Innswich Horror Edward Lee Im Juli 1939 nimmt der Antiquitätensammler und von H.P. Lovecraft faszinierte Foster Morley an einer Busreise durch die Wildnis des nördlichen Massachusetts teil. Er möchte die Orte besuchen, an denen sich Lovecraft aufgehalten hat, und sehen, was dieser erblicken durfte, um den einflussreichsten Horrorautoren der Geschichte besser verstehen zu können. Als er in die seltsame abgelegene Hafenpräfektur Innswich Point gelangt die auf keiner Karte zu finden ist , geht er anfänglich davon aus, dass deren Namen reiner Zufall ist nur um im Verlauf der nächsten vierundzwanzig Stunden festzustellen, dass er sich in dieser Hinsicht drastisch getäuscht hat. Immer tiefer und tiefer dringt Morley in die dunklen Geheimnisse der merkwürdigen Stadt vor. Spielt ihm seine Fantasie einen Streich, oder gibt es wirklich derart viele Übereinstimmungen zwischen diesem entlegenen kleinen Fischerdorf und der erfundenen Stadt aus Lovecrafts Meisterwerk Schatten über Innsmouth ? Hat Lovecraft diesen Ort vor seinem Tod im Jahre 1937 vielleicht tatsächlich besucht? Schon bald muss Morley feststellen, dass er beobachtet wird, doch sein Verfolger ist genau der Mann, nach dem er sucht: ein einheimischer Zuhälter und Heroinsüchtiger, der angeblich das unaussprechlichste Geheimnis der Stadt kennt. Weiß er vielleicht auch, welches Mysterium bewirkt hat, dass ungewöhnlich viele Frauen der Stadt gleichzeitig schwanger sind? Morley wird von unnatürlichen Dingen heimgesucht, und als dieser malerische Zufluchtsort in ein Chaos aus Andersartigkeit, Perversion und dem lauernden, ungezügelten Bösen stürzt, trifft er endlich die Frau, die im Verborgenen Lovecrafts Kind zur Welt gebracht hat, nur um noch tiefer in einem unterirdischen Sumpf und einer Nacht voller verkörperter Schrecken zu versinken. Denn das schlimmste Geheimnis von allen, das unter den vermodernden Landungsstegen und hinter den verwitterten Fassaden des heruntergekommenen Dörfchens Innswich Point lauert, wurde noch lange nicht enthüllt ... DER AUTOR  Der amerikanische Schrifsteller Edward Lee wurde am 25 Mai 1957 in Washington D.C. geboren und wuchs in Bowie, Maryland auf. Lee verfasste mehr als 40 Bücher, wovon mehr als die Hälfte als Mass Market Paperback veröffentlicht worden sind. Seine Kurzgeschichten erschienen in unzähligen Anthologien darunter auch die preisgekrönte Anthologie 999. Für seine Erzählung Mr. Torso wurde er für den Bram Stoker Award nominiert. Viele Übersetzungsrechte wurden an deutsche, griechische und rumänische Verleger verkauft. Lee veröffentlicht außerdem für Kleinverlage limitierte Hardcover Bücher, viele davon wurden bereits zu echten Sammlerstücken. Mehr über Edward Lee erfährt man auf seiner Homepage http://www.edwardleeonline.com Titel der Originalausgabe: The Innswich Horror © 2010 by Edward Lee  WIDMUNG: Für Wendy Brewer. Sei meine Cthulheena. DANKSAGUNG: Als Allererstes möchte der Autor dem großen, leider verblichenen H.P. Lovecraft für dreißig Jahre schauriger Wunder und furchtbaren Einflusses danken. Eben-so gebührt dem verstorbenen Brian McNaughton mein Dank für frühe Einflüsse, des Weiteren Tim McGinnis, Bob Strauss, Richard Chizmar und Ian Levy. Ferner stehe ich in der Schuld von Autoren wie S. T. Joshi, Darrell Schweitzer und Anthony Pearsall, die zahlreiche Bücher über das Leben und das Werk von HPL geschrieben haben. Man möge mir jegliche falsche Darstellung und/oder Fehler vergeben. I Das Geräusch des Busses bot einen passenden auralen Hintergrund: Ich stellte mir vor, ich würde in der Haut des Meisters stecken und könnte sehen, was er auf der anderen Seite des trüben Fensters erblickt hätte. Und das wären keine gewöhnlichen Felder, unscheinbaren Baumreihen und auch nicht der typische Sommerhimmel Neuenglands gewesen, sondern etwas weitaus Finsteres. Verdorrte Heidepflanzen, die auf trockenen Auen und zwischen absterbendem Gras herumstanden, und ein Himmel, der bedrohlich auf alles herabsah. Und da – ja! –, über die verrosteten Überreste einer uralte Brücke hinweg, wurde mein Blick vom trägen Miskatonic angezogen, in dessen Tiefe Gott weiß was lauerte oder aufgebläht und tot oder in einem noch schlimmeren Zustand lag. Das prosaische Busfenster war nicht länger eine durchsichtige Scheibe, sondern ein obskures Prisma, ein Spiegel, durch den sich ein unheimlicher Anblick bot in unendlich tiefe Schluchten und Felsspalten, die Dimensionen voneinander trennten und unbeschreibliche Schrecken enthielten. Dann blinzelte ich … … und musste grinsen. Unter mir toste lediglich der durch und durch weltliche Essex River, und an jeder Seite erhoben sich endlose Reihen aus Pinien und Eichen. Nein, auch wenn mich Gott mit einem unendlichen Wissensdurst ausgestattet hatte, war ich nicht derart besessen, dass ich auch nur einen winzigen Teil der Vorstellungskraft des Meisters übernommen hatte. Vermutlich gefielen mir seine Geschichten aus diesem Grund derart gut. Allerdings war Vorstellungskraft eine Gabe, die bei wahren Autoren des Fantastischen auch besser aufgehoben war. Autoren wie Howard Phillips Lovecraft. Mit mir im Bus saß etwa ein halbes Dutzend weiterer Fahrgäste, ihrem Aussehen nach alles hart arbeitende Männer, und ich fragte mich, ob Lovecraft selbst jemals in diesem Bus gesessen hatte. Falls dem so gewesen war: auf welchem Sitz? Durch welches Fenster hatte er geblickt, um sich zu beschäftigen? Meine Verehrung dieses Genres war schon eine seltsame Sache. So wie HPL von allem über den Kosmos bis hin zur Architektur der Kolonialzeit fasziniert gewesen war, scheint mich seine Arbeit zu fesseln. Mein Name ist Foster Morley, ich bin dreiunddreißig Jahre alt und habe braune Haare und braune Augen. Ich schätze, dass mich Lovecraft als unscheinbar und unauffällig beschrieben hätte, doch eine ganz bestimmte Parallele hätte ihn gewiss amüsiert. Wie so viele seiner Charaktere entstamme ich ebenfalls einer englischen Oberschichtfamilie, die von Hause aus wohlhabend ist, und habe einen ungenutzten Abschluss der Brown University. Mein Wohnsitz ist ein 180 Jahre altes Herrenhaus im schönen Providence, in der Nähe des Athenaeums, das meine Vorfahren schon vor der Revolution bewohnt haben. Diese Familie ist jetzt verblichen, ich bin der einzige Nachfahre. Daher kann ich dank meines Schöpfers meine Zeit mit Träumereien verbringen, in denen es mir ebenfalls an nichts fehlt, und wenn ich mich nicht dem Philanthropendasein hingebe, dann … lese ich. Ich lese Lovecraft, und zwar wieder und wieder, da es seinen zu Papier gebrachten Worten gelingt, mich in andere, deutlich interessantere Welten zu versetzen. Welten, die der unsren nicht gleichen, die von Finanzkrisen und unangenehmen Kriegen heimgesucht wird. Nein, stattdessen begebe ich mich in Welten voller schauriger Wunder und teuflischer Schrecken. Seltsamerweise kannte ich Lovecraft gar nicht, bis ich vor etwa zwei Jahren, genauer gesagt im März 1937, einen Nachruf im Providence Evening Bulletin las, in dem über das Ableben des ansässigen Fantasten und dessen seltsame Karriere berichtet wurde. Da meine Neugier geweckt war, besorgte ich mir die Ausgabe des Magazins Weird Tales aus dem Juni 1936 und las Der Schatten aus der Zeit. Von diesem Augenblick an hatte er mich am Haken, und danach gab ich zwar geringe Summen aus, unternahm jedoch beachtliche Anstrengungen, um alles, was der Meister je geschrieben hat, in meine Bibliothek aufzunehmen. Meine Besessenheit war greifbar und mehr als das – vielleicht meine Rettung. Zwar wähnte ich mich in meiner Einsamkeit ohne jegliche Gefährten durchaus zufrieden, doch nun hatte ich etwas gefunden, das mir so lange Zeit gefehlt hatte: einen mentalen Rückhalt, eine Reise in die verlorenen Regionen, die ich nun jede Nacht unternahm, anstatt die qualvollen leeren Stunden zu zählen. Dann las ich seine Werke noch einmal an seinem Grab auf dem Swan Point Cemetery, ich schlenderte jede Woche einmal an seinem Wohnhaus in der College Street vorbei und hielt stets inne, um hinauf zum Federal Hill zu sehen und einen Blick in die St. John’s Catholic Church zu werfen, die ein Vorbild für seine letzte ernsthafte Erzählung gewesen war, die brillante Story Der leuchtende Trapezoeder. Außerdem ging ich die Angell Street und die Benefit entlang in der Hoffnung, dass irgendein psychischer Rückstand meines Vorbilds zurückgeblieben wäre und mich beschleichen oder mir irgendwie einen makaberen, ätherischen Segen verpassen könnte. Einmal die Woche kaufte ich im Weybosset’s Store ein, wo auch er seine kargen Einnahmen regelmäßig für Lebensmittel ausgegeben hat. Und nicht nur einmal fuhr ich mit der Eisenbahn nach New York, um staunend das heruntergekommene Reihenhaus in Flatbush anzustarren, in dem der Meister hin und wieder mit seiner Frau gelebt hatte; und erst vor Kurzem habe ich eine Kerze in der St. Paul’s Chapel am Broadway angezündet, in der sie geheiratet haben. Ferner begann ich, seine Reiserouten nachzuvollziehen: von Marblehead im Bezirk Columbia nach New Orleans, von Wilbraham, Massachusetts, nach Dunedin, Florida – und alles ausschließlich per Dampfzug oder Autobus, da ich auf diese Weise dasselbe langwierige und knatternde Erlebnis hatte. Für mich war es ausgesprochen wichtig, dass ich dasselbe sehen konnte wie er und dass ich dieselben Orte aufsuchte. Einst stand ich vor Poes Grab in Baltimore, nur weil ich wusste, dass Lovecraft dort früher einmal ebenfalls gestanden hatte. Ich habe sogar versucht, das Giebelhaus in der Benefit Street 135 zu erwerben, doch die Besitzer wollten es nicht verkaufen, nicht einmal zu dem lächerlich hohen Preis, den ich ihnen angeboten hatte, schließlich handelte es sich dabei um das berüchtigte, von Flechten überzogene »geächtete« Haus. Ob ich besessen bin? Zweifellos. Ein Psychiater würde mein Verhalten mit einem Begriff bezeichnen, der ziemlich medizinisch klingen würde, vermutlich analytisch und jungianisch. Dank Lovecrafts Worten weiß ich, dass ich verzweifelt nach etwas suchte, und ich werde erst wissen, was das ist, wenn ich es endlich gefunden habe. Äh, Verzeihung. Ich hätte sagen sollen, dass ich es bereits gefunden habe – und zwar in Innswich –, was mich vermutlich auf ewig heimsuchen wird. Ich hatte den Bediensteten das Haus überlassen – sie waren schon daran gewöhnt, dass ich gelegentlich unerklärliche Reisen unternahm – und beschlossen, die fiktive Reise eines seiner Charaktere nachzuvollziehen, des ungenannten Protagonisten aus meiner Lieblingsgeschichte Schatten über Innsmouth. In Lovecrafts Notizen wurde dieser unglückliche fiktive Charakter laut seines Vertrauten August Derleth als Robert Olmstead bezeichnet, wenngleich der Name in der veröffentlichten Geschichte niemals auftaucht. Doch es ist leicht zu erkennen, dass diese Mr. Olmstead ein Spiegelbild von Lovecraft darstellt: Er ist ein Liebhaber des Altertümlichen und der Architektur und hat die Tiefen Neuenglands stets mit der preiswertesten Methode bereist, um seinen Leidenschaften nachzugehen. Das sollte also mein Sommerurlaub sein. Robert Olmstead ist am 15. Juli 1927 von Newburysport nach Arkham aufgebrochen, um die Archive und die Architektur der Kolonialzeit dieser von Hexen geplagten Stadt er erkunden. Daher hatte ich den Wunsch, Olmsteads Reise so genau wie möglich nachzuvollziehen, um zu sehen, was Lovecraft gesehen hatte. Wie immer hielt ich mich exakt an die Einzelheiten und begann meine Reise am 15. Juli 1939. Ich verließ Newburysport an derselben Bushaltestelle vor dem sehr realen Hammond’s Drugstore in Richtung der Stadt Salem, die HPL als Vorlage für Arkham gedient hatte. Ich hatte mich für den vordersten Sitz des Busses entschieden und hatte von dort einen hervorragenden Blick durch die Windschutzscheibe. Wir waren jetzt mehrere Meilen von Essex entfernt, und die Landschaft schien auf eine Weise finsterer zu werden, die man nicht vernünftig beschreiben konnte. Auf einmal wirkten die Wälder ausgelaugt, die Vegetation hatte ihren sommerlichen Glanz verloren, und sogar die Straße, deren einziges Pflaster aus zerstoßenen Austernschalen bestand, ließ sich nur noch als fahl bezeichnen, auch wenn dieses Wort lächerlich oberflächlich klingt. Doch da war etwas, das die seit einem Monat andauernde rekordverdächtige Dürreperiode überlagerte, eine unerklärliche Finsternis, die sich aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann, in meinem Geist breitmachte. Zu guter Letzt bemerkte ich durch die Windschutzscheibe einen erfrischenden Hinweis auf Anzeichen von Menschlichkeit: eine heruntergekommene Holzhütte – die offensichtlich eine Behausung darstellte – neben einem Gebäude, das eine Räucherei zu sein schien. Ein Schweinepferch stach mir ebenfalls ins Auge, der mit einfachem Hühnerdraht errichtet worden war und nicht einmal ein halbes Dutzend Schweine beherbergte. Doch irgendetwas roch köstlich, und dieser Geruch konnte nur aus der Räucherei kommen. Schließlich kamen ein Schild und ein Verkaufsstand am Straßenrand in mein Blickfeld. Auf dem Schild stand: ONDERDONK & SOHN. RÄUCHEREI – MIT FISCH GEFÜTTERTE SCHWEINE. In dem Augenblick, in dem wir vorbeifuhren, schien der Fahrer zu grunzen. »Mit Fisch gefütterte Schweine?«, fragte ich ihn. »Das habe ich ja noch nie gehört. Ist es Ihnen vielleicht einmal möglich gewesen, das Fleisch zu kosten?« Das Gesicht des Fahrers blieb weiterhin nach vorn gerichtet, und erst glaubte ich schon, dass er mir gar nicht antworten wollte. »Das hab ich nich’ und werd ich auch nie. Das ganze Jahr hocken dieselben fünf Schweine in diesem Pferch. Wie ich die Onderdonks kenne, verkaufen die mit Fisch gefütterte Stinktiere. Der und seine Kinder, die sind anners. Ich mag sie nicht und sie mögen uns nicht.« Ich musste kurz nachdenken, bevor ich anners als anders übersetzt hatte. Dann konnte ich mir die Nachfrage nicht verkneifen: »Und mit uns meinen Sie wen?« »Ist doch egal!«, fuhr mich der Fahrer an. »Ich mach einfach nur meine Arbeit. Aber die Onderdonks wagen es nicht, an den Klüngel zu verkaufen.« Bis dato hatte ich noch nicht die leiseste Ahnung, was die Unbill des Fahrers erregt hatte. »Den Klüngel?«, fragte ich, mehr an mich selbst gerichtet. »Sie verkaufen den Fraß, den Sie Barbecue nennen, an Einwanderer und einfache Leute, die von New’bry nach Salem reisen, aber sie halten sich vom Klüngel in der Stadt fern.« Meine Verwirrung wurde immer größer. Am liebsten hätte ich gar nicht weitergefragt, aber ich hatte im Kopf, dass auf der Karte zwischen Newburysport und Salem gar keine andere Stadt verzeichnet war. »Die Stadt? Sie meinen gewiss Salem, aber wir müssten doch noch wenigstens eine Stunde davon entfernt sein.« »Nein«, knurrte er. Erst jetzt fielen mir die Gesichtszüge des Fahrers auf und ich erinnerte mich an Lovecrafts Geschichte und den Busfahrer namens Joe Sargent, der ebenso seltsam aussah wie viele andere aus Innsmouth: schmaler Kopf, flache Nase, eingeschrumpfter Hals, hervortretende Augen, die er niemals zuzumachen schien. Robert Olmstead entwickelte eine spontane Aversion gegen Sargent, als er ihn das erste Mal erblickte. Dieser Mann hier wirkte zwar durchaus mürrisch, schien jedoch nur ein gewöhnlicher Arbeiter zu sein. »Olmstead«, erwiderte er, »und hier ist derzeit der Klüngel.« Er drehte am Lenkrad und steuerte den Wagen um eine Straßengabelung an einem Schild vorbei, auf dem stand: OLMSTEAD – 2 MEILEN – BEVÖLKERUNG 361. »Dies ist der einzige Bus, der dahin fährt, und wir halten auch nur fünfzehn Minuten.« Mich irritierte nicht die Tatsache, dass wir auf einmal in Richtung einer Stadt fuhren, von der ich noch nie im Leben gehört hatte (und die nicht einmal auf einer Landkarte zu finden war), sondern die ganze Situation an sich. »Olmstead?« Ich betonte das Wort ganz besonders. »Wollen Sie mir damit sagen, dass es eine nicht verzeichnete Stadt gibt, die Olmstead genannt wird?« Die Frage schien ihn zu irritieren. »Sie steht auf dem Busfahrplan. Wir hatten große Schwierigkeiten, den County davon zu überzeugen, da halten zu dürfen. Die haben uns eingemeindet, was immer das zu bedeuten hat, jedenfalls müssen wir jetzt Gebühren zahlen. Dasselbe war notwendig, um von der Post beliefert zu werden. Es ist nicht richtig, dass Olmsteader keine Gelegenheit haben sollen, die größeren Städte zu erreichen, erst recht nicht bei der jetzigen Wirtschaftslage.« Dann deutete er abrupt mit dem Daumen über die Schulter auf die anderen sechs Passagiere, die zusammen mit mir im Bus saßen. »Ohne die Fischerei wären wir erledigt«, fügte er hinzu, Obwohl die anderen Männer den Fahrer gehört haben mussten, blieben ihre Gesichter ausdruckslos. Bei ihnen handelte es sich um ungehobelte, schäbig gekleidete Fischer, wie mir beim ersten Anblick klar geworden war, da jeder von ihnen einen Arm voller neuer Angelruten sowie mehrere aufgerollte Netze bei sich hatte. Dennoch reichte die Ablenkung durch diese rauen, aber einfachen Männer nicht aus, um meine Aufmerksamkeit komplett abzulenken … Da ist noch etwas anderes. Eine geheimnisvolle Ahnung sagte mir, dass sich das Ganze nicht als bloßer Zufall abtun ließ. Eine Stadt – Olmstead –, die genauso hieß wie die Hauptfigur in Lovecrafts Schatten über Innsmouth … Die Straße wurde schmaler und unebener, während mir meine olfaktorischen Sinne sagten, dass wir dem Wasser näher kamen. Auf einmal überwältigte mich die Aufregung und verdrängte alle anderen Gedanken. Lovecraft war sein ganzes Leben lang viel gereist, aber meines Wissens wurde in keinem seiner Bücher eine Stadt namens Olmstead erwähnt. Hatte diese Stadt Lovecraft auf die Idee gebracht, seinen Hauptcharakter nach ihr zu benennen? Ich hoffte es. Und falls dem so war, wie würde die Stadt aussehen? Die Antwort sollte nicht lange auf sich warten lassen. II Ich war außerordentlich enttäuscht, als der Rauchwolken ausstoßende Bus an der Stelle hielt, die ich für das Stadtzentrum von Olmstead hielt. In meiner Fantasie hatte ich schon geglaubt, eine unfassbare Entdeckung gemacht zu haben. Ich hatte mir ausgemalt, das wahre Vorbild für die wohl beste Geschichte des Meisters gefunden zu haben und jeden Moment die vom Bösen überschatteten Gassen, zerfallenen Werften und in einem seltsamen Winkel stehende baufällige Gebäude mit schiefen Dächern von Innsmouth zu sehen, ebenso den »Wurmzerfall«, den der Schöpfer der Geschichte so treffend beschrieben hat. Stattdessen begrüßte mich nichts Derartiges. Die Architektur von Olmstead war geprägt von den funktionellen Blockhäusern, die mit den subventionierten Aufbauprojekten Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre eingeführt worden waren. Was für eine Enttäuschung! Daher ließ sich Olmstead nur als rundum durchschnittlich und nicht etwa als einzigartig bezeichnen. Der Bus schien eine volle Minute lang Rauch auszustoßen, bevor der Motor endlich zum Stillstand kam. Das halbe Dutzend schäbiger Fischer stand nahezu gleichzeitig von den Sitzen auf und stieg dann mitsamt Angelruten, Ausrüstung und Netzen aus. »Fünfzehn Minuten, falls Sie sich mal die Beine vertreten und Luft schnappen wollen«, informierte mich der Fahrer, ohne mich anzusehen. »Sie wollen doch nach Salem, oder?« »Ja, Sir. Vielen Dank«, entgegnete ich und verließ nach ihm den Bus. Er ging über die sterile Straße und auf ein Geschäft zu. Der Geruch nach Fisch und Ebbe kam aus der Richtung herübergeweht, in der die Küste liegen musste. Der widerliche Gestank, der Robert Olmstead in der Geschichte derart abgestoßen hatte, blieb allerdings aus. Das Stadtzentrum war nicht bemerkenswert. Ein Blockhaus stand neben dem nächsten. Einige schienen Wohnhäuser zu sein, da an den Fenstern Wäsche zum Trocknen aufgehängt worden war, während andere geschäftlich genutzt wurden, auch wenn kaum Hinweise auf hiesige Handelsaktivitäten zu erkennen waren. Bei dem Gedanken an die Übereifrigkeit, die ich empfunden hatte, musste ich grinsen. Die Namensgleichheit schien tatsächlich nur ein Zufall zu sein. Und dieser Ort hat Lovecraft ebenso wenig kreativ beeinflusst wie jeden anderen Reisenden, da man ihn nur als glanzlos, unscheinbar und langweilig beschreiben konnte, dachte ich. Als ich näher kommende Schritte hörte, die mich aus diesem jugendlichen Anflug von Enttäuschung rissen, erwartete ich, den frostigen Fahrer wiederzusehen, doch stattdessen sah ich in das lächelnde Gesicht eines lebhaften, gut gebauten Mannes meines Alters, vielleicht auch etwas jünger als ich, der einen klassischen Anzug mit Krawatte trug und dessen dunkelbraunes Haar ordentlich gekämmt war. Er hatte einen Aktenkoffer bei sich und trug einen dieser schicken beigen Strohhüte, die heutzutage bei den jüngeren Männern so in Mode waren. Sein Gesichtsausdruck wirkte seltsamerweise eher erleichtert, obwohl ich mir sicher war, dass wir uns noch nie zuvor begegnet waren. »Wie geht es Ihnen?«, begrüßte er mich. »Mir geht es gut und Ihnen hoffentlich auch.« »Entschuldigen Sie die Störung, aber ich freue mich so, Ihr Gesicht zu sehen, mehr als bei jedem anderen hier.« Seine Augen erblickten den sperrigen Bus. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie auf der Durchreise sind?« »Ja, das ist richtig. Ich bin auf dem Weg nach Salem. Mein Name ist Foster Morley …« »William Garret«, erwiderte er und schüttelte herzlich meine Hand. Dann flüsterte er: »In dieser Stadt wohnen seltsame Leute, finden Sie nicht auch?« »Das ist mir bisher noch nicht aufgefallen«, gestand ich. »Außer Ihnen habe ich bisher noch niemanden gesehen. Und Sie sind offensichtlich kein ›Olmsteader‹, um den Ausdruck des Fahrers zu gebrauchen.« »Nein, das bin ich nicht. Ich komme aus Boston und bin Buchhalter – äh, ich sollte sagen, ein arbeitsloser Buchhalter. Haben Sie zufällig einen blonden Mann hier vorbeigehen sehen?« »Leider nicht. Ich vertrete mir nur ein wenig die Beine, bevor der Bus weiterfährt. Warum fragen Sie?« Jetzt wirkte er auf einmal sehr viel angespannter. »Er ist mein Freund, müssen Sie wissen … Sein Name ist Poynter. Wir haben in derselben Firma gearbeitet und beide die Anstellung verloren, als diese Rezession, wie sie es nennen, unseren Geschäftszweig in Mitleidenschaft gezogen hat. Er ist vor einem Monat hierher gekommen und hat mir vor Kurzem geschrieben, dass er Arbeit gefunden hätte. Aber jetzt kann ich ihn nicht finden.« »Ist dem so? Hat er denn geschrieben, wer ihn eingestellt hat?« »Einer der Fischereibetriebe unten am Hafen, um die Bücher zu führen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und deutete auf den Ursprung des fischigen Meeresgeruchs. »Da unten gibt es einige, aber keine, die ich aufgesucht hatte, wusste etwas über meinen Freund, und niemand will einen Buchhalter einstellen.« »Vielleicht hat Ihr Freund Poynter seinen neuen Job schon wieder aufgegeben und die Stadt verlassen«, schlug ich vor. »Nein, nein, das würde er nicht tun. Er hat mich erwartet.« Meine nächste Frage schien mir die naheliegendste zu sein. »Wo wollte er sich nach Ihrer Ankunft denn mit Ihnen treffen?« Nun deutete Garret auf ein mehrstöckiges Blockhaus auf der anderen Straßenseite. »In dem Motel dort, dem Hilman House. Ich habe mir ein Zimmer genommen – kostet nur fünfzig Cent die Nacht, darüber kann ich mich nicht beschweren –, aber das Seltsame ist …« Er machte eine Pause, um die Spannung zu steigern. »Als ich mich angemeldet habe, hat man mir berichtet, dass Leonard Poynter, mein Freund, dort tatsächlich ein Zimmer gemietet hat und weiterhin Gast sei. Das Problem ist nur, dass ich ihn beim besten Willen nicht finden kann.« Mr. Garret war offensichtlich verwirrt, aber die ganze Situation war auch mir rätselhaft. Diese krankhafte Aufregung stieg erneut in mir auf, und jetzt wusste ich genau, dass ich auf etwas gestoßen war. Zuerst eine Stadt und eine Figur, die beide den Namen Olmstead trugen, und jetzt das? In Lovecrafts Schatten über Innsmouth steigt die Hauptfigur in einem Hotel namens Gilman House ab, und jetzt stand ich hier vor einem Motel, das Hilman House genannt wird. Das konnte nun wirklich kein Zufall mehr sein. Das war einfach nicht möglich. Etwas an dieser langweiligen Stadt schien Lovecraft immerhin so stark beeinflusst zu haben, dass er Namen daraus entlehnt hatte, und ich war auf einmal überzeugt davon, dass es hier noch weitere Einflüsse zu finden gab, die nur ihrer Entdeckung harrten. Garret trat näher an mich heran, und in seinen Augen zeichnete sich die Besorgnis ab. »Mr. Morley? Geht es Ihnen gut?« Seine Stimme riss mich aus meinen Überlegungen. »Oh, entschuldigen Sie bitte. Mir ging da gerade etwas durch den Kopf. Aber wissen Sie was? Ich werde ebenfalls einige Tage hierbleiben.« »Großartig!« Er flüsterte erneut, doch jetzt umspielte ein leises Lächeln seine Lippen. »Es ist gut zu wissen, dass ich dann nicht der einzige normale Mensch in dieser Stadt sein werde.« Ich lachte verwirrt auf, aber bevor ich noch etwas sagen konnte … »Hallo, meine Herren«, grüßte uns eine sanfte Stimme. Wir drehten und beide mit geweiteten Augen um und erblickten eine gewöhnlich gekleidete, aber außerordentlich attraktive Frau. Sie kam den Gehweg herunter, hatte die Arme voller Einkäufe und grinste uns beide überaus freundlich an. Garret tippte sich an den Hut. »Miss …« »Ein wunderschöner Tag, nicht wahr?«, warf ich ein. »Oh ja, das ist er«, erwiderte sie, und das war auch schon das Ende unserer Unterhaltung. »Ein echter Hingucker«, flüsterte Garret. »Das kann man wohl sagen«, erwiderte ich leicht beschämt, denn das überaus gute Aussehen dieser Frau hatte bewirkt, dass ich sie weitaus länger als für mich üblich angestarrt hatte. Ihr Busen ließ sich nur als ungezügelt beschreiben, da er nicht nur üppig war, sondern überdies nicht durch ein Korsett eingezwängt schien. Der Respekt, den ich für meinen christlichen Glauben hegte, rief mir die Worte ins Gedächtnis, die Jesus über die Lust gesagt hatte, aber nicht schnell genug, um rechtzeitig den Blick abzuwenden. »Wie sagt man in England so schön?«, meinte mein Freund kichernd. »Das ist eine wandelnde Milchbar.« Dann beugte er sich weiter zu mir herüber und fügte diskret hinzu: »Aber da ist noch etwas Seltsames, das diese kleine Stadt an sich hat.« »Und das wäre?« »Das ist mein Ernst, Mann. Ich habe in meinem Leben noch nie so viele schwangere Frauen an einem Ort gesehen.« »Schwan…«, setzte ich an, und als ich einen weiteren, wenngleich deutlich diskreteren Blick hinüberwarf, entging mir auch der deutlich gewölbte Bauch der Frau nicht mehr. »Das ist ja ein Ding. Sie scheinen recht zu haben.« »Wenigstens vierter oder fünfter Monat, und das ist auch nicht der erste Braten in ihrem Ofen.« Ich sah ihn entgeistert an. »Wie in aller Welt können Sie das mit Bestimmtheit sagen?« Er stieß mich grinsend mit dem Ellenbogen in die Seite. »Sie haben ihre Titten doch gesehen. Die sind immer noch prall gefüllt vom letzten Kind.« Das unkultivierte Gerede machte mich ganz nervös, da ich es ganz und gar nicht gewöhnt war. »Aber wie haben Sie das gemeint, als Sie sagten, Sie hätten noch nie so viele …« »Diese Stadt … Das ist mein voller Ernst. Ich würde wetten, dass ich wenigstens ein Dutzend schwangere Frauen gesehen habe, seitdem ich hier bin, und ich kann Ihnen verraten, dass die meisten davon echte Hingucker sind.« »Also wirklich … Aber das ist doch etwas Gutes, wenn Sie mir diese Meinung erlauben. Die Regierung ist weise, die Fortpflanzung seit der Spanischen Grippe 1918 zu fördern. Wir haben damals eine halbe Million Menschen verloren, sagt man, und fast alles waren junge Männer.« Garret nickte ernst. »Und direkt danach verloren wir – wie viele? – einige Hunderttausend weitere Männer in diesem teuflischen Krieg gegen die Hunnen. Ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Amerika braucht mehr Geburten, insbesondere wenn wir auf einen neuen Krieg gegen Deutschland zusteuern, was viele zu glauben scheinen.« Ich war mir meiner Gedanken hinsichtlich dieses Themas nicht sicher, aber ich neigte dazu, den Autoritäten zu vertrauen. »Doch der Präsident hat kürzlich erst seine Neutralität hinsichtlich des europäischen Krieges erklärt.« »Ich muss Ihnen gestehen, dass mich das nicht wirklich beruhigen kann. Sie erinnern sich, was passiert ist, direkt nachdem Deutschland und Russland den Nichtangriffspakt unterzeichnet hatten? Russland ist in Finnland einmarschiert. Und glauben Sie auch diesem Briten Neville Chamberlain kein Wort. Frieden in unserer Zeit? Hitler zieht der Welt einen Schleier vor die Augen. Und was machen die Japaner in der Zwischenzeit? Sie marschieren in der Mandschurei ein.« »Beten wir zu Gott, dass die Menschen eine diplomatische Lösung finden können.« Es lag in meiner Natur, mich nicht an politischen Diskussionen zu beteiligen, aber der Mann hatte einige Argumente genannt, die bewirkten, dass ich mir ziemlich naiv vorkam. »Aber um auf unser vorheriges, falls nicht zu derbes Thema zurückzukommen, das möglicherweise ein wenig zu weltlich, dass wir fruchtbar sein und uns vermehren sollen …« »Ja, so wie es im Buch der Bücher steht. Und ich sage Ihnen«, fuhr er fort, »ich war nicht gerade erfreut, dass der Kongress den Comstock Act außer Kraft gesetzt hat – wann war das? Letztes Jahr?« »Nein, nein, das war ’36, und da sind wir erneut einer Meinung, William. Verhütungsmittel sollten illegal bleiben, wenn sie nicht von einem Arzt zur Vermeidung einer Krankheit verschrieben worden sind. Ein offener Markt für derartige Dinge wäre ja so, als wolle man die Natur umgehen …« »Und Gottes Wille, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben würden.« »Aber natürlich«.« Doch dann sahen wir einander an und lachten. »Nicht gerade eine alltägliche Unterhaltung, was?« »Nein, mein Freund, das ist sie nicht, aber es ist dennoch anregend, auf jemanden zu treffen, der meine Grundsätze teilt«, erwiderte er. »Das sehe ich genauso. Ich vermute, dass Sie Ihre Suche nach Ihrem Freund Poynter nun wieder aufnehmen möchten. Ich werde mir im Hilman ein Zimmer nehmen und dann einen Spaziergang machen. Dabei halte ich natürlich die Augen nach Ihrem Freund offen. Wie wäre es, wenn wir heute Abend zusammen speisen? Falls ich Ihren Freund zufällig treffen sollte, werde ich ihn mitbringen. Sagen wir um neunzehn Uhr?« »Eine großartige Idee, Mr. Morley …« »Nennen Sie mich Foster, bitte. Und wo finden wir ein passendes Restaurant?« Erneut deutete er auf die andere Straßenseite, dieses Mal auf ein kleines Restaurant, das mir zuvor schon aufgefallen war, Wraxall’s Eatery. »Es ist nicht übel, und da gibt es große Portionen zu einem kleinen Preis.« »Gut. Dann bis heute Abend.« Garret ging davon, und seine Schritte wirkten irgendwie angeregter, nun, da er einen »normalen« Vertrauten hatte. Ich verspürte hingegen erneut den Drang, meiner Lovecraft-Obsession nachzugehen. Die Stadt sah zwar nicht nach dem Innsmouth des Meisters aus, aber möglicherweise ließen sich ja winzige Erinnerungsbruchstücke in irgendwelchen Details entdecken? Ich holte meinen kleinen Handkoffer aus dem Bus, und als ich auf die Straße zurückkehrte, stand der Fahrer mit finsterer Miene vor mir. Seinen Blick hätte man fast schon hasserfüllt nennen können. »Warum haben Sie Ihre Tasche geholt? Wir fahren jetzt weiter nach Salem. Sie wollen doch nicht etwa in Olmstead bleiben, oder?« »Doch, das möchte ich«, erklärte ich ihm. »Ich habe meine Meinung geändert und beschlossen, einige Tage hierzubleiben.« Anfänglich schien er protestieren zu wollen, als würde ihn diese Aussicht erzürnen. Schließlich war ich kein »Olmsteader«. In diesem Augenblick fiel mir auf, wie klein sein Mund erschien. Seine Lippen verzogen sich kaum merklich. »Wenn ich so darüber nachdenke, dann könnte Ihnen Olmstead tatsächlich gefallen.« Dabei breitete sich tatsächlich ein richtiges Lächeln aus. »Und Olmstead könnte Sie mögen.« Er stieg wieder in seinen Bus und fuhr mit einer Rauchfahne und lautem Geklapper davon. Olmstead könnte mich mögen?, sinnierte ich. Das war mir herzlich egal. Aber irgendetwas an diesem Ort hatte Lovecraft offensichtlich beeindruckt, sodass er einige Einzelheiten in seine erschütternde Geschichte über inzüchtige Fischersleute und einen Pseudokultschrecken eingearbeitet hatte. Wie in der Geschichte wirkte der mit einer Weste bekleidete ältere Rezeptionist im Hilman freundlich und durch und durch normal, und er vermietete mir nur zu gern ein Zimmer. Ohne groß nachzudenken, sprudelte aus mir heraus: »Ist Zimmer 428 zufälligerweise noch frei?«, da es sich dabei, wie scharfsinnige Leser wissen werden, um das Zimmer handelte, das Robert Olmstead in der Geschichte bewohnt hatte. »Sie sind schon einmal hier gewesen!« Der Mann, der mit einem unerkennbaren Akzent sprach, schien sich zu freuen. »Das kann nur bedeuten, dass es Ihnen hier gefallen hat. Seit dem Wiederaufbau sieht Olmstead recht schmuck aus, und hier gibt es einige Annehmlichkeiten.« Ich wollte seine Annahme nicht widerlegen, indem ich zugab, noch nie hier gewesen zu sein, sondern erkundigte mich stattdessen: »Seit dem Wiederaufbau?« »Ah, ja, Sir. 1930, ’31 ungefähr haben Regierungsfirmen all diese schönen, robusten Blockhäuser aufgestellt. Feuerfest, sturmfest, wie sie an vielen anderen Orten auch stehen. Als letzten September der große Sturm über uns niederging, waren danach keine Schäden an den Gebäuden festzustellen. Das Olmstead der Vergangenheit war ein trauriger Anblick. Nichts als eine verrottete Hafenstadt, die in sich selbst zusammenfiel. Gott möge Roosevelt und Garner segnen!« Das überraschte mich keineswegs. Kurz nach dem Zusammenbruch der Börsen ’28 hatte man die landesweite Wiederbeschäftigungskampagne ins Leben gerufen, bei der Tausende Arbeitsloser für einen Dollar pro Tag bei Bauprojekten beschäftigt wurden. Viele reparaturbedürftige Städte wurden auf diese Weise wieder aufgebaut. Angeregt durch diese neue Information glaubte ich, mir ziemlich gut vorstellen zu können, wie Olmstead vor diesem Wiederaufbau ausgesehen haben musste – das Stadtbild musste in etwa so ausgesehen haben, wie es Lovecraft seinen Lesern in Schatten über Innsmouth beschrieben hatte. Ich bin genau am richtigen Ort, dachte ich und war ob dieser Aussichten ganz aufgeregt. Gewiss mussten sich hinter dem neuen Antlitz von Olmstead noch einige Überreste des alten Stadtbilds verbergen, und ich war entschlossen, jeden noch so kleinen Riss aufzuspüren, der mich zu ihnen führen konnte. Zimmer 428 stellte sich als sehr angenehm heraus: Es war gut möbliert und mit einem neuen Bett ausgestattet, und es gab sogar ein eigenes Badezimmer mit weichen Handtüchern. Nichts ähnelte der schäbigen Absteige, mit der sich Lovecrafts Charakter hatte zufriedengeben müssen. Im Badezimmer lagen sogar brandneue Stücke einer Luxusseife, der besten, die es landesweit zu kaufen gab. Ebenso beeindruckt war ich von dem Radio, das mir hier zur Verfügung stand; es war ähnlich – wenn auch nicht ganz so – gut, wie das kostspieligere Modell, das ich in Providence stehen hatte. Durch die Fenster mit Metallrahmen hatte ich Blick auf den seewärtigen Hang und somit eine formidable Aussicht. Wenn mich überhaupt irgendetwas störte, dann war es die Tatsache, dass hier alles neu war. Das ganze Gebäude fühlte sich irgendwie unbenutzt an, als wäre es nur eine Fassade und erweckte den Anschein von Wohlstand, der eigentlich gar nicht existierte. Was für ein absurder Gedanke! Als ich das Zimmer verließ, erhaschte ich einen Blick auf ein Zimmermädchen, das gerade ein anderes Zimmer verließ, allerdings schob es nicht den erwarteten einen Wagen voller Besen und Laken vor sich her, sondern schleppte einen Koffer. Die Frau konnte kein Gast sein, da ihre Kleidung keine Trugschlüsse hinsichtlich ihrer Aufgaben hier zuließ. Das ganze Szenario kam mir seltsam vor, doch was mich am meisten besorgte, war ihr offensichtlichstes Merkmal. Sie war schwanger. »Miss!«, rief ich und eilte zu ihr. »Sie dürfen in Ihrem Zustand doch nicht so schwer tragen! Lassen Sie mich das nehmen.« Als ich sie direkt ansprach, wurde ich mit einem Lächeln in ihrem anmutigen, jugendlichen Gesicht, das von üppigen Locken umrahmt war, belohnt. Ein weniger feinfühliger Mensch hätte sie als einen von Garrets »Hinguckern« bezeichnet. Ihre wohlgeformten Beine bogen sich, als sie den Koffer hochhob, während die Schwangerschaft bei ihr – ebenso wie bei der Frau auf der Straße – den Busen auf Dimensionen gesteigert hatte, die selbst der standhafteste Gentleman nur ungeniert anstarren konnte. »Oh, das ist sehr nett von Ihnen, Sir, aber der ist überhaupt nicht schwer«, erwiderte sie freundlich. »Ich bestehe darauf. Sie erwarten ein Kind und sollten wirklich nicht …« »Also wirklich, Sir.« Sie kicherte amüsiert. »Der Koffer ist federleicht. Und mein Arzt hat gesagt, dass leichte Übungen gut für das Baby wären.« Dagegen konnte ich nichts mehr sagen. Auch wenn sie schwanger war, wirkte sie ausgesprochen gesund und agil auf mich. Sie konnte nicht viel älter als zwanzig sein, und ich schätzte, dass die Geburt nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Seltsamerweise fühlte ich mich in ihrer Gegenwart irgendwie jünger, was vermutlich ebenso ihrem Lächeln, ihrem Geschlecht und ihrer Jugend zu verdanken war. Mir wurde klar, was sie symbolisierte: Vitalität, einen strahlenden jungen Menschen, der weiteres Leben hervorbringen würde … All das rief mir die fehlende Produktivität meiner eigenen, selbstzufriedenen Existenz ins Bewusstsein. Auf einmal rasten die Gedanken in meinem Kopf, bemüht darum, das Gespräch aufrechtzuerhalten, und sei es auch nur, um sich einige Augenblicke länger in ihrer Nähe aufhalten zu können. »Ein Bekannter, Mr. Garret, sucht seinen Freund, einen Leonard Poynter. Allem Anschein nach hat er sich hier ebenfalls ein Zimmer genommen. Sind Sie ihm zufälligerweise begegnet?« Trotz ihrer Jugend und Schönheit wirkten die Augen des Zimmermädchens auf einmal sehr müde. »Nein, tut mir leid, Sir«, erwiderte sie, wobei sie jetzt deutlich schneller sprach. Ihre vollen Lippen glänzten. »Es steht mir auch nicht zu, die Namen der Gäste zu erfahren.« »Oh, verstehe«, erwiderte ich und überlegte, was ich noch sagen konnte. »Wie ist Ihre Meinung über die Küche des Restaurants auf der anderen Straßenseite, Miss? Ich habe vor, mich dort später mit Mr. Garret zu treffen.« »Oh, das Wraxall’s ist ziemlich gut, und das Karwell’s macht um zwanzig Uhr auf, da kann man seit der Aufhebung der Prohibition wieder etwas trinken. Die Leute da sind nett. Unsere kleine Stadt sieht nicht sehr groß aus, aber viele gute Leute, Arbeiter und Vertreter, kommen auf dem Weg in größere Städte hier vorbei.« »Freut mich, das zu hören, und die Stadt ist wirklich sehr schön …« »Ich muss jetzt aber wirklich gehen, Sir«, warf sie ein. »Es war angenehm, mit Ihnen zu plaudern.« »Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite …« Ich beobachtete ihren Abgang mit einem niedergeschlagenen Lächeln und konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich ein wenig unwohl fühlte. Sie ging die Treppe hinunter und verschwand, und ich zwang mich dazu, noch einen Moment zu warten, bevor ich ebenfalls losging. Schließlich sollte sie mich ja nicht für lästig oder gar unhöflich halten. Nach einer Minute indes betrat ich selbst das Treppenhaus. Die Schritte des abwärtseilenden Zimmermädchens waren noch zu hören, und als ich über das Geländer blickte, sah ich, dass sie gerade auf dem Absatz angekommen war und den Koffer durch die Tür trug. Leise hallte der Klang der zuschlagenden Tür zu mir nach oben. Augenblicklich begann etwas an mir zu nagen, als ich die Treppe hinunterging, und ich wusste, was es war, als ich auf dem Absatz angekommen war, an dem ich sie aus den Augen verloren hatte. Sie war nicht etwa in die Lobby, sondern durch die Tür in den ersten Stock gegangen. Warum sollte sie den Koffer eines Gastes in den ersten Stock tragen? Ich drehte am Knauf und fand die Tür verschlossen. Ein Gast hatte einfach das Zimmer gewechselt, argumentierte ich, nichts weiter. Mehrere Angestellte und vermutlich ein Wartungstechniker waren in der Lobby zugange, alle ziemlich sympathisch, und jetzt draußen auf der Straße, erspähte ich mehrere Ladenbesitzer hinter ihren Schaufenstern, einen Mann, der die Kopfsteinpflasterstraße fegte, sowie einen Postboten. Alle lächelten und nickten mir zu. Während ich die Straße entlangging, sah ich noch weitere Einheimische, von denen keiner es unterließ, mich freundlich zu grüßen oder mir wenigstens nett zuzunicken. Dabei fiel mir Garrets Bemerkung wieder ein: Einige seltsame Leute in dieser Stadt, was? Was konnte er nur damit gemeint haben? Abgesehen von dem ungehobelten Busfahrer und vielleicht den verschlagen wirkenden Fischern im Bus hatte ich noch an keiner Person, die mir begegnet war, etwas Seltsames bemerkt. Er hatte erwähnt, dass er sich bei den Fischereibetrieben am Hafen nach Arbeit umgehört hatte, möglicherweise war er dort seltsam behandelt worden. Hafenarbeiter waren bekannt dafür, im Allgemeinen eher mürrisch und eigenbrötlerisch zu sein. Ich hatte eine Ausgabe von Schatten über Innsmouth dabei, und nachdem ich ein wenig herumgewandert war, wollte ich unter einem Schatten spendenden Baum oder in einem Park, so ich denn einen finden konnte, ein wenig darin lesen. Es handelte sich um ein Exemplar der einzigen Hardcoverausgabe von Lovecrafts Werken, die zu seinen Lebzeiten gebunden und veröffentlicht worden war, die Visionary-Publications-Edition. Sie kostete einen Dollar plus Porto. Ich war mir inzwischen fast sicher, dass Lovecraft in der Tat in Olmstead gewesen war und dass ihn dieser Ort ziemlich beeinflusst hatte. Dieses Wissen würde das erneute Lesen der Geschichte noch faszinierender gestalten. Jetzt suche ich mir einen ruhigen Ort zum Lesen, dachte ich. Auf der anderen Straßenseite ging eine recht jung wirkende Frau an einem Fahnenmast vorbei und lächelte mich ebenfalls recht freundlich an. Sie war ebenso hübsch wie das Zimmermädchen, und sie teilten eine weitere Gemeinsamkeit: Sie war ebenfalls schwanger. Ungeachtet dessen, was Garret glaubte, fand ich es nicht ungewöhnlich, an einem Tag drei schwangeren Frauen zu begegnen. Es schien einfach Zufall. Doch Zufälle waren auch der Grund dafür, dass ich mich jetzt an diesem Ort aufhielt, und als mir das in den Sinn kam, war mein Eifer erneut geweckt. Jetzt konnte ich mein Bestreben angehen, einige entscheidendere Übereinstimmungen zwischen der sehr realen Stadt Olmstead und Lovecrafts fiktivem Innsmouth aufzuspüren. Ich ging hinüber zur Tankstelle der Ethyl Gas Company, deren Schild Benzin für 9 Cent pro Gallone anpries, was einen Penny unter dem Preis in der Stadt lag. Dort kaufte ich ein Paket des von mir bevorzugten Beechies-Kaugummi mit Pepsin von dem sehr freundlichen Tanzstellenbesitzer, der mit mitteilte, dass es keine Karten der Gegend, sondern nur solche des ganzen Landes oder Countys zu kaufen gäbe. Er informierte mich jedoch auch, dass es am Wasser Bänke gäbe, auf denen ich bequem lesen könne. Einen Block weiter pries ein Filmtheater Gene Autrys neuesten Film Drei Lümmel in Texas an. Inzwischen lachte ich über meine Fantasie. Lovecraft wäre angesichts derartiger moderner Etablissements in der Stadt, die einst das Vorbild für das zusammenfallende Innsmouth gewesen war, entsetzt gewesen. Bevor ich die Straße überqueren konnte, erschreckte mich ein plötzlich aufheulender Motor, und als ich mich umdrehte, rumpelte ein großer Lastwagen an mir vorbei, an dessen Türen IPSWICH FISH CO. stand. Er fuhr offensichtlich gen Norden in Richtung seiner Heimatstadt. Der Wagen war hoch mit gekühlten Fischen beladen, was ich erkennen konnte, als er vorbeifuhr. Die Anomalie sprang mir sofort ins Auge: Warum sollte ein großer Fischereibetrieb aus Ipswich Fische in Olmstead kaufen? Es sollte andersherum sein, oder nicht? Olmstead kam mir nicht groß oder wichtig genug vor, um mit den bedeutenden Fischereibetrieben mithalten zu können, und außerdem hatte ich in der Zeitung gelesen, dass die Fischerei in diesem Teil von Massachusetts aufgrund der vom Großen Sturm verursachten Turbulenzen sowie der Versalzung der Flüsse durch die sommerliche Dürreperiode drastisch in Mitleidenschaft gezogen worden war. Als mir von hinten ein Finger auf die Schulter tippte, zuckte ich zusammen und drehte mich ruckartig um. In eine Arbeitsschürze und ein Baumwollkleid gehüllt stand eine junge, nicht gerade groß gewachsene Frau mit hellen Augen lächelnd vor mir, die kaum älter als dreißig sein konnte. Sie strahlte ob ihrer Schönheit noch stärker als das Zimmermädchen, und nicht einmal die klobigen Arbeitsstiefel und das unvorteilhafte Haarnetz konnten sie verunstalten. Ihre Haare unter dem Netz schienen karamellblond zu sein. »Kommen Sie doch auf ein Eis herein, Sir. Es kostet nur fünf Cent, und wir stellen es ganz frisch her. Sehen Sie, wir haben sogar eine eigene Maschine dafür.« Sie schien diese Worte mit einem überschwänglichen Stolz auszusprechen, und ich war schier sprachlos, als sie einfach meine Hand ergriff und mich in das Geschäft führte, das ich nun als Baxters Gemischtwarenladen und Postbüro identifizierte, wie auf dem Fensterglas geschrieben stand. Die Glocke läutete, als wir durch die Tür gingen. »Mein Name ist Mary Simpson, Sir«, teilte sie mir strahlend mit, bevor sie hinter den Tresen eilte. »Ich vermute, dass Sie nur auf der Durchreise sind, aber Sie müssen unser Eis probieren.« Meine Belustigung wurde durch ihr gutes Aussehen nur weiter intensiviert. »Schokolade, bitte. Ich bin Foster Morley, Miss Simpson, und Sie haben recht, dass ich nur auf der Durchreise bin. Ich mache gewissermaßen eine Rundreise, um neue Orte zu entdecken und dergleichen. Außerdem bin ich ein eifriger Leser. Doch ich habe vor, wenigstens einige Tage zu bleiben, und mir daher ein Zimmer im Hilman gemietet.« »Oh, gut. Das ist jetzt ein schönes Motel, schön wie alles andere seit dem Wiederaufbau.« »Hm, ja, das hat mir der Rezeptionist auch erzählt …« Auf einmal erstarrte ich entgeistert: Nun, da ich der Frau direkt gegenüberstand, konnte ich erkennen, dass die gut aussehende und übersprudelnde Miss Simpson nicht nur sehr attraktiv und sehr großbusig, sondern auch sehr schwanger war. Das war anhand der deutlichen Wölbung ihrer Schürze nicht zu übersehen. »Ich finde Olmstead höchst interessant«, fuhr ich fort. »Der Ort ist ein leuchtendes Beispiel für Präsident Roosevelts Wiederaufbauprogramm.« »Oh ja, Sir. Olmstead war vorher kaum lebenswert. Aber jetzt haben wir überall neue Gebäude, eine neue Bücherei, einen neuen Lagerhausbezirk und eine Feuerwehr. Es gibt sogar eine Eisfabrik am Ufer, wie in den großen Häfen.« »Zufälligerweise habe ich gerade eben erst einen Lastwagen voller eingefrorener Fische gesehen, der nach Ipswich unterwegs war. Dann darf ich davon ausgehen, dass die Fischerei hier noch gut läuft?« Sie reichte mir eine Schüssel und einen Löffel. »Es lief nie besser, Sir …« »Bitte nennen Sie mich Foster, Mary, und bitte erlauben Sie mir, Ihnen ebenfalls ein Eis auszugeben.« Meine Großzügigkeit schien sie zu erfreuen. »Vielen Dank, Sir … äh, Foster.« Dann bereitete sie sich selbst ebenfalls eine Schüssel zu. »Aber die Fischerei ist tatsächlich der Rückhalt der Stadt. Wir verkaufen unseren Fisch an viele Städte, sogar bis nach Boston, während wir in der Vergangenheit immer Fisch kaufen mussten, wenn wir welchen essen wollten. Die Fischerei läuft hier besser als überall sonst. In Olmstead merkt man kaum etwas von der Rezession.« Da sie es ausgesprochen hatte, viel es mir auf einmal auch wie Schuppen von den Augen: Ich hatte seit meiner Ankunft nur saubere Straßen, schmucke Gebäude und lächelnde Menschen gesehen, keine entmutigten Leute, die sich für Brot anstellten, keinen herumliegenden Abfall und auch keine einstürzenden Häuser. Überdies erkannte ich eine weitere Parallele zu Lovecraft: Innsmouth war wie Olmstead eine Fischereistadt, der es ungewöhnlich gut ging. »Sehen Sie«, erzählte sie voller professionellem Stolz weiter, während sie mit dem Löffel auf die schimmernden weißen Maschinen deutete, »hier gibt es auch Westinghouse-Fleischzüchter mit einem eigenen Lieferwagen, der nagelneu ist. Und …« Ich wartete darauf, dass sie weitersprach, aber stattdessen schwieg sie und ihre Augen weiteten sich. »Was ist, Mary?« »So ein Zufall!«, verriet sie. »Ich meine Ihr Buch!« Ich hatte meine Ausgabe von Schatten über Innsmouth auf die Theke gelegt, als ich die Eisschüssel in die Hand genommen hatte. Es erstaunte mich, dass sie es erkannte. »Sagen Sie jetzt nicht, dass Sie den großen H. P. Lovecraft ebenfalls lesen?« »Nein, Foster, aber das liegt daran, dass ich nie richtig lesen gelernt habe. Ich erkenne den Namen, weil sich Mr. Lovecraft kurze Zeit hier in Olmstead aufgehalten hat, als ich etwa achtzehn Jahre alt war.« Ich hätte beinahe die Schüssel fallen lassen. »Mary. Sie sind doch nicht zufällig … Mr. Lovecraft begegnet, oder?« »Oh nein, dieses Privileg hatte ich leider nicht, aber ich kann Ihnen etwas Interessantes erzählen. Damals war das Baxter’s eine Zweigstelle der First National Bank, und mein Bruder Paul, der zu der Zeit siebzehn gewesen ist, hat Mr. Lovecraft in eben diesem Geschäft, in dem Sie gerade stehen, bedient. Mr. Lovecraft wollte sich in der Stadt ein wenig umsehen, daher hat Paul ihm eine Karte gezeichnet.« Vor Erschütterung drohten meine Knie nachzugeben. Der Bruder dieser attraktiven Frau war dem Meister begegnet! Was für eine faszinierende Unterhaltung sich da abgespielt haben musste. Und jetzt noch das: Sie erwähnte eine Karte, die ihr Bruder gezeichnet hatte! Diese hatte zweifellos Einfluss auf eine der frühen Szenen in der Geschichte gehabt, als Robert Olmstead von einem liebenswürdigen »Ladenangestellten« genau das erhielt: eine Karte von Innsmouth. Wie die meisten Autoren hatte Lovecraft eine alltägliche Begebenheit, die sich tatsächlich abgespielt hatte, benutzt, um die Fiktion auszuschmücken. »Foster, Sie sehen ja …« »Sprachlos aus?« Ich lachte. »Dem ist auch so, Mary. Es mag Ihnen eigenartig erscheinen, aber die Werke von Lovecraft sind mein größtes Hobby. Ich verfolge es mit großer Leidenschaft und interessiere mich auch für jede Information über sein Leben. Von daher ist dies ein großes Glück für mich. Sie könnten mir tatsächlich helfen, meine Neugier weiter zu befriedigen. Bitte erlauben Sie mir, Sie und Ihren Bruder in den nächsten Tagen zum Abendessen einzuladen. Dann könnte ich nicht nur Ihre wunderbare Gesellschaft genießen, sondern auch Paul – so heißt er doch, nicht wahr? – einige Fragen über Lovecrafts Besuch stellen …« Doch dann überkam es mich siedend heiß, als mir mein Fauxpas bewusst wurde. »Entschuldigen Sie, Mary, natürlich meine ich Sie, Ihren Bruder und Ihren Ehemann.« Bei diesem Kommentar schreckte Mary nicht zurück, sondern erwiderte nur: »Oh, das tut mir leid, aber mein Ehemann hat sich als kein sehr guter herausgestellt. Er hat mich für eine andere Frau verlassen und ist mit ihr nach Maryland gegangen.« »Das bedauere ich sehr, Mary. Sie haben etwas Besseres verdient als so einen verantwortungslosen Rüpel.« Es machte mich wütend, dass es ein Mann wagte, seine schwangere Frau zu verlassen. »Ach, es ist schon in Ordnung. Das ist eine der Lektionen, die man im Leben lernen muss«, erwiderte sie überraschend fröhlich. »Mein Stiefvater sagt immer, aus den härtesten Lektionen lernt man am meisten.« »Wie wahr.« »Und ich habe ein gutes Leben. Meine Arbeit macht mir Spaß, und ich lebe in einer schönen Stadt. Ich fühle mich gesegnet.« »Eine selbstlose und lobenswerte Haltung. Es gibt heutzutage zu viele Menschen, die so vieles als gegeben hinnehmen«, erwiderte ich. »Und mein Bruder Paul …« Sie richtete den Blick kurz zu Boden. »Ihm geht es leider nicht so gut, fürchte ich, und er kann das Haus nicht verlassen.« Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, daher ging ich nicht näher darauf ein, sondern meinte nur: »Oh, das ist aber schade. Hoffentlich erholt er sich bald wieder.« »Aber ich unterhalte mich gern jederzeit mit Ihnen über Mr. Lovecraft. Sie müssen wissen, dass Paul den Mann sehr faszinierend fand und er mir alles erzählt hat, worüber die beiden während Mr. Lovecrafts Aufenthalt gesprochen haben.« »Dann müssen wir das unbedingt tun.« Sie reagierte mit einem angedeuteten schüchternen Lächeln. »Wenn Ihre Frau nichts dagegen hat, dass Sie mit einer anderen Frau essen gehen.« »Ich habe nie geheiratet«, platzte ich heraus, und mit einem Mal wurde mir die leicht prekäre Situation bewusst. Sie trug schließlich das Kind eines Trottels unter dem Herzen. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«, entgegnete sie, nachdem sie noch einen Löffel voll Eis gegessen hatte. »Ein gut aussehender Gentleman wie Sie mit so guten Manieren hat nie geheiratet?« Ich hoffte, dass ich bei ihren Worten nicht errötet war. »Ich befürchte, es gibt keine Frau, die mich ertragen könnte«, sagte ich mit einem Lachen. »Ich bin viel zu zügellos.« »Oh, das glaube ich nicht!« »Aber es stimmt. Ich komme morgen Vormittag vorbei, dann können Sie mir sagen, wann es Ihnen passt.« »Das klingt großartig, Foster. Ich freue mich schon darauf.« Inzwischen fühlte ich mich ein wenig schuldig, dass ich mich zu einer Frau hingezogen fühlte, die schwanger war, aber mein Interesse war natürlich rein platonischer Art. Außerdem stellte dies eine großartige Gelegenheit da. Alles, was mir Mary über die Unterhaltungen zwischen Paul und dem Meister berichten konnte, interessierte mich sehr. Ich wollte die Unterhaltung schon fortsetzen, als die Glocke über der Tür ertönte und jemand hereinkam. »Oh, hallo, Dr. Anstruther«, begrüßte Mary den Neuankömmling. »Hallo, meine Liebe …« »Dr. Anstruther, darf ich Ihnen Foster Morley vorstellen? Er macht hier Urlaub.« Ich drehte mich zu einem distinguierten gut gekleideten Mann mit eisengrauem Haar und ebensolchem Bart um. »Wie geht es Ihnen, Sir?« Mit diesen Worten schüttelte ich eine weiche, aber kräftige Hand. Er grinste breit. »Mir geht es hervorragend, Mr. Foster. Wie gefällt Ihnen unsere kleine Stadt?« »Ich finde sie ganz faszinierend, Sir, sie ist sehr sauber und angenehm.« Ich warf einen kurzen Blick zu Mary hinüber. »Und die Einwohner sind ebenfalls sehr nett.« »Oh ja. Falls Sie es noch nicht wussten, Sie kosten soeben die Erzeugnisse der allerersten Eismaschine von Olmstead. Es gab ein ziemliches Aufsehen, als sie aufgebaut wurde.« »Gott segne derartigen Luxus!«, versuchte ich zu scherzen. »Uns geht es gut, während andere Städte den Bach runtergehen – das ist in dieser wirtschaftlich schwierigen Lage schon eine Leistung. Wir haben in letzter Zeit großes Glück gehabt.« Er drehte sich zu Mary um und reichte ihr ein Blatt Papier. »Mary, könntest du bitte nach dieser Nummer sehen? Ich erwarte eine dringende Lieferung. Mrs. Crommers Wehen könnten jetzt jeden Tag einsetzen.« »Das hatte ich ganz vergessen«, erwiderte Mary und suchte in einem Regal voller Schachteln, aus dem sie dann eine hervorholte. »Ist das ihr Zehntes?« »Nein, ihr Elftes«, antwortete der Arzt. Er sah mich an. »Die Zukunft sichern, wie es der Präsident nennt.« »Äh, ja. Das ist richtig«, stammelte ich beinahe schon. Was sollte ich von dieser Information halten? Eine Frau, die ihr elftes Kind erwartete? Und so weit hatte ich einige werdende Mütter gesehen. Olmstead ist auf jeden Fall eine fruchtbare Stadt. Mary stellte die Schachtel auf den Tresen und öffnete sie, sodass Dr. Anstruther den Inhalt herausholen konnte: vier sicher verpackte Fläschchen aus braunem Glas. Auf jedem stand deutlich zu lesen: CHLOROFORM. »Es gibt kein besseres Anästhetikum für schwierige Geburten«, meinte Anstruther. »Die Medizin scheint in Amerika größere Fortschritte zu machen als jemals zuvor«, meinte ich. »Ich habe gelesen, dass es bald schon ein Heilmittel gegen Schizophrenie geben soll, das auf Elektrizität basiert.« »Nicht zu vergessen die Knochenmarktransplantation bei Patienten mit Blutproblemen und die bevorstehenden Durchbrüche im Kampf gegen die Kinderlähmung. Amerika ist der Welt weit voraus. Doch angesichts des globalen politischen Klimas befürchte ich, dass wir unseren Wissenszuwachs und unsere Industrie demnächst eher auf den Krieg denn auf den Frieden konzentrieren werden.« »Beten wir, dass es nicht so kommt«, erwiderte ich. »Dieser Hitler schien sein Versprechen, nach der Annexion von Österreich aufhören zu wollen, ziemlich erst zu nehmen. Und er hat einen Pakt mit den Sowjets geschlossen.« »Die Zeit wird es zeigen, Mr. Foster. Und nun muss ich gehen.« Er schüttelte mir erneut die Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« »Guten Tag, Doktor …« »Ein so guter Kleinstadtarzt, wie man ihn sich nur wünschen kann«, lobte ihn Mary, nachdem er gegangen war. »Anscheinend hat er neuerdings jedoch nichts weiter zu tun, als Kindern auf die Welt zu helfen. Er hatte auch alle meine Babys geholt.« Ich hoffte, die Nachfrage wäre nicht zu unhöflich, aber ich konnte dem Drang einfach nicht widerstehen. »Mit wie vielen Kindern hat Gott Sie gesegnet, Mary?« »Mit neun …« Sie tätschelte abwesend ihren Bauch, »… dieses hier mitgerechnet.« Neun Kinder und keinen Ehemann, um die Verantwortung zu teilen, dachte ich mitleidig. Sie war wahrlich eine starke Frau. »Es muss sehr schwer für Sie sein, das so ganz alleine zu bewältigen.« »Oh, mein Stiefvater hilft mir sehr. Es ist nur so, dass er jetzt langsam zu alt wird. Und Paul … nun ja …« Auf einmal war ein Poltern im Hinterzimmer zu hören, begleitet von etwas, das ich als gedämpftes Stöhnen eines Menschen interpretierte. »Was hat er jetzt wieder gemacht?«, meinte Mary und seufzte. »Ich bin gleich wieder da.« Sie hastete durch die Tür hinter dem Tresen. Ich konnte nicht anders, als das Gespräch mit anzuhören: »Kannst du nicht warten?«, beschwerte sich Marys Stimme gedämpft. »Nein, nicht mehr lange zumindest.« Eine männliche Stimme, die bedrückt klang. »Aber da draußen ist ein netter Mann, und er hat mich zum Essen eingeladen! Jetzt …« Eine Pause, dann hörte es sich an, als würde sie aufstöhnen, »… setz dich wieder auf deinen Stuhl! Du musst noch ein bisschen warten! Es wird nicht mehr lange dauern …« »Ich versuch’s …« Mary kehrte mit einem verlegenen Lächeln im Gesicht zurück, beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Das war Paul, der versucht hat, meine Aufmerksamkeit zu erregen.« Sie schien, den Zorn, den sie verspürte, zu unterdrücken. »Der Grund dafür, dass Sie ihn nicht sehen können, sind seine Verletzungen. Er ist deswegen sehr gehemmt, seit er vor einigen Jahren diesen schweren Unfall hatte.« Es war egoistisch, aber innerlich zuckte ich zusammen, als ich erkannte, dass sich das lebende Vorbild für Lovecrafts »Ladenmitarbeiter« gleich auf der anderen Seite dieser Tür aufhielt und für mich doch unerreichbar war. Und was hatte er für Verletzungen? Mir fiel jedoch kein Weg ein, mich auf höfliche Art und Weise danach zu erkundigen. »Er darf sich hinten aufhalten, während ich arbeite, damit er sich nicht so einsam fühlt. Manchmal schläft er sogar hier, wenn ihn niemand nach Hause fahren kann.« »Oh, verstehe. Es ist, ähm, schön, dass Ihnen das möglich ist«, war alles, was ich dazu herausbrachte, aber was konnte sie mit Setz dich wieder auf deinen Stuhl sonst gemeint haben? Und diese Bemerkung, dass ihn jemand nach Hause fahren müsse? Es konnte nur bedeuten, dass er im Rollstuhl saß. Die Situation hatte ihre vorherige Leichtigkeit verloren, aber mein Egoismus zwang mich dazu, noch einmal auf das Thema zurückzukommen. »Bevor ich gehe, würde ich Sie gern noch etwas fragen.« Sie beugte sich vor, stützte beide Ellenbogen auf den Tresen, legte das Kinn auf die Fäuste und lächelte mich fast schon verträumt an, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass meine Anwesenheit der Grund dafür sein sollte. »Sie können mich fragen, was Sie wollen, Foster. Sie sind ein sehr interessanter Mann.« Hatte ich gerade hörbar geschluckt? Hoffentlich nicht. »Ich habe beschlossen, mir draußen einen ruhigen Ort zum Lesen zu suchen«, bei diesen Worten hielt ich mein Buch in die Luft. »Es muss faszinierend sein, die Geschichte zu lesen, deren Schauplatz Lovecraft unter dem Einfluss der direkten Eindrücke dieser Stadt geschaffen hat. Das ist meine Lieblingsgeschichte, und ich werde sie in einem völlig neuen Licht sehen, wenn ich sie hier erneut lese.« »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, erwiderte sie. »Aber das Olmstead, das Sie heute sehen, hat nichts mehr mit dem zu tun, das Mr. Lovecraft vor so vielen Jahren vor Augen hatte.« »Genau das denke ich auch!«, rief ich aus. »Hätten Sie zufällig eine Fotografie von Olmstead vor dem Wiederaufbau? Ich würde sie gern mit Lovecrafts Beschreibungen in dem Buch vergleichen.« »Wir hatten nie eine Kamera, aber …« Sie hielt einen Finger hoch. »Es gibt da einen Mann, mit dem Sie reden könnten. Nun, vielleicht ist das aber doch keine so gute Idee.« Wollte sie mich jetzt zappeln lassen? Ich jaulte beinahe schon: »Mary, bitte, ich flehe Sie an …« »Einer der Einwohner war früher Fotograf, er wurde sogar in New York ausgebildet und hat für Zeitungen Fotos gemacht. Soweit ich weiß, hat er sogar Mr. Lovecraft neben der New Church Green zusammen mit Paul fotografiert. Man kann im Hintergrund das Meer sehen, den Hafen und den Leuchtturm, die alte Larsh-Raffinerie und den Ankerplatz, der damals noch Innswich Point genannt wurde.« Bei diesen neuen Parallelen wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen! Innswich: offensichtlich eine Variation von Innsmouth. Der ungenutzte Leuchtturm, der über dem berüchtigten Teufelsriff thronte, von wo aus auch die froschartigen Tiefen Wesen entsprungen waren. Und die Larsh-Raffinerie: In Lovecrafts großartiger Geschichte gab es die Marsh-Raffinerie, wo die Geschenke aus goldenen Schmuckstücken von den menschlichen Anbetern der Tiefen Wesen eingeschmolzen und auf dem Markt verkauft wurden. Ich MUSS dieses Bild sehen!, beschloss ich. »Bitte, Mary. Wie kann ich diesen Fotografen finden? Das ist wirklich sehr wichtig für mich …« Sie drückte ihr Kinn gegen die Handflächen. »Wie kann ich Ihnen etwas abschlagen? Ich denke nur, dass es keine gute Idee ist. Sein Name lautet Cyrus Zalen. Er muss etwa vierzig sein, sieht aber wie sechzig aus, und Sie können ihn gar nicht verfehlen. Er trägt immer denselben verschmierten schwarzen Regenmantel. Er riecht furchtbar und … nun ja, er ist nicht nett. Er lebt im Armenhaus hinter der neuen Feuerwehr.« Cyrus Zalen. Vermutlich ein Sozialfall oder, um Lovecrafts Ausdruck zu benutzen, ein »Faulenzer«. In Providence nannte man sie »Penner« oder »Trinker«. »Ein unglückliches Schicksal für einen Zeitungsfotografen«, merkte ich an. »Er war ein guter Fotograf … bevor er mit dem Heroin in Kontakt kam. In New York traf er sich mit Ex-Soldaten, die bei ihrem Aufenthalt in Frankreich süchtig geworden waren, in einer Stadt namens … Marcy? Ich erinnere mich nicht mehr.« »Marseilles«, korrigierte ich sie. Ich hatte von diesen Orten gelesen, die sie Heroinlabore nannten und an denen das Harz aus den Schlafmohnblumen in diese verheerende neue Droge verwandelt wurde. »Dennoch muss ich Mr. Zalen finden.« Das schien ihr Sorgen zu bereiten. »Bitte, tun Sie das nicht, Foster. Er ist kein netter Mann. Er wird versuchen, Ihnen Geld abzuluchsen, vielleicht bestiehlt er Sie sogar. Er ist bekannt dafür, … unmoralische Dinge zu tun, aber es wäre sehr undamenhaft von mir, das näher auszuführen. Und es ist schon so viele Jahre her, zehn wenigstens. Er wird das Foto bestimmt gar nicht mehr haben. Bitte, Foster, gehen Sie nicht dorthin.« Sie beugte sich noch etwas weiter vor. »Er lebt an einem schmutzigen Ort, an dem es vermutlich von Krankheiten wimmelt. Eine Frau ist dort vor Jahren an Typhus gestorben.« Ich nahm ihre Warnung durchaus ernst und fühlte mich ein wenig geschmeichelt, dass sie sich derart um mein Wohlergehen sorgte. Aber wenn Mr. Zalen Geld für seine alten Bilder haben wollte, dann sollte er es bekommen. Meine Geldbörse war gut gefüllt. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, Mary. Ich bin zäher, als ich aussehe. Ich habe die Ausbrüche 1919 und 1923 überlebt und bin in meinem ganzen Leben noch nicht einen Tag krank gewesen. Ich werde mich sehr vorsehen, wenn ich mit Mr. Zalen spreche, und ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihre Ratschläge danken.« Sie packte meinen Unterarm mit großer Entschlossenheit. »Versprechen Sie mir etwas, Foster. Ich glaube, Paul hat noch einen Abzug des Bildes irgendwo. Falls dem so ist, dann werde ich es für Sie besorgen, wenn Sie mir versprechen, nicht zu Cyrus Zalen zu gehen.« Ich war berührt und fast schon amüsiert über den Eifer, mit dem sie darauf bestand, dass ich nicht zu diesem Mann gehen sollte. »In Ordnung, Mary. Ich verspreche es.« Sie strahlte mich an und umarmte mich dann so plötzlich, dass ich beinahe zurückschreckte. Der viel zu kurze Kontakt sorgte dafür, dass sich unsere Wangen berührten. Ihr Haar duftete wunderbar. »Und ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken«, fuhr ich fort, »dass sie meine Einladung zum Mittagessen für morgen annehmen. Oh, und hier, für das wunderbare Eis.« Ich legte fünf Dollar auf den Tresen. »Aber es kostet nur fünf Cent …« »Behalten Sie den Rest, bitte. Sie können dafür etwas für Ihren Stiefvater und Ihre Kinder kaufen.« Der Moment zog sich in die Länge. Ihr Blick hielt den meinen fest. »Sie sind sehr nett, Foster«, brach es aus ihr heraus. »Vielen Dank …« »Dann bis morgen!«, rief ich und ging hinaus. Ich ging in freudiger Eile davon, nicht nur angetan von der engelhaften und liebenswerten Frau, sondern auch von diesem neuen und überraschenden Aufflammen meiner Obsession. Mir war sofort klar, dass ich das Versprechen brechen musste, dass ich ihr gemacht hatte. Ihre Sorge war ganz offensichtlich übertrieben, und ich konnte ihren Bruder wohl kaum eines Fotos berauben, das ihm sehr viel bedeuten musste. Das Armenhaus hinter der neuen Feuerwehr!, rief ich mir ins Gedächtnis, und – da! Auf einem Schild direkt vor mir stand FEUERWEHR, und ein Pfeil zeigte nach Westen. Ein lautes Geräusch erschreckte mich, als weitere mit Fisch beladene Lieferwagen über die Kopfsteinpflasterstraße auf mich zukamen, und als sie vorbeifuhren, bemerkte ich, dass die westlichste Straße abgesperrt war – dort wurden anscheinend gerade Rohre verlegt –, daher zog ich es vor, um den Gebäudeblock herumzugehen, in dem sich Baxters Gemischtwarenladen, Wraxell’s Eatery und die anderen Geschäfte befanden. Die Gasse war breit, und ich stellte erfreut fest, dass sie sauber sowie frei von Unrat, Gestank und Ungeziefer war. Als ich sie zur Hälfte durchquert hatte, hörte ich eine so leise Stimme, dass ich erst glaubte, sie mir einzubilden. Ich blieb stehen und lauschte … »Mist! Das hast du mit Absicht gemacht. Ich weiß, dass es so ist. Du willst mir wieder alles vermasseln!« Gut, die Stimme war leise, aber sie gehörte zweifellos Mary, und als ich mich umdrehte, sah ich ein schmales Fenster, das einen Spaltbreit offen stand. Es war eigentlich ganz und gar nicht meine Art – bitte glauben Sie mir –, aber irgendetwas in meinem Kopf zwang meine Augen, durch diesen Spalt zu blicken … Die Zeit schien stillzustehen, als mein Gehirn die makabre Szene vor meinen Augen richtig registriert hatte. Ein dünner, ausgezehrter Mann saß gebeugt in einem Rollstuhl – zweifellos Paul. Tiefe Falten des Alters oder der Verzweiflung hatten sein Gesicht gezeichnet, und sein Haar war völlig durcheinander. Doch sein schlechter körperlicher Zustand ließ das mitgenommene Erscheinungsbild und die Unreinlichkeit verblassen. Ich fühlte mich schrecklich, als ich ihn musterte. Seine Beine endeten an den Knien, von denen nur noch leerer Stoff herabbaumelte. Seine Arme endeten an den Ellenbogen. Mein Gott, dachte ich. Ich hatte nicht im Traum gedacht, dass der Unfall, den Mary erwähnt hatte, so schwerwiegend gewesen war. Mein Verstand wollte nicht glauben, dass dieser zerstörte Überrest eines menschlichen Körpers vor mehr als einem Jahrzehnt der energische siebzehnjährige »Ladenmitarbeiter« gewesen war, der Lovecraft/Robert Olmstead netterweise mit einer handgezeichneten Skizze der Stadt versorgt hatte. Und was sich dort jetzt abspielte, war wahrhaft ein mitleiderregend Anblick. Marys Bauch erschwerte es ihr, sich vorzubeugen, doch genau das tat sie, um an Pauls Hose herumzufingern. Mir war nun klar, welches Problem er zuvor gehabt hatte. Ein Eimer in der Ecke des Büros sagte mir, dass er diesen hatte erreichen wollen, als er aus dem Stuhl gefallen war, um zu urinieren, was angesichts seiner Behinderung keine einfache Aufgabe war. Ich konnte nur vermuten, dass seine Hose zu diesem Zweck jederzeit offen stand. Mit offensichtlicher Abscheu auf dem Gesicht hielt Mary eine Blechdose zwischen die Beine des armen Mannes, in die er jetzt seine Blase entleerte. Ihr Unbehagen schien immer größer zu werden. »Großer Gott, Paul! In dir ist ja mehr als in einem Pferd! Beeil dich!« Eine weitere Minute verging, bis er endlich fertig war und Mary die Dose angewidert in einem kleinen Waschbecken ausgoss. »Du jammerst immer genau dann um Aufmerksamkeit, wenn ich auch mal welche bekomme.« »Tue ich nicht«, jammerte er. »Ich musste mal, und du warst nicht da.« Sie setzte sich mit einiger Mühe auf einen Klappstuhl und umfing ihren geschwollenen Bauch mit den Armen. »Ich mache das alles nur für dich und Stiefvater, weißt du. Ich habe zwei Jobs und bekomme noch ein Baby. Ich bin es so leid, dass du mich als selbstverständlich ansiehst. Du hast Glück, dass du noch am Leben bist, und das wärst du nicht, wenn ich nicht gewesen wäre, Paul.« Paul tobte und wackelte mit den Armstümpfen. »Oh ja, ich habe so ein Glück, noch am Leben zu sein! Vielen Dank auch!« »Sag nicht so was«, erwiderte sie mit sanfterer und irgendwie unheilvollerer Stimme. »Es hätte sehr viel schlimmer kommen können. Für uns beide.« »Er wollte mit mir reden, nicht mit dir«, fauchte Paul mit Spucke auf den Lippen und Tränen in den Augen. »Ich kannte Lovecraft besser als du, und nur weil …« »Das reicht«, fiel sie ihm wütend ins Wort. Dann stand sie auf und wollte den Raum verlassen. »Mary, warte! Bitte!«, flehte sie der Invalide an. »Was?«, erwiderte fast schon knurrend. »Ich möchte, dass du …« »Du möchtest, dass ich was tue?« Jetzt war seine Stimme nur noch ein erbärmliches Piepen. »Du weißt schon … Mit deiner Hand …« Ihr Gesicht lief rot an. »Nein! Das ist dreckig und eine Sünde! Es ist widerlich!« Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. Pauls verzweifeltes Wimmern ging weiter. »Aber es fällt mir so schwer, es selbst zu tun. Ich bin hier hinten immer so einsam und …« »Nein!« »Wenigstens … darf ich gucken? Ich habe doch sonst nichts mehr, Mary. Bitte, lass es mich sehen, nur für eine Sekunde …« Marys hübsches Gesicht war jetzt von Abscheu verzerrt. »Nein! Ich bin deine Schwester, um Gottes willen!« Dann rannte sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Zuerst der furchtbare Anblick und nun diese Andeutungen. Ich stand völlig verwirrt am Fenster. Dann wanderte mein Blick zurück zum unglücklichen Paul, und ich spürte, wie sich meine Seele zusammenkrampfte … Er saß jetzt zusammengesunken und verzweifelt da, mit dem Rücken zu mir, und seine Schulter zuckten, während sein verlorenes Wimmern weiterging. Ich musste ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er versuchte, mit den Stümpfen seiner Ellenbogen zu masturbieren. Was für eine Tragödie, dachte ich. Dann zog ich mich zurück. Auch wenn mich die Situation mitgenommen hatte, urteilte ich doch nicht über die beiden, sondern dachte nur, dass viele Menschen ein schlimmes Schicksal erleiden mussten. Das arme Mädchen, schwanger und muss doch doppelt arbeiten, um den invaliden Bruder und vermutlich einen ebenfalls invaliden Stiefvater durchzubringen. Während der arme Bruder nur … das als einziges Mittel hatte, um etwas Vergnügen zu empfinden. Die traurige Realität ließ mich meine eigene Person nur in einem noch schlechteren Licht sehen. Ich war der zügellose dreckige Reiche, der nie in seinem Leben hatte arbeiten müssen, während diese Leute … Mir wurde klar, dass ich etwas sehr Großzügiges für diese verzweifelte Familie tun würde, bevor ich die Stadt wieder verließ. Die Gasse führte auf eine Kreuzung, an der ich in Richtung Westen ging und dem Schild folgte. Saubere Blockhäuser auf der einen Straßenseite und ein dichter Baumbestand auf der anderen. Ich vergaß meine stille Verzweiflung und beschloss, mich erneut meiner Aufgabe zu widmen. Ich MUSS diesen Cyrus Zalen finden … Das Sonnenlicht drang durch die Äste, während eine sanfte Brise aus dem Osten meine Ohren streichelte. Ich fragte mich, ob Lovecraft je über diese Straße gegangen war, und hoffte, dass es so war. Ich wusste, dass ich sah, was er gesehen hatte, während sein Geist bereits mit Schatten über Innsmouth beschäftigt war. Ein Knacken zu meiner Linken ließ mich innehalten. Ich drehte mich und schaute zu den Bäumen, konnte aber niemanden sehen, obwohl ich sicher war, dass jemand da sein musste. Das Geräusch, das ich gehört hatte, war eindeutig gewesen: ein trockener Ast, der unter einem Fuß zertreten worden war. Nachdem ich noch einige Schritte gegangen war, erklang das Knacken erneut. »Hallo da drüben!«, rief ich und sah eine Gestalt zwischen den Bäumen herschlurfen. Eine Gestalt in einem langen, zerfetzten schwarzen Regenmantel. »Mr. Zalen! Bitte! Ich muss dringend mit Ihnen sprechen!« Die Gestalt verschwand so schnell, als wäre sie vom Wald verschluckt worden. Ich fragte mich, wie debil Mr. Zalen durch die Unbill von Opiumabhängigkeit und Verarmung geworden war. In späteren Stadien waren die Opfer dieser Ursachen oftmals durcheinander oder schlichtweg verrückt. Sollte das bei Zalen ebenfalls der Fall sein, so würde sich mein Ausflug als sinnlos erweisen. Nach einem zehnminütigen Spaziergang stand ich vor der neuen Feuerwache, wo mehrere Männer sich freundlich unterhielten, während sie das große, neue Löschfahrzeug wuschen und polierten. Keinen halben Block weiter fand ich, was nur das Armenhaus sein konnte. Das eingeschossige Gebäude mit kleinen Wohnungen wirkte, als wäre es durch die Not zusammengepresst worden, als gehörte die Seelenlosigkeit ebenso wie die abbröckelnde Farbe und die mit Teppichen verhängten zuerbrochenen Fensterfronten dazu. Der Geruch von Urin und verdorbenem Essen drang daraus hervor. Ein ältlicher Mann mit einem Glasauge saß zusammengesunken vor einem Raum mit einer schäbigen Tür, und ich glaubte schon, er wäre nicht mehr am Leben, bis er einmal zitterte und hustete. Eine fettleibige blinde Frau mit einem weißen Stock hockte ebenso abwesend vor der nächsten Wohneinheit. Sie schaute blicklos auf, als sie ohne Zweifel mein Vorbeigehen gehört hatte, dann stand sie von der Milchkiste auf, auf der sie gesessen hatte, schlich zur Tür und ging hinein. Die Tür knallte zu. Die letzte Wohnung erschien mir dunkler als der Rest, obwohl das Sonnenlicht hier ebenso wie bei allen andern Apartments hereinschien. Ein Briefkasten ohne Tür ließ keine Rückschlüsse auf den Namen des Bewohners zu, und mir fiel eine mit Fett befleckte Mülltüte am Straßenrand auf, die voller heruntergebrannter Kerzenstummel, alter Glühbirnen und leerer Lebensmitteldosen, in denen Fliegen herumkrochen, war. Der aufgerissene Gehweg führte weiter, und ich blieb vor einem merkwürdigen Türklopfer stehen, der in der Mitte der lädierten Tür hing: ein einfaches Oval aus fleckiger Bronze, das ein mürrisches, halb ausgebildetes Gesicht darstellte. Nur zwei Augen, weder Mund noch Nase, keine weiteren Gesichtszüge. Widerstrebend fasste ich den Türklopfer an und starrte unsicher auf das Namensschild, das direkt darüber befestigt war: C. ZALEN. III Was sich hinter der sich öffnenden Tür befand, entsprach schon eher meinen Erwartungen: ein dünner, blasser Mann, der jedes Anzeichen für den körperlichen Verfall aufwies. Er trug noch immer den schäbigen schwarzen Regenmantel, der offen stand und enthüllte, dass er kein Hemd anhatte, eine eingesunkene Brust und hervorstehende Rippen besaß. Seine ausgefranste Hose war an den Knien abgerissen worden, sie war seine ganze Kleidung unterhalb der Gürtellinie, abgesehen von den auseinanderfallenden Schuhen. Seine tief eingesunkenen Augen schienen fast gar nicht existent wegen der riesigen Augenringe darunter. Ich gab mir die größte Mühe, ihn anzulächeln und unerschrocken zu wirken. »Ah, Mr. Zalen. Mein Name ist Foster Morley. Ich habe gesehen, wie Sie durch den Wald den Weg nach Hause abgekürzt haben, aber anscheinend haben Sie mich nicht gehört.« Der Mann runzelte die Stirn. Er hatte sein langes schwarzes Haar, das er nur selten zu waschen schien, entweder mit Haaröl oder, was viel wahrscheinlicher war, mit dem darin befindlichen Fett nach hinten gestrichen. »Was wollen Sie?«, fragte er mich mit einer Stimme, die härter klang, als ich es bei so einem ruinierten Unglücklichen erwartet hätte. »Sie sind der Fotograf, nicht wahr? Der Zeitungsmann, oder bin ich da falsch informiert?« »Das ist eine Ewigkeit her, aber ich schätze, wenn Sie über mich informiert sind, dann sind Sie entweder von der Polizei oder ein Klient … und Sie sehen nicht wie ein Polizist aus, also kommen Sie lieber rein.« Also scheint er noch immer einige Klienten zu haben, die ihn als Fotografen buchen, dachte ich. Was bedeutete, dass er zumindest etwas Geld verdienen musste. Er bat mich in ein Wohnzimmer, das sehr heruntergekommen aussah. Darin standen nur wenige Möbel, darunter eine Couch ohne Beine, und eine große hölzerne Kabeltrommel diente als Tisch. Ein chemischer Geruch in der Luft deutete darauf hin, dass er irgendwo Fotos entwickelte. Bevor er hereinkam und die Tür verriegelte, sah er nach links und rechts, als würde dort draußen etwas Verdächtiges lauern. Dann griff er seltsamerweise hinter ein Buchregal, dessen Bretter sich in der Mitte durchbogen, und zog einen einfachen Ordner hervor. »Fünfzig Cent das Stück, Mr. Morley«, sagte er zu mir und reichte mir den Ordner. »Ich sehe an Ihrer Kleidung, dass es Ihnen besser geht als den meisten heutzutage. Sie wollen kaufen, nicht verkaufen.« Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er meinte, aber ich sah dem Ordner seitlich an, dass er mengenweise Fotos enthielt. Augenblicklich durchströmte mich eine Aufregung ob der Dinge, die mich erwarteten. Mary musste mich trotz ihres Abscheus gegen diesen Mann hier angekündigt und ihm erzählt haben, was ich von ihm wollte. Nervös setzte ich mich und schlug den Ordner auf … Zu was für einem schrecklichen Ort die Welt in solchen Zeiten werden konnte. Ich hätte mich beinahe auf die widerwärtigen Bilder übergeben, die mir von den glänzenden Oberflächen der Fotos entgegensprangen. Das waren weder Bilder von Lovecraft noch von dem Olmstead vergangener Zeiten. Das war schlicht und einfach Pornografie. Die Szenen, die sich auf den wenigen Seiten abspielten, die ich mir ansah, ließen sich nicht beschreiben. Ich kann nur sagen, dass die Fotografien selbst erschreckend lebhaft und von einem Experten angefertigt worden waren. »Aber die mit dem weißen Mädchen, das es mit den farbigen Typen treibt, kosten jeweils einen Dollar«, fuhr er fort. Dann zog er den abgewetzten Regenmantel aus und hängte ihn auf einen Nagel an der Wand. »Wenn Sie auf Kinder stehen, die kosten zwei Dollar das Stück.« Ich warf ihm den schaurigen Ordner zu. »Das ist … nicht das … weswegen ich hier bin.« »Ach, dann sind Sie doch ein Verkäufer? Tja, Sie müssen mir im Voraus den Film und die Entwicklung bezahlen, und ich kriege die Hälfte vom Verkaufspreis. Aber denken Sie daran, wenn sie nicht hübsch genug sind, mach ich mir gar nicht erst die Mühe, denn dann kann ich die Bilder nicht verkaufen. Und zu je mehr Sachen Sie sie überreden können, umso teurer kann ich die Bilder verkaufen.«Meines Nichtbegreifens wegen verwirrt erwiderte ich einfach nur: »Was?« Er warf mir einen messerscharfen Blick zu. »So ist das Geschäft, Mann! Sie haben ein paar heiße Töchter und wollen, dass ich sie nackt fotografiere oder wie sie gerade ein paar Typen ficken, oder?« Ich starrte ihn an. »Nein«, krächzte ich. »Ich habe keine Kinder.« »Was wollen Sie dann, Morley?«, schrie er mich auf einmal an. »Ich brauche Geld, und Sie vergeuden meine Zeit! Verschwinden Sie von hier!« Mit leerem Blick reichte ich ihm eine Zehndollarnote. »Wofür ist denn das?« Er riss mir den Geldschein aus den Fingern und schimpfte weiter. »Ich steh nicht auf Tricks, Mann! Ich bin keine Schwuchtel. Wenn Sie ein Mädchen ficken wollen, okay, ich hab eins hier, aber lassen Sie den Scheiß! Sie fangen langsam an, mir Angst zu machen …« Dann brüllte er in Richtung der Tür, die anscheinend zum Schlafzimmer führte: »Candace! Komm da raus!« Bevor ich widersprechen konnte, öffnete sich die Tür und eine scheue und sehr nackte Frau Mitte zwanzig kam hindurch. Sie bedeckte mit einer Hand ihren bloßen Schamhügel und mit der anderen versuchte sie, die beiden angeschwollenen Brüste zu verdecken. Was sie jedoch ganz und gar nicht verbergen konnte, war ihr riesiger Bauch, der ihre Schwangerschaft im letzten Trimester deutlich zutage treten ließ. Beiläufig hörte ich, dass im Nebenzimmer ein Radio lief, aus dem, glaube ich, »Heaven Can Wait« von Glen Gray ertönte. Das Mädchen lächelte mich schief an, was ich trotz der Haare, die ihr ins Gesicht fielen, erkennen konnte. »Hallo. Wir … wir werden eine schöne Zeit zusammen haben, Sir …« Noch mehr von der realen Welt, die mir immer weniger gefiel. Inzwischen hatte ich den Schreck über diesen furchtbaren Irrtum halbwegs verdaut und runzelte die Stirn, um mich dann direkt an Zalen zu wenden. »Ich habe Ihnen das Geld gegeben, damit Sie nicht das Gefühl haben, Ihre kostbare Zeit wäre vergeudet. Ich habe kein Interesse an Prostitution oder Pornografie.« Zalen kicherte. »Ach, kommen Sie, Mr. Morley. Hatten Sie Ihren Schniedel jemals in einer schwangeren Frau? Ich wette nicht!« »Sie sind ein gottloser Strolch!«, schrie ich ihn an. »… und Sie können sie noch nicht mal schwängern.« In diesem Moment wünschte ich mir nichts mehr, als dass Blicke töten konnten; mein angewiderter Blick hätte ihn vermutlich in zwei Teile geteilt. »Ich interessiere mich für ein ganz bestimmtes Foto, das sich, wie mir gesagt wurde, in Ihrem Besitz befindet, und falls das der Fall ist, bezahle ich Ihnen weitere einhundert Dollar dafür.« Zalen blieb bei meinen Worten der Mund offen stehen, dann scheuchte er das Mädchen mit einer Handbewegung zurück ins Schlafzimmer. »Einhundert Dollar, sagen Sie?« »Einhundert Dollar.« Nun bemerkte ich kleine schwarze Pünktchen in den Ellenbeugen des Mannes, die ich erst für Pfeffer hielt, bis meine Naivität nachließ und mir mein Verstand sagte, dass es sich um Narben von Nadeleinstichen handelte. »Meine Geduld schwindet, Mr. Zalen. Haben Sie nun eine Fotografie eines Autors namens Howard Phillips Lovecraft oder nicht?« Zum ersten Mal zeichnete sich ein echtes Lächeln auf Zalens Gesicht ab. Die Couch quietschte, als er sich hinsetzte und seine langen weißen Beine verschränkte. »Ja, ich erinnere mich an ihn. Er hatte eine Stimme wie ein Kazoo und hat nie was anderes gegessen als Ingwerplätzchen.« Auf einmal sprang er auf und zog etwas aus dem Bücherregal. Er zeigte es mir mit einem Grinsen, das seine Zahnlücken entblößte. Es war ein Exemplar der Visionary-Publications-Edition von Schatten über Innsmouth. Ich zog meines aus der Jacke und zeigte sie ihm ebenfalls. »Ich hätte nicht gedacht, dass irgendjemand tatsächlich was von dem Kerl lesen würde, aber ich sag Ihnen, viele Leute taten es, nachdem das hier rausgekommen war, und sie waren nicht gerade glücklich über das, was er über unsere Stadt zu sagen hatte. Der Großteil von Olmstead lebte damals am Innswich Point, also hat er einfach den Namen zu Innsmouth geändert. Großer Gott. Hat alle Namen verändert, aber nur ein wenig, wissen Sie? Als ob er uns wissen lassen wollte, worüber er tatsächlich geschrieben hat.« »Um Himmels willen, Mr. Zalen«, erwiderte ich. »Er hat einfach seine Eindrücke von dieser Stadt als Schauplatz für eine fantasievolle Geschichte genutzt. Sie bezichtigen ihn praktisch der Verleumdung. Alle Autoren tun etwas Derartiges.« Ich räusperte mich. »Also. Haben Sie das Foto?« »Ja, ich habe es, aber nur das Negativ. Ich kann es Ihnen bis morgen entwickeln.« Sein Lächeln wirkte auf einmal verschlagen. »Aber den Hunderter nehme ich im Voraus.« Ich bin kein Mann, der zu Konfrontationen oder brüskem Benehmen neigt, aber das wollte ich nicht hinnehmen. »Ich gebe Ihnen fünf Dollar als Bearbeitungsgebühr, und die restlichen fünfundneunzig bekommen Sie, wenn ich habe, was ich will«, entgegnete ich und warf ihm weitere fünf Dollar zu. Er nahm sie nur zu begierig an sich. »Abgemacht. Morgen, so gegen vier.« Seine Augen verengten sich. »Wer hat Ihnen gesagt, dass ich das Bild habe?« »Eine Freundin«, entgegnete ich. »Eine Frau namens Mary Simpson …« Daraufhin warf er sich mit dem Rücken gegen die Lehne und heulte fast schon auf. »Ach, jetzt versteh ich! Sie ist eine Freundin von Ihnen, ja? Dann sind Sie wohl doch nicht der Saubermann, für den ich Sie gehalten habe.« Bei der Bemerkung zuckte ich zusammen. »Was in aller Welt meinen Sie damit?« »Mary Simpson war früher die Stadtschlampe. Jetzt ist diese Stadt voller Schlampen, aber Mary war die erste. Sie war eine Hure, Mr. Morley, eine Hure erster Klasse, wie mein Großvater zu sagen pflegte.« »Sie lügen«, entgegnete ich entrüstet. »Sie versuchen nur, mich wütend zu machen, weil Sie Leute mit Geld verabscheuen. Ich sehe Ihr verschlagenes Grinsen, Mr. Zalen, aber ich hätte Lust, es Ihnen aus dem Gesicht zu wischen, indem ich doch kein Geschäft mit Ihnen mache, sondern diese Höhle aus Drogen und Liederlichkeit verlasse, die Sie Ihr Zuhause nennen.« »Aber das werden Sie nicht tun, Mr. Morley, denn Typen wie Sie bekommen immer das, was sie haben wollen. Sie werden morgen wiederkommen und das restliche Geld bei sich haben. Sie wollen die Wahrheit eigentlich gar nicht wissen.« »Und welche Wahrheit soll das sein?« »Vor nicht allzu vielen Jahren war Mary Simpson die beste Hafenhure von ganz Innswich. Mann, sie hat acht oder zehn Babys gekriegt. Und durch sie habe ich eine Menge Kohle verdient.« Bei der Prahlerei konnte ich nur noch grinsen. »Ich soll jetzt wohl glauben, dass Sie ihr Zuhälter sind, was?« »Nicht bin, war. Vor etwa fünf Jahren hat mich die Schlampe verlassen.« »Ich glaube Ihnen immer noch nicht. Sie hat mich über ihre Situation aufgeklärt und dass sie von ihrem Ehemann verlassen worden ist. Dieser Mann war gewiss von noch zweifelhafterem Ruf als Sie.« »Ehemann, Jesus.« Er schüttelte den Kopf und grinste noch immer. »Wenn Sie das glauben, dann sind Sie bestimmt auch überzeugt davon, dass der Krieg der Welten aus dem Radio letzten Oktober tatsächlich stattgefunden hat.« Natürlich hatte ich kein Wort davon geglaubt, ich hatte schließlich das Buch gelesen! Aber worauf wollte Zalen hinaus? Mir war klar, dass er versuchte, sein Spielchen mit mir zu spielen. »Und jetzt wollen Sie mir vermutlich auch noch erzählen, dass sie eine Drogenabhängige war, so wie Sie.« »Nein, auf dem Trip ist sie nie gewesen, sie war nur verrückt nach Schwänzen.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Na ja, nach Schwänzen und Geld.« »Und das soll ich einem Drogenabhängigen abnehmen, der so tief gesunken ist, dass er Bilder von unschuldigen jungen schwangeren Frauen an Degenerierte verkauft.« »Es gibt eine Menge ›Degenerierter‹ in der Welt, Morley. Angebot und Nachfrage – das hat Ihr Kapitalismus hervorgerufen.« Er sah mir direkt in die Augen. »Sie wären überrascht, wie viele kranke Typen da draußen herumlaufen, die sich gern schwangere Mädchen ansehen.« »Und Sie sind der Lieferant – zweifellos, um Ihren Drogenkonsum zu finanzieren«, fuhr ich ihn an. »Ohne das Angebot gäbe es keine Nachfrage, und dann würde die Sittlichkeit wieder Einzug halten. Doch das wird nie geschehen, solange Raubtiere wie Sie im Geschäft bleiben. Sie verkaufen Verzweiflung, Mr. Zalen, indem Sie die Unterdrückten und die von Armut Geplagten ausnutzen.« Das schien ihm doch gegen den Strich zu gehen. »Hey, Sie sind nur ein reicher Waschlappen, der kein Recht hat, über Leute zu urteilen, die er nicht kennt. Nicht jeder hat es so leicht wie Sie. Die Regierung baut Schlachtschiffe für diese neue Marineerweiterung, während das halbe Land Hunger leidet, Mr. Morley, und während zehn Millionen Menschen keine Arbeit haben. Die Umverteilung des Reichtums ist die einzige moralische Antwort. Die Dinge, zu denen ein teilnahmsloser Militärlieferant mich, das Mädchen im Hinterzimmer, Mary oder irgendjemand anderen zwingt, um zu überleben, gehen Sie absolut nichts an.« Mit großer Betrübnis musste ich zugeben, dass er in dieser speziellen Hinsicht recht hatte. Vielleicht war das der Grund, dass seine Worte mich dazu brachten, ihn umso mehr zu verabscheuen. Auch wenn ich offensichtlich ein Anhänger von Marx und Engels war, hatte mich Zalen recht treffend beschrieben. Ein reicher Waschlappen. Ich machte mir nicht die Mühe, auf meine zahlreichen philanthropischen Taten hinzuweisen, und ich war mir sicher, dass ein zeitgenössischer Psychiater meine wohltätigen Handlungen als Versuche eingestuft hätte, meine Schuldgefühle zu beseitigen. Schließlich erwiderte ich: »Ich muss mich für diese Beurteilung entschuldigen, aber für nichts anderes. Selbst wenn das wahr ist, wessen Sie Mary beschuldigen, könnte ich es ihr kaum verübeln, und zwar aus genau den Gründen, die Sie genannt haben. Ich glaube, dass sie und Millionen anderer Unterdrückter … und sogar Sie, Mr. Zalen, letzten Endes die Opfer einer diskriminierenden Umgebung sind.« »Oh Mann, Sie sind mir ja einer!«, kommentierte er lachend. Mir war klar, dass ich mich von ihm nicht überlisten lassen durfte, denn das würde meine Verzweiflung nur erneut heraufbeschwören, und in diesem Fall würde er gewinnen. »Ich bin hier aufgrund von Geschäften, die meine Vergangenheit betreffen. Belassen wir es dabei. Ich werde außerdem – sagen wir, fünf Dollar pro Stück – für jedes qualitativ hochwertige Foto bezahlen, das Sie von diesem Innswich Point geschossen haben, bevor der Wiederaufbau seitens der Regierung begonnen hat.« Sein freches Grinsen kehrte zurück, und er lümmelte sich selbstsicher auf dem Sofa. »Sind Sie sicher, dass das alles ist, was Sie wollen, Mr. Morley?« »Ziemlich sicher«, versicherte ich ihm. »Aber warum? Damals war ganz Olmstead heruntergekommen und Innswich umso mehr.« »Ich bezweifle zwar, dass Sie es verstehen werden, aber ich bin interessiert daran, die Stadt so zu sehen, wie Lovecraft sie gesehen hat, als sie die kreative Entwicklung seines Meisterwerks inspiriert hat.« »Das ist also Ihr Hobby?«, spottete er. »Ja, und im Vergleich zu dem Ihren doch ein eher harmloses.« Er lachte. »Sprechen Sie mein Hobby lieber nicht an, Mr. Morley. Ich werde schon sehr bald eine Dosis brauchen.« Er klopfte sich auf die Innenseite des Ellenbogens. »Sie sollten bleiben und zuschauen. Es würde jemandem wie Ihnen guttun, mal so etwas zu sehen, der einzigen Rettung, die der Kapitalismus und all seine Doppelzüngigkeit den Armen lassen, mal direkt ins Gesicht zu blicken.« »Hören Sie damit auf, Ihre Schwächen auf die Wirtschaft von Amerika abzuschieben«, fuhr ich ihn an. »Und dieses Buch …« Er hielt Innsmouth erneut hoch. »Das ist ziemlich dämlich, wenn Sie mich fragen.« »Dasselbe würden Sie vermutlich auch über ›Die Ballade vom alten Seemann‹ sagen, Mr. Zalen.« Er schlug belustigt die Hände zusammen. »Jetzt wird es langsam interessant! Coleridge war ebenfalls ein Junkie. Aber Lovecrafts Reise nach Innsmouth? Er hat die Stadt völlig falsch beschrieben!« »Es ging doch gar nicht um die Stadt«, rief ich entrüstet aus. »Das ist eine sehr ausgeklügelte Fantasiegeschichte voller sozialer Symbole!« »Aber er hätte sich wenigstens mehr Mühe dabei geben können, die Namen der Leute zu verändern.« Alarmiert setzte ich mich auf. »Warum sagen Sie das? Ich dachte, er hätte größtenteils die Namen von Orten angepasst?« »Nein, nein, verdammt noch mal. Er hat fast jeden in der Stadt damit beleidigt. Erinnern Sie sich an den Busfahrer aus der Geschichte, Joe Sargent? Der Mann heißt in Wirklichkeit Joe Major! Und Larsh, der Name der beiden Gründer der Stadt, wurde nur in Marsh verändert. Und vergessen wir nicht Zadok Allen. Wie hat ihn Lovecraft bezeichnet? Als ›alten Trunkenbold‹?« »Zadok Allen war der wichtigste Nebencharakter der Geschichte, ein 96-jähriger Alkoholiker, der die dunkelsten Geheimnisse von ganz Innsmouth kannte.« Erneut starrte er mich grinsend an. »Sie sind nicht gerade sehr aufgeweckt, was? Der Mann hieß eigentlich Adok Zalen. Kommt Ihnen der Nachname irgendwie bekannt vor?« Diese Andeutung irritierte mich. »Zadok Allen – Adok Zalen, und … Sie heißen ebenfalls Zalen.« »Genau, er war mein Großvater. Lovecraft hat ihn eines Abends in der Nähe der Docks mit irgendeinem Fusel, den er im Kramladen gekauft hatte, betrunken gemacht. Am nächsten Tag ist mein Großvater gestorben – an Alkoholvergiftung von dem Schnaps, den Ihr Held Lovecraft ihm gegeben hat.« Könnte sich das wirklich so abgespielt haben? Und falls ja, stellte sich die Frage, wie viel von dem, was Lovecraft ersonnen hatte, eigentlich von Adok Zalen stammte. »Damit hat er der Welt eigentlich einen Gefallen getan«, plapperte Zalen weiter. »Gott, mein Großvater war älter als die Welt und nichts wert. Er hat gelogen und geklaut, und es war Zeit für ihn zu gehen.« »Ich bin beeindruckt, wie viel Respekt Sie vor Ihren Verwandten haben«, meinte ich mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Lovecraft war ein Amateur. Seabury Quinn war ein viel besserer Autor als er.«Ich hätte aus der Haut fahren können! »Er war nichts dergleichen, Mr. Zalen!«, brüllte ich fast schon hysterisch, denn so langsam zeigte Zalens gezielte Einschüchterung Wirkung. Schließlich ging es hierbei um mein literarisches Idol, und ich würde nicht zulassen, dass dessen Name und Talente von diesem heruntergekommenen Pornografen in den Schmutz gezogen wurden. »Haben Sie die Bilder der Stadt von früher nun oder nicht?« »Die habe ich. Warten Sie hier.« Mit diesen Worten stand er auf und schlurfte ins hintere Zimmer. Der hat ja Nerven, dachte ich und war jetzt tatsächlich aufgewühlt. Was konnte er schon über hochwertige Fantasygeschichten wissen? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr neigte ich dazu, seine Anschuldigung, Lovecraft trage die Schuld an Adok Zalens Ableben, infrage zu stellen. Er stellt diese Behauptungen einfach auf, um eine negative Wirkung zu erzielen. Nicht anders als mit seinen Lügen über Mary. Ich stöhnte beinahe auf, als mein umherstreifender Blick mir einen Teil des Schlafzimmers zeigte. Zalen hatte die Tür offen gelassen. Als Erstes stach mir eine große Kamera auf einem Stativ ins Auge. Und dann … war da noch etwas anderes. Die schwangere Prostituierte – Candace, glaube ich, hatte er sie genannt – saß in einer merkwürdigen Pose auf dem Bett. Sie war immer noch nackt, und aufgrund ihrer Schwangerschaft hatten sich ihre Warzenhöfe zu blassrosa Kreisen erweitert. Der große, massige Bauch trug nur zu den Schwierigkeiten bei dem bei, was sie tat … Ein Band war um ihren Oberarm gewunden, um die Venen in ihrer Armbeuge anschwellen zu lassen, und in eine dieser Venen injizierte sie gerade etwas mit einer Pipette, die mit einer Hohlnadel ausgestattet war. Dieser verteufelte Mann hat sie abhängig gemacht, damit er sie weiterhin ausnutzen kann … Zalens Stimme war deutlich zu hören, wenngleich man ihn nicht sehen konnte. »Du nimmst zu viel«, beschwerte er sich bei dem Mädchen. »Das ist nicht gut für das Kind. Du weißt doch noch, was mit Sonia passiert ist?« »Aber ich kann nicht anders!«, jammerte sie. »Wenn das Kind tot geboren wird, dann steckst du in großen Schwierigkeiten …« Ich wollte nicht einmal Vermutungen anstellen, was er mit dieser Bemerkung gemeint hatte. Sie planten wahrscheinlich, das Baby an eine Adoptionsagentur zu verkaufen. Die ganze Szene und die damit verbundenen Implikationen sorgten dafür, dass mir die Spucke wegblieb. Ich war hier nicht in meinem Element und hoffte, das alles würde mir eine Lehre sein. Wieder zurück zog er die Tür hinter sich zu; er trug eine weitere Aktenmappe unter dem Arm. »Ich hatte nie mehr als diese fünf, Mr. Morley«, erklärte er auf seine unverschämte Weise. »Aber es macht hundert für alle zusammen. Akzeptieren Sie’s oder lassen Sie’s bleiben.« »Ich lasse mich nicht erpressen, Mr. Zalen«, versicherte ich ihm. Solch ein Versuch war allerdings zu erwarten gewesen. Da er jetzt von meiner Sucht wusste, würde er so viel Honorar anstreben, wie meine Duldsamkeit zuließ. »Ich sagte, fünf Dollar pro Stück, und bei fünf Dollar pro Stück bleibt es, und das auch nur, wenn sie exakt das sind, wonach ich suche.« »Wenn sie Ihnen gefallen, dann zahlen Sie mir doch einfach, was sie Ihnen wert sind. Wie klingt das für Sie?« »Das klingt fair«, erwiderte ich und schlug die Mappe auf. Das erste Foto nahm mir den Wind aus den Segeln: ein seewärtiges Panorama der Stadt, das durchhängende Mansardendächer, halb eingestürzte Giebel und nicht rauchende Schornsteine zeigte. Näher am Ufer erhob sich eine Dreiergruppe Kirchtürme, von denen bei zweien die Uhr fehlte. Mein Gott, dachte ich. Es ist nahezu genau wie im Text: Robert Olmsteads erster Blick auf Innsmouth durch das Fenster von Joe Sargents Bus. Ein zweites Foto zeigte das vom Einsturz bedrohte Ufergebiet mit den halb verfallenen Werften, den Fischerbooten mit zersplittertem Rumpf und Berge ungenutzter Hummerfallen. Eine Reihe trostloser Fabriken und weiterverarbeitender Betriebe – seit Langem verlassen – erhob sich jenseits dieser Szene aus Verfall und Vernachlässigung, aber erneut entsprach dies direkt HPLs trübsinnig anschaulicher Beschreibung aus dem Buch. Auf dem dritten Foto sah man ein niedriges Steingebäude, das von dorischen Säulen umgeben war; dessen Außenmauern wirkten vom Alter zerfressen. Eine große Doppeltür stand offen und gab den Blick auf die Dunkelheit dahinter frei. »Das ist die alte Freimaurerhalle«, informierte mich Zalen. Und dann wurde es mir schlagartig bewusst. »Natürlich! Das ist das Gebäude, in dem Lovecraft den esoterischen Orden von Dagon angesiedelt hat und in dem die Mischlingspriester ihre Gottesdienste abgehalten haben. Dabei trugen sie ihre pompöse Kleidung und goldene Tiaren.« »Jetzt sehen Sie sich das letzte Bild an«, forderte er mich auf. Allerdings wäre das nächste Bild erst das vierte, und ich hatte geglaubt, Zalen hätte gesagt, der Satz beinhalte fünf Bilder. Dennoch wandte ich mich dem nächsten zu und war überwältigt vom Anblick eines makabren Sonnenuntergangs über der Hafenbucht. Der Effekt ließ das Wasser geschmolzen aussehen. Hinter weiteren verfallenen Werften und Reihen aus windschiefen, zusammengeschusterten Hütten, deren Dächer jeden Moment einzustürzen drohten, sah ich das von der Sonne beleuchtete Wasser und kaum erkennbar, was etwa eine Meile weiter draußen lag: eine unregelmäßige schwarze Linie direkt über der Wasseroberfläche. Ein toter Leuchtturm schien gen Norden zu blicken. »Lovecrafts Teufelsriff.« Ich erkannte es auf den ersten Blick. »Mhm. Allerdings nichts Teuflisches dran«, entgegnete Zalen. »Es ist noch nicht einmal ein Riff. Es ist bloß eine Sandbank.« Er rieb sich die Hände. »Aber die Bilder sind gut, nicht wahr?« »Das sind sie«, gestand ich. »Es ist eine Schande, dass Sie dieses großartige Talent für die Fotografie vergeudet und vergessen haben.« Ich war noch immer schwer beeindruckt von den Bildern – der Wahrheit, die sie mir mit der Darstellung der Stadt vor so langer Zeit vermittelten. »Wann genau wurden diese Bilder aufgenommen, Mr. Zalen?« »Im Sommer 1928, Juli, da bin ich ziemlich sicher. Ich habe sie nur aufgenommen, weil Lovecraft sie haben wollte. Ich habe es gratis gemacht, weil ich gedacht hatte, er würde mich einem dieser komischen Schundmagazine empfehlen, für die er geschrieben hat. Hat er jedoch nie gemacht, der knauserige Bastard.« Dieses Wissen spornte mein Interesse zu neuen Höhen an, und aus diesem Grund waren mir die Fotos deutlich mehr wert als fünf Dollar das Stück. Aber ich war verärgert ob seines Erpressungsversuchs. »Ich gebe Ihnen fünfzig Dollar für den Satz, aber keine hundert.« »Es macht hundert«, beharrte er. Dann erneut dieses freche Grinsen. »Sie haben das letzte Bild ja noch gar nicht gesehen, Mr. Morley.« »Oh. Das ist richtig.« Ich blätterte zur letzten Fotografie weiter. Ich starrte runter, ohne zu blinzeln. Viele Sekunden verstrichen auf die Weise. Dann klappte ich den Ordner zu, stand auf und reichte Zalen eine Einhundertdollarnote. »Guten Tag, Mr. Zalen.« »Dann morgen um vier?« »Seien Sie versichert, dass ich hier sein werde.« »Mit weiteren hundert Dollar für das Lovecraft-Foto.« »Mit weiteren fünfundneunzig.« Ich näherte mich der Tür. »Bitte enttäuschen Sie mich nicht, Mr. Zalen.« Er lachte. »Die einzige Möglichkeit, das zu tun, ist, wenn ich mir den goldenen Schuss verpasse mit dem Zeug, das ich mir von dem Geld kaufe, das sie mir gegeben haben. Die Haupttodesursache bei Junkies, wissen Sie.« »Wenn Sie vorhaben, an einer Überdosis zu sterben, Mr. Zalen, tun Sie es bitte nicht bis morgen.« Meine Hand schloss sich um den schmutzigen Türknauf. »Aber übermorgen wäre ganz nett.« »Das ist die richtige Einstellung.« Ich trat hinaus aus dem stinkenden, nach Chemikalien riechenden Zimmer in das überaus warme Tageslicht. Zalens verwahrloste Wohnung war ebenso finster gewesen wie sein Herz. Seine nahezu ausgemergelte Gestalt blieb im Türrahmen stehen. »Sie gehen jetzt zurück auf Ihr Zimmer, was? Um Ihrem Hobby nachzugehen?« Selbst angesichts dessen, was ich gerade erworben hatte, fand ich seine Andeutung außerordentlich beleidigend. »Mr. Zalen, mein Hobby, wie Sie wissen, ist das Werk von H. P. Lovecraft.« »Richtig. Dann werden Sie jetzt also in der Stadt herumlaufen … um zu sehen, was Lovecraft gesehen hat.« »Das ist genau das, was ich vorhabe, nicht, dass es Sie das Geringste angeht. Ich werde Innswich Point aufsuchen.« »Da ist es jetzt verdammt langweilig, Mr. Morley. Nichts als Blockhäuser und ein Pier aus Zement.« Hatte er soeben gekichert? »Aber gehen Sie lieber nicht des Nachts dorthin.« Mit gerunzelter Stirn blieb ich an seiner von Moos überwucherten Eingangsstufe stehen. »Wirklich, Mr. Zalen? Werden mich sonst die Tiefen Wesen holen? Oder werden mich die Akolythen von Barnabas Marsh Dagon als Opfer darbringen?« »Nee, aber die Säufer und Flüchtlinge würden mit einem Kerl wie Ihnen sicher großen Spaß haben. Drogenschmuggler verkriechen sich da.« »Gute Freunde von Ihnen, kein Zweifel.« »Sie bringen es mit einem Boot hierher.« Der unansehnliche Mann kratzte sich in der Armbeuge. »Und mein Großvater hat nicht gelogen, als er Lovecraft erzählt hat, dass es unter dem alten Hafen ein Netzwerk aus Tunneln gibt. Die stammen aus dem 17. Jahrhundert. Freibeuter und Schmuggler haben sie als Unterschlupf benutzt.« Dies war interessant, aber das ließ ich mir nicht anmerken. »Und wenn Sie einen richtigen Leckerbissen wollen, gehen Sie die Hauptstraße in Richtung Norden weiter und sehen sich Marys Haus an«, fuhr er höhnisch fort. »Das ist ein echtes Stück aus dem Leben. Es ist bloß einen Wurf von dem der Onderdonks entfernt.« Unwillkürlich zuckte ich zusammen und ließ ihn so mein Unbehagen spüren, aber auf einmal war ich neugierig darauf, wie Mary ihr anstrengendes Leben mit so vielen Kindern bestritt, die sie ohne Hilfe eines Mannes großzog. »Die Onderdonks«, wiederholte ich. »Oh, der Stand am Straßenrand, den ich gesehen habe?« »Ja. Und kosten Sie das Barbecue.« Dieses Mal war ich mir nicht sicher, wie ich seinen streitlustigen Tonfall zu deuten hatte. Ich war fest entschlossen zu gehen; ich würde keine weitere Belästigung zulassen, aber als ich losging, fügte er hinzu: »Und Sie sollten das Buch ein wenig genauer lesen.« Ich drehte mich auf dem aufgerissenen Gehweg um. »Sie meinen doch gewiss nicht Schatten über Innsmouth?« »Was denken Sie denn?« »Ich habe es Dutzende von Malen gelesen, Mr. Zalen, sehr aufmerksam. Ich kann wahrscheinlich die meisten der 25 000 Wörter auswendig wiedergeben. Worauf wollen Sie also hinaus?« Die Sonne beleuchtete die rauen Gesichtszüge dieses durch und durch verdorbenen Mannes. »In der Geschichte, was passiert da mit Außenseitern, die zu viel herumschnüffeln, Mr. Morley?« Ich ging weiter und war beinahe amüsiert über diesen letzten billigen Versuch, melodramatisch zu wirken. »Und heute Abend«, rief er mir nach, »wenn Sie Mary für ein paar Dollar ficken, richten Sie ihr aus, dass sie der Vater ihres dritten oder vierten Kindes grüßen lässt …« Damit war meine Belustigung dahin. Dieser Mann war unausstehlich, und vermutlich wirkte er effektiver auf meine Psyche ein, als ich es mir selbst eingestehen wollte. Das Einzige, was ich noch mehr hasste als ihn, war, wozu mich seine Manipulation getrieben hatte. Als ich eine abgeschiedene Ecke zwischen den Bäumen gefunden hatte, schlug ich den Ordner auf und sah mir das fünfte Bild unterhalb der Fotos der Stadt an. Es war natürlich ein Foto von Mary, in deprimierend expertenhafter Auflösung und Beleuchtung. Sie war nackt, ja, und – schlimmer noch – schwanger, doch selbst in diesem Zustand hatte sie für Zalens verfluchte Linse eine verführerische Positur eingenommen. Es war eine schreckliche Kollision von Gegensätzen gewesen, die meinen sofortigen Kauf ausgelöst hatte. Aber ich wusste, ich wusste um meines Lebens und der Liebe Gottes willen, dass ich KEINER von Zalens degenerierten Kunden war. Es war der Schreck über die zuvor erwähnte Kollision gewesen, der mich gezwungen hatte, es zu kaufen: der Liebreiz verwoben mit einem aufwühlenden Motiv, die Anmut und Schönheit Hand in Hand mit der Verderblichkeit einer unterdrückten Frau. Es fiel mir jetzt auf, dass Mary dermaßen schön war, dass ich hätte erschaudern können. Auf dem Bild hätte ich sie fünf Jahre jünger geschätzt, aber wenn überhaupt schien ihre derzeitige Schönheit sogar noch intensiver. Was sollte es, wenn ein Teil von Zalens obszönen Verunglimpfungen im Wesentlichen den Tatsachen entsprach? Selbst wenn sie in schlechteren Zeiten als Prostituierte gearbeitet hatte, wer war ich, über sie zu richten? Ich würde es nicht tun. Seit undenklicher Zeit waren Frauen durch die Männer und deren Lust ausgenutzt worden; Marys Vergangenheit ging mich nichts an, da ich wusste, dass Gott alles vergibt. Ich konnte nur beten, dass er mir vergeben würde. Auf dem Weg zurück in die Stadtmitte fand ich einen billigen Laden, der genau das anbot, was ich brauchte: eine kleine Aktentasche. Ich tätigte meinen Kauf bei einem weiteren freundlichen Olmsteader, einem Mr. Nowry, der sich sehr über mein Trinkgeld freute. »Wie komme ich auf dem schnellsten Weg zum Ufer?«, erkundigte ich mich. »Folgen Sie einfach der Kopfsteinpflasterstraße, Sir«, deutete er. »Die führt Sie direkt zum Wasser. Und da unten ist es wirklich sehr schön.« »Da bin ich mir sicher. Vielen Dank.« »Achten Sie nur darauf,«, beeilte er sich hinzuzufügen, »sich nicht nach Einbruch der Dunkelheit da aufzuhalten.« Die freundliche Warnung kam mir unangebracht vor. »Aber Olmstead scheint mir nicht gerade …« »Ja, Sir, das ist eine schöne Stadt mit netten Leuten. Aber in jeder Stadt gibt es ein paar faule Äpfel, nicht wahr?« Da hatte er allerdings recht. Als ich den Laden verließ, sah ich im Büro eine Frau, von der ich annahm, sie müsse seine Gattin sein, etwas auf Papier kritzeln. Und ihr überweites machte kein Geheimnis aus der Tatsache, dass sie schwanger war. Noch eine Frau, die ein Kind erwartet, dachte ich und versuchte mühevoll, zunächst über meine Besorgnis nachzusinnen. Gut, mir waren in der kurzen Zeit seit meiner Ankunft ungewöhnlich viele schwangere Frauen begegnet, aber ich durfte nicht vergessen, dass ich im Grunde ein Kosmopolit war, der in eine neue und kleine Arbeiterortschaft gekommen war. Eigentlich unterstützte ich die Initiativen der Regierung, das Bevölkerungswachstum zu fördern. Die kleinen Gemeinden waren stärker darin eingebunden und offenbar auch empfänglicher dafür, was auf lange Sicht dem größeren Ganzen zugutekam. Mit diesem Wissen überdachte ich meine anfängliche Reaktion auf die Zahl werdender Mütter, die ich gesehen hatte. Gewiss war sie nicht so übertrieben, wie ich gedacht hatte. Als ich mich gemächlich dem Ufer näherte, bemerkte ich jedoch ein niedriges, offenes Blockhaus, in dem ich ein volles Dutzend Frauen sehen konnte, die zufrieden frische Austern aus der Schale brachen und eindosten. Die meisten von ihnen waren schwanger. Zalens Einschätzung des industriellen Zentrums der Stadt erwies sich als überaus zutreffend. Mir fiel sofort auf, dass Innswich Point trotz der großartigen, nach Meeresbrandung duftenden Aussicht auf den Hafen in der Tat einen sehr traurigen Anblick bot. Aber, oh, hätte ich diesen Ort doch nur so sehen können wie Lovecraft! Wenigstens würde mir Zalens Foto ein Faksimile dieses Privilegs ermöglichen. Alles, was jetzt blieb, war der Teil des Namens, den sich der Meister ausgeborgt hatte. Eine weitere Enttäuschung erwartete mich, als ich hinaus auf das Riff blickte und mir dann einfiel, dass es überhaupt kein Riff war, sondern eine langweilige Sandbank. Die Arbeiter an den zahlreichen Docks und Fischverarbeitungsstätten waren größtenteils kräftige Männer mit unscheinbaren Gesichtern, sehr ähnlich den Leuten, mit denen ich Bus gefahren war. Ich würde nicht behaupten, dass sie mich anstarrten, aber ich fühlte mich dort auch nicht gerade willkommen. Gewiss war dies die Ursache für Garrets Ablehnung der männlichen Bevölkerung; er bezog sich auf diese mürrischen Bootsleute. Das Blockhaus, in dem sich die Eisfabrik befand, rasselte und röhrte, laute Lastwagen kamen und gingen. Doch aus einem höher gelegenen Fenster einer der Fischfabriken lächelte mich eine hübsche Frau an, und als ich ging, wurde ich von einigen weiteren Frauen in einem offenen Blockhaus ebenfalls mit einem Lächeln bedacht. Sie saßen an langen Tischen und flickten Netze. Die meisten von ihnen waren schwanger. Ich ließ die harmlos wirkende Szenerie und das Tagwerk der Menschen hinter mir. Mein Appetit war gewachsen seit meinem Eis mit Mary, und plötzlich freute ich mich auf das Mittagessen mit ihr am kommenden Tag. Auch meine Verabredung zum Abendessen mit dem gut gelaunten Mr. William Garret hatte ich nicht vergessen, doch ich bedauerte, keine Neuigkeiten über seinen verschwundenen Kollegen in Erfahrung gebracht zu haben. Als in der Ferne eine Glocke dreimal läutete, wurde mir bewusst, dass ich keine weiteren vier Stunden bis zum Abendessen durchhalten würde, also wanderte ich die Hauptstraße gen Norden entlang und verließ den dichter bewohnten Bereich der Stadt. Inzwischen setzte mir die Hitze ganz schön zu. Ich beförderte mein Sakko und die Krawatte in die Aktentasche und marschierte weiter. Wie Lovecraft war ich daran gewöhnt, täglich längere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Vielleicht ist der Meister ebenfalls diese Straße entlanggegangen, grübelte ich. An beiden Seiten des Weges standen Bäume. Die beschauliche Ruhe der Szenerie kam mir sehr gelegen nach der unangenehmen Angelegenheit mit Cyrus Zalen. Ah!, dachte ich, als mir der Briefkasten am Ende einer langen, staubigen Auffahrt auf der westlichen Straßenseite auffiel. Darauf stand der Name Simpson, und ich war augenblicklich versucht, Zalens schrägen Ratschlag zu befolgen und hineinzugehen, um mich Marys Stiefvater und Kindern vorzustellen, doch dann besann ich mich eines Besseren. Mary hatte angedeutet, dass es ihrem Stiefvater nicht gut ging. Warte lieber noch damit, lautete meine weise Entscheidung. Wenn es das Schicksal wollte, dass ich ihrem Stiefvater begegnete, sollte Mary zugegen sein. Möglicherweise erzeugte die plötzliche Abgeschiedenheit den Gedanken, doch als ich weiterging, hatte ich das höchst unangenehme – geradezu sprichwörtliche – Gefühl, beobachtet zu werden. Durch die Bäume auf der küstenwärtigen Seite konnte ich recht weit sehen; ich vermochte sogar den Rand von Innswich Point auszumachen, aber ostwärts? Dort lauerte der Wald tief und dunkel. Lediglich mit dem Grenzbereich meines Gehörsinns, könnte ich schwören, hörte ich etwas sich verstohlen bewegen. Bloß ein Waschbär, höchstwahrscheinlich, oder einfach nichts weiter als Einbildung, aber dann stieg mir ein köstlicher Duft in die Nase. Der Stand am Straßenrand und die Räucherei lagen direkt vor mir, und jetzt lockte das einfache Schild mich: ONDERDONK & SOHN. RÄUCHEREI – MIT FISCH GEFÜTTERTE SCHWEINE. Große, eingepferchte Schweine – fünf an der Zahl – grunzten, als ein junger Mann in den frühen Zehnern ihren Trog mit gekochten Stinten und anderen Köderfischen füllte. Erfreut stellte ich fest, dass am Straßenrand mehrere Fahrräder und zwei Kraftfahrzeuge geparkt waren, deren Besitzer sich am Stand anstellten. Es war immer schön, ein florierendes Gewerbe zu sehen. Als ich an die Reihe kam, wurde ich von einem wettergegerbten Mann in Overall bedient, der eine eingedellte Eisenbahnermütze trug und vermutlich der Namensgeber dieses Unternehmens war. »Was darf es sein, Fremder?«, erkundigte sich eine raue Stimme mit leichtem europäischen Akzent. Ich sah keine Speisekarte. »Es riecht wirklich köstlich. Was haben Sie anzubieten, Sir?« »Schweinenacken-Sandwiches oder Hachsen mit Bohnen. Die meisten nehmen den Schweinenacken. Einen besseren werden Sie nicht finden, und wenn’s nicht schmeckt, müssen Sie’s nicht bezahlen.« »Das klingt vertrauenerweckend!«, erwiderte ich erfreut. »Das nehme ich.« Einen Augenblick später wurde mir ein Sandwich mit besagtem Schweinenacken gereicht, das halb in Zeitungspapier eingewickelt war. »Beißen Sie vor dem Bezahlen einmal ab«, erinnerte mich Onderdonk. »Und dann sagen Sie mir, dass es nicht das Beste ist, was Sie je gegessen haben.« Ein Bissen bestätigte seine Aussage. »Es ist hervorragend, Sir«, versicherte ich ihm. »Ich habe von Kansas bis zu den Carolinas Schweinenacken probiert, sogar in Texas … Dieser hier übertrifft alles.« Onderdonk nickte unbeeindruckt. »So was macht ein Fischer, wenn er nicht mehr richtig fischen kann. Ich glaube, man nennt es Genialität. Ich hatte die Idee, die Schweine mit Fisch zu füttern. Dadurch wird das Fleisch feuchter und man kann es langsamer und länger räuchern.« »Das ist definitiv ein Erfolgsrezept«, beglückwünschte ich ihn. Ich bestand darauf, dass er das Wechselgeld von meinem Dollar für das Fünfundzwanzig-Cent-Sandwich behielt. »Aber … waren Sie früher wirklich Fischer?« »Wie mein Vater und sein Vater vor ihm und so weiter.« Auf einmal wirkte der raue Mann ein wenig verärgert. »Ich kann nicht mehr fischen. Das ist nicht richtig. Aber das hier läuft anständig.« Meine Neugier war geweckt. »Wie man sehen kann, Sir, komme ich nicht aus dieser Gegend, aber was mir in Olmstead – in der Gegend rund um Innswich Point – aufgefallen ist, dass es mehr als reichlich Fisch zu geben scheint.« »Das ist richtig – aber nur für Olmsteader, und das sind mein Junge und ich nicht, obwohl wir dieses Stück Land schon seit Urzeiten besitzen.« Mit dem Thema hatte ich offensichtlich einen wunden Punkt getroffen. »Was die betrifft, sind wir Außenseiter. Immer, wenn mein Junge und ich fischen wollten, kamen sie uns in die Quere. Einige dieser Olmsteader sind echt ein rauer Haufen. Ich lass meinen Jungen doch nicht wegen ein paar Fischen zusammenschlagen.« Territorialismus, dachte ich mit einem Mal. Er war weiter verbreitet, als die meisten Menschen wussten; in meiner Heimatstadt waren die Hummerfängerfamilien bekannt für ihre Fehden, ebenso die Muschelfänger. »Das ist bedauerlich, Sir. Aber der Beweis für Ihre Genialität hat einen alternativen Markt geschaffen, der gewiss florieren wird.« »Hm«, brummte er. »Dann nehme ich an, wegen der Gebietsangelegenheit müssen Sie den Fisch kaufen, mit dem Sie Ihre Schweine füttern?« »Nee, den fangen wir selbst – sehen Sie, jede Nacht schleichen mein Junge und ich uns ans nördliche Ende des Points und werfen ein paar Netze ins Wasser, dann schleichen wir uns wieder zurück. Wir sind nicht länger als zehn Minuten auf dem Wasser, dann sind wir wieder verschwunden. Die Zeit reicht gerade mal für ein oder zwei Eimer Köderfische, aber mehr brauchen wir für die Schweine nicht.« »Nun, immerhin funktioniert ihr System.« »Sieht ganz so aus.« Der junge Sohn des Mannes stellte sich jetzt neben seinen Vater. Onderdonk klopfte ihm auf die Schulter. »Er arbeitet hart für so einen jungen Kerl, und ich will, dass er das Richtige lernt. Das ist die amerikanische Lebensart.« »Das ist sie in der Tat«, erwiderte ich und lächelte den Jungen an, doch dann fragte ich Onderdonk: »Zufälligerweise bin ich auch ein großer Freund von Schweinerippchen. Bieten Sie diese ebenfalls an?« »Rippchen? Ja, aber nur zweimal die Woche. Die sind immer in wenigen Stunden ausverkauft. Wenn Sie in zwei Tagen wiederkommen, haben wir wieder welche.« Er deutete auf den Schweinepferch. »Schon bald werden mein Junge und ich Harding schlachten. Harding ist der Fettsack da drüben.« Ich ging davon aus, dass er das größte Schwein meinte. Doch ich musste lachen. »Aber Sie haben Ihr Schwein doch nicht nach Amerikas 29. Präsidenten benannt?« »Das habe ich getan!«, erwiderte er. »Und ich bin verdammt stolz darauf. Harding hat doch nichts geleistet, und dieser Teapot-Dome-Skandal hat dafür gesorgt, dass die Börsen zusammenbrachen, und Amerika zu dem gemacht, was es heute ist.« Dagegen konnte ich kaum etwas einwenden, war aber dennoch amüsiert. »Erst ein ehrlicher Kerl – Calvin Coolidge – hat dafür gesorgt, dass das höchste Amt der Nation wieder den Respekt bekam, den es verdient. Jawohl, Sir!« Er zwinkerte mir zu. »Ich werde garantiert kein Schwein Coolidge nennen. Aber in diesem Stall haben wir außerdem Taft, Wilson, Garner und diesen Sozialisten FDR!« Himmel. Der Mann hatte gewiss politische Überzeugungen, die sonderbar für einen einfachen Arbeiter waren. »Schön«, entgegnete ich. »Dann werde ich übermorgen wiederkommen und Hardings geräucherte Rippchen kosten.« »Tun Sie das, Sir, Sie werden nicht enttäuscht sein.« Ich verabschiedete mich, tätschelte dem schweigenden Jungen den Kopf und gab ihm einen Dollarschein. »Eine kleine Anerkennung für dich, junger Mann, dass du so gut und hart für deinen lieben Vater arbeitest.« »Vielen Dank, Sir«, piepste der Junge. »Einen schönen Tag noch!«, sagte Onderdonk, und dann ging ich meines Weges. Es hatte mich aufgemuntert, dass die Arbeiterklasse trotz der schlechten Wirtschaftslage über die Runden kam. Der Mann war bewundernswert. Unfairerweise von den Massen vorhandener Fische abgeschirmt, hatte er das Hindernis überwunden und war auf andere Weise erfolgreich geworden. Dann schlenderte ich die Straße zurück, durch meinen Kopf schwirrten Gedanken, die meine Stimmung verbesserten. Natürlich das gute Essen und das ebenso gute Wetter; das Wissen, dass ich am nächsten Tag ein seltenes Foto von H. P. Lovecraft besitzen würde; die Wahrscheinlichkeit, dass mich am Abend im Wraxall’s ein weiteres gutes Mahl erwartete (denn frische Meeresfrüchte waren – mehr noch als Schweinefleisch – ein großer Genuss für mich) sowie die simple Genugtuung, dass ich auf Wegen wandelte, die Lovecraft ebenfalls beschritten hatte. Und da war noch etwas anderes, das meine freudige Erregung steigerte. Mary. Mary Simpson, grübelte ich. So wunderschön. So gütig und aufrichtig und fleißig. Sie wirkte auf mich einzigartig, selbst wenn sie in ihrer Vergangenheit schlechte Zeiten durchlebt hatte. Schwanger, ohne gegenwärtigen Ehemann, und doch arbeitete sie, um ihre Pflichten zu erfüllen. Ich gestand mir ein, dass ich dabei war, ihr in platonischer Liebe zu verfallen, und platonisch würde sie bleiben müssen, da ich nichts Weitergehendes anstreben konnte, sosehr ich es mir auch wünschen mochte. Und ich würde sie am nächsten Tag zum Mittagessen treffen. Ich drehte mich um, und mein Herz pochte wie wild in meiner Brust. Die Überraschung hatte mich auf höchst unangenehme Weise aus meinen Gedanken gerissen. Aus dem Wald im Westen hatte ich ganz sicher ein Geräusch gehört. Ich war auf eine Auseinandersetzung überhaupt nicht vorbereitet, aber nun war ich mir sicher, dass man mir nachstellte, und das wollte ich sofort unterbinden. Ich starrte intensiv in den Wald, dann glaubte ich, einen Zweig zerbrechen zu hören. »Ich höre Sie!«, rief ich und zögerte nicht, zwischen die Bäume zu treten. »Zeigen Sie sich wie ein Mann!« Weitere Zweige zerbrachen, als mein Verfolger tiefer in den Wald hineinlief. Ich war mir nicht sicher, warum, aber ich setzte ihm nach. Fünfzig Meter tiefer im Wald verriet ein einsamer Sonnenstrahl die Identität des Beobachters. Nur eine kurze Sekunde lang erspähte ich die Gestalt, zwar nicht das Gesicht, aber immerhin die Kleidung: den langen, schmutzigen Regenmantel mit Kapuze. »Also wirklich, Mr. Zalen, das ist keine Art, einen zahlenden Kunden zu behandeln!«, brüllte meine Stimme durch die Bäume. »Falls Sie mich berauben wollen, kann ich Ihnen versichern, dass ich gut bewaffnet bin!« Das war korrekt, denn ich hatte die kleine halb automatische Pistole, die ich bei der Colt Patent Firearms Company in Hartford erworben hatte, bereits aus der Hosentasche geholt. Es war ein Modell 1903, von dem ich gelesen hatte, dass der berüchtigte Bankräuber John Dillinger sie an dem Tag, an dem er niedergeschossen wurde, bei sich gehabt hatte. Ich war kein besonderer Schütze, aber mit einem vollen Magazin war ich gut genug. Zalen war stehen geblieben und hatte mich offensichtlich gehört. Auf einmal rannte er los und verschwand erneut zwischen den Bäumen. »Ich bin sehr enttäuscht, Mr. Zalen!«, rief ich ihm hinterher. »Aber, Dieb oder nicht, vergessen Sie unsere Verabredung für morgen nicht.« Die dicht stehenden Bäume verschluckten meine Stimme. Ein ruhiger, zurückhaltender Mann wie ich hätte durch eine derartige Beinahe-Konfrontation eigentlich erschüttert sein sollen, aber ich fühlte nichts dergleichen. Ich war ganz ruhig, zuversichtlich und unbeeindruckt, und ich hatte auch nicht die Absicht, Zalen am folgenden Tag nicht aufzusuchen. Er hatte etwas, das ich haben wollte, und ich würde wie beabsichtigt dafür bezahlen. Da er jetzt wusste, dass ich bewaffnet war, würde er von feindseligen Handlungen gewiss absehen. Als ich mich umdrehte, um wieder zur Straße zurückzugehen, sah ich das Haus. Es musste Marys Haus sein. Nur ganz schwach drang das Sonnenlicht durch den dichten Schirm aus Blättern und Ästen. Der in dieser Region nur spärlich fallende Regen hatte bewirkt, dass der Waldboden trocken wie Zunder war. Das, was ich da sah, tat ich anfänglich als Hügel ab, doch bei konzentrierterem Hinschauen erkannte ich kleine, einfach verglaste Fenster inmitten eines riesigen Efeuteppichs. Schließlich entdeckte ich Ecken, die weniger überwuchert waren, sowie ein Schieferdach und einen Kamin aus alten fleckigen Ziegelsteinen, die noch aus der Zeit vor der Revolution stammten. Hinter dem eckigen und mit Efeu überwucherten Haus befand sich jedoch eine sonnenüberflutete Lichtung, auf der eine einsame, winzige Gestalt umherzutollen schien. Als ich genauer hinblickte, sah ich, dass es sich um einen Jungen handelte, der Pfeile mit einem einfachen, mehr als wahrscheinlich selbst angefertigten Bogen abschoss. Die Pfeile waren jene für Kinder hergestellten mit Gummisaugnapf an der Spitze, und der Junge schoss damit auf einen alten, aufgestellten Fensterrahmen, in dem sich noch das Glas befand. Das war also eines von Marys älteren Kindern. Seltsam bloß, dass nur eines im Freien zu sehen war. So nah beim Haus hätte ich erwartet, all ihre acht Kinder sehen oder zumindest hören zu können. Sie hat angedeutet, dass ihr Stiefvater auf die jüngeren aufpasst, fiel mir wieder ein. Dennoch wirkte das Haus merkwürdig leise. Augenblicklich kam ich mir wie ein Eindringling vor. Nur weil ich Zalen verfolgt hatte, war ich überhaupt so weit in den Wald hineingelaufen. Dennoch, trotz des Drangs zu gehen, blieb ich stehen und starrte das überwucherte Haus an. Der Impuls, in ein Fenster zu sehen, war sehr stark, aber ich riss mich zusammen. Nicht nur wäre dies die Tat eines Flegels – der ich nicht war –, sondern es wäre sogar illegal. Ich habe nicht das Recht, mich hier aufzuhalten, und sollte gehen. Aber ich wunderte mich doch über die Motive meines Unterbewusstseins – oder meines Ichs, wie Freud es nannte. War es Mary, die mein Ich zu erspähen hoffte? Als ich mich umdrehte, um zu gehen, hätte ich beinahe laut aufgeschrien. Da, unmittelbar vor mir stand der Junge. Ich erholte mich rasch von dem Schreck. »Hallo, junger Mann. Mein Name ist Foster Morley.« »Hallo«, erwiderte er errötend. Er war dünn, hatte strahlende Augen und sah aus wie so viele Kinder: neugierig und unschuldig. Ich schätzte ihn auf etwa zehn – das war bei Heranwachsenden immer schwer zu sagen –, und er trug saubere, wenngleich abgenutzte Kleidung. In einer Hand hielt er seinen einfachen Bogen und in der anderen einen Köcher mit den Saugnapfpfeilen. Nach einem Moment fügte er hinzu: »Mein Name ist Walter, Sir.« »Freut mich, dich kennenzulernen, Walter.« Schüchtern schüttelte er mir die Hand. »Lautet dein Nachname zufälligerweise Simpson?« Er wirkte freudig überrascht. »Ja, Sir.« »Das ist aber ein Zufall! Ich bin ein Freund deiner Mutter. Heute Morgen haben wir uns erst bei Mr. Baxter unterhalten. Du kannst stolz darauf sein, eine so hart arbeitende Mutter zu haben.« Er schien sich über diese Information zu wundern. »Ja, Sir, ich bin sehr stolz auf sie, ebenso wie Opa.« Sein »Opa« konnte nur Marys Stiefvater sein. »Er schläft jetzt«, fügte er hinzu. »Er ist … alt.« »Ja, und den Älteren muss man immer Respekt erweisen.« Ich sah mir seinen einfachen, aus Zweigen zusammengebauten Bogen an. »Du bist ja ein richtiger Bogenschütze, Walter. Übung macht den Meister.« Dann zeigte ich auf das Fenster, das er als Ziel benutzte und an dem schon mehrere Pfeile hingen. »Und bei deinen beeindruckenden Fähigkeiten könntest du einmal im Olympia-Team der Bogenschützen stehen.« »Glauben Sie wirklich?«, fragte er aufgeregt. »Natürlich, wenn du dabeibleibst und immer fleißig übst. Wenn du älter bist, musst du mit einem richtigen Bogen trainieren, aber ein so vorsichtiger Junge wie du braucht gewiss nicht mehr lange darauf warten.« »Meine Mom sagt, ich bekomme einen richtigen Bogen, wenn sie genug Geld verdient, um einen zu kaufen. Aber ich darf ihn nur benutzen, wenn sie zusieht.« »Das ist ein guter Ratschlag, mein Sohn. ›Ehre deine Mutter‹, wie es in der Bibel steht.« »Sind Sie hier, um … sie zu sehen?«, erkundige er sich. »Sie ist noch bei der Arbeit.« Ich wollte den Jungen nicht anlügen, konnte ihm aber auch nicht verraten, dass ich hier in der Nähe einen Verfolger gejagt hatte. »Nein, Walter, ich habe nur einen Spaziergang in der Natur gemacht, als ich zufällig auf dich und dieses Haus gestoßen bin. Diese Wälder sind eine wahre Wohltat für mich, da ich die meiste Zeit in der Stadt verbringe, in Providence.« »Oh. Ich laufe auch oft durch den Wald, Sir.« Er deutete hinter das Haus. »Da vorne ist ein schöner Weg, der durch den Wald hindurch bis zur Stadt führt. Da lang geht meine Mom jeden Tag zur Arbeit.« »Danke für diesen Tipp, junger Mann«, schwärmte ich. »Bestimmt werde ich auf diesem Weg zurückgehen. Aber verrate mir doch mal, warum du hier draußen ganz alleine bist? Du hast doch sicher Brüder und Schwestern, die alt genug sind, dass du mit ihnen spielen kannst.« Seine Augen wirkten auf einmal leer, als hätte ich ihm eine schwierige Frage gestellt. »Ich muss jetzt gehen und meinem Opa helfen, Sir.« »Natürlich. Du bist ein guter Junge, dass du deinem Großvater beistehst.« Mehr konnte ich nicht sagen, da ich das Gefühl hatte, er würde auf der Stelle weglaufen, wenn ich ihn mit meiner vorigen Frage weiter bedrängen würde. Aber mir schoss durch den Kopf: Mary hat noch sieben weitere Kinder. Sind die alle in dem Haus? »Aber bevor du gehst, Walter, möchte ich dir etwas schenken.« Vermutlich überschritt ich damit einige Grenzen, aber ich konnte nicht widerstehen. »Und ich bin mir sicher, dass dir deine Mutter und dein Großvater geraten haben, von Fremden nichts anzunehmen, aber wir beide sind ja keine Fremden, nicht wahr?« »Nein, nicht wirklich, Mr. Foster«, erwiderte er und schien gespannt auf das erwähnte Geschenk zu sein. »Ich möchte, dass du das hier nimmst und dir einen besseren Bogen kaufst«, sagte ich und reichte ihm eine Zehndollarnote. »Und wäre es nicht nett, wenn du von dem, was dann noch übrig ist, deiner Mutter ein paar Blumen kaufst?« »Oh, ja, Sir, das wäre es!«, rief er freudig aus. »Und wenn deine Mutter fragt, woher du das Geld hast, dann sagst du einfach,von ihrem Freund, Mr. Morley.« »Danke, Sir. Vielen Dank!« »Gern geschehen, Walter. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Ich lächelte, als er zu dem flachen Haus stürmte, eine kaum erkennbare Tür öffnete und im Inneren verschwand. Was konnte es schon schaden? Ich hoffte nur, dem Jungen eine Freude gemacht zu haben. Während ich mich auf die Suche nach dem Weg hinter dem Haus machte, kam ich in der einen Richtung nicht weiter … und mir gingen weitere Fragen durch den Kopf. Wo genau waren die anderen Kinder? Und warum hatte Walter meine Frage nicht beantworten wollen? Ich ging um das Haus herum auf die Lichtung zu, behielt dabei jedoch die Fenster im Auge. Das letzte Fenster, das ich vor Erreichen der Lichtung passierte, war fast vollständig mit Efeu bedeckt. Was konnte ich zu meiner Rechtfertigung sagen, falls mich der Stiefvater erwischte, während ich hindurchsah? Und dennoch blickte ich durch das Fenster, dachte nicht an mögliche Konsequenzen, und warum ich es tat, werde ich wohl niemals wissen. Ich weiß nur, dass ich wünsche, ich hätte es nicht getan. Durch das verschmierte Fensterglas blickte ich in ein kleines Zimmer mit einer bescheidenen Feuerstelle, neben der noch ein Holzofen stand, sowie einigen Möbeln, die man nur als behelfsmäßig beschreiben konnte. Irgendwie beeindruckte es mich, wie sie ihre ärmliche Situation verbessert hatten, in dem sie Dinge – wie Schachteln, Kisten und lose Ziegelsteine – zu alternativen Zwecken wiederverwendeten. Mehrere Kisten bildeten beispielsweise die Grundlage für ein Bett und offensichtlich übernahm ein großer Leinensack voller getrockneter Blätter die Aufgabe einer Matratze, über die man übliche Laken gelegt hatte. In einem Schrank standen nicht etwa Trinkgläser, sondern benutzte Blechdosen, die demselben Zweck dienten. Ein Tisch, dessen Platte aus hölzernen Wandpaneelen unterschiedlicher Länge bestand, besaß Beine aus dicken Baumstämmen. Dieser Einblick in ihr Elend schmerzte mich … und ich kalkulierte bereits, wie sehr mein Wohlstand in der Lage wäre, dieser armen, aber funktionierenden Familie zu helfen. Ich duckte mich, als eine Tür im Inneren geöffnet wurde. Zuerst war nur der junge Walter zu sehen, dann folgte eine zusammengesunkene Gestalt, die von einem klappernden Geräusch begleitet wurde. Nur das wenige Tageslicht, das durch die kleinen Fenster hineinfiel, spendete ein wenig Licht. Als ich blinzelte, glaubte ich zu erkennen, dass die Gestalt an Krücken ging, und obwohl sie sich durch einen dunklen Bereich bewegte, erkannte ich langes, graues Haar, was mir sagte, dass es sich nur um Marys Stiefvater handeln konnte; Walter half ihm, zu dem behelfsmäßigen Bett zu gelangen. Ein seltsames, protestierendes Geräusch erklang, als er das Bett endlich erreicht und sich unter großen Schwierigkeiten hineingelegt hatte. Ich konnte so gut wie nichts im Detail erkennen, aber das große Ausmaß seiner Gebrechen – eine massive Form der Arthritis, mutmaßte ich – war anhand seiner gebeugten Gliedmaßen völlig klar. Fehlten an der Hand, die ein Stück Karton aufhob, um sich damit Luft zuzufächeln, etwa … einige Finger? »Hier hast du etwas Wasser, Opa«, sagte Walter und brachte ihm eine der Blechdosen. Aus dem mir zu Verfügung stehenden Blickwinkel sah ich nur, dass Walter die Dose vorsichtig anwinkelte, damit er daraus trinken konnte. Bei dem überlauten Schluckgeräusch zog ich die Augenbrauen hoch. »Ähm, Opa«, setzte Walter an. »Da draußen war ein Mann. Er ist ein Freund von Mom, und sein Name ist Foster Morley …« Die schrecklich gelähmte Gestalt schien sich aufzusetzen, und währenddessen sah ich eine tragisch unnatürliche Verdrehung ihres Rückgrats. Aber es waren Walters Worte, die seine Bewegung ausgelöst hatten. »Und er … er hat mir das hier gegeben.« Der Junge zögerte, dann zeigte er den Zehndollarschein. »Damit ich Mom ein paar Blumen kaufe.« Die Reaktion des Stiefvaters auf diese Information werde ich nie im Leben vergessen. Er kam schlingernd hoch, wodurch sich sein Rücken noch weiter durchbog, streckte eine deutlich deformierte Hand aus und stieß dann einen Laut in einer Sprache aus, die ich noch nie zuvor gehört hatte: ein hohes, fast schon gequält klingendes Kreischen, vermischt mit einem tiefen Knurren, das sich zu einem meiner Ansicht nach verrückten lauter und leiser werdenden Quieken vereinte und von einem Klang begleitet wurde, der sich anhörte, als würde Flüssigkeit verspritzt. Die Plötzlichkeit – und Unweltlichkeit – des lautstarken Widerspruchs traf mich fast schon körperlich, als hätte man mir einen Ball gegen die Brust geschlagen. Ich taumelte rückwärts, behielt das Stück Fenster jedoch weiterhin im Auge, und alles, was ich sagen kann, über, was ich denke, was ich sah, ist Folgendes: Etwas schoss aus den Schatten hervor, die diesen schwachen Mann umgaben. Was dieses Etwas war, kann ich nicht akkurat beschreiben. Es konnte ein Stück Seil oder auch eine Peitsche gewesen sein, das mit klar erkennbarer Bosheit auf den Jungen zuflog. Ich kann nur sagen: Es erinnerte mich an eine Peitsche. Diese Peitsche schlug mit einem feuchten, aber resoluten Knall zu und schien Walter die Zehndollarnote aus der Hand zu reißen, um dann wieder zu dem kranken alten Mann zurückzukehren. Erneut stieß er diesen Mix aus furchtbaren tiefen Tönen und dem Kreischen aus, und dann folgte dieses schaurige phlegmatische Platschen, woraufhin der Junge vor meinen Augen erbleichte und aus dem Zimmer rannte. Eine schlimme Krankheit, fürwahr, hatte diesen armen alten Mann befallen, und zwar nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist. Ich konnte das Ganze nicht länger mit ansehen und flüchtete zu der Lichtung hinter dem Haus, stürzte in das Sonnenlicht und einen Schwarm Schmetterlinge und rannte – halb von Sinnen – noch ein ganzes Stück weiter, bis ich den Pfad entdeckte, von dem der Junge gesprochen hatte. Über angeborene Defekte und progressive Krankheitsbilder wusste ich herzlich wenig, und obwohl mein Sinn für Mitleid und Mitgefühl ausgeprägt war, musste ich das Bild dieses dementen und unansehnlichen Mannes mit Gewalt aus meinem Kopf verbannen … Während ich den Pfad des Jungen entlangging, war ich mir meiner Umgebung mehrere Minuten lang nicht wirklich bewusst. Mein Herz pochte nach all dem, was ich gesehen hatte, wild in meiner Brust, und ich atmete schnell. Nach und nach kam ich wieder zu Sinnen, bis ich innehielt, die Hände auf die Knie stützte und mich ausruhte. Mein schneller Abgang von dem verfluchten Haus hatte mich auf einen Trampelpfad geführt, der an beiden Seiten von mannshohem Gras umgeben war. Insekten zirpten, und die Sonne strahlte auf mich herab. Es war nur die Dunkelheit in diesem einsamen Haus, dachte ich, und meine Fantasie, die mir das, was ich gesehen habe, grotesk ausgemalt hat. Ausgerechnet Cyrus Zalen und seine allzu zutreffenden Vermutungen hinsichtlich meiner aktuellen Lebensumstände kamen mir wieder in den Sinn. Ein reicher Waschlappen. Mein unverdienter privilegierter Status hatte mich von derartigen tragischen Realitäten abgeschirmt, mit denen sich jene, die weniger Glück gehabt hatten, herumschlagen mussten, und das war einfach nicht richtig. Ich musste diese schrecklichen Realitäten kennenlernen – und ihre Konsequenzen –, um zu dem besseren Mann zu werden, wie Gott es mir gewiss vorherbestimmt hatte. Mein Mitgefühl durfte nicht gespielt sein, mein Mitleid nicht bewusst kreiert. Ich sah mich selbst als Philanthropen, der jenen, die weniger hatten, gerne etwas abgab. Ich wusste, dass ich mehr geben musste, und dass es nicht einfach nur Geld sein durfte. Sanfte Stimmen rissen mich aus meinen Gedanken. Als ich den Kopf drehte, blitzte großflächig ein Schimmer auf. Durch das hohe Gras erkannte ich einen bescheidenen See, auf dem sich das Sonnenlicht widerspiegelte. Aber die Stimmen … Ich musste meine Augen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Dort, am Ende eines kurzen Piers, saßen zwei Frauen, eine honigblond, die andere mit obsidianfarbenem Haar. Beide waren nackt und unterhielten sich angeregt, während sie ihre Füße ins Wasser baumeln ließen. Etwas weiter im Wasser schwamm eine kleine Flasche, die als Boje diente. Der nackte weiße Rücken der Mädchen glänzte in der Sonne, aber die ruhige Szenerie spiegelte nicht die Stimmung der Dunkelhaarigen wider, die fauchte: »Ich hasse es einfach, Cassandra! Es macht mich krank – ihr Zustand, meine ich. Und ich muss heute Abend schon wieder hin. Oh Gott, ich verabscheue es so sehr.« »Dann bist du also noch nicht so weit?«, erkundigte sich die andere. »Nein, ich glaube nicht. Sie zwingen mich hinzugehen – jeden Abend –, bis sie sich sicher sind!« Das Mädchen schien zu würgen. »Und ich muss gleich zu mehreren! Einer reicht nicht! Es müssen jeden Abend mindestens zwei sein, und ich habe gehört, sie haben zwei weitere bekommen. Wie viele sind das insgesamt, sieben?« »Sechs, glaube ich. Vergiss nicht, dass einer gestorben ist, und der lockige Mann konnte nicht … du weißt schon. Man weiß nie, wann einer von ihnen auf einmal nicht mehr gut genug ist. Manchmal enden sie so wie Paul.« Paul! Der Name bewirkte, dass ich die Ohren spitzte. Gut, es war ein recht häufiger Name, aber meinten sie damit vielleicht Marys invaliden Bruder? »Ach, Scheiße!«, meinte die schwarzhaarige Frau überraschend profan. »Einer am Abend sollte genügen!« »Es ist so, wie es der Doktor gesagt hat, Monica. Mit je mehr du es tust, desto größer ist die Aussicht auf Erfolg …« Wovon in aller Welt sprechen sie da?, fragte ich mich verwirrt. Und … der Doktor? Meinten sie Dr. Anstruther? »Darum testet er sie so oft«, fuhr die Honigblonde fort. »Um sicherzugehen, dass sie nicht ihre … Ich habe das Wort vergessen. Portens? Nein, Potenz verloren haben.« Bei diesen seltsamen Worten wurde mein Gesicht immer länger. »Aber sie sind so hässlich!«, kreischte die Dunkelhaarige, Monica, empört auf. »Davon bekomme ich Albträume.« Die Honigblonde, Cassandra, nahm Monicas Hand, um sie zu trösten. »Es ist, wie sie sagen, du musst mit der richtigen Einstellung an die Sache herangehen. Es geht nicht ums Vergnügen, sondern um etwas sehr viel Wichtigeres. Es ist egoistisch, so zu denken, wie du es tust. Und sie müssen so sein, wie sie sind – sicherheitshalber …« »Argh! Es ist so furchtbar …« »Das musst du mir nicht sagen, Monica. Ich hatte schon sechs Babys. Aber so läuft es hier nun mal. Es ist besser für unsere Zukunft.« »Ich weiß nicht, wie du das sechs Mal ertragen konntest!« Cassandra antwortete verträumt: »Schließ einfach die Augen und denk an etwas Schönes, Monica. Stell dir vor, bei jemand anderem zu sein, bei jemandem, der gut aussieht, der stark und süß ist und …« »Bei jemandem, der normal ist!« Monica war noch lange nicht besänftigt. »Nicht alle Mädchen machen, was die wollen.« »Nein, aber so bleiben wir in deren Gunst, wie es der Doktor gesagt hat.« Monica schien kurz davorzustehen, in Tränen auszubrechen. »Gott, warum kann ich nicht wenigstens ein Mal einen richtigen Mann haben? Manchmal würde ich am liebsten einfach abhauen.« »Pst! Sag doch nicht so was«, schalt Cassandra sie. »Wir beide wissen, was mit Mädchen passiert, die probieren wegzugehen …« Verwunderter hätte ich nicht sein können als jetzt, während ich der geheimnisvollen Unterhaltung lauschte … »Ich sollte lieber mal nach der Falle sehen«, meinte Cassandra und sprang in das Wasser, das ihr bis zur Brust reichte. Sie watete zu der behelfsmäßigen Boje hinüber. Derweil stand Monica auf und streckte sich mit den Händen hinter dem Rücken. Dabei drehte sie sich um, sodass ich einen Blick auf ihren Körper werfen konnte, der wunderschön und gertenschlank war. Sie konnte nicht älter als achtzehn sein. Als sie sich weiter umdrehte, blickte sie in meine Richtung und streckte sich immer noch. Das glänzende schwarze Haar wurde von einer vom See kommenden Brise verweht. Sie war ein exotischer Anblick mit ihren kleinen Brüsten, den langen Beinen und dem flachen Bauch. Ich wollte mich abwenden, da mir mein unabsichtlicher Blick gänzlich unangemessen erschien, doch dann kehrte Cassandra zurück. Sie kletterte über die Leiter zurück auf den Pier und hielt eine kleine, mit Flusskrebsen gefüllte Falle aus Draht in der Hand. Im Gegensatz zu Monica war Cassandra im neunten Monat schwanger. »Sieh mal, sie ist voll!«, jubelte sie und hielt die Falle mit den umherkriechenden Tieren hoch. Monica kam zu ihr herüber. »Wow, das sind aber viele.« Sie hob die Falle vorsichtig an. »Das müssen ja zehn Pfund sein. Wir können gleich für mehrere Tage Eintopf kochen.« Während ich sie weiter belauschte, achtete ich auf nichts anderes mehr … und meine Finger wurden müde. Ich ließ meine Aktentasche fallen … Das Geräusch war zu deutlich; beide Mädchen sahen augenblicklich fragend in meine Richtung. Konnten sie mich sehen? Ich blieb regungslos stehen. »Ich glaube, da ist jemand«, vermutete Cassandra, dann hob sie einen Finger an die Lippen. »Hoffentlich sind es nicht sie …« »Sieh mal! Da drüben!« Monica deutete direkt auf das hohe Grasbüschel, hinter dem ich mich versteckte. »Ist es …« »Nein, es ist ein Mann! Ein richtiger Mann!« Sie kam vom Pier aus näher, immer noch nackt. »Hey, warten Sie! Kommen Sie her!« Ich schnappte mir meine Aktentasche und rutschte aus. »Nein!«, jaulte Monica. »Gehen Sie nicht! Bitte! Wir können Sie sehr glücklich machen! KOMMEN SIE ZURÜCK!« Ich hatte nicht die Absicht, ihr Folge zu leisten. Meine Füße trugen mich rasch den engen Weg entlang und ich konnte nur hoffen, dass keines der Mädchen mein Gesicht gut genug hatte sehen können, um mich später wiederzuerkennen. In der Ferne hörte ich Monica traurig sagen: »Oh, SCHEISSE! Er ist weggerannt!« Ich wurde erst langsamer, als ich die Stadtmitte erreicht hatte und dankbar das Hilman House betrat … * * * In der Sicherheit meines Zimmers setzte ich mich aufs Bett, um wieder zu Atem zu kommen. Ich schaltete das Radio ein, da mich die Musik zurück in die Normalität bringen würde, und entspannte mich augenblicklich, als »Our Love« von Tommy Dorsey ertönte. Danach folgten jedoch die stündlichen Nachrichten: Der Oberste Gerichtshof erklärte einen Arbeiterstreik für unzulässig, General Francisco Franco hatte Madrid mit seinen Faschistentruppen übernommen, ein Wissenschaftler namens Fermi warnte die Regierungen der Alliierten, dass es jetzt einen Prozess gebe, bei dem Atome gespalten werden, wodurch eine gewaltige Zerstörungskraft freigesetzt werde. Keine dieser Nachrichten klang hoffnungsvoll; ich schaltete das Gerät wieder aus. Die Ablenkung, auf die ich gehofft hatte, war sabotiert worden. Was genau hatte sich heute eigentlich zugetragen?, fragte ich mich desillusioniert. Ich versuchte angestrengt, eine logische Erklärung zu finden für das, was ich gesehen und gehört hatte, doch es gelang mir nicht. Das alles wollte für mich keinen Sinn ergeben, doch ich überlegte mir, dass es mir in meinem erregten und erschöpften Zustand guttun würde, zur Ruhe zu kommen, um meine Gedanken zu sammeln. Die Hitze des Tages sowie mein schnelles Laufen hatten bewirkt, dass ich ziemlich schmutzig und verschwitzt war, daher nahm ich ein kühles Bad. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen … Doch trotz des kühlen Wassers überkam mich eine heftige Müdigkeit, die mich immer wieder eindösen ließ. Traumschnipsel quälten mich: Bilder, nicht nur verworrene, sondern auch abscheuliche. Der Mann in dem einfachen Haus, deformiert durch ein katastrophales arthritisches Syndrom, der feuchte, widerliche Beschimpfungen in einer unverständlichen Sprache ausstieß und dann mit dieser Peitsche oder was immer es gewesen war, nach dem jungen Walter schlug. Und die beiden nackten Mädchen am Pier, die eine schwanger und die andere offensichtlich voller Furcht vor einer Schwangerschaft, aber dennoch resignierend … Ihre rätselhaften Worte erklangen immer wieder in meinem leichten Schlummer: … Es macht mich krank – ihr Zustand, meine ich … … Dann bist du also noch nicht so weit? … … Sie zwingen mich hinzugehen – jeden Abend –, bis sie sich sicher sind! … … Manchmal enden sie so wie Paul … Die Worte verschwammen ineinander, und dann konnte ich rasiermesserscharf ihre Körper vor mir sehen, ihre strahlende nackte Schönheit, ihre glänzende weiße Haut und ihre femininen Formen, die ich verbotener- und falscherweise zu Gesicht bekommen hatte in all ihrer Exotik … Möglicherweise war ich eingeschlafen, als diese deutlichen Bilder plötzlich verbannt wurden … durch das von Mary … Zuerst nur von ihrem schönen Gesicht und ihrer einfachen, ehrlichen Art sowie von einigen ihrer Bemerkungen. … Ein gut aussehender Gentleman wie Sie mit so guten Manieren hat nie geheiratet? … Und dann eine teuflische Verschmelzung: der erste faszinierende Blick auf sie, während sie im Baxter’s arbeitete, sich langsam wandelnd zu der schändlichen und ausbeuterischen Fotografie, die ich dem widerlichen Cyrus Zalen abgekauft hatte: Mary, nackt, schwanger und provokativ fotografiert als visuelles Futter für Degenerierte … Die Endgültigkeit dieses Bildes riss mich aus meinem Schlummer, und ich bin mir sicher, dass ich hörbar aufgestöhnt habe. Die plötzliche Unruhe war – wie ich peinlich berührt zugeben muss –, ein ungezügeltes körperliches Verlangen der höchst sündhaften Art. Ich war fleischlich erregt, und obwohl ich in der Vergangenheit immer mehr als nur einen guten Job geleistet habe, abstinent zu leben, ließ sich die grundlegende Notwendigkeit jetzt nicht unterdrücken. Ich möchte nicht ins Detail gehen, sondern nur sagen, dass mich meine Lust zu dem trieb, wofür einsame Männer bekannt sind, dass sie es in derartigen Momenten der Schwäche tun, und danach – voller Scham – betete ich zu Gott, dass er mir diesen verderbten und höchst unverschämten Angriff auf seine Gnade vergeben möge … Peinlich berührt lag ich in der Klauenfußwanne, doch dann riss ich erschrocken die Augen auf … Ich hatte ein plötzliches, nicht zu leugnendes Geräusch vernommen: ein heftiges Einatmen. Es war ein ansprechendes, laszives Geräusch, das mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Frau stammte. Ich starrte auf die gegenüberliegende Wand, mit einem Male überwältigt von dem Gefühl, beobachtet zu werden. Aber falls dem so war … Von wo genau? Ich sprang aus der Badewanne, zog mir einen Bademantel an, und wie ein Paranoiker begann ich tatsächlich, die gegenüberliegende Wand und die Decke über der Wanne abzusuchen. Aber ich stieß auf keinerlei »Guckloch«; Minuten später ärgerte ich mich über meine törichte Überreaktion. Das Geräusch, das ich zu hören geglaubt hatte, war höchstwahrscheinlich ein Überbleibsel meiner Träume, meines ermüdeten Körpers und meines ermatteten Geistes. Um Himmels willen!, spottete ich. Wer sollte ausgerechnet mich bespitzeln? Mein neuer Pierce-Chronograf, eine Armbanduhr, zeigte mir, dass meine Verabredung zum Abendessen schnell näher kam. Ich puderte mich, putzte mir die Zähne mit einem neuen Produkt, das Listerine-Zahnpasta genannt wurde, und zog meinen Abendanzug an. Auch wenn ich mich auf das Abendessen mit Mr. Garret freute, waren meine Gedanken hauptsächlich bei einer anderen Verabredung: der zum Mittagessen am folgenden Tag mit Mary. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, sie mit meiner erniedrigenden und selbstmissbräuchlichen Tat vorhin beschmutzt zu haben, eine absurde Abstraktion, aber so war ich. Nichtsdestotrotz würde ich nicht gehen, bevor ich nicht eine einfache Sache erledigt hatte. Ich setzte mich an den kleinen Schreibtisch, der in meinem Zimmer stand, und öffnete meine Aktentasche. Aus dieser holte ich den Ordner hervor, den ich Mr. Zalen abgekauft hatte, und zog das zuunterst liegende Foto von Mary hervor. Mit abnehmender Grimmigkeit erlaubte ich mir, es anzusehen … Die Schärfe, der Kontrast und die Gesamtklarheit des Bildes schienen mir jetzt noch stärker zu sein als zuvor. Und erneut wirkte diese Fusion von Marys objektiver körperlicher Schönheit mit dem erschreckenden ausbeuterischen Motiv erdrückend auf mich: diese anmutige und überschwängliche Pose, nur für den visuellen Bedarf gottloser, zur Perversion neigender Männer. Jedes Element der Fotografie schien Lust auszustrahlen: Marys bodenlose, funkelnde Augen; ihr sinnliches Lächeln; die hohen Brüste mit den dunklen Brustwarzen, die voller Milch waren; die schlanken, schön geformten Beine. Mir fiel auf, dass jeder Zentimeter ihres makellosen nackten Körpers entweder vor Schweiß glänzte oder mit einem Öl eingerieben worden war, was bewirkte, dass ihr ganzes Bild schimmerte, als wäre es innerhalb der Grenzen des Fotopapiers lebendig. Aber ich würde nicht der Wolllust unterliegen, zu der dieses Bild mich zu verleiten versuchte. Nur der Liebe. Eine monströse Welt ist das, die so etwas zulässt, fand ich. Dass die Armen und die Verzweifelten für die niedersten Instinkte versklavt werden. Ich holte eine kleine, zusammenklappbare Schere aus meiner Reisetasche und begann, das Foto in kleine Stücke zu schneiden. Ich arbeitete mich vom Rand nach innen vor, bis nur noch das winzige Quadrat mit Marys wunderschönem Gesicht übrig war. Die Fetzen warf ich weg; das Quadrat jedoch versteckte ich in einem Fach in meiner Brieftasche. Dann ging ich die Treppe hinunter; als ich mich dem Erdgeschoss näherte, öffnete sich die Tür zum Atrium, bevor ich danach greifen konnte, und auf einmal stand ich vor einer schlanken, attraktiven jungen Frau in einem schönen, aber einfachen Kleid, wie es viele Frauen in den wärmeren Monaten bevorzugten. Sie war auf dem Weg nach oben, während ich nach unten ging. Sie schenkte mir ein sanftmütiges Lächeln und nickte, als sie näher kam. »Guten Tag.« »Hallo«, erwiderte sie, als ob sie schüchtern wäre. Als sie mich passierte, erschrak ich bis ins Innerste; ich hatte so lange gebraucht hatte, um die schlanke Gestalt und das obsidianschwarze Haar zu erkennen. Monica, war ich mir sicher. Eines der Mädchen vom Pier … Augenscheinlich hatte sie mich nicht als den Eindringling erkannt, den sie nur wenige Stunden zuvor so leidenschaftlich angefleht hatte. Sie wird doch nicht hier wohnen … Vielleicht war sie hier als Zimmermädchen angestellt. Aber, ehrlich, warum sollte ich mir Sorgen machen? Ich hörte ihre leisen Schritte, als sie die Treppe hinaufstieg, dann an mir vorbei ins Atrium ging, doch als die Tür langsam hinter mir zufiel – ich weiß nicht genau, warum ich das überhaupt bemerkt habe –, schienen die Schritte sehr schnell aufzuhören. Ich bin mir auch nicht sicher, was mich zu meiner nächsten Tag bewogen hat. Ich ging zurück ins Treppenhaus und blickte nach oben. Von Monica war nichts mehr zu sehen, aber dann … Klick! Ich registrierte das Geräusch schnell genug, um zu der Tür im ersten Stock hinaufzusehen. Diese fiel vor meinen Augen ins Schloss. Der erste Stock, dachte ich. Die VERSCHLOSSENE Tür. Monica hatte aus welchem Grund auch immer eindeutig Zugang zu dieser Etage. Mit gerunzelter Stirn kehrte ich ins Atrium zurück. Allerdings war mir nicht ganz klar, warum mir das zu schaffen machte. Der freundliche Page und der Rezeptionist grüßten mich, als ich vorbeiging. Bei Letzterem angekommen, musste ich einfach nachfragen: »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, ich bin neugierig, aus welchem Grund der erste Stock verschlossen ist.« Es kann Einbildung von meiner Seite gewesen sein, aber sein übliches Lächeln und seine Gutmütigkeit schienen für einen Augenblick abzureißen. »Aber Sie wohnen doch im vierten Stock, Mr. Morley. Warum sollten Sie …« »Natürlich«, versuchte ich abweisend zu klingen. »Ich hätte vorausschicken sollen, dass ich versehentlich den ersten Stock für das Erdgeschoss gehalten habe.« Ich möchte dies nicht direkt als Lüge bezeichnen, sondern eher als bescheidene Abweichung von der Wahrheit. Doch der gutmütige Gesichtsausdruck des Mannes war bereits zurückgekehrt. »Ah, nun ja, diese Etage ist bis auf Weiteres gesperrt. Renovierung. Die Arbeiten sollten nicht länger als einen Monat dauern.« »Verstehe. Vielen Dank, dass Sie meine ziemlich sinnlose Neugier befriedigt haben. Ich hätte es mir denken können.« Dann wünschte ich ihm einen guten Abend. Nach Überqueren der Straße erwartete mich im Wraxall’s ein appetitanregender Duft. Das Restaurant sah makellos aus und war mit einfachen Stühlen und Tischen in einem nicht wirklich überraschenden nautischen Gesamtbild eingerichtet. An den Wänden hingen Fotos alter Fischer in Regenjacke, die stolz beachtliche Fische in die Luft hielten, ein Steuerrad, ein Schiffsfenster und mehrere Fischnetze mit Schwimmern verzierten die Ecken. Ich hielt es für möglich, dass dieses Restaurant vor dem Wiederaufbau die düstere Cafeteria gewesen war, in der Robert Olmstead widerstrebend und unter den sonderbaren Blicken heruntergekommener Kerle gegessen hatte. Messinglaternen, originellerweise mit Kerzen im Innern, verzierten die Holztische. Doch meine Augen verengten sich, als ich bemerkte, dass Mr. Garret nirgends zu sehen war. Nur ein Tisch war besetzt, von einem Paar, das sich leise unterhielt. Als die Kellnerin mit der Speisekarte erschien, war sie sprachlos. Ich hätte mich nicht mehr freuen können. Es war Mary … »Oh, Mary, was für eine angenehme Überraschung.« Ich versuchte, meine Freude in Zaum zu halten. »Foster!« Sie lächelte mich an und drückte mir eine Hand gegen den Rücken, um mich in die Ecke zu schieben. »Nehmen Sie die Fensternische. Von dort aus kann man wunderbar den Sonnenuntergang beobachten. Ich bin so froh, dass Sie kommen konnten.« »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier ebenfalls arbeiten.« »Oh, ich springe nur manchmal ein. Aber die Bezahlung ist nicht übel, nun, da unser wunderbarer Präsident das Mindestlohngesetz unterschrieben hat.« Ich hatte davon gelesen: ziemlich schäbige vierzig Cent pro Stunde. Aber ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass Glück – und die harte Arbeit meines Vaters, nicht meine eigene – mir einen wesentlich wohlhabenderen Status verschafft hatten als den der meisten anderen. Sie füllte mein Wasserglas, während ich mich setzte. »Haben Sie einen schönen, ruhigen Ort gefunden, um Ihr Buch zu lesen?« »Oh, Schatten über Innsmouth …« Ich hatte beinahe vergessen, dass dies mein ursprüngliches Ziel gewesen war. »Eigentlich war ich so damit beschäftigt, die Stadt zu durchstreifen, dass ich gar nicht dazu gekommen bin. Morgen aber. Nach unserer Verabredung zum Mittagessen, die, wie ich von ganzem Herzen hoffe, noch immer steht.« Auf einmal seufzte sie und ließ dramatisch den Kopf hängen. »Machen Sie Witze? Ich kann es kaum erwarten. Das wird mein erster freier Nachmittag seit Wochen sein.« Diese Worte beunruhigten mich. »Mary, es gibt nichts Bewundernswerteres als einen schwer arbeitenden Menschen«, dann beugte ich mich näher an sie heran, »aber ich wünschte, Sie müssten sich nicht so plagen, wo Sie doch ein Kind erwarten.« »Sie sind so süß, Foster«, erwiderte sie grinsend und drückte meine Hand. »Aber harte Arbeit ist das, worauf Amerika aufgebaut wurde, oder nicht?« »Ja, das ist wahr«, entgegnete ich leicht schuldbewusst. »Außerdem sagt Dr. Anstruther, es sei in Ordnung, bis zum achten Monat zu arbeiten, solange ich mich nicht zu sehr anstrenge.« Ich war sicher, dass dies stimmte, trotzdem war ich besorgt. Als sie sich vorbeugte, um mir die Speisekarte zu reichen, konnte ich ein wenig in ihren Ausschnitt sehen und erinnerte mich zuerst an die zerstörte Fotografie und als Nächstes an den einen Sekundenbruchteil währenden Blick, den ich im Hinterzimmer des Baxter’s auf ihren Busen hatte werfen können. Und hier war es erneut, dieses perfekte Tal aus Fleisch. Ich biss mir beinahe die Zähne ins Zahnfleisch, als ich den Blick abwandte. Großer Gott! Ich hoffte, sie hatte es nicht bemerkt. Ich benötigte eine weitere Ablenkung, aber diesmal braucht ich keine zu fabrizieren. Eine Schiffsuhr aus Messing an der Wand sagte mir, dass ich fünf Minuten Verspätung hatte. »Sagen Sie, Mary, ist ein ansehnlich gekleideter Mann Ende zwanzig hier gewesen? Braunes, kurzes Haar? Sein Name ist William Garret.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Foster. Mitte der Woche ist hier immer wenig los – wie man sagt: Freitag ist Fischtag. Später gibt es einen Ansturm, wenn die Fischer von den Docks zurückkommen. Aber ich fürchte, den Mann, den Sie beschrieben haben, habe ich nicht gesehen.« »Wir wollten uns hier treffen«, erklärte ich, zuckte dann jedoch mit den Achseln. »Macht nichts. Entweder kommt er zu spät oder er hat eine Anstellung gefunden. Er ist Buchhalter.« »Es könnte sein, dass einer der Großhändler einen Buchhalter braucht«, meinte sie. »Ja, das wird es wohl sein.« Es war offensichtlich. Vermutlich hatte er seinen Freund Mr. Poynter aufgespürt und Arbeit gefunden. Ich wünschte ihm von Herzen alles Gute. Wir hielten etwas Small Talk, dann gab ich meine Bestellung auf, die Marys Empfehlung entsprach: Fischsuppe, frittierte Ipswich-Muscheln und mit Krebsfleisch gefüllten Streifenbarsch. Ich genoss derartige Gerichte immer sehr und bedauerte Lovecraft, der ebenfalls aus New England stammte, aufgrund einer Abscheu gegen Meeresfrüchte jedoch nie den Genuss derartiger Köstlichkeiten teilen konnte. Ich bemühte mich, den Blick von Mary abgewendet zu halten, während sie ging, um an den anderen Tischen zu bedienen. Sie ist nur so … wunderschön, dachte ich immer wieder. Schließlich gingen die Gäste vom anderen Tisch, dann verließ ein Mann, der weiter hinten gesessen hatte, ebenfalls das Restaurant und schien den Block hinunterzugehen. Ehe ich mich versah, saß Mary mit zwei Malzcola mir gegenüber. »Ich liebe Ihre Gesellschaft, Mary, aber wird Ihr Arbeitgeber nicht …« »Machen Sie sich wegen Mr. Wraxall keine Sorgen«, versicherte sie mir und nippte an ihrem Getränk. »Er geht jeden Abend um sieben in die Bar – das Karswell’s – und spielt wenigstens drei Runden Sechserpasch. Daher kann ich ebenfalls eine Pause machen, während Ihr Essen zubereitet wird.« »Wie angenehm«, rief ich nahezu. Selbst gelassen dasitzend glänzten ihre Augen wie Diamanten, und ich konnte jetzt die Fülle ihres dunkelblonden Haares bewundern, nun, da es vom Haarnetz befreit war, das sie im Laden getragen hatte. Als ich mich erwischte, wie ich ihre Lippen musterte, die sich um den Strohhalm schlossen, zuckte ich ob der in dem Anblick liegenden plötzlichen Erotik fast zusammen. »Und wie war Ihr Umherstreifen?«, erkundigte sie sich. »Wunderbar, Mary. Ich glaube, ich habe dem meisten in der Stadt einen ordentlichen Besuch abgestattet …« »Die Docks?«, warf sie ein. »Oh ja, an den Docks war ich auch.« »Lassen Sie sich nicht davon abschrecken, wenn die Bootsleute nicht übermäßig freundlich waren«, erklärte sie. »Tatsächlich hat mich mein Freund Mr. Garret davor auch schon gewarnt, aber eigentlich sind mir diese Arbeiter nicht weiter aufgefallen.« »Das liegt nur daran, dass sie … wie lautet das Wort?« Sie legte eine Fingerspitze an die Lippen. »Besitzergreifend sind.« Das schien merkwürdig. »Besitzergreifend? Wie in aller Welt meinen Sie das?« »Sie mögen keine Fremden, Foster«, fuhr sie fort. »Fremde sollten nicht in unserem Hafen sein, sondern in deren eigenem bleiben. Wir schicken unsere Boote nicht nach Rockport oder Gloucester. Warum sollte es denen gestattet sein, ihre Boote zu uns zu schicken?« Nun ergab es einen Sinn; das war der Territorialismus, von dem Onderdonk so verbittert gesprochen hatte. Ein »Fremder« aus einer anderen Hafenstadt konnte leicht feststellen, wo die Fischerboote aus Innswich ihre Netze auslegten und wann sie rausfuhren. »Das scheint mir eine angemessene Faustregel«, sagte ich, »und ich freue mich, dass es der Fischindustrie der Stadt so gut geht.« Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Ich hoffe nur, dass es Ihnen ebenfalls gut geht, Mary.« »Was, mir? Mir geht es gut. Dank des Mindestlohns verdiene ich prompt mehr, und seitdem ich fünfundzwanzig wurde, erhalte ich eine monatliche Dividende vom Stadtkollektiv.« »Vom Stadt…kollektiv?« Ich kicherte halbherzig. »Das klingt ein wenig sozialistisch.« »Nein, es ist nur ein Gewinnbeteiligungsplan für Einwohner, die arbeiten und zur hiesigen Wirtschaft beitragen«, erklärte sie. »Der Großteil der Einnahmen kommt vom Fischfang. Ich bekomme das Geld jetzt seit drei Jahren, und jedes Jahr wird es ein bisschen mehr.« Sie senkte die Stimme. »Ich schäme mich, das zu sagen, aber wir haben zu Hause nicht einmal richtige Möbel, doch dieses Jahr werde ich dank des Kollektivs welche kaufen können.« Diese Bemerkung machte mich traurig; von meinem kurzen Besuch bei ihrem Haus erinnerte ich mich an die behelfsmäßigen Gegenstände, die Marys Armut sie zwangen, als Möbel zu benutzen. »Sie sind eine zielstrebige Frau, Mary, und mit all diesen Kindern? Plus Ihrem Bruder und Ihrem Stiefvater, für die sie sorgen müssen? Ihre Widerstandskraft ist wirklich bemerkenswert. Ich muss allerdings zugeben, dass ich heute Ihrem Sohn Walter begegnet bin. Was für ein guter Junge.« Dieses Eingeständnis schien sie zu bedrücken. »Sie … sind bei meinem Haus gewesen?« Nun musste ich meine Worte mit Bedacht wählen. »Eigentlich nicht. Ich kam bloß vorbei, als ich von dem Barbecuestand die Straße rauf zurückgekehrt bin.« Ihre Stimme schwankte. »Und … Sie sind … Walter begegnet?« »Das bin ich in der Tat. Was für ein tüchtiger junger Mann. Er übte – recht geschickt – seine Künste als Bogenschütze. Ich habe mich allerdings nur einen Moment mit ihm unterhalten.« »Aber Sie haben nicht meinen … Stiefvater … gesehen?« »Oh, nein, nein. Ich ging nur an Ihrem Haus vorbei«, wiederholte ich. »Ich mag Walter sehr, aber ich sage Ihnen, ich habe keine Spur von Ihren anderen Kindern gesehen. Sie haben doch insgesamt acht, richtig?« »Ja, aber sie sind alle jünger. Wahrscheinlich haben sie geschlummert.« »Zweifellos, an solch einem heißen Tag.« Die Versuchung nagte an mir, ihr einfach einen Scheck über 5000 Dollar auszuschreiben, für ein neues Haus, mit echten Möbeln, um ihr das Leben zu erleichtern. Aber ich fürchtete, wie das zu diesem Zeitpunkt aufgenommen würde … »Und ich hoffe, Sie sind nicht furchtbar enttäuscht von mir, Mary, aber die Umstände haben mich gezwungen, mein früheres Versprechen zu brechen«, gestand ich ihr. »Ich habe mich heute früher am Tag mit diesem Mr. Cyrus Zalen unterhalten …« »Oh, Foster, das haben Sie nicht getan!«, rief sie aus. Ich hob einen Finger in die Luft. »Es war kaum von Bedeutung, ehrlich. Sehen Sie, ich konnte Ihren Bruder doch nicht einfach des Fotos mit H. P. Lovecraft berauben; das erschien mir falsch. Und wie es das Glück wollte, besitzt Zalen noch immer das Negativ, und wir haben vereinbart, dass ich ihm morgen einen Abzug davon abkaufen werde. Aber Sie hatten mit einer Sache ganz recht«, sagte ich kichernd. »Er ist wirklich einer von der dubiosen Sorte.« Marys plötzlich niedergeschlagener Gesichtsausdruck ließ mich sofort bereuen, ihr diese Information überlassen zu haben. Aber mir gefiel der Gedanke einfach nicht, sie ihr vorzuenthalten. »Er ist ein böser Mann, Foster«, sagte sie. »Und er lebt in einer schmutzigen Gegend. Er ist drogensüchtig und ein Betrüger.« »Das bezweifle ich nicht, nachdem ich ihm begegnet bin.« »Und er nutzt Leute aus – Frauen, Foster. Arme Frauen.« »Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte ich. Jetzt schluckte sie schwer. »Ich bin mir sicher, dass er Ihnen … von mir erzählt hat.« Hier hatte ich keine andere Wahl, als sie anzulügen, um ihre Gefühle nicht zu verletzen. »Warum sagen Sie so etwas? Er kann überhaupt nichts über Sie sagen.« Sie griff über den Tisch und berührte meine Hand. »Foster, ich muss ehrlich zu Ihnen sein – weil ich Sie so sehr mag …« Diese plötzliche Äußerung erschütterte mich … »… aber vor langer Zeit war ich eine der Frauen, die er ausgenutzt hat«, endete sie und blickte mir direkt in die Augen. Meine Antwort kam ohne Zögern, ebenso mein Lächeln. »Mary, es gibt Zeiten, in denen wir alle einen falschen Weg im Leben einschlagen, und wenn wir aus Verzweiflung etwas Unethisches tun, sind wir nur menschlich. Das sind keine schwerwiegenden Sünden, und Sie müssen daran glauben, dass Gott alles vergibt.« Ihre Augen waren nur ein Blinzeln davon entfernt, in Tränen auszubrechen. »Tut Er das wirklich?« »Ja«, versicherte ich ihr und nun war meine Hand es, die die ihre nahm. »Die Folgen einer Mutterschaft sind fürwahr belastend. Die Vergangenheit liegt jetzt hinter Ihnen, und all ihre vergangenen Befürchtungen liegen ebenfalls hinter Ihnen. Dasselbe gilt für alle Menschen, Mary. Dasselbe gilt für mich. Sie tun jetzt das Richtige, und Sie haben eine wunderbare Zukunft, die Sie erwartet.« Sie schluckte schwer und drückte meine Hand. »Dann werde ich es jetzt einfach aussprechen, weil ich Sie nicht anlügen möchte.« Dann krächzte sie: »Bevor mich das Stadtkollektiv aufgenommen hat, hat es in der Vergangenheit Zeiten gegeben, in denen ich Zuflucht zu Akten der Prostitution nehmen musste.« »Aber das ist doch unwichtig«, erwiderte ich, unbeeindruckt – denn dies wusste ich bereits. »Sie sind jetzt eine moralische, ehrliche und sehr hart arbeitende Frau. Das ist alles, was zählt, Mary.« Sie sah mich daraufhin so eigentümlich an. »Ich erkenne es an Ihren Augen – es stört Sie wirklich nicht, nicht wahr? Ich meine, was ich in der Vergangenheit gewesen bin.« »Es stört mich nicht im Geringsten«, sagte ich aus ganzem Herzen. »Mich interessiert nur, was Sie jetzt sind: eine wundervolle, wunderschöne Person.« Sie schluchzte eine wenige Male, als eine Glocke erklang und jemand rief: »Bestellung fertig!« Sie wischte sich die Augen, lächelnd. »Foster, das ist jetzt erste Mal seit Jahren, dass ich mich meinetwegen wohlfühle – dank Ihnen.« »Sie haben allen Grund dazu, sich Ihretwegen wohlzufühlen, und ich hoffe, dass es immer so bleiben wird.« »Ich sollte jetzt lieber Ihr Essen holen, bevor ich einen ausgewachsenen Weinkrampf bekomme.« Und dann war sie auf und eilte nach hinten. Ich saß in platonischer Verzückung da. Diese wunderbare Frau schien mich aufrichtig gern zu haben, etwas Seltenes in meinem abgeschiedenen Leben. Was mich am glücklichsten machte, war das Wissen, dass meine Worte und mein Ernst ihr geholfen hatten, sich selbst in einem besseren Licht zu sehen. Als mein Essen kam, war es ein Koch mit Schürze anstelle von Mary, der es brachte. »Entschuldigen Sie, Sir, aber Ihre Kellnerin ist kurz indisponiert. Irgendetwas hat sie wohl zum Weinen gebracht.« »Gewiss eine Allergie«, sagte ich. »Bisher hat sie sich fabelhaft um mich gekümmert.« »Guten Appetit, Sir.« »Vielen Dank, es wird mir gewiss schmecken.« Während ich das köstliche Mahl genoss, bemerkte ich lackierte Plaketten, die an den Wänden befestigt waren – es handelte sich um Namensschilder alter Schiffe. HETTY war auf einem zu lesen, und auf anderen: SUMATRY QUEEN und COLUMBY. Ich war mir nicht sicher, warum – und vielleicht lag es auch nur an dem himmlischen Essen, aber … klingelte bei diesen Namen nicht etwas? Die Fischsuppe war selbst nach Providence-Maßstab hervorragend, und der Streifenbarsch dürfte der beste gewesen sein, den ich je probiert hatte. Zum Ende des Mahls fühlte ich mich wie der sündigste Vielfraß, speziell in Zeiten, wo so viele kaum zu essen hatten. Mary kehrte zurück – ein wenig erfrischt und wieder gefasst –, und nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte, setzte sie sich erneut mir gegenüber. Ich hätte das Essen nicht noch mehr loben können. Aber ihr Blick sagte mir, dass ihr noch immer etwas Sorgen bereitete. »Was haben Sie vorhin gesagt, Foster«, setzte sie an, »über Cyrus Zalen? Sie meinten, Sie würden sich noch einmal mit ihm treffen?« »Ja, morgen um vier.« Ich wusste, dass es ihr nicht behagte, mich in der Nähe dieses Schuftes zu wissen, daher wollte ich sie beruhigen. »Dabei geht es nur darum, einen Abzug dieser Lovecraft-Fotografie zu kaufen, damit Ihr Bruder die seine behalten kann. Zalen hat etwas Zeit gebraucht, um das Negativ zu entwickeln. Aber ich garantiere Ihnen, dass es das letzte Mal sein wird, dass sich meine Wege mit denen des Mannes kreuzen.« »Das ist gut, Foster. Er hat eine böse Art an sich – er ist ein Verschwörer.« Aber auch der Vater eines Ihrer Kinder, schoss mir der finsterere Gedanke durch den Kopf. Doch Ihnen wird er nichts mehr antun, Mary. Dafür werde ich sorgen. »Ein Verschwörer und noch einiges mehr«, sagte ich mit unbeschwerterer Stimme. »Ich habe den Mann heute tatsächlich zweimal dabei erwischt, wie er mir nachgeschlichen ist. Einmal vor unserem Treffen und einmal danach.« »Er ist Ihnen nachgeschlichen?« »Ja, er schlich im Wald herum und hat mich verfolgt. Ich bin sicher, er hatte einen Raubüberfall im Sinn. Ich war auf dem Weg zum Stand der Onderdonks, um mir ein Sandwich zu holen, und auf dem Rückweg begann Zalen, mir weniger verstohlen zu folgen. Ich bin ihm in den Wald hinein nachgerannt, um ihm zu zeigen, dass ich vor seinesgleichen keine Angst habe.« »Foster, das hätten Sie nicht tun dürfen!« »Dieser Mann weiß, dass ich über einige Mittel verfüge, daher denke ich, er hat sich ausgerechnet, mich zu berauben würde mehr Profit abwerfen als mein Kauf des Lovecraft-Fotos. Doch ich habe ihm klargemacht, dass ich sehr wohl fähig bin, mich zu verteidigen. Er wird es nicht noch einmal versuchen, dessen bin ich mir sicher. Aber dieser unangenehme Zwischenfall hat mich in die Nähe der Stelle geführt, wo Klein Walter seine Schießkünste erprobt hat – so sind wir uns begegnet. Zalen war da längst verschwunden.« Natürlich erwähnte ich nicht, dass es Zalen gewesen war, der mir gesagt hatte, wo ich Marys heruntergekommenes Haus finden konnte. »Dieser Mann ist eine Plage«, meinte sie und stöhnte. »Ich sehe ihn nur selten, aber dann erinnert es mich immer … an das …« Ich drückte ihre Hand, um sie zu beruhigen. »Sie müssen alle negativen Erinnerungen vergessen, die durch Zalen ausgelöst werden. Er hat nichts zu bedeuten. Erfreuen Sie sich stattdessen an dem, was die Zukunft bringen wird. Ich versichere Ihnen, dass sie rosig aussieht.« Sie sah mich traurig an. »Ach, wenn das doch nur wahr wäre, Foster.« Darauf reagierte ich nur mit einem Lächeln, da ich beschlossen hatte, nichts weiter dazu zu sagen. Das war auch nicht nötig, weil ich in diesem Moment wusste, was ich tun würde … Nach einem bisschen weiteren Small Talk stand ich auf und wollte mich entschuldigen. »Ich bin mir sicher, dass Mr. Garret heute nicht mehr erscheinen wird, und ich bin nach dem langen Tag etwas müde. Aber nehmen Sie bitte zur Kenntnis, Mary, dass diese kurze Zeit mit Ihnen zu verbringen das Highlight meines Tages gewesen ist. Sie sind ein wunderbarer Mensch.« Sie wurde rot und blinzelte eine Träne weg. Dann sah sie sich um, ob uns auch niemand beobachtete, und küsste mich kurz auf die Lippen. Ich erbebte vor Wonne. Ihre Lippen kamen dicht an mein Ohr. »Bitte kommen Sie morgen zu mir in den Laden. Ich habe um zwölf Uhr Feierabend.« »Ich werde dort sein. Und dann gehen wir irgendwo schön Mittagessen.« Dann umarmte sie mich fast schon verzweifelt. »Bitte vergessen Sie es nicht.« Ich kicherte. »Mary, keine Macht der Welt könnte mich das vergessen lassen.« Ein weiterer schneller Kuss, dann wandte sie sich ab und nahm den Fünfzigdollarschein an sich, den ich auf dem Tisch liegen gelassen hatte. »Ich bin gleich mit Ihrem Wechselgeld wieder da.« Als sie nach hinten eilte, verließ ich leise das Restaurant. Der Himmel verdunkelte sich auf spektakuläre Weise, als ich auf die Hauptstraße hinaustrat. Die versinkende Sonne tauchte die Wolken über der Küste in unglaubliche Farben. Die einfachen Pflastersteine auf der Straße schienen zu glänzen; gut gekleidete Passanten schlenderten fröhlich an mir vorbei, die perfekten menschlichen Zutaten zu einem Abend voll friedlichen Zaubers. In diesem Moment ging mir auf, dass ich mich nie zufriedener gefühlt hatte. Eine schrille Sirene zerriss die abendliche Stille. Ich bog um die Ecke und sah einen langen rot-weißen Krankenwagen auf dem Gehweg, um den mehrere uniformierte Bedienstete herumwuselten. Einige Anwohner standen daneben und schauten besorgt zu. Was ist denn hier los?, dachte ich, und meine gute Laune war augenblicklich verschwunden, als ich bemerkte, dass sich die Aktivitäten auf den Discountladen konzentrierten, den ich früher am Tage aufgesucht hatte. In diesem Moment wurde eine Trage aus dem Laden gebracht, und auf dieser lag ein sehr ruhiger und sehr bleichgesichtiger Mr. Nowry. Die schwangere Frau des Mannes stand in der Tür und schluchzte in aller Öffentlichkeit. Oh nein … »Der arme Mr. Nowry«, verkündete eine leise Stimme neben mir. »Er war so ein netter Mann.« Ich drehte mich um und sah eine attraktive rothaarige Frau neben mir stehen. »Ich … Ich hoffe, er ist nicht verschieden. Er war ein so freundlicher Mann, wie man ihn zu treffen sich nur wünschen kann; vor ein paar Stunden noch habe ich mich mit ihm unterhalten.« »Vermutlich ein weiterer Herzanfall«, äußerte sie vorsichtig. »Ich gehe mal und schaue«, sagte ich und machte mich auf den Weg zu dem nachlassenden Tumult. »Sir? Entschuldigen Sie bitte die Störung«, fragte ich einen der Krankenpfleger, »aber könnten Sie mir verraten, wie es Mr. Nowry geht?« Der jüngere Mann sah müde und ausgelaugt aus. »Ich fürchte, er ist vor wenigen Minuten gestorben. Wir konnten nichts mehr für ihn tun – seine Pumpe hat letztlich versagt.« Ich senkte den Kopf. »Ich habe ihn kaum gekannt, aber nach dem, was ich sehen konnte, war er ein guter Mann.« »Oh, sicher, ein Olmsteader durch und durch.« Er wischte sich die Stirn. »Aber heute ist schon ein komischer Tag. Das sage ich Ihnen.« »In welcher Beziehung?« »In einer Kleinstadt wie dieser haben wir nicht mehr als zwei oder drei Todesfälle pro Jahr, aber heute? Das war jetzt schon der zweite.« »Der zweite? Wie tragisch.« Die Trage mit dem Verblichenen wurde jetzt hinten in den Wagen geladen. Der Mann, mit dem ich mich unterhielt, deutete ins Innere. »Ein junges Mädchen ebenfalls, noch keine halbe Stunde her. Eins von denen, die sich in schlechter Gesellschaft befanden, aber dennoch … Sie ist bei der Niederkunft gestorben.« Ich schaute, wohin er deutete, und bemerkte eine zweite Trage. Augenblicklich verengte sich mein Hals. Ein dünnes Mädchen in den Zwanzigern mit strähnigem Haar lag dort tot neben Mr. Nowry, und ein Laken bedeckte es bis zum Kinn. Trotz der Leichenblässe erkannte ich ihr Gesicht. Es war Candace – eine von Zalens verschrienen Fotomodellen und Prostituierten. Aber der dicke, angeschwollene Bauch war jetzt fort, nur angeschwollene Brüste waren unter dem Laken noch erkennbar. »Bitte sagen Sie mir, dass ihr Baby überlebt hat«, beschwor ich ihn. »Dem Baby geht es gut«, bestätigte er. »Gelobt sei Gott …« Der Mann sah mich äußerst merkwürdig an, dann schloss er die Hecktür des Krankenwagens und ging seines Weges. Ich kehrte zu der Frau zurück, mit der ich gesprochen hatte. »Leider ist Mr. Nowry verstorben. Wir sollten ihn in unsere Gebete einschließen.« Ich warf der armen Witwe, die immer noch weinend in der Ladentür stand, einen traurigen Blick zu. »Seine Frau tut mir sehr leid.« »Es dürfte bei ihr jetzt jeden Tag so weit sein«, berichtete mir die Frau mit hoffnungsvoller Stimme. »Sie müssen sich keine Sorgen machen; die Nowrys leben schon seit Langem in der Stadt. Das Kollektiv wird sich um seine Witwe kümmern.« Ein weiterer Hinweis auf dieses Kollektiv. Mein anfänglicher Eindruck war aufgrund der unvermeidlichen Assoziationen nicht gerade positiv gewesen, aber nun schien es, dass ich zu hastig geurteilt hatte. Die Initiative hörte sich vielmehr nach einem tauglichen System der sozialen und finanziellen Verwaltung und Profitverteilung an. Es war ermutigend zu wissen, dass Mrs. Nowry nicht auf sich allein gestellt sein würde. Und was Candace’ Neugeborenes betraf … nun, ich konnte bloß annehmen, dass sich Familienangehörige darum kümmern würden oder es zu einer Pflegefamilie kam. »Sie sind neu in der Stadt«, stellte die Rothaarige deutlich lächelnd fest. Dann seufzte sie. »Nur auf der Durchreise, fürchte ich.« »Ja, das stimmt, aber warum ist das so schlimm?« »Die gut aussehenden Männer bleiben nie lange.« Diese schmeichelhafte Äußerung traf mich unvorbereitet. »Das ist, äh, sehr nett von Ihnen, Miss, aber ich muss mich jetzt leider verabschieden. Guten Abend.« Ich ging schnell fort. Frauen, die mich so unerwartet mit Komplimenten bedachten, machten mich jedes Mal sprachlos. Zumindest hinterließ es, wenn auch selbstsüchtig gedacht, ein gutes Gefühl. Als gut aussehend hatte ich mich noch nie betrachtet. Ich lächelte dann, als ich mich erinnerte, dass Mary sich ähnlich geäußert hatte. Die Schicht am Empfang hatte gewechselt, als ich zurück im Hilman House war; eine ältere Frau mit herabhängenden Schultern hütete die Rezeption. »Ma’am, ich würde einem Ihrer Gäste, einem Mr. William Garret, gern eine Nachricht hinterlassen«, sagte ich zu ihr. »Wären Sie so freundlich, ihm diese zukommen zu lassen?« Ein Ausdruck der Verwirrung trat kurz in ihre Augen. Sie schaute ins Gästebuch. »Ach herrje, Mr. Garret hat sich vor einigen Stunden ausgetragen, zusammen mit einem Bekannten.« »War das etwa Mr. Poynter?« »Ja, Sir, das ist korrekt. Sie haben den Bus genommen. Sie wollten zurück nach Boston, glaube ich.« »Verstehe. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.« Das erklärte einiges, auch wenn ich es bedauerte, Garret nicht mehr wiederzusehen, sei es auch nur, um ihm Glück für die Zukunft zu wünschen. Zumindest hatte er seinen Freund Poynter wiedergefunden. Zu schade, dass sie hier keine Anstellung hatten finden können. Auf meiner Etage traf ich auf dem Gang ein Zimmermädchen, das einen Wagen vor sich herschob. Sie lächelte und begrüßte mich. Es dauerte einen Augenblick, bis ich sie erkannte. Es war die junge Frau, mit der ich schon bei meiner Ankunft gesprochen hatte, die Schwangere, jetzt allerdings … »Oh, meine Liebe!«, rief ich aus. »Wie ich sehe, haben Sie Ihr Kind bekommen …« »Ja, Sir«, erwiderte sie recht ungerührt. »Einen Jungen.« »Da sind wohl Glückwunsche angebracht, aber – wirklich – Sie sollten sich ausruhen, nicht arbeiten!« Sie starrte mich mit geneigtem Kopf nachdenklich an. »Ich räume nur ein wenig auf, Sir, dann kann ich nach Hause.« »Aber es ist inakzeptabel, dass Ihr Arbeitgeber darauf besteht, dass Sie so kurz nach der Geburt schon wieder arbeiten …« »Ehrlich, Sir, ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, aber mir geht es gut. Ich werde mich sehr bald hinlegen.« »Das hoffe ich doch.« Ich war erschüttert. Und das trotz all der neuen Arbeitsgesetze, die vor einer derartigen Ausbeutung schützen sollten. »Wo ist das Baby?« Nach einer seltsamen Pause antwortete sie: »Zu Hause, Sir. Bei meiner Mutter …« Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln, das mir gezwungen vorkam, und schob ihren Wagen weiter. Das ist ja unfassbar, dachte ich. Ein weiterer Grund für Mary, hier herauszukommen. Stadtkollektiv hin oder her, Arbeitskräfte – und ganz speziell schwangere Frauen – sollten nicht als simple Betriebsmittel betrachtet werden. Gewissen medizinischen Umständen musste immer Spielraum gegeben werden. Ich hatte bereits beschlossen, Mary und ihre ganze Familie mit zurück nach Providence zu nehmen. Sollte sich das als Fehler herausstellen, dann war das eben so. Zumindest hätte ich es versucht. Mir war nur nicht klar, wie und wann ich meinen Wunsch vermitteln sollte. Es war von allergrößter Wichtigkeit, dass sie wusste, dass nichts als Gegenleistung von ihr erwartet wurde, wovon sie schwer zu überzeugen sein dürfte, angesichts der dunkleren Aspekte ihrer Vergangenheit. Ich werde ihr ihre Last nehmen, beschloss ich, und ihr das Leben ermöglichen, das sie verdient. Und vielleicht, nur vielleicht … Eines Tages hätte ich vielleicht das Privileg, sie zu heiraten. So viel zu meinen »platonischen« Absichten, doch es war unerlässlich, dass ich ehrlich mir selbst gegenüber war. Natürlich war mein Idealismus groß, und ich wusste, dass sich die Dinge nicht immer so entwickelten, wie wir es uns erhofften. Aber ich wusste, was ich wollte. Ich wollte sie. Und ich werde alle Anstrengungen unternehmen, um der Mann zu sein, nach dem sie sich sehnt, den sie bisher jedoch nie hatte. Mir war klar, dass ich die Wogen nicht nur meines Zorns über die Ausbeutung des jungen Zimmermädchens, sondern auch der Trauer über Mr. Nowrys Herzinfarkt glätten und auf andere Gedanken kommen musste. Ich entschied dann, mich in der Stille des sauberen Zimmers zu entspannen, daher setzte ich mich auf mein Bett und schlug mein Lieblingsbuch auf: Schatten über Innsmouth. Allerdings wollte ich jetzt nicht konzentriert darin lesen; das sparte ich mir für den kommenden Tag auf, wenn ich den perfekten Platz, vielleicht sogar mit Blick auf den Hafen, gefunden hatte. Auch wenn dort andere Gebäude standen, waren das Hafenbecken selbst ebenso wie die geheimnisvolle See dahinter die gleichen, die Lovecraft erspäht hatte, als ihm die Grundzüge zu seinem Meisterwerk erstmals in den Sinn gekommen waren, eine brillante Verschmelzung aus Atmosphäre, Konzept, Charakteren und letztendlich Horror. Augenscheinlich war Lovecraft derart von Irwin Cobbs angeberischem, doch höchst makabrem »Fischkopf« und auch Robert Chambers’ fehlerhaftem, aber bildergetränktem »Hafenmeister« beeinflusst gewesen, dass er die Grundlagen dieser Geschichten ergriffen und diese in geniale neue Richtungen geführt hatte, um seine eigene überragende Geschichte über symbolische – und gänzlich monströse – Rassenmischung zu weben. Als der Erzähler Robert Olmstead darin zufällig auf den verfallenden und legendenumwobenen Seehafen von Innsmouth stößt, kommt er als Erstes dahinter, dass die Stadtbewohner vor langer Zeit eine Art Pakt mit einer Rasse schrecklicher amphibischer Meereswesen eingegangen sind, die Captain Obed Marsh, ein Seehändler, auf einer Reise nach Ostindien entdeckt hatte; als Zweites und Schlimmstes, dass dieser monströse, von Habgier getriebene Pakt nicht nur Menschenopfer beinhaltete, sondern auch die ungezügelte Kreuzung der Kreaturen – der Tiefen Wesen – mit der menschlichen Bevölkerung von Innsmouth. Jede Seite, auf die ich umblätterte, führte mich zu einem Bild oder einer Zeile, das beziehungsweise die ich leicht als meinen Favoriten erachten konnte. Dies war so eine, eine Dialogzeile, gesprochen von niemand anderem als dem »alten Säufer« Zadok Allen, dessen Vorbild aus dem wirklichen Leben Zalens Großvater Adok gewesen war. Die Zeile lautete wie folgt: »So ein’n wie den Käpt’n Obed gibt’s kein zweites Mal nich – der alte Satansbraten. Ho, ho! Ich weiß noch gut, wie er immer von fremde Länder erzählt hat un die Leute für blöd erklärt hat, weilse inde christliche Kirche gegang sind und sich demütich mit ihr’m Schicksal abgefund’n hab’n. Soll’n sich bessere Götter anschaffen, sagt er, wie die Völker auf’n Westindischen – solche Götter, wo ihn’n für ihre Opfer jede Menge Fisch geb’n und wirklich die Gebete von’n Leuten erhörn.« Naturgemäß amüsierte mich die sich anbietende Parallele: »jede Menge Fisch«, den die Tiefen Wesen nach Innsmouth gebracht hatten im Austausch für blutige Opfergaben. Ich musste kichern wegen des Reichtums an lokalem Fisch in dieser sehr realen Stadt. Beinahe hätte ich laut aufgelacht! Etwas, das ich meinem Unterbewusstsein zuschrieb, bewirkte, dass ich mit dem ziellosen Blättern aufhörte, und als Nächstes rasteten meine Augen auf einer weiteren Zeile von Zadok Allens volltrunkenem Gestammel ein: »Obed Marsh, der hat drei Schiffe gehabt – die Brigantine Columby, die Brigg Hetty un die Bark Sumatry Queen …« Ein Schwindel befiel mich, als ich diese Worte anstarrte. Dann: Natürlich! Ich wusste, dass ich diese Namen schon einmal gesehen hatte! Sie waren die ganze Zeit hier … Denn jetzt erinnerte ich mich daran, dieselben Namen an den dekorativen Schiffsplaketten im Restaurant gesehen zu haben. Also existierte nicht nur die Stadt »Innsmouth«, wenngleich unter ihrem wahren und nicht allzu verschiedenen Namen Innswich, ebenso hatte es in der dunklen Vergangenheit dieser Stadt diese Handelsschiffe gegeben. Ich konnte nicht anders, als Lovecraft ob der Gewissenhaftigkeit seiner Nachforschungen zu bewundern – etwas, für das er durchaus bekannt war –, dass er solch minutiöse Details aus der Realität übernahm und in seine fiktive Handlung einflocht. Ich las Teile einiger weiterer Szenen erneut, alle mit außergewöhnlichem Vergnügen, dann legte ich das Buch beiseite in heißer Erwartung, es am nächsten Tag noch einmal komplett zu lesen. Aber in Bezug auf den nächsten Tag gab es etwas, auf das ich mich noch mehr freute … Ich muss möglichst gut aussehen, erkannte ich und erschauderte dann, als ich meinen Koffer öffnete und meinen besten Anzug in zerknittertem Zustand vorfand. Um diese Zeit würde nirgends mehr offen sein, wo ich ihn frisch aufbügeln lassen konnte; daher konnte ich nur hoffen … Als ich in den Wandschrank blickte, erkannte ich, dass ich Glück hatte! Dort, angelehnt, stand ein aufklappbares Bügelbrett, und auf dem obersten Regalbrett befand sich ein Dampfbügeleisen. Ich wusste so gut wie nichts über derartige Tätigkeiten, aber wie schwer konnte es schon sein? Ich nahm das Bügelbrett heraus und suchte nach einer Art Verriegelungsstift, um die Beine auszuklappen, als … »Verflixt!« … es rutschte mir aus den Händen und schlug gegen die Rückwand des Schrankes. »Oh, um Himmels willen!«, beschwerte ich mich lautstark, als ich sah, dass das leichte Brett mit solcher Kraft gegen die Rückwand geschlagen war, dass es darin tatsächlich ein Loch hinterlassen hatte. Die Hotelleitung wird darüber nicht allzu sehr erfreut sein, dachte ich. Bis ich ihnen das Doppelte der Reparaturkosten bezahle. Ich trat hinein, um das Bügelbrett herauszuholen, ließ mich dann herunter auf ein Knie, um den Schaden zu inspizieren. Stücke von Putz lagen herum, indes schien die Beschädigung der Gipswand 30 cm lang und mehrere Zoll breit. Das war eine unsolide Konstruktion, gelinde gesagt, doch hatte ich diesen stümperhaften Unfall allein meiner eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben. Doch bevor ich aufstehen konnte … Als ich mein Gesicht vor den Spalt hielt, schien ein ganz schwacher Lichtfaden in der Dunkelheit jenseits der Gipswand zu hängen. Kurze Überlegung sagte mir, ich hatte ein kleines Loch in der Seitenwand entdeckt, die nur die Wand zu meinem Badezimmer sein konnte. Als ich hastig aufstand und ins Bad ging, stellte ich fest, dass ich dort versehentlich das Licht angelassen hatte. Ein Loch, grübelte ich. In der Wand … Ein Guckloch? Der Gedanke erschien absurd, jedoch konnte ich meinen früheren Eindruck nicht vergessen: Als ich gebadet hatte, hätte ich nicht nur schwören können, einen Menschen hinter der Wand atmen zu hören, sondern war erfüllt gewesen von dem Verdacht, beobachtet zu werden … Mit Logik ließ sich mein nächstes Unterfangen nicht erklären. Zurück im Schrank entfernte ich vorsichtig weitere Stücke des Putzes. Der Schaden war bereits angerichtet, also machte eine weitere Beschädigung der Wand wenig aus; ich würde dafür bezahlen, unabhängig von der Größe des Loches. Ich schätze, meine Motive zu diesem frühen Zeitpunkt waren von meinem Unterbewusstsein bestimmt, doch nachdem ich weitere Putzstücke von der Wand entfernt hatte und mit meiner kleinen Taschenlampe in das Loch leuchtete, entdeckte ich einen Zwischenraum dahinter, der leicht für einen schmalen Gang gehalten werden konnte. Freilich hätte es sich dabei auch nur um einen Wartungsgang handeln können, für Zugang zu Rohren, elektrischen Leitungen oder so. Dennoch … Ich entfernte noch einige Stücke, bis das Loch groß genug war, damit ich hindurchsteigen konnte, und dann krabbelte ich hinein. Im Inneren wieder auf die Beine gekommen, näherte ich mich dem fadengleichen Lichtstrahl. Der Instinkt, selbstredend, führte mein Auge spornstreichs an ihn heran. Ich blickte direkt in mein Badezimmer. Es IST ein Guckloch, war mein erster Gedanke, doch dann: Nein, das ist lächerlich! Das Hilman war offenkundig eine respektable Herberge. Für das Loch konnte es eine Reihe vernünftiger Erklärungen geben: ein einfacher Baufehler, ein Nagelloch, wo ein Bild gehangen hatte. Tiefer in der Dunkelheit bemerkte ich allerdings einen weiteren Lichtfaden. Jede Vorsichtsmaßnahme ergreifend, um nicht zu stolpern, ging ich zu dieser Stelle und entdeckte zu meiner Bestürzung ein weiteres Loch, durch das ich direkt in das Schlafzimmer der Suite neben der meinen sehen konnte. Jetzt war ich ratlos, was ich davon halten sollte. Ein leises Klappern drang an meine Ohren und, das Auge an das Loch gepresst, bemerkte ich Bewegung. Es war das Zimmermädchen, mit dem ich gerade gesprochen hatte und das an diesem Morgen noch schwanger gewesen war. Mit ernstem Gesicht und leerem Blick nahm sie lethargisch die Aufgaben in Angriff, das Bett zu machen und das Zimmer aufzuräumen. Auf einem Stuhl neben der Tür bemerkte ich jedoch eine kleine Reisetasche, die offen stand und mit Kleidung gefüllt war. Und auf der Kommode? Da lag ein schöner beigefarbener Koko-Kooler-Hut, identisch zu dem, den William Garret heute Morgen getragen hatte, als ich ihm begegnet war. Nahe der Tür stand zudem ein Aktenkoffer, der seinem allzu ähnlich erschien. Aber Garret und sein Freund sind bereits abgereist, entsann ich mich. Sobald das Zimmermädchen das Bett gemacht hatte, stopfte sie den Hut in die Reisetasche, schloss diese und trug sie und den Aktenkoffer aus dem Zimmer … Nur die nüchternsten und sachlichsten Gedanken beschäftigten nun meinen Geist. Ich glaubte, dass sich auf dieser Seite des Flurs zwei weitere Zimmer befanden, und als ich in diese Richtung schaute – tatsächlich –, machte ich zwei weitere der dünnen Lichtstrahlen aus, die die Existenz zweier weiterer Gucklöcher anzeigten. In der entgegengesetzten Richtung dieses verborgenen Ganges waren einige mehr solcher Lichtstrahlen zu entdecken … Ich hielt die Taschenlampe nach unten auf den Boden gerichtet. Falls dieser Gang in der Tat zu einem üblen Zweck existierte – entweder aus Perversität oder um sich aus der Ferne einen Eindruck von den Wertsachen eines Gastes zu verschaffen –, dann musste es eine Art unbeobachtbaren Zugang geben. Ganz am Ende des Ganges stieß ich auf etwas am Boden, das nur eine Falltür sein konnte. Ich öffnete sie, entdeckte eine Sprossenleiter und ohne großartige bewusste Entscheidung fand ich mich als Nächstes die Leiter herunterklettern in den zweiten Stock des Hotels … Der Abstieg geschah in völliger Finsternis, und ich glaubte mich schon in der Speiseröhre einer mesozoischen Kreatur auf dem Weg zu deren Magen. Eine türlose Öffnung kennzeichnete den verborgenen Gang parallel zum Flur des zweiten Stocks. Ich betrat ihn und sah mich ähnlicher Dunkelheit gegenüber. Ein Lichtfaden markierte jedes Zimmer in diesem Stockwerk, doch als ich einen schnellen Blick hineinwarf, sah ich nur unbewohnte Räume. Also stieg ich weiter hinab zur nächsten Etage. Dem ersten Stock. Durch die Öffnung gelangte ich in einen anderen Korridor, dessen Dunkelheit nur durch weitere periodisch auftretende Lichtfäden erhellt wurde. Hier allerdings nahm ich schwach Stimmen wahr. Ich schlich so langsam – und leise – wie möglich zum ersten Guckloch. Aus meinem Blickwinkel konnte ich nur einen Teil des einfachen, sauberen Raumes dahinter erkennen und sah Regale mit Dosen, Schwämmen, Eimern, Handtüchern und anderen derartigen Dingen. Die Stimmen waren eindeutig weiblich und klangen ungezwungen. Mehrere junge Frauen befanden sich in dem Raum, die ich nur teilweise sehen konnte; sie schienen auf verschiedenen Sofas zu sitzen. Alle befanden sich in irgendeiner Phase der Schwangerschaft. »… aus Providence, glaube ich, und er sieht ziemlich gut aus«, sagte eine. »Oh, den kenne ich – er ist ziemlich schüchtern«, bemerkte eine andere. »Und ziemlich reich! Habe ich zumindest gehört. Aus diesem Grund wollen sie ihn auch nicht nehmen.« Mein Verstand geriet ins Stocken, während mein Auge auf dem Loch verblieb. Sprachen sie etwa … über mich? Eine Dritte, kaum sichtbar, fügte hinzu: »Oh, ich weiß, wen du meinst.« Ein Kichern. »Ich war oben, habe durch die Gucklöcher geschaut und gesehen, wie er – ihr wisst schon – an sich herumgespielt hat!« »Nein!« »Er hat sich einen runtergeholt! In der Badewanne …« Die anderen lachten, während ich, wie zu erwarten, meine Stimmung in den Keller rutschen spürte. Sie konnten nur über mich sprechen. »… und du hast recht, er sieht recht gut aus, aber mir haben die anderen beiden viel besser gefallen.« »Die Männer aus Boston?« »Genau. Ich hätte nichts dagegen gehabt, es mal mit einem von ihnen zu tun zu bekommen.« »Aber, Lisa! Von denen sieht jetzt keiner mehr besonders gut aus!« Daraufhin kicherten sie alle los. Ich konnte nur durch das Loch starren, mehr mit meinen konfusen Gedanken beschäftigt als mit der Szene im Raum. Das war unerhört, Frauen, die überaus wahrscheinlich Zimmermädchen waren, spionierten Hotelgäste aus. Das war sicher strafbar, und ich hatte ganz sicher einen Anwalt, der das Hotel nur zu gern verklagen würde, aber … Was war der Grund für all das?, fragte ich mich trotz meiner Beschämung und meines Schrecks. Frauen waren nicht gerade als Voyeure bekannt; diese Verirrung war allein Männern vorbehalten. Und der Verweis auf zwei Männer aus Boston konnte sich nur auf Mr. Garret und Mr. Poynter bezogen haben. Von denen sieht jetzt keiner mehr besonders gut aus? »Gott, es ist nur so deprimierend, es tun zu müssen, wenn sie so sind«, kam eine andere Anmerkung. »Ich bin froh, dass ich schwanger bin.« »Genau. Und sie werden den Mann aus Providence nicht behalten.« »Warum nicht?« »Ich hab doch gesagt, dass er reich ist. Die anderen sind immer arme Schlucker – keiner weiß, dass sie hier sind –, aber der Mann aus Providence …« »Der ist kein armer Schlucker, wenn er reich ist. Jemand würde kommen und nach ihm suchen …« Selbst wenn ich meine Vorstellungskraft aufs Äußerste anstrengte, hatte ich keine Erklärung für die Worte, die ich da hörte, noch für die haarsträubenden Beweise, die ich aufgrund meiner Neugier aufgedeckt hatte. Ich ging weiter zum nächsten Loch … Großer Gott … … und sah die wohl makaberste Szene, die ich in meinem dreiunddreißigjährigen Leben bisher gesehen hatte. Mehrere Matratzen lagen auf dem Boden, und in den Ecken standen einige Metallpfannen. »Gott, wie ich es hasse«, erklang die Beschwerde einer Frau. Es handelte sich um noch eine schwangere Frau, diese war aber eher schäbig und älter. Sie hatte sich auf die Knie niedergelassen und neigte sich zu einem Mann, der auf einer der Matratzen lag. Oder, um mich schleunigst zu korrigieren: zu den Überresten eines Mannes … Er lag zergliedert da, nackt, mit Narben an den Stellen, wo man ihm die Arme an den Ellenbogen und die Beine an den Knien abgenommen hatte. Er war schlank, hatte blasse Haut und trug einen Bart, und die schwangere Frau wusch ihn gerade mit einem klatschnassen Schwamm im Lendenbereich. Ihr Ausdruck des Widerwillens hätte nicht anschaulicher sein können. »Die stinken bloß so! Oh, und die Läuse! Ich hasse das wirklich so sehr!« »Du hasst es!«, beschwerte sich eine zweite Frau. »Du musst es ja nicht tun!« Dieser Einwand war von der vordersten Matratze gekommen, auf der ein Mann in identischem Zustand wie der erste lag, nur dass dieser glatt rasiert und blond war. Ich konnte Stiche an seinen Stümpfen erkennen. Doch die Frau war nicht dabei, ihn zu waschen – sie hatte gerade unverhohlen Geschlechtsverkehr mit ihm, einen Ausdruck des Unwillens im Gesicht. Und dieses Gesicht kannte ich. Monica, schoss es mir durch den Kopf, vom Pier. Ich hatte sie erst vor Kurzem im Treppenhaus gesehen, als sie durch die ständig verschlossene Tür im ersten Stock gegangen war. Jetzt wusste ich, warum man die Tür immer absperrte. Welche Art von Wahnsinn konnte erklären, was ich da gerade vor mir sah? Diese armen Männer waren eindeutig zu Invaliden gemacht worden. Dass sie identische Unfälle erlitten hatten? Ausgeschlossen. Und ihre Amputation spiegelten exakt die von Marys Bruder Paul wider. Welche üble Ahnung drängte mich zu glauben, dass diese Männer mit Absicht und vorsätzlich ebendieser obszönen Absicht wegen verstümmelt worden waren? Am hintersten Rand meines Sichtfelds erkannte ich ein drittes Opfer auf einer Matratze. Auf dessen Lende hatte sich eine andere dünne, junge Frau energisch niedergelassen und ihren Rock hochgezogen, um ihr Privates zugänglich zu machen. »Beeil dich, du stinkendes Schwein«, murmelte sie. »Der hier scheißt sich auch ein«, sagte die schwangere Frau verächtlich. »Das macht er mit Absicht.« »Das tue ich nicht!«, protestierte das Opfer, das sie gerade wusch. Der Mann schien eine Sprachbehinderung zu haben. »Ich kann nichts dagegen tun …« »Du weißt doch, wo die Pfannen stehen!«, kreischte die Frau. »Vielleicht sollten wir eine Weile aufhören, dich zu füttern! Mal sehen, wie dir das gefällt!« »Lass ihn in Ruhe, Joanie«, rief die jüngere Frau mit dem hochgezogenen Rock. »Ich habe ihn als Nächstes, und wenn er aufgeregt ist, schafft er es nicht. Er wird noch so enden wie Paul.« Wie Paul, hallte es in meinem Kopf wider. Im blanken Horror des Ganzen beobachtete ich eine Szene, die sicher der Hölle entsprungen war. Als diese Joanie ihre Zusammenkunft beendet hatte, ächzte sie, stand auf und blickte auf ihren verkrüppelten Spender hinunter. Nach etwa einer Minute oder so rollte sich der arme Mann von der besudelten Matratze, sodass er auf dem Bauch lag, dann hüpfte er auf die Enden seiner Gliedmaßen. Daraufhin schlenderte er unbeholfen – wie ein Hund, auf allen vieren – zu einem der Metallbehälter, um zu urinieren. Derweil begann der blonde Mann in etwas wie gequälter Glückseligkeit zu keuchen, während ihn seine unwillige Partnerin, Monica, mit einer Mischung aus erbittertem Hass und Brechreiz anblickte. Es schien eine Art Zuchtgehege der Hölle zu sein, auf was mein Auge gestoßen war. Unfassbar, dachte ich in tiefster Verzweiflung. Monströs …, denn die Absicht, so makaber sie auch war, ließ sich allzu deutlich erkennen. Ein perverses Teufelchen muss mein unmittelbares Verlangen vereitelt haben, diesen Ort des Grauens zu verlassen – ebenso das komplette Gebäude – und einfach zu fliehen; stattdessen blickte ich durch weitere dieser furchtbaren Gucklöcher. Ähnliche Szenen unbegreiflicher Obszönität waren die Belohnung für meine Mühe: Männer, reduziert auf nackte Torsi, lagen entweder reglos auf schmutzigen Matratzen oder durchquerten auf ihren abgehackten Stummeln den Raum. Einer schleckte Wasser aus einer Schüssel, wiederum wie ein Hund. Ein Raum nach dem anderen glänzte mit diesen unbegreiflichen, grotesken Szenen. Aber hinter dem nächsten Guckloch … Gott, erlöse mich, betete ich. Dies war keine Kammer aufgezwungener Zeugung. Stattdessen erspähte ich einen klinisch ausgestatteten Raum: medizinische Vorräte, Infusionsflaschen an Ständern, mehrere erhöhte Betten. In zwei dieser Betten lagen bewusstlose Männer mit bandagierten Gliedmaßen: der eine quasselnd und sabbernd, in den Fängen eines Albtraums, der andere mit offenem Mund und gänzlich still. Der Mann wirkte jung, aber ich konnte klar erkennen, dass er keine Zähne mehr hatte. Doch das vorderste Bett bekümmerte mich am meisten. Darin lag Mr. William Garret, die Stümpfe der kürzlich amputierten Gliedmaßen ähnlich bandagiert. Eine Schale mit blutigen chirurgischen Instrumenten, darunter auch eine Knochensäge, belegte einen Tisch in der Nähe; zu dem Flaschen, die deutlich lesbar mit CHLOROFORM beschriftet waren. Das ist eine Operationssuite, erkannte ich jetzt, verborgen in einem Hotel, dessen erster Stock stets verschlossen ist. Watte steckte in Garrets Mund, und als er plötzlich auf dem Bett zu zucken und zu blinzeln begann, trat eine schwangere Krankenschwester an seine Seite und tätschelte ihm beruhigend die Schulter. »Ganz ruhig, Sie kommen wieder in Ordnung«, sagte sie leise zu ihm. »Das geschieht alles aus einem Grund, der viel wichtiger ist als irgendeiner von uns.« Sie versuchte, munter zu klingen. »Und denken Sie nur an all die hübschen Mädchen, die Sie genießen werden.« Garret wimmerte durch die Watte in seinem Mund hindurch. Diese hatte sich scharlachrot gefärbt, und in diesem Moment bemerkte ich auch eine kleinere Schale aus rostfreiem Stahl, voll mit kürzlich gezogenen Zähnen. »Er kommt zu sich, Doktor«, sagte die schwangere Krankenschwester. »Bald wird er mehr Schmerzmittel brauchen.« »Bereiten Sie die Injektion bitte vor, Lucy.« Die Stimme kam von außerhalb meines Blickfeldes, aber ich war nicht überrascht, als Nächstes Dr. Anstruther in Laborkittel ans Krankenbett treten zu sehen. »Sie sollten sich lieber nicht wehren, Mr. Garret, sondern vielmehr Ihr neues Schicksal akzeptieren. Hören Sie auf, sich Ihr früheres Leben zurückzuwünschen. Dann geht es Ihnen gleich viel besser, das versichere ich Ihnen.« Er übernahm eine Spritze von der Schwester und injizierte sie schließlich in eine Vene. »Das Morphinsulfat ist ziemlich wirksam und wird Ihnen regelmäßig so lange verabreicht, wie es nötig ist – nur eine Frage von Tagen, ehrlich.« Dann zog er Garret mit einer Pinzette die Watte aus dem Mund. »Und wie Sie bereits gefolgert haben, habe ich Ihnen sämtliche Zähne gezogen.« Garret sah den Arzt mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck an. »W… W… Warum?« »Mit der Zeit werden Sie es verstehen. Oh, und ich freue mich, berichten zu können, dass ich Ihren Samen unter dem Mikroskop untersucht und eine beeindruckende Spermienanzahl und exzellente Motilität vorgefunden habe. Sie sind ein hervorragender Kandidat für die Erzeugerschaft.« Garret starrte nur, als blickte er in einen unberechenbaren kosmischen Abgrund. Anstruther drehte sich der Krankenschwester zu, während er fix etwas auf einer Tafel notierte. »Lucy, der Herr in Bett Nummer zwei ist leider verstorben. Er muss ebenso wie Mr. Garrets Gliedmaßen entsorgt werden.« »Ja, Doktor.« »In wenigen Tagen wird es Ihnen sehr viel besser gehen«, sprach der Arzt wieder Garret an. »Und wie Lucy bereits gesagt hat, werden Sie zukünftig für geraume Zeit die Gesellschaft vieler, vieler Frauen genießen können, die größtenteils sehr begehrenswert sind. Das ist das Los eines Erzeugers, Mr. Garret. Tun Sie sich einen Gefallen und bewahren Sie sich Ihre mentale Gesundheit. Solange Sie viril sind, bleiben Sie am Leben, und ich rate Ihnen, in Ihren Ruhezeiten zu Ihrem Gott zu beten, an welchen auch immer Sie glauben.« Der von der Operation erschütterte und jetzt zahnlose William Garret brabbelte: »Sehen Sie, was Sie mir angetan haben! Sie … Sie … Sie sind ein Monster!« Anstruther lächelte ruhig. »Nein, Mr. Garret. Sie haben das Glück, dass Sie die wahren Monster niemals sehen müssen …« Als ich mich zwang, den Blick von diesem Tartarosloch in der Wand abzuwenden, fühlte ich mich wie ein 100 Jahre alter Mann. Mit geweiteten Augen taumelte ich den Weg zurück, den ich gekommen war, zu der Leiter; mit der unbedingten Absicht, hinauf zurück in mein Zimmer zu gelangen, meine Sachen zu packen und diesen von Gott verlassenen Ort schnellstmöglich hinter mir zu lassen. Aber als ich zu der Öffnung kam, hinter der sich die Leiter befand … Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust. Ich hörte Schritte. Die nach oben kamen. Dem Eindringling zuvorkommen und unentdeckt mein Zimmer erreichen zu können, hielt ich für gänzlich unwahrscheinlich. Eine unterbewusste Direktive brachte mich stattdessen zurück in den fast lichtlosen Gang und hindurch bis ans gegenüberliegende Ende; ich vermutete – und betete –, dass es dort einen identischen Aufgang geben würde. Bitte, Gott, flehte ich innerlich. Entweder war mein Gebet erhört worden oder ich hatte einfach Glück gehabt, denn ja, dort befand sich ebenfalls eine Leiter. Ich trat hinaus und packte die Sprossen, doch bevor ich nach oben klettern konnte … »Sie da«, rief eine Stimme vom anderen Ende. Ich drehte mich nicht um, um nachzusehen, sondern versuchte stattdessen, mich in der Dunkelheit des Aufgangs zu verstecken. »Wer ist da? Nowry? Peters?« Ich vergeudete keine Zeit, um darüber nachzudenken, warum die männliche Stimme den Namen eines Toten rief, allerdings war leicht vorstellbar, dass Nowry Verwandte in der Stadt besessen hatte. Stattdessen schritt ich zur Tat. Ich kletterte nicht nach oben, sondern nach unten, denn in die oberen Stockwerke zurückzukehren mochte jede Chance zur Flucht zunichtemachen. Ein ähnlicher versteckter Gang zweigte im Erdgeschoss; ich wusste, dass ich die Gucklöcher dort nicht überprüfen musste. Aber es muss einen Ausgang geben, und ich muss ihn finden! Doch im Licht meiner Taschenlampe waren weder eine Tür noch ein anderer Gang zu sehen … Dann hörte ich, wie die Schritte die Leiter herunterkamen, die ich soeben verlassen hatte. Ich hastete zum anderen Ende des Ganges, wo hätte ich sonst hingehen können? Ich überlegte, dass es einen Zugang von draußen zu diesen verborgenen Gängen geben musste. Wie etwa war mein Verfolger hierher gelangt? Eine Tür!, betete ich. Dort muss eine Tür sein! Aber als ich an das Ende des Ganges kam, fand ich keine Tür, und die Schritte kamen immer näher. Meine Schuhsohle war es, die auf sie stieß: keine aufrechte Tür, auch keine Klappe, sondern eine drehbare Luke aus Metall. Erleichtert öffnete ich sie, nur um sogleich aufzukeuchen, als meine Taschenlampe Einzelheiten des unansehnlichen Ausgangs offenbarte – ein alter, gemauerter Schacht mit einer mit Schleim bedeckten Eisenleiter, der direkt nach unten führte. Mit größter Entschlossenheit begab ich mich in diese unheilvollen Tiefen, schloss die Luke über mir und stieg hinab. Ich musste mich in völliger Dunkelheit vorwärtsbewegen und rechnete halb damit, jeden Augenblick in einen offenen Abwasserkanal mit dessen fäkalen Gerüchen und den sie sie begleitenden Stoffen zu stürzen. Doch als meine Füße festen Boden trafen und ich meine Taschenlampe wieder einschaltete, fand ich mich in einem weiteren Gang wieder. Meine Panik hatte meinen Orientierungssinn durcheinandergebracht, aber ein Instinkt sagte mir, dass der gemauerte Weg von Norden nach Süden führte. Aus einem mir unbekannten Grund entschied ich mich für die südliche Richtung. Die Taschenlampe nach vorne gerichtet legte ich mindestens neunzig Meter in der übel riechenden Finsternis zurück. Ich wusste jetzt, dass dieser Gang kein außer Dienst gestellter Kanal war; es gab keine Anzeichen der erwarteten Rückstände. Das ist ein Tunnel, erkannte ich und so deutlich, als wären sie laut ausgesprochen worden, hallten Zalens Worte in meinem Kopf wider: Und mein Großvater hat nicht gelogen, als er Lovecraft erzählt hat, dass es unter dem alten Hafen ein Netzwerk aus Tunneln gibt … Ich brauche wohl kaum das Ausmaß des Kältegefühls beschreiben, das mir raupengleich das Rückgrat hochkroch. Von der höllischen Szene, die ich im Hotel mit angesehen hatte, konnte ich nur vermuten, dass zeugungsfähige Männer mit geeignet vorteilhaftem Aussehen gezwungen wurden, hiesige Frauen zu befruchten, deren Neugeborene dann an eine illegale Adoptionsagentur verkauft wurden. Doch warum war ich mehr verstört von dem, was Zalen mir erzählt hatte, insbesondere von seinem abschließenden, geheimnisvollen Monolog: Was passiert in der Geschichte mit Außenseitern, die zu viel herumschnüffeln? Nun schien es, als wäre ich durch schauderhafteste Umstände selbst in Lovecrafts fiktiven Robert Olmstead verwandelt worden, den Außerstädter, versessen darauf, dem Schrecken von Innsmouth zu entrinnen. Ich könnte heute Nacht noch zu Zalen gehen, schoss es mir durch den Kopf, wenn ich doch nur den Ausgang aus diesen verfluchten Katakomben finden würde … Minuten später überreichten das Schicksal oder Gott mir besagten Ausgang als Geschenk. Der Tunnel entließ mich nahe einem steinernen Landungssteg am Rand des Hafens. Ein spektakulärer, frostweißer Mond hing zwischen den Wolken; das Wasser im Hafenbecken war glatt wie Glas. Der Blick hinunter auf den Hafen im Zwielicht unter dem violetten Nachthimmel wirkte übernatürlich, aber alles andere, was ich zuvor gesehen hatte, war alles andere als übernatürlich, sondern eher fantastisch oder bösartig. Der ganz normal wirkende Hafen war bei genauerer Betrachtung mit geheimnisvollen Schlünden übersät. Von den Eingängen zu von Felsen verdeckten Grotten und von Tunnelausgängen gingen seltsame Gerüche aus. Kein menschlicher Instinkt konnte mich daran hindern, einen dieser Schlünde zu betreten … Weitere von Flechten und Salpeter überzogene Katakomben erwarteten mich, wobei mehrere Gänge vom Hauptweg abzweigten. Ich musste schärfstens aufpassen, dass ich mich hier nicht verlief. Ich entschied mich für die am weitesten links liegende Abzweigung. Immer auf sicheren Stand bedacht schritt ich voran und schaltete die Taschenlampe jeweils nur kurz ein, um die Batterien zu schonen. Ich musste nicht allzu weit laufen, bis ein höchst abscheulicher Verwesungsgeruch meine Nase bestürmte; das Taschentuch vor meinem Gesicht vermochte kaum die Übelkeit erregenden Dämpfe abzuwehren. Schließlich ging der Tunnel in eine gewaltige Höhle über, nach dem ersten Blick hinein hätte ich beinahe aufgekreischt und wäre geflohen. Aber wie konnte ich das tun? Ich musste herausfinden, was das war … Ein Beinhaus, dachte ich. Eine behelfsmäßige Grabstätte … Es waren überwiegend Skelette, die in der obszönen, tropfenden Kaverne aufgeschichtet lagen, ganze Stapel von ihnen. Einige hatten noch immer Kleidungsfetzen an sich, die die Auswirkung der menschlichen Verwesung überstanden hatten. Die Knochenhaufen am entfernten Ende schienen die ältesten zu sein, während jene auf dem Weg dorthin – nordwestlich, schätzte ich – vor jüngerer Zeit angelegt worden waren. Zur Mitte hin sah ich weniger Skelette, dafür mehr mumifizierte Körper. Das war ein ausgewachsener Hügel aus menschlichen Leichen, den die Vorsehung für angebracht hielt, mir vor Augen zu führen; Hunderte, mindestens, hatte man hier abgelegt, anstatt sie auf einem anständigen Friedhof zu begraben. Warum? Diese Frage machte mir zu schaffen. Wer könnte dafür verantwortlich sein? Die von der Zeit geleerten Augen der Schädel schienen mich zu beobachten, als ich den Rand der widerlichen Aufschüttung entlangschritt, und als ich schließlich an deren Ende ankam, wäre ich inmitten des Gestanks und der gottlosen Anspielung beinahe kollabiert. Die hier – Dutzende von ihnen – waren offensichtlich die jüngsten Neuzugänge der Grabstätte, und während die meisten der anderen Leichen mehr oder weniger »ganz« gewesen waren, erforderte der Zustand der Bestandteile des verwesenden, aufgedunsenen Haufens wenig Spekulation hinsichtlich der Herkunft. Was vorrangig den grausigen Haufen aus mit verrottendem Fleisch bedeckten Knochen und Schädeln und von Würmern durchlöcherten Körpern beherrschte, waren die Überreste zergliedeter menschlicher Wesen, denen die Arme ab den Ellenbogen und die Beine unterhalb der Knie fehlten. Stofffetzen lagen wie willkürlich hingeworfene Flaggen zwischen den gestapelten Leibern herum. Ich sah zu viele Koffer und Reisetaschen. In der Nähe befand sich eine kleinere, Krankheiten verbreitende Ansammlung aus abgetrennten Armen und Beinen. Ein Keller voller Leichen, ein Ablageplatz für Mordopfer, wurde mir klar. Ich wusste nicht, wie lange es diesen Ort schon gab, und ich wollte es auch gar nicht wissen. Ein schlurfendes Geräusch in der Ferne bewirkte, dass ich die Augen aufriss und die Taschenlampe ausschaltete. Vorsichtig ging ich zurück und betete, nicht hinzufallen, denn der unverkennbare Klang von Schritten – und ein geheimnisvolleres, ununterbrochenes knirschendes Geräusch – schienen auf dem Weg zu der Grabstätte zu sein. Aber von wo?, wollte ich wissen. Der Weg, auf dem ich gekommen war, lag hinter mir, wohingegen die Geräusche von vorn kamen. Ich duckte mich hinter einen Stapel halb mumifizierter Leichen, gerade als ein tanzender Lichtschein zu sehen war. Noch ein Eingang, erkannte ich, von einem weiteren dieser stygischen Tunnel. Ich versteckte mich und verhielt mich so still wie die Leichen um mich herum, als schließlich das Licht einer Öllaterne aufflackerte und der Eindringling aus einem bisher noch nicht gesehenen Zugang auftauchte. Die Gestalt schob eine hölzerne Schubkarre vor sich her, in der sich der erwartete Inhalt befand: der nackte, an den Stümpfen bandagierte Torso des unglücklichen Opfers, das nach der Operation in Dr. Anstruthers Schreckenssuite gestorben war. Seine halben Gliedmaßen wackelten bei jeder Bewegung der Schubkarre, und auf seinem toten Bauch lagen mehrere Sätze abgetrennter Gliedmaßen sowie einige Koffer. Dann hielt die Karre an, und die Laterne wurde auf den Boden gestellt. Die Koffer wurden als Erstes auf den Haufen geschmissen, dann die Gliedmaßen und schließlich, begleitet von einem leisen Grunzen, auch der Torso. Bei dem Eindringling selbst konnte ich nur den Körperbau eines Mannes feststellen, und ich konnte sehen, dass er sich kein Taschentuch vor Mund und Nase hielt. Wie er den Gestank ertragen konnte, war mir ein Rätsel … bis er die Laterne wieder aufnahm und das flackernde Licht sein Gesicht offenbarte. Es war Mr. Nowry, den ich nur Stunden zuvor tot im Krankenwagen gesehen hatte. Mit welchem Trick sich das erklären ließ, darüber wollte ich gar nicht nachsinnen, aber beim ersten Anblick seines blassen Gesichts in dem Licht, wenngleich dieser nur kurz war, keuchte ich auf. Die Gestalt erstarrte und drehte sich um. Ich erstarrte ebenso, betete und machte mich bereit, meine Pistole hervorzuholen … Die Laterne wurde hierhin und dorthin geschwenkt, doch dank der Gnade Gottes verrieten ihre Strahlen mich nicht in meiner gehockten Stellung. Schließlich kehrte Nowry zu seiner Schubkarre zurück und verschwand auf dem Weg, den er gekommen war. Ich wartete ganze fünf Minuten, bevor ich mich auch nur bewegte, dann stand ich auf und drehte mich um, schaltete meine Taschenlampe ein und marschierte flotten Schrittes auf meinen eigenen Ausgang zu. Doch als ich das tat, bemerkte ich wider Willen eine weitere, längliche Öffnung in der Felswand. Jawohl, ein weiterer Tunnel. Den werde ich unter gar keinen Umständen betreten, gab ich mir die Selbstanweisung, doch bevor ich es bewusst registrierte, entsandten meine Füße mich in diesen in den Fels gehauenen Eingang. Ungeachtet all der Bitterkeit dessen, was ich bisher gesehen hatte, drängte sich mir die Frage auf, ob Lovecraft selbst sich in einen dieser Tunnel hineingewagt hatte; dann wurde mir klar, dass er es getan haben musste, denn woher sonst hätte er vergleichbare unterirdische Netzwerke in Meisterwerken wie nicht nur »Schatten über Innsmouth«, sondern auch »Das Fest«, »Der Außenseiter«, »Ratten im Gemäuer« und so weiter ableiten können. Ich befand mich nun inmitten einer Geschichte von Lovecraft, wusste allerdings, dass das obszöne Gemetzel, das im Hilman stattfand, sowie die Höhle des Schreckens beileibe keine »Geschichte« waren. Dennoch überstieg das Ausmaß meiner Neugier die Leistungsfähigkeit meiner Vernunft. Ich musste sehen, was sich am Ende dieses Tunnels befand. Während die hin und wieder eingeschaltete Taschenlampe mich voranführte, drang mir ein weiterer Geruch in die Nase, dankenswerterweise war es nicht der des Todes noch so übel riechend. Es war ein starker Duft mit einer bestimmten Ausprägung. Je tiefer ich in den Tunnel vordrang, desto vertrauter wurde das Odeur: Es roch zweifellos nach Fisch. Mir blieb die Luft weg, als der Tunnel in eine unterirdische Kammer überging, die mehrfach so lang und breit war wie die vorherige, und in dieser ruhten mehrfach so viele Leichen. Diese hier waren allerdings irgendwie anders … Warum kein Gestank nach Verwesung und natürlichem Verfall?, überlegte ich. Warum lediglich der Geruch nach frischem Fisch? Aber als meine Augen die Einzelheiten dessen registrierten, was meine Netzhäute erfassten, wurde mir hier noch übler als in der vorangegangenen Grabstätte. Der Berg aus Körpern war riesig, fünf bis sieben Meter hoch und bestimmt dreißig Meter lang. Doch mein Wahrnehmungsvermögen schien sich zu verzerren, als ich diesen Morast aus aufgetürmten Leichen blinzelnd musterte. Sie … sie … sie sind nicht völlig menschlich, begriff ich. Einige mehr, andere weniger … Fast allen hatte man die Kleidung abgenommen. Ihre tote, nackte Haut schimmerte wachsweiß und unter dieser lichtdurchlässigen Blässe zeichneten sich grün geaderte Verfärbungen ab. Schwerwiegende körperliche Deformationen hatten den Löwenanteil der Leichen in abscheuliche Missbildungen verwandelt. Die meisten waren kahlköpfig, aber alle besaßen weit offene, überwiegend blaue, übermäßig vorstehende Augen. Bei näherer Inspektion entdeckte ich mal mehr, mal weniger verlängerte Hände und Füße, und zwischen den Fingern und Zehen sah ich eindeutig … Mein Gott … … Schwimmhäute. Beim Anfassen – und ich weiß nicht, was mich dazu veranlasst hat, eines dieser Dinger anzufassen –, fühlte die Haut sich seltsam feucht, schleimig und gummiartig an, ähnlich wie Froschhaut. Aber die schrecklichste Entdeckung erwartete mich noch: Wenigstens die Hälfte dieser deformierten Verblichenen hatte Schlitze entlang der Kehle. Wie Kiemen. Genau wie in der Geschichte, ratterten meine Gedanken. Konnte das denn wirklich wahr sein? Wahnsinn, dachte ich stattdessen. Gewiss konnten unterirdische Gase, die bekannt dafür waren, sich in Höhlen und Tunneln wie diesen zu sammeln, Halluzinationen hervorrufen. Es war mein Unterbewusstsein, derzeit benebelt von solchen Ausströmungen, das mich glauben ließ, Lovecrafts größtes Werk würde auf einer Art biologischer Tatsache basieren. Ich trat zurück von dem grausamen Haufen klaffender Münder; nicht blinzelnder glasiger kugelförmiger Augen; blasser, verbogener Gliedmaßen; und Ohren, die teilweise oder komplett geschrumpft zu sein schienen, auf haarlosen, halbmenschlichen Schädeln. Verletzungen waren ohne Frage die Todesursache dieser missgebildeten Opfer gewesen: Wunden, fast ausschließlich am Kopf und an der Brust, und es gab Hinweise, dass der überwiegende Teil der Wunden von Klauen und Zähnen hervorgerufen worden war. Ich war von diesem höchst monströsen und unglaublichen Anblick zu überrascht, um weiter nachdenken zu können. Ich hatte keine Wahl, als meine geistige Gesundheit ernsthaft zu bezweifeln, doch dann hörte ich wie in der ersten Kammer des Todes erneut das Geräusch näher kommender Schritte … Erneut löschte ich mein Licht und duckte mich hinter eine Flanke aufgeschichteter halbmenschlicher Leichen, als ein Licht – nein, mehrere – erkennbar wurden. Aber auch Stimmen waren dieses Mal zu vernehmen, wenigstens zwei; und das an der entferntesten Ecke der Kammer hereinscheinende Licht ermöglichte mir, einen weiteren rückwärtigen Ausgang zu erspähen. Inzwischen musste ich davon ausgehen, dass das Tunnelnetzwerk wahrhaft gigantisch war. Zwei Gestalten tauchten auf, eine größere und eine kleine, von denen jede eine Kerzenfischfackel in der Hand hielt. Die flackernden, qualmenden Flammen warfen überall schroffe Schatten, die einem grauenvollen, kaleidoskopischen Albtraum entsprungen schienen. »Müssen uns beeilen, Sohn, wie wir’s immer tun«, sagte eine raue, erwachsene Stimme mit erkennbarem Akzent. »Man weiß nie, wann einer ihrer Wächter hier herumschnüffelt.« »Ich weiß, Dad«, erwiderte die Stimme eindeutig eines Jungen. »Schneid die Bizepse und Waden raus, wie ich’s dir gezeigt hab, und ich hacke die Rippen und Bäuche raus. Lass uns versuchen, eine ganze Menge in kurzer Zeit zusammenzukriegen, ja, Sohn?« »Klar, Dad.« Das qualmende Licht entlarvte mühelos die neuen Eindringlinge: Onderdonk und sein junger Sohn. Sie mussten einen eigenen Tunnel entdeckt haben, der ihnen Zutritt verschaffte, ohne dass sie von der Stadt aus gesehen wurden, in der sie offensichtlich nicht willkommen waren. Mit beachtlichem Geschick holte der Junge mehrere Leichen vom Haufen und schnitt innerhalb von Sekunden das Fleisch von Armen und Beinen ab. Derweil hackte der Vater mit einem Beil in jeder Hand systematisch die Rippen weiterer Leichname klein und trennte sorgsam die Bauchdecke ab. Nachdem sie jeder etwa ein halbes Dutzend der toten, halb menschlichen, halb amphibischen Monstren bearbeitet hatten, wechselten sie. Minuten später hatten sie ihre Schlachtwaren in Leinensäcken verpackt. »Gute Arbeit, Sohn«, lobte Onderdonk den Jungen. »Wette, wir haben hier genug Fleisch für mehr als eine Woche zum Räuchern.« »Hoffentlich verdienen wir viel Geld damit, Dad.« »Das ist mein Junge.« Der Erwachsene lächelte stolz und tätschelte seinem Sohn den Kopf. »Das ist Gottes Art, auf gottesfürchtige Menschen wie uns aufzupassen, indem er dafür sorgt, dass diese Halbblüter gleichermaßen nach Fisch und Schwein schmecken. Welche Wahl haben wir auch schon, wo uns diese Teufelsanbeter aus Olmstead nicht in ihrem Meer fischen lassen?« »Ja, Dad. Ich bin froh, dass Gott derart auf uns aufpasst.« »Wir haben ziemliches Glück, Sohn, und das dürfen wir niemals vergessen. Für viele andere sind die Zeiten härter.« »Aber, Dad?« Der Junge sah seinen Vater einen Moment zweifelnd an. »Wie kommt es, dass sie nicht verrotten und stinken, du weißt schon, so wie an dem anderen Ort?« »Es ist, weil die Leichen an dem anderen Ort alles reinblütige Menschen wie wir sind, aber diese hier?« Onderdonk tätschelte den glatten grünlichen Bauch einer Frau, deren Gesicht und Brust eher krötenartig aussahen, inklusive der Warzen. »Alle von denen hier sind wenigstens halb voll mit Fischblut wie dieses Weibsstück hier«, bei diesen Worten wiegte er herzlos eine warzenschimmernde Brust. »Diese hier gehört vermutlich zur vierten Generation, so wie viele andere – die sind bereits verwandelt. Aber selbst die erste Generation reicht, um zu verhindern, dass sie richtig verrotten, Junge, und Käfer und Ungeziefer wollen nicht an die ran. Das liegt am Fischblut, weißt du? Darum verrotten sie nicht und darum können sie auch nicht sterben, es sei denn, man bringt sie um, absichtlich oder durch einen Unfall.« »Oh«, erwiderte der Junge, »das ist irgendwie klasse.« »Hmmm. Jetzt hilf mir, diese Überbleibsel zurückzuwerfen.« Entgeistert sah ich von meinem Versteck aus mit an, wie die beiden die Schlachtreste hochhievten und über den Grat der Haufen hinwegwarfen, offensichtlich um zu verhindern, dass die »Wächter« herausfanden, was sich hier abgespielt hatte. »So«, hallte Onderdonks Flüstern durch die Höhle, »lass uns abhauen.« In dem flackernden Licht beobachtete, wie sie davonzogen, die Säcke mit dem stibitzen Fleisch über die Schulter geworfen. Doch das Übelkeitsgefühl in meinem Magen hatte mich längst gepackt: Die Beute aus dieser außergewöhnlichen Leichenkammer war offensichtlich das, was Onderdonk ahnungslosen Kunden als »mit Fisch gefüttertes Schwein« verkaufte. Eine kleine Portion davon befand sich derzeit in meinem Verdauungstrakt. Als es mir sicher erschien, taumelte ich davon. Mir war nur allzu bewusst, dass dies alles nicht der Effekt halluzinogener Gase war. Nachdem ich einige Meter zurück in den Tunnel gegangen war, erbrach ich den gesamten Inhalt meines Magens. Draußen auf den felsigen Klippen außerhalb des Tunnels fiel ich auf die Knie und war erleichtert über die frische Luft und den Anblick der normalen Welt: das Mondlicht, der Hafen, die Docks und die Häuser entlang der Küste. Ja, die normale Welt. Ich dankte Gott, denn ich wusste jetzt, wie dünn der Schleier war zwischen Normalität und vollkommener, unsagbarer Bösartigkeit. Wer wusste schon, welche anderen anomalen Scheußlichkeiten die Welt direkt unter ihrer Oberfläche verbarg? Ich lehnte mich an den Felsen und lauschte dem Wasser, das gegen die Pfosten des Piers und gegen die Küste schlug – ein Teil von mir war wie gelähmt, nicht bloß wegen dem, was ich gesehen hatte, sondern wegen dem, was dies alles bedeutete. Ich ließ die salzige Luft über mein Gesicht streifen und meine Lungen füllen. Ich wusste, mein Körper und mein Geist benötigten einige Augenblicke der Ruhe, bevor ich die Folgen meines nächsten Schrittes berechnen konnte. Ich starrte stumm auf das vom Pier umgebene Hafenbecken und beobachtete, wie die Boote vom Wellengang sanft hin und her geschaukelt wurden, als mein Blick auf die kaum erkennbare Anhöhe der Sandbank fiel. Lovecrafts Teufelsriff, schoss es mir durch den Kopf. Wenigstens das war reine Erfindung gewesen, aber wer würde den Rest glauben? Glaubte ich selbst es denn? Anfänglich glaubte ich, ich müsse einen Partikel von irgendwas im Auge haben, aber je länger ich starrte, desto überzeugter war ich, dass etwas Kleines die nächtliche Ruhe im Hafen störte. Ein Boot, dachte ich. Es war lediglich ein kleines Ruderboot, und nur eine Person befand sich an Bord, die es leise ins Hafenbecken hineinruderte. Einige Augenblicke fluchte ich gotteslästerlich in mich hinein, als einige tiefer stehende Wolken den Mond verdeckten und die mysteriöse Szene in Dunkelheit tauchten. Wahrscheinlich war es nur ein Krebsfischer oder jemand, der die Bojen überprüfte, aber ich konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass es sich um etwas anderes handelte. Als die Wolken sich verzogen, sah ich, dass das kleine Boot zum längsten Finger der Sandbank gesteuert und dort an Land gezogen worden war; die Einmanncrew war bereits ausgestiegen … Er läuft die Sandbank entlang, erkannte ich sogleich. Und … was führt er da mit sich? Tatsächlich war die Gestalt in der Ferne geschlagen mit etwas, das nach einem Sack aussah, den er hinter sich herschleppte. In diesem Augenblick verzog sich der Wolkenschleier vollständig vom strahlenden Angesicht des Mondes, und auf einmal erstrahlte der gesamte Hafen in sprödem, geisterhaft weißem Licht. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich genug erkennen. Die Gestalt trug etwas, das ich eindeutig als langen, verschmierten schwarzen Regenmantel mit Kapuze erkannte … Zalen. Er blieb stehen, als er am breitesten Punkt der Sandbank angekommen war. Dann stand er einfach minutenlang da, den Kopf nach unten geneigt, als ob er … Als ob er auf etwas wartet, kam mir morbiderweise in den Sinn. Auf etwas, das sich im Wasser befindet … Und dann tauchte aus ebendiesem Wasser tatsächlich etwas auf. Ja, eine Gestalt, aber eine unbekleidete, die von Beulen übersät war und in einem grünlichen Farbton glänzte. Schlank und hochgewachsen stand sie da, besaß jedoch sehr lange Gliedmaßen, einen fast flachen Kopf sowie ein Gesicht, das nach vorne spitz zulief. Selbst aus dieser weiten Entfernung konnte ich erkennen, wie riesig die niemals blinzelnden Augen waren; wie Kristallkugeln wirkten sie, in denen eine unterschwellige Bedrohung glitzerte. Schließlich erhoben sich zwei weitere dieser urzeitlichen Gesichter langsam aus dem Wasser und legten im Mondlicht den gesamten Körperbau offen. Eine der Gestalten war definitiv weiblich mit großen Brüsten und breiteren Hüften als die anderen beiden, während deren Männlichkeit lang an der Lende herunterhing. Ich war dankbar, dass mir die Distanz weiteren Aufschluss über die physischen Details verwehrte. Das erste Wesen streckte den Arm aus und nahm Zalen den angebotenen Sack ab … Niemand musste mich über den Inhalt des Sackes aufklären, denn als die Kreatur ihn öffnete und hineinsah, ertönte ein leises Geräusch, leise, jedoch unverkennbar. Das qualvolle Wimmern eines neugeborenen Babys. Mehr und mehr wurde alles Wirklichkeit. Wie konnte ich leugnen, was meine Augen sahen? In all diesem schaurigen Wahnsinn, was konnte es da für eine vernünftige Erklärung? Auf der Sandbank nahmen die drei Monstren ihre menschliche Beute an sich und kehrten in die nassen Tiefen zurück, während Zalen wieder in sein Boot stieg und fortruderte, und dann … Bums! Ich gehe davon aus, dass der plötzliche Schock mich aufbrüllen ließ. Eine spindeldürre, jedoch angriffslustige Masse sprang von oberhalb der Felszunge, wo ich saß, herab und landete auf mir: blassweiße Haut und ein dünnes, grimmiges Gesicht, aber seltsam tote Augen und umgeben von einer Aura aus langem, dünnem, umherwehendem Haar. Eine dünne Hand schnappte auf einmal nach meiner Kehle und begann, mit großer Kraft zuzudrücken. Es war der Schreck über die Plötzlichkeit des Angriffs sowie die vorherigen Enthüllungen, der meine Gedanken beeinträchtigte. Mehr der Instinkt denn entschlossene geistige Berechnung steuerte meine Verteidigungsversuche, so schwächlich sie auch sein mochten. Nur einen Bruchteil meiner Willenskraft aufbringend, konnte ich dennoch feststellen, dass meine todesfeeartige Angreiferin weder zu den Wesen gehörte, die Zalen auf der mondbeschienenen Sandbank bedrängt hatten, noch ein lebendiges Exemplar der Halbmensch-Halbmonster-Hybriden war, die ich unter der Erde entdeckt hatte. Stattdessen hatte ich es mit einer feindseligen und völlig menschlichen Frau zu tun, die mit einer Hand an meiner Kehle zerrte, während sie mit der anderen nach meinen Augen stach. Weiße Zähne schnappten nach mir und schlossen sich Zentimeter vor meinem entsetzten Gesicht wieder, aber als ich mir ihr Gesicht genauer ansah, schrie ich erneut und sehr viel lauter als zuvor. Diesen Schrei musste jeder in Ufernähe gehört haben, denn er hallte kanonengleich über das dunkle Wasser. Das nackte, wilde Ding, das über mir hockte, war Candace, die ehemals schwangere Prostituierte, die Zalen als obszönes Fotomodell gedient hatte. Von ihrem aufgeblähten Bauch befreit, sahen ihre von der Milch angeschwollenen Brüste viel zu groß aus für eine so dünne Frau. Ihr Tod direkt nach der Geburt hatte dafür gesorgt, dass sie unter den Augen dunkle Flecken hatte, die wie Teerspuren aussahen, und dass ihre geschwollenen Brustwarzen blau angelaufen waren. »Ich habe dich gesehen«, keuchte ich, »im Krankenwagen! Du bist tot!« »Bin ich das?«, erwiderte sie trocken und abgehackt. Kein Atemzug drang aus ihrem Mund, während sie dies sagte, aber noch schlimmer klang ihr Faksimile eines Lachens, als sie mir die Kehle noch fester zudrückte und mir mit der anderen Hand in den Schritt fasste. »Wir … Wir könnten eine schöne Zeit zusammen haben, Sir …« Es war so abscheulich. Mit der Sanftheit einer Geliebten streichelte sie mich zärtlich im Schritt, während die Finger ihrer anderen Hand sich so tief in meine Kehle gruben, dass ich schon glaubte, sie würde mir jeden Moment die Luftröhre durchtrennen und den Adamsapfel aus dem Hals reißen. Mir war klar, dass der Tod sie in die Rolle des zuvor erwähnten »Wächters« berufen hatte. Falls meine Schreie die Anwohner am Ufer noch nicht alarmiert hatten, dann hatte es der darauf folgende Schuss auf jeden Fall getan. Dieser verjüngte Kadaver, der vor nicht allzu langer Zeit noch eine missratene junge Frau namens Candace gewesen war, krachte gegen die Felsen. Die Todesangst hatte mich unterbewusst meinen Schrecken überwinden lassen, sodass ich die Hand in die Tasche stecken und meinen kleinen, mehrschüssigen Revolver Kaliber .32 hervorholen konnte. Der blind abgegebene Schuss hatte sie in der Nähe des linken Ohres getroffen und einen ordentlichen Teil ihrer Schädeldecke mit sich gerissen. Keuchend schnappte ich nach Luft, während ich mit ansah, wie der nackte Leichnam gegen die Felsen prallte. Durch den Schuss war ich mit kalten Brocken ihrer verschlungenen Hirnmasse bespritzt worden sowie mit übel riechendem Blut, das schwärzlich aussah und nicht rot, außer dass es in schwachem Maße von Fäden eines fremdartigen Bestandteils durchzogen war, die blassgrün leuchteten. Insgesamt roch es nach schwerem Motoröl und Fisch. Die Überlegung, einen Abgang zu machen, kam schlagartig, da in vielen Häusern entlang des Ufers Lichter angingen. Obwohl Candace einen moderaten Teil ihres Gehirns verloren hatte, erhob sie sich zögernd und taumelte mir hinterher, doch nicht, bevor ich genug Vorsprung erlangt hatte, dass er ihre Jagd sinnlos machte. Ich eilte an der Felswand entlang und hoffte, dass mich die düsteren Brocken und das unregelmäßige Licht verbergen würden. Schließlich überquerte ich die Anliegerstraße, rannte zwischen zwei Fischfabriken hindurch und entkam diesem unheimlichen Hafengebiet in den Wald. Gott schütze mich, Gott schütze mich, spann mir das vergebliche Gebet im Kopf herum. Nur vereinzelt drang das Mondlicht in die Randzone des Waldes; ich wagte es nicht, tiefer einzudringen, da ich sonst gar nichts sehen würde – und ich wollte meine Position nicht möglicherweise dadurch verraten, dass ich auf meine Taschenlampe angewiesen war, deren Batterien bereits schwächer wurden. Doch so desorientiert ich nach meinen Erlebnissen auch war, war ich halbwegs sicher, dass ich mich in nördlicher Richtung voranbewegte – in die Richtung, die mich zwangsläufig zuerst zu Marys Haus und dann letzten Endes aus der Stadt heraus führen würde. Ich wusste, dass Kilometer angestrengten Gehens vor mir lagen, bis ich die nächste, sichere Stadt erreicht hätte. Wenn ich doch nur ein Telegrafenbüro finden konnte – von einigen wusste man, dass sie vierundzwanzig Stunden am Tag besetzt waren – oder gar eines der seltenen Telefone. Doch als ich mich zwischen den stämmigen Bäumen hindurchschlängelte, wusste ich, dass es einen Ort gab, den ich vor allen anderen aufsuchen musste … Es müsste ganz in der Nähe sein, überlegte ich nach einer halben Stunde, und als ich zwischen zwei schäbigen Gebäuden hindurchblinzelte, glaubte ich, den Kopfsteinpflasterweg vor der Feuerwehr zu erkennen. Ja! Da stand sie mit geöffnetem Tor, aber merkwürdigerweise war in der Nähe keine Menschenseele zu sehen. Nur noch zwanzig Meter, wusste ich, dann würde ich an der unbeleuchteten Rückwand des Gebäudes stehen, in dem Cyrus Zalen und seine armen Nachbarn hausten. Tatsächlich konnte ich jetzt dieses Appartment komprimierter Verzweiflung vom Wald aus sogar riechen. Sollte ich es wagen, zur Vordertür zu gehen, oder wäre es besser, hinten an eines der Fenster zu klopfen? Beides gefiel mir nicht besonders, aber ich wusste, dass ich mit diesem Mann sprechen musste. Zalens Wohnung lag an einem Ende des altersfleckigen Gebäudes; ich schlich ganz langsam an der Seite entlang, erstarrte dann jedoch, als wäre ich in eine Salzsäule verwandelt wie Lots Frau Edith … Hinter mehreren gewundenen, Jahrhunderte alten Bäumen auf der Vorderseite konnte ich die schattigen Umrisse von Menschen erkennen. Mein Herz wäre beinahe zersprungen, als sich von hinten eine Hand, rau wie Schmirgelpapier, auf meinen Mund legte und ich zurück in den Wald gezogen wurde. Zweifellos hatte einer ihrer »Wächter« mein Vordringen bemerkt. Erstickend und vergeblich rang ich mit dem drahtigen, doch grausam starken Schatten. Alle Luft wich mir aus der Brust, als ich zu Boden gerammt wurde. »Seien Sie doch leise, Sie Narr!«, flüsterte eine Stimme verzweifelt. Es gelang mir, meine Pistole hervorzuholen und sie nach oben zu richten, doch der gesichtslose Schatten sprach weiter: »Wenn Sie den Abzug drücken, sind wir beide tot.« Auf einmal erkannte ich an der Stimme, dass ich Zalen vor mir hatte. »Pst!« Die Gestalt in dem schäbigen Regenmantel hatte überhaupt keine Angst vor meiner Waffe. Stattdessen ließ Zalen mich auf dem Boden liegen, um heimlich an dem Baum vorbeizugucken, hinter dem wir uns beide versteckten. Als er zurückkehrte, wirkte sein Flüstern ruhiger. »Sie haben Glück, dass die Sie nicht gesehen haben. Verdammt, wir hatten beide Glück.« »Was wollen Sie …« Er wirkte zornig. »Die überwachen meine Wohnung, Mann! Die warten auf mich, und die sind auch hinter Ihnen her, Sie Idiot! Sie hätten uns beinahe verraten, und inzwischen muss ich Ihnen wohl nicht mehr erklären, was die mit uns machen würden. Sie würden sich nicht im Wald verstecken, wenn sie es nicht wüssten.« Mein rasender Herzschlag begann sich zu beruhigen. »Wächter. So hat Onderdonk sie genannt.« »Jeder, der zum Stadtkollektiv gehört, weiß Bescheid«, flüsterte Zalen. »Sie dienen ihnen.« »Ich habe Sie gesehen!«, flüsterte ich ebenso heftig zurück. »Sie erzählen mir, dass Lovecrafts Geschichte der Wahrheit entspricht! Und jetzt glaube ich Ihnen sogar!« »Wie könnten Sie nicht?« Kicherte die hagere Gestalt etwa? »Sie müssen von der Küste kommen, obwohl ich Ihnen gesagt habe, dass Sie da nach Einbruch der Dunkelheit nicht hingehen sollen. Zwischen Ihrer Rumschnüffelei und meiner großen Klappe …« »Jetzt weiß ich, warum so viele Frauen hier schwanger sind – ich habe gesehen, was sie im ersten Stock des Hilman treiben!«, knurrte ich. »Sie verkrüppeln Männer und benutzen sie zu …« »Sicher, denken Sie doch mal drüber nach. Anstruther ist einer der Bonzen hier. Er schneidet ihnen die Beine ab, damit sie nicht weglaufen können, die Arme, damit sie sich nicht wehren können, und er zieht ihnen die Zähne, damit sie die Mädchen nicht beißen können. Das Bestreben ist, jede Frau aus dem Kollektiv fortwährend schwanger zu halten. Wann immer ein Kerl auf der Durchreise hier herkommt, der jung und von guter Abstammung ist, Bingo! Dafür benutzen sie sie. Das wollen diese Dinger: Neugeborene …« »Als Opfer! Das ist widerwärtig!« Zalen verdrehte im Mondlicht die Augen. »Oh Mann, sie sind wirklich unterbelichtet. Das ist nicht irgendein okkulter Hexenkram. Das ist Wissenschaft. Genau darüber hat Lovecraft geschrieben, wenn man zwischen den Zeilen liest. Je mehr Neugeborene die Stadt ihnen geben kann, desto glücklicher sind sie. Dann belohnen sie das Kollektiv.« »Sie belohnen es?« »Dies ist eine Fischereistadt, Morley. Sie belohnen uns mit einem Überschwang an Fisch. Vor dem Neuen Weg, in alten Tagen, haben sie uns auch Gold gegeben.« Ich starrte ihn an. »Wie in der Geschichte.« »Ja, Mann, genau wie in der Geschichte. Sie geben uns jetzt kein Gold mehr, weil das zu auffällig wurde. Die Stadt braucht es nicht. Das Gold hat nur bewirkt, dass die Leute faul wurden. Jetzt geht es ausschließlich um die Ressource, Fisch. In den letzten zehn Jahren ist dieses kleine verschissene Fischerdorf zum profitabelsten Meeresfrüchtehäfen des Landes geworden. Wir geben ihnen, was sie wollen, und sie geben uns, was wir wollen: Wohlstand. Und jedes Mal, wenn ein Boot von außerhalb der Stadt versucht, sich hier reinzuschleichen und Netze oder Angeln auszuwerfen …« Zalen kicherte erneut. »Die Boote sinken und die Leute darauf sieht man nie wieder. Denke nur ungern an das, was sie den armen Schweinen antun …« Seine Worte wurden langsam von meinem Gehirn verarbeitet. »Sie«, murmelte ich verächtlich. »Lovecrafts Tiefe Wesen, die Dagoniten.« »Ach, das sind doch nur Namen, die er sich ausgedacht hat, Morley. Wir wissen nicht, wie sie genannt werden …« Er zuckte mit den Achseln. »… daher nennen wir sie einfach die Vollblütigen oder die Dinger. Lovecraft hat dennoch genug rausgefunden. Er war ’21 zum ersten Mal hier, konnte aber nichts herausfinden, aber ’27?« Zalens freches Grinsen strahlte im Dunklen. »Sie sind ihm irgendwie ähnlich, wissen Sie das? Er kam her, weil ihm die Ausblicke hier gefielen, aber dann begann er, herumzuschnüffeln. Sie haben ihn gehen lassen, weil sie nicht wirklich wussten, wer er war. Doch diese gottverdammte Geschichte.« Er seufzte. »Sie sind hier, seitdem Obed Larsh einige der Mischlinge aus Ostindien mitgebracht hat. Er hat die Vollblütigen mit einer Art Bake gerufen, die ihm die Inselbewohner gegeben haben, bevor sie alle ausgelöscht wurden.« Kalte Schweißperlen liefen mir die Wangen herunter wie krabbelnde Käfer. Ich konnte ihn nur anstarren ob der furchtbaren Bedeutung der Dinge, die er sagte, und ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu glauben. »In der Geschichte haben Bundesagenten und Schiffe der Marine die Wesen vernichtet, also warum …« Er schnitt mir mit einem beleidigten Grinsen das Wort ab. »Das ist der einzige Teil, den er frei erfunden hat – des Dramas wegen, Mann. Ja, ich weiß, sie haben das Riff mit Torpedos beschossen, aber Sie wissen bereits, dass es nie ein Riff gegeben hat. Was Lovecraft gut hinbekommen hat, viel zu gut, war die Geschichte. Es war eine reale Geschichte über soziale Dekadenz und den moralischen Zusammenbruch. Sie haben ihre eigene Machtstruktur, genau wie wir; unsere Anführer wechseln, ihre ebenso. Eine ganze Weile haben sie die Vermischung zwischen ihrer Rasse und den Menschen gefördert, doch dabei ging es nur um pure Lust. Ein Mensch mit vermischtem Blut verändert sich mit der Zeit – irgendwas in jeder Zelle seines Körpers – und schließlich wird er den Dingern so ähnlich, dass er nicht stirbt. Sie ließen all die armen Toren in der Stadt in dem Glauben, dass, nachdem die sich komplett verwandelt hätten, ins Wasser gehen und auf ewig in Harmonie mit ihnen leben würden, doch was die Dinger in Wirklichkeit getan haben, war, die Mischlinge als Sklaven zu verwenden. Denn selbst nachdem die sich verändert hatten, waren sie noch teilweise menschlich und behielten ihre menschlichen Schwächen. Süchte, Unehrlichkeit, Verrat. Es kam an den Punkt, dass die teilmenschlichen Mischlinge begannen, ihre Gesellschaft zu verderben. Und was haben sie getan? Dasselbe, was wir nach Herbert Hoover gemacht haben und die Russen nach den korrupten Zaren. Sie haben ihre Machtstruktur geändert; sie haben ihre eigene Gesellschaft gereinigt, indem sie das verderbliche Element – das menschliche Blut – beseitigt haben. Es gab keine Bundesagenten, die hierher kamen und alle Mischlinge ausgerottet haben. Das haben die Dinger selbst gemacht – es war ein richtiges Gemetzel, so um 1930, schätze ich. Sie kamen eines Nachts aus dem Wasser und haben jeden in der Stadt ermordet, der auch nur einen Tropfen ihres Blutes in sich hatte.« Zalen machte eine Pause und dachte nach. »Lovecraft hätte es sehr gefallen. Sie taten genau das, was er geglaubt hatte: die lebendigen Resultate des Geschlechtsverkehrs zwischen den Rassen – oder in diesem Fall Spezies – auslöschen.« Als ich meine rasenden Gedanken in Worte fasste, schienen sie nur unwillig aus meiner Kehle zu kommen. »Die erste Höhle, auf die ich im Tunnelnetzwerk gestoßen bin, von dem Sie mir erzählt haben, war voller verwesender, verstümmelter Leichen. Sie verwesten, sage ich Ihnen; sie verbreiteten Krankheitserreger. Die Luft war nahezu toxisch.« »Die Höhle ist für die verstorbenen Erzeuger.« »Erzeuger?« »Die Kerle, die sie verstümmeln und im ersten Stock einsperren. Alle Frauen aus dem Kollektiv kommen jeden Abend dorthin, bis sie schwanger sind, aber das haben Sie ja selbst schon herausgefunden. Nun, die Männer leben nicht ewig, und manchmal wird ein Erzeuger auch impotent. Sie dann zu nichts mehr nütze, daher bringen die Stadtältesten sie um und lassen deren Leichen zusammen mit all den anderen verrotten.« Die Dinge ergaben zunehmend einen, wenngleich widerlichen Sinn. »Und die größte Grotte, in der Unmengen an Leichen liegen, das sind die Mischlinge, die 1930 Opfer des Genozids geworden sind?« »Genau. Die verwesen nicht, weil ihr Fleisch mehr oder weniger unsterblich ist. Selbst wenn sie durch Gewaltanwendung umkommen, zerfallen sie nicht. Was glauben Sie, wo dieser verrückte Onderdonk und sein Kind das ganze Frischfleisch herbekommen?« Dann lachte er leise auf. »Na los«, flüsterte er, »lassen Sie uns von hier verschwinden.« Ich hatte keine Ahnung, warum mir dieser Mann – dieser Babymörder – auf einmal wie ein Verbündeter erschien. Vermutlich lag es an den Umständen. Entlang Flecken von Mondlicht folgte ich ihm ein gutes Stück weg von der Rückseite der Apartmentreihe, bis er an einen kaum erkennbaren Pfad kam. Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Dabei dachte ich darüber nach, dass Zalens primitive Interpretation einige der neuesten wissenschaftlichen Durchbrüche nur zu abschreckend widerspiegelte. Die letzte Dekade war durch die Werke des darwinistischen Engländers William Bateson dominiert, der diese neue und bemerkenswerte Wissenschaft namens Genetik begründet und benannt hatte: Die Idee, dass mikroskopische Zellbestandteile das Erbgut innerhalb einer Spezies weitergeben und dass andere, als Mutagene bekannte Komponenten, sei es per Zufall oder absichtlich, besagtes Erbgut verändern können. Überdies hatte die berühmte, preisgekrönte Mikrobiologin Hattie Alexander gerade erst diesen Monat die Funktionsfähigkeit eines wundersamen Impfstoffes gegen die Lungenentzündung bewiesen, bei dem sie den von ihr so genannten genetischen Code, der innerhalb der Virenzellen zu finden ist, manipuliert hatte. Wenn das menschliche Wissen nun erst derartige Entdeckungen machte, wie viel überlegener mochten Zalens Dinger hinsichtlich ähnlicher Wissenschaften sein? Ich hatte zu große Angst, um länger über diesen Gedanken nachzusinnen. Wir schienen jetzt in Richtung Nordwesten abzubiegen, und zum ersten Mal fühlte ich mich im Wald sicher. Doch in Lovecrafts Geschichte, da gab es so etwas wie Sicherheit nicht, und seine eigene Version der Wächter konnte sich überall verbergen, dazu bereit, verbotenes Gerede zu belauschen … Und es dann zu melden … »Wie viele wurden insgesamt umgebracht?«, ließ mich ein morbides Interesse fragen. »Von den Mischlingen? Etwa eintausend, denke ich«, antwortete Zalen. »Viele stammten aus der vierten oder fünften Generation. Sie lebten in den Ruinen rings um Innswich Point – dem alten Hafengebiet. Als die Regierung tatsächlich herkam, war die ganze Stadt blitzsauber. Kein Gesindel, verstehen Sie? Darum konnten wir uns überhaupt für den Wiederaufbau qualifizieren.« Etwas noch Morbideres ging mir durch den Kopf. »Wo«, traute ich mich zu fragen, »sind Marys Kinder? Sie hat mir erzählt, sie hätte acht geboren – und würde das neunte erwarten –, aber ich habe nur eins auf ihrem Anwesen gesehen.« Zalen schnaufte, während wir weitergingen. »Keine Frau im Kollektiv darf all ihre Kinder behalten. Sie dürfen nur eins behalten – ihr erstes.« »Ich weiß ja bereits, was mit den anderen passiert.« Ich musste beinahe würgen. »Aber ich muss es ganz genau wissen.« »Ach, müssen Sie das, jetzt?« »Sie haben mich unterbelichtet genannt, weil ich vermutet habe, dass die Neugeborenen bei einem okkulten Ritual geopfert werden. Wenn das nicht der Fall ist, was genau machen diese Dinger dann mit all den Neugeborenen?« »Woher soll ich das wissen, Mann?« Er grinste mich an. »Ich bin keiner von denen, schon vergessen? Mich hat man nie ins Stadtkollektiv aufgenommen – ich werde hier als Ausgestoßener betrachtet.« Aber nicht als derart ausgestoßen, dass man Sie davon ausschließt, diesen Dingern zu dienen, überlegte ich. Ich verabscheute diesen Mann – für das, was er war, und das, was ich ihn hatte tun sehen –, aber ich wusste, dass ich ihn nicht verärgern durfte. Seine Informationen waren zu wertvoll und konnten mir gut bei meiner Flucht helfen. Einer Flucht, die ich entschlossen war, zusammen mit Mary zu unternehmen … »Die Babys, die nicht in Ordnung sind«, sagte er ernst, »ich schätze, die werden als Futter verwendet. Candace’ Kind zum Beispiel. Sie hat es heute bekommen, und es war durch den Schuss total versaut, den sie sich gesetzt hat – ich hab die Schlampe gewarnt –, aber am Ende hat sie Schwein gehabt. Sie ist noch während der Geburt gestorben.« »Nur in gewisser Hinsicht«, erlaubte ich mir, anderer Meinung zu sein. »Dieses tote Mädchen hätte mich an der Küste vorhin fast umgebracht.« »Oh, das erklärt den Schuss, den ich gehört habe …« »In der Tat, das tut es. Ich habe sie getötet, aber sie war bereits tot. Ich habe außerdem Mr. Nowry gesehen, der in der ersten Höhle Leichen entsorgt hat. Nur Stunden zuvor hatte er tot neben Candace im selben Krankenwagen gelegen.« Zalen zuckte mit den Achseln. »Das tun sie nicht oft, nur wenn sie weitere Arbeiter brauchen …« »Sie sprechen davon, die Toten wieder zum Leben zu erwecken!«, rief ich aus. »Seien Sie doch leise!«, fuhr er mich an. »Und ich rede von weitaus mehr als das. Sie sollten besser beten, dass Sie keinen der Vollblütigen je zu Gesicht bekommen, aber lassen Sie sich nicht täuschen. Sie mögen primitiv aussehen, aber sie sind den Menschen in jeder Hinsicht überlegen. Und, ja, sie haben eine Art Reagenz, mit dem sie Leuten das Leben wiedergeben können, die unter gewissen Umständen gestorben sind. Das hatten sie schon immer. Es ist eher so ein zelluläres Zeugs …« Mehr genetische Wissenschaft, erkannte ich, aber meine Gedanken waren weiterhin abgelenkt. Ich bekam sie einfach nicht mehr aus dem Kopf. »Wie lange … ist Mary schon Teil des Stadtkollektivs?« »Fünf Jahre, vielleicht auch sechs. Wen interessiert das schon? Und wo wir gerade von Ihrer kostbaren Mary sprechen …« Zalen blieb mitten im Wald stehen und drängte mich in westliche Richtung. Plötzlich riss ich im kühlen Mondlicht die Augen auf; ich erblickte etwas, das ich schon einmal gesehen hatte … Wo der bescheidene See zuvor im Sonnenlicht geglänzt hatte, schimmerte er nun im Licht des Mondes. Am Ufer konnte ich flüchtig einige Gestalten erkennen. Zalen hielt mich zwischen den Bäumen zurück, bevor ich die Gelegenheit hatte, vorwärtszustolpern. »Keinen Ton!«, warnte er. Es wäre mir nicht einmal im Traum eingefallen, jetzt etwas zu sagen; ich wollte es sehen. Mehrere Dutzend Frauen standen im Halbkreis direkt am Ufer, und ich muss zugeben, dass ich beim ersten flüchtigen Blick an Okkultismus gedacht habe. Die späte Stunde, das Mondlicht und der Ort, all das provozierte eine namenlose finstere Assoziation in meinem Kopf … Die Frauen trugen einfache Roben, deren Farbe ich im intensiven Mondlicht nicht ausmachen konnte, doch was man erkennen konnte, waren fransige Stoffstreifen, durch Stickereien in einer helleren Farbe unterteilt. Innerhalb dieser Segmente waren aufwendigere Stickereien zu sehen; recht glyphenartige Symbole und die merkwürdigsten geometrischen Formen, die mir Kopfschmerzen bereiteten, wenn ich sie zu lange ansah. Bewegten sich die Ränder dieser schrecklichen geometrischen Symbole tatsächlich? Jede der Frauen hielt außerdem eine Kerze vor sich – eine Kerze, deren Flamme grün brannte –, und ich glaubte, einen leisen Gesang zu vernehmen, dessen Noten bis tief in mein Innerstes eindrangen; ein Gefühl unsagbarer Furcht aufgrund der Illusion vollkommener Abwesenheit. Kein Licht, keine Güte, keine Moral, Abwesenheit von allem Vernünftigen. Noch leiser als die Klänge unbekannten Ursprungs drang eine vokale Diafonie an mein Ort, bei der ich am liebsten auf die Knie gefallen wäre und mich übergeben hätte: eine misstönende und kakodämonisch unstrukturierte Sequenz aus Worten, die sich anhörten wie: »Ei …« »Cf’ayak vulgtuum …« »Ei …« »Vugtlagln, sjulnu …« »Ei, ph’nglui, hkcthtul’ei …« »Wgah’nagl fhtagen–ei …« »Ei, ei, ei …« Die perversen Gesänge schienen eher leiser als lauter zu werden, aber aus irgendeinem Grund, je schwerer dieses teuflische Lied zu verstehen war, eine umso größere Wirkung hatte es auf meinen Geist; ein veritabler Druck, ein Tasten auf dem Gesicht. Doch so krank ich mich fühlte, spürte ich gleichzeitig etwas anderes: eine äußerst starke sexuelle Erregung. »Halten Sie sich zurück«, flüsterte Zalen. Er zwang mich tiefer in die Hocke. »Dieser See geht in die Bucht über …« Der Ernst dieser Information wurde mir zuerst nicht klar. Mein Blick blieb weiterhin gefangen von diesen makaberen Frauen in ihren Roben. Der Refrain wurde erneut gesungen, als auf einmal alle Frauen ihre Roben fallen ließen und nackt dastanden. Nackt, wie mir unweigerlich auffiel, und schwanger. Alldieweil schien der Gesang mein Gehirn in meinem Schädel zusammenzudrücken. Es war schmutzig und erotisch, dies auf solch eine Weise zu sehen, dass ich einfach nicht wegschauen konnte – es war in der Tat böse. Die meisten der Frauen schienen in den Zwanzigern zu sein, aber ich machte auch Mrs. Nowry aus und einige andere mittleren Alters. Dann warfen sie alle nacheinander ihre seltsame grüne Kerze ins Wasser, und ich hätte schwören können, als diese unter die Oberfläche sanken, ging keine der grünen Flammen aus. Gleichzeitig schienen sich meine Augen besser an die glänzende Nacht zu gewöhnen: Das Mondlicht wurde heller und klarer, wodurch ich schärfer sehen konnte. Selbst aus dieser beträchtlichen Entfernung konnte ich kleinste Details an jeder der schwangeren Frauen erkennen. Ich sah die Poren auf deren weißer Haut, die feine Linie zwischen Iris und dem Weiß der Augen, die Feinheiten jeder einzelnen Brustwarze sowie das filigrane Venenmuster jeder mit Milch gefüllten Brust. Schließlich ließen sich alle in die Brühe am Uferrand nieder; was sich dann abspielte, werde ich lediglich als obszönes Bacchanal des Fleisches bezeichnen, eine freizügige Orgie, fixiert auf die gegenseitige Befriedigung wie auf der Insel Lesbos. Ich muss wohl nicht gesondert erwähnen, dass es sich bei einer der lüsternen Beteiligten um Mary handelte … Meine Augen starrten hingerissen die orgiastische Szene an, und für eine Weile glaubte ich, dass ich selbst mit einer Waffe an meinem Kopf nicht hätte wegschauen können, und das trotz der Selbsterkenntnis, dass die Augen abzuwenden die einzige gottgefällige Handlungsweise gewesen wäre. Aber es war Zalen, nicht Gott, der mich zum Ablassen drängte. »Es kommt gleich raus …« »Es?«, fragte ich flüsternd. »Wir werden nicht hierbleiben, um es anzuschauen. Glauben Sie mir, Morley, Sie wollen es gar nicht sehen …« Er schleifte mich zurück in den Wald, genau in dem Moment, in dem sich eine Gestalt aus dem Wasser zu erheben begann. Glücklicherweise wurde mein Kopf wieder annähernd klar. »Was … Was war das, Zalen?« »Das war einer von ihnen. Was dachten Sie denn?«, rügte mich der langhaarige Mann in dem schmutzigen Regenmantel. Einer von ihnen, dachte ich. Ein Vollblütiger … »Einer der Hierarchen, aber es könnten auch andere in der Nähe sein.« Ich schreckte ob des Aberwitzes zurück. »Das war ein okkultes Ritual, das wir da gerade beobachtet haben, Zalen. Nach allem, was ich herausgefunden und was Sie mir erzählt haben, muss da noch mehr sein …« »Natürlich ist da noch mehr«, erwiderte der dürre Strolch. »Aber der ganze Scheiß da draußen am See?« Er wirkte amüsiert. »Das ist nur Tradition, Morley; es ist nur ein Ritual; es bedeutet gar nichts. Es beweist lediglich, wie viel armseliger die Mentalität der Menschheit ist; der einzige Weg, auf dem wir jemals wirklich eine Verbindung zu den Vollblütigen aufbauen konnten – selbst schon zu Zeiten von Obed Larsh –, ist ignorante Rituale wie dieses ausführen …« »Nichts als Fassade«, spekulierte ich, denn der Okkultismus im Werk des Meisters war ebenso gestaltet. »Wollen Sie mir das damit sagen?« »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Was wie eine Teufelsanbetung und schlichtes Heidentum aussieht, ist nur der Zuckerguss auf einem ganz anderen Kuchen.« Diese Analogie, so banal sie auch gewesen war, bestätigte meine Vermutungen. Ich folgte Zalen eine Zeit lang unbewusst, da mein Kopf mit einer Überfülle an Spekulationen beschäftigt war. »Doch alle gesellschaftlichen Systeme haben letzten Endes einen bestimmten Zweck«, insistierte ich. »Wenn dieser Okkultismus nur Fassade ist – oder ›Zuckerguss‹ –, dazu da, um etwas anderes zu verbergen … was ist dann dieses andere?« »Sie stellen zu viele Fragen. Ich habe Sie diesbezüglich doch gewarnt«, sagte er. »Wir müssen hier weg, das ist alles. Sie haben Geld und eine Waffe, und ich habe den Weg hier raus. Wenn wir Glück haben, können wir es schaffen.« »Jetzt erzählen Sie mir nicht, Sie haben einen Personenkraftwagen«, rief ich schon beinahe. »Natürlich habe ich den – besser gesagt, ich weiß, wo wir einen bekommen können«, fügte er kichernd hinzu. »Die Onderdonks haben einen Lieferwagen. Da kommt dann Ihre Waffe ins Spiel.« Aus irgendeinem Grund verringerte diese ausgesprochen vielversprechende Neuigkeit nicht die Wichtigkeit weiterer meiner Fragen. »Sie hätten den Wagen jederzeit stehlen können. Warum wollen Sie ausgerechnet jetzt fliehen?« »Ich habe es Ihnen doch gesagt«, grinste er im Mondlicht. »Weil sie uns jetzt auf den Fersen sind. Jemand hat unsere Unterhaltung von vorhin mit angehört …« »Das ist es also, ein Bruch der Verschwiegenheit, die hier jeder einzuhalten hat«, vermutete ich. »Mehr, Weiteres aus der Geschichte.« »Weil Lovecrafts Geschichte eigentlich gar keine ist. Das habe ich Ihnen ebenfalls gesagt. Der Großteil ist wahr. Und jetzt werden wir damit leben müssen – oder sterben.« Ich folgte ihm weiterhin, immer noch verwirrt und – weshalb, da bin ich nicht sicher – eher wütend als ängstlich. Der Geruch von langsam geräuchertem Fleisch wurde dominant; er kam uns auf dem schmalen Weg entgegen, sodass ich wusste, dass Onderdonks Haus in der Nähe sein musste. Bestürzt stellte ich fest, dass ich diesen Duft – obwohl ich jetzt den Ursprung des Fleisches kannte – köstlich fand. Ebenso entsetzte mich, dass Zalen, ein unverbesserlicher Dieb, Verbrecher und – schlimmer – jemand, der sich bereitwillig an Kindstötung beteiligte, meine größte Chance darstellte, mit Mary fliehen zu können. »Mary«, sagte ich daraufhin. »Sie muss mit uns kommen.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein!«, fuhr er mich an. »Ich bestehe darauf. Ich besitze sehr viel Geld, Zalen. Es wäre klug von Ihnen, meine Interessen zu unterstützen. Mary, ihr Sohn, ihr Bruder und ihr Stiefvater werden uns auf unserer Flucht begleiten.« Daraufhin lachte er sogar. »Sie und ihr Kind vielleicht. Aber Paul ist eine Last; er ist ein Erzeuger, der impotent geworden ist. Der einzige Grund dafür, dass er nicht getötet und in die Tunnel gebracht wurde, ist, dass sie den Hierarchen um sein Leben angefleht hat.« »Und der Stiefvater? Haben Sie mir nicht zugehört?« Sein folgendes Kichern hätte als Todesröcheln durchgehen können. »Ich kann Sie nicht begreifen, Zalen. Marys Stiefvater ist alt und von Gebrechen geplagt. Es wäre unchristlich von uns, den alten Mann zurückzulassen.« »Der Stiefvater ist ein Mischling!« Ich gaffte bei diesen Worten, als seien sie Schrapnellsplitter. »Aber … aber … ich dachte …« »Die Vermischung der beiden Spezies wurde von den neuen Hierarchen verboten, daher …« »Daher wurden alle existierenden Mischlinge bei besagtem Genozid ausgelöscht.« So viel hatte ich inzwischen begriffen. »Was nicht erklärt, warum Marys Stiefvater noch am Leben ist.« Zalen blieb stehen und drehte sich mit dem nihilistischen Grinsen zu mir um, an das ich mich schon – zu sehr – gewöhnt hatte. »Sie werden diesen Teil lieben, Morley … Aber sind Sie sich sicher, dass Sie den hören wollen?« »Spielen Sie keine Spielchen mit mir, Zalen. Ihre psychologischen Salonkunststückchen sind ziemlich kindisch, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Also erzählen Sie es mir freundlicherweise – die Wahrheit.« »Wir wissen nicht genau, wie ihr politisches System funktioniert, aber wir glauben, dass mehrere von ihnen das Sagen haben und dass es einen gibt, der mehr Macht hat als die anderen.« »Das nennt man eine oligarchische Monarchie, Zalen. Der oberste Hierarch ist der Souverän, ähnlich wie es heute in der Sowjetunion der Fall ist oder wie bei diesem Mann in Deutschland, Hitler.« »Ja. Der Souverän. Der Souverän ist scharf auf Ihre wunderschöne kleine Mary. Wie gefällt Ihnen das? Er steht wirklich sehr auf sie. Das war er vermutlich, vorhin am See. Keine Sorge, er wird sie nicht ficken – das ist nicht erlaubt –, aber er wird vermutlich alles andere tun.« Diese Information ekelte mich an, aber machte mich auch ruhelos. Ohne nachzudenken, zog ich meine Waffe und drehte mich um, um zum See zurückzugehen. »Sie sind wirklich ein Idiot, Morley«, meinte Zalen lachend. Er packte meinen Arm und stieß mich nach hinten. »Selbst wenn Sie ein gutes Schussfeld hätten, wären innerhalb von zwei Minuten Hunderte von denen hinter Ihnen her. Sie können uns erschnüffeln. Wir hätten nicht die geringste Chance.« Ich lehnte mich gegen einen Baum, gepackt von einer quälenden Verzweiflung. »Sie wollen mir also erzählen, dass Marys Stiefvater dem Genozid entkommen konnte, weil …« »… weil Mary den Hierarchen angefleht hat, ihn nicht zu töten. Sie stimmte zu, den alten Knacker bei sich in ihrem Haus zu verstecken.« Zalen nickte. »Möchte gar nicht drüber nachdenken, was sie als Gegenleistung für diesen Gefallen tun musste.« Ich hätte ihn auf der Stelle umbringen können, weil er so etwas sagte, aber ich wusste, dass er nicht unrecht hatte; Verzweiflung führte zu verzweifelten Taten. Stattdessen riss ich mich zusammen und fuhr fort, ihm zu folgen. »Was ist mit den Leuten, die nicht im Stadtkollektiv von Olmstead sind?« »Abgewiesene wie ich werden in Ruhe gelassen, solange wir keinem Außenseiter verraten, was hier vor sich geht, und solange wir die Stadt nicht verlassen.« »Diese Dinger können unmöglich überall sein«, verkündete ich. »Mit einem Mindestmaß an Voraussicht, vermute ich, sollte die Flucht einfach zu bewerkstelligen sein.« »Klar, dass Sie das denken würden«, meinte er, »aber was glauben Sie, warum es niemand versucht? Warum ist Mary Ihrer Meinung nach immer noch hier? Es ist nicht so, dass sie hier sein möchte, das kann ich Ihnen versichern. Niemand von uns will das.« »Also Angst?« »Oh ja. In der Vergangenheit haben Leute – meist Frauen – versucht zu fliehen. Sie kamen einfach nicht damit klar, dass sie ihre Babys abgeben mussten. Aber jeder Einzelne wurde wieder hergebracht …« Jetzt verfinsterte sich Zalens Miene. »… und an ihm wurde ein Exempel statuiert. Es gibt eine ganze Menge mehr von diesen Dingern, als irgendwer sich vorstellen kann. Wenn man geht, dann spüren sie einen auf die Art auf, wie ein Bluthund eine Fährte aufnimmt, Morley. Sie reisen alle bestehenden Wasserwege entlang, und sie sind sehr schnell.« Ich hatte keine andere Wahl, als es auszusprechen. »Also, selbst wenn es uns gelingt, von hier wegzukommen, halten Sie unsere Erfolgsaussichten für nicht sehr hoch.« »Nein, aber wenn sie einen Wutanfall haben wie gerade jetzt, dann wären wir morgen früh mit Sicherheit nicht mehr am Leben, wenn wir es nicht versuchen.« Wasserwege, eine Fährte aufnehmen, dachte ich. Falls wir es bis nach Providence schafften, dann würde ich Pinkertons Männer rund um die Uhr einsetzen. Entweder das oder ich zöge um an einen Ort, der weit entfernt von jeglichem Wasserweg läge. »Da ist der Lieferwagen«, flüsterte Zalen, gerade als uns der Weg zu einer freien Stelle im Wald direkt hinter Onderdonks Grundstück führte. Das Aroma geräucherten Fleisches hing schwer in der Luft. Mehrere Hütten standen schwankend in den Schatten; zwischen zweien von ihnen erspähte ich einen Pritschenwagen, der ebenso heruntergekommen aussah wie alles andere. Das einzige Geräusch, das ich hören konnte, war das glucksender Schweine. »Onderdonk hat seit Jahren dieselben Schweine«, kam Zalens nächste höhnische Bemerkung, »aber die sind nur Tarnung. Ich würde wetten, dass dieser Hinterwäldler und sein Kind in Wirklichkeit seit einem Jahrzehnt kein Schweinefleisch mehr geräuchert haben.« »Aber wo steckt er?«, fragte ich. »Der Ort sieht verlassen aus.« »Wahrscheinlich sind sie zu Bett gegangen, nachdem sie das Fleisch zum Räuchern aufgehängt haben«, vermutete er und deutete auf die Reihen hochgelagerter Metallfässer, die als Kochgerät herhielten. »Das wäre gut für uns … Aber halten Sie Ihre Waffe vorsichtshalber bereit.« Ich gehorchte der Anweisung und folgte ihm auf das überwucherte Gelände. Wir gingen mit großer Sorgfalt weiter, um ja nicht auf einen Ast zu treten. Mondlicht und Schatten tauchten die diversen Hütten in helle und dunkle Flecken; mehrere Paare kleiner Augen funkelten uns an, als die Schweine im Pferch uns bemerkten. Eine Eule stieß einen Schrei aus und wurde dann still. »Das scheint nicht ordnungsgemäß«, kommentierte ich die Leinensäcke in der Nähe der Fässer. »Diese Säcke scheinen voll zu sein. Ich habe Onderdonk mit eigenen Augen gesehen, wie er die Säcke aus der Höhle getragen hat, nachdem er und sein Sohn einige der Mischlingsleichen zerhackt haben.« Zalen öffnete einen Sack; in ihm befanden sich noch Streifen frisch zerkleinerten Fleisches. »Ja, und wenn das Fleisch noch in den Säcken ist, was zur Hölle ist dann …« Die Frage erforderte keine Vervollständigung. Ich nehme an, tief in meinem Inneren kannte ich die Antwort schon, bevor wir die Deckel der Räucherfässer abhoben. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe hinein, dann zuckten wir beide zusammen. Rauch quoll von Onderdonks mit rosa Pusteln übersätem Gesicht auf, während Schwaden davon an den Haaren auf seinem Kopf herunterhingen. Weiterer Rauch kam aus seinem Mund, der im Tode zu einem schrecklichen Schrei erstarrt war; seine Augen waren wolkenweiß geronnen. Ein starker, schweineartiger Geruch verbreitete einen Bodennebel überall in dem Kuddelmuddel der Hütten. Ein weiteres Fass besiegelte das Schicksal von Onderdonks Jungen – ein wahrhaft mitleiderregender Anblick. Das geringere Körpergewicht und die Wahrscheinlichkeit, dass der Junge schon länger »gekocht« wurde als sein Vater, wurde durch den Fakt bewiesen, dass seine Augenhöhlen mit brodelnden Körperflüssigkeiten gefüllt waren. Dampf aus dem pochierten Gehirn des armen Jungen quoll aus seinen Nasenlöchern und Ohren. »Gott steh uns bei«, quäkte ich. »Die Vollblütigen haben sie erwischt«, stellte Zalen ernüchtert fest, »was bedeutet, dass sie immer noch hier sein könnten.« Diese Aussicht ergriff mein Herz wie mit einer Geierklaue und drückte zu. Wir schlitterten beinahe in Richtung des Wagens und wagten nicht zu blinzeln. Aber dennoch wirbelten meine Fragen strudelartig im Kopf herum. »Vorhin haben Sie mir erzählt, dass die Frauen ihr erstgeborenes Kind behalten dürfen, während die anderen den Vollblütigen überlassen werden müssen.« »Ja, und?« »Aber Sie haben auch gesagt, dass Sie der Vater von Marys drittem oder viertem Kind wären. Was für ein verräterischer Kretin könnte denn sein eigenes Kind diesen Dingern im Wasser ausliefern?« »Ich hatte dabei keinerlei Mitspracherecht, Morley. Wir haben keine Wahl hier – begreifen Sie das denn nicht? Wenn ich ›verräterisch‹ bin, dann ist Ihre geliebte Mary es auch.« Davon wollte ich nichts hören. Ich wusste, ich wusste im tiefsten Innern meiner Seele, dass Marys Verfehlungen nur unter Zwang geschehen waren. Hätte sie sich geweigert, wären ihr Sohn, ihr Bruder und ihr Stiefvater zu Futter für die Vollblütigen verarbeitet worden. »Und das Kind, das wir bekamen, war ein Unfall«, berichtete er. »Ich nehme an, damals habe ich sie wirklich geliebt – bevor sie dem Kollektiv beigetreten ist.« Bei dieser Ausrede zuckte ich zusammen. »Nur ein gottloser Mann kann behaupten, eine Frau zu lieben, die er wie eine Handelsware prostituiert.« »Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden.« Dann kicherte er. »Und ich glaube sowieso nicht an Gott.« »Ich würde sagen, das ist offensichtlich …« »Also, falls Ihr Gott wirklich existiert, werden Sie eine Menge beten müssen, um uns hier wegzubringen.« Wie erreichten den Lieferwagen; auf dessen Ladefläche standen zwei Benzinkanister. Zalen duckte sich, nahm einen und entleerte ihn vorsichtig in den Tank des Fahrzeugs. »Und«, fügte er hinzu, »Sie sollten beten, dass diese Rostschüssel anspringt …« »Zuerst noch eine letzte Frage.« Ich konnte einfach nicht locker lassen und packte seine Schulter. Meine Neugier brannte glühend wie ein Brandeisen. »Ich will die Antwort, die Sie mir vorhin nicht geben wollten.« »Ach, kommen Sie, Morley, wir müssen …« »Ich bestehe darauf! Sie haben gesagt, dass das Ritual nur Fassade ist und sich auf ignorante, uralte Traditionen stützt: Okkultismus als ›Zuckerguss‹, um etwas anderes zu verbergen.« »Genau!« »Also, was ist mit den Babys? Was ist mit den Opfern? Wenn das Opfern von Neugeborenen keine okkulte Opfergabe ist, was kann es denn dann sein?« »Es ist kein Opfer, um Himmels willen. Sie wollen die Neugeborenen studieren – um uns zu studieren. Ihr Gehirn, ihre Zellen, ihr Blut – einfach alles, um zu sehen, wie sie wachsen. Etwa, wie ich bereits sagte – die mikroskopischen Dinge in jeder Zelle, die uns zu dem machen, was wir sind … Das ist es, was sie studieren, damit experimentieren sie.« »Ihr Verständnis der genetischen Wissenschaft muss das unsere tausenfach übersteigen«, meinte ich. »Das ist es also.« »Ja. Opfergaben an den Teufel? Schwarze Magie? Das ist alles Stuss, wie es mein Großvater so schön ausgedrückt hat. Verzierung, Morley, um die unwissende Masse zu täuschen: uns.« Wenig positiv gestimmt dachte ich über das Potenzial seiner Erklärung nach. Basierend auf dem Wenigen, was ich gelesen hatte, wusste ich, dass, theoretisch, das Studium der menschlichen Gene (insbesondere jener, die sich noch in der Entwicklung befanden wie bei Kindern) nicht nur das Verständnis über das menschliche Leben vergrößern konnte, mit dessen Hilfe ließ sich das menschliche Leben sogar verändern. Daher sah ich mich gezwungen, als Nächstes zu fragen: »Was ist der Zweck dahinter, dass sie uns auf genetischer Ebene studieren, Zalen?« »Das ist der schlimmste Teil«, entgegnete er. »Sie hassen uns, Morley. Sie wollen uns auslöschen, aber nicht mit brutaler Gewalt.« »Wie dann?« »Mit Krankheiten, Missbildungen, Unfruchtbarkeit.« »Natürlich«, krächzte ich, mir nun der Folgen bewusst. »Durch die Erforschung der Neugeborenen und durch Experimente an ihnen können die Vollblütigen unsere biologischen Schwachstellen herausfinden und Viren, Malignome und ansteckende Krankheiten entwickeln, mit dem sie die Menschen aus einer Vielzahl von Richtungen verheeren können.« »Das ist richtig. Das ist es, was sie letzten Endes tun wollen …« »Und Sie helfen ihnen dabei!«, fuhr ich ihn an. Er runzelte im Mondlicht die Stirn. »Ich dachte, ich helfe Ihnen. Ich helfe Ihnen und Ihrer kostbaren Mary fliehen. Vergessen Sie das nicht.« Dann wandte er sich dem heruntergekommenen Fahrzeug zu. »Fangen Sie an zu beten, Morley. Beten Sie zu Ihrem Gott, dass es einen Anlasserknopf hat anstelle eines Zündschlosses …« Ich betete tatsächlich darum, doch bevor ich damit fertig war, sprang ich zurück und schrie vor Angst auf, denn als Zalen die eingedellte und ausgeblichene Tür des Wagens öffnete, stieg er nicht etwa hinein, sondern er wurde hineingezogen … … von zwei langen, dünnen, seltsam verdrehten, muskulösen Armen mit Händen, die eher den Vorderpfoten eines Frosches glichen, aber glatte, mit Schwimmhäuten verbundene, etwa 30 Zentimeter lange Finger hatten. Ich habe sein Gesicht nie gesehen, doch mir war völlig klar, was es war, aufgrund des penetranten Geruchs, der aus dem Wagen drang, nachdem Zalen die rostfleckige Tür geöffnet hatte. Es war der Geruch nach einem Fischberg, angereichert mit dem erdigen Geruch von Brackwasser. Ebenfalls nach Brackwasser sah die Haut dieses Dings aus. Es dauerte einige Momente, bis ich in den Schatten wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich glaubte, die von Beulen übersäte, kränklich grüne Haut schimmern zu sehen, als wäre sie nass, und als es im Lastwagen zur Auseinandersetzung kam, hörte ich überdies nasse Geräusche – überschwappende Geräusche –; und danach Geräusche, die noch gräßlicher waren. Nur das Wort böse konnte das beschreiben, was ich als Nächstes hörte, und um einen direkten Vergleich zu ziehen, müsste ich sagen, es klang, als würde jemand einem rohen Huhn die Gelenke auskugeln, nur dass das »Huhn« in diesem Fall Zalen war. Ein heftigeres, reißendes Geräusch ertönte, anschließend ein lautes, feuchtes Platschen, als die inneren Organe des langhaarigen Strolchs aus dem Wagen geworfen wurden, gefolgt von dem abgenutzten schwarzen Regenmantel des Süchtigen. Danach folgten die Arme, an den Schultergelenken entwurzelt. Dann die Beine. Das Ding nimmt ihn Stück für Stück auseinander, wurde mir bewusst. Zuletzt folgte der Torso, doch Zalens Genitalien schienen sich nicht an der Leiste zu befinden. Ich konnte nur hoffen, dass ich mir das Kaugeräusch, das ich aus dem Wagen hörte, bloß einbildete. Ich betrachte mich nicht als Feigling, dass ich allerdings nicht versucht habe, mit meiner Pistole dazwischenzugehen, dazu müssen Sie wissen, dass die oben beschriebene Zerlegung von Cyrus Zalen eine Angelegenheit von lediglich ein paar Sekunden gewesen ist. Stattdessen rollte ich hinter einen verrotteten Baumstumpf von beträchtlicher Breite. Eher Reflex denn bewusste Entscheidung lenkte meine Positionierung; ich lag auf dem Bauch, die Hände ausgestreckt und die Waffe haltend, tat ich mein Bestes, um eine Schussbahn zu etablieren zu dem Bereich, von dem ich wusste, dass die Kreatur ihn durchqueren müsste, falls sie mir nachjagte. Mit meinem Schussauge zielte ich über den Lauf der Waffe hinweg und wartete. Und wartete. Komm raus!, flehte ich. Innerhalb des Wagens war keine bedeutsame Bewegung zu erkennen, wenngleich ich glaubte, ein geringfügiges Zucken darin bemerkt zu haben. Einen Augenblick später – und nur für einen Augenblick – schien ein ganz schwaches grünliches Leuchten darin zu fluoreszieren, und ich kann nur schätzen, dass es vom Beifahrersitz ausgegangen war. Eine Sekunde später war es fort. Was mich dazu bewogen hat, Zalens Torso zu untersuchen, liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft, aber als ich es tat, hatte ich die abscheuliche Offenbarung, dass der Kopf des Schuftes nicht länger Anschluss an dessen Hals besaß. Warum hatte das froschartige Monstrum alles herauskatapultiert bis auf den Kopf? Etwas beschrieb in der Dunkelheit einen Bogen, schlug auf und rollte dann herbei, um meine Frage zu beantworten. Zalens Kopf. Der Kopf grinste auf eine Art und Weise, der Zalens abfälligen Ausdruck perfekt widerspiegelte. Das Weiß in seinen Augen glühte schwach und weniger als eine Minute lang in demselben grünlichen, geisterhaften Licht, dass ich im Wagen bemerkt hatte. »Überlegen Sie sich gut, was Sie tun, Morley«, sagte Zalens zerstörte Stimme, die von einem feuchten, matschigen Kichern begleitet wurde. »Sie haben nicht genug Kugeln, um die alle in Angriff zu nehmen, aber Sie haben eine Wahl.« Die Worte des Toten paralysierten mich nahezu. Zalens Kopf kicherte, als ich mit der Waffe zitternd auf seine Stirn zielte. Mir fiel außerdem auf, dass der abgerissene und blutige Stumpf seines Halses phosphoreszierend glühte; ganz feine, rankenartige Spuren des Unterweltelixiers, das man dem Kopf verabreicht hatte – ich vermutete, das Elixier hatte auch Mr. Nowry, Candace und Gott weiß wie viele andere wiederbelebt. »Was für eine … Wahl?«, brachte ich schließlich heraus. »Schließen Sie sich dem Stadtkollektiv von Olmstead an …« »Bombast«, stieß ich ungeachtet meines Ekels und meiner Furcht hervor. »Ich werde mich nicht am Kindsmord beteiligen noch werde ich den Feinden meiner Rasse Behilfe leisten.« »Großer Gott, Mann. Wenn Sie sich ihnen nicht anschließen, sind Sie tot. Oh, sicher, vielleicht können Sie ein paar von denen niederschießen mit ihrem Pusterohr, aber letzten Endes werden die Sie kriegen.« Er zwinkerte. »Und wenn sie das tun, dann wird das kein schöner Anblick.« »Eher würde ich mich selbst erschießen.« »Nun, das ist die einzige andere Wahl, die Sie haben. Wenn Sie sich ihnen nicht anschließen wollen, dann tun Sie sich einen großen Gefallen, halten sich gleich jetzt die Waffe an den Kopf und betätigen den Abzug, Morley. Das Ding im Wagen hat mich in kürzerer Zeit auseinandergerissen, als man für einen Lidschlag braucht. Haben Sie eine Ahnung, wie weh das getan hat?« Dann begann der tote Mund bellend, feucht und matschig zu lachen. Als ich aufblickte, sah ich die Silhouette des Dings direkt neben dem Wagen stehen, von wo aus es mich aufmerksam anstarrte. Seine Augen, die in der Dunkelheit leuchteten, hatten eine goldene Iris und schienen von der Größe von Fäusten eines Erwachsenen. Seine bösartig schwimmhäutigen Hände hingen weit runter bis unterhalb der Gelenke, die als Knie fungierten. »Allerdings«, fuhr der verfluchte Kopf fort, »falls Sie sich umbringen wollen, müssen Sie zuerst Mary umbringen …« »Mary?«, rief ich aus. »Wenn Sie sich nicht dem Kollektiv anschließen, werden die ihr Dinge antun, gegen die die Heilige Inquisition wie zwei Kinder wirken würde, die im Sandkasten spielen. Sie werden sie bis zum Gehtnichtmehr foltern, Morley, mit ihren Chemikalien und ihren Werkzeugen, und dann bringen sie sie um. Und danach holen sie sie einfach zurück und fangen von vorne an.« »Seien Sie still!«, schrie ich und hielt ihm die Waffe vor ein Auge. »Aber nichts davon wird geschehen, wenn Sie sich dem Kollektiv anschließen. Sie werden mit Ihrer Mary zusammen sein bis an Ihr seliges Ende.« So verlockend das sein mochte, wusste ich, dass ich seinen Versprechungen nicht anheimfallen durfte. Falls ich zustimmte, würden sie mich trotzdem umbringen, wegen dem, was ich wusste. Ich machte Ausflüchten, wartete die rechte Zeit ab – da war noch immer der Vollblütige am Wagen, um den ich mich kümmern musste –: »Lassen Sie mich darüber nachdenken«, wich ich aus, doch dann sah ich zurück zum Wagen und bemerkte, dass die abscheuliche, schlammhäutige Kreatur nicht länger dort war. »Zu spät«, meinte Zalen und kicherte. Von hinten kam eine schleimige Hand und umfasste mein ganzes Gesicht. Ich wurde zurückgerissen, konnte nicht mehr atmen, und die Pistole fiel mir aus der Hand. Die rund 30 cm langen Finger hüllten meinen Kopf vollständig ein, und so dünn sie sein mochten, übten sie doch solche Kraft aus, dass ich wusste, es konnte nur Sekunden dauern, bis mein Schädel wie ein Kürbis unter Druck platzen würde. Zalens scheußlicher Kopf fuhr fort zu gackern, während meine Anstrengungen schwächer wurden; schlimmer, die andere schändliche Hand dieser Abnormität glitt unter meinen Gürtel und in meine Hose. Das, wessen ich sie verdächtigte, mit Zalens Genitalien getan zu haben, wollte sie mit meinen anscheinend wiederholen. »Sieht so aus, als hätte sich Ihr Gott vom Acker gemacht, Morley«, kommentierte der abgetrennte Kopf und lachte böse. »Ich kann es ihm nicht verdenken …« Es war beinahe eine Gnade, dass mein Bewusstsein sich trübte, als die marodierende Hand meine Genitalien ergriff und zu verdrehen begann. Würde mein Schädel platzen, bevor ich letztendlich erstickte? Ich spürte die dünnen, knochigen, von Froschschleim bedeckten Finger sich straffen. Dann schien das Wesen sich zu mäßigen, als ob es simultan mein Gemächt entwurzeln und mein Kopf zum Platzen bringen wollte; doch als ich fühlte, was ich sicher für meine letzten Herzschläge hielt, ließ mich die Abscheulichkeit los, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, sprang hoch auf ihre widerlichen Füße und stieß einen Schrei aus, so misstönend und unmenschlich, dass ich glaubte, allein durch den Klang den Verstand zu verlieren. Er klang wie ein an- und abschwellender Schrei, verflochten mit einem Plätschern, wie wenn Flüssigkeit verschüttet würde. Ich fiel auf die Seite und rang verzweifelt nach Luft. Ziehende Wolken über dem Wald ließen ungnädigerweise mehr Mondlicht hindurch, genau in dem Moment, als ich aufblickte … Das scheußlich gebaute, schaudernde Ding war irgendwie mit einem von Onderdonks Schüreisen, durch einen seiner kugelförmigen Augäpfel gerammt, an einen Baum gepflockt worden. Während der unmögliche Protestschrei leiser wurde, zuckte es krampfhaft und erzeugte dabei ein zusätzliches Geräusch ähnlich dem von flatterndem nassen Leder. Schnelle Schritte; ein dunkler Fleck trübte meine Sicht, als ich deutlich eine Gestalt im Wald verschwinden sah. Wer hatte mich gerettet? Mary?, überlegte ich, aber nein, wenn sie es gewesen wäre, hätte sie etwas gesagt, und keine Frau in ihrem Stadium der Schwangerschaft konnte sich derart flink bewegen. Möglicherweise hatte ein Stadtbewohner gewisse Einwände gegen die garstigen Aktionen der Stadt. Oder … Konnte es Klein Walter gewesen sein? Der Wahnsinn der vergangenen Minuten gab meine Sinne frei. Ich war noch immer auf einer Mission: Mary und ihren Sohn retten, für ihre Flucht sorgen aus dieser makabren, geheimen Unterweltherrschaft. Entferntes Knacken aus dem Wald sagte mir, dass mein Retter in Richtung Westen lief, über die Straße … Zu Marys Haus … Jetzt erholt griff ich wieder meine Pistole. »Bringen Sie sie um«, forderte mich Zalens Kopf auf, »und dann sich selbst.« Mit mehr als nur einem bisschen Abscheu hob ich den Kopf an den fettigen Haaren auf und … »Wagen Sie es nicht, Morley!« … ließ ihn in das Fass fallen, in dem Mr. Onderdonk bereits schonend gegart wurde. Als ich den Deckel wieder schloss, konnte ich gedämpft seine Vorhaltung hören: »Nichts als ein reicher Waschlappen …« »Aber ein reicher Waschlappen weiterhin im Besitz seines Kopfes«, erwiderte ich. Dann rannte ich los – der Gestalt hinterher, die mir das Leben gerettet hatte. Es war größtenteils blindes Vertrauen, das mich durch das nachtumwobene Dickicht und das Labyrinth aus knorrigen Bäumen leitete. Glühwürmchen erhellten stellenweise die Dunkelheit. Ich seufzte erleichtert auf, als ich endlich den flachen, finsteren Umriss von Marys überwuchertem Domizil erblickte; Kerzenlicht schimmerte schwach aus den Fenstern. Und … Da ist er! Vor einem dieser Fenster sah ich die obskure Gestalt, die Person, die mir das Leben gerettet hatte. Doch bevor ich auch nur einen Schritt vorwärts machen konnte, wirbelte sie herum und verschwand gewandt wie ein Waldgeist zwischen den Bäumen. Mein erster Impuls war, ihr laut hinterherzurufen, dann erinnerte ich mich an die Notwendigkeit, nicht aufzufallen. Wer wusste schon, wie viele Vollblütige in der Nähe lauerten? Auch rannte ich der Gestalt nicht nach, denn das wäre ein kompletter Umweg zu meinem Ziel. Stattdessen spähte ich durch das matt erleuchtete Fenster, vor dem die Gestalt eben gestanden hatte, und dort sah ich Marys jungen Sohn Walter auf einem armseligen Sack voller Blätter und trockenem Gras liegen und schlafen. Nur der Kerzenrest, der in einem Leuchter auf dem schmutzigen Boden stand, spendete ein wenig Licht. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken; leisere und unregelmäßigere Schritte auf der Südseite des Hauses schreckten mich auf. Mit der Pistole im Anschlag ging ich hinter einem Baum in Deckung und hielt den Atem an … Die Gestalt, die in das Mondlicht hinaustrat, war Mary … Sie schleppte sich mühsam vorwärts; offenbar kehrte sie von dem erzwungenen Bacchanal am See zurück. Erschöpft keuchte sie auf, dann beugte sie sich über und erbrach sich. Ich eilte an ihre Seite, während sie sich quälte. »Oh Foster!«, schluchzte sie. »Ich habe gebetet, dass Sie noch am Leben sind …« »Ihre Gebete wurden erhört«, sagte ich, half ihr auf und umarmte sie. Aber wir werden mehr als nur Gebete brauchen, fürchte ich, kam mir ein ergänzender Gedanke. Sie trug die esoterische Robe von vorhin mit der verwirrenden Stickerei am Saum. Ihr warmer, schwerer Körper bebte in meinen Armen. »Ich bin Ihret- und Ihres Sohns wegen hergekommen …« Sie entwand sich meiner beruhigenden Umarmung. »Wir müssen ins Haus und ganz leise sein.« »Mary, ich …« »Pst! Sie verstehen nicht!« Sie nahm meine Hand und zog mich durch eine schmale, ungleichmäßige Tür in das armselige Haus. Völlige Dunkelheit und ein dichter Geruch nach Staub hüllten mich mit einem Mal ein; nur Marys warme Hand leitete mich noch. Sie lotste mich in ein anderes Zimmer mit niedriger Decke, das von einer einzelnen Kerze erleuchtet wurde und in dem deutlich als provisorisch erkennbare Möbel herumstanden. Ich half ihr, sich auf eine zum Stuhl umfunktionierte Milchkiste zu setzen, und als sie endlich zu Atem gekommen war, sah sie mich mit traurigen Augen an. »Oh Foster, es tut mir so leid. Sie haben Ihr Leben in Gefahr gebracht, indem Sie hierher gekommen sind.« »Ich bin hierher gekommen, um Sie und Ihren Sohn zu holen, Mary«, versicherte ich ihr. Sie schlug die Hände vor ihr errötetes Gesicht. »Es gibt so vieles, das Sie nicht wissen.« »Beruhigen Sie sich. Ich weiß jetzt alles.« Erstaunt blickte sie auf. »Sie haben … Sie haben die Dinger gesehen?« »Ja, vorhin am See, bei dem bedauerlichen Ritual, zu dem Sie durch die Umstände gezwungen wurden, und ebenso vor wenigen Minuten bei Onderdonk. Einer der Vollblütigen hätte mich beinahe umgebracht.« »Dann … wissen Sie von den Vollblütigen?« »Ich weiß alles. Ich weiß, was im ersten Stock des Hilman House vor sich geht, ich weiß von den beiden Leichenlagern in den Höhlen unterhalb der Küste. Ich weiß, warum Ihr Bruder Paul invalide ist, und ich weiß außerdem, dass Ihr Stiefvater ein Mischling zwischen deren und unserer Rasse ist und der Einzige seiner Art, dem nach dem vor ein paar Jahren angeordneten Genozid weiterzuleben erlaubt wurde.« Ich nahm ihre Hand. »Und, Mary, ich weiß, warum sie die Frauen des Kollektivs dazu zwingen, ständig schwanger zu sein. Die Neugeborenen werden nicht geopfert, sie werden für Forschungszwecke benutzt, die zum Untergang der Menschheit führen sollen. Vor einigen Stunden habe ich mit angesehen, wie Zalen den Vollblütigen einige Neugeborene überreicht hat, draußen auf der Sandbank.« Sie schluchzte erneut auf. »Zalen? Oh mein Gott, Sie müssen mich für eine Teufelin halten, dass ich meine Babys dafür hergebe.« »Ich denke nichts dergleichen«, stellte ich klar, »denn ich weiß auch, dass Sie in diesen perversen Dienst gezwungen werden. Wenn Sie sich weigern, dem nachzukommen, würden Sie und Ihre Familie abgeschlachtet.« Ich wurde still und drückte ihre Hand noch ein wenig fester, um sie zu beruhigen. »Mary, ich weiß auch von den servilen Diensten, die auszuüben Sie in der Vergangenheit gezwungen waren, aus Verzweiflung, unter Cyrus Zalens kuppelndem Einfluss und pornografischen Bestrebungen.« Sie schluchzte heftig. Tränen liefen aus ihren Augen und platschten buchstäblich auf den schmutzigen Boden. »Wie kann ein moralischer Mann wie Sie es dann überhaupt ertragen, sich im gleichen Raum mit mir aufzuhalten?« Mein Grund ließ keinen Spielraum zum Zögern. »Ich habe mich in Sie verliebt, Mary. Mein Herz würde es nie verwinden können, wenn Sie mir das nicht glauben.« Sie legte erneut die Hände vor das Gesicht. »Das macht alles nur noch schlimmer …« »Warum!«, erwiderte ich, vielleicht ein wenig zu laut. »Ich erwarte nicht, dass Sie mich ebenfalls lieben, aber ich kann beten und mit der Hoffnung leben, dass Sie es eines Tages vielleicht tun werden, und sollte es nie passieren, dann werde ich Sie dennoch ebenso sehr lieben wie am heutigen Tag.« Ganz plötzlich schlang sie die Arme um mich. »Oh, Foster, aber ich liebe dich, schon seit du heute das Restaurant betreten hast …« Der Freudentaumel, der mich überkam, ließ mich beinahe zusammenbrechen. In diesem Moment wusste ich, dass ich in meinem Leben im Überfluss eigentlich nichts besessen hatte – bis jetzt. Jetzt besaß ich alles. »Warum in aller Welt sagst du dann, dass unsere Liebe alles schlimmer macht?«, wollte ich wissen. »Foster! Denk doch mal darüber nach! Lovecrafts Geschichte ist wahr, und ich lebe mittendrin!« »Was Zalen mir nicht erzählt hat, habe ich selbst herausgefunden.« »Aber, Foster – Zalen ist der Grund dafür, dass die Vollblütigen auf der Jagd sind. Sie jagen … nach dir.« »Als ich am alten Innswich Point war, war ich gezwungen, auf eine ihrer Wiederbelebten zu schießen, eine von Zalens Prostituierten«, berichtete ich ihr und erinnerte mich dann an den verstörendsten Punkt. »Ich habe sie nicht wirklich getötet, da sie bereits tot war. Doch mein Schuss hat sie lange genug abgelenkt, dass ich entkommen konnte. Es ist durchaus möglich, dass einer oder mehrere Vollblütige das gesehen oder gehört haben, und noch wahrscheinlicher, dass Candace sie direkt nach meiner Flucht darüber informiert hat.« »Das ist nicht der Grund, Foster«, warf sie ein und legte eine Hand auf ihren Bauch, als ob es ihr nicht gut gehen würde. »Es liegt an dem, was Zalen viel früher am heutigen Tag gemacht hat. Die Wächter sind überall. Jeder einzelne Bewohner der Stadt erstattet ihnen Bericht. Und einige von ihnen sind wie Candace körperlich tot. Einer von ihnen hat belauscht, wie Zalen dir von den Tunneln unterhalb der Küste am Innswich Point erzählt hat. Niemand darf etwas darüber wissen, Foster. Das ist eins ihrer größten Geheimnisse, daher wird jeder, der davon erfährt … zur Strecke gebracht.« Das war fraglich, dennoch hätte ich mehr Kapital aus meiner Erinnerung an Lovecrafts Geschichte ziehen sollen. Selbst das leiseste Flüstern wurde gehört, wenn nicht von den degradierten Stadtbewohnern, dann von den Tiefen Wesen selbst, deren auditive Fähigkeiten übernatürlich waren. Doch ein entscheidender Punkt kollidierte mit meinen Schlussfolgerungen aus den gesammelten Daten. »Ich nehme an, dann sind wir in deinem Haus nicht sicher. Wir sollten sofort aufbrechen.« »Sie werden nicht hierher kommen, Foster«, versicherte sie mir mit niedergeschlagenen Augen. »Einer ihrer Anführer … hat Gefallen an mir gefunden.« »Dafür musst du dich nicht schämen«, beruhigte ich sie. »Zalen hat das bereits erwähnt. Er nannte sie ›Souveräne‹, aber er hat auch erwähnt, dass Geschlechtsverkehr mit Menschen selbst diesen Hierarchen von ihren neuen Gesetzen verboten wird. Ich weiß auch, dass diese Schwäche des Souveräns für dich der Grund dafür ist, dass dein Bruder und dein Stiefvater verschont wurden.« Sie begann zu sprechen, aber beugte sich dann nach vorne und verzog das Gesicht. »Mary! Du hast Schmerzen.« »Nein, nein, mir geht es gut. Ich muss mich nur kurz ausruhen …« Sie streckte die Hand aus. »Bitte hilf mir, zum Bett zu gelangen, Foster.« Mit großer Sorgfalt leistete ich ihr Hilfestellung; sie wirkte erschöpft und ausgelaugt und schien Schmerzen zu haben, alles auf einmal. Ein Blick auf das ›Bett‹ zwang eine Grimasse auf mein Gesicht, denn es bestand eigentlich nur aus einer äußerst primitiven Strohmatratze. Mit etwas Glück kann sie morgen in einem RICHTIGEN Bett schlafen, vermutlich zum ersten Mal in ihrem schrecklich schweren Leben. Ein freudiger Seufzer entfleuchte ihren Lippen. »Das ist sehr viel besser, Foster. Danke. Dr. Anstruther hat gesagt, ich wäre in einer Woche oder so fällig.« »Anstruther«, spuckte ich den Namen giftig aus. »Seiner Hände Werk habe ich gesehen. Ich nehme an, er ist ein führendes Mitglied des Olmstead-Kollektivs.« Sie nickte. »Er ist derjenige, der hier alles leitet – für sie.« »Ich hätte es wissen müssen.« Sie legte sich hin, jetzt sehr viel ruhiger, und – betete ich zu Gott – verbannte den gottlosen Ausflug zum See aus ihrem müden Geist. »Hier, Foster«, murmelte sie, nahm meine Hand und legte diese mitten auf ihren aufgedunsenen Bauch. »Spüre das Leben in mir.« Das tat ich voller Staunen. Ein Segen, grübelte ich. Jedes Leben ist ein Segen … »Ich würde es so gern behalten«, murmelte sie weiter. Tränen flossen. »Ich würde alles dafür geben …« »Du wirst es behalten, Mary – das schwöre ich.« Der große Fleischwulst unter der okkulten Robe schien vor Hitze zu glühen. »Du bleibst hier und ruhst dich aus, während ich zu den Onderdonks zurückgehe und den Wagen hole. In weniger als einer Stunde bringe ich dich und Walter von hier weg, in die Sicherheit meines Anwesens in Providence …« »Du verstehst einfach nicht«, stöhnte sie frustriert. »Wenn ich versuche wegzulaufen, werden sie hinter mir her sein. Niemand aus dem Kollektiv kann jemals von hier weggehen.« »Das wird sich finden«, erwiderte ich, aber weiterhin eingedenk dessen, was mir Zalen über das Schicksal derjenigen angedeutet hatte, die es versucht hatten. »Überlass das mir. Ich werde dich in Sicherheit bringen oder bei dem Versuch sterben.« Als sie mich anblickte, sah ich etwas in ihren Augen, das nur ein verzweifelter Hoffnungsfunke sein konnte. »Ich liebe dich nur noch mehr, dass du das für uns tun möchtest. Aber ich kann das nicht zulassen. Wir würden es niemals herausschaffen; wir würden alle sterben.« »Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen«, sagte ich ihr ohne ein Zögern jeglicher Art. »Bist du es auch? Würdest du die Chance ergreifen, damit Walter endlich ein gutes Leben haben und wie andere Jungen auf eine gute Schule gehen kann? Würdest du diese Chance ergreifen«, ich streichelte zärtlich ihren trächtigen Bauch, »damit dieses ungeborene Kind leben und die Schönheit dieser Welt sehen kann, damit es nicht den blasphemischen Tod erleiden muss, der es ansonsten erwarten würde?« Sie schluchzte, schluckte schwer und nickte dann. »Ja! Ich werde das Risiko eingehen! Selbst wenn wir alle sterben, dann sterbe ich wenigstens zusammen mit dir …« »Warte hier«, sagte ich mit belegter Stimme. »Ich komme gleich wieder.« Dann war ich auch schon aus der Tür und stand wieder in der mondhellen Nacht. Ich gestattete mir keine Gedanken, die mich ablenken konnten, auch wenn sie noch so wohltuend gewesen wären. Mit den sprichwörtlichen geöffneten Augen ging ich zu Onderdonks Haus zurück, meine Colt-Pistole lag rutschig in der schweißnassen Hand. Der Wald war jetzt überreich an nächtlichen Klängen, die zuvor nicht da gewesen waren. Das gab mir zu denken. Falls diese vollblütigen Monstrositäten tatsächlich Jagd auf mich machten, so sah ich doch auf dem ganzen Weg zu Onderdonks heruntergekommenem Anwesen keine Spur von ihnen. Die Räucherfässer qualmten, und ich ignorierte den reichhaltigen, köstlichen – und unaussprechlichen – Duft. Nur aus dem Augenwinkel erlaubte ich mir einen Blick auf die tote, an den Baum gepflockte Kreatur. Die Aussicht, eine dieser Abscheulichkeiten im Detail betrachten zu können, ließ meine Neugier kalt. Näher beim Wagen musste ich um Zalens Innereien und Körperteile herumgehen, eine an sich ziemlich einschüchternde Aufgabe, jedoch ersparte ich mir einen mentalen Ausrutscher: Es hätte keinen ehrlicheren und aufrechteren Gentleman treffen können. Großer Gott!, dachte ich angewidert, als ich in das altersschwache Fahrzeug stieg; meine Hose wurde augenblicklich von dem Vorkommen an Zalens Blut durchtränkt, das sich hier bei dessen Ausweidung und Zerstückelung gebildet hatte. Ich saß einen Augenblick lang still da, begutachtete bedächtig die unmittelbare Umgebung durch die Windschutzscheibe und sah nichts – absolut nichts – Ungewöhnliches. Wenn mich diese Vollblütigen jagen, dann geben sie sich dabei bisher aber keine große Mühe. Doch dann überfiel mich eine düstere Erinnerung: Zalens frühere Besorgnis über den Zündmechanismus des Wagens. Ich war Antiquar und Philanthrop, kein Autodieb. Wenn der Wagen ein Zündschloss hat, dann habe ich keine andere Wahl, als Onderdonks halb garen Körper aus dem Räucherfass zu holen und in seinen Taschen nach dem Schlüssel zu suchen … Ich holte meine Taschenlampe heraus, schloss mein Zielauge, um dessen Nachtsicht zu bewahren, dann, bloß für einen Sekundenbruchteil, schaltete ich vor dem Armaturenbrett die Lampe ein. Mir rutschte das Herz in die Hose. Die Lampe beleuchtete den Schlitz eines Zylinderschlosses, das in das Armaturenbrett eingebaut war. »Hier ist der Schlüssel, Mr. Morley«, sagte auf einmal eine leise Stimme direkt neben dem offenen Wagenfenster. War mein Herz eben noch in tiefster Verzweiflung versunken, hüpfte es mir nun vor Schreck beinahe aus dem Mund. Es war Klein Walter, der neben dem Wagen stand. »In Himmels Namen, Junge!«, flüsterte ich zurück. »Deinetwegen wäre mein Herz fast stehen geblieben!« Doch dann wanderte mein Blick zu seiner jugendlichen Hand, und ich stellte fest, dass seine Behauptung zutraf. »Wie … Wie in aller Welt hast du …« Ein leicht stolzes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. »Mr. Onderdonk hat den Schlüssel immer unter dem Fußabtreter aufbewahrt; ich habe ihn den oft dort hinlegen sehen, Sir, während meiner Wanderungen durch den Wald.« »Du hast nicht nur gute Manieren«, lobte ich ihn, »sondern bist auch noch tüchtig.« Ich blinzelte. »Aber du hast doch eben noch geschlafen.« »Ich bin aufgewacht und habe Sie und meine Mom reden gehört, deshalb bin ich auf eigene Faust hierher gekommen, um den Schlüssel für Sie zu holen.« Das war freilich ein Geschenk, mit dem ich niemals hätte rechnen können. »Du bist ein guter Junge, Walter, und ein sehr tapferer noch dazu. Doch hier draußen ist es über die Maßen gefährlich. Weißt du über …« Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte. »Ich weiß alles über die Vollblütigen, Sir. Ich habe sie ein paar Mal gesehen, aber heute Nacht habe ich eine ganze Menge von ihnen gesehen.« Und das ist meine Schuld, rief ich mir ins Gedächtnis. Walters Mut war lobenswert, aber er brachte ihn durchaus in große Gefahr. »Steig in den Wagen zu mir, Walter. Wir holen jetzt deine Mutter ab, dann nehme ich euch beide mit und ihr könnt bei mir leben.« »Aber Sie werden Hilfe brauchen, Sir«, entgegnete er. »Es wäre am besten, wenn ich auf der Ladefläche sitze. Ich bekomme kein gutes Ziel, wenn ich mit Ihnen im Wagen sitze.« »Kein gutes Ziel? Walter, wovon redest du?« Er hob seinen selbst gebauten Bogen hoch. »Sie könnten versuchen, die Straße zum Haus zu versperren, aber ich bin ein ziemlich guter Schütze.« Unwillkürlich musste ich grinsen. »Bursche, du bist bestimmt der mutigste Junge, der mir je begegnet ist, aber ich befürchte, Pfeile mit Saugnäpfen werden gegen die Vollblütigen nicht viel ausrichten können.« Dann zeigte er mir eine Handvoll echter Pfeile. »Sehen Sie, Mr. Morley? Wir sollten lieber losfahren, bevor sie kommen.« Was konnte ich solch jugendlichem Genie und bereitwilligem Wagemut entgegenhalten? »Gut, Walter, steig hinten ein und sei wachsam … Und drück uns die Daumen, dass diese alte Kiste anspringt.« Der Junge sprang hinten auf. Mit geweiteten Augen und zitternden Lippen steckte ich den Schlüssel ins Schloss, sprach ein Gebet, das jedoch deprimierend kraftlos schien, und drehte den Schlüssel herum. Der verrostete Koloss ruckelte und stieß ein lautes, metallisches Jaulen aus, bei dem mir die Nackenstränge rausstanden, sprang dann aber rumpelnd an. Es knirschte bei meinem Versuch, den ersten Gang einzulegen, und ich biss die Zähne zusammen, dann setzten wir uns endlich in Bewegung. Der Wagen war tatsächlich fahrtüchtig, doch der Krach, den er beim Starten gemacht hatte, musste bestimmt noch in der Stadt zu hören gewesen sein. Ich fuhr los und wendete schleunigst, sodass der Kies und die Austernschalen unter den abgenutzten Reifen knirschten. »Pass gut auf!«, rief ich Walter zu, als ich über die Notwendigkeit nachdachte, die Frontscheinwerfer ausgeschaltet zu lassen. »Ja, Mr. Morley!«, erwiderte der Junge, und als ich durch das Loch, in dem sich einst eine Glasscheibe befunden hatte, nach hinten blickte, sah ich, dass der Junge sich auf der Ladefläche postiert hatte und seinen primitiven Bogen bereithielt. Mir wurde bewusst, dass ich in seinem Alter nicht ein Zehntel seines Muts besessen hatte. Ich werde ihn großziehen, als wäre er mein eigener Sohn, schwor ich, und ich werde der Vater sein, den er nie hatte, und dasselbe gilt auch für Marys Baby … Rostige Federn knirschten, als ich das archaische Vehikel über die zerfurchte Straße Richtung Stadt steuerte. Der Mond schien sein Licht in den wenigen Sekunden, in der die Straße uns preisgab, derart auf uns zu versprühen, dass die Straße selbst sowie die Bäume und die Vegetation an deren Rand zu schillern schienen, und das ließ mich an Lovecrafts Meisterwerk Die Farbe aus dem All denken, von dem es heißt, es sei seine Lieblingsgeschichte gewesen. Auch wenn der Grad meiner Angst durch die Bloßstellung sprunghaft anstieg, ermöglichte das Licht mir, die Straße in beide Richtungen zu überblicken. Doch wo ich erwartet hatte, Feinde zu Gesicht zu bekommen, war erneut nichts dergleichen zu entdecken. Seltsam, dachte ich. Es sei denn, sie liegen irgendwo auf der Lauer … Der altersschwache Wagen schaukelte, als ich das Lenkrad drehte und ihn auf den langen, holperigen Waldweg steuerte, der uns zum Haus führen würde. Auf einmal wurden wir von der Dunkelheit verschluckt, die nur hin und wieder vom Mondlicht durchbrochen wurde; die Kronen der Bäume verschmolzen über dem Weg beinahe miteinander und verwandelten unsere Fahrstrecke in eine Art Tunnel. Ich musste die Geschwindigkeit wegen der reduzierten Sicht jetzt deutlich heruntersetzen. Walters blasses Gesicht spähte durch das Loch in der Rückwand herein. »Mr. Morley? Vielleicht sollten Sie die Scheinwerfer einschalten. Ich kann rein gar nichts sehen.« Die Lichtdisziplin eines Soldaten kannte gewiss taktische Ausnahmen, ganz abgesehen davon war ich nicht im Entferntesten so etwas wie ein Soldat. Nur ein reicher Waschlappen, rief ich mir Zalens Beleidigung ins Gedächtnis, doch er hatte recht. Ich wähnte, ihn nun über mich lachen zu hören, selbst da sein verhasster Kopf derzeit gegart wurde. Doch jetzt würde ich ein Soldat sein müssen, und ich würde Risiken eingehen müssen, um erfolgreich zu sein. Ich befolgte den Rat des Jungen und schaltete die Scheinwerfer ein. Der Junge kreischte auf, und ich tat es ihm nach. Gestalten stürmten aus dem mit Brombeersträuchern gesäumten Wald hervor. Bevor ich auch nur zum Zielen kam, sah ich eine seltsam gekleidete Kreatur – jedoch eine mit einem eindeutig menschlichen Gesicht – sich vorwärtsstürzen, dann jedoch zurückschrecken; ihre Hand schoss an ihr Gesicht, wo ein Pfeil sie direkt in den offenen Mund getroffen hatte. »Guter Schuss, Walter!« Als eine Hand – eine menschliche Hand, nicht die schwimmhäutige Extremität, die ich erwartet hatte – zum Beifahrerfenster hereinkam, richtete ich die Hand mit der Pistole auf sie und dann … PENG! Der Glückstreffer erwischte den Eindringling direkt am Adamsapfel. Schäumendes Blut schoss aus der Wunde, als der mit einer Robe bekleidete Angreifer schrie. Und es war ein Mann, erkannte ich. Mr. Wraxall, der Restaurantbesitzer … Das waren nicht die monströsen Vollblütigen, mit denen ich gerechnet hatte, dass sie mir auflauerten, sondern Stadtbewohner, alle in jener Robe mit dem esoterischen Saum gekleidet. Weitere Gesichtsfetzen kamen zum Vorschein: der Rezeptionist, der Wartungstechniker, der Mann aus dem Restaurant, der dort mit seiner Geliebten gegessen hatte, und andere. Als zwei weitere von links und rechts auf uns zuschossen, traf Walter den einen an der Schulter; dieser blieb unklugerweise stehen und brüllte dann, als ihn die Räder des Wagens unter das Chassis zogen. Der zweite Angreifer versuchte, in mein offenes Fenster zu klettern, woraufhin ich ihm einfach in den Kopf schoss. Er fiel nach hinten, doch nicht, bevor ich das Gesicht unter der Kapuze erkennen konnte: Dr. Anstruther. Sünde oder nicht, ich kicherte über den Tod dieses Schuftes, und ich betrachtete die Kleckse seiner Hirnmasse auf mein Hemd als eine ganz besondere Ehrenmedaille. Der restliche Weg bis zum Haus war frei. Wo ich mit erheblichem Widerstand gerechnet hatte, waren wir nur auf halbherzige Angriffsversuche gestoßen. Das flache Haus kam jetzt in den Sichtbereich der Scheinwerfer. »Das war fast schon zu einfach, Walter«, rief ich nach hinten. »Und das macht mir ein bisschen Sorge.« Ich schaltete den Motor ab und hüpfte raus. »Wir müssen uns jetzt beeilen und deine Mutter holen. Aufgrund der Motorengeräusche und der Schüsse werden bald mehr hinter uns her sein …« Ich ging zur Ladefläche, um Walter herunterzuhelfen, aber … Oh, großer Gott, nein … Die einzigen Objekte, die hier Platz belegten, waren der jämmerliche Bogen des Jungen und der letzte Benzinkanister. Ich blickte hinüber in den Wald, aber sah und hörte nichts. Wie konnte ich das nur geschehen lassen?, verdammte ich mich. Das Stadtkollektiv hat Walter von der Ladefläche geholt … und ihn weggeschafft … IV Eine halbstündige verzweifelte Suche führte zu keinem positiven Ergebnis, und länger Ausschau halten würde nur die Chance aufs Spiel setzen, Mary und das Ungeborene lebend herauszubringen. Daher stapfte ich zurück zu der von Efeu überwucherten Ziegelhütte wie ein Mann auf dem Weg zum Galgen. Was sollte ich Mary sagen? Ihr Sohn war entführt worden und war höchstwahrscheinlich schon tot – alles unter meiner Aufsicht … Das ganz gewöhnliche Geräusch von Grillen folgte mir bis ins Haus, aber dann ertönte ein anderes Geräusch, eines, das meine allumfassende Verzweiflung ins Wanken brachte: Das Geräusch eines weinenden Babys. Ich stürzte aus der tintenschwarzen Dunkelheit der Diele in das von einer Kerze erhellte Zimmer, in dem das Babygeschrei meinen Blick gefangen nahm und auf den Haufen auf einer Matratze lenkte. »Mary!« Dort saß sie zwischen den behelfsmäßigen Kissen und lächelte erschöpft. In den Armen, an ihren schwellenden Busen gedrückt, hielt sie ein neugeborenes Baby, das sie in Leinen gewickelt hatte. »Ich habe Wehen bekommen, gleich nachdem du weg warst«, berichtete sie mit rosigen Wangen. »Und dann, nur Minuten später, war es da.« Sie drehte das Kind, dass ich es sehen konnte. Ein Wunder, dachte ich. Es war so perfekt, wie jedes Baby, das ich je betrachtet habe. In dem Moment, in dem es mich bemerkte, wurde es still und sah mich mit großen Augen an. »Sieh nur, er mag dich, Foster. Schon dein Anblick beruhigt ihn.« Mary wiegte ihn so gut sie konnte. »Was für ein Wunder«, flüsterte ich. »Es tut mir nur leid, dass ich nicht hier war, um dir beizustehen, als es so weit war.« »Mit jedem Mal wird es leichter«, informierte sie mich. »Bei diesem hatte ich kaum Schmerzen.« Sie sah mich hoffnungsvoll an, und ihre Augen funkelten im Kerzenlicht. »Aber wir müssen ihm sofort einen Namen geben, für den Fall …« Für den Fall, dass wir bei dem Fluchtversuch sterben, beendete ich den Satz für sie. »Ich werde ihn Foster nennen«, sagte sie. Ich war sprachlos und hatte Tränen in den Augen. Dann wurde ihr hoffnungsvoller Blick hart wie Granit. »Und sie werden dieses Baby nicht bekommen. Nur über meine Leiche …« Sie wusste noch immer nicht, dass Walter verschwunden war. »Mary, ich … ich …« »Ich liebe dich so sehr, Foster«, unterbrach sie mich, selbst mit Tränen in den Augen. »Ich möchte, dass du mich heiratest. Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen und dieses Kind zusammen mit dir aufziehen … und ich möchte dich nachtnächtlich lieben …« Die Worte, schöner als jedes Geschenk, das ich je erhalten hatte, zogen meinen Geist nur noch tiefer in den Abgrund trauriger Wahrheit. »Du, Walter und ich«, sinnierte sie, während sie ihr Kind stillte. »Wir werden solch eine glückliche Familie sein.« Trauer verschnürte mir die Kehle. Ich brachte die Worte kaum heraus: »Mary, du verstehst nicht. Es geht um …« »Ich weiß, worum es geht«, sagte sie ruhig. »Es geht um Walter.« Ich glotzte. »Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, es dir zu erklären«, fuhr sie fort und verdeckte züchtig genug ihrer Brust, um meinen Blicken zuvorzukommen. »Du hast vorhin gesagt, dass du Cyrus Zalen auf der Sandbank gesehen hast, wo er den Vollblütigen Säcke voller Neugeborener gegeben hat.« »Ja, aber … aber, Mary, was …« »Keine Sorge, Schatz. Du hast dich einfach geirrt.« »Geirrt?«, fragte ich und war jetzt völlig durcheinander. »Nein, nein, Mary, ich habe ihn gesehen, es war Zalen.« »Du hast einen Mann in einem schwarzen Regenmantel gesehen, nicht wahr, Foster?« »Äh … ja.« Sie sah mich direkt an. »Foster, der Mann, der dich früher am Tage im Wald verfolgt hat, war nicht Zalen.« Der Kommentar bestürzte mich. »Aber … Ich war mir so sicher.« »Und der Mann, den du heute Abend auf der Sandbank gesehen hast, war ebenfalls nicht Zalen.« »Wer dann?«, wollte ich wissen. Mary wand sich an ihrem Platz, Kerzenlicht schien fahl auf ihr Gesicht. »Das war Walters Vater …« »Was!« »Foster … dreh dich um.« Ich kam dem kryptischen Befehl nach, und meine Augen weiteten sich bei dem surrealen Anblick. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein groß gewachsener, hagerer Mann. Der schwarze Regenmantel schien mehrere Nummern zu groß, und die Kapuze verdeckte den Großteil seines Gesichts. Wichtiger war die geringe Last in seinen Armen: Es war Walter. Zuerst befürchtete ich, der Junge wäre tot, doch dann sah ich, dass sich seine junge Brust hob und senkte. »Das ist Walters Vater«, erklärte mir Mary im flackernden Licht. »Die Male, als du ihn versehentlich für Zalen gehalten hast, der dir nachstellt, war er eigentlich auf dem Weg hierher, um einen Blick auf seinen Sohn zu erhaschen.« Ich schätze, ich wusste durch irgendein finsteres ätherisches Omen bereits, bevor die Gestalt die Kapuze abnahm, dass sie das Gesicht von Howard Phillips Lovecraft enthüllen würde. Ich stand mit offenem Mund da und starrte benommen die Ikone an, als sähe ich vom höchsten Felshang der Erde herunter … Die Stimme, die über die dünnen Lippen kam, klang hoch, aber ausgedörrt, ein angestrengtes Flüstern. Er bewegte seine lebendige Last. »Mein Sohn ist nicht in Gefahr, Sir; er ist nur durch den Schreck über die Entführung durch mehrere Mitglieder des Stadtkollektivs in Ohnmacht gefallen. Bitte seien Sie versichert, dass selbige Entführer nicht länger unter den Lebenden weilen.« »Sie haben sie umgebracht?« Das dünne Gesicht nickte. »Ebenso wie ich den Vollblütigen umgebracht habe, der bei Onderdonk auf Sie losgegangen ist. Und wie Mary Ihnen bereits mitgeteilt hat, war ich der Fährmann, den sie heute Abend auf der Sandbank gesehen haben.« Die Stimme schwankte nun zwischen brüchig und hohen Tönen, irgendwie hohl, gleichzeitig aber auch sehr tief. »Bei der Ausübung meiner verabscheuungswürdigen Pflicht. Diese schändliche Tat ist seit dem sechzehnten März neunzehnhundertsiebenunddreißig ganz allein meine Domäne.« Dem Tag nach seinem Tod, wie ich wusste. Die Worte des Meisters klangen schwach, wie dünne Fetzen, die vom Wind durch die Latten eines Zauns geweht wurden. Die obszöne Umgehung des Todes hatte sein schmales Gesicht so bleich werden lassen, als wenn altes Leichenwachs auf einen Totenschädel aufgetragen worden wäre. Diese Halbdurchsichtigkeit seiner Haut ließ mich erschaudern, ebenso wie sein Augenweiß es tat, das eher schmutzbeflecktem Harsch glich. »Und wie Sie selbst bereits teilweise begriffen haben«, fuhr er fort, »sind die widerlichen Kreaturen, die ich als ›Tiefe Wesen‹ fiktionalisiert habe, im Besitz aggressiver Tränke, die die Nukleotidaktivität in einer gewissen spiralförmigen Struktur, die innerhalb jeder menschlichen Zelle existiert, künstlich nachbilden können. Dieser geniale – und diabolische – Prozess besitzt neben anderen Dingen die Macht, das Leben in den Toten wiederherzustellen. Daher, Sir, auch meine Verdammnis zur Wiedergutmachung meiner Sünden.« »Ihrer … Sünden?«, erkundigte ich mich. »Aber Sie waren Ihr ganzes Leben hindurch als Atheist bekannt. Das Konzept der Sünde ist keines, an das Sie glauben.« »Ich rede nicht von meiner Auffassung«, entgegnete der gequälte Mann, »sondern von deren Auffassung.« »Was auch immer meinen Sie damit?« »Ich habe Schatten über Innsmouth vor knapp einem Jahrzehnt geschrieben, aber sehen Sie, ob seiner Mängel wurde es nicht veröffentlicht, und da dies so war, erfuhren die Vollblütigen auch nichts von dessen Existenz …« »Aber all das änderte sich«, spekulierte ich, »Ende 1936, als die Visionary-Publications-Ausgabe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Und die Nachricht gelangte zu …« »… gelangte zu den ewig währenden Monstren, die an diesem Ort das Sagen haben, genau. Aber sie machten sich damals nicht die Mühe, mir nachzujagen – es war bereits bekannt, dass ich an einer tödlichen Krankheit litt. Einige Monate später jedoch, als ich starb, drang die Nachricht von meinem Hinscheiden ebenfalls an ihr Ohr. In der Nacht, nach dem ich begraben wurde, kam ein Rudel dieser verfluchten Dinger aus der Narragansett Bay herauf, exhumierte mich und erweckte meinen erbärmlichen Leichnam wieder zum Leben. Seitdem bin ich gezwungen, ihnen zu dienen, auf mehrere, widerwärtige Weisen, deren Details ich Ihnen ersparen werde. Doch der Höhepunkt meiner Bestrafung, der, wie ich denke, nunmehr ziemlich klar ist, besteht in der Auslieferung aller Neugeborenen an die seelentoten Machenschaften der Vollblütigen.« Meine Kehle zog sich plötzlich zusammen. »Dafür haben die Sie zurückgeholt. Damit Sie ihnen dienen.« »Dafür und für weit, weit schlimmere Dinge, Sir. Allerdings bin ich ein unwilliger Verräter an meiner Rasse – und der Botenjunge des Teufels. Der einzige Weg, das Leben meines Sohnes zu schützen, war, zu tun, was mir aufgetragen wurde, und die Neugeborenen in deren entsetzliche Klauen zu geben.« Die toten Augen sahen Mary und ihr jetzt schlafendes Baby an. »Es ist eine Pflicht, die ich nie wieder erfüllen werde.« Er legte Walter neben Mary ab und wandte sich dann erneut an mich. »Und Sie, Sir, muss ich um einen Gefallen bitten.« »Ich verdanke Ihnen mein Leben«, erklärte ich. »Die Bestie bei Onderdonk war kurz davor, mich umzubringen, als Sie eingeschritten sind …« »Tun Sie, was Sie versprochen haben«, flehte die geisterhafte Stimme, »und bringen Sie Mary und meinen Sohn in Sicherheit.« »Das werde ich tun. Ich verspreche es …« Dann zögerte ich, als mir etwas Entscheidendes einfiel; gleichzeitig wirkte Mary mit einem Mal niedergeschlagen. »Dein Bruder, Mary. Und dein Stiefvater«, begann ich die finstere Schlussfolgerung. »Ich weiß«, erwiderte sie. »Paul ist nicht hier, er schläft im Hinterzimmer des Ladens.« Die Blicke, die wir uns zuwarfen, sagten alles. »Wir haben keine Wahl, außer ihn zurücklassen. Ein Rettungsversuch würde unsere Chancen auf eine gefahrlose Flucht mit Walter und dem Baby deutlich verringern …« »Ich werde selbst die Pflicht übernehmen, ihn von seinem Leid zu erlösen«, bot Lovecraft an. »Die Vollblütigen werden ihn umbringen, sobald sie herausfinden, dass Mary aus dem Kollektiv geflohen ist, und sie werden das auf eine sehr grausame und qualvolle Weise tun. Ich bin sicher, ihn beseitigen zu können, bevor die Gelegenheit dazu haben. Er wird kein Jota Schmerz erdulden müssen.« »Aber mein Stiefvater …« Mary weinte beinahe. »Er ist im Nebenzimmer, und ich habe Angst …« Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Er würde euthanasiert werden müssen, und da ich derjenige mit der Waffe war … »Dieses Zimmer?«, fragte ich und deutete auf die primitive, leicht schiefe Holztür an der Seitenwand. Sie schluckte schwer und nickte. »In Ordnung.« Ich zog meine Handfeuerwaffe und ging auf die Tür zu. Mary kam mühsam auf die Beine und näherte sich mir. »Aber, Foster, du musst verstehen. Mein Stiefvater – er ist inzwischen fast völlig hinübergewechselt.« »Hinübergewechselt?« Lovecraft übernahm die Erklärung: »Die Metamorphose, welche die Mischlinge befällt, verdirbt nicht nur ihr körperliches Erscheinungsbild, sondern, ich bedaure, das mitteilen zu müssen, auch ihre mentalen Veranlagungen. Es besteht eine gewisse Möglichkeit, dass solche Hybriden in fortgeschrittenem Alter wie Marys Stiefvater mit der Zeit feindselig werden und Aspekte der Denkweisen, Standpunkte und Ansichten der Vollblütigen annehmen.« »Das ist wahr, Foster«, fügte Mary zu. »Er ist jetzt schlimmer als je zuvor. Wenn du da reingehst, wird er dich angreifen.« Dann soll er es versuchen, dachte ich, aber als ich mich der Tür näherte, legte mir Lovecraft eine Hand auf die Schulter. »Sie sind nicht entbehrlich, Sir, ich aber schon. Es ist sehr viel schwerer, einen toten Mann zu töten, als einen, der noch am Leben ist.« »Aber ich habe das Gefühl, dass es in meine Verantwortung fällt«, äußerte ich. »Sie dürfen das Risiko nicht eingehen«, wiederholte er. »Sie sind Marys und Walters einzige Hoffnung. Sparen Sie Ihre Munition.« Er nahm die Waffe und steckte sie wieder in meine Tasche, dann zog er aus seiner eigenen ein rasiermesserscharfes Filettiermesser hervor. »Wenn ich keiner anderen, monströseren Aufgabe zugeteilt bin, zwingen die Vollblütigen mich, in den Arbeitshäusern Fisch zu filetieren, und zufälligerweise …« Er erschauderte bei dem Gedanken. »… hasse ich Fisch.« Seine ruinierten Augen sahen mich direkter an. »Gehen Sie jetzt. Bringen Sie sie hier raus … und erfüllen Sie Ihr Versprechen mir gegenüber.« »Aber … aber«, stammelte ich und konnte noch immer nicht recht fassen, dass es tatsächlich Lovecraft war, der vor mir stand, mit seinem missgebildeten Kinn und all dem. »Sie könnten mit uns kommen.« »Nein, es wird Zeit, dass die Natur ihren wahren Lauf nimmt«, flüsterte seine Stimme. »Meine Existenz hat den Tod schon viel zu lange pervertiert. Heute Abend – dafür sorge ich – werde ich endgültig tot sein.« Dann hob er den noch immer bewusstlosen Walter auf, deponierte ihn in meine Arme und half dann Mary mit dem Baby zur Tür. Mary versuchte ihr Möglichstes, ihre Schluchzer zu unterdrücken, als wir in die Nacht hinaustraten. Lovecraft entbot nicht mehr als ein Adieu; er warf lediglich einen letzten Blick auf den Jungen in meinen Armen und schloss dann leise die Tür. Ich verstaute meine Passagiere im vorderen Teil des Wagens, aber geriet ob eines plötzlichen und sehr grotesken Zwangs ins Stocken. »Foster!«, flüsterte mir Mary energisch zu. »Wo willst du hin?« »Nur … einen Moment«, erwiderte ich und dann zog diese Pression mich zum hinteren Teil der Bruchbude. An das Rückfenster… Ich musste hineinsehen, da ich am Nachmittag nicht mehr als die Umrisse von Marys Stiefvater erhascht hatte, als dieser im Schatten saß. Doch jetzt sah ich mit geweiteten Augen durch die matte Glasscheibe. Als die tiefe Dunkelheit des Raums durch die sich öffnende Tür durchbrochen wurde und Lovecraft couragiert mit einer Kerze in der Hand das Zimmer betrat. Jetzt konnte ich Marys Stiefvater genau erkennen … Das Ding lag schlängelnd drüben auf dem Boden und sein Atemgeräusch klang wie unter Wasser ausgestoßene Blasen. Als es Lovecrafts Gegenwart bemerkte, zuckte der Kopf, der nach unten zusammengequetscht aussah, zurück. Mary hatte gesagt, dass ihr Stiefvater jetzt völlig »hinübergewechselt« war, aber ich konnte erkennen, dass die Metamorphose noch nicht ganz abgeschlossen war. Ein Auge sah in der Tat froschähnlich aus insofern, als es halb aus der Augenhöhle hervorstand unter einem glänzenden grünschwarzen Lid. Eine goldene Iris glänzte in der pfirsichgroßen Kugel; dennoch, das andere Auge sah weit menschlicher aus, und diese Vereinigung der Gegensätze ließ das lebende Resultat der Vermischung der beiden unterschiedlichen Rassen nur noch grotesker wirken. Zwei einfache Löcher fungierten als Nase; Falten, bei denen es sich nur um Kiemen handeln konnte, pulsierten an der Kehle, und am ganzen Körper sah die Haut nach einer seltsamen Kombination aus Kröte und Mensch aus. Dann klaffte der breite Mund der Kreatur auf und … Ssssschnapp! … heraus schoss ein ekelhaft rosafarbener Strang, der nur seine Zunge sein konnte. Augenblicklich fielen mir die Details meines Blicks durch das Fenster früher am Tage wieder ein, als dieselbe deformierte und missgebildete Gestalt, die Walter »Opa« genannt hatte, denselben Strang abgefeuert hatte, den ich irrtümlich für eine Peitsche gehalten hatte. Aber jetzt sah ich, dass es keine Peitsche war, sondern ein schmaler, aber von vielen Adern durchzogener Tentakel voller winziger Saugnäpfe, die abscheulich funkelnd pulsierten. Das beängstigende, knochenlose Körperglied wurde geschickt von Lovecrafts Handgelenk aufgehalten, woraufhin dieser den Tentakel mit seinem Messer abtrennte. Der Schmerz der Kreatur war sogleich offenkundig; Arme, nur noch vage menschlich, schossen protestierend in die Höhe. Der schiefe Kopf erschauderte, der große Mund klappte auf, um einen Schrei zu entlassen, der nur in der Hölle geboren sein konnte: ein Pfeifen wie von einem Teekessel begleitet von dem überschwappenden, spritzenden Schrei, von dem ich zuvor einen Abklatsch gehört hatte. Als das Wesen aufzustehen versuchte, auf Gelenken, die sich nach hinten durchbogen, kam Lovecraft mit seinem Filetiermesser näher … Ich trottete fort, unfähig, mehr von dieser düsteren Hinrichtung zu ertragen. Als sich Tonhöhe und Lautstärke des Schreis des Mischlings vervierfachten, wusste ich, dass die furchtbare Aufgabe erledigt war. Mit einer großen Leere im Kopf ließ ich das klapprige Fahrzeug an und fuhr los. Rauch kam aus dem Auspuff und Federn quietschten, aber jetzt rollte der Wagen die Straße hinunter, weg von dem furchtbaren Haus, das Mary nie wieder würde betreten müssen. Die Straße gen Süden schien der direkteste Weg zu sein, und die erste Viertelmeile war er wundersamerweise frei. Nach einer Kurve allerdings … Mary und ich schrien gleichzeitig auf. Eine veritable Barrikade aus Monstern versperrte die Durchfahrt. Fünfzig von ihnen? Oder hundert? Auf die genaue Zahl kam es schwerlich an. Das Licht unserer Scheinwerfer erhellte eine durch und durch chaotische Szenerie: grün glänzende Haut, krötengleich übersät mit braunen Beulen, Augen, die Kugeln aus schwarzem Glas gleich aus platt gedrückten, ohrlosen Köpfen hervorstanden. Da sie alle aufrecht standen, konnte man ihren weißen, zerfurchten Unterbauch und ihre mit seltsamen Muskeln ausgestatteten Beine erkennen. Die herunterhängenden schrecklichen Genitalien verrieten, dass es überwiegend männliche Exemplare waren. Ihre Größe schwankte zwischen 1,50 m und 2,10 m, doch selbst in ihrer aufrechten Haltung waren die meisten halb vorgebeugt, sodass nur Gott allein ihre wahre Größe kennen konnte. Sollte ich es wagen, vorwärtszurasen, und versuchen, sie niederzumähen? Alleine hätte ich es riskiert, aber mit Mary und ihren Kindern im Wagen konnte ich es nicht tun. Das Bild gefror, was den Schrecken dessen, was wir sahen, nur vergrößerte. Die Versammlung aus Abscheulichkeiten stand da und spannte die hervortretenden Muskeln an, und als das Licht der Scheinwerfer auf sie fiel, lehnten sich alle zurück, legten den Kopf in den Nacken und sahen zum Himmel hinauf; dann öffneten sie wie auf einen übersinnlichen Befehl hin alle auf einmal ihren hässlich breiten Mund und begannen zu schreien. Das Geräusch bewirkte, dass sogar der Wald zu vibrieren begann: Ein phlegmatisches Wehklagen vermengte sich mit dem Geräusch Tausender Männer, die durch Schlamm marschierten. Wenn Geräusche eine physikalische Wirkung ausüben konnten, dann sicher im Fall dieser Kakofonie, die den Wagen merklich zum Wackeln brachte. Ich bin mir sicher, dass ich selbst geschrien habe, als ich den Rückwärtsgang einlegte, doch selbst wenn ich aus voller Lunge gebrüllt hätte, wären meine Angstschreie nicht zu hören gewesen bei der unirdischen Geräuschlawine, die uns entgegengeschleudert wurde. Mary war bereits bewusstlos geworden, so musste sie nicht mit ansehen, was ich in der letzten halben Sekunde erblickte, bevor ich vollständig gewendet hatte … Während uns die Vollblütigen protestierend anschrien, ließ jeder Einzelne von ihnen die Zunge aus seinem Mund schnellen. Anders als bei Marys Stiefvater, dessen hybride Zunge nur aus einem einzigen rosafarbenen Tentakel bestanden hatte, besaß jedes dieser Monster eine Zunge aus wenigstens einem Dutzend dieser glänzenden, saugnapfgepockten Anhängsel. Jeder Klumpen aus deformierten Zungen schien sich zu einer einzigen, dicken, pulsierenden Säule zu verdrillen, die während des gesamten Schreis in der Luft verharrte. Und diese Säulen widerwärtigen Fleisches mussten wenigstens eineinhalb Meter lang gewesen sein. Ich trat das Gaspedal ganz durch, als es mir gelungen war, in nördliche Richtung zu wenden. Hatten meine Augen mich getrogen, als ich es gewagt hatte, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen? Ich hätte schwören können, dass sie mir nachjagten – die gesamte Gruppe dieser Dinger –, und einige schienen bis zu sieben Meter weite Sprünge zu machen, sodass ich mit dem beschleunigenden Wagen noch keine große Distanz zu ihnen hatte aufbauen können. Ich brauchte tatsächlich eine halbe Meile, bis ich einen halbwegs komfortablen Vorsprung erzielt hatte, aber in dem Moment, da mir das bewusst wurde … Ich schrie erneut auf und trat heftig auf die Bremse. Wenigstens doppelt so viele Vollblütige blockierten den nördlichen Weg hinaus. Mein Gott, was kann ich denn jetzt machen? Als ich über meine Schulter durch die nicht mehr vorhandene Rückscheibe des Lieferwagens sah, konnte ich die ersten Kreaturen der südlichen Abteilung um die Kurve kommen sehen, mitsamt ihrem akustischen Sturm, doch mir fiel ebenso etwas anderes auf … Der Benzinkanister, der zuvor noch auf der Ladefläche gestanden hatte, war nicht mehr da. Ich hatte schwerlich Zeit, darüber nachzudenken, wo er abgeblieben war. Nun, so schien es, hatte ich keine andere Wahl, als zu versuchen, einen Weg durch die Menge Richtung Norden zu pflügen. Das Baby schrie jetzt, und Walter wachte endlich ebenfalls auf, nur um auf den schrecklichen Anblick vor uns zu treffen. »Sprich deine Gebete, Walter«, forderte ich ihn auf, und dann begannen die Vollblütigen vor uns, loszuwatscheln. Mir war klar, dass sie uns in weniger als einer Minute aus Norden und Süden erreichen würden. Als ich selbst mein letztes Gebet sprechen und das Gaspedal in dem schwachen Versuch, die Blockade aus Monstern vor uns zu durchbrechen, durchtreten wollte, deutete Klein Walter nach links und schrie: »Mr. Morley! Wer ist der Mann da?« Mann?, registrierte mein angespanntes Gehirn, aber als ich hinblickte, sah ich Lovecraft in seinem schwarzen Regenmantel uns deutlich zuwinken. Er drängte mich, den Wagen nach links auf einen schmalen Pfad zu lenken, der kaum breit genug für unser Fahrzeug schien. Außerdem sah ich, dass er es gewesen war, der den Benzinkanister von der Ladefläche genommen hatte. Den Kanister hielt er in der Hand. Als ich in den Pfad einbog, bemerkte ich, dass die Biester aus dem Norden selbst in den Wald liefen, als versuchten sie mir den Weg abzuschneiden, bevor ich fahren konnte, wo immer die Straße uns hinführen mochte. Kurz darauf ergoss die Menge aus dem Süden sich hinter uns in den Pfad. Das Geräusch, das die Kreaturen machten, ließ den Waldboden erbeben: der feuchte, platschende Strom, zerteilt von Welle auf Welle unmenschlichen Maunzens. Zu diesem Zeitpunkt war der Wald verseucht von den taumelnden, beulenhäutigen Dingern. Dann flackerte knisterndes Licht im Wald auf … »Ein Feuer!«, schrie Walter. Ich konnte es jetzt nur zu leicht erkennen, während ich den alten Lieferwagen an die Grenze seiner mechanischen Möglichkeiten zwang. Eine wahre Flammenwand breitete sich direkt hinter den durch den Wald eingreifenden Reihen aus, und als ich voller Verzweiflung gen Süden blickte, sah ich einen weiteren Feuerwall anwachsen. Lovecraft hatte offenbar auf jeder Seite des Pfads eine Spur aus Benzin gezogen und entzündet, sobald die beiden Massen fischartiger Kreaturen weit genug in den Wald gelaufen waren, um in der Falle zu sitzen. Die unentwegte Dürre dieses Monats hatte den Waldboden und das Gestrüpp trocken wie Zunder werden lassen, und nun ging dies alles nahezu gleichzeitig in Flammen auf. Orangefarbenes, waberndes Licht drang auf uns ein, und das Geräusch brennender Bäume übertönte bald das schaurige Jaulen der Vollblütigen; deren unirdischer Schlachtruf wandelte sich schnell zu einem Laut äußerster Bestürzung. Nach einer oder zwei Minuten stand unsere gesamte Umgebung in Flammen. Unsere Widersacher saßen im Wald zwischen zwei näher kommenden Flammenwänden fest. Die Dinger saßen in der Falle. Jawohl. Aber wir ebenso. Jede der beiden Feuerlinien schien mit dem Lieferwagen Schritt zu halten. Eine unglaubliche Hitze brandete herein, und als ich zur Seite blickte, sah ich wilde, unmenschliche Gestalten um sich schlagen, zu Boden stürzen und konvulsivisch zucken, gekleidet in Anzügen aus Feuer. Der Blick aus dem Rückfenster zeigte den schmalen Pfad komplett überflutet mit geisterhaften, lodernden, bei lebendigem Leib eingeäscherten Dingern. Gleichsam begann das Feuer, den Wagen zu umschlingen … Ich hätte bei dem Anblick in Ohnmacht fallen können. Der Pfad spuckte uns auf einer mondbeschienenen Lichtung aus. »Wir sind draußen!«, schrie Walter. »Wir haben es geschafft«, flüsterte ich ungläubig. Ich fuhr dennoch weiter, aus Angst, dass einige der Vollblütigen der Feuersbrunst entkommen waren, doch als wir in sicherer Entfernung waren, hielt ich den Wagen an und schaute zurück zu der feurigen Szene. Walter hatte sich ebenfalls umgedreht. Das Feuer breitete sich jetzt nach außen weiter aus, und Rauch stieg von den Baumwipfeln zum Himmel auf. Das makabre, streitsüchtige Jaulen Hunderter von Vollblütigen war zu erbärmlichen und vereinzelten Aufschreien abgeklungen. Das Knistern der gewaltigen Flammen übertönte alles andere. »Was … Was ist passiert?«, fragte Mary verwirrt, das schlafende Baby an ihrer Brust haltend. »Das sieht ja aus, als stünde der ganze Wald in Flammen.« »Das wird er auch, daher sollten wir schnell von hier weg«, erkannte ich, legte den Gang wieder ein und fuhr weiter. Walters Kenntnisse der Gegend aufgrund seiner vielen Wanderungen durch den Wald brachten uns glücklicherweise zu einem anderen schmalen Weg, der uns innerhalb von Minuten zur Hauptstraße führte. Jetzt folgte uns nichts mehr außer einer geradezu gespenstischen Stille. »Mr. Morley?«, fragte Walter. »Dieser Mann im Regenmantel hat uns gerettet.« »Das hat er in der Tat, Walter.« »Ich habe ihn schon zuvor im Wald gesehen, viele Male, aber ich bin nie in seine Nähe gekommen. Wer war dieser Mann?« Ich nahm Marys Hand. »Eines Tages werden deine Mutter und ich dir das erzählen, Walter …« Nicht allzu lange danach teilte uns ein Schild die gute Nachricht mit, dass wir uns der State Route Nummer eins näherten. Mit einem klitzekleinen bisschen Glück würden wir bei Sonnenaufgang in Providence sein. V Die vergangenen sechs Monate haben viele freudige Veränderungen mit sich gebracht. Der Verkauf meines Herrenhauses in Providence – an niemand Geringeren als einen der Geschäftsführer von Standard Oil – hatte meinen Wohlstand weiter vergrößert. Die Worte eines toten Mannes – die Zalens – waren nie aus meinem Bewusstsein verschwunden: Sie reisen alle bestehende Wasserwege entlang, und sie sind sehr schnell. Nun, da Gott mir meinen neuen Status als Familienvater gewährt hatte, zog ich nur wenige Tage nach dieser Nacht undenkbaren Schreckens an einen Ort, an dem es fünfzig Meilen in jede Richtung keine Wasserwege gab, in den 36. Staat der Union, nach Nevada. Dank meines Reichtums konnte ich uns ein unbezwingliches Haus aus Adobeziegeln inmitten der trockensten Region des Landes bauen, direkt südlich der Staatenmitte. Rings um uns sind alkalihaltige Lehmebenen, sandige Wüste und endlose Meilen voller Beifuß und Steppenläufern, wohin man auch blickt. Und – um mich zu wiederholen – es gibt keinerlei Wasserwege. Meine Bank befindet sich in Carson City über einhundert Meilen im Nordwesten, und von dort aus wird uns wöchentlich Frischwasser zum Trinken und Baden geliefert. Ferner kommen wöchentlich neue Pinkerton-Wachleute an, die im Haus leben und rund um die Uhr Wache halten. Man hält mich lediglich für einen erfolgreichen Geschäftsmann, der misstrauisch gegenüber seinen Konkurrenten ist. Natürlich hatte ich ihnen nicht exakt gesagt, was es ist, von dem ich fürchte, dass es eines Nachts in mein Haus einzudringen versuchen könnte. Was Olmstead und sein Hafengebiet, das früher Innswich Point genannt wurde, betraf, kann ich nur wiedergeben, was ich an Informationen aus der Zeitung zusammengetragen habe: Der gewaltige, von der Dürre verursachte Waldbrand hatte im Umkreis von mehreren Tausend Morgen alles abgebrannt. Von den 361 registrierten Einwohnern hatte anscheinend niemand überlebt. Viele waren bei fehlgeschlagenen Evakuierungsversuchen verbrannt, und der Rest war an Rauchvergiftung gestorben, obwohl die Brände, so verheerend sie auch gewesen waren, die neue Betonarchitektur der Stadt unversehrt gelassen hatten. Wie das Feuer entstanden war? Durch Blitzschlag, vermuteten die Quellen. Aber die Region konnte erleichtert aufatmen, da ein Regensturm direkt am nächsten Tag die Feuersbrunst davon abgehalten hatte, sich weiter auszubreiten. Kurioserweise wurde im letzten Abschnitt erwähnt, dass Bundesbeamte die Überreste der Stadt einige Tage darauf untersucht hatten, wenngleich kein Grund dafür genannt wurde. Es gab auch keinerlei Informationen darüber, warum die Regierung gewisse Bereiche entlang der Küste abreißen ließ. Aus Sicherheitsgründen, war alles, was sie sagten. Und natürlich wurde auch nirgendwo eine Leiche in einem schwarzen Regenmantel erwähnt … Mary und ich haben kurz nach dem Umzug geheiratet, und das Leben, von dem ich immer geträumt habe, liegt nun in Reichweite. Klein Walter wird von im Haus lebenden Lehrern unterrichtet, und ich darf mit Freude berichten, dass er ein ähnliches akademisches und kreatives Talent zeigt wie sein Vater. Ein Kindermädchen haben wir ebenfalls eingestellt, das Mary bei der Erziehung des Kindes hilft, das sie liebenswerterweise Foster getauft hat. Welcher Erzeuger aus dem verfluchten und vom Bösen durchtränkten ersten Stock des Hilman House auch immer tatsächlich der Vater des Kindes ist, interessiert mich nicht. Jetzt war ich der Vater des Jungen, und das war eine Station im Leben, die zu haben ich mich gesegnet fühlte. Daher … Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende, wie das alte Klischee besagt. Mit Ausnahme der Nächte vielleicht; in denen schlafe ich weniger tief und fest mit meiner Pistole unter dem Kopfkissen und stehe zu seltsamen Uhrzeiten auf, um das uns umgebende Buschland mit dem Feldstecher abzusuchen oder nach den Nachtwachen zu sehen und mich davon zu überzeugen, dass kein unsagbarer Angreifer sie im Schutze der Dunkelheit überwältigt hat … Mary ist wieder schwanger; der Arzt schätzt, dass sie im sechsten Monat ist. Mein Zölibat hat in unserer Hochzeitsnacht ein recht leidenschaftliches Ende gefunden, und ihre Begierde für meinen Körper und meine Liebe gibt mir umso mehr Grund, Gott für diese Gnade zu danken. Aber das, werter Leser, beschreibt mein potenzielles Verhängnis. Sie werden sich vermutlich fragen, was verhängnisvoll sein kann am Ehestand vor den Augen Gottes und dem folgenden Wunder der übernatürlichen Vereinigung, die neues Leben hervorbringt. Allermindestens habe ich es ganz gut in die Rechnung mit einbezogen, wie ich finde. Sie müssen wissen, dass mir Mary erst nach unserer Eheschließung voller Angst gestanden hat, dass sie nur Minuten, nachdem sie Foster geboren hatte – und während Walter und ich draußen waren, um Onderdonks Lieferwagen zu holen –, von ihrem genetisch missgebildeten Stiefvater vergewaltigt worden ist. Und ob es nun mein eigener Samen ist, der sie geschwängert hat, oder der verdorbene Samen dieses Mischlings … Das wird die Zeit zeigen. ENDE