Tochter der Zeit Elizabeth Haydon Rhapsody #4 Seit der vermeintlich Letzte der Feuerdämonen gebannt wurde, kehrt Friede ein in den Ländern des cymrischen Bündnisses. An der Seite ihres Mannes Gwydion herrscht Rhapsody, Tochter des Windes, des Feuers und der Erde, über die geeinte neue Welt. Doch noch begegnen sich die Menschen mit Misstrauen und Vorsicht. Als Rhapsody die Bolg unter der Herrschaft ihres Freundes Achmed für die Heilung einer Geheimnisumwobenen Quelle in Yarim Paar gewinnt, um die Einwohner nach langer Zeit der Dürre mit Wasser zu versorgen, spitzt sich die Lage zu. Denn in Yarim Paar regiert eine Diebesgilde, deren ungekrönte Herrscherin danach trachtet, Achmed und sein neu entstehendes Reich zu vernichten. Zur selben Zeit befindet sich Achmed kurz vor der Vollendung einer Erfindung, deren Pläne noch aus der alten Welt stammen und deren heilende wie auch zerstörende Kräfte immens sind. Da begegnet ihm eine Frau, die ihn entfernt an Rhapsody erinnert – für welche Achmed tiefe Zuneigung empfindet... Rhapsody selbst hat ein Kind von Gwydion empfangen, doch die Schwangerschaft setzt ihr wegen Gwydions Drachenerbe stark zu. In ihrer Not beschließt sie, einige Zeit im Schutz der Urdrachin zu verbringen. Gwydion lässt sie nur ungern ziehen und das zu Recht: Von See her naht neue Gefahr – und es ist niemand Geringeres als Michael, der Atem des Todes, vor dem Rhapsody einst aus der alten Welt floh ... Elizabeth Haydon Tochter der Zeit Weil er Rhapsody in Lockenwicklern und mit Gesichtspackung erlebt und das Manuskript nicht einfach zugeschlagen hat, weil er bereit ist, Risiken einzugehen, die andere nicht wagen würden, weil er sich weigert, weniger als mein Bestes zu akzeptieren, und weil ihm dieses Buch genauso viel bedeutet wie mir, widme ich es in Dankbarkeit und Zuneigung James Minz, dem Visionär, Herausgeber, Freund Ode Wir sind die Musikanten, Wir leben in unseren Träumen, Wandern entlang der Wellenkanten Und sitzen neben Flüssen, die schäumen, Wir Weltverlierer, Weltverbannten, Die im bleichen Mondlicht säumen; Doch wir sind die Gesandten, Unter denen sich Welten aufbäumen. Mit unsrer Lieder Unsterblichkeit Errichten wir Städte, hoch und weit, Und mit einer wunderbaren Weise Macht Schaffen wir eines ganzen Reiches Pracht: Ein Mann kann erhalten zum Lohne Für einen einzigen Traum eines Reiches Krone. Und drei können mit neuer Lieder Klagen Ein Reich rasch wieder zerschlagen. Wir haben in vergangener Zeit, Die sich im Grab der Erde verliert, Ninive erbaut mit unserem Leid, Und haben in Babylon selbst jubiliert Und ihnen der neuen Welt Wert prophezeit, Der nach dem Glanz der alten giert, Denn jede Zeit ist ein Traum, den der Tod befreit, Oder einer, der Neues gebiert.      Arthur O’Shaughnessy Sieben Gaben des Schöpfers, Sieben Farben des Lichts, Sieben Meere auf der weiten Welt, Sieben Tage in einer Woche, Sieben Monate Brache, Sieben Kontinente durchwandert, webe Sieben Zeitalter der Geschichte Im Auge Gottes. Gesang des himmlichen Webstuhls O unsre Mutter die Erde, O unser Vater der Himmel, Eure Kinder sind wir, Müd und gebeugt. Wir bringen euch die Gaben, die ihr liebt. Daraus webt für uns ein Gewand der Helle ... Möge die Kette das weiße Licht des Morgens sein, Möge der Schuss das rote Licht des Abends sein, Mögen die Fransen der fallende Regen sein, Möge die Bordüre der stehende Regenbogen sein. So webt für uns ein Gewand der Helle, Dass wir dort schreiten können, Wo die Vögel singen, Dass wir dort schreiten können, Wo das Gras am grünsten ist. O unsre Mutter Erde, O unser Vater Himmel.      Volkslied, Tewa Klagelied des Webers Ein Teppich ist die Zeit, Aus drei Fäden bereit’. Man wisse Bescheid, Es sind Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit. Unbeständig sind Kettfaden Zukunft und Gegenwart, Doch ihrer Farben Gnaden Macht das Herz vernarrt. Vergangenheit, der Schuss, Ist der Geschichte Muss. Jeder Augenblick, Jedes Kriegsgeschick, Findet seinen Ort In der Zeit Gedächtnishort. Das Schicksal, Weber dieser Fäden, Hält sie fest in seinen Händen, Flicht daraus ein Band, Das Rettung sein kann, Netz – oder Tand. Erster Faden Der Kettfaden Ein Mann kann erhalten zum Lohne Für einen einzigen Traum eines Reiches Krone. Und drei können mit neuer Lieder Klagen Ein Reich rasch wieder zerschlagen. Argaut — Kontinent Nordland Das Licht der Hafenfackeln flackerte auf den Wellen und strahlte in den Nachthimmel ab; es war eine schwache Nachahmung des zunehmenden Mondes, der beharrlich über dem Ende des Kais hing und immer wieder von den Wolken verschluckt wurde, die auf dem Wind vorübersegelten. Bis tief in die Nacht hatten Dutzende noch dunklerer Gestalten geflucht, geschwitzt und ausgespuckt, hatten endlos lange in die Eingeweide der Schiffe hineingelangt, die aufgereiht an der Mole lagen, und ihnen ihre Schätze in Gestalt von Fässern, Truhen und losen Ballen entrissen, welche für den Markt in Ganth bestimmt waren. Sie hatten die Waren grob auf die Wagen oder Zugschlitten geworfen, wobei sich ihre Muskeln vor Anstrengung gespannt hatten, und dabei so manchen Fluch gemurmelt. Die Zugpferde hatten das Herannahen des Nachtregens gespürt; sie hatten in ihren Geschirren getänzelt und sich vor dem Donner gefürchtet. Als im Hafen endlich Ruhe einkehrte, waren die Fackeln heruntergebrannt, und es herrschte nur mehr das Licht des hartnäckigen Mondes. Quinn tauchte aus dem Bauch der Corona auf und ging die Landebrücke entlang. Mehrmals schaute er hinter sich, bis er die Pier erreicht hatte. Die Hafenarbeiter hatten sich an wärmeren, lauteren Orten zu der Mannschaft des Schiffes gesellt und tranken sich nun zweifellos in Kampfeslust oder angenehme Besinnungslosigkeit. Am nächsten Morgen würde in ihren Quartieren sicherlich ein feiner Gestank herrschen. Doch der Geruch von Darmgasen und saurem Erbrochenen war angenehm im Vergleich zu dem, was Quinn am Ende des dunklen Kais erwartete. Quinn hatte schon immer gute Augen gehabt. Er hatte den Seemannsblick, der den endlosen Horizont nach jeder winzigen Veränderung in der wässerigen, grau-blauen Monotonie absuchte; er konnte aus dem Krähennest gegen die Sonne eine Möwe von einer Seeschwalbe aus einer Entfernung unterscheiden, welche seine Mitmatrosen immer wieder verblüffte. Dennoch traute er bei den letzten Schritten auf diesem Gang seinen Augen nicht, denn die Person, der er entgegenging, schien sich andauernd zu verändern. Quinn war sich nicht sicher, doch es schien, als werde der Mann dicker und fester; seine langen, dünnen Finger setzten Fleisch an, die Schultern reckten sich unter dem gut geschneiderten Mantel. Quinn glaubte, ein blutiges Glitzern in den Augenwinkeln des Seneschalls gesehen zu haben, doch bei näherem Hinsehen erkannte er, dass er sich getäuscht hatte. Die Augen waren von klarem Blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel und ohne jede Spur von Rot. Die Wärme dieses Blicks reichte beinahe aus, um die Kälte zu vertreiben, die unweigerlich wie eine schlüpfrige Schlingpflanze durch Quinn kroch, wann immer sich die beiden Männer begegneten. »Willkommen, Quinn.« Die Wärme in der Stimme des Seneschalls passte zu seinem Blick. »Vielen Dank, Herr.« »Ich gehe davon aus, dass deine Reise erfolgreich war.« »Ja, Herr.« Der Seneschall würdigte ihn immer noch keines Blickes, sondern starrte auf die Wogenkämme unter der Pier. »War sie es?« Quinn schluckte; plötzlich war seine Kehle trocken geworden. »Ich bin mir so sicher wie nur möglich, Herr.« Schließlich drehte sich der Seneschall ihm zu und schaute nachdenklich auf ihn herab. Nun bemerkte Quinn es: den Geruch – den schwachen, fauligen Gestank von brennendem menschlichen Fleisch. Er kannte diesen Duft sehr gut. »Woher willst du das wissen, Quinn? Ich will nicht vergeblich um die ganze Welt segeln. Ich bin sicher, du verstehst das.« »Sie trägt das Medaillon, Herr. Es ist ein ganz schäbiges Stück im Vergleich zu all ihren anderen Juwelen.« Der Seneschall betrachtete Quinns Gesicht und nickte dann schwach. »Nun gut. Ich vermute, es ist an der Zeit, ihr einen Besuch abzustatten.« Quinn gab ein benommenes Nicken zurück und merkte kaum, dass inzwischen Regentropfen die Planken nässten. »Vielen Dank, Quinn. Das ist alles.« Wie in überschwänglicher Zustimmung wallte die wogende Welle der Hitze durch die Docks und wurde einen Augenblick später vom Rumpeln des fernen Donners untermalt. Der Seemann verneigte sich rasch, drehte sich um und eilte zurück zur Corona und zu seinem winzigen, dunklen Loch im Unterdeck. Als er die Landebrücke erreicht hatte und zurückschaute, war die Gestalt wieder zu einem Teil des Regenwindes und der Dunkelheit geworden. Haguefort, Navarne Auf der anderen Seite der Welt regnete es heftig. Die Nacht brach herein und brachte die erbarmungslosen Wassermassen mit sich, die Berthes Gemüt belasteten, seit der Sturm in der Abenddämmerung eingesetzt hatte – auch wenn es zunächst nur ein milder, aber hartnäckiger Schauer gewesen war. Beinahe stündlich hatten Reisende an die Küchentür geklopft, um Obdach gebeten und Regenwasser und Schlamm von der Straße auf dem frisch gewischten Boden verteilt. Zu Beginn der Nacht hatte sie den letzten der eintreffenden Männer mit so wütenden und beißenden Worten bedacht, dass der Kammerherr persönlich sie zurechtgewiesen hatte. Er hatte sie daran erinnern müssen, dass sie ihre Stellung erst kürzlich angetreten hatte und die Herrin der Cymrer ein hohes Maß an Höflichkeit in Haguefort erwartete, jener Festung aus rosig braunem Stein, in der das königliche Paar lebte, während der wunderschöne Palast, den ihr Gemahl für sie nahebei errichtete, erst allmählich fertig gestellt wurde. Doch die Herrin war schon seit Wochen abwesend, was die Laune ihres Gemahls beständig verschlechterte. Lord Gwydion verbrachte die noch verbleibenden zwei Wochen bis zu ihrer Rückkehr bei nächtelangen Gesprächen mit seinen müden Ratgebern, die unter sich der Hoffnung Ausdruck verliehen, die nächsten beiden Wochen möchten angesichts seiner unangenehmen Verfassung rasch vorübergehen. Berthe hatte ihrer Herrin noch nie gegenübergestanden, ja, sie noch nicht einmal gesehen, doch im Gegensatz zu den übrigen Bediensteten im Palast betete sie trotz der üblen Laune des Herrn nicht um ihre baldige Rückkehr. Während ihrer zehntägigen Tätigkeit in Haguefort hatte Berthe bereits herausbekommen, dass die Herrin der Cymrer eine seltsame Gestalt mit sehr merkwürdigen Vorstellungen war. Nun lag die riesige Küche im Dunkeln, die polierten Steinfliesen waren wieder sauber gescheuert, und die Kohlen des Herdfeuers brannten zu flackernder Asche nieder. Oben in den Ratssälen auf der anderen Seite des Hauptflügels war noch Licht, und manchmal erhoben sich Stimmen in schwach hörbarem Lachen oder Streiten. Berthe lehnte sich gegen die Mauer des Herdes und seufzte. Wie zum Hohn ertönte der Türklopfer. »Fort mit dir«, grollte die Scheuermagd hinter der Klinke. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann ertönte der Klopfer abermals und lauter als zuvor. »Geh weg!«, rief Berthe, bevor sie sich eines Besseren besann. Sie sah sich verstohlen um und fürchtete die Rückkehr des Kammerherrn. Als sie sich vergewissert hatte, dass weder eine wichtige Person in der Nähe war noch eine solche, die ihr Verhalten einer wichtigen Person hätte hinterbringen können, zog sie den Riegel zurück, räusperte sich und öffnete die Tür einen Spalt breit. Vor ihr lag nichts als die Düsternis der furchtbaren Nacht. Da Berthe niemanden auf der Schwelle sah, machte sie sich daran, die Tür mit einem verärgerten Grummeln, das tief aus dem faltigen Hals kam, wieder zu schließen. Ein Blitz zuckte auf, und in seinem rasch verlöschenden Licht war plötzlich eine Gestalt zu sehen, die gerade die Kapuze ihres Mantels abnahm, dessen Umrisse Berthe kaum erkennen konnte. Noch vor einem Augenblick hatte sie den Besucher überhaupt nicht bemerkt. Ein statisches Knistern summte über ihre Haut, als sie in die nächtliche Finsternis starrte. Berthe musste angestrengt durch den Regenschleier spähen, um die Gestalt wahrzunehmen. Wenn sie nicht in dem Augenblick hinausgeschaut hätte, als der Blitz niedergefahren war, hätte sie gar nichts gesehen. Sie baute sich vor der Gestalt auf, die gerade ihre saubere, aufgeräumte Küche betreten wollte. »Ein Stück weiter die Straße hinunter gibt es ein Gasthaus«, brummte sie in den Regen hinein. »Alle liegen schon zu Bett. Die Küche ist längst geschlossen. Ich kann das Personal schließlich nicht die ganze Nacht hindurch wach halten.« »Bitte lass mich hinein. Es ist sehr kalt hier draußen im Regen.« Es war die Stimme einer jungen Frau – sanft, ein wenig verzweifelt und schwer wie die eines müden Reisenden. Berthes Verärgerung sprach deutlich aus ihrer Antwort, obwohl sie sich um die Höflichkeit bemühte, auf der ihre Herrin angeblich selbst Bauern gegenüber bestand. »Was willst du? Es ist mitten in der Nacht. Geh jetzt endlich fort.« »Ich will den Herrn der Cymrer sprechen.« Es war, als habe die Dunkelheit selbst geantwortet. »Die Bitttage sind erst nächste Woche«, antwortete Berthe und schloss die Tür weiter. »Komm dann zurück. Der Herr und die Herrin beginnen mit den Anhörungen bei Sonnenaufgang am ersten Tag des neuen Mondes.« »Warte«, rief die Stimme, als sich der Spalt verengte. »Bitte sage dem Herrn, dass ich hier bin. Ich glaube, er wird mich sehen wollen.« Berthe spuckte in eine Pfütze aus dreckigem Wasser, die sich vor der Türschwelle gebildet hatte. Sie hatte schon öfter mit solchen Frauen zu tun gehabt. Der Herr von Dronsdale, ihr früherer Arbeitgeber, hielt sich einen ganzen Pferch von ihnen für die einzelnen Nächte der Woche. Sie versammelten sich vor dem Stall und warteten darauf, dass sich die Herrin von Dronsdale zurückzog. Dann putzten sie sich unter dem rückwärtigen Fenster heraus, und jede hoffte, vom Herrn auserwählt zu werden, der seine Gunstbezeugungen vom Balkon aus kundtat. Es war Berthes Aufgabe gewesen, all die abgewiesenen Mädchen fortzuscheuchen, was eine beschwerliche Arbeit gewesen war. Sie hoffte, dass sich dies in Haguefort nicht wiederholte. »Sind wir nicht eine etwas dreiste Dirne?«, zischte sie, wobei sie ihre erst kürzlich genossene Ausbildung vergaß. »Es ist schon nach Mitternacht, und du bist unangemeldet an einem Tag hergekommen, der vom Gesetz nicht vorgesehen ist. Wer bist du, dass der Herr dich zu dieser Stunde sehen wollte?« Die Stimme blieb fest. »Seine Frau.« Später begriff Berthe, dass der klickende Laut, den sie nach diesen Worten vernahm, von ihrem eigenen aufklappenden Kiefer herrührte; er blieb recht lange in dieser Stellung. Doch plötzlich schloss sie den Mund wieder und zog die schwere Tür ganz auf. Die Angeln kreischten vor Widerwillen auf. »Herrin, vergebt mir, ich hatte keine Ahnung, dass Ihr es seid.« Wer würde erwarten, dass die Herrin der Cymrer wie eine Bäuerin gekleidet mitten in der Nacht vor der Küchentür steht?, fragte sie sich und griff sich an den eiskalt gewordenen Bauch. In der Dunkelheit regte es sich, und die vom Mantel umhüllte Gestalt huschte in die Küche. Als sich ihr Umriss gegen den Feuerschein abhob, erkannte Berthe, dass die Herrin der Cymrer nicht größer als sie selbst und sehr zart war. Ihr Kinn zitterte, als die junge Frau die Kapuze ihres Mantels inmitten einer Nebelwolke abnahm, die aus den Falten des Stoffes aufstieg; dann zog sie sich das Kleidungsstück von den Schultern. Als Erstes kam aus dem einfachen, blau-grauen Stoff das schönste Gesicht hervor, das Berthe je gesehen hatte, bekrönt mit goldenem Haar von der Farbe des Sonnenlichtes, das von einem einfachen schwarzen Band zusammengehalten wurde. Der Ausdruck ihres Gesichts sprach eindeutig von Verärgerung, doch die Dame sagte nichts, bis sie ihren Mantel, der immer noch mit einer Aura aus Nebel umgeben war, zusammen mit einem Köcher und einem weißen Bogen sorgfältig an einen Haken über dem Herd gehängt hatte. Dann wandte sie sich an Berthe. Als sich die tief smaragdgrünen Augen der Herrscherin im Schatten des Feuerscheins auf die Scheuermagd richteten, wich jedoch der Blick der Verärgerung einem Ernst, in dem keine Wut mehr lag. Sie wischte sich das Regenwasser von der braunen Leinenhose und drehte sich wieder dem Herd zu, dessen Flammen wie zum Willkommensgruß aufsprangen und ihr die Hände wärmten. »Mein Name ist Rhapsody«, sagte sie nur und sah die Scheuermagd aus den Augenwinkeln an. »Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet.« Berthe öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Sie schluckte und versuchte es erneut. »Berthe heiße ich, Herrin. Ich bin neu hier in der Küche. Und ich bitte untertänigst um Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung, dass Ihr es wart... eben an der Tür.« Die Herrscherin der Cymrer drehte sich ihr wieder zu und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hättest nicht wissen müssen, dass ich es bin, Berthe. Jeder Reisende, der an diese Tür kommt, soll hereingebeten und willkommen geheißen werden.« Sie sah, wie sich ein Ausdruck des Entsetzens über das verrunzelte Gesicht der alten Frau legte, und fuhr unbewusst mit der Hand an das verknäulte goldene Medaillon an ihrem Hals. Sie glättete die Kette und räusperte sich. »Es tut mir Leid, dass dir das bei deiner Einstellung nicht gesagt wurde«, meinte sie rasch und warf einen kurzen Blick auf die innere Tür der Küche. »Und ich entschuldige mich dafür, dass ich dich so tief in der Nacht gestört habe. Willkommen in Haguefort. Ich hoffe, du arbeitest gern hier.« »Ja, Herrin«, murmelte Berthe nervös. »Ich sage dem Kammerherrn, er soll den Herrscher benachrichtigen, dass Ihr hier seid.« Die Herrin der Cymrer lächelte; der Feuerschein tanzte auf ihrem Medaillon. »Das ist nicht nötig«, sagte sie freundlich. »Er weiß es schon.« Die Küchentür wurde mit einer Wucht aufgedrückt, dass Berthe zusammenzuckte. Sie sprang noch weiter zur Seite, als der Mahlstrom, der sich als der cymrische Herrscher herausstellte, in einem Wirbel aus wogender Kleidung und rasender, Kraftgeborener Geschwindigkeit an ihr vorbeirauschte. Sein seltsames rot-goldenes Haar fing das Licht des zischenden Feuers ein und schimmerte drohend. Sie fuhr sich mit der Hand nervös an die Kehle und ließ den Mann nicht aus den Augen, von dem es hieß, er habe das Blut der Drachen in den Adern. Er rannte auf die kleine Herrin zu und packte sie. Berthe wäre nicht überrascht gewesen, wenn er ihr ein Glied nach dem anderen ausgerissen oder sie an Ort und Stelle aufgefressen hätte. Einen Augenblick später öffnete sich die Küchentür erneut. Berthe lehnte sich gegen die Wand, als Gerald Owen, der Kammerherr, sowie eine Anzahl königlicher Besucher den Durchgang verstopften; einige von ihnen hatten die Waffen gezogen. Owens runzeliges Gesicht entspannte sich, als er die Herrin in den Armen des Herrschers sah. »Ah, Herrin, willkommen daheim«, sagte er, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn, für den sowohl Erschöpfung als auch das lodernde Kaminfeuer verantwortlich waren. »Wir hatten Euch erst in vierzehn Tagen zurückerwartet.« Die cymrische Herrscherin versuchte sich aus der Umarmung ihres Gatten zu befreien, doch es gelang ihr nur, den Kopf über seine Schulter zu heben. »Vielen Dank, Gerald«, erwiderte sie. Ihre Worte wurden zum Teil von dem Hemd ihres Gemahls erstickt. Sie nickte in Richtung der Adligen, die sich noch immer an der Küchentür drängten. »Meine Herren.« »Eure Hoheit«, antwortete ein Stimmenchor. Rhapsody flüsterte ihrem Mann etwas ins Ohr, das ihn zu einem Kichern veranlasste; dann streichelte sie ihn und entwand sich seinem Griff. Gwydion wandte sich an seine Ratgeber. »Vielen Dank, meine Herren. Gute Nacht.« »Nein, nein, bitte brecht Euer Treffen nicht meinetwegen ab«, wandte Rhapsody ein. »Ich würde gern daran teilnehmen. Es gibt ein paar Staatsangelegenheiten, die ich mit einigen dieser edlen Herren besprechen möchte.« Sie blickte wieder zum Herrscher auf, der einen Kopf größer war als sie. »Sind Melisande und Gwydion Navarne schon im Bett?« Gwydion schüttelte den Kopf, als der Kammerherr zum Herd hinüberging und Rhapsodys Mantel ergriff, der immer noch seine Nebelaura verströmte. »Melly ist natürlich im Bett, aber Gwydion hält zusammen mit uns Rat. Er hat viele gute Vorschläge gemacht.« Das Lächeln der Herrscherin wurde breiter, während sie die Arme öffnete, als der Namensvetter ihres Mannes, der große, dünne Knabe, der eines Tages der Herzog von Navarne sein würde, sich einen Weg durch die Menge bei der Tür bahnte und in ihre Umarmung lief. Sie sprachen leise miteinander, und der Herrscher wandte sich wieder an seine Ratgeber. »Gebt uns bitte noch ein paar Augenblicke«, sagte er. »Wir werden unsere Gespräche – kurz – in einer halben Stunde wieder aufnehmen.« Die Adligen zogen sich zurück und schlössen die Küchentür hinter sich. Berthe sah den Kammerherrn an, der ihr mit einem nervösen Nicken bedeutete, sie solle auf ihr Zimmer gehen. Die Scheuermagd verneigte sich unbeholfen und zog sich hastig in ihr Quartier zurück. Sie fragte sich, ob die Herrin von Dronsdale sie wohl zurücknehmen würde. Der Herrscher der Cymrer beobachtete, wie Gerald Owen langsam hinüber zu seiner Frau ging, die soeben ihr Schwert abnahm, ohne das Gespräch mit ihrem Mündel zu unterbrechen. Owen war schon seit vielen Jahren Kammerherr und hatte sowohl Gwydion Navarnes Vater Stephen als auch schon Stephens Vater gedient. Selbst in späteren Jahren geriet seine Loyalität zu Stephens Kindern und deren Schutzbefohlenen nicht ins Wanken. Vorsichtig nahm er Rhapsodys Schwert und Mantel entgegen und verließ die Küche, ohne dass die Herrscherin ihr Gespräch hätte unterbrechen müssen. »Zwanzig Volltreffer in derselben Runde?«, sagte sie gerade zu Gwydion Navarne. »Ausgezeichnet! Ich habe dirnoch mehr von diesen langen lirinischen Pfeilen mitgebracht, die dir in Tyrian so gut gefallen haben. Sie sind in deinen Farben gefiedert.« Gwydions sonst so besonnenes Gesicht strahlte. »Vielen Dank.« Der cymrische Herrscher klopfte seiner Frau auf die Schulter und deutete auf die Tür, durch die Gerald Owen gegangen war. »Ich habe dir meinen Nebelmantel ausgeborgt, damit du unbemerkt von Straßenräubern und Dieben reisen kannst«, brummte er in gespielter Ernsthaftigkeit. »Aber nicht, damit du unbemerkt von mir zurückkehrst.« »Glaube mir, meine Rückkehr wird nachher deine ganze Kraft beanspruchen«, sagte sie neckisch. »Aber erst muss ich mit Ihrman Karsrick sprechen, bevor er nach Yarim zurückkehrt. War er bei den Ratgebern an der Tür?« »Ja.« »Gut.« Sie steckte die Hand in die Armbeuge ihres Mannes. »Nun wollen wir uns um die Staatsangelegenheiten kümmern, damit wir uns rasch... in unsere Gemächer zurückziehen und, äh, uns unseren eigenen Angelegenheiten widmen können.« Als sie Arm in Arm mit den beiden Gwydions an alten Statuen und sorgfältig restaurierten Gobelins aus dem ersten cymrischen Zeitalter vorbei durch die hohen Hallen von Haguefort ging, kämpfte Rhapsody gegen eine Welle widerstreitender Gefühle. Einige waren schmerzlich bitter, einige angenehm, doch alle tief empfunden, und keines hatte sich im Lauf der Zeit verändert. Das Gefühl des Verlustes, das sie und Ashe, wie ihr Mann bei seinen Freunden hieß, über den vor drei Jahren erfolgten Tod von Stephen – Gwydion Navarnes Vater und Ashes bestem Freund – empfanden, war immer noch sehr stark. Es war ihr unmöglich, durch die Korridore von Haguefort zu gehen, der Festung, die Stephen so liebevoll restauriert und mit unbezahlbaren Antiquitäten gefüllt hatte, oder die historischen Ausstellungsstücke im cymrischen Museum innerhalb des Schlosses zu betrachten, ohne von der Erinnerung an den jungen Herzog und die große Freude, die er am Leben gehabt hatte, überwältigt zu werden. Jedes Mal, wenn sie Haguefort verlassen hatte und zurückkehrte, glich sein Sohn ihm mehr. Diese Gedanken griffen ihr ans Herz. Rhapsody blinzelte. Gwydion Navarne schaute von der ersten Stufe der großen Treppe auf sie hinunter und bot ihr seine Hand für den Weg zur Bibliothek an, in der sich Ashe mit seinen Ratgebern traf. Nun sah er ganz wie sein Vater aus. Ashe stand neben ihr und drückte ihre Hand; er hatte es verstanden. Rhapsody erwiderte den Druck, ergriff dann die Hand ihres jungen Mündels und erlaubte ihm, sie die Stufen hoch zu führen. Auf die Treppe fiel farbiges Licht aus dem Bleiglas in den Leuchtern über ihnen, in denen zahllose Talgkerzen steckten. Rhapsody dachte daran, wie sorgfältig Stephen dieses wunderschöne Glas und alles andere in der Festung und dem Museum ausgewählt hatte. Unter diesen Gedanken war ihr nächster Atemzug schwerer als der vorige. Nach Stephens Tod hatten sie beschlossen, in Haguefort zu bleiben und es für Gwydion und seine jüngere Schwester Melisande so zu bewahren, wie es zuvor gewesen war. Stephen war zum Witwer geworden, als die Kinder noch sehr jung gewesen waren, und er hatte alles getan, dass für sie das Leben nach dem Tod ihrer Mutter in gewohnten Bahnen weiterlief. In ihrer Liebe zu ihm hatten Rhapsody und Ashe anfangs dasselbe versucht. Dennoch kam nun bald die Zeit, wo Gwydion Navarne alt genug für den Titel seines Vaters war. Als Rhapsody ihn die große Treppe hochsteigen sah, musste sie zugeben, dass dieser Tag näher war, als sie wahrhaben wollte. Als sie in einen Teich blauen Lichts trat, wisperte ein kühler Luftzug über Rhapsodys Haar und Nacken. Sie blieb sofort stehen und drehte sich um. Im flackernden Schein der Leuchter glaubte sie eine schwache Bewegung auszumachen. Doch als sie genauer hinschaute, war da nichts außer tanzenden Schatten. Ashe schloss sanft die Hand um ihren Ellbogen. »Aria? Ist mit dir alles in Ordnung?« Eine alte Angst, abgestanden und aus der Gruft ihrer Erinnerungen, in der sie lange begraben gewesen war, stieg wie Galle in ihr auf und brannte in der Kehle. Mit dem nächsten Flackern des Kerzenlichts war sie wieder verschwunden. Benommen betastete Rhapsody ihren Hals. Die brennende Furcht war vollkommen zerstoben. Sie glättete die Kette des goldenen Medaillons in der Halsbeuge und den Kragen ihres kambrischen Hemdes; dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie einen schlechten Traum vertreiben. Seit ihrer Kindheit überfielen sie manchmal Visionen der Vergangenheit oder Zukunft, doch der flüchtigen Kälte folgte diesmal nichts; sie war fort. Die Herrin der Cymrer sah zu ihrem Gemahl auf und lächelte ihn an, um die Sorge zu vertreiben, die sie in den Runzeln seines Gesichts und in seinen himmelblauen Augen mit den senkrecht geschlitzten Pupillen sah – ein schwaches Überbleibsel des Drachenblutes, das in seinen Adern rann. »Ja«, sagte sie nur. »Komm, wir sollten die Ratgeber nicht warten lassen.« Zweiter Faden Der Schussfaden Ziegelei — Yarim Paar — Provinz Yarim So wie die Flüsse unweigerlich ins Meer fließen, fand in Yarim Paar jedes öffentliche oder verborgene Wissen und jedes Geheimnis früher oder später den Weg zu Estens Ohr. Das wusste Slith. Es war gleichgültig, ob das Geheimnis unter der hellen, unbarmherzigen Sonne Yarim Paars umlief, welche den rotbraunen Lehm der verfallenden nördlichen Stadt im Sommer buk, oder in den dunklen, kühlen Gassen auf dem Markt der Diebe, dem dekadenten, übervollen Basar, dessen exotischer und düsterer Handel Tag und Nacht blühte – Esten würde es doch irgendwann erfahren. Das war so unausweichlich wie der Tod. Und da es den Tod bedeuten konnte, wenn man solchen Informationen im Wege stand, war es üblicherweise für den Träger eines Geheimnisses besser, es sofort Esten zu verraten, damit man nicht als jemand angesehen wurde, der den Versuch wagte, es vor ihr zu verbergen. Doch es gab Ausnahmen. Slith schaute nervös auf. Der Geselle, der seine Arbeit und die der anderen Lehrlinge beaufsichtigte, reckte und streckte sich in den Schatten der großen, offenen Brennöfen und suchte Erleichterung von der sengenden Hitze, wobei er den Jungen keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Bonnard war ein übergewichtiger Mann, ein geschickter Keramiker, dessen Umgang mit den Ziegelzangen und Mosaiksteinen unerreicht war, doch er war kein guter Aufseher. Slith stieß die Luft aus und griff vorsichtig nach dem grünen Topf auf dem unteren Regal. Es war noch da, wo er es gestern gefunden hatte, in den bislang ungebrannten Ton am Boden des Gefäßes gedrückt. Ein weiterer Blick zurück versicherte ihm, dass Bonnards Aufmerksamkeit von anderen Dingen beansprucht wurde. Mit einer sanften Bewegung, die keiner der anderen Knaben bemerken sollte, welche gerade die Dungfeuer schürten, holte Slith den Behälter aus dem Regal und steckte ihn unter den Arm, dann ging er durch die Hintertür der Ziegelbrennerei zum Abort. Slith war schon lange an den Gestank gewöhnt, der ihm jedes Mal entgegenschlug, wenn er den verrotteten Leinwandvorhang beiseite zog. Er schlüpfte dahinter und zog ihn sorgfältig wieder vor. Dann steckte er die feuchten und leicht zitternden Hände durch die Öffnung des Gefäßes. Mit festem Griff zog er den Inhalt hervor und hielt ihn gegen das Licht des aufgehenden Mondes, das durch die Risse im Abortvorhang drang. Ein blau-schwarzes Leuchten traf in der Dunkelheit seine Augen. Mit großer Vorsicht drehte Slith die Scheibe in den Händen. Sie war dünn wie der Flügel eines Schmetterlings und fing das Mondlicht ein, das in Wellen über den vollkommen gerundeten Rand lief. Dieser war rasiermesserscharf. Slith hatte sich mehrere Hautschichten vom Handrücken abgeschabt, als er gestern die älteren Urnen zum Brennen aus dem staubigen Vorratsraum zu den Brennkammern gebracht und dabei ganz zufällig in das Gefäß gegriffen hatte. Möglicherweise hätte er seine Neugier auf einen gemurmelten Fluch beschränkt und angenommen, die seltsame Metallscheibe sei ein Schabwerkzeug, wenn da nicht der dunkle, zähe Schatten auf der Oberfläche gewesen wäre. Sliths Hand zitterte, als er die Scheibe umdrehte. Er war noch da. Der Schatten aus schon lange getrocknetem Blut. Eine Erinnerung überschwemmte Slith. Vor drei Jahren waren er und der andere Lehr junge im ersten Jahr mitten in der Nacht von Glocken geweckt worden, die wie verrückt tief im Innern der Brennerei geläutet hatten. Er und die übrigen Lehrlinge der Kunst des Ziegelbrennens waren hervorgekrochen, um zu sehen, was es für ein Notfall war, doch sie waren von den Gesellen, die der Alarm herbeigerufen hatte, grob beiseite gestoßen worden. Was sie entdeckt hatten, weckte ihn noch Monate später jede Nacht. Die großen Kessel mit kochendem Lehm waren von den Feuern gestoßen worden, und ein See aus geschmolzener Erde hatte sich wellenförmig in die ganze Brennerei ergossen. Drei der Lehrlinge, die in der Spätschicht gearbeitet und sich um den Lehm und die Kesselfeuer gekümmert hatten, waren verschwunden, doch einer war später unter einem Berg erkaltenden Lehms erstickt aufgefunden worden. Die Leichname der anderen beiden – Omet, ein kahlköpfiger Lehrling im fünften Jahr, den Slith gemocht hatte, und Vincane, ein bestialischer Junge mit einer Vorliebe für grausame Spaße – hatte man nie gefunden. Auch etwa ein Dutzend Gesellen wurden vermisst. Doch das Schlimmste war, dass die Nische, die zu dem Tunnel hinabgeführt hatte, in welchem die Sklavenjungen heimlich gegraben hatten, mit kochender Erde aufgefüllt und irgendwie gebrannt worden war, sodass ein undurchdringlicher Keramikwall zurückblieb. In dieser schicksalhaften Nacht hatte Slith zum zweiten Mal in seinem Leben Esten gesehen, die Eigentümerin der Brennerei und Vorsteherin der Rabengilde, der Handelsvereinigung der Keramiker, Ziegelbrenner, Glasbläser und anderer Kunsthandwerker, die jedoch nichts anderes war als der Deckmantel für einen Ring höchst grausamer und schändlicher Marktdiebe. Das erste Mal war an dem Tag gewesen, als er seine Lehrstelle in der Ziegelei angetreten hatte. Obwohl Estens Gesicht von düsterer Schönheit, ihr Körper schlank und ihr Lächeln leuchtend waren, lag in ihrem Äußeren und in der Art, wie sie sich bewegte, eine solch unausgesprochene Drohung, dass der damals neunjährige Slith in ihrer Gegenwart unbändig gezittert hatte. Esten hatte ihn von oben bis unten wie ein Schwein begutachtet, das sie zu kaufen beabsichtigte, dann genickt und ihn mit einer Handbewegung entlassen. Er war übergeben worden, der Vertrag unterzeichnet, und sein Leben gehörte seither nicht länger ihm selbst, falls das überhaupt je der Fall gewesen war. Von diesem Augenblick an hatte die Angst, die in jener Nacht in ihm geboren worden war, niemals wirklich abgenommen. Aber sie konnte noch wachsen. In der Nacht des Unglücks hatte er Esten zum zweiten Mal gesehen. Das kühle, distanzierte Verhalten, das er am Tag seiner Übergabe bei ihr festgestellt hatte, war verschwunden und durch eine Wut ersetzt, die so groß war, dass sie den Donner aus dem Himmel herabzuzwingen schien. Slith versuchte das Bild von Esten zu vergessen, wie sie entschlossen um die Berge aus abkühlendem Lehm herumging, plötzlich in abgehackte, schnelle Bewegungen ausbrach, die ausglühenden Kohlen beiseite trat, die offenen Türen der kalten Brennöfen zuwarf und Regale mit Töpfen und gebrannten Ziegeln in schwarzer Wut umstieß. Die verbliebenen Gesellen zuckten unter ihren Kobrahaften Zornesausbrüchen zusammen und wurden noch unruhiger, als sich diese Wut zu einer wallenden, nachdenklichen Anspannung abkühlte. Nachdem sich Esten totenstill das Unglück länger als eine Stunde angeschaut hatte, drehte sie sich um und bedachte die versammelten Männer und Jungen mit einem gefrierenden Blick. »Das war kein Unfall«, sagte sie leise und mit einer Besonnenheit, die Slith eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Die Gesichter der Gesellen, die nur von den ersterbenden Kohlen der Brennfeuer erhellt wurden, erblassten bei diesen Worten. Es war unnötig für sie, dem noch etwas hinzuzufügen. Doch auch drei Jahre später hatte man, soweit Slith wusste, noch immer keine Hinweise oder Antworten auf das Rätsel jener Nacht gefunden. Nun war das Leben in der Ziegelei noch eingeschränkter als zuvor. Vor dem Zwischenfall war jedermann wegen der höchst heiklen Natur der Arbeiten in den Tunneln unter der Ziegelei wachsam gewesen. Nun kam der Druck der unbeantworteten Frage hinzu, wer lebensmüde genug sein mochte, Estens geheimes Graben zu verhindern, und kühn genug, etwas für sie so Wichtiges zu zerstören. Es war gleichgültig, ob die Antwort auf einen klugen und mächtigen Gegner oder nur einen besonders glückhaften Narren hindeuten würde. Denn wie die Flüsse unweigerlich ins Meer münden, so fanden alle Geheimnisse früher oder später den Weg zu Estens Ohr. Und Slith hatte gerade eines entdeckt. Der Kessel — Ylorc Das Feuer in dem gewaltigen Herd im Ratszimmer hinter dem Thronraum knisterte und loderte in glühender Wut; es passte hervorragend zu der Stimmung des Firbolg-Königs. Achmed die Schlange, das Glimmende Auge, der Erdenvertilger, der Gnadenlose und Träger einer Menge weiterer Furcht einflößender Beinamen, die ihm von seinen Bolg-Untertanen sowohl als Ehrbezeugung als auch aus Angst verliehen worden waren, beugte sich auf seinem schweren Holzstuhl vor und warf eine Hand voll Glasscherben in den Rachen des Feuers, wobei er leise bolgische Flüche murmelte. Die langen Finger seiner dünnen Hände schlössen sich wie Schraubstöcke umeinander und kamen schließlich vor der unteren Hälfte seines Gesichts zur Ruhe, das wie immer von schwarzem Tuch verhüllt wurde, während seine unterschiedlichen Augen – eines hell, das andere dunkel – in wilder Stille das Feuer beobachteten. Omet fuhr sich geistesabwesend mit der Hand über den Bart und lehnte sich gegen die Mauer, aber er sagte nichts. Er war bekannt für seine genauen Beobachtungen und hatte schon zu Beginn seines Lebens in Ylorc vor drei Jahren gelernt, dass der König reden würde, wenn er seine unzähligen Gedanken, Bilder, Pläne, Gegenentwürfe und Eindrücke gesammelt hatte, mit denen sein schwingungsempfindlicher Körper andauernd bombardiert wurde. Eine Störung dieses Ausrichtungsprozesses wurde im Allgemeinen nicht geschätzt. Im Gegensatz zu seinen Kunsthandwerkerkollegen, von denen viele Bolg waren, schätzte Omet das Schweigen. Nachdem er die anderen lange beobachtet hatte, wie sie unbehaglich von einem Fuß auf den anderen traten oder in der Gegenwart des Bolg-Königs nervös schwitzten, reckte und streckte er sich, beugte sich vor und hob den letzten Splitter vom Boden auf, ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchgleiten und hielt ihn dann vor den Feuerschein. Der König hat Recht, dachte er. Zu dick. Als der König schließlich die gefalteten Hände senkte, die gegen die Oberlippe gelegt gewesen waren, stand Omet auf. Er war inzwischen recht gut darin, die feinen Zeichen zu erkennen, welche eine Veränderung in der Stimmung des Bolg-Königs andeuteten, und er versuchte sie diskret seinen Gefährten deutlich zu machen. Nun räusperte er sich leise. »Zu viel Feldspat«, sagte Omet. Der Bolg-König blinzelte, sagte aber nichts. Shaene, ein großer, stämmiger Keramiker aus Canderre, beugte sich vor und zupfte mürrisch an seiner ledernen Schürze. »Goldschmalte?«, fragte er besorgt. Der Bolg-König bewegte den Kopf nicht, doch die verschiedenfarbigen Augen richteten sich auf Omet. Omet schüttelte den Kopf. Shaene schnaubte ungeduldig. »Dann das Glas. Was sagst du dazu, Sandy?« Omet seufzte laut. »Nicht stark genug.« »Pah!«, brummte Shaene und warf seinen verätzten Lederhandschuh auf den großen Tisch. Die Muskeln in König Achmeds Rücken versteiften sich. Plötzlich wurde es still im Raum. Rhur, ein Firbolg-Steinmetz und der einzige andere Mann neben Omet, dessen Stirn noch trocken war, erwiderte seinen Blick. »Was dann?«, fragte er. Seine Stimme wurde von dem heiseren Pfeifen verzerrt, welches für die Sprache seines Volkes charakteristisch war. Omets dunkler Blick glitt von Shaene zu Rhur und dann zurück zum König der Firbolg. »Wir können nicht länger so herumexperimentieren«, sagte er nur. »Wir brauchen einen Bleiglas-Experten. Einen ausgewiesenen Meister.« König Achmed drehte den Keramikern den Rücken so lange zu, dass Omet zehn eigene Herzschläge zählen konnte. Dann stand er ohne ein weiteres Wort von seinem Stuhl auf, wobei er nicht einmal die Andeutung eines Geräuschs oder eines Luftzugs verursachte. Als Omet annahm, dass der Firbolg-König außer Hörweite war, wandte er sich an Shaene. »Meister Shaene, meine Familie stammt ursprünglich aus Canderre. Vielleicht waren unsere Mütter in ihrer Kindheit Freundinnen«, sagte er gelassen und in einem Tonfall, den ein Knabe von noch nicht ganz achtzehn Jahren einem älteren Mann gegenüber anschlagen konnte, ohne einen Streit heraufzubeschwören. »Zu Ehren dieser möglichen Freundschaft könntest du dich vielleicht zurückhalten, auf den Feuerstein der königlichen Geduld mit dem Stahl deiner Verwegenheit einzudreschen, während ich unmittelbar neben ihm stehe.« Als Achmed die dunklen, in den Berg geschlagenen Hallen durchquerte, die bald von Fackelschein erhellt sein würden, verspürte er ein plötzliches Bedürfnis nach Luft. Er folgte dem Hauptweg durch den Kessel, seinem Herrschaftssitz innerhalb des Berges, vorbei an Gruppen von Bolg-Soldaten und Arbeitern, die ehrerbietig nickten, als er vorüberging. Er machte eine kurze Pause und betrat einen der Ausgucke, die einen guten Blick über die tiefer liegende Hauptstadt Canrif boten, welche sich nun im vierten Jahr ihrer Restaurierung befand. Ein warmer Aufwind trug eine Kakophonie von Lärm und Schwingungen herbei, welche die Arbeiten dort unten verursachten. Sie schlugen ihm gegen Arme und Stirn und wischten ihm über die Augen – die einzigen Stellen seines Körpers, die nicht von seinem Schleier verhüllt waren. Sein Hautgewebe, das Netz hoch empfindlicher Venen und frei liegender Nervenenden, die er dem dhrakischen Blut seiner Mutter zu verdanken hatte, spürte die Störungen trotzdem, wenn auch wegen der Verhüllung nur gedämpft. Es war ein unangenehmes Kribbeln, ein andauernder Strom von Reizen, mit dem der König der Bolg schon vor langer Zeit zu leben gelernt hatte. Als er vor vier Jahren zum ersten Mal diesen Ort betreten hatte, war die gewaltige Höhle unter seinen Füßen und über seinem Kopf das Grabmal einer toten Stadt gewesen, die still in der abgestandenen, im Berg gefangenen Luft verweste. Durch die eingestürzten Hallen und verwüsteten Straßen streiften Firbolg-Banden umher, halb menschliche Wesen, die Canrif am Ende des cymrischen Krieges überrannt hatten und nun ohne das Bewusstsein des einstigen Ruhms die zerbröckelnden Tunnel besetzten. Tausend Jahre zuvor war diese Stadt ein Meisterwerk der Architektur und Triumph der Genialität gewesen, eingegraben in den Bauch der Zahnfelsen nach den Plänen und Visionen Gwylliams des Visionärs, des einzigen anderen Mannes, der innerhalb dieses abstoßenden, zerklüfteten Bergmassivs je den Titel eines Königs für sich beansprucht hatte. Die Stadt war auf gutem Wege, wieder ein Meisterwerk zu werden. Vier Jahre ungeteilter Aufmerksamkeit von tausenden Firbolg-Arbeitern und die teure und eingeschränkte Leitung durch Kunsthandwerksmeister von außerhalb Ylorcs, wie die Bolg dieses Land nannten, hatten beinahe die Hälfte der Stadt restauriert und sie wieder zu dem Beispiel von Kunst und Zweckmäßigkeit gemacht, das sie einst gewesen war. Die alte Kultur, die diesen Ort errichtet und ihm den Namen Canrif gegeben hatte, hätte möglicherweise den Vorrang nicht begriffen, den der Bolg-König manchen Projekten einräumte. Auch wenn Gwylliam vielleicht Achmeds Nachdruck auf die Wiederherstellung der Verteidigungsanlagen und der Versorgungseinrichtungen geteilt hätte, wäre ihm sicherlich die Neigung des Königs, Stoßzähne und andere Firbolg-Symbole den alten cymrischen Statuen hinzuzufügen, mehr als nur ein wenig verwirrend erschienen. Der Aufruhr unter ihm wurde etwas gedämpft. Achmed schaute nach unten und sah, dass ein Teil der Stadt unmittelbar unter seinem Aussichtspunkt inmitten aller Verrichtungen plötzlich reglos dalag. Die Arbeiter, welche die Steinladungen herbeischleppten, die Dächer deckten, die Ziegel mauerten und tausend andere Aufgaben bei der Neuerrichtung von Canrif erfüllten, standen totenstill da und starrten zu Achmed hinauf. Die Lähmung breitete sich in Wellen aus, als immer mehr Bolg ihn auf dem Aussichtspunkt stehen sahen und in ihren Bewegungen erstarrten. Rasch zog er sich von dem Aussichtspunkt zurück und eilte den Korridor entlang. Einen Augenblick später spürte er, wie die Bewegungen wieder einsetzten und lange, wellenartige Schwingungen ausstrahlten. Ein reinerer Wind drang ihm in die Nase, als er sich der Tunnelöffnung näherte. Er trat hinaus auf einen Felsvorsprung. Die kühle Luft der weiten Welt umwirbelte ihn, zerrte an den Rändern seiner Schleier und Roben und brachte undeutliche Schwingungsmuster mit: den Geruch von brennenden Lagerfeuern und den Lärm ferner Truppenbewegungen in der Schlucht vor ihm. Achmed ging bis zum Ende des Vorsprungs und schaute hinunter. Tausend Fuß unter ihm im ausgetrockneten Flussbett der Schlucht wechselte die Wache; die Truppen wurden bei anbrechender Dunkelheit verdoppelt. Fackelfeuer flackerten in dünnen Lichtfäden und zuckten über den Boden der Schlucht wie feurige Schlangen, als die Soldaten ihre abendlichen Übungen vollführten. Achmed hörte Sprachfetzen, wenn der Wind drehte. Zufrieden richtete er den Blick in den Himmel. Das Firmament, das die Himmel an Ort und Stelle hielt, wies schwarze Flecken auf, und blaue Wolken verwischten das Panorama der Sterne, die im Nachtwind blinkten. Er schaute hinter den dunkler werdenden Rand, wo sich die Schlucht nach Südost wandte, dann nahm er den Schleier ab und schloss die Augen. Der Wind fuhr ihm ungehindert über Gesicht und Hals und spielte über die Bahnen seines Hautgewebes. Er öffnete den Mund; sogleich füllte der Wind ihn. Er suchte nach einem Herzschlag, einem fernen Rhythmus im Wind. Es war die Gabe seines Blutes, den eigenen Herzschlag mit jenen alten Herzen in Einklang zu bringen, die im selben Land geboren worden waren wie er, auf der untergegangenen Insel Serendair, die seit tausend Jahren still unter den Wellen des Meeres lag. Diese Gabe teilte er nur noch mit wenigen tausend anderen lebenden Seelen, alle uralt und gefangen in dem Alter, in welchem sie die Insel verlassen hatten – für immer gefroren in der Zeit. Rasch fand er den Herzschlag, den er gesucht hatte. Er spürte, wie sich sein Puls verlangsamte und in den gewaltigen Schlägen seines ältesten Freundes aufging. Achmed seufzte. Dieses nächtliche Ritual brachte ihm so etwas wie Erleichterung. Grunthor lebt, dachte er zufrieden wie immer. Gut. Er drehte sich um und suchte im Wind einen anderen Rhythmus, einen leichteren, schnelleren, der schwieriger zu finden, aber ebenfalls sehr vertraut war. Er kannte ihn so gut wie seinen eigenen; er war an seinen Eigner gefesselt, war durch die Vergangenheit an ihn gekettet, durch Freundschaft, durch Eid, durch die Prophezeiung. Und durch die Zeit. Er nahm ihn genauso schnell auf, weit entfernt, hinter den Zahnfelsen und den scheinbar endlosen Krevensfeldern, hinter den sanften Hügeln Rolands, beinahe am Meer. Dort flackerte der Herzschlag in der Ferne wie ein tröstendes Lied, wie das Ticken einer Uhr, wie Wellen auf einem Fluss. Achmed seufzte erneut. Gute Nacht, Rhapsody, dachte er. Er spürte Omets Gegenwart, noch bevor dieser höflich hüstelte, und wartete, bis der Kunsthandwerker an seine Seite getreten war, während er weiter in die Schlucht hinunterschaute. Omet sah ebenfalls in die Tiefe. »Eine ruhige Nacht«, bemerkte er. Achmed nickte. »Sind die letzten Lieferungen schon eingetroffen?« »Ja.« Omet händigte dem König eine Lederbörse aus und schüttelte dann den Kopf, als sich der Wind in seinen Haaren fing und sie ihm vor die Augen wehte. Sie waren endlich wieder lang geworden, nachdem er sie hatte scheren müssen, als er zum Lehrling in der Ziegelbrennerei von Yarim und zum Eigentum ihrer dunklen Herrin geworden war. Bei dem Gedanken an sie erzitterte er unwillkürlich. Er stand still neben dem Bolg-König, während dieser die Botschaften aus der Voliere durchging. Achmeds System von Botenvögeln war so verlässlich wie der Aufgang und Untergang der Sonne. »Noch nichts aus Canderre«, sagte der König und blätterte ein kleines Pergamentblatt nach dem anderen um. Omet nickte. »Francis Pratt, ihr Botschafter, ist bei schlechter Gesundheit, wie ich gehört habe.« »Von Shaene?« Omet kicherte. »Ja.« »Dann ist Pratt vermutlich im Bordell und schläft mit halb Canderre. Shaene liegt mit seinen Vermutungen immer mehr daneben als jede andere Lebensform, die mir je begegnet ist.« Er trat einen Kiesel in die Schlucht und wusste, dass er den Aufprall nie hören würde. »Vielleicht hatte Pratt Schwierigkeiten, einen Kunsthandwerker in den westlichen Provinzen zu finden.« »Möglicherweise.« Das Wort kam leicht heraus, doch der Nachtwind ergriff es, hielt sich daran fest, machte es schwer und ließ es in der Luft über dem Sims hängen. Der Bolg-König drehte das letzte verliebende Pergament in seinen Fingern. »Wenn Pratt für uns keinen in Canderre findet, dem man vertrauen kann, gibt es vielleicht einen in Sorbold. Oder wir schicken jemanden übers Meer, damit er uns einen aus Manosse holt.« Omet stieß den Atem so leicht aus, wie es ihm möglich war. »Wir könnten unser Glück in Yarim versuchen. Die Besten sitzen dort.« Schließlich drehte sich der Bolg-König um, richtete den Blick seiner ungleichen Augen auf Omet und lächelte schwach. »Es ist bemerkenswert, dass du Yarim erwähnst«, sagte er, »weil ich hier eine Nachricht von Rhapsody habe. Sie will sich mit Grunthor, dir und mir dort in zwei Wochen treffen, von heute an gerechnet.« Er kicherte, als er das Entsetzen auf dem Gesicht des jungen Mannes sah. »Ich würde gern hier bleiben und die Arbeiten beaufsichtigen, während Ihr und der Sergeant fort seid«, sagte er hastig, als er die Sprache wiedergefunden hatte. »Ich dachte mir, dass du das sagen würdest«, meinte Achmed. »Wenn es dir lieber ist, kannst du mit Rhur und den Kunsthandwerkern der Bolg hier bleiben, und mit diesem Schwachkopf Shaene, der dich Sandy nennt.« Omet seufzte. »Ich glaube, das kann ich ertragen. Besser als die andere Möglichkeit.« Achmed nickte. »Wenn du meinst... Ich selbst würde jede Gelegenheit ergreifen, Shaenes Gesellschaft zu fliehen.« Er zog den Schleier über die untere Hälfte seines Gesichts, warf noch einen Blick auf die Bergwände, die Schlucht und die verdorrte Heide dahinter, wandte sich dann ab und ging zurück in die Tiefen des Kessels. Auf dem Weg zu seinem Schlafgemach hielt er in der Schmiede an, wo Gwylliams alte Essen, die nun eine neue Ausstattung erhalten hatten, die Nacht durchglühten und Stahl für Waffen, Werkzeuge, Rüstungen und Bauteile ausstießen. Dreitausend Bolg plagten sich in jeder Schicht bei blendendem Licht und Hitze ab und erhöhten die Stärke des Berges mit jedem Zug des Blasebalgs und jedem Hammerschlag. Der bolgische Schmiedemeister nickte Achmed zu, wie er es jede Nacht zu dieser Zeit tat, wenn Grunthor abwesend war. Der Firbolg-König erfüllte die Aufgaben des Sergeant-Majors schnell. Er vergewisserte sich, dass der Stapel mit dem Ausschuss nicht geräubert wurde, die Schmiede nicht übertrieben große Mengen von Eisenerz in die Mischung gaben, wie es vor einiger Zeit geschehen war, und das Gleichgewicht der Svarda, der kreisrunden, dreiklingigen Wurfmesser, welche die Bolg nach Roland ausführten, peinlich genau überprüft wurde. Als er sich schließlich davon überzeugt hatte, dass in der Schmiede alles reibungslos lief, wünschte er dem Schmiedemeister eine gute Nacht und machte sich auf den Weg zu seinen Gemächern, wobei er noch einmal anhielt, um den frisch gepressten Nachschub an Scheiben für seine Cwellan zu betasten. Sie war seine wichtigste Waffe. Er hatte sie selbst entworfen; sie ähnelte einer asymmetrischen Armbrust und war gebogen, um größere Spannung auf die Feder zu legen. Aber statt Schussbolzen benutzte er dünne, rasiermesserscharfe Metallscheiben als Munition. Es waren immer drei gleichzeitig, versetzt angeordnet, sodass jede Scheibe die vorangegangene tiefer in die Wunde trieb, welche die erste geschlagen hatte. Er hielt eine davon kurz gegen das flackernde Licht der Schmiedeöfen unter ihm, die Stahl verflüssigten, damit man ihn zu einer unendlichen Anzahl von Dingen formen konnte. Die Feuerschatten tanzten über die Cwellan-Scheibe und schickten Wellen aus Licht über die blauschwarze Stahloberfläche. Mit einem Mal wurde der König der Firbolg müde und begab sich zu Bett. Dritter Faden Jierna-Tal — Ort der Waage — Sorbold Sorbold war ein Reich des endlosen, unbarmherzigen Sonnenscheins. Bergig und ausgedörrt erstreckte es sich wie die Finger einer zupackenden Hand südwärts vom Rand der Manteiden, jener Gebirgskette, die allgemein als die Zahnfelsen bekannt war – arthritische Reihen von stacheligen Bergen, die bis in die öde Wüste und die felsigen Steppen des Niederen Kontinents und weiter zur geisterhaften Meeresküste reichten, wo die Skelette der Schiffe vergangener Zeitalter noch im schwarzen Sand lagen, gehüllt in den Nebel der warmen See. Im Winter fegten eisige Winde über das Land, verstreuten Schneekristalle, heulten über die kahlen Dünen hinweg und gestalteten die unwirtliche Landschaft um, so wie ein Kind, das im Sand spielt. Nachts trugen die Winde Fontänen aus goldenem Sand hoch in die Luft, wo sie für Augenblicke zwischen den Sternen trieben und die stillen Streifen gleißenden Lichts dort oben spiegelten – jene Sternschnuppen, die in die Randgebiete endloser Schwärze fielen, welche die gewaltige, widerhallende Wüste umgab. Trotz der harten Wirklichkeit und dem gelegentlichen Gefühl, dass der Schöpfer diesen Ort und seine Bewohner verlassen habe, war Sorbold ein Reich von tiefer Magie. Das raue Klima brachte bei den Menschen kaum gastfreundliche Naturen hervor. Die Sorbolder waren vielmehr für die Flüchtigkeit ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Launen und Bündnisse bekannt. Das Einzige, was in der Landespersönlichkeit von Dauer zu sein schien, war die Erinnerung. Und so legte Sorbold großen Wert auf seine Geschichte. Jede verlorene Schlacht, jeder Verrat, jede erlittene Ungerechtigkeit wurden still, aber hartnäckig immer wieder in Erinnerung gerufen, während die Jahre zu Jahrhunderten und schließlich zu Jahrtausenden wurden. Zeitalter und Dynastien kamen und gingen mit dem Treibsand der Wüste, doch die Erinnerungen brüteten geschützt in den tiefen Grüften der Zeit. Ein Dreiviertel Jahrhundert lang hatte Sorbold unter der Herrschaft Ihrer Durchlaucht, der Kaiserinwitwe Leitha gestanden, einer humorlosen Frau, deren Kälte sich in deutlichem Gegensatz zum Klima des Landes befand, das sie im eisenharten Griff ihrer zierlichen Hände hielt. Die Kaiserin war klein von Wuchs, aber willensstark. Bei ihrer Krönung war sie rund wie eine Kugel gewesen; während die Jahre ihrer Herrschaft vergingen, trocknete sie wie ein verschrumpelnder Apfel langsam aus. Es war, als sauge die Hitze Sorbolds ihr Wasser, Fett und Muskelgewebe allmählich aus dem Körper. Im hohen Alter war sie verwelkt, hart und ledrig. Durch diesen Prozess hatte sie an Stärke gewonnen, wie in Feuer gehärteter Stahl oder in Rauch haltbar gemachtes Leder. Alle benachbarten Nationen des Kontinents hatten insgeheim ihrem Vater, dem Vierten Kaiser der Dunklen Erde, misstraut, doch seine Tochter fürchteten sie offen, denn sie schien entschlossen, ewig zu leben, und tat alles, um dieses Ziel zu erreichen. Die tapfersten ihrer Untertanen und Feinde nannten die Kaiserin (natürlich nur, wenn sie es nicht hörte) die Graue Mörderin. Dieser Name rührte von einer Spinne her, die man für gewöhnlich an dunklen, kühlen Verstecken in den Bergen fand. Wie von der Spinne, so hieß es auch von der Kaiserin, sie habe sich nur ein einziges Mal gepaart. Ihr Gemahl, ein käsegesichtiger Adliger aus dem Hintervold, wurde am Morgen nach der Hochzeit mit steifem Körper und völlig bekleidet auf den säuberlich gefalteten Laken im kaiserlichen Schlafgemach gefunden. Der Todeskrampf hatte seinem Antlitz auf ewig eine scheußliche Grimasse eingedrückt, während die Kaiserin ihren Morgenritt unternahm. Aus der flüchtigen Vereinigung ging der einzige Spross der Kaiserin hervor, der Kronprinz Vyshla. Der Kronprinz geriet nach seinem Vater: seine Haut war fahl und bleich, obwohl das Klima bei allen anderen für eine dunkle Farbe sorgte. Seine Hände und der Körper seien weich wie bei einer Frau, hatten einige Soldaten aus der Garnison einmal gescherzt. Sie hatten rasch erfahren müssen, dass sowohl der Wüstensand als auch die Berge Ohren hatten. Ihre augenlosen Überreste hatten vertrocknet und mumifiziert durch die rauen Winde und die wasserlose Luft länger als ein Jahr an der Brustwehr des Palasts gebaumelt, bevor der Prinz schließlich davon überzeugt werden konnte, sie entfernen zu lassen, damit sie nicht mit den Straßendekorationen für die Frühlingszeremonien in Widerstreit gerieten. Jedoch war nicht der Prinz, sondern seine Mutter für diese grausigen Ornamente verantwortlich gewesen. Der Kronprinz war sein ganzes Leben lang unverheiratet geblieben. Zuerst war außerhalb seines Reiches das Gerücht umgegangen, seine Anforderungen seien zu hoch für jede sterbliche Frau. Als die Jahre vergingen, wurden andere Gründe genannt, sobald dieses Thema bei kreisenden Bierkrügen am Herdfeuer einer Taverne oder in einer Nährunde aufkam. Vielleicht war es die unangenehme Persönlichkeit des Prinzen, die es verhinderte, dass er eine Braut für sich gewinnen konnte. Angeblich war er affektiert und reizbar, leicht verletzlich und neigte zu wirkungslosen Wutausbrüchen. Dass er auch auf anderen Bereichen wirkungslos war, wurde weithin vermutet. Doch obwohl Vyshla fraglos unangenehm und kindisch war, so war er doch nicht der erste Herrscher einer mächtigen Nation, der keine liebenswerte Persönlichkeit besaß. Noch nie war das Fehlen von Charisma ein Hinderungsgrund für eine königliche Hochzeit gewesen – im Gegenteil, es galt als mehr oder weniger bewiesen, dass die größte Anziehungskraft eines Regenten in dem Zepter bestand, das er nach göttlichem Recht in der Hand hielt, und nicht in jenem, welches sich mehr in der Körpermitte befand. Während die Zeit fortschritt, änderten sich die Gerüchte. Kronprinz Vyshlas fehlende Verlobung, Ehe und Nachkommen waren, wie man nun glaubte, das Werk der Kaiserinwitwe. Diese eifersüchtige und habgierige Frau, die Sorbold seit mehr als fünfundsiebzig Jahren regierte, hatte die Überfälle ihrer Nachbarn abgewehrt, Heere in Schach gehalten und ein trockenes, rohstoffloses Land durch die bloße Kraft ihres Willens und ihrer Visionen zu gewaltigem Einfluss und großer Macht geführt. Die Geschichten besagten, dass sie ganz einfach nicht einsah, warum ein Thronerbe nötig sein sollte, da sie nicht vorhatte, den Thron zu räumen. In einer der übertriebeneren Geschichten wurde behauptet, dass sie die unglücklichen Soldaten, denen die Witze auf Kosten ihres Sohnes zum Verhängnis geworden waren, luftgetrocknet hatte, um herauszufinden, wie sie selbst nach ihrem Tod am besten konserviert werden konnte, um auch im Fall ihres Ablebens ohne Unterbrechung weiterzuregieren. Trotz aller eisenharten Habgier der selbstsüchtigen Kaiserinwitwe und dem affektierten, verdorbenen Gehabe des verwöhnten Prinzen gab es jedoch in der jüngsten Geschichte einen Moment, in dem sich erwiesen hatte, dass die Kaiserin der Dunklen Erde und ihr Sohn nüchterne Monarchen waren, die eine vernünftige zwischenstaatliche Politik zum Besten Sorbolds zu machen verstanden. Sie hatten nämlich mehr oder weniger bereitwillig einen Nichtangriffspakt und ein Handelsabkommen mit dem neuen cymrischen Bündnis geschlossen. Anfangs hatten sich die ältliche Kaiserin und ihr Sohn gesorgt, als der Seligpreiser von Sorbold, der erste Geistliche ihres Landes und persönliche Beichtvater der Herrscherin, aus Sepulvarta, dem unabhängigen Stadtstaat und religiösen Zentrum der Gegend, mit Neuigkeiten über das Bündnis zwischen der zentralen Nation Roland im Norden, dem Waldgebiet der Lirin im Westen und Ylorc, dem wilden Königreich der Firbolg-Ungeheuer hinter der Bergkette im Osten zurückkehrte. Die neue Königin der Lirin, eine halb menschliche Frau namens Rhapsody, um deren Hand Vyshla halbherzig angehalten hatte, und Gwydion von Manosse, der mutmaßliche Erbe der cymrischen Linie, die vor tausend Jahren eine gewisse Zeit lang über Roland, Ylorc und Sorbold geherrscht hatte, waren von einem Konzil überlebender Cymrer und ihrer Abkömmlinge dazu auserwählt worden, über ein lockeres Bündnis auf dem inneren Kontinent zu herrschen, wobei jedes Königreich seine Souveränität behielt. Die Kaiserin erkannte, wie wichtig es war, von Anfang an als freundliche, unabhängige Nation zu gelten, anstatt das Bündnis aus Menschen, Lirin und Bolg auf die Probe zu stellen, um die Möglichkeit einer späteren Eroberung auszuloten. Die Kaiserinwitwe hatte die bemerkenswerte Gabe, vorausschauend zu handeln. Ihr visionärer Blick reichte in die Zukunft, in der eine Zusammenarbeit von Anfang an in späteren Jahren Schutz bot. Wie die meisten Visionäre konnte sie jedoch den Schatten nicht erkennen, der sich hinter ihr auftürmte. Der zu drei Vierteln volle Mond ging schwer über den Straßen von Jierna’sid auf, der Hauptstadt von Sorbold, und beleuchtete spärlich den Sand, der die Ziergärten und gut gepflegten Wege bedeckte und eine ständige Mahnung an die endlose Wüste darstellte, welche die Stadt an zwei Seiten umgab. Der Wind schien den Mond auszulachen; er blies neckisch Staubwolken vor die blasse Himmelslaterne und heulte launisch über der schlafenden Stadt. Versuch mich zu zähmen, spottete er. Du traust dich ja doch nicht. Zur Antwort tauchte der Mond das wichtigste Artefakt der Stadt in ein besonders gleißendes Licht. Hoch erhoben über dem Palast von Jierna Tal, dem Ort des Gewichtes, stand die heiligste Reliquie des Landes. Es war eine gigantische Waage; die hölzerne Säule und der Arm waren von Kunsthandwerkern des alten cymrischen Reiches vor tausend oder mehr Jahren glatt geschmirgelt worden. Die Metallschalen waren sogar noch älter. Sie waren aus glänzendem Gold und über das Meer mit Schiffen gekommen, welche vor der Vernichtung jenes Landes geflohen waren, in dem man die Waagschalen geschmiedet hatte. Nun waren sie vom unbarmherzigen Sand und Wind blank gescheuert. Zum letzten Mal waren diese gewaltigen Schalen vor drei Jahren bei einer Entscheidung von größter Wichtigkeit verwendet worden, als der Patriarch von Sepulvarta gestorben war. Er hatte in seinen letzten Augenblicken bestimmt, dass die Waage seinen Nachfolger ermitteln solle, anstatt ihn selbst zu benennen. Die Seligsprecher, die an Macht und Einfluss unmittelbar nach dem Patriarchen kamen, hatten sich zur Wiegezeremonie in Jierna Tal versammelt. Es war ein hoch geachteter Ritus, bei dem die alten Waagschalen über die Würdigkeit eines Kandidaten urteilten. Früher hatte die Waage Entscheidungen über die Besetzung vieler verschiedener Ämter und über Schuld oder Unschuld angeklagter Verbrecher getroffen und auch verraten, ob ein Vertrag in seinen Bedingungen ausgewogen und gerecht war. Doch in jüngerer Zeit wurde ihr Ratspruch nur in Angelegenheiten des Staates oder solchen von großer Bedeutung eingeholt. Die Auswahl und Einsetzung eines neuen Patriarchen war ein würdiger Grund für die Befragung der Waage gewesen. Der Ring der Weisheit war in einer feierlichen Zeremonie auf die Schale gelegt worden, die mit Leuk verbunden war, dem Westwind und Wind der Gerechtigkeit, damit er als Gewicht diene. Wann immer ein Anwärter auf die östliche Waagschale getreten war, hatte diese wie verrückt gezittert, war dann hochgeschnellt und hatte einen nach dem anderen als unwürdig bezeichnet. Unter dem Freudengebrüll der gewaltigen Menge, die sich bei dem Auswahlverfahren versammelt hatte, waren die Kandidaten recht unsanft an der Basis des Gerüsts auf dem Hinterteil gelandet. Ian Steward, der jüngste der vier Seligpreiser, hatte sich tapfer bereit erklärt, als Erster von ihnen die Probe zu wagen. Er war mit einem lauten Klatschen in einer solch unschmeichelhaften Weise auf dem Boden gelandet, dass Colin Abernathy, der älteste Seligpreiser, sich entschieden hatte, auf das Verfahren zu verzichten und die Hoffnung auf das Patriarchat ganz aufzugeben. Als schließlich auch die übrigen Seligpreiser von der Waage als des Rings und des Patriarchats unwürdig erachtet worden waren, war ein weiterer Mann vorgetreten, trotz seines fortgeschrittenen Alters groß und breitschultrig und mit gekräuselten grauen Strähnen in dem blonden Bart und Haar. Er war auf die Waagschale getreten, als hätte er dies schon öfter getan. Es hatte ausgesehen, als lausche er einer Stimme in den Wolken, sobald der große Arm und die Kette der Waage ihn hoch über die Köpfe der verstummten Menge gehoben und sich die Schalen dann ausbalanciert hatten. Als sich die erstaunte Menge von dem Schock erholt und ihre Zustimmung herausgebrüllt hatte, da hatte der Mann nur ein einziges Wort gesagt: seinen Namen. Constantin. Der Lärm aus der Menge war für einen Augenblick abgeebbt. Dieser Name war bekannt in Sorbold; der Mann teilte ihn mit einem berühmten Gladiator in dem westlich gelegenen Stadtstaat Jakar, einem kalten und blutrünstigen Arena-Mörder, der vor einigen Monaten aus dem Gladiatorenkomplex verschwunden war. Der Umstand, dass dieser ältere heilige Mann, der bald gesalbt und mit der Macht des größten Heilers im Land versehen werden würde, seinen Namen mit dem Gladiator teilte, hatte auf dem Marktplatz für wogendes Gelächter gesorgt, worauf sogar die Glocken von Jierna Tal erklungen waren. Später an diesem Tag, lange nachdem die Entscheidung der Waage offiziell in den heiligen Büchern von Sepulvarta verzeichnet worden war und viele Stunden nachdem sich die Menge zerstreut hatte, konnte man den neuen Patriarchen noch immer am Fuß der Waage stehen und das heilige Instrument mit einem Ausdruck ehrerbietiger Verwunderung anstarren sehen, die in die Linien seines Gesichtes eingemeißelt zu sein schien. Im Licht des zunehmenden Mondes stand nun ein anderer Mann bei der Waage und trug einen ähnlichen Ausdruck der Scheu auf dem Gesicht, die seine groben Züge zu einem Bild der Ehrfurcht machte. Er hatte die dunklen Hände an die Seiten gelegt und betastete in dem silbernen Licht etwas Glattes, während er beobachtete, wie das großartige Instrument der Gerechtigkeit in dem Ungewissen Mondschein glitzerte. Die letzte Wache der Nacht wechselte, während er in den Schatten des Palastes von Jierna Tal stand. Die Soldaten der zweiten Steppenkolonne, die unter ihren gegerbten Lederhelmen, der Stahlrüstung und den Leinenkleidern schwitzten, gingen wenige Schritte von ihm entfernt vorüber, als wäre er gar nicht da. Dann war es still auf der Straße; die Lichter im Palast wurden schwächer und machten schließlich der Schwärze Platz. Er seufzte, sog die heiße, trockene Sommerluft voller dunkler Ahnungen tief ein und füllte sich die Lunge. Dann stieg er langsam die Stufen zu den titanischen Waagschalen hoch. Das schwankende Mondlicht spiegelte sich in den goldenen Schalen wider, die groß genug waren, um jeweils einen Karren mit zwei Ochsen zu tragen. Er betrachtete nachdenklich die Mitte der Pfanne und die feinen Linien, die in das Metall getrieben waren. Die Oberfläche war von Zeit und Wetter gezeichnet und leuchtete aus sich selbst heraus. Dies war die Geburtsstätte vieler neuer Anfänge gewesen. Er öffnete die linke Hand. In ihr befand sich ein Gewicht, das wie ein Thron geformt war. Das Schnitzwerk an dem Gewicht war bewunderungswürdig. Der kleine Thron war Linie für Linie, Winkel für Winkel, Verzierung für Verzierung dem Thron von Sorbold nachgebildet – bis hin zum Bild des Schwertes und der Sonne, welche den alten Sitz der Macht schmückten, den nun die Kaiserinwitwe innehatte. Doch noch bemerkenswerter war das Gestein, aus dem das Gewicht bestand. Es fühlte sich selbst in der Hitze dieser Wüstennacht kühl an und war von Grün und Purpur, von Braun und Karmesinrot durchzogen. Es summte vor Leben. Vorsichtig setzte der Mann das Throngewicht in die westliche Waagschale. Dann ging er mit abgemessenen Schritten um das massige Gerät herum und stellte sich vor die östliche Waagschale. Er öffnete die rechte Hand. Das flüchtige Mondlicht war nun verschwunden. Zunächst hüllte Finsternis den Gegenstand in seiner Hand ein. Nach einem Augenblick leuchtete er auf dem unregelmäßigen Oval in violetter Farbe, als treibe ihn Neugier um, doch als sein Licht die Oberfläche berührte, schien sie wie vom Schein tausend winziger Kerzen aufzuleuchten. In die vom Alter geglättete Oberfläche war eine Rune aus der Sprache einer Insel eingeritzt, die schon lange unter den Wogen des Meeres lag. Es war eine Waage anderer Art. Mit höchster Vorsicht legte er sie auf die leere Schale und wunderte sich über die Wellen aus violettem Licht, die sich zum äußeren Rand kräuselten, als wären sie von einem Kiesel verursacht, der in ruhiges Wasser geworfen wird. Der Dolch des Mannes, den er vor einem Augenblick noch an der Seite getragen hatte, glitzerte in der Dunkelheit auf. Er rollte den Ärmel seines Belaque hoch und zog über den Handrücken eine rasche, dünne Linie, die sich schwarz von der Düsternis abhob. Dann bückte er sich und hielt die blutende Hand über die Waagschale. Sieben Tropfen Blut quollen auf die Schale; er zählte jeden einzelnen peinlich genau. Dann richtete sich der Mann auf, blind gegen das Blut, das ihm in den Ärmel lief, und beobachtete die Waagschalen eingehend. Langsam regten sie sich und zuckten dicht über dem Boden des Platzes. Schließlich hob sich die Schale mit dem Blut, wobei das Licht des Mondes golden auf ihr schimmerte. Die Waagschalen balancierten sich aus. Das Stück lebenden Gesteins in Gestalt des Thrones von Sorbold entzündete sich und verbrannte in einer Aufwallung von knisterndem Rauch zu Asche. Der Mann am Fuß der Waage stand eine Weile stocksteif da, dann legte er den Kopf zurück und hob die Arme im Triumph zum Mond über ihm. Er warf keinen Schatten. In der tiefen Dunkelheit seiner Schlafkammer wand sich der Kronprinz im Griff verstörender Träume. Er schwitzte und rang nach Luft. Ylorc — Sorboldische Grenze bei Kriis Dar Sergeant-Major Grunthor war die ganze Nacht hindurch nüchtern geblieben. Während des langen Heimritts zum Kessel sprach er kein einziges Wort und hob den Blick nicht vom Boden vor ihm. Er spornte sein Pferd zu einem möglichst gleichmäßigen Galopp an, denn er wollte rasch zum Machtzentrum der Firbolg zurückkehren. Zuvor war er noch recht fröhlich, als er die Truppenlinie abritt und den Wachen auf der sorboldischen Seite der Grenze scherzhafte Obszönitäten in bolgischer Sprache zubrüllte. Mit einem breiten Grinsen winkte er den ernst dreinblickenden Wachen zu und versuchte, ihre Ablehnung zu überwinden und so unbedrohlich zu erscheinen, wie es einem siebeneinhalb Fuß großen, grünhäutigen Muskelprotz mit Hauern statt Eckzähnen eben möglich war. Das war seine Lieblingsart, eine Grenzkontrolle zu beenden. »Hossa! Süßer! Mein Pferd will mit dir reden! Glaubt, du bist der Esel, der das Muli gezeugt hat, das es gestern Nacht bestiegen hat!« Das Licht der Grenzfeuer erhellte sein breites Gesicht, und seine makellos reinen Zähne und Hauer spiegelten das Licht des zunehmenden Mondes wider. Die Sorbolder, die dazu ausgebildet waren, nur dann loszuschlagen, wenn sie angegriffen wurden, starrten weiterhin ostwärts in die Ländereien Ylorcs und hielten unerschütterlich Wacht. Der riesenhafte Sergeant-Major zerrte an den Zügeln, zwang sein Pferd dazu zurückzugehen, und stellte sich in die Steigbügel. »Wo wir gerade von Vätern reden ... Weißt du eigentlich, dass ich dein Paps sein könnte? Aber der Hund war auf der Treppe schneller als ich.« Nicht ein sorboldisches Augenlid flatterte. Die Bolg-Soldaten unter seinem Kommando kicherten unterdrückt. Ein böses Funkeln erschien im Auge des Sergeanten, als ihm eine neue Schmähung einfiel. Er zügelte sein Kriegspferd und stieg ab, wobei er immer noch die Grenzwachen verhöhnte. »Warum seid ihr alle so wund um den Sack? Habt ihr euch in die Nesseln gesetzt oder ...« Als er mit dem Fuß den Boden berührte, hielt Grunthor inne. Seine Haut, die üblicherweise die Färbung von Quetschungen aufwies, wurde so bleich, dass sogar seine Männer es im schwachen Schein der Feuer bemerkten. Er bückte sich rasch und legte die Hände auf den Boden. Es fiel ihm schwer, bei dem Getöse in seinen Ohren das Bewusstsein zu behalten. Der Lärm in seinem Inneren schüttelte ihn durch, schwächte ihn und drohte ihn vor Schmerz und Verzweiflung umzuwerfen. Die Erde unter seinen Händen und Knien jammerte vor Entsetzen. Das Knüpfen der Fäden Denn jede Zeit ist ein Traum, den der Tod befreit, Oder einer, der Neues gebiert. 1 Rot Blutretter, Blutgeber Liseleut Haguefort Die Mitglieder von Lord Gwydions Rat hatten sich erneut in Hagueforts reich bestückter Bibliothek getroffen und in Grüppchen zu zweit oder dritt zusammengefunden. Sitzend studierten sie Schriftstücke oder redeten leise miteinander. Wie ein Mann standen sie auf und verfielen in wohlmeinendes Schweigen, als der Herrscher und die Herrscherin eintraten. Der Erste, der die heimgekehrte Herrin begrüßte, war Tristan Steward, der Prinz von Bethania, Rolands mächtigster Provinz. Er hatte sich allein, fern von den anderen Ratgebern, in der Nähe der Tür herumgetrieben und war Rhapsody rasch in den Weg getreten, wobei er sich höflich über dem Ring an ihrer linken Hand verneigte. »Willkommen zu Hause, meine Herrin«, sagte er mit einer Stimme, die vom feinen Branntwein aus den Kellern Hagueforts geölt war. Das Licht aus den Laternen in der Bibliothek fleckte sein kastanienbraunes Haar und verhalf ihm zu einem rot-goldenen Glanz ähnlich dem von Ashe, obgleich es nicht dasselbe seltsame metallische Leuchten hatte, das ein Erbe des Drachenblutes war. Rhapsody küsste den Prinz auf die Wange, als er sich wieder aufgerichtet hatte. »Hallo, Tristan«, sagte sie freundlich und wand die Hand aus seinem Griff. »Ich hoffe, Madeleine und dem jungen Malcolm geht es gut?« Tristan Stewards Augen, die ihr Grün-Blau der königlichen Linie verdankten, blinzelten, als sie Rhapsody ansahen. »Ja, recht gut, vielen Dank, Herrin«, sagte er feierlich nach einer kurzen Pause. »Madeleine wird sich geehrt fühlen, wenn sie erfährt, dass Ihr Euch nach ihr erkundigt habt.« »Der junge Herr Malcolm wird bald seine ersten Schritte tun«, sagte Rhapsody, als sie den Weg in die Bibliothek fortsetzte, wobei ihre Hand auf Ashes Oberarm ruhte. »Es kann jeden Tag so weit sein. Wie freundlich von Eurer Hoheit, sich daran zu erinnern.« »Ich erinnere mich an jedes Kind, bei dessen Namensgebung ich gesungen habe. Guten Abend, Martin«, begrüßte Rhapsody Ivenstrand, den Herzog von Avonderre, der sie anlächelte und sich knapp vor ihr verbeugte. Dann nickte sie allen anderen Ratgebern zu und setzte sich rasch auf einen leeren Stuhl am langen Tisch aus poliertem Holz, an dem Ashe und seine Berater zusammengefunden hatten. Die Herzöge von Roland und die Botschafter von Manosse und Gaematria, der Insel der See-Weisen – allesamt Mitglieder des cymrischen Bündnisses – folgten dem Herrn der Cymrer und nahmen ebenfalls wieder ihre Plätze ein. »Wie ich sehe, hast du diese guten Ratgeber in meiner Abwesenheit viel zu lange und bis in die Nacht hinein beansprucht«, sagte Rhapsody zu ihrem Gemahl, während sie behutsam einen halb aufgegessenen Putenschenkel zur Seite schob, der auf einem Tablett inmitten zerknüllter Pergamente und leerer Freundschaftsbecher auf dem Tisch vor ihr lag. Dann betrachtete sie den Unrat, der in Haufen auf dem Rest des Tisches und an etlichen anderen Stellen der Bibliothek lag. Ashe rollte mit den Augen und seufzte theatralisch. »Die Revision der orlandischen Zollgebührenstruktur«, sagte er mit gespielter Verzweiflung. »Aha. Nun, das erklärt alles.« Sie wandte sich an den jungen Gwydion Navarne, der zu ihrer Linken saß. »Wo wart ihr in euren Beratungen, als ich euch unterbrochen habe, Gwydion?« »Wir waren an einem toten Punkt bei der Frage angekommen, ob Nahrungsmittel vom Zoll ausgenommen sind, wie es die Provinz Yarim beantragt hat, weil während der letzten zwei Wachstumsperioden dort Dürre geherrscht hat«, sagte der junge Mann. »In der Tat«, stimmte Ashe ihm zu. »Canderre, Avonderre und Bethania sind gegen einen Verzicht auf solche Zölle, während Bethe Corbair ihm zustimmt.« »Bethe Corbair hat eine gemeinsame Grenze mit Yarim und infolgedessen nicht die Transportkosten, die Avonderre hat«, wandte Martin Ivenstrand ein, dessen Küstenprovinz am weitesten von Yarim entfernt lag. »Ich erinnere mich nicht, dass Yarim bereit gewesen wäre, in der Vergangenheit die Zölle auf Opale und Salz herabzusetzen, als Beschränkungen im Seehandel unsere Staatseinkünfte bedrohten«, sagte der alte Cedric Canderre, der Herzog jener Provinz, die seinen Namen trug und bekannt für die Herstellung von Luxusgütern, feinen Weinen und Delikatessen war. »Ich begreife nicht, warum diese Dürre etwas anderes sein soll als die Hindernisse, denen Canderre und die anderen Provinzen von Roland gegenüberstanden.« »Weil diese Dürre meine Provinz zum Armenhaus macht, du Narr«, brummte Ihrman Karsrick, der Herzog von Yarim. »Diese so genannten Hindernisse haben euren fetten Staatsschätzen nicht einmal eine Kerbe zugefügt, und das wisst ihr. Yarim hingegen sieht sich einem Massenweisen Hungertod gegenüber.« Rhapsody lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah Tristan Steward an. »Und wie ist Bethanias Position, Tristan?« »Wir haben gewiss Verständnis für Yarims Notlage«, sagte der Prinz sanft. »Daher sind wir mehr als geneigt, ihnen großzügige Zahlungsfristen hinsichtlich der Zölle einzuräumen.« Belustigung flackerte in Rhapsodys grünen Augen auf, doch ihr Gesicht und ihre Stimme blieben teilnahmslos. »Wie freundlich von Euch.« Tristan Stewards milder Blick verhärtete sich ein wenig. »Mehr als das, Rhapsody. Bethania ist es zu verdanken, dass dieser Punkt überhaupt innerhalb des cymrischen Bündnisses zur Sprache gebracht wurde«, sagte er. Eine gewisse Heftigkeit stahl sich in seine ansonsten warme Stimme. »Bisher hatte jede Provinz Rolands das Recht, ihre eigenen Zölle festzusetzen, wie es ihr geraten erschien, ohne Einmischung einer, äh, höheren Autorität.« Sein Blick begegnete dem von Ashe. »Auf dem Konzil, das Euch zum Herrn und zur Herrin der Cymrer bestimmte, wurde uns versichert, die Souveränität unserer Gebiete werde innerhalb des Bündnisses respektiert.« »Ja, diese Versicherung wurde ausgesprochen, und daran hat sich nichts geändert«, sagte Rhapsody rasch und bemerkte den düster werdenden Gesichtsausdruck ihres Gemahls. Sie wandte sich wieder an den jungen Mann, der bald seinen Platz an diesem Tisch als Herzog von Navarne einnehmen würde. »Was ist deine Meinung dazu, Gwydion?« Gwydion Navarne rutschte auf seinem Stuhl hin und her und lehnte sich dann vor. »Es ist wichtig, die örtlichen Zollrechte anzuerkennen, doch ich glaube, es gibt manchmal noch wichtigere Dinge«, sagte er schlicht. Seine junge Stimme klang heiser. »Nahrungsmittelknappheit ist eines davon. Warum sollten diejenigen von uns, die mit fruchtbarerem Land und reichlich Nahrungsgütern gesegnet sind, übermäßig vom Leid einer orlandischen Schwesterprovinz profitieren, anstatt ihr in Zeiten der Not beizustehen?« Der Herr der Cymrer lächelte schwach. »Dein Vater hätte dieselbe Lösung angeboten«, sagte er zu Gwydion Navarne, während er noch immer dem Blick Tristan Stewards standhielt. »Du bist ein genauso mitleidsvoller Mann wie er.« »Nun, es tut mir Leid, wenn ich mich an einer heiklen Stelle der Beratung einmische, doch vielleicht kann ich eine andere Lösung für das Zolldilemma anbieten«, sagte Rhapsody und drückte Ashes Hand. »Teilt es uns bitte unter allen Umständen mit, Herrin«, bat Quentin Baldasarre, der Herzog von Bethe Corbair. »Yarim braucht Wasser.« Rhapsody legte die Hände zusammen. Die Ratgeber sahen einander verständnislos an, warfen dann Blicke über den Tisch und räusperten sich. Ihrman Karsrick runzelte die Stirn; er vermochte seine Verärgerung kaum zurückzuhalten. »Hat Eure Hoheit eine Möglichkeit gefunden, die Wolken um Regen anzuflehen, wo Ihr doch eine Himmelssängerin seid? Oder macht Ihr Euch nur auf meine Kosten lustig, indem Ihr das Offensichtliche in Worte fasst?« »Ich würde mich niemals in einer so wichtigen Angelegenheit über Euch lustig machen, das wäre grausam«, sagte Rhapsody rasch und hielt Ashe zurück, der hatte aufstehen wollen. »Doch Yarim hat in seiner Mitte eine große Wasserquelle, von der Ihr augenblicklich keinen Gebrauch macht, die Euch aber sicherlich vor einigen Auswirkungen der Dürre schützen würde.« Karsricks Gesichtsausdruck wechselte von Verärgerung zu Verwirrung. »Eure Hoheit weiß, dass der Erim Rus ausgetrocknet ist, und als er im Frühling noch floss, war er mit Blutfieber vergiftet.« »Das weiß ich.« »Wisst Ihr auch, dass die Shanouin-Quellengräber immer seltener Oberflächenadern mit Wasser finden?« »Ja«, sagte Rhapsody erneut. »Ich meinte die Entudenin.« Schweigen legte sich über die dunkle Bibliothek. Das Lampenlicht wurde schwächer, als die Ölvorräte allmählich schwanden. Das Feuer im Kamin jedoch brannte stetig und heftig und warf Licht und Schatten auf die Gesichter der verblüfften Ratgeber. Die Entudenin war vor langer Zeit ein Geysir gewesen, ein Wunder aus leuchtendem Wasser, das aus einem vielfarbigen Obelisken aus mineralischen Ablagerungen herausquoll und aus dem roten Lehm Yarims in Zyklen herausschoss, die ungefähr mit den Mondphasen übereinstimmten. Zwanzig Tage lang begoss sie die trockene Erde mit süßem Wasser, unter dem die Gegend wie eine Blume in der Wüste aufblühte. Damals hatte die Entudenin die Provinz mit flüssigem Leben beschenkt und es ermöglicht, dass die Hauptstadt Yarim Paar gebaut wurde, ein Juwel in der Ödnis am nördlichen Vorgebirge der Zahnfelsen. Außerdem hatte sie die Minenlager und Gehöfte weiter draußen gespeist. Doch vor langer Zeit war sie plötzlich versiegt. Eines Tages war die wunderbare Lebensarterie ohne Grund und Vorwarnung zu einer vertrockneten Hülle geworden, die kein Wasser mehr von sich gab. Jahrhunderte waren seitdem vergangen; der Obelisk verwitterte in der Hitze und war zu einer einfarbigen Felsformation zusammengesunken, welche die vielen Passanten auf dem Platz von Yarim Paar nicht einmal mehr wahrnahmen. »Die Entudenin ist schon seit Jahrhunderten tot«, sagte Ihrman Karsrick so freundlich wie möglich. »Vielleicht. Vielleicht schläft sie auch nur.« Rhapsody lehnte sich vor. Die Feuerschatten glitzerten in ihren Augen, die vor Anteilnahme leuchteten. »Kennt Eure Hoheit ein Lied, mit dem man die Entudenin aus ihrem dreihundertjährigen Schlaf aufwecken kann?« Karsrick kämpfte wacker darum, nicht die Geduld zu verlieren. »Vielleicht. Es ist das Lied des Bohrens.« Rhapsody faltete die Hände. »Ich bin nicht die Sängerin, die dieses Lied singen kann, aber im cymrischen Bündnis gibt es solche Sänger.« »Führe das bitte weiter aus«, meinte Ashe, als er die Verblüffung auf den Gesichtern der Ratgeber bemerkte. Rhapsody setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Die Entudenin war die Verkörperung eines Wunders. Das frische Wasser mitten aus dem trockenen Lehm von Yarim galt als Geschenk des All-Gottes und der Götter, welche die einheimische Bevölkerung verehrte, bevor die Cymrer kamen. Daher nahm man an, dass es eine Art von göttlicher Strafe war, als die Entudenin plötzlich schwieg. Was ist, wenn das nicht stimmt?« Das Schweigen auf ihre Worte wurde nur vom Knistern des Kaminfeuers durchbrochen. »Bitte fahrt fort«, sagte Tristan Steward. »Es ist möglich, dass das Wasser der Entudenin aus dem Meer kam«, meinte Rhapsody. »Das würde den Mondzyklus erklären. Die Phasen des Mondes haben ähnliche Auswirkungen auf die Gezeiten des Ozeans. Ich war vor kurzem bei den Lavaklippen an der Südküste der See-Lirin, die ähnlich denen an der Küste bei Avonderre sind. In diesen Klippen gibt es tausende von Spalten und Höhlen, von denen einige nicht tief sind, andere aber sich meilenweit erstrecken. Da habe ich mich nach der Quelle für das Wasser der Entudenin gefragt. Es ist denkbar, dass eine schmale Bucht dort oder weiter nördlich Wasser durch ein unterirdisches Flussbett bis nach Yarim leitet. Die Gesteinsformationen, aus denen sich die Erde zusammensetzt, sind ungeheuer komplex.« Rhapsody holte tief Luft, denn vor langer Zeit war sie durch solche Formationen gereist. »Es ist möglich, dass das richtige Zusammenspiel von unterirdischen Erhebungen und Tälern, Flussbetten, Buchten und filterndem Sand zu diesem Süßwassergeysir führte, der tausend Meilen vom Meer entfernt liegt und trotzdem den Gezeiten sowie dem Mondzyklus unterworfen war. Falls sich all das so verhält, dann ist es auch möglich, dass dieser Weg des Wassers irgendwie versperrt wurde. Wenn man ihn wieder öffnen kann, wird das Wasser vermutlich zurückkehren.« »Wie sollten wir das je wissen?«, fragte Quentin Baldasarre ungläubig. »Falls, wie Ihr zu bedenken gebt, wirklich irgendwo in diesem tausend Meilen langen unterirdischen Tunnel eine Sperre ist, wie sollen wir sie je entdecken?« Rhapsody lehnte sich vor. »Mann muss diejenigen fragen, die die unterirdische Welt kennen, die täglich durch solche Korridore laufen und die Werkzeuge haben, um sie aus dem Fels zu hauen.« Verständnis machte sich auf den Gesichtern der Ratgeber breit. Die Herzöge von Roland hingegen sahen finster drein. »Bitte sagt mir, dass Ihr damit die Nain meint«, bettelte Martin Ivenstrand. »Ich meine damit natürlich die Bolg«, erwiderte Rhapsody gereizt. »Und ich schätze weder Euren Ton noch Eure Andeutungen. Die Nain wünschen nur so viel Kontakt mit dem cymrischen Bündnis, wie er zur Aufrechterhaltung guter nachbarschaftlicher Beziehungen unbedingt notwendig ist. Die Bolg hingegen sind Vollmitglieder, was den Handel und die Unterstützung des Bündnisses angeht.« Sie wandte sich an Ihrman Karsrick, dessen Gesicht eine ungesunde purpurrote Färbung angenommen hatte. »Es scheint Euch plötzlich nicht mehr gut zu gehen, Ihrman. Ich hatte geglaubt, diese Möglichkeit brächte Euch große Freude und Hoffnung und nicht eine Magenverstimmung.« Sie warf einen kurzen Blick auf den Putenschenkel. »Obwohl es mich nicht überraschen würde, wenn Ihr auch daran leiden solltet.« Der Herzog von Yarim hüstelte trocken. »Sicherlich halten Eure Hoheit mich nicht für so blöde, dass ich mich mit den Bolg abgebe.« Die Herrscherin der Cymrer kniff die Augen zusammen. »Warum nicht, Ihrman? Es gibt schon seit vier Jahren ein Handelsabkommen zwischen Roland und Ylorc. Ihr verkauft ihnen Salz, Ihr kauft ihre Waffen, und sie sind Mitglieder des cymrischen Bündnisses. Warum solltet Ihr sie nicht um ein Gutachten zur Lösung Eures größten Problems bitten?« »Weil ich keine Lust habe, dem Firbolg-König dankbar sein zu müssen – das ist der Grund«, zischte Karsrick. »Wir teilen eine gemeinsame Grenze. Ich will ihm nicht den Eindruck vermitteln, dass er diese Grenze überschreiten und seine Belohnung von Yarim einfordern kann, wann immer es ihm gefällt.« »Ich will keinesfalls, dass Ihr Euch in eine solche Lage bringt«, erwiderte Rhapsody. »Wenn er so etwas tun sollte, kann das nicht hingenommen werden. Ich schlage vor, dass Ihr Euch seine Kunsthandwerker vertraglich verpflichtet, wie Ihr es mit denen aus Roland, Sorbold und sogar aus dem fernen Manosse haltet. Habt Ihr etwas dagegen, die Talente der Firbolg-Handwerker zu nutzen?« »Ich will nicht Horden von Bolg... von Handwerkern nach Yarim einladen. Nein, Eure Hoheit, das mache ich nicht«, gab Karsrick zurück. »Die möglichen Auswirkungen sind eine entsetzliche Vorstellung für mich.« »Das ist sicherlich keine unvernünftige Haltung«, warf Tristan Steward ein. »König Achmed ist auch nicht glücklich über die orlandischen Handwerker, die in sein Reich kommen. Die Hand voll, die zur Wiedererrichtung von Canrif eingeladen wurden, sind einer unglaublich genauen Prüfung unterzogen worden, und von ihnen hat man nur einen oder zwei wirklich eingestellt. Warum sollten wir Einladungen an die Bolg aussprechen, wenn er unsere Leute auch nicht willkommen geheißen hat?« »Vielleicht liegt der Grund für König Achmeds Mangel an Gastfreundschaft darin, dass Euer Volk bei seinem letzten Besuch Fackeln und Keulen mitbrachte, Tristan«, bemerkte Ashe. Er hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Hände vor dem Kinn gefaltet und Rhapsodys Erörterungen zugehört. »Es wird einige Zeit dauern, bis die Bolg das jährliche Ritual des Frühjahrsputzes vergessen haben, das so viele Jahrhunderte auf ihre Kosten durchgeführt wurde.« »Wenn ich mich recht erinnere, habt Ihr selbst an einem dieser Überfälle teilgenommen, als Ihr noch ein junger Mann in der Heeresausbildung wart, Gwydion«, sagte Tristan Steward dunkel. »Wir sind im selben Regiment geritten.« »Ihr habt es nicht begriffen«, sagte Rhapsody. »Die Bolg könnten dabei helfen, das Wasser nach Yarim zurückzubringen und es vor der Dürre zu schützen, die das Volk nu bedroht. Wenn es eine Möglichkeit dazu gibt, besteht dann nicht die Verpflichtung, ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen?« »Besteht für mich nicht die Verpflichtung, für die Sicherheit der Leute zu sorgen, Euer Hoheit?«, fragte Karsrick mit einem Anklang von Verzweiflung in der Stimme. »Ja«, entgegnete Rhapsody, »genau wie für mich. Deshalb biete ich an, die Verantwortung für das Betragen und die Arbeit aller bolgischen Handwerker, Minenarbeiter oder Künstler zu übernehmen, die nach Yarim kommen und die Entudenin untersuchen. Mir ist wohl bewusst, dass sie zumindest in historischer Hinsicht ein heiliges Relikt ist und Ihr sehr darum bemüht seid, es zu erhalten.« »Ja.« »Noch einmal: Ich übernehme die Verantwortung für alles, was bei diesem Unternehmen vorfallen sollte.« Der Herzog von Yarim warf stumm die Hände in die Höhe und setzte sich dann mit einem dumpfen Geräusch auf seinem Stuhl zurück. Die übrigen Ratsmitglieder sahen sich verwundert an. Schließlich seufzte Karsrick ergeben. »In Ordnung, Euer Hoheit.« Rhapsody lächelte strahlend, als sie vom Tisch aufstand. »Gut! Vielen Dank. Wir werden König Achmed und seine Männer in vier Wochen am Fuß der Entudenin treffen.« Sie schaute in die ausdruckslosen Gesichter vor und neben ihr. »Nun, gute Ratgeber, wenn Ihr nichts Dringendes mehr an diesem Abend zu beraten habt, werde ich meinen Gemahl nun für mich beanspruchen und Euch verlassen, damit wir alle etwas Ruhe bekommen.« Ashe war sofort auf den Beinen. »Ja, vielen Dank für Eure Geduld. Ich werde mich darum kümmern, dass Ihr morgen alle lange schlafen könnt. Wir werden uns erst übermorgen wiedersehen. Frühestens. Gute Nacht, Gwydion.« Er schob den Stuhl unter den Tisch, verneigte sich vor seinen Ratgebern und geleitete Rhapsody rasch aus der Bibliothek. Auf dem Weg quer durch den Raum beugte er sich zu ihr nieder und flüsterte sanft: »Nun, meine Liebe, willkommen zu Hause. Es ist gut zu sehen, dass die Erzeugung von Hader unter den Ratsmitgliedern immer noch ein Merkmal der Familie ist.« Als sie an dem großen offenen Kamin vorbeigingen, brüllten die Flammen zum Gruß und fielen gleich darauf wieder in ein ruhiges Brennen zurück. Rhapsody blieb stehen und schaute rasch über die Schulter. Sie blickte in die Feuerschatten, die auf den farbenfrohen Fäden der feinen Webteppiche tanzten, und schließlich auf die Balkontüren an der gegenüberliegenden Seite der Bibliothek. Regentropfen klatschten in Schüben gegen das Glas. »Hat... hat gerade jemand den Raum betreten?«, fragte sie Ashe leise. Der Herr der Cymrer hielt ebenfalls inne. Seine Drachenhaften Augen verengten sich ein wenig, als er sich konzentrierte und mit seinen Drachensinnen bis in die hintersten Winkel der gewaltigen Bibliothek drang. Sein Bewusstsein dehnte sich zwischen zwei Herzschlägen aus. Unvermittelt erspürte er jede Faser der Teppiche, jede Kerzenflamme, jede Seite in jedem Buch, den Atem eines jeden Ratsmitgliedes und jeden Regentropfen draußen vor der Festung in allen Einzelheiten. Er bemerkte keine Veränderung. Aber nun war sein Blut abgekühlt. »Nein«, sagte er schließlich. »Hast du etwas Verwirrendes gespürt?« Rhapsody seufzte und schüttelte dann den Kopf. »Nichts Greifbares.« Sie hielt die Hand ihres Gemahls. »Vielleicht habe ich es nur sehr eilig, diesen Raum zu verlassen und mit dir allein zu sein.« Ashe lächelte und küsste ihre Hand. »Wie immer, Euer Hoheit, beuge ich mich Eurer Weisheit.« Mit beachtlicher Beherrschtheit wartete er, bis sich die Türen der Bibliothek hinter ihnen geschlossen hatten, bevor er Rhapsody hochhob und sie mit weiten Schritten zu ihren Turmgemächern trug. In der Bibliothek bewegten sich sanft die Damastvorhänge vor der Glastür zu jenem Balkon, welcher auf das cymrische Museum im Hof hinausging. Die Ratgeber, die sofort zu ihren Streitgesprächen zurückgekehrt waren, bemerkten nicht einmal den heulenden Sturm vor den Fenstern der Bibliothek. Einen Herzschlag später hingen die Vorhänge wieder so still herab wie der Tod selbst. 2 Orange Feuerleger, Feuerlöscher Frithre Argaut — Nordland Der nächtliche Regen fiel in schwarzen Schleiern und wurde in Schauern aus dunklen Nadeln durch die Straßen gepeitscht, bevor er auf die schlammigen Pflastersteine fiel, die zur Halle der Tugend führten – jenem sich hoch auftürmenden Steingebäude, welches das Gericht von Argaut beherbergte. Der Seneschall hielt am oberen Ende der Marmortreppe inne und schien fernen Stimmen in dem tosenden Wind zu lauschen. Über den Straßen der Stadt lag Schweigen, das wohl von dem kalten Wind und dem hartnäckigen Regen herrührte. Sogar die Tavernen am Hafen und die Bordelle hatten ihre Lichter gelöscht und die Fensterläden vor dem Sturm geschlossen, der vom Wasser herkam. Der Seneschall warf einen Blick über den Hafen bis zum hinteren Ende der Bucht, wo die Leuchttürme selbst in diesem Regen zu sehen waren. Sie dienten als Orientierungspunkt für die Schiffe auf See, gegen die der Sturm anbrandete. Wir könnten heute Nacht durchaus eines verlieren, dachte er, als er die Signale aus dem Turm beobachtete. Das Licht ergoss sich in gebrochenen Strahlen und schimmerte in größerer Helligkeit, als der Flamme mehr Öl zugegeben wurde. Er atmete tief durch. Wenn der Tod in den Seewinden lauerte, war dies kräftigend für die Lunge. Er schloss die Augen und wandte das Gesicht dem schwarzen Himmel über ihm zu. Der eisige Wind umwehte seine Lider, und der Regen stach ihm in die Haut. Dann schlug er die Augen wieder auf, streifte sich das Wasser von Gesicht und Mantel und stieg die letzten Stufen zur Halle der Tugend hoch. Die großen Eisentüren der Halle waren gegen Nacht und Sturm verriegelt. Der Seneschall hob den kleinen Leinwandsack, den er in der linken Hand gehalten hatte, ergriff den Klopfer und betätigte ihn. Es klang wie eine Totenglocke, deren Echo kurz widerhallte und dann vom Heulen des Windes verschluckt wurde. Mit einem metallischen Kreischen wurde eine der gewaltigen Türen aufgezogen, und Licht floss durch die entstehende Öffnung. Die Wache trat rasch beiseite. Der Seneschall klopfte dem Mann auf die Schulter, während er aus der Wut des Sturms in die stille Wärme des hallenden Foyers trat. »Guten Abend, Euer Ehren«, sagte der Wächter, während er die schwere Eisentür hinter dem Seneschall schloss. »Hat Seine Hoheit nach mir gerufen?« »Nein, Herr. Alles ist ruhig.« Es sind jeden Abend dieselben Worte, dachte der Soldat, als ihm der Seneschall seinen regennassen Mantel und den dreispitzigen Richterhut übergab. Seine Hoheit rief nie nach dem Seneschall; er rief nie nach irgendjemandem. Der Baron von Argaut war ein Einsiedler, der in einem abgesonderten Turm lebte und in tiefster Heimlichkeit nur von einer Hand voll vertrauenswürdiger Ratgeber versorgt wurde, deren Haupt der Seneschall war. Der Soldat stand schon seit vier Jahren hier Wache und hatte den Baron noch nie gesehen. »Gut. Dann wünsche ich dir einen angenehmen Abend«, meinte der Seneschall. Der Wächter nickte und kehrte auf seinen Posten bei der Tür zurück. Dort lauschte er den schwächer werdenden Schritten des Seneschalls, der das Foyer aus poliertem Marmor durchmaß und durch den langen Korridor zu den Gerichtsräumen ging. Als das letzte Echo erstorben war, erlaubte sich der Soldat wieder den Luxus zu atmen. Die Kerzenflammen in den Wandhalterungen entlang des breiten Korridors zum Gerichtssaal flackerten, als der Seneschall an ihnen vorbeiging, und die Seen von Licht, die sich auf den dunklen Fliesen gebildet hatten, tanzten wild; dann kehrten sie zu einem sanften Pulsieren zurück. Am Ende des langen Hauptkorridors öffnete er die Tür zum dunklen Gerichtssaal und trat ein. Seine Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Leise schloss er die Tür hinter sich. Die Augen des Seneschalls brannten an den Rändern, als er liebevoll den Ort betrachtete, an dem so viele Männer und Frauen als Angeklagte gestanden hatten und verurteilt worden waren. Die Bank der Angeklagten und das Podium der Anwälte lagen nun schweigend in der Dunkelheit, doch das Echo des Wehklagens, das heute und an jedem vorangegangenen Tag hier angestimmt worden war, hing noch unsichtbar in der Luft und hinterließ ein köstliches Summen von Schmerz. Der Seneschall ging rasch über den Boden des Schattenumwobenen Raumes, an der verwaisten Zeugenbank vorbei, und hielt kurz am Platz des Gerichtsschreibers an, einem zweigeteilten, käfigähnlichen Tisch mit hölzerner Platte. Darauf lag ein Pergament, das an den Enden eingerollt und ansonsten ausgebreitet war, damit die Tinte trocknen konnte. Viele Namen waren auf diesem Dokument verzeichnet. Es handelte sich um die morgige Prozessliste der verdammten Seelen, die nicht wussten, dass sich ihr Schicksal schon entschieden hatte, lange bevor sie angeklagt worden waren. Der Seneschall betastete das Pergament mit einer Gebärde belustigter Melancholie. Keine Zeit dafür. Nun gut. Seine Gedanken wanderten zu dieser Straßenhure, die er in der vergangenen Nacht unter der Pier getötet hatte. Zweifellos schlug die rauschende Sturmesbrandung ihren Körper nun gegen die Mole. Dann schweiften seine Gedanken zu dem Seemann ab, den er morgen für dieses Verbrechen zum Tod durch Verbrennen verurteilen würde und der im Augenblick bewusstlos im Rumrausch lag und das Blut einer Frau, die er nie zuvor gesehen hatte, in dunklen, klebrigen Flecken an der Kleidung trug. Es würde ein aufregender Prozess und eine noch aufregendere Verbrennung werden, besonders wenn die Rumdünste noch frisch aus dem Atem des entsetzten Mannes quollen. Welche Schande, dass er nicht dabei sein würde, um es zu genießen. Der Seneschall stieß vernehmlich die Luft aus und brachte den anschwellenden Lärm der dunklen Stimmen zum Schweigen, die in den Tiefen seiner Ohren klangen. Eine leichte Bewegung in dem Leinensäckchen richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die vor ihm liegende Aufgabe. Die Bank, auf der er täglich zu Gericht saß, wurde hinter seinem Platz von einem roten Vorhang aus schwerem Damast eingerahmt, der nach Moder und Erde roch. Der Seneschall stieg die Stufen zur Bank hoch, zog den Vorhang zur Seite und enthüllte die Steinwand dahinter. Er fuhr mit dem Finger über eine kaum sichtbare Spalte, tastete nach dem Griff, zog die Tür beiseite und trat in die Dunkelheit des Tunnels hinter der Wand. Dann schloss er die Tür sorgfältig hinter sich. Er ging den vertrauten Gang entlang; seine Füße fanden von selbst den Weg in der Schwärze. Eine Drehung nach links, dann drei weitere nach rechts. Er hatte die Augen zu Schlitzen verengt. Wärme durchströmte seinen Körper, als das grünliche Glimmen in der Ferne sichtbar wurde. Er wurde schneller und rief in die Dunkelheit hinein: »Faron?« Nun stieg Dunst vom Boden der Katakombe auf; dünne, gewundene Ranken aus Rauch schwebten über einem leuchtenden Teich. Der Seneschall lächelte und spürte, wie die Hitze in seinem Körper anstieg. »Tritt näher, mein Kind«, flüsterte er. Der schimmernde Nebel verdichtete sich und zuckte in Wellen nach oben, zur Seite und in die Schwärze der Umgebung. Der Seneschall spähte in den Dunst. Schließlich stiegen in dem schimmernden Teich Luftblasen an die Oberfläche. Die gleißende Wasseroberfläche kochte, brach auf, und der geisterhafte Nebel verwirbelte und verschwand. Aus der Mitte des Teichs kam ein Kopf hervor, menschlichen Umrisses, doch nicht menschlichen Aussehens. Große, fischartige Augen, getrübt von milchig grauem Star, blinzelten, als sie aus dem Wasser auftauchten, gefolgt von einer platten Nase ohne Rücken. Dann kam der Mund des Geschöpfes, oder vielmehr das Fehlen des Mundes. Die Lippen waren miteinander verschmolzen und nur über den Backenzähnen offen – schwarze, waagerechte Schlitze, durch die kleine Rinnsale tropften. Die blassgoldene Haut schien beinahe ein Teil des Teichs zu sein, aus dem das Wesen gerufen worden war. Das gleißende Wasser wogte, als das Geschöpf mit großer Anstrengung die Unterarme aufstemmte, die sich unter dem Gewicht des Torsos bogen. Die Glieder waren missgestaltet und dehnbar, als ob sie nicht aus Knochen, sondern nur aus Knorpel bestünden. Das seidige Gewand, das seinen Leib bedeckte, bauschte sich an einigen Stellen auf und bedeckte sowohl knospende männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale, die von einem schmalen, grotesk verkrümmten Knochengestell gehalten wurden. Ein stolzer Ausdruck stahl sich in den Blick des Seneschalls. Seine Augen brannten an den Rändern rot vor Aufregung. Der Geistdämon, der sich in seinem Körper festgesetzt hatte, erkannte die Gegenwart seinesgleichen. Er krähte vor Freude und kratzte sich die Rippen. »Guten Abend, Kleiner«, sagte er sanft. »Ich bringe dir das Abendessen.« Die umwölkten Augen des Wesens brannten zur Antwort rot an den Rändern. Mit einer Vorwärtsbewegung der verdrehten Arme zog es sich näher heran. Der Unterleib schwebte noch in dem leuchtend grünen Wasser des Teichs. Der Seneschall zog den Dolch, den er an seiner Seite trug, und öffnete den Leinensack. Er griff hinein und zog zwei Aale heraus – blinde, ölige und fette Geschöpfe aus schwarzem Fleisch, die wild in Richtung seines Unterarms bissen und ausschlugen, als sie über dem Teich schwebten. Er riss ihnen die Köpfe ab, warf sie in die Dunkelheit und kicherte, als sich die Augen des Geschöpfes vor Hunger weiteten. Mit außerordentlicher Sorgfalt schnitt er die noch immer zuckenden Aalleiber in dünne Scheiben und steckte sie der Kreatur durch die seitlichen Öffnungen in den Mund. Sie machte schreckliche schlürfende und schmatzende Laute, während die weichen Zähne das Fleisch zermahlten. Als das Geschöpf die Aale verspeist hatte, drückte es sich vom Rand des Wasserlochs fort und versank langsam wieder in der grünen Tiefe. Die Hand des Seneschalls schoss hervor und packte das Geschöpf sanft unter dem Kinn. Die Schichten loser, verschrumpelter Haut zitterten und sandten kleine Wellen durch das leuchtende Wasser. »Nein, Faron, bleib.« Er schaute hinunter auf das von ihm selbst gezeugte Kind, das Endergebnis einer seiner liebsten und grausamsten Eroberungen, einer alten serenischen Frau, die ihm vor tausend Jahren buchstäblich in die Hände gefallen war. Die Scheußlichkeiten, die er an ihr begangen hatte, wärmten sein Blut immer noch mit Vergnügen. Sie geschwängert zu haben war die Verringerung seiner Macht wert gewesen, an der er in der Folge gelitten hatte. Die Magie, die ihr und allen aus ihrer Rasse eigen war – das Element des Äthers, übrig geblieben aus den Tagen der Schöpfung, als die Erde nichts anderes als ein flammendes Sternenstück in der Leere des Universums gewesen war -, brannte in Farons Blut ebenso wie das Feuer, dem seine eigene dämonische Seite entsprang. Es lag eine widernatürliche Schönheit in diesem missgestalteten Sprössling, in dieser unnatürlichen Wesenheit, in seinen Zügen, die gleichzeitig alt und jung und beinahe knochenlos waren. Es war sein Kind, ganz allein seines. Die Gestalt richtete die großen, starren Augen auf das Gesicht des Seneschalls. »Ich benötige deine Gabe«, sagte der Seneschall. Faron starrte ihn noch einen Augenblick länger an und nickte dann. Der Seneschall ließ das Gesicht der stummen Kreatur los und liebkoste es dabei zärtlich. Dann holte er aus einer Innentasche seiner Robe ein gefaltetes Samttuch hervor und öffnete es vorsichtig, ja beinahe ehrerbietig. In den Stofffalten lag eine Haarlocke verborgen, brüchig und trocken wie Stroh – Haar, das einmal golden wie Weizen auf einem Sommerfeld, nun aber mit den Jahren weißlichgelb geworden war. Ein schwarzes Samtband, das schon beinahe zu Staubfäden verfallen war, hielt es zusammen. Er bot es dem Geschöpf in dem Teich aus grünem Licht und wässerigem Dunst dar. »Kannst du sie sehen?«, flüsterte er. Die Kreatur starrte ihn noch ein wenig länger an, als wolle sie seine Kraft abschätzen. Der Seneschall spürte, wie sie sein Gesicht absuchte und sich fragte, was über ihn gekommen sei. Auch er stellte sich diese Frage; seine Hände zitterten in Vorfreude, und in seiner Stimme lag eine heisere Note von Aufregung und Furcht, die er noch nie zuvor empfunden hatte. Möglicherweise weil er seit hunderten von Jahren nicht mehr an die Möglichkeit gedacht hatte, dass sie nach dieser langen Zeit noch leben könnte. Bis zu dieser Nacht. Das Geschöpf schien gefunden zu haben, was es in seinem Gesicht gesucht hatte. Es nahm die alte Haarlocke an sich, nickte noch einmal und glitt unter den Wasserspiegel. Einen Augenblick später tauchte es wieder auf. In einer seiner grotesk verkrümmten Hände hielt es ein dünnes blaues Oval mit ausgefransten Rändern, das in dem Licht des Wassers schimmerte und leuchtete. Auf jeder Seite des Gegenstandes befand sich eine Einritzung; es war das Bild eines Auges, auf der einen Seite umwölkt, auf der anderen Seite klar, doch die Gravur war durch die Zeit beinahe unsichtbar geworden. Der Seneschall lächelte breit. Es lag etwas so Befriedigendes darin, diese Schuppe in den Händen seines Kindes zu sehen, dass er seine Gefühle kaum verbergen konnte. Farons Mutter war die Letzte einer langen Ahnenreihe von serenischen Seherinnen gewesen und hatte einige dieser Schuppen besessen. Ihre Fähigkeit, in ihnen zu lesen, hatte sie durch ihr Blut an Faron weitergegeben. Als sich der Dämon in der Seele des Seneschalls vorstellte, welches Grauen sie im Nachleben erleiden musste, schrie er vor Lust auf. Er sah ehrfurchtsvoll zu, wie Faron die uralte Schuppe unter die Oberfläche des gleißenden grünen Wassers drückte. Dampfwolken stiegen unter der Feuerhitze auf, die in Farons Blut brannte; weißer Dunst erfüllte die Luft wie schwebende Gespenster, die es nach einem freien Blick gelüstete. Die Erde, die in der Schuppe verkörpert ist, dachte der Seneschall, während er in den wogenden Nebel starrte. Feuer und Äther, für immer gegenwärtig in Farons Blut, und das Wasser aus dem Teich. Der Kreislauf der Elemente war vollständig, bis auf eine Ausnahme. In Anbetracht der Entfernung, die Faron überblicken sollte, bedurfte er großer Kraft. Langsam tastete der Seneschall nach dem Griff des Schwertes an seiner Seite und zog Tysterisk mit großer Vorsicht. Ein Windstoß peitschte durch die Katakomben und wirbelte Wolken aus Schimmelsporen vom Boden auf, als die Klinge aus der Scheide glitt – unsichtbar bis auf einen Funkenschauer wie von einem Reisigfeuer in einer steifen Brise. Ein dumpfes Zerren ging durch das menschliche Fleisch wie auch durch den dämonischen Geist. Es war das gemeinsame Band der beiden zu dem Elementarschwert der Luft, das sich regte, wann immer die Waffe blankgezogen wurde. Tysterisk in den Händen zu halten war das mächtigste fleischliche Vergnügen, das er verspüren konnte, ein orgiastisches Gefühl, das alle anderen körperlichen Genüsse überragte. Er hielt es über den glimmenden grünen Teich. Wellen überspülten Faron, wo vor einem Augenblick nur sanfte Kräuselungen gewesen waren. Der Kreis der Elemente war vollständig. Unter der grünen Wasseroberfläche erglühte die Schuppe. Die Wolken in Farons geschwollenen Augen stoben davon. Die hellblaue Iris leuchtete sternengleich in der spiegelnden Helligkeit des Wassers. Der Seneschall bemerkte die Veränderung; der Dämon in ihm kreischte vor Erregung. »Kannst du sie sehen?«, fragte er das uralte, missgebildete Kind erneut und bemühte sich um einen möglichst ruhigen Tonfall. Die verkrümmte Gestalt starrte in das windgepeitschte Wasser, blinzelte im Dunkeln und schüttelte dann den Kopf. Die herabhängenden Hautfalten unter dem Kinn zitterten. Ungeduldig wühlte der Seneschall in der Tasche herum, in welcher die Aale gewesen waren, und zog eine weiche Talgkerze hervor, die aus ätzender Lauge und menschlichem Fett bestand, das er aus kranken, alten Leuten und Kindern gewonnen hatte, dem nutzlosen Ausschuss gekaperter Schiffe, auf denen sich wertvollere menschliche Beute befunden hatte. Er betastete den Docht, rief das schwarze Feuer aus den Tiefen seiner dämonischen Seele hervor und erschuf eine Flamme. Als der Docht glomm, hielt er die Kerze über den Teich und warf mehr Licht auf die untergetauchte Schuppe. »Kannst du sie sehen?«, verlangte er abermals zu wissen. Das Feuer brannte dunkel und bedrohlich in seiner Stimme. Faron blinzelte argwöhnisch und schaute die Orakelschuppe eingehend an. Wenig später hob er das ungeheuerliche Gesicht wieder. Er schaute in die wilden, blauen Augen seines Vaters und nickte. Brennende Erregung durchfuhr den Seneschall und wurde schon einen Augenblick später durch Ungeduld ersetzt. »Was siehst du? Sag es mir.« Die stumme Gestalt schaute ihn hilflos an. »Was macht sie? Ist sie allein?« Die Kreatur schüttelte den Kopf. Die brennende Erregung wurde zu blendender Raserei. »Nein? Sie ist nicht allein? Wer ist bei ihr? Wer?« Das Geschöpf zuckte die Achseln. Der tosende Sturm im Blick des Seneschalls erstarb wie die Windgepeitschten Wellen unter der Brise. Er drückte beide Hände bis zu den obersten Fingerknöcheln in den weichen Schädel der missgestalteten Kreatur und drehte sie, bis sich der fischartige Mund vor Schmerzen öffnete. Ein stiller Schrei brach in Strömen entweichender Luft zwischen den zitternden Lippen hervor. Als Farons Körper steif vor Entsetzen wurde, schloss der Seneschall die Augen und konzentrierte sich. Er richtete all seine Aufmerksamkeit nach innen, löste das metaphysische Band, durch das seine unsterbliche dämonische Natur mit der körperlichen Gestalt verbunden war, und suchte nach den Schwingungen in Farons Blut, die mit seinen eigenen übereinstimmten. Er fand sie rasch. Wie Fäden aus gesponnenem Stahl dehnten sich die winzigen Stricke zwischen Körper und Seele. Peinlich genau löste er einen nach dem anderen und verband sie mit der verkrüppelten Masse menschlichen Fleisches, die sich unter seinen Händen wand und deren Blut im gleichen Takt wie seines pulste. Als das Feuer seines innersten Wesens in Faron glitt, kühlte sich sein eigener Körper ab und sackte wie ein mumifiziertes Skelett in sich zusammen. Er klammerte sich weiterhin an Faron; die versteinerten Finger ragten noch immer aus dem Haupt des Kindes hervor. Farons verkrümmte Gestalt beherbergte nun die unsterbliche Seele des Dämons. Er wurde gerader und fester; der Knorpel verhärtete sich zu Stein. Der Dämon schaute jetzt durch Farons klare blaue Augen. Er schaute auf die blauen Lichtwellen, die sich in der Schuppe unter der Oberfläche des Wassers spiegelten. Zuerst sah er nichts als einen fernen Schatten, dann eine Bewegung. Der Blick wurde klarer. In den gekräuselten Wellen des Teichs erkannte er das wässerige Bild eines Gesichts, das ihm zugleich fremd und ungemein vertraut war. Es war ein Gesicht, das er in einem vergangenen Zeitalter eingehend studiert hatte. Er hatte es auf Porträts angestarrt und genau betrachtet, wenn er in dessen Nähe gewesen war. Er kannte jede Linie, jede Kante, auch wenn es in den Dampfschwaden nicht genauso aussah, wie er es in Erinnerung hatte. Vielleicht war es der Gesichtsausdruck, der ihn verwirrte. Das Gesicht, das er gekannt hatte, war sehr verschlossen gewesen und hatte nur selten ein schiefes Lächeln gewagt. Die smaragdenen Augen hatten hinter einer kühlen Maske der Gleichgültigkeit vor Verachtung gebrannt, besonders wenn sie auf ihn gerichtet gewesen waren. Nun aber trug dieses vertraute, fremde Gesicht, das in dem blauen Licht eine halbe Welt entfernt war, einen Ausdruck, den er nicht deuten konnte. In diesem eingefangenen Moment lag ein Lachen in ihren Augen, und noch etwas anderes, das er nicht zu benennen vermochte, das ihm aber nicht gefiel, was immer es auch war. Ihr Gesicht leuchtete im Glanz von Kerzenlicht, doch es leuchtete auch aus sich selbst heraus. Sie redete mit jemandem. Mit mehr als einer Person, wie es den Anschein hatte. Sie bewegte den Kopf nach links zu jemandem, der von gleicher Größe war wie sie, und nach rechts zu einer Person, die größer zu sein schien. Als sie ein weiteres Mal zu Letzterem schaute, lag in ihrem Blick eine Erregung, die wie Elementarfeuer brannte – rein und heiß aus dem Herzen der Erde. In diesem Gesicht lag etwas so Einladendes, so Unwiderstehliches, dass er unwillkürlich in das gleißende Wasser griff und die Hinterseite ihres Halses berührte, wo das goldene Haar, von dem er seit mehr als tausend Jahren träumte, in seidigen Locken herabhing. Er zog Farons verkrüppelten Finger in einer unbeholfenen Liebkosung durch das gekräuselte Wasser. Eine halbe Welt weit entfernt erstarrte sie. Ein Ausdruck von Ekel, vielleicht auch von Furcht, wusch das Lächeln aus ihrem Gesicht und machte es blass und ausdruckslos. Sie warf einen raschen Blick über die Schulter, fuhr sich dann mit der Hand an die Kehle, als ob sie sich vor einem bitteren Wind oder den Fängen eines Wolfes schützen wollte. Sie erschauerte unter seiner Berührung. Noch einmal. Hure, flüsterte er in Gedanken. Elende, brünstige Hure. Seine Wut explodierte. Farons Körper zuckte hin und her und erbebte unter den körperlichen Auswirkungen des Zornes. Mit einer bösen Bewegung seiner schuppigen Hand schlug er auf die Wasseroberfläche. Die Schuppe flog aus dem Teich und in die feuchte Dunkelheit der Katakombe. Er atmete flach und versuchte sich zusammenzureißen. Als die Vernunft zurückkehrte, schloss er die himmelblauen Augen, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die metaphysischen Bande, die ihn an Farons Gestalt fesselten, löste sie und knüpfte sie neu. Während die dämonische Essenz in den Körper des Seneschalls zurückfloss, füllte sich die zusammengefallene Mumie mit neuem Leben. Das wütende Licht kehrte in die ausgetrockneten Augenhöhlen zurück. Farons Körper hingegen wurde wieder biegsam und verdrehte sich, bis er unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrach. Der Seneschall atmete flach, zog dann die Finger aus dem weichen Schädel seines Kindes und stillte das Blut, das aus den Löchern tropfte. Zärtlich nahm er den leise weinenden Faron, dessen missgebildeter Mund an den Rändern offen stand, in den Arm, liebkoste die Haarsträhnen, die Hautfalten am Kinn und küsste ihn sanft auf den Scheitel. »Es tut mir Leid, Faron«, flüsterte er sanft. »Vergib mir.« Als die lautlosen Seufzer des Geschöpfs zu leichtem Keuchen wurden, nahm der Seneschall Farons Gesicht in die Hände und drehte es so, dass er ihm in die Augen sah, die jetzt wieder umwölkt, aber noch immer von demselben Blau waren wie seine eigenen. »Ich habe wunderbare Neuigkeiten für dich, Faron«, sagte er und streichelte die schlaffen Wangen. »Ich gehe auf eine lange Reise, weit übers Meer ...« Er legte den Zeigefinger gegen die verschlossenen Lippen der Gestalt, in deren Blick sich Panik schlich. »Und ich werde dich mitnehmen.« Die dunkle Treppe, die in den Turm des Barons von Argaut führte, bestand mit Ausnahme der letzten Stufen aus poliertem grauem Marmor mit schwarzen und weißen Adern. Die Stufen waren schmal; Tritte waren hier nichts als leises, dunkel dräuendes Klacken, im Gegensatz zu den Echos, welche die Halle der Tugend in allen anderen Räumen und Korridoren hervorrief. Die letzten Stufen waren aus Blutkoralle gehämmert, einer stechenden, versteinerten Meerespflanze – wenn sie sich im Meer befand, sei sie ein lebendes Wesen, sagte man -, die fern von hier giftige, tausende Meilen lange Kolonien entlang des Feuerriffs bildete. Sie passte sich dem Marmor der übrigen Stufen an und bildete eine tödliche Barriere für jeden, der nicht gegen den Biss des Feuers und den Stich des Giftes immun war. Der Seneschall stieg die letzte Stufe hoch und blieb vor einer schwarzen, eisenbeschlagenen Tür aus Walnussholz stehen. Er klopfte ehrerbietig und öffnete die Tür dann langsam. Ein feuchter Windstoß und alles verschlingende Dunkelheit hießen ihn willkommen. Er trat schnell in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. »Guten Abend, mein Herrscher«, sagte er. Zuerst antworteten ihm nur das Trippeln von Mäusen und das Flattern von Fledermausschwingen in der Traufe über ihm. Dann hörte er die Stimme tief in seinem Kopf. Die Worte brannten in ihm wie dunkles Feuer. Guten Abend. Der Seneschall räusperte sich und schaute sich rasch in dem schwarzen Turmzimmer um. Die Dunkelheit war undurchdringlich. »Alles läuft gut in Argaut. Wir hatten einen erfolgreichen Tag bei Gericht.« Sehr gut. Er räusperte sich erneut. »Ich werde noch heute Nacht auf eine weite Reise gehen. Gibt es etwas, das ich für Euch tun soll, bevor ich aufbreche?« Die Dunkelheit um ihn herum wurde dichter. Als die Stimme wieder sprach, brannte sie vor Bedrohlichkeit und stach ihm in die Ohren und Gedanken. Zunächst einmal benötige ich eine Erklärung. Der Seneschall holte tief Luft. »Ich habe heute erfahren, dass jemand, der mir noch einiges schuldet und mir auf der Insel Serendair vor der großen Flut einen Eid leistete, das Erwachen des Schlafenden Kindes überlebt hat.« Zusammen mit den Worten stieß er seinen Atem aus. »Ich muss diese Schuld eintreiben.« Warum?, wollte die brennende Stimme wissen. Schicke doch einen Lakaien. Klugerweise schluckte der Seneschall die Entgegnung herunter, die sich ungebeten auf seine Lippen stahl. Es war nicht angeraten, den Baron zu erzürnen. »Das ist nicht möglich, mein Gebieter«, sagte er mit wohl abgemessenem, achtungsvollem Ton. »Es ist etwas, um das ich mich persönlich kümmern muss. Ich versichere Euch aber, dass der Schatz, mit dem ich zurückkehren werde, meine Abwesenheit mehr als aufwiegen wird.« Deiner Einschätzung nach vielleicht. Aber möglicherweise sehe ich das anders. Die Wut in der Stimme versengte das Hirn des Seneschalls. Wer soll die Sklaven beschaffen, wenn du fortgehst? Wer sorgt für Angst und Schrecken? Wer sitzt zu Gericht? Wer kümmert sich um die Verbrennungen? Wer wird das Gesetz erfüllen? Die Augen des Seneschalls brannten rot an den Rändern, als er hart darum kämpfte, seinen Zorn im Zaum zu halten. »Im Innern des Reiches ist alles geregelt, mein Herrscher. Alle Arbeit wird getan werden, und mehr noch.« Impulsiv fiel er auf ein Knie und neigte das Haupt. Als er sprach, lag in seiner Stimme eine Erregung, welche die ausgedehnte Dunkelheit des Raumes völlig ausfüllte. »Doch um meinem Herrn zu gefallen, werde ich Euch zu Willen sein, bevor ich gehe. Ich werde eine so große Zahl von Verbrennungen bewirken, dass der Himmel in einem karmesinroten Licht erstrahlt, welches tagelang zu sehen sein wird! Ich werde die Prozesslisten verlängern, die Flotte auslaufen lassen und alles tun, was Eure Herrschaft begehrt. Doch ich muss mit der Flut vor dem Morgen auslaufen. Ich muss die Erfüllung eines Vertrages geltend machen.« Er hob die Augen wieder zur Dunkelheit. »Eines Eides, der jemanden an mich bindet.« Um ihn herum hallte das Schweigen. Der Seneschall blickte in die endlose Finsternis und wartete. Wie nach einer Ewigkeit ergriff die Stimme endlich wieder das Wort. Sie war erfüllt von Widerstreben und greifbarer Enttäuschung. Sehr gut Doch du musst sofort zurückkehren, wenn du das erhalten hast, was du beanspruchst. Der Seneschall erhob sich rasch und verneigte sich tief. »Das werde ich, mein Herrscher. Vielen Dank.« Als die dunkle Stimme wieder sprach, verklangen die Worte allmählich in der Düsternis. Du kannst jetzt gehen. Der Seneschall verneigte sich ein weiteres Mal. Er ging rückwärts durch die Dunkelheit und tastete nach dem Türknauf. Sobald er ihn gefunden hatte, öffnete er die Tür, trat rasch hindurch, schloss sie hinter sich und nahm Abschied. Von einem vollständig leeren Raum. 3 Gelb Lichtbringer, Lichtersticker Mertemi Markt der Diebe — Yarim Paar Slith wunderte sich immer wieder darüber, wie viel Macht in einem einzigen Wort stecken konnte – einem Wort, das lediglich der Name einer Person war. Besonders in Estens Name. Als er nun Bonnards zitternder Gestalt folgte, dessen Speckrollen bei jedem Schritt über die Kopfsteingepflasterten Gassen des Marktes der Diebe erzitterten, fragte er sich, ob es klug gewesen war, diesen Namen zu nennen. Bonnards höhnisches Lächeln, als er Slith gefunden hatte, wie er sich auf dem Abort vor seinen Pflichten gedrückt hatte, war rasch zu einem Ausdruck an der Grenze von Verärgerung zu Angst geronnen, als er den Wunsch geäußert hatte, zur Herrin der Gilde gebracht zu werden. Slith senkte den Blick auf die staubigen, roten Pflastersteine und lächelte in sich hinein, als er an das kurze Gespräch zurückdachte. Warum – warum will jemand wie du Esten sehen? Das möchtest du bestimmt wissen, Bonnard, nicht wahr? Dann wärest du neben mir der einzige andere. Der Geselle hatte zehn Herzschläge lang über diese Frage nachgedacht, dann finster dreingeblickt, den Kopf mit dem massigen Kiefer nach oben und unten bewegt und Slith bedeutet, er solle ihm folgen. Als sie nun tiefer in den Markt der Diebe eindrangen, fragte sich Slith, ob die Nennung des Namens wohl das Dümmste gewesen war, das er je getan hatte. Als kleines Kind hatte er sich einmal bis zum Äußeren Markt vorgewagt, dem Handelsplatz der Kaufleute aus der ganzen bekannten Welt – und sicherlich auch aus Teilen der unbekannten Welt. Er bestand aus Ladentheken unter freiem Himmel und kleinen Buden entlang der Straßen. Exotische Tiere schlichen in der Nähe der Waren herum, die aus Seidenballen in kräftigen Farben und Kräutersäckchen mit durchdringenden Aromen bestanden, die sich mit Weihrauch, Parfüms und dem fettigen, schweren Geruch von Fleisch mischten, welches über Torffeuern gebraten wurde. Seine Mutter hatte ihn damals auf der vergeblichen Suche nach einem Heilmittel für seinen kranken Vater mitgenommen. Nachdem Slith beobachtet hatte, wie sie ihre letzten Münzen für eine Flasche mit einer schimmernden Flüssigkeit ausgegeben hatte, die sich als völlig wirkungslos herausstellen sollte, hatte er mit dem Instinkt eines Sechsjährigen verstanden, woher der Markt der Diebe seinen Namen hatte. Er war jedoch noch nie so tief in den Inneren Markt eingedrungen, war noch nie den vergiftenden Gefahren so nahe gekommen. Hier spürte er die Bedrohung in der Luft liegen; sie war irgendwie schwerer in diesen Hinterstraßen und dunklen Gassen, wo Farbglanz und Prunk den verborgenen Nischen und schattigen Höfen gewichen waren. Die Lehmziegelgebäude, die wie in ganz Yarim zur Farbe von Blut getrocknet waren, die Verkaufsbuden aus Stroh und die Öltücher, die wie Flecken über die Straße verteilt hingen, waren durchtränkt von Geheimnissen. Verschwunden waren die Händler, die lauthals ihre Waren anpriesen, die Sänger und die kreischenden Anreißer. Der Innere Markt war ein Ort dichter Stille und verstohlener Blicke, wo verborgene Augen jeder Bewegung folgten. Slith hielt den Blick gesenkt, wie ihm befohlen worden war, und betrachtete die Absätze von Bonnards bäuerlichen Stiefeln. Er spürte die Blicke von tausenden dieser verborgenen Augen, doch er wusste, dass es tödlich sein konnte, einen dieser Blicke zu erwidern. Schließlich blieb Bonnard stehen. Slith schaute auf. Vor ihnen erhob sich ein breites einstöckiges Lehmgebäude. Es war dunkel vom Kohlenstaub, mit dem sich der yarimesischen Lehm beim Brennen vermischt hatte. Wie die meisten Gebäude in Yarim befand es sich in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls. Lehm und Kohlenstaub blätterten von dem Haus ab und deuteten eine tiefer liegende Fäulnis an. Die unregelmäßigen Flecke erweckten den Eindruck, als blute das Gebäude. Auf der Tür befand sich ein Wappenschild: das Zeichen des Raben, der eine Goldmünze in den Krallen hielt. Slith unterdrückte ein Schaudern. Er hatte dieses Gildezeichen schon einmal gesehen – an dem Tag, als sein Lehrvertrag abgeschlossen worden war und ihn seine Mutter in das Zählhaus der Rabengilde gebracht hatte, damit Esten ihn in Augenschein hatte nehmen können. Die Rabengilde im Stadtzentrum von Yarim Paar war ein prachtvolles Gebäude und beherbergte die größte Handelsorganisation der Provinz, einen Zusammenschluss von Ziegelbrennern, Keramikern und Glasbläsern sowie Schmieden aller Art. Außerdem unterhielt die Gilde ein Botensystem zwischen den einzelnen Provinzen. Es war das am schlechtesten gehütete Geheimnis von Yarim, dass es sich bei dieser Gilde um einen beachtlichen Zirkel von Berufsdieben, Verbrechern und Räubern handelte, welche die nächtlichen Herrscher von Yarim waren. Und Esten war ihre unangefochtene Anführerin. Kalte Fäden aus Schweißperlen rannen ihm am Hals herunter, als Bonnard die Tür öffnete und ihn ungeduldig in das Innere schob. Slith folgte dem Gesellen in einen Alkoven links neben der Tür und sah nervös zu, wie Bonnard in der Dunkelheit vor ihm verschwand. Er zwinkerte und versuchte seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Raum hatte keine sichtbaren Begrenzungen. Ein zerschmetterter Tisch, grob aus geborstenem Holz gezimmert, stand in einiger Entfernung rechts von der Tür; wenigstens schien es ein Tisch zu sein. Darum war eine Reihe nicht zueinander passender Stühle verschiedener Größen und Stile gruppiert. Er glaubte einen kalten Kamin hinter dem Tisch zu erkennen. Der beißende Geruch von Kohlen und ranzigem Fett hing dick in der abgestandenen Luft. »Du wolltest mich sprechen?« Slith wich vor Entsetzen zurück. Betäubende Kälte durchströmte ihn. Das Gesicht war ihm fast so nahe wie die Luft, die er atmete. Die Züge verschwammen in der Dunkelheit. Es schien körperlos zu sein. Dunkle Augen starrten ihn an. Slith schluckte und nickte wortlos. Sein Mund war so trocken, dass er kein Wort herausbrachte. Die schwarzen Augen zwinkerten wie vor Belustigung. »Dann rede.« Slith öffnete den Mund, aber kein Laut drang heraus. Die Augen in der Dunkelheit verengten sich ein wenig; ein Ausdruck der Verärgerung kroch in sie. Er räusperte sich und zwang die Worte heraus. »Ich habe etwas gefunden. Ich glaube, Ihr solltet es sehen.« Das Gesicht neigte sich ein wenig. »Nun gut. Zeige es mir.« Slith tastete in seiner Hemdtasche herum und zog ein Bündel aus Lappen hervor, in das er die blauschwarze Scheibe eingewickelt hatte. Bevor er das Bündel übergeben konnte, war es schon aus seiner Hand verschwunden. Die dunklen Augen blickten nach unten, dann wandte sich das Gesicht ab und verschwand. In der Ferne pulsierte ein glimmendes Licht und verstärkte sich zu einem Ring, als nacheinander ein Kreis von Lampen enthüllt wurde. Als der Raum erhellt war, bemerkte Slith, dass er viel kleiner war, als er in der Dunkelheit angenommen hatte. Aus den Ecken beobachteten ihn die grauhaarigen Männer, die das Zimmer erhellt hatten. Esten stand vor ihm und drehte die blau-schwarze Scheibe vorsichtig in ihren langen, zarten Händen. Im Gegensatz zu den meisten yarimesischen Frauen war ihr Gesicht unverhüllt. Im flackernden Lichtschein erkannte er, dass sie nicht größer als er selbst war. Sie hatte langes, rabenschwarzes Haar, und ihre Kleider waren von der Farbe einer sternenlosen Nacht, sodass sie sich noch vor einem Augenblick vollkommen der Dunkelheit hatten anpassen können. Sie trug die geflochtenen Haare zu einem Knoten hochgesteckt, was die scharfen Linien ihres Gesichts noch betonte. Slith vermutete, dass sie von gemischtem Geblüt war, denn ihr Gesicht besaß zwar einige, aber nicht alle Eigentümlichkeiten einer Yarimesierin. Kurz überlegte er, woher sie stammen mochte, doch die Gedanken verschwanden sofort wieder, als sie den Blick auf ihn richtete. »Du bist einer von Bonnards Lehrlingen?« Sliths Vater hatte nur wenige weise Worte gesprochen, die ihm im Gedächtnis geblieben waren, doch an einen oft wiederholten Satz erinnerte er sich deutlich: Sieh jedem Menschen ins Auge, sei er Freund oder Feind. Deine Freunde verdienen Respekt, und deine Feinde sollen ihn vor dir bekommen. Er erwiderte ihren Blick so hochachtungsvoll und gleichzeitig so direkt wie möglich. »Ja.« Esten nickte. »Dein Name?« »Slith.« »In welchem Jahr bist du?« »Im vierten.« Sie nickte wieder. »Dann bist du ... elf? Zwölf?« »Dreizehn.« Ein Ausdruck von Neugier stahl sich in ihren Blick. »Hmm. Dann warst du schon ziemlich alt, als ich dich eingestellt habe, nicht wahr?« Slith schluckte. Er war fest entschlossen, standhaft zu bleiben, und zuckte die Achseln. Esten sah belustigt aus. »Den hier mag ich, Dranth. Er hat Stahl in seinen Eingeweiden. Kümmere dich darum, dass er genug zu essen bekommt.« Die blau-schwarze Scheibe erschien zwischen ihren langen, dünnen Fingern. »Woher hast du sie?« »Ich habe sie in einem gebrannten Topf auf dem hinteren Lagerregal im Brennraum gefunden.« »Weißt du, was das ist?« »Nein«, sagte Slith. Er beobachtete Esten, als sie den Blick erneut auf die Scheibe richtete. »Wisst Ihr es?« Sie wirkte entsetzt über seine Unverfrorenheit; es war, als habe er sie angegriffen. Beim nächsten Atemzug hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie bedeutete den Männern mit einer Handbewegung, dass sie nicht eingreifen sollten, und sah Slith wieder an. »Nein, Slith, ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie mit fester Stimme und hielt die Scheibe gegen das Licht, das aus den beschirmten Lampen drang. »Aber heute Nacht kannst du in tiefstem Frieden ruhen und sicher sein, dass ich es herausfinden werde.« »Zuerst habe ich geglaubt, es sei ein Nahtglätter«, meinte Slith und beobachtete, wie das Licht in Wellen über die Scheibe in Estens Händen lief. »Dann ist mir der Gedanke gekommen, dass es schon sehr lange in diesem Topf gesteckt haben könnte.« Als Slith die Frau wieder ansah, glitzerten ihre Augen vor grausamer Erregung und schauten an ihm vorbei. »Du magst Recht haben«, sagte sie sanft. »Vielleicht sogar drei Jahre lang.« Sie wandte sich an einen der Männer in der Ecke. »Yabrith, gib Slith eine Belohnung von zehn Goldkronen und ein gutes Mahl für seine scharfen Augen. Sag Bonnard, er wird in die Ziegelei zurückkehren, wenn er gegessen hat.« Sie sah Slith noch einmal an. »Deine Aufmerksamkeit hat uns beiden gute Dienste geleistet. Weiter so! Erzähl niemandem, was du entdeckt hast.« Slith nickte und folgte dann dem mürrischen Mann, der ihm ein Zeichen gab. Dranth, der Kronprinz der Gilde, sah dem Jungen nach und wandte sich dann an die Anführerin. »Willst du, dass er entfernt wird?« Esten schüttelte den Kopf, während sie die Scheibe in den Händen drehte. »Nicht, bevor wir herausgefunden haben, was das hier ist. Es wäre eine Schande, vier Jahre gute Ausbildung einfach wegzuwerfen, falls es wirklich nur ein Nahtglätter ist.« Dranths Augenlider zuckten nervös im Lampenlicht. »Und wenn es mehr ist? Wenn es wirklich etwas ist, das wir übersehen haben, wenn es ein Überrest aus ... jener Nacht ist?« Esten hielt die Scheibe erneut gegen das Licht. Blaue Wellen spiegelten sich in der dunklen Iris ihrer Augen wider. »Bonnard weiß, wo der Junge schläft. Und du weißt, wo Bonnard schläft.« Schließlich riss sie sich von dem Anblick der Scheibe los und nickte den verbliebenen Männern zu, die durch die Hintertür hinausgingen und im dunkelsten Teil des Inneren Marktes verschwanden. Alle Lampen bis auf eine waren gelöscht worden, und die Nacht hielt bereits Einzug in den Räumen der Gildenhalle, als die Männer mit Mutter Julia zurückkehrten. Esten lächelte schief, als sie zuschaute, wie die verhutzelte Vettel das Vorzimmer der Halle betrat. Sie wirkte wie eine vertrocknete alte Pflaume, hatte einen Buckel und war in unzählige farbenfrohe Schals gewickelt, doch sie war die zweitmächtigste Frau auf dem Markt und gewohnt, jene, die Informationen von ihr haben wollten, in ihrem eigenen Nest und zu ihren eigenen Bedingungen zu empfangen. Es hellte ihre für gewöhnlich schrullige und herrische Art nicht gerade auf, mitten in der Nacht herbeigerufen und in die Tiefen des Inneren Marktes geführt zu werden, doch wie jeder andere im Reich der Diebe konnte sie sich Esten nicht widersetzen und wagte es auch nicht, Anzeichen von Verärgerung zu zeigen. Ein falsches Lächeln, in dem etliche Zähne fehlten, legte sich über das zerfurchte Gesicht. »Guten Abend, Gildenmeisterin. Möge das Schicksal es gut mit Euch meinen.« »Mit dir auch, Mutter.« »Was kann ich für Euch tun?« Esten betrachtete das verwitterte Gesicht. Die gealterten Züge gaben eine täuschende Bühne für die hellen, flinken Augen ab, die ihren Blick erwiderten. Mutter Julia war Hellseherin von Beruf und führte ein sehr angenehmes Leben vom Geld der Narren, die bei ihr um Rat suchten. Obwohl ihre Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, nicht besser als die irgendeines beliebigen Menschen war, stellte sie doch eine Quelle meist recht zuverlässiger Informationen über die Vergangenheit und, wichtiger noch, die Gegenwart dar, die sie hauptsächlich ihrem großen Netzwerk von Spionen verdankte, welche sich sowohl in Yarim als auch in den anderen Provinzen und Ländern aufhielten und zum überwiegenden Teil aus Mitgliedern ihrer eigenen Familie bestanden. Esten wusste, dass sie nach der letzten Zählung siebzehn lebende Kinder und mehr Enkel, Vettern und angeheiratete Verwandte hatte, als Sterne am Nachthimmel standen. Esten wusste auch, dass sie besorgt war. Das gefurchte Gesicht wirkte ruhig, doch in den dunklen Augen brannte ein nervöses Licht. Gewöhnlich schlug sich Mutter Julia beim Spiel der Informationen besser als alle anderen auf dem Markt, aber sie hatte sich zu früh preisgegeben, hatte schon beim zweiten Atemzug versucht, Esten in ihre Schuld zu zwingen. Sie wird alt, dachte die Gildenmeisterin und verschloss diese Einsicht wie alles andere tief in ihrem Innern. Sie drehte sich um und ging zum Feuer, wobei sie Mutter Julia einen offenen Blick verweigerte. »Gar nichts, Mutter.« Die alte Frau hustete. Es war ein schwindsüchtiger Laut voller rasselndem Schleim und Angst. »Oh?« Esten lächelte innerlich, setzte dann eine Maske des Ernstes auf und wandte sich der alten Frau zu. »Ich bin außerordentlich enttäuscht über dein Schweigen in einer Angelegenheit, in der ich dich um Hilfe gebeten hatte.« Die Wahrsagerin fuhr sich mit ihrer arthritischen Hand an die Kehle. »Ich... ich habe ... habe die Zukunft sorgfältig vorhergesagt, Gildenmeisterin, und durch den... den roten Sand der Zeit geblickt, um herauszufinden ...« Ihre Worte erstarben, und sie versank in Schweigen, als Esten die Hand hob. »Erspare mir deine Taschenspielerkunst und Effekthascherei. Ich bin keiner von den Narren, die so etwas von dir verlangen. Du hattest mehr als drei Jahre Zeit, um mir eine Antwort auf eine einfache Frage zu geben, Mutter: Wer hat meinen Tunnel zerstört, meine Sklaven gestohlen und meine Gesellen getötet? Wer hat mir das schlafende Wasser der Entudenin aus den Händen genommen, Yarim verdurstend zurückgelassen und mich des Reichtums und der Macht beraubt, die es mir gebracht hätte? Es hätte einfach sein sollen, wenigstens eine Spur zu finden, doch du hast mir nichts geliefert – rein gar nichts.« »Ich schwöre Euch, Gildenmeisterin, ich habe eifrig gesucht, eine Nacht nach der anderen, aber es gibt keine Spuren!«, stammelte die Alte mit schwankender Stimme. »Niemand in Yarim weiß etwas. Außerhalb des Marktes weiß ja nicht einmal jemand etwas von dem Tunnel. Die Zerstörung muss das Werk böser Götter gewesen sein – wie, außer durch die Hand eines Dämons, könnte all der Lehm zu hartem Ton gebrannt worden sein, wo doch all Eure Öfen zusammen das nicht hätten vollbringen können?« Eine nur verschwommen wahrgenommene Bewegung reichte aus, und Estens Augen befanden sich nur noch einen Hauch von denen der Alten entfernt. Sie hatte eine gleißende Klinge in der Hand, die so fest gegen Mutter Julias Kehle drückte, dass winzige Blutstropfen bei jedem nervösen Zittern in die Luft spritzten. »Du alte Närrin«, brummte Esten mit leiser Stimme. »Götter? Ist das alles, was du mir nach dieser langen Zeit zu bieten hast?« Sie schlug heftig und verächtlich zu und drückte Mutter Julia gegen den Tisch hinter ihr, an dem sie mit einem Schmerzensseufzer zusammenbrach. »Es gibt keine Götter, Mutter Julia, und keine Dämonen. Ein Scharlatan wie du, der den Dummen die Münzen für farbigen Rauch und körperlose Stimmen aus der Tasche zieht, sollte das doch am besten wissen, denn wenn es sie gäbe, würdest du schon in der Gruft der Unterwelt schmoren.« »Nein, nein«, jammerte die Frau und versuchte aufzustehen, doch es gelang ihr nur, die Tischplatte zu umfassen, bevor sie wieder auf den schmutzigen Boden fiel. »Ich bete den All-Gott an, den Schöpfer, der mich gemacht hat.« Sie vollführte mit zitternden Armen ein Zeichen über Herz und Ohren. Esten seufzte. Sie ging hinüber zu der Stelle, wo die Frau auf dem Boden hockte, packte sie am Arm und drückte sie auf einen Stuhl. »Die Götter machen uns nicht, Mutter Julia. Wir machen die Götter. Wenn du das verstündest, wärst du eine viel mächtigere und höher geachtete Frau, statt nur eine pathetische Betrügerin zu sein, die die Leichtgläubigen beschwindelt und mit Manwyns Narreteien wetteifert.« Als die alte Frau den Namen des Orakels der Zukunft hörte, machte sie wieder das Zeichen und riss die Augen vor Schreck weit auf. »Beschwört sie nicht«, flüsterte sie. »Bitte, Gildenmeisterin.« Esten schnaubte verächtlich. »Zu spät. Nur Manwyn sieht die Zukunft. Sie wusste, was du hören würdest, noch bevor ich es aussprach, doch jetzt kann sie sich nicht mehr daran erinnern.« Sie hockte sich vor die entsetzte Wahrsagerin und bewegte sich langsam und berechnend wie eine Spinne, die auf ihr Opfer zukriecht. »Sie weiß nur, was vor dir liegt.« Sie neigte den Kopf; ihre dunklen Augen glänzten. »Glaubst du, sie hat Angst um dich?« »Bitte...« »Bitte? Bittest du mich jetzt um einen Gefallen?« Esten lehnte sich weiter vor; ihre Glieder bewegten sich in einem tödlichen Tanz. »Hast du geglaubt, du hättest unbegrenzt Zeit? Hast du geglaubt, meine Geduld sei grenzenlos? Dann bist du ein noch größerer Narr als dieses Gewürm, das dich aufsucht, um Antworten auf seine unbedeutenden Fragen zu erhalten.« Sie hielt um Haaresbreite vor der zitternden Alten inne, und das Glimmen in ihren Augen wurde härter; es war wie Lehm, der im Ofen zu Keramik brennt. »Ich benutze dich, weil dein Netzwerk – deine lepröse Familie – so viele Augen hat«, sagte sie mit fester, leiser und tödlich harter Stimme. »Offenbar sind diese hunderte von Augen blind, wenn sie in den drei Jahren keine Spur finden konnten, oder etwa nicht, Mutter?« Ein erschreckendes Lächeln breitete sich langsam auf ihrem zarten Gesicht aus. »Vielleicht brauchen sie diese Augen nicht mehr.« Sie wandte sich an den Kronprinzen Dranth: »Gib den Befehl an die Rabengilde heraus, dass jedem Mitglied der Familie dieser einfältigen Frau die Augen herauszureißen sind, sobald man ihm begegnet, eingeschlossen die verfluchten Enkel, die durch die Straßen streichen, den Unrat vermehren und die Luft atmen, die all jenen vorbehalten ist, welche von wirklichem Wert sind.« »Gnade«, flüsterte die alte Frau und krallte die arthritischen Hände ineinander. »Bitte, Gildenmeisterin, ich flehe Euch an...« Esten entfernte sich ein wenig von ihr und betrachtete Mutter Julia, deren Gesicht grau und schweißüberströmt war. »Gnade? Nun, ich vermute, ich kann deine Bitte überdenken und dir eine letzte Gelegenheit geben, deine bedauernswerte Familie zu retten. Doch wenn ich das tue und du schon wieder versagst, wird die ganze Welt deinen Klan als Missgeburten ansehen, weil all das, was an ihren Köpfen nutzlos ist - Augen, Ohren und Zunge -, ihnen genommen und in die Gassen geworfen wird, damit sich meine Hunde daran mästen können. Haben wir uns verstanden, Mutter?« Die Alte konnte nur schwach nicken. »Gut.« Esten zog aus ihren Kleidern das Lumpenbündel hervor, das Slith ihr gegeben hatte. Mit großer Vorsicht entfernte sie die Stoffschichten und enthüllte den blau-schwarzen Stahl der hauchdünnen Scheibe. Sie leuchtete in dem unbeständigen Licht der Lampen. »Weißt du, was das ist?« Mutter Julia schüttelte den Kopf. Esten seufzte. »Betrachte sie genau, Mutter Julia. Gebrauche deine Augen vielleicht zum letzten Mal. Ich will, dass innerhalb dieses Mondzirkels dein ganzer Klan, so weit dein Einfluss reicht, nach dem Ursprung dieses Gegenstands sucht. Und was noch wichtiger ist: Ich will wissen, wem er gehört. Wenn du mir diese Informationen bringst, werde ich euch weiter unter meinen Schutz stellen. Wenn nicht...« »Ich werde nicht versagen«, sagte die Alte leise. »Vielen Dank, Gildenmeisterin.« Esten streichelte sanft die verrunzelte Wange der Frau. »Das weiß ich, Mutter.« Sie holte zwischen den Falten ihres Hosenstoffs eine Goldmünze mit dem aufgeprägten Kopf des cymrischen Herrschers auf der einen Seite und dem Wappen des Bündnisses auf der anderen hervor. »Gib diese Goldkrone deinem neugeborenen Enkel. Wie heißt er noch gleich?« »Ignacio.« »Ignacio – welch ein schöner Name. Gib es bitte Ignacios Mutter für ihn und übermittle ihr meine besten Wünsche zu seiner Geburt.« Die alte Frau nickte zitternd, als zwei von Estens Männern sie bei den Armen nahmen und auf die Beine stellten. »Kümmert euch bitte darum, dass Mutter Julia sicher nach Hause kommt«, befahl Esten ihnen, während sie die Alte zur Tür führten. »Ich möchte nicht, dass dieser armen Dame etwas Unvorhergesehenes zustößt.« Sie wartete, bis die Tür wieder fest geschlossen war, setzte sich dann vor die Lampe und beobachtete die wässerigen Muster der leichten Kräuselungen, die über die glatte Oberfläche der Scheibe und den rasiermesserscharfen Rand liefen wie helle Wellen über eine leuchtende Klippe in das dunkle Meer. Bald, dachte sie. Ich werde dich bald gefunden haben. 4 Grün Gasverberger, Lichtungskenner Kurh-fa Der Kessel — Ylorc Auch wenn ihn einmal das königliche Gespür verließ, das ihm alle Bewegungen und Veränderungen im Gebirge kundtat, hatte Achmed doch immer gewusst, wann Grunthor in den Kessel zurückgekehrt war. Vor Jahrhunderten, im alten Leben, hatte Achmed einen Fjord in der Nähe des Feuerriffs überquert, eine schmale Bucht mit schäumenden Strömungen zwischen hoch aufragenden schwarzen Basaltklippen. In den dichten Wäldern oberhalb dieser Klippen, die voller wildem Leben, aber von Menschen unbewohnt waren, lebten Feuerwürmer, gigantische drachenähnliche Tiere mit einer Chamäleonhaften Haut, die der Legende nach aus lebendiger Lava bestanden und Zähne aus Schwefel hatten. Diese Schlangen schliefen die meiste Zeit, aber wenn sie auf die Jagd gingen, krochen sie recht leise durch das Unterholz; er hatte jedoch immer bemerkt, wenn sie sich näherten, denn dann verschwanden alle Tiere in der Umgebung. Die unablässigen Vogelgesänge, die sonst über seine überempfindliche Haut liefen, endeten plötzlich, als halte der Wald den Atem an und hoffe, die Jäger würden vorüberziehen. Genauso war es in Ylorc, wenn Grunthor zurückkehrte. Achmed hatte nie genau sagen können, wie es dem Sergeant-Major gelang, solch tiefe Furcht in den Herzen der Firbolg-Soldaten unter seinem Kommando zu erregen, doch was immer es war, er hatte es nur ein einziges Mal anwenden müssen. Von dem Augenblick an, da man ihn sichtete, wurde in den Korridoren und auf den Bergpässen Habt-Acht-Stellung eingenommen, auch wenn Grunthor noch drei oder vier Meilen entfernt war. Alle Narreteien wurden eingestellt, die Uniformen angezogen und das Benehmen umgestellt. Die Firbolg spürten sein Herannahen aus großer Entfernung wie die Vögel und Tiere des Fjords, die sich vor den Feuerwürmern versteckten, und wie sie unternahmen sie große Anstrengungen, seine Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken. Trotz der offensichtlichen Angst vor dem Kommandanten, die er beständig hegte und pflegte, war das Firbolg-Heer Grunthor in einer Weise ergeben, wie es bei den Bolg bisher nie vorgekommen war. Für Achmed war es eine Quelle der Erheiterung zu sehen, wie die primitiven Nomaden, die er, Grunthor und Rhapsody hier vorgefunden hatten, in kaum mehr als vier Jahren wie die Soldaten aus Roland, Sorbold oder Tyrian gelernt hatten, stramm Wache zu stehen. In Taktik und Waffengebrauch waren sie sogar noch besser ausgebildet; solche Fähigkeiten konnte man nur bedingt durch Übung erwerben. Zum größten Teil sprossen sie aus reiner Loyalität. Grunthors drohende Ankunft an diesem Tag aber schien mehr als die übliche Besorgnis zu erregen. Die Firbolg-Soldaten nahmen nicht ihre gewohnten Stellungen ein, sondern stoben vor den Spähern davon, die seine Ankunft mitteilten. Das bedeutete nichts Gutes. Was mochte Grunthor bei seiner Grenzpatrouille entdeckt haben? Einige Augenblicke später wurde Achmeds Vorahnung bestätigt. Vom Rand der Steppe, die bis zum Vorgebirge der Manteiden reichte – wie die Zahnfelsen offiziell von den Kartographen genannt wurden -, kam eine Gruppe von acht Reitern herangeprescht; ein gewaltiges Kriegspferd hatte die Führung übernommen. Mit seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungsgabe erkannte Achmed den Sergeant-Major, hinter dessen Rücken die vielen Griffe seiner gesammelten Waffen hervorragten. Er trieb Felssturz, sein Pferd, heftig an, erreichte die Befestigungen und preschte durch die Tore der jüngst aufgetürmten Mauern aus gebrannten Ziegeln und Erdpech. Der Bolg-König lief hinüber zum Quartiermeister, der bereit stand, um das Pferd des Sergeanten zu übernehmen, und wartete. Der Boden unter seinen Füßen bebte Unheil verkündend, als die Gruppe eintraf. Der Staub stieg unter ihnen auf wie Rauch aus auflodernden Feuern. In Grunthors Augen lag ein Blick, den Achmed sogar aus der Ferne erkennen konnte und der ihm gar nicht gefiel. Diese bernsteinfarbenen Augen hatten so viel Vernichtung und Tod gesehen, hatten menschlichen und dämonischen Feinden gegenübergestanden und immer ihren festen Blick behalten. Doch nun drückten sie Verwirrung aus, was bei Grunthor mehr als ungewöhnlich war. »Was ist geschehen?«, rief Achmed in den Bergwind, als der Sergeant sein Tier zum Stehen brachte und die Zügel dem Quartiermeister zuwarf. Der riesige Bolg starrte auf den König herunter und schüttelte den Kopf. »Wollte dir grade dieselbe Frage stellen«, sagte er, während er sich vom Pferd schwang. »Hatte schon fast erwartet, hier alles in Flammen stehen zu sehn.« Er saß mit einem Erderschütternden Donnern ab. Achmed sah ihn stumm an, bis der Quartiermeister das Kriegspferd weggeführt hatte. »Was hat dich so aufgeregt?« Grunthor beugte sich vor und berührte mit der Hand ehrerbietig den Boden. Die Erde, mit der er durch ein elementares Band verknüpft war, jammerte nicht länger vor Angst, sondern war wieder ruhig. »Auf dem Pass stimmte was nicht – was Schlimmes«, murmelte er und fuhr mit den dicken Fingern durch den Staub und die Kiesel auf dem Boden. Der Bolg-König sah schweigend zu, wie sich der Sergeant erhob, mehrfach um die eigene Achse drehte und dann mit den Schultern zuckte. »Als ob da plötzlich ’n Riss oder so was wie ’ne Höhlung gewesen wäre«, sagte er wie zu sich selbst. »Kann’s nich’ besser erklären. Als ob die Erde verbluten würde.« »Ist es noch da?« Der Riese schüttelte den Kopf. »Nee. Jetzt ist alles ruhig.« Achmed nickte. »Hast du eine Ahnung, was es gewesen sein könnte?« Grunthor sog die Luft ein und stieß sie langsam wieder aus. Dabei spürte er den Herzschlag der Erde in seinem Blut. Die Verbindung mit diesem Element war zustande gekommen, als er, Achmed und Rhapsody aus ihrer dem Untergang geweihten Heimat hatten fliehen und durch die Tiefen der Welt entlang den Wurzeln der Sagia, des Weltenbaumes, hatten kriechen müssen. Im Verlauf dieser scheinbar endlosen Reise durch die Zeit hatte er den uralten Rhythmus der Erde in sich aufgenommen und die Geheimnisse eingeatmet, die in ihren Tiefen verborgen lagen. Er hatte sie durch und durch kennen gelernt, auch wenn er dem, was er in jener Zeit gelernt hatte, keinen Ausdruck verleihen konnte. Grunthor, stark und verlässlich wie die Erde selbst, hatte Rhapsody ihn genannt, kurz nachdem sie durch das reinigende Feuer im Herzen der Erde geschritten waren. Dieser Name hatte das Band zwischen ihm und dem Element geknüpft. Sich über der Erde aufzuhalten verschaffte ihm ein gewisses Gefühl der Verlorenheit, weil er fern der tröstenden Wärme seines Elements war. Daher hatte die Wunde der Erde in seiner Seele widergehallt, was immer die Verletzung auch herbeigeführt haben mochte. Nun hatte er Angst – ein Gefühl, das er in seinem Leben selten verspürt hatte. Er schüttelte wieder den Kopf. »Nee.« Achmed schaute durch das Tor über die Zinnen hinweg auf die Steppe dahinter. Die Morgendämmerung kam heran und hüllte die Welt in kaltes Licht. Der Wind peitschte über die wüste Ebene, und das Gras bog sich in Demut. Undurchbrochene Wellen von Vegetation verbargen ein Bollwerk aus versteckten Zinnen, Gräben und Tunneln, welche die erste Verteidigungslinie der Firbolg bildeten. Es lag etwas Bedrohliches in der Luft. Als er den Blick abwandte, schaute er in Grunthors Augen. Zwischen den beiden Männern flog ein unausgesprochener Gedanke hin und her. Gemeinsam eilten sie in den Kessel. Achmed untersuchte sorgfältig den Korridor vor seiner Schlafkammer, bevor er die Tür versperrte. Er nickte Grunthor zu, der vorsichtig die komplizierten Schlösser an der schweren Truhe vor dem Bett des Bolg-Königs öffnete. Dann hob er den Deckel an und enthüllte ein dunkles Portal. Er kletterte in die Truhe, und einen Atemzug später folgte ihm Achmed, der den Deckel hinter sich schloss. Schweigend gingen sie durch den dunklen Korridor; die grob behauenen Basaltwände schluckten das Geräusch ihrer Schritte. Die Luft der Oberwelt, die klar von der relativen Frische des Morgens gewesen war, wurde umso stickiger und feuchter, je tiefer sie in den Berg eindrangen. Das Atmen bereitete ihnen immer größere Schwierigkeiten. Der schwere Geruch von Zerstörung, die rauchgeschwängerte Luft waren auch nach drei Jahren noch nicht verschwunden. Das Feuer, das tief in den Eingeweiden des Berges getobt hatte, war schon lange erloschen, hatte aber beißenden Ruß und bitteren Staub hinterlassen, der in Augen und Lunge brannte. Keiner der beiden Bolg sprach ein Wort, als sie den Tunnel durchschritten, den Grunthor zum Loritorium gegraben hatte. Gespenster steckten in diesen Gängen, Geister von Menschen und Träumen, die beide einen schrecklichen Tod erlitten hatten. Sie richteten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, den Fallen auszuweichen, die Grunthor aufgestellt hatte und die den Tunnel versiegelten, falls jemand anderes als sie beide oder Rhapsody eindringen sollte, die einmal im Jahr hierher kam und sich um das Kind kümmerte. Tief im Innern des Berges, am Ende des Tunnels, erhob sich drohend ein Geröllhaufen in der Dunkelheit, der als Bollwerk und letzte Barriere vor dem Loritorium diente. Achmed blieb kurz stehen und wartete darauf, dass Grunthor einen Durchgang durch den Schutt schuf. Während er wartete, schaute er hoch zur Decke, die sich in der Finsternis bis zur Kuppel des Loritoriums erstreckte. Wenn er diesen Ort sah, musste er unweigerlich an den traurigen Verlust denken, an den Untergang dessen, was einst ein Meisterwerk gewesen war, eine tief im Berg verborgene Stadt der Gelehrsamkeit, einst ein leuchtendes Beispiel für das Genie Gwylliams, des cymrischen Königs, der Canrif und die umliegenden Lande vor vielen Jahrhunderten begründet hatte. Nun war all das nur mehr ein Sinnbild für die Vernichtung, die eintritt, wenn die Vision dem Ehrgeiz und der Ehrgeiz dem gierigen Hunger nach Macht Platz machen muss. Verdammt, dachte er. Wut versengte ihm die Kehle. Ich kann nur das wieder aufbauen, was dieser Narr zerstört hat. Kaum hatte sich der Gedanke gebildet, verschwand er bereits wieder. Es gab kein Ende der Bauarbeiten in diesen Bergen, denn schließlich war nicht die Vollendung, sondern der Prozess des Bauens der Sinn des Ganzen. Die Erneuerung von Canrif und die zusätzlichen Projekte wurden allesamt aus einem einzigen Beweggrund unternommen: um des Aufbaus der Bolg willen, der unbekannten Rasse seines Vaters, die von primitiven, halb menschlichen Höhlenbewohnern zu einer richtigen Gesellschaft heranwachsen sollten – natürlich zu einer derben kriegerischen Gesellschaft, doch immerhin zu einer Kultur mit Wert, zu einem wesentlichen Beitrag der Geschichte. Und er hatte eine unendliche Lebensspanne zur Verfügung, um das zu bewirken. Wie sonst sollte er die Ewigkeit verbringen? Aber nicht dieser Ort, dachte er. Niemals dieser Ort. Er bleibt, wie er ist: ungestört. Er untersuchte die verborgenen Einrichtungen, die die Heiligkeit dieses Ortes bewahren würden, falls ihnen beiden etwas zustoßen sollte, und dachte über die Geräte nach, die ihrem Herzschlag und ihren inneren Schwingungen angepasst waren und den Tunnel im Fall eines unerlaubten Eindringens versiegeln würden. Wenn Grunthor stürbe, müsste ich eine ganze Schar von Arbeitern herführen, damit sie den Tunnel öffnen und säubern, und sie danach töten, dachte er. Welch eine schreckliche Verschwendung von Lebenskraft. Ein orange-roter Schimmer fesselte seinen Blick. Er drehte sich um und sah, dass die Wand aus Schiefer und Staub um Grunthors ausgestreckte Hände wie geschmolzene Lava glimmerte und sich ein Eingang in den Berg öffnete. Es war ein Tunnel mit Wänden so glatt wie Glas. Achmed schüttelte seine Gedanken ab und folgte dem Bolg-Riesen durch die Öffnung. Auf der anderen Seite des Hügels befanden sich die Überreste des Loritoriums, die nun unter völliger Stille lagen. Ein schwacher Dunst aus altem Rauch schlängelte sich unter die Kuppeldecke, aufgewirbelt vielleicht durch die Schwingungen ihrer Bewegungen und das Eindringen von Luft aus der oberen Welt. Im Mittelpunkt der Überbleibsel des alten Hofes stand der Altar aus Lebendigem Gestein. Er schien unberührt zu sein. Das Schlafende Kind, das aus derselben elementaren Erde gebildet war, lag mit dem Rücken darauf. Achmed und Grunthor näherten sich still dem Altar und achteten sorgfältig darauf, das Erdenkind nicht zu stören. Über der Kammer, in der es vor deren Zerstörung geruht hatte, war in großen Buchstaben die folgende Warnung angebracht gewesen: LASS DAS, WAS IN DER ERDE SCHLÄFT, UNGESTÖRT RUHEN, SEIN ERWACHEN KÜNDET VON EWIGER NACHT Die beiden Bolg hatten diese Warnung immer beachtet, denn sie hatten bei ihrer Reise durch den Mittelpunkt der Erde mit eigenen Augen die Bedrohung gesehen, auf welche die Zeilen sich bezogen. Sie war weitaus tödlicher als das Schlafende Kind. Das Kind lag immer noch so da, wie sie es beim ersten Mal angetroffen hatten; die Augen waren in ewigem Schlummer geschlossen. Wie der Altar, auf dem es schlief, so war auch seine Haut eine polierte, durchscheinende graue Oberfläche, unter der die purpurnen, grünen, dunkelroten, braunen und zinnoberroten Venen zu sehen waren. Der Körper war so groß wie der eines Erwachsenen und schien nicht zu dem süßen, jungen Gesicht zu passen, einem Gesicht mit Zügen, die zugleich hart und lieblich waren – roh behauen und sanft geglättet. Es sah aus wie die lebende Statue eines menschlichen Kindes, gemeißelt von einem Wesen, das nie einen Menschen aus der Nähe gesehen und keinen Sinn für Perspektive hatte. Das Haar des Kindes war lang und rau, grün wie Frühlingsgras und passte zu den Wimpern. Diese Wimpern zuckten bisweilen, doch die Lider blieben geschlossen, genau wie die schweren Lippen. Die beiden Bolg seufzten. Unausgesprochene Erleichterung zeichnete sich in ihrer Haltung ab. Sie näherten sich dem Altar. »Sieht sie nich vielleicht... kleiner aus?«, fragte Grunthor nach langem Schweigen. Achmed blinzelte und betrachtete eingehend die Umrisse auf dem Altar. Es gab keine Anzeichen dafür, dass ihr Körper an Größe verloren hatte, dennoch hatte sich etwas verändert. Es war eine Zerbrechlichkeit um sie, die er nicht festmachen konnte und die ihm nicht gefiel. Schließlich zuckte er die Achseln. Grunthor verschränkte die Arme vor der Brust und schaute das Erdenkind aufmerksam an. Auch er zuckte die Schultern. »Ich mein, sie hat was verloren, aber es kann nur wenig sein«, sagte er und runzelte sorgenvoll die riesige Stirn. Er legte die Decke aus Eiderdaunen, auf der das Kind ruhte, fest um dessen Körper und liebkoste dabei sanft seine Hand. »Mach dir keine Sorgen, Kleines«, sagte er leise. »Wir hol’n dich zurück.« »Es sieht doch nicht krank oder verletzt aus?« »Nee.« Achmed seufzte. Grunthors Beschreibung der Wunde, die er in der Erde gespürt hatte, machte ihn nervös und hatte in ihm die Befürchtung ausgelöst, das Erdenkind könne berührt oder verletzt worden sein – oder Schlimmeres. Es war eine immerwährende Sorge. Dieses Mädchen war nach seinem Wissen das letzte lebende Erdenkind; ein Wesen, das vor langer Zeit aus dem reinen Element gebildet und von einem unbekannten Drachen ins Leben gerufen worden war. Eine der Rippen seines Körpers war ein lebender Steinschlüssel, der die Gruft der Unterwelt öffnete, in der vor aller Zeit die F’dor, die Dämonen des elementaren Feuers, eingesperrt worden waren. Die Dhrakier, die Rasse von Achmeds Mutter, hatten einen Bluteid geleistet, diese Gruft zu bewachen, damit die F’dor für alle Zeiten weggesperrt blieben, und jeden, der trotzdem entkommen konnte, zu jagen und zu erlegen. Genauso bestand die endlose Suche der oberweltlichen F’dor darin, einen Weg zu finden, ihre Brüder aus der Gruft zu befreien und Chaos und Zerstörung über die Welt zu bringen, wonach sie, die Kinder des Feuers, sich so sehr verzehrten. Das Erdenkind war also der Katalysator, der eine Ereigniskette in Gang setzen konnte, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Das Schicksal der Erde hing von seiner Sicherheit ab, und Achmed hatte als ewiger Wächter geschworen, sich darum zu kümmern, dass das Kind unverletzt blieb, versteckt für alle Zeiten in dieser dunklen Gruft, die einst eine glänzende Stätte der Gelehrsamkeit und Weisheit gewesen war. Es war ein geringer, aber kein leicht zu zahlender Preis. »Schlafe in Frieden«, sagte er ruhig zu dem Erdenkind und nickte dann in Richtung des Durchgangs. Als sie den Tunnel durchquerten, den Grunthor in der Gerölllawine geöffnet hatte, schaute Achmed ein letztes Mal hoch zur Kuppel, die sich über der Schwärze des Loritoriums wölbte. Sie schien unbeschädigt zu sein. Er warf einen Blick zurück zu dem Altar aus Lebendigem Gestein. Das Erdenkind schlummerte weiter, anscheinend war es sich der Welt um es herum und der möglichen Bedrohung nicht bewusst. Der Firbolg-König betrachtete es einen Augenblick lang, dann wandte er sich ab und ging vor Grunthor zurück durch den Tunnel; seine schwarze Robe umwisperte ihn. Der Bolg-Riese verschloss das Loch in den Steinen hinter ihnen. »Was glaubst du – wieso hat die Erde so geschrien?«, fragte der Sergeant und warf einen letzten Blick über die Schulter, bevor er dem König durch den Korridor folgte. »Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Achmed. Seine Stimme hallte seltsam von den unregelmäßigen Wänden des ansteigenden Tunnels wider. »Ansonsten können wir kaum etwas tun, als uns vorbereiten, denn früher oder später wird es mich finden, um was es sich auch immer handeln mag. Komm, wir gehen von der einen Ruine zur anderen.« Grunthor nickte und schloss zu ihm auf. Den Rest des Weges zur Oberwelt legten sie in kameradschaftlichem Schweigen zurück. Sie hatten bereits die Hälfte des Rückweges hinter sich gebracht; daher konnten sie nicht sehen, wie in der Dunkelheit der Begräbniskammer eine einzelne sandige Träne am Gesicht des Erdenkindes herablief. Grunthor trat behutsam über die verstreuten Scherben farbigen Glases und schaute hoch zur dünnen Kuppel, die in den Gipfel des Gurgus, was auf Bolgisch Klaue hieß, eingelassen war. Auf den Gerüsten, welche die Wände umringten, war es nun still. Die Handwerker waren fort und hatten ihn und den König allein zurückgelassen. Und einen beständig anwachsenden Haufen aus zerbrochenem Glas. »Geht wohl nicht allzu gut voran, was?«, meinte Grunthor gutmütig und trat den Abfall beiseite. Er bückte sich und hob ein zerknittertes Stück Pergament auf, das unter den Scherben gelegen hatte und alle Anzeichen eines architektonischen Plans trug. »Schlage es nicht auf«, riet Achmed ihm säuerlich. »Es ist voller Spucke. In der letzten Woche habe ich nach einem besonders schwierigen Tag jedermann ermuntert, sein Glück daran zu versuchen. Du solltest dich auch von den übrigen Papierknäueln fern halten. Mit fortschreitender Zeit haben die Körperflüssigkeiten darauf immer deutlicher unseren Fortschritt – oder eher dessen Gegenteil – widergespiegelt. Du kannst dir also vorstellen, womit es geendet ist.« Grunthor grinste; seine säuberlich polierten Hauer glänzten in dem schwachen Licht. Er warf das Pergament zurück auf den Haufen. »Warum machst du dich so verrückt damit?«, fragte er; sein Tonfall war sowohl leicht als auch ernst. »Wenn du wirklich den Eindruck hast, du musst dich bis zum Wahnsinn ärgern, warum schickst du dann nicht einfach nach der Herzogin? Sie hat doch normalerweise denselben Effekt auf dich, und sie ist billiger als die Restaurierung einer Kuppel in einem Berg, wenigstens wenn du sie stundenweise bezahlst.« Achmed grinste. »Wir sollten die schmuddelige Vergangenheit unserer cymrischen Herrscherin besser nicht zur Sprache bringen. Wir werden sie bald genug sehen. Ich habe letzte Nacht durch einen geflügelten Boten von ihr gehört. Sie will uns in vier Wochen in Yarim treffen.« »Oh, gut«, erwiderte der Riese und schaute wieder den Turm hinauf. »Und was jetzt?« »Sie will unsere Hilfe – deine Hilfe, um genau zu sein – bei der Wiederbelebung der Entudenin, dieses toten Geysir-Obelisken.« Grunthor nickte und schob die farbigen Glasscherben mit der Stiefelspitze zusammen. »Hab ihr schon vor langer Zeit gesagt, das ist möglicherweise ’ne Blockierung irgendwo in den Gesteinsschichten. Glaubt sie’s jetzt auch und will uns bohren lassen?« »Anscheinend.« »Und du willst alles liegen und stehen lassen und ihr zu Hilfe eilen?« Achmed zuckte die Achseln und ging dann zurück zu dem Haufen aus farbigem Abfall. Der Riese hob eine Augenbraue, sagte aber nichts, sondern richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Turm. Als Gwylliam Canrif gründete, schien er eine Vorliebe für das Aushöhlen von Berggipfeln gehabt zu haben. Die Zahnfelsen waren voll damit – zerklüftete Spitzen, die sich bis in die Wolken erhoben, vielfarbig, bedrohlich, dunkel vor Schönheit und Geheimnis. Für den überheblichen cymrischen König mussten sie eine Herausforderung dargestellt haben, denn er verbrachte viel Zeit damit, sie äußerlich zu verstärken, während er die inneren Gesteinsschichten abraspelte und sie mit nutzlosen Räumen und großartigen Kuppeln füllte. Der erdverbundene Grunthor empfand dies als abstoßend, ja sogar als Vergewaltigung. Als er, Achmed und Rhapsody nach Ylorc gekommen waren, hatten sie im westlichen Gipfelmassiv des Griwen einen verfallenen Wachtturm entdeckt und restauriert, der neben einer Festung und Kasernen stand, die mehr als zweitausend Bolg-Soldaten beherbergt hatten. Über der großen Halle hatten sie ein gewaltiges Observatorium gefunden, von dem aus man die Krevensfelder außer nach Osten in alle Richtungen dreißig Meilen weit überblicken konnte. Als Soldat verstand er die Notwendigkeit all dieser Renovierungsarbeiten. Er konnte sich auch mit der Wiedererrichtung der Städte im Bergesinnern und der Restaurierung der Statuen und Kunstwerke abfinden, auch wenn er dafür wenig Verständnis hatte. Aber keines dieser Projekte schien so wichtig zu sein und hatte schon so viel Ärger verursacht wie das gegenwärtige Unternehmen des Bolg-Königs. Er konnte es beim besten Willen nicht begreifen. Der Sergeant blinzelte, als er zur Spitze des verfallenen Turmes schaute und herauszufinden versuchte, was so Besonderes an diesem cymrischen Artefakt, dieser ausgehöhlten Bergspitze war, dass sie Achmeds Aufmerksamkeit derart gefangen nahm. Jedes Mal, wenn er von einem Manöver zurückkam, war die Stimmung des Königs düsterer. Inzwischen hatte sie ungefähr die Farbe von Pech angenommen. In den Bolglanden gab es endlose Möglichkeiten für Restaurierungsarbeiten. Es war früher einmal beinahe ein ganzes Land gewesen, ein Siedlungsort vieler Völker, die sich in die schützenden Arme der Berge zurückgezogen und sowohl in der Erde als auch oberirdisch hinter der Schlucht gelebt hatten. Hier waren dreihundert ungestörte Jahre lang die größten Geister ihrer Zeit zu Hause gewesen; alle Arten von Wissenschaft und Kunst hatten unbelästigt Wachstum und Gedeih gefunden. Selbst die folgenden siebenhundert Jahre Krieg hatten die mechanischen Errungenschaften und architektonischen Wunder nicht vollends zerstören können. Außerdem, so dachte Grunthor, hatte Achmed doch alle Zeit der Welt für die Aufbauarbeiten. Alle Zeit der Welt. »Was ist an diesem Ding dran, dass es dich so aus dem Häuschen bringt?«, fragte er schließlich und deutete auf den Turm. »Ich glaub, es ist ’ne gute Idee, wenn wir uns nach Yarim aufmachen, damit du von hier fortkommst. Das hier knechtet deinen Verstand zu sehr. Du siehst richtig schrecklich aus.« »Ich bin ein Dhrakier. Ich sehe immer richtig schrecklich aus.« »Noch schrecklicher als sonst.« »Kannst du das trotz der Schleier sehen?« »Ja. Deine Augen sind ganz gelb und rot. Hab schon geglaubt, du wärst zum F’dor geworden, während ich weg war.« »Das wäre doch interessant: ein dhrakischer F’dor. Ich frage mich, was geschehen würde, wenn ein Dämon in mich zu dringen versuchte. Ich vermute, ich würde mich entweder auflösen oder explodieren, denn unsere beiden Rassen sind zu gegensätzlich. Eigentlich wäre es einen Versuch wert. Wenigstens würde ich dann einen von ihnen mitnehmen. Doch nein, ich bin nicht besessen; wir haben hier bloß immer nur Misserfolg gehabt. Die gewölbte Decke widersetzt sich mir, und ich hasse es, wenn Glas sich mir widersetzt.« Achmed seufzte und bückte sich. Mit der behandschuhten Rechten fuhr er durch den farbigen Sand und die Scherben. »Omet sagt, wir müssen einen Glaskünstler mit viel größerer Erfahrung finden, einen verbrieften Meister.« »Na, er muss es wissen.« »Ja, und er hat sogar zugegeben, dass Yarim der Ort ist, wo wir einen finden können.« Grunthor stieß einen Pfiff aus. »Er muss ja richtig verzweifelt sein.« »Oder er weiß, dass ich es bin.« Die beiden Freunde tauschten ein Lächeln aus. Omets Angst vor Yarim und sein Widerstreben, diesen Ort auch nur zu erwähnen, hatten in den letzten drei Jahren für viele unterhaltsame Momente gesorgt. Für die Bolg war es eine Quelle der Belustigung zu sehen, wie ein ruhiger junger Mann, der in Frieden unter ihnen lebte und immer eine schlagfertige Antwort auf der Zunge hatte, bei jeder Erwähnung der Provinz sofort verstummte, blass wurde und regelrecht zitterte. Die Gildenmeisterin, für die er dort gearbeitet und deren Name er nur ein einziges Mal erwähnt hatte, musste schrecklich sein. Als Omet noch ein junger, kahlköpfiger Mann gewesen war, den sie aus der Ziegelbrennerei gerettet hatten, hatte er ihnen zugeflüstert, dass es keine reinere Form des Bösen gebe. Aber natürlich hatte Omet nichts von der Welt gesehen. Achmed wusste, dass das Böse eine ganze Reihe von reineren Formen annehmen konnte, wie furchtbar die Gildenmeisterin auch sein mochte. Er war etlichen von ihnen persönlich begegnet. »Ich vermute, das heißt, wir gehen dorthin«, sagte Grunthor. »Ja, es sei denn, du hast keine Zeit dafür.« »Nee«, sagte der Riese, trat über den Abfallhaufen und stellte sich unmittelbar unter den Turm. »Hagraith und die anderen kommen schon klar, wenn ich kurz weg bin. Wird schön sein, die Herzogin wiederzusehen, ist schon so lange her.« »Allerdings«, pflichtete Achmed ihm bei. »Ist das wirklich der Grund, warum du gehen willst?«, fragte Grunthor und vermied es, dem König in die Augen zu sehen. »Bisher ist es fast unmöglich gewesen, dich von diesem Glasprojekt loszueisen.« Achmed atmete flach, ging zum Tisch des Konstruktionszeichners und holte aus einer Schachtel darunter eine Lage alter, knitteriger Pergamentblätter hervor. »Das sind die Pläne, die ich für diesen Ort gefunden habe«, sagte er mit leiser Stimme, als spräche er zu sich selbst. »Sie sind unvollständig, an manchen Stellen unleserlich und in einem Code oder einer alten Schrift verfasst. Die grundsätzlichen Zeichnungen verstehe ich, aber es fehlt so vieles, das ich weder in Gwylliams Bibliothek noch in der Gruft gefunden habe. Ich weiß, dass die Kuppel aus farbigem Glas bestehen soll – das steht in Gwylliams Aufzeichnungen, und es gab sieben Glasblöcke in der Gruft, einen von jeder Farbe, die wohl als Muster gedient haben -, aber welche Farben wo angebracht werden sollen, wird nirgendwo klar ausgesprochen. Es gibt ein Manuskript – dieses hier« – er holte ein einzelnes Blatt hervor -, »das sich auf den Turm zu beziehen scheint, aber ich kann es nicht entziffern. Vielleicht gelingt es Rhapsody. Sie kann Serenne lesen und hat als Benennerin Kenntnisse in der Kunst der Schwingungsleiter. Einiges in diesem Manuskript sieht wie Notenschrift aus.« »Aha.« Grunthor nickte. »Wusste doch, dass es ’ne Verbindung zwischen dem und Yarim gibt, weil du so gern gehen willst, und zwar nicht nur, um die Herrin wiederzusehen.« Er seufzte, als Achmed die beschädigten Diagramme nahe vor die Augen hielt. »Vielleicht könntest du mir endlich mal sagen, was an diesem Turm so verdammt wichtig ist.« Achmed blinzelte. »Wie bitte?« »Entschuldige, aber du bist regelrecht besessen von ihm. Und ich kann mir nich vorstellen, warum.« Der Sergeant verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab noch nie so was bei dir erlebt, außer wenn du auf der Jagd bist. Die Truppen sind gut ausgebildet, die Grenze ist sicher, das Bündnis scheint zu gedeihen, soweit es ’n einfacher Soldat wie ich beurteilen kann. Wir haben ’ne Menge Verteidigungsanlagen, Außenposten, Späher. Warum hält dich das hier so im Griff?« Die olivfarbene Haut des Bolg-Königs wurde noch dunkler, als er über diese Frage nachdachte. Grunthor wartete geduldig, bis Achmed seine Gedanken so weit geordnet hatte, dass er sie aussprechen konnte. »Als Gwylliam und Anwyn sich während des cymrischen Krieges bekämpft haben, dauerte es fünfhundert Jahre, bis sie die Strecke von der Westküste bis zu den Zahnfelsen zurückgelegt hatte«, sagte er schließlich. »Ihre Söhne waren unfreiwillig getrennt und von jedem Elternteil in dessen Dienst gezwungen worden, weswegen Anwyn beinahe während des ganzen Krieges die Zahnfelsen nicht angreifen konnte. Anborn hielt die Heere seiner Mutter mit großem Erfolg für seinen Vater zurück. Überall auf dem Kontinent gab es ein Patt. Llauron nahm manchmal eine Stadt oder eine Provinz für Anwyn ein, und Anborn eroberte sie für Gwylliam zurück. Solange die Brüder Generäle waren, handelte es sich kaum um einen richtigen Konflikt. Man darf behaupten, dass sie den Krieg nicht sonderlich eifrig vorantrieben, wenn man die Zeitspanne bedenkt, in der nichts Wesentliches erreicht wurde. Das ist nicht überraschend, zumal beide zunächst nicht daran teilnehmen wollten.« Grunthor nickte. Er hatte die Aufzeichnungen über den Krieg studiert. »Aber was war Anwyns erstes Ziel, als sie schließlich zu den Zahnfelsen zurückkehrte?« Der Riese stieß laut die Luft aus. »Der Gurgus«, sagte er. »Richtig. Dieser Gipfel, dieser Turm war das Erste, was sie angegriffen hat. Warum?« Der Firbolg-König schritt nun auf und ab und ließ dabei kaum eine Spur im vielfarbigen Staub des Bodens zurück. »Sie kümmerte sich nicht darum, ihre Randstellungen zu befestigen und ihre Grenzen hinauszuschieben. Sie strafte den Griwen, Xaith und die westlichen Außenposten mit Nichtachtung, ließ ihr Heer weit hinter der Kampflinie zurück und schickte stattdessen heimlich eine Brigade, drei Kohorten aus ihren besten Truppen, in die Tiefen der Zahnfelsen, wobei sie wusste, dass keiner von ihnen lebend zurückkehren würde, nur um diesen Turm zu zerstören. Aber warum? Er enthielt keine Waffen, hatte keine Befestigungen, nichts als eine Decke aus regenbogenfarbenem Bleiglas, ein verstärkendes Metallrohrwerk und ein Rad. Was konnte so wichtig an diesem Turm sein, dass Anwyn ihre strategische Stellung aufs Spiel setzte und ihre besten Soldaten opferte, nur um diesen Turm zu zerstören, bevor sie sich Gwylliam im Kampf stellte?« »Keine Ahnung«, sagte Grunthor und schüttelte den Kopf. »Ist schon lange her, dieser Krieg. Die ganze verdammte Sache war vor vierhundert Jahren zu Ende. Du hast sie doch auf dem cymrischen Konzil getroffen, da war sie ganz schön daneben. Vielleicht war sie auch damals schon nicht mehr ganz dicht. Ich hab sie in Aktion gesehn und würde daher sagen, sie hatte wohl irgendeinen verrückten Grund, hat vielleicht die Farben der Dachfenster gehasst oder der alte Gwylliam hat mal gesagt, dass er sie sehr mag. Diese Leute waren bekloppt. Jetzt sind sie beide tot, und das ist gut so.« Er richtete sich auf und warf einen gewaltigen Schatten in den Raum. »Aber du bist kein Narr, und ich auch nicht. Sag mir einfach den wahren Grund dafür, warum du etwas wiederaufbaust, von dem du nicht einmal weißt, was es ist.« Achmeds verschiedenfarbige Augen betrachteten seinen alten Freund für eine lange Zeit, dann wandte er den Blick ab. »Ich habe schon einmal so etwas gesehen«, sagte er. Seine Stimme klang eine Welt weit entfernt. »Den gleichen zylindrischen Turm, die gleichen Verstrebungen. Die gleiche farbige Glasdecke. Das gleiche Rad.« Grunthor wartete lange in Schweigen, bis er es nicht mehr aushielt. »Wo?«, fragte er schließlich. »In der alten Welt. Jemand in Serendair hatte so etwas.« »Wo?« Der Bolg-König stieß leise den Atem aus, als ob er versuchte, das Wort so lange wie möglich zurückzuhalten. »In Glyngaris«, meinte er schließlich. Es war ein Name, den er vor Grunthor bisher nur ein einziges Mal ausgesprochen hatte, und nie in der neuen Welt. Der Sergeant stand lange unbeweglich da und schüttelte dann den Kopf, als ob er den Schlaf vertreiben wolle. Er nickte. »Wenn es das ist, geh ich los und mach mich für die Abreise bereit.« Achmed erwiderte nichts darauf. Er stand totenstill da, als der Sergeant den Raum verließ. 5 Blau Wolkenfänger, Wolkenrufer Brige-sol Haguefort — Navarne Die Brise aus Wind und Sonne, die das Turmfenster aufgestoßen hatte, weckte Ashe, erfasste seine Augen und veranlasste ihn, sich einen Moment lang von der Wärme neben ihm fortzudrehen. Er schirmte das Gesicht vor der Helligkeit des Morgens ab, die in seine Gemächer und seinen Schlaf eindrang. Dabei murmelte er in einigen bekannten und vielen unbekannten Sprachen unterdrückte vulgäre Flüche, die er nicht ernst meinte, dann rollte er sich wieder hinüber und schaute auf Rhapsody hinunter, die noch tief schlief und von dem gefilterten Licht nicht gestört wurde. Seine gute Laune kehrte zurück, während er sie betrachtete. Die Spitzengardinen vor dem Fenster, die im Wind der Morgendämmerung flatterten, warfen fließende Muster auf ihr zartes Gesicht und streiften die Wangenknochen und die Stirn mit flüchtigen Schatten, die einen Moment später über ihr Haar schössen, das sich wie ein goldener See in seidigen Wellen über das Kissen und die weißen Leinenlaken ausbreitete. In seiner zweigeteilten Seele spürte er das Aufkeimen uneinheitlicher Gefühle. Es war Liebe, was der Mann für sie empfand, doch sie wetteiferte um Oberherrschaft mit der Befriedigung darüber, dass sie sicher zurückgekehrt war, wonach es seine Drachennatur so verlangte. Es war ein bemerkenswerter Unterschied. Seine drachenhafte, begehrliche Natur sah sie als Schatz an und kämpfte mit Eifersucht und Verlustangst, wenn sie aus seiner Sinnensphäre trat, und auf der anderen Seite war da die einfache, unkomplizierte Verehrung, mit der seine menschliche Seite sie als die andere Hälfte seiner Seele betrachtete. Wie dem auch sei, er war sehr glücklich darüber, dass sie endlich wieder zu Hause war. Er dämpfte seinen Atem und bewegte sich leise, damit sie nicht geweckt wurde. Gemächlich lehnte er sich gegen die Kissen und beobachtete ihr Gesicht, während sie schlief. Wenn sie die Augen geschlossen hatte und schlief, erschien sie jünger und leichter als in wachem Zustand – beinahe wie ein Kind. Die Hitze des reinen Feuers, das sie vor langer Zeit während ihrer Reise durch die Erde von ihrer Heimatinsel zu diesem Ort auf der anderen Seite der Welt in sich aufgenommen hatte, brannte verborgen in ihren Wangen, viel schwächer aber als in ihren Augen, wo man es deutlich sehen konnte, wenn sie wach war. Die elementare Magie, die in ihr lebte, hatte eine machtvolle Wirkung auf die Leute in ihrer Umgebung. Manche starrten sie an wie hypnotisiert, andere kauerten sich wie in Angst vor einem flammenden Inferno zusammen. Ihr Anblick wurde von den Massen oft als einschüchternde Schönheit missverstanden, denn sie kannten nicht die Macht, die dahinter lag. Im Gegensatz zu ihnen war er von ihrer Schönheit nicht verzaubert, sondern erkannte sie als das, was sie war, weil seine Drachennatur die Kraft in ihr spürte, ja sogar beinahe sah. Weil er so machtvoll an das Element des Wassers gebunden war wie sie an das Element des Feuers, verstand er auf der höchstmöglichen Ebene die Gabe und den Fluch eines solchen elementaren Bandes. Daher bestand ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen ihnen, das ihn bereits vor dem ersten Blick unausweichlich in den Bann gezogen hatte. Als sie noch Meilen von ihm entfernt gewesen war, hatten seine Drachensinne schon ihre Magie gespürt und sich ihr unrettbar ergeben. Der Mann jedoch, der große natürliche Kräfte besaß, aber in seiner Menschlichkeit unvollkommen war, konnte hinter diese Magie und Schönheit auf die unvollkommene Frau dahinter blicken. Sein Herz verspürte für sie die Liebe, die jeder Mann der Frau gegenüber fühlt, welche die andere Hälfte für ihn darstellt. Fehler und Stärken wurden ertragen und geschätzt, Streit und kleinerer Ärger wurden durchkämpft und vergeben, und gemeinsam wurde an dem gewoben, was der Teppich eines geteilten Lebens war. In Anbetracht seiner Abstammung und seiner schrecklichen und gewaltigen Vergangenheit war es diese gewöhnliche Liebe, diese übliche, gänzlich unvollkommene Verbindung, die er über alles schätzte. Sie hatte ihm ein Gefühl für Normalität und Wirklichkeit geschenkt. Und sie war wieder zu Hause. Von dem Augenblick an, als er sie in der vergangenen Nacht vorsichtig auf das Ehebett gelegt und sie die Kerze mit einer einfachen Geste ausgelöscht hatte, waren Worte zwischen ihnen unnötig gewesen. Die Feuerschatten aus dem Kamin an der gegenüberliegenden Wand hatten im Einklang mit ihrer Liebesumarmung getanzt und waren zu glühenden Kohlen herabgesunken, als ihre Leidenschaft befriedigt war und sie in den zufriedenen Schlaf glücklich vereinigter Liebender gesunken waren. Und nun schlief sie ruhig, blass, ungestört vom Morgenwind, der ihr Haar kräuselte. Er beobachtete sie und war mit der Welt zufrieden. Als sich die Sonne schließlich ganz über den Horizont und den Fenstersims erhoben hatte und die Schlafkammer mit Licht erfüllte, regte sie sich, öffnete die tiefgrünen Augen und lächelte. »Du bist schon wach?« »Ja.« »Du bist schon wach.« »Anscheinend.« »Du wachst nie vor mir auf.« »Das ist aber eine beleidigende Verallgemeinerung.« Rhapsody rollte herüber, streckte sich und legte ihre kleine, narbige Hand in seine. »Na gut, ich glaube, ich habe dich vor dem heutigen Morgen nie vor mir aufwachen sehen. Du befindest dich meistens im Winterschlaf eines Drachen, und man kann dich höchstens mit dem überwältigenden Gestank von scheußlichem Kaffee wecken, den du so liebst.« Ashe nahm sie in die Arme und drückte seine Nase gegen ihre. »Das leugne ich vollkommen. Es ist bemerkenswert, wie leicht es sich bei mir regt, wenn du hier bist, meine Herrin. Falls du dich beschweren willst, bestehe ich darauf, dass du die Wahrheit meiner Behauptung überprüfst.« »Von mir wirst du keine Beschwerden hören«, meinte Rhapsody. »Im Gegenteil, ich bin wie immer beeindruckt von deiner Tüchtigkeit, besonders nach der letzten Nacht. Bestimmt hast du während meiner Abwesenheit geübt. Ich hoffe, du warst dabei allein.« Sie lachte, als sich Ashes Gesicht rötete, dann küsste sie ihn herzlich. »Ich bin froh zu hören, dass du nicht enttäuscht warst, nachdem du die lange Reise nach Hause auf dich genommen hast.« Er drückte sie an seine Brust und legte sich mit einem zufriedenen Seufzen rücklings auf die Kissen. Er genoss den Kontrast zwischen der Wärme unter dem Laken und dem kühlen, beißenden Wind darüber. »Hast du in Tyrian all deine Staatsangelegenheiten regeln können?« »Ja.« »Gut. Ich bin froh, das zu hören, weil ich nicht beabsichtige, dich ihnen in absehbarer Zukunft zurückzugeben. Wie du weißt, können Drachen ziemlich weit in die Zukunft sehen. Daher hoffe ich, dass Rial deine Unterschrift unter alles bekommen hat, was er in den nächsten Jahren brauchen wird.« Rhapsody kicherte, richtete sich auf und bedachte Ashe mit einem nachdenklichen Blick. »Ich habe in der Tat sichergestellt, dass alle Angelegenheiten in Tyrian erledigt sind, weil ich hoffe, als Nächstes ein Projekt durchzuführen, das meine Anwesenheit hier in Navarne für einen langen Zeitraum erfordert. Das heißt, natürlich erst nach dem Ausflug nach Yarim, um dort die Entudenin wieder zu beleben.« Ashe setzte sich ebenfalls auf. »Ach, wirklich? Was für ein Projekt könnte das sein?« »Die Pflege und Erziehung eines Kindes.« »Du hast ein weiteres Enkelkind adoptiert? Wie viele sind es inzwischen? Schon über hundert?« Rhapsody schüttelte den Kopf. Ihre grünen Augen nahmen einen dunkleren, smaragdenen Ton an. »Nein, nur siebenunddreißig. Aber das habe ich nicht gemeint.« »Oh.« Ashe spürte, wie ihm beim Klang ihrer Stimme eine leise Kälte über die Haut lief. »Was meinst du dann, Aria?« Die Kohlen im Kamin, die noch vor einem Augenblick nichts als abkühlende graue Asche gewesen waren, glühten rot auf und glichen sich der Farbe ihrer Wangen an. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir ein eigenes Kind haben«, sagte sie mit fester Stimme, auch wenn Ashe ein leichtes Zittern in ihrer Hand spürte. Er starrte sie an und versuchte, ihre Worte von den Ohren zum Gehirn zu zwingen, bis er sah, dass sie vor Schmerz zusammenzuckte. Rasch ließ er ihre Finger los, die er unbewusst allzu sehr gedrückt hatte. Langsam setzte er sich ganz auf, schwang die Beine über den Rand des Bettes, lehnte sich vor und stützte das Kinn auf die Hände. Aus der Veränderung ihrer Herzschläge, ihrem flachen, raschen Atmen und einem Dutzend anderer körperlicher Anzeichen, deren sich seine Drachensinne bewusst waren, schloss er, dass seine Reaktion sie unglücklich machte, doch ihre Worte hatten ihn so aufgeregt, dass er nichts tun konnte, um ihre Besorgnis zu lindern. Stattdessen richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf sein Innerstes und versuchte, das Durcheinander von widerhallenden Worten aus der Vergangenheit zurückzudrängen. Unter einem plötzlichen Wirbel aus Muskeln und Bettlaken sprang Ashe auf und ging zum Kleiderschrank. Er versuchte, den Ausdruck des Erstaunens und Schmerzes auf dem Gesicht seiner Frau nicht wahrzunehmen. Er zog Hemd und Hose an und drehte sich schließlich um, wobei er es vermied, ihr in die Augen zu sehen. »Ich muss zurück zu meinen Ratgebern gehen«, sagte er nur. »Es tut mir Leid, wenn ich dich geweckt habe. Nach dieser langen Reise hätte ich dich ausschlafen lassen sollen.« »Ashe...« Er schritt schnell durch den Raum und ergriff die Türklinke. »Schlaf weiter, Aria«, sagte er sanft. »Ich werde dafür sorgen, dass dir in etwa einer Stunde das Frühstück ans Bett gebracht wird.« »Du hast doch gesagt, heute sei keine Zusammenkunft.« »Das war unüberlegt von mir. Sie werden schon seit Wochen wie Gefangene hier gehalten. Bestimmt wollen sie bald zum Ende kommen und in ihre Provinzen zurückkehren.« Rhapsody warf die Decke zurück, stand auf und zog ihren Morgenmantel über. »Sei doch kein Feigling«, sagte sie fest, aber ohne Groll. »Sag mir, was dich so verängstigt hat.« Die senkrechten Pupillen in Ashes Augen dehnten sich, als ob sie das Licht und ihre Worte einsaugten. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, dann öffnete er die Schlafzimmertür. »Ruh dich aus«, sagte er nur. Rasch und leise schloss er die Tür hinter sich. Später am Nachmittag fand sie ihn auf der Spitze eines der Glockentürme, welche das Haupttor von Haguefort flankierten. Rhapsody war sich bewusst, dass ihr Gemahl ihre Gegenwart bemerkt hatte. Er musste sie schon aus großer Entfernung gespürt haben, also nahm sie an, dass er nichts gegen ihre Anwesenheit einzuwenden hatte. Sie wartete im Türrahmen am oberen Ende der Turmtreppe und folgte seinem Blick über die gewellten Hügel von Navarne, auf denen die Sonne das hohe Gras in einem hellen Gelb und dunklen, kühlen Grün anmalte. Als sie schließlich sah, wie sich seine Schultern hoben und senkten und er tief ausatmete, unterbrach sie die Stille, die bisher nur durch eine gelegentliche pfeifende Brise gestört worden war. »Ist es die verrückte Manwyn? Ist es das, wovor du Angst hast?« Ashe erwiderte nichts darauf, sondern schaute weiterhin über das Vorgebirge zu den Krevensfeldern. Rhapsody trat durch die Tür und stellte sich neben ihn. Sie legte die Hände auf die glatten Verzierungen im Stein der Brustwehr, die neu errichtet worden war, nachdem der Turm vor drei Jahren durch heftiges Feuer und brennendes Pech zerstört worden war. So wartete sie in Schweigen, atmete die süße Sommerluft ein und folgte seinem Blick über die Berge. Als er endlich etwas sagte, schaute er noch immer auf die scheinbar endlose See aus grünen Wiesen hinter den Mauern der Festung. »Stephen und ich sind in unserer Kindheit endlos über diese Felder gelaufen«, sagte er ruhig. »Manchmal ist es, als könnte ich ihn dort noch immer sehen, wie er nur in der Phantasie vorhandene Krieger jagt, Drachen steigen lässt, auf dem Rücken liegt, in die Wolken starrt und aus ihnen die Zukunft liest.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er ein Gefühl von Kälte abstreifen. Dann drehte er sich um und sah sie ernsthaft an. »Hast du gewusst, dass seine Mutter wie meine gestorben ist, als er noch sehr jung war?« »Nein.« Ashe nickte und schaute wieder über die Felder. »Auszehrung. Es hat sie von innen her zerfressen. Danach war sein Vater nie mehr so wie früher. Sie hat etwas von seinem Geist mitgenommen, als sie ging. Stephen konnte sich kaum an sie erinnern. So wie Melisande sich nicht an Lydia erinnert.« Rhapsody seufzte. »Ich werde nicht sterben, Sam«, sagte sie, wobei sie den Namen gebrauchte, den sie ihm vor langer Zeit gegeben hatte – in ihrer eigenen Jugend, als sie sich auf der anderen Seite der Zeit getroffen hatten. »Manwyn hat es dir ebenfalls gesagt. Sie sagte auf sehr direkte Weise: Gwydion ap Llauron, deine Mutter starb bei deiner Geburt, aber die Mutter deiner Kinder wird bei deren Geburt nicht sterben.« Ashe schüttelte leicht den Kopf in dem vergeblichen Versuch, die Worte in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen, die ihm der Drache in seinem Blut in allen quälenden Einzelheiten immer wieder vorsagte. Es war mehr als drei Jahre her, seit er in dem dunklen Tempel von Manwyn, dem Orakel von Yarim gestanden hatte, der wahnsinnigen Seherin der Zukunft, die durch den Fluch der Geburt auch seine Großtante war, und er erschauerte unter der seltsamen Modulation ihrer Stimme, als sie eine Vorsehung ausgesprochen hatte, um die sie nicht gebeten worden war. Ich sehe ein widernatürliches Kind, empfangen in einem widernatürlichen Akt. Rhapsody, du solltest dich vor der Geburt hüten: Die Mutter wird sterben, aber das Kind wird leben. Rhapsody legte ihm zart die Hand auf die bloße Schulter, doch er schüttelte sie ab und versuchte, in seinem Kopf den Griff der Worte zu lösen, die sein Vater gesprochen hatte. Ich vermute, du weißt, was deiner eigenen Mutter passiert ist, als sie dem Kind eines Drachen das Leben geschenkt hat? Ich habe dir die Einzelheiten bis jetzt erspart. Willst du sie hören? Willst du wissen, wie es ist, einer Frau, die man zufälligerweise auch noch liebt, zuzusehen, wie sie unter Schmerzen stirbt, während sie versucht, dein Kind zur Welt zu bringen? Ich will es dir gern beschreiben. Da das Drachenjunge instinktiv die Eierschale durchbrechen und sich mit den Krallen einen Weg hinaus bahnen will... Halt. Dein Kind wird noch drachenähnlicher sein als du; also sind die Aussichten der Mutter auf ein Überleben nicht groß. Wenn schon deine eigene Mutter es nicht geschafft hat, wie wird es dann wohl deiner Gemahlin ergehen? Ohne seine Frau anzusehen, schüttelte er erneut den Kopf und beobachtete das rollende grüne Meer aus Gras unter ihm. »Ich habe zu viel vom Tod gesehen, um ihn zu riskieren, Aria. Ich habe zu viele Weissagungen gehört, die missverstanden worden sind. Mit seinen letzten Worten hat mich mein Vater gewarnt, ich solle den Prophezeiungen nicht trauen, denn ihre wahre Bedeutung ist nicht immer das, was es zu sein scheint.« »Wenn du den Prophezeiungen nur geringen Wert beimisst, warum beunruhigt dich die erste dann überhaupt?«, fragte Rhapsody und ergriff seine Hand. »Mir scheint, du glaubst all denen, die uns davon abhalten wollen, unser Leben so zu leben, wie wir es wünschen, damit wir nicht in Gefahr geraten. Dabei beachtest du diejenigen nicht, die diese ernsten Warnungen für nichtig erklären. Entweder du nimmst beide oder keine an, aber du solltest nicht die einen fürchten und den Trost der anderen verschmähen.« Ashes Haut wurde im Licht der Nachmittagssonne dunkler. »Es gibt so viele Kinder in deinem Leben, Rhapsody – in unserem Leben. Wohin du auch immer gehst, von dieser Festung aus, in der du lebst, bis zu den Bergen von Ylorc, vom lirinischen Wald bis zum Hintervold hast du ›Enkel‹, die du liebst und um die du dich kümmern kannst. Ich glaube nicht, dass es weise ist, das Schicksal herauszufordern, indem du dem Kind eines Drachen das Leben schenken willst, das doch ebenfalls Drachenblut in den Adern hat. Es gibt genügend mütterlose Kinder, um die du dich sorgen kannst; du musst nicht noch ein weiteres in die Welt setzen.« In seiner Stimme saß ein bitterer Stachel. Rhapsody nahm seine Arme, drehte ihn um und schlüpfte in seine Umarmung. »Ich weigere mich, meine Entscheidungen auf der Grundlage der wahnsinnigen Rasereien deiner Großtante zu treffen«, sagte sie spöttisch. »Aus diesem Grund lege ich auch nie die scheußlichen Tischdecken aus Brokat auf, die sie uns zur Hochzeit geschickt hat.« Nun wurde ihre Stimme ernster, und sie streichelte ihm zärtlich den Nacken. »Ich will mit dir das Leben führen, das wir uns ausgedacht haben, Sani. Ich will mein Blut mit deinem mischen, deine Kinder in mir tragen und mit dir eine Familie gründen, die uns ganz allein gehört. Ich war der Meinung, du willst das auch.« Ashe wandte den Blick nicht von der Windumtosten Ebene ab. Mehr, als du es dir vorstellen kannst, dachte er. »Wenn es einen guten Grund gibt, keine Kinder zu haben, will ich diese Idee sofort begraben, aber angesichts zweier widersprechender Prophezeiungen sehe ich keinen Anlass, in Angst vor etwas zu leben, das angeblich nicht eintreten wird. Außerdem ist die Prophezeiung, die du fürchtest, schon eingetreten. Sie war nicht an mich gerichtet, sondern an die Mutter des letzten Kindes, das von dem F’dor gezeugt wurde, den wir vernichtet haben.« Bei dieser Erinnerung verdunkelten sich ihre Augen. »Ich habe die Geburt und den Tod beobachtet. Die Mutter ist gestorben. Das Kind hat überlebt. Es ist vorbei. Die Prophezeiung ist erfüllt.« »Dessen kannst du dir nicht sicher sein, Rhapsody.« Sie warf die Hände in Verzweiflung hoch und wandte sich von ihm ab. »Wessen kann man sich schon sicher sein, Ashe? Das Leben ist jeden Moment ungewiss. Du kannst nicht in andauernder Furcht davor leben.« Ihr kam ein neuer Gedanke. Sie kehrte zurück zu ihm. »Manwyn kann nicht lügen, oder?« »Nicht direkt, aber sie kann verwirren und ausweichen, und sie kennt die ferne Zukunft so gut wie die unmittelbar bevorstehende. Daher kann sie eine Antwort auf eine Frage geben, die sich zwar als wahr herausstellen wird, aber möglicherweise erst in tausend Jahren. Deshalb kann man ihr nicht trauen.« »Aber wenn sie unmittelbar antwortet und ja oder nein sagt, kann sie nicht falsch liegen, oder?« Ashe schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht.« »Nun, da ich in den nächsten Tagen nach Yarim reise und Manwyns Tempel in Yarim liegt, werde ich Gelegenheit haben, sie direkt zu fragen, ob mir ein Kind von dir den Tod oder eine unheilbare Krankheit bringen wird oder nicht. Vielleicht kann sie mit ihrem Spruch alle Zweideutigkeiten klarstellen.« Ashes Gesicht wurde zuerst blass, dann rot. »Eben noch war ich über alle Maßen dankbar, dass du nach Hause zurückgekehrt bist«, sagte er mit steinerner Miene. »Jetzt wünschte ich, du wärst in Tyrian geblieben, wo du wenigstens vor deiner eigenen Narrheit in Sicherheit warst. Rhapsody, hast du nicht bei unserem letzten Besuch in Manwyns Tempel gelernt, dass dies eine Erfahrung ist, die man besser nicht wiederholt?« »Anscheinend nicht«, sagte sie schnippisch, machte sich von ihm los und ging auf die Tür zu. »Anscheinend habe ich mich auch geirrt, als ich annahm, du würdest mein Verlangen nach einem Kind teilen. Wenn es so wäre, würdest du dich nicht von einer so fadenscheinigen Andeutung abschrecken lassen.« Sie ging die ersten Stufen hinunter, wurde sofort am Arm gepackt und herumgerissen. Ashe starrte lange auf sie hinab. Rhapsodys Wut, die noch vor einem Atemzug glutheiß gewesen war, kühlte sich beim Anblick des Schmerzes in seinen Drachenhaften Augen ab. Sie wusste, wie tief der Schmerz war, den er erlitten hatte, und dass seine Liebe sogar noch tiefer war. Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass sie ihm diese Qualen verursachte, die ihrer Eigensüchtigkeit entsprangen. Sie öffnete den Mund, um eine Erwiderung zu geben, doch sie kam nicht dazu, denn er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Wir gehen zusammen«, sagte er und nahm sanft ihr Gesicht zwischen die Hände. »Wir werden ihr die Frage gemeinsam vorlegen, und ich will versuchen, mit ihrer Antwort zu leben. Das ist der einzige Weg, auf dem wir die Oberherrschaft über unser Leben wiedererlangen können.« »Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch. »Wenn ich mich recht erinnere, warst da derjenige, den sie beim letzten Mal angegriffen hat. Mir hat sie keinerlei Schwierigkeiten gemacht.« »Nun, wir stammen halt aus derselben Familie«, entgegnete Ashe. Eine Spur von Humor kehrte in seinen Blick zurück. »Wenn man nicht mit der Familie streiten kann, mit wem dann? Sieh dir doch bloß meine Großeltern an. Ihr Ehezwist führte zu einem Krieg, unter dem ein ganzes Reich zusammenbrach.« »Hmm. Vielleicht sollten wir es uns doch noch einmal überlegen, diese Familie zu vergrößern«, meinte Rhapsody. Sie schaute über das windgepeitschte Steppengras und lächelte, als ein heller Papierdrachen in der Form einer Kupferschlange von einer Windbö eingefangen wurde und plötzlich auf der starken Strömung hochstieg. Sie winkte der kleinen Person in der Ferne zu, und Melisande winkte zurück. Ashe seufzte. »Nein, du hast Recht«, sagte er schließlich. »Falls es wirklich möglich ist, würde ich gern zusehen, wie die Kinder des Hauses Navarne und die Nachkommen von Gwylliam und Manosse wieder auf diesen Feldern miteinander spielen.« »Nun, in gewisser Hinsicht hängt das allein von dir ab.« Rhapsody sprach diese Worte sanft aus. Jeder andere Tonfall hätte ihn verletzt. Als Abkömmling einer Rasse von Erstgeborenen musste Ashe die bewusste Entscheidung treffen, Nachkommen zu zeugen. »Aber sobald du dich dafür entschieden hast, wann immer das sein mag, verspreche ich dir, dass du deine Entscheidung nicht bereuen wirst.« Ashe lachte und küsste ihr die Hand, dann ging er zurück und beobachtete gedankenverloren Stephens Tochter dabei, wie sie mit ihrem Drachen Bilder in die Luft malte. Tempel des Orakels — Yarim Paar Die Dunkelheit im inneren Heiligtum von Manwyns Tempel wurde in unregelmäßigen Abständen von den winzigen Flammen unzähliger Kerzen und von Feuern durchbrochen, die in verfallenden Gefäßen loderten. Ein schwerer Geruch nach brennendem Fett lag in der Luft, der kaum von dem stechenden Weihrauch überlagert wurde. Mutter Julia starrte über die schartige Quelle im Boden zu dem darüber hängenden Thronsessel. Sie versuchte, dem Blick der Seherin standzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Die Augen der wahnsinnigen Prophetin waren vollkommene Spiegel wie aus Quecksilber, hatten keine Iris, keine Pupillen, keine Netzhaut. In ihnen tanzte der Schein der unzähligen Flammen wider. In Mutter Julia drehte sich alles wie verrückt. »Wie ... wie lange werde ich leben?«, flüsterte sie und betupfte sich die graue Stirn mit den Fransen ihres farbenfrohen Schals. Die Seherin lachte. Es war ein irrer, durchdringender Laut. Plötzlich rollte sie sich auf den Rücken und deutete mit dem alten Sextanten in ihrer Hand auf die schwarze Kuppel des Tempels über ihr. Sie schaukelte mit dem Sessel wild über dem zerklüfteten Abgrund und sang verrückte, tonlose Worte. Schließlich richtete sie sich wieder auf und lehnte sich über den Rand der Plattform, wobei sie ihren nachdenklichen Blick auf die zitternde alte Frau richtete. »Bis dein Herz zu schlagen aufhört«, verkündete sie selbstgefällig. Sie winkte Mutter Julia fort. Ihre mit vielen kleinen Schuppen durchsetzte, rosig-goldene Haut schimmerte im Zwielicht. »Warte«, ereiferte sich die alte Frau, als sich die Türen des inneren Heiligtums öffneten. »Das ist keine Antwort! Ich habe ein großzügiges Opfer dargebracht, und du hast mir gar nichts gesagt!« Ein Schatten der Verwirrung flog über das Gesicht der Seherin. Mutter Julia wandte sich von den Wachen ab, die sie zu sich winkten. Sie begriff, dass sie ihren Einwand falsch ausgedrückt hatte. Manwyn verstand die Vergangenheit nicht, sondern nur die Zukunft und so viel von der Gegenwart, wie es ihr als Sprungbrett in die Zukunft diente. Mit zitternder Hand griff sie zwischen die Falten ihres Kleides und holte ihre letzte Goldkrone hervor. Sie hielt sie hoch; das Licht fiel auf die Oberfläche und spiegelte sich in den Augen der Prophetin wider. »Du hast mir gar nichts gesagt. Du hast mir für alle Zeiten ein Schnippchen geschlagen, wenn du mir keine bessere Antwort gibst. Du wirst auf immer in meiner Schuld stehen.« Manwyn legte den Kopf auf die Seite. Ihre verfilzte Mähne aus flammenfarbenem Haar bauschte sich in der Luftströmung aus der dunklen Quelle. Die Streifen aus metallischem Silber fingen einen Moment lang den Kerzenschein ein und erglitzerten. Mutter Julia zuckte vor Schmerz zusammen. Als Manwyn nachdachte, schürzte sie die Lippen und nickte dann lebhaft wie ein Kind. »Sehr gut. Noch eine Frage. Denke gut nach. In diesem Leben werde ich dir keine weiteren Antworten mehr geben.« Die alte Frau erbebte. Sie zermarterte ihr Hirn, um all ihre Fragen zu einer einzigen zu verbinden, während die alte Seherin an dem Rad des Sextanten drehte und unmelodisch summte. Schließlich holte Mutter Julia tief Luft und machte die Schultern breit. »Wer wird mir sagen, worum es sich bei der Scheibe aus blau-schwarzem Stahl handelt?«, stammelte sie. Die Prophetin schaute in den Sextanten und richtete den Blick dann wieder auf die Alte. Als sie sprach, war ihre Stimme deutlich und von allem Wahnsinn und Singsang befreit. »Dein Sohn Thait wird dir sagen, was du in Erfahrung bringen sollst«, sagte sie nur. »In fünf Wochen und zwei Tagen, gerechnet ab dieser Nacht.« Die alte Frau stieß einen Seufzer aus, der aus den Tiefen ihres Bauches kam. Erleichterung zeigte sich in ihren Augen und auf ihrer Stirn. Sie verneigte sich vor Manwyn, warf die Münze in die Quelle, murmelte ihren Dank und eilte an den Wachen vorbei durch die kunstvoll beschnitzte Zederntür. Sie wollte den Tempel so schnell wie möglich verlassen. Als sich die Zederntür hinter der Frau schloss, schaute Manwyn auf, als verwirre sie etwas. Sie nickte sich selbst zu und rief dann leise in die ferne Dunkelheit: »Er wird es dir durch seine Tränen zuflüstern, wenn er neben deinem Grab sitzt und die Steine zurechtrückt.« 6 Indigo Nachtbleiber, Nachtrufer Luasa-ela Hafen von Argaut — Nordland Der Geruch von Feuer im Wind ist immer aufregend, dachte der Seneschall und sog tief die Luft ein. Beißende Asche mischte sich mit dem Tang in der salzigen Seeluft und war für ihn wie ein Parfüm, besonders nach den Ereignissen des Morgens, als der weiße Rauch des Infernos dem gleichmütigen grauen Miasma Platz machte, das wie schmutzige Wolle im Wind über den schwelenden Kohlen hing, dem schäbigen Verursacher so vieler wunderbarer Flammen der vergangenen Nacht. Diesen Geruch hatte er sein ganzes Leben lang geliebt, doch in den letzten tausend Jahren hatte er für ihn eine ganz besondere Anziehungskraft angenommen, besonders wenn er mit dem Duft menschlichen Fleisches versetzt war, was ihm eine angenehme Beize verlieh. In der vergangenen Nacht hatte er in der Dunkelheit des Ausgucks gestanden und die Scheiterhaufen beobachtet, die wie Signalfeuer entlang einer Schlachtlinie entzündet worden waren. Es war ein unvergleichliches Inferno gewesen; der Chor des Jammers, der im Sommerwind angeschwollen und verebbt war, war besonders melodisch gewesen – eine Sinfonie des Schmerzes, die Erregung in seiner Seele entflammt hatte. Der Nervenkitzel war selbst im bitteren Licht der Morgendämmerung, die er vom schwankenden Deck der Basquela aus beobachtete, noch nicht vergangen. Die Feuer waren zu glimmender Asche heruntergebrannt, kühlten aus und warteten darauf, dass die Bauern des Inneren Halbmondes herbeikamen und die Überreste fortschafften, mit denen sie ihre Felder düngten. Darüber dachte der Seneschall eine Weile lang nach. Unter seiner Herrschaft war ein wohltätiges Gleichgewicht eingetreten. Die Schiffslinien hatten noch nie so viel Gewinn abgeworfen. Argauts Handelsflotte war eine der eindrucksvollsten und geachtetsten in der ganzen zivilisierten Welt. Sie durchfuhr die Ozeane in immer größeren Zirkeln und meisterte dabei einige der gefährlichsten Küstenlinien: den felsigen Archipel des Feuerriffs, die Haiverseuchten Gewässer von Iridu und Groß-Overward, wo die Räuberfische hundert Fuß lang werden konnten, die brennende Dünung, die noch immer über dem nassen Grab der versunkenen Insel Serendair im südlichen Meer brodelte und deren frühere Berggipfel Briala, Balatron und Querel nun trügerische Riffe mit kochenden vulkanischen Ausbrüchen bildeten. Die wahre Gefahr an diesen Orten bestand nicht in den Naturphänomenen, sondern in den Piraten, die sie als Jagdgründe benutzten. Kaperer aus uralten Familien kreuzten mit ihren schnellen und leisen Schiffen in den Untiefen und Strömungen, als wären sie immun gegen die Gefahren des Meeres, und beherrschten den Wind mit gnadenloser Tüchtigkeit. Die Überreste der geplünderten Schiffe wurden nie gefunden. Die Fähigsten der Mannschaft und Passagiere verkauften sie als Sklaven in einer Vielzahl von Häfen auf der ganzen Welt, besonders aber auf den Diamantenfeldern des unteren Heraat in Groß-Overward und in den Gladiatorarenen von Sorbold. Die Alten, Kranken und Schwachen wurden als Haifutter hergenommen. Die Briganten des Meereswindes, wie sich die Piraten gern selbst nannten, waren die Geißel der Schifffahrtslinien, der Schrecken der Meere und machten die Reiseverbindungen und Handelsrouten gefährlich. Selbst jene Nationen, die ihren Handelsschiffen eine Militäreskorte mitgaben, waren bei deren Rückkehr regelmäßig erschüttert. Eine starke, verlässliche Flotte aus schnellen Schiffen, die in der Lage war, den Blockaden der Kaperer auszuweichen, ihnen davonzusegeln und mit Mannschaft und Ladung zu entkommen, war eines der wertvollsten Besitztümer, das eine Kaufmannsgilde oder Nation haben konnte. Argauts Kaufmannsflotte und Marine waren ohnegleichen auf der Welt. Denn dem Baron von Argaut gehörten sowohl die Flotte als auch die Piraten. Das ergab einen vollkommenen Kreis, und es war eine einträgliche Art, jeden Wettbewerb zu unterbinden. Der Seneschall war außerordentlich stolz auf die schöne Einfachheit und Verkettung all dessen. Die Briganten griffen zuweilen auch Schiffe in den Gewässern nahe dem Nordland an, doch im Allgemeinen blieben sie so weit vom Hafen entfernt, dass sie keinen Verdacht erregten. Der Sklavenhandel förderte die Freundschaft von Orten wie Druverille, der vereisten Wüste nördlich von Manosse, und Sorbold, einer Schlüsselnation auf dem westlichen Kontinent an der Südgrenze des Drachenlandes. Die nördliche Küstenlinie des Drachenlandes wurde seit Jahrtausenden von der Drachin Elynsynos geschützt, die keinem Schiff die Annäherung an die neblige Küste erlaubte. Die Sklavenhändler von Sorbold waren Argauts bevorzugte Handelspartner, denn sie bezahlten hohe Summen für Gefangene, die in ihren berühmten Arenen kämpfen konnten. Und so hatte sich der Kreislauf Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert fortgesetzt. Die Schifffahrtslinien füllten Argauts Schatztruhen mit den Segnungen des ehrenhaften Handels der Kaufmannsflotte und mit der Kaperbeute der Briganten. Der Sklavenhandel bildete einen leichten Abladeplatz für alle Opfer der Piraterie, die überlebt hatten und zu einer Aussage in der Lage waren. Die weniger wertvollen Gefangenen wurden gemeinsam mit einigen örtlichen Emporkömmlingen angeklagt, selbst Piraten zu sein, und in großen Feuern verbrannt, welche den Nachthimmel erleuchteten und die rechtschaffene Entrüstung der Bevölkerung abkühlten, während sie auf diese Weise gleichzeitig von der Tüchtigkeit der Regierung überzeugt wurde. Die Überreste der Unglücklichen wurden auf die Felder gestreut, um eine reichliche Ernte hervorzubringen, oder ihr Fett diente für die Talgkerzen. Beides waren Erzeugnisse für den Seehandel. Und vor allem befriedigten sie die Blutlust des Seneschalls und des Barons, die es beide nach dem Nervenkitzel des Feuers verlangte. Ich verspüre wirklich nicht den Wunsch, all das aufzugeben. Der Seneschall wirbelte herum. Die Stimme des Barons hatte ihn überrascht. »Mein Herrscher...« Geh von Bord. Wir reisen nicht. Die angenehmen Gedanken verschwanden und hinterließen das Gefühl von brennender Säure in den Augäpfeln des Seneschalls. »Vergebt mir, mein Herr, aber wir werden reisen.« Unwillkürlich zuckte er unter dem stechenden Schmerz in seinem Kopf zusammen. Als die Stimme wieder flüsterte, war sie leise und sanft. Der Seneschall konnte unter dem Übelkeit erregenden Hämmern im Kopf und dem Schreien der Möwen kaum die Worte verstehen. In sechzehn Jahrhunderten hast du es nur einmal gewagt, dich mir zu widersetzen. Erinnere dich daran, wozu es geführt hat. »Zweimal«, berichtigte der Seneschall. Vor Pein fasste er sich an die Stirn und schüttelte den Kopf wie ein Eber, der die Jagdhunde in seinem Nacken abwerfen will. Er schaute benommen in Richtung des dunklen Laderaums, in dem Faron verängstigt in seinem mitgebrachten Teich aus gleißendem grünem Wasser wartete. Er war mitten in der Nacht heimlich in weichen Tüchern an Bord gebracht worden, während die Feuer allmählich herunterbrannten und der Seewind an den Tauen zerrte. Das Entsetzen in den Augen des Kindes schmerzte ihn wieder, und Gefühle beschützender Wut erhoben sich in seiner Brust. »Erinnert Euch daran, dass ich Euch ein Weiterleben ermöglicht habe.« Die Drohung in der Antwort war unmissverständlich. Du erinnerst dich ebenfalls daran. »Euer Ehren? Seid Ihr schon seekrank? Wir haben doch noch gar nicht abgelegt.« Der Seneschall schlug heftig nach hinten aus und schickte den Mann zu Boden. »Lass mich in Ruhe.« Der Matrose, der schon seit langem einen starken Arm gewohnt war, erhob sich rasch vom Deck und huschte fort. Als er verschwunden war, richtete der Seneschall seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stimme in seinem Kopf – auf den Dämon, mit dem er seine Seele teilte. »Ich will nicht daran erinnert werden«, sagte er mit leiser Stimme und kämpfte gegen den Druck hinter den Augen an. Du führst uns von unserem Ort der Macht weg, wo unsere Herrschaft nicht in Frage gestellt wurde. »Man schuldet mir etwas. Es ist eine Schuld, die ich schon vor einem ganzen Leben und in einer anderen Welt abgeschrieben hatte.« Wenn du diese Schuld vor einem ganzen Leben abgeschrieben hast, warum verfolgst du sie gerade jetzt wieder? Der Seneschall fuhr sich mit den Fingern wütend durch die Haare, als wollte er sich die bohrende Stimme aus dem Kopf reißen. »Vor allem weil ich es will«, spuckte er aus. »Ich werde darüber keine Rechenschaft ablegen.« Das dunkle Feuer des F’dor-Geistes, der an seinem Innersten haftete, brannte noch schwärzer und verursachte ihm Übelkeit. Ich sehe, dass ein Missverständnis über unsere Rollen besteht. »Ja«, stimmte der Seneschall zu. »Auch wenn ich mir sicher bin, dass wir verschiedene Meinungen darüber hegen, wer die Regeln bricht, die wir für unser Zusammenleben aufgestellt haben.« Die Stimme des Dämons schwieg eine Weile. Nun waren nur noch der Wind und das Meer, die Schreie der Möwen und der ferne Lärm des Hafens zu hören, der allmählich zu morgendlichem Leben erwachte. Als die Stimme wieder sprach, lag ein knisternder Unterton wie von einem Feuer in ihr – wie von zischenden Flammen unter den Kohlen. Ich habe dir mehr Freiheit und Selbstständigkeit erlaubt, als es bei den meisten anderen mit einer Vereinbarung wie der unseren der Fall wäre. Der Seneschall stieß scharf die Luft aus. »Vielleicht ist das so, weil ich dich freiwillig angenommen habe, falls du dich daran noch erinnerst«, sagte er und wechselte von der ehrerbietigen Anrede zur vertraulichen. »Du hast aus meiner Stärke und Selbstständigkeit deinen Nutzen gezogen. Wenn du einen passiven Wirt haben wolltest, dessen Lebenskraft du aussaugen kannst, wie ein parasitäres Moos einen Baum benutzt, hättest du nach der Beendigung des serenischen Krieges sicherlich tausende Schwache aus dem Pöbel finden können – vielleicht einen Blumenverkäufer, ein Fischweib oder ein Kind. Du hast mich gewählt, weil ich dir einen an Körper und Geist gesunden Wirt angeboten habe, einen Soldaten, einen Anführer mit eigener Macht, an der du Anteil haben konntest. Aber es war nie Teil unserer Abmachung, dass du diese Macht vollständig besitzt. Wenn du einen unterwürfigen Lakaien hättest haben wollen, hättest du jemanden wählen müssen, den du unterwerfen kannst und der weniger stark ist als du, jemanden, den du erobern und zu deinem willigen Werkzeug machen kannst, den du aushöhlen und ausbeuten kannst, bevor du zu einem besseren Wirt hinüberwechselst. Mich hättest du niemals auf diese Weise nehmen und gegen meinen Willen besiegen können.« Er hielt inne und spürte das Wallen des dämonischen Geistes in seinen Adern. »Du kannst es auch jetzt noch nicht.« Der Seewind frischte wieder auf, zerrte heftig an den Kleidern und sackte dann wieder zu einer ruhigen Brise zusammen. Der Seneschall spürte, wie die Hitze in ihm nachließ, als der Dämon über seine Worte nachdachte. Auch dir ist es bei unserem Geschäft nicht schlecht ergangen, sagte die Stimme, als sie schließlich wieder sprach. Du wolltest ewiges Leben haben. Jetzt hast du es. »Ja«, gab der Seneschall zu. »Ja, das habe ich. Und du ebenfalls. Ich sollte betonen, dass dein Wirt im Sterben lag, als ich zu dir kam. Du warst allein und unfähig, die traurigen Überreste seines verfallenden Körpers aus dem Wasser zu ziehen, das langsam den Kerker füllte, in dem du gefangen gehalten wurdest. Ich habe dir dein armseliges Leben gerettet, habe dir unerhörte Pracht und den elementaren Wind verschafft, auf dass er sich mit deinem Feuer vermische ...« Als Gegengabe für die Unsterblichkeit. »Ja. Es war ein ehrliches Geschäft. Und alles in allem ist es eine vorteilhafte, ja beglückende Paarung gewesen.« Der Seneschall packte die Reling und erwartete einen weiteren Angriff der dämonischen Wut. »Es sei denn, du vergisst, dass mir die Entscheidung darüber zusteht, wohin wir gehen und was wir tun. Leider bleibt dir keine andere Wahl, als mit mir zu kommen. Oder willst du mich nun verlassen?« Der Dämon kicherte. Es war ein hartes, schabendes Geräusch, das an den Ohren des Seneschalls kratzte. Du warst schon immer tollkühn. Denk daran, wem von uns beiden es schlechter ergehen wird, wenn ich mich entschließen sollte zu gehen. »Ich wette, das bist du«, sagte der Seneschall, als die Sonne über den Horizont kroch und den Ozean mit ihrem goldenen Licht überschüttete. »Nach sechzehn Jahrhunderten unangefochten ausgeübter Herrschaft und immer wieder gestilltem Hunger nach Feuer und Vernichtung wäre es amüsant zu beobachten, wie es dir in einem Kabinensteward oder in einer durch den Hafen stolzierenden Hure erginge. Sieh dich doch um. Gibt es irgendjemanden, in den du gern einfahren möchtest? Willst du vielleicht eine Dirne als Wirtin? Dann wirst du lernen, wie es ist, wenn man immer wieder in dich eindringt – ganz so wie es mir ergeht, wenn du versuchst, dich zu behaupten.« Die Stimme des Dämons gackerte. Es könnte aufschlussreich sein, diese Idee irgendwann aufzugreifen. Wenn wir uns bei deinem nächsten Herzschlag trennen müssten, würde ich nicht sterben. Es stimmt, dass ich dann schwächer wäre, aber wenn man unsterblich ist, ist so etwas nur ein vorübergehendes Hindernis und keinesfalls das Ende. Es wäre beinahe den Verlust von Rang und Macht wert, meine Wohnstatt in einem anderen Menschen aufzuschlagen, in irgendeinem anderen, und zuzusehen, wie dein Körper zu Staub zerfällt und vor meinen Augen vom Wind fortgetragen wird. Das Feuer kehrte zurück und durchtränkte das Bewusstsein des Seneschalls an den äußeren Rändern. Du weißt genau, dass es so geschehen wird, nicht wahr? Ohne meine Essenz in dir wärst du nicht nur ein toter Mann, sondern einer, welcher bei der Zeit in so großer Schuld steht, dass er sie nicht zurückzahlen könnte. »Dann geh doch«, knurrte der Seneschall. »Stürz dich hinaus. Oder besser noch, erlaube mir, es für dich zu tun.« Deine Unbesonnenheit wird dein Untergang sein, wenn nicht jetzt, dann später, sagte der Dämon ernst. Wieder verstummte die Stimme, und der Seneschall ergriff die Reling. Der Dämon war die Verkörperung von Chaos und zerstörerischer Heftigkeit. Er bereitete sich auf den Kampf vor. Entweder würde er ins Meer geworfen werden oder in die Vergessenheit. Du verfolgst wieder einmal eine Frau. Der Seneschall biss die Zähne zusammen und versuchte, den F’dor aus den inneren Bereichen seines Verstandes auszusperren, doch es war, als stemmte man sich dem Meer entgegen. Die heißen Finger in seinem Hirn tasteten gnadenlos und unnachgiebig umher und drangen auch in die hintersten, noch unbesetzten Winkel. Er spürte, wie die verborgenen Bereiche seines Geistes durchsucht wurden und der F’dor schließlich auf Gedanken stieß, die der Seneschall bisher vor ihm verborgen hatte. Sie wurden gepackt und ausgegraben wie Wurzeln in der Erde. Hast du nichts gelernt?, höhnte der Dämon wütend. Erinnerst du dich nicht, was geschehen ist, als das letzte Mal deine Lust die Oberherrschaft über uns erlangt hat? »Doch«, gab der Seneschall verbittert zu. »Ich erinnere mich gut daran und würde es wieder tun, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte. Ich habe dir und mir eine Nacht vollendeter Lust an dem glorreichen Leid einer serenischen Frau und den Segen eines Kindes aus unserem Blut verschafft, das in jener Nacht gezeugt wurde.« Eine nutzlose Missgeburt. Ein Ungeheuer. »Keineswegs!« Die Stimme des Seneschalls, die leise und guttural war, weil er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, drückte gegen die Kehle wie gegen Glasscherben. »Faron ist ein wunderbares Geschöpf, einzigartig und mit Kräften, die man erst langsam erkennt. Sollte jemals einer von uns ein Gefäß brauchen, in dem er Schutz suchen kann, ist Faron dafür bestens geeignet.« Danke, nein. An einen Wirt stelle ich höhere Erwartungen. Ich habe nicht das Verlangen, meine Lebensessenz mit einem menschlichen Fisch zu teilen, der knochenlos, ängstlich und bei Tageslicht blind ist... Der Seneschall fuhr mit den Fingernägeln an der Kopfhaut entlang. Blut spritzte bis hinunter auf seine Wangen. »Genug! Wenn du dir einen anderen Wirt suchen willst, dann tu es jetzt, oder unterwirf dich meinem Willen. Ich wünsche nichts mehr von diesem Unsinn zu hören!« In seiner Wut schloss der Seneschall die Augen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die geistigen Fesseln, die den Dämon an ihn banden und wie mit Haken im Innersten seines Seins verankert waren. In der vergangenen Nacht hatte er sie losgebunden, damit ihr gemeinsamer Geist in Faron fahren konnte. Alle Gedanken an Selbsterhalt verschwanden. Rasch fand er ein metaphysisches Band und ergriff es. Er bereitete sich darauf vor, es abzuwerfen, so wie das Schiff gleich vom Kai ablegen würde. Hör auf. Die sengende Stimme zitterte. Stille kehrte in seine Gedanken zurück. Die Wolken, welche die aufgehende Sonne verborgen hatten, brachen auf, und das Morgenlicht schimmerte in dunstigen Streifen über dem Wasser. Der Seneschall hielt den Atem an, wartete auf die Entgegnung des Dämons und sehnte sich nach der kühlen Dunkelheit unter Deck, wo Faron auf ihn wartete. Er fragte sich, ob das Ungeheuer, das er freiwillig beherbergte und dessen metaphysische Krallen in seiner Seele verhakt waren, seine Drohung Wahrmachen würde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Als die Stimme schließlich wieder sprach, klang sie gedämpft. Berichte mir von dieser Frau und erkläre mir, warum sie so wichtig für dich ist. Der Seneschall sog die Luft tief ein und füllte die Lungen bis in die letzte Spitze mit der salzigen Luft. Er erlaubte seinen Gedanken, über uralte Wiesen mit Sommergras zurückzuwandern, über die Weiten Marschen der Insel Serendair, die nun nur noch Seegras im Sand unter den brodelnden Wellen des Meeres waren. Er konzentrierte sich auf die Erinnerungen, die er dort erworben hatte. »Ihr Name ist Rhapsody«, flüsterte er und kämpfte darum, dieses Wort leicht und ehrerbietig in die Luft zu schicken, wie einen Psalm, ein heiliges Lob, auch wenn er wusste, dass es seinem profanen Mund unmöglich war, je ein solches Gebet zu sprechen. »Ich habe sie auf Serendair gekannt, vor der Flut. Sie ist wunderschön: Augen wie ein Smaragdwald, Haar aus Gold von der Farbe reifer Weizengarben. Aber das ist nicht der Grund.« Warum dann? Der Seneschall versuchte Gedanken zu formen und die Erinnerung in Worte zu kleiden. »Sie ist energisch, lebendig, leidenschaftlich.« Der Gedanke an die Verachtung, die er vor so vielen Jahrhunderten immer wieder in ihrem Blick gesehen hatte, stieg wie Galle in seiner Kehle hoch und stachelte seinen Stolz jetzt ebenso wie damals heftig an. »Halsstarrig, mürrisch, trotzig, streitlüstern. Närrisch.« Und sie hat mich geliebt, dachte er und erlaubte sich, für den Bruchteil einer Sekunde in diesem Gedanken zu baden. Er vertrieb ihn aus seinem Kopf, bevor der Dämon ihn erhaschen konnte. Das Wissen, dass sie ihm Treue geschworen hatte, war ihm Trost in vielen schwierigen Augenblicken gewesen und hatte ihn in tausend dunklen Nächten in der Zeit vor dem Dämon gewärmt, als er bloß ein sterblicher Mann in der Vorhut des kommenden Krieges gewesen war. Er erinnerte sich noch gut an den Eid, den sie ihm vor seinem letzten Aufbruch geschworen hatte. Er hatte diese Erinnerung in die dunkle Gruft des Verlorenen gelegt, denn er hatte nicht daran denken können, ohne vor Schmerzen verrückt zu werden. Ich schwöre beim Stern, dass mein Herz keinen anderen Mann lieben wird, bis diese Welt an ihr Ende kommt. Die Tatsache, dass er ihr dieses Versprechen abgepresst und sie dazu gezwungen hatte, weil er vor ihren Augen das Leben eines jungen Mädchens in den Händen gehalten hatte und sie nicht hatte lügen können, war in seiner Erinnerung schon lange untergegangen. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben, und den Lirin war der Sinn für die Bedeutung eines gegebenen Wortes angeboren. Wenn sie gesagt hatte, sie liebe ihn, musste es die Wahrheit gewesen sein. Als er in die frühen Schlachten des serenischen Krieges verwickelt gewesen war und ihn die Nachricht ereilt hatte, sie sei verschwunden, hatte es ihn beinahe getötet, denn er war nur eine Haaresbreite davon entfernt gewesen, ihren Eid einzufordern. Sie war vom Bruder, dem dhrakischen Mörder entführt worden, der als die beste Vernichtungsmaschine bekannt war, welche die Insel je gesehen hatte – besser sogar als er selbst. Er hatte keine Spur mehr von ihr finden können und daher angenommen, der Bruder habe sie getötet und ihren Leichnam ins Meer geworfen, denn die Gleichgültigkeit des Dhrakiers gegenüber den fleischlichen Gelüsten war allgemein bekannt. Damals hatte er zum ersten Mal in seinem Leben geweint. Die Tränen waren wie Säure geflossen und hatten ihn in immer größere Zerstörungsorgien getrieben. Er hatte Dörfer in Schutt und Asche gelegt und die Weiten Marschen in der vergeblichen Hoffnung angezündet, das Buschfeuer werde seine Seele von der Verzweiflung reinigen, die er angesichts seines Verlustes empfunden hatte. Und nun hatte er herausgefunden, dass sie die Zerstörung der Insel ebenfalls überstanden hatte und noch lebte. Zweifellos war sie vor der Flut mit anderen cymrischen Flüchtlingen in See gestochen, hatte sich einen Weg durch die Welt bis zum Drachenland gebahnt und dort Zuflucht gefunden. Sie und er hatten der Zeit ein Schnippchen geschlagen und den Tod seiner Beute beraubt. Sie hatten dieselbe Unsterblichkeit wie die anderen Cymrer und ihre Abkömmlinge erlangt. Und sie hatte geheiratet. Mit den Handelsschiffen war die Nachricht von einer königlichen Hochzeit in Roland gekommen, doch er hatte ihr keine Beachtung geschenkt, bis der Name Rhapsody nach sechzehn Jahrhunderten des Schweigens wieder an seine Ohren gedrungen war. Nun war Eifersucht in ihm emporgestiegen. Er hatte sich angewöhnt, nachts die Docks zu durchstreifen und achtlos an Hafenhuren und betrunkenen Seeleuten vorbeizulaufen, die eigentlich eine leichte Beute für ihn gewesen wären. Er hatte sich gefragt, ob die Rhapsody, die er gekannt hatte, und diese neue Königin, von der er reden gehört hatte, ein und dieselbe Person sein konnten. Als die Neugier zur Besessenheit geworden war, hatte er Quinn herbeigerufen, einen der Seeleute, die seine willenlosen Leibeigenen waren, und ihn losgeschickt, um herauszufinden, ob es sich vielleicht doch um die Frau handelte, die ihm ihre Treue geschworen hatte. Bis zur letzten Nacht hatte er kaum glauben können, dass es so war. Und dann war Quinn zurückgekehrt und hatte seine schönsten Hoffnungen und seine größte Furcht bestätigt. Sie lebte. Nach all den Jahrhunderten, nach dem Tod der Insel im vulkanischen Feuer, nach einer Reise, die viele Flüchtlinge das Leben gekostet hatte, und nach dem darauf folgenden Krieg lebte sie noch – eine halbe Welt weit entfernt. Sie trug immer noch das Medaillon, das sie in seiner Gegenwart getragen hatte. Sie lebte. Und war verheiratet. Und glücklich. Seine Gedanken wurden schwarz, als die Wut zurückkehrte. Sie hatte ihn betrogen. Sie hatte ihren Eid gebrochen. Man musste sie die Folgen einer solchen Tat lehren. »Warum?«, fragte er laut. Seine Stimme zitterte bei dem Versuch, seine Wut zu unterdrücken. »Weil sie das beste Pferdchen ist, das ich je gehabt habe, eine Betthure von grenzenlosem Zauber. Eine begabte Dirne, ein verkommenes Flittchen, die mir gegenüber einen Eid gebrochen hat. Ich will mir zurückholen, was mir zusteht.« Die Stimme des Dämons war schwach wie die ergrauende Asche eines langen Feuers, das sich erschöpft hat. Nicht schon wieder! Das sollten wir nicht noch einmal tun. Erinnere dich an die Folgen. Erinnere dich daran, wie schwach wir danach waren, als du zum letzten Mal deiner Lust nachgegeben hast, eine Frau zu bespringen. Jedes Kind, das du zeugst, bricht meine Essenz - unsere Essenz – auf und lässt uns geschwächt zurück. Still deine Lust mit Blut und Feuer, aber nicht zwischen den Beinen einer Frau. Was du in ihr zurücklässt, ist... »Diesmal werde ich keinen Samen hinterlassen«, gab der Seneschall zurück und ergriff wieder die Reling, als sich das Licht der aufgehenden Sonne über das Wasser legte. »Als Faron gezeugt wurde, war ich noch ein Mensch und mein Blut nur schwach von deiner Essenz getrübt, weil du von dem Austausch der Wirte sehr benommen warst. Jetzt bin ich ein F’dor, denn ich trage dich seit tausendsechshundert Jahren in mir. In mir ist nur wenig menschliches Blut übrig geblieben, falls überhaupt noch etwas da ist. Und die F’dor entscheiden sich wie alle anderen Rassen der Erstgeborenen, ob sie beim Akt der Zeugung ihre Seele aufbrechen oder nicht. Glaube mir, das habe ich nicht mehr vor. Es wird nichts anderes zwischen Rhapsodys Beinen sein als ich selbst. Ich habe vor, lange Zeit dort zu bleiben und mich für all das zu entschädigen, was sie mir schuldet. Du kannst also beruhigt sein; deine Kraft wird nicht angetastet werden.« Es entstand wiederum ein langes Schweigen, als der Dämon nachdachte. Nun drang immer stärkerer Lärm von den Hafenanlagen her. Der Hafen füllte sich in einer Kakophonie aus Geschäftigkeit mit Leben und Verkehr. Schließlich sprach die Stimme in seinem Kopf wieder. Sie war leise, als ob sie müde sei und aufgegeben habe, doch immer noch klang sie entschlossen. Nun gut. Wir brechen auf, aber mit der Absicht zurückzukehren, sobald du eingetrieben hast, was dir zusteht. Ich will heimkehren zum Schrecken, zu den Verbrennungen und der wahnsinnigen Schönheit der Zerstörung, die wir hier bewirken können. Geistesabwesend betastete der Seneschall den Griff von Tysterisk. Er dachte an Rhapsodys Gesicht, als sie ihm die Treue geschworen hatte. Sie hatte ihn bei einem Namen genannt, den er bis heute vergessen hatte. So, reicht dir das endlich, Michael? Michael war er in einem anderen Leben genannt worden. Er hatte fast alle Erinnerungen daran verloren. Michael, der Wind des Todes. »Glaube mir«, sagte er noch einmal, »dort, wohin wir reisen, wird es reichlich Gelegenheit zu Schrecken und Verbrennungen geben. Ich verspreche dir, dass die wahnsinnige Schönheit der Zerstörungen, die wir hier bewirkt haben, neben dem verblasst, was kommen wird, wenn wir an Rhapsodys Gestaden landen.« 7 Violett Der Neuanfang Grei-ti Haguefort — Navarne Der Meister der Zielscheiben gab die Zeichen aus einer Entfernung von hundertfünfzig Schritten: zwölf in der Mitte, zwei im inneren Ring, neun im äußeren Ring – eine vollkommene Gruppierung. Gwydion Navarne seufzte und signalisierte dann, man möge die Ziele weiter nach hinten schieben. Während die Träger die Zielscheiben aus Heu in der Ferne herumtrugen, schüttelte er seinen Langbogen und fuhr sanft mit den Fingern über den Griff. Er hatte länger als ein Jahr für seine Herstellung benötigt, hatte sorgfältig Holz, Hörn und Sehnen zusammengeführt und ihn liebevoll gebeizt. Er war auf diese Waffe sehr stolz, auch wenn es sich dabei noch nicht um ein Meisterwerk handelte. Genau wie er, so befand auch sie sich noch in der Ausbildung, der Lehrzeit, und musste ihre Möglichkeiten erkunden. An diesem Nachmittag erwies er sich als der Waffe nicht wert. Er war so sehr darauf konzentriert, das Problem des Flugwinkels zu lösen, dass er das Herannahen der Pferdehufe erst dann hörte, als Anborn sich schon neben ihm befand. »Du enttäuschst mich, Knabe.« Das Schnauben des schwarzen Hengstes riss Gwydion aus seiner Konzentration. Er schaute hoch in das Gesicht des Marschalls, des alten Generals des cymrischen Heeres, der ihn von seinem hochlehnigen Sattel aus so eindringlich anstarrte wie ein Raubvogel eine Maus. Gwydion schüttelte den Bogen erneut. »Entschuldigung, Marschall. Ich arbeite noch an dem Flugwinkel, wenn auch ziemlich schlecht an diesem Nachmittag.« Er nickte Anborns Begleiter zu, einem älteren Cymrer der ersten Generation mit grauem Haar und zerfurchtem, von der Sonne gegerbtem Gesicht, der immer mit einem Paar gezogener Armbrüste ritt. »Sei gegrüßt, Dorndreher.« Der Soldat nickte und stieg ab. Der General schnaubte auf dieselbe Weise wie sein Pferd, griff dann hinter sich und band die Riemen seiner Satteltasche los. »Ich bin nicht von deiner Treffsicherheit enttäuscht, Junge, sondern von der Wahl deiner Pfeile. Ich sehe, du magst diese dünnen lirinischen Stecken.« Anborn seufzte theatralisch. »Ich hätte ein langes Gespräch mit dir führen sollen, bevor deine Adoptivmutter hier einzog und mit ihren lirinischen Vorlieben deinen Sinn für Pfeile zerstörte.« Gwydion lachte und ergriff die Zügel, als Anborn langsam abstieg. Dorndreher stand wie immer bereit, ihn zu stützen, falls er das Gleichgewicht verlieren sollte. In den drei Jahren seit Anborns Lähmung hatte Gwydion nie gesehen, dass dies geschah. »Rhapsody hat wirklich wenig Vorliebe für Pfeile und nicht mehr allzu viel Interesse am Bogenschießen«, sagte er. »Wenn sie nach Tyrian geht, bringt sie mir meistens die langen Weißholzzweige mit.« Anborn stützte sich auf den beiden eigens für ihn angefertigten Stöcken ab und sah Gwydion mit gespieltem Widerwillen an. »Also bist du von allein auf diese Vorliebe gekommen? Erschütternd.« »Ich lerne auch noch an der Armbrust, Marschall.« »Nun gut, dann solltest du noch nicht in den Wald geführt und an die Wiesel verfüttert werden.« Gwydion Navarne lachte. »Vielleicht erklärt Ihr mir eines Tages, warum Eure Familie so davon angetan ist, Unfähige den Wieseln vorzuwerfen«, sagte er und warf einen Blick auf den Knappen, der mit dem Stuhl des Generals herbeikam. »Wenn ich mich recht erinnere, verkündete Edwyn Griffith, Euer Bruder, Tristan Steward auf dem cymrischen Konzil das gleiche Schicksal.« »Von Wieseln gefressen zu werden, ist viel zu gut für Tristan Steward«, sagte Anborn verächtlich. »Außerdem wäre es grausam gegenüber den Wieseln.« Er bemerkte die Geste des Zielscheibenmeisters. »Sie sind so weit, Junge.« »Womit habt Ihr Euch in der letzten Zeit beschäftigt, Marschall?«, fragte Gwydion, als er einen Pfeil einlegte. »Rhapsody hat gesagt, Ihr wäret nach Süden zur Skelettküste von Sorbold gegangen.« »In der Tat.« Der Marschall erlaubte Dorndreher, ihm in den mit Rollen versehenen Stuhl zu helfen, und legte die Gehstöcke über seine nun nutzlosen Beine. Dabei wurde er von einem nachdenklichen Gwydion Navarne beobachtet. Im Alter von sieben Jahren war er dem legendären Soldaten bei dem Begräbnis seiner Mutter begegnet und war entsetzt von ihm gewesen. Er war zu jung, um von dem zänkischen Charakter des Generals gehört zu haben, doch allein Anborns Erscheinung war schon einschüchternd genug gewesen: der breite, bedrohlich muskulöse Rücken, die leuchtenden, azurblauen Augen in einem Gesicht, in dem schreckliche Erlebnisse ihre dunklen Spuren hinterlassen hatten, das schwarze, mit weißen Strähnen durchsetzte Haar, das wütend bis über die Schultern floss – alles an dem General hatte ausgereicht, um in Gwydion den Wunsch zu erwecken, sich hinter seinem Vater zu verstecken, der seine Angst instinktiv erkannt und nicht von ihm verlangt hatte, hervorzutreten und dem General die Hand zu schütteln, bis dieser endlich gegangen war. Doch seit dem Konzil, das im Gefolge der großen Schlacht vor drei Jahren abgehalten worden war, hatte er den Mann kennen und bewundern gelernt und liebte ihn inzwischen so, wie es sein Pate Gwydion von Manosse tat: mit Respekt und aus sicherem Abstand. Es lag etwas in den Augen des Generals, das Gwydion Navarne nicht begriff. Mit der bruchstückhaften Weisheit der Jugend erkannte er, dass es Gedanken, Gefühle und Einsichten im Kopf eines Mannes gab, der so viele Jahrhunderte wie Anborn gelebt hatte, der so viele Schrecken wie Anborn gesehen hatte und das Leben auf eine Weise wie Anborn betrachtete, die er selbst nicht verstand und vielleicht nie verstehen würde. Gwydion Navarne spannte den Bogen und schoss den Pfeil ab. Er flog ein wenig nach links. Er traf das einhundertsechzig Schritte entfernte Ziel aus Heu und prallte von ihm ab. »Verflixt!« Der Marschall starrte ihn an, als wäre er vom Blitz getroffen. »Verflixt?«, meinte er verachtungsvoll. »Verflixt? Guter All-Gott, was hat mein nichtsnutziger Neffe dir denn beigebracht? Ist das dein bester Fluch, Junge? Nachdem du hier fertig bist, gehen wir direkt in die Stadt und finden eine passende Taverne für dich, in der du die richtige Erziehung in den wesentlichen Dingen erhältst: trinken, huren und richtig fluchen.« »Oh, ich kann recht gut fluchen, Marschall«, sagte Gwydion Navarne freundlich. »Ich wollte nur Eure Ohren nicht beleidigen, da Ihr doch ein so zarter und taktvoller Mann seid.« Anborn kicherte, als Gwydion den Bogen wieder spannte. »Nun, das will ich hoffen. Mein Neffe, dein Namensvetter, ist vom besten Mann – das heißt, von mir – in den schönsten Flüchen unterrichtet worden, die es je in der Drachensprache gegeben hat – was die beste Sprache für Verwünschungen jeder Art ist. Leider hast du dafür nicht die körperlichen Voraussetzungen. Ohne die bei Schlangen übliche Öffnung in der Kehle bekommst du den doppelten Knacklaut nie hin, aber sicher hast du dir schon einen beeindruckenden vulgären Wortschatz angeeignet, denn schließlich lebst du bereits einige Jahre bei ihm. Und deine ›Großmutter‹..., nun ja, eine Benennerin mit ihrer Macht sollte eigentlich Zugang zu ein paar ganz großartigen Flüchen haben.« »Allerdings.« Gwydion Navarne schoss den Pfeil ab, der den inneren Rand des äußeren Kreises durchbohrte, und trat vor Verärgerung auf den Boden. »Hrekin!« »Aha, ein bolgischer Fluch, wenn auch ein schwungloser. Nicht schlecht.« Das Gesicht des Generals verzog sich vor Belustigung. »Kann mir gar nicht vorstellen, von wem du den aufgeschnappt hast.« »Als Ihr und ich mit Sergeant-Major Grunthor als Ehrengarde bei Rhapsodys Krönung in Tyrian gedient haben, hat er mir viele nützliche Dinge beigebracht, zum Beispiel die Entfernung von Nissen aus Hautfalten und die Säuberung der Nasenlöcher bei gleichzeitiger Blendung eines Angreifers.« »Aha.« Anborn räusperte sich, während Dorndreher den jungen Herzogsanwärter von der Seite her ansah. »Nun ja, man kann nie zu viele Waffen in seinem Arsenal haben, obwohl mir diese bisher unbekannt war.« Gwydion Navarne setzte die Waffe ab, damit sich die Sehne zusammenziehen konnte. »Werdet Ihr mir mitteilen, wo Ihr wart? Oder ist diese Frage ein gesellschaftlicher Fauxpas?« »Beides.« Der alte Krieger sah ihn von oben bis unten an. Nun lag in seinen Augen ein anderer Ausdruck als vorhin. Sein Blick war durchdringender, wurde aber durch ein tieferes Gefühl gemildert, das der Junge nicht mitbekam, denn er wandte sich wieder seinem Bogen zu. »Ich habe an der Skelettküste nach einem Blutsverwandten gesucht.« Gwydion Navarne schaute nicht auf, als er den Bogen wieder spannte. »Oh?« Er zupfte flüchtig an der Sehne, war mit der Spannung zufrieden und sah hoch. Der ernste Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Männer erstaunte ihn. »Stammte dieser Blutsverwandte aus der Linie Eures Vaters Gwylliam oder aus der Familie Eurer Mutter Anwyn?« Anborn seufzte tief und blickte über die Wiese. Seine Augen waren auf kein bestimmtes Ziel gerichtet; es war, als sähen sie in eine andere Zeit. »Weder noch. Ich meine mit diesem Ausdruck keinen gewöhnlichen Verwandten. Ich rede von einer uralten Gesellschaft von Männern, einer Bruderschaft, die in der alten Welt gebildet wurde und aus einer anderen Zeit stammt: die Brüder. Krieger. Ergebene Soldaten, welche die Kunst des Kampfes ein ganzes Leben lang geübt und sich ihr völlig untergeordnet hatten. Die Blutsverwandten schworen bei dem Wind und Seren, dem Stern, der über der Insel Serendair stand, die jetzt auf der anderen Seite der Welt unter den Wellen begraben liegt. Und sie schworen bei ihren Mitbrüdern, immer bei ihren Mitbrüdern.« Gwydion Navarne legte ehrerbietig die Hände auf die Spitze seines Bogens und wartete auf das, was der Marschall, üblicherweise ein Mann weniger Worte, noch zu sagen hatte. Er spürte Dorndrehers Arm auf seiner Schulter, aber er wandte sich nicht um, denn er wollte Anborns Begleiter nicht in die Augen schauen. Die Eindringlichkeit, die er in den Blicken der beiden spürte, sagte ihm, dass der General ihm gerade etwas sehr Wichtiges mitteilte. Er wollte sich des Vertrauens als würdig erweisen. Anborn schaute über die gewellten Hügel auf die hohe Mauer, welche die Felder hinter Haguefort umgab. Zwischen den Zinnen patrouillierten Wachleute; ihre Schatten waren lang und dünn in der Nachmittagssonne. »In gewisser Hinsicht sind alle Soldaten so etwas wie Brüder, denn sie verlassen sich auf den anderen, wenn es um ihr Leben geht. Diese Art zu leben schmiedet Bande, die auf andere Weise nicht hergestellt werden können – nicht durch Geburt oder den bloßen Willen dazu. Die Bereitschaft, für einen Kameraden zu sterben und gemeinsam an einer Sache beteiligt zu sein, die größer ist als man selbst, schafft eine Verbindung, die alle anderen übersteigt. Nach einem solchen Soldatenleben bleiben zwei Arten von Männern übrig: diejenigen, die dankbar sind, diese Erfahrung überlebt zu haben, und diejenigen, die dankbar sind, dass die Erfahrung in ihnen überlebt hat. Die erste Art packt am Ende des Dienstes ihre Sachen und geht nach Hause zu Hof und Familie. Diese Männer wissen, dass sie, egal was ihnen noch widerfahren wird, Teil von etwas gewesen sind, das sie nie mehr loslassen wird und das sie mit anderen verbunden hat, die sie möglicherweise nie wiedersehen werden, die aber ein Teil ihres Lebens bleiben, bis sie sterben.« Er räusperte sich und betrachtete Gwydion Navarne eine Weile lang. »Die zweite Gruppe geht nie nach Hause, denn ihre Heimat ist der Wind. Der Wind bleibt nie länger als einen Augenblick am selben Ort, aber er ist immer da und umweht den Soldaten, wo er auch ist. Er ist sowohl flüchtig als auch treu. Der Soldat lernt, genauso zu werden. Und je mehr er wie der Wind wird, desto mehr verliert er das Gefühl für sich selbst. Natürlich hat jeder dienende Soldat, der täglich sein Leben nicht nur für die Kameraden und seinen Anführer, sondern auch für all jene aufs Spiel setzt, die er nicht sieht, kaum mehr ein Bewusstsein seiner selbst. Die Blutsverwandten waren eine Elite von Männern, die auf diese Weise lebten. Sie wurden aus zwei Gründen in die Bruderschaft aufgenommen: unglaubliches, in einem ganzen Soldatenleben erworbenes Geschick und die selbstlose Art, anderen zu dienen und die Unschuldigen zu schützen, auch wenn dabei das eigene Leben in Gefahr geriet.« Er nahm dem jungen Mann den Bogen aus der Hand, änderte die Einstellungen ein wenig und untersuchte die Sehne. »Dein Einlegepunkt ist zu hoch«, sagte er. Er winkte Dorndreher zu, der wortlos einen weißen Langstreckenbogen aus Gwydion Navarnes am Boden stehenden Köcher nahm und ihn ihm übergab. Der General strich über das Holz des Schaftes und hob die Augenbrauen. »Guter Pfeil«, sagte er mit widerwilliger Bewunderung. Er legte ihn ein und gab den Bogen dem jungen Mann zurück. Gwydion nickte schweigend. »Wenn jemand das Recht erwirbt, ein Blutsverwandter zu sein, ist es der Wind selbst gewesen, der ihn erwählt hat«, fuhr Anborn fort und beobachtete ihn eingehend. »Die Luft ist wie das Feuer, die Erde, das Wasser und der Äther ein uranfängliches Element, eines der fünf, aus denen sich die Welt zusammensetzt, aber es wird oft übersehen. Seine Stärke wird immer unterschätzt und selten erkannt, aber sie ist beachtlich. In ihrer reinsten Form ist die Luft lebendig, und sie kennt die Ihren – die Blutsverwandten, die auch Brüder des Windes heißen. Serendair war ein sehr magischer Ort. Dort wehte der Wind frei und stark. Leider befindet sich Nordland, der Geburtsort dieses Elements, von hier aus gesehen auf der anderen Seite der Welt; daher ist der Wind hier nicht so stark wie dort. Wenn ein Mann zu einem Blutsverwandten wird, hört er den Wind in seinen Ohren und in seinem Herzen wispern und ihm seine Geheimnisse erzählen, ob dieser Mann seine Berufung nun durch lebenslangen Dienst oder einen einzigen Augenblick des selbstlosen Opfers erworben hat. Er kann diese Geheimnisse nutzen, um sich im Wind zu verstecken, mit ihm zu reisen oder ihn um Hilfe zu rufen. Der Ruf des Blutsverwandten ist der zwingendste Ruf, den ein Mann je hören kann. Er umgarnt die Seele, reicht bis tief ins Herz und verlangt eine Antwort. Er wird nur unter den schrecklichsten Umständen benutzt, wenn der Blutsverwandte, der ihn ausstößt, spürt, dass er an der Schwelle des Todes steht und sein Tod über ihn hinaus schlimme Auswirkungen haben wird. Und kein Blutsverwandter, der diesen Ruf hört, würde ihn unbeachtet lassen, denn dann wäre er bis zum Ende seiner Tage vom Wahnsinn umfangen.« »Und Ihr habt den Ruf von der Skelettküste gehört.« Gwydion Navarne versuchte leise und ehrerbietig zu sprechen, doch die Erregung in ihm kochte über und brach die ruhige Stimmung auf der Wiese. Dorndreher sah ihn scharf an, doch Anborn nickte nur. »Habt Ihr ihn gefunden? War der Blutsverwandte da?« Anborn seufzte und erinnerte sich an den Klang der Wellen, die gegen den schwarzen Sand brandeten, und an den wirbelnden Nebel über dem Meer, der die Wracks aus der alten Welt umspielte, die vor vierzehn Jahrhunderten an dem zeitlosen Sand zerschellt waren. Der Wind hatte mit dem Klang der See um die Oberherrschaft gekämpft, hatte verloren und war untergegangen. »Nein«, sagte er. Gwydion Navarne verfiel wieder in Schweigen. Er wandte sich von den cymrischen Soldaten ab und schoss auf die Vogelscheuche, die in einer Entfernung von einhundertfünfzig Schritten an einem Pfahl hing. Die Strohpuppe zuckte unter der Macht des Aufpralls zurück, schwang dann hin und her und entlockte den beiden Männern zustimmende Rufe. Der junge zukünftige Herzog hatte den Eindruck, dass er den schlechten Eindruck von vorhin wettgemacht hatte, und drehte sich wieder zu den beiden Männern um. »Vielleicht war der Ruf von einem anderen Blutsverwandten beantwortet worden«, gab er zu bedenken. »Das bezweifle ich«, brummte Anborn. »In dem alten Land waren Blutsverwandte selten, aber in diesem sind sie kaum mehr anzutreffen. Mir sind in den letzten siebenhundert Jahren nur zwei begegnet. Die eine war Oelendra, die lirinische Meisterin, welche die erste Flüchtlingsflotte von der Insel geführt hat und nach der königlichen Hochzeit aus dem Leben geschieden ist. Die andere ...« Er verstummte und lächelte in sich hinein. »Wer, Marschall?« Gwydion Navarne konnte seine Neugier nicht verbergen. »Wer war die andere?« Die beiden Soldaten tauschten einen raschen Blick, und Anborns Lächeln wurde breiter. »Vielleicht solltest du deine ›Großmutter‹ danach fragen«, meinte er. »Rhapsody?« Gwydion Navarne zog ungläubig die Brauen zusammen. »Rhapsody ist eine Blutsverwandte!« »Vielleicht habe ich vergessen zu erwähnen, dass Blutsverwandte in allen Gestalten und Größen erscheinen, Junge«, sagte er und gebrauchte dabei dieselben Worte wie sie ihm gegenüber, als er genauso ungläubig gewesen war. »Sie sind auf allen Wegen des Lebens anzutreffen – und einige von ihnen sind sogar Sänger und Benenner.« »Frauen können Blutsverwandte sein?« »Beide Blutsverwandte, die ich soeben erwähnt habe, sind Frauen. Glaubst du, nur Männer sind bereit, für eine große Sache ein Opfer zu bringen?« »Ich hätte gern alle paar Stunden ein Opfer, ein paar Kratzer an ihren Knien und morgen früh einen sauren Geschmack auf ihrer Zunge für die große Sache meiner Befriedigung«, murmelte Dorndreher. »Bist du hier fertig, Anborn?« Gwydion Navarne fuhr sich mit der Hand durch das mahagonifarbene Haar. »Das war ein seltsamer Tag«, brummte er. Er sah Anborns Begleiter an. »Bist du auch ein Blutsverwandter, Dorndreher?« Der ältere Cymrer schnaubte. »Wenn du einmal selbst einer bist, darfst du mich das fragen«, schnappte er. »Vorher nicht.« »Entschuldigung«, sagte Gwydion. Anborn nickte bereits in Richtung des schwarzen Hengstes. Dorndreher war offensichtlich erleichtert, dass das Gespräch beendet war. Er rollte den Stuhl rasch zu dem Pferd hinüber, nahm Anborns Gehstöcke und schnallte sie am Sattel fest. »Du solltest wirklich über einen Langbogen nachdenken, Junge«, sagte Anborn, als Dorndreher ihn zum Aufsitzen fertig machte. »Eine Armbrust dringt allerdings besser durch alles hindurch und ist im Krieg wendiger.« »Ja, aber wir haben Frieden, und zwar, seit der Herrscher und die Herrscherin den Thron bestiegen haben«, erwiderte Gwydion und senkte den Blick, als Dorndreher den alten General mit der Schulter aus dem Rollstuhl hob und ihn wie ein Kind in den Sattel hievte. »Ich erwarte in naher Zukunft keinen Krieg mehr, Marschall. Als Bogenschütze muss ich nur gut genug sein, um eine Vogelscheuche zu durchdringen.« Der General hielt beim Aufsitzen inne und schaute auf ihn herunter. »Nur ein Narr denkt so, Junge«, sagte er knapp. »Der Friede ist nur für eines gut: zur Verbesserung der eigenen Kampfgeschicklichkeit bis zum nächsten Krieg. Dein Vater wusste das; du erkennst es an der Mauer, die er gebaut hat. Wehe deiner Provinz, wenn du das nicht auch weißt.« Als der Marschall wieder auf seinem Pferd saß, bedeutete er Gwydion Navarne, ihm den Langbogen zu bringen. Der Junge entsprach der Bitte sofort und sah fasziniert zu, wie der cymrische General die Augen schloss, den Bogen mit großer Leichtigkeit bis weit hinter seine Ohren spannte und schoss. Gwydion hatte noch nie beobachtet, dass ein Bogen so weit gespannt wurde. Der Pfeil pfiff an ihm vorbei; der Wind, auf dem er flog, zauste ihm die Haare und blies ihm in die Augen. Er sah, wie der Pfeil das Heuziel in der Mitte traf. Es schwankte heftig in Wellen, die er trotz der Entfernung von einhundertsechzig Schritten bis in die Zähne spürte. Anborn öffnete die Augen. »Hast du ihn gehört?«, wollte er wissen. »Den Wind? Ja. Er hat wie ein Teekessel gepfiffen.« Der General warf ihm den Bogen ungeduldig zu. »Das war der Pfeil«, sagte er barsch. »Hast du den Wind gehört?« Gwydion Navarne dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein.« Anborn stieß scharf die Luft aus. »Schade«, sagte er, während er die Zügel hob und Dorndreher auf sein eigenes Pferd stieg. »Vielleicht bist du nicht dazu bestimmt.« »Warum habt Ihr mir all das erzählt?«, rief Gwydion Navarne ihm zu. Anborn brachte sein Pferd neben dem jungen Mann zum Stehen und beugte sich so weit herunter, wie es sein zerschmetterter Rücken erlaubte, wobei er sich an der hohen Lehne des Sattels abstützte. »Weil es bald keine Blutsverwandten mehr geben wird«, sagte er ruhig. »Die Bruderschaft verschwand beinahe ganz, als die Insel vom Meer verschlungen wurde. MacQuieth, der möglicherweise der größte aller Blutsverwandten war, ist kurz darauf gestorben. Er hat die Zweite Flotte sicher nach Manosse geführt, ist ins Meer gewatet und hielt Totenwache für die Insel. Als die Sintflut kam, hat er sich in die Wellen gestürzt und ist ertrunken. Die wenigen, die es hier noch gab - Oelendra, Talumnan -, sind inzwischen alle aus dem Leben geschieden. Eines Tages werden die legendären Blutsverwandten nicht mehr als das sein: eine Legende. Ich war der Ansicht, du wolltest die Geschichte hören, solange noch jemand da ist, der sie aus eigener Erfahrung erzählen kann, Junge.« Er ergriff die Zügel. »Es tut mir Leid, falls ich mich geirrt habe. Und falls ich mich wirklich geirrt habe, sollte es dir auch Leid tun.« »Ich fühle mich geehrt, dass Ihr sie gerade mir erzählt habt, Marschall«, sagte Gwydion hastig, als Anborn Dorndreher zunickte und sich zur Abreise fertig machte. »Aber was ist mit Rhapsody? Sie ist eine Cymrerin der ersten Generation und sollte daher vom Verstreichen der Zeit unberührt sein. Wird es nicht immer Blutsverwandte geben, solange sie lebt?« Anborn seufzte. »Anscheinend begreifst du nicht die Bedeutung dieses Wortes«, sagte er mit einer Spur Wehmut in der Stimme. »Allein kann man kein Blutsverwandter mehr sein.« Er gab seinem Hengst ein klickendes Zeichen und preschte über die glänzenden Wiesen, deren Gras sich vor der Sonne des späten Nachmittags demütig beugte. *** 8 Haguefort — Navarne Rhapsody hob die Hand zum Gesicht, um die Augen vor dem Glanz der ersten Sonnenstrahlen abzuschirmen. Der Wind blies selbst zur Morgendämmerung schon in heißen Böen. Es war ein Vorzeichen für einen weiteren sengenden Tag. Die grünen Felder von Navarne lagen still; nur der Wind fuhr hinter der transorlandischen Verbindungsstraße durch das schwankende Gras. Diese alte Straße durchmaß ganz Roland von Avonderre bis zu den Manteiden. Die stillen Berge wirkten unter den Windstößen wie das grüngoldene Meer. Sie erinnerten Rhapsody an frühere Tage, andere Wiesen, eine lange untergegangene Welt, und mitten in ihrer Freude über die bevorstehende Reise bohrte sich kurz ein Stachel der Wehmut in ihre Seele. Friede herrschte im cymrischen Bündnis bereits seit drei Jahren. Es war eine zerbrechliche und zugleich starke Einigkeit. Manchmal brachen Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten aus, doch insgesamt überwog der Einklang. Sie sah ihn in den Gesichtern der Leute auf dem Kontinent von den Lirin der westlichen Wälder bis zu den Delegierten aus Bethe Corbair, der letzten orlandischen Provinz vor den Bolglanden; es war wie eine Zeit der Entspannung nach sehr langer Wachsamkeit. Selbst Ashe schien das Ende der Feindseligkeiten zu genießen, die das Land jahrzehntelang im Griff gehalten hatten. Dieser früher so gejagte Mann, der zwanzig Jahre in einsamen Verstecken verbracht hatte, ging nun offen und glücklich durch die Welt und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Dass das Drachenblut, das bekannt für seine Paranoia war, ihm dies erlaubte, war sicherlich ein gutes Zeichen für die Welt. Aber es lag etwas im Wind. Sie konnte nicht genau sagen, was es war; es war flüchtig und vergänglich wie die wandernde Brise selbst. Aber Veränderung lag in der Luft; sie spürte es. Trotz der stärker werdenden Hitze der Sommersonne prickelte es kalt auf ihrer Haut. Der Lärm, der von den Vorbereitungen herrührte, wurde schwächer. Sie schaute kurz fort von den Soldaten, die sich um die Pferde, die Wagen und Vorräte kümmerten, die sie auf den Weg nach Yarim mitnehmen würden, und wandte sich von dem Meer aus wogendem Gras nach Westen zur wirklichen See, die hundert Meilen entfernt war. Kommt es daher?, fragte sie sich und versuchte vergeblich den Faden im Wind zu erhaschen, die Veränderung in der Luft auszumachen. Sie wusste nicht, ob es die Düfte, die Hitze oder die Luft selbst waren, die ihre Schwermut ausgelöst hatten. Sie war eingestimmt auf die Schwingungen der Welt, die Töne der Musik, die das Leben erzeugte, und als lirinische Sängerin und Benennerin konnte sie Veränderungen darin erspüren. Aber sie fand nichts. Keine Träume, keine Nachtmahre hatten ihr von Bedrohungen berichtet; es hatte keine Warnungen gegeben wie damals, als jede Nacht ihr Schlaf heimgesucht worden war. Wenn sie in Ashes Armen lag, blieb sie von schlechten Träumen verschont. Ein Drache, der die Träume beschützte, war das beste Mittel für eine ruhige und friedliche Nacht. Doch auch als sie von ihm getrennt gewesen war, in Tyria oder auf der Rückreise, hatte sie keine Visionen, Vorahnungen oder anderen Vorgefühle gehabt, die auf diese plötzliche Veränderung im Wind hingedeutet hätten. Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Doch als sie dastand und ergebnislos in die Ferne schaute, spürte sie einen weiteren Kälteschauer. Er war anders als der erste und legte sich ihr über den Rücken. Die winzigen Härchen im Genick stellten sich auf, und Schweiß trat aus ihren Poren, der sogleich in der Brise trocknete. Rhapsody drehte sich rasch um und blickte über die Zinnen Hagueforts nach Osten zur unendlichen Weite der Krevensfelder, doch nun war das Gefühl verschwunden. Sie sah nichts als endlos wogende Wiesen aus hohem Gras. Sie legte die Handfläche auf die Stirn und versuchte das Pochen zu vertreiben, das dort aus den Tiefen ihres Hirns aufgestiegen war. Dabei verspürte sie aus Süden einen neuen Schauer wie ein Zittern in der Erde herannahen. Sie beugte sich rasch vor und berührte die Erde unter ihren Füßen, doch sie konnte nichts Außergewöhnliches fühlen. So rasch, wie der Schauer gekommen war, verschwand er auch wieder. »Aria?« Rhapsody schaute hoch und bemerkte, wie Ashe sie von der Straße aus zusammen mit den Wachen, den Soldaten und Gerald Owen ansah. Sie brachte ein Lächeln zustande und schüttelte den Kopf. Diese Geste bewirkte, dass alle außer Ashe wieder an ihre Arbeit gingen. Ihr Gemahl hingegen übergab die Truhe, die er getragen hatte, einem Mann aus der Eskorte und stellte sich dann neben sie. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er, während sie aufstand und sich den Staub von den Händen wischte. »Ich bin mir nicht sicher«, entgegnete sie, beschirmte wieder die Augen und sah sich um. Was immer ihre Gedanken unterbrochen hatte, war nun fort, falls es überhaupt je da gewesen war. »Ich glaube nicht«, sagte sie schließlich. »Wir können noch immer eine Flugbotschaft zu Achmed schicken, wenn du lieber zu Hause bleiben möchtest«, schlug Ashe vor und fuhr mit dem Finger über eine lose Strähne ihres Haars. »Er verlässt Ylorc erst in einem oder zwei Tagen. Für ihn ist der Weg nach Yarim viel kürzer.« Rhapsody ergriff seine Hand und zog ihn zurück zu den Wagen. »Keineswegs. Ich freue mich sehr auf die Reise«, sagte sie, während sie auf die Karawane zugingen. Sie blieb stehen, als ein Wagen mit der königlichen Standarte mühsam in die Reihe fuhr. Er wurde von einigen Braunen gezogen. »Was ist das?« Ashe verneigte sich tief vor ihr. »Der Wagen der Herrin.« »Du beliebst zu scherzen.« Der Herr der Cymrer zwinkerte ihr zu. »Nein. Warum?« »Du willst, dass ich in einem Wagen fahre?« »Warum nicht?« »Wagen sind für ... für ... na ja...« Ein belustigter Blick stahl sich in Ashes blaue Augen. »Für wen, meine Liebe?« »Für ... nun ja, für die Adligen und so weiter.« »Du bist eine Adlige, Rhapsody. Du bist die Königin, wie viel Bauchschmerzen dir das auch bereiten mag.« Sie knuffte ihn neckisch. »Du hast Recht, es bereitet mir Bauchschmerzen, aber das ist nicht das Problem. Kutschen sind für die Verhätschelten oder die Alten oder Kranken. Ich will niemand davon sein, zumindest jetzt noch nicht.« »Wirst du deine Abneigung gegen königliche Annehmlichkeiten denn nie überwinden? Es könnte für uns ein verschwiegener Schlafplatz sein.« »Ich bin sicher, das Regiment wird das zu schätzen wissen. Nein.« Ashe stieß einen gespielten Stoßseufzer aus. »Also gut«, sagte er und winkte dem Quartiermeister zu. »Wir brauchen den Wagen nicht, Phillip. Vielen Dank.« »Er würde uns außerdem zu langsam machen«, meinte Rhapsody, ging zu ihrer Rotschimmelstute und streichelte sie liebevoll. »Und Twilla würde eifersüchtig werden.« »Ich möchte nur betonen, dass ich als nachsichtiger Ehemann deinem Hintern den Sattel ersparen wollte, aber du hast meine Anstrengungen zurückgewiesen«, sagte Ashe und versuchte beleidigt zu wirken. »Nun, mein Hintern sagt dir Dank, aber ich bitte dich, kein Wort mehr darüber zu verlieren«, entgegnete Rhapsody und tätschelte die Stute erneut. »Sind wir bald abreisebereit?« »Ja.« »Dann sollten wir Melisande und Gwydion Navarne suchen. Außerdem will ich noch Anborn Lebewohl sagen.« Ashe nickte in Richtung eines Hügelkammes. »Er ist da hinten«, sagte er. »Wenn du zu ihm gehen willst, hole ich die Kinder.« Rhapsody küsste ihn dankbar. »Wie lieb von dir.« Sie wartete, bis er die Stufen von Haguefort hochgestiegen war, bevor sie sich auf den Weg zum Hügel machte, auf den er gezeigt hatte. Sie hielt auf halber Höhe inne und lauschte wieder dem Jammern des Windes, doch sie bemerkte nichts Außergewöhnliches. Schließlich seufzte sie auf und eilte hinauf zum Hügelkamm. Dort oben saß Anborn allein in seinem Rollstuhl. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, doch als sie näher kam, sagte er: »Ich glaube, es kommt aus Westen.« Rhapsody blieb sofort stehen. »Was ist es?«, fragte sie besorgt. Der alte Soldat regte sich nicht. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. Rhapsody ging weiter, bis sie neben ihm stand. Selbst aufrecht war sie nur wenig größer als der sitzende Marschall. Sie wartete, denn sie wollte ihn bei seinem Lauschen nicht stören. Gemeinsam schauten sie über die endlosen Wiesen zum Horizont, der sich nun unter der höher steigenden Sonne erhellte. Schließlich sagte der General: »Ich habe geglaubt, den Ruf zu hören.« »Das hattest du schon gesagt. Von der Skelettküste her.« Anborn richtete seine azurblauen Augen auf sie. »Nein, noch einmal. In der letzten Nacht.« Die Kälte kehrte zurück und stach ihr in die Haut, aber diesmal wusste Rhapsody, dass sie von den Worten des Generals herrührte. »Von wo?« Anborn schaute wieder fort. »Wenn ich das wüsste, wäre ich schon da.« Er rollte mit den Schultern. Die mächtigen Muskeln warfen das Hemd in Falten. Dann streckte er seine nutzlosen Beine mit den Armen. »Ich habe nichts gehört, aber ich spüre eine Veränderung in der Luft«, sagte Rhapsody und wischte sich die Haare aus dem Gesicht, bevor der Wind sie wieder dorthin blies. »Ich habe noch nie den Ruf eines Blutsverwandten im Wind gehört, Anborn. Ich habe nur einmal selbst um Hilfe gerufen, und du bist gekommen. Ich war der Meinung, wenn ein Blutsverwandter ruft und ein anderer in Hörweite ist, wird er kommen; die Elemente selbst bringen ihn ans Ziel.« Der General nickte. »So habe ich es auch verstanden.« »Was ist also los?« Anborn zuckte die Achseln. »Ich lebe jetzt schon tausend Jahre, Rhapsody. Auch wenn ich noch weitere tausend Jahre leben sollte, werde ich doch nicht all deine Fragen beantworten können.« Rhapsody lächelte schwach. »Das ist allerdings wahr«, sagte sie und legte ihm den Arm auf die Schulter. »Und selbst wenn du es könntest, würdest du bestimmt nicht dein ganzes Wissen mit mir teilen. Du lässt dich ja nicht einmal herab, den Köchen zu sagen, was du zum Abendessen haben willst.« »Dein neuer ist übrigens miserabel. Der Schweinetrank und Schiffszwieback im Bauch des Lastkahns war besser.« Die Worte zerstoben im Wind und ließen ein Bild in Rhapsodys Kopf zurück. »Könnte der Ruf vom Meer gekommen sein?«, fragte sie. Sie spürte, wie sich Anborns Muskeln unter ihrer Berührung leicht anspannten. »Llauron pflegte zu sagen, dass der Wind über der See manchmal Laute einfängt und sie wie auffasernde Wolle umherwirbelt. Sie fliegen auf ewig durch die Luft und werden von den Schwingungen der endlosen Wellen zerschmettert. Ist es möglich, dass du einen Ruf hörst, der von jemandem auf dem Meer kommt und der vielleicht gestern, vielleicht auch schon vor hundert Jahren ausgestoßen wurde?« Anborn blickte finster drein. »Wenn wir über alles sprechen wollten, was möglich ist, würdest du nicht rechtzeitig in Yarim eintreffen, um mit dem Bolg-König zu reden«, sagte er barsch, doch in seiner Stimme lag unmissverständliche Zuneigung. »Möglicherweise ist das der Grund, warum du es hörst, ich aber nicht«, meinte Rhapsody. »Vielleicht stammt der Ruf aus der Zeit vor meiner Ankunft hier, noch bevor ich zur Blutsverwandten wurde.« Ihr Gesicht rötete sich leicht in der Morgensonne. »Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, dass ich eine bin. Schließlich habe ich keinen lebenslangen Soldatendienst hinter mir wie die meisten von euch.« Anborn schüttelte den Kopf. »Viele Lügen werden in den Wind gesagt, aber der Wind selbst lügt nie. Du hast gerufen, und ich habe dich gehört. Was immer du getan hast, um deine Stellung zu bekommen, war ihrer wert. Manchmal ist das schwer zu verstehen.« Er kniff ihr scherzhaft in die Hüfte. »Was sollen wir also tun?«, fragte sie, gab ihm einen Klaps auf die Hand und versuchte ihre Verzweiflung im Zaum zu halten. Anborn zuckte erneut die Achseln. »Nichts.« »Nichts?« »Nichts.« Die Falten im Gesicht des Generals kräuselten sich, als er in die Sonne blinzelte; dann richtete er den Blick wieder auf die Wiesen. »Du kannst nicht die ganze Welt retten, Rhapsody. Niemand kann das. Wenn ein Blutsverwandter in Gefahr ist und gerettet werden kann, wird sich der Wind darum kümmern, dass es geschieht. Ich stehe bereit nun ja, ich sitze bereit.« Er kicherte und streichelte sanft ihr Gesicht. Dabei verweilte seine Hand ein wenig auf ihrer Wange. »Ich weiß, dass du ebenfalls bereit bist. Also werden wir abwarten und sehen, was geschieht. In der Zwischenzeit lebst du dein Leben. Geh zu dieser trockenen Ziegelstadt und überschwemme sie. Am besten ertränkst du sie. Es ist ein Ort der Trockenfäule, der es verdient, vom Wind fortgeweht zu werden. Das ist zumindest meine Meinung. Aber wenn du die Stadt wirklich retten willst, dann geh und tu es. Du kannst nicht auf das Schicksal warten. Es kommt zu dir – üblicherweise dann, wenn du nicht darauf vorbereitet bist.« Rhapsody ergriff die Hand an ihrem Gesicht und küsste sie. Dann beugte sie sich herab und drückte dem General einen Kuss auf die Wange. »Vielen Dank, Anborn. Bleibst du eine Weile in Haguefort?« »Nur für kurze Zeit, aber lange genug, um die elenden Lektionen auszugleichen, die mein nutzloser Neffe dem jungen Herzog gegeben hat. Der Junge weiß nicht einmal, wie man richtig ausspuckt. Das ist doch schändlich!« Rhapsody lachte. »Gut. Ich bin sicher, er wird ein neuer Mensch sein, wenn wir zurückkehren.« »Darauf kannst du wetten. Ich werde vermutlich nicht mehr hier sein, um euch in der Heimat zu begrüßen. Du weißt, wie sehr ich es hasse, zu lange am selben Ort zu bleiben.« Sie nickte. »Ja. Ich werde dich vermissen – wie immer.« Der General winkte ihr zu. »Geh. Die Karawane war schon fast abreisebereit, als ich vor über einer Stunde hierher gekommen bin. Jetzt wartet man bestimmt schon auf dich. Gute Reise.« Er wartete, bis sie hinter dem Kamm des Hügels verschwunden war, und sagte dann zu sich: »Und, wie immer, werde ich dich auch vermissen.« Der Kessel Achmed wunderte sich darüber, wie leise sich die Bolg versammelt hatten. Die Karawane nach Yarim war während der Nacht bestückt und abreisefertig gemacht worden, damit die Morgenappelle und frühen Manöver nicht gestört wurden. Die Arbeit war in fast vollkommener Stille vor sich gegangen, was sehr beeindruckend war, denn die Wagen mit den Bohrern und Getrieben waren sieben Schritt lang und hatten jeweils vier Achsen. Es handelte sich um eine schwere und behindernde Ausrüstung, die heftig knarrte und klapperte. Die Leistung war Grunthors Ausbildung und der natürlichen Anmut des Firbolg-Körpers zuzuschreiben, der sich geschmeidig und verstohlen bewegen konnte, wenn es erforderlich war. Achmed bemerkte, dass jene Bolg, die zur Reise nach Yarim ausgewählt worden waren, trotz ihrer großartigen Leistungen sehr nervös waren. Die Narben von der jahrhundertealten Tradition des »Frühjahrsputzes« waren vier Jahre nach seiner Thronergreifung noch immer vorhanden. Dabei handelte es sich um ein scheußliches jährliches Ritual, in dem das machttrunkene, besser ausgerüstete und ausgebildete orlandische Heer in das Vorgebirge der Zahnfelsen ritt und ein Bolg-Dorf in Schutt und Asche legte. Die Orlander glaubten, ihre blutrünstigen Aktionen hielten die halb menschliche Bevölkerung in Schach und verhinderten, dass die kannibalischen Horden die Grenzprovinzen Bethe Corbair und Yarim angriffen. Im Bestreben, rasch zu zerstören und heimzukehren, schienen die Soldaten aus Roland die Tatsache zu übersehen, dass sie jedes Jahr denselben Ort verwüsteten. Die Bolg handhabten die Situation meisterhaft. Sie errichteten hastig ein baufälliges Dorf und bevölkerten es mit den Ausgestoßenen der halb nomadischen Gesellschaft: den Alten und den Kranken. In Achmeds Augen war dies eine nüchterne und kluge Lösung. Sie hielt die Gruppen stark, während sie die Blutlust Rolands sättigte und die Eindringlinge davon abhielt, tiefer in die Zahnfelsen vorzudringen, wo die Bolg in Wirklichkeit lebten. Diese Täuschung hatte Achmed schon zu Anfang davon überzeugt, dass die Rasse seines unbekannten Vaters jede Schutzanstrengung wert war. Vom Rücken seines Pferdes sah er sie nun im Licht der Morgendämmerung, wie sie ihre Nahrungsmittel und Waffen einsammelten und die Zugpferde vor die Wagen spannten. Ochsen wären besser gewesen, aber die Tiere hätten die Reise durch das Gebirge nicht überlebt. Die Bolg scherten sich nicht um Pferdefleisch und sahen die Tiere nicht als Nahrung, sondern als Transportmittel an, was den vier unglücklichen Ochsengespannen, die Achmed vor ein paar Jahren in Bethe Corbair gekauft hatte, nicht vergönnt gewesen war. Gelegentlich sah er noch einige Bolg in den Tunneln an ihm Vorüberlaufen, die auf ihren Schutzhelmen ein Ochsenhorn trugen, meistens in Höhe der Stirn oder ganz oben auf dem Helm. Eines hatte er sogar einmal auf dem Lendenschurz eines unteren Kommandanten gesehen und den verstorbenen Ochsen im Stillen um Entschuldigung gebeten. Auch wenn die menschlichen Einwohner von Yarim zweifellos beim Anblick einer aus Osten anrückenden Kohorte des firbolgschen Heeres erbeben würden, konnten sie kaum denselben Schrecken erfahren wie die Bolg bei dem Gedanken, in einer kleinen, nur spärlich geschützten Gruppe das Kernland des früheren Feindes zu betreten. Seiner Meinung nach hatten sie den besseren Grund, sich Sorgen zu machen. Rechts von ihm erzitterte der Boden, und Grunthor erschien auf seinem Pferd Felssturz neben ihm. »Glaube, wir sind zur Abreise bereit«, sagte der Riese. Achmed nickte und wandte sich an Rhur, dessen Besorgnis ihm in dem grauen Licht deutlich anzusehen war. Da die bolgischen Gesichter für gewöhnlich kaum einen erkennbaren Ausdruck zeigten, war dies besonders beunruhigend. »Wie befohlen, wende dich in Dingen, die den Gurgus angehen, an Omet, und in Verwaltungsangelegenheiten an Hagraith«, sagte er. »Wenn du dir bei einer Sache unsicher bist, warte meine Rückkehr ab.« Der Bolg-Künstler nickte. Achmed ergriff die Zügel, gab dem Quartiermeister ein Zeichen und trieb sein Pferd vorwärts, bis er sich an die Spitze der Versorgungskolonne gesetzt hatte. Er räusperte sich. »Fertig?« Die zottigen Köpfe mit den dunklen Gesichtern nickten schweigend. »Also gut. Wir werden schnell wieder zu Hause sein und diese Leute nicht länger ertragen, als es unbedingt nötig ist. Los geht’s.« Unter dem mahlenden Kreischen von Holz, dem Lärm der Tiere und den Spiegelungen der blitzenden Sommersonne auf der Bohreinheit, die bereits einen Augenblick später in Leinwand gewickelt wurde, reisten die Bolg-Ingenieure zum roten Lehm von Yarim. Auf See, bei der Überquerung des Nullmeridians Der Seneschall hörte trotz des brausenden Seewindes, wie die Seeleute im Takelwerk der Basquela einander zuriefen: »Ab jetzt Umkehr unmöglich, Käpt’n!« »Umkehr unmöglich! Alle Hände an die Segel!« Der Ruf wurde zuerst von einem Dutzend Stimmen aufgenommen, dann von immer weiteren und lief über das Deck wie die Warnung vor einem Buschfeuer oder einer Flut. Fergus, der Vogt des Seneschalls, erhob sich von der Truhe, auf der er gesessen hatte, und bedeutete den bewaffneten Männern, die der Seneschall aus Argaut mitgebracht hatte, sich am Hauptmast zu versammeln. Fergus war kein Mann vieler Worte. Er teilte sich hauptsächlich durch eine ganze Liste von Grunzen, Schnauben und Brummen mit, doch im aufkommenden Sturm nahm er Zuflucht zu Gesten und einem schwarzen Blick. Der Seneschall griff nach einem Stag in der Nähe. Der Nullmeridian, die unsichtbare Linie, die das Meer in zwei Hälften trennte und angeblich der Ort war, wo die Zeit ihren Anfang genommen hatte, war der sagenhafte Punkt, hinter dem es keine Rückkehr mehr gab, wo ein Schiff entweder still und ohne Zwischenfall weitersegelte oder von einer abgeirrten Strömung gepackt und versenkt wurde. Schlimmer noch: Manchmal erstarb der Wind, und das Schiff lag reglos auf der offenen See. Es war der Ort, vor dem sich die Seeleute fürchteten, den sie aber unter allen Umständen meistern mussten. Das Metall in seiner Hand war schlüpfrig und kalt von der Salzgischt und der steifen Brise. »Langsam!«, rief der Lotse dem Steuermann zu. »Wir müssen sie hart vor den Wind bringen.« Clomyn und Caius, die verlässlichen Armbrustschützen des Seneschalls, taumelten auf die Beine und sahen sich nach einem Platz um, wo sie sich festhalten und die Überquerung des Meridians hinter sich bringen konnten. Sie waren Zwillinge, deren Herzen in vollkommenem Einklang schlugen und deren Geschick mit der Waffe in ganz Argaut unübertroffen war. Den Brüdern war seit dem Ablegen unwohl, und nun erblassten sie, als ihnen der Mageninhalt hochstieg. »Haltet euch fest, Kumpels«, rief der Kapitän und richtete sich auf. »Schwere See heute, scheint fast lebendig zu sein. Müssen das Schiff verholen, oder wir gehen alle unter.« Die Besatzung, die schon seit langem daran gewöhnt war, diese Stelle hinter sich zu bringen, ging auf die Posten und bereitete sich auf einen harten Ritt auf den Wellen vor. Die Dünung war stark; hohe Wellen schwappten an beiden Seiten über das Deck und durchnässten die Soldaten unter der Führung des Seneschalls. Der Seneschall selbst, den das Stampfen des Schiffes beunruhigte, hielt sich an dem Stag fest und rang nach Luft, als ihm die Gischt einer überschlagenden Welle den Mund füllte. Er rief nach Fergus, und der Vogt kam über den glitschigen Boden auf ihn zu. »Sichere mich«, befahl er ihm. Der Vogt nickte, klammerte sich mit einer Hand selbst irgendwo fest und packte mit der anderen den Arm des Seneschalls. »Windseite! Nach Lee, Mann!«, rief der Lotse dem Steuermann zu. Der Seneschall spürte, wie das schwarze Feuer in seiner Seele angesichts seiner Hilflosigkeit vor Wut brüllte. Das Schiff schlingerte wild, die Seeleute torkelten umher; nur wenige Augenblicke zuvor waren sie vor einem angenehmen Wind gesegelt und gut vorangekommen. Dass seine Reise und damit auch die Erreichung seines Ziels in Gefahr geraten war, erzürnte sowohl den Mann als auch den Dämon. »Steuer fest!«, rief der Kapitän. »Halt mich fest«, sagte der Seneschall zu Fergus, der verständnisvoll nickte. Der Seneschall kämpfte gegen den Sturm, packte den Griff an seiner Seite und zog Tysterisk. Ein Schauer winzigster Funken ergoss sich aus der Scheide und war nur einen Augenblick lang sichtbar. Für jeden anderen, der nicht so nahe wie Fergus neben dem Seneschall stand, sah es nur so aus, als ob der Seneschall einen Griff aus schwarzem Stahl in der Hand hätte. Doch Fergus befand sich so dicht neben ihm, dass er für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf die Klinge erhaschen konnte. Sie war kaum mehr als ein schwacher, schwarzer Umriss, zwischen dessen Rändern winzige Strömungen flössen, die unsichtbar gewesen wären, wenn sie nicht kleine Wassertropfen aus der Gischt eingefangen und in sich umhergewirbelt hätten. Und in diesem Bruchteil einer Sekunde sah der Vogt die winzigen, ungeschlachten Gesichter der Geister. Es waren augenlose Wesen mit dunklen Mündern, die in heulender Raserei offen standen und in der unsichtbaren Klinge umherwirbelten. In diesem Moment erkannte er die Macht und Bedeutung der Waffe und spürte das Knistern der Luft in ihrer Nähe. Die Macht floss unmittelbar durch den Seneschall. Sein Körper versteifte sich, und eine Welle der Kraft brandete durch ihn, die Fergus unter seinem Griff deutlich fühlte. Die Haut unter der Robe des Seneschalls wurde warm, warf Blasen, war zu heiß für jede Berührung. Mit einem kehligen Schmerzenslaut ließ Fergus den Arm seines Herrn los. Nun war es nicht mehr nötig, ihn zu stützen. Blitze zischten im Wind, der über das Deck und die Segel fuhr. Wie die Schwertklinge, so schien auch der schlanke Kör per des Seneschalls größeres Gewicht zu bekommen, eine sehnige, muskulöse Kraft, welche von der Gewalt der Waffe herrührte. Er warf den Kopf zurück und lachte, dann rief er in den Wind: »Verneige dich vor mir!« Die Zwillinge, die flach auf dem Deck gelegen hatten, sahen durch verklebte Haare inmitten von Pfützen aus Erbrochenem auf und beobachteten die Verwandlung. Sie sahen zu, wie ihr Meister dem Wind befahl. »Ich bin dein Herr!«, brüllte der Seneschall in den Sturm, der an seinen Kleidern zerrte. Seine Stimme klang tief und durchschnitt das Kreischen des Windes wie eine Klinge, die durch Schnee fährt. »Verneige dich vor mir, ich befehle es dir!« Zur Antwort knisterte der donnernde Sturm vor elektrischen Entladungen und peitschte in einer wirbelsturmartigen Spirale himmelwärts. Einen Augenblick später erstarb der Wind. Die Wellen, die nun nicht mehr von ihm gepeitscht wurden, beruhigten sich wieder; die Segel, die eben noch durch die Kraft des Windes gegen die Masten gedrückt worden waren, wurden schlaff und füllten sich erneut, als eine leichtere Brise in sie fuhr. Die Mannschaft stand stocksteif da; alle Augen waren auf den Seneschall gerichtet. Der Seneschall schloss die Augen; auf seinen Lippen lag ein breites, triumphierendes Lächeln. Er hob das Gesicht zur Sonne, die sich nun, da die Wolken fortgeblasen waren, wieder zeigte. Eine Weile stand er so da und genoss den ruhmreichen Sieg über den Sturm; dann, als sei er wieder zu sich gekommen, öffnete er die Augen und schenkte der Mannschaft einen Blick der Missbilligung. Die Brise um den Griff in seiner Hand löste Funken wie von einem Lagerfeuer und hob sie in die Luft. »Macht weiter«, sagte er mit leiser, tödlich kalter Stimme. Der Kapitän wandte sich sofort an den Lotsen. »Kurs halten!«, rief er. Die Mannschaft, die noch vor einem Augenblick wie betäubt gewesen war, wurde allmählich wieder aufmerksam und kehrte rasch auf ihre Posten zurück. Fergus trocknete sich die stechenden Hände, die wegen der Hitze des Seneschalls Blasen geworfen hatten, an der Hose ab und ging über das Deck zu den beiden Armbrustschützen, die noch immer vor lauter Übelkeit auf den Planken lagen. »Steht auf«, sagte er mit barscher Stimme. »Geht unter Deck, bis ihr gebraucht werdet.« Der Maat blieb stehen, als er auf dem Weg zum Achterdeck an dem Kapitän vorbeikam, und beugte sich zu ihm, damit niemand ihn belauschen konnte. Er begriff nicht, dass der Wind alles hörte. »Was haben wir da an Bord genommen, Käpt’n?«, fragte er nervös. Der Kapitän zeigte keine Regung. »Kann ich nicht sagen«, antwortete er und beobachtete, wie sich der Seneschall in sein Quartier unter Deck begab. »Aber gewiss ist unsere Reise gesegnet. Wie dürften wir um mehr bitten, wenn der Wind selbst bei uns ist?« 9 An der Skelettkuste — Sorbold Mit dem Morgen kam der Sturm. Der Mann stand mit dem Rücken zur aufgehenden Sonne, hielt das Gesicht nach Westen gewandt und beobachtete den wogenden Nebel knapp hinter der Brandung, die sich am schwarzen Sand des Strandes brach. Überall schlummerten hoch aufragende Schiffwracks. Ihr altes Holz stach aus dem Sand hervor wie die gebrochenen Knochen von riesigen mythischen Tieren und waren in dichte Laken aus Nebel gehüllt. Heute Morgen sieht die See ruhig aus, dachte er und beobachtete das sanfte Steigen und Fallen der Wellen, die schäumend den dunklen, glitzernden Sand Hochliefen und sich dann wieder scheu zurückzogen. Er wusste, dass all das nur Täuschung war. Die Brandung einige Fuß vor dem Strand war trügerisch und gnadenlos und der felsige Boden unter den vulkanischen Sandschichten so zerklüftet wie ein zerbrochenes Glas. Hier an der Windabgewandten Seite der Skelettküste war der Friede nur eine Maske vor einer tieferen, tödlichen Bedrohung. Dieser Gedanke belustigte ihn. An der Wetterseite der Küste machten die Wellen keinen Versuch, ihre Wut zu verbergen. Sie rollten in hohen, weißen Brechern dahin und prügelten den Strand mit unnachgiebiger Wut, sie schlugen gegen die Felsen und schleuderten ihre Gischt heftig in die Luft, bis sie zurück in den Schlund des Meeres gesogen wurden, nur um wenig später beharrlich wiederzukehren, immer wieder, endlos. In diesem unbeschönigten Meerestosen, in der frei eingestandenen Feindseligkeit, die nicht das Bedürfnis hatte, sich zu verstecken und passiv zu erscheinen, lag für ihn etwas überaus Ansprechendes. Es war eine Wut, die auch er verspürte, ein Zorn, der tief in ihm lauerte und zum Zwecke der Zusammenarbeit verhüllt, gemäßigt und in ein freundliches Gesicht, ein angenehmes Äußeres gekleidet werden musste. Wie der Wind auf der Leeseite. Bis jetzt. Ein goldener Strahl brach durch den allgegenwärtigen Dunst und erleuchtete den bewölkten Himmel. Seine dunkle Haut schimmerte kupferfarben; es war die Farbe der Erde unter dem Sonnenlicht. Sorboldische Haut, poliert vom Wüstenwind und der unbarmherzigen Sonne. In seinem Volk lag eine Schönheit, die bei anderen Linien der menschlichen Rasse auf dem Kontinent nicht existierte. Es war eine überlegene Anlage, die der gnadenlosen Sonne trotzte, den peitschenden Wüstenwinden, dem harten Klima, der grausamen Kultur, und auf der anderen Seite nur umso stärker und geschliffener wieder hervorkam, wie ein Lehmtopf, der im Feuer gebrannt wurde. Bald würde er auf die Probe gestellt werden. Ein kreischendes Pfeifen unterbrach seine Gedanken, ein Seufzen, das man von Zeit zu Zeit an der Skelettküste hören konnte. Es war nur der Wind, der sich um die zerbrochenen Masten der alten Schiffe legte, über die Reste der Schiffskörper peitschte und das Holz blank fegte. Die toten Schiffe waren aus einem seltsamen Holz erbaut, aus einer Baumart, die es auf dieser Seite der Welt nicht gab. Das Holz war auch nach tausendvierhundert Jahren noch nicht verrottet. Der Wind schien die Wracks zärtlich zu umspielen und sie in den Dunst des Morgens zu hüllen, wobei er sein klagendes Lied sang. Der Mann schaute auf und richtete die Gedanken wieder auf das Ziel, das unmittelbar vor ihm lag. Er hatte den Strand im grauen Licht der Vordämmerung abgesucht, wie am ersten Tag, als er hier einen Schatz gefunden hatte, und wie er es seitdem endlose Male getan hatte, aber umsonst. Es würde nur noch wenige Augenblicke dauern, bevor die Sonne ganz aufgegangen war und der neblige Strand weiß und wolkenverhüllt und der Dunst undurchdringlich wurde und jedes Glimmern von Magie unterdrückte. Rasch sah er sich ein weiteres Mal um. Sein Blick suchte die schäumenden Wogen und den schwarzen Sand ab. Er sah nichts Ungewöhnliches – wie immer, seit er suchte, mit Ausnahme des ersten Mals. Der Mann stieß einen tiefen Seufzer aus, in dem große Resignation lag. Das Scheitern kam nicht unerwartet, denn wie oft in einem Leben erhält man den Schlüssel zur Zeit? Niedergedrückt grub er unter dem Bug des Schiffsskeletts, das er schon durchstöbert hatte, und versuchte alles zu sichten, das die See noch nicht für sich beansprucht hatte, jedes Glimmern und noch so winzige Glitzern wie das, welches er an jenem Tag gesehen hatte; doch es war umsonst. Der Bogen aus Rot und Orange, der bei Tagesbeginn den Horizont aufgebrochen hatte, schwoll zu einer vollständigen Kugel an, welche die schwere, dunstige Luft mit Stumpfheit erfüllte. Er seufzte tief und erinnerte sich froh an den Augenblick seiner Entdeckung... Damals war er noch viel jünger – ein Mann mit den wirklichkeitsfremden Träumen der Jugend und dem drängenden Verlangen, sie in die Tat umzusetzen. Doch dieses Verlangen nahm mit jedem Jahr ab, und die Träume verblassten. Er hatte sich bereits in der mürrischen Billigung der Tatsache eingerichtet, dass sein Leben völlig durchschnittlich verlaufen werde, als er bei einer ungestümen Wanderung über den schwarzen Sandstrand auf ein verheißungsvolles Glimmern stieß. Er hätte es beinahe übersehen und nahm es nur aus den Augenwinkeln wie eine ferne Bewegung wahr; doch es versetzte sein Herz sogleich in pochende, schmerzhafte Aufregung. Der Legende nach streiften die grauen Löwen, die lebenden Geister von Raubtieren, an der Skelettküste umher und verschmolzen mit dem Nebel zur Unsichtbarkeit, bis sie bereits über ihrer unglücklichen Beute waren. Er sah genügend menschliche Knochen zwischen den Schiffs Skeletten, um diese Geschichten zu glauben. Das purpurne Glimmern am Rande seines Blickfelds erschrak ihn. Er blieb wie versteinert stehen und betete zum All-Gott, er möge ihn eins mit dem Nebel werden lassen, damit er den Fängen der Geisterlöwen entkommen konnte. Als ihn nach einigen Minuten noch immer nichts aus dem Nebel angesprungen hatte, setzte er den Weg durch die dunklen Knochen des Schiffes fort, dessen Umrisse aus zersplittertem Holz zuerst schattenhaft, dann grau und schließlich schwarz wurden, bis er im Innern des ehemaligen Rumpfes stand. Er grub vorsichtig im Sand und fegte die Körner sanft von der feuchten Oberfläche, wobei er nicht das Blut bemerkte, das ihm durch die Finger rann. Seine Haut wurde von den vulkanischen Scherben in dünne Streifen zerschnitten. Etwa knöcheltief, verborgen im Windschatten einer gesplitterten Planke, fand er es. Zuerst glaubte er, es sei eine Muschel oder vielleicht ein Stück Perlmutt. Es war von violetter, ungleichmäßiger Färbung, flach wie ein Flüstern, asymmetrisch oval und hatte einen eingekerbten Rand. Es dauerte mehrere Augenblicke, bevor er den Mut fand, es zu berühren, denn er befürchtete, es könne eine giftige Koralle oder eine Meerespflanze sein, die ihm bisher noch nie begegnet war. Als er es schließlich anfasste, war es glatt wie Glas, aber von feinen Furchen durchzogen, als wäre es aus zahllosen winzigen, vollkommenen Fliesen zusammengesetzt. Es mochte lange im Sand gelegen haben und vom Meer zermahlen, von Wind und Sandkörnern geschliffen worden sein, doch auf seiner Oberfläche war immer noch eine eingeritzte Rune zu erkennen, ein Schriftzeichen, das er nie zuvor gesehen hatte. Sanft und mit größter Vorsicht hob er den seltsamen Gegenstand auf und hielt ihn vor die Augen. In diesem Augenblick brach die Sonne wieder durch den Dunst. Ein Lichtstrahl fiel auf das Glas und erhellte jede winzige Furche. Der Gegenstand blitzte auf und strahlte eine Helligkeit aus, die den Mann beinahe blind gemacht hätte. Strahl um Strahl eines vielfarbigen Lichts wogte über die blassviolette Oberfläche, ergoss sich in gleißenden Strömen über den dünnen, ausgefransten Rand und blendete seine Augen. Und als das Licht weiterkroch, wurde der Gegenstand wieder dunkel und violett. Er spürte nicht den Schmerz in seinen blutigen Fingern oder den Sand in den Augen oder die wachsende Hitze der Sonne, die sie auf dem Weg in den Himmel abstrahlte. Alles, was er spürte, war die Magie, die in seine Hände sickerte, und das Schlagen seines Herzens, das mit dem Ticken einer unsichtbaren, allgegenwärtigen Uhr im Einklang war, sowie ein melodisches Summen im Kopf, das ihm ohne Worte sagte, sein Leben werde nie wieder gewöhnlich sein. Von diesem Augenblick an versuchte er fieberhaft, den Ursprung des Gegenstandes herauszufinden. Er heuerte als Schiffskoch auf Reisen nach Manosse und dem Hintervold an, nahm eine Stellung als Messdiener in Terreanfor an der gewaltigen Kathedrale des Großen Herrn und Königs der Erde, der sorboldischen Basilika aus Lebendigem Gestein -, diente Gelehrten, Priestern und filidischen Waldhütern – alles umsonst. Weder in ihren Bibliotheken noch in ihren Erinnerungen, noch in den überlieferten Sagen fand er einen Hinweis auf einen solchen Gegenstand, und natürlich konnte er niemanden direkt danach fragen und erst recht nicht ihn jemandem zeigen. Als die Jahre vergingen, wurde er immer enttäuschter. Er suchte nach einem Hinweis und einer Erklärung, fand aber nicht einmal ein weiteres Beispiel für jene Schrift, aus der die Rune auf der Oberfläche des Objektes stammte. Doch eines Tages stieß er zufällig auf das cymrische Museum, jenes kleine Refugium staubiger Überreste, das nur selten geöffnet hatte und noch seltener besucht wurde und sich in einer Festung namens Haguefort in der orlandischen Provinz Navarne befand. Der Hüter des Museums war ein freundlicher junger Mann namens Stephen Navarne. Er war der Herzog jener Provinz und ein unerschrockener Anhänger der cymrischen Geschichte und Überlieferung. Die Stellung des cymrischen Historikers hatte er von seinem Vater geerbt, der wie andere Historiker vor ihm die Artefakte und Berichte aus dieser Zeit verschlossen gehalten hatte, da er sich seiner Abstammung von diesem Volk geschämt hatte. Die Cymrer waren einst als Flüchtlinge einer Katastrophe in dieses Land gekommen, hatten es erobert und dann in einem Krieg vernichtet. Alle, die von dieser Linie abstammten, redeten selten darüber und gaben ihre eigene beschämende Geschichte sowie die Scheußlichkeiten und die zerstörerische Überheblichkeit dieses Volkes fast nie zu. Aber Stephen Navarne war anders. Er wusste um die Errungenschaften vor dem Ausbruch des Großen Krieges, um die Straßen und Städte, Häfen und Leuchttürme, Schlösser und Kathedralen und hatte daher beschlossen, stolz auf seine Herkunft zu sein, wenn auch auf vorsichtige Weise. Mit großer Liebe hatte er ein kleines, unauffälliges Museum für die historischen Schätze aus jener Zeit gebaut, damit sie erhalten und in einer angenehmen Mischung aus Stolz, Bescheidenheit und Gelehrsamkeit ausgestellt werden konnten. Er war immer überaus bereit, seine Zeit denjenigen zu schenken, die mehr über jene Ära und jenes Volk wissen wollten – diese uneinheitliche Gruppe von Menschen, die dem vulkanischen Feuer des Schlafenden Kindes entkommen war, das ihre Heimat verschlungen hatte, nur um den Spieß umzudrehen und die Vernichtung dem Land ihrer Gastgeber zu bringen, wonach sie im Dunkel der Geschichte verschwand ... Dort, in diesem winzigen Museum, inmitten der sorgfältig ausgestellten Stücke, hatte der Mann, der nun eingehüllt in den Nebel der Skelettküste unter der sorboldischen Sonne stand, die zerfetzten, durchnässten Seiten eines Buchfragmentes entdeckt, das aus jenen Schiffsskeletten gerettet worden war und einige der Antworten barg, nach denen er so lange gesucht hatte. Dem Anschein seiner Überreste nach war das Buch einmal ein dicker Band gewesen, in Leder gebunden und sorgfältig in der peinlich genauen Handschrift eines Gelehrten kalligraphiert. Es existierte nur noch in Bruchstücken, in zerfallenden Seiten und verschmierter Tinte, sorgfältig unter Glas konserviert. Einige Abschnitte waren unversehrt, doch der größte Teil stellte sich als unlesbar, zerrissen oder verschmiert heraus. Was überlebt hatte, war der Titel, der in den zerfetzten Ledereinband eingeprägt war. Dort stand: Das Buch allen menschlichen Wissens. Dem Mann war ein großer Teil der Erläuterungen entgangen, die der Herzog von Navarne ihm über das Buch mitgeteilt hatte. Er hatte die Erregung zurückhalten müssen, die in seinen Ohren gerauscht und ihm Schweißausbrüche verschafft hatte. Damals war es ihm wichtig gewesen, ruhig und nicht sonderlich interessiert zu erscheinen. Es war das erste Mal gewesen, dass er seinen Gesprächspartner völlig getäuscht und seine Absichten meisterhaft verborgen hatte, wie er es in der Folge noch oft tun sollte. Das Wenige, das ihm damals erzählt worden war, hatte er inzwischen fast völlig vergessen; es war ein unaufhörliches Gerede über einen Nain-Entdecker aus der alten Welt namens Ven Polypheme gewesen, der alle Überlieferungen und Lehren gesammelt hatte, die ihm bei seinen Reisen um die Welt zugetragen worden waren. Damit Herzog Stephen nicht gemerkt hatte, woran ihm wirklich gelegen war, hatte er sich nach einigen anderen Einträgen in dem Buch erkundigt. Und so hatten sich in seiner Erinnerung eine große Menge historischer Tatsachen vermischt. Doch einige herausragende Fakten hatte er nicht vergessen. Der Gegenstand, den er gefunden hatte, war ein Spiel gewesen – ein Wahrsagemittel, das der Nain-Forscher als »Spiel« beschrieben hatte. Es hatte einer alten serenischen Seherin namens Sharra gehört, und an einer Stelle bezog sich Ven Polypheme darauf als »Sharras Spiel«. Dem Forscher zufolge war die Seherin in der Lage gewesen, Elementarkräfte herabzuziehen und mit ihnen die Karten zu manipulieren, damit sie bedeutsame Ereignisse zeigten, aber was das für eine Kraft war oder wozu diese Manipulationen geführt hatten, war in Zeit und Meer verloren gegangen. Die Symbole einiger Karten waren in dem Buch grob aufgezeichnet. Wenn er das Thronsymbol auf einer der besser erhaltenen Seiten nicht erkannt hätte, wäre ihm der Zusammenhang wohl völlig entgangen. Doch wunderbarerweise war diese Zeichnung unversehrt und die Unterschrift deutlich zu entziffern. Er hatte um Haltung gerungen, als er zerstreut auf die Runen unter der Zeichnung des Thrones gedeutet hatte. Diese Runen hatten sich in seine Erinnerung eingebrannt, auch wenn er sie nicht lesen konnte. »Was für eine Sprache ist das?«, hatte er den jungen Herzog beiläufig gefragt. »Alt-Serenne«, hatte Stephen erwidert. In seinen blau-grünen Augen hatte Aufregung geleuchtet. »Es ist eher ein magischer Code oder eine Notenschrift als eine Sprache. Hier habe ich ein kleines Buch, das so etwas wie ein Lehrbuch des Alt-Serenne ist, falls Ihr es sehen möchtet.« Er hatte den kleinen Band fieberhaft durchgeblättert und die Worte und Symbole mit zitternder Hand abgeschrieben, bis ein einzelner Begriff ihn angestarrt hatte: die Übersetzung der Runen, die er seit so vielen Jahren zu entziffern versucht hatte. Der Neubeginn, hatte da gestanden. Die einzige andere bedeutsame Information, die er in den spärlichen Überresten des Buches allen menschlichen Wissens über das Kartenspiel gefunden hatte, bestand darin, dass Ven Polypheme glaubte, die Karten seien aus Drachenschuppen gebildet, auch wenn er zugeben musste, ähnliche Schuppen an keinem der vielen Drachen gesehen zu haben, denen zu begegnen er anscheinend im Verlauf seiner Reisen die Ehre gehabt hatte. Und da die Drachen aus dem Element der Erde gebildet waren, hegte er den Verdacht, dass er wusste, was der Schuppe zu neuer Macht verhelfen konnte ... Die Zeit war beinahe gekommen, diese Theorie zu überprüfen. Er hatte bereits die notwendigen Schritte unternommen. Die Waage von Yarim hatte zu seinen Gunsten ausgeschlagen. Seit er das Totem aus Lebendigem Gestein auf die eine Schale und die violette Schuppe auf die andere gelegt hatte und sie ins Gleichgewicht gekommen waren, hatte er es gespürt. Es war eine das Blut durchdringende Kraft in den Venen, ein Anspruch, der alle anderen überstieg. Als die Sonne am Firmament höher stieg und der dichte Nebel der Skelettküste ihn wieder verschluckte, wusste der Mann, dass er bald herausfinden würde, ob er diese Kraft einsetzen konnte. 10 Auf der Strasse vor Yarim Paar Die angenehme Morgenluft war vom Klang eines strahlenden Basses erfüllt, der von den weit entfernten Zahnfelsen widerhallte. Mein Liebchen schnarcht wie’n Bär im Bau, Sie riecht wie ’ne läufige Maus, Ist dreckig wie’n Schwein im Verhau, An jedem Fuß schaun sechs Zehen heraus. O wie ich’s hasse, von ihr zu gehn, Wenn den Ruf der Pflicht ich hör, Lang müsst ich suchen, um eine wie sie zu sehn, Denn unendlich schön ist das Gör. Etwa ein Dutzend raue bolgische Stimmen nahmen den Refrain auf: Ah je, ah ja, so wunderbar schön ist sie, Ah je, ah ja, mein Mädchen in Terilee. Achmed hörte Grunthor und seinen Truppen nur mit halbem Ohr zu, als sie die bevorzugte Bettgespielin des Sergeanten im Lied priesen. Er hielt Ausschau nach den yarimesischen Wachen, denn er vermutete, dass Ihrman Karsrick, diese paranoide alte Ziege von Herzog, alles zu tun gedachte, um die Anwesenheit der Bolg in seiner Provinz auf die absolut notwendigen Orte zu beschränken und sie wohl widerstrebend in die Arbeitszone eskortieren würde, vielleicht im Schutz der Dunkelheit, um seine Untertanen nicht den ›Kannibalen‹ preiszugeben, wie die Bolg immer noch von den Menschen genannt wurden. Er brauchte nicht lange zu warten, bis seine Vermutung bestätigt wurde. Als der Bolg-Chor mit seinem Lied gerade bei der Stelle angelangt war, in welcher der Nasenring von Grunthors Favoritin freundlich mit dem eines örtlichen Preisbullen verglichen wurde, erschien in der Ferne eine dünne Reiterformation. Die Melodie erstarb in erstaunlichem Gleichklang. »Ah, da kommt das Begrüßungskomitee«, sagte der Sergeant und grinste. »Hab mich schon gefragt, wann die königliche Bewirtung anfängt.« Er wandte sich an das Dutzend Firbolg-Arbeiter und gab der Karawane das Signal, die Geschwindigkeit um die Hälfte zu verringern. »Denkt daran, die Servietten und Fingerschälchen zu benutzen, wie ich’s euch beigebracht hab. Und jetzt los.« Die Bolgwache, die als Eskorte ritt und ein Dutzend Soldaten zählte, zielte mit den Armbrüsten lässig auf die Vorderbeine der yarimesischen Reittiere, während der Sergeant und der Bolg-König langsam auf die Soldaten Yarims zuritten. Ein einzelner Reiter, ein dunkelhaariger Mann mit hellen Augen, scherte ebenfalls aus dem Kontingent aus und trieb sein Pferd sanft voran. »Gut abgepasst, meine Herren«, begrüßte der yarimesische Offizier, als er in Hörweite war, die Bolg in orlandischer Sprache. »Willkommen in Yarim. Ich bin Tariz und werde während Eures Aufenthalts in der Provinz Euer Führer und Eure Eskorte sein.« Achmed würdigte den Mann keines Blickes. »Dann führe uns.« Der Soldat wendete sein Pferd und ritt zurück zum yarimesischen Kontingent. Seine Schultern zuckten, als erwarte er jeden Augenblick einen Armbrustpfeil im Rücken. Außer im Sommer war Yarim Paar zu allen Jahreszeiten ein kalter, trockener Ort, eine flache Wüste zwischen den fruchtbaren Feldern von Canderre im Westen und den steil aufragenden Zahnfelsen im Osten. Die Stadt war älter als die meisten auf dem Kontinent, und sie war die älteste aller Provinzhauptstädte, denn sie war mehr als tausend Jahre vor dem cymrischen Zeitalter erbaut worden. Wie alt sie genau war, wusste nur der Wind, der den roten Tonstaub in wirbelnden Wolken über die weiten, unfruchtbaren Ebenen blies. Nun war Sommer, und der trockene, rote Lehm durchsetzte die Luft und machte in der Hitze das Atmen schwer. Der ausgetrocknete Boden war an der Oberfläche gedörrt und aufgebrochen und spuckte bei jedem Huftritt Spiralen aus rotem Staub aus, der zusammen mit der gleißenden Sonne in die Augen stach. Achmed hatte die weißen Arbeiterzelte um die Entudenin lange vor dem Rest der verfallenden Gebäude im Innern der Hauptstadt erspäht. In der großen Masse dessen, was früher einmal das Juwel der kalten Wüste gewesen war, leuchtete die Leinwand vor dem Hintergrund des blutroten Lehms. Er deutete mit dem Kopf in diese Richtung, und Grunthor nickte. Tariz bemerkte ihre stumme Zwiesprache. Nervös nahm er die Zügel in die rechte Hand und wies mit der linken auf die Zelte. »Das ist die Stelle«, sagte er unbeholfen. »Warum reiten wir dann davon fort?«, fragte Achmed, doch er kannte die Antwort bereits. Es war ein Gefühl wie bei einer Katze, die mit einem Vogel spielt, den sie gefangen hat. Das Spiel bereitete ihm Kopfschmerzen und ärgerte ihn. »Äh, wir ... ja, also ... ich habe besondere Anweisungen vom Herzog von Yarim, Euch und Euer Kontingent erst einmal in den Kasernenkomplex zu bringen, der für Euch im Nordosten vor der Stadt errichtet wurde. Wir haben Unterkünfte für die Männer und Pferde sowie Platz für die Maschinen geschaffen.« »Auch für die Männer?«, fragte Grunthor in gespielter Verwunderung. »Klasse! Heißt das, wir müssen nicht zwischen den Felsen bei den Schlangen schlafen? Ihr seid wirklich ein Ehrenmann, mein Herr.« »Der Herzog wird sich um all Eure Bedürfnisse kümmern, solange Ihr seine Gäste seid«, stammelte der Führer. »Ich vermute, das schließt unser Bedürfnis nach einem Führer während der ganzen Zeit mit ein«, sagte Achmed. »Ja, ja, natürlich.« Tariz wirkte erleichtert. Der Bolg-König brachte sein Pferd zum Stehen und bedeutete dem Führer, ebenfalls anzuhalten. Er beugte sich ihm entgegen und fing seinen Blick auf. »Eine Sache will ich von Anfang an klarstellen, Tariz«, sagte er gelassen. »Wie immer deine Befehle aussehen mögen – meine Männer und ich sind nicht deine Gefangenen. Ich werde deine Gegenwart und deine nutzlose Wachsamkeit während unserer Arbeit ertragen, solange es sachdienlich ist und mir passt. Aber bedenke, dass es nicht die von deinem Herzog angeheuerten Bolg-Handwerker sind, die du bewachst und gegen die du die Waffen erhebst, sondern die dummen Narren aus deiner eigenen Provinz. Ihre Neugier ist beleidigend. Wenn ich auch nur für einen Augenblick spüre, dass dir dieses Verständnis abhanden kommt, wenn einer meiner Arbeiter belästigt werden oder sich nicht mehr als der Fachmann fühlen sollte, der hergekommen ist, um deine Provinz vor dem Verdursten zu retten, werden wir fort sein, bevor du Luft holen kannst, und euch in der Sonne austrocknen lassen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Der yarimesische Soldat nickte. Seine Augen leuchteten in dem sandigen Wind. »Gut. Dann sollten wir schneller reiten. Die Männer haben sich einen Schutz vor dieser Hitze verdient. Bei Einbruch der Nacht werden wir mit den Arbeiten beginnen.« Von dem schimmernden Marmorbalkon ihres Gastzimmers im Gerichtsgebäude, das gleichzeitig der Palast des Herzogs von Yarim war, beobachtete Rhapsody den Zug der Wagen und Pferde, der nach Osten abbog. Das Kleid aus grüner yarimesischer Seide, das sie trug, leuchtete auf, als die Sonnenstrahlen darüber strichen, während sie sich drehte, um mit dem Blick der Karawane zu folgen. »Wo gehen sie hin?«, wollte sie wissen und schirmte die Augen vor der Helligkeit ab, die vom Balkongitter zurückgeworfen wurde, in das wertvolle Opale und Lapislazuli eingelassen waren – die wundervoll farbigen Erzeugnisse der berühmten yarimesischen Minenlager. Ihrman Karsrick räusperte sich. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie im Bissaltal ein paar Meilen außerhalb der Stadt lagern«, sagte er sanft. »Dort sollte es einfacher sein, sie zu beschützen.« »Das ist doch nichts als eine Sandschüssel«, meinte Ashe und verschränkte die Arme vor der Brust. »Habt Ihr dort vor kurzem eine Festung gebaut, Ihrman?« »Nein, mein Herrscher, keine dauerhafte, aber wir haben ein vollständiges Lager aufgeschlagen, mit einem Ring aus Wachen darum.« Rhapsody wandte sich an den Herzog. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Ihr habt König Achmed in Eure Provinz eingeladen, weil Ihr sein Fachwissen nutzen wollt, damit Ihr Euer Volk vor dem Verhungern und Euren Staatsschatz vor der völligen Plünderung bewahren könnt. Dabei erwartet Ihr, dass er Quartier außerhalb der Stadt bezieht und auf einem Feldbett unter einem Zelt mitten in der Wüste schläft, unter andauernder Bewachung, genau so, wie Ihr früher die Mörder aus dem Markt der Diebe untergebracht habt?« »Keineswegs, Herrin«, erwiderte Karsrick und biss die Zähne vor Verärgerung zusammen. »Die Mörder vom Markt der Diebe haben keine Feldbetten, sondern nur Schlafsäcke bekommen. Wo sollte ich die Bolg denn Eurer Meinung nach unterbringen?« Die Herrin der Cymrer drehte sich um und ging wütend zur Tür. »Ihr hättet sie dort unterbringen sollen, wo Ihr die anderen Gäste Eurer Provinz beherbergt, Ihrman, und es ist mir vor allem für Euch peinlich, dass Ihr nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen seid. Was den Bolg-König angeht, der ein Staatsoberhaupt und Mitglied des cymrischen Bündnisses ist, so hatte ich erwartet, dass Ihr ihm Eure eigenen Schlafgemächer zuweist, falls es nötig ist, und selbst mit Eurem fetten Hintern eher vor dem Feuer auf dem Küchenboden schlafen würdet, als uns beide auf diese Weise zu entehren.« Als sich der Herzog rot vor Wut nach Rhapsodys Gemahl umdrehte, zuckte der Herrscher der Cymrer nur mit den Schultern. »Wie Ihr wisst, müssen Benenner die Wahrheit sagen, Ihrman«, meinte er und folgte seiner Frau zur Tür. »Wenn sie etwas anderes als die Wahrheit sagen, schwächt es ihre Kräfte. Vielleicht wäre es diplomatischer von mir gewesen, wenn ich selbst Euch darauf angesprochen hätte, anstatt es Rhapsody zu überlassen, und Euch zu sagen, was für ein schamloser und ungezogener Narr Ihr seid.« Er ergriff ihren Arm, bevor sie durch die Tür schritt. »Du hast natürlich Recht, Aria«, sagte er ruhig. »Aber glaubst du nicht, die Bolg würden sich hier im Gerichtsgebäude unwohl fühlen? Hätten sie nicht dieselbe Art der Unterbringung gewählt, wenn sie vorher gefragt worden wären?« »Zweifellos«, erwiderte seine Frau und küsste ihn auf die Wange. »Aber sie wurden nicht gefragt. Manchmal liegt der richtige Umgangston nicht in der Antwort, sondern in der Frage. Ich werde vor dem Abendessen zurückkommen.« Ashe streichelte zärtlich ihr Gesicht und kehrte dann zu dem Balkon zurück. Schweigend hörte er mit Karsrick zu, wie die Palastwachen Rhapsodys Befehl wiederholten, ihr das Pferd zu bringen und das Tor zu öffnen. »Sorgt dafür, dass sie auf ihrem Weg zum Bissaltal begleitet und beschützt wird«, sagte der Herr der Cymrer zu Karsrick, der wütend nickte, aus dem Raum ging und Ashe allein auf dem Balkon zurückließ. Er schaute zu, wie seine Frau davonritt, um die beiden anderen zu treffen, die sie durch die Zeit und den Bauch der Erde geführt und sie damit unbewusst in sein Leben und seine Welt zurückgebracht hatten. Er schluckte und zwang sich, Gefühle der Dankbarkeit zu empfinden. »Na, sieh dir das mal an.« Grunthor lachte laut bei dem Anblick dessen, was sich da dem Lager näherte. Im Westen stieg eine wogende Wolke aus Staub auf, vor der ein lirinscher Rotschimmel in vollem Galopp zu sehen war. Auf dem Pferd saß eine Frau in grüner Seidenkleidung und mit bloßen Unterschenkeln. Die Röcke flatterten genauso hinter ihr her wie die blonden Locken, und an ihrer Seite hüpfte ein Schwert auf und ab. Hinter ihr bemühte sich ein kleines Gefolge von Wachen, mit ihr Schritt zu halten. »Sieht aus, als wollte sie die anderen abschütteln, nicht wahr? Glaubst du, sie ist froh, uns zu sehn?« Achmed lächelte hinter seinen Schleiern. Er hatte gewusst, dass sie bald kommen würde, denn fast während des ganzen Morgens hatte er ihren Herzschlag gespürt. Er war genauso schnell wie die galoppierende Stute. »Ja, das glaube ich«, sagte er. Als sie die Erhebung überquert hatte, hinter der sie lagerten, wurde der Apfelschimmel langsamer und blieb schließlich inmitten eines Wirbels aus rotem Staub auf anmutige Weise stehen. Rhapsody sprang vom Rücken des Pferdes und rannte barfuss und lächelnd auf die beiden zu. Zuerst warf sie sich in die ausgebreiteten Arme des Riesen und ließ es zu, dass er sie ein wenig vom Boden hochhob und wie ein Kind herumwirbelte. »Grunthor! Ich bin so froh, dich zu sehen. Vielen Dank dafür, dass ihr gekommen seid!« »Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, meinte der Sergeant und erwiderte ihr Lächeln. »Ist schon so lange her.« »Das stimmt«, sagte sie, während er sie sanft auf dem Boden absetzte. Sie wandte sich dem Bolg-König zu und umarmte ihn. »Hallo, Achmed.« »Selber hallo«, entgegnete Achmed. »Das war ein schönes Schauspiel: die cymrische Herrscherin mit wehenden Röcken auf dem Pferd. Falls du dich entscheiden solltest, dein königliches Leben aufzugeben und zu deinem früheren Beruf zurückzukehren, wäre das eine gute Möglichkeit der Werbung.« »Vielen Dank, ich bin auch froh, dich zu sehen«, sagte sie und ließ seine Bemerkung unbeachtet. Stattdessen ergriff sie seinen Arm, dann den von Grunthor. »Ich bin hier, um euch beide zum Gerichtsgebäude von Yarim Paar zu eskortieren.« »Warum?«, fragte Grunthor. »Dort ist es viel bequemer als mitten in der Wüste.« »Ach nee, ist schon in Ordnung. Den Truppen geht’s hier wirklich besser, hier glotzen weniger Menschen sie an. Sie kriegen ihre Ruhe und ’n gutes Essen und sind heut Abend einsatzbereit. Und ich würd gern bei ihnen bleiben, wenn du nichts dagegen hast.« »Und was ist mit dir, Achmed? Möchtest du ebenfalls hier bleiben?« »Hat dich dein Gatte nach Yarim begleitet?« »Ja.« »Dann werde ich mir erlauben, deine Einladung auszuschlagen«, sagte der Bolg-König. Rhapsody machte ein enttäuschtes Gesicht, sodass er rasch hinzufügte: »Es ist besser, wenn ich bei meinen ›Männern‹ bleibe, wie du sie so gern nennst.« Er stellte sich auf eine sandige Erhebung und sah zu, wie die yarimesischen Wachen um das Lager in Gefechtsstellung gingen. »Aber da du nun einmal hier bist, möchte ich, dass du dir etwas ansiehst.« Rhapsody schaute sich im Bissaltal um. Weit im Osten sah sie am Horizont die Schatten der Zahnfelsen. Ihre vielfarbigen Gipfel verblassten in der Ferne zu einem gedämpften Grau und waren von Wolken umringt. Es regnete dort; zweifellos füllten sich ihre Flüsse nun wieder mit Leben spendendem Wasser, welches die Natur der weiten Provinz Yarim verweigerte. Nördlich und westlich des Tals waren große Gesteinsformationen über den Wüstenboden verteilt; einige waren über hundert Schritt hoch. Ihre Krümmungen und Höhlen kündeten von einer Zeit, da sie geschmeidiger Ton gewesen waren, der nun im Ofen der Sonne und des Windes zu harten, trockenen Skeletten gebrannt worden war und mit dem restlichen Yarim in der Hitze buk. Der Ort hatte für sie etwas Beängstigendes. Dieses von toten Felsen und yarimesischen Wachen umringte Stück Land wirkte, als habe es Augen, die sie und alle anderen beobachteten und sich an einem Ort befanden, der nicht auf natürliche Weise dem Blick entzogen war. Sie schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben. »Nun gut. Zeige es mir.« Mit einer Handbewegung entließ sie die yarimesischen Wachen. Sie sahen einander hilflos an und nahmen Ruhestellung ein. Achmed erkundete kurz die Lage, dann ergriff er Rhapsodys Ellbogen und führte sie zu einem geschützten Platz an der Windabgewandten Seite einer etwa zehn Fuß hohen Felsformation, wo ein kleines Zelt errichtet worden war. Er führte sie hinein, zog dann einen seiner äußeren Schleier fort, der als Mantel diente, und warf ihn vor ihren Füßen auf den Boden. »Setz dich.« Rhapsody gehorchte und beachtete nicht den Lehmstaub, der sich in die Falten ihres Seidenkleids legte. Der Bolg-König warf mit einer Schulterbewegung den Rucksack ab, den er auf dem Rücken getragen hatte, und holte daraus ein Stahlkästchen hervor. Die Ränder waren mit Bienenwachs versiegelt. Achmed fuhr mit dem Finger an ihnen entlang, schmolz das Wachs und öffnete das Schloss mit einem kleinen Draht. Mit größtmöglicher Vorsicht holte er den Inhalt des Kästchens hervor, der in einige Lagen Öltuch eingeschlossen war. Das Tuch enthielt einige Bogen brüchiges Pergament. Es handelte sich um ein Manuskript, von dem Rhapsody annahm, dass es aus Gwylliams Bibliothek in Canrif stammte. Er übergab ihr die Zeichnungen mit äußerster Vorsicht. Sie nahm sie ebenso achtsam entgegen. Die Zeichnungen waren mit der sorgfältigen Genauigkeit ausgeführt, die sie auch bei anderen Beispielen von Gwylliams Aufzeichnungen gesehen hatte. Es war die feine Arbeit eines Architekten, denn das war der cymrische König von Beruf gewesen, bevor er sein Volk von der dem Untergang geweihten Insel Serendair geführt hatte. Die Zeichnung stellte so etwas wie einen Turm dar, der von Balken oder Stangen gestützt wurde. Die fächerförmige Decke bestand aus Scheiben von farbigem Glas, die wie die Farben des Regenbogens angeordnet waren. Der Schlüssel für die einzelnen Farben war in Alt-Cymrisch verfasst, der Umgangssprache auf der Insel, die sie, Grunthor und Achmed gesprochen hatten, als sie noch dort gelebt hatten; nun aber wurde sie von den Menschen dieses Landes, die Orlandisch, die Sprache der Provinzen von Roland, oder ihren jeweiligen Heimatdialekt redeten, als tote Sprache angesehen. Eine andere Zeichnung beschrieb eine Art von Rad, in das ebenfalls Glasscheiben eingesetzt waren, allerdings keine farbigen, sondern klare. Rhapsody deutete auf eine Reihe von Anmerkungen am Ende der Seite. »Gurgus«, las sie. »Ist das nicht der Berggipfel im zentralen Korridor der Zahnfelsen, der durch Anwyns Streitkräfte bei der Belagerung von Canrif zu einem recht frühen Zeitpunkt zerstört wurde?« »Ja.« »Hmm.« Rhapsody drehte das Blatt leicht, um es besser gegen das schwache Licht halten zu können, das durch die Zeltleinwand hereindrang. »Das ist bemerkenswert, aber warum zeigst du es mir? Du kannst es bestimmt selbst lesen.« »Diesen Teil ja«, stimmte Achmed ihr zu. Er fuhr mit dem stets behandschuhten Finger über den Rand der ersten Seite. »Die Seite dahinter kann ich leider nicht lesen. Ich hoffe, du bist dazu in der Lage.« »Was ist das für ein Apparat? Kennst du ihn?« Bevor der Bolg-König antworten konnte, gab Rhapsody ihm rasch das Pergament zurück und legte den Finger vor die Lippen. »Warte einen Augenblick, Achmed.« Sie erhob sich von dem staubigen Zeltboden, schob die Eingangsklappe zur Seite und trat wieder hinaus in das blendende Licht des Mittags. Der Wind fegte ihr heiß über das Gesicht und trieb ihr die Haare vor die Augen. Sie drehte sich um und stellte sich in den Wind, damit er die Strähnen wieder fortblies. Dann zog sie ihr Schwert. Die Tagessternfanfare, das vor Jahrtausenden geschmiedete Schwert des elementaren Feuers und Sternenlichts, kam mit einem wispernden Klingen aus der Scheide hervor. Es war ein ruhiger Klang wie von einem gedämpften Kriegshorn. Wenn man sie friedlich zog, wie Rhapsody es getan hatte, verursachte es lediglich diesen Klang und schwang sanft im Sanddurchsetzten Wind, doch wenn es in der Schlacht gezogen wurde, hörte man den Ruf des Schwertes über Kontinente hinweg, und es vermochte die Grundfesten der Berge zu erschüttern. Rhapsody hielt das Schwert in der heißen Brise hoch und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf das metaphysische Band, das zwischen ihr und der Waffe bestand. Sie spürte es in ihr schwingen und in demselben Ton summen. Es pulsierte im Gleichklang mit ihrem Herzschlag und dem Atem des elementaren Feuers in ihr. Rasch zog sie in der Luft einen Kreis um das Zelt, einen dünnen Ring aus Licht, der auch dann noch im Wind schwebte, als das Schwert wieder in der Scheide steckte. Es war ein Schutzkreis, ein Ton, der die Windströmungen ablenkte und das, was innerhalb des Kreises gesprochen wurde, vor dem Hinausdringen in den Wind schützte. Der silberne Kreis wallte in der Luft, dehnte sich unter den Windstößen aus und zog sich wieder zusammen, doch er blieb beständig – dehnbar, aber unzerstörbar. Zufrieden kehrte Rhapsody in das Zelt zurück. »Ich habe seit kurzem das unangenehme Gefühl, dass jemand mich beobachtet. Ich weiß nicht, ob es mit unserer Arbeit hier in Yarim zu tun hat, aber ich glaube, es ist das Beste, vorsichtig zu sein. Was wir jetzt sagen, kann niemand mithören«, meinte sie, während sie sich wieder neben ihren Freund setzte. Er schaute die Seiten an; seine Gedanken waren eindeutig nicht auf der windigen Ebene Yarims. Sie bemerkte den fernen Blick in seinen Augen und fragte sich, wie viel von seiner zweiten Natur, der dhrakischen Abstammung, sich in diesem Augenblick zeigte. Statt der schweren, groben Steifheit der Bolg-Gestalt, die überwog, wenn er mit Grunthor und seinen Firbolg-Untertanen zusammen war, erkannte sie nun die dünnen, feinen Venen, welche seine Haut dicht unter der Oberfläche durchzogen, und die langen, sehnigen Muskeln und dunklen Augen der Rasse seiner Mutter. Sie wusste, dass er nun ganz fern war, in Gedanken verloren, wahrscheinlich auf der anderen Seite der Zeit; also wartete sie schweigend, bis er wieder zu reden bereit war. Als sich schließlich sein Blick aufklarte, sah er Rhapsody kurz an und wandte sich dann erneut dem Manuskript zu. »So etwas habe ich schon einmal gesehen«, sagte er. Seine Stimme klang so sandig wie der yarimesische Wind. »Es ist lange her, in einem anderen Leben, lange bevor wir beide uns in Ostend getroffen haben.« Er verfiel wieder in Schweigen. Rhapsody zog sich die grünen Seidenfalten ihres staubigen Rocks um die Knie und wartete. »Jemand, für den ich einmal als Wachmann gearbeitet habe – ein seltsames magisches Wesen – besaß einen Apparat, der ziemlich genau wie dieser hier aussah. Ich habe ihn nur einmal gesehen, aber es ist unmöglich, so etwas zu vergessen. Wie dieses Gerät hier war es auch in einen Turm eingelassen, der sich in einem Kloster auf dem Kamm eines Hügels befand. Es war kein richtiger Berg. Gwylliam war größenwahnsinnig und glaubte am Ende sogar, er könne die Erde nach seinem Willen formen. In der Sprache seines Eigentümers wurde der Apparat Lichtfänger genannt.« »Wozu diente er?« Achmed schüttelte den Kopf. In seinem Blick lag schwer die Erinnerung. »Ich bin mir nicht sicher. Ich erinnere mich aber daran, dass die Schwerverletzten, die von den Priestern und Mönchen nicht mehr geheilt werden konnten, zum Lichtfänger gebracht wurden. Viele von ihnen kehrten gesund zurück. Wenn es um die Suche nach Wissen ging, fragten die Priester oft...« Er verstummte; seine olivgrüne Haut schimmerte noch dunkler. »Demjenigen, dem die Maschine gehörte, wurden andauernd Fragen gestellt, die einen Blick in die Zukunft, über große Entfernungen hinweg oder an verborgene Orte verlangten, und all diese Fragen wurden beantwortet. Und der Lichtfänger brachte noch andere Dinge hervor, die sich einer Erklärung entzogen. Es war ein Instrument von großer Macht. Wie es arbeitete und welche Fähigkeiten es besaß, weiß ich nicht. Ich habe versucht, Gwylliams Anweisungen bei der Wiedererrichtung der Maschine zu folgen, die er einst gebaut hatte, aber es gelingt mir nicht, das farbige Glas in der richtigen Dicke und Durchlässigkeit herzustellen.« »Du baust die Maschine nach?«, fragte Rhapsody. »Warum?« Der Bolg betrachtete die Zeichnungen vor ihm. »Wenn man den spärlichen Berichten glauben kann, die in der Bibliothek von Canrif über den cymrischen Krieg aufbewahrt werden, lag einer der Gründe, warum Anwyn Gwylliams Festung mehr als fünfhundert Jahre lang nicht angreifen konnte, in dieser Maschine und deren Macht, worin auch immer sie bestehen mag. Als Anwyn schließlich die Berge einnahm, war die Zerstörung dieses Gerätes ihr erstes Ziel. Ein solch mächtiger Apparat würde die Berge sicher machen.« Trotz des heißen Tages bekam Rhapsody eine Gänsehaut. »Glaubst du nicht, dass die Berge schon sicher genug sind, Achmed?«, fragte sie. Besorgnis verdunkelte ihre Augen. »Gibt es da eine Bedrohung, von der das Bündnis nichts weiß?« Der Firbolg-König zuckte die Achseln. »Es existieren immer Bedrohungen, Rhapsody. So etwas wie dauerhaften Frieden gibt es nicht, nur lange Pausen zwischen den Kriegen.« »Bist du sicher, dass du nicht mit Anborn verwandt bist?«, fragte Rhapsody scherzhaft. »Wenn ich mit jemandem aus der schrecklichen Familie deines Mannes verwandt wäre, dann wäre Ashe wohl der Einzige, den ich halbwegs ertragen könnte. Ich achte seine Fähigkeit, sich einen feuchten Kehricht um die Meinung anderer über ihn zu scheren. Doch was deine Frage angeht: Erinnere dich daran, dass ich einen Berg und ein Kind bewache, die den Schlüssel zur Unterwelt der F’dor darstellen. Selbst wenn augenblicklich Frieden herrscht, kann man nie zu vorsichtig sein. Das Risiko ist viel zu groß. Und da du als die Amelystik des Erdenkindes benannt bist, solltest du freudig alles tun, um ihre Sicherheit zu garantieren – zum Beispiel, indem du mir bei dieser Sache hilfst.« Rhapsody seufzte und trennte vorsichtig die oberen Blätter von den älteren, die weiter unten lagen. Sie reichte sie Achmed, während sie das letzte aufmerksam betrachtete. Es war dünn und brüchig vom Alter, und das Pergament zerfiel an den Rändern. Die Zeichen darauf entstammten einer Sprache, die sie sofort erkannte, denn in ihr waren die lirinischen Sänger zu Benennern ausgebildet worden. Es handelte sich um Serenne, die Sprache der alten serenischen Rasse, der ursprünglichen Bevölkerung ihrer Heimat. »Hier ist so etwas wie ein Gedicht oder ein Titel«, sagte sie und untersuchte die hauchdünnen Tintenstriche. »Serenne basiert auf einer Notenschrift; daher kann es nur schwer in gesprochene Sprache übersetzt werden.« »Es sollte genügen, wenn du es so gut wie möglich versuchst«, sagte Achmed ungeduldig. »Das Gedicht ist eine Art Rundgesang. Es handelt sich um einen einzelnen Vers, aber die Hauptzeilen lauten in etwa so: Sieben Gaben des Schöpfers, Sieben Farben des Lichts, Sieben Meere auf der weiten Welt, Sieben Tage in einer Woche, Sieben Monate Brache, Sieben Kontinente durchwandert, webe Sieben Zeitalter der Geschichte Im Auge Gottes.« Sie hielt das Pergament schräg gegen das Licht. »Es ist wie eine Tonleiter aufgebaut, und da gibt es eine weitere Sieben: sieben gut erkennbare Noten einer Oktave, die achte ist wieder die gleiche wie die erste. Das scheint nur der Teil eines Gedichts zu sein; der Rest fehlt.« »Ergibt es für dich einen Sinn?«, fragte Achmed. Rhapsody seufzte. »Eigentlich nicht, außer dass es sich um eine Liste bedeutender Siebenzahlen handelt.« Sie runzelte die Stirn. »Nur eine davon scheint nicht zu passen: die sieben Gaben des Schöpfers. Ich weiß nur, dass die Elemente immer als die fünf Gaben des Schöpfers bezeichnet werden: Feuer, Wasser, Erde, Luft und Äther. Daher bin ich mir nicht sicher, was das bedeuten soll.« »Kannst du sonst noch etwas lesen?« »Neben den Bezeichnungen für die verschiedenen Farben des Regenbogens steht eine Liste von Namen. Soll ich sie dir vorlesen?« »Ja.« Sie schob sich eine Haarlocke hinter das Ohr und beugte sich tiefer über das Pergamentblatt. »Sie sind mit den musikalischen Zeichen versehen, mit denen man eine Note erhöht oder erniedrigt, so wie Kreuz und B, bis auf den letzten. Lisele-ut, oder rot, Blutretter, Blutgeber Frith-re, orange, Feuerleger, Feuerlöscher Merte-mi, gelb, Lichtbringer, Lichtersticker Kurh-fa, grün, Grasverberger, Lichtungskenner Brige-sol, blau, Wolkenfänger, Wolkenrufer Luasa-ela, indigo, Nachtbleiber, Nachtrufer Grei-ti, violett, der Neubeginn.« Als Rhapsody wieder aufschaute, war ihr Gesicht bleich. »Was hast du da bloß gefunden, Achmed?«, fragte sie besorgt. »Das ist alte Magie, heilige und geheime Überlieferung. Es macht mir Angst, es dem Tageslicht ausgesetzt zu sehen. Nur die ehrwürdigsten Benenner der alten Welt durften zu solchen Dingen Zugang haben. Diese Worte sind die Basis aller Schwingungsregeln, die der Musik der Sänger sowie den Zauberwebern, Heilern und anderen aus dem alten Land die Kraft verleiht, die in den Schwingungen alles Lebendigen liegt.« Achmed sagte nichts darauf. Er nutzte selbst diese Schwingungen aufgrund des elementaren Bandes in seinem Blut, das ihm erlaubte, Herzschläge aufzuspüren und voneinander zu unterscheiden. Diese Kraft hatte ihn auf der anderen Seite der Zeit zu einem unfehlbaren Mörder gemacht. »Was willst du damit machen, sobald du diese Maschine wiederhergestellt hast, Achmed?«, fragte Rhapsody und gab ihm die Pergamentblätter mit großer Vorsicht zurück. Der Firbolg-König lächelte hinter seinen Schleiern. »Dasselbe, das ich hier in Yarim für dich tun soll: das Leben deiner Untertanen sicherer machen.« »Warum kann ich nicht glauben, dass das der einzige Grund ist?«, meinte Rhapsody, erhob sich vom Boden und wischte sich den roten Lehm vom Kleid. »Weil du mit Ausnahme der Wahl deines Ehemannes keine Närrin bist. Ich bin sicher, es ist noch etwas Eintopf oder Haferschleim vom Mittagessen für dich übrig, damit du bei deiner Rückkehr heute Abend Ihrman Karsrick aufrichtig für seine Gastfreundschaft danken kannst.« Auf dem offenen Meer Der Vogt des Seneschalls entdeckte das Land noch vor dem Ausguck im Krähennest. »Land, Herr«, rief Fergus und hob die Stimme, damit sie in der launischen Seebrise zu hören war. Der Seneschall nickte und schaute steuerbords über den Bug auf das schwache Grau am Rand des Horizonts. »Wie lange noch?«, fragte er den Kapitän. Seine trockene Stimme knisterte in der feuchten Luft. »Wir müssen an der Küste entlangfahren, Herr. Im Lirinland liegt ein gefährliches Riff zwischen Sorbold und Avonderre. Zwischen fünf Tagen und einer Woche bis Port Fallon, würde ich schätzen.« Der Seneschall nickte und versuchte die ungeduldige Stimme in seinem Kopf zu besänftigen. Er lauschte dem Kreischen des Windes, dem Knattern der Segel, während sie sich abwechselnd aufblähten und schlaff wurden und ihn seinem Ziel näher und näher brachten. Er schloss die Augen und ließ sich von der Sonne am wolkenlosen Himmel bescheinen. Bald. 11 Der Platz in der Stadtmitte von Yarim Paar Als Achmed, Grunthor und die Minenarbeiter der Firbolg an jenem Abend in Yarim Paar eintrafen, quoll trotz Karsricks Anstrengungen der Platz von Menschen über. Ein viertes Kontingent des yarimesischen Heeres war ausgesandt worden, um die Bemühungen der drei vorangegangenen Divisionen zu unterstützen. Sie sperrten den Platz um den alten Obelisken ab und trieben die lärmende Menge in den ersten Straßenring zurück – weit fort von dem ausgetrockneten Becken, in dem die Entudenin stand. Die Nachricht, dass die Bolg kamen, hatte sich wie ein Lauffeuer in der Hauptstadt verbreitet, und so drängten sich am frühen Abend immer mehr Einwohner von Yarim Paar in den staubigen Straßen und hofften, einen Blick auf die Ungeheuer zu erhaschen. Als Tariz und die Geleittruppen die Stadtmitte erreichten, befand sich Yarim Paar im Zustand eines kaum mehr beherrschbaren Chaos. Es herrschte regelrechte Volksfest-Atmosphäre; Fackeln wurden geschwenkt, und Rufe sowie seltsame Lustbarkeiten verursachten einen Höllenlärm. »Na schau mal einer an! Was für ’ne herrliche Auswahl an Frischfleisch!«, rief Grunthor so laut, dass die Eskorte ihn hören konnte, und deutete auf die johlende Menge. »Ich mag’s, wenn mein Essen fröhlich ist, dann schmeckt es besser. Dieser Karsrick weiß verdammt gut, wie man ’nen Bolg willkommen heißt und bewirtet. Was für ’n Gastgeber, nicht wahr?« Tariz, der mit der Vorhut ritt, wirbelte herum und starrte zuerst den riesigen Sergeanten und dann den Bolg-König an. »Ich vermute, er macht einen Scherz, oder, Euer Majestät?« »Möglicherweise«, erwiderte Achmed. »Im Allgemeinen mag Grunthor kein Trockenfleisch, und Yarim ist schon so lange ohne Wasser, dass ihr wohl alle ein wenig faserig seid.« »Wie wahr«, pflichtete ihm der Sergeant mit einem gespielten Seufzer bei. »Gebt mir ’nen netten, frischen Lirin. Das war ’ne saftige Köstlichkeit, feucht und schmackhaft. Aber man weiß ja nie. Scheint hier nicht viele Lirin zu geben. Vielleicht ist die örtliche Küche doch gut.« Die Begleitsoldaten sahen einander an, zügelten die Pferde und stiegen rasch ab. »Schickt eine Vorhut über die Marktstraße in die Stadtmitte, vereinigt euch mit der zweiten Division und bringt genügend Truppen mit, um einen Korridor zu öffnen«, befahl Tariz seinen Soldaten. »Drängt die Einwohner zurück, aber treibt es nicht allzu arg mit den Narren.« Achmeds Augen verengten sich vor Ärger. Seine persönlichen Gründe für die Reise nach Yarim hatten darin bestanden, Rhapsody aufzusuchen und ihre Hilfe bei der Übersetzung der Manuskripte zu erbitten sowie einen Glaskünstler zu finden, der ein ausgewiesener Meister seines Fachs war. Er nahm an, dass es in einer Stadt, die für ihre Ziegelherstellung berühmt war, nicht unmöglich sein sollte, einen zu finden, dessen Dienste man mieten konnte. Omet hatte ihm versichert, dass es hier viele Meister der alten Schule gab, die nun ihr Brot mit niederen Arbeiten verdienten und sich nach den Tagen zurücksehnten, als Yarim die Keramiken, Ziegel und Glasfenster für die großen Kathedralen und Staatsgebäude geliefert hatte, bis der cymrische Krieg alldem ein Ende gesetzt hatte. In dem wirbelnden Chaos aber, das die Straßen erfüllte, würde es beinahe unmöglich sein, einen solchen Künstler zu finden. Er blickte über die Schulter zu seinen eigenen Truppen. Die Bolg waren wachsam; ihre einfache Tracht erschien auf groteske Weise primitiv gegenüber den roten Tuniken, der Rüstung aus Leder und den gehörnten Helmen des yarimesischen Heeres. Jedes Firbolg-Gesicht trug eine Maske der Unerschütterlichkeit. Sie richteten den Blick unmittelbar vor sich und beachteten den Aufruhr um sie herum nicht, aber er bemerkte, dass sie trotzdem von der wogenden Menschenmasse entnervt waren, die auf den Straßen grölte, schrie und lachte und jede Gelegenheit wahrnahm, um einen Blick auf sie zu erringen. Vor den gewaltigen Zelten, welche die Entudenin umgaben, wurde Rhapsody allmählich ängstlich. »Das ist ein verrücktes Schauspiel«, sagte sie besorgt zu Ashe. »Ich weiß nicht, ob sie inmitten dieser Menge sicher sind, auch wenn die Soldaten sie beschützen. Bisher sind die Städter nur neugierig, doch was ist, wenn die Atmosphäre gewalttätig wird? Wenn bei einer der Gruppen die Neugier von Angst verdrängt wird, kann man nicht mehr vorhersagen, was geschehen wird. Wenn die Städter auf sie zuschwärmen, könnten die Bolg Panik bekommen und die Yarimesen zermalmen.« Ashe nickte zustimmend, drehte sich um, öffnete die Zeltklappe und ging nach drinnen. Wenig später kam er zurück und hielt ein langes Seil in der Hand. »Ihrman«, sagte er zu dem Herzog, in dessen Blick Besorgnis lag und dessen Haut mit Schweiß bedeckt war, »in diesem Zelt befinden sich noch ein paar Seile. Bindet die Enden zusammen – es könnte für vier Straßenlängen reichen – und gebt es den Soldaten, die damit einen Korridor durch die Stadt markieren sollen. Er soll geradewegs durch die Menge geöffnet werden und so breit sein, dass die Bolg bequem hindurchmarschieren können. Stellt die Soldaten innerhalb des Seils auf und bringt die am nächsten stehenden Zuschauer dazu, es zusammen mit ihnen zu halten. Bittet den Firbolg-König um Nachsicht und Entschuldigung. Sagt ihm, wir werden dieses Problem in wenigen Minuten gelöst haben.« Der Herzog gab dem Hauptmann der Garde die Anweisung, den Befehl des cymrischen Herrschers an den Rest der Truppe weiterzugeben. Ashe wandte sich an Rhapsody. »Geh zurück ins Zelt, Aria. Es wird für kurze Zeit ein großes Gedränge geben, aber bald schon wird es sich in ein beherrschbares Chaos verwandelt haben.« Er zog die Zeltklappe zur Seite. »Was hast du vor?« »Es ist unmöglich, die Neugier zu unterdrücken, die durch den Versuch entstanden ist, die Bolg zu verstecken. Dank Ihrmans Stümperei sind sie zu einer unwiderstehlichen Attraktion geworden. Aber das können wir zu unserem Vorteil einsetzen.« Er wandte sich an den Hauptmann der Wacheinheit, die zwischen der Tribüne, auf der sie standen, und der Menge der Schaulustigen eine Barriere errichtete. »Hauptmann, ruf deinen besten Hornbläser herbei.« Eine Kette gebrüllter Befehle wallte über den anschwellenden Lärm und wurde bald geschluckt. Nach kurzer Zeit erschien ein Trompeter. »Mein Herr.« »Bläser, mach dich bereit«, sagte Ashe zu dem Soldaten. »Spiel eine Willkommenshymne für ein Staatsoberhaupt.« Als sich der Bläser vorbereitete, wandte sich Ashe wieder an den Herzog von Yarim. »Sobald die Bolg das Arbeitszelt betreten haben, sollen die vorhandenen Soldaten es einkesseln, aber sorgt dafür, dass es allmählich immer mehr werden. Wenn Ihr vorsichtig hier und da ein paar Truppen einfügt, wird sich der Kreis langsam, aber sicher erweitern, und es wird keinen Zusammenstoß mit übereifrigen Zuschauern geben. Der Ring sollte ausgedehnt werden, bis die Menge zwei Straßenecken weit von der Arbeitsstelle entfernt ist. Und gebt die Zeiten der Schichtwechsel bekannt.« Karsrick fiel der Kiefer herunter. »Ist das klug, mein Herrscher? Dann wissen die Leute, wann die Bolg kommen und gehen, und werden sich zu diesen Stunden in derselben großen Masse wieder zusammenfinden.« »Ja«, stimmte Ashe ihm zu, »und in der Zwischenzeit werden sie wieder an ihre Arbeit gehen. Zuerst werden viele bleiben und hoffen, noch einen Blick zu erhaschen, doch wenn sie bemerken, dass das sinnlos ist, kommen sie nur noch zur Wachablösung. Und nach kurzer Zeit wird auch die nur noch für wenige interessant sein.« Er klopfte Karsrick ermunternd auf die Schulter. »Kopf hoch, Ihrman, das ist alles nur vorübergehend. Allerdings hatte Rhapsody Recht, als sie sagte, Ihr hättet sie wie Gäste behandeln sollen und nicht wie Ungeheuer, vor denen man die Bevölkerung schützen muss, denn dann wäre das alles kein Problem gewesen. Wenn Ihr das getan hättet, wäre niemals eine so große Neugier erzeugt worden.« »Ja, mein Herrscher«, murmelte Karsrick. »In Ordnung, Bläser, leg los«, befahl Ashe. »Spiel ein fröhliches Liedchen, damit sich die Bolg willkommen fühlen.« Rhapsody spähte durch den Zelteingang und kicherte. »Ich schlage eine Instrumentalversion von ›Lass kein Glied ungebrochen vor‹«, sagte sie. »Soweit ich weiß, ist das ihr Lieblingsmarsch.« Sobald der Korridor aus Seilen im Meer der Zuschauer geöffnet war und sich die Bewohner freiwillig gemeldet hatten, die Barriere mit festzuhalten, konnten die Bolg ohne Zwischenfall rasch an ihren Arbeitsplatz gelangen. Als sich die Klappen der riesigen Zelte hinter ihnen geschlossen hatten, der Lärm der Massen leiser wurde und die Soldaten sich wieder in einem Kreis aufstellten, wandte sich Achmed an den Herrn und die Herrin der Cymrer sowie an den Herzog. »Vielleicht habe ich die Einladung missverstanden«, sagte er wütend. »Ich hatte den Eindruck, Ihr wolltet uns zur Arbeit an Eurem ausgetrockneten Geysir anstellen in der Hoffnung, dass unser Können Eure dahinsiechende Provinz vor dem Verdursten rettet. Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr uns nur für Euer Kuriositätenkabinett oder einen Reisezirkus haben wolltet, wäre ich in Ylorc geblieben und hätte Euch in der Hitze verdorren lassen. Unter Euren eigenen Untertanen gibt es viel groteskere Geschöpfe, Karsrick. Ihr habt uns eindeutig nicht nötig, um Eure Gruseldarbietungen zu bereichern.« »Ich entschuldige mich zutiefst, Euer Majestät«, sagte der Herzog, verneigte sich tief und bemühte sich, ausreichend zerknirscht zu wirken. »Wir konnten die Neugier der Bewohner von Yarim Paar wegen der Ankunft ihrer... Nachbarn aus dem Südosten nicht vorhersehen. Bitte vergebt uns die Grobheit unseres Willkommens; das war nicht beabsichtigt. Sagt mir, wie ich es wieder gutmachen kann.« Der Gesichtsausdruck des Firbolg-Königs wechselte in dem schwachen Schein der Fackeln, die vor den Zelten standen. Das Licht in seinen verschiedenfarbigen Augen veränderte sich. Er stand lange in unangenehmem Schweigen vor dem Herzog, und als er schließlich sprach, war seine Stimme ganz ruhig. »Ihr könnt einen verbrieften Glasmeister für mich auftreiben, der bereit ist, für eine außergewöhnlich hohe Summe Geldes an einem Projekt in Ylorc mitzuarbeiten.« Er wandte sich von dem Herzog ab, machte einige Schritte auf die Versammlung der Bolg zu und schaute über die Schulter. »Keine Gimpel. Von denen hatte ich heute schon genug.« Der Herzog von Yarim seufzte auf und schaute zweifelnd drein. »Ich werde Euren Wunsch an die Gilden weiterleiten, Euer Ehren, aber ich kann nicht dafür garantieren, dass sich jemand melden wird.« Achmed ging hinüber zu Grunthor. »Wie möchtest du vorgehen?«, fragte er den Sergeanten. Der riesige Bolg dachte kurz nach. »Zuerst das Zelt von allem Überflüssigen säubern, dann will ich mir die Quelle mal genau ansehn.« Achmed ging zurück zu dem königlichen Paar und dem Herzog. »Schafft alle hier raus«, sagte er barsch, »außer euch selbst.« Ashe nickte und erstickte damit die Entgegnung, die bereits auf den Lippen des Herzogs brodelte. Er wandte sich an die yarimesischen Soldaten, die sich im Zelt versammelt hatten. »Geht bitte. Vielen Dank.« Als der Bolg-Sergeant vor dem Obelisken stand, war es ihm, als ob alle anderen Leute, die unter der gespannten Leinwand auf dem Platz warteten, in graue Düsternis des Vergessens fielen und im ganzen Universum nur noch er und die Entudenin existierten. Selbst in diesem Zustand des Verfalls und der Versteinerung war der Geysir – wie er selbst – noch immer ein Kind der Erde, das eine geboren aus Feuer, das andere aus Wasser, und beide waren einzigartige Schöpfungen, welche die Magie kannten, mit der Mutter Erde sie berührt hatte. Als er sie voller Staunen umrundete, verspürte er sofort ein überwältigendes Gefühl des Verlustes. Wie wunderbar musste sie gewesen sein, als sie noch lebendig gewesen war: eine hoch aufragende Säule, doppelt so groß wie er, die Spitze westwärts in Richtung der untergehenden Sonne gewölbt und dem tausend Meilen entfernten Ozean zugeneigt. Grunthor konnte beinahe sehen, wie sie sich gebildet und früher ausgesehen hatte: Lage auf Lage vielfarbiger Ringe und Streifen in satten Tönungen von Zinnober und Rosenrot, tiefem Rostbraun, Schwefelgelb und Aquamarin. Die Mineralablagerungen waren mit fortschreitender Zeit immer größer geworden, bis ihre Höhe alles auf der flachen, trockenen Ebene überragte, so weit das Auge reichte. Nun stand der Obelisk leblos, aber ungebeugt da, ausgedörrt und mit gebranntem rotem Lehm überzogen, wie alles andere in Yarim. Grunthor trat über die geborstenen Steine des Beckens an der Basis und näherte sich der Entudenin langsam, fast ehrerbietig. Er fragte sich, was eine solch starke, stetig wachsende Quelle Leben spendenden Wassers inmitten der kalten Wüste dazu gebracht haben mochte, plötzlich zu versiegen und auf diese Weise zu verwittern. Er streckte die Hand aus und berührte ihre eingesunkene Oberfläche. Unter den Fingerspitzen fühlte sich der ausgetrocknete Lehm erstaunlich warm und geschmeidig an. Grunthor runzelte die Stirn. Seine Augen sagten ihm, dass der Geysir tot und der früher einmal feuchte Lehm nun hart und starr geworden war, doch ein tieferer Teil von ihm, der mit der Erde unauflöslich verbunden war, übernahm nun seine Sinne. Tief aus ihrem Innern hörte er die Stimme der Erde, das langsame, melodische Lied, das sich in sein Unterbewusstsein gestohlen und jede Faser seines Seins durchdrungen hatte, als er, Achmed und Rhapsody auf der Flucht vor ihren Jägern durch die Tiefen der Welt gekrochen waren und sich an den spinnenartigen Wurzeln der Sagia, des Weltenbaumes, entlanggehangelt hatten, bis sie in dieses neue Land gekommen waren. Das Lied wand sich um sein Herz, flüsterte unsichtbar in seinen Ohren und erzählte ihm die Geschichte der Entudenin. Das Lied berichtete von der Geburt der Region, die in der Sprache der Menschen als Yarim bekannt war. Es war ein von den Passatwinden vergessener Ort im Schatten der Berge, am Fuß eines Gletschers auf einer Kontinentalscheide gelegen, dessen Boden unfruchtbar war, doch die Erde barg tiefe, versteckte Schätze: Adern von Kupfer und Mangan, Eisen und Rysin, dem blauen Metall, das bei den Bolg so beliebt zur Stahlerzeugung war. Heilende Mineralquellen, Opale und kostbare Salze lagen unter dem dicken roten Ton verborgen, doch ohne regelmäßige starke Seewinde und ohne kühle Brisen aus den Bergen hatte sich der Boden gehärtet und weigerte sich, seine Schätze preiszugeben. Grunthor stand wie gebannt da. Die Geschichte erschuf Bilder, die er in seinem Kopf sehen konnte, als das Lied noch melodischer und fließender wurde. Sie wandte sich nun dem Erim Rus, dem Blutfluss zu, einem schlammigen roten Wasserlauf, der durch den Morast der manganroten Berge gefärbt wurde. Der Erim Rus ergoss sich in einen Nebenstrom des mächtigen Tar’afel, und ihr Zusammenfluss hatte eine wunderbare Oase geschaffen. Aus diesem Zusammenfluss war die Entudenin hervorgegangen. Der Tar’afel hatte wie alle großen, den Kontinent teilenden Ströme ein ganzes Netz unterirdischer Zuflüsse, die sein Bett und die umgebenden Überschwemmungsgebiete durchzogen; manche waren viele Meilen vom Ufer entfernt. Eine dieser Adern lag außerordentlich glücklich. Sie war durch das große, spinnenartige Netz unterirdischer Quellen mit einem starken Wasserlauf verbunden, der durch eine vulkanische Höhle an der Nordküste des eisigen Hintervold unmittelbar vom Meer gespeist wurde. Diese Höhle befand sich genau an der Stelle im Fels, wo die Nördliche See in das offene Meer überging und so eine besonders starke Strömung hervorrief, die tausend Meilen ins Landesinnere zurückfloss. Dieser Rückstrom war die Lebensader der Entudenin. Auf dem Weg nach Osten gelangte das Meerwasser durch die Gletscherfelder des Hintervold, wo es vom Eiswasser gesüßt wurde und etwas von seinem Salz verlor. Dann floss es unter den grünen Feldern Canderres her, durch den fruchtbaren Lehm und die Torfmoore, die der Provinz zu ihrem Reichtum verhalfen, bis es schließlich den sandigen, mineralhaltigen roten Ton von Yarim erreichte, wo es sich entschied anzuhalten. Diese Entscheidung wurde durch die tiefen, schweren Schichten aus undurchdringlichem Ton und Fels erzwungen, die von der Auffaltung der Berge im Osten übrig geblieben waren. Das Wasser, das durch Eis, Sand und Zeit gefiltert und inzwischen gänzlich süß geworden war, strömte gegen die unterirdische Barriere und fand keinen anderen Weg als den nach oben. Und so stieg es hoch. Bei ihrer Geburt war die Entudenin kaum mehr als eine Pfütze gewesen, die sich mit einem Gurgeln bildete und dann mit einem großen, schlammigen Schmatzen ausbreitete. Wenn ein menschliches Auge jenes erste Austreten hätte beobachten können, wäre es kaum bemerkt worden, doch die Region würde erst in mehreren tausend Jahren besiedelt werden. Es war kein großartiger Beginn, aber ein wichtiger. Das Siegel der Erde über dem Wasser war erbrochen. Von nun an war es nur eine Frage der Zeit und der Gezeiten, die von den Mondphasen vorgegeben wurden. Wenn der Strom ruhte, ruhte auch die Entudenin, und ihre Quelle versiegte zu einem Tröpfeln, das sich in den Feldern Canderres sammelte und gar nicht bis in das Reich des roten Tons kam. Doch wenn die Flut zurückkehrte und der Mond in voller Pracht stand, floss das Meerwasser herbei und strömte durch das unterirdische Bett, bis es mit einem freudigen Ruf aus dem Geysir schoss und glitzernde Tropfen in die Luft warf, die sich mit dem Sonnenlicht vermischten. Da dies jahrtausendelang geschah, wurden die Mineralien, die an der Öffnung zurückblieben, immer härter und dicker und durch den Druck nach oben getrieben, bis sich der Obelisk, als der sich die Entudenin in ihrer glanzvollen Zeit darstellte, bis zu den zahllosen Sternen des unendlichen Wüstenhimmels reckte und beinahe den Mond zu berühren schien. Dieser aus Meer und Erde geformte Obelisk, der wertvolle Mineralien, Erze, Salz, Eis und die Essenz der Zeit enthielt, nahm so etwas wie ein Eigenleben an. Er war ein Kind der reinen Erde und ein Weltwunder: süßes Wasser inmitten eines trockenen Landes. Der glitzernde Glimmer, der die Wände durchzog, gleißte wie die Sterne und war ein stummes Zeichen seiner Magie. Und so war es tausend oder mehr Jahre geblieben. Schließlich entdeckten die Menschen diese Leben spendende Quelle und nutzten sie. Sie beteten sie beinahe an; um sie kümmerten sich die Priesterinnen des Klans der Shanouin, einer riesigen Menschenfamilie, die einen Mythlin zum Stammvater hatte. Die Mythlin waren eine der fünf alten Rassen, die zu Beginn der Zeit aus dem Element des Wassers gebildet wurden; daher besaßen die Shanouin die Gabe, es sogar unter dem Wüstensand aufzuspüren. Sie waren begabte Quellensucher und wurden aus diesem Grund als die geeigneten Wächter für die Entudenin angesehen. Die Shanouin verwalteten den Zyklus des Quellfelsens, wie die Entudenin in der Sprache Yarims bald hieß. Sie hielten diejenigen, die das Wasser ernten wollten, für einen ganzen Tag nach dem zyklischen Erwachen fern, wenn unter tiefem Rumpeln und einem frohen Ruf der Rückstrom mit so großer Kraft austrat, dass er einem Mann den Rücken zerschmettern konnte. Die Shanouin behielten die Aufsicht über das Einsammeln des Wassers auch während der folgenden Woche des Überflusses, wenn es genug für alle gab. Dann folgte eine Woche der Ruhe, wenn der ergiebige Strahl zu einem sanften, blubbernden Strom wurde. Bei abnehmender Strömung im Meer wurde das Wasser der Entudenin zu einem ruhigen Rinnsal, bekannt als die Woche des Verlustes. Während dieser Woche wurde es nur denjenigen, die Schwerkranke in ihrem Haushalt hatten, sowie den Alten und Gebrechlichen erlaubt, das Wasser aus der Quelle zu sammeln. Schließlich glitt bei Neumond die Entudenin in die Woche des Schlafes, in dem sie auf den wieder scheinenden Mond und den Wechsel der Gezeiten wartete. Und so war es Jahr für Jahr, Jahrhunderte und Jahrtausende lang, bis zum Tag der Veränderung. Grunthors Kopf zuckte zurück, als er den Wechsel in der Stimme der Erde hörte. Bisher hatte sie einen fröhlichen Rundgesang gewebt, der ihm ein Gefühl des Friedens vermittelt hatte, doch nun wechselte die Melodie plötzlich und wurde zu einem kreischenden Crescendo, bis sie unvermittelt verstummte. Unter den Bildern in seinem Kopf flüsterte die Erde traurig. Viele Meilen westlich der Entudenin, an der Grenze zu Canderre, lag eines der großen Opalfelder Yarims namens Zbekaglou, was in der Sprache der Eingeborenen so viel bedeutete wie »Ende des Regenbogens« oder »wo die Himmelsfarben die Erde berühren«. Zbekaglou war seit Jahrhunderten wegen seiner Schätze umgegraben worden; man hatte große Furchen in die Erde gerissen, die weichen, farbenprächtigen Steine ausgegraben und die Löcher einfach offen gelassen. Dort, wo Minen durch die Erde getrieben worden waren, war der Boden auch unter dem Grundwasserpegel nicht mehr fest. Eine starke Vibration, ein normales Ereignis, ausgelöst durch den Herzschlag der Erde, hatte eine Scholle aufgewühlten Tons unter der Erdoberfläche gelöst und den Wasserlauf vollständig verstopft. Da dies mitten in der Woche des Schlummers geschehen war, kehrte das Wasser einfach nicht mehr zurück. Die Entudenin trocknete über Nacht aus und stieß nie wieder einen Freudenruf bei ihrem Erwachen aus. Während Rhapsody ihm die Überlieferungen der Menschen aus Yarim erzählt und dargelegt hatte, wie sie zuerst mit Entsetzen, dann mit Schuldzuweisungen und schließlich mit Hoffnungslosigkeit auf die Ereignisse reagiert hatten und ihr Juwel von einer Stadt fortan in der Sonne dahinsiechte, sie aber trotzdem hier weiterlebten, berichtete ihm die Erde in ruhigen Tönen das Ende der Geschichte dessen, was mit der Entudenin geschehen war. Es war ein langsamer, schmerzhafter Tod gewesen. Wie die großen Bäume der Erde oder die gewaltigen Schluchten, welche die Flüsse im Lauf der Zeit geschaffen hatten, oder wie die stampfende See selbst oder alle anderen Orte, in denen sich Erdmagie verkörperte, hatte auch die Entudenin so etwas wie eine Seele. Zu ihrer Zeit war sie ein kraftvolles Geschöpf gewesen, eine natürliche Formation mit beinahe menschlichen Stimmungen, die beim Erwachen vor Freude gebrüllt und fröhlich gelacht hatte, wenn das Wasser reichlich geflossen war und die Gefäße, Brunnen und Kanäle von Yarim Paar gefüllt hatte. In der Woche des Verlustes war sie in nüchternen Gedanken versunken und hatte über die Sterblichkeit der Welt nachgesonnen. Im Schlaf hatte sie geschwiegen, doch wenn sie erwacht war, hatte der wunderbare Kreislauf von neuem begonnen. Nie war sie dessen müde geworden. Der wunderbare, der Gabe des Wassers plötzlich beraubte Obelisk hatte zum Zeitpunkt des Versiegens etwas verspürt, das man nach menschlichen Begriffen Verblüffung nennen konnte. Die Entudenin hörte die Gebete der Menschen, die sich um sie kümmerten, und spürte ihre Schwingungen, auch wenn sie sie nicht verstand, doch ihre Verzweiflung teilte sich mit, überbrückte die verschiedenen Arten des Bewusstseins und wurde so zur eigenen Verzweiflung der Entudenin. Als die Zeit verging und das Wasser nicht zurückkehrte, sehnte sich der Quellfels nach Erlösung und betete demütig auf die ihm eigene Weise zu seiner Mutter, doch die Erde konnte nicht richten, was der Mensch zerstört hatte. Schließlich ergab sich der Obelisk trauernd in das Unvermeidliche. Er stand weiterhin unter der Sonne und spürte mit jedem vergehenden Tag, mit jedem vergehenden Jahr und Jahrhundert deutlicher, wie alle Feuchtigkeit aus ihm wich. Er buk in der Sonne und verwitterte. Er verlor ein wenig von seiner Größe und viel von seinem Umfang sowie all seine unzähligen Farben. Mit der Zeit wechselte er von der Schönheit eines Kindes zur Hässlichkeit einer alten Vettel. Jeder Tropfen, der unter Yarims versengender Sonne verdampfte, war eine Träne der Entudenin. Aber sie weigerte sich zusammenzufallen. Unentwegt klammerten sich die winzigen Überreste der Seele, die in dem Quellfels verkörpert war, aneinander und standen aufrecht unter den Sternen, und der Glimmer, der auf der Oberfläche verblieben war, glänzte bei Gelegenheit noch immer in ihrem Licht. Grunthor war schwindlig geworden. Er warf den Kopf zurück, als das Erdenlied plötzlich endete. Ihm drehte sich der Magen um. Er spürte, wie die Verbindung zu der Wärme, die durch seine Adern kreiste und sich den Weg zu den Kammern seines gewaltigen Herzens suchte, unvermittelt abbrach. Es war ein innerlicher Schlag, so stark, dass er in die Knie ging. Er fiel zu Boden, stützte sich mit den Händen auf der Erde ab und versuchte die Verbindung wiederherzustellen, doch die Erde war verstummt. Einen Moment später fühlte er Hände auf beiden Schultern. Er schüttelte sie ab und bekämpfte die Übelkeit, die ihm bis in den Mund stieg. Er versuchte sie herunterzuschlucken. Dann setzte er sich mit großer Anstrengung auf und wartete darauf, dass sich sein Verstand aufklarte. Als es schließlich so weit war, legte sich ein Schleier über seine bernsteinfarbenen Augen, während die Welt um ihn herum wieder Gestalt annahm und die Bilder verschwanden, die das Lied der Erde in ihm hervorgerufen hatte. Er schaute auf und sah Rhapsody und Achmed über ihm stehen und Ashe an Rhapsodys Seite. Die Bolg im Zelt flüsterten beim Anblick ihres gestürzten Sergeant-Majors furchtsam miteinander. Erneut schüttelte er Achmeds Hand ab und stand auf. Zuerst war er etwas wacklig auf den Beinen, doch dann holte er mit seiner großen Nase tief Luft. Kurz darauf wandte er sich dem König zu und nickte einmal. Der Anblick der inneren Windungen des Obelisken und seiner Zuflussläufe war ihm ins Gehirn eingebrannt. »Richtig. Hier der Plan: Wir nehmen diesen angewinkelten Arm ab. Der ist sowieso so verwittert, dass er nicht mehr fest ist. Zu brüchig, um dem Wasserdruck standzuhalten.« »Den Arm abnehmen?«, warf Ihrman Karsrick besorgt ein. »Das könnt Ihr nicht machen. Es ist eine heilige Reliquie.« »Es ist eine heilige Reliquie, die keine Bedeutung mehr hat«, meinte Achmed. Er stand mit dem Rücken zu Karsrick und schaute weiterhin Grunthor an, der bei der Unterbrechung durch den höherrangigen Offizier verstummt war. »Wollt Ihr eine tote Verzierung beibehalten oder Wasser haben?« Der Herzog dachte einen Moment lang nach und legte dann dem Bolg-König die Hand auf die Schulter. »Könnt Ihr garantieren, dass das Wasser wieder fließen wird, wenn ich Euch erlaube, den Arm des Obelisken abzunehmen?«, fragte er zögernd. »Nein, aber ich kann garantieren, dass Blut fließen wird, wenn ich Euren abnehme«, erwiderte der Bolg-König und starrte auf Karsricks Hand. »Achmed«, tadelte Rhapsody ihn. »Etwas mehr Höflichkeit, bitte.« Der Bolg-König seufzte auf, als der Herzog rasch die Hand wegzog. »Ich kann nur für sehr wenig im Leben garantieren, Karsrick. Ich kann nicht versprechen, dass das Wasser zurückkommt. Aber ich kann versprechen, dass es nicht zurückkommt, wenn Ihr nichts unternehmt. Wenn Grunthor sagt, dass der Arm abgenommen werden muss, dann muss er es eben. Und nun seid bitte still und erlaubt uns, den Rest seiner Anweisungen zu hören.« Der Herzog räusperte sich und nickte Grunthor zu. »Wir werden zuerst den Obelisken selbst aufbohren und dann etwa dreißig Schritt darunter graben«, meinte der Sergeant und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Haut hatte wieder die gewöhnliche Färbung angenommen die Tönung alter Prellungen. »Das hilft ihr, dem Wasser standzuhalten, wenn’s kommt. So wie sie jetzt ist, würd sie zerspringen.« Er schaute an dem trockenen roten Geysir hoch. »Der Weg dahinter ist frei. Die eigentliche Verstopfung ist viel weiter weg, fast an der Grenze zu Canderre. Damit komm ich schon klar. Nicht nötig, die Männer dahin zu schicken. Sobald sie hier fertig sind, kannst du sie wieder mit nach Ylorc nehmen, Achmed. Ich reite dann zur Grenze, räum die Hindernisse weg und komm dann nach Hause.« »Brauchst du Ausrüstung?«, fragte Achmed. Der Riese grinste breit und wühlte kurz in seinem Gepäck herum. Er holte einen kleinen, zerbeulten und abgenutzten Handspaten hervor und hielt ihn hoch, damit Rhapsody ihn auch sehen konnte. Es war Graba, das Werkzeug, das er benutzt hatte, um vor vier Jahren den dreien nach ihrer Reise durch den Bauch der Erde einen Weg an die Oberfläche zu graben. Rhapsody lachte. »Das ist alles, was ich brauch«, sagte er. »In Ordnung«, meinte Achmed. Er wandte sich an die versammelten Bolg-Arbeiter. »Packt den Rest der Ausrüstung aus, damit wir anfangen können.« Draußen vor den Zelten wurde der Ring aus yarimesischen Soldaten allmählich immer größer und drückte die Menge sanft, aber unnachgiebig zwei Straßenecken weit entfernt von dem zentralen Platz der Stadt fort. Von dort aus enthüllten die flackernden Kerzen, die vor den Zelten standen, nicht mehr, was im Innern vorging. Am Rand der Absperrung wartete auch Esten und bemühte sich wie alle anderen Einwohner, näher an das Geschehen heranzukommen und einen deutlicheren Blick zu erhaschen. Sie wollte soeben gehen, weil sie nichts hatte sehen können, als Dranth sie am Ellbogen berührte und den Kopf schüttelte. Damit deutete er an, dass es bisher keinem der Spione gelungen war, bis zu den Arbeitern durchzudringen. Esten seufzte tief und bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen zu den leeren Straßen hinter ihnen. »In dieser Angelegenheit habe ich keine Geduld«, sagte sie zu ihrem Kronprinzen. »Karsrick zieht seinen Vorteil aus all der Arbeit, die ich vor der Katastrophe gemacht habe. Wenn die Bolg die Entudenin wieder in Gang setzen, wird er das Wasser haben, das eigentlich mir gehören sollte. Warum ist niemand hineingekommen? Die Wachen sind doch immer einfach zu bestechen oder einzuschüchtern gewesen.« »Die yarimesischen Wachen schon, Meisterin«, erwiderte Dranth düster. »Aber die Bolg stehen ebenfalls Wache. Ihr König hat seine eigene Sicherheitsgarde mitgebracht, und sie ist standhaft und bis jetzt völlig unzugänglich.« Die schwarzen Augen der Gildenmeisterin funkelten wütend. »Ich will wissen, was in diesem Zelt vor sich geht«, sagte sie mit leiser, tödlich harter Stimme. »Jemand muss hineingelangen, um den Diebstahl meines Wassers zu verhindern. Bevor morgen die Nacht anbricht, muss es geschehen sein, oder Blut wird wie Wasser aus der Entudenin fließen.« 12 Innerhalb von drei Tagen war Achmeds Vorhersage eingetroffen. Die Bolg folgten einem regelmäßigen Zeitplan für den Schichtwechsel und arbeiteten still in der Hitze unter den Zelten, die den Bauplatz umgaben; die Bewohner von Yarim Paar kamen an der Absperrung zwei Straßen entfernt zusammen, um sie die Zelte und die Stadt betreten und verlassen zu sehen. Die Massen, die sich während der ersten Tage versammelt hatten, wurden spärlicher, und obwohl noch beachtliche Neugier an den primitiven Männern bestand, von denen die cymrische Herrscherin sagte, sie seien die Hoffnung auf die Wiederbelebung der Entudenin, kehrte die große Mehrheit an ihre Arbeit und zur täglichen Routine zurück und traf sich höchstens zu den festgesetzten Zeiten, um die Bolg aus den Zelten auf die wartende Eskorte zueilen zu sehen. Es war nicht erlaubt, mit ihnen in Kontakt zu treten, und da die Bolg keinerlei Neigung zeigten, jemanden aus der Bevölkerung anzusprechen oder gar zu berühren, wurde den Leuten dumpf bewusst, dass nicht sie vor den Firbolg geschützt wurden, sondern diese vor ihnen, was die Stimmung von ängstlicher und verärgerter Neugier zu peinlich berührtem Wohlwollen veränderte. Die Leinenzelte, die zu Beginn der Arbeiten so weiß wie Schnee gewesen waren, nahmen rasch die bräunlich rote Färbung des Tonstaubs an, der durch das Bohren in die Luft stieg. Große Holzbalken wurden auf den Versorgungswagen der Bolg herbeigebracht, zusammengebunden und mit großen Stampfern und Hebeln in die Erde geklopft. Es handelte sich um geistreiche Maschinen, die vor vielen Jahrhunderten von Gwylliam erfunden worden waren, um die Tunnel Canrifs auszuhöhlen. Den Bewohnern von Yarim Paar waren nur die Grabtechniken der Shanouin bekannt; sie wunderten sich über den Anblick und die Geräusche der Werkzeuge, welche die Bolg benutzten, wobei die meisten kleineren Ausrüstungsgegenstände und auch die Handwerker selbst vor ihren Augen verborgen blieben. Der Arm der Entudenin wurde als Erstes entfernt und in einer stillen Zeremonie in die Hauptrotunde des Gerichtsgebäudes unter die berühmten Minarette des Palastes verbracht. Dort wurde er ausgestellt, denn Yarim besaß keinen Elementartempel; sein Volk betete unter der Schutzherrschaft Ian Stewards, des Segners von Canderre-Yarim, der hundert Meilen entfernt seine Gottesdienste in der Feuer-Basilika von Bethania abhielt. Am ersten Ausstellungstag kamen viertausend Menschen und betrachteten den Arm ehrerbietig; es waren zehnmal mehr als bei der Beerdigung von Ihrman Karsricks Vater, dessen Leichnam vor vielen Jahren in derselben Rotunde aufgebahrt gewesen war. Ashe beobachtete vom Turmbalkon in den westlich des Hauptpalastes gelegenen Gastgemächern aus, wie die Menge in die Rotunde strömte, und musste kichern, als er Rhapsodys Blick sah. »Was ist denn nun los, meine Liebe?«, fragte er spöttisch. »Du scheinst geradezu erstaunt zu sein.« »Ich bin erstaunt«, sagte Rhapsody und starrte über das Geländer auf die Menschenschlange, die sich die Straßen hinunter bis beinahe zur Marktstraße zog. »Dieses verdammte Ding stand viele hundert Jahre unbemerkt und unbeachtet im Zentrum ihrer Stadt. Praktisch jeder Kaufmann und jeder Händler, der in der Innenstadt zu tun hat, ist Tag für Tag daran vorbeigelaufen, und keiner hat ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt außer ein paar Pilgern und einem kleinen Jungen, der – wie ich beobachten konnte – einmal davor stehen blieb und den Arm anpinkelte. Und jetzt ist er eine heilige Reliquie von ungeheurem Wert für dieselben Leute, denen noch vor drei Tagen gar nicht mehr bewusst war, dass er existiert. Das ist erstaunlich.« Ashe legte den Arm um sie. »In der Tat. Glaubst du, es könnte mir gelingen, deine Aufmerksamkeit für eine Weile von diesem erstaunlichen Anblick abzulenken?« »Auf alle Fälle«, sagte sie lächelnd. »Was hast du vor?« »Wir sollten verkleidet in die Stadt gehen. Du könntest dir einen Ghodin anziehen, und ich werde mir einen Schleier umlegen, wie ihn Pilger oder die Shanouin-Gräber tragen.« Sie lachte erfreut. »Wie damals, als du dein Gesicht verstecken musstest? Nun, als ich das letzte Mal mit Achmed hier war, habe ich tatsächlich einen Ghodin getragen, um nicht erkannt zu werden. Es gibt in Yarim nicht allzu viele Blondschöpfe. Man hätte mich neugierig angeschaut, und da wir hier waren, um die Sklavenjungen aus der Ziegelbrennerei zu befreien, wäre das nicht förderlich gewesen. Ich kann gern wieder einen tragen; außerdem schützt das weiße, fließende Leinen vor der Hitze. Wohin gehen wir? Es wäre vielleicht eine gute Zeit, auf dem Markt einzukaufen. Sämtliche Einwohner sind im Gerichtsgebäude und verneigen sich vor der toten Gesteinsformation. Also sollte es kein allzu großes Gedränge geben.« »Das ist nicht ganz das, was ich vorhatte.« »Ach?« »Ich dachte, wir besuchen Manwyns Tempel.« Das Lachen in Rhapsodys Augen machte einem klaren, nüchternen Ausdruck Platz. »Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst, Sam?«, fragte sie sanft. »Ja«, antwortete er, ergriff ihre Hand und führte seine Frau zurück in die Turmgemächer. »Wir sollten zumindest versuchen, eine Antwort auf unsere Fragen zu bekommen, auch wenn wir möglicherweise nur unsinniges Gebrabbel aus ihr herausbringen. Danach machen wir uns einen schönen Nachmittag. Das Mittagessen nehmen wir in irgendeiner Taverne oder an einer der Garküchen unter offenem Himmel ein, und danach suchen wir auf dem Markt ein nettes Mitbringsel für Gwydion und Melly aus.« Rhapsody verneigte sich tief vor ihrem Gemahl. »Übernehmt die Führung, mein Herrscher.« Manwyns Tempel stand am westlichen Rand der Stadt. Er war der Mittelpunkt eines Gebietes, das zu der Zeit, als die Entudenin noch ihre flüssigen Gaben hervorgebracht hatte, ein gut gedeihender Wassergarten gewesen war, doch nun war er wüst und leer. Trockene Vertiefungen, die früher einmal große Teiche gewesen waren, säumten die zerfallenden Straßen, und zerbrochene Statuen von Meeresnymphen schütteten leere Gefäße in staubige Brunnen. Der Tempel des Orakels war wie ganz Yarim Paar majestätisch groß, litt aber unter Vernachlässigung. Er war aus Marmor erbaut, der damals großartig ausgesehen haben musste, und bestand aus einem zentralen Gebäude mit zwei angebauten Flügeln am Ende der Hauptachse. Das alles zerfiel allmählich. Geborstene Marmorstufen führten zu einem geräumigen Innenhof mit uneben gewordenem Mosaikboden, auf dem sich acht gewaltige, von Flechten befallene Säulen erhoben. Das Hauptgebäude war eine große Rotunde mit einer kreisrunden Kuppel, in der zwei breite Risse zu sehen waren. Ein hohes, dünnes Minarett krönte dieses Hauptgebäude und funkelte wie ein Leuchtturm in der Sonne. Rhapsody blieb am Fuß der großen Treppe stehen. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte sie Ashe noch einmal. »Es war sehr beunruhigend, als ihr beiden euch beim letzten Mal hier begegnet seid. Wenn möglich, will ich dieses Erlebnis nicht wiederholen.« »Genießt du es nicht, im Mittelpunkt eines nur mit dem Willen geführten Drachenkampfes in einem mottenzerfressenen Tempel zu sein?«, entgegnete Ashe und schaute ihr in die grünen Augen, die das einzig Sichtbare unter dem Ghodin waren. »Am Rande des tiefen Abgrundes zu stehen, während der Boden erzittert, und herabstürzenden Teilen der Kuppeldecke auszuweichen?« »Du sagst es.« »Ich werde mein Bestes tun, um mich zu benehmen«, versprach er. »Komm, Aria.« Rhapsodys grüne Augen wirkten besorgt. »Erinnerst du dich noch an die Formulierungen, auf die wir uns geeinigt haben?« Ashe streichelte beruhigend ihre Hand. »Ja. Komm.« Sie stiegen die breite Treppe hoch und gingen durch das große, offene Portal, das als Eingang diente. Im Innern des Tempels war es dunkel; er wurde nur von kleinen Fackeln und Kerzen erhellt, wodurch der Eingangsbereich in ewigem Zwielicht blieb. Innen war der Tempel – im Gegensatz zum Gebäude selbst -in gutem Zustand. Im Mittelpunkt des riesigen Raumes stieß eine große Fontäne einen dünnen Wasserstrom zwanzig Fuß in die Höhe, von wo aus er sich in ein Becken ergoss, das mit schimmerndem Lapislazuli eingefasst war. Der Boden bestand aus poliertem Marmor, die Wände waren mit Kacheln in verschlungenen Mustern verziert, und die Kerzenhalter bestanden aus leuchtendem Messing. Zu beiden Seiten dieses Raumes lagen kleine Vorzimmer, in denen Manwyns Wachen standen. Sie trugen die in Yarim üblichen gehörnten Helme und waren mit langen, dünnen Schwertern bewaffnet. Eine große Tür aus reich beschnitztem Zedernholz befand sich ihnen gegenüber hinter der Fontäne und dem Becken und wurde ebenfalls bewacht. Rhapsody blieb plötzlich wieder stehen und packte Ashe am Arm. »Oh ... Warte! Als wir beim letzten Mal wegen einer Prophezeiung herkamen, war Manwyn sehr wütend, weil du das Gesicht verborgen hattest. Vielleicht wäre es besser, jetzt den Ghodin und die Schleier auszuziehen. Ich will sie nicht noch einmal reizen.« »Gut, das werden wir tun, sobald wir drinnen sind.« Ashe schob ihre Finger von seinem Arm, ergriff erneut ihre Hand und führte sie um die Fontäne herum. Sie hielten vor den Wachen bei der großen Tür inne. »Zehn Goldkronen, um das Orakel zu sehen, für den Unterhalt der Seherin«, sagte einer der Männer mechanisch. Ashe griff in seine Geldbörse und holte den Betrag hervor, den der Wächter verlangt hatte. »Wenn das wirklich zum Unterhalt des Orakels verwendet wird, konnte sie sich wohl seit unserem letzten Treffen ein neues Kleid kaufen«, sagte er und steckte die Münzen in das Opferkästchen. »Sie sah dünn und etwas verwahrlost aus, aber ich bemerke, dass du gut und gesund aussiehst, Soldat. Ich bin sicher, du würdest niemals für dich selbst etwas von den Almosen nehmen, die dem Orakel zustehen, oder?« Der Wächter spuckte auf den Boden, öffnete die prachtvolle Zederntür und bedeutete den beiden mit einer wütenden Handbewegung einzutreten. »Du benimmst dich bereits ausgezeichnet«, meinte Rhapsody trocken, während sie das innere Heiligtum betraten. »Ich bin ein Drache. Es ist meine Pflicht, Leute zu ärgern.« »Das sehe ich.« »Wenn wir unsere Gesichter enthüllen wollen, um Manwyn nicht durcheinander zu bringen, sollten wir es jetzt tun.« Ashe zog sich den Schleier vom Gesicht und ergriff dann sanft das Kopfteil ihres Ghodin. Er blinzelte. Rhapsodys Gesicht war beinahe so blass wie die weiße Robe, die sie trug – geistergleich im Glanz der Kerzen. »Aria? Ist mit dir alles in Ordnung?« Sie nickte wortlos. Ashe nahm ihre Hand. Sie war kalt und zitterte leicht. »Rhapsody, wenn du das hier nicht tun willst, können wir jetzt ohne Schwierigkeiten noch gehen.« Sie schüttelte den Kopf, auch wenn ihr Griff etwas fester wurde. »Es sind nur die Erinnerungen«, sagte sie nervös. »Ich hatte vergessen, wie einschüchternd dieser Ort ist. Manwyn macht mir Angst.« »Dann sollten wir zurück zum Basar gehen.« Ashe drehte sich um und wollte gerade mit den Knöcheln gegen die Zederntür klopfen, als Rhapsody ihn zurückhielt. »Nein. Wir müssen uns anhören, was sie zu sagen hat, und sie nach ihrer letzten Prophezeiung fragen, denn sonst wird uns das, was eigentlich eine wunderbare und aufregende Sache in unserem Leben sein sollte, nur Sorgen und Angst bereiten«, sagte sie. »Es tut mir Leid, dass ich ein solcher Feigling bin. Gehen wir weiter.« Ashe drückte ihre Hand, und gemeinsam traten sie tiefer in das innere Heiligtum ein. Der Raum hinter der Zederntür war gewaltig und wurde von einer Reihe kleiner Fenster in der Kuppel der Rotunde sowie von zahllosen Kerzen erhellt. Im Mittelpunkt des Raumes hing ein Thronsessel gefährlich über dem großen, offenen Abgrund eines randlosen Schachtes. Wie immer, wenn sie sich in ihrem Tempel befand, saß Manwyn mitten auf dem riesigen hängenden Sessel. Sie war groß und dünn, hatte eine Haut aus Gold und Rosen und feurig rotes, mit Silbersträhnen durchzogenes Haar. Ihr Gesicht war wie das einer nicht mehr ganz jungen, aber noch nicht alten Frau. In der linken Hand hielt sie einen verzierten Sextanten, und wie Ashe erwartet hatte, war sie in eine zerrissene Robe aus grüner Seide gekleidet. Es musste einmal ein wundervolles Gewand gewesen sein, doch das Alter hatte es brüchig und fadenscheinig gemacht. Die Augen der Seherin waren vollkommene Spiegel ohne Pupillen, Iris oder Netzhaut. Als Rhapsody sie zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihr gewesen, als ertränke sie in diesen Augen, in diesen tiefen, spiegelnden Teichen aus Quecksilber, die hinter die Gegenwart in das Reich dessen blickten, was noch kommen würde. Mit der Zeit hatte sie gelernt, wie gefährlich es war, sich mit vollem Bewusstsein dem Blick eines Drachen oder eines verwandten Wesens auszusetzen. Daher senkte sie den Blick ehrerbietig und wartete darauf, dass die Seherin sie ansprach. Zuerst beachtete Manwyn sie gar nicht. Ihre langen Finger waren damit beschäftigt, an dem Rad des Sextanten zu drehen, während sie sich dabei ein unmelodisches Lied vorsang. Der Herrscher und die Herrscherin standen schweigend da, während sie spielte, und schauten sich bisweilen an, sagten aber nichts. Als habe sie den Geruch von Feuer im Wind aufgeschnappt, schreckte Manwyn plötzlich hoch und schnüffelte. Ihre Augen aus flüssigem Silber blickten wild umher und richteten sich schließlich auf die Besucher. Sie streckte sich und deutete auf das große dunkle Loch, das im Boden klaffte. »Schau in den Schacht«, befahl sie mit derselben rauen Stimme, die Rhapsody bei ihrem letzten Besuch hier vernommen hatte. Es war ein heiseres Krächzen, das an Rhapsodys Schädelknochen schabte. Gegen ihren Willen zitterte sie wieder. Manwyn hatte an dem ersten cymrischen Konzil und ihrer Hochzeit teilgenommen und war dort gar nicht einschüchternd oder beängstigend, sondern nur entrückt und verwirrt erschienen. Doch hier in ihrem Tempel war sie entsetzlich und lächelte mit einem Selbstvertrauen, das an grausame Belustigung grenzte. »Möge der All-Gott meinem Großneffen und seiner Frau einen guten Tag schenken«, sagte die Prophetin und verneigte sich tief. Es war die traditionelle Anrede auf der Insel Serendair gewesen. »Und das wird er wirklich. Es wird ein sehr bemerkenswerter Tag für euch werden.« »Vielen Dank, Tante«, erwiderte Ashe und gab ihre Verneigung zurück. »Ich hoffe, das ist nicht die ganze Prophezeiung. Ich habe den Eintritt teuer bezahlt.« Die Seherin kicherte. »Du wirst immer mein bevorzugter Großneffe sein, Gwydion von Manosse. Und deine liebliche Braut ist wirklich eine Zierde. Eine Zierde! Eine Zierde!« Sie gluckste und grinste breit. Rhapsody verneigte sich zum Gruß und warf einen raschen Seitenblick auf Ashe, der die Schultern zuckte. »Stellt endlich eure Frage«, befahl Manwyn. Ihr feierlicher Gesichtsausdruck kehrte zurück. Der Herr und die Herrin der Cymrer tauschten einen kurzen Blick und erinnerten sich an das, was sie sagen wollten. »Ich begehre eine Klarstellung zweier einander widersprechender Prophezeiungen, die du uns vor einigen Jahren gegeben hast«, sagte Ashe. Verwirrung glitt wie eine Wolke über das Gesicht der Seherin. »Prophezeiungen?« »Ja«, sagte Rhapsody rasch. »Zu mir hast du gesagt: ›Ich sehe ein widernatürliches Kind, geboren aus einem widernatürlichen Akt. Rhapsody, du solltest dich vor der Geburt hüten: Die Mutter wird sterben, aber das Kind wird leben.‹« »Und mir, ihrem Gemahl, hast du gesagt: ›Gwydion ap Llauron, deine Mutter starb bei deiner Geburt, aber die Mutter deiner Kinder wird bei deren Geburt nicht sterben‹«, fügte Ashe hinzu. »Wir wollen wissen, was du gemeint hast, Tante.« Die Verwirrung auf Manwyns Gesicht verstärkte sich zu Bestürzung. Sie fuhr sich mit der Hand über den Kopf und durch das Gewirr aus verfilzten Haarsträhnen, zog nervös wie ein Kind daran und schüttelte dann lebhaft den Kopf. »Ihr fragt nach der Vergangenheit«, sagte sie gereizt. »Ich werde nie in der Lage sein, die Vergangenheit zu sehen. Ich weiß nichts von dem, was ihr von mir verlangt.« Rhapsody schnürte es die Kehle ab. »Natürlich weiß sie das nicht«, flüsterte sie Ashe zu. »Wie dumm von mir, die Frage so zu stellen.« Verwirrung und Besorgnis verschwanden plötzlich aus dem spiegelnden Blick der Seherin. Sie richtete sich auf und drehte sich langsam in Rhapsodys Richtung – wie ein Jäger, der sich an seine Beute anschleicht. Sie rutschte auf den Bauch, wobei die Plattform über dem Abgrund wie verrückt schaukelte, und richtete ihren silbernen Blick auf die Herrscherin der Cymrer. »Man sollte sich vor der Vergangenheit in Acht nehmen, Herrin«, sagte sie mit eiserner Stimme, obwohl sie lächelte. »Die Vergangenheit kann eine gnadenlose Jägerin sein, eine unerschütterliche Beschützerin oder eine rachsüchtige Feindin. Sie trachtet danach, dich zu bekommen; sie trachtet danach, dir zu helfen.« Sie bewegte sich noch weiter nach vorn, bis ihr Oberkörper über dem Brunnen hing, und flüsterte: »So wie die Zukunft beständig versucht, mich zu vernichten.« »Beantworte mir diese Frage«, befahl Ashe, den der Blick der Seherin verwirrte, weil er Angst in den von Rhapsody legte. »Falls Rhapsody und ich ein Kind zeugen sollten, wird sie oder das Kind daran Schaden leiden? Ich verlange eine direkte Antwort, Manwyn. Ich habe das Spiel satt.« Die Seherin starrte ihn einen Moment lang an, als ob sie verblüfft sei, dann deutete sie ruhig mit dem Sextanten zu der geborstenen Kuppeldecke über ihr und spähte hindurch. Rhapsody drängte sich enger an Ashe, als ein dunkler Wind aus dem Abgrund im Boden fuhr. Die unzähligen Kerzenflammen wurden schwächer und schwärzten den Raum. Die Kuppel über ihren Köpfen war zum Nachthimmel geworden und mit Sternen gesprenkelt, zwischen denen vereinzelte Wolken gemächlich schwammen. Eine kalte Brise wogte den beiden Herrschern über den Rücken und blähte den Stoff des Ghodin wie ein Segel auf hoher See. Schließlich, nach einer scheinbaren Ewigkeit, senkte Manwyn das Instrument und richtete den Blick auf Ashe. Ihr Gesicht hatte einen nüchternen Ausdruck angenommen. Sie hob den goldenen Sextanten, das Navigationsinstrument, das den Erforscher Merithyn, ihren Vater und Ashes Urgroßvater, über das Meer an den Strand der Drachin Elynsynos geführt hatte. Ashe verstand diese Geste. Manwyn erinnerte ihn daran, dass sie aus dieser Vereinigung hervorgegangen war, genau wie er selbst, auch wenn sie die Vergangenheit, in der sich dies ereignet hatte, nicht bewusst wahrnehmen konnte. Ihr gemeinsames Drachenblut und die alten Überlieferungen waren für sie sowohl Fluch als auch Segen. »Du wirst immer dein eigenes Blut fürchten, Gwydion«, sagte sie ruhig. Keinerlei Wildheit lag mehr in ihrer Stimme. »Aber du brauchst es nicht. Deine Frau wird nicht sterben, wenn sie deine Kinder zur Welt bringt.« Ashe deutete anklagend auf sie. »Rhapsody«, meinte er streng. »Sage, dass Rhapsody nicht sterben wird.« »Rhapsody wird nicht sterben, wenn sie deine Kinder zur Welt bringt.« »Und sie wird dabei auch nicht verletzt werden oder krank? Winde dich nicht um eine Antwort herum, Tante.« Manwyn zuckte die Schultern. »Die Schwangerschaft wird nicht leicht, aber sie wird Rhapsody weder umbringen noch sie verletzen. Nein.« Ashe sog heftig die Luft ein und dachte über die neue Klarheit nach, mit der sie sprach. »Schwöre mir, Manwyn, als deinem Großneffen und deinem Herrscher. Ich will deinen Eid haben. Schwöre mir, dem Abkömmling unserer gemeinsamen Vorfahren, dem rechtmäßig eingesetzten Herrn der Cymrer, dem du Lehenstreue versprochen hast, dass mein Blut dieser Frau, die jetzt vor dir steht, auf keinen Fall einen Schaden zufügen wird, wenn sie unsere gemeinsamen Kinder zur Welt bringt.« »Das wird es nicht«, sagte die Seherin geduldig. »Ich schwöre es.« Ashe seufzte auf und beobachtete sie sorgfältig. »Vielen Dank, Tante.« »Gern geschehen, mein Herrscher«, sagte die Seherin und verneigte sich ehrerbietig. »Gibt es sonst noch etwas aus der Zukunft, das du mir mitteilen willst, bevor wir gehen?«, fragte Ashe, während Rhapsody sich wieder die Kapuze des Ghodin über den Kopf zog. Manwyn dachte über seine Frage nach und legte die geballte Faust unter das Kinn. Einen Finger legte sie gegen die Wange. »Im Topf und Kessel gibt es heute Mittag ausgezeichnetes Lamm«, sagte sie freundlich. »Und der Pfeilmacher hat einige wunderbare Pfeile, deren Federn von einem Albatros aus Kesel Tai stammen. Sie werden deinem Mündel Glück beim Bogenschießen bringen.« »Vielen Dank.« Ashe zog seinen Schleier über. »Gott schenke dir einen guten Nachmittag und eine friedvolle Nacht.« Er ergriff Rhapsodys Hand und wollte sie wegführen, als Manwyn mit sanfter Stimme sagte: »Schau in den Schacht, bevor du gehst.« Die beiden tauschten einen raschen Blick, dann nickte Ashe, ließ die Hand seiner Frau los und näherte sich dem Abgrund. »Nicht du, Ashe«, tadelte Manwyn. »Die Herrin.« »Willst du das tun, Aria?«, fragte Ashe und fuhr ihr mit dem Daumen über die Knöchel. »Wir können sofort gehen, wenn du es wünschst.« »Das könnte sie beleidigen, und das will ich nicht«, sagte Rhapsody rasch. Sie drehte sich um und schritt vorsichtig über den dunklen Boden, wobei sie sich den Spalten und der schartigen Einfassung so fern wie möglich hielt. Als sie den Schacht erreicht hatte, spähte sie zögerlich über den Rand in die endlose Dunkelheit dahinter, in der sie damals die arme Lirin-Mutter gesehen hatte, die Manwyns Geburtsprophezeiung erfüllt hatte. Ein leises Heulen, ein Jammern des Windes, dessen Echos tief in der schwarzen Grube schrill widerhallten, doch sonst nichts. Sie starrte hinunter und versuchte zu sehen, was das Orakel ihr zeigen wollte, doch alles, was sie bemerkte, war Schwärze. »Ich sehe nichts«, sagte sie schließlich. Die Prophetin lächelte breit. Ihre silbernen Augen glänzten wieder in einem bösen Licht. »Nein? Schade. Ich vermute, heute wirst du keine weiteren Weissagungen mehr erhalten.« Sie glitt wieder auf den Bauch, stützte das Kinn mit den Händen ab und hielt den Kopf schief. »So ist es bei allen, die nicht wie du sind, die nicht vorherwissend sind«, sagte sie mit einer Spur Überheblichkeit in der Stimme. »Bei allen, die keine Sänger und nicht mit den Träumen der Zukunft gesegnet sind – kurz, beim ganzen Rest der Welt, Herrin. Bei denen, die über die Erde wandern, ihr kleines Leben leben und nie eine Warnung aus der Zukunft erhalten.« Sie kicherte wieder. Ihre Freude wuchs rasch, bis sie vor Lachen kreischte. »Komm jetzt, Rhapsody.« Ashes Stimme hatte den Tonfall eines Königs. Es war ein ruhiger Befehl, der durch den Wahnsinn schnitt und ihr Halt gab. Rhapsody schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, wandte sich dann von dem Schacht ab und eilte zurück zu Ashe. Sie ergriff seine Hand und ging rasch auf die Zederntür zu. Hinter ihnen rief Manwyn laut: »Vor langer Zeit ein Versprechen erdacht, Vor langer Zeit einen Namen gebracht, Vor langer Zeit eine Stimme gelacht Drei Schulden gemacht.« Gegen ihren Willen blieb Rhapsody stehen und drehte sich um. Die Seherin schaute nicht in ihre Richtung, sondern tanzte auf der hängenden Plattform und hielt sich an den Drähten fest, mit der sie an der Deckenkuppel befestigt war. Sie schwang wie irr über dem Abgrund. Manwyn murmelte wirr: »Verraten! Hilfe! Verspätet! Deine Augen – die Farbe von Jade!« Dann verkrallte sich ihr Blick in Rhapsody, und ein breites Lächeln wand sich um ihr Gesicht. »Angst?«, fragte sie fürsorglich. Rhapsody reckte wütend die Schultern; das Spiel ärgerte sie. »Nein«, rief sie durch den dunklen Raum. »Nein, Manwyn. Ich habe keine Angst – nicht vor der Vergangenheit und auch nicht vor der Zukunft oder deinem sinnlosen Gestammel. Ich lebe glücklich in der Gegenwart, vielen Dank. Das ist ein Ort, den du irgendwann einmal besuchen solltest. Aber herzlichen Dank für die Speiseempfehlungen. Wenn das Essen einen zufriedenen Rülpser hervorruft, werde ich ihn dir weihen. Aber da das für dich dann schon Vergangenheit ist, wirst du es nie erfahren.« Sie wandte sich um und lief durch die Zederntür hinaus. Ashe folgte ihr und versuchte, nicht zu lachen. »Nun, Aria«, sagte er und wischte sich eine Träne fort, »du benimmst dich wirklich außerordentlich gut. Komm, Lamm klingt verführerisch, und ich würde eine Unmenge Geld zahlen, um dich rülpsen zu sehen.« 13 Gefecht im Gurgus — Ylorc »Schon fast fertig, Rhur?« Der Bolg-Künstler nickte zustimmend, kurz darauf gefolgt von Shaene. »Fertig, Sandy«, sagte der canderianische Künstler. Omet holte tief Luft und ergriff das neu zusammengesetzte Rad aus Stahl und eingelegten Klarglasscheiben. Die anderen packten ebenfalls mit an und hoben es hoch. Sie ächzten und stöhnten unter der Last. Vorsichtig brachten sie das Rad hinüber zur Wand, wo ein halbrundes Metallgestänge unter der offenen Kuppel des Turmes hing. Die abgeschrägten Kanten des Rades passten nach einigem Hin und Her in die Metallführung. Bald hing es leicht geneigt über dem Boden des Turms. Die Künstler und Handwerker traten vorsichtig zurück und betrachteten ihr Werk. »In Ordnung, Sandy, es hängt. Aber wozu ist es da?«, fragte Shaene keuchend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Omet zuckte die Achseln und überhörte Shaenes scherzhafte Anspielung auf den Sand von Yarim, seiner Heimat. Er fühlte sich, als hinge er selbst dort oben. »Keine Ahnung. Ich schätze, es ist irgendein Heilapparat. Sobald das Bleiglas wieder in der Kuppel steckt, soll den Plänen zufolge das Rad mit dem farbigen Glas zusammenwirken. Das ist aber nur eine Vermutung meinerseits. Ich kann die Sprache in den Plänen nicht lesen. Wenn du mehr wissen willst, musst du den König bei seiner Rückkehr fragen. Aber wenigstens wissen wir, dass wir die Pläne genau befolgt haben.« »Und das war nicht leicht, weil viel von ihnen fehlt«, beeilte sich Shaene hinzuzufügen. »Das ist nur allzu wahr. So, wir nehmen es wieder ab, wickeln es in Öltücher und sperren es in den Abstellraum, bevor noch etwas mit ihm passiert«, sagte Omet und wischte sich den Hände an der Hose ab. »Das ist der einzige Teil des Projekts, der bisher gelungen ist, und wir sollten unseren Erfolg nicht aufs Spiel setzen.« »Richtig«, stimmte Shaene ihm zu. Er packte den oberen Rand des Rades, bevor Omet und Rhur so weit waren. Seine verschwitzte Hand glitt an dem kalten Metall ab und setzte es unbeabsichtigt in Gang. Mit einem metallischen Kreischen lief das Rad über die Führung und folgte ihr einige Schritt rund um den Turm in der Bergspitze, während die Handwerker rufend und fluchend hinter ihm herrannten. Dabei fing es das Sonnenlicht über dem Gipfel ein und warf helle, sich rasch verändernde Flecken auf den Boden, die für einen Augenblick in verschlungenen Mustern aufblitzten und dann wieder verschwanden. Sobald sie die Kontrolle über das Rad zurückerlangt hatten, starrten die drei Arbeiter schweigend zu Boden. »Was war das?«, fragte Shaene, als er die Sprache wiedergefunden hatte. Omet schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Es macht irgendwas«, beharrte Shaene. »Scheint eine unglaubliche Menge an Schwierigkeiten für einen kurzen Spaß zu sein.« »Ja, es macht irgendetwas«, sagte Omet und berührte es wieder. »Es geht nämlich in den Abstellraum. Los, helft mir, das Rad aus der Führung zu nehmen.« Er schaute hoch zur offenen Decke des Turms, wo das Sonnenlicht auf dem Metallrahmen glitzerte, in den das farbige Glas eingelassen werden sollte, dann sah er Shaene und Rhur an. »Erzählt niemandem davon, was immer ihr auch tut.« Die Arbeitszelte — Yarim Paar Grunthor hob die Hand und gab das Zeichen, mit dem Bohren aufzuhören. Er wischte sich den Schweiß von der breiten Stirn, als das unbarmherzige Donnern des Antriebs und das Stampfen des Bohrers zuerst leiser wurden und dann ganz verstummten. Er beobachtete die Männer für eine Weile. Sie alle troffen vor Schweiß, und ihre üblicherweise dunkle Haut war in der Hitze blass und fahl geworden. Da sie an die kühlen Tiefen der Erde gewöhnt waren, hatten bereits zwei Firbolg-Arbeiter und ein Soldat nach einem Kreislaufzusammenbruch aufgeben müssen und wurden nun im Gerichtsgebäude gepflegt. »Das ist lächerlich«, murmelte der Sergeant. »Wir haben schon den Wasservorrat für heute verbraucht. Bringt uns Karsrick nun die versprochenen zusätzlichen Rationen oder nich?« »Wir haben nach den Shanouin gerufen, Herr«, sagte der Gehilfe des Herzogs zu Achmed, der in dem heißen Zelt auf und ab schritt. »Ihnen wurde befohlen, jeden Morgen drei zusätzliche Fässer zu liefern. Würdet Ihr bitte Euren Soldaten sagen, dass sie sie durch die Absperrung hindurchlassen? Sie sind schon zwei Mal fortgeschickt worden.« »Das mag passiert sein, weil meine Soldaten kein Orlandisch sprechen«, sagte Achmed und umrundete die wachsenden Haufen aus rotem Ton sowie die klaffenden Löcher im Boden. Er zog die Zeltklappe beiseite. »Komm mit!« Einen Moment später fand am äußeren Ring, wo die yarimesischen Soldaten Wacht hielten, eine Unterredung statt. Die Soldaten, denen man befohlen hatte, außer den Befehlshabenden Offizieren, dem Herzog, dem Herrn und der Herrin der Cymrer und den Bolg selbst niemanden durchzulassen, wurden angewiesen, auch den Wasserträgern, aber niemandem sonst Zugang zur Arbeitsstelle zu verschaffen, damit sie ihre Fässer abliefern konnten, doch dabei sollten sie streng bewacht werden. Nachdem er dem äußeren Ring die Anweisungen erteilt hatte, begab sich Achmed mit dem Gehilfen zum inneren Ring, der von den Firbolg-Soldaten bewacht wurde, und redete sie auf Bolgisch an. »Eine Stunde vor jedem Schichtwechsel werden an der ersten Wachlinie Wasserträger durchgelassen. Überprüft alle Fässer ohne Ausnahme, lasst sie öffnen und stoßt ein Schwert in das Wasser. Vergewissert euch, dass sich nichts und niemand in ihnen versteckt. Eskortiert dann die Wasserträger zurück zur ersten Wachlinie. Wenn jemand versuchen sollte, euch zu entkommen oder das Zelt zu betreten, überwältigt ihn. Versucht nicht, ihm den Kopf auf dem Straßenpflaster einzuschlagen, aber falls es zufällig doch passiert, fällt das Blut zwischen den Ziegeln wenigstens nicht auf.« Die Bolg-Soldaten nickten zustimmend, und der schrille Lärm des Bohrers setzte wieder ein. »Falls jemand die Wachlinie durchbricht, tötet ihn und esst ihn; die Reihenfolge sei euch überlassen«, sagte Achmed laut auf Orlandisch, damit die Yarimesen ihn verstehen konnten. Als die Turmglocken den Mittag verkündeten, näherten sich sehr besorgt aussehende Frauen in blassblauen Ghodins – die Priesterinnen des Shanouin-Klans – unter Bewachung dem Bauplatz und trugen drei große Wasserbehälter. Die Bolg-Soldaten, die das Zelt umringten, machten ihnen widerwillig Platz und erlaubten ihnen so, durch den zweiten Ring bis kurz vor die Zelte zu gehen. Dort setzten sie ihre Lasten rasch ab und eilten zurück durch die Firbolg-Linie in den Schutz ihrer menschlichen Beschützer. Als sich die Zeltklappe öffnete, warf eine der Frauen einen flüchtigen Blick über die Schulter und begegnete dem Blick von Achmeds verschiedenfarbigen Augen, der sie aus dem Zelt heraus anstarrte. Er war ganz in Schwarz gekleidet und stand vor einer großen Pumpe, die wie die Verdammten ächzte und kreischte. In diesem Bruchteil einer Sekunde glaubte die Frau, direkt in die Unterwelt zu schauen. Die Shanouin-Frau wirbelte herum und bemühte sich, mit ihrer Schwesterpriesterin Schritt zu halten. Hinter den kühlen Marmorwänden der Bibliothek im Gerichtsgebäude beobachteten Ihrman Karsrick und sein Gardehauptmann den Bauplatz, sahen aber nichts außer dem gelegentlichen Hervorkommen einer Gestalt aus den gewaltigen Zelten. Seit drei Tagen arbeiteten die Bolg in Schichten; sie betraten und verließen das Zelt zu den festgesetzten Stunden mit derselben Pünktlichkeit wie die Wachablösung vor einem königlichen Palast und wurden von den Zuschauern nicht mehr belästigt. Ein Klopfen an der Bibliothekstür schreckte ihn auf; es war sein Kammerherr. »Ja?« Der Mann kam herein und schloss die Doppeltür hinter sich. »Der Hierarch der Handwerkergilde schickt Euch eine Botschaft, mein Gebieter.« »Worum handelt es sich?« Karsrick fürchtete sich vor der Antwort und sehnte sie gleichzeitig herbei. »›Bei aller Hochachtung und mit großem Bedauern müssen wir feststellen, dass niemand in unseren Reihen geeignet, verfügbar, qualifiziert oder bereit ist, das großzügige Angebot des Bolg-Königs anzunehmen. Wir entschuldigen uns und wünschen das Allerbeste.‹« »Welch eine Überraschung«, murmelte Karsrick. »Was soll ich jetzt tun?« »Es gibt noch einen anderen Weg, noch eine andere Quelle, mein Gebieter«, erbot sich der Hauptmann der Garde. »Was für eine Quelle? Wo?«, wollte der Herzog wissen. »Die Rabengilde auf dem Markt der Diebe.« »Bist du von Sinnen?«, rief Karsrick. »Du schlägst vor, ich soll mich mit Dieben und Mördern gemein machen und einen von ihnen nach Ylorc schicken?« Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Ihr und der Firbolg-König habt nicht viel füreinander übrig. Falls Ihr ihm einen Kunsthandwerker schickt, der zugleich ein Mörder ist...« Karsricks Hand fuhr durch die Luft und schnitt ihm das Wort ab. »Ich lasse mich nicht zur Ermordung von Staatsoberhäuptern herab, wie sehr ich ihnen auch misstrauen mag, danke. Hast du eine Vorstellung davon, was die Herrscherin der Cymrer, vom Herrscher ganz zu schweigen, tun würde, wenn ich mich zu einem solchen Kniff entschließen sollte, besonders wenn es zum Tod ihres Freundes, des Bolg-Königs, oder seines Sergeanten führte? Sie würde mir das Fleisch mit einer scheußlichen Tontortur von innen herausschmelzen oder etwas dergleichen. Nein.« »Mein Gebieter, die Rabengilde besteht nicht nur aus Dieben und Mördern. Im Gegenteil, wie Ihr wisst, betreiben ihre Mitglieder die angesehensten und geachtetsten Ziegeleien, Glasereien und Metallverarbeitungen in Roland. Wenn man in Yarim überhaupt einen solchen Kunsthandwerker auftreiben kann, der bereit wäre, seine Kunst unter solch scheußlichen Umständen zu...« »Nein!«, stellte Karsrick erneut und diesmal noch deutlicher klar. »Das werde ich nicht tun. Ich ziehe es eher vor, den König um Entschuldigung zu bitten und auf sein Verständnis zu hoffen, als diesen Weg zu gehen, ist das klar? Hast du mich endlich verstanden?« »Ja, mein Herr. Es war nur ein Vorschlag.« »Ein sehr schlechter Vorschlag.« Karsrick stützte sich schwer auf dem reich verzierten Metallgeländer ab, das vor dem Fenster entlanglief. Plötzlich fühlte er sich müde. »Unsere Worte dürfen diesen Raum nicht verlassen, Hauptmann. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass Esten davon erfährt.« Er drehte sich um und schaute den Hauptmann der Garde an. Dieser erwiderte den Blick und nickte. In seinem Blick lag das eindeutige Geständnis, dass es Esten zweifellos schon wusste. Jierna’sid — Sorbold Wie leicht es ist, im hellen Tageslicht übersehen zu. werden, dachte der Mann im Schatten der Gasse. Er beobachtete, wie die Bettler der Stadt vor der Hitze eines weiteren kochend heißen Sommermittags Zuflucht suchten und die Vorbeigehenden auf den großen Straßen der Hauptstadt um Wasser oder Münzen baten. Die Bewohner bemerkten sie gar nicht, sondern gingen an ihnen vorbei, ohne ihre Gespräche zu unterbrechen oder die Bettler auch nur eines Blickes zu würdigen. Als ob sie unsichtbar wären. Er sah auf zu den hohen Türmen von Jierna Tal hinter der großen Waage. Sie erhoben sich stolz in den Himmel und waren zum Glück frei von ausdörrenden Leichnamen oder anderen grässlichen Verzierungen. Man musste zugeben, dass es ein wunderschöner Palast war, ein Ort visionärer Architektur, welcher die Stadt über die kleine Ansammlung von Viehmärkten, Straßenbuden, Leinenwebereien und schäbigen Gebäuden erhob, in denen die Bevölkerung Unterschlupf fand. Man hätte ihn sogar als großartig beschreiben können. Eines Tages, dachte er, wird man ganz Sorbold mit diesem Wort beschreiben. Eines nahen Tages. Sein Blick fiel auf die Waage. Ihre goldenen Schalen glänzten hell im Sonnenlicht. Er schloss die Augen und erinnerte sich mit Vergnügen an das Gefühl, das er bei ihrer Zustimmung empfunden hatte, an den Luftzug, als er hochgehoben worden war und ihren Beifall erhalten hatte. Noch ein paar Tage, dachte er und betastete die violette Schuppe in seiner Tasche. Er genoss ihre Wärme und ihre summenden Schwingungen. Ich warte auf den Mond. Er schritt die Verandastufe hinunter und trat über einen Bettler hinweg, der vor ihr lag, dann schlenderte er in das Licht des Marktplatzes, ohne jemanden wahrzunehmen. Die Menge umspülte ihn, als sei er gar nicht da. Vor dem Hafen von Avonderre Der Seneschall hielt die Kerze in der fahler werdenden Dunkelheit hoch und versuchte zu vermeiden, dass das Wachs auf das Kind oder in den behelfsmäßigen Teich aus glimmendem grünem Wasser tief im Innern des Schiffes tropfte. Das Schiff schwankte plötzlich, als ein Brecher es traf. Die Strömung des Nördlichen Meeres war außerordentlich trügerisch und machte die Einfahrt in den Hafen dieser Provinz des Drachenlandes schwierig. Der Schiffsrumpf erzitterte. Faron quiekte auf, als das Wasser in kleinen Brechern um ihn schlug. »Ruhig, Faron, ganz ruhig«, besänftigte der Seneschall ihn und versuchte seine eigene Ungeduld und die des Dämons zu ersticken. »Hab keine Angst. Lies die Schuppen und sage mir, ob wir hier in den Hafen einlaufen können. Wartet etwas auf uns, oder haben wir freie Einfahrt?« Die Kreatur kämpfte um ihr Gleichgewicht; die weichen Knochen und schlaffen Muskeln hatten dem schlingernden Schiff nichts entgegenzusetzen. Mit zitternden, knorrigen Händen hielt Faron eine jadegrüne Schuppe hoch zum flackernden Kerzenlicht. Die großen, wässerigen Augen blinzelten rasch in der abwechselnden Helligkeit und Dunkelheit. Schließlich schüttelte das Geschöpf den Kopf. »Nein?«, wollte der Seneschall wütend wissen. »Im Namen der Leere, warum nicht? Siehst du Gefahr oder Widerstand in den Wellen verborgen? Kommt etwas auf uns zu?« Das Kind schaute ihn entsetzt an und nickte heftig. »Bist du sicher?« Faron ächzte und nickte abermals, dann verschwand er unter der Scheibe aus grünem Wasser. Der Seneschall löschte das Licht und ertastete sich den Weg zur Leiter. Er kletterte an Deck, erspähte den Kapitän und schrie gegen den Wind: »Kurswechsel! Abdrehen, weiter nordwärts, die Küste entlang, bis wir das Riff von Gwynwald erreichen!« Er wischte sich den Wind aus den hellblauen Augen und blinzelte in die gleißende, brennende Sonne. Der Kapitän starrte ihn an, als sei er verrückt. »Euer Ehren, dort können wir nirgendwo Anker werfen. Avonderre hat einen geschützten Hafen und einen Leuchtturm, der uns vor den Untiefen warnt. Wir können das Schiff nicht mehr umdrehen.« Er fuhr sich mit der Hand an die Stirn und schaute nach Osten zum Strand. »Außerdem werden wir bereits empfangen.« Der Seneschall stolperte zur Reling und blickte in dieselbe Richtung wie der Kapitän. Ein kleiner Kutter aus der Flotte des Hafenmeisters flog ihnen entgegen und setzte die Flagge des Anlegens. Säure spritzte dem Seneschall in die Kehle. Er fluchte leise in Worten, die nur den F’dor bekannt und für die Menschen unaussprechbar waren. Er hatte genau das befürchtet. Die Basquela hatte keine gültigen Anlegepapiere für Avonderre oder einen anderen orlandischen Hafen; sie besaß nicht einmal die Erlaubnis, in irgendeinem Hafen des cymrischen Bündnisses vor Anker zu gehen. Die Gefahr, durch den Hafenmeister in eine kritische Lage zu geraten, war bei der Abreise wegen der notwendigen Eile verdrängt worden. Quinn hatte ihn davor gewarnt, als er die Basquela gemietet hatte, aber er hatte nicht auf die Corona warten wollen. Und nun hatte es den Anschein, als würden sie noch vor den avonderianischen Gewässern von der Mannschaft des Hafenmeisters aufgebracht. »Werft den Anker aus«, befahl der Kapitän der Mannschaft. Der Seneschall wandte sich an Caius, der wie immer seine Armbrust säuberte und ausbesserte. »Gib leise Quinn Bescheid und sag ihm und den anderen, sie sollen sich bereit halten«, flüsterte er dem Schützen zu, während sein Bruder und der Vogt des Seneschalls in der Nähe zuhörten. »Ich glaube, bald wird sich ein unglücklicher Seeunfall ereignen.« Rabengilde Yarim Paar — Markt der Diebe Die lodernden Flammen in dem gewaltigen Kamin verbargen beinahe Dranths Ankunft. Der zweitwichtigste Mann der Gilde war es gewohnt, ohne Angst in die Nähe der Meisterin zu kommen. Er war der Offizier, dem sie am meisten vertraute, und er glaubte, sie schätzte seine Aufrichtigkeit. Doch seit der Zerstörung vor drei Jahren war sie unberechenbar geworden, was sich in der letzten Zeit noch verschlimmert hatte. Jetzt war sie ganz besonders wütend, denn bisher war es keinem ihrer Spione gelungen, die Verteidigungslinie der Firbolg zu durchbrechen. Entgegen ihren Wünschen wurde das Bohren fortgesetzt. Nicht einmal der Aufruhr, der infolge der Auffindung eines halb aufgefressenen Kindes in der Wüste nahe dem Bolg-Lager eingesetzt hatte, konnte die Ausgrabungen verhindern. Nach einigen Stunden war der Tumult aufgelöst worden. Man hatte die Bolg entlastet, und die menschlichen Schafe von Yarim Paar waren auf ihre Beobachtungsposten vor den Bohrzelten zurückgekehrt und hatten Estens Mörder davon abgehalten, die Arbeiten zum Stillstand zu bringen. Sie war erzürnter, als er es je bei ihr gesehen hatte. In Estens Nähe zu sein, wenn sie so wütend war, glich einem Spiel mit den Säuren, die in der Ziegelei verwendet wurden. Es war nicht die Frage, ob man sich Verbrennungen zuzog, sondern wann es geschah und wie schlimm sie waren. Er räusperte sich leise. Esten schien ihn nicht zu hören. Sie starrte in das brüllende Feuer, hatte das Kinn auf die Faust gestützt und dachte nach. Das lange schwarze Haar, das frisch gewaschen und noch feucht war, hing ihr bis auf die Knie und schimmerte im tanzenden Licht. Es war ein dunkles und zugleich schönes Bild. Für einen Moment sah Dranth vor den Feuerschatten die Frau in ihr. Dann kehrte sein Verstand zurück, und er erinnerte sich daran, wo er war. Und wer sie war. Und was sie war. Er würde nie die erste Begegnung mit ihr vergessen. Er war ein bissiger Bengel gewesen, das Kind eines yarimesischen Handwerkers und einer dunklen Lirinpan-Mutter; beide waren schon lange tot. Sie hatte gerade in einer Hintergasse des Inneren Marktes einen Soldaten ausgeweidet, der viermal so umfangreich wie sie selbst gewesen war. Eine kleine, grobe Klinge hatte aus seiner Kehle geragt und eine andere sich wie gefangenes Licht in ihrer Hand bewegt. Der Blick, den sie Dranth geschenkt hatte, war so erschreckend gewesen, dass er nur zurückgetreten war und verwundert zugesehen hatte, wie sie ihre scheußliche Arbeit vollendet hatte. Die Klinge war mit einer Geschwindigkeit umhergeflogen, die von frühreifem Talent, angeborener Beweglichkeit und vollkommenem Fehlen von Furcht herrührte. Dranth waren die Künste des Messers nicht unbekannt gewesen, doch an jenem Tag, in der dunklen Hintergasse, hatte er die Geschickteste Meisterin des Mordes beobachtet, die er je gesehen hatte. Da war sie acht Jahre alt gewesen. Er verfluchte sich selbst. Der kurzzeitige, unrichtige und gefährliche Eindruck von Menschlichkeit und gefühlvoller Weiblichkeit hatte ihn schwindlig und schwach gemacht. Es war, als sei er achtlos an einem Abgrund entlanggeschlendert und habe in ihm lediglich einen Bewässerungskanal gesehen. In der Dunkelheit hatte er ihn nicht als das erkannt, was er war. Dranth räusperte sich erneut, diesmal lauter. »Ein Besucher, Gildenmeisterin.« Schließlich drehte sich Esten um und schaute ihn an. Ihr Blick war so verschlingend wie der Wüstensand, der angeblich die legendäre Stadt Kurimah Milani vor mehr als tausend Jahren unter sich begraben hatte. Dranth deutete in die Finsternis und befahl der jungen Frau, näher zu kommen. Sie erschien wie ein bleicher Geist, von Kopf bis Fuß in einen hellblauen Ghodin gehüllt. Ihr Gesicht war in den Feuerschatten weiß. Ein Zittern lief durch den Stoff ihres Zeremonialkleides, das wie das Segel eines Schiffes in stürmischer See wirkte. Dunkle Locken, die einzigen sichtbaren Haare, lugten über ihrer Stirn hervor und rahmten ihr Gesicht ein. Esten ergriff ihre eigenen langen Locken, band sie mit einer blitzschnellen Bewegung im Nacken zu einem Knoten zusammen und richtete sich ruhig auf, während die größere Frau näher kam. »Nun, das ist wirklich eine Ehre«, sagte sie. Gift troff aus jeder Silbe. »Eine Shanouin-Priesterin hat sich zu einem Besuch bei mir herabgelassen. Wie bemerkenswert. Wie lautet Euer Name, Heiligkeit?« Die große Frau machte die Schultern breit und faltete die Arme unter dem fließenden Gewand. »Tabithe, Gildenmeisterin.« Ihre Stimme war sanft und ehrfurchtsvoll. »Was wollt Ihr von mir?« Die Priesterin hustete und entschuldigte sich für die Störung mit einem Nicken. »Ich bin gekommen, um für das Leben meiner Schwiegermutter zu bitten«, sagte sie. »Aha. Und wer soll das sein?« Esten verschränkte die Arme vor der Brust und ahmte die Haltung der Priesterin nach. Die Shanouin-Frau hustete erneut, diesmal tiefer aus der Brust heraus. Es war ein rasselndes Geräusch, das auf Rotlunge hindeutete, eine weit verbreitete Krankheit bei dem nach Brunnen grabenden Klan. »Mutter Julia«, sagte sie schließlich. Esten drehte kleine Kreise zur Linken der Frau und nickte übertrieben. Die Priesterin blieb stocksteif stehen und hatte den Blick auf das Feuer gerichtet, während die Gildenmeisterin weiter umherlief. Dann hielt Esten unmittelbar vor ihr an. Sie beugte sich vor. Ihr Gesicht verzog sich zu einem dunklen Lächeln. »Zu spät«, sagte sie. Die Frau erblasste, doch ansonsten veränderte sich ihr Gesichtsausdruck nicht. »Ehrlich, Gildenmeisterin, Ihr beliebt zu scherzen?« »Ehrlich, Euer Heiligkeit, ich scherze nie.« Die Frau schwieg für eine Weile und seufzte dann tief. »Darf ich dann um den Leichnam bitten?« Esten schnaubte. »Ich bezweifle, dass Ihr ihn in diesem Zustand sehen wollt, Tabithe. Mein Haar ist noch feucht vom Auswaschen des Blutes. Ich schlage vor, Ihr kehrt zu Eurem Gemahl zurück. Welcher aus dem Wurf der verfluchten Quacksalberin ist es denn?« »Thait, Gildenmeisterin.« »Ah. Nun, ich schlage vor, Ihr kehrt zu Thait zurück und sagt ihm, seine betrügerische Mutter ruhe in Frieden – oder eher in Stücken. Ich habe ihm einen Gefallen getan, indem ich eine solche Fäulnis aus seiner Familie getilgt habe.« Die blasse junge Frau kämpfte um Haltung. »Ich habe Informationen, die mir wertvoll erscheinen, Gildenmeisterin«, sagte sie. Ihre Stimme verriet sie ein wenig. »Wirklich? Das ist interessant. Deine Schwiegermutter hatte keine. Daher rührt ihr augenblicklicher Zustand.« Die Priesterin nickte. »Ich hatte keine Gelegenheit, es ihr oder sonst jemandem mitzuteilen«, sagte sie zögernd. »Ich bin erst heute Nachmittag darauf gestoßen. Ich bin zu Mutter Julias Haus gegangen, um es ihr zu sagen, aber ...« »Was ist es für eine Information?« Der Tonfall der Gildenmeisterin wurde plötzlich eindringlich. Tabithe blinzelte mehrmals; ansonsten war ihr Gesicht eine Maske. Sie sog die Luft ein und kniff die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen; dann sagte sie: »Als Gegengabe möchte ich den Leichnam meiner Schwiegermutter haben, Gildenmeisterin.« Bevor sie wieder ausatmen konnte, lag ein Dolch an ihrer Kehle. Die Klinge war aus einer Lederscheide an Estens Handgelenk gesprungen und drückte sich so fest gegen den Hals, dass Tabithe die Luft anhielt. Bei der nächsten Bewegung würde die Haut reißen. Estens Geschick mit Messern war berühmt, und es hieß, dass sie ihrem Opfer noch vor dessen nächstem Herzschlag die Halsschlagader durchtrennen konnte, sobald sie sich entschieden hatte, das Messer einzusetzen. »Sprecht, Heiligkeit. Es dient nur Eurer dauerhaften Gesundheit.« Die Frau zuckte zusammen. »Ich habe heute Wasser am Arbeitszelt der Bolg abgeliefert.« Die Klinge verschwand; die Priesterin seufzte auf und holte tief Luft. Die glänzenden schwarzen Augen befanden sich ihr unmittelbar gegenüber. »Was habt Ihr gesehen?« »Sehr wenig. Die Klappe war nur einen Augenblick lang offen.« Die Stimme wurde zu Eis. »Warum glaubt Ihr, dass Ihr damit die Stücke Eurer Schwiegermutter erkaufen könnt?« »Ich ... ich habe den Firbolg-König gesehen«, stammelte die Shanouin. »Er steckte in schwarzen Gewändern, seine Augen hatten unterschiedliche Farben, und die Gesichtshaut war von Adern durchzogen. Es war ein unheiliger Anblick.« Die schwarzen Augen verengten sich. »Und Ihr glaubt wirklich, dass mich das interessiert? Ich weiß, dass der Bolg-König hier ist und dass er scheußlich aussieht. Beides ist allgemein bekannt. Ihr stellt meine Geduld auf die Probe.« »Hinter ihm arbeiteten die Bolg mit einem gewaltigen Bohrer, etwa ein halbes Dutzend von ihnen drehten an der Kurbel einer Maschine. Sie hatte große Metallräder mit Zähnen daran, die wie Webfäden ineinander griffen.« »Zahnräder.« Esten trat einen Schritt zurück. »Ich höre.« »Ich konnte den Bohrer sehen«, meinte Tabitha. »Zuerst habe ich nicht begriffen, was es war. Ich habe noch nie einen von solch einer Länge und Breite gesehen. Er war gebogen wie eine Talgkerze und wurde von der Maschine in den Boden getrieben. Es war kein bloßer Stampfer, wie wir ihn benutzen.« »Ist das alles?« Esten lief in den Schatten hin und her, tauchte in das Licht ein und aus ihm weg. »Ich glaube, er war aus Stahl, Gildenmeisterin«, fuhr die Priesterin unter Aufbietung allen Mutes fort. »Aus Stahl, der sowohl schwarz als auch blau geleuchtet hat.« Jedes Geräusch floh aus dem Raum, als Esten stehen blieb. Sie wandte sich langsam zu der Priesterin um. »Sagt das noch einmal«, verlangte sie ruhig. Tabitha schlang unter dem blassblauen Ghodin die Arme enger um sich. »Der Bohrkopf, den die Bolg benutzen, ist aus blau-schwarzem Stahl geschmiedet, ähnlich wie die dünne Scheibe, die Ihr beschrieben habt«, stammelte sie. Sie stand schweigend da, während Esten den Boden anstarrte. Tabitha hatte keine Ahnung, worüber die Gildenmeisterin nachdachte, doch sie erkannte, dass Esten eine gewaltige Erleuchtung hatte. Schließlich schaute die Gildenmeisterin wieder auf. Die Überlegungen, die sie noch vor einem Moment beschäftigt hatten, spiegelten sich nicht länger in ihren Augen wider. »Vielen Dank, Euer Heiligkeit«, sagte sie höflich. »Eure Information ist wirklich wertvoll, und Ihr werdet eine hübsche Belohnung dafür erhalten.« Sie wandte sich an den Kronprinzen. »Dranth, such die Teile von Mutter Julia zusammen und lass ihren Leichnam in feines sorboldisches Leinen einwickeln. Leg ihn für Ihre Heiligkeit auf einen Wagen und bring ihn zu Thaits Haus.« Sie richtete den Blick wieder auf die Priester in, während sie ihren letzten Befehl gab. »Verlange von ihm nur die niedrigste Zustellgebühr.« »Ja, Gildenmeisterin.« Dranth verschwand in der Dunkelheit der Gildenhalle und kehrte wenig später zurück. »Es ist angeordnet.« »Gut. Vielen Dank für die Information, Tabithe. Ich bin sicher, Euer Gemahl wird Euch für Eure Bemühungen dankbar sein, wenn man bedenkt, wie viel Wert Eure Familie auf die Beerdigung ihrer Angehörigen legt.« »Ja, Gildenmeisterin«, sagte die Priesterin. »Es ist Unsinn, wenn Ihr mich fragt«, fügte Esten hinzu. »Ich weiß, dass der Klan, in den Ihr eingeheiratet habt, ein abergläubischer Haufen ist, aber sogar Eure eigenen Leute haben die gleichen dummen Angewohnheiten. Ich kann einfach nicht aufhören, mich über einen Stamm wie die Shanouin zu wundern, die in der Erde graben und dabei unzählige Leichen beiseite räumen müssen, und doch glaubt Ihr immer noch an ein Leben nach dem Tod. Das ist alles Narretei. Aber genießt ruhig Eure kleinen Rituale, wenn sie es Euch leichter machen, die Unausweichlichkeit des Sterbens zu ertragen.« Die Priesterin verneigte sich ehrerbietig und folgte den Händen, die ihr aus der Dunkelheit zuwinkten und auf die Gasse deuteten. Als die Tür hinter Tabithe geschlossen wurde, wandte sich Esten wieder dem Feuer zu. »Dranth, hast du dich vergewissert, dass für die Zustellung ein breiter Wagen genommen wird?« »Ja, Gildenmeisterin.« Er hatte diese Frage vorhergesehen. »Gut. Bitte sage dem Fahrer, er soll die doppelte Gebühr kassieren, wenn er die beiden Leichen abliefert. Und noch einen Zuschlag für das Leinen – vielleicht solltest du als Zeichen der Freundlichkeit Tabithe in blaues wickeln.« »Dafür wird bereits gesorgt, während wir hier miteinander sprechen.« Die Gildenmeisterin trat mit der Stiefelspitze einen brennenden Scheit, der aus dem Kamin gesprungen war, zurück ins Feuer. »Sage dem Obergesellen in der Ziegelei, er soll die Pläne ändern, damit Slith und Bonnard ersetzt werden können. Ich will mit den Aufträgen nicht in Verzug geraten.« »Bonnard auch? Er weiß nichts. Es wäre eine Schande, einen so fähigen Keramiker zu verlieren.« Esten drehte sich um und richtete den Blick auf Dranth. Ihre Stimme war leise, und in ihren Worten lag eine doppelte Bedeutung. »Was weißt du, Dranth?« Dranth schluckte. In seinem Blick lag Verstehen. »Habt Ihr gesehen, dass sie schwanger ist?«, fragte er zögernd. »Tabithe? Wirklich?« »Ja. Es war unter den Falten ihres Ghodin verborgen.« »Aha.« Ihr Blick kehrte zum Feuer zurück, während sie über diese Neuigkeit nachdachte. Schließlich verschränkte sie die Arme. »Ihre Information war nützlich.« »Ja, Gildenmeisterin.« »Vielleicht sollten wir Milde walten lassen.« »Wie Ihr wollt, Gildenmeisterin.« »Also gut. Keine zusätzliche Zustellgebühr für das Kind.« 14 Hafen von Avonderre — Port Fallon ausserhalb des Schleusenkanals Port Fallon in Avonderre war der größte und geschäftigste Hafen in ganz Roland. Außer ihm gab es keinen, der gleichzeitig für die Marine und für die zivile Seefahrt ausgebaut war. Weiter südlich an der Küste lagen Tallono, der große und geschützte Hafen, der von den Gorllewinolo-Lirin vor tausenden von Jahren mit Hilfe der Drachin Elynsynos erbaut worden war, und die beiden großen westlichen Seehäfen Minsyth und Immerrein in dem von niemandem beanspruchten Gebiet, das allgemein als die Neutrale Zone bekannt war. Doch keiner dieser Häfen hatte die Größe von Port Fallon oder war so leicht zugänglich. Tallono war ausschließlich den lirinischen Schiffen vorbehalten, während Minsyth und Immerrein vor dem gewaltigen Binnenhafen Ghant in Sorbold klein erschienen, der im Osten oberhalb der Skelettküste lag. Alle vier zusammen waren noch immer nicht so groß wie Port Fallon. Auf dem Höhepunkt des cymrischen Reiches hatte man einen einhundert Fuß hohen Leuchtturm am Hafeneingang errichtet, wo sich die südlichen Strömungen der Nördlichen See von den östlichen des offenen Meeres trennten. Es hieß, man könne das Licht des Turms an klaren Nächten noch auf den Schiffen sehen, die im äußeren Archipel östlich von Gaematria segelten, der mystischen Insel der See-Weisen, die beiderseits des Nullmeridians lag. Eines der anspruchsvollsten Bauvorhaben der cymrischen Ära war der gewaltige Schleusenkanal gewesen, ein Fluttor, in welches die natürliche Krümmung der Küstenlinie einbezogen worden war und das verhindern sollte, dass die Tide den Schiffen im Hafen Schaden zufügte. Man hatte genommen, was die Natur an Avonderres Küste bereits geschaffen hatte, und einen neuen Damm errichtet, der den Hafen zu einer riesigen, vor den Elementen geschützten Lagune gemacht hatte, die vom äußeren Ortsrand aus gemessen einen Durchmesser von acht Meilen hatte. In den schlimmsten Stürmen und dem härtesten Winterwetter, ja selbst bei einer Sturmflut, welche nördlich des Gwynwald-Riffs auf die Küste getroffen war und viele Orte in der Umgebung zerstört hatte, war das geschäftige Port Fallon durch seine geschützte Lage unbeschädigt geblieben. Die Schleuse machte eine Überwachung des Hafens möglich. Der Hafenmeister verfügte über Vorposten, welche den Kanaleingang zu Port Fallon flankierten, von dem aus seine große Flotte aus Lotsenbooten, Rettungs- und Sperrschiffen ablegen konnte. So wurden die Schiffe, die in den Hafen einliefen, sowohl von der Natur als auch vom Gesetz vor den Unbilden der See geschützt. Die bevorzugte geographische Lage, die von Gwylliams Architekten noch verbessert worden war, hatte schon viele Schiffe vor dem Untergang im Sturm bewahrt, während die Patrouillen des Hafenmeisters und seiner Männer eine noch grausamere Geißel abwehrten: die Piraten. Die Patrouillenschiffe waren andauernd unterwegs, um den Handel aufrechtzuerhalten. Sie kümmerten sich um jedes Schiff, das unerwartet den Hafen verließ oder einfuhr. Die Landungsstege befanden sich an den Seiten des Hafeneingangs, sodass das Auslaufen sehr einfach war, und die See am Kanal war glatt wie Glas. Es war sicherlich unmöglich, jedes Schiff zu untersuchen und jede Ladung in Augenschein zu nehmen, oder auch nur jeden Akt von Piraterie zu unterbinden, doch nach und nach hatten die Schutzleute für Ordnung im Hafen gesorgt, und Avonderre galt seit geraumer Zeit als eines der sichersten und gedeihlichsten Gebiete auf den Schifffahrtslinien der ganzen Welt. Avonderres Kaianlagen erstreckten sich nördlich und südlich entlang der Küstenlinie, so weit das Auge reichte. Ihr Scheitelpunkt befand sich beim Leuchtturm; von dort aus verliefen sie durch den eigentlichen Hafen, wo an der gewaltigen Landungsbrücke hundert Kaufmannsschiffe gleichzeitig in einer peinlich genau eingehaltenen Choreographie von Hafenarbeitern, Matrosen, Fässern, Kisten, Pferden und Wagen entladen werden konnten, die Schätze aus der ganzen Welt mit der Präzision eines Ameisenhaufens hervorholten und die Schiffe dann in der gleichen Weise wieder beluden und auf den Rückweg schickten. Es war dieses gewaltige Gewühl, dessentwegen der Seneschall es riskiert hatte, Port Fallon in einem unregistrierten Schiff und ohne die entsprechenden Papiere anzusteuern. Im Verlauf eines gewöhnlichen Tages passierten tausend oder mehr Schiffe die Schleuse. Wie wahrscheinlich war es da, dass eine bescheidene kleine Fregatte wie die Basquela, die am äußeren Ende des Hafens schaukelte und höflich darauf wartete, dass sie an der Reihe war, vom Hafenmeister aufgebracht wurde? Allzu wahrscheinlich, wie es nun schien. Der Seneschall fluchte erneut beim Anblick des Segelkutters, der rasch durch die sanften Wellen auf sie zuglitt und ihnen mit der Inspektionsflagge des Hafenmeisters ein Signal gab. Er schaute sich rasch um und vergewisserte sich, dass keine anderen Schiffe in Sichtweite waren. Dann gab er seinem Vogt ein Zeichen, der wiederum Clomyn und Caius zunickte. Die Schützenzwillinge stellten sich an der Reling in Position und balancierten ihre allzeit gegenwärtigen Waffen lässig auf einem Arm aus. Der Kapitän signalisierte dem Kutter, man könne zur Inspektion an Bord kommen. Ein Drei-Mann-Boot wurde fertig gemacht. Zwei Ruderer und der Abgesandte des Hafenmeisters kletterten hinein, während die anderen drei Mannschaftsmitglieder auf dem Kutter es zu Wasser ließen. Der Seneschall hörte im Wind, wie sie einander zuriefen. »Sanft, Jungs«, rief der Abgesandte den Seeleuten zu. »Habe heute schon einmal im Wasser gelegen.« »Und brauchst immer noch ein Bad, Terrenz«, rief einer der Männer vom Schiff aus ihm zu. »Du stinkst nach Bilgenwasser und Fräulein Carmondys Parfüm.« »War eine harte Nacht«, erwiderte der Abgesandte liebenswürdig. Gutmütiges Fluchen und Gelächter beschäftigten die Mannschaft der Hafenmeisterei für eine Weile. Der Seneschall wandte sich kurz von der Reling ab und schaute den Kapitän an, der mit dem Ersten Maat kicherte und auf die Ankunft der Männer wartete. Der Kapitän drehte sich lachend nach dem Seneschall um. »Ihr solltet die Papiere bereithalten, Euer Ehren«, sagte er und bedeutete der Mannschaft, das Fallreep herunterzulassen, auch wenn das Beiboot noch kaum das Wasser berührt hatte und sich gerade erst zum Ablegen bereitmachte. »Der Abgesandte des Hafenmeisters wird sie überprüfen wollen, wenn er an Bord kommt.« »Ich habe keine solchen Dokumente«, sagte der Seneschall gelassen. Das Lächeln verschwand aus den Gesichtern des Kapitäns und des Maates. Sie starrten beide den Seneschall an. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie glaubten, ihn missverstanden zu haben. »Wie bitte, Euer Ehren?«, meinte der Kapitän. »Ich sagte, ich habe keine Papiere«, wiederholte der Seneschall lauter, damit das Knattern der Segel ihn nicht übertönte. Der Kapitän verließ die Reling und kam hinüber zum Seneschall. »Ich bin mir sicher, Ihr sagtet bei unserer Abreise, Ihr hättet alle nötigen Papiere dabei«, erklärte er und lief rot an. Der Seneschall zuckte mit den Schultern. »Vielleicht habe ich das gesagt. Wenn ich es gesagt habe, habe ich gelogen. Ich bitte zutiefst um Entschuldigung. Ich kann mir keinen Rattenschwanz von Dokumenten leisten, die meinen Weg von Argaut bis hierher offen legen.« »Was? Wie bitte?« Das Gesicht des Kapitäns nahm eine dunkelrote Färbung an. »Euch wird es nicht mehr als eine Geldstrafe kosten, aber man wird mein Schiff beschlagnahmen.« »Darüber würde ich an Eurer Stelle nicht verzweifeln, Kapitän«, sagte der Seneschall und nickte Clomyn und Caius zu. »Ich habe Euer Wort als hoher Würdenträger Argauts erhalten, Herr, und ich bin entsetzt, dass ...« Die nächsten Worte des Kapitäns gingen in den Geräuschen der abgeschossenen Armbrüste unter. Jeder der Brüder hatte dreimal geschossen, bevor der Maat Luft holen konnte. Der Kapitän erreichte die Reling gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die letzten drei Seeleute auf dem Kutter auf die Planken fielen. Er schaute entsetzt nach unten auf das Beiboot. Der Abgesandte lag auf dem Rücken und einer der Ruderer auf dem Bauch. Pfeile steckten ihnen in Kehle und Hals. Auf dem Boden des Bootes lag der letzte Ruderer mit einem Pfeil im Rücken. Er konnte die Beine nicht mehr bewegen und schlug mit den Armen hilflos in das Bilgenwasser. Caius lachte laut und kniff Clomyn ins Ohr. »Stümper! Pfuscher! Sieh dir das an!« Sein Bruder schulterte die Waffe erneut, zielte und schoss. Der Seemann fiel zurück und lag still. Caius schüttelte den Kopf und gluckste vor gespielter Missbilligung. »Zwei Pfeile für einen Mann? Was für eine Verschwendung! Eine Sünde, sage ich dir. Eine Sündel« »Ich kann dir einen Pfeil in die Stirn schießen und wieder herausziehen; dann ist meine Quote in Ordnung«, brummte sein Bruder. »Hievt das Boot an Bord«, befahl Fergus der Mannschaft der Basquela. Die Seeleute starrten den verblüfften Kapitän und den entsetzten Maat an, sprangen dann rasch an die Reling und zogen das lange Boot an Seilen heran. »Was geht hier vor?«, wollte der Kapitän wissen und schritt auf den Seneschall zu. »Lasst ab! Was macht Ihr ...« Der Seneschall packte den Mann an der Gurgel und drückte ihn mit großer Kraft gegen den Mast. Wut brannte in seinen Augen, als er zudrückte und die Knöchel unter das Schlüsselbein des Kapitäns bohrte. Der Mann keuchte und schlug hilflos um sich. Er blinzelte in dem Versuch, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Der Seneschall zerrte den Kapitän zurück und schlug seinen Kopf immer wieder gegen den erzitternden Mast. Er hörte nicht auf, bis Blut das Hauptsegel streifte und fleckte und das Hirn des Mannes das Spantenwerk überzog. Mit einem heftigen Ruck zog er den Leichnam des Kapitäns zu der Seite der Reling, die zum offenen Meer hin lag. Er ergriff den Kasten, der den geliebten Kompass des Kapitäns und dessen Schiffskarten enthielt. Rasch wand er ein Stück Seil darum und band sie dem Toten um den Hals, dann warf er den Köper über Bord. Er sah zu, wie der Leichnam auf die Wellen traf und versank. Dann wandte er sich an die Mannschaft. Er richtete seinen dreieckigen Hut und wischte sich die grau-grüne Substanz vom Mantel. »Ich hasse es, ausgefragt zu werden«, sagte er lässig. Fergus schaute angeekelt zur Seite. »Darf ich fragen, Euer Ehren, warum Ihr auch den Kompass über Bord geworfen habt? Wie sollen wir jetzt navigieren?« Der Seneschall seufzte. »Es ging mir darum, dass der Kapitän auch in der Unterwelt seinen Weg findet«, antwortete er leichthin. »Außerdem brauchen wir dieses Spielzeug nicht. Faron wird uns mit Hilfe der Schuppen führen.« Die Seeleute sahen einander zweifelnd an. »Ja, Herr«, meinte Fergus. »Und jetzt«, fuhr der Seneschall fort, während er zum Ersten Maat hinüberschritt und vor ihm stehen blieb, »habe ich noch eine Frage an dich. Möchtest du zum Kapitän aufsteigen?« Der Mann reckte die Schultern und sah dem Seneschall direkt in die Augen. »Nein«, sagte er ruhig und fest. »Ich weiß, dass Ihr mich am Ende doch töten würdet, ob ich Euch diene oder nicht. Also werde ich lieber nicht Kapitän.« Die Muskeln des Seneschalls spannten sich vor Wut. »Ich werde dich am Ende nicht töten; das siehst du falsch«, sagte er mit einem Brodeln in der Stimme. Er drehte sich um, verließ den Maat und nickte den Zwillingen zu. Die Pfeile verließen innerhalb eines Herzschlags die Armbrüste. Der Körper des Maats schlingerte kurz und stürzte über Bord. »Ich werde dich am Anfang töten«, sagte der Seneschall. Er wandte sich an seinen Vogt. »Wo ist Quinn?« »Hier, Herr«, ertönte die leise und brüchige Stimme des Seemanns. Der Seneschall bedeutete ihm, näher zu treten. »Es scheint so, dass du nun das Kommando hast, Quinn. Lichte den Anker, nachdem das Beiboot geborgen und der Kutter weitergesegelt ist.« Die blauen Augen des Seemanns blinzelten. »Weitergesegelt, Herr?« Der Seneschall wandte sich wieder dem Kutter zu. Er ging zur Reling und betrachtete das Schiff, das Schlagseite hatte. »Lass die Segel killen«, rief er Quinn zu, der eilig den Befehl weitergab. Die Mannschaft packte rasch die Segel und ließ den Wind heraus. Dann wickelten sie die flatternde Leinwand so schnell wie möglich zusammen. Der Seneschall schloss die Augen und zog Tysterisk. Das Schwert weidete sich an dem Windstoß, und ein Rausch der Macht durchfuhr es; es war der angekettete Wind selbst. Er öffnete die Augen und schaute auf die Segel des Kutters, die sich allmählich mit Wind füllten. Die Basquela blieb vor Anker und schaukelte auf den flachen Wellen, als der Kutter allmählich vor dem Wind segelte und auf den Kanal zuhielt. Aus der Ferne sah es so aus, als habe das Hafenmeisterschiff zufrieden die Basquela verlassen und setze die Patrouille im äußeren Hafengebiet fort. Der Seneschall schaute sich in dem gewaltigen Hafen um, in dem viele Schiffe ein- und ausliefen. Einige steuerten das Trockendock an, andere waren bereits vertäut, wieder andere waren damit beschäftigt, von weiteren Schiffen des Hafenmeisters überprüft zu werden. Die Schreie der Möwen, das Gleißen der Sonne, das Pfeifen des Windes, unter dem der Kutter segelte – alles lief normal in Port Fallon. »Segele davon, gegen den Wind«, befahl er Quinn. »Bring uns aus dem Hafen, durch den Kanal und um die Landspitze herum.« Quinn beeilte sich, dem Befehl zu gehorchen. Als die Basquela nicht mehr in Sichtweite des Hafens war, klopfte der Seneschall Clomyn auf die Schulter. »Jetzt hast du die Gelegenheit, dein früheres Missgeschick wettzumachen«, sagte er. Das glänzende Blau seiner Augen spiegelte den Himmel wider. Clomyn trat an die Reling. »Wo, Herr?« »Das Hauptsegel, denke ich.« Der Armbrustschütze hob die Waffe. Das Ziel war für einen gewöhnlichen Armbrustschützen mehr als dreimal zu weit entfernt. »Fertig, Euer Ehren.« Der Seneschall berührte die Pfeilspitze und sprach das Wort kryv aus. Entzünde dich. Die Pfeilspitze glühte für einen Moment rot auf und brach dann in Funken dunklen Feuers aus. Als sie aufloderte, zischte sie bedrohlich. Der Seneschall nickte, und Clomyn feuerte. Der Wind erschlaffte für einen Moment, als der Bolzen über den Ozean und außer Sichtweite flirrte. Am Rande seines Gesichtsfelds erhob sich ein winziger Rauchfinger vom Hauptmast. »Gut gemacht«, sagte der Seneschall zu Clomyn. Er hob sein Schwert und fühlte in sich hinein, wo das Element der Luft, der Wind, an seine dunkle Seele gebunden war. Die Brisen zwischen der Basquela und dem Kutter frischten auf, wurden stärker, vereinigten sich; für einen Moment bildete sich eine kleine Wasserhose und trieb auf das leere Schiff zu. Einen Herzschlag später sah die Mannschaft der Basquela, wie sich die Segel des Kutters blähten. Beim nächsten Herzschlag ging das Hauptsegel in Flammen auf. Das Feuer lief an dem Mast hoch und eilte innerhalb eines Augenzwinkerns vom Vorderdeck zum Achterdeck. Alle an Deck der Basquela schauten verblüfft zu, wie der orange-rote Feuerball zu schwarzer Asche wurde, ätzende Wolken ausstieß und das Schiff nur noch ein heller, skelettartiger Umriss im Rauch war. »Los, Quinn«, sagte er zu dem neuen Kapitän, der leicht erzitterte, als in der Ferne die Hörner und Glocken ertönten. »Folge der Küste. Ich will am Morgen vor Anker gehen. Es ist unhöflich, eine Dame warten zu lassen.« 15 Yarim Paar Am Morgen des achten Tages hörte das Bohren plötzlich auf. Ihrman Karsrick hatte sich allmählich an das knirschende Rumpeln vor den Fenstern des Gerichtsgebäudes gewöhnt. Nun sprang er vom Frühstück auf, das er gemeinsam mit dem Herrscher der Cymrer einnahm, und eilte ans Fenster. Er schaute über die Straßen hinweg zu dem Platz, auf dem die Entudenin stand und die Arbeiten bisher ihren Fortgang genommen hatten. In der Ferne sah er, dass der innere Wachring der Bolg-Soldaten an mehreren Stellen durchbrochen worden war. Firbolg-Soldaten und Handwerker strömten hinaus, packten die Ausrüstung zusammen und trugen sie aus dem Zelt zu den großen Wagen, auf denen sie vor acht Tagen hergebracht worden waren. Er konnte keine Anzeichen für eine wiederhergestellte Fontäne sehen, keine Veränderung im Zelt, keinen Teich auf dem Boden. »Gute Götter, wohin gehen sie?«, fragte Karsrick und zerknüllte vor Schreck seine Serviette. Ashe nahm einen weiteren Bissen seines warmen, gebutterten Brötchens und zuckte die Achseln. »Sie sind noch nicht fertig. Sie können noch nicht fertig sein. Sie arbeiten erst seit acht Tagen. Ich weiß nicht, ob ich begeistert oder entsetzt sein soll«, murmelte Karsrick. Seine Blicke glitten durch den Raum zum Fenster, zum Herrn der Cymrer und wieder zurück. Asche schluckte das Brötchen herunter und wischte sich den Mund mit der Leinenserviette ab. »Vielleicht sind sie doch schon fertig. Achmed verschwendet keine Zeit.« »Wir müssen zu ihnen gehen, mein Herrscher«, beharrte Karsrick und eilte quer durch den Wintergarten zur Tür. »Wo ist die Herrscherin?« »Ich glaube, sie ist im Garten und singt ihre Morgengebete.« Karsrick rief nach dem Kammerherrn. Er schlug die Glocke so heftig, dass Ashe vom Tisch aufsprang und seine Serviette zusammenfaltete; er hatte sein Frühstück erst halb aufgegessen. »Ihrman, warum seid Ihr so beunruhigt? Seit der Ankunft der Bolg seid Ihr ganz aus dem Häuschen. Ich hatte geglaubt, ihre Abreise würde Euer Herz ungemein erfreuen.« Karsrick starrte ihn mit glasigem Blick an. »Es fließt kein Wasser. Sie haben die Entudenin auseinander genommen -haben sie regelrecht ausgeweidet – und den oberen Arm des Heiligtums abgeschnitten, die Stadt acht Tage lang ohne Unterbrechung in Unruhe versetzt, den ganzen Platz und alle angrenzenden Straßen jeden Friedens und Schlafes beraubt, weil sie ihr höllisches Bohren bis tief in die Nacht fortgesetzt haben. Sie haben die Gassen um den Platz und das Bassin zerstört – und es fließt kein Wasser.« Ashe setzte sich wieder, um sein Mahl zu beenden. »In Ordnung, Ihrman, in Ordnung, beruhigt Euch. Rhapsody wird jeden Augenblick zurückkehren; dann gehen wir zum Platz und vergewissern uns, was genau geschehen ist.« Als der Herzog in Begleitung des Herrn und der Herrin der Cymrer auf dem Platz eintraf, waren die Bolg mit dem Einpacken bereits halb fertig. Karsrick eilte auf den Firbolg-König zu und klopfte ihm nervös auf den Arm. »Wohin geht Ihr, König Achmed? Sicherlich wollt Ihr uns noch nicht verlassen.« Der Bolg-König drehte sich um und betrachtete den Herzog, als sprösse ihm Blumenkohl aus den Ohren. »Natürlich verlassen wir Euch«, sagte er, als rede er mit einem Fünfjährigen oder einem Geistesschwachen. »Wir sind fertig. Wir haben alles getan, was wir tun konnten. Wir hassen diesen Ort, und dieser Ort hasst uns. Alles in allem scheint es der richtige Zeitpunkt zum Aufbruch zu sein.« Der Herzog sah beunruhigt die Unordnung auf dem Platz unter dem Zelt und daneben. Überall lag Tonstaub, und Lehm war in großen Haufen wie rote Miniaturberge aufgeschichtet. Tiefe Gräben waren hastig verfüllt worden und machten den Eindruck frischer Gräber, während überall Pflaster- und Ziegelsteine umherlagen. Das Schlimmste von allem war, dass die Entudenin nackt und zerstückelt dastand und immer noch so traurig und verwittert wie vor acht Tagen aussah, nun aber zusätzlich ein großes Loch aufwies. »Das ... das ist noch nicht fertig!«, schrie der Herzog und wedelte wild mit den Händen umher. »Soweit es uns betrifft, doch. Wir haben getan, was wir tun konnten.« »Aber da ist kein Wasser.« »Nein.« »Ihr habt den Quellfels aufgebohrt, habt ihm den Arm abgehackt, die Straßen aufgegraben, und es kommt noch immer kein Wasser. Und Ihr wollt gehen?« Achmed verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Rhapsody lange an. Er verengte die Augen, seufzte und sagte zu dem Herzog mit kaum mehr höflicher Stimme: »Im Gegensatz zu Euch folgen wir den Mondphasen, Karsrick«, sagte er und trat aus dem Weg, als drei Bolg-Soldaten eine lange, schwere Holzkiste vorbeitrugen. »Wenn die Entudenin jetzt wieder Wasser führen sollte, befindet sie sich in ihrer Schlafphase. Falls das Wasser zurückkommt, dann erst in etwa fünf Tagen. Vielleicht kommt es, vielleicht auch nicht.« Er zuckte die Achseln. »Wir haben getan, was wir konnten, um den Quellfels widerstandsfähig gegen den Druck zu machen, falls das Wasser zurückkommt. Wir haben eine Menge Schutt und Unrat aus dem Zufluss entfernt, und es gibt noch einen anderen, unterirdischen Ort, an dem der Kanal teilweise versperrt ist. Er befindet sich in der Nähe der canderianischen Grenze, und wir werden uns um ihn kümmern. Aber hier sind wir fertig. Da wir nicht mit Sicherheit vorhersagen können, wie der Wasserkreislauf mit den Mondphasen zusammenhängt, ist es notwendig, die Minenarbeiter jetzt von den unterirdischen Kammern abzuziehen. Angeblich ist die Gewalt des Wassers beim Erwachen so groß, dass sie schreckliche Zerstörungen anrichten kann. Ich will nicht, dass meinen Männern etwas zustößt, wenn – falls – das Wasser zurückkehrt. Euretwegen gedenke ich keinen einzigen Untertan zu verlieren.« »Was er sagt, ergibt einen Sinn, Ihrman«, meinte Rhapsody und betrachtete den trockenen roten Geysir. »Es hat wirklich keinen Zweck, wenn die Bolg noch länger hier in der Hitze bleiben, da die Grabungsarbeiten beendet sind. Ich bin sicher, König Achmed freut sich auf die Rückkehr nach Hause.« »Bitte überdenkt es noch einmal und bleibt«, bat Karsrick und beäugte die anwachsende Menschenmenge, die herbeiströmte, um den Grund für die plötzliche Stille herauszufinden. »Ich will Euch und Eure Handwerker im Gerichtsgebäude unterbringen...« »Habt Ihr einen Bleiglaskünstler für mich gefunden?« Karsrick verstummte mitten im Satz. Er schloss den Mund. »Ich habe mich an jede rechtmäßige Gilde gewandt, Herr, aber leider umsonst. Es ist mir nicht gelungen, jemanden zu finden, der Euren Ansprüchen genügen könnte und bereit wäre, nach Canrif zu reisen.« Der Bolg-König seufzte. »Ylorc. Es heißt Ylorc, Karsrick.« »Natürlich, ich entschuldige mich. Ylorc.« Achmed leitete drei Soldaten, die ein gewaltiges Zahnrad trugen, zu einem bestimmten Wagen und drehte dabei dem Herzog den Rücken zu. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass mich Eure Unzulänglichkeit erstaunt«, sagte er verdrossen, »aber ich war darauf vorbereitet. Sind wir bald fertig, Grunthor?« »Ja. Wir müssen nur noch die Bohrstange und ’n paar Kleinigkeiten einpacken.« Der Herzog lief hinter dem Bolg-König her, während dieser in seinen Abreisevorbereitungen fortfuhr. »Bitte – nur noch ein paar Tage. Bleibt doch, bis das Wasser fließt.« »Nein.« Achmed ergriff das Ende eines Stammes, und Ashe nahm das andere und half ihm, es zu dem wartenden Wagen zu tragen. »Warum wollt Ihr unbedingt, dass sie bleiben, Ihrman?«, fragte Rhapsody, während sie ein langes Seil aufrollte. »Ich ... falls ... nun, falls es noch etwas für sie zu erledigen...« Achmed gab dem Stamm auf dem Wagen einen harten Stoß und drehte sich zu dem Herzog um. »Er hat Angst, dass das Wasser nicht zurückkehrt, was sehr wohl der Fall sein kann«, erklärte er Rhapsody und schaute Karsrick verächtlich an. »Und wenn das geschieht, will er die Bolg dafür verantwortlich machen und der möglicherweise unangenehmen Wut der Einwohner auf den Schuldigen entgehen. Ihr seid ein Feigling, Karsrick. Wenn man anfängt, Angst vor den Reaktionen der eigenen Bevölkerung zu haben, und nicht hinter den Entscheidungen steht, die man selbst gefällt hat, besitzt man in den Augen der Untertanen und derer, die zusammen mit einem selbst die Regierung bilden, keine Glaubwürdigkeit als Führer mehr.« Er hob einige Schraubenschlüssel von einem Haufen auf und warf sie in den Wagen. »Er hat Recht, Ihrman«, sagte Ashe. »Dankt dem König und lasst ihn ziehen.« »Ich schätze die Ironie Eurer Einladung«, sagte Achmed und gab den Bolg-Soldaten das Zeichen, den letzten Wagen, in dem das Bohrgestänge lag, in Bewegung zu setzen. »Erst wolltet Ihr nicht, dass wir kommen, und jetzt wollt Ihr nicht, dass wir gehen. Wie anrührend.« »Mein Herr ...«, protestierte Karsrick. »Lasst die Rechnung sofort erstellen. Ich erwarte, in der nächsten Stunde bezahlt zu werden«, sagte Achmed zu dem Herzog und erstickte seine Entgegnung mit einem bloßen Blick. »Und vergewissert Euch, dass die gemahlenen Mineralien – Mangan, Eisen, Kobalt und Kupfer – hierher gebracht werden, damit wir sie ebenfalls einpacken können.« Karsrick schluckte. Er gab seinem Gehilfen ein Zeichen und verließ den Platz. »Vielen Dank für alles«, sagte Rhapsody durch den wachsenden Lärm, als ein Dutzend Firbolg-Arbeiter in das Zelt traten. Sie ergriff Achmeds Hand, als Ashe und Grunthor die Zeltklappe beiseite hielten. »Es tut mir Leid, dass du keinen Bleiglaskünstler finden konntest, aber ich danke dir sehr dafür, dass du das hier für mich getan hast.« Achmed und einer der Soldaten öffneten die Türen des Wagens. »Noch einmal: du überschätzt deinen Einfluss auf mich«, sagte er trocken. »Karsrick bezahlt mich gut, ob er mit unserer Arbeit zufrieden ist oder nicht. Und er gibt uns eine Steuerverzichtserklärung, welche die zehn Jahre überschreitet, die du vor vier Jahren mit Roland ausgemacht hast. Wenn seine Kreditpapiere nicht mit der nächsten Postkarawane in Ylorc eintreffen, werde ich jeden Handel mit ihm einstellen, bis er sich eines Besseren besinnt.« Die ersten beiden Bolg-Soldaten traten mit der blau-schwarzen Bohrspitze in den Händen aus dem Zelt hervor, vier weitere Männer folgten ihnen. Achmed leitete sie hinüber zu dem wartenden Wagen. Er hob die Stimme, damit man ihn besser hören konnte. »Wer weiß? Wenn sie die Rechnung nicht bezahlen, werden wir vielleicht einen Angriff führen und die Vorratsschränke des Kessels mit ein paar Einwohnern von Yarim Paar auffüllen.« Rhapsodys Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Warum tust du das?«, fragte sie verärgert. »Was?« »Warum sagst du Dinge, die du nicht ernst meinst? Willst du einfach nur unausstehlich sein? Flöße den Leuten nicht unnütz Angst vor den Bolg ein.« Der Bolg-König schaute zu, wie der gewaltige Bohrer in den Wagen geladen und für die Reise in schweres Leinen eingeschlagen wurde. Das geschah nicht zum Schutz des Bohrers, sondern zum Schutz des Wagens. Dann drehte er sich wieder um und lächelte Rhapsody schwach zu. »Wer sagt denn, dass ich es nicht ernst meine?« »Ich. Hör auf damit. Ich kenne dich schon seit eintausendvierhundert Jahren, von denen ich alle bis auf vier mit Grunthor und dir allein in der Dunkelheit verbracht und täglich dem Tod ins Auge gesehen habe. Ich weiß, wann du die Menschen täuschst, und ich weiß, wann du meinst, was du sagst. Und das ist jetzt nicht der Fall.« Der Bolg-König machte ein ernstes Gesicht. Er ergriff Rhapsodys Arm und führte sie an eine geschützte Stelle innerhalb des Zeltes, fort von den Schaulustigen und dem Lärm der Bolg, die die Ausrüstung hinausschafften. Er schaute ihr ins Gesicht, seufzte und wandte den Blick ab. »Du hast mich einmal gefragt, ob ich will, dass die Bolg von der Welt als Menschen oder als Ungeheuer angesehen werden. Erinnerst du dich?« »Ja«, entgegnete Rhapsody. »Daran erinnere ich mich sehr gut. Du hattest dich für die Menschen entschieden – allerdings für ungeheure Menschen.« Achmed nickte zustimmend. »Das habe ich, und das sind wir: sowohl Menschen als auch Ungeheuer. Doch so sehr du auch darum kämpfst, Rhapsody, dass die Menschen uns als ihresgleichen annehmen, ist es vielleicht das Ungeheuer in uns, das sich am Ende als ihr zuverlässigster Verbündeter erweisen wird.« Rhapsody fuhr zusammen, als am anderen Ende des Zeltes plötzlich eine Wagentür zugeschlagen wurde. »Warum?« »Erinnerst du dich an die Albträume deiner Kindheit?« »Ja.« Rhapsodys Mundwinkel zuckten in einem zaghaften Lächeln, das sofort wieder verschwand. Achmed hatte ihr Lächeln nicht erwidert. »Weil Ungeheuer nie schlafen?« Achmed nickte nur. Sie sagte: »Welche Enttäuschungen dieses Unternehmen auch gebracht haben mag – die Entudenin ist noch trocken, und außerdem hast du deinen Bleiglaskünstler nicht gefunden -, ist es vielleicht doch zu einem besseren Verständnis zwischen den Menschen und den Firbolg gekommen. Das allein war die Mühen wert.« Achmed schüttelte den Kopf. »Vielleicht, auch wenn ich nicht sagen würde, dass die Meinungen der Firbolg über die Menschen besser geworden sind. Und es wird Monate dauern, bis dieser verfluchte rote Staub abgewaschen ist.« Rhapsody verspürte wieder den Drang zu lächeln und gab ihm nach. »Mit gutem Grund. Aber wenigstens hat es ein paar Erkenntnisse auf der yarimesischen Seite gegeben; möglicherweise wird sich das auch auf andere Menschen erstrecken.« »Vielleicht. Aber meinen Erfahrungen nach hat jede Erkenntnis nur eine sehr kurze Lebensspanne. Sie neigt nicht dazu zu wachsen, sondern eher zu schrumpfen. Willst du Grunthor Lebewohl sagen, bevor wir gehen?« »Natürlich. Vielleicht möchte er ja noch ein paar Tage hier bleiben, sich etwas ausruhen und seine Vorräte auffüllen, nachdem du und die Bolg abgereist seid.« »Gern, wenn er damit einverstanden ist. In diesem Fall habe ich nur noch eine einzige Bitte an dich.« Rhapsody trat tiefer in den Schatten des Zeltes. »Ja?« »Wenn ich den Lichtfänger zusammengebaut habe und glaube, die Zeit ist reif, ihn auszuprobieren, oder wenn ich der Meinung bin, ich brauche deine Hilfe bei der Auswertung, wirst du dann kommen?« Rhapsody sog tief die Luft ein. »Weißt du, mir ist unwohl bei deinem Projekt. Ich glaube, du solltest vorsichtiger mit einer Kraft umgehen, die du nicht verstehst.« Achmed nickte knapp. »Ja, du hast Recht, aber du solltest wissen, dass ich nichts im Leben auf die leichte Schulter nehme. Daher glaube mir bitte, dass ich solche Dinge nie einsetzen werde, wenn es nicht zwingend notwendig ist.« »Ja«, meinte Rhapsody rasch. Sie streckte die Arme aus, zog ihn an sich und umarmte ihn heftig. »Wann immer du mich brauchst, komme ich.« Sie küsste ihn auf die Wange und drückte ihn noch fester. »Ich wünsche euch eine gute Reise. Und gönne dir ein wenig Freude, Achmed. Ich weiß, dass du sie erst dann haben wirst, wenn du sie fest in dein Leben einplanst.« Achmed kicherte und erwiderte die Umarmung. Als die Bolg abreisten, war der Lärm der Einwohner zu einer wahren Kakophonie geworden. Eine weitere Division des yarimesischen Heeres musste eingesetzt werden, um den Korridor durch die Straßen aufrechtzuerhalten. Die Bolg ritten aus dem Zelt hinaus, ohne einen Blick zurückzuwerfen, und ließen den Herrn und die Herrin der Cymrer sowie den Herzog und den riesigen Sergeant-Major hinter sich. Bald nachdem die Bolg außer Sichtweite waren, lief ein Murmeln durch die Menge, das von immer mehr Stimmen aufgenommen wurde, bis es in den Straßen widerhallte: »Reißt das Zelt ein!« »Wo ist das Wasser?« »Zeigt uns die Entudenin!« »Wasser! Gebt uns Wasser!« Ihrman Karsrick erbebte. Er wandte sich in Furcht und Wut an das Herrscherpaar. »Genau das hatte ich befürchtet«, zischte er. »Sie werden uns die Glieder einzeln aus dem Leib reißen.« »Macht Euch nicht lächerlich, Ihrman«, sagte Ashe gereizt. »Haltet eine Rede. Sagt ihnen, wir hoffen, dass das Wasser innerhalb eines Mondzyklus zurückkehren wird, und sie deshalb noch etwas Geduld haben müssen.« »Das werde ich nicht tun«, gab der Herzog zurück. »Ich bin nicht sicher, dass es wieder fließen wird, und möchte nicht als noch größerer Narr dastehen, als ich es in ihren Augen jetzt schon bin, weil ich die Bolg nach Yarim geholt habe.« »Das Leben steckt voller Unsicherheiten, Ihrman«, sagte Rhapsody. »Sie haben nichts verloren, falls das Wasser nicht zurückkehrt.« »Ihr seid herzlich eingeladen, es ihnen selbst zu sagen, Herrin.« Rhapsody seufzte und wandte sich an Ashe. »Vielleicht sollte ich das wirklich tun.« Ihr Gemahl dachte kurz nach und nickte schließlich. Sie drückte seine Hand und kletterte vor dem Arbeitszelt auf die höchste Stelle in der Steinmauer um den Brunnen. Ashe beugte sich zu Karsrick hinüber, als sie ihren Platz erreicht hatte und sich aufrichtete. »Schaut ihr zu und lernt von einer Meisterin«, sagte er. Rhapsody schloss die Augen und stimmte einen sanften Gesang an. Sie setzte ihre Fähigkeiten als Benennerin ein und webte die Worte in ihr Lied, die sie auf dem Marktplatz hörte und fühlte. Wieder und wieder, mit wachsender Lautstärke, sprach sie den wahren Namen der Stille aus, bis der Lärm auf dem Platz verebbte. Sie öffnete die Augen und betrachtete die Leute mit einem direkten, ruhigen Blick. »Mit-Orlandier, Leute von Yarim, der Firbolg-König und seine Handwerker haben ihre Arbeit hier beendet. Sie haben die Bohrungen in Übereinstimmung mit der Mondphase eingestellt, weil der Zyklus der Entudenin zu ihren Lebzeiten dem des Mondes folgte. Ob das Wasser in die Entudenin und nach Yarim Paar zurückkommen wird, liegt nun in den Händen des All-Gottes. Wenn es kommt, ist die Trockenheit abgewendet, und das Leben wird einfacher und besser. Wenn nicht, wird es euch nicht schlechter ergehen als vor der Ankunft der Bolg. Wir müssen den Ratschluss des Schöpfers und der Erde abwarten. Bis dahin sollten wir uns in Geduld üben.« Ihre Stimme klang melodisch und klar, und ihr Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen. Ashe lächelte. Sie nutzte ihre Gabe des Wahrsprechens, um den ungestümen Mob anzusprechen, und sie war erfolgreich. Die Menge war verzaubert und beruhigte sich. Die Musik und die tiefe Schönheit des Feuers, das in ihr brannte, lullte die Menge ein. Die Musik in Rhapsodys Stimme veränderte sich. Nun wob sie einen Vorschlag in ihr Wahrsprechen. »Geht in eure Häuser oder an eure Arbeit zurück. Wenn der Quellfels erwacht, werdet ihr es nicht verpassen. Aber eure Wagen stehen verlassen auf der Straße, eure Herde sind erkaltet und eure Häuser vernachlässigt, während ihr hier auf etwas wartet, das vielleicht noch lange nicht kommt.« Die Menge stand weiterhin still da und nahm die Magie in ihren Worten auf, dann zerstreute sie sich allmählich. Rhapsody kletterte die niedrige Steinmauer herunter und ergriff Grunthors Arm. »Geh mit uns zum Gerichtsgebäude«, sagte sie freundlich und lächelte ihren Freund an. »Der Herzog wird dafür sorgen, dass du zum Abendessen das Beste bekommst, was die Küche zu bieten hat – damit meine ich aber nicht die Küchenjungen.« »Oooch.« Der Riese erhaschte aus den Augenwinkeln einen Blick auf das Gesicht des Herzogs und setzte ein breites Grinsen auf. »Das wäre fein, Herzogin. Vielleicht krieg ich sogar ’ne Palastführung.« Ganz vorn in der Menge, nahe dem Seilkorridor, hatte eine Frau in der fließenden, blassblauen Robe der Shanouin-Priesterinnen gestanden und jede Bewegung der Bolg beobachtet, während sie ihre Ausrüstung zusammenpackten und die Wagen zur Abreise bereitmachten. Viele andere Zuschauer waren bereits fortgegangen und wandten sich fröhlichen Lustbarkeiten zu, doch sie war in der vordersten Reihe geblieben und hatte wegen ihrer kleinen Statur um gute Sicht kämpfen müssen. Als der Stahlbohrer herausgebracht und für die Reise eingewickelt worden war, war sie näher herangekommen und hatte sich zwischen die yarimesischen Soldaten gequetscht, um besser sehen zu können. Die Soldaten, die von Gesetzes wegen verpflichtet waren, die Shanouin zu schützen, warfen ihr zwar böse Blicke zu, trieben sie aber nicht zurück in die Menge, wie sie es mit jemandem gemacht hätten, der keine Wasserpriesterin war. Als die Bolg schließlich abreisten, folgte sie ihnen zusammen mit den meisten Zuschauern zum Stadtrand und sah ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren. Doch während die anderen Einwohner auf den Platz zurückkehrten und den Worten ihres Herzogs lauschten, war sie bis zu den äußeren, felsigen Gebieten von Yarim Paar weitergegangen und betrachtete die Wagen und Pferde, bis sie vom fernen Horizont verschluckt wurden. Sie griff zwischen die Falten ihrer Robe und holte die Cwellanscheibe hervor; sie fing das Licht der Sonne ein und glänzte wie ein Leuchtfeuer. Die Priesterin hielt die Scheibe noch etwas länger vor die glänzenden schwarzen Augen und steckte sie dann zurück in die lange Robe. Schließlich stürzte sie sich in das freudige Getümmel, das einsetzte, als die Stadt nach dem Abzug der Bolg in den roten Straßen wieder Atem holte. 16 Der Palast in Jierna Tal — Sorbold Die Abendlampen waren gelöscht worden. Die nächtlichen Kegel aus stechendem Weihrauch und süßem Sandelholz brannten in ihren goldenen Gefäßen entlang der Korridore vor dem höhlenartigen Schlafgemach der Kaiserinwitwe nieder, während die Nacht auf einer warmen, feuchten Brise still herbeikroch. Die schweren Seidendamastvorhänge vor dem offenen Fenster knisterten leise im Wind. In ihrem prunkvollen Zimmer beobachtete Ihre Durchlaucht Leitha, Kaiserinwitwe und Tochter von Verlitz, dem Vierten Kaiser der Dunklen Erde, den Nachthimmel von den Seidenkissen ihres gewaltigen Bettes aus, so wie sie es jeden Abend zu tun pflegte. Der Vollmond erhellte den grauen, mit sichtbaren Wolken und verstreuten Sternen angefüllten Himmel so stark wie die Mittagssonne. Es war ein seltsamer und in seiner Klarheit erhabener Anblick. Vor dem Schlafgemach gingen die Palastdiener still der Vollendung ihrer täglichen Aufgaben nach. Sie zauberten die Kleider der Kaiserin fort, damit sie gewaschen und gebügelt werden konnten; sie warfen die noch frischen Blumen in Dutzenden von Porzellanvasen fort, damit Ihre Durchlaucht am Morgen von neuen Blüten erfreut wurde; sie schafften die Tabletts mit den Überresten des Abendessens weg – für eine kleine, verhutzelte Frau, die kaum mehr als eine Feder wog, hatte die Kaiserin einen Appetit, der selbst einen Seemann oder einen Gladiator beschämt hätte – und klopften den Wüstensand aus den dicken, dicht gewobenen Teppichen und Gobelins, die an den hohen Korridorwänden hingen. Einige Korridore entfernt spielte ein Violinquartett süße Musik. Sie erklang so gedämpft, dass sie die Kaiserin nicht störte, während sie in den Schlaf gewiegt wurde. Trotz der Vorsicht, mit der sich die Diener bewegten, hörte die Kaiserin sie. Das war der Fluch ihrer Herrschaft. Der Palast von Jierna Tal mit seinen hohen Türmen und dicken Mauern, Befestigungen und Verteidigungsanlagen stand schon so lange unter ihrer Herrschaft und der von vielen Generationen ihrer Vorfahren, welche die Krone an sie weitergereicht hatten, dass er Teil ihres Bewusstseins geworden war, so wie alles, was sich im Reich Sorbold zutrug. Sie bemerkte sogar die Ablösung der Wache, deren ausschließliche Pflicht es war, die Festung vor allen Störungen zu bewahren. Sie seufzte verärgert und zog sich die schimmernde Decke bis zum faltigen Hals. »Guten Abend, Euer Durchlaucht. Ich hoffe, Ihr ruht wohl.« Die forsche und ferne Stimme kam aus der Dunkelheit selbst. Die Kaiserin setzte sich erschrocken auf – oder sie versuchte es wenigstens. Statt ihrer gewöhnlich leichten Bewegungen war es ihr diesmal nur noch möglich, den Rücken zu straffen. Die Arme lagen nutzlos an den Seiten, die vom Alter gefleckten und verkrümmten Hände ruhten reglos am glatten Rand der dicken Decke. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch der Kiefer war steif und unmöglich zu öffnen. Ein leises, violettes Glimmern neben dem Fenster zog ihren Blick an. Kurz darauf hatte es die Dunkelheit verschluckt. In den Schatten erschien die Gestalt eines Mannes vor dem hellen Licht des Vollmonds. Zuerst erkannte die Kaiserin ihn nicht. Er hatte dasselbe schwerfällige, dunkle und bärtige Gesicht wie die meisten ihrer Untertanen, doch in den Augen lag ein Leuchten, das sie nie zuvor gesehen hatte. Sie spürte Kälte durch ihren Körper fließen, doch sie zitterte oder bebte nicht. Sie lag bloß totenstill da. Die Gestalt näherte sich ihrer Bettstatt, blieb kurz stehen, um die reich beschnitzten Pfosten aus Mahagoni zu betrachten, und setzte sich schließlich neben sie auf die Federmatratze. Sein Körper hinterließ keinen Abdruck in der bauschigen Decke; es war, als habe er weder Masse noch Gewicht. Der Mann neigte sich vor und hüllte die Kaiserin sanft in die Decke, wobei er viel Mühe darauf verwandte, die seidigen Laken unter ihren reglosen Armen zu glätten. Dann lehnte er sich zurück, legte den Kopf schräg und betrachtete sie, als wäre sie ein Kunstgegenstand oder ein bemerkenswertes Tier in einer Menagerie. Als er schließlich sprach, war seine Stimme sanft und so warm wie der Wüstenwind. »Falls es Euch interessiert – die Glocken, die Ihr bald hören werdet, rufen die kaiserlichen Heiler an das Bett Eures nutzlosen Sohnes, des Kronprinzen.« Die Kaiserin riss die Augen weit auf. Es war die einzige Bewegung, zu der sie noch fähig war. Der Schattenmann kicherte still. »Ja, es stimmt. Euer blonder, bleichgesichtiger Junge ist tot. Aber verzweifelt nicht, Ihr werdet ihm unverzüglich in die Gruft der Unterwelt folgen; also braucht Ihr nicht vorzugeben, um ihn zu trauern. Ich weiß, dass Ihr ihn genauso verachtet wie der Rest der sorboldischen Bevölkerung.« Die Kaiserin blinzelte rasch... ihr Atem ging flach und rasselnd. Die Gestalt bewegte sich leicht. Ein Mondstrahl vom Balkonfenster fing sie ein. In diesem Licht sah die Kaiserin, dass er durchsichtig war. Die Farben seiner Robe schimmerten, als das Mondlicht durch sie fuhr – und durch seine Haut, seine Haare und sein Gesicht. Nun erkannte sie ihn. Ihr Herz raste schmerzhaft und hämmerte laut in Brust und Ohren. Der durchsichtige Mann bemerkte ihr Entsetzen und klopfte ihr freundlich auf die steifen Hände. »Beruhigt Euch, Kaiserin. Dies ist für uns beide eine bedeutsame Erfahrung. Euer Sohn, nun, das war wirklich bedauerlich und kaum beeindruckend. Ich habe ihm das Geburtsrecht sowie seine geringe Autorität und sein Wissen ohne eine Spur von Kampf genommen. Im Sterben war er genauso enttäuschend wie im Leben. Aber Ihr, Leitha – wenn ich Euch so anreden darf -, seid eine Löwin, nicht wahr? Eure schuppenartige Klaue hat selbst die Zeit angehalten, als der Tod Euch schon vor Jahrzehnten holen wollte. Durch schieren Willen habt Ihr am Thron von Sorbold und an Eurem Leben festgehalten und Eure Entschlossenheit auf das Großartigste unter Beweis gestellt. Ich freue mich darauf, diese Probe zu wiederholen.« Der kleine, verschrumpelte Körper der Kaiserin erbebte heftig, doch jetzt war es eher Wut als Angst. Der Mann erkannte die Veränderung in ihren Augen und lächelte breit. »Viel besser! Wappnet Eure Seele, Kaiserin. Ich bin gekommen, um sie zu holen.« Der Mann ließ die Hand der Kaiserin los und stand von dem Bett auf. Er holte ein leuchtendes, purpurnes Oval aus der Tasche. Es war die Schuppe, die er vor so langer Zeit in dem Wrack des cymrischen Schiffes gefunden hatte. Sie erglühte im Licht des Mondes, und die Runen leuchteten aus eigener Kraft. Er starrte seine Beute lange an, ergriff dann die Seidendecke am unteren Ende des Bettes und zog sie von den Füßen der Kaiserinwitwe, die in weißen, leinenen Bettschuhen steckten. Er hob einen Fuß an, zog den Schuh aus und nahm den Fuß in die Hand. Die Kaiserin erzitterte. »Ah. Das ist der Fuß, der so lange auf dem Genick des Volkes gestanden hat. Erstaunlich klein bei dieser zerschmetternden Gewalt«, sann er und fuhr mit dem Finger sanft über die dicken gelben Schwielen, die seilartigen, rosigen Adern und die trockene, vor Alter pergamentweiße Haut. Er hielt der Kaiserin die Schuppe vor die Augen. Seine eigenen leuchteten so hell wie die Runen. »Dies, Kaiserin, ist ein Neuanfang. Eine ganze Dynastie verschwindet vor Euren Augen. Das göttliche Recht der Könige, das Euer Vorfahr vor drei Jahrhunderten für sich beanspruchte, vergeht nun wie das Licht einer sterbenden Fackel und muss einem neuen, stärkeren Lodern weichen, das genügend Brennstoff besitzt, um vor allen Nationen zu scheinen.« Das Glimmen in seinen Augen wurde grausam. Er packte den Absatz der Kaiserin mit einem brutalen Griff und drückte ihn wie mit einer Eisenklaue. Die alte Frau kreischte innerlich auf. Sie konnte den Mund noch immer nicht öffnen, und ihre Kehle war gelähmt und vermochte keinen Laut hervorzubringen. Die schimmernden Lichtwellen, die von der Schuppe in seine Hand flössen, pulsierten kurz und leuchteten dann noch heller. Aus dem Absatz der Kaiserin trat ein dünnes Lichtrinnsal aus, zerfasert wie ein staubiger Sonnenstrahl. Er schwebte einen Moment lang gestaltlos in der Luft und schoss plötzlich in die Schuppe hinein. Der durchscheinende Mann legte den Kopf zurück. Seine Schultern zuckten heftig, während ein Ausdruck der Freude über sein Gesicht kroch. Bald richtete er sich wieder auf und sah hinunter auf die zuckende alte Frau. Er ließ ihren Fuß los, der mit einem hässlichen dumpfen Laut auf das Bett zurückfiel. Die Ferse war hohl und ausgetrocknet; puderige Haut hing lose an den Knochen herab. Seine Augen funkelten, als er mit den Fingern über das Bein der Kaiserinwitwe strich und die schrumpelige Haut betastete, die nur wenige Stunden zuvor mit einem Balsam aus kostbaren Ölen und Ambra eingerieben worden war. »Dieses Knie, das sich nie in Demut gebeugt hat, nicht einmal vor dem All-Gott – wie viel Stärke hat darin gewohnt. Gib es mir, denn jetzt ist es mein.« Mit einem abscheulichen Geräusch zerfiel die Kniescheibe unter seinem Griff und entsandte einen Lichtstrahl, der stärker als der erste war, in die Schuppe und die Hand des Mannes, der sie hielt. Sein ganzer Körper zuckte nach vorn, als der Kraftstrom durch ihn floss. Seine Muskeln zogen sich zusammen, das Herz hämmerte, während das Blut durch ihn pulsierte. Er rötete sich, schwoll an, wurde fester. Es war ein so wunderbares Gefühl, dass er kaum mehr die Schmerzen der Kaiserinwitwe beobachten musste, um seinen Genuss zu vervollkommnen. Er schloss die Augen. Sein Verstand schwamm im neuen Meer der Macht, die ihn umspülte. Dieses Gefühl war in all seiner Süße schon beinahe schmerzhaft. In fernen Gedanken hörte er seine eigene Schwäche, sah seine andauernden Fehlschläge. Alles verschmolz im Rauschen des göttlichen Rechts, das in ihn eindrang, ihn ausfüllte, ihn ganz machte. Der heftige Stoß eines kleinen, harten Fußes gegen seine Genitalien riss ihn ins Bewusstsein zurück. Alle Pracht verschwand und wurde sogleich durch eine Kälte ersetzt, unter der er bis zum Hals gefror und die Übelkeit in ihm erregte. Sein Blick verschwamm kurz; als er wieder klar sehen konnte, bemerkte er, dass die alte Vettel ihn anstarrte. Die steifen Muskeln in ihrem Gesicht kämpften darum, das triumphierende Grinsen aufzunehmen, das klar und ungehemmt in ihren Augen leuchtete und aus dem Ringen mit den Schmerzen, die sie in eisernem Griff hielten, als Sieger hervorging. Eine unbändige Wut schoss aus den Tiefen seines Wesens hervor, die plötzlich von einer neuen, hochherzigen Regung erstickt wurde – von einem Gefühl belustigten Mitleids, das in seinem Mund einen wunderbar reichen Geschmack hinterließ. Es war neu hinzugewonnene Würde. Nachdem er wieder Atem holen konnte, lächelte der Mann, ohne die geringste Spur von Schmerz zu zeigen. »Gut getroffen, Euer Durchlaucht. Ich sehe, dass ich Recht hatte, als ich vorhersagte, es werde ein vergnüglicher Kampf.« Er packte das Nachthemd der Kaiserin und zog es bis zum Hals herauf, sodass ihr Körper nackt vor seinen Augen lag. Ohne ein Anzeichen von Ekel liebkoste er ihr hängendes Fleisch und beobachtete eingehend den Ausdruck des Grauens und der Erniedrigung in ihrem Blick. Er trank ihre Gefühle und lächelte breit. »Diese Brüste haben nie Milch gegeben, nie Leben geschenkt und keinerlei Lust verspürt. Leider ist hier keine Kraft zu ernten. Ihr fühlt sowieso nicht mehr viel, Kaiserin, oder? Ihr seid vom Hals ab doch Euer ganzes Leben lang tot gewesen.« Als er sein Spiel mit ihr schließlich beendet hatte, glitt er mit den Fingern an ihrem Arm hoch, bis er die Hand erreichte. Die arthritischen Gelenke waren geschwollen und vom Alter geweitet. Er beugte sich über sie, führte ihre Hand an die Lippen und drückte ihr einen Kuss auf. »Dies ist die Hand, die die Armlehne des Sonnenthrones gepackt hielt und die Zepter und Schwert allzu lange gehalten hat«, psalmodierte er. »Die Waage hat nun zu meinen Gunsten ausgeschlagen, Euer Durchlaucht. Es ist Zeit für Euch, den Griff zu lockern.« Er drehte ihre Hand um und liebkoste den Ring an ihrem Mittelfinger. Es war ein großer, ovaler, leuchtend schwarzer Hämatit, eingefasst mit blutroten Rubinen aus den Minen der östlichen Berge Sorbolds. Es war der Staatsring, den schon ihr Vater getragen hatte, und vor ihm sein Vater, Großvater und Urgroßvater. Vorsichtig schob er ihn über den angeschwollenen Knöchel und steckte ihn sich an die eigene Hand. Er hielt ihn dem Mondlicht entgegen. Der Hämatit leuchtete noch stärker, und die Rubine funkelten wie dunkles Feuer. Er drehte sich um und hielt die Hand dicht vor ihre Augen. Die sengende Wut in ihnen beachtete er nicht. »Gefällt es Euch, wie er an meiner Hand aussieht?« Er bewunderte den Ring noch eine kleine Weile, dann seufzte er und nahm ihn ab. »Doch leider muss ich warten, bis ich als rechtmäßiger Herrscher eingesetzt werde.« Er beugte sich über die Kaiserin und steckte ihr den Ring wieder an den Finger. Dabei kicherte er zunächst unterdrückt, brach aber schließlich in lautes Lachen aus. Die steife Hand der Herrscherin war in einer obszönen Geste erstarrt. »Nochmals bravo, Durchlaucht. Das war wiederum sehr vergnüglich.« Schließlich war der Ring wieder an seinem alten Platz. Grob packte er die verschrumpelte Hand, zog wie schon zuvor die Kraft heraus und leitete sie in die Schuppe, bis das Fleisch nur noch lose an den Knochen herabhing. Ein feierlicher Ausdruck legte sich über sein dunkles Gesicht. Er kniete nieder und lehnte sich gegen das Bett. Ihre Blicke hatten sich ineinander verkrallt. Angesichts dessen, was sie in den Augen des Mannes sah, nahm die Widerspenstigkeit der Kaiserin ab. Der Mann fuhr mit den Fingern an ihrem Kopf entlang und beschrieb einen Kreis um die Locken aus dünnem weißem Haar an ihren Schläfen. »Dieses Haupt trug die Krone Sorbolds, das goldene Zeichen der Staatsgewalt und Herrschaft«, sagte er leise; seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Dieser Schädel bewahrt viele Geheimnisse, die ihm von den Monarchen der Vergangenheit zugeflüstert wurden – Weisheit, die durch die Jahrhunderte von Herrscher zu Herrscher in einer ununterbrochenen Linie weitergegeben wurde.« Das Glänzen in seinen Augen wurde sanfter, als der alten Frau die Tränen in die Augen stiegen, und seine Stimme wurde noch leiser. »Diese Geheimnisse und diese Weisheit gehören nun mir, Kaiserin«, sagte er und nickte langsam, als ob er sie besänftigen müsste. Unter großen Anstrengungen drehte die Kaiserinwitwe den Kopf weg. Der Mann erhob sich, nahm aber die Hand nicht fort. Der sanfte Ausdruck in seinen Augen verhärtete sich, als er den zerbrechlichen Schädel bei den Schläfen packte. Er hielt die Schuppe noch einmal hoch. Die Runen glühten heftig und hell. »Bitte grüßt Kronprinz Vyshla ganz herzlich von mir, wenn Ihr ihn innerhalb der nächsten Augenblicke seht«, sagte der Mann. »Wie gut, dass Ihr Euer ganzes Leben in Sorbold verbracht habt, Durchlaucht. Das Klima hier sollte Euch gut auf das vorbereitet haben, was Euch nun bevorsteht.« Mit einer plötzlichen Anspannung der Muskeln und des Willens packten seine Finger den oberen Teil des kleinen Schädels und drückten unbarmherzig zu. Eine lodernd helle Lichtschnur trat aus dem Fleisch des Kopfes genau dort aus, wo die Krone gesessen hatte. Als hätte sie eigenes Leben, sprang sie zu einem leuchtenden Bogen auf und schoss in die violette Schuppe, wobei sie das verzerrte Gesicht der Frau beschien. Es war ein Ausbruch an Helligkeit, in dem sich gewaltige, immer wieder erneuernde Wellen aus farbigem Licht über den ausgefransten Rand der Schale ergossen. Der Mann zuckte heftig und orgiastisch, während ein harscher Laut aus seiner Kehle drang. Der Körper versteifte sich und wurde undurchsichtiger. Ein Gefühl von Macht und Gewalt suchte ihn heim und wärmte ihn. Er schüttelte sich und versuchte, die Haltung zu bewahren. Dabei fiel er auf ein Knie. Die Oberherrschaft über das Land, seine Schätze und Bewohner überwältigte ihn. Er wusste nicht, wie lange er gekniet und um Atem und Gleichgewicht gerungen hatte. Als die Beine das Körpergewicht schließlich wieder tragen konnten, stand er auf und schaute auf das königliche Bett hinunter. Die Kaiserin der Dunklen Erde war grau und kalt; sie hatte die Farbe von Lehm angenommen. Ihr Körper zitterte nicht mehr, und die Brust zeigte nur noch winzige Anzeichen von Atmung. Alle Farbe auf Haut, Haaren und Augen war verblasst und hatte sie bleich und farblos zurückgelassen. Nicht einmal eine Spur von Widerstand war in ihrem glasigen Starren verblieben, doch ihre Skeletthand hielt noch immer den Staatsring im Todesgriff umfasst. Der Mann seufzte tief, während seine Belustigung zurückkehrte. Man würde den Ring ihren toten Fingern entreißen müssen. Wie passend. Er beugte sich über den Körper der sterbenden Kaiserin und küsste sanft die kalte, papierne Stirnhaut. »Vielen Dank, Durchlaucht«, flüsterte er. Dann trat er zurück in den einhüllenden Glanz des Mondlichts, das ihn vor den schweren Damastvorhängen im kaiserlichen Schlafgemach wieder durchscheinend machte. So wartete er unsichtbar, bis die Glocken in der Halle wie rasend schlugen, und sah zu, wie sich ein Ausdruck des Verstehens in das Starren der alten Frau schlich. In den letzten Augenblicken ihres schwindenden Bewusstseins hörte die Kaiserin die geflüsterten Worte auf der anderen Seite der schweren Mahagonitür, die von einer Tränenerstickten Stimme gesprochen wurden. »Sollen wir sie wecken?« Es folgte eine lange Stille, die schließlich von den letzten Worten durchbrochen wurde, welche die Kaiserin je hören sollte. »Nein, sie soll schlafen. Der Morgen kommt früh genug. Geben wir ihr wenigstens noch eine Nacht des Friedens, bevor wir ihr sagen, dass ihr Sohn verstorben ist.« 17 Gastgemächer im Gerichtsgebäude — Yarim Paar »Komm herunter vom Balkon, Aria.« Rhapsody schaute über die Schulter und lächelte. »Ich warte auf die Abenddämmerung, damit ich meine Gebete singen kann«, sagte sie und wandte sich wieder dem Anblick des beinahe leeren Platzes und der trockenen Felsformation in seiner Mitte zu. Die fünf Tage, die Achmeds Meinung zufolge noch verstreichen mussten, bevor das Wasser zurückkehrte, waren gekommen und gegangen. Grunthor war noch drei weitere Tage geblieben, bis der Mond voll war, und brach dann kopfschüttelnd zur canderianischen Grenze auf. »Keine Ahnung, was es zurückhält«, murmelte er, als er auf Felssturz, sein Reitpferd, stieg. »Sollte schon längst da sein.« »Sei vorsichtig, wenn du allein an den Minenlagern im Westen vorbeireitest«, sagte Rhapsody und reichte ihm ein Halstuch mit einem Knoten darin. »Das ist eine ziemlich raue Gegend.« »Oh, ich erbebe.« Rhapsody lachte. »Sei jedenfalls vorsichtig. Sobald du in die Nähe der Grenze kommst, wird es besser. Die Leute in Canderre sind für gewöhnlich freundlich; und es gibt viele Gehöfte im östlichen Teil der Provinz. Die Gegend erinnert mich an meine Heimat.« Grunthor streckte die Arme nach unten aus und streichelte ihre kleine Wange mit seiner gewaltigen Pranke. »Pass auf dich auf, Prinzesschen, und mach dich nicht so rar bei uns. Komm mal wieder nach Ylorc. Vermisst du denn nicht Elysian?« Rhapsody seufzte tief bei der Erwähnung des unterirdischen Hauses in den Bolglanden, wo sie und Ashe sich ineinander verliebt hatten. Es war ein Zufluchtsort für sie beide gewesen, ein Platz fern von der Welt und ihren Sorgen. »Ja, mehr als ich sagen kann. Aber ich vermisse es nicht so sehr wie die Leute von Ylorc. Ich werde euch so bald wie möglich besuchen, Grunthor. Ich kann bloß noch nicht sagen, wann das sein wird. Einige Dinge erfordern meine Anwesenheit in Haguefort.« »In Ordnung. Na, dann mach es mal gut. Benimm dich.« »Ich verspreche nichts.« »Gib der kleinen Nelly ’nen Kuss von mir. Und grüß meinen Kumpel, den jungen Herzog von Navarne. Sag ihm, wenn wir uns das nächste Mal sehen, zeig ich ihm, wie man sich die Zähne mit Feindeshaar sauber macht. Geht natürlich auch mit dem eigenen, aber mit dem von Feinden macht’s mehr Spaß.« »Ich werde es ihm sagen.« Rhapsody biss die Zähne zusammen, um die Trauer über Grunthors Abreise zu vertreiben. Es schmerzte sie immer, wenn sie von ihm oder Achmed getrennt war, den beiden einzigen noch verbliebenen Leuten, die sie in ihrem damaligen Leben gekannt hatte. »Was ist das hier übrigens?« »Eine Erinnerung an Yarim, nur für dich, weil du so nett warst, keinen seiner Einwohner zu verspeisen. Auch wenn ich weiß, dass du stark in Versuchung geführt worden bist.« »Verdammt richtig«, kicherte Grunthor. »Das war ’ne reine Folter, wie sie immer auf dem Platz gestanden sind. War so, wie wenn man vor ’ner Bäckerei arbeitet und nie reingehen und mal kosten kann ...« Rhapsody stand noch immer auf dem Balkon und lächelte bei der Erinnerung an diesen Wortwechsel. Sie hoffte, dass Grunthor die kleinen Männer aus Ingwerbrot genossen hatte, die wie die yarimesischen Soldaten mit gehörnten Helmen geschmückt waren. Sie hatte einen kleinen Zettel beigelegt: Iss sie anstelle der Wachen. Sie war sicher, dass ihm der Scherz gefallen hatte. Die Tür schloss sich leise hinter ihr, und sie spürte, wie Ashes Schatten auf sie fiel. Er lauschte oft ihren Vespergesängen, dem Requiem, das die Liringlas für die Sonne sangen, wenn sie hinter den Rand der Welt sank, und sie begrüßten sie in der Morgendämmerung mit einer Aubade, einem Liebeslied an den Morgenhimmel. Er stand immer in respektvollem Schweigen hinter ihr, bis sie geendet hatte. Ashe hatte Lirinblut aus der Ahnenreihe seiner Mutter in den Adern, aber nicht von der Linie der Liringlas. Dennoch wurden alle Lirin Kinder des Himmels genannt; daher erschien es ihm passend, dass er ihre Huldigungen an Sonne, Mond und Sterne, die anderen Kinder des Himmels, teilte. Sie begann mit der Vesper, einer uralten Melodie in süßen Dur-Intervallen, die rasch zu Moll wurden, zu einem Lied von Trauer und täglichem Verlust, das wieder zu Dur umschwang und ein hoffnungsvolles Ende hatte, ein Faustpfand der Verehrung, das die Nacht über blieb und die Rückkehr der Sonne am Morgen begrüßte. Es war ein Lied, das in den Lirin-Familien von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurde. Rhapsodys Lirin-Mutter hatte ihr die Melodie beigebracht. Es war ein zwei Mal täglich stattfindendes Ritual, das ihr nun Trost in der Erinnerung brachte. Ihr menschlicher Vater hatte während der Gebete wie Ashe im Schatten gestanden und der schönen Stimme ihrer Mutter sowie ihren eigenen unbeholfenen Versuchen zugehört, das heilige Lied nachzuahmen. Ihre Brüder hatten der Lirin-Tradition keine Beachtung geschenkt und sich stattdessen im goldenen Licht der Morgensonne mit Feldarbeit abgegeben, womit sie im roten Licht des Abends noch immer beschäftigt waren. Eine Träne floss an ihrer Wange herab. Sie trocknete rasch im warmen Wind. Starke, beruhigend starke Arme umfingen sie. »Schön wie immer. Kommst du jetzt nach drinnen?« »Gleich.« Rhapsody zog seine Arme stärker um sich und legte den Kopf gegen seine Brust. Sie schloss die Augen und spürte den Wind auf dem Gesicht. Die Hitze des Tages nahm allmählich ab und wich der Kühle der herankommenden Nacht. Auch mit geschlossenen Augen wusste sie genau, wo der Abendstern am Himmel stand. Die Erinnerung an ihn brannte hell in der Dunkelheit, genau wie an die Menschen, an die sie soeben gedacht hatte, obwohl sie schon lange in das Reich des Nachlebens eingegangen waren. Ashe vergrub das Gesicht in ihrem Haar und sog tief die Luft ein. »Besorgt? Hast du etwas Beunruhigendes im Wind gespürt?« Rhapsody hielt die Augen geschlossen und lauschte eingehend. Der Wind war gedämpft und still. Er kam bisweilen in launischen Stößen und erstarb dann wieder zur reglosen Luft des Sommers, nur um im nächsten Moment erneut aufzufrischen. Sie konzentrierte sich und versuchte die Schwingungen zu erkennen, die er mitbrachte. Wie die Brise, in der sie auf dem windigen Hügel nahe Haguefort gestanden hatte, trug der Wind von Yarim ein Gefühl von Ankunft, von guten Vorzeichen mit sich. Irgendetwas kam. Doch im Gegensatz zu dem Übel, das sie in Navarne gespürt hatte, war dies hier ein sanftes Omen, der Vorbote von etwas Gutem. Eine Ahnung von Hoffnung, von Fröhlichkeit fuhr ihr durch die Haut und hinterließ ein prickelndes Gefühl. Sie lehnte sich gegen Ashe und lauschte dem Schlagen seines dreikämmrigen Drachenherzens. Es war ein beruhigendes Geräusch, musikalisch, langsam, wie die Wellen des Meeres. Die Schwingungen in der Luft um sie herum, das Gefühl von Frieden und Glück floss mit dem Herzschlag ihres Seelengenossen zusammen. Es war berauschend. Ihr Gesicht erwärmte sich in dem rosigen Strahlen der untergehenden Sonne. Sie versuchte, zurück ins Hier und Jetzt zu finden. Wenn sie noch einen Moment länger in Ashes Armen blieb, würde sie in einen Tagtraum gleiten, aus dem aufzuwachen schmerzlich sein würde. Sie würde bis tief in die Nacht auf dem Balkon bleiben und sich an den Lauten der Nacht, dem warmen Wind auf der Haut, der Umarmung ihres Gemahls, seinem Atem auf ihrer Haut und dem würzigen Duft des Sommers erfreuen, der mit den betäubenden Gerüchen des Äußeren Marktes durchmischt war. Rhapsody machte sich sanft aus seinen Armen frei und drehte sich mit leuchtendem Gesicht zu ihm um. Ashe blinzelte und lächelte dann. »In Ordnung, ich nehme an, deine Antwort lautet nein. Es gibt nichts Beunruhigendes im Wind.« »Überhaupt nichts. Nicht im Wind und auch sonst nirgendwo.« »Gut.« Er ergriff ihre Hand und küsste sie sanft. Dann führte er sie vom Balkon in das Innere des Gemachs, das mit Dutzenden Kerzen erhellt worden war, während sie auf dem Balkon gestanden hatten. Überall im Zimmer befanden sich Porzellanvasen, die vor duftenden Sommerlilien in feurigen Farben, vor Hyazinthen, Nelken und süßem Waldmeister überquollen, der bei den Lirin als Lindergeist bekannt war. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes stand ein silbernes Tablett mit roten, von dunkler und heller Schokolade überzogenen Beeren und daneben eine Flasche canderianischer Branntwein sowie zwei Gläser, auf deren Rundungen das Licht tanzte. Und in der Mitte des Tisches sprühte ein kleiner Springbrunnen Wasser um einen flammenden Glaszylinder und warf wässerige und feuerfarbene Wellen aus Licht gegen die Zimmer wände. Nun musste Rhapsody blinzeln. »Was soll das alles? Heißt das, Ihrman hat mir vergeben, dass ich ihm die Bolg aufgezwungen habe?« »Wohl kaum«, sagte Ashe. Er ging zu dem Tisch und entkorkte den Branntwein. »Das ist von mir.« »Von dir? Warum? Hatten wir Streit?« Ashe kicherte. »Ich glaube nicht. Zumindest noch nicht.« Rhapsody beugte sich über eine Vase mit Hyazinthen und sog den süßen und zugleich würzigen Duft ein. »Also feiern wir etwas?« »Ja.« Sie schaute auf zu Ashe. Das Licht der Kerzen glitzerte in seinen himmelblauen Augen, und auf seinem Gesicht lag ein schwaches Lächeln. »Was feiern wir denn?« Ashe goss die bernsteinfarbene Flüssigkeit in die Gläser und schwenkte sie vorsichtig. »Deinen Geburtstag.« Rhapsody legte den Kopf schief und schaute ihn von der Seite an. »Mein Geburtstag ist erst in zwei Monaten.« »Nicht den kommenden, Aria. Den vom nächsten Jahr.« Er schlenderte durch den Raum, blieb vor ihr stehen und reichte ihr ein Glas. »Weil das Geschenk, das ich dir bei deinem übernächsten Geburtstag machen will, einige Zeit für die Herstellung braucht – etwa dreizehn Monate, glaube ich. Ich muss sicher sein, dass du es haben willst, bevor es gemacht wird.« Rhapsody hob das Glas an die Lippen und nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit war warm wie Feuer und brannte angenehm im Mund. Sie schluckte und verspürte ein so feuriges Gefühl in der Kehle, dass sie nach Luft schnappte. »Warum sagst du mir nicht, was es ist?« Ashe nahm selbst einen Schluck und schaute sie an, während er eine Hand in der Hosentasche hielt. Kurz darauf zog er einen kleinen ledernen Beutel mit Bandverschluss hervor und warf ihn ihr entgegen. Sie fing ihn auf. Kleine Wellen liefen durch den Branntwein in ihrem Glas. »Gute Güte, ich vergieße gleich etwas«, tadelte sie ihn, setzte das Glas ab und öffnete die Börse. Sie schüttete den Inhalt auf ihre Hand. Fünf schwere Goldstücke, ältere Münzen, als sie je eine in Roland gesehen hatte, fielen heraus und klimperten angenehm. Rhapsody drehte eine um und untersuchte sie. ›»Malcolm von Bethania‹«, las sie blinzelnd und schaute verwirrt hoch zu Ashe. »War das Tristans Vater?« Ashe nahm einen weiteren Schluck Branntwein und nickte. »Vielen Dank«, sagte Rhapsody zweifelnd. »Hast du solche Münzen schon einmal gesehen?« »Ich glaube nicht.« Er seufzte enttäuscht. »Nun gut. Ich habe Antiquitätenhändler in ganz Yarim losgeschickt, um sie aufzutreiben. Was für eine Verschwendung.« »Wo hätte ich sie denn sehen sollen?«, fragte Rhapsody. In ihrer Stimme lag eine verräterische Spur Ungeduld. Ashe stellte das Glas ab und kam zu ihr hinüber. Er nahm sie bei den Schultern und erwiderte ihren fragenden Blick. »Auf einer Windumtosten Wiese auf der anderen Seite der Zeit«, sagte er sanft. »Ich habe dir Münzen wie diese angeboten, weil ich sonst nichts hatte, was ich dir am Vorabend deines Geburtstags geben konnte.« Rhapsody wandte sich ab und hielt die Münzen fest umschlossen. Sie stemmte sich gegen die Flut der Gefühle, die sie zu überschwemmen drohte. Einige waren schmerzlich, andere süß, und sie alle waren wertvolle Erinnerungen an ihre Zusammenkunft in der alten Welt; es war eine Geschichte, die nur sie beide kannten. Selbst jetzt fragte sie sich manchmal noch, ob das alles nur ein Traum gewesen war, der irgendwann die Form einer Erinnerung angenommen hatte. Ashe umfasste ihre Schultern und drehte sie um. Er legte ihr den Zeigefinger unter das Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sich ihre Blicke trafen. Die vertikalen Pupillen in seinen Augen dehnten sich und zogen sich im flackernden Kerzenschein wieder zusammen. »Während all der Jahre, auf allen Straßen, über die ich gereist bin, nach jedem Alb träum, jedem Traum stand mir die Erinnerung daran vor Augen, wie du in jener Nacht im Mondenschein ausgesehen hast, Emily«, sagte er sanft und gebrauchte den Namen, mit dem ihre Familie sie in der alten Welt gerufen hatte. »Ich weiß immer noch nicht, welches Schicksal, welche Magie mich damals von der Straße fort in dein Dorf gerufen hat, wo ich vor der Tanzscheune auf dich gestoßen bin, aber was immer es war, ich schulde ihm meine Seele. Denn ohne dich hätte ich keine.« »Sei nicht voreilig mit deiner Dankbarkeit«, sagte Rhapsody und hielt den Blick auf ihre geschlossene Faust gerichtet, in der sich die Goldmünzen befanden. »Was immer es war, es war auch so grausam, uns schon am nächsten Tag auseinander zu reißen.« Ashe lächelte breit. »Genau. Und der Schmerz hätte uns beide beinahe umgebracht und unser Leben ruiniert.« »Und dafür bist du dankbar?« »Ja. Für alles. Für das Gute und das Schlechte, für die Schmerzen und die Ekstasen. Denn das war unser Anfang, Aria. Und an diesem Punkt wussten wir ohne jeden Zweifel, was wir wollten – nämlich uns, wie immer wir das erreichen mochten. Es war einfach, es gab keine Fragen. Du wolltest alles zurücklassen und mit mir kommen. Ich wollte innerhalb eines Herzschlags das Leben aufgeben, das in der Zukunft auf mich gewartet hatte, nur um bei dir zu sein. Die Gefahren haben wir gar nicht wahrgenommen. Das ist es, was an einem Neuanfang so rein und heilig ist. Und nichts – nicht das Geworfensein in diese Zeit, nicht die Katastrophe, die Serendair auf den Meeresgrund geschleudert hat, nicht die Reise durch die Jahrhunderte und durch den Bauch der Erde, nicht die Trennung, kein Missverständnis, Schmerz, Tod oder Verrat – nichts hat die Liebe zerstört, die in jener Nacht begann.« Er streckte die Hand aus und streichelte ihr Gesicht, wofür er ein Lächeln erhielt. »Und nichts wird sie je zerstören«, sagte sie. »Jeder Neuanfang in unserem Leben war für uns eine Wiedergeburt. Mit jedem Fortschreiten sind Gefahren abzuschätzen und zu überwinden, doch wir vertrauen auf das, was wir tun«, fuhr Ashe fort. »Sieh dir nur deine Arbeit an der Entudenin an. Es lag ein beachtliches Wagnis darin – der Zorn der Bevölkerung, ein möglicher Konflikt zwischen den Bolg und den Yarimesen, die Gefahr, eine heilige Reliquie zu vernichten, was für dich als Sängerin und Benennerin verheerend gewesen wäre -, aber du hast begriffen, dass das Wasser wichtiger als die Gefahren ist. Du hast dich in dieses Unternehmen gestürzt und deine Glaubwürdigkeit bei den Herzögen, der Bevölkerung und den Bolg aufs Spiel gesetzt. Du konntest ihnen weder Schutz noch Gelingen versprechen, aber du hast es trotzdem getan. Wie du zu mir in Navarne gesagt hast: Was im Leben ist kein Wagnis wert? Selbst Achmed war bereit, seinen Teil dieses Wagnisses auf sich zu nehmen, aus welchen Gründen auch immer.« »Das ist wirklich erstaunlich, denn außer Grunthor und mir vertraut Achmed niemandem«, stimmte Rhapsody ihm zu. »Vertrauen ist notwendig, wenn man ein Wagnis eingehen will, doch eigentlich liegt es nicht in seiner Natur, so zu handeln. Er hasst es, ohne einen Plan vorzugehen, ohne die Möglichkeit, die gesamte Lage in allen Einzelheiten unter Kontrolle zu haben, obwohl er so viele Gaben hat, die er in einer Krise oder beim Eintritt unerwarteter Umstände einsetzen könnte. Er ist außerordentlich ungeduldig.« Ashes Lächeln schwand ein wenig. »Ich weiß nicht, ob du damit Recht hast, Aria«, sagte er. »Ich glaube, Achmed ist geduldiger, als wir uns vorstellen können. Es hängt bloß davon ab, worauf er wartet.« Rhapsody legte ihre Hand auf seine, die noch immer ihr Gesicht liebkoste. »Was willst du mir damit sagen, Sam?«, fragte sie leise. Ashe schlang seine Finger um ihre. »Falls du einverstanden bist, mit mir einen Neuanfang zu wagen, können wir dein Geburtstagsgeschenk heute Nacht in Auftrag geben.« Rhapsody lehnte sich so nah an ihn, dass ihre Lippen nur einen Hauch von seinen entfernt waren. »Und was willst du mir zum Geburtstag schenken?« Ashe schaute ihr tief in die Augen. Die Liebe in seinem Blick brannte so hell wie die Kerzenflammen. »Jemanden, dem du deine Morgenaubade und deine Abendvesper beibringen kannst«, sagte er. Alle Sorgen und Ängste, die sie beide über die Jahre geplagt hatten, waren wie durch die Hand eines unsichtbaren Wächters aus dem Raum verbannt. Es blieben nur das sanfte, flackernde Licht der Kerzen, der Duft der Hyazinthen, das Knistern des Kaminfeuers, das Plätschern des Springbrunnens und sie beide zurück. Doch da war auch eine verwirrende Erregung, eine Vorahnung, die sie schon einmal verspürt hatten, vor so langer Zeit, auf der anderen Seite der Zeit. Das Gefühl der guten Vorahnung, das Rhapsody auf dem Balkon verspürt hatte, kam mit der Abendbrise herein und breitete sich im Schlafgemach aus. Eine beinahe mit Händen zu greifende Fröhlichkeit trieb alle Zweifel aus dem Raum, und jede dunkle Vorahnung war verschwunden. Nur noch einmal wollte Rhapsody etwas sagen. »Warum...?« »Psst, meine Liebe«, meinte Ashe und legte ihr den Finger auf die Lippen, bevor er ihn durch seine eigenen Lippen ersetzte. »Frag heute Nacht nicht nach dem Warum. Das kann bis zum Morgen warten.« Sie gab seinen Kuss ohne jedes Zögern zurück. Das Laternenlicht innerhalb des feurigen Zylinders, das auf das fallende Wasser des Springbrunnens schien, spiegelte ihre Bewegungen wider. Es war ein langsamer, sanfter Tanz gegensätzlicher, miteinander verschmelzender Elemente, undenkbar in ihrer Anziehung, doch wundervoll in ihrer Vereinigung. Die Bande elementarer Kraft, die um ihre Seelen geschlungen waren, fingen tief in ihnen zu singen an. Die knisternde Leidenschaft des Feuers, das in ihr loderte, und die ruhige Unbarmherzigkeit der Meereswellen, die in ihm wogten, schimmerten, türmten sich in der Vereinigung auf, gewärmt vom reinen, gleißenden Feuer, und bildeten ein neues Element, das vor Hitze brannte, mit den Gezeiten des Meeres floss, treu und endlos blieb wie ihre Liebe füreinander. Das Element der Zeit. In einem flüchtigen Augenblick bewussten Denkens inmitten des segensreichen Vergessens ihres Liebestaumels spürte Rhapsody einen Ton in ihr, einen melodischen Ton, der sich von ela, ihrem eigenen Namenston, und auch von sol, dem Ton, auf den Ashe gestimmt war, unterschied. Dieser neue Ton hallte ihr durch Körper und Geist und verschwand, doch er hinterließ ein Zeichen, das sie weiterhin, wenn auch wie aus großer Ferne spürte. Es war der schönste Klang, den sie je gehört hatte. Das Wasser in dem Zimmerspringbrunnen hüpfte vor Freude; das Feuer in der Laterne brannte hell, bis es keine Kraft mehr hatte. Dann sank es zu einem sanften Glimmen herab, das sich im Wasser des Beckens spiegelte, welches inzwischen so glatt wie Glas war. Der Mond kroch über den Rand des Horizonts, badete den roten Ton Yarims in weißem Licht und ließ die Stadt wie in einem Traum erglänzen. Die stillen Ziegelgebäude und die leeren Marktbuden strahlten auf. Das Licht schlich durch Öffnungen, hinter denen Kinder schliefen, deckte sie mit seiner Weiße zu und leuchtete bis in ihre Träume. Es kroch um das traurige, leblose Überbleibsel herum, das in der Mitte eines aufgebrochenen Beckens stand, und erhellte es so stark, dass die kleinen Glimmerflocken an der Oberfläche das Licht spiegelten. Aus der Tiefe des nun frei geräumten unterirdischen Wasserweges erklang ein Wispern, dann ein Gurgeln und schließlich ein Seufzen. Ein besonders heller Mondstrahl fing den ersten Sprühnebel um die Spitze des Quellfelsens ein. Er glitzerte im Dunst und badete sie in ätherischem Glanz. Und als die trockene, müde Stadt im kalten Wind der ansonsten warmen Sommernacht schlief, ergoss sich das Leben spendende Wasser erneut aus der Entudenin. 18 Der Morgen brach im Läuten der Glocken aus dem Turm des Gerichtsgebäudes herein, und aus den noch dunklen Gassen tief unten schwoll ein Rufen und Lärmen an. Benommen setzte sich Ashe auf. Er war noch vom Drachenschlaf benebelt, und der Kopf brummte ihm unangenehm unter dem Aufruhr draußen. Er murmelte einen unhörbaren Fluch und rieb sich die Augen mit der einen Hand, während er sich mit der anderen aufrichtete. Die gesegnete Freude der vergangenen Nacht schwand. Seine Drachensinne erwachten zuerst. Das Feuer im Zimmer war erloschen, und die Hitze des Tages hatte die Kühle der Morgendämmerung noch nicht zerstreut. Er spürte, wie das Wasser ein paar Straßenecken entfernt aus der Entudenin spritzte, und hörte die frohe Kunde durch rufende Stimmen, Glockengeläut, Topfschlagen und Trommelwirbel sich verbreiten, als das erwachende Yarim das Wunder bemerkte. Die Einzelheiten waren gigantisch; seine Drachennatur zählte jede Person auf dem Marktplatz – vierhundertdreiundzwanzig, vierhundertvierundzwanzig -, jeden der dreihundertsieben, nein, dreihundertneun Lärmmacher, jeden der hundertelf Funken im Kamin, jeden Tropfen des frisch fließenden Wassers – siebenhundert Millionen, vierhundert siebenundsechzigtausend dreihundertsechsunddreißig, siebenunddreißig, achtunddreißig. Der sich daraus ergebende Aufruhr bereitete ihm Schmerzen in der Brust. Er kämpfte darum, sein angeborenes Bewusstsein zu unterdrücken, es vor den Einflüssen abzuschirmen, damit es nicht in einem gewaltigen Kopfschmerz endete. Rhapsody schlief unruhig neben ihm. Sie war blass und flüsterte sich selbst etwas zu. Nach einer halben Nacht im Tiefschlaf war sie rastlos geworden, drehte sich auf dem Bett von einer Seite zur anderen und war in Träumen gefangen, die er nicht für sie vertreiben konnte. Daher war er selbst kaum zur Ruhe gekommen, genauso wenig wie sie, wenn er nach den Zuckungen ihres Körpers und der Alabasterfarbe auf ihrem Gesicht urteilte. Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste ihren Nacken. Seine Lippen waren warm auf ihrer kalten Haut. Sie war schweißfeucht. Er legte die Hand auf ihre Seite und schüttelte sie sanft. »Rhapsody? Die Morgendämmerung ist schon fast da. Willst du nicht aufstehen und deine Aubade singen?« Zur Antwort jammerte sie, zog die Knie an und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Besorgnis überfiel ihn. Ashe richtete sich auf, schüttelte das Zittern der nackten Angst ab und nahm seine Frau in die Arme. Sie atmete flach, ihr Gesicht war schweißgebadet. »Rhapsody?« Mit matten Bewegungen drückte sie sich fort von ihm und rollte auf die Seite. Dann zog sie sich bis zum Rand des Bettes. Taumelnd stand sie auf, eilte zum Abort und schlug die Tür hinter sich zu. Die Angst, die ihn gepackt hatte, wich dem Begreifen, als er hinter der Badezimmertür die Laute des Erbrechens hörte. Er stand rasch auf, zog sich an und wartete auf ihre Rückkehr. Nachdem einige Minuten vergangen waren, ging er zum Badezimmer hinüber und blieb vor der Tür stehen. »Rhapsody? Ist alles in Ordnung mit dir?« Ihre Antwort klang schwach. »Bitte geh fort.« »Kann ich dir etwas bringen?« »Nein. Geh weg.« Er fuhr sich nervös mit der Hand durch das rot-goldene Haar. »Willst du...« »Ashe!« Diesmal drang ihre Stimme lauter durch die Tür. Sie war noch heiser, aber schon wieder stärker. »Geh eine Weile weg, oder ich werde dich umbringen müssen, wenn ich hier herauskomme.« »Oh. Nun, da ich noch nicht sterben will, gehe ich besser für eine Weile auf den Balkon«, sagte er. Ein Lächeln kämpfte mit den Sorgenfalten auf seiner Stirn. »Wenn du etwas brauchst, schnippe einfach mit den Fingern. Ich bin dann sofort da.« »Vielen Dank. Geh jetzt.« »In Ordnung.« »Sofort!« »Wie es Euch beliebt, Herrin.« Der Herrscher der Cymrer wandte sich von dem neuerlichen Geräusch des Erbrechens ab und ging hinaus auf den Balkon. Die Dämmerung kam über die Stadt, erhellte die roten Gebäude und tauchte sie in morgendliches Feuer. Ashe atmete tief durch und sog winzigste Tropfen Feuchtigkeit ein, welche die Luft in der Nacht durchdrungen und sie schwer und süß gemacht hatte. Auf den Straßen unter ihm versammelte sich die Menge. Es waren mehr Leute als bei der Ankunft der Bolg. In die Freude hatte sich eine beinahe greifbare Gewaltbereitschaft gemischt, als sich jene Bewohner am Rand der Hauptstraßen, welche die Neuigkeit offenbar von denen gehört hatten, die sich näher im Zentrum befanden, nach vorn drängten und Krüge und andere Tongefäße bei sich trugen, mit denen sie den flüssigen Schatz bergen wollten, der in der Nacht zurückgekehrt war. Ashe bemerkte ohne besondere Anteilnahme, dass man die Shanouin-Priesterinnen gerufen hatte. Ein dünner Korridor hatte sich in der nachrückenden Menge geöffnet, durch den etwa ein Dutzend verschleierte Frauen in blass-blauen Ghodins auf den Marktplatz liefen, wo das Becken der Fontäne schon überlief und sich das kostbare Nass auf die trockenen Ziegel der Straßen ergoss. Eine unter ihnen schien anders zu sein. Ihre rituellen Zeichen bei der Annäherung an den Quellfelsen waren unbeholfen. Er hätte es bemerkenswert gefunden, wenn es ihn gekümmert hätte, was jedoch nicht der Fall war. Er starrte auf die Fontäne. Die Entudenin war dunkelbraun geworden, wie feuchter Lehm. Winzige Rinnsale aus Grün und Blau, für menschliche Augen noch unsichtbar, nicht aber für Ashe, streiften den Lehm. Am Ende des Zyklus würde die Farbe in den Quellfelsen zurückkehren. In diesem Wissen lag etwas zutiefst Befriedigendes. Er schloss die Augen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das einige Straßen entfernte Wunder. Das Element des Wassers, das den Kern seiner Seele bildete, sang in ihm; das Wasser, das aus der Entudenin hervorschoss, antwortete darauf. Ashe stand einen Augenblick still da, verloren in dem lautlosen Gesang, dann ging er zum Schwertständer und zog Kirsdarke, das uralte Elementarschwert, das ihm anvertraut war. Er packte den Griff fester als gewöhnlich. Heute war das Schwert lebendiger; es freute sich über die Gegenwart lebenden Wassers, das die Straßen von Yarim Paar überschwemmte. Er kehrte zum Fenster zurück und hielt das Schwert gegen das Licht. Die flüssige Klinge, die für gewöhnlich in blauen Strömen von der Spitze bis zum wellenförmigen Griff floss und in ihm verschwand, schäumte wie Brecher, die an den Strand schlugen. Sie glitzerte im Licht der Morgendämmerung und erfreute sich der Verwandtschaft mit der Quelle. Ashe fühlte seine gewaltige, vibrierende Macht selbst in der Ruhestellung anschwellen. Es war erregt, als heiße es ein Kind in dieser trockenen Wüste willkommen. Aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem Schwert verstand er dessen Erregung. Bald würde er ein eigenes Kind willkommen heißen, eines, das von seinem Blute war und seine Geschichte teilte. Und die Liebe zu seiner Gemahlin. Die Tür zum Abort öffnete sich mit einem dumpfen Knirschen, und Rhapsody trat heraus. Ashe spürte ihre Rückkehr und steckte das Schwert rasch zurück in die Scheide. Dann rannte er vom Balkon aus quer durch den Raum und nahm sie in den Arm. Sie war bleich wie Milch, und ihren Augen schien es schwer zu fallen, auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet zu bleiben. »Es geht mir gut, Sam«, sagte sie, wobei sie seiner Frage zuvorkam, »aber ich sehe nicht gut. Kannst du mir bitte ins Bett helfen?« »Du kannst nicht sehen?«, fragte Ashe besorgt und führte sie sanft über die kalten Fliesen des Bodens. »So etwas habe ich noch nie gehört.« Sie drückte seine Hand, als ihr Körper zuckte. Dann blieb sie stehen, versuchte das Gleichgewicht wiederzuerlangen und nickte, als sie es schließlich schaffte. »Wie oft hast du schon eine Frau von lirinischem und menschlichem Geblüt beobachtet, die ein Drachenkind in sich trägt?« »Noch nie«, gab Ashe zu, »aber ich hätte nicht für möglich gehalten, dass es dir so schnell so schlecht geht.« »Ich ebenfalls nicht«, sagte Rhapsody und lehnte sich gegen die Kissen, nachdem Ashe sie ins Bett gelegt hatte. »Meine Mutter hat sechs von uns ausgetragen, ohne auch nur ein einziges Mal den Morgenchor verpasst zu haben. Es ist erschütternd, so schwach zu sein. Und so zu frieren. Mir ist kalt.« Ihr Blick klarte kurz auf. Sie ergriff Ashes Hand und lächelte. »Aber ich bin sehr glücklich.« Ashe küsste sie auf die Stirn. Die Haut war noch feucht und brannte inzwischen fiebrig. »Genau wie ich.« Er schaute hinunter in ihre grünen Augen, die sich wieder umwölkten. »Sag mir, was ich für dich tun kann«, meinte er und versuchte, die Verzweiflung aus seiner Stimme zu verbannen und seine Besorgnis davon abzuhalten, Macht über seinen Verstand zu erlangen. Rhapsody zuckte, als sich ihr Bauch wieder zusammenzog. Sie rollte sich auf die Seite und versuchte, nicht vor Schmerzen zu ächzen. »Bring mich nach Hause«, sagte sie und vergrub das Gesicht im Kissen. »Ich will zurück nach Haguefort.« Rhapsody war soeben wieder aus dem Bad gekommen, als Ashe in das Zimmer zurückkehrte. Sie saß auf einem der Stühle vor dem Feuer, trug ihre Reisekleidung und wirkte, als fühle sie sich besser, auch wenn sie noch geisterhaft bleich war. Ashe trat an ihre Seite, nahm sie bei den Schultern, bückte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange. »Es sollte nicht schwer sein, unbemerkt aus Yarim zu entkommen«, sagte er und fuhr ihr mit dem Handrücken über das Haar, das noch feucht von dem Bad war, welches er ihr eingelassen hatte, bevor er sich um ihre Abreise gekümmert hatte. »Alle Männer, Frauen und Kinder von Yarim Paar tanzen anscheinend im Sprühnebel der Entudenin, füllen ihre Gefäße und sind entweder freudig oder kämpferisch gestimmt. Niemand außer unserem Garderegiment achtet auf etwas anderes als das Wasser.« »Gut«, meinte Rhapsody und packte die Armlehnen des Stuhls, als ein weiterer Krampf sie schüttelte. Ashe seufzte in einer Mischung aus Sorge und Mitgefühl. »Ich hoffe, du vergibst mir, aber wir werden in einem Wagen reisen«, sagte er mit einer Spur von Humor in seiner ansonsten sehr besorgten Stimme. »Selbst wenn du deshalb den Eindruck haben solltest, du wärest alt, verhätschelt oder krank. Ich bin der Meinung, du solltest so bequem und geschützt wie möglich reisen.« »Vielen Dank«, erwiderte sie und atmete tief durch, als das Zittern vorüber war. »Du bist so lieb zu mir gewesen. Selbst auf das Risiko hin, dass es mich wieder krank macht, kannst du mir jetzt die Frage beantworten, die ich dir letzte Nacht zu stellen versucht habe?« »Ja. Wie lautete sie?« »Als du sagtest, wir sollten, äh, mein Geburtstagsgeschenk bestellen, meintest du, es dauere dreizehn Monate zu seiner Herstellung«, sagte sie und fuhr sich mit den Händen an den Bauch. »Warum?« Ashe zuckte zusammen. »Nun, du bist eine halbe Lirin, und Lirin tragen länger als Menschen aus«, erklärte er und beobachtete, wie sich Erkenntnis auf ihrem Gesicht abzeichnete. Er versuchte, angesichts des komischen Entsetzens in ihrer Miene nicht zu lachen. »Ein Kind einer Lirin-Mutter und eines menschlichen Vaters wird normalerweise etwa dreizehn Monate ausgetragen, wie du weißt. Und das ist noch eine optimistische Schätzung. Wenn Drachenblut im Spiel ist, kann man nicht sagen, wie lange es dauert.« »Wie lange war deine Mutter mit dir schwanger?«, fragte Rhapsody zitternd. »Zweieinhalb Jahre. Beinahe drei.« Die Herrin der Cymrer erhob sich abrupt und hielt sich die Hand vor den Mund. »Entschuldige mich«, sagte sie rasch und stürmte wieder ins Badezimmer. Ashe wartete einen Moment, dann ging er zur Tür und rief die Wachen. »Sagt dem Quartiermeister, er soll sich mit dem Wagen beeilen«, befahl er. Die holperige Fahrt durch die felsigen Randgebiete von Yarim Paar war eine reine Qual. Jede Furche, in die der Wagen geriet, brachte weitere Krämpfe und Übelkeit mit sich, und Rhapsody wurde immer blasser und zitterte immer stärker. Als sie das Vorgebirge oberhalb der Stadt erreicht hatten, konnte sie nicht mehr aufrecht sitzen. Sie lag nun zusammengerollt unter einer schweren Decke auf der Bank des Wagens und wurde bei jedem Schlingern heftig durcheinander geschüttelt. Ashe verzweifelte immer mehr und versuchte, seine Panik vor Rhapsody zu verbergen. Stumm wiederholte er die Worte der Seherin immer wieder und versuchte, Trost in ihnen zu finden, doch er fand keinen. Rhapsody wird nicht sterben, wenn sie deine Kinder zur Welt bringt. Die Schwangerschaft wird nicht leicht, aber sie wird Rhapsody weder umbringen noch sie verletzen. Wenn du mich angelogen hast, Tante, werde ich mir dein Blut holen, dachte er verbittert und versuchte sich zu sagen, dass Seherinnen nicht lügen konnten, doch auch das tröstete ihn nicht. Schließlich hatte seine eigene Großmutter, Manwyns Schwester, ihn vor mehr als hundert Jahren darüber belogen, dass Rhapsody noch lebte. Als sie den Kamm des Hügels erreichten, von dem aus man Yarim Paar überblicken konnte, schaute Ashe hinaus und klopfte gleichzeitig gegen das Fenster, das sich zur Fahrerbank hin öffnete. »Halt bitte hier an.« »Ja, Herr.« Während der Befehl zum Anhalten nach vorn und hinten durch die Karawane lief, kniete sich Ashe auf den Boden neben Rhapsodys Sitz und fuhr ihr mit der Hand zärtlich über Haare und Gesicht. Ihr Körper war noch immer kalt und zitterte, und ihr Blick war glasig. Er senkte die Lippen an ihr Ohr, küsste es und sagte leise: »Kannst du mich hören, Aria?« Sie nickte schwach. »Ich habe hier anhalten lassen und möchte dich für einen Moment mit nach draußen nehmen, damit du frische Luft bekommst.« Rhapsody gab darauf keine Antwort. Vorsichtig nahm er sie in den Arm und trat die Wagentür auf. Dann trug er sie aus der Dunkelheit des Wageninneren die Stufen hinunter in die blendende Sommersonne. Der Wind, der über die Anhöhe fegte, verfing sich in Ashes Nebelumhang, blies Tropfen in die heiße Luft und trieb Rhapsody die Haare vor die Augen. Rhapsody hielt die Augen geschlossen, doch sie verstärkte den Griff um seinen Arm ein wenig. Er brachte sie zum Rand eines felsigen Vorsprungs und blieb dort stehen. »Aria. Sieh hinunter, wenn du kannst.« Zuerst gab Rhapsody keine Antwort, doch nachdem der Wind ihr noch ein wenig ins Gesicht geblasen hatte, schlug sie zuerst das eine Auge auf, dann das andere und schaute über die Stadt Yarim Paar, die sich unter ihr auf der flachen, roten Ebene erstreckte. Im Mittelpunkt der fernen Stadt strömte ein strahlender Nebel aus Blau und Weiß aus dem kleinen, glänzenden Obelisken, der gestern noch tot gewesen war, ausgedörrt in Jahrhunderten der Hitze und Trockenheit. Das Licht der Sommersonne fing die Wassertropfen ein und zerlegte sie in die Farben eines Regenbogens, der vom Boden bis hoch in die Luft reichte und in einem goldenen Schaft Sonnenerhellter Wolken verschwand. Das Wasser, das nun aus der Entudenin floss, hatte sich über den Beckenrand ergossen, strömte durch die Straßen und verwandelte den trockenen roten Lehm in dunklen Schlamm. Der Lärm von fröhlichem Gelächter, von feierlicher Musik und lautem Geschrei war gedämpft, aber deutlich aus der Ferne zu hören. Er hallte von den Felsen wider, auf denen sie standen; es waren freudige Schwingungen in der ansonsten so stillen Wüste. Rhapsody hob den Kopf, stellte sich aufrecht, suchte dabei Halt an ihrem Mann und lächelte. Sie atmete tief ein, sagte aber nichts, sondern richtete den Blick auf den Regenbogen in der Wüste. Wo die Sternfarben die Erde berührten. Ashe zog sie enger an sich und richtete sie auf. »Siehst du, Aria? Siehst du, was dein Glaube hier erschaffen hat?« Rhapsody lehnte sich gegen ihn, legte den Kopf an seine Schulter und beobachtete die gemeinsame Feier der Menschen und der Erde im Leben spendenden Sprühnebel des Quellfelsens. Sie schwelgte in ihren Liedern. »Unser Glaube und die Kenntnisse der Bolg um den richtigen Weg. Und Achmeds Weigerung, sich von der Bigotterie des Volkes von Yarim abschrecken zu lassen.« »Vielleicht ist das alles, was für ein Wunder nötig ist: Glaube und das Wissen, was zu tun ist, sowie die Weigerung, sich abschrecken zu lassen.« Er legte die Hand auf ihren Bauch. Einen Augenblick später spürte er ihre Hand auf der seinen. »Ich bin sicher, du hast Recht.« Er geleitete sie zurück zum Wagen. Sie stützte sich auf seinen Arm, ging aber allein. Sobald sie sich wieder gesetzt hatte, warf er einen letzten Blick auf das alte Wunder unten in der vom Wind gepeitschten Ebene und rief dann dem Kutscher zu: »Bring uns zurück nach Navarne – jetzt aber sanfter.« Der Kessel — Ylorc — In der Schmiede »Vorsichtig, Shaene, sonst zerbricht das Glas, bevor es abgekühlt ist. Es ist noch nicht kalt genug.« »Halt den Rand, Sandy«, brummte Shaene und packte die gewaltigen Zangen mit den Lederlappen. Seine dicken Arme zitterten unter der Anstrengung. Er hob den Zylinder aus soeben geschmolzenem Glas an den Rand der Schmiede und hielt ihn über den Stein, auf dem er zu einer Scheibe geglättet werden würde. Achmed versuchte, seine Ungeduld im Zaum zu halten. »Die Farbe ist jetzt schon falsch«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Das Rot ist zu hell; es ist beinahe rosa.« »Wir sollten es ein paar Stunden unter Hitze setzen«, schlug Omet vor, während er sich zwischen den König und die Handwerker neben den Brennöfen stellte, die in der Nähe der Eisenschmieden errichtet worden waren. Sowohl die Männer als auch die Bolg troffen vor Schweiß und waren völlig erschöpft. »Die Farbe ändert sich während des Abkühlens. Sie wird dunkler.« Achmed wandte sich enttäuscht ab und trat gegen einen beinahe leeren Topf mit zerstoßenem Kobalterz am Rande des offenen Feuers. Ein Streifen aus blauem Licht schoss durch die Flammen, als sich das Mineral entzündete und eine Sekunde später bereits wieder erlosch. Shaene zuckte unter dem Geräusch zusammen, ließ die Zangen fallen, und der Glaszylinder prallte von der Steintafel ab. Der dabei entstehende berstende Laut hallte durch die höhlenartigen Räume der Schmiede und wurde von einem entmutigten Seufzen der Glashandwerker begleitet. »Es reicht!«, rief Shaene. Er warf die Zangen gegen eine Steinwand, wo sie auf ein hölzernes Regal fielen und Töpfe sowie Handwerkszeug umstießen. Sein gutes Benehmen schmolz dahin wie das Glas im Ofen. »Ich ertrage das nicht länger, nicht für alles Gold in Gwylliams Schatztruhe! Dieses Unternehmen ist verflucht! Verflucht!« »Beruhige dich, Shaene«, sagte Omet und schaute zwischen dem blassen Handwerker und den enger werdenden Augen des Bolg-Königs hin und her. Ein heiseres Husten lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Achmed drehte sich um und sah, dass ein Firbolg-Wächter neben der Schmiede stand und ihm ein Zeichen gab. »Mach dich an die Arbeit, Shaene, oder ich sage deiner Mutter, dass du wieder einen Koller bekommen hast«, spuckte er aus und ging hinüber zu dem Soldaten. »Was ist los?« »Bote, Sorbold.« »Ein Bote aus Sorbold? Von der Postkarawane?« Der Soldat schüttelte den Kopf. Achmed kratzte sich an der Stirn und wischte sich den Schweiß fort. »Na gut, ich bin sofort unten.« Als der König eintraf, wartete der Mann bereits in der Großen Halle und starrte die Kuppeldecke an. Er trug die Livree der Kaiserin und die Rüstung eines Gebirgssoldaten. Sobald er den König näher kommen hörte, drehte er sich um und verneigte sich flüchtig. »Euer Majestät.« »Was willst du?« Der Soldat beobachtete ihn mit einer Mischung aus Nervosität und Verachtung. Die Sorbolder waren für gewöhnlich keine höflichen Leute. Eine gewisse Grobheit lag so tief in ihrem Nationalcharakter verankert, dass besondere Regimenter wie jenes, zu dem der Soldat gehörte, in den Regeln der Etikette unterwiesen wurden, damit grenzüberschreitende Botschaften ausgetauscht werden konnten, ohne einen diplomatischen Zwischenfall heraufzubeschwören. Der Soldat nahm eine steifere Haltung an und räusperte sich. »Der Seligpreiser von Sorbold, der Segner Nielash Mousa, grüßt König Achmed von Ylorc, erzeigt ihm seine Ehrerbietung ...« »Was willst du?«, fragte Achmed ungeduldig. »Ich bin beschäftigt.« Der unterbrochene Bote schluckte die Worte herunter, die er unter Mühen auswendig gelernt hatte, und schaute den König an. »Ihre Durchlaucht, die Kaiserinwitwe, ist im Schlaf aus dem Leben geschieden«, sagte er bündig. »Es tut mir Leid, das zu hören«, erwiderte Achmed knapp. »Ihr Sohn wird nun sehr aufgeregt sein.« »Wohl kaum«, entgegnete der sorboldische Soldat und verließ das königliche Protokoll, damit er endlich seine Botschaft abliefern konnte. »Er ist ebenfalls tot.« »Was ist passiert? Hatten sie einen neuen Koch eingestellt?« Der Soldat schwieg lange genug, um sich von dieser Beleidigung erholen zu können. »Ihre Durchlaucht haben vierundneunzig Sommer gesehen und der Kronprinz zweiundsechzig. Es war der Wille des All-Gottes, nichts sonst.« Der Firbolg-König schaute ihn einen Moment lang schweigend an, dann streckte er die Hand aus. »Hast du ein offizielles Dekret zu übergeben?«, fragte er. »Ja, Majestät, und ich soll die Bitte des Segners übermitteln, dass Ihr an dem Staatsbegräbnis teilnehmt.« Achmed brach das Siegel des Schriftstücks auf, das ihm der Soldat entgegenhielt, öffnete das gefaltete Pergament und las es rasch durch. Es enthielt dieselben Informationen, die ihm mündlich überbracht worden waren, wenn auch in blumigerer Sprache, und zusätzlich einen langen Satz am Ende des Dekrets: »Da der Kronprinz keinen von Rechts wegen bestätigten Erben hinterlässt, wird ein Kolloquium zusammengerufen, um die Thronfolge der Dunklen Erde zu regeln, zusammengesetzt aus dem Herrscher und der Herrscherin der Cymrer, mit denen Sorbold verbündet ist, sowie aus den Herrschern der Grenzstaaten, nämlich Seiner Majestät König Achmed von Ylorc, Ihrer Majestät Königin Rhapsody von Tyrian, Tristan Steward, dem Regenten von Roland, und Viedekam, dem Verwalter der Neutralen Zone, überdies aus den Vertretern der Kirche, des Adels, der Kaufmannschaft und des Heeres, die sich allesamt unmittelbar nach dem Begräbnis während der Trauerzeit, in elf Tagen, versammeln sollen.« Der Bolg-König starrte das Dekret lange an und schaute dann dem Boten ins Gesicht, als ob er vergessen hätte, dass der Mann noch da war. »Du kannst jetzt gehen«, sagte er und nickte seinen eigenen Wachen zu. Der Abgesandte Sorbolds verneigte sich und ging. Achmed wartete, bis die Schritte des Soldaten aus dem abgeschiedenen Nachbarvolk erstorben waren, dann setzte er sich auf den Marmorthron in der Großen Halle. Sein Magen drehte sich in einem selten verspürten Gefühl von Angst. Er starrte die Worte auf dem Pergament an, deren Bedeutung er nun langsam begriff, und fluchte in der Sprache der Bolg. »Hrekin«, sagte er. 19 Auf der Transorlandischen Strasse — Bethania Der königliche Wagen, der nur mit halber Geschwindigkeit gefahren war, wurde noch langsamer. Das kleine Fenster öffnete sich, und die Stimme des Fahrers ertönte im Lärm der abbremsenden Karawane. »Eines Eurer Regimenter nähert sich, Herr.« Ashe griff nach dem Samtvorhang an der Seite des Wagens. Er saß gegen die Lederbank gelehnt, auf der Rhapsody ruhte und in seinen Armen schlief. »Eines meiner Regimenter?« »Ja, Herr. Es scheint, dass es von Anborn angeführt wird.« »Sehr gut. Brems den Wagen langsam ab und halte an. So sanft wie möglich.« »Ja, Herr.« Der Klang von Pferdehufen und gebrüllten Befehlen wurde lauter, als der Wagen schließlich knirschend und quietschend anhielt. Vorsichtig bettete Ashe seine Frau in die Kissen, bedeckte sie sorgfältig mit einem Laken und verließ rasch den Wagen, wobei er versuchte, die blendende Sonne nicht in das dunkle und angenehm kühle Innere zu lassen. Als er am vorderen Teil des Wagens ankam, sah er, wie der Marschall auf seinem schönen schwarzen Hengst das zweite Regiment von Haguefort in stetigem Galopp nach Osten trieb, um die Karawane auf der Straße zu treffen. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, gab der General den Soldaten hinter ihm das Zeichen, langsamer zu werden, und trieb sein Pferd auf Ashe zu. »Gut gemacht, Onkel«, sagte Ashe und beschirmte die Augen vor der Sonne, als Anborn näher kam. »Bitte halte das Regiment zurück. Rhapsody schläft, und ich will nicht, dass sie gestört wird.« Der General zügelte sein Pferd, das sofort anhielt. Es tänzelte ein wenig und stand dann ganz still. Es war vollkommen auf seinen Reiter eingestellt, der seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte. »Sie schläft?«, wunderte er sich. Seine Stimme klang barsch im heißen Sommerwind. »Am Mittag? Ist sie krank?« Ashe bedeutete Anborn, er solle ihm außer Hörweite der Wagenwachen folgen. Als sie etwa fünfzig Schritte entfernt waren, warf er den beiden Regimentern, die sich in Habt-Acht-Stellung begaben, einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an Anborn. »Sie fühlt sich nicht wohl«, sagte er und schaute zu seinem Onkel hoch. »Sie bekommt ein Kind.« Anborn starrte vom Pferderücken aus auf ihn hinunter, überdachte die Worte eine Weile und erlaubte dem Pferd, unangenehm nahe an Ashe heranzutreten. Dann zog er mit einer Schnelligkeit, die von seiner langen Ausbildung als Soldat herrührte, eine Schiene von seinen nutzlosen Beinen und schlug sie dem Herrn der Cymrer gegen die Brust. »Bist du verrückt geworden?«, zischte er mit wütender Stimme. »Was hast du getan, du Narr?« Ashe holte tief Luft und versuchte ruhig zu bleiben, doch er ballte die Fäuste, und der Drache in seinem Blut regte sich. »Wenn du das fragen musst, tust du mir Leid, Onkel«, sagte er so freundlich wie möglich. Der General richtete sich im Sattel auf. Zorn strahlte aus seinen blauen Augen. »Du ungeheuerlicher Dummkopf! Hast du vielleicht vergessen, was mit deiner eigenen Mutter geschehen ist?« Schließlich trat Ashe einen Schritt zurück. »Warum bist du hier, Anborn?«, fragte er. Die vielen Drachenstimmen schlichen sich in seinen Tonfall. »Ich vermute, du hast einen anderen Grund dafür, als mich mit Fragen zu bestürmen, die dich nichts angehen.« Der General spuckte auf den Boden rechts von ihm, als wolle er einen schlechten Geschmack aus dem Mund vertreiben. Dann wendete er das Pferd in einem engen Kreis und rückte höflich von Ashe ab. Wütend griff er in die Falten seines Wamses und holte ein in Öltuch eingeschlagenes Päckchen hervor, das er dem Herrn der Cymrer zuwarf. »Die Kaiserin von Sorbold ist endlich gestorben«, sagte er verächtlich. »Und ihr fettes Söhnchen ebenfalls.« Ashe schaute ihn einen Moment lang an, nahm dann das Schreiben aus dem Öltuch und brach das Siegel auf. Mit seinen Drachenaugen überflog er das Pergament. »Das ist Besorgnis erregend«, sagte er. »Es gibt nicht nur keinen unmittelbaren Erben, sondern während der langen Lebensspanne der Kaiserin sind selbst die entfernten Verwandten der Krone ausgestorben. Sorbold ist nun ein kopfloser Rumpf; das wird zum Chaos führen.« »Du hast von deinem Vater die Gabe der Untertreibung vererbt bekommen«, bemerkte Anborn und sah ihn vom Sattel aus an. »Behalte diesen Augenblick im Gedächtnis, Neffe. Dies ist der Tag, an dem der kommende Krieg begonnen hat.« »Du siehst in jedem wachen Augenblick den Krieg, Onkel«, erwiderte Ashe mit einem menschlicheren Ton der Verärgerung in der Stimme. »Es gibt das Konzil, und Sorbold ist ein Freund und Verbündeter, nicht nur durch Leitha, sondern durch alle, die zum Gerichtshof gekommen sind und ihre Treue geschworen haben. Wir sollten keine Schwierigkeiten heraufbeschwören, nicht wahr?« »Das zweite Regiment ist mit allem protokollarischen Unsinn passend zu einem Staatsbegräbnis ausgestattet«, sagte der General und ließ Ashes Worte unbeachtet. »Es ist hier, um euch beide zur Beerdigung zu begleiten.« Ashe warf einen raschen Blick hinüber zum Wagen. »Wir können wohl nicht daran teilnehmen«, sagte er, rollte das Pergament zusammen und steckte es zurück in die Hülle aus Öltuch. »Rhapsody ist schwach und krank, und ich will sie nicht mit einer langen Reise durch bergiges Gebiet quälen.« »Es ist unmöglich, dass ihr nicht teilnehmt«, schnaubte der General und starrte Ashe vom Sattel aus an. »Es wird der Augenblick sein, in dem sich Sorbolds Schicksal entscheidet; es wird die Erschaffung einer neuen Dynastie oder sogar einer ganz neuen Form der Regierung sein. Diese fernen Verwandten, die möglicherweise einen Anspruch auf den Thron erheben, werden sicherlich von den Adligen blutig herausgefordert, welche als Häupter ihrer eigenen Stadtstaaten sicherlich das ganze Reich zu zerschlagen trachten. Dann gibt es da noch das Heer, die Kaufmannschaft und die Kirche, die allesamt ihre eigenen Interessen vertreten. Und du bist der verdammte Herr über all diesen Wirrwarr. Du musst dich einfach dorthin begeben.« »Er hat Recht, Sam.« Rhapsodys schwache, aber klare Stimme bewirkte, dass sich beide Männer abrupt nach dem Wagen umdrehten, in dessen Tür sie hockte und gerade aussteigen wollte. Ihr langes Haar, das für gewöhnlich mit einem einfachen schwarzen Band zurückgehalten wurde, hing ihr lose auf den Rücken herunter, doch ansonsten schien sie alle Sinne beisammen zu haben. »Rhapsody, warte!«, rief Ashe und rannte auf sie zu. Er legte einen Arm um sie und half ihr aus dem Wagen in die warme Luft. »Es tut mir Leid, dass ich dich gestört habe.« »Nun, Drachenlaute neigen dazu, die Schwingungen in der ansonsten milden Luft zu zerreißen«, meinte sie und stützte sich an seinem Arm ab, weil sie allein stehen wollte. »Ich vermute, die andere vieltonige Stimme gehört Anborn?« Der General trieb sein Pferd langsam vorwärts. »In der Tat. Kannst du mich nicht sehen?« Rhapsody schirmte die Augen vor der Sonne ab und schaute ihn an. »Ich sehe deinen Schatten und deine Umrisse«, sagte sie und lächelte schwach. »Aber ich erkenne deine Schwingungsmuster überall, Anborn, ob meine Augen funktionieren oder nicht.« Der General schenkte ihr ein kleines Lächeln, das schnell verblasste, als er Ashe mit einer Mischung aus Abscheu und Vorwurf ansah. »Habe ich das richtig verstanden? Die Kaiserin ist tot?«, fragte Rhapsody. »Sowohl die Kaiserin als auch der Kronprinz«, entgegnete Ashe und schaute nach Süden in Richtung der sorboldischen Grenze. Selbst aus dieser Entfernung waren die Felsspitzen der Zahnberge zu sehen, an denen bisweilen Wolken vorüberzogen und das rätselhafte Reich verdeckten. »Im Abstand von nur wenigen Stunden.« »Wie schrecklich«, murmelte Rhapsody. »Haben sie etwa vor kurzem einen neuen Koch bekommen?« »Ich weiß es nicht. Aber sie waren beide schon recht alt und sind im Schlaf gestorben.« »Leitha hatte möglicherweise nichts mehr, wofür zu leben sich lohnte, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, nämlich jeden zu überleben, der eine Bedrohung für ihre Herrschaft hätte darstellen können«, sagte Anborn und verlagerte sein Gewicht im Sattel. »Hör auf damit! Wie schrecklich, so etwa zu sagen.« Rhapsodys Gesicht wurde blass, und sie griff sich plötzlich an den Bauch. »Du musst für mich als mein Vertreter zur Beerdigung gehen, Anborn«, sagte Ashe, nahm seine Frau in die Arme und geleitete sie zurück zum Wagen. »Wie du siehst, kann ich Rhapsody in dieser Verfassung nicht allein lassen.« Der Gesichtsausdruck des Generals wurde düster. »Da ich es nicht wage, die Ohren und Sinne der Herrscherin zu beleidigen, verfluche ich dich nicht, Ashe, was ich eigentlich tun sollte, und ich sage dir nicht, wie lächerlich du dich machst. Du warst einverstanden, diese verdammte Herrschaft zu übernehmen, wie du dich erinnern wirst. Ich als der Klügere und Verständigere von uns beiden habe sogar abgelehnt, in die engere Wahl gezogen zu werden. Jetzt siehst du, warum.« Er schaute Rhapsody an, deren Gesicht vor Krankheit und Sorge ausdruckslos geworden war. »Aber es stimmt, dass die Herrin der Cymrer nicht allein gelassen werden sollte. Deshalb werde ich sie nach Navarne mitnehmen, damit du nach Sorbold gehen und dir über die dortige Lage Klarheit verschaffen kannst.« »Wenn du glaubst, ich würde sie ...« »Er hat Recht, Sam«, sagte Rhapsody mit angestrengter, aber etwas kräftigerer Stimme. »Wenn wir nicht beide gehen können, dann musst wenigstens du dich auf den Weg machen.« »Nun gut«, meinte Ashe und sah unerfreut drein. »Ich gehe, sobald du sicher in Haguefort untergebracht bist.« »Dazu reicht die Zeit nicht«, warf der Marschall ein. »Du kommst nur dann noch rechtzeitig zu den Begräbnisfeierlichkeiten, wenn du von hier sofort nach Jierna Tal in Jierna’sid aufbrichst. Die Riten finden im Nachtberg statt, in Terreanfor, der Basilika der Erde. Bei günstigem Wetter ist das ein Ritt von mindestens fünf Tagen. Sie wollen die alte Teufelin und ihren nutzlosen Spross begraben, bevor sie in der Hitze verwesen und zu stinken anfangen.« »Gute Götter«, jammerte Rhapsody. Sie wandte sich rasch ab und erbrach sich. »Glaubst du wirklich, dass ich sie deiner Obhut überlasse?«, wollte Ashe wissen, als er ihr sein Taschentuch reichte. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft schien Anborn überrascht zu sein. »Entschuldigung, Rhapsody«, sagte er rasch. Rhapsody drehte ihm immer noch den Rücken zu und winkte freundlich. »Hör mir zu, Neffe, ich verspreche, mich so gut wie möglich zu benehmen. Ich werde mich so betragen, wie es sich als Eskorte gehört. Und ich werde sie mit meinem Leben beschützen.« Ashe blickte zweifelnd drein, während er mit der Hand über Rhapsodys Rücken strich. »Rhapsody? Was hältst du davon?« Seine Frau fuhr sich mit der Hand durch das dichte goldene Haar, strich es aus dem Gesicht und drehte sich wieder um. »Bei Anborn werde ich völlig sicher sein«, sagte sie, während sie heftig atmete. »Ich möchte zurückgehen und nach Melisande und Gwydion schauen. Aber ich will nicht in Ha-guefort bleiben.« »Wohin willst du denn gehen, Aria?« »Zu Elynsynos.« Onkel und Neffe schauten sich entsetzt an. Anborn war der Erste, der die Sprache wiederfand. »Du willst zum Drachennest gehen? In deinem schlechten Zustand?« Rhapsody nickte. »Ja. Sie allein hat einmal ein Kind von einer völlig fremden Rasse ausgetragen und in ihrem Körper das Blut von Drachen und Menschen zusammengeführt. Bei ihr werde ich in Sicherheit sein. In ihrer Höhle im Verlorenen Meer wird es mir gut gehen. Die Wellen werden meine Übelkeit überspülen, bis Ashe aus Sorbold zurückkehrt. Elynsynos wird auf mich aufpassen.« Sie lächelte schwach. »Außerdem vermisse ich sie sehr. Es wird mir gut tun, sie zu besuchen und ihr den neuesten Klatsch zu berichten.« Ashe seufzte tief. »Ich glaube, es gibt keinen Ort, an dem du während deiner Schwangerschaft sicherer wärest als dort, Rhapsody«, sagte er schließlich. Er schaute seinen Onkel an. »Und es gibt niemanden, dem ich dich auf der Reise dorthin lieber anvertrauen würde. Also gut, Anborn, wenn du meine Frau zuerst nach Haguefort und dann in die nördliche Wildnis zum Nest der Drachin begleiten willst, stehe ich tief in deiner Schuld.« Anborn nickte. »Ich werde einen Falkner mitnehmen. Falls ich gebraucht werde oder etwas schief geht...« »Ich werde nur dann einen Falken schicken, wenn es zu einer Katastrophe gekommen ist. Geh jetzt. Das Regiment wartet.« »Eine angenehme Reise, Sam«, flüsterte Rhapsody, als Ashe sie in den Arm nahm. »Ich will gute Nachrichten hören, wenn wir uns wiedersehen. Und schau dir die Basilika an. Ich habe gehört, sie sei eines der verborgenen Wunder der Welt. Ich will, dass du sie mir bei deiner Rückkehr in allen Einzelheiten beschreibst.« »Ich hoffe, du weißt, dass ich nur gehe, weil du es so willst, Aria.« »Das weiß ich. Deine Gegenwart dort in Zeiten des Aufruhrs wird nicht nur Sorbold, sondern auch dem ganzen Bündnis und dem Rest der Welt nutzen.« »Wenn du willst, dass ich bei dir bleibe, soll mir der Rest der Welt gestohlen bleiben«, flüsterte er. Küste von Brinne nördlich von Avonderre — Gwynwald Die Schuppen hatten vorausgesagt, dass das kleine Fischerdorf zur Mittagszeit verlassen sein würde. Wie üblich hat Faron Recht, dachte der Seneschall, als das Ruderboot auf dem Weg zum Strand die Wellen durchpflügte. Caius, der seekränkere der Zwillinge, saß im Heck, damit er nicht bei jeder Welle schaukelte, und hielt seine Armbrust fest umklammert. Sein Gesicht war grau. Clomyn, der bequem im Bug saß, lenkte den Bootsmann durch Zurufe um die felsigen Ränder der Untiefen, die der Fluch der Fischer an dieser öden Nordküste waren. Als schließlich die Sonne unmittelbar über ihnen stand und die Welt in wogender Hitze schwamm, die von dem gekräuselten Sand ausging, glitten das Boot des Seneschalls und die drei Beiboote mit Soldaten, die er aus Argaut mitgebracht hatte, an Land. Er stand lange da und sog das sanfte Rauschen der Wellen ein sowie den Anblick der schwarzen, vernarbten Klippen, die hinter dem Strand hoch in den Himmel ragten, den Schrei der Möwen, das Peitschen des Windes entlang der Küste und den Duft der Vorfreude, die in der Luft hing und auf ihn wartete. Noch eine Woche, Rhapsody, dachte er. Die Schuppen haben unser Treffen vorhergesagt. In seinem Geist verspürte er das vertraute brodelnde Gefühl, als der Dämon erwachte und das Bewusstsein wiedererlangte. Wir sind an Land gegangen, flüsterte die Stimme. In ihrem knisternden Tonfall lag Erregung. Ich will ein Feuer haben. »Noch nicht«, wandte der Seneschall ein. »Wir wollen die Aufmerksamkeit noch nicht auf unsere Gegenwart lenken.« Wann beginnen die Brände? Wann beginnt die Vernichtung? »Bald«, murmelte der Seneschall und versuchte ruhig zu bleiben. Seine Aufregung führte nur dazu, dass der Dämon entflammt wurde. »Aber noch nicht. Wir haben viel zu tun, müssen Pferde kaufen, Pläne schmieden. Es ist besser, wir bleiben unentdeckt, bis wir das gefunden haben, was wir suchen. Sobald sie sicher im Schiff untergebracht ist, werden die Brände beginnen.« Er bemühte sich, dem darauf folgenden wortlosen, ungeduldigen Gemurmel des Dämons kein Gehör zu schenken, und schaute stattdessen den Männern zu, die die Beiboote ausluden und aus der Brandung zogen. »Gib den anderen das Zeichen, an Land zu gehen. Wenn alle Männer und Vorräte an Land sind, müsst ihr die Boote am Strand in einer der Felsenhöhlen verstecken, dort wo der Sand aufhört«, befahl er Fergus. »Beeilt euch, wir müssen eine Falle aufstellen.« Aus einer Höhle in den vulkanischen Klippen weiter nördlich beobachteten schwarze, vom Alter umwölkte Augen, wie die Boote entladen und zwischen den Felsen hinter dem Strand versteckt wurden. Das Schiff zog sich in tiefere Gewässer südlich der Bucht zurück und war bald außer Sichtweite. Die Soldaten kämmten das Gebiet um den Strand ab und machten sich dann langsam auf den Weg nach Osten in Richtung des Waldes. Wenn einer von ihnen zurückgeschaut hätte, wäre ihm ein alter Mann mit einer treibholzartigen Hautfarbe aufgefallen, der kurz in ihre Richtung blickte, wie irr den Kopf schüttelte und dann wieder damit fortfuhr, sinnlose Zeichen in den Sand zu malen. 20 Jierna’sid — Sorbold Achmed verachtete Karten- und andere Glücksspiele schon seit langem. Ein Grund dafür mochte darin liegen, dass vor langer Zeit in der alten Welt, in jenem anderen Leben, sein wahrer Name in einem Kartenspiel der Bolg aus Serendair gewonnen und vom Gewinner unter Druck Achmeds Feind, dem Dämon, übergeben worden war. Ein weiterer Grund mochte darin liegen, dass seine dhrakische Mutter von den Bolg mit einem Knochenwürfel für die Gefangennahme ausgewählt worden war. Doch was immer der wahre Grund sein mochte – was er am Spiel zutiefst verabscheute, war die Unsicherheit des Ausgangs. Die Erregung, die die anderen Spieler so genossen, überkam ihn nie. Er hasste das Risiko und verbrachte einen großen Teil seines Lebens damit, es so klein wie möglich zu halten. Und obwohl er bei jenen Gelegenheiten in seinem Leben, zu denen er hatte spielen und ein Risiko eingehen müssen, um das zu erlangen, was er haben wollte, öfter erfolgreich als erfolglos gewesen war, bemühte er sich immer noch, jede Ungewissheit zu verringern und immer die Kontrolle zu behalten. Er dachte darüber nach, wie sehr er diese zweideutigen, hilflosen Empfindungen hasste, während er als einziger Abgesandter Ylorcs inmitten anderer Würdenträger und ihres Gefolges auf dem Paradeplatz stand. Von seinem Platz in der Menge der Staatsoberhäupter aus konnte er vieles sowohl über die tatsächlichen Fähigkeiten seiner Mitregenten als auch über die Meinungen lernen, die sie zu verbreiten gedachten, indem er nur die Gefolge im Auge behielt, die sie zum Staatsbegräbnis nach Sorbold mitgebracht hatten. Das sorboldische Heer hatte sich in seiner ganzen Stärke aufgestellt. Zweifellos wollte es damit den fremden Würdenträgern verdeutlichen, dass es noch die volle Macht innehatte. Achmed zählte zwanzig Divisionen allein auf dem Platz, der den Palast von Jierna Tal umgab, und unzählige Soldaten säumten überdies die Straßen vom Platz der Waage bis zu den Bergen am Rande von Jierna’sid, wo Terreanfor, die verborgene Basilika der Erde, in endloser Dunkelheit stand. Es war eine beeindruckende, gut organisierte und wohl eingesetzte Zurschaustellung von Macht. Grunthor wäre beeindruckt gewesen. Achmed hingegen war lediglich besorgt. Viele der anderen Staatsoberhäupter einschließlich Tristan Steward, der Herrscher über Roland, Miraz, der Seligpreiser von Hintervold, Viedekam, einer der Häuptlinge aus der Neutralen Zone, und Beliac, der König von Golgarn, dessen Grenze weit im Osten der Zahnfelsen an sein eigenes Reich stieß, hatten gewaltige Gefolge mitgebracht. Es war diese Protzerei, die Achmed das Gefühl eingab, er befinde sich bei einem Kartenspiel. Das stille Angeben, das Abstecken der eigenen Positionen und die Aufgeblasenheit ärgerten ihn über alle Maßen. Tyrian, das lirinische Reich, von dem Rhapsody Titularkönigin war, hatte eine bescheidene Delegation geschickt, die vom Vizekönig Rial angeführt wurde, einem ruhigen Mann mit einem verständigen Kopf auf den Schultern. Er war zusammen mit dem lirinischen Botschafter und einer Hand voll Soldaten nach Sorbold gekommen, genau wie Ashe, angesichts dessen einsamer Gegenwart Achmed eine Augenbraue hochzog. Rhapsodys Abwesenheit war beunruhigend. Er wusste, dass sie nur sehr wenig davon abhalten konnte, eine solch wichtige Veranstaltung wie dieses Begräbnis in Terreanfor zu besuchen, denn dies war ein Ort, den sie noch nie hatte sehen dürfen, obwohl sie eine Erforscherin der alten Überlieferungen war. Achmed sonderte sich so weit wie möglich von der Menge ab, obwohl die Tribüne so voll war, dass er kaum für sich stehen konnte. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Rhapsodys Herzschlag und fand ihn irgendwo in der Ferne, doch er war unregelmäßig. Achmed wusste nicht, ob dafür die einander widerstreitenden Rhythmen in seiner Nähe oder etwas anderes verantwortlich war. Er wollte Ashe fragen, sobald er die Gelegenheit dazu hatte. Als er nach vorn trat, wurde um ihn herum ein wenig Platz gemacht. Die übrigen Adligen und Staatsoberhäupter hatten erwartungsgemäß begriffen, dass er allein sein wollte. Er benötigte keine Soldaten, Wachen oder ein Gefolge. Er allein war schon tödlich genug. Achmed beobachtete den zentralen Platz der Stadt, der von Zuschauern überquoll. Die Sorbolder waren ein ernstes Volk mit hartem und gelassenem Äußeren, so anders als die überschwänglichen Narren in Yarim, die noch vor wenigen Wochen den Arbeitsplatz der Bolg belagert und gebrüllt und gejohlt hatten, als feierten sie ein Volksfest. Er zweifelte nicht daran, dass ein solches Staatsereignis in Roland noch feierlicher gewesen wäre, wo die Gefühle umso höhere Wellen schlugen, je mehr Zuschauer anwesend waren. Aber diese so schweigsame Menge war einschüchternder. Hier herrschte nicht die ausgelassene Stimmung einer orlandischen Versammlung, die ohne große Vorwarnung von erregter Freude zu wütender Zerstörung umschlagen konnte; weit unheimlicher waren die schweigenden Wüstenbewohner, die von den Wällen und Mauern, den Fenstern, Wehren und Felsen herabschauten und die Rituale beobachteten, welche den Übergang ihres Reiches von einer mit eiserner Hand geführten Diktatur in einen Zustand der Ungewissheit bedeuteten. Achmed wusste genau, wie sie sich fühlten. Er bemerkte still, wie dankbar er war, dass er nicht mehr die Herzschläge aller Personen spürte, die das Land mit ihm teilten, wie es in Serendair gewesen war. Seine Blutgabe, dieses wahnsinnige Pulsieren von Millionen fremden Menschen in seinem Kopf und gegen seine Haut, war nur schwer zu ertragen gewesen, auch wenn sie ihm ein hübsches Einkommen als unfehlbarer Mörder verschafft hatte. Doch das war vorbei, unter den Meereswellen im nassen Grab der Insel zurückgelassen. Übrig geblieben waren nur einige ferne Pulse derjenigen, die ebenfalls einst dort gelebt hatten und nun in der neuen Welt unsterblich geworden waren. Wie Rhapsody. Und Grunthor. Das Schlagen der Messingglocken in den Palasttürmen lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Treppe von Jierna Tal. Das scheußliche Scheppern legte sich harsch und unmelodisch über das Land und erstickte jeden Laut, der noch von den Truppen und Zuschauern ausgegangen war. Die Begräbnisriten hatten begonnen. Aus den Vordertüren des Palastes trat eine Prozession hervor, eine Doppelreihe von Priestern und Messdienern, deren Roben die Farben Sorbolds hatten – Zinnoberrot und Grün, Braun und Purpur. Es waren zuckende Farben, die wie Fäden in das allgemeine Bild gewoben waren. Achmed erkannte das Muster. Es waren dieselben Farben, die auch unter der steingrauen Haut des Schlafenden Kindes und in dem Altar aus Lebendigem Gestein zu sehen waren, auf dem es lag. Sie trugen große Stäbe vor sich her, die mit dem Symbol der Dynastie geschmückt waren: der goldenen Sonne, die von einem Schwert geteilt wurde. Nach der Geistlichkeit kam Nielash Mousa, der Seligpreiser der Region und Segner von Sorbold. Achmed erkannte ihn nur an der runden Mitra auf dem Kopf und dem Amulett der Erde um den Hals. In den letzten drei Jahren seit der Einsetzung des Patriarchen Constantin war Mousa um mindestens eine Dekade gealtert. Er hielt sich noch würdevoll aufrecht, obwohl seine Schultern unter einer unsichtbaren Last gebeugt waren. Hinter Mousa folgten zwei Katafalke, getragen von je sechs Soldaten in der Livree des kaiserlichen Hauses. Die Leichname waren in einfaches weißes, goldbesticktes Leinen gewickelt. Nach der Größe zu urteilen, konnte es keinen Zweifel geben, dass die Kaiserin vorangetragen wurde und der Kronprinz der ewige Zweite war, im Tod wie im Leben. Eine einzelne Reihe von Trauernden und schwarz Gekleideten bildete schweigend und gefasst das Ende des Zuges. Das Geläut verlangsamte sich zu einem lang gezogenen, wiederholten Schlagen der beiden tiefsten Glocken. Als die Klänge schließlich verstummten, kam eine letzte Gestalt aus dem Palast hervor. Es war ein großer Mann in goldener Kleidung, auf die an Brust und Rücken ein reich verzierter silberner Stern genäht war. Seine Blicke suchten die Menge um ihn herum und über ihm ab. Achmed bemerkte an seinem ruhigen Gesichtsausdruck, dass er solche gewaltigen Versammlungen inzwischen gewöhnt war. Es war der Patriarch Constantin. Als Einziger der gesamten Geistlichkeit trug der Patriarch keine Kopfbedeckung. Wie alle von cymrischem Geblüt, die außerordentlich lange gelebt hatten, war er sehr stämmig. Sein weißblondes Haar und der gewellte Bart waren von grauen Strähnen durchzogen und das Gesicht zerfurcht, doch die Schultern waren noch breit und ungebeugt. Er hob die Hand zu den Leuten und bewegte sie langsam von rechts nach links. Dabei verneigte sich jedermann respektvoll. Mehr noch als die beiden Leichen verursachte die Anwesenheit des Patriarchen eine Aura der Ehrfurcht auf dem Platz. Üblicherweise blieben die Patriarchen für die Bevölkerung und selbst für die Gläubigen unsichtbar, die in ihren Kathedralen den Gottesdienst versahen. Die Prozession bewegte sich über den Marktplatz, und die unmelodischen Glocken schlugen wieder. Achmed verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Die Schwingungen aus dem Glockenturm verursachten ihm Zahnschmerzen und Krämpfe im Rücken. Er spürte eine Hand an seinem Ellbogen. Ashe hatte sich einen Weg durch die Ansammlung von Adligen und Staatsoberhäuptern gebahnt und stand nun neben ihm auf der Tribüne. »Sei gegrüßt, Achmed.« Der Bolg-König nickte knapp. »Wo ist Rhapsody?« »In Navarne«, erwiderte der Herrscher der Cymrer und lehnte sich vor, um einen besseren Blick auf die Prozession zu bekommen, die nun die Stufen zur Plattform auf dem Platz der Waage hochschritt. »Aber inzwischen könnte sie bereits zu Elynsynos unterwegs sein.« Der letzte Schlag der Messingglocken ertönte, erstarb langsam und nahm den Lärm der Menge mit. Mit großer, ernster Vorsicht stiegen die Träger der Katafalke die Stufen hinauf, gefolgt von dem Seligpreiser. Der Rest der Geistlichkeit blieb zurück und umringte den Ständer, auf dem sich die heilige Reliquie befand. Einer der Priester, die die Prozession angeführt hatten, erhielt zwei Pergamentrollen und eine Feder. Er entrollte die erste Rolle, die ältere der beiden. Oben auf der Treppe traten dem Seligpreiser vier stämmige Soldaten entgegen, die eine reich beschnitzte, an zwei Stangen hängende Truhe in der Größe eines Sarges trugen. Sie folgten ihm zur Seite der Waage und standen dann reglos da, den Blick auf die Sonne gerichtet. Achmed kniff die Augen zusammen, als der erste in Leinen gewickelte Leichnam unter Nielash Mousas Anweisung hochgehoben und vorsichtig auf eine der goldenen Schalen gelegt wurde. Er und Ashe schauten aufmerksam zu, wie der Seligpreiser persönlich in die große, verzierte Truhe griff und viele kleine Sandsäcke herausholte, die als Fäuste bekannt waren, ein Gewicht, das in Sorbold und bei den Kaufleuten, die hier Handel trieben, weit verbreitet war. Er legte sorgfältig eine Faust nach der anderen auf die Schale gegenüber dem Leichnam der Kaiserin und beobachtete eingehend das Gleichgewicht. Schließlich gab der Segner von Sorbold nach quälend langer Zeit dem Priester, der die Pergamentrolle hielt, ein Zeichen. Der Geistliche eilte nach vorn, um zu vernehmen, was der Seligpreiser ihm mitzuteilen hatte. Er schrieb es mit der Feder auf das Pergament, richtete sich dann auf und wandte sich an den Patriarchen. »Ihre Durchlaucht, die Kaiserinwitwe, wog bei ihrer Geburt dreiundzwanzig Fäuste und ein Fingergewicht. Bei ihrer Krönung fünfhunderteinundfünfzig Fäuste und ein Fingergewicht. Bei ihrer Hochzeit sechshundertsechsundsechzig Fäuste und sechs Fingergewichte. Bei der Geburt ihres Sohnes siebenhundertfünfundsiebzig Fäuste und zwei Fingergewichte. Bei ihrem fünfzigjährigen Thronjubiläum fünfhundertvierzehn Fäuste und acht Fingergewichte. Bei ihrem fünfundsiebzigsten Thronjubiläum dreihundertsechsundsechzig Fäuste und drei Fingergewichte.« Der Priester sah die Rolle eine Zeit lang an. Er wirkte verwirrt. Dann verkündete er mit leicht schwankender Stimme: »Beim Wiegen nach dem Tod einhundertzwei Fäuste und drei Fingergewichte.« Ein Raunen durchlief die Menge bei dieser Zahl. Ashe und Achmed sahen sich an. »Das kann unmöglich richtig sein«, murmelte der Herr der Cymrer. »Wenn es stimmt, wiegt sie nicht mehr als bei ihrer Geburt und hätte höchstens die Körpermasse einer Dreijährigen.« »Offenbar ist die Waage falsch eingestellt«, meinte Achmed. Ein unterdrücktes Keuchen stieg vom Boden unter der Tribüne auf. Der Bolg-König schaute hinunter und sah, wie ihn die erste Reihe der Sorbolder mit einer Mischung aus Entsetzen und Abscheu anstarrte. Ashe beugte sich leicht vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Du solltest jetzt keine politischen Aussagen treffen«, sagte er leise. »Die Waage wird seit langem als unfehlbar in allen wichtigen Angelegenheiten angesehen. Wie du an der Litanei des kaiserlichen Lebens ablesen kannst, wird jeder Einwohner von Sorbold bei wichtigen Abschnitten seines Lebens gewogen – auch wenn nur die kaiserliche Familie das Recht hat, sich dieser besonderen Waage zu bedienen.« Achmed schluckte eine wütende Bemerkung herunter und blieb stumm. Er hatte die Schalen vor langer Zeit in Serendair an einer anderen Waage gesehen und kannte ihre Geschichte besser als Ashe. »Teile das Todesgewicht noch einmal mit«, befahl der Seligpreiser. »Einhundertzwei Fäuste, drei Fingergewichte.« Der Seligpreiser und der Patriarch tauschten einen raschen Blick. Dann drehte sich Nielash Mousa um und wandte sich an die Menge. »Während ihres ganzen Lebens hat Ihre Durchlaucht für Sorbold gelebt und geatmet. Es kommt nicht unerwartet, dass sie den Rest ihrer Lebensessenz in die Luft ausgeatmet hat«, sagte er mit seiner heiseren Stimme. »Sie hat alles, was sie besaß, ihrem Volk und ihrer Nation gegeben, sodass von ihrem irdischen Körper kaum etwas übrig geblieben ist, doch dessen Leichtigkeit zeigt deutlich, dass ihr Geist nun frei ist und sich in der Wärme des Nachlebens befindet.« Die Menge verfiel in skeptisches Schweigen. Der Seligpreiser gab den Soldaten ein Zeichen. Sie nahmen den kleinen, in Leinen gewickelten Leichnam von der Waagschale, legten ihn wieder auf den Katafalk, auf dem er geruht hatte, und verstauten die Fäuste in der Truhe. Die Soldaten, die den Kronprinzen getragen hatten, traten vor und hoben dessen Körper offenbar unter größeren Mühen als bei der Kaiserin auf die Waagschale. Wieder begann der Segner von Sorbold mit der Zeremonie und balancierte die Schalen mit den Sandsäcken langsam gegeneinander aus. Die Menge murmelte allmählich, als die Minuten verstrichen, doch der Seligpreiser fuhr peinlich genau mit seiner Arbeit fort und legte mit großer Genauigkeit jeden kleinen Sack auf den anwachsenden Haufen, wobei er immer wieder das Gleichgewicht untersuchte. Schließlich teilte er das Ergebnis dem Hauptpriester mit, der sich an den Patriarchen und an die Menge wandte. »Seine Hoheit, der Kronprinz Vyshla, wog bei seiner Geburt achtundzwanzig Fäuste und acht Fingergewichte«, verkündete er. »Mit Erreichen der Reife im Alter von elf Sommern sechshundertdreiundneunzig Fäuste.« Er hustete. Da es keine weiteren bedeutenden Ereignisse im Leben des Prinzen gegeben hatte, verlas er das Totengewicht. »Beim Wiegen nach dem Tod tausenddreihundertsechsundfünfzig Fäuste und drei Fingergewichte.« Ein seltsames Lautgemisch sprach sowohl von Erstaunen als auch von Belustigung, bevor die Menge wieder still wurde. Nielash Mousa räusperte sich. »Im Gegensatz zu Ihrer Durchlaucht, welche ihre gesamte irdische Essenz dem Dienst an ihrem Volk aufopferte, ist der Kronprinz Vyshla aus dem Leben geschieden, bevor er die Gelegenheit dazu hatte, obwohl er bestens darauf vorbereitet war, seinem Volk zu dienen. Sein Beitrag für Sorbold wäre zweifellos ein gewichtiger gewesen.« Der Segner von Sorbold stand eine Zeit lang da, weil er keine anderen freundlichen Worte fand, und bedeutete dann den Soldaten, den Leichnam von der Schale zu nehmen und ihn auf den Katafalk zurückzulegen. Schließlich gab der Segner den Priestern, die bereits eine Doppelreihe gebildet hatten, ein Zeichen, und gemeinsam mit ihnen und den Katafalken machten sie sich auf den langen Marsch nach Terreanfor. Sie schritten durch die Menge, ohne den Blick von dem Weg vor ihnen abzuwenden. Selbst wenn sie es getan hätten, wäre ihnen wahrscheinlich der Mann am Rande der Zuschauermenge nicht aufgefallen, der die Prozession mit ungewöhnlich freudigem Gesichtsausdruck beobachtete. Dieses Gesicht war viel fester und greifbarer geworden als beim letzten Mal, da er im Licht des Vollmondes am Fuß der Waage gestanden hatte. 21 Der Lärm der Menge war längst erstorben, als die Begräbnisprozession und die eingeladenen Würdenträger bei der Basilika im Nachtberg ankamen. Jeder der Gäste war gebeten worden, sein Gefolge am Bergpass zurückzulassen, der den Eingang zur Erd-Basilika bewachte. Zwanzig Regimenter mit sorboldischen Soldaten standen bereit, um diese Bitte freundlich durchzusetzen. Der Bolg-König und der Herr der Cymrer waren, weil sie nebeneinander gestanden hatten, in der Prozession ebenfalls zusammengeführt worden und folgten nun mit einem Gefühl des Unbehagens den Priestern in ihren vielfarbigen Gewändern. »Warum ist sie nicht hergekommen?«, fragte Achmed, während sie in eine Felsenschlucht hinabstiegen. Es war kaum mehr als ein oben offener Tunnel, dessen Wände sich hoch über die Prozession erhoben. Ashe lächelte in sich hinein und richtete den Blick auf den Kiesboden. »Sie hatte Wichtigeres zu tun.« Der Priester vor ihnen drehte sich um und starrte sie beide böse an, sagte aber nichts. Die beiden Herrscher verstummten. Bei dem Mund der Höhle, welche zu der Basilika führte, hielt die Prozession an. Die beiden goldenen Symbole, die vor ihr hergetragen worden waren, wurden zu einer Stelle in der Schlucht gebracht, von wo aus man den Himmel deutlich sehen konnte, und der Länge nach auf einen gewaltigen Zeremonienstein gelegt, über den Öl gegossen wurde. Die Gäste warteten, bis die Sonne das Feuer entzündet hatte, und verließen sich dann auf vier kleine Laternen, die ihnen den Weg in die Dunkelheit der Erdkathedrale erhellen sollten. Achmed betrachtete die dunklen Wände, während die Prozession den finsteren Tunnel hinabschritt, der zur eigentlichen Kathedrale führte. Die Erde, die am Eingang wegen des Kontaktes mit der Hitze der Oberwelt trocken und steinig gewesen war, wurde mit jedem Schritt kälter und feuchter. Das ferne, schwache Licht am Kopf der Prozession warf zitternde Schatten, zwischen denen man die Wände des Ganges erkennen konnte, die im Gegensatz zu normalen Höhlenwänden glatt und sauber und von der Natur wunderbar gefärbt waren, was leider in der Dunkelheit beinahe vollständig unterging. Als sich der Beerdigungszug tiefer in den Nachtberg hineinbewegte, verschwanden alle Geräusche der Oberwelt und wurden von dem langsamen, melodischen Gesang der Erde ersetzt. Das tiefe Timbre war so leise und ungewöhnlich, dass die meisten Würdenträger es gar nicht hörten. Im Gegensatz zu ihnen schwangen Achmeds Atmung und Herzschlag sich in diesen Rhythmus ein, und seine Schritte hallten in mühelosem Gleichklang. Von allen anderen schien nur Ashe dieses Pulsieren aufgenommen zu haben. Weit vorn flackerte Licht an den Wänden des Ganges. Der Zug der Geistlichen, Leichenträger und Trauernden verlangsamte sich, als er sich den tanzenden Schatten näherte. Die Würdenträger, die an das Ende des Zuges verbannt worden waren, mussten stehen bleiben und darauf warten, in die eigentliche Basilika eingelassen zu werden. Schließlich bewegte sich die Beerdigungsprozession durch einen hohen Torbogen in ein großes, kreisrundes Vorzimmer. Die Abmessungen des Raumes waren nur zum Teil in dem widerspiegelnden Licht sichtbar, das aus einem der drei halbkreisförmigen Alkoven in den Wänden drang. Jener Alkoven rechts von dem Trauerzug, der zunächst wie ein weiterer Torbogen ausgesehen hatte und doppelt so groß wie die anderen beiden war, strahlte Hitze und Licht von einer zuckenden Flamme aus, die mit einer Intensität brannte, welche man nur in dem reinen Feuer aus dem Herzen der Erde fand. Der kleine Flammenquell aus treibendem Licht warf helle Flecken in das Vorzimmer und bis kurz hinter den Torbogen, der in die Basilika führte. Aus dem Alkoven, der dem Zug unmittelbar gegenüberlag, hörte man ein tiefes Gurgeln und Plätschern. Das schwache Licht beleuchtete kurz den blubbernden unterirdischen Strom, der eine kleine, in sich selbst niederfallende und gleich wieder aufsteigende Fontäne bildete. Als die Prozession das Vorzimmer betrat, drang ein plötzlicher Wind mit dem schweren Geruch von Erde aus dem letzten Alkoven und fuhr über die Leute hinweg. Er war zwischen den Wänden gefangen. Lobgesänge an die drei anderen Elemente, erkannte Achmed und sah sich nach dem vierten, dem Äther um, doch er bemerkte keinen ihm geweihten Alkoven. Am Kopf der Prozession wurde ein Zeichen gegeben. Die vier kleinen Laternen wurden gelöscht. Es war Zeit, die Basilika zu betreten. Langsam wandte sich der Trauerzug nach rechts und ging durch den großen Torbogen. Nielash Mousa schritt als Seligpreiser von Terreanfor voraus in die eigentliche Kathedrale, die außer dem Seligpreiser und dem Hauptpriester kaum jemand zu sehen bekam. Der Patriarch, die Priester, die Katafalke, die Trauernden und Würdenträger folgten ihm. Als sie durch die Öffnung in die gewaltige Basilika traten, wurde das Lied der Erde lauter und deutlicher. Es nahm die gedämpften Töne der Minen an, das ferne Schlagen der Hämmer, das hohle Pfeifen aus unzähligen Höhlen, den Klang der Wurzeln, die sich mit der Zeit immer tiefer gruben. Innerhalb von Terreanfor hatte dieses Lied eine Stimme; es war eine tiefe, sanfte Melodie, die wie die ruhigen Mönchschoräle in einem dunklen Kloster klang. Bei diesem Gedanken erzitterte Achmed unwillkürlich. Die unangenehme Erinnerung verschwand sofort wieder; sie wurde zermalmt von der überwältigenden Feierlichkeit dieser vollkommenen Finsternis. Im schwachen Schein des Flammenquells, der aus dem Vorzimmer drang, erkannte er, dass die riesige Kathedrale voller Statuen war, die aus der lebenden Erde selbst gemeißelt waren. Hinter Säulen, die bis zur ungeheuer hohen, kaum zu erkennenden Decke reichten, stand eine ganze Menagerie von Tieren – lebensgroße Skulpturen, die Elefanten, Löwen, Gazellen und Tirabouri darstellten und die sich in der Dunkelheit zu bewegen schienen. Ihre Augen waren in steinernem Schweigen erstarrt. Eine nähere Untersuchung ergab, dass die Säulen wie Bäume gestaltet waren, in denen am Rande der Lichtfelder Vögel aus Lebendigem Gestein hockten, die in den reichen, tiefen Farben der Erde erstrahlten. Als Achmed an einem gigantischen Dickhäuter vorbeiging und die lebensechten Furchen in der Steinhaut bewunderte, dachte er an die frühen Tage, als er, Grunthor und Rhapsody aus dem Bauch der Erde hervorgekommen waren und diese neue und unvertraute Welt betreten hatten, einen Ort, der für jene, die nach ihnen die Insel verlassen hatten, zuerst zur Zuflucht und dann zur Eroberungsbeute geworden war, bevor sie ihn durch ihren närrischen Krieg und die kleinlichen Händel zugrunde richteten. Sie hatten vieles von der Geschichte ihres untergegangenen Heimatlandes und etliches von dem, was danach kam, im cymrischen Museum zu Ha-guefort erfahren, das von dem Historiker Stephen Navarne liebevoll eingerichtet worden war. Er war einer der wenigen seines Blutes, den Achmed wirklich mochte. Stephen hatte den dreien stolz die Stiche der fünf großen, zu Ehren der Elemente erbauten Basiliken gezeigt. Geduldig hatte er alle bei ihrem Namen genannt, auch wenn in vielen Fällen seine Übersetzungen des Alt-Cymrischen nicht genau waren: Abbat Mythlinis, die Kathedrale in Form eines großen Schiffswracks, das am Rande des Meeres nördlich von Avonderre in den Sand gebaut worden und allgemein unter der Bezeichnung All-Gott, Herrscher der See bekannt war; weiterhin Vrackna, die kreisrunde Basilika von Bethania, die wie die Sonne aussah und eine weitere, größere Feuerquelle aus dem Herzen der Erde umgab, die All-Gott, Feuer des Universums hieß; Ryles Cedelian, die Wind-Kathedrale, in deren Turm achthundertsiebenundsechzig Glocken hingen und den Boden mit ihrer Windmusik heiligten und bekannt waren als All-Gott, Geist der Luft, auch wenn Achmed wusste, dass die wörtliche Übersetzung Atem des Lebens hieß; und schließlich Lianta’ar, die größte aller Basiliken, die im heiligen Stadtstaat Sepulvarta stand und von einem Turm gekrönt wurde, der bis in den Äther reichte und unter dem der Patriarch seine Gottesdienste abhielt – All-Gott, das Licht der Welt. Er dachte daran, was Stephen über Terreanfor gesagt hatte, als er begeistert auf die Gipfel des Nachtberges gezeigt hatte. Dabei handelte es sich um die einzige Darstellung der Kathedrale in seiner Sammlung, da Terreanfor selbst natürlich verborgen war. Das ist die einzige nicht-orlandische Basilika, die Kirche des All-Gottes in Gestalt der Erde, genannt Terreanfor... Die Basilika ist in den Hang des Nachtbergs gegraben worden. Selbst bei Tag fällt kein einziger Lichtstrahl auf ihre Mauern, geschweige denn ins Innere. Sorbold liegt in einer Trockenzone; es ist das Reich der Sonne, und deshalb wird der Nachtberg als ganz besondere Stätte verehrt. Obwohl Sorbold eine Diözese unserer Kirche und dem Glauben an den All-Gott verschrieben ist, sind dort noch Reste der alten sorboldischen Religion aus heidnischen Tagen wirksam. Man glaubt, dass Teile der Erdkruste nach wie vor lebendig sind und dass der Nachtberg einer dieser Orte des Lebendigen Gesteins ist. Die Erddrehung selbst heiligt immer wieder den Boden der Basilika. Es ist wirklich ein zutiefst magischer Ort. Als Achmed nun unter den hoch aufsteigenden Steinbäumen und an den gewaltigen, aus Lebendigem Gestein gemeißelten Kreaturen entlangschritt, musste er der Einschätzung des verstorbenen Herzogs zustimmen. Als die Prozession an dem Garten der Tiere vorbeigegangen und in das innere Heiligtum eingetreten war, wo die Statuen nun Soldaten darstellten, bemerkte Achmed ein weiteres Licht vor ihm, doch dieses war kalt und brannte nicht wie Feuer. Eine nähere Untersuchung ergab, dass einige der Felsen, die in die Erd-Kathedrale ragten, aus sich selbst heraus schimmerten. So etwas hatte er nur bei seiner Reise durch die Erde gesehen. Das Element des Äthers, dachte er. Endlich. Als er und Ashe gerade unter den erhobenen Klingen zweier Steinsoldaten hindurchgingen, welche den Mittelgang flankierten, hielt die Prozession an. Weit vor sich erkannte er kaum die Bewegungen der Leichenträger, welche die in Leinen gehüllten Körper auf die Altäre aus Lebendigem Gestein legten, aus denen hauptsächlich das Lied der Erde austrat. Die Schwingungen des Liedes, das zwar beruhigend war, aber einen Unterton des Schmerzes hatte, umgaben ihn, als zuerst der Patriarch und dann der Seligpreiser mit den Leichengesängen auf Alt-Cymrisch begannen, der Umgangssprache Serendairs, die nun tot war und nur noch bei religiösen Zeremonien gebraucht wurde. O unsere Mutter Erde, die auf uns unter dem ewigen Himmel wartet, gib uns Schutz, erhalte uns, gib uns Rast. Achmed wusste nicht, wie lange die Zeremonie dauern würde. Es waren entweder nur Augenblicke oder ganze Ewigkeiten vergangen, als sich die Prozession wieder in Bewegung setzte. Der Seligpreiser führte die Geistlichen, Leichenträger und Trauernden tiefer in die dichte Finsternis, an den Altären aus Lebendigem Gestein vorbei, die im selben milden, volltönenden Klang der Erde um sie herum schwangen. Tief in seiner Seele verspürte Achmed ein schmerzhaftes Ziehen, ein Verlangen, innerhalb dieser dunklen Wände zu bleiben, die im Licht vor reinem, ungeschmälertem Leben grün und rosa, purpurn und blau schimmern würden. Hier lag eine tiefe, elementare Kraft verborgen, die zu seinen beiden Abstammungslinien sprach, zu der dhrakischen Liebe seiner Mutter zur tiefen Erde und zu seinem unbekannten Vater als Höhlenbewohner. Er musste sich dazu zwingen, mit Ashe Schritt zu halten, den er in der Dunkelheit kaum mehr erkennen konnte. Der Zug gelangte an eine hohe, gerade Treppe, die sich in die Finsternis hinter den Altären erstreckte. Während sie die Stufen hochgingen, wurde die Luft wärmer und leichter. Ein grauer Dunst erfüllte allmählich den Raum vor ihnen. »Das muss die Treppe zu den Grablegen sein«, murmelte Ashe, als sich die Finsternis langsam zerstreute. Achmed grunzte nur und wünschte, das endlose Ritual wäre bald vorbei, damit endlich das Kolloquium beginnen konnte, bei dem sich Sorbolds Zukunft entschied. Schließlich kamen sie zu einem Absatz, einem weiten, offenen Boden mit niedriger, gewölbter Decke. Hier ging das Licht von einer großen Anzahl schimmernder Felsen aus, wie Achmed sie schon zuvor gesehen hatte. Zwei Gerüste standen in der Mitte dieses offenen Raumes und waren mit Seilen verbunden, die von der Decke hingen, in welcher rechteckige Löcher zu sehen waren. Der Seligpreiser begann mit den letzten Riten, den Bestattungszeremonien, die denen glichen, welche in der patrizianischen Kirche von Roland abgehalten wurden, doch sie beinhalteten Elemente des alten Weges und mehr heidnische Reste, als Stephen damals erwähnt hatte. Als er schließlich fertig war, wandte er sich an die Versammelten. »Meine Kinder, der Ritus der Übergabe an unsere Mutter, die Erde, ist vollendet. Nun bleibt nur noch die eigentliche Beerdigung übrig, die Erhebung der Leichname in ihre einzelnen Grablegen innerhalb des kaiserlichen Mausoleums über uns. Wenn ihr jetzt gehen wollt, werden euch die Messdiener bis nach Jierna Tal begleiten, wo ein Leichenschmaus stattfinden wird, nach dem wir das Kolloquium einberufen werden. Falls jemand über die Treppe der Treuen zu der Aussichtsplattform der Grablege gehen will«, fügte er hinzu und deutete auf eine kleine Tür in der Wand neben den Gerüsten, die schon an den Seilen in Richtung Decke gezogen wurden, »ist er willkommen, den letzten Begräbnisriten beizuwohnen. Ich bitte um Beachtung, dass die Treppe der Treuen sehr gewunden und eng ist. Wer nicht gesund ist oder sich an engen Orten unwohl fühlt, wird freundlich ersucht, besser nach Jierna Tal zurückzugehen.« Die meisten Würdenträger eilten hinter den losmarschierenden Messdienern her und der Luft der Oberwelt entgegen. Nicht jedoch der Herr der Cymrer und der Firbolg-König. Sie schauten einander fragend an, eilten dann gemeinsam zu der Tür, auf welche der Seligpreiser gedeutet hatte, und liefen die Treppe hoch. Der Seligpreiser hatte die Enge der Wendeltreppe nicht übertrieben. Achmeds Schulter und Ashes ganze rechte Seite schrammten an der gekrümmten Wand entlang, während sie die immer enger werdende Wendeltreppe hochstiegen. Dabei wurde die Luft beständig wärmer und der Boden trockener und lebloser. »Das war eine schlechte Entscheidung«, murmelte Achmed nach der dreizehnten Drehung um die Achse der Wendeltreppe. »Eigentlich muss ich die Grablege nicht sehen. Ich war nur neugierig, wie es gelingen würde, den Kronprinzen in seine Gruft zu ziehen.« »Vielleicht haben sie ein paar Zugpferde und einen Elefanten im Obergeschoss«, meinte Ashe und zog die Schulter ein, damit sie nicht noch stärker aufgeschürft wurde. »Wenn noch mehr als eine ganze Umdrehung kommt, gehe ich zurück«, erklärte der Bolg-König, während er langsam weiterkletterte. »Die Treppe könnte auch bis in die Spitze eines dieser Gipfel führen...« Ashe hörte, wie Achmed plötzlich verstummte. »Was ist los?«, fragte er, als der Bolg-König stehen blieb. Achmed kam nicht mehr dazu, eine Antwort zu geben. Stattdessen machte er ein paar zögernde Schritte nach vorn und sah sich staunend um. In die obere Begräbniskammer von Terreanfor mit ihren einzelnen Mausoleen der Monarchen von Sorbold zu treten war wie der Eingang in einen lebenden Regenbogen. Die Kapelle hatte eine geringe Grundfläche, war aber sehr hoch. Die Decke wurde von dünnen Säulen gehalten, die mit Statuen von Menschen geschmückt waren; es handelte sich wohl um legendäre Gestalten aus der sorboldischen Geschichte, den plumpen Gesichtszügen nach zu urteilen. Die Statuen markierten Abschnitte der Gruft, die in den Wänden beinahe unsichtbar waren. Diese Wände bestanden ausschließlich aus wundervollem Bleiglas. Der Bolg-König machte einen weiteren Schritt in einen leuchtenden Fleck aus rosigem Licht hinein, an den sich schimmerndes Blau anschloss, das sanft pulsierte, als eine Wolke im Himmel über den Wandfenstern vorbeitrieb. Der Blick seiner verschiedenfarbigen Augen glitt über das Panorama aus wunderbaren Farben über ihm und um ihn herum; er trank diese Schönheit, die Handwerkskunst von tausend Jahren und die Arbeit von unzähligen Generationen Geschicktester Künstler, die gemeinsam ein in die Nachmittagssonne getauchtes, nach Westen gerichtetes Paradies geschaffen hatten. »Ein angenehmer letzter Blick.« Ashes Stimme klang nur gedämpft an seine Ohren. Achmed schüttelte die Worte einfach ab. Er hatte sich in der Majestät der Regenbogen verloren, die entlang der Gruftmauern in der gewölbten Decke erstarrt waren. Sein Bewusstsein, das seinem ästhetischen Sinn eine ferne Sekunde später folgte, machte ihn auf zwei Dinge aufmerksam. Erstens erkannte er, dass jede einzelne Grablege der sorboldischen Kaiser ihr eigenes, makellos aufgeführtes Fenster hatte, das ein stilisiertes Bild vom Leben des Monarchen gab. Leitha war als schöne, rundliche Frau in reicher Kleidung dargestellt. Mit der einen Hand verteilte sie Brot an die Armen, in der anderen trug sie ein Schwert. Die Fenster waren offensichtlich schon viele Jahre zuvor in Auftrag gegeben worden, möglicherweise hatte man mit der Arbeit daran schon bei ihrer Geburt begonnen. Die künstlerische Vollendung dieses Fensters und der anderen, welche ihre Vorfahren priesen, war atemberaubend. Zweitens sah er von der Grabkapelle aus einige Schatten hinter den Fenstern, welche die Gruft der Kaiserin und ihres Sohnes verschließen würden. Sie glitten vor und zurück, beugten sich, legten Glas an Glas und brachten sorgfältig die letzten Einzelheiten an – das Todesgewicht, den letzten historischen Bericht für die Nachwelt, unsterblich gemacht in Sand und Hitze und Mineralien, die winzige Scheiben aus großartigen Farben bildeten, damit die Erinnerung blieb, wenn alle, die sie im Leben gekannt hatten, im Tod mit ihnen vereinigt waren. Glaskünstler. 22 Als er an der westlichen Bergseite entlangging, welche die Gruftfenster enthielt, überdachte Achmed seine Haltung einem Gefolge gegenüber. Zwar hatte der Umstand, dass er allein zu der Beerdigung und dem danach sich unzweifelhaft entspinnenden Streit gekommen war, schon die beabsichtigte Botschaft übermittelt, doch die Anwesenheit eines Gehilfen hätte ihn davor bewahrt, sich um alles selbst kümmern zu müssen und zu spät zum Kolloquium zu kommen. Als er die Bergspitze umrundet hatte, hing die Sonne schon tief im Himmel und tauchte das Land in die Farbe des Blutes. Er schirmte die Augen ab und hielt nach den Glaskünstlern Ausschau, die er als Schatten vom Inneren der Gruft aus gesehen hatte. Die meisten von ihnen waren verschwunden. Die Übriggebliebenen packten gerade ihr Werkzeug und Material auf hell bemalte Wagen und machten sich daran, vor Einbruch der Nacht den Berggipfel zu verlassen. Achmed bemerkte, dass diese Gruppe sowohl aus Männern als auch aus Frauen bestand, mit dunklen Haaren, dunklen Augen und dunklem Gesicht, gekleidet in Nomadengewänder und jeder mit einem Gürtel, dessen Farbe angab, zu welchem Klan er gehörte, auch wenn sie nicht alle denselben ethnischen Hintergrund zu haben schienen. Die meisten waren schlank, drahtig und von ähnlichem Körperbau wie er selbst. Die Männer waren allesamt rasiert und geschoren. Auch die Frauen trugen ihr Haar kurz, sodass sie auf den ersten Blick schwer zu unterscheiden waren. Als sie ihre Ausrüstung auf die Packtiere banden und den Rest in den drei Wagen verstauten, redeten sie in einer Sprache miteinander, die er nicht verstand. Er rannte auf die Stelle zu, wo einige der Künstler letzte Glasurschichten auf die frisch bearbeiteten Fenster auftrugen und einige ältere säuberten, doch sofort wurde er von vier sorboldischen Soldaten aufgehalten, welche die Glaskünstler bewachten. »Was machst du hier?«, befahl ihm ein stämmiger Kolonnenführer, während die anderen ihre Piken senkten. »Geh zurück.« Achmed blieb sofort stehen und legte die Hände an die Seite. Mit seinen verschiedenfarbigen Augen schaute er den Kommandanten an. Nach einem Moment eisigen Schweigens flüsterte eine Wache einer anderen etwas hinter dem Rücken des Anführers zu. Er glaubte, die Worte Bolg-König zu verstehen. Anscheinend hatte er richtig gehört, denn der Anführer der Kolonne trat zur Seite und starrte ihn schweigend an. Ein Rang hatte genauso große Vorteile wie allseits bekannte Hässlichkeit. »Ich will mit den Künstlern sprechen«, sagte er fest und trat so wenig bedrohlich wie möglich an die Soldaten heran. Sie schauten zuerst einander und dann den Kolonnenführer an. »Die meisten von ihnen sprechen keine bekannte Sprache«, sagte der Anführer. »Majestät«, fügte er widerstrebend nach einer Sekunde hinzu. »Wer sind sie?« Der Soldat schüttelte den Kopf. »Wanderer. Reisende Handwerker aus dem Südosten. Sie nennen sich die Panjeri. Offenbar hat die Kaiserin sie angestellt; sie sind immer wieder hergekommen und haben sich um die Glasarbeiten gekümmert. Eine der Frauen hat gesagt, dass sie bald abreisen.« Bei dem Wort Frauen hatte seine Stimme einen unangenehmen Unterton angenommen. »Welche Frau?«, fragte Achmed und sah an den Soldaten vorbei zu den Kunsthandwerkern. Er erkannte vier Frauen. Der Kolonnenführer zuckte die Achseln, drehte sich um und schaute sie eine Weile an. »Sie sehen alle gleich aus«, sagte er schließlich. »Ich empfehle Euch diese dort, Majestät.« Er deutete an einem Felsvorsprung vorbei auf ein Gerüst, das an der runden Klippe verankert war, in denen die Gruftfenster steckten. Auf diesem Gerüst befand sich noch eine einzelne Künstlerin, während die übrigen bereits zusammenpackten. Sie war in die Hocke gegangen und polierte eingehend einen kleinen Teil des frisch eingesetzten Glases vor der Gruft des Kronprinzen. Sie bemerkte weder die untergehende Sonne noch die gelegentlichen Rufe ihrer Kameraden. Achmed nickte knapp. Ihm schmerzte der Kopf vor einem unangenehmen Summen und dem Wissen, dass das Kolloquium entweder auf ihn wartete oder – schlimmer noch ohne ihn angefangen hatte. Er erkletterte die Überreste der Böschung und überquerte rasch den Felsvorsprung. Vor dem Gerüst blieb er stehen. Einige Panjeri hielten in ihrem Tun inne und starrten ihn an. »Wer ist euer Anführer?«, fragte er drei Männer und eine Frau, die ihn genau beobachteten. Die Männer tauschten einen raschen Blick aus und schauten ihn wieder an. »Versteht mich jemand von euch?«, fragte Achmed und versuchte, seine Enttäuschung im Zaum zu halten. Nur Schweigen antwortete ihm. Schließlich entfernte er sich von ihnen. Er spürte, wie ihre Blicke ihm folgten, und näherte sich dem Gerüst. Die Frau darauf war noch immer mit ihrer Arbeit beschäftigt. Sie fuhr mit einem kleinen, groben Werkzeug über das Glas und polierte es, während sie gleichzeitig noch einmal die Naht überprüfte. Einer der anderen Handwerker rief ihr ungeduldig etwas in einer Sprache zu, die Achmed nicht erkannte, und sie gab darauf eine bissig klingende Bemerkung zurück. Als sie sich umdrehte und noch etwas sagen wollte, fiel ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf den Bolg-König, doch sie schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit, sondern wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Während sich schließlich der Rest der Panjeri zusammen mit den Kisten und Tieren an den Abstieg machte, kamen zwei Männer hinüber zum Gerüst. Einer packte die Stützstreben und schüttelte sie. Dabei schwankte die Frau leicht, aber sie brachte sich mit einer blitzschnellen Bewegung wieder ins Gleichgewicht. Sie ergriff einen kleinen Messingtopf, in den sie ihr Werkzeug eingetaucht hatte, und warf ihn dem Mann entgegen. Sie verfehlte seinen Kopf um Haaresbreite, doch die Flüssigkeit ergoss sich über ihn. Ihre Werkzeuge warf sie in Richtung des anderen Mannes und stieg von der Plattform herunter. Aus ihren dunklen Augen schössen Blitze auf den Mann, der an dem Gerüst gerüttelt hatte. Achmed stand in der Nähe und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erringen, während sie mit ihrem Gefährten einige heftige Worte austauschte und sich dann bückte, um den Topf aufzuheben. Die Männer packten das Gerüst, schlugen es rasch ab und trugen die Einzelteile zu dem übrig gebliebenen Wagen. Als die Frau ihren Topf wieder in der Hand hielt, drehte sie sich um und wollte den Männern folgen. Achmed drängte sich schnell zwischen sie und den Wagen. »Hallo«, sagte er unbeholfen. Er biss die Zähne zusammen und wünschte sich, Rhapsody wäre hier und würde den Kontakt für ihn herstellen. Er hasste Gespräche im Allgemeinen und den Beginn von Gesprächen im Besonderen. Seine Abscheu vor einer Kontaktaufnahme mit Leuten, die nicht seine Sprache sprachen, überstieg jedes vernünftige Maß. »Sprichst du die Sprache dieses Kontinents?« Die Augen der Frau verengten sich. »Nein, leider nicht«, sagte sie knapp und wollte an ihm vorbeigehen. Achmed sprang zur Seite und schnitt ihr so wieder den Weg ab. »Warte bitte.« Er schaute auf sie herunter, und ein Gefühl gezügelter Erregung überkam ihn. Die Frau war kaum so groß wie Rhapsody. Und wie Rhapsody steckte sie in praktischen Kleidern, in einer Hose und einem fleckigen cambrischen Hemd. Vor Erschöpfung atmete sie schwer, und ihre Wangen waren gerötet. Kurze, dunkle Haarlocken rahmten ihr Gesicht ein, das unter einer Lage aus schmutzigem Sand und Streifen getrockneten Schweißes von der Arbeit auf dem Gerüst sehr zarte Züge zeigte. Die dunklen Augen waren groß und bemerkenswert geformt. In diesen Augen schimmerte eine Verachtung, die er nicht übersehen konnte. Er kannte sie vom Spiegelbild seines eigenen Gesichtes her. Ihre Haltung ähnelte der seinen; sie ertrug weder Narren noch jemanden, der sich ihr in den Weg stellte. »Bist du hier fertig?«, fragte er. Die Frau warf den Topf einem der Männer zu, die neben dem Wagen warteten. »Hat man dich geschickt, um uns zu bezahlen?« »Nein«, sagte Achmed rasch. »Dann geh mir aus dem Weg.« Sie schritt an ihm vorbei zu dem Wagen und machte sich daran, auf ihn zu klettern. Achmed packte sie am Arm. Der Aufruhr, der sich daraus ergab, überraschte ihn. Er verfluchte sich, dass er ihn nicht vorhergesehen hatte. Ohne das geringste Zögern rammte die Frau ihm die Faust gegen die Schulter und drückte ihn fort. Er musste seinen Griff lockern. Als sie herumwirbelte, zogen die übrigen Kunsthandwerker, Männer sowie Frauen, scharfe Messer und Werkzeuge. Achmed ließ rasch ihren Arm los und hielt die Hände hoch. »Entschuldigung«, sagte er und verfluchte sich still. »Ich kann das nicht gut. Ich will euch anheuern.« Die Frau schaute ihn kurz an und nickte dann ihren Gefährten zu, die weiter den Wagen beluden. »Uns anheuern?«, fragte sie verächtlich. »Das kannst du dir nicht leisten.« »Ich ... ich bin König Achmed von Ylorc«, stammelte er. »Wie schön für dich. Du kannst es dir trotzdem nicht leisten. Und jetzt sei bitte so freundlich und geh mir aus dem Weg.« Die Frau wandte sich um und ging fort. Achmed fühlte sich, als ertrinke er. Seine übliche Gelassenheit war verschwunden; er war verzweifelt und über jedes vernünftige Maß hinaus besorgt. »Wie hoch ist der Preis?« Die Frau drehte sich um und schaute ihn scharf an. Sie dachte über seine Frage nach und atmete tief ein, um sich zu beruhigen; dann sagte sie: »Jeder von uns ist ein verbriefter Meister. Zweihunderttausend Goldsonnen.« Achmed schluckte schwer. »Abgemacht«, sagte er. »In Edelsteinen. Wir können nicht so viele Münzen mit uns herumschleppen.« »Wie ihr wünscht.« »Heute.« Der Bolg-König hüstelte. »Heute?« Die Frau nickte und hielt die Augen auf sein Gesicht gerichtet. »Heute. Vor Sonnenuntergang.« »Das werde ich wohl kaum schaffen.« Sie nickte. »Wie ich dir gesagt habe, du kannst es nicht bezahlen.« Sie kehrte zum Wagen zurück und machte sich daran hinaufzuklettern. Achmed setzte ihr nach. »Warte bitte. Ich kann euch heute Abend einen gedruckten Schuldschein geben.« Die Frau lachte. Sie sprang vom Rand des Wagens und stellte sich vor Achmed. »Du kennst die Panjeri nicht, oder?« Der Bolg-König schüttelte den Kopf und schluckte eine böse Bemerkung herunter. »Dann weißt du auch nichts über unsere Kunst und unsere Geschäfte. Und über unsere Sprache. ›Panjeri‹ bedeutet ›die trockenen Blättere Wir werden so genannt, weil wir wie im Wind umhertreiben, von Ort zu Ort eilen und nie irgendwo länger bleiben als ein abgefallenes Blatt in einer windigen Wüste. Es tut uns weh, längere Zeit zu verharren. Wenn du ein Dutzend Panjeri bittest, an einen bestimmten Ort zu kommen, ist das, als würdest du ein Dutzend Blätter bitten, während eines Sturmes auf dem Boden liegen zu bleiben.« »Ich brauche kein Dutzend Panjeri«, sagte Achmed rasch und bemühte sich, seine Stimme nicht allzu gebieterisch klingen zu lassen. »Ich brauche nur einen – den besten, fähigsten, erfahrensten. Das Blatt, das im Sturm nicht gleich dahinjagt.« Er hob die Brauen, hielt den Kopf schräg und sah die anderen versammelten Arbeiter an. Ein schiefes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. »Welcher würde das wohl sein?« Daraufhin verengten sich die Augen der Frau. »Das wäre ich«, sagte sie überheblich. »Und wie wirst du gerufen, Größte aller Panieri?« »Theophila.« »Ich verstehe. Da ich keine Gelegenheit habe, die anderen Panjeri zu fragen«, fuhr der Bolg-König fort und schaute die übrigen Kunsthandwerker weiterhin an, die ihm vom Wagen aus entgegenstarrten, »und ihnen kaum klarmachen könnte, was ich von ihnen will, muss ich wohl davon ausgehen, dass du das schwerste Blatt bist.« Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust. »Selbst wenn sie anderer Meinung wären, könntest du nicht verstehen, was sie sagen.« Achmed nickte und presste die Lippen in gespielter Zustimmung aufeinander. »Das ist richtig. Nun gut, Theophila, falls du wirklich die beste Glaskünstlerin der Panjeri bist, wie hoch ist dein Preis, wenn du für mich arbeitest?« Sie dachte einen Moment lang nach. »Für wie lange?« »So lange wie nötig. Wenn du das, was du begonnen hast, nicht zu Ende bringen willst, werde ich dich auf keinen Fall anstellen.« Die Frau blickte finster drein. »Ich lasse nie eine Arbeit unvollendet zurück«, knurrte sie. »Ich glaube, du hattest vorhin Gelegenheit, dich davon zu überzeugen.« »Richtig. Ich frage dich noch einmal, wie hoch dein Preis ist.« Die Frau schaute ihn erneut an und lehnte sich gegen die Trittleiter des Wagens. »Ein Grund«, sagte sie. »Ein Grund?« »Ja. Ein Grund, um meine Reise zu unterbrechen, mich von meinen Gefährten zu trennen und an einem unbekannten Ort zu bleiben, solange es dir beliebt. Kannst du mir dafür einen zwingenden Grund nennen?« Achmed dachte einen Augenblick lang nach. »Ja«, sagte er schließlich. »Ich kann dir versprechen, dass das Glas, das du für mich herstellen, und das Projekt, an dem du mitarbeiten sollst, völlig anders ist als alles, was du je gemacht hast oder je machen wirst.« Theophila zuckte die Achseln. »Das ist nicht zwingend genug«, sagte sie sanft. »Das kann man von den meisten Projekten behaupten, an denen wir arbeiten. Die Herausforderung mag groß sein, aber sie kauft mir kein Werkzeug und ernährt nicht meine Familie.« Sie setzte den Fuß wieder auf den Wagenrand und zog sich hoch. Der Bolg-König lächelte leicht. »Werkzeuge? Ja. Ich habe bemerkt, dass eure Zangen rostig und eure Feilen und Schleifer schadhaft sind. Wenn sich dein Preis nicht nach Edelsteinen bemisst, dann vielleicht nach besserem Werkzeug.« Die Frau hielt inne, drehte sich zu ihm um und sah ihn kalt an. Einer der Männer im Wagen winkte ihr ungeduldig zu, und eine andere Frau sagte etwas, doch Theophila brachte beide mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Vielleicht weißt du doch ein wenig über unsere Arbeit«, sagte sie. »Was weißt du über Werkzeuge?« »Alles«, erwiderte Achmed keck. Er fühlte sich, als setze er beim Kartenspiel, und hasste es. Er griff in seinen Stiefel, zog eine leichte svarda hervor und balancierte eine der drei Klingen auf der behandschuhten Fingerspitze aus. Dann streckte er die Hand aus und zeigte das vollkommene Gleichgewicht der Waffe. Die Panjeri im Wagen rissen die Augen auf und starrten die kreisrunde Klinge an, die in der Luft über Achmeds Zeigefinger schwebte. Nur Theophila schien unbeeindruckt zu sein. »Wir haben keine Verwendung für Wurfmesser«, sagte sie verächtlich, doch Achmed bemerkte ein leichtes Schwanken in ihrer Stimme. Auch sie spielte mit verdeckten Karten. »Meine Leute können jede Waffe und jedes Werkzeug herstellen, und zwar aus Materialien, die ein Leben lang halten und noch deinen Enkeln dienlich sein werden. Sie bleiben scharf und verlässlich und weichen nicht um eine Haaresbreite von den Maßen ab, in denen sie geschmiedet wurden.« »Oh. Besser als diamantrandiger Stahl?« »Ja, besser.« Sie warf den Kopf zurück und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Locken. Schweißtropfen flogen in alle Richtungen. »Ich glaube dir nicht.« Achmed holte eine Cewllan-Scheibe hervor. »Untersuche sie selbst. Aber sei vorsichtig. Wenn du ungeschickt bist, wirst du dich verletzen. Sie hat keinen Griff; es ist eine Waffe, kein Werkzeug.« Er kicherte, als er die Wut über diese Beleidigung in ihren Augen sah, auch wenn sie keine Miene verzog. Vorsichtig ergriff sie die Scheibe und drehte sie in der Hand. Sie hielt sie gegen die letzten Strahlen der tief hängenden Sonne. Nun kniete sie sich und schlug die Scheibe gegen einen Fels, dann fuhr sie mit der Oberfläche über den rauen Stein. Sie richtete sich wieder auf und gab Achmed die Scheibe zurück. »Wir verlassen Sorbold, sobald wir bezahlt worden sind«, sagte sie und ging unterdessen fort. »Wann wird das sein?«, fragte er, während sie in den Wagen kletterte und sich neben eine der anderen Frauen setzte. Der Mann, der das Gerüst geschüttelt hatte und nun auf dem Kutschbock saß, gab den Pferden ein klickendes Zeichen, und der Wagen fuhr an. Sie rief durch den Lärm des Wagens, der bereits hinter der ersten Felserhebung verschwand: »Sobald sich der Wind dreht.« Als der Bolg-König nicht mehr zu sehen war, fragte eine der Frauen in ihrer aussterbenden Sprache: »Theophila, was wollte der Mann?« Die Frau schaute über die Seitenwand des Wagens gegen den steinigen Hang des Berges. In der Ferne sah sie einen langen, dünnen Schatten vor der untergehenden Sonne, der wie eine Spinne den Berg hinabhuschte, von Zeit zu Zeit anhielt und dann weiterlief, während der Wagen langsam außer Sichtweite rumpelte. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte sie. »Er will mich wegen meiner Erfahrungen mit Bleiverglasungen anstellen.« Die Panjeri sahen sich an. »Wirst du mit ihm gehen?« »Vielleicht. Wir werden sehen. Falls er zurückkehrt, bevor wir morgen früh abreisen, begleite ich ihn möglicherweise. Aber ich bezweifle, dass er kommen wird. Ich muss es allerdings mit dem Führer besprechen.« »Du hast die freie Wahl«, sagte einer der Männer neben ihr. Sie bedeckte die Augen mit der Hand und versuchte, den schleichenden Schatten ausfindig zu machen, doch es gelang ihr nicht. Sie nahm die Hand wieder herunter und schaute auf die rote Wüste unter ihr. »Ich weiß.« Achmed sah dem Wagen nach, bis er das Flachland erreicht hatte, und folgte ihm auf dem Bergkamm. Er beobachtete, wie der Wagen in ein Lager einfuhr, in dem schon drei weitere Karren sowie eine Hand voll Zelte standen und ein zeremonielles Feuer entzündet worden war. Er merkte sich die Lage der Zelte genau und eilte dann über den Berghang zurück zur Burg von Jierna Tal, während die Nacht hereinbrach und die Himmelskuppel über Sorbold mit einer tintenartigen Schwärze überzog, in der keine Sterne zu sehen waren. 23 Nielash Mousa wurde der Faustgewichte und Waagschalen, des Sandes und des Wiegens müde. Als die Begräbnisriten im tiefen Tempel von Terreanfor und der bleiverglasten Krypta in der Spitze des Berges vorüber waren, hatte er gehofft, sich der wichtigeren und schwierigeren Aufgabe widmen zu können, Sorbolds Zukunft zu gestalten. Vermutlich hatte die Kaiserinwitwe geglaubt, es sei das Wichtigste, ihren Platz in der Ewigkeit mit Pomp und Feierlichkeit zu sichern und ihre morschen Knochen im strahlenden Licht der Bleiglaskapelle beizusetzen, doch Mousa wusste, dass die Toten warten konnten, nicht aber die Lebenden. Schon gab es Aufruhr im Heer. Die Macht der Kaiserin über das Heer war legendär gewesen. In einem rauen Land, das hauptsächlich aus treibendem Wüstensand und undurchdringlichen Bergen bestand, war die Frage des Grundeigentums weniger wichtig als in anderen Teilen der Welt, wo das Land ergiebiger war. In Roland konnte man sich ein Stück der Krevensfelder oder eines Flusstales abstecken, darauf bauen und Landwirtschaft treiben, es seinen Kindern vererben, also seine Seele und die seiner Abkömmlinge im Boden verankern. Herrscher kamen und gingen, Steuern wurden widerstrebend an die Krone gezahlt, aber das Land gehörte denjenigen, deren Blut es geformt hatte und die es weiterhin bestellten. Genauso war es in den großen orlandischen Städten. Jeder Palast, jede Basilika stellte die Träume, Sehnsüchte und Anstrengungen von weitaus mehr Leuten als dem Herzog dar, der darin wohnte, oder dem Seligpreiser, der darin seine Riten vollführte. Es war die tausendfach vergrößerte Vision des Architekten, die Mühe des Tischlers, die Arbeit des Steinmetzen, und jedes Geschäft, jede Gilde spiegelte das Konzept des Besitztums wider, einer persönlichen Macht im Schatten eines schwachen Führers. Die Unbeständigkeit des sorboldischen Bodens, auf dem man nur wenige und weit voneinander entfernte Städte errichten konnte, führte zum Gegenteil. Die Wüste vereitelte die kümmerlichen Versuche, sie zu erobern und zu gestalten. In dieser Hinsicht hatte sie vieles mit dem Meer gemeinsam. Bei den Bergen war es ähnlich. Daher bestand die einzige wirkliche Macht, die das Land bereitstellte, im reinen Element des Lebendigen Gesteines, das jeder Herrscher der Dunklen Erde hoch achtete und schätzte. Seit fünf Generationen hatte sich diese Macht unangefochten im eisernen Griff der sorboldischen kaiserlichen Familie befunden. Jede Generation hatte nur einen einzigen Erben hervorgebracht. Leitha war als einziges Kind den Lenden ihres Vaters entsprossen, so wie er das einzige Kind seines Vaters und Vyshla ihr einziger Nachkomme gewesen war. Diese Zusammenballung hatte ihre Familie noch mächtiger gemacht. Und das Heer respektierte offenkundige Macht. Doch nun war aufgrund eines grausamen Schicksals der Thronerbe der Herrscherin vorangegangen, ohne einen unmittelbaren Nachfahren zu hinterlassen. Daher gab es niemanden, der einen eindeutigen Anspruch auf den Thron hatte. Die Riege der Kandidaten mit entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen zur kaiserlichen Familie war groß und zweifelhaft. Es gab schon Aufregung um das Gerücht, dass sich der Kommandant der westlichen Streitkräfte niemandem unterwerfen wollte, dessen Anspruch auf Leithas Thron kaum berechtigter war als sein eigener. Trotz dieser Spannungen waren alle gekommen: jeder Anwärter auf den Sonnenthron, der auch nur einen Tropfen kaiserliches Blut in den Adern hatte. Es war nicht das Verlangen nach dem Mantel des Kaisers, das sie auf die Jagd nach dem Thron schickte – die mit der Krone verbundene Verantwortung war größer und drückender als die Freuden der Macht -, sondern das Bestreben, ihre eigenen Vorrechte und Besitztümer zu wahren. Ohne irgendeinen Familienangehörigen auf dem Thron gerieten all jene, die aufgrund ihrer Geburt an die reichen Geschenke und das angenehme Leben eines Mitgliedes der kaiserlichen Familie gewöhnt waren, in Gefahr, ihre Vorrechte zu verlieren. Mousa hatte den größten Teil des Nachmittags in der Hitze neben der Waage gestanden, während Kandidat nach Kandidat die Stufen zu den Waagschalen hochstieg, um sich und sein angebliches Recht auf die Herrschaft wiegen zu lassen, während auf der anderen Schale der Staatsring lag. Einer nach dem anderen trat nervös auf die leere goldene Schale und beäugte den kleinen Ring aus Hämatit und Rubinen auf der anderen. Einen nach dem anderen wogen die Schalen und warfen ihn ab, manche heftiger als andere, als ob das große Instrument nicht nur ihren Anspruch verneinte, sondern sie absichtlich mehr oder weniger stark aus dem Gleichgewicht brachte. Diejenigen, die von der Begräbniszeremonie am Morgen übrig geblieben waren, hatten grobe Laken und Proviant mitgebracht und lagerten auf dem Platz, um das Schauspiel zu beobachten. Ihre Ausdauer wurde belohnt; einige der Kandidaten waren auf so lächerliche Weise auf den Kopf oder das Gesäß gefallen, dass die Zuschauer den Eindruck hatten, sie befänden sich in einem Zirkus. Nun war nur noch ein Mann übrig, ein entfernter Vetter. Zögernd trat er auf die oberste Stufe; sein langes, lockeres Hemd war am Rücken und unter den Achseln schweißfleckig. Nielash Mousa zwang sich zu einem wohlwollenden Lächeln. »Sag deinen Namen.« »Karis von Ylwendar.« Der Segner nickte, wandte sich an die Versammelten und wiederholte den Namen. »Ist es dein Wunsch, die Waage zu befragen, um deinen Anspruch auf den Sonnenthron der Dunklen Erde sowie auf die Herrschaft Terreanfors und des ganzen Reiches von Sorbold zu klären, von den dunklen Tiefen bis zur endlosen Sonne darüber?« »Ja«, bekräftigte der Mann ängstlich und ließ die Blicke über den Platz schweifen. »Nun gut, Karis von Ylwendar. Tritt auf die östliche Waagschale und unterwirf dich Leuk, dem Wind der Gerechtigkeit.« Der Mann stand wie angewurzelt da. Der Seligpreiser seufzte schwer. »Möchtest du dich um den Thron bewerben oder nicht?« Karis schaute über die Schulter und dann zurück zu Mousa und zitterte wie ein Blatt im Wüstenwind. »Ja, das will ich.« »Dann tritt auf die Waagschale«, sagte der Seligpreiser so freundlich wie möglich und strengte sich an, das Protokoll zu wahren. Er wollte nicht als der Geistliche in Erinnerung bleiben, der den nächsten Kaiser beleidigt hatte, kurz bevor ihn die Waage bestätigte, auch wenn das nur wenig wahrscheinlich war. Nervös trat Karis auf die Schale. Als er mit dem zweiten Fuß Halt gefunden hatte, blies der Wind in einer steifen, heißen Brise aus West. Er wirbelte die Schale umher, stellte sie schräg und schwang sie wie eine gewaltige Schleuder. Karis von Ylwendar segelte über die Köpfe der erfreuten Menge und schlug in einem Fischerkarren ein. Getrocknete Heringe und gesalzene Makrelen flogen in alle Richtungen. Ein Chor aus Gejohle und Freudengeheul begleitete seine Landung. Mousa kämpfte darum, die feierliche Miene nicht zu verlieren. »Gibt es noch jemanden, der behauptet, er sei von kaiserlichem Geblüt, und der gewogen zu werden verlangt?« Schweigen antwortete ihm. Der Segner von Sorbold räusperte sich und sprach; sein Herz war schwer, obwohl er um den Ausgang gewusst hatte. »Nun gut. Nachdem das rituelle Wiegen bei jeder Person von kaiserlichem Geblüt durchgeführt wurde und die Waage niemanden für geeignet befand, den Sonnenthron einzunehmen, erkläre ich die Dynastie der Dunklen Erde für erloschen. Ein Kolloquium wird unverzüglich eingesetzt, um über die zwischenzeitliche Herrschaft zu entscheiden. Alle Kandidaten, die sich daraus oder aus anderen Übereinkünften ergeben, werden durch die Glocken von Jierna Tal zur Waage gerufen werden. Bis dahin befehle ich, dass die Glocken schweigen.« Er gab seinem Gefolge ein Zeichen und stieg die Stufen hinab. Das Gewicht auf seinen Schultern war plötzlich noch viel schwerer geworden. Stille herrschte in Jierna’sid. Sie lag über dem Platz der Waage, wo die Schalen reglos warteten und aufleuchteten, als die Schatten des Abends länger wurden. Die Bewohner waren von dem Platz vertrieben und durch eine ausdruckslose Mauer aus dunkelhäutigen, stumpfgesichtigen Soldaten ersetzt worden, die die Uniformen der inzwischen erloschenen Dynastie der Dunklen Erde trugen. Über ihnen brütete eine alles beherrschende Nervosität, die der Menge unheimlich gewesen war. Die Einwohner hatten rasch ihre Decken und die Überreste ihres Picknicks zusammengerafft und den Platz fluchtartig verlassen. Die Volksfestatmosphäre war durch eine Unheil verkündende Stille ersetzt worden. Die Nacht brach rasch herein, als die Vorbereitungen des Kolloquiums abgeschlossen waren. Der Platz vor Jierna Tal war vom Schlosseingang bis zum äußeren Rand des Platzes der Waage von gleißenden Lampen erhellt. Mächtige Fackelständer trugen große Zylinder mit brennendem Öl, welche der Versammlung Licht spenden und sie möglicherweise auch erleuchten sollten. Zwei ausgedehnte Kreise aus Tischen, ein kleinerer in einem größeren, waren zusammen mit Stühlen für die versammelten Gäste am Fuß der Waage aufgestellt worden. Der Abend war warm und befand sich noch im Griff der Sommerhitze, doch die heiße Brise war erfrischender als die feuchte, abgestandene Luft im Palast, der wegen der Begräbnisvorbereitungen noch immer nach Tod und Weihrauch roch. Im inneren Kreis saßen sich besorgt die Abgesandten aller großen Gruppen Sorbolds gegenüber: Fhremus, der Oberkommandierende und Vertraute der Kaiserin, ferner Ihvarr und Talquist, die Herrscher der westlichen und östlichen Merkantile, der Gilde der Kaufleute und Schifffahrtsvereinigungen, die beinahe den gesamten Handel und die Industrie Sorbolds beherrschte, und die siebenundzwanzig Grafen als Oberhäupter der siebenundzwanzig Stadtstaaten. Diese Mischung aus Militär, Handel und Adel war leicht entzündlich, weswegen sie der Segner wohl in die Mitte gesetzt hatte. Falls es hoch hergehen sollte, würde der zweite Ring als Puffer dienen oder wenigstens einen Mantel über den Brandstifter werfen und ihn in den Sand rollen. Die geladenen Gäste von außerhalb Sorbolds waren nicht so zahlreich, und es befand sich mehr Platz zwischen ihnen. Sie saßen zusammen mit der Geistlichkeit im äußeren Ring. Ashe war als Haupt des cymrischen Bündnisses anwesend, mit dem Sorbold Friedensverträge und Handelsabkommen eingegangen war, und die anderen waren die Herrscher oder ihre Vertreter aus den verschiedenen Reichen innerhalb dieses Bündnisses. Achmed war für die Bolglande gekommen, Tristan Steward für Roland und Rial für Tyrian. Außerdem beobachteten die Herrscher der Länder jenseits des Inneren Kontinents – der Wahrsager des Hintervold namens Miraz von Winter, Beliac, der König des östlichen Reiches Golgarn, und Viedekam, Häuptling von Penzus, des größten Reiches in der südlichen neutralen Zone, sowie die Anführer der angrenzenden Länder – einander mit einer Mischung aus Gleichmut und Misstrauen. Ashe bemühte sich, eine ruhige, freundliche Miene aufzusetzen, auch wenn es in ihm brodelte. Die Luft auf dem Platz der Waage war mit unausgesprochenen Worten aufgeladen und von versteckten Zwistigkeiten erfüllt. Er spürte es am Rande seines Drachenbewusstseins, bezweifelte aber nicht, dass er es auch ohne sein Drachenblut bemerkt hätte. Neben dem Eingang zum Palast stand Nielash Mousa mit Lasarys, dem Hauptpriester, der das Totengewicht der Kaiserin und des Kronprinzen in die Pergamentrollen eingetragen hatte. Lasarys war der Totengräber von Terreanfor und für die Erhaltung und den Schutz der Erd-Basilika zuständig. Diese Stellung war in der patrizianischen Religion von Sepulvarta genauso wichtig wie die des Tanisten für den Fürbitter von Gwynwald in der Religion der Filiden; dieses Amt hatte einst Ashes Vater innegehabt. Lasarys, ein stiller, gelehrter Mann, der seine Tage in den dunklen Tiefen der Erde verbrachte und sich liebevoll um die geheime Kathedrale kümmerte, schien sich unter dem offenen Himmel auf dem Platz der Waage und inmitten so vieler unausgesprochener Zwistigkeiten unwohl zu fühlen. Er tat Ashe Leid, denn auch er wünschte sich, er könnte die Erde in ihrem Lauf anhalten und die Zeit zurückdrehen, damit das, was nun bevorstand, nicht geschehen musste. Er überquerte den dunklen Platz und ging unter den Bögen aus flackerndem Licht hindurch, bis er vor dem Seligpreiser stand. Dort verneigte er sich höflich. »Wie geht es Euch, Euer Gnaden?« Der Seligpreiser von Sorbold lächelte. »Ich bin froh, wenn die Nacht vorüber ist.« Ashe nickte. »Wird der Patriarch anwesend sein? Ich sehe keinen Platz für ihn.« Mousa schüttelte den Kopf. »Er will das Verfahren segnen, aber danach sofort abreisen. Er muss nach Sepulvarta zurückkehren, damit er rechtzeitig zu den mittsommerlichen Einsegnungsfeierlichkeiten dort ist.« »Allerdings.« Die tiefe Stimme des Patriarchen erschallte hinter ihnen. Lasarys fuhr zusammen, verneigte sich ehrerbietig und zog sich rasch zum Kreis der Stühle zurück. Die Stille auf dem Platz wurde plötzlich noch tiefer, als einige der Teilnehmer des Kolloquiums die Gegenwart des heiligen Mannes bemerkten. »Ich hatte auf die Gelegenheit gehofft, Euch vor dem Beginn des Kolloquiums nach Eurem Befinden zu fragen«, sagte Ashe zu Constantin und erwiderte das Zeichen der Segnung, mit dem der Patriarch ihn bedachte. »Wie geht es Euch, Euer Gnaden? Meine Frau wird es wissen wollen.« Der große Mann lächelte, seine blauen Augen glänzten. »Bitte bestellt Rhapsody, dass ich wohlauf bin und sie sich schon seit langer Zeit keine Sorgen mehr um mich machen muss.« »Könnt Ihr Eure Abreise nicht um einen Tag verschieben?«, fragte der cymrische Herrscher und beobachtete das Stühlerücken und die Blicke in der Mitte des Platzes. »Hier wird jede Art von Weisheit dringend benötigt, komme sie aus dem Ring oder von Eurer Erfahrung. Ihr wäret eine willkommene Ergänzung bei den Gesprächen. Ich bin sicher, Ihr habt Eure eigene Meinung darüber, was als Nächstes geschehen sollte.« Er lächelte, denn er wusste, woher der Patriarch stammte, auch wenn das außer Rhapsody und ihm niemandem bekannt war. Der Patriarch kicherte und schüttelte den Kopf. »Ich habe über alles eine eigene Meinung, mein Sohn, aber ein Teil der Bürde, die sich aus dem Ring der Weisheit ergibt, besteht darin zu wissen, wann man seine Meinung für sich behalten muss. Die Kirche sollte keinen Anteil an der Entscheidung über die Zukunft Sorbolds haben, sondern diese Entscheidung respektvoll und im Gebet unterstützen.« Er sah die Versammelten im inneren Ring scharf an und beugte sich dann leicht vor, sodass außer Ashe niemand seine Worte verstand. »Wie schwierig das am Ende auch sein mag.« Er hob vor der Versammlung die Hand. Alle Anhänger der patrizianischen Religion verneigten sich ehrfurchtsvoll. Nur der Wahrsager, Achmed, Rial und der König von Golgarn standen weiterhin aufrecht, wenn auch in höflichem Schweigen. Dann verneigte sich der Patriarch leicht vor Ashe, der als Herrscher der Cymrer sowohl das Haupt der Kirche von Sepulvarta als auch des filidischen Glaubens und der Naturpriester von Gwynwald war. »Nielash Mousa wird seiner Nation als Abgesandter der Kirche gut dienen«, sagte er sanft. »Und ich will auf keinen Fall seine Autorität überschatten.« »Verstanden.« »Gut. Nun, Gwydion, bitte empfehlt mich Eurer Gemahlin. Ich muss mich auf den Weg machen.« Ashe räusperte sich nervös. »Wenn Ihr bei dem Sommer-Ritual für sie zum All-Gott beten würdet, wäre ich Euch sehr dankbar«, sagte er ruhig. Die stechenden blauen Augen des Patriarchen verengten sich. »Ist sie krank?« Der Herr der Cymrer schüttelte den Kopf. »Schwanger.« Constantin dachte einen Moment lang nach und klopfte dann Ashe auf die Schulter. »Ich werde jeden Tag ihrer Schwangerschaft Gebete für sie darbringen, bis Euer Kind geboren ist«, sagte er ernsthaft. »Schickt nach mir, falls sie krank wird. Ich habe vor langer Zeit einige Dinge gelernt, die ihr helfen könnten.« Ashe verneigte sich tief. »Vielen Dank.« Der Patriarch gab mit feierlichem Gesichtsausdruck seinem Gefolge ein Zeichen und verließ Jierna’sid. Nach der Abreise des Patriarchen dauerte es nur wenige Minuten, bis die ganze Hässlichkeit des Bevorstehenden offenbar wurde. Nach einigen Stunden hatte diese Hässlichkeit Wurzeln ausgebildet und wuchs allmählich heran. Es begann mit einem Streit, den die Adligen auslösten, die Grafen, denen – oder deren Vorfahren – die Kaiserin das Recht der Herrschaft über die Stadtstaaten verliehen hatte. Obwohl sie mit der kaiserlichen Familie nicht verwandt waren, hatten sie ihr als formelle Oberhäupter jener Staaten seit Generationen treu gedient. Der Tod der Kaiserin, der sie ihre Adelstitel verdankten, gab ihnen die Gelegenheit, ihre Herrschaft auszubauen. »Das Reich existiert nicht mehr«, bemerkte Tryfalian, der Graf von Keltar, der drittgrößten sorboldischen Stadt. »Ihr habt gehört, wie der Seligpreiser es gesagt hat. Die Dynastie der Dunklen Erde ist zu einem Ende gekommen. Jeder Mann mit auch nur einem Tropfen kaiserlichen Blutes in den Adern ist gewogen worden, und niemand war würdig genug. Es gibt keine Kaiserin und keinen Kaiser mehr, der Sorbold regieren könnte. Das Reich ist aufgelöst. Was nun noch übrig bleibt, sind siebenundzwanzig Staaten, jeder mit einer eigenen Regierung. Die Ordnung besteht nur noch darin.« Seine Augen blitzten, als er den Blick über die Versammlung schweifen ließ. »Und so sollte es bleiben.« »Was sagt Ihr da?«, wollte Fhremus, der Kommandant des kaiserlichen Heeres, wissen. »Wollt Ihr vorschlagen, Sorbold in siebenundzwanzig Teile zu zerstückeln?« »Nicht in siebenundzwanzig. Es gibt neun größere Stadt-Staaten: Keltar, Jakar, Nicosi, Baltar, Remaldfaer, Kwasiid, Ghant, Telchior und natürlich Jierna. Die übrigen sind zu klein, um auf eigenen Beinen zu stehen und ein Heer zu unterhalten ...« »Ihr schlagt vor, das Heer aufzulösen?«, rief Fhremus über das halbe Dutzend Grafen aus den kleineren Stadtstaaten hinweg, die lautstark ihre Einwände geltend machten, weil Tyrfalian soeben ihre Bedeutung geleugnet hatte. »Nicht auflösen, Fhremus, sondern nur neu aufstellen und einteilen.« »Ihr seid verrückt!« Der Stuhl des Kommandanten knarrte vernehmlich, als der Mann aufsprang, aber der Seligpreiser bewegte ihn mit einem Klopfen auf die Schulter sanft dazu, sich wieder hinzusetzen. »Eigentlich hat es bei uns bisher recht gut funktioniert«, warf Viedekam ein, der Abgesandte der südlichen Küstenregion, die als neutrale Zone bekannt war. »Penzus unterhält wie jeder andere Staat der Neutralen Zone sein eigenes Heer, seine eigene Kriegsmarine, seine eigene Steuer- und Abgabenstruktur, die sich erheblich von der anderer Staaten unterscheidet, besonders von den Binnenländern. Die Autonomie hat sich für alle Mitgliedsstaaten als gut erwiesen, da jeder sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann.« »Ich bin sicher, angesichts des Reichtums und Einflusses der neutralen Zone auf die übrige Welt werdet Ihr weiterhin diese Unabhängigkeit als vorteilhaft ansehen«, schnaubte Tristan Steward verächtlich und zog böse Blicke von den Grafen, Viedekam und Ashe auf sich. »Es war das Beispiel der neutralen Zone, das Roland dazu gebracht hat, sich unter eine Oberherrschaft zu begeben, damit wir nicht nur ein loser und Zusammengewürfelter Verband aus einander widersprechenden Gesetzen und Zielen sind. In den drei Jahren seit der Vereinigung der orlandischen Provinzen haben wir aus unserem gemeinsamen Vorgehen wirtschaftlichen Aufschwung und vor allem Stärke gezogen, während die Provinzautonomie erhalten blieb. Sorbold hat ein ähnliches System. Warum wollt Ihr es aufs Spiel setzen?« »Vielen Dank, Herrscher von Roland«, sagte Nielash Mousa schmeichlerisch und hob die Hand, um die wütenden Entgegnungen der Adligen im Keim zu ersticken. »Vielleicht sollte zuerst gefragt werden, ob es eine Fraktion in Sorbold gibt, die gern auf den Vorschlag antworten möchte, der von Tryfalian auf den Tisch gelegt wurde.« »Erlaubt mir eine Erwiderung«, sagte Ihvarr, der östliche Herrscher sanft, doch unter seiner Maske der Ruhe brodelte eindeutig die Wut. »Talquist und ich können Euch versichern, dass eine Nation von der Größe und Bedeutung Sorbolds unter einem solchen Plan im Chaos versinken würde.« »Warum?«, erwiderte Damir, der Graf von Jakar. »Als Provinz im äußersten Westen hatten wir in den letzten zwanzig Jahren wenig mit Jierna Tal zu tun. Wir sind bereits autonom.« »Möglicherweise«, gab Talquist zu, der Herr der westlichen Gilden und Schifffahrtsverbände. Wie Ihvarr war er stämmig, hatte breite Schultern und eine von der Sonne gebräunte Haut. »Und Ihr seid ein gerechter und angesehener Herrscher, Damir. Aber obwohl ich Euch mit Arbeitern für Eure Salz- und Sulphurminen versorgt, Eure Güter transportiert und Eure Stadt erbaut habe, hatte ich ein Handelsabkommen mit der Kaiserin. Bei allem Respekt: Ich habe nicht für Euch, sondern für die Krone gearbeitet. Wenn ich mit Euch und jedem anderen der zwölf Grafen, mit denen ich in Geschäftsbeziehungen stehe, Handelsabkommen schließen, Wechselkurse bestimmen, Sicherheitsvorkehrungen treffen und alle anderen Arten von Verträgen schließen müsste, würde ich wahnsinnig werden.« »Ich ebenfalls«, fügte Ihvarr hinzu. »Bedenkt doch die Vorteile, die Eure Schifffahrtslinien bei einer solchen Übereinkunft hätten, Talquist«, sagte Kaav, der Graf von Baltar. »Ihr könntet mit den Führern der Küsten-Staaten verhandeln und sie davon überzeugen, einen größeren Teil ihrer Streitkräfte zum Schutz der Schiffsrouten einzusetzen; außerdem wären sie verständnisvollere Gesprächspartner als die Kaiserin, die ein ganzes Reich verteidigen musste, das aus mehr Land als Meer bestand.« »Wären dann meine Arbeiter etwa ungeschützt?«, wollte Ihvarr wissen. »Dem würde ich niemals zustimmen. Wer wird dann Kupfer, Anthrazit und Silber fördern, Kaav? Wer wird Eure Güter transportieren? Denn ich werde sicherlich keine Handelsbeziehungen mit Euch haben, wenn Ihr mein Vermögen nicht mit Euren Truppen schützen könnt.« »Wo wollt Ihr diese Truppen finden?«, fragte Fhremus verbittert. »Bedenkt, dass die Macht des sorboldischen Heeres von zwei Dingen abhängt: einem gemeinsamen Zweck und der Liebe zum Heimatland, um die Treue zur Kaiserin erst gar nicht zu erwähnen, möge ihre Seele frei mit den Wolken schweben. Ich widerspreche diesem Plan, weil er uns spalten wird, Staat gegen Staat, Heer gegen Heer – und getrennt sind wir schwach.« »Keineswegs«, entgegnete Tryfalian verärgert. Er schaute zuerst Fhremus, dann die ausländischen Würdenträger, die sich im äußeren Kreis versammelt hatten, böse an. »Ich warne Euch, solch verschwörerische Worte nicht mehr in Gegenwart derer zu schwingen, die daraus ihren Vorteil ziehen könnten.« Beliac, der König von Golgarn, hatte sich bisher in einem gewissen Dämmerzustand befunden, wurde nun aber plötzlich hellwach. »Das nehme ich Euch übel!«, rief er und erhob sich von seinem Stuhl. »Wir sind hier in dieser verdammten Hitze zusammengekommen und hören Eurem endlosen Geschwätz zu, weil Golgarn Euer Verbündeter ist, nicht Euer Feind. Ich bin angereist, um meiner alten Freundin, der Kaiserin, und ihrem Sohn die letzte Ehre zu erweisen und dem neuen Herrscher meine Unterstützung anzubieten. Und deswegen beleidigt Ihr mich!« »Entschuldigung, Majestät«, sagte Nielash Mousa rasch. »Eine Beleidigung war nicht beabsichtigt, das versichere ich Euch. Wir sind für Eure Anwesenheit und die aller wahren Freunde Sorbolds dankbar.« Er wandte sich an den inneren Kreis. In seinen Augen lag ein Blick deutlicher Verzweiflung. »Ich habe einen Vorschlag«, sagte er zu der Gruppe der Adligen, Soldaten und Kauf leute. »Die Waagschalen können sowohl Menschen als auch Ideen wiegen. Als am Ende des cymrischen Krieges der erste Kaiser bestimmt wurde, trat ein Kolloquium ähnlich wie dieses zusammen. Es wurde von denselben Parteien und denselben Sorgen bestimmt. Ein Symbol für jede Partei wurde auf der Waage gegen den Ring des Staates ausbalanciert. Die Waage schlug zu Gunsten des Heeres aus, dessen Ziel ein einziges, vereintes Sorbold war, und der Kaiser wurde aus dessen Reihen erkoren. Da es schon beinahe Mitternacht ist, glaube ich, dieser Vorschlag könnte uns zu einem guten Ergebnis führen.« Steinernes Schweigen antwortete ihm. Nach kurzer Zeit aber nickten einige Köpfe widerstrebend, und die verschiedenen Parteien wählten ihre Symbole aus und planten die nächsten Schritte. Achmed wartete, bis sich der innere Kreis aufgelöst hatte. Er erhob sich von seinem Stuhl und schob ihn unter den Tisch. Ashe, der neben ihm gesessen und Tristan Steward zu seiner Linken gehabt hatte, fuhr sich mit der Hand durch das rot-goldene Drachenhaar, das im Fackelschein metallisch glänzte, und legte dann die Stirn auf den Tisch. »Gute Götter«, ächzte er. »Nein, ich hege keinen Zweifel daran, dass es sich hier nur um Sterbliche handelt«, meinte Achmed. »Ich wünsche dir viel Glück mit ihnen.« »Gehst du schon?«, fragte Ashe ungläubig, als der Bolg-König seine Sachen zusammenpackte. Achmed nickte. »Ich habe eine Verabredung mit dem Stallmeister der Kaiserin, und der Seligpreiser muss noch einen Schuldschein unterzeichnen, bevor er unter dem Gewicht all der Dummheit, mit der er überhäuft wird, endgültig zusammenbricht. Ich will den Stallmeister nicht noch länger warten lassen.« Ashe seufzte. »Nun gut, vielleicht können wir miteinander reden, wenn du zurückkommst.« »Ich werde nicht zurückkommen. Ich habe einen Krampf im Bein, muss noch ein Pferd kaufen und brauche ein paar Stunden Schlaf, bevor ich morgen früh nach Ylorc aufbreche.« Der Herr der Cymrer richtete sich auf und wirkte wie vom Donner gerührt. »Du brichst auf? Bevor diese Sache hier entschieden ist?« Achmed holte tief Luft. »Es könnte noch Tage oder sogar Wochen dauern, bis eine Entscheidung gefällt wird. Ich muss mich in Ylorc um ein paar wichtige Dinge kümmern und kann nicht warten, bis diese Narren ihre kleinlichen Zwistigkeiten ausgetragen haben.« »Ich muss gestehen, dass ich verblüfft bin«, sagte Ashe mit einer Mischung aus Erstaunen und Verärgerung. »Du bist außer meinem paranoiden Onkel das einzige Mitglied des Bündnisses, das Sorbold völlig misstraut – aus gutem Grund, denn es grenzt an dein eigenes Reich. Verspürst du nicht die Notwendigkeit zu bleiben und zu beobachten, was hier vor sich geht?« »Wohl kaum. Was auch immer geschieht, es wird nicht gut sein«, sagte Achmed ernst. »Wie das Ergebnis auch sein mag, wir müssen mit ihm leben und um unser Überleben kämpfen. Wenn ich beobachte, wie das Ergebnis ans Licht des Tages kommt, wird das nur so sein, als tauchte ich die offenen Wunden an meinen Händen in Salzwasser. Es ist zwar ein schöner, aber ein falscher Gedanke, dass ich etwas zu sagen haben könnte, was die Waage beeinflusst.« »Na, das ist doch etwas Positives«, bemerkte Tristan Steward, stand ebenfalls vom Tisch auf und glättete seine Hose. »Hol dir noch ein Glas Wein, Tristan«, sagte Ashe scharf. »Deine Bemerkungen bei diesem Kolloquium waren ärgerlich und beinahe schon peinlich.« Steward starrte den Herrscher der Cymrer in einem Entsetzen an, das einen Atemzug später zu Wut wurde. Er warf dem Bolg-König noch einen bösen Blick zu und ging fort. »Bitte bleib«, sagte Ashe zu Achmed, als Tristan außer Hörweite war. »Dein Rat könnte von großem Nutzen sein.« »Nein. Ich bin hergekommen, um zuzuhören, nicht um zu reden«, erwiderte der Bolg-König. »Was denkst du über die ganze Angelegenheit? Das würde ich gern wissen.« Achmed rollte mit den Augen. »Ich bin nicht dein Ratgeber, Ashe. Wenn ich gezwungen wäre, meine Argumente in die Waagschale zu werfen, wenn du mir diesen Ausdruck verzeihst, wäre ich für Stabilität, wenigstens so weit sie mir nützt, denn es gibt viele Handelsabkommen und Friedensverträge, die ansonsten neu verhandelt werden müssten. Das wäre sehr ärgerlich und beschwerlich, und aus diesem Grunde würden sie vielleicht nicht mehr neu geschlossen. Ein vereinigtes Sorbold ist schon beängstigend genug. Ein Sorbold in Scherben wäre noch schlimmer. Man kann sich vorstellen, was aus einem zersplitterten Land wird, in dem sich das Heer als Partei bei der Suche nach einem neuen Führer ansieht. Wenn es dir nicht kalt über den Rücken gelaufen ist, als dieser Kommandant aufgestanden ist, als wäre er das Staatsoberhaupt, bist du ein Narr.« »Ich war durchaus entsetzt.« »Nun, dann wirst du verstehen, dass aus alldem nichts Gutes erwachsen kann. Diese Dynastie ist nicht zu einem Ende gekommen, weil alles gut lief. Diese Tische stehen nicht hier, weil alle den neuen Monarchen feiern. Entweder wird das Heer alle abschlachten, oder die Kaufleute werden den Daumen auf die Waage legen, oder die Regierenden werden das Reich zerstören, indem sie einfach nach Hause gehen. Welche Übereinkunft auch immer erzielt wird, welche Nettigkeiten ausgetauscht werden, welche Unterstützung die Verlierer für die Gewinner heucheln werden, so wird am Ende doch alles schlecht ausgehen. Das ist unausweichlich.« Er drehte sich um und schaute noch einmal kurz zurück. »Wenn du es wissen willst: Ich werde mich umgehend darauf vorbereiten, dass an der Grenze unsichere Zustände einkehren werden. Ich würde gern alle Einzelheiten erfahren, wenn die Sache erledigt und entschieden ist, aber ich muss jetzt gehen. Ich habe weder die Neigung noch die Zeit, den Ausgang abzuwarten, nur damit ich sagen kann, dass ich dabei war, aber nichts tun konnte. Jetzt muss ich den Seligpreiser finden. Gute Nacht.« 24 Achmed war schon wach, lange bevor der Tag anbrach. Er stahl sich aus dem schlafenden Palast fort und hielt nur lange genug inne, um einen Blick auf die hohen Minarette und das trockene, beeindruckende Gebäude zu werfen, in dem die Glocken seit dem vergangenen Abend angenehmerweise geschwiegen hatten. Ihm schwirrte noch der Kopf von der Kakophonie des Begräbnisses. Rasch lief er hinunter zum Pferdestall. Die Gärten glänzten im Licht des untergehenden Mondes, der spärliche Tau auf den Büschen und Blumen leuchtete wie spinnenhaftes Gewebe. Der Stallmeister war wie verabredet da und bewachte das morgendliche Tränken und Ausmisten. Das Pferd, um das Achmed gebeten hatte, war gestriegelt und gesattelt und stand hinter seinem eigenen. Achmed übergab dem Meister den Brief mit der Anweisung und betrachtete das Pferd. Der Quartiermeister hatte eine großzügige Wahl getroffen. Dieses Reittier hätte der Bolg-König selbst ebenfalls gewählt. Achmed seufzte und war zufrieden, dass sein Bolg-Blut diesmal kein Grund für eine schlechte Behandlung war. Er zog eine Platinsonne aus der Tasche und gab sie dem Mann für seine gute Arbeit. Dann führte er beide Pferde aus der warmen, schweren Luft des Stalls in den kühlen Wind der Morgendämmerung. Es war das erste Mal, dass er mehr bezahlt hatte, als man von ihm gefordert hatte – ein bemerkenswertes Gefühl. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel. Aber er spürte auch keine Verzweiflung. Rasch stieg er auf sein Reittier und nahm das Pferd, das er soeben gekauft hatte, beim Zügel. Er ritt in den grauen Morgendunst zu der Felsklippe, von der aus man das Lager der Panjeri überblicken konnte. Der bevorstehende Sonnenaufgang erhellte bereits den Himmel hinter ihm. Als er die letzte Erhebung erstiegen hatte, zügelte Achmed die Pferde. Das Lager war verschwunden. Die Nomaden ebenfalls. Mit klopfendem Herzen überblickte er die gewaltige Steppe im Westen und suchte den grauen Nebel nach Anzeichen für die Panjeri-Karawane ab, doch sie war nirgendwo zu sehen. So etwas wie Panik legte sich über ihn und brannte auf seiner Haut. Er hatte endlich die Künstler gefunden, nach denen er seit Monaten gesucht hatte, und ganz besonders eine, die genau die war, welche er brauchte, eine verbriefte Meisterin, die fleißig und genau in ihrer Arbeit war, die Shaene nicht zu Unsinn verleiten würde und einem Bolg in die Augen sehen konnte, ohne zusammenzuzucken. Die dabei helfen konnte, den Lichtfänger von einem Plan in ein funktionierendes Instrument zu verwandeln. Und nun war sie fort. Bei allen Göttern, nein, ich werde sie mir nicht mehr durch die Finger schlüpfen lassen, dachte er wütend. Er trieb sein Pferd zu einem Galopp an und ritt zurück zum Fuß des Nachtberges, in dessen Gipfel die Glasfenster eingelassen waren. Noch immer standen vier Wachen neben der Krypta. »Wo sind die Panjeri?«, rief Achmed ihnen entgegen, während die beiden Pferde auf der Stelle tänzelten. Die vier Soldaten blinzelten; seine Worte hatten sie in der schläfrig machenden Morgenkühle aus dem Halbschlummer gerissen. Die Soldaten schüttelten die Köpfe. Einer von ihnen rief zurück: »Die Postkarawane ist in der Nacht hier durchgekommen. Vielleicht sind sie einen Teil des Wegs mit ihr gezogen. Das tun Nomaden oft. Sie ist nach Westen zum Rymshin-Pass und von dort aus in nördlicher Richtung weiter nach Sepulvarta unterwegs. Versucht es dort.« Achmed hob die Hand zum Dank und trieb die Pferde an. Zwei Tage später brachte ihn ein einstündiger Ritt über den Rymshin-Pass und in Sichtweite der westlichen Krevensfelder. Die Sonne hatte den Horizont erreicht und badete die Welt unter dem Vorgebirge in Dunst und Dampf. Die grünen Wellen des hohen, an den Spitzen verbrannten Grases wogten im Wind. In der Ferne bahnte sich die bewachte Postkarawane, sieben Wagen und vierundzwanzig Soldaten, langsam und ohne Eile einen Weg zu der Zubringerstraße zum transorlandischen Schnellweg. Sie war nach Sepulvarta unterwegs, das auf halbem Weg ihres vierwöchigen innerkontinentalen Zyklus lag. Achmed war sehr vertraut mit dem Plan und der Funktionsweise der Postkarawane, denn schließlich war er es gewesen, der sie ins Leben gerufen hatte. Der Karawane folgten in geringem Abstand vier grobe, fröhlich bemalte Wagen, jeder von zwei Pferdegespannen gezogen, zwischen denen sich einzelne Reiter befanden. Er hatte die Panjeri gefunden. Achmed dachte kurz darüber nach, wie er sich am besten der Karawane näherte. Die Krevensfelder waren flach und ungeschützt, und selbst ein einzelner Reiter, der rasch von den Bergen herabpreschte und über die Steppe jagte, konnte fälschlicherweise als Räuber angesehen werden, auch wenn er der dümmste Räuber sein musste, der je gezeugt worden war. Er hatte keine Lust, von dem Pfeil eines Soldaten Tristan Stewards aufgehalten zu werden, und sah sich rasch nach etwas um, das als Friedenssignal dienen konnte. Ein Banner mit der Sonne und dem Schwert der verstorbenen Kaiserin flatterte kraftlos am Eingang zum Pass; sein Gegenstück war vom Stab gerissen worden. Achmed ritt zum Eingang, ergriff das Banner und steckte es an seinen eigenen Reiterstab. Er schaute kurz auf und dachte an die Dynastie, die am vergangenen Tag für erloschen erklärt worden war, und an deren endlose Macht der Sonne und die dauerhafte Gewalt des Schwertes. Selbst sie vergehen, dachte er. Vielleicht ist es besser, weniger großartige Symbole anzunehmen, damit man im Tod nicht lächerlich wirkt. Er überprüfte die Zügel des Pferdes, das er in Sorbold gekauft hatte, und trieb dann sein eigenes über den felsigen Pfad in die offenen Arme der Krevensfelder. Ein Ruf ertönte gleichzeitig von den orlandischen Wachen in der Nachhut der Karawane und den Panjeri, die neben ihren Wagen ritten. »Holla! Südlich! Ein Reiter!« Die Karawane zog weiter und wurde ein wenig schneller, während die südliche Flanke der Wachen umdrehte und eine wartende Formation bildete, um den Reiter abzufangen. Auch die Panjeri-Karawane setzte ihren Weg fort. In dem zweiten Wagen packte eine ältere Frau die jüngere namens Theophila am Arm und schüttelte sie durch, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. »Theophila! Ein Reiter aus Süden! Ist das nicht der König der Bolg, der uns verfolgt?«, fragte sie im seltsamen Dialekt des Nomadenstammes. »Er ist es! Ich erkenne seine Schleier«, sagte eine andere. »Er kommt zu dir, Theophila!« Die jüngere Frau schirmte die Augen vor der Sonne ab und starrte nach Süden auf das Vorgebirge. Ein Lächeln, das die Panjeri kaum je bei ihr bemerkt hatten, kroch über ihre Mundwinkel, aber sie sagte nichts. Während der Wagen langsamer wurde, zogen die Frauen sie auf, und zwei Wachen aus der Karawane ritten los, um den Reiter zu treffen, der die Fahne der toten Kaiserin schwenkte und ein zweites Pferd mit sich führte. »Er buhlt nicht um deine Künste als Glas-shairae, Mädchen!« »Nein, er will deinen Hintern! Du hast einen lieblichen Hintern, Theophila.« »Ja, aber sie hat ihn bei der letzten Arbeit Krentice unter die Nase gehalten. Wird er nicht eifersüchtig sein?« »Auf den Bolg-König? Wohl kaum.« »Warum nicht? Er hat den gleichen Sack in der Hose wie alle Männer...« »Ja. Einen Geldsack!« »Hört auf damit, ihr Hühner!«, schalt die ältere Frau. »Wo sind eure Manieren?« Der Gegenstand ihrer Lästerei steckte soeben die Hand in die Hosentasche und holte die Münzen hervor, die sie von den Augen der Kaiserin und des Kronprinzen genommen hatte, nachdem die Geistlichen und die übrigen Trauernden die Gruft hoch oben in der verwitterten Bergspitze verlassen und versiegelt hatten. Sie fuhr mit dem Finger über das raue Metall und verspürte immer noch Bedauern darüber, dass sie das Loch im Glasfenster größer als nötig gemacht hatte. Es war diese Stelle, die sie wieder verschlossen hatte, als der Bolg-König auf sie aufmerksam geworden war. »Sollen sie doch zwitschern«, sagte sie. »Ich höre ihnen sowieso nicht zu.« Sie beobachtete neugierig, wie die Wachen einige Worte mit dem Reiter wechselten, dann die Pferde wendeten und zurück zur Karawane lenkten. Der Bolg-König, der wie auf dem Berg der Fenster in Schleier gehüllt war, warf die sorboldische Standarte zu Boden und trieb sein Pferd vorwärts. Er führte ein zweites, einen teuren, schönen Wallach an der Leine. Vor dem Wagen, in dem sie saß, bremste er ab, schirmte die Augen mit der Hand ab und schaute sie an, während sie sich erhob. »Hast du über mein Angebot nachgedacht?« Sie blinzelte in die Sonne. »Arbeit für Werkzeuge?« »Ja. Jedes Werkzeug, das du haben willst, werden wir für dich herstellen.« Sie dachte kurz nach. »Und die zweihunderttausend Goldsonnen?« Achmed kniff die Augen zusammen; seine Stimme überschlug sich leicht, als er antwortete. »Das bezog sich auf die gesamte Panjeri-Gruppe.« »Nein, es bezog sich auf so viele Panjeri, wie du brauchst. Du warst es, der gesagt hat, er benötige nur einen.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Willst du dein Angebot widerrufen?« »Nein«, sagte der Bolg-König rasch. Er lächelte, als ihm ein Gedanke kam. »Es ist ein gerechter Preis für die unbegrenzte Zeit eines verbrieften Panjeri-Meisters.« Nun war es Theophilas Stimme, die sich ein wenig überschlug. »Warte«, sagte sie. »Unbegrenzte Zeit? Dem habe ich nicht zugestimmt.« »Doch, das hast du. Ich habe dir gesagt, ich wolle dich nur dann haben, wenn du den Auftrag beendest, und du hast mir sehr keck erklärt, du würdest nie auch nur den geringsten Teil deiner Arbeit unvollendet lassen. Du sollst wissen, dass es sich bei meinem Projekt darum handelt, alle Spalten in den Zahnfelsen mit reich verzierten Fenstern auszuschmücken, auf denen die Geographie der gesamten Welt abgebildet ist, vom Fuß jedes Berges bis zu seinem Gipfel. Willst du etwa deine Zustimmung jetzt zurückziehen?« Theophila streckte trotzig das Kinn vor. »Nein«, knurrte sie. Achmed lächelte flüchtig. »Gut. Dann sage deinem Klan Lebewohl. Versichere ihnen, dass man dich gut behandeln und bezahlen wird, und komm mit mir.« Die Frau wandte sich an die Panjeri, die sie verwirrt anstarrten. Sie sagte einige rasche Worte, hörte der Antwort eines älteren Mannes zu, der im selben Wagen wie sie saß und den Achmed aufgrund seines Verhaltens am vorangegangenen Tag als den Anführer der Nomaden ansah. Dann wandte sie sich wieder an den Bolg-König. »Der Anführer will deine Versicherung, dass du mich freundlich behandelst.« In ihrer Stimme lag eine Spur Ironie; vielleicht dachte sie gerade daran, wie viel Freundlichkeit sie selbst für gewöhnlich zeigte. Achmed richtete sich im Sattel auf, stieg ab und ging zu dem Wagen, wo er neben Theophila stehen blieb und zu ihr Hochschaute. »Ich behandle niemanden freundlich«, sagte er ruhig. »Du kannst meine besten Freunde und meine schlimmsten Feinde fragen, und sie werden dir beide dasselbe sagen. Aber du wirst bei mir sicher sein, gut genährt, beschützt und ausgestattet werden. Darüber hinaus verspreche ich nichts.« Die Frau stand schweigend da und dachte über seine Worte nach. Hinter ihr flüsterten sich die Panjeri etwas in ihrer seltsamen Sprache zu. Achmed wurde allmählich wütend. Er streckte die behandschuhte Rechte nach ihr aus. »Komm mit mir«, sagte er einfach. Diese Worte, geboren aus Ungeduld, hallten in seinem Kopf wider. Vor vielen Jahrhunderten, vor einer ganzen Lebensspanne, auf der anderen Seite der Zeit hatte er ähnliche Worte in einer nun untergegangenen Welt zu einer anderen Frau gesagt, die seine Geduld auf die Probe gestellt hatte. Komm mit uns, wenn du leben willst. Theophila schaute hinunter auf ihn. Achmed erkannte den Moment, als sich die Entscheidung in ihren Augen formte. Sie sammelte ihre Habseligkeiten ein, ergriff seine Hand und sprang von dem Wagen. Dabei beachtete sie nicht die verblüfften Blicke der Panjeri, sondern folgte ihm einfach zu den Pferden und stieg auf das eine, das er für sie gekauft hatte. Als die Karawanenwachen sahen, dass der Firbolg-König sein Ziel erreicht hatte, gaben sie den Befehl zur Weiterreise. Der Anführer der Karawane wartete so lange, bis sich die beiden seltsamen Leute in Bewegung gesetzt hatten, und rief dann seinen Wagenlenkern zu: »Fahrt weiter. Wir müssen die Sonne einholen.« 25 Es dauerte den größten Teil des Tages, bis sich die einzelnen Parteien in ihrer Hackordnung auf ein Symbol geeinigt hatten, das ihre Interessen darstellen sollte. Ashe verbrachte diese Zeit zurückgezogen mit Rial und Tristan Steward. Sie verglichen ihre Beobachtungen und stellten gemeinsame Richtlinien für den Umgang mit dem Kolloquium auf. »Diese Nation steht vor den schwierigsten Entscheidungen, denen sich je ein Reich gegenübergesehen hat«, sagte er ruhig zum Herrn von Roland während ihres kargen Mittagessens, das in dem höhlenartigen Speisesaal des Palastes serviert wurde. Viele Köche und Diener waren nach dem Begräbnis zunächst geflohen, denn sie hatten sich vor der Ungewissen Zukunft gefürchtet. Sie hofften jedoch, dass sie nach der möglichen Einsetzung eines freundlichen Regimes wieder angestellt würden, da man sich an sie sowieso nicht erinnern würde. »Welches System Leitha auch immer ersetzen mag, sollte den Status als Freund des Bündnisses beibehalten. Und während ich persönlich mit dir, Tristan, darin übereinstimme, dass man mit Sorbold als ganzer Nation einfacher umgehen kann und es stärker ist, als wenn es sich um eine Ansammlung von unabhängigen Staaten handeln würde, liegt die Entscheidung darüber, wie ihr neues Reich aussehen soll, nicht bei uns, und es steht uns auch nicht zu, diese Entscheidung anzuzweifeln. Außerdem sind starke Nachbarn nicht immer gut.« Der Herr von Roland sah seinen Herrscher und Jugendfreund mit starrem Blick an. »Als wir Kinder waren, hast du einmal gesagt, es gebe Führer und Politiker«, meinte er in säuerlichem Tonfall, »und man könne sie nur daran unterscheiden, ob sie in sich oder außerhalb ihrer selbst den Mut für ihre Überzeugungen finden. Es tut mir Leid zu sehen, zu welcher Gruppe du gehörst.« »Ich stimme der Auffassung zu, dass ein vereinigtes Sorbold ein stabileres Gebilde ist«, warf Rial hastig ein und hoffte, damit der Antwort zuvorzukommen, die er als unausweichlich ansah. »Doch die Adligen haben zu Recht einige wichtige Dinge zur Sprache gebracht. Die Bedürfnisse einiger der größeren Stadtstaaten sind bei dem Machtspiel der Kaiserin im Vergleich zu den kleineren manchmal zu kurz gekommen. Der All-Gott weiß, dass die Hafenstädte mehr Unterstützung und militärische Macht benötigen. Die Piraten und der Handel mit Sklaven blühen seit Jahren in Sorbold, die Gladiatorarenen sind immer größer geworden, und der blutige Sport wird immer beliebter und brutaler. Es ist scheußlich, dass Leitha dagegen blind war. Ich verdamme Damir, dessen Reich an Tyrian grenzt, nicht wegen seiner Sorgen.« »Aber Kaavs Einwände sind unaufrichtig«, sagte Ashe. »Seine in der Mitte des Reiches gelegenen Ländereien sind die größte Minenregion, in der Anthrazit, Silber, Sulphur und Salz gefördert werden. Woher mag er wohl die Arbeiter bekommen?« »Aus dem Sklavenhandel«, stimmte Rial ihm zu. »Vielleicht haben wir sie zu lange verhätschelt«, meinte Tristan Steward. »Seit sich Sorbold am Ende des Krieges vom cymrischen Reich getrennt hat, ist es zu einer großen, drohenden Fäulnis für den Süden geworden, wie ein Skorpionnest, wie eine Mörderbande, die sich zwischen den Felsen versteckt und auf ihre Zeit wartet. Es wäre vernünftiger, das Land dem Bündnis einzuverleiben, anstatt Friedensverträge mit ihm zu schließen.« »Und wie willst du eine solche Einverleibung erzwingen, falls sie nicht freiwillig zustande kommt?«, fragte Ashe verächtlich. »Sorbolds Heer ist fünf- oder vielleicht sogar sechsmal so groß wie die vereinigten Streitkräfte von Roland ...« »Aber es ist klein, wenn du Tyrian und Ylorc zu uns zählst.« Ashe streckte rasch die Hand aus, um eine beißende Entgegnung Rials zu unterbinden. »So etwas will ich nicht noch einmal hören, besonders nicht, solange wir Gäste an diesem Ort sind«, sagte er mit beängstigender Sanftheit. In seine Stimme mischten sich die verschiedenen Untertöne des Drachenblutes. »Du setzt Ideen in die Welt, die keine Unterstützung finden, aber deine Worte haben Macht und könnten unbeabsichtigte Folgen nach sich ziehen. Was du willst, ist eine Rückkehr in Zeiten, die schon lange der Vergangenheit angehören, und das aus gutem Grund.« »Warum fürchtest du das?«, schoss Tristan zurück. »Warum willst du nicht einen erschütterten Staat einnehmen und ihn zu einem Teil des Ganzen machen? Dann wären wir vor ihm sicher.« Ashe trank sein Glas leer und erhob sich vom Tisch. »Weil ich im Gegensatz zu dir kein Verlangen danach habe, die ganze Welt zu beherrschen. Früher oder später würde die Welt es mir verübeln.« Das Kolloquium kam bei Sonnenuntergang wieder zusammen. Die verschiedenen Parteien Sorbolds hatten sich aufeinander zubewegt, und der innere Tisch war in vier Gruppen unterteilt: die Adligen der neun großen Stadtstaaten, die Tryfalian als der Unabhängigkeit wert erachtet hatte, die Grafen der übrigen Staaten, die ihnen schweigend und grimmig gegenübersaßen, die Kaufmannschaft in Person von Ihvarr und Talquist und das Heer, dessen einziger Repräsentant Fhremus war. Nielash Mousa hatte seinem Erscheinungsbild zufolge in der vergangenen Nacht keinen Schlaf gefunden. Sein Gesicht, das für gewöhnlich altersbedingte Falten unter den Augen aufwies, schien unter dem Gewicht der Ereignisse eingesunken zu sein, und die dunkle Haut war gerötet und schweißnass. Er trat in die Mitte des Platzes, räusperte sich höflich und ergriff das Wort, als sich die Stille verdichtet hatte. »Bevor wir erneut die Wiegezeremonie durchführen, frage ich alle Anwesenden, ob jemand Bedenken dagegen hat oder einen Einwand vorbringen möchte.« Niemand sagte ein Wort. Der Seligpreiser nickte. »Nun gut. Da ich die Wiegezeremonie durchführen werde und Lasarys mir bei der Niederschrift hilft, sollte ich mich als Erster dem Urteil der Waage unterwerfen. Die Waage entdeckt mehr, als das Auge sehen und der Verstand wissen kann. Sie blickt in das Herz des Menschen und kennt seine Bestimmung. Wenn sie gegen mich entscheidet, muss ich mich ihr beugen.« Er betastete das heilige Symbol an seinem Hals; es stellte die Erde dar. »Mein Amt liegt in diesem Symbol begründet. Wenn ich seiner nicht würdig bin, wenn ich meinen heiligen Eid verletzt oder gegen meine Gelübde gehandelt haben sollte, wird sie mich als fehlerhaft entlarven.« Er betrachtete die Menge, während ein Lächeln um seine Mundwinkel spielte. »Denkt daran, wenn ihr an der Reihe seid.« Die Versammelten tauschten besorgte Blicke aus. Der Seligpreiser nahm die Kette ab und gab sie Lasarys. Der Priester eilte die Stufen hoch zu der wartenden Waage und legte ehrerbietig das heilige Symbol auf die westliche Schale. Dann trat er zur Seite und nickte Mousa ängstlich zu. Der Seligpreiser von Sorbold schritt die Treppe bis zur oberen Plattform hoch. Sein Rücken war gerader, als es Ashe seit seiner Ankunft an ihm bemerkt hatte. Er schloss die Augen und trat vorsichtig auf die andere Schale. Einen Augenblick lang bewegten sich die Waagschalen nicht. Dann knirschte der hölzerne Arm der Waage, die Kette rasselte, und der Seligpreiser wurde in die Höhe gehoben, bis er in ein vollkommenes Gleichgewicht mit seinem heiligen Symbol kam. Ashe sah vom äußeren Kreis aus zu und spürte, wie ihn eine Woge des Erstaunens überspülte. Es beeindruckte ihn immer wieder, einen Menschen im Gleichgewicht mit einem winzigen Gegenstand wie einem Ring zu sehen. Es war ein deutlicher Beweis für die Macht der uralten Waage. Er dachte an ihre Geschichte und daran, wie sehr Gwylliam sie geschätzt hatte. Er hatte sie von Serendair über das Meer hergebracht und vor der Vernichtung in der Sintflut gerettet. Das war eine der wahrhaft großen Leistungen im schäbigen Leben seines Großvaters gewesen. Nielash Mousa blieb für einen Moment reglos. Er hatte die Augen geschlossen, als ob er Stimmen lauschte, die sonst niemand hören konnte. Dann öffnete er die Augen wieder, holte tief Luft, verließ die Waage, geheiligt von der Erde, und bereitete sich auf das Wiegen der anderen vor. Er nahm sein heiliges Symbol an sich, küsste es und hängte es sich um den Hals, dann bedeutete er Lasarys, den Ring des Staates auf die westliche Schale zu legen. »Nun gut. Ich unterstelle, dass niemand die Entscheidungen der Waage in Frage stellen will...« Er hielt inne, und als er keine Einwände hörte, fuhr er fort: »Ich lade die Parteien ein, ihre Vorstellungen zu unterbreiten. Sobald wir wissen, welche davon die Waage als richtig für Sorbold ansieht, werden wir jeden aus dieser Gruppe wiegen, der sich als Kaiser empfiehlt.« »Was ist, wenn unsere Partei in Zweifel zieht, ob es überhaupt noch einen Kaiser geben soll?«, rief Tryfalian. Mousa dachte einen Augenblick lang nach. »Dann wird die Vorstellung der Person, welche die Waage aus der Partei ausgesucht hat, in die Tat umgesetzt, wie auch immer sie lauten mag.« Gemurmel setzte ein. Er drehte sich zu Lasarys um und wandte sich wieder an die Versammlung. »Wer bringt ein Symbol aus dem Heer zur Waagschale?« Fhremus drückte seinen Stuhl vom Tisch fort und stand auf. Kurz blickte er die Mitglieder der anderen Parteien an. Dann stieg er die Stufen zur Plattform hoch. Er hielt einen Schild hoch, der in der goldenen Sonne schimmerte und auf dem eine Sonne abgebildet war. »Das ist der Schild aus dem Regiment der Königin, aus der Truppe, welche den Thron Sorbolds seit dreihundert Jahren verteidigt«, sagte er steif. »Das Heer will nicht herrschen, sondern nur denjenigen beschützen und stützen, den die Waage als rechtmäßige Stimme des Reiches erwählt.« Er hustete und schaute dann die Versammlung an. »Falls die Waage unsere Partei aussucht, wird es eine Bestätigung der Vision sein, eine eigene Nation zu bleiben, und der Kaiser wird aus den Reihen des Heeres bestimmt werden.« Nielash Mousa bedeutete ihm, den Schild auf die Schale zu legen. Der Kommandant küsste den Schild und legte ihn ab. Die Schalen bewegten sich nicht. Der Schild blieb an Ort und Stelle; der Ring des Staates wog schwerer. »Deine Weisheit ist überstimmt worden«, sagte Mousa zu Fhremus. Er nickte und nahm den Schild wieder an sich. »Aus dem Heer wird der Visionär, der Sorbold führen wird, nicht kommen. Wer ist der Nächste?« »Ich ... wir sind die nächsten«, rief Tryfalian mit donnernder Stimme über den Platz. Er ging hinüber zur Treppe und bestieg sie, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Das einsetzende Geflüster beachtete er nicht. »Welches Symbol bringst du dar?«, fragte Mousa. Tryfalian hielt ein großes Siegel aus Messing hoch. »Dieses Siegel erhielt mein Großvater von der Kaiserin, damit er Handelsabkommen für die Krone besiegeln konnte«, erklärte er. »Es ist das Symbol der Autonomie, die vorangetrieben werden wird, wenn die Schale für den Adel und die Grafen stimmt, welche die neun größten Staaten regieren. Wenn dies die Wahl der Waage ist, so wird das Reich aufgelöst. Autonomie und Freiheit wird den neun großen Provinzen gewährt, die mehr als drei Viertel der Landmasse und Bevölkerung des gegenwärtigen Staates stellen. Sie werden die anderen achtzehn in sich aufnehmen, nachdem die Bedingungen dafür in Sonderversammlungen getroffen wurden.« Mousa nickte und deutete auf die westliche Schale. Tryfalian näherte sich ihr, kniete nieder und legte das schwere Siegel darauf ab, damit es gegen den kleinen Ring gewogen wurde. Die Schalen regten sich sofort und warfen das schwere Siegel auf die Tribüne, wo es rasch bis an den Rand rollte. Tryfalian machte einen Sprung und wollte es davor bewahren, auf die Pflastersteine des Platzes zu fallen. Dabei landete er auf dem Bauch; das Siegel schlug ihm mit einem knirschenden Geräusch gegen die Knöchel, unter dem die Zuschauer zusammenzuckten. »Vielleicht hat dich die Kaiserin bevorzugt, doch die Waage tut es offenbar nicht, Tryfalian!«, rief einer der unbedeutenderen Grafen spöttisch durch das Gelächter, das aus seinen Reihen drang. »Ruhe!«, donnerte Nielash Mousa. Die Versammlung erstarrte unter der stahlharten Stimme des Seligpreisers. Gewöhnlich war Mousa ein Mann der sanften Töne und berühmt für seine Geduld. »Ihr entehrt die Waage.« Er legte eine Hand auf die Schulter des Grafen von Keltar, als dieser aufstand, warf er den unbedeutenderen Grafen einen bösen Blick zu und wartete, bis Tryfalian wieder seinen Platz eingenommen hatte. »Wer ist der Nächste?« Die Kaufmannschaft und die unbedeutenderen Grafen schauten einander verdutzt an. Schließlich stand Ihvarr auf. »In Ordnung«, sagte er gereizt. »Die Kaufleute sind die Nächsten.« Stilles Flüstern erhob sich unter den Grafen, als Ihvarr zur Waage ging; Nielash Mousa trat ihm auf der Plattform entgegen und starrte die Adligen an, bis sie schwiegen. Ihvarr hielt eine einzelne Goldsonne hoch, eine Münze des Reiches von Sorbold, die auf der einen Seite das Antlitz der Kaiserin und auf der anderen das Symbol des Schwertes und der Sonne trug; sie war größer und schwerer als eine Goldkrone aus Roland. »Diese einfache Münze ist das Symbol des Handels in Sorbold«, sagte er. Seine strahlende Händlerstimme erfüllte den Platz. »Sie stellt Reichtum und Macht des Handels in Sorbold dar: Schifffahrtslinien, Minen und die in der ganzen Welt bekannten Leinenwebereien. Die Kaufleute wollen nicht über Sorbold herrschen, aber die Einheit der Nation beibehalten. Die Männer, die über die Meere und durch die Länder ziehen und den Handel vorantreiben, sind das Lebensblut Sorbolds. Für sie spreche ich.« Er warf die Münze lässig auf die Schale. Langsam bewegte sich die Waage, und die Schale hob vom Boden ab. Der Arm stieg in den tintigen Himmel, hob die Münze und brachte sie in ein Gleichgewicht mit dem Ring des Staates. Ihvarr zuckte zurück, als sei er geschlagen worden. Er schaute hastig hinüber zu Talquist, der gleichermaßen erstaunt war, und dann zum Seligpreiser, der ernst nickte. »Nimm die Münze aus der Schale«, befahl Mousa. Rasch gehorchte der Kaufmann. »Da muss ein Fehler vorliegen«, flüsterte Tristan Steward Ashe zu und verlieh damit den Gedanken und Bemerkungen zahlloser anderer in den einzelnen Parteien und unter den Gästen Ausdruck. »Sicherlich kommt der nächste Kaiser nicht aus der Kaufmannschaft?« Ashe bedeutete ihm mit einer Handbewegung, still zu sein. »Warum nicht?«, flüsterte er. »Du kennst doch die Arbeit eines Staatsoberhauptes. Die Hälfte der Zeit verbringt er mit geisttötendem Erstellen von Tarifen und Getreideabkommen. Diese Leute leben dafür.« Er holte tief Luft und dachte an Rials Worte über den Sklavenhandel. »Wenn die Waage ihre Handlungen beobachtet, stellen sie vielleicht den ungesetzlichen Handel mit menschlichem Blut ein, damit sie nicht den Zorn der Dunklen Erde auf sich ziehen.« Der Seligpreiser hob die Hand, um die Aufmerksamkeit der Menge zu erlangen. »Wir werden das Symbol der Kaufmannschaft erneut wiegen, damit es keinen Zweifel geben kann«, sagte er. »Ihvarr, lege die Münze wieder in die Schale.« Der östliche Kaufherr tat, wie der Seligpreiser ihm befohlen hatte. Abermals hob die Waage die Münze hoch in den dunkelnden Himmel, als ob sie sie verherrliche, und pendelte sich dann zu einem vollkommenen Gleichgewicht mit dem Ring des Staates ein. »Es ist gewogen und im Gleichgewicht befunden!«, sagte der Seligpreiser laut; seine Erregung hallte durch das erstaunte Schweigen. Lange sprach niemand mehr. Dann war ein leichtes Klatschen zu hören, das immer stärker wurde. Der östliche Kaufherr sah seinen Gefährten an, der die Schultern zuckte. »Wer will als Kandidat für das Amt des Kaisers vortreten?«, fragte Mousa. »Ihvarr!«, rief Talquist fröhlich. »Das heißt, wenn seine uneheliche Geburt ihn nicht disqualifiziert.« »Verräter!«, rief Ihvarr zurück. »Falls dem so ist, stecken wir in Schwierigkeiten, denn du bist auch ein Bastard, Talquist, und ein größerer als ich auf alle Fälle.« »Tritt auf die Schale«, sagte Nielash Mousa ungeduldig. »Im Angesicht der Waage sollte dich dein Erstaunen eher sprachlos als närrisch machen.« Beschämt trat der Kaufherr auf die Waagschale. Unter dem Rauschen der Luft und einem heftigen Ausschlag des hölzernen Armes wurde er gegen den Sockel der Waage geschleudert. Er landete mit einem schrecklichen knackenden Geräusch im Nacken und schlug schwer auf den Boden. Talquist sprang auf und rannte auf Ihvarr zu. Panik zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Helft ihm!«, schrie er und drückte die Stühle weg, um zu seinem Kameraden zu gelangen. »Um Himmels willen ...« »Überlass ihn seinem Schicksal«, befahl Nielash Mousa ernst. »Die Waage hat gesprochen. Geh die Treppe hoch.« Talquist blieb wie vom Donner gerührt stehen. »Wie bitte?«, fragte er ungläubig. »Stelle dich dem Wiegen. Das ist der Wille der Waage.« »Sei kein Feigling, Talquist«, höhnte einer der unbedeutenderen Grafen. »Die Kaufmannschaft soll uns anführen und den Thron dem Adel aus der Hand nehmen, der ihn seit Jahrhunderten innehatte. Er soll in die dreckigen Hände eines Krämers gelangen. Du könntest durchaus derjenige sein. Wirf dich in die Waagschale. Vielleicht brichst du dir nur ein Bein anstelle des Genicks.« Talquist kniete nun neben Ihvarr und schloss ihm die glasigen Augen. Er erhob sich wieder, und sein massiges Gesicht gefror zu einer Maske aus Runzeln. »Du gehörst jetzt zum Adel, Sitkar?«, fragte er und schaute die Führer der kleineren Stadtstaaten an. »Du kennst offenbar nur eine einzige Bedeutung dieses Wortes. Es liegt mehr Adel in der Hand eines Mannes, der sein Brot selbst verdient, als in einem weit hergeholten kaiserlichen Recht, die anderen zu bestehlen. Vielleicht stellt die Kaufmannschaft etwas dar, was in deiner Partei unbekannt ist: die Erkenntnis, dass die Erde den Mann belohnt, der sie bearbeitet, sie ehrt und achtet und sich nicht bloß von ihr ernährt.« Ohne ein weiteres Wort ging er hinüber zu den Stufen und stieg die Plattform hoch. Und betrat die Waagschale. Und wurde hoch über die roten Pflasterziegel des Platzes gehoben, über die Häupter der anderen Bewerber, als ob die Waage dem Mond über ihr ein wertvolles Opfer darbringe. Der Seligpreiser kniete sich demütig, gefolgt von Lasarys, Fhremus und den anderen Einwohnern von Sorbold. Einige zögerten, andere waren von Ehrfurcht erfüllt. Schließlich stand der Segner von Sorbold wieder auf. Er verneigte sich vor dem Kaufherrn und wandte sich an die Versammelten. »Wer die Weisheit der Waage anzweifelt, stellt die Rechtschaffenheit der Erde selbst in Frage«, verkündete er. Sein zerfurchtes Gesicht entspannte sich zu einem zufriedenen Ausdruck. »Niemand sollte so blasphemisch sein.« Er wandte sich an Talquist und bot ihm die Hand zum Abstieg von der Waage an. »Wie lauten Eure Anweisungen, Herr?« Talquist dachte kurz über diese Frage nach, stellte sich an den Rand der Plattform und schaute auf die Versammelten vor ihm. Schließlich sagte er: »Meine erste Anweisung wird darin bestehen, sich um das Begräbnis Ihvarrs zu kümmern, der ein ehrenwerter Mann war, ein loyaler Sorbolder, ein Verteidiger der Nation und Anwalt des einfachen Mannes – und ein guter Freund«, sagte er schlicht. »Danach werden wir uns um die Staatsangelegenheiten kümmern. Ich bin so erstaunt wie alle anderen – vielleicht sogar noch mehr als alle anderen – über den Gang der Ereignisse. Ich möchte vorschlagen, dass ich nicht gekrönt, sondern als Herrscher für ein Jahr eingesetzt werde, was mir im Augenblick viel lieber wäre. Das Heer wird weiter bestehen wie bisher und das Reich verteidigen, die Kaufmannschaft wird weiter ihren Handel führen, der Adel kann seine Privilegien behalten – zunächst. Wenn die Waage nach einem Jahr noch immer der Meinung ist, ich solle als Kaiser herrschen, werde ich mich ihrem Willen beugen und für immer das Sonnenzepter sowie den Ring des Staates annehmen, den ich bereits ab sofort tragen werde. Aber bis dahin will ich nur das Reich zusammenhalten und mich wieder meiner Arbeit widmen.« Der Seligpreiser verneigte sich tief und sagte zu seinem Gefolge: »Ruft den Kammerherrn, damit er die Köche zur Rückkehr bewegt und wir alle uns auf ein verdientes Mahl freuen können. Wir werden ohne Rangordnung als Freunde und Verbündete an diesem Tisch zusammensitzen und auf Ihvarr und die Zukunft Sorbolds trinken. Denn diese Nacht ist viel versprechend. Für Sorbold ist es ein Neubeginn.« Etwas in diesen Worten hatte für Ashes Ohren einen falschen Klang. Er drehte sich um und wollte Talquist eingehender ansehen, doch der neue Herrscher stand hinter Nielash Mousa. Der Seligpreiser wandte sich an Lasarys. »Die Glocken sollen läuten.« Zwei Tage nach der Beendigung des Kolloquiums konnte sich Ashe endlich seinen Verpflichtungen entziehen und nach Haguefort abreisen. Er sagte dem Segner von Sorbold Lebewohl und wünschte ihm alles Gute. »Versucht, etwas Ruhe zu finden«, meinte er und klopfte Nielash Mousa auf die Schulter. »Es waren schwierige Wochen für Euch, und es bleibt noch viel zu tun. Sorbold braucht Euch sehr.« Der müde Segner lächelte schwach und nickte dankbar. »Wir können nur zum All-Gott beten, dass die schwierigen Zeiten nicht vor uns, sondern hinter uns liegen«, sagte er leise. »Ryle hira«, erwiderte Ashe, indem er einen alten lirinischen Ausdruck gebrauchte. Das Leben ist so, wie es ist. »Was auch immer geschehen wird, wir werden das Beste daraus machen.« Am Morgen der Abreise war es sehr warm. Die Sonne war zeitig aufgegangen und schien vom Anbruch einer neuen Ära befeuert zu sein. Sie brannte vom Himmel und erleuchtete das Land. Ashes Männer, die bereits beim Frühstück unerträglich schwitzten, fluchten gedämpft und wünschten sich weniger Begeisterung des Himmelsgestirns. Dennoch packten sie die Karawane schnell und gut und verließen mit Ashe die sorboldische Hauptstadt, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Als das Gefolge des cymrischen Herrschers die Nordflanke der Zahnfelsen herabgeklettert und auf dem Rymshin-Pass in Richtung Sepulvarta unterwegs war, erhob sich plötzlich der Schrei einer einzelnen Stimme, die einen Augenblick später vom Rest des Regiments aufgenommen wurde. »Herr! Herr!« Ashe schaute nach Westen in Richtung der Sonne, auf die seine Soldaten mit den Fingern deuteten. Der Magen zog sich ihm in Entsetzen zusammen, noch bevor er den Vogel erblickt hatte, den seine Drachensinne bereits spürten. Er bemerkte die Federn, die er gelassen hatte, die Spannung in den Flügeln und die raschen Augenbewegungen, als das Tier den Handschuh seines Herrn suchte. »Heiliger All-Gott«, murmelte Ashe und zügelte sein Pferd. »Nein.« Es war ein Falke. 26 Haguefort — Navarne Rhapsody drehte die letzten lockigen Haare zu einem Knoten und steckte ihn fest, wobei sie hauptsächlich auf ihren Tastsinn angewiesen war. »Blaue oder weiße Bänder, Melly?«, fragte sie. »Blaue, glaube ich«, antwortete das Mädchen und betrachtete sein junges Gesicht ernst im Spiegel. »Kannst du die Kristalle in die Enden flechten, so wie du es beim Frühlingsball gemacht hast?« »Natürlich.« Rhapsody streckte die Hand nach den Bändern aus und schluckte rasch, als sich ein weiterer Anfall von Benommenheit ankündigte. Sie blinzelte heftig und versuchte den Schwindel zu unterdrücken. Sie fuhr mit den Händen an Mellys Haar entlang und glättete es. »So«, sagte sie, als der Schwindel sie verließ. »Wie gefällt dir das?« »Großartig!«, erwiderte Melisande, drehte sich um und umarmte sie. »Vielen Dank. Ich wünschte, die lirinische Friseuse würde mir beibringen, hübsche Muster ins Haar zu flechten, so wie du es kannst.« »Ich fürchte, ich war eine schlechte Schülerin«, meinte Rhapsody und drückte einen Kuss auf den Kopf des Mädchens. »Du solltest einige ihrer Frisuren sehen. Einmal habe ich bei einem Treffen mit dem Botschafter der See-Lirin eine genaue Zeichnung der trianischen Küstenlinie im Haar gehabt.« Das junge Mädchen kicherte. »Wenn du das nächste Mal mit mir in die lirinischen Länder reist, werde ich sie bitten, es dir auch beizubringen. Komm jetzt. Hilf mir, deinen Bruder zu finden.« Melisande streckte die Hand aus und schlang einen Arm um Rhapsodys Hüfte, um sie zu stützen. Gemeinsam schlenderten sie durch den Vordereingang von Haguefort, vorbei an den Mauern aus rosig-braunem, mit Efeu bewachsenem Stein, und ließen sich auf der Treppe Zeit. Die Geräusche aus der Ferne verrieten Rhapsody, dass der Wagen und die Eskorte bereit zur Abreise waren. Sie hörte die Fahrer, die kaum mehr als huschende, ferne Schatten waren. Sie riefen sich etwas zu, trafen letzte Vorbereitungen, und das Quietschen von Türen zeigte an, dass der Wagen beladen wurde. »Ist Gwydion hier?«, fragte sie ein wenig besorgt und suchte den grünen, verschwimmenden Horizont nach ihrem Adoptivenkel ab. »Hinter dir«, ertönte eine Stimme, die tiefer war, als sie hätte sein sollen, und leicht brüchig klang. Rhapsody drehte sich um und lächelte den verschwommenen Umriss vor ihr zärtlich an. »Ich hatte befürchtet, du wärest so in dein Bogenschießen vertieft, dass du vergisst, mir Lebewohl zu sagen.« »Niemals«, meinte Gwydion Navarne ernst. Sie breitete die Arme aus, und er warf sich unbeholfen an ihre Brust. Er drückte sie so vorsichtig, als könne er sie zerbrechen. »Ich bin nicht aus Glas, Gwydion«, sagte sie, als Melisande fortlief, um sich den Wagen anzuschauen. »Mach dir bitte nicht so viele Sorgen.« »Das tue ich nicht.« »Unsinn, du lügst. Ich erkenne es an deiner Stimme.« Sie legte ihm eine Hand auf die Wange. Die weiche, jungenhafte Haut war durch die Stoppeln des beginnenden Bartwuchses aufgeraut. »Sage mir, was dich bedrückt.« Gwydion schaute fort. »Nichts. Ich mag es nicht, wenn du fortgehst. Besonders nicht in einem Wagen, und erst recht nicht, wenn ich dich nicht begleiten darf.« Rhapsody atmete tief ein und hielt die Luft an. Sie verfluchte sich für ihre Gedankenlosigkeit. Gwydions Mutter war gnadenlos ermordet worden, nachdem sie ihrem siebenjährigen Sohn einen Abschiedskuss gegeben und sich mit ihrer Schwester auf den Weg in die Stadt Navarne gemacht hatte, um ein Paar robuste Schuhe für die ein Jahr alte Melly zu kaufen. Rhapsody erinnerte sich erst jetzt wieder an diese Umstände, obwohl sie jedes Mal, wenn sie nach Tyrian oder anderswohin reiste, Gwydions Widerstreben beim Abschied bemerkt hatte. »Ich werde zurückkommen und dir beim Schießen mit den neuen Pfeilen zusehen«, versprach sie und fuhr ihm mit der Hand über den Arm, als wolle sie ihn wärmen. »Gefallen sie dir?« Der Junge zuckte die Achseln. »Ich habe erst einen benutzt, und er war gut. Ich spare sie auf, damit du und Ashe sehen könnt, wie ich sie beim Turnier gebrauche.« »Wunderbar!«, sagte sie freudig. Ihr Ton verriet nichts von der Übelkeit, die sie wieder befiel. »Bringst du mich zum Wagen? Du weißt, wie sehr Anborn es hasst, wenn er warten muss. Er wird jeden Augenblick nach mir rufen.« »Lass ihn doch warten«, sagte Gwydion, dessen gute Laune allmählich zurückkehrte. »Er wird sowieso rufen. Vielleicht gibst du ihm einmal einen wirklichen Grund dazu.« »Da steht ein silberner Kübel mit Eis drin!«, rief Melisande verwundert von der Straße her. »Und er sieht aus wie ein Ritterhelm. Und da sind Kirsch- und Zitronentörtchen!« Gwydion Navarne trat Rhapsody einige Kiesel aus dem Weg. »Bestellst du der Drachin schöne Grüße von mir?« »Das werde ich tun. Ich bin sicher, dass sie sich darüber freut. Sie ist recht freundlich und hat einen bemerkenswerten Sinn für Humor.« »Das bezweifle ich nicht«, sagte Gwydion und bot ihr seinen Arm an. »Wenn sie das nicht hätte, würde die Bevölkerung des westlichen Roland schon mit dem Kopf nach unten im größten Räucherhaus nördlich von Gwynwald hängen und langsam zu Schinken trocknen.« Rhapsody legte die Hand vor den Mund. »Oh«, murmelte sie und eilte an die Mauer der Festung. Der junge zukünftige Herzog wandte sich ab und kratzte sich linkisch am Kopf. »Ich kann es kaum erwarten, bis ich wieder wie früher mit dir reden kann«, sagte er reumütig. »Es tut mir so Leid.« »Ich kann es ebenfalls kaum erwarten«, sagte sie nach einem Moment und griff nach seinem Arm. »Vielleicht kennt Elynsynos einen Weg, der mich wieder zu meinem alten Selbst führt.« »Ach, ich weiß, wie du es anstellen musst, damit du nicht mehr lange so leiden musst.« »Oh! Was muss ich tun?« In den Augen des Jungen funkelte es ausgelassen. »Halte dich beim nächsten Mal von Ashe fern.« Die Straße nach Gwynwald führte eine Weile durch eine Mischung aus spärlichen Gehölzen und offenen Feldern, bevor sie in den dichteren Wald drang. Die Sommersonne stand hoch am Himmel, doch im Wald war es kühl; das Licht zitterte durch das Wagenfenster wie durch Webmuster. Rhapsody lag gegen die Kissen gelehnt und döste. Sie genoss das Gefühl der sanften Brise auf ihrem Gesicht. In den drei Tagen, die seit der Abreise aus Haguefort vergangen waren, hatte sich ihr entkräftigender Zustand gebessert. Obwohl ihr manchmal übel und sie oft unsicher auf den Beinen war, beschränkten sich die Symptome zumeist auf verschwommenes Sehen und eine plötzliche Störung des Gleichgewichts, selbst wenn sie saß oder lag. Noch ein paar Tage, und ich werde bei Elynsynos sein, tief im stillen Innern ihrer Höhle am Rande der unterirdischen Lagune. Bei diesem Gedanken lächelte sie. Das Rumpeln der Wagenräder, das gedämpfte Klappern der Pferdehufe, das gelegentliche Zwitschern eines Vogels, das bis hinter die Vorhänge drang, die Geräusche einer glückhaften Reise vereinigten sich zu einer besänftigenden Harmonie. Es war ein Gefühl des Friedens. Sie hörte, wie vor dem linken Fenster ihr Name gerufen wurde. Es war Anborns Stimme, und sie klang beinahe fröhlich. Obwohl er es angeblich hasste, an einen Ort gebunden zu sein oder ein Ziel zu verfolgen, das nicht sein eigenes war, schien der General recht zufrieden zu sein, mit einem kleinen Garderegiment durch einen der grünsten und schönsten Wälder des Kontinents zu reisen. »Hallo da drinnen«, rief er. »Lebst du noch, Rhapsody?« Sie rückte ans Fenster und streckte den Kopf heraus. »Erkläre ›Leben‹.« »Aha. Sie lebt!«, sagte der General fröhlich zu seiner Truppe, den acht Soldaten und zwei Fahrern, die sie begleiteten. »Mach dir von Zeit zu Zeit die Mühe, uns davon zu überzeugen, dass du noch unter den Lebenden weilst.« »Entschuldigung«, sagte Rhapsody freundlich. Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl der starken Brise, die von den grünen Blättern des Waldes gekühlt wurde und ihr über das Gesicht und durch die Haare fuhr. Die andauernde Bewegung und der steife Wind verschafften ihr ein ähnliches Gefühl wie am Meer. Es tat ihr wohl. Anborn ritt nahe an den Wagen heran. »Willst du zum Mittagessen anhalten?« Rhapsody öffnete die Augen und lächelte unwillkürlich. Außer dem hochlehnigen Sattel, der ihn stützte, sprach keinerlei Anzeichen dafür, dass dieser Mann seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte. Seine Lahmheit fiel auch deshalb kaum auf, weil alle Sättel seiner Soldaten ähnlich ausgestattet waren, sodass der General nach Belieben jedes Tier reiten konnte. Auf dem Pferderücken wirkte er so gesund und beeindruckend wie damals, als sie ihn zum ersten Mal gesehen und er sie auf dieser selben Waldstraße beinahe Überritten hätte. »Wenn die Truppe eine Pause einlegen möchte, können wir gern halten«, sagte sie. »Ich bin nicht hungrig.« Anborn schnaubte. »Sie hatten ein Frühstück«, sagte er hochmütig. »Wir reiten weiter; wir kommen gut voran.« »Ich würde gern bei dem Baum anhalten, wenn wir in die Nähe des Kreises kommen«, sagte Rhapsody und hielt sich am Fensterrahmen fest, als eine neue Welle der Übelkeit sie überspülte. »Wie lange dauert es noch, bis wir da sind?« Anborn schaute in den Wald und hoch zur Sonne. »Bis morgen Nachmittag.« »In Ordnung.« Sie zog sich die Reisedecke über die Schultern. »Dann sollten wir doch anhalten und ein Mittagessen einnehmen. So wie ich dich kenne, Anborn, würdest du den Soldaten bis morgen keine Gelegenheit mehr geben, etwas zu essen.« Der General lächelte schwach. »Wie du befiehlst.« Dorndreher, der wie immer neben Anborn herritt und seine beiden Bögen über dem Schoß liegen hatte, sagte: »Den Göttern sei Dank. Ich wollte schon die Rinde vom nächsten Baum abreißen und sie verspeisen.« Je tiefer sie in den grünen Wald hineinfuhren, desto leichter wurde die Reise. Anborn ließ den Wagen im Abstand von einigen Stunden immer wieder anhalten, wenn er glaubte, Rhapsody sei wach, damit sie Gelegenheit hatte, festen Boden unter den Füßen zu spüren und sich ein wenig zu recken und zu strecken. Nach wenigen Minuten wurde sie jedes Mal vorsichtig in den Wagen zurückgebracht, und das Garderegiment setzte sich wieder in Bewegung. Als die Nachmittagssonne hinter den Bäumen versank und den Wald mit Stäben aus staubigem goldenem Licht überschwemmte, hielt der General an, um das Nachtlager aufzuschlagen. »Ich glaube, du hattest genug Gerüttel und Geschüttel für einen Tag«, sagte er, während die Wagentüren geöffnet wurden. »Es ist Zeit, sich auszuruhen. Wir entzünden ein Feuer und gehen schlafen.« »Wegen mir musst du nicht anhalten«, sagte Rhapsody und ergriff den Arm des Soldaten, der ihr die Tritte herunterhelfen wollte. »Ich kann im Wagen schlafen. Ich habe schließlich den ganzen Tag nichts getan.« »Was für ein angenehmes Leben«, lachte Anborn. Während die Soldaten das Lager aufschlugen, half Dorndreher dem General vom Pferd und legte ihn auf eine Bettrolle mitten auf der Lichtung in der Nähe eines Haufens aus Zweigen und Ästen, die das Lagerfeuer bilden würden. Rhapsody setzte sich neben ihn und erhielt einen Becher Apfelwein sowie einen Teller mit Keksen. Sie löste die Tagessternfanfare vom Gürtel und zog das Schwert vorsichtig aus der Scheide. Das ruhige Summen, das nun ertönte, klang genauso wie die Fanfare, die es ausstieß, wenn es in Wut oder Not gezogen wurde, doch nun war es kaum hörbar und wisperte leise durch die stille Luft des beständig dunkler werdenden Waldes. Das Band mit dem Elementarfeuer tief in ihr sang darauf eine harmonische Antwort. Die Musik summte in Rhapsody und beruhigte Bauch und Geist. Die Soldaten schauten beeindruckt zu, wie sie das Flammenschwert immer weiter zog und mit ihm den Haufen aus Zweigen und Ästen berührte. Sie entzündeten sich sofort; die Flammen tanzten im Wind und erfüllten das Zwielicht mit hellen Funken, die wie Glühwürmchen zuckten und huschten. Sie legte sich das Schwert über die Knie und hielt es mit den Ellbogen an Ort und Stelle, unempfindlich gegen die Flammen. Dabei lauschte sie dem Geplauder der vier Soldaten, die nicht Wache stehen mussten, sondern sich beim Feuer entspannten und ihr einfaches Mahl zu sich nahmen. Es lag etwas Erfrischendes, Belebendes darin, in einer Sommernacht im Wald zu sein, dachte sie und sog tief die kühle, feuchte Luft ein, die in so großem Gegensatz zur trockenen Hitze Yarims stand. Vielleicht verbesserte es ihren Zustand, in dieser natürlichen Umgebung mit dem üppigen Grün des Sommers, dem warmen, reichen Duft der Erde und dem schützenden Blätterdach über ihr zu sein. Sie fühlte sich besser, obwohl ihr noch schwindlig war und ihre Blicke verschwammen. Viele Meilen entfernt hörte sie das Lied des Großen Weißen Baumes. Es war eine tiefe, uralte Melodie, die sich durch den ganzen Wald wob und in allen Pflanzen summte, die hier wuchsen. Sie schloss die Augen und lauschte bezaubert. Die Musik erfüllte ihren Kopf und machte ihre Gedanken klar. Leise sang sie ein Lied aus ihrer Heimat, das ihr zur See fahrender Großvater ihr vorgesungen hatte, als sie ein Kind gewesen war. Ich ward unter dieser Weide geboren, Wo mein Vater das Land bestellt’, Hatf grünes Gras zum Kissen mir erkoren Und den Ostwind als Laken und Zelt. Doch fort! fort! rief der Wind aus West, Und als Antwort lief ich davon Sucht’ Abenteuer und Ruhm, Den versprach die goldene Sonn’. Ich fand Liebe unter dieser Weide, So treu wie nichts auf der Welt, Verschenkte mein Herz und schwor Eide, Besiegelte sie mit Küssen und Geld, Doch zu den Waffen! rief der Wind aus West Und treu lief ich davon, Marschierte für König und Vaterland In den Krieg unter der Mittagssonn’. Oft träumt’ ich von dieser schönen Weide, Als auf den sieben Meeren ich fuhr, Und von dem Mädchen, das ich verließ, Bei ihr sein wollte ich nur. Doch hinfort! hinfort! rief der Wind aus dem Westen, Und gleich fuhr mein Schiff davon, Die Küste hinab, durch die weite Welt, Unter fliegenden Segeln in der sinkenden Sonn’. Nun liege ich unter der Weide, Nun reise ich nicht mehr umher. In den Armen der Braut und der Erde Ist meine Heimat nunmehr. Wenn hinfort! hinfort! der Wind aus Westen ruft, Und jenseits des Grabes ich steh, Wird mein Geist die Sonn’ in den Morgen jagen, Jenseits des Himmels, jenseits der See. Anborn, Dorndreher und die Soldaten lauschten verzückt der melancholischen Melodie; ihre Gespräche waren bei den ersten Tönen erstorben. Als Rhapsody fertig war, holten die Männer tief Luft und stießen sie in einem gleichzeitigen Seufzer wieder aus. »Sing uns noch ein Lied, wenn du möchtest, Rhapsody«, sagte Anborn und trank seinen Humpen aus. »Wärest du einverstanden mit Die traurige, seltsame Geschichte von Simeon Blaskerl und dem Schuh der Konkubine? Wie du weißt, ist das mein Lieblingslied.« Rhapsody lachte und spürte, wie die Beklemmung in Brust und Bauch ein wenig nachließ. »Ein Gwadd-Lied? Wollt ihr, dass ich für euch ein Gwadd-Lied singe?« Anborn tat so, als sei er beleidigt. »Warum nicht?«, wollte er wissen. »Bloß weil die Gwadd ein winziges Völkchen sind...« »Und gute Schemel machen«, fügte Dorndreher rasch hinzu. »... heißt das nicht, dass sie keine guten Sänger sind ...« »Zart, wenn man sie mit Kartoffeln füllt...« »Und dichten wunderbare Balladen...« »Und sind ein guter Ersatz für Heuballen beim Bogenschießen ...« »In Ordnung!«, sagte Rhapsody und musste vor Lachen so stark husten, dass ihr die Rippen schmerzten. »Hört aber sofort damit auf.« Sie richtete sich auf und räusperte sich. »Ich brauche meine Harfe«, sagte sie dann und setzte sich bequemer hin. »Wäre einer der vornehmen Herren so freundlich, sie aus dem Wagen zu holen?« Die Soldaten standen rasch auf und waren verblüfft, dass die alten Cymrer vor ihrer Herrin so grob waren und diese offenbar daran keinen Anstoß nahm. Aiiborn seufzte komisch, als einer der Männer zum Wagen rannte und das Instrument holte. »Auf einer Ziehharmonika hört es sich besser an«, sagte er kennerhaft zu Dorndreher. »Oder auf einer Fiedel mit Gwadd-Saiten.« Rhapsody legte die Hand vor den Mund, um die Mischung aus Übelkeit und Gelächter zu unterdrücken, die bei dieser Bemerkung in ihr aufstieg. »Noch eine solche Bemerkung, Dorndreher, und ich setze mich neben dich, damit du etwas davon hast, wenn ich mich übergeben muss.« »Ts, ts«, machte Dorndreher. »Hab sie noch nie so grob und unflätig gesehen, nicht wahr, Anborn? Was ist bloß in sie gefahren? Ach ja, stimmt, das war dein Neffe.« Anborn kniff seinen ältesten Freund ins Ohr und warf ihm einen finsteren Blick zu. Rasch nahm Rhapsody die Schoßharfe von dem Soldaten entgegen, stimmte sie und spielte eine komisch-herzerweichende Weise aus dem alten Land; es war das Lied vom Gwadd-Helden Simeon Blaskerl und dem Schuh seiner verlorenen Geliebten. »Noch ein Lied! Singt noch ein anderes Lied, Herrin«, ermunterte Dorndreher sie, als sie die tragische Geschichte beendet hatte. »Wie wäre es mit einem Schlaflied?«, erwiderte Rhapsody und setzte die Harfe auf das andere Knie. »Nicht nur, weil es schon spät ist, sondern auch, weil ich so etwas üben muss.« Die Männer nickten zustimmend, als sie mit einer alten, beruhigenden Nachtweise begann, an deren Ursprünge sie sich nicht mehr erinnerte. Schlaf, kleiner Vogel, unter meinen Schwingen... Anborn wurde plötzlich im Widerschein des Lagerfeuers blass; seine Hand schoss hervor und packte sie am Unterarm. »Sing etwas anderes«, sagte er knapp. Rhapsody blinzelte verblüfft. »Es tut mir Leid«, sagte sie rasch und versuchte sein Gesicht zu erkennen, doch sie sah nur die Schatten von Augen und Mund. »Es braucht dir nicht Leid zu tun. Sing etwas anderes.« Zermürbt dachte sie an das Windlied, das zu ihrer Kindheit ihr Schlaflied gewesen war. Sie wusste, dass niemand der hier Versammelten es je gehört haben konnte; also würde es niemandem missfallen. Zögernd begann sie zu singen. Ihre Stimme spiegelte das Knistern des Lagerfeuers und das Pulsieren der Flammen wider, die an der Klinge der Tagessternfanfare entlang leckten. Schlafe, mein Kind, mein Kleines, schlaf gut. Dort in der Lichtung, wo der Fluss niemals ruht, Wo der Wind leise wispert und trägt fort im Nu All deine Sorgen und den Kummer dazu. Ruh dich aus, mein Süßes, und schlafe recht fest, Dort, wo der Regenpfeifer baut nun sein Nest, Dein Kissen ist Süßklee, das Gras deckt dich zu, Der Mond scheint herab, und der Wind weht dazu. Träum, meine Liebe, träum wunderschöne Träume Wenn der Wind streicht sanft über Bäche und Bäume. Nimm seine Flügel, er trägt dich ein Stück, Doch meine Liebe hält dich sicher auf Erden zurück. Als sie geendet hatte, sah Anborn sie zum ersten Mal an, sei sie mit der Weise begonnen hatte. »Hübsch«, sagte er ruhig. »Von wem hast du es gelernt?« »Von meiner Mutter«, sagte Rhapsody. »Sie hatte für alles ein Lied. Die Liringlas legen beinahe allem im Leben ein Lied bei. Wenn eine Frau feststellt, dass sie schwanger ist, ist es bei den Lirin Tradition, dass sie ein Lied für das wachsende Leben in sich auswählt. Das ist das erste Geschenk, das sie ihrem Kind gibt – sein eigenes Lied.« Sie schaute in die Dunkelheit hinter dem verschwommenen Lagerfeuer. »Alle meine Brüder hatten ihr eigenes Lied, doch das hier war das Lied, das meine Mutter gesungen hat, als sie mit mir in guter Hoffnung war. Die Liringlas-Mutter singt das Lied ihrer Wahl jeden Tag, bei alltäglichen Ereignissen, in stillen Augenblicken, wenn sie allein ist, vor jedem Morgengebet und nach jeder Abendvesper. Durch sie lernt das Kind dieses Lied kennen. Es ist sein erstes Schlaflied, und jedes Kind hat sein eigenes. Die Lirin leben draußen unter den Sternen, und es ist wichtig, dass die Kinder in gefährlichen Situationen so still wie möglich bleiben. Dieses Lied ist ihnen so vertraut, dass es sie sofort beruhigt. Es wiegt sie in den Schlaf.« Anborn seufzte. »Eine edle Tradition. Hast du schon eines für meinen Großneffen oder meine Nichte ausgesucht?« Rhapsody lächelte. »Nein, noch nicht. Mir wird eins einfallen, wenn die Zeit dazu reif ist. Zumindest hat man mir das gesagt. Wenn ihr mich nun entschuldigt, ich glaube, ich möchte schlafen. Ruht wohl, meine Herren.« Sie streckte sich neben dem Feuer aus. Anborn betrachtete sie liebevoll während des größten Teils der Nacht. Er runzelte die Stirn, als sie im Schlaf vor Schmerzen stöhnte, und seine Augen leuchteten, als sie friedlich schlummerte. Nachdem die Wache gewechselt hatte, kam Dorndreher zu ihm herüber und hockte sich neben ihn. »Zieht euch kurz zurück«, befahl er den vier Soldaten, die von der Wache gekommen waren. Sie sahen Anborn an, weil sie von ihm diesen Befehl bestätigt haben wollten. Der General nickte. Als die Soldaten außer Sichtweite waren, zog Dorndreher einen dünnen, zerbeulten Kurzsäbel und hielt ihn seinem alten Freund entgegen. »Nimm ihn«, sagte er. Anborn schaute fort. »Nicht heute Nacht.« Dorndreher schwang die Waffe vor ihm. »Nimm ihn«, sagte er gebieterischer. Anborn lehnte erneut ab. »Ich kann ihn heute Nacht nicht tragen, Dorndreher.« »Wenn du dich in melancholischen Gedanken verlieren willst, dann begib dich in deine Schwermütigkeit, indem du nicht nur die Erinnerung, sondern den wahrhaftigen Anblick erfährst.« Schließlich drehte sich der General um und sah seinen Soldaten an, der wie immer dicht hinter ihm stand. Er seufzte, ergriff den Kurzsäbel und hielt ihn gegen das Licht, das sich auf der Klinge widerspiegelte. Dorndreher stand sehr still da und beobachtete Anborn, der gedankenverloren auf der Erde saß und einen Moment durchlebte, der für immer vergangen war. Es war ein Bild, das Dorndreher als Einziger auf der ganzen Welt durch die Kraft des Namens, den ihm ein Benenner vor langer Zeit gegeben hatte, Anborn sehen lassen konnte. Als das Bild verblasste, gab er den Säbel dem Soldaten zurück, packte seine nutzlosen Beine und streckte sie aus. »Ich vermute, ich sollte dir dankbar sein«, sagte er kühl. »Nicht notwendig. Das tust du nie.« »Aus gutem Grund«, sagte der General, während er sich schlafen legte. »Es gibt einige Dinge, von deren Anblick sich ein Mann fern halten sollte, wie gern er sie auch sehen möchte. Nun ruf die Wachen herbei und lass sie schlafen.« Am Morgen wurde die Reise zur Höhle der Drachin fortgesetzt. Es herrschte recht schönes Wetter. Die nächsten drei warmen Tage und kühlen Nächte waren ereignislos und angenehm. Bis der erste Pfeil einschlug. 27 Am frühen Morgen des vierten Tages waren sie noch eine halbe Tagesreise von der engsten Stelle des Tara’fel-Flusses entfernt, als Dorndreher plötzlich in seinem Sattel nach vorn sackte. Dorndreher ritt immer in der Nachhut, unmittelbar hinter Anborn, und hielt dem General buchstäblich den Rücken frei, so wie er es schon seit Jahrhunderten getan hatte. Als daher bei Beginn des Hinterhalts der erste Pfeil abgeschossen wurde, hatte er Dorndreher zum Ziel, der am Ende der Soldatenreihe hinter dem Wagen ritt, in dem Rhapsody schlief. Trotz seiner Jahre war Dorndreher mit ungewöhnlicher Schnelligkeit gesegnet und hatte noch Zeit gehabt, einen kurzen Blick auf den Schwärm Pfeile zu werfen, die sich in die Rücken der Soldaten vor und neben ihm bohrten und die gleichzeitig nach vorn kippten. Ihre Beine waren nun genauso nutzlos geworden wie die von Anborn. Der auf ihn gezielte Pfeil war im hohen Sattel stecken geblieben. Dorndreher war vom Aufprall durchgeschüttelt worden, doch er hatte noch in seinem Sitz herumwirbeln und seine Armbrust auf die Köpfe zweier Männer abfeuern können, die zwischen den Bäumen hinter ihm erschienen. Er bemerkte das Rascheln von Zweigen und das Aufwirbeln von Staub und toten Blättern, als sie umfielen, doch er hörte nicht, wie sie auf den Boden schlugen. Die Zeit verlangsamte sich schrecklich. Er hörte das Klopfen seines Herzens, den Schrei des Pferdes, als es sich aufbäumte, das Knacken von Ästen überall um sie herum. In diesem letzten Augenblick, bevor der zweite Pfeil ihn traf und ihm das Blut in die Kehle stieg, hörte Dorndreher seine eigene Stimme, von der sein Ich abgespalten zu sein schien, einen Alarmruf ausstoßen. »Wir werden angegriffen! Weiterfahren! Weiterfahren!« Der dritte Pfeil zerschmetterte ihm den Brustkorb und nahm ihm den Atem. Dorndreher kämpfte gegen die Dunkelheit an, die aus den Augenwinkeln herbeikam, während ihm die Armbrust beinahe aus der Hand fiel. Der Bolzen stach das Pferd. Mit dem Rest seiner Konzentration zwang er das Spinnengewebe seines Bewusstseins auf einen bestimmten Punkt, packte seine Waffe mit einer letzten Anstrengung und feuerte erneut. Der Pfeil flog weit, zumindest erschien es ihm so in dem Nebel, der sich in seinen Augen und seinem Denken festgesetzt hatte, und ein weiterer Körper fiel aus den Bäumen. Er bemerkte, dass er keinerlei Schmerz verspürte, als er von der zuckenden Flanke des Pferdes fiel, und hörte nichts als das Klopfen in seinen Ohren, als sich sein Herz leerte und ihm das Blut aus der Brust schoss und sich auf dem Waldboden unter seinem Gesicht sammelte. Er hörte, wie Anborn seinen Namen rief. Der Klang wurde schwächer, bis er ins Nichts verdämmerte. »Reitet! Schützt den Wagen!«, donnerte der General und wendete sein Pferd, als Dorndreher auf den Waldboden fiel und sein Leben aushauchte. Er schlug sein Pferd und benutzte dabei das Handsignal, das es gut kannte. Er leitete es über die Straße und versperrte den Weg. In der einen Hand hielt er den Bogen, und mit der anderen zog er sein Schwert. Mordlust blitzte in seinen Augen auf. Reiter und Pferd hielten kurz an und galoppierten dann in Richtung des Waldes los. Geschickt wichen sie einem Pfeilschwarm aus. Anborn lehnte sich über den Hals des Pferdes und hörte das beunruhigende Knirschen des schlingernden Wagens, als die Fahrer die Pferde antrieben. Die Wachen preschten neben ihm dahin. Dann stürzte er sich in den Wald, aus dem das Pfeilfeuer gekommen war, und schlug mit entfesselter Wut um sich. Das Brechen von Knochen, das Spritzen von Blut, von Hirn, das Reißen von Leder, die Genauigkeit, mit der er seine Schläge führte, konnten die Wut nicht dämpfen, die in ihm übergekocht war und nun alle versengte, die ihm im Weg standen. Verschwunden war die unbeteiligte Sachlichkeit, mit welcher der Marschall die blutigsten Kriege in der Geschichte des Kontinents geführt hatte. Er konnte seinen Zorn nicht zurückhalten und stürzte sich mit solcher Gewalt auf einen der Bogenschützen, dass dessen Körper nach sechs raschen Hieben unkenntlich geworden war. In der Ferne hörte er das Geräusch von schlagenden Bolzen. Er hielt seinen Hengst an und drehte sich entsetzt um. Vor dem Wagen flogen die Pfeile. Einer der Fahrer war an der Stirn getroffen und fiel schwer zu Boden. Er riss die Zügel mit, während er unter die Räder rutschte. Der Wagen schwankte wie verrückt und wäre beinahe umgekippt. Die Wachen bemühten sich, mit ihm Schritt zu halten, und feuerten auf alles, was sich am Rand der Straße bewegte. Zu beiden Seiten des Wagens versuchten Rhapsodys Bewacher von ihren Pferden auf die Kutsche zu springen, um sie aus der Gefahrenzone zu lenken. Einem gelang es aufzuspringen, doch der andere wurde in dem Augenblick erschossen, als er das Trittbrett gepackt hatte. »Flieht!«, brüllte Anborn den Reiter und dem Kutscher zu, doch sie befanden sich außer Hörweite. Er riss an den Zügeln und wirbelte herum, trieb sein Pferd zurück an den Waldrand und setzte zwei Männern nach, die zu Fuß in Richtung Straße flohen. Wie eine vollkommene Einheit ritten Mann und Tier über den ersten hinweg: Anborn wartete, bis er spürte, wie die Pferdehufe den Kopf des Mannes gleich einer Melone zerquetschten, bevor er dem zweiten von hinten in den Hals schoss und ihn mit dem Schwert aus dem Weg wischte. Vorn zwischen den Bäumen sah er huschende Gestalten, es waren zwanzig oder mehr, und er wusste, dass das nur die hintere Flanke der Streitmacht war, die den Hinterhalt gelegt hatte. Während er sich eng an den Hals des Hengstes drückte, wurde ihm übel bei dem Gedanken, dass der Wagen inzwischen umstellt sein musste und die Wachen entweder überwältigt oder tot waren. An Dorndreher dachte er nicht mehr. Rhapsody erwachte, als sie quer durch den Wagen geschleudert wurde. In dem Nebel, der sich seit der Empfängnis ihres Kindes in ihren Gedanken festgesetzt hatte, kämpfte sie darum, einen klaren Kopf zu bekommen, doch das ließen der schwankende Wagen und ihr mangelndes inneres Gleichgewicht nicht zu. Zuerst konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wo sie war. Sie befand sich noch in den Fängen der seltsamen und bizarren Träume, die sie soeben geplagt hatten. Sie hörte Stimmen vor dem Wagenfenster. Es waren die Rufe ihrer eigenen Soldaten und, weiter entfernt, gedämpfte Schreie in einer Sprache, die sie nicht verstand. Zitternd tastete sie nach ihrem Schwert. Das kann nicht sein, dachte sie und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Gleichzeitig packte sie sich an den Bauch, als der Wagen wieder schlingerte und sie zu Boden warf. Als ihr Ohr gegen die Planken des tanzenden Wagenbodens schlug, hörte sie einen Freudenschrei aufsteigen, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war ein Siegesschrei. Der Seneschall wartete eine halbe Meile entfernt auf der Straße. Er hörte im Wind den näher kommenden Wagen, gefolgt von dem freudigen Schrei. Er schaute über die Schulter und rief nach Fergus am Kopf der verbliebenen Truppen, die auf Pferden saßen, welche sie sich in der letzten Woche beschafft hatten. »Das ist das Signal. Sie kommt. Holt sie von der Straße.« Fergus nickte knapp und gab der Truppe ein Zeichen, dann trieb er sein Pferd zu einem leichten Galopp an. Der Seneschall hob die Hand über die Metalltonne vor ihm, die halb mit Öl gefüllt war. Er öffnete die Tür in seinem Kopf, die dem Dämon Einlass verschuf, und lud ihn ein. Kryv, flüsterten sie gemeinsam mit einer einzigen Stimme. Mit einem Fauchen entzündete sich das Öl und wurde zu einem Flammenteppich. Ein schwankender Vorhang aus schwarzem Rauch und Funken senkte sich und verbrannte die grünen Blätter der höchsten Bäume über der Straße. Das Feuer wurde rasch zu einer heißen, hellen Flammenhölle, einem gezügelten Inferno. Die Truppen ritten vorbei. Die von Caius angeführten Bogenschützen blieben zurück. Sie hielten ihre langen Bogen mit den pechgetränkten Pfeilen bereit. Während der Wagen die Waldstraße entlangholperte, schützten die verbliebenen sechs Soldaten den Fahrer. Sie trieben verzweifelt ihre Pferde an und versuchten mit dem entsetzten Gespann Schritt zu halten, das sich von seiner Bürde freizukämpfen versuchte. Zwei weitere Gruppen von Angreifern, eine an der hinteren linken Flanke, die andere rechts vor ihnen, preschten aus dem Wald hervor und schössen einen ganzen Schwärm von Pfeilen ab. Einige waren auf die Soldaten gezielt, die meisten aber auf den Fahrer und das Gespann. Rhapsodys Fahrer und Soldaten waren nun so unterlegen, dass sie nicht mehr tun konnten, als den Wagen auf der Straße zu halten. Die hintere Flanke schien sie nach rechts treiben zu wollen, und die vorn aus den Wäldern kommenden Männer hielten nach links. Dem Fahrer drohten die von den Zügeln blutig gescheuerten Hände zu versagen, als er das Gespann nach links lenkte, weg von den Furchen am Rand der Straße. Als sie auf eine kleine Anhöhe kamen, schössen drei weitere Reiter aus dem Wald hervor und kamen geradewegs auf den Wagen zu. Sie zielten zuerst auf den Fahrer, der auf dem Bock in sich zusammensackte, und dann auf den Wagen und die Wachen. Sie trafen einige und trieben das Gespann nach Norden, von der Straße herunter und in das tiefer liegende Gebiet unmittelbar dahinter. Rhapsodys verbliebene Wachen, die sich einer vierfachen Übermacht gegenübersahen, hielten an und stellten sich zwischen den Wagen und die herankommenden Mörder. Es war, als wolle man das Meer mit einem Schild zurückhalten. Die Angreifer fielen über die Wachen her, zerfetzten sie und trieben ihre Pferde in den Wald; die Leichname baumelten von ihnen herunter. Die drei vorderen Reiter lenkten den führerlosen Wagen näher und näher an die tiefe Senke neben der Straße. Einer ritt neben dem Gespann und durchschlug mit dem Schwert die Halterungen. Die Tiere lösten sich von seiner Last und galoppierten immer noch aneinander gebunden in die tiefen grünen Schatten des Waldes. Der führerlose Wagen rollte an den Rand der Senke und kippte auf die rechte Seite. Mit ohnmächtig sich drehenden Rädern lag er in der Vertiefung. Der Seneschall stand auf der kleinen Erhebung und nickte befriedigt. »Setzt ihn in Brand«, rief er Caius zu, der daraufhin erbleichte. »Seid bereit, sie in Empfang zu nehmen, wenn sie herauskommt.« Die Bogenschützen tauchten ihre Pechgetränkten Pfeile in das Feuerfass, zielten und schössen auf ein zweites Zeichen des Seneschalls. Die Geschosse flogen durch die Luft und drangen tief in das Holz des Wagens ein. Es klang so angenehm wie Regen auf einem Holzdach. Der Seneschall gab ein drittes Zeichen. Der Wind wurde stärker, rauschte über die Waldstraße und trieb Blätter und kleine Äste vor sich her. Der Wagen schwelte zunächst; dann, als der Wind durch ihn fuhr, brach er in Flammen aus. Weiter hinten auf der Waldstraße sah Anborn den schwarzen Rauch, der von dem Feuer aufstieg, das soeben den Wagen verschlang. Der heftigste Fluch, den er seit Jahrhunderten ausgestoßen hatte, brach aus ihm hervor. Er drückte sein Schwert noch tiefer in die Brust des letzten Angreifers in seiner Nähe, schlitzte den Mann von der einen Brustwarze bis zur anderen auf und trieb sein Pferd wieder voran. Er preschte in die Richtung des schwarzen Rauches. Einen Augenblick lang brannte das Feuer unvermindert und scheinbar unbemerkt weiter. Dann öffnete sich mitten im Rauch unsicher die Tür, die einmal der linke Eingang des Wagens gewesen war, und Rhapsodys Hände wurden sichtbar. Sie hatte die Tagessternfanfare gezogen, die nicht anders als ein weiterer Brandherd aussah und mit den Flammen der Umgebung verschmolz. Sie warf das Schwert beiseite, und es lag einige Zeit unbemerkt am Boden, während sie sich aus dem Wagen zog und ein feuchtes Tuch über die untere Gesichtshälfte hielt. Sie kletterte auf das, was nun der obere Teil des Wagens war. Der ganze Wald um sie herum schien zu brennen, aber durch ihr Band mit dem Feuer wusste sie, dass es im Augenblick nur der Wagen und das trockene Gras unmittelbar darunter waren. Hinter dem großen Flammenvorhang sah sie lauernde Gestalten, einige zu Pferd, andere zu Fuß. Keiner davon gehörte zu ihren Soldaten. Noch vor wenigen Augenblicken war ihr Verstand umnebelt und schwer gewesen, doch nun wurde er scharf und klar. Von dem Feuer hatte sie nichts zu befürchten; sie war die Iliachenva’ar, die Trägerin des elementaren Flammenschwertes, und als solche war sie vor ihnen geschützt. Daher entschied sie, in dem Kreis aus Hitze und Licht abzuwarten, den die Soldaten wohl kaum betreten konnten. Sie irrte sich. So etwas wie eine Tür öffnete sich in der Feuerwand; die Flammen teilten sich wie auf einen Befehl hin. Einige Männer schritten zu Fuß hindurch und näherten sich ihr vorsichtig. O Götter, dachte sie und marterte ihr Hirn nach einem Ausweg. Es müssen F’dor-Wirte sein, oder sie stehen unter dem Bann eines Dämons. O Götter! Sie schaute über die Schulter. Acht oder neun weitere Männer befanden sich hinter ihr und kamen langsam näher. Ihre verschwommenen Umrisse schienen miteinander zu verschmelzen. Rhapsody versuchte die Panik zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. Sie hustete, um den Rauch aus der Kehle zu vertreiben, und packte wieder die Tagessternfanfare. Dann richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Band, das sie mit der Waffe vereinigte, und zog Kraft heraus, um sicherer stehen zu können. Sie dachte an ihre Ausbildung unter Oelendra, der vorigen Iliachenva’ar. Die alte Lirin-Frau hatte ihr die Augen verbunden, sodass sie blind mit ihren Gegnern kämpfen und die inneren Schwingungsmuster benutzen musste, welche die Waffe ihr übermittelten. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Macht des Schwertes. In ihren Gedanken sah sie die Männer nun deutlicher. Es waren regenbogenfarbene Gestalten mit kaltblauen Waffen in den Händen, mit roten Herzen und vor Hitze pochenden Gesichtern. Es waren insgesamt vierzehn, die sie umzingelten und langsam die züngelnden Flammen umrundeten, die sich von dem brennenden Wagen ausbreiteten. Sie warf das Tuch fort und hob das Schwert ein wenig, während sie die andere Hand mit der Innenfläche nach oben ausstreckte, als sei sie ihr Schild. »Bleibt, wo ihr seid, oder ihr werdet sterben«, sagte sie so laut wie möglich durch das knisternde Brüllen mit einer Stimme, in der die Macht der Benennerin mitschwang. Sofort erstarrten alle vierzehn und warteten im Rauch am Rand des Feuers ab. Rhapsody drehte sich mit gezücktem Schwert und geschlossenen Augen langsam um, bis sie die Angreifer besser erkennen konnte. Nichts anderes war mehr zu hören als der brennende Wagen. In geringer Entfernung weiter vorn auf der Straße stand eine Gestalt in einem wadenlangen Mantel und mit einer Kapuze auf dem Kopf neben einer brennenden Tonne und rief etwas in einer Sprache, die Rhapsody nicht verstand. Die Männer blinzelten und schüttelten sich, als ob sie sich von Rhapsodys zwingenden Worten lösen wollten, und schwärmten in einem großen, sich rasch zusammenziehenden Kreis aus. »Dann kommt!«, rief sie mit vor Wut heiserer Stimme. »Sterbt, wenn ihr es unbedingt wollt.« Schwindel und Übelkeit wichen, als Kampfeslust sie überspülte. Kalte Überlegungen beherrschten sofort ihren Verstand. Ihr erster Vorteil bestand im Ziel der Männer. Ihre Gesten und die Art, wie sie ihre Waffen hielten, verrieten Rhapsody, dass sie nicht getötet, sondern gefangen genommen werden sollte. Aus diesem Grund hielten sie ihre Klingen von Rhapsody abgewandt. Sie selbst hatte keine solchen Bedenken im Hinblick auf das Leben der Angreifer. Rhapsody hob das Schwert über den Kopf und zog rasch einen schützenden Kreis um sich. Sie nahm den Ton des Schwertes mit ihrer eigenen Stimme auf. Der dünne Kreis aus Licht schwebte über ihrem Kopf und spiegelte den Schein des Feuers wider, lenkte die Luftströmungen ab und machte ihr Bild in den Augen der Feinde genauso undeutlich wie das, welches Rhapsody sah. Vorn auf der Straße, wo die Gestalt in dem Mantel sowie einige andere standen, ertönte ein wütender Ruf in einer Stimme, die Rhapsody durch Mark und Bein fuhr, auch wenn sie nicht wusste, warum. Die vier Gestalten vor ihr wurden langsamer und versuchten ihre Aufmerksamkeit ganz zu beanspruchen, damit sie die beiden anderen nicht sah, die sich ihr von hinten näherten. Sie wartete und drehte der zweiten Phalanx weiterhin den Rücken zu, bis diese nahe genug herangekommen war. Dann wirbelte sie herum und sprang auf die beiden nächsten zu. Das Schwert stieß einen Ton der Rache aus; die Flammen hüpften von der Klinge, als sie mit beiden Händen zuerst den einen zwischen die Augen traf und dann dem anderen die Kehle aufschlitzte. Da sie die Augen noch geschlossen hielt, sah sie nicht den Ausdruck des Erstaunens auf ihren Gesichtern, als sie plötzlich in ihrem eigenen Blut badeten. Sie hatte sich bereits wieder umgedreht und wehrte den Angriff von der anderen Seite ab. Sie schlug um sich, traf Hände, die versuchten, sie zu packen, sprang vor Stöcken zurück, die ihr die Füße wegziehen wollten, und folgte den Mustern ihrer Ausbildung und ihrem tiefen elementaren Band zu der alten Waffe. Dann hatte Anborn den Wagen erreicht. Das dumpfe Geräusch einer abgefeuerten Armbrust erregte kurz die Aufmerksamkeit der Angreifer und gab Rhapsody die Möglichkeit, ihre Klinge tief in den Bauch eines Feindes zu stoßen, der sich ihr von hinten genähert hatte. Sie pfählte ihn auf, als er gerade nach ihr greifen wollte. Anborn feuerte wieder. Ein doppelter Schuss traf einen weiteren Reiter. Dann wandte Anborn sich um und köpfte einen Fußsoldaten, der soeben versucht hatte, Rhapsody mit einem Knüppel niederzuschlagen. Mit der Geschwindigkeit und Gleichmäßigkeit, die von der Ausbildung durch denselben Meister herrührte, teilten sich die beiden die Angreifer auf und wandten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Ziele, die sich jeder von ihnen ausgesucht hatte. Anborn lud mit einer Hand seine Armbrust und feuerte erneut. Er traf einen Reiter, der auf ihn zupreschte, hielt dann den Griff seines Schwertes nach oben, biss die Zähne zusammen und stieß mit aller Kraft auf den Feind ein, der unter ihm stand. Rhapsody folgte seiner Führung, duckte sich, rannte los und lockte ihre Angreifer in Anborns Pfeilhagel. Ein weiterer Ruf ertönte von der Straße her. Eine durchdringende Stimme schrie Befehle, während der Mann im Mantel auf das Kampfgetümmel zuschritt. Hinter ihm ritt eine Gruppe von sieben Angreifern heran. Sie preschten die Straße hinunter, und die Bogenschützen tauchten ihre Pfeile wieder in das brennende Fass. Als der letzte der vierzehn Angreifer überwunden war, streckte Anborn den Arm nach Rhapsody aus und beugte sich im Sattel vor. »Rhapsody! Komm!« Sie sprang über einen sich windenden Körper vor ihr, griff nach Anborn und machte sich daran, vor ihm auf das Pferd zu springen. »Bogenschützen, zielt auf das Pferd«, sagte der Seneschall. »Caius, du nimmst den Reiter.« Sie war nur noch einige Ellen von Anborn entfernt, als der wunderbare schwarze Hengst ins Taumeln geriet, stolperte und zu Boden fiel. Er warf den General, der sich an die Flanke des Tieres geklammert hatte, mit dem Kopf voran ab. Rhapsody war erschüttert. Sie keuchte auf und flog auf ihren Freund zu. Die letzte Strecke legte sie auf den Knien zurück. Sie bedeckte ihn mit ihrem Körper und suchte verzweifelt nach Lebenszeichen. Seine Kleider brannten. Sie erstickte die Flammen mit einem einzigen Wort und kämpfte darum, die Tränen, die ihr in die Augen getreten waren, zu stillen. Der General lag auf dem Rücken. Sein Blick war glasig, aber auf Rhapsody gerichtet. Er versuchte zu lächeln; seine feuchte Hand zitterte, als er sie in einer nutzlosen Geste der Beruhigung streichelte. »Lauf weg, du schöne Närrin«, flüsterte er heiser. »Sie sind in der Überzahl, und sie kommen näher.« Aus der Ferne spähte der Seneschall durch die Flammen und sah, wie sich Rhapsody über den Körper des Reiters beugte. Hure, murmelte der Dämon. Elende, brünstige Hure. Zorn brannte in seinem Hirn – ein Zorn, der nicht der seine und nicht der des F’dor war. Er packte den Griff von Tysterisk und zog es wütend aus der Scheide. Als das Elementarschwert des Windes hervorkam, brachte es einen heftigen Windstoß mit sich. Vom brennenden Waldboden erhob sich eine Windhose. Die Luftströmung fing die Funken des lodernden Wagens auf, wirbelte sie durch den Wald und entzündete ihn. Die grünen Blätter, die bisher nicht vom Feuer erfasst worden waren, erhellten nun den Himmel stärker als das Tageslicht. Der Seneschall gab den Reitern ein Zeichen. »Steigt ab«, sagte er scharf. »Die Pferde wissen nicht, dass sie in meiner Nähe vor dem Feuer sicher sind. Folgt mir.« Rhapsody spürte, wie das Feuer und die Hitze stärker wurden, bis sie versengend waren, und sah, wie sich auf Anborns Gesicht Blasen bildeten. Sie blickte über die Schulter zu der Stelle, wo die Reiter und die verhüllte Gestalt gewesen waren, und bemerkte, dass sie durch die Flammen rasch auf sie zukamen. Sie wandte sich wieder dem General zu, der im hellen, orangefarbenen Licht des brennenden Waldes grau wurde. »Du musst mir helfen, Anborn«, sagte sie sanft. »Du musst leben, ich brauche dich.« Der General blinzelte, sagte aber nichts. Rhapsody beugte sich dichter über ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich kann ihnen nicht entkommen. Ich sehe nicht gut genug, und es sind zu viele. Ich darf es nicht zulassen, dass ihnen die Tagessternfanfare in die Hände fällt. Du verstehst, wie wichtig das ist.« Die glasigen Augen des Generals wurden für einen Moment klar, doch dann umwölkten sie sich wieder. Rasch tauschte Rhapsody das Schwert mit ihm, rollte ihn auf die Seite und schob die Tagessternfanfare unter seinen steifen Körper. Sie ergriff seine Hand, konzentrierte sich auf seinen wahren Namen und sprach ihn aus, damit er wieder heil und gesund wurde. »Anborn ap Gwylliam, werde heil«, befahl sie mit der Stimme der Benennerin. »Ruhe in heilsamem Schlaf und scheine leblos zu sein, bis diese Männer fortgehen.« Sie sang seinen Namen wieder und wieder und behielt die näher kommenden Schatten im Auge, die sich rasch durch den wogenden Rauch vorarbeiteten. Der Blick des Generals wurde klarer, und bei ihren Worten kehrte die Farbe in seine Haut zurück. Er versuchte aufzustehen, doch Rhapsody drückte ihn sanft zurück auf den Boden und beugte sich so tief, dass ihre Lippen an seinem Ohr lagen. »Das Schwert wird dich vor den Flammen schützen«, flüsterte sie. »Bewahre es, Anborn. Die Waldhüter werden kommen, wenn sie das Feuer sehen. Wenn du hier wartest und deinen Tod vorspiegelst, wird Hilfe kommen. Verstehst du mich?« Anborn nickte schwach und schloss die Augen. Nun waren die Angreifer nicht mehr weit entfernt. Rhapsody bückte sich über Anborn. Ihre Brust lag an seiner Schulter. Sie küsste ihn auf die Wange. »Lebe, lebe für mich, Anborn«, sagte sie. »Benachrichtige Ashe von dem, was hier geschehen ist. Sage ihm, den Kindern und meinen Bolg-Freunden, dass ich sie liebe. Und denk immer daran, dass ich dich ebenfalls liebe.« Der General drückte ihr die Hand. Sie verstanden einander. Sie kannten ihre Pflichten und die harte Wirklichkeit und wussten, was zu tun war, wenn der Tod eines Blutsverwandten drohte. Rhapsody stand mit Anborns Schwert in der Hand da und versuchte zu sich selbst zu finden, wobei sie in die verschwimmende Feuersbrunst vor sich schaute. Die Gestalt im Mantel gab den anderen wieder ein Zeichen. Drei der Männer hielten an und richteten ihre Armbrüste auf Rhapsody. Die anderen vier, die mit Schwertern, Messern und Knüppeln bewaffnet waren, teilten sich auf und umzingelten sie. Als die Angreifer den Ring enger um sie schlössen, bemerkte sie, dass sie eine Kleinigkeit übersehen hatte. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Feuer in ihr und rief aus sich selbst eine kleine Flamme hervor, die über die Klinge von Anborns Schwert leckte. Es war eine blasse Imitation der wogenden Flammenwellen, welche die Tagessternfanfare umgaben, doch es sollte genügen, um die Feinde zu täuschen. »Lass die Waffe fallen«, sagte die verhüllte Gestalt in der Umgangssprache. In seiner Stimme lag etwas so entsetzlich Vertrautes, dass sich ihr die Nackenhaare aufrichteten. Sie stand stocksteif da und weigerte sich, seinen Befehl mit einer Erwiderung zu bedenken. Die Armbrustschützen spannten ihre Waffen. Die Schwertkämpfer schlössen sich enger zusammen. Die Herrin der Cymrer wich nicht von der Stelle. Die Gestalt in Mantel und Kapuze kam dicht an sie heran und blieb stehen. »Nicht einmal ein Zucken«, sagte der Fremde mit Bewunderung in der angenehmen Stimme. »Du bist noch genauso wie früher: eine Kämpferin bis zum Schluss. Und es ist immer noch so anregend wie damals. Sogar mehr noch. Und du bist noch schöner geworden. Wer hätte das gedacht?« Sie packte das Schwert fester. »Du kämpfst weiter, nicht wahr? Selbst wenn du umzingelt bist und dich einer Übermacht von acht zu eins gegenübersiehst, gibst du nicht auf.« Der Mann in der Kapuze sog tief die Luft ein und stieß einen mächtigen, erfreuten Seufzer aus. »Es wird ein so großer Spaß werden.« Rhapsody sagte nichts, sondern überprüfte mit klopfendem Herzen ihren Griff um das Schwert. Benommen dachte sie an ihr ungeborenes Kind und bat es still um Vergebung. Der verhüllte Mann kicherte und bedeutete seinen Soldaten, die Stellung zu halten. Dann schlenderte er lässig weiter. »Ich habe dir gesagt, ich würde eines Tages zu dir zurückkommen«, meinte er mit kaum verhüllter Erregung. »Es tut mir schrecklich Leid, dass es so lange gedauert hat.« Rhapsodys bebender Magen wurde zu einem Eisklumpen. In dieser Stimme lag etwas, das ihre Seele entsetzte und zurück in eine Zeit der Dunkelheit jenseits des Begreifens führte, doch ihr Verstand sagte ihr, dass das nicht möglich war. Ein Geruch aus der alten Welt drang ihr in die Nase wie der Gestank aus einem offenen Grab. Ihr wurde schwindlig und übel. Als er unmittelbar vor ihr stand, nahm er die Kapuze ab. Sein Gesicht hatte sich zu einem grausamen Lächeln verzogen, und die blauen Augen glitzerten hell in erregter Vorfreude. »Hallo, Rhapsody, mein Liebling«, sagte er. Rhapsodys Gesicht erschlaffte und wurde trotz des Feuerscheins bleich. Ihr Griff um Anborns Schwert lockerte sich; ihre Hände wurden plötzlich kalt und schweißfeucht. Das verschwommene Gesicht, das unter der Kapuze verborgen gewesen war, wirkte vertraut und fremd zugleich. Sie glaubte, die Umrisse zu erkennen, doch es hatte ein skelettartiges Aussehen, wie sie es noch nie an einem menschlichen Gesicht wahrgenommen hatte. Es lag eine Wildheit in den Zügen, ein dämonisches Feuer in den vertrauten blauen Augen. Es lief ihr kalt den Rücken herunter und durchstrahlte sie, und plötzlich verblasste der Tod, dem sie sich noch vor kurzem gegenübergesehen hatte, vor dem, was da vor ihr stand. »Das ist nicht möglich«, flüsterte sie. »Wie klischeehaft. Nun, Rhapsody, ich habe dich in so vielen exotischen Stellungen genommen und dich so auf Herz und Nieren geprüft, dass du alles – alles – als möglich ansehen solltest.« Entsetzen überspülte sie wie Blut aus einer tödlichen Wunde. »Nein«, keuchte sie. »Nein. Nein. Nein.« Der Seneschall lachte laut. »Erinnerst du dich, wie sehr es mich erregt hat, wenn du das zu mir gesagt hast? Ich war härter als ein Schwertgriff. Ich habe dich immer dazu gebracht, mir das zu sagen, bevor ich dich gepfählt habe, und manchmal auch währenddessen, weil ich dabei deine inneren Muskeln auf so erregende Weise gespürt und gewusst habe, dass du mir zwar Widerstand leistest, mich aber nicht aufhalten kannst.« Er beugte sich leicht vor, warf einen Blick auf sie und lachte noch einmal. »Sieh nur«, sagte er. »Es hat immer noch denselben Effekt!« Rhapsody schüttelte heftig den Kopf. Ihre Gedanken purzelten durcheinander, der Atem ging schneller, die Blicke schössen umher und suchten nach einem Ausweg. »Nein«, sagte sie abermals. »Das ist nicht möglich.« Der Seneschall seufzte glücklich. »Das ist besser, als ich gehofft hatte. Ich hatte befürchtet, du könntest froh sein, mich zu sehen. Dann wäre es nicht so vergnüglich gewesen. Es hat so großen Spaß gemacht, dich zu überwältigen, Rhapsody. Ich hatte nie mehr eine ähnliche Frau wie dich. Ich kann es nicht erwarten, dieses Gefühl wieder zu verspüren. Aber ich will hier und jetzt betonen, dass du nicht in der Lage bist, mir zu widerstehen, in jeder Bedeutung dieses Wortes. Sei aber nicht entmutigt, das würde die Eroberung weniger ergötzlich machen.« Er trat einen Schritt auf sie zu. Einen Herzschlag später zeigte das Schwert in ihrer Hand auf seine Kehle. »Bleib mir vom Leib, Michael. Ich sterbe vielleicht, aber ich werde dich mit mir nehmen.« Die drei Armbrüste zielten auf ihren Kopf. Der Seneschall nickte den anderen Männern zu, während er seinen Gürtel abnahm. »Du willst mich nehmen, Rhapsody?«, sagte er stichelnd und mit einem deutlichen Unterton der Bedrohung. »Es ist mir ein Vergnügen, dir zu gehorchen. Haltet sie fest.« 28 Vor der nördlichen Küste Vom Deck der Basquela aus sah Quinn den Rauch über einer hohen Klippe in dem gewaltigen, undurchbrochenen Steinwall aufsteigen, der sich hinter dem Strand erhob und die ganze Küste entlang verlief. Nervös beobachtete er lange Zeit den Himmel und wartete auf das Zeichen, doch es kam nicht. Schließlich wandte er sich an die Mannschaft, die ebenfalls den Himmel nicht aus den Augen ließ. »Wir sollten das Schiff in seichteres Gewässer lenken«, sagte er zum Maat, der zur Antwort nickte. »Wir sollten so lange wie möglich im Tiefen ausharren, damit wir außer Sicht bleiben, aber wir wollen Seine Gnaden nicht warten lassen, wenn er an Bord kommen will.« »Nein, bestimmt nicht«, stimmte der Maat ihm hastig zu, während sich die Seeleute an die Arbeit machten. »Hast du ein paar Aale gefangen?«, fragte Quinn einen scheckigen Matrosen, der seit Tagesanbruch fischte. Der Seemann schüttelte den Kopf. »Nur Barsche. Sie sind ziemlich ölig.« »Das Geschöpf mag keinen Barsch«, wandte Quinn ein. Der Matrose zuckte die Achseln. »Sonst hat nichts angebissen. Wenn es hungrig genug ist, wird es das schon fressen.« Er warf den Kübel, der an der Reling gehangen hatte, dem Kapitän zu. Quinn machte ein finsteres Gesicht und fing den Eimer auf. Er eilte über das Deck zu der Tür, die hinunter in den dunklen Laderaum führte. Dann ergriff er die zerbeulte Laterne, die an einem Haken neben der Tür hing, zündete sie rasch an und schritt vorsichtig über die knarrende Holzleiter zu Farons behelfsmäßiger Behausung. Hier unten in der Dunkelheit war das Knirschen des Schiffes noch lauter. Der Geruch des Bilgenwassers wetteiferte mit dem unheiligen Gestank des Wesens, das in den Schatten lauerte. Als der leuchtende grüne Teich in Sicht kam, klapperte Quinn laut mit dem Eimer. »Faron?«, rief er mit Nervosität in der Stimme. »Frühstück.« Der grüne Teich wurde aufgewirbelt, und die Kreatur durchbrach die Oberfläche. Wasser strömte aus allen Öffnungen des scheußlichen Kopfes. Quinn versuchte, seinen Ekel zu verdrängen. Das grüne Glimmen kam von den Ausscheidungen des Ungeheuers, und als Quinn sah, wie es ihm aus dem missgestalteten Mund lief, drehte sich ihm der Magen um. Die großen, runden Augen starrten ihn aus der Dunkelheit an; die Furchen auf seinem Gesicht legten sich um etwas, das bei einem Menschen die Stirn gewesen wäre, und seine verzerrten Züge kündeten von deutlichem Missvergnügen. »Nein, er ist noch nicht zurück«, murmelte der Kapitän. »Bald.« Das Geschöpf zischte. Speichel spritzte aus den offenen Seiten seines verklebten Mundes. »Ich habe dir schönen Barsch mitgebracht, Faron«, sagte Quinn so besänftigend wie möglich. Die Kreatur spuckte aus und kreischte vor Wut. »Es tut mir Leid. Das ist alles, was wir gefangen haben. Das hier ist schließlich nicht dein Zuhause bei den Docks, Faron. Hier gibt es keine Aale.« Faron sah ihn verächtlich an. »Also, willst du sie haben oder nicht?« Das Geschöpf schaute den Kapitän noch einige Augenblicke an, dann nickte es. In seinen umwölkten Augen lag Unheil. Als Quinn ein paar Schritte nach vorn machte, griff Faron in die Tiefen des seichten Teiches und fischte nach etwas. Als er es gefunden hatte, hielt er es hoch. Quinn brachte die Laterne näher an den Gegenstand heran, weil er sehen wollte, worum es sich handelte. In der verkrüppelten Hand des Geschöpfes lag ein schartiges Oval, das in vielen Farben leuchtete, auch wenn die Oberfläche hauptsächlich grau war. So etwas hatte Quinn noch nie gesehen, doch er hatte gehört, wie der Seneschall gesagt hatte, das Ungeheuer könne die Schuppen lesen, und so vermutete er, dass es sich dabei um eine solche handelte. »Zeigst du mir das?«, fragte er. »Ist das für mich?« Das Wesen nickte und bedeutete dem Seemann mit seiner grotesk verdrehten Hand, näher zu kommen. Zögerlich trat Quinn vor und hielt die Laterne dichter an die Schuppe. Er beugte sich nach vorn, versuchte dabei aber so weit wie möglich von Faron entfernt zu bleiben, damit er diese schreckliche Gestalt, die der Seneschall so sehr zu lieben schien, nicht zufällig berührte. Das Lampenlicht flackerte über die Einritzungen auf der Oberfläche der Schuppe. Zuerst erkannte Quinn das Muster der Linien nicht, doch nach einem Augenblick wurde das Bild deutlicher. Er trat erschrocken zurück. Es war die unbeholfene Zeichnung eines Galgens, von dem eine Gestalt schlaff herabhing. »Ich?«, winselte Quinn und prallte zurück. »Willst du damit sagen, dass das für mich ist?« In Farons Augen glimmerte es triumphierend, und er zog eine scheußliche Grimasse, die bei einem menschlichen Gesicht ein Grinsen hätte sein können. Der anmaßende Blick des Ungeheuers bewirkte, dass sich Quinns Panik in Wut verwandelte. »Verdammtes Biest«, sagte er böse, »bleib doch in deinem Mist sitzen und verrotte, du schwimmende Missgeburt.« Das Lächeln des Geschöpfes wurde noch breiter. Quinn schob den Eimer über den Rand des Teiches und eilte die Treppe hoch, wobei er versuchte, die entsetzlichen schmatzenden und blubbernden Laute hinter sich zu überhören. Im nördlichen Gwynwald »Erschießt mich doch«, sagte Rhapsody zu den Armbrustschützen, ohne den Blick von dem Seneschall abzuwenden. »Bis zum letzten Atemzug werde ich jeden töten, der sich mir nähert.« Der Seneschall krähte vor Lachen; seine Finger arbeiteten an den Schnüren seiner Hose. »O Rhapsody, wie ich dich in diesen vielen Jahrhunderten vermisst habe«, sagte er und streichelte sich selbst, während er in seiner Aufregung mit den Schnüren kämpfte. »Du weißt genau, wie du die Sache noch aufregender machen kannst.« Nun redete die Herrin der Cymrer den Seneschall zum zweiten Mal direkt an. »Genau wie du, Michael. Ich bin sicher, deine Männer schätzen diese Vorführung.« Das Licht in den blauen Augen wurde vor Erregung noch heller. »Allerdings. Erinnerst du dich, wie ich dich oft im alten Land vor den Augen meiner Männer genommen habe, Rhapsody? Am liebsten auf dem Frühstückstisch oder auf einem Pferderücken, während ich meine Morgenbefehle gegeben habe. Was für ein Spaß wird es sein, es jetzt hier in diesem Wald zu treiben, umgeben von den Leichen deiner Wachen.« Rhapsody grinste schief. »Na, zumindest für die da«, sagte sie hochmütig und nickte in Richtung der sieben Männer. »Ich bin sicher, diese Schurken sind nicht anders als deine üblichen Lakaien und würden ein großes Vergnügen daran haben, ihren Anführer so bloßgestellt und unfähig sehen, den Akt länger als ein paar Sekunden durchzuführen, und außerdem so kläglich und – klein. Ich hege keinen Zweifel daran, dass sie so viel Spaß wie diejenigen haben werden, die ihn in der anderen Welt auf deine Kosten hatten.« Der Seneschall hielt inne. Er hatte die Hand noch in der Hose. Sein skelettartiges Gesicht erschlaffte vor Entsetzen. »Spaß?«, zischte er. »Lügen! Meine Männer hätten es nie gewagt, sich einen Spaß auf meine Kosten zu leisten.« Die Herrscherin der Cymrer lachte harsch. »Vielleicht nicht in aller Öffentlichkeit, Michael, Wind des Todes‹. Aber es waren deine eigenen Soldaten, die deinen Spitznamen geprägt haben: Michael, der Atemverschwender. Es waren nicht deine Feinde, auch wenn sie diesen Spitznamen oft benutzt und viele andere geprägt haben.« »Du lügst«, sagte er kalt. Rhapsody schenkte ihm ein gleichermaßen frostiges Lächeln. »Du erinnerst dich nicht so gut an mich, wie du glaubst, Michael«, sagte sie. »Ich lüge nie. Nicht einmal, wenn ich dazu gezwungen werde.« Sein Gesichtsausdruck wurde noch finsterer, und als er sprach, mischte sich die raue Stimme des Dämons in seine Worte. »Du hast mich angelogen«, sagte er mit beinahe greifbarem Hass. »Du hast mir deine Treue versprochen. Und was hast du aus diesem Eid gemacht?« »Ich habe geschworen, ›keinen anderen Mann zu lieben, bis diese Welt an ihr Ende kommt‹«, sagte Rhapsody gelassen. »Ich habe nie gesagt, dass ich dich liebe, sondern nur, dass ich keinen anderen als den Mann lieben werde, dem mein Herz damals gehörte und auch heute noch gehört. Und falls du es nicht weißt, sage ich dir, dass die alte Welt tatsächlich an ihr Ende gekommen ist, ein recht schreckliches Ende im vulkanischen Feuer. Ich habe dich in die Irre geführt, weil du sonst ein kleines Kind vergewaltigt und ermordet hättest. Aber ich habe dich nicht belogen. Deine verletzten Gefühle dürfen von mir keine Barmherzigkeit erwarten.« Der Körper des Seneschalls spannte sich an, und sein Gesicht verhärtete sich zu einem schrecklichen Anblick. Es war, als zöge ein Sturm herauf. »Drückt sie auf den Boden«, sagte er zu seinen Wachen. »Wir werden gleich sehen, wer hier verletzt ist und ob du Reue empfindest oder nicht.« Fergus warf einen besorgten Blick auf das Feuer, das sich bis zum Blätterdach des Waldes hochgefressen hatte. »Herr, wir müssen zurück zum Schiff gehen«, sagte er ruhig und beobachtete, wie das Feuer in den Himmel schoss und die Luft mit dichtem Rauch erfüllte. »Die meisten unserer Soldaten sind tot, und Quinn hat gesagt, dass das hier ein heiliger Wald ist. Es muss Waldhüter oder Priester geben, die den Rauch bemerken und handeln werden.« Mehr Flammen, forderte der Dämon. Mehr Flammen. Das Mädchen kannst du ein anderes Mal nehmen. Der Seneschall legte eine Hand gegen die Stirn und versuchte, die Stimme zu ersticken, doch der F’dor-Geist war angesichts des heraufziehenden Infernos zu aufgeregt, um unterdrückt werden zu können. Mehr Brände! Mehr Flammen! »Entwaffnet sie wenigstens«, sagte er böse zu Fergus. »Fesselt ihre Hände, damit ich sie an den Haaren zu den Klippen ziehen kann.« Langsam umkreisten Fergus und die anderen drei Schwertkämpfer Rhapsody. »Leg die Waffe nieder, Mädchen«, sagte der Vogt besänftigend. »Sie ist sowieso viel zu groß für dich. Du wirst dich damit nur selbst verletzen. Wir wollen dir nichts antun.« Zur Antwort hob Rhapsody mit festem Griff das Schwert ein wenig höher. Sie erinnerte sich an Achmeds Rat, den er ihr vor langer Zeit tief im Innern der Erde gegeben hatte, als Grunthor ihr Unterricht an der Waffe gegeben hatte. Erstens: Gleich wie du die Waffe hältst, verändere deinen Griff ein wenig, damit dir bewusst wird, dass du eine Waffe in der Hand hast. Nimm deine Waffe niemals als selbstverständlich hin. Die zweite Regel ist noch wichtiger: Beiß, die Zähne zusammen. Sei darauf gefasst, verletzt zu werden. Sie atmete tief ein und versuchte, ihren verschwommenen Blick vor den Feinden zu verbergen, als sie ihren Griff um das Schwert ein wenig verlagerte. Es wird dir nicht gelingen, Schmerzen zu vermeiden. Du kannst sie allenfalls gering zu halten versuchen, das heißt, du solltest von vornherein darauf aus sein, die Ursache zu beseitigen. Hätte Grunthor sich nicht zurückgehalten, wäre es schon nach dem ersten Schlagabtausch um dich geschehen gewesen. Du musst akzeptieren, dass du nicht ohne Blessuren davonkommst, also sei entschlossen, dem Gegner heimzuzahlen, was er dir antut. Lerne zu hassen. So bleibst du am Leben. Rhapsody hörte ihre eigene unschuldige und naive Stimme in der Dunkelheit des Tunnels, der an den Wurzeln des Weltenbaumes entlang führte. Lieber wäre ich tot, als unter solchen Umständen leben zu müssen. Tja, wenn du an deiner Einstellung festhalten willst, wirst du dich nicht lange quälen müssen. Nein, dachte sie. Ihr Wille stählte sich wie das Erz in der Schmiede von Ylorc. Nein. Ich habe zu viel zu verlieren. Zu viel zu schützen. Ihre Augen verengten sich, als Hass in ihrer Seele wuchs. Es war der gerechte Abscheu einer Frau, die zu lange missbraucht worden war, einer Mutter, deren ungeborenes Kind in Gefahr schwebte, einer Königin, deren Freund und Beschützer im Koma auf dem brennenden Waldboden lag. Ich werde nun verletzt werden, dachte sie; diese Erkenntnis entsetzte sie nicht. Und es besteht die Gefahr zu verlieren. Ich muss meinen Bauch schützen, Zeit gewinnen und auf den richtigen Augenblick warten. Langsam kam der Schwertkämpfer näher. Aber ich werde so viele von euch mitnehmen wie möglich, dachte sie und schaute von den Schwertkämpfern zu Michael, der sie in einem Zustand der Erregung beobachtete, den sie trotz ihres verschwommenen Blicks deutlich erkannte. Du wirst mich nicht mehr besitzen, du Stück Dämonendreck. Nicht, solange ich lebe. Die Stimme von Oelendra, ihrer lirinischen Lehrerin und der letzten Frau, die die Tagessternfanfare vor ihr getragen hatte, hallte in ihrem Kopf wider. Du hast einen guten Anfang gemacht, aber jetzt werden wir dir beibringen, wie unser Volk zu kämpfen. Glaubst du, dass die Art, auf die die Lirin kämpfen, besser ist als die der Firbolg? Ja, zumindest für die Lirin. Die Bolg sind groß, stark und unbeholfen; die Lirin sind klein, schnell und schwach. Du verlässt dich zu sehr auf deine Stärke und nicht genug auf deine Wendigkeit und Schlauheit. Du hast einfach nicht die Körpermasse, um wie ein Tier zu kämpfen. Langsam senkte sie die Klinge. Sobald das Schwert auf den Boden zeigte, hastete der Kämpfer hinter ihr herbei. Mit der flachen Klinge zielte er auf ihren Hals, während nun auch die anderen näher kamen. Sie tat so, als habe sie ihn nicht gehört und sei sich seiner Gegenwart gar nicht bewusst – bis zur letzten Sekunde, bevor er zuschlagen wollte. Sie wirbelte herum, duckte sich und schlitzte ihm mit Anborns Schwert die Knie auf. Blut schoss wie aus einem Geysir aus der Wunde hervor und bespritzte ihr Kleidung und Gesicht. Der Wald schien plötzlich in einen Sturm auszubrechen, der sie umwarf. Sie spürte, wie Michaels übrige sechs Männer über sie herfielen, ihr die Waffe aus den Händen rissen und die Bluse aufschlitzten. Sie rollte sich im Fallen zu einer Kugel zusammen, um ihr Kind zu schützen, und machte sich gegen die Schmerzen taub, die von den Prellungen herrührten. Man hielt ihr die Beine fest, und ihr Rücken wurde immer wieder gegen den Boden gepresst. Verschone mein Kind, betete sie zum All-Gott, während der Mann, dessen Beine sie verletzt hatte, wie verrückt schrie und ihr eigener Körper immer neue Schläge empfing. Falls ich überlebe, verschone mein Kind. Die Tortur schien eine Ewigkeit zu dauern, doch tatsächlich war sie in wenigen Augenblicken vorbei. Rhapsody lag auf dem brennenden Boden; ihr Gesicht war grün und blau geschlagen, und sie blutete und atmete den Staub des Waldbodens ein. Überall um sich herum spürte sie die Hitze im Einklang mit Michaels Wahnsinn steigen. Er schlenderte zu ihr herüber. Sie hörte seine Schritte und versuchte, sich nicht von Furcht auffressen zu lassen. Er packte das Seil, das ihre Hände band, und zog sie auf die Beine. Er starrte sie an. Seine Augen waren ein fließendes, grausames blaues Licht unmittelbar vor ihr. In diesem Moment war es Rhapsody, als blicke sie direkt in die Gruft der Unterwelt, wo die Rasse der Dämonen gefangen gehalten wurde. Dann lagen seine Lippen auf ihren – Lippen, die vor beißendem Feuer brannten und sich so schwer gegen ihren Mund pressten, dass sie ihm Quetschungen zufügten. Das ganze Grauen der Vergangenheit kam in einer Sekunde zu ihr zurück. Rhapsody zitterte heftig, als die schmerzhaften Erinnerungen sie überfluteten; es waren scheußlich Augenblicke aus der Vergangenheit, die sie zusammen mit ihren Albträumen fortgesperrt hatte. Gegen ihren Willen keuchte sie laut auf. Michael beendete den Kuss und starrte sie an. Er hatte sie falsch verstanden. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und presste seinen Körper gegen ihren. Das stahlähnliche Skelett wurde von Muskeln gehalten, die sich eher tot als lebendig anfühlten. »Beiß mich, und es wird das Letzte sein, wofür du deine Zähne gebraucht hast«, sagte er gelassen, als er mit den Händen durch ihr goldenes Haar fuhr, das Band löste und es zu Boden warf. »Sie hindern mich nur bei meinem Plan, wie ich deinen Mund benutzen will.« Dann stieß er ihr die Zunge zwischen die Lippen und nahm ihr den Atem. Rhapsody versuchte, ihren Verstand vom Körper zu trennen, wie sie es früher gekonnt hatte, doch ihr Ekel war so stark und der Gestank brennenden menschlichen Fleisches, der bei wachsender Erregung von seiner Haut ausging, so überwältigend, dass sie das Geschehen nicht ausblenden konnte. Sie musste sich übergeben. Michael taumelte vor Abscheu einige Schritte zurück. Sie stand vornübergebeugt und befand sich noch in den Wehen der Übelkeit, als er sich bereits wieder gefangen hatte. Wütend trat er vor sich und schlug ihr so kräftig ins Gesicht, dass sie rücklings auf den Boden fiel. »Du Hure!«, kreischte er im heiseren Tonfall des Dämons. »Elende, brünstige Hure. Du hast den widerlichen Saft aus den Lenden deines Mannes ertragen, aber vor mir ekelst du dich?« Als er die Hand ausstreckte, um sie wieder zu packen, rief der Vogt ihm zu: »Herr! Wir riskieren, entdeckt zu werden! Ich schlage dringend vor, dass wir zurück zu den Klippen und an Bord des Schiffes gehen. Dort könnt Ihr die Frau ungestört und in der Abgeschiedenheit Eurer Kabine nehmen, und sie wird Euch nicht entkommen können. Außerdem wartet Faron auf Euch.« Der Seneschall starrte hinunter auf Rhapsody, die sich zusammengerollt hatte. Blut troff ihr aus der Nase. Er packte sie bei den Haaren und zerrte sie auf die Beine. »Bring mir mein Pferd«, befahl er einem der übrig gebliebenen Schwertkämpfer, der vergeblich versucht hatte, die Beine des Verwundeten zu verbinden. Er schaute hilflos auf seinen sich am Boden windenden Kameraden und lief dann zur Straße, um die Pferde einzusammeln. Hinter dem Seneschall ertönte Caius’ Stimme schwach und besorgt: »Herr, wir müssen zum Ort des ersten Hinterhalts zurückgehen und Clomyn holen. Er ist schwer verwundet und liegt im Sterben; ich fühle es.« Er fuhr sich mit der schweißbedeckten Hand über die graue Stirn. Der Seneschall drehte sich um und schaute ihn wütend an. »Bist du blind?«, knurrte er und deutete auf die Feuersbrunst, die sich besonders dort, wo der Wagen zuerst angegriffen worden war, wie ein Buschfeuer durch den grünen Wald ausbreitete. »Er ist nur noch Asche.« Caius schaute auf die Wand aus Licht und Hitze. »Nein, nein, Euer Ehren, er lebt. Er ist mein Zwillingsbruder, Herr. Ich fühle, was er fühlt, und höre, was er hört, so wie er mich hört. Bitte, ich weiß, dass er noch lebt. Wir müssen ihn holen, bevor wir uns zurückziehen.« Der Dämonenwirt, der früher einmal Michael gewesen war, sah den Armbrustschützen finster an. Als er sprach, tropfte Gift aus seiner Stimme. »Also gut, Caius. Hol ihn, wenn es unbedingt sein muss.« Er wickelte sich Rhapsodys Haare mehrfach um die Hand und zog sie zu der Stelle, wo der Lakai das Pferd zum Stehen gebracht hatte. Rasch packte er sie am Kragen ihres Hemdes sowie an ihrem Gürtel und warf sie über den Rücken des Tieres. »Aber Herr, wollt Ihr keine Öffnung in die Feuerwand brechen, so wie Ihr es vorhin getan habt?«, stammelte Caius. Michael drehte sich nach ihm um. Seine Schultern waren unter dem Mantel deutlich angespannt. Er schaute den zitternden Schützen an. »Natürlich, Caius«, sagte er fürsorglich. »Hier.« Er deutete lässig auf die Feuerwand. In den Flammen öffnete sich ein schmaler Durchgang, hinter dem ein Stück blauen Himmels sichtbar war. Caius’ Gesicht entspannte sich ein wenig; mit dem flackernden Licht kehrte die Farbe in seine Wangen zurück. »Vielen Dank, Herr«, murmelte er rasch, während er sich in den Durchgang stürzte. Sobald der Armbrustschütze zwischen die Flammen getreten war, machte der Seneschall eine Handbewegung, und der Durchgang verschwand. Die Flammen schlössen sich um Caius, und sein Schrei wurde von dem Lärm des Infernos und dem Knirschen der brennenden Bäume übertönt. Er wirbelte herum und schoss aus dem Feuer zu der Stelle, wo die anderen standen. Beinahe hätten ihn die Flammen verschlungen. Zwei der Schwertkämpfer ergriffen ihn, rollten ihn über den Waldboden und erstickten so alle Flammen, die noch an ihm züngelten. »Wenn du das nächste Mal eine meiner Entscheidungen in Frage stellst, Caius, warte ich, bis du tiefer in dem Durchgang steckst«, sagte der Seneschall selbstgefällig. »Dann bist du auf ewig mit der Asche deines Zwillingsbruders vereint.« Er stieg auf das Pferd hinter der auf dem Rücken liegenden Rhapsody und zog sie hoch, sodass sie gegen seine Brust lehnte. Ihre Augen waren glasig, ihr Atem ging flach, doch der Herzschlag war stark, wie er bemerkte, als er ihr das Hemd aus der zerrissenen Hose zog und die Hand unter das Hemdchen steckte. Er berührte die zarte Haut der Brüste, von denen er endlose Zeiten hindurch geträumt hatte. Rhapsody sackte nach vorn. Sie war so erschöpft, dass sie weder Kopf noch Rücken hochhalten konnte. Ich muss meinen Bauch schützen, Zeit gewinnen und den richtigen Augenblick abwarten. Sie kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, während die Banditen nach Westen auf das Meer zu ritten. Und sie verlor diesen Kampf. 29 Anborn kam auf dem Waldboden langsam wieder zu Bewusstsein. Das Feuer hatte die Bäume verkohlt und die meisten Büsche sowie das Unterholz zu heißer Asche gemacht und war weitergezogen. Überall um ihn herum brannte die Welt. Der General ächzte, als er den Kopf hob und sich umschaute, dann sackte er wieder zurück; er war zu schwer. Die Hitze versengte ihm den Rücken. Er begriff nicht, warum er nicht bei lebendigem Leibe verbrannt war. Ganz kurz dachte er daran, die Augen wieder zu schließen, den Kopf zur Ruhe zu betten und das Feuer über ihn hinweg und durch ihn hindurch rauschen zu lassen, sich verzehren zu lassen, zu Asche zu werden und im Wind zu tanzen, sodass er über das Meer treiben konnte, über die ganze Welt, in endlosen Luftströmungen steigen und fallen wie der Blutsverwandte, der er gewesen war. Rhapsodys letzte Worte kamen ihm in Erinnerung und rüttelten ihn aus seinem todesnahen Tagtraum. Lebe, lebe für mich, Anborn. Benachrichtige Ashe von dem, was hier geschehen ist. Sage ihm, den Kindern und meinen Bolg-Freunden, dass ich sie liebe. Und denk immer daran, dass ich dich ebenfalls liebe. Ob diese Worte die unausweichliche Magie einer mächtigen Benennerin, der Befehl seiner Herrscherin, der er Treue geschworen hatte, der Ruf eines Blutsverwandten oder die letzte Bitte der einzigen Frau auf der Welt waren, deren Liebe und Freundschaft er schätzte, war gleichgültig; zumindest übten sie eine solche Macht auf ihn aus, dass er den Kopf hob und den warmen und gnädig endlosen Schlaf abschüttelte, der am Rande seines Bewusstseins glomm. Als sich sein Blick klarte, erkannte er, dass die Zerstörung um ihn herum vollständiger war, als er es sich hätte vorstellen können. Jeder Baum in Sichtweite stand in Flammen, und das Feuer gewann noch an Stärke, während es sich nach Norden in Richtung des Tara’fel-Flusses ausbreitete. Er musste aus dem Wald fliehen und Hilfe holen. Anborn drückte die Hände gegen den Boden und hob den Oberkörper so hoch, dass er sich umschauen konnte. Sie war noch da. Sie schwelte still unter ihm und sog die zerstörerische Kraft der Flammen ein, wodurch sie ihn vor dem Tod bewahrte. Die Tagessternfanfare. Einen Moment lang starrte der General die Klinge an. Verschwunden waren die wogenden Feuerwellen, die vom Griff bis zur Spitze rollten, wenn Rhapsody das Schwert in der Hand hielt, und die ein Zeichen für das Band zwischen dem Element und der Iliachenva’ar waren. Ein heller Glanz von Sternenlicht durchdrang es noch, aber das Feuer war gelöscht, fortgenommen durch den Mann, der das Schwert der Luft trug. Auch wenn er es nie zuvor gesehen hatte, waren ihm Geschichten über diese Waffe zu Ohren gekommen; es handelte sich um eine Klinge, die in der alten Welt während des serenischen Krieges vor dem cymrischen Exodus geschmiedet worden war. Tysterisk. Seine Kraft war unleugbar. Er spürte sie und fühlte die Macht, welche die Gestalt am Ende der Straße über dieses Element ausübte. Die Blutsverwandten waren Brüder des Windes; dieser Mann konnte dem Wind selbst befehlen. Anborns Gedanken wirbelten umher, waren gefangen in seinem teilnahmslosen Körper. Er dachte an Rhapsody; er wusste, wie entsetzt sie nun war, auch wenn sie in seiner Gegenwart tapfer gewesen war. Der Gedanke daran, was nun mit ihr geschehen mochte, oder dass sie möglicherweise schon tot war, erschuf eine Welle unbarmherziger Wut in seinem Herzen, die ihn rasch ganz überspült hatte. Unter großen Anstrengungen rollte er auf die Seite und griff mit zitternden Händen nach dem Elementarschwert. Mühsam steckte er es zurück in die Scheide und streckte dann den Arm so weit wie möglich aus in der Hoffnung, irgendwo eine Wurzel, einen noch lebenden Busch oder etwas anderes zu finden, woran er sich hochziehen konnte. Die geschwärzte Hülse von etwas, das einmal ein Brombeerstrauch gewesen war, befand sich außer Reichweite. Anborn drückte sich voran, steckte die Hände in den brennenden Lehmboden, fand festen Halt in der Erde und zog sich einige Schritte vorwärts. Er wusste, dass sich das Feuer weitaus schneller bewegte als er selbst. Alle bewussten Gedanken zerstoben. Er hatte nur noch ein einziges Ziel: aus dem brennenden Wald zu kriechen und zum filidischen Kreis beim Großen Weißen Baum zu gelangen, wo er mit Rhapsody noch vor einigen Tagen gewesen war. Sicherlich konnte man ihr von dort aus zu Hilfe eilen. Langsam, schmerzhaft langsam streckte sich der General und zog sich an jeglicher Vegetation, die er erreichen konnte, vorwärts, und wenn es ihm nicht gelang, dann kroch er nur mit Hilfe seiner starken Finger und Ellbogen weiter und kämpfte sich mit beinahe unerkennbaren Erfolgen durch die rauchende Blättermasse und andere brennende Rückstände des Waldbodens. Die Zeit verging mit grausamer Langsamkeit. Das Inferno um ihn herum wurde immer heißer und heller am Rande seines Blickfelds, doch Anborn achtete nicht darauf, sondern richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die wenigen Handbreit Boden vor ihm, zog sich mühsam weiter, immer weiter, eine schmerzhafte Minute nach der anderen. Nach einer scheinbaren Ewigkeit kam er zu dem reglosen Bogenschützen, der Dorndreher getötet hatte; die Armbrust lag noch neben ihm. Anborn ergriff die Gelegenheit, sich kurz auszuruhen und Luft zu holen. Er rollte auf die Seite, zuckte unter den überwältigenden Schmerzen in den Rippen zusammen und riss sich ein Stück Stoff aus dem Hemd, um damit die Blutungen an den Händen zu stillen. Rasch umwickelte er sie mit einem behelfsmäßigen Verband und schaute sich erneut um. In Reichweite lag das brennende Skelett eines Pferdes, dessen hochlehniger Sattel in der Hitze schmolz. Ein zerbeulter Säbel lag daneben; er glänzte im Feuerschein. Anborn griff mit heftig zitternder Hand danach und spürte dabei die Schmerzen im Rücken nicht mehr. Die Körper der übrigen Angreifer mussten bereits von den Flammen verzehrt worden sein, durch die er nun kroch. Er hatte ihre Asche, ihre Überreste und Seelen auf dem Weg über den brennenden Waldboden eingeatmet. Sogar die von Dorndreher. Zum ersten Mal seit Beginn der Schlacht dachte er an seinen Freund und Lehrer. Er war ein einfacher Seemann gewesen, der in der Mannschaft der Serelinda gedient hatte, dem letzten Schiff, das die Insel verlassen hatte, bevor sie im Meer versank. Die Reise über den Nullmeridian hatte ihn in einen bärbeißigen, unsterblichen Soldaten verwandelt. Er war ein treuer, wenn auch bisweilen widerstrebender Gefolgsmann zunächst von Anborns Vater Gwylliam gewesen, dann fünfzehn Jahrhunderte lang von Anborn selbst, und hatte immer Ansichten gehegt, die nur aus der Weisheit von jemandem erwachsen konnten, der den Untergang zweier Welten erlebt hatte. Als Anborn auf der Seite lag, spürte er, wie ihn Trauer erfüllte, eine Trauer, die er seit Jahrhunderten nicht mehr verspürt hatte. Er schloss die Augen, um sie im Zaum zu halten; sie lenkte ihn nur von seinem wichtigsten Ziel ab. Als er sich ein wenig ausgeruht hatte, kroch er hinüber zu dem Körper des Bogenschützen. Nachdem er ihm ins Gesicht gespuckt hatte, packte er ihn am Kinn und schleifte ihn mit sich, denn er würde ihn noch brauchen. Über seinem Kopf brach der massige, brennende Ast eines hohen Baumes durch das Blätterdach und schlug dicht neben ihm auf den Boden. Er hielt sich zum Schutz vor der aufgewirbelten Asche Nase und Mund zu. Allmählich setzte sich seine mit beißendem Rauch gefüllte Lunge in Brand. Als er schließlich hustete und wegen der Asche und anderen Rückständen des Feuers, die die Luft schwarz machten und verdickten, Blut spuckte, musste er erkennen, dass er es allein nicht schaffen würde. Er musste die letzte Signalleine ziehen, die ihm noch verblieb. Für einen Moment summte die Welt um ihn herum vor zerstörerischer Energie, doch es war zu laut, um noch etwas anderes zu hören. Ungeduldig rieb er sich die Ohren und verfluchte seine nutzlosen Beine. Er versuchte, alle Geräusche außer dem sanften Lied des Windes auszublenden. Er brauchte lange, bis er es hörte, doch schließlich erhob sich eine kleine Brise, vielleicht durch das Feuer selbst hervorgerufen. Anborn lauschte den Strömungen in ihr und dem leisen Wimmern, als sie die Richtung änderte und vor Kraft kaum hörbar pfiff. Der General nahm seine ganze Stärke zusammen, hob den Kopf, neigte ihn nach Westen und stieß den Ruf aus, den er schon mehrfach beantwortet, aber bis zu diesem Augenblick noch nie selbst in den Wind geworfen hatte. Lenk, Wind des Westens, Wind der Gerechtigkeit, höre mich, krächzte er auf Alt-Lirinisch. Es waren die einzigen Worte in dieser Sprache, die er kannte. Seine Stimme wurde von Rauch und Schmerz beinahe erstickt. Beim Stern werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden. Als er den Ruf der alten Bruderschaft der Soldaten ausstieß, dachte er daran, wie er ihn beim letzten Mal beantwortet hatte. Es war ein klarer, sanfter Ruf im Wind eines verschneiten Waldes mitten in einem schwarzen Sturm gewesen. Er war ihm bis zu seinem Ursprung gefolgt und hatte eine vor Kälte zitternde Frau gefunden, die ein frierendes Pferd an der Leine führte, über dessen Rücken ein bewusstloser Gladiator lag. Eine Frau, die zur lirinischen Königin und Herrscherin der Cymrer geworden war. Ein Gladiator, den sie in das Reich hinter Leben und Tod mitgenommen und dort gelassen hatte. Er war zurückgekehrt, um von der Waage als Patriarch erwählt zu werden. Nun zuckte er angesichts der Ironie dieser Ereignisse zusammen. Damals hatte er geglaubt, er rette die Frau, rette sie beide, auch wenn er den ungeschlachten Kerl am liebsten dem Tod ausgeliefert hätte. Als er das Zerren und die Magie um sich herum gespürt und der Wind ihn dorthin gebracht hatte, wo er gebraucht worden war, hatte er geglaubt, einen Blutsverwandten zu retten. Nun wusste er, dass er sich damals in Wirklichkeit selbst gerettet hatte, dass die Schuld aus dem cymrischen Krieg, die ihn in Traum und Wachsein heimgesucht hatte, von ihm genommen worden war. Endlich hatte er wieder schlafen können. Und nun war sie fort. Er hatte versagt, hatte den Eid, sie und ihr Kind zu schützen, seinem Neffen gegenüber gebrochen. Der Schmerz war unerträglich. Tief in seinen Eingeweiden bildete sich ein weiterer Schrei. Er rief zum Nordwind, dem stärksten der vier, in der Hoffnung, er werde seinen Schrei weiter tragen, denn die Blutsverwandten waren, wie er zu Gwydion Navarne gesagt hatte, nicht mehr zahlreich und lebten weit voneinander entfernt. »Beim Stern«, rief er und atmete noch mehr Rauch ein, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden!« Er hustete aus tiefster Lunge. Die hohen Flammenwände brüllten zur Antwort auf. Nichts anderes war zu hören. Anborn versuchte die Verzweiflung abzuschütteln, die ihn nun am Rande seines Bewusstseins bedrängte und seine Zweifel anfachte. Nicht alle Rufe der Blutsverwandten wurden beantwortet, wie er wusste. Er glaubte, selbst zwei vor wenigen Wochen gehört zu haben. Er hatte ihnen gelauscht, sich zur Abreise bereitgemacht, doch die Tür im Wind hatte sich für ihn nicht geöffnet. Es war ihm nicht gelungen herauszufinden, wer nach Hilfe gerufen hatte. Genau wie jetzt. Vielleicht gab es niemanden, der ihm antworten konnte. Jahne, Südwind, ausdauerndster, krächzte er. Allmählich versagte ihm die Stimme. Beim Stern werde ich warten, werde ich beobachten. Er schluckte und quetschte die Worte mit Mühe aus seiner Kehle hervor. Werde ich rufen und gehört werden. Die Zeit schien sich zu dehnen und in der Hitze des Feuers wie Glas unter den Händen eines Glasbläsers zu verformen. Der Rauch sank nun bis hinunter auf den Waldboden, wo Anborn lag. Der General barg das Gesicht in der Armbeuge und versuchte zu atmen, was ihm inzwischen sehr schwer fiel. Niemand kam. Der General rollte auf den Rücken, starrte in den orangefarbenen lodernden Himmel, der von schwarzen und grauen Rauchbändern durchzogen und mit Funken hellen Lichtes gesprenkelt war, die aufglühten und erstarben. Es gibt niemanden mehr, der den Ruf beantworten kann, dachte er und sah geistesabwesend zu, wie die großen Bäume des Gwynwaldes unter dem Toben der Flammen zusammenbrachen und zu Boden gingen. Der Wald, das Heimatland seiner Großmutter, der Drachin Elynsynos, wurde vor seinen Augen in Asche verwandelt. Anborn spürte, wie seine Haut, die durch Rhapsodys Benennungsmacht geheilt war, in der Hitze wieder aufbrach. Er sog noch einmal tief die Luft ein, drehte sich so weit wie möglich nach Osten und flüsterte den Namen des letzten Windes. Thas, sagte er leise. Der Wind des Morgens. Er schluckte, als er sich an den anderen Namen dieses Windes erinnerte. Der Wind des Todes. Höre mich. Seine vom Rauch erstickte Stimme hatte jede Kraft verloren und brachte nur noch sandige Reibelaute der trockenen Zunge und der klappernden Zähne zustande. Beim Stern werde ich warten, flüsterte er. Werde ... ich beobachten. Er schluckte wieder und versuchte seiner Kehle die letzten Töne zu entringen. Werde... ich... rufen ... Seine Lippen bewegten sich nicht mehr. Am Rande des Meeres schaute ein Mann mit einer Hautfarbe wie Treibholz von den Mustern auf, die er in den Sand gezeichnet hatte, als ob er ferne Stimmen im Wind hörte. Er schaute in das Grau-Blau-Grün des andauernd sich verändernden Horizonts, lauschte wieder, doch hörte nur die Schreie der Möwen. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinen Bildern im Sand zu. 30 Als der Blutsverwandte den Ruf hörte, befand er sich gerade auf dem Rücken eines Pferdes und ritt über üppig grüne Wiesen seinem Heim entgegen. Er hielt inne und zügelte sein Pferd, setzte sich im Sattel auf, hielt das Ohr in den Wind und versuchte den Ton erneut zu erhaschen. Es waren klagende Worte, die er schon einmal gehört hatte, vor langer Zeit, in einer seit langem toten Sprache. Beim Stern werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden. Er erkannte die Stimme nicht, aber das hatte er auch nicht erwartet. Es war ein heiseres Krächzen, das andeutete, dass der Sprecher dem Tode nahe war. Er schaute über das wogende hohe Gras, das sanft in der warmen Brise schaukelte. Die Sonne sank allmählich, hing aber noch hoch über dem westlichen Horizont. Sie warf nachmittägliche Schatten gen Osten in die Richtung, aus der er herbeigeritten war. Er hörte die Stimme abermals, schwächer diesmal, doch klar und deutlich. Sie befand sich in dem Wind, der in seine Richtung blies. Beim Stern werde ich warten. Werde ... ich beobachten. Werde... ich... rufen... Dann nichts mehr. Der Blutsverwandte suchte die Löcher in der Brise ab, schaute zwischen den Luftstößen, die das Gras auf der weiten Ebene beugten, nach einem Durchgang, der ihn zu dem Rufer führen würde, so wie es gewesen war, als er damals beim ersten Mal den Ruf gehört hatte. Aber in der Luft gab es keinen wirbelnden Abgrund, keinen Tunnel, durch den er reiten konnte, so wie damals. Nervös stieg er ab, beschirmte die Augen und schaute über den wogenden Ozean aus Gras bis zum Rande des Horizonts, doch er sah nichts. Er drehte sich nach Westen, woher seiner Vermutung nach der Ruf kam. Und er blinzelte. Der Boden vor ihm hob sich. Das Gras und die Erde brachen lautlos auseinander, und die Dunkelheit unter der Oberfläche war plötzlich von hellem Licht erfüllt. Vor seinen Augen wurde das Loch tiefer und breiter. Der Wind blies hindurch, schnappte nach seinem Hemd und lockte ihn in die Tiefe. Er schüttelte den Kopf, denn er hätte sich niemals vorstellen können, dass der Wind ihn durch die Erde rief, obwohl es ihn eigentlich kaum überraschte. Er packte die Zügel des großen Pferdes und führte das Tier in den Durchgang, um den Ruf des Blutsverwandten zu beantworten. Als sie hindurchgegangen waren, schloss sich der Tunnel genauso lautlos, wie er sich geöffnet hatte. Nichts anderes war mehr zu sehen als das üppige Weidegras, das im Einklang mit dem Atem des Windes unter der Nachmittagssonne wogte. Anborn lag noch immer auf dem Rücken und sah zu, wie das Blätterdach des Waldes über ihm verbrannte. Die schwarzen Blätter trieben auf dem rauchgeschwängerten Wind in den unsichtbaren Himmel, während er ein Zittern in der Erde spürte. Es war ein Rumpeln, das ihm über den Rücken bis zum Hals fuhr. Er blinzelte, als sich die dichte Wand aus Rauch über ihm und um ihn herum in der Nähe des Bodens allmählich öffnete. Helle Lichtstreifen blitzten in unregelmäßigen Abständen aus dem Waldboden auf und durchdrangen das Dunkel. Der Boden schwankte wie bei einem Erdbeben. Langsam und mit letzter Kraft rollte sich Anborn auf die Seite. Seine mit Asche überzogenen Lider blinzelten rasch, um klare Sicht zu bekommen. Selbst in Todesnähe spürte Anborn die Gegenwart tiefer Magie. Elementare Kräfte waren am Werk, die ihm jedes Mal gleichzeitig Ehrfurcht und Angst einflößten. In den Tagen des Krieges hatte er diese uralte Magie oft wahrgenommen; er hatte zugesehen, wie seine Eltern sie zum Bösen gewirkt hatten, und er hatte das Ergebnis gesehen. Selbst wenn sie für gute Zwecke eingesetzt wurde, wie Rhapsody und sein Neffe es manchmal taten, war sie ihm unheimlich, und nun brummte sein Geist vor nervöser Anspannung. Er war zu schwach, um sich weiter zu erheben. Er musste liegen bleiben, während der wirbelnde Rauch und das Licht stärker wurden, doch er wusste, dass es ihm nur besser ergehen konnte, wenn ein Blutsverwandter nun auf seinen Ruf hin herbeikam. Er glaubte eine Gestalt in dem feurigen Nebel zu sehen, die auf ihn zuschritt und anscheinend ein Pferd führte, obwohl die Umrisse verschwommen und nicht genau zu erkennen waren. Das sengende Licht aus dem Boden verschwand, und die beiden Gestalten wurden nun nur noch von dem tobenden Feuer erhellt. Als der Blutsverwandte und sein Reittier aus dem Rauch heraustraten, kniff Anborn die Augen zusammen und versuchte sie zu erkennen. Seine Augenlider waren immer noch schwer vor Asche. Der Mann hatte ihn schon beinahe erreicht, als Anborn ihn erkannte. Der General starrte ihn lange Zeit erstaunt an, dann rollte er auf den Rücken und seufzte, bevor er in schwaches, krächzendes Gelächter ausbrach. »Verdammte Götter!«, keuchte er und hustete flach. »Du?« Sein Retter runzelte die Stirn, als er sich neben den alten cymrischen Krieger kniete, und schnalzte seinem Pferd zu. »Komisch, dass du jetzt lachst«, sagte Grunthor trocken und hielt die Zügel fest in der Hand. »Aber jedem das Seine. Kann ich dich hochheben, ohne dich noch mehr kaputtzumachen?« Anborn nickte mit Mühe und packte den Säbel. »Muss ... Nachricht... nach Haguefort...«, flüsterte er mit brechender Stimme. »Sie ... haben ... Rhapsody.« Die bernsteinfarbenen Augen des Riesen verdunkelten sich vor Besorgnis. »Wo? Wer?« Der General schüttelte den Kopf und versuchte der Ohnmacht zu trotzen. »Weiß ... nicht. Hatte ... Tysterisk.« Er machte eine schwache Handbewegung. »Wohin sind sie gegangen?«, wollte der Sergeant wissen, während er einen Arm unter Anborns Rücken und leblose Beine schob. »Nach Westen«, flüsterte der General. »In das ... Feuer.« Grunthor bemerkte, wie Anborns Gesicht grau wurde. Anborn konnte nicht mehr sprechen. Er hielt sich an dem Bogenschützen fest, der neben ihm gelegen hatte, und weigerte sich, ihn loszulassen, dann wurde er bewusstlos. Grunthor löste Anborns Finger vom Handgelenk des Toten und legte den General über den Rücken seines Pferdes. Rasch zog er sein eigenes Hemd aus, legte es auf den Boden, wickelte den toten Bogenschützen darin ein und band ihn mit einem Seil auf dem Rücken des Pferdes fest. Kurz schaute er in das Zentrum des Infernos, stieg dann auf und hielt den sterbenden Blutsbruder vor sich auf dem Pferd fest. So ritt er zum filidischen Kreis beim Großen Weißen Baum. Als Anborn in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages das Bewusstsein wiedererlangte, schaute er in zwei der unangenehmsten Gesichter, die er sich vorstellen konnte; sie sahen lediglich etwas weniger mürrisch aus als sein eigenes. Das erste war das seines Retters. Die grau-grüne Haut und die bernsteinfarbenen Augen im schweren Gesicht eines Firbolg waren mit einer anderen Rasse vermischt – mit Bern-gard-Blut, wie Rhapsody einmal gesagt hatte, wenn er sich recht erinnerte. Der Sergeant-Major, mit dem er einst in Rhapsodys Ehrengarde gedient hatte, schaute ihn schweigend an. Bestürzung hatte sich tief in die Ecken und Kanten seines Gesichts eingegraben. Neben ihm stand der Fürbitter Gavin, ein ruhiger, wortkarger Waldhüter, der Vertrauter und Ratgeber von Anborns Vater Llauron gewesen war und ihm als Haupt des religiösen Ordens nachgefolgt war, als Llauron sich mit den Elementen vereinigt und seine menschliche Gestalt gegen die eines Drachen getauscht hatte. Der Ausdruck in den Augen des Fürbitters sprach weniger von persönlichen Sorgen, wie es bei Grunthor der Fall war, dafür von stärkeren allgemeinen Ängsten. Anborn verstand seine Qualen. Die Seele eines Waldhüters war mit dem Wald verbunden, und bis zu diesem Feuer hatte es keinen schöneren und magischeren Forst auf dem Kontinent gegeben als den Gwynwald. Doch nun stand er in Flammen. Anborns Kopf fühlte sich an, als wolle er aufplatzen. Augen und Haut waren zwar durch die Tagessternfanfare vor den versengenden Flammen geschützt worden, doch sie waren rot vor Hitze und stachen fürchterlich. Er versuchte sich aufzusetzen, aber Gavin legte ihm rasch eine Hand auf die Schulter und drückte ihn wieder gegen die Kissen des Bettes, in dem er lag. »Bleib liegen. Die Heiler haben sich um dich gekümmert, aber du bist noch schwach. Wie fühlst du dich?« »Das ist doch völlig egal. Habt ihr sie gefunden? Gibt es eine Spur von ihr?« »Nein«, sagte Gavin ruhig. »Das Feuer ist eingedämmt, aber Rhapsody ist verschwunden.« »Ich will gleich Vögel nach Haguefort und Ylorc schicken«, sagte Grunthor schroff. »Was hast du mit dem Leichnam gewollt, den ich zusammen mit dir rausgezogen habe?« »Er ist ein Zeuge«, sagte Anborn, nachdem seine Stimme wieder etwas fester geworden war. »Der Bastard hat Dorndreher zur Strecke gebracht. Allein dafür hätte ich ihn gern bei lebendigem Leibe verbrennen sehen. Aber es heißt, der Patriarch kann mit den Geistern der Toten reden. Das ist die einzige Spur, die uns zu Rhapsody führen könnte und die noch nicht zu Asche geworden ist. Ich werde dieses Stück Dreck mit nach Sepulvarta nehmen, damit der Patriarch alle nötigen Informationen aus ihm herauspressen kann.« Grunthor nickte. »Klingt wie ’n großer Spaß. Wenn er mit ihm fertig ist, bin ich an der Reihe. Werd ihn so brutal foltern, dass er’s sogar noch in der Unterwelt merkt.« Er machte einen Schritt zurück und ging auf die Tür zu. »Sergeant«, sagte Anborn. Seine Stimme war noch heiser vom Rauch. Grunthor blieb stehen. »Sag Haguefort, sie sollen einen Falken losschicken. Ein normaler Bote wird Gwydion nicht finden, falls er noch auf der Straße unterwegs ist.« Der riesige Bolg nickte und machte wieder einen Schritt auf die Tür zu. »Sergeant«, sagte Anborn noch einmal. Erneut hielt Grunthor an. »Mein Leben gehört dir«, sagte Anborn schwer, wie es bei der alten Bruderschaft der Blutsverwandten Brauch war. »Vielen Dank.« Der Sergeant nickte, und die Spur eines Lächelns spielte um seine geschürzten Lippen. »Gut. Werd schon ’nen Weg finden, was Tolles damit anzufangen. Wollte schon immer ’nen alt-cymrischen Helden als Pissjungen im Firbolg-Heer haben.« Er ergriff das Seil, das als Türgriff diente, verließ das filidische Hospiz und schloss die Tür hinter sich. Gavin drückte sanft Anborns Schulter. »Ich habe durch den Großen Weißen Baum Kontakt mit dem Geist des Waldes aufgenommen, sobald das Feuer unter Kontrolle war« sagte er zögernd. Der Fürbitter sprach selten, daher war es mühsam für ihn, Worte zu formen. »Falls Rhapsody noch lebt, befindet sie sich weder im Gwynwald noch im großen westlichen Wald. Dieser Wald erstreckt sich vom Hintervold bis zur neutralen Zone, Anborn. Entweder ist sie übers Meer gebracht worden oder...« »Sprich es nicht aus«, sagte Anborn scharf. »Sie haben sie lebend entführt. Wenn sie Rhapsody hätten töten wollen, hätten sie sie vor meinen Augen mit Pfeilen voll gepumpt. Sprich es also nicht aus.« Der Fürbitter schaute herunter auf ihn. »Das werde ich anderen überlassen. Ich will nicht derjenige sein, der es durch Worte herbeiruft und wirklich macht. Aber du musst dich darauf vorbereiten, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen.« Als Grunthor durch das Gelände lief, das den Großen Weißen Baum umgab, zerstreuten sich die filidischen Priester und Waldhüter und machten dem riesigen Firbolg Platz, der ein Gast ihres Fürbitters war, doch er wurde angesehen, als würde er jedem, der sich ihm in den Weg stellte, den Kopf abbeißen. Angesichts des großen Kiefers und der aus den Mundwinkeln Hervorwachsenden und bis über die Lippen reichenden Hauer war es klar, dass ein einziger Biss dazu genügt hätte. Er verließ den Wald und ging durch gepflegte Gärten, die vor wohlriechenden Blumen und Kräutern überquollen, umrundete dann die Hütte des Heilers und begab sich an den Rand der ausgedehnten kreisrunden Wiese, in der der Große Weiße Baum stand, ein Wunder, das älter als jedes andere lebende Wesen in diesem Teil der Welt war. Grunthor sah die Zweige, noch bevor er auf die Lichtung trat. Sie waren groß und elfenbeinfarben und griffen wie gewaltige Finger in den dunkler werdenden Himmel. Es war schon eine Weile her, dass er zum letzten Mal hier gewesen war, und bei diesem Anblick verlangsamte er sofort seine Schritte und wunderte sich über die weiße Rinde, die in der Sonne glänzte, sowie über die Höhe und den Umfang. Der Stamm maß etwa fünfzig Fuß im Durchmesser, und der erste größere Ast trat in einer Höhe von mehr als hundert Fuß über dem Waldboden aus und bog sich zu weiteren Zweigen hoch, die eine gewaltige Krone bildeten, welche weit über den umgebenden Wald hinausragte. In einer Entfernung von etwa hundert Ellen von der Stelle, wo sich die Wurzeln in das Erdreich bohrten, befand sich ein Ring aus Bäumen, einer aus jeder den Filiden bekannten Art. Die Filiden waren die Priester des westlichen Kontinents, die sich um diesen heiligen Ort kümmerten, der angeblich der letzte der fünf Geburtsorte der Zeit war, und sie pflegten den Baum, der an dieser Stelle wuchs. Hier hatte das Element der Erde seinen Ausgang genommen. Grunthor, der an dieses Element gebunden war, verspürte an dieser Stelle immer eine Woge der Macht und eine Stärke, die er in sich saugen konnte. Er blieb stehen, bis er genug Kraft geschöpft hatte, denn er wusste, dass er sie bei dem, was ihm bevorstand, brauchen würde. Dann begab er sich zum Vogelhaus, einem Turm, der dort errichtet worden war, wo Llaurons seltsam verwinkeltes Haus einst gestanden hatte. Der Wächter an der Tür des Turmes, ein Waldhüter wie Gavin, trat ihm entgegen und verneigte sich leicht. »Hol zwei schnelle Vögel, die nach Haguefort und Ylorc fliegen können«, befahl Grunthor. Der Wächter sprach leise mit der Frau, die sich um die Vögel kümmerte. Sie starrte den riesigen Bolg eine Weile an, dann eilte sie die Leiter hoch in das Vogelhaus. Kurz darauf kam sie mit zwei Tauben zurück, einer weißen und einer grauen. Sie wechselte mit dem Wächter einige Worte in einer Sprache, die Grunthor nicht verstand, und übergab ihm etwas. »Sie fürchten sich vor ... vor Fremden, Herr«, sagte der Wächter nervös. »Wenn Ihr Eure Nachrichten hier hineinstecken wollt, werden wir uns darum kümmern, dass sie überbracht werden.« Er gab Grunthor zwei kleine Messinghülsen, die man den Vögeln ans Bein binden konnte. Der Sergeant nahm die Hülsen entgegen und warf einen Blick auf den schmutzigen Rauch, der im Osten über dem Baumkreis lag, während er die bereits abgefassten Botschaften hineinsteckte. Er schrieb noch ein paar zusätzliche Worte für Achmed, bevor er die Hülsen versiegelte. Die Ironie des Augenblicks schnürte ihm den Hals zu, als er sich daran erinnerte, wie Rhapsody ihm Lesen und Schreiben während ihrer endlosen Reise durch die Erde entlang der großen Wurzel beigebracht hatte. Er hoffte, dass sie sich an die Kampfstunden erinnerte, die er ihr als Dank gegeben hatte. Er sah zu, wie die Vogelhüterin wieder den Turm hochstieg, bis sie die Zweige der hohen Bäume erreicht hatte, zwischen denen er errichtet war. Einen Augenblick später trat sie auf einen Balkon an der Spitze des Turms und ließ die Vögel frei. Sie drehten sofort nach Osten ab, schlugen im Gleichklang mit den Flügeln, erwischten eine warme, aufsteigende Luftströmung und flogen gemeinsam der Sonne entgegen. Er schloss die Augen und betete, sie mögen sich beeilen. Haguefort — Navarne — Auf dem Schiessplatz der Bogenschützen Am Mittag verkündete der Meister des Schießplatzes das Ende der Übungen. Gwydion Navarne seufzte entmutigt. Drei Treffer in die Mitte von zwanzig Schüssen aus dem letzten Köcher. Es war wohl gut, dass der Platz für heute geschlossen wurde. Seine Schüsse wurden beständig schlechter. Er lockerte den Bogen, hob den Köcher auf und wollte gerade nachsehen, welche Pfeile er retten konnte, als er Gerald Owen bemerkte, der sich so rasch, wie es dem ältlichen Mann möglich war, über den weiten, Grasbewachsenen Platz bewegte. Als Gwydion seinen Gesichtsausdruck sah, ließ er Bogen und Köcher fallen und rannte auf den Kammerherrn zu. »Was ist los?«, fragte er den schnaufenden Mann. Owen blieb stehen, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. »Gerade kam ... eine Nachricht... durch einen Botenvogel für den Herrscher der Cymrer«, sagte er und atmete schwer. »Rhapsody wurde gefangen genommen oder getötet.« Der junge Mann, der bald Herzog sein würde, hörte die Worte und spürte ihre elektrisierende Macht auf seiner Haut, während sein Magen zu einem Eisklumpen wurde, doch er weigerte sich, die Bedeutung der Nachricht zu begreifen. Zu oft in seinem jungen Leben hatte er schlimme Nachrichten wie die vom Tod seiner Mutter gehört, und er hatte seinen Vater im Kampf sterben sehen. Doch das hier war zu viel. »Es reicht«, sagte er und schaute den Kammerherrn mit leerem Blick an. »Es reicht.« Gerald Owen legte eine Hand auf die dünne Schulter des Jungen. »Kommt mit mir, Gwydion«, sagte er mit einer Stimme, die sowohl sanft als auch befehlend klang. »Ich habe den Falkner gerufen. Wir dürfen keine Zeit verlieren; der Vogel kann im Dunkeln nicht sehen. Er muss bis Einbruch der Nacht mindestens fünfzig Meilen zurückgelegt haben, sonst kommt er zurück, ohne seine Botschaft überbracht zu haben.« Gwydion Navarne nickte wie betäubt und folgte Gerald Owen über die dunkler werdende Wiese. Die Sonne warf kaum mehr Schatten. 31 An der Küste Rhapsody wachte aus ihrem Albtraum auf, als der Seneschall das Pferd zum Stehen brachte. Während des gesamten Rittes hatte die einst jämmerlich menschliche, nun wahrhaft dämonische Kreatur, die sie als Michael in der alten Welt gekannt hatte und die nun ein lebender Leichnam war, sie unbarmherzig ausgescholten und seine Reden mit neuen Ausbrüchen von Wind und Feuer untermalt, die alles in Sichtweite verbrannten. Jedes Mal, wenn die Flammen aufstiegen, überwältigte sie der Gestank brennenden Fleisches – der unmissverständliche Geruch eines erregten F’dor. Sie hatte ihren Magen nur unvollkommen in der Gewalt gehabt, doch nun rührte ihre Übelkeit von Entsetzen her. Die Hitze des Dämonenatems im Nacken, gepaart mit den skelettartigen Händen, die ihren Körper umfassten und kosend unter ihren Kleidern umhertasteten, waren ihr bis ins Innerste zuwider und erweckten in ihr den Wunsch zu sterben. Ihre Inseln des Trostes waren verwüstet, und ihre abschweifenden Gedanken brachten ihr nichts als Verzweiflung. Jede Erinnerung an Ashe riss blutende Wunden in ihre Seele, denn sie wusste, welche Sorgen er sich um sie machen würde. Schlimmer noch, jeder Gedanke an das Kind, das sie unter dem Herzen trug, ließ sie vor Angst erbeben. Sie betete, dass seine Existenz geheim blieb. Mit jeder Stunde nahm ihre Hoffnung ab, sie könnte aus ihrer Gefangenschaft entkommen. Michael ließ sie nie allein, ließ sie nicht einen Moment aus den Augen und versicherte ihr immer wieder, dass sie von nun an ihre restliche Zeit in genau dieser Weise verbringen würde. »Erinnerst du dich an unsere letzten zwei gemeinsamen Wochen in Serendair?«, hatte er sie während des Reitens gefragt, während seine Lippen eine Linie von ihrem Hals bis zur Schulter gezogen hatten. Rhapsody hatte die Augen geschlossen und versucht, sich der Erinnerung zu verschließen, doch sie tauchte wieder auf – die Gefangenschaft, die Verderbtheiten, das Brechen ihres Widerstands, das nur dazu gedient hatte, seine perversen Gelüste zu befriedigen. »Ich halte diese Zeit in meinem Herzen, Rhapsody. Die Rückkehr zu diesen prachtvollen Tagen steht unmittelbar bevor. Wenn wir nach Argaut kommen, wirst du am Tag die Kurtisane des Seneschalls und Justizministers und bei Nacht die Hure des Barons sein.« Sie versuchte, Geist und Sinne vor dem Gestank zu verschließen, der anzeigte, dass der Dämon über diese Aussicht noch erregter wurde. Michael hatte tief die rauchgeschwängerte Luft eingeatmet und zog sie näher an sich, bis seine Lippen dicht an ihrem Ohr waren. »Ich werde dich wieder in mich verliebt machen, Rhapsody. Erinnere dich daran, dass du nie aufgehört hast, die meine zu sein. Du hast mir gehört, lange bevor es einen anderen Mann in deinem Leben gab. Ich werde jede Erinnerung an ihn aus deinem Herzen und zwischen deinen Beinen vertreiben. Du wirst bald so ausgefüllt von mir sein, dass es nirgendwo mehr Platz in dir für einen anderen gibt.« Sie dachte an ihr Kind und kämpfte gegen die Tränen an. Nach unbestimmbarer Zeit dünnte sich der Wald allmählich aus; die Bäume standen weiter voneinander entfernt, wurden zu Büschen und Hainen mit offenem Land dazwischen und waren schließlich ganz verschwunden. Rhapsodys Geruchssinn war seit der Empfängnis ihres Kindes geschärft. Sie bemerkte Seeluft, als sie den brennenden Wald hinter sich gelassen hatten. Während sie in westlicher Richtung weiterritten, wurde die Luft immer salziger. Offenbar waren sie zum Meer unterwegs. Das Geräusch des Ozeans drang mit einer Brise herbei, als die Sonne allmählich sank. Rhapsodys größte Angst, nämlich mit Michael allein zu sein, während die Truppe das Nachtlager aufschlug, wurde beiseite geschoben, als sie erkannte, dass die Reise, auf die Michael angespielt hatte, unmittelbar bevorstand. Sie hatte Närrischerweise geglaubt, der nächste Ort zum Einschiffen sei Port Fallon oder Traeg, die nördlichsten der größeren und kleineren Häfen an der Küste von Avonderre und Gwynwald. Sie hatte bereits ihre Flucht geplant und gehofft, Unterstützung in den Menschenmassen von Port Fallon oder unter den unerschütterlichen Fischern zu finden, die von der kleinen Bucht in Traeg aus die windgepeitschte See befuhren. Doch jetzt wurde ihr klar, dass Michael andere Pläne hatte. Sie schwebte in noch größerer Gefahr, als sie geglaubt hatte. Die Reiter hielten bei einer Öffnung in den Klippen an, wo ein großer Sims die aufgewühlte See überblickte. Das Geräusch des Windes und der Wellen, die gemeinsam gegen die Felsen anbrandeten, war ihr vertraut. Sie hatte ein ähnliches unmelodisches Jammern im Abgrund des Prophetinnentempels zu Yarim gehört. Manwyns Stimme dröhnte blasiert und rätselhaft in Rhapsodys Kopf. Rhapsody wird nicht sterben, wenn sie deine Kinder zur Welt bringt. Die Schwangerschaft wird nicht leicht, aber sie wird Rhapsody weder umbringen noch sie verletzen. Hatte Manwyn etwas anderes vorhergesagt?, fragte sie sich dumpf, als Michael sie um die Hüfte griff und vom Pferd hob. Vielleicht ist es das hier, was sie gesehen hat. Ihr Tod unter den Händen Michaels. Oder noch schlimmer: ihren Selbstmord. Man sollte sich vor der Vergangenheit in Acht nehmen. Die Vergangenheit kann eine gnadenlose Jägerin sein, eine heimliche Beschützerin oder eine rachsüchtige Feindin. Sie will dich haben; sie will dir helfen. Sie will dich vernichten. Sie bemühte sich, aufrecht zu bleiben, als der starke Seewind über den Sims fuhr, ihr ins Gesicht schlug und an ihrem Hemd zerrte. Michael ergriff ihr Handgelenk und zog sie auf den Sims. Er hatte eine breite Basis und lief weit vorn in einer Spitze aus, wo der Wind noch kräftiger blies. Das dunkle Haar umströmte Michael wie ein Banner des Triumphes, genau wie der schwarze Mantel, der ebenfalls hinter ihm flatterte. Rhapsody bemerkte, dass der Wind ihn zu beleben schien. Sie bemühte sich, unter seinem Griff nicht zu zittern, was ihr angesichts der Stärke ihres Feindes kaum gelang. Neben seiner Größe und Kraft war er offenbar zusätzlich mit zwei Elementen verbunden, mit der Luft und dem Feuer, die er beide nach seinem Belieben zu beherrschen schien. Und er war die Verkörperung eines F’dor. Die Sonne wurde rot, als sie gegen den Ozean sank und nur noch eine Handbreit über dem Horizont schwebte. Michael fuhr ihr mit leichenhaften Fingern über den Nacken, spielte mit ihren Locken und zauste sie. Dann riss er ihr den Kopf hoch und drehte sie um, sodass sie gemeinsam nach Süden schauten. Er deutete links an der sinkenden Sonne vorbei. Sein Arm badete in blutigem Licht. »Da ist es, meine Geliebte: unser Schiff der Träume, das uns von diesem Ort wegführt und zurück nach Argaut bringt, wo ich alles einlösen will, was ich dir versprochen habe.« Er fuhr mit der freien Hand durch die Luft. Ein Schauer schwarzen Feuers schoss aus ihr hervor und brannte sich in einem kreischenden Bogen durch die staubige Nachmittagsluft. Als das sengende Licht verblasste, sah sie das Schiff, das in tiefem Gewässer ankerte. Zur Antwort auf den Feuerblitz wurden die Segel gehisst. Rhapsody erbebte bei dem Versuch, ihre Schluchzer zu unterdrücken. Ich werde diesem Bastard nicht die Genugtuung verschaffen, mich je wieder weinen zu sehen, dachte sie, obwohl ihre Entschlossenheit in Anbetracht der Umstände rasch ins Wanken geriet. Sie spähte über das Ende des Simses. Der vulkanische Fels fiel etwa hundert Fuß unter ihr ins Meer ab, und die Küstenlinie war von zerklüfteten Felsen gesäumt. Die Wellen schlugen bedrohlich dagegen und brandeten heftig gegen die Klippen. Rhapsody schloss die Augen und taumelte leicht, als sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Ihr wurde übel, und die Sinne schwanden ihr. »Bitte«, keuchte sie. »Ich will weg von hier.« Der Seneschall lachte harsch und zog sie von dem Rand des Gesimses auf die sieben Männer zu. Einige hielten Wache, andere sammelten das Gepäck ein und trafen Vorbereitungen für den Abstieg zum Schiff. »Du hast Höhenangst? Das ist aber seltsam, Rhapsody. Ich habe nicht gewusst, dass du überhaupt vor etwas Angst hast. Vielleicht erklärt das, warum du es nie gemocht hast, oben zu liegen.« Rhapsody schluckte ihre Entgegnung herunter. Ihr Kopf wurde klarer, als sie sich von der brodelnden See abwandten. Sie begriff, dass sie nichts gewinnen konnte, wenn sie ihn wütend machte. »Wie hast du überlebt, Michael?«, fragte sie leise und ohne jeden Ton von Verachtung in der Stimme. »Ich hatte geglaubt, du seiest schon lange tot.« Der Seneschall drehte sich um und blickte mit seinen durchdringenden blauen Augen auf sie herab, als wolle er ihre Absicht erkennen. Rhapsody zwang sich, seinen Blick zu erwidern, ohne die Verachtung zu verraten, die sie für ihn empfand und schon immer empfunden hatte, und suchte sein Gesicht nach Anzeichen für eine Veränderung ab. Die ausgeprägten Linien des Kinns und der Wangenknochen waren dieselben wie damals, als sie ihn in der alten Welt kennen gelernt hatte, doch die Wangen waren hohler geworden. Es sah aus, als zöge sich die Haut etwas zu eng über den Rahmen des Gesichts. Wenn er aber erregt war, schien er dicker zu werden; seine hagere Gestalt setzte Fleisch an, was vermutlich an dem Dämon in seinem Blut lag. Sie hatte ähnliche körperliche Veränderungen bei Ashe wahrgenommen, wenn der Drache in ihm die Oberhand gewann. Doch obwohl der Drache in Ashes Blut gelegentlich lüstern und kleinlich, habgierig und unumgänglich war, so war er doch ein Teil von ihm, ein Merkmal, das ihm von Großvater und Großmutter vererbt worden und durch den beinahe tödlichen Schlag eines anderen F’dor in den Vordergrund getreten war. Äußerste Anstrengungen waren unternommen worden, ihn im Land zwischen Leben und Tod, im Reich des Herrn und der Herrin von Rowan zu retten. Es war so sehr ein Teil von ihm wie die Farbe seiner Augen oder seine Fähigkeit, auf einem Pferd zu reiten, und hatte genauso viele liebenswerte wie abstoßende Aspekte. Michaels körperliche Zeichen hingegen sprachen davon, dass ein böser Geist in sein Fleisch eingefahren war, als sei es eine Herberge oder ein Bordell, und es sich dort gemütlich gemacht hatte. Doch die Augen waren noch dieselben wie damals. Sie waren vom selben Blau, wie ein wolkenloser Sommertag, und hatten noch denselben Hang, vor unheiliger Erregung zu leuchten, und denselben unsteten Blick, der ohne Vorwarnung wie ein plötzliches Gewitter hereinbrach. Seine Augen hatten sie schon immer verfolgt. Diese kalten blauen Augen waren nun von den Flammen der Unterwelt getönt. »Hat dir dieser Gedanke etwas ausgemacht?«, fragte er ruhig. Sein Gesicht verriet keine Regung, doch Rhapsody glaubte unter der Maske des Dämons eine Verwundbarkeit in ihm zu erkennen. »Ja«, sagte sie direkt und aufrichtig. Der Glaube, ihm für immer entkommen zu sein, nie wieder in sein Gesicht sehen zu müssen, war einer der wenigen angenehmen Gedanken, die sie getröstet hatte, als sie aus der Wurzel getreten war und erkennen musste, dass die Insel untergegangen war. »Ich habe einen Weg gefunden, ewig zu leben«, sagte er einfach. »Es war dazu nötig, einen Partner zu haben.« »Du hast dich an einen Dämon verkauft?« »In gewisser Weise ja, aber es war in Wirklichkeit ein sehr gutes Geschäft. Ich bin kein hirnloser Wirt, Rhapsody. Ich bin es, der den Dämon beherrscht.« Lügner, flüsterte der Dämon in seinem Kopf. Wirf mich raus und schau mal, ob du das dann immer noch behaupten kannst. Rhapsody konnte den Dämon nicht hören, doch sie sah, wie sich Michaels Gesicht plötzlich verzerrte, und wusste, dass er mit dem Ungeheuer in ihm kämpfte. Sie stand so reglos wie möglich da und fürchtete, sein Zorn könne sich gegen sie wenden, falls sie sich nur bewegte. »Euer Ehren! Wir haben einen Pfad hinunter zum Sandstrand gefunden«, rief Fergus von der südlichen Seite des Simses. »Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir vor Sonnenuntergang am Strand sein. Die Beiboote sind schon auf dem Weg.« Michael packte Rhapsodys Arm wieder fester. Unwillkürlich keuchte sie auf. Er zog sie bis zum Rand des Simses und schaute über den Ozean, der nun im rosig-goldenen Licht badete. Rhapsody blickte über das Meer. In einiger Entfernung von den Klippen unter ihr sah sie im Süden einen sandigen Küstenstreifen hinter den Felsen, wo die herankommende Flut in Brechern hereinwogte, den Strand hinaufwisperte und wieder fortrollte. Es war so anders als das wahnsinnige Donnern der See gegen den Steinwall der Küste unmittelbar unter ihnen. Drei Beiboote waren von dem im tiefen Gewässer lauernden Schiff zu Wasser gelassen worden und ruderten sanft auf den Sandstrand zu. »Nimm einen Bogenschützen mit und geh hinunter«, befahl der Seneschall seinem Vogt. »Wenn du unten bist, zünde ein Licht an und gib mir damit ein Zeichen. Ich will den Weg erkennen können, falls es schon dunkel ist, wenn wir uns an den Abstieg machen.« Fergus nickte, entzündete die Laterne, gab einem der Schützen ein Zeichen und verschwand zwischen den Felsblöcken, die sich bis hinunter zum Strand erstreckten. »Worauf wartest du noch, Michael?«, fragte Rhapsody nervös. Sie war erschöpft und übermüdet; ihre Kraftreserven schwanden allmählich. Und sie fürchtete, die Antwort schon zu kennen. Er drehte sich langsam um und schaute nachdenklich auf sie herab. Ein roter Sonnenstrahl brach durch die tief hängenden Wolken am Horizont und erleuchtete sein Gesicht. Es glühte in dämonischem Schimmer. »Ist das nicht ein romantischer Ort?«, fragte er. Sein Grinsen wurde so breit, dass es schon bösartig war. »Uns bleibt mindestens eine Stunde, bevor die Beiboote anlanden. Das sollte genügen.« Er warf den Kopf in den Wind, der von der wogenden See aufstieg. Seine Augen funkelten vor Kraft. Dann bedachte er sie mit einem Blick, der sie entsetzte. »Ich habe sehr lange darauf gewartet, Rhapsody. Ich habe deinen Verlust seit dem Tag betrauert, als du aus dieser Rattenverseuchten Taverne in Ostend entkommen bist, Hut und Feder oder so ähnlich hieß sie, erinnerst du dich? Ich habe meinen Diener losgeschickt, damit er dich zu mir zurückbringt, aber du bist nicht gekommen. Man sagte mir, der Bruder habe dich genommen. Stimmt das? Was ist aus ihm geworden?« »Den Bruder ... gibt es nicht mehr«, stammelte sie. Ihre Zähne klapperten vor Furcht und Kälte, die der Nachtwind von der kalten See mitbrachte. »Gut. Bevor wir hinunter zum Strand gehen und die nächsten sechs Wochen an Bord eines voll gepackten Schiffes verbringen, das durch die halbe Welt segelt, will ich dich hier im Wind und auf festem Boden nehmen. Du kannst dich mir nicht länger verweigern. Ich will es so heftig mit dir treiben, dass die umliegenden Felsblöcke ins Meer stürzen.« Er streichelte einige große Felsen, die nahe am Rand des Simses ein V bildeten. Rhapsody schlang die Arme um ihre Taille; ihre Blicke flogen hin und her. Man sollte sich vor der Vergangenheit in Acht nehmen. Sie will dich haben; sie will dir helfen. Sie will dich vernichten. Der Seneschall schaute sie an, und sein Gesicht verhärtete sich zu einer kantigen, bösartigen Maske. »Es gibt kein Entkommen, Rhapsody. Du hast keine Entschuldigungen und Ausflüchte mehr. Jetzt wird es geschehen. Füge dich. Du weißt, was kommt.« Er zog seinen Mantel aus und warf ihn auf den felsigen Boden. »Schwärmt aus und schirmt den Sims ab«, sagte er zu den fünf verbliebenen Männern. Sie bildeten eine gerade Linie und blockierten den Durchgang vom Sims zum Festland. »Licht, Herr«, rief einer der Bogenschützen. Er schaute den Pfad hinunter, auf dem der Vogt verschwunden war. Der Seneschall warf Rhapsody mit dem Rücken zum Abgrund und dem Gesicht zu den Soldaten auf den Boden. Er ging hinüber zum südlichen Ende des Felsvorsprungs und schaute über den Rand auf die Stelle, wo ein schwaches Laternenflackern in der heraneilenden Dunkelheit hin und her schwankte. »Fergus hat den Pfad gefunden«, sagte er zu den Männern »Gut. Also los.« Er machte einen Schritt zurück auf den Sims Gerade noch rechtzeitig, um Rhapsody an den Rand des Vorsprungs hechten zu sehen. Für den Bruchteil einer Sekunde standen er und die anderen schockiert da, als sie auf den Abgrund zusprang. Dann drang ihm ein heiserer Laut der Wut aus der Kehle. »Halt! Haltet sie auf!« Caius schoss. Rhapsody duckte sich vor, war nur noch wenige Schritte vom Rand entfernt. Der Pfeil bohrte sich in ihren Schwertgürtel. Sie bog sich nach vorn, zuckte vor Schmerzen zusammen und sah, wie die Wachen auf sie zurannten. Sie schaute Michael zum letzten Mal an. Dann warf sie sich über den Rand der Klippe ins Meer. 32 Zuerst war der einzige Laut auf dem Felsvorsprung das Heulen des Windes. Dann, einen Moment später, hallte ein Wutschrei, der einen doppelten Ursprung hatte, über die Klippe. Es waren die rauen Töne des Dämons, die sich unmelodisch in den Zorn eines krankhaft grausamen, aus dem geistigen Gleichgewicht geratenen Mannes mischten, dem der Lohn entzogen worden war, wegen dem er den Ozean überquert hatte. Der Laut war so erschreckend, dass mehr als einer der gedungenen Söldner sein Wasser verlor. Der Wind antwortete mit einem Wutbrüllen. Er fegte um den Sims und lockerte einen ganzen Hagel von Felsbrocken, die in großen, staubigen Wolken hinab zur schäumenden See schössen. Der Seneschall rannte zum Rand des Simses. Seine Muskeln waren bei jeder Bewegung dick wie Seile. Er spähte hinunter in die anbrandenden Wellen, die hundert Fuß unter ihm den vulkanischen Wall erschütterten. Es gab kein Zeichen von ihr. Er hatte gegen alle Wahrscheinlichkeit gehofft, sie an einem Vorsprung hängen oder auf der heftigen Tide in das Meer hinausgespült werden zu sehen, doch da war nichts als das endlose Ebben und Fluten blau-grauen Wassers, auf dem dicker Schaum trieb und das im dunklen Licht der Abenddämmerung wirbelte. Er warf den Kopf zurück und schrie den Himmel an. Neiiiiiiiiiüiiiiiiin! Der Duft des Dämons, der Gestank brennenden Fleisches, stieg in den Wind auf. Die Soldaten würgten und zitterten, als Funken schwarzen Feuers durch die Luft schössen. Nun spähten sie selbst über den Rand des Felsvorsprungs und suchten in dem verdämmernden Licht nach Spuren der Frau, doch alles, was sie sahen und hörten, war das unbarmherzige Anrennen der Brandung gegen die Felswände. Das dunkle Wasser wich allmählich von den schwarzen Klippen zurück und schäumte mit bösem Grollen ins Meer. Der Seneschall packte sich an den Kopf und bebte, als befinde er sich im Kampf mit einem unsichtbaren Geist, der ihn angriff. Die inzwischen verängstigten Soldaten drängten sich aneinander und sahen sich Hilfe suchend um, doch in Abwesenheit des Vogtes war niemand da, der sie hätte führen können. Schließlich richtete sich der Seneschall ruckartig auf und starrte sie an. »Worauf wartet ihr noch?«, fragte er mit vor Wut knisternder Stimme. »Hinunter mit euch, ihr Narren! Durchkämmt den Strand und durchsucht die Felsen. Findet sie!« »Mein Herr...«, begann einer der Bogenschützen. Der Wind kreischte wütend auf, als der Seneschall den Arm ausstreckte und eine zornige, weite Geste in Richtung des Abgrunds machte. Eine plötzliche Brise erwischte den Mann von hinten und warf ihn über den Rand des Simses. Sein Schrei verlor sich im Wind. Die anderen mussten zusehen, wie sein Körper von den zerklüfteten schwarzen Felsen abprallte, die am Fuß der Klippen verstreut umherlagen. Die Wellen brandeten über ihn und sogen ihn einen Augenblick später in die Tiefe. Der Seneschall hatte ebenfalls zugesehen und beobachtet, welchen Weg der Körper nahm. Er drehte sich um und blickte die Männer erneut an. »Findet sie.« Die Männer zerstreuten sich und eilten hinunter zu der Lampe, die der Vogt vorhin angezündet hatte. Michael stand im kreischenden Wind und schaute hinunter auf die rollende See. Die Wellen wirkten wie das Gras auf den großen Wiesen, das ihn seit mehr als einem Jahrtausend an ihr Haar erinnerte und ihn mit Bildern erfüllte, deren Unerreichbarkeit sie umso schmerzhafter machte. Dafür sind wir durch die ganze Welt gereist. Was für eine grandiose Verschwendung. »Sei still!«, schrie der Seneschall und griff sich an den Kopf. »Foltere mich nicht mit deinen blasierten Ansichten. Du weißt nichts.« Und ich sehe nichts – nichts als Felsen und Brandung. Die Adern an Michaels Hals traten hervor, und sein Gesicht erhitzte sich vor Wut. »Würdest du sie gern aus der Nähe betrachten?«, knurrte er und näherte sich dem Rand des Vorsprungs. »Ich habe das Einzige verloren, was ich im Leben haben wollte. Plötzlich wird mir das ewige Leben zur Last. Vielleicht sollten wir ihr ins Meer folgen. Würde dir das gefallen, du selbstzufriedener Parasit?« Der Dämon verstummte. Der Seneschall riss die Augen noch weiter auf. Er schaute hinunter in den wahnsinnigen Aufruhr des Wassers und dachte nach. Er spürte, wie ein süßer Wahnsinn ihn überkam, ein Verlangen, sich dem Wind in die Arme zu werfen, hinunterzufliegen, wie ein Senkblei unterzugehen und so durch einen raschen, erregten Sprung der Folter des Dämons und dem Schmerz über Rhapsodys Verlust zu entkommen. Nein. Tritt zurück. Er schüttelte heftig den Kopf. Der Schweiß spritzte von der Stirn in den reinigenden Wind. Sie war unserer nicht wert. Sie hat dich verachtet. Hast du das etwa nicht vorhergesehen? »Ich glaube dir nicht«, sagte der Seneschall leichthin. Doch in seiner Stimme lag etwas Bedrohliches. »Hast du ihr Gesicht gesehen, als sie mir sagte, sie habe geglaubt, ich sei tot?« Ich habe es gesehen. Ich habe die Verachtung gesehen. »Nichts davon«, schnappte der Seneschall. »Du hast Reue und Verlangen gesehen.« Du bist nicht nur blind, sondern auch bemitleidenswert. Von unten waren bruchstückhafte Stimmen in den aufsteigenden Windböen zu hören. Der Seneschall schaute nach Süden, wo Laternen auf dem beinahe völlig dunklen Strand entzündet wurden. Die kleinen Flammen breiteten sich aus, umkreisten den Rand des Meeres, näherten sich den Felsen, wurden aber durch die Macht der Tide fortgetrieben, während sich das Licht auf dem schwarzen Wasser kräuselte. Die Stimme des Dämons in seinem Kopf veränderte sich, nun nahm sie einen warmen und süßen Tonfall an. Dann geh hinunter, wenn du es unbedingt tun willst. Such den Strand ab. Du wirst nichts finden. Niemand könnte einen solchen Sprung überleben. Aber geh auf die Suche, denn vorher wirst du keine Ruhe finden. Und wenn du Frieden mit ihr geschlossen und begriffen hast, dass sie diesmal für immer gegangen ist, sollten wir zum Schiff gehen und nach Argaut zurückkehren. Zu Hause erwartet uns viel Ergötzliches. Michael atmete leise ein und beobachtete das Meer, bis die Dunkelheit den Strand verschlungen hatte. Komm, schmeichelte der Dämon. Wir sollten hinunter zum Meer gehen. Sieh selbst nach. Außerdem wartet Faron auf dich. Der Seneschall nickte widerstrebend. »Ja«, sagte er laut. »Es ist Zeit.« Er schaute reuevoll ein letztes Mal auf Rhapsodys Grab aus Fels und Brandung und versuchte zu vergessen, wie sie ihn vor ihrem Sprung angeschaut hatte. Die Botschaft war unmissverständlich gewesen. Sogar ein gewaltsamer und schmerzvoller Tod war Michaels Gesellschaft vorzuziehen. »Hure«, flüsterte er in den Wind, der von den Felsen unter ihm aufstieg. »Elende, brünstige Hure.« 33 Der Kessel — Ylorc Der lange Heimritt aus Sorbold vermittelte Achmed bemerkenswerte Einsichten in die Frau, die er angeheuert hatte. Zuerst hatten ihn ihre schlanke Gestalt und das scharfkantige Gesicht sowie ihr Unmut über jede Störung bei der Arbeit oder eine ungerechte Behandlung stark an Rhapsody erinnert. Doch je länger er Theophila beobachtete, desto mehr war er über die Unterschiede zwischen den beiden Frauen erstaunt. Rhapsody war für ihn immer so durchsichtig wie Klarglas gewesen. Ihre Motive und Ziele waren offenkundig, und obwohl ihr Charakter etliche Nuancen und Feinheiten aufwies, war sie größtenteils so leicht zu lesen wie die meilenhohen Buchstaben, die von den Flüssen in die Felswände der Bergpässe im Hochland der Alten geschnitten worden waren. Theophila hingegen war noch weniger durchsichtig als das Bleiglas, das sie und ihre Panjeri-Gefährten herstellten. Während des größten Teils der Reise sagte sie gar nichts, sondern zog es vor, schweigend über die steinige Steppe zu reiten, die im Nordosten von Sorbold bis nach Ylorc an die Manteiden grenzte. Sie wurde sogar noch schweigsamer, als sie auf die Bergpässe gelangten, und hatte immer wieder wie ein Beutetier hochgeschaut, das nach Jägern Ausschau hält. Zwar empfand Achmed ihr Schweigen im Gegensatz zu Rhapsodys Geplapper als angenehm, doch etwas an den Schwingungen, die von ihr ausgingen, stimmte nicht. Während die natürliche Musik, die Rhapsody umgab, beruhigend auf sein Netz aus Nerven und Adern wirkte, das die Oberfläche seiner Haut durchzog, hatte die Panjeri-Frau etwas Knisterndes an sich; es war eine Art von atmosphärischer Störung, die sie immer umgab. Zwar wirkte es faszinierend, versetzte aber seine natürliche Abwehr in höchste Alarmbereitschaft. Hin und wieder versuchte Achmed, sie in ein Gespräch zu verwickeln oder in das, was er für ein Gespräch hielt. Dann stellte er ihr knappe und auf den Punkt gebrachte Fragen über ihre Ausbildung, ihre Erfahrung und die nötigen Arbeitswerkzeuge. Theophila antwortete meist kurz und abgehackt und richtete ihre Aufmerksamkeit lieber auf das unvertraute Gebiet, durch das sie reisten. Wenn sie nachts ihr Lager aufschlugen, bekam keiner von beiden viel Schlaf. In den Tagen seit ihrer ersten Begegnung hatte das Misstrauen zwischen ihnen kaum abgenommen, und so schliefen beide aufrecht und mit gezogenen Waffen, vorgeblich um jeder Bedrohung durch wilde Tiere oder Banditen sofort begegnen zu können, doch beide hegten kaum einen Zweifel daran, dass der jeweils andere sich ganz oben auf der Liste der Wesen befand, vor denen man sich in Acht nehmen musste. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen Theophila sprach, ließ sie sich lang und breit über die Werkzeuge und Hilfsmittel aus, die sie benötigte, obwohl sie ihren Arbeitsplatz noch gar nicht gesehen hatte. Sie hatte einen kleinen Beutel dabei, in dem sie vermutlich einige Handwerkszeuge hatte: eine Säge vielleicht, Zangen und die schlechten Feilen, die er bei den Glasfenstern in Sorbold im Einsatz gesehen hatte. Doch die wichtigeren Werkzeuge und alles andere gehörten den Panjeri, hatte sie gesagt, weswegen er sie vollständig ausstatten musste. Sie ist verrückt nach Werkzeugen, dachte er belustigt, als sie ihre Liste der benötigten Sachen schrieb. Wie Rhapsody eine Schwäche für Kleider hat. Jede Frau, der er bisher begegnet war, war von irgendetwas besessen gewesen, so großartig sie auch sein mochte. Außerdem wusste sie, wie man ein Pferd handhabte. Wenn sie glaubte, dass er nicht hinsah, hörte Achmed, wie sie mit dem Tier sprach, das er in Yarim gekauft hatte, seine Hufe untersuchte und es mit Worten in einer fremden Sprache besänftigte. Ihre Hände waren klein, aber stark, und sie setzte eher sie als ihre Beine beim Lenken des Pferdes ein. Auf diese sanfte Seite ihres Charakters ließ sie keinen Blick zu, wenn sie wusste, dass Achmed sie beobachtete. Sechs Tage nachdem sie den Rymshin-Pass verlassen hatten, kamen die hoch aufragenden Gipfel des Griwen und des Xaith in Sicht. Achmed schaute Theophila hinter seinen Schleiern an und bemerkte, wie schnell ihre dunklen Augen den Blick auf die vielfarbigen Berge einsogen, die sich fang-zahnartig in Schattierungen aus Schwarz und Purpur, aus Grün und Blau über den wogenden Nebel erhoben, der den Eindruck erweckte, als befänden sich die Berge hoch droben in den Wolken. Diese beiden Gipfel waren in der cymrischen Ära ausgehöhlt worden und wurden nun restauriert und zu Außenposten umgebaut, die rund um die Uhr besetzt waren und tausende von Soldaten in Wachttürmen beherbergten, von denen aus man fünfzehn Meilen weit über die Krevensfelder blicken konnte. »Ylorc«, sagte er nur. Theophila nickte und schwieg. Er führte sie durch den Haupteingang in den Kessel, unter gewaltigen, aus dem Berg gehauenen Torbögen hindurch und an riesigen Bollwerken und Schutzwällen vorbei, die aussahen, als sollten sie die Götter selbst zurückhalten. Achmed kicherte in sich hinein, als er den Ausdruck unverhüllten Erstaunens in Theophilas Gesicht sah, und er erinnerte sich daran, wie er, Grunthor und Rhapsody zum ersten Mal bei sintflutartigem Regen Ylorc betreten hatten, das schon damals ein gewaltiges architektonisches Wunder gewesen war, auch wenn es in der Zwischenzeit an Pracht gewonnen hatte. Wie immer brauchte er sich nicht über seine Absichten klar zu werden. Er hatte sie beeindrucken und überwältigen wollen. Er hatte sie sogar ein wenig einschüchtern wollen. Große Messingglocken schlugen bei ihrem Eintritt an. Der kriegerische Klang hallte über die Erdwälle und von den Berggipfeln wider und rüttelte an den schweren Gobelins in der inneren Halle. Zweihundert Bolg-Soldaten säumten in glänzenden dunklen Lederrüstungen und mit Beinschienen und Unterarmschonern aus blau-schwarzem Stahl den gewaltigen Korridor, der an riesenhaften Statuen vorbeiführte, welche aus der cymrischen Ära stammten, aber erst vor kurzem von Bolg-Künstlern in ihrer früheren Pracht oder wenigstens Sauberkeit wiederhergestellt worden waren. Theophila folgte dem Bolg-König durch den tiefen Tunnel, der zur Großen Halle führte und auf beiden Seiten von unzähligen, meist nicht zueinander passenden Postamenten gesäumt war, auf denen verschiedene Gegenstände hockten und Staub ansammelten. »Was ist das alles?«, fragte sie. Ihre Stimme hallte in dem höhlenartigen Tunnel wider. »Staatsgeschenke«, erwiderte Achmed und ging an Halsketten, Krügen und anderen Schätzen vorbei, die sehr nachlässig ausgestellt waren. »Plunder und Kinkerlitzchen, die uns verschiedene Führer anderer Nationen zum Geschenk gemacht haben, als ich die Herrschaft über die Bolglande angetreten habe. Bestechungsgeschenke. Besänftigungen. Staubfänger.« Die dunklen Augen der Panjeri-Frau glitzerten in den Schatten der Fackeln an den Wänden. »Einige sehen sehr wertvoll aus.« »Das sind sie zweifellos auch.« »Warum sind sie dann so nachlässig ausgestellt?« Achmed schnaubte. »Weil sie mir gleichgültig sind. Ich hatte das Ganze schon auf dem Fischmarkt verkauft, aber mein ... Protokollminister bestand darauf, sie zu behalten, falls einer der Narren noch einmal herkommen sollte.« Theophila lächelte schwach. »Warum passen nicht wenigstens die Postamente zusammen?« Achmed zuckte die Achseln. »Du findest irgendwo in einer Abstellkammer eine alte Säule, du ziehst sie heraus, stellst eine Schüssel darauf und packst das Ganze in den Korridor. Das ist eine diplomatische Aussage. Sie müssen nicht zusammenpassen.« »Aha. Und du bist trotzdem bereit, zweihunderttausend Goldsonnen für eine Bleiverglasung auszugeben. Du hast einen bemerkenswerten Sinn für Ästhetik.« Theophila verstummte und folgte ihm durch den Korridor in die Große Halle. Shaene füllte inmitten der zerbrochenen Scheiben aus den vielen fehlgeschlagenen Schmelzversuchen gerade einen großen Haufen Holzasche in eine Tonne, als Achmed und die neue Glasmeisterin den Turm des Gurgus betraten. Der canderianische Künstler riss den Mund auf, schloss ihn aber rasch wieder und lief über den Marmorboden. Seine Stiefelabsätze hallten in dem großen Kuppelsaal wider. Während er auf den Besuch zurannte, wischte er sich die Hände an seiner Schürze ab. »Willkommen zu Hause, Euer Majestät«, sagte er mit übertriebener Höflichkeit zu Achmed. »Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise.« Er lächelte die Frau strahlend an, die seinen Blick ohne erkennbare Regung erwiderte. »Wo ist Rhur?«, fragte Achmed harsch. »Er und Sandy überprüfen die Brennöfen.« Shaenes Lächeln wurde noch breiter und kriecherischer. Achmed beachtete ihn nicht weiter und ging zu einem der Arbeitstische, auf dem viele Generationen von Versuchsscherben neben sieben in Leinwand eingewickelten Gläsern lagen. Theophila folgte ihm. Sie schaute sich in dem großen, schmalen Raum eingehend um und warf einen Blick auf den sich darüber erhebenden hohen, luftigen Turm, der bis in den Himmel reichte. Achmed deutete auf die gewölbte Decke, die behelfsmäßig mit Holz verschalt worden war. Sie war um ein Mittelstück in sieben gleiche, strahlenförmige Abschnitte unterteilt. »Das ist das Projekt. In die Decke müssen sieben farbige Glasscheiben von gleicher Größe eingelassen werden. Der Kreis muss in acht Teile untergliedert werden; jeder Abschnitt beinhaltet ein Achtel der Gesamtfläche. Das letzte Achtel wird gebildet aus den Bleieinfassungen und Stützen, die die einzelnen Farben voneinander trennen.« Die Panjeri nickte. »Die Brennöfen, die dir hier zur Verfügung stehen, sind so gut wie alles, was du bisher gesehen hast – nein, sie sind sogar noch besser. Es gibt vier Öfen von der Größe dreier hintereinander stehender Ochsenkarren, einen Schmelzofen, einen Ofen zur Bearbeitung des Glases, einen Kühlofen und einen, um die Glasscheiben auszulegen. Wenn du noch einen oder weitere Werkzeuge brauchst, werden sie für dich angefertigt. Und jetzt kommt die Herausforderung«, fuhr Achmed fort. »Jedes Teil muss genau die richtige Farbe haben. Ich habe ein Muster, das ich dir zeigen werde. Außerdem müssen die Scheiben stark genug sein, der dünnen Luft und den heftigen Winden auf diesem Gipfel zu widerstehen, gleichzeitig aber makellos, ohne jede Blase oder andere Unvollkommenheit. Und das Glas muss durchscheinend genug sein, um das Licht bis auf den Boden dieses Raumes fallen zu lassen. Zu den verschiedenen Tageszeiten werden verschiedene Farben aufleuchten, was vom Sonnenstand abhängt. Wenn es richtig gemacht wurde, wird sich am Mittag ein Regenbogen über den Boden wölben.« »Hast du ein Schema für die einzelnen Farben?«, fragte die Bleiglasmeisterin. »Ja. Vermutlich hat Rhur es im Augenblick.« Shaene schüttelte den Kopf. »Wohl eher Sandy.« Achmed seufzte und erinnerte sich an den besorgten Ausdruck auf Rhapsodys Gesicht, als sie widerstrebend die jeweiligen Farben in das Diagramm eingemalt hatte. »Ich werde dafür sorgen, dass du die Pläne erhältst«, sagte er zu Theophila. Er hob eine der in Leinwand eingewickelten Scheiben auf und zog das Tuch davon. In seiner Hand lag eine kleine Scheibe aus schimmernd grünem Glas, die so dick wie sein Daumen lang war. »Das sollte das richtige Grün sein. Es gibt für jede Farbe ein Glas«, sagte er und übergab es Theophila. »Außerdem kannst du die Durchsichtigkeit prüfen, indem du sie gegen das Sonnenlicht hältst. Wenn das Glas die richtige Transparenz hat, erscheint angeblich eine Art Rune darin, eine Schrift, die nur zu sehen ist, wenn es weder zu dick noch zu dünn ist.« »Daraus schließe ich, dass du die Rune noch nie gesehen hast«, sagte Theophila und fuhr in Gedanken mit dem Finger über die vielfarbigen Scherben auf dem Tisch. »Nein.« »Das überrascht mich nicht. Du verwendest die falschen Materialien.« »Ach? Und welche sollten wir verwenden?« Sie hob eine der Scherben auf, betastete sie vorsichtig und hielt sie gegen das Licht. »Du hast das falsche Holz für die Asche. Welches Verhältnis von Asche zu Sand nimmst du?« »Anderthalb Teile Asche zu einem Teil Sand.« Die Meisterin schüttelte den Kopf. »Nein. Zwei zu eins. Außerdem brauchst du ein feineres Sieb; deines ist noch zu grob. Und du musst unterschiedliches Holz nehmen. Das hier hat eine zu hohe Konzentration von Pottasche.« Ashe schluckte und dachte nach. Sie hatten dasselbe Holz wie Gwylliam genommen; es kam aus den tiefen Wäldern des Versteckten Reiches und aus dem östlichen Canrif, noch hinter der trockenen Schlucht. »Als der ursprüngliche Turm errichtet wurde, haben sie dasselbe Holz wie wir benutzt«, sagte er und nahm ein fleckiges gelbes Stück auf. Die Künstlerin hob eine Augenbraue. »Bist du sicher?«, fragte sie und schaute wieder durch das Glas. »Hier in der Gegend gibt es alle möglichen Arten von Bäumen. Du hast das weiche Holz aus den Wäldern im Osten genommen, nicht wahr?« »Ja.« Sie kicherte. »Du solltest nicht nach Osten, sondern nach Westen schauen. Das Vorgebirge am westlichen Rand deines Reiches ist voller Kischbäume und, besser noch, voller Buchen, die mehr Natrium haben, was vorteilhafter für die Glasherstellung ist. Außerdem findet man überall in der Steppe Wermut und Nesseln. Wir sind an so viel davon vorbeigekommen, dass man jeden Berggipfel der Zahnfelsen mit Bleiglas ausstatten könnte. Außerdem kann man die Szeksos abernten.« »Szeksos?« Die Künstlerin nickte. »Salzkrusten, die man in Trockengebieten wie dem zwischen hier und der sorboldischen Grenze findet. Sie sind in der Steppe sehr oft anzutreffen. Bei ihnen handelt es sich möglicherweise um Überreste alter Salzwasserteiche. Sobald wir Panjeri sie antreffen, ernten wir sie ab. Sie ergeben ein wunderbares Zusatzmittel.« Achmed hatte ihr in beinahe grenzenloser Bewunderung zugehört. Als er die Sicherheit in ihrer Stimme bemerkte, fasste er nach so vielen Monaten der Fehlschläge endlich wieder Hoffnung, sein Plan könne doch noch gelingen. »Ich habe viele Fässer mit Mineralien herbeischaffen lassen, die man als Färbemittel einsetzen kann«, sagte er rasch, trat über das zerbrochene Glas und nickte Rhur zu, der soeben den Turm betrat. »Ich vermute, du brauchst Mangan für Purpur, Kupfer für Rot, Eisen für Gelb, Kobalt für Blau ...« »Vielleicht ...« Theophila zuckte die Achseln. »Ich kann herkömmliche Metalloxide nehmen, aber ich habe auch meine eigenen Rezepte.« »Was sind die Zutaten?« Die Panjeri-Frau lächelte nicht. »Mit deinen zweihunderttausend Goldsonnen kaufst du meine Zeit und meine Arbeit«, sagte sie sanft. »Aber nicht meine Geheimnisse.« Rhur bedeutete dem Bolg-König, er wolle gehen. Als Achmed ihn entließ, räusperte sich der Firbolg-Handwerker und sprach. Das war ein so seltenes Ereignis, dass sowohl der König als auch Shaene beim Klang seiner Stimme zusammenzuckten. »Majestät.« Er gab wieder ein Handzeichen. Achmed warf die Scherbe auf den Haufen und eilte quer durch den Raum. Er ergriff ein kleines Stück Öltuch, das Rhur ihm entgegenhielt. Es war eine Botschaft, die vom Vogelhaus gekommen war. Sie trug Grunthors Handschrift. Er starrte sie lange an und versuchte, einen Sinn in den Worten zu erkennen, dann schaute er plötzlich die drei Kunsthandwerker an. »Ich muss gehen«, sagte er unaufgeregt zu Rhur. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkehre. Kümmere dich darum, dass sie alles bekommt, was sie haben will. Alles. Die Werkzeugmacher sollen alles herstellen, was sie benötigt. Kümmere dich darum, dass sie bequem in den Botschaftsgemächern untergebracht wird. Doch sie soll sich nur in diesem Teil der Halle aufhalten. Ich will nicht, dass sie sich im Kessel verirrt, wenn ich weg bin.« Rhur nickte. »Geh jetzt zum Quartiermeister. Sag ihm, er soll mich sofort wieder für die Reise ausstatten. Ich muss unverzüglich nach Sepulvarta aufbrechen.« Er drehte sich um und begegnete den erstaunten Blicken der Frau und der Männer. »Ich muss gehen, Theophila.« Er sah sich rasch um. wird sich um all deine Bedürfnisse kümmern. Ich ... ch werde sofort zu dir kommen, wenn ich zurück bin. Du kannst unabhängig arbeiten, ohne meine Aufsicht, und hast alles gesehen, was du sehen musstest, nicht wahr?« »Sobald ich die Pläne habe, ja.« »Gut. Shaene, stell sicher, dass sie sie bekommt.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, lief der König aus dem Zimmer. Er rannte durch die Korridore des inneren Kessels, an Hallen und Wachen vorbei, die ihn anblinzelten, aber kein Wort sagten. Firbolg-Arbeiter und Einwohner drückten sich rasch gegen die Wand, um ihn vorbeizulassen. Sein Gesichtsausdruck verriet ihnen, dass sie sich ihm bloß nicht in den Weg stellen sollten. Achmed schlüpfte in einen kleinen Tunnel, der als Belüftungsöffnung für das Heizungssystem diente, das den Berg im Winter erwärmte, nun aber abgeschaltet war, und folgte ihm bis zu einem nach Osten blickenden Felssims, von dem aus man die Krevensfelder überblicken konnte. Er versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen, und holte tief Luft, bis er seinen eigenen Mittelpunkt spürte und sich auf seinen Herzschlag konzentrieren konnte. Zitternd schloss er die Augen, zog den Schleier über seinem Hautgewebe fort, damit der warme Sommerwind darüberspielen konnte, und suchte nach dem vertrauten Rhythmus. Nur der Wind antwortete ihm. Er warf das Netz weiter aus und öffnete seinen Geist, bis das Herz vor Anstrengung pochte. Er durchstreifte jede Brise, jede Luftströmung und suchte verzweifelt nach dem geringsten Flackern und dem leisesten Anzeichen von Rhapsodys Herzschlag, einem Rhythmus, der ihm so vertraut war wie sein eigener. Er wartete lange, tastete die Luft ab, sog sie tief ein und versuchte auch die verschwindendsten Teile zu fangen. Nichts. Rhapsody, rief er stumm und warf ihren Namen wie ein Hetz in den Wind, dann zog er es mit seinem Geist zurück und hoffte auf ein Flackern, ein Bruchstück, auf irgendetwas. Nichts. Kalte Wellen der Angst stiegen in ihm auf und fielen wieder zurück. Sie nahmen ihren Ursprung bei seinem Magen und liefen bis zu den Gliedern. Er spürte sie kaum. Achmed änderte seinen Brennpunkt und durchkämmte den Wind. Nun suchte er nach Grunthors Herzschlag. Sofort pulsierte er in seinem Hautgewebe und schlug mit dem vertrauten Rhythmus des Lebensmusters seines Freundes. Fern hörte er das Summen der anderen etwa tausend Überlebenden von der Insel. Nur Rhapsodys Schlag blieb verschwunden. Achmed brach die Suche ab. Er rannte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu den Stallungen, wo der Quartiermeister bereits sein Pferd gesattelt hatte. Er stieg auf und ritt nach Westen in Richtung Sepulvarta, bevor die meisten Bolg überhaupt bemerkt hatten, dass er zurückgekehrt war. Einige Minuten später kehrte Omet an die Baustelle zurück, nachdem er seine Runde an den Brennöfen vorbei gemacht hatte, und fand plötzlich eine Fremde im inneren Heiligtum vor, dem am besten abgeschirmten Bereich des Bolg-Königs nach seinen eigenen Gemächern. Als er eintrat, beriet sie sich soeben mit Shaene und Rhur und hockte neben einem Haufen aus Asche und Glasscherben. Zuerst erkannte er nicht einmal, dass sie eine Frau war. Sie war so schmächtig, ihr Haar war so kurz und ihr Verhalten so aggressiv, dass er sofort angenommen hatte, sie sei ein Mann. Dieses Fehlurteil wurde im nächsten Augenblick zerschmettert, als Shaene ihn bemerkte. »Ah, Sandy!«, rief der einfältige Kunsthandwerker und winkte Omet herbei. »Du kommst gerade recht, um mit der Neuanstellung des Königs Bekanntschaft zu machen, einer verbrieften Panjeri-Meisterin. Theophila, das ist Sandy, unser Leidensgenosse beim Glasmachen.« Die am Boden hockende Frau schaute auf und nickte mit unbeteiligter Miene. Die dunklen Augen richteten sich kurz auf Omet, dann setzte sie das Gespräch mit den beiden Männern fort. »Sandy, hast du die Pläne? Der König will, dass Theophila sie bekommt.« Bei diesen Worten sahen sowohl Theophila als auch Rhur ihn an. Als sich ihre Blicke trafen, wurde Omet plötzlich blass. Er presste die Lippen so fest zusammen, dass die kleinen Härchen in seinem Bart zitterten. »Also?«, meinte Shaene ungeduldig. »Hast du die Pläne oder nicht?« »Äh, nicht bei mir«, log er und bewegte sich so wenig wie möglich. Er hoffte, dass die Zeichnungen durch die Leinwand in seinen Händen nicht sichtbar waren. »Ich habe sie bei den Öfen liegen lassen. Ich gehe zurück zur Schmiede und hole sie.« »Um Himmels willen, verlier sie bloß nicht. Sonst wird dich der König in den Ofen stecken.« »Wo ... wo ist der König?«, fragte Omet und fuhr sich mit der Hand durch das schweißfeuchte Haar. Shaene schaute von dem Aschenhaufen vor ihm auf. »Er hat vorhin den Berg wegen etwas Wichtigem verlassen. Hat gesagt, er weiß nicht, wann er zurückkommt.« Er bemerkte die Blässe auf Omets Haut, folgte dessen Blick und lachte. »Mach deine Hose wieder locker, Junge. Sie ist zu alt für dich.« Die Frau rollte mit den Augen und kehrte zum Tisch zurück. »Heute eilt es nicht mit den Plänen. Ich möchte zuerst die Öfen und Schmieden besichtigen und mir die Materialien und Werkzeuge ansehen, die ihr habt.« »In Ordnung«, meinte Shaene. »Entschuldigt mich«, sagte Omet rasch und schlüpfte durch die Tür. Sobald er hinter der nächsten Ecke war, lehnte er sich gegen die Wand; plötzlich fühlte er sich schwindlig und krank. Er kannte diese Frau, obwohl ihr Haar kurz geschnitten war und sie Kleider trug, in denen sie sich gewöhnlich niemals hätte blicken lassen. Er hoffte, dass sie ihn wegen seines Haarschopfes und des Vollbartes nicht erkannt hatte, den er bei ihrer letzten Begegnung nicht getragen hatte. In der Ziegelei von Yarim. Die Welt drehte sich um ihn herum, und eine Angst, die weitaus schlimmer war als alles, das er bisher gekannt hatte, drohte ihn zu verschlingen. Die Gildenmeisterin war nach Ylorc gekommen. 34 In dem Augenblick, als sie auf den Rand des Felsvorsprungs zuschoss, erinnerte sich Rhapsody an etwas. Als sie das letzte Mal von Michael fortgelaufen war, hatte sie sich in Gesellschaft von Achmed und Grunthor auf den Wiesen von Serendair befunden. Sie waren auf einen Stamm nomadischer Lirin gestoßen, die als Lirinved oder die Zwischenwanderer bekannt waren, weil sie zwischen Wald und Feld hin und her reisten und an keinem der beiden Orte ihr Heim errichteten. Sie und die beiden Bolg stellten zwar für die Lirinved keine Bedrohung dar, waren aber doch Fremde in ihrem Land gewesen, und es waren schlechte Tage für Fremde. Achmed und Grunthor hatten sich mit ihr im hohen Gras der Wiesen versteckt und still die Waffen für eine Konfrontation gezogen, die niemand haben wollte, die aber möglicherweise bevorstand. Das war der erste Augenblick gewesen, in dem sie die wahre, tiefe und unerbittliche Macht einer Benennerin und Sängerin kennen gelernt hatte, die sie durch Selbststudium und andauerndes Üben erworben hatte. Weil sie den wahren Namen des Grases, Hymialada, kannte, in dem sie sich versteckten, hatte sie diesen Namen immer wieder geflüstert und in ihren Gesang die Namen anderer Dinge eingewoben – die Namen der Wolken, des warmen Windes, der Hügel und kleinen Täler. In gewisser Weise hatte sie die Schwingungsmuster aller drei Personen verändert und sie verhüllt, sodass sie mit dem Gras verschmolzen waren, bis sie tatsächlich zum Hymialacia geworden waren, während sie gesungen hatte. So waren sie verwandelt und verborgen worden, und der Wind hatte durch sie hindurch geblasen und die Sonne sie beschienen, doch ihre Schatten hatten nicht wie die eines Firbolg-Mannes, eines Riesen und einer Lirin-Frau ausgesehen, sondern gewirkt, als ob sie zu den Grashalmen gehörten. Die Lirinved waren so nahe an ihnen vorbeigegangen, dass sie die drei hätten berühren können, doch sie waren sich ihrer Gegenwart nicht bewusst gewesen. Diese Macht des Benennens war das Einzige, das sie möglicherweise nun noch retten konnte. Selbst wenn dem nicht so war, musste sie es versuchen. Sie starb lieber beim Sturz von dem Felsvorsprung, als in den stinkenden Klauen eines Dämonenmenschen zu leben, der ihren Körper beschmutzte, ihre Seele marterte und, schlimmer noch, irgendwann ihr ungeborenes Kind bemerken würde. Ihr Verstand weigerte sich vorzustellen, was er dann tun würde. Es gab keine andere Möglichkeit. Doch welches Wort, welcher Name konnte sie vor einem Sturz aus dieser Höhe bewahren? Ihre Gedanken rasten, als sie auf dem Boden lag. Der Stoff ihres zerrissenen Hemdes flatterte im Wind, der über die Klippen tobte, über den Felsvorsprung fuhr und ihre Haare zauste, während Michael mit seinen Männern sprach. Salztropfen, die der Wind mit sich brachte, schlugen ihr ins Gesicht und stachen in die Augen. Zuerst glaubte sie, es sei Regen, dann erkannte sie, dass es die Gischt war, doch sofort kehrte sie zu ihrem ersten Gedanken zurück. Regen. Typta, flüsterte sie in der Stimme der Benennerin und spürte das Summen verschiedener Schwingungen zwischen den Zähnen. Der Ton stimmte. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihren eigenen Ton, ela, und machte sich daran, ihn durch einen Rundgesang zu verändern. Schon beim nächsten Herzschlag war Rhapsody auf den Beinen und rannte mit aller Kraft auf den Rand der Klippe zu. Sie konnte kaum mehr atmen, doch sie sang. Typta. Typta, Typta. Sie spürte, wie der Wind über sie blies und sie leicht anhob wie Regentropfen in einer Aufwärtsströmung. Sie empfand die Lust der Geschwindigkeit, hörte die Rufe hinter sich, blendete sie aus und richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Rand des Simses vor ihr. Typta. Ty... Sie spürte den Stoß des Pfeils in der Seite und im Rücken. Dann kam der Schmerz. Sie verlor das Gleichgewicht, und ihre Konzentration zerstob. Einen Moment später durchstrahlten sie Schockwellen. Es war eine schreckliche Entgegengesetzte Schwingung, die ihr den Atem raubte. Der Aufprall dehnte die Muskeln ihres Bauches. Rhapsody beugte sich nach vorn und versuchte durchzuatmen. Dabei sah sie Michael an der Stelle stehen, wo das feste Land in den Sims überging. Entsetzen lag auf seinem Gesicht; die Augen brannten rot an den Rändern, und die alte Haut lag wie die einer Mumie über den scharfen Knochen. Dieses Gesicht war noch viel schrecklicher als das, welches sie in ihren Träumen heimsuchte. Sein Anblick machte jede andere Möglichkeit undenkbar. Sie schloss die Augen, bevor sie sprang, denn sie befürchtete, die Nerven zu verlieren, wenn sie die donnernden Wellen und die zerklüfteten Felsen an der Küstenlinie sah. Der Wind, der sie ergriff, war kalt; er kam vom nördlichen Meer. Er machte sie wach und zwang sie, im Fallen die Augen zu öffnen. Sie wirbelte in der sorglosen Umarmung der Luft auf den Ozean zu. Typta, sang sie, während sie fiel. Ihre Hände waren noch immer gebunden, und die Wangen verzogen sich im Luftstrom und unter der Anziehungskraft der Erde. Typta, Typta, Typta... Plötzlich überspülte eine Welle ihr Gesicht und füllte ihr den Mund mit Wasser. Sie würgte. Den Aufprall hatte sie nicht gespürt, doch die Luft wurde aus ihr herausgepresst, sodass sie keinen Atem holen konnte, was ihr in den ersten Sekunden unter Wasser möglicherweise das Leben gerettet hatte. Brüllen aus Grün und Weiß, dann betäubende Stille, als sie unter die Oberfläche gezogen wurde, gefolgt von heftigem Trommeln wie von einem Unterwasserwind. Rhapsodys Augen brannten vom Salz und ihre Lungen vom Luftmangel. Bevor alles vor ihren Augen grün wurde, sah sie über sich die Gesichter von Michael und seiner Kohorte, die vom Rand des Felsvorsprungs hinunterstarrten, oder vielmehr glaubte sie sie zu sehen. Sie hörte die Stimmen, obwohl sie rasch im Wasser versank. Sie schauten Rhapsody direkt an. Aber sie sahen sie nicht, obwohl sich Rhapsody unmittelbar unter ihnen befand. Denn für einen Augenblick war sie zu Regen geworden. Die hereinströmende Flut packte sie. In den ersten Momenten war sie auf den Wellenkämmen geschwommen, war selbst zu treibender Gischt geworden, leicht wie ein Regentropfen. Doch sobald der Zauber gebrochen war, füllte sich ihr Mund mit Wasser; ihr Körpergewicht kehrte zurück und mit ihm die ganze Kraft des tobenden Meeres. Plötzlich verwandelte sich die Welt von Grün zu Schwarz, als sei ein schwerer Vorhang gefallen. Nicht atmen, dachte sie und kämpfte darum, in der Dunkelheit die Wasseroberfläche zu finden, doch es gelang ihr nicht. Der Lärm der Wellen klopfte gedämpft in ihren Ohren. Dann wurde sie von einer schweren Strömung erfasst, wild umhergewirbelt, kämpfte um Halt, fand keinen, nichts, woran sie sich hätte festhalten oder wogegen sie sich hätte drücken können, nichts als flüchtiges Wasser, das ihr durch die Hände glitt. Sie verspürte Übelkeit; es war, als werde sie durch die Luft gewirbelt, nur noch schlimmer. Sie taumelte und tanzte mit dem Wahnsinn der Wellen. Bis sie gegen eine feste Felswand geschleudert wurde. Gegen ihren Willen keuchte Rhapsody auf und atmete dabei einen Schwall beißenden Meerwassers ein. Bevor ihre Lunge platzen konnte, durchbrach sie plötzlich die Oberfläche, würgte, spuckte, klammerte sich verzweifelt an die steil abfallende Felswand vor ihr, die so hoch reichte, wie sie tasten konnte. Über ihr war gerade noch genug Platz, um die Nase und den oberen Teil des Kopfes aus dem Wasser zu strecken; darüber fühlten ihre gefesselten Hände eine waagerechte Felswand. Sie bemerkte beiläufig, dass sie blutete, als die Wellen ihren Kopf gegen die harte Decke über ihr schlugen. Ihre Seite stach dort, wo der Bogenschütze sie getroffen hatte. Der Lärm der See nahm etwas ab. Nun hallte er im Dunkel und brüllte mit der Tide, aber es war nicht mehr das berstende Geräusch, das sie von der Klippe aus gehört hatte. So war es jedoch nur, wenn sich ihre Ohren oberhalb des Wasserspiegels befanden. Mit jeder neuen Welle wurde sie wieder untergetaucht; sie hörte nichts als das gedämpfte Rauschen und das Geräusch von aufsteigenden Blasen im Wasser. Wie lange sie in der Dunkelheit herumgeworfen wurde und immer wieder nach Luft schnappen musste, wusste Rhapsody nicht, doch es schienen Stunden zu sein, Tage, Jahre, eine Folter von ewiger Dauer. Ihre Haut stach vom Salzwasser, ihre Glieder wurden müde, und sie gab es auf, in Bewegung bleiben zu wollen. Stattdessen trieb sie auf dem Wasser und versuchte die Panik zu unterdrücken, die sie mit jeder Welle überspülte und ihre Lunge quetschte. Schließlich schien es so, als werde der Luftraum über ihr größer. Nach einiger Zeit brach Licht durch die Dunkelheit hinter ihr. Es war ein kleines, weißes Stück Himmel, das sie mit ihren brennenden Augen kaum erkennen konnte. Mit jeder rollenden Welle wurde es größer, und schließlich befand sich über ihr ein großer Zwischenraum. Das Licht zeigte ihr, wo sie sich befand. Sie war auf einer Welle in eine Höhle gespült worden, eine vulkanische Ausbuchtung in den endlosen Klippen, welche die Küstenlinie vom nördlichen Hintervold bis zu ihren eigenen, ein Halbtausend Meilen entfernten Ländereien bestimmten. Rhapsody schluckte die Ironie herunter. Es war genau eine solche Höhle, die ihrer Meinung nach die Quelle für die Entudenin bildete. In der hinteren Höhlenwand sah sie einen schmalen Sims, der über die Jahrtausende von der langsamen, beharrlichen Strömung herausgemeißelt worden war. Sie ließ sich von der nächsten Welle dorthin tragen und klammerte sich mit aller Kraft daran fest, als sie gegen die hintere Höhlenwand geschleudert wurde. Sie benötigte drei Versuche, um sich auf den Sims zu rollen und dort zu bleiben, nachdem sich die Welle zurückgezogen hatte. Als es ihr schließlich gelang, aufrecht und mit dem Rücken gegen die glatte, unregelmäßige Höhlenwand gelehnt zu sitzen, versuchte sie ihre Lunge von der Sole zu reinigen, die sie eingeatmet hatte. Der Magen drehte sich ihr dabei um, und sie musste sich übergeben. Sie war froh, das Salzwasser los zu sein. Benommen griff sie nach dem Medaillon um ihren Hals. Es hing noch an der Goldkette. Hustend öffnete sie den Verschluss, und die kleine dreizehnseitige Kupfermünze, die Ashe ihr in gemeinsamen Jugendtagen gegeben hatte, fiel auf ihre Handfläche. Sie seufzte erleichtert auf. Es war, als sei mit der Münze auch ein Teil von Ashe bei ihr. Rhapsody legte sie rasch wieder in das Medaillon und machte sich daran, weiter die Lunge zu säubern. Als sie wieder durchatmen konnte, schaute sie zur Öffnung der Höhle. Das Licht, das sich über die wirbelnden Wellen in sie ergoss, war rosafarben. Die Morgendämmerung, dachte sie. Ich bin die ganze Nacht hier gewesen. Nun setzte die Ebbe ein und leerte die Höhle ein wenig, auch wenn sie den Boden im tobenden Wasser unter ihrem Sims immer noch nicht sehen konnte. Risa hilue, flüsterte sie in der Sprache der Liringlas, der Sternensänger, des Volkes ihrer Mutter, das die aufgehende und die untergehende Sonne mit Gesang begrüßte. Willkommen, Sonnenaufgang. Das aufgewühlte Meer antwortete mit unbarmherzigem Grollen. Als die einsetzende Ebbe die Beiboote zurück zur Basquela brachte, blinzelte Fergus, der Vogt des Seneschalls, in das rote Licht und versuchte, seinen Meister ständig im Blick zu behalten. Von dem Zeitpunkt an, als sie abgelegt hatten, hatte der Seneschall nichts mehr gesagt, sondern nur hinter ihm gestanden und in Totenschweigen auf die Küstenlinie unter der aufgehenden Sonne gestarrt. Die Morgenlaute des Meeres – der Schrei der Möwen, die Musik des Windes – blieben unbeachtet, die himmelblauen Augen des Justizministers waren glasig und leer. Fergus wusste, dass er den Seneschall nun nicht mit müßigen Gesprächen oder Besänftigungsversuchen belästigen durfte. Er lenkte die Ruderer auf die Fregatte zu; das Boot glitt unter sanften und ruhigen Stößen dahin. Als ihr Boot endlich das Schiff erreichte, gab der Vogt der Mannschaft ein Zeichen, denn er wollte dem Seneschall so viel Zeit wie möglich verschaffen, bevor er mit dem Erklettern des Fallreeps seine Suche endgültig aufgeben würde. Schweigend stand er hinter seinem Herrn, der das Reep ergriff, aber nichts sagte, sondern zu den fernen, nebelverhangenen Klippen blickte, die eine glatte und unerschütterliche Wand unter der hellen, aufgehenden Sonne bildeten. Fergus hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass die Stimmungen des Seneschalls wie der Wind waren: unvorhersehbar und oftmals heftig. Er hatte Gefühlsstürme ausgelöst, die stundenlang angehalten hatten und wie das Rasen eines Hurrikans gewesen waren. Doch wenn man aufmerksam hinschaute, konnte man bisweilen auch Anzeichen für ein Abflauen erkennen. Er glaubte, nun ein solches Anzeichen zu sehen, das von Enttäuschung und Erschöpfung hervorgerufen wurde. »Euer Ehren?« Zuerst sagte der Seneschall nichts, doch schließlich neigte er den Kopf. »Hmmm?« Fergus schluckte und wagte es. »Seid Ihr bereit, an Bord zu gehen, Herr?« Der Seneschall saß still da, bis die Sonne hoch über den bedrohlichen Klippen stand und die Gischt an ihrem Fuß mit glitzerndem Licht überschüttete. Dann nickte er, wobei er den Kopf so schräg hielt, als habe er sich das Genick gebrochen. Er stand aufrecht, als das Beiboot an Bord geholt wurde, und kletterte heraus, sobald es sich an Deck befand. Er taumelte auf die Tür zum Laderaum zu, während die Mannschaft sich so weit von ihm entfernt wie möglich hielt. Er kroch über die Leiter und in den schwarzen Bauch des Schiffes, und seine Brust hob und senkte sich schwer vor Verzweiflung. Am Fuß der Leiter tastete er in der Dunkelheit herum und schlingerte mühsam, bis er endlich zu dem grünen Teich gelangte. »Faron?«, flüsterte er. Tränen lagen in seiner Stimme. Der rauchige Wasserspiegel brach beinahe sofort auf, als das verzerrte Kind hervorkam. Der Schmerz in der Stimme seines Vaters zauberte einen Blick der Besorgnis in seine umwölkten Augen. Der Seneschall kniete sich auf die nassen Planken und beugte sich über den Rand des Teiches. Er schlang die Arme um den missgestalteten Körper des knochenlosen Kindes, legte den Kopf dagegen und schluchzte in tiefen, qualvollen Zuckungen. »Tot, Faron. Sie ist tot«, jammerte er und schüttete seinen Kummer vor dem einzigen Geschöpf auf der ganzen Welt aus, dem er vertrauen konnte. »Sie hat sich von der Klippe gestürzt; das war ihr lieber, als mit mir zu kommen.« Er heulte los und war nicht mehr zu verstehen. Immer wieder murmelte er unsinnige Worte. Faron riss vor Panik die verstopften Augen auf, dann fasste er sich wieder. Er legte seinem Vater eine verkrüppelte Hand auf den Kopf, und die verzerrten Finger mit den überlangen Nägeln liebkosten sanft das Haar des Seneschalls. Das Geschöpf gab keinen Laut von sich, sondern hörte nur dem Zornesausbruch zu, der sogar den Dunst über dem grünen Teich zum Wirbeln brachte. Schließlich kam die Kreatur auf einen Gedanken. Ohne seine Tröstungen einzustellen, griff es unter den Wasserspiegel, tastete kurz umher und holte eine dunkelgrüne Schuppe und die Haarlocke heraus, die der Seneschall ihm vor langer Zeit für seine Wahrsagungen gegeben hatte. Unablässig streichelte Faron seinem Vater über den Kopf. Das Heulen des Seneschalls war inzwischen zu einem ruhigen Schluckauf übergegangen, während sein Sohn mit der Schale und der Haarlocke durch die blass-grünen Strömungen fuhr und sie schließlich hochhielt, um auf die eingeritzte Rune zu starren. Die umwölkten Augen blinzelten. Dann quiekte die Kreatur und klopfte ihrem Vater mit den arthritischen Gelenken auf die Schulter. Michael schaute niedergedrückt auf. »Was, Faron? Was ist los?« Der seltsame, verschlossene Mund des Geschöpfes wurde von einer scheußlichen Anspannung der Muskeln und des Hautgewebes um die Lippen verzerrt, und die schlaffe Gesichtshaut zuckte erregt. Es hielt die Schuppe hoch. »Was ist los?«, fragte der Seneschall erneut. Allmählich begriff er, was Faron ihm sagen wollte. Er ließ den Kopf seines Vaters lange genug los, um die brüchige Haarlocke aus dem Wasser zu fischen. Faron drehte sie zwischen den gekrümmten Fingern und hielt sie über die dunkelgrüne Schuppe, dann schüttelte er verzückt den Kopf. Der Seneschall nahm Farons Gesicht sanft zwischen die Hände. »Schaust du durch die Todesschuppe?« Faron nickte. »Und du siehst sie nicht?« Das Geschöpf nickte erneut. Erheiterung lag auf seinem missgestalteten Gesicht. Der Seneschall sah Faron eindringlich an. »Willst du damit sagen, dass ... sie ... noch lebt?« Faron wand sich vor Glück und nickte heftig. »Bist du sicher, Faron?« Faron nickte wieder. »Wo ist sie?« Das Mutantenkind schüttelte den Kopf. Die Augen des Seneschalls standen in Feuer, doch es gelang ihm, die Stimme ruhig zu halten, denn er wollte Faron nicht erschrecken. Er küsste ihn auf den Kopf zwischen Falten loser Haut und Büscheln weißen Haares. »Kannst du weiter für mich hellsehen, Faron? Versuche einen Hinweis zu finden, sieh dich in jeder Richtung um.« Das Geschöpf nickte und glitt wieder unter die Oberfläche des glimmernden Wassers. Der Seneschall sprang gestärkt auf die Beine und lief durch den pechschwarzen Laderaum. Halt. Nicht noch einmal. Die Stimme des Dämons, der während Michaels Elend respektvoll geschwiegen hatte, klang harsch. Du hast nachgesehen, sagte er; schwarzes Feuer knisterte in seiner Stimme. Du hast überall gesucht, deine Männer haben den Strand in der Dunkelheit und bei Licht durchgekämmt. Da war nichts. »Sie lebt«, gab der Seneschall zurück und ging auf die Treppe zu. »Wir müssen umkehren.« Genug von dieser Narretei. Wir kehren um – und zwar nach Argaut. Michael kicherte, als er über die Leiter an Deck kletterte. »Wie bitte? Und auf all die hübschen Brände verzichten?« Brände? »Ja«, sagte der Seneschall warmherzig, als er die Tür zur Oberwelt öffnete. »Jetzt werden sie erst richtig beginnen.« 35 Navarne Am Morgen des Tages, an dem Ashe nach Haguefort zurückgekehrt war, trieb der Rauch aus den Feuern an der Westküste erstmals über Navarne hinweg. Er hing dünn im Sommerhimmel, färbte ihn von einem klaren Blau zu dunstigem Grau und erfüllte den Wind mit dem widerlichen Geruch von Bäumen, die noch lebten, aber bald brennen würden. Der Geruch, der schon während des ganzen Tages Gerald Owens Nase verbrannte, reizte auch seine Augen. Er blinzelte in die graue Luft und sah die Reiter die Straße entlanggaloppieren. Sie trieben ihre Pferde zu heftig an, und ihre Rufe hatten ihr Kommen schon angekündigt, als sie noch eine halbe Meile entfernt gewesen waren. Ashe hatte nach dem Erhalt der schlimmen Nachricht vier Tage nicht geschlafen. Dass er überhaupt noch aufrecht auf einem Pferd sitzen konnte, erschien Owen wie ein Wunder. Der Herr der Cymrer hatte zweifellos an jeder Station entlang der Postroute gehalten und die Pferde gewechselt, und zweifellos spürte er den Ritt in den Beinen und dem Hinterteil, doch er hatte sicherlich nicht darauf geachtet und das Pferd noch die letzte halbe Meile gnadenlos angetrieben. Er wartete nicht, bis er abgestiegen war, sondern wollte sofort die Berichte hören. »Was ist geschehen?«, fragte er. Sein Gesicht war ausgezehrt, doch die Augen brannten vor Besorgnis. »Hat man sie gefunden?« Owen gab dem Stallmeister verstohlen das Zeichen, das Pferd fortzubringen, nachdem er dem cymrischen Herrscher aus dem Sattel geholfen hatte. »Nein, Herr. Euer Onkel und der Sergeant-Major erwarten Euch in der Großen Halle.« »Sergeant-Major? Was für ein S... Sergeant-Major?«, fragte Ashe brüsk und beachtete nicht einmal den Salut seiner Gardisten, als er an ihnen vorbeilief. »Äh, der Freund der cymrischen Herrscherin. Aus Ylorc, Herr«, sagte Owen und versuchte, mit Ashe Schritt zu halten. »Grunthor? Was macht er hier?« »Er war es, der Anborn zurück nach Haguefort brachte, Herr.« Ashe schüttelte den Kopf und eilte so schnell wie möglich in die Festung. In der Großen Halle fand er den General und den Sergeant-Major, die über eine Karte des westlichen Kontinents gebeugt saßen. Beim Anblick seines Onkels kochte die Wut über, die bereits hinter seinen Augen gebrodelt hatte. »Wo ist meine Frau?« Die Soldaten schauten auf zu ihm. »Wenn wir das wüssten, hätt ich nich’ nach dir geschickt, Herzbübchen«, sagte Grunthor schroff. »Werd bloß nicht verdrießlich. Bringt nix.« Asche blieb vor Anborn stehen. »Ich habe sie dir anvertraut, Onkel. Du hast geschworen, sie mit deinem Leben zu beschützen. Sie ist fort, aber du scheinst noch hier zu sein, es sei denn, du bist ein sehr kräftiger Geist. Was ist geschehen?« Anborn senkte den Blick. Grunthor runzelte die Stirn und stellte sich zwischen den Herrn der Cymrer und den General. »Ist mir klar, dass du sauer bist, Ashe«, sagte er gelassen, aber in eiskaltem Tonfall. »Da bist du nicht der Einzige, aber du bist der Einzige, der nicht durchs Feuer gegangen ist, um sie zu retten. Fang nicht an, dich wie deine Großeltern zu verhalten, denn sonst kannst du allein nach ihr suchen. Sag selbst – würde das Prinzesschen es wollen, dass du den General tyrannisierst? Er hat gute Arbeit geleistet, und zwar ohne deine Hilfe, vielen Dank.« Ashe atmete tief durch und sah Grunthor durchdringend an. Dann stieß er langsam die Luft aus und versuchte die steigende Wut des Drachen in seinem Blut zu besänftigen. Der Drache verspürte Panik angesichts des Verlustes und drohte Amok zu laufen. »Es tut mir Leid«, sagte er zu Anborn und bemerkte zum ersten Mal dessen frische Wunden und Verbände. »Ich weiß, dass du alles getan hast, was du konntest. Berichte mir, was geschehen ist.« Lange sagte der General nichts. Als er es schließlich doch tat, bemerkte Ashe, dass seine Stimme älter als je klang. »Wir waren kaum mehr als einen Tag vom Drachennest entfernt, als wir im Gwynwald nördlich des alten Außenpostens von Pennyg-Naral angegriffen wurden«, sagte er förmlich. »Es waren mindestens dreißig, und einige davon waren Meister an der Armbrust. Einer von ihnen hat Dorndreher getötet. Er war das erste Opfer, weil er in der Nachhut geritten ist.« Ashe seufzte. »Es tut mir Leid, Onkel.« Anborn machte eine heftige Handbewegung, als wolle er das Mitleid abwehren. »Sie hat sich gut verteidigt. Sie haben Rhapsodys Wachen überwältigt, ihren Wagen in Brand gesetzt und sie in die Ecke getrieben. Obwohl sie krank war, hat sie gekämpft. Ich hatte sie beinahe dort herausgeholt, als sie mich vom Pferd geschossen haben. Wegen meiner verdammten nutzlosen Beine gab es für sie danach kein Entkommen mehr. Sie wusste es und hat mit mir die Waffen getauscht, denn es wäre für den ganzen Kontinent furchtbar gewesen, wenn ihnen die Tagessternfanfare in die Hände gefallen wäre.« Ashe nickte; seine Augen glühten. Anborns Stimme wurde heiserer. »Sie hat mich geheilt und mir aufgetragen, ich soll euch beiden und den Kindern sagen, dass sie euch liebt. Dann hat sie etwas über mich gesprochen, was mich in den Schlaf geschickt und so lange den Eindruck erweckt hat, ich sei tot, bis sie endlich fort waren.« Er hustete, um den Hals frei zu bekommen. »Aber wir haben den Körper eines der Bogenschützen in Sicherheit gebracht. Alle anderen – unsere und ihre Männer sowie Dorndreher – sind in dem darauf folgenden Feuer zu Asche verbrannt. Der Mann, der sie entführt hat, ist im Besitz von Tysterisk, dem Elementarschwert der Luft. Ich bin mir sicher, auch wenn ich es nie zuvor gesehen habe. Er hat den Wind mit der Macht eines Gottes beherrscht. Er hat den ganzen nördlichen Wald in Brand gesetzt, Neffe. Der Fürbitter arbeitet möglicherweise immer noch daran, ihn zu löschen. Schade, dass sich dein Vater in den Äther zurückgezogen hat, um mit sich selbst zu spielen. Er hätte Regen herbeirufen oder die Flammen besänftigen können, bevor sie einen großen Teil des Kontinents verzehren.« Bei der Erwähnung Llaurons verdüsterte sich Ashes Blick. »Hast du gesehen, wohin sie gebracht worden ist?« »Nein, aber ich bin sicher, dass ihr Weg mitten ins Feuer geführt hat. Sie kamen von Westen, auch wenn wir zuerst von hinten, also von Osten angegriffen wurden. Ich bin der größte Narr der Welt, weil ich sie in eine solch einfache Falle haben laufen lassen.« »Blödsinn«, meinte Grunthor schroff. »Unser Feind war schlimm genug, auch wenn du ihm keinen Freischuss in den Hintern erlaubt hättest.« »Woher kamen sie?« »Keine Ahnung. Hab sie nicht erkannt, und ihre Tracht War fremd.« Ashe lief unruhig über den Steinboden der Großen Halle. »Dann haben sie sich vermutlich Richtung Meer auf den Weg gemacht, vielleicht nach Traeg oder Windswer oder sogar bis nach Port Fallon.« »Falls sie Rhapsody überhaupt zum Meer gebracht haben«, sagte Grunthor. »Wer weiß?« »Der Bogenschütze weiß es«, sagte Anborn eiskalt. »Deswegen haben wir seinen ekelhaften Leichnam mitgenommen. Wir müssen ihn zum Patriarchen nach Sepulvarta bringen. Er kann die Wahrheit aus der Leiche herauspressen, seinen Geist in die Gruft der Unterwelt jagen und alle Informationen von ihm bekommen. So heißt es jedenfalls.« Ashe blieb stehen und schaute zweifelnd drein. »Vielleicht sind das nur Märchen, Onkel«, sagte er unsicher. »Ich habe diesen Ring selbst getragen, wenn auch nicht als Patriarch, und erinnere mich an nichts dergleichen. Ich fürchte, das sind nur wilde Legenden und Wunschdenken.« Anborn schnaubte. »Vielleicht. Aber ich will die Reise trotzdem machen.« »Das weiß ich«, meinte der Herr der Cymrer und fuhr mit der Hand über die Rücken der Stühle, die unter den größten Fenstern am Ende der Halle standen und auf denen er und Rhapsody in den letzten drei Jahren jeden Monat während der Bitttage Eingaben entgegengenommen und Gesuche um Hilfe angehört hatten. »Aber du wirst nicht gehen, denn ich brauche dich hier.« Das Gesicht des Generals wurde zuerst bleich und nahm dann eine blass-purpurne Färbung an. »Es braucht mehr Männer, als du in deinem Heer hast, Neffe, um mich daran zu hindern, wo doch die Herrscherin, der ich den Treueid geschworen habe ...« »Anborn«, unterbrach Ashe ihn, in dessen Stimme die stille Autorität und der tiefere, bedrohlichere Ton des Drachen lagen, »ich stelle deine Bereitschaft dazu nicht in Frage und auch nicht deine Treue zu Rhapsody. Aber wir wissen noch sehr wenig über die Hintergründe dieser Tat. Zum Schutz Rhapsodys und zur Sicherheit des Kontinents ist es zwingend, dass wir keine Fehlentscheidungen treffen. Wir müssen Ruhe und Ordnung aufrechterhalten und alles Mögliche tun, um ihr Verschwinden zu verheimlichen. Sobald bekannt wird, dass man sie entführt hat, wird das Chaos ausbrechen. Der daraus folgende Aufruhr könnte ihre Rückkehr oder sogar ihr Leben gefährden.« Er wandte sich an Gerald Owen, der sich still zurückgezogen hatte und nun in respektvoller Aufmerksamkeit neben der Tür stand. »Wer außer den in diesem Raum Anwesenden weiß es in Haguefort noch?« »Nur der junge Gwydion, Herr.« Ashe dachte kurz nach und drehte sich dann wieder zu Anborn um. »Einer von uns muss sich um Rhapsodys Rückkehr kümmern, während der andere in Haguefort bleibt und ein wachsames Auge auf das Bündnis richtet, für Ordnung sorgt und die ganze Sache geheim hält. Können wir darin übereinkommen, dass ich gehe und du hier bleibst?« Anborn schaute ihn böse an. Die Drachenhaften Pupillen in Ashes Augen dehnten sich ganz leicht, doch ansonsten zeigte er keine Regung. Schließlich nickte der General und schaute auf den Boden. Plötzlich wirkte sein Gesicht viel älter. Ashe wandte sich an Grunthor. »Willst du mich nach Sepulvarta begleiten, Sergeant?« »Jawoll«, sagte Grunthor. »Und Seine Majestät wird uns hier treffen, hab ihm das in der Botschaft gesagt, die ich ihm mit ’nem Vogel geschickt hab.« Ashe seufzte auf. »Gut«, sagte er erleichtert. »Achmed kann ihren Herzschlag aufspüren. Auch wenn ich es nicht gern sage, ist er doch unsere größte Hoffnung, sie jetzt noch zu finden.« Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Anborn. »Grunthor, willst du uns bitte entschuldigen? Owen, bitte lass ein weiteres Pferd ausrüsten; es soll in zehn Minuten fertig sein. Und kümmere dich bitte um Proviant für Sergeant-Major Grunthor.« »Ja, Herr.« Der Kammerherr wartete respektvoll darauf, dass Grunthor die Halle verließ, und folgte ihm, wobei er die schwere Tür hinter sich schloss. Ashe ging langsam hinüber zum Stuhl seines Onkels, der aus dem Fenster schaute. Schweigend stand er dort eine Weile und betrachtete das Gesicht des alten Cymrers und die Schatten, die darüberhuschten. »Ich weiß, welches Opfer du bringst, indem du auf meine Bitte hin hier bleibst«, sagte er schließlich. »Ich weiß aber auch, dass Roland und der Rest des Bündnisses in deinen Händen sicher sind.« Anborn erwiderte nichts darauf und starrte weiterhin aus dem hohen Fenster. »Ich weiß ferner, dass sie auf der ganzen Welt keinen besseren Freund als dich hat, Onkel«, fügte Ashe ruhig hinzu. »Wenn sie zu retten gewesen wäre, hättest du es getan.« »Geh hinaus«, sagte Anborn nur. Ashe wartete noch einen Moment, dann drehte er sich um und verließ die Große Halle. Als er an der großen Treppe in der Eingangshalle vorbeikam, sah er, dass Gwydion Navarne auf den Stufen wartete. Seine Schultern waren breit, doch das Gesicht leichenblass. Ashe bedeutete dem Jungen, ihm zu folgen. Als sie die Festungstore erreicht hatten, schlenderte Ashe an den Wachen vorbei und blieb auf dem obersten Absatz der Treppe stehen, welche zu der Straße hinunterführte, auf der sich Rhapsody erst vor wenigen Wochen zunächst geweigert hatte, den Wagen zu betreten, den er für ihre Reise nach Yarim bereitgestellt hatte. Er schloss die Augen und erinnerte sich an den Ausdruck gespielten Entsetzens auf ihrem Gesicht. Er versuchte, dieses Bild für immer in sein Gedächtnis zu brennen. »Ich werde sie zurückbringen, Gwydion.« Der Junge seufzte, sagte aber nichts. Ashe drehte sich um und sah ihn nachdenklich an. »Du hast diese Worte schon einmal gehört, nicht wahr?« Gwydion nickte. »Mein Vater hat sie gesagt, als er zu der Stelle geritten ist, wo der Wagen meiner Mutter...« »Ich weiß.« »Wirklich?«, fragte der Junge sarkastisch. Seine Stimme wurde vor kaum verhüllter Hysterie schrill. »Weißt du es, Ashe? Weißt du, dass sie von den Lirin angegriffen wurde? Von unseren Freunden, unseren Nachbarn, einem Volk, das mein Vater geliebt und dem er vertraut hat? Das er als seine Freunde angesehen hat ... Weißt du, dass sie ihr den Kopf abgeschnitten haben? Dass sie noch immer an ihrem Hals sägten, selbst als die Soldaten meines Vaters sie nacheinander erschossen haben? Dass sie noch immer Mellys Kinderschuhe in der Hand hielt, selbst als ...« Er verstummte und brach zusammen. Ashe fing ihn auf und nahm ihn in den Arm. »Niemand hat absichtlich gelogen.« Gwydion Navarne keuchte und vergrub das Gesicht an der Schulter seines Beschützers. »Meine Mutter wusste nicht, dass sie nie wieder nach Hause kommen würde, als sie mir sagte, wir würden uns bald wiedersehen. Mein Vater wusste nicht, dass er sie nicht zurückbringen konnte – außer in Stücken. Rhapsody wusste nicht, dass sie nicht zurückkehren würde, um mir zuzusehen, wie ich auf einem Turnier mit den Albatrospfeilen schieße, die sie mir aus Yarim mitgebracht hat. Und auch du kannst mir keine Versprechungen machen. Alle gehen. Und niemand kommt je zurück. Sag mir also nicht, dass du es weißt. Du weißt nichts.« Ashe drückte seine Schultern, machte sich dann von ihm frei und schaute hinunter auf das tränennasse Gesicht des Jungen. »Ich kenne deine Großmutter«, sagte er und lächelte leicht. »Ich weiß, dass sie mit allem kämpfen wird, was sie hat, um zu uns zurückzukommen. Ich weiß, dass sie nun sogar einen noch besseren Grund hat, nämlich das Kind, das sie zu beschützen und für das sie zu leben hat. Anstatt dir ein Versprechen zu geben, das du mir nicht abnimmst, möchte ich dich bitten, mir eines zu geben.« Gwydion Navarne nickte schwach. »Stehe Anborn bei«, sagte Ashe und bemerkte gleichzeitig, dass der Quartiermeister mit der Ausrüstung der Pferde beinahe fertig war. »Bleibe bei ihm und halte ihn bei Laune. Hilf ihm bei allem, was nötig ist, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, solange ich weg bin. Er hat eine schwierige Aufgabe vor sich. Hilf ihm dabei.« »Das werde ich.« Zum ersten Mal seit seiner Heimkehr gelang Ashe ein melancholisches Lächeln. »Er mag dich sehr, Gwydion, und ich weiß, dass du ihn auch gern hast.« »Ja«, sagte der Junge. »Das stimmt.« »Pflege diese Verbindung zwischen euch beiden«, sagte der Herr der Cymrer. »Sie ist etwas Wertvolles, das ich mir immer von Herzen gewünscht habe, das aber nie eingetreten ist. Ich bin froh, dass er wenigstens in der Lage ist, diese Gefühle mit dir zu teilen. Er ist ein großer Mann.« Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Eine gewaltige Nervensäge, aber ein großer Mann.« Gwydion Navarne gab sein Lächeln nicht zurück. »Was ich von dir erbitte, ist Männersache«, sagte Ashe und bedeutete Grunthor, der reisefertig neben dem Quartiermeister stand, dass auch er zum Aufbruch bereit war. »Aber dem bist du gewachsen. Du bist schon seit langer Zeit ein Mann, auch wenn du das noch nicht mit einem Bart beweisen kannst.« Er strich über Gwydions Arm, drehte sich um und lief die Treppe hinunter. Gwydion sah den beiden Männern nach, bis sie im Osten unter der aufgehenden Sonne außer Sichtweite geritten waren. Dann brach er in bittere Tränen aus, die wie Säure brannten. 36 Sepulvarta Die Reise nach Sepulvarta dauerte von Haguefort aus unter normalen Umständen zu Pferde etwa sechs Tage, wenn man die Rastzeiten gering hielt. Ashe und Grunthor war das zu lang. Sie verzichteten auf jegliche Truppenbegleitung und verließen sich auf ihre angeborene oder erworbene Fähigkeit, lange ohne Schlaf auszukommen, sowie auf die gut ausgebaute Poststraße, an der man alle achtzig Meilen frische Pferde haben konnte. Grunthor hatte sich nur sehr ungern von Felssturz getrennt. Der andauernde Pferdewechsel bedeutete, dass man keine eigenen Tiere reiten konnte. Also hatte er sich für das schwerste Kriegspferd in Hagueforts Stallungen entschieden, eine Mähre mit Lastpferdblut, und sich bei ihr bereits vorab entschuldigt, während der Quartiermeister sie bepackte. »Armes altes Mädchen«, sagte er und betrachtete die schweren Fesselgelenke und starken Flanken. »Ich werde dich und all die anderen Pferde ganz schön quälen. Wirst froh sein, wenn ich am Abend von dir runtersteige.« Er streichelte Schulter und Hals des Tieres. »Hmm. Hab dasselbe zu der alten Brenda im Vergnügungspalast gesagt.« Die heilige Stadt, manchmal auch Zitadelle des Sterns genannt, lag im Südosten. Sie war ein winziger, vom Land umschlossener unabhängiger Stadtstaat, der an Roland, Sorbold und Tyrian grenzte. Die Religion des Patriarchen, die allgemein als patriarchalischer Glaube von Sepulvarta bekannt war, hatte Anhänger in allen drei Nachbarstaaten, doch während in Roland die Patriarchalier überwogen und auch Sorbold zu den Gläubigen gezählt werden konnte, war die große Mehrheit der lirinischen Einwohner Tyrians Anhänger des Fürbitters und der Filiden, der Naturpriester des Gwynwaldes. Zwei Tage vor Sepulvarta bemerkten Ashe und Grunthor das hohe Minarett, das als »der Turm« bekannt war. Es handelte sich um ein schlankes Bauwerk, eine der größten architektonischen Errungenschaften der cymrischen Ära, entworfen und erbaut von einem Vorfahren Stephen Navarnes. Am Fuß breit wie eine ganze Stadtstraße, lief es tausend Fuß über dem Boden in einer Nadelspitze aus, die mit einem silbernen Stern bekrönt war, dem Symbol des Patriarchats. Es hieß, dass die Spitze ein Stück reinen elementaren Äthers aus einem gefallenen Stern enthielt, der nun hoch oben über dem Turm strahlte und die Basilika darunter mit dem mächtigsten der fünf Elemente weihte, das überdies den Weg in die Stadt beleuchtete. Der Turm glänzte in der klaren, abendlichen Sommerluft wie ein Stern, der an die Erde gebunden war. Am Morgen des fünften Reisetages erreichten die beiden Männer die Außenbezirke der heiligen Stadt. Sie hatten den größten Teil des Weges zwischen den Pferdewechseln querfeldein zurückgelegt, doch nun nahmen sie die nord-südliche Straße, die zum einzigen Eingang der mit hohen Mauern versehenen Stadt führte. Grunthor stieg widerstrebend ab, als sie die Straße beinahe erreicht hatten, und schüttelte den Kopf beim Anblick der Menschenmassen, die auf ihr reisten. Es waren Pilger und Bettler, Kaufleute und Geistliche, die von und nach Sepulvarta unterwegs waren. »Die ganze Zeit, die wir gespart haben, geht uns wieder verloren, wenn wir das nicht umgehen«, brummte er zu Ashe, der gerade die beiden Packpferde fütterte, die sie mitgenommen hatten und von denen eines den Leichnam des Bogenschützen trug. In den letzten Tagen hatten Erscheinung und Benehmen des cymrischen Herrschers gelitten. Sorgenfalten hatten sich um die Augen gegraben, und Haar und Gesicht, ungekämmt und unrasiert, waren nun wieder hinter dem Nebelmantel verborgen, den er so viele Jahre lang getragen hatte, als er ein Gejagter gewesen war. »Was schlägst du vor?«, fragte er verbittert und mit geteilter Enttäuschung in der Stimme. Der Sergeant dachte kurz über diese Frage nach. Dann deutete er mit dem Kopf auf die Pferde. »Wir binden sie am nächsten Pfahl fest, an dem wir vorbeikommen«, sagte der Riese. Eine halbe Meile später kamen sie zu den Hütten der Postkarawane, wo der Konvoi lagerte, Botschaften und Vorräte entgegennahm und die Wachen wechselte. Ashe zeigte auf die schweren Metallstäbe vor den Hütten. »Sind die in Ordnung?« »Jawoll.« Die beiden Männer banden die Tiere an. Ashe deutete auf die Quelle. »Ich hole Wasser.« »In Ordnung«, meinte Grunthor und beschirmte die Augen, während er beobachtete, wie die noch immer anwachsende Menge der Reisenden die Straße in die heilige Stadt verstopfte. Sobald sich die Männer und die Pferde erfrischt hatten, machte sich Ashe daran, die Tiere abzuladen. »Warte«, riet Grunthor ihm. »Warum?«, fragte Ashe. »Willst du schneller da sein?« »Ja.« »Dann halt dir die Ohren zu, Söhnchen.« Ashe öffnete den Mund und wollte fragen, was Grunthor vorhatte, doch bevor er dazu kam, warf der Bolg-Riese den Kopf zurück und schrie. Es war ein ohrenbetäubender und die Eingeweide zerfetzender Schrei, der Panik bei Mensch und Tier verursachte. Ashe hatte vergessen, dass Rhapsody ihm diesen Schrei einmal beschrieben hatte, den Grunthor immer dann anwendete, wenn es nötig wurde. Die wirbelnde Masse der Reisenden geriet in Panik, die Pferde bäumten sich auf, sprangen von der Straße und schössen auf die Felder der Umgebung. »Jetzt können wir uns auf den Weg machen«, sagte Grunthor und band die Zügel wieder los. Sie hatten das Stadttor schnell erreicht und ritten an der verwirrten Menge vorbei in Sepulvarta ein. Das Haus des Patriarchen war nicht schwer zu finden. Sie waren beide schon in der Basilika, der gewaltigen Kathedrale gewesen, die den Mittelpunkt des hiesigen Glaubens bildete. Das Gebäude, in dem das Oberhaupt der Kirche residierte, war auf einem Hügel in der Nähe der Stadtmauer an die Basilika angebaut. Es war ein wunderschönes Bauwerk aus Marmor, dessen gravierte Messingtüren von Soldaten in hellen Uniformen bewacht wurden. Die beiden Männer näherten sich den Wachen und wurden sofort mit den Speerspitzen zurückgedrängt. »Was ist euer Begehr?« Ashe dachte kurz nach. Die Nachricht, dass der Herr der Cymrer in Sepulvarta sei, könnte sie und auch Rhapsody gefährden, wenn es sich herumsprach. Er wusste, wie schnell sich Geheimnisse im Wind verbreiteten. »Sagt dem Patriarchen bitte, dass der Mann, der mit ihm auf dem Weg zum cymrischen Konzil vor drei Jahren zu Abend gegessen hat, nun um eine Audienz bittet.« Die Wachen tauschten einen belustigten Blick aus und lachten. Auch die Reisenden sahen einander an. Grunthor rollte mit den Schultern, als wolle er einen Krampf abschütteln. Ashe sah, dass er etwas aus dem massiven Gurt entfernte, den er über den Rücken geschlungen trug und der große Teile seiner hoch geschätzten Waffensammlung enthielt. Die Wachen lachten noch immer, als der große Ochsenziemer knallte und sich ihnen um die Kehle und die Pfeilspitzen wickelte. Er zurrte sie zusammen und fesselte sie mit seinem Lederband. Unter Anspannung seiner gesamten Bolg-Muskeln zerrte der Sergeant die beiden gefangenen Wachen zu sich heran und starrte auf sie herunter. »Vielleicht habt ihr meinen Freund nicht ganz verstanden. Er hat bitte gesagt.« »Wie üblich bist du ein Muster an Feinfühligkeit«, meinte Ashe. Gelassen sagte er zu den gefesselten Wachen: »Ist Gregor noch der Küster des Patriarchen?« Die Wachen sahen ihn über die Peitsche hinweg an, die ihnen die Kehle abschnürte. »Ja«, röchelte einer der beiden. Ashe ergriff das Ende des Ochsenziemers und band einen der Wachmänner los. Als dieser nach seinem Messer griff, packte Ashe ihn am Handgelenk und zog ihn zu sich heran. In höflichem Tonfall sagte er: »Frage den Küster ganz freundlich, ob er gewillt ist, zwei müde Reisende zu empfangen, von denen einer deinen Gefährten töten und verspeisen wird, wenn du nicht sofort mit Gregor zurückkehrst.« Er drückte den Soldaten auf die Tür des Hauses zu. »Na, das war aber feinfühlig«, bemerkte Grunthor, als der Soldat losrannte. »Danke für die Lektion, Ashe. Auch wenn ich zugeben muss, dass es mir nicht gefällt, von dir zu hören, wen ich essen darf und wen nicht.« Er schaute den Wächter wie einen leckeren Braten an. »Ich steh eher auf Lirin.« »Wer redet denn von dir?«, sagte Ashe verdrießlich. Er behielt die Tür im Auge und wartete auf die Rückkehr des Wächters. »Ich bin nicht nur ungeduldig, ich bin auch hungrig.« Einen Augenblick später schwangen die reich verzierten Messingtüren auf, und ein großer, dünner Mann mittleren Alters trat heraus. »Gwydion?« Ashe und Grunthor sahen einander erstaunt an. »Ja?« »Bitte kommt mit. Beide.« Grunthor ging hinüber zum Packpferd und band den Leichnam des Bogenschützen los. »Bin mir sicher, sie hätten dich auch eingeladen, wenn sie gewusst hätten, wer du bist«, sagte er tröstend zu dem eingewickelten Leichnam und warf ihn sich über die Schulter. Der Küster führte sie in das Rektorat. Die Sonnenhitze verschwand in dem Augenblick, in dem sie das Gebäude betraten. Die wenigen Fenster und die Marmorwände schlössen das Licht völlig aus, und das Innere des schönen Gebäudes wirkte dunkel und trostlos. Schwere Gobelins hingen an den Wänden, und fein gearbeitete Kerzenleuchter aus Messing trugen große Wachszylinder, die das einzige Licht spendeten. Der durchdringende Weihrauchduft konnte den scharfen Geruch von Schimmel und abgestandener Luft kaum übertünchen, und der Gestank der Leiche, die sie bei sich trugen, machte alles nur noch schlimmer. Der Küster führte sie durch lange Korridore und an fahlen Männern in geistlichen Gewändern vorbei und hielt schließlich vor einer großen, beschnitzten Tür aus schwarzem Wal-nussholz an. Er öffnete sie und bedeutete den beiden Männern einzutreten. In dem nur spärlich möblierten Versammlungszimmer, in dessen Boden zwischen zwei gewaltigen, erkalteten Räucherpfannen ein großer vergoldeter Stern eingelassen war, standen zwei Männer neben einem schweren Walnusstisch am oberen Ende einer kleinen Treppe. Der größere von beiden war der Patriarch von Sepulvarta, dessen muskulöse Schultern unter der silbernen Robe von Sorgen niedergedrückt zu sein schienen. Der andere war der Bolg-König. »Tut mir Leid, ich bin selbst gerade erst angekommen«, sagte Achmed zu Grunthor, als die beiden Männer das Zimmer betraten. Der Küster schloss die Tür hinter ihnen. »Hatte noch keine Gelegenheit, den Wachen zu sagen, dass du kommst.« »Nix passiert«, sagte Grunthor, als er den König und den Patriarchen begrüßte. »Ashe hat einen ausgesucht, den er töten und auf der Straße zum Abendessen verspeisen wollte. Wäre ganz lustig geworden.« Ashes Gesicht hatte jegliche Fassung verloren. Er starrte Achmed an. Grauen lag tief in seinen Augen; er traute sich kaum zu sprechen. »Hast du ihren Herzschlag gehört?«, fragte er nervös. Der Dhrakier schüttelte den Kopf. »0 Götter«, flüsterte Ashe mit brechender Stimme. Der Patriarch seufzte und deutete auf den Tisch. »Setzt Euch«, sagte er zu den drei Männern. »Ihr seid weit gereist und müde an Körper und Geist. Sagt mir, was ich für Euch tun kann.« Er betrachtete den Leichnam auf Grunthors Rücken. »Legt ihn auf den Tisch.« »Meine Frau ist außer Reichweite meiner Sinne geraten, Constantin«, sagte Ashe, während er sich auf den schweren Walnussstuhl setzte. »Sie wurde vor elf Tagen tief im Gwynwald in ihrem Wagen angegriffen. Es gibt keine Spur von ihr, und bevor ich die vereinigten Heere des Bündnisses losschicke, damit sie das Land durchkämmen, möchte ich mich an Euch wenden und den Spruch des Ringes der Weisheit hören. Ich fürchte, es könnte ihre Sicherheit gefährden, wenn ich die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihr Verschwinden lenke, doch mit jedem Tag, der vergeht und an dem es kein Zeichen von ihr gibt, fürchte ich die Tatenlosigkeit mehr.« Der Patriarch nickte; seine Stirn legte sich vor Besorgnis in Falten. »Wer ist das?«, fragte er und deutete auf den Leichnam. »Ein Zeuge, den Grunthor aus dem brennenden Wald geholt hat. Anscheinend ein Bogenschütze. Er hat Dorndreher getötet, Anborns Leibsoldaten. Er befand sich in der Gesellschaft des Bastards, der die Falle für Rhapsody aufgestellt hatte. Anborn vermutet, dass dieser Unbekannte im Besitz eines alten Schwertes ist, das als Tysterisk bekannt ist. Seine Klinge ist durchtränkt vom reinen Element der Luft. Wie Kirsdarke, das Schwert, das ich trage und das dem Element des Wassers angehört, und die Tagessternfanfare, Rhapsodys Waffe des Sternenlichts und des reinen Feuers, ist Tysterisk eine Legende aus der alten Welt, die aber auf diesem Kontinent nicht geschichtlich belegt ist. Wenn dieser Mann wirklich im Besitz Tysterisks ist, muss er irgendwo anders drangekommen sein. Er ist kein Cymrer, denn dann würde ich ihn kennen.« »Jemand kann doch von der Insel stammen und kein Cymrer sein, oder?«, fragte der Patriarch und schaute auf den eingewickelten Leichnam. Achmed und Ashe tauschten einen raschen Blick aus. »Vermutlich«, sagte Ashe nach kurzem Zögern. »Aber all jene aus Serendair, die nicht mit Gwylliam geflohen sind, genießen nicht die Unsterblichkeit der Cymrer. Sie sind zu näher gelegenen Orten ausgewandert und haben nicht wie die cymrischen Flotten den Nullmeridian überquert. Sie haben ihre normale Lebensspanne gehabt, zumindest steht es so in den historischen Texten. Das Schwert könnte die Insel zusammen mit einem Flüchtling verlassen haben und dann weitergegeben worden oder verloren gegangen sein, so wie es bei der Tagessternfanfare war, bevor Rhapsody sie entdeckte.« Der Patriarch stand auf. »Wir werden sehen.« Auch die anderen drei Männer erhoben sich, während der heilige Mann vorsichtig die Kordel entfernte, die das Tuch um den Leichnam hielt. Als die Leinwand fortgezogen wurde, war der Verwesungsgestank stark, aber nicht so stark, wie er hätte sein können. Der Leichnam war im Rauch des brennenden Waldes wie Schinken oder Fisch geräuchert worden und das Fleisch bis zu den Knochen getrocknet. In der furchtbaren Hitze waren die meisten Körpersäfte verdampft. »Er ist mit offenen Augen gestorben«, sagte der Patriarch wie zu sich selbst. »Gut. Er wird mehr gesehen haben.« Plötzlich schaute er auf, als habe er den Geruch von Feuer im Wind erschnuppert, doch dann beugte er sich über den verwesenden Leichnam, sog tief die Luft ein und schloss die Augen. Er wiederholte diesen Vorgang, während die anderen Männer einander anschauten. Als er die Augen wieder aufschlug, hatten sie sich verengt. »Könnt Ihr es riechen?«, fragte er leise. »Was?«, wollte Achmed wissen. Der Patriarch fuhr mit der Hand über die Leiche, als wolle er unsichtbare Luftströmungen vertreiben. »Es ist da, schwach, aber eindeutig. Der Gestank. F’dor.« Einen Moment lang herrschte Schweigen im Versammlungsraum. Ashe war bei diesem Wort erzittert. Er sprach als Erster. »Nein, Euer Gnaden«, sagte er schleppend. Der Patriarch wandte sich von ihm ab und schaute Achmed an, dessen Körper sich fast unmerklich angespannt hatte. »Neunzehn Jahre lang war mein Blut mit diesem Makel befleckt«, erklärte er. In seiner tiefen Stimme lag Gewissheit. »Ich erkenne den Gestank in jeder Form. Irgendwann ist dieser Mann von einem Dämonengeist berührt worden. Er war vermutlich kein Wirt, sondern stand nur unter dem Bann des F’dor.« »Also streift noch ein lebender F’dor durch den Kontinent«, sagte Achmed. Er versuchte, diese Worte zu verinnerlichen und die ihm im Blut liegende Raserei zu besänftigen. Der Hass auf den F’dor steckte jedem Dhrakier wie Nadeln in den Adern. »Seid Ihr Euch dessen sicher?« »Ja. Zumindest gab es einen F’dor hier. Wo er sich augenblicklich aufhält, ist unbekannt, bis wir mit diesem Mann sprechen.« Achmed wandte sich an Grunthor. »Geh zurück nach Ylorc«, sagte er knapp. »Bewache das Kind.« Der Sergeant nickte und drehte sich zur Tür, doch die große, grobe Hand des Patriarchen packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Warte noch, Sergeant«, sagte Constantin sanft. »Vielleicht brauche ich dich noch, bis wir alles gehört haben, was wir hören wollen. Danach kannst du gehen.« »Stimmt es«, fragte Ashe verzweifelt und versuchte das Bild von Rhapsody in den Fängen eines solchen Dämons zu unterdrücken, »dass Ihr in das Reich zwischen Leben und Tod blicken könnt?« Der Patriarch gab darauf keine Antwort, sondern fuhr mit der Hand über das sich zersetzende Fleisch und dachte nach. »Könnt Ihr mit den Geistern der Toten reden, Euer Gnaden?«, fragte Ashe erneut, diesmal fordernder. »Nein«, antwortete Constantin. »Ich kann nicht mit dem Geist eines Toten reden, sondern eher mit seinem Blut.« Während er sprach, schaute er zu Achmed hinüber. »Ich nehme an, Ihr wisst, dass ich noch vor einigen Jahren, gerechnet im Zeitmaß dieser Welt, einer der Gladiatoren in der Arena von Sorbold war«, sagte er. Seine donnernde Stimme war nun sanfter geworden. »Es war Rhapsody, die mich aus diesem Leben befreit und hinter den Schleier des Hoen gebracht hat, an den Ort zwischen Leben und Tod, den Ihr erwähnt habt, Gwydion – das Reich des Herrn und der Herrin Rowan. Ich weiß, dass auch Ihr in der Stunde höchster Not diesen Ort besucht habt, aber Ihr seid gegangen, als Ihr geheilt wart. Ich bin freiwillig länger dort geblieben. Wenn meine Mutter nicht cymrischer Abstammung gewesen wäre, würde ich jetzt bestimmt nicht mehr leben. Ich bin jahrhundertelang an diesem schläfrigen Ort der Heilung und Weisheit geblieben, älter geworden, alt geworden, obwohl auf dieser Seite des Schleiers nur wenige Monate vergingen. Vieles, was ich über Blut und Heilen gelernt habe, habe ich an jenem Ort gelernt. Doch nicht alles. Einiges habe ich auch in der Arena gelernt. Ich bin mit einer besonderen Verbindung zum Blut geboren worden. In meiner Jugend machte mich diese Verbindung zu einem geschickten und gnadenlosen Mörder. Nun, im Alter, benutze ich diese Gabe zum Heilen, zum Schutz des Blutes, nicht zu seinem Vergießen.« Er fuhr mit dem Finger vorsichtig über die Wunden im Körper des Bogenschützen. »In der Arena hörte ich das Blut singend den Tod meiner Gegner ankündigen. Manchmal erzählte es eine Geschichte, manchmal nicht. Vermutlich war es nicht der Beifall der Menge, sondern dieses Band, das mich antrieb. Es ist schon so lange her; ich weiß es nicht mehr genau.« Er strich erneut über den Leichnam. »Dieser Mann ist ziemlich tot. Falls überhaupt, hat er nur noch sehr wenig Leben in seinem Blut. Vielleicht ist es nicht mehr als ein Summen oder Wispern, das ich aufspüren kann. Aber ich werde versuchen, es für Rhapsody zu finden, wenn Ihr das wünscht. Und ich werde versuchen, alle möglichen Hinweise auf die Herkunft und Absichten des Herrn dieses Schützen herauszufinden. Die Toten wissen mehr als die Lebenden, aber es ist nicht leicht, ihnen zuzuhören, wenn sie ihr Wissen mitteilen.« Die drei Männer nickten stumm. Der Patriarch entschuldigte sich und kehrte kurze Zeit später in einer weißen Robe zurück, die er gegen seine silberne eingetauscht hatte. Er trug ein Kultgerät in Tränenform, das als Lacrimatorium bekannt war, ferner ein Kanopengefäß, eine Urne, in der man die Asche der Toten beisetzte, sowie ein Räucherfass für Weihrauch. Gefolgt wurde er von zwei Messdienern, die weiße Leinentücher in den Händen hielten. Diese breiteten sie auf dem Tisch unter dem Leichnam aus. »Was immer dieser Mann in seinem Leben getan hat, so hat er doch Anspruch auf dieselben Totenrituale wie jeder andere, der unter meinem Dach Beistand sucht«, sagte er. In seiner tiefen Stimme lag die eindeutige Weigerung, über dieses Thema zu streiten. Er wartete, bis die Diener die Räucherpfannen entzündet hatten, und bedeutete ihnen dann zu gehen. Sie schlössen die Tür hinter sich. Als Stille in den Raum eingekehrt war, stellte der Patriarch das brennende Räucherfass auf den Tisch und entkorkte eine Kristallampulle, die ihm an einer Kette um den Hals hing. Es war eine kleine, geschliffene Phiole, die eine blutrote Flüssigkeit enthielt. Er rieb sich Augen und Ohren mit dem Inhalt der Phiole ein und verteilte ein wenig von ihr über dem Herzen der Leiche. Dann machte er das heilige Zeichen auf seinen eigenen Lippen. »Du wirst mir sagen, wer die Frau entführt hat«, sagte er. Seine tiefe Stimme hatte den Klang eines Benenners oder eines Königs. Danach öffnete er das Lacrimatorium und träufelte mit größter Vorsicht einen Tropfen der Flüssigkeit in die verwesenden Augenhöhlen der Leiche, wobei er ein leises Lied sang. Die Flüssigkeit in dem Lacrimatorium gab einen Laut von sich, der vertraut auf Achmeds Haut summte. Nach einem Moment erkannte er ihn als die Tränen des Ozeans, das lebende Wasser aus dem Meer. Er besaß selbst einen solchen Tropfen in einem Schutzbehälter, versteckt in den Tiefen des Loritoriums, wo das Erdenkind schlummerte. Der Körper auf den Leinentüchern schien ein wenig anzuschwellen. Er sog die Flüssigkeit auf. Der Patriarch teilte seine Robe in Hüfthöhe. Aus einem Gürtel nahm er zwei Werkzeuge. Eines sah aus wie eine Polierrolle, und das andere war ein gekrümmtes Zeremonienmesser mit einer Platinklinge. Während die drei Männer zuschauten, schnitt Constantin mit festem Griff die Brust des Kadavers auf. Er zuckte nicht einmal zurück, als eine schwarze, zähe Flüssigkeit herausquoll und ihm die Hände benetzte. Er sägte die gesamte Brust des toten Mannes auf, schnitt durch Knochen und fast trockene Eingeweide und wischte die blutige Klinge sowie die Hände am Rande des Kanopengefäßes ab, wobei er jeden Tropfen auffing. Dann legte er das Messer über die Beine des Toten, nahm die Rolle und drückte mit ihr gegen die Brust. So presste er Blutstropfen nach Blutstropfen aus dem steifen Fleisch. Bei der Arbeit des Patriarchen verging erst eine Stunde, dann eine weitere. Immer mehr Blut träufelte er in das Kanopengefäß. Als er so viel gesammelt hatte, dass es gerade den Boden des Topfes bedeckte, hielt er ihn ans Ohr und lauschte. Kein Geräusch war in dem höhlenartigen Raum zu hören. Alle Männer hielten den Atem an, um den Patriarchen nicht abzulenken. Schließlich schaute Constantin auf. »Es ist nur sehr wenig von der Seele dieses Mannes übrig geblieben«, sagte er ruhig und ehrerbietig. In seinen blauen Augen glitzerte es heftig. »Er hatte in seinem Leben nur eine Verbindung zu einem einzigen Herzen, das mit dem seinen im Gleichklang schlug. Dieser Mann war ein Zwilling. Kein normaler Zwilling, sondern ein Herzenszwilling, dessen Physiologie mit der seines Bruders so ähnlich war, dass sie denselben Puls hatten. Es ist dieses zerbrechliche Band, dünner als ein Spinnwebfaden, das einen winzigen Teil seiner Seele noch an diese Welt bindet. Wenn es diese Verbindung nicht gäbe, wäre er außerhalb unserer Reichweite im Nachleben oder wahrscheinlicher in der Gruft der Unterwelt.« Achmed und Grunthor nickten, während Ashe reglos zuhörte. Er war unter der Anstrengung, ruhig zu bleiben, grau geworden. »In den geklumpten Überresten des Blutes dieses Mannes kann ich nur ein einziges Wort hören.« »Was ist das für ein Wort?«, fragte Ashe nervös. »Seneschall«, antwortete der Patriarch. »Seneschall?«, wiederholte der Herr der Cymrer. »Wie ein Regent oder der Schutzherr einer Burg?« Der Patriarch zuckte die Achseln. »Manchmal bezeichnet es auch einen Richter oder jemanden, der von einem Herrscher mit der Oberaufsicht über das Gerichtswesen beauftragt ist«, erklärte er. »Gibt es so jemanden innerhalb des Bündnisses?« »Nein«, sagte Ashe. »Für kurze Zeit war Tristan Steward Seneschall des Hauses der Erinnerung, doch das gibt es nicht mehr. Es ist zu Asche verbrannt und wird gerade wieder aufgebaut.« Der Patriarch hielt die Hand hoch. »Psst«, sagte er plötzlich. »Da ist ein noch schwächeres Flüstern; vielleicht etwas, das nicht er selbst, sondern sein Zwillingsbruder gehört hat.« Die drei Männer hielten wieder den Atem an. Aus der Tiefe der zerschnittenen Brust des verwesenden Leichnams stieg ein winziger Dunst auf, wie eine schwache Rauchwolke. Die Worte waren so leise, dass sie fast unhörbar waren, doch sie wurden von einer Frau gesprochen – von einer Stimme, die sie alle kannten. Bleib mir vom Leib, Michael. Ich sterbe vielleicht, aber ich werde dich mitnehmen. »Michael?«, fragte Ashe. »Ich kenne niemanden namens Michael.« Er wandte sich an die Bolg, die einander ansahen. In ihren Blicken lag schierer Unglaube. Der Patriarch hob die Hand und bat um Stille. Er nahm die Rolle, legte sie wieder an und presste weiteres Blut aus dem Toten. Wie ein Seufzen kamen die unendlich fernen, zerbrechlichen Worte hervor. Vielleicht nicht in aller Öffentlichkeit, Michael, Wind des Todes‹. »Hrekin«, fluchte Grunthor leise. »Wind des Todes?«, fragte Ashe. Entsetzen stieg in ihm auf. »Ist das nicht der furchtbare Soldat, dem sie in der alten Welt zu entkommen versuchte, als ihr beide ...« »Ja«, sagte Achmed bündig. »Und er hat sie in seiner Gewalt?« »Anscheinend«, meinte der Dhrakier mit frostiger Stimme. Er wandte sich an den Patriarchen, dessen weiße Robe nun mit dunklem Blut bespritzt war. »Wo? Frag ihn nach dem Ort.« Die Männer warteten in ängstlichem Schweigen, als der Patriarch die Frage stellte. Er hielt das Kanopengefäß ans Ohr, doch die Stimme des Blutes war so schwach geworden, dass er sie nicht mehr verstehen konnte. Schließlich schaute der heilige Mann die Besucher an. Er sah, wie das Grauen in ihnen brodelte, hob das Gefäß an die Lippen und trank. Der Ring der Weisheit an seiner Hand glühte hell dabei. Er packte die Tischplatte und kämpfte gegen die Übelkeit und den Schock, die ihn in ihren Fängen hielten. Sein Gesicht wurde so weiß wie die aufwärts gerichteten Ränder seines Bartes. Constantin legte sich die Hände über die Ohren und versuchte den schwachen Laut festzuhalten. »An der Küste«, stammelte er und packte den Tisch noch fester. »Nördlich von Port Fallon.« Ashe und Achmed drehten sich gleichzeitig um und eilten auf die Tür zu, doch die raue Stimme des Patriarchen hielt sie auf. »Wartet.« Er stützte sich auf den Tisch und atmete flach. »Verlasst diesen Ort nicht, ohne mich anzuhören und mir eine Frage zu beantworten. Das schuldet Ihr mir.« Die beiden Herrscher warteten gemeinsam mit dem Sergeant-Major schweigend darauf, dass sich der Patriarch erholte. Es dauerte nur einen kurzen Moment. Nach einigen tiefen Atemzügen kehrte die Farbe in Constantins Gesicht zurück. Er hat zweifellos während all der Jahre in der Arena mehr als genug Blut eingeatmet oder geschluckt, dachte Achmed und beobachtete, wie der alte Mann die breiten Schultern straffte, dann zu der Klingel ging und an der Kordel zog. Einen Augenblick später kehrten die beiden Diener zurück. »Verbrennt den Leichnam auf rituelle Weise«, befahl ihnen der Patriarch. »Legt die Asche in die Urne und reinigt den Tisch mit heiligem Wasser.« Er wandte sich wieder an Ashe und die Bolg. »Kommt mit mir zur Basilika. Ich will nicht vor diesem Mann reden, falls noch ein Funken Leben in ihm ist, denn er konnte selbst im Tod hören, was sein Bruder hörte, und es könnte auch in die andere Richtung funktionieren.« 37 Die große Basilika von Sepulvarta war der Mittelpunkt der Stadt. Sie hatte hohe Mauern aus poliertem Marmor und eine gewaltige Kuppel, die größer als alle anderen Kuppeln in der bekannten Welt war. Die unzähligen Farben und Muster der Mosaike, die den Boden und das Gewölbe bedeckten, trugen wie die ausgezeichneten Vergoldungen auf den mit Fresken geschmückten Wänden und die farbig verglasten Fenster zu dem großartigen Gesamteindruck bei, doch es war die schiere Höhe und Breite, die dieses Gebäude zum Meisterwerk aller Elementartempel machte, die große architektonische Wunder aus der cymrischen Ära waren und noch standen, während das Reich bereits zerfallen und zu Staub geworden war. Der Patriarch führte die drei Männer auf eine zylindrische Erhebung in der Mitte des Heiligtums zu einem einfachen, in Platin eingefassten Steintisch, der den Altar der Basilika bildete. Auf diesem Altar war sein Vorgänger inmitten von Blumen und Federn rituell verbrannt worden, wie es die Begräbnistradition der Geistlichen des Glaubens von Sepulvarta vorsah. Als der Patriarch im Mittelpunkt des Heiligtums unmittelbar unter der Öffnung stand, durch die man den Turm sehen konnte, redete er endlich. Seine Worte hallten nicht durch den gewaltigen Innenraum der Kathedrale, sondern blieben nahe bei den Ohren derjenigen, die sie hören sollten. »Erzählt mir von diesem Mann, diesem Wind des Todes«, sagte er. Seine Stimme war tief, aber sie trug nicht weit. »Was bedeutet er für Euch, und wieso kennt Ihr ihn?« Die drei Männer sahen sich an. Ashe sprach als Erster. »Er ist niemand«, sagte er. Seine Augen waren vor Sorgen und Schlafmangel gerötet. »Ich weiß wenig über ihn; Rhapsody erwähnt ihn nicht oft. Er hat sie in der alten Welt gefoltert. Ich weiß das, weil sie nachts manchmal Albträume von ihm hat. Es war schrecklich, diese Träume beobachten zu müssen. Ich bin mir sicher, dass sie die schlimmste Zeit in ihrem Leben widergespiegelt haben. Aber ich kenne ihn nicht persönlich.« Der Patriarch nahm die Worte des cymrischen Herrschers in sich auf und wandte sich dann an die Bolg. »Aber Ihr habt ihn gekannt oder wenigstens von ihm gehört«, sagte er und beobachtete sie mit denselben Raubvogelaugen, die ihm in der Arena so gute Dienste geleistet hatten. Achmed seufzte. »Er und ich haben demselben Herrn gedient«, sagte er; er wog seine Worte sorgfältig ab. »Seine Dienste waren freiwillig, meine nicht.« »Also wart Ihr Verbündete?« »Niemals«, spuckte Achmed aus. »Weder Verbündete noch Feinde. Er war Abschaum, von Natur aus chaotisch, launenhaft und grausam. Ich kenne seine Taten, aber ich hatte nicht die Möglichkeit, sie zu verhindern. Auch wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich es nicht getan, denn damals habe ich mich nur um die Wiedererlangung meines Namens gekümmert, der meinem Herrn gehörte, und damit war er auch der Herr über meine Freiheit. Es stimmt aber, dass Rhapsody auf der Flucht vor ihm war, als sie uns über den Weg lief. Als wir sie mit uns nahmen und das alte Land verließen, dachten wir, wir hätten sie vor ihm gerettet. Da er das Meer nicht mit einer der Flotten überquert hatte, hatten wir allen Grund zu der Annahme, er sei tot – bis dieser Leichnam vor wenigen Augenblicken seinen Namen ausgesprochen hat.« »War es bei dir genauso?«, fragte der Patriarch Grunthor. »Jawoll. Hab ihn nur seinem Ruf nach gekannt. War rastlos und sehr begabt, was Zerstörungen angeht. Hat ihn natürlich bei den Bolg und den Berngards, meinem Volk, zu so was wie ’nem Helden gemacht.« »Ich hatte andere Gründe, ihn tot zu glauben«, sagte Achmed und starrte auf die ferne Decke über ihm. »Im alten Land gab es einen echten Helden, einen halb-lirinischen und halb-menschlichen Soldaten namens MacQuieth, der schon lange tot ist.« »Ich habe seinen Namen gesehen«, sagte der Patriarch. »Er steht auf einem Altar in der Wasser-Basilika von Abbat Mythlinis in Avonderre, an der Küste, wo die erste cymrische Flotte landete. Ich habe dort an einem Gottesdienst zu meinen Ehren im Rahmen meiner Einsetzung teilgenommen.« »Meine Mutter stammte aus seiner Linie«, sagte Ashe leise. »Die Geschichte besagt, dass es MacQuieth war, der Tsoltan tötete, den F’dor, der der Meister des Atemverschwenders und auch der meine war«, fuhr Achmed fort. Es war seiner Stimme anzuhören, wie sehr er sich bemühte, seinen Zorn im Zaum zu halten. »Ich hatte angenommen, dass MacQuieth zuerst Michael töten musste, um an Tsoltan heranzukommen. Es war bekannt, dass sie erbitterte Feinde waren.« »Wenn er so ungefestigt und feige war, wie du gesagt hast, ist er vielleicht desertiert«, sagte Ashe angespannt. »Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass ein Mann, der aus schierem Vergnügen Frauen quält und Kinder tötet, seinen Posten aufgibt, sobald sich das Kriegsglück wendet.« Achmed machte eine ungeduldige Handbewegung. »Vielleicht. Aber es ist unwichtig, wie er überlebt hat. Wichtig ist, dass ein weiterer F’dor unterwegs ist und einen Wirt gefunden hat, der eine Vorliebe für Chaos, Vergewaltigung und Mord hat, dafür aber keine so große Weitsicht wie der letzte, mit dem wir es zu tun hatten. Wenn er wirklich Tysterisk hat, ist die Lage noch schlechter, denn das verschafft ihm Macht sowohl über den Wind als auch über das Feuer. Was vorher nur die Sorge um Rhapsody war, ist nun zum Überlebenskampf für den ganzen Kontinent geworden. Ich kann nicht einmal mit Worten ausdrücken, wie schlimm das ist.« Die Augen des Patriarchen blickten ihn fest und ruhig an. »Es stimmt nicht, wenn Ihr sagt, dass es gleichgültig ist, wie er überleben konnte. Es könnte aus verschiedenen Gründen sehr wichtig sein. Falls er der Wirt eines Dämons ist, hat er sich bestimmt schon vor langer Zeit dessen Willen unterworfen. So ist es bei den F’dor üblich. Jeder von ihnen ist ein einzelnes Wesen, ein Individuum in einem unheiligen Pantheon, das am Beginn der Zeit erschaffen wurde. Daher sind sie zahlenmäßig begrenzt, es sei denn, sie finden einen anderen Weg, sich fortzupflanzen.« Der heilige Mann schwieg eine Weile. Die anderen schauten unbeholfen beiseite, denn sie wussten, dass er selbst das Ergebnis eines solchen Fortpflanzungsversuches war. Rasch fuhr er fort. »Wenn ein Dämon ihn übernommen hat, sollte seine Persönlichkeit inzwischen völlig untergegangen sein. Da er aber hinter Rhapsody her ist, scheint das hier nicht der Fall zu sein. Das ist ein Grund zur Besorgnis. Diese Beziehung ist ungewöhnlich, anders als die anderen und eigenartig. Das macht mir Angst. Außerdem frage ich mich, welche Bindungen er an dieses Land hat. Eure Bande zu ihm sind eindeutig nur Schussfäden, kein Kettfaden.« »Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Ashe. Der Patriarch sah den Herrn der Cymrer eingehend an. »Habt Ihr die Weberin gesehen, als Ihr im Reich der Rowans weiltet?«, fragte er schließlich. »Nein«, antwortete Ashe. »Falls ich sie doch gesehen haben sollte, erinnere ich mich nicht mehr daran. Ich erinnere mich an sehr wenig aus dieser Zeit; ich war zu schwer verwundet. Meine einzige Erinnerung sind Teile von Gesichtern und verschwommene, schmerzerfüllte Träume.« »Die Weberin ist eine der Verkörperungen des Elementes der Zeit«, sagte der Patriarch ernst. »Diejenigen, welche die Sage von den Geschenken des Schöpfers kennen, zählen meist fünf davon auf, nämlich die weltlichen Elemente, doch es gibt noch andere, die außerhalb der Welt existieren. Eins davon ist das Element der Zeit, und Zeit in ihrer reinen Form manifestiert sich auf viele Arten. Die Weltenbäume, die Sagias, der Große Weiße Baum und die drei anderen, die an den Geburtsorten der Elemente wachsen, sind Manifestationen der Zeit. Und das ist auch die Weberin. Sie scheint eine Frau zu sein, doch man kann sich nicht an ihr Gesicht erinnern, wenn man sie gesehen hat, wie eingehend man es auch betrachtet hat. Sie sitzt vor einem gewaltigen Webstuhl, auf dem in farbigen Fäden und Mustern die Geschichte der Zeit gewebt wird – mit Kette und Schuss. Die Weberin ist die Manifestation der Zeit in der Geschichte«, fuhr er fort. »Sie mischt sich nicht in den Lauf der Dinge ein, sondern zeichnet sie nur für die Nachwelt auf. Sie webt einen faszinierenden Teppich mit ungeheuer verschlungenen, allesamt miteinander verbundenen Fäden. Alle Dinge und alle Wesen sind Fäden in diesem Gewebe; es sind ihre Beziehungen untereinander, die wir als Leben verstehen. Ohne die Verbindungen, welche die Fäden untereinander haben, gäbe es nur die Leere, die Abwesenheit von Leben. Und in diesen Verbindungen liegt Macht. Diese Bande binden Seele an Seele, auf Erden und im Nachleben. Die in diesem Leben eingegangenen Verbindungen erlauben es den Seelen, im nächsten einander zu finden. Aus diesem Grund überdauert die Liebe das Leben. Doch auch anderes überdauert das Leben. Manchmal sind die Bande der Feindschaft genauso stark wie die der Liebe. Die Seelen, die etwas vollenden müssen, das von Hass durchtränkt ist, können viele Dinge und viele Wirklichkeiten überwinden, wenn das Band zwischen ihnen und ihrem Feind stark genug ist. Aus dem, was Ihr mir berichtet habt, ergibt sich, dass keines Eurer Bande Euch Macht über diesen Menschen verleiht, falls er noch ein Mensch ist, obwohl es sich bei ihm inzwischen sicherlich um einen Dämonenmann handelt. Das Band, der Kettfaden, ist dort nicht stark genug, wo sich die Lebenslinien kreuzen, aber nicht miteinander verbinden. Aber das Band zwischen ihm und Rhapsody ist anders. Hier gibt es eine unmittelbare Verbindung. Das macht sie mächtiger, aber auch verwundbarer, wenn es um Michael geht. Das ist der Kettfaden, die stärkste aller Verbindungen. Daher ist sie besser als Ihr in der Lage, gegen ihn zu kämpfen. Wenn es ihr nicht gelungen ist, zu gewinnen, so wie es den Anschein hat, könnt Ihr nicht viel gegen ihn ausrichten.« »Dennoch würde ich sowohl mein Leben als auch mein Nachleben bei dem Versuch aufs Spiel setzen«, sagte Ashe. »Vielen Dank für Eure Hilfe, Euer Gnaden. Entschuldigt mich jetzt. Ich muss meine Frau finden.« Er ging zur Treppe, die zum Altar hochführte, wurde aber von der tiefen Stimme des Patriarchen aufgehalten. »Wartet. Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet.« »Wie lautet sie?«, fragte Ashe und bemühte sich, nicht die Geduld zu verlieren. »Wie hat die Waage entschieden?«, fragte der heilige Mann. »Ich habe von Sorbold keine Nachrichten vom Ausgang Eurer Unterredungen erhalten.« »Das wüsste ich auch gern«, sagte Achmed. »Die Waage ist zugunsten der Kaufmannschaft ausgeschlagen«, klärte Ashe sie auf. »Der Kaufmannschaft?«, erstaunte sich der Patriarch. »Wen hat sie erwählt?« »Den Herrscher der westlichen Gilden, einen Mann namens Talquist«, sagte der Herr der Cymrer. »Er scheint besonnen und vernünftig zu sein. Er will nur ein Jahr lang als Regent herrschen und erst danach den Kaiserthron besteigen, falls die Waage ihn bestätigen sollte.« Er verstummte, als er sah, wie das Gesicht des Patriarchen blass wurde. »Euer Gnaden? Was ist los?« »Talquist?«, fragte der heilige Mann leise. »Seid Ihr sicher?« »Was stört Euch an ihm?«, wollte Achmed wissen. Der Patriarch setzte sich benommen auf einen Stuhl neben dem Altar. »Ihr hättet mir keine schlechteren Nachrichten bringen können«, sagte er zu Ashe. Seiner tiefen Stimme fehlte nun die Kraft, die sie sonst besaß. »Warum?«, wunderte sich Achmed. »Sagt uns, warum.« Der Patriarch starrte durch die Öffnung in der Decke der Basilika auf den Turm, der sich darüber in das endlose Blau erhob. »›Kaufmann‹ ist eine sehr freundliche Umschreibung für das, was Talquist ist«, sagte er schließlich und beobachtete die Wolkenfetzen über ihm. »Er ist ein Sklavenhändler der grausamsten Sorte und der geheime Anführer einer Flotte von Piratenschiffen, die mit menschlicher Beute handeln. Die Kräftigen verkaufen sie an die Minen oder, schlimmer noch, an die Arenen, und den Rest benutzen sie als Rohmaterial für andere Güter. Aus dem Fleisch der Alten machen sie Kerzen und Knochenmehl aus den sehr Jungen. Tausende sind in den Arenen von Sorbold getötet worden. Ich kann nicht einmal abschätzen, wie viele weitere den Tod in den Minen und Salzpfannen oder auf dem Meeresgrund gefunden haben. Er ist ein Ungeheuer mit dem Lächeln eines Ehrenmannes und dem Anschein des Normalen, aber er ist und bleibt ein Ungeheuer.« »Die Waage hat ihn aber bestätigt«, sagte Ashe. »Ich habe es selbst gesehen.« »Warum habt Ihr vor Eurer Abreise nichts gesagt?«, fragte Achmed den Patriarchen ungläubig. »Wenn Ihr wusstet, dass dies ein möglicher Ausgang des Auswahlverfahrens war, hättet Ihr doch dazwischentreten können.« »Es steht mir nicht zu, die Waage in Verruf zu bringen«, antwortete Constantin. »Ich habe ihr meine Position zu verdanken. Wie könnte ich ihre Weisheit in Frage stellen, ohne dabei einen inneren Widerspruch heraufzubeschwören?« Er seufzte schwer. »Und wenn ich meine Vergangenheit in der Arena zugeben würde, stünde das Reich der Rowans plötzlich im Mittelpunkt des Interesses, was ihnen gar nicht willkommen wäre. Und schließlich war er nicht der einzige Mann im Rennen, der Blut an den Händen hatte. Wenn ich jeden herabsetzen wollte, den ich des Kaiserthrons für unwürdig erachte, würde Sorbold weiterhin ein führerloser Staat bleiben. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich gehofft, sie würden sich in Stadtstaaten auflösen, aber die Waage hat anders entschieden.« Er stand auf und legte die Hand auf Ashes Schulter. »Ich werde mich jeden Tag beim All-Gott für Eure Frau und Euer Kind einsetzen«, sagte er. »Und für Eure Bemühungen, diesen Wind des Todes zu finden, der nun der Wind des Feuers ist. Ich bete darum, dass auch Talquist einen Herzenswandel erfahren wird, so wie es mir hinter dem Schleier des Hoen erging. Vielleicht ist die Tatsache, dass er nicht sofort zum Kaiser gekrönt werden wollte, schon ein Anzeichen dafür.« »Das bezweifle ich«, meinte Achmed. »Nach meiner Erfahrung werden Männer, die nach Blut und Macht dürsten, nur noch durstiger, wenn sie das bekommen, was sie haben wollen. Ihr seid die einzige Ausnahme von dieser Regel.« Die drei Männer dankten dem Patriarchen, stiegen gemeinsam die Stufen hinunter und ließen ihn unter der Öffnung in der Decke zurück. Er starrte wieder in den Himmel. An der Tür der Basilika packte Grunthor Ashe an der Schulter. »Ein Kind?«, fragte er. »Das hast du bisher nicht erwähnt. Warum nicht?« »Brich sofort nach Ylorc auf«, unterbrach Achmed ihn. »Dort gibt es ein anderes Kind, für das wir die Verantwortung tragen. Das ist weitaus wichtiger, als Rhapsody zu finden. Oder Michael.« Er wandte sich an Ashe. »Wenn wir sie gemeinsam suchen, haben wir größere Aussicht auf Erfolg«, sagte er, »auch wenn ich noch immer nicht die leiseste Spur ihres Herzschlags höre. Ich habe bis jetzt noch nie ihren Klang verloren, wie weit weg, wie tief unter der Erde oder wie krank sie auch war. Ich vermute, dass er sie getötet hat. Das sähe ihm ähnlich. Ich verstehe, dass du sie suchen willst und blind für alles andere bist, aber du musst verstehen, dass ich ihn jagen will. Wenn wir ihn finden, können wir wenigstens in Erfahrung bringen, was er mit ihr gemacht hat. Sind wir uns einig über diese Arbeitsteilung?« »Ja«, sagte Ashe knapp. »In Ordnung.« Er zog Grunthor beiseite, um einige Worte mit ihm zu wechseln. »In Ylorc befindet sich eine Frau namens Theophila aus dem Stamm nomadischer Kunsthandwerker, die unter dem Namen Panjeri bekannt sind. Sie hat Zugang zur Schmiede und erhält alles, was sie für ihre Arbeit am Lichtfänger braucht. Sie kann sehr launisch sein, also verärgere sie nicht. Ich habe anderthalb Jahre nach jemandem wie ihr gesucht.« Grunthor schaute ihn zweifelnd an. »Ja.« »Gute Reise«, sagte Achmed. »Ich bringe dir dein Pferd Felssturz mit, wenn ich zurückkomme.« Der Bolg-Sergeant schüttelte den Kopf. »Bring lieber das Prinzesschen mit. Verlier dich nicht in deiner Blutfehde mit diesem Michael und vergiss nicht, wen wir hier wirklich vermissen.« Achmed und Ashe waren schon gegangen. Jierna Tal »Wenn sonst nichts mehr ist, Herr, gehe ich jetzt zurück in die Kanzlei«, sagte Nielash Mousa zu dem neuen Regenten und verneigte sich ehrerbietig. Talquist schaute von dem schweren Mahagonitisch auf und lächelte aus den Tiefen der Papierberge hervor. Sein dunkles Gesicht glühte im dämmerigen Licht des Nachmittags, das vor dem Fenster unter einem herankommenden Gewitter immer düsterer wurde. »Nein, rein gar nichts, Euer Gnaden«, sagte er freundlich. »Ich glaube, alles befindet sich wieder auf einem guten Weg zurück in die Normalität. Vielen Dank für alles, was Ihr getan habt, um diesen Übergang zu erleichtern.« Der erschöpfte Seligpreiser lächelte ebenfalls. »Es ist mir ein Vergnügen gewesen. Bitte schickt nach mir, falls Ihr mich braucht, mein Herr.« »Das werde ich tun. Geht nun nach Hause und ruht Euch aus. Ich brauche Euch gesund und kräftig, und das werdet Ihr bald nicht mehr sein, wenn Ihr Euch nicht schont.« »In Ordnung. Guten Abend«, sagte der Segner von Sorbold und verneigte sich wieder. Er drehte sich um und ging hinter seinen Männern aus der gewaltigen Bibliothek. Talquist sah ihm nach und widmete sich dann wieder seinen Akten. Kurze Zeit später schlüpfte ein Mann durch die offen stehende Doppeltür und schloss sie leise hinter sich. Der Regent schaute auf. Belustigung lag in seinem Blick. Er griff nach dem canderianischen Branntwein, der in der offenen Flasche auf dem Tisch neben den Akten stand, und deutete auf ein leeres Glas. Der Mann schüttelte den Kopf und lehnte ab. »Ich glaube, ich hätte diese Worte zu dir sagen sollen«, meinte Talquist und füllte sein eigenes Glas auf. »Vielen Dank für alles, was du getan hast, um diesen Übergang zu erleichtern.« Lasarys blinzelte nervös. Seine Augen waren nicht an das Licht gewöhnt. »Gern geschehen, Herr«, stammelte er. »Du siehst verärgert aus, Lasarys. Warum?« Der Küster versuchte dem dunklen Blick des Regenten standzuhalten, doch es war zu anstrengend für ihn. »Ich... ich bin nur müde, Herr. Die letzten Wochen waren schwierig.« »Aha. Ich verstehe.« Talquist lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Schließlich musstest du dem Seligpreiser überallhin folgen und dich um die Staatsgäste kümmern. Sind sie inzwischen alle wieder fort?« »Ja, Herr. Der Wahrsager ist heute Morgen abgereist.« Talquist schaute aus dem Fenster auf den Hof unter ihm, wo die Garde der verstorbenen Kaiserin exerzierte. »So, so. Er und ich sind noch lange aufgeblieben und haben mit Beliac gesprochen. Jetzt bist du von deinen Pflichten als Gastgeber entbunden, Lasarys. Du kannst in deine dunkle Höhle im Nachtberg zurückkehren und dich um deine geliebte Kathedrale kümmern. Das Lebendige Gestein, das du in ihr für mich geerntet hast, war unschätzbar wichtig zur Erreichung meines Zieles. Herzlichen Dank dafür.« Der Küster wirkte krank. Talquist schaute ihn nicht mehr an. »Was ist los, Lasarys? Hast du Bedenken bekommen? Dafür ist es ein wenig spät, nicht wahr?« »N... nein, keine Bedenken, Herr«, sagte der Küster rasch und rang die Hände. Talquist stand auf, ging zu ihm und legte dem zitternden Priester die schweren Hände auf die Schultern. »Ich weiß, dass du die dunkle Kathedrale liebst, als wäre sie deine eigene Mutter«, sagte der Regent sanft, wobei er jede Silbe mit der Zunge liebkoste. »Diese kleinsten Stücke belebten Lehms abzuschneiden war für dich, als würdest du die Brüste deiner Mutter abschneiden. Du brauchst dich nicht zu verteidigen, Lasarys, ich kenne dein Herz. Ich habe viel von dir gelernt, als ich dein Messdiener war. Und ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass du solche Qualen nicht wieder durchleiden musst, doch jetzt gibt es keinen Grund mehr, warum ich lügen sollte. Ich bin der Kaiser oder werde es zumindest in einem Jahr sein.« Er streichelte die Wange des Priesters. »Nun geh zurück nach Terreanfor und kümmere dich so liebevoll wie immer um die Basilika. Und während du dich in der Dunkelheit herumdrückst, wirst du nach anderen Plätzen Ausschau halten, die du abernten kannst. Es ist besser, jetzt schon im Geheimen damit anzufangen, als einen der Bäume oder gar die Elefanten aus Lebendigem Gestein zu töten! Ach, wie ich diese Elefanten liebe, diese dunklen, glimmenden Ungeheuer. Wir heben sie uns bis zum Schluss auf, nicht wahr?« Der Küster nickte; er war nicht mehr in der Lage, zusammenhängend zu reden. Talquist lächelte. »Gut. Wir befinden uns mitten im Sommer, und er wird bald zu Ende gehen. Die Erde wird einschlafen und das Leben sich in den Untergrund zurückziehen, um Winterschlaf zu halten, genau wie wir. Aber im Frühling, Lasarys! Ach, im Frühling ...« Er schlenderte auf den Balkon und pfiff freudig. 38 Der Kessel — Ylorc Omet war die ganze Nacht lang auf und arbeitete fieberhaft. Schatten tanzten wie wahnsinnig über die rauen Steinwände seiner Kammer im zweiten Flügel des Soldatenquartiers. Omet hatte es immer vorgezogen, bei den Soldaten zu leben, anstatt sich ein Gastquartier mit Shaene zu teilen, der schnarchte und kleinlich war und überdies als angeworbener Kunsthandwerker nur während der Arbeit am Glasprojekt in Ylorc wohnte. Omet hingegen hatte vor, für immer hier zu bleiben. Irgendwo in diesen Bergen ereignet sich etwas Großartiges, hatte Rhapsody vor drei Jahren nach seiner Befreiung aus der Ziegelei der Gildenmeisterin zu ihm gesagt, als sie sich an der Grenze zwischen Yarim und Ylorc getrennt hatten. Du kannst ein Teil davon sein. Geh hin und schreibe deinen Namen in den zeitlosen Fels, damit es die Geschichte sehen kann. Von diesem Augenblick an hatte er genau das vorgehabt, was recht bemerkenswert war, wenn man bedachte, dass er noch wenige Tage zuvor nicht über den nächsten Abend hatte hinausdenken können und nichts anderes als die Öfen und Schmelzen gekannt hatte. Und es war wahr geworden. Die Bolg hatten ihn so freundlich aufgenommen, wie es ihnen möglich war, und ihn nicht als verdächtigen Fremden, sondern als einen der Ihren behandelt. Er wusste um die Seltenheit dieses Glücks und begriff, warum eine halb-lirinische Frau wie Rhapsody, die in diesem rauen Reich kannibalischer Halbmenschen so fehl am Platze wirkte, Land und Leute so liebte wie ihr eigenes Volk in Tyrian. Er verspürte dasselbe unstillbare Verlangen, das Reich und dessen König vor Estens Untaten zu schützen. Dieses Verlangen kämpfte mit einem anderen starken Drang. Mit dem Drang, so schnell wie möglich aus dem Kessel fortzulaufen und nicht einmal zurückzuschauen. Doch auch als die Panik durch sein Blut jagte, wusste er, dass es nicht weise war, einfach zu flüchten. Alles kam früher oder später zu Esten. Ein Wagnis war er jedoch eingegangen. Zwischen seinen Zeichenarbeiten hatte er die Hand ausgeruht und dabei sorgfältig Notizen in einer Mischung aus phonetisch buchstabiertem, schlechtem Bolgisch und, wenn es nötig war, in der Gemeinsprache gemacht und darin festgehalten, was die Gildenmeisterin in Abwesenheit des Königs getan hatte. Seine eigenen Aktivitäten sowie den Ort, an dem er die Originalzeichnungen versteckt hatte, hatte er ebenfalls notiert. Er erinnerte sich an weitere Worte Rhapsodys, als er im Licht der Laterne schwitzte, kopierte und ausstrich, kopierte und ausstrich. Mach Gebrauch von deinen Fähigkeiten und deiner Phantasie. Ich glaube, du kannst einer der großen Handwerker bei den Restaurierungsarbeiten werden. Omet hielt das Pergament, an dem er arbeitete, seit er den Gurgus verlassen hatte, gegen das Lampenlicht. Er kicherte über die Ironie ihrer Worte. Die Pläne, die er neu gezeichnet hatte, waren selbst seiner vorsichtigen Einschätzung nach eine beeindruckende Kopie des Originals. Er hatte dazu Teile alten Pergaments benutzt, das man in einem mit einem alten Wachssiegel verschlossenen Reisbehälter in einem der tiefsten Stockwerke von Gwylliams unterirdischer Bibliothek entdeckt hatte. Zweifellos waren es einmal Dokumente gewesen, doch in den Jahrhunderten war die Tinte wohl allmählich verblasst und schließlich verschwunden, als wäre sie nie auf das Pergament gebracht worden. Nachdem er eine überzeugende Oberfläche für seine Täuschung gefunden hatte, widmete er den Rest des Tages dem vorsichtigen Kopieren so vieler Elemente des echten Planes, dass die Fälschung mit einigem Glück glaubhaft wirkte. Mit vorsichtiger Hand zog er Maßstabslinien dort, wo eigentlich Rohre hätten sein sollen, und tilgte alle Hinweise auf das Rad. Auch zeichnete er nur die ungefähre Lage der farbigen Glasteile ein. Er hoffte, es würde ausreichen. Sobald er Esten die falschen Pläne übergeben hatte, würde es ein endloses Katz-und-Maus-Spiel sein, denn er musste versuchen, ihr nicht unter die Augen zu geraten, ohne dass sie seine Abwesenheit bemerkte. Wenn Omet daran dachte, trat ihm kalter Schweiß aus den Poren. Sie hatte ihm bis zum Morgen Zeit gegeben, die Pläne herbeizuschaffen, was ihm die Möglichkeit verschaffte, an der Schmiede vorbeizugehen und dort die Tinte zu trocknen. Er drückte nervös seinen Stuhl zurück und brachte auf dem Pergament einige letzte Tupfen an; dann schlüpfte er still aus seinem Zimmer und durch die Korridore, die zu den großen Schmieden führten. Da er befürchtete, Esten und einige der anderen könnten sich die Öfen ansehen, lief er die Steintunnel weiter hinunter bis zu dem gewaltigen, sengenden Inferno tief im Berg, wo die Stahlkocherei lag. Die Hitze an diesem Ort des schmelzenden Erzes und glühend heißen Metalls war sengend. Zwei getrennte Schmieden arbeiteten Tag und Nacht. Die eine stellte gewöhnliche Waffen her, die aufgrund eines Handelsabkommens nach Roland und Sorbold verkauft wurden; die andere hingegen produzierte Achmeds eigene Erfindungen: die Svardas, die schweren, aber vollkommen ausbalancierten Wurfmesser mit drei Klingen, ferner kurze, gedrungene Armbrüste mit besonderem Rückstoßverhalten zum Gebrauch in den Tunneln von Ylorc, gespaltene Pfeilspitzen und schwere Pfeile für Blasrohre, die so ausgewogen waren, dass sie besonders tief eindrangen, sowie mitternachtsblaue Wurfmesser aus Stahl, die scharf wie Rasierklingen waren und die Nahkampfwaffe der meisten Bolg darstellten, und natürlich die Scheiben für die Cwellan des Königs. Nur dieser eine Ofen durfte so stark erhitzt werden, dass er die blau-schwarze Legierung aus Rysin und Stahl herstellen konnte. Und da man Esten versprochen hatte, Werkzeuge nach ihren eigenen Entwürfen in den Schmieden anzufertigen, würde sie sicherlich Zutritt zu diesen schwer bewachten Produktionsstätten bekommen, deren Flammen sich unmittelbar aus dem Feuer im Herzen der Erde speisten. Kalte, prickelnde Panik stieg wieder von seinen Füßen auf. Er blickte über das halbe Dutzend übereinander liegender Ambosse und Feuer, die in jeder Schicht von dreitausend Bolg bedient wurden, die die Flammen schürten, das Erz schmiedeten, den Stahl formten und das Abzugssystem bedienten, das Hitze und Ruß im Sommer aus dem Berg abließ und es im Winter umwälzte, filterte und zu Heizzwecken durch die Tunnel von Ylorc leitete. Omet war zufrieden, dass ihn niemand beobachtete. Er entrollte das Pergament und hielt es kurz in den dörrenden Wind der Schmieden. Dann wickelte er es rasch in Leder ein, bevor es sich entzünden konnte. Er befand sich im Krieg, aber er war überzeugt, dass sein Feind im Augenblick noch nicht darum wusste. Ihm war klar, warum Esten in den Berg gekommen war. Sie wollte Rache nehmen. Er hatte keine Ahnung, auf welche Weise dies geschehen würde, doch das Eindringen in Achmeds uneinnehmbaren Berg hatte sie brillant geplant und makellos in die Tat umgesetzt – wie all ihre Unternehmungen. Die Wölfin befand sich im Hühnerstall, und der Bauer hatte sie unbewusst dazu eingeladen und ihr die Tür aufgehalten. Es würde kein gutes Ende nehmen. Es war nur eine Frage der Zeit. Also los, dachte er, als er durch die dunklen Korridore zum hohen Gipfel des Gurgus ging, der eines Tages in einen Lichtfänger verwandelt werden würde. Aber nicht, solange Esten sich noch innerhalb des Berges befand. Er hoffte, er würde lange genug überleben, um dem Firbolg-König erklären zu können, was er getan hatte. Esten wartete im Wind auf der Spitze eines Felsvorsprungs und beobachtete, wie die Postkarawane näher kam. Die Sonne ging über den Krevensfeldern unter und überzog sie mit Gold, das an den Rändern rot wurde. Die Wärme deutete unheilschwer auf die Dinge, die noch kommen sollten. Das süße Gefühl des Sommers hing in der Luft. Esten erlaubte sich das kurze Vergnügen, die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Sie roch den Wind, auf dem bald Regen herbeikommen würde, den Duft üppigen Grases, das vor Leben überquoll und sich der untergehenden Sonne in freudigem Schmerz entgegenbeugte, das unablässige Brummen der Insekten und die kühlen Windstöße. Ferne, nadelfeine Lichter kämpften in Gehöften und Außenposten gegen die herannahende Dunkelheit. Sie erlaubte sich nur diesen kurzen Moment. Dann öffnete sie die Augen rasch wieder und sah weiterhin der Karawane zu, die aus Yarim kam. Sie zog die Knie an die Brust, dachte nach und gestattete ihren Gedanken, durch metaphysische Gassen zu wandeln, in denen der allgegenwärtige Tod wartete. Es war sechs Tage her, dass der Bolg-König sie an diesen Ort gebracht hatte, und sechs Tage, seit er davongeritten war. Nach beinahe einer Stunde kam die Karawane in Sichtweite der Felsen, zwischen denen Esten lauerte. Die Vorhut bildete das erste Drittel des Geleitschutzes von etwa neunzig Soldaten, gefolgt von vier Wagen und einer Kutsche, um welche die restlichen Streitkräfte verteilt waren. Der offiziellen Karawane folgte ein inoffizieller Konvoi. Es waren Reisende, die den Schutz durch die Soldaten und die eigene Gruppe suchten, denn sie glaubten, Sicherheit sei eine Sache der Zahl und der Waffen. Hinter dieser Karawane zog ein bunt Zusammengewürfelter Haufen her. Einige Bauern kehrten vom Markt zurück, einige Pilger hatten die heiligen Stätten besucht. Und ein Geschäftspartner Estens war auch dabei. Während die Karawane am Außenposten des Griwen vorbeizog, huschte die Gildenmeisterin leise von den Felsen herunter. Sie trug eine einfache schwarze Hose, ein Hemd und einen Sommermantel und über dem kurz geschnittenen Haar einen dunkelblauen Schal, der mit der einbrechenden Dunkelheit verschmolz. Sie drückte sich in die Schatten und wartete geduldig, bis sich der Konvoi zur Nacht zerstreute, die Soldaten in die Gastkaserne gingen und die Versprengten ihr Lager aufschlugen. Dann trat sie gerade so lange in das Mondlicht hinaus, dass Dranth sie erkennen konnte. Er bemerkte sie sofort, ging rasch zu ihr und folgte ihr in die Felsenschatten. Er trug eine kleine, in Leinen gewickelte Truhe und einen großen Sack bei sich. Als Esten zu der Überzeugung gelangt war, dass ihr Treffplatz sicher war, neigte sie den Kopf. Ihr Kronprinz nickte. »Ihr seht gut aus, Gildenmeisterin«, sagte er leise. »Entwickelt sich alles so, wie Ihr es geplant habt?« »Alles«, sagte Esten zuversichtlich. »Sich unter die Panjeri zu mischen war viel einfacher, als ich mir je hätte träumen lassen. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass mir die Erziehung meines Vaters einmal so nützlich sein könnte. Und der Bolg-König ist von seinem Projekt wirklich so besessen, wie wir es vom Hierarchen in Yarim gehört haben. Das ist gut so, denn ohne die Ablenkungen wäre er noch gefährlicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Doch angesichts des Todes der sorboldischen Kaiserfamilie, der farbigen Decke, die er in einen Berggipfel einlassen will, und dessen, was ihn unvorbereitet zur Abreise genötigt hat, kann er sich nicht konzentrieren. Es wird ihn völlig unerwartet treffen.« »Gut.« Dranth übergab ihr die eingewickelte Truhe. »Hier ist die Pikrinsäure, um die Ihr gebeten habt. Seid bitte vorsichtig damit, Gildenmeisterin. Denkt daran, sie feucht zu halten, dann ist sie leicht entzündlich. Wenn sie austrocknet ...« »Ich weiß. Vielen Dank, Dranth. Hast du damit die Versuche angestellt, um die ich dich gebeten habe?« »Ja. Da Glas selbst verflüssigbar ist, hält die Säure es in einem flüssigen Zustand, wenn man sie nach dem Aushärten aufträgt. Durch große Hitze kann sie wieder getrocknet werden. Die andere Säure befindet sich in grünen Fässern und wird von der Karawane bei Sonnenaufgang zugestellt.« »Sehr gut.« Esten setzte die Truhe ab und griff zwischen die Falten ihrer Kleidung. »Hier sind die Karten, die ich gezeichnet habe, sowie die Beschreibung der Vorräte und meine Analyse der bolgischen Infrastruktur, ferner die Auflistung ihrer Schätze, Streitkräfte, Waffen und so weiter«, sagte sie und gab Dranth die Papiere. »Verteil sie. Für einen angemessenen Preis natürlich.« »Ja, Gildenmeisterin.« »Sie halten mich noch an der kurzen Leine, aber ich habe einen von ihnen in meinen Bann gezogen – einen närrischen Kunsthandwerker aus Canderre, der mir alles bringt, was ich brauche, und mir die Gebiete beschreibt, die ich noch nicht betreten durfte. Aber er muss mir noch verraten, wo der Bolg-König schläft.« Dranths Gesicht verzog sich ironischerweise zu einer Maske der Besorgnis. »Wollt Ihr, dass wir im Berg ausschwärmen, Meisterin? Damit Ihr nicht allein seid?« Esten lächelte böse. »Mach dir um mich keine Sorgen, Dranth. Wenn der Bolg-König endlich zurückkehrt, werde ich die Einzige sein, die in diesem gottverlassenen Berg überlebt hat.« Sie wartete, bis die Nacht seinen Schatten aufgesogen hatte, bevor sie den im Dunst liegenden Berg hochstieg. Ein hartnäckiger Wind zauste ihr das Haar, als sie sich über die Grate mühte und den beschwerlichen Rückweg durch Felsspalten und Gebüsch zum Licht und der Wärme des Kessels antrat. 39 Nördliche Küste Rhapsody wusste, dass die Flut wieder stieg. Beim ersten Mal war sie in Panik geraten und hatte mehrfach befürchtet, sie werde ertrinken, als sich die Höhle bis zur Decke mit beißender Gischt gefüllt und unbarmherzige Strudel gebildet hatte. Beim ersten Mal hatte sie geschlafen, hatte erschöpft auf dem Sims geruht, der einzigen festen Stelle in der Höhle. Ihre Hände waren frei gewesenes hatte nicht lange gedauert, bis der wahre Name der Maisfasern – tesela - das Seil geglättet hatte, das grausam fest um ihre Handgelenke gezurrt worden war. Es hatte sie keine große Anstrengung gekostet, es zu zerreißen. Der Pfeil, den der Bogenschütze auf sie abgefeuert hatte, war in dem Ledergürtel um ihre Taille stecken geblieben. Zum Glück hatte er das Gelenk zwischen dem Gürtelband und der Schwertscheide getroffen und ihre Niere verfehlt, doch sie hatte eine böse Prellung und eine Fleischwunde davongetragen, die im wirbelnden Salzwasser entsetzlich schmerzte. Sie hatte den Gürtel abgenommen und den Pfeil herausgezogen. Da sie ihr Schwert nicht mehr besaß, war die Scheidenspitze der einzige scharfe Gegenstand, der sie bei ihrem Sturz hatte verletzen können. Trotz ihres Gesangs war sie härter auf dem Wasser aufgeschlagen, als sie zuerst bemerkt hatte. Das einzige Glück hatte darin bestanden, dass sie nicht auf die Felsen gestürzt war. Der Aufschlag, das Seewasser und der Verlust des Gleichgewichts, den sie in letzter Zeit so oft hatte erfahren müssen, hatten sie fast bewusstlos gemacht, als sie mit der einsetzenden Flut in die Höhle gespült worden war. Nachdem sich die Flut das erste Mal zurückgezogen und die Höhle halb vom Wasser geleert hatte, hatte Rhapsody die Gelegenheit ergriffen und ihre Umgebung ertastet. Im herrschenden Zwielicht war sie so gut wie blind gewesen. In der Rückwand der Höhle befanden sich Spalten, durch die bei Niedrigwasser ein Luftzug zu spüren war, doch sonst hatte sie nichts entdeckt. Sie hatte lediglich noch die Meeresströmung gesehen, die in der Höhle gewirbelt hatte. Weil Rhapsody von ihr in die Höhle gezogen worden war, hatte sie den Felsen entgehen können. Die Strömung war ein Strudel mit einer starken gegenläufigen Unterströmung gewesen. Es war beinahe unmöglich gewesen, dagegen anzuschwimmen, und Rhapsody hatte weder genug Kraft noch genug Körpermasse dazu. Ich muss Süßwasser finden, hatte sie gedacht, ganz benommen vor Erschöpfung. Und Nahrang. Wenn ich noch schwächer werde, muss ich hier drinnen sterben. Aber zuerst muss ich schlafen und dabei gesund werden. Der Schlummer, in den sie gefallen war, war so tief und traumlos gewesen, dass sie nicht einmal gespürt hatte, wie die erste Welle über sie hereingebrochen war. Erst als ein rollender Brecher sie durchnässte, erwachte sie ruckartig. Angst durchtränkte sie bis in ihr Innerstes. Die Tide wechselte schnell und brauste mit einer Gewalt in die Höhle, die Rhapsody noch mehr entsetzte. Sie wurde sofort wieder untergetaucht und gegen die Höhlenwand geschleudert, nie aber aus der Grotte herausgesogen, sondern von der unbarmherzigen Strömung an Ort und Stelle gehalten. Sie drückte die befreiten Hände gegen die Felsendecke, als die Wellen sie hochwarfen, und hielt den Kopf nach hinten, damit Augen und Nase der beißenden Gischt entgingen. Als sie auf dem Wasser schaukelte und schleimigen Seetang an sich Vorbeitreiben spürte, drückte sie ihn zur Seite und versuchte sich an die Worte ihres Vaters zu erinnern, die er in einem anderen Leben beim Schwimmunterricht in einem tiefen Teich zu ihr gesagt hatte. Sie dachte daran zurück und versuchte damit ihr rasendes Herz zu beruhigen. Zu tief, dachte sie. Es ist zu tief. Hör auf, mit den Armen umherzudreschen. Die Stimme ihres Vaters hallte ihr im Kopf wider. Sie war so deutlich und befehlend wie einst. Sie hielt die Arme ruhig, blieb reglos und ließ es zu, dass die Strömung sie hochhob. Das Teichwasser war kalt gewesen, so kalt wie das Meer. Grüner Schaum war an der Oberfläche getrieben, als das Seegras an ihr vorbeigeschwommen war. Sie hatte den Grund des Teiches nicht sehen können, und genauso wenig vermochte sie nun den Boden der Höhle zu erkennen. Vater?, flüsterte sie. Ihre Lippen schmeckten nach Salz. Ich bin hier, mein Kind. Bewege die Arme langsam. Das ist besser. Es ist so kalt, Vater. Ich kann nicht oben bleiben. Es ist so tief. Hilf mir. Entspann dich, hatte ihr Vater gesagt. Ich halte dich oben. Rhapsody holte tief Luft und spürte, wie die Anspannung in der Lunge ein wenig nachließ. Die Erinnerung an das lächelnde Gesicht ihres Vaters, seinen tropfenden Bart und seine nassen Augenbrauen sowie an die Bäche, die ihm an den Wangen herunterrannen, als er vor so langer Zeit aus dem Teich aufgetaucht war, erstand vor ihrem geistigen Auge. Sie hatte schon einmal ihre ganze Aufmerksamkeit auf dieses Bild gerichtet, damals, im Bauch der Erde, als sie sich einen Weg entlang der Wurzel des Weltenbaumes gebahnt hatte und ihrer Seele dieser Ort so fremd gewesen war wie die Höhle, in der sie nun gefangen war. Das Wasser wird dir nicht schaden, wohl aber die Panik. Bleib ruhig. Es ist so tief, Vater. Er hatte einen Wasserstrahl ausgespuckt. Die Tiefe macht dir nichts aus, solange du den Kopf über Wasser hältst. Kannst du atmen? Ja-a-a. Dann kann es dir gleichgültig sein, wie tiefes ist. Konzentriere dich auf das Atmen, dann wird alles gut. Gerate nicht in Panik. Panik kann dich töten, selbst wenn sonst keine Gefahr herrscht. Panik kann dich töten, selbst wenn sonst keine Gefahr herrscht. Rhapsody schloss die Augen, als eine weitere Welle über sie hinwegrollte. Nein, dachte sie. Ich werde nicht in Panik geraten. Ich habe mich nicht von der Klippe gestürzt, nur um von etwas besiegt zu werden, das mir gar nichts Böses will. Sie versuchte auf dem Rücken zu schwimmen. Eine Weile gelang es ihr. Mit einer Hand stützte sie sich an der Höhlendecke ab, und den anderen Ellbogen hielt sie eng gegen die Seite gedrückt, um so wenig abgeschürfte Haut wie möglich dem Salzwasser auszusetzen. Sie fasste einen klaren Kopf und lauschte dem Rhythmus der Strömung und der Flut. Sie hörte eine Musik im Wasser, eine Kadenz, einen Ton, auf den sie sich konzentrieren konnte, um ruhig zu bleiben. Nach einer schieren Ewigkeit verebbte das Wasser, und die Tide fiel. Als der Sims sichtbar wurde, dachte Rhapsody über ihre Möglichkeiten nach. Sie überlegte, ob sie Elynsynos rufen sollte, die Drachin, deren Nest nicht weit von der Stelle entfernt lag, wo Michael und seine Männer sie entführt hatten, doch sie verwarf diesen Gedanken, denn sie wusste, dass Elynsynos sie durch das Wasser nicht hören konnte. Aus diesem Grund war auch Merithyn gestorben, der Liebhaber Elynsynos’. Das Salzwasser brannte ihr in den Augen. Sie hatte auch darüber nachgedacht, ob sie den Ruf der Blutsverwandten ausstoßen sollte, wie sie es schon einmal getan und dadurch Anborn in der Stunde ihrer größten Not herbeigerufen hatte. Doch Michael beherrschte das Element der Luft. Wenn der Wind sie verriet, konnte er sie finden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre eigenen Überlebensfähigkeiten einzusetzen. Niemand konnte ihr helfen – außer sie selbst. Rhapsody begab sich erneut zu dem Sims und schaute hinunter auf das grüne, wirbelnde Wasser. Unter der Oberfläche bemerkte sie eine Bewegung, ein Gleiten, das ihr eine Gänsehaut verursachte. Schlangen?, dachte sie benommen. Nein, Aale. Die Höhle war voll von ihnen. Sie waren schwarz und ölig, waren mit der letzten Flut hereingekommen und von der Ebbe noch nicht wieder herausgesogen worden. Eine Nahrungs- und Wasserquelle. Rhapsody unterdrückte ihren Widerwillen, nestelte ihr zerrissenes Hemd auf, zog es aus und band es zu einer Art Falle zusammen. Ich werde es überleben, dachte sie und fuhr sich mit der Hand über den Bauch. Wir werden es gemeinsam überleben, du und ich. Und wir werden hier herauskommen. Der Wind pfiff durch die Höhle, doch plötzlich legte er sich. Der Seneschall wartete nicht, bis das letzte Beiboot an Land gegangen war, sondern entzündete bereits das schwarze Feuer. Jedes der Ruderboote hatte eine Laterne am Bug, die über den Rand des Schiffes hinaushing und die Untiefen und Riffe auf dem Weg zum Ufer beleuchtete. Nun ergriff der Dämon in Menschengestalt die erste dieser Laternen und riss sie mit einer heftigen Bewegung aus der Halterung. Das scharfe Ende eines Blankgelegten Drahtes glitzerte in der Sonne. Der Seneschall fuhr mit dem Finger darüber. Das hervorquellende Blut zischte im Feuer einer anderen Welt. Er nahm den Schirm von der Laterne, hielt den Finger hoch und ließ das Blut in die Flamme tropfen. Beißende Rauchfäden stiegen auf und entzündeten sich zu Funken, die von der Luft angefacht wurden. Ein abgespaltener Teil der schwarzen, fließenden Flamme verwandelte sich zitternd und zuckend in ein strahlend böses Muster aus Farben, schwerer als alles, was in der Oberwelt brennen konnte; er bemächtigte sich des Dochtes und glühte auf. Plötzlich wurde die Flamme dunkler, zuckte böse und wurde zu einem intensiveren, wilderen Licht. Michael wandte sich an die neue Gruppe Soldaten und Seeleute, die mit ihm an Land gegangen waren. Er gab dem Anführer der ersten Gruppe von vier Männern die Laterne und griff nach der nächsten, um sie auf dieselbe Weise in Brand zu setzen. »Durchkämmt die Küste«, befahl er, während sein Vogt die Männer in kleinere Suchtrupps aufteilte. »Durchsucht jeden Abort in jeder Hütte in jedem Fischerdorf. Wenn ihr sie findet, zerrt ihr sie heraus und verbrennt das Haus und alle, die ihr Unterschlupf gewährt haben.« Seine blauen Augen glitzerten wild in der Dunkelheit. »Wenn ihr sie nicht findet, verbrennt alles in eurer Sichtweite.« Als ein Teil der Suchtrupps aufsaß und sich die anderen zu Fuß auf den Weg machten, zog der Seneschall Caius, seinen treuen Bogenschützen, zur Seite. »Für dich habe ich eine besondere Aufgabe«, sagte er. Seine Stimme verriet Erregung, gepaart mit Besorgnis. »Quinn sagt, sie hat ihr Zuhause einige Tagesritte ins Landesinnere hinein, in der ersten Festung an der Straße, die durch den ganzen Kontinent führt. Diese Festung ist unter dem Namen Haguefort bekannt und liegt in der Provinz Navarne. Sieh nach, ob sie nach Hause gekrochen ist. Und leg den Ort in Schutt und Asche, ob sie da ist oder nicht. Wenn du in den Wirren der Evakuierung auf ihren Gatten stößt, schaff ihn als Ersten aus dem Weg«, fuhr er fort. Sein knochiges Gesicht verhärtete sich, die scharfen Kanten deuteten den Dämon an, der in ihm hauste. »Aber schneide ihm etwas als Souvenir ab, und zwar etwas, das Rhapsody auf alle Fälle erkennen wird.« »Woher weiß ich, dass er es ist?« Michael zuckte die Achseln. »Nimm einfach an, dass jeder Mann, der alt oder jung genug ist, um ohne fremde Hilfe gehen zu können, ihr Gatte ist. Sei gründlich. Bringe jeden um, auch die Kinder, Caius. Jeden.« Caius nickte und schwang sich auf sein Reittier. »Auch wenn du in Erinnerung an deinen Bruder schießt«, sagte Michael in einer plötzlichen Aufwallung von Fröhlichkeit, »versuche, immer mit nur einem Schuss zu töten. Wenn du mehr abfeuerst, und sei es zum Gedenken an den armen, wurstfingerigen Clomyn, wird dir schnell die Munition ausgehen, und man wird dich überwältigen.« Caius’ Augen verengten sich bei der lässigen Erwähnung seines Zwillingsbruders, doch er sagte nichts, sondern trieb sein Pferd nach Osten zu der Straße, die ihn nach Navarne bringen würde. 40 Unter günstigeren Umständen wären der Bolg-König und der cymrische Herrscher füreinander keine angenehmen Reisegefährten gewesen. Aber unter den ungünstigen Umständen, in denen sie sich nun befanden, entdeckten sie, dass sie aus Notwendigkeit recht ungezwungen miteinander umgehen konnten. Beide hatten kein Bedürfnis nach Kameraderie oder Gesprächen. Achmed verbrachte seine wache Zeit damit, die unzähligen Schwingungen im Wind abzuwehren, jede Windstille nach einer Spur von Rhapsodys Herzschlag abzusuchen sowie den Gestank des F’dor zu erkennen, der sich nun von Michael nährte, einem Mann, den er schon in der alten Welt verabscheut, aber noch nie aufgespürt hatte. Ashe hingegen durchsiebte mit dem unendlich geschärften Bewusstsein des Drachen in seinem Blut unbewusst die unzähligen Informationen, die seine Sinne bedrängten. Die meisten waren alltäglich und unwichtig, und keine davon deutete an, dass seine Frau noch in der Welt der Lebenden weilte. Daher reisten sie in einem Schweigen, das ihnen beiden gefiel. Sie ritten durch das Grenzland zwischen Roland und Tyrian und hielten sich von der Straße und ihrem Verkehr fern, damit niemand sie bemerkte. Am ersten lirinischen Außenposten hielten sie nur lange genug an, um Rial in Tomingorllo, dem auf dem Berg gelegenen Palast in der bewaldeten Hauptstadt, eine verschlüsselte Botschaft zu schicken. In den langen Tagen und Nächten des Schweigens schien sich zwischen ihnen eine weitere Gemeinsamkeit zu entwickeln. Achmeds Blutzorn, die Neigung zum Hass auf die F’dor, die im gesamten dhrakischen Volk vorhanden war, brodelte unter der Oberfläche seiner Selbstbeherrschung. Es war eine schwer fassbare Wut, die ihn zur Jagd antrieb und alles andere ausblendete. Keine Ablenkung, kein Schlaf, kein Hunger, nicht einmal das Verlangen, eine geschätzte Freundin zu retten, nämlich die Frau, die die andere Seite seines Selbst war, konnte den Drang durchbrechen, den F’dor aufzuspüren und zu vernichten. Auch Ashe war in einen Zustand verfallen, den er kaum mehr beherrschen konnte. Der Drache in seinem Blut, der durch die Hilfe des Herrn und der Herrin Rowan erweckt worden war, damit sein Leben gerettet werden konnte, lauerte am Rand seines Verstandes und flüsterte ihm andauernd etwas zu, doch er war nicht so sehr auf ein einziges Ziel festgelegt wie Achmeds Blutzorn. Dieser Drache wurde leicht von anderen Dingen abgelenkt, die er begehrte; er war schwierig zu zügeln und versuchte andauernd, Ashe von seinem Ziel abzubringen. So führten beide Männer innere Kämpfe aus, um sich für den äußeren zu rüsten. Achmed versuchte sich davor zu bewahren, in den bodenlosen Abgrund zu stürzen, den die ausschließliche Konzentration auf den Blutzorn in ihm aufgetan hatte, denn sein ganzes inneres Selbst war nur noch auf seine Beute ausgerichtet. Ashe hingegen wehrte sich gegen den Wahnsinn, der ihm wegen der stetigen Wankelmütigkeit des Drachen drohte. Beide Männer verbannten die Jagd nach der cymrischen Herrin in die hintersten Winkel ihres Verstandes. Während sie Rhapsody zweifellos als das wichtigste Objekt ihrer Suche ansahen, trat doch die Rettung eines einzelnen Menschen angesichts der Bedrohung des ganzen Kontinents durch einen F’dor, die irgendwo im Drachenland lauerte, in den Hintergrund, selbst wenn es sich bei diesem Menschen um Rhapsody handelte. Ohne darüber zu sprechen, wussten beide, dass Rhapsody derselben Meinung sein würde. Sie ritten nach Nordwesten, der untergehenden Sonne entgegen, verließen das offene Land der Stützpunkte, Bauerndörfer und kleinen Städte entlang der Straße und eilten auf die Klippen zu, die einen Ritt von etwa zwei Wochen entfernt lagen. Ashe und Achmed hofften jedoch, sie schon in zehn Tagen zu erreichen. Sie wussten nicht, wo sie suchen sollten, und wollten daher an der Küste nördlich von Port Fallon anfangen und den Strand durchkämmen, bis sie Rhapsody oder Michael gefunden hatten. Beide Ziele würden nicht weit voneinander entfernt sein. Falls Rhapsody noch lebte, falls sie nicht über das Meer weggebracht worden war. Es war dieser unausgesprochene Gedanke, der den beiden große Angst einjagte. Das Meer war genau wie der Wind ein Schleier für alle Arten von Schwingungen. Falls Michael sie an Bord eines Schiffes geführt hatte und mit ihr fortgesegelt war, würde Rhapsodys Herzschlag in den schäumenden Wellen untergehen. »Wie sinnlos, solche Gaben wie wir zu haben, wenn man sie nicht dazu einsetzen kann, Rhapsodys Leben und den Kontinent vor der Geißel eines weiteren Dämons zu retten«, murmelte Achmed in einem seltenen Anflug von Gesprächigkeit beim Lagerfeuer am Rande der Nacht. Ashe saß lange schweigend da und beobachtete die zuckenden Flammenmuster. »Wir müssen nur die Gaben eines gewöhnlichen Menschen einsetzen, nämlich Verstand, Ausdauer und Glück. Vielleicht fällt uns ja etwas in den Schoß«, sagte er mit einer Stimme, die vor Erschöpfung dumpf klang. »Denn trotz unserer Titel, Macht und Ländereien sind wir nichts anderes als gewöhnliche Männer.« »Du vielleicht«, gab Achmed zurück, leerte seinen zerbeulten Becher und legte sich hin. Der Schlaf war nicht sehr erholsam. Am achten Tag seit ihrer Abreise von Sepulvarta kamen die gewöhnlichen und außergewöhnlichen Gaben der beiden Männer zum Einsatz. Achmeds Hautgewebe fing eine Veränderung der Schwingungen in der Luft auf. Es war eine Art staubiger Schwere im dichten Sommerwind, und Ashes Drachensinne spürten von neuem etwas Ätzendes in der Welt um ihn herum. Und ihre Nasen sogen den Geruch von beißendem Feuer ein, das nach der Unterwelt stank. Haguefort — Navarne Gerald Owen stürmte durch die Tür der Großen Halle und schreckte den Marschall von seinen Akten hoch. Gwydion und Melisande folgten dicht hinter ihm. »Anborn! Rauch hängt in der Luft über Tref-y-Gwartheg! Aus dem nördlichen Avonderre kommt die Nachricht, dass zwei Fischerdörfer in Flammen stehen und sich das Feuer in unsere Richtung ausbreitet. Auch sind bewaffnete Männer überall an der Küste gesehen worden, bevor die Brände ausbrachen. Sie legen mutwillig Feuer; sie beginnen am Strand und bewegen sich landeinwärts auf den Wald zu.« Der General drehte den Oberkörper in Richtung der großen Fenster hinter dem Stuhl. In der Ferne sah er es auch: den grauen Dunst, der am Horizont über den Bäumen hing, ein Vorzeichen des näher kommenden Feuers. So etwas hatte er schon einmal gesehen. Aber nicht diese dunkle Tönung des Himmels. Da war etwas Schrecklicheres im Gang als die offensichtlichen Buschfeuer, die sich rasch in Richtung des Waldes ausdehnten. Mit diesem Feuer stimmte etwas nicht. Er drehte sich so rasch wie möglich wieder um. »Owen, evakuiere die Festung«, sagte er und streckte den starken Arm Melisande entgegen. Das zitternde Mädchen rannte auf ihn zu und vergrub das Gesicht in seiner Schulter. »Ich werde die Streitkräfte losschicken, damit sie dem Fürbitter helfen, das Feuer zu löschen, und jeden zur Strecke bringen, der für die Flammen verantwortlich ist. Schick Gavin eine Brieftaube.« Der alte Kammerherr nickte, drehte sich um und wollte gehen. »Warte«, befahl Anborn. »Ruf mir den Hauptmann der Wache. Er soll die Nachricht absenden. Nimm Gwydion und Melisande mit und brich sofort mit den Bürgern nach Bethania auf. Ich werde einen Teil der Streitkräfte in die Dörfer schicken, damit auch sie geräumt werden. Aber bring die Kinder unverzüglich fort von hier.« »Ich bin kein Kind, und ich gehe nirgendwohin«, erklärte Gwydion Navarne. »Ich bin der Herzog dieser Provinz und werde zusammen mit Euch hier bleiben, um sie zu verteidigen.« Anborns Gesicht war eine seltsame Mischung aus Wut über den Widerstand und liebender Bewunderung. »Du bist noch kein Herzog, mein Junge«, sagte er ernst, obwohl seine tief in den Höhlen sitzenden Augen funkelten. »Dein Vormund, mein Neffe, ist der Regent deines Landes und unser beider Herrscher. Er war es, der mir den Auftrag gegeben hat, in seiner Abwesenheit das Bündnis zu verteidigen, also hast du keine Befehlsgewalt. Du bist für deine Schwester verantwortlich. Es ist deine Pflicht, für sie zu sorgen. Nimm sie also an deine Seite und geh fort.« »Aber...« »Versuch nicht, mit mir zu streiten, Halunke!«, brauste der General auf. »Nimm deine Schwester und geh mit Owen nach Bethania, oder ich werde dich eigenhändig in Brand stecken!« Schweres Schweigen legte sich über die Große Halle. Nachdem der junge zukünftige Herzog sein Entsetzen abgeschüttelt hatte, nickte er schwach und streckte die Hand nach seiner Schwester aus. »Komm, Melly«, sagte er. Anborn löste das weinende Mädchen sanft von seiner Schulter und streichelte ihr ermutigend über den Rücken. Gwydion Navarne machte einen Schritt nach vorn und legte den Arm um sie. Er führte sie aus der Festung ihres verstorbenen Vaters und schaute dabei nicht ein einziges Mal zurück. Abbat Mythlinis — Wasser-Basilika — Nördliches Avonderre Der Seneschall stand im Schatten des großen, vom Meereswind umtosten Steingebäudes an der Küste und schaute zu, wie die Dunkelheit vom Horizont hereinbrach. Er spürte die Wärme der Laternen, die im Rektorat und den anderen Gebäuden hinter ihnen entzündet worden waren. Die Leute im Innern wollten sicherlich die stürmische Dunkelheit vertreiben, die grau am Rande des Meeres unter den niedrig hängenden, regenschweren Wolken lauerte. Die dunkle Schönheit des heranrückenden Sturmes lag über dem architektonischen Wunder und machte den Dämon stumm, der vor Freude über die Zerstörung, die sie überall hinterlassen hatten, in ein andauerndes Keckem und Kichern verfallen war. Der Tempel stach aus Wind und Gischt hervor; sein seltsamer Turm wies fort von der aufgewühlten See. Das Fundament des gewaltigen Bauwerkes bestand aus großen Steinblöcken, die im Licht der sinkenden Sonne grau und schwarz schimmerten. Sie waren unregelmäßig, wiesen genau festgelegte Umrisse auf und wurden durch große Balken alten Holzes zusammengehalten. Sorgfältig gepflegte Wege aus großen, polierten, in den Sand eingelassenen Steinplatten führten zum Vordertor, das aus Planken von unterschiedlicher Länge bestand. Die gesamte Kathedrale ähnelte einem Schiffswrack, das in merkwürdigem Winkel aus den zerklüfteten Felsen und dem Sand des Strandes hervorragte. Das gewaltige Vordertor mit dem eingekerbten Muster am oberen Ende war wie ein riesiges, in den Kiel gebrochenes Loch. Der verrückt gekrümmte Turm stellte den Mast dar. Das gewaltige Schiff war bis zum kleinsten nautischen Gerät exakt nachgebildet. Die aus Marmor gemeißelte Vertäuung und das Takelwerk waren sechs Mal so groß wie gewöhnlich. Der Seneschall pfiff bewundernd und fragte sich, wodurch eine solch gewaltige Leistung inspiriert worden sein mochte. Weiter vom Strand entfernt lag hinter dem Hauptteil der Basilika ein weiterer Teil der Kathedrale, ein Anbau, der durch einen aus Planken gebildeten Weg mit dem Hauptgebäude verbunden war. Der Anbau sowie der Weg dorthin waren nur bei Ebbe sichtbar und wurden bei Flut vom Meer überspült. Dieser zusätzliche Teil des Tempels wirkte wie ein zerschmettertes Heck. Ein ungeheurer Anker, der auf der Sandbank zwischen den beiden Bauwerken lag, diente als Schwelle. Unwillkürlich erschauerte der Seneschall. Solange Faron dort draußen auf dem Schiff war, konnte er die Darstellung eines schrecklichen Schiffbruchs nicht genießen, falls es das war, was das Gebäude bedeuten sollte. Trotz der Sorgfalt, die der unbekannte Architekt angewandt hatte, um den Eindruck eines aus dem Gleichgewicht geratenen Wracks zu erzeugen, das schräg auf dem Sand lag, war das riesige Gebäude offensichtlich sehr stabil und fest. Unerschütterlich stand es zwischen den brausenden Wellen der tobenden See und gab keine Hand breit dem Sand nach. Der Seneschall richtete sich an die vier berittenen Soldaten hinter ihm, die seine Anordnungen erwarteten. »Durchsucht das Rektorat und die anderen Gebäude«, sagte er und schaute hinüber zu den Lichtern, die sich in den rollenden Wellen brachen. »Vielleicht gewährt man ihr hier Unterschlupf. Falls ihr sie nicht findet, verbrennt die Priester bei lebendigem Leib. Sie werden in der Überzahl sein; also sagt mir Bescheid, wenn ihr hineingeht. Ich werde euch helfen.« Die Soldaten nickten und bereiteten sich auf ihr Manöver vor. Der Seneschall öffnete das große Tor der Basilika und schaute ins Innere. Er saugte mit seinen Blicken die höhlenartige Basilika in sich auf und bestaunte die hohe Decke sowie die gewölbten Wände, die sie trugen. Balken von ungeheuerlicher Länge und Breite waren in den dunklen Stein eingelassen. Es sah ein wenig aus wie das zerbrochene Skelett eines gigantischen, auf dem Rücken liegenden Tieres. Sein Rückgrat war der lange Mittelgang, und gebrochene Rippen ragten hilflos in die Dunkelheit darüber. Runde Fenster in der Form von Bullaugen saßen hoch oben in den Wänden und erhellten den Tempel bei Tag. Eine einzelne Reihe von großen, durchscheinenden Glasblöcken war in geringer Entfernung vom Boden in die Wände eingesetzt. Durch sie war die tobende See undeutlich erkennbar; sie badete das Innere der Basilika in einem grünlichen Glimmern. Der Seneschall erschauerte erneut. Er war nun getrennt von einem seiner Elemente, dem Wind, und stand an einem heiligen Ort, der einem Entgegengesetzten und stärkeren Element geweiht war: dem Wasser. Der Boden stach durch seine Stiefel; er rauchte und zischte. Gesegneter Grund. Der Dämon in ihm schrie vor Wut und Schmerz. Die F’dor konnten keinen heiligen Boden betreten. »Rhapsody?«, rief er. Seine Stimme hallte in der höhlenartigen Kathedrale wider. In seinen Ohren klang es rau, wie die Stimme des Dämons in ihm. Er zuckte zusammen. In dem nie endenden Kampf um seinen Körper schien es augenblicklich, als habe der Dämon die Oberhand gewonnen. Er schluckte schwer. Mit großer Wut schlug er das Tor der Kathedrale wieder zu. Er ging über den Steg zum Rand des Meeres und watete in die Ebbe hinein. Dann bahnte er sich einen Weg zu der Sandbank, auf dem der Anbau mit dem großen, rostenden Anker als Schwelle stand, und setzte einen Fuß darauf. Kein Rauch stieg von seinem Stiefel auf. Dieser Anbau war im Gegensatz zur Basilika kein geheiligter Boden. Vorsichtig ging er die Sandbank hoch und trat in den offenen Durchgang. Er drehte sich um und schaute auf die Hintertür der Kathedrale. Zwei kupferne Türflügel, blau-grün vor Salzgischt und mit Runen beschrieben, trugen Reliefs mit Schwertern, die in das Erz eingelassen waren. Eines deutete nach oben, das andere nach unten. Rollende Muster gleich Meereswellen liefen an den Klingen herunter, und die Spitzen trugen ähnliche Zeichnungen. Im Hintergrund des Reliefs befand sich ein Wappen mit einem geflügelten Löwen. Der Seneschall hielt zuerst den Atem an, dann aber lachte er harsch. Es war das Familienwappen seines schlimmsten Feindes im alten Land: MacQuieth Monodiere Nagall. Hinter dem Durchgang befand sich ein einfaches, höhlenähnliches Zimmer, das den Verwüstungen durch Luft und Meer offen stand. Wenn die Flut zurückkehrte, würde der größte Teil des Anbaus wieder unter Wasser stehen. Im Gegensatz zu dem Tempel, der ein Gebäude in Schiffsform war, handelte es sich bei dem Anbau um den Teil eines echten Schiffes. Es lag mit dem Vorderteil nach oben halb auf der Seite im Sand. Was auch immer das für ein Schiff gewesen sein mochte, das hier auseinander gebrochen war und nun einen Anhang zum Tempel bildete, es war gemessen an der Größe des Wracks ein gewaltiges Gefährt gewesen, von dem nur noch ein beträchtlicher Teil des Hecks und Mittschiffs vorhanden war. Anscheinend war das Schiff nicht aus dem üblichen Holz gezimmert, sondern aus etwas, das während all der Jahre weder verrottet noch verrostet war. Im Mittelpunkt dieses Gebildes steckte im Sand ein Block aus massivem Obsidian, der unter dem Wasser glänzte, das mit jedem Windstoß darüber Hinweggetrieben wurde. Zwei Klammern aus Metall waren in den Stein eingelassen. Sie standen offen und waren leer. Auf beiden zeigte sich keine Spur von Rost. Die Oberfläche des Steins war einmal mit tief eingemeißelten Zeichen bedeckt gewesen, die mit der Zeit von dem beharrlichen Ozean fortgewischt worden waren. Nun war sie glatt, und nur ein Ausgebleichter Schatten überzog den Obsidian dort, wo die Inschrift gewesen war. An der Vorderseite des Steins war eine Plakette angebracht, deren Runen wie die auf der Kupfertür aussahen. Wie die Klammern, so war auch die Plakette von den Wogen nicht beeinträchtigt worden. Der Seneschall bückte sich und untersuchte die Plakette. Die Inschrift war in einer alten Sprache verfasst, an die er sich kaum mehr erinnern konnte, und enthielt viele Zeichen, die er nicht kannte. Doch das größte der Worte erregte sofort seine Aufmerksamkeit. Ein Lächeln bildete sich in seinen Mundwinkeln, als er das Wort zuerst einmal, dann ein zweites Mal und schließlich ein drittes Mal las. Er warf den Kopf zurück und lachte unbeherrscht. MacQuieth, stand da. Das schreckliche Geräusch des Gelächters verschmolz mit dem Kreischen des Seewindes und dem heiseren Rufen der Möwen. Der Seneschall konnte seine Freude kaum zügeln und weniger noch ein anderes Gefühl. Erleichterung. MacQuieth war in der alten Welt sein Fluch gewesen – der einzige Mensch, den er hatte fürchten müssen. Es lag etwas Befreiendes darin, auf den Grabstein des verhassten Feindes zu schauen. Es war so wunderbar, dass er seinen niedersten Gefühlen freien Lauf ließ. Rasch schnallte er seine Hose auf und urinierte laut lachend auf den Stein. »Ich habe lange genug gelebt, um tatsächlich dein Grab zu sehen«, sagte er, als er sich wieder im Griff hatte. »Empfange meine kleine Gabe heiligen Wassers zu deinem Segen. Ich hoffe, du spürst es, während deine Knochen im Sand darunter verrotten. Aber vermutlich bist du selbst inzwischen nichts anderes mehr als Sand.« Er schaute sich rasch in dem Wrack um. Als er nichts Besonderes fand, ging er zurück über die Sandbank und watete an den Strand, wo seine Soldaten auf ihn warteten. Er zog Tysterisk; der Griff glühte vor Erregung, und die Klinge war in den Windstößen abwechselnd sichtbar und unsichtbar. »Zielt mit euren Feuerpfeilen auf die Spalten zwischen den Dachschindeln«, wies er die Soldaten an. »Es müssen nur Funken sein. Von da an werde ich selbst übernehmen.« Die Männer nickten. Pfeile schwirrten bündelweise von Bögen und Armbrüsten und regneten wie Hagel auf die Dächer des Rektorats und der anderen Gebäude. Der Seneschall hob das Schwert über den Kopf; der Wind umtanzte es in sichtbaren Wirbeln. Die winzigen Funken auf den Dächern schössen zu Flammen auf. Der Seneschall schwang das Schwert durch die Luft. Funken stoben auf und machten aus den übrigen Gebäuden orange-rote Steinkästen aus Feuer, das heiß genug war, um die Wände zu schmelzen. Als sich ein Chor aus Schreien erhob, zogen der Seneschall und seine Männer nach Norden und suchten nach weiteren Orten, wo Rhapsody sich verstecken konnte. Es war beinahe zu einer Entschuldigung für die Feuersbrünste geworden. 41 Glasbläserei im Kessel von Ylorc »Wie sieht die Schmelze aus, Shaene?« Der Geselle blickte durch das Fenster des gewaltigen Brennofens. »Rot glühend«, sagte er selbstgefällig. Die Meisterin lächelte nicht. »Matt oder hell?« Shaene schaute noch einmal durch das Fenster und zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen, Theophila. Ziemlich hell, glaube ich.« Die Frau schob ihn ungeduldig aus dem Weg und sah selbst nach. Sie seufzte verärgert auf. »Man sollte doch erwarten können, dass gerade du weißt, was matt ist, Shaene«, sagte sie. »Sandy, mehr Hitze. Es muss wie Blut glühen, das aus einem schlagenden Herzen spritzt.« »Herrin!«, ächzte Shaene in gespieltem Entsetzen. »Was für ein schrecklicher Vergleich! Ich kann nicht behaupten, dass ich je die Gelegenheit hatte, eine solche Farbe zu sehen. Ehrlich.« Omet schob die Zugklappe des Ofens noch ein wenig weiter auf, damit die Flammen mehr Luft erhielten. Er wandte die Augen ab und sagte nichts. Er hegte keinen Zweifel daran, dass diese Frau die Farbe, von der sie gesprochen hatte, sehr genau kannte. Die Teststücke waren außer dem letzten purpurnen alle gebrannt worden und lagen nun in den Regalen, wo sie abkühlten und auf den Vergleich mit den alten Scheiben warteten. Omet arbeitete mit einem steigenden Gefühl der Angst in den Eingeweiden. Er wusste, dass die Farben stimmten. Was Esten auch immer sonst noch war, so war sie doch auch eine sehr geschickte Keramikerin, Ziegelbrennerin und Glaskünstlerin. Es ging das Gerücht um, ihr yarimesischer Vater, der in seiner Jugend mit den Panjeri gereist war, habe ihr die Geheimnisse der nomadischen Glasbläser schon im Kindesalter beigebracht, bevor sie ihn getötet hatte, um mit dem Familienerbe ein eigenes Geschäft zu gründen. Als sie die Meisterin der Rabengilde geworden war, hatte sie bereits Zutritt zu den besten Schulen und Werkbänken der Welt gehabt und daraus ein Lebenswerk gestaltet. Die Ziegelbrennerei war sowohl ein lohnendes Geschäft als auch ein bewährtes Deckmäntelchen für die weniger gesunden Seiten ihrer Arbeit. Seine Hände zitterten leicht, als er die Regale mit den abkühlenden Werkstücken drehte. Wenn die Farben stimmten, würden die Schriftzeichen, die in die Testscheiben eingeritzt waren, sichtbar werden. Omet hatte keine Ahnung, welche Informationen dies enthüllen würde, doch die bloße Gegenwart der Zeichen würde andeuten, dass das Farbschema korrekt war. Sobald das erreicht war, würde Esten die gewaltigen Rollen brennen, die dann in Scheiben geschnitten und in die Decke des Turms eingelassen wurden. Was das für einen Sinn hatte, wusste er ebenfalls nicht. Obwohl der Firbolg-König wenig über den Zweck des Projekts gesagt hatte, kannte Omet die Originalpläne gut genug, um zu wissen, dass der Turm mehr als nur ein Kunstwerk war. Das Bleiglas war die letzte Zutat, die ihn zu so etwas wie einem Instrument machte, zu einer Art Kraftwerk, das für Achmed sehr wichtig sein musste, wenn er so sehr auf dessen Fertigstellung beharrte. Omet hielt nicht viel von Magie, besonders dann nicht, wenn er nicht wusste, wozu sie führte, doch es war ihm gleichgültig gewesen, so lange sich der König im Berg befunden hatte. Wozu Achmed seinen Lichtfänger auch brauchte, es würde Omet schon keinen Schaden zufügen. Doch jetzt, wo der König fort war und eine rachsüchtige Mörderin die Herrschaft übernommen hatte, fühlte er sich keineswegs mehr sicher. Plötzlich starrten ihn schwarze Augen an. Omet fuhr zusammen. Die Augen richteten sich noch eindringlicher auf ihn. »Von wem hast du gelernt, die Regale auf diese Weise zu drehen, Sandy?« Omet versuchte krampfhaft, nicht zu zittern. »Von Shaene«, sagte er nur. Es war eine Lüge, aber es war besser, als ihr zu erklären, dass er diese Technik von den endlosen Unterweisungen ihrer eigenen Gesellen gelernt hatte, als er Lehrjunge in der Ziegelei von Yarim gewesen war. Esten schaute zu, wie er die Drehung vollendete. Dann nickte sie zufrieden. Sie berührte den Ständer, und als sie entschied, dass das Glas genug abgekühlt war, nahm sie das rote Stück heraus und kehrte damit zum Arbeitstisch zurück. »Ich glaube, es ist richtig. Mal schauen, ob die Testplatte derselben Meinung ist.« Sie hielt die alte Glasplatte gegen das Licht der offenen Decke und schob dann vorsichtig das neue, frisch abgekühlte Glas davor. Sie wartete, bis die Wolken über ihr fortgezogen waren, und betrachtete dann eingehend ihr Werk, während die übrigen Arbeiter hinter ihr hockten. Freude breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als ein Sonnenstrahl in den Turm schoss und durch die doppelte Schicht aus rotem Glas fiel. »Ich sehe es«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Aber ich verstehe nicht, was es heißt. Kann einer von euch es lesen? Kommt her und seht es euch an, während ich die Scheiben hochhalte.« Rhur und Shaene blickten über ihre Schulter auf die Glasstücke, die sie gegen die Decke hielt, und schüttelten den Kopf. »Ich erkenne nicht einmal die Symbole«, sagte Shaene, als er an seine Arbeit zurückkehrte. »Solche Buchstaben habe ich noch nie gesehen. Sieht aus wie zufällige Ritzungen oder vielleicht Zahlen. Tut mir Leid, Theophila.« »Komm her, Sandy«, sagte Esten, während ihr Blick noch auf dem Testglas ruhte. »Erkennst du diese Schrift?« Omet setzte seine Werkzeuge ab und kam rasch herüber. Er wollte ihre Aufmerksamkeit nicht noch stärker erregen, indem er trödelte. So spähte er ihr ebenfalls über die Schulter und hielt die Luft an, damit sein Atem sie nicht berührte. In dem durchscheinenden Glas bemerkte er einige Symbole in einer Sprache, die er nicht beherrschte, doch er hatte sie oft auf den Originaldokumenten gesehen. Bevor der König nach Yarim gegangen war, hatte niemand eine Ahnung gehabt, was sie bedeuteten. Rhapsody hatte sie übersetzt und ihre Bedeutung in die Diagramme neben die Stelle geschrieben, an der die Runen erschienen. Diese war nur das Symbol für »Rot«. Er schüttelte den Kopf und ging schnell zurück zu seiner Werkbank, wo die Bolg-Lehrlinge und Gesellen die Farben zubereiteten, die der Asche und dem Sand in den großen Fässern neben den Öfen beigegeben wurden. Esten starrte noch einen Augenblick lang auf die Symbole, dann zuckte sie die Schultern. Sie nahm jede der übrigen Testplatten und hielt sie gegen die Farben. In allen außer der letzten entdeckte sie die Zeichen. »Nun gut. Wir sollten keine Zeit verlieren, indem wir uns über die Bedeutung Gedanken machen. In Ordnung. Rhur, sag den Leuten am Ofen, sie sollen die großen Scheiben in allen Farben außer Violett schmelzen. Für diese letzte Farbe haben wir noch nicht die richtige Formel gefunden. Aber bei den anderen sechs können wir den Schmelzvorgang beginnen. Sobald sie fertig sind, zermahlt sie und bereitet sie zum Brennen vor.« »Zermahlen?«, fragte Shaene ungläubig. »Möchtet Ihr noch etwas der Mischung zugeben und sie dann erneut schmelzen? Eine Glasur vielleicht?« In Estens Augen glitzerte es. »Ja, eine Schutzglasur, damit die Gläser stärker sind, wenn sie aushärten. Ich habe sie aus Yarim erhalten. Sie befindet sich in diesen grünen Fässern. Niemand außer mir darf sie berühren. Die Glasur ist sehr kostbar. Macht euch an die Arbeit. Ich möchte die Decke fertig haben, bevor der König zurückkehrt.« Omet glättete die Oberfläche des Holzbrettes, auf dem die Scheiben geschnitten werden sollten, und staubte es leicht mit Kalk ein. Als das Brett so weiß wie seine Hände war, nahm er die Wasserkanne und besprenkelte es, dann rieb er es heftig ab, damit die Oberfläche spiegelnd und leicht erkennbar wurde. Sobald das Brett vorbereitet war, schaute er Esten an, die gerade den Gesellen Befehle gab, und seufzte still. Er griff nach dem Kompass mit der Zinnnadel, mit dessen Hilfe sie die Fensterteile anzeichnen würde, die er mit rotem Pigment ausfüllen sollte. Danach musste er die Lage der bleiernen Stützstreben vermerken, die jede Sektion von den anderen trennten. Seine Hand zitterte. Wie sehr er auch versuchte, seinen Schrecken einzudämmen, und obwohl er mit einem ausdruckslosen Gesicht gesegnet war, zeigte er doch verborgene Anzeichen von Angst, wie das Glitzern, das er bei Gelegenheit in seinen Augen gesehen hatte, wenn sie sich in dem wellenförmigen Glas spiegelten. Außerdem war sein Mund trocken wie der Sand und die Asche, aus denen das Glas geschmolzen wurde, und manchmal weigerte sich seine Stimme, einen Laut aus der wie zugeschnürten Kehle hervorzubringen. Und seine zitternden Hände. Hat sie es bemerkt?, fragte er sich und sah zu, wie die hinter ihrer Maske verborgene Gildenmeisterin mit einem glühend heißen eisernen Schneidegerät Teile aus anderen Glasscheiben herausschnitt und sie mit ihrer schlechten Zange in die richtige Form brachte. Wie lange wird es dauern, bis sie erkennt, dass ich einmal ihr gehört habe, dass ich unter ihrer Knute gelebt habe, dass ich im Inferno ihrer Ziegelei gewesen bin, dass ich zugesehen habe, wie sie die Leichen der toten Sklaven in den Öfen verfeuert und noch hundert andere Verbrechen begangen hat? Bei all diesen Fragen war ihm jedoch klar, was geschehen würde, wenn sie ihn entdeckte. Bitte lass den König bald zurückkehren, betete er zu jedem Gott, der ihn hören mochte. Er spürte den Blick der schwarzen Augen in seinem Nacken. »Sandy, hol die Steinmetzen her«, sagte sie schroff. »Es ist Zeit, das Maßwerk auszumessen.« Omet nickte, ohne sich umzudrehen, und war Shaene für seinen dummen Spitznamen sowie Rhur für dessen Schweigen so dankbar wie noch nie. Wegen ihrer Eigentümlichkeiten war sein wahrer Name noch nicht bekannt geworden. Er erhob sich von seiner Werkbank, verließ rasch den Raum und machte sich auf den Weg zu den Steinmetzen. Er hatte überlegt, ob er Shaene oder Rhur vor der neuen Künstlerin warnen und sie bitten sollte, seinen wahren Namen nicht in ihrer Gegenwart auszusprechen sowie die Arbeit zu verzögern, bis der König wiederkam. Doch das konnte er nicht tun. Er hatte sie in Aktion gesehen, hatte beobachtet, wie sie die unglücklichen Jungen, die zu entkommen versucht hatten, lebend in die Öfen geworfen oder sie zu Aufgaben herangezogen hatte, bei denen sie unweigerlich ertrinken oder ersticken mussten. Wenn er irgendjemandem seine Seele ausschüttete und sein Entsetzen laut aussprach, würde das nur sein Ende beschleunigen. Er wusste, was jeder wusste, der ihren Namen kannte. Kein Geheimnis konnte man lange vor Esten verbergen, geschweige denn für immer. 42 In der Gezeitenhöhle Nach den ersten Tagen gelang es Rhapsody, in ihrer Gefangenschaft in der Gezeitenhöhle zu einer gewissen: Routine zu gelangen. Sie hatte einen mutigen Versuch unternommen, mit der Ebbe hinauszuschwimmen, doch es hatte nur bestätigt, was, sie schon gewusst hatte, nämlich dass die wirbelnde Tide zu stark für sie war. Die Strömung erfasste sie beinahe sofort und sie musste darum kämpfen, nicht zu ertrinken. Also musste sie nach einem anderen Ausweg suchen. Sie wusste, dass sie neben Wärme unbedingt auch Wasser brauchte. Es war leicht, sich während der Ebbe zu trocknen. Das elementare Band ihrer Seele zum Feuer erlaubte ihr, Wärme auf Befehl zu erzeugen, und sie ergriff jede Gelegenheit dazu und trocknete sich immer wieder Haar und Kleidung. Sie genoss den Luxus, nicht durchnässt zu sein, bis die nächste Flut kam, und bewahrte so ihren Körper davor, zu viel Wärme zu verlieren. Wasser war schwieriger zu bekommen. Ein wenig kondensiertes Süßwasser konnte sie manchmal bei Flut an der Decke einsammeln, doch es reichte nie, um ihren Durst zu stillen. Sie musste sich mit dem Blut der Aale zufrieden geben, die mit der Flut zahlreich hereinströmten und gefangen waren, wenn die Ebbe einsetzte. Rhapsody aß ihr Fleisch roh, um so viel Flüssigkeit wie möglich zu erhalten. Manchmal fing sie ein paar Austern, andere Fische oder Seeigel, die in die Höhle gespült wurden. Nach einigen albtraumhaften Tagen spielte die Art ihrer Nahrung keine Rolle mehr für sie. Wir werden es gemeinsam überleben, du und ich, hatte sie ihrem ungeborenen Kind versprochen. Sie würde alles nur Erdenkliche tun, um dieses Versprechen zu halten. Ich bin eine Sängerin, eine Benennerin, dachte sie und streichelte sich über den Bauch, während sie von ihrem Sims am hinteren Ende der Höhle aus sehen konnte, wie der graue Himmel rosafarben wurde. Aber auch weil ich deine Mutter bin, muss ich dir die Wahrheit sagen. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an Ashes zärtliche Worte in der Nacht, als ihr Kind gezeugt wurde. Und was willst du mir zum Geburtstag schenken? Jemanden, dem du deine Morgenaubade und deine Abendvesper beibringen kannst. Ein winziger Balken aus Sonnenlicht brach am Horizont durch die Dunkelheit. Rhapsody räusperte sich. Ihre Kehle war rau vom Salzwasser. Sie sang still eines der uralten Morgenlieder, der Liebesgesänge an den Himmel, mit denen die Liringlas die Zeit einteilten, so lange sie zurückdenken konnte. Willkommen, Sonnenaufgang Berühre die Berge mit Tastendem Licht Vermische die Wolken mit Gold Und störe sanft die Träume der Nacht. Willkommen, Tagesanbruch Fülle die Stille mit Den Liedern der Vögel Hebe die Himmelslaterne zum Klang Der Musik, die ohne Sänger oder Worte ertönt. Willkommen, Morgen Feuer der Dämmerung, Licht des Tages Wärme die Welt mit deinem Glanz Erwecke uns wieder, deine Kinder Die beim Gesang der Äubade Den Aufgang der Sonne begrüßen. »Nicht mein Lieblingslied«, sagte sie zu ihrem ungeborenen Kind, als sie fertig war, »aber es ist das erste, das meine Großmutter mir beigebracht hat. Wir müssen sie nacheinander lernen. Du wirst sehen, dass sie eine bestimmte Reihenfolge haben.« Immer öfter redete sie laut mit ihrem Kind, ihrem einzigen Gefährten im Gefängnis der Gezeitenhöhle. Das Kind war ihr Rettungsanker geworden – der Grund, die Stunden unter Wasser, den Durst und den Hunger auszuhalten. Wenn Flut herrschte, kämpfte sie nicht mehr, sondern betrachtete diese Stunden als Unterricht in der Musik des Meeres. Während sie auf dem Rücken schwamm, hörte sie Melodien auf den Wellen. Zunächst waren es nur die zusammenhanglosen Tonfolgen wirbelnden Wassers, des Anbrandens und Versickerns. Sie versuchte sich auf ihr Schwimmen zu konzentrieren, denn sie wusste, dass ihr Kind in ihr ebenfalls schwamm. Wenn du in deiner kleinen, dunklen Höhle voller Wasser keine Angst hast, brauche ich auch keine zu haben. Sobald sie alle Furcht aus ihrem Kopf verbannt hatte, hörte sie es: die Weisheit des Meeres, die Gesänge von allen Stränden, die von den Wellen des Ozeans berührt wurden, einige nur als Bruchstück, andere klar und lang. Sie verbrachte den größten Teil ihrer stillen Stunden damit, den Liedern der Seeleute, dem Ruf des Meeresvolkes, den Bruchstücken der Legenden aus der alten Stadt der Mythlin, die nun still unter den Wellen ruhte, und dem Jammern der Familien zu lauschen, die ihre Angehörigen auf See verloren hatten. Es war eine unbeschreiblich schöne Sinfonie des Lebens und der Geschichte – traurig, heroisch, ruhmreich und mystisch. Sie wurde ihr und ihrem Kind vorgesungen. Wie viel Glück du in gewisser Weise hast, mein Kind, weil dir diese Zeit geschenkt wird, dachte sie eines Nachts, als das Mondlicht sie in den großen, silbernen Kräuselungen des Niedrigwassers in der Höhle spiegelte. Du wirst mit Elementarmagie durchtränkt – die Taufe der See, das Feuer, das uns wärmt und trocknet, wenn Ebbe herrscht, die Höhle in der Erde, die im Feuer gebildet und im Wasser abgekühlt ist, der Wind, der hindurchbläst und sein zeitloses Lied singt. Eines Tages wirst du wunderbar benennen können, wenn du es willst. Diese Gedanken reichten aus, um ihre Verzweiflung im Zaum zu halten. Meistens. Eines Nachmittags fühlte sich Rhapsody nicht sehr stark und elender als gewöhnlich. Sie schaute von ihrem Sims auf und starrte in helle Augen, die in einem braunen, pelzigen Gesicht saßen. Sie schreckte hoch und wich gegen die Wand zurück. Das Tier hatte sich ebenfalls erschreckt und verschwand unter der Wasseroberfläche. Als sie sich wieder in eine bequemere Lage zu bringen versuchte, stießen ihre Stiefel plötzlich einen kleinen Hagelschauer aus schwarzen Steinen in das wirbelnde Wasser. Rhapsody schaute beeindruckt zu, wie das Vulkangestein in Spiralen auf der Oberfläche trieb. Einen Moment später erschien der Otter wieder, den sie zuvor gesehen hatte, und drückte eines der porösen Felsstücke mit der Nase aus der Gezeitenhöhle. In jener Nacht dachte sie über das nach, was sie gesehen hatte, während sie auf der hereinkommenden Flut schwamm, und versuchte sich vorzustellen, wie es ihr helfen könnte. Als die Ebbe bereits wieder eingesetzt hatte, kam ihr eine Idee. Sie würde die Pfeilspitze, die noch in ihrem Gürtel steckte, dazu benutzen, immer wieder Felsstücke aus der Rückwand der Höhle Freizuscharren, und sie mit ihrem Hemd zusammenbinden. Wenn ich dazu, noch Seegras oder meine eigenen Haare nehme, kann ich vielleicht so etwas wie ein Floß bauen, dachte sie und versuchte sich die Finger nicht allzu sehr aufzuschürfen. Wenn es mich beim Schwimmen in der Flut unterstützt, kann ich möglicherweise darauf bis zum Höhleneingang gelangen, und wenn die Tide fällt, nimmt sie mich mit hinaus. Sie streichelte sich über den Bauch und berichtigte sich. Nimmt sie uns mit hinaus. Wenn das Wetter schön war, hielt sie jeden Abend bei Ebbe Ausschau nach dem rosafarbenen Licht, das die Höhle erfüllte und anzeigte, dass die Sonne versank. Rhapsody hatte das Abendlied, das der Sonne Lebewohl sagte und das Versprechen gab, Wache zu halten, bis sie nächsten Morgen wieder aufging, immer mehr geliebt als die Gebete bei Sonnenaufgang. Es war eine zweiteilige Anbetung, ein Requiem für die Sonne, das die Vollendung eines weiteren Tages anzeigte, wie das Requiem bei einem Begräbnis die Vollendung des Lebens beschrieb. Es war auch ein Gruß an die Sterne, an die Himmelswächter der Lirin. Ich werde dich nicht vergessen, flüsterte sie, als das Licht im Himmel dünner wurde und schließlich hinter dem Horizont in der Nacht verschwand. Bitte vergiss mich auch nicht. Dieser Satz klang vertraut. Während sie auf dem Wasser trieb, dachte sie darüber nach, wo sie ihn schon einmal gehört hatte. Dann erinnerte sie sich, als das Wasser ihr um die Ohren wirbelte und sein zeitloses Lied sang. Es waren die einfachen Worte, die ihre liebe Drachenfreundin Elynsynos zu Merithyn, ihrem Geliebten, gesagt hatte, bevor er ihr Reich verließ und zu seinem König Gwylliam mit der freudigen Nachricht über ein fruchtbares und wunderschönes Land zurückkehrte, das die Flüchtlinge aus Serendair aufnehmen und ihnen eine Heimat bieten würde. Er hatte es ihr versprochen und war während der Rückreise auf hoher See gestorben. Als Rhapsody sah, wie der erste Stern am Horizont aufging und in dem tiefen Kobaltblau des Spätsommerhimmels glitzerte, fragte sie sich, was wohl geschehen wäre, wenn das Meer Merithyn nicht zu sich genommen hätte – wenn er zu Elynsynos und ihren Kindern zurückgekehrt wäre, die er nie gesehen hatte. Wie anders wäre jetzt alles, dachte sie, während ihre Hand wie immer leicht auf ihrem Bauch ruhte. Sie dachte an deren Abkömmlinge – an Manwyn und ihre beiden wahnsinnigen Schwestern, die Seherinnen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die erste war bereits tot, die zweite lebte ein zerbrechliches, harmloses Leben nur für den Augenblick in einer Abtei in Sepulvarta. Edwyn Griffyth, Anwyns und Gwylliams ältester Sohn, hatte sich freiwillig ins Exil nach Gaematria zurückgezogen, der mystischen Insel der See-Weisen. Llauron, Ashes Vater, befand sich nun irgendwo verloren in der Zeit und unterhielt sich in dunstartiger Drachengestalt mit den Elementen und war eins mit ihnen. Und Anborn. Tränen traten ihr in die Augen, als sie an ihn dachte, an seinen Körper, der in dem brennenden Wald gelegen hatte, an seine Beine, deren Gebrauch er bei dem Versuch verloren hatte, sie zu retten. Ihn hatte sie nicht retten können. Eine Litanei der Trauer, entstanden aus einem einzigen nicht eingelösten Versprechen. Merithyns Versprechen. Sie dachte wieder an Anborn und erinnerte sich an ihre gemeinsame Zeit am Lagerfeuer, als sie das Lied ihrer Mutter für ihn gesungen hatte. Eine edle Tradition. Hast da schon eines für meinen Großneffen oder meine Nichte ausgesucht? Nein, noch nicht. Mir wird eins einfallen, wenn die Zeit dazu reif ist. Es ist das Lied des Meeres, dachte sie, die Musik der endlosen Wellen, allgegenwärtig und andauernd sich verändernd, ewig, zeitlos. Wie die Liebe. Alle Königreiche der Erde berührend, doch frei, die ganze Welt zu durchstreifen, überall zu Hause. So wie ich es für dich erhoffe, dachte sie. Sie fragte sich, ob einige der Melodien, die sie aus dem Meer hörte, endlose Schwingungen waren, die Merithyn in die Luft gesetzt hatte. Es gab eine Sage, nach der die Wellen von seiner Liebe zu Elynsynos erzählten. Es waren Lieder, die sie erlernen und eines Tages der Drachin vorsingen wollte. Während dieser Gedanke ihr Wärme im letzten Licht der untergehenden Sonne brachte, kannte sie plötzlich den Namen ihres Kindes. Er würde ein Lobgesang auf den glücklosen Erforscher sein, der sein Ururgroßvater war, und an den Mann, der sein Vater war. »Wenn er einverstanden ist, werde ich dich Meridion nennen, ob du nun ein Junge oder ein Mädchen bist«, sagte sie laut zu dem Kind, denn sie wollte, dass es der erste Mensch war, der diesen Namen ausgesprochen hörte. »Merithyn war die Vergangenheit; Gwydion ist die Gegenwart, aber du, Meridion, wirst die Zukunft sein und bist mit allen drei verbunden.« Der Ozean rauschte ihr seine Zustimmung ins Ohr; alles andere schwieg. 43 Traeg — Nordküste Von der südlichen Spitze der Bucht, wo die Wasser-Basilika stand, breitete sich das Feuer nach Norden aus. Es verzehrte Dörfer und kleine Städte, offenes Ackerland und Wälder und hinterließ nur rauchende Verwüstung und den beißenden Gestank der Unterwelt. Die Filiden von Gwynwald schickten ihre Waldhüter die ganze Küste entlang. Dabei halfen ihnen die Männer und Frauen, die gewöhnlich durch die Wälder reisten und als Führer für die Pilger dienten, die den Weg der Cymrer abgingen – jenen historischen Pfad zu den Orten, wo sich die Flüchtlinge aus der Ersten Flotte niedergelassen hatten, als sie in dieses neue Land gekommen waren. Diese Pflichten und zahllose andere Arbeiten im Wald wurden vernachlässigt in den Bemühungen, die Brände zu verhindern, doch die Brandleger waren nicht zu fassen. Manchmal sah man einen oder zwei Männer, manchmal sogar bis zu vier, die auf den gewundenen oder kaum benutzten Pfaden in Richtung Meer unterwegs waren. Wenn man sie anhielt, sagten sie, sie seien auf der Suche nach einer gelbhaarigen Frau. Nicht lange danach brachen regelmäßig in der Nähe schwarze, zischende Flammen aus, die mit den üblichen Mitteln nicht zu löschen waren. Die Dorfbewohner bewaffneten sich, stellten Wachen auf und versuchten sich auf diese Weise vor den Bringern des dunklen Feuers zu schützen. Oft sah man Schmiede mit dem Hammer in der Hand, wie sie vor den Dörfern lauerten oder Tag und Nacht am Rande der Siedlungen patrouillierten. Der Dämon, der sich an den Seneschall geklammert hatte, frohlockte zunächst in der großen Hitze und dem schweren Rauch, doch als die Tage vergingen und die Frau nicht gefunden wurde, bot die Asche nicht mehr so viel Freude. Wir müssen ins Landesinnere ziehen, beharrte die unablässige Stimme und nagte am Fundament von Michaels Verstand. Oder südwärts nach Port Fallon, wo es mehr Holz gibt, mehr Schiffe, mehr Gebäude, mehr Leute. Hier an dieser öden Küste finden wir doch bloß ein paar riedgedeckte Katen und hier und da einen winzigen Ort. Hier ist nicht genug Tod. Was ist schon Feuer ohne Tod, ohne Mord? Der Seneschall packte sich verzweifelt an den Kopf. »Ist dir entgangen, wie wenige wir sind?«, fragte er den Dämon wütend und spürte, wie er unter der Beleidigung hochfuhr. »Ich habe nur eine Hand voll Männer. Die Küste ist hunderte Meilen lang; das ist der einzige Grund, warum wir sie noch nicht gefangen haben. Das hier ist nicht Argaut; wir haben hier keine Macht.« Trotzdem. Michael schaute sich um und suchte nach Anzeichen für die Beiboote. In der Ferne sah er auf den Wellen schwache Lichter im Halbdunkel tanzen. Er holte tief Luft und berauschte sich am Geruch des Feuers, das die Hafenanlagen hier in Traeg verzehrt hatte, dem kleinen, Windgepeitschten Fischerdorf, dem nördlichsten der gesamten Küste. »Ich gehe zurück zum Schiff«, bemerkte er und sah sich um, weil er sichergehen wollte, dass keiner der Männer hörte, wie er mit sich selbst redete. »Ich muss noch einmal Faron befragen. Vielleicht haben die Schuppen in meiner Abwesenheit eine neue Weissagung gemacht.« Der Dämon schrie vor Wut auf. Du abscheulicher, verfluchter Narr! Genug dieser idiotischen Suche! Die Frau ist fort, du kannst sie nicht finden. Es ist Zeit, den nächsten Schritt zu machen, nämlich entweder zurück nach Argaut zu segeln oder ins Landesinnere zu gehen. Aber wir werden nicht länger sinnlos die Küste entlangwandern! »Wie immer ist es nicht deine Entscheidung«, erwiderte der Seneschall mit eiskalter Stimme. »Du kannst mit mir kommen oder jetzt aus mir ausfahren, aber du kannst mich nicht lenken. Wenn es einen Schmied oder eine Dorfhure gibt, in die du einfahren willst, dann geh. Aber wenn du weiterhin einen mächtigeren Wirt als all die menschlichen Ratten haben willst, die dir bisher zur Verfügung standen, solltest du mit deinem Geschwätz aufhören und schlafen gehen, während wir zum Schiff zurückrudern.« Faron fuhr zusammen, als er hörte, wie die Tür zum Laderaum geöffnet wurde. Eine sich nähernde Laterne stach ihm mit unwillkommenem Licht in die Augen. Aus der Dunkelheit trat der Seneschall. Er trug einen Leinensack über der Schulter, in dem es zuckte und zerrte. »Heute ist dein Glückstag, Faron«, sagte er und verbarg kaum die Härte in seiner Stimme, die seit dem Streitgespräch mit dem Dämon darin lag. »Die Matrosen haben ein paar hübsche Aale gefangen, und zwar vor der Sorte, die du so gern magst – ganz große, und die Köpfe sind noch dran.« Die milchigen Augen des hermaphroditischen Geschöpfs leuchteten vor Erregung. Der Seneschall warf Faron den Sack zu. Er verfehlte den Teich knapp und fiel nur mit einem Zipfel in das glühende grüne Wasser. Faron schaute zuerst den Sack und dann seine verkrüppelten und weichknochigen Hände angeekelt an. Er hob den Blick zu dem Seneschall und jammerte traurig. Michael starrte Faron kalt an. »Schaffst du es nicht allein? Brauchst du meine Hilfe?« Faron nickte leicht. Sein Blick wandelte sich von Verwirrung zu schleichender Besorgnis. Ohne ein weiteres Wort hob der Seneschall den Sack vom Boden auf und riss die Verschlusskordel auf. Dann holte er die zuckenden Fische heraus, riss ihnen die Köpfe ab, schnitt das Fleisch in dünne Scheiben und verfütterte sie an sein Kind mit dem Messer. Als es satt war und keine Aale mehr da waren, streichelte der Seneschall Faron über den Kopf und vergrub die Finger tief in dem weichen Gewebe. »Wo ist sie?«, kreischte er. Er drückte die Finger bis zu den Knöcheln hinein und schmierte sie mit dem Blut, das aus den Löchern drang. Faron keuchte auf und schrie vor Schmerz. Michael packte noch fester zu. »Sag es mir, Faron, oder ich reiße dir den Kopf von den Schultern und esse deine Augen, so wahr mir die Götter helfen.« Die Kreatur brach zusammen; sie jammerte und zuckte verzweifelt. Der Seneschall löste seine metaphysischen Bande und erlaubte seinem innersten Selbst durch die Löcher zu fließen, in denen seine Finger noch immer steckten. »Zeig es mir, Faron, sieh in die Schuppe und zeig mir, wo sie ist!« Farons Körper wurde steif und schwoll dann unter dem einströmenden Leben an. Michaels Körper schrumpfte zur Mumie zusammen; die knochigen Finger waren noch immer hartnäckig in Farons Schädel verkrallt. Der Seneschall starrte hinunter auf die blaue Schuppe, in der sich die Wolken vor seinen Augen auflösten. Zuerst sah er in dem grünen Wasser nur die Meereswellen, die gegen eine felsige Küste ohne jeden Sandstrand brandeten. Einen Augenblick später erkannte er den dreieckigen Schatten, der auf die See fiel. Es war derselbe Vorsprung, von dem Rhapsody gesprungen war. Mit einem rohen Zucken machte sich der Seneschall los und ließ Faron blutend und jammernd zurück. Sobald sein Körper wieder angeschwollen war, starrte er ohne das Mitleid in den Augen, das er früher einmal gezeigt hatte, auf das Kind herunter. »Du solltest diesmal besser Recht behalten, Faron«, sagte er verächtlich. »Wenn du mich wieder umsonst losschickst, werde ich dich ins Meer werfen. Anstatt dich von Aalen zu nähren, wirst du sie dann mit deinem eigenen Fleisch füttern. Mir ist gleich, ob du mein Kind bist oder nicht; ich habe keine Verwendung mehr für dich, wenn du nicht wenigstens die Schuppen lesen kannst.« Er wischte sich die blutigen Hände an der Hose ab und kletterte die Leiter hinauf zum Deck. Rhapsody lauschte dem Meer, das ihr gerade die Geschichte von zwei Liebenden erzählte, die durch Möwen und Flaschenpost miteinander in Verbindung standen, als ein zerschmetterter Körper mit der Flut in die Höhle gespült wurde. Verängstigt floh sie auf den Sims und versuchte sich von dem aufgedunsenen Leichnam fern zu halten. Die Augen fehlten, und das Gesicht war vom dauernden Aufprall gegen die Felsen zerfetzt. Der Körper war fast ganz nackt; er trug nur ein Hemd, das so aussah, als gehöre es einem Soldaten aus Michaels Regiment. Er ist hier, dachte sie. Panik durchflutete sie wie die Strömung die Höhle. Er hat mich gefunden. Michael hat mich gefunden. Nach einigen Minuten kehrte ihre Ruhe zurück. Vielleicht war das wirklich einer von Michaels Männern, doch er lag schon seit Wochen im Wasser, vermutlich genauso lange, wie sie in dieser Höhle feststeckte. Die Wellen hatten den toten Körper widerstrebend freigegeben, nachdem sie ihren Spaß mit ihm gehabt hatten. Der Leichnam hatte mindestens das Doppelte seines Körpergewichtes an Wasser aufgesogen; er war angeschwollen und mit Prellungen übersät. Kaum konnte man ihn noch als Menschen erkennen. Dieser Leichnam wurde von einem Baumstamm in die Höhle hineingetrieben und stieß gegen die Felswand, auf der Rhapsody nun hockte. Sie senkte den Kopf, um den Gestank abzuwehren, der von dem Mann ausging. Er hatte in der Sommerhitze geschmort, Seewasser eingesogen und löste sich nun allmählich auf, nachdem ihm bereits Penis und Hoden an einem vorstehenden Felsen abgebrochen waren. Hautfetzen und Haare schwammen lose auf dem Wasser und waren bereit, sich jederzeit vom Körper zu lösen. Grauen durchfuhr Rhapsody, als sie die Bedeutung dieses Ereignisses erkannte. Dieser Leichnam war nun ihr Gefährte. Er würde mit ihr hochsteigen, wenn die Höhle geflutet wurde, er würde in den wilden Strömungen gegen sie stoßen und war mit ihr im endlosen Kreislauf des Fließens und Ruhens gefangen. Ich muss hier herauskommen, dachte sie verzweifelt. Sie sah hinüber zu dem kleinen Floß aus Vulkangestein, das sie bisher zusammengebunden hatte. Geflochtene Bänder aus ihrem Haar dienten als Seile, die ihm Halt gaben. Es ist noch nicht fertig, dachte sie entsetzt. Es ist noch zu klein. Sie warf einen erneuten Blick auf den Leichnam. In wenigen Stunden würde er mit ihr in der langen Nachtwache tanzen. Sie erbebte heftig bei dieser Vorstellung. »Ich muss hier herauskommen«, sagte sie noch einmal laut. Vielleicht war es nur ihr eigener Verstand, doch sie vernahm eine innere Stimme, möglicherweise ihre eigene, aber sie klang jünger. Wir müssen hier herauskommen. Richtig, stimmte Rhapsody stumm zu. Gib mir noch eine weitere Nacht zum Flechten und Binden, und morgen früh, wenn die Ebbe einsetzt, machen wir den ersten Fluchtversuch. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu fragen, ob Michael schon fort war oder nicht. 44 Traeg Als die beiden Herrscher die Küste erreicht hatten, erwartete keiner von ihnen ein herzliches Willkommen in einem Gasthaus. Die Reise über Land war hart gewesen; sie hatten wenig Schlaf und noch weniger Erfolg gehabt. Überall, wo sie hinkamen, waren sie zu spät. Dorf um Dorf war niedergebrannt worden – einige waren zur Hälfte zerstört, andere waren nur noch Asche, die im Wind glühte. In Traeg, dem nördlichsten der kleinen Dörfer, hatte man den peitschenden Wind, der gegen die Küste schlug, schon immer sowohl als Freund als auch als Gegner angesehen, doch unter dem Elementarschwert der Luft in der Hand eines Mannes, der dunkles Feuer verbreitete, hatte er nur dazu gedient, die Verwüstung zu verstärken und die tödlichen Funken überall im Hafen zu verteilen, wodurch die gesamten Anlagen vernichtet worden waren. An diesen Hafenanlagen hielten Achmed und Ashe eines Nachmittags an und blickten schweigend auf die Verwüstungen. Keiner von beiden hatte sich die Zeit genommen, zu baden oder sich zu rasieren. Ihr äußeres Erscheinungsbild war aufgrund des Rußes und Staubes der Straße sowie der Sorgen, die an ihnen nagten, immer schlechter geworden. Unter gewöhnlichen Umständen wäre ein zerzauster Reisender mit Kapuze an einem rauen Ort wie Traeg unbemerkt geblieben, doch wegen der funkengleich sich ausbreitenden Gerüchte über Zweier- oder Dreiergruppen von Männern, die durch die Küstendörfer ritten, nach einer blonden Frau suchten und nur verbrannte Erde hinterließen, waren Achmed und Ashe am Strand von ihren Pferden abgestiegen und fanden sich nun als Gegenstand peinlich genauer Überwachung wieder. »Es wird schwer sein, jemanden davon zu überzeugen, dass wir die Pferde tauschen wollen«, bemerkte Ashe, als sie auf den Überresten des kleinen Dorfplatzes standen. »Wenn es hier überhaupt welche gibt«, sagte Achmed. Sie sahen sich nach Lebenszeichen um und fanden sie. Ein winziger Salzladen stand offen. Die Wände waren mit schwarzem Ruß überzogen, aber noch fest. Auch eine Schmiede war unbeschädigt, und eine große Taverne mit einem verrußten Schild hatte anscheinend geöffnet, denn Männer gingen hinein und kamen heraus, wobei sie einander zuriefen. Die beiden Reisenden gingen den gepflasterten Weg zu der Herberge hinauf. Früher hatten Blumen ihn gesäumt; nun waren sie verbrannt und verkrümmt. Als sie am Schild der Taverne vorbeischlenderten, blieb Ashe plötzlich stehen. Er ging durch eine Reihe schwarz verbrannter Sträucher und schaute es eingehend an. Name und Zeichen lagen unter einer dicken Rußschicht verborgen. Er wischte sie in der Mitte des Wirtshausschildes mit seinem Ärmel fort. Ein in fröhlichen Farben gemaltes und von vergoldeten Buchstaben umgebenes Kopfteil kam zum Vorschein. Ashe wischte noch einmal mit dem Ärmel darüber und trat dann schweigend einen Schritt zurück. Federhut, stand auf dem Schild. Er winkte Achmed aufgeregt zu. »Das könnte ein Vorzeichen sein«, sagte er. »Wieso?« »In Yarim sind Rhapsody und ich zu Manwyns Tempel gegangen. Bei all ihrem wirren Gerede hat die Seherin auch etwas über einen Federhut gesagt.« Achmed warf einen Blick über die Schulter auf die drei Männer, die sich auf der Schwelle des Gasthauses versammelt hatten und die Reisenden eingehend beobachteten. »Was hat sie noch gesagt?«, fragte er leise. Ashe sah die Männer ebenfalls an und wandte sich dann ein wenig ab, damit seine Worte nicht in den Wind getragen wurden. »Sie sagte, Rhapsody würde nicht bei der Geburt meines Kindes sterben«, meinte er zögernd. »Das war der Grund, warum wir ihren Rat gesucht haben.« Achmeds Gesicht war ausdruckslos. »Sonst noch etwas?« »Ja. Sie sagte zu Rhapsody, sie solle sich vor der Vergangenheit in Acht nehmen. Sie trachte danach, sie zu bekommen; sie trachte danach, ihr zu helfen; sie trachte danach, sie zu vernichten. Sie hat die Vergangenheit beschrieben als eine gnadenlose Jägerin, eine unerschütterliche Beschützerin oder eine rachsüchtige Feindin.« Achmed schnaubte verächtlich. »Hast du mir sonst nichts zu sagen?« »Es war irres Gerede. Sie hat uns auch erzählt, was aus der Speisekarte im örtlichen Gasthaus empfehlenswert sei, und hat Empfehlungen für Stephens Kinder gegeben.« Achmed ging auf die Tür zu. »Sie hört sich wie eine ausgezeichnete Wachfrau an. Vielleicht will sie ja ihren Tempel verlassen und in Ylorc leben.« Ashe packte ihn am Ellbogen. »Augenblick mal«, sagte er rasch. »Da gibt es noch eine Prophezeiung.« Er wartete, bis der Bolg-König so nahe bei ihm stand, dass niemand sie belauschen konnte. »›Vor langer Zeit ein Versprechen erdacht, vor langer Zeit einen Namen gebracht, vor langer Zeit eine Stimme gelacht – drei Schulden gemacht.‹« »Hatte das irgendeine Bedeutung für Rhapsody?«, fragte Achmed. »Nein, aber ich habe während unserer Reise über diese Worte nachgedacht. Der einzige Teil, in dem ich einen Sinn erkennen kann, ist ›ein Versprechen erdachte Rhapsody hat mir vor langer Zeit gesagt, dass sie gezwungen war, gegen ihren Willen zu lügen und ihr Wort einem grausamen, bösen Bastard zu geben, um für ein Kind Sicherheit zu erlangen. Ich glaube, dieser Mann war der Seneschall, den wir suchen und den du den Atemverschwender nennst.« Achmed sagte nichts, sondern nickte nur. »Wir sollten hier mit unseren Nachforschungen fortfahren«, sagte er. Seine Augen waren vor Erschöpfung gerötet. »Es ist das letzte der Küstendörfer. Wenn sie hier niemand gesehen hat, weiß ich auch nicht, wo wir noch suchen sollen.« »Ich glaube nicht, dass man Rhapsody hier gesehen hat, aber vielleicht Michael«, gab Achmed zurück und deutete wütend auf die Ruinen um sie herum. Ein hoch aufgeschossener Mann mit Matrosenmanieren und einem dichten Bart versperrte den Türdurchgang. »Kann ich euch helfen, Kumpels?« »Wir suchen etwas zu essen«, erwiderte Achmed und warf einen Blick in die Taverne. »Und Bier«, fügte Ashe hinzu. »Und frische Pferde.« »Das Letztere gibt’s nicht«, sagte der Mann. »Keine Pferde zu kriegen. Die wenigen, die überlebt haben, gehören dem Wirt, und der braucht sie für Gavins Waldhüter, die gegen das Feuer kämpfen und nach den Brandstiftern suchen.« Ohne den Blick von den Fremden abzuwenden, rief er über die Schulter: »He, Bamey! Kundschaft!« Der junge Mann auf der anderen Seite des Tresens schaute hoch und winkte sie heran. Dem Mann in der Tür gab er ein verstohlenes Zeichen. »Was soll’s sein, die Herren?« »Etwas zu essen und zu trinken«, antwortete Achmed. »Wir mögen alles außer Hammel. Falls Ihr nur Hammel habt, gebt mir Brot und Bier.« »Brot und Bier und dünne Kohlsuppe ist alles, was ich habe«, erwiderte der Wirt und stellte zwei Becher vor sie. »Wir sind ein wenig... beschäftigt gewesen, wie Ihr vielleicht bemerkt habt.« Die Reisenden nickten. »Ist vor dem Feuer hier jemand durchgekommen und hat nach einer Frau gefragt?« Der Wirt tauschte einen raschen Blick mit dem Mann bei der Tür. »Ja«, sagte er. »Es waren drei, und einer davon war so angezogen wie Ihr, Herr.« »Wisst Ihr, wohin sie gegangen sind?« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Da müsst Ihr schon den alten Barney fragen; vielleicht weiß er’s. Er wird bald hier sein.« »Den alten Barney? Ist das Euer Vater?« Der dünne junge Mann lachte. »Ich sehe, Ihr Herren seid nicht oft in einer Taverne zu Gast.« »Ich habe schon seit langem genug davon«, meinte Ashe. Die Erschöpfung machte ihn gereizt. »Warum sagt Ihr das?« »Wisst Ihr nicht, dass alle Wirte Barney heißen?« Achmed zuckte die Achseln. »Ich habe nie einen nach dem Namen gefragt. Hauptsache, er schenkt mir Bier ein. Es ist mir egal, ob ich ihn persönlich kenne, es sei denn, dass das Bier dann für mich weniger kostet.« Das gezwungene Lächeln des jungen Mannes wurde ein wenig schwächer. »Das ist eine alte Tradition und eine alte Geschichte. Eine, die älter als dieses Land ist.« »Ach?«, machte Ashe und ließ dem Drachen in sich größere Freiheit, damit er den Mann genauer abschätzen konnte. Er bemerkte, dass der Wirt kein Cymrer war, genau wie die anderen, die sich in der Tür zusammendrängten und die Fremden eindringlich anstarrten. Sie hatten ihre Waffen zwar nicht gezogen, aber sie waren auf der Hut. »Würdet Ihr uns mit dieser Geschichte beehren?« Der Wirt seufzte. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. In einem alten Land, weit übers Meer, hörte vor langer Zeit ein Wirt namens Barney etwas, das nicht für seine Ohren bestimmt war. Das ist ein Berufsrisiko bei uns, denn gutes Bier löst die Zunge, und in einer Taverne gibt es immer viele, für die nach einigen Gläsern das freundliche Gesicht hinter dem Tresen plötzlich der beste Freund auf der ganzen Welt ist. Doch dieser besondere Barney hatte das Pech, der Einzige in der Gaststube zu sein, als er etwas mitbekam, von dem ein Knabe von großem Einfluss und kleinem Gewissen keinesfalls wollte, dass es allseits bekannt würde. Also heuerte der Knabe den besten Mörder seiner Zeit an, nannte ihm den Namen der Stadt, die etwa dreißig Meilen entfernt lag, sowie den Namen des Opfers – den Wirt namens Barney. Er zahlte dem Mörder eine nette Summe, damit er den Wirt ins Nachleben beförderte. Er war nicht aus der Gegend und kannte den Namen des Gasthauses nicht, aber sie gingen beide davon aus, dass er es schnell finden würde. Der Mörder traf in der Stadt ein und stellte diskrete Nachforschungen an – so wie Ihr beiden.« Der Wirt hob eine Augenbraue und fuhr fort, während er den Tresen wischte: »Er fragte die ersten Männer, denen er begegnete, wo er ein Gasthaus mit einem Wirt namens Barney finden könne. Und er erhielt drei verschiedene Antworten. Er ging ein wenig tiefer in die Stadt hinein und versuchte es erneut, doch hier erfuhr er nicht nur die Namen von vier weiteren Tavernen, sondern auch, dass Wirte ein nomadisierendes Völkchen sind. Das liegt sozusagen in der Natur der Sache und ist eine kleine Sicherheitsvorkehrung. Offenbar hatte sich die missliche Lage des originalen Barney herumgesprochen, und alle Wirte in der Stadt entschieden sich spontan, dieselbe Identität und denselben Namen anzunehmen, denn niemand sollte für den Fehler eines anderen einstehen müssen. Und so hat sich die Tradition fortgesetzt. Sie hat sich im ganzen alten Land ausgebreitet, das jetzt untergegangen ist, und als die Flüchtlinge von dort herkamen und die ersten Bierhäuser errichteten – die natürlich immer zu den ersten überhaupt errichteten Gebäuden zählen -, sind sie auch alle zu ›Barney‹ geworden.« Er lächelte schwach und machte sich wieder daran, seine Krüge abzutrocknen. »Das ist eine gute Geschichte, und auch das Bier ist gut«, sagte Ashe und stellte seinen zerbeulten Krug zurück auf die Theke. »Also gehört dieser Laden dem alten Barney?« »Jawoll«, meinte der Wirt. »Dieser und nur dieser allein, auch wenn ich weiß, dass er einmal eine Schankstube desselben Namens vor langer Zeit und ganz weit weg von hier gehabt hat. Er ist ein sehr alter Mann – vielleicht nicht der ursprüngliche, echte Barney, aber möglicherweise hat er ihn noch gekannt.« Er lachte über seinen eigenen Scherz. An der Tür erhob sich ein leichter Tumult. Die Gruppe teilte sich, als ein alter Mann mit dichtem weißem Haarschopf hindurchging und fröhlich pfiff. »Wo wir gerade von ihm sprechen: Da ist er«, sagte der Wirt. Der Mann nahm den Hut vom Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, aus denen die Seegischt sprühte. Er hängte Hut und Mantel an einen Ständer neben der Tür und kam zum Tresen herüber. In seinen blauen Augen lag ein Leuchten. Er hörte mitten im Lied mit dem Pfeifen auf. »Hab diesen Leuten gerade die Geschichte unseres Namens erzählt, Barney«, sagte der junge Wirt und stellte die sauberen Krüge unter den Tresen. »Sie haben nach den Männern gefragt, die vor drei Tagen hier durchgekommen sind.« Der alte Barney nickte, während er den Tresen umrundete und dahinter nach einer Schürze griff. Dann sah er die beiden Reisenden an. Plötzlich stand er aufrechter, lehnte sich nach vorn und sprach die beiden gelassen an. »Wenn Ihr bitte mit mir kommen wollt, meine edlen Herrschaften. Ich bin sicher, wir haben einen besseren, abgeschiedeneren Tisch für Herren Eures Ranges.« Achmed und Ashe schauten einander überrascht an. Keiner von beiden trug ein Abzeichen, das seine Stellung andeutete. Im Gegenteil: die Reise war so hart gewesen, dass ihr Erscheinungsbild ihnen den Zutritt zu einigen Wirtshäusern am Weg verwehrt hatte. Sie erhoben sich von ihren Hockern und folgten dem alten Barney zu dem Tisch im hinteren Teil des Raumes, auf den er gezeigt hatte. »Ihr kennt uns, Gevatter?«, fragte Ashe, als sie sich behände auf die wackeligen Stühle setzten. »Ja, Herr«, erwiderte der Inhaber der Taverne und verneigte sich ehrerbietig vor den beiden. »Woher?«, wollte Achmed wissen. In die Augen des alten Mannes trat ein Leuchten. »Auch ich komme von der Insel«, sagte er auf Alt-Cymrisch. »Ich war bei Eurer Einsetzung zugegen, Gwydion. Ich habe an jenem Tag in der Schlacht gegen den Gefallenen gekämpft, auch wenn ich nicht mehr so flink bin wie damals. Und Euch sah ich als Gastgeber im Gerichtshof, Majestät«, sagte er zu Achmed. »Bitte sprecht Orlandisch, Gevatter«, sagte Ashe freundlich. »Auch wenn ich Euch verstehe, ist meine Kenntnis des Alt-Cymrischen eher akademischer Natur. Mein Vater bestand darauf, dass ich diese Sprache lerne, doch schon vor meiner Geburt war sie lange tot. Es ist wichtig, dass ich alles verstehe, was Ihr zu sagen habt.« »Schon wieder ist uns deine Unzulänglichkeit hinderlich, Ashe«, meinte Achmed. »Warum kenne ich Euch nicht?«, fragte Ashe den alten Mann und betrachtete eingehend die leuchtenden blauen Augen, das zerfurchte Gesicht und das dichte Haar, das weißer als Salz war. »Ich habe eine Zeit lang den Weisheitsring des Patriarchen getragen und glaubte, er würde mir die Namen all jener enthüllen, die von der Insel gekommen sind und noch leben. Und doch kenne ich Euch nicht – warum nicht?« Der Wirt lächelte. »Weil mein Name nicht mein eigener ist, Herr«, sagte er freundlich. »Er gehört zu einer Bruderschaft, die schon vor dem Auszug existierte. Meine Treue dieser Bruderschaft gegenüber ist viel älter und stärker als jener Eid, den ich wie alle anderen, die aus Serendair geflohen sind, Eurem Großvater Gwylliam geleistet habe. Mit Verlaub, deshalb habt Ihr keine Macht über mich.« Er beugte sich leicht vor. »Im Gegensatz zu Eurer Frau.« »Rhapsody?«, fragte Ashe. Seine Stimme war lauter geworden, ohne dass er es gewollt hätte. Achmed trat ihm auf den Fuß, damit er wieder leiser sprach. »Habt Ihr sie gesehen?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nicht seit dem Konzil, Herr.« Seine Augen wurden groß, als er begriff. »Sie ... sie ist doch nicht etwa die Frau, die gesucht wird, oder?« Die Reisenden sahen einander an; nach einer kurzen Pause nickte Achmed. Entsetzen erfüllte das Gesicht des alten Mannes. »Gute Götter, nein! Nicht schon wieder. Was ist geschehen?« »Schon wieder?«, wunderte sich Achmed. »Sag uns, woher du sie kennst.« Der alte Barney schaute kurz über die Schulter. Als er erkannte, dass in der Taverne die übliche Geschäftigkeit eingekehrt war, drehte er sich wieder um und sagte traurig: »Ich kenne sie aus der alten Welt. Sie war der Lieblingsgast meiner Frau Dee und natürlich auch der meine. Sie hat ihre Musik in meiner Taverne studiert. Immer hat sie einen der Hintertische genommen und auf Pergamentblätter geschrieben. Nie hat sie die geringsten Schwierigkeiten gemacht. Wir haben sie beide geliebt. Wenn sie nicht gewesen wäre, säße ich jetzt nicht hier und könnte mich mit Euch unterhalten.« »Warum nicht?«, fragte Ashe. Die Augen des Wirts leuchteten in der Dunkelheit. »Ich bin sicher, dass es nur ein Zufall war, Herr. Am letzten Tag, als ich sie in der alten Welt gesehen habe, hat sie mir ein Blatt mit Musik zugesteckt, das sie geschrieben hatte, und mir gesagt, das sei mein Name. Wenn ich je einem Troubadour begegnen sollte, müsse er es für mich spielen. Damals war sie sehr in Eile. Sie war auf der Flucht vor einem gefährlichen Mann, also steckte ich das Blatt in meine Schürzentasche und vergaß es. Ich habe sie in der alten Welt nie wieder gesehen. Etwa zwei Wochen später kam ein Bänkelsänger in den Federhut – ich habe den Namen beibehalten, als ich dieses neue Gasthaus gebaut habe -, und ich bat ihn, mir für einen Krug Bier das Lied vorzuspielen, das Rhapsody für mich aufgeschrieben hatte. Es war eine schwierige Melodie, die gut zu mir passte, denn es war ja angeblich mein Name. Ich hatte damals keine Ahnung von lirinischen Benennern und ihren Kräften. Rhapsody war für mich bloß ein süßes Mädel in einer schlimmen Lage gewesen, und die Melodie war angenehm für meine Ohren, also habe ich sie jeden Tag gepfiffen. Irgendwann habe ich es unbewusst getan. Das hat die arme Dee zur Verzweiflung gebracht, möge sie in Frieden im Nachleben ruhen. Der serenische Krieg kam und ging; meine geliebte Dee wurde alt und trat von dieser Welt in die nächste ein; das Leben ging weiter, Tag für Tag, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, und ich schien nicht mehr älter zu werden seit dem Tag, an dem Rhapsody mir dieses Notenblatt ausgehändigt hatte. Das ist mir aber erst viel später klar geworden. Ich dachte zuerst, ich hätte vielleicht einen lirinischen Vorfahren oder sonst jemanden, der sehr langlebig war. Und dann habe ich an Bord des Schiffes, auf dem ich Serendair verlassen habe, einen lirinischen Benenner getroffen. Er war ein angenehmer Knabe und redete mich mit meinem Namen an, obwohl ich mir sicher war, dass er mich nie zuvor gesehen hatte und meinen Beruf nicht kannte. Woher kennt Ihr meinen Namen?‹, habe ich ihn gefragt. Er lachte und sagte: ›Ihr habt ihn mir selbst genannt, guter Mann. Es ist das Lied, das Ihr andauernd pfeift/ Auf der Reise habe ich ihn gut kennen gelernt – wir beide sind mit der Ersten Flotte gesegelt und in Merithyns Schiffskonvoi gereist – und alles über den Grund für meine Langlebigkeit erfahren. Indem ich jeden Tag meinen Namen gepfiffen habe, habe ich mich in gewisser Weise immer wieder neu geschaffen und in den ›Schwingungszustand‹ – was immer das sein mag – versetzt, in dem ich mich am vorangegangenen Tag befunden hatte.« Seine Augen leuchteten noch heller in der rauchgeschwängerten Luft der Taverne. »Als wir hier ankamen, hatten wir sie alle – die Unsterblichkeit. Manche haben sie geschätzt, andere haben sie gehasst, aber im Gegensatz zu mir hatten sie bisher nicht das Glück gehabt, schon auf der Insel lange über die natürliche eigene Lebensspanne hinaus gelebt zu haben. Wenn dieses letzte Geschenk Eurer Frau nicht gewesen wäre, Gwydion, hätte ich diesen Ort hier nie erreicht. Und auch wenn ich viele schreckliche Dinge gesehen und Zeiten durchlebt habe, in denen ich mir gewünscht habe, ich sei schon im Nachleben bei meiner Dee, muss ich doch insgesamt sagen, dass es ein unvergleichliches Geschenk war.« Ashe legte seine Hand auf die des alten Mannes; sie zitterte, und die geschwollenen Knöchel der arthritischen Finger bebten heftig. »Der Mann, der damals meine Frau verfolgte ...«, sagte er ruhig und versuchte, seine Gefühle im Zaum zu halten, »kanntet Ihr ihn?« Der alte Barney öffnete die Augen noch weiter. Die blassblaue Iris und die weißen Augäpfel standen in starkem Kontrast zum schwachen Licht in der Taverne. »Michael, der Wind des Todes«, flüsterte er, als fürchte er sich, den Namen laut auszusprechen. »Ja, ich kannte ihn und habe ihn ein oder zwei Mal gesehen. Warum?« »Er ist es, der sie jetzt verfolgt – oder sie bereits in seiner Gewalt hat«, sagte Achmed offen. »Vermutlich ist er auch derjenige, der die Küste in Schutt und Asche legt. Er ist nicht mehr der Wind des Todes, sondern der Wind des Feuers und die Hure eines F’dor-Geistes.« »Gute Götter«, keuchte der alte Barney und machte ein heiliges Zeichen auf der Stirn. »Nein.« Ashe verstärkte den Druck auf seine Hand. »Helft uns«, sagte er knapp. »Ich glaube, Ihr könnt es. Rhapsody und ich haben zu Beginn des Sommers die Prophetin von Yarim besucht, die Seherin der Zukunft. Sie hat eine Prophezeiung von sich gegeben, die zum Teil mit Euch zu tun haben könnte.« Der alte Mann zitterte noch heftiger. »Manwyn? Manwyn... hat meinen Namen in einer Prophezeiung genannt?« »Ich bin mir nicht sicher, aber es scheint so«, sagte Ashe. »Sie sagte Rhapsody, sie solle sich vor der Vergangenheit in Acht nehmen, die danach trachte, sie zu bekommen, sie zu vernichten und ihr zu helfen. Und dann sagte sie: ›Vor langer Zeit ein Versprechen erdacht, vor langer Zeit einen Namen gebracht, vor langer Zeit eine Stimme gelacht – drei Schulden gemacht/« »Ich ... ich wüsste nicht, dass ich je zuvor in einer Prophezeiung erwähnt worden bin«, sagte der alte Wirt nervös. »Eure ... Großtante jagt mir Angst ein. Ich habe ihre Verrücktheit vor langer Zeit auf dem Konzil beobachtet. Der Gedanke, sie könne mich durch ihren Sextanten gesehen haben, ist schrecklich, Herr. Ich bin nur ein einfacher Wirt und ein sehr alter Mann.« »Wollt Ihr meiner Frau helfen?«, fragte Ashe verzweifelt. »Ich glaube, Ihr seid die ›Vergangenheit‹, die Manwyn erwähnte.« »Ja, natürlich«, flüsterte Barney. »Denn obwohl sie verrückt ist, sind die Worte der Seherin wahr. Es wurde ein Name gebracht, und zwar der meine, wie ich Euch gesagt habe, und deshalb lebe ich noch. Ich stehe tief in Rhapsodys Schuld und will sie sehr gern begleichen. Ich weiß bloß nicht...« Plötzlich verstummte er, als ihm ein Gedanke kam. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, und die Furcht verschwand aus seinen Augen. »Vielleicht weiß ich es doch«, sagte er leise. »Sag es uns«, befahl Achmed. »Bitte, Gevatter«, fügte Ashe hinzu und versuchte den Drachen, der sich ungeduldig in seinem Blut erhob, zu besänftigen. »Ihr sagtet, es ist Michael, der Wind des Todes, der sie nun verfolgt?« »Ja.« Der alte Barney nickte. »Ich kenne ein Geheimnis, das ich bisher mit niemandem geteilt habe, nicht in diesem Leben und nicht im Nachleben«, sagte er leise. »Ich habe es all die Jahre hindurch bewahrt. Aber wenn ich es Euch nun verrate, kann ich vielleicht meine Schuld bei Rhapsody begleichen und ihr so helfen, wie sie mir damals geholfen hat. In diesen Zeiten mag es ein sehr mächtiges Geheimnis sein.« »Was ist es?«, fragte Achmed und packte den Rand des Tisches. Er hatte sein Bier nicht angerührt und seine ganze Aufmerksamkeit auf den Mann gerichtet, als wolle er die Antwort nicht nur hören, sondern auch fühlen. Der alte Mann beugte sich weiter vor, als der Lärm hinten in der Taverne lauter wurde. Er redete so leise, dass die beiden Herrscher sich anstrengen mussten, ihn zu verstehen. »MacQuieth lebt«, sagte er. 45 Schweigen herrschte für einen Augenblick am hintersten Tisch der Taverne. Als Ashe und Achmed die Sprache wieder fanden, redeten sie gleichzeitig, und ihre Worte purzelten durcheinander. »Wo? Woher weißt du das? MacQuieth Monodiere Nagall? Unmöglich ... er ist schon seit vierzehn Jahrhunderten tot. Was ...« »Psst!«, zischte der alte Barney. Seine Blicke huschten verstohlen in der Taverne umher. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie nicht belauscht worden waren, wandte er sich wieder an die beiden Herrscher. »Achmed, Gwylliam, Ihr müsst mir zuhören, ohne mit mir zu rechten, denn ich sage die Wahrheit«, meinte er mit fester Stimme. »Zwar berichtet die Geschichte von seinem Tod, aber auch die Geschichte irrt manchmal.« »Er war ein Cymrer und ein Blutsverwandter«, sagte Ashe leise und wählte seine Worte mit Bedacht. »Falls er noch lebt, hätte er den Ruf des Konzilhorns verspürt, und wenn nicht den des letzten Konzils, dann die der vorangegangenen. Jeder Cymrer hat diese Verpflichtung gespürt, wo auch immer er sich befand. Sie wird immer drängender, je mehr man sich gegen sie verschließt, und führt zum Tod, wenn man ihr lange genug widersteht. Er ist nie gekommen. Also kann er nicht mehr leben, Barney.« Der alte Wirt seufzte gereizt. »Ich kann Euch sagen, warum das nicht stimmt, mein Herr«, sagte er ruhig. »Der Grund für Eure Fehleinschätzung liegt in der Tatsache, dass Ihr nicht versteht, warum das Hörn auf diese Weise wirkt. Ich war da und habe es mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört.« Sein Gesicht nahm denselben abwesenden Ausdruck an wie zuvor, als er von der alten Welt gesprochen hatte. »Als alle Männer, Frauen und Kinder Serendairs an Bord der Schiffe gegangen waren, die zu diesem neuen Land segelten, gab man ihnen zwei Dinge: einen Schöpflöffel mit Wasser aus der Quelle der Vor-Zeit und das silberne Hörn des Königs. Gwylliam hatte verfügt, dass jeder Flüchtling aus der Quelle trinken sollte, denn er glaubte, das würde ihr Leben und ihre Gesundheit während der Überfahrt schützen, und grundsätzlich hatte er Recht. Es ist noch immer nicht ganz klar, was den Cymrern ihre Alterslosigkeit und die Fähigkeit verlieh, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, obwohl es viele Theorien darüber gibt. Ich persönlich glaube, dass dafür das lebende Wasser aus der alten Quelle verantwortlich ist, wenn auch vielleicht nicht ausschließlich. Und was das Hörn angeht«, fuhr der alte Mann fort, »so hatte Gwylliam, Euer Großvater, verfügt, dass jeder Einwohner von Serendair, der zu dem neuen Kontinent segeln wollte, diesem Hörn Treue schwören und versprechen musste, in Zeiten der Not oder bei Einberufung eines Konzils dem Ruf des Horns Folge zu leisten. Aufgrund der Bedeutung des Augenblicks und in Gegenwart einer solch uranfänglichen Kraft war dies ein Versprechen, das man nicht brechen konnte.« »Ja«, stimmte Ashe ihm zu. »Und wir wissen, dass Mac-Quieth mit der Zweiten Flotte gesegelt ist...« Die Stimme des alten Mannes knisterte vor unterdrücktem Ärger. »Herr, wenn Ihr zuhören würdet, würdet Ihr nicht mehr so sehr wie Euer Großvater klingen. Wenn Ihr MacQuieths Hilfe in Anspruch nehmen wollt, müsst Ihr Euch so weit wie möglich von diesem Erbe befreien.« Ashe verstummte. »MacQuieth schwor Gwylliam keine Treue auf das Hörn. Der Grund dafür ist eine lange Geschichte, für die wir jetzt keine Zeit haben. Es muss genügen, dass MacQuieth seinen König – Euren Großvater – hasste. Als die Insel in Gefahr geriet, war er schon alt und meldete sich freiwillig, zurückzubleiben und über die letzten Stunden Serendairs zu wachen, doch der König wollte die Zweite Flotte beruhigen und befahl, dass er sie anführte. MacQuieth machte Euren Großvater für den Tod seines Sohnes Hector verantwortlich, der an seiner statt beim Ablegen der Flotte zurückblieb, um die Insel in ihren letzten Tagen zu schützen. Als das Schlafende Kind erwachte und die Insel verloren war, ging Hector mit ihr unter. Und alle, die mit dieser Sache zu tun hatten, wussten, dass es so enden würde: Hector, MacQuieth und Gwylliam. MacQuieth fügte sich in das Unvermeidliche, aber sein Hass auf Gwylliam schwand nie. Als ihm das Hörn dargereicht wurde, auf das er seine Hand legen und Eurem Großvater die Treue schwören sollte, spuckte MacQuieth stattdessen ins Meer. ›Ich schwöre nicht‹, sagte er zu den Soldaten, die entlang der Laufplanke standen. ›Ich habe alles gegeben, was ich zu geben hatte. Wenn ihr noch mehr von mir verlangt, werde ich zusammen mit meinem Sohn hier bleiben.‹ Angesichts dieser Möglichkeit schauten sich die Soldaten an, und da sie wussten, dass MacQuieth der Oberbefehlshaber der gesamten Zweiten Flotte und Kapitän des Schiffes war, auf dem sie sich befanden, ließen sie ihn durch. Also hat er im Gegensatz zu uns anderen keine Treue geschworen. Und als das Konzilhorn ertönte und wir alle den Drang verspürten, uns zu versammeln, fühlte er diesen Zwang nicht. Er blieb versteckt, verborgen vor dem Antlitz der Zeit.« »Er ging ins Meer«, murmelte Ashe und dachte an die unzähligen Geschichtsstunden, die ihm sein Vater gegeben hatte. »Er stand am Strand von Manosse, wo die Zweite Flotte schließlich landete. Er stand knietief in der Brandung und hielt Wacht für die Insel. Die einzige Person, deren Gegenwart er ertrug, war seine Schwiegertochter Talthea, die Bevorzugte. Ich erinnere mich daran, sie sterben gesehen zu haben, als ich klein war. Als er den Tod der Insel in den Wellen spürte, ging er hinaus ins Meer und verschwand. Man nahm an, er sei ertrunken, denn niemand sah ihn je wieder.« Der alte Barney lächelte. »Ach ja, niemand. Er ist sicherlich der Weiseste aller Männer, denn er weiß immer so viel. Als Wirt habe ich mir ein Jahrtausend lang seine falschen Annahmen und Halbwahrheiten angehört. Wieso ist allein Gaematria, die Insel der See-Weisen, in all den Jahrhunderten inmitten des großen Zentralmeeres unbelästigt geblieben? MacQuieth beschützt sie aus der Tiefe. Es liegt eine ganze Welt unter den Wellen des Meeres, Euer Majestät, eine Welt hoher Berge und tiefer Schluchten, unvorstellbarer Wunder und Wesen, die man selten, wenn je, auf dem trockenen Land sieht. Nehmt nicht an, dass etwas tot ist, wenn es sich nicht im Bereich Eurer Sinne befindet. Es gibt viele Orte auf dieser Welt, an denen man sich verstecken kann, wenn man nicht gefunden werden will.« »Wird er uns bei unserer Suche nach Michael helfen?«, fragte Ashe, der plötzlich wieder lebendiger geworden war. »Meine Mutter stammte von Talthea ab. Ich bin mit ihm verwandt und trage Kirsdarke, das Schwert, das früher in seiner Obhut stand.« »Ja«, sagte Barney ernst, »aber Ihr stammt auch von Gwylliam ab, dem er nie vergeben wird.« »Vielleicht wird er es für Rhapsody tun?«, beharrte Ashe. Verzweiflung kroch in seine Stimme. »Sie ist ihm in der alten Welt einmal begegnet – sie suchte nach mir.« Barney schüttelte den Kopf. »Wenn MacQuieth irgendetwas unternimmt, dann wegen Michael«, sagte er. »Er braucht keinen anderen Grund. Das ist eine Verbindung, die viel älter und stärker als der Umstand ist, dass Ihr von ihm abstammt. Aber ich kann nicht für ihn sprechen. Wirte können niemals Versprechen für alte Helden abgeben. Das ist kein guter Stil.« Achmed und Ashe sahen sich an und kicherten. »Vielen Dank, Barney. Wir werden sein Geheimnis bewahren«, versprach Ashe. »Wo ist er?«, fragte Achmed. Der alte cymrische Wirt stand auf und stellte seinen Stuhl unter den Tisch. »Kommt mit, ich werde ihn Euch zeigen.« Auf dem Gurgus — Ylorc In der Kühle des Abends taumelten die Glaswerker, die von zwölf Tagen ununterbrochener Arbeit und jeweils fünfstündigem, schichtweisem Schlaf völlig erschöpft waren, hinaus in die frischere Luft der Korridore, die zu den Bergpässen führten. Sie waren fertig – mit Ausnahme einer riesigen Scheibe. Die Frau, die bei den Glasarbeitern als Theophila bekannt war, stand am oberen Ende des Geländes und beaufsichtigte das Versiegeln der Glaskuppel. Nach zwei oder drei kleinen Änderungen war sie immer noch nicht zufrieden und kletterte schließlich selbst auf die Kuppel. Sie hing über dem großen Loch und verlötete die Bleistreben zwischen der grünen und der gelben Abteilung. Viele der Bolg-Steinmetzen, die an der Errichtung der Stützen und den Glaseinfassungen mitgearbeitet hatten, standen schweigend und etwas hilflos an der Seite und beobachteten die Frau, die an einer Sicherung hing. Die dünne Luft auf dem Berggipfel machte ihr das Atmen schwer. Die Bolg fragten sich, ob sie wegen des Luftmangels ohnmächtig oder einen Todessturz in die Tiefe vollführen oder gar mit ihrer Arbeit fertig werden würde. Als sie schließlich zufrieden war, gab sie dem allgegenwärtigen, unterwürfig in ihrer Nähe kauernden Shaene ein Zeichen. »In Ordnung, Shaene, zieht mich hoch.« Die Bolg-Steinmetzen ergriffen das Seil, das über drei Rollen lief, hoben sie von der Glaskuppel fort und setzten sie auf dem Felsen ab. Sie machte sich von dem Seil los, zog die schweren Ziegenlederhandschuhe aus und warf sie auf den Boden. Dann ging sie ein Stück den Bergpass hinunter zum Kessel und blieb wieder stehen. »Legt das Schutzdach darüber«, rief sie über die Schulter. Eine große, runde Holzkuppel wurde in Position gebracht und sanft über das neu eingefügte Glas gelegt. Zufrieden drehte sich die Frau um und ging weiter. »Ihr seid eine tapfere Frau, Theophila«, schmeichelte Shaene und versuchte, die Lunge mit der dünnen Bergluft zu füllen und gleichzeitig mit Theophila Schritt zu halten. »Wir sollten jetzt nach drinnen gehen, damit Ihr Euch ausruhen könnt.« Die Frau blickte ihn verächtlich an. »Ausruhen? Ich muss eine letzte Scheibe brennen, Shaene, und die Farbformel stimmt noch immer nicht. Ich habe alles versucht, was ich kenne – verschiedene Arten von Asche, Umrühren mit Eisenstäben, um das Purpur zu tönen, es länger zu backen, aber vergebens. Vielleicht muss ich dich oder Sandy nach Yarim schicken, damit ihr mir ein paar andere Erze holt, mit denen ich experimentieren kann.« Shaene stieß ein plötzliches, bellendes Gelächter aus. »Dann solltet Ihr besser mich schicken, Theophila. Sandy wird nicht nach Yarim gehen wollen, aber Ihr solltet es ihm trotzdem befehlen. Es wird ein großer Spaß sein, ihn dabei zu beobachten.« Die Frau zeigte kein besonderes Interesse daran, von dem canderianischen Handwerker in ein Gespräch verwickelt zu werden. »Sandy wird dorthin gehen, wohin ich ihn schicke.« »Ja, Herrin«, sagte Shaene hastig. »Aber er wird bleich werden, wenn Ihr ihm sagt, dass er gehen muss. Das würde ich gern sehen, wenn ich darf«, fügte er lahm hinzu. Die Frau blieb stehen und schaute ihn zum ersten Mal an. »Warum sollte er bleich werden?« Shaene beugte sich verschwörerisch vor. »Er ist vor ein paar Jahren von dort gekommen«, teilte er wichtigtuerisch mit. »Er hat große Angst vor dem, was er dort zurückgelassen hat.« »Und was war das?« Plötzlich wurde ihr Ton warm, süß und klebrig wie Malz. Shaene blickte in ihre unendlich tiefen Augen und bemerkte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem zarten Lächeln hoben. Er blinzelte rasch und versuchte seine aufkeimenden Gefühle zu unterdrücken. Sie ist so wunderschön, dachte er, so schön und allein. Wenn es bei ihr schon so lange ist wie bei mir... »Eine Hexe«, sagte er. Seine Stimme war plötzlich rau und heiser. »Eine scheußliche Frau, so sagt er wenigstens. Die Meisterin einer alten Gilde. Das verkörperte Böse, behauptet er. Aber was kann man von einem so jungen Kerl erwarten? Er kennt doch die Welt noch nicht.« Er zwang sich zu einem Lachen und versuchte heiter zu klingen. »Oh, wie böse die Frauen sein können!« Die Frau runzelte die Stirn und zog die Brauen drohend zusammen. »Sandy?«, fragte sie. Es klang, als redete sie mit sich selbst. »Ach, sein Name lautet eigentlich Omet«, meinte Shaene und wischte sich den Schweiß der Aufregung mit einem fleckigen Taschentuch von der Stirn. »Ich nenne ihn Sandy wegen der Wüste, aus der er stammt.« »Yarim ist nicht sandig«, sagte die Frau geistesabwesend, als führe ihr Mund noch ein Gespräch weiter, das ihr Geist schon lange abgeschlossen hatte. »Es besteht aus Lehm. Aus rotem Lehm.« Shaene zuckte die Schultern und gab den Wachen ein Zeichen, als sie sich dem Kessel näherten. »Es ist halt nur ein Spitzname«, sagte er. »Finde ich Euch bei den Brennöfen oder im Arbeitszimmer auf dem Turm?« Die Frau wandte sich ihm zu und lächelte breit, dann ging sie in schmerzhaft langsamen Schritten auf ihn zu. »Weder noch«, flötete sie. »Du hast viel zu hart gearbeitet, Shaene. Ich will dich nicht überfordern.« Sie kicherte und schenkte ihm einen bedeutungsschweren Blick. »Wenigstens nicht auf diese Weise.« »Öh, hmmpf«, murmelte Shaene linkisch. »Was ... was soll ich dann für Euch tun?« »Warte in deinem Quartier auf mich. Ich muss ein wenig aufräumen und leiste dir dann beim Abendessen Gesellschaft.« Shaene nickte benommen, während die Panjeri-Frau ihm zublinzelte. Dann drehte sie sich um und ging in den Tunnel hinein, der zum Machtzentrum der Bolg führte. Etwas passte nicht zusammen. Aber Shaene war schon zu weit jenseits allen klaren Denkens, um den Misston herauszufinden. 46 Traeg Der alte Barney führte Ashe und Achmed durch die Hintertür des Federhuts. Sobald sie nach draußen traten, blies der frische Seewind den Rauch des Hickoryholzes fort, der sich ihnen um den Kopf gelegt hatte. Die Meeresbrise war ebenfalls rauchgeschwängert, doch sie klarte allmählich auf. Barney deutete auf die Überreste eines Stalls. Nur die eisernen Pfosten standen noch; alles andere hatte das Feuer verzehrt. »Ich werde Euch vier Pferde verschaffen, drei zum Reiten und ein Packpferd«, sagte er, ohne langsamer zu werden. »Sie werden hier sein, sobald Ihr abreisebereit seid. Falls Ihr nur drei braucht, könnt Ihr selbst entscheiden, welches Tier Ihr zurücklassen wollt.« »Vielen Dank«, sagte Ashe. Achmed nickte. Im Hafen wimmelte es vor Passanten, Arbeitern, die den Schutt wegräumten, Waisenkindern, die um Almosen bettelten, und Fischern, die den Fang des Tages hereinbrachten und Netze einholten, die schon voller gewesen waren. Je näher sie dem Wasser kamen, desto steifer wurde der Wind. In den Böen war es manchmal schwierig, aufrecht zu stehen. Nach einer besonders heftigen Böe drehte sich Barney zu ihnen um. Als er sah, wie ihnen Haare und Schleier gegen das Gesicht geweht wurden, lachte er laut auf. »Übrigens willkommen in Traeg«, sagte er und hielt einen gekrümmten Arm hoch, um sich vor dem Wind zu schützen. »Das ist unser Anspruch an die Geschichte: die Heimat des Windes in diesem Teil der Welt zu sein, oder wenigstens der Ort, an dem er sich so wohl fühlt, dass er lange hier bleibt, ohne nachzulassen.« Wie passend, dachte Ashe, als sie dem Wirt über die lose gepflasterte Straße und eine sandige Erhebung folgten. Der große Blutsverwandte, ein Bruder des Windes, macht die Gegend um Traeg zu seiner Heimat. Barney hielt ein Dutzend Schritte vor dem Rand der Erhebung an und deutete auf einen felsigen Pfad, der hinunter zum Strand führte. »Wenn Ihr ihn finden wollt, dann am wahrscheinlichsten dort unten, meine Herren«, sagte er und drückte sich den Hut tiefer ins Gesicht. »Manchmal kann man ihn bei den Wellenbrechern oder an den Klippen sehen, doch oft bleibt er tagelang in seiner Festung und beschäftigt sich mit irgendetwas – was alte Helden halt so zu tun pflegen. Aber seid vorsichtig. In dieser Gegend gibt es Taugenichtse und Zugvögel, Bettler und Seeleute, die von ihren Schiffen geworfen wurden, wenn die Kapitäne unseren Hafen anliefen, und denen die Rückkehr an Bord nicht erlaubt wurde. Es ist ein zerlumpter Haufen mit Verzweiflung in den Augen. Das macht der Hunger. Ich habe ihnen manchmal etwas zu essen gebracht, die Reste des Tages, bis sie mich einmal überfallen und mich geschlagen haben. Seitdem halte ich mich vom Strand fern. Schaut immer hinter Euch.« »Vielen Dank«, sagte Ashe und streckte dem alten Mann die Hand entgegen; die andere legte er ihm auf den Arm. »Hierfür und für das, was Ihr vor vielen Jahren für Rhapsody getan habt. Wenn ich sie finde, werde ich sie herbringen, damit sie Euch besuchen und Erinnerungen mit Euch austauschen kann.« Der alte Mann lächelte traurig, sagte aber nichts. Er sah zu, wie die beiden Herrscher über den Pfad bis zum Strand gingen; dann schritt er an den Rand der Düne und schaute hinunter. Er sah sie in der Ferne, wie sie durch den Sand auf das Meer zumarschierten und die Küstenlinie hinauf und hinunter schauten, während sie vom heftigen Wind gezaust wurden. Dann schaute Barney auf den Strand unmittelbar unter der Düne. Die Flut kam herein; die Wellen krochen näher und rollten inmitten eines Wirbels aus Windgepeitschter Gischt. Im feuchten Sand am Rand des Wassers befand sich eine seltsame Zeichnung, ein riesiges Bild aus einfachen Linien, das Barneys Auffassung zufolge einen Schädel darstellte, oder vielleicht war es ein Kopf, dessen Augen weit voneinander entfernt in einem flachen, weichen Gesicht steckten. Der Mund unter der platten Nase fehlte. Als ob die Lippen miteinander verschmolzen wären. Auf der Basquela vor der nördlichen küste Der Seneschall legte das Fernglas an die Augen und überblickte die schwarze Küstenlinie aus Lavagestein. Er beobachtete, wie die Brecher gegen die zerklüfteten Felsen unterhalb des Vorsprungs schlugen. Dieser Anblick suchte ihn nicht nur in den wachen Stunden heim, sondern auch in seinen Träumen. Als Wirt eines Dämons brauchte Michael nicht mehr viel Schlaf, sondern verbrachte die wenigen Stunden in einer Art traumähnlicher Meditation, während die Stimme des F’dor wie ein endloses, knisterndes Feuer in seinem Kopf dröhnte. Während jener Stunden erschien der Felsvorsprung vor seinem inneren Auge. Die schartige Klippe, die spitz aus dem felsendurchsetzten Wasser herausragte, schien zu lachen, als die grausame Flut über sie hinwegrauschte. Sie ist hier und versteckt sich vor dir, verhöhnte sie Michael. Die Worte tummelten sich in seinem Kopf und brannten wie Säure, bis der Seneschall nicht mehr wusste, ob sie eine Art von Prophezeiung, der Spott seines erbosten Gastes oder sein eigener Selbstzweifel waren, der immer schon lärmend an ihm gehangen hatte und an seinem Selbstvertrauen nagte. Er beobachtete die Felsen lange und hielt Ausschau nach jeglicher Art von Lebenszeichen, doch er sah nichts als das endlose Anbranden der Wellen sowie die kochende Gischt aus Salzwasser und Schaum. Dann kam ihm ein Gedanke. Es war, als ob er von einem weniger böswilligen Geist als dem käme, der in ihm lebte. Vielleicht gibt es eine Höhle zwischen all diesen Felsen und hinter der Tide, dachte er, auch wenn sein Verstand die Möglichkeit verwarf, sie könne darin bis heute überlebt haben. Er und seine Männer hatten viele Spalten in den aufgetürmten Felswänden entlang der Küste gesehen, aber sie lagen so tief, dass schon die kleinste Flut sie überspülte. Aber hier waren die Klippen höher als anderswo, der Wind war stärker, und es schien ihm, als sei es einen Versuch wert, die Felsen nach einer Höhle abzusuchen. »Quinn!«, rief er nach seinem Kapitän. »Ja, Herr?«, antwortete Quinn mit Erschöpfung in der Stimme. Er hatte kaum eine Nacht schlafen können, seit er zum Kapitän gemacht worden war, und betete täglich darum, dass der Seneschall endlich aufgab und den Heimweg nach Argaut antrat. »Bring uns zurück. Ich will morgen Anker werfen und übermorgen wieder an Land gehen.« »Ja, Herr«, sagte der Seemann müde. Der Seneschall wandte sich an seinen Vogt. »Fergus, wähle zwei Männer aus der verbliebenen Mannschaft aus und hol ein starkes Seil. Ich will, dass sie diese Klippen durchsuchen und nachsehen, ob sie sich in einer Höhle versteckt hält.« Der Gesichtsausdruck des Vogts blieb gelassen. »Wie Ihr befehlt, Herr.« »Du und die Männer werden mich übermorgen begleiten. Wenn wir sie nicht finden, wird es für alle Beteiligten schreckliche Auswirkungen haben.« »Ja, Herr.« Der Seneschall trat näher an den Vogt heran und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Sogar für dich, Fergus.« Der Vogt seufzte. »Ja, Herr.« Er hatte nichts anderes erwartet. 47 Traeg Zwei Stunden lang warteten die Männer im beißenden Wind und schlenderten den Strand entlang der Wasserlinie auf und ab. Nach einer Stunde ging die Sonne allmählich unter. Da es Sommer war, stand sie noch recht hoch am Himmel, und der Nachmittag war recht hell, doch das Licht hatte sich zum dunstigen Gold der Späte gewandelt, und mit dieser Wandlung kamen auch die menschlichen Ratten. Wo sich der abgerissene Haufen der Wanderer und Strandläufer bei Tage versteckt gehalten hatte, blieb ein Rätsel. Ashe glaubte, dass seine Drachensinne sie in und zwischen den Felsen aufgespürt hatten, in flachen Vertiefungen und Gezeitenhöhlen, wo sie während der Hitze des Tages schlafen konnten, solange Ebbe herrschte. Nun, da die Flut stieg, kamen sie aus ihren Felsenbehausungen. Einige machten sich auf den Weg zu den Hafenanlagen, andere taumelten hinaus auf die Sandbank und suchten sie nach den Überresten des Tagesfanges ab, der ins Wasser zurückgeworfen worden war. Mit jedem Atemzug wurde Achmed griesgrämiger. Wasser hasste er in jeglicher Gestalt; es verbarg die Schwingungen der Welt, für die er so empfänglich war. Am Windumtosten Meer war es am schlimmsten. Der Aufruhr der brandenden Dünung machte es ihm nicht nur unmöglich, sich auf die Zeichen in der Luft zu konzentrieren, die er üblicherweise spürte, sondern er verstärkte die Kakophonie noch, die gegen seine empfindliche Haut schlug. »Früher bin ich ans Meer gegangen, um meine Cwellan-Schüsse an die Luftströmungen anzupassen«, sagte er zu Ashe bei dem Feuer, das sie entfacht hatten, nachdem sich eine Horde abgerissener Frauen ihnen genähert und Almosen gefordert hatte. »Ich bin ein wenig eingerostet. Vielleicht sollte ich ein paar Zielübungen machen.« Ashe erwiderte nichts darauf. Er warf eine Hand voll Münzen den Frauen entgegen, die danach im Sand scharrten und schließlich schwatzend über den Pfad in Richtung des verwüsteten Dorfes davonliefen. »Hör auf damit«, meinte Achmed wütend. »Sie kommen dann bloß mit ihren Freunden und all der leprösen Brut zurück, die hier oben gelauert hat.« »Das sind Seewitwen«, erklärte Ashe milde. Allmählich brannten ihm die Augen vom langen Starren auf den Küstenstreifen. »Frauen, deren Männer als Matrosen oder Fischer die Meere befahren haben und nicht mehr heimgekehrt sind. Die ganze traurige Geschichte meiner Familie begann damit, dass es Merithyn nicht schaffte, zu Elynsynos zurückzukommen. Almosen für hungernde Witwen zu geben ist das Geringste, was ich tun kann.« Achmed rollte mit den Augen. »Wann wirst du je begreifen, dass Buße und Reue für die Taten anderer, die schon lange vor deiner Geburt gestorben sind, einfach nur lächerlich ist? Du kannst die Sünden, die deine Familie damals begangen hat, nicht wieder gutmachen. Wenn du nur weit genug zurückgehst, wirst du dich für alle auf dieser Welt je begangenen Missetaten verantwortlich fühlen. Reiß dich zusammen.« Ashe antwortete mit einer obszönen Geste. »Du solltest dich zusammenreißen«, sagte er verächtlich. »Verschone mich mit deiner Galle und Lebensmüdigkeit. Meine Frau würde dir sicherlich nicht zustimmen.« Dann kehrte er zu seiner Nachtwache zurück. »Nun, wenigstens in diesem Punkt hast du Recht«, gab Achmed zurück und schirmte die Augen ab. »Rhapsody glaubt, sie muss alle Schmerzen der Welt persönlich heilen. Falls sie noch lebt, wird sie glücklicherweise genug Zeit für die tiefste Erkenntnis haben, dass sie dieses Ziel nie erreichen wird, selbst wenn es wirklich ihres sein sollte.« »Falls sie noch lebt?«, fragte Ashe und drehte sich wütend zu dem Bolg-König um. »Hast du das eben tatsächlich gesagt?« »Ja, das war nicht der Ruf des Windes in deinen Ohren«, erwiderte Achmed. »Hast du etwa nicht mitbekommen, dass ihre Gegenwart nirgendwo im Wind zu bemerken ist? Ich finde nichts, was ihrem Herzschlag gleicht. Ich hoffe, ich irre mich, aber du musst der Möglichkeit ins Auge sehen, dass sie tot ist, dass er sie umgebracht hat. Vorher hat er sie sicherlich vergewaltigt, sie dann ins Meer geworfen oder ihren Leichnam mitgenommen. Überlass dich dem Hass, den diese Möglichkeit in dir erzeugt. Durch ihn werden all deine Gedanken auf das gerichtet, was unbedingt zu tun ist – nämlich den F’dor zu finden.« »Halt«, sagte Ashe. Sein Gesicht blühte unter der Anstrengung auf, den Drachen im Zaum zu halten. »Rede mit mir nicht über solche Dinge – noch nicht. Ich brauche keine weiteren Gründe, diesen Mann zu hassen, diesen Dämon zu jagen und ihn in Stücke zu reißen. Wenn ich ihn erwische, wird dort, wo er vorher im Wind gestanden hat, nur noch ein Schatten sein. Du stachelst Kräfte in mir an, die ich bereits täglich zu unterdrücken versuche. Entflamme nicht meinen Zorn für deine eigenen Zwecke. Du befindest dich auf dünnem Eis, egal ob du versuchst, meine ganze Aufmerksamkeit auf das nächste Ziel zu richten, oder mich nur quälen willst, weil ich sie dir weggenommen habe.« Achmed öffnete den Mund und wollte etwas darauf erwidern, doch dann kniff er die Lippen rasch wieder zusammen. Er seufzte verärgert. In der Nähe ihres Feuers wanderte ein abgerissener alter Mann ziellos umher und zeichnete mit einem langen Stück Treibholz unförmige Muster in den nassen Sand. Dabei warf er ein wenig Sand auf das Feuer, das aufzischte und zu erlöschen drohte. »Geh weg von hier«, rief Achmed, doch der zerlumpte Mann beachtete ihn nicht. Er fuhr fort, seine unsinnigen Zeichen in den Sand zu schreiben. Achmed schlenderte hinüber zum Feuer und stellte sich zwischen es und den alten Sandkünstler. »He!«, rief er. »Wärm dich, wenn du willst; ansonsten geh fort von hier.« Der Mann wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Achmed bemerkte, dass seine Augen mit grauem Altersstar umwölkt waren. Sie wirkten wie an der Oberfläche verbrannt, was vielleicht auch der Sonne zuzuschreiben war. Die Iris hatte wie die Haut und das lange, ungekämmte Haar die Farbe von Treibholz. Nun erkannte der Bolg-König, dass der alte Mann vorhin in einer Sanddüne am Rande des Wassers geschlafen hatte, seit sie beide hier waren. Achmed hatte ihn mit Treibgut verwechselt. Endlich hatte es den Anschein, als habe er Achmeds Befehl verstanden. Der Mann wandte sich ab und ging zielstrebig ins Meer hinein. »Was ... was hast du zu ihm gesagt?«, fragte Ashe ungläubig und sah zu, wie die gebrechlichen Beine in den Wellen verschwanden. Die Brandung gewann an Macht; es war unbegreiflich, dass ein so gebrechlicher Körper wie der des alten Mannes nicht sofort umgeworfen wurde. »Halt! Komm da heraus!«, rief Achmed. Er ächzte verärgert, als er sah, dass der alte Mann ihn nicht gehört hatte, und folgte ihm schließlich widerstrebend in die flache Brandung. »Komm aus dem Wasser, du alter Narr«, brummte er. »Ich werde dich nicht herausfischen, wenn du von der Strömung erfasst wirst.« Nun sprach der alte Mann. Seine Stimme wurde von einer herbeiströmenden Windbö zu den beiden Regenten getragen. »Ich kenne euch nicht«, sagte er. »Geht fort.« »Komm aus dem Wasser.« Der alte Knabe kauerte sich in die Brandung. Er drehte sich langsam zu den beiden Männern um. Es war nicht zu erkennen, ob das Zucken auf seinem Gesicht eine böse Grimasse oder ein Lächeln war. Dann erhob er sich wieder, drehte sich in Richtung der See und ging weiter. Als er schon bis zu den Waden in der Brandung stand, rannte Achmed los, um ihn einzufangen. Der Dhrakier packte den alten Mann am Arm. »Was machst du da? Bist du taub?« Das uralte Gesicht wandte sich Achmeds Hand zu, die noch den Arm im Griff hielt, und der alte Mann machte einen weiteren Schritt voran. Nun stand er schon knietief im Wasser. Achmed packte ihn bei der Schulter, drehte den Körper des alten Mannes um und zog ihn fort von der Tiefe. »Verletze ihn nicht«, rief Ashe und schaute auf die Zeichnungen, die der alte Mann im Sand hinterlassen hatte. Achmed war sich nicht einmal sicher, ob der Alte ihn sehen konnte. Aus den Augen war beinahe alle Klarheit verschwunden. Doch als er nach ruhigen, harmlosen Worten suchte, glaubte er, in den umwölkten Augen einen Blitz des Wiedererkennens zu bemerken. Plötzlich hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Vielleicht war es eine Welle gewesen oder ein Bein, das ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er hatte kaum Zeit, Luft zu holen, bevor sein ganzer Körper untertauchte. Der Hass auf Wasser überwältigte seine Sinne, und er versuchte sich mit den Ellbogen vom kiesigen Meeresboden abzustützen und aufzustehen, doch er spürte, wie die Knie des alten Mannes gegen seine Unterarme drückten, und begriff plötzlich, dass es keine zufällige Welle gewesen war, die ihm die Beine weggezogen hatte. Er wurde absichtlich ertränkt. Achmed kämpfte darum, ruhig zu bleiben, denn die Panik drohte ihn zu verschlingen. Er machte einen weiteren Versuch, den Mann zu überwältigen, der ihn unter die Wellen drückte, doch es war, als wolle man den ganzen Ozean aus den Angeln heben. Als das klatschende Geräusch ertönte, schaute Ashe auf. Achmed war verschwunden. Der alte Mann kniete beinahe im Wasser. Er hatte sich vornüber gebeugt, und sein Gesicht war ruhig und ausdruckslos. Ashe ging einen oder zwei Schritte in die Brandung hinein, dann erst sah er Achmeds ausschlagende Beine unter dem Wasserspiegel. Er legte die verbleibende Strecke rennend zurück, zog Kirsdarke und zielte damit auf das Ohr des alten Mannes. »Lass ihn los!«, befahl er. Nie zuvor hatten einem Mann nicht Atem und Herz gestockt, wenn sich Ashe mit Drachenaugen und dem korallenblauen Schwert über ihm aufgetürmt hatte. Doch der alte Mann streckte eine Hand wie eine aufschießende Boje aus dem Wasser und packte Ashes Handgelenk. Mit der anderen entwand er ihm gleichzeitig das Schwert, wobei kaum ein Tropfen Wasser aufspritzte. Ashe zuckte zusammen. Wie eine Welle schoss es ihm durch Hand und Arm. Kirsdarke war fort und befand sich nun im dem knochigen Griff des alten Mannes. Er musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass das Schwert nun gegen seinen eigenen Hals gerichtet war. Er fluchte stumm, packte Achmeds Robe und zog ihn aus dem Wasser. Unter Wasser spürte Achmed mit geschlossenen Augen einen Tumult, der sicherlich von Ashes Schritten herrührte. Als er erkannte, dass er sich nicht selbst befreien konnte, zwang er sich zur Ruhe und wartete darauf, dass Ashe angriff und ihm das Entkommen ermöglichte. Noch während er den Kampf im rauschenden Rhythmus der Wellen um ihn herum einstellte, hörte er einen großen Lärm, einen Herzschlag wie eine Glocke, den er nicht mehr gehört hatte, seit er Serendair verlassen hatte. Es war MacQuieths Herzschlag. Und er pulste unmittelbar über ihm, beinahe durch die eigenen Unterarme, auf denen der alte Mann kniete. Er hätte beinahe aufgekeucht und lauschte noch angestrengter, denn wenn der alte Held ihn als den Bruder erkannt hatte, den Meistermörder aus der alten Welt, dann würde dies erklären, warum er nun ertränkt zu werden drohte. Im Widerhall der Wellen, unendlich fern und schwach, hörte er einen weiteren vertrauten Ton. Bevor er ihn wirklich erfassen konnte, wurde er genauso schnell nach oben gezogen, wie er untergetaucht worden war. Ashes Gesicht erschien vor ihm. Für kurze Zeit gab es nichts anderes auf der Welt als das Schweigen des Strandes, die gedämpfte Brandung gegen die Felsen, das Tropfen der nassen Kleidung. Achmed hustete, während Ashe mit seinen Drachensinnen eine Verwandlung spürte. Die bereits große Gestalt, die nun das Wasserschwert hielt, wurde noch größer. Sie gewann nicht an Höhe, sondern schien sich wie ein Schwamm oder eine ausgetrocknete Pflanze oder Frucht mit Leben voll zu saugen. Als Leben und Kraft in die treibholzgraue Haut und die Augen strömten, kehrten sie auch in die Stimme zurück. Sie war noch etwas rau, doch durchdringend, während sie vorher nur geflüstert hatte. Nun war Fleisch, wo vorhin bloß ein Skelett gewesen war. »Woher hast du das Schwert meines Sohnes?« Die unerschütterliche Klinge troff ein wenig und leuchtete in einem heftigen Blau. »Wenn du mehr als fünf Worte sagst, wirst du sterben.« Ashes Gedanken rasten umher. Er überlegte, was er sagen sollte. »Wir jagen Michael«, brummte Achmed und spuckte dabei Seewasser aus. »Er lebt.« 48 Verschiedene Regungen zeichneten sich auf Mac-Quieths Zügen in rascher Folge ab, als ob heftige Windstöße große Wolkenberge über sein Gesicht bliesen. Der Besitz des Schwertes, das Wiedererkennen eines alten Feindes, Ashes Beleidigung und dieser Name waren zu einer einzigen Masse zusammengedrückt worden, die nun ein Verstand zu durchdringen versuchte, der die meiste Zeit haltlos umhertrieb. »Das ist unmöglich«, war alles, was der alte Held hervorbringen konnte. Diesmal fand Ashe die richtigen Worte. »Doch, Herr. Er trägt Tysterisk. Er hat meine Frau entführt und den Wald sowie die Küste in Brand gesetzt. Er ist zum Wirt eines F’dor geworden.« Der alte Mann zog das Schwert an sich und packte es mit beiden Händen. Zum ersten Mal schien er dessen Schwere zu spüren. Langsam hockte er sich hin, bis er beinahe wieder in der Brandung saß. Kirsdarkes Spitze tanzte auf den Wellen; sein Blick ruhte auf dem Schwert, und gleichzeitig schien er in die Ferne gerichtet, als könne er nicht sagen, ob er die Waffe wirklich in den Händen hielt. »Wer bist du?«, fragte er leise. »Ich kenne dich nicht. Geh fort.« Er fuhr mit der Hand über die schimmernde Klinge, die nun in tieferem Blau erstrahlte, als es jemals in Ashes Händen zu sehen gewesen war. »Wenn dich der Tyrann gesandt hat, geh zurück zu ihm und sage ihm, ich werde ihn im Nachleben treffen. Er soll sein Schwert mitbringen.« »Der Tyrann?«, fragte Achmed. »Gwylliam ist tot«, sagte Ashe. »Gut«, meinte der alte Soldat und beachtete nicht die Gischt, die auf seine Haut einprasselte. »Ich hatte geglaubt, er würde niemals sterben, wegen all seiner Elixiere und Maschinen und Apparate. In tausend Jahren wird nichts außer seinem Selbst geblieben sein. Keine Ahnung, was dann von mir noch übrig sein wird und womit ich es bekämpfen kann. Nicht einmal genug, auf das man spucken könnte. Hier!« Er hielt das Schwert Ashe entgegen. »Du trägst es inzwischen«, sagte er verächtlich. »Gib dein Bestes.« Er erhob sich steif und stand nun knietief im Wasser, das abwechselnd den Sand unter seinen Füßen anspülte und fortschwemmte. Als er nun mit klarem Blick und Geist dastand und sein Körper nicht mehr so zerbrechlich wirkte, hatten Ashe und Achmed endlich ein deutlicheres Bild von ihm. Obwohl er nicht annähernd so groß wie Grunthor war oder wie die Legenden berichteten, war MacQuieth außergewöhnlich stämmig für einen Halb-Lirin. Was sie zunächst als Schichten abgerissener Kleidung angesehen hatten, war in Wirklichkeit sein Körper, der sowohl breiter als auch größer als der von Ashe war. Einstmals mussten Augen und Haar schwarz gewesen sein, doch nun war beides grau. Die Hände waren ein wenig verkrampft, und die Beine waren entweder stark genug, um der Brandung zu widerstehen, oder er konnte dem Meer gebieten, sodass ihn die Wellen nicht umwarfen. Achmed stand auf und trat zurück. Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. Es war ihm nicht entgangen, dass der alte Soldat sie heimlich in tieferes Wasser geführt hatte und der Strand nun näher an ihm selbst war. Da er das Schwert hielt, gab es keine Möglichkeit, ihm zu entkommen. Sie mussten sich mit MacQuieth, dessen Herz noch immer wie eine große Glocke schlug, so einigen, wie es ihm gefiel. Ashe erhaschte einen Teil des Schwertgriffes, sodass ihm die Peinlichkeit erspart blieb, im knietiefen Wasser danach zu fischen. Er stand ebenfalls auf und sagte: »Nein, Herr.« Dann wischte er vorsichtig die Klinge am oberen Teil seines Mantels ab und steckte die Waffe wieder in die Scheide. »Deswegen sind wir nicht hergekommen. Wir sind gekommen, weil wir Michael finden müssen. Wir müssen ihn aufhalten und jemanden retten, den er entführt hat. Wir wissen nur, dass er hier in der Nähe an Land gegangen ist, aber wir können seine Spur nicht finden ...« »Und ihr könnt ihn nicht töten, falls ihr zufällig auf ihn stoßen solltet. Ihr wisst nicht, wie er zu töten ist, wie er es verdient, getötet zu werden, wie er getötet werden muss, falls er tot bleiben soll.« Als MacQuieth Ashe die Worte aus dem Mund genommen hatte, sah er ihn schließlich ohne Kampfeslust in den Augen an. »Bist du sowohl Merithyns als auch Gwylliams Nachfahre?« »Ja, Herr. Und der Eure.« Der alte Krieger runzelte die Stirn. »Keineswegs. Niemand aus meiner Linie würde je sein Blut mit der Brut dieses Halunken vermischen.« »Cynron ap Talthea hat es getan. Sie war meine Mutter. Ich bin viele Generationen von Euch entfernt, stamme aber unzweifelhaft von Euch ab.« »Wie enttäuschend für uns beide. Und aufgrund welcher Ermächtigung jagt ihr diese Kreatur und stört meine Ruhe?« »Aufgrund unserer eigenen«, antwortete Achmed. »Nur wenige andere wissen, dass er hier ist.« Während Achmed in der zurückweichenden Strömung stand, hatte es für ihn den Anschein, als ob die Flut MacQuieth mitnehme. Mit jedem Atemzug wirkte er erschöpfter und ferner vom Rausch der Schlacht und vom Griff des Schwertes. MacQuieth richtete den Blick unmittelbar auf den Firbolg-König, doch er sprach den Herrn der Cymrer an. »Du weißt, dass du mit dem Bruder reist, dem großen Mörder, der zu seiner Zeit und auf seine Weise schrecklicher als der Mann war, den ihr jetzt sucht?« »Ja«, antwortete Ashe, »aber von seinem früheren Selbst ist er eine ganze Welt weit entfernt.« MacQuieth drehte sich wieder in Richtung Strand. Anscheinend war er der Tide und der Fragen müde. »Eine ganze Welt weit entfernt? Nein. Die Welt folgt uns auf unseren Reisen. Wie weit wir auch fortgelaufen sind, wir sind immer noch wir selbst, glaube mir.« Er stapfte langsam auf den Strand zu. Die beiden jüngeren Männer schössen hinter ihm aus den Wellen. Er drehte sich um und schaute sie böse an. »Was wollt ihr denn noch?« Die beiden Herrscher hatten keine Zeit gehabt, sich zu bereden, daher sagten sie eine Minute lang gar nichts. Schließlich machte Achmed ein Zeichen, Ashe solle sprechen. »Michael ist in der Nähe dieses Strandes an Land gegangen. Er ist die Küste hinauf und hinunter gezogen und hat die meisten Dörfer in Brand gesetzt. Wir müssen ihm vorauseilen und irgendwo eine Falle stellen.« »Halt. Wer bist du?« »Habt Ihr mir nicht soeben selbst gesagt, wer meine Vorfahren sind?«, fragte Ashe, der immer verzweifelter wurde und nicht mehr wusste, wie er die Fragen des Mannes beantworten sollte, ohne ihn zu beleidigen. Schließlich gab er es auf, denn er erkannte, dass es ihm unmöglich gelingen konnte. »Ich kann dein Blut riechen«, sagte MacQuieth und schaute ihn finster an. »Das Schwert hat es geschmeckt. Das Meer kennt ihn, und an der Art seiner Bewegungen erkenne ich, wer ihn ausgebildet hat. Ich weiß nicht, wie die Welt nun aussieht; meistens kümmere ich mich nicht darum. Wenn ein Mann eine Million Tage erlebt hat, fließen sie gnädig ineinander. Aber wenn ich die Nadel im Heuhaufen, die Oase in der Wüste, die Insel, den Mörder finden soll, dann muss ich den Wind kennen und wissen, wie viele Jahre vergangen sind und ob etwas eine neue Straße oder eine alte Mauer ist. Als meine Sinne noch jung waren und brannten, konnte ich einen Tümmler oder einen Falken aufspüren.« Er deutete auf Achmed. »Ich war in der Lage, ihn aufzuspüren, bevor es hieß, er sei gestorben. Sagt mir, was ich wirklich wissen muss.« Ashe drückte die Schultern durch und spürte, wie die Weisheit durch sein Blut floss. »Ich bin Gwydion ap Llauron ap Gwylliam, tuatha d’Anwyn o Manosse«, sagte er. »Der gewählte cymrische Herrscher. Vor langer Zeit, vor dem Exodus und dem Beginn des serenischen Krieges, in dem Ihr für das Überleben der Insel gekämpft habt, kam ein junges Mädchen nach Ostend und fragte, ob Ihr mich gesehen habt. Ihr hattet es nicht und teiltet ihr dies mit – freundlich, wie sie sagte. Falls sie noch unter den Lebenden weilt, könnte sie sich in den Klauen des Windes des Todes, des Anti-Blutsbruders befinden – in den Fängen dessen, der das Element der Luft dazu benutzt, Heere zu vernichten und Soldaten zu ermorden, statt ihnen in Zeiten der Not beizustehen. Er ist der Wirt eines Dämonengeistes, doch es gab eine seltsame Veränderung des gewöhnlichen schmarotzerhaften Verhältnisses. Anscheinend war seine abscheuliche Persönlichkeit so stark und so böse, dass sie sich nicht dem Willen des Ungeheuers gebeugt hat, nicht von ihm verschlungen wurde, sondern mit ihr im selben Körper zusammenlebt. Daher sind ihm seine mörderische Veranlagung und seine Verderbtheit geblieben, die Ihr von Eurem Kampf mit ihm her kennt, doch sie sind nun noch stärker geworden.« »Ich habe nicht mit ihm gekämpft«, sagte der alte Soldat, wandte sich ab und ging den Strand zur Klippenwand hoch. »Ich habe gegen Tsoltan, seinen Meister, gekämpft. Michael ist fortgelaufen. Wenn er Manns genug gewesen wäre und gekämpft hätte, müsstet ihr ihn jetzt nicht suchen.« Der Wind heulte, während die beiden Herrscher dem alten Mann um einen Felsvorsprung und Haufen aus Treibholz folgten. »Was habt Ihr in den Sand gezeichnet?«, fragte Ashe, der sich anstrengen musste, mit dem alten Mann Schritt zu halten. MacQuieth zuckte die Schultern. »Was immer das Meer mir erzählt«, sagte er nur. An der Nordseite einer ausladenden Felsformation erkannten sie bald darauf eine kleine Hütte, die wohl noch nie einen Besucher gesehen hatte. Vor ihr stand ein zerbeulter Schild, der zu einem Auffanggerät für Süßwasser umgewandelt worden war. Der alte Held verschwand in der felsigen Einfriedung und erschien einen Augenblick später mit einem Diamantenbesetzten Hochzeitsring, den er sich an den kleinen Finger steckte. »Habt ihr Pferde?«, fragte er, während er den Ring an seiner Hand betrachtete. »Ja«, sagte Achmed. »Am Steilufer.« Ohne ein weiteres Wort ging MacQuieth auf den Pfad zu, der auf die Anhöhe führte. Ashe schaute über die Schulter nach Westen in die rote Sonne, die knapp über dem Horizont schwebte und bereit war, sich in die graue, rollende See zu stürzen. »Wünscht Ihr die Vesper zu singen, Gevatter – das Requiem für die Sonne?«, fragte er ehrerbietig auf Lirinisch. MacQuieth blieb plötzlich stehen. »Nein«, sagte er und ging dann weiter den Pfad zum Dorf hinauf. »Ich erinnere mich nicht mehr daran.« 49 Auf dem Hügel warteten am Rande des Dorfes vier Pferde. Drei waren gesattelt, eines mit Proviant beladen. Die gesunde Farbe, die MacQuieths Haut hatte, als er das Schwert in der Hand hielt, wich allmählich wieder von ihm. Je weiter er sich von Wasser und Waffe entfernte, desto grauer wurde er – zuerst die Haare, dann das Gesicht, schließlich die Augen. Als sie die Pferde erreicht hatten, sah er abermals gebrechlich aus. Doch sein Wille schien noch immer so stark zu sein wie zuvor. Er schaute die Pferde kurz an, redete in einer seltsamen Sprache mit ihnen und wählte dann jenes, auf das Ashe bereits seine Ausrüstung geschnallt hatte. MacQuieth warf sie unsanft auf den Boden. »Barney hat das falsche Packpferd gewählt«, sagte er. Der Wind peitschte gleichzeitig durch seine Haare und durch die Mähne des Pferdes. »Dieses Tier ist klüger als das Leittier. Das Leittier ist dumm. Es könnte besser mit dem Hintern als mit dem Kopf führen.« Er bestieg das Pferd, das er ausgewählt hatte, mit der Leichtigkeit und Anmut eines jungen Mannes. »Muss ein cymrisches Pferd sein. Werde es wohl ›Gwylliam‹ nennen.« Die beiden Herrscher lächelten gezwungen. »Vielleicht nur das Hinterteil«, meinte MacQuieth. Das waren die letzten Worte, die der Held an diesem Tag von sich gab. Er drehte den Kopf in den Wind und lauschte wie auf den Ruf eines Blutsverwandten. Dann schnalzte er dem Pferd zu und ritt nach Norden über die Küstenstraße. Ob die beiden anderen ihm folgten, schien ihm gleichgültig zu sein. Achmed beobachtete diese Jagd mit großer Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu seiner Methode, Herzschläge aufzuspüren und sich auf eine besondere Spur zu konzentrieren, schien MacQuieth auf das zu achten, was nicht da war, und in den Windschatten nach einem Geist zu suchen, der das Element der Luft dazu benutzte, sich darin einzuhüllen und vor gewöhnlichen Blicken und Achmeds und Ashes außerordentlichen Fähigkeiten zu verbergen. Sie flogen über den Boden; Achmed und Ashe schauten sich immer wieder erstaunt an. Sie waren verblüfft von dem Alter ihres Gefährten, von der Last seiner Jahre und davon, dass er tatsächlich so schnell reiten konnte, wie die Legenden besagten. Doch die größte Quelle ihrer Verwunderung war zweifellos der Umstand, dass sie ihn überhaupt gefunden hatten. Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch und hielten schließlich an einer geschützten Stelle an, um zu schlafen und Wache zu halten. »Der Wind, in dem er sich verbirgt, befindet sich über dem Meer, aber er bewegt sich«, hatte der alte Krieger gesagt, bevor er sich in einen Schatten legte, den das nächtliche Lagerfeuer warf. Die beiden Herrscher saßen bis in die frühen Morgenstunden Wache, beobachteten die Küste und lauschten dem Anbranden der schwarzen Wellen gegen den Strand unter ihnen. Es lag ein Kreischen im Wind, der über die Felsvorsprünge blies, auf denen sie lagerten; es klang wie die Warnung vor etwas Schrecklichem. Als die Mitternacht schon dem nächsten Tag wich, stand Ashe endlich auf und streckte sich. »Ich gehe schlafen«, sagte er und hob die Arme gen Himmel, um seine schmerzenden Muskeln zu lockern. »Morgen steht uns ein weiterer langer Ritt bevor.« Achmed starrte unentwegt in das Feuer. »Setz dich noch einen Moment«, sagte er still. »Ich möchte mich dafür revanchieren, dass du mir heute das Leben gerettet hast.« Der Herr der Cymrer holte tief Luft und setzte sich wieder. »Rhapsody lebt«, sagte der Bolg-König. »Ich habe ihren Herzschlag im Meer gehört.« Ashe richtete sich auf. »Bist du sicher? Sie lebt?« Achmed runzelte die Stirn. »Ich war mir sicher. Ich kann natürlich nicht sagen, was seitdem geschehen ist. Aber als ich unter Wasser war, während du versucht hast, zu mir zu kommen, habe ich ihn gehört – unmöglich, die Entfernung in diesem Götterverdammten Wasser zu schätzen. Ich hätte nie gedacht, dass es mir möglich ist, ihn durch dieses verfluchte Element zu hören. Früher ist es für mich immer eine Barriere gewesen. Vielleicht sollte ich ab jetzt MacQuieth immer bitten, auf meinem Kopf zu stehen, wenn ich nach jemandem suche.« Der Herr der Cymrer fiel in dankbares Schweigen und dachte nach. »Vielen Dank«, sagte er schließlich. »Wir sollten uns überlegen, wie wir mit Michael verfahren, falls MacQuieth ihn für uns aufspürt«, sagte Achmed leise. »In der alten Welt haben die Dhrakier die F’dor für gewöhnlich allein gejagt, doch derjenige, den wir vor einigen Jahren getötet haben, war stärker und irgendwie wilder. Ich weiß nicht, ob ich bloß nicht so mächtig bei dem Ritual bin wie ein reinblütiger Dhrakier oder ob die Überquerung der Zeitlinie etwas damit zu tun hat, aber ich weiß, dass ich verloren gewesen wäre, wenn Grunthor und Rhapsody mir nicht beigestanden hätten.« »Was schlägst du vor?« »Sobald wir in seine Reichweite kommen, singe ich das Bannritual«, sagte Achmed. »Es wirft ein Netz aus Kraft über den Dämon und hält ihn davon ab, den Wirtskörper zu verlassen, sodass beide zusammen sterben. Wenn ich es auswerfe, wirst du es daran erkennen, dass ich die Hand hebe, als würde ich Garn spinnen. Sobald der Strick sein Ziel in der Seele des Dämons gefunden hat, wird der Wirtskörper zusammenzucken, als werde er fortgeschleift.« Ashe nickte. »Das ist der Augenblick, in dem du zuschlagen musst. Da ich ein Dhrakier bin, kann ich den Dämonengeist im Körper festhalten und ihn am Entkommen hindern, wenn der Wirt getötet wird. Wenn man es richtig macht, kann man es als Dhrakier sogar allein tun. Die Schwingungen des Bandes führen dazu, dass der Kopf des Wirtes zerbricht. Aber wir sollten kein Risiko eingehen. Ich binde ihn, und du treibst das Wasserschwert durch ihn. Wenn du es richtig machst, wirst du ihm das Herz aus der Brust reißen und es noch schlagend auf den Boden werfen, damit wir beobachten können, wie er an Körper und Seele stirbt.« »Armselige Technik«, murmelte MacQuieth aus den Schatten, in denen er lag. »Du hast erst dann Macht, wenn die Klinge ganz im Ziel ist. Drück es ihm zum Rücken heraus.« Ashe schlief neben den Überresten des Feuers auf dem Rücken, als der Drache in seinem Blut spürte, wie sich die Morgendämmerung sanft über das Meer legte. Steif und wund erhob er sich und schaute hinüber zu der Stelle, wo MacQuieth gelegen hatte. Dort war niemand mehr. Ashe beugte sich rasch vor und schaute mit seinen menschlichen Augen, erlaubte aber seinem Drachensinn, sich loszureißen und den alten Mann zu suchen. Es dauerte nur einen Moment. Die empfindlichen Schwingungen in seinem Blut sagten ihm, dass sich MacQuieth am Rande der Klippen befand, die sich über den Strand erhoben. Der Herr der Cymrer stand auf und stieg leise über Achmed hinweg, der unruhig neben dem erloschenen Feuer schlief. Er folgte dem Pfad bis zum Ausguck, während seine Drachenaugen nach dem legendären Krieger suchten. Was er fand, war der alte, gebrechliche Mann, den er am Tag zuvor getroffen hatte; der Stammvater seiner Familie, der unzählige Generationen von ihm entfernt war – ein Held, der der Zeit entwischt und in einen Zustand nahe dem Wahnsinn gelangt war. Das Treibholzgrau war in seine Haut zurückgekehrt; es war die Farbe höchsten Alters und eines beinahe ausschließlich im Freien verbrachten Lebens. Er taumelte am Rand des Abgrunds und schien blind gegen die Tiefe unter ihm zu sein. Ashe unterdrückte den Drang, nach ihm zu rufen, denn er wusste aufgrund seiner tiefen Einsicht, die ihm erlaubte, viele verborgene Dinge zu sehen, dass MacQuieth nicht sein Leben aufs Spiel setzte, indem er so dicht am Landende entlanglief. Dabei konnte er nichts sehen. Ashe zwang sich, ruhig zu bleiben und mit großer Vorsicht zu gehen, damit er den alten Mann nicht erschreckte Als seine Sinne über den Helden strichen, glaubte Ashe de Grund zu erkennen, warum er plötzlich blind war. Der Drache hatte das Blut bemerkt, das sich während de: Nacht hinter MacQuieths Augen gesammelt hatte. Es hatti die Hinterseite der inneren Linse überzogen und den Man geblendet. Wenn er eine oder vielleicht mehrere Stunde: aufrecht bliebe, würde das Blut abfließen und er wieder s hen können. Für den Mann, der Kirsdarke und damit die Essenz de: Wassers getragen hatte, war jedes Erwachen eine Erinnerung an die Ertrunkenen. Als er zum ersten Mal erwacht war, war er gelähmt und so starr gewesen, dass er nicht einmal mehr hatte zittern können. Blind. Als ob er unter Eis gefangen wäre, musste der alte Mann darum kämpfen, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Es war ein schwierigerer Kampf gegen die Erschöpfung, als jeder Mann gewöhnlichen Alters ihn zu kämpfen hatte. Geduldig schmolz er die Bürde der Zeit mit jedem feuchten Atemzug und zwang seine Brust, weitere Atemzüge zu machen, kleine plätschernde Wellen, welche die Jahre fortwuschen. Und es schien, als verliere er den Kampf gegen den Schlaf. Ashe spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Er wartete, bis der alte Soldat einen festeren Stand gefunden hatte. Dann zog er still Kirsdarke, die Klinge, die der alte Mann so ruhmreich viele Jahrhunderte hindurch getragen hatte, und hielt sie in den ausgestreckten Händen. Er hoffte, dass das alte Band zwischen der Waffe und MacQuieth ihm neue Stärke verlieh. »Der All-Gott schenke Euch einen guten Tag, Gevatter«, sagte er ehrerbietig und gebrauchte dabei die höfliche Formel, mit der die Jungen die Alten anredeten. Wie gestern am Wasser, so schien der Held auch nun vor seinen Augen an Stärke zu gewinnen und dieselbe geduldige, dauerhafte Kraft der Wellen unter ihm einzusaugen. Der gebrechliche alte Mann schüttelte die wirre Masse seines Kopfes. »Wenn er das täte, wäre ich jetzt nicht mehr unter den Lebenden«, sagte er nüchtern, ohne Wehmut oder Selbstmitleid. »Alle Jahre, die ich noch vor mir habe, und alle, die ich bereits gelebt habe, würde ich gegen einen Tag eintauschen, an dem ich noch einmal sehen kann, was im Abgrund der Zeit verloren gegangen ist.« »Ich verstehe«, sagte Ashe. Der Soldat legte den Kopf schräg und schaute in die Richtung des cymrischen Herrschers. »Wirklich? Hmm. Das glaube ich nicht.« Ein belustigtes Lächeln legte sich über seine Lippen. »Aber ich vermute, eines Tages, vielleicht in tausend oder mehr Jahren, wirst du es verstehen.« Er wandte das Gesicht dem Meer zu und badete es im Licht der Sonne. »Die Sonne – ich spüre sie«, murmelte er. Er hatte die Augen geöffnet und hielt sie dem sengenden Flirren entgegen, das sich in ihnen spiegelte. »Ich weiß, dass sie da ist. Wie die Insel, die nun unter den Wellen schlummert, deren Türme zu großen Sandhaufen zerfallen, deren nutzlose Wälle zerschlagen sind und wie das Spielzeug eines Kindes auf dem Meeresboden verstreut liegen. Ich spüre ihre Wärme, aber ich sehe sie nicht. Als die Zweite Flotte in Manosse landete und meine Pflicht beendet war, stand ich am Meer und wartete auf das Ende der Insel.« MacQuieth schloss die Augen vor dem goldenen Licht, hob das Gesicht gen Himmel und folgte dem Lauf der Sonne. »Ich habe es gespürt, viele Tage lang. Ich weiß nicht mehr, wie viele Sonnenaufgänge und -Untergänge es waren, aber all das Wasser, die Sonne und das Salz haben die Oberfläche meiner Augen zerfressen. Es war mir gleichgültig. Ich brauchte sie nicht. Alles, was ich sehen wollte, war nicht mehr sichtbar. Eines Tages war es schließlich vorüber. Ich fühlte das Meer vor Schmerz erzittern, als sich das Schlafende Kind erhob und Serendair sowie die nördlich davon gelegenen Inseln verschlang. Ich habe seine Tiefen brennen gefühlt.« Bei dieser Erinnerung fuhr sich der Soldat mit dem Handrücken über die Augen. »Kennst du die Reihenfolge, in der die Elemente geboren wurden? Je älter sie sind, desto mächtiger werden sie. Der Äther war das erste; er ist das einzige, das nicht aus dieser Welt erschaffen wurde, sondern von den Sternen kam. Aus diesem Grund fürchten die F’dor gewisse Diamantarten. Sie sind Kristallgebilde, die nicht von dieser Erde stammen, sondern in einem Lichtblitz aus dem Himmel niederfielen, abkühlten und sich zu einem Gefängnis des Feuers aushärteten.« Er hielt die Hand hoch, ohne auf sie zu schauen. Am kleinen Finger schimmerte der Diamant, den er aus der Hütte geholt hatte, hell im Morgenlicht. »Der Äther ist das einzige Element, das vor dem Feuer war, also ist es das einzige, das noch mehr Macht enthält. Das Wasser kam danach, dann der Wind, dann die Erde, und über diese drei Elemente herrscht das Feuer.« »Aber Wasser löscht das Feuer«, meinte Ashe. MacQuieth wandte sich ihm zu wie ein Dachs seiner Beute und richtete die umwölkten Augen auf ihn. »Erzähl das den Leuten aus Traeg oder den anderen Dörfern, die entlang der Küste zu Asche verbrannt wurden«, erwiderte er zornig. »Sag das den Inseln Balatron, Briela und Querel, die in der Hitze des Feuers geschmolzen sind, das un-löschbar in den kochenden Wellen gebrannt hat. Ich habe mir vielleicht die Augen verbrannt, indem ich vom Meer aus in die Sonne geschaut habe, in das Feuer auf dem Wasser, bis ich erblindet bin, aber du, Gwydion ap Llauron ap Gwylliam bist es, der wirklich blind ist.« »Ashe«, sagte der Herr der Cymrer gelassen. »Nennt mich Ashe. Dann müsst Ihr nicht den Namen aussprechen, den Ihr so verachtet. Ich bin nicht mein Großvater; ich mag es nicht, wenn mein Blutsverwandter an ihn denken muss, während er mit mir spricht.« Nun lächelte der alte Krieger; seine Augen schienen sich ein wenig aufzuhellen. »Ashe«, sagte er und rollte das Wort im Mund herum. »Klingt wie eine Abwandlung der Geschichte des Aschenputtels, das zur Prinzessin wird. Ich bin alt; du wirst es in meiner Sprache lernen. ›Äsch‹.« Seine harschen Worte kratzten an Ashes Trommelfell wie Zähne auf Knochen. »Und wie soll ich Euch nennen, Gevatter?« MacQuieth zuckte die Achseln. »Es kümmert mich überhaupt nicht, wie du mich nennst«, sagte er. »Ich bin nicht hier, um deine Befehle auszuführen. Ich werde nicht antworten, wenn ich es nicht will und muss. Ich bin nur hier, um den zu finden, den ihr ebenfalls sucht. Eines noch – gebrauche nicht meinen Namen. Wenn er ihn im Wind hört, wird er fliehen. Obwohl ich alt und verbraucht bin, wie du deutlich sehen kannst, würde er eher vor mir weglaufen, als mit mir zu kämpfen.« Ashe nickte. »Ihr habt mir von den alten Zeiten erzählt. Was habt Ihr getan?«, fragte er freundlich. »Nachdem Ihr den Tod der Insel gespürt habt?« Der alte Held wandte den noch immer ausdruckslosen Blick in die Ferne, auf die Wellen, die über den glitzernden Sand rollten, über die Bruchstücke von Muscheln und Kieseln, und am Ende weiß vor Gischt waren, dann sich wieder zurückzogen und die oberste Schicht Sand mitnahmen, zurück in den Rachen des Meeres. »Ich habe meinen Sohn beerdigt«, sagte er. Über den donnernden Wellen schrie eine Möwe; der schrille Laut durchbrach die tosende Stille, die wie die Wellen zusammen mit den Worten des Kriegers hereinrollte. »Es ist seltsam, die Welt unter dem Meer zu durchwandern«, sagte MacQuieth fast wie zu sich selbst. »Es gibt dort unerhörte Wunder, große Berge, welche alles in der oberen Welt winzig erscheinen lassen; Gräben und Abgründe, die sicherlich bis zum Mittelpunkt der Welt reichen; Schätze von Menschenhand, vergraben im Sand unter Schiffswracks, Schätze des Ozeans, Korallen in Farben, die man sich niemals vorstellen könnte, hoch aufragende Fäden aus Fels, so fein wie Spinnenfäden, und Geschöpfe, die jeder Beschreibung spotten. Der größte Teil der Welt liegt dort unten, weit weg von den unwissenden Massen, und er wird an Land nie bekannt werden. Es gibt dort unergründliche Magie, wenn man die Augen dafür hat.« Er schaute hoch, als eine Schar Seevögel auf dem warmen Wind vorbeisegelte, und folgte ihren Schatten. Seine Sehkraft kehrt zurück, dachte Ashe. Den Göttern sei Dank. »Aber natürlich hatte ich nicht nur offene Augen für die Wunder des Meeres, sondern auch für seine Schrecken. Ich wusste, dass ich dort unten Zerstörung finden würde, doch ich hätte mir nie vorstellen können, wie höllenhaft, wie wahrhaft schrecklich dieser Anblick war. Die Türme von Tartechor, der großen Stadt Mythlins, einst das Juwel des Meeres, waren zusammen mit allem anderen untergegangen, fortgeschwemmt von der brodelnden Strömung. Die hunderttausenden von Seelen, die dort gelebt hatten, waren ebenfalls verloren, atomisiert, in Dunst aufgelöst, nur noch Schaum auf den Wellen. Als ich unter Wasser an der Stelle atmete, wo die Stadt gestanden hatte, wusste ich, dass ich die Toten einatmete. Dennoch war es eine Gunst des Schicksals, dass Tartechor auf diese Weise unterging. Denn obwohl es schrecklich war, diesen Ort, der früher von solcher Großartigkeit gewesen war, nun als ewig treibenden Sand unter den Wellen zu sehen, war es doch kein Vergleich zum Anblick dessen, was früher einmal Serendair gewesen war. Wo das Hochland gelegen hatte, war unter den Wellen nichts mehr als Schutt, zerschmolzene Statuen und Steintore, die aus großen, geborstenen Bergen hervorragten; die Türme des Schlosses von Elysian waren nur noch Kiesel in der wirbelnden Strömung. In den letzten Tagen hatte man Wälle und Anhöhen errichtet in dem eitlen Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten.« MacQuieth schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Das muss Hector gewesen sein. Mein Sohn hätte bis zum letzten Atemzug Sandsäcke gefüllt.« Der alte Soldat verstummte. Ashe stand neben ihm, als die Sonne über den Horizont stieg und die Segel in den Himmel setzte. MacQuieth bückte sich und sammelte eine Hand voll Sand. Er dachte einen Moment lang nach und ließ den Sand dann durch die Finger zu Boden rieseln. »Wenn du die Liringlas kennst, weißt du auch, dass wir unsere Toten bestatten, indem wir ihre Körper dem Feuer und dem Wind unter den Sternen übergeben. Wir singen vom Leben der Toten, von ihren Träumen, ihren Talenten, ihren guten Taten. Es gab viel über Hector zu singen. Er war ein Mann von überragender Größe; er war mein Held.« Der Soldat stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber da gab es nichts zu bestatten, nichts, was man auf einen Scheiterhaufen hätte legen können – nur Berge von Schutt, die sich bis beinahe zur Wasseroberfläche auftürmten. Und Asche. Obwohl es so ungeheuer lange dauerte, bis ich durch die See auf die andere Seite der Welt gewandert war, befand sich immer noch Asche in der Strömung, als ich dort ankam. Sie trübte das Wasser, sie verpestete es mit flüchtiger Erde. Wie sollte ich in all dem Schutt, in all diesem dichten, grauen Gewirbel meinen Sohn finden? Ich konnte nicht einmal das Requiem für meinen eigenen Sohn singen; wie sollte ich es je für jemand anderes singen können?« Lange standen die beiden Männer da, der eine in Gedanken verloren, der andere in Erinnerungen, und sie lauschten dem Wimmern des Windes. Plötzlich schaute MacQuieth hoch gen Norden. »Er kommt«, sagte er nur. Vor der nördlichen Küste Die Basquela ging vor Anker, als die Sonne im Zenit stand. Das Gesicht des Seneschalls, das noch ausgezehrter und hagerer als gewöhnlich erschien, verhärtete sich, als das Schiff in der fahlen See zur Ruhe kam, die bereits von Sturm verkündenden Winden aufgewühlt wurde. Er holte das Fernglas aus seiner Robe hervor und richtete es auf den Felsvorsprung. Wieder und wieder suchte er die Spalten und die zerklüftete Küstenlinie ab. »Wo bist du, Rhapsody?«, murmelte er und durchforschte den Nebel, der aus der Brandungsgischt aufstieg. Das dunstige Sonnenlicht verdunkelte sich, als Wolken am Himmel vorbeizogen. Tot, antwortete der Dämon verbittert, oder weit jenseits deiner Reichweite. Ein letztes Mal, und dann wirst du diesen Wahnsinn aufgeben und nach Hause zurückkehren. Trotzig packte Michael die Reling und beugte sich in den Wind. Er rief Rhapsodys Namen, so laut er konnte. In den Tiefen ihrer Gezeitenhöhle saß Rhapsody auf ihrem Sims und arbeitete fieberhaft an dem schwimmenden Floß aus Lavabrocken, als sie glaubte, ihren Namen im Pfeifen des Windes zu hören. Das Salz macht mich verrückt, dachte sie und flocht verzweifelt die Haarsträhnen zusammen, die sie sich mit Hilfe des zerbrochenen Pfeils abgeschoren hatte. Sie beobachtete den Leichnam, der in der kreisförmigen Strömung trieb und sich vor ihren Augen auflöste. Morgen. Morgen werden wir von hier fliehen. Das war ein Versprechen, das sie bisher vermieden hatte. Dann hörte sie es wieder. Es war eine Stimme voller Zorn und Besessenheit. Rhapsody! Ich werde dich holen! Ich weiß, wo du bist; ich sehe dich! Ich werde noch heute oder spätestens morgen bei dir sein! Rhapsody! Sie drückte die treibende Matte enger an die Brust. Kurz darauf verwandelte sich ihre Angst in stählerne Entschlossenheit. Niemals! 50 Der Kessel Shaene schnarchte gewaltig in seinem Bett im Botschafterzimmer von Ylorc. Er hatte den Plan aufgegeben, mit Theophila zu Abend zu essen, denn plötzlich hatte er ein seltsames Gefühl verspürt; es war, als lecke jemand an seinem großen Zeh. Im Schlaf zog er den Fuß rasch fort, doch das Bein wurde ihm gegen die Matratze gedrückt. Der canderianische Glaskunstwerker versuchte die Augen zu öffnen. Als es ihm gelang, schoss ein Gefühl der Erregung durch ihn. Es begann im Bauch, auf dem eine andere warme Hand als die seine lag. Er richtete sich leicht auf, spürte aber, dass der fremde Körper über seinen gebeugt war. Der Kopf lag über seinen Beinen, und er wurde erneut niedergedrückt. Eine weibliche Hand zog die Decke fort und enthüllte einen kleinen dunklen Kopf. Ähnlich dunkle Augen schauten ihn aus einem grinsenden Gesicht an. »Psst«, sagte die Frau und fuhr ihm mit den Händen heftig an den Beinen entlang. »Tut mir Leid, dass es so spät geworden ist.« Die Laute, die aus Shaenes Kehle kamen, bildeten keine erkennbaren Worte. Theophila machte sich wieder an die Arbeit. Er ließ den Kopf schwer gegen das Kissen fallen und ergab sich ohne die geringste Gegenwehr den köstlichen Gefühlen, die ihm unter der Decke zuteil wurden. Er sah zu, wie die Decke seltsame Formen annahm, als ihm das Blut aus dem Kopf schoss und sich in andere Teile seines Körpers ergoss. Eine lange versagte, lange zurückgehaltene Erektion wuchs aus der Tiefe. Innerhalb weniger Schläge seines rasenden Herzens war er völlig erwacht. »Theophila...« Als ob sie ihn zum Schweigen bringen wollte, wurden ihre Bemühungen noch heftiger. Feuer schien zwischen Shaenes Ohren auszubrechen. In seinem Kopf summte es, als sei er vom Rest des Körpers abgetrennt worden. Er jammerte närrisch, als sie sich plötzlich zurückzog und innehielt, bevor er ganz die Beherrschung verlor. Die erotischen Gefühle, die ihn noch vor einem Augenblick durchflutet hatten, wurden nun von prickelndem Schuldbewusstsein ersetzt. Es war ihm peinlich, dass sie genau wusste, wie nahe er davor gewesen war, ohne ihn allzu heftig zu bearbeiten. Er wollte sprechen, sich entschuldigen, doch sein Mund wurde von dem ihren verdeckt. Ihre Lippen waren so heiß wie die Schmieden unter dem Berg. Shaene gab jeden klaren Gedanken und jede Bewegungsfähigkeit auf. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich über sein Glück zu wundern oder sich zu zwicken, um festzustellen, ob er vielleicht träumte, oder Theophilas Beweggründe zu verstehen. Er lag nur da, Steifheit in allen Körpergliedern, und versuchte nicht zu lachen, zu schnaufen oder zu husten, als die schöne Frau, die aus der Dunkelheit seines Lakens aufgetaucht war, ihn heftig ritt und Lustblitze durch sein einsames Fleisch schickte. Sie war eine Meisterin darin, ihn bis kurz vor den Erguss zu bringen und sich dann rasch zurückzuziehen, nur um ihn einen Moment später zu noch höheren, beängstigenderen Gipfeln zu führen. Ihr Duft, eine würzige Mischung, die ihm in der Nase prickelte und den Kopf vernebelte, legte sich fest um ihn, während sie ihm erregende Worte ins Ohr flüsterte, ihn neckte und anstachelte, Phantasien über Liebe an seltsamen Orten zu haben – auf einem Windgepeitschten Bergpass, in der Hitze neben den Schmieden, im Bett des Bolg-Königs. Er bemühte sich zu antworten, flüsterte Erwiderungen zu jedem imaginären Ort, doch sofort wurde sein Mund wieder von dem ihren bedeckt. Als er murmelte, wie sie auf die Wachablösung im neunten Korridor warten müssten, um sich in die linke Abzweigung zu den Privatgemächern König Achmeds stehlen zu können, damit sie auf den seidenen Laken seines Bettes miteinander schlafen konnten, unterbrach sie ihn kurz. Prickelnde Schockwellen rollten durch ihn. »Wo?«, wollte sie wissen und legte sich über ihn, sodass er vor Vergnügen aufkeuchte. »Sag es mir. Wo ist der neunte Korridor?« »Ich... ich weiß es nicht«, antwortete Shaene atemlos. »Ich durfte nie auch nur in seine Nähe kommen.« Der Blick der Panjeri-Frau wurde stählern. Wenn er nun in ihre Augen geschaut hätte, wäre Shaene entsetzt gewesen, doch ihm wurde dieser Anblick erspart, weil er den Kopf zurückgeworfen hatte und um Luft rang. Daher brauchte er auch nicht zu sehen, wie sich in diesen Augen die Härte zu Wut verwandelte, während sie kräftiger stieß und ihn so unbarmherzig ritt, dass er sich nicht länger zurückhalten konnte. Auch sie verzögerte nichts mehr. Shaene hatte den flüchtigen Eindruck, dass sie von einem Augenblick zum nächsten ungeduldig geworden war und den Liebesakt so schnell wie möglich beenden wollte. Er gab nach. Erschöpft und ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, seufzte er auf, als sie sich von ihm rollte. Er vermisste die feurige Hitze, die ihn noch vor einem Moment umgeben hatte. Shaene griff nach dem warmen Körper neben ihm, fand ihn nicht, hob den Kopf und schaute sich um. Theophila war verschwunden. Omet steckte zwischen den Klauen eines Albtraums. Er träumte von seiner Mutter. In seinem Leben hatte er schon viele solcher Träume gehabt, auch wenn sie seltener und die Abstände zwischen ihnen größer geworden waren, seit er zusammen mit den anderen aus Yarim geretteten Sklavenjungen in den Berg gekommen war. Einer nach dem anderen hatte Ylorc verlassen. Es waren Waisen, die keine Familie hatten, zu der sie zurückkehren konnten, oder die sich zumindest nicht an eine solche Familie erinnern konnten; daher hatte die Herrscherin der Cymrer sie bei kinderlosen Paaren untergebracht, die sie in Tyrian und Navarne kannte – weit weg vom brennenden Lehm und den schrecklichen Erinnerungen an die Ziegelei in Yarim und die dunklen, feuchten Tunnel, die sie darunter hatten graben müssen. Aber Omet war geblieben. Er war keine Waise, oder jedenfalls glaubte er, keine zu sein. Seine Mutter hatte ihn in die Lehre gegeben, weil sie ihn nicht länger hatte durchfüttern können und wollen. Sie hatte gewusst, zu welchem Leben sie ihn damit verdammte, denn sie hatte den Ruf der Gildenmeisterin gekannt, und sie hatte ihn während der fünf Jahre seiner Lehrzeit kein einziges Mal besucht. Außer wegen dieses letzten Umstandes machte er ihr wegen allem anderen große Vorwürfe. Doch nun saß sie neben seinem Bett, weinte still und bat ihn um Vergebung, wie sie es oft in seinen Träumen tat. Sie berichtete ihm von ihrer Trauer über seinen Verlust und davon, wie sie ihn jeden Tag seiner Lehrzeit beklagt hatte, für ihn gebetet hatte, Gaben an den Altar des Patriarchen gebracht hatte, damit ihre Gebete sich mit denen der anderen Mütter von Sklavenkindern vereinigten und durch den Seligpreiser zum Schöpfer, dem All-Gott selbst, geleitet wurden. Es tut mir so Leid, Omet, sagte sie in der hallenden Stimme der Traumwelt. Sie schob ihm eine schwere Locke aus der Stirn. Omet seufzte im Schlaf. Die Finger seiner Mutter waren schwielig von der Arbeit vieler Jahre, doch als sie seine Stirn liebkoste, waren sie ganz sanft. Ich habe dich vermisst, flüsterte seine Mutter im Traum. »Hast du das wirklich?«, murmelte er. »Hast du mich vermisst?« »Oh, sehr, Omet. Sehr.« Die Worte klangen deutlicher und näher. Omet öffnete die Augen und sah, dass Esten neben ihm auf dem Bett hockte, wo noch vor einem Moment im Traum seine Mutter gesessen hatte. Sie strich ihm über die Haare. Und drückte ihm ihr Messer gegen die Kehle. Omet atmete stoßweise durch die Nase und stieß die Luft ganz vorsichtig aus, denn das Messer war ungeheuer scharf. »Du hast geglaubt, ich erkenne dich nicht, nicht wahr, Omet?«, fragte sie mit süßer Stimme. Ihre Augen glühten böse im Licht der Lampe auf dem Nachttisch. »Doch ich wusste von Anfang an, wer du bist.« Sie fuhr mit der freien Hand durch sein dichtes, glattes Haar und den Bart, auf dem sie die Finger längere Zeit ruhen ließ. »Wenn mir einmal jemand gehört, dann gehört er mir für immer. Das weißt du doch bestimmt, Omet, oder etwa nicht?« Er starrte sie schweigend an. Esten kam näher. Ihr Rücken war gekrümmt wie der einer jagenden Katze. Grausamkeit lag in ihren Augen und spiegelte sich in den Muskeln; ihre Zielgerichteten Bewegungen waren die schrecklichste Drohung, die er sich vorstellen konnte. Sie saß auf seiner Brust und drückte ihm die Arme mit ihren Beinen gegen die Matratze. »Sag mir, was in jener Nacht in der Ziegelei vorgefallen ist«, flüsterte sie und drückte ihm die Klinge noch ein wenig fester gegen die Kehle. Er bekam von der Anspannung einen metallischen Geschmack im Mund. »Wie ist es dem Bolg-König gelungen, euch alle zu überwinden? Wie viele Männer hat er gebraucht, um meine Gesellen zu besiegen? Sag mir, wie er es geschafft hat, Omet.« Der Kunsthandwerker antwortete nicht. Die Klinge zuckte kurz auf. Esten hatte ihm einen winzigen Teil des Bartes sowie die obere Hautschicht abgeschnitten. Nur ein einziger Tropfen Blut quoll hervor. »Sag es mir«, drohte sie leise. »Die Ader, gegen die mein Messer drückt, ist schwierig zu schließen, wenn sie einmal geöffnet ist.« Erinnerungen an diese Nacht durchzuckten ihn. Er war geweckt und von Rhapsody rasch gefesselt und geknebelt worden, während Achmed sich umgeschaut hatte. »Allein«, flüsterte Omet. »Er war allein.« Esten drehte den Kopf in einen anderen Winkel und betrachtete sein Gesicht. »Lügner. Es fehlten nach dieser Nacht dreizehn Männer und zwei Dutzend halb ausgewachsene Jungen. Er kann nicht allein gewesen sein.« »Er war allein«, beharrte Omet und rang nach Luft, während das Messer sich weiterhin gegen seinen Hals drückte. »Er hat die meisten mit... mit seiner Cwellan umgebracht.« »Mit der Cwellan?« Das Messer bewegte sich nicht, als Theophila mit der anderen Hand eine blauschwarze Scheibe aus Rysin-Stahl hervorholte. »Feuert die gebogene Waffe, die er auf dem Rücken trägt, solche Scheiben ab?« »Ja«, flüsterte Omet. »Er hat mich und die anderen Gesellen gefesselt. Vincane ... hat gegen ihn gekämpft. Der Bolg-König hat ihn ... in den Brennofen gesperrt.« Die grausamen Augen glitzerten. »Das erklärt den Gestank. Hat er die Sklavenkinder getötet? Hat er sie unter dem Lehm begraben?« Omet dachte an den langen Ritt nach Ylorc zusammen mit den anderen geretteten Kindern. Rhapsody und Achmed hatten für Ordnung gesorgt, bis die Kleinen den Bolg-Wachen in den nördlichen Zahnfelsen übergeben werden konnten. »Ja. Sie sind alle tot. Begraben im Lehm. Zusammen mit den Gesellen.« »Warum? Warum hat er das getan?« Ihre Augenbrauen stießen zusammen, und ihr Gesicht wurde zu einer erschreckenden Maske der Konzentration. »Wenn er so etwas wie ein König der guten Tat ist und die Probleme der Welt lösen will, warum hat er dann meine Sklavenjungen unter einem Berg aus Lehm begraben?« »Es war ... Vincane, der das Fass umgestoßen hat«, sagte Omet. Das war die erste Wahrheit aus seinem Munde. »Er hat... zu entkommen versucht.« »Wie hat er es gebrannt? Wieso ist es so hart geworden?« Omet rang nach Luft und versuchte dabei, die Klinge nicht zu reizen. »Ich weiß es nicht. Da hatte er mich schon gefesselt und hinausgetragen.« »Hmm. Ich weiß immer noch nicht, wieso er das Wagnis eingegangen ist, mich bei meiner Arbeit zu stören. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass er mit seinen dreckigen Handwerkern die Entudenin ausgraben wollte. Er ist ein seltsamer Knabe, nicht wahr? Na, egal. Er wird noch seinen Teil abbekommen.« Omet sagte nichts darauf. »Genau wie du, Omet.« Mit ihrer freien Hand griff sie über ihre Schulter, während sich das Messer noch fester gegen die Halsschlagader drückte. Einen Moment lang wurde ihm schwarz vor Augen. Omet kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Als er wieder einen klareren Blick hatte, hielt Esten ihm eine schimmernde Metallphiole vor die Augen. Sie entkorkte sie mit dem Daumen und hielt ihm die Phiole an die Lippen. »Trink«, sagte sie nur. »Nein«, wehrte sich Omet. Seit dem Moment, als er sie erkannt hatte, war ihm klar, dass sein Tod feststand. Ein Gefühl der Endgültigkeit und des Friedens überkam ihn und machte ihn furchtlos. Esten blinzelte ihn an. »Du widersetzt dich mir? Du bist tapferer, als ich dachte.« Sie hüpfte auf seine Brust und presste die Atemluft aus ihm heraus. Omet rang keuchend nach Luft. Dabei goss sie ihm die sengende Flüssigkeit in die Kehle. Blitzschnell schlug sie ihm mit der Handkante gegen den Kiefer und zwang ihn zu schlucken. Omet keuchte erneut auf. Ihre Hand verschloss ihm noch immer den Mund, während ihm die ätzende Flüssigkeit die Eingeweide zerriss. Innerhalb weniger Sekunden spürte er, wie sich die Hitze in seinen Gliedern ausbreitete. Sie wurden schlaff und nutzlos. Esten kletterte rasch von ihm herunter. »Wenn du dich bewegst, wird das Koma noch schneller einsetzen«, sagte sie grob und bürstete ihre Kleider ab. Mit einer blitzschnellen Bewegung verschwand das Messer. »Du musst eine Weile im Fieber liegen, damit deine Freunde abgelenkt werden, bis der Bolg-König in den Berg zurückkehrt.« Sie legte den Kopf schief und schaute ihn neugierig an, während ihm die Hitze in den Kopf stieg. »Deine Mutter wäre stolz darauf, wie du deinem Tod ins Auge siehst, Omet, und ich bin sicher, du bist mir dankbar, dass ich dir im Gegensatz zu all den anderen diesen sanften Weg geebnet habe. Wenigstens musst du nicht wie sie mit den Auswirkungen der Säure leben.« Ihr Gesicht wurde leuchtend, als sie sich zu ihm herunterbeugte. »Es ist wirklich eine nette Substanz. Wenn man sie auf die Haut aufträgt oder einatmet, wie es deine Bolg- und Glasbläser-Freunde getan haben, werden die Haare, die Augen und die Haut gelb, ja beinahe golden. Sie werden eine Menge wunderbarster Schmerzen erleiden, sie werden Blut im Urin haben, ihre inneren Organe werden sich verdrehen und schmelzen, sie werden in Zuckungen verfallen, dann werden sie erstarren und schließlich einen gesegneten, wenn auch schmerzhaften Tod haben.« Esten ergriff Omets schlaff gewordene rechte Hand und ließ sie wieder auf das Bett fallen. Sie legte sich neben ihn und schlang den Arm unter seinen Hals, während seine Atmung flach und das Gesicht grau wurden. Mit einer letzten zärtlichen Geste legte sie den Kopf auf Omets Schulter und hielt ihm die Lippen entgegen, sodass er die Worte hören konnte, die sie ihm zuflüsterte. »Was den Bolg-König angeht, so wird er die beste Behandlung bekommen. Die Glasur, mit der wir das Deckenglas gehärtet haben, war Pikrinsäure, Omet. Es ist eine angenehme Substanz, wenn sie feucht ist, so wie jetzt unter der hölzernen Kuppel. Ich bin sicher, du erinnerst dich an sie aus meinen Lektionen. Weißt du noch, was geschieht, wenn sie trocknet?« Omet atmete immer flacher und glitt in die Bewusstlosigkeit. Er antwortete nicht mehr, aber in den letzten Augenblicken des Bewusstseins war ihm die Antwort klar. Pikrin explodierte, wenn es getrocknet war. Er spürte nicht mehr den warmen Kuss, den sie ihm auf die Schläfe drückte, und er befand sich zu fest im Griff des Giftes, als dass er sie hätte gehen hören. 51 An der nördlichen Küste In dieser Nacht schlugen sie ihr Lager auf, als der Pfad entlang der Küste so tückisch wurde, dass man ihn bei Dunkelheit nicht mehr betreten konnte. Sie verbrachten die Nacht ohne ein Feuer und drückten sich fest an den Boden, bis die Ränder des Sturmes über sie hereinbrachen. Blitze zischten unter Hitzewellen durch den Himmel und wurden umso heller, je heftiger der Sturm wurde. Knisternde Lichtpfeile durchschossen den Himmel mit pulsierendem Licht, Sekunden später gefolgt von tiefem Donnerrollen, das an den Klippen widerhallte und die Pferde verängstigte. Die Reisenden schlugen ihr Lager ab und eilten die Küste nach Norden entlang. Sie sahen, wie die Wellen gegen den Strand peitschten, und schenkten der stechenden, mit frischem Regenwasser vermischten Salzgischt keine Beachtung. Schließlich suchten sie Unterschlupf in den Ruinen eines kleinen Dorfes in einer kalten Bucht, wo sich die Lavaklippen, welche die gesamte westliche Küste säumten, noch höher auftürmten und in Simsen und Vorsprüngen ausliefen. Ein kleines Ziegelhaus mit einem halb verrotteten Dach aus Schieferplatten stand in der Nähe einer hohen Böschung; alles andere war Schutt und Asche. Sie banden die Pferde neben der Böschung fest, als der Himmel über ihnen seine Schleusen öffnete und Mensch und Tier durchnässte, dann kletterten sie einer nach dem anderen in das zerfallene Gebäude und lehnten sich gegen den Teil der Wand, die noch Reste des Daches trug. Sie fanden nur wenig Schutz. Etliche Ratten, die bisher die einzigen Bewohner gewesen waren, eilten aus der Hütte, als sich die Männer unbehaglich regten und nach einem trockenen Plätzchen suchten. Der alte Mann kicherte, als die Nagetiere im Regen verschwanden. »Vor vielen Jahren habe ich die letzte serenische Ratte erschlagen«, sagte er. »Der arme alte Nick. Ich habe ihm die Gnade erwiesen, in das Ratten-Nachleben einzugehen, falls es eines gibt. Er muss auf einem der Schiffe der Ersten Flotte mitgekommen sein.« »Haben auch die Ratten während der Überfahrt Unsterblichkeit erlangt?«, fragte Ashe ungläubig. »Ja«, antwortete MacQuieth. »Zumindest die cymrischen Ratten. Hast du geglaubt, nur die Menschen könnten nicht sterben?« Er schüttelte den Kopf. »Zu grau, als dass ihn seine eigene Art gefressen hätte. Ich habe es auch nicht übers Herz gebracht, ihn zu verspeisen.« »Verrate mir bitte etwas«, bat Achmed. Er nahm den Schleier ab, der sein Gesicht schützte, und wrang ihn aus. »Etwas, das mir schon seit langem Kopfzerbrechen macht. In der Legende heißt es, dass du es warst, der Tsoltan, den F’dor-Priester, getötet hat, der einst mein gehasster Herr war. Wie ist dir das gelungen? Du bist kein Dhrakier und hast ihn doch umgebracht – sowohl den Körper als auch den Geist. Ich muss wissen, wie du das geschafft hast, denn es könnte uns in dem bevorstehenden Kampf helfen.« MacQuieth lehnte sich zurück, er schien den Regen nicht zu bemerken. »Ich habe ihn gejagt«, sagte er mit erinnerungsschwerer Stimme. »Damals war ich noch jung und glaubte, in der Blüte meiner Jahre zu sein. Ich war der Schatten des Königs, der Favorit der Königin, der schwarze Löwe. Zu jener Zeit gab es Leute, die behaupteten, ich hätte Flügel. Und an Tagen, wenn mir der Wind im Rücken stand, hätte ich ihnen beinahe geglaubt. Wenn du dich an eines erinnerst, was über mich gesagt wurde, dann an das: Ich habe nie eine Suche aufgegeben, die ich allein begonnen habe. Und ich arbeite am besten allein. Ich bin kein Diener, kein Ratgeber, kein Botschafter. Ich hatte nie den Wunsch verspürt, General zu sein. Mir reichte es, wenn ich stets in der Vorhut war.« Er wandte den Blick von den endlosen Regenschleiern ab und schaute Achmed an. »In den Tagen nach deinem Verschwinden war ich in der vordersten Reihe. Aber ich war auch ein Narr. Als der serenische Krieg anfing, wusste ich nicht einmal, dass es so etwas wie F’dor gibt. Sie waren so lange gefangen gewesen, eingekerkert in der Gruft der Unterwelt für Jahrhunderte. Es gab keine Überlieferungen mehr über sie, oder wenigstens habe ich sie nicht beachtet. Ich hatte den Mut eines Narren, oder zumindest trieb er mich voran. Ich hatte Kinder der vier anderen Erstgeborenenvölker getroffen: Seren und Mythlin, die Kinder der Sterne und des Meeres. Ich hatte mit Drachen wie dir, Asche, gekämpft, mit der Brut der Erde und kannte sie sehr gut. Viele von ihnen waren Blutsverwandte, Brüder des Windes, geboren aus dem Element der Luft. Das fehlende Element hätte mir auffallen müssen, doch ich vergaß die Kinder des Feuers. Tsoltan war von Kriegsbeginn an der Fluch meines Königs gewesen und daher auch mein Fluch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis meine Kameraden und ich seine Identität herausfanden. Als es so weit war, habe ich ihn allein gejagt. Ich habe ihn vor dem Turm angetroffen, seinem Nest in der alten Welt, bei einer Sache, die er nicht unerledigt lassen konnte.« MacQuieths Stimme wurde während der Erzählung wärmer. Er schaute in die Schleier blendenden Regens, als ob er durch sie hindurch geradewegs in die Vergangenheit sehen könnte. »Seine Männer und Gefolgsleute waren nichts. Ich fiel mit solcher Wucht über sie her, dass das Wasserschwert rauchte. Es atomisierte Leben, riss Seelen und Organe aus den Körpern wie eine Lawine oder eine Flutwelle.« Er kicherte leise. »Ich liebe den Klang der Klinge, das Gefühl von Stahl auf Knochen. Es war großartig. Der Dämon selbst – nun, das war eine andere Sache. Zuerst hat er natürlich gekämpft. Er hatte keine Ahnung, wer ich war und dass ich sein Schicksal zwischen meinen Zähnen trug. Er hatte alle Kraft – die Kraft der Zeit und die Kraft des Elementes. Und ich hatte einen Vorteil: Er konnte es sich nicht leisten, mich zu töten.« »Warum nicht?«, fragte Achmed. MacQuieth antwortete sachlich: »Weil ich ihn in mir trug. Ich war sein Wirt.« Achmed hustete heftig, als sich ein Strom aus Regenwasser durch das Dach ergoss und ihn traf. »Was hast du da gesagt?« »Ich hatte ihn in mich aufgenommen – in meinen Körper, wie euer Michael. Ich habe ihn eingeladen und geschluckt.« Sein Gesicht wurde finsterer. »Und dann habe ich mit ihm gekämpft. Ich musste meine eigene Dunkelheit und meine Wut von der des Dämons trennen, damit ich ihn deutlich sehen und töten konnte. Meine Rasse, mein Schwert, meine Einsamkeit – ich war der Schatten des Königs. Das gab mir große Kraft. Ich habe ihn ertränkt. Ich habe das Wasser meines Lebens über sein Feuer gegossen. Schließlich hat er gefleht und gebettelt, bevor er aufgeben musste und sich flüsternd fortstahl. Ich hatte den Körper schon lange vorher getötet; als er daher aufgab und in den Wind floss, war er wirklich und endgültig verschwunden. Nicht einmal ein Funke schwarzen Feuers leuchtete mir aus den Tiefen des Turmes heim, eines Ortes alles verschlingender Finsternis. Glaubt ihr, es war nur die Zeit, die mich zu dem gebrechlichen menschlichen Wrack gemacht hat, das ich bin? Bei den Göttern, nein. Meine Gebrechlichkeit, meine Schwäche hat ihre Ursache in meinem Leben, nicht in der Zeit. Sie rührt von den Dingen her, die ich auf mich geladen habe – von Kämpfen wie dem, den ich euch gerade geschildert habe, und von den zermalmenden Forderungen, die andere an mich gestellt haben.« Er schaute Ashe kurz an. »Keine war so groß wie die Gwylliams. Aber ich bereue es nicht, mein Leben auf diese Weise gelebt zu haben«, sagte er mit sanfterer Stimme. »Unsterblichkeit ist eine Narretei. Alles stirbt und vergeht. Berge altern und zerfallen, Inseln versinken im Meer, und wenn es nicht diese F’dor mit ihrem endlosen Hunger nach Zerstörung sind, die das Ende herbeiführen, dann wird es jemand anderes sein, irgendein Verrückter, der die Sonne einfängt und sie auf die Erde herabzieht. Früher oder später endet jedes Leben. All jene, die dieses System durchbrechen wollen, sind noch schlimmer als die F’dor in ihrem unendlichen Hunger nach Auslöschung.« Achmed sah, wie Ashe zitterte. »Was ist los?«, fragte er scharf. »Das kann ich nicht tun«, flüsterte der Herrscher der Cymrer. »Ich habe mit der Berührung des F’dor gelebt, habe gespürt, wie die Finger des Dämons in meine Brust gegriffen und ein Stück meiner Seele herausgerissen haben. Ich kenne die Qualen, die es bereitet, wenn man einen Körper mit ihm teilt. Auf diese Weise kann ich die Bestie nicht bekämpfen.« »Ich ebenfalls nicht«, sagte Achmed. MacQuieth schaute beide eingehend an. »Nicht einmal, um deine Frau zu retten? Und deine Freundin?« Keiner der beiden Männer antwortete. Ein Blitz knisterte in der Ferne über den Himmel und erhellte das Meer. Der alte Krieger schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid. Ich habe euch nur eine Methode erklärt, wie man den Dämon töten kann. Für euch ist sie vielleicht nicht richtig. Möglicherweise wären andere Arten besser. Ihr mögt gute Männer und gute Könige sein. Sogar ein treuer Ehemann und ein treuer Freund. Aber ihr seid keine Blutsverwandten. Keiner von euch ist dafür gemacht; das Bewusstsein eurer selbst ist zu stark. Ihr seid auf der Welt, um zu herrschen. Blutsverwandte aber sind keine Herrscher. Wir sind eine Bruderschaft, die durch die Dunkelheit und durch die Zeit blickt, doch wir sind allem anderen als dem Dienen gegenüber blind.« »Ich werde es tun, wenn ich muss«, sagte Ashe und schaute hoch in die Dunkelheit des zerbrochenen Daches. »Wenn der Dämon Achmed während des Zauberbanns entwischt, werde ich alles tun, um ihn am Entkommen zu hindern.« MacQuieth lächelte und tippte gegen die Scheide, in der Kirsdarke steckte. »Ich bezweifle, dass das notwendig sein wird«, sagte er mit klarerer und stärkerer Stimme als je zuvor. »Du trägst die richtige Waffe. Wir alle leben in einem empfindlichen Gleichgewicht auf des Messers Schneide und im Kräftefeld von Wasser, Luft, Feuer und Erde. Die großen Schwerter erlauben uns, dieses Gleichgewicht zu ändern. Es wurden fünf Elementarschwerter angefertigt. Eine Million wurde geschmiedet, doch nur fünf geweiht – nicht alle gleichzeitig, sondern jedes zu seiner Zeit und durch liebevolle Hände. Die Tagessternfanfare machten die Seren, geboren im Zwielicht der Götter. Sie wurde entzündet und vollendet vom Sternenlicht. Es ist eine alte Macht, aber sie ist fern von uns. Es gab ein Feuerschwert, das inzwischen untergegangen ist. Es war verbunden mit dem Schwert der Sterne. Die Klinge, die Michael trägt, wurde aus dem Wind geboren, doch Wind ist flüchtig. Es ist das Wasserschwert, das das dunkle Feuer besiegen wird, wenn die richtige Hand es geschmiedet hat. Das Meer ist das einzige Element, das immer noch uns alle berührt. Die Erde ist zerbrochen, der Wind ist verloren, das Feuer ist gelöscht. Das Wasser aber berührt alles. Es ist unser Schwert.« Achmed, der Hasser des Wassers, seufzte tief auf. »Seht mich an, falls ihr nicht an die dauerhafte Kraft des Wassers glaubt«, sagte MacQuieth scherzhaft. »Salz wirkt Wunder als Konservierungsmittel. In den Tiefen des Meeres gibt es Fische, die hunderte von Jahren alt sind, wusstet ihr das? Vertraut auf das Schwert und auf euch selbst. Und wenn es den Anschein hat, als würdet ihr verlieren, erinnert euch daran, dass ewiges Leben nicht unbedingt ein Segen ist.« Donnergrollen unterstrich seine letzten Worte. 52 Und dann wurde es Morgen. Der Regen blieb. Grau und düster ahnungsvoll kam und ging er mit dem Wind und ließ einen allgegenwärtigen Nebel zurück, der Achmeds Sinne umhüllte. Sie folgten MacQuieth und vertrauten auf sein Band zu dem Fluch aus der alten Welt, auch wenn jeder Schritt in den Nebel, der aus dem aufgewühlten Meer hochstieg, ihr Zutrauen, nicht aber ihre Entschlossenheit ein wenig mehr ins Wanken brachte. Der alte Held hielt an einer Stelle des rauen Landes an und überblickte das Meer. Still band er sein Pferd an einen Baum im letzten Hain, den er sah. Die anderen folgten seinem Beispiel und bemerkten dabei, dass der Gwynwald im Osten immer noch im dichten Rauch des Feuers lag, das kürzlich in ihm gewütet hatte. »Er ist hier«, sagte MacQuieth still. »Ganz in der Nähe des Meeres.« Am Rand des Vorsprungs schaute Michael ungeduldig auf die Klippen und die beiden Soldaten hinunter, die Fergus ausgesucht hatte und die nun an Seilen über den Felsen unter ihm hingen. »Was seht ihr?«, rief er in den regenschweren Wind. Einer der Männer schaute hoch zu dem Vorsprung und schüttelte den Kopf. »Macht weiter!«, kreischte er. »Sie ist da unten! Ich weiß, dass sie da ist!« Du weißt gar nichts. Du hoffst nur, dass sie irgendwo da unten steckt. Die Stimme des Dämonengeistes brodelte vor Widerwillen. Michael krallte die Hände in das Gesicht. »Schweig!«, schrie er. »Hör auf, mich zu verhöhnen!« Nun gut. Das überlasse ich der Frau, falls du sie findest. Unten am Sandstrand im Süden bemerkte der Seneschall eine huschende Bewegung. Er schaute auf Fergus, der unter ihm postiert war und triumphierend winkte. Dann blickte er auf das Felsgefüge, in dem die beiden Soldaten über den donnernden Wellen und den schwarzen, zerklüfteten Klippen in der Luft hingen. Er gab ihnen ein Zeichen. »Höhle hier unten, Herr!« »Ich wusste es!«, rief der Seneschall und verkrallte erregt die Hände ineinander. »Seilt euch tiefer ab! Macht weiter!« Er starrte auf die Meeresströmung. Salzgischt schlug ihm gegen das Gesicht. Er bemerkte, dass ein seltsamer Ton, eher eine Art Schwingung an seinem Trommelfell kratzte. Er wischte ihn fort wie eine lästige Fliege, doch das Geräusch wurde nur noch lauter und war bald schmerzhaft. Er drehte sich in die Brise und starrte nach Osten auf den breiten Rand, an dem der Vorsprung begann. Dort harrten drei Gestalten im Nebel – oder eher zwei und eine halbe, wie er einen Augenblick später bemerkte. Links von ihm, am weitesten nordwärts, stand ein vager Umriss in Dunst gehüllt und ging in ihm so selbstverständlich auf wie der Regen. Er hätte die Person gar nicht bemerkt, wenn da nicht das Schwert gewesen wäre, das sie in der Hand hielt -ein Schwert, das in starkem Blau erglühte. Ein Schwert, das er von dem alten Land her kannte. Kirsdarke, dachte er langsam. Ich hatte geglaubt, es sei mit der Insel untergegangen. Die dämonische Stimme in seinem Hirn verstummte plötzlich und gab ihm zum ersten Mal, seit er den F’dor aufgenommen hatte, das Gefühl, er sei allein in seiner eigenen Haut. Südlich, zu seiner Rechten, stand eine weitere Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet. Sie hatte die Hand erhoben und schien ihn aufhalten zu wollen. Zwischen den Ohren spürte er eine Explosion, als der Dämon Panik bekam und in der ordinären Sprache seiner Rasse fluchte. Ein Dhrakier, spuckte er aus. Michael wandte den Kopf rasch der Person zwischen den beiden zu. Früher mochte dieser Mann einmal groß gewesen sein, doch nun war er vom Alter gebeugt. Er wirkte gebrechlich, und es hatte den Anschein, als blase der Wind durch ihn hindurch. Er hielt sich von den anderen zurück. »Ich habe jetzt keine Zeit!«, brüllte der Seneschall. »Haut ab!« Achmed steckte schon tief in dem Ritual des Banns, als die Gestalt, zu der MacQuieth sie geführt hatte, mit den Armen durch die Luft fuhr. »Ich habe jetzt keine Zeit! Haut ab!« Die Ironie dieser Worte führte dazu, dass er beinahe das Ritual abgebrochen hätte. Er musste das trockene Gelächter herunterschlucken, das in ihm emporstieg. Er hat einen so passenden Namen, dachte er und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der Atemverschwender. Er hob die linke Hand, rief jeden der vier Winde. Sie waren die Wesenheiten, die dem Bann seine Kraft verliehen. Bien, dachte Achmed. Der Nordwind, der stärkste. Er öffnete seine erste Kehle und summte den Namen. Der Klang hallte durch seinen Brustkorb und die erste Herzkammer. Er hielt den Zeigefinger hoch. Die empfindliche Haut an der Spitze prickelte, als sich ein Luftzug um sie wickelte. Jahne, flüsterte er in Gedanken. Der Südwind, der Ausdauerndste. Mit seiner zweiten Kehle rief er diesen nächsten Wind und übergab ihm die zweite Herzkammer. Um den größten Finger spürte er die Verankerung eines weiteren Luftfadens. Als beide Schwingungen stark und deutlich waren, fuhr er fort und öffnete die beiden anderen Kehlen sowie die beiden anderen Herzkammern. Leuk. Der Westwind, der Wind der Gerechtigkeit. Thas. Der Ostwind. Der Wind des Morgens, der Wind des Todes. Wie seidige Spinnfäden hingen die Strömungen an seinen Fingerspitzen und warteten. Vier Töne hielt er zusammen. Der Mann am Rande des Vorsprungs schaute ihn entsetzt an, griff dann an seine Seite und zog seine Waffe. Tysterisk kam mit einem scharfen Luftstoß aus der Scheide. Es zischte und heulte wie eine Bö um einen Berggipfel. Achmed zog die Hand zusammen und wickelte sich die metaphysischen Fäden um die Faust. Ashe sah das Signal und trat aus dem Nebel, der sowohl aus seinem Mantel aus auch aus der regenschweren Luft strömte. »Wo ist meine Frau?«, fragte er mit seiner vieltönigen Drachenstimme – Sopran, Alt, Tenor und Bass. Sie zitterte durch den Fels des Vorsprungs, auf dem sie standen. Michael lächelte, drehte sich um und deutete nach Südwesten auf den Schatten eines Schiffes in den Wellen. »Sie ist gerade meiner Mannschaft zu Diensten«, sagte er mit breiter werdendem Grinsen. »Sie nehmen sie abwechselnd. Inzwischen ist sie bestimmt schon bei der dritten oder vierten Runde. Ich selbst habe sie sieben Mal hintereinander genommen. Das war in den alten Zeiten. Und so wird es wieder sein. Und wieder. Und wieder.« Wut pulste durch Ashe. Er trat einen Schritt nach vorn, blieb stehen und wartete darauf, dass Achmeds Bann wirkte. Achmeds Arm zuckte hoch und zog die Fäden des Windes mit einer ruckartigen Bewegung fest. Michaels Augen weiteten sich. Selbst aus der Ferne sahen die Männer, wie sie in dem grauen Nebel leuchteten. Sein Körper taumelte ein wenig in Achmeds Richtung. Das qualvolle Lied des Dhrakiers wurde lauter. Als sich Achmed langsam dem Rand des Vorsprungs näherte und auf dem unsichtbaren Windgewebe balancierte, bemerkte er, wie Ashe den Griff um Kirsdarke verlagerte. Michael stand wie vom Donner gerührt da, sah zu, wie sie näher kamen, unbeweglich, das Schwert in der Hand. Als sie nur noch wenige Schritte von dem Seneschall entfernt waren, zog Achmed das Windnetz enger. Michaels Arm zuckte zurück. Ashe glitt näher, hob Kirsdarke, dessen Klinge in blauer und weißer Gischt wogte, und zielte auf die Kehle des Seneschalls. Mit einem heftigen Stoß durchschlug Michael die Luft vor dem Dhrakier und trennte die Windfäden durch. Hrekin! Das hätte ich wissen müssen, dachte Achmed, während er verzweifelt versuchte, die zerschnittenen Fäden des Banns einzusammeln. Michael machte eine wilde Geste, und Achmed spürte, wie ihm die Luft aus dem Körper getrieben wurde. Sein seltsamer Gesang brach mitten im Ton ab. Eine Windbö explodierte über ihm, blies ihn in die Luft, trieb ihn über den Rand des Vorsprungs und warf ihn weit hinaus ins Meer. 53 Ashe wich entsetzt zurück, als der Körper des Bolg-Königs über den Rand der Klippe flog. Er rannte die wenigen Schritte bis zur Spitze des Vorsprungs und deutete mit der Schwertspitze auf die tosende Brandung. Mit seinem eigenen elementaren Band langte er in das Meer hinein und befahl ihm, eine Welle hervorzubringen, die den Dhrakier auffing und von den Felsen forthob. Das würde ihn zwar vor dem Tod durch einen Anprall gegen die Klippen schützen, nicht aber vor dem Ertrinken. Michael warf den Kopf zurück und lachte in den Wind hinein. Die Brise nahm den Doppelton seiner Stimme auf – das fröhliche Glucksen des Mannes und das harsche, gackernde Kreischen des Dämons. »Das habt ihr im Spaß gemacht, nicht wahr?«, sagte er zu Ashe, der verzweifelt auf die Wellen starrte und nach Achmeds schwarzen Gewändern suchte. »Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könnt mich mit einem Bannritual einfangen? Ich befehle dem Wind, du Narr. Ich bin der Wind, der Wind des Feuers, der Wind des Todes.« Seine Stimme wurde rauer, als der Dämon hervorkam und sich die blauen Augen an den Rändern röteten. »Ich werde deine Seele essen«, sagte er, während er sich Ashe näherte. Die Klinge seiner Waffe war nun vollständig sichtbar; sie brannte in schwarzem Feuer. »Ich werde dich aber noch eine Weile am Leben erhalten. Heute Nacht kommst du mit mir auf mein Schiff. Bevor dich meine Mannschaft vergewaltigt und kielholt, werde ich dir noch einen Gefallen erweisen. Du darfst zusehen, wie ich deine liebliche Frau nehme, die jetzt mein Spielzeug ist.« Ashe packte Kirsdarkes Griff und atmete flach. MacQuieths Stimme ertönte wie durch seine Handfläche. Geh. Rette ihn. Er drehte sich um und schaute hinter sich. Der alte Held stand aufrecht da; sein Körper hatte wie unter der Macht des Elementarschwertes an Masse gewonnen. Überlass ihn mir, hörte Ashe in seinem Kopf. Es war, als ob die Worte durch Kirsdarkes Griff in seine Hand, sein Herz und sein Hirn drangen. Sie waren nicht leichthin ausgesprochen, sondern mit feierlichem Ernst. Es war der Befehl eines Blutsverwandten, seines Blutsverwandten, seines Ahnen. Der Befehl des Kirsdarkenvar. Wenn du dich noch an etwas über mich erinnerst, dann an dies: Ich habe nie eine Aufgabe, die ich allein unternommen habe, unbeendet gelassen. Ashe wandte sich an MacQuieth. Er wollte ihm seine Waffe anbieten und hielt sie ihm mit dem Griff voran entgegen. Der alte Mann schüttelte den Kopf. Ashe hörte die Stimme ein letztes Mal. Er mag dem Wind befehlen, aber ich bin das Schwert. Er rief sich die Worte in die Erinnerung zurück, die der Soldat in der vergangenen Nacht unter dem zerfallenden Dach der Hütte gesprochen hatte. Das Meer ist das einzige Element, das immer noch uns alle berührt. Die Erde ist zerbrochen, der Wind ist verloren, das Feuer ist gelöscht. Das Wasser aber berührt alles. Kirsdarke ist unser Schwert. Ashe packte das Schwert fest. Die ungeheuren Machtströme flössen durch seinen Arm und veränderten seine Körpermasse. Das Wasser in ihm wurde zu dunstiger Meeresgischt. Mit letzter Kraft verneigte er sich leicht vor seinem Vorfahren und folgte dann Achmed mit einem weiten Sprung ins Meer. Rhapsody trieb mit dem Rücken gegen die Wand der Gezeitenhöhle. Sie hielt sich gerade an dem Floß aus Lavagestein fest, als sie die Stimmen von Männern über ihr hörte. »Höhle hier unten, Herr ...« Gute Götter, nein, dachte sie. Er hat mich gefunden. Sie packte das Floß fester, schwamm an den Eingang der Höhle und schaute mit umwölktem Blick auf das wirbelnde Wasser dahinter. Es herrschte Ebbe. Wenn sie nun herauskam, würde man sie sehen, aber wenn sie blieb ... Es gab keine andere Möglichkeit. Komm, mein Kind, dachte sie, holte tief Luft und griff mit schlüpfriger Hand um den äußeren Rand der Höhle. Jetzt oder nie. Mit aller Kraft schob sie die Matte aus Steinen vor sich her, tauchte unter den Wellen hindurch und drückte sich mit den Beinen von der Wand ab. Die Strömung erfasste sie und zog sie hinunter. Sie wirbelte in einem Strudel aus Gischt und Fels umher. Sofort wurde ihr die Luft aus der Lunge gepresst. Sie bemühte sich, nicht zu atmen. Ihr Körper schlug gegen die Vorsprünge unter der Wasseroberfläche. Sie hielt sich an der Matte fest, während sie hin und her geschleudert wurde. Die Schwimmkraft der Vulkansteine war in der einsetzenden überwältigenden Flut nutzlos. Rhapsody wurde plötzlich von einer Woge angehoben und ins offene Meer geschleudert. Vage bemerkte sie Leiber, die entweder ins Meer fielen oder von der Klippenwand über ihr herabhingen, doch jeder klare Gedanke ging im wahnsinnigen Grollen der Wellen unter. Der Seneschall sah erstaunt zu, wie der zweite Mann, der ihn bedroht hatte, von der Klippe sprang. Er wandte sich dem Letzten zu, der schmächtigen Gestalt. Eigentlich hatte er erwartet, einen dritten Meister zu sehen, das letzte Aufgebot dieses Landes gegen ihn. Verblüfft stellte er jedoch fest, dass die Gestalt nun gesünder, größer und breiter als vorher wirkte. Doch sie war immer noch nichts anderes als ein alter Mann in zerlumpter Kleidung, der mit einem schwachen Lächeln in dem zerfurchten Gesicht näher kam. Mit einer tiefen Verbeugung trat Michael beiseite und deutete auf den Rand der Klippe. »Ich will dich nicht aufhalten«, sagte er grinsend. »Stürze dich auch hinunter.« »Komm zu mir«, sagte der alte Mann. Michael zog die Brauen zusammen. »Wie bitte?«, fragte er eher erstaunt als wütend. »Du musst verwirrt sein, alter Mann. Du scheinst nicht zu erkennen, wo du bist, und keine Ahnung zu haben, mit wem du sprichst.« »Oh, das weiß ich«, antwortete der betagte Mann. »Aber ich habe nicht mit dir gesprochen.« Der Seneschall rollte gereizt mit den Augen und hielt inne, als er begriff. Der alte Mann sprach in den harschen, gutturalen Tönen der F’dor-Sprache. »Wer bist du?«, fragte der Seneschall und hob Tysterisk drohend. »Ich bin jemand, der viel gastfreundlicher ist als du, Michael«, sagte der alte Mann und kam näher. »Ich bin ein weitaus besserer Wirt. Ich lebe schon länger als du und habe weder ein Schwert als Krücke noch Hilfe von einem dämonischen Gast. Meine elementare Kraft geht deiner in der Rangfolge der Gaben des Schöpfers voraus. Ich bin stärker und wahrhaftiger und in jeder Hinsicht eine bessere Wahl als du. Ich hätte dich schon vor langer Zeit getötet, wenn du nicht ein solcher Feigling gewesen wärest. Ich hätte dir das Leben aus deinem nutzlosen Körper gerissen und dich mitten im Dung vergraben, damit wenigstens eines Tages, wenn du verrottet bist, noch etwas Gutes aus dir wird.« Er blieb in Reichweite des Seneschalls stehen. »Ich bin der schwarze Löwe. Der, der im Schatten des Königs steht. Der Favorit der Königin. Nachdem du mir all die Jahre entkommen bist, habe ich dich schließlich gefunden. Aber du bist es nicht, den ich haben will.« Der Seneschall zitterte in einer Mischung aus Wut und Entsetzen. Er packte sein Schwert fester. »MacQuieth«, flüsterte er. »Du solltest doch auf der Insel sterben.« »Und du solltest schon lange vorher gestorben sein. Es ist gleichgültig, was hätte geschehen sollen. Wichtig ist nur, was nun geschieht.« MacQuieth streckte die Hand in einer Geste des Willkommens aus und redete wieder in der alten, dunklen Sprache. »Komm. Verlass ihn. Letztendlich wird er dich nur enttäuschen, falls er das nicht schon getan hat.« Der Seneschall hob die freie Hand und deutete mit der Handfläche nach oben auf den alten Krieger. Sofort erschien ein Wirbel aus schwarzem Feuer. Es wogte im Wind fort und überzog den alten Mann vor ihm. Eine Sekunde lang brannte das Feuer in der heißen Luft, dann zischte es und wurde von nasser Kleidung gelöscht. MacQuieth schaute ihn bloß an. Rasende Wut ließ Michael die Stirn runzeln. Mit einem heftigen Schwung schlug er nach MacQuieths Kehle, doch da hörte er, wie die Stimme in seinem Kopf ihm einen Befehl gab, unter dem er erstarrte. Halt. MacQuieth bewegte sich nicht. Der Seneschall spürte, wie der Dämon die verschiedenen Möglichkeiten überdachte. Michael biss die Zähne zusammen, um seine Angst und Wut zu zügeln. »Sicherlich bist du nicht dumm genug, um ihn in Erwägung zu ziehen? Du hast den Herrn des Windes, und du selbst bist der Diener des Feuers! Was würde dir Wasser nutzen? Wenn du noch ein Schwert haben möchtest, werde ich die Bucht trocken legen, in der der letzte Narr seines verloren hat. Du kannst deine Brände nicht mit Wasser legen. Dieser Mann ist eine wertlose Hülle!« Er durchbrach den Befehl des Dämons und führte den Schlag weiter aus. MacQuieth hob den linken Arm gegen die flache Seite der Klinge. Das Schwert wurde nach oben abgelenkt. Er wich zurück und hatte nun den Rand des Vorsprungs unter den Füßen. Die ganze serenische Geschichte, die Berichte seiner Späher und alles, was er über diesen menschlichen Fluch wusste, kamen ihm in Erinnerung. Er versuchte, nicht daran zu denken und seinen Verstand von der Angst, der Eifersucht und Ehrfurcht zu befreien, die er vor dem alten Krieger empfand, dem Schatten des Königs, dem Favoriten der Königin. Er hasste sich selbst für seine widerstrebende Bewunderung, seine abscheuliche Mangelhaftigkeit angesichts des Rufes dieses Kriegers und seiner unvergleichlichen Macht. Michael versuchte den Tag zu vergessen, an dem er das Angebot des Dämons angenommen hatte und dem alten Jäger entkommen war. Er hatte feige Erleichterung darüber verspürt, von MacQuieth verschont worden zu sein – für alle Zeiten, wie er geglaubt hatte. Doch es gelang ihm nicht, all diese Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Denn der F’dor erinnerte sich ebenfalls daran. Der Dämon durchstöberte ihn. Er bereitete sich auf seine Wahl vor. Schlaff stand er am Rand des Abgrunds und schaute MacQuieth zornig an. Beiläufig bemerkte er eine herabbaumelnde Hand. Er schien dem alten Mann den Arm gebrochen und aufgeschlitzt zu haben; einer der Unterarmknochen stach scharf durch die Haut, und Blut floss still um ihn herum. Was ist das für ein Mann, der ohne Rüstung und Schwert zu einem Duell geht?, fragte er sich. Der F’dor hatte sich soeben dieselbe Frage gestellt. Mit einem knappen Lächeln, in dem keinerlei Fröhlichkeit lag, sprach der alte Held. »Bedeutet das, dass du allein nicht der Meister des Feuers bist, Michael? Welche Schande. Ohne als Wirt dienen zu müssen, bin ich an den tiefsten Stellen des Meeres gewesen.« Das Flüstern seiner Stimme erstickte den Wind. Es dauerte eine Weile, bis Michael die Bedeutung dieser schrecklichen Worte offenbar wurde. MacQuieth kannte den Eingang zur Gruft der Unterwelt. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war der Dämon ganz still. Er dachte nach. In den Tiefen seines Gehirns spürte Michael, wie die Treue des F’dor gleich einer Waagschale mit erschütternder Gewissheit in eine bestimmte Richtung ausschlug. Das Gesicht des Seneschalls verzog sich vor Wut. »Willst du ihn haben?«, kreischte er. »Geh zu ihm. Dann werde ich euch beide töten!« Er sprang den alten Krieger an. Blut stand in seinen Augen. MacQuieth öffnete die Arme und schlang sie um Michaels Hüfte. Er warf ihn auf den felsigen Boden des Vorsprungs. Als sie miteinander rangen, hielt MacQuieth den Mund dicht an Michaels Ohr. »Atemverschwender«, sagte er mit verächtlichem Schnauben. Er zog sich zurück und starrte den Mann unter ihm an. Dann trieb er seinen hervorstehenden Unterarmknochen dem Seneschall in den Bauch. Michael keuchte auf. Mit einem plötzlichen Ausbruch von Kraft, die den Dämon unvorbereitet traf wie eine heimtückische Welle, drückte sich MacQuieth so heftig wie möglich vom Felsboden des Vorsprungs ab, hob den Aufgepfählten Seneschall hoch und stand mit ihm am Abgrund. Michael kämpfte sich frei und hieb mit dem Luftschwert auf das Gesicht des Blutsverwandten ein. Seine Augen waren blutig gestreift, und die Waffe verursachte tiefe, grausame Wunden. Dennoch fand er keinen sicheren Stand. Plötzlich war ihm, als treibe er auf dichter Gischt im Kielwasser einer großen, rollenden Welle. Er sah den Boden und den Himmel aufblitzen, während das Klippenende näher kam. Michael versuchte ein letztes Mal, den Rand des Vorsprungs zu fassen, doch es gelang ihm nicht. Er wurde von der Flut in Gestalt des an ihm hängenden Mannes fortgespült, der sein Fleisch mit dem Knochen durchbohrt hatte, der ihn geschändet hatte, der seine dämonische Seele geschluckt hatte. Der ihm Tysterisk aus der Hand schlug. Michael spürte, wie die Dunkelheit seinen Verstand fraß, als ihm die Macht des Windes mit einem fürchterlichen Geräusch aus Körper und Seele gerissen wurde. Er spürte in den hintersten Winkeln, wie der Dämon verzweifelt nach einem anderen Wirt suchte, nach einem Ort, an den er fliehen konnte, doch MacQuieth hatte dafür gesorgt, dass es kein Entkommen gab. Selbst die Pferde waren zu weit entfernt. Durch seine Schmerzen hindurch versuchte Michael dem Wind zu befehlen, er möge ihn tragen, doch er verlangsamte kaum seinen Fall. Es war, als drücke ihn der gesamte Ozean nieder. Sein Schrei vermischte sich mit dem Heulen des Windes und verlor sich zwischen den Felsen. Achmed trieb auf dem Scheitelpunkt einer Welle, die ihn gepackt hatte, und wurde hilflos im weiten Meer umhergeworfen. Keine Panik, zwang er sich zu denken. Keine Panik. Die überwältigende Kraft der Wellen erfasste ihn, hüllte seine Sinne ein und brannte wie Säure auf seiner Haut. Er versuchte, nicht zu atmen, nicht aufzugeben und der Strömung zu widerstehen, in deren Griff er steckte. Wenn es ihm gelänge, sich so lange zu entspannen, bis er weiter draußen im Meer war, würden die Wellen schwächer werden und er sich treiben lassen können. Aber diese Kraft war ihm nicht gegeben. Das unendliche grüne Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Die zahllosen Schwingungen, die in jedem wachen Augenblick gegen seine Sinne schlugen, waren plötzlich verstummt und wurden von einem gedämpften Lärm ersetzt – dem tiefen, dumpfen Pulsieren der See, die ihn nun wie ein Himmel umgab. Der letzte Gedanke, den Achmed fasste, bevor der Atem aus ihm herausgedrückt wurde, war eine Erinnerung an die alte Welt – an einen Tag, an dem er in voller Panzerung geritten war und eine Brücke unter ihm nachgegeben hatte. Er und sein Pferd waren in den großen Fluss gestürzt, der die Insel teilte und der von den ergiebigen Regengüssen des Frühlings angeschwollen war. Nie zuvor war er dem Tod so nahe gewesen, und die Panik und Hilflosigkeit, die er empfunden hatte, als sein Körper im Wasser herumgewirbelt worden war, kamen ihm nun wieder in den Sinn. Dann schloss sich die Dunkelheit um ihn. Er verlor das Bewusstsein, doch plötzlich wurde er mit einem starken Griff am Nacken aus den stillen, grünen Tiefen in das kalte, helle Reich der Luft gezogen. »Ruhig«, sagte Ashe. »Ich habe dich. Lass dich treiben.« Die beiden Männer schienen eine Ewigkeit auf den Wellen zu tanzen und beobachteten besorgt die fernen Klippen. Ashe streckte seine Drachensinne aus und versuchte einen Ort zu finden, wo sie an Land gehen konnten. Bestürzt nahm er ein unauslöschliches inneres Bild wahr, während er Achmeds Kopf über Wasser hielt. Zwei fallende Männer waren in tödlichem Kampf ineinander verkrallt, und zwischen ihnen schwebte ein dämonischer Schatten. Zusammengeschweißt in Körper – des einen Knochen spießte des anderen Fleisch auf – und Geist, versuchte das Wesen, das einst Michael gewesen war, auf einer Brücke aus schwarzem Feuer sich mit verzweifelten Armbewegungen von dem zu allem entschlossenen Kirsdarkenvar zu trennen, dessen uraltes Gesicht konzentrierte Ruhe ausstrahlte. Kurz bevor die Körper auf den Felsen aufschlugen, schwand Ashe das Bewusstsein, als ihn eine Welle aus elementarer Kraft überspülte, die Wind und Wasser und dunkles Feuer zu einem Gemisch verschmolz, das seine Drachensinne nicht ertragen konnte. Er kämpfte darum, das Bewusstsein wiederzuerlangen, und stemmte sich gegen die Gezeitenwelle, die über ihnen aufstieg. Ein Blitz aus schwarzem Feuer und Dampf schoss in den Himmel. Das Meer am Fuß der Klippen brodelte bis in die Tiefen hinein. Die Felsen leuchteten auf, und Gischt überzog in Wellen das Wasser. »Halt dich fest«, sagte Ashe zu dem Bolg-König, als die Welle sie erreicht hatte. Sie war halb so hoch wie die Klippen und grollte schrecklich. Auf der Welle taumelte ein Körper. Er trieb auf etwas Schwimmendem, das ihn vor dem Untergehen bewahrte. »Gute Götter«, flüsterte Ashe und trat Wasser. Er schlang die Arme um Achmed. »0 Götter. Hol tief Luft.« Er tauchte mit Achmed im Schlepptau unter, schwamm parallel mit der Strömung, durchpflügte das Wasser, als die ersten Wellenberge sich unter ihnen auftürmten, und ließ sie hinter sich. Der Drache in seinem Blut, der durch den Anprall der Kraft geweckt wurde, hatte einen Streifen goldenen Haares in dem Schutt entdeckt, der da ins Meer hinausgespült wurde. Ashe sah sich der Entscheidung gegenüber, entweder einen ertrinkenden Mann oder seine Frau zu retten oder die Waffe zu verlieren, an die seine Seele gebunden war, denn er hatte keine freie Hand mehr. Ohne zu zögern ließ Ashe das Schwert los, das er als Kirsdarkenvar trug. Es glitt hinein in die wirbelnde grüne Tiefe. Er streckte eine Hand aus, packte die verfilzte Masse, die hinter der Welle einhertrieb, und drehte sie rasch um. »O Götter«, keuchte er und schüttelte den Arm des verblüfften Dhrakiers. »Rhapsody.« Eine weitere Vorwelle des drohenden Brechers überspülte sie – ein Vorbote des Todes. Inmitten der grünen, wirbelnden Wasserwelt drückte Ashe den schlaffen Körper seiner Frau gegen die Brust und hielt sie in der Armbeuge. Er bemühte sich, auch den Firbolg-König zu halten, der halb bewusstlos war und nicht mehr zappelte. Der Himmel über ihnen war grün und schwarz, und ätzender Dampf aus dem Kampf der Elemente zwischen Mac-Quieth und Michael, dem alten Kirsdarkenvar und dem Wind des Feuers, durchzog die Luft. In diesem Augenblick wusste Ashe, dass er nicht beide Körper würde halten können, wenn die Welle ihn erreichte. Sie schwammen auf dem letzten kleineren Wasserkamm, als sich die Hauptwelle näherte und die Sonne verdunkelte. In den letzten Sekunden vor dem Anbranden der Welle erinnerte sich Ashe an den Ausdruck der Gewissheit in Mac-Quieths Augen – die Augen, die am Morgen blind gegen die Welt der Sonne waren. Er mag dem Wind befehlen, aber ich bin das Schwert. Das Wasser aber berührt alles. Kirsdarke ist unser Schwert. Die Antwort kam aus dem Salz in seinem Blut. Das Wasser aber berührt alles. Kirsdarke ist unser Schwert. Auch ich bin das Schwert, dachte er. Er öffnete die Finger der Hand, welche den vom Wasser betäubten Firbolg-König hielt, und richtete die Aufmerksamkeit auf das Band zwischen ihm und Kirsdarke. An den Fingerspitzen spürte er den Griff, das einzig Feste an der Waffe, wenn sie im Wasser lag. Er packte sie und nötigte sie, eine dunsthafte Gestalt anzunehmen. Dabei ließ er den Bolg-König einen Herzschlag lang los, stach Achmed das Schwert in die Brust und schlang wieder den Arm um ihn. »Halt dich an dem Schwert fest«, rief er durch das Donnern der brandenden See. »Atme!« Ashe wandte sich der bewusstlosen Rhapsody in seinem anderen Arm zu und drückte ihren Kopf zurück. In der verfilzten Masse von Haar und Seetang versuchte er ihr Gesicht zu finden. Er presste den Mund gegen die blauen Lippen, packte dann Kirsdarkes Griff, schickte alles Wasser in seinem Körper und die gesamte Elementargewalt, die er aus dem tobenden Meer zusammenziehen konnte, in die wässerige Klinge und hoffte, die Kraft werde auch Achmed durchdringen. Er zog das Wasser aus Rhapsodys Lunge und blies die Luft durch die Klinge in den Firbolg-König. Zusammen mit seiner Frau und dem Aufgepfählten Firbolg-König tauchte er in die Tiefen des Meeres hinab. Das Brüllen der Wellen wurde sofort zu einem tiefen, rollenden Pochen, während er wie der schwerste aller Steine sank und die beiden anderen mit sich zog. Rhythmisch atmete er in Rhapsodys Lunge und spürte, wie sein Atem in einem Blasenwirbel aus ihrem Mund drang, der sich sofort in dem dunklen, brodelnden Wasser über ihm verlor. Seine Hand hielt noch immer das Schwert, das den Bolg-König durchdrang, doch er wusste nicht, ob Achmed noch lebte oder schon tot war. In seinen Ohren tobte das Meer in Wut und Aufruhr über den Kampf der Elemente und kreischte auf, als das schwarze Feuer des Dämons die Oberfläche aufwühlte und bis in die Tiefe drang. Er hörte den Zorn des Ozeans und seine Angst und fühlte in seinem Kopf die Geschichte des Duells zwischen den beiden Wesen aus Fleisch und Element, zwischen dem tobenden Mahlstrom aus Wasser gegen den Wind und das noch ältere dunkle Feuer. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Welle sie überrollte, und spürte die Strömungen, die durch seinen Körper gingen, der nun eins mit dem Wasser war. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, den Atem im Mund seiner Frau zu halten. Der Schwertgriff war eins mit seiner Hand geworden. Vom Deck der Basquela aus sah Quinn die Wasserwand, die sich über der Küste erhob, und bemerkte dann mit Entsetzen, dass sie sich plötzlich gegen alle Naturgesetze ins offene Meer zurück und auf das Schiff stürzte. »Wenden!«, schrie er der wie vom Donner gerührten Mannschaft zu, die endlich aus ihrer Erstarrung erwachte und auf die Posten eilte, um das Schiff in den Wind zu bringen. Quinn selbst blieb nichts anderes übrig, als starr an der Reling zu stehen. Seine scharfen Seemannsaugen waren vor Entsetzen geweitet, als er die Unvermeidlichkeit des Zusammenpralls erkannte und den genauen Zeitpunkt überschlug. Es gab kein Entkommen. »Dreht sie der Welle zu!«, schrie er durch den Wind dem Maat zu, der verzweifelt versuchte, die Kontrolle über das Ruder zu erlangen. »Wenn sie uns mittschiffs trifft, sind wir verloren!« Der Sturm, der den heranbrausenden Monolith aus Wasser umtoste, schluckte die Erwiderung des Maates. Quinn drehte sich ein letztes Mal um, gefesselt vom Anblick der Blitze und des aufzuckenden Feuers, das in wirbelnden dunklen Farben von Schwefel und Blut in der Gezeitenwelle dahinrollte. In dem Augenblick, bevor die Welle das Schiff traf, hätte Quinn schwören können, dass er ihren gähnenden Rachen sah – ein hoch aufgetürmtes Gesicht in der waagerechten See mit blinden schwarzen Augen und einem titanischen Mund, der in dämonischem Wahnsinn schrie und sich gegen den ganzen Ozean wandte. Er sprach flüsternd ein Seemannsgebet an den Gott der Tiefe, das er als Kabinenjunge gelernt hatte. Als das Deck in die Luft stieg und das Schiff unter scharfem Knirschen und Knallen in Stücke gerissen wurde, fragte er sich, wie Himmel und Meer hatten eins werden können. Als die Welle vorüber war, spürte Ashe, dass sie im Widerspruch zu den Naturgesetzen in das Meer hineinlief und dabei flacher wurde, bis sie im Nichts verschwand. Die Strömung wurde stetiger und rollte dann wieder wie in alle Ewigkeit gegen den Strand. Es war, als sei nichts geschehen. Langsam stieg er an die Oberfläche und zog den Bolg-König sowie seine Frau mit sich, die er immer noch in irrer Umarmung gegen seine Brust gedrückt hielt. Sie durchbrachen den Wasserspiegel. Die Sonne stach ihnen in die Augen, und das Salz biss ihnen in die Nase. Ashe hielt Rhapsody nach hinten, sodass ihr Kopf gen Himmel zeigte, und drückte sie weiterhin gegen seine Brust. Er saugte ihr das Meerwasser aus der Lunge und trieb sie zum eigenständigen Atmen an. Dann wandte er sich Achmed zu, der immer noch auf das dampfende Schwert gepfählt war. Ashe zog die elementare Waffe aus der Brust des Bolg-Königs und steckte sie in seinen Gürtel. Er schaute aufs Meer hinaus, wo das Schiff gelegen hatte, und sah noch das rasch sinkende Großsegel in den Wellen verschwinden. In plötzlicher Erschöpfung legte er sich rücklings auf das Wasser, hielt dabei Rhapsody und Achmed fest und ließ sich mit der ewigen Tide an den Strand treiben. 54 Haguefort — Navarne Als Caius Haguefort betrat, stand keine Wache am Tor, keine im Vorraum, keine in der Halle, keine auf der Treppe. Es war, als sei die Festung vor einem kommenden Orkan evakuiert worden. Was sie in gewisser Weise auch war. Er schlich still durch den Eingang und achtete darauf, dass seine Schritte kein Echo auf dem polierten Steinboden auslösten. Der Armbrustschütze eilte gerade durch den gewaltigen Speisesaal, als eine Frau mittleren Alters mit einer Schürze in der Küchentür erschien. Caius schoss ihr einhändig durch den Kopf, ohne seinen Lauf zu unterbrechen oder zurückzusehen. Berthe sackte lautlos auf dem Boden zusammen. Das Blut, das sich unter ihrer Stirn und in den Augen sammelte, machte leise, wispernde Geräusche. Caius lief durch die Korridore, vorbei an wundervollen Rüstungen und Antiquitäten, und suchte nach dem Gemahl der Beute seines Herrn, doch er fand nichts als stille Leere. Bis er die Große Halle betrat. Am hinteren Ende, neben den riesigen Fenstern, saß ein Mann auf einem schweren hölzernen Stuhl an einem ähnlich schweren Holztisch und schaute Pergamentrollen durch. Als er aufschaute und sich ihre Blicke trafen, erstarrte Caius. Es war der Soldat, den er in seinen Träumen gesehen hatte, der verkrüppelte Mann, der auf einem hochlehnigen Sattel durch das brennende, im Wind treibende Laub ritt, um die Frau zu retten, nach der es seinen Meister gelüstete. Der Mann, der seinen Zwillingsbruder getötet hatte. Cauis konnte die Gedanken des Mannes lesen, als er die Armbrust anlegte und auf sein Herz zielte. Der erste Blick des Kriegers hatte den Fenstern hinter ihm gegolten, weil er herausfinden wollte, ob durch sie eine Flucht möglich war, doch er hatte den Gedanken wegen der Höhe sofort wieder verworfen. Dann hatte er sich nach einem anderen Ausgang umgeschaut, doch zwischen ihm und Caius gab es keinen. Er erkannte die Zwecklosigkeit eines Fluchtversuchs. Es gab kein Entkommen. Üblicherweise sprach Caius nicht mit seinen Opfern, denn er sah Gespräche mit Menschen, die im nächsten Augenblick tot sein würden, als Kraftverschwendung an. Doch in diesem Fall war der Blick des Mannes hinter dem Tisch so unverschämt und sein Gesichtsausdruck so hart, dass er eine Ausnahme machte. »Du hast meinen Bruder getötet«, sagte Caius anklagend. Der Ausdruck des Kriegers veränderte sich nicht, während er das Wort sprach, das wohl sein letztes sein würde. »Gut.« Die Wut über diese Beleidigung, verbunden mit der Trauer über den Verlust seines Bruders, überschwemmten Caius. Er hob den Bogen ein klein wenig höher und nahm sich Zeit, zu zielen und den Augenblick zu genießen. Er spannte den Bogen. Hinter seinen Augen schien es zu blitzen, als der Pfeil harmlos über den Kopf des Mörders hinwegschoss. Unmöglich, dachte er. Das war sein letzter Gedanke, bevor er seitwärts zu Boden fiel. Ein weiß gefiederter Pfeil hatte sein Gehirn an den Schläfen durchbohrt. Anborn hatte die Zähne zusammengebissen und die Bauchmuskeln angespannt in der Hoffnung, so wenig wie möglich zusammenzuzucken, wenn das Geschoss ihn durchdrang. Nun blinzelte er und drückte sich mit den Händen an der Tischplatte ab. Er starrte auf den am Boden liegenden Körper und schaute dann nach links, von wo der Pfeil gekommen war. Dort stand Gwydion Navarne, noch in der Haltung des Bogenschützen. Die Hand, die den Bogen hielt, zitterte leicht. Die andere Hand war am Schusspunkt hinter dem Ohr erstarrt. Es dauerte lange, bis er den Blick des Generals erwiderte, der hinter dem Tisch geblieben war, mit starrem Körper und starrem Gesicht. Gwydion schaute seinen Lehrer ernst an. »Ich glaube, Ihr schuldet mir oder eher meinem Bogen das Zugeständnis Eures Irrtums«, sagte er keck. »Ich habe Euch gesagt, als Bogenschütze muss ich bloß gut genug sein, um einen Heuballen zu durchschießen.« Er ging hinüber zu dem Leichnam, drehte ihn mit der Stiefelspitze um und bewunderte den sauberen Durchschuss zwischen den Schläfen. »Und das kann ich, wie Ihr seht.« Anborn starrte weiterhin auf den am Boden liegenden Armbrustschützen. Schließlich schüttelte er den Kopf und wandte sich an den zukünftigen Herzog von Navarne. »Sind das die Albatrospfeile, die Rhapsody dir in Yarim gekauft hat?« »Ja.« Ein zögerliches Lächeln legte sich über das Gesicht des Generals. »Ich nehme an, wir müssen sowohl dir als auch meiner verrückten Tante Manwyn einen Volltreffer zugestehen. Heute haben sich gleich zwei Wunder ereignet. Es ist dir gelungen, einen guten Schuss zu landen, obwohl du nur einen Langbogen hast und nicht einmal hier sein solltest, und Manwyn hat tatsächlich eine richtige Vorhersage abgegeben. Ich glaube, die Welt wird bald untergehen.« Gwydion Navarne lächelte. »Oder sie steht erst am Anfang.« 55 Der Kessel Esten wartete ungeduldig in den Schatten und betrachtete mit widerwilliger Bewunderung die Genauigkeit, mit der die Bolg, diese halb menschlichen Bestien, Wache hielten. Es gab keine nachlässige Bewegung, kein Gähnen, kein Anzeichen dafür, dass das Ritual eine rein mechanische Übung war. Die Garde des Königs nahm ihren Dienst ernst. Umso besser. Sie hätte es vorgezogen, hineinzuschlüpfen und ihnen die Kehle durchzuschneiden, doch sie hatte so viel Zeit mit dem Aufstellen der Falle verbracht, dass sie nun vorsichtig sein musste. Also wartete sie. Es hatte lange Stunden gedauert, um heimlich die ungefähre Lage des Korridors in Erfahrung zu bringen, dessen Existenz sie aus Shaene herausgevögelt hatte. Am Ende war es das große Sicherheitsbedürfnis des Königs gewesen, das ihr den entscheidenden Hinweis geliefert hatte. Seine Privatgemächer mussten hinter dieser am stärksten bewachten Abzweigung liegen. Irgendwo in der Ferne hörte sie einen Aufruhr, einen Appell oder etwas dergleichen durch den Berg hallen, doch die Soldaten verließen ihre Wachtposten nicht. Als sie darüber nachdachte, stellte sie fest, dass der Lärm bereits den größten Teil des Tages anhielt – wie die Vorbereitung zu einem aufziehenden Sturm. Doch so tief im Berg würde man ihn wohl kaum spüren. In Wahrheit, dachte sie, während sie die Glocke drei Viertel schlagen hörte, ist es vermutlich übertrieben, auch noch eine Falle im Schlafzimmer des Königs aufzustellen. Der Turm war so vollkommen präpariert und die Falle so listig und unerwartet angelegt, dass sie erwarten durfte, den ganzen Gipfel des Gurgus abzusprengen. Der Berg würde danach in sich zusammenfallen und den König sowie all die Bolg unter sich begraben, die er bei der Einweihung der Kuppel zuließ. Aber es schadete nie, einen zweiten Plan in der Hinterhand zu haben. Und sie wollte sicherstellen, dass der König für seinen Einfall in die Gilde und den Verlust des Tunnels in die Hauptader unter der Entudenin bezahlte. Er sollte schrecklich leiden, bevor er starb. Wenn ihr Zeitplan richtig war, würde er noch kurz die Bleiglasdecke bewundern können, bevor er zu Tode gequetscht wurde. Sie hatte die Informationen, die sie aus Shaene herausgeholt hatte, bereits an Dranth geschickt. Die Erinnerung daran, wie sie seinen unförmigen Körper geritten hatte, und sein klägliches Stöhnen unter ihr verursachten ihr einen Ekel, den sie rasch wieder abschüttelte, denn sie wollte bereit sein, wenn die Wache wechselte. Falls die Informationen dieses Idioten richtig waren, würde die Rabengilde bald genaue Karten und Zeichnungen der empfindlichsten Gebiete der inneren Zahnfelsen besitzen. Den Rest hatten ihre eigenen früheren Nachforschungen besorgt. Die Gelegenheit ergab sich, als die Soldaten eine Kreuzung überquerten, an der drei größere Tunnel aus den dunklen Basaltwänden des inneren Heiligtums traten. Esten hatte ausgerechnet, wie lange es dauerte, bis die einen Soldaten schon gegangen und die nächsten noch nicht eingetroffen waren. Es waren jeweils nur wenige Sekunden. Als es so weit war, schlüpfte sie um die Ecke des Korridors in den linken Tunnel. Sie wurde eins mit dem schwachen Zwielicht und der faserigen Finsternis und fuhr mit den Händen an den geäderten Wänden entlang, bis sie vor etwas stand, das nur die Tür zur Schlafkammer des Königs sein konnte. Wie alles andere, das in Beziehung zum König stand, war auch diese Tür versteckt. Sie war verborgen in den Streifen, die den Stein der Wände durchzogen. Esten staunte über die meisterhafte Verschleierung einer so großen Öffnung. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass dies unter hunderten der richtige Korridor war, hätte selbst sie mit ihrer eingehenden Ausbildung und Erfahrung im Aufspüren des Verborgenen den Eingang niemals gefunden. Diese abscheuliche Turnübung war es doch wert, dachte sie. Das Schloss, das gleichzeitig als Klinke diente, war verriegelt. Mit einer Schnelligkeit, die von jahrelanger Übung herrührte, nahm sie ihre dünnen Nadeln aus dem Mund, wo sie sie immer trug, und machte sich daran, das Schloss zu öffnen. Es war ein uraltes Vexierschloss mit einem zweifellos sehr merkwürdigen Kode, den sie aber nicht wissen musste, um es zu knacken. Sie griff in ihre Tasche und zog eine kleine Phiole mit einer Mischung aus Quecksilber und Blei hervor. Ein Tropfen auf die Nadel verschaffte ihr eine Innenansicht des Schlosses. Mit ganz leichtem Druck drehte sie ihren behelfsmäßigen Schlüssel. Die Tür öffnete sich leise. Esten schlüpfte in das Zimmer und schloss die Tür still hinter sich. Mit ihren leuchtend dunklen Augen musterte sie den Raum. Das Schlafgemach des Königs war eine überraschende Mischung aus einfachem Mobiliar und üppigen Stoffen. Die Wände, die Laken und der hölzerne Baldachin über dem Bett waren mit schwarzem Samt verkleidet; der Marmortisch, die Holzstühle, die gewaltige Truhe am Fußende des Bettes – alles bestand aus dunklen Materialien. Der Bolg-König mochte über die Überreste des einst mächtigsten Reiches in der Geschichte herrschen, doch er hatte wenig Reichtum für sich selbst beansprucht. Systematisch setzte sie ihre Suche fort, fand aber nichts Bemerkenswertes, bis sie einen Teil des Seidenteppichs auf dem Boden wegzog und eine winzige Unregelmäßigkeit bemerkte, die nur den empfindlichen Fingern der Herrin einer Gilde von Dieben auffallen konnte. Sie fuhr die Umrisse mit den Fingerspitzen ab, suchte nach Fallen, fand keine und drückte schließlich vorsichtig auf den Schlossmechanismus. Im Stein des Bodens öffnete sich ein kleiner Schrein, in dem ein rechteckiges Kästchen von zwei Händen Länge lag. Es war in einen Bezug aus Samt eingewickelt. Esten starrte die Öffnung kurz an, griff dann hinein und holte das Kästchen heraus. Als sie es öffnete, zog sie die Augenbrauen zusammen. In dem Kästchen lag so etwas wie ein seltsam gekrümmter Schlüssel, der aussah, als bestehe er aus Knochen – wie eine große Rippe. Sie steckte den Schlüssel in eine Innentasche ihres Hemdes, schloss das Kästchen wieder, legte es zurück in die Samtumhüllung und klappte den Schrein zu. Dann setzte sie ihre Suche fort. Die Truhe am Fußende des königlichen Bettes bereitete ihr die größte Mühe. Die Verschlüsse waren so kompliziert, dass sie es kaum erwarten konnte, einige davon zu Hause in Yarim nachzubauen und einzusetzen. Als es ihr schließlich gelang, das Schloss zu überwinden, öffnete sie den Deckel. Nur ein feuchter Wind fuhr ihr über das Gesicht. Esten blinzelte überrascht. Sie schaute eine lange, roh behauene Steintreppe hinunter. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie führen mochte. »Sandy! Steh auf, du faules Stück!« Shaene hämmerte wieder gegen die Tür. Der Lärm aus den Soldatenquartieren war so hartnäckig, dass Omet ihn zweifellos nicht mehr hörte. Warum der Junge darauf bestand, mit den Soldaten in diesem kargen Quartier zu wohnen, begriff Shaene nicht. Die Botschaftersuite, in der er untergebracht war, war zwar nicht gerade prachtvoll, aber viel bequemer. Wenn man aufgrund eines unbedacht unterschriebenen Vertrages gezwungen war, im Land der Firbolg zu leben, sollte man dies wenigstens so angenehm wie möglich tun. Als Shaene immer noch keine Antwort hörte, wandte er sich an Rhur. »Vielleicht ist er krank«, sagte er zu dem Bolg-Handwerker. Rhur packte die Klinke und erwartete, die Tür verschlossen vorzufinden. Omet versperrte nachts immer seine Tür, seit Theophila in den Berg gekommen war. Zu seiner Überraschung und der von Shaene ließ sie sich jedoch leicht öffnen. Ein Gestank von Krankheit hing in dem kleinen, fensterlosen Raum. »Gute Götter!«, rief Shaene. »Omet?« Er und Rhur eilten in das Zimmer. Nach zwei Schritten standen sie neben dem Bett des jungen Mannes. Omets Augen standen offen und starrten blind an die Decke. Seine Haut hatte die Farbe der Steinwand angenommen. Nur auf den Wangen brannten zwei helle Fieberflecke heiß wie die Feuer in den Brennöfen. »Hol einen Heiler!«, kreischte Shaene. Angstschweiß bedeckte seine Haut, und seine Hände zitterten. Rhur verschwand. Shaene taumelte zum Nachttisch und schüttete Wasser aus dem Handwaschbecken auf ein Handtuch, das gefaltet daneben lag. Damit eilte er zurück zu Omets Bett und legte das nasse Tuch sanft über die Stirn des Jungen. Das Handtuch wurde rasch warm. Shaene ergriff die heiße, schlaffe Hand, die auf dem Laken lag, und sang mechanisch die Gebete, an die er sich aus der Jugend erinnerte, als er zum letzten Mal am Bett eines jungen Mannes gewacht hatte. Ganz zu Beginn seiner Lehrzeit hatte sein älterer Bruder Siyeth Scharlach bekommen und war vor Shaenes Augen im Bett gestorben. Dieser Anblick und die Gerüche hatte er nie vergessen können. Im Vergleich zu Siyeth sah Omet noch schlechter aus. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als Rhur mit Krinsel, der Hebamme, zurückkehrte, die das Oberhaupt der Bolg-Heiler war. Mehrere Assistenten begleiteten sie. Sie kümmerten sich fieberhaft um Omet, doch er trieb immer näher an den Rand des Todes. »Na los, mein Junge, na los«, murmelte Shaene und streichelte machtlos die Stirn des jungen Mannes. Er wandte sich zuerst an Krinsel, die den Kopf schüttelte, dann an Rhur, der wie immer mit unbeweglicher Miene zusah, doch in seinem Blick lag tiefe Besorgnis. Plötzlich richtete sich Shaene auf, als ob ihn ein Schlag getroffen habe. »Rhur – der Turm! Wir können ihn in den Turm bringen!« Der Firbolg-Handwerker runzelte die Stirn. »Warum?« »Erinnerst du dich an das Rad? Ich glaube, Sandy sagte, dass der Turm und das Rad zusammen Heilkräfte haben.« Rhur schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, wie man es anwendet, Shaene«, sagte er still in der gemeinsamen Sprache, die einen harten bolgischen Akzent hatte. »Es kann ihm doch nicht mehr schaden, oder? Wir legen ihn unter die Glasdecke und setzen das Rad ein.« Die Verzweiflung in Shaenes Stimme wuchs. »Wir können doch nicht einfach hier stehen bleiben, während das Fieber ihn verbrennt!« Er deutete auf die Heiler. »Schick sie zu den Gesellen und Lehrlingen und sag ihnen, sie sollen die hölzerne Verschalung von der Kuppel nehmen. Wir beide machen eine Bahre aus seinem Bett und tragen ihn dorthin.« Krinsel und Rhur tauschten schweigend einen Blick und ein paar Worte in ihrer Muttersprache und nickten schließlich. Shaene seufzte auf. »Also denn.« Er streichelte wieder über Omets Arm. »Halte durch, Junge. Vielleicht werden all deine Mühen doch noch belohnt.« 56 Esten schaute die Treppe hinunter und überlegte, was sie nun tun sollte. Am Ende dieser Treppe muss etwas sehr Wichtiges liegen, dachte sie und drückte gegen die Tasche in ihrem Hemd, in welcher sich der Schlüssel befand. Im Schlafgemach des Königs befindet sich nichts, das eine solch strenge Bewachung, eine derart gut verborgene Tür oder solch komplizierte Schlösser erforderte. Jeder Dieb, der hier eindringt, wäre bitter enttäuscht. Aber da war dieser schräg in die Erde hinein reichende Tunnel, dessen Eingang am Fußende des königlichen Bettes versteckt war. Wenn Achmed sich im Berg befand, war er selbst die letzte Verteidigungsbastion. Dieser Versuchung war nur schwer zu widerstehen. Doch Estens Zeit im Berg hatte sie gelehrt, dass solche Tunnel unendlich tief sein und in die Irre oder zu anderen abzweigenden Tunneln führen konnten. Sie waren geschaffen, um zu verwirren und den Reisenden vom rechten Weg abzubringen. Möglicherweise wäre dies eine Reise, für die sie nicht genügend vorbereitet war. Sie hatte keine Zeit, dieses Wagnis einzugehen. Ein Prickeln fuhr ihr über die Haut. Sie verfluchte ihr Zittern, denn es zeigte eine Schwäche an, die sie nicht ertrug. Der Tunnel erinnerte sie an den, welchen sie in Yarim unter der Entudenin gegraben hatte – oder, genauer gesagt, ihre Sklavenjungen hatten ihn gegraben. Sie hatte zwar nichts dagegen gehabt, die Arbeit zu überwachen und die Richtung gegebenenfalls zu korrigieren, doch die Zeit, in der sie sich unter der Erde wohl fühlte, war sehr begrenzt. Es war schwierig für sie gewesen, in den Bergen von Ylorc zu leben, doch sie hatte es ertragen können. Esten war an Hintergassen, dunkle Gebäude und Kanäle unter Stadtstraßen gewöhnt – an all die Schatten, in denen ihre Leute verborgen lauerten und darauf warteten hervorzukommen, um sich dann rasch wieder mit der Finsternis zu vereinigen. Die Tunnel, Passagen und Räume von Ylorc erinnerten sie an diese Gassen und Kanäle; sie waren schließlich im cymrischen Zeitalter für Menschen erbaut worden. Doch dieser Tunnel war anders. Wenn sie ihn betreten wollte, brauchte sie Vorräte und Licht. Sie schloss die Truhe und legte behutsam die Schlösser wieder vor, wobei sie peinlich genau die Reihenfolge einhielt, in der sie sie geöffnet hatte. Esten schlüpfte aus der Geheimtür und verschloss sie soeben, als ein großer Schatten am Ende des Ganges erschien. Sie schaute auf und zuckte zusammen, als sie dort einen Riesen sah, einen viehischen Mann, der mindestens siebeneinhalb Fuß groß war. Ein Köcher mit Waffen hing ihm an einem Gurt vom Rücken. Seine Haut hatte die Farbe alter Prellungen. Das pferdebraune Haar und der Bart tropften vor Regenwasser. Sein breites, mit Fangzähnen bewehrtes Gesicht nahm einen entsetzlich düsteren Ausdruck an. »Wer bist du?«, wollte er wissen. Seine donnernde Stimme hallte von den Basaltwänden wider. »Und was machst du hier?« Estens Verstand war von jahrelangen ruchlosen Geschäften und Situationen auf des Messers Schneide geschärft. Sie dachte rasch nach, verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte seinen finsteren Blick. »Mein Name ist Theophila, Grunthor«, sagte sie und hoffte, es gebe nur einen Mann, auf den die Beschreibung passte, die der Bolg-König ihr gegeben hatte. »Und ich bin hier, weil ich jetzt hier schlafe.« Wut und Ärger schmolzen zu einem Ausdruck des Erstaunens und schließlich der Verlegenheit. »Tut mir wirklich Leid«, sagte der gewaltige Sergeant einfältig und fuhr sich mit der mächtigen Pranke durch das tropfende Haar. »Seine Majestät hat Euch mir gegenüber natürlich erwähnt. Wusste bloß nicht, dass Ihr, äh ...« »Mit ihm schlaft?«, sagte sie neckisch und stellte sich entspannter hin. Doch damit wollte sie nur die Bewegung verbergen, die sie ausführen musste, um ihre Waffe zu ziehen. »Gut. Er hat mir versprochen, diskret zu sein.« Grunthor räusperte sich unbeholfen. »Noch mal Entschuldigung«, murmelte er, und als er in ihrem Blick weder Wut noch das Verlangen nach Vergeltung bemerkte, grinste er breit. »Seine Majestät hat mich gebeten, sicherzustellen, dass Ihr alles habt, was Ihr braucht. Wie wär’s, wenn wir in die Messe gehen und was futtern? Da können wir uns besser kennen lernen.« Er deutete in den Versorgungstunnel, hinter dem der Speisesaal der Soldaten lag. Dafür erhielt er ein strahlendes Lächeln. »Das wäre schön«, sagte sie nur und ging ihm entgegen, als er sich in Richtung des Versorgungstunnels wandte. Sie verbarg die Klinge in ihrer Handfläche. Vollkommen, dachte sie. So ein großes Ziel, und ich kann einen sauberen Schuss abgeben. Sie wurde ein ganz klein wenig schneller, hielt die Klinge mit der Spitze nach unten und hob sie, während sie allmählich in Schussweite kam. Sie beobachtete die Bewegungen seines weichen Lederwamses über dem verwundbaren Rücken. Ihre Augen verengten sich leicht, als sie sich konzentrierte und auf die zuckenden Muskeln in seinem Rücken zielte. Sie regten sich stärker, als sie erwartet hatte. Plötzlich wirbelte Grunthor herum und hielt ein großes Schwert in der Hand, das sie ihn nicht ziehen gesehen hatte. Mit einer fließenden, anmutigen Bewegung trennte er damit ihren Kopf säuberlich von den Schultern. Er war schneller gewesen, als jemand von solcher Größe sich je bewegen konnte. Estens dunklen, leuchtenden Augen blieb gerade noch genug Zeit, sich in Entsetzen weit zu öffnen, bevor ihr Kopf von den Schultern sackte. Ihr Körper fiel nach vorn auf den Boden, während der Kopf sich überschlug und die schwarzen Wände mit spritzendem Blut benetzte. Schließlich landete er knapp hinter der Tür des Bolg-Königs. Der Sergeant-Major hockte sich neben den Leichnam. Er rollte ihn auf den Rücken; dabei fiel die Klinge aus den leblosen Fingern. Grunthor hob sie auf und schüttelte den Kopf. Er gluckste vor gespielter Missbilligung. »Lektion eins«, stimmte er mit seiner Ausbilderstimme an, »bemüh dich im Kampf Mann gegen Mann immer um Abstand.« Er hielt die kleine Klinge neben sein Schwert. »Was immer man dir auch sagt, die Größe spielt doch eine Rolle.« Er durchsuchte rasch den Rumpf und entdeckte mehrere Phiolen und seltsame Münzen sowie verborgen in der Innentasche ihres Hemdes den Schlüssel, der einmal eine Rippe des Erdenkindes gewesen war. Die Belustigung auf seinem Gesicht versickerte. Er stand auf und ging den Gang hinunter zu der Stelle, wo der Kopf lag. Er hob ihn an den Haaren auf und blickte in die weit geöffneten Augen. »Tut mir Leid, Mädchen, aber ich hab gewusst, dass du nicht sein Typ bist«, sagte er ernst. »Seine Majestät bevorzugt Frauen, die in der Krise den Kopf aufrecht tragen können.« Und nur eine zur gleichen Zeit, dachte er. Der König hätte das Schlafende Kind niemals mit dir betrogen, Kleines. Als der abgetrennte Kopf zur Seite rutschte, fielen zwei silberne Nadeln aus dem schlaffen Mund. Grunthor schüttelte sich in gespieltem Abscheu. »Au weia, du wärst ’ne richtige Freude gewesen, wenn du den Laufpass bekommen hättest, was? Mein Schwanz zittert, wenn ich nur dran denke.« Er lief zurück zu Estens Rumpf und ließ den Kopf darauf fallen, dann rief er die Wachen, die in dem Gang ihren Dienst versahen. »Wickelt dieses Ding in einen Mantel und bringt es in die Waffenkammer«, befahl er. »Seid vorsichtig; sie ist ’ne richtige Schatzkammer an verborgenen Sächelchen, von denen einige euch töten könnten. Fasst sie nur am Mantel an. Und holt vier neue Wachen.« Er wartete, bis die Soldaten den Körper entfernt hatten, bevor er die Tür zu den Privatgemächern des Königs öffnete. Boden und Wände um ihn erbebten unter dem Widerhall einer gewaltigen Explosion. Instinktiv warf Grunthor die Arme hoch und schützte seinen Kopf, als Schutt und Sand auf ihn herabregneten. Er wandte sich ruckartig in die Richtung des Lärms und drehte sich dann wieder zur Tür um. Angesichts der schrecklichen Wahl, entweder im Loritorium oder im Kessel zu helfen, zog er die Geheimtür auf und hastete hinunter in die Kaverne des Schlafenden Kindes. 57 Nachdem sie Omet auf den Boden gelegt hatten, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis Rhur und Shaene das Rad fanden, das sie damals in der Kammer getestet hatten, in der es immer noch stand – unberührt, in Öltuch eingewickelt und gegen die Hinterwand gelehnt. Es dauerte ein wenig länger, es einzusetzen. Beim letzten Mal hatte Omet beim Tragen und Aufhängen geholfen; eigentlich war er damals die maßgebliche Person gewesen. Zwei Paar Hände für das große Artefakt aus Stahl und Kristall waren entschieden schlechter für diese Aufgabe geeignet als drei, doch die beiden Glasbläser waren beharrlich, und nach einigen angstvollen Momenten und fehlgeschlagenen Versuchen gelang es ihnen endlich, das Ding in die richtige Stellung zu bringen, so wie damals, als sie es zu dritt ausprobiert hatten. Shaene kniete über Omet, während Rhur unablässig die hölzerne Kuppel über ihnen beobachtete. »Omet«, sagte er sanft. Seine Stimme klang ungewöhnlich sicher und weise. »Halte noch ein bisschen länger durch. Bald wird die Kuppel entfernt und die Sonne durch die Wolken brechen. Das farbige Glas, bei dessen Herstellung du geholfen hast, wird vom Boden widergespiegelt werden. Stell dir vor, wie stolz du dann sein wirst.« Omets Gesicht war noch immer grau. Er atmete flach und starrte zur Decke. Die zwei Männer, Kunsthandwerker beide, der eine ein Bolg, der andere ein Mensch, Freunde des jungen Mannes, der sterbend auf dem Boden lag, warteten besorgt und sahen zu, wie bei jedem Atemzug ein wenig mehr Leben aus ihm herausfloss. Schließlich ertönten kratzende und polternde Geräusche. Die Männer schauten hoch und sahen, dass die hölzerne Bedeckung von einer Gruppe Handwerker, die sich auf den Felsen vor dem Turm befand, langsam fortgezogen wurde. Das Fundament des Turms, das noch ein Durcheinander von Töpfen, Werkzeugen, Holzbalken und behelfsmäßigen Werkbänken war, erglänzte in dem Licht des frühen Morgens. Der Tag brach an, der Sturm war vorüber, doch es dauerte noch einige Momente, bis die steigende Sonne den Horizont ganz überstrahlte. Shaene fuhr damit fort, Worte der Ermunterung zu flüstern. Seine Stimme wurde fester und Omet immer bleicher. Ein Glimmern, das sich zu rosigem Gleißen verstärkte ... Die beiden Kunsthandwerker sahen, wie der Himmel hinter dem zu sieben Achteln vervollständigten Kreis aus wundervoll gefärbtem Glas zu einem reinen, wolkenlosen Blau aufklarte. Während Shaene dem Schauspiel gebannt zusah, ging Rhur zu dem Kühlregal, in dem eine letzte Experimentierscheibe aus violettem Glas lag, die auf ihre Probe wartete. Er durchsuchte die Haufen auf der Werkbank, bis er die violette Vergleichsscheibe fand. In der Zwischenzeit strich Shaene Omet nutzlos über das Gesicht. Als Rhur zu der Stelle zurückging, wo der junge Mann lag, hörte er, wie Shaene laut rasselnd die Luft einsog, und schaute hinunter. Auf dem stumpfen grauen Steinboden des Turms lag ein wunderbarer, vielfarbiger und schimmernder Keil. Die reichen Schattierungen wirkten wie dahinschwindende Teiche aus flüssigen Edelsteinen, wertvolle Juwelen in geschmolzener Form, die das matte Grau Ylorcs mit dem flüchtigen Glanz unübertrefflicher Schönheit überzogen. Shaene starrte mit offenem Mund nach oben. Rhur hielt die Testscheibe gegen das Licht. In der Tiefe sah er Runen – Symbole, die er nicht verstand. Grei-ti, violett. Der Neubeginn. Shaene kam taumelnd auf die Beine und deutete auf das Rad. »Los, Rhur! Hilf mir, es in Gang zu setzen!« Gemeinsam schoben die Männer das Rad an. Zuerst geschah nichts. Dann, nach einem weiteren Stoß, glitt es über die Metallschienen. Dabei wurde es immer langsamer. Eine Vibration entstand, ein klarer, süßer Ton, zu dem das Rad in bedächtigem Gleichklang schwang. Das zitternde Licht aus der vielfarbigen Decke wurde von den Kristallrefraktoren eingefangen, die zuckende Farbblitze durch den Raum schickten. Während das Rad noch langsamer wurde, schmolzen die Farben zu einem glänzenden, pulsierenden Bogen aus rotem Licht zusammen, das dort zum Stillstand kam, wo Omet lag. Lisele-ut, rot. Blutretter. Natürlich erkannte keiner der Männer den Ton. Es war Benenner-Magie, altes und tiefes Wissen aus einer anderen Zeit und einem anderen Land. Wenn sie darüber nachgedacht hätten, wären sie vielleicht dahinter gekommen, dass die genauen Aufzeichnungen, die Gwylliam über die Errichtung aller Teile des Lichtfängers hinterlassen hatte – angefangen von den exakten Schattierungen des farbigen Glases bis hin zu der unterschiedlichen Dicke des Metalls, aus denen die Träger bestanden und die verschiedene tonale Schwingungen erzeugten, wenn das Rad über sie rollte -, eine Harmonie von Licht und Ton ausdrückten, die die alte Macht der Schwingungen auslöste. Diese Magie war von der Erschaffung der Welt übrig geblieben und existierte noch in jedem Lebewesen. Doch sie begriffen nicht die Einzelheiten dessen, was sie da beobachteten. Sie wussten nur, dass Omet, der noch vor einem Augenblick eher tot als lebendig gewesen war, nun in dem rosigen Licht lag, das aus dem Himmel eingefangen worden war, und sich im Einklang mit Farbe und Schwingung befand. Er atmete im Takt mit der Musik, als ob sie ihn erfüllt habe, und richtete Herzschlag, Atmung und alle Schwingungen seines tiefsten Selbst nach ihr aus. Und das machte ihn wieder gesund. Shaene verlor die Fassung. Er beugte sich über den jungen Mann, noch gefangen in den Klauen der Angst, die nun langsam zu Erleichterung wurde, und weinte. Er spürte, wie Rhur ihm die Schulter von hinten drückte, und drehte sich um. Es war das erste Mal, dass Shaene den herben Bolg lächeln sah. Gebannt hörten sie zu, wie das langsam sich bewegende Rad weitersummte. Der Ton wurde umso tiefer, je langsamer es sich drehte. Das rote Licht nahm ab und wich einem leuchtenderen, dunkleren Orange. Als das heilende rote Licht von Omets Gesicht glitt, sahen sie, dass seine Haut wieder normal war und eine natürliche, gesunde Farbe angenommen hatte. Die Augenlider zuckten und der Kopf bewegte sich hin und her, als wolle Omet den Schlaf abschütteln. Entzückt lauschten die Männer, als sich der Ton gleichzeitig mit der Bewegung über die Führungsschienen veränderte. Nun wandelte sich das Licht vollständig vom Rot der ersten Abteilung in der Kuppeldecke zur Farbe der nächsten Scheibe: orange. Frith-re. Feuerleger. Shaene holte tief Luft, als es in dem Raum plötzlich warm wurde. Er schaute zu dem Regenbogen aus Glas über ihm, in dem nur das violette Endstück fehlte, und in den klaren Himmel dahinter. »Es verspricht ein wunderbarer Tag zu werden«, sagte er zu Rhur. Das waren die letzten Worte, die in dem Raum zu hören waren, bevor die ganze Welt explodierte. Als er sich davon überzeugt hatte, dass das Erdenkind ungestört schlummerte, versiegelte Grunthor den Tunnel und eilte zurück in den Kessel und zum Gurgus. Drei Korridore davor wurde ihm der Weg versperrt. Überall unter dem Berg waren die Tunnel zusammengebrochen und hatten die Durchgänge in unpassierbare Wände aus Schutt und Schiefer verwandelt. Bolg-Soldaten eilten durch die angrenzenden Tunnel und evakuierten die Räume, die nicht eingestürzt waren. Sie trugen die Verletzten und Toten hinaus und husteten heftig in der alles durchdringenden Staubwolke. »Criton!«, flüsterte Grunthor und starrte auf die Verwüstung. »Was ist passiert?« Niemand antwortete ihm. Verzweifelt rannte Grunthor zu der dichten Geröllmauer, die den obersten Korridor abschloss. Er konzentrierte sich, griff tief in sich hinein, berührte das elementare Band, das ihn an die Erde fesselte, und ließ die Kraft durch seine Hände in den geborstenen Stein um ihn herum fließen. Er rief alle Erdenmacht zusammen und trieb einen Tunnel durch die Mauer aus Schutt. Schiefer und Fels glitten von ihm fort, als schmölzen sie bei seiner Berührung. Er grub sich tiefer ein, drückte seinen Körper hindurch und machte sich einen eigenen Tunnel. In all dem Durcheinander erkannte er Leichen. Am äußeren Ende der Verwüstung hatten sich hingegen keine befunden. Zwei fand er tief im Gesteinsschutt begraben und erkannte sie als Shaene und Rhur, die unter Tonnen geborstenen Schiefers und gewaltiger Basaltstücke, den Überresten des Gurgus-Gipfels, zerschmettert lagen. »O nein!«, murmelte er, als er Shaene fand, der aufrecht zusammengedrückt worden war. »Verdammt.« Er bahnte sich weiter einen Weg durch die Bruchstücke des Berggipfels, bis er endlich zu einer Öffnung hinter dem Schuttwall durchgebrochen war. Seine Augen stachen vom Staub, der sich auch in Kehle und Nase sammelte. Dort, auf dem Boden des Turms, lag in einem glitzernden Regenbogen aus farbigem Glas Omet. Er hatte die Augen geschlossen und war mit Blut besprenkelt, das von dem Glasregen herrührte, doch ansonsten schien er unverletzt zu sein. Als Grunthor den großen Haufen aus Glasscherben betrachtete, war er verblüfft, dass der junge Mann nicht in Streifen geschnitten worden war. Grunthor kroch vorsichtig über die Splitter, die alles waren, was von der wunderbaren Kuppeldecke übrig geblieben war, schritt an den Arbeitstischen vorbei, hob Omet aus dem Glashaufen und legte ihn sich über die Schulter. Omet jammerte, als sein Oberkörper an Grunthors Rücken herabhing. »Grunthor?«, flüsterte er. Sein langes, glattes Haar fiel bis auf den Boden. Der Sergeant drehte sich um und machte sich durch das Geröll auf den Rückweg. »Was?« Omet bemühte sich, deutlich zu sprechen, obwohl er wie verrückt hin und her schwang und mit dem Kopf nach unten hing. »Theophila ist ... in Wirklichkeit ... die Gildenmeisterin der ... Mörder- und Diebesgilde von... Yarim.« »Da bin ich dir ’nen Schritt voraus«, erwiderte Grunthor und bückte sich, damit Omets Rücken nicht über die niedrige Decke schrammte. Der junge Handwerker machte eine wilde Handbewegung. »Rhur und Shaene sind auch hier irgendwo, glaube ich. Ich habe sie reden hören, kurz bevor ...« Grunthor tätschelte Omets Steiß. Sein Gesicht zeigte keine besondere Regung, aber seine Blicke schössen wild umher. »Psst jetzt«, sagte er streng. »Hast noch genug Zeit zum Reden, wenn ich dich hier rausgebracht hab und du dich hast ausruhen können.« Acht Tage später erhielt der Verwalter der Rabengilde ein Päckchen durch die Postkarawane aus Ylorc. Dranth brach die Siegel auf und entfernte vorsichtig das Pergament, in das es eingepackt war. Bisher hatte Esten nur unzerbrechliche Dinge und Papiere geschickt, doch er wollte nicht das Risiko eingehen, den Inhalt zu beschädigen. Dem Gestank nach zu urteilen, der aus dem Päckchen drang, hatte es wahrscheinlich bereits durch die Hitze in den Postwagen Schaden genommen. Als er das letzte Stück Verpackung abgenommen hatte, trat Dranth, der Gildenverwalter des seelenlosesten, tödlichsten Zirkels von Dieben und Mördern in Roland, einen Schritt zurück von dem Tisch, legte die Hand über den Mund und erbrach sich dann auf den Boden der Güdenhalle. Grunthor hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Estens schwärende Augen zu schließen, bevor er sie zu ihrer Gilde zurückgeschickt hatte. Epilog Das Verknüpfen der Fäden Die Welle aus der Explosion unter dem Meer schleuderte den Kirsdarkenvar und die beiden, die an ihm hingen, auf den schwarzen, unnachgiebigen Sand des felsigen Strandes. Der Boden war für Ashe wie ein Rettungsring, auch wenn er schlüpfrig war und andauernd ins Meer abglitt, wenn die Brecher darüberrollten. Er ließ das Schwert los, drehte sich rasch auf den Bauch und schaute nach, ob Rhapsody noch lebte. Als er sich dessen sicher sein konnte, wandte er sich dem Bolg-König zu, der sich die Lunge aus dem Leib hustete. Die nächste Welle, die gischtend über den Strand rollte, war schon flacher und zeichnete Echos der letzten nach, erreichte aber nicht mehr deren Gewalt. Als das Wasser zurückschwappte, blieben Teile von Holz und Seil übrig – die Reste des untergegangenen Schiffes. Keines der Stücke war größer als gewöhnliches Treibholz. Ashe zog seine Frau in die Arme und drückte sie fest an sich, damit er ihr so viel Wärme wie möglich geben konnte. Der Drache in seinem Blut schätzte sie ab und bemerkte, dass ein wenig Körpergewicht fehlte. Die Haut war eingesunken und bleich vom Salz und dem endlosen Wasser aus ihrer Zeit in der Höhle; das Haar war verfilzt und gedunkelt und dort zerzaust, wo sie es abgeschnitten hatte. Als er sah, wie dünn Hände und Hals waren, musste er die Tränen zurückhalten. Aber sie war zu Hause – aus dem Meer zurückgekehrt. Und in ihr wuchs noch immer das Kind. Es war stark; er spürte deutlich seine Gegenwart. Er zog sie näher an sich heran, sprachlos vor Erleichterung, und passte seinen Atem dem ihren an. So schwelgte er in dem heiseren Geräusch des Lebens, das von ihr ausging, und legte schließlich den Kopf in den Sand. Die Sonne blendete ihn. Er bemerkte, wie neben ihm der Bolg-König aufstand und sich noch immer von dem Meer in ihm befreite. Dann ging er die Küste entlang. Achmed schaute den Windgepeitschten Strand hinunter zu dem schwarzen, zerklüfteten Felsbett, über das die Brandung donnerte. Dort hatte MacQuieth die Bestie mit in das Meer genommen. Wo vorhin quellender Dampf und angeschwollene Gischt gewesen waren, herrschte nun Frieden. Das Meer war zu seinem ewig gleichen, heftigen Anbranden zurückgekehrt; die Wellen kamen weiß herein und eilten wieder hinaus, wobei sie die oberste Sandschicht mitnahmen. Behutsam setzte er einen Fuß in das Wasser. »Siehst du ihn?«, fragte Ashe, während er aufstand und Rhapsody mit sich zog. »Siehst du irgendetwas?« Achmed blinzelte und schüttelte den Kopf. »Michael?«, flüsterte Rhapsody mit vom Salz aufgerauter Stimme. Ashe legte den Arm um sie. »MacQuieth«, sagte er. »Er war es, der Michael gefunden hat. Er hat ihn von der Klippe gestürzt und ist zusammen mit ihm ins Meer gefallen. Vielleicht hat er sogar den Dämon in sich aufgenommen.« Er verstummte. Ein Gefühl des Verlustes überwältigte ihn. »Könnte er nicht überlebt haben?«, fragte Rhapsody. Sie beugte sich tiefer über den Rand des Wassers und schaute in die stäubende Gischt. »Glaube mir, es gibt tausende von Plätzen, wo man Unterschlupf finden kann.« Achmed seufzte tief auf und watete an der Stelle, wo die Wellen sich brachen, vorbei ins Meer hinein. Langsam bückte er sich, bis seine empfindsame Haut untergetaucht war, und lauschte. Nach einem Augenblick richtete er sich rasch auf, schüttelte den Kopf und lief aus dem Meer hinaus. »Nein«, sagte er. »Sein Herzschlag ist verschwunden, genau wie der Gestank des Dämons. Ich habe ihn einmal gehört; er klang wie eine große Glocke. Hier ist jetzt nichts mehr als der Klang der Wellen.« »Welch ein unermesslicher Verlust«, sagte Ashe leise. »Stell dir vor, was er in seinem langen Leben gesehen hat und was er uns hätte sagen können. In den wenigen Tagen, die wir mit ihm verbracht haben, habe ich mehr über die Insel und meine Vorfahren gelernt als in der ganzen Zeit davor. Nun kenne ich den Stamm von Soldaten, aus dem Anborn hervorgegangen ist. Beide waren Blutsverwandte.« Er schirmte die Augen vor dem roten Glühen der Sonne am Rande des Horizonts ab. Es war ein helles Stück schwindenden Feuers. »Anborn hat ihn endlos lange studiert und ihn verehrt. Es war MacQuieth, nach dem er sein ganzes Leben ausgerichtet hat. So ein unersetzlicher Verlust für uns alle. Und dennoch ...« Er erinnerte sich an den Anblick des alten Mannes, wie er blind im Licht der Morgensonne umherging. Er konnte sie nicht sehen, aber ihre Wärme spüren. Ihre Pracht war dicht hinter seinen Sinnen verborgen. Der All-Gott schenke Euch einen guten Tag, Gevatter. Wenn er das täte, wäre ich jetzt nicht mehr unter den Lebenden. Alle Jahre, die ich noch vor mir habe, und alle, die ich bereits gelebt habe, würde ich gegen einen eintauschen, an dem ich noch einmal sehen kann, was im Abgrund der Zeit verloren gegangen ist. Ich verstehe. Wirklich? Hmm. Das glaube ich nicht. Aber ich vermute, eines Tages, vielleicht in tausend oder mehr Jahren, wirst du es verstehen. »Und dennoch was?«, fragte Rhapsody. »Dennoch gibt es nichts, was zu betrauern wäre«, sagte Ashe nur. »Er hat seinen Frieden gefunden.« Rhapsody nickte und wischte sich die schweren Locken aus den Augen. Sie erinnerte sich an Worte, die sie vor langer Zeit zu Elynsynos gesagt hatte, als sie der Drachin über den Verlust ihres gestorbenen Seemannes hinweggeholfen hatte. Seeleute finden ihren Frieden im Meer, so wie die Lirin ihn im Wind unter den Sternen finden. Wir übergeben unsere Körper dem Wind durch das Feuer, nicht durch die Erde, so wie Seeleute den ihren dem Meer übergeben. Der Schlüssel zum Frieden liegt nicht dort, wo dein Körper ruht, sondern dort, wo dein Herz ist. »Ich werde ein Requiem für ihn singen«, sagte sie. »Und für seinen Sohn Hector«, meinte Ashe. »Er ist in den letzten Tagen der Insel auf ihr zurückgeblieben. MacQuieth hat es nie übers Herz gebracht, für ihn ein Requiem zu singen. Vielleicht kannst du es für sie beide tun.« Rhapsody nickte und wischte sich das Salz unter den Augen weg. Sie raffte all ihre Stärke zusammen und ging zum Rand des Wassers. Ashes Hand lag noch in ihrer, und sie berührte Achmeds Schulter. Die Männer standen schweigend neben ihr, als sie die Stimme erhob, die rau und brüchig wie die einer alten Frau war. Sie sang die alte Vesper für die Sonne und das Lied des Scheiterhaufens für Vater und Sohn, die nun beide im Meer ruhten. Sie sang die alten Weisen, die sie in der Gezeitenhöhle gelernt hatte. Das Meer hatte sie ihr beigebracht; es war der Ruf des Windes und der Rhythmus der Wellen, endlos und unablässig, in allen Farben und Tönen, die ihre Ohren erfüllt hatten, während sie in der Umarmung des Wassers geschwebt hatte. Es war ein Lied, das nun in ihrem Blut widerhallte, ein Lied von Herzen über ihren Großvater, der das Tiefland verlassen hatte, um zur See zu fahren, ein Lied, gewebt aus den Weisheiten, die sie gelernt hatte, ein Lied über das Kind, das sie trug und das nun und für immer in den Geheimnissen der Wasserwelt unterwiesen war, ein Lied über die verborgenen Berge, die unsichtbaren Schönheiten und die Schätze, die unter den rollenden Wogen lagen. Sie sang von dem Leben der beiden Soldaten, das eine kurz, das andere weit über jede Vernunft verlängert. Beide waren starke Wächter gewesen und nun Teil des nie endenden Rhythmus der See, Teil ihrer Weisheit. Teil ihres Liedes. Der Ozean brüllte dazu, die salzfleckige Luft über den tosenden Wellen peitschte ihr ins Gesicht, alle Farben des Lichts waren zu einem ewigen, wirbelnden Tanz verschlungen. Es war eine Sinfonie der Zeit, eine endlose Totenklage, eine Elegie, ein Schlaflied, ein Schöpfungsgesang, ein Vernichtungsgesang, ein Lied stiller, unablässiger Wächterschaft und vollkommener Unausweichlichkeit. Lebt eure menschlichen Leben, wie lang sie auch immer sein mögen; in den Augen der Unsterblichkeit sind sie nur ein Flackern. Sie sang die Sonne hinab und verstummte dann. Stimme und Stärke waren vergangen. Sie wandte sich an ihren Gemahl und fragte, solange sie noch reden konnte: »Hat Anborn es überlebt?« Achmed nickte. Rhapsody seufzte tief. »Dem All-Gott sei Dank«, flüsterte sie zu Ashe. »Sam, bitte bring mich nach Hause. Ich muss Anborn sehen und ihm sagen, dass er nicht versagt hat. Und ich will bei Gwydion sein. Ich muss das Versprechen einlösen, das ich ihm gegeben habe. Und danach muss ich zum Nest der Drachin gehen. Wenn du willst, darfst du mich begleiten.« Sie lächelte schwach und erinnerte sich an die Musik des Entdeckers, die sie erlernt hatte. »Ich habe einige Lieder für sie. Die Stille in ihrer Höhle wird bei mir Wunder wirken. Nach all dem andauernden Lärm verlangt es mich am stärksten nach Ruhe und Frieden.« Ashe zog sie näher an sich. Sein Blick war traurig. »Wenn ich aus alldem eines gelernt habe, dann ist es das, dass Männer wie Achmed und Anborn Recht haben, Rhapsody. So etwas wie dauerhaften Frieden gibt es nicht. Das Höchste, das wir erwarten dürfen, sind Zeiten der Ruhe zwischen den Kämpfen«, sagte er sanft. »Aber ich will dafür sorgen, dass diese Zeiten der Ruhe für dich und für uns alle so lange andauern wie möglich.« Er fuhr mit der Hand über ihr abgeschnittenes Haar. »Und nun werde ich dich nach Hause bringen. Auf dem Felsvorsprung über uns glänzt ein Schwertgriff in der Sonne. Ich vermute, wir sollten es mitnehmen. Tysterisk war einst die Waffe der Blutsverwandten. Mein Namensvetter wird es vielleicht eines Tages gebrauchen können.« Rhapsody lächelte schwach. »Vielen Dank, dass du mir dabei hilfst, mein Versprechen bei ihm und Melisande einzulösen«, sagte sie. Ihre Stimme war ein raues Flüstern. »Wir sollten uns beeilen. Ich will nicht, dass sie auch nur einen Augenblick länger leiden müssen.« Ashe nickte und hob ihren Handrücken an die Lippen. »Es gibt da aber einen Ort, an dem wir vorher anhalten sollten. Dort können wir etwas essen und uns ausruhen. Es wird dir gefallen. Du wirst einem alten Freund begegnen, der ein ganzes Leben darauf gewartet hat, dich wiederzusehen.« Er legte ihr den Arm um die Hüfte und führte sie über den Strand zu der Stelle, wo die Pferde warteten. Achmed warf einen letzten Blick auf das Meer. Er suchte die gemächlichen Wellen ab, die noch immer Wrackteile des Schiffes anspülten. Dann drehte er sich um und schaute dem durchnässten Paar nach, das langsam Arm in Arm dahinging, und erlaubte sich einen sehnsüchtigen Augenblick. Er schüttelte den Kopf und folgte ihnen die Küste hoch. »Warum habe ich bloß das elende Gefühl, dass Barney Hammel servieren wird?«, murmelte er zu sich selbst. Danksagung Mein Dank geht an das Musee des Beaux-Arts in Montreal, an die Sinclair Gallery und The Cloisters/Metropolitan Museum of Art, New York, an das Getty Museum, Los Angeles, Kalifornien, an Corning Glassworks, Corning, New York, an die Hicks Collection und die Lindtfelder Collection, Louisville, Kentucky, und das Henry Mercer Museum, Doylestown, Pennsylvania, für ihre Hilfe bei meinen Forschungen über mittelalterliche Glasbläsertechniken. Meine aufrichtige Dankbarkeit gilt auch James Meeker von der United States Navy für seine freundliche Hilfe bei der Überprüfung nautischer Fakten und für seine technische Unterstützung. Außerdem danke ich Shane McKinness für die leihweise Überlassung seines Namens. All meine Liebe und Zuneigung gehört meinen Freunden und meiner Familie, ohne die dieses Buch nicht geschrieben worden wäre. Und natürlich auch all den großartigen Leuten bei Tor Books.