben, vor dunkler Vorahnung jenes Blut, das im alten Leben mit dem der Blutsverwandten, der Flüchtlinge aus Serendair, verbunden worden war. Alle Blutsverwandten, die es in der neuen Welt gab, befanden sich dort unten auf dem Schlachtfeld und suchten Schutz vor dem Zorn der Drachin. Er spürte ihren Schrecken in seinen Adern; ihr Blut war mit seinem durch die gemeinsame Vergangenheit und in der Hoffnung auf die Zukunft verbunden. Von seinen Lippen drangen Worte, die einem Gebet näher denn je kamen. »Kein einziger Tropfen Blut soll hier mehr vergossen werden«, sagte er nur. Kind des Blutes. Die bernsteinfarbenen Augen des Riesen, der still neben ihm stand, waren voller Tränen. Diesen Augen war das Leid des Krieges und der Zerstörung nicht fremd. Sie hatten kalt der Vernichtung ganzer Nationen und den Rasereien der schrecklichsten Verderbtheit zugeschaut, ohne zu blinzeln, doch dieser Moment war irgendwie anders. In der Tiefe seiner Seele und durch das Band, das sich bei seiner Reise entlang der Axis Mundi vor so langer Zeit gebildet hatte, spürte Grunthor die Schmerzen der Erde und ihr Grauen darüber, dass so viele Gefallene dem Frieden, den sie in ihren Armen gefunden hatten, entrissen worden waren. Eine seelenlose Frau hatte die Unwilligen zu dem Wahnsinn angestachelt, der nun die Brachfelder zerriss. Tränen strömten seine Wangen hinab nicht für jene, die sich vor dem Tod in Deckung brachten, sondern für jene, die er schon vor Jahrhunderten umarmt hatte und die nun ohne eigene Schuld nach so langer Ruhe in der friedvollen Finsternis ihrer aller Mutter der Macht der Sonne und des Kampfes ausgesetzt wurden. »Erde, öffne dich und nimm deine Kinder zurück«, sagte er. Kind der Erde. Als Einzige unter den drei kämpfte Rhapsody gegen ihre Wut an. Ihr Körper, der vorhin noch von dem Sturz und den 941 Verletzungen geschmerzt hatte, war durch die Kraft des Schwertes, des Feuers und der Sterne, mit denen es verbunden war, wieder heil geworden. Es ist genug, dachte sie verbittert und versuchte ihren Hass zu bändigen, als die Bestie näher kam. Du besudelst den Himmel. Er ist dazu bestimmt, die Welt zu beschirmen, nicht aber Vernichtung auf sie herabregnen zu lassen. Der Himmel ist die Gesamtseele des Alls, und wie du gesagt hast, besitzt du keine Seele. Sie sog die Luft ein und stieß sie langsam wieder aus, während sie die Drachin herbeifliegen sah. »Das Feuer des Himmels darf nicht deinem hasserfüllten Willen dienen, Anwyn. Alles Feuer, das aus dem Himmel herabregnet, soll nur das Ende des Kampfes bringen und den Beginn einer neuen Friedenszeit besiegeln.« Kind des Himmels. In der Senke unter ihnen weitete sich grollend der tiefe Riss im Boden. Die Körper der Gefallenen rollten in das offene Grab wie Kiesel über einen Berghang. Das Licht des feurigen Drachenatems ergoss sich über die vier auf dem Rufersims. Wut, uralt, mächtiger als die Zeit, durchkreischte die Luft. Die Bestie, die aus dem Auge und der abgerissenen Klaue blutete, strich durch die Luft, glitt über den Gerichtshof. Sie sog die Luft ein und stieß sie wie ein Wirbelsturm wieder aus. Mit ihrem Feuer zielte sie auf den Rufersims. In diesem Moment sprach Rhapsody den Namen des Sterns aus. Der herabblitzende Strahl erschütterte den Sims und den ganzen Gerichtshof. Mit einem unirdischen Brüllen regnete das Feuer des Sterns, das reine, ungezügelte Element des Äthers, das der Geburt aller anderen Elemente vorangegangen war, aus dem Himmel herab und traf die Drachin, die gerade zuschlagen wollte, mitten in der Luft. Die Bestie beschrieb einen Bogen, wurde von einem Licht erhellt, das heller als die Sonne war, und stürzte dann in Spiralen in den offenen Boden der Senke in das Grab, das sich unter dem Ansturm der Toten wie eine Eiterblase geöffnet hatte und zuvor von Grunthor geweitet worden war. Als Anwyn in die Erde sank, schloss Grunthor die Augen, zuckte die Achseln und presste die Hände zusammen, als ob er ätherischen Lehm formte. Der Boden des Gerichtshofes zuckte und schloss sich rasch über der Stelle, wo Anwyn versunken war. Die zerfallenden Seiten des Gerichtshofes gaben nach, stürzten zusammen und bildeten einen großen Hügel aus Erde und Fels in der Mitte der Senke. Erneut sprach Rhapsody den Namen des Sterns aus. Diesmal fiel klares und reines Licht vom Himmel herab, strömte über den Gerichtshof und versiegelte den Boden, unter dem die Drachin lag. Aus der Ferne hörte Rhapsody, wie der Kriegslärm verebbte und allmählich Stille einkehrte. Als das Sternenlicht verblasste, sah sie unter dem Dämmerhimmel, dass die Gefallenen zurück in die Erde, in die Vergangenheit geglitten waren und Verwirrung, aber keine Kämpfe mehr zurückließen. Sie wandte sich an Gwydion und schlang die Arme um ihn. Er erwiderte ihre Umarmung. Dann umfingen sie ihre beiden Gefährten, die ihre Geschichte, ihr Leben und ihre Zukunft teilten. »Es ist vorbei«, sagte sie nur. »Jetzt beginnt die Arbeit.« In der Nacht durchsuchten Achmed und Grunthor das Schlachtfeld zusammen mit Rhapsody und Ashe. Sie stellten Truppen neu zusammen, zerstörten die Überreste von Untoten, die noch vor bösem Leben bebten, richteten Lazarette ein und versuchten die Leute zu beruhigen, die unter Schock standen. Im Glanz der unzähligen Lagerfeuer, die nun inmitten der Verwüstung brannten, traf Achmed auf Tristan Steward. Der Herr von Roland war unverletzt, aber schweigsam, und starrte den fernen Gerichtshof an. Seine schluchzende Frau stützte sich auf seinen Arm. Der Fir-Bolg-König bedachte den Herrscher mit einem Blick, der an Mitleid grenzte. Schließlich sah Tristan Steward ihn an. »Braucht ihr ärztlichen Beistand?«, fragte Achmed. Der Herr von Roland schüttelte den Kopf. Der Firbolg nickte, wandte sich um und wollte gehen. »Warte«, sagte Tristan Steward. Seine Stimme war ein bloßes Flüstern. Achmed regte sich nicht, als der Herrscher zitternd aufstand und sich den Schmutz von den Händen wischte. Er sah den Fir-Bolg-König schweigend an. Schließlich wurde Achmed ungeduldig. »Ja?« »Das ... das Heer ... mein Heer ...« »Ja?« Der Herr von Roland verfiel wieder in Schweigen. »Es war ein ausgezeichneter Einfall von dir, es als Geste des guten Willens herzubringen«, sagte Achmed so freundlich wie möglich. »Da es jetzt wie mein Heer unter dem Befehl von Rhapsody steht, war es gut, dass sie hier war, damit sie die Amtseinsetzung beobachten konnte. Ist es das, was du sagen wolltest?« Tristan Steward öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. Schließlich sagte er: »Ja.« »Das hatte ich mir gedacht. Entschuldige mich bitte«, sagte Achmed. Er drehte sich um und ging mit Grunthor und seinen Gehilfen in die Nacht hinein. Rhapsody lief mit Krinsel, der Hebamme, zwischen den Verletzten umher und versorgte die Wunden der Menschen und Bolg. Die Cymrer waren dank der Heere von Roland und Ylorc weitgehend verschont geblieben, und der Einsatz Ashes und der Soldaten hatte dafür gesorgt, dass die Toten zurückgehalten wurden, während der Rest entkommen konnte. Sie verband gerade den Arm eines dunklen Cymrers aus der Rasse der Kith, als Rial mit ernstem Gesicht neben ihr erschien. »Herrin?« Rhapsody schaute hoch zu ihrem Vizekönig und lächelte, doch als sie den Ausdruck in seinen Augen sah, erstarb ihre Freude. »Was ist los?« Rial streckte die Hand aus. »Bitte kommt mit, Herrin.« Sie ergriff seine Hand und folgte ihm durch die Dunkelheit über das verwüstete Land bis zu einer Stelle, wo der Leichnam eines wunderschönen schwarzen Hengstes lag. Neben ihm hockte Faedryth, der König der Nain, und auch Oelendra kniete am Boden. Rhapsody starrte das tote Pferd an und erschauerte. »Nein«, flüsterte sie. »0 Götter, nein. Anborn.« Der König der Nain sah sie an. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner Stirn. »Noch lebt er«, sagte Faedryth traurig. »Er hat sich den Rücken gebrochen.« »Nein«, sagte sie abermals, trat über Faedryths Beine und bückte sich zwischen ihm und Oelendra. »Anborn? Götter, was habe ich dir angetan?« Der cymrische General lehnte sich gegen die Brust seines Freundes, des Nain-Königs. Rials roter Umhang bedeckte ihn. Sein Gesicht war unter dem dunklen Bart geisterbleich, doch es gelang ihm, schwach den Arm auszustrecken. Sie ergriff seine Hand. »Du hast... mich erlöst«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. »Durch dich hat sich ... Manwyns Prophezeiung erfüllt. Ich habe den ... leichtesten meiner Blutsverwandten gefunden. Ich habe den Himmel aufgefangen, als er herabgestürzt ist. Du hast mir geholfen, den ... Riss in... mir selbst und denjenigen zu heilen, den ich ... vor langer Zeit ... bei meinen cymrischen Gefährten verursacht habe. Verstehst du? Ich werde sowohl von Lirin als auch von Nain versorgt. Wer ... hätte das für möglich gehalten?« Tränen traten aus ihren Augen, als sie sanft seine Hand ergriff und gegen ihre Wange drückte. Anborn streichelte unter Schmerzen ihr Haar. »Ich gebe mein Leben ... oder meine Beine ... gern für dich hin, meine Herrin«, sagte er unter großen Anstrengungen. »Es ist mir eine Ehre ... dir den Eid geleistet zu haben.« »Rhapsody! Rhapsody!« Ashes Stimme drang durch das Knistern des Feuers und das Wimmern des Windes. Verzweiflung und Angst schwangen in ihr mit. »Geh ... zu ihm«, sagte Anborn. »Wenn ich zurückkomme, kümmere ich mich um dich«, meinte sie und stand auf. »Ich werde all meine Fähigkeiten als Sängerin einsetzen, um dich zu heilen.« Anborn lächelte und winkte sie fort. »Geh«, sagte er. Rhapsody schaute über die Felder voller Verwundeter und Sterbender. Große Risse zeigten sich in der Erde, wo sie einstmals fest gewesen war. Sie folgte Ashes Stimme im Wind zurück zu den Toren des Gerichtshofes, durch welche die Cymrer erst gestern in so großer Hoffnung geschritten waren. Ashe beugte sich hinter den Toren über den zerschmetterten Körper seines besten Freundes Stephen Navarne. Rhapsody eilte an seine Seite. »Hilf ihm, Aria. Bitte. Ich will ihn nicht noch einmal verlieren«, keuchte Ashe. Er streichelte Stephens Gesicht und versuchte, den Herzog wieder zu beleben, dessen blaugrüne Augen schon in die nächste Welt blickten. Rhapsody kniete sich neben die Männer in die matschige Erde. Ihre Blicke wanderten von dem blassen Gesicht Stephen Navarnes zu dem Hügel, unter dem er lag. Gwydion Navarne, ihr ältester Enkel, stand dort mit tapferer Miene und hatte die Arme um seine Schwester Melisande gelegt, die herzzerreißend weinte. Rosella hielt beide im Arm und blickte entsetzt zu Boden. Rhapsody legte dem Herzog eine Hand auf den Brustkorb und suchte nach seinem Herzschlag. »Herr?« Es kam keine Antwort. Die Haut unter ihrer Hand war kalt. Ihre Finger tasteten nach seiner Kehle. »Herr?« Der Puls war so schwach, wie sie es noch nie bei einem Lebenden gefühlt hatte. In seinen Augen sah sie eine ferne Widerspiegelung des Nebels aus dem Schleier des Hoen. »Aria, bitte...« »Papa?« Der Klang von Melisandes Stimme erweckte in Rhapsody eine Erinnerung. Zum letzten Mal hatte sie mit Herzog Stephen vor Haguefort gesprochen, in den Armen eines bitterkalten Windes, als sie ihm Llaurons angeblichen Tod verkündet hatte. Er hatte wie immer liebevoll gelächelt. Du weißt, Rhapsody, dass du eigentlich zur Familie gehörst. Glaubst du, es wird eine Zeit geben, in der du mich einfach mit meinem Vornamen anreden wirst? Nein, mein Herzog. Rhapsody setzte sich aufrecht hin und dachte nach. Sie hatte einmal Grunthor vom Abgrund des Todes weggesungen, wenngleich Stephen anscheinend noch schlimmer verletzt war. »Stephen«, sang sie und ließ die Hand über seinem Herzen ruhen. »Stephen, bleibe bei uns.« Sie wandte sich an Ashe, dessen Augen glänzten. »Wie lautet sein Name, Sam? Sein voller Name.« »Stephen ap Wayan ap Hague, tuatha Judyth.« Sie wiederholte den Namen und sang ihn im Gleichklang mit dem schwachen Herzschlag des Herzogs. Zieh deine Hand von ihm zurück, Fürst Rowan, dachte sie, während sie mit all ihrer Kraft der Namensgebung sang. Lass ihn hier, an diesem Ort, nur noch eine kleine Weile. Sie sang seinen Namen immer wieder, bis die Sonne aufging und ihre Stimme rau und heiser wurde. Als die Schwertspitze der Morgendämmerung den Horizont durchstieß, richtete Rhapsody den Blick auf diese blendende Stelle und versuchte, die Wärme der Sonne in Stephens Körper zu lenken, damit er nicht weiter auskühlte und sein Leuchten in der Welt blieb, die sie kannte und liebte. In dieser Sekunde der Blindheit erkannte Rhapsody den Umriss des Fürsten Rowan. Vielleicht wartete er ihr zuliebe und hielt seine Hand fern, wie zerschmettert und verletzt Stephen auch sein mochte, und verwandelte die Todesurteile der Cymrer, die sich bereits anschickten, aus dem Leben zu treten. Sie konnte sie alle heilen, ihnen neue Namen geben und sie auf diese Weise retten. Sie wandte sich erleichtert ab, als sie sah, wie die tausenden aus dem Grabe Erweckten, die zwischen den Verwundeten lagen, wie Feuerholz eingesammelt wurden. Ihnen konnte sie ebenfalls Gutes tun; sie konnte ihnen Frieden schenken und sie auf eine höhere Ebene geleiten. Sie stellte sich vor, wie sie lächelten. Und sie stellte sich Stephen an der Tür zu seinem Museum vor. Und weinte über die Versuchung und den unschätzbaren Verlust. »Nein«, sagte sie unter Tränen. »Ich kann es nicht tun, Sam. Ich kann es nicht. Er muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und seinen eigenen Weg durch das Tor gehen oder sich entschließen, auf dieser Seite zu bleiben. Ich kann ihn zu dem Pfad hinsingen, aber er selbst muss ihn wählen. Wenn sich der Tod entschieden hat, ihn zu nehmen, habe ich kein größeres Recht als Anwyn, mich dagegen zu stemmen.« »Aria...« »Nein«, sagte sie mit festerer Stimme. »Ich kann ihn nicht durch das Tor zurückholen. Seine Liebsten befinden sich auf beiden Seiten. Wenn er sich entscheidet, in die Ruhe hinüberzuwechseln, kann ich ihn nicht zwingen, hier zu bleiben. Es gibt gute Gründe für ihn, zu gehen oder zu bleiben. Wir müssen demütig annehmen, was er und der Tod zwischen sich ausmachen.« Sie ergriff Ashes Hand, und er neigte traurig den Kopf. Sie standen Wache und hofften, Stephen würde wieder atmen und die Farbe des Sonnenaufgangs in seine Wangen einsaugen. Doch mit jeder Minute wurde seine Haut mehr zu Alabaster und die Hände kälter. Als die Sonne über die Wolken stieg, wich das Licht aus den Augen des Herzogs. Rhapsody schaute in den Horizont und glaubte, ein Lächeln im Schatten hinter dem Schleier des Hoen aufblitzen zu sehen. »Empfange ihn freundlich, Fürst Rowan«, flüsterte sie in den Morgenwind. Neben ihr weinte Ashe. Rhapsody blickte über seine Schulter in die weißen Gesichter von Rosella und den Kindern. Sie streckte ihnen die Hände entgegen. »Rasch! Kommt rasch her!« Gwydion Navarnes Hand war eisig, als Rhapsody sie ergriff und ihn sowie Melisande vor sich stellte. Sie umarmte die Kleinen und deutete hoch zur aufgehenden Sonne. Im Schatten des goldenen Lichts, das über den Horizont strömte, sahen sie den Umriss des Freundes, des Vaters, des Herzogs, wie er wieder aufrecht stand unverletzt und stark. Sein langer und schwarzer Schatten erstreckte sich von der Sonne fort bis zu ihnen. Das strahlende Morgenlicht machte sein Haar leuchtend golden. Hinter ihm war ein anderer Schatten: kleiner, dunkler, ebenfalls vom Tagesanbruch erhellt. »Wer ist das?«, fragte Melisande und beschirmte die Augen. Rhapsody zog sie näher zu sich heran und lächelte unter Tränen. »Deine Mutter.« Sanft begann sie mit dem lirinischen Lied des Übergangs und wob seinen Namen Stephen in die alte Totenklage. Das erstarkende Licht des Morgens schien für einen Moment zu erstarren. Ashe begriff, was sie tat. Er streckte den Arm aus und streichelte Melisandes Gesicht, dann legte er die Hand auf Gwydion Navarnes Schulter. »Sagt ihm Lebewohl«, meinte er zu den Kindern. Seine Stimme hatte ihre Kraft wiedergefunden; Weisheit lag in ihr. Gwydion Navarne hob den Kopf und schaute zum Horizont. »Auf Wiedersehen, Vater«, sagte der Junge leise. Melisande winkte; sie konnte nicht sprechen. Hinter ihnen verging Rosella vor Trauer. Gwydion erinnerte sich an die Worte seines Vaters, als Talthea, die Anmutige, dahingeschieden war. Die Zeit hält uns alle im Griff, Gwydion. Wie alle Menschen, die den Launen der Zeit unterliegen, kämpft er darum, den Tod so lange wie möglich abzuwehren, weil er nicht weiß, welch ein Segen das Sterben zuweilen ist. Für dich und mich läuft die Zeit weiter. Gwydion hob die Hand zur aufgehenden Sonne. Benommen sang Rhapsody weiter. Licht ergoss sich nun in ihre Augen. Ihr schwirrte der Kopf, ihr Herz war erstarrt; es war ein Damm gegen die unweigerlich kommenden Schmerzen. Sie fragte sich, ob die Weisheit, die ihr der Gerichtshof verliehen hatte, ihr genug Kraft zu spenden vermochte, um der Kinder und des cymrischen Volkes willen ruhig zu bleiben. Und um Ashes willen. Um ihrer selbst willen. Hinter dem verblassenden Schatten sah sie in der Sonne andere, Dutzende, die im fernen Leuchten einer friedlichen grünen Lichtung hinter dem Schleier des Hoen standen. Sie beendete die Totenklage. »Auf Wiedersehen, Stephen«, sagte sie. »Ich passe für dich auf sie auf.« Die Sonne erstrahlte am Horizont und färbte den Himmel leuchtend blau. Wind kam auf, der Wind des Morgens, der den Rauch der schwelenden Glut zerstreute. Rhapsody schaute sich um, als die Dämmerung den Rauch und die Verwüstung der Felder um die Ruine des Großen Gerichtshofes erhellte. Die Soldaten von Roland und Ylorc bewegten sich zwischen den Cymrern wie Lebende unter Schlafwandlern. Der cymrische Herr stand auf und bot ihr die Hand. »Komm«, sagte er. »Wir sollten es beenden.« Von den Überresten des Rufersimses sahen der neue Herr und die Herrin der Cymrer über das morgendliche Tal bis zum Fuß der Zahnfelsen. Unter ihnen befand sich das Volk, das ihnen erst vor zwei Tagen die Treue geschworen hatte. Der Schmerz und die Trauer über den Verlust waren unverkennbar, doch die Hoffnung ebenso. Als sich die Fir-Bolg-Soldaten mit dem Heer von Roland vereinigten und beim Aufbau und der Bergung halfen, legten die Flüchtlinge aus Serendair und deren Nachkommen ihre alten Vorbehalte ab und reichten über den Abgrund einander die Hände, um ein neues Bündnis des Friedens zu schmieden. Rhapsody schaute auf das Hörn in ihren Händen. Die Umhüllung war gesplittert, die Magie gebrochen, welche die Sturmumtosten Überlebenden aneinander geschmiedet hatte; sie war aus dem trüb gewordenen Metall ausgelaufen. Dennoch lag Jubel in der Luft und eine Spur von Hoffnung, welche den Untergang der Insel, die Schrecken des Großen Krieges und sogar die Auferstehung der Toten überlebt hatte und fest wie ein Pfahl die gute und helle Zukunft ankündigte. Sie hob das Hörn an die Lippen und blies hinein. Es war kein Kriegsruf, kein Schlachtruf, sondern ein Siegesruf. Die Cymrer unter ihr riefen zustimmend und erfüllten die Sommerluft mit ihrem Jubel. Rhapsody machte Platz für Gwydion, der neben ihr stand. Er lobte all jene, die besonders tapfer gekämpft hatten, segnete diejenigen, die gefallen waren, und kehrte zu den Ankündigungen zurück, die er gemacht hatte, als die Erde plötzlich unter ihm gebebt hatte. Er eilte durch seine Bekanntmachungen. Die Sprecher jeder einzelnen Gruppe und andere Tatendurstige waren eingeladen, die Vereinigung und den Umbau der cymrischen Staaten mitzuplanen. Der Rest wurde verabschiedet und gleichzeitig eingeladen, in einem Jahr zu einem neuen Konzil zusammenzukommen, das danach jedes dritte Jahr zusammentreten sollte. Die Hochzeit sollte in drei Monaten am ersten Tag des Herbstes bei dem Ableger der Eiche der tiefen Wurzeln stattfinden, die dort wuchs, wo einmal das Haus der Erinnerung gestanden hatte. Ashe dankte den Cymrern für ihre Teilnahme, ergriff Rhapsodys Hand und führte sie geschwind von dem Sims, bevor die Woge der Glück Wünschenden sie mit sich tragen konnte, wie sie es bereits vor zwei Nächten versucht hatte. Auf dem Abstieg über den Felshang sah Rhapsody hoch und bemerkte, dass Achmed und Grunthor sie beobachteten. Sie lächelte ihnen zögernd zu. Grunthor starrte sie gerade heraus an, und Achmed schenkte ihr ein schwaches, wissendes Lächeln. Dann war sie fort. Ashe hatte sie aus dem Weg der anwachsenden Menge gezogen. Von ihrem Versteck auf dem niedrigeren Sims sah Rhapsody zu, wie die Menge allmählich die Senke verließ. Es würde viele Tage dauern, bis auch die Felder um den Gerichtshof wieder verlassen dalagen, denn die Häuser und alten Freunde würden sich zusammentun und zurückbleiben, um ihre Beziehungen zu erneuern. Auch war es eine große Aufgabe, hunderttausend Leute und ihre Habseligkeiten in Bewegung zu setzen. Rhapsody seufzte. Achmed hatte klaglos alles für sie geregelt. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihm einen so gewaltigen Scherbenhaufen hinterließ. Sie hatte ihn vor den Ankündigungen aufgesucht und seine Erlaubnis zum jährlichen Zugang zum Gerichtshof erwirkt, doch ihre Verlobung hatte sie ihm nicht vorher mitgeteilt. Ihre Verlegenheit darüber war noch immer sehr groß. Sie spürte ein seltsames Prickeln auf der Haut. Es war eine statische Ladung, die in den Haarspitzen summte und in die Fingerspitzen stach. Dann hörte sie die Stimme und runzelte die Stirn. »Ich hoffe, du erlaubst mir, dir sowohl zu deiner Wahl als auch zu deiner Verlobung meine ehrlichen Glückwünsche auszusprechen, meine Liebe.« Diese Bemerkung kam entweder aus der Erde selbst oder aus der Luft; Rhapsody war sich nicht sicher. »Vielen Dank«, sagte sie und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. »Bitte lass mich allein, Llauron. Ich habe dir nichts zu sagen.« Ein tiefes Kichern durchlief den Boden, und sie spürte, wie der Wind auffrischte. So war es auch gewesen, als sie Elynsynos besucht hatte. Doch anstatt ihr sanft durch die Haare zu fahren, wie die Luft es in dem stillen Tal vor der verborgenen Höhle getan hatte, blies sie ihr jetzt mit kühner Stärke die Locken um den Kopf. »Irgendwie bezweifle ich, dass das die Wahrheit ist, meine Liebe.« Sie bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Du hast Recht. Ich will es anders ausdrücken. Es gibt viele unschöne Dinge, die ich dir jetzt sagen könnte, Llauron, aber das möchte ich nicht. Geh fort und lass mich allein.« »Das ist schon besser. Es tut mir Leid, dass du so wütend bist, Rhapsody. Natürlich hast du das Recht dazu. Ich hatte bloß gehofft, du würdest etwas von deiner berühmten Versöhnlichkeit auch deinem Schwiegervater zuteil werden lassen. Ich kann dich nicht um Verzeihung bitten, wenn du mich nicht ausreden lässt. Du hast schließlich gesagt, dass wir alle einander verzeihen müssen.« »Einige Dinge sind unverzeihlich«, ertönte Gwydions Stimme hinter ihr. Sie zuckte unter seinem harschen Tonfall zusammen. »Lass Rhapsody in Ruhe, Vater. Nach dem, was du getan hast, hast du kein Recht mehr, mit ihr zu reden.« Rhapsody streckte die Arme nach ihm aus. »Sam ...« »Er hat natürlich Recht«, sagte die warme, kultivierte Stimme. »Ich habe euch gegenüber keinerlei Rechte mehr. Ich habe nur um deine Nachsicht gebeten.« »Warum schaust du nicht nach, ob Achmed und Grunthor Hilfe brauchen, Sam?«, fragte Rhapsody sanft. »Ich kann auf mich selbst aufpassen. Geh. Bitte.« Gwydion sah sie zweifelnd an, dann erkannte er, was sie vorhatte, und ging mit einem Seufzer der Verärgerung fort. »Er ist noch sehr wütend, und er trauert«, sagte Llauron. Es war, als ob seine Stimme aus der Erde und der Luft gleichzeitig käme. »Ich hoffe, du kannst ihm bei der Bewältigung seines Zorns helfen, meine Liebe.« »Ich weiß nicht, ob ich das tun sollte«, antwortete sie. »Vielleicht ist es für uns beide besser, uns immer an den Grund dafür zu erinnern.« Ein dunkles Kichern rumpelte durch den Boden. »Das glaubst du vielleicht, Rhapsody, aber es stimmt nicht. Das hältst du nicht durch. Ich vermute, du hattest genug schlechte Gefühle für ein ganzes Leben. In Anbetracht deiner Lebenserwartung ist das eine Menge Schmerz. Du bist nicht der Typ, der andauernden Groll hegt.« »Falls ich jemals Schwierigkeiten haben sollte, mich daran zu erinnern, warum ich nicht mehr mit dir rede, muss ich nur das Bild des heutigen Tages in mir heraufbeschwören: der verkrüppelte Anborn, der versucht hat, mich zu retten; Stephen, der gestorben ist, damit die Cymrer aus dem Gerichtshof fliehen konnten; das Entsetzen, das Anwyn auf uns herabgerufen hat ... Ich glaube, das werde ich nie vergessen. Mal sehen, ob ich nicht doch der Typ bin, der andauernden Groll hegt.« Die Stimme im Wind schien ehrlich überrascht zu sein. »Warum bist du so wütend auf mich? Was habe ich dir getan?« Verärgert schlug sie in den Wind. »Wo warst du? Warum hast du nicht geholfen? Du hättest so viele Leben retten können diese Cymrer, die du angeblich so verehrst und schätzt. Warum hast du dich nicht selbst um Anwyn gekümmert? Bestimmt wäre dir das leichter gefallen als allen anderen.« Der Wind seufzte. »Sie war meine Mutter, Rhapsody.« »Und Gwydion ist dein Sohn. Anborn ist dein Bruder. Stephen war dein Freund. Und das hier ist dein Volk. Das ist wohl kaum eine gute Entschuldigung.« »Gwydion hat dich. Anborn hat die Freundschaft vieler. Stephen möge der Schöpfer ihn segnen hatte die Liebe einer Frau, zweier wunderbarer Kinder und aller, die ihm je begegnet sind. Die Cymrer hatten einander und haben sich gegenseitig den Sinn im Leben verschafft. Anwyn hatte nur mich.« Der Wind blies warm durch ihre Haare. »Ich hoffe, du wirst es eines Tages verstehen und mich in deine Versöhnlichkeit einschließen. Ich hoffe, eines Tages meine Enkel zu sehen. Das wirst du mir doch nicht verwehren, oder?« »Ich bezweifle, dass ich deine Beweggründe je verstehen werde, aber das muss ich auch nicht, Llauron«, entgegnete Rhapsody. »Du bist jetzt in deiner eigenen Welt. Wenn wir eines Tages Kinder haben und sie dich sehen wollen, werde ich nichts dagegen haben.« Das Grün ihrer Augen wurde dunkler. »Es sei denn, du versuchst uns wieder in irgendeiner Weise zu beeinflussen.« »Ich habe verstanden. Ich glaube, unsere Welten sind weit genug voneinander entfernt, um sicherzustellen, dass das nicht geschehen wird.« »Hoffentlich hast du Recht.« Die wohlklingende Stimme seufzte im Wind. »Rhapsody, ich muss dich bitten, dich an etwas zu erinnern.« Sie warf einen Blick über die cymrischen Versprengten, die in der Senke in kleinen Gruppen zusammenstanden und miteinander redeten. »Ja?« »Ob du es erkennst oder nicht, und ob es dir gefällt oder nicht: Eines Tages wirst du dich noch einmal in derselben Situation befinden.« Sie richtete wieder ihre ganze Aufmerksamkeit auf den unsichtbaren Llauron. »Was soll das bedeuten?« »Wenn du einen Mann heiratest«, sagte die Elementarstimme des Wyrm, »der auch ein Drache ist, wirst du eines Tages bemerken, dass er ganz zu dem einen oder anderen werden muss. Wenn er sich entscheidet, dass die menschliche Seite den Sieg davontragen soll, wirst du irgendwann die Schmerzen der Witwenschaft kennen lernen, so wie ich. Und wenn er den Pfad einschlägt, den ich gewählt habe, dann weißt du jetzt, was ihr beide tun müsst. Ich will dein Glück in keiner Weise erschüttern, meine Liebe, aber so ist es nun einmal bei der Familie, in die du einheiraten möchtest. Ich will bloß nicht, dass du eines Tages aufwachst und glaubst, man habe dich in die Irre geführt.« Bitterer Schmerz stieg in Rhapsodys Kehle hoch. Die Wahrheit seiner Worte war trotz ihres Verlangens, sie nicht weiter zu beachten, unleugbar. Seine Gründe für diese Mitteilung waren ihr weniger klar. Es war unmöglich zu sagen, ob er sie warnen oder davon abhalten wollte, sich in eine Lage zu begeben, in der sie irgendwann solchen Problemen gegenüberstand. Sie schaute wieder über das Feld in die Senke, in der Gwydion kniete, umgeben von alten Freunden, welche Rosella und die Kinder Stephen Navarnes trösteten. »Auf Wiedersehen, Llauron«, sagte sie und raffte den Rock. »Ich vermute, wir werden uns auf der Hochzeit begegnen. Zumindest werde ich deine Anwesenheit spüren.« Sie kletterte von den Felsen hinunter und eilte durch den Gerichtshof zu ihrem wartenden Ehemann. 87 In der Großen Halle von Tyrian oberhalb von Tomingorllo und unter dem frohen Schall silberner Trompeten trug eine feierliche Prozession das erkorene Brautgeschenk zu dem Schaukasten, in dem das Diadem gelegen hatte. Es wurde vorsichtig abgesetzt und mit größter Hochachtung enthüllt. Von allen wertvollen Staatsgeschenken, die der lirinischen Königin zur Begutachtung vorgelegt worden waren und die den Reichtum und die Kunstfertigkeit einer jeden Nation widerspiegelten, deren Herrscher um ihre Hand angehalten hatte, hatte sie eine einfache Schriftrolle ausgewählt, die von einem schwarzen Samtband zusammengehalten wurde. Sie war mit einem seltsamen, dreizehneckigen Siegel versehen, das angeblich eines von nur zweien auf der ganzen Welt war. Es hieß, die Rolle enthalte ein Lied, das keinem anderen gleiche. Da die Königin eine unerreichte Musiker in war, hatte man es als geradezu magisch angesehen, dass sie diese Gabe allen anderen vorgezogen hatte. Die Plakette darunter trug die Inschrift: Gwydion von Manosse, Herr der Cymrer. Während dieser bedeutungsvollen und fröhlichen Zeremonie war die Königin dem Brauch gemäß abwesend. Zumindest wurde sie nicht bemerkt. Sie lag jedoch bäuchlings auf dem Balkon des Großen Balkons und beobachtete alles zusammen mit Gwydion unter dessen Nebelumhang. Es war für beide ein Kampf, nicht wie Verrückte zu kichern. Genau so war es gewesen, als Rhapsody ihre Wahl Rial kundgetan und sein Amtszimmer fluchtartig verlassen hatte, bevor sie die Fassung verlor. Das Lied war ein Geschenk, das nur für die Augen der Braut bestimmt war. Gwydion hatte damit gedroht, dass die Rolle eines von Grunthors unzüchtigen Marschliedern enthalte. Doch als sie das Lied entrollt hatte, hatte sie erkannt, dass er ihre musikalischen Anweisungen ausgezeichnet umgesetzt hatte. Das sorgfältig beschriebene Papier trug die Noten von Sam und Emily für immer ohne einen einzigen Fehler. Der Blumenstrauß, den er ihr gleichzeitig überreicht hatte, blieb in Elysian. Er öffnete sich jeden Tag ein wenig mehr und enthüllte mit jeder neuen Lage Blütenblätter ein tieferes Rot. Der Strauß wurde durch die Magie des Ortes frisch gehalten und blieb in dauernder, prachtvoller Blüte. Es war ein wirkliches Wunder, aber es war eines, das die Königin mit niemandem teilen wollte. Wieder ein Beweis, wie selbstsüchtig ich bin, hatte sie zu ihrem Erwählten gesagt, der darüber nur gelächelt hatte. »Aber wer wird uns öffentlich verheiraten?«, fragte Rhapsody Gwydion, als sie durch den Garten von Tomingorllo schlenderten. »Du hast die Ämter des Fürbitters und Patriarchen inne. In der religiösen Rangfolge gibt es niemanden mehr über dir.« Gwydion lächelte. »Deine Informationen sind nicht vollständig«, sagte er und küsste im Gehen ihre Hand. »Während der Zeit, in der du mich nicht sehen wolltest, musste ich etwas tun, um nicht verrückt zu werden. Also habe ich einige meiner Verantwortlichkeiten verteilt.« Rhapsody lachte. »Du bist ganz schön selbstsicher. Ich dachte, du wusstest nicht, ob du als Herr der Cymrer bestätigt werden würdest.« »Das wusste ich auch nicht. Ich war aber der Meinung, dass andere die religiösen Gruppen unmittelbar anführen sollten. Und wenn du Anborn oder Achmed geheiratet hättest, wäre ich sowieso ins Wasser gegangen, also wäre es egal gewesen.« »Aber du hast vor, das nominelle Oberhaupt des Ordens zu bleiben?« »Ja. Ich benenne jedoch Führer aus beiden Gruppen, von denen ich glaube, dass sie in der Lage sind, im Hinblick auf das Ziel der vollständigen Wiedervereinigung zusammenzuarbeiten. Selbst wenn sie nicht eintritt, werden die Orden in Eintracht miteinander leben.« »Ausgezeichnet. Und wen hast du als Fürbitter vorgesehen?« Ashe blieb stehen und schaute in die Ferne. »Gavin. Und dort ist mein Favorit für das Amt des Patriarchen, auch wenn ihn die Waage von Jierna Tal noch wiegen und für würdig befinden muss. Er scheint sich über diese Aussicht milde zu amüsieren. Ich hatte ihn gebeten, nach dem cymrischen Konzil nach Tyrian zu reisen, damit du ihn kennen lernen kannst. Er ist neu im Glauben, aber sehr weise. Komm mit, ich möchte ihn dir vorstellen.« Rhapsody ergriff seine Hand und folgte ihm durch den Garten auf einen alten Mann zu. Sein Bart war so lang, dass er sich an den Enden aufrollte, und Streifen aus Silber und Weiß gewannen allmählich den Kampf gegen das hartnäckige Hellblond. Trotz des fortgeschrittenen Alters war er groß und breitschultrig und hatte ein Lächeln, von dem Rhapsody schwören konnte, dass es ihr schon einmal begegnet war. Aber aus der Entfernung erkannte sie ihn nicht. »War er auf dem Konzil?«, fragte sie, als Gwydion schneller wurde. »Ja, er war Teil der Diaspora. Ich habe ihn ein paar Tage vor der Ankunft der Zweiten Flotte im Gerichtshof getroffen. Ich hatte ihn gefragt, woher er kommt, doch er konnte mir bloß sagen, dass dieser Ort sowohl näher als auch weiter entfernt liege als jeder andere in der bekannten Welt. Wir haben einige Nächte draußen zusammen gezeltet, und ich war erstaunt über seine Weisheit und visionäre Kraft sowie über seine außergewöhnliche Heilkunst. Er kümmerte sich nämlich mit bewundernswertem Geschick um einige Leute, die sehr krank waren oder große Schmerzen litten. Er strahlt einen großen Frieden aus. Ich hatte mich entschlossen, ihm das Amt anzubieten, falls ich je dazu in der Lage sein sollte. Er scheint dich zu kennen, denn er hat mich nach dir gefragt, aber natürlich konnte ich ihm nur wenig berichten. Ich glaube, du wirst angenehm überrascht sein.« 959 Rhapsody hielt auf dem Gartenpfad inne und starrte den Mann in der Robe an. Sein gefurchtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Die Erinnerung überlief sie heiß und kalt zugleich. »Constantin!« Er streckte ihr die Hände entgegen, die von der Zeit und dem Leben, das er geführt hatte, gezeichnet waren. Sie eilte auf ihn zu, umarmte ihn und küsste ihn auf den Hals. Röte überzog ihr Gesicht, als sie an ihre zahllosen gemeinsamen Erinnerungen dachte, die manchmal angenehm, manchmal auch schlimm waren. Aber sein Blick war heiter. Er schaute sie wissend an und lächelte. »Hallo, meine Dame«, sagte er mit der tiefen Stimme, an die sie sich gut erinnerte. »Es ehrt mich, dass Ihr mich nicht vergessen habt.« Rhapsody streckte mechanisch die Hand aus, als ob sie nicht mehr Herrin ihrer Handlungen wäre, und berührte seine Wange. Ich war sieben Jahre hinter dem Schleier des Hoen, und als ich wieder herauskam, hatte der Schnee kaum den Schwertgriff bedeckt, dachte sie bitter. Ich bin seit einem halben Jahr zurück. Gute Götter, ich bin überrascht, dass er noch lebt. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich nie vergessen werde«, meinte sie sanft. »Und das habe ich auch nicht.« Constantin küsste ihre Hand. »Auch ich habe Euch nicht vergessen. Herzlichen Glückwunsch zu Eurer Verlobung. Der Herr der Cymrer ist ein glücklicher Mann.« »Vielen Dank«, sagten Rhapsody und Gwydion gleichzeitig. Der cymrische Herr zog sie näher an sich. »Constantin ist einverstanden, das Amt des Patriarchen in der Mittsommernacht anzunehmen, falls die Waage ihn bestätigt«, sagte Ashe. »Er wird derjenige sein, der uns in einer gemeinsamen Zeremonie mit Gavin traut, falls du einverstanden bist, Aria.« Rhapsody lächelte. »Natürlich bin ich das. Vielen Dank, Constantin.« Sie betrachtete sein Gesicht eingehend. »Warum bist du fortgegangen?« 960 Seine Augen verdüsterten sich, und er schaute sie noch tiefer an. »Es war Zeit«, sagte er nur. Rhapsody erinnerte sich an das, was Anborn über die Weisheit gesagt hatte, nicht mehr zu erfragen, als man unbedingt wissen muss. Sie wandte sich an den Herrn der Cymrer, der die beiden erstaunt beobachtete. »Ich bin über deine Wahl des Patriarchen entzückt, Liebling. Er ist von den besten Lehrern unterwiesen worden, und ich weiß mit Sicherheit, dass kein einziger Tropfen Bosheit in ihm steckt.« Ihre Augen funkelten schelmisch, und Constantin lachte. Gwydion wirkte verwirrt. »Komm mit, Sam«, sagte Rhapsody und zog ihren Bräutigam an der Hand. »Wir sollten Seiner Gnaden einen Ruheplatz suchen. Er kommt von weiter her, als du dir vorstellen kannst. Wir werden dir irgendwann die ganze Geschichte erzählen. Du wirst überrascht sein, dass der neue Patriarch bei der Tötung des F’dor mitgeholfen hat.« Gwydion starrte sie verwundert an, dann folgte er ihr und Constantin den Pfad entlang. »Rhapsody, du weißt wirklich, wie man eine Überraschung verderben kann.« Rhapsody hielt sich an ihr Wort und hatte ein einfaches Kleid bestellt, wie sie es Gwydion nach der königlichen Hochzeit in Bethania versprochen hatte. Die Schleppe schleifte nicht mehr als etwa zwei Fuß hinter ihr her, und das Kleid ließ die Schultern unbedeckt; schließlich fand die Hochzeit am ersten Tag nach dem Sommer statt. Trotz der scheinbaren Schlichtheit des Kleides hatten die Näherinnen von Tyrian endlos daran gearbeitet. Miresylle hatte einen Ballen gebürstete canderianische Seide gefunden, die weiß war und einen rötlichen Unterton hatte, der die Sonnenaufgangsfarbe von Rhapsodys rosiggoldener Haut vollkommen traf. Es war wohl überlegt und sparsam zugeschnitten, was ein Anzeichen wahrer Handwerkskunst war, wie Rhapsody ihrem ungläubigen Bräutigam erklärte, der sich vernehmlich darüber wunderte, als sie die siebte Anprobe für dieses scheinbar so einfache Kleid hatte. »Es ist weder von Perlen noch von Spitze verdeckt. Viele Näherinnen greifen auf diese Mittel zurück, um Unvollkommenheiten im Stoff oder der Verarbeitung zu verdecken. Miresylle ist eine Perfektionistin.« Gwydion hatte seine Braut in den Arm genommen und geküsst. »Dessen bin ich mir sicher. Und ich bin mir sicher, dass ich das Kleid mögen werde, auch wenn es dafür verantwortlich ist, dass du mich so oft allein lässt.« »Du bist zu gierig nach mir«, zog sie ihn auf. »Vielleicht sollte ich gar nichts tragen.« »Wie Recht du hast.« Gwydion selbst sah sich einem Kleiderdilemma gegenüber. Zwar war das Schnittmuster für seinen Hochzeitsanzug recht einfach, aber die verschiedenen Zweige der Familie, etliche Kampfeinheiten und politische Gruppen, denen er angehörte, hatten ihm ein Symbol seines Standes oder ein Ehrenabzeichen geschenkt und erwarteten natürlich, dass er dies während der Hochzeit trug. Rhapsody bekam einen Kicheranfall, als er all die Abzeichen peinlich berührt vor ihr auf dem riesigen Tisch in der Großen Halle von Tyrian ausbreitete. Der Tisch maß über zwanzig Fuß in der Länge und war vollständig mit Abzeichen bedeckt, die Gwydion irgendwo an seinem Körper tragen musste. »Du solltest mehr essen, um deinen Umfang um das Zehnfache zu vergrößern«, lachte sie, während ihre Blicke über hunderte Hüte, Dolche, Stäbe, Zeremonieschwerter, Kronen und anderen Krimskrams schweiften, der über den ganzen Tisch verstreut lag. Sie nahm einen der einundzwanzig Siegelringe von einem Haufen in der Mitte. »Mal sehen. Einen an jedem Finger, einen an jedem Zeh und einen an deinem ...« »Sprich es nicht aus«, drohte er scherzhaft. »Das könnte für dich später in der Nacht noch unangenehm werden, meine Liebe. Ich könnte den mit den größten Zacken wählen.« »Dieses Geschenk hier ist mein Favorit«, sagte Rhapsody und hielt eine scheußliche Kriegsmaske der Nain hoch. »Tragen sie diese Dinger wirklich in der Schlacht?« »Ja, die und noch schlimmere.« Er ließ den Blick über den Tisch schweifen und seufzte entsetzt auf. »Ich sehe lächerlich aus, wenn ich irgendetwas davon trage, Aria. Und wenn ich nur einige anlege, beleidige ich alle, deren Geschenke ich nicht ausgewählt habe. Und wann ich gar keine trage, beleidige ich alle. Was soll ich nur tun? Ist es schon zu spät zur Flucht?« »Das haben wir doch bereits getan; erinnerst du dich? Das hier ist nur die offizielle Zeremonie; die wichtige haben wir schon allein gehabt.« Sie lächelte ihn an und hoffte, damit seine Qualen zu lindern. »Ich will mich darum kümmern. Wir sollten uns die Geschenke gemeinsam ansehen, und du sagst mir, von wem sie stammen und was sie bedeuten.« Einen Monat später, am Morgen der Hochzeitsprobe, schenkte sie ihm ein Samtbezogenes Kästchen. »Das ist für deine Geduld mit meinen endlosen Anproben«, sagte sie und küsste ihn. »Mach sie auf und schau, ob es dein Dilemma beseitigt.« In dem Kästchen befand sich ein Staatshalsband, dessen Kettenglieder aus regelmäßigen rotgoldenen Sechsecken bestanden. Es war so lang, dass es Nacken und Schultern schmückte, und war mit Symbolen aller Gruppen versehen, die ihm ihre Abzeichen geschickt hatten. Selbst die scheußliche Kriegsmaske der Nain des Sardonyx-Berges war auf einem der kleinen Glieder peinlich genau als winzige Gemme abgebildet. Gwydion brach bei dem Gedanken in Lachen aus, dass der Goldschmied viele Stunden nach einem farbigen Stein gesucht hatte, der dieselbe Tönung aufwies wie der Schleim, der aus den Nüstern der Miniatur-Kriegsmaske troff. »Es ist wunderbar, wie immer bei dir«, sagte er und zog sie an sich. »Gut. Bedeutet das, dass ich von diesen großen Zacken verschont bleibe?« »Von allen bis auf einen.« Gwydion schleppte den Kübel zur Tür des Geheimraums hinter dem Wasserfall und schüttete das Putzwasser draußen ins Gras. Wie macht sie das nur, fragte er sich ungläubig, als er mit einem Seufzer in seinen alten, bequemen Sessel sank. Er hatte ihr geholfen, das Haus in Elysian zu säubern, aber irgendwie war es ein Vergnügen gewesen. Gwydion schüttelte den Kopf und lachte. Sogar mit einem heißen Eisen gebrandmarkt zu werden wäre ein Vergnügen, so lange sie ihm dabei die Hand hielt. Die Erinnerung an schläfrige Sommermorgen vor einem Jahr kam in ihm auf, der Geruch von kochendem Kaffee und Gewürzen, begleitet vom Duft der Seife und süßem Gesang. Sie war immer vor Sonnenaufgang aus dem Bett gestiegen und hatte in Elysian geputzt, Kleider gebügelt, sich um die Gärten gekümmert, lange bevor gewöhnliche Leute die Augen aufschlugen. Das sei das Bauernmädchen in ihr, hatte sie gesagt, als er dagegen protestiert und sie wieder ins Bett gezogen hatte. Diese Erinnerungen an die einfache Häuslichkeit mochte er am liebsten. Es waren Bilder voller Normalität und Gesundheit inmitten einer verrückt gewordenen Welt. Er seufzte und sehnte sich die Rückkehr dieser Tage freudig herbei. Als er sich in dem Raum umsah, verspürte er ein Gefühl der Befriedigung. Das unordentliche Männer-Haus war sauber geworden, das neue Doppelbett glänzte unter der frischen Satindecke, die er für Rhapsody in Navarne gekauft hatte. Er hatte alle neuen Möbel bei Nacht selbst hereingeschleppt, um die Sicherheit des Geheimraums nicht zu gefährden. Dies war so etwas wie ein westliches Elysian ein Ort, an dem sie allein sein konnten, wenn sie sich in diesen Provinzen aufhielten. Dieser Ort benötigt die Hand einer Frau oder einer Magd, hatte sie gesagt. Daraufhin hatte er etliche Gegenstände und Schmucksachen aufgestellt, die sie auch bei der Einrichtung Elysians verwendet hatte. Das Haus war trotzdem noch gemütlich und schön. Und er hatte vier Stunden am Tag vor seiner Hochzeit damit verbracht, den Ort zu putzen. Rhapsody hatte vor anderthalb Jahren in einer halben Stunde bessere Ergebnisse erzielt, doch er wusste, dass sie seine Bemühungen schätzen würde. Gwydion stand auf und schaute sich ein letztes Mal um. Der Wein stand im Kühler, die Kristallgläser befanden sich auf dem Tisch, das Feuer war mit süß riechenden Gewürzen bestreut und wartete darauf, entfacht zu werden. Er würde ein 964 Zimmer mit einer Badewanne anbauen müssen, falls sie diesen Ort auch im Winter bewohnen sollten, obwohl der Gedanke, dass allein Rhapsodys Körperwärme den Teich unter dem Wasserfall im Schnee erwärmte, höchst erregend war. Er holte die Krönung seiner Bemühungen hervor: einen Sack voller rosafarbener und weißer Rosenblätter, über die sie seinem Wunsch gemäß ihre Magie gelegt hatte, ohne zu wissen warum. Sie hatte die Worte gesprochen, die ihre Frische bewahrten, und Ashe dabei seltsam angesehen Er stellte sich ihren Gesichtsausdruck in der nächsten Nacht vor, wenn er sie über das Bett und den Boden verteilt und eine Spur bis zur Tür gelegt hatte. Ein romantischer Drache ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ja. Liebst du mich trotzdem? Immer. Als das Bett schließlich mit Blütenblättern bedeckt war, sah er sich ein letztes Mal um. Dann verließ er die Hütte und verschloss sorgfältig die Tür. Auf dem Weg zurück zu dem versteckten Pferd und Wagen pfiff er ein Lied. Haus der Erinnerung, Navarne Die Lirin hatten die Wälder von Tyrian und Gwynwald in der traditionellen Hochzeitsart mit Glocken, Schilfflöten und Windspielen geschmückt, die von den Bäumen hingen. Papierschlangen wanden sich überall durch den Forst, in dem überdies von Lirin-Stadt bis zum Großen Baum Maibäume mit Bändern daran aufgestellt worden waren, auf denen man unzählige Kristalle befestigt hatte. Hierbei handelte es sich um ein Geschenk der cymrischen Nain. Der Wald war in farbigem Licht gebadet und warf einen Regenbogenglanz auf die Szene und die Gäste. Das Unmögliche geschah. Am Morgen der Hochzeit erblühten die Gärten des Hauses der Erinnerung in einem gewaltigen scharlachroten Teppich aus Winterblumen. Sie waren ein Geschenk des Schlafenden Kindes, das nun sicher in den Armen seiner Mutter, der Erde, lag. Zusätzlich zu den traditionellen Dekorationen hatte Ashe die Hilfe einiger Palastdiener in Anspruch genommen, um Liebesknoten aus Musselinstoff im Schlafzimmer der cymrischen Herrin und in allen Sälen der Festung von Stephen Navarne zu verteilen, in der Rhapsody sich befand. Mithilfe seiner Drachenerinnerung erschuf er peinlich genau die Szene, in der sie sich zum ersten Mal in jener schönen Sommernacht beim Vorerntetanz getroffen hatten. Am Morgen ihrer Hochzeit erwachte Rhapsody in einem Raum voller frisch geschnittener Kiefern und Tannenzweige und später Sommerblumen, von denen viele von derselben Art waren wie jene, die damals die Tische und Fässer geschmückt hatten. Sie richtete sich im Bett auf und war erstaunt über die Genauigkeit, mit der die Verzierungen nachgebildet waren, welche die Leute aus ihrem Bauerndorf im alten Land aufgestellt hatten. Dann lachte sie laut auf. Er musste sich in der Nacht in ihr Zimmer gestohlen haben. Sein Mantel bedeckte sie, und auf ihrem Bett waren Weidenzweige verstreut. Auf dem Umhang lag ein dünnes Band aus schwarzem Samt, an das ein silberner Knopf in Herzform genäht war. Oelendra saß auf einem Stuhl im Schlafzimmer der Braut und beobachtete die hektischen Vorbereitungen mit gelinder Belustigung. Rhapsody saß in Unterkleidern auf dem Boden und befestigte geduldig den Saum von Melisandes Kleid, während die lirinischen Kammermädchen hinter ihr auf dem Bett hockten, ihr Perlen ins Haar flochten und bei jeder ihrer Bewegungen verstimmt dreinblickten. Sylvia hatte sich bei der Tür aufgestellt, da andauernd Dinge abgegeben wurden, und schimpfte nebenbei mit den Firbolg-Enkeln der Königin, die eifrig von Sofa zu Sofa hüpften und ihre Habseligkeiten durch das ganze Zimmer verstreuten. »Sie fressen die Blumen aus den Haarreifen, Herrin«, sagte die Kammerfrau. Rhapsody nickte. »Ich weiß. Bitte versuch zu vermeiden, dass ihnen die Bänder zwischen den Zähnen stecken bleiben.« Als die älteste Brautjungfer schließlich herausgeputzt war, stand Rhapsody auf. Ihr Haar war in kleinen, verwickelten Mustern geflochten und aus dem Gesicht zurückgekämmt, doch im Rücken hing es lang herab und wurde von winzigen weißen Blumen und Rosmarinzweigen durchbrochen, die Weisheit symbolisierten. Sie schenkte Oelendra ein verwirrtes Grinsen und folgte den schwatzenden Kammermädchen dorthin, wo das Hochzeitskleid hing. Miresylle, die Näherin, half ihr mit einem Blick hinein, der dem einer Hebamme glich, die ein königliches Kind zur Welt bringt. Nach vielem Herumgezupfe stand die Königin schließlich aufrecht da und drehte sich, und die lirinischen Dienerinnen traten ehrfürchtig zurück. Oelendras belustigtes Lächeln wurde wärmer. Sie hatte nicht geglaubt, dass es ein Kleid gäbe, welches Rhapsody noch schöner machte, als sie schon war. Doch jetzt sah sie, dass sie sich geirrt hatte. Sie fragte sich, ob dies von dem Kleid herrührte, das in Weiß und einem Schimmer von Rosa erstrahlte, oder von dem Licht, das in den Augen der Braut leuchtete. Sylvia klatschte entschieden in die Hände. »In Ordnung, jetzt hinaus mit euch. Alle!«, sagte sie zu den Kindern und Kammerdienerinnen. Die darauf folgende Hektik verschaffte Oelendra die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. Sie stellte sich hinter Rhapsody, die vor dem Spiegel gerade ihre Ohrringe anlegte, trat dann zum Toilettentisch und legte einen Schlüssel darauf. Rhapsody sah sie mit einem verwirrten Lächeln an. »Was ist das?« »Der Schlüssel zu meinem Haus«, sagte Oelendra und richtete den Kragen ihres eigenen Kleides. »Ich habe dir gesagt, dass es jetzt auch dein Haus ist.« Rhapsody nickte. »Aber warum brauche ich einen Schlüssel? Ich komme doch nur, wenn du da bist.« Oelendra küsste sie auf die Wange und ging zur Tür. »Nur falls du einmal fern vom Palast einige Zeit allein mit deinem Mann verbringen möchtest. Du siehst wunderschön aus, meine Liebe, und so glücklich. Ich werde mich immer an diesen Anblick erinnern und ihn wie einen Schatz in mir bewahren. Beeil dich, dein Bräutigam wartet.« Sie lächelte und reihte sich in die Prozession ein. Rhapsody bürstete ihr Kleid ein letztes Mal ab und schaute sich um. Sie war umgeben von Leuten, die sie liebte, und es würden bald noch mehr werden. Ihre Enkel die Navarnes, die Kindern des Hoen und die Firbolg waren allesamt in weiße Seide gekleidet und mit Blumen geschmückt. Rial befand sich in der Prozession, genau wie Oelendra, die als Trauzeugin diente. Achmed und Grunthor standen in vollem Ornat bereit, um sie den Hauptgang hindurch zu eskortieren. Anborn lag auf seiner Bahre, die von zwei Nain-Soldaten getragen wurde, und wartete darauf, hineingebracht zu werden. Und glimmernd im Äther hingen von allen außer Rhapsody unbemerkt zwei große Drachenumrisse, deren vielfarbige Augen sie liebevoll ansahen. Sie dachte daran, wie Jo bei diesem Anblick gelacht hätte, und warf ihrer Schwester eine Kusshand zu, denn die Sängerin wusste, dass auch sie unsichtbar anwesend war. »In Ordnung«, sagte sie zu der seltsamen Versammlung. »Lasst uns anfangen.« »Das ist widernatürlich.« Madeleine Steward, die Frau des Herrschers von Roland, trat der Hochzeitsprozession rasch aus dem Weg, damit sie keinen Kontakt mehr mit dem grinsenden Jungen hatte, der im Vorübergehen ihr Juwelenbesetztes Kleid angefasst hatte. Das haarige kleine Gesicht wirkte unpassend unter dem Blumenreifen. Nach der Meinung Madeleines lag etwas Obszönes darin, Firbolg-Bälger in Hochzeitskleider zu stecken, um ihre Teilnahme an einer königlichen Zeremonie erst gar nicht zu erwähnen. Die Herrin von Roland war in den letzten drei Monaten nicht sehr glücklich gewesen, seit ihr Mann sie vom cymrischen Konzil nach Hause begleitet hatte. Dabei hatte er darüber schwadroniert, seine Herrschaftsgewalt an die neuen Herrscher der Cymrer abzutreten. Für Madeleine war es eine Frage des Stolzes gewesen, in das mächtigste Haus des Landes einzuheiraten, und nun unterstand sie einem zugegebenermaßen schönen Mann mit kupfernen Haaren und einer Frau, die gerade den Mittelgang an den Armen eines Ungeheuers und der gröbsten Kreatur entlang schritt, die sie je gesehen hatte. Ihre Welt drohte zu versinken. Madeleine konnte nichts anderes tun, als hilflos da zu sitzen und den Albtraum zu beobachten. Tristan Steward schaute seine Frau finster an. »Psst«, flüsterte er grimmig und drehte sich wieder um. Er schaute zu, wie das Gesicht der cymrischen Herrin dasselbe Strahlen annahm wie das ihres Gemahls, als sie sich die Ehe versprachen. Gemessen an königlichen Standards war die Hochzeit klein. Obwohl es seltsam war, dass man an der frischen Luft unter der sagischen Eiche stand, wo einst der Hof des Hauses der Erinnerung gewesen war, anstatt in der Basilika in Bethania oder Sepulvarta zu feiern, lag etwas Bezauberndes in der Zeremonie. Er lächelte traurig, während er zusah, wie der neue Patriarch die Ehe zusammen mit dem Fürbitter der Filiden segnete. Es war ihm unmöglich, länger Madeleines Gesicht anzusehen, das vor Ekel und Abscheu verzerrt war. Lieber betrachtete er Rhapsody. Was es ihm trotz der Missbilligung seiner Frau unmöglich machte, den Blick von ihr abzuwenden, waren nicht ihre ebenmäßigen, schönen Gesichtszüge, sondern die Blicke, die sie dem Herrn der Cymrer zuwarf. Sie war sich ihres Ausdrucks nicht bewusst und sah aus wie eine Frau, die hoffnungslos verliebt und unendlich glücklich war. Tristan seufzte. Er wünschte, jemand würde ihn auf diese Weise anschauen, auch wenn es nur ein einziges Mal wäre. Da Prudence fort war, würde es wohl nie geschehen. Dieser Gedanke verdunkelte ihm den Tag, obwohl die Glocken in den Bäumen und im neu errichteten Turm läuteten, als das Paar sich in einem Kuss vereinte. Rhapsody redete gerade mit Constantin im Schatten der großen Bäume, als sie einen eindringlichen Blick im Rücken spürte. Aus den Augenwinkeln sah sie eine reglose vertikale Linie, die auf sie ausgerichtet war. Rhapsody drehte sich um und schenkte der Erscheinung ihre Aufmerksamkeit. Sie brach in warmes Lächeln aus; es war Oelendra. Die lirinische Kriegerin hatte das Kleid abgelegt, das sie vorhin bei der Hochzeit getragen hatte, und steckte nun in einer weißen Robe aus ungefärbter Wolle, wie sie die Priester des Baumes trugen. Oelendra erwiderte ihr Lächeln, doch in ihren Augen lag ein bedeutungsvoller Blick, der alle anderen Gedanken Rhapsodys beiseite schob. »Entschuldigst du mich bitte?«, sagte sie zu Constantin. Die hellen blauen Augen in dem runzeligen Gesicht lächelten. »Natürlich, meine Dame.« Rhapsody hob den Saum ihres Hochzeitskleides und trat auf die Felsen neben dem Waldpfad. Dabei schüttelte die Gestalt in der Ferne den Kopf und hob die Hand, um Rhapsody aufzuhalten. Oelendra winkte und ging langsam in den Wald, auf den Schleier des Hoen zu. Sie drehte sich noch einmal um, lächelte der Braut zu und schenkte ihr einen liebevollen Blick unendlicher Wärme. Dann betrat sie den Wald und verschwand. »Rhapsody? Was ist los, meine Liebe?«, fragte Ashe sanft und nah an ihrem Ohr. Rhapsody drehte sich nach ihrem Mann um und lächelte ihn an. Sie bemerkte nicht, dass ihr dabei Tränen die Wangen herunterrannen. »Nichts, Sam. Nichts ist los.« Gwydion schaute in die Ferne und schloss kurz die Augen. »War das Oelendra? Ich habe sie kaum wieder erkannt.« »Ja. Schau genau hin, Sam. Du wirst sie nie mehr sehen, zumindest nicht in dieser Welt.« Gwydion wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Geht es dir gut?« Rhapsody nickte. »Natürlich. Ich freue mich für sie. Heute Nacht wird sie wieder neben Pendaris schlafen.« Achmed stand unter den dichten Zweigen einer alten Eiche oberhalb der Tanzfläche, die man im Garten des Hauses der Erinnerung freigeräumt hatte. Die Mitglieder eines kleinen, aber fähigen Orchesters aus Navarne hatten sich ihm gegenüber aufgestellt und erfüllten die Luft mit fröhlicher Musik. Für die Musiker aus Tyrian war es eine willkommene und angenehme Unterbrechung. Der Herr und die Herrin der Cymrer waren fast sofort auf die Tanzfläche gestürmt, und hunderte Gäste hatten sich zu ihnen gesellt. Stunden später hallte der Wald immer noch von der Freude der Feiernden wider, die sich anmutig zum Rhythmus der Musik drehten. Grunthor kam herbei. Er hatte soeben mit der Braut getanzt und grinste. »Pass auf, beim Walzer ist sie’n Dämon«, sagte er und wischte sich die riesige Stirn trocken. »Hab aber jetzt den Bogen raus. Du lässt sie auf deinen Füßen stehn. Tut nich weh, sie wiegt nicht mehr als ’ne Feder. So kannst du vermeiden, ihr aufs Kleid zu trampeln. Sie sieht nämlich ziemlich sauer aus, wenn du das tust.« Achmed nahm einen Schluck Branntwein und lächelte. »Vielen Dank für den Hinweis.« Grunthor steckte das Taschentuch in seine Paradeuniform und rieb sich den Halsrücken, als sie sich beide umdrehten und den Tanzenden zuschauten. Es war schwer, Rhapsody zu übersehen, obwohl sie so klein war und in der gewaltigen Menge fast unterging. Ihr Gesicht leuchtete in einem ätherischen Licht, und ihr Lachen hallte wie die Glocken durch den Forst des Weißen Baumes. Diejenigen, die ganz in ihrer Nähe tanzten, hielten immer wieder an und betrachteten sie bezaubert. Jetzt wurde sie beim Walzer von Rial geführt, doch wann immer es ihrem Gemahl gelang, sie zu entführen, strahlte ihr Gesicht heller als die Sonne. »Sie sieht glücklich aus, was?« «Ja, allerdings.« Grunthor sah herab auf seinen Freund. »Wie erträgst du das?« »Was willst du damit sagen?« »Also«, meinte der Bolg, »ich hatt immer den Eindruck, du hast ’n Auge auf sie geworfen, wenn du weißt, was ich meine.« Achmed nahm noch einen Schluck, sagte aber nichts. »Geht mich ja nichts an, aber was hast du jetzt vor? Ich mein, warum hast du sie gehen lassen?« Achmed lächelte, als der Walzer endete und Rhapsody eine tiefe Verbeugung vor ihrem Partner machte, der verblüfft aussah und dann in ihr herzliches Lachen einstimmte. Edwyn Griffyth nahm seinen Enkel Gwydion scherzhaft beiseite und ergriff Rhapsodys Arm für den nächsten Tanz, als das Orchester einen lirinischen Pennafar spielte, einen traditionellen Hochzeitstanz. »Wer hat denn gesagt, dass ich sie gehen lasse?« Grunthor runzelte die Stirn, während er auf den Fir-Bolg-König herunterschaute. »Könntest ’n bisschen spät dran sein, oder?« »Nein, in Wirklichkeit bin ich zu früh.« »Wie geht’n das?« Achmed lehnte sich gegen den Baum, unter dem er stand. »Alles ist zeitlich begrenzt. Ashe ist ein Drache und von cymrischem Blut, also ist er sehr langlebig, aber nicht unsterblich wie wir drei. Und da seine Langlebigkeit von seinem Drachenblut herrührt, steht er früher oder später vor demselben Problem wie Llauron. Er wird immer wyrmähnlicher, bis er schließlich der Menschlichkeit einschließlich seiner geliebten Frau den Rücken kehrt und fortgeht, um eins mit den Elementen zu werden.« Verstehen zeichnete sich auf Grunthors Gesicht ab. »Und dann gehört sie dir?« Achmed sah zu ihm auf. »Was keiner von euch versteht, ist der Umstand, dass sie das auf gewisse Weise schon tut. Außer mir ist sie die Einzige, die das weiß.« »Wirklich?« »Ja.« Er leerte den Becher mit Branntwein. »Jetzt entschuldige mich bitte. Ich glaube, ich bin an der Reihe, mit der Braut zu tanzen.« Grunthor schüttelte den Kopf, als Achmed den Hügel hinabstieg. Er stand neben Rhapsody, als der Tanz gerade endete, und der Sergeant schaute belustigt zu, wie sie den Fir-Bolg-König ansah und breit lächelte. Sie nickte freudig und ergriff seine Hand. Er wusste nicht, was lustiger war: der Anblick Achmeds bei der Mazurka oder der Blick Gwydions, als Achmed seine Braut gewandt an ihm vorbeiführte und mit ihr forttanzte. Als der erste Stern erschien, wurde er von einem Lirin-Chor begrüßt; dann erhellte ein Feuerwerkssturm den Himmel. Gwydion saß unter einer Weide auf dem Kamm eines Hügels und schaute zu. Seine wunderschöne, endlich offiziell zu ihm gehörende Frau lehnte an seiner Schulter und betrachtete den Himmel gemeinsam mit ihm. Sie seufzte tief und schaute ihn an. In ihren Augen leuchtete die Erinnerung an eine andere Sternennacht unter einer anderen Weide. »Ich habe mich entschieden, Herrin«, sagte er, während er sich über sie beugte und sie küsste. »Ja, Herr?« »Von jetzt an will ich die Sterne nur noch als Widerspiegelung in deinen Augen sehen.« Er küsste sie erneut, als ein frischer Funkenschwarm hochstieg, ihr Gesicht erhellte und in ihrem Haar leuchtete. »Wie du willst.« Der Lärm am Fuß des Hügels schwoll an. Die Hochzeitsgäste wurden ungeduldig; sie warteten auf die nächste Runde Trinksprüche und neue Musik. Rhapsody seufzte wieder. »Wie lange soll das denn noch so weitergehen? Wir haben doch schon den ganzen Tag gefeiert.« Gwydion zog sie mit sich. »Das Schöne an der Rolle des Gastgebers ist, dass du jederzeit die Feier beenden kannst«, sagte er, lächelte sie an und erinnerte sich an das mit Rosenblättern bestreute Bett, das auf sie in dem Raum hinter dem Wasserfall wartete. »Trinken wir uns allen Glück zu, dann gehen wir und feiern allein weiter. Wie klingt das in deinen Ohren?« »Sehr gut.« Über ihnen entzündeten sich goldene Funken, erhellten die Dunkelheit und trieben auf dem warmen Wind langsam zur Erde. Rhapsody streckte die Hand in kindlichem Entzücken aus und versuchte einige zu fangen. Winzige sternähnliche Glutstückchen ruhten auf ihrer Handfläche und glitzerten zwischen ihren Fingern wie in dem Traum, den sie vor so langer Zeit auf der anderen Seite der Welt und der Zeit gehabt hatte. Das Licht brach sich funkelnd in den Diamanten ihres Hochzeitsringes. Die Bedeutung dieses Augenblicks erkannte nur noch der, der damals bei ihr gewesen war, unter jenen Sternen, eine halbe Welt entfernt, und der jetzt gemeinsam mit ihr wartete und lächelte, als die kleinen Lichter in ihrer Hand hell aufleuchteten, bevor sie ausbrannten. Sie wandte sich ihm zu und sah, wie die letzten Funken in den tiefen Abgründen seiner vertikalen Pupillen verschwanden. Dann streckte sie sich und küsste ihn, was donnernden Beifall am Fuß des Hügels zur Folge hatte. »Ryle hira«, flüsterte sie ihm zu. So ist das Leben. »Nol hira viendrax«, antwortete er grinsend. Und ich bin dankbar für das, was es ist. Sie eilten Hand in Hand durch die Sternerhellte Dunkelheit den Hügel hinab und liefen erregt in den Rest ihres Lebens hinein. Epilog Meridion hielt den Rahmen an. Das Bild im Zeit-Editor erstarrte und schwebte unscharf in der Luft. Staubiges Licht fiel auf die gebogene, glatte Wand des Observatoriums. Er lehnte sich über das Instrumentenbord, stützte das Kinn auf die Hände und betrachtete nachdenklich das Bild seiner Eltern, die auf ewig in einem Augenblick wahrer Freude in der Zeit gefroren waren; sie lachten, während sie durch die sternklare Nacht liefen. Der Zeitpunkt war zufällig, aber gut gewählt. Meridon stand von dem Editor auf. Sein Vibrationsfeld, das er zu einem Sessel geformt hatte, während er arbeitete, löste sich auf und kehrte in seinen durchscheinenden Körper zurück, als er von der Maschine wegging. Er schlenderte zu der Glaswand und blieb vor dem verschwommenen Bild seiner Mutter stehen. Die Projektion schwankte, als er sich bewegte; die Linien und Schatten dehnten und wellten sich, als ob die Gestalt in einer unbemerkten Brise schwanke. Wie glücklich du aussiehst, dachte er, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte die Projektion aus dem Strang der Überlieferungen an. Ich bin froh. Selbst wenn das für mich jetzt das Ende ist, selbst wenn der soeben neu gewobene Zeitteppich sich als nicht besser als der erste herausstellen sollte, gibt es wenigstens diesen Augenblick des Glücks für dich. Viel besser als alles Vorhergehende. Ich bin froh. Sein Blick wanderte über das Bildnis seines Vaters, eines Mannes, dem er nie persönlich begegnet war. In der Kraft seiner Jugend und Gesundheit erkannte Meridion ihn kaum. Im alten Leben warst du zu dieser Zeit bereits unwiderruflich im Wahnsinn versunken, gebrochen an Körper und Geist, dachte Meridion, während er zusah, wie die Luftströmungen in der Glaskugel seines Observatoriums das Bild verzerrten und es so aussah, als ob Gwydion auch jetzt noch liefe, auf ewig gefangen in freudiger Bewegung. Auch für dich bin ich froh. Wie seltsam es doch war, sann er, als er zu der Maschine zurückkehrte, dass er solche Gefühle und Beziehungen Leuten gegenüber hegte, die er nie persönlich getroffen hatte. Die Zeit hämmerte schwer in seinen Ohren. Schließlich fasste Meridion den Mut, durch die Glasscheiben des Observatoriums auf die darunter liegende Welt zu sehen Er atmete langsam ein und stieß den Atem in Schüben wieder aus. Das Feuer war gewichen, ja sogar vom Antlitz der fernen Erde verschwunden. Nun sammelten sich Wolken über den blaugrünen Meeren, wirbelten im Wind, flogen um die Bergspitzen und verschleierten seinen Blick. Wie es sein sollte, dachte er und schüttelte die Melancholie ab, die in sein Herz brandete. Kein Mann sollte einen so klaren Blick auf die Welt haben, wenn er in ihr leben will. Er bückte sich neben dem Zeit-Editor und hob sorgfältig die versengten Fetzen des Zeitfilms auf, die in verbranntem Konfetti und zerrissenen Bändern vor seinen Füßen lagen. Sorgsam durchsuchte er sie, bis er auf ein Fragment stieß, das er vor nicht langer Zeit hatte fallen sehen, als die neue Geschichte die alte wie ein frisch gegrabenes Flussbett oder einen neuen Teppich ersetzte, der aus den Fäden des alten gewebt war, aber andere Muster aufwies. Die zerknitterten Stücke wurden durchscheinend, lösten sich auf dem Boden auf und waren nun aus der Zeit und der Geschichte verschwunden. Bald würde nichts mehr von ihnen übrig sein, nicht einmal die Erinnerung an sie, denn in der Wirklichkeit waren sie jetzt nur noch Überbleibsel aus einer Vergangenheit, die nie existiert hatte. Meridion hielt den Filmstreifen gegen das Licht. Zufrieden zog er ihn über eine zweite Lampe auf der Instrumententafel des Zeit-Editors und warf die Bilder an die Wand gegenüber dem Bildschirm, der seine Eltern zeigte. Im schwachen Licht konnte er kaum das Bild erkennen. Es war eine kleine, ältliche Gestalt in blasser Robe, in welche die Symbole der alten Benenner eingewoben waren. Das lange Haar der weiblichen Gestalt war so weiß wie Schnee, zu einem Zopf geflochten und von einem einfachen schwarzen Band zusammengehalten. Ihr Gesicht war runzlig und zerfurcht, ihr Körper trug schwer an dem Gewicht des Alters, aber sie hielt sich mit Anmut und starkem Willen aufrecht. In den Armbeugen hielt sie ein weißes Geburtstuch, das man benutzte, um den Säugling aufzufangen. Sie streckte die Hände wie im Gebet aus. Es war der Augenblick seiner eigenen Geburt im alten Leben. Er vermied es, sich die nächsten Bilder anzusehen, die auf der Tafel lagen und sich zusammengerollt hatten. Die nächsten Augenblicke hatten großen Schmerz und grausamen Tod gebracht. Obwohl er seine Mutter nie gesehen hatte, hatte er bei seinem Gang ins Leben doch ihre Liebe gespürt, selbst in ihren letzten Augenblicken und bei dieser scheußlichen Geburt. Er hatte die Zeit verändert und vermutlich auch ihr Schicksal, doch er konnte es noch immer nicht ertragen, dem zuzusehen, was wieder mit ihr geschehen war. Die Spule, auf welcher der Film mit der neuen Geschichte steckte, erregte Meridions Aufmerksamkeit. Sie ruhte geduldig auf ihrer Schwungfeder. Müßig nahm er das Ende in die Hand, spulte es ab und hielt den Film gegen das allgegenwärtige Licht des Observatoriums. Im Gegensatz zu den verblassenden Fetzen der Vergangenheit, die vor seinen Augen schmolzen, war dieser neue Strang klar, rein und lebendig. Er spulte ihn weiter ab und suchte nach Momenten, die besonders schön waren: das Zusammentreffen von Emily und Gwydion, dem Jungen, den sie Sam genannt hatte, auf einer grünen, sommerlichen Wiese; die Drei, die von der Wurzel in die Luft einer neuen Welt aufstiegen, die sie sonst nie gesehen hätten; der Augenblick, in dem Achmed den Thron und damit auch die Sorge um das Schicksal der Bolg übernahm; das Wiedersehen seiner Eltern; der Sieg über den Dämon; die Wiedererrichtung der neuen Welt. Ja, dachte er, während der glatte Film durch seine Finger glitt, das war es wirklich wert. Aber was war mit der Vergangenheit? Es musste Respekt vor ihrem Verlust geben. Die Ereignisse in diesem Zeitstrang, die schließlich zum Untergang geführt hatten, waren sicherlich schlimm gewesen, aber auch hier hatte es Momente des Glanzes gegeben sowie Heldentum, Tapferkeit, Selbstlosigkeit, weise und dumme Wahlmöglichkeiten und Liebe. Er betrachtete abermals das Bild Achmeds, wie er der Hochzeit seiner Eltern zuschaute und schief lächelte. Sicherlich war da Liebe gewesen. Ein unwiderstehlicher Drang überkam ihn. Bevor er Zeit zum Nachdenken hatte, war bereits seine Hand hervorgeschossen, hatte das Fragment des Zeitfilms von der Lampe weggestoßen und es zusammen mit den letzten Resten des alten Lebens, der ersten Geschichte, der neu geschriebenen Vergangenheit vom Boden aufgehoben. Er legte die verschwindenden Schnipsel auf eine Glasplatte. Es war der untere Teil eines Objektträgers, der auf dem Zeit-Editor lag. Meridion nahm eine Flasche mit Fixierlösung von der wirbelnden prismatischen Scheibe, die neben der Maschine in der Luft schwebte. Fieberhaft überschüttete er die Fetzen mit der glimmernden Lösung und sicherte sie auf diese Weise. Er blinzelte rasch, während er sie vorsichtig zwischen den Objektträger und eine Deckplatte presste. Dann öffnete er eine Schublade im Zeit-Editor, hob den Träger an und schob das Glas langsam in die Tiefen des Schrankes, bevor er die Tür sanft wieder schloss. Er atmete flach und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen. Ein Gefühl großer Angst, die mit Erleichterung gemischt war, überflutete ihn. Er wusste nicht, welche anderen Momente der neu geschriebenen Vergangenheit er soeben gerettet hatte. Es konnten ebenso schlimme wie gute sein, doch der Impuls war so stark gewesen, dass er ihm nicht hatte widerstehen können. Da er nicht wusste, was nun vor ihm lag, entschied er, dass es richtig gewesen war, dem Drang zu folgen. Ein Schatten an der Wand erregte seine Aufmerksamkeit. Er schaute zu der Stelle, auf die das letzte Bild geworfen worden war, und sah die Schatten, als ob sie in das Glas eingebrannt wären. Die Umrisse der älteren Frau waren nun schwächer. Sie streckte die Hände in milchiges Licht und graue Flecken. Meridion legte die heiße Stirn auf die kühle Oberfläche des Zeit-Editors und versuchte, Mut für den nächsten Schritt zu fassen. Obwohl sein Körper nur aus Gedanken, Überlieferungen und reinem Willen gebildet und sein Bewusstsein nicht den Beschränkungen des menschlichen Fleisches unterworfen war, konnte Meridion den Schmerz unmittelbaren physischen Verlustes, das Stechen in den abgearbeiteten Händen und die Müdigkeit spüren, die solcher Verzweiflung folgte. Er kämpfte darum, nicht von der erstickenden Furcht des Unbekannten verschluckt zu werden. Die Ereignisse, die ihm das Leben geschenkt hatten, waren unwiderruflich verändert worden. Sie waren zu Fetzen bernsteinfarbenen Films geworden, der nun mit Ausnahme einiger zufälliger Fragmente verschwunden war, die er zusammen mit den Aufzeichnungen über seine Geburt gerettet hatte. Die Schritte, die er zur Veränderung der Zeit unternommen hatte, hatten anscheinend das Ergebnis hervorgebracht, um das er gebetet hatte. Die Welt unter ihm drehte sich noch, segelte ruhig durch den Äther, blau und unversehrt und bedeckt mit wirbelnden Luftströmungen, die über ihre Oberfläche tanzten unwissend, dass je die völlige Vernichtung gedroht hatte. Seine Einmischung in die Vergangenheit hatte funktioniert. Die Katastrophe, die er hatte verhindern wollen, war nicht eingetreten. Zugleich wusste er, dass die Ereignisse, die sein Dazwischengehen hervorgerufen hatte, seine eigene Geschichte verändert hatten. Er hatte die Umstände geleugnet, unter denen er gezeugt worden war. Er wusste nicht, ob der neue Pfad, den die Zeit nun nahm, zu seiner Wiedergeburt darin führen würde. Oder nicht. Überlegungen, die er vor und nach der Veränderung der Vergangenheit angestellt hatte, hatten dazu geführt, dass er nicht daran glaubte. Er war als Idee, nicht als wirkliches Kind ins Leben gesetzt und von zwei verletzten Wesen gezeugt worden, von denen das eine durch die Umstände ein vorzeitiges, ungeheures Alter erreicht hatte. Sie hatten einen Teil von ihrem Leben und ihrem Wissen abgegeben, um eine Prophezeiung zu erfüllen, die in der neu geschriebenen Geschichte nicht mehr existierte. Zumindest der erste Teil war verändert. Meridion hatte überrascht festgestellt, dass Manwyn einige derselben Prophezeiungen auch in der neuen Geschichte äußerte. In der alten hatte sie seine Geburt vorhergesagt: Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben. Warum hatte die Seherin es in der neuen Geschichte wieder gesagt?, fragte er sich und wiegte den Kopf in den Händen. War das magische Opfer, das Rhapsody, die alte Benennerin der Liringlas, und Gwydion von Manosse, ein gebrochener Mann, der in den Augen der Welt tot war, gebracht hatten, um Meridion in die Welt zu setzen, in der Zukunft noch notwendig? Da der F’dor vernichtet und der Krieg abgewendet war, schien es nicht so zu sein. Doch nun, da die Vergangenheit ausgelöscht und neu gestaltet war, war die Zukunft unerforschlich. Anstatt sich in der neuen Welt zu treffen, nur um ihn zu zeugen und die Warnung einer Prophezeiung zu erfüllen, waren sich seine Eltern stattdessen schon in ihrer Jugend begegnet, hatten sich ineinander verliebt und ihre Seelen aus freiem Willen vereinigt. Alles gemeinsam Erlittene hatte sie wieder zusammengebracht. Es schien wenig Hoffnung darauf zu bestehen, dass sie ihm schließlich durch den üblichen Akt doch noch das Leben schenkten, wie es bei jeder anderen lebenden Seele der Fall war. Es wäre Wunschdenken gewesen. Wenn man zwei Leben zusammenführte, war das noch keine Garantie dafür, was sich daraus ergab. Das war eine Beobachtung, die er viele Male gemacht hatte, während er zugeschaut hatte, wie sich die Vergangenheit abspulte und gleichzeitig geändert wurde. Die Zeit war zerbrechlich und unterlag Veränderungen. Es ist dein Schicksal. Unsinn. Wir machen unser Schicksal selbst. Ja, dachte Meridion mit grimmiger Freude. Ja, das tun wir. Und jetzt schwebte sein Leben im Gewebe der Zeit innerhalb der Glaskugel seines Observatoriums, angetrieben vom ätherischen Feuer des Seren, des Sterns, nach dem die Heimat seiner Mutter benannt war. Wenn der Zeit-Editor die Arbeit einstellte, würde der Zeitfilm wieder laufen, ewig und ununterbrochen. Und Meridion würde an sein Ende gelangen und ausgelöscht werden wie eine Kerze. Habe ich Genugtuung geleistet und um all die Vergebung gebeten, die ich brauche?, fragte er sich benommen und ging in Gedanken eine Liste mit Leuten durch, von denen er sich Absolution versprach, wie sehr er diese Geschöpfe auch verletzt hatte. Hauptsächlich dachte er an Achmed und daran, was ihn die Veränderung der Zeit gekostet hatte. Vergib mir, dachte er in stummem Gebet an einen Mann, den er nie getroffen hatte. Ich glaube, ich hätte dasselbe getan. Er dachte an die Worte der Reue, die der Bolg-König dem Patriarchen in der neuen Geschichte dargebracht hatte, und lächelte schwach. Ich hätte es genau so gewollt, wenn ich die Wahl gehabt hätte. Sein letztes Ziel war natürlich wichtiger als alles andere gewesen. Alle Opfer, alle Veränderungen, die sich zwischen der einen und der anderen Geschichte ereignet hatten, waren sinnvoll gewesen. Die entstandenen Schäden wogen in der Bilanz weniger als das Ergebnis, und die glücklicheren Auswirkungen waren reiner Zufall. Meridion betrachtete noch einmal das Bild seiner glücklichen Mutter in der neuen Geschichte und seufzte. Wenn er seinen Vater nicht in dessen Jugend aus der Zeit genommen und ihn in die Vergangenheit verpflanzt hätte, damit er Rhapsody begegnete, wäre sie ihm niemals gefolgt, hätte niemals die Reise mit Achmed und Grunthor gemacht, niemals diesen Augenblick und jeden anderen erlebt, der noch folgte. Und die Welt wäre vom Feuer verschlungen worden. Ich habe es nicht für dich getan, dachte er und starrte auf das Bild. Aber es freut mich trotzdem. Vor seinen Augen verblasste das dunklere Bild seiner eigenen Geburt und verschwand in der Vergessenheit. Auch ich verblasse. Langsam griff Meridion hinüber, legte den Schalter des Zeit-Editors um und trennte die Maschine vom Licht des Seren. Die leuchtende Instrumententafel verschwand in der völligen Finsternis. Er schloss die Augen, als die Überreste des ihm bekannten Zeitfilms sich auf der Spule entzündeten und wie Rauch aus den letzten Kohlen eines schon lange erstorbenen Feuers zerstoben. Die runden Glaswände seines Observatoriums schmolzen beim nächsten Herzschlag dahin. Die letzten Worte, die er hörte, als die Welt um ihn herum zerbarst, wurden von der Stimme jenes Mannes gesprochen, der ihn seit seiner Geburt beschützt hatte, der bei ihm geblieben war, bis er den Raum des Zeit-Editors betreten hatte, und der ihn auf seine eigene, unbeholfene Weise getröstet hatte. Werde ich sterben?, hatte Meridion seinen Beschützer gefragt und gleichzeitig gewusst, dass die Antwort sein Vorhaben nicht beeinflussen konnte. Als nun die Luft aus dem runden Glasraum in das Vakuum des Weltalls entwich, hörte er die Antwort wieder. Die Worte hallten von dem verschwindenden Glas der Fensterscheiben wider und wurden immer schwächer. Kann man den Tod erfahren, wenn man nicht richtig lebendig ist? Du hast genauso wenig zu verlieren wie der Rest der Welt. Inmitten des schrecklichen Lärms und des wirbelnden Abgrunds, der seine Lebensenergie aufsaugte, spürte Meridion, wie sich die durchscheinende Gestalt, die einmal sein Körper gewesen war, über die Leere von Raum und Zeit ausdehnte und in einem Schmerzausbruch explodierte. Sein gedämpftes Bewusstsein verebbte, wuchs dann wieder, um durch die äußeren Bereiche des Alls als weiß glühender Lichtstrahl zu schießen, bis er einem glimmenden Stein gleich durch die Windgepeitschten Wolken stürzte und auf die Erde niederfiel. Die letzten Bruchstücke seines Bewusstseins kreischten in Todesqualen auf, heulten in Geburtswehen, taumelten blind durch die aufzuckenden Bilder einer Vergangenheit, die er nicht erkannte, und durch eine Zukunft, die er kaum sehen konnte, bis sie zum Stillstand kamen und er wie aus einem Traumerfüllten Schlaf erwachte. Meridion öffnete die Augen. Das Erste, was er sah, waren der vertraute, glatt polierte Stein und die dicken Glasfenster des hohen Turmzimmers. Er spürte die Kühle des Marmorsessels, in dem er saß. Seine Muskeln zitterten vor Kälte, und er fühlte das angenehme Gewicht seines Körpers. Froh bemerkte er die Wiedervereinigung seines Bewusstseins mit seiner physischen Gestalt. Er erinnerte sich daran, dass er bei seinen ersten Meditationen und Reisen durch die Zeit Angst gehabt hatte, es könne für ihn keinen Rückweg geben, doch allmählich hatte er sich mit dieser Gefahr angefreundet. Es war beruhigend, aus dem Zeitstrom zu treten und zurück in sich selbst zu gelangen, in seine eigene Geschichte, die er aus alten Geschichten sowie eigener Anschauung kannte. Es war ihm entfallen, was er auf dieser Reise gesucht hatte. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Zeit nicht das war, als was sie erschien, doch er hatte nie den Beweis für die Existenz einer anderen Wirklichkeit als die gefunden, welche er kannte und vor seinem inneren Auge sehen konnte. Aus irgendeinem Grund erschien es ihm, als wären seine Erinnerungen und die Geschichte, die er sah, neu und frischer, als sie sein sollten. Manchmal sah er in seinen Träumen Blitze, Bruchstücke von etwas, das zu einer anderen Zeit zu gehören schien. Sie waren erfüllt von Bildern seltsamen Lichts und merkwürdiger Dunkelheit sowie von Spulen mit etwas, das wie Fäden aussah und zwischen den Sternen zu schweben schien. In diesen Träumen empfand er immer ein Gefühl des Schreckens und einer Dringlichkeit, der er nicht entkommen konnte. Keuchend und voller Angst wachte er daraus unter der hellen Morgensonne auf, welche die Kälte aus seiner Seele indes nicht zu vertreiben mochte. Er hatte versucht, die seltsamen Vorahnungen seiner Mutter zu erklären, die selbst mit der Gabe des Zweiten Gesichts gesegnet war, doch sie hatte nie wirklich begriffen, was er ihr mitzuteilen versuchte. Die Tür des Turmzimmers wurde geöffnet, und sie trat ein. Meridion beobachtete sie aus den Augenwinkeln, als sie ein Tablett auf dem Tisch neben ihm absetzte. Er lächelte sie an, drehte sich dann in seinem Sessel um und betrachtete sie nachdenklich. Seit dem Tag ihrer Hochzeit waren viele Jahre vergangen, und sie sah noch genau so aus wie damals, obwohl in ihrem Gesicht eine Weisheit lag, die in ihrer Jugend noch nicht da gewesen war. Auch sein Vater wirkte noch jugendlich; allerdings hatte ihm die Zeit einige Falten um die Augen eingegraben, die sichtbar wurden, wenn er lächelte. »Fertig?«, fragte Rhapsody und gab Meridion einen Becher dol mwl. Er nahm den Becher mit der dampfenden Flüssigkeit dankbar entgegen und nippte an dem bernsteinfarbenen Getränk, das sie beide so mochten. Auch sein Vater trank es gelegentlich, hatte aber nie eine Vorliebe dafür entwickelt. Meridion schluckte es herunter. »Danke«, sagte er. »Vielen Dank.« Sie trat hinter ihn und legte ihm die Arme um die Schultern. »Wohin bist du heute gegangen nach vorn oder zurück?« Meridion dachte an das einzige Bild, an das er sich erinnerte. Es war das verschwommene Bild seiner Eltern, die durch die Sternerhellte Nacht liefen. »Zurück«, sagte er und nahm einen weiteren Schluck. »Ich glaube, ich war auf eurer Hochzeit, aber ich erinnere mich kaum daran. Dein Kleid war wunderschön.« »Miresylle wäre froh, wenn sie das hören könnte«, sagte seine Mutter und nahm den eigenen Becher auf. »Sie hat zwei Monate hart daran gearbeitet.« Ihre smaragdenen Augen glänzten. »Hast du auf der Hochzeit auch meine Lehrerin Oelendra gesehen?« Er dachte kurz nach und durchforstete seine Erinnerungen. »Ja, aber nicht diesmal. Ich habe schon oft eurer Hochzeit zugesehen, weil das Feuerwerk so großartig ist. Ich erinnere mich nicht daran, sie diesmal gesehen zu haben. Und übrigens auch nicht das Feuerwerk.« Er hob den Becher an die Lippen. Er wollte nicht eingestehen, dass er sich an nichts außer dem Bild seiner Eltern erinnerte. Alles andere war gelöscht. Rhapsody blinzelte und nickte. »Ich wünschte, du hättest sie kennen gelernt, Meridion. Sie war etwas Besonderes.« Meridion lächelte. »In gewisser Weise kenne ich sie«, sagte er. »Du hast es nicht bemerkt, als du den ersten Tag in Tyrian warst, aber ich war eines der Kinder in ihrer Schwertkämpferklasse.« Rhapsody lachte und fuhr ihm durch die Haare. Kurz ließ sie die Hand auf seinen drahtigen goldenen Locken ruhen. »Du bist durch die ganze Zeit gereist, nicht wahr? Ich erinnere mich an dich, wie du beim Brunnen in Ostend gesessen und mich gebeten hast, immer wieder dasselbe Lied zu spielen.« Meridion nickte und trank einen Schluck dol mwl. »Ich war auch auf dem cymrischen Konzil, aber da war ich schon erwachsen.« »Die Gabe der Zeitreise und die Möglichkeit, nach Belieben in den Zeitstrom einzutauchen und wieder daraus hervorzukommen, ist ein großes Geschenk.« »Allerdings.« Meridion stellte den Becher auf dem Tablett ab und nahm eine Pastete von dem Teller daneben. »Aber es ist ein wenig enttäuschend, die Ereignisse in der Vergangenheit und Zukunft sehen und sie nicht verändern zu können. Ich habe das seltsame Gefühl, dass mir ein Eingriff möglich sein sollte, aber wenn ich in die Vergangenheit eintrete, bin ich leider nur Beobachter und höchstens einmal Kommentator. Ich musste mich sehr anstrengen, damit du mich hörst, als ich dich gebeten habe, dieses Lied zu spielen.« Er kicherte. »Wahrscheinlich ist es gut, dass ich nicht wirklich dort, sondern nur ein Bild bin. Wenn ich in die Zeit eingreifen könnte, würde ich es bestimmt verpfuschen.« Rhapsody nahm einen Schluck aus dem dampfenden Becher und sah ihren Sohn ernst an. »Das würde wohl jeder tun. Die Fähigkeit, in die Zukunft und Vergangenheit zu sehen, ist in deinem Fall ein Familienerbe, aber sie bringt nichts als Ärger. Meine eigenen Visionen haben mir schreckliche Albträume beschert, genau wie bei deiner Urgroßmutter und ihren 985 Schwestern. Diese Familiengabe hat sie die geistige Gesundheit gekostet vor allem bei Manwyn ist das der Fall. Die Gabe, in die Zukunft schauen zu können, ist offenbar sehr gefährlich.« Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Sohnes sah. »Worüber denkst du gerade nach, Meridion?« Er zuckte die Schultern und hob den Becher wieder an die Lippen. »Weißt du, woher Manwyn ihre Informationen über die Zukunft bekommt?« Meridion lachte auf. »Nun, einige davon hat sie von mir. Ich schaue manchmal zum Tee bei ihr vorbei, und wir halten ein Schwätzchen. Sie ist schließlich meine Urgroßtante, und niemand sonst besucht sie, ohne etwas von ihr zu wollen. Ich bin für sie mehr als nur ein Bild. Wenn ich bei Manwyn bin, besitze ich so etwas wie körperliche Gegenwart. Manchmal darf ich bei ihr Merithyns Sextant benutzen und in die Zukunft schauen. Wenn man sie einmal kennen gelernt hat, kann sie sehr lustig sein auf ihre verrückte Weise.« »Wirklich?« Seine Mutter löste einige verfilzte Haarsträhnen auf seinem Kopf. »Das ist seltsam. Du bist ein Benenner, Meridion. Wenn sie ihre Prophezeiungen von dir erhält, warum macht sie dann ein so großes Geheimnis darum? Und warum hat sie so selten Recht, wenn sie sie der Welt mitteilt?« Sein Lächeln verblasste. Er wandte den Blick ab und sah eine Lerche an einem der Turmfenster vorbeisegeln. Die Sonne spiegelte sich in ihrem Gefieder. »Nun, sie ist etwas taub.« »Ist das alles?« Meridion stieß langsam die Luft aus und sah dem Vogel nach, bis er sich in die Höhe aufschwang. »Wer sagt, dass sie nicht Recht hat?« »Manchmal liegt sie daneben, oder etwa nicht?« Er schüttelte den Kopf und sah sie nicht an. »Nein. Sie ist verrückt und listig und schwerhörig, aber sie liegt nie daneben.« Endlich erwiderte er Rhapsodys Blick. »Erinnerst du dich daran, was Jo dir bei den Rowans erzählt hat? Dass man das Nachleben erst verstehen kann, wenn man es erlangt hat?« Rhapsody stellte den Becher ab. »Ja.« »Das stimmt auch für die Zukunft. Manwyn mag sie sehen, aber das bedeutet nicht, dass sie sie versteht.« Nicht besser als du, dachte er mit einer Spur von Trauer. »Aber du verstehst sie?« Er beugte sich zum Fenster und hoffte, den Vogel wieder zu sehen. »Meistens.« »Hmmm.« Rhapsody folgte seinem Blick nach draußen. Das Licht der Herbstsonne ergoss sich in den Raum. Als sie Meridion wieder ansah, lächelte sie. »Hast du je herausgefunden, woher deine Gabe stammt? Ich verstehe, warum die drei Seherinnen ihre Fähigkeit erhalten haben. Ihr Vater wurde am Geburtsort der Zeit und ihre Mutter an deren Todesort geboren, und beide stammten von alten Rassen ab. Aber warum du, Meridion?« Er biss ein Stück von der Pastete ab. »Lecker«, sagte er. Ihre Frage hing schwer in der Luft und blieb unbeantwortet. Nach einigen Momenten des Schweigens wurde Meridion nervös. Schließlich seufzte er auf. »Sicherlich war es wie bei den Seherinnen wichtig, dass meine Eltern von Entgegengesetzten Seiten des anfänglichen Meridians stammen und viel Zeit in beiden Welten verbracht haben.« Und dass die eigene Seele in der einen Welt gezeugt, dann ungeboren durch die Zeit getragen wurde und in der anderen Welt das Licht erblickte, dachte er. Er wandte den Blick ab und vermied es, in ihre klaren grünen Augen zu schauen. Er hatte noch keine Möglichkeit gefunden, wie er ihr erklären konnte, dass die Gegenwart seiner ungeborenen Seele in ihr sowie die Brücke über die Zeit und das Band zwischen seiner Mutter und seinem Vater, das in jener Nacht auf der Wiese gefestigt worden war, der Grund dafür waren, dass Rhapsody ihr ganzes Leben hindurch Visionen der Zukunft erlitten hatten, die bei seiner Geburt abgebrochen waren. Er war sich selbst nicht sicher, wie das alles zusammenhing. Auf seinen Reisen hatte er oft nach der Antwort auf die größte Frage gesucht, wie es möglich gewesen war, dass sein Vater für einen Augenblick aus der Zeit herausgenommen und zu dem Moment zurückgeschickt worden war, an dem seine Eltern ihre Seelen vereinigt und ihn gezeugt hatten, doch er hatte diese Antwort nie gefunden. Rhapsody sah ihn liebevoll an. »Dein Name kommt nicht von dem anfänglichen Meridian, falls du das geglaubt haben solltest. Du bist nach deinem Vater und nach Merithyn benannt.« »Ich weiß. Ich habe die Reden anlässlich meiner Namensgebung als Säugling gehört. Schließlich hast du mich benannt. Du hast die Angewohnheit, den Namen, die du verleihst, unbeabsichtigt Macht beizugeben.« Meridion stand aus dem Marmorsessel auf. »Kann ich jetzt spielen gehen?« »Natürlich.« Rhapsody betrachtete ihren Sohn nachsichtig. »Wie groß du geworden bist. Bald bist du so groß wie ich.« »In drei Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen«, antwortete Meridion und stopfte sich den Rest der Pastete in den Mund. »Tschüss, Mama.« Er küsste sie auf die Wange, als sie sich bückte, um ihn zu umarmen. Die seltsamen vertikalen Schlitze in seinen blauen Augen glitzerten warm. Dann rannte er zur Tür hinaus und tauchte ein in die klare Herbstluft. Danksagung Herzlichen Dank an die üblichen Verantwortlichen die netten Leute bei Tor, besonders Jim Minz und Jodi Rosoff, sowie an den großartigen Tom Doherty. Und, wie immer, an Richard Curtis. Zutiefst dankbar bin ich dem HenryMercerMuseum und der Tile Foundry, dem Comparative Literature Departement der SMU, dem International Maritime Museum und den Häuptlingen und Klanmüttern des OnondagaStammes. Dank an Glynn Gomes für die hydrogeologische Überprüfung. Tiefe Dankbarkeit bringe ich Aidan Rose, MJ Urist, Rebecca Caballo, Diane Rogers, AzKim, dem WeltmanClan und den Friedmans für ihre nie enden wollende Unterstützung entgegen. Und ein herzlicher Dank an meine geliebten Eltern für alles, was sie mir beigebracht, und für die Welt, die sie mir gezeigt haben. Und an Bill und die Kinder, die jetzt meine ganze Welt sind.