Der dunkle Schirm Philip Dick Am Ende des 20. Jahrhunderts: Amerika ist ein Land der Huren, Junkies und Dealer geworden. Bob Arctor ist ein Geheimagent der Drogenüberwachung, doch mehr und mehr wird auch er ein Opfer des Rauschgifts. „Es brach mir das Herz, den Roman zu schreiben, es brach mir das Herz, ihn zu lesen … Ich glaube, es ist ein Meisterwerk geworden. Ich glaube, daß es das einzige Meisterwerk ist, das ich jemals schreiben werde … Die komischen Stellen sind die komischsten, die ich je geschrieben habe, und die traurigen sind die traurigsten, und sie sind beide in ein und demselben Buch!“ Philip K. Dick „Einer der eigenständigsten amerikanischen Autoren … . der das meiste der europäischen Avantgarde wie Nabelschau in einer Sackgasse erscheinen läßt“ Sunday Times © Copyright 1977 by Philip K. Dick Originaltiel: A Scanner Darkly Quellennachweise: Auszüge aus »The Other Side of the Brain: An Appositional Mind« von Joseph E. Bogen, M.D. zuerst erschienen im Bulletin of the Los Angeles Neurological Societies, Vol. 34, Nr. 3, Juli 1969. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Auszüge aus »The Split Brain in Man« von Michael S. Gazzaniga, zuerst erschienen im Scientific American, August 1967, Vol. 217. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Gedicht ohne Titel aus Heinrich Heine: Lyric Poems and Ballads, übersetzt von Ernst Feise. Copyright © 1961 by The University of Pittsburgh Press. Mit freundlicher Genehmigung der University of Pittsburgh Press. Weitere auch im Original deutschsprachige Zitate (vgl. Fußnoten) aus Goethes Faust, Teil I, und aus Beethovens Oper Fidelio. I Da stand einmal ein Typ mitten im Raum und versuchte den ganzen Tag lang verzweifelt, sich die Wanzen aus den Haaren zu schütteln. Sein Arzt erklärte ihm, er habe überhaupt keine Wanzen in den Haaren. Nachdem er acht Stunden lang geduscht hatte, wobei er Stunde um Stunde unter dem heißen Wasserstrahl stand und unter dem Gekrabbel der Wanzen litt, trat er wieder aus der Duschkabine und trocknete sich ab, und er hatte immer noch Wanzen in seinem Haar; ja, sie hatten sich jetzt sogar über seinen ganzen Körper ausgebreitet. Einen Monat später hatte er schon Wanzen in der Lunge. Da es sonst nichts gab, was er hätte tun oder worüber er hätte nachdenken können, machte er sich daran, den Lebenszyklus der Wanzen zu erforschen und zudem mit Hilfe der Encyclopedia Britannica genau zu bestimmen, um welche Gattung von Wanzen es sich eigentlich handelte. Jetzt waren sie schon überall in seinem Haus. Während er die umfangreiche Literatur über die zahlreichen Wanzenarten, die es auf der Welt gab, systematisch durcharbeitete, bemerkte er schließlich auch draußen im Freien Wanzen, und daraus schloß er, daß es sich wohl eher um Vertreter der Spezies Aphidina handeln müsse – also um Blattläuse. Nachdem er einmal zu dieser Erkenntnis gelangt war, ließ er sich auch davon nicht mehr abbringen, ganz gleich, was andere Leute ihm erzählen mochten … wie zum Beispiel: »Aber Jerry, Blattläuse beißen doch keine Menschen!« Er aber wußte es besser, weil die endlosen Wanzenbisse ihm mittlerweile wahre Höllenqualen bereiteten. Im 7-11-Kolonialwarenladen, der zu einer Ladenkette gehörte, die sich über fast ganz Kalifornien erstreckte, erstand er Sprühdosen mit Razzia, Schwarzkreuz und Hofwächter. Erst sprühte er das Haus damit ein und schließlich auch sich selbst. Das Hofwächter-Spray schien am besten zu wirken. Zugleich verfolgte er auch den theoretischen Aspekt des Problems weiter und entdeckte dabei drei Entwicklungsstadien im Lebenszyklus der Wanzen. Zunächst wurden sie von Menschen, die er fortan »Wanzenträger«, nannte, in sein Haus eingeschleppt, um ihn zu verseuchen. Diese Wanzenträger waren Personen, die sich ihrer Rolle bei der Verbreitung der Wanzen gar nicht bewußt waren. Während dieses Stadiums hatten die Wanzen noch keine Beißwerkzeuge oder Mandibeln. (Er lernte dieses Wort anläßlich seiner wochenlangen Forschungsarbeiten kennen, während der er sich immer tiefer in die Bücher vergrub – eine recht ungewöhnliche Beschäftigung für einen Typen, der in einem Bremsen- und Reifen-Schnelldienst arbeitete, wo seine Aufgabe darin bestand, Bremstrommeln zu richten.) Die Wanzenträger spürten daher nichts. Oft hockte Jerry jetzt im. hintersten Winkel des Wohnzimmers und beobachtete die Wanzenträger, die den Raum betraten. Es waren meist Leute, die er schon länger kannte, aber er entdeckte auch einige neue Gesichter darunter. Sie alle waren über und über mit Blattläusen dieses ersten Entwicklungsstadiums bedeckt. Manchmal lächelte Jerry auch schief vor sich hin, weil er als einziger wußte, daß die betreffende Person von den Wanzen benutzt wurde und das noch gar nicht geschnallt hatte. »Warum grinst du eigentlich so, Jerry?« fragten sie ihn dann bisweilen. Er aber lächelte nur weiter vor sich hin und antwortete nicht. Im nächsten Stadium wuchsen den Wanzen eine Art Flügel; nun, eigentlich waren es keine richtigen Flügel, sondern eher Auswüchse, die die Funktion von Flügeln erfüllten und es den Wanzen ermöglichten, auszuschwärmen, denn nur so konnten sie von einer Person zur anderen überwechseln und sich auf einem neuen Träger niederlassen – also in erster Linie auf Jerry. Wenn die Wanzen zu schwärmen begannen, war die Luft voll von ihnen; sie hingen wie lebende Wolken in seinem Wohnzimmer, ja in seinem ganzen Haus. Während dieses Stadiums versuchte er, sie nicht einzuatmen. Am meisten tat Jerry sein Hund Max leid, denn er konnte sehen, wie die Wanzen auf ihm landeten und sich überall in seinem Fell niederließen. Vielleicht gelangten sie auch in Max’ Lunge, so wie sie in seine eigene Lunge eingedrungen waren. Jerry glaubte zu spüren, daß der Hund ebenso stark litt wie er selbst. Deswegen überlegte er, ob er Max fortgeben sollte, um wenigstens ihm das Leben leichter zu machen. Aber schließlich entschied er sich doch dagegen, weil der Hund ja bereits versehentlich infiziert worden war und ihn die Wanzen darum überallhin begleiten würden. Manchmal nahm er den Hund mit unter die Dusche und versuchte, ihn von den Wanzen zu säubern. Aber er hatte bei Max auch nicht mehr Erfolg als bei sich selbst. Da er ein sehr mitfühlender Mensch war, schmerzte es ihn, mit ansehen zu müssen, wie der Hund litt; daher setzte er die Versuche, ihm zu helfen, unermüdlich fort. In gewisser Weise waren die Qualen dieses hilflosen Tieres, das sich nicht einmal beklagen konnte, das Schlimmste an der ganzen Wanzenplage. »Was, zum Teufel, machst du eigentlich den ganzen Tag lang mit dem gottverdammten Köter unter der Dusche?« fragte ihn sein Kumpel Charles Freck einmal, als er während einer dieser Duschprozeduren hereinkam. Jerry sagte: »Ich muß irgendwie die Aphidien von ihm runterkriegen.« Er schleppte Max aus der Duschkabine und fing an, ihn trockenzurubbeln. Verwirrt schaute Charles Freck zu, wie Jerry Babyöl und Talkumpuder in das Fell des Hundes einmassierte. Überall im Haus türmten sich wild durcheinandergeworfene Sprühdosen mit Insektenspray und Flaschen mit Talkum, Babyöl und Hautpflegemitteln, die meisten davon leer; mittlerweile verbrauchte Jerry schon Dutzende von Flaschen pro Tag. »Ich seh’ keine Aphidien«, sagte Charles. »Was ist eigentlich ‘ne Aphidie?« »Kann manchmal tödlich sein«, sagte Jerry. »Genau das ist ‘ne Aphidie – tödlich. Die Biester sind in meinen Haaren und auf meiner Haut und in meiner Lunge, und die gottverdammten Schmerzen werden langsam unerträglich – ich werd’ wohl bald ins Krankenhaus müssen.« »Wie kommt’s, daß ich sie nicht sehen kann?« Jerry setzte den Hund ab, den er inzwischen in ein Badetuch eingewickelt hatte, und kniete sich auf dem Zottelteppich hin. »Paß auf, ich zeig’ dir mal eine«, sagte er. Der Teppich war dicht mit Blattläusen bedeckt; überall schnellten welche hoch und hüpften auf und nieder, wobei manche höher sprangen als ihre Artgenossen. Jerry hielt Ausschau nach einem besonders großen Exemplar, weil es den anderen Leuten so schwerfiel, die Biester zu sehen. »Hol mir mal ‘ne Flasche oder ‘n Glas«, sagte er. »Unterm Spülstein. Wir decken das Glas dann mit einem Tuch ab oder schrauben den Deckel drauf, und dann kann ich’s mitnehmen, wenn ich zum Arzt geh’, und der kann sich das Vieh mal genau ansehen.« Charles Freck brachte ihm ein leeres Mayonnaiseglas. Jerry setzte seine Suche unverdrossen fort, und schließlich entdeckte er eine Blattlaus, die mindestens drei Zentimeter lang war und bestimmt einen halben Meter hoch in die Luft sprang. Er fing sie geschickt ein, trug sie zum Glas, ließ sie vorsichtig hineinfallen und schraubte rasch den Deckel zu. Dann hielt er die Blattlaus triumphierend hoch. »Na, siehst du sie?« erkundigte er sich. »Jaaaaaa«, sagte Charles Freck. Seine Augen weiteten sich, als er den Inhalt des Glases musterte. »Was für ein Riesenvieh! Wow!« »Hilf mir mal dabei, noch mehr einzufangen, die ich dem Arzt zeigen kann«, sagte Jerry, während er sich erneut auf dem Teppich hinhockte, das Glas neben sich. »Klar«, sagte Charles Freck und machte sich an die Arbeit. Binnen einer Stunde hatten sie drei Gläser voller Wanzen. Obwohl Charles sich heute zum ersten Mal an einer Wanzenjagd beteiligte, fand er einige der größten Exemplare. Das war um die Mittagszeit, irgendwann im Juni 1994, irgendwo in Kalifornien, in einem heruntergekommenen Wohnbezirk mit endlosen Reihen von billigen, aber haltbaren Plastikhäusern, die die Spießer schon längst aufgegeben hatten. Jerry hatte jedoch vor einiger Zeit Metallfarbe über alle Fenster gesprüht, um das Tageslicht draußen zu halten; der Raum wurde nun von einer mehrarmigen Stehlampe erleuchtet, in die er nichts als Punktstrahler geschraubt hatte. Jerry ließ die Punktstrahler Tag und Nacht brennen, um die Zeit für sich und seine Freunde abzuschaffen. Dieser Gedanke gefiel ihm; er liebte es, sich von der Zeit zu befreien. Denn indem er das tat, konnte er sich ohne jede Störung wirklich wichtigen Dingen widmen. Und wichtig war zum Beispiel, daß jetzt zwei Männer auf dem Zottelteppich knieten und eine Wanze nach der anderen auflasen, um sie in eine endlose Batterie von Gläsern zu sperren. »Was springt dabei eigentlich für uns raus?« erkundigte sich Charles Freck später an diesem Tag. »Ich meine, bezahlt uns der Arzt so ‘ne Art Stückpreis für die Viecher? ‘ne Fangprämie? ‘n paar Flöhe?« »Mir würd’s schon reichen, wenn dabei ein todsicheres Gegenmittel herausspränge«, sagte Jerry. Obwohl die Schmerzen stets gleich blieben, waren sie jetzt unerträglich geworden; er hatte sich nie daran gewöhnen können, und er wußte, daß er sich, verdammt noch mal, auch nie daran gewöhnen würde. Das unwiderstehliche Verlangen, schon wieder zu duschen, überwältigte ihn. »Hey, Mann«, keuchte er und richtete sich auf, »du machst weiter damit, die Viecher in die Gläser zu tun, während ich mal eben unter die Dusche gehe, ja?« Er stürzte in Richtung Badezimmer davon. »Okay«, sagte Charles. Seine langen Beine zitterten, als er sich zu einem der Gläser herumdrehte, die Hände schalenartig zusammengelegt. Als Ex-Veteran hatte er seine Muskeln jedoch noch immer ganz gut unter Kontrolle; er schaffte es bis zum Glas, ohne umzukippen. Aber dann sagte er plötzlich: »Jerry, hey – diese Wanzen machen mich irgendwie richtig nervös. Du, mir gefällt das gar nicht, wenn ich hier so ganz alleine bin.« Er stand auf. »Dämlicher Arschficker«, sagte Jerry. Er lehnte sich einen Augenblick lang im Badezimmer an die Wand, schwer atmend vor Schmerzen. »Könntest du nicht …« »Ich muß erst ‘ne Runde duschen!« Jerry knallte die Tür zu und drehte an den Reglern der Dusche. Eine Wasserlawine rauschte herab. »Ich fürchte mich aber hier draußen.« Obwohl Charles Freck offenbar lauthals brüllte, drang seine Stimme nur schwach bis an Jerrys Ohren. »Dann hau doch ab und fick dich selbst ins Knie!« schrie Jerry zurück und stieg unter die Dusche. Zu was sind Freunde eigentlich gut? fragte er sich verbittert. Zu gar nichts. Scheiße noch mal, wirklich zu gar nichts. »Stechen diese Scheißviecher?« schrie Charles, der jetzt anscheinend direkt vor der Badezimmertür stand. »Natürlich stechen sie«, sagte Jerry, während er sich Shampoo in die Haare einmassierte. »Das hab’ ich befürchtet.« Eine Pause. »Du, kann ich mal reinkommen und mir die Hände waschen, damit ich sie wieder abkriege? Und kann ich dann auf dich warten?« Kubikscheiße, dachte Jerry voll bitteren Zorns. Er sagte nichts; er schrubbte sich nur weiter ab. Dieser Bastard war es gar nicht wert, daß man ihm eine Antwort gab … Er kümmerte sich nicht mehr um Charles Freck, sondern nur noch um sich selbst. Kümmerte sich nur noch um seine eigenen lebenswichtigen, schrecklichen, dringenden Bedürfnisse, die ihn mit Haut und Haaren in Anspruch nahmen. Alles andere mußte eben warten. Er hatte keine Zeit, keine Zeit; solche Dinge konnten ruhig aufgeschoben werden. Alles andere war zweitrangig. Mit Ausnahme des Hundes vielleicht; Jerry machte sich immer noch Gedanken über Max, den Hund. * Charles Freck rief einen Typ an, von dem er hoffte, daß er einen Posten Stoff im Angebot hatte. »Kannste mir auf die schnelle zehn Ts rüberschieben?« »Himmel, ich sitze doch selbst auf dem trockenen – ich versuch’ gerade, was ranzuschaffen. Sag mir Bescheid, wenn du welche auftreibst, ich könnte dringend ‘n bißchen Tod gebrauchen.« »Was ist denn mit dem Nachschub los?« »Schätze, die ham ‘n paar Lieferungen gekascht.« Charles Freck hängte ein. Während er deprimiert aus der Telefonzelle trat – kein Doper wickelte einen telefonischen Deal über seinen eigenen Anschluß ab – und langsam zu seinem daneben abgestellten Chevy trottete, spulte er in seinem Kopf eine Phantasienummer ab. In dieser Phantasienummer fuhr er gerade an einer Discount-Drogerie vorbei, und die Discount-Macker hatten das ganze Schaufenster mit Langsamem Tod dekoriert: Langsamer Tod in Flaschen, Langsamer Tod in Dosen, Langsamer Tod in Gläsern und Badewannen und Bottichen und Schüsseln, Millionen von Kapseln und Tabletten und Fixen mit Langsamem Tod, Langsamer Tod gemixt mit Speed und Junk und Barbituraten und psychedelischen Drogen, eben alles, was das Herz erträumt. Und über der Auslage prangte ein gigantisches Schild: HIER HABEN SIE KREDIT. Und vom Rest des Textes ganz zu schweigen: NIEDRIGE NIEDRIGE PREISE, DIE NIEDRIGSTEN IN DER GANZEN STADT! Aber in Wirklichkeit hatte die Discount-Drogerie für gewöhnlich nur nutzloses Zeug in der Auslage: Kämme, Flaschen mit ätherischen Ölen, Sprühdosen mit Deodorants, immer den gleichen Schund. Aber ich möchte darauf wetten, daß diese Macker in den Hinterzimmern ihrer Läden Langsamen Tod unter Verschluß halten, ungepanschten, reinen, unverfälschten, unverschnittenen Langsamen Tod, dachte Charles Freck, während er aus der Parklücke setzte und sich in den Nachmittagsverkehr auf dem Harbor Boulevard einfädelte. Mindestens ein Päckchen mit zwanzig Kilo drin. Er hätte für sein Leben gerne gewußt, wann und wie sie jeden Morgen das Zwanzig-Kilo-Päckchen mit Substanz T bei der Discount-Drogerie ausluden und woher der Stoff eigentlich kam – aus der Schweiz vielleicht oder von einem fernen Planeten, auf dem eine weise Rasse lebte. Vielleicht wußte das auch nur der liebe Gott. Vielleicht lieferten sie den Stoff in aller Herrgottsfrühe aus, unter dem Schutz bewaffneter Wächter – unter dem Feuerschutz Des Mannes, der da mit einem Lasergewehr rumlungert und so finster und drohend dreinschaut, wie es Der Mann immer tut. Wenn irgendwer mir meinen Langsamen Tod abklaut, dachte Charles Freck, wobei er sich in den Kopf Des Mannes versetzte, dann werde ich ihn auslöschen. Vielleicht ist Substanz T ein fester Bestandteil aller Arzneimittel, die irgendwas taugen, dachte er. Eine kleine Prise hier und da, gemäß der geheimen, exklusiven Formel, die von den Herstellern, die Substanz T entwickelt haben, in einem Tresor in ihrem Stammhaus in Deutschland oder in der Schweiz wie ein Staatsgeheimnis gehütet wird. Aber in Wirklichkeit wußte Charles Freck es besser; die Behörden vernichteten alle (oder sperrten sie zumindestens ein), die Substanz T verkauften oder transportierten oder konsumierten. Folglich würde auch die Discount-Drogerie – ja, die Millionen und Abermillionen von Discount-Drogerien! – auf der Flucht erschossen oder unsanft aus dem Geschäft gedrängt oder wenigstens eingesperrt werden. Vermutlich doch nur eingesperrt. Discount war eine einflußreiche Ladenkette. Und überhaupt, wie erschießt man eigentlich eine Kette großer Drogerien? Oder wie sperrt man sie in den Knast? Dann haben die wohl doch nur den üblichen Kram, dachte er, während er über den Boulevard dahinkreuzte. Er fühlte sich lausig, weil er nur dreihundert Tabletten Langsamer Tod für Notzeiten wie diese zurückgelegt hatte, sorgfältig im Hinterhof unter der Kamelie vergraben – unter der Hybridkamelie mit den kühlen, großen Blättern, die auch im Frühling nicht braun wurden. Ich hab’ nur noch eine Wochenration, dachte er bestürzt. Was mach’ ich bloß, wenn ich auf dem trockenen sitze? Scheißdreck! Mal angenommen, daß allen Dopern in Kalifornien und in einem Teil Oregons der Arsch am selben Tag auf Grundeis geht, dachte er. Wow. Das war der absolute Hit unter den Horrorvisionen, die er manchmal in seinem Kopf abspulte. Und nicht nur er, sondern jeder Doper. Der ganze Westen der Vereinigten Staaten sitzt plötzlich zur gleichen Zeit auf dem trockenen, und alle Doper gehen am selben Tag auf Turkey, vielleicht so gegen sechs Uhr an einem Sonntagvormittag, während sich die Spießer gerade fein machen, um eine Runde beten zu gehen. Ort: Die First Episcopal Church von Pasadene, um 8.30 Uhr vormittags am Grundeis-Sonntag. »Liebe Pfarrgemeinde, so lasset uns nun Gott den Herrn anrufen und Ihn darum anflehen, daß Er Seine Gnade leuchten lasse über jenen, die sich zu dieser Zeit mit Entzugssymptomen in Todesqualen auf ihren Betten winden.« »Sein Wille geschehe.« Die Gemeinde bekräftigt die Worte des Priesters. »Doch bevor Er nun gnädiglichst eingreift und unsere Brüder und Schwestern mit einer größeren Lieferung von –« Offenbar hatte die Besatzung eines Streifenwagens etwas an Charles Frecks Fahrstil bemerkt, was ihm selbst noch gar nicht aufgefallen war; jedenfalls hatte die Schmiere ihren Standplatz verlassen und folgte dem Chevy nun dichtauf, bisher noch ohne Blaulicht oder Sirene, aber … Vielleicht fahr’ ich ja Schlangenlinien oder was, dachte Charles Freck. Scheiß Viehtransport, der klebt mir ja direkt an der Stoßstange. Bin gespannt, was die mir anhängen wollen. BULLE: »All right, Ihren Namen bitte.« »Meinen Namen?« (MIR FÄLLT KEIN NAME EIN.) »Sie wissen Ihren eigenen Namen nicht mehr?« Bulle gibt dem anderen Bullen im Streifenwagen ein Handzeichen. »Der Typ hier ist anscheinend ausgeklinkt.« »Bitte, erschießen Sie mich nicht hier!« Charles Freck in seiner Horrorvision, die der Anblick des Streifenwagens im Rückspiegel ausgelöst hat. »Nehmen Sie mich doch bitte wenigstens mit zur Wache und erschießen Sie mich da, wo’s nicht alle Leute sehen.« Um in diesem faschistischen Polizeistaat zu überleben, dachte er, mußt du immer einen Namen parat haben. Deinen Namen. Jederzeit. Das ist das erste, worauf sie achten. Wenn du deinen eigenen Namen nicht mehr zusammenkriegst, dann wissen sie, daß du total breit bist. Am besten, entschied er, schere ich aus, sobald ich eine Parklücke sehe, und fahre freiwillig rechts ran, bevor die Schmiere das Blaulicht blitzen läßt oder sonstwas unternimmt, und dann, wenn die Bullen neben mir anhalten, werde ich sagen, ich hätte wohl ‘n loses Rad oder sonst ‘n Defekt. Das finden die immer toll, dachte er. Wenn du auf diese Weise aufgibst, weil dir nichts anderes mehr übrigbleibt. Das ist so, als würdest du dich wie ein Tier zu Boden werfen und ihnen deine ungeschützte Bauchseite hinhalten. Ja, genau das werde ich tun. Er scherte nach rechts aus und brachte den Wagen zum Stehen, als die Vorderreifen gegen den Bordstein stießen. Der Streifenwagen fuhr vorbei, ohne anzuhalten. Für nichts und wieder nichts rausgefahren, dachte Charles Freck. Jetzt werde ich meine liebe Mühe damit haben, wieder rückwärts rauszusetzen, weil der Verkehr so dicht ist. Er stellte den Motor ab. Vielleicht sollte ich einfach ein Weilchen hier sitzenbleiben, beschloß er, und Alphameditation machen oder mich in einige höhere Bewußtseinszustände versetzen. Vielleicht, indem ich mir die Puppen anschaue, die so vorbeispazieren. Möchte wissen, ob’s irgendwo eine Firma gibt, die Geiloskope herstellt. Statt Alpha-Bioskopen. Geilheitswellen, erst sehr kurz, dann länger, größer, größer, bis sie schließlich geradewegs über die Skala hinausschnellen. Das bringt alles nichts, begriff er plötzlich. Ich sollte unterwegs sein, um herauszufinden, ob irgendwo Stoff auf der Scene ist. Ich muß unbedingt Nachschub kriegen, sonst klinke ich wirklich bald aus, und dann werd’ ich überhaupt nicht mehr in der Lage sein, was geregelt zu kriegen. Wenn’s mal soweit ist, werd’ ich nicht mal mehr am Bordstein sitzen können, so wie jetzt. Ich werde dann nicht nur nicht mehr wissen, wer ich bin, ich werde nicht mal wissen, wo ich bin oder was eigentlich um mich herum läuft. Was läuft hier eigentlich? fragte er sich selbst. Was für einen Tag haben wir heute? Wenn ich nur wüßte, welcher Tag heute ist, würde mir auch alles andere wieder einfallen. Es würde nach und nach wieder in mein Gehirn sickern. Mittwoch, im Einkaufsviertel von L. A. irgendwo im Westwood-Bezirk. Direkt vor Charles Freck eine dieser riesigen Einkaufsarkaden, von einer Mauer umgeben, an der man wie ein Gummiball abprallt – außer wenn man eine Kreditkarte dabei hat, mit der man durch den elektronischen Sperrgürtel gelangen kann. Da Charles Freck für keine der Arkaden eine Kreditkarte besaß, kannte er das Innere der Läden nur vom Hörensagen. Offenbar gab es in den Arkaden eine ganze Reihe von Läden, die Qualitätsprodukte an die Spießer verkauften – besonders natürlich an die Spießerehefrauen. Er schaute zu, wie die uniformierten und bewaffneten Wächter am Haupttor die eintretenden Kunden einer gründlichen Überprüfung unterzogen. Die Wächter achteten darauf, daß der Mann oder die Frau auch wirklich zu seiner oder ihrer Kreditkarte paßte und daß die Kreditkarte nicht geklaut, verkauft, gekauft oder in betrügerischer Absicht benutzt worden war. Eine Menge Leute strömten durch das Tor hinein, aber Charles Freck vermutete, daß viele davon nur einen Schaufensterbummel machen wollten. So viele Leute können doch gar nicht das Moos oder das unaufschiebbare Verlangen haben, um diese Zeit einkaufen zu gehen, überlegte er. Es ist schon spät, kurz nach zwei. Zwei Uhr nachts, ja. Die Läden sind alle beleuchtet. Wie alle seine Freak-Brüder und -Schwestern, die in dieser Nacht unterwegs waren, konnte Charles Freck die Lichter von draußen sehen, Lichter wie bunte Funkenkaskaden. Wie ein Vergnügungspark für große Kinder, dachte er. Auf dieser Seite der Mall gab es nicht viele Geschäfte, die keine Kreditkarten verlangten und sich nicht von bewaffneten Wächtern schützen ließen. Nur ein paar Läden für alltägliche Besorgungen: ein Schuhgeschäft, einen TV-Shop, eine Bäckerei, einen Schlüsseldienst, eine Schnellwäscherei. Charles Freck schaute zu, wie ein Mädchen, das ein kurzes Plastikjäckchen und eine Stretchhose trug, von Geschäft zu Geschäft schlenderte. Die Kleine hatte hübsche Haare, aber von hier aus konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, und man mußte schon das Gesicht sehen, um beurteilen zu können, ob eine Puppe wirklich scharf war. Keine schlechte Figur, dachte er. Das Mädchen blieb eine Zeitlang vor einem Schaufenster stehen, in dem Lederwaren ausgestellt waren. Es schien sich für einen mit Quasten verzierten Geldbeutel zu interessieren; Charles Freck konnte verfolgen, wie die Kleine sich die Nase an der Schaufensterscheibe plattdrückte und hin und her gerissen den Geldbeutel anstarrte. Wetten, daß sie gleich reingeht und ihn sich zeigen läßt? dachte Freck. Im nächsten Augenblick tänzelte das Mädchen tatsächlich in den Laden, ganz wie Charles Freck es erwartet hatte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf eine andere Puppe, die jetzt den stark belebten Bürgersteig entlanggeschlendert kam. Sie trug eine gekräuselte Bluse und hatte hohe Absätze, silberne Haare und zu viel Make-up. Versucht, älter auszusehen, als sie ist, dachte er. Vielleicht geht sie sogar noch zur Oberschule. Nach dieser Puppe kam nichts mehr, was der Rede wert gewesen wäre. Freck machte den Bindfaden los, der die Klappe des Handschuhfachs an ihrem Platz hielt, und holte ein Päckchen Zigaretten heraus. Während er sich eine ansteckte, schaltete er mit der anderen Hand das Autoradio ein, eine Rock-Station. Früher einmal hatte er sogar einen Stereo-Cassettenrecorder besessen, aber als er eines Tages mal wieder total abgefüllt gewesen war, hatte er nicht daran gedacht, den Recorder mit ins Haus zu nehmen, als er den Wagen abschloß; bei seiner Rückkehr war das ganze Stereosystem verschwunden gewesen. Das hat man nun von seiner Schusseligkeit, hatte er gedacht. Und darum hatte er jetzt eben nur noch ein mickriges Radio. Irgendwann würden sie ihm das wohl auch noch wegnehmen. Na egal, er wußte ja, wo er praktisch umsonst ein neues Radio kriegen konnte, besser gesagt: ein gebrauchtes Radio. Im übrigen war sein Chevy sowieso praktisch reif für den Schrottplatz; die Dichtungsringe waren porös und die Kompression im Keller. Wahrscheinlich hatte er ein Ventil zu Klumpatsch gefahren, als er eines Abends mit einer ganzen Ladung guten Stoffs über den Freeway nach Hause raste; manchmal, wenn er eine wirklich große Partie gemacht hatte, wurde er paranoid – nicht so sehr wegen der Bullen, sondern vielmehr, weil er befürchtete, daß andere Leute aus der Scene ihm den Stoff abklauen könnten. Irgend so ein Scenetyp, halb meschugge vor Turkey und dopegeil wie ‘n Weltmeister. In diesem Moment ging ein Mädchen vorbei, das sofort Charles Frecks Aufmerksamkeit erregte: schwarzes Haar, hübsch, und ein aufreizend langsamer Schlenderschritt. Es trug eine offene Bolerobluse und eine oft gewaschene, weiße Baumwollhose. Hey, die kenne ich doch, dachte er. Das ist doch Bob Arctors Mädchen. Klar, das ist Donna! Er stieß die Wagentür auf und schwang sich aus seinem Chevy. Das Mädchen warf ihm einen kurzen, mißtrauischen Blick zu und ging weiter, ohne langsamer zu werden. Er folgte ihr. Denkt bestimmt, ich will ihr an die Wäsche, dachte Charles Freck, als er sich zwischen den anderen Passanten einen Weg bahnte. Wie leichtfüßig sie einen Zahn zulegte; er konnte sie jetzt kaum noch sehen, als sie jetzt einen flüchtigen Blick über die Schulter zurückwarf. Ein festes, ruhiges Gesicht … Er sah große Augen, die ihn abschätzig musterten. Bestimmt versuchte sie jetzt, seine Geschwindigkeit zu kalkulieren und festzustellen, ob er sie würde einholen können. Nicht, wenn sie weiter so ein Tempo vorlegt, dachte Charles Freck. Mann, die bewegt sich ja wie ‘ne Katze! An der Ecke waren die Leute stehengeblieben und warteten darauf, daß die Fußgängerampel GEHEN statt NICHT GEHEN anzeigte; Autos bogen mit quietschenden Reifen nach links ab. Aber das Mädchen ging einfach weiter, schnell, aber würdevoll, und schlängelte sich zwischen den dahinschießenden Wagen hindurch. Die Fahrer starrten sie aufgebracht an. Sie schien die wütenden Blicke nicht einmal zu bemerken. »Donna!« Als das Zeichen auf GEHEN umsprang, stürzte Charles Freck über die Straße hinter ihr her und holte sie ein. Trotzdem fing sie nicht an zu laufen, sondern ging nur einfach so zügig weiter wie bisher. »Bist du nicht Bobs Alte?« sagte er. Irgendwie schaffte er es, sich ihr in den Weg zu stellen, um endlich ihr Gesicht genauer mustern zu können. »Nein«, sagte sie. »Nein.« Sie kam auf ihn zu, kam genau auf ihn zu; er wich rückwärtsgehend vor ihr zurück, weil er plötzlich bemerkte, daß sie ein kurzes Messer in der Hand hielt und dieses Messer genau auf seinen Magen gerichtet war. »Hau ab«, sagte sie, wobei sie unbeirrt weiterging, ohne langsamer zu werden oder auch nur einen Augenblick lang zu zögern. »Bestimmt bist du’s«, sagte Charles Freck. »Wir haben uns mal auf seiner Bude kennengelernt.« Er konnte das Messer kaum sehen, nur ein winziges Stückchen der Klinge, aber er wußte, daß es da war. Sie würde ihn einfach niederstechen und dann weitergehen. Er wich immer weiter zurück, die Hände in einer abwehrenden Geste erhoben. Das Mädchen verbarg das Messer so geschickt in ihrer Hand, daß vielleicht keiner der anderen Passanten es bemerken würde. Aber er, Charles Freck, bemerkte es nur zu gut; die Klinge zielte genau auf ihn, als das Mädchen ohne zu zögern näher kam. Im letzten Augenblick trat er zur Seite, und das Mädchen ging einfach schweigend weiter. »Mensch, hör doch mal!« sagte er zu ihrem Rücken. Ich bin mir doch ganz sicher, daß es Donna ist, dachte er. Sie kommt bloß im Moment nicht drauf, wer ich bin und daß wir uns kennen. Hat wohl Angst, daß ich ihr an den Arsch will. Heutzutage muß man verdammt vorsichtig sein, wenn man auf der Straße ‘ne fremde Puppe anquatscht. Die sind jetzt alle auf der Hut. Na ja, kein Wunder, wenn man bedenkt, was denen schon alles passiert ist! Heißes kleines Messer, dachte Freck. Wäre besser, wenn die Puppen nicht mit so was ‘rumspielten; jeder Macker könnte ihr das Handgelenk rumdrehen und die Klinge auf sie selbst richten, wenn er’s wirklich darauf anlegen würde. Ich hätt’s auch tun können. Wenn ich sie wirklich hätte anmachen wollen. Er stand einfach nur da und ärgerte sich. Ich weiß doch ganz genau, daß das Donna war, dachte er. Gerade als er zu seinem Wagen zurückgehen wollte, bemerkte er plötzlich, daß das Mädchen am Rand des sich dahinwälzenden Fußgängerstroms stehengeblieben war und schweigend zu ihm herüberstarrte. Er ging vorsichtig auf sie zu. »Eines Abends«, sagte er, »hatten ich und Bob und noch so ‘ne Puppe ein paar uralte Simon-und-Garfunkel-Bänder aufgetrieben, und du saßest da –« Sie hatte die ganze Zeit über Kapseln mit astreinem Tod gefüllt, eine Kapsel nach der anderen, ganz systematisch. Stundenlang. El Primo. Numero Uno: Tod. Und als sie damit fertig gewesen war, hatte sie jedem eine Kapsel angeboten, und sie hatten sie eingeworfen. Alle, nur Donna nicht. Ich deale nur mit dem Zeug, hatte sie gesagt. Wie soll ich denn noch ‘n Schnitt machen, wenn ich die Dinger alle selber schlucke? Das Mädchen sagte: »Ich dachte, du wolltest mir eins überziehen und mich dann durchbumsen. « »Nein«, sagte er. »Ich hab’ nur gedacht, ich könnte dich …« Er zögerte. »Na ja, ich könnt’ dich ein Stück im Wagen mitnehmen … Auf dem Bürgersteig?!?« erkundigte er sich ungläubig, als er begriff, was sie eigentlich gesagt hatte. »Am hellichten Tage?!?« »Vielleicht in einem Hauseingang. Oder du würdest mich in einen Wagen schleifen.« »Aber wir kennen uns doch«, protestierte Freck. »Und Arctor würde mich allemachen, wenn ich das täte.« »Du, ich hab’ dich gar nicht erkannt.« Sie kam drei Schritte auf ihn zu. »Ich bin ‘n bißchen kurzsichtig.« »Dann solltest du Kontaktlinsen tragen.« Ihm fiel auf, daß sie klare, große, dunkle, warme Augen hatte. Was bedeutete, daß sie nicht auf Dope war. »Hatte ich ja früher mal. Aber dann ist mir eine rausgefallen, direkt in ‘ne Bowlenschüssel. Du weißt schon, Acid-Bowle, auf ‘ner Party. Das Ding ist direkt bis auf den Boden gesunken, und wahrscheinlich hat sie wer rausgeschöpft und mitgetrunken. Hoffentlich hat’s ihm geschmeckt; ich hab’ immerhin fünfunddreißig Dollar dafür hinlegen müssen.« »Kann ich dich denn nun irgendwohin mitnehmen?« »Du willst mich ja doch nur im Wagen durchbumsen.« »Nein«, sagte Freck. »Ich krieg’ im Moment sowieso keinen hoch, schon seit ‘n paar Wochen nicht mehr. Muß an was liegen, womit die den Stoff strecken. Irgendwas Chemisches.« »Mann, das ist ja ‘ne heiße Ausrede, aber damit ist mir schon mal einer gekommen. Alle bumsen mich nur durch.« Sie verbesserte sich sofort. »Jedenfalls versuchen sie’s. So läuft’s nun mal, wenn man ‘ne Puppe ist. Ich hab’ jetzt gerade ‘nem Typen ein Gerichtsverfahren angehängt, wegen Belästigung und handgreiflicher Beleidigung. Mein Anwalt verlangt 40 000 Schadensersatz. « »Wie weit ist er denn gekommen?« Donna sagte: »Der hat mir mit seinen Schmierfingern die Möpse betatscht.« »Das ist aber keine 40 000 wert.« Gemeinsam gingen sie den Weg zu Charles Frecks Wagen zurück. »Hast du was zu verkaufen?« erkundigte sich Freck. »Ich brauch’ wirklich dringend was. Ehrlich gesagt, ich bin praktisch auf Null runter, stell’ dir das mal vor, total auf Null! Ich war’ schon mit ein paar zufrieden, wenn du welche lockermachen könntest.« »Ich kann dir welche besorgen.« »Tabletten«, sagte er. »Ich schieße nicht.« »Ja.« Donna nickte bestimmt, den Kopf leicht gesenkt. »Aber, hör mal, die Dinger sind im Moment Mangelware – die Nachschubquelle ist zeitweilig ausgetrocknet. Wahrscheinlich hast du das schon selbst mitgekriegt. Ich kann dir nicht sehr viele besorgen, aber …« »Wann?« unterbrach er sie. Sie hatten mittlerweile den Wagen erreicht; Charles Freck blieb stehen, öffnete die Tür und stieg ein. Auf der anderen Wagenseite stieg auch Donna ein. Und dann saßen sie da, Seite an Seite. »Übermorgen«, sagte Donna. »Aber nur, wenn ich den einen Typ irgendwie erwischen kann. Ich nehme an, es wird klappen.« Scheiße, dachte Charles Freck. Übermorgen erst. »Geht’s nicht eher? Nicht bis, sagen wir mal, heute abend?« »Allerfrühestens morgen.« »Wie viel?« »Sechzig Dollar pro Hunderterpack.« »O Mann«, sagte Charles Freck. »Das ist aber ‘n stolzer Preis.« »Dafür sind sie auch echt Spitze. Ich hab’ schon früher welche von dem Typen bekommen; die sind wirklich nicht so wie das Zeug, was einem sonst angedreht wird. Mein Wort darauf, der Stoff ist echt sein Geld wert. Wenn’s eben geht, kaufe ich immer bei dem Typen. Aber er hat nicht immer welche. Weißt du, der Typ hat gerade eine Tour in den Süden runter gemacht, denke ich mir. Er ist gerade erst zurückgekommen. Er hat den Stoff selbst rangeschafft, ohne Zwischenhändler, darum weiß ich, daß die Tabletten mit Sicherheit gut sind. Und du mußt mir nichts im voraus bezahlen. Erst, wenn ich sie habe. Okay? Ich vertraue dir.« »Ich leg’ nie Geld hin, bevor ich die Ware sehe«, sagte er. »Manchmal muß man’s aber. « »Okay«, sagte er. »Kannst du mir dann mindestens ein Hunderterpack besorgen?« Er versuchte rasch durchzukalkulieren, wie viele er sich leisten konnte; vielleicht konnte er binnen zwei Tagen 120 Dollar flüssig machen und zweihundert Tabletten von ihr kaufen. Und wenn er in der Zwischenzeit irgendwo einen besseren Deal abschließen konnte, mit anderen Leuten, die Stoff anboten, dann konnte er den Deal mit Donna ja wieder vergessen und bei denen kaufen. Das war der Vorteil dabei, wenn man nie Geld vorstreckte – das und die Tatsache, daß man nie abgelinkt werden konnte. »Da hast du aber mächtig Glück gehabt, daß wir uns getroffen haben«, sagte Donna, als er den Wagen anließ und rückwärts auf die Straße setzte. »Ich treff mich in ungefähr ‘ner Stunde mit so einem Macker, der mir vielleicht alles abkaufen würde, was ich eben ranschaffen könnte … du scheinst ja ‘ne ziemliche Pechsträhne gehabt zu haben, aber jetzt geht’s wieder bergauf.« Sie lächelte, und er erwiderte ihr Lächeln. »War’ nur toll, wenn du sie eher kriegen könntest«, sagte Freck. »Wenn’s klappen sollte …« Donna öffnete ihren Geldbeutel und holte einen kleinen Notizblock und einen Stift mit dem Aufdruck SPARKS AUTO-ELEKTRO­SERVICE heraus. »Wie kann ich dich erreichen? Und dein Name ist mir übrigens immer noch nicht wieder eingefallen.« »Charles B. Freck«. sagte er. Er gab ihr seine Telefonnummer – eigentlich war es gar nicht seine, sondern die eines Spießerfreundes, über die er solche Kontakte immer laufen ließ –, und sie schrieb die Nummer sorgfältig auf. Wie schwer ihr das Schreiben doch fällt, dachte Freck. Malt einen Buchstaben nach dem anderen hin … Die bringen den Puppen in der Schule auch nur noch Scheiß bei, dachte er. Hat wohl immer unter der Schulbank gesessen. Aber ‘ne heiße Puppe ist sie ja. Na ja, dann kann sie eben kaum lesen und schreiben; was soll’s? Was bei ‘ner Puppe wichtig ist, das sind handliche Titten. »Ich glaube, ich erinnere mich jetzt wieder an dich«, sagte Donna. »Vage jedenfalls. Es ist alles irgendwie verschwommen, der ganze Abend; ich war richtig weggetreten. So richtig weiß ich eigentlich nur noch, wie ich das Pulver in diese kleinen Kapseln getan hab’ – richtig, Librium-Kapseln … wir hatten den Originalinhalt weggeschüttet. Ich muß die Hälfte runtergekippt haben. Auf den Boden, meine ich.« Sie blickte ihn nachdenklich an, wie er so am Steuer saß und fuhr. »Du scheinst ja ganz okay zu sein«, sagte sie. »Vielleicht können wir öfters miteinander ins Geschäft kommen? Du willst doch hinterher bestimmt noch mehr von dem Zeug, oder nicht?« »Sicher«, sagte Charles Freck. Zugleich überlegte er, ob es ihm wohl gelingen würde, den Preis zu drücken, wenn sie sich das nächste Mal sahen; er hatte so das Gefühl, als ständen seine Chancen gar nicht mal so schlecht. Aber auch wenn er Donna nicht herunterhandeln konnte, hatte er es wieder einmal geschafft. Was hieß: Er hatte wieder eine neue Nachschubquelle auf getan. Glücklichsein ist, dachte er, wenn du weißt, daß du ein paar Pillen kriegen kannst. Draußen, außerhalb des Wagens, strömten der Tag und all die geschäftigen Menschen, das Sonnenlicht und das pulsierende Leben der Stadt unbemerkt vorbei; Charles Freck war glücklich. Irre, was er da durch Zufall entdeckt hatte – und das nur, weil sich eine Polizeistreife ohne jeden besonderen Grund an seine Fersen geheftet hatte. Eine unerwartete neue Quelle für Substanz T! Was konnte er mehr vom Leben verlangen? Er konnte jetzt vielleicht damit rechnen, daß zwei Wochen vor ihm lagen, nahezu ein halber Monat, bevor er krepierte oder wenigstens beinahe krepierte – was bei einem Entzug von Substanz T praktisch das gleiche war. Zwei Wochen! Charles Freck wurde es wunderbar leicht ums Herz, und für einen winzigen Augenblick roch er die erregenden Düfte des Frühlings, die durch das offene Fenster des Wagens hereinwehten. »Möchtest du mitkommen, wenn ich Jerry Fabin besuche?« fragte er das Mädchen neben sich.« Ich bring’ ihm eine Ladung Klamotten rüber in die Staatliche Nervenklinik Nummer Drei, wo sie ihn letzte Nacht hingebracht haben. Ich schaffe jedesmal nur ein bißchen rüber, weil’s ja immer noch möglich wäre, daß er bald wieder rauskommt, und ich habe keine Lust, dann alles zurückkarren zu müssen.« »Ich möchte ihn lieber nicht besuchen«, sagte Donna. »Du kennst ihn? Jerry Fabin?« »Jerry Fabin denkt, daß ich es gewesen bin, der ihn zuerst mit diesen Wanzen verseucht hat.« »Blattläusen.« »Nun, damals wußte er noch nicht, was das für Viecher waren. Ich halte mich besser von ihm fern. Als ich ihn zum letzten Mal sah, wurde er richtig bösartig. Es sind die Wahrnehmungszentren, in seinem Gehirn … glaube ich wenigstens. Es scheint mit den Wahrnehmungs­zentren zusammenzuhängen, das steht wenigstens neuerdings in den Regierungsinfos.« »Das läßt sich doch wieder in Ordnung bringen, nicht wahr?« sagte Freck. »Nein«, sagte Donna. »Das ist für immer im Arsch.« »Die Leute in der Klinik haben mir gesagt, daß ich ihn besuchen dürfte und daß sie glauben würden, daß er wieder …« Er machte eine hilflose Geste. »Verstehst du, daß er nicht …« Wieder bewegte er seine Hände hilflos hin und her; es war schwierig, das in Worte zu fassen, was er über seinen Freund sagen wollte. Donna blickte ihn besorgt an. »Du hast doch nicht etwa einen Schaden am Sprachzentrum?« erkundigte sie sich. »Eine Schädigung der – wie nennt man die Dinger doch gleich – der Hinterhauptslappen?« »Nein«, sagte er. Mit Nachdruck. »Hast du überhaupt irgendwelche Schäden?« Sie tippte sich an den Kopf. »Nein, es ist nur … verstehst du das denn nicht? Ich habe immer Schwierigkeiten dabei, wenn ich über diese Scheiß-Kliniken spreche; ich hasse diese Kliniken für neurale Aphasie. Einmal war ich in einer, um so einen Typ zu besuchen. Weißt du, der hat die ganze Zeit versucht, den Fußboden zu bohnern – die Pfleger sagten, er würd’s nie schaffen, ich meine, er konnt’s einfach nicht mehr auf die Reihe kriegen, wie man’s machen muß … Was mich so unheimlich geschockt hat, war, daß er’s immer weiter versucht hat. Ich meine, nicht nur so ‘ne Stunde lang oder so; er hat’s immer noch versucht, als ich einen Monat später wieder hingefahren bin. So, als ob er’s immer wieder versucht hätte, wieder und wieder, wie da, wo ich ihn zuerst gesehen hab’, bei meinem ersten Besuch. Er konnte einfach nicht kapieren, warum er’s nicht auf die Reihe bekam. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war sich so sicher, daß er’s richtig hinkriegen würde, wenn er nur endlich rausbekommen würde, was er eigentlich falsch machte. ›Was mache ich denn bloß falsch?‹ fragte er die Pfleger immer wieder. Und es gab keinen Weg, es ihm begreiflich zu machen. Ich meine, sie haben’s ihm erklärt – verdammt noch mal, sie haben’s ihm erklärt –, aber er konnte es trotzdem immer noch nicht auf die Reihe kriegen.« »Ich hab’ gelesen, daß die Wahrnehmungszentren im Gehirn meist zuerst den Bach runtergehen«, sagte Donna gelassen. »Wenn sich zum Beispiel einer ‘nen miesen Schuß gesetzt hat. ‘ne zu große Dosis oder so.« Sie musterte den Wagen, der direkt vor ihnen fuhr. »Sieh mal, da ist einer von diesen neuen Porsches mit den zwei Motoren.« Sie zeigte aufgeregt nach vorn. »Wow!« »Ich kannte mal einen Typ, der sich einen dieser neuen Porsches frisiert hatte«, sagte Charles Freck, »und dann damit auf den Riverside Freeway rausfuhr und ihn auf 280 hochjagte – Filmriß.« Er gestikulierte wild mit den Händen. »Geradewegs in den Arsch von einem Sattelschlepper. Hat ihn gar nicht gesehen, nehme ich an.« In seinem Kopf ließ er eine Phantasienummer abspulen: er, Charles Freck, hinter dem Steuer eines Porsche, aber er bemerkte den Sattelschlepper rechtzeitig – alle Sattelschlepper. Und jedermann auf dem Freeway – dem Hollywood Freeway zur Hauptverkehrszeit – bemerkte ihn, Charles Freck. Schließlich konnte man diesen schlaksigen, breitschultrigen, gutaussehenden Macker, der da mit 320 Stundenkilometern über den Freeway brauste, auch gar nicht übersehen. Und den Bullen hing der Unterkiefer bis runter auf die Schuhe. »Du zitterst ja«, sagte Donna. Sie beugte sich zu ihm herüber und legte ihre Hand auf seinen Arm. Eine ruhige Hand, auf die er sofort ansprach. »Langsamer.« »Ich bin müde«, sagte er. »Ich war zwei Tage und zwei Nächte auf den Beinen und habe Wanzen gezählt. Hab’ Wanzen gezählt und sie in Flaschen getan, bis ich vor Müdigkeit aus den Latschen gekippt bin. Und als wir dann am nächsten Morgen aufgestanden sind und uns fertiggemacht haben, um die Flaschen in den Wagen zu laden und sie zum Doktor zu bringen, weil wir ihm die Wanzen zeigen wollten, da war nichts in den Flaschen drin. Leer.« Er konnte das Zittern jetzt selber spüren, konnte es in seinen Händen spüren, die auf dem Lenkrad ruhten, konnte die zitternden Hände auf dem Lenkrad sehen, bei dreißig Stundenkilometern. »Alle«, sagte er. »Die ganzen Scheiß-Flaschen. Nichts drin. Keine Wanzen. Und dann hab’ ich’s endlich begriffen. Scheiße noch mal, ich hab’ begriffen, was mit seinem Gehirn los war. Mit Jerrys Gehirn.« Die Luft roch nicht mehr länger nach Frühling, und übergangslos begriff Charles Freck, daß er dringend einen neuen Hit Substanz T brauchte, weil es vielleicht schon später am Tag war, als er bisher bemerkt hatte. Oder war die letzte Dosis, die er eingepfiffen hatte, geringer gewesen, als er dachte? Nun, zum Glück hatte er immer einen Notvorrat dabei, ganz hinten im Handschuhfach. Er spähte aus dem Fenster und hielt Ausschau nach einer freien Parkbucht, wo er anhalten konnte. »Manchmal macht einem das Gehirn was vor«, sagte Donna wie aus großer Entfernung; sie schien sich in sich selbst zurückgezogen zu haben, schien sehr weit weggegangen zu sein. Charles Freck fragte sich, ob ihr seine ziellose Fahrerei wohl auf die Nerven ging. Vielleicht lag es daran. Ein weiterer Phantasie-Film spulte sich plötzlich in seinem Kopf ab, ganz ohne seine Zustimmung: Zuerst sah er einen großen Pontiac, aufgebockt auf einem plötzlich kippelnden Wagenheber, und ein Jüngelchen von vielleicht dreizehn Jahren mit langen, strohigen Haaren, das sich verzweifelt gegen den wegrollenden Wagen zu stemmen versuchte und dabei zugleich gellend um Hilfe schrie. Er sah sich selbst zusammen mit Jerry Fabin aus dem Haus – Jerrys Haus – stürzen und die mit Bierdosen übersäte Auffahrt hinunterstürmen. Er, Charles Freck, griff nach der Wagentür auf der Fahrerseite, um sie aufzuwuchten, damit er das Bremspedal treten konnte. Aber Jerry Fabin, der nur eine Hose trug und nicht einmal Schuhe anhatte – er hatte gerade geschlafen, und sein Haar war wirr und zerwühlt –, dieser Jerry Fabin also rannte am Wagen entlang zum Fahrzeugheck und drängte den Jungen mit seiner bloßen, bleichen Schulter, die nie das Licht des Tages sah, in letzter Sekunde vom Wagen weg. Der Wagenheber rutschte endgültig ab und fiel um, das Heck des Wagens krachte runter, die Felge und das Rad rollten davon – aber dem Jungen war nichts passiert. »Zu spät für die Bremse«, keuchte Jerry und versuchte, sich seine häßlichen, schmierigen Haare aus den Augen zu streichen. Er blinzelte. »Zu knapp.« »Is’ er okay?« rief Charles Freck. Sein Herz hämmerte immer noch. »Ja.« Jerry stand schwer atmend neben dem Jungen. »Scheiße!« schrie er ihn an, um sich Luft zu machen. »Hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst warten, bis wir’s zusammen machen? Und wenn ein Wagenheber wegrutscht – Scheiße, Mann, du kannst doch keine fünftausend Pfund zurückhalten!« Sein Gesicht zuckte. Der Junge, der von allen nur Rattenarsch genannt wurde, blickte ihn wie ein Häufchen Elend an und wand sich schuldbewußt. »Mensch, ich hab’s dir doch wieder und wieder gesagt!« »Ich wollte die Bremse treten«, erklärte Charles Freck, der plötzlich begriff, wie idiotisch er sich verhalten hatte, begriff, daß er einen Fehler gemacht hatte, der genauso schwerwiegend und tödlich gewesen war wie der des Jungen. Er, ein erwachsener Mann, hatte versagt, weil er unfähig gewesen war, richtig zu reagieren. Aber genau wie der Junge suchte er nun nach Worten, um sein Versagen zu rechtfertigen. »Klar, ich seh’ jetzt ein –«, setzte er kläglich an, und dann brach die Phantasie-Nummer ab; eigentlich war sie nur eine exakte Widergabe realer Ereignisse gewesen, denn Charles Freck erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sich dieser Zwischenfall abgespielt hatte, damals, als sie noch alle zusammenlebten. Jerrys guter Instinkt … ohne den hätte Rattenarsch eine Sekunde später unter dem Heck des Pontiac gelegen, mit zerschmettertem Rückgrat! Alle drei trotteten in düsterer Stimmung zum Haus zurück, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die Felge und den Reifen einzufangen, die immer noch die Straße hinunterrollten. »Ich war eingeschlafen«, murmelte Jerry, als sie das abgedunkelte Innere des Hauses betraten. »Zum ersten Mal seit Wochen haben mich die Wanzen lange genug in Ruhe gelassen, daß ich’s geschafft hab’. Ich hab’ seit fünf Tagen keinen Schlaf mehr gekriegt – bin immer nur rumgelaufen und rumgelaufen. Ich hab’ schon gedacht, sie wären vielleicht weg; und sie sind weggegangen, wirklich. Ich hab’ gedacht, sie härten endlich aufgegeben und wären woandershin gegangen, nach nebenan vielleicht, ganz aus dem Haus weg. Jetzt kann ich sie wieder spüren. Der zehnte Anti-Wanzen-Strip, den die mir verkauft haben – oder vielleicht war’s der elfte – die haben mich wieder reingelegt, wie sie’s mit allen anderen gemacht haben.« Aber seine Stimme klang jetzt gedämpft, nicht wütend, sondern nur leise und irgendwie verwundert. Er legte seine Hand auf Rattenarschs Kopf und versetzte ihm einen kurzen, scharfen Schlag. »Du blöder Kerl – wenn ein Wagenheber wegrutscht, dann nimm gefälligst die Beine in die Hand. Vergiß den Wagen. Stell dich bloß nicht hinter ihn, und versuch ja nicht, dich einer solchen Masse entgegenzustemmen und sie mit deinem Körper aufzuhalten.« »Aber Jerry, ich hatte Angst, daß die Achse …« »Scheiß was auf die Achse. Scheiß was auf den Wagen. Dein Leben ist doch wichtiger.« Sie gingen durch das dunkle Wohnzimmer, alle drei, und die Vision eines längst vergangenen Augenblicks verschwamm und erlosch dann für immer. II »Meine sehr verehrten Herrschaften vom Anaheim Lions Club«, sagte der Mann am Mikrophon, »es erfüllt mich mit außerordentlicher Freude, daß wir dank der freundlichen Genehmigung der Behörden des Orange County heute nachmittag einen Geheimen Rauschgift-Agenten in unserer Mitte begrüßen dürfen. Nach einem einleitenden Referat unseres Gastes werden wir die einmalige Gelegenheit haben, ihn zu sich und zu seiner Arbeit zu befragen.« Oh, wie er strahlte, dieser Mann mit dem rosa Waffelfiber-Anzug, der gelben Plastikkrawatte, dem blauen Hemd und den Schuhen aus Lederimitat! Ein übergewichtiger, überalteter Mann, der pausenlos lachte, als sei er überglücklich, auch wenn es wenig oder gar nichts gab, weswegen man glücklich sein konnte. Der Geheime Rauschgift-Agent beobachtete ihn angeekelt. »Nun, wie Sie sicherlich bereits bemerkt haben werden«, sagte der Versammlungsleiter, »können Sie dieses Individuum, das hier direkt zu meiner Rechten neben mir sitzt, eigentlich gar nicht richtig sehen, geschweige denn erkennen. Und das liegt an einer besonderen Vorrichtung, die er trägt, nämlich dem sogenannten ›Jedermann-Anzug‹. Und eben diesen Anzug trägt unser verehrter Gast während seines unermüdlichen Einsatzes für Recht und Ordnung fast ständig. Den Grund dafür werden Sie in wenigen Minuten erfahren.« Das Auditorium, das in jeder denkbaren Hinsicht ein Spiegelbild des Versammlungsleiters war, betrachtete interessiert das Individuum in seinem Jedermann-Anzug. »Dieser Mann«, verkündete der Versammlungsleiter, »den wir einfach nur Fred nennen wollen, weil er unter diesem Decknamen die Informationen, die er sammelt, an seine Vorgesetzten weitergibt, dieser Mann also kann, sobald er sich einmal innerhalb seines Jedermann-Anzugs befindet, weder durch den Klang seiner Stimme noch durch einen auf technischem Wege erstellten Stimmabdruck identifiziert werden – und auch nicht durch sein Aussehen. Würden Sie nicht auch sagen, daß er nur wie ein vager Fleck und sonst nichts aussieht?« Bei diesen Worten verzog er sein Gesicht zu einem breiten Lächeln. Das Auditorium nickte und lächelte konziliant zurück. Ja, das war wirklich lustig. Der Jedermann-Anzug stammte aus den Forschungslaboratorien des Bell-Konzerns, eigentlich eine Zufallsentdeckung, die einem Angestellten namens S. A. Powers wie durch Zauberei gelungen war. Vor einigen Jahren hatte Powers mit enthemmenden Substanzen experimentiert, die direkt auf das Nervengewebe einwirkten; eines Abends hatte er sich selbst eine als ungefährlich und nur schwach euphorisierend geltende IV-Injektion verabreicht, was wider Erwarten zu einem katastrophalen Abfall in der GABA-Flüssigkeit seines Gehirns geführt hatte. Subjektiv hatte Powers die Folgen der Injektion so erlebt, als würden pausenlos geisterhaft phosphorisierende Phänomene an die gegenüberliegende Wand seines Schlafzimmers projiziert – eine mit irrwitziger Geschwindigkeit voranschreitende Montage von Bildern, die in Powers zu diesem Zeitpunkt den Eindruck zeitgenössischer abstrakter Gemälde erweckten. Sechs Stunden lang hatte Powers überwältigt beobachtet, wie sich Tausende von Picasso-Gemälden in einer blitzschnellen Schnittfolge vor seinen Augen ablösten, und im Anschluß daran war er mehr Bildern von Paul Klee ausgesetzt worden, als dieser Künstler überhaupt während seines ganzen Lebens geschaffen hatte. S. A. Powers, über den sich nun eine wahre Sturzflut von Modigliani-Gemälden ergoß, hatte die Hypothese aufgestellt (schließlich braucht man für alles eine wissenschaftliche Theorie), daß die Rosenkreuzler diese Bilder auf telepathischem Wege auf ihn abstrahlten, wobei die telepathischen Impulse möglicherweise noch durch hochkomplexe Mikrorelais-Systeme verstärkt werden mochten; aber als ihn dann Kandinsky-Bilder zu martern begannen, erinnerte er sich daran, daß sich das größte Kunstmuseum in Leningrad gerade auf solche nichtgegenständlichen Maler der Moderne spezialisiert hatte. Und daraus nun wieder ließ sich die Schlußfolgerung ziehen, daß die Sowjets versuchten, telepathischen Kontakt mit ihm aufzunehmen. Erst am nächsten Morgen erinnerte sich S. A. Powers daran, daß ein drastischer Abfall in der GABA-Flüssigkeit des Gehirns stets solche Phosporeszenzphänomene erzeugte; demnach hatte also niemand versucht, auf telepathischem Wege – sei es mit oder ohne Mikrowellen-Verstärker – mit ihm in Verbindung zu treten. Aber immerhin brachte S. A. Powers dieses nächtliche Erlebnis auf die Idee für den Jedermann-Anzug. Im Grunde genommen bestand Powers’ Konstruktion aus einer Quarzlinse mit einer Vielzahl von Facetten, die mit einem miniaturistischen Computer zusammengeschaltet war. Die Speicherbänke dieses Computers enthielten maximal eineinhalb Millionen enkodierter Abbilder partieller physiognomischer Charakteristika einer großen Anzahl von Menschen – Männern, Frauen und Kindern. Der Computer projizierte die gespeicherten Abbilder nach außen auf eine hauchdünne, gewandartige Membrane, die groß genug war, um einem durchschnittlichen Menschen zu passen. Wenn der Computer sein in einer Endlosschleife gespeichertes Programm durchlaufen ließ, lieferten seine Speicherbänke nach und nach jede erdenkliche Augenfarbe, Haarfarbe, Nasenform, Gebißfiguration und Gesichtsknochenstruktur und speisten sie in die Projektions­vorrichrung ein. Die leichentuchähnliche Membrane nahm dann alle körperlichen Charakteristika an, die in jeder Nanosekunde projiziert wurden – bis auf das nächste Sample umgeschaltet wurde. Um seinen Jedermann-Anzug noch effektiver zu machen, programmierte S. A. Powers den Computer darauf, die Abfolge der körperlichen Merkmale, die bei jedem Durchlauf auf der Membrane erschienen, nach Zufallskriterien zu variieren. Und um den Kostenfaktor möglichst niedrig zu halten (den Leuten von der Regierung imponierte so etwas immer besonders), verwendete Powers als Material für die Membrane bisher unverwertbare Abfallprodukte eines großen Industrieunternehmens, das bereits Geschäfte mit Washington betrieb. Powers’ Konzeption machte den Träger des Jedermann-Anzugs (wenngleich natürlich nur innerhalb des Limits von eineinhalb Millionen Sub-Bits, die der Computer speichern und miteinander kombinieren konnte) stündlich zu jedem Mann und zu jeder Frau. Daher war es völlig sinnlos, den Träger – oder die Trägerin – eines solchen Anzugs beschreiben zu wollen. Unnötig zu erwähnen, daß S. A. Powers natürlich auch seine eigenen, ganz persönlichen physiognomischen Charakteristika in die Speicherbänke des Computers eingespeist hatte, damit aus dem rasenden Wirbel der aufgespaltenen Gesichtszüge auch sein eigenes Gesicht manchmal an die Oberfläche tauchte, vom Computer zufällig wieder aus seinen einzelnen Bestandteilen zusammengesetzt … ein Ereignis, das nach Powers’ Berechnungen pro Anzug durchschnittlich alle fünfzig Jahre eintreten würde. Das aber natürlich nur, wenn der jeweilige Anzug lange genug in Betrieb war. Einen größeren Anspruch auf Unsterblichkeit konnte Powers nicht erheben. »Bühne frei für den vagen Fleck!« sagte der Versammlungsleiter laut, und ein allgemeines Beifallklatschen hob an. Im Innern seines Jedermann-Anzugs seufzte Fred – der zugleich auch Robert Arctor war – unhörbar und dachte: Das ist alles so fürchterlich. Einmal im Monat wählte das Amt für Drogenmißbrauch des Orange County nach Zufallskriterien einen Geheimen Rauschgift-Agenten aus und beauftragten ihn damit, vor einer Versammlung von Hohlköpfen wie diesen hier zu sprechen. Heute war er, Fred, an der Reihe. Als er nun den Blick über seine Zuhörer schweifen ließ, begriff er, wie sehr er Spießer verabscheute. Sie fanden immer alles toll. Sie lächelten. Sie unterhielten sich großartig. Vielleicht hatte der Miniaturcomputer seines Jedermann-Anzugs in diesem Augenblick aus der unendlich großen Zahl von gespeicherten Komponenten S. A. Powers zusammengesetzt und auf die Oberfläche der Membrane projiziert. »Aber Spaß beiseite«, sagte der Versammlungsleiter, »dieser Mann hier …« Er hielt inne und versuchte krampfhaft, die richtigen Worte zu finden. »Fred«, sagte Bob Arctor. »S. A. Fred.« »Ja, richtig, Fred.« Der Versammlungsleiter gewann seine bisherige Sicherheit wieder zurück und nahm den Faden wieder auf, während er zugleich seine Zuhörerschaft anstrahlte. »Wie Sie selbst hören können, ähnelt Freds Stimme einer jener Computerstimmen, die ertönt, wenn Sie drüben in San Diego am Schalter einer Bank vorfahren – sie ist vollkommen tonlos und so künstlich wie die eines Roboters. Mit dieser Stimme, die im Geist eines Zuhörers keinerlei bleibende Eindrücke hinterläßt, spricht Fred auch, wenn er seinen Vorgesetzten im Amt für Drogenmißbrauch Bericht erstattet.« Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein. »Sie müssen wissen, daß jeder Geheime Rauschgift-Agent durch seinen Einsatz ein gräßliches Risiko eingeht. Es ist wohl kein Geheimnis mehr, daß es den Kräften, die hinter dem Drogenhandel stehen, wahrscheinlich überall in unserem Land gelungen ist, die für die Bekämpfung des Drogenmißbrauchs zuständigen Behörden mit erschreckendem Geschick auf allen Ebenen zu infiltrieren. Nach Meinung der am besten informierten Experten dürfte an dieser Tatsache kein Zweifel mehr bestehen. Und eben darum ist der Jedermann-Anzug eine notwendige Schutzmaßnahme, damit das Leben dieser wagemutigen und ihrer Sache treu ergebenen Männer nicht in Gefahr gerät.« Schwacher Applaus für den Jedermann-Anzug. Und dann erwartungsvolle Blicke, die sich auf Fred richten, der im Innern seiner Membrane lauert. »Wenn Fred jedoch vor Ort, in der Drogenszene also, arbeitet«, fügte der Versammlungsleiter abschließend noch hinzu, als er sich vom Mikrophon entfernte, um Platz für Fred zu machen, »trägt er diesen Anzug natürlich nicht. Er kleidet sich dann wie Sie oder ich, obwohl er selbstverständlich zumeist die Hippie-Tracht anlegt, die in den verschiedenen subkulturellen Gruppen üblich ist, in denen sich ein Geheimer Rauschgift-Agent im Zuge seiner Ermittlungen bewegt.« Er gab Fred ein Zeichen, sich zu erheben und vor das Mikrophon zu treten. Fred – Robert Arctor – hatte sich schon sechsmal zuvor dieser Prozedur unterzogen, und er wußte, was er sagen mußte und was anschließend auf ihn zukam: nämlich die ewig gleichen Arschloch-Fragen und das übliche Maß an dumpfer Beschränktheit. Es machte ihn wütend, daß er gezwungen war, hier seine Zeit zu verschwenden. Alles verlorene Liebesmüh … und das Gefühl der Nutzlosigkeit, das er empfand, wurde mit jedem Mal stärker. »Wenn ich Ihnen auf der Straße begegnen würde«, sagte Fred ins Mikrophon, nachdem der Beifall verklungen war, »würden Sie wahrscheinlich sagen: ›Schon wieder so ein ausgeflippter Rauschgift-Freak.‹ Und Sie würden Ekel empfinden und sich von mir abwenden.« Schweigen. »Ich sehe nicht so aus wie Sie«, sagte er. »Ich kann mir das nicht leisten. Mein Leben hängt davon ab.« In Wirklichkeit unterschied er sich in seinem Aussehen gar nicht so sehr von ihnen. Und außerdem hätte er die Sachen, die er täglich trug, auch dann angezogen, wenn es sein Job und der Schutz seines Lebens nicht erforderlich gemacht hätten. Ihm gefiel die Kleidung, die er trug. Aber die Ansprache, die er hier abspulte, war praktisch von A bis Z von anderen Leuten geschrieben und ihm dann zum Auswendiglernen vorgelegt worden. Zwar konnte er in gewissen Grenzen improvisieren, aber letztlich mußte er sich doch an den Standardtext halten, den alle Rauschgift-Agenten verwendeten, die öffentliche Vorträge hielten. Diese Regelung war vor Jahren von einem diensteifrigen Abteilungschef eingeführt und später durch einen Erlaß zur Norm erhoben worden. Er wartete, bis das Auditorium seine Worte verdaut hatte. »Ich möchte mein Referat nicht damit beginnen«, sagte er, »Ihnen eine Aufzählung dessen zu bieten, was ich in meiner Funktion als Geheimer Rauschgift-Agent zu tun versuche. Sie wissen ja bereits, daß ich damit befaßt bin, Dealer dingfest zu machen und besonders die Quellen aufzuspüren, aus denen die illegalen Drogen stammen, die diese Dealer auf den Straßen unserer Städte und in den Korridoren unserer Schulen hier in Orange County feilbieten. Statt dessen möchte ich Ihnen zuerst sagen« – hier legte er eine Kunstpause ein, wie man es ihm in den Public-Relations-Kursen auf der Polizeiakademie beigebracht hatte –, »wovor ich mich am meisten fürchte.« Jetzt hatte er seine Zuhörer im Griff; sie schienen nur noch aus offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen zu bestehen. »Was ich bei Tag und bei Nacht fürchte«, sagte er, »ist, daß unsere Kinder, Ihre Kinder und meine Kinder …« Wieder eine Kunstpause. »Ich habe zwei«, fuhr er fort. Dann, besonders ruhig und eindringlich: »Sie sind noch klein. Sehr klein.« Und dann ließ er seine Stimme anschwellen, betonte jedes Wort. »Aber das schützt sie nicht davor, süchtig gemacht zu werden, mit voller Absicht um des bloßen Profits willen süchtig gemacht zu werden, von jenen, die unsere Gesellschaft zerstören wollen.« Eine erneute Pause. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, fuhr er übergangslos fort, jetzt wieder ruhiger, »wissen wir noch nicht, wer diese Menschen – oder besser: diese Tiere! – sind, die sich unsere Kinder als Beute erkoren haben, so, als würden wir hier nicht in den Vereinigten Staaten leben, sondern in einem Dschungel irgendwo in einem fernen Land. Wir bemühen uns nach besten Kräften darum, die Identität jener Männer aufzudecken, die diese Gifte, die täglich von mehreren Millionen von Männern und Frauen eingenommen, geschossen und geraucht werden, aus gehirnzerstörendem Dreck zusammenbrauen. Sicherlich ist das eine langwierige Aufgabe, aber am Ende werden wir ihnen doch, so wahr uns Gott helfe, die Maske vom Gesicht reißen.« Eine Stimme aus dem Auditorium: »Macht sie fertig!« Eine weitere Stimme, ebenso enthusiastisch: »Schnappt euch die roten Schweine!« Applaus, der in immer neuen Wogen heranrollte und gar nicht mehr zu enden schien. Robert Arctor zögerte. Starrte sie an, starrte die Spießer mit ihren fetten Anzügen, ihren fetten Krawatten und ihren fetten Schuhen an und dachte: Substanz T kann ihre Gehirne nicht zerstören; sie haben keine. »Los, Mann, sag’s uns, wie’s ist!« drang eine etwas weniger aufdringliche Stimme zu ihm herauf – die Stimme einer Frau. Arctor ließ seinen Blick suchend über die Zuhörer schweifen und machte schließlich die Sprecherin aus: eine mittelalterliche Dame, die nicht ganz so fett war und ihre Hände wie zum Gebet ängstlich gefaltet hatte. »Jeder Tag«, sagte Fred (oder Robert Arctor?), »fordert diese Seuche ihren Tribut von uns. Täglich steigen die Profite – und wohin sie fließen, werden wir –« Er brach ab. Selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte, hätte er den Rest des Satzes nicht mehr aus den Tiefen seines Gehirns heraufbaggern können, obwohl er ihn doch wenigstens eine Million mal wiederholt hatte, sowohl auf der Akademie als auch während der vorangegangenen Vorträge. In dem großen Raum war es jetzt totenstill. »Nun«, sagte er, »irgendwie dreht sich’s eigentlich gar nicht um die Profite. Der Kernpunkt liegt woanders. Ich meine, von dem, was sich da vor Ihrer aller Augen abspielt.« Verblüfft stellte er fest, daß die Zuhörer keinerlei Unterschied bemerkten, obwohl er doch vom vorbereiteten Text abgewichen war und jetzt völlig frei improvisierte und das sagte, was ihm gerade in den Sinn kam, ohne sich auf die Vorgaben der PR-Jungs drüben im Behördenzentrum des Orange County zu verlassen. Aber wieso sollten sie den Unterschied auch überhaupt entdecken? Was wußten sie denn von dem, was um sie herum vorging? Letztlich interessierte das alles sie doch gar nicht. Die Spießer, dachte er, die da unter dem Schutz bewaffneter Wächter in ihren riesigen, festungsgleichen Apartment-Komplexen leben, würden doch keine Sekunde zögern, das Feuer auf jeden Doper zu eröffnen, der mit einem leeren Kissenüberzug über der Schulter an ihren Mauern kratzt und versucht, ihr Piano und ihre elektrische Uhr und ihren Rasierapparat und ihr Stereogerät zu klauen – die sie ohnehin noch nicht abbezahlt haben –, damit er neuen Shit oder seinen nächsten Schuß kriegen kann. Denn wenn er den nicht kriegt, wird er möglicherweise sterben, einfach so, ka-wumm, weil er den Entzugsschock und die damit verbundenen Qualen nicht durchsteht. Aber was kümmert das einen, solange man in seiner privaten Festung sitzt und durch die Schießscharten nach draußen späht, die Mauern unter Starkstrom stehen und die Wächter genug Munition für ihre Kanonen haben? »Stellen Sie sich einmal vor«, sagte Fred, »Sie wären ein Diabetiker und hätten kein Geld mehr für den nächsten Schuß Insulin. Würden Sie dann stehlen, um an das Geld zu kommen? Oder würden Sie sich einfach hinlegen und sterben?« Schweigen. Im Kopfhörer seines Jedermann-Anzugs sagte eine blecherne Stimme: »Ich glaube, Sie sollten besser zum vorbereiteten Text zurückkehren, Fred. Ich möchte Ihnen das wirklich dringend raten.« Über sein Kehlkopfmikrophon sagte Fred (oder Robert Arctor?): »Ich hab’ den Text vergessen.« Nur sein Vorgesetzter im Hauptquartier, der nicht mit Mr. F. (alias Hank) identisch war, konnte diese Worte hören. Der anonyme Beamte am anderen Ende der Leitung war Fred nur für die Dauer dieser PR-Einsatzes zugeteilt worden. »Verstaaanden«, schepperte die blecherne Antreiberstimme in Freds Kopfhörer. »Ich werde Ihnen den Text vorlesen. Sprechen Sie ihn mir bitte Wort für Wort nach, aber achten Sie darauf, daß die entstehenden Pausen ganz natürlich wirken.« Ein kurzes Zögern, dann das Rascheln von Papier. »Wollen wir mal schauen … Jeden Tag steigen die Profite stärker an – und wohin sie gehen, werden wir –‹ Ungefähr da haben Sie aufgehört.« »Ich habe einen psychologischen Block gegen dieses Zeug«, sagte Arctor. »›– schon bald herausfinden‹«, sagte sein offizieller Souffleur, ohne auf Arctors Einwand zu achten, »›und dann wird die ganze Strenge des Gesetzes die Hintermänner treffen. Und wenn es soweit ist, möchte ich um keinen Preis der Welt in ihrer Haut stecken.‹« »Wissen Sie eigentlich, warum ich einen Block gegen dieses Zeug habe?« sagte Arctor. »Weil es genau das ist, was die Leute zur Droge treibt.« Und er dachte: Genau das ist der Grund dafür, daß man auf alles pfeift und ein Doper wird. Warum man einfach aufgibt und angewidert weggeht. Aber dann ließ er seinen Blick einmal mehr über das Auditorium schweifen und begriff, daß das alles auf diese Menschen dort unten nicht zutraf. Nur mit einer Rede wie der, die er eigentlich hatte halten wollen, konnte man sie überhaupt erreichen. Er sprach vor einer Versammlung von Ignoranten, die in emotionaler Hinsicht so debil waren, daß man ihnen alles so erklären mußte, wie es in der ersten Grundschulklasse üblich war: A steht für Apfel, und der Apfel ist rund. »T«, sagte er laut zu seinen Zuhörern, »steht für Substanz T. Und damit zugleich für Torheit und Trostlosigkeit und Trennung – Trennung deswegen, weil Substanz T dich von allen anderen Menschen, selbst von deinen besten Freunden, trennt und dich in einen Kosmos aus Isolation und Einsamkeit und Haß und Mißtrauen stößt. T«, fuhr er dann fort, »steht schließlich für Tod. Für Langsamen Tod, wie wir es nennen, wir –« Er stockte. »Wir, die Doper.« Seine Stimme schwankte und drohte zu versagen. »Vielleicht haben Sie das schon einmal gehört: Langsamer Tod. Vom Kopf an abwärts. Das wär’s dann wohl.« Er ging zu seinem Stuhl zurück und setzte sich schweigend. »Sie haben alles vermasselt«, sagte sein Vorgesetzter, der Souffleur. »Ich erwarte Sie in meinem Büro, wenn Sie zurückkommen. Zimmer 430. « »Ja«, sagte Arctor. »Ich hab’ alles vermasselt.« Die Zuhörer schauten ihn an, als hätte er vor ihren Augen auf die Bühne gepißt. Aber Arctor war sich nicht sicher, was diese Blicke eigentlich aussagten. Der Versammlungsleiter ging rasch zum Mikrophon. »Fred hat mich vor Beginn seines Vortrags darum gebeten, Sie darauf hinzuweisen, daß er nur ein kurzes, einführendes Statement abgeben wolle und an Stelle eines langen Referats lieber während der Diskussion ausführlicher auf Ihre Fragen eingehen möchte. Nun« – er hob die rechte Hand – »gibt es schon Fragen?« Plötzlich kam Arctor noch einmal ungeschickt auf die Füße. »Offenbar möchte Fred seine Ausführungen doch noch etwas ergänzen«, sagte der Versammlungsleiter und nickte Arctor zu. Während Arctor langsam gesenkten Kopfes zum Mikrophon zurückschlurfte, sagte er mit großer Präzision: »Nur eines noch. Geben Sie ihnen keinen Tritt in den Arsch, wenn sie erst einmal an der Nadel hängen. Die User, die Süchtigen. Die Hälfte von Ihnen, sogar fast alle, besonders die Mädchen, wußten nicht, worauf sie sich da einließen oder daß sie sich da überhaupt auf etwas einließen, von dem man nicht mehr loskommt. Versuchen Sie lieber, diese Menschen, uns alle, von der Nadel fernzuhalten.« Er blickte kurz auf. »Verstehen Sie, die lösen ein paar Tabletten in einem Glas Wein auf – die Händler, meine ich –, und dann geben sie den Fusel einem Mädchen, das fast noch ein Kind ist, und in dem Glas sind acht oder zehn Tabletten, und die Kleine wird bewußtlos. Und dann spritzen sie ihr einen Mex-Hit, zur Hälfte Heroin und zur Hälfte Substanz T –« Er brach ab. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit«, sagte er. Ein Mann meldete sich zu Wort. »Wie können wir sie aufhalten, Sir?« »Töten Sie die Pusher«, sagte Arctor und ging zurück zu seinem Stuhl. * Bob Arctor war nicht danach zumute, auf dem schnellsten Wege ins Behördenzentrum zurückzukehren und sich in Raum 430 zu melden. Darum spazierte er langsam eine der Haupteinkaufsstraßen von Anaheim hinunter und schaute sich die McDonaldburger-Stände und die Wagenwaschanlagen und die Tankstellen und die Pizzerien und all die anderen amerikanischen Wunder an. Immer, wenn er so wie jetzt ziellos dahinschlenderte und ihm dabei Leute aus allen Bevölkerungsschichten begegneten, verspürte er ein seltsames Gefühl – ein Unbehagen, das irgendwie mit seiner Identität zusammenhing. Wie er zu den Typen vom Lyons-Club gesagt hatte, sah er wie ein Doper aus, wenn er den Jedermann-Anzug ablegte; er sprach wie ein Doper, und die Menschen rund um ihn hielten ihn natürlich auch für einen Doper und reagierten dementsprechend. Andere Doper zum Beispiel – Schau mal einer an, dachte er, »andere« – warfen ihm einen »Friede, Bruder«-Blick zu, und die Spießer taten das nicht. Zieh dir eine Bischofssoutane an und setz dir eine Mitra auf, dachte er, und spaziere darin herum, und die Leute werden ehrfürchtig das Haupt neigen, die Knie beugen und versuchen, deinen Ring zu küssen – wenn nicht sogar deinen Arsch. Und plötzlich bist du ein Bischof. Sozusagen jedenfalls. Was ist das eigentlich: Identität? fragte er sich. Wo endet die Vorstellung, die man gibt, die Rolle, die man spielt? Wahrscheinlich weiß keiner das. Die schlimmsten Identitätskrisen machte Bob Arctor immer dann durch, wenn er wieder einmal von Dem Mann angeschissen wurde. Wenn die Bullen – ganz gleich, ob es nun gewöhnliche Beamte in Uniform, Angehörige von Spezialtruppen in paramilitärischen Kampf­anzügen oder irgendwelche andere Polypen waren – mit ihrem Streifenwagen dicht am Randstein neben ihm herfuhren, dabei die Geschwindigkeit ihrer Fahrzeuge langsam seinem Schlenderschritt anpaßten, ihn durch die Seitenfenster mit gespannten, scharfen, metallischen, leeren Blicken prüfend anstarrten und dann manchmal, offensichtlich aus einer bloßen Laune heraus, anhielten und ihn zu sich winkten. »Okay, zeig uns mal deinen Ausweis«, sagte der betreffende Bulle dann stets und streckte ihm fordernd die Hand durch das heruntergekurbelte Fenster entgegen; und dann, während Fred-Arctor-wer-auch-immer in seiner Brieftasche herumfummelte, pflegte der Bulle ihn anzuschreien: »Schon mal VERHAFTET worden?« Und um das Ritual ein wenig zu variieren, mochte er vielleicht noch hinzufügen: »ZUVOR?« Ganz so, als ob Arctor im nächsten Augenblick ins Loch wandern würde. »Was liegt denn an?« sagte Arctor dann für gewöhnlich, falls er überhaupt etwas sagte. Natürlich versammelte sich wie von selbst eine Menschenmenge am Ort des Geschehens. Die meisten der Zuschauer nahmen wohl an, der arme Kerl sei beim Dealen an der Straßenecke erwischt worden. Sie grinsten nervös und warteten ab, was wohl weiter geschehen würde. Einige von ihnen – in der Regel Chicanos oder Schwarze oder Typen, denen man auf den ersten Blick ansah, daß sie selber zur Scene gehörten – verfolgten das Geschehen allerdings eher wütend. Aber jene, die wütend aussahen, kapierten schon nach kurzer Zeit, daß sie wütend aussahen und beeilten sich tunlichst, einen eher unbeteiligten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Weil es nämlich ein offenes Geheimnis war, daß jeder, der in Anwesenheit von Bullen wütend oder unbehaglich dreinblickte – was nun davon, war egal –, offenbar etwas zu verbergen hatte. Wenn man den Gerüchten, die so im Umlauf waren, Glauben schenken wollte, dann wußten das gerade auch die Bullen und nahmen sich ausgerechnet diese armen Teufel als nächste vor. Heute jedoch belästigte niemand Bob Arctor. Eine Menge Scenerypen liefen hier herum; er war nur einer unter vielen. Was bin ich eigentlich? fragte er sich. Er sehnte sich einen Augenblick lang nach seinem Jedermann-Anzug. Dann, dachte er, könnte ich als vager Fleck weitergehen, und die Passanten, das ganze Volk, würden applaudieren. Bühne frei für den vagen Fleck! dachte er und spulte die ganze Szene im Lyons-Club noch einmal in seinem Kopf ab. Was für eine Art, Anerkennung zu finden! Wie konnten sie sich zum Beispiel eigentlich sicher sein, daß er der richtige vage Fleck war und nicht ein anderer? Es könnte jemand anderes als Fred darinstecken, oder ein anderer Fred, und sie würden das nie erfahren, nicht einmal dann, wenn Fred den Mund aufmachte und redete. Sie würden es nicht einmal dann wirklich wissen. Sie würden es nie wissen. Beispielsweise könnte der Träger des Jedermann-Anzuges Al sein, der nur vorgab, Fred zu sein. Jeder Beliebige könnte darin stecken, ja, der Anzug könnte sogar leer sein. Vom Orange County-Polizei­hauptquartier könnten sie per Funk eine Stimme in den Jedermann-Anzug senden, könnten ihm vom Büro des Sheriffs aus auf diese Weise Leben einhauchen. Fred könnte jeder x-beliebige sein, der zufällig an diesem Tag an seinem Schreibtisch sitzt und zufällig das Drehbuch und das Mikro findet; eine Einzelperson oder eine ganze Verschwörung von Typen an ihren Schreibtischen. Aber ich nehme an, daß dank der Schlußworte meiner Ansprache diese Möglichkeit wohl doch nicht in Betracht kommt. Die Jungs drüben im Büro wollen ja gerade darüber mit mir sprechen. Da er nicht besonders scharf auf diese Aussprache war, trödelte er weiter herum, um so das Treffen hinauszuschieben. Sein zielloses Herumwandern führte ihn nirgendwohin und zugleich doch überallhin. In Kalifornien machte es ohnehin keinen Unterschied, wohin man ging; überall stieß man auf denselben McDonaldburger-Stand, wieder und wieder, wie bei einer gemalten, kreisförmigen Kulisse, die an einem vorbeiläuft, während man vorgibt, irgendwohin zu gehen. Und wenn man schließlich Hunger bekam, und an den McDonaldburger-Stand trat und einen Hamburger von McDonald’s kaufte, war es genau derselbe, den sie einem schon beim letzten Mal verkauft hatten und beim Mal davor und immer so weiter, bis zurück in jene Zeit, bevor man geboren worden war. Und um das Maß voll zu machen, behaupteten böse Zungen auch noch, daß er aus Truthahnmägen bestand. Was natürlich nur eine ganz üble Lüge sein konnte. Wenn man den Reklameschildern glauben schenken wollte, dann hatten sie denselben Original-Hamburger mittlerweile fünfzig Milliarden Mal verkauft. Vielleicht sogar immer an denselben Kunden? Das Leben in Anaheim, Kalifornien, war ein einziger, verselbständigter Werbespot, der endlos wiederholt wurde. Nichts änderte sich; alles breitete sich nur weiter und weiter in Form von Neonschleim aus. Das, was diese Stadt in immer größeren Mengen überschwemmte, schien schon vor langer Zeit unabänderlich festgelegt worden zu sein; es war, als ob sich die automatische Fabrik, die diese Objekte ausspuckte, nicht mehr abschalten ließe, nachdem man einmal auf den Startknopf gedrückt hatte. Der .Aus-Schalter war blockiert. Wie aus dem Land Plastik wurde, dachte Arctor und erinnerte sich an das alte Märchen »Wie aus dem Meer Salz wurde«. Eines Tages, dachte er, wird es gesetzlich vorgeschrieben sein, daß wir alle den McDonalds-Hamburger sowohl kaufen als auch wieder verkaufen müssen; wir werden ihn in alle Ewigkeit von unseren Wohnzimmern aus hin und her verkaufen. Auf diese Weise werden wir nicht einmal mehr nach draußen gehen müssen! Arctor schaute auf die Uhr. Halb drei: Zeit, sich ans Telefon zu hängen und sich um Nachschub zu kümmern. Donna hatte ihm gesagt, daß er über sie einen guten Deal machen könne – schätzungsweise tausend Tabletten mit Substanz T, verschnitten mit Meth. Sobald er den Stoff hatte, würde er ihn natürlich an das Amt für Drogenmißbrauch des County weiterleiten, damit die Tabletten analysiert und dann vernichtet werden konnten – oder was immer sie damit vorhaben mochten. Sie vielleicht selber einpfeifen, wie das jedenfalls ein Gerücht behauptete. Oder sie wieder verkaufen. Aber Arctor kaufte nicht von Donna, um sie wegen Dealens hochgehen zu lassen; er hatte schon viele Male bei ihr Stoff gekauft und sie nie festgenommen. Darum ging es ihm gar nicht. Warum sollte man auch einen Gelegenheits-Dealer hopsnehmen, eine Puppe, die es cool und in fand, mit Drogen zu handeln? Die Hälfte aller Rauschgift-Agenten im Orange County wußten, daß Donna dealte, und kannten sie vom Sehen. Donna dealte manchmal auf dem Parkplatz des 7-11-Ladens, direkt vor der automatischen Holo-Kamera, die die Polizei dort installiert hatte, und sie war bisher immer damit durchgekommen. Irgendwie konnte Donna nie auf die Schnauze fliegen, ganz egal, was sie tat und wer auch immer sie dabei beobachten mochte. Arctors sämtliche Drogenkäufe bei Donna dienten letztlich alle nur einem übergeordneten Ziel: nämlich dem, über Donna die Spur zu dem Nachschublieferanten aufzunehmen, von dem sie ihren Stoff bezog. Eben darum nahmen die Mengen, die er von ihr kaufte, immer mehr zu. Anfangs hatte er sie nur mal beschwatzt – wenn das das richtige Wort dafür war –, ihm mit zehn Tabletten auszuhelfen. Nur ein persönlicher Gefallen, so von Freund zu Freund … Später dann hatte er, sozusagen als Wiedergutmachung, ein Päckchen mit hundert Tabletten gekauft, und schließlich sogar gleich drei Päckchen auf einmal. Jetzt konnte er, wenn er Glück hatte, tausend Tabletten auf einen Schlag herausholen, was zehn Päckchen entsprach. Und bald würde er dazu übergehen, regelmäßig in solchen Mengen zu kaufen, daß Donna finanziell nicht mehr mithalten konnte; sie würde ihrem Nachschublieferanten nicht mehr so viel Geld vorschießen können, daß dieser sich noch auf das Geschäft einzulassen wagte. Deshalb würde sie in der Klemme sitzen, statt einen großen Profit zu machen. Natürlich würden sie feilschen; Donna würde darauf bestehen, daß Arctor wenigstens einen Teil des Geldes im voraus bezahlte; er aber würde ablehnen. Sie wiederum würde die Summe allein aus ihren Mitteln nicht aufbringen können, und die Zeit würde knapp werden – selbst bei einem so kleinen Deal würde das große Zittern beginnen. Alle Beteiligten würden ungeduldig werden; Donnas Nachschublieferant – wer immer das auch sein mochte – würde wie auf heißen Kohlen sitzen, seine Ware nicht loswerden können und langsam ausflippen, weil Donna nichts von sich hören ließ. Wenn alles nach Plan verlief, würde Donna schließlich aufgeben und zu Arctor und ihrem Lieferanten sagen: »Wißt ihr was? Ihr beide dealt besser direkt miteinander. Ich kenne euch beide; ihr seid beide coole Typen, für die ich die Hand ins Feuer legen würde. Ich werde einen Ort und eine Zeit festlegen, und ihr zwei könnt selber Kontakt miteinander aufnehmen. So, Bob, von jetzt an kannst du direkt kaufen, wenn du weiterhin in solchen Mengen kaufen willst.« Denn wer wie Bob Arctor so viel Stoff brauchte, wollte mit Sicherheit selbst als Profi-Dealer ins Geschäft einsteigen; die Mengen, um die es jetzt ging, näherten sich bereits dem Einkaufsvolumen der richtigen großen Dealer. Donna würde vermuten, daß Arctor den Stoff, den er von ihr bezog, mit Gewinn weiterverkaufte, da er nun immer mindestens tausend auf einmal haben wollte. Auf diese Weise konnte Arctor die nächste Sprosse der Leiter erklettern und zum nächsten Hintermann vorstoßen. War er erst einmal selbst ein Dealer wie dieser, mochte er später vielleicht noch eine Stufe höher kommen, und dann noch eine, je nachdem, wie die Mengen, die er kaufte, wuchsen. Schließlich – und darauf lief die ganze Aktion am Ende hinaus – würde Arctor jemanden treffen, der eine so große Nummer war, daß es sich wirklich lohnte, ihn auffliegen zu lassen. Jemanden, der so dick drin war, daß er entweder selbst Kontakt zu den Herstellern hatte oder aber wenigstens Leute kannte, die den Stoff direkt vom Hersteller bezogen – Leute also, die selbst die Quelle kannten. Im Gegensatz zu anderen Drogen stammte Substanz T offensichtlich nur aus einer einzigen Quelle. Substanz T war nämlich kein organisches Rauschgift, sondern wurde synthetisch hergestellt; deshalb mußte es aus einem Labor stammen. Die Substanz T-Synthese war in zahlreichen Experimenten unter strenger behördlicher Kontrolle nach vollzogen worden. Dabei hatte man herausgefunden, daß die wesentlichen Bestandteile selbst Derivate komplexer Substanzen waren, und diese wiederum waren fast ebenso schwer zu synthetisieren. Theoretisch konnte sie zwar jeder herstellen, der die Formel kannte und zudem über hinreichende finanzielle und technologische Mittel verfügte, eine geeignete Fabrik einzurichten; in der Praxis jedoch waren die Kosten dafür astronomisch. Auch jene, die Substanz T entwickelt hatten und sie herstellten, verkauften die Droge eigentlich viel zu billig, als daß es sich für sie hätte lohnen können. Und die Verbreitung deutete darauf hin, daß es, selbst wenn nur eine Quelle existierte, ein weitverzweigtes Netz von Endfabrikationsstätten und Auslieferungsstellen geben mußte. Vielleicht befanden sich eine Reihe von Laboratorien in mehreren Schlüsselgebieten, etwa in der Nähe eines jeden größeren städtischen Drogenzentrums in Nordamerika und Europa. Warum man bisher keines dieser Laboratorien hatte entdecken können, blieb ein Rätsel. Allerdings lag die Vermutung nahe, daß die ST-Agentur – wie die Behörden die Organisation, die sich mit der Herstellung und dem Vertrieb von Substanz T beschäftigte, mittlerweile einfach nannte – sowohl auf örtlicher als auch auf nationaler Ebene über vorzügliche Verbindungen zu den Spitzen der höchsten Polizeibehörden verfügte – eine Tatsache, über die die Öffentlichkeit lautstark und die offiziellen Stellen etwas verklausulierter lamentierten. Zudem munkelte man, daß allzu neugierige Schnüffler, die rauchbare Fakten über die Operationen der ST-Agentur in Erfahrung brachten, entweder bald wieder die Finger von diesem heißen Eisen ließen oder aber sang- und klanglos von der Bildfläche verschwanden und nie wieder auftauchten. Arctor hatte natürlich im Moment neben Donna noch verschiedene andere Ansatzpunkte. Er drängte auch andere Dealer dauernd dazu, ihm immer größere Mengen Stoff zu besorgen. Aber weil Donna seine Puppe war – er machte sich jedenfalls Hoffnungen in dieser Richtung –, stellte sie für ihn den brauchbarsten Ansatzpunkt dar. Donna zu besuchen, mit ihr zu telefonieren, sie auszuführen oder sie flachzulegen – das war gleichzeitig auch ein persönliches Vergnügen. Indem er sich besonders auf sie konzentrierte, wählte er in gewisser Weise den Weg des geringsten Widerstandes. Wenn man schon jemanden bespitzeln und über ihn berichten mußte, dann konnten das schließlich ebensogut Leute sein, mit denen man ohnehin öfters zusammen war; das war weniger verdächtig und außerdem auch weniger umständlich. Und wenn man diese Leute noch nicht oft getroffen hatte, bevor man mit der Überwachung begann, würde man von da an sowieso intensiver mit ihnen in Kontakt treten müssen. Am Ende lief es auf das gleiche hinaus. Fred-Arctor betrat eine Telefonzelle und wählte durch. Klingelingeling. »Hallo«, sagte Donna. Alle Münzfernsprecher in der ganzen Welt waren angezapft. Und wenn irgend einer doch mal nicht angezapft war, mochten die Monteure bloß noch nicht bis dorthin vorgestoßen sein. Die abgehörten Gespräche wurden an einem zentralen Ort elektronisch gespeichert. Ungefähr jeden zweiten Tag erhielt ein Polizeibeamter einen Speicherausdruck und konnte sich nun einen Überblick über alle abgehörten Telefongespräche verschaffen, ohne überhaupt sein Büro verlassen zu müssen. Er wählte nur die Speichertrommeln an, und auf sein Signal hin spulten sie die verlangten Anrufe ab, wobei sie alle Leerstellen auf den Bändern ausließen. Die meisten Anrufe waren harmlos. Der Polizeibeamte konnte jedoch die, die nicht so harmlos waren, ziemlich schnell identifizieren. Das war seine besondere Fähigkeit. Dafür wurde er bezahlt. Und einige Beamte konnten das halt besser als ihre Kollegen. Als Arctor und Donna jetzt miteinander sprachen, hörte niemand simultan mit. Der elektronische Mitschnitt würde frühestens am nächsten Tag zur Überprüfung abgespult werden. Wenn sie etwas eindeutig Illegales besprachen und der Überwachungsbeamte das bemerkte, würde man von ihnen Stimmabdrücke machen. Alles, was Arctor und Donna also tun mußten, war, das Gespräch so unverfänglich wie möglich zu halten. Aber auch dieser Dialog konnte immer noch als Rauschgift-Deal erkennbar sein. Hier kam ihnen aber ein gewisses regierungstypischen Effektivitätsdenken zugute: Für die Behörden lohnte es sich einfach nicht, die ganze komplizierte Prozedur mit den Stimmabdrücken und den anschließenden Nachforschungen durchzuziehen, wenn es nur um kleine Delikte ging. Davon gab es viel zu viele, die an jedem Wochentag über viel zu viele Telefone besprochen wurden. Donna und Bob Arctor wußten das natürlich. »Wie geht’s?« erkundigte er sich. »So la la.« Ein kurzes Zögern in ihrer warmen, rauhen Stimme. »Was macht dein Kopf heute?« »Totale Wirrnis. Bin irgendwie down.« Pause. »Mein Boß hat mich heute morgen im Laden angefurzt.« Donna arbeitete an der Kasse einer kleinen Parfumerie in Gateside Mall in Costa Mesa. Sie fuhr jeden Morgen mit ihrem MG hin. »Stell dir mal vor, was er von mir wollte. Da war so ein Kunde, ein abgehalfteter Opa, einer von diesen Typen mit den grauen Schläfen, du kennst die Sorte ja, und der hat uns um zehn Eier beschissen. Und weißt du, was mein Chef gesagt hat? Das wär’ nur mein Fehler gewesen, und ich müßte den Schaden natürlich ersetzen. Na, jedenfalls werden mir die zehn Kröten jetzt vom Gehalt abgezogen. Und auf diese Weise bin ich zehn Kröten los, ohne überhaupt einen Scheißfehler – ‘tschuldige – gemacht zuhaben.« Arctor sagte: »Hey, kann ich was von dir kriegen?« Sie klang jetzt mürrisch. Als ob sie nicht wollte. Aber das war nur einer der kleinen, in diesem Geschäft üblichen Bluffs. »Wie viele – willst du? Hör mal, eigentlich –« »Zehn«, sagte er. So, wie sie es vereinbart hatten. Eins stand für einhundert; er forderte jetzt also tausend an. Wenn solche Geschäfte über öffentliche Kommunikationseinrichtungen abgewickelt wurden, hatte es sich als praktisch erwiesen, die wirklich großen Transaktionen als alltägliche Mini-Deals zu tarnen. Bei so geringen Mengen wie denen, von denen hier die Rede war, konnte man sogar einen Deal nach dem anderen abziehen, ohne daß sich die Behörden darum gekümmert hätten; falls die Behörden auf jeden kleinen Deal reagieren wollten, würden die Drogenfahnder pausenlos Tag und Nacht unterwegs sein müssen, um Apartments und Häuser, ja sogar ganze Straßenzüge zu durchsuchen – und dabei doch so gut wie nichts erreichen. »Zehn«, murmelte Donna gereizt. »Mensch, mir geht der Arsch wirklich langsam auf Grundeis«, sagte Arctor wie ein mieser kleiner Süchtiger. Nicht wie ein Dealer. »Ich werd’s dir später zurückzahlen, wenn ich mir wieder was beschafft hab. « »Nein«, sagte sie hölzern. »Ich geb’ sie dir gratis. Zehn.« Zweifellos dachte sie jetzt intensiv darüber nach, ob er wohl wirklich selber dealte. Vielleicht tat er’s. »Zehn. Okay, warum nicht? Sagen wir … in drei Tagen?« »Nicht früher?« »Die sind –« »Okay«, sagte er. »Ich schau’ bei dir rein.« »Um wieviel Uhr?« Sie rechnete nach. »Sagen wir, gegen acht Uhr abends. Hey, ich muß dir unbedingt ein Buch zeigen, das ich neu hab’. Jemand hat’s im Laden vergessen. Es ist echt irre. Hat was mit Wölfen zu tun. Weißt du, was Wölfe manchmal machen? Der Wolfsrüde? Wenn er seinen Gegner besiegt hat, macht er ihn nicht alle – er pißt einfach auf ihn drauf. Echt! Er steht da und pißt auf den besiegten Gegner und haut dann ab. Das ist alles. Hauptsächlich kämpfen sie um ihre Territorien. Und um das Recht, zu bumsen, weißt du.« Arctor sagte: »Ich hab’ kürzlich auch’n paar Leute angepißt.« »Ehrlich? Wie denn das?« »Metaphorisch. « »Nicht so, wie man’s sonst macht?« »Ich meine«, sagte er, »ich hab’ ihnen gesagt –« Er unterbrach sich mitten im Satz. Er quatschte mal wieder zuviel, und außerdem war er hier Bob Arctor und nicht Fred. Herr im Himmel, dachte er. »Diese blöden Macker«, sagte er, »diese Motorradfreaks, du weißt schon. Die immer drüben beim Foster’s Freeze rumhängen. Ich schlendere da also nichtsahnend vorbei, und einer von den Typen schiebt ‘ne blöde Bemerkung raus. Da bin ich eben stehengeblieben und hab’ ihnen gesagt –« »Du kannst es mir ruhig verraten«, sagte Donna, »selbst wenn’s superunanständig ist. Man muß diesen Motorradfreaks schon was Superunanständiges vor den Latz knallen, sonst checken die’s sowieso nicht.« Arctor sagte: »Ich hab’ ihnen erzählt, ich würd’ lieber auf ‘ne Schnalle klettern als auf einen Riemen. Jederzeit sogar.« »Du, den Witz hab’ ich jetzt aber nicht so ganz mitgekriegt. « »Na, ‘ne Schnalle ist ‘ne Puppe, und ‘n Riemen –« »Oh yeah. Hab’ schon kapiert. Würg kotz.« »Wir treffen uns dann bei mir zu Hause, wie verabredet«, schloß Arctor. »Tschüss.« Er wollte auflegen. »Kann ich dir dieses Buch über die Wölfe mitbringen und dir mal zeigen? Es ist von Konrad Lorenz. Auf dem Klappentext steht, daß er die bedeutendste Autorität für Wölfe auf der ganzen Welt war. Ach ja, und noch was. Deine Kumpel sind heute zu mir in den Laden gekommen, Ernie Wie-heißt-er-doch-gleich und dieser Barris. Sie haben dich gesucht, weil du –« »Was wollten sie denn?« »Dein Cephalochromoskop, für das du neunhundert Dollar hingeblättert hast und das du immer anschaltest und laufen läßt, wenn du nach Hause kommst – Ernie und Barris haben die ganze Zeit nur davon gelabert. Sie haben versucht, es heute zu benutzen, aber es wollte einfach nicht funktionieren. Keine Farben und keine Ceph-Muster, nichts. Darum haben sie Barris’ Werkzeugkasten geholt und die Bodenplatte abgeschraubt.« »Sag mal, ich hör’ wohl nicht recht?« sagte er aufgebracht. »Und sie haben erzählt, daß irgendwer es vermackelt hat. Regelrecht sabotiert. Zerschnittene Kabel und all so ‘n Zeug – das totale Chaos. Kurzschlüsse und kaputtgeschlagene Teile. Barris sagte, er hätte versucht –« »Ich geh’ sofort heim«, sagte Arctor und legte auf. Mein bestes Stück, dachte er bitter. Und dieser Idiot Barris pfuscht auch noch daran herum. Aber ich kann ja jetzt gar nicht so einfach nach Hause gehen, fiel ihm plötzlich ein. Ich muß hinüber zum Neuen Pfad, um herauszufinden, was da eigentlich läuft. Das war nun einmal seine Aufgabe. Und der konnte er sich nicht entziehen. III Auch Charles Freck hatte schon daran gedacht, sich der Obhut des Neuen Pfades anzuvertrauen. Jerry Fabins Ausflippen hatte ihn ganz schön fertiggemacht. Freck saß mit Jim Barris in Fiddlers Kaffeestube Nummer Drei in Santa Ana und spielte mürrisch mit seinem zuckerglasierten Doughnut herum. »Das ist wirklich eine schwierige Entscheidung«, sagte er. »Die lassen dich doch voll auf Cold Turkey gehen. Sie bleiben nur Tag und Nacht bei dir und passen auf, daß du dich nicht selbst allemachst oder dir den Arm abbeißt, aber sie geben dir nie was. Ich meine, was ein Doktor verschreiben würde. Valium zum Beispiel.« Kichernd inspizierte Barris sein Sandwich, das auf der Speisekarte unter dem hübschen Namen Patty Melt – Schmelzpastetchen – firmierte und aus zerlaufenem Käseimitat und einem steinharten Klumpen Syntho-Rind­fleisch auf speziellem organischen Brot bestand. »Was für eine Brotsorte ist das?« fragte er. »Schau auf die Speisekarte«, sagte Charles Freck. »Da steht’s.« »Wenn du reingehst«, sagte Barris, »werden sich bei dir eine Reihe von Symptomen einstellen, die aus Abwehrreaktionen bestimmter basischer Körperflüssigkeiten – besonders jener, die im Gehirn lokalisiert sind – herrühren. Damit meine ich natürlich die Katecholamine wie etwa Noradrenalin und Seratonin. Sieh mal, das funktioniert so: Substanz T – eigentlich alle suchtbildenden Rauschgifte, aber Substanz T steht da an erster Stelle – interagiert mit den Katecholaminen, und zwar auf subzellularer Ebene, so daß es zu einer biostrukturellen Anpassung der Katecholamine an Substanz T und damit schlußendlich zu einer Abhängigkeit kommt, die sich im Prinzip nie mehr rückgängig machen läßt.« Er nahm einen großen Bissen von der rechten Hälfte seines Patty Melt. »Früher glaubten die Wissenschaftler, daß so etwas nur bei den Alkaloid-Narkotika wie etwa Heroin eintreten könne.« »Ich hab’ mir nie Smack geschossen. Das bringt dich echt runter.« Die Kellnerin, aufregend und hübsch anzuschauen in ihrer Uniform, kam herüber zu ihrem Tisch. Ihre Titten wippten keck bei jedem Schritt. »Hi«, sagte sie. »Alles in Ordnung?« Charles Freck blickte erschrocken auf. »Heißt du Patty?« fragte Barris sie und gab gleichzeitig Freck ein Zeichen, daß alles cool sei. »Nein.« Sie wies auf das Namensschild auf ihrer rechten Titte. »Beth.« Ich möchte zu gerne wissen, wie die linke heißt, dachte Charles Freck. »Die Kellnerin, die uns beim letzten Mal bedient hat, hieß Patty«, sagte Barris und musterte die Kellnerin mit einem unanständigen Blick. »Genauso wie das Sandwich.« »Die kann wohl kaum was mit dem Sandwich zu tun gehabt haben. Ich glaube, sie schreibt sich mit einem i.« »Mensch, ich finde heute alles super dufte«, sagte Barris. Über seinem Kopf konnte Charles Freck eine Denkblase sehen, in der Beth zuerst einen aufreizenden Striptease aufs Parkett legte und dann lüstern ihr Becken kreisen ließ. Ihr Bär schien ihnen geradezu zuzuwinken. »Hat sich was mit super dufte«, sagte Charles Freck. »Ich hab’ ‘ne Menge Probleme, die außer mir niemand hat.« Mit schwermütiger Stimme sagte Barris: »Du würdest gar nicht glauben, wie viele Leute die gleichen Probleme haben wie du. Und es werden mit jedem Tag mehr. Unsere Welt ist krank, und es wird immer schlimmer mit ihr.« Die Bilder in der Denkblase über seinem Kopf wurden ebenfalls immer schlimmer. »Möchten Sie nicht vielleicht ein Dessert bestellen?« fragte Beth und lächelte auf die beiden hinab. »Was gibt’s denn?« erkundigte sich Charles Freck mißtrauisch. »Wir haben frischen Pflaumenkuchen und frische Pfirsichtörtchen«, sagte Beth lächelnd. »Die machen wir hier selbst.« »Nein, wir möchten keinen Nachtisch«, sagte Charles Freck. Die Kellnerin ging wieder. »Das ist was für alte Omas«, sagte er zu Barris, »diese Obstkuchen.« »Der Gedanke, dich freiwillig zur Entziehung zu melden«, sagte Barris, »macht dich sicher kribbelig. Du hast eine panische Angst davor, daß dich dort nur endlose negative Symptome erwarten. Das ist die Einflüsterung der Droge, die sich meldet, um dich vom Neuen Pfad fernzuhalten, und dich daran hindern will, dich von ihr zu lösen. Du siehst, alle Symptome haben eine Bedeutung, ganz gleich, ob sie nun positiv oder negativ sind.« »Echt?« murmelte Charles Freck. »Die negativen Symptome manifestieren sich als blanke Gier, die gezielt vom gesamten Körper erzeugt wird, um den Besitzer dieses Körpers – in diesem Falle also dich – dazu zu zwingen, verzweifelt –« »Wenn du zum Neuen Pfad kommst«, sagte Charles Freck, »schneiden sie dir als erstes den Pimmel ab. Eine pädagogische Maßnahme zur Einstimmung auf dein zukünftiges Leben. Und dann machen sie in dem Stil weiter.« »Als nächstes kommt die Galle dran«, sagte Barris. »Wieso denn das? Was macht so eine Galle eigentlich?« »Hilft dir dabei, dein Essen zu verdauen.« »Und wie?« »Indem sie die Zellulose daraus entfernt.« »Und danach kriegt man vermutlich –« »Genau. Nur noch Nahrungsmittel ohne Zellulosegehalt. Keine Blätter und kein Häcksel mehr.« »Und wie lange kann man auf die Art am Leben bleiben?« Barris sagte: »Das kommt auf deine körperliche Konstitution an.« »Wie viele Gallen hat der Durchschnittsmensch?« Freck wußte, daß jeder Mensch für gewöhnlich zwei Nieren hatte. »Scheint ganz vom Alter abzuhängen. Ich vermute, daß ihre Anzahl mit der Zeit zunimmt.« »Wieso?« In Charles Freck keimte ein schlimmer Verdacht. »Tja, je älter die meisten Menschen werden, desto verbitterter werden sie auch. Wenn einer erst mal achtzig ist –« »Sag mal, du willst mich wohl verarschen?« Barris lachte. Charles Freck hatte Barris’ Lachen schon immer seltsam gefunden. Ein unwirkliches Lachen, dachte er, ganz so, als ob etwas zerbricht. »Wieso hast du dich eigentlich so plötzlich entschlossen«, sagte Barris übergangslos, »dich freiwillig zu einer stationären Behandlung in ein Zentrum für Drogenrehabilitation zu begeben?« »Jerry Fabin«, sagte Freck. Barris winkte mit der Hand ab und sagte: »Jerry war ein besonderer Fall. Ich hab’ einmal beobachtet, wie Jerry Fabin herumtorkelte und dann hinfiel und sich von oben bis unten vollschiß. Er wußte nicht mehr, wo er war, und er versuchte, mich dazu zu kriegen, nachzuschauen und herauszufinden, welches Gift er erwischt hatte; höchstwahrscheinlich Thaliumsulfat … das wird in Insektiziden verwendet und bei der Rattenbekämpfung. Muß ein Racheakt gewesen sein – jemand wollte ihm was heimzahlen. Ich kenne mindestens zehn verschiedene Toxide und Gifte, die diese Wirkung –« »Es gibt noch einen anderen Grund«, sagte Charles Freck. »Mein Vorrat geht schon wieder zur Neige, und ich kann’s nicht mehr aushalten, ewig auf dem letzten Loch zu pfeifen und nicht zu wissen, wie ich jemals wieder neuen Stoff in die Finger kriegen soll. Scheißdreck.« »Tja, wer kann schon sicher sein, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben?« »Ach Scheiße – ich bin jetzt so abgebrannt, daß es praktisch nur noch eine Sache von Tagen ist. Und außerdem … ich glaube, daß ich dauernd beklaut werde. Ich kann die Dinger doch nicht soooo schnell nehmen; irgend ein Scheißer muß sich hinter meinem Rücken von meinem Stash bedienen.« »Wie viele Tabletten pfeifst du eigentlich jetzt jeden Tag ein?« »Schwer zu sagen. Aber jedenfalls nicht soooo viele.« »Du weißt, daß sich ein Gewöhnungseffekt einstellt und man hinterher immer mehr braucht.« »Sicher, richtig, aber doch nicht in einem solchen Ausmaß. Ich kann das nicht mehr ertragen, dieses ewige auf dem trockenen sitzen und all das. Andererseits …« Er überlegte einen Augenblick lang. »Ich glaube, ich hab’ da ‘ne neue Quelle. Diese Puppe, Donna. Donna Irgendwas.« »Ach, Bobs Mädchen.« »Seine Alte«, sagte Charles Freck nickend. »Nein, er hat’s noch nie geschafft, ihr zwischen die Beine zu kommen. Er versucht’s nur immer wieder …« »Ist sie zuverlässig?« »In welcher Hinsicht? Beim Ficken oder –« Barris führte zur Verdeutlichung die Hand zum Mund und schluckte. »Was für ‘ne Art von Sex is’n das?« Dann dämmerte es Freck. »Oh, yeah, letzteres.« »Ziemlich zuverlässig. Vielleicht ein bißchen flatterhaft. Wie man das halt bei einer Puppe erwarten kann, besonders bei denen, die nicht so helle sind. Die hat ihr Gehirn zwischen den Beinen, wie die meisten. Vielleicht bewahrt sie da auch ihren Stash auf.« Er kicherte. »Und dazu vielleicht auch noch den ganzen Stoff, mit dem sie dealt, wer weiß?« Charles beugte sich zu ihm hinüber. »Arctor hat Donna nie gebumst? Er redet aber über sie, als hätt’ er’s getan.« Barris sagte: »Das ist typisch Bob Arctor. Der redet viel, wenn der Tag lang ist. Aber da stimmt nichts von, überhaupt nichts.« »Woran liegt’s, daß er sie nie flachgelegt hat? Kriegt er keinen hoch?« Barris dachte angestrengt nach, wobei er immer noch mit seinem Patty Melt herumspielte; er hatte ihn mittlerweile in kleine Stücke gerissen. »Donna hat Probleme. Vielleicht schießt sie Junk. Sie hat eine Aversion gegen jede Art von körperlichem Kontakt – du weißt doch bestimmt, daß Junkies das Interesse am Sex verlieren, weil ihre Sexualorgane durch Gefäßverengung anschwellen. Und bei Donna zeigt sich, wie ich beobachten konnte, ein widernatürlicher Mangel an sexueller Erregbarkeit. Und das nicht nur, wenn sie mit Arctor zusammen ist, sondern auch …« Er unterbrach sich verdrießlich. »Auch mit anderen Männern.« »Scheiße, du meinst einfach, daß es bei ihr nicht richtig losgeht?« »Oh, sie würde schon auf Touren kommen«, sagte Barris, »wenn man sie richtig anheizen würde. Zum Beispiel …« Er blickte Freck mit einem geheimnisvollen Augenaufschlag an. »Ich kann dir zeigen, wie man sie für 98 Cent dazu kriegen kann, die Beine breit zu machen.« »Ich will sie gar nicht flachlegen. Ich will nur bei ihr kaufen.« Freck fühlte sich unbehaglich. Barris hatte eine Art an sich, die ihm stets ein flaues Gefühl bescherte. »Wieso gerade für 98 Cent?« sagte er. »Sie würde kein Geld dafür nehmen; so eine ist sie nicht. Und überhaupt, schließlich ist sie Bobs Puppe.« »Nun, es wäre nicht im eigentlichen Sinne eine finanzielle Transaktion«, sagte Barris in seinem präzisen, gelehrten Stil. Er beugte sich zu Charles Freck hinüber. Seine haarigen Nasenlöcher zuckten vor heimtückischem Vergnügen. Und nicht nur das – auch seine Sonnenbrille schien plötzlich in einem intensiveren Grün zu leuchten. »Donna schnieft Coke. Sie würde ganz unzweifelhaft die Beine für jeden breitmachen, der ihr ein Gramm Coke gibt – besonders, wenn diesem Coke durch streng wissenschaftliche Prozeduren ganz bestimmte, exorbitant seltene chemische Substanzen beigemengt worden wären. Und meine gewissenhaften Grundlagenforschungen haben mich zu einem Spezialisten für eben diese raren Stoffe werden lassen.« »Ich wäre froh, wenn du nicht so reden würdest«, sagte Charles Freck. »Über Donna, meine ich. Und überhaupt wird ein Gramm Coke derzeit für über hundert Dollar gehandelt. Wer hat schon so viele Flöhe?« Barris unterdrückte ein Niesen und verkündete triumphierend: »Ich kann ein Gramm reines Kokain derivieren, ohne daß die Gesamtkosten für die Ingredienzien, die ich dazu benötige – die Apparaturen in meinem Labor nicht eingerechnet – mehr als einen Dollar betragen.« »Du tickst wohl nicht mehr richtig. « »Ich kann es dir auf der Stelle vorführen.« »Und woher kommen diese Bestandteile?« »Aus dem 7-11-Kolonialwarenladen«, sagte Barris und kam stolpernd auf die Füße. In seiner Erregung wischte er ein Stückchen vom Patty Melt vom Tisch. »Bezahl die Rechnung«, sagte er, »und ich werd’s dir zeigen. Ich hab’ mir zu Hause ein provisorisches Laboratorium eingerichtet, mit dem ich arbeite, bis ich mir ein besseres leisten kann. Du kannst mir dabei zusehen, wie ich ein Gramm Kokain aus gesetzlich erlaubten Stoffen extrahiere, die im 7-11-Laden für weniger als einen Dollar öffentlich feilgeboten werden.« Er marschierte auf den Durchgang los. »Komm.« Seine Stimme klang drängend. »Okay«, sagte Charles Freck. Er nahm die Rechnung und folgte Barris. Der Knabe hat ja ‘n Schlag schräg, dachte er. Oder etwa doch nicht? Schließlich macht er dauernd chemische Experimente – und was er so alles in der Bezirksbücherei liest … Vielleicht ist ja doch etwas an der Sache dran? Stell dir mal den Profit vor, sagte er sich. Stell dir vor, wie wir absahnen könnten! Er eilte an der Kassiererin vorbei hinter Barris her, der im Gehen die Schlüssel für seinen Karmann Ghia aus den Taschen seines modischen Anzugs holte. * Sie stellten den Wagen auf dem Parkplatz des 7-11 ab, stiegen aus und gingen hinein. Wie gewöhnlich stand ein großer, schweigsamer Bulle an der vorderen Theke und tat so, als sei er in die Lektüre eines Sportmagazins vertieft; Charles Freck wußte, daß der Bulle natürlich in Wirklichkeit alle Eintretenden genau musterte, um abzuschätzen, ob sie vielleicht vorhaben mochten, den Laden zu überfallen. »Was willst du hier eigentlich kaufen?« fragte er Barris, der scheinbar ziellos durch die Korridore zwischen den Bergen von Konservendosen schlenderte. »Eine Sprühdose«, sagte Barris. »Solarcaine.« »Ein Sonnenschutzspray?« Charles Freck glaubte nicht wirklich daran, daß diese ganzen Ereignisse Realität waren. Aber andererseits, was wußte er schon? Wer konnte sich da sicher sein? Er folgte Barris zur Kasse; dieses Mal bezahlte Barris. Sie kauften die Dose Solarcaine, schlängelten sich an dem Bullen vorbei und gingen zurück zum Wagen. Barris steuerte den Karmann rasch vom Parkplatz und lenkte ihn die Straße hinunter. Er fuhr fast pausenlos mit Vollgas, ohne sich um die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu kümmern, bis er schließlich den Wagen auf der Auffahrt vor Bob Arctors Haus ausrollen ließ, wo unzählige alte Zeitungen, die nie jemand gelesen hatte, im hohen Gras des Vorhofes herumlagen. Als sie ausstiegen, nahm Barris einige Gegenstände, von denen Kabel herabbaumelten, vom Rücksitz, um sie nach drinnen mitzunehmen – Voltmeter, andere elektronische Prüfgeräte und dazu einen Lötkolben, wie Charles Freck erkannte. »Wofür brauchst du denn das?« erkundigte er sich. »Ich muß einen langwierigen und mühseligen Job erledigen«, sagte Barris, während er die verschiedenen Gerätschaften und das Solarcaine den Weg hinauf zur Eingangstür trug. Er gab Charles Freck den Türschlüssel. »Und wahrscheinlich werde ich dafür nicht mal bezahlt. Wie das so üblich ist.« Charles Freck schloß die Tür auf, und sie betraten das Haus. Zwei Katzen und ein Hund stürmten auf sie zu und begrüßten sie mit hoffnungsvollem Miauen und Bellen. Freck und Barris schoben sie sorgfältig mit ihren Stiefeln beiseite. Im hintersten Winkel der Eßecke hatte Barris sich im Laufe der Zeit ein irres Laboratorium zusammengebaut, das hauptsächlich aus Flaschen und allem möglichen Schrott bestand, der ohne jede erkennbare Ordnung herumlag – aus lauter auf den ersten Blick wertlos wirkenden Objekten, die Barris aus den verschiedensten Quellen zusammengeklaubt hatte. Charles Freck wußte (denn er hatte sich das oft genug anhören müssen), daß Barris keinen Wert darauf legte, alles möglichst effektiv durchzuorganisieren, sondern vielmehr auf Spontaneität und Kreativität vertraute. Du solltest jederzeit in der Lage sein, dein Ziel mit dem ersten Ding zu erreichen, das dir in die Hand kommt, predigte Barris immer. Eine Heftzwecke, eine Büroklammer, ein Stück einer Apparatur, deren andere Teile kaputt oder verlorengegangen waren … Charles Freck kam es so vor, als ob sich hier eine Ratte häuslich eingerichtet hätte und nun dabei wäre, mit Materialien, wie Ratten sie eben schätzen, Experimente durchzuführen. Der erste Schritt in Barris’ Arbeitsplan sah vor, einen Plastikbeutel aus der Rolle beim Ausguß zu holen und den Inhalt der Sprühdose in diesen Beutel hineinzuspritzen, bis die Kanne leer oder zumindestens das Treibgas erschöpft war. »Das ist alles so unwirklich«, sagte Charles Freck. »Super unwirklich.« »Die Hersteller«, sagte Barris fröhlich, während er arbeitete, »haben absichtlich das Kokain mit dem Öl gemischt, damit es nicht extrahiert werden kann. Aber meine chemischen Kenntnisse sind so weit vorangeschritten, daß ich exakt weiß, wie man das Coke vom Öl separiert.« Jetzt kippte er wie wild Salz in die klebrige, schleimige Masse im Innern des Beutels. Anschließend goß er alles in ein Glasgefäß. »Ich lasse es gefrieren«, kündigte er grinsend an, »und dadurch steigen die Kokain-Kristalle nach oben, weil sie leichter als Luft sind … äh, ich meine, leichter als das Öl. Den abschließenden Arbeitsschritt behalte ich natürlich für mich, aber ich kann dir immerhin verraten, daß es sich dabei um einen methodologisch hochkomplizierten Filtrierungsprozeß handelt.« Er öffnete den Gefrierschrank oberhalb des Eisschranks und stellte das Gefäß vorsichtig hinein. »Und wie lange muß es da drin bleiben?« fragte Charles Freck. »Eine halbe Stunde.« Barris holte eine seiner selbstgedrehten Zigaretten heraus, zündete sie an und schlenderte dann zu der Ansammlung elektronischer Meßgeräte. Gedankenversunken blieb er davor stehen und rieb sich sein bärtiges Kinn. »Yeah«, sagte Charles Freck, »aber … hör mal, selbst wenn du ein ganzes Gramm puren Kokains herstellst, kann ich es doch nicht dazu benutzen, Donna zu … du weißt schon, sozusagen im Austausch dafür, daß ich ihr das Kokain gebe, zwischen ihre Beine zu kommen. Ich hätte dabei das Gefühl, sie zu kaufen; und darauf läuft’s doch letztlich auch hinaus.« »Ein Austausch«, korrigierte Barris. »Du machst ihr ein Geschenk, und sie macht dir auch eins. Das kostbarste Geschenk, das eine Frau überhaupt machen kann.« »Sie wird wissen, daß sie gekauft wurde.« Er kannte Donna immerhin gut genug, um das zu schnallen; Donna würde den Schwindel auf der Stelle entdecken. »Kokain ist ein Aphrodisiakum«, murmelte Barris halb zu sich selbst; er baute gerade die Meßgeräte neben Bob Arctors Cephalochromoskop auf, Bobs teuersten Besitz. »Nachdem sie eine gute Prise davon geschnieft hat, wird sie auf Wolke Neun schweben, wenn du so gnädig bist, ihr einen reinzuschieben.« »Scheiße, Mann«, protestierte Charles Freck. »Du sprichst über Bob Arctors Mädchen. Er ist schließlich mein Freund, und außerdem wohnen Luckman und du mit ihm zusammen.« Barris hob für einen Moment seinen zottigen Kopf und ließ seine Augen nachdenklich auf Charles Freck ruhen. »Da gibt’s eine ganze Menge, was du nicht über Bob Arctor weißt«, sagte er. »Was keiner von uns weiß. Deine Sichtweite ist simplifizierend und naiv. Du glaubst ihm doch alles, was er dir erzählt.« »Er ist schwer in Ordnung.« »Sicher«, sagte Barris, nickend und grinsend. »Ohne jeden Zweifel. Einer der edelsten Menschen auf dem ganzen Erdenrund. Aber mir – oder besser: uns, und damit meine ich alle, die Arctor scharf und ohne Scheuklappen beobachtet haben – sind an ihm gewisse Widersprüche aufgefallen. Sowohl in seiner Persönlichkeitsstruktur als auch in seinem Benehmen. In der gesamten Art, wie er sein Leben lebt. Oder, um es mal so auszudrücken, in seinem angeborenen Stil.« »Könntest du dich nicht mal konkreter ausdrücken?« Barris’ Augen tanzten runter den grünen Gläsern seiner Sonnenbrille. »Dein wildes Augenrollen sagt mir gar nichts«, murrte Charles Freck. »Was ist eigentlich mit dem Cephskop los, an dem du da arbeitest?« Er trat näher, um selbst nachzuschauen. Barris verkantete das Zentralchassis und sagte: »Fällt dir was an der Verdrahtung hier an der Unterseite auf?« »Ich sehe zerschnittene Drähte«, sagte Charles Freck. »Und eine ganze Reihe von Stellen, die wie absichtlich herbeigeführte Kurzschlüsse wirken. Wer hat das getan?« Immer noch tanzten Barris’ fröhliche, wissende Augen, ganz so, als freue er sich über etwas, von dem nur er Kenntnis hatte. »Langsam gehst du mir mit dieser abgewichsten Geheimnistuerei ganz schön auf den Sack«, sagte Charles Freck. »Wer hat denn nun das Cephskop beschädigt? Wann ist das passiert? Und wann hast du den Schaden entdeckt? Arctor sagte nichts davon, als ich ihn vorgestern das letzte Mal sah.« Barris sagte: »Vielleicht wollte er noch nicht darüber sprechen.« »Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte Charles Freck. »Von mir aus kannst du ruhig weiter so in bescheuerten Rätseln reden, aber ich jedenfalls werde jetzt in eines der Aufnahmeheime des Neuen Pfades gehen und mich freiwillig zum Entzug melden. Da stehen mir zwar ein ganz übler Turkey und dieses therapeutische Zerstörungsspiel bevor, das sie da mit einem spielen, und ich werde Tag und Nacht mit diesen ausgeflippten Typen Zusammensein, aber dann muß ich wenigstens nicht solche Blödmänner wie dich ertragen, die dauernd einen auf geheimnisvoll machen und sinnloses Zeug schwafeln, von dem ich nicht die Bohne verstehe. Ich kann erkennen, daß dieses Cephskop hier zerdeppert worden ist, aber du sagst mir überhaupt nichts. Du willst doch nicht etwa andeuten, daß Bob Arctor das getan hat, daß er sein eigenes, teures Cephskop zerstört hat? Oder vielleicht doch? Was willst du eigentlich? Ich wünschte mir, ich würde schon drüben im Neuen Pfad leben, wo ich nicht diesen bedeutungsschweren Scheiß ertragen müßte, den ich absolut nicht abkann. Tag für Tag dasselbe, und wenn’s nicht von dir kommt, dann von einem anderen ausgeklinkten Freak, der genauso nervtötend ist wie du.« Seine Augen blitzten. »Ich habe die Sendeeinheit nicht beschädigt«, sagte Barris in einem seltsamen Tonfall; sein Backenbart zuckte. »Und ich hege auch ernsthafte Zweifel daran, daß Ernie Luckman es getan hat.« »Und ich glaube, daß Ernie Luckman nie in seinem Leben was kaputtgemacht hat, abgesehen von dem einen Mal, als er von schlechtem Acid ausflippte und den Kaffeetisch und den Rest der Wohnzimmereinrichtung aus dem Fenster des Apartments, in dem er damals mit dieser Puppe Joan zusammenlebte, auf den Parkpklatz runterwarf. Aber das ist was ganz anderes. Normalerweise hat Ernie alles besser im Griff als wir alle. Nein, Ernie würde nie jemandem das Cephskop kaputtmachen. Und Bob Arctor – es ist doch seines, nicht wahr? Würde er so etwas tun? Würde er heimlich mitten in der Nacht aufstehen, ohne sich dessen bewußt zu werden, und sich selbst so ins Knie ficken? Das hier hat jemand getan, um Bob eins reinzuwürgen. Verdammt noch mal, das steckt dahinter, und sonst nichts.« Vielleicht hast du’s ja auch gemacht, du blöder Arschficker, dachte Freck. Du verfügst über das technische Know-how, und dein Geist ist böse. »Denjenigen, der das hier getan hat«, sagte Freck, »sollte man in eine staatliche Klinik für sensorische Aphasie verfrachten – oder dahin, wo er sich die Radieschen von unten anschauen kann. Vorzugsweise letzteres. Bob führ immer richtig auf dieses Altec-Cephskop ab. Man muß das echt mal miterlebt haben, wie er sich die Haube aufsetzte, jedesmal, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Er war kaum durch die Tür, da hat er das Ding schon angeschaltet. Jeder Typ hat irgendein Ding, daß er wie einen Schatz hütet. Und das hier war sein Schatz. Und deshalb ist es Scheiße, ihm so was anzutun, Mann, Scheiße!« »Genau das meine ich auch.« »Was meinst du auch?« »Jedesmal, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam‹«, erwiderte Barris. »Ich stelle nun schon seit geraumer Zeit Mutmaßungen darüber an, von wem Bob Arctor wirklich bezahlt wird und was an der Organisation, die ihn beschäftigt, eigentlich so ungewöhnlich ist, daß er uns nicht mal ihren Namen sagen will.« »Bob arbeitet in so einer beschissenen Briefmarkensammelstelle des Blauen Chip in Placentia«, sagte Charles Freck. »Er hat’s mir mal erzählt.« »Ich möchte zu gerne wissen, was er da macht.« Charles Freck seufzte. »Die Briefmarken blau färben vermutlich.« Ihm wurde klar, daß er Barris eigentlich noch nie gemocht hatte. Freck wünschte sich, woanders zu sein. Vielleicht unterwegs, um mir Stoff zu beschaffen, dachte er, und die erste Person, der ich begegne oder die ich anriefe, hat gerade einen größeren Posten im Angebot. Vielleicht sollte ich mich wirklich auf die Socken machen … Aber dann erinnerte er sich an das Gefäß mit Öl und Kokain, das im Gefrierschrank abkühlte: Kokain im Wert von hundert Dollar, und das für nur 98 Cent. »Hör mal«, sagte er, »wann ist das Zeug eigentlich endlich fertig? Ich glaube, du willst mich sowieso nur verarschen. Wie können die Solarcaine-Leute es so billig verkaufen, wenn es ein Gramm puren Kokains enthält? Wie können sie da noch einen Gewinn machen?« »Sie kaufen«, erklärte Barris, »in großen Mengen.« In seinem Kopf spulte Charles Freck eine Phantasienummer ab: 30tonner, voll mit Kokain, fuhren rückwärts an die Solarcaine-Fabrik heran – wo auch immer sie auch liegen mochte … vielleicht in Cleveland? – und luden tonnenweise pures, unverschnittenes, hochgradiges Kokain ab, das mit Öl und Treibgas und anderem Dreck vermischt und dann in kleine, bunte Spraydosen abgefüllt wurde, die dazu bestimmt waren, zu Tausenden in 7-11-Läden und Drogerien und Supermärkten aufgestapelt zu werden. Eigentlich, überlegte er, sollten wir einfach einen dieser 30tonner überfallen und uns die ganze Ladung schnappen, sieben- oder achthundert Pfund vielleicht – Hölle, bestimmt noch viel, viel mehr! Was faßt eigentlich so ein 30tonner? Barris holte jetzt die leere Solarcaine-Spraydose, um sie ihm zu zeigen; er deutete auf das Etikett, auf dem alle Bestandteile aufgeführt waren. »Siehst du? Benzocain. Nur wissenschaftlich gebildete Leute wissen, daß das ein Handelsname für Kokain ist. Wenn sie auf dem Etikett ›Kokain‹ schreiben würden, würden das alle möglichen Leute sofort spitzkriegen und vielleicht genau das tun, was ich hier mache. Aber den meisten fehlt es einfach an der notwendigen Bildung, um den Trick zu durchschauen. Schließlich haben sie nicht die gleiche wissenschaftliche Ausbildung wie ich genossen.« »Wie willst du denn deine Kenntnisse verwerten?« fragte Charles Freck. »Außer dazu, Donna Hawthorne geil zu machen?« »Ich beabsichtige, vielleicht einen Bestseller zu schreiben«, sagte Barris. »Ein Handbuch für jedermann, wie man sauberes Dope in seiner eigenen Küche herstellen kann, ohne geltendes Recht zu verletzen. Sieh mal, diese Methode zur Kokaingewinnung verstößt gegen kein Gesetz. Benzocain ist legal. Ich habe eine Apotheke angerufen und nachgefragt. Viele frei verkäufliche Substanzen enthalten Benzocain.« »Irre«, sagte Charles Freck beeindruckt. Er blickte auf seine Armbanduhr, um festzustellen, wie lange sie noch warten mußten. * Bob Arctor hatte von Hank (der eigentlich den offiziellen Decknamen »Mr. F.« trug) den Auftrag erhalten, das örtliche Zentrum des Neuen Pfades einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen, um einen großen Dealer ausfindig zu machen, den er schon seit längerem überwachte und der nun urplötzlich von der Bildfläche verschwunden war. Wenn ein Dealer merkte, daß man ihn bald hochnehmen würde, suchte er manchmal Zuflucht in den Rehabilitationszentren für Drogenabhängige, also etwa in Syanon, Center Point und X-Kalay oder auch beim Neuen Pfad. Er gab sich dann als Süchtiger aus, der Hilfe suchte, War er erst einmal drinnen, nahm man ihm alles ab, was ihn hätte identifizieren können, von seiner Brieftasche bis zu seinem Namen. Das war eine flankierende Maßnahme, um den Aufbau einer neuen, nicht drogenorientierten Persönlichkeit zu erleichtern. Im Zuge dieses Auslöschungsprozesses verschwand vieles, was die Polizeibehörden brauchten, um eine gesuchte Person ausfindig zu machen. Später dann, wenn die unmittelbare Gefahr vorüber war, tauchte der Dealer wieder draußen auf und ging erneut seinen üblichen Beschäftigungen nach. Wie oft dies geschah, wußte niemand. Zwar versuchten die Angestellten der Rehabilitationszentren, dahinterzukommen, wenn sie auf diese Weise ausgenützt wurden, aber das gelang ihnen nur in den seltensten Fällen. Einem Dealer, dem draußen vierzig Jahre Haft drohten, fiel schnell eine gute Geschichte ein, die er den Leuten in den Zentren, die die Macht hatten, darüber zu entscheiden, ob er eingelassen werden sollte oder nicht, verklickern konnte. Schließlich litt er wirklich unter Todesangst, wenn er nur an die vierzig Jahre im Knast dachte. Während er langsam den Katella-Boulevard hinauffuhr, hielt Bob Arctor Ausschau nach dem Schild, das auf das hölzerne Gebäude – ein ehemaliges Privathaus – hinwies, in dem jetzt die energischen Leute vom Neuen Pfad ihr regionales Zentrum unterhielten. Es machte ihm keinen Spaß, sich durch einen Bluff Zugang zu dieser Institution zu verschaffen, indem er vortäuschte, er sei ein Drogenkranker, der dringend Hilfe brauchte. Aber das war der einzige Weg, um hineinzukommen. Wenn er sich als Agent des Amtes für Drogenmißbrauch zu erkennen gab, der jemanden suchte, würden die Leute vom Neuen Pfad – jedenfalls die meisten davon – ganz automatisch ein Ausweichmanöver einleiten. Sie wollten nicht, daß Der Mann Mitgliedern ihrer Familie auf die Zehen trat. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, und eigentlich konnte er es ihnen nicht einmal verübeln. Alle ehemaligen Süchtigen sollten im Rehabilitationszentrum sicher sein; und es hatte sich eingebürgert, daß sich das Personal der Zentren offiziell für die Sicherheit derer verantwortlich fühlten, die sich vertrauensvoll in ihre Obhut begaben. Andererseits war der Dealer, hinter dem Arctor her war, ein mit allen Wassern gewaschener Ganove, und wenn er ein Rehabilitationszentrum in dieser Weise mißbrauchte, lief das den berechtigten Interessen aller Beteiligter zuwider. Weder Arctor noch Mr. F. der ihn ursprünglich auf Spade Weeks angesetzt hatte, hatten angesichts dieser Sachlage anders entscheiden können. Weeks war schon seit Ewigkeiten die Nummer Eins auf Arctors Liste gewesen, bisher allerdings ohne greifbare Ergebnisse. Und nun war Weeks spurlos verschwunden – und das seit vollen zehn Tagen. Arctor entdeckte das Hinweisschild, stellte seinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz ab, den sich der Neue Pfad mit einer Bäckerei teilte, und ging schwankend den Weg zur Pforte hinauf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben: das heulende Elend in Person, offensichtlich bis zum Stehkragen voll mit schlechtem Dope und down wie ‘n Weltmeister. Wenigstens machte ihm die Abteilung keine Vorwürfe, daß er Spade Weeks verloren hatte. Das bewies nur, wie aalglatt Weeks war. Eigentlich war Weeks eher ein Runner als ein Dealer; er brachte in unregelmäßigen Zeitabständen Lieferungen mit harten Drogen von Mexiko herauf bis irgendwo kurz vor L. A. wo die Käufer sich trafen und die Ware aufteilten. Weeks’ Methode, die Lieferungen heimlich über die Grenze zu bringen, war wirklich clever: Er befestigte den Stoff mit Klebestreifen an der Unterseite des Wagens irgendeines Spießertypen, der vor ihm am Grenzübergang wartete, verfolgte den Macker dann bis auf die US-Seite und schoß ihn bei der ersten passenden Gelegenheit nieder. Wenn die US-Grenzer das Rauschgift an der Unterseite des Wagens des Spießers entdeckten, dann wurde eben der Spießer einkassiert und nicht Weeks. Rauschgiftbesitz ist in Kalifornien ein Kapitalverbrechen. Pech für den Spießer, seine Frau und seine Kinder. Kein anderer Geheimer Rauschgift-Agent im ganzen Orange County hätte Weeks so sicher auf den ersten Blick erkannt wie Arctor: ein fetter schwarzer Macker in den Dreißigern mit einem einzigartig langsamen und eleganten Sprachstil, der den Eindruck erweckte, als hätte Weeks ihn sich in irgendeiner Snobby-Schule in England angewöhnt. In Wirklichkeit kam Weeks aus den Slums von L. A. Er hatte seine besondere Diktion wahrscheinlich von Sprachlehrbändern, die er sich aus irgendeiner College-Bibliothek geliehen hatte. Weeks liebte es, sich dezent, aber gediegen zu kleiden, etwa so, als sei er ein Arzt oder Rechtsanwalt. Oft hatte er einen teuren Diplomatenkoffer aus Alligatorenhaut bei sich und trug eine Brille mit Horngestell. Auch war er für gewöhnlich bewaffnet – mit einer Schrotflinte, für die er extra einen italienischen Pistolengriff in Maßanfertigung in Auftrag gegeben hatte. Wirklich sehr smart und stilvoll. Aber im Neuen Pfad würde man ihm all diese auserlesenen Stücke eins nach dem anderen weggenommen haben, und jetzt würde er wie jeder andere Patient hier in Klamotten aus der letzten Altkleidersammlung herumlaufen, während sein Diplomatenköfferchen in einem Schrank verstaubte. Arctor öffnete die massive Holztür und trat ein. Ein düster wirkendes Foyer, zu seiner Linken eine Sitzecke, in der ein paar Burschen herumlungerten und lasen. Eine Tischtennisplatte im Hintergrund, dann eine Küche. Slogans an den Wänden, einige handgemalt und einige gedruckt: DAS EINZIGE WIRKLICHE VERSAGEN IST, SICH ANDEREN ZU VERSAGEN und so weiter. Wenig Lärm, wenig Aktivität. Der Neue Pfad unterhielt eigene Werkstätten und kooperierte auch mit normalen Firmen; wahrscheinlich waren die meisten der Insassen, sowohl die Jungs als auch die Puppen, derzeit an ihren Arbeitsstellen in den Perückenmachereien, Tankstellen und Kugelschreiberfabriken. Arctor stand da und wartete müde. »Ja?« Ein hübsches Mädchen erschien. Sie trug ein extrem kurzes blaues Baumwollhemd und ein T-shirt, auf dem zwischen den Brustwarzen DER NEUE PFAD aufgedruckt war. Mit einer krächzenden und kraftlosen Stimme sagte Arctor: »Ich bin … total down. Ich krieg’s nicht mehr zusammen. Kann ich mich irgendwohin setzen?« »Klar.« Das Mädchen winkte, und zwei farblose, unbeteiligt wirkende Burschen tauchten auf. »Bringt ihn irgendwohin, wo er sich hinsetzen kann. Und holt ihm einen Kaffee.« Was für eine Horrorshow, dachte Arctor, während er sich von den beiden Typen zu einer schäbig aussehenden Couch schleifen ließ. Deprimierende Wände, dachte er. Häßliche Farben. Wahrscheinlich eine Spende. Der Neue Pfad konnte sich jedoch nur auf der Grundlage solcher Spenden überhaupt über Wasser halten, weil es schwierig war, Unterstützung von der öffentlichen Hand zu erhalten. »Danke«, röchelte er zittrig, als ob es eine überwältigende Erleichterung sei, hier zu sein und zu sitzen. »Wow«, sagte er und versuchte, sein Haar glattzustreichen; er tat so, als könnte er das nicht und gab auf. Das Mädchen, das jetzt direkt vor ihm stand, sagte: »Sie sehen wie ausgekotzt aus, Mister.« »Yeah«, stimmten die beiden Burschen in einem überraschend lebhaften Tonfall zu. »Wie ein Haufen Scheiße. Was haben Sie eigentlich gemacht? In Ihrer eigenen Scheiße gelegen?« Arctor blinzelte. »Wer sind Sie?« fragte einer der Typen. »Du kannst doch sehen, was er ist«, sagte der andere. »Abschaum von einer beschissenen Müllhalde. Sieh dir das mal an.« Er zeigte auf Arctors Haare. »Läuse. Darum juckt’s dir, Jack.« Das Mädchen, ruhig und über allem stehend, sagte nicht eben herzlich: »Warum sind Sie hierhergekommen, Mister?« Im stillen dachte Arctor: Weil ihr hier drinnen einen ganz dicken Fisch habt. Und ich bin Der Mann. Und ihr seid blöde, ihr alle. Aber er sprach das nicht laut aus, sondern murmelte statt dessen kriecherisch das, was offensichtlich von ihm erwartet wurde: »Sagten Sie nicht –« »Ja, Mister, Sie können Kaffee haben.« Das Mädchen ruckte mit dem Kopf, und einer der Burschen lief los zur Küche. Eine Pause. Dann beugte sich das Mädchen zu ihm nieder und berührte sein Knie. »Sie fühlen sich ziemlich mies, was?« sagte sie sanft. Er konnte nur nicken. »Sie empfinden Scham und Ekel vor dem Ding, das Sie jetzt sind«, sagte sie. »Yeah«, pflichtete er bei. »Und Sie ekeln sich vor der Umweltverschmutzung, die Sie in sich selbst angerichtet haben. Sie sind eine Jauchegrube geworden. Stecken sich Tag für Tag die Nadel in den Arsch, pumpen ihren Körper voll mit –« »Ich konnte nicht mehr so weitermachen«, sagte Arctor. »Dieser Ort ist die einzige Hoffnung, an die ich denken konnte. Ich hatte einen Freund, der auch hierherkommen wollte. Jedenfalls hat er mir das erzählt. Ein schwarzer Macker, in den Dreißigern, gebildet, sehr höflich und –« »Sie werden die Familie später kennenlernen«, sagte das Mädchen. »Wenn Sie sich für die Aufnahme qualifizieren. Zuerst müssen Sie unseren Anforderungen genügen, Sie verstehen. Und die erste ist Ihr aufrichtiges Bedürfnis.« »Das habe ich«, sagte Arctor. »Ein aufrichtiges Bedürfnis.« »Sie müssen schon übel dran sein, um hier eingelassen zu werden.« »Das bin ich«, sagte er. »Wie schlimm hat es Sie denn schon erwischt? Bei welcher Dosis sind Sie mittlerweile angelangt?« »Dreißig Gramm am Tag«, sagte Arctor. »Pur?« »Yeah.« Er nickte. »Ich habe immer eine Zuckerdose voll davon auf dem Tisch.« »Dann wird es unheimlich rauh werden. Sie werden die ganze Nacht über Ihr Kissen zernagen, bis die Federn nur so fliegen; überall werden Federn sein, wenn Sie aufwachen. Und Sie werden Anfälle haben und Schaum vor dem Mund. Und sich beschmutzen, so, wie kranke Tiere es tun. Sind Sie dazu bereit? Sie wissen doch: Wir geben Ihnen hier nichts.« »Dagegen hilft sowieso nichts«, sagte er. Mann, war das hier ein Horrortrip! Er fühlte sich gereizt und unbefriedigt. »Mein Kumpel«, sagte er, »der schwarze Kerl. Hat er’s geschafft, hierherzukommen? Ich will nur hoffen, daß ihn die Schweine nicht auf dem Weg hierher gekascht haben – er war so weggetreten, daß er kaum noch navigieren konnte. Er dachte –« »Es gibt keine einzelnen Zweierbeziehungen im Neuen Pfad«, sagte das Mädchen. »Aber das werden Sie noch lernen.« »Yeah, aber hat er’s bis hierhin geschafft?« sagte Arctor. Er begriff, daß er nur seine Zeit verschwendete. Herr im Himmel, dachte er, das ist ja noch schlimmer als in unserer Clique. Blödes Spiel. Und sie wird den Teufel tun, mir was zu sagen. Das ist ihre Politik, erkannte er. Wie ein eiserner Vorhang. Wenn jemand erst mal in eines dieser Zentren hineingeht, dann ist er für die Welt draußen tot. Spade Weeks könnte gerade jetzt, in diesem Augenblick, hinter der Trennwand sitzen, uns zuhören und sich den Arsch ablachen. Oder vielleicht ist er überhaupt nicht hier. Sogar mit einem Haftbefehl ließe sich hier gar nichts erreichen. Die Leute vom Neuen Pfad haben den Dreh raus, wie sie mit ihrer Verzögerungstaktik die Polizisten so lange hinhalten konnten, bis der Gesuchte durch eine Seitentür verschwunden war oder sich sonstwie dünne gemacht hatte. Schließlich setzte sich das Personal selbst aus ehemaligen Süchtigen zusammen. Und keine Polizeibehörde würde riskieren, eine regelrechte Razzia in einem der Rehabilitationszentren durchzuführen. Das wäre ein Stich in ein Wespennest gewesen – und die Behörden hätten sich vor den Beschwerden der Öffentlichkeit kaum mehr retten können. Zeit, Spade Weeks endgültig abzuhaken, entschied Arctor, und mich zu verdünnisieren. Kein Wunder, daß meine Chefs mich noch nie zuvor hierhergeschickt haben; mit den Leuten hier kommt man einfach nicht klar. Und dann dachte er: Und für mich heißt das, daß ich meinen derzeitigen Hauptjob verloren habe; Spade Weeks existiert nicht mehr. Ich werde Mr. F. Bericht erstatten, sagte er sich, und einen neuen Auftrag abwarten. Zur Hölle damit. Er erhob sich steifbeinig und sagte: »Ich mach ma’ lieber wieder ‘n Abflug.« Die beiden Typen waren jetzt zurückgekommen, einer von ihnen mit einem Becher Kaffee, der andere mit so ‘ner Art Traktätchen, wahrscheinlich einer vom Neuen Pfad herausgegebenen Informationsbroschüre. »Mann, du willst dich echt verpissen?« sagte das Mädchen hochmütig und voller Verachtung. »Hast wohl die Hosen so voll, daß du nicht mal bei deiner Entscheidung bleiben kannst, aus dem ganzen Dreck rauszukommen? Du willst echt wieder auf dem Bauch hier rauskriechen?« Alle drei starrten ihn zornig an. »Vielleicht ‘n andermal«, sagte Arctor und bewegte sich auf die Vordertür zu. Er wollte bloß noch hier raus. »Du beschissener Doper«, schleuderte ihm das Mädchen nach. »Kein Mumm in den Knochen, ‘n ausgelutschtes Gehirn, sonst nichts. Kriech raus, ja, kriech nur; das ist einzig und allein deine Entscheidung.« »Ich werde später zurückkommen«, sagte Arctor verärgert. Die Atmosphäre hier bedrückte ihn, und sie war noch schlimmer geworden, weil er jetzt abhaute. »Wir wollen dich dann vielleicht hier gar nicht mehr haben, du Schwächling«, sagte einer der Typen. »Du wirst betteln müssen«, sagte der andere. »Du wirst betteln und winseln müssen. Und sogar dann wollen wir dich vielleicht nicht mehr haben.« »Eigentlich wollen wir dich jetzt schon nicht mehr haben«, sagte das Mädchen. An der Tür blieb Arctor stehen und wandte sich zu seinen Anklägern um. Er wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein. Sie hatten seinen Geist leer gemacht. Sein Gehirn wollte nicht mehr funktionieren. Keine Gedanken, keine Erwiderung, keine passende Antwort auf ihre Anklagen, nicht mal eine lausige oder läppische, kam ihm in den Sinn. Seltsam, dachte er und war verblüfft. Und er verließ das Gebäude und ging zu seinem geparkten Wagen. Soweit es mich betrifft, dachte er, ist Spade Weeks für immer verschwunden. Mich kriegen keine zehn Pferde mehr in eines dieser Zentren. Nie im Leben. Zeit, entschied er übellaunig, um einen neuen Auftrag zu bitten. Sich jemand anderem an die Fersen zu heften. Sie sind zäher als wir. IV Aus der sicheren Deckung seines Jedermann-Anzugs heraus beobachtete der vage Fleck, der unter dem Decknamen »Fred« zur Berichterstattung erschienen war, einen anderen vagen Fleck, der ihm an einem großen Schreibtisch gegenübersaß und den er nur unter dem Namen Hank kannte. »So viel zu Donna, zu Charles Freck und – einen Moment bitte …« Das metallische, monotone Klicken, das Hanks Stimme war, setzte eine Sekunde lang aus. »Richtig, Jim Barris können wir auch abhaken.« Hank machte sich eine kurze Notiz auf dem Block, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Sie glauben, daß Doug Weeks möglicherweise tot ist oder unseren Bezirk verlassen hat?« »Oder er ist untergetaucht und stellt sich nur tot«, sagte Fred. »Haben Sie mal gehört, daß jemand diesen Namen erwähnt hat: Earl oder Art de Winter?« »Nein.« »Was ist mit einer Frau namens Molly? Ziemlich korpulent?« »Nein.« »Und was ist mit zwei Negern, Brüder, ungefähr zwanzig, ziemlich dunkle Haut? Sie sollen Hatfield oder so ähnlich heißen. Möglicherweise handeln sie mit Kilopäckchen Heroin.« »Kilopäckchen? Kilopäckchen Heroin?« »Stimmt.« »Nein«, sagte Fred. »Daran würde ich mich bestimmt erinnern.« »Jemand aus Schweden, groß, schwedisch klingender Name? Männlich. Vorbestraft, trockener Humor. Ein kräftiger Mann, aber dünn. Trägt eine Menge Bargeld mit sich rum, vielleicht aus dem Erlös einer Lieferung zu Beginn des Monats?« »Ich werd’ die Augen offenhalten«, sagte Fred. »Kilopäckchen!« Er schüttelte den Kopf – oder besser gesagt: Der vage Fleck schwankte hin und her. Hank kramte in seinen holografischen Aufzeichnungen herum. »Hm, der hier ist im Gefängnis.« Er hielt kurz ein Bild hoch und las dann den Text auf der Rückseite. »Nein, dieser hier ist tot; sie haben die Leiche unten.« Er suchte weiter. Zeit verstrich. »Glauben Sie, daß die kleine Jora auf den Strich geht?« »Ich bezweifle es.« Jora Kajas war erst fünfzehn. Trotzdem hing sie schon an der Nadel, fixte Substanz T. Sie wohnte in einem Slum in Brea, in einer Dachkammer, die nur von der Streu wärme eines Wassererhitzers notdürftig geheizt wurde. Joras einzige Einkommensquelle war ein Schulgeldstipendium des Staates Kalifornien, für das sie sich vor Beginn ihrer Sucht durch gute schulische Leistungen qualifiziert hatte. Fred wußte, daß sie seit sechs Monaten nicht mehr zum Unterricht gegangen war. »Wenn Sie’s tut, lassen Sie’s mich wissen. Dann können wir die Eltern belangen. « »Okay. « Fred nickte. »Junge, die Teenies gehen wirklich besonders schnell den Bach runter. Kürzlich hatten wir ein Mädchen hier – die Kleine sah aus wie fünfzig. Strähniges graues Haar, fast keine Zähne mehr, Augen tief in den Höhlen, Arme wie Pfeifenreiniger … Wir haben sie gefragt, wie alt sie sei, und sie sagte: ›Neunzehn‹. Wir haben uns bloß angesehen. ›Weißt du eigentlich, wie alt du aussiehst?‹ sagte meine Kollegin – wissen Sie, so eine Matrone – zu ihr. ›Schau dich doch mal im Spiegel an.‹ Und die Kleine hat in den Spiegel geschaut, und dann hat sie angefangen zu weinen. Ich habe sie gefragt, wie lange sie denn schon schießen würde.« »Ein Jahr«, sagte Fred. »Vier Monate.« »Das Zeug, was momentan im Straßenhandel verkauft wird, ist wirklich unheimlich schlimm«, sagte Fred. Er versuchte krampfhaft, sich nicht vorzustellen, wie das Mädchen da saß: neunzehn Jahre alt, mit Haaren, die ihr büschelweise ausfielen. »Mit noch üblerem Dreck gepanscht als sonst.« »Wissen Sie, wie sie an die Nadel gekommen ist? Ihre Brüder, beides übrigens Dealer, sind eines Nachts in ihr Schlafzimmer gegangen, haben sie festgehalten und dann vollgeschossen. Anschließend haben sie sie noch durchgebumst. Beide. Vermutlich, um sie schon mal so richtig auf ihr neues Leben einzustimmen. Die Kleine ging mehrere Monate lang auf den Strich, bevor wir sie schnappten.« »Und ihre Brüder?« Fred dachte daran, daß sie ihm vielleicht irgendwann einmal über den Weg laufen würden. »Die sitzen jetzt sechs Monate wegen Rauschgiftbesitz ab. Die Kleine hat sich auf dem Strich den Tripper geholt, ohne es überhaupt zu merken. Darum hat er sich in ihr hochgefressen … na ja, Sie wissen ja, wie das bei Tripper so geht. Ihre Brüder fanden das lustig.« »Nette Jungs«, sagte Fred. »Ich will Ihnen mal ‘ne Geschichte erzählen, die Ihnen bestimmt an die Nieren geht. Sie erinnern sich doch noch an die drei Babys drüben im Fairfield-Krankenhaus, denen sie jeden Tag eine Dosis H geben müssen, weil sie noch zu klein sind, um einen Entzug durchstehen zu können? Tja, und eine Krankenschwester hat versucht –« »Sie haben recht. Das geht mir an die Nieren«, sagte Fred mit seiner monotonen Maschinenstimme. »Ich habe genug gehört, danke.« Hank fuhr fort: »Wenn man sich überlegt, daß neugeborene Babys heroinsüchtig sind, weil –« »Danke«, wiederholte der vage Fleck, der Fred genannt wurde. »Was sollte man Ihrer Meinung nach mit einer Mutter tun, die einem neugeborenen Baby eine Fixe mit Heroin setzt, um es ruhigzuhalten, damit es nicht mehr weint? Sie eine Nacht lang ins Distriktgefängnis sperren?« »Etwas in der Art«, sagte Fred tonlos. »Vielleicht ein Wochenende lang, wie’s mit den Säufern gemacht wird. Manchmal wünsche ich mir, daß ich wüßte, wie man vor Wut durchdreht. Ich hab’ vergessen, wie das geht.« »Ja, das ist eine verlorengegangene Kunst«, sagte Hank. »Vielleicht existiert irgendwo ein Handbuch dafür. »So um 1970 rum gab’s mal einen Streifen«, sagte Fred, »The French Connection, der handelte von einem Zwei-Mann-Team vom Rauschgiftdezernat. Als die sich mal selbst einen Schuß H setzten, klinkte der eine davon total aus und erschoß jeden, der ihm vor die Flinte kam, seine Vorgesetzten eingeschlossen. Dem Typen war inzwischen alles ganz egal. »Dann ist es vielleicht gar nicht so schlecht, daß Sie nicht wissen, wer ich bin«, sagte Hank. »Sie könnten mich höchstens rein zufällig erwischen. « »Irgend jemand«, sagte Fred, »wird uns sowieso alle irgendwann einmal erwischen.« »Und das wird für uns alle eine Erlösung sein. Eine wirkliche Erlösung.« Hank wühlte sich noch tiefer in den Stapel mit Aufzeichnungen. »Jerry Fabin. Den können wir wohl endgültig von der Liste streichen. Spezialklinik. Die Jungs unten im Büro sagen, Fabin habe den zuständigen Beamten auf der Fahrt zur Klinik erzählt, ein angeheuerter Killer – ein kleines Männchen ohne Beine, so ungefähr neunzig Zentimeter groß – sei Tag und Nacht auf einem Wägelchen hinter ihm hergerollt. Aber er hätte niemandem was davon erzählt, weil ihn sonst bestimmt alle für übergeschnappt gehalten hätten und sich schleunigst aus dem Staub gemacht hätten, und dann hätte er ja gar keine Freunde mehr gehabt, niemanden, mit dem er sprechen könnte.« »Ja«, sagte Fred stoisch. »Fabian ist weg vom Fenster. Ich habe die EEG-Analyse aus der Klinik gelesen. Den können wir vergessen.« Immer, wenn er Hank so gegenübersaß und seine Rapportnummer abzog, beobachtete er eine tiefgreifende Verwandlung seines innersten Selbst. Normalerweise wurde ihm diese Verwandlung erst nach der Sitzung bewußt, obwohl er schon während des Rapports selbst spürte, daß er aus irgendeinem Grund eine geschäftsmäßige und unbeteiligte Haltung einnahm. Ganz gleich, was in diesem Raum besprochen wurde und um wen sich das Gespräch auch immer drehen mochte – all das hatte für ihn während dieser Sitzungen keinerlei gefühlsmäßige Bedeutung. Zuerst hatte er geglaubt, das rühre von den Jedermann-Anzügen her, die sie beide trugen; sie konnten beide die körperliche Nähe ihres jeweiligen Gegenüber nicht spüren. Später kam er jedoch zu dem Schluß, daß es letztlich keinen Unterschied machte, ob sie die Anzüge trugen oder nicht; die Veränderung lag in der Situation selbst begründet. Aus beruflichen Gründen spielte Hank absichtlich die menschliche Wärme und die verschiedenen Gefühle herunter, die manchmal aufzukommen drohten; weder Zorn noch Liebe noch andere tief ergehende Emotionen, gleich welcher Art, würden ihm oder Hank helfen. Was nützte es ihnen denn, ihrer starken persönlichen Betroffenheit freien Lauf zu lassen, wenn sie über Verbrechen – noch dazu Kapitalverbrechen – diskutierten, die von Personen begangen worden waren, die Fred nahestanden und ihm sogar, wie im Falle von Luckman und Donna, teuer waren? Nein, sie mußten ihre Gefühle ausklammern. Und das taten sie beide, er noch mehr als Hank. Sie wurden neutral; sie sprachen in einem neutralen Tonfall; sie sahen neutral aus. Und langsam wurde es immer einfacher, die eigenen Empfindungen zu unterdrücken, selbst ohne vorherige Einstimmung. Und hinterher sickerten dann alle seine Gefühle wieder in ihn zurück. Entrüstung angesichts der Geschehnisse, die er hatte mit ansehen müssen. Entrüstung und sogar Entsetzen und, im Nachhinein, lähmender Schock. Große, überwältigende Gefühlssequenzen, die ohne Beispiel waren. Bildfolgen mit viel zu lautem Ton in seinem Kopf. Aber während er hier saß, nicht nur durch den Schreibtisch von Hank getrennt, fühlte er keine dieser Emotionen. Theoretisch konnte er alles, was er ab Zeuge miterlebt hatte, völlig teilnahmslos beschreiben. Oder sich teilnahmslos alles anhören, was Hank ihm erzählte. Zum Beispiel konnte er jetzt beiläufig sagen: »Donna stirbt langsam an Hepatitis und benutzt ihre Nadel dazu, noch so viele ihrer Freunde mitzunehmen, wie sie eben kann. Ich würde empfehlen, daß wir sie unter Druck setzen, bis sie damit aufhört.« Seine eigene Puppe … falls er das beobachtet hatte oder wenigstens wußte, daß es zutraf. Oder: »Donna hat ein Mickymaus-LSD-Analog geschluckt und leidet jetzt unter akuter Gefäßverengung im letzten Stadium. Die Hälfte der Blutgefäße in ihrem Gehirn ist schon dicht.« Oder: »Donna ist tot.« Und Hank würde das seelenruhig notieren und vielleicht fragen: »Wer hat ihr den Stoff verkauft, und wo wird er hergestellt?« oder. »Wo ist die Beerdigung? Wir sollten auf jeden Fall die Autonummern registrieren und so die Namen der Leute herausfinden, die an der Beerdigung teilnehmen.« Und er, Fred, würde völlig emotionslos mit Hank darüber diskutieren. Das war Fred. Aber später irgendwann verwandelte sich Fred wieder in Bob Arctor, irgendwo auf dem Bürgersteig zwischen dem Pizza-Schuppen und der Arco-Tankstelle (wo das Normalbenzin jetzt einen Dollar und zwei Cent pro Gallone kostete), und die fürchterlichen Farben sickerten wieder in ihn zurück, ob ihm das nun gefiel oder nicht. Diese Verwandlung, die er in seiner Identität als Fred erlebte, war eine Art »Ökonomie der Leidenschaften«, Auch Feuerwehrleute und Ärzte und Leichenbestatter gingen bei ihrer Arbeit auf den gleichen Trip. Keiner von ihnen konnte alle paar Augenblicke aufspringen und losschreien; durch ein solches Verhalten würden sie sich zuerst selbst aufreiben und nutzlos werden und anschließend auch die Menschen in ihrer Umgebung fertigmachen. Und das gleichermaßen als Techniker während der Arbeitszeit und als Menschen in ihrem Privatleben. Jedes Individuum hat nur eine beschränkte Menge von Energie, über die es verfugen kann. Hank zwang Fred diese Leidenschaftslosigkeit nicht auf; er gestattete ihm vielmehr, so zu sein. Um seinetwillen. Fred rechnete ihm das hoch an. »Was ist mit Arctor?« fragte Hank. Zu allem Überfluß erstattete Fred in seinem Jedermann-Anzug auch noch über sich selbst Bericht. Tat er das nicht, dann würde sein Vorgesetzter – und durch ihn die gesamte Behörde – gewahr werden, wer Fred war, Anzug oder nicht. Und die Spitzel, die die ST-Agentur in den Polizeiapparat eingeschleust hatte, würden der Agentur diese brandheiße Neuigkeit natürlich sofort melden. Und dann würde Fred, der als Bob Arctor in seinem Wohnzimmer saß und zusammen mit anderen Dopern Dope rauchte und Dope einpfiff, plötzlich entdecken, daß auch hinter ihm ein neunzig Zentimeter großer Killer auf einem Wägelchen herrodelte. Und er, Bob Arctor, würde nicht halluzinieren, wie Jerry Fabin das getan hatte. »Arctor rührt sich im Moment nicht«, sagte Fred – seine Standardantwort. »Arbeitet bei der Briefmarkensammelstelle des Blauen Chip, schluckt täglich ein paar Tabletten Tod, der mit Methedrin gepanscht ist –« »Ich bin mir da nicht so sicher.« Hank spielte mit einem Blatt Papier, das er aus dem Stoß vor sich gekramt hatte. »Wir haben hier einen Tip von einem Informanten, dessen Hinweise für gewöhnlich sauber sind, daß Arctor wesentlich mehr Geld zur Verfügung hat, als ihm die Leute vom Blauen Chip bezahlten. Wir haben deshalb dort angerufen und uns nach Arctors Nettoeinkommen erkundigt. Hoch ist es nicht. Und als wir dann nachhakten, um festzustellen, woran das liegt, da haben wir erfahren, daß er nicht die ganze Woche über dort arbeitet. Also muß Arctor einen Nebenverdienst haben, von dem wir bisher nichts wußten.« »Ach wirklich?« sagte Fred niedergeschlagen. Er begriff natürlich, daß es sich bei dem »Nebenverdienst«, von dem Hank sprach, um die Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Rauschgiftagent handelte. Jede Woche erhielt er von einer Maschine, die sich als Automat für Dr. Pepper’s Diät-Sprudel in einem mexikanischen Stehimbiss in Placentia tarnte, eine bestimmte Geldsumme in kleinen Scheinen – hauptsächlich Honorare für Informationen, die er geliefert hatte und die vor Gericht zu einem Schuldspruch geführt hatten. Manchmal war diese Summe außergewöhnlich groß, etwa dann, wenn dank Arctors Hilfe eine besonders große Lieferung Heroin abgefangen werden konnte. Hank las nachdenklich weiter. »Unser Informant sagt weiter, daß Arctor unter geheimnisvollen Umständen kommt und geht, besonders gegen Sonnenuntergang. Wenn er zu Hause ankommt, ißt er zunächst und geht dann bald wieder weg, wobei er oft Gründe angibt, die Vorwände sein könnten. Manchmal verläßt er das Haus sogar in großer Hast. Aber er bleibt nie sehr lange weg.« Hank – oder genauer gesagt: der Jedermann-Anzug – schaute auf und blickte Fred an. »Haben Sie das schon einmal beobachtet? Können Sie die Angaben unseres Informanten bestätigen? Lassen sich irgendwelche Schlüsse daraus ziehen?« »Höchstwahrscheinlich geht er zu seiner Puppe – Donna«, sagte Fred. »›Höchstwahrscheinlich‹, hm. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie so etwas genau wissen.« »Natürlich liegt’s an Donna. Er ist drüben bei ihr und vögelt Tag und Nacht mit ihr rum.« Sein Unbehagen wuchs. »Aber ich werd’s mal überprüfen und Sie darüber informieren, was ich herausfinde. Wer ist eigentlich dieser Informant? Vielleicht will da einer Arctor eins reinwürgen.« »Wissen wir nicht, zum Teufel. Kam per Telefon. Wir haben nicht mal ‘nen Stimmabdruck – der Bursche benutzte eine elektronische Abschirmung, wahrscheinlich selbst zusammengefutschelt.« Hank kicherte; ein seltsam fremdartiges Geräusch, dieses Kichern, das da metallisch aus dem Sprechteil des Anzugs schepperte. »Aber es hat funktioniert. Gut genug.« »Meine Güte«, begehrte Fred auf, »das war bestimmt bloß dieser ausgeflippte Säurekopf Jim Barris, der aus irgend einem Grund sauer auf Arctor ist und ihn jetzt reinreiten will. Barris hat während seiner Zeit beim Militär pausenlos Elektronikkurse belegt und dazu noch einen Kurs für die Wartung von schwerem Gerät. Ich an Ihrer Stelle würde ihm nicht mal glauben, wenn er Ihnen die Uhrzeit sagt. « Hank schüttelte ablehnend den Kopf. »Wir wissen nicht, ob es überhaupt Barris war. Und außerdem ist Barris vielleicht doch nicht nur ein ›ausgeflippter Säurekopf‹. Wir haben mehrere Leute auf die Sache angesetzt. Allerdings haben wir keine Erkenntnisse gewonnen, die für Sie von Nutzen sein könnten – jedenfalls bisher nicht.« »Auf jeden Fall war es einer von Arctors Freunden«, sagte Fred. »Ja, der Tip ist zweifellos ein Racheakt. Diese verrückten Doper – rufen uns jedesmal an, wenn sie Wut aufeinander haben. Mir schien es übrigens tatsächlich so, als würde er Arctor sehr gut kennen. Also gehört er zu seinem engsten Bekanntenkreis.« »Netter Junge«, sagte Fred verbittert. »Tja, auf diese Weise kommen wir nun mal an unsere Informationen«, sagte Hank. »Wo liegt da der Unterschied zu dem, was Sie machen?« »Ich tu’s nicht, weil ich einen persönlichen Groll gegen jemanden hege«, sagte Fred. »Und warum tun Sie’s eigentlich dann?« Nach einer langen Pause sagte Fred: »Sie können mich totschlagen, aber ich weiß es nicht, verdammt noch mal.« »Sie haben doch im Moment nichts mehr mit Weels am Hut. Ich glaube, ich werde Sie vorläufig dazu einteilen, in erster Linie Bob Arctor zu observieren. Hat er einen zweiten Vornamen? Er verwendet die Initialen –« Fred gab ein abgewürgtes, roboterartiges Geräusch von sich. »Warum ausgerechnet Arctor?« »Arctor bezieht Geld aus einer unbekannten Quelle, also geht er auch einer unbekannten Nebentätigkeit nach. Außerdem macht er sich durch seine Aktivitäten offenbar Feinde. Wie lautet Arctors zweiter Vorname?« Hanks Stift schwebte geduldig über dem Papier. Hank erwartete eine klare Antwort. »Postlethwaite. « »Wie wird das buchstabiert?« »Weiß ich nicht. Scheiße noch mal, weiß ich nicht«, sagte Fred. »Postlethwaite«, sagte Hank und schrieb ein paar Buchstaben hin. »Aus welchem Sprachraum kommt denn das?« »Walisisch«, sagte Fred kurz. Er konnte kaum noch verstehen, was Hank sagte; in seinen Ohren verschmolz alles zu einem großen Rauschen, und auch seine übrigen Sinne versagten jetzt einer nach dem anderen. »Sind das nicht die Leute, die immer dieses Lied über die Männer von Harlech singen? Was ist ›Harlech‹? Eine Stadt irgendwo?« »Harlech ist der Ort, wo im Jahre 1468 der heldenhafte Widerstand gegen die Yorkisten –« Fred verstummte. Scheiße, dachte er. Das ist alles so fürchterlich. »Moment, ich möchte das zu den Akten nehmen.« Hanks Stift flog über das Papier. Fred sagte: »Bedeutet das, daß sie Arctors Haus und seinen Wagen verwanzen lassen werden?« »Ja, mit dem neuen Holografie-System; das ist wesentlich leistungsstärker, und außerdem haben wir im Augenblick sowieso mehr Geräte zur Verfügung, als angefordert werden. Sie wollen doch sicher die kompletten Speicheraufzeichnungen und die Ausdrucke aller Auswertungen haben?« Hank notierte sich auch das. »Ich nehme alles, was ich kriegen kann«, sagte Fred. Er fühlte sich vollständig von allen Vorgängen um sich herum isoliert; er wünschte sich nichts sehnlicher, als daß diese Besprechung endlich vorbei sein möge. Und er dachte: Wenn ich bloß ein paar Tabletten einpfeifen könnte – Jenseits des Tisches schrieb der andere formlose Fleck immer weiter, übertrug Kennziffern aus einer Inventarliste in die dafür vorgesehenen Formblätter – die Kennziffern jener elektronischen Spielereien, über die Fred würde verfügen können, sobald Hanks Vorhaben von oben abgesegnet worden war, und mit denen sich ein lückenloses, dem modernsten Stand der Technik entsprechendes Überwachungssystem installieren ließ, das auf sein eigenes Haus gerichtet war. Und auf ihn selbst. * Seit über einer Stunde arbeitete Barris nun schon daran, einen Schalldämpfer zu fabrizieren, der nur aus Haushaltsmaterialien bestehen sollte, die nicht mehr als elf Cent kosteten. Und jetzt hatte er es fast geschafft – mit Alufolie und einem Stückchen Schaumgummi. In der nächtlichen Dunkelheit von Bob Arctors Hinterhof, zwischen all den Stapeln Unkraut und Abfall, machte er sich nun bereit, seine Pistole mit dem hausgemachten Schalldämpfer abzufeuern. »Die Nachbarn werden’s hören«, sagte Charles Freck unbehaglich. Er konnte überall erleuchtete Fenster sehen, Fenster, hinter denen vielleicht Leute in die Glotze starrten oder sich Joints drehten. Luckman, der im Schatten herumlungerte und alles beobachtete, ohne selbst sichtbar zu sein, sagte: »In diesem Viertel rufen die nur die Bullen wenn ein Mord passiert.« »Wozu brauchst du überhaupt einen Schalldämpfer?« fragte Charles Freck Barris. »Ich meine … äh … die sind doch illegal, oder?« Barris sagte düster: »In einer Zeit wie dieser, da die Gesellschaft degeneriert ist und die Gottlosigkeit unter den Menschen um sich greift, braucht jeder aufrechte Mann, der etwas auf sich hält, eine Pistole, um sich zu schützen. Und er sollte sie ständig bei sich tragen.« Er kniff die Augen zusammen und feuerte seine Pistole mit dem selbstgebastelten Schalldämpfer ab. Ein gewaltiger Knall ertönte, der vorübergehend alle drei taub machte. In weit entfernten Höfen begannen Hunde zu bellen. Lächelnd machte sich Barris daran, die Alufolie von dem Schaumgummi abzuwickeln. Er schien amüsiert zu sein. »Mann, das is’ ja ‘n toller Schalldämpfer«, sagte Charles Freck und fragte sich, wann die Polizei wohl kommen würde. Mit einer ganzen Armada von Polizeiwagen. »Wirklich faszinierend«, erklärte Barris und zeigte Freck und Luckman die schwarz versengten Brennkanäle im Schaumgummi. »Er hat den Sound verstärkt, statt ihn zu dämpfen. Aber ich hab’ den Dreh beinahe raus. Im Prinzip jedenfalls.« »Wie teuer ist so eine Pistole eigentlich?« erkundigte sich Charles Freck. Er selbst hatte noch nie eine Pistole gehabt. Mehrere Male hatte er ein Messer besessen, aber irgendwer stahl es ihm immer. Einmal hatte eine Puppe das getan, während er gerade im Badezimmer war. »Nicht besonders teuer«, sagte Barris. »Gebraucht ungefähr dreißig Dollar. Die hier ist gebraucht.« Er hielt sie Freck hin, der sofort nervös zurückwich. »Ich verkaufe sie dir«, sagte Barris. »Du solltest wirklich eine Waffe haben, damit du dich gegen all die Leute schützen kannst, die dir was antun wollen.« »Soll ja ‘ne ganze Menge davon geben«, grinste Luckman in seiner ironischen Art. »Ich hab’ kürzlich in der L. A. Times gelesen, daß jeder, der Freck erfolgreich eins verpaßt, kostenlos ‘n Transistorradio kriegt.« »Ich geb’ dir ein Borg-Warner-Tacho dafür«, sagte Freck. »Das du aus der Garage unten an der Straße gestohlen hast«, sagte Luckman. »Na, und wenn schon«, sagte Charles Freck. »Vielleicht ist ja auch die Knarre gestohlen.« Praktisch alles, was irgendwie wertvoll war, war ursprünglich irgendwem abgeklaut worden; erst der Diebstahl bewies, daß ein Stück überhaupt einen Wert hatte. »Und überhaupt«, sagte er, »hat der Typ unten an der Straße das Tacho zuerst geklaut. Es hat vielleicht fünfzehn Mal oder so den Besitzer gewechselt. Ich meine, das ist ja auch wirklich ein superheißes Tacho.« »Woher weißt du, daß er es geklaut hat?« fragte Luckman ihn. »Hölle, Mann, er hat acht Tachos da in seiner Garage, und an allen baumeln noch die abgeschnittenen Kabel rum. Was würde er sonst mit ihnen tun, mit so vielen, meine ich? Wer geht denn los und kauft sich acht Tachos?« Luckman sagte zu Barris: »Ich dachte, du wärst mit dem Cephskop beschäftigt. Bist du schon damit fertig?« »Ich kann nicht pausenlos Tag und Nacht daran arbeiten, weil der Schaden so groß ist«, sagte Barris. »Ich muß da manchmal einfach ‘ne Pause machen.« Er schnitt mit einem komplizierten Taschenmesser noch ein Stück Schaumgummi ab. »So, das nächste Modell wird völlig lautlos sein.« »Bob denkt, du wärst dabei, sein Cephskop zu reparieren«, sagte Luckman. »Er liegt da in seinem Zimmer im Bett und stellt sich das vor, während du hier draußen rumstehst und mit deiner Pistole rumballerst. Hast du nicht mit Bob ausgemacht, daß er dir die überfällige Miete streicht, wenn du –« »Wie gutes Bier«, sagte Barris, braucht auch die gewissenhafte Rekonstruktion einer beschädigten elektronischen Vorrichtung –« »Na, wenn das so ist, dann schieß halt den großartigsten Elf-Cent-Schalldämpfer aller Zeiten noch mal ab«, sagte Luckman und rülpste. * Jetzt haben sie mich am Arsch, dachte Robert Arctor. Er lag allein auf dem Rücken im trüben Licht seines Schlafzimmers und starrte grimmig ins Nichts. Unter seinem Kopfkissen spürte er seinen Polizei-Spezial-Revolver, Kaliber 32; nach dem Knall, den der Abschuß von Barris’ 22er im Hinterhof verursacht hatte, hatte er reflexartig seine eigene Knarre unter dem Bett hervorgeholt, um sie in bequemerer Reichweite zu haben – eine Sicherheitsmaßnahme gegen alle nur vorstellbaren Gefahren; er hatte nicht einmal bewußt darüber nachgedacht. Aber der 32er unter dem Kopfkissen würde nicht viel gegen solche indirekten Angriffe wie etwa die Sabotage seines kostbarsten und teuersten Besitzes nützen. Sofort, nachdem er von der Besprechung mit Hank heimgekommen war, hatte er all die anderen Hilfsmittel überprüft und festgestellt, daß sie okay waren – auch der Wagen, und in einer Situation wie dieser mußte man immer zuerst den Wagen überprüfen. Was immer auch vorgehen mochte, und von wem auch immer es ausging –es würde heimtückisch und link sein. An der Peripherie seines Lebens lauerte irgendein feiger, hinterhältiger Freak, der sich nicht traute, ihm offen entgegenzutreten, sondern ihn aus dem Verborgenen heraus fertigzumachen versuchte. Eigentlich gar kein richtiger Mensch, sondern eher eine Unperson, ein als Mensch verkleidetes Symptom ihres Lebensstils. Früher einmal hatte es eine Zeit gegeben, da hatte er nicht so gelebt wie jetzt. Und dieses Jetzt bestand aus einem 32er unter seinem Kopfkissen, einem Verrückten, der aus Gründen, die nur der Herrgott selbst erahnen mochte, wieder und wieder im Hinterhof eine Pistole abfeuerte, und einem anderen Idioten (der vielleicht sogar mit dem im Hinterhof identisch war), den ein Kurzschluß in seinem Oberstübchen dazu getrieben hatte, auch das unglaublich teure und wertgeschätzte Cephskop kurzzuschließen, das alle Bewohner dieses Hauses – und alle ihre Freunde nicht minder – liebten und genossen. Ja, früher einmal hatte Bob Arctor ein anderes Leben geführt. Da waren eine Ehefrau gewesen, die sich in nichts von anderen Ehefrauen unterschied, zwei kleine Töchter, ein solider Haushalt, der täglich gefegt und geputzt und ausgeleert wurde, und nichtssagende Zeitungen, die nie aufgeschlagen, sondern gleich vom Briefkasten zur Mülltonne getragen wurden – oder manchmal sogar gelesen. Aber eines Tages dann, während er gerade den elektrischen Popcornautomaten unter dem Ausguß hervorholte, hatte Arctor sich den Kopf an der Ecke eines Küchenschränkchens gestoßen. Dieser Schnitt in seiner Kopfhaut, dieser unerwartete und unverdiente Schmerz, hatte aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Spinnweben zerrissen. Und er begriff mit wundersamer Klarheit, daß er nicht das Hängeschränkchen haßte: Er haßte seine Ehefrau, seine beiden Töchter, das ganze Haus, den Hinterhof mit dem elektrischen Rasenmäher, die Garage, die Zentralheizung und ihre gleichmäßige Wärme, den Vorhof, den Zaun, dieses ganze beschissene Heim – und jeden einzelnen, der darin lebte. Er beschloß, sich scheiden zu lassen; er wollte sich von allem lösen. Und das hatte er auch getan, sehr bald schon. Und dann war er Schritt um Schritt in ein neues Leben eingetreten, dem es an all dem mangelte. Vielleicht hätte er diese Entscheidung bedauern sollen. Er tat das nicht. Sein früheres Leben war ohne Aufregung gewesen, ohne Abenteuer. Es war zu sicher gewesen. Alle Bestandteile, aus denen sich dieses Leben zusammensetzte, standen vorgefertigt da, stets sichtbar. Nichts würde sich jemals ändern. Sein Leben, so hatte er einmal überlegt, war wie ein kleines Boot aus Plastik, das auf ewig weitersegeln würde, ohne Zwischenfälle, bis es schließlich sank, was für alle eine Erlösung war. Aber in dieser dunklen Welt, in der er nun lebte, strömten dauernd häßliche und überraschende Dinge auf ihn ein – und gelegentlich gab es auch einmal ein winziges, wunderbares Ding. Er konnte mit nichts fest rechnen; jeder Tag bot neue Überraschungen. Wie die absicht­liche, böswillige Beschädigung seines Altec-Cephalochro­moskops, um das herum er den Vergnügungsteil seines Tagesablaufs aufgebaut hatte, den Abschnitt des Tages, in dem sie sich alle entspannten und aus dem sie eine innere Ruhe und Zufriedenheit gewannen. Rational betrachtet, ergab es für niemanden Sinn, das alles zu zerstören. Aber nicht viel inmitten dieser langen, dunklen Abendschatten war wirklich rational, wenigstens nicht im exakten Wortsinn. Jeder konnte diese rätselhafte Handlung begangen haben, und das aus fast jedem erdenklichen Grund. Jeder, den er kannte oder dem er jemals flüchtig begegnet war. Jeder einzelne von acht Dutzend ausgeklinkten Säureköpfen, exotischen Freaks, kaputten Fixern oder psychotischen Paranoikern, die ihren halluzinierten Groll gegen ihn nun nicht mehr bloß in ihrer Phantasie, sondern in der Wirklichkeit auslebten. Oder sogar jemand, dem er nie begegnet war und der ihn einfach nach Zufallskriterien aus dem Telefonbuch ausgewählt hatte. Oder sein bester Freund. Vielleicht hat Jerry Fabin es getan, dachte er, bevor sie ihn weggekarrt haben. Diese ausgebrannte, vergiftete Hülse, die einmal ein Mensch gewesen ist. Jerry Fabin und seine Milliarden von Blattläusen. Jerry Fabin, der Donna – und eigentlich alle Puppen – beschuldigt hat, ihn »verseucht« zu haben. Dieser ausgeflippte Homo. Aber, dachte Arctor, wenn Jerry jemanden hätte fertigmachen wollen, dann wäre das Donna gewesen und nicht ich. Und außerdem hätte Jerry bestimmt nicht mal herausfinden können, wie man die Bodenplatte des Geräts entfernt; wenn er das versucht hätte, wäre er jetzt wahrscheinlich immer noch dabei, dieselbe Schraube loszuschrauben und wieder festzuschrauben. Oder er hätte gleich versucht, die Platte mit einem Hammer abzukriegen. Und überhaupt: Wenn Jerry Fabin es getan hätte, dann wäre der Kasten voller Wanzeneier, die von ihm abgefallen wären … Bei diesem Gedanken mußte Bob Arctor innerlich grinsen. Armes Schwein, dachte er, und sein innerliches Grinsen erstarb. Arme, unglückliche Tunte. Sobald sich erst einmal die Spuren der hochkomplexen Schwermetalle in seinem Gehirn abgelagert hatten, war’s mit ihm vorbei gewesen. Game over. Einer mehr in einer langen Reihe von Gehirngeschädigten, eine weitere traurige Existenz wie so viele andere vor ihm. Völlig debil. Das biologische Leben geht weiter, dachte Arctor, aber die Seele, der Verstand – das ist alles tot. Was bleibt, ist eine Reflexmaschine. Wie irgendein Insekt, verdammt dazu, düstere Verhaltensmuster zu wiederholen. Ein einziges Verhaltensmuster, wieder und wieder. Ob dieses Muster nun angemessen ist oder nicht. Möchte wissen, wie er früher war, grübelte er. Er hatte Jerry noch nicht sehr lange gekannt. Charles Freck behauptete, daß Jerry früher mal ziemlich gut funktioniert habe. Das hätte ich mit meinen eigenen Augen sehen müssen, um es zu glauben, dachte Arctor. Vielleicht sollte ich Hank von der Sabotage meines Cephskops erzählen, dachte er. Sie würden auf der Stelle wissen, wer und was dahintersteckt. Aber was können sie überhaupt für mich tun? Das ist nun mal das Risiko, das man eingeht, wenn man diese Art Arbeit macht. Und sie ist das nicht wert, diese Arbeit, dachte er. So viel Geld gibt es auf dem ganzen beschissenen Planeten nicht. Aber er tat diese Arbeit sowieso nicht des Geldes wegen. »Und warum tun Sie’s eigentlich dann?« hatte Hank ihn gefragt. Aber was wußte denn ein Mann – gleich, welche Art von Arbeit er tat – schon über seine tatsächlichen Motive? Langeweile, vielleicht; die Sehnsucht nach ein bißchen Action. Oder eine unterschwellige Feindseligkeit gegenüber den Menschen, die einen umgaben, gegenüber allen seinen Freunden und sogar den Puppen. Oder es mochte eine positive Motivation sein, die das Ergebnis einer schrecklichen persönlichen Erfahrung war. Vielleicht kannte man ein menschliches Wesen, das man aus ganzem Herzen liebte, dem man wirklich nahegekommen war, das man im Arm gehalten und mit dem man geschlafen hatte, das man geküßt und um das man sich gesorgt hatte, das man als Freund behandelt und vor allem bewundert hatte – und dann mußte man mit ansehen, wie diese warme, lebendige Person innerlich ausbrannte, vom Herzen an nach außen verbrannte. Bis sie klickt und klackt wie ein Insekt. Wieder und wieder den gleichen Satz wiederholt. Eine Bandaufnahme. Eine Endlosschleife. »… wenn ich bloß noch einen einzigen Schuß haben könnte …« Keine Probleme mehr, dachte er. Drei Viertel des Gehirns Brei, und immer wieder dieser eine Satz. Wie bei Jerry Fabin. »… wenn ich bloß noch einen einzigen Schuß haben könnte, würde mein Gehirn ganz bestimmt von selbst wieder in Ordnung kommen. « Dann hatte er eine Vision – Jerry Fabins Gehirn als die ruinierte Verkabelung des Cephalochromoskops, mit zerschnittenen Drähten, Kurzschlüssen, herausgerissenen Leitungen, überladenen und zu undefinierbaren Klumpen zusammengeschmolzenen Kondensatoren, verschmorten Kontakten, beißendem Qualm und einem widerwärtigen Geruch. Und da sitzt jemand mit einem Voltmeter, mißt die Stromkreise durch und murmelt düster: »O weh, o weh! Eine Menge Widerstände und Transistoren müssen ersetzt werden« und so weiter. Und dann würde von Jerry Fabin nur ein mattes Summen kommen, und sie würden aufgeben. Und in Bob Arctors Wohnzimmer würde ein Tausend-Dollar-Qualitäts-Cephskop, eine Maßanfertigung der Firma Altec, das nun angeblich wieder repariert war, eine Schrift in fahlem Grau auf einen winzigen Fleck an der Wand werfen: WENN ICH BLOSS NOCH EINEN EINZIGEN SCHUSS HABEN KÖNNTE … Danach würden sie das Cephskop, das irreparabel beschädigt war, und Jerry Fabin, der irreparabel beschädigt war, in denselben Abfalleimer werfen. Nun ja, dachte Arctor. Wer braucht Jerry Fabin? Außer vielleicht Jerry Fabin selbst, der einmal davon geträumt hatte, als Geschenk für einen Freund ein drei Meter langes Konsolensystem mit einer Quadrophonieanlage und einem Fernseher darin zu entwerfen und zu bauen. Und als man ihn gefragt hatte, wie er es von seiner Garage zum Haus seines Freundes transportieren wollte, wo es doch nach der Fertigstellung so groß sein und so viel wiegen würde, da hatte er erwidert: »Überhaupt kein Problem, Mann! Ich werde es einfach zusammenklappen – hier, ich habe die Scharniere schon gekauft – ich werd’s also zusammenklappen, verstehst du, das ganze Ding zusammenklappen, es in einen Briefumschlag stecken und es ihm per Post schicken.« Jedenfalls, dachte Bob Arctor, müssen wir jetzt wenigstens nicht dauernd Blattläuse aus dem Haus fegen, nachdem Jerry zu Besuch gekommen ist. Er verspürte das Bedürfnis zu lachen, als er daran dachte. Einmal hatten sie eine Theorie entwickelt, mit der sich Jerrys Blattlaus-Trip psychoanalytisch erklären ließ. Den Löwenanteil dazu hatte der clevere, stets zu Spaßen aufgelegte Luckman beigetragen – bei solchen Sachen hatte er wirklich was auf dem Kasten. Natürlich setzte die Erklärung bei Jerry Fabins Kindheit an. Eines schönen Tages also kommt Jerry Fabin aus der ersten Klasse nach Hause, den Ranzen unter den Arm geklemmt, fröhlich pfeifend. Und da sitzt im Eßzimmer neben seiner Mutter diese große Blattlaus, ungefähr einen Meter groß. Jerrys Mutter schaut sie stolz an. »Was is’n los?« erkundigt sich der kleine Jerry Fabin. »Das hier ist dein älterer Bruder«, sagt seine Mutter, »den du bisher noch nicht kennengelernt hast. Er wird von jetzt an bei uns wohnen. Ich mag ihn viel lieber als dich. Er kann viel mehr als du.« Und von da an vergleichen Jerry Fabins Eltern ihn pausenlos mit seinem älteren Bruder, der Blattlaus, und immer schneidet Jerry dabei schlecht ab. Als die beiden heranwachsen, entwickelt Jerry nach und nach einen starken Minderwertigkeitskomplex – was unausbleiblich ist. Nach der Oberschule erhält sein Bruder ein Stipendium für ein College, während Jerry in einer Tankstelle zu arbeiten beginnt. Danach wird dieser Bruder, die Blattlaus, ein berühmter Arzt oder Wissenschaftler, ja sogar Nobelpreisträger. Jerry hingegen wechselt immer noch für einen Dollar fünfzig in der Stunde Reifen an der Tankstelle. Seine Mutter und sein Vater hören nie damit auf, ihn daran zu erinnern. Sie sagen immer: »Wenn du doch bloß nach deinem Bruder geraten wärst!« Schließlich läuft Jerry von zu Hause fort. Aber in seinem Unterbewußtsein fühlt er immer noch, daß Blattläuse ihm überlegen sind. Zuerst glaubt er, sicher zu sein, aber dann fängt er an, in seinen Haaren und in seinem Haus überall Blattläuse zu sehen, weil sich sein Minderwertigkeitskomplex inzwischen in eine Art sexuellen Schuldkomplex verwandelt hat, und die Blattläuse sind nun eine Strafe, die er sich selber auferlegt, etc. Jetzt fand Arctor das nicht mehr so spaßig wie damals – jetzt, da Jerry mitten in der Nacht auf Betreiben seiner eigenen Freunde weggeschleppt worden war. Sie selbst – alle, die in jener Nacht mit Jerry zusammengewesen waren – hatten beschlossen, die Klinik zu verständigen; die Lage hatte sich so zugespitzt, daß man diesen Schritt nicht länger hinauszögern konnte. Er war absolut unvermeidlich. In jener Nacht nämlich hatte Jerry die Vordertür seines Hauses verbarrikadiert – mit allem, was er in seinem Haus nur finden konnte, so ungefähr neunhundert Pfund gottverdammter Kram, einschließlich der Couch und der Stühle und des Eisschranks und des Fernsehers. Und dann hatte er allen erzählt, daß eine gigantische, superintelligente Blattlaus von einem anderen Planeten da draußen sei und sich darauf vorbereitete, hereinzukommen und sich ihn zu schnappen. Und weitere würden später noch landen, selbst wenn er diese hier erwischte. Diese außerirdischen Blattläuse waren bei weitem gewitzter als alle Menschen und würden, wenn nötig, auch geradewegs durch die Wände kommen, denn das sei für sie dank ihrer übernatürlichen Fähigkeiten gar kein Problem. Um sich selbst so lange wie möglich zu retten, würde er das Haus mit Zyanidgas fluten müssen, worauf er vorbereitet war. Welche Vorkehrungen er denn getroffen habe, hatten seine Freunde wissen wollen. Nun, hatte Jerry daraufhin erklärt, er habe bereits alle Fenster und Türen mit Klebeband luftdicht versiegelt. Dann schlug er vor, die Wasserhähne in der Küche und im Badezimmer aufzudrehen und das Haus zu überfluten. Er behauptete, daß der Heißwassertank in der Garage mit Zyanid gefüllt sei, nicht mit Wasser. Er habe das schon seit langer Zeit gewußt, das Gas aber bis zum Schluß aufgespart, sozusagen als letzte Verteidigung. Zwar würden auch sie selber alle dabei sterben, aber wenigstens würden sie auf diese Weise die superintelligenten Blattläuse daran hindern, ins Haus einzudringen. Seine Freunde riefen daraufhin die Polizei an. Die Polizisten brachen die Vordertür auf und karrten Jerry weg in die Staatliche Nervenklinik. Das letzte, was Jerry zu ihnen allen sagte, war: »Bringt mir später meine Sachen – bringt mir mein neues Jackett mit den Perlen auf dem Rücken mit.« Er hatte sich dieses Jackett gerade erst gekauft, und er hing sehr daran. Das Jackett war so ungefähr alles, woran er noch hing; alles andere, was er besaß, hielt er für verseucht. Nein, dachte Bob Arctor, jetzt scheint es nicht mehr so spaßig zu sein. Er fragte sich, warum es ihm jemals so vorgekommen war. Vielleicht kam das von der Furcht, der schrecklichen Furcht, die sie alle in den letzten Wochen in Jerrys Gegenwart verspürt hatten. Jerry hatte ihnen erzählt, daß er manchmal nachts das Haus mit einer Schrotflinte durchstreifte, weil er die Anwesenheit eines Feindes spürte. Er hoffte darauf, selbst noch einen Schuß abfeuern zu können, bevor er erschossen wurde. Aber seinen eigenen Tod hatte er schon mit einkalkuliert. Und nun, dachte Bob Arctor, habe ich einen Feind. Oder jedenfalls bin ich auf seine Fährte gestoßen. Auf die Zeichen, die er hinterläßt. Noch so ein drogenverseuchtes Wrack im letzten Stadium, ganz wie Jerry. Und wenn dieses letzte Stadium der Scheiße zuschlägt, dann knallt es wirklich in deinen Kopf rein. Nachhaltiger als jeder Werbespot von Ford oder General Motors zur besten Sendezeit. Ein Klopfen an seiner Schlafzimmertür. Er berührte die Pistole unter seinem Kissen und sagte: »Yeah?« Murmel-murmel. Barris’ Stimme. »Komm rein«, sagte Arctor. Er knipste die Nachttischlampe an. Barris trat ein; seine Augen funkelten. »Noch wach?« »Ein Traum hat mich wachgemacht«, sagte Arctor. »Ein religiöser Traum. Urplötzlich klafften die Himmel mit einem gewaltigen Donnerschlag auseinander, und Gott der Herr erschien, und seine Stimme grollte mich an – was, zum Teufel, sagte Er doch gleich? – ach ja, richtig. »Ich ärgere mich über dich, mein Sohn‹, sagte Er. Sein Gesicht war sehr finster. Ich zitterte, in meinem Traum, und sagte, zu Ihm aufblickend: ›Was habe ich getan, o Herr?‹ Und Er sprach: ›Du hast schon wieder den Verschluß deiner Zahnpastatube nicht zugeschraubte Und dann merkte ich plötzlich, daß Er meine Ex-Ehefrau war.« Barris setzte sich, legte die Hände auf seine lederbedeckten Knie, straffte sich, schüttelte den Kopf und blickte Arctor geradeheraus an. Er schien allerbester Laune zu sein. »Tja«, sagte er lebhaft, »ich habe eine erste Theorie, wer böswillig und systematisch dein Ceph­skop zerstört haben könnte und das auch wieder tun mag. « »Wenn du sagen willst, es sei Luckman –« »Hör zu«, sagte Barris und schaukelte aufgeregt vor und zurück. »W-w-was würdest du denken, wenn ich dir sagen würde, daß ich bereits vor Wochen eine ernsthafte Fehlfunktion einer der Apparaturen in diesem Haushalt vorausgesehen habe, und zwar speziell in einer Apparatur, die teuer und schwer zu reparieren ist? Meine Theorie schrie geradezu danach, daß das passieren mußte! Der Schaden an deinem Cephskop ist die Bestätigung meiner allumfassenden Theorie!« Arctor musterte ihn mißtrauisch. Barris sank langsam zurück und setzte wieder sein ruhiges, breites Lächeln auf. »Du«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf Arctor. »Du denkst also, ich hätte es getan«, sagte Arctor. »Ich hätte mein eigenes Cephskop kaputtgemacht, obwohl es nicht mal versichert war.« Ekel und Zorn schwollen in ihm an. Und es war schon spät in der Nacht; er brauchte seinen Schlaf. »Nein, nein«, sagte Barris rasch, mit angstvollem Blick. »Du schaust auf die Person, die es getan hat. Die dein Cephskop zu Klumpatsch gemacht hat. Nichts anderes wollte ich sagen, aber du hast mich ja nicht ausreden lassen!« »Du hast es getan?« Verwirrt starrte er Barris an, aus dessen trüben Augen eine Art schaler Triumph sprach. »Warum?« »Ich meine, es paßt in meine Theorie, daß ich es getan haben muß«, sagte Barris. »Offenkundig unter dem Einfluß eines posthypnotischen Befehls, der mit einem Amnesie-Block gekoppelt ist, damit ich mich nicht daran erinnern kann.« Er begann zu lachen. »Darüber sprechen wir später noch mal«, sagte Arctor und schaltete die Nachttischlampe aus. »Am besten viel später. « Barris stand zitternd auf. »Hey, aber begreifst du denn nicht – nur ich verfüge über das hochspezialisierte elektronische Fachwissen, und außerdem hatte ich jederzeit Zugang zu deinem Cephskop – schließlich wohne ich ja hier. Was ich aber partout nicht ergründen kann, ist mein Motiv.« »Du hast es getan, weil du bekloppt bist«, sagte Arctor. »Vielleicht bin ich von geheimen Mächten angeworben worden«, murmelte Barris verwirrt. »Aber dann erhebt sich wiederum die Frage nach deren Motiven. Vielleicht wollen sie erreichen, daß wir uns gegenseitig verdächtigen und einander zu mißtrauen beginnen, so daß Zank und Hader zwischen uns keimt und wir einander schlußendlich in offener Feindschaft gegenüberstehen – daß wir alle unsicher werden, wem wir noch vertrauen können und wer unser Feind ist? Oder jedenfalls was in der Art.« »Das ist ihnen schon gelungen«, sagte Arctor. »Aber warum würden sie so etwas tun wollen?« sagte Barris, während er sich zur Tür bewegte; seine Hände wirbelten aufgeregt in der Luft. »Ein derartig großer Aufwand – das Abmontieren der Bodenplatte, ein Nachschlüssel für die Vordertür –« Ich werde froh sein, dachte Bob Arctor, wenn wir endlich die Holo-Kameras kriegen und sie überall in diesem Haus eingebaut sind. Er berührte seine Pistole und fühlte sich sofort sicherer. Dann fragte er sich, ob er vielleicht überprüfen sollte, ob sie noch geladen war. Aber dann, begriff er plötzlich, werde ich mich als nächstes fragen, ob der Abzugbolzen überhaupt noch da ist oder ob nicht jemand das Pulver aus den Patronen entfernt hat… und so weiter, und so weiter, in manischer Besessenheit, wie ein kleiner Junge, der die Risse im Bürgersteig zählt, um seine Angst zu verringern. Der kleine Bobby Arctor, der aus der ersten Klasse nach Hause kommt, den Ranzen unter den Arm geklemmt, voller Angst vor dem Unbekannten, das vor ihm liegt. Mit einer Hand tastete er an der Unterkante des Bettrahmens entlang, weiter und weiter, bis seine Finger schließlich den Klebestreifen berührten. Obwohl Barris noch im Raum war und ihm zuschaute, riß er zwei Tabletten Substanz T los, führte sie zum Mund und warf sie ein, schluckte sie ganz ohne Wasser hinunter. Dann legte er sich mit einem Seufzer zurück. »Angenehme Träume«, sagte er zu Barris. Und schlief ein. V Es war unvermeidlich, daß sich Bob Arctor für längere Zeit außerhalb seines Domizils aufhielt, damit es ordentlich (und das hieß: lückenlos) verwanzt werden konnte – inklusive des Telefons, obwohl das doch schon längst von einer anderen Abteilung der Behörden angezapft worden war. Normalerweise sah es in der Praxis so aus, daß Beamte das betreffende Haus überwachten, bis sie sich sicher sein konnten, daß alle Bewohner es verlassen hatten und wohl auch nicht so bald zurückkommen würden. Manchmal mußten die Behörden tage- oder sogar wochenlang auf einen geeigneten Zeitpunkt warten. Wenn schließlich trotz der mühseligen Warterei von selbst absolut nichts laufen wollte, arrangierte man dann halt einen Vorwand: Man teilte den Hausbewohnern einfach mit, daß ein Kammerjäger einen ganzen Nachmittag in ihrem Haus zu tun haben würde (oder was sich sonst auch immer als Bluff anbieten mochte) und alle Einwohner doch bitte deshalb verduften sollten – »So etwa bis gegen sechs Uhr abends, okay?« Aber im vorliegenden Fall war der Verdächtige, ein gewisser Robert Arctor, so zuvorkommend, sein Haus ganz von selbst zu verlassen und dabei auch gleich noch seine beiden Mitbewohner mitzunehmen, um sich zusammen mit ihnen auf die Suche nach einem Cephalo­chro­moskop zu machen, das die drei auf Leihbasis benutzen konnten, bis Barris Arctors Cephskop wieder repariert hatte. Die drei Hausbewohner wurden dabei beobachtet, wie sie mit ernsten Mienen in Arctors Wagen stiegen und wegfuhren. Dann, nur wenig später, ging in der Zentrale ein Anruf von Fred ein, der sich, in seinen Jedermann-Anzug gekleidet, von einem Münzfernsprecher aus meldete und berichtete, daß für den Rest des Tages niemand daheim sein würde. Er, Fred, habe die drei Männer dabei belauscht, wie sie den Entschluß faßten, den ganzen langen Weg nach San Diego hinunterzufahren, um sich ein Cephskop anzuschauen, das irgendein Typ offenbar geklaut hatte und jetzt für rund fünfzig Kröten zum Verkauf anbot. Wahrscheinlich war der Typ ein total ausgeflippter Fixer, denn wer ein Cephskop so billig anbot, mußte schon ziemlich meschugge sein. Und ein Cephskop für nur fünfzig Kröten war die lange Fahrt und den ganzen Zeitaufwand echt wert. Zudem gab diese Entwicklung den Behörden die Möglichkeit, neben der Verwanzungsaktion auch noch eine klitzekleine (und natürlich illegale) Durchsuchung zu starten, was die Geheimagenten vom Rauschgiftdezernat sowieso immer gerne taten, wenn es keine Zeugen dafür gab. Es schien ihnen ein innerer Reichsparteitag zu sein, Schreibtischschubladen herauszuziehen, um nachzuschauen, was wohl an der Rückseite festgeklebt war; Stehlampen auseinanderzunehmen, um festzustellen, ob nicht vielleicht Hunderte von Tabletten heraussprangen; tief in Toilettenschüsseln hinabzutauchen, um zu überprüfen, was da für kleine, in Klopapier eingewickelte Päckchen befestigt sein mochten, außer Sichtweite und dort, wo sie beim Abziehen von den rauschenden Wasserfluten automatisch weggespült werden würden; und schließlich sogar in das Gefrierfach des Kühlschranks zu schauen, um zu kontrollieren, ob nicht irgendeins der Päckchen mit tiefgefrorenen Erbsen und Bohnen in Wirklichkeit tiefgefrorenes Dope enthielt, das natürlich schlau mit einem falschen Etikett getarnt war. Und in der Zwischenzeit wurden die komplizierten Holo-Kameras installiert. Die Beamten setzten und stellten sich dazu an verschiedene Plätze, um die Kameras durchzutesten. Die gleiche Prozedur wurde dann noch einmal für die Audioeinheiten wiederholt. Aber der Video-Teil war wichtiger und nahm mehr Zeit in Anspruch. Und natürlich durften die Holo-Kameras von keiner Stelle aus sichtbar sein. Es verlangte schon ein beachtliches handwerkliches Können, sie so anzubringen. Eine ganze Reihe von Plätzen mußten durchprobiert werden. Die Techniker, die die Geräte einbauten, wurden gut bezahlt, denn wenn sie Mist bauten und die Bewohner des Hauses später auch nur eine der Holo-Kameras entdecken, würden sie sofort wissen, daß man bei ihnen eingebrochen hatte, und sie nun unter ständiger Beobachtung standen – und dann würden sie bei allen ihren zukünftigen Aktivitäten vorsichtiger sein. Und außerdem würden sie vielleicht das ganze Holo-System herausreißen und verhökern. Es hatte sich als schwierig für die Gerichte erwiesen, dachte Bob Arctor, als er über den San Diego Freeway nach Süden fuhr, Leute für den Diebstahl und den Verkauf elektronischer Apparaturen schuldig zu sprechen, die illegal in deren Häusern installiert worden waren. Die Polizei konnte dann nur versuchen, die Angeklagten unter dem Vorwand anderer Vergehen doch noch reinzureißen. Seltsam, dachte Arctor, eigentlich reagieren auch Pusher in einer entsprechenden Situation ganz ähnlich, nur eben noch etwas konsequenter. Er erinnerte sich an einen Fall, bei dem ein Heroindealer einer Puppe eins reinwürgen wollte und darum zwei Päckchen mit Heroin im Griff ihres Bügeleisens versteckt hatte. Anschließend hatte er der Polizei anonym einen telefonischen Tip gegeben, aber bevor die Bullen darauf hatten reagieren können, hatte die Puppe das Heroin zufällig gefunden. Aber statt es durchs Klo zu spülen, hatte sie es verkauft. Die Polizei kreuzte bei ihr auf, fand aber nichts, machte dann einen Stimmabdruck von dem anonymen Anrufer und verhaftete den Pusher, weil er den Behörden falsche Informationen gegeben hatte. Als der Pusher auf Kaution wieder freigelassen wurde, besuchte er mitten in der Nacht die Puppe und schlug sie fast tot. Als er geschnappt wurde und man ihn fragte, warum er dem Mädchen ein Auge ausgeschlagen und ihr beide Arme und mehrere Rippen gebrochen habe, erklärte er, daß die Puppe auf zwei Päckchen mit hochgradigem Heroin gestoßen sei, die ihm gehörten, sie dann mit einem guten Schnitt verkauft und ihn nicht am Profit beteiligt habe. Das, dachte Arctor, ist halt die Pusher-Mentalität. Er lud Luckman und Barris in San Diego ab, wo sie alleine versuchen sollten, das Cephskop zu organisieren. Dadurch saßen sie erst einmal fest, was sie nicht nur daran hinderte, zum Haus zurückzukehren, während die Verwanzungsaktion in vollem Gange war, sondern es Arctor zudem auch möglich machte, mal wieder bei einem Mädchen vorbeizuschauen, das auf der Liste jener Personen stand, die er observieren sollte und das er seit über einem Monat nicht mehr gesehen hatte. Er kam selten in diese Gegend, und die Puppe schien sowieso nicht viel mehr zu tun als zwei- oder dreimal am Tag Meth zu schießen und gelegentlich ein paar Freier abzuschleppen, um so das Geld für ihren Stoff zusammenzubringen. Sie wohnte mit ihrem Dealer zusammen, der – was ja auf der Hand lag – auch ihr Zuhälter war. Gewöhnlich war Dan Mancher tagsüber weg, und das war günstig für Arctor. Der Dealer war zugleich auch selber süchtig, aber Arctor hatte bisher nicht herausfinden können, nach welchem Stoff. Offensichtlich nach einer ganzen Reihe von Drogen. Um welchen Stoff es sich auch immer handeln mochte – er hatte Dan seltsam und bösartig werden lassen. Außerdem unberechenbar und gewalttätig. Es war ein Wunder, daß die örtliche Polizei ihn nicht längst wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit eingebuchtet hatte. Vielleicht waren die Beamten bestochen. Oder, was am wahrscheinlichsten war, sie kümmerten sich einfach nicht mehr darum; dieses merkwürdige Pärchen lebte in einem Slumviertel, in dem sonst nur Rentner und andere arme Leute hausten. Die Polizisten betraten den Cromwell-Village-Distrikt mit seinen heruntergekommenen Häusern, den Müllkippen, Parkplätzen und Straßen, die wie Schuttabladeplätze wirkten, wohl nur dann, wenn es sich absolut nicht mehr vermeiden ließ – also etwa bei Kapitalverbrechen. Auf der ganzen Welt schien es nichts zu geben, was mehr Schmutz und menschliches Elend produzierte als solche endlosen Straßenzüge mit ihren grauen, tristen Mietskasernen, die eigentlich gebaut worden waren, um die Leute aus dem Schmutz und dem Elend herauszuholen. Arctor stellte seinen Wagen ab, fand den richtigen, nach Urin stinkenden Treppenaufgang, stieg hinauf in die Dunkelheit und entdeckte schließlich die Tür von Apartment 4, die mit einem G gekennzeichnet war. Eine volle Dose Drano lag vor der Tür, und er hob sie automatisch auf, wobei er sich fragte, wie viele Kinder hier wohl spielen mochten. Einen Augenblick lang erinnerte er sich an seine eigenen Kinder und daran, was er über die Jahre hinweg alles unternommen hatte, um sie vor Gefahren zu schützen. Dazu hätte auch gehört, eine solche Dose aufzuheben. Er hämmerte mit der Dose gegen die Tür. Sofort rasselte das Türschloß, und die mit einer Vorlegekette gesicherte Tür öffnete sich einen Spalt weit. Das Mädchen, Kimberly Hawkins, spähte heraus. »Ja?« »Hallo«, sagte er. »Ich bin’s, Bob.« »Was hast du da in der Hand?« »Eine Dose Drano«, sagte er. »Scherzkeks.« Sie löste apathisch die Kette; auch ihre Stimme klang apathisch. Kimberly war down, das konnte er sehen – sehr down. Außerdem hatte sie ein blaues Auge und eine gespaltene Lippe. Und als Arctor sich umblickte, sah er, daß die Fenster des kleinen, total verdreckten Apartments zersplittert waren. Glasscherben lagen auf dem Boden, vermischt mit umgekippten Aschenbechern und Coke-Flaschen. »Bist du allein?« fragte er. »Yeah. Dan und ich hatten einen Streit, und dann ist er abgehauen.« Das Mädchen – ein Chicano-Halbblut, klein und nicht besonders hübsch, mit der gelblichen Gesichtsfarbe der Schnee-Freaks – starrte blicklos zu Boden, und Arctor bemerkte ein Raspeln in ihrer Stimme, wenn sie sprach. Manche Drogen bewirkten das, aber es konnte auch von einer schweren Kehlkopfentzündung herrühren. Da die Fenster kaputt waren, ließ sich das Apartment nicht mehr richtig beheizen. »Er hat dich zusammengeschlagen.« Arctor stellte die Dose mit Drano auf ein Regal neben einige Porno-Taschenbücher; die meisten davon waren uralt und vom vielen Lesen zerfleddert. »Tja, er hatte sein Messer nicht dabei, Gott sei Dank. Sein Schnappmesser, das er jetzt immer in einer Scheide am Gürtel trägt.« Kimberly ließ sich in einen schweren Plüschsessel fallen, aus dem die Sprungfedern ragten. »Was willst du, Bob? Ich bin im Arsch, wirklich.« »Möchtest du, daß er wieder zu dir zurückkommt?« »Tja –« Sie zuckte ein wenig mit den Achseln. »Wer weiß?« Arctor ging zum Fenster und schaute hinaus. Dan Mancher würde ganz bestimmt früher oder später wiederauftauchen – das Mädchen war eine Geldquelle, und Dan wußte, daß sie Nachschub brauchen würde, wenn ihr der Stoff ausging. »Wie lange reicht’s noch?« fragte er. »Einen Tag.« »Kannst du nicht irgendwoanders was kriegen?« »Yeah, aber nicht so billig.« »Was ist mit deiner Kehle los?« »‘ne Erkältung«, sagte sie. »Von dem Wind, der reinkommt.« »Du solltest –« »Wenn ich zum Arzt gehe«, sagte sie, »dann wird er sehen, daß ich kokse. Ich kann nicht hingehen.« »Ein Arzt würde sich nicht weiter darum kümmern.« »Aber sicher doch.« Plötzlich schien sie zu lauschen. Da war ein Geräusch – ein Autoauspuff, unregelmäßig und laut. »Ist das Dans Wagen? Ein roter Ford Torino, Modell ‘79?« Arctor, der immer noch am Fenster stand, schaute hinaus und sah, wie ein zerknautschter roter Torino, aus dessen Doppelrohr-Auspuff dunkler Rauch quoll, auf dem mit Abfall übersäten Parkplatz anhielt; langsam öffnete sich die Fahrertür. »Ja.« Kimberly verschloß die Tür: zwei Extraschlösser. »Vielleicht hat er jetzt das Messer.« »Hast du ein Telefon?« »Nein«, sagte sie. »Du solltest dir unbedingt eins anschaffen.« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Er wird dich kaltmachen«, sagte Arctor. »Nicht jetzt. Du bist ja hier.« »Aber später, wenn ich wieder weg bin.« Kimberly setzte sich wieder und zuckte erneut die Achseln. Nur wenige Augenblicke später konnten sie draußen auf der Treppe Schritte hören und dann ein wildes Hämmern an der Tür. Dann die Stimme Dans, der brüllte, Kimberly solle die Tür öffnen. Sie schrie ein »Nein« zurück, und daß jemand bei ihr sei. »Okay!« schrie Dan mit überschnappender Stimme. »Dann schlitze ich dir eben deine Reifen auf!« Er lief treppabwärts, und Arctor und das Mädchen beobachteten durch das zerbrochene Fenster, wie Dan Mancher, ein magerer, kurzhaariger, tuntig wirkender Macker, der mit einem Messer herumfuchtelte, sich Kimberly s Wagen näherte. Er schrie immer noch Drohungen zu ihr hoch; seine Worte mußten in der ganzen Nachbarschaft zu verstehen sein. »Ich schlitz’ jetzt deine Reifen auf, deine Scheißreifen! Und dann mache ich dich alle, du verfluchte Hure!« Er bückte sich und zerschlitzte erst einen Reifen am alten Dodge des Mädchens, und dann noch einen. Kimberly sprang plötzlich auf, hetzte zur Tür des Apartments und begann wie wahnsinnig die diversen Schlösser aufzuschließen. »Ich muß ihn aufhalten! Der zerschneidet mir alle Reifen! Ich bin doch nicht versichert!« Arctor riß sie zurück. »Mein Wagen steht auch da unten.« Natürlich hatte er seinen Revolver nicht bei sich, und Dan hatte das Schnappmesser und war offensichtlich völlig außer Kontrolle. »Reifen sind nicht –« »Meine Reifen!« Kreischend versuchte das Mädchen, die Tür aufzukriegen. »Aber merkst du denn nicht, daß er hofft, daß du genau das tust?« sagte Arctor. »Eine Etage tiefer«, keuchte Kimberly. »Wir können die Polizei rufen – die haben ein Telefon. Laß mich doch los!« Mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung stieß sie ihn weg und brachte es irgendwie fertig die Tür aufzubekommen. »Ich werde die Polizei rufen. Meine Reifen! Einer davon ist noch ganz neu!« »Ich geh’ mit dir.« Er packte sie an der Schulter; sie stolperte vor ihm die Stufen hinunter, und er schaffte es kaum, mit ihr Schritt zu halten. Schon hatte sie das nächste Apartment erreicht und hämmerte gegen die Tür. »Bitte, öffnen Sie!« rief sie. »Bitte, ich möchte die Polizei rufen! Bitte lassen Sie mich doch die Polizei anrufen!« Arctor holte sie ein, schob sich neben sie und klopfte ebenfalls an. »Wir müssen unbedingt Ihr Telefon benutzen«, sagte er. »Es ist wirklich dringend. Ein Notfall.« Ein älterer Mann, der eine graue Wolljacke, eine zerknitterte, konservativ geschnittene Hose und eine Krawatte trug, öffnete die Tür. »Danke«, sagte Arctor. Kimberly drängte sich in die Wohnung, rannte zum Telefon und wählte die Nummer der Vermittlung. Arctor stand da, zur Tür gewandt, und rechnete jeden Moment damit, daß Dan auftauchen würde. Alles war still, bis auf Kimberlys Plappern. Sie schien dem Fräulein vom Amt eine völlig wirre Geschichte zu erzählen, die irgend etwas mit einem Streit wegen eines Paares Stiefel, das sieben Dollars gekostet hatte, zu tun hatte. »Er meinte, sie würden ihm gehören, weil ich sie ihm zu Weihnachten gekauft hatte«, plapperte sie, »aber sie gehörten mir, weil ich sie doch bezahlt habe, und da wollte er sie mir wegnehmen, und dann habe ich die Schäfte mit einem Dosenöffner zerfetzt, und dann hat er –« Sie verstummte; dann nickte sie. »All right, danke. Ja, ich bleibe dran.« Der ältliche Mann starrte Arctor an, und Arctor starrte zurück. Vom Nebenzimmer aus verfolgte eine ältliche Dame in einem Kleid aus bedrucktem Kattun stumm die ganze Szene; ihr Gesicht war steif vor Angst. »Muß schlimm für Sie sein«, sagte Arctor zu den beiden ältlichen Leuten. »So geht’s die ganze Zeit«, sagte der ältliche Mann. »Wir hören sie die ganze Nacht über, Nacht für Nacht, wie sie sich streiten. Und er sagt dauernd; daß er sie töten will.« »Wir hätten doch nach Denver zurückgehen sollen«, sagte die ältliche Dame. »Ich hab’s dir wieder und wieder gesagt. Wir hätten wirklich wieder nach Denver ziehen sollen.« »Diese schrecklichen Streitereien«, sagte der ältliche Mann. »Und wie sie dauernd Sachen kaputtschlagen, und dann der ganze Lärm.« Er starrte Arctor mit einem müden, flehenden Blick an, fast so, als erwarte er Hilfe von ihm oder vielleicht wenigstens ein bißchen Verständnis. »Weiter und weiter, es hört nie auf, und außerdem, was überhaupt das Schlimmste ist …Wissen Sie, jedesmal –« »Ja, erzähl’ ihm das mal«, drängte die ältliche Dame. »Was am schlimmsten ist«, sagte der ältliche Mann würdevoll, »ist nämlich Folgendes: Jedesmal, wenn wir nach draußen gehen, um einzukaufen oder einen Brief einzuwerfen, dann treten wir in … na, Sie wissen schon … in das, was die Hunde so hinter sich lassen.« »Hundekürtel«, sagte die ältliche Dame voller Entrüstung. * Der Streifenwagen der örtlichen Polizeistation tauchte auf. Arctor gab seine Zeugenaussage zu Protokoll, ohne sich als Polizeibeamter zu erkennen zu geben. Der Bulle nahm seine Aussage auf und versuchte, auch eine von Kimberly zu bekommen, die die Polizei ja schließlich alarmiert hatte; aber was Kimberly sagte, ergab keinen Sinn. Sie lamentierte nur pausenlos über das Paar Stiefel und warum sie sie besorgt hatte und wie viel sie ihr bedeuteten. Der Bulle, der mit seinem Klemmblock und einem darauf befestigten Formular Kimberly gegenübersaß, blickte einmal zu Arctor auf und betrachtete ihn mit einem kalten Ausdruck, den Arctor zwar nicht deuten konnte, der ihm aber jedenfalls ganz und gar nicht gefiel. Schließlich riet der Bulle Kimberly, sich ein Telefon anzuschaffen und wieder anzurufen, wenn der Verdächtige noch mal zurückkam und noch mehr Ärger machte. »Haben Sie das mit den aufgeschlitzten Reifen notiert?« erkundigte sich Arctor, als der Bulle gerade wieder gehen wollte. »Haben Sie den Wagen des Mädchens draußen auf dem Parkplatz untersucht und persönlich festgestellt, wie viele Reifen beschädigt worden sind? Steht in Ihrem Protokoll drin, daß die Schäden mit einem scharfen Gegenstand – vermutlich einem Schnappmesser – verursacht worden sind, und zwar erst vor ganz kurzer Zeit – sogar jetzt tritt ja noch Luft aus den Reifen aus?« Der Bulle starrte ihn wieder mit dem gleichen Ausdruck in den Augen an und ging ohne weiteren Kommentar. »Du bleibst besser nicht hier«, sagte Arctor zu Kimberly. »Er hätte dir den Rat geben sollen, dich davonzumachen. Hätte dich fragen sollen, ob es irgendeinen anderen Ort gibt, wo du unterkommen könntest.« Kimberly saß auf der schäbigen Couch in ihrem mit Trümmern übersäten Wohnzimmer. Jetzt, da sie ihre unzulänglichen Bemühungen, dem ermittelnden Beamten ihre Situation darzulegen, eingestellt hatte, waren ihre Augen wieder so glanzlos wie zuvor. Sie zuckte die Achseln. »Ich fahre dich überallhin, wo du hin möchtest«, sagte Arctor. »Weißt du irgendeine Freundin, bei der du –« »Mensch, verpiß dich doch endlich!« sagte Kimberly übergangslos mit einer bösen Stimme, die sehr wie die Dan Manchers klang, nur rauher. »Verpiß dich, und zwar auf der Stelle, Bob Arctor – zisch ab, mach ‘ne Fliege, verdammt noch mal. Hau endlich ab!« Ihre Stimme wurde immer schriller und brach dann verzweifelt ab. Er verließ wortlos das Apartment und stieg langsam die Treppe hinunter, Stufe um Stufe. Als er die unterste Stufe erreichte, hörte er einen Knall. Etwas rollte hinter ihm die Treppe herunter; es war die Dose mit Drano. Er hörte, wie Kimberly ihre Tür wieder verschloß, einen Riegel nach dem anderen vorschob … Völlig sinnlos, dachte er. Das ist alles völlig sinnlos. Der Ermittlungsbeamte rät ihr, wieder anzurufen, wenn der Verdächtige zurückkommt. Aber wie kann sie das, ohne ihr Apartment zu verlassen? Und dann wird Dan Mancher sie aufschlitzen, genau wie die Reifen. Und wenn sie dann tot umfällt … Plötzlich erinnerte er sich an die Klagen der alten Leutchen, die eine Treppe unter Kimberly wohnten. Ja, wenn sie dann tot umfällt, wird sie bestimmt mitten in einem Häufchen Hundescheiße landen. Er verspürte den Drang in sich, hysterisch loszulachen. Als er daran dachte, in welcher Rangordnung diese alten Leutchen die Probleme in ihrer Umgebung sahen. Da verprügelt zwar eine Etage über ihnen ein ausgeklinkter Freak Nacht für Nacht eine junge Rauschgiftsüchtige, die auf den Strich geht, mit tödlicher Sicherheit eine schwere Kehlkopfentzündung hat und dazu vielleicht noch andere, viel schlimmere Krankheiten; da droht dieser Freak dem Mädchen pausenlos damit, daß er es töten werde – eine Drohung, die er vielleicht schon sehr bald wahrmachen mochte – aber zu allem Überfluß – Als er mit Luckman und Barris zurück Richtung Norden fuhr, kicherte er laut. »Hundescheiße«, sagte er. »Hundescheiße.« Wieviel Humor doch in so einem Stückchen Hundescheiße steckt, dachte er, wenn man nur darüber lachen kann. Oh, wie lustig ist doch Hundescheiße! »Du solltest lieber die Spur wechseln und den Überlandlaster da überholen«, sagte Luckman. »Der Lahmarsch kommt ja kaum von der Stelle.« Arctor ordnete sich in die linke Spur ein und beschleunigte. Aber dann, als er den Fuß vom Gas nahm, sackte das Pedal urplötzlich bis auf die Bodenmatte durch. Gleichzeitig heulte der Motor wütend auf, und der Wagen schoß wild mit gewaltiger Geschwindigkeit vorwärts. »Langsamer!« sagten Luckman und Barris wie aus einem Mund. Inzwischen hatte der Wagen fast 160 Stundenkilometer erreicht; vor ihnen tauchte verschwommen ein VW-Lieferwagen auf. Das Gaspedal blieb tot; es kam nicht wieder hoch, sondern blieb einfach unten. Sowohl Luckman, der neben Arctor saß, als auch Barris hinten auf dem Rücksitz rissen instinktiv die Arme hoch. Arctor kurbelte wie wild am Lenkrad und schoß an dem VW-Lieferwagen vorbei nach links, hinein in eine unglaubliche winzige Lücke vor einem heranjagenden Corvette. Der Corvette hupte, und sie hörten seine Bremsen quietschen. Jetzt schrien Luckman und Barris irgendwas; Luckman griff plötzlich zur Fahrerseite hinüber und stellte die Zündung ab. Zugleich schaltete Arctor das Automatikgetriebe auf die Nullstellung. Der Wagen wurde langsamer; Arctor bremste ihn ab und lenkte ihn auf die rechte Spur und weiter auf den Randstreifen. Nun, da der Motor abgeschaltet war und auch im Getriebe keine Kraftübertragung mehr stattfand, rollte der Wagen langsam aus und kam zum Stehen. Der Corvette, der schon fast außer Sicht war, hupte immer noch entrüstet. Und jetzt rollte der riesige Überlandlaster an ihnen vorbei und ließ für einen taub machenden Augenblick sein eigenes Warnhorn ertönen. »Was, zum Teufel, ist passiert?« sagte Barris. Seine Hände und seine Stimme und überhaupt alles an ihm zitterte, als Arctor sagte: »Die Feder vom Gaszug. Muß festgehakt oder abgebrochen sein.« Er wies nach unten. Sie alle blickten auf das Pedal, das immer noch flach auf dem Boden lag. Der Motor war bis zur größtmöglichen Umdrehungszahl auf Touren gekommen, was für den Wagen wirklich beachtlich war. Arctor wußte nicht, wie schnell der Wagen zum Schluß gewesen war; der Tacho hatte die erreichte Geschwindigkeit gar nicht mehr anzeigen können. Bestimmt viel mehr als 160 Kilometer, dachte Arctor. Und plötzlich begriff er, daß der Wagen auch nicht langsamer geworden war, als er reflexartig auf die Bremse gestiegen war. Schweigend stiegen sie alle drei aus und öffneten die Motorhaube. Weißer Rauch stieg von dem mit einem dünnen Ölfilm bedeckten Motor auf, und aus dem Kühlsystem sprühte fast kochend heißes Wasser. Luckman beugte sich über den heißen Motor und zeigte auf etwas. »Die Feder ist nicht kaputt«, sagte er, »sondern die Verbindung vom Pedal zum Vergaser. Seht ihr? Sie ist auseinandergefallen.« Der lange Verbindungsstab lag nutzlos da, obwohl die Kopplungsringe noch an der richtigen Stelle waren. »Darum ist das Gaspedal nicht wieder zurückgeschnellt, als du den Fuß weggenommen hast. Aber –« Er sah sich den Vergaser eine Zeit lang genauer an und runzelte dann die Stirn. »Da gibt es doch eine mechanische Sicherung am Vergaser«, sagte Barris und zeigte grinsend seine Zähne, die aussahen, als seien sie künstlich. »So ein System, das einspringt, wenn das Verbindungsgestänge auseinandergeht –« »Aber warum ist es denn überhaupt auseinandergegangen?« unterbrach ihn Arctor. »Sollte dieser Ring hier nicht die Schraubenmutter an Ort und Stelle halten?« Er strich an dem Gestänge entlang. »Wie konnte es denn einfach so abfallen?« Als hätte er Arctors Einwand gar nicht gehört, fuhr Barris fort: »Wenn – aus welchem Grund auch immer – diese Verbindung hier nachgibt, dann müßte sich der Motor eigentlich von selbst auf Leerlauf umstellen. Als Sicherheitsfaktor. Aber statt dessen hat sich die Drehzahl immer mehr erhöht.« Er verdrehte sich wie eine Schlange, um einen besseren Blick auf den Vergaser zu haben. »Diese Schraube hier hat sich vollständig herausgedreht«, sagte er. »Ich meine, die Schraube, die im Notfall bewirkt, daß sich der Motor auf Leerlauf schaltet. Und als das Gestänge auseinanderfiel, hat der Abschalter deshalb das genaue Gegenteil bewirkt – die Umdrehungszahl ist nicht gesunken, sondern immer noch mehr angestiegen.« »Wie hat das passieren können?« sagte Luckman laut. »Besteht die Möglichkeit, daß sich eine solche Schraube von selbst ganz herausdreht, so weit wie in diesem Fall? Rein zufällig?« Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, holte Barris sein Taschenmesser hervor, klappte die kleine Klinge heraus und fing an, die Leerlauf-Regler-Schraube wieder festzuschrauben. Er zählte laut mit. Zwanzig Umdrehungen, dann erst saß die Schraube wieder fest. »Um diese Vorrichtung, die aus dem Haltering und der Schraubenmutter besteht und das Verbindungsgestänge zum Gaspedal zusammenhält, loszumachen«, sagte er, »würde man Spezialwerkzeuge benötigen. Etliche sogar. Ich würde schätzen, daß es so ungefähr eine halbe Stunde dauern wird, um das hier wieder hinzukriegen. Ich habe allerdings alle dazu nötigen Werkzeuge in meiner Werkzeugkiste.« »Deine Werkzeugkiste steht bei uns zu Hause«, sagte Luckman. »Ja.« Barris nickte. »Dann werden wir uns eben eine Tankstelle suchen müssen, wo wir uns entweder Werkzeuge leihen oder aber einen Abschleppwagen anfordern können. Ich würde vorschlagen, daß wir die Mechaniker aus der Werkstatt hierher holen, damit sie den Wagen gründlich überprüfen können, bevor wir wieder damit fahren.« »Hey, Mann«, sagte Luckman laut, »war das nun eigentlich ein Zufall, oder hat jemand absichtlich am Motor rumgespielt? Genau wie bei Bobs Cephskop?« Barris dachte angestrengt nach, wobei er immer noch sein verschlagenes, klägliches Lächeln zeigte. »Dazu kann ich nichts Definitives sagen. Sabotage an einem Wagen, böswillige Manipulationen, um einen Unfall herbeizuführen … « Er starrte Arctor an, die Augen unsichtbar hinter der grünen Sonnenbrille verborgen. »Wir wären fast drauf gegangen. Wenn dieser Corvette auch nur ein kleines bißchen schneller gewesen wäre … Da hat ja kaum noch ‘ne Briefmarke dazwischengepaßt. Du hättest die Zündung sofort abstellen sollen, als du gemerkt hast, was los war.« »Ich hab’ die Automatik auf Leerlauf geschaltet«, sagte Arctor. »Sofort, als ich bemerkt hab’, daß da was nicht in Ordnung war. Aber ich hab’ im ersten Augenblick gar nicht geschnallt, was eigentlich passiert war.« Er dachte: Wenn es die Bremsen gewesen wären, wenn das Brems­pedal unten geblieben wäre, dann hätt ich’s eher kapiert. Dann hätte ich gewußt, wie ich reagieren mußte. Aber das … das war irgendwie abartig. »Das hat jemand absichtlich gemacht«, sagte Luckman laut. Er wirbelte wütend herum und ließ die Fäuste ziellos durch die Luft sausen. »SO EINE ABGEWICHSTE SCHEISSE! Wir wären fast dran gewesen! Verdammte Scheiße, fast hätten sie uns erwischt!« Barris stand am Rand des Freeway, auf dem pausenlos der dichte Verkehr vorbeidröhnte, und nahm eine kleine Schnupftabakdose aus Schildpatt heraus, die bis obenhin mit T-Tabletten gefüllt war. Er schluckte etliche davon, hielt die Dose Luckman hin, der nur ein paar Tabletten nahm, und wollte sie dann an Arctor weiterreichen. »Vielleicht ist es gerade das, was uns langsam kirre macht«, sagte Arctor gereizt und weigerte sich, die Dose anzunehmen. »Was unsere Gehirne so versaut.« »Dope kann keine Verbindungsgestänge und keine mechanischen Sicherungen losschrauben«, sagte Barris, der die Schnupftabakdose immer noch Arctor hinhielt. »Am besten nimmst du wenigstens drei davon – sie sind Primo, aber mild. Mit ein bißchen Meth verschnitten.« »Tu endlich die verdammte Dose weg«, sagte Arctor. Er spürte, wie in seinem Kopf laute Stimmen sangen: eine schreckliche Musik, als wäre die Wirklichkeit um ihn plötzlich vergoren. Die dahinschießenden Wagen, die beiden Männer, sein eigener Wagen mit der offenstehenden Motorhaube, der Smoggeruch, das grelle, heiße Mittagslicht – das alles war irgendwie ranzig, fast so, als sei seine ganze Welt durch und durch in Fäulnis und Verwesung übergegangen. Diese seltsame Veränderung wirkte nicht eigentlich bedrohlich, und sie flößte Arctor auch keine Furcht ein, aber es machte ihn regelrecht krank, daß alles, was er sah, hörte und roch, nach Moder stank. Er schloß die Augen und erschauerte. »Was riechst du?« fragte Luckman. »Ein Hinweis, Mann? Irgend ein Geruch vom Motor, der –« »Hundescheiße«, sagte Arctor. Er konnte sie riechen, und der Gestank kam direkt aus dem Motorblock. Er beugte sich vor und schnüffelte. Ja, hier war der Geruch ganz deutlich; er wurde immer stärker. Abartig, dachte er. Ein echter Horror. »Riecht ihr die Hundescheiße?« fragte er Barris und Luckman. »Nein«, sagte Luckman und musterte Arctor scharf. Zu Barris sagte er: »Waren irgendwelche Psychedelics im Dope?« Barris lächelte und schüttelte den Kopf. Als Arctor sich über den heißen Motor beugte, den Geruch von Hundescheiße immer noch in der Nase, begriff er auf einmal, daß dies eine Illusion war; es gab gar keinen Hundescheiße-Geruch. Aber trotzdem roch er sie immer noch. Und jetzt sah er überall auf dem Motorblock, besonders unten bei den Zündkerzen, schmierige, dunkelbraune Flecken – eine widerwärtige Substanz. Öl, dachte er. Ausgelaufenes Öl. Da muß eine Dichtung kaputt sein. Aber er mußte mit der Hand hinfassen und die Substanz berühren, um sich dessen zu versichern, um das, was sein Verstand ihm sagte, zu bekräftigen. Seine Finger berührten die klebrigen braunen Flecken und zuckten dann instinktiv zurück. Er hatte mit den Fingern in Hundescheiße gepackt. Auf dem ganzen Motorblock und auf allen Kabeln war ein dicker Überzug von Hundescheiße. Dann nahm er plötzlich wahr, daß die Hundescheiße auch auf dem Luftfilter war, und als er aufblickte, entdeckte er sie auch an der Unterseite der Motorhaube. Der Gestank überwältigte ihn. Er schloß die Augen und erschauerte. »Hey, Mann«, sagte Luckman scharf und packte den schwankenden Arctor an der Schulter, damit er nicht umfiel. »Du hast einen Flashback, nicht wahr?« »Freikarten fürs Theater», stimmte Barris zu und kicherte. »Du setzt dich besser hin«, sagte Luckman. Er geleitete Arctor zurück zum Fahrersitz und bugsierte ihn hinein. »Mann, du bist ja echt weggetreten. Bleib nur ganz ruhig da sitzen. Keine Panik. Wir leben doch alle noch, und jetzt sind wir ja gewarnt.« Er schloß die Wagentür hinter Arctor. »‘s is’ alles in Butter, klar?« Barris tauchte am Wagenfenster auf und sagte: »Möchtest du ein Stückchen Hundescheiße. Bob? Zum Draufrumkauen?« Arctor verspürte tief in seinem Innern eine ungeheure Kälte. Er öffnete die Augen und starrte Barris an, aber dessen grünverglaste Augen waren völlig ausdruckslos. Hat er das wirklich gesagt? dachte Arctor. Oder hat mein Kopf das nur erfunden? »Was, Jim?« sagte er. Barris begann zu lachen. Und lachte und lachte und lachte. »Laß ihn in Ruhe, Mann«, sagte Luckman und versetzte Barris einen Schlag auf den Rücken. »Los, verpiß dich, Barris.« »Was hat er gerade eben gesagt?« erkundigte Arctor sich bei Luckman. »Verdammt noch mal, was genau hat er zu mir gesagt?« »Ich weiß nicht«, sagte Luckman. »Ich verstehe sowieso nicht mal die Hälfte von dem, was Barris alles zu den Leuten sagt.« Barris lächelte immer noch, hielt aber jetzt den Mund. »Du gottverdammtes Arschloch«, sagte Arctor zu ihm. »Ich weiß, daß du’s gewesen bist. Du hast erst mein Cephskop und jetzt auch noch den Wagen kaputtgemacht, du Drecksau. Du hast’s getan, du dreckiger kleiner Bastard.« Er konnte seine Stimme selbst kaum hören, aber als er dem lächelnden Barris diese Anklage entgegenbrüllte, wurde der schreckliche Gestank von Hundescheiße stärker. Er gab seine sinnlosen Sprechversuche auf, klammerte sich am jetzt nutzlosen Lenkrad seines Wagens fest und konzentrierte sich ganz darauf, nicht endgültig umzukippen. Gott sei Dank ist Luckman mitgefahren, dachte er. Wenn er nicht da gewesen wäre, dann wäre ich jetzt endgültig weg vom Fenster. Game over, und das hätte ich diesem übergeschnapptem Schleimscheißer zu verdanken, dieser Tunte, die mit mir unter einem Dach wohnt. »Keine Panik, Bob«, drang Luckmans Stimme durch die endlosen Wellen von Übelkeit zu ihm durch. »Ich weiß genau, daß er’s getan hat«, sagte Arctor. »Aber warum, zum Teufel noch mal?« schien Luckman zu sagen (oder versuchte er nur, das zu sagen?). »Er hätte sich doch auf diese Art selbst mit plattgemacht. Warum, Mann? Warum?« Der Geruch, der von dem immer noch lächelnden Barris ausströmte, überwältigte Bob Arctor, und er erbrach sich auf das Armaturenbrett seines eigenen Wagens. Tausend dünne Sümmchen zwitscherten los, strömten auf ihn ein, und endlich ließ der Gestank nach. Tausend dünne, fremdartige Stimmen, die nach ihm riefen; er verstand nicht, was sie ihm sagen wollten, aber wenigstens konnte er jetzt wieder etwas sehen, und der Gestank, dieser entsetzliche Gestank, war nun ganz verschwunden. Arctor zitterte und griff nach dem Taschentuch in seiner Hosentasche. »Was war in diesen Tabletten, die du uns gegeben hast?« fragte Luckman herausfordernd den lächelnden Barris. »Zum Teufel, ich hab’ doch selber ein paar eingepfiffen«, sagte Barris, »und du auch. Und wir hatten keine schlechten Trip. Also lag’s nicht am Dope. Und außerdem ist es viel zu schnell losgegangen. Wie hätte es denn am Dope liegen können? Der Magen kann das doch in der kurzen Zeit gar nicht absorbieren, und –« »Du hast mich vergiftet«, sagte Arctor wild. Sein Blick war fast klar, und auch sein Geist klärte sich langsam wieder. Nur die Angst, die sich jetzt, da der Anfall von Wahnsinn vorüber war, als Reaktion auf die Ereignisse der letzten Minuten eingestellt hatte – diese Angst wollte nicht weichen. Arctor hatte Angst, wenn er an das dachte, was fast passiert wäre, Angst, schreckliche Angst vor dem lächelnden Barris und seiner Scheiß-Schnupf­tabakdose und vor dem Irrsinn, der aus seinen Erklärungen und seinen Äußerungen und seinem Verhalten und seinen Gewohnheiten und seinen privaten Ritualen und aus seinem klammheimlichen Kommen und Gehen sprach. Und da waren noch der anonyme Telefonanruf, mit dem Robert Arctor bei der Polizei denunziert worden war, und die zusammengefutschelte elektronische Abschirmung, die immerhin gut genug funktioniert hatte, um die Stimme des Anrufers unkenntlich zu machen. Und auch dahinter konnte nur Barris stecken. Bob Arctor dachte: Der Scheißkerl will mich fertigmachen. »Ich hab’ noch nie jemanden so schnell ausflippen sehen wie gerade Bob«, sagte Barris, »aber andererseits –« »Bist du jetzt wieder okay, Bob?« sagte Luckman. »Wir werden die Kotze wegmachen, keine Sorge. Leg dich besser auf den Rücksitz.« Er und Barris öffneten gemeinsam die Wagentür; Arctor, der immer noch ganz betäubt war, stieg unsicher aus. Luckman wandte sich an Barris. »Du bleibst also dabei, daß du ihm nichts untergejubelt hast?« Barris wedelte protestierend mit den Händen in der Luft herum. VI Item. Was ein Geheimer Rauschgift-Agent am meisten fürchtet, ist nicht etwa, daß er erschossen oder zusammengeschlagen wird, sondern daß man ihm einen Hit irgendeiner psychedelischen Droge unterjubelt, die bewirkt, daß sich für den Rest seines Lebens ein endloser Horrorfilm in seinem Kopf abspult, oder man ihn mit einem Mex-Hit vollpumpt, der zur Hälfte aus Heroin und zur Hälfte aus Substanz T besteht und manchmal auch aus einer Mischung dieser beiden Drogen plus einem Gift wie etwa Strychnin, das ihn beinahe umbringen wird – aber eben nur beinahe, damit er auch ja nicht dem obengenannten Schicksal entgeht: der lebenslänglichen Sucht, dem lebenslänglichen Horrorfilm. Er wird auf eine Stufe der Existenz absinken, auf der sich sein ganzes Denken nur noch um Nadel und Spritzbesteck dreht, oder er wird wieder gegen die Wände einer Gummizelle in einer psychiatrischen Klinik anrennen oder – was am schlimmsten ist – in einer Staatlichen Nervenklinik landen. Er wird Tag und Nacht versuchen, die Blattläuse von sich abzuschütteln oder bis an sein Lebensende darüber nachgrübeln, warum er es nicht länger fertigbringt, einen Fußboden zu bohnern. Und all dies wird man ihm mit voller Absicht antun, weil jemand herausgefunden hat, daß er für die Behörden arbeitet, und ihn dann hinterrücks erwischt hat. Eigentlich auf die naheliegendste und übelste Art, die man sich nur vorstellen konnte: nämlich mit dem Zeug, das diese Leute verkauften und wegen dem der Rauschgift-Agent schließlich hinter ihnen her war. Und das, dachte Bob Arctor, während er vorsichtig heimfuhr, bedeutet, daß sowohl die Dealer als auch die Rauschgift-Agenten wissen, was die Drogen, die auf den Straßen verkauft werden, dem Menschen antun. Wenigstens ein Punkt, in dem beide Seiten sich einig waren. Von einer nahe gelegenen Union-Tankstelle war ein Automechaniker zu der Stelle herausgekommen, wo Arctors Wagen stand, hatte den Wagen durchgecheckt und ihn schließlich für dreißig Dollar wieder in Ordnung gebracht. Alles sonst schien okay zu sein; allerdings hatte der Automechaniker ziemlich lange die linke Vorderradaufhängung untersucht. »Stimmt da was nicht?« hatte Arctor sich erkundigt. »Möglich, daß Sie Ärger kriegen, wenn Sie scharf um die Ecke biegen«, hatte der Automechaniker gesagt. »Schwimmt der Wagen?« Der Wagen schwamm nicht; jedenfalls hatte Arctor das bisher nicht bemerkt. Aber der Automechaniker ließ sich nicht dazu herab, genauere Erläuterungen abzu­ge­ben; er betastete nur immer wieder die Achsschenkel und den ölgefüllten Stoßdämpfer. Arctor bezahlte die Rechnung, und der Abschleppwagen fuhr weg. Dann stieg er wieder in seinen eigenen Wagen und steuerte ihn nordwärts, zurück nach Orange County. Luckman und Barris saßen jetzt beide hinten. Während er so dahinfuhr, dachte Arctor über verschiedene andere ironische Parallelen zwischen Rauschgift-Agenten und Dealern nach. Mehrere Rauschgift-Agenten, die er kennengelernt hatte, hatten sich bei ihrer Arbeit als Dealer getarnt und schließlich wirklich Hasch und am Ende manchmal sogar Smack verkauft. Eine hübsche Tarnung, die aber zudem im Laufe der Zeit dem jeweiligen Agenten einen Profit brachte, der weit über seinem offiziellen Gehalt lag – selbst dann noch, wenn man die Summen dazurechnete, die der Agent jedesmal dann kassierte, wenn durch seine Hilfe eine große Lieferung Stoff abgefangen werden konnte. Außerdem erlagen die Agenten nach und nach immer stärker der Versuchung, das Zeug, mit dem sie zur Tarnung handelten, selbst zu konsumieren. Auf diese Weise verstrickten sie sich immer tiefer in die Scene, und bald nahm ihre Existenz als Dealer und Süchtige einen ebenso großen Raum in ihrem Leben ein wie ihre Tätigkeit als Rauschgift-Agenten – was am Schluß dazu führte, daß einige von ihnen ihre dienstlichen Pflichten zu vernachlässigen begannen und sich statt dessen lieber als Full-Time-Dealer etablierten. Andererseits wiederum gab es Dealer, die ihre eigenen Kollegen verpfiffen, weil sie auf diese Weise persönliche Feinde fertigmachen wollten oder hoffen durften, aufgrund ihrer Informantentätigkeit davor geschützt zu sein, in nächster Zeit selber hochgenommen zu werden. Diese Dealer entwickelten sich dann manchmal zu einer Art inoffizieller Geheimer Rauschgift-Agenten. Die Grenzen waren fließend; alles war dunkel und undurchschaubar. Die Drogenscene war ohnehin für alle, die in ihr lebten, eine dunkle Welt. Für Bob Arctor zum Beispiel war sie seit diesem Nachmittag dunkler geworden als je zuvor: Während er und seine beiden Kumpels draußen am San Diego Freeway gerade noch einmal dem Teufel von der Schippe gesprungen waren, hatten die Beamten vom Amt für Drogenmißbrauch ihr Haus – wie er hoffte – sorgfältig verwanzt, und wenn das der Fall war, würde er von jetzt an vor solchen Dingen, wie sie heute geschehen waren, sicher sein. Diese Verwanzung­aktion war ein Glücksfall, der letztendlich darüber entscheiden mochte, ob er, Arctor, vergiftet oder erschossen oder süchtig gemacht wurde oder ob es ihm statt dessen gelingen würde, seinen Feind festzunageln – seinen Feind, dessen Identität er nicht kannte, der ihn aber längst im Fadenkreuz hatte und ihn heute sogar beinahe schon erwischt hätte. Wenn erst einmal die Holo-Kameras an den vorgesehenen Stellen eingebaut sind, dachte Arctor, dann werden kaum noch weitere Sabotageakte oder Angriffe auf mich möglich sein. Zumindest aber wird dadurch der Erfolg solcher Aktionen in Frage gestellt. Das war so ungefähr der einzige Gedanke, der ihm etwas Beruhigung verschaffte. Jemand, der gejagt wird, überlegte er, als er den Wagen vorsichtig durch den dichten Spätnachmittagsverkehr lenkte, flieht manchmal vielleicht schon, wenn ihm noch niemand unmittelbar auf den Fersen ist – er hatte einmal so etwas gehört, und vielleicht traf das ja wirklich zu. Was aber mit Sicherheit zutraf, war, daß jemand, der gejagt wurde, rasch eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen ergriff und floh, als sei der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her, wenn ihm wirklich jemand auf den Fersen war – eine reale Person, die in solchen Dingen erfahren war und zudem aus dem Verborgenen heraus operierte. Und wenn dieser Jäger sehr dicht hinter ihm war. So dicht, dachte Arctor, wie der Rücksitz dieses Wagens. Und wenn der Jäger seine seltsame kleine Kugelspritze vom Kaliber 22, hergestellt in Deutschland, mit seinem ebenso seltsamen und lächerlichen Pseudo-Schalldämpfer darauf dabei hat und Luckman wie gewöhnlich eingeschlafen ist, dann kann er mir ein Hohlmantelgeschoß durch die Rückseite meines Schädels jagen, und ich werde so tot sein wie Bobby Kennedy, der an einer Kugel vom gleichen Kaliber gestorben ist. So ein kleines Kaliber, und doch so tödlich … Und das kann nicht nur heute passieren, sondern an jedem beliebigen Tag. Und in jeder beliebigen Nacht. Aber ich habe wenigstens noch einen Trumpf im Ärmel. Denn wenn ich die Speichertrommeln im Haus überprüfe, werde ich bald ziemlich genau wissen, was alle, die in diesem Haus leben, tun und wann sie es tun und möglicherweise sogar, warum sie es tun – mich selbst eingeschlossen. Ich werde die Person, die zugleich ich selbst bin, dabei beobachten können, dachte er, wie sie mitten in der Nacht aufsteht, um zu pinkeln. Ich werde, alle Zimmer täglich vierundzwanzig Stunden lang überwachen … obwohl es dabei natürlich zwangsläufig immer eine zeitliche Verzögerung gibt. Es wird mir nicht viel nützen, wenn die Holo-Kameras aufnehmen, wie ich jeden Kontakt zur Realität verliere, weil mir jemand eine gehirnzerstörende Droge in den Kaffee getan hat, die die Hell’s Angels aus einem geheimen Militärdepot geklaut haben; ein anderer Beamter, der die Speichertrommeln durchgeht, wird zuschauen müssen, wie ich tobe oder mich in Agonie auf dem Boden winde, und er wird nicht einmal wissen, wo und was ich in Zukunft sein werde. Er wird nur wissen, daß mich jetzt jemand erwischt hat – eine reichlich verspätete Erkenntnis, die eben nicht einmal mehr mir selbst vergönnt sein wird, sondern nur diesem anderen Beamten. Luckman sagte: »Ich frage mich, was daheim im Haus vor sich gegangen sein mag, während wir den ganzen Tag über weg waren. Weißt du, Bob, dieser Vorfall beweist doch, daß jemand hinter dir her ist und dich fertigmachen will, so richtig auf die üble Tour. Ich hoffe nur, daß das Haus noch da ist, wenn wir zurückkommen. « »Oh, verdammt«, sagte Arctor. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Und wir haben nicht mal ein Cephskop auftreiben können.« Er achtete sorgfältig darauf, daß seine Stimme dumpf und resigniert klang. Überraschend fröhlich sagte Barris: »Ich an eurer Stelle würde mir da nicht zu viele Sorgen machen.« Wütend sagte Luckman: »Ach nein? Herr im Himmel, die können bei uns eingebrochen sein und alles gestohlen haben, was wir besitzen. Jedenfalls alles, was Bob gehört. Und vielleicht haben sie sogar die Tiere umgebracht oder totgetrampelt. Oder –« »Ich habe für alle, die in unserer Abwesenheit das Haus betreten haben, eine kleine Überraschung zurückgelassen«, sagte Barris. »Ich bin erst heute morgen damit fertig geworden … hab’ pausenlos gearbeitet, bis ich den richtigen Dreh raushatte. Eine hübsche kleine elektronische Überraschung.« Arctor verbarg mühsam seine Betroffenheit und sagte scharf: »Was für eine elektronische Überraschung? Das ist immer noch mein Haus, Jim, und du kannst nicht einfach anfangen, irgendwelche Manipulationen –« Reg dich doch nicht künstlich auf«, sagte Barris. »Wie unsere deutschen Freunde zu sagen pflegen: leise[1 - Anm. d. Übersetz.: Deutsch im Original] Was übrigens bedeutet: immer schön cool bleiben.« »Was zum Teufel hast du denn gemacht,« »Wenn während unserer Abwesenheit die Vordertür geöffnet wird«, sagte Barris, »schaltet sich automatisch mein Cassettenrecorder ein. Er steht unter der Couch, und ich habe ihn mit einer Cassette von zwei Stunden Spieldauer bestückt. Sodann habe ich an drei verschiedenen Stellen drei Sony-Mikrophone plaziert und sie –« »Du hättest mir das sagen sollen«, sagte Arctor. »Was ist, wenn sie durch die Fenster kommen?« sagte Luckman. »Oder durch die Hintertür?« »Um die Wahrscheinlichkeit dafür zu erhöhen, daß sie durch die Vordertür ins Haus eindringen und nicht auf anderen, weniger gebräuchlichen Wegen« fuhr Barris fort, »habe ich in weiser Voraussicht einfach die Vordertür unverschlossen gelassen.« Nach einem Moment der Verblüffung begann Luckman zu kichern. »Mal angenommen, Sie wissen nicht, daß die Tür unverschlossen ist?« sagte Arctor. »Ich habe einen Zettel drangemacht«, sagte Barris. »Hör mal, du willst mich wohl verarschen?« »Ja«, sagte Barris prompt. »Verarschst du uns nun oder nicht?« sagte Luckman. »Bei dir weiß ich das nie so recht. Verarscht er uns, Bob?« »Wir werden’s ja feststellen, wenn wir heimkommen«? sagte Arctor. »Wenn ein Zettel an der Tür hängt und sie nicht abgeschlossen ist, dann wissen wir, daß er uns nicht verarscht.«, »Sie würden den Zettel vielleicht abmachen und die Tür abschließen, nachdem sie alles Brauchbare geklaut und den Rest der Einrichtung zertrümmert haben«, sagte Luckman. »Das ist also kein zuverlässiges Kriterium. Wir werden’s nie genau wissen können. Jedenfalls nicht mit letzter Sicherheit. Wieder einmal diese Grauzone.« »Natürlich scherze ich nur!« sagte Barris mit Nachdruck. »Nur ein Psychopath würde so etwas tun – die Vordertür seines Hauses unverschlossen zu lassen und einen Zettel an der Tür zu hinterlassen.« Arctor wandte sich zu ihm um. »Was hast du auf den Zettel geschrieben, Jim?« »An wen ist der Zettel gerichtet?« stimmte Luckman ein. »Ich wußte nicht mal, daß du überhaupt schreiben kannst.« Herablassend sagte Barris: »Ich habe draufgeschrieben: ›Donna, komm ruhig rein; die Tür ist offen. Wir –‹« Barris hielt inne »Die Nachricht ist für Donna«, schloß er, jetzt weniger selbstbewußt. »Er hat’s tatsächlich gemacht«, sagte Luckman. »Er hat’s echt gemacht. Alles, was er uns erzählt hat.« »Auf diese Weise«, sagte Barris glatt, »werden wir herausfinden, wer hinter der ganzen Sache steckt, Bob. Und das ist von vorrangiger Wichtigkeit.« »Außer, sie klauen«, sagte Arctor. Er dachte fieberhaft darüber nach, ob diese neue Entwicklung wirklich ein ernsthaftes Problem darstelle. Warum mußte dieser Kindskopf Barris auch jede mögliche und unmögliche Gelegenheit dazu benutzen, um sein verdrehtes elektronisches Genie unter Beweis zu stellen? Ach, zum Teufel, beruhigte er sich schließlich selbst, sie werden die Mikros schon innerhalb der ersten zehn Minuten finden und dann die Kabel zum Recorder zurückverfolgen. Sie werden genau wissen, was in einer solchen Situation zu tun ist. Sie werden das Band löschen, es zurückspulen, die ganze Konstruktion so lassen, wie sie war, die Tür nicht abschließen und auch den Zettel daran hängen lassen. Vielleicht wird die offene Tür ihnen ihren Job sogar erleichtern. Scheiß-Barris, dachte er. Immer voller grandioser, genialer Pläne, die das Universum aus den Angeln heben sollen! Möglicherweise hat er sogar vergessen, den Recorder überhaupt in die Steckdose einzustöpseln. Moment mal … wenn er feststellt, daß der Recorder nicht eingestöpselt ist … Schlagartig begriff Arctor, daß Barris gerade das als Beweis dafür werten würde, daß in ihrer Abwesenheit tatsächlich jemand ins Haus eingedrungen war. Und von diesem Augenblick an würde er keine Ruhe mehr geben und ihnen allen tagelang damit in den Ohren liegen, daß jemand hereingekommen sein müsse, der seine Vorrichtung entdeckt und schlauerweise den Stecker herausgezogen habe. Und darum, dachte Arctor, kann ich eigentlich nur hoffen, daß sie den Recorder einstöpseln, wenn sie feststellen, daß er gar nicht eingestöpselt war, und außerdem noch sicherstellen, daß das Gerät betriebsbereit ist. Noch besser wäre es natürlich, wenn sie Barris’ Überwachungsanlage mit der gleichen Sorgfalt durchtesten würden wie die, die sie selber einbauen; sie sollten absolut sicher sein, daß Barris’ System perfekt funktioniert, bevor sie das Band dann bis Null zurückspulen und dabei alle etwaigen Aufzeichnungen löschen, damit nur eine Tafel zurückbleibt, auf der nichts steht – eine Tafel, auf der aber mit absoluter Sicherheit etwas stehen würde, wenn jemand (zum Beispiel eben das Verwanzungsteam) das Haus betreten hätte. In jedem anderen Fall würde Barris unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß etwas nicht in Ordnung war. Und nichts und niemand würde ihn wieder davon abbringen können. Während des restlichen Heimwegs setzte Arctor die theoretische Analyse seiner derzeitigen Situation fort, indem er ein zweites Beispiel heranzog, das in Fachkreisen eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Während seines Polizeitrainings auf der Akademie war dieses Beispiel oft von seinen Instruktoren herangezogen worden; sie hatten es Arctor regelrecht in seinen eigenen Gedächtnisspeicher eingehämmert. Oder hatte er doch vielleicht nur mal etwas darüber in der Zeitung gelesen? Item. Eine der effektivsten Formen industrieller oder militärischer Sabotage besteht darin, die Sabotageakte auf Beschädigungen zu beschränken, bei denen nie mit letzter Sicherheit – oder sogar überhaupt nicht – bewiesen werden konnte, daß sie absichtlich herbeigeführt worden waren. Das ist wie mit einer unsichtbaren politischen Bewegung: Vielleicht gibt es sie ja gar nicht. Wenn eine Bombe mit der Zündung eines Wagens gekoppelt wird, dann existiert offensichtlich ein Feind; wenn ein öffentliches Gebäude oder das Hauptquartier einer politischen Partei in die Luft gejagt wird, dann existiert offensichtlich ein politischer Feind. Aber wenn sich ein Unfall oder eine Serie von Unfällen ereignen, wenn – besonders über einen längeren Zeitraum hinweg verteilt – diverse Gerätschaften einfach nur versagen, wenn es zu lauter kleinen Pannen und Fehlzündungen kommt, die ja schließlich auch am natürlichen Verschleiß liegen können – dann wird das Opfer, sei es nun eine Einzelperson, eine politische Partei oder ein ganzes Land, nicht in der Lage sein, geeignete Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen. Und es kann sogar so weit kommen, dachte Arctor, während er sehr langsam den Freeway entlangfuhr, daß das jeweilige Opfer – nehmen wir einmal an, es ist ein Mann – sich selbst für paranoid zu halten beginnt und glaubt, er habe gar keinen Feind; er zweifelt an sich selbst. Sein Wagen geht kaputt; gut, da kann vorkommen, er hat halt eine Pechsträhne. Und seine Freunde bestärken ihn darin. Er bildet sich das alles nur ein. Und diese Vorgehensweise löscht eine Person gründlicher aus als alle direkten, offenen Aktionen; allerdings nimmt sie auch mehr Zeit in Anspruch. Die Person oder die Personen, die ihn fertigmachen wollen, müssen eifrig tüfteln und immer neue Tricks ausknobeln und über einen langen Zeitraum jeden sich bietenden Zufall ausnützen. Falls das Opfer aber in der Zwischenzeit herausfinden kann, wer seine Feinde sind, hat er eine gute Chance, sie zu erwischen – und die hätte er nicht, wenn sie ihn, sagen wir mal, mit einem Zielfernrohrgewehr erschießen würden. Das ist sein Vorteil. Arctor wußte, daß jedes Land auf der Welt eine große Zahl von Agenten ausschickte, die dazu ausgebildet waren, hier einen Bolzen anzusägen, da ein Gewinde zu lockern, Leitungskabel zu unterbrechen und kleine Brände zu entfachen, Dokumente verschwinden zu lassen – eben lauter kleine Pannen auszulösen. Ein Kaugummi in einem Xerox-Fotokopierer, der in einem Regierungsbüro steht, kann ein unersetzliches – und für die nationale Sicherheit lebenswichtiges – Dokument zerstören: statt daß eine Kopie herauskommt, wird das Original vernichtet. Zu viel Seife und Toilettenpapier (das wußten schon die Hippies in den sechziger Jahren) kann das Abwässersystem eines Behördenhochhauses ruinieren und alle Angestellten dazu zwingen, ihre Büros für eine Woche zu räumen. Eine Mottenkugel im Benzintank eines Wagens zerstört den Motor erst nach zwei Wochen, wenn der Wagen längst in einer anderen Stadt ist, und hinterläßt keine Spuren im Benzin, die analysiert werden könnten. Jede beliebige Radio- oder Fernsehstation ist dazu gezwungen, ihre Sendungen einzustellen, wenn bei Straßenbauarbeiten eine Ramme ein Mikrowellen- oder Energieversorgungskabel kappt. Und so weiter. Und schon die Angehörigen der adeligen Herrscherschichten früherer Jahrhunderte wußten ein Lied von den seltsamen kleinen Mißgeschicken zu singen, die ihren Dienstmädchen, Gärtnern und sonstigen Bediensteten bisweilen unterliefen: eine zerbrochene Vase hier, ein hingefallenes, unbezahlbares Erbstück da, das aus einer eigensinnigen Hand rutscht… »Warum hast du das getan, Rastus Brown?« »Oh, ick hap nuar fagessn su –« Und davor gab es keinen Schutz, oder jedenfalls fast keinen. Niemand konnte etwas dagegen unternehmen, weder ein reicher Grundbesitzer, ein politisch engagierter, dem Regime mißliebiger Schriftsteller, noch ein kleines, gerade unabhängig gewordenes Land, das es wagte, mit geballter Faust der USA oder der UdSSR zu drohen … Einmal hatte die Gattin eines amerikanischen Botschafters in Guatemala, der für seine rüden Methoden berüchtigt war, mit stolzgeschwellter Brust öffentlich herumerzählt, daß ihr Mann die linksgerichtete Regierung Guatemalas sozusagen im Alleingang gestürzt habe. Nach dem abrupten Regierungswechsel war der Botschafter in eine kleine asiatische Nation beordert worden, um sich dort neuen Taten zuzuwenden. Während eines Ausflugs mit seinem Sportwagen bemerkte er plötzlich einen langsam fahrenden Heuwagen, der direkt vor ihm aus einer Seitenstraße kam. Einen Augenblick später war außer ein paar blutigen Fleischfetzen von dem Botschafter nichts mehr übrig. Weder seine rüden Methoden noch die CIA-Privatarmee, die seinem Kommando unterstand, hatten ihm etwas genützt. Seine Gattin schrieb darüber keine stolzen Gedichte. »Häh, was ich getan?« mochte der Fahrer des Heuwagens zu den örtlichen Behörden gesagt haben. »Was ich getan, Massah? Nee, ich nix –« Oder zum Beispiel seine Ex-Ehefrau, erinnerte sich Arctor. Damals hatte er Ermittlungen für eine Versicherungsfirma durchgeführt (»Trinken Ihre Nachbarn gegenüber eigentlich viel«), und seine Frau war gar nicht damit einverstanden gewesen, daß er spät nachts noch seine Berichte schrieb, statt bei ihrem bloßen Anblick vor Begierde zu erzittern. Gegen Ende ihrer Ehe hatte sie aber gelernt, wie sie seine spätnächtlichen Arbeitsperio­den sabotieren konnte – sie verbrannte sich immer beim Zigarettenanzünden die Hand, bekam irgend etwas ins Auge, putzte in seinem Büro Staub oder suchte in oder direkt neben seiner Schreibmaschine irgendwelche obskuren Gegenstände. Zuerst hatte er grollend seine Arbeit unterbrochen und sich in das Schicksal ergeben, bei ihrem bloßen Anblick vor Begierde zu erzittern aber dann hatte er sich ja in der Küche den Kopf gestoßen, als er den Popcornautomaten hervorkramte, und eine bessere Lösung gefunden. »Wenn sie unsere Tiere umbringen«, sagte Luckman gerade, »werde ich sie ausräuchern. Ich werde sie alle kriegen. Ich werde eine professionelle Schlägertruppe anheuern, zum Beispiel ein paar Panthers aus L. A.« »Das tun sie schon nicht«, sagte Barris. »Was hätten sie davon, wenn sie die Tiere quälen würden? Die armen Viecher haben noch niemandem was getan.« »Ich etwa?« sagte Arctor. »Offenbar glauben sie das«, sagte Barris. Luckman sagte: »Wenn ich gewußt hätte, daß es harmlos war, hätte ich es selber umgebracht. Erinnert ihr euch noch daran?« »Aber sie war ein Spießer«, sagte Barris. »Die Kleine ist nie in die Scene eingestiegen, und sie hatte mächtig Moos. Wißt ihr noch, wie ihr Apartment eingerichtet war? Die Reichen wissen überhaupt nicht, was für ein kostbares Gut das Leben ist. Und darum hinkt dein Vergleich, Ernie. – Erinnerst du dich noch an Thelma Kornford, Bob? Das stämmige Mädchen mit den riesigen Brüsten – sie trug nie einen BH, und wir saßen einfach nur rum und guckten uns ihre Brustwarzen an. Sie kam rüber in unsere Bude, um uns zu fragen, ob wir nicht für sie dieses Rieseninsekt totmachen konnten. Und als wir ihr dann erklärten –« Bob Arctor, der verkrampft hinter dem Steuer des langsam dahinrollenden Wagens hockte, vergaß seine theoretischen Überlegungen und spulte in seinem Kopf noch einmal jene Szene ab, die bei ihnen allen einen solchen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte: Thelma, diese gezierte und elegante Spießertochter mit den irren Titten, wie immer in Rollkragenpullover und Glockenrock, war zu ihnen gekommen und hatte allen Ernstes von ihnen verlangt, ein großes, harmloses Insekt, das zudem noch nützlich war, weil es Moskitos fraß, totzuschlagen – und das in einem Jahr, in dem man im Orange County mit dem Ausbruch einer Meningitisepidemie rechnete, deren Erreger von den Moskitos übertragen wurde. Als sie festgestellt hatten, um was für ein Insekt es sich handelte, und ihr erklärt hatten, daß es harmlos und außerdem nützlich war, da hatte Thelma jenen Satz ausgesprochen , der nun für Bob Arctor und seine Freunde zu einem geflügelten Wort geworden war – zu einem geflügelten Wort, das wie ein in flammenden Lettern geschriebenes Motto über allem stand, was sie fürchteten und verabscheuten: WENN ICH GEWUSST HÄTTE, DASS ES HARMLOS WAR, HÄTTE ICH ES SELBER UMGEBRACHT! Diese Bemerkung brachte in ihren Augen all das auf einen Nenner, worauf sich der Argwohn gründete, den sie gegenüber ihren Feinden unter den Spießern empfanden, mal angenommen, sie hatten Spießerfeinde; Thelma Kornford jedenfalls, dieses wohlerzogene Geschöpf, das weidlich alle Segnungen des Reichtums genoß, war sofort zum Feind geworden, als sie diese Worte ausgesprochen hatte. Und darum waren die drei zu Thelmas Verblüffung auf der Stelle aus dem Apartment gelaufen und in ihre eigene, abfallübersäte Bude zurückgekehrt. In diesem einen Augenblick war der Abgrund offenkundig geworden, der zwischen der Welt Bob Arctors und seiner Kumpel und der Welt Thelmas klaffte – und der Spalt war geblieben, auch wenn die drei nach wie vor darüber nachsannen, wie sie es anstellen sollten, Thelma mal zu bumsen. Thelmas Herz, überlegte Bob Arctor, war wie eine leere Küche: Fußbodenkacheln und Wasserrohre und eine Spüle mit blankgescheuerter Oberfläche. Und dazu ein auf der Kante des Ausgusses stehengelassenes Glas, um das sich niemand kümmerte. Einmal, bevor er endgültig nur noch als Geheimer Rauschgift-Agent arbeitete, hatte er die Schadensmeldung eines wohlbetuchten Spießerehepaares aufgenommen, dem sämtliche Möbel geklaut worden waren, als sich niemand daheim aufhielt. Die Täter waren offenbar Junkies gewesen; damals kam es noch vor, daß Spießer in Gegenden wohnten, wo umherziehende Banden alles stahlen, was sie nur eben stehlen konnten; meist blieb nicht viel in den Häusern zurück. Diese professionell organisierten Banden hatten sogar Aufpasser mit Walkie-talkies, die sich mehrere Kilometer vom Tatort entfernt an der Straße postierten und nach Anzeichen dafür Ausschau hielten, ob die Bewohner des jeweiligen Hauses oder Apartments zurückkamen. Bob Arctor erinnerte sich noch daran, wie der Spießer und seine Ehefrau zu ihm sagten: »Leute, die einem das Haus ausrauben und den Farbfernseher stehlen, sind doch vom gleichen Schlag wie diese Verbrecher, die Tiere abschlachten oder unschätzbare Kunstwerke besudeln.« Nein, hatte Bob Arctor erklärt und das Formular für die Schadensmeldung sinken lassen, wieso glauben Sie das? Seiner Erfahrung nach jedenfalls taten Süchtige nur selten Tieren etwas zuleide. Er hatte selbst miterlebt, wie Junkies über lange Zeiträume hinweg verletzte Tiere fütterten und pflegten, die die Spießer bestimmt schon längst hätten »einschläfern« lassen. Wenn es überhaupt so etwas wie einen typischen Spießerausdruck gab, dann war das bestimmt »einschläfern« – übrigens zugleich der alte Syndikatsausdruck für Mord. Eines Tages hatte Bob Arctor zwei völlig ausgeflippten Dopern bei der deprimierenden Aufgabe geholfen, eine Katze zu bergen, die in einem zerbrochenen Fenster hängengeblieben war. Die Fixer, die kaum noch in der Lage waren, ihre Umwelt einigermaßen klar zu erkennen oder gar zu begreifen, hatten sich mit unendlicher Geduld über eine Stunde lang abgemüht, die Katze, die aus mehreren kleinen Wunden blutete, wieder freizubekommen. Auch die Freaks hatten sich an den scharfen Glassplittern die Hände aufgeschnitten, und mit diesen blutigen Händen hatten sie die Katze während der ganzen Prozedur sanft festgehalten, damit sie sich nicht noch mehr verletzte, und das arme Tier immer wieder beruhigend gestreichelt. Einer der Typen war mit Arctor im Haus gewesen, der andere hatte draußen gestanden, wo das Hinterteil und der Schwanz der Katze waren. Schließlich hatten sie es mit vereinten Kräften geschafft, die glücklicherweise nicht ernsthaft verletzte Katze zu befreien. Und dann hatten die Freaks sie gefüttert. Sie wußten nicht, wem die Katze gehörte; offenbar war sie hungrig gewesen und hatte durch das zerbrochene Fenster des Hauses, in dem die Freaks lebten, Nahrung gerochen. Wahrscheinlich hatte sie laut miaut, aber als niemand darauf reagiert hatte, mußte sie wohl versucht haben, hineinzuspringen. Die Freaks hatten die Katze erst bemerkt, als sie jämmerlich zu kreischen begann, aber dann hatten sie ihre Trips und Träume für eine Weile vergessen, um dem Tier zu helfen. Und was die »unschätzbaren Kunstwerke« anging – nun, auch in diesem Punkt konnte er dem Spießerehepaar nicht beipflichten. Wahrscheinlich, weil er von einer ganz anderen Definition ausging. Während des Vietnamkrieges waren in My Lai auf Befehl des CIA 450 unschätzbare Kunstwerke unwiederbringlich zerstört worden – 450 unschätzbare Kunstwerke plus Ochsen und Hühner und andere, auf keiner Liste verzeichnete Tiere. Wenn er darüber nachdachte, hakte in seinem Kopf immer etwas aus, und man konnte schlecht mit ihm über Gemälde und Museen und andere solche Dinge diskutieren. »Was meint ihr«, sagte Bob Arctor laut, während er konzentriert fuhr. »Wenn wir sterben und am Tage des Jüngsten Gerichts vor Gott treten, werden unsere Sünden dann in chronologischer Folge oder nach ihrer Schwere geordnet, also von den leichten Sünden aufsteigend über die mittleren bis hin zu den schweren oder umgekehrt? Oder vielleicht alphabetisch? Irgendwie gefällt mir der Gedanke nicht, daß ich im Alter von 86 Jahren sterbe und Gott mich dann anknurrt: ›Also du bist der kleine Junge, der die drei Flaschen Coke von dem Coca-Cola-Liefer­wagen gestohlen hat, der 1962 auf dem Parkplatz vor dem 7-11-Laden stand? Tja, da wirst du dir jetzt aber schnell was zu deiner Verteidigung einfallen lassen müssen …‹.« »Ich denke mir, daß sie lexikalisch nach Sachgebieten geordnet sind«, sagte Luckman. »Und die da oben geben dir einfach einen Computerausdruck, auf dem schon die Endsumme steht, die der Computer durch das Zusammenzählen aller Einzelposten deines langen Sündenregisters ermittelt hat.« »Sünde«, sagte Barris kichernd, »ist ein total veralterter jüdisch-christlicher Mythos.« Arctor sagte: »Vielleicht haben sie alle deine Sünden in einem großen Einmachglas« – er wandte sich um, damit er Barris, diesen alten Antisemiten, direkt anblicken konnte –, »einem koscheren Einmachglas, und sie heben den Deckel ab und kippen dir den ganzen Inhalt auf einmal ins Gesicht. Und du stehst einfach da, während die Sünden an dir heruntertropfen. Deine eigenen Sünden, und dazu vielleicht ein paar Sünden von jemand anders, die versehentlich dazwischengerutscht sind.« »Die Sünden von jemand anders mit dem gleichen Namen«, sagte Luckman. »Ein anderer Robert Arctor. Was meinst du, Barris? Wie viele Robert Arctors gibt’s wohl?« Er stieß Barris heimlich an. Könnten uns die Computer vom Cal Tech uns das verraten? Und im gleichen Arbeitsgang auch noch alle Jim Barris’ raussuchen?« Im stillen dachte Bob Arctor: Wie viele Bob Arctors gibt es wohl? Ein abartiger und total verwirrender Gedanke. Zwei fallen mir schon mal ein, dachte er. Der eine wird Fred genannt, und er beobachtet den zweiten, der Bob genannt wird. Beides dieselbe Person. Wirklich? Ist Fred tatsächlich dieselbe Person wie Bob? Weiß das überhaupt jemand? Ich müßte es wissen, eher als jeder andere, weil ich die einzige Person auf der ganzen Welt bin, die weiß, daß Fred Bob Arctor ist. Aber, dachte er, wer bin ich? Welcher der beiden ist ich? Als sie in der Einfahrt stehenblieben, den Wagen abschlossen und bedächtig auf die Vordertür zugingen, stellten sie fest, daß Barris’ Zettel noch da und die Tür unverschlossen war, aber als sie vorsichtig die Tür öffneten, schien alles noch so zu sein, wie es gewesen war, als sie das Haus verlassen hatten. Sofort regte sich der Argwohn in Barris. »Ah«, murmelte er, als er über die Schwelle trat. Rasch langte er hinauf zum obersten Brett des Bücherregals neben der Tür und holte seine 22er-Pistole herunter, die er mit festem Griff umklammerte, während die beiden anderen Männer im Raum umhergingen. Wie üblich stürmten die Tiere auf sie zu und veranstalteten zu ihren Füßen einen Höllenspektakel, weil sie Hunger hatten und gefüttert werden wollten. »Tja, Barris«, sagte Luckman, »jetzt sehe ich mit eigenen Augen, daß du recht gehabt hast. Es kann gar kein Zweifel mehr daran bestehen, daß jemand hier war, weil man ja auf den ersten Blick erkennen kann – du erkennst das doch auf den ersten Blick, nicht wahr, Bob? –, mit welch peinlicher Sorgfalt sie alle Spuren verwischt haben, die sie andernfalls zurückgelassen hätten, was ja ihre Anwesenheit verraten hätte, und –« Dann furzte er verächtlich und schlenderte in die Küche, um im Kühlschrank nach einer Dose Bier zu schauen. »Barris«, sagte er, »dir hamse ins Gehirn geschissen.« Barris ignorierte Luckman einfach und schlich weiter in höchster Alarmbereitschaft auf der Suche nach verräterischen Spuren umher, die Pistole um Anschlag. Arctor, der ihm dabei zuschaute, dachte: Vielleicht findet er ja wirklich welche. Kann sein, daß sie welche zurückgelassen haben. Seltsam, dachte er, wie paranoide Wahnvorstellungen und die Wirklichkeit sich manchmal für kurze Zeit decken können. Unter ganz besonderen Bedingungen, so wie heute. Als nächstes wird Barris behaupten, ich hätte alle absichtlich aus dem Haus gelockt, um heimlich Eindringlingen eine Möglichkeit zu verschaffen, hier was anzustellen. Und später wird er sich Gedanken darüber machen, warum ich das wohl getan haben mag und wer die Eindringlinge gewesen sein könnten. Und vielleicht hat er das sogar schon längst getan. Und wenn dem so ist, dann könnte das der Grund dafür sein, daß er das Cephskop zerstört, den Wagen sabotiert und Gott weiß was für Dinge in die Wege geleitet hat. Vielleicht brennt ja das Haus ab, sobald ich in der Garage das Licht anknipse? Aber die wichtigste Frage im Augenblick ist, ob das Verwanzungsteam da war und alle Überwachungsanlagen eingebaut und richtig angeschlossen hat. Das aber würde er erst sicher wissen, wenn er mit Hank gesprochen hatte und nachprüfbare Informationen darüber in der Hand hielt, wo die Kameras und Mikros installiert waren und wo er die Speichertrommeln und die Überwachungsmonitoren vorfinden würde. Und bei dieser Unterredung würde er auch erfahren, was der Boß der Verwanzungscrew und all die anderen Experten, die an dieser Aktion beteiligt waren, sonst noch an Informationen gesammelt hatten, mit denen sich Fred dann im Rahmen dieser konzertierten Aktion gegen Bob Arctor, den Verdächtigen, würde herumschlagen müssen. »Schaut euch das mal an!« sagte Barris. Er beugte sich über einen Aschenbecher auf dem Kaffeetisch. »Los, kommt her!« rief er mit schneidender Stimme, und beide Männer kamen seiner Aufforderung nach. Als er sich vorbeugte, spürte Arctor Hitze aus dem Aschenbecher aufsteigen. »Ein Zigarettenstummel, der noch warm ist«, sagte Luckman ungläubig. »Mich laust der Affe!« Herr im Himmel, dachte Arctor. Sie haben wirklich Mist gebaut. Einer der Crew hat geraucht und dann die Zigarette ausgedrückt, ohne sich dabei etwas zu denken. Also konnte das Verwanzungsteam gerade erst wieder verschwunden sein. Wie immer quoll der Aschenbecher über; möglicherweise hatte der Mann von der Crew angenommen, daß eine Kippe mehr gar nicht auffallen würde, und ein paar Augenblicke später wäre sie ja schon erkaltet gewesen. »Moment mal«, sagte Luckman, der jetzt den Inhalt des Aschenbechers genauer unter die Lupe nahm. Zwischen den anderen Zigarettenstummeln fischte er die Kippe eines Joints heraus. »Von wegen Zigarette! Sie haben sich einen Joint angesteckt, während sie hier waren. Aber was haben sie gemacht? Was, zum Teufel, haben sie gemacht?« Mit finsterer Miene schaute er umher. Er war todsauer. »Bob, verdammt noch mal – Barris hat recht gehabt. Es war wirklich jemand hier! Dieser Joint ist noch warm, und du kannst den Shit sogar noch riechen, wenn du dran schnüffelst.« Er hielt ihn Arctor direkt unter die Nase. »Yeah, da innen drin glimmt noch ein Krümel Shit. Muß ein Anfänger gewesen sein. Hat das Zeug nicht richtig verteilt, bevor er ihn gedreht hat. « »Dieser Joint«, sagte Barris, der nicht weniger grimmig dreinschaute als Luckman, »ist möglicherweise nicht zufällig hier zurückgelassen worden. Ich glaube nicht, daß es sich um eine Panne handelt, sondern würde eher mutmaßen, daß ein teuflischer Plan dahintersteckt.« »Und welcher?« sagte Arctor und fragte sich, was das für eine Verwanzungscrew sein mochte, die jemanden in ihren Reihen hatte, der während des Dienstes vor den Augen seiner Kollegen einen Joint rauchte. »Vielleicht waren sie nur aus dem Grunde hier, um das ganze Haus mit Stoff zu spicken«, sagte Barris. »Und später rufen sie einfach die Bullen an und geben ihnen den freundschaftlichen Tip, doch mal eine kleine Hausdurchsuchung bei uns zu veranstalten. Und dann ist Hängen im Schacht … Die können das Zeug praktisch überall versteckt haben, zum Beispiel im Telefon oder in den Steckdosen. Wir müssen das ganze Haus auf den Kopf stellen und es absolut sauber kriegen, bevor die sich ans Telefon klemmen. Und wir haben vielleicht nur Stunden.« »Du überprüfst die Wandsteckdosen«, sagte Luckman. »Ich werde das Telefon auseinandernehmen.« Barris hob die Hand. »Moment«, sagte er. »Wenn sie sehen, wie wir direkt vor der Razzia das ganze Haus durchwühlen –« »Was für eine Razzia?« sagte Arctor. »Wenn wir wie die Irren herumlaufen und die Hände voller Dope haben«, sagte Barris, »dann können wir doch nicht glaubhaft machen – obwohl es die reine Wahrheit ist –, daß wir nicht wußten, daß der Stoff im Haus war. Sie werden uns schnappen, wenn wir sozusagen gerade den Joint in der Hand halten. Und vielleicht ist auch das ein Teil ihres Plans.« »So eine Scheiße«, sagte Luckman angeekelt. Er warf sich auf die Couch. »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Wir können überhaupt nichts tun. Vielleicht haben sie den Stoff an tausend Stellen versteckt, die wir nie finden werden. Wir sind erledigt.« Er starrte Arctor in hilfloser Wut an. »Wir sind erledigt!« Arctor sagte zu Barris: »Was ist eigentlich mit deinem elektronischen Cassetten-Spielzeug, das du mit der Vordertür gekoppelt hast?« Er hatte gar nicht mehr daran gedacht. Barris offenbar auch nicht. Und Luckman auch nicht. »Ja, das müßte uns bei diesem Stand der Dinge einige außerordentlich nützliche Informationen liefern«, sagte Barris. Er kniete neben der Couch nieder, griff darunter, grunzte und zog dann einen kleinen Cassettenrecorder mit Plastikgehäuse hervor. »Das hier dürfte uns eine ganze Menge verraten«, begann er. Dann verfiel sein Gesicht. »Tja, vielleicht mag es sich doch nicht als so wichtig erweisen.« Er zog den Stecker für die Energiezuführung aus der an der Rückseite des Geräts angebrachten Buchse und stellte den Recorder auf den Kaffeetisch. »Den wichtigsten Tatbestand kennen wir ja schon – nämlich daß während unserer Abwesenheit jemand hereingekommen ist. Und das festzustellen war die Hauptaufgabe dieses Geräts.« Betretenes Schweigen. »Ich wette, ich kann erraten, was passiert ist«, sagte Arctor. Barris sagte: »Das erste, was sie überhaupt gemacht haben, als sie hereingekommen sind, war, den Recorder auf Aus zu stellen. Als wir gingen, stand das Gerät natürlich auf Ein, aber wie ihr selber sehen könnt – jetzt ist es auf Aus umgestellt. Und trotz meiner –« »Es hat nichts aufgezeichnet?« sagte Luckman enttäuscht. »Sie haben blitzschnell reagiert«, sagte Barris. »Bevor auch nur ein Zentimeter Band durch den Aufnahmekopf gelaufen ist. Ein nettes kleines Apparätchen, nebenbei bemerkt – ein Sony, mit gesonderten Tonköpfen für Playback, Löschen und Aufnahme und einem eingebauten Dolby-Rauschfiltersystem. Ich hab’s ganz billig bekommen, auf einem Tauschtag. Und ich hab’ noch nie Ärger damit gehabt.« Arctor sagte: »Dann können wir also nur noch die Hände in den Schoß legen und Trübsal blasen.« »Genau«, stimmte Barris zu. Er setzte sich in einen Sessel, lehnte sich bequem zurück und nahm seine Sonnenbrille ab. »Wir sind an einem Punkt angelangt, wo es einfach keine kurz- oder mittelfristigen Strategien mehr gibt, um diesem heimtückischen Angriff zu begegnen. Wahrscheinlich bist du dir im klaren darüber, Bob, daß es nur noch eines gibt, was du tun könntest, obwohl das natürlich Zeit kostet.« »Das Haus verkaufen und ausziehen«, sagte Arctor. »Aber, zum Teufel, noch mal«, protestierte Luckman. »Das hier ist unser Heim!« »Was sind Häuser wie dieses in dieser Wohngegend derzeit wert?« fragte Barris und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Auf dem Immobilienmarkt? Ich frage mich auch, wie groß wohl im Moment die Nachfrage sein mag. Vielleicht könntest du einen ansehnlichen Gewinn herausschlagen, Bob. Andererseits mußt du vielleicht bei einem schnellen Verkauf immer damit rechnen, daß du ein Verlustgeschäft machst. Aber, mein Gott, Bob, die Leute, die dir an den Kragen wollen, sind Professionals!« »Kennt ihr eine guten Makler?« fragte Luckman die beiden. Arctor sagte: »Womit sollte ich den plötzlichen Verkauf begründen? Sie fragen immer danach.« »Yeah, wir können dem Makler schließlich nicht die Wahrheit sagen«, pflichtete Luckman ihm bei. »Wir könnten sagen …« Er grübelte, während er mürrisch ein Bier trank. »Mir fällt kein Grund ein. Barris, weißt du keine Geschichte, die wir ihm auftischen können?« Arctor sagte: »Wir werden einfach geradeheraus sagen, daß überall im Haus Rauschgift versteckt ist. Und weil wir nicht wußten wo, hätten wir beschlossen, auszuziehen, damit nicht wir, sondern der neue Besitzer von der Polizei hopsgenommen wird.« »Nein«, widersprach Barris, »ich glaube nicht, daß wir uns erlauben dürfen, so direkt zu sein. Ich würde eher vorschlagen, daß du sagst, Bob … genau, du sagst, daß deine Firma dich in eine andere Stadt versetzt hat.« »Wohin?« sagte Luckman. »Nach Cleveland«, sagte Barris. »Ich finde, wir sollten ihnen die Wahrheit sagen«, sagte Arctor. »Wir könnten sogar eine Anzeige in die L.A. Tïmes setzen: ›Modernes Wohnhaus mit fünf Zimmern, Küche und zwei Toiletten zur problemlosen Beseitigung von Shit jeder Art; Dope (garantierte Spitzenqualität) in allen Räumen ist im Verkaufspreis eingeschlossen^« »Aber dann würden wir dauernd Anfragen kriegen, um was für Dope es sich eigentlich handelt« sagte Luckman. »Und das wissen wir nicht; es kann jeder x-beliebige Stoff sein.« »Und sie würden wissen wollen, wieviel überhaupt davon da ist«, murmelte Barris. Mögliche Kaufinteressenten könnten sich nach der Menge erkundigen.« »Es könnten zum Beispiel fünfzig Gramm Marijuana sein«, sagte Luckman, »oder einfach ganz banaler Shit wie der in dem Joint, den wir gefunden haben. Oder kiloweise Heroin.« »Was ich vorschlagen würde«, sagte Barris, »ist, daß wir das Amt für Drogenmißbrauch anrufen, die zuständigen Beamten von der Situation in Kenntnis setzen und sie bitten, herzukommen und das Dope zu entfernen – das Haus zu durchsuchen, den Stoff zu finden und ihn wegzuschaffen. Wenn wir die ganze Angelegenheit einmal realistisch betrachten, dann müssen wir doch wohl einsehen, daß uns nicht genügend Zeit bleibt, das Haus zu verkaufen. Ich habe vor längerer Zeit einmal die juristischen Implikationen untersucht, die sich aus einer Lage wie dieser ergeben, und dabei festgestellt, daß die meisten Gesetzeskommentare darin übereinstimmen, daß –« »Du bist verrückt«, sagte Luckman und starrte ihn an, als sei er eine von Jerrys Blattläusen. »Wir sollen das Amt für Drogenmißbrauch anrufen? Aber dann wimmelt es hier doch in null Komma nichts von Bullen, und –« »Eben darauf hoffe ich doch«, fuhr Barris glatt fort. »Wir könnten uns alle freiwillig einem Lügendetektor-Test unterziehen, um zu beweisen, daß wir nicht wissen, wo der Stoff ist, um welche Art von Stoff es sich handelt und wer ihn hier versteckt hat. Der Stoff ist ohne unser Wissen und ohne unsere Zustimmung ins Haus gebracht worden. Wenn du den Beamten das erzählst, Bob, wird das etwaige Anschuldigungen gegen dich entkräften. »Nach einer Pause räumte er ein: »Möglicherweise jedenfalls. Und natürlich müssen alle Fakten erst von einem ordentlichen Gericht gewürdigt werden.« »Aber andererseits«, sagte Luckman, »haben wir doch unsere eigenen Vorräte. Und von denen wissen wir, wo sie sind … und so weiter. Bedeutet das, daß wir unsere gesamten Vorräte durchs Klo spülen müssen? Und mal angenommen, wir lassen einen Stash aus? Herr im Himmel, ist das alles schrecklich!« »Also gibt es keinen Ausweg«, sagte Arctor. »Wir scheinen wirklich erledigt zu sein.« Aus einem der Schlafzimmer erschien Donna Haw­thorne. Sie trug eine merkwürdige, knielange Hose. Offenbar hatte sie geschlafen, denn ihr Haar war zerwühlt und ihr Gesicht aufgedunsen. »Ich bin einfach reingekommen«, sagte sie, »wie’s auf dem Zettel stand. Und ich hab’ eine Weile rumgesessen und mich dann aufs Ohr gelegt. Aus dem Zettel war nicht zu ersehen, wann ihr zurückkommen würdet. Warum habt ihr so rumgeschrien? Mann, ihr, wart vielleicht laut! Ihr habt mich wach gemacht.« »Sag mal, hast du gerade eben einen Joint geraucht?« fragte Arctor sie. »Bevor du dich aufs Ohr gelegt hast?« »Klar«, sagte Donna. »Ohne Joint kann ich nie einschlafen.« »Es ist Donnas Kippe«, sagte Luckman. »Gib sie ihr wieder.« Mein Gott, dachte Arctor. Ich war voll auf dem gleichen Trip wie Barris und Luckman. Wir sind alle drei gleich stark auf diesen Wahnsinn abgefahren. Er schüttelte sich, erschauerte und blinzelte. Obwohl ich genau gewußt habe, was hinter der ganzen Sache steckte, bin ich zusammen mit ihnen in dieses ausgeflippte, paranoide Niemandsland hineingeschliddert und habe alles ganz genau so betrachtet wie sie auch – nämlich total vermorscht, dachte er. Wieder dieser trübe Schmant; der gleiche Schmant, der sie bedeckt, bedeckt mich auch; der Schmant dieser traurigen, öden Traumwelt, in der wir ziellos treiben. »Du hast uns gerettet«, sagte er zu Donna. »Was hab’ ich?« sagte sie, verwirrt und schläfrig. Nicht das, was ich bin, dachte er, oder das, was ich über die Vorgänge wußte, die heute hier ablaufen sollten, sondern diese Puppe – sie hat meinen Kopf wieder zurechtgerückt, hat uns alle drei aus diesem Niemandsland herausgeholt. Eine kleine, schwarzhaarige Puppe mit irren Klamotten, über die ich regelmäßig Bericht erstatte, der ich mit allen nur denkbaren Tricks meine wahre Identität verheimliche und die ich hoffentlich bald mal ficken werde … noch so eine Welt, in der Tricks und Ficks alles sind, was wirklich zählt, dachte er. Und dieses scharfe Mädchen ist der Mittelpunkt davon: ein Vorposten der Vernunft, durch dessen Existenz wir abrupt wieder eingeklinkt sind. Was wäre sonst wohl noch mit unseren Köpfen passiert? Wir waren ja schon total weggetreten, wir alle drei. Und das nicht zum erstenmal, dachte er. Nicht einmal heute. »Dir solltet eure Bude nicht so offenlassen«, sagte Donna. »Man könnte euch das ganze Haus leerräumen, und ihr wärt selber schuld daran. Sogar die gigantischen kapitalistischen Versicherungsgesellschaften sagen, daß sie nichts zahlen, wenn man eine Tür oder ein Fenster offenläßt. Das ist eigentlich der Hauptgrund, warum ich reingekommen bin, als ich den Zettel gesehen habe. Ich dachte mir, es wäre schon jemand hier, wenn das Haus nicht abgeschlossen ist.« »Wie lange bist du schon hier?« fragte Arctor sie. Vielleicht hatte ihre Anwesenheit die Verwanzung verhindert; vielleicht nicht. Wahrscheinlich nicht. Donna warf einen Blick auf ihre elektrische Timex-Armbanduhr, die Arctor für zwanzig Dollars gekauft und ihr geschenkt hatte. »Ungefähr seit 38 Minuten. Hey.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Bob, ich hab’ das Buch über Wölfe mitgebracht – hast du Lust, dir’s jetzt mal anzuschauen? ‘ne echte Schaffe, das Buch, wenn du auf so was stehst.« »Das ganze Leben«, sagte Barris wie im Selbstgespräch, »ist nur eine einzige große Schaffe und sonst gar nichts; es gibt nur diesen einen Trip, und der schafft dich wirklich. Eine Schaffe, die am Ende jeden und alles ins Grab bringt.« »Sag mal, hab’ ich wirklich gehört, daß du das Haus verkaufen willst?« fragte Donna Arctor. »Oder hab’ ich … hab’ ich das alles bloß geträumt? Ich könnte es nicht mit Bestimmtheit sagen; was ich gehört hab’, klang alles so weggetreten und verrückt.« »Wir sind alle am Träumen«, sagte Arctor. Wenn ein Süchtiger der einzige in seiner Umgebung ist, der nicht weiß, daß er süchtig ist, dann wird vielleicht gerade der, der nicht weiß, ob ein Mann meint, was er sagt, dieser Mann selbst sein, überlegte er. Er fragte sich, wie viel von dem Geschwafel, das Donna mitbekommen hatte, er ernst gemeint hatte. Und er fragte sich, wieviel von dem heute zutage getretenen Wahnsinn – seinem heute zutage getretenen Wahnsinn – echt und wieviel sozusagen induziert gewesen war – eine Art Kontakt-Irresein, das sich aus der Situation heraus ergeben hatte. Donna war stets für ihn ein Dreh- und Angelpunkt der Wirklichkeit; für sie war die Frage, die sie ihm gestellt hatte, grundsätzlich und naheliegend. Und er sehnte sich von ganzem Herzen danach, ihr eine Antwort darauf geben zu können. Aber er konnte es nicht. VII Am nächsten Tag erschien Fred in seinem Jedermann-Anzug, um sich über die Verwanzungsinstallation zu informieren. »Die Aufnahmen der sechs Holo-Kameras, die nun innerhalb des Anwesens arbeiten – wir meinen, daß sechs vorerst genügen dürfen –, werden in ein Kontroll-Zentrum abgestrahlt, das sich in einem Apartment im gleichen Häuserkomplex befindet wie Arctors Haus, nur ein kleines Stück die Straße hinunter«, erläuterte Hank und breitete einen Grundriß von Bob Arctors Haus auf einem Metalltisch aus, der zwischen ihnen stand? Als Fred den Grundriß sah, begann er zu frösteln, aber nicht sehr stark. Er nahm den Plan an sich und studierte die Stellen, an denen die Kameras in den verschiedenen Räumen installiert worden waren, gleichmäßig da und dort verteilt, so daß jeder Winkel permanent optisch und akustisch überwacht werden konnte. »Also sehe ich die Bänder in dem Apartment durch, von dem Sie sprachen«, sagte Fred. »Wir benutzten dieses Apartment als Kontroll-Zen­trum für ungefähr acht – oder, besser gesagt, jetzt neun – Häuser oder Apartments, die wir in diesem speziellen Komplex unter Überwachung halten. Sie werden also öfters anderen Agenten begegnen, die an den Monitoren ihre eigenen Bänder abspielen. Tragen Sie also immer Ihren Anzug.« »Es wird sich nicht vermeiden lassen, daß man mich sieht, wenn ich in das Apartment gehe. Es liegt zu nahe bei Arctors Haus.« »Kann schon sein, aber der Komplex ist riesig – Hunderte von Wohneinheiten. Und außerdem war das das einzige Apartment, das die richtigen Voraussetzungen für die notwendigen elektronischen Installationen bot. Wir werden uns damit behelfen müssen, wenigstens so lange, bis wir mit Hilfe eines Räumungsbefehls ein anderes Apartment in einem weiter entfernten Komplex bekommen können. Wir haben uns schon dahintergeklemmt … zwei Blocks weiter weg, wo Sie weniger Verdacht erregen werden. Ich schätze, in einer Woche oder so ist die Sache über die Bühne. Wenn sich bloß holografische Bilder mit hinreichend guter Auflösung durch Mikro-Relais-Kabel oder durch die Kabelfernsehleitungen älteren Typs schicken ließen, dann –« »Ich werde einfach einen Vorwand erfinden, falls Arctor oder Luckman oder ein anderer dieser Freaks mich dabei beobachten, wie ich das Haus betrete. Zum Beispiel könnte ich ihnen erzählen, daß da so eine Nutte wohnt, die ich manchmal durchbumse.« In Wirklichkeit komplizierte die Lage des Apartments die Dinge gar nicht so sehr; tatsächlich ersparte sie ihm ja sogar lange Anfahrzeiten, für die er nicht bezahlt wurde – ein wichtiger Faktor. Er konnte leicht mal eben zwischendurch ins Kontroll-Zentrum rüberschlendern, sich die Bänder durchsehen, entscheiden, was für seine Berichte wichtig war und was abgelegt werden konnte, und dann rasch zurückgehen – Zu meinem eigenen Haus, dachte er. Arctors Haus. In dem Haus oben an der Straße bin ich Bob Arctor, der verdächtige Rauschgiftsüchtige, der ohne sein Wissen ununterbrochen überwacht wird; und dann, alle paar Tage, finde ich einen Vorwand, um mich die Straße hinunter und ins Kontroll-Zentrum zu schleichen, wo ich Fred bin, der Kilometer um Kilometer Bänder abspielen läßt, um zu sehen, was ich getan habe. Diese ganze Angelegenheit, dachte er, ist irgendwie bedrückend. Aber zugleich werde ich dadurch wertvolle persönliche Informationen erhalten – und ich werde mich besser schützen können. Vielleicht werde ich dank der Holo-Kameras schon innerhalb der ersten Woche erfahren, wer mich eigentlich jagt. Bei diesem Gedanken ließ seine Anspannung sofort nach. »Fein«, sagte er zu Hank. »Aus dem Plan können Sie genau ersehen, wo die Holos installiert sind. Falls sie gewartet werden müssen, können Sie das möglicherweise selbst machen, während Sie sich in Arctors Haus aufhalten und gerade niemand in der Nähe ist. Sie haben doch normalerweise Zutritt zu seinem Haus, oder nicht? So eine Scheiße! dachte Fred. Wenn ich das tue, dann ist ganz klar, daß ich auch mit auf den Bildern bin. Leite ich die Holos dann an Hank weiter, so weiß er mit absoluter Sicherheit, daß ich eine der Personen sein muß, die darauf zu sehen sind, und das schränkt die Zahl der Möglichkeiten deutlich ein. Bisher hatte er es geschickt verstanden, Hank darüber im unklaren zu lassen, wie er das in Erfahrung brachte, was es über die Verdächtigen auf seiner Liste in Erfahrung zu bringen gab; nur er selbst, Fred, war der Schirm, auf dem die Informationen erschienen. Aber von jetzt an gab es dafür noch andere Apparate: Holo-Kameras und Mikrophone, die im Gegensatz zu seinen mündlichen Berichten nicht automatisch all die Hinweise ausfilterten, die zur Aufdeckung seiner Identität führen mochten. Ganz deutlich würde da Robert Arctor zu erkennen sein, der an den Holos herumbastelte, wenn sie nicht richtig funktionierten; sein Gesicht würde den Bildschirm vollständig ausfüllen. Aber andererseits würde ja er der erste sein, der die Speicherbänder abspielte; er konnte immer noch selektiv Informationen ausfiltern – zum Beispiel, indem er Teile der holografischen Aufzeichnungen einfach löschte. Nur würde das Zeit und Sorgfalt beanspruchen. Aber was sollte er eigentlich löschen? Arctor vielleicht – und das vollständig? Aber Arctor war doch gerade der Verdächtige. Und war es nicht eine glänzende Bestätigung dieses Verdachtes, wenn Arctor an den Holos herumbastelte? »Ich werde mich selbst elektronisch von den Bildern löschen«, sagte er. »Damit Sie mich nicht sehen. Eine reine Routinemaßnahme zu meinem eigenen Schutz. « »Natürlich. Haben Sie vorher noch nie mit solchen Überwachungssystemen gearbeitet?« Hank griff nach ein paar Bildern und zeigte sie ihm. »Zum elektronischen Edieren holografischer Aufzeichnungen benützen Sie einen solchen Totalauslöscher – damit können Sie jeden Abschnitt der Bänder löschen, auf dem Sie in Ihrer Identität erscheinen. Das betrifft in erster Linie die Holos; für die Tonaufzeichnungen gibt es keine feststehenden Richtlinien. Sie werden allerdings wohl kaum besondere Schwierigkeiten haben. Wir nehmen es als gesicherte Tatsache an, daß Sie eine der Personen aus Arctors Freundeskreis sind, die sein Haus regelmäßig besuchen – Sie sind entweder Jim Barris oder Ernie Luckman oder Charles Freck oder Donna Hawthorne –« »Donna?« Er lachte. Oder besser gesagt: Eigentlich lachte der Anzug. Auf seine eigene, ganz spezielle Art. »Oder Bob Arctor«, fuhr Hank fort, während er nachdenklich die Liste der Verdächtigen studierte. »Ich berichte die ganze Zeit über mich selbst?«, sagte Fred. »Also werden Sie sich selbst von Zeit zu Zeit doch auf den Holo-Bändern auftreten lassen müssen, die Sie an uns weitergeben, denn wenn Sie sich systematisch herausedieren, können wir durch einen Eliminationsprozeß daraus schließen, wer Sie sind, ob wir das nun wollen oder nicht. Das Problem für Sie besteht also letztlich darin, sich selbst gezielt herauszuedieren, sozusagen auf – wie soll ich das nennen? – erfinderische, künstlerische … jetzt hab’ ich’s, Teufel noch mal: auf kreative Weise … also zum Beispiel während der kurzen Zeitabschnitte, wenn Sie allein im Haus sind und recherchieren, also etwas, wenn Sie Papiere durchblättern und Schubladen durchsuchen. Oder, wenn Sie eine Holo-Kamera im Aufnahmebereich einer anderen Kamera warten, oder –« »Sie sollten einfach einmal im Monat jemanden in einer Uniform zu Arctors Haus schicken«, sagte Fred. »Der könnte dann ja sagen: ›Guten Morgen! Ich bin hier, um die Überwachungssysteme zu warten, die wir heimlich in Ihrem Haus, Ihrem Telefon und Ihrem Wagen installiert haben.‹ Vielleicht würde Arctor sich ja bereit erklären, die Reparatur zu bezahlen.« »Arctor würde ihn wahrscheinlich kaltmachen und dann verschwinden.« Der Jedermann-Anzug Fred sagte: »Falls Arctor wirklich so viel auf dem Kerbholz hat. Das ist bisher noch nicht erwiesen. « »Arctor könnte eine ganze Menge auf dem Kerbholz haben. Wir haben erst kürzlich neue Informationen über ihn erhalten und sofort analysiert. Meiner Ansicht nach gibt es nicht mehr die geringsten Zweifel: der ist so echt wie ein Dreidollar-Schein. Ausgekocht bis dorthinaus. Ein wirklich übler Typ. Bleiben Sie also an ihm dran, bis er reif ist, bis wir so viele und so gute Beweise haben, daß er sich nicht mehr rauswinden kann, wenn wir ihn uns greifen.« »Wollen Sie sein Haus mit Dope spicken lassen?« »Darüber sprechen wir vielleicht später noch mal.« »Sie glauben, daß er eine große Nummer in der … na, Sie wissen schon … in der ST-Agentur ist?« »Was wir glauben, hat für unsere Arbeit nicht die geringste Bedeutung«, sagte Hank. »Wir werten aus und ziehen unsere Schlüsse; Sie berichten nur und teilen uns Ihre eigenen, notwendigerweise unzulänglichen Schlußfolgerungen mit. Damit will ich Ihre Arbeit nicht abwerten, aber Sie können mir glauben, daß wir eine gewaltige Menge von Informationen haben, die Ihnen nicht nur zur Verfügung stehen. Wir sehen das ganze Bild, und das haben nicht fehlbare Menschen, sondern Computer zusammengesetzt.« »Arctor ist verloren«, sagte Fred. »Jedenfalls, wenn er wirklich in eine große Sache verwickelt ist. Und nach dem, was Sie mir da so erzählen, kriege ich langsam eine dumpfe Vorahnung, daß da was dran sein könnte.« »Wenn wir weiter so gut vorwärts kommen wie bisher, sollten wir ihn bald vor Gericht stellen können«, sagte Hank. »Und dann können wir ihn endgültig abhaken. Und darüber würden wir uns ja alle freuen. « Fred lernte mit stoischer Ruhe die Adresse und die Nummer des Apartments auswendig und erinnerte sich plötzlich daran, daß er manchmal ein junges Freak-Pärchen, das kürzlich mit einemmal verschwunden war, beim Betreten und Verlassen des Gebäudes beobachtet hatte. Wahrscheinlich hatte man sie hochgehen lassen und ihr Apartment übernommen, um dort das Kontroll-Zentrum einzurichten. Er hatte sie wirklich gemocht. Das Mädchen hatte langes, flachsblondes Haar und trug nie einen BH. Einmal war er zufällig mit dem Wagen vorbeigekommen, als sie sich mit ein paar Einkaufstüten abschleppte, und hatte ihr angeboten, sie mitzunehmen; daraufhin hatten sie sich ein bißchen miteinander unterhalten. Sie schien auf dem Makrobiotik-Trip zu sein, so richtig mit Megavitaminen und Seetang und Sonnenlicht. Ein hübsches, scheues Mädchen. Und sie war merkwürdig mißtrauisch gewesen. Jetzt also kannte er den Grund dafür: Offenbar hatten sie und ihr Freund eine Menge Stoff daheim gehabt. Oder, was noch wahrscheinlicher war, sogar gedealt. Aber wenn das Apartment dringend gebraucht wurde, hätte auch eine Anklage wegen Drogenbesitzes gereicht, und die konnte man immer kriegen. Wofür, fragte er sich, würde wohl Bob Arctors verdrecktes, aber geräumiges Haus von den Behörden genutzt werden, wenn man Arctor erst mal weggekarrt hatte? Nun, höchstwahrscheinlich würde man daraus ein noch größeres Kontroll-Zentrum machen, wo sich noch mehr einlaufende Informationen sichten und verarbeiten ließen … »Arctors Haus würde Ihnen gefallen«, sagte er laut. »Es ist total heruntergekommen, eine richtige schmutzige Doper-Bude halt, aber es ist groß. Ein schöner Hof. Eine Menge Büsche und Stauden.« »Das hat die Installationsmannschaft in ihrem Bericht auch erwähnt. Das Haus böte wirklich einige ausgezeichnete Verwendungsmöglichkeiten. « »Sie … was? Sie haben berichtet, es ›böte einige ausgezeichnete Verwendungsmöglichkeiten‹ ja?« Er hatte das Gefühl, gleich wahnsinnig zu werden, als er hörte, wie die schnarrende Stimme des Jedermann-Anzugs selbst diesen Worten jeden Klang und alle Emotionen raubte. Seine Wut steigerte sich immer mehr. »Zum Beispiel?« »Nun, eine Verwendungsmöglichkeit liegt doch auf der Hand: Vom Wohnzimmer aus blickt man direkt auf eine vielbefahrene Kreuzung, so daß sich vorbeifahrende Wagen und deren Nummernschilder bequem fotografieren ließen …« Hank las wieder einmal in einem der unzähligen Berichte, die er vor sich liegen hatte. »Aber der Leiter der Crew, Burt – komisch, aber ich kann mich nie an sein Gesicht erinnern – Burt also vertritt hier die Auffassung, daß das Haus so übel heruntergekommen sei, daß es sich nicht lohnen würde, es zu übernehmen. Zu hohe Kosten.« »In welcher Hinsicht? In welcher Weise heruntergekommen?« »Das Dach.« »Das Dach ist perfekt.« »Sowohl der Innen- als auch der Außenanstrich. Der Zustand der Böden. Die Küchenschränke –« »Quatsch mit Soße«, sagte Fred, oder jedenfalls summte der Anzug das. »Okay, Arctor hat vielleicht nichts dagegen unternommen, daß sich das Geschirr und der Müll nur so stapeln, und Staub gewischt hat er auch nicht, aber schließlich leben da je auch drei Macker ohne Puppen! Seine Frau hat ihn verlassen; normalerweise kümmern sich doch die Frauen um den ganzen Kram. Wenn Donna Hawthorne eingezogen wäre – und Arctor hat sie darum gebeten, ja, er hat sie deswegen richtig angebettelt –, dann hätte sie das Haus bestimmt in Ordnung gehalten. Auf jeden Fall könnte ein professioneller Reinigungs-Service das ganze Haus in einem halben Tag wieder in Topzustand bringen, jedenfalls soweit’s ums Saubermachen geht. Was das Dach betrifft, da ärgere ich mich wirklich drüber, weil –« »Dann empfehlen Sie also offiziell, daß wir das Haus erwerben, nachdem Arctor festgenommen worden ist und sein Besitzanspruch erloschen ist?« Fred, der Anzug, starrte ihn an. »Nun?« sagte Hank unbeteiligt. Sein Kugelschreiber schwebte schon über dem entsprechenden Formular. »Ich hab’ dazu überhaupt keine Meinung. Mir ist das alles ganz egal.« Fred erhob sich von seinem Stuhl, um zu gehen. »Sie werden noch nicht gehen«, sagte Hank und bedeutete ihm, wieder Platz zu nehmen. Er fischte ein Blatt zwischen den Unterlagen auf seinem Schreibtisch hervor. »Ich habe hier ein Memorandum –« »Sie haben immer Memoranden«, sagte Fred. »Für jedermann.« »In diesem Memorandum«, sagte Hank, »werde ich angewiesen, Sie hinüber nach Zimmer 203 zu schicken, bevor Sie heute das Haus verlassen.« »Wenn es wegen der Anti-Drogen-Ansprache sein sollte, die ich im Lions-Qub gehalten habe … dafür hat man mich schon zusammengeschissen.« »Nein, darum geht es diesmal nicht.« Hank warf ihm den zerknüllten Zettel zu. »Diesmal ist es was anderes. Ich bin für heute mit Ihnen fertig – warum setzen Sie sich also nicht in Bewegung, traben schnurstracks da hinüber und bringen es hinter sich?« * Zimmer 203 erwies sich als vollständig weißer Raum mit stählernen Beleuchtungskörpern, stählernen Sesseln und einem stählernen Schreibtisch, die alle festgeschraubt waren – ein Raum wie in einem Krankenhaus, blitzblank und steril und kalt; grelles Licht stach Fred in die Augen. Eine Personenwaage an der rechten Seite des Raumes, an der ein Schild mit der Aufschrift NACHJUSTIERUNG NUR DURCH ANGEHÖRIGE DES TECHNISCHEN PERSONALS prangte, verstärkte den Krankenhauseindruck noch. Als er eintrat, blickten ihm zwei Polizeibeamte in voller Uniform entgegen; besondere Ärmelstreifen wiesen sie allerdings als medizinische Assistenten im polizeiärztlichen Stab des Sheriff-Büros von Orange County aus. »Sie sind der Beamte Fred?« fragte einer der beiden. Er trug einen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart. »Ja, Sir«, sagte Fred. Er fühlte sich verschreckt. »All right, Fred, lassen Sie mich zunächst noch einmal eine grundsätzliche Tatsache klarstellen. Wie Sie zweifellos wissen, werden sämtliche Sitzungen, in denen Sie Ihre Aufträge erhalten oder Bericht erstatten, aufgezeichnet und später noch einmal auf einer Mitschauanlage abgespielt, und zwar für den Fall, daß bei den Sitzungen selbst etwas übersehen worden ist. Das ist natürlich eine reine Routineangelegenheit und gilt für alle Beamten, die hier zur mündlichen Berichterstattung erscheinen, nicht nur für Sie.« Der andere medizinische Assistent sagte: »Diese Regelung betrifft auch alle Ihre sonstigen Kontakte mit Ihrer Abteilung, also etwa Telefongespräche, und alle übrigen dienstlichen Aktivitäten, wie beispielsweise die öffentliche Ansprache, die Sie kürzlich in Anaheim vor den Jungs vom Rotary-Club gehalten haben.« »Lions-Club«, sagte Fred. »Nehmen Sie Substanz T?« sagte der medizinische Assistent zur Linken. »Diese Frage«, sagte der andere, »ist trivial, weil wir es als gegeben annehmen, daß Sie im Vollzug Ihrer Arbeit dazu gezwungen sind. Antworten Sie also nicht. Nicht, daß es Sie belasten könnte, aber es ist einfach trivial.« Er wies auf einen Tisch, auf dem ein Stapel Blöcke und anderer Krimskrams lagen, darunter grellbunte Gegenstände aus Plastik und andere Objekte, die der Beamte Fred nicht identifizieren konnte. »Kommen Sie hier herüber und setzen Sie sich, Beamter Fred. Wir werden Sie, kurz gesagt, einigen einfachen Tests unterziehen. Das wird nicht viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, und es sind auch keine physischen Unannehmlichkeiten damit verbunden.« »Was diese Rede angeht, die ich gehalten habe –«, sagte Fred. »Wir führen diese Untersuchungen durch«, sagte der medizinische Assistent zur Linken, während er sich setzte und einen Stift und ein paar Formulare hervorkramte, »weil ein vor kurzem vorgelegter Regierungsbericht gezeigt hat, daß in unserem Zuständigkeitsbereich in den letzten Monaten mehrere Geheime Rauschgift-Agenten in Kliniken für neurale Aphasie eingewiesen werden mußten.« »Sie sind sich der Tatsache bewußt, daß Substanz T in hohem Maße suchtbildend ist?« sagte der andere Assistent zu Fred. »Sicher«, sagte Fred. »Natürlich bin ich mir dessen bewußt.« »Wir werden Ihnen jetzt diese Tests vorlegen«, sagte der sitzende medizinische Assistent, »und zwar in dieser Reihenfolge … Wir beginnen mit einem Test, den wir den OH-Test oder auch –« »Sie glauben, daß ich süchtig bin?« sagte Fred. »Ob Sie süchtig sind oder nicht, ist eine zweitrangige Frage, da wir ohnehin damit rechnen, daß die bei den Streitkräften für chemische Kriegsführung zuständige Abteilung irgendwann in den nächsten fünf Jahren ein Gegenmittel finden wird.« »Bei diesen Tests geht es nicht um die suchtbildenden Eigenschaften von Substanz T, sondern um – na, am besten lege ich Ihnen zuerst diesen Objekt-Hintergrund-Test vor, mit dessen Hilfe sich die Fähigkeit messen läßt, problemlos ein Objekt von seinem Hintergrund zu unterscheiden. Sehen Sie dieses geometrische Diagramm?« Er legte eine vollgekritzelte Karte vor Fred auf den Tisch. »Inmitten dieser scheinbar bedeutungslosen Linien verbirgt sich ein wohlvertrautes Objekt, das jeder normale Mensch eigentlich erkennen müßte. Sie sollen mir nun sagen, worum es sich bei diesem …« Item. Im Juli 1969 veröffentlichte Joseph E. Bogen seinen revolutionären Aufsatz »Die andere Seite des Gehirns: Das appositionelle Denken«. In diesem Aufsatz zitierte er einen in der Fachwelt völlig unbekannten Dr. A. L. Wigan, der bereits 1844 geschrieben hatte: Der Geist ist seinem Wesen nach zweigeteilt, wie jenes Organ, dem er entspringt. Diese Idee hat sich mir aufgedrängt, und ich habe mich mehr als ein Vierteljahrhundert eingehend damit beschäftigt, ohne daß es mir gelungen wäre, einen einzigen validen oder auch nur plausiblen Einwand zu finden. Daher glaube ich, beweisen zu zu können – (1) Daß jede Gehirnhemisphäre als Organ des Denkens ein eigenständiges, in sich vollendetes Ganzes ist. (2) Daß in jeder der beiden Hälften des Cerebrums simultan voneinander unabhängige, gesonderte Prozesse des Denkens oder Schlußfolgerns abzulaufen vermögen. In seinem Aufsatz schlußfolgerte Bogen daraus: »Ich bin [wie Wigan] der Ansicht, daß jeder von uns zwei Persönlichkeiten in einer Person vereinigt. Natürlich wirft diese Hypothese eine Unzahl von Einzelfragen auf, die noch beantwortet werden müssen. Aber in erster Linie gilt es, dem Hauptwiderstand gegen Wigans Theorie entgegenzutreten: nämlich dem uns allen eigenen subjektiven Empfinden, daß jeder Mensch in sich eine unauflösliche Einheit ist. Dieser Glaube an die menschliche Ganzheit wird in unserer westlichen Kultur nach wie vor hochgehalten. …« »… Objekt handelt. Sodann zeigen Sie uns bitte, wo genau es sich innerhalb des Gesamtfeldes befindet.« Ich werde hier für dumm verkauft, dachte Fred. »Was soll das alles eigentlich?« sagte er, wobei er nicht das Diagramm, sondern den medizinischen Assistenten anstarrte. »Ich wette, Sie machen das nur wegen der Rede vor dem Lions-Club?« sagte er. Er zweifelte keinen Augenblick lang daran. Der ihm gegenübersitzende Assistent sagte:»Bei vielen von denen, die Substanz T nehmen, tritt eine Spaltung zwischen der rechten und der linken Hemisphäre des Gehirns auf. Das führt zu einem Verlust der Fähigkeit zur angemessenen Gestalt-Wahrnehmung, was ein Defekt innerhalb sowohl das des perzeptiven als auch des kognitiven Systems ist, obwohl das kognitive System scheinbar weiterhin normal funktioniert. Aber die Daten, die das kognitive System nun vom perzeptiven System empfängt, sind bereits durch diese Spaltung deformiert, so daß auch das kognitive System nach und nach immer mehr versagt, fortschreitend immer weiter verfällt. Haben Sie das vertraute Objekt in dieser Strichzeichnung ausfindig gemacht? Können Sie es mir zeigen?« Fred sagte: »Sie meinen damit nicht die Ablagerung von Schwermetallspuren in den Synapsen, wo die Nervenimpulse verarbeitet werden, nicht wahr? Irreversible –« »Nein«, sagte der Assistent, der neben dem Tisch stand. »Das ist kein herkömmlicher Hirnschaden, sondern eine Art Toxizität, eine Gehirntoxizität. Eine toxische Gehirnpsychose, die das perzeptive System schädigt, indem sie es spaltet. Was da vor Ihnen liegt, dieser OH-Test, mißt den Grad der Handlungsfähigkeit Ihres perzeptiven Systems als ein einheitliches Ganzes. Können Sie die Form hier sehen? Sie sollte Ihnen geradewegs ins Auge springen. « »Ich sehe eine Coke-Flasche«, sagte Fred. »Eine Limonadenflasche ist die richtige Antwort«, sagte der sitzende Assistent, nahm mit einem raschen Griff die Zeichnung weg und ersetzte sie durch eine neue. »Haben Sie etwas Ungewöhnliches festgestellt, als Sie meine Rapporte und das alles studiert haben? Irgendwas in Richtung Matschbirne?« Es liegt an der Rede, dachte er. »Was ist mit der Rede, die ich gehalten habe?« sagte er. »Habe ich da bilaterale Dysfunktionen gezeigt? Bin ich darum zu diesen Tests hierhergeschleift worden?« Er hatte mal etwas über diese Gehirnspaltungsteste gelesen, die die Abteilung von Zeit zu Zeit durchführen ließ. »Nein, das hier ist eine reine Routinemaßnahme«, sagte der sitzende Assistent. »Wir wissen schließlich, Beamter Fred, daß es für Geheime Rauschgift-Agenten oft notwendig ist, im Zuge der Ausübung ihrer Pflicht Drogen zu nehmen; die, deren Einweisung in staatliche –« »Für immer?« fragte Fred. »Nur in den seltensten Fällen für immer. Um es noch einmal zu wiederholen: Es handelt sich hierbei um eine Art Verseuchung der Wahrnehmung, die im Laufe der Zeit durchaus von selbst wieder verschwinden mag, wenn –« »Trübe«, sagte Fred. »Trüber Schmant, der sich über alles legt.« »Haben Sie manchmal Überlagerungseffekte?« fragte ihn plötzlich einer der Assistenten. »Was?« sagte er unsicher. »Zwischen den Hemisphären. Wenn in der linken Hemisphäre, wo das Sprachzentrum normalerweise verortet ist, ein Schaden entsteht, dann übernimmt die rechte Gehirnhälfte oft die ausgefallenen Funktionen, so gut sie das kann.« »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich bin mir dessen nicht bewußt.« »Gedanken, die nicht Ihre eigenen zu sein scheinen. Etwa so, als ob noch eine andere Person, ein anderer Geist in Ihrem Kopf denken. Aber ganz anders, ab Sie normalerweise denken würden. Sogar ausländische Worte, die Sie nicht kennen. Man erlernt so etwas oft irgendwann im Leben durch periphere Perception.« »Nichts in der Art. Ich hätte das bemerkt.« »Wahrscheinlich. Nach den Berichten, die Leute mit einer Schädigung der linken Hemisphäre gegeben haben, ist es offensichtlich eine ziemlich schockierende Erfahrung.« »Ich glaube eigentlich doch, daß ich das bemerkt hätte.« »Früher nahm man im allgemeinen an, daß die rechte Hemisphäre über überhaupt keine sprachlichen Fähigkeiten verfügte, aber diese Theorie wurde aufgestellt, bevor sich so viele Leute die linke Gehirnhälfte mit Drogen ruiniert hatten und ihr – der rechten, meine ich – dadurch eine Chance gaben, auf den Plan zu treten. Das Vakuum zu füllen.« »Ich werde bestimmt in Zukunft darauf achten«, sagte Fred und lauschte zugleich auf den rein mechanischen Klang seiner Stimme. Wie die Stimme eines pflichteifrigen Kindes in der Schule. Eine Stimme, aus der die Bereitschaft sprach, jedem noch so dummen Befehl zu gehorchen, der ihm von jenen erteilt wurde, die die Befehlsgewalt innehatten. Jenen, die größer waren als er und sich in einer Position befanden, die es ihnen erlaubte, ihm ihren Willen aufzuzwingen. Egal, ob der Befehl nun sinnvoll war oder nicht. Immer nur beipflichten, dachte er. Und das tun, was einem befohlen wird. »Was sehen Sie auf dem zweiten Bild?« »Ein Schaf«, sagte Fred. »Zeigen Sie mir das Schaf.« Der sitzende Deputy beugte sich vor und drehte das Bild um. »Wenn Ihre Fähigkeit zur Unterscheidung von Objekt und Hintergrund beeinträchtigt ist, dann kann Ihnen das eine Menge Ärger machen – statt keine Formen wahrzunehmen, nehmen Sie falsche Formen wahr.« Wie Hundescheiße, dachte Fred. Hundescheiße würde bestimmt zu den falschen Formen gerechnet werden. Egal, was man für einen Maßstab anlegt. Er … Die vorliegenden Daten deuten darauf hin, daß die stumme, untergeordnete Hemisphäre auf die Gestalt-Wahrnehmung spezialisiert ist, also in erster Linie den Informations-Input ganzheitlich-synthetisch verarbeitet. Im Gegensatz dazu scheint die mit Sprachfähigkeit begabte, dominierende Hemisphäre eher in der Art eines Computers, also tendenziell logischer und analytischer, zu arbeiten, und die Befunde legen die Vermutung nahe, daß ein möglicher Grund für die zerebrale Ungleichgewichtigkeit beim Menschen in der grundlegenden Unvereinbarkeit der Sprachfunktionen einerseits und der synthetischer Perzeptionsfunktionen andererseits zu suchen ist. … fühlte sich krank und niedergschlagen, fast so sehr wie während der Ansprache vor dem Lions-Club. »Da ist gar kein Schaf, nicht wahr?« sagte er. »Aber war ich wenigstens nahe dran?« »Das hier ist kein Rorschach-Test«, sagte der sitzende Assistent, »bei dem ein vager Fleck von verschiedenen Testpersonen auf unterschiedliche Weise gedeutet werden kann. Bei diesem Test zeigen die Testkarten ein definitiv festgelegtes Objekt. Eins und nur eins. In diesem Fall ist es ein Hund.« »Ein was?« sagte Fred. »Ein Hund.« »Woher wissen Sie, daß es ein Hund ist?« Er sah keinen Hund. »Zeigen Sie ihn mir.« Der medizinische Assistent … Diese Schlußfolgerung findet ihren experimentellen Beweis durch den sogenannten »Spaltungsversuch«, bei dem die beiden Gehirnhemisphären eines Tieres darauf trainiert werden können, unabhängig voneinander wahrzunehmen, Strategien zu erwägen und zu handeln. Beim Menschen, wo die dominanten, handlungsrelevanten Denkfunktionen sehr ausgeprägt in nur einer Hemisphäre verortet sind, hat sich die andere Hemisphäre offensichtlich auf eine strukturell andersartige Form des Denkens spezialisiert, die man appositionell nennen könnte. Die Regeln oder Modelle, nach denen die Denkakte der dominanten Hemisphäre (jener also, die spricht, liest und schreibt) ablaufen, sind bereits seit vielen Jahren Gegenstand syntaktischer, semantischer, mathematisch-logischer u. a. Analysen. Die Gesetze und Modelle, nach denen auf der anderen Seite des Gehirns das appositionelle Denken abläuft, werden hingegen noch viele Jahre intensiver Erforschung bedürfen. … wendete die Karte; auf der Rückseite war als schematisch stark vereinfachter Umriß EIN HUND gezeichnet, und jetzt erkannte Fred, daß es sich dabei tatsächlich um die Form handelte, die inmitten der Linien auf der Vorderseite eingezeichnet gewesen war. Übrigens war es nicht nur einfach irgendein Hund, sondern eine ganz bestimmte Hunderasse: ein Windhund mit eingezeichneten Gedärmen. »Was bedeutet es«, sagte er, »daß ich statt dessen ein Schaf gesehen habe?« »Vielleicht haben Sie einfach nur eine psychologische Blockade«, sagte der Assistent, der neben dem Tisch stand und sein Gewicht dauernd von einem Fuß auf den anderen verlagerte. »Erst wenn wir mit dem ganzen Stapel von Testkarten durch sind und diverse andere Tests –« »Die Überlegenheit dieses Tests gegenüber dem Rorschach-Test«, unterbrach der sitzende Assistent ihn, während er zugleich die nächste Zeichnung auf den Tisch legte, »besteht darin, daß er nicht interpretativ ist; es gibt so viele falsche Antworten, wie man sich nur ausdenken kann, aber nur eine richtige. Pro Karte ein ganz bestimmtes Objekt, vom Bundesamt für Psychotest-Graphiken eingezeichnet und mit Brief und Siegel bestätigt; das und nur das ist das richtige Objekt, denn schließlich kommen die Angaben direkt aus Washington. Entweder finden Sie es, oder Sie finden es nicht, und wenn Sie eine ganze Serie von Fehlern machen, dann haben wir einen Anhaltspunkt für eine funktionale Wahrnehmungsbeeinträchtigung. Und in diesem Fall werden wir Sie für eine Weile trockenlegen müssen – so lange, bis spätere Tests beweisen, daß bei Ihnen wieder alles okay ist.« »In einer Staatlichen Nervenklinik?« sagte Fred. »Ja. So, was sehen Sie in dieser Zeichnung zwischen den schwarzen und weißen Linien?« Die Stadt des Todes, dachte Fred, während er die Zeichnung studierte. Genau das sehe ich: Tod in allen Formen und nicht nur in der einen, korrekten. Tod überall. Angeheuerte Killer auf kleinen Wägelchen, neunzig Zentimeter groß. »Sagen Sie mal«, sagte Fred, »hat Sie nicht doch die Ansprache vor dem Lions-Club auf mich aufmerksam gemacht?« Die beiden medizinischen Assistenten wechselten einen Blick. »Nein«, sagte schließlich der, der neben dem Tisch stand. Es war ein kurzer Dialog zwischen Ihnen und Hank. Eigentlich nur eine beiläufige Bemerkung. Eine Blödelei. Ungefähr vor zwei Wochen … Wie Sie sicher wissen, gibt es eine technisch bedingte Verzögerung bei der Sichtung dieses ganzen Mülls, dieser ganzen Roh­informationen, die bei uns zusammenlaufen. Die zuständigen Sachbearbeiter sind noch gar nicht bis zu Ihrer Ansprache gekommen. Das wird wohl auch noch ein paar Tage dauern.« »Worum ging’s denn bei dem ›Rumgealber‹?« »Um ein gestohlenes Fahrrad«, sagte der andere Assistent. »Ein Sieben-Gang-Fahrrad, wie Sie es nannten. Sie haben versucht, herauszufinden, wo wohl die fehlenden drei Gänge geblieben sein mochten, richtig?« Wieder schauten sie einander an, die beiden medizinischen Assistenten. »Sie äußerten die Vermutung, daß die Gänge auf dem Boden der Garage liegengeblieben sein könnten, aus der das Rad gestohlen worden war.« »Zum Teufel noch mal«, protestierte Fred. »Das war doch alles Charles Frecks Fehler, nicht meiner; er hat alle damit verrückt gemacht wie ‘n Weltmeister. Ich fand die ganze Angelegenheit nur irgendwie witzig.« BARRIS: (Steht mit einem großen, tollen, chromglänzenden Fahrrad mitten im Wohnzimmer und strahlt über das ganze Gesicht) Schaut mal, was ich für nur zwanzig Dollar gekriegt hab’! FRECK: Was is’n das? BARRIS: Ein Fahrrad, ein Zehn-Gang-Fahrrad, praktisch funkelnagelneu. Ich hab’s bei unseren Nachbarn im Hof stehen sehen und mich danach erkundigt, und weil die gleich vier von der Sorte hatten, haben sie’s mir für zwanzig Dollar bar auf die Hand verkauft. Farbige. Sie haben’s sogar für mich über den Zaun gehievt. LUCKMAN: Wußte gar nicht, daß man ein fast fabrikneues Zehn-Gang-Fahrrad für zwanzig Dollars kriegen kann. DONNA: Ich finde, es ähnelt unheimlich dem, das der Puppe, die bei mir gegenüber wohnt, vor ungefähr einem Monat geklaut worden ist. Vielleicht haben diese schwarzen Typen es geklaut. ARCTOR: Na klar doch. Wenn sie vier davon hatten und sie so billig verscherbeln. DONNA: Wenn es wirklich der Kleinen mir gegenüber gehört, solltest du’s ihr zurückgeben. Auf jeden Fall solltest du’s ihr mal zeigen, damit sie sehen kann, ob’s ihres ist. BARRIS: Das ist ein Herrenfahrrad. Also kann’s gar nicht ihres sein. FRECK: Warum behauptest du eigentlich, es sei ein Zehn-Gang-Fahrrad, wo’s doch nur sieben Gänge hat?« BARRIS (erstaunt) Was? FRECK: (Geht hinüber zum Rad und zeigt ihm, was er meint) Schau mal, fünf Zahnräder hier und zwei Zahnräder hier am anderen Ende der Kette. Fünf und zwei … Wenn der optische Chiasmus einer Katze oder eines Affen sagital geteilt wird, so gelangen die vom rechten Auge aufgenommenen visuellen Daten nur noch in die rechte Hemisphäre; analog dazu informiert das linke Auge nur noch die linke Hemisphäre. Wenn ein Tier nach dieser Operation darauf trainiert wird, unter ausschließlicher Benutzung jeweils nur eines Auges zwischen zwei Symbolen zu unterscheiden, so zeigen spätere Tests, daß es diese Symbole auch mit dem anderen Auge korrekt unterscheiden kann. Wenn jedoch vor dem Training die Nervenverbindungsstränge – besonders der Corpus Callosum – durchtrennt worden sind, so müssen das ursprünglich abgedeckte Auge und seine ipsilaterale Hemisphäre ganz neu trainiert werden. Die antrainierte Fähigkeit überträgt sich, um es noch einmal anders auszudrücken, also nicht von einer Hemisphäre auf die andere, wenn die Nervenverbindungsstränge durchtrennt worden sind. Das ist der grundlegende »Spaltungsversuch« von Myers und Sperry (1953; Sperry, 1961; Myers, 1965; Sperry, 1967). … macht zusammen sieben. Also ist das nur ein Sieben-Gang-Rad. LUCKMAN: Yeah, aber selbst ein Sieben-Gang-Rennrad ist seine zwanzig Dollars wert. Er hat immer noch einen guten Kauf gemacht. BARRIS: (verärgert) Diese Farbigen haben mir aber gesagt, es sei ein Zehn-Gang-Rad. Das ist Betrug! (Alle drängen sich um das Rad, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Sie zählen wieder und wieder die Gänge.) FRECK: Jetzt zähle ich acht. Sechs vorne, zwei hinten. Das ergibt acht. ARCTOR: (logisch) Aber es müßten zehn sein. Es gibt keine Sieben- oder Acht-Gang-Räder. Jedenfalls nicht, daß ich wüßte. Habt ihr ‘ne Idee, was mit den fehlenden Gängen passiert sein könnte? BERRIS: Diese Farbigen müssen daran herumgebastelt haben. Bestimmt haben sie’s mit völlig ungeeigneten Werkzeugen auseinandergenommen, ohne auch nur einen blassen Schimmer von Fahrradmechanik zu haben, und als sie es dann wieder zusammengebaut haben, haben sie drei Gänge auf dem Boden der Garage vergessen. Vielleicht liegen sie da noch rum. LUCKMAN: Dann sollten wir rübergehen und sie um die fehlenden Gänge bitten. BARRIS: (wütend) Aber eben da liegt ja der Betrug: Wahrscheinlich werden sie uns anbieten, mir die Gänge extra zu verkaufen, statt sie umsonst rauszugeben, wie es eigentlich ihre Pflicht wäre. Ich frage mich, was sie wohl sonst noch alles kaputtgemacht haben. (Inspiziert das gesamte Rad) LUCKMAN: Wenn wir alle zusammen hingehen, rücken sie die Gänge bestimmt raus; darauf kannst du Gift nehmen, Mann. Wir gehen alle, richtig? (Blickt sich beifallheischend um) DONNA: Seid ihr sicher, daß das Rad nur sieben Gänge hat? FRECK: Acht. DONNA: Sieben, acht. Ich meine jedenfalls, ihr solltet jemanden fragen, bevor ihr rübergeht. Irgendwie, find’ ich, sieht es nicht so aus, als hätten sie’s auseinandergenommen oder sonst was in der Richtung. Bevor ihr da rübergeht und denen Feuer unter dem Arsch macht, müßt ihr das doch erst mal rausfinden. Kapiert ihr das? ARCTOR: Sie hat recht. LUCKMAN: Aber wen könnten wir fragen? Kennt einer von euch jemanden, der Ahnung von Rennrädern hat? FRECK: Fragen wir doch einfach den ersten, den wir treffen. Wir schieben es vor die Tür, und wenn dann irgend so ein Freak daherkommt, fragen wir ihn. Auf diese Weise kriegen wir wenigstens ein neutrales Urteil. (Gemeinsam schieben sie das Rad nach draußen und treffen auch sofort einen jungen Schwarzen, der gerade aus seinem Wagen steigt. Sie deuten auf die sieben – acht? – Gänge und fragen ihn, wie viele Gänge das Rad denn nun habe, obwohl sie doch ganz deutlich sehen können – außer Charles Freck natürlich –, daß es nur sieben sind: fünf Zahnräder am einen Ende der Kette, zwei am anderen. Fünf und zwei macht zusammen sieben. Das können sie mit eigenen Augen feststellen. Wo liegt denn nun der Hund begraben?) JUNGER FARBIGER: Sie müssen die Zahl der Zahnräder vorne mit der Zahl der Zahnräder hinten malnehmen, um die Zahl der Gänge zu erhalten. Nicht addieren, sondern multiplizieren. Verstehen Sie? Die Kette springt nämlich bei jedem Schaltvorgang von einem Zahnrad zum nächsten weiter, so daß jeweils eine andere Übersetzung entsteht. Zunächst koppelt die Kette jedes der fünf Zahnräder hinten (er deutet mit dem Finger auf diese fünf Zahnräder) mit einem der beiden vorne (er zeigt auch darauf), was einmal fünf und damit fünf verschiedene Übersetzungsverhältnisse ergibt – fünf Gänge. Wenn Sie dann diesen Hebel hier an der Lenkstange ziehen, springt die Kette hinüber auf das andere der beiden vorderen Zahnräder und koppelt nun dieses mit jedem der fünf Zahnräder hinten, was weitere fünf plus fünf und damit zehn Gänge. Verstehen Sie jetzt, wie das funktioniert? Die Zahl der Gänge wird nämlich immer berechnet, indem man – (Sie bedanken sich bei ihm und rollen schweigend das Rad ins Haus zurück. Der junge Schwarze, den sie noch nie vorher gesehen haben und der kaum älter als siebzehn sein kann und einen unglaublich alten, vermackelten Wagen – so eine Art Lieferwagen – fährt, schließt jetzt die Wagentür endgültig ab, und sie machen die Haustür hinter sich zu und stehen da wie begossene Pudel.) LUCKMAN: Hat irgendwer von euch Dope dabei? Where there’s dope there’s hope.«[2 - Anm. d. Übers.: Etwa: »Wo es Stoff gibt, da gibt es auch noch Hoffnung.«](Keiner… Alle Befunde deuten darauf hin, daß eine Trennung der Hemisphären zwei voneinander unabhängige Bewußtseinssphären innerhalb desselben Kraniums erschafft, will heißen: innerhalb eines einzigen Organismus. Diese Schlußfolgerung mag manche Leute – nämlich jene, die das Bewußtsein als eine unteilbare Eigenschaft des menschlichen Gehirns betrachten – beunruhigen. Andere Kritiker mögen sie als voreilig abtun, weil sie darauf beharren, daß sich die bisher entdeckten Fähigkeiten der rechten Hemisphäre auf einer quasi automatenhaften Ebene bewegen. Unzweifelhaft ist, daß sich bei allen bisher untersuchten Fällen eine deutliche Ungleichheit der Hemisphären hat zeigen lassen, aber es ist durchaus möglich, daß dies nur ein Charakteristikum gerade jener Individuen ist, die wir studiert haben. Wenn das Gehirn eines sehr jungen Menschen auf die oben beschriebene Weise »geteilt« würde, läßt es sich keineswegs ausschließen, daß in der Folge beide Hemisphären dieses Gehirns getrennt und unabhängig voneinander mentale Funktionen einer höheren Ordnung entwickeln würden – und das auf einem Level, das sonst bei normalen Individuen nur in der linken Hemisphäre erreicht wird. … lacht.) »Wir wissen, daß Sie eine der Personen in dieser Gruppe waren«, sagte der medizinische Assistent, der ihm am Tisch gegenübersaß. »Es ist übrigens ganz egal, welche. Keiner von Ihnen war in der Lage, das Rad anzuschauen und die simple mathematische Operation wahrzunehmen, die erforderlich ist, um aus diesem sehr kleinen System von Übersetzungen die richtige Zahl der Gänge abzuleiten.« Aus der Stimme des Assistenten konnte Fred ein gewisses Mitgefühl heraushören, einen Versuch, freundlich zu sein. »Problemstellungen wie diese finden sich in jedem Eignungstest für weiterführende Schulen. Waren Sie alle high?« »Nein«, sagte Fred. »Eignungstests dieses Schwierigkeitsgrads werden selbst Kindern vorgelegt«, sagte der andere medizinische Assistent. »Also woran lag’s, Fred?« fragte der erste Assistent. »Weiß ich auch nicht mehr«, sagte Fred. Er schwieg einen Moment lang. Und dann sagte er: »Für mich klingt das alles so, als sei im kognitiven Bereich was schiefgegangen, nicht im perzeptiven. Spielt bei einem solchen Vorgang nicht das abstrakte Denken eine entscheidende Rolle? Und nicht –« »Das könnte man zunächst meinen«, sagte der sitzende Assistent. »Aber Tests haben gezeigt, daß das kognitive System versagt, weil es keine akkuraten Daten erhält. Mit anderen Worten: Der Input ist auf eine solche Weise verzerrt, daß man, wenn man ihn verarbeiten will, ihn falsch verarbeitet, weil man nicht –« Der Assistent wedelte hilflos mit den Händen in der Luft herum, weil es ihm sichtlich schwerfiel, einen Weg zu finden, die Zusammenhänge in einfachen Worten zu erklären. »Aber ein Zehn-Gang-Rad hat sieben Zahnräder«, sagte Fred. »Was wir gesehen haben, war korrekt. Zwei vorne, fünf hinten.« »Aber die Zahnräder an sich sind eben nicht mit den Gängen identisch. Sie haben nicht wahrgenommen – keiner von Ihnen hat das –, wie die sieben Zahnräder durch die Kette miteinander in Verbindung treten müssen, damit zehn verschiedene Übersetzungen und damit zehn Gänge entstehen. Nämlich die fünf hinten mit jedem der beiden vorne, ganz so, wie der Schwarze Ihnen das ja auch erklärt hat. War er ein sehr gebildeter Mann?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte Fred. »Das, was der Schwarze gesehen hat«, sagte der stehende Assistent, »unterschied sich grundlegend von dem, was Sie alle gesehen haben. Er sah nämlich zwei gesonderte Verbindungslinien zwischen dem rückwärtigen und dem vorderen Zahnradsystem, das heißt, er konnte simultan zwei voneinander verschiedene Verbindungslinien wahrnehmen, die von den beiden vorderen Zahnrädern der Reihe nach zu jedem der fünf hinteren verliefen. Sie hingegen haben nur eine Verbindung zu allen rückwärtigen Zahnrädern gesehen.« »Aber das würde dann sechs Gänge machen«, sagte Fred. »Zwei Zahnräder vorne, aber eine Verbindung.« »Was wiederum ein Fall von inakkurater Wahrnehmung ist. Keiner hat dem schwarzen Jungen das beigebracht; wenn man ihm in der Schule überhaupt was beigebracht hat, dann höchstens, durch Nachdenken – also durch eine Aktivität auf der kognitiven Ebene – herauszufinden, was es mit diesen beiden Verbindungslinien auf sich haben könnte. Sie hingegen haben eine davon einfach vollständig übersehen. Sie alle! Obwohl Sie vorne zwei Zahnräder gezählt haben, haben Sie sie auf der perzeptiven Ebene doch als gleichartig aufgefaßt.« »Beim nächsten Mal werd’ ich’s besser machen«, sagte Fred. »Bei welchem nächsten Mal? Wenn Sie wieder ein geklautes Zehn-Gang-Rad kaufen? Oder wenn Sie den ganzen perzeptiven Input, der täglich so anfällt, in Ihrem Gehirn verarbeiten?« Fred schwieg. »Lassen Sie uns mit dem Test fortfahren«, sagte der sitzende Assistent. »Was sehen Sie in diesem Bild hier, Fred?« »Plastik-Hundescheiße«, sagte Fred. »Wie die, die hier im Raum Los Angeles verkauft wird. Kann ich jetzt gehen?« Das alles kam ihm wie eine Neuauflage der Ansprache vor dem Lions-Club vor. Aber zu seiner Überraschung lachten die beiden Assistenten. »Wissen Sie, Fred«, sagte der, der ihm gegenübersaß, »Sie nehmen’s wenigstens noch mit Humor, und wenn Sie den auch in Zukunft behalten, dann werden Sie’s vielleicht machen.« »Machen?« wiederholte Fred wie ein Echo. »Was machen? Meinen Weg machen? Eine Puppe anmachen? Meine Fehler wiedergutmachen? Mir in die Hose machen? Geld machen? Boden gutmachen? Noch mehr von diesem Scheiß hier durchmachen? Definieren Sie die Bedeutungsebene des von Ihnen verwendeten Begriffs. Das lateinische Wort für ›machen‹ ist facere, was mich immer an hickere erinnert, und das ist lateinisch für ›ficken‹, und das wiederum bringt mich darauf, daß in der Hinsicht … Das Gehirn der höheren Tiere und somit auch das menschliche Gehirn ist ein Doppelorgan, das sich aus einer rechten und einer linken Hemisphäre zusammensetzt, die durch einen Isthmus aus Nervengewebe, den man ›Corpus Callosum‹ nennt, miteinander verbunden sind. Vor rund fünfzehn Jahren machten Ronald E. Myers und R.W. Sperry, die seinerzeit an der Universität von Chicago arbeiteten, eine überraschende Entdeckung: Wenn diese Verbindung zwischen den beiden Hälften des Cerebrums durchtrennt wird, so funktionieren beide Hemisphären unabhängig voneinander, als sei jede davon ein vollständiges Gehirn. … in letzter Zeit nicht sehr viel gelaufen ist, scheiß’ was drauf, Plastikscheiße oder richtige Scheiße oder was für Shit auch immer. Wenn ihr Jungs so ‘ne Art Psychologen seid und ihr euch laufend meine endlosen Rapporte bei Hank angehört habt, dann sagt mir doch mal eins: Wie deichsle ich die Sache mit Donna? Wie komme ich an sie ran? Ich meine, wie macht man das? Bei so einer süßen, einzigartigen, spröden kleinen Puppe wie der?« »Jedes Mädchen ist anders«, sagte der sitzende Assistent. »Ich meine, auf anständige Weise«, sagte Fred. »Nicht auf die Tour, sie mit Pillen und Fusel vollzupumpen und ihr dann einen reinzuschieben, während sie auf dem Fußboden vom Wohnzimmer liegt.« »Kaufen Sie ihr Blumen«, sagte der stehende Assistent. »Wie bitte?« sagte Fred, und seine durch den Schirm des Jedermann-Anzugs gefilterten Augen öffneten sich weit. »Zu dieser Jahreszeit können Sie überall kleine Frühlingsblumen kriegen. In den Blumenabteilungen von Penney’s oder K Mart zum Beispiel. Oder eine Azalee.« »Blumen«, murmelte Fred. »Meinen Sie Plastikblumen? Richtige Blumen, vermute ich.« »Die aus Plastik bringen’s nicht«, sagte der sitzende Assistent. »Die sehen aus, als wären sie … na, nachgemacht halt. Irgendwie nachgemacht.« »Darf ich jetzt gehen?« fragte Fred. Die beiden Assistenten wechselten einen Blick und nickten dann. »Wir werden Sie zu einem späteren Zeitpunkt weiter durchtesten, Fred«, sagte der, der neben dem Tisch stand. »Es eilt nicht so. Hank wird Sie von dem neuen Termin in Kenntnis setzen.« Aus einem undeutlichen Impuls heraus, dessen Ursprung er nicht ergründen konnte, hätte Fred ihnen am liebsten die Hand geschüttelt, bevor er hinausging, aber dann tat er das doch nicht; er ging nur einfach wortlos hinaus, ein bißchen down und ein bißchen verwirrt, was möglicherweise an der Art lag, wie es ihn so plötzlich erwischt hatte. Sie haben das ganze Material über mich wieder und wieder durchgesehen, dachte er, und versucht, Anzeichen dafür zu finden, daß mein Gehirn ausgebrannt ist, und sie haben welche gefunden. Jedenfalls genug, um mich diese Tests machen zu lassen. Frühlingsblumen, dachte er, als er den Aufzug erreichte. Kleine Frühlingsblumen; vielleicht wachsen sie dicht am Boden, und eine Menge Leute trampeln darauf herum. Wachsen sie wild? Oder in besonderen kommerziell betriebenen Gewächshäusern oder auf großen, eingezäunten Farmen? Ich möchte zu gerne wissen, wie es wohl draußen auf dem Land ist. Die Felder und das alles, die seltsamen, ungewohnten Gerüche. Und, so fragte er sich, wo findet man so etwas? Wo muß man hingehen, und was muß man machen, um hinzukommen und dortzubleiben? Was für eine Art von Trip ist das, und was für eine Art von Fahrkarte braucht man dazu? Und von wem kauft man sich das Ticket? Und, dachte er weiter, ich würde gerne jemanden mitnehmen, wenn ich dorthin gehe. Donna vielleicht. Aber wie bittet man darum? Wie bittet man eine Puppe darum, wenn man nicht einmal weiß, wie man an sie rankommen soll? Wenn man schon seit Ewigkeiten ein Auge auf sie geworfen hat und trotzdem immer noch nichts erreicht hat – nicht mal Stufe eins. Wir sollten uns beeilen, dachte er, weil bald alle Frühlingsblumen tot sein werden. Tot und verblüht. VIII Auf dem Weg zu Bob Arctors Haus, wo man normalerweise immer einen Haufen Freaks traf, mit denen zusammen man sich antörnen und einen guten Tag machen konnte, bastelte Charles Freck an einem Gag herum, mit dem er den ollen Barris reinlegen wollte, um ihm die Ver­arscherei mit der Galle neulich in Fiddlers Kaffeestube Nummer Drei heimzuzahlen. Während er gekonnt den Radarfallen der Bullen auswich, von denen es in der Stadt nur so wimmelte (neuerdings tarnte die Polizei die Radarwagen, mit denen sie den armen Autofahrern auf die Pelle rückten, als alte, verkommene, in einem stumpfen Braun gespritzte VW-Busse, die von bärtigen Freaks gesteuert wurden; wenn er einen solchen VW-Bus sah, verlangsamte er die Geschwindigkeit), spulte er in seinem Kopf eine Phantasienummer ab – eine Vorschau auf die große Verarschung, die er gleich starten würde: FRECK: (beiläufig) Ich hab’ mir heute ‘nen Methedrin-Kolben gekauft. BARRIS: (mit einem ganz gemeinen Gesichtsausdruck) Methedrin gehört zur Gruppe der Amphetamine, wie Speed; es ist eine kristalline Substanz, die synthetisch in einem Labor hergestellt wird. Demnach ist es also nicht organisch, wie etwa Pot. So etwas wie einen Methedrin-Kolben gibt es nicht. Bist du dir sicher, daß die dir nicht einen Maiskolben angedreht haben? FRECK: (elegant die Pointe anbringend) Ich meine, ich hab’ vierzigtausend Dollar von einem alten Onkel geerbt und bin damit zu so einem Macker gegangen, der heimlich in seiner Garage Methedrin herstellt. Ich meine, der hat da so eine Art chemisches Labor. Und von dem hab’ ich einen Kolben und die ganzen anderen Geräte gekauft, die man sonst noch dazu braucht. Kolben im Sinne von – Er konnte die Pointe jetzt noch nicht ganz richtig ausformulieren, denn schließlich mußte er sich beim Fahren ja auch auf die Wagen um ihn herum und auf die Ampeln konzentrieren; aber er war sich sicher, daß er es schaffen würde, Barris supergut eins reinzuwürgen, wenn er erst einmal zu Bobs Haus kam. Und je mehr Leute da waren, desto begieriger würde Barris nach dem Köder schnappen, den er ihm hinzuwerfen gedachte. Und hinterher würde Barris in aller Augen als absolutes Riesenarschloch dastehen. Auf diese Weise würde er ihm die Verarschung von neulich doppelt und dreifach heimzahlen, weil Barris es noch mehr als alle anderen nicht ertragen konnte, wenn man auf seine Kosten einen Gag machte. Als er vorbeifuhr, sah er, daß Barris draußen war und an Bob Arctors Wagen arbeitete. Die Motorhaube stand offen, und Arctor und Barris beugten sich gemeinsam über den Motor. Neben ihnen lag ein Stapel Werkzeuge. »Hey, Leute«, sagte Freck, während er die Tür zuknallte und beiläufig zu den beiden hinüberschlenderte. »Barris«, fuhr er dann ganz cool und direkt fort und legte Barris die Hand auf die Schulter, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Später«, knurrte Barris. Er trug seinen Mechanikeroverall, dessen ohnehin schon schmutziger Stoff jetzt über und über mit Motoröl und anderem Schmier bedeckt war. Freck sagte: »Ich hab’ mir heute einen Methedrin-Kolben gekauft.« Ungeduldig und mit finsterem Blick sagte Barris: »Wie groß?« »Was meinst du damit –« »Ich möchte wissen, wie groß der Kolben ist.« »Nun … äh …«, sagte Freck, während er fieberhaft überlegte, wie er jetzt weitermachen sollte. »Wieviel hast du dafür bezahlt?« erkundigte sich Arctor, der von der ganzen Wagenrepariererei nicht weniger ölverschmiert war als Barris. Die beiden hatten den Vergaser, den Luftfilter, die Schläuche und alle möglichen anderen Teile abmontiert. Freck sagte: »Ungefähr zehn Eier.« »Jim hätte ihn dir billiger besorgen können«, sagte Arctor und machte sich wieder an die Arbeit. »Nicht wahr, Jim?« »Im Moment kriegt man Methedrin-Kolben doch praktisch nachgeschmissen«, sagte Barris. »Aber es ist nicht nur ein Kolben, sondern eine ganze Garage voller Geräte!« protestierte Freck. »Eine chemische Fabrik! Die spuckt pro Tag eine Million Tabs aus – mit automatischer Pillenabfüllung und allem. Mit allem!« »Und das alles zusammen hat nur zehn Dollar gekostet?« sagte Barris und grinste breit. »Wo steht denn diese sagenhafte chemische Fabrik?« erkundigte sich Arctor. »Nicht hier in der Nähe«, sagte Freck unbehaglich. « Ach, Scheiße, Jungs.« Barris hielt in seiner Arbeit inne – er legte beim Arbeiten oft Pausen ein, egal, ob jemand sich mit ihm unterhielt oder nicht – und sagte: »Weißt du, Freck, wenn du viel Meth einwirfst oder schießt, dann fängst du an, wie Donald Duck zu reden.« »Und?« sagte Freck. »Dann kann dich keiner mehr verstehen«, sagte Barris. Arctor sagte: »Was hast du gerade gesagt, Barris? Ich kann dich nicht mehr verstehen. « Barris verstellte seine Stimme und ließ sie wie die Donald Ducks klingen, wobei sein Gesicht vor Vergnügen zu tanzen schien. Freck und Arctor grinsten und genossen die Nummer. Barris konnte schier kein Ende finden, und schließlich wies er laut quakend auf den Vergaser. »Was ist mit dem Vergaser?« erkundigte sich Arctor, jetzt nicht mehr lächelnd. Mit normaler Stimme, aber immer noch breit grinsend, sagte Barris: »Der Choke ist verbogen. Eigentlich müßte ein ganz neuer Vergaser rein. Andernfalls könnte es dir passieren, daß der Choke plötzlich die Benzinzufuhr dichtmacht, während du den Freeway entlangfährst, und dann stehst du plötzlich dumm da, weil dir der Motor abgesoffen ist und dir irgend so ‘n Arschloch hinten draufknallt. Und wenn da nicht bald was dran gemacht wird, läuft außerdem möglicherweise noch reines Benzin an den Zylinderwänden runter und wäscht den Schmierfilm weg, so daß die Zylinder angegriffen werden und Dauerschäden entstehen. Und dann wirst du sie neu ausbohren lassen müssen.« »Wieso ist der Choke verbogen?« fragte Arctor. Achselzuckend machte sich Barris wieder daran, den Vergaser auseinanderzunehmen; er antwortete nicht. Er überließ es Arctor und Charles Freck, die keine Ahnung von Motoren hatten – und von komplizierten Reparaturen wie dieser hier erst recht nicht –, selbst eine Erklärung zu finden. In diesem Augenblick kam Luckman aus dem Haus. Er trug ein irre scharfes Hemd, hauteng geschnittene Levis und eine Sonnenbrille und hatte ein Buch unter dem Arm. »Ich hab’ gerade angerufen«, sagte er, »und jetzt prüfen sie nach, wie tief dich ein neuer Vergaser in die Miesen bringen wird. Sie wollen gleich zurückrufen, darum hab ich die Vordertür offengelassen.« Barris sagte: »Du könntest doch gleich einen Vergaser mit doppelter Leistungsstärke einbauen lassen, wenn du schon einmal dabei bist. Natürlich müßte dann zugleich auch ein neuer Verteiler rein. Wir könnten bestimmt irgendwo ganz billig einen gebrauchten kriegen.« »Der Motor würde im Leerlauf auf viel zu hohe Touren kommen«, sagte Luckman, »wenn man einen Rochester-Vergaser oder was anderes in der Art nimmt – daran hattest du doch gedacht, oder? Und er würde nicht richtig schalten. Er würde nicht hochschalten.« »Man könnte die Einspritzdüsen durch kleinere ersetzen«, sagte Barris, »das würd’ das ausgleichen. Und er könnte die UpM auf einem Drehzahlmesser beobachten, damit er den Motor nicht überdreht. Er würde am Drehzahlmesser ablesen können, wenn der Wagen nicht hochschaltet. Wenn die Automatik nicht von selber hochschaltet, läßt sich das je auch bewerkstelligen, indem man den Fuß vom Gaspedal nimmt. Ich weiß sogar, woher wir einen Drehzahlmesser kriegen könnten. Ich hab’ nämlich einen.« »Yeah«, sagte Luckman, »das mag ja noch hinhauen. Aber wenn er in einer gefährlichen Situation auf dem Freeway volle Pulle auf das Gaspedal tritt, um per Kick-down in den Überholgang zu wechseln, dann würde der Motor doch runterschalten und so stark überdrehen, daß es die Dichtungsköpfe auseinanderreißt. Und es könnte noch was Schlimmeres passieren – was viel Schlimmeres. Der ganze Motor könnte in die Luft gehen.« Barris sagte geduldig: »Er würde die Nadel des Drehzahlmessers springen sehen und sofort den Fuß wegnehmen.« »Beim Überholen?« sagte Luckman. »Wenn er gerade auf halber Höhe von so ‘m dicken Scheiß-Sattelschlepper ist? Scheiße, Mann, er würde weiter voll draufknallen müssen, hohe Umdrehung oder nicht; er würde den Motor hochjagen müssen, um genug Power zu haben. Wenn er nämlich langsamer würde, würde er nie an dem Kasten vorbeikommen, den er da gerade zu überholen versucht.« »Schwung«, sagte Barris. »Bei einem so schweren Wagen wie dem hier würde ihn der Schwung vorbeitragen, selbst wenn er den Fuß vom Gas nähme.« »Und was ist, wenn’s bergauf geht –« sagte Luckman. »Dein Schwung trägt dich sehr weit bergauf, wenn du überholst.« Barris wandte sich an Arctor. »Dieser Wagen …« Er bückte sich, um nachzusehen, um was für eine Marke es sich handelte. »Dieser …« Seine Lippen bewegten sich. »Olds. Wieviel –« »Er wiegt ungefähr tausend Pfund«, sagte Arctor. Charles Freck sah, wie er Luckman zublinzelte. »Dann hast du recht«, gab Barris zu. »Bei einem so geringen Gewicht kann die träge Masse nicht hinreichend groß sein. Oder vielleicht doch?« Er wühlte in seinen Taschen nach einem Stift und etwas, worauf er schreiben konnte. »Wenn sich tausend Pfund mit hundertdreißig Stundenkilometern bewegen, ergibt das eine Kraft, die –« »Tausend Pfund«, warf Arctor ein, »mit Insassen, einem vollen Benzintank und einer großen Kiste Ziegelsteine im Kofferraum.« »Wie viele Insassen?« fragte Luckman. Sein Gesicht war so unbewegt wie das einer Sphinx. »Zwölf.« »Also sechs auf dem Rücksitz«, sagte Luckman, »und sechs auf –« »Nein«, sagte Arctor, »elf auf dem Rücksitz. Der Fahrer sitzt allein vorn. Verstehst du, auf diese Weise lastet ein größeres Gewicht auf den Hinterrädern. Das ergibt eine bessere Bodenhaftung. Dann bricht er hinten nicht so leicht aus.« Barris schaute beunruhigt auf. »Der Wagen bricht hinten leicht aus?« »Außer, wenn du elf Leute hast, die auf dem Rücksitz mitfahren«, sagte Arctor. »Dann wäre es besser, den Kofferraum mit Sandsäcken zu beladen«, sagte Barris. »Drei Sandsäcke zu je zweihundert Pfund. Dann könntest du die Beifahrer gleichmäßiger verteilen, und sie hätten es ein bißchen bequemer.« »Wie war’s, wenn wir eine Kiste mit sechshundert Pfund Gold in den Kofferraum packen würden?« fragte Luckman ihn. »Ich meine, statt drei Säcken mit je zweihundert –« »Kannst du nicht mal endlich die Klappe halten?« sagte Barris. »Ich versuche nämlich gerade, die Trägheit dieses Wagens bei hundertdreißig Stundenkilometern zu berechnen.« »Der bringt sowieso keine hundertdreißig mehr«, sagte Arctor. »Einer der Zylinder ist kaputt. Ich wollte es dir eigentlich schon vorhin sagen. Ich muß da wohl gestern abend auf dem Nachhauseweg vom 7-11 was zu Klumpatsch gefahren haben. « »Aber warum, zum Teufel, montieren wir dann eigentlich den Vergaser ab?« wollte Barris wissen. »Wenn wir das wieder in Ordnung bringen wollen, müssen wir das ganze Kopfteil des Motors abmontieren. Eigentlich sogar noch mehr. Sag mal, ist vielleicht sogar der Motorblock gesprungen? Darum also springt er nicht an.« »Springt dein Wagen nicht an?« fragte Freck Bob Arctor. »Er springt nicht an«, sagte Luckman, »weil wir den Vergaser abmontiert haben.« Verwirrt sagte Barris: »Warum haben wir den Vergaser abmontiert? Ich hab’s vergessen.« »Um die ganzen Federn und was es da sonst so an unwichtigen Teilchen gibt zu erneuern«, sagte Arctor. »Damit er nicht wieder über den Jordan geht und wir beinahe mit ihm. Der Mechaniker von der Union-Tankstelle hat uns das geraten.« »Wenn ihr Bastarde nicht so dumm rumlabern würdet wie eine Bande von Speed-Freaks«, sagte Barris, »könnte ich endlich meine Berechnungen abschließen und euch sagen, wieviel dieser Wagen hier mit einem Rochester-Vergaser bringen würde, natürlich unter Berücksichtigung seines Gewichts und der notwendigen Modifikationen der Einspritzdüsen.« Er war jetzt echt sauer. »Also HALTET ENDLICH DAS MAUL!« Luckman schlug das Buch auf, das er die ganze Zeit über unter dem Arm getragen hatte. Er plusterte sich so auf, daß es aussah, als sei er viel größer als gewöhnlich. Sein mächtiger Brustkorb schwoll an. Sein Bizeps ebenfall. »Höre, Barris, ich werde dir nun aus dieser Schrift lesen. « Er fing an, ungewöhnlich flüssig eine Textstelle aus dem Buch vorzulesen. »›Der, der die Gabe hat, Christus als wirklicher zu erkennen als jede andere Wirklichkeit …‹« »Was?« sagte Barris. Luckman las unbeirrt weiter. »›… als jede andere Wirklichkeit auf der Welt – Christus, der überall gegenwärtig ist und allerorten immer größer wird, Christus, die finale Bestimmung und das plasmatische Prinzip des Uni­versum –‹« »Was ist das?« sagte Arctor. »Chardin, Teilhard de Chardin.« »Mein Gott, Luckman«, sagte Arctor. »›… jener Mensch lebt wahrlich in einem Kosmos, wo die mannigfaltigen Phantome der Welt ihn nicht bedrängen können und die doch zugleich die aktivste Werkstatt der universellen Erfüllung ist.‹« Luckman klappte das Buch wieder zu. Charles Freck, der dank seiner raschen Auffassungsgabe sofort begriff, daß es jetzt gleich Zoff geben würde, schob sich zwischen Barris und Luckman. »Macht doch mal halblang, Jungs.« »Aus dem Weg, Freck«, sagt Luckman und holte weit mit dem rechten Arm aus, um Barris mit einem von unten hochgezogenen Schwinger kräftig eins zu verpassen. »Na, komm schon, Barris. Ich hab’s nicht gern, wenn jemand mich in so ‘m Ton anmacht. Dafür kriegst du jetzt eine getafelt, daß dir die Eier aus dem Sack fliegen.« Mit einem flehentlichen, angsterfüllten Aufblöken ließ Barris Filzstift und Notizblock fallen und stürzte Hals über Kopf in Richtung der offenstehenden Haustür davon. Während er wegrannte, rief er über die Schulter zurück: »Ich glaub’, das Telefon hat gerade geklingelt. Bestimmt die Werkstatt wegen des Vergasers.« Sie sahen ihm nach, wie er in der Tür verschwand. »Ich wollte ihn nur ein bißchen auf den Arm nehmen«, sagte Luckman, seine Unterlippe reibend. »Und wenn er jetzt seinen Revolver und den Schalldämpfer holt?« sagte Freck, dessen Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Schrittchenweise bewegte er sich auf seinen Wagen zu, um sich blitzschnell dahinter in Deckung werfen zu können, falls Barris zurückkam und das Feuer auf sie eröffnete. »Machen wir weiter«, sagte Arctor zu Luckman. Die beiden wandten sich wieder der Reparatur des Vergasers zu, während Freck sich ängstlich bei seinem eigenen Wagen herumdrückte und sich fragte, warum er bloß auf die Idee gekommen war, heute hier reinzuschauen. Von der lockeren Atmosphäre, die sonst hier herrschte, war nichts, aber auch rein gar nichts zu spüren. Schon von Anfang an hatte er die häßlichen Untertöne beim Herumalbern bemerkt. Was, zum Teufel, ist eigentlich nicht in Ordnung? fragte er sich und stieg in düsterer Stimmung wieder in seinen Wagen, um den Motor anzulassen. Wird sich hier auch alles zum Schlimmeren wenden, fragte er sich, so wie in Jerry Fabins Haus während der letzten Wochen mit ihm? Früher ging’s da ja auch immer ganz locker zu, dachte er. Alle machten sich einen Lenz und törnten sich an, während sie auf Acid-Rock, besonders auf den Stones, abfuhren. Donna saß da, in Lederjäckchen und Stiefeln, und füllte Kapseln; Luckman drehte Joints und erzählte dabei von dem Seminar über Doperauchen und Jointdrehen, das er an der UCLA[3 - Anm. d. Übers.: Die Universität von Kalifornien in Los Angeles] abzuhalten gedachte, und von dem absolut perfekten Joint, den er eines Tages plötzlich drehen würde und den man als Teil der amerikanischen Geschichte zusammen mit all den anderen Reliquien, die für das amerikanische Nationalbewußtsein von so großer Wichtigkeit waren, unter Glas – in einer mit Helium gefüllten Vitrine – in der Constitution Hall ausstellen würde. Wenn ich zurückblicke, dachte Freck, sogar nur bis zu dem Tag, als Jim Barris und ich neulich bei Fiddler’s saßen … sogar da war noch alles besser. Jerry war der Anfang, dachte er; und jetzt geht genau das, was uns Jerry weggenommen hat, auch hier los. Wie können Tage und Ereignisse und Augenblicke, die so gut waren, bloß so schnell häßlich werden, und das ohne jeden Grund, ohne jeden wirklichen Grund? Einfach nur – ein Wandel. Und da ist nichts, was ihn verursacht. »Ich verzieh’ mich«, sagte er zu Luckman und Arctor, die zu ihm hinüberschauten, als er den Motor im Leerlauf aufheulen ließ. »He, Mensch, bleib doch noch was«, sagte Luckman mit einem wannen Lächeln. »Wir brauchen dich. Du bist unser Bruder.« »Ach Scheiß, ich hab’ keine Lust mehr.« Barris erschien vorsichtig in der Haustür. Er hielt einen Hammer in der Hand. »Falsch verbunden«, rief er, als er zögernd näher kam, wobei er immer wieder innehielt und umherspähte wie die Monsterkrabbe in einem billigen Horrorfilm. »Wofür brauchst du den Hammer?« fragte Luckman. Arctor sagte: »Um den Motor zu reparieren.« »Ich dachte, ich bring’ ihn einfach mal mit«, erklärte Barris, während er zaghaft wieder zu dem Olds hinüberging, »weil ich gerade im Haus war und ihn da rumliegen sah.« »Niemand ist so gefährlich wie der«, sagte Arctor, »der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet.« Das war das letzte, was Freck noch mitbekam, bevor er wegfuhr; er zerbrach sich den Kopf darüber, was Arctor damit wohl meinte. Vielleicht war das auf ihn, Charles Freck, gemünzt gewesen? Er fühlte sich beschämt. Aber Scheiße noch mal, dachte er, warum weiter hier rumhängen, wenn’s einen so abtörnt? Das bringt doch sowieso nichts. Nur immer schön auf Abstand bleiben, wenn irgendwo Trouble im Anmarsch ist, befahl er sich selbst; das war sein Leitspruch im Leben. Und darum fuhr er jetzt weg, ohne noch einmal zurückzuschauen. Sollen sie sich doch gegenseitig in die Pfanne hauen, dachte er. Was hab’ ich denn überhaupt mit denen am Hut? Aber er fühlte sich mies, echt mies, weil er einfach so wegfuhr und sie allein ließ und weil er miterlebt hatte, wie auch hier der Wandel einsetzte, der alles verdunkelte. Und wieder fragte er sich, warum es bloß dazu gekommen war und wie das alles noch enden würde. Aber dann kam ihm der Gedanke, daß die Dinge später vielleicht wieder anders laufen würden, daß es auch wieder bergauf gehen konnte, und das hob seine Stimmung, ja, es veranlaßte ihn sogar dazu, in seinem Kopf eine kurze Phantasienummer abzuspulen, während er so dahinkreuzte, sorgsam darauf bedacht, keinem der unsichtbaren Polizeiwagen in die Quere zu kommen. DA SASSEN SIE ALLE WIEDER BEISAMMEN WIE FRÜHER Sogar die Leute, die entweder tot oder ausgebrannt waren, wie etwa Jerry Fabin. Sie alle saßen da, in so einer Art klarem, weißem Licht, das kein Tageslicht war, sondern etwas viel Besseres, eine Art Meer aus Licht, das sie gleichmäßig von allen Seiten umgab. Und Donna und die anderen Puppen sahen so scharf aus – sie hatten rückenfreie T-shirts und Hot Pants an oder auch halb durchscheinende Blusen aus indischer Baumwolle, natürlich ohne BH. Er konnte Musik hören, ohne allerdings in der Lage zu sein, zu sagen, was für eine Nummer es war und von welcher LP sie stammte. Vielleicht Hendrix! dachte er. Yeah, eine alte Hendrix-Nummer, oder nun, ganz plötzlich, etwas von Janis Joplin. Die Nummer stammte von ihnen allen zugleich: von Jim Croce und von J. J. aber in erster Linie von Hendrix. »Bevor ich sterbe«, murmelte Hendrix gerade, »laßt mich mein Leben so leben, wie ich es möchte«, und an dieser Stelle riß der Film in seinem Kopf, weil er vergessen hatte, daß Hendrix tot war und wie Hendrix und auch Janis gestorben waren, von Croce gar nicht zu reden. Hendrix und J. J. krepiert an einer Überdosis Smack, alle beide, zwei so dufte und coole Typen wie sie, zwei Menschen, die mit ungeheurer Intensität lebten, und er erinnerte sich, einmal gehört zu haben, daß Janis’ Manager ihr nur dann und wann mal ein paar hundert Eier ausgezahlt hatte; den Rest – praktisch alles, was sie verdiente – wollte er ihr wegen ihrer Heroinsucht nicht geben. Und dann hörte Freck in seinem Kopf Janis’ Song »All Is Loneliness«, und er begann zu weinen. Und in diesem Zustand fuhr er weiter in Richtung Heimat. * Als Robert Arctor zusammen mit seinen Freunden im Wohnzimmer saß und zu einer Entscheidung darüber zu gelangen versuchte, ob er nun den Vergaser überholen lassen oder sich nicht doch vielleicht einen neuen Vergaser oder sogar einen modifizierten Vergaser – plus einem neuen Verteiler – anschaffen sollte, spürte er die schweigende, nie aussetzende Überwachung durch die Holo-Kameras, ihre elektronische Allgegenwart. Es war ein beruhigendes Gefühl. »Du machst so ‘n gutgelaunten Eindruck«, sagte Luckman. »Wenn ich hundert Eier rausschieben müßte, wär’ ich nicht so guter Laune.« »Ich hab’ gerade beschlossen, so lange rumzuziehen, bis ich auf einen Olds wie meinen stoße«, erklärte Arctor. »Und dann montiere ich denen ihren Vergaser raus und bezahle gar nichts. So machen’s doch alle, die wir kennen.« »Besonders Donna«, sagte Barris beipflichtend. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn sie nicht ins Haus gekommen wäre, während wir neulich weg waren. Donna stiehlt alles, was sie wegtragen kann, und wenn sie’s nicht alleine wegtragen kann, dann ruft sie eben ihre Bande von Klaubrüdern an, und die kreuzen auf und tragen’s für sie weg.« »Ich will euch mal eine Geschichte erzählen, die ich über Donna gehört habe«, sagte Luckman. »Also: Irgendwann hat Donna mal ‘n Vierteldollar in einen dieser Briefmarkenautomaten reingesteckt – ihr wißt schon, so einen mit Rollenmarken drin –, und die Maschine ist ausgeflippt und hat gar nicht mehr damit aufgehört, Briefmarken rauszukurbein. Nach ‘ner Zeit hatte sie schon einen ganzen Einkaufskorb voll. Aber der Automat hat immer noch mehr von dem Zeug ausgespuckt. Am Ende hatte sie so ungefähr – sie und ihre Klaubrüder haben sie gezählt – gut achtzehntausend 15-Cent-Marken. Tja, das war ja schon mal ‘ne heiße Sache – nur: Was sollte Donna Hawthorne damit machen? Schließlich hat sie noch nie in ihrem ganzen Leben einen Brief geschrieben, außer damals, als sie ihre Rechtsanwalt damit beauftragt hat, einen Typen zu belangen, der sie bei einem Deal gelinkt hatte.« »Das hat Donna gemacht?« sagte Arctor. »Sie hat wirklich einen Rechtsanwalt eingeschaltet, als sie bei einer illegalen Transaktion betrogen worden ist? Wie geht denn das?« »Vielleicht hat sie einfach behauptet, der Macker würde ihr Flöhe schulden.« »Stell dir bloß mal vor, du würdest nach einem Deal von einem Rechtsanwalt einen bitterbösen Mahnbrief kriegen«, sagte Arctor. »Nach dem Motto: ›Entweder Sie zahlen, oder wir gehen vor Gericht!‹« Wie schon so oft konnte er auch jetzt wieder nur über Donna staunen. »Jedenfalls«, fuhr Luckman fort, »stand sie also nun mit einem Einkaufskorb da, der randvoll mit 15-Cent-Marken war – achtzehntausend mindestens. Was zum Teufel fängt man damit an? Schließlich kann man sie nicht ans Postamt zurückverkaufen. Und wenn die Leute von der Post aufkreuzten, um den Automaten zu warten, würden sie feststellen, daß er ausgeflippt war, und wenn dann jemand mit lauter 15-Cent-Marken an einem Schalter auftauchte, besonders mit ‘ner Rolle davon – Scheiße, die würden doch sofort kapiert haben, woher der Wind weht; wahrscheinlich würden sie sogar schon auf Donna gewartet haben, stimmt’s? Also legte sie sich einen anderen Plan zurecht – natürlich erst, nachdem sie die Briefmarkenrolle in ihren MG geladen hatte und weggefahren war –, und dann rief sie ein paar von ihren Klaubrüdern an, mit denen sie immer zusammenarbeitet, und befahl ihnen, zu ihr rüberzukommen und einen Preßlufthammer mitzubringen, so ein Spezialmodell, wassergekühlt und mit Flüssigkeits-Schalldämpfung, ein richtig irres Ding, das sie – so wahr mir Gott helfe! – auch geklaut hatten. Mitten in der Nacht gruben sie dann den einbetonierten Briefmarkenautomaten aus und schafften ihn in ihre Bude, auf der Ladefläche eines Ford Ranchero. Der vielleicht auch geklaut war. Und das alles wegen der Briefmarken.« »Willst du damit sagen, daß sie die Briefmarken verkauft haben?« fragte Arctor verblüfft. »Aus dem Automaten? Marke für Marke?« »Nach dem, was ich gehört habe, legten sie jedenfalls die Rolle wieder ein und stellten die Automaten wieder auf, an einer belebten Kreuzung, wo eine Menge Leute vorbeikommen, aber natürlich ein wenig versteckt, so daß er nicht zufällig von einem Postauto aus gesichtet werden konnte. Und dann setzten sie ihn wieder in Betrieb.« »Es wäre klüger gewesen, den Münzspeicher aufzubrechen«, sagte Barris. »Also verkauften sie von da an Briefmarken«, sagte Luckman, »so ein paar Wochen lang, eben bis die Maschine vollständig leer war, was ja irgendwann einmal der Fall sein mußte. Aber was, zum Teufel, sollten sie dann damit anfangen? Ich kann mir gut vorstellen, wie Donnas Gehirn während jener Wochen an diesem Problem arbeitete, dieses bauernschlaue Gehirn … sie ist bäuerlicher Abstammung, ihre Familie kommt aus irgendeinem europäischen Land. Kurz und gut, als die Rolle dann aufgebraucht war, da hatte Donna beschlossen, den Automaten auf Softdrinks umzustellen. Eine riskante Sache, denn das sieht das Postministerium nun gar nicht gern. Dafür wandert man für immer in den Knast. « »Ist das wirklich wahr?« fragte Barris. »Ist das wirklich wahr?« fragte Luckman. Barris sagte: »Dieses Mädchen ist asozial. Man sollte sie auf der Stelle verhaften lassen. Begreift ihr überhaupt, daß alle unsere Steuern erhöht worden sind, weil sie diese Briefmarken gestohlen hat?« Es klang jetzt wieder sehr wütend. »Schreib doch an die Regierung und erzähl’s ihnen«, sagte Luckman. Sein Widerwille gegen Barris ließ sein Gesicht ganz kalt werde. »Und bitte Donna um eine Marke, damit du den Brief damit frankieren kannst; sie wird die bestimmt eine verkaufen.« »Zum vollen Preis«, sagte Barris ebenso aggressiv. Die Holos, dachte Arctor, werden Kilometer um Kilometer von solchem Zeug auf ihren teuren Bändern speichern. Nicht Kilometer um Kilometer toter Bänder, sondern Kilometer um Kilometer total ausgeflippter Bänder. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß – zumindestens für ihn … für wen? … für Fred – nicht das wichtig war, was sich abspielte, während Robert Arctor vor einer Holo-Kamera saß, sondern das, was geschah, während Bob Arctor anderswo war oder schlief und andere Personen sich im Bereich der Aufzeichnungsgeräte aufhielten. Und darum, dachte er, sollte ich jetzt ganz wie geplant einen Abgang machen, sollte diese Jungs hier allein lassen und andere Leute, die ich kenne, zu ihnen rüberschicken. Ich sollte mein Haus von jetzt an superzugänglich machen. Und dann nahm in seinem Innern ein schrecklicher, häßlicher Gedanke Gestalt an. Angenommen, ich sehe Donna hier drinnen, wenn ich die Bänder durchlaufen lasse – Donna, die mit einem Löffel oder einer Messerklinge ein Fenster öffnet, hereinschlüpft und mein Eigentum zerstört oder stiehlt. Eine andere Donna: meine kleine Donna, wie sie in Wirklichkeit ist, oder wie sie jedenfalls immer dann ist, wenn ich sie nicht sehen kann. Die philosophische »Wenn ein Baum im Walde stürzt«-Nummer. Wie ist Donna, wenn keiner in der Nähe ist und sie beobachtet? Verwandelt sich, so fragte er sich, dieser sanfte, liebenswerte Zankteufel, dieses super-gutherzige Mädchen dann schlagartig in eine verschlagene, heimtückische Fremde? Werde ich eine Veränderung miterleben, die mir fast den Verstand raubt? Bei Donna oder bei Luckman, bei irgend einem von denen, für die ich etwas empfinde? Nimm nur einmal deine Schoßkatze oder deinen Schoßhund … was mögen die tun, wenn du aus dem Haus bist? Die Katze schnappt sich vielleicht einen Kissenbezug und fängt an, deine ganzen Wertgegenstände hineinzustopfen; die elektrische Uhr, den elektrischen Radiowecker, den Rasierapparat, eben alles, was sie nur einsacken kann, bevor du zurückkommst; während du weg bist, ist sie wie verwandelt, eine ganz andere Katze, die dich beklaut und alles zur Pfandleihe bringt und deine Joints raucht oder an der Decke entlangspaziert oder Ferngespräche mit Unbekannten führt … und Gott weiß was noch. Ein Alptraum, eine verkehrte Welt hinter dem Spiegel, eine Stadt des Schreckens, in der wirklich alles möglich ist und in deren Straße unsägliche Wesenheiten herumkriechen; Donna, die auf allen vieren kriecht und aus den Futternäpfen der Haustiere frißt … wilde psychedelische Trips jeder Art, unauslotbar und abscheulich. Wahnsinn, dachte er; ebensogut könnte es sein, daß Bob Arctor mitten in der Nacht aus tiefem Schlaf aufsteht und auf solche Trips geht. Vielleicht hat er sexuelle Beziehungen mit der Wand. Oder mysteriöse Freaks tauchen auf, die er nie zuvor gesehen hat, ein ganzer Haufen davon, und sie alle haben eine besondere Art von Köpfen, die sich um 360 Grad drehen lassen, wie die von Eulen. Und die Überwachungsmikrophone werden die total abstrusen, geisteskranken Verschwörerpläne aufzeichnen, die er gemeinsam mit ihnen ausheckt und die vorsehen, das Herrenklo an der nächsten Standard-Tankstelle in die Luft zu jagen, indem man die Toilette mit Plastiksprengstoff füllt – aus gott weiß was für hirnverbrannten Gründen auch immer. Vielleicht passiert diese Art von Zeug jede Nacht, während er zu schlafen glaubt, und ist am Tag aus seiner Erinnerung wie weggewischt. Bob Arctor, mutmaßte er, mag mehr über sich selbst erfahren, als er zu erfahren bereit ist, mehr als über Donna mit ihrem Lederjäckchen und über Luckman mit seinen modischen Klamotten und sogar über Barris – vielleicht geht Jim Barris ja einfach nur schlafen, wenn keiner in der Nähe ist, und schläft so lange, bis die anderen wiederauftauchen. Aber daran vermochte er nicht zu glauben. Da war es schon wahrscheinlicher, daß Barris unter dem ganzen Müll in seinem Zimmer – das wie alle anderen Räume des Hauses jetzt erstmals rund um die Uhr überwacht wurde – einen verborgenen Sender hervorzauberte und ein kryptisches Signal an jene Bande von kryptischen Arschlöchern abstrahlte, mit denen er laufend aus irgendeinem Grunde konspirierte, aus denen Leute wie er oder sie halt zu konspirieren pflegten. Vielleicht, überlegte Bob Arctor, bilden sie eine andere Abteilung der Behörden. Andererseits würden Hank und die Jungs im Hauptquartier nicht allzu glücklich sein, wenn Bob Arctor jetzt, da die Kameras und Monitoren geschickt und unter hohem Kostenaufwand montiert worden waren, sein Haus verließ und nie wieder gesehen ward; nie auf einem der Bänder auftauchte. Er konnte deshalb nicht einfach verschwinden, um seine eigenen Überwachungspläne auf Kosten der ihren durchzuführen. Schließlich waren sie die Geldgeber dieses Projekts. In dem Drehbuch, das hier verfilmt wurde, würde immer nur er der Starschauspieler sein müssen. Arctor – actor – Schauspieler, dachte er. Bob, der Schauspieler, der gejagt wird; er, der Staatsfeind Nummer eins. Es heißt, daß man seine eigene Stimme nicht wiedererkennt, wenn man sie zum erstenmal auf Tonband hört. Und wenn man sich selbst auf einem Videoband sieht – oder, wie in diesem Fall, in einem 3-D-Hologramm –, dann erkennt man sich ebensowenig wieder. Man hat sich vorgestellt, ein großer fetter Mann mit schwarzen Haaren zu sein, und statt dessen ist man eine winzige, dünne Frau mit Glatze … kann das so weit gehen? Ich bin sicher, daß ich Bob Arctor erkennen werde, dachte er, und sei es auch nur an den Kleidern, die er trägt, oder durch einen Eliminationsprozeß. Das, was nicht Barris oder Luckman ist und hier wohnt – das muß Bob Arctor sein. Falls es nicht einer der Hunde oder eine der Katzen ist. Ich werde versuchen müssen, mein professionell geschultes Auge immer auf etwas gerichtet zu halten, das aufrecht geht. »Barris«, sagte er, »ich mach’ mal ‘n Abflug. Vielleicht kann ich ja irgendwo ‘n paar Schnäppchen machen.« Dann tat er so, als erinnere er sich plötzlich daran, daß er im Moment keinen Wagen hatte; er verzog passend zu diesem Gedanken sein Gesicht. »Luckman«, sagte er, »läuft dein Falcon eigentlich wieder richtig?« Luckman überlegte. »Nein«, sagte er dann nachdenklich, »ich glaube nicht.« »Kann ich deinen Wagen haben, Jim?« fragte Arctor Barris. »Ich frage mich … ob du mit meinem Wagen klarkommen kannst«, sagte Barris. Barris brachte diesen Einwand immer vor, wenn jemand versuchte, seinen Wagen auszuleihen. Er hatte nämlich daran geheime Modifikationen vornehmen lassen, deren Natur er nie näher erläuterte und die sowohl (a) die Radaufhängung (b) den Motor (c) den Gaszug (d) die Hinterachse (e) das Getriebe (f) das elektrische System (g) die Vorderachse und die Lenkung als auch (h) die Uhr, den Zigarettenanzünder, den Aschenbecher und das Handschuhfach betrafen. Besonders das Handschuhfach. Barris hielt es immer verschlossen. Auch das Radio war auf raffinierte Weise verändert worden (aber das Warum und das Wie blieben unerklärt). Wenn man einen Sender einstellte, hörte man immer nur Piepser, und zwar stets in Abständen von einer Minute. Alle Druckknöpfe brachten nur diese eine Sendung herein, die keinen Sinn ergab. Und merkwürdigerweise spielte dieser Sender nie irgendwelche Rockmusik. Manchmal, wenn sie Barris zu einem Einkauf begleiteten, stellte er den mysteriösen Sender auf ganz besondere Weise ein und drehte das Radio sehr laut, bevor er den Wagen parkte, ausstieg und sie allein im Wagen zurückließ. Wenn sie den Sender während seiner Abwesenheit wechselten, wurde er ganz komisch und weigerte sich, sich auf dem Heimweg mit ihnen zu unterhalten oder ihnen auch nur eine Erklärung für sein Verhalten zu geben. Bisher hatte er es ihnen noch nie erklärt. Vielleicht begann das Radio ja zu senden, wenn es auf jene Frequenz eingestellt war, und am Empfänger saßen (a) die Behörden (b) eine private, paramilitärische Polit-Organisation (c) das Syndikat (d) Außerirdische einer höheren Intelligenzstufe. »Womit ich nur ausdrücken will«, sage Barris, »daß er –« »Ach Quatsch!« unterbrach Luckman ihn barsch. »Das ist ein Wagen mit ‘nem ganz gewöhnlichen Sechszylindermotor, du Arsch. Wenn wir ihn in der Stadt abstellen, fährt ihn doch auch der Parkwächter. Warum dann nicht Bob? Du Arschloch.« Natürlich hatte Bob Arctor ebenfalls veranlaßt, daß ein paar Zusatzgeräte in sein Autoradio eingebaut und gut getarnte Modifikationen daran vorgenommen wurden. Aber er sprach nicht darüber. Eigentlich war es ja auch Fred gewesen, der das veranlaßt hatte. Jedenfalls war es auf Veranlassung von irgend jemandem geschehen, und nun vollbrachten diese Geräte ein paar Kunststückchen, die ein wenig denen ähnelten, die Barris’ diverse elektronische Geräte dessen eigener Aussage nach angeblich auch vollbrachten. Was sie aber natürlich in Wirklichkeit nicht taten. Beispielsweise strahlt jedes Polizeifahrzeug auf der vollen Breite des Frequenzspektrums ein besonderes Interferenzsignal ab, das in einem normalen Autoradio den gleichen Effekt erzeugt wie ein nicht hinreichend entstörter Motor. Jeder gewöhnliche Autofahrer würde höchstens mutmaßen, daß die Zündung des Polizeiwagens defekt sei. In seiner Eigenschaft ab Geheimer Rauschgift-Agent war Bob Arctor jedoch von der Gerätestelle der Behörden eine Apparatur ausgehändigt worden, die ihm, nachdem er sie ins Autoradio eingebaut hatte, eine Menge über das verriet, was um ihn herum vorging, wohingegen die Geräusche anderen Leuten – jedenfalls den meisten anderen Leuten – überhaupt keine Informationen gaben. Diese anderen Leute erkannten nicht einmal, daß das statische Rauschen ein Informationsträger war. Zuerst einmal verrieten die verschiedenen Untertöne Bob Arctor, wie weit das jeweilige Polizeifahrzeug sich seinem eigenen Wagen genähert hatte und zu welcher Abteilung oder Behörde es gehörte – zur Stadtpolizei, zur Polizei des County, zur Autobahnpolizei, zur Bundespolizei oder wozu auch immer. Ferner empfing er auch die in einminütigen Abständen abgestrahlten Piepser, die zur Zeitkontrolle für Beamte in einem parkenden Fahrzeug dienten; dank dieser Signale konnten sie feststellen, wie lange sie schon warteten, ohne dauernd auf die Uhr zu schauen, was ja Verdacht erregen mochte. Das war zum Beispiel dann von Nutzen, wenn man beschlossen hatte, in exakt drei Minuten ein bestimmtes Haus zu stürmen. Das zt zt zt im Autoradio verriet den Beamten präzise, wann diese drei Minuten verstrichen waren. Er wußte auch über die AM-Station Bescheid, die pausenlos nur Top-Ten-Hits und ähnliches Zeug plus eine wahre Sturzflut von DJ-Gelaber sendete – DJ-Gelaber, das sich manchmal auf merkwürdige Weise in etwas ganz anderes verwandelte. Wenn jemand das Radio auf diese Station einstellte und das Gedudel der Musik den Wagen erfüllte, dann würde dieser Jemand, falls er nur mit halbem Ohr zuhörte, den Eindruck gewinnen, einen ganz gewöhnlichen Popmusiksender mit typischem, ödem DJ-Gelaber erwischt zu haben, und entweder nicht auf dieser Welle bleiben oder wenigstens nicht merken, daß der vorgebliche Disc-Jockey manchmal in genau demselben gedämpften Plauderton, in dem er sagte: »Und hier ist eine Nummer für Phil und Jane, ein neuer Song von Cat Stevens, mit dem Titel –« plötzlich Sachen sagte, die eher klangen wie: »Blaues Fahrzeug, rücken Sie eine Meile weiter nach Norden in Richtung Bastanchury vor. Alle anderen Einheiten –« und so weiter. Er hatte noch nie erlebt, daß einer der vielen Macker oder eine der Puppen, die mit ihm fuhren, irgend etwas davon bemerkt hatte – nicht einmal dann, wenn er aufgrund einer dienstlichen Anweisung dazu gezwungen war, den Polizeifunk laufen zu lassen, weil gerade irgendwo eine Razzia oder eine andere Großaktion anlief, in die er vielleicht einbezogen werden mochte. Möglicherweise hatten jene seiner Mitfahrer, die doch etwas mitkriegten, einfach geglaubt, auf einem privaten Horrortrip oder paranoid zu sein, und die ganze Sache schnell wieder vergessen. Und er erkannte auch die vielen nicht als solche gekennzeichneten Polizeifahrzeuge – alte Chevys zum Beispiel, die mit dröhnenden (und gesetzlich verbotenen) Doppelröhren und Rallyestreifen aufgemotzt waren und von wild aussehenden Freaktypen gesteuert wurden, die sich weder um Geschwindigkeitsbeschränkungen noch um andere Verkehrsregeln kümmerten –, weil die besondere Art von informationstragender Statik, die aus dem Radio drang, ihm ihre wahre Natur verriet, wenn sie an seiner Stoßstange klebten oder an ihm vorbeischossen. Er hatte längst gelernt, gar nicht mehr darauf zu achten. Wenn er die Taste drückte, mit der man normalerweise das Autoradio von AM auf FM umstellte, dann quoll nicht nur ein von einer ganz bestimmten Station auf einer ganz bestimmten Frequenz gesendeter Strom sich endlos wiederholender, stupider Disco-Musik aus dem Lautsprecher, sondern zugleich schaltete sich dadurch auch ein innerhalb des Radios verborgenes, mit einem Sender gekoppeltes Mikrophon ein, das von diesem Zeitpunkt an alles, was die Insassen seines Wagens sagten, aufnahm, zerhackte und ins Behördenzentrum abstrahlte, während zugleich die lärmende Musik, die aus dem Lautsprecher flutete, mit Hilfe eines Spezialfilters unterdrückt wurde. Von der Musik – egal, wie laut sie auch immer dudeln mochte – bekamen die Leute im Behördenzentrum nichts mit. Sie störte ihre Abhörtätigkeit nicht im geringsten; der Spezialfilter eliminierte sie vollständig. Das, was Barris zu besitzen behauptete, hatte tatsächlich ein gewisse Ähnlichkeit mit dem, was er, Bob Arctor, in seiner Eigenschaft als Geheimer Rauschgift-Agent wirklich in seinem Autoradio hatte; aber über das hinaus waren an seinem Wagen keinerlei weitere Modifikationen vorgenommen worden, weder an der Radaufhängung noch am Motor noch sonstwo. Das wäre zu plump und auffällig gewesen. Und außerdem konnten ja Millionen von Autofanatikern die gleichen haarigen Umbauten an ihren Wagen vornehmen; darum hatte er sich nur darum bemüht, einen Wagen mit möglichst vielen PS zugeteilt zu bekommen, und es dabei bewenden lassen. Ein Fahrzeug mit hoher Motorleistung kann nun einmal jeden anderen Wagen überholen und abhängen. In dieser Hinsicht redete Barris viel Stuß; ein Ferrari verfügt schon serienmäßig über Radaufhängungen, Fahreigenschaften und eine Lenkung, gegen die keine wie auch immer gearteten »geheimen Modifikationen« ankommen können, also zum Teufel damit. Und Bullen können sich keine Sportwagen leisten, nicht mal billige. Von Ferraris gar nicht zu reden. Letztendlich ist es immer das fahrerische Können, das alles entscheidet. Über eine Spezialausstattung verfügte sein Wagen allerdings doch – nämlich über sehr ungewöhnliche Reifen. Vor Jahren hatte die Firma Michelin in ihrer X-Serie damit begonnen, Reifen mit eingezogenen Stahlbändern auf den Markt zu bringen. Die Reifen an Bob Arctors Wagen hingegen waren ganz aus Metall. Sie nutzten sich zwar schnell ab, hatten aber Vorteile hinsichtlich der Geschwindigkeit und der Beschleunigung. Ihr größter Nachteil war ihr Preis, aber er bekam sie umsonst – von einer behördlichen Zuteilungsstelle, die im Gegensatz zu der, von der er sein Geld erhielt, kein Dr.-Pepper-Automat war. Die Behördenstelle arbeitete sehr zuverlässig, aber natürlich erhielt er immer nur dann eine neue Zuteilung, wenn es unumgänglich notwendig war. Die Reifen zog er selbst auf, wenn ihn niemand beobachtete. Wie er auch die Zusatzgeräte in seinem Radio selbst montiert hatte. Seine einzige Sorge wegen des Radios war nicht die mögliche Entdeckung der Umbauten durch jemanden, der – wie Barris – herumschnüffelte, sondern die Möglichkeit eines ganz gewöhnlichen Diebstahls. Wegen der zusätzlichen Geräte würde es eine teure Angelegenheit werden, das Radio im Falle eines Diebstahls zu ersetzen; er würde sich bei der Zuteilungsstelle wahrscheinlich den Mund fusselig reden müssen, bevor man ihm ein neues Radio zugestand. Natürlich hatte er in seinem Wagen auch eine Waffe versteckt. Barris, gefangen in seinen grellen, ausgeklinkten Acid-Phantasien, würde das Versteck wohl niemals gerade da eingerichtet haben, wo es sich wirklich befand. Barris hätte bestimmt einen möglichst exotischen Platz gewählt, um die Waffe zu verbergen, etwa einen Hohlraum in der Lenksäule. Oder den Benzintank. Ja, wahrscheinlich hätte er die Waffe – ähnlich wie die Helden in dem klassischen Streifen Easy Rider ihre Ladung Koks – an einem Draht in den Benzintank baumeln lassen. Nebenbei bemerkt war gerade dieser Ort wohl das ungeeignetste Dope-Versteck, das man sich nur vorstellen konnte. Jedem Bullen, der den Film mitgekriegt hatte, war wohl sofort das klargewesen, was clevere Psychiatertypen später aufgrund hochwissenschaftlicher Analysen herausgefunden hatten: nämlich, daß die beiden Motorradfahrer es unterbewußt darauf anlegten, erwischt und möglichst auch getötet zu werden. Seine Waffe – die in seinem Wagen – lag im Handschuhfach. Die angeblich so raffinierten Apparätchen, auf die Barris dauernd anspielte, wenn er von seinem eigenen Wagen sprach, hatten möglicherweise sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit, der Wirklichkeit von Arctors umgerüsteten Wagen, weil viele der radiotechnischen Gimmicks, die Arctor zur Verfügung standen, längst weite Verbreitung gefunden hatten und in TV-Spätprogrammen und in Talkshows von Elektronik-Experten vorgeführt worden waren, die an ihrer Entwicklung beteiligt gewesen waren oder in Fachzeitschriften darüber etwas gelesen hatten oder sie mal gesehen hatten oder aus den Polizeilaboratorien gefeuert worden waren und nun einen Groll gegen ihren früheren Arbeitgeber hegten. Daher wußte der Durchschnittsbürger (oder, wie Barris in seiner pseudo-gebildeten Art stets sagte, der typische Durchschnittsbürger) inzwischen, daß kein gewöhnlicher Bulle das Risiko einging, einen mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Gegend rasenden, hochfrisierten und mit Rallyestreifen aufgemotzten 57er Chevy, hinter dessen Steuer ein Etwas saß, das wie ein wildgewordener Teenager aussah, der ausgeflippt war, weil er zu viel Coors-Bier intus hatte, anzuhalten – nur um herauszufinden, daß er einen Geheimen Rauschgift-Agenten gestoppt hatte, der seiner Beute dicht auf den Fersen war. Demnach wußte der typische Durchschnittsbürger also heutzutage, wie und warum diese ganzen Geheimfahrzeuge, die durch die Straßen röhrten, alte Damen erschreckten und manche Spießer so abschockten, daß sie sich hinsetzten und entrüstete Briefe an die Regierung schrieben, im munteren Hin und Her Identifikationssignale miteinander oder mit ihrer jeweiligen Leitstelle austauschten … aber was machte das schon aus? Wirkliche Probleme – erschreckende Probleme sogar –würde es erst geben, wenn die Puks, die Hot-Rod-Freaks, die Motorradrocker und besonders die Dealer, Zwischenträger und Großhändler es fertigbrachten, auch in ihre Fahrzeuge solche ausgeklügelten Vorrichtungen einzubauen. Dann nämlich konnten sie einfach an jedem Bullen vorbeirauschen. Ungestraft. »Dann gehe ich eben zu Fuß«, sagte Arctor. Genau das hatte er ja ohnehin tun wollen; er hatte sowohl Barris als auch Luckman elegant ausgetrickst. Er mußte zu Fuß gehen. »Wo willst du hin?« erkundigte sich Luckman. »Rüber zu Donna.« Es war unmöglich, zu Fuß bis zu ihrer Bude zu gelangen; mit dieser Ankündigung stellte er sicher, daß keiner der beiden Männer auf die Idee kam, ihn zu begleiten. Er zog sich den Mantel an und trabte zur Haustür. »Bis später, Jungs.« »Mein Wagen –« setze Barris ein wenig schuldbewußt noch einmal zu einer Erklärung an. »Wenn ich versuchen würde, deinen Wagen zu fahren«, sagte Arctor, »würde ich bestimmt den falschen Knopf drücken und plötzlich wie der Goodyear-Zeppelin hoch über Los Angeles schweben, und dann würde ich dazu engagiert werden, borsaueres Salz über brennenden Ölquellen abzuwerfen.« »Ich bin froh, daß du meine schwierige Lage zu würdigen weißt«, murmelte Barris, während Arctor die Tür hinter sich schloß. * Fred saß in seinem Jedermann-Anzug vor dem Holo-Schirm von Monitor Zwei und betrachtete teilnahmslos die in rascher Folge vor seinen Augen wechselnden Bilder. Im Kontroll-Zentrum waren noch weitere Beobachter mit der Durchsicht holografischen Bildmaterials beschäftigt, das die an allen möglichen anderen Orten installierten Kameras hierher übermittelt hatten. Meist handelte es sich um Aufzeichnungen. Fred jedoch betrachtete eine Live-Übertragung gerade jetzt ablaufender Ereignisse; zwar zeichnete das ihm zugewiesene Gerät auch auf, aber er hatte das Speicherband mit einer besonderen Schaltung umgangen, damit die Bilder, die eben in diesem Moment aus Bob Arctors angeblich so heruntergekommenem Haus übertragen wurden, gleichzeitig auch auf den Holo-Schirmen erschienen. Im Innern des Hologramms saßen – in naturgetreuen Farben und mit sehr guter Auflösung – Barris und Luckman. Barris kauerte im besten Wohnzimmersessel und beugte sich über eine Hasch-Pfeife, an der er schon seit Tagen herum werkelte. Er umwickelte den Kopf der Pfeife in endlosen Lagen mit weißem Bindfaden; er konzentrierte sich so sehr auf diese Arbeit, daß sein Gesicht zu einer Maske erstarrt war. Am Kaffeetisch hockte Luckman über einer Portion Swanson’s Hühnchen-Schlemmermahl für frohe Fernsehstunden, die er in großen Bissen herunterschlang, während er sich einen Western im Fernsehen ansah. Vier Bierdosen, allesamt leer, lagen auf dem Tisch, von seiner mächtigen Faust zerquetscht; gerade griff er nach einer fünften, noch halbvollen Dose, warf sie um, verschüttetete das Bier, packte sie und fluchte. Bei diesem Fluch schaute Barris auf, betrachtete ihn wie Mime im Siegfried und nahm dann seine Arbeit wieder auf. Fred beobachtete weiter. »Scheiß Sparprogramm«, gurgelte Luckman, den Mund vollgestopft mit Essen, und dann, ganz plötzlich, ließ er den Löffel fallen und kam stolpernd auf die Füße, wankte, drehte sich zu Barris um, beide Hände erhoben, gestikulierend, aber ohne etwas zu sagen. Sein Mund stand offen, und halbzerkautes Essen fiel heraus, auf seine Kleider, auf den Boden. Die Katzen kamen gierig herangestürzt. Barris hielt in seiner Arbeit an der Hasch-Pfeife inne, blickte auf, musterte den unglücklichen Luckman. Der verfiel regelrecht in Raserei, gurgelte jetzt noch viel schrecklicher als zuvor und fegte mit einer Hand die Bierdosen und das Essen vom Kaffeetisch; alles klapperte zu Boden. Die Katzen hetzten erschrocken davon. Immer noch saß Barris da, Luckman starr anglotzend. Luckman schwankte ein paar Schritte in Richtung Küche; er geriet jetzt in den Aumahmebereich der dort installierten Kamera, und auf einem der anderen Holo-Schirme vor Freds schreckgeweiteten Augen erschien ein Bild davon, wie Luckman im Halbdunkel der Küche zunächst blind nach einem Glas tastete und dann versuchte, den Kran anzudrehen und das Glas mit Wasser zu füllen. Am Monitor sprang Fred auf; betäubt sah er auf Monitor Zwei, daß Barris, der noch immer ruhig im Sessel saß, zu seiner alten Beschäftigung zurückkehrte und sorgfältig immer mehr Bindfaden um den Kopf einer Hasch-Pfeife wand. Barris schaute nicht wieder auf; Monitor Zwei zeigte ihn wieder ganz in seine Arbeit vertieft. Aus den Lautsprechern klirrten die berstenden und röchelnden Geräusche der Agonie; das erstickte Würgen eines Menschen und der scheppernde Lärm von Gegen­ständen, die zu Boden polterten, weil Luckman in dem verzweifelten Versuch, Barris’ Aufmerksamkeit zu erregen, Töpfe und Pfannen und Geschirr und Besteck um sich schleuderte. Barris, ganz ruhig inmitten des Lärms, arbeitete methodisch an seiner Hasch-Pfeife weiter und schaute nicht wieder auf. In der Küche, auf Monitor Eins, stürzte Luckman wie vom Schlag getroffen zu Boden. Er sank nicht langsam in die Knie, sondern schlug einfach mit einem widerwärtig dumpfen Geräusch lang hin und lag dann reglos da, alle viere von sich gestreckt. Barris fuhr fort, Bindfaden um seine Hasch-Pfeife zu wickeln, und jetzt stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht, in seine Mundwinkel. Wie unter Schockeinwirkung stand Fred vor den Schirmen und starrte sie an. Alles in ihm drängte danach, zu handeln, und doch war er zugleich wie paralysiert. Er langte nach dem Polizeitelephon neben dem Monitor, hielt inne, schaute immer noch zu. Mehrere Minuten lang lag Luckman reglos auf dem Boden der Küche, während Barris wickelte und wickelte. Barris beugte sich vornüber wie eine alte Dame, die gänzlich in ihrer Strickarbeit aufgeht; er lächelte still vor sich hin, wiegte sich vor und zurück, lächelte, lächelte … und warf dann übergangslos die Hasch-Pfeife weg, stand auf, starrte durchdringend auf Luckmans reglose Gestalt auf dem Küchenfußboden, auf das zersplitterte Glas neben ihm und auf all die Trümmer und Pfannen und zerbrochenen Teller. Sein Gesicht verzog sich zu einer höhnischen Parodie plötzlichen Erschreckens. Barris riß sich die Sonnenbrille herunter, seine Augen weiteten sich grotesk, er flatterte wie ein aufgescheuchter Vogel in hilfloser Furcht mit den Armen, rannte ziellos ein bißchen hin und her, wieselte dann auf Luckman zu, hielt ein paar Schritte von ihm entfernt inne, rannte zurück, keuchte heftig. Er stimmt sich ein, begriff Fred. Er bereitet sich drauf vor, seine ›ich-habe-gerade-etwas-Schreckliches-entdeckt‹ - Nummer abzuziehen. So, als habe er gerade erst die Szene betreten. Barris, auf dem Schirm von Monitor Zwei, krümmte sich zusammen, atmete schwer vor Kummer, dunkelrot im Gesicht, und hüpfte dann zum Telefon. Er riß es mit einem Ruck hoch, ließ es fallen, hob es mit zitternden Fingern wieder auf … er hatte gerade entdeckt, daß Luckman dort in der Küche einen entsetzlichen, einsamen Tod gestorben war, erstickt an einem Essensbrocken, begriff Fred; und keiner war da gewesen, der ihn hätte hören oder ihm gar hätte helfen können. Und jetzt versuchte Barris gerade verzweifelt, Hilfe herbeizurufen. Natürlich zu spät. Langsam und mit hoher, gepreßter Stimme sprach Barris jetzt in das Telefon. »Fräulein, können Sie mir sagen, wo ich anrufen muß, wenn ich einen dieser speziellen Notdienst-Rettungswagen brauche? Ich meine, einen von denen, die …. wie heißt das doch gleich? Wiederbelebungsversuche? Künstliche Beatmung?« »Sir«, quietschte die Simme in der Ohrmuschel aus dem Lautsprecher dicht neben Fred, »bekommt da jemand keine Luft mehr? Soll ich –« »Ich glaube, es handelt sich um einen Herzstillstand«, sagte Barris mit seiner tiefen, ruhigen und irgendwie zugleich drängend und professionell klingenden Stimme in das Telefon, einer Stimme, der man sofort anhörte, daß sich der Sprecher über den tödlichen Ernst der Lage und die Knappheit der noch verbleibenden Zeit sehr wohl im klaren war. »Entweder das, oder er hat versehentlich einen Fremdkörper durch die Luftröhre in –« »Wie ist die Adresse, Sir?« unterbrach ihn das Fräulein von der Auskunft. »Die Adresse«, sagte Barris »Moment, die Adresse ist –« Fred, der immer noch stand, sagte laut: »Mein Gott.« Luckman, der ausgestreckt auf dem Boden lag, atmete plötzlich krampfhaft. Ein konvulsivisches Zittern durchlief seinen Körper, und dann würgte er das Zeug, das seine Kehle verstopfte, aus, schlug um sich und öffnete seine Augen, die verquollen und verwirrt ins Leere starrten. »Äh, es scheint ihm jetzt wieder besserzugehen«, sagte Barris glatt in das Telefon. »Vielen Dank; anscheinend braucht er jetzt doch keine Hilfe mehr.« Rasch legte er den Hörer auf. »Himmel«, murmelte Luckman undeutlich, während er sich aufsetzte. »Scheiße«. Er schnaubte geräuschvoll, hustete und schnappte nach Luft. »Wieder okay?« fragte Barris voller Besorgnis. »Ich muß was in die falsche Kehle gekriegt haben. Bin ich ohnmächtig geworden?« »Nicht eigentlich ohnmächtig. Du bist allerdings in einen anderen Bewußtseinszustand übergewechselt. Für ein paar Sekunden. Vielleicht in einen Alpha-Zustand.« »Gott! Ich hab’ mich vollgesaut!« Obwohl er taumelte und vor Schwäche zitterte, schaffte Luckman es doch irgendwie, auf die Füße zu kommen; schließlich stand er da, haltsuchend an die Wand gelehnt, und schwankte vor und zurück. »Ich verkomme langsam wirklich«, murmelte er angeekelt. »Wie ein alter Weinsäufer.« Mit unsicheren Schritten tappte er in Richtung Ausguß, um sich zu waschen. Fred, der alles beobachtete, fühlte, wie die in ihm aufgestaute Angst wieder verschwand. Luckman würde bald wieder ganz okay sein. Aber Barris! Was für eine Art von Mensch war das bloß? Luckman hatte sich nicht dank, sondern trotz seiner »Hilfe« erholt. Was für ein Freak, dachte Fred. Was für ein bekloppter Freak. Was muß eigentlich in seinem Kopf los sein, daß er in einer solchen Situation einfach müßig rumstehen kann? »Man könnte durch so etwas abkratzen«, sagte Luckman, während er sich am Ausguß mit Wasser bespritzte. Barris lächelte. »Gut, daß ich so eine kräftige Konstitution hab’«, sagte Luckman. In großen Schlucken leerte er eine Tasse mit Wasser. »Was hast du eigentlich gemacht, als ich da lag? Dir einen runtergeholt?« »Du hast doch gesehen, daß ich telefoniert habe«, sagte Barris. »Ich wollte einen Rettungswagen rufen. Ich habe sofort gehandelt, als –« »Wichs«, sagte Luckman säuerlich und kippte immer mehr von dem frischen, sauberen Wasser herunter. »Ich weiß, was du tun würdest, wenn ich tot umfiele – du würdest meinen Stash klauen. Du würdest sogar meine Taschen nach Stoff filzen.« »Wirklich faszinierend«, sagte Barris, »diese Beschränkungen der menschlichen Anatomie. Ich meine, daß Nahrung und Luft sich einen gemeinsamen Durchgang teilen müssen. So daß jederzeit die Gefahr besteht, daß –« Wortlos bedeutete Luckman ihm, sich doch einen runterzuholen. * Das Kreischen von Bremsen. Eine Hupe. Bob Arctor blickte hastig auf, spähte hinaus in den nächtlichen Verkehr. Am Bordstein ein Sportwagen mit laufendem Motor; am Steuer ein Mädchen, das ihm zuwinkte. Donna. »Mein Gott«, sagte er wieder. Mit einem langen Schritt war er am Randstein. Während sie die Tür ihres MGs öffnete, sagte Donna: »Hab’ ich dich etwa erschreckt? Ich war auf dem Weg zu deiner Bude und bin erst glatt an dir vorbeigefahren, bis ich plötzlich gecheckt hab’, daß du das warst, der da entlangtrabte. Darum hab’ ich umgedreht und bin zurückgekommen. Steig ein.« Schweigend stieg er ein und schloß die Wagentür. »Warum bist du um diese Zeit hier draußen unterwegs?« sagte Donna. »Wegen deines Wagens? Ist er immer noch nicht wieder in Ordnung?« »Ich hab’ grad’ eine total ausgeflippte Sache erlebt«, sagte Bob Arctor. »Nicht auf’m Trip, sondern …« Er schauderte. Donna sagte: »Ich hab’ dein Zeug.« »Was?« sagte er. »Tausend Tabletten Tod.« »Tod?« echote er. »Yeah, hochgradigen Tod. Ich fahr’ besser los.« Sie schaltete in den niedrigsten Fahrbereich, fuhr los und fädelte sich in den Verkehr ein; fast augenblicklich hatte sie den Wagen bis über die zulässige Höchstgeschwindigkeit hochgejagt. Donna fuhr immer zu schnell und zu dicht auf, aber zugleich auch sehr gekonnt. »Dieser Scheißkerl Barris!« sagte er. »Weißt du, wie er arbeitet? Wenn er jemanden um die Ecke bringen will, tötet er ihn nicht etwa eigenhändig; er wartet nur ganz einfach, bis eine Situation eintritt, in der der Betreffende von selbst stirbt. Und Barris sitzt ganz ruhig dabei, während der andere stirbt. Er richtet es sogar gezielt so ein, daß sie sterben und er sich raushalten kann. Aber ich bin mir nicht sicher, wie er das macht. Jedenfalls arrangiert er alles so, daß sie abkratzen können, einfach abkratzen.« Dann verfiel er in tiefes Schweigen und brütete vor sich hin. »Beispielsweise«, sagte er, »würde Barris nie selbst eine Ladung Plastiksprengstoff an die Zündung deines Wagens anschließen. Statt dessen würde er –« »Hast du das Geld?« sagte Donna. »Für den Stoff? Er ist wirklich primo, und ich brauche das Geld sofort. Ich muß es noch heute abend haben, weil ich mir ‘n paar andere Sachen besorgen muß.« »Sicher.« Er hatte das Geld in seiner Brieftasche. »Ich mag Barris nicht«, sagte Donna, während sie den Wagen durch den Verkehr lenkte, »und trauen tue ich ihm auch nicht. Weißt du, er ist verrückt. Und wenn du mit ihm rumhängst, dann wirst du auch verrückt. Und wenn du nicht mit ihm rumhängst, dann bist du okay. Im Moment bist du auch wieder verrückt.« »Echt?« sagte er erschrocken. »Ja«, sagte Donna ruhig. »Hm«, sagte er. »Himmel.« Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Besonders, weil Donna sich nie irrte. »Hey«, sagte Donna voller Begeisterung, »könnten wir nicht mal zusammen zu einem Rockkonzert gehen? Nächste Woche im Anaheim Stadium? Ja?« »Klar doch«, sagte er mechanisch. Und dann kapierte er erst, was Donna da eigentlich gesagt hatte – sie hatte ihn gefragt, ob er mit ihr ausgehen sollte. »Alll riiiight!« sagte er überglücklich; neue Lebenskraft durchpulste ihn. Einmal mehr hatte ihn die kleine, dunkelhaarige Puppe, die er so sehr liebte, wieder auf die Erde zurückgeholt. »Wann denn?« »Sonntag nachmittag. Ich werd’ was von dem dunklen, öligen Hasch mitnehmen und mir richtig einen reinknallen. Das wird schon keiner merken, weil bestimmt Tausende von Freaks da sein werden.« Sie blickte ihn kritisch an. »Aber du mußt dir was Duftes anziehen, nicht diese gammeligen Klamotten, in denen du manchmal rumläufst. Ich meine –« ihre Stimme wurde weich. »Ich möchte, daß du scharf aussiehst, weil ich dich ganz schön scharf finde. « »Okay«, sagte er entzückt. »Wir fahren jetzt in meine Bude«, sagte Donna, als sie in ihrem kleinen Wagen durch die Nacht schossen. »Du hast ja das Geld bei dir, und wenn du’s mir gegeben hast, pfeifen wir ‘n paar von den Tabs ein und hauen uns so richtig bequem hin und machen uns ‘nen schönen Abend. Und wenn du Lust drauf hast, kannst du ja losziehen und uns ‘ne Pulle Southern Comfort holen, und die können wir uns dann auch noch reinziehen.« »Oh wow«, sagte er mit aufrichtiger Begeisterung. »Worauf ich heute abend aber am meisten Bock hätte«, sagte Donna, während sie herunterschaltete, in die Straße einbog, an der sie wohnte, und den Wagen in ihre Auffahrt lenkte, »das war’, in ein Drive-in-Kino zu fahren. Ich hab’ mir eine Zeitung gekauft und nachgeschaut, was heute läuft, aber ich hab’ nichts Vernünftiges finden können, außer im Torrance Drive-in, und die haben schon angefangen. Um halb sechs. Die Ärsche.« Er sah auf die Uhr. »Dann haben wir schon ‘ne Menge verpaßt, mindestens –« »Nein, wir können immer noch das meiste sehen.« Sie schenkte ihm ein kurzes, warmes Lächeln, als sie den Wagen zum Stehen brachte und den Motor ausschaltete. »Die zeigen da alle Planet der Affen-Filme, alle elf; das Hauptprogramm geht von heute abend halb acht durch bis morgen früh um acht. Ich werde direkt vom Drive-in zur Arbeit gehen, darum muß ich mich jetzt umziehen. Wir werden total stoned im Kino sitzen und Southern Comfort trinken, die ganze Nacht lang. Wow, war’ das nicht ‘ne echte Superschaffe?« Sie guckte ihn hoffnungsvoll an. »Die ganze Nacht lang«, echote er. »Yeah yeah yeah.« Donna sprang aus dem Wagen und kam herüber auf seine Seite, um ihm dabei zu helfen, die kleine Beifahrertür aufzukriegen. »Wann hast du zuletzt alle Planet der Affen-Filme gesehen? Ich hab’ die meisten davon schon früher dieses Jahr gesehen, aber als die letzten liefen, wurde ich krank und mußte’s drangeben. Lag an einem Schinkensandwich, das sie mir im Drive-in verkauft haben. Das hat mich echt sauer gemacht; Ich hab’ grad’ den letzten Film verpaßt, du weißt schon, den, in dem enthüllt wird, daß alle berühmten Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wie etwa Lincoln oder Nero insgeheim Affen waren, die die gesamte menschliche Geschichte von Anfang an gelenkt haben. Darum will ich unbedingt da reingehen.« Sie senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, als sie auf die Haustür zugingen. »Die haben mich mit diesem ollen Schinkensandwich ganz schön abgelinkt. Weißt du, was ich deshalb gemacht hab’? Jetzt lach aber nicht – als wir das nächste Mal ins Drive-in gefahren sind, drüben in La Habra, da hab’ ich eine verbogene Münze in den Münzschlitz gesteckt, vorne an der Einfahrt. Und auch ‘n paar in die anderen Verkaufsautomaten, damit sich’s auch richtig lohnte. Ich hab’ zusammen mit Larry Tailing – du erinnerst dich doch bestimmt an Larry, wir sind damals zusammen gegangen? – einen ganzen Haufen von Quarters und Fünf-Cent-Stücken verbogen, mit seinem Schraubstock und einem großen Schraubenschlüssel. Ich hab’ natürlich vorher nachgeforscht, ob die Automaten auch alle der richtigen Firma gehörten. Und dann haben wir ‘ne ganze Ladung davon hopsgehen lassen, praktisch alle, wenn ich ehrlich sein soll.« Langsam und irgendwie feierlich schloß sie im Halbdunkel die Vordertür mit ihrem Schlüssel auf. »Scheint nicht gerade ratsam zu sein, dich ablinken zu wollen, Donna«, sagte er, als sie ihre hübsche kleine Bude betraten. »Tret nicht auf den Plüschteppich«, sagte Donna. »Wo soll ich dann hintreten?« »Bleib stehen. Oder tritt auf die Zeitungen.« »Donna –« »Nun mach’ mich bloß nicht an, nur weil du auf den Zeitungen gehen mußt. Weißt du eigentlich, wieviel es mich gekostet hat, diesen Teppich hier reinigen zu lassen?« Sie stand da und knöpfte ihr Jäckchen auf. »Du bist ja sparsam wie ‘n französischer Bauer«, sagte er, während er seinen eigenen Mantel ablegte. »Wirfst du eigentlich jemals irgendwas weg? Wahrscheinlich bewahrst du sogar noch Bindfadenstücke auf, die zu kurz für –« »Eines Tages«, sagte Donna und schüttelte ihr langes, schwarzes Haar, als sie aus der Lederjacke schlüpfte, »werde ich mal heiraten, und dann werd’ ich all das brauchen, alles, was ich beiseite gelegt hab’. Wenn man heiratet, braucht man alles, was man nur kriegen kann. Nimm nur mal den großen Spiegel, den wir neulich nebenan im Hof entdeckt haben; drei Leute haben zusammen über eine Stunde malocht, um ihn über den Zaun zu hieven. Eines Tages –« »Wieviel von dem, was du zurückgelegt hast, hast du eigentlich gekauft?« fragte er, »und wieviel davon gestohlen?« »Gekauft?« Sie studierte unsicher sein Gesicht. »Was meinst du mit kaufen?« »Etwa, wie wenn du Dope kaufst«, sagte er. »Das, was bei einem Dope-Deal vor sich geht. Jetzt zum Beispiel.« Er zückte seine Brieftasche. »Ich gebe dir Geld, richtig?« Donna nickte und blickt ihn an, gehorsam (das jedoch wohl mehr aus Höflichkeit), aber trotzdem würdevoll. Und ein wenig reserviert. »Und dann gibst du mir dafür eine Ladung Dope«, sagte er, während er ihr zugleich die Scheine hinhielt. »Was ich mit kaufen meine, ist eine Ausdehnung dessen, was wir hier gerade machen, wir beide, bei diesem Dope-Deal, in die größere Welt menschlicher Geschäftsbeziehungen.« »Ich glaube, das versteh’ ich«, sagte sie. Ihre großen, dunklen Augen waren sanft, aber lebhaft. Sie war immer bereit, etwas dazuzulernen. »Als du kürzlich diesen Coca-Cola-Lieferwagen gestoppt und leergemacht hast – wie viele Flaschen Coke hast du da eigentlich geklaut? Wie viele Kästen?« »Genug für einen Monat«, sagte Donna. »Für mich und meine Freunde. « Er starrte sie tadelnd an. »Das ist auch eine Art von Tauschhandel«, sagte sie. »Aber was –« Er begann zu lachen. »Was gibst du denn zurück?« »Ich gebe etwas von mir selbst.« Jetzt lachte er lauthals. »Wem? Dem Fahrer des Lastwagens, der den Schaden vielleicht ersetzen –« »Die Coca-Cola-Company ist ein kapitalistisches Monopolunternehmen. Kein anderer außer denen kann Coca-Cola herstellen. Das ist wie bei der Telefongesellschaft. Wenn du jemanden anrufen willst, meine ich. Alles kapitalistische Monopole. Wußtest du schon« – ihre dunklen Augen blitzten – »daß die Formel von Coca-Cola ein sorgfältig gehütetes Geheimnis ist, das von Generation zu Generation weitervererbt wird und das jeweils nur wenige Personen kennen, die alle der gleichen Familie angehören? Und daß es keine Coke mehr geben wird, wenn der letzte von denen, die die Formel auswendig kennen, stirbt? Darum ist ja auch sicherheitshalber eine Niederschrift der Formel irgendwo in einem Safe deponiert«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich möchte zu gerne wissen, wo«, sagte sie wie im Selbstgespräch. Ihre Augen flackerten. »Du und deine Klaubrüder werden die Coca-Cola-Formel niemals finden, nicht in einer Million Jahren.« »WARUM ZUM TEUFEL SOLLTE MAN ÜBERHAUPT EIN INTERESSE DARAN HABEN, COKE HERZUSTELLEN, WENN MAN ES DOCH VON IHREN LIEFERWAGEN KLAUEN KANN? Die haben eine Menge Lieferwagen. Du siehst sie doch dauernd auf der Straße, und sie fahren richtig schön langsam. Ich häng’ mich immer an sie dran, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet; das macht sie echt sauer.« Sie bedachte ihn mit einem verstohlenen, listigen, lieblichen kleinen Koboldlächeln, als wolle sie versuchen, ihn durch die Magie dieses Lächelns in ihre eigene, seltsame Wirklichkeit hinüberzuziehen, in der sie mit blitzender Lichthupe immer wieder gefährlich dicht auf einen der langsamen Lieferwagen auffuhr und dabei immer wütender und ungeduldiger wurde und dann, wenn der Fahrer des Lastwagens auf den Randstreifen fuhr, um sie vorbeizulassen, nicht wie andere Fahrer mit ihrem Wagen vorbeizog, sondern ebenfalls anhielt und alles stahl, was auf dem Lieferwagen war. Und das letztlich nicht, weil sie ein Dieb war oder etwa gar aus Rache, sondern weil sie zu dem Zeitpunkt, da der Lieferwagen endlich an den Rand fuhr, schon so lange auf die Kisten mit Coke gestarrt hatte, daß sie mittlerweile einen Verwendungszweck für das Zeug gefunden hatte. Schiere Wut hatte sich in praktisches Denken verwandelt. Sie hatte ihren Wagen – nicht den MG, sondern den größeren Camaro, den sie damals noch nicht zu Schrott gefahren hatte – mit einer Menge von Coke-Kästen vollgeladen, und dann hatten sie und ihre Langfingerfreunde einen Monat lang so viel Coke getrunken, wie ihr Herz begehrte. Und im Anschluß daran – hatte sie das Leergut in verschiedene Läden zurückgebracht. Wegen des Flaschenpfandes. »Was hast du eigentlich mit den Schraubverschlüssen gemacht?« hatte er sie einmal gefragt. »Sie in Kattun gewickelt und sie in deiner Zedernkiste gehortet?« »Ich hab’ sie weggeworfen«, hatte sie mürrisch geantwortet. »Man kann doch mit diesen Coke-Ver­schlüssen überhaupt nichts anfangen. Es gibt nicht mal mehr Sammelwettbewerbe oder sonst was in der Art.« Donna verschwand jetzt im Nebenraum und kam unmittelbar darauf mit mehreren Polyäthylen-Tüten zurück. »Willste nachzählen?« erkundigte sie sich. »Es sind ganz bestimmt tausend. Ich hab’ sie auf meiner Feinwaage abgewogen, bevor ich bezahlt hab’.« »Ist schon okay«, sagte er. Er nahm die Beutel entgegen und sie das Geld, und er dachte: Donna, einmal mehr könnte ich dich in den Knast bringen, aber das werde ich vielleicht nie machen, ganz egal, was du tust, selbst wenn es gegen mich gerichtet ist, weil du so etwas Wundervolles und Lebendiges und Süßes an dir hast, und das würde ich nie zerstören können. Ich verstehe es nicht, aber es ist da. »Könnte ich zehn haben?« fragte sie. »Zehn? Zehn Tabs zurück? Klar.« Er öffnete einen der Beutel – er ließ sich nur schwer aufknoten, aber er verfügte über die nötige Fingerfertigkeit – und zählte genau zehn für sie ab. Und dann zehn für sich selbst. Dann band er den Beutel wieder zu und brachte alle Beutel zu seinem Mantel im Schrank. »Weißt du, was die jetzt in den Cassetten-Läden machen?« sagte Donna mit sichtlicher Wut, als er zurückkam. Die zehn Tabs waren nirgendwo zu sehen; sie hatte sie schon ihrem Stash einverleibt. »Wegen der Cassetten, meine ich?« »Sie nehmen dich fest«, sagte er, »wenn du welche davon stiehlst.« »Das haben sie doch schon immer gemacht. Aber jetzt haben sie einen neuen Trick – hängt mit dem Preisschild zusammen, das die Verkäufer immer abmachen, wenn du eine LP oder eine Cassette mit zur Kasse bringst. Rat mal, welchen. Du wirst nie draufkommen, was ich herausgefunden hab’. Beinah’ hätt’s mich dabei übrigens erwischt.« Sie warf sich in einen Sessel, grinste erwartungsvoll und holte einen kleinen, in Alufolie eingewickelten Würfel aus der Tasche, den er sofort als einen Brocken Hasch identifizierte, noch bevor sie ihn ausgewickelt hatte. »Das ist nicht einfach, nur ein aufgeklebtes Preisschild. Es enthält auch ein winziges Stückchen einer ganz bestimmten Metallegierung, und wenn der Verkäufer an der Kasse das Preisschild nicht abgemacht hat und du damit durch die Tür zu gehen versuchst, dann geht eine Alarmsirene los.« »Und wie hast du das rausgekriegt?« »Direkt vor mir war so ‘n Teenybopper, die mit ‘ner Cassette unter dem Mantel rausmarschieren wollte. Die Alarmsirene ging los, und die Angestellten schnappten sie sich und riefen die Bullen.« »Wie viele hattest du denn unter deinem Mantel?« »Drei.« »Hattest du auch Dope im Wagen?« fragte er. »Wenn sie dich nämlich erst mal beim Cassettenklauen erwischt haben, dann beschlagnahmen sie auch deinen Wagen, wenn du auch nur ‘n bißchen so aussiehst, als könntest du noch mehr auf dem Kerbholz haben. Und wenn sie ihn dann abschleppen und bei der Routinedurchsuchung den Stoff finden, lochen sie dich auch dafür noch ein. Ich wette, das war nicht mal hier in L. A. oder? Ich wette, du hast das irgendwo gemacht, wo –« Er hatte gerade ansetzen wollen zu sagen: Wo du niemanden vom Rauschgiftdezernat kennst, der sich für dich einsetzen könnte. Aber das durfte er nicht sagen, weil er sich selbst damit meinte; falls Donna jemals wegen Drogenbesitz hopsgenommen werden würde, würde er sich, wenigstens im Rahmen seiner Möglichkeiten, den Arsch abrackern, um ihr zu helfen. Aber er konnte überhaupt nichts für sie tun, wenn sie nicht in Los Angeles selbst, sondern beispielsweise im L. A. County festgenommen wurde! Und wenn das jemals passierte, womit man eines Tages wohl rechnen mußte, dann würde es wahrscheinlich ausgerechnet dort geschehen: zu weit weg, als daß er davon erfahren würde oder ihr helfen konnte. In seinem Kopf spulte er eine Phantasienummer ab, eine echte Horrorshow: Donna, die ähnlich wie Luckman starb, ohne daß jemand es hörte oder sich dafür interessierte oder etwas unternahm. Selbst wenn sie es hörten, mochten sie genau wie Barris unbeteiligt und träge abwarten, bis für Donna alles zu spät war. Sie würde nicht richtig sterben, nicht so, wie Luckman gestorben war – war? Beinahe gestorben war, verbesserte er sich. Aber weil sie süchtig nach Substanz T war, würde sie nicht nur einfach ins Gefängnis wandern, sondern zugleich auch zwangsweise auf Entzug gehen müssen. Cold Turkey. Und da sie nicht nur Drogen konsumierte, sondern auch dealte – und schließlich war da ja auch noch die Sache mit dem Diebstahl –, würde sie eine ganze Weile im Knast sitzen, und während dieser Zeit mochten ihr noch eine ganze Reihe anderer Dinge, schrecklicher Dinge, zustoßen. Und wenn sie dann wieder rauskam, würde sie völlig verändert sein – eine ganz andere Donna. Ihre sanfte, fürsorgliche Art, die er so sehr liebte, ihre Wärme – das alles würde sich in Gott weiß was verwandelt haben. Auf jeden Fall würde sie leer sein, leer und verbraucht. Donna, verwandelt in ein Ding; und das blühte ihnen eines Tages allen. Aber hoffentlich nicht Donna, dachte er. Jedenfalls nicht, solange ich lebe, und nicht an einem Ort, wo ich ihr nicht helfen kann. »Lebendig«, sagte er jetzt todunglücklich zu ihr, »ohne Besessenheit.« »Was soll’n das heißen?« Nach einem Augenblick begriff sie, was er meinte. »Ach so, Transaktionsanalyse, stimmt’s? Aber wenn ich Hasch rauche …« Sie hatte ihre eigene kleine Hasch-Pfeife aus Ton herausgeholt, die sie selbst gemacht hatte und deren Kopf wie ein Seeigel aussah, und zündete sie gerade an. »Dann fühle ich mich beireit.« Sie blickte mit glänzenden Augen glücklich zu ihm auf, lachte und streckte ihm die kostbare Hasch-Pfeife entgegen. »Ich lade dich jetzt auf«, erklärte sie. »Setz dich hin.« Während er sich setzte, erhob sie sich und paffte im Stehen so lange, bis der Shit im Pfeifenkopf kräftig glomm. Dann watschelte sie auf ihn zu und beugte sich über ihn, und als er den Mund öffnete – wie ein Vogeljunges, dachte er, ein Gedanke, der ihm jedesmal in diesen Augenblicken kam –, atmete sie den Hasch-Rauch in einem großen, kraftvollen Strom in ihn hinein und erfüllte ihn so mit ihrer eigenen heißen und kühnen und unverbesserlichen Energie, die zugleich ein Beruhigungsmittel war, das sie beide zusammen entspannte und ganz gelöst werden ließ: sie, die ihn auflud, und Bob Arctor, der diese Gabe entgegennahm. »Ich liebe dich, Donna«, sagte er. Dieses Aufladen war für ihn an die Stelle sexueller Beziehungen mit ihr getreten, und vielleicht war es sogar besser als Sex; es bedeutete ihm so viel; es war so unglaublich intim und so ganz anders im Vergleich zu Sex, denn hierbei konnte zuerst sie etwas in ihn einströmen lassen und dann, wenn sie das Bedürfnis danach hatte, er etwas in sie. Ein gleichberechtigter Austausch, ein Geben und Nehmen, bis der letzte Krümel Hasch verglommen war. »Yeah, das kann ich dir nachfühlen, daß du mich liebst, meine ich«, sagte sie, kicherte und setzte sich neben ihn, um einen Zug aus der Hasch-Pfeife zu nehmen, diesmal für sich selbst. IX »Hey, Donna, hör mal«, sagte er. »Magst du Katzen?« Sie blinzelte mit geröteten Augen. »Klamme kleine Dinger. Schleichen ungefähr ‘nen Meter über dem Boden daher.« »Über, nein, auf dem Boden.« »Klamm. Hinter den Möbeln.« »Dann eben kleine Frühlingsblumen«, sagte er. »Ja«, sagte sie. »Das gefällt mir – kleine Frühlingsblumen, mit Gelb drin. Die, die zuerst rauskommen.« »Vorher«, sagte er. »Früher als alle anderen« »Ja.« Sie nickte, die Augen geschlossen, sehr weit weg auf ihrem Trip. »Bevor alle auf ihnen rumtrampeln und sie – weg sind.« »Du kennst mich wirklich«, sagte er. »Du kannst meine Gedanken lesen. « Sie lehnte sich zurück und legte die Hasch-Pfeife beiseite. Sie war ausgegangen. »Nichts mehr da«, sagte sie, und ihr Lächeln verschwand langsam. »Was ist los mit dir?« sagte er. »Nichts.« Sie schüttelte den Kopf, und das war alles. »Darf ich meine Arme um dich legen?« fragte er. »Ich möchte dich festhalten. Okay? Dich nur ein bißchen in den Arm nehmen, ja?« Ihre dunklen, müden Augen mit den geweiteten Pupillen öffneten sich. »Nein«, sagte sie, ohne ihn direkt anzublicken. »Nein, du bist zu häßlich.« »Was?« sagte er. »Nein«, sagte sie, diesmal mit einer gewissen Schärfe. »Ich schniefe ‘ne Menge Koks; ich muß supervorsichtig sein, weil ich ‘ne Menge Koks schniefe.« »Häßlich?« wiederholte er wie ein Echo. Er war wütend auf sie. »Du verfickte –« »Geh mir bloß nicht an die Wäsche«, sagte sie und starrte ihn an. »Klar«, sagte er. »Natürlich nicht.« Er kam auf die Füße und wich vor ihr zurück. »O ja, darauf kannst du Gift nehmen!« Er spürte das unwiderstehliche Bedürfnis, zu seinem Wagen hinauszugehen, die Pistole aus dem Handschuhfach zu holen und ihr das Gesicht wegzuschießen – ihren Schädel und ihre Augen in kleine Stückchen zerplatzen zu lassen. Und dann verging das alles wieder – dieser Hasch-Haß, diese Hasch-Wut. »Ach Scheiße«, sagte er niedergeschlagen. »Ich hab’s nicht gern, wenn irgendwelche Leute meinen Körper betatschen«, sagte Donna. »Ich muß aufpassen, weil ich so viel kokse. Eines Tages – jedenfalls hab’ ich das vor – werde ich über die kanadische Grenze gehen, mit vier Pfund Koks drin, in meiner Möse, meine ich. Ich werde sagen, ich sei katholisch und Jungfrau. Wo willst du hin?« Sichtlich alarmiert erhob sie sich halb. »Ich hau ab«, sagte er. »Dein Wagen steht bei dir zu Hause. Ich hab’ dich hergefahren.« Das Mädchen kämpfte sich hoch, zerzaust und durcheinander und halb schlafend, stolperte hinüber zum Schrank, um ihre Lederjacke herauszuholen. »Ich fahre dich heim. Aber verstehst du wenigstens, warum ich meine Möse schützen muß? Vier Pfund Coke bringen in Kanada –« »Ach, laß doch den Scheiß«, sagte er. »Du bist zu stoned, um zehn Meter weit zu fahren, und du läßt ja nie jemand anders an diesen blöden kleinen Rollschuh ran.« Sie baute sich vor ihm auf und schrie ihn an: »Weil außer mir keiner meinen Wagen fahren kann, darum! Kein anderer kriegt das jemals richtig hin, erst recht kein Mann! Weder das Fahren noch sonstwas! Deine Pfoten waren schon wieder unten in meiner –« Und dann war er irgendwo draußen in der Dunkelheit, irrte ziellos umher, ohne Mantel, in einem Teil der Stadt, den er nicht kannte. Er ganz allein. Beschissen allein, dachte er, und dann hörte er Donna, die hinter ihm hereilte, Donna, die versuchte, ihn einzuholen. Ihr Atem ging keuchend, weil sie in letzter Zeit so viel Pot und Hasch geraucht hatte und ihre Lungen von dem ganzen Harz halb verschlammt waren. Er hielt an, stand da, ohne sich umzudrehen, wartete. Er fühlte sich echt down. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, wurde Donna langsamer und keuchte: »Mir tut’s schrecklich leid, daß ich dir weh getan hab’. Mit dem, was ich gesagt hab’, meine ich. Ich war gar nicht so richtig da.« »Yeah«, sagte er. »Zu häßlich!« »Wenn ich den ganzen Tag gearbeitet habe und super-super-müde bin, dann haut mich manchmal schon die erste Pfeife um. Wülste nich’ wieder reinkommen? Oder sollen wir was anderes machen? Wülste ins Drive-in? Und was ist mit dem Southern Comfort? Ich kann keinen kaufen … sie verkaufen ihn mir nicht«, sagte sie und unterbrach sich einen Moment lang. »Bin schließlich noch minderjährig, stimmt’s?« »Okay«, sagte er. Zusammen gingen sie zurück. »Das Hasch ist doch wohl echt Klasse, was?« sagte Donna. Bob Arctor sagte: »Das Hasch ist schwarz und klebrig, was bedeutet, daß es mit Opium-Alkaloiden gesättigt ist. Was du rauchst, ist Opium und kein Hasch – weißt du das eigentlich? Darum ist es auch so teuer – weißt du das eigentlich?« Er hörte, wie seine Stimme immer lauter wurde; er blieb stehen. »Du rauchst kein Hasch, Herzchen. Du rauchst Opium, und das bedeutet lebenslängliche Sucht. Und dafür bezahlst du … wie teuer ist dieses Hasch eigentlich im Augenblick pro Pfund? Und du wirst das Zeug rauchen und wegnicken, wegnicken und nicht mal mehr in der Lage sein, deinen Wagen anzuwerfen und dich an Lieferwagen dranzuhängen, und du wirst es jeden Tag brauchen, bevor du zur Arbeit gehst –« »Ich brauch’ das heute schon«, sagte Donna. »Ich meine, ich muß mir jedesmal erst ‘n Pfeifchen reinziehen, bevor ich zur Arbeit gehe. Und auch mittags und sobald ich nach Hause komme. Darum deale ich ja – um mir mein Hasch kaufen zu können. Hasch ist fab. Hasch bringt’s.« »Opium«, wiederholte er. »Wieviel kostet Hasch jetzt?« »Ungefähr zehntausend Dollar pro Pfund«, sagte Donna. »Die gute Sorte.« »Heiliger Himmel! So viel wie Smack!« »Ich würd’ nie ‘ne Fixe nehmen. Ich hab’s nie getan und werd’s auch nie tun. Man hält ungefähr noch sechs Monate lang durch, wenn man zu schießen anfängt, ganz egal, was man nun schießt. Sogar Leitungswasser. Man wird süchtig –« »Du bist süchtig.« Donna sagte: »Das sind wir doch alle. Du nimmst Substanz T. Also? Wo ist denn da der Unterschied? Ich steh’ eben drauf, mir jeden Abend, wenn ich nach Hause komme, ‘ne Ladung klasse Hasch reinzuziehen … das ist mein Trip. Versuch nicht, mich zu ändern. Versuch niemals, mich zu ändern. Mich oder meine Moralvorstellungen. Ich bin, was ich bin. Und ich fahre nun mal auf Hasch ab. Es ist mein Leben.« »Schon mal Bilder von einem dieser alten Opiumraucher gesehen, wie es sie früher in China gab? Oder von einem Hasch-Raucher heutzutage in Indien? Weißt du, wie die hinterher mal aussehen, wenn sie älter werden?« Donna sagte: »Ich rechne gar nicht damit, lange zu leben. Also? Ich will gar nicht lange hier rumhängen. Du etwa? Warum? Was ist denn so toll an dieser Welt? Hast du eigentlich mal gesehen – Scheiße, denk doch bloß mal an Jerry Fabin; schau dir jemanden an, der sich zu viel Substanz T in den Kopf geknallt hat. Gibt dir diese Welt wirklich was, Bob? Sie ist doch nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die nächste, wo sie uns dafür bestrafen, daß wir von Natur aus bös sind –« »Du bist ja tatsächlich eine Katholikin.« »Wir werden sowieso bestraft. Wenn du also dann und wann mal auf ‘n Trip gehen kannst, dann tu’s, zum Teufel noch mal. Neulich war ich fast verunglückt, als ich mit meinem MG zur Arbeit gefahren bin. Ich hatte das Acht-Kanal-Stereo voll auf und rauchte gerade meine Hasch-Pfeife, und da hab’ ich diesen alten Macker in seinem 84er Ford Imperator nicht gesehen –« »Du bist ja total behämmert«, sagte er. »Super behämmert.« »Weißt du, ich werde früh sterben. Auf jeden Fall. Egal, was ich tue. Vielleicht auf dem Freeway. Hast du eigentlich schon bemerkt, daß die Bremsen an meinem MG völlig durch sind? Und ich hab’ mir dieses Jahr schon vier Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit eingehandelt. Jetzt muß ich wieder zum Verkehrsunterricht gehen. Mann, das fuckt einen ab. Sechs ganze Monate lang.« »Eines Tages«, sagte er, »werde ich dich also urplötzlich nie mehr sehen. Richtig? Nie wieder.« »Wegen des Verkehrsunterrichts? Nein, nach den sechs Monaten –« »Weil du auf dem Friedhof liegst«, erläuterte er. »Ausradiert, bevor du nach kalifornischem Recht alt genug bist, um dir eine Dose Bier oder eine Flasche Schnaps zu kaufen. « »Yeah!« rief Donna lebhaft aus. »Der Southern Comfort! Also los! Soll’n wir uns jetzt ‘ne Pulle Southern Comfort reinziehen und uns dann die Affen-Streifen reintun? Soll’n wir? Es sind immer noch acht übrig, darunter auch der –« »Hör mir doch mal zu«, sagte Bob Arctor und legte seine Hand auf ihre Schulter; instinktiv entzog sie sich ihm. »Nein«, sagte sie. Er sagte: »Weißt du, was sie dich ein einziges Mal machen lassen sollten? Vielleicht nur ein einziges Mal? Sie sollten dir erlauben, in einen Laden zu gehen und dir ganz legal eine Dose Bier zu kaufen.« »Warum?« sagte sie verblüfft. »Als Geschenk für dich, weil du gut bist«, sagte er. »Einmal haben sie Alkohol an mich ausgeschenkt!« rief Donna voller Begeisterung aus. »In einer Bar! Die Cocktail-Kellnerin – ich hatte mich richtig in Schale geworfen und war mit ‘nen paar anderen Leuten da – hat mich gefragt, was ich denn wünsche, und ich hab’ gesagt: ‘Ich hätte gerne einen Wodka Collins’, und sie hat mich tatsächlich bedient! Das war übrigens im La Paz, ‘n echt dufter Laden. Wow, kannst du dir das vorstellen? Ich hab’ das mal in ‘ner Werbung gesehen und mir gemerkt, den Wodka Collins, meine ich. Damit ich, wenn man mich irgendwann mal in ‘ner Bar fragen würde, auch ganz cool klingen würde. Irre, was?« Plötzlich hakte sie sich bei ihm ein und drückte sich an ihn, während sie die Straße entlangschlenderten, etwas, was sie sonst fast nie tat. »Das war der allertollste Supertrip meines Lebens.« »Ich glaube«, sagte er, »dann hast du dein Geschenk wohl schon bekommen. Das eine, wunderbare Geschenk.« »Ich find’ das toll«, sagte Donna. »Ich find’ das echt toll! Natürlich haben sie mir hinterher erzählt – die Leute, mit denen ich zusammen da war, meine ich –, daß ich mir einen mexikanischen Drink hätte bestellen müssen, zum Beispiel einen Tequila Sunrise, weil das eben so eine Art mexikanische Bar ist, die im La Paz-Restaurant. Beim nächsten Mal werde ich das natürlich wissen; ich hab’s oben in meinem Gedächtnisspeicher aufgezeichnet, für den Fall, daß ich da mal wieder hingehe. Weißt du, was ich eines Tages tun werde, Bob? Ich werde nach Norden ziehen, nach Oregon, und im Schnee leben. Ich werde jeden Morgen den Schnee vor dem Eingang wegschaufeln. Und ein kleines Haus haben und einen Gemüsegarten.« Er sagte: »Dafür mußt du sparen. Dein ganzes Geld sparen. So was ist teuer.« Donna streifte ihn mit einem seltsam verlegenen Blick. »Es klappt bestimmt. Er wird schon dafür sorgen.« »Wer?« »Na, du weißt schon.« Ihre Stimme klang weich, als sie ihn an ihrem Geheimnis teilhaben ließ, ihm ihr Geheimnis offenbarte, weil er, Bob Arctor, ihr Freund war und sie ihm vertrauen konnte. »Mister Wunderbar. Ich weiß ganz genau, wie er sein wird – er wird einen Aston-Martin fahren und mich darin nach Norden mitnehmen. Und genau da steht das kleine, altmodische Haus im Schnee, nördlich von hier.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Schnee soll doch ganz hübsch sein, nicht wahr?« Er sagte: »Weißt du das nicht selbst?« »Ich bin noch nie im Schnee gewesen, außer einmal oben in den Bergen in San Berdoo, und da war es mehr Graupelregen als Schnee, und ich bin im Schlamm ausgerutscht und voll auf die Schnauze geflogen. Solchen Schnee meine ich nicht; ich meine richtigen Schnee.« Bob Arctors Herz wurde schwer. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut. »Bist du dir da ganz sicher? Es wird wirklich so kommen?« »Es wird so kommen!« Sie nickte. »Es steht für mich in den Karten.« Schweigend gingen sie dann weiter. Zurück zu Donnas Bude, um ihren MG zu holen. Donna, eingehüllt in ihre eigenen Träume und Pläne; und er – er mußte plötzlich wieder an Barris denken, an Luckman und Hank und das Kontroll-Zentrum. Und an Fred. »Hey, du«, sagte er, »kann ich mit dir nach Oregon gehen? Wenn du hier endgültig deinen Abflug machst?« Sie lächelte ihn an, sanft und so voller Zärtlichkeit, daß es weh tat. Und er begriff, daß die Antwort nein lautete. Und weil es sie so gut kannte, verstand er auch, daß sie es wirklich so meinte. Und daran würde sich nichts ändern. Er erschauerte. »Ist dir kalt?« fragte sie. »Yeah«, sagte er. »Sehr.« »Die Heizung in meinem MG ist echt Spitze«, sagte sie. »Wir drehen sie einfach voll auf, wenn wir im Drive-in sind … dann kannst du dich richtig schön aufwärmen.« Sie nahm seine Hand, drückte sie, hielt sie fest, und dann, ganz plötzlich, ließ sie sie wieder los. Aber der Nachklang dieser kurzen Berührung blieb noch lange in ihm, in seinem Herzen. Wenigstens das blieb ihm. In all den Jahren seines Lebens, die noch vor ihm lagen, in den langen Jahren ohne sie, ohne die Hoffung, sie jemals wiederzusehen oder etwas von ihr zu hören oder etwas über sie zu erfahren, nicht einmal, ob sie lebte oder glücklich war oder tot oder was auch immer, blieb die Erinnerung an diese Berührung in ihm beschlossen, eingesiegelt in seinem Innern, und verließ ihn nie. Die Erinnerung an diese eine kurze Berührung ihrer Hand. * Er nahm einen netten kleinen Nadel-Freak namens Connie mit zu sich nach Hause, um sie im Austausch dafür zu bumsen, daß er ihr ein Päckchen mit zehn Mex-Hits gegeben hatte. Das Mädchen – sie war mager und hatte merkwürdig glattes Haar – setzte sich auf die Bettkante und kämmte sich; es war das erste Mal, daß sie mit ihm mitgekommen war – er hatte sie auf einer Fixerparty kennengelernt –, und er wußte sehr wenig über sie, obwohl er doch ihre Telefonnummer schon seit Wochen mit sich herumtrug. Da sie ein Nadel-Freak war, war sie natürlich frigide, aber das törnte ihn durchaus nicht ab; Sex war ihr letztlich gleichgültig, weil sie kein Vergnügen daran hatte, aber andererseits machte es ihr deshalb auch nichts aus, welche Art von Sex es war. Das merkte man sofort, wenn man sie einfach nur anschaute. Connie saß halb ausgezogen da, schon ohne Schuhe, eine Haarklammer im Mund, gleichgültig vor sich hin starrend, offensichtlich irgendwo in ihrem Kopf auf einem Trip unterwegs. Ihr längliches, knochiges Gesicht war herb und irgendwie ausdrucksvoll; wahrscheinlich, entschied er, weil die Knochen, besonders die Kieferlinien, so stark hervortreten. Auf der rechten Wange hatte sie einen Pickel. Zweifellos kümmerte sie das nicht, ja, wahrscheinlich bemerkte sie ihn nicht einmal; genau wie Sex bedeuteten ihr auch Pickel herzlich wenig. Vielleicht konnte sie nicht einmal einen Unterschied erkennen. Für sie, die sie schon lange an der Nadel hing, mochten Sex und Pickel vielleicht etwas ganz Ähnliches oder sogar das gleiche sein. Was für ein Gedanke, dachte er, dieser flüchtige Einblick in die Gedankenwelt eines Fixers. »Hast du eine Zahnbürste, die ich benutzen kann?« sagte Connie; sie war ein bißchen weggenickt und hatte vor sich hin zu murmeln begonnen, wie es bei Fixern manchmal nachts um diese Zeit vorkam. »Ach, Scheiße – Zähne sind Zähne. Ich putze sie mir …« Ihre Stimme war so leise geworden, daß er ihre nächsten Worte nicht mehr hören konnte, obwohl er an der Bewegung ihrer Lippen erkennen konnte, daß sie weiter vor sich hin brabbelte. »Weißt du, wo das Badezimmer ist?« »Was für ein Badezimmer?« »Das hier im Haus.« Sie riß sich mühsam zusammen und begann wieder, sich mit mechanischen Bewegungen zu kämmen. »Was sind das für Typen, die da draußen rumhängen? Sich Joints drehen und immer weiterquatschen, obwohl’s schon so spät ist? Ich nehme an, die wohnen hier bei dir. Klar wohnen die hier. Wo sollten Typen wie die auch sonst wohnen?« »Zwei davon jedenfalls«, sagte Arctor. Ihre Augen, die an die eines toten Kabeljaus erinnerten, wandten sich ihm zu und starrten ihn an. »Bist du schwul?« fragte Connie. »Ich kämpfe dagegen an, so gut ich kann. Genau deshalb bist du ja heute nacht hier.« »Dann wird das wohl eine ziemlich heiße Schlacht werden, was?« »Worauf du Gift nehmen kannst.« Connie nickte. »Schätze, ich werd’s wohl gleich rausfinden. Wenn du ein latenter Schwuler bist, wirst du’s vielleicht mögen, wenn ich die Initiative übernehmen. Leg dich hin, und ich besorg’s dir. Soll ich dich ausziehen? Okay, du liegst einfach nur da, und ich mach’ alles.« Sie griff nach dem Reißverschluß seiner Hose. * Später döste er im Halbdunkel vor sich hin, schläfrig vom Abdrücken seiner eigenen Fixe, wenn man das so nennen konnte. Connie schnarchte neben ihm vor sich hin. Die lag auf dem Rücken, die Arme beiderseits ihres Körpers auf der Decke. Er konnte sie nur verschwommen erkennen. Sie schlafen wie Graf Dracula, dachte er, diese Junkies. Starren unverwandt immer nur nach oben, bis sie sich urplötzlich aufrichten, wie eine Maschine, die von Position A auf Position B umgeschaltet wird. »Es – muß – schon – Tag – sein«, sagt der Junkie. Oder jedenfalls das Tonband in seinem Kopf, das ihm seine Anweisungen vorspielt. Der Geist eines Junkies ist wie die Musik, die du aus dem Radiowecker hörst … manchmal klingt sie ja hübsch, aber sie ist nur dazu da, dich zu etwas ganz Bestimmtem zu veranlassen. Die Musik aus dem Radiowecker soll dich aufwecken; die Musik des Junkies soll dich in ein Werkzeug zur Beschaffung von immer mehr Stoff verwandeln, ein Werkzeug, das der Junkie so einsetzt, wie es ihm nützt. Er, der selber eine Maschine ist, wird dich in seine Maschine verwandeln. Jeder Junkie, dachte er, ist eine Bandaufnahme. Wieder döste er vor sich hin und sann dabei über diese häßlichen Dinge nach. Und wenn der Junkie eine Puppe ist, dann hat er schließlich nichts zu verkaufen als seinen Körper. Wie Connie, dachte er; Connie, die hier neben mir liegt. Er öffnete seine Augen und drehte sich zu dem Mädchen neben sich um – und sah Donna Hawthorne. Mit einem Ruck setzte er sich im Bett auf. Donna! dachte er. Er konnte ihr Gesicht deutlich erkennen. Ein Irrtum war unmöglich. Herr im Himmel! dachte er und tastete nach der Lampe auf dem Nachttisch. Seine Finger stießen dagegen; die Lampe kippte um und fiel zu Boden. Das Mädchen merkte nichts davon, sondern schlief ruhig weiter. Immer noch starrte er sie an, und dann, ganz allmählich, sah er wieder Connie, sah ihr scharfgeschnittenes, kantiges Gesicht mit den eingefallenen Wangen, das hagere, düstere Gesicht eines völlig ausgemergelten Junkies – Connie und nicht Donnas; das eine Mädchen und nicht das andere. Niedergeschlagen ließ er sich wieder zurücksinken, dämmerte wieder ein bißchen weg und fragte sich, was das wohl bedeuten mochte, wieder und wieder, bis sich seine Gedanken in der Dunkelheit verloren. »Ich hab’ mir nie was draus gemacht, daß er gestunken hat«, murmelte das Mädchen neben ihm irgendwann später verträumt im Schlaf. »Ich habe ihn trotzdem geliebt.« Er fragte sich, wen sie damit meinte. Ihren ersten Freund? Ihren Vater? Ein heißgeliebtes Spielzeugtier aus ihren Kindertagen? Vielleicht sie alle, dachte er. Aber die Worte hatten »Ich habe ihn geliebt« gelautet, nicht »Ich liebe ihn«. Offenbar gab es diesen Er, wer oder was auch immer er gewesen sein mochte, jetzt nicht mehr. Vielleicht, überlegte Arctor, haben sie (wer immer sie sein mochten) Connie dazu gezwungen, ihn rauszuwerfen, weil er so übel stank. Durchaus möglich. Er fragte sich, wie alt sie damals wohl gewesen war, dieses verbrauchte Junkie-Mädchen, das neben ihm schlummerte und im Traum ihren Erinnerungen nachhing. X In seinem Jedermann-Anzug saß Fred vor einer Batterie wirbelnder Holo-Schirme und beobachtete, wie Jim Barris in Bob Arctors Wohnzimmer ein Buch über Pilze las. Warum über Pilze? fragte sich Fred und spulte die Bänder im Schnellvorlauf eine Stunde weit vor. Barris saß auch jetzt noch da, las mit großer Konzentration und machte sich Notizen. Kurz darauf legte Barris das Buch weg und ging aus dem Haus, wobei er den Erfassungsbereich der Kameras verließ. Als er zurückkam, trug er eine kleine Packpapier-Tüte bei sich, die er auf den Kaffeetisch stellte und öffnete. Er entnahm ihr einige getrocknete Pilze, die er sodann einen nach dem anderen mit den Farbfotos in dem Buch verglich. Mit einer für ihn ungewöhnlichen, übertrieben anmutenden Akribie überprüfte er jeden einzelnen Pilz. Schließlich schob er einen erbärmlich aussehenden Pilz beiseite und füllte die anderen wieder in die Tüte; aus der Hosentasche holte er eine Handvoll leerer Kapsein und fing an, den von ihm auserkorenen Pilz sorgfältig zu zerbröseln und die Bröckchen in die Kapseln zu füllen, die er dann verschloß. Nachdem Barris damit fertig war, klemmte er sich ans Telefon. Da der Apparat angezapft war, wurden die Nummern, die er wählte, automatisch registriert. »Hallo, hier ist Jim.« »Und?« »Ich hab’ was.« »In echt?« »Psilocybe mexicana. « »Was ‘n das?« »Ein seltener halluzinogener Pilz, der seit Tausenden von Jahren von südamerikanischen Geheimkulten verwendet wird. Du fliegst, du wirst unsichtbar, verstehst die Sprache der Tiere –« »Nein danke.« Klick. Erneutes Wählen. »Hallo, hier ist Jim.« »Jim? Jim wer?« »Der mit dem Bart … grüne Sonnenbrille, Lederhose. Wir haben uns mal auf ‘nem Happening bei Wanda –« »Oh yeah. Jim. Yeah« »Wärst du interessiert, organische Psychedelics zu kaufen?« »Hm, ich weiß nicht so recht…« Unsicherheit. »Sag’ mal – spricht da wirklich Jim? Du klingst gar nicht wie Jim.« »Ich hab’ da was Unglaubliches, einen seltenen organischen Pilz aus Südamerika, den indianische Geheimkulte seit Tausenden von Jahren benutzen. Du fliegst, wirst unsichtbar, dein Wagen verschwindet, du bist in der Lage, die Sprache der Tiere zu verstehen –« »Mein Wagen verschwindet sowieso dauernd. Nämlich immer dann, wenn ich ihn im Parkverbot abstelle und die Bullen ihn abschleppen lassen. Haha.« »Ich kann dir vielleicht sechs Kapseln mit diesem Psilocybe geben.« »Wie teuer?« »Fünf Dollar pro Kapsel.« »Horrorshow! Ohne Witz? Hey, sollen wir uns nicht gleich nachher irgendwo treffen?« Dann Argwohn. »Hör’ mal, ich glaube, jetzt erinnere ich mich wieder an dich; du hast mich doch mal abgelinkt. Und woher hast du diese Pilz-Hits überhaupt? Woher weiß ich, daß das kein müdes Acid ist?« »Sie sind im Innern eines tönernen Götzenbildes in die USA gebracht worden«, sagte Barris. »Als Teil einer sorgfältig bewachten Lieferung für ein Museum. Das Götzenbild mit den Pilzen war besonders gekennzeichnet. Die Zollschweine haben nicht den geringsten Verdacht geschöpft.« Barris fügte hinzu: »Wenn du davon nicht abhebst, dann kriegst du dein Geld wieder.« »Da hab’ ich auch was von, wenn die Dinger mein Gehirn angefressen haben und ich mich von Baum zu Baum schwinge.« »Ich hab’ selbst vor zwei Tagen einen eingepfiffen«, sagte Barris. »Um den Stoff anzutesten. War der beste Trip, den ich jemals gehabt hab’. Farben über Farben. Besser als Meskalin, echt. Ich will nicht, daß meine Kunden gelinkt werden. Ich teste mein Zeug immer selbst. Alles mit Garantie.« Ein anderer Jedermann-Anzug war hinter Fred getreten und betrachtete jetzt auch den Holo-Schirm. »Womit geht er hausieren? Meskalin, hat er gesagt?« »Er hat vorhin Pilze in Kapseln gefüllt«, sagte Fred. »Entweder er selbst oder jemand anderes muß sie hier in der Gegend gesammelt haben.« »Manche Pilze sind hochgiftig«, sagte der Jedermann-Anzug hinter Fred. Ein dritter Jedermann-Anzug löste sich von seinen Holo-Monitoren und gesellte sich zu ihnen. »Bestimmte Amanita-Pilze enthalten gleich vier verschiedene Gifte auf einen Schlag – alles Wirkstoffe, die die roten Blutkörperchen knacken. Es dauert zwei Wochen, bis man endlich stirbt, und es gibt kein Gegengift. Ein unvorstellbar schmerzhafter Tod. Nur ein Fachmann kann bei wildwachsenden Pilzen mit Bestimmtheit sagen, was er da eigentlich gesammelt hat.« »Ich weiß«, sagte Fred und notierte sich die abteilungsinternen Kennziffern dieses Bandabschnitts. Barris wählte schon wieder. »Wegen was kann man ihn dafür eigentlich belangen?« sagte Fred. »Wegen irreführender Werbung«, sagte einer der anderen Jedermann-Anzüge, und beide lachten und kehrten an ihre eigenen Schirme zurück. Fred beobachtete weiter. Auf Holo-Monitor Vier öffnete sich die Vordertür des Hauses, und ein ziemlich entmutigt wirkender Bob Arctor trat ein. »Hi.« »Howdy«, sagte Barris, sammelte rasch seine Kapseln ein und stopfte sie sich in die Tasche. »Na, bist du bei Donna weitergekommen?« kicherte er. »Vielleicht sogar an mehreren Angriffspunkten, eh?« »Schnauze«, sagte Arctor und verschwand von Holo-Monitor Vier, nur um einen Moment später in seinem Schlafzimmer in den Erfassungsbereich von Kamera Fünf zu treten. Nachdem er die Tür mit einem Tritt hinter sich ins Schloß befördert hatte, holte Arctor eine Reihe von Plastikbeuteln hervor, die mit weißen Tabletten gefüllt waren; er blieb einen Augenblick lang unentschlossen mitten im Raum stehen und stopfte sie dann unter das Bettzeug, um sie vor neugierigen Blicken zu verbergen. Dann erst zog er sich den Mantel aus. Er wirkte müde und deprimiert; tiefe Linien hatten sich in sein Gesicht eingegraben. Eine Weile saß Bob Arctor nun auf der Kante seines ungemachten Betts, ganz allein. Schließlich schüttelte er den Kopf, erhob sich, stand unentschlossen da … dann strich er sich das Haar glatt und verließ das Zimmer, um wieder zu Barris zu gehen, wodurch er erneut in den Bereich der zentralen Wohnzimmerkamera kam. Während dieser Zeit war Kamera Zwei Zeuge gewesen, wie Barris die braune Tüte mit den Pilzen unter den Polstern der Couch versteckt und das pilzkundliche Buch zurück in das Bücherregal gestellt hatte, wo es nicht auffallen würde. »Was hast du heute gemacht?« fragte Arctor ihn. Barris erklärte: »Nachforschungen angestellt.« »Über was?« »Über die besonderen Merkmale gewisser pilzartiger Daseinsformen mit recht heiklen Eigenschaften.« Barris kicherte. »Ist wohl nicht so gut gelaufen bei dem kleinen Fräulein mit den großen Titten, was?« Arctor musterte ihn eingehend und ging dann in die Küche, um die Kaffeemaschine einzustöpseln. Barris folgte ihm gemächlich. »Bob«, sagte er, »es tut mir leid, wenn ich irgendwas gesagt habe, was dich verletzt hat.« Während Arctor darauf wartete, daß der Kaffee heiß wurde, lungerte Barris bei ihm in der Küche herum und trommelte und summte ziellos vor sich hin. »Wo ist Luckman?« »Vermutlich irgendwo draußen unterwegs, um eine Telefonzelle zu knacken. Er hat deinen hydraulischen Wagenheber mitgenommen; für gewöhnlich heißt das, daß er vorhat, eine Telefonzelle auszunehmen, stimmt’s?« »Mit meinem Wagenheber«, echote Arctor. »Du weißt«, sagte Barris, »daß du jederzeit mit meiner professionellen Unterstützung rechnen kannst, wenn du weitere Versuche unternimmst, das kleine Fräulein anzumachen und –« Fred ließ das Band im Schnellvorlauf vorwärtsschießen. Schließlich zeigte der Zähler einen Zwei-Stunden-Sprung an. »– bezahl’ endlich deine gottverdammte Miete oder mach’ dich an die Arbeit am Cephskop, verflucht noch mal«, sagte Arctor hitzig zu Barris. »Ich habe bereits Widerstände bestellt, die –« Erneut spulte Fred das Band vorwärts. Weitere zwei Stunden verstrichen. Jetzt zeigte Holo-Monitor Fünf, daß Arctor in seinem Schlafzimmer im Bett lag. Ein auf KNX eingestellter Radiowecker spielte leise und verschwommen Folk-Rock. Auf Monitor Zwei war Barris zu erkennen, der allein im Wohnzimmer saß und wieder in dem pilzkundlichen Buch las. Lange Zeit tat keiner der beiden Männer besonders viel. Einmal bewegte sich Arctor und streckte die Hand nach dem Radio aus, um den Lautstärkeregler höherzudrehen, weil gerade ein Song gespielt wurde, den er offenbar mochte. Im Wohnzimmer las Barris immer weiter; er rührte sich kaum. Arctor lag jetzt wieder reglos auf seinem Bett. Das Telefon klingelte. Barris griff nach dem Hörer und hob ihn an sein Ohr. »Hallo?« Aus dem Lautsprecher neben Fred drang die Stimme des Anrufers, eines Mannes: »Mister Arctor?« »Ja, am Apparat«, sagte Barris. Da brat’ mir doch einer einen Storch, sagte Fred zu sich selbst. Er griff nach dem Regler der Abhöranlage und drehte die Lautstärke höher. »Mr. Arctor«, sagte der Anrufer, der seinen Namen immer noch nicht genannt hatte, langsam und mit leiser Stimme, »es tut mir leid, daß ich Sie so spät störe, aber es dreht sich um den Scheck, den Ihre Bank nicht annehmen –« »Ah ja«, sagte Barris. »Ich hatte ohnehin vor, Sie deswegen anzurufen. Die Situation ist die, Sir. Ich habe einen schweren Anfall von Darmgrippe, verbunden mit einem starken Absinken der Körpertemperatur sowie Pförtner- und Unterleibskrämpfen … Mir geht’s im Moment zu beschissen, daß ich die Sache mit diesem mickrigen Zwanzig-Dollar-Scheck derzeit einfach nicht regeln kann, und offengestanden habe ich auch nicht die Absicht, sie überhaupt noch zu regeln.« »Wie bitte?« sagte der Mann. Er wirkte nicht sonderlich überrascht; seine Stimme klang rauh. Und drohend. »Ja, Sir«, sagte Barris nickend. »Sie haben mich schon richtig verstanden, Sir.« »Mr. Arctor«, sagte der Anrufer, »besagter Scheck ist jetzt schon zweimal von der Bank retourniert worden, und diese Grippe-Symptome, die Sie da beschreiben –« »Ich glaube, irgendwer hat mir was in den Kaffee getan«, sagte Barris mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. »Und ich glaube«, sagte der Mann, »daß Sie einer von diesen –« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Glauben Sie doch, was Sie wollen«, sagte Barris, immer noch grinsend. »Mr. Arctor«, sagte der Mann und atmete vernehmlich ins Telefon, »ich werde mit dem Scheck zum Büro des Bezirks-Staatsanwalts gehen, und da ich Sie ohnehin gerade am Telefon habe, möchte ich Ihnen mal klipp und klar erzählen, was ich von Leuten halte, die –« »Turn on, tune out und tschüß«, sagte Barris und legte auf. Die mit der Abhöranlage gekoppelte Fangschaltung hatte automatisch die Telefonnummer des Anrufers aufgezeichnet, indem sie auf elektronischem Wege die beim Wählen entstandenen Impulsketten von einem unhörbaren Signal aufnahm, das in dem Augenblick erzeugt wurde, da die Verbindung zustande kam. Fred las die Nummer ab, die jetzt auf einem Anzeigegerät sichtbar wurde. Dann stoppte er den Bandtransport aller Holos, griff zu seinem Polizeitelefon und fragte an, welcher Teilnehmer zu dieser Nummer gehörte. »Schlosserei Englesohn, 1343 Harbor in Anaheim«, informierte ihn der diensttuende Beamte. »Lover Boy.« »Schlosserei«, sagte Fred. »Okay.« Er hatte sich das notiert und legte jetzt wieder auf. Ein Schlosser … zwanzig Dollars, eine runde Summe: Das deutete auf einen Job außerhalb des Ladens hin – möglicherweise auf einen Außeneinsatz zur Herstellung eines Nachschlüssels, weil der Schlüssel des »Besitzers« verlorengegangen war. Theorie. Barris hatte sich als Arctor ausgegeben und die Schlosserei Englesohn angerufen, um sich illegal einen »Zweit«-Schlüssel machen zu lassen, entweder für das Haus oder für den Wagen oder gar für beides. Wobei er Englesohn gegenüber vorgegeben hatte, seinen kompletten Schlüsselring verloren zu haben … aber dann hatte der Schlosser sozusagen als Rückversicherung plötzlich von Barris gefordert, zum Nachweis seiner Identität einen Scheck auszuschreiben. Barris war ins Haus zurückgegangen, hatte Arctors Scheckbuch geklaut, einen der Schecks ausgefüllt und ihn dem Schlosser gegeben. Der Scheck war nicht durchgegangen. Aber warum nicht? Arctor sorgte immer dafür, daß genug Geld auf seinem Konto war; ein Scheck über eine so geringe Summe würde auf jeden Fall gedeckt sein. Aber wenn der Scheck angenommen wurde, würde Arctor bei der Durchsicht der Kontoauszüge darauf stoßen und entdecken, daß nicht er, sondern Jim Barris den Scheck ausgeschrieben hatte. Also hatte Barris in Arctors Schränken herumgewühlt und – vielleicht schon zu einem früheren Zeitpunkt – ein altes Scheckbuch entdeckt, das zu einem längst aufgelösten Konto gehörte. Dieses Scheckbuch hatte er dann benutzt. Da das Konto nicht mehr bestand, war der Scheck retourniert worden. Und jetzt stand Barris das Wasser bis zum Halse. Aber warum ging Barris nicht einfach hin und bezahlte die Rechnung in bar? So, wie die Dinge jetzt lagen, war der Gläubiger bereits sauer und rief dauernd an, und am Ende mochte er den Scheck vielleicht wirklich zum Bezirksstaatsanwalt bringen. Arctor würde alles herauskriegen, und eine ganze Wagenladung Scheiße würde auf Barris herniederprasseln. Aber die Art, in der Barris am Telefon mit dem ohnehin schon vor Wut kochenden Gläubiger umgesprungen war … er hatte ihn raffiniert zu noch größerer Feindseligkeit angestachelt, und nur der Himmel mochte wissen, was der Schlosser daraufhin alles unternehmen würde. Und was noch schlimmer war – Barris’ Beschreibung seiner »Grippe« war nichts anderes als eine Beschreibung der Symptome, die auftraten, wenn ein Heroinsüchtiger sich zu lange keine Fixe mehr gesetzt hatte, und jeder, der nicht ganz blöd war, mußte das erkennen. Und Barris hatte das Telefonat sogar mit einem weiteren ganz offenen Hinweis darauf beendet, daß er harte Drogen nahm und es ihm scheißegal war, wie andere darüber dachten. Und das alles in der Rolle Bob Arctors. An diesem Punkt wußte der Schlosser, daß er einen Junkie-Schuldner hatte, der ihm einen faulen Scheck ausgeschrieben hatte und sich einen Scheiß darum kümmerte und gar nicht die Absicht hatte, seine Schulden zu begleichen. Und der Junkie verhielt sich so, weil der Drogenkonsum ihn offenbar so hatte ausklinken und durchdrehen lassen, daß das alles für sein zerstörtes Gehirn völlig bedeutungslos war. Und das war eine Beleidigung für Amerika. Ein Maul voll Spucke in das Gesicht von Gottes eigenem Land. Tatsächlich hatte Barris mit seiner letzten Bemerkung sogar fast wörtlich Tim Learys berühmt-berüchtigte Herausforderung an das Establishment und alle Spießer zitiert. Und der Orange County war voll von rechtschaffenen Bürgern mit Gewehren und Revolvern, die nur darauf warteten, daß mal einer dieser bärtigen Doper das Maul zu weit aufriß. Barris hatte Arctor eine Zielscheibe umgehängt und ihn zum Abschuß freigegeben. Wenn er Glück hatte, bekam er nur wegen des ungedeckten Schecks einen Schuß vor den Bug. Wenn er aber Pech hatte – nun, dann erwartete ihn vielleicht eine richtige Kugel. Und Arctor ahnte nicht einmal, was sich da über seinem Haupt zusammenbraute. Warum? fragte sich Fred. Auf seinem Notizblock hielt er die Kennziffer dieser Bandsequenz fest; außerdem notierte er auch die Nummer des Tonbandes, auf dem das abgehörte Gespräch aufgezeichnet worden war. Was wollte Barris Arctor damit bloß heimzahlen? Was hatte Arctor ihm getan? Arctor muß ihn ziemlich übel abgelinkt haben, dachte Fred, wenn Barris so etwas tut. Das ist reine Bosheit. Billig, mies und gemein. Dieser komische Barris, dachte er, ist ein Arschloch. Durch sein Verhalten wird er den Tod eines Menschen verursachen. Einer der Jedermann-Anzüge, die bei Fred im Kontroll-Zentrum waren, riß ihn aus seinen Gedanken. »Kennst du diese Typen eigentlich persönlich?« Der Anzug deutete auf die jetzt leeren Holo-Schirme vor Fred. »Bist du in deiner Tarnidentität einer von denen?« »Jau«, sagte Fred. »Es wäre bestimmt keine schlechte Idee, sie in irgendeiner Form davor zu warnen, daß er sie mit den giftigen Pilzen, mit denen er hausieren geht, ganz schön in Gefahr bringt, dieser Clown mit der grünen Sonnenbrille. Kannst du ihnen das unterjubeln, ohne daß deine Tarnung dabei draufgeht?« Der andere Jedermann-Anzug in Freds Nähe rief von seinem Drehstuhl aus herüber: »Wenn einer von ihnen auf einmal unter heftiger Übelkeit leiden sollte – das ist manchmal ein Anzeichen für Pilzvergiftung.« »Ähnlich wie bei Strychnin?« sagte Fred. Es durchfuhr ihm eiskalt, als er vor seinem inneren Auge noch einmal den Kimberly Hawkins-Tag abspulte, den Hundescheiße-Tag, und er sich an die schlagartig einsetzende Übelkeit erinnerte, an seinen Zusammenbruch in seinem Wagen – Seinen. »Ich werd’s Arctor erzählen«, sagte er. »Ich kann’s ihm bestimmt verklickern, ohne daß er Verdacht schöpft. Er ist fügsam und gelehrig.« »Und häßlich«, sagte einer der Jedermann-Anzüge. »Das war doch Arctor, dieses abgehalfterte Individuum, das mit hängenden Schultern zur Tür ‘reinkam?« »Öh«, sagte Fred und drehte sich wieder den Schirmen zu. Oh verdammt, dachte er, der Tag, an dem Barris uns am Straßenrand die Tabletten gegeben hat – Sein Geist versank in einem Malstrom, wirbelte durch zwei Trips zur gleichen Zeit und zerbrach dann in zwei Hälften. Das nächste, an das er sich erinnern konnte, war, daß er im Waschraum des Kontroll-Zentrums stand, in der Hand eine Blechtasse voll Wasser und sich den Mund ausspülte, allein an einem Ort, wo er nachdenken konnte. Wenn man es genau nimmt, bin ich Arctor, dachte er. Ich bin der Mann auf den Schirmen, der Verdächtige, den Barris durch sein hinterfotziges Telefongespräch mit dem Schlosser in Teufels Küche gebracht hat, und trotzdem habe ich mich gefragt, was Arctor wohl angestellt haben mag, daß Barris ihn unbedingt fertigmachen will! Ich bin bematscht; mein Gehirn ist bematscht. Das hier ist nicht wirklich – kann nicht wirklich sein. Das, was ich beobachte, bin ich – ist Fred. Das da auf den Schirmen war Fred ohne seinen Jedermann-Anzug; so sieht Fred ohne den Anzug aus! Und Fred war es auch, so begriff er nun, der kürzlich fast mit giftigen Pilzstückchen erledigt worden wäre. Er hätte es fast nicht bis hierher in sein Kontroll-Zentrum geschafft, um diese Holobänder zu sichten. Aber jetzt hatte er sie gesichtet. Jetzt hatte Fred eine Chance. Auch wenn sie nur hauchdünn war. Wirklich ein total verrückter Job, den die mir da gegeben haben, dachte er. Ein Scheißjob. Aber wenn ich ihn nicht machen würde, dann würde ein anderer an meine Stelle treten, und sie könnten das alles ganz falsch verstehen. Sie würden ihn im Namen der Gerechtigkeit in den Knast stecken; sie würden ihn mit Dope spicken und ihn dann einfach einsammeln. Wenn also schon irgend jemand sein Haus beobachten muß, dachte er, dann ist es immer noch am besten, wenn ich dieser Jemand bin, trotz der damit verbundenen Nachteile; allein schon die Tatsache, daß ich auf diese Weise Barris unter Kontrolle halten und seine Umgebung vor diesem ausgeflippten Scheißkerl schützen kann, rechtfertigt das. Und wenn irgendein anderer Polizist, der Barris’ Aktionen auf dem Monitor überwacht, das sieht, was ich wahrscheinlich noch alles sehen werde, dann werden sie zu dem Schluß kommen, daß Arctor der größte Drogen-Zwischenhändler im Westen der USA ist, und empfehlen, daß er – Herr im Himmel! – ohne Gerichtsverfahren in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausgeschaltet wird. Von unseren geheimen Kommandoeinheiten. Den Männern in Schwarz, die wir von der Ostküste anfordern und die meist auf Zehenspitzen durch die Gegend schleichen und mit weittragenden Winchester 803 ausgerüstet sind. Und mit den neuen Infrarot-Zielfernrohren für Heckenschützen und der Vollsynchronisation für EE-Schrap­nellgeschosse. Den Männern, die überhaupt nicht bezahlt werden, nicht einmal von einer Dr. Pepper-Maschine; sie dürfen nur eines Tages Pinnchen ziehen, und wer gewinnt, der ist der nächste Präsident der USA. Mein Gott, dachte er, diese Scheißkerle können ein vorüberfliegendes Flugzeug abschießen. Und das Ganze so aussehen lassen, als habe einer der Motoren einen Schwarm Vögel angesaugt. Diese EE-Schrapnellgeschosse – oh verdammt, Mann, dachte er; es würden sogar Federspuren in den Trümmern der Motoren zurückbleiben, wenn man die Geschosse entsprechend präparierte! Das ist ungeheuerlich, dachte er, als er darüber nachsann. Arctor nicht bloß als Verdächtiger, sondern Arctor als … was auch immer. Zielscheibe. Ich werde ihn weiter beobachten; Fred wird weiter seine Fred-Nummer abziehen; dann wird sich alles zum Guten wenden. Ich kann edieren und interpretieren und auch sonst eine Menge tun, so auf die Tour »Wir warten doch besser noch ab, bis er schließlich …« Als er das begriff, warf er die Blechtasse weg und tauchte wieder aus dem Waschraum des Kontroll-Zentrums auf. »Du siehst ja ziemlich angeschossen aus«, sagte einer der Jedermann-Anzüge zu ihm. »Tja«, sagte Fred, »mir ist da was Komisches passiert auf dem Weg zum Grab.« Vor seinem inneren Auge sah er ein Bild des Ultraschall-Richtstrahlprojektors, der einen tödlichen Herzanfall bei einem neunundvierzigjährigen Bezirksstaatsanwalt ausgelöst hatte, gerade als dieser im Begriff war, die Untersuchungen im Fall eines schrecklichen und berühmt gewordenen politischen Meuchelmordes, der sich hier in Kalifornien ereignet hatte, erneut zu eröffnen. »Ich hätt’s fast erreicht«, sagte er laut. »Fast ist fast«, sagte der Jedermann-Anzug. »Aber eben nicht ganz.« »Oh«, sagte Fred. »Yeah. Richtig.« »Setz’ dich«, sagte ein Jedermann-Anzug, »und mach’ dich wieder an die Arbeit, oder der nächste Zahltag ist dein letzter, und so hoch ist die Arbeitslosenunterstützung auch wieder nicht.« »Kannst du dir vorstellen, diesen Job anzugeben, wenn sie dich nach deiner letzten Arbeitsstelle –« begann Fred, aber die beiden Jedermann-Anzüge waren nicht zu Scherzen aufgelegt und hörten nicht einmal zu. Darum setzte er sich wieder und zündete sich eine Zigarette an. Und ließ die Batterie der Holos erneut anlaufen. Was ich tun sollte, entschied er, ist, die Straße hinaufzugehen zum Haus, jetzt sofort, da ich gerade darüber nachdenke, damit ich nicht wieder abgelenkt werde. Ich sollte geradewegs auf Barris zugehen und ihn erschießen. In Ausübung meiner Dienstpflicht. Ich werde sagen »Hey, Mann, mir geht’s echt dreckig Ich brauch’ dringend Stoff – haste nich’ ‘n Joint für mich über? Ich geb’ dir auch ‘n Dollar dafür.« Und er wird das tun, und dann werde ich ihn festnehmen, ihn zu meinem Wagen schleifen, ihn hineinverfrachten, hinaus auf den Freeway fahren und ihm dann eins mit der Pistole überziehen und ihn aus dem Wagen werfen, direkt vor einen Lastwagen. Und ich kann einfach behaupten, daß er sich befreien wollte und zu springen versuchte. Passiert ja immer wieder. Denn wenn ich das nicht mache, dann kann ich nie mehr etwas essen oder trinken, was offen im Haus gestanden hat, und Luckman oder Donna oder Freck auch nicht, oder wir werden alle an Pilzvergiftung krepieren. Und Barris sagte hinterher aus, daß wir alle draußen im Wald herumgekraucht seien und wahllos Pilze gepflückt und gegessen hätten, obwohl er, Barris, versucht hätte, uns davon abzuraten, aber wir hätten nicht auf ihn hören wollen, weil wir nie auf’s College gegangen seien. Selbst wenn die Gerichtspsychiater feststellen, daß er total ausgebrannt und verrückt ist, und ihn für immer in die Klapsmühle sperren, wird schon jemand tot sein. Zum Beispiel, dachte er, vielleicht Donna. Vielleicht wird sie hereinspaziert kommen, voll auf einem Hasch-Trip, weil sie mich und die Frühlingsblumen sucht, die ich ihr versprochen habe, und Barris wird ihr ein Stück Shitkuchen anbieten, den er nach geheimen Spezialrezepten selbst gebacken hat, und zehn Tage später wird sie sich mit Schaum vor dem Mund in Todesqualen winden, in einer Intensivstation, aber auch die Ärzte dort werden ihr nicht mehr helfen können. Wenn das passiert, dachte er, werde ich ihn in Drano kochen, in der Badewanne, in heißem Drano, bis nur noch Knochen übrigbleiben, und dann die Knochen per Post verschicken, an seine Mutter oder seine Kinder oder was für Verwandte er auch immer haben mag, und wenn er keine hat, dann werde ich die Knochen eben herumstreunenden Hunden vorwerfen. Aber mein kleines Mädchen wird trotzdem längst seinem heimtückischen Anschlag zum Opfer gefallen sein. Entschuldigt bitte, wandte er sich in einer Phantasie-Nummer, die er jetzt in seinem Kopf abspulte, an die beiden anderen Jedermann-Anzüge. Wo kann ich um diese Nachtzeit noch eine Hundert-Pfund-Dose Drano herbekommen? Mir steht das alles bis oben hin, dachte er und schaltete die Holos ein, um bei den anderen Anzügen im Kontroll-Zentrum nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Auf Monitor Zwei sprach Barris gerade mit Luckman, der zur Vordertür hereingetorkelt war, offensichtlich stockbesoffen. Wahrscheinlich hatte er wieder zuviel Ripple intus. »In den Vereinigten Staaten«, sagte Barris gerade zu Luckman, der versuchte, die Tür zu seinem Schlafzimmer zu finden, um sich dort hinzuhauen, und dem es entsetzlich dreckig ging, »gibt es mehr Alkoholsüchtige als sonstige Drogensüchtige. Die Zahl der Hirn- und Leberschäden, die vom Alkohol und den darin enthaltenen Verunreinigungen verursacht –« Luckman verschwand, ohne überhaupt mitgekriegt zu haben, daß Barris da war. Ich wünsche ihm alles Gute, dachte Fred. Aber gute Wünsche werden nicht reichen, jedenfalls nicht mehr lange. Weil dieser Scheißkerl da ist. Aber jetzt ist auch Fred da. Aber Fred hat im wahrsten Sinne des Wortes immer nur das Nach-Sehen. Außer, dachte er, außer vielleicht, wenn ich die Holo-Bänder rückwärts laufen lasse. Dann werde ich eher da sein, vor Barris. Was ich tue, würde dem vorausgehen, was Barris tut. Wenn er, da ich doch zuerst da bin, überhaupt noch dazu kommt, etwas zu tun. Und dann tat sich die andere Seite seines Kopfes auf und sprach zu ihm, ganz ruhig, wie ein zweites Ich, das ihm eine Botschaft übermitteln wollte, wie man die ganze Sache viel einfacher handhaben konnte. »Der richtige Weg, um die Geschichte mit dem Schlosser-Scheck ganz cool über die Bühne zu bringen«, sagte es ihm, »ist, zuerst einmal morgen in aller Herrgottsfrühe nach Harbor ‘rüberzufahren, die Rechnung zu begleichen und den Scheck zurückzukriegen. Tu das zuerst, bevor du irgendwas anderes tust. Erledige das auf der Stelle. Setz an diesem Ende an. Und danach, sobald das erledigt ist, nimm die anderen, ernsteren Probleme in Angriff. Richtig?« Richtig, dachte er. Auf diese Weise werde ich Boden gutmachen. Genau da muß ich ansetzen. Er schaltete das Band auf Schnellvorlauf und ließ es so lange vorwärtsschießen, bis er aufgrund der Daten auf den Skalen vermuten konnte, daß es jetzt eine Nachtszene zeigen würde. Alle würden schlafen. Ein guter Vorwand, hier seinen Arbeitstag zu beschließen. Alle Lichter im Haus waren gelöscht; die Kameras standen auf Infrarot. Luckman und Barris lagen in ihren Zimmern in den Betten. In Arctors Raum war außer Arctor noch eine Puppe; beide schliefen. Wollen wir doch mal schauen, dachte Fred. Connie Irgendwas. Gespeichert in unseren Computern als abhängig von harten Drogen. Außerdem verdient sie sich das Geld für ihren Stoff durch Prostitution und dealt auch selbst. Ein geborener Verlierer. »Wenigstens hast du nicht zusehen müssen, wie dein Objekt Geschlechtsverkehr hatte«, sagte einer der anderen Jedermann-Anzüge, der über Freds Schulter einen kurzen Blick auf die Schinne warf und dann weiterging. »Immerhin ein Trost«, sagte Fred und betrachtete mit stoischer Ruhe die beiden schlafenden Gestalten auf dem Bett; in Gedanken war er bei dem Schlosser und dem, was er dort tun mußte. »Ich habe es schon immer gehaßt, bei –« »Eine hübsche Sache, wenn man es selber macht«, pflichtete ihm der Jedermann-Anzug bei, »aber längst nicht so hübsch anzuschauen.« Arctor schläft jetzt, dachte Fred. Mit seiner Fotze. Tja, dann kann ich wohl bald Schluß machen; bestimmt werden sie nach dem Wachwerden noch mal bumsen, aber mehr wird sich da wohl nicht tun. Er konnte seine Blicke jedoch nicht abwenden. Der schlafende Bob Arctor … immer nur dieses eine Bild, dachte Fred, Stunde um Stunde. Und dann bemerkte er etwas, was er vorher nicht wahrgenommen hatte. Das sieht aber verdammt nach Donna Hawthorne aus! dachte er. Dort im Bett. Die Puppe, die mit Arctor in der Falle liegt. Aber das paßt doch nicht zusammen, dachte er und schaltete die Holos mit einem Handgriff um. Er ließ das Band zurücklaufen, dann wieder vor. Bob Arctor und eine Puppe, aber nicht Donna! Es war die Junkiepuppe Connie! Er hatte recht gehabt. Die beiden Individuen lagen Seite an Seite da, und beide schliefen. Und dann, während Fred zuschaute, schmolzen und verblaßten Connies harte, kantige Gesichtszüge, wurden ganz weiß und verwandelten sich in Donna Hawthornes Gesicht. Er schaltete das Band wieder aus. Saß verwirrt da. Ich kapier’s nicht, dachte er. Das ist ja wie eine – wie nennen die das doch gleich? Wie eine gottverdammte Überblendung! Ein filmisches Verfahren. Scheiße, was soll das bedeuten? Hat schon jemand das Material bearbeitet, um es im Fernsehen zu zeigen? Ein Regisseur, der spezielle visuelle Effekte verwendet? Wieder spulte er das Band zurück und dann wieder vorwärts; genau in dem Augenblick, als die ersten Veränderungen in Connies Gesichtszügen eintraten, stoppte er dann den Bandvorlauf. Das Holoprogramm gefror zu einem Standbild. Er drehte am Vergrößerer. Alle anderen Kuben verschwanden; ein großer Kubus formte sich aus den bisherigen acht. Eine einzige nächtliche Szene: Bob Arctor, reglos in seinem Bett, das Mädchen reglos neben ihm. Aufrecht ging Fred in das Hologramm hinein, in die dreidimensionale Projektion, und stellte sich dicht neben das Bett, um das Gesicht des Mädchens genauer zu mustern. Auf dem halben Wege dazwischen, entschied er. Immer noch halb Connie; aber zugleich auch schon halb Donna. Am besten übergebe ich das hier dem Labor, dachte er; da hat ein Experte dran rumgedreht. Man hat mir manipulierte Bänder untergeschoben. Aber wer? fragte er sich. Er trat aus dem Holo-Kubus, ließ ihn zusammenbrechen und veränderte die Einstellung, bis wieder acht kleine Kuben an seine Stelle getreten waren. Saß erneut da, fieberhaft nachdenkend. Jemand hatte die Bänder frisiert, indem er Connies Bild mit dem Donnas überlagerte. Sorgfältig gefälschte Beweise dafür, daß Arctor die kleine Hawthorne bumste. Und? Ein guter Techniker konnte das schon immer bei Tonbändern oder auch bei Videobändern machen, und nun hielt er eben den Beweis in der Hand, daß so etwas auch bei Holo-Bändern möglich war. Sicherlich eine schwierige Aufgabe, aber … Wenn unsere Abtastkameras nur in Intervallen arbeiten würden, dachte er, hätten wir jetzt eine Sequenz, die zeigt, wie Arctor mit einem Mädchen im Bett liegt, das er vielleicht nie ins Bett gekriegt hat und auch nie ins Bett kriegen wird. Aber auf dem Band ist genau das zu sehen. Oder handelt es sich vielleicht nur um einen elektronischen Bildfehler oder Bildzusammenbruch? überlegte er. Was man bei Tonbändern Durchmagnetisierung nennt. Eine Art elektronische Durchmagnetisierung von einem Abschnitt des Bandes auf einen anderen. Wenn die Bildimpulse bei der Aufnahme zu hoch verstärkt waren und zwei Bandsektionen zu lange in Berührung miteinander kamen, dann mochten die Impulse sozusagen abfärben. Himmel, dachte er. Das Bild Donnas stammt aus einer vorangegangenen oder einer nachfolgenden Szene, vielleicht aus der im Wohnzimmer. Wenn ich bloß mehr über die technische Seite des Überwachungsvorganges wüßte, dachte er. Ich verschaffe mir lieber mehr Hintergrundinformationen darüber, bevor ich die Sache an die große Glocke hänge. Manchmal gibt es ja auch beim Rundfunk Wellensalat; ein Sender überlagert einen – Überlagerungseffekte, entschied er. Zufällige Überlagerungseffekte. Wie die Geisterbilder auf einem Fernsehbildschirm. Technisch bedingt, eine Fehlfunktion. Störimpulse eines anderen Senders. Wieder ließ er das Band vorwärts laufen. Der Schirm zeigte jetzt wieder nur Connie und würde auch weiterhin nur Connie zeigen. Und dann … wieder sah Fred, wie Donnas Gesicht sich in das Bild stahl, und diesmal wachte der schlafende Mann neben ihr im Bett – Bob Arctor – nach einem Augenblick auf und setzte sich mit einem Ruck hin, tastete dann nach der Lampe auf dem Nachttisch; die Lampe fiel zu Boden, und Arctor saß da und starrte unverwandt auf das schlafende Mädchen, auf die schlafende Donna. Als Connies Gesicht ganz allmählich wieder Donnas Gesicht verdrängte, entspannte sich Arctor, und schließlich sank er wieder zurück und schlief weiter. Aber sein Schlaf war nicht mehr so ruhig wie zuvor. Tja, das erledigt wohl die Theorie mit den technisch bedingten Fehlfunktionen, dachte Fred. Hat sich was mit elektronischem Abfärben oder Überlagerungseffekten. Arctor hat es auch gesehen. Ist aufgewacht, hat es gesehen, hingestarrt und dann aufgegeben. Heiliger Himmel, dachte Fred und desaktivierte die ganze Anlage vor ihm vollständig. »Schätze, ich hab’ genug für heute«, erklärte er und erhob sich zittrig auf die Füße. »Mir reicht’s.« »Wohl ein bißchen abartigen Sex gesehen, was?« fragte ein Jedermann-Anzug. »Na, du wirst dich schon an diesen Job gewöhnen.« »Ich werde mich nie an diesen Job gewöhnen«, sagte Fred. »Darauf kannst du wetten.« XI Da jetzt nicht mehr nur sein Cephskop, sondern sein Wagen reif für eine Reparatur war, fuhr er am nächsten Morgen mit dem Taxi bei der Schlosserei Englesohn vor, vierzig Dollar in bar in der Tasche und eine gute Dosis Besorgnis im Herzen. Der Laden hatte eine altertümliche, hölzerne Ausstrahlung; zwar war das Ladenschild eher modern gehalten, aber in den Schaufenstern lagen seltsame messingne Zierstücke von einer Art aus, wie man sie bei einer Schlosserei eben erwarten konnte: irre zierliche Briefkästen, ausgeflippte Türknäufe, die so geformt waren, daß sie menschlichen Köpfen ähnelten, große Attrappen schwarzer, eiserner Schlüssel. Er trat ein. Halbdunkel umgab ihn. Wie in der Bude eines Dopers, dachte er und genoß die Ironie. An einem Ladentisch, der von zwei großen Maschinen zum Fräsen und Polieren von Schlüsselbärten und Tausenden von unfertigen, von Gestellen herabbaumelnden Schlüsseln überragt wurde, begrüßte ihn eine ältliche, mollige Dame. »Guten Morgen, Sir. Sie wünschen?« Arctor sagte: »Ich bin hier … Ihr Instrumente freilich spottet mein, Mit Rad und Kämmen, Walz’ und Bügel: Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein; Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel[4 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.] … um einen von mir ausgestellten Scheck auszulösen, den die Bank retourniert hat. Er ist über zwanzig Dollar, glaube ich.« »Oh.« Die Dame holte liebenswürdig einen mit einem Deckel verschlossenen Karteikasten aus Metall unter der Theke hervor, suchte nach dem dazugehörigen Schlüssel und entdeckte dann, daß der Karteikasten gar nicht abgeschlossen war. Sie öffnete ihn und fand den Scheck auf der Stelle; ein Zettel war drangeheftet. »Mr. Arctor?« »Ja«, sagte er, das Geld schon in der Hand. »Ja, zwanzig Dollar.« Nachdem sie den Zettel von dem Scheck abgemacht hatte, begann sie ungelenk etwas auf den Zettel zu schreiben, wahrscheinlich eine Notiz, daß er aufgetaucht war und seinen Scheck ausgelöst hatte. »Es tut mir aufrichtig leid«, sagte er zu ihr, »aber ich habe durch ein Versehen den Scheck statt auf mein derzeitiges Konto auf ein längst erloschenes ausgestellt.« »Ummm«, sagte die Dame lächelnd, während sie schrieb. »Ich wäre Ihnen zudem sehr verbunden«, sagte er, »wenn Sie Ihrem Gatten, der mich kürzlich angerufen hat, sagen könnten –« »Mein Bruder Carl«, sagte die Dame, »um genau zu sein.« Sie warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu. »Falls Carl mit Ihnen gesprochen hat…« Sie gestikulierte lächelnd. »Er regt sich manchmal so auf, wenn es um Schecks geht … ich möchte mich in seinem Namen entschuldigen, falls er ein wenig heftig … Sie wissen schon.« »Sagen Sie ihm bitte«, spulte Arctor seine auswendig gelernte Ansprache ab, »daß ich zu dem Zeitpunkt, als er anrief, selbst etwas durcheinander war, und daß auch ich mich meinerseits für mein Verhalten entschuldigen möchte.« »Ich glaube, er sagte irgend etwas davon, ja.« Sie gab ihm den Scheck; er gab ihr zwanzig Dollar. »Irgendwelche Nebenkosten?« sagte Arctor. »Keine Nebenkosten.« »Ich war durcheinander«, sagte er und warf einen kurzen Blick auf den Scheck, um ihn dann in seiner Tasche verschwinden zu lassen, »weil ein Freund von mir gerade unerwartet verstorben war.« »Du meine Güte«, sagte die Dame. Ohne selbst so recht zu wissen, warum er eigentlich seinen Abgang immer noch hinauszögerte, sagte Arctor: »Er ist erstickt, ganz allein in seinem Zimmer, an einem Stück Fleisch. Niemand hat ihn gehört.« »Wußten Sie, daß sich mehr solcher Todesfälle ereignen, als die meisten Leute ahnen? Ich habe gelesen, daß, wenn man mit einem Freund diniert und dieser eine Zeit lang nichts sagt, sondern einfach nur dasitzt, man sich vorbeugen und ihn fragen soll, ob er sprechen kann. Weil er nämlich vielleicht nicht mehr dazu in der Lage ist. Stellen Sie sich das nur vor – er mag ersticken und kann es einem nicht einmal sagen.« »Ja«, sagte Arctor. »Danke. Das ist wahr. Und danke wegen des Schecks.« »Das tut mir leid, das mit Ihrem Freund«, sagte die Dame. »Ja«, sagte er. »Er war wohl der beste Freund, den ich hatte.« »Das ist ja ganz schrecklich«, sagte die Dame. »Wie alt war er denn, Mr. Arctor?« »Anfang Dreißig«, sagte Arctor, was auch stimmte: Luckman war zweiunddreißig. »Oh, wie furchtbar. Ich werde es Carl erzählen. Und vielen Dank, daß Sie den langen Weg hier heruntergekommen sind.« »Ich habe Ihnen zu danken«, sagte Arctor. »Und sagen Sie bitte auch Mr. Englesohn meinen aufrichten Dank. Ich bin Ihnen beiden ja so dankbar.« Er verließ den Laden und trat wieder hinaus auf den warmen, morgendlichen Bürgersteig. Das grelle Licht und die dumpfige Luft ließen ihn blinzeln. Er bestellte sich telefonisch ein Taxi, und auf der Rückfahrt zu seinem Haus saß er einfach nur da und lobte sich selbst dafür, wie gut er doch aus diesem von Barris gesponnenen Netz herausgekommen war, ganz ohne häßlichen Eklat. Hätte ein ganzes Stück schlimmer kommen können, machte er sich selber klar. Der Scheck war immer noch da. Und ich mußte nicht dem Macker selbst gegenübertreten. Er holte den Scheck hervor, um nachzusehen, wie gut es Barris gelungen war, seine Handschrift nachzuahmen. Ja, es handelte sich tatsächlich um ein aufgelöstes Konto; er erkannte die Farbe des Schecks auf der Stelle, ein endgültig geschlossenes Konto, und die Bank hatte einen Stempel mit den Worten KONTO ERLOSCHEN daraufgedrückt. Er fragte sich, ob der Schlosser daraufhin wohl ausgeflippt war. Und dann, als er den Scheck genau betrachtete, während sich das Taxi einen Weg durch das Verkehrsgewühl suchte, sah Arctor, daß die Handschrift seine war. Sie erinnerte nicht im geringsten an die von Barris. Eine perfekte Fälschung. Er hätte nie und nimmer darauf kommen können, daß es nicht seine eigene Schrift war, außer dadurch, daß er sich daran erinnerte, diesen Scheck nicht ausgestellt zu haben. Mein Gott, dachte er, wie viele dieser Schecks hat Barris bis heute wohl schon in Umlauf gesetzt? Vielleicht hat er mich längst um die Hälfte all dessen gebracht, was ich besitze! Barris, dachte er, ist ein Genie. Andererseits könnte er die Schrift natürlich durchgepaust oder jedenfalls auf mechanischem Wege kopiert haben, etwa mit einem Pantographen. Aber ich habe doch nie einen Scheck für diese Schlosserei Englesohn ausgestellt … wie also könnte es eine auf mechanischem Wege hergestellte Fälschung sein? Für diesen Scheck gibt es doch keine Vorlage. Ich werde ihn rüber zur graphologischen Abteilung schicken, entschied er. Sollen die doch herausknobeln, wie es gemacht worden ist. Vielleicht nur Übung, Übung, Übung. Und was den Schwindel mit den Pilzen anging – Er dachte: Ich werde einfach direkt auf ihn zugehen und ihm sagen, daß mehrere Leute mir erzählt hätten, er habe versucht, ihnen Pilz-Hits zu verkaufen. Und daß er Schluß mit diesem Scheiß machen sollte. Genau – ich habe eine Rückfrage von jemanden bekommen, der sich wegen der Pilz-Hits Sorgen machte. Was ja auch nur zu verständlich ist. Aber diese ganzen Einzelpunkte, dachte er, sind letztlich doch nur zufällige Indikatoren für das, was er eigentlich vorhat. Was ich bei der ersten Durchsicht der Bänder entdeckt habe, stellt nur eine Zufallsauswahl aus der Gesamtheit dessen dar, gegen das ich angehen muß. Weiß der Himmel, was er sonst noch alles angestellt hat: Schließlich hat er alle Zeit der Welt zur Verfügung gehabt, um herumzustöbern und Nachschlagewerke zu lesen und Anschläge und Intrigen und Verschwörungen und was nicht noch alles sonst auszuhecken … Vielleicht, dachte er übergangslos, sollte ich besser mein Telefon durchchecken lassen, um zu sehen, ob es angezapft ist. Barris hat eine ganze Kiste voller elektronischer Bauteile, und sogar eine Firma wie Sony hat beispielsweise eine Induktionsspule auf den Markt gebracht, die als Anzapfvorrichtung für ein Telefon verwendet werden kann. Wahrscheinlich ist das Telefon tatsächlich angezapft. Möglicherweise schon seit geraumer Zeit. Ich meine, dachte er, zusätzlich zu der kürzlich mit meinem Einverständnis vorgenommenen – der notwendigen – Anzapfung. Erneut studierte er den Scheck, während das Taxi durch die Straßen holperte, und ganz plötzlich dachte er: Was, wenn ich ihn selber ausgestellt hätte? Was, wenn Arctor das hier geschrieben hat? Ich glaube, ich hab’s getan, dachte er; ich glaube, dieses spinnerte Arschloch Arctor hat diesen Scheck höchstpersönlich ausgeschrieben, zwischen Tür und Angel – die Buchstaben kippen alle –, weil er aus irgendeinem Grund in Eile war; wollte den Scheck eben rausknallen und hat dabei das falsche Scheckbuch erwischt, und hinterher hat er das alles vergessen. Hat die ganze Angelegenheit total vergessen. Den Tag vergessen, dachte er, an dem Arctor… Was grinsest du mir, hohler Schädel, her? Als daß dein Hirn, wie meines, einst verwirret Den leichten Tag gesucht und in der Dämmrung seh wer Mit Lust nach Wahrheit, jämmerlich geirret.[5 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.] … wieder aus dem Dunst der gewaltigen Dope-Happenings in Santa Ana aufgetaucht war, auf dem er diese kleine, blonde Puppe mit den komischen Zähnen, den langen blonden Haaren und dem dicken Arsch kennengelernt hatte; keine große Schönheit, aber so tatkräftig und freundlich … er hatte den Wagen nicht ans Laufen kriegen können; er war bis zum Stehkragen mit Dope abgefüllt gewesen. Er hatte die Sache mit dem Wagen einfach nicht mehr geregelt gekriegt – an diesem Abend war er so unglaublich viel Dope eingepfiffen und geschossen und geschnieft worden, und das Happening hatte sich beinahe bis zur Morgendämmerung hingezogen. So viel Substanz T, und alles echt primo. Sehr, sehr primo. Sein Stoff. Indem er sich vorbeugte, sagte er: »Halten Sie bitte an der Shell-Tankstelle da drüben. Ich möchte aussteigen.« Er stieg aus, bezahlte den Taxifahrer und betrat die Telefonzelle, schaute die Nummer des Schlossers nach und rief an. Die alte Dame war am Apparat. »Schlosserei Englesohn, guten –« »Hier spricht noch einmal Arctor. Tut mir leid, daß ich Sie schon wieder belästigen muß. Von was für einer Adresse ist damals der Anruf gekommen, durch den der Auftrag erteilt wurde, für den hinterher der Scheck ausgestellt worden ist?« »Nun, da muß ich erst einmal nachsehen. Einen kleinen Moment bitte, Mr. Arctor.« In seinem Ohr dröhnte es, als sie den Telefonhörer auf die Theke legte. Die ferne, gedämpfte Stimme eines Mannes: »Wer ist dran? Dieser Arctor?« »Ja, Carl, aber sag bitte nichts, bitte. Er ist vorhin hereingekommen und –« »Laß mich mit ihm sprechen.« Pause. Dann wieder die alte Dame. »Ja, ich habe die Adresse, Mr. Arctor.« Sie las seine Heimatadresse ab. »Dorthin ist ihr Bruder bestellt worden? Um den Schlüssel zu machen?« »Einen Moment, bitte. Carl? Erinnerst du dich noch, wo du mit dem Lieferwagen hingefahren bist, um den Schlüssel für Mr. Arctor zu machen?« Das weit entfernte Brummen einer Männerstimme: »Zum Katella Boulevard.« »Nicht zu ihm nach Hause?« »Zum Katella Boulevard. « »Zum Katella Boulevard, Mr. Arctor. In Anaheim. Nein, warten Sie – Carl sagt gerade, es war in Santa Ana, an der Main Street. Hilft Ihnen das –« »Danke«, sagte er und legte auf. Santa Ana. Main Street – dort hat die Scheiß-Dopeparty stattgefunden; ich muß in dieser Nacht mindestens dreißig Namen und ebenso viele Nummernschilder notiert haben. Das war nicht nur eine von diesen gewöhnlichen Drogenparties. Eine große Lieferung war gerade aus Mexico eingetroffen; die großen Dealer teilten die Ware unter sich auf und testeten sie an, wie es dabei so üblich ist. Die Hälfte von ihnen ist jetzt möglicherweise schon von als Käufern getarnten Agents provocateurs hopsgenommen worden … Wow, dachte er, ich erinnere mich immer noch an diese Nacht – oder besser gesagt: Ich werde mich wohl nie mehr so genau daran erinnern können. Aber das entschuldigte Barris immer noch nicht dafür, daß er vorsätzlich vorgetäuscht hatte, Arctor zu sein, als dieser Telefonanruf kam. So, wie es jetzt aussah, hatte er sich das nur spontan ausgedacht – improvisiert. Scheiße, vielleicht war Barris an jenem Abend einfach nur abgefüllt gewesen und hatte das getan, was eine Menge Macker tun, wenn sie weggetreten sind: nämlich auf allem abfahren, was sich gerade so ergibt. Arctor hatte den Scheck geschrieben, daran konnte es jetzt keinen Zweifel mehr geben; Barris hatte nur zufällig den Hörer abgehoben. Und in seinem angefressenen Kopf gedacht, daß es ein irre cooler Gag war. Er hatte nur unverantwortlich gehandelt, sonst nichts. Und auch Arctor, überlegte er, als er erneut die Taxizentrale rief, hat nicht sehr verantwortungsbewußt gehandelt, als er den Scheck während dieser ganzen langen Zeitspanne nicht ersetzte. Wessen Fehler war das gewesen? Er holte den Scheck noch einmal heraus, um das Datum festzustellen. Anderthalb Monate. Jesus, und da hatte er Barris mangelndes Verantwortungsbewußtsein vorgeworfen! Beinahe hätte Arctor sich dafür die schwedischen Gardinen von innen ansehen können; nur dank Gottes unergründlicher Gnade war dieser Schwachkopf Carl nicht längst zum Bezirksstaatsanwalt gerannt. Ober vielleicht hatte ihn auch nur seine putzige alte Schwester davon abgehalten. Arctor, entschied er, sollte seinen Arsch jetzt besser in Bewegung setzen; er hat selbst ein paar bescheuerte Sachen gemacht, von denen ich bisher noch nichts wußte. Barris ist da nicht der einzige und vielleicht nicht einmal der Hauptübeltäter. Erstens einmal muß immer noch der Grund geklärt werden, aus dem Barris Arctor mit so abgefeimter Bösartigkeit verfolgt. Woher kommt dieser brennende Haß? Kein Mensch unternimmt doch über eine längere Zeitspanne hinweg alle nur erdenklichen Anstrengungen, um jemanden fertigzumachen, wenn er keinen Grund dafür hat. Und Barris versucht nicht, irgendwen sonst fertigzumachen, sagen wir, Luckman oder Charles Freck oder Donna Hawthorne; er hat sich mehr als jeder andere darum gekümmert, daß Jerry Fabin in die Staatliche Nervenklinik kam, und er kümmert sich geradezu rührend um alle Tiere im Haus. Einmal war Arctor kurz davor gewesen, einen der Hunde – wie zum Teufel hatte der kleine schwarze Köter doch gleich geheißen, Popo oder so ähnlich? – ins Tierheim zu bringen und dort einschläfern zu lassen, weil die Hündin sich nicht abrichten ließ. Barris hatte Stunden, ja, eigentlich sogar Tage mit Popo verbracht und sie abgerichtet und mit ihr gesprochen, bis sie sich beruhigte und dressiert werden konnte und deshalb nicht mehr weg mußte, um eingeschläfert zu werden. Falls Barris’ Bösartigkeit sich gegen alle richtete, dann würde er doch wohl keine Nummern – keine guten Nummern – wie die abziehen. »Taxizentrale«, sagte das Telefon. Er gab die Adresse der Shell-Tankstelle durch. Und wenn Carl, der Schlosser, gemerkt hat, daß Arctor schwer drogensüchtig ist, überlegte er, während er in düsterer Stimmung herumlungerte und auf das Taxi wartete, dann ist das auch nicht Barris’ Schuld; als Carl damals um fünf Uhr morgens in seinem Lieferwagen aufgetaucht war, um einen Schlüssel für Arctors Olds zu machen, war Arctor möglicherweise gerade auf puddingweichen Bürgersteigen entlangspaziert und die Wände hochgegangen, oder er hatte mit Fischaugen Schlagball gespielt oder ein paar von den anderen Dingen getan, die man auf einem Dope-Trip so tun konnte. Carl hatte schon da seine Schlußfolgerungen gezogen. Als Carl den neuen Schlüssel geschliffen hatte, war Arctor vielleicht gerade verkehrt herum durch die Luft geschwebt oder auf seinem Kopf herumgeteichelt, während er zugleich seitwärts sprach. Kein Wunder, daß Carl nicht sonderlich erfreut gewesen war. Vielleicht, spekulierte er, versucht Barris ja sogar bloß, Arctors zunehmende Fehlleistungen wieder auszubügeln. Arctor hält sein Fahrzeug nicht länger so gut in Schuß, wie er das früher mal getan hat, er stellt faule Schecks aus, und das alles nicht aus böser Absicht, sondern weil sein gottverdammtes Gehirn durch den ganzen Stoff zermatscht ist. Aber das macht die Angelegenheit eher nur noch schlimmer. Barris tut, was er kann; das kann durchaus sein. Nur ist auch sein Gehirn zermatscht. Alle ihre Gehirne sind… Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt. Den, wie er sich im Staube nährend lebt, Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt.[6 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.] … zermatscht und beeinflussen sich gegenseitig auf zermatschte Art und Weise. Die Zermatschten führen die Zermatschten. Und zwar geradewegs ins Verderben. Vielleicht, mutmaßte er, hat Arctor selbst die ganzen Drähte durchgeknipst und verbogen und die ganzen Kurzschlüsse in seinem Cephskop verursacht. Mitten in der Nacht. Aber aus welchen Gründen? Eben das würde die Kardinalsfrage sein: Warum? Aber bei zermatschten Gehirnen war alles möglich, alles denkbar, selbst Motive, die so verdreht wie die Drähte waren. Während seiner Tätigkeit als Geheimer Rauschgift-Agent hatte er das selbst gesehen, viele, viele Male. Diese Tragödie war ihm nicht neu; das alles war nur ein Routinefall mehr in den Computerspeichern. Das hier war das Stadium, das der Reise in die Staatliche Nervenklinik unmittelbar vorausging. Wie bei Jerry Fabin. Alle diese Typen bewegten sich auf demselben Spielfeld; sie standen jetzt nur auf verschiedenen Feldern in unterschiedlicher Entfernung vom Ziel und würden es zu verschiedenen Zeiten erreichen. Aber am Ende würden sie doch alle an diesem Ziel ankommen: in der Staatlichen Nervenklinik. Das war in ihr Nervengewebe einprogrammiert. Oder in das, was immer davon übriggeblieben war. Nichts konnte dem noch Einhalt gebieten oder es verhindern. Jetzt nicht mehr. Und, so glaubte er nun zu wissen, besonders nicht mehr für Bob Arctor. Diese langsam in ihm aufdämmernde Erkenntnis gewann er rein intuitiv; sie war nicht von dem abhängig, was Barris getan hat. Es war eine neue, eine professionelle Erkenntnis. Und auch seine Vorgesetzten im Sheriff-Büro von Orange County hatten ja beschlossen, Bob Arctor in den Brennpunkt ihres Interesses zu rücken; sie hatten zweifellos gute Gründe dafür, Grunde, über die er nichts wußte. Vielleicht bestätigten diese gleichzeitigen Entwicklungen einander: Das wachsende Interesse der Behörden an Arctor – immerhin hatte es die Abteilung eine ganz schöne Stange Geld gekostet, die Holo-Kameras in Arctors Haus zu installieren und ihn dafür zu bezahlen, daß er die Ergebnisse dieser Überwachungstätigkeit analysierte, und dann waren da ja auch noch die anderen Beamten weiter oben, die sich das abschließende Urteil über das Material bilden mußten, das er in regelmäßigen Abständen an sie weiterleitete – dieses Interesse paßte gut zu der Tatsache, daß Barris seine Aufmerksamkeit in einem unüblichen Maße auf Arctor richtete; beide Parteien hatten Arctor zu ihrem Primärziel gemacht. Aber was hatte er selbst an Arctors Verhalten bemerkt, das ihm als ungewöhnlich ins Auge gestochen war? Durch unmittelbare Beobachtung, unabhängig von den Einschätzungen der beiden anderen Parteien? Während das Taxi weiterfuhr, überlegte er sich, daß er höchstwahrscheinlich eine ganze Weile würde Ausschau halten müssen, um auf etwas zu stoßen; die Wahrheit würde sich den Kameras und den Schirmen nicht binnen eines Tages offenbaren. Er würde viel Geduld aufbringen müssen; er würde sich darein schicken müssen, über einen langen Zeitraum Nachforschungen anzustellen und sich in einen Bewußtseinszustand zu versetzen, in dem er die notwendige Bereitschaft zum Warten aufbrachte. Aber dann, sobald er etwas auf den Holo-Schirmen sah, irgendein dunkles, rätselhaftes Verhalten von Arctors Seite, würde Arctor plötzlich im Schnittpunkt einer Peilung von drei Fixpunkten aus stehen, und es würde eine dritte Absicherung für die Einschätzungen der anderen Parteien geben. Gewiß würde das die endgültige Bestätigung liefern. Und damit den Kostenaufwand und die Zeit rechtfertigen und den Interessen aller beteiligten Parteien dienlich sein. Ich frage mich, was Barris weiß, was wir nicht wissen, dachte er. Vielleicht sollten wir ihn ins Behördenzentrum schleifen und ihn danach fragen. Andererseits ist es natürlich günstiger, über Material zu verfügen, das unabhängig von Barris zusammengetragen worden ist; andernfalls würden die Erkenntnisse eine bloße Verdopplung jener Erkenntnisse sein, über die Barris – wer immer er auch war oder was immer er auch darstellen mochte – verfügte. Und dann dachte er: Was, zum Teufel, habe ich da eigentlich gerade gedacht? Ich muß verrückt sein. Ich kenne Bob Arctor doch; er ist ein guter Mensch. Er ist in nichts verwickelt. Jedenfalls in keine üblen Sachen. Er arbeitet ja sogar, dachte er, für das Sheriff-Büro von Orange County, in einer Tarnidentität. Was möglicherweise der Grund dafür ist … Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen: Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen.[7 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original] … warum Barris hinter ihm her ist. Aber, dachte er, das erklärt noch nicht, warum das Sheriff-Büro von Orange County hinter ihm her ist – und zwar so sehr, daß sie diese ganzen Holos installiert und einen Full-Time-Agenten damit beauftragt haben, ihn zu überwachen und über ihn Bericht zu erstatten. Das läßt sich damit nicht erklären. Das paßt alles nicht zusammen, dachte er. Da muß noch mehr, noch viel mehr in jenem Haus vor sich gehen, jenem heruntergewirtschafteten, schuttgefüllten Haus mit dem unkrautüberwucherten Hinterhof und den Katzenklos, die nie geleert werden, jenem Haus, wo die Tiere auf dem Küchentisch herumspazieren und die Abfalleimer überquellen, weil nie jemand den ganzen Müll nach draußen trägt. Was für eine Verschwendung, dachte er, ein so gutes und solides Haus derartig herunterkommen zu lassen. Man könnte so viel damit machen. In diesem Haus könnte eine Familie leben, Kinder und eine Frau. Dafür war es ausgelegt: drei Schlafzimmer. So eine Verschwendung; so eine beschissene Verschwendung! Sie sollten es ihm wegnehmen, dachte er; sie sollten auf der Stelle eingreifen und die Zwangsräumung anordnen. Vielleicht werden sie das ja auch machen. Und es einer besseren Verwendung zuführen; dieses Haus schreit geradezu danach. Dieses Haus hat auch schon viel bessere Tage gesehen, vor langer Zeit. Jene Tage könnten wiederkehren. Wenn jemand, der nicht so ist wie Arctor und seine Kumpane, darin wohnen würde und es gut in Schuß hielte. Besonders den Hof, dachte er, als das Taxi in die mit alten Zeitungen übersäte Auffahrt einbog. Er bezahlte den Fahrer, holte seinen Türschlüssel heraus und betrat das Haus. Sogleich spürte er, daß da etwas war, das ihn beobachtete: die auf ihn gerichteten Holo-Kameras. Von dem Moment an, da er über seine eigene Türschwelle getreten war. Er war ganz allein – keiner außer ihm im Haus. Falsch! Keiner außer ihm und den heimlichen, unsichtbaren Kameras, die ihn beobachteten und alles aufnahmen. Alles, was er tat. Alles, was er sagte. Unwillkürlich mußte er an die Kritzeleien denken, die man manchmal sah, wenn man zum Pinkeln auf ein öffentliches Pissoir ging. LÄCHLE! DU WIRST FÜR »VORSICHT, KAMERA« GEFILMT! Und die Kamera surrt los, dachte er, sobald ich das Haus betrete. Gespenstisch. Er mochte das nicht. Er fühlte sich gehemmt; diese Empfindung war seit dem ersten Tag, vom ersten Augenblick an, nachdem sie wieder nach Hause gekommen waren, immer stärker geworden. Seit dem »Hundescheiße-Tag«, wie er ihn bei sich nannte – eine Bezeichnung, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Und mit jedem Tag war das Bewußtsein um die Anwesenheit der Kameras gewachsen. »Keiner daheim, nehme ich an«, erklärte er wie üblich mit lauter Stimme und war sich dabei der Tatsache bewußt, daß die mit den Kameras gekoppelten Mikrophone diese Worte aufgenommen hatten. Aber er mußte immer aufpassen; er durfte ja die Position der Kameras nicht kennen. Wie ein Schauspieler vor einer Filmkamera, dachte er. Du mußt spielen, als würde die Kamera gar nicht existieren, sonst schmeißt du die Szene. Und dann ist alles vorbei. Denn bei dieser Scheiße gibt es keine Wiederholungsaufnahmen. Statt dessen muß man damit rechnen, von den Bändern gelöscht zu werden. Ich meine, ich muß damit rechnen. Nicht die Leute hinter den Kameras, sondern ich. Was ich tun sollte, dachte er, um aus all dem herauszukommen, ist das Haus zu verkaufen; es ist ja sowieso heruntergewirtschaftet. Aber … ich liebe dieses Haus. Punktum! Es ist mein Haus. Niemand kann mich hier rausbringen. Aus welchen Gründen auch immer sie das tun würden oder wenigstens gerne täten. Immer vorausgesetzt, daß es da überhaupt ein »Sie« gibt. Vielleicht existieren die »Sie«, die mich beobachten, ja auch einfach nur in meiner Einbildung. Paranoia. Oder besser: nicht die »Sie«, sondern das »Es«. Das entpersönlichte »Es«. Was immer es ist, das mich beobachtet – ein Mensch ist es nicht. Jedenfalls nicht nach meinen Maßstäben. Es ist nichts, was ich als Menschen erkennen könnte. So albern das alles auch ist, dachte er, so beängstigend ist es zugleich. Etwas wird mir angetan, von einem bloßen Ding, hier in meinem Haus. Direkt vor meinen Augen. Vor den Augen eines Etwas; im Blickfeld irgendeines Dings. Das, ungleich meiner kleinen, dunkeläugigen Donna, niemals blinzelt. Was sieht eine Kamera eigentlich? fragte er sich. Ich meine, was sieht sie wirklich? Sieht sie in den Kopf hinein? Oder in das menschliche Herz? Sieht eine starr montierte Infrarot-Kamera, wie man sie früher zu verwenden pflegte, oder eine 3-D-Abtastkamera, wie man sie heute verwendet, das neueste Modell, in mich – in uns – hinein, und ist das Bild, das auf den Schirmen erscheint, klar oder dunkel und verschwommen? Ich hoffe, daß wenigstens das Bild auf den Schirmen klar ist, dachte er, weil ich in letzter Zeit nicht länger in mich selbst hineinsehen kann. Ich sehe nur Matsch. Matsch draußen; Matsch drinnen. Um unser aller willen hoffe ich, daß die Kameras es besser können. Denn, so dachte er, wenn die Kameras nur dunkle Bilder liefern, so dunkle wie die, die ich selber sehe, dann sind wir alle verdammt, sind wieder verdammt, wie wir es schon von jeher gewesen sind, und dann werden wir am Ende unwissend sterben, und selbst das bißchen, das wir wissen, jenes winzige Fragment der Wahrheit, noch falsch ausgelegt haben. Nach Zufallskriterien nahm er einen Band aus dem Bücherschrank im Wohnzimmer; es handelte sich, wie er feststellte, um Das große illustrierte Buch der körperlichen Liebe. Als er es nach Zufallskriterien aufschlug, entdeckte er eine Seite, die einen Mann zeigte, der mit seligem Lächeln an der über ihn ragenden rechten Titte einer vor Lust keuchenden Puppe knabberte, und er sagte laut, ganz so, als lese er etwas aus dem Buch vor, als zitiere er die Worte eines berühmten, altehrwürdigen, überragenden Philosophen (was natürlich nicht der Fall war): »Jedweder Mensch sieht nur einen winzigen Teil der einen, alles umfassenden Wahrheit, und sehr oft, ja sogar nahezu … Weh! steck’ich in dem Kerker noch? Verfluchtes dumpfes Mauerloch, Wo selbst das liebe Himmelslicht Trüb durch gemalte Scheiben bricht! Beschränkt mit diesem Bücherhauf, Den Wurme nagen, Staub bedeckt, Den bis ans hohe … [8 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.] … immer, bringt er sich sogar noch selbst um jenes kleine, kostbare Fragment. Ein Teil von ihm wendet sich gegen ihn und handelt wie eine andere Person, besiegt ihn von innen heraus. Ein Mensch innerhalb eines Menschen. Und damit letztlich überhaupt kein Mensch.« Mit einem bedeutungsschweren Nicken, so, als sei er von der Weisheit der nichtexistenten Worte auf jener Seite tief bewegt, schloß er das großformatige, in rotes Leder eingebundene und mit güldenen Lettern geschmückte Große illustrierte Buch der körperlichen Liebe wieder und stellte es auf seinen angestammten Platz im Regal zurück. Hoffentlich, dachte er, zoomen die Kameras nicht auf den Buchumschlag und lassen meinen kleinen Schwindel auffliegen. * Charles Freck, der angesichts dessen, was mit allen seinen Bekannten geschah, immer deprimierter wurde, beschloß zu guter Letzt, sich ein für allemal davonzumachen. In den Kreisen, in denen er verkehrte, war es kein Problem, seinem Leben ein Ende zu setzen; man kaufte sich einfach eine größere Ladung Reds und schluckte sie mit etwas billigem Wein, spät in der Nacht, nachdem man zuvor den Telefonhörer neben die Gabel gelegt hatte, um von niemandem gestört zu werden. Natürlich mußte ein solcher Abgang sorgfältig geplant werden. Im Mittelpunkt der Vorbereitungen standen dabei die Artefakte, die spätere Archäologen dereinst finden sollten. Es galt, sie so auszuwählen, daß diese Archäologen auch wissen würden, aus welcher Schicht man kam. Und sich außerdem ein Bild davon zusammenpuzzlen konnten, was zum Zeitpunkt der Durchführung deiner Tat in deinem Kopfe vorging. Deshalb verwandte er mehrere Tage darauf, über die Zusammenstellung der Artefakte zu entscheiden. Viel länger, als er darauf verwandt hatte, zu beschließen, sich zu töten, und ungefähr die gleiche Zeit, die er benötigt hatte, um sich eine hinreichend große Menge von Reds zu beschaffen. Man würde ihn in seinem Bett finden, auf dem Rücken liegend, neben sich ein Exemplar von Ayn Rands The Fountainhead (welches Zeugnis davon ablegen würde, daß er ein unverstandener Obermensch gewesen war, verkannt von den Massen und daher in gewisser Weise ein Opfer ihrer schmählichen Mißachtung) und einen unvollendeten Brief an Esso, in dem er gegen die Annullierung seiner Benzin-Kreditkarte protestierte. Auf diese Weise würde er das System anklagen und durch seinen Tod etwas bewirken, das über das hinausging, was der Tod für ihn selbst bewirkte. Tatsächlich war er sich über das, was der Tod für ihn selbst bewirken mochte, längst nicht so im klaren wie über das, was die beiden Artefakte bewirken würden; aber jedenfalls summierte sich alles auf, und er begann, die letzten Vorbereitungen zu treffen, wie ein Tier, das spürt, daß seine Zeit gekommen ist, und nun nach dem Instinktprogramm handelt, das die Natur ihm für den Augenblick mitgegeben hat, da sein unvermeidliches Ende naht. Im letzten Moment (der Sand in seinem Stundenglas war beinah schon verronnen) änderte er seinen Plan in einem entscheidenden Punkt ab und beschloß, die Reds mit einem Connaisseur-Wein statt mit Lambrusco oder Ripple ‘runterzuspülen, und so machte er sich auf zu seiner letzten Fahrt, hinüber zu Joe’s Laden, einem Fachgeschäft für Weine, und erstand dort eine Flasche 1971er Mondavi Cabernet Sauvignon, was ihn um nahezu dreißig Dollar ärmer machte – und das war alles, was er hatte. Wieder daheim, entkorkte er die Flasche und gab der Blume Zeit, sich in aller Ruhe zu entfalten. Dann trank er ein paar Gläser, verbrachte ein paar Minuten damit, sich in seine Lieblingsseite im Großen illustrierten Buch der körperlichen Liebe zu versenken, die ein Mädchen zeigte, das rittlings auf einem Mann hockte, stellte den Plastikbeutel mit den Reds neben sein Bett und legte sich schließlich mit dem Ayn Rand-Buch und dem unvollendeten Brief an Esso hin und versuchte, an etwas Bedeutungsvolles zu denken, aber das wollte ihm einfach nicht gelingen; statt dessen sah er immer nur das rittlings auf dem Mann hockende Mädchen vor seinem inneren Auge. Und dann kippte er mit einem Glas Cabernet Sauvignon alle Reds auf einmal hinunter. Nach vollbrachter Tat ließ er sich zurücksinken, das Ayn Rand-Buch und den Brief auf seiner Brust, und wartete. Aber er war abgelinkt worden. Die Kapseln waren gar keine Barbiturate, wie ein Dealer behauptet hatte, sondern eine Art verrückter psychedelischer Drogen, und zwar eine Sorte, die er noch nie zuvor eingepfiffen hatte. Vielleicht eine Mischung, die neu auf dem Markt war. Statt ruhig zu ersticken, begann Charles Freck zu halluzinieren. Tja, dachte er philosophisch, das ist nun einmal mein Geschick. Immer werde ich beschissen. Angesichts der Menge der Kapseln, die er geschluckt hatte, richtete er sich vorsorglich schon einmal darauf ein, daß ihm ein ganz schön höllischer Trip bevorstand. Seine erste Wahrnehmung war ein Geschöpf von irgendwo zwischen den Dimensionen, das neben seinem Bett stand und mißbilligend auf ihn herabschaute. Das Geschöpf hatte viele Augen, die gleichmäßig über seine Körperoberfläche verteilt waren, trug ultramoderne, teuer aussehende Kleidung und ragte ungefähr zweieinhalb Meter hoch auf. Außerdem hielt es eine gewaltige Schriftrolle. »Du wirst mir meine Sünden vorlesen«, sagte Charles Freck. Das Geschöpf nickte und erbrach das Siegel der Schriftrolle. Freck, hilflos auf seinem Bett liegend, sagte: »Und das wird hunderttausend Stunden dauern.« Das Geschöpf von irgendwo zwischen den Dimensionen bedachte ihn mit einem scharfen Blick aus seinen unzähligen, wie aus Facetten zusammengesetzten Augen und sagte: »Wir sind nicht länger im weltlichen Universum. Kategorien wie ›Raum und Zeit‹ die den Niederungen materiellen Seins angehören, treffen auf dich nicht länger zu. Du bist auf die Ebene transzendenten Seins erhoben worden. Deine Sünden werden dir ohne Unterlaß vorgelegen werden, in alle Ewigkeit, im Schichtdienst. Die Liste wird nie enden.« Vertrau nie einem Dealer, dachte Charles Freck und wünschte sich, die letzte halbe Stunde seines Lebens ungeschehen machen zu können. Tausend Jahre später lag er immer noch da auf seinem Bett, das Ayn Rand-Buch und den Brief an Esso auf der Brust, und hörte ihnen dabei zu, wie sie ihm seine Sünden vorlasen. Sie waren jetzt bei der ersten Klasse angelangt, und er war damals gerade sechs Jahre alt gewesen. Zehntausend Jahre später hatten sie die sechste Klasse erreicht. Das Jahr, in dem er die Masturbation entdeckt hatte. Er schloß die Augen, aber trotzdem konnte er immer noch das vieläugige, zweieinhalb Meter große Wesen mit der endlosen Schriftrolle sehen, das las und las und las… »Und als nächstes –«, sagte es gerade. Charles Freck dachte: Wenigstens war der Wein gut. XII Zwei Tage später beobachtete Fred verwirrt auf dem Schirm von Holo-Kamera Drei, wie sein Objekt offensichtlich nach Zufallskriterien ein Buch aus dem Bücherschrank im Wohnzimmer seines Hauses nahm. Ein Versteck für Dope? fragte Fred und zoomte mit der Kameralinse näher heran. Oder hatte er sich in diesem Band vielleicht eine Telefonnummer oder eine Adresse notiert? Er konnte auf den ersten Blick sehen, daß Arctor das Buch nicht hervorgeholt hatte, um darin zu lesen; Arctor hatte gerade eben erst das Haus betreten und trug immer noch seinen Mantel. Eine eigentümliche Aura umgab ihn; er wirkte gleichzeitig angespannt und ausgelaugt. Als stehe er unter emotionaler Hochspannung und sei doch zugleich völlig abgestumpft. Die Zoom-Linse zeigte, daß sich auf der von Arctor aufgeschlagenen Seite ein Farbfoto eines Mannes befand, der an der rechten Brustwarze einer Frau knabberte; beide Individuen waren nackt. Die Frau hatte offensichtlich gerade einen Orgasmus; ihre Augen hatten sich halb geschlossen, und ihr Mund klaffte in einem unhörbaren Stöhnen offen. Vielleicht benutzt Arctor das dazu, um sich aufzugeilen, dachte Fred, während er zuschaute. Aber Arctor schenkte dem Bild keine große Aufmerksamkeit; statt dessen rezitierte er zu Freds Verblüffung mit knarrender Stimme einen höchst merkwürdigen Text, teilweise in Deutsch, offenbar, um jeden zu verwirren, der ihn zufällig belauschen sollte. Vielleicht nahm er an, daß seine Mitbewohner irgendwo im Haus waren, und wollte sie auf diese Weise ins Wohnzimmer locken, mutmaßte Fred. Aber niemand tauchte auf. Luckman – das wußte Fred, weil er sich schon längere Zeit vor den Schirmen aufhielt – hatte sich stereo mit einer Handvoll Reds und einer Ladung Substanz T vollgepumpt und war, noch immer vollständig angezogen, in seinem Schlafzimmer bewußtlos geworden, nur ein paar Schritte von seinem Bett entfernt. Barris war überhaupt nicht zu Hause. Was macht Arctor da bloß? fragte sich Fred und notierte sich die Kennziffern dieser Bandabschnitte. Er wird immer seltsamer. Jetzt verstehe ich erst, was der Informant, der wegen Arctor anrief, gemeint hat. Oder, überlegte er, könnten die Sätze, die Arctor laut ausgesprochen hat, der akustische Auslöser für irgendeine elektronische Apparatur sein, die er im Haus installiert hat? An oder aus. Vielleicht erzeugt diese Apparatur sogar ein Interferenzfeld, das die Funktion der Abtastkameras stört … und damit unsere Überwachungstätigkeit. Aber er zweifelte daran. Zweifelte daran, daß Arctors Handlungsweise überhaupt verstandesmäßig erklärbar war oder einen Zweck oder eine Bedeutung hatte – außer für Arctor selbst. Der Typ ist verrückt, dachte er. Echt verrückt. Seit dem Tag, da er die Schäden an seinem Cephskop entdeckte – spätestens aber von dem Tag an, als er von der Fahrt heimkam, auf der er merkte, daß jemand an seinem Wagen rumgebastelt hatte, und zwar so, daß er dadurch beinahe draufgegangen wäre –, verhält er sich permanent wie ein Irrer. Bis zu einem gewissen Grad auch schon früher, dachte Fred. Aber permanent jedenfalls seit dem »Hundescheiße-Tag«, wie Fred diesen Tag seines Wissens nach nannte. Eigentlich konnte man ihm deswegen sogar nicht einmal Vorwürfe machen. So etwas, überlegte Fred, während er beobachtete, wie Arctor sich müde aus seinem Mantel schälte, würde jeden um den Verstand bringen. Aber die meisten Leute würden nach einiger Zeit wieder einklinken. Nicht so Arctor. Bei ihm wird’s immer schlimmer. Jetzt liest er doch tatsächlich schon laut Botschaften vor, die gar nicht existieren, und das, obwohl keiner da ist, der sie hören könnte. Und noch dazu in fremden Zungen. Oder will er mich vielleicht nur bluffen? dachte Fred unbehaglich. Hat er irgendwie herausgefunden, daß er unter permanenter Überwachung steht … und tut er nur so, als sei er verrückt, weil er dadurch von seinen wirklichen Aktivitäten ablenken will? Oder spielt er einfach nur irgendwelche ausgeflippten Spielchen mit uns? Die Zeit, entschied er, wird es an den Tag bringen. Also wenn man mich fragt, dachte Fred, spielt er uns etwas vor. Manche Leute spüren, wenn sie beobachtet werden. Ein sechster Sinn. Nicht Paranoia, sondern ein primitiver Instinkt: da, was eine Maus hat, jedes gejagte Ding. Es weiß, daß sich jemand anschleicht. Es spürt das. Arctor zieht extra für uns eine Nummer ab, foppt uns. Aber andererseits kann man sich da nie ganz sicher sein. Es gibt Bluffs, unter denen sich noch andere Bluffs verbergen. Unter jeder Schicht liegt immer noch eine weitere. Der Klang von Arctors obskurer Lesung hatte Luckman geweckt. Die Kamera in seinem Schlafzimmer zeigte, wie er sich benommen aufsetzte und lauschte. Dann vernahm er den Lärm, der entstand, als Arctor beim Aufhängen seines Mantels einen Kleiderbügel fallen ließ. Luckman ließ seine langen, muskulösen Beine unter sich gleiten und griff nach einer Handaxt, die er immer auf dem Tisch neben seinem Bett liegen hatte; er stand jetzt aufrecht und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Tieres auf die Tür seines Schlafzimmers zu. Im Wohnzimmer nahm Arctor die Post vom Kaffeetisch und blätterte sie durch. Er warf eine kitschige Reklamesendung in Richtung Papierkorb, verfehlte ihn aber. In seinem Schlafzimmer hörte Luckman das. Er versteifte sich und hob den Kopf, als wolle er eine Witterung aufnehmen. Arctor, der die Post las, machte plötzlich ein finsteres Gesicht und sagte: »Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt.« In seinem Schlafzimmer entspannte Luckman sich, legte die Axt mit einem lauten Klirren beiseite, glättete sein Haar, öffnete die Tür und trat hinaus. »Hi. Was gibt’s Neues?« Arctor sagte: »Ich bin heute am Gebäude der Maylar Mikropunkt AG vorbeigekommen.« »Erzähl mir doch keinen vom Pferd.« »Sie waren gerade dabei, Inventur zu machen«, sagte Arctor. »Aber anscheinend hatte einer der Angestellten die ganzen Inventurlisten am Absatz seines Schuhs nach draußen geschleppt. Darum hechelte die ganze Belegschaft draußen auf dem Parkplatz der Maylar Mikropunkt AG herum, mit Pinzetten und einer Unmenge von Lupen. Und einer kleinen Papiertüte.« »Gab’s auch ‘ne Prämie für den ehrlichen Finder?« sagte Luckman gähnend und schlug sich mit den Handflächen auf seinen flachen, harten Bauch. »Klar hatten die ‘ne Belohnung ausgesetzt«, sagte Arctor. »Nur hatten sie die auch verloren. Es war nämlich ‘n winzig kleiner Penny.« Luckman sagte: »Du siehst ‘ne ganze Menge merkwürdiger Sachen, wenn du so durch die Gegend fährst, ja?« »Nur in Orange County«, sagte Arctor. »Wie groß ist eigentlich das Gebäude dieser Maylar Mikropunkt AG?« »Knapp drei Zentimeter«, sagte Arctor. »Und was schätzt du, daß es wiegt?« »Mit oder ohne Belegschaft?« Fred ließ das Band im Schnellvorlauf vorwärtsschießen. Als die Skalen anzeigten, daß eine Stunde verstrichen war, hielt er es für einen Augenblick an. »– ungefähr zehn Pfund«, sagte Arctor gerade. »Sag’ mal, wenn das Gebäude nur drei Zentimeter groß ist und nur zehn Pfund wiegt, wieso hast du es dann überhaupt bemerkt?« Arctor, der jetzt auf der Couch saß und die Füße hochgelegt hatte, sagte: »Sie haben ein großes Firmenschild.« Herr im Himmel! dachte Fred und spulte das Band erneut vorwärts. Aus einem vagen Impuls heraus hielt er es nach nur zehn Minuten real verstrichener Zeit an. »– wie sieht dieses Firmenschild aus?« sagte Luckman gerade. Er saß auf dem Fußboden und reinigte eine Katzengras-Kiste. »Neon oder so? Farben? Ich überleg’ mir die ganze Zeit, ob ich’s vielleicht schon mal gesehen hab’ Fällt es einem sofort ins Auge?« »Hier, ich werd’s dir zeigen«, sagte Arctor und langte in die Brusttasche seines Hemdes. »Ich hab’s mitgebracht.« Wieder schaltete Fred auf Schnellvorlauf. »– weißt du eigentlich, wie man Mikropunkte in jedes beliebige Land schmuggeln könnte, ohne daß irgendwer was spitzkriegen würde?« sagte Luckman gerade. »Wahrscheinlich auf jedem beliebigen Weg«, sagte Arctor und lehnte sich bequem zurück. Er rauchte einen Joint, und eine dicke Qualmwolke verfinsterte das Wohnzimmer. »Nein, ich meine einen Weg, auf den nie jemand kommen würde«, sagte Luckman. »Barris hat ihn mir eines Tages mal verraten, unter dem Siegel der Verschwiegenheit; ich sollte keinem was davon erzählen, weil er es in seinem Buch verarbeiten will.« »Was für ein Buch? Kleine Dopekunde für –« »Nein. Einfache Tricks, um x-beliebige Objekte in die Vereinigten Staaten einzuschmuggeln oder auch wieder hinaus, je nachdem, in welcher Richtung man die Grenze überquert. Man schmuggelt sie mit einer Lieferung Dope ein. Zum Beispiel mit Heroin. Die Mikropunkte sind in den Päckchen drin. Keiner würde das merken, weil sie so klein sind. Sie würden nicht –« »Aber dann würde sich irgendein Junkie einen Hit schießen, der zur Hälfte aus Smack und zur Hälfte aus Mikropunkten besteht.« »Tja, dann würde er wohl plötzlich der scheiß-ge­bil­detste Junkie sein, der dir je über den Weg gelaufen ist. « »Käme ganz darauf an, was auf den Mikropunkten war.« »Barris hatte auch noch ‘nen ganz neuen Trick auf Lager, um Dope über die Grenze zu schmuggeln. Du kennst das doch, diese Typen vom Zoll fragen einen immer, ob man was zu verzollen hat, richtig? Und da kann man ja schließlich nicht sagen: ›Ja, Dope‹, weil –« »Okay, wie geht dieser Trick denn nun?« »Tja, schau mal, du nimmst einfach einen großen Klotz Hasch und schnitzst so lange daran herum, bis er von außen wie ein Mensch aussieht. Anschließend höhlst du ihn teilweise aus und baust ein Aufziehwerk und ein kleines Cassettengerät ein. Dann stellst du dich mit ihm in die Schlange, und direkt vor der Zollabfertigung ziehst du ihn mit dem Schlüssel auf, und er geht von ganz alleine zu dem Mann vom Zoll hin. Der sagt dann zu ihm: ›Haben Sie etwas zu verzollen?‹ und der Haschklotz sagt: ›Nein, nichts‹ und marschiert einfach immer geradeaus weiter bis er auf der anderen Seite der Grenze stehenbleibt, weil das Uhrwerk abgelaufen ist.« »Man könnte auch statt einer Feder eine Art Solarzellenbatterie einbauen. Dann könnte er jahrelang weitermarschieren. Bis in alle Ewigkeit.« »Und was sollte das bringen? Am Ende würde er entweder den Pazifik oder den Atlantik erreichen. Vielleicht würde er sogar über den Rand der Welt hinauswandern, wie –« »Stell’ dir mal ein Eskimodorf vor und einen zwei Meter großen Haschklotz, so ungefähr im Wert von – wieviel würde der wohl wert sein?« »Ungefähr eine Milliarde Dollars.« »Mehr. Zwei Milliarden.« »Die Eskimos kauen gerade Seehundsfelle und schnitzen Knochenspeere, und dieser Haschklotz, der zwei Milliarden Dollar wert ist, kommt durch den Schnee dahermarschiert und sagt wieder und wieder: ›Nein, nichts‹.« »Sie würden sich bestimmt fragen, was er damit wohl meint. « »Sie würden so verwirrt sein, daß sie gar nicht mehr darüber wegkämen. Legenden würden entstehen.« »Kannst du dir vorstellen, deinen Enkeln zu erzählen: ›Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie der zwei Meter große Haschklotz aus den treibenden Nebeln auftauchte und vorüberschritt, ungefähr in die Richtung da vorne, und er war zwei Milliarden Dollar wert und sagte immer nur: ›Nein, nichts.‹ Seine Enkel würden ihn ins Irrenhaus stecken.« »Nein, schau mal, Legenden bauschen immer alles auf. Nach ein paar Jahrhunderten würde die Geschichte ungefähr so gehen: ›Zu Zeiten unserer Altvorderen stürmte eines Tages ein dreißig Meter großer Klotz aus ganz hervorragendem Schwarzen Afghanen, der acht Trilliarden Dollar wert war und tödliches Feuer versprühte, auf uns los und schrie: »Sterbt, Eskimo-Hunde!« und wir kämpften todesmutig mit unseren Speeren gegen ihn und töteten ihn am Ende auch.‹« »Die Kinder würden auch die Version nicht glauben.« »Kinder glauben einem sowieso überhaupt nichts mehr.« »Es bringt dich echt runter wenn du dich mit einem Kind unterhältst. Mich hat mal ein Kind gefragt: ›Wie war das eigentlich für dich, als du das erste Auto gesehen hast?‹ Scheiße, Mann, ich bin 1962 geboren.« »Mein Gott«, sagte Arctor, »genau das hat mich auch mal ein Typ gefragt, den ich kannte. Hatte zuviel Acid geschluckt. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, nur drei Jahre jünger als ich. Er bekam überhaupt nichts mehr auf die Reihe. Später pfiff er noch ein paar Hits Acid ein – oder was sie ihm als Acid verkauft hatten –, und danach pinkelte er auf den Fußboden und schiß auf den Fußboden, und wenn man etwas zu ihm sagte, wie etwa: ›Wie geht’s dir, Don?‹ dann sprach er einem das nur nach wie ein Papagei. ›Wie geht’s dir, Don?‹« Das Gespräch verstummte, und das Schweigen hing wie der Qualm des Joints zwischen den beiden Männern in dem dunstigen Wohnzimmer. Ein langes, düsteres Schweigen. »Bob, weißt du was?« sagte Luckman schließlich. »Ich bin immer gerade so alt gewesen wie alle anderen.« »Ich glaube, ich auch«, sagte Arctor. »Ich weiß nicht, woran das gelegen hat.« »Aber natürlich weißt du das, Luckman«, sagte Arctor. »Nämlich daran, woran es bei uns allen gelegen hat.« »Hm. Du, reden wir über was anderes, ja?« Er inhalierte wieder geräuschvoll, und sein langes Gesicht war ein blasser Fleck im trüben Licht des Mittags. * Eines der Telefone im Kontroll-Zentrum klingelte. Ein Jedermann-Anzug nahm das Gespräch entgegen und schob den Apparat dann zu Fred hinüber. »Fred.« Er stellte die Holos ab und griff nach dem Hörer. »Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie letzte Woche unten bei uns waren?« sagte eine Stimme. »Und dem OH-Test unterzogen wurden?« Nach längerem Schweigen sagte Fred: »Ja.« »Sie sollten noch einmal wiederkommen.« Eine Pause auch am anderen Ende der Leitung. »Wir haben weiteres Material über Sie gesichtet. Material neueren Datums … Ich habe es für nötig erachtet, einen neuen Termin für Sie anzuberaumen, bei dem Sie sämtliche Standard-Perzep­tionstests sowie einige andere Tests absolvieren werden. Dieser Termin ist morgen um fünfzehn Uhr, wieder im selben Raum. Alles in allem werden die Tests ungefähr vier Stunden in Anspruch nehmen. Wissen Sie noch die Zimmernummer?« »Nein«, sagte Fred. »Wie fühlen Sie sich?« »Okay«, sagte Fred stoisch. »Irgendwelche Probleme? Während oder außerhalb des Dienstes?« »Ich hab’ Krach mit meinem Mädchen gehabt. « »Irgendwelche Bewußtseinsstörungen? Haben Sie bisweilen Schwierigkeiten, Personen oder Gegenstände zu identifizieren? Kommt es Ihnen manchmal so vor, als seien bestimmte Dinge, die Sie sehen, umgekehrt oder verkehrt? Und da ich gerade danach frage … irgendwelche Raum-Zeit- oder Sprachdesorientierungen?« »Nein«, sagte er mürrisch. »Nein auf alle Fragen.« »Wir erwarten Sie dann also morgen in Zimmer 203«, sagte der medizinische Assistent. »Welches Material über mich hat Sie eigentlich dazu bewogen –« »Darüber reden wir morgen. Kommen Sie einfach hin. All right? Und, Fred … Kopf hoch.« Klick. Tja, ein herzliches Klick auch Ihnen, dachte er und legte auf. Voller Verärgerung darüber, daß sie ihm solche Scherereien machten und ihn dazu zwangen, etwas zu tun, wogegen sich alles in ihm auflehnte, schaltete er einmal mehr die Holos an; die Schirme leuchteten in bunten Farben auf, und die dreidimensionalen Szenen darauf erfüllten sich mit Leben. Aus dem Lautsprecher drang noch mehr von dem nutzlosen, für Fred so frustrierenden Geplapper: »Diese Puppe«, schwafelte Luckman weiter, »war also schwanger geworden und beantragte eine Abtreibung, weil ihre Periode schon viermal ausgeblieben war und ihr Bauch sichtlich dicker wurde. Die ganze Zeit über beschwerte sie sich ständig über die Kosten für die Abtreibung; aus irgendeinem Grund wollte die Wohlfahrt nämlich kein Geld dafür rausrücken. Nun, eines Tages war ich mal bei ihr auf der Bude, und da war so eine Freundin von ihr da und sagte ihr knallhart ins Gesicht, daß sie ja sowieso nur eine hysterische Schwangerschaft – ‘ne Scheinschwangerschaft also – hätte. ›Du willst einfach nur glauben, daß du schwanger bist‹ schimpfte die Puppe auf sie ein. ›Ein reiner Schuld-Trip. Und die Abtreibung und das ganze Moos, das du dafür blechen mußt, das ist ein Selbstbestrafungs-Trip.‹ Und daraufhin schaute die Puppe sie ganz ruhig an – ich stand damals echt auf sie, nebenbei bemerkt – und sagte: ›Na gut, wenn es also eine hysterische Schwangerschaft ist, dann werde ich auch eine hysterische Abtreibung haben und dafür mit hysterischem Geld bezahlen!‹« Arctor sagte: »Ich möchte zu gerne wissen, wem eigentlich das Gesicht auf der hysterischen Fünf-Dollar-Note gehört.« »Tja, wer war unser hysterischster Präsident?« »Bill Falkes. Er glaubte bloß, er sei Präsident.« »Und wann, dachte er, sei seine Amtszeit gewesen?« »Er bildete sich ein, er sei für zwei Amtsperioden im Amt gewesen, so ungefähr um 1882. Später, nachdem er sich einer längeren Therapie unterzogen hatte, kam er immerhin so weit, daß er bloß noch glaubte, es sei nur eine Amtszeit gewesen –« Wutentbrannt schlug Fred auf die Bedienungselemente der Holos und ließ die Bänder zweieinhalb Stunden vorwärts jagen. Wie lange geht dieser Rotz denn noch weiter? fragte er sich. Den ganzen Tag? Bis in alle Ewigkeit? »– also bringst du dein Kind zum Doktor – zum Psychologen – und erzählst ihm, daß dein Kind die ganze Zeit über schreit und Wutanfälle hat.« Vor Luckman auf dem Kaffeetisch lagen neben einer Dose Bier zwei Beutel mit Grass; er unterzog gerade das Grass einer genauen Überprüfung. »Und es lügt; das Kind lügt. Erfindet übertriebene Geschichten. Und der Psychologe untersucht das Kind, und seine Diagnose lautet: ›Gnädige Frau, Ihr Kind ist hysterisch. Sie haben ein hysterisches Kind. Aber ich kann Ihnen leider auch nicht sagen, woran das liegt.‹ Und dann merkst du, die Mutter, daß deine große Stunde gekommen ist, und du jubelst ihm die Wahrheit ganz locker unter den Kittel: ›Ich weiß, woran das liegt, Herr Doktor. Nämlich daran, daß ich eine hysterische Schwangerschaft hatte.‹ Luckman und Arctor lachten beide, und auch Jim Barris fiel in ihr Gelächter ein; er war irgendwann während der letzten zwei Stunden zurückgekommen und saß bei ihnen. Er arbeitete wieder an seiner irren Hasch-Pfeife; er war immer noch nicht fertig, den Pfeifenkopf mit weißem Bindfaden zu umwickeln. Wieder spulte Fred das Band um eine volle Stunde vor. »– dieser Typ«, sagte Luckman gerade und strich vorn­übergebeugt das Grass in einer kleinen Schachtel glatt, während Arctor ihm gegenübersaß und ihm mit halbem Auge dabei zuschaute, »trat im Fernsehen auf und behauptete von sich, ein weltberühmter Hochstapler zu sein. Im Laufe seiner Karriere, so erzählte er dem Interviewer, sei er in einer Vielzahl von Rollen aufgetreten, unter anderem als berühmter Chirurg vom John Hopkins Medical College, als Physiker, der mit einem staatlichen Forschungsstipendium in Harvard an der Theorie hochbeschleunigter subatomarer Teilchen arbeitete, als ein finnischer Romancier, der den Literaturnobelpreis gewonnen hatte, als abgesetzter argentinischer Staatspräsident, der jetzt verheiratet war mit –« »Und mit dem allen ist er durchgekommen?« fragte Arctor. »Man hat ihn nie erwischt?« »Der Typ hat sich nie als irgendeiner dieser Leute ausgegeben. Er hat sich nie als irgendwas ausgegeben, außer als weltberühmter Hochstapler. Das kam später durch einen Artikel in der L. A. Times heraus – die hatten die Geschichte nachgeprüft. Der Typ war ‘n einfacher Besenschwinger in Disneyland, oder jedenfalls war er das so lange gewesen, bis er die Autobiographie eines weltberühmten Hochstaplers in die Finger kriegte –es gab nämlich wirklich mal so einen – und sich sagte: ›Zum Teufel, wenn der sich als diese ganzen exotischen Macker ausgibt und damit durchkommt, dann kann ich das schon lange‹, aber später hat er sich’s wohl anders überlegt und sich gesagt: ›Zum Teufel, was soll das eigentlich; ich werd’ mich einfach als Hochstapler ausgeben!‹ Er hat auf diese Weise ‘ne Menge Moos gemacht, stand in der Times. Fast so viel wie der echte weltberühmte Hochstapler. Und er sagte, es wäre so doch viel einfacher gewesen.« Barris, der in seiner Ecke immer noch Bindfaden aufwickelte, sagte wie zu sich selbst: »Auch wir sehen ab und an Hochstapler. In unserer nächsten Umgebung. Aber sie geben sich nicht als Physiker für subatomare Teilchen aus.« »Rauschgift-Agenten, meinst du«, sagte Luckman. »Yeah, Rauschgift-Agenten. Ich frage mich manchmal, wie viele Rauschgift-Agenten wir kennen. Wie sieht so ein Rauschgift-Agent eigentlich aus?« »Das ist ja, als würdest du fragen: Wie sieht so ein Hochstapler eigentlich aus?« sagte Arctor. »Ich hab’ mich mal mit einem großen Hasch-Dealer unterhalten, der hopsgenommen worden war, als er gerade zehn Pfund Hasch in seiner Tasche hatte. Ich hab’ ihn gefragt, wie der Rauschgift-Agent, der ihn hatte auffliegen lassen, denn aussah. Ihr wißt schon, der – na, wie sagt man doch gleich? – der Lockvogel, der auftrat und sich als Freund eines Freundes ausgab und ihn dazu brachte, ihm etwas Hasch zu verkaufen.« »Wahrscheinlich«, sagte Barris und wickelte weiter Bindfaden auf, »ganz genau so wie wir.« »Viel echter als wir«, sagte Arctor. »Dieser Macker, dieser Hasch-Dealer, meine ich – er war übrigens schon verknackt worden und mußte am nächsten Tag in den Kahn –, der erzählte mir: ›Sie haben längere Haare als wir.‹ Und die Lehre, die man daraus ziehen kann, ist wohl: Halte dich bloß von Typen fern, die so aussehen wie wir.« »Es gibt auch weibliche Rauschgift-Agenten«, sagte Barris. »Ich möchte gerne mal einen Rauschgift-Agenten kennenlernen«, sagte Arctor. »Ich meine, bewußt. Einen, bei dem ich mit Bestimmtheit weiß, daß es einer ist.« »Tja«, sagte Barris, »mit Bestimmtheit würdest du das erst wissen, wenn er dir die Handschellen anlegt. Falls es mal so weit kommt.« Arctor sagte: »Was mich interessieren würde … haben Rauschgift-Agenten eigentlich Freunde? Wie sieht ihr gesellschaftliches Leben aus? Wissen ihre Ehefrauen Bescheid?« »Rauschgift-Agenten haben keine Ehefrauen«, sagte Luckman. »Sie leben in Höhlen und spähen unter geparkten Wagen hinter dir her, wenn du vorübergehst. Wie Trolle.« »Und was essen sie?« sagte Arctor. »Menschen«, sagte Barris. »Wie kann ein Typ das bloß machen?« sagte Arctor. »Sich als Rauschgift-Agent ausgeben?« »Was?« sagten Barris und Luckman wie aus einem Munde. »Scheiße, ich bin heute echt ausgeklinkt«, sagte Arctor mit einem schiefen Grinsen. »›Sich als Rauschgift-Agent ausgeben‹ – wow.« Er schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf. Luckman starrte ihn an. »SICH ALS RAUSCHGIFT-AGENT AUSGEBEN? SICH ALS RAUSCHGIFT-AGENT AUSGEBEN?« »Ich glaub’, mein Gehirn ist heute eine einzige Motsche«, sagte Arctor. »Ich hau’ mich besser in die Falle. « Vor den Schirmen unterbrach Fred den Bandvorlauf; alle Bildwürfel gefroren, und der Ton erstarb. »Machste ‘ne Pause, Fred?« rief einer der anderen Jedermann-Anzüge zu ihm hinüber. »Yeah«, sagte Fred. »Ich bin müde. Dieser Scheiß geht einem nach ‘ner Weile ganz schön auf den Geist.« Er stand auf und zündete sich eine Zigarette an. »Ich kapier’ schon nicht mehr die Hälfte von dem, was sie sagen, so müde bin ich. Und ich hab’s satt«, fügte er hinzu, »ihnen zuzuhören.« »Wenn man selbst dabeisitzt«, sagte ein Jedermann-Anzug, »ist es längst nicht so schlimm; richtig? Ich nehm’ doch an, daß du dabeigesessen hast – daß du einer aus dieser Gruppe bist, natürlich in einer Tarnidentität. Stimmt’s?« »Ich würde nie mit Spinnern wie denen da rumhängen«, sagte Fred. »Die reden doch nur immer und immer wieder das gleiche, wie senile alte Opas. Warum machen sie das eigentlich, dauernd nur rumsitzen und Scheiß labern?« »Warum machen wir das, was wir machen? Im Grunde genommen ist das doch auch immer wieder das gleiche, wenn man’s sich mal genau anschaut.« »Aber wir müssen das machen; das ist unser Job. Wir können uns das nicht aussuchen.« »Wie senile alte Opas«, warf ein Jedermann-Anzug ein. »Die können sich das auch nicht aussuchen. Die sind einfach so.« Sich als Rauschgift-Agent ausgeben, dachte Fred. Was bedeutet das? Keiner weiß das … So tun, überlegte er, als sei man ein Hochstapler. Einer, der unter parkenden Wagen lebt und Dreck frißt. Nicht ein weltberühmter Chirurg oder Romancier oder Politiker; jemand, um den sich keine Fernsehanstalt reißen würde. Das ist kein Leben, das irgend jemand, der noch bei Verstand ist … Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt, Den, wie er sich im Staube nährend lebt, Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt.[9 - Anm. d. Übers.: Im Gegensatz zu Kapitel XI, wo diese drei Gedichtzeilen im Original in Deutsch zitiert werden, steht hier im Original eine englische Übersetzung.] Ja, das trifft es ganz genau, dachte er. Dieses Gedicht. Luckman muß es mir vorgelesen haben, oder vielleicht haben wir es mal in der Schule durchgenommen. Lustig, was da manchmal aus den Tiefen der Erinnerung wieder an die Oberfläche kommt. Was das Gehirn so alles speichert. Arctors verdrehte Worte wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen, obwohl er doch das Band schon längst gestoppt hatte. Ich wünschte mir, ich könnte sie vergessen, dachte er. Ich wünschte mir, ich könnte – wenigstens für eine Zeitlang – ihn vergessen. »Irgendwie krieg’ ich das Gefühl«, sagte Fred, »daß ich manchmal weiß, was sie im nächsten Augenblick sagen werden. Noch bevor sie es aussprechen. Ihre genauen Worte.« »Das nennt man Déjà vu«, nickte einer der Jedermann-Anzüge. »Paß mal auf, ich will dir mal ‘n paar gute Tips geben. Spul das Band immer über einen längeren Aufnahmezeitraum vor, also nicht nur eine Stunde sondern, sagen wir mal, sechs Stunden. Wenn sich da nichts Bemerkenswertes ereignet, dann spulst du es zurück, bis du auf etwas stößt. Rückwärts, verstehst du, statt vorwärts. Auf diese Weise kommst du nicht in ihren Rhythmus. Du schwimmst sozusagen gegen den Strom. Sechs oder sogar acht Stunden vorwärts, dann in großen Sprüngen zurück … Du wirst den Dreh bald raushaben und ein Gespür dafür kriegen, ob du nun Kilometer um Kilometer von diesem Nichts vor dir hast oder ob irgendwo was Verwertbares darunter ist.« »Und du wirst eigentlich gar nicht wirklich zuhören«, sagte der andere Jedermann-Anzug. »Bis du wirklich auf etwas stößt. Wie eine Mutter, wenn sie schläft – nichts macht sie wach, nicht einmal ein vorbeifahrender Lastwagen, bis sie ihr Baby weinen hört. Das weckt sie – das erregt ihre Aufmerksamkeit. Ganz egal, wie schwach das Weinen auch immer sein mag. Das Unterbewußtsein arbeitet selektiv, wenn es erst einmal gelernt hat, auf was es achten muß.« »Ich weiß«, sagte Fred. »Ich habe selbst zwei Kinder.« »Jungen?« »Mädchen«, sagte er. »Zwei kleine Mädchen.« »Ist ja suuuuper«, sagte einer der Jedermann-Anzüge. »Ich hab’ auch ein Mädchen, ein Jahr alt.« »Bitte keine Namen«, sagte der andere Jedermann-Anzug, und sie alle lachten. Ein bißchen. Jedenfalls, sagte Fred zu sich selbst, gibt es jetzt endlich etwas, das sich aus dem ganzen Zeug auf den Bändern auszusondern und weiterzuleiten lohnt. Diese kryptische Äußerung darüber, »sich als ein Rauschgift-Agent auszugeben«. Die anderen Männer bei Arctor im Haus – auch die hat diese Äußerung überrascht. Wenn ich morgen um drei rübergehe, werde ich eine Kopie davon mitnehmen – ein Band allein mit dem Ton müßte reichen – und das mal mit Hank durchdiskutieren. Das und alles andere, was ich bis morgen noch finde. Aber selbst wenn das alles ist, was ich Hank vorlegen kann, dachte er, so ist es immerhin doch ein Anfang. Es zeigt, daß diese Rund-um-die-Uhr-Überwachung Arctors keine Verschwendung ist. Es zeigt, dachte er, daß ich recht hatte. Diese Bemerkung war ein Ausrutscher. Arctor hat sich verplappert. Was diese Äußerung allerdings bedeuten sollte, wußte er bisher noch nicht. Aber das, sagte er zu sich selbst, werden wir schon noch herausfinden. Wir werden so lange an Bob Arctor dranbleiben, bis er reif ist. Auch wenn es noch so unerquicklich ist, ihm und seinen Kumpels die ganze Zeit über zusehen und zuhören zu müssen. Diese Kumpels von ihm, dachte er, sind genauso schlimm wie er selbst. Wie habe ich es bloß jemals aushalten können, die ganze Zeit über mit denen allen in diesem Haus rumzuhängen? Was für eine Art, sein Leben zu verbringen; was für ein, wie der andere Beamte es genannt hatte, endloses Nichts. Ganz tief unten, dachte er, in der Motsche, der Motsche ihres Gehirns und der Motsche, die sie von außen umgibt; überall nichts als Motsche. Und das liegt nur an ihnen selbst – daran, was für eine Art von Individuen sie sind. Er steckte seine Zigaretten ein und ging zurück in den Waschraum, verriegelte die Tür. Dann nahm er zehn Tabletten Tod aus der Zigarettenschachtel, füllte eine Blechtasse mit Wasser und pfiff alle zehn Tabs ein. Er wünschte sich, mehr Tabs mitgenommen zu haben. Na ja, dachte er, ich kann ja noch ein paar schlucken, wenn ich die Arbeit hinter mich gebracht habe. Wenn ich nach Hause komme. Er schaute auf seine Uhr und versuchte, auszurechnen, wie lange das wohl noch hin war. Aber er konnte kaum noch klar denken; wie lange, zum Teufel, ist es bis dahin noch? fragte er sich und überlegte zugleich, was aus seinem Zeitgefühl geworden sein mochte. Das Betrachten der Schirme hat mein Zeitgefühl durcheinandergebracht, erkannte er plötzlich. Ich weiß nicht einmal mehr, wie spät es schon ist. Ich fühle mich, als hätte ich Acid geschluckt und wäre dann durch eine Wagenwaschanlage geschickt worden, dachte er. Unmengen von gigantischen, wirbelnden, seifigen Bürsten, die auf mich eindringen; von einer Kette immer tiefer hineingezogen in Tunnels aus schwarzem Schaum. Was für eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dachte er und entriegelte die Tür des Waschraumes, um widerwillig zurück an die Arbeit zu gehen. Als er den Bandtransport erneut anstellte, sagte Arctor gerade: »– soweit ich das bisher überblicken kann, ist Gott tot.« Luckman antwortete: »Ich wußte nicht mal, daß Er krank war.« »Da mein Olds jetzt wohl endgültig im Arsch ist«, sagte Arctor, »habe ich beschlossen, ihn zu verscheuern und mir statt dessen eine Ente zu kaufen.« »Wie teuer ist ‘ne Ente?« sagte Barris. Bei sich dachte Fred: Kommt ganz aufs Gewicht an. »Kommt ganz aufs Gewicht an«, sagte Arctor. * Am folgenden Nachmittag um drei Uhr wurde Fred, der sich noch schlechter fühlte als am Tag zuvor, von zwei medizinischen Assistenten – nicht denselben wie beim ersten Mal – mehreren Tests unterzogen. »In rascher Aufeinanderfolge werden Sie nun eine Anzahl von Objekten, die Ihnen vertraut sein müßten, vor sich vorbeiziehen sehen, und zwar zunächst vor Ihrem linken und dann vor Ihrem rechten Auge. Zur gleichen Zeit werden auf dem Leuchtschirm vor Ihnen simultan Umrißzeichnungen mehrerer solcher Ihnen vertrauter Objekte erscheinen, und Sie sollen mit Hilfe des Druckstiftes markieren, welches Ihrer Ansicht nach die korrekte Umrißzeichnung des jeweils gerade sichtbaren Objektes ist. Die Objekte werden sich allerdings sehr schnell an Ihnen vorüberbewegen, also zögern Sie nicht zu lange. Neben Ihrer Trefferzahl wird auch die von Ihnen benötigte Zeit bewertet. Okay?« »Okay«, sagte Fred, den Druckstift einsatzbereit. Dann lief eine ganze Herde vertrauter Objekte an ihm vorbei, und er stieß mit dem Stift auf die beleuchteten Fotos darunter. Zuerst exerzierte er diese Übung mit dem linken Auge durch und dann noch einmal mit dem rechten Auge. »Als nächstes wird vor Ihrem rechten Auge kurzzeitig das Bild eines vertrauten Objekts erscheinen; Ihr linkes Auge wird dabei abgedeckt sein. Sie sollen mit Ihrer linken Hand, ich wiederhole, Ihrer linken Hand, in eine Gruppe von Objekten hineinlangen und das eine finden, dessen Bild Sie gesehen haben.« »Okay«, sagte Fred. Das Bild eines einzelnen Würfels wurde kurzzeitig gezeigt; mit der linken Hand tastete er zwischen vor ihm aufgebauten kleinen Objekten herum, bis er einen Würfel fand. »Im nächsten Test werden sich in Reichweite Ihrer linken Hand mehrere Buchstaben befinden, die zusammen ein Wort ergeben, die Sie aber nicht sehen können. Sie werden diese Buchstaben ertasten und dann mit Ihrer rechten Hand das von den Buchstaben gebildete Wort aufschreiben.« Er tat das. Die Buchstaben ergaben das Wort WARM. »Sprechen Sie bitte nun das Wort aus, das sich ergibt.« Also sagte er: »Warm.« »Als nächstes werden Sie in diese vollständig dunkle Schachtel hineinlangen, während zugleich beide Augen abgedeckt sind, und mit Ihrer linken Hand ein Objekt berühren, um es zu identifizieren. Sagen Sie uns dann, worum es sich bei diesem Objekt handelt, ohne es visuell wahrgenommen zu haben. Danach werden Ihnen drei Objekte gezeigt werden, die einander irgendwie ähnlich sehen, und Sie sollen uns sagen, welches der drei Objekte, die Sie sehen, am stärksten dem Objekt ähnelt, das Sie mit der Hand berührt haben.« »Okay«, sagte Fred und absolvierte auch diesen und viele weitere Tests, fast eine Stunde lang. Tasten, benennen, mit einem Auge betrachten, auswählen. Tasten, benennen, mit dem anderen Auge betrachten, auswählen. Hinschreiben, zeichnen. »In dem nun folgenden Test werden Sie, während Ihre Augen wieder abgedeckt sind, hinauslangen und mit jeder Ihrer beiden Hände jeweils ein Objekt fühlen. Sie sollen uns sagen, ob das Objekt, das Ihrer linken Hand präsentiert wird, mit dem identisch ist, das Ihrer rechten präsentiert wird.« Er tat das. »Hier nun in schneller Folge Bilder von Dreiecken in verschiedenen Positionen. Sie sollen uns sagen, ob es dasselbe Dreieck ist oder –« Nach zwei Stunden ließen sie ihn komplizierte Klötze in komplizierte Löcher einpassen und stoppten die Zeit, die er dafür brauchte. Er fühlte sich, als sei er wieder in der ersten Klasse, in der er auch immer alle Tests vermasselt hatte. Ihm kam es vor, als schneide er jetzt noch schlechter ab als damals. Fräulein Frinkel, dachte er; das alte Fräulein Frinkel. Während ich diesen Scheiß machen mußte, stand sie immer nur da, beobachtete mich und schleuderte mir Sterbebefehle entgegen, wie man das in der Transaktions-Analyse nennt. Stirb. Hör auf zu existieren. Hexenmutter-Flüche. Eine ganze Ladung davon, bis ich am Ende wirklich Mist baute. Vielleicht war Fräulein Frinkel jetzt schon längst tot. Vielleicht hatte es jemand geschafft, sich seinerseits mit einem Sterbebefehl zu revanchieren, und es hatte gewirkt. Er hoffte es. Vielleicht hatte sie sogar einer seiner eigenen Sterbebefehle erwischt. Übrigens schleuderte er auch den Testern, die ihm gegenübersaßen, jetzt solche Befehle entgegen. Es schien aber nicht viel zu nützen. Der Test ging weiter. »Was ist an diesem Bild falsch? Eines der Objekte paßt nicht zu den anderen. Sie sollen markieren –« Er tat das. Dann folgte ein Test mit realen Objekten, von denen eines nicht in die Schar der anderen gehörte; man erwartete von ihm, hinzugreifen und das Anstoß erregende Objekt zu entfernen. Danach sollte er alle Anstoß erregenden Objekte aus einer Vielzahl von »Sets« – wie die Tester das nannten – herausnehmen und sagen, ob all die Anstoß erregenden Objekte ein gemeinsames Merkmal hatten, und wenn ja, welches. Ob auch sie zusammen wieder ein »Set« ergaben. Er mühte sich immer noch damit ab, als die Tester ihm mitteilten, die ihm zur Verfügung stehende Zeit sei abgelaufen, die Testreihen für beendet erklärten und ihn aufforderten, eine Tasse Kaffee trinken zu gehen und anschließend draußen zu warten, bis man ihn wieder hereinriefe. Nach einer Zeit – die ihm verdammt lange vorkam – erschien einer der Tester und sagte: »Da wäre noch eine Sache, Fred –wir hätten gerne eine Blutprobe von Ihnen.« Er gab ihm einen Zettel: eine Laborüberweisung. »Gehen Sie die Halle hinunter zu dem Raum mit der Aufschrift ›Pathologisches Labor‹ und geben Sie das hier dort ab. Dann, nach der Blutentnahme, kommen Sie hierher zurück und warten.« »In Ordnung«, sagte er düster und schlenderte mit der Überweisung in der Hand davon. Spuren im Blut, begriff er. Danach suchen sie. Als er vom pathologischen Labor wieder nach Zimmer 203 zurückkam, machte er sich an einen der Tester heran und sagte: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich nach oben gehen würde, um mit meinem Vorgesetzten zu konferieren, während ich auf Ihre Ergebnisse warte? Er hat bald Dienstschluß.« »Keine Einwände«, sagte der Tester. »Da wir beschlossen haben, Ihnen eine Blutprobe abnehmen zu lassen, wird es ohnehin länger dauern, bis wir die Schluß­auswertung machen können; ja, gehen Sie ruhig rauf. Wir werden oben anrufen, wenn wir Sie wieder hier benötigen. Hank, nicht wahr?« »Ja«, sagte Fred. »Ich werde oben bei Hank sein.« Der Tester sagte: »Sie kommen mir heute sehr viel niedergeschlagener vor als da, wo wir uns das erste Mal gesehen haben.« »Wie bitte?« sagte Fred. »Als Sie das erste Mal hier bei uns waren. Letzte Woche. Da waren Sie zwar auch angespannt, aber Sie haben immer noch Scherze gemacht und gelacht.« Fred starrte ihn an und begriff plötzlich, daß das einer der beiden medizinischen Assistenten war, mit denen er es schon früher zu tun gehabt hatte. Aber er sagte nichts; er grunzte einfach nur und verließ dann ihr Büro, wankte zum Aufzug. Das bringt einen echt runter, dachte er. Diese ganze Sache. Ich möchte zu gerne wissen, welcher der beiden medizinischen Assistenten das war. Der mit dem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart oder der andere. Der andere, vermute ich. Der hier hatte ja keinen Schnurrbart. »Sie werden dieses Objekt manuell mit Ihrer linken Hand abtasten«, sagte er zu sich selbst, »und es gleichzeitig mit Ihrer rechten anschauen. Anschließend werden Sie uns in Ihren eigenen Worten sagen –« Er brachte es nicht fertig, sich noch mehr solchen Unsinn auszudenken. Nicht ohne ihre Hilfe. * Als er Hanks Büro betrat, sah er, daß außer Hank noch ein anderer Mann anwesend war. Er trug keinen Jedermann-Anzug und saß in der hintersten Ecke des Raumes, Hank gegenüber. Hank sagte: »Das ist der Informant, der uns wegen Bob Arctor angerufen und dabei diese elektronische Abschirmung benutzt hat – ich habe Ihnen davon erzählt. « »Ja«, sagte Fred. Er stand reglos mitten im Raum. »Dieser Mann hat uns erneut angerufen, um uns weitere Informationen über Bob Arctor zukommen zu lassen; wir haben ihm daraufhin erklärt, daß er sein Inkognito aufgeben und seine wahre Identität enthüllen müsse. Wir forderten ihn auf, persönlich hier vorzusprechen, und das hat er getan. Kennen Sie ihn?« »Aber sicher«, sagte Fred und starrte unverwandt Jim Barris an, der grinsend dasaß und mit einer Schere herumspielte. Barris wirkte ganz so, als behage ihm das alles nicht so recht. Und er sah häßlich aus. Superhäßlich, dachte Fred mit innerem Widerwillen. »Sie sind James Barris, nicht wahr?« sagte er. »Sind Sie schon mal verhaftet worden?« »Seine ID-Karte weist ihn als James R. Barris aus«, sagte Hank, »und der behauptet er auch zu sein.« Er fügte hinzu: »Er hat kein Vorstrafen-Register. « »Was will er?« Zu Barris sagte Fred: »Wie lauten Ihre Informationen?« »Ich habe Beweise dafür«, sagte Barris mit gedämpfter Stimme, »daß Mr. Arctor einer weitgespannten, im Verborgenen operierenden Geheimorganisation angehört, die über beträchtliche Geldmittel sowie über ein umfangreiches Waffenarsenal verfügt, Kodeworte benutzt und deren Endziel möglicherweise der Sturz der –« »Dieser Teil ist reine Spekulation«, unterbrach ihn Hank. »Von welchen Aktionen dieser Organisation wissen Sie konkret? Wie sehen Ihre Beweise aus? Aber liefern Sie uns jetzt ja keine Informationen, die nicht aus erster Hand stammen.« »Sind Sie je in eine Nervenklinik eingewiesen worden?« sagte Fred zu Barris. »Nein«, sagte Barris. »Wären Sie bereit«, fuhr Fred fort, »im Büro des Bezirksstaatsanwalts eine notariell beglaubigte eidesstattliche Erklärung hinsichtlich Ihrer Beweise und Informationen zu unterzeichnen? Und würden Sie unter Eid vor Gericht erscheinen und –« »Er hat bereits durchblicken lassen, daß er das tun würde«, unterbrach ihn Hank. »Meine Beweise«, sagte Barris, »die ich zwar heute größtenteils nicht mitgebracht habe, aber jederzeit vorlegen könnte, bestehen aus Bandaufnahmen, die ich von Telefongesprächen Robert Arctors angefertigt habe. Ich meine Gespräche, die er führte, ohne zu wissen, daß ich zuhörte.« »Was ist das für eine Organisation?« sagte Fred. »Ich halte sie für eine –«, begann Barris, aber Hank winkte ab. »Eine politische Organisation«, sagte Barris. Obwohl er schwitzte und ein wenig zitterte, machte er einen zufriedenen Eindruck. »Eine Verschwörung gegen den Staat. Von außen initiiert. Den USA feindlich gesonnen.« Fred sagte: »Was für eine Verbindung besteht zwischen Arctor und der Quelle, aus der Substanz T stammt?« Barris blinzelte, leckte sich dann die Lippen und sagte, indem er das Gesicht verzog: »Meiner Meinung nach –« Er unterbrach sich mitten im Satz. »Wenn Sie alle meine Informationen auswerten, werden Sie – meine Beweise, meine ich – werden sie zweifellos daraus den Schluß ziehen, daß Substanz T von einer fremden Macht hergestellt wird, die entschlossen ist, die USA zu vernichten, und daß Mr. Arctor eine wesentliche Funktion in der Maschinerie dieses –« »Können Sie uns noch weitere Angehörige dieser Organisation namhaft machen?« sagte Hank. »Personen, mit denen Arctor sich getroffen hat? Sie sind sich sicher der Tatsache bewußt, daß es ein Verbrechen ist, staatlichen Behörden wissentlich falsche Informationen zu geben, und daß man Sie deswegen belangen kann und vermutlich auch belangen wird.« »Ich bin mir dessen bewußt«, sagte Barris. »Mit wem hat Arctor konferiert?« sagte Hank. »Mit einer gewissen Miß Donna Hawthorne«, sagte Barris. »Unter verschiedenen Vorwänden fährt er hinüber zu ihrer Wohnung und kollaboriert dort regelmäßig mit ihr.« Fred lachte. »Kollaboriert. Was meinen Sie damit?« »Ich bin ihm gefolgt«, sagte Barris langsam und betont. »In meinem eigenen Wagen. Ohne sein Wissen.« »Er geht oft dahin?« sagte Hank. »Ja, Sir«, sagte Barris. »Sehr oft. So oft er –« »Donna Hawthorne ist sein Mädchen«, sagte Fred. Barris sagte: »Außerdem hat Mr. Arctor –« Hank wandte sich zu Fred um und sagte: »Glauben Sie, daß an dieser Sache was dran ist?« »Wir sollten uns auf jeden Fall die Beweise anschauen«, sagte Fred. »Bringen Sie Ihre Beweise her«, befahl Hank Barris. »Alle. Vor allen Dingen interessieren uns Namen – Namen, Autonummern, Telefonnummern. Haben Sie jemals beobachten können, daß Arctor mit größeren Mengen von Drogen zu tun hatte? Mengen, die den Bedarf eines gewöhnlichen Drogenkonsumenten bei weitem überstiegen?« »Aber ja doch«, sagte Barris. »Welche Arten von Drogen?« »Verschiedene Arten. Ich habe Proben davon. Ich habe sorgfältig Proben gesammelt … damit Sie sie analysieren können. Die kann ich auch mitbringen. Eine ziemliche Menge und über ein breites Spektrum verteilt.« Hank und Fred wechselten einen kurzen Blick. Barris, der blicklos vor sich hin starrte, lächelte. »Gibt es noch etwas, was Sie uns für diesmal mitteilen wollen?« sagte Hank zu Barris. Zu Fred sagte er: »Vielleicht sollten wir ihm einen Beamten mitgeben, wenn er die Beweise holt.« Was im Klartext hieß: Um ganz sicherzugehen, daß er nicht plötzlich Angst vor seiner eigenen Courage bekam und sich verdünnisierte. Daß er gar nicht erst auf den Gedanken kam, es sich doch noch anders zu überlegen und wieder auszusteigen. »Da wäre noch eine Sache, die ich Ihnen gerne sagen möchte«, sagte Barris. »Mr. Arctor ist schwer drogenabhängig, süchtig nach Substanz T, und daher jetzt geistesgestört. Seine geistige Verwirrung hat in letzter Zeit immer mehr zugenommen, und er ist gefährlich. « »Gefährlich«, echote Fred. »Ja«, erklärte Barris. »Er zeigt bereits Symptome, wie sie bei einem durch Substanz T verursachten Hirnschaden auftreten. Sein optischer Chiasmus muß ernsthaft beeinträchtigt sein, was eine Schwächung der ipsilaternalen Komponente nach sich zieht … Und zudem –« Barris räusperte sich. »Verfallserscheinungen auch im Corpus Callosum.« »Ich habe Ihnen doch schon einmal erklärt«, sagte Hank, »daß solche durch nichts gestützte Spekulationen völlig wertlos sind, und ich möchte Ihnen dringend raten, in Zukunft darauf zu verzichten. Aber auf jeden Fall werden wir Ihnen einen Beamten mitgeben, wenn Sie jetzt Ihre Beweise holen. All right?« Grinsend nickte Barris. »Aber ich nehme doch an –« »Der Beamte wird selbstverständlich in Zivil sein.« »Ich könnte –« Barris gestikulierte. »Ermordet werden. Ich sagte ja schon, daß Mr. Arctor –« Hank nickte. »All right, Mr. Barris, wir wissen es zu würdigen, daß Sie ein derartiges Risiko eingehen, und wenn alles klappt, wenn Ihre Informationen von maßgeblicher Bedeutung dafür sind, bei Gericht eine Verurteilung zu erzielen, dann werden Sie natürlich –« »Aus diesem Grunde bin ich nicht hier«, sagte Barris. »Der Mann ist krank. Gehirngeschädigt. Durch Substanz T. Der Grund, aus dem ich hier bin –« »Uns interessiert nicht, warum Sie hier sind«, sagte Hank. »Uns interessiert nur, ob Ihre Beweise und das von Ihnen gesammelte Material uns etwas in die Hand geben. Der Rest ist Ihr Problem.« »Vielen Dank, Sir«, sagte Barris und grinste und grinste. XIII Wieder in Zimmer 203, dem Polizeilabor für psychologische Tests, hörte Fred ohne großes Interesse zu, wie die beiden Psychologen versuchten, ihm seine Testergebnisse zu erläutern. »Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß bei Ihnen keine gewöhnlichen Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, sondern etwas, das wir eher als ein ›Konkurrenz-Phänomen‹ bezeichnen möchten. Setzen Sie sich.« »Okay«, sagte Fred stoisch und setzte sich. »Konkurrenz«, sagte der andere Psychologe, »zwischen der linken und der rechten Hemisphäre Ihres Gehirns. Das Problem liegt nicht so sehr darin begründet, daß ein einzelnes Signal unzulänglich oder, wenn man es einmal so ausdrücken will, verseucht wäre; uns scheint es vielmehr, als würden sich ständig zwei Signale in die Quere kommen, miteinander interferieren, weil sie einander widersprechende Informationen tragen.« »Normalerweise«, erläuterte der andere Psychologe, »benutzt jeder Mensch die linke Hemisphäre. Das Ego, das Ich-Bewußtsein, hat dort seinen Sitz. Sie ist dominant, weil in eben dieser linken Hemisphäre auch stets das Sprachzentrum lokalisiert ist; oder, um es präziser auszudrücken: Die Zweigeteiltheit des Gehirns manifestiert sich vor allem darin, daß die Sprachfähigkeit – beziehungsweise das Potential für den Spracherwerb – in der linken und die räumlichen Fähigkeiten in der rechten Hälfte verortet sind. Die linke Hemisphäre kann mit einem Digitalcomputer verglichen werden, die rechte mit einem Analogcomputer. Daher führt die bilaterale Funktionsweise des Gehirns nicht zu einer einfachen Verdopplung; beide Perzeptionssysteme registrieren und verarbeiten die hereinkommenden Daten auf unterschiedliche Weise. Bei Ihnen jedoch ist keine der beiden Hemisphären dominant; sie ergänzen einander nicht, kompensieren nicht die funktionalen Defizite der jeweils anderen Hemisphäre. Die eine Hälfte gibt Ihnen eine Information, die andere Hälfte eine andere.« »Das ist ungefähr so, als hätten Sie in Ihrem Wagen zwei Tankanzeiger«, sagte der andere Mann, »und einer davon würde anzeigen, daß der Tank voll ist, wohingegen der andere auf ›leer‹ steht. Beide Anzeigen können nicht gleichzeitig zutreffen. Die Informationen liegen im Widerstreit miteinander. Aber es ist – in Ihrem Fall – nicht so, daß einer der Tankanzeiger funktioniert und der andere nicht; vielmehr … Also noch mal anders rum. Beide Tankanzeiger überwachen genau die gleiche Menge Benzin: das gleiche Benzin, den gleichen Tank. Sie testen sozusagen das gleiche Ding. Sie als Fahrer haben nur eine indirekte Beziehung zum Benzintank, nämlich vermittelt über die Benzinuhr, oder, in Ihrem Fall, die Benzinuhren. Tatsächlich könnte der Tank sogar völlig leer sein, und Sie würden nichts davon wissen, bis eine Anzeige auf dem Armaturenbrett es Ihnen mitteilt oder der Wagen schließlich stehenbleibt. Es sollte nie zwei Benzinuhren geben, die einander widersprechende Informationen liefern, denn sobald dieser Fall eintritt, können Sie überhaupt kein Wissen mehr über den Zustand erlangen, auf den sich diese Informationen beziehen. Das ist nicht dasselbe, als hätten Sie zwei Benzinuhren, eine reguläre und eine als Reserve, und die Reserveuhr immer dann einspringt, wenn die reguläre ausfällt.« Fred sagte: »Und was bedeutet das Ganze also?« »Ich bin mir sicher, daß Sie das schon wissen«, sagte der Psychologe zur Linken. »Sie haben es am eigenen Leibe erfahren, ohne zu begreifen, woran es lag und was es war.« »Die beiden Hemisphären meines Gehirns konkurrieren miteinander?« sagte Fred. »Ja.« »Warum?« »Substanz T. In funktioneller Hinsicht bewirkt sie das oft. Das war es, was wir erwartet hatten; das war es, was der Test uns bestätigt hat. Die für gewöhnlich dominante linke Hemisphäre ist geschädigt, und die rechte Hemisphäre versucht fortwährend, die durch diese Schädigung bedingten Ausfälle zu kompensieren. Aber die nun paarweise auftretenden Gehirnfunktionen verschmelzen nicht zu einem einheitlichen Ganzen, weil dieser Zustand abnorm ist, da der Körper für so etwas nicht ausgelegt ist. So etwas könnte normalerweise nie eintreten. Wir nennen das Überkreuz-Überlagerungen. Ein mit dem Spaltungsirresein verwandtes Phänomen. Wir könnten natürlich eine rechtsseitige Hemisphärektomie durchführen, aber –« »Wird das wieder weggehen«, unterbrach ihn Fred, »wenn ich von Substanz T runterkomme?« »Möglicherweise«, sagte der Psychologe zur Linken nickend. »Es ist eine funktionale Störung.« Der andere Mann sagte: »Es könnte auch eine organische Schädigung sein. Es könnte irreversibel sein. Das wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen, und zwar erst dann, wenn Sie schon lange von Substanz T runter sind. Und zwar vollständig.« »Was?« sagte Fred. Er verstand die Antwort nicht – lautete sie ja oder nein? War er für immer geschädigt oder nicht? Was hatten sie denn nun eigentlich gesagt? »Und selbst wenn es ein Schaden am Gehirngewebe ist«, sagte einer der Psychologen, »sollten Sie die Hoffnung nicht aufgeben. Derzeit laufen Experimente zur operativen Entfernung kleiner Gewebeabschnitte aus beiden Hemisphären, um so konkurrierende Verarbeitungsprozesse im Bereich der Gestaltwahrnehmung nach­haltig abzustellen. Es wird allgemein angenommen, daß dadurch vielleicht die ursprüngliche Hemisphäre ihre Dominanz wieder zurückerlangen könnte.« »Das Problem dabei ist jedoch, daß das jeweilige Individuum für den Rest seines Lebens vielleicht nur noch partielle Eindrücke – einlaufende Sinnesdaten – empfangen mag. Statt zweier Signale bekommt es ein halbes Signal. Was meiner Ansicht nach ebenso schädlich ist.« »Ja, aber partielle, nichtkonkurrierende Funktionen sind immer noch besser als gar keine Funktionen, weil paarweise auftretende, konkurrierende Überkreuz-Über­lagerungen sich am Ende immer zu einer Null-Aufnahme auf summieren.« »Sehen Sie mal, Fred«, sagte der andere Mann, »Sie können nicht länger –« »Ich werde nie wieder Substanz T einpfeifen«, sagte Fred. »In meinem ganzen Leben nicht mehr.« »Wieviel schlucken Sie jetzt?« »Nicht viel.« Nach Pause sagte er: »In letzter Zeit mehr. Wegen dem Streß bei meinem Job. « »Man sollte Sie auf jeden Fall von Ihren Aufgaben entbinden«, sagte der Psychologe. »Sie ganz freistellen. Sie sind geschädigt, Fred. Und Sie werden das noch für eine ganze Zeit sein. Allermindestens. Was danach sein wird, kann jetzt noch niemand mit Sicherheit wissen. Vielleicht werden Sie wieder ein volles Comeback machen; vielleicht aber auch nicht.« »Und wie kommt es«, knirschte Fred, »daß die beiden Hemisphären meines Gehirns, selbst wenn sie beide zugleich dominant sein mögen, nicht dieselben Reize empfangen? Warum können ihre beiden Dingsbumse nicht synchronisiert werden, wie etwa die beiden Kanäle beim Stereoempfänger?« Schweigen. »Ich meine«, sagte er gestikulierend, »die linke Hand und die rechte Hand – wenn die ein Objekt ergreifen, dasselbe Objekt, dann müßten –« »Linksseitigkeit versus Rechtsseitigkeit und ihre Bedeutung, zum Beispiel, sagen wir mal, hinsichtlich eines Spiegelbildes – in dem die linke Hand zur rechten Hand ›wird‹…« Der Psychologe beugte sich über Fred, der nicht aufschaute. »Wie würden Sie einen linken Handschuh im Gegensatz zu einem rechten Handschuh definieren, so daß jemand, der nichts über diese Begriffe weiß, Ihnen sagen könnte, welchen Sie meinen? Und nicht den anderen erwischt? Das spiegelbildliche Gegenstück?« »Ein linker Handschuh«, sagte Fred und hielt inne. »Es ist, ab nähme eine Hemisphäre Ihres Gehirns die Wirklichkeit so wahr, als werde sie von einem Spiegel widergespiegelt. Wie durch einen Spiegel hindurch. Verstehen Sie? Und darum wird links zu rechts, mit allen Implikationen, die sich daraus ergeben. Und wir wissen bisher noch nicht, was für Implikationen es mit sich bringt, wenn man die Welt auf diese Weise verkehrt sieht. Topologisch gesprochen ist ein linker Handschuh ein rechter Handschuh, der durch die Unendlichkeit gezogen wurde.« »Durch einen Spiegel hindurch«, sagte Fred. Ein dunkler Spiegel, dachte er; ein dunkler Schirm. Und der heilige Paulus hatte, wenn er von einem Spiegel sprach, nicht einen Glasspiegel – die hatte es damals noch gar nicht gegeben – gemeint, sondern das Abbild seiner selbst, das er sah, wenn er auf den polierten Boden einer metallenen Pfanne schaute. Das hatte Luckman ihm bei einer seiner theologischen Vorlesungen erzählt. Kein Blick durch ein Teleskop oder Linsensystem, wo ja keine Umkehrung stattfindet, kein Blick durch irgend etwas, sondern nur der Anblick seines eigenen Gesichts, zu ihm zurückgespiegelt, und zwar verkehrt – durch die Unendlichkeit gezogen. Wie sie es mir die ganze Zeit begreiflich machen wollten. Nicht durch ein Glas hindurch, sondern wie von einem Glas zurückgespiegelt. Und diese Widerspiegelung, die auf dich zurückfällt: das bist du, das ist dein Gesicht, aber zugleich auch wieder nicht. Und sie hatten in jenen alten Zeiten noch keine Kameras, und darum ist das die einzige Art, in der jemand sich selber sehen konnte: rückwärts. Ich habe mich selbst rückwärts gesehen. Ich habe in gewisser Hinsicht damit angefangen, das gesamte Universum rückwärts zu sehen. Mit der anderen Seite meines Gehirns! »Topologie«, sagte einer der Psychologen gerade. »Eine bisher nur unzulänglich verstandene Wissenschaft oder mathematische Theorie, wie auch immer man das bezeichnen will. Genau wie die Schwarzen Löcher im Weltall, wie –« »Fred sieht die Welt von innen heraus«, erklärte der andere Mann gerade im selben Augenblick. »Von vorne und von hinten zugleich, vermute ich. Es dürfte uns schwerfallen, zu sagen, wie sie ihm daher erscheint. Die Topologie ist der Zweig der Mathematik, der jene Eigenschaften einer geometrischen oder andersgearteten Konfiguration untersucht, die unverändert bleiben, wenn das Objekt einer isomorphen, ja jeder denkbaren isomorphen, kontinuierlichen Transformation unterworfen wird. Aber angewandt auf die Psychologie …« »Und wenn Objekte eine solche Transformation durchmachen – wer weiß, wie sie dann hinterher aussehen würden? Sie würden prinzipiell unerkennbar sein. Um ein Analogiebeispiel zu wählen: Wenn ein primitiver Eingeborener zum ersten Mal eine Fotografie von sich sieht, dann erkennt er nicht, daß er das selbst ist. Und das, obwohl er doch schon viele Male sein Spiegelbild gesehen hat, in Flüssen oder auf der Oberfläche metallener Gegenstände. Weil sein Spiegelbild nämlich seitenverkehrt ist und die Fotografie nicht. Darum weiß er nicht, daß es dieselbe Person ist.« »Er ist nur das seitenverkehrte, zurückgespiegelte Abbild gewohnt und denkt, er sehe so aus.« »Es kommt auch oft vor, daß eine Person, die ihre eigene Stimme vom Tonband hört –« »Das ist etwas ganz anderes. Das hat etwas zu tun mit der Resonanz im Sinus –« »Vielleicht seid ihr Scheißkerle es«, sagte Fred, »die das Universum verkehrt sehen, wie in einem Spiegel. Vielleicht sehe ich es richtig.« »Sie sehen es auf beide Arten. « »Und welches ist nun –« Ein Psychologe sagte: »Früher wurde bisweilen die Ansicht vertreten, daß man nur ›Abspiegelungen‹ der Wirklichkeit sehe. Nicht die Wirklichkeit selbst. Der grundlegende Fehler einer solchen Abspiegelung ist nicht, daß sie nicht wirklich ist, sondern daß sie umgekehrt ist. Ich frage mich …« In seiner Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit. »Parität. Das wissenschaftliche Prinzip der Gleichgewichtigkeit. Universum und abgespiegeltes Bild, und aus irgendeinem Grunde halten wir das letztere für das erstere … weil es uns an bilateraler Parität mangelt.« »Wohingegen eine Fotografie das Fehlen der bilateralen hemisphärischen Parität kompensieren kann; sie ist nicht das Ding, aber sie ist auch nicht verkehrt, so daß fotografische Bilder gar keine bloßen Abbilder mehr wären, sondern das Ding selbst in ihnen aufgehoben sein müßte. Durch eine Umkehrung der Umkehrung.« »Aber ein Foto kann auch durch einen unglücklichen Zufall umgekehrt werden, nämlich wenn man das Negativ falsch herum einlegt und seitenverkehrt belichtet; man kann das normalerweise nur erkennen, wenn Schrift auf dem Bild ist. Aber nicht am Gesicht eines Menschen. Man könnte zwei Kontaktabzüge von einem beliebigen Menschen haben, einen seitenverkehrten und einen korrekten. Jemand, der diesem Menschen nie persönlich begegnet wäre, könnte nicht feststellen, welches das richtige Bild wäre, aber er könnte sehen, daß sie sich voneinander unterscheiden und nicht zur Deckung gebracht werden können.« »Merken Sie jetzt, Fred, wie vielschichtig das Problem ist, den Unterschied zwischen einem linken Handschuh und –« »Und alsbald wird sich das Wort erfüllen, das da geschrieben steht«, sagte eine Stimme. »Der Tod wird aufgezehrt. Im Sieg.« Vielleicht konnte nur Fred diese Worte vernehmen. »Denn«, sagte die Stimme, »sobald die Schrift rückwärts erscheint, wirst du wissen, was Illusion ist und was nicht. Die Verwirrung endet, und der Tod, der letzte Feind, Substanz Tod, wird nicht hinuntergeschluckt, sondern au/gezehrt – im Sieg. Siehe, ich verkünde dir nun das heilige Geheimnis: Wir werden nicht alle im Tode ruhen.« Das Geheimnis, dachte er, er meint die Offenbarung. Eines Geheimnisses. Eines geheiligten Geheimnisses. Wir werden nicht sterben. Die Spiegelbilder werden erlöschen Und das wird rasch geschehen. Wir werden alle verwandelt sein, und damit meint er: plötzlich wieder umgekehrt, auf rechte Weise. In einem Augenblick! Weil, dachte er düster, während er zuschaute, wie die Polizeipsychologen ihre Schlußfolgerungen schriftlich fixierten und die Berichtbögen abzeichneten, wir jetzt verkehrt sind. Ganz beschissen nach rückwärts gekehrt, nehme ich an, jeder einzelne von uns, jedermann und jedes verdammte Ding, und auch die Abstände zwischen uns und sogar die Zeit. Aber wie lange, dachte er, dauert es wohl, wenn ein Abzug gemacht wird, ein Kontaktabzug, und der Fotograf entdeckt, daß er das Negativ falsch eingelegt hat, wie lange dauert es da wohl, es wieder zu wenden? Es wieder umzukehren, so daß es wieder so ist, wie es eigentlich sein sollte? Den Bruchteil einer Sekunde. Jetzt begreife ich, dachte er, was jene Bibelstelle bedeutet: Durch ein dunkles Glas. Aber trotzdem ist mein perzeptives System so im Arsch wie eh und je. Wie sie es mir erklärt haben. Ich begreife, aber ich bin hilflos – kann mir nicht selber helfen. Da ich beide Formen auf einmal sehe, dachte er, die, die der Norm entspricht, und die, die ihr nicht entspricht, bin ich vielleicht der erste Mensch in der Geschichte, für den beides völlig gleichwertig ist und der so einen flüchtigen Blick von dem erhascht, wie es sein wird, wenn alles richtig ist. Obwohl ich auch das andere wahrnehme, das Gewöhnliche. Und was davon ist was? Was ist verkehrt, und was nicht? Wann sehe ich eine Fotografie, wann ein Spiegelbild? Und wie hoch ist wohl mein Krankengeld oder mein Ruhestandsgehalt oder meine Invalidenrente, während die mich trockenlegen? fragte er sich, und schon jetzt spürte er ein ungeheures Entsetzen, eine alles durchdringende Furcht und Kälte. Wie kalt ist es in diesem unterirdischen Gewölbe! Das ist natürlich, es ist ja tief.[10 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.] Und ich muß von dem Dreck loskommen. Auf Entzug gehen. Ich habe gesehen, wie andere Leute das durchgemacht haben. Herr im Himmel, dachte er und schloß die Augen. »Es mag wie Metaphysik klingen«, sagte einer von ihnen gerade, »aber die Leute bei den Mathematikern sagen, daß wir so dicht vor der Grenze einer neuen Kosmologie stehen könnten, daß –« Der andere sagte erregt: »Die Unendlichkeit der Zeit, die als Ewigkeit ausgedrückt wird – als eine Schleife. Genau wie eine Endlosschleife auf einer Tonbandcassette!« * Er mußte noch eine Stunde rumbringen, bis er wieder in Hanks Büro erwartet wurde, um sich Barris’ Beweise anzuhören und sie zu überprüfen. Die Cafeteria des Gebäudes zog ihn irgendwie an, und so ging er in diese Richtung, Teil eines ununterbrochenen Stromes von Menschen in Uniform und Menschen in Jedermann-Anzügen und Menschen in Schlips und Kragen. In der Zwischenzeit wurden die Befunde der Psychologen vermutlich gerade zu Hank hochgebracht. Sie würden dort vorliegen, wenn er hinkam. Wenigstens gibt mir diese Frist Zeit zum Nachdenken, überlegte er, als er in die Cafeteria schlenderte und sich in die Schlange der Wartenden einreihte. Zeit. Angenommen, dachte er, die Zeit ist rund, wie die Erde. Du segelst nach Westen, um Indien zu erreichen. Alle lachen dich aus, aber am Ende liegt Indien da vor dir, nicht hinter dir. In der Zeit – vielleicht liegt die Kreuzigung vor uns, während wir dahinsegeln und glauben, sie liege hinter uns im Osten. Vor ihm eine Sekretärin. Enger blauer Sweater, kein BH, fast kein Rock. Es war ein angenehmes Gefühl, sie mit Blicken auszuziehen; er starrte und starrte, und schließlich bemerkte sie ihn und rückte unbehaglich mit ihrem Tablett ein paar Schritte weiter vor. Die Menschwerdung und die Wiederkunft Christi – ein und dasselbe Ereignis, dachte er; Zeit eine Endlosschleife auf einer Tonbandcassette. Kein Wunder, daß sie sich so sicher waren, daß es geschehen würde. Er würde zurückkommen. Er betrachtete das Hinterteil der Sekretärin, aber dann fiel ihm ein daß sie ihn ihrerseits unmöglich so erkennen konnte, wie er sie erkannte, denn in seinem Anzug hatte er kein Gesicht und keinen Arsch. Aber sie spürt, daß ich sie im Visier habe, entschied er. Jede Puppe mit solchen Beinen würde das sehr deutlich spüren – bei jedem Mann. Weißt du, dachte er, in diesem Jedermann-Anzug könnte ich ihr eins über den Kopf geben und sie bis in alle Ewigkeit bumsen, und wer würde je erfahren, wer es getan hat? Wie könnte sie mich überhaupt identifizieren? Was für Verbrechen man in diesen Anzügen begehen könnte! philosophierte er. Aber nicht nur richtige Ver­brechen, sondern auch läßlichere Sünden – Sachen eben, die man sonst nie tat; immer tun wollte, aber nie tat. »Miß« sagte er zu dem Mädchen mit dem engen blauen Sweater, »Sie haben aber verdammt hübsche Beine. Aber ich vermute, das wissen Sie längst, oder Sie würden nicht so einen Mikrorock wie den da tragen.« Das Mädchen schnappte nach Luft. »Eh«, sagte sie. »Oh, jetzt weiß ich, wer Sie sind.« »Wirklich?« sagte er überrascht. »Pete Wickam«, sagte das Mädchen. »Was?« sagte er. »Sind Sie nicht Pete Wickam? Sie sitzen mir immer bei Tisch gegenüber – Sie sind’s doch, Pete?« »Bin ich der Typ«, sagte er, »der immer dasitzt und Ihre Beine mustert und eine Menge über Sie-wissen-schon-was nachgrübelt?« Sie nickte. »Habe ich eine Chance?« sagte er. »Nun, kommt ganz drauf an.« »Darf ich Sie demnächst mal abends zum Essen einladen?« »Vielleicht.« »Kann ich Ihre Telefonnummer haben? Damit ich Sie anrufen kann?« Das Mädchen murmelte: »Geben Sie mir lieber Ihre.« »Ich werde Sie Ihnen geben«, sagte er, »wenn Sie sich jetzt zu mir hersetzen und mit mir essen. Was immer Sie haben möchten.« »Nein, da drüben sitzt eine Freundin von mir – sie wartet auf mich.« »Dann könnte ich mich doch zu Ihnen setzen, zu Ihnen beiden.« »Wir wollen was Persönliches besprechen.« »Okay«, sagte er. »Tja, dann bis demnächst mal, Pete.« Sie ließ ihn stehen und trat mit ihrem Tablett, auf dem Besteck und eine Serviette lagen, zur Essensausgabe. Er holte sich einen Kaffee und ein Sandwich, suchte sich einen freien Tisch und setzte sich alleine hin. Ließ kleine Brocken von dem Sandwich in den Kaffee fallen. Starrte darauf. Sie werden mich von Arctor abziehen, entschied er. Verdammte Scheiße. Ich werde in Syanon oder im Neuen Pfad oder in einem anderen dieser Heime sitzen und auf Entzug sein, und sie werden jemand anders damit beauftragen, ihn zu beobachten und die Erkenntnisse über ihn auszuwerten. Irgendein Arschloch, das einen Scheißdreck über Arctor weiß. Sie werden noch einmal ganz von vorne anfangen müssen. Wenigstens können sie mich Barris’ Beweise begutachten lassen, dachte er. Mich erst in den zeitweiligen Ruhestand versetzen, nachdem wir das Zeug durchgecheckt haben, was immer es auch ist. Wenn ich sie wirklich mal bumsen würde, und wie würde schwanger, grübelte er. Die Babys – keine Gesichter. Nur vage Flecken. Er schauderte. Ich weiß, daß man mir den Fall entziehen muß. Aber warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Wenn ich nur noch ein paar Dinge tun könnte … Barris’ Informationen bearbeiten, an der Entscheidung teilhaben. Oder einfach nur dasitzen und sehen, was er vorlegt. Um meines eigenen Seelenfriedens willen endlich herausfinden, in was Arctor eigentlich verwickelt ist. Ist er überhaupt in etwas verwickelt? Oder etwa doch nicht? Sie sind es mir schuldig, mir zu gestatten, lange genug dabeizubleiben, um das herauszufinden. Wenn ich bloß einfach nur zuhören und zuschauen könnte, sogar ohne etwas zu sagen. Er saß da und starrte vor sich hin, und irgendwann später bemerkte er, daß das Mädchen in dem engen blauen Sweater und ihre Freundin, die kurze, schwarze Haare hatte, von ihrem Tisch aufstanden und sich anschickten, hinauszugehen. Die Freundin, die nicht besonders scharf aussah, zögerte plötzlich und kam dann auf den Tisch zu, an dem Fred vornübergebeugt vor seinem Kaffee und den Überresten des Sandwichs saß. »Pete?« sagte das Mädchen mit den kurzen Haaren. Er schaute auf. »Äh, Pete«, sagte sie nervös. »Ich habe nur einen winzigen Augenblick Zeit. Äh, wollte es Ihnen eigentlich selbst sagen, aber dann hatte sie doch nicht die Traute. Pete, sie wäre schon längst mit Ihnen ausgegangen, vielleicht schon vor einem Monat oder so, vielleicht sogar schon im März. Wenn –« »Wenn was?« sagte er. »Nun, sie hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen schon seit einiger Zeit den Tip geben wollte, daß Sie viel mehr Erfolg hätten, wenn Sie eines dieser Mittel benutzen würden … sagen wir, Odol.« »Ich wünschte, ich hätte das früher gewußt«, sagte er ohne Begeisterung. »Okay, Pete«, sagte das Mädchen und wandte sich sichtlich erleichtert zum Gehen. »Bis später mal.« Grinsend eilte sie davon. Der arme Teufel, dachte er bei sich selbst. War das nun wirklich gut gemeint? Oder einfach nur eine Verarscherei, um Pete endgültig durcheinanderzubringen? Ausgekocht von zwei gehässigen Weibsbildern, als sie sahen, wie er – ich – hier so alleine saß. Einfach nur ein mieser kleiner Seitenhieb, um – Ach, zur Hölle damit, dachte er. Oder es könnte auch wahr sein, entschied er, während er sich den Mund abwischte, seine Serviette zerknüllte und sich steif erhob. Ich möchte zu gerne wissen, ob der heilige Paulus Mundgeruch hatte. Er schlenderte aus der Cafeteria, die Hände wieder in den Taschen vergraben. In den Taschen des Jedermann-Anzugs und dann auch in den richtigen Anzugtaschen darunter. Vielleicht war das der Grund dafür, warum Paulus in den späteren Jahren seines Lebens dauernd im Gefängnis saß. Sie haben ihn deswegen reingesteckt. Auf solche beschissenen Trips wird man ausgerechnet immer dann geschickt, wenn sowieso schon alles schiefläuft, dachte er, als er die Cafeteria verließ. Erst diese ganzen Tiefschläge, und dann knallt einem so eine Puppe glatt noch mal einen vor den Latz. Als ob die gebauten Weisheiten dieser Psychologen-Macker, die sich für unfehlbarer als der Papst halten, nicht schon ausreichen würden. Anscheinend nicht. Scheiße, dachte er. Er fühlte sich jetzt sogar noch schlechter als vorher; er konnte kaum noch gehen, kaum noch denken; sein Gehirn summte, so durcheinander war er. Durcheinander und verzweifelt. Jedenfalls, dachte er, bringt’s Odol nicht; Lavons ist besser. Außer, daß es, wenn du’s wieder ausspuckst, so aussieht, als würdest du Blut spucken. Vielleicht Micrin, dachte er. Das könnte das Richtige sein. Wenn es in diesem Gebäude einen Drugstore gäbe, dachte er, könnte ich mir eine Flasche kaufen und das Zeug anwenden, bevor ich raufgehe, um Hank gegenüberzutreten. Und dann – dann würde ich vielleicht selbstsicherer auftreten können. Vielleicht würde ich eine bessere Chance haben. Ich könnte jetzt alles gebrauchen, überlegte er, was mir irgendwie helfen könnte. Ganz egal, was. Jeden Fingerzeig, wie den, den mir dieses Mädchen gegeben hat. Jeden guten Rat. Er fühlte sich niedergeschlagen und ängstlich. Scheiße, dachte er, was soll ich bloß machen? Wenn ich von allem runter bin, dachte er, dann werde ich keinen von ihnen mehr wiedersehen, keinen meiner Freunde, der Leute, die ich beobachtet und gekannt habe. Ich werde endgültig draußen sein; ich werde vielleicht für den Rest meines Lebens außer Dienst sein. Auf jeden Fall werde ich sie nie wieder zu Gesicht kriegen, weder Arctor noch Luckman noch Jerry Fabin noch Charles Freck. Und, was am schlimmsten ist. auch Donna Hawthorne nicht. Ich werde keinen meiner Freunde wiedersehen, für den Rest der Ewigkeit. Es ist aus. Donna. Dun fiel ein Lied ein, das sein Großonkel vor Jahren zu singen pflegte, in Deutsch. »Ich seh’, wie ein Engel im rosigen Duft Sich tröstend zur Seite mir stellet.«[11 - Anm. d. Übers.: Im Original zuerst in Deutsch und dann in Englisch.] Sein Großonkel hatte ihm die Zeilen übersetzt und ihm erklärt, mit dem Engel sei die Frau gemeint, die er liebte, die Frau, die ihn rettete (im Lied). Im Lied, nicht im wirklichen Leben. Jetzt war sein Großonkel schon tot, und es war lange her, daß er jene Worte gehört hatte. Die Stimme seines in Deutschland geborenen Großonkels, der im Haus sang oder laut las. Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille! Öd’ ist es um mich her. Nichts lebet außer mir…[12 - Anm. d. Übers.: Im Original zuerst in Deutsch und dann in Englisch.] Selbst wenn mein Gehirn nicht ausgebrannt ist, begriff er, wenn ich später wieder im Dienst sein werde, wird jemand anders zu ihrer Überwachung eingesetzt worden sein. Oder sie werden tot sein oder im Knast oder in Staatlichen Nervenkliniken oder einfach nur in alle Winde verstreut, verstreut, verstreut. Ausgebrannt und zerstört, so wie ich, unfähig, herauszuknobeln, was zum Teufel eigentlich läuft. Für mich ist alles irgendwie an einem Endpunkt angekommen. Ich habe, ohne es zu wissen, längst adieu gesagt. Alles, was ich irgendwann tun könnte, dachte er, ist, die Holo-Bänder wieder abzuspielen, um mich an sie zu erinnern. »Ich sollte ins Kontroll-Zentrum gehen …« Er blickte um sich und verstummte. Ich sollte ins Kontroll-Zentrum gehen und die Bänder jetzt klauen, dachte er. Solange ich noch dazu in der Lage bin. Später mögen sie gelöscht werden, und später werde ich sowieso keinen Zugang mehr zu ihnen haben. Scheiß was auf die Abteilung, dachte er; sie können die Materialkosten ja mit meinem ausstehenden Gehalt verrechnen. Aufgrund jeder ethischen Erwägung gehören mir die Bänder von jenem Haus und den Leuten darin. Und jetzt, jetzt sind diese Bänder alles, was ich von all dem übrigbehalten habe; das ist alles, was ich mitzunehmen hoffen kann. Aber zum Abspielen der Bänder, dachte er gehetzt, brauche ich auch das komplette holografische Projektionssystem aus dem Kontroll-Zentrum. Ich werde es demontieren und Stück für Stück wegkarren müssen. Die Kameras und die Aufzeichnungskomponenten werde ich ja nicht benötigen – nur die Abspielvorrichtung und die Mitschauanlage. Ja, besonders die Schirme. Sie werden mich zwar auffordern, den Schlüssel abzuliefern, aber ich kann mir ein Duplikat davon machen lassen, kurz bevor ich ihn abgebe; es ist ein ganz gewöhnlicher BKS-Schlüssel. Ich kann es schaffen! Er fühlte sich sogleich wohler, als er das begriff; in seinem Innern spürte er grimmige Entschlossenheit und eine neue innere Stärke. Und ein wenig Zorn. Auf jedermann. Und Befriedigung darüber, wie gut er alles regeln würde. Wenn ich andererseits auch die Kameras und die Aufzeichnungsgeräte und das ganze andere Zeug klauen würde, dachte er, könnte ich die Überwachung fortführen. Auf eigene Faust. Könnte die Kontrolle am Leben erhalten, wie ich es bisher getan habe. Zumindest für eine Weile. Aber schließlich ist alles im Leben nur für eine Weile – wie das hier beweist. Die Überwachung, dachte er, muß erhalten bleiben, das ist das Wichtigste. Und, wenn möglich, die Überwachung durch mich. Ich sollte bis in alle Ewigkeit beobachten, beobachten und auswerten, selbst wenn ich nie irgend etwas hinsichtlich dessen, was ich sehe, unternehme; selbst wenn ich einfach nur dasitze und still überwache, ungesehen: das allein ist wichtig, allein die Tatsache, daß ich an meinem Platz bin und alles überwache, was passiert. Nicht um ihretwillen. Um meinetwillen. Yeah, verbesserte er sich, auch um ihretwillen. Falls etwas passiert, so wie damals, als Luckman erstickte. Wenn jemand zuschaut – wenn ich zuschaue –, kann ich es bemerken und Hilfe holen. Um Hilfe telefonieren. Ihnen auf der Stelle Beistand leisten. Den richtigen Beistand. Sonst, dachte er, könnten sie sterben, und niemand würde darum wissen! Darum wissen oder sich vielleicht auch nur einen Scheißdreck darum kümmern. Irgendwer muß doch in so erbärmliche kleine Leben wie die ihren eingreifen. Oder wenigstens ihre traurigen Auftritte und Abgänge registrieren. Registrieren und, wenn möglich, dauerhaft aufzeichnen, damit man sich an sie erinnere und ihrer gedenke. An einem besseren Tag, später mal, wenn die Menschen begreifen werden. * In Hanks Büro saß er mit Hank und einem uniformierten Beamten und dem schwitzenden, grinsenden Informanten Jim Barris zusammen, während auf dem Tisch vor ihnen eine von Barris’ Cassetten ablief. Ein zweites Gerät zeichnete die Einspielungen auf, damit auch für den Abteilungsgebrauch eine Kopie zur Verfügung stand. »… Oh, hallo. Hör mal, ich kann jetzt nicht sprechen.« »Wann denn?« »Ich ruf dich zurück. »Aber es ist dringend.« »Worum geht’s denn?« »Wir planen –« Hank hob die Hand und gab Barris ein Zeichen, das Band anzuhalten. »Würden Sie bitte die Stimmen für uns identifizieren, Mr. Barris?« sagte Hank. »Aber natürlich«, erklärte Barris eifrig. »Die weibliche Stimme ist die von Donna Hawthorne, die männliche die von Robert Arctor.« »All right«, sagte Hank nickend und blickte dann Fred an. Er hatte Freds medizinischen Befund vor sich liegen und blickte immer wieder hinein. »Lassen Sie das Band weiterlaufen.« »… halb Südkalifornien morgen nacht«, fuhr die Männerstimme, die der Informant als die Bob Arctors identifiziert hatte, fort. »Das Luftwaffendepot in Vandenberg AFB soll überfallen werden, um automatische und halbautomatische Waffen –« Hank hielt in der Lektüre des medizinischen Berichts inne und hörte zu, wobei er den vom Jedermann-Anzug verwischten Kopf hin und her wiegte. Barris, der bisher still vor sich hin gegrinst hatte, grinste nun alle im Raum offen an; seine Finger spielten mit Büroklammern, die er vom Tisch genommen hatte, fummelten und fummelten, als wolle er aus Draht ein Metallnetz stricken. Er strickte und fummelte und schwitzte und strickte. Die weibliche Person, die als Donna Hawthorne identifiziert worden war, sagte: »Was ist mit dieser Desorientierungsdroge, die die Motorradfreaks für uns geklaut haben? Wann bringen wir dieses Dreckszeug hoch zur Wasserscheide, um –« »Die Organisation braucht zuerst die Waffen«, sagte die Stimme des Mannes. »Das andere ist Stufe B.« »Okay, aber jetzt muß ich Schluß machen; ich habe einen Kunden.« Klick. Klick. Barris verlagerte sein Gewicht im Stuhl und sagte laut: »Ich kann die eben erwähnte Motorrad-Gang identifizieren. Sie wird noch auf einem anderen –« »Haben Sie noch mehr Material von dieser Sorte?« sagte Hank. »Um diese Erkenntnisse zu vertiefen? Oder handelt es sich im wesentlichen nur um dieses eine Band?« »Viel mehr.« »Aber es dreht sich im Grunde immer um das gleiche.« »Sicher, es bezieht sich auf die gleiche konspirative Organisation und ihre Pläne, ja. Insbesondere auf dieses Komplott.« »Was sind das für Leute?« sagte Hank. »Und was ist das für eine Organisation?« »Es ist eine weltweite –« »Nennen Sie uns Namen. Sie spekulieren schon wieder.« »Robert Arctor, Donna Hawthorne, in erster Linie. Ich habe hier auch verschlüsselte Nachrichten …« Barris fummelte mit einem schmutzigen Notizbuch herum, ließ es beinahe fallen, als er versuchte, es aufzuschlagen. Hank sagte: »Ich beschlagnahme das ganze Zeug hier, Mr. Barris, die Bänder und was Sie sonst noch haben. Dir Beweismaterial geht damit zeitweise in unseren Besitz über. Wir werden es selbst sichten. »Aber meine Handschrift … und das chiffrierte Material, das ich –« »Sie werden zur Verfügung stehen, um uns das zu erklären, wenn wir zu diesem Punkt kommen und das Gefühl haben, daß wir irgend etwas erklärt haben möchten.« Hank gab dem uniformierten Bullen, nicht Barris, ein Zeichen, die Cassette zu stoppen. Barris streckte die Hand zur Abschalttaste aus. Sofort hielt ihn der Bulle auf und stieß ihn grob zurück. Blinzelnd starrte Barris die anderen Männer an, immer noch maskenhaft lächelnd. »Mr. Barris«, sagte Hank, »wir können Sie leider nicht entlassen, bis die Sichtung dieses Materials abgeschlossen ist. Damit Sie jederzeit verfügbar sind, werden Sie formal unter dem Vorwurf belangt werden, den Behörden wissentlich falsche Informationen vorgelegt zu haben. Das ist natürlich nur ein Vorwand um Ihrer eigenen Sicherheit willen, und wir alle wissen das, aber die formale Anklage wird jedenfalls erhoben werden. Sie wird an den Bezirksstaatsanwalt weitergeleitet werden, allerdings mit einem Stillhaltevermerk. Ist diese Regelung zufriedenstellend?« Er wartete nicht auf eine Antwort; statt dessen gab er dem uniformierten Bullen ein Zeichen, Barris hinauszubringen. Die Beweise und der Shit und der ganze restliche Kram blieben auf dem Tisch zurück. Der Bulle führte den grinsenden Barris hinaus. Hank und Fred saßen sich gegenüber, zwischen sich das Durcheinander auf dem Tisch. Hank sagte nichts; er las die Befunde der Psychologen. Nach einer Weile hob er den Telefonhörer ab und wählte eine hausinterne Nummer. »Ich habe hier eine Ladung noch nicht ausgewertetes Material – ich möchte, daß Sie es durchsehen und feststellen, wieviel davon eine Fälschung ist. Geben Sie mir über Ihre Erkenntnisse Bescheid, und dann werde ich Ihnen sagen, was Sie als nächstes damit machen sollen. Es sind ungefähr zwölf Pfund; Sie werden wohl einen Pappkarton brauchen, Größe drei. Okay, danke.« Er legte auf. »Das Elektronik- und Entschlüsselungslabor«, informierte er Fred und las weiter. Zwei schwerbewaffnete uniformierte Labortechniker erschienen mit einem schweren Stahlbehälter. »Wir konnten nur den hier finden«, entschuldigte sich einer von ihnen, als sie die Beweisstücke auf dem Tisch sorgfältig in den Kasten luden. »Wer hat da unten jetzt Dienst?« »Hurley.« »Richten Sie Hurley aus, daß er das auf jeden Fall noch irgendwann heute sichten soll. Und er soll mir sofort Bericht erstatten, wenn er Hinweise darauf findet, daß es sich um Fälschungen handeln könnte. Die Sache muß unbedingt noch heute über die Bühne gehen; sagen Sie ihm das.« Die Labortechniker verschlossen den Metallkasten und schleppten ihn wieder aus dem Büro. Hank warf die medizinischen Befunde auf den Tisch, lehnte sich zurück und sagte: »Was – okay, was haben Sie bisher für ein Gefühl bei Barris’ Beweisen?« Fred sagte: »Das ist mein medizinischer Bericht, den Sie da haben, nicht wahr?« Er streckte die Hand aus, um ihn aufzuheben, überlegte er sich dann aber anders. »Ich würde sagen, das, was er uns vorgespielt hat, die kurzen Passagen, die er uns vorgespielt hat, das hörte sich für mich echt an.« »Es ist eine Fälschung«, sagte Hank. »Völlig wertlos.« »Sie mögen recht haben«, sagte Fred, »aber ich bin anderer Ansicht.« »Das Depot in Vandenberg, über das sie sprachen, ist möglicherweise das OSI-Depot.« Hank griff nach dem Telefon. Wie im Selbstgespräch sagte er laut: »Wollen wir doch mal sehen – wie hieß der Typ vom OSI doch gleich, mit dem ich mich damals unterhalten habe … er war am Donnerstag mit einigen Bildern hier …« Hank schüttelte den Kopf, schob das Telefon wieder weg und wandte sich erneut Fred zu. »Ich werde damit warten. Das hat Zeit, bis der vorläufige Bericht über die Fälschungen vorliegt. Fred?« »Was sagt mein medizinischer –« »Sie behaupten, daß Sie völlig plemplem sind.« Fred zuckte die Achseln, so gut er das in seinem Jedermann-Anzug konnte. »Völlig?« Wie kalt ist es in diesem unterirdischen Gewölbe![13 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.] »Na, vielleicht flackern noch irgendwo so zwei Gehirnzellen vor sich hin. Aber das war’s auch schon. Hauptsächlich Kurzschlüsse und Funken.« Das ist natürlich, es ist ja tief.[14 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original] »Zwei, sagen Sie«, sagte Fred. »Von wie vielen?« »Keine Ahnung. Das Gehirn hat eine Menge Zellen. Soviel ich weiß – Billionen.« »Und es gibt mehr mögliche Verbindungen zwischen ihnen«, sagte Fred, »als Sterne im Universum.« »Wenn das stimmt, dann haben Sie aber im Moment keine allzu gute Trefferquote. Ungefähr zwei Zellen von – vielleicht fünfundsechzig Billionen?« »Eher fünfundsechzig Billionen Billionen«, sagte Fred. »Das ist ja noch schlechter als die Trefferquote der guten alten Philadelphia Phillies unter Connie Mack. Die schlossen die Saison immer mit einem Prozentsatz von –« »Was kriege ich,« sagte Fred, »wenn ich angebe, daß es in Ausübung meines Dienstes passiert ist?« »Einen Ehrenplatz in einem Wartezimmer, wo Sie ganz umsonst eine Menge Saturday Evening Posts und Cosmopolitans lesen dürfen.« »Und wo ist dieses Wartezimmer?« »Wo möchten Sie denn am liebsten hin?« Fred sagte: »Darüber müßte ich erst mal nachdenken.« »Ich will Ihnen mal sagen, was ich tun würde«, sagte Hank. »Ich würde nicht in eine Staatliche Nervenklinik gehen; ich würde mir an Ihrer Stelle sechs Flaschen guten Bourbons kaufen, Marke I. W. Harper, und in die Hügel gehen, ‘rauf in die San Bernadino-Berge, irgendwo in die Nähe eines der Seen, in eine einsame Gegend, und einfach ganz allein dort bleiben, bis alles vorüber ist. An einem Ort, wo mich niemand finden kann.« »Aber vielleicht geht es nie mehr vorüber.« »Dann kommen Sie eben nie mehr zurück. Kennen Sie irgendwen, der da oben ein Blockhaus hat?« »Nein«, sagte Fred. »Sind Sie fit genug, um zu fahren?« »Mein –« Er hielt inne, und eine traumartige Kraft überkam ihn; plötzlich fühlte er sich ganz entspannt und gelöst. Alle räumlichen Beziehungen in dem Büro veränderten sich; die Veränderung berührte sogar seine Zeitwahrnehmung. »Er ist in …« Er gähnte. »Sie erinnern sich nicht.« »Ich erinnere mich daran, daß er nicht mehr funktioniert.« »Wir könnten dafür sorgen, daß jemand Sie hinauffährt. Das wäre auf jeden Fall sicherer.« Mich wo hinauffährt? fragte er sich. Hinauf in was? Straßen, Feldwege, Pfade hinauf, zerrend und sich aufbäumend in der Motsche, wie ein Kater an einer Leine, der nur wieder ins Haus zurückwill. Der sich befreien will. Er dachte: Ein Engel, der Gattin so gleich, der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich.[15 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original] Sicher«, sagte er und lächelte. Erleichterung. Gegen den Zug der Leine ankämpfen, sich abmühen, freizukommen, und sich dann zur Ruhe betten. »Was denken Sie jetzt eigentlich von mir«, sagte er, »jetzt, da Sie wissen, daß ich so einer bin – ausgebrannt, vorübergehend jedenfalls. Vielleicht auch auf Dauer.« Hank sagte: »Ich denke, daß Sie ein sehr guter Mensch sind.« »Danke«, sagte Fred. »Nehmen Sie Ihren Revolver mit.« »Was?« sagte er. »Wenn Sie mit den I. W. Harper-Flachmännern in die San Bernadino-Berge aufbrechen. Packen Sie Ihren Revolver ein.« »Sie meinen, für den Fall, daß ich nicht mehr von dem Zeug loskomme?« Hank sagte: »Nicht nur für diesen Fall. Bei der Dosis, auf der Sie laut diesem Bericht mittlerweile sind, sind die Entziehungserscheinungen … Sie sollten ihn bei sich haben.« »Okay.« »Wenn Sie zurückkommen«, sagte Hank, »melden Sie sich bei mir. Lassen Sie es mich wissen.« »Hölle, ich werde meinen Anzug nicht anhaben.« »Rufen Sie mich trotzdem an. Mit oder ohne Ihren Anzug.« Wieder sagte er: »Okay.« Offenbar machte selbst das nichts mehr aus. Offenbar war das ein für allemal vorüber. »Wenn Sie hingehen und Ihre nächste Gehaltszahlung abholen, wird unter dem Strich ein anderer Betrag stehen. Der Unterschied wird beträchtlich sein, allerdings nur dieses eine Mal.« Fred sagte: »Bekomme ich einen Bonus dafür – für das, was mir passiert ist?« »Nein. Lesen Sie Ihre Dienstvorschrift. Ein Beamter, der willentlich süchtig wird und das nicht auf der Stelle meldet, macht sich eines Dienstvergehens schuldig und muß mit einer Geldbuße von dreitausend Dollar und/oder sechs Monaten Haft rechnen. Sie werden möglicherweise nur mit einer Geldbuße davonkommen. « »Willentlich?« sagte er in ungläubigem Staunen. »Es hat Ihnen ja niemand eine Pistole an den Kopf gehalten und Sie mit dem Zeug vollgepumpt. Niemand hat Ihnen etwas in den Kaffee getan. Sie haben wissentlich und willentlich eine suchtbildende Droge eingenommen, eine Droge, die zu Gehirnschäden und Desorientierungserscheinungen führt.« »Aber ich mußte doch!« Hank sagte: »Sie hätten es auch vortäuschen können. Die meisten Beamten schaffen es, damit klarzukommen. Und wenn man die Menge in Betracht zieht, die Sie laut diesem Bericht schlucken –« »Sie behandeln mich wie einen Gauner. Ich bin kein Gauner.«[16 - Anm. des Übers.: Im Original: »I am not a crook » – ein wörtliches Zitat eines Ausspruchs des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon anläßlich seiner vom Fernsehen übertragenen Verteidigungsrede gegen die im Zusammenhang mit der Watergate-Affäre gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Außer Dick haben auch andere amerikanische Künstier dieses Zitat als Anspielung auf Richard »Tricky Dicky« Nixon ironisch verarbeitet, u. a. der Rockmusiker Frank Zappa in seinem Song »Son of Orange County«. Der »Sohn von Orange County« ist natürlich Richard Nixon, dessen Geburtsort im kalifornischen Orange County liegt – wo ja auch Philip K. Dick ganz bewußt die Handlung des vorliegenden Romans angesiedelt hat.] Hank griff nach einem Notizblock und einem Stift und begann zu rechnen. »Wie hoch sind Sie jetzt eigentlich, gehaltsmäßig, meine ich? Ich kann das Ganze ja mal durchrechnen, wenn –« »Könnte ich die Geldbuße nicht später bezahlen? Vielleicht in einer Reihe von monatlichen Raten, verteilt über zwei Jahre?« Hank sagte: »Na, hören Sie mal, Fred.« »Okay«, sagte er. »Wieviel kriegen Sie pro Stunde?« Er konnte sich nicht daran erinnern. »Wissen Sie wenigstens, wie viele eingetragene Stunden Sie haben?« Daran auch nicht. Hank warf den Schreibblock wieder hin. »Möchten Sie eine Zigarette?« Er bot Fred seine Schachtel an. »Ich werde mir auch das abgewöhnen«, sagte Fred. »Alles. Eingeschlossen Erdnüsse und …« Er konnte nicht mehr denken. Sie saßen beide einfach nur da, beide in ihren Jedermann-Anzügen, beide schweigend. »Wie ich meinen Kindern immer sage«, begann Hank. »Ich habe zwei Kinder«, sagte Fred. »Zwei Mädchen.« »Ich glaube nicht; von Rechts wegen dürften Sie keine haben.« »Vielleicht nicht.« Er hatte den Versuch unternommen, darüber nachzudenken, wann wohl die Entzugssymptome einsetzen würden, und jetzt unternahm er den Versuch, darüber nachzudenken, wie viele Tabletten Substanz T er an allen möglichen Stellen versteckt hatte. Und ob das Geld, das er in Zukunft am Zahltag kriegte, wohl reichen würde, genügend Nachschub ranzuschaffen. »Soll ich denn nun für Sie ausrechnen, wie hoch Ihr Ruhestandsgehalt sein wird, oder was?« sagte Hank. »Okay«, sagte er und nickte heftig. »Tun Sie das.« Er saß da und wartete angespannt, trommelte auf dem Tisch. Wie Barris. »Wieviel kriegen Sie also jetzt pro Stunde?« wiederholte Hank und griff dann resigniert zum Telefon. »Ich werde mal die Gehaltsstelle anrufen.« Fred sagte nichts, sondern starrte nur auf den Boden und wartete. Er dachte: Vielleicht kann Donna mir helfen. Donna, dachte er, bitte hilf mir jetzt. »Ich glaube nicht, daß Sie es bis in die Berge schaffen werden«, sagte Hank. »Selbst, wenn jemand Sie hinfährt.« »Nein.« »Wohin wollen Sie dann?« »Lassen Sie mich noch ein bißchen hier sitzen und nachdenken.« »Staatliche Nervenklinik?« »Nein.« Sie saßen da. Er fragte sich, was von Rechts wegen wohl bedeuten mochte. »Wollen Sie vielleicht rüber zu Donna Hawthorne?« sagte Hank. »Aufgrund der ganzen Informationen, die ich von Ihnen und allen anderen Agenten erhalten habe, weiß ich, daß Sie sich nahestehen.« »Ja.« Er nickte. »Tun wir.« Und dann blickte er auf und sagte: »Wie haben Sie das herausgefunden?« Hank sagte: »Durch einen Eliminationsprozeß. Ich weiß, wer Sie nicht sind, und die Zahl der Verdächtigen in dieser Gruppe ist nicht unendlich groß – tatsächlich handelt es sich ja sogar um eine sehr kleine Gruppe. Wir dachten, wir würden auf dem Weg über diesen Personenkreis weiter nach oben vorstoßen, und vielleicht gelingt uns das ja tatsächlich – durch Barris. Sie und ich haben eine Menge Zeit damit verbracht, miteinander zu plaudern. Ich hab’s schon vor langer Zeit rausgeknobelt. Daß Sie Arctor sind.« »Ich bin wer?« sagte er und starrte auf Hank, den Jedermann-Anzug, der ihm gegenübersaß. »Ich bin Bob Arctor?« Er konnte es nicht glauben. Es ergab keinen Sinn für ihn. Es paßte mit nichts von dem zusammen, was er getan oder gedacht hatte; es war grotesk. »Machen Sie sich nichts draus«, sagte Hank. »Wie ist Donnas Telefonnummer?« »Sie ist vielleicht gerade auf der Arbeit.« Seine Stimme zitterte. »In der Parfumerie. Die Nummer ist –« Er konnte seine Stimme nicht mehr unter Kontrolle halten, und er konnte sich nicht an die Nummer erinnern. Wer, zum Teufel, soll ich sein? sagte er zu sich selbst. Ich bin nicht Bob Arctor. Aber wer bin ich dann? Vielleicht bin ich – »Geben Sie mir die Telefonnummer von Donna Hawthornes Arbeitsstelle«, sagte Hank gerade rasch in die Sprechmuschel des Telefons. »Hier«, sagte er und hielt Fred den Hörer hin. »Sprechen Sie selbst mit ihr. Nein, vielleicht besser doch nicht. Ich werde ihr sagen, sie soll Sie abholen … wo? Wir werden Sie hinfahren und dort absetzen; Sie können sie schließlich nicht hier treffen. Wüßten Sie einen guten Ort? Wo treffen Sie sich für gewöhnlich?« »Bringen Sie mich zu ihrer Wohnung«, sagte er. »Ich weiß, wie man reinkommt. « »Ich werde ihr sagen, daß Sie hier neben mir sitzen und auf Entzug sind. Ich werde einfach sagen, ich sei ein Bekannter von Ihnen und daß Sie mich gebeten haben, anzurufen.« »Spitze«, sagte Fred. »Find’ ich ja echt dufte. Danke, Mann.« Hank nickte und wählte erneut, diesmal eine Nummer im öffentlichen Netz. Fred kam es so vor, als wähle er von Ziffer zu Ziffer langsamer, als dauere der Wählvorgang ewig, und er schloß die Augen, atmete schwer vor sich hin und dachte: Wow. Ich bin echt hinüber. Da haste recht mit, stimmte er zu. Ausgeklinkt, ausgeflippt, ausgebrannt und abgenibbelt. Und angeschissen. Total im Arsch. Er hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, laut zu lachen. »Wir werden Sie zu ihr rüberbringen –«, begann Hank, unterbrach sich dann aber und wandte seine Aufmerksamkeit dem Telefon zu. Er sagte: »Hey, Donna, hier is’ ‘n Kumpel von Bob, hörste? Hey, Mann, ihm geht’s unheimlich beschissen, nein, echt, ich will dich nich’ verarschen. Hey, er –« So was von dufte, dachten zwei Stimmen unisono in seinem Geist, als er hörte, wie sein Kumpel Donna die Sache verklickerte. Und vergiß nicht, ihr zu sagen, daß sie mir was mitbringen soll; ich geh’ echt aufm Zahnfleisch! Kann sie für mich Nachschub besorgen oder so? Mich vielleicht aufladen, wie sie’s sonst immer tut? Er streckte seine Hand aus, um Hank zu berühren, schaffte es aber nicht; seine Hand griff zu kurz. »Du, ich mach’ das bestimmt auch mal für dich«, versprach er, als Hank auflegte. »Bleiben Sie nur ganz ruhig da sitzen, bis der Wagen draußensteht. Ich werde jetzt einen bestellen.« Wieder telefonierte Hank; dieses Mal sagte er: »Wagenpark? Ich brauche einen nicht als Polizeifahrzeug kenntlichen Wagen und einen Beamten in Zivil. Was ist derzeit verfügbar?« Im Innern des Jedermann-Anzugs, des vagen Flecks, schlossen sie die Augen, um zu warten. »Vielleicht sollte ich doch lieber veranlassen, daß Sie in ein Krankenhaus gebracht werden«, sagte Hank. »Ihnen geht’s ja wirklich unheimlich dreckig; vielleicht hat Jim Barris Sie vergiftet. In Wirklichkeit waren und sind wir an Barris interessiert, nicht an Ihnen; die Installation der Kameras im Haus sollte in erster Linie dazu dienen, Barris unter Überwachung zu halten. Wir hofften, ihn auf diese Weise hierherlocken zu können … und das haben wir ja auch geschafft.« Hank schwieg. »Eben aus diesem Grunde bin ich mir ziemlich sicher, daß seine Bänder und die anderen Beweisstücke gefälscht sind. Das Labor wird das bestätigen. Aber Barris ist in eine ganz große Sache verwickelt. Eine ganz üble Geschichte. Es hat was mit Waffen zu tun.« »Ich war dann also ein Was?« sagte er plötzlich sehr laut. »Wir mußten an Barris rankommen und ihn reif schießen.« »Ihr Arschficker«, sagte er. »Auf die Art, wie wir es arrangiert haben, mußte Barris – wenn das überhaupt sein richtiger Name ist – im Laufe der Zeit immer deutlicher gewahr werden, daß Sie ein geheimer Polizeiagent waren, der kurz davorstand, ihn festzunageln oder aber ihn dazu zu benutzen, über ihn an seine Hintermänner heranzukommen. Und darum –« Das Telefon klingelte. »All right«, sagte Hank später. »Bleiben Sie nur ganz ruhig da sitzen, Bob, Fred, was auch immer. Beruhigen Sie sich – wir haben den Mistkerl ja geschnappt, und er ist wirklich ein – na, was Sie uns jetzt gerade genannt haben. Dafür hat es sich doch gelohnt, meinen Sie nicht auch? Um ihn zu fangen. Ein solches Etwas, egal, in was er nun eigentlich verwickelt ist?« »Sicher, gelohnt.« Er konnte kaum noch sprechen; seine Stimme war ein mechanisches Knirschen. Zusammen saßen sie da. * Auf der Fahrt zum Neuen Pfad hielt Donna am Straßenrand an, an einer Stelle, wo sie unter sich zu allen Seiten die Lichter sehen konnten. Aber inzwischen hatten die Qualen für ihn begonnen; sie konnte das deutlich erkennen, und es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Sie hatte sich so sehr gewünscht, noch einmal mit ihm zusammenzusein. Tja, sie hatte wohl zu lange gewartet. Tränen rannen ihr über die Wangen, und er hatte jetzt begonnen zu würgen und sich zu übergeben. »Wir bleiben ein paar Minuten hier sitzen«, erklärte sie ihm, während sie ihn durch die Büsche und das Unkraut führte, über den sandigen Boden, zwischen weggeworfenen Bierdosen und allerlei anderem Müll hindurch. »Ich –« »Hast du deine Hasch-Pfeife dabei?« brachte er mühsam heraus. »Ja«, sagte sie. Sie mußten sich weit genug von der Straße entfernen, um nicht von der Polizei bemerkt zu werden. Oder wenigstens weit genug, damit sie die Hasch-Pfeife verschwinden lassen konnten, wenn ein Polizist vorbeikam. Sie würde den Polizeiwagen anhalten sehen, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, ein Stück entfernt in sicherer Deckung, und die Beamten, die sich zu Fuß näherten. Es würde genügend Zeit sein. Sie dachte: Dafür jedenfalls. Zeit genug, um sicher vor dem Gesetz zu sein. Aber Bob Arctor hatte keine Zeit mehr. Jedenfalls keine Zeit nach menschlichen Maßstäben mehr – die war abgelaufen. Es war eine andere Art von Zeit, in die er jetzt eingetreten war. Ähnlich der Zeit, dachte sie, die eine Ratte hat: nämlich Zeit, hin und her zu rennen, nutzlos zu sein. Sich ziellos zu bewegen, hin und her, her und hin. Aber wenigstens kann er noch die Lichter unter uns sehen. Obwohl ihm das vielleicht nichts mehr bedeutet. Sie fanden einen geschützten Platz, und sie holte den in Alufolie gewickelten Klumpen Hasch hervor und zündete die Hasch-Pfeife an. Bob Arctor, der neben ihr hockte, schien es nicht einmal zu bemerken. Er hatte sich beschmutzt, aber sie wußte, daß er nichts dafür konnte. Tatsächlich war er sich dessen vielleicht nicht einmal bewußt. Während des Entzugs wurden sie alle so. »Hier.« Sie beugte sich zu ihm hinüber, um ihn aufzuladen. Aber er bemerkte auch sie nicht. Er saß einfach nur da, völlig weggetreten, von Magenkrämpfen geschüttelt, kotzte und beschmutzte sich, zitterte und wimmerte wie wahnsinnig vor sich hin. Es klang fast wie eine Art Lied. Sie mußte plötzlich an einen Typen denken, den sie einmal gekannt hatte – einen Typen, der Gott gesehen hatte. Er hatte sich ganz ähnlich verhalten, gewimmert und geweint, ohne sich allerdings selbst zu beschmutzen. Er hatte Gott während eines Flashbacks nach einem Acid-Trip gesehen, zu einem Zeitpunkt, als er gerade mit riesigen Dosen wasserlöslicher Vitamine experimentierte. Ihre orthomolekulare Struktur sollte angeblich die neuralen Impulse im Gehirn anregen, beschleunigen und synchronisieren. Bei diesem Typen jedoch hatten sie anders gewirkt. Er war nicht einfach nur smarter geworden – er hatte Gott gesehen. Er war völlig überrascht gewesen. »Ich nehme an«, sagte sie, »wir wissen nie, was das Schicksal für uns bereithält. « Neben ihr stöhnte Bob Arctor und antwortete nicht. »Kanntest du einen Macker namens Tony Amsterdam?« Keine Reaktion. Donna nahm einen Zug aus der Hasch-Pfeife und versenkte sich in die Lichter, die unter ihnen ausgebreitet lagen; sie roch die Luft und lauschte. »Nachdem er Gott gesehen hatte, fühlte er sich richtig gut, so ungefähr ein Jahr lang. Und dann fühlte er sich richtig mies. Mieser, als er sich je zuvor in seinem Leben gefühlt hatte. Weil er eines Tages schlagartig kapierte, daß er Gott nie wieder sehen würde; er würde für den Rest seines Lebens – Jahrzehnte, fünfzig Jahre vielleicht – dahinvegetieren und nichts außer dem sehen, was er schon immer gesehen hatte. Das, was auch wir sehen. Er war schlechter dran, als wenn er Gott nicht gesehen hätte. Er erzählte mir später mal, daß er daraufhin richtig durchgedreht wäre; er flippte einfach aus und fing an zu fluchen und zerdepperte alle möglichen Sachen in seinem Apartment. Er zerschlug sogar seine Stereoanlage. Er hatte begriffen, daß er für alle Zeit so würde weiterleben müssen, wie er jetzt lebte – nämlich ohne etwas zu sehen. Ohne jeden Sinn. Einfach nur ein Fetzen Fleisch, der sich dahinquält, ißt, trinkt, schläft, arbeitet und scheißt.« »Wie wir anderen auch.« Es war das erste, was Bob Arctor zu sagen fertiggebracht hatte; die Worte kamen heraus, als müsse er jedes einzelne von ihnen unter großen Schwierigkeiten erbrechen. Donna sagte: »Genau das habe ich ihm auch gesagt. Ich hab’ versucht, ihm das klarzumachen. Wir säßen alle im gleichen Boot, und es würde den Rest von uns auch nicht zum Ausflippen bringen. Und er sagte: ›Du weißt nicht, was ich gesehen habe. Du weißt es nicht.‹« Ein Krampf ging durch Bob Arctor und erschütterte seinen ganzen Körper, und dann würgte er heraus: »Hat er … hat er gesagt, wie es war?« »Funken. Ganze Kaskaden von farbigen Funken, ungefähr so, als würde an deinem Fernseher was kaputtgehen. Funken, die die Wände hochgingen, Funken in der Luft. Und die ganze Welt war ein lebendiges Wesen, wohin auch immer er blickte. Und es gab keine Zufälle: alles paßte zusammen und geschah planvoll, weil damit etwas erreicht werden sollte – irgendein Ziel in der Zukunft. Und dann sah er eine Pforte. Ungefähr eine Woche lang sah er sie, wohin auch immer er schaute – drinnen in seinem Apartment oder draußen, wenn er zum Laden ging oder durch die Gegend fuhr. Und sie hatte immer die gleichen Proportionen; sie war sehr schmal. Er sagte, sie sei – beglückend gewesen. Das ist der Begriff, den er immer gebraucht hat. Er hat nie versucht, durch die Pforte hindurchzugehen; er hat sie einfach nur angeschaut, weil sie so beglückend war. Klare Konturen aus lebendigem roten und goldenen Licht, sagte er. Als ob sich die Funken entlang bestimmter Linien versammelt hätten, wie in der Geometrie. Und dann, hinterher, meine ich, hat er sie nie wieder gesehen, in seinem ganzen Leben nicht, und das war es, was ihn schließlich so fertiggemacht hat.« Nach einer Weile sagte Bob Arctor: »Und was war auf der anderen Seite.« Donna sagte: »Er sagte, da sei noch eine Welt auf der anderen Seite gewesen. Er konnte sie sehen.« »Er … ist nie hindurchgegangen?« »Das ist ja der Grund, warum er wie ein Irrer in seinem Apartment rumgetobt ist; er hat nie auch nur daran gedacht, hindurchzugehen, er hat einfach nur die Pforte bewundert, und später konnte er sie überhaupt nicht mehr sehen, und da war’s zu spät. Sie öffnete sich ihm nur für ein paar Tage, und dann war sie wieder dicht und für immer verschwunden. Er hat wieder und wieder jede Menge LSD und diese wasserlöslichen Vitamine genommen, aber er hat sie nie wieder gesehen; er hat nie die richtige Dosierung gefunden.« Bob Arctor sagte: »Was war auf der anderen Seite?« »Er sagte, es sei immer Nacht gewesen.« »Nacht!« »Da war Mondschein und Wasser, immer das gleiche Bild. Nichts bewegte oder veränderte sich. Schwarzes Wasser, wie Tinte, und ein Ufer, ein Inselstrand. Er war sich sicher, daß es Griechenland war, das Griechenland des Altertums. Er legte sich die Theorie zurecht, daß die Pforte eine schwache Stelle in der Zeit war und daß er zurück in die Vergangenheit sah. Und dann, später, als er sie nicht mehr sehen konnte, meine ich, ist er immer auf den Freeway hinausgefahren, mitten hinein in den dichtesten Lastwagenverkehr, und dabei jedesmal schier wahnsinnig geworden. Er sagte, er könne die ganze Bewegung und den Lärm nicht aushalten, dieses ganze verrückte Hin- und Hergeschiebe, all das Scheppern und Bumsen. Jedenfalls konnte er nie herausfinden, warum ihm das, was er gesehen hatte, gezeigt worden war. Er glaubte wirklich daran, daß es Gott gewesen und die Pforte zur nächsten Welt, aber unter dem Strich ist dabei doch nur herausgekommen, daß es ihn ganz wirr im Kopf gemacht hat. Er konnte es nicht festhalten, und darum konnte er nicht damit fertig werden. Jedesmal, wenn er irgendwen kennenlernte, erzählte er ihm todsicher nach einiger Zeit, er hätte alles verloren.« Bob Arctor sagte: »So fühle ich mich auch.« »Da war eine Frau auf der Insel. Keine richtige – mehr so ‘ne Art Statue. Er sagte, es sei eine Statue gewesen, die die Aphrodite von Kyrene darstellte. Und sie stand einfach nur da im Mondschein, bleich und kalt und ganz aus Marmor verfertigt.« »Er hätte durch die Pforte gehen sollen, als er die Chance dazu hatte.« Donna sagte: »Er hatte die Chance gar nicht. Es war ein Versprechen. Etwas, was später sein würde. Etwas Besseres, das ihn in ferner Zukunft erwartete. Vielleicht, nachdem er –« Sie hielt inne. »Wenn er starb.« »Er hat sie verpaßt«, sagte Bob Arctor. »Man kriegt nur eine Chance, und damit hat sich’s.« Er schloß die Augen, als wolle er sich so vor der Qual und dem Schweiß schützen, der in Bächen über sein Gesicht rann. »Und überhaupt, was weiß denn so ein ausgebrannter Säurekopf schon? Was weiß überhaupt einer von uns? Ich kann nicht mehr reden. Vergiß es.« Er wandte sich von ihr ab, der Dunkelheit zu, zuckend und zitternd. »Sie zeigen uns jetzt Vorschauen«, sagte Donna. »Wie im Kino.« Sie legte ihre Arme um ihn und preßte ihn so dicht an sich, wie sie es nur vermochte, wiegte ihn sanft vor und zurück. »Damit wir durchhalten.« »Genau das versuchst du auch gerade zu tun. Für mich.« »Du bist ein guter Mann. Dir ist verdammt übel mitgespielt worden. Aber das Leben ist für dich noch nicht vorüber. Du bedeutest mir sehr viel. Ich wünschte –« Sie ließ ihn nicht mehr los, hielt ihn schwiegend in den Armen, in der Dunkelheit, die ihn von innen heraus aufzehrte. Die ihn selbst jetzt, da sie ihn an sich drückte, ihr immer mehr entriß. »Du bist ein guter und freundlicher Mensch«, sagte sie. »Und es ist ungerecht so, aber es kann nicht anders sein. Versuche, das Ende abzuwarten. Irgendwann einmal, sehr weit vom Hier und Jetzt entfernt, wirst du den Weg wiedererkennen, den du früher schon gegangen bist. Es wird dir alles wieder einfallen.« Zurückgegeben werden, dachte sie. An dem Tage, da den Menschen alles, was ihnen ungerechterweise weggenommen worden ist, zurückgegeben wird. Es mag tausend Jahre dauern oder sogar noch länger, aber jener Tag wird kommen, und dann werden alle Konten ausgeglichen. Vielleicht hast du wie Tony Amsterdam eine Vision von Gott gesehen, die nur vorübergehend verschwunden ist; die dir entzogen wurde, dachte sie, aber nicht für alle Zeit erloschen ist. Und tief drinnen in den schrecklich verbrannten, den immer noch brennenden Schaltkreisen deines Kopfes, die mehr und mehr verschmoren, selbst jetzt, da ich dich halte, hat sich vielleicht unerkannt ein Funke aus Farbe und Licht gebildet, der sein wahres Wesen nicht preisgibt und der dich doch dank der darin beschlossenen Erinnerung durch die Jahre, die vor dir liegen, diese schrecklichen Jahren, leiten wird. Ein Wort, nicht einmal ganz verstanden, irgendein winziges Ereignis, das man zwar sieht, doch nicht begreift; ein Splitter eines Sterns, begraben unter dem Gerümpel dieser Welt, der dich durch Reflexe leiten soll, bis zu dem Tag … aber wie schwach glomm dieser Funke doch. Nicht einmal sie selbst vermochte ihn sich wirklich vorzustellen. Vermengt mit dem Gewöhnlichen, Alltäglichen, war Bob Arctor vielleicht etwas aus einer anderen Welt erschienen, für einen Augenblick nur. Alles, was sie jetzt tun konnte, war, ihn in ihren Armen zu halten und zu hoffen. Aber wenn er eines Tages wieder darauf stieß, dann würde – falls sie Glück hatten – das Muster von seinem Gehirn wiedererkannt werden. Die rechte Hemisphäre würde den korrekten Vergleich ziehen. Und das, auch wenn er jetzt nur noch auf einem subkortikalen Niveau zu denken in der Lage war. Und die Reise, diese für ihn so schreckliche Reise, die ihn so viel gekostet hatte, obwohl sie anscheinend doch völlig ohne Sinn war, würde endlich vorüber sein. Ein Licht stach in ihre Augen. Vor ihr stand ein Bulle mit Gummiknüppel und Taschenlampe. »Würden Sie beide bitte aufstehen?« sagte der Beamte. »Und mir Ihre Ausweise zeigen? Sie zuerst, Miß.« Sie löste sich von Bob Arctor, der zur Seite rutschte, bis er auf dem Boden lag; er bemerkte den Bullen gar nicht, der sich ihnen heimlich von einem Privatweg am Fuß des Hügels genähert hatte. Während Donna ihr Ausweismäppchen aus der Geldtasche holte, winkte sie zugleich den Beamten beiseite, dahin, wo Bob Arctor nicht mithören konnte. Mehrere Minuten lang studierte der Beamte beim gedämpften Licht seiner Taschenlampe ihre Ausweise, und dann sagte er: »Sie sind ein Geheimagent der Bundespolizei.« »Sprechen Sie leise«, sagte Donna. »Tut mir leid.« Der Beamte gab ihr die Ausweismappe zurück. »Hauen Sie endlich ab, verdammt noch mal«, sagte Donna. Der Beamte leuchtete ihr kurz mit der Taschenlampe ins Gesicht und wandte sich dann ab; er verschwand so geräuschlos, wie er auch gekommen war. Als sie zu Bob Arctor zurückkehrte, wurde ihr sofort klar, daß er den Bullen überhaupt nicht bewußt wahrgenommen hatte. Er nahm jetzt nahezu nichts mehr bewußt wahr. Nicht einmal sie, geschweige denn irgend jemanden oder irgend etwas anderes. Weit weg konnte Donna den Polizeiwagen hören, der wie ein verklingendes Echo den ausgefahrenen, von hier aus nicht einsehbaren Privatweg hinunterrollte. Ein paar Wanzen, vielleicht eine Eidechse, raschelten durch das trockene Gras um sie herum. In der Ferne schimmerte das Lichterband des Freeway 91, aber kein Geräusch erreichte sie; der Abstand war zu groß. »Bob«, sagte sie sanft. »Kannst du mich hören?« Keine Antwort. Alle Schaltkreise sind zusammengeschmolzen, dachte sie. Geschmolzen und verschmolzen. Und keiner wird sie wieder öffnen können, egal, wie sehr sie es versuchen mögen. Und sie werden es versuchen. »Los, komm«, sagte sie und versuchte, ihn auf die Füße zu zerren. »Wir müssen endlich losspritzen.« Bob Arctor sagte: »Ich kann keine Liebe machen. Mein Ding ist weg.« »Sie erwarten uns schon«, sagte Donna bestimmt. »Ich hab’ die Verantwortung dafür übernommen, daß du ankommst.« »Aber was soll ich bloß machen, wenn mein Ding weg ist? Werden sie mich trotzdem aufnehmen?« Donna sagte: »Sie werden dich nehmen.« Es bedarf der größten Weisheit, die es nur geben mag, dachte sie, um zu erkennen, wann man Ungerechtigkeit walten lassen darf. Wie kann die Gerechtigkeit jemals dem zum Opfer fallen, was richtig ist? Wie kann so etwas passieren? Sie dachte: Weil auf dieser Welt ein Fluch liegt, und all das hier beweist es; das hier ist der endgültige Beweis, gerade das hier. Irgendwo, auf dem tiefsten möglichen Level, ist der Mechanismus, die Konstruktion der Dinge, auseinandergefallen, und aus dem, was übriggeblieben ist, hat sich das Bedürfnis gelöst, alle die verschiedenen Arten von vagem, verschwommenem Bösen zu tun, zu dem der weiseste Ratschluß uns befähigt hat, und ist an die Oberfläche getrieben. Es muß vor Tausenden von Jahren begonnen haben. Und jetzt hat es sich in das Wesen von allem eingeschlichen. Und, dachte sie, in jeden einzelnen von uns. Wir können uns nicht umwenden oder unseren Mund öffnen und sprechen, ja nicht einmal eine einzige Entscheidung treffen, ohne das Böse zu tun. Es interessiert mich nicht, wie es angefangen hat, wann oder warum. Sie dachte: Ich hoffe nur, daß es einmal enden wird. Wie bei Tony Amsterdam; ich hoffe einfach nur, daß eines Tages der Sprühregen aus helleuchtenden Funken zurückkehren wird und wir ihn diesmal alle sehen werden. Die schmale Pforte, hinter der es Frieden gibt. Eine Statue, das Meer, und das, was wie Mondschein aussieht. Und nichts, was sich bewegt, nichts, was die Ruhe stören könnte. Vor langer, langer Zeit, dachte sie. Vor dem Fluch, und jedermann und alles fand diese Ruhe. Das Goldene Zeitalter, dachte sie, als Weisheit und Gerechtigkeit dasselbe waren. Bevor alles in scharfkantige Splitter zerbarst. In winzig kleine Bruchstücke, die nicht zusammenpassen, die nicht wieder zusammengefügt werden können, so sehr wir uns auch bemühen. Unter ihr, in der Dunkelheit, zwischen den wie zufällig in der Nacht verstreuten Lichtern der Stadt, ertönte eine Polizeisirene. Ein Polizeiwagen, der seiner Beute dicht auf den Fersen war. Es klang wie ein geistesgestörtes Tier, das danach gierte, zu töten. Und wußte, daß es bald töten würde. Sie erschauerte; die Nachtluft war kalt geworden. Es war Zeit, zu gehen. Jetzt kann nicht das Goldene Zeitalter sein, dachte sie. Nicht, wenn solche Geräusche aus der Dunkelheit dringen. Geht diese Art von gierigem Geräusch auch von mir aus? fragte sie sich. Bin ich das? Bin ich jenes Ding, das sich an seine Beute anschleicht oder schon zum Sprung ansetzt? Das seine Beute schon erlegt hat? Der Mann neben ihr regte sich schwach und stöhnte; sie half ihm auf. Half ihm auf die Füße und zurück zum Wagen, Schritt für Schritt, half ihm, half ihm, half ihm, weiterzumachen. Unter ihnen war das Geräusch des Polizeiwagens abrupt verstummt; er hatte seine Beute angehalten. Sein Job war getan. Bob Arctor an sich drückend, dachte sie: Meiner ist jetzt auch vorüber. * Die beiden Mitarbeiter des Neuen Pfades standen da und musterten das Ding, das da vor ihnen auf dem Fußboden lag, das sich erbrach und zitterte und selbst beschmutzte, die Arme eng um sich gelegt wie in einer Umarmung, als könne es sich auf diese Weise die Kälte fernhalten, die es so heftig zittern ließ. »Was ist das?« sagte ein Angehöriger des Anstaltspersonals. Donna sagte: »Ein Mensch.« »Substanz T?« Sie nickte. »Sie hat sein Gehirn aufgefressen. Noch ein Verlierer.« Sie sagte zu den beiden: »Es ist leicht, zu gewinnen. Jeder, kann gewinnen.« Indem sie sich über Robert Arctor niederbeugte, sagte sie schweigend: Lebe wohl. Sie legten gerade eine alte Armeedecke über ihn, als sie ging. Sie schaute nicht zurück. Sie stieg wieder in ihren Wagen und fuhr sofort zum nächsten Freeway, mitten hinein in den dichtesten Verkehr. Aus der Cassettenbox auf dem Boden des Wagens nahm sie das Band mit Carole Kings Tapestry – ihre Lieblingscassette – und stieß es in das Cassettendeck; gleichzeitig zerrte sie ihre Ruger-Pistole aus der unter dem Armaturenbrett vor neugierigen Blicken verborgenen Magnethalterung. Mit Höchstgeschwindigkeit hängte sie sich an die Stoßstange eines Lieferwagens, der Holzkästen mit Coca-Cola-Familienflaschen transportierte, und während Carole King in Stereo sang, entleerte sie das Magazin der Ruger auf die Coke-Flaschen ein paar Meter vor ihr. Während Carole King mit einschmeichelnder Stimme von Leuten sang, die sich hinsetzten und sich in Kröten verwandelten, schaffte Donna es, vier Flaschen zu treffen, bevor das Magazin der Pistole leer war. Glassplitter und Coke-Spritzer prasselten auf die Windschutzscheibe ihres Wagens. Jetzt ging es ihr besser. Gerechtigkeit und Ehrlichkeit und Treue sind nicht Eigenschaften dieser Welt, dachte sie; und dann, bei Gott, rammte sie ihren alten Gegner, ihren Feind von alters her, den Coca-Cola-Lieferwagen, der einfach weiterfuhr, ohne es überhaupt zu bemerken. Der Zusammenprall brachte ihren Wagen ins Schleudern; die Scheinwerfer erloschen, ein Kotflügel kreischte mit einem schreckerregenden Geräusch über einen Reifen, und dann war sie plötzlich vom Freeway herunter, stand auf dem Randstreifen der Gegenfahrbahn. Wasser strömte aus dem Kühler, und Autofahrer bremsten ab, um zu gaffen. »Komm zurück, du Wichser«, sagte sie zu sich selbst, aber der Coca-Cola-Lieferwagen war längst weg. Möglicherweise war er nicht einmal beschädigt worden. Höchstens ein Kratzer. Tja, früher oder später hatte es wohl dazu kommen müssen, daß sie es in diesem ihrem Krieg mit einem Symbol und einer Realität aufzunehmen versuchte, die zu übermächtig für sie waren. Jetzt wird mein Versicherungssatz wieder in die Höhe gehen, begriff sie, als sie aus ihrem Wagen stieg. Wenn du ein Turnier mit dem Bösen ausfichst, bezahlst du dafür in dieser Welt mit kaltem, hartem Bargeld. Ein Mustang neueren Jahrgangs wurde langsamer, und der Fahrer, ein Mann, rief ihr zu: »Kann ich Sie mitnehmen, Miß?« Sie antwortete nicht. Sie ging einfach nur weiter. Eine kleine zerbrechliche Gestalt zu Fuß, die einer Unendlichkeit auf sie eindringender Lichter entgegenblickte. XIV Zeitungsausschnitt, im Foyer des Samarkand House, des Zentrums des Neuen Pfades in Santa Ana, Kalifornien, mit Reißzwecken an eine Wand gepinnt: Wenn der senile Patient am Morgen aufwacht und nach seiner Mutter ruft, dann erinnern Sie ihn daran, daß sie schon lange tot ist, daß er über achtzig Jahre alt ist und in einem Genesungsheim lebt und daß wir nicht mehr 1913, sondern schon 1992 schreiben und daß er darum der Wirklichkeit und der Tatsache ins Gesicht sehen muß, daß … Ein Insasse hatte den Rest des Textes abgerissen; er hörte an dieser Stelle auf. Offensichtlich stammte der Artikel aus einer Fachzeitschrift für Krankenpflegerinnen; er war nämlich auf Kunstdruckpapier gedruckt. »Was du hier zuerst tun wirst«, sagte George, der zum Betreuerstab gehörte, als er ihn durch die Halle führte, »ist, die Badezimmertür zu putzen. Die Böden, die Becken und besonders die Toiletten. Es gibt drei Badezimmer in diesem Trakt, eines auf jeder Etage. « »Okay«, sagte er. »Hier ist ein Scheuerlappen. Und ein Wischeimer. Glaubst du, daß du weißt, wie man so was macht? Ein Badezimmer putzen? Fang an, und ich werde dir zusehen und dir Tips geben, wenn du nicht klarkommst.« Er trug den Eimer zu der Wanne im rückwärtigen Teil des überdachten Vorbaus und schüttete Reinigungsmittel hinein und ließ dann das heiße Wasser einlaufen. Alles, was er sehen konnte, war der entstehende Schaum direkt vor ihm; der Schaum und das Brausen. Aber er konnte Georges Stimme hören, die von außerhalb seines Gesichtsfeldes kam. »Nicht zu voll, sonst kannst du ihn hinterher nicht hochheben.« »Okay.« »Es soll dir ein bißchen schwerfallen, zu sagen, wo du eigentlich bist«, sagte Georg nach einiger Zeit. »Ich bin in einem Heim des Neuen Pfades.« Er stellte den Eimer auf dem Boden ab, und der Eimer schwappte über; er stand bloß da und starrte teilnahmslos auf die Bescherung. »In welchem Heim des Neuen Pfades?« »In Santa Ana.« George hob den Eimer hoch, um ihm zu zeigen, wie man den Drahtgriff anfassen und den Eimer beim Gehen schwingen mußte. »Ich denk’ mir, daß wir dich später auf die Insel oder auf eine der Farmen schicken werden. Aber zuerst geht’s mal ‘ne Runde ab aufs Klo. »Das kann ich«, sagte er. »Aufs Klo gehen.« »Magst du Tiere? Oder Gartenarbeit?« »Tiere.« »Na, mal sehen. Wir werden damit warten, bis wir dich besser kennen. Auf jeden Fall wird das ‘ne Weile dauern; alle, die zu uns kommen, müssen erst mal ‘n Monat lang Klos schrubben.« »Irgendwie würde ich gerne auf dem Land leben«, sagte er. »Wir unterhalten verschiedene Arten von Rehabilitationseinrichtungen. Wir werden später entscheiden, was für dich am besten ist. Du weißt, daß du hier rauchen darfst, aber es wird nicht gerne gesehen. Hier ist’s nicht wie in Syanon; die lassen dich nicht rauchen. « Er sagte: »Ich habe keine Zigaretten mehr.« »Wir geben jedem Insassen ein Päckchen pro Tag.« »Geld?« Er hatte keines. »Es kostet nichts. Hier ist alles umsonst. Du hast deinen Preis längst bezahlt.« George nahm den Scheuerlappen, tauchte ihn in den Eimer, zeigte ihm, wie man scheuern mußte. »Weswegen habe ich eigentlich kein Geld?« »Aus dem gleichen Grund, weswegen du keine Brieftasche und keinen Nachnamen hast. Das wird dir später zurückgegeben werden, das alles. Genau das ist ja unser Programm: dir zurückzugeben, was man dir weggenommen hat. « Er sagte: »Diese Schuhe passen mir nicht.« »Wir sind auf Spenden angewiesen, aber wir nehmen nur neue Sachen, von Läden. Später können wir dir vielleicht mal welche anmessen. Hast du alle Schuhe in der Kiste durchprobiert?« »Ja«, sagte er. »All right, das hier ist das Badezimmer im Erdgeschoß; mach das zuerst. Dann, wenn das erledigt ist, alles blitzblank und so, dann geh nach oben – nimm den Wischlappen und den Eimer mit – und ich werde dir das Badezimmer da oben zeigen. Und danach kommt dann das Badezimmer in der dritten Etage dran. Aber du mußt dir eine Erlaubnis holen, bevor du in die dritte Etage raufgehst, weil da die Puppen wohnen; also frag zuerst jemanden vom Personal und geh nie ohne Erlaubnis rauf.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »All right, Bruce? Alles kapiert?« »Okay«, sagte Bruce, während er weiterscheuerte. George sagte: »Du wirst so lange Badezimmer schrubben, bis du so weit kommst, daß du gute Arbeit leisten kannst. Es ist völlig egal, was jemand tut; es kommt nur darauf an, daß er so weit kommt, daß er es richtig tun und darauf stolz sein kann.« »Werde ich jemals wieder so werden, wie ich früher war?« fragte Bruce. »Das, was du früher warst, hat dich hierhergebracht. Wenn du wieder so würdest, wie du früher mal warst, dann würde dich das früher oder später wieder hierherbringen. Und beim nächsten Mal würdest du’s vielleicht nicht mal bis hierhin schaffen. Stimmt doch, oder? Du hast Glück gehabt, daß du hierhergekommen bist; du hättest es fast nicht geschafft.« »Jemand anderes hat mich hergefahren.« »Du bist ein Glückspilz. Beim nächsten Mal würden sie’s vielleicht nicht tun. Vielleicht würden sie dich am Straßenrand aus dem Wagen kippen und sich sagen: Zum Teufel damit.« Bruce scheuerte unbeirrt weiter. »Am einfachsten geht’s, wenn du zuerst die Waschbecken machst, dann die Wanne, dann die Toiletten und erst ganz zuletzt den Fußboden.« »Okay«, sagte er und legte den Scheuerlappen weg. »Man muß erst mal den richtigen Dreh rauskriegen. Das wirst du schon schaffen.« Als er genauer hinschaute, sah er vor sich Risse in der Emaille des Beckens; er träufelte Reinigungsmittel in die Risse und ließ heißes Wasser darüberlaufen. Der Dampf wallte auf, und er stand regungslos mitten darin, während der Dampf immer dichter wurde. Er mochte den Geruch. * Nach dem Mittagessen saß er im Gemeinschaftsraum und trank Kaffee. Die anderen ließen ihn in Ruhe, weil sie wußten, daß er auf Entzug war. Während er so dasaß und aus seiner Tasse trank, konnte er ihre Gespräche verfolgen. Sie kannten sich alle untereinander. »Wenn du durch die Augen eines Toten hinaussehen könntest, könntest du immer noch etwas erkennen, aber du könntest die Augenmuskulatur nicht mehr betätigen, und darum könntest du den Blick nicht auf eine bestimmte Stelle richten. Dir bliebe nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich irgendein Objekt an dir vorüberbewegt. Du würdest wie eingefroren sein. Einfach nur warten und warten. Das wäre bestimmt ganz schrecklich.« Er starrte hinunter auf den Dampf seines Kaffees; nur darauf. Der Dampf stieg auf; er mochte den Geruch. »Hey«. Eine Hand berührte ihn. Die Hand einer Frau. »Hey«. Er schaute ein wenig zur Seite. »Wie geht’s dir?« »Gut«, sagte er. »Fühlst du dich schon ein bißchen besser?« »Ich fühle mich gut«, sagte er. Er betrachtete den Kaffee und den Dampf und schaute weder die Frau noch einen der anderen Anwesenden an; er schaute bloß hinunter auf den Kaffee, schaute und schaute. Er mochte die Wärme des Geruchs. »Du könntest dann jemanden sehen, wenn er direkt vor dir hergeht, aber eben nur dann. Du könntest nur das sehen, was in der Richtung liegt, in die du schaust, aber nichts, was in einer anderen Richtung liegt. Wenn ein Blatt oder sonst was über deine Augen fallen würde … tja, das wär’s dann. Für immer. Nur noch das Blatt. Nichts anderes; du könntest dich ja nicht bewegen. « »Okay«, sagte er, den Kaffee, die Tasse, mit beiden Händen haltend. »Stell dir mal vor, Empfindungen zu haben, aber nicht zu leben. Zu sehen und sogar zu begreifen, aber nicht zu leben. Einfach nur hinauszuschauen. Zu erkennen, aber nicht zu leben. Ein Mensch kann sterben und trotzdem weiterexistieren, Vielleicht ist das, was manchmal aus den Augen eines Menschen auf dich hinausschaut, schon damals in seiner Kindheit gestorben. Das, was in einem Menschen schon tot ist, schaut immer noch hinaus. Es ist nicht einfach der Körper, der dich anblickt, der leere Körper; da ist immer noch etwas darin, aber das ist irgendwann gestorben und schaut nur einfach weiter und weiter hinaus; es kann nicht damit aufhören, zu schauen. « Jemand anderes sagte: »Genau das bedeutet es ja letztlich, zu sterben: wenn man nicht mehr aufhören kann, das anzustarren, was auch immer vor dir ist. Da ist irgendein verdammtes Ding, genau vor dir, und du kannst einfach nichts dagegen unternehmen, also zum Beispiel eine Wahl treffen oder etwas verändern. Du kannst nur noch das, was vor dich hingestellt wird, akzeptieren – und zwar so, wie es ist. « »Wie würde es dir gefallen, in alle Ewigkeit auf eine Bierdose zu starren? Vielleicht war’ das gar nicht mal so schlimm. Wenigstens müßte man sich davor nicht fürchten.« * Vor dem Abendessen, das sie im Speiseraum zu sich nahmen, hatten sie Diskussionsstunde. Verschiedene philosophische Konzepte wurden von verschiedenen Mitgliedern des Betreuerstabes auf eine Tafel geschrieben und dann gemeinsam diskutiert. Er saß mit im Schoß gefalteten Händen da, betrachtete den Fußboden und lauschte darauf, wie sich die große Kaffeemaschine aufheizte; es klang wie blub-blub, und das Geräusch machte ihm Angst. »Das Lebende gibt ununterbrochen seine Eigenschaften an das Nichtlebende ab und umgekehrt.« Alle saßen im Raum verstreut auf Klappstühlen und diskutierten das. Das Konzept schien ihnen vertraut zu sein. Offensichtlich waren solche Sätze Teile der Denkweise des Neuen Pfades und wurden vielleicht sogar auswendig gelernt, damit man wieder und wieder über sie nachdenken konnte. Blub-Blub. »Das Nichtlebende drängt stärker vorwärts als das Lebende.« Sie sprachen auch darüber. Blub-blub. Das Geräusch, das von der Kaffeemaschine ausging, wurde lauter und lauter und ängstigte ihn immer mehr, aber er bewegte sich nicht und schaute nicht hinüber; er saß nur da, an seinem Platz, und lauschte. Es war schwierig, zu hören, was die anderen sagten; die Maschine war so laut. »Wir haben zuviel von dem in uns, was das Nichtlebende vorwärts treibt. Und der Austausch – kann nicht mal jemand aufstehen und nachsehen, was mit dieser verdammten Kaffeemaschine los ist?« Es gab eine Unterbrechung, während jemand die Kaffeemaschine untersuchte. Er saß da, starrte nach unten, wartete. »Ich schreibe das jetzt noch mal auf. ›Wir tauschen zuviel unseres passiven Lebens gegen die äußere Wirklichkeit ein.‹« Sie diskutierten das. Die Kaffeemaschine verstummte, und sie trotteten wie eine Herde hinüber, um sich Kaffee zu holen. »Möchtest du nicht auch etwas Kaffee?« Eine Stimme hinter ihm, die ihn sanft berührte. »Ned? Bruce? Wie heißt er noch mal – Bruce?« »Okay.« Er stand auf und folgte ihnen zur Kaffeemaschine. Er wartete geduldig, bis er an der Reihe war. Sie schauten ihm dabei zu, wie er Sahne und Zucker in seine Tasse tat. Sie schauten ihm dabei zu, wie er zu seinem Stuhl – demselben wie vorher – zurückkehrte; er hatte ihn sich gut gemerkt, damit er ihn auch wiederfand, um sich hinsetzen und weiter zuhören zu können. Der warme Kaffee, der Dampf, verschaffte ihm angenehme Gefühle. »Aktivität bedeutet nicht notwendigerweise Leben. Quasare sind aktiv. Und ein Mönch, der meditiert, ist nicht unbelebt.« Er saß da und schaute auf den leeren Becher; es war ein Porzellanbecher. Als er ihn umdrehte, entdeckte er einen Aufdruck auf dem Boden und daß die Glasur gesplittert war. Der Becher sah sehr alt aus, aber er war in Detroit hergestellt worden. »Kreisförmige Bewegung ist die toteste Form des Universums. « Eine andere Stimme sagte: »Es ist Zeit.« Er wußte die Antwort darauf. Zeit ist rund. »Richtig, wir müssen jetzt Schluß machen, aber will irgend jemand noch eine abschließende Bemerkung machen?« »Nun, man muß dem Weg des geringsten Widerstandes folgen; das ist die Grundregel, wenn man überleben will. Man muß folgen, nicht führen.« Eine andere, ältere Stimme sagte: »Ja, die, die folgen, überleben den Führer. Wie bei Christus. Nicht umgekehrt.« »Wir sollten jetzt lieber essen, weil Rick neuerdings genau ab halb sechs nichts mehr ausgibt.« »Sprecht während des Spiels darüber, nicht jetzt.« Stühle kreischten, knarrten. Er stand ebenfalls auf, trug ganz wie die anderen seinen alten Becher zurück zum Tablett und stellte sich mit ihnen in einer langen Reihe auf. Er konnte kalte Kleidungsstücke um sich herum riechen; gute Gerüche, aber kalt. Es klingt so, als würden sie sagen, passives Leben sei gut, dachte er. Aber so etwas wie passives Leben gibt es doch gar nicht. Das ist ein Widerspruch in sich. Er fragte sich nach dem Wesen und der Bedeutung des Lebens; vielleicht verstand er bloß noch nicht richtig, was sie meinten. * Ein großes Spendenpaket mit lollyhaften Kleidungsstücken war angekommen. Mehrere Leute standen mit Haufen von Kleidern auf dem Arm herum, und einige hatten sich Hemden angezogen, um sie anzuprobieren und Komplimente einzuheimsen. »Hey, Mike, du bist ja ein wahnsinnig scharfer Macker.« In der Mitte des Foyers stand ein untersetzter, stämmiger Mann mit lockigem Haar und einem Boxergesicht; er fummelte stirnrunzelnd an seinem Gürtel herum. »Wie funktioniert denn das hier? Ich kapier’ einfach nicht, wie man ihn am Verrutschen hindert. Und warum geht er jetzt auf einmal nicht mehr auf?« Er hatte sich einen zehn Zentimeter breiten, schnallenlosen Gürtel mit Metallringen ausgesucht, wußte aber nicht, wie man die Ringe einklinken mußte. Augenzwinkernd blickte er um sich und sagte: »Ich glaube, die haben mir einen gegeben, mit dem sonst keiner klarkommen konnte.« Bruce trat hinter ihn, griff um ihn herum und zog die Gürtelschleife zurück durch die Ringe. »Dane«, sagte Mike. Er wühlte sich durch einen Stapel von Hawaiihemden, die Lippen geschürzt. Zu Bruce gewandt, sagte er: »Wenn ich heirate, zieh’ ich eins davon an.« »Hübsch«, sagte er. Mike schlenderte zur anderen Seite des Foyers hinüber, wo zwei Frauen standen; sie lächelten. Indem er sich ein weinrotes Hemd mit Blumenmuster vor die Brust hielt, sagte Mike: »Ich geh’ heut’ groß aus, in die Stadt.« »All right, geht rein und kommt essen«, rief der Direktor des Rehabilitationszentrums anfeuernd. Seine Stimme klang so kraftvoll wie immer. Er winkte Bruce zu. »Na, wie steht’s, mein Junge?« »Gut«, sagte Bruce. »Klingt, als ob du dich erkältet hättest. « »Ja«, stimmte er zu, »das kommt vom Entzug. Könnte ich nicht doch ein bißchen Dristan oder –« »Keine Chemikalien«, sagte der Direktor des Zentrums. »Nichts. Jetzt rein mit dir, damit du was in den Magen kriegst. Was macht dein Appetit?« »Besser«, sagte er, dem Direktor folgend. Von den Tischen aus lächelten die anderen ihn an. * Nach dem Essen saß er auf halber Höhe der breiten Treppe, die zum zweiten Stock führte. Keiner sprach ihn an; derzeit fand gerade eine Mitarbeiterbesprechung statt. Er saß da, bis sie zu Ende war. Alle Mitarbeiter tauchten jetzt wieder auf und strömten in die Halle. Er spürte, daß sie ihn ansahen, und vielleicht sprachen ihn auch einige an. Er saß auf den Stufen, vornübergebeugt, die Arme um sich gelegt, und starrte und starrte. Auf den dunklen Teppich vor seinen Augen. Jetzt keine Stimmen mehr. »Bruce?« Er regte sich nicht. »Bruce?« Eine Hand berührte ihn. Er sagte nichts. »Bruce, komm mal mit in den Gemeinschaftsraum. Eigentlich müßtest du ja schon auf deinem Zimmer sein und im Bett liegen, aber ich möchte mit dir sprechen, hörst du?« Mit einem Wink forderte Mike ihn auf, ihm zu folgen. So begleitete er Mike die Treppe hinunter und in den Gemeinschaftsraum, der jetzt leer war. Als sie im Gemeinschaftsraum waren, schloß Mike die Tür. Er ließ sich in einen tiefen Sessel fallen und bedeutete Bruce, sich ihm gegenüber hinzusetzen. Mike schien müde zu sein; dicke Ringe langen um seine kleinen Augen, und er rieb sich die Stirn. »Ich bin seit halb sechs heute morgen auf den Beinen«, sagte Mike. Ein Klopfen; die Tür ging einen Spaltbreit auf. Mit erhobener Stimme brülle Mike: »Ich möchte nicht, daß irgendwer hier hereinkommt; wir unterhalten uns. Hört ihr?« Gemurmel. Die Tür schloß sich. »Weißt du, du solltest lieber dein Hemd ein paarmal am Tag wechseln«, sagte Mike. »Ist ja furchtbar, wie du schwitzt.« Er nickte. »Aus welcher Ecke des Staates kommst du eigentlich?« Er sagte nichts. »Von jetzt an kommst du zu mir, wenn’s dir so schlecht geht. Ich hab’ das gleiche durchgemacht, vor ungefähr anderthalb Jahren. Sie haben mich immer im Wagen durch die Gegend gefahren. Andere vom Personal. Hast du schon Eddie kennengelernt? Das große, dürre Handtuch, das immer alle Leute fertigmacht? Der hat mich acht Tage lang pausenlos durch die Gegend kutschiert. Hat mich nie allein gelassen.« Mike brüllte plötzlich: »Wollt ihr wohl endlich draußenbleiben? Wir sind hier drin und reden. Geht und schaut euch Fernsehen an.« Seine Stimme wurde leiser, und er blickte Bruce prüfend an. »Manchmal muß man das tun. Jemanden nie allein lassen.« »Verstehe«, sagte Bruce. »Bruce, paß auf, daß du dir nicht das Leben nimmst.« »Ja, Sir«, sagte Bruce, zu Boden starrend. »Nenn mich nicht Sir!« Er nickte. »Warst du bei der Armee, Bruce? Hat’s daran gelegen? Bist du deswegen auf dem Zeug hängengeblieben?« »Nein.« »Schießt du, oder schluckst du Tabletten?« Er gab nicht das geringste Geräusch von sich. »›Sir‹«, sagte Mike. »Ich selbst hab’ zehn Jahre im Knast gesessen. Einmal hab’ ich miterlebt, wie sich in unserem Zellentrakt acht Typen an einem Tag die Kehle durchgeschnitten haben. Wir mußten mit den Füßen in der Toilette schlafen, so klein waren unsere Zellen. Genau das ist es, was ein Gefängnis ausmacht: Du schläfst mit deinen Füßen in der Toilette. Du bist nie im Knast gewesen, oder?« »Nein«, sagte er. »Aber andererseits hab’ ich Gefangene gesehen, die achtzig Jahre alt waren und froh darüber, zu leben und die auch am Leben bleiben wollten. Ich erinnere mich noch genau an die Zeit, als ich auf Dope war und schoß; ich hab’ zu schießen angefangen, als ich noch ein Teenager war. Sonst hab’ ich mir nie was zuschulden kommen lassen. Ich hab’ mich nur vollgeschossen und bin dann für zehn Jahre in den Bau gewandert. Ich hab’ so viel geschossen – Heroin und T durcheinander –, daß ich gar nicht mehr fähig war, was anderes anzustellen; ich hab’ außer dem Stoff gar nichts anderes mehr wahrgenommen. Jetzt bin ich davon runter und aus dem Knast raus und lebe hier. Weißt du, was mir am meisten auffällt? Weißt du, was der Unterschied ist, den ich bemerkt hab’? Jetzt kann ich die Straße entlanggehen und etwas sehen. Ich kann das Wasser hören, wenn wir in den Wald fahren – du wirst unsere anderen Einrichtungen später kennenlernen, die Farmen und das alles. Ich kann die Straße entlanggehen und die Hunde und Katzen sehen. Ich hab’ sie früher nicht mal bemerkt. Alles, was ich gesehen hab’, war der Stoff.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Und darum verstehe ich, wie du dich fühlst.« »Es ist hart«, sagte Bruce, »von dem Zeug runterzukommen.« »Jeder einzelne hier ist davon runtergekommen. Natürlich fangen einige hinterher wieder damit an. Wenn du von hier weggehen würdest, würdest du auch wieder damit anfangen. Du weißt das.« Er nickte. »Keiner von denen, die in diesem Heim sind, hat ein leichtes Leben gehabt. Ich will damit nicht sagen, daß dein Leben leicht gewesen ist. Eddie würde das vielleicht sagen. Er würde dir knallhart erklären, deine Probleme seien läppisch. Aber Probleme sind nie läppisch, bei keinem. Ich sehe, wie mies du dich fühlst, aber ich hab’ mich auch mal so gefühlt. Jetzt geht’s mir ‘ne ganze Menge besser. Wer ist dein Stubenkamerad?« »John.« »Ah ja, John. Dann bist du also unten im Erdgeschoß.« »Mir gefällt es«, sagte er. »Ja, es ist schön warm da. Du wirst wahrscheinlich sehr viel frieren. Die meisten von uns tun das, und ich erinnere mich noch gut dran, wie’s bei mir war; ich hab’ die ganze Zeit über vor Kälte gezittert, und die Hosen hab’ ich mir auch vollgeschissen. Aber glaub mir, du wirst das nicht noch einmal durchmachen müssen, wenn du hier im Neuen Pfad bleibst.« »Für wie lange?« sagte er. »Für den Rest deines Lebens.« Bruce hob den Kopf. »Ich kann hier jedenfalls nicht mehr raus«, sagte Mike. »Ich würde sofort wieder an der Nadel hängen, wenn ich wieder nach draußen ginge. Ich hab’ zu viele Kumpels draußen. Ich würd’ wieder in die Scene einsteigen, dealen und schießen, und dann zurück in den Knast wandern, aber diesmal für zwanzig Jahre. Weißt du – hey – ich bin jetzt 35 und heirate demnächst zum ersten Mal. Hast du Laura schon kennengelernt? Meine Verlobte?« Er war sich nicht sicher. »Ein hübsches Mädchen, ziemlich stämmig? Ganz hübsche Figur?« Er nickte. »Sie fürchtet sich davor, aus dem Heim zu gehen. Irgendwer muß sie immer begleiten. Wir gehen jetzt bald mal zusammen in den Zoo … wir nehmen den Kurzen vom Direktor nächste Woche mit in den Zoo von San Diego, und Laura hat jetzt schon ‘n höllischen Bammel. Mehr Bammel als ich.« Schweigen. »Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt hab’?« sagte Mike. »Daß ich Bammel hab’, in den Zoo zu gehen?« »Ja.« »Ich bin noch nie in einem Zoo gewesen, jedenfalls könnt’ ich mich nicht dran erinnern«, sagte Mike. »Was macht man eigentlich in so einem Zoo? Vielleicht weißt du’s?« »Man schaut in verschiedene Käfige und Freigehege hinein.« »Was für Tierarten gibt’s denn da so?« »Alle möglichen.« »Wilde Tiere, denk’ ich mir. Normalerweise wilde Tiere. Und exotische.« »Im Zoo von San Diego haben sie fast alle wilden Tiere«, sagte Bruce. »Die haben auch einen von diesen … wie heißen die doch gleich? Koalabären?« »Ja.« »Ich hab’ mal einen Werbespot im Fernsehen gesehen«, sagte Mike. »Da kam ein Koalabär drin vor. Die hüpfen. Irgendwie erinnern die mich an ein ausgestopftes Spielzeug.« Bruce sagte: »Die Leute, die in den zwanziger Jahren den guten alten Teddybären erfunden haben – den, mit dem die Kinder spielen –, haben den Koalabären als Vorbild genommen.« »Ach, wirklich? Ich hatte immer geglaubt, man müßte nach Australien fahren, um einen Koalabären zu sehen. Oder sind die da jetzt ausgestorben?« »In Australien gibt’s sie in rauhen Mengen«, sagte Bruce, »aber die Ausfuhr ist verboten. Egal, ob von lebenden Tieren oder von Fellen. Sie wären früher mal fast ausgerottet worden.« »Ich bin nie weit rumgekommen«, sagte Mike, »außer, wenn ich Stoff von Mexiko rauf nach Vancouver in Britisch Kolumbien transportiert hab’. Aber ich hab’ immer die gleiche Route genommen, und darum hab’ ich nie was gesehen. Ich bin einfach nur mit Vollgas durch die Gegend gedüst, um’s hinter mich zu bringen. Ich fahr’ jetzt übrigens einen Wagen von der Anstalt. Wenn du dich danach fühlst, ich meine, wenn du dich richtig mies fühlst, dann fahr’ ich dich rum. Ich werde fahren, und wir können dabei reden. Mir macht das nichts aus. Eddie und ein paar andere, die jetzt nicht mehr hier sind, haben das auch für mich getan. Mir macht’s echt nichts aus. « »Danke.« »Jetzt sollten wir uns aber alle beide in die Falle hauen. Haben sie dich schon für den Küchendienst am Morgen eingeteilt? Tische decken und auftragen?« »Nein.« »Dann kannst du ja genauso lange pennen wie ich. Wir sehen uns dann also beim Frühstück, okay? Du setzt dich zu mir an den Tisch, und ich mach’ dich mit Laura bekannt.« »Wann wollt ihr heiraten?« »In sechs Wochen. Wir würden uns freuen, wenn du kommen würdest. Natürlich wird die Trauung hier im Gebäude sein, und darum werden sowieso alle dran teilnehmen.« »Danke«, sagte er. * Er saß im Spiel, und sie schrien auf ihn ein. Gesichter überall, schreiende Gesichter; er senkte den Blick und starrte zu Boden. »Wißt ihr, was er ist? Ein Kußmäulchen!« Der Klang dieser Stimme, die noch schriller war als die anderen, ließ ihn aufblicken. Inmitten der entsetzlich schreienden Fratzen ein chinesisches Mädchen, das wie ein Dämon kreischte. »Du bist ein Kußmäulchen, genau das bist du!« »Kannst du dir einen runterholen? Kannst du dir einen runterholen?« sangen die anderen in endloser Wiederholung auf ihn ein; der Kreis, den sie auf dem Fußboden bildeten, schloß sich immer enger um ihn. Der Direktor des Zentrums, jetzt in roten Pluderhosen und rosa Pantoffeln, lächelte. Winzige, gesplitterte Glitzeraugen, wie die eines Gespenstes. Sich vor und zurück wiegend, die Beine unter sich zusammengelegt, ohne Sitzkissen. »Los, wir wollen endlich sehen, wie du dir einen runterholst!« Der Direktor schien es zu genießen, wenn seine Augen sahen, wie etwas zerbrach; seine Augen glänzten vor freudiger Erregung. Wie ein tuntiger alter Schmierenkomödiant, der im Kreise seiner Verehrer hofhält, eingehüllt in den Mantel seines Charismas, paradiesvogelbunt, spähte er umher und genoß. Und dann, von Zeit zu Zeit, trillerte seine Stimme heraus, schabend und monoton, wie Metall auf Metall. Eine knarrende Türangel. »Das Kußmäulchen!« heulte ihm das chinesische Mädchen entgegen; neben ihr flatterte ein Mädchen wie ein Vogel mit den Armen und blies ihre Backen auf, plop-plop. »Hier!« heulte das chinesische Mädchen und drehte sich herum, um ihm ihr Hinterteil entgegenzustrecken, auf das sie dann mit dem Finger zeigte, während sie ihn zugleich anheulte: »Dann küß mir doch den Arsch, Kußmäulchen! Er möchte andere Leute küssen! Küß doch das hier, Kußmäulchen!« »Wir wollen endlich sehen, wie du dir einen runterholst!« psalmodierte die Familie. »Hol dir einen runter, Kußmäulchen!« Er schloß die Augen, aber seine Ohren hörten immer noch. »Du Tunte«, sagte der Direktor langsam zu ihm. Monoton. »Du dämliches Stück Scheiße. Du Pimmel. Du Dreck. Du Arschwichser. Du –« Weiter und weiter. Seine Ohren nahmen immer noch Geräusche auf, aber die Töne vermischten sich jetzt alle miteinander. Er schaute nur einmal kurz auf, als er Mikes Stimme erkannte, die sich über die anderen Stimmen erhob, als der Lärm für einen Moment ein wenig abebbte. Mike saß da und starrte ihn teilnahmslos an; sein Gesicht war ein bißchen gerötet und die Haut seines Nackens wund und geschwollen von dem zu engen Kragen seines Hemdes. »Bruce«, sagte Mike. »Was ist mit dir los? Was hat dich hierhergebracht? Was möchtest du uns erzählen? Kannst du uns überhaupt irgendwas über dich erzählen?« »Tunte!« kreischte George, auf und ab hüpfend wie ein Gummiball. »Was warst du, du Tunte?« Das chinesische Mädchen sprang auf, schrill kreischend: »Erzähl’s uns, du Schwanzlutscher! Wichsjunge! Arschficker! Scheißhaufen! Pisser!« Er sagte: »Ich bin wie ein Auge.« »Du Arschwichser«, sagte der Direktor. »Du Schwächling. Du Gewichs. Du Wichselecker. Du Fotze.« Er hörte jetzt nichts mehr. Und vergaß die Bedeutung der Worte und schließlich auch die Worte selbst. Das einzige, was er noch spürte, war Mike; Mike, der ihn ansah, ihn ansah und lauschte, aber nichts hörte. Er wußte nichts, er erinnerte sich an nichts, er fühlte kaum noch etwas, er fühlte sich schlecht, er wollte weg. Die Leere in ihm breitete sich immer weiter aus. Und er war sogar ein bißchen froh darüber. * Später am Tag. »Schau mal hier hinein«, sagte eine Frau. »Hier bringen wir die Freaks unter. « Er spürte eine unbestimmte Angst, als er die Tür öffnete. Die Tür schwang beiseite, und aus dem Raum ergoß sich ein Lärm, dessen Ausmaß ihn überraschte; aber er sah viele kleine Kinder, die spielten. An jenem Abend beobachtete er zwei ältere Männer, die in einer abgeteilten kleinen Nische nahe der Küche saßen und die Kinder mit Milch und Babynahrung fütterten. Rick, der Koch, gab zuerst den beiden ältlichen Männern das Essen für die Kinder, während alle anderen im Speisesaal warteten. Ein chinesisches Mädchen, das Teller in den Speisesaal trug, lächelte ihn an und sagte: »Du magst Kinder?« »Ja«, sagte er. »Du kannst dich zu den Kindern setzen und da mit ihnen essen.« »Oh«, sagte er. »Du kannst sie später auch mal füttern, so in ein oder zwei Monaten.« Sie zögerte. »Wenn wir sicher sein können, daß du sie nicht schlägst. Wir haben hier eine Regel: Die Kinder dürfen nie für etwas, das sie tun, geschlagen werden.« »Okay«, sagte er. Ihm wurde warm ums Herz, und er fühlte sich plötzlich wieder lebendig, als er die Kinder essen sah; er setzte sich, und eines der ganz kleinen Kinder krabbelte ihm auf den Schoß. Er begann, das Kind mit einem Löffel zu füttern. Das Kind und er selbst, dachte er, fühlten sich nun gleichermaßen geborgen. Das chinesische Mädchen lächelte ihm zu und ging dann mit den Tellern weiter in den Speisesaal. Eine lange Zeit über saß er mitten zwischen den Kindern und hielt erst eines, dann ein anderes. Die beiden ältlichen Männer stritten mit den Kindern und kritisierten gegenseitig ihre Füttermethoden. Der Tisch und der Fußboden waren über und über mit größeren und kleineren Essensbrocken und Schmierflecken bedeckt; erschrocken stellte er fest, daß schon alle Kinder gefüttert worden waren und nun in das große Spielzimmer strömten, um sich Zeichentrickfilme im Fernsehen anzuschauen. Linkisch beugte er sich vor, um das verschüttete Essen aufzuwischen. »Nein, das ist nicht deine Aufgabe!« sagte einer der ältlichen Männer scharf. »Das soll ich machen.« »Okay«, stimmte er zu. Als er sich wieder erhob, stieß er sich den Kopf an der Tischkante. Seine Hände waren von Essen verschmiert, und er starrte sie nachdenklich an. »Geh und hilf dabei, den Speisesaal sauberzumachen!« sagte der andere Mann zu ihm. Er hatte einen leichten Sprachfehler. Einer von den Küchenhelfern sagte im Vorübergehen zu ihm: »Du brauchst eine Erlaubnis, um bei den Kindern sitzen zu dürfen.« Verwirrt stand er da und nickte. »Das ist was für die Alten«, sagte der Küchenhelfer. »Babysitten.« Er lachte. »Für die, die nichts anderes mehr können.« Er ging weiter. Ein Kind – ein kleines Mädchen – war in der Nische zurückgeblieben. Es musterte ihn mit großen Augen und sagte zu ihm: »Wie heißt’n du?« Er antwortete nicht. »Ich hab’ dich gefragt, wie du’n heißt?« Zögernd berührte er ein Stück Rindfleisch, das auf dem Tisch lag. Es war jetzt kalt. Aber er selbst fühlte sich immer noch warm, weil er sich der Gegenwart des Kindes an seiner Seite bewußt war; er berührte ihren Kopf, aber nur kurz. »Mein Name ist Thelma«, sagte das Kind. »Hast du deinen Namen vergessen?« Sie tätschelte ihn. »Wenn du deinen Namen öfters vergißt, kannst du ihn dir doch auf die Hand schreiben. Soll ich dir zeigen, wie?« Sie tätschelte ihn wieder. »Wird er denn nicht abgegeben?« fragte er sie. »Wenn ich ihn mir auf die Hand schreibe und dann irgendwas tue oder ein Bad nehme, wird er doch sofort wieder abgewaschen.« »Oh, verstehe.« Sie nickte. »Tja, du könntest ihn auch an die Wand schreiben, über deinen Kopf. In dem Zimmer, wo du drin schläfst. Am besten ganz weit oben, damit er nicht weggewischt werden kann. Und wenn du dann wissen willst, wie du heißt, mußt du nur –« »Thelma«, murmelte er. »Nein, das ist doch mein Name. Du heißt bestimmt anders. Und außerdem ist’s ein Mädchenname.« »Hm, mal überlegen«, sagte er und dachte angestrengt nach. »Das nächste Mal, wenn wir uns treffen, werde ich dir einen Namen geben«, sagte Thelma. »Ich denk’ mir einen für dich aus. Wie wär’s den mit ›Kay‹?« »Du wohnst doch auch hier, oder?« sagte er. »Ja, aber meine Mami dürfte jetzt eigentlich von hier weg. Sie ist noch am Überlegen, ob sie von hier weggeht und uns mitnimmt, mich und meinen Bruder.« Er nickte. Etwas von der Wärme, die ihn bisher erfüllt hatte, war von ihm gewichen. Urplötzlich, ohne erkennbaren Grund, rannte das Kind fort. Ich sollte mir selbst einen Namen ausdenken, entschied er; eigentlich ist das doch meine eigene Aufgabe. Er betrachtete eingehend seine Hand und fragte sich, warum er das tat; da war nichts Besonderes zu sehen. Bruce, dachte er; das ist mein Name. Aber es müßte noch einen anderen, besseren Namen geben als den, dachte er. Die Wärme, die ihm noch geblieben war, verschwand nach und nach, ganz so wie das Kind. Er fühlte sich wieder allein und sehr weit weg von sich selbst und verloren. Und nicht sehr glücklich. * Eines Tages konnte Mike Westaway es so hindrehen, daß er losgeschickt wurde, um eine Fuhre halb verrotteten Gemüses abzuholen, die ein ortsansässiger Supermarkt dem Neuen Pfad gespendet hatte. Nachdem er sich jedoch vergewissert hatte, daß ihm niemand vom Personal folgte, tätigte er einen Telefonanruf und traf dann in einem McDonald’s-Schnellimbiß Donna Hawthorne. Sie saßen zusammen draußen, und auf dem Holztisch zwischen ihnen standen Coke und Hamburger. »Haben wir es wirklich geschafft, ihn einzuschleusen?« erkundigte sich Donna. »Ja«, sagte Westaway. Aber bei sich dachte er: Der Typ ist so total ausgebrannt. Ich frage mich, ob uns das weiterbringt. Ich frage mich, ob wir damit wirklich einen entscheidenden Erfolg verbucht haben. Und doch mußte alles so ablaufen, wie es abgelaufen ist. »Sie haben noch keinen Verdacht geschöpft?« »Nein«, sagte Mike Westaway. Donna sagte: »Sind Sie sich eigentlich sicher, daß sie das Zeug anbauen?« »Nein. Aber das zählt nicht. Die da oben glauben es.« Die, die uns bezahlen, dachte er. »Was bedeutet der Name?« »Mors ontologica. Tod der Seele. Der Identität. Des innersten Wesens.« »Wird er dazu fähig sein, zu handeln?« Westaway betrachtete die Autos und die Menschen, die vorüberströmten, mit schwermütigem Blick, während er zugleich in seinem Essen herumstocherte. »Wer kann das schon sagen?« »Man kann es nie mit Sicherheit wissen, bis der entscheidende Augenblick da ist. Eine vage Erinnerung. Ein paar durchgeschmorte Gehirnzellen, die noch ein bißchen weiterflackern. Wie ein Reflex. Reagieren, nicht agieren. Wir können nur hoffen. Erinnern Sie sich, was Paulus in der Bibel sagt: Glaube, Hoffnung und Selbstaufgabe bis zum letzten Cent.« Er musterte eingehend das hübsche, dunkelhaarige Mädchen, das ihm gegenübersaß, und ihr intelligentes Gesicht verriet ihm, warum Bob Arctor – nein, dachte er; ich muß von ihm immer nur als Bruce denken. Andernfalls gebe ich zu, daß ich zuviel weiß: Dinge, die ich nicht wissen sollte, nicht wissen kann. Etwa, warum Bruce so viel von ihr hielt. Jedenfalls damals, als er noch fähig war, zu denken. »Er ist sehr gründlich auf seine Aufgabe vorbereitet worden«, sagte Donna in einem, wie es ihm vorkam, ungewöhnlich hoffnungslosen Tonfall. Und gleichzeitig huschte ein Ausdruck von Trauer über ihr Gesicht und entstellte es. »Ein so hoher Preis«, sagte sie dann wie zu sich selbst und nippte an ihrer Coke. Er dachte: Aber es gibt keinen anderen Weg. Anders kann man nicht hineinkommen. Ich kann nicht hineinkommen. Das ist jetzt endgültig sicher; ich muß nur daran denken, wie lange ich es versucht habe. Sie werden nur eine ausgebrannte Hülle wie Bruce hereinlassen. Jemanden, der harmlos ist. Er würde so sein müssen wie … ja, genau so, wie er jetzt ist. Sonst würden sie das Risiko nicht eingehen. Das ist ihr Grundsatz. »Die Regierung verlangt schrecklich viel«, sagte Donna. »Das Leben verlangt schrecklich viel.« Sie hob ihren Blick und starrte ihn voller mühsam unterdrückter Wut an. »In diesem Fall doch wohl die Bundesregierung. Und sie verlangt es von Ihnen, von mir, von –« Sie unterbrach sich. »Von dem, was einmal mein Freund war.« »Er ist immer noch Ihr Freund. « Donna sagte heftig: »Ja, das, was von ihm übriggeblieben ist.« Das, was von ihm übriggeblieben ist, dachte Mike Westaway, sucht immer noch nach dir. Auf seine Weise jedenfalls. Auch er fühlte sich niedergeschlagen. Aber der Tag war schön, die Menschen und die Autos ringsum ließen seine Stimmung wieder besser werden, und die Luft roch gut. Und endlich bestand wieder Aussicht auf Erfolg; das beflügelte ihn am meisten. Sie waren so weit gekommen, und jetzt konnten sie den Rest des Weges auch noch schaffen. Donna sagte: »Ich glaube wirklich, es gibt nichts, was schrecklicher wäre, als jemanden oder etwas – ein lebendes Geschöpf zu opfern, ohne daß dieses Geschöpf jemals erfährt, was mit ihm geschieht. Wenn er es nur wüßte! Wenn er es nur verstehen würde und sich freiwillig zur Verfügung stellen würde. Aber –« Sie hob resignierend die Hände. »Er weiß es nicht; er hat es nie gewußt. Er hat sich nicht freiwillig –« »Natürlich hat er das. Es gehört zu seinem Job.« »Es ist ihm nie zu Bewußtsein gekommen, und auch jetzt ist es ihm noch nicht bewußt, weil er jetzt überhaupt kein aktives Bewußtsein mehr hat. Sie wissen das genausogut wie ich. Und er wird nie wieder in seinem Leben, nie wieder, solange er lebt, ein aktives Bewußtsein haben. Nur noch Reflexe. Und das war kein Betriebsunfall; es sollte passieren. Darum lastet ein schlechtes Karma auf uns. Ich spüre es auf meinem Rücken. Wie ein Leichnam. Ich trage einen Leichnam mit mir herum –Bob Arctors Leichnam. Auch wenn er klinisch gesehen noch lebt.« Ihre Stimme war laut geworden; Mike Westaway bedeutete ihr, sich zu mäßigen, und mit sichtlicher Anstrengung zwang sie sich wieder zur Ruhe. Von den anderen Holztischen hatten schon andere Gäste, die dort genußvoll ihre Hamburger und Shakes verzehrten, fragend herübergeblickt. Nach einer Pause sagte Westaway: »Betrachten Sie es doch einmal unter diesem Aspekt – man kann nicht etwas … jemanden verhören, der keinen Verstand hat.« »Ich muß zurück zur Arbeit«, sagte Donna. Sie schaute auf die Armbanduhr. »Ich werde ihnen berichten, daß alles okay zu sein scheint, wenn man von dem ausgeht, was Sie mir erzählt haben. Ihrer Einschätzung nach.« »Warten Sie bis zum Winter«, sagte Westaway. »Winter?« »Bis dahin wird es dauern. Fragen Sie nicht, warum, aber so ist es nun mal; entweder wird es im Winter klappen, oder es läuft überhaupt nicht. Wir werden es dann schaffen oder nie.« Genau zur Sonnenwende, dachte er. »Ein angemessener Zeitpunkt. Dann, wenn alles tot ist und unter dem Schnee begraben.« Er lachte. »In Kalifornien?« »Der Winter der Seele. Mors ontologica. Wenn der Geist tot ist.« »Nur am Schlafen«, sagte Westaway. Er erhob sich. »Ich muß auch abhauen. Ich muß eine Fuhre Gemüse abholen.« Donna starrte ihn mit einem Blick an, in dem zugleich stumme Trauer, Schmerz und Bestürzung lagen. »Für die Küche«, sagte Westaway sanft. »Möhren und Salat. Richtiges Gemüse. Gespendet von McCoy’s Supermarkt, für uns Arme vom Neuen Pfad. Tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Es sollte kein Witz sein. Es sollte überhaupt nichts bedeuten.« Er tätschelte ihre in Leder gehüllte Schulter. Und als er das tat, kam ihm auf einmal der Gedanke, daß vielleicht Bob Arctor diese Jacke als Geschenk für sie gekauft hatte – in besseren, glücklicheren Tagen. »Wir arbeiten schon lange in dieser Angelegenheit zusammen«, sagte Donna in gedämpftem, ruhigem Tonfall. »Ich möchte nicht mehr viel länger daran arbeiten. Ich wünsche mir, daß das endlich aufhört. Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, denke ich mir: Scheiße, wir sind kälter als sie. Als der Gegner.« »Ich sehe nichts Kaltes, wenn ich Sie anschaue«, sagte Westaway. »Aber natürlich kenne ich Sie eigentlich nicht sehr genau. Was ich allerdings sehe – und ich glaube nicht, daß ich mich täusche –, ist einer der warmherzigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. « »Ich bin nach außen hin warm, und die Leute können nur die Außenseite sehen. Warme Augen, ein warmes Gesicht, ein warmes, vorgetäuschtes Scheiß-Lächeln, aber innendrin bin ich die ganze Zeit über kalt und voller Lügen. Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine; in Wirklichkeit bin ich schrecklich.« Die Stimme des Mädchens blieb ruhig, und während sie sprach, lächelte sie. Ihre Pupillen waren groß und sanft und ohne Arglist. »Aber dann wieder sage ich mir, daß es nicht anders geht. Oder? Ich habe das vor langer Zeit begriffen und mich gezielt so gemacht, wie ich jetzt bin. Aber eigentlich ist das gar nicht so schlecht. Auf diese Weise bekommt man alles, was man will. Und bis zu einem gewissen Grad ist jeder so. Nur eines an mir ist tatsächlich schlimm – ich bin ein Lügner. Ich habe meinen Freund angelogen. Ich habe Bob Arctor die ganze Zeit über belogen. Ich habe ihm sogar einmal gesagt, er solle bloß nichts von dem glauben, was ich sagte, aber natürlich hat er gedacht, ich würde nur scherzen; er hat nicht auf mich gehört. Aber nachdem ich es ihm einmal gesagt habe, lag es doch nur noch an ihm, ob er von da an noch auf mich hören und mir glauben wollte oder nicht. Ich habe ihn gewarnt. Aber er hat das, was ich ihm gesagt habe, sofort wieder vergessen und einfach weitergemacht. Ist einfach auf seinem Weg weitergegangen, ohne nach rechts oder links zu schauen.« »Sie haben getan, was Sie tun mußten. Sie haben sogar mehr getan, als Sie tun mußten.« Das Mädchen entfernte sich langsam vom Tisch. »Okay, dann gibt es soweit also nichts, was ich berichten müßte. Außer Ihrer optimistischen Einschätzung. Einfach nur, daß er eingeschleust worden ist und sie den Köder geschluckt haben. Sie haben nichts aus ihm herausgekriegt bei diesen –« Sie schauderte. »Diesen gemeinen Spielen.« »Richtig.« »Dann bis später.« Sie hielt inne. »Die Regierungsleute werden nicht bis zum Winter warten wollen.« »Im Winter oder nie«, sagte Westaway. »Zur Wintersonnenwende.« »Zur was?« »Warten Sie einfach ab«, sagte er. »Und beten Sie.« »Das ist Quatsch«, sagte Donna. »Beten, meine ich. Ich habe früher mal gebetet, sehr viel sogar, aber jetzt nicht mehr. Wir würden das, was wir tun, nicht tun müssen, wenn Gebete funktionieren würden. Das ist nur wieder so ein Selbstbetrug.« »Das sind die meisten Sachen.« Als sie sich langsam noch ein paar Schritte zurückzog, folgte er ihr, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte; Zuneigung für sie empfand. »Ich glaube nicht, daß Sie Ihren Freund zerstört haben. Mir scheint, Sie sind genausosehr zerstört worden, ebensosehr ein Opfer. Nur tritt das bei Ihnen nicht so offen zutage. Aber wie dem auch sei – es gab keine andere Wahl.« »Ich werde in die Hölle kommen«, sagte Donna. Sie lächelte plötzlich, ein breites, jungenhaftes Grinsen. »Meine katholische Erziehung.« »In der Hölle verkaufen die einem jetzt Klingelbeutel, und wenn man heimkommt, sind lauter kleine McDonald’s-Hamburger drin.« »Und die sind aus Truthahnscheiße«, sagte Donna. Und dann, ganz plötzlich, war sie verschwunden. Hatte sich zwischen den ziellos dahineilenden Menschen verflüchtigt; er blinzelte. Ob Bob Arctor das gleiche gefühlt hat wie ich jetzt? dachte er. Bestimmt. Im einen Augenblick war sie noch da, und sie schien so dauerhaft zu sein, als würde sie für alle Ewigkeit auch bleiben; dann – nichts. Verschwunden wie Feuer oder Luft, ein Element der Erde, das in die Erde zurückkehrt. Sich mit den Jedermann-Menschen vermischt, die es immer gab und immer geben wird. In ihrer Mitte ausgegossen. Das Mädchen, das verdunstete, dachte er. Das sich nach Belieben wandelt. Das kommt und geht, ganz wie sie will. Und niemand, nichts, kann sie fassen. Ich versuche, den Wind mit Netzen einzufangen, dachte er. Und das hatte auch Arctor versucht. Wie sinnlos es doch ist, dachte er, einen Rauschgiftagenten der Regierung festhalten zu wollen. Sie sind substanzlos. Schatten, die mit dem Hintergrund verschmelzen, wenn ihr Job das von ihnen fordert. Als ob sie eigentlich schon vorher gar nicht dagewesen wären. Arctor, dachte er, hat ein von den Behörden geschaffenes Trugbild geliebt, eine holografische Projektion, durch die ein gewöhnlicher Mensch wieder und wieder hindurchgehen kann, nur um am Ende allein herauszukommen. Allein und ohne auch nur für einen Augenblick wirklich in ihr Innerstes eingedrungen zu sein – in das Mädchen selbst. Der Wille des Herrn, überlegte er, ist es, aus dem Bösen das Gute zu erschaffen. Wenn Er hier aktiv ist, tut Er das auch gerade jetzt, obwohl unsere Augen es nicht wahrnehmen können; der Prozeß liegt unter der Oberfläche der Wirklichkeit verborgen und kommt erst viel später zum Vorschein. Vielleicht für unsere Nachgeborenen, jene armseligen Wesen, die nichts von dem Kampf wissen werden, den wir durchgestanden haben, und nichts von den Verlusten, die wir hinnehmen mußten – außer, wenn sie vielleicht in einer Fußnote zu einem unbedeutenden Buch einen Hinweis darauf finden. Irgendeine kurze Randnotiz, in der nicht einmal die Namen der Gefallenen aufgeführt sind. Irgendwo, dachte er, sollte man ein Denkmal mit den Namen all jener errichten, die in diesem Krieg gestorben sind. Und auch derer sollte gedacht werden, denen das noch schlimmere Schicksal zuteil geworden ist, nicht zu sterben. Die weiterleben mußten, über ihren Tod hinaus. Wie Bob Arctor. Der tragischste Fall überhaupt. Ich habe das Gefühl, daß Donna ein Söldner ist. Jemand, der nicht auf der gewöhnlichen Gehaltsliste steht. Und solche Söldner sind noch mehr als die anderen wie flüchtige Gespenster. Sie verschwinden für immer. Man fragt sich, wo sie jetzt ist, und die Antwort darauf lautet – Nirgendwo. Weil sie nämlich sowieso nie dagewesen ist. Mike Westaway nahm wieder an dem Holztisch Platz, um seinen Hamburger aufzuessen und seine Coke auszutrinken. Denn das war immerhin noch besser als alles, was man ihnen im Neuen Pfad vorsetzte – selbst wenn der Hamburger aus Kuhfladen bestehen sollte. Der Gedanke, Donna zurückzurufen, den Versuch zu unternehmen, sie zu finden oder sie zu besitzen … Ich suche das, was auch Bob Arctor gesucht hat, und darum ist er jetzt vielleicht sogar besser dran als vorher, trotz allem. Auch vorher war seine Existenz schon tragisch. Einen Luftgeist zu lieben – das war die eigentliche Tragödie. Die Hoffnungslosigkeit an sich. Ihr Name würde in keinem Buch erscheinen. Nirgendwo in den Annalen der Menschheit: kein Wohnort, kein Name. Es gibt solche Mädchen, dachte er, und genau die liebst du am meisten: die, bei denen es keine Hoffnung gibt, weil sie sich dir gerade in dem Moment, da du deine Hände um sie schließt, auch schon entzogen haben. Also haben wir ihn vielleicht vor einem noch schlimmeren Geschick gerettet, schloß Westaway. Und zugleich das, was von ihm übriggeblieben ist, sinnvoll eingesetzt. Für einen guten und nützlichen Zweck. Wenn wir Glück haben. * »Kennst du irgendwelche Geschichten?« fragte Thelma eines Tages. »Ich kenne die Geschichte vom Wolf«, sagte Bruce. »Vom Wolf und der Großmutter?« »Nein«, sagte er. »Vom schwarzweißen Wolf. Er lebte oben in einem Baum und sprang von dort aus wieder und wieder hinunter auf die Tiere des Bauern. Eines Tages schließlich rief der Bauer alle seine Söhne und die Freunde seiner Söhne zusammen, und sie stellten sich rund um den Baum auf und warteten darauf, daß der schwarzweiße Wolf heruntersprang. Am Ende stürzte sich der Wolf tatsächlich auf ein räudiges braunes Tier, und da wurde er in seinem schwarzweißen Mantel von ihnen allen gemeinsam erschossen. « »Oh«, sagte Thelma, »das ist aber schlimm.« »Aber sie retteten den Pelz«, fuhr er fort. »Sie enthäuteten den großen schwarzweißen Wolf, der sich aus dem Baum schnellte, und bewahrten seinen wunderschönen Pelz auf, damit jene, die auf ihn folgten, jene, die nach ihm kamen, sehen konnten, wie er ausgeschaut hatte, und ihn in all seiner Kraft und Herrlichkeit bewundern konnten. Und zukünftige Generationen erzählten sich voller Ehrfurcht die vielen Geschichten, die sich um seine Tapferkeit und seine Würde rankten, und sie beweinten seinen Tod.« »Warum haben sie ihn erschossen?« »Es mußte sein«, sagte er. »Wölfe wie den muß man erschießen.« »Kennst du sonst noch irgendwelche Geschichten? Bessere?« »Nein«, sagte er, »das ist die einzige Geschichte, die ich kenne.« Und er saß da und erinnerte sich daran, wie sehr der Wolf seine überlegenen Fähigkeiten genossen hatte und was für ein gutes Gefühl es gewesen war, sich wieder und wieder mit diesem geschmeidigen Körper vom Baum hinunterzuschnellen. Aber jetzt gab es diesen Körper nicht mehr; sie hatten den Wolf niedergeschossen. Und das wegen ein paar magerer Tiere, die sowieso nur abgeschlachtet und gegessen wurden. Kraftlose Tiere, die nie sprangen und die auf ihren Körper nicht stolz sein konnten. Aber andererseits – und das mochte auf seine Weise auch etwas Gutes sein – schleppten sich diese Tiere immer irgendwie vorwärts. Und der schwarzweiße Wolf hatte sich nie beklagt; er hatte nichts gesagt, nicht einmal dann, als sie ihn erschossen. Seine Klauen waren immer noch tief in seine Beute vergraben gewesen. Aus keinem besonderen Grund. Nur, weil das eben so seine Art war und er es gerne tat. Er konnte sich nicht anders verhalten, kannte keinen anderen Lebensstil. Und schließlich erwischten sie ihn eben. »Ich bin der Wolf«, rief Thelma und sprang ungeschickt durch den Raum. »Wuff, wuff!« Sie schnappte nach verschiedenen Gegenständen und verfehlte sie doch alle, und bestürzt erkannte er, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Zum ersten Mal sah er, daß sie hirngeschädigt war, und das erfüllte ihn mit einer unbestimmten Angst. Wie konnte so etwas nur geschehen? »Er sagte: »Du bist nicht der Wolf.« Aber trotzdem stolperte sie nach wie vor, als sie herumtappte und herumhinkte; trotzdem blieb, wie er plötzlich begriff, die Hirnschädigung weiter bestehen. Er fragte sich, wie es möglich war, daß … Ich unglücksel’ger Atlas! Eine Welt, Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen, Ich trage Unerträgliches, und brechen Will mir das Herz im Leibe.[17 - Anm. d. Übers.: Deutsch im Original] ein solches Maß an Leid existieren konnte. Er ging weg. Hinter ihm spielte sie immer noch. Sie strauchelte und fiel. Was mag man dabei empfinden? fragte er sich. * Er wanderte den Korridor entlang, weil er den Staubsauger suchte. Es war ihm aufgetragen worden, sorgfältig das große Spielzimmer zu saugen, in dem die Kinder den größten Teil des Tages verbrachten. »Die Halle hinunter rechts.« Jemand wies ihm den Weg. Earl. »Danke, Earl«, sagte er. Als er vor der geschlossenen Tür stand, wollte er eigentlich erst klopfen, aber dann öffnete er sie statt dessen einfach so. In dem Raum stand eine alte Frau, die drei Gummibälle in der Hand hielt, mit denen sie jonglierte. Ihr graues, strähniges Haar hing ihr bis auf die Schultern. Sie wandte sich ihm zu und grinste ihn zahnlos an. Sie trug weiße Sportsöckchen und Tennisschuhe. Er sah, daß ihre Augen tief in den Höhlen lagen; grinsende, eingesunkene Augen, leerer Mund. »Schaffst du das auch?« schnaufte sie und warf alle drei Bälle hoch in die Luft. Sie fielen herab, trafen sie, sprangen auf den Fußboden. Sie beugte sich über die Bälle und lachte. Aus ihrem Mundwinkel tropfte Speichel. »Nein«, sagte er und stand einfach nur da, zutiefst erschreckt. »Aber ich.« Das dünne alte Geschöpf, dessen Armgelenke bei jeder Bewegung knackten, hob die Bälle wieder auf, blinzelte kurzsichtig und versuchte es noch mal. Jemand erschien neben Bruce in der Tür und stellte sich neben ihn, um ebenfalls zuzuschauen. »Wie lange übt sie schon?« sagte Bruce. »Ganz schön lange.« Der andere rief der Frau zu: »Versuch’s noch mal. Bald hast du den Dreh raus!« Die alte Frau gackerte, während sie sich niederbeugte und mit den Händen umhertastete, um die Bälle wieder aufzuheben. »Einer ist da drüben«, sagte die Person neben Bruce. »Unter dem Nachtschränkchen.« »Ohhhhhhh!« keuchte sie. Sie sahen zu, wie die alte Frau wieder und wieder neue Versuche unternahm – die Bälle fallen ließ, die Bälle wieder aufhob, sorgfältig zielte, sich selbst ausbalancierte, die Bälle hoch in die Luft warf und sich dann krümmte, als sie auf sie herniederregneten und sie dabei manchmal auf den Kopf trafen. Die Person neben Bruce schnüffelte und sagte naserümpfend: »Donna, du solltest dich jetzt besser waschen gehen. Du bist nicht sauber.« Seltsam berührt sagte Bruce: »Das ist nicht Donna. Ist das wirklich Donna?« Er hob den Kopf, um die alte Frau zu beäugen, und er spürte ein großes Entsetzen in sich; so etwas wie Tränen standen in den Augen der alten Frau, als sie seinen Blick erwiderte, aber sie lachte, lachte, als sie die drei Bälle auf ihn warf, begierig, ihn zu treffen. Er duckte sich. »Nein, Donna, das sollst du doch nicht tun«, sagte die Person neben Bruce zu ihr. »Nicht nach anderen Leuten werfen. Probier einfach nur, das nachzumachen, was du im Fernsehen gesehen hast. Du weißt schon, fang sie selbst wieder auf und werf sie sofort wieder hoch. Aber zuerst machst du dich jetzt mal sauber; du stinkst.« »Okay«, stimmte die alte Frau zu und eilte davon, gebückt und klein. Die drei Gummibälle, die immer noch auf dem Boden umherrollten, ließ sie zurück. Die Person neben Bruce schloß die Tür, und sie gingen gemeinsam durch die Halle. »Wie lange ist Donna schon hier?« sagte Bruce. »Lange. Sie war schon da, bevor ich gekommen bin, und das ist sechs Monate her. Sie versucht seit ungefähr einer Woche zu jonglieren.« »Dann ist das nicht Donna«, sagte er. »Nicht, wenn sie schon so lange hier ist. Ich bin nämlich gerade erst vor einer Woche hierhergekommen.« Und Donna, dachte er, hat mich mit ihrem MG hierhergefahren. Ich erinnere mich daran, weil wir anhalten mußten, um Kühlflüssigkeit nachfüllen zu lassen. Und da sah sie noch gut aus. Ruhig und gelassen, mit dunklen, traurigen Augen, in Lederjäckchen und Stiefeln, mit dem Geldbeutel, an dem der Hasenfuß baumelte. So, wie sie immer aussieht. Dann ging er weiter, immer noch auf der Suche nach dem Staubsauger. Er fühlte sich jetzt viel besser. Aber er verstand nicht, warum. XV Bruce sagte: »Könnte ich irgendwo arbeiten, wo es Tiere gibt?« »Nein«, sagte Mike, »ich glaube, ich werde dich auf eine unserer Farmen schicken. Ich möchte, daß du es erst mal mit Pflanzen versuchst, ein paar Monate lang. Draußen im Freien, wo du den Boden berühren kannst. Die Menschen versuchen viel zu oft, nach dem Himmel zu greifen. Diese ganzen Raumsonden, die sie mit Raketen hochschicken … Ich möchte, daß du mit dem Boden –« »Ich möchte aber bei etwas Lebendigem sein. « Mike erklärte: »Der Boden ist lebendig. Die Erde lebt noch. Das wird dir gut tun. Hast du Ahnung von Landwirtschaft? Weißt du, wie man sät, den Boden kultiviert und erntet?« »Ich hab’ in einem Büro gearbeitet.« »Von jetzt an wirst du im Freien arbeiten. Wenn dein Verstand zurückkommen soll, dann muß das auf natürlichem Wege geschehen. Du kannst nicht durch eigene Anstrengungen wieder zu denken lernen. Du kannst nur immer weiter arbeiten, also zum Beispiel auf unseren Gemüseplantagen – wie wir sie nennen – die Saat ausstreuen oder den Boden bestellen. Oder Insekten vernichten. Das machen wir viel – Insekten mit der richtigen Sorte Sprays ausrotten. Wir sind allerdings bei der Verwendung von Sprays sehr vorsichtig. Sie können mehr Schaden anrichten, als sie Nutzen bringen. Sie können nicht nur die Ernte oder den Boden vergiften, sondern auch den, der sie benutzt. Sein Gehirn angreifen.« Er fügte hinzu: »So wie deins.« »Okay«, sagte Bruce. Man hat dich eingesprüht, dachte Mike, als er auf den Mann ihm gegenüber blickte, und darum bist du jetzt zu einer Wanze geworden. Wenn man eine Wanze mit einem Gift besprüht, dann stirbt sie; wenn man einen Mann, sein Gehirn, damit besprüht, dann wird er zu einem klickenden und klackenden Insekt, das sich für immer in einem geschlossenen Kreis bewegt. Eine Reflexmaschine, wie eine Ameise. Eine Maschine, die immer nur die letzte Anweisung wiederholt, die man ihr gegeben hat. Dein Gehirn wird nie mehr etwas Neues aufnehmen, dachte Mike, weil dieses Gehirn sich aufgelöst hat. Und zugleich mit dem Gehirn auch jener Mensch, der einmal aus diesem Kopf herausschaute. Jener Mensch, den ich nie gekannt habe. Aber wenn er an den richtigen Ort und in die richtige Stellung gebracht wird, kann er vielleicht immer noch hinunterschauen und den Boden sehen. Und erkennen, daß dieser Boden existiert. Und etwas, das lebt, das also anders ist als er, darin einpflanzen. Auf daß es wachse und Frucht bringe. Denn genau das ist es ja, was er oder es nicht mehr kann: Diese Kreatur neben mir ist gestorben und kann darum niemals wieder wachsen. Es kann nur nach und nach immer mehr verfallen, bis das, was übrigbleibt, auch tot ist. Und dann karren wir das weg. Jemand, der tot ist, dachte Mike, hat keine große Zukunft mehr. Für gewöhnlich hat er nur noch seine Vergangenheit. Und für Arctor-Fred-Bruce gibt es nicht einmal mehr die Vergangenheit, sondern nur noch den gegenwärtigen Augenblick. Neben Mike, auf dem Beifahrersitz des von ihm gesteuerten hauseigenen Wagens, hüpfte die eingefallene Gestalt auf und ab. Das Rütteln des Wagens übertrug sich auf sie, setzte sie in Bewegung. Ich möchte zu gerne wissen, dachte Mike, ob es wirklich der Neue Pfad war, der ihm das angetan hat. Der einen Stoff in die Welt hinausgeschickt hat, um ihn zu dem zu machen, was er jetzt ist. Um ihn in diesen Zustand zu versetzen, damit sie ihn schließlich wieder bei sich aufnehmen konnten. Und um auf diese Weise, dachte er, inmitten des Chaos eine Zivilisation nach ihrem Bilde aufzubauen. Wenn man wirklich von einer »Zivilisation« sprechen kann. Er wußte es nicht. Er war noch nicht lange genug beim Neuen Pfad gewesen; ihre Ziele, so hatte der Direktor ihn einmal belehrt, würde er erst erfahren dürfen, wenn er für weitere zwei Jahre dem Mitarbeiterstab angehört hatte. Jene Ziele, hatte der Direktor gesagt, hatten nichts mit der Rehabilitation von Drogensüchtigen zu tun. Niemand außer Donald, dem Direktor, wußte, wo die Gelder herkamen, mit denen sich der Neue Pfad finanzierte. Aber es war immer genügend Geld da. Tja, dachte Mike, man kann schon eine schöne Stange Geld machen, wenn man Substanz T herstellt. Draußen auf verschiedenen ländlichen Farmen in abgeschiedener Lage, in kleinen Läden, in diversen Institutionen, die unter dem Etikett »Schulen« liefen. Herstellung, dann Verteilung und schließlich Verkauf. Profite allerorten. Sie reichten bestimmt dafür, daß der Neue Pfad solvent blieb und weiter gedeihen konnte – und wahrscheinlich sogar für mehr. Für eine ganze Reihe von Endzielen. Die sich daraus bestimmten, was der Neue Pfad eigentlich vorhatte. Er wußte etwas – die für die Eindämmung des Drogenhandels zuständige Regierungsstelle wußte etwas –, von dem der größte Teil der Öffentlichkeit, ja selbst die Polizei, keine Ahnung hatte. Wie Heroin war auch Substanz T organisch und keineswegs ein Laborprodukt. Und darum war es nicht ohne Doppelsinn, wenn er, wie so oft, nun dachte, daß all diese Profite dazu beitrugen, den Neuen Pfad gut bei Kasse zu halten und ihn gedeihen zu lassen. Die Lebenden, dachte er, sollten nie dazu benutzt werden, den Absichten der Toten zu dienen. Aber die Toten – er warf einen flüchtigen Blick auf Bruce, die leere Hülle neben ihm – sollten, wenn möglich, den Absichten der Lebenden dienen. Das, überlegte er, ist das Gesetz des Lebens. Und wenn die Toten überhaupt noch etwas fühlen konnten, dann mochten sie sich vielleicht besser fühlen, wenn sie das taten. Die Toten, dachte Mike, die immer noch sehen können, selbst wenn sie nichts mehr begreifen: Sie sind unsere Kamera. XVI Unter dem Ausguß in der Küche, bei den Seifenkisten und Bürsten und Eimern, fand er ein kleines Knochenstückchen. Es sah irgendwie menschlich aus, und er fragte sich, ob das Jerry Fabin sein mochte. Dieser Fund weckte in ihm die Erinnerung an ein Ereignis, das schon sehr lange zurückliegen mußte. Einmal hatte er mit zwei anderen Typen zusammengewohnt, und manchmal hatten sie im Scherz behauptet, eine Ratte namens Fred zu besitzen, die unter dem Ausguß lebte. Und als sie einmal total pleite gewesen waren, so pflegten sie ihren Bekannten zu erzählen, hatten sie den armen alten Fred aufgegessen. Vielleicht war das hier einer der Knochen jener Ratte, die unter dem Ausguß gehaust hatte. Die sie erfunden hatten, damit sie nicht so allein waren. * Die Gespräche im Gemeinschaftsraum. »Dieser Typ war noch ausgeflippter, als er nach außen hin wirkte. Ich spürte das. Eines Tages fuhr er hinauf nach Ventura und kurvte überall rum, um einen alten Freund zu suchen, der landeinwärts in Richtung Ojai wohnte. Er erkannte das Haus, ohne nach der Nummer zu sehen, hielt an und fragte die Leute, ob er mit Leo sprechen könne. ›Leo ist schon tot. Tut mir leid, daß Sie das nicht wußten.‹ Und darauf sagt dieser Typ zu ihnen: ›Okay, dann komme ich eben nächsten Donnerstag noch mal wieder.‹ Und er fuhr weg, fuhr zurück die Küste runter, und ich schätze, daß er am Donnerstag wieder raufgefahren ist, um Leo zu suchen. Wie findet ihr das?« Er hörte ihrer Unterhaltung zu und trank dabei seinen Kaffee. »– es funktioniert echt, das Telefonbuch, in dem nur eine einzige Nummer drinsteht; egal, wen man sprechen will, man wählt immer diese eine Nummer. Seite um Seite immer nur die gleiche Nummer … ich sprech’ natürlich von ‘ner total ausgeflippten Gesellschaft. Und in deiner Brieftasche hast du diese Nummer auch, die Nummer, hingekritzelt auf Zettel und Karten, für verschiedene Leute. Und wenn du die Nummer vergißt, dann könntest du niemanden mehr anrufen.« »Du könntest die Auskunft anrufen.« »Die hat dieselbe Nummer.« Er hörte immer noch zu; er fand den Ort, den sie da beschrieben, sehr interessant. Wenn man anrief, hörte man vielleicht »Kein Anschluß unter dieser Nummer«, oder jemand meldete sich und sagte: »Tut mir leid, Sie sind falsch verbunden. Haben Sie vielleicht die falsche Nummer gewählt?« Und darum rief man noch mal an, wählte einfach wieder dieselbe Nummer, und diesmal war die Person dran, die man sprechen wollte. Wenn man zum Arzt ging – es gab nur einen, und der war Spezialist für alles –, dann gab es nur eine Medizin. Nachdem der Arzt einen untersucht hatte, pflegte er immer diese Medizin zu verschreiben. Man brachte das Rezept zur Apotheke, um es dort einzulösen, aber der Apotheker konnte nie lesen, was der Doktor geschrieben hatte, und darum gab er einem die einzige Pille, die er hatte, nämlich Aspirin. Und das half immer, ganz egal, was man hatte. Wenn man gegen das Gesetz verstieß, dann immer nur gegen das eine Gesetz, gegen das alle wieder und wieder verstießen. Der Bulle schrieb alles sorgfältig auf: welches Gesetz, welcher Verstoß. Jedesmal. Und auf jede Gesetzesverletzung, von der Verkehrsgefährdung bis hin zum Verrat, stand immer dieselbe Strafe, und das war die Todesstrafe. Es gab zwar Bemühungen, die Todesstrafe abzuschaffen, aber dazu durfte es letztlich doch nicht kommen, weil es dann ja zum Beispiel für Verkehrsgefährdung überhaupt keine Strafe mehr gegeben hätte. Also blieb man bei der alten Regelung, und das Volk zehrte sich von innen heraus aus und starb. Aber eigentlich konnte man in diesem Fall wohl doch nicht von »Sterben« sprechen – die Bürger waren schon vorher tot gewesen. Sie verblaßten einfach nur ein bißchen mehr, wenn sie das Gesetz brachen, einer nach dem anderen, und lösten sich dann am Ende nur irgendwie endgültig auf. Er dachte: Und wenn die Leute dann hören, daß der letzte von ihnen verschwunden ist, werden sie bestimmt sagen, ›Möchte ja zu gerne wissen, was das eigentlich für Menschen waren. Hm – tja, am besten kommen wir am Donnerstag noch mal wieder.‹ Obwohl er sich nicht sicher war, lachte er, und als er seine Geschichte laut erzählte, lachten auch alle anderen im Aufenthaltsraum. »Sehr gut, Bruce«, sagten sie. Dieser Satz wurde bald zu einer Art geflügeltem Wort; wenn einer der Insassen des Samarkand House etwas nicht verstand oder etwas, das er holen sollte – etwa eine Rolle Toilettenpapier –, nicht finden konnte, dann pflegte er zu sagen: »Tja, dann komme ich wohl am besten am Donnerstag noch mal wieder.« Im allgemeinen wurde dieser Slogan ihm zugeschrieben. Sein Spruch. Wie bei den Trickfilmen im Fernsehen, in denen Woche für Woche als besonderes Erkennungszeichen die gleichen Sprüche gerissen wurden. Der Slogan verbreitete sich im Samarkand House, und alle wußten, was damit gemeint war. Als sie sich später eines Abends beim Spiel wechselseitig für die Dinge lobten, die jeder von ihnen in die Gemeinschaft des Neuen Pfades eingebracht hatte, wie etwa neue Konzepte, da wurde er dafür gelobt, den Humor eingebracht zu haben. Er hatte die Fähigkeit mitgebracht, die Dinge als spaßig anzusehen, ganz egal, wie schlecht er sich auch fühlen mochte. Alle im Kreis klatschten, und als er überrascht aufblickte, sah er einen Ring aus lächelnden Gesichtern. Alle Augen waren voller Wärme und Einverständnis auf ihn gerichtet, und das Geräusch ihres Applauses blieb noch lange in ihm, ganz tief drinnen in seinem Herzen. XVII Gegen Ende August dieses Jahres, zwei Monate nachdem er in das Rehabilitationszentrum des Neuen Pfades eingeliefert worden war, wurde er auf eine therapeutische Farm im Napa Valley überstellt, das sich im Hinterland Nordkaliforniens befindet. Diese Region Kaliforniens wird auch das »Weinland« genannt, weil es dort viele fruchtbare Weinberge gibt. Donald Abrahams, der Direktor der Neue-Pfad-Stiftung, unterzeichnete den Überstellungsbefehl. Der Vorschlag dazu war von Michael Westaway gekommen, einem Angehörigen seines Mitarbeiterstabes, der besonders daran interessiert war, herauszufinden, was für Bruce getan werden konnte. Vor allem, da das Spiel ihm nicht geholfen hatte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, mußte man sogar zugeben, daß sein Zustand durch das Spiel eher noch verschlechtert worden war. »Dein Name ist Bruce«, sagte der Manager der Farm, als Bruce steif aus dem Wagen stieg, seinen Koffer hinter sich herschleifend. »Mein Name ist Bruce«, sagte er. »Wir werden jetzt mal eine Zeit lang probieren, wie du mit der Landwirtschaft klarkommst, Bruce.« »Okay.« »Ich glaube, es wird dir hier besser gefallen, Bruce. Viel besser.« »Ich glaube, es wird mir hier besser gefallen«, sagte er. »Viel besser.« Der Farmmanager blickte ihn prüfend an. »Man hat dir kürzlich einen Haarschnitt verpaßt.« »Ja, sie haben mir einen Haarschnitt verpaßt.« Bruce hob tastend die Hand, um seinen geschorenen Kopf zu berühren. »Warum?« »Sie haben mir die Haare abgeschnitten, weil sie mich im Quartier der Frauen gefunden haben.« »War das dein erster Haarschnitt?« »Nein, das war mein zweiter.« Nach einer Pause sagte Bruce: »Einmal bin ich gewalttätig geworden.« Er stand da, den Koffer immer noch in der Hand; der Manager bedeutete ihm, ihn abzusetzen. »Ich habe die Gewaltregel gebrochen.« »Was hast du gemacht?« »Ich habe ein Kissen geworfen.« »Okay, Bruce«, sagte der Manager. »Komm mit, und ich zeige dir, wo du schlafen wirst. Wir haben hier kein Haupthaus; je sechs Personen haben zusammen eine kleine Hütte. Sie schlafen und kochen und wohnen da, wenn sie nicht gerade arbeiten. Hier gibt es keine Spiele-Sitzungen, nur die Arbeit. Keine weiteren Spiele mehr für dich, Bruce.« Bruce schien das zu gefallen; ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Magst du Berge?« Der Farmmanager wies nach rechts. »Schau mal da hin. Berge. Kein Schnee, aber Berge. Santa Rosa liegt links; auf den Hängen da wachsen schön große Trauben. Wir bauen keine Trauben an. Verschiedene andere landwirtschaftliche Produkte, aber keine Trauben.« »Ich mag Berge«, sagte Bruce. »Schau sie dir an.« Der Manager wies mit der rechten Hand auf die Berge. Bruce schaute nicht hin. »Wir werden dir einen Hut besorgen«, sagte der Manager. »Ohne Hut kannst du mit deinem kahlgeschorenen Kopf nicht draußen auf den Feldern arbeiten. Geh nicht hinaus zur Arbeit, bis wir einen Hut für dich haben. Klar?« »Ich werde nicht zur Arbeit gehen, bis ich einen Hut habe«, sagte Bruce. »Die Luft ist gut hier«, sagte der Manager. »Ich mag Luft«, sagte Bruce. »Yeah«, sagte der Manager und bedeutete Bruce mit einer Handbewegung, den Koffer wieder aufzunehmen und ihm zu folgen. Er fühlte sich irgendwie gehemmt, als er Bruce anblickte; er wußte nicht, was er sagen sollte. Wenn Leute wie dieser hier ankamen, ging es ihm immer so. »Wir alle mögen die Luft, Bruce. Wirklich. Das ist uns allen gemeinsam, ja.« Er dachte: Wenigstens noch das. »Werde ich meine Freunde wiedersehen?« fragte Bruce. »Du meinst, die von da, wo du bisher gewesen bist? In unserer Einrichtung in Santa Ana?« »Mike und Laura und George und Eddie und Donna und –« »Die Leute aus den Wohnheimen kommen nicht hinaus auf die Farmen«, erläuterte der Manager. »Die Farmen sind geschlossene Einrichtungen. Aber möglicherweise kannst du ein- oder zweimal im Jahr zurückgehen. Manchmal finden Zusammenkünfte statt, zu Weihnachten und auch zu –« Bruce war stehengeblieben. »Die nächste«, sagte der Manager und gab ihm zugleich einen Wink, wieder weiterzugehen, »ist zu Thanksgiving.[18 - Anm. des Übers.: Ein amerikanischer Festtag, der sich in etwa mit dem deutschen Erntedankfest vergleichen läßt.] Wir schicken die Arbeiter aus diesem Anlaß für zwei Tage in die Zentren zurück, aus denen sie ursprünglich zu uns gekommen sind. Dann geht’s wieder zurück nach hier, bis Weihnachten. Also wirst du deine Freunde wiedersehen. Wenn sie nicht in andere Zentren überstellt worden sind. In drei Monaten. Aber du sollst doch keine Zweierbeziehungen aufbauen – hat man dir das denn nicht erklärt? Du sollst nur einen Teil der Gesamtheit der Familie werden.« »Das weiß ich«, sagte Bruce. »Wir mußten das alle auswendig lernen, als Teil des Glaubensbekenntnisses des Neuen Pfades.« Er spähte umher und sagte: »Kann ich einen Schluck Wasser haben?« »Wir werden dir zeigen, wo hier die Wasserkräne sind. Du hast einen in deiner Hütte, aber es gibt auch eine gemeinschaftliche Zapfstelle für die ganze Familie.« Er führte Bruce zu einer der Hütten, die aus Fertigteilen bestanden. »Die Farmen sind geschlossene Einrichtungen, weil wir mit Neuzüchtungen und Hybriden experimentieren und vermeiden wollen, daß diese Pflanzen von Insekten befallen werden. Jeder, der hier hereinkommt – sogar Angehörige des Mitarbeiterstabes – könnte Schädlinge einschleppen, die sich in seinen Kleidern, an seinen Schuhen oder in seinen Haaren festgesetzt haben.« Er wählte nach Zufallskriterien eine Hütte aus. »Deine ist 4-G«, entschied er. »Kannst du sie dir merken?« »Sie sehen alle gleich aus«, sagte Bruce. »Du kannst ja irgendeinen Gegenstand an die Tür nageln, damit du sie wiedererkennst, die Hütte. Etwas, das du leicht im Gedächtnis behalten kannst. Am besten was Farbiges.« Er stieß die Tür der Hütte auf; ein Schwall heißer, abgestandener Luft quoll ihnen entgegen. »Ich denke, wir werden dich zuerst bei den Artischocken einsetzen«, überlegte er laut. »Du wirst Handschuhe tragen müssen – die haben Dornen.« »Artischocken«, sagte Bruce. »Zum Teufe – wir haben hier auch Pilze. Experimentelle Pilzkulturen, natürlich hermetisch eingesiegelt – jeder, der Zuchtpilze anbaut, muß seine Kulturen einsiegeln –, damit keine krankheitserregenden Sporen hereingeweht werden und die Beete verseuchen. Pilzsporen werden nämlich durch den Wind verbreitet. Das stellt ein Risiko für alle Pilzzüchter dar.« »Pilze«, sagte Bruce und betrat die dunkle, heiße Hütte. Der Manager verfolgte ihn dabei mit seinen Blicken. »Ja, Bruce«, sagte er. »Ja, Bruce, sagte Bruce. »Bruce«, sagte der Manager. »Wach auf.« Er stand in dem schalen Dunkel der Hütte, den Koffer immer noch in der Hand, und nickte. »Okay«, sagte er. Sie nicken ein, sobald es dunkel ist, dachte der Manager bei sich. Wie Hühner. Ein Gemüse unter Gemüsen, dachte er. Ein Pilz unter Pilzen. Und wenn du willst, kannst du sie ernten. Mit einem Ruck schaltete er das elektrische Deckenlicht an und zeigte dann Bruce, wie es zu bedienen war. Bruce schien sich nicht dafür zu interessieren; er hatte jetzt einen flüchtigen Blick der Berge erhascht und stand da, sie unverwandt anstarrend, sich ihrer Existenz zum ersten Mal bewußt. »Berge, Bruce, Berge«, sagte der Manager. »Berge, Bruce, Berge«, sagte Bruce und starrte nur weiter. »Hallihallo, Bruce, hallihallo«, sagte der Manager. »Hallihallo, Bruce –« »Okay, Bruce«, sagte der Manager und schloß die Tür der Hütte hinter sich, wobei er dachte: Ich glaube, ich sollte ihn zu den Möhren stecken. Oder zu den Runkelrüben. Irgendwas Einfaches. Etwas, was ihn nicht überfordert. Und dort, da in der anderen Hütte, noch ein Gemüse. Da hat er wenigstens Gesellschaft. Sie können ihre Leben gemeinsam wegnicken, immer schön im Einklang. Reihen von ihnen. Ganze Morgen. * Sie drehten ihn so, daß er auf das Feld schauen konnte, und er sah die Weizenähren, die sich wie ausgefranste Schattenrisse gegen den Himmel abhoben. Müllanbau, dachte er. Sie unterhalten eine Müllfarm. Er beugte sich nieder und sah einen kleinen, blauen Blütenkelch, der dicht über dem Boden wuchs. Und nicht nur einen, sondern viele, auf niedlichen, sich im Wind wiegenden Stengeln. Wie Stoppeln. Spreu. Jetzt, da er sein Gesicht nahe genug heranbringen konnte, um sie auszumachen, sah er, daß es eine Menge dieser Blumen gab. Regelrechte Felder davon, zwischen den höher aufragenden Reihen von Weizenhalmen. Dazwischen verborgen. Viele Farmer benutzten diese Pflanztechnik: eine Feldfrucht inmitten einer anderen, in konzentrischen Ringen. Auf diese Art, erinnerte er sich, legten auch die Farmer in Mexiko ihre Marijuana-Planta­gen an: eingekreist – umringt – von hohen Gewächsen, so daß die Fedérales sie nicht vom Jeep aus entdecken konnten. Aber dann wurden sie eben aus der Luft aufgespürt. Und wenn die Fédérales eine solche Hasch-Plantage tief unter sich ausmachten … Sie schossen den Farmer, seine Frau, ihre Kinder und sogar das Vieh mit Maschinenpistolen zusammen. Und flogen dann wieder ab. Und ihre Suche vom Hubschrauber aus ging weiter, unterstützt von den Jeeps. All die Blumen, so lieblich und klein und blau. »Was du da siehst, das ist die Blume der Zukunft«, sagte Donald, der Direktor des Neuen Pfades. »Aber für dich ist sie nicht bestimmt.« »Warum nicht für mich?« fragte Bruce. »Das wäre dann doch zuviel des Guten«, sagte der Direktor. Er kicherte. »Also hoch mit dir und Schluß mit der Anbeterei – das da ist nicht mehr dein Gott, dein Idol, auch wenn es das früher einmal war. Einen Vorschein des Unendlichen – ist es das, was du hier wachsen siehst? Deinem Gesichtsausdruck nach könnte man das glatt meinen.« Er klopfte Bruce kräftig auf die Schulter. Dann senkte er seine Hand vor Bruces Gesicht und beraubte die gefrorenen Augen des Anblicks. »Weg«, sagte Bruce. »Frühlingsblumen weg.« »Nein, du kannst sie einfach nur nicht sehen. Das ist ein philosophisches Problem, das du nicht begreifen würdest. Epistemologie – die Lehre von der Erkenntnis. « Bruce sah nur die Innenfläche von Donalds Hand, die das Licht von ihm fernhielt, und er starrte darauf, tausend Jahre lang. Der dunkle Schirm … Er schloß sich um ihn; war von jeher um ihn geschlossen gewesen; würde sich in alle Ewigkeit um ihn schließen, um die toten Augen außerhalb der Zeit, Augen, die nicht wegschauen konnten, und eine Hand, die sich nicht wegbewegen würde. Die Zeit blieb stehen, als das Universum gleich ihm in diesem Augenblick, da alles ineinandergriff, erstarrte; als es gleich ihm in der eisigen Kälte des Begreifens gefror. Jede Vorwärtsbewegung hörte für ihn auf. Es gab nichts, was er nicht wußte; es gab nichts, was noch hätte geschehen können. »Zurück an die Arbeit, Bruce«, sagte Donald, der Direktor. »Ich habe es gesehen«, sagte Bruce. Er dachte: Ich habe es gewußt. Es ist geschehen: Ich habe gesehen, wie Substanz T wächst. Ich habe gesehen, wie der Tod aus der Erde sprießt, aus dem Boden selbst, auf einem blauen Feld, wie winzige Farbsprenkel. Der Farmmanager und Donald Abrahams wechselten einen flüchtigen Blick und schauten dann hinunter auf die kniende Gestalt, auf den knienden Mann und die Mors ontologica, die überall zwischen den sie verbergenden Weizenähren angepflanzt war. »Zurück an die Arbeit, Bruce«, sagte der kniende Mann daraufhin und erhob sich auf die Füße. Donald und der Farmmanager schlenderten davon, hinüber zu ihrem geparkten Lincoln. Sie unterhielten sich miteinander; er sah zu – ohne sich umzudrehen, ohne sich umdrehen zu können –, wie sie wegfuhren. Dann aber bückte Bruce sich, pflückte eine der kleinen blauen Pflanzen und steckte sie in seinen rechten Schuh, um sie vor neugierigen Blicken zu verbergen. Ein Geschenk für meine Freunde, dachte er, und tief in seiner Seele, wo niemand es sehen konnte, freute er sich schon auf Thanksgiving. Nachbemerkung des Verfassers Der dunkle Schirm erzählt die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die für das, was sie taten, viel zu hart bestraft wurden. Eigentlich wollten sie sich nur einen guten Tag machen und ihren Spaß dabei haben, aber sie waren wie Kinder, die auf der Straße spielten; sie konnten sehen, wie einer nach dem anderen von ihnen getötet wurde – überfahren, verstümmelt, ausgelöscht –, aber sie spielten trotzdem weiter. Eine Zeitlang waren wir wirklich alle sehr glücklich. Wir saßen nur herum und rackerten uns nicht ab, sondern machten nur Unsinn und spielten. Aber die Zeit war so schrecklich kurz bemessen, und die Strafe, die dann folgte, überschritt alles menschliche Maß: Sogar als wir sie schon sehen konnten, vermochten wir nicht daran zu glauben, daß sie über uns kommen würde. Gerade, während ich das hier schreibe, habe ich zum Beispiel erfahren, daß die Person, auf der die Gestalt des Jerry Fabin basiert, Selbstmord begangen hat. Einer meiner Freunde, der für die Gestalt des Ernie Luckman Pate stand, starb schon, bevor ich den Roman anfing. Für einige Zeit war ich selbst eines dieser Kinder, die auf der Straße spielen; genau wie die anderen von ihnen versuchte ich, zu spielen, statt erwachsen zu sein, und auch ich bin dafür bestraft worden. Auch ich stehe auf der weiter unten abgedruckten Liste, die eine Aufzählung jener ist, denen ich diesen Roman gewidmet habe, und eine Auflistung dessen, was aus jedem einzelnen davon wurde. Drogenmißbrauch ist keine Krankheit, sondern eine Entscheidung, vergleichbar mit der Entscheidung, vor einem heranrasenden Wagen hinaus auf die Fahrbahn zu treten. Man würde das nicht als Krankheit bezeichnen, sondern als Fehlentscheidung. Wenn eine ganze Gruppe von Menschen so zu handeln beginnt, dann wird aus der individuellen Fehlentscheidung eine gesellschaftliche – ein Lebensstil. Das Motto dieses speziellen Lebensstils lautet: »Sei jetzt glücklich, weil du morgen schon stirbst.« Aber das Sterben beginnt praktisch auf der Stelle, und das Glücklichsein ist nur eine Erinnerung. Demnach ist dieser Lebensstil eigentlich nur eine Beschleunigung, eine Intensivierung der gewöhnlichen menschlichen Existenz. Er unterscheidet sich im Prinzip nicht von Ihrem Lebensstil, er ist bloß schneller. Alles spielt sich in Wochen oder Monaten statt in Jahren ab. »Nimm das Bargeld und pfeif auf den Kredit«, wie Villon 1460 sagte. Aber das ist ein Fehler, wenn das Bargeld ein Penny und der Kredit ein ganzes Leben ist. Der dunkle Schirm hat keine Moral; er steht nicht in der Tradition des bürgerlichen Romans. Der Roman soll nicht aussagen, daß diese Menschen falsch gehandelt haben, als sie spielten, statt sich abzurackern; er beschreibt nur die Konsequenzen. Die griechische Tragödie ist ein gesellschaftlicher Reflex auf die Entdeckung der Wissenschaft, die wiederum letztlich auf dem Gesetz der Kausalität fußt. In diesem Roman hingegen gibt es kein Schicksal, sondern nur Nemesis, da jeder von uns sich dafür hätte entscheiden können, nicht länger auf der Straße zu spielen. Die Nemesis aber, die über jene kam, die weiterspielten, war entsetzlich, wie ich aus eigener bitterer Erfahrung sagen kann. Ich selbst – ich bin keine Gestalt des Romans; ich bin der Roman. Doch zu jener Zeit war das unsere gesamte Nation. Dieser Roman handelt von mehr Personen, als ich selber gekannt habe. Über einige davon haben wir oft in den Zeitungen gelesen.[19 - Anm. des Übers.: Dick bezieht sich hier und in den folgenden Zeilen auf die politische Entwicklung in den Vereinigten Staaten unter der Regierung des republikanischen Präsidenten Richard Nicon, die ihren Höhepunkt in der »Watergate-Affäre« fand.] Die Entscheidung, mit Kumpeln herumzusitzen und Blödsinn zu machen, während das Tonband mitlief, war der größte Fehler, der in unserem Jahrzehnt, den sechziger Jahren, gemacht worden ist, sei es nun innerhalb oder außerhalb des Establishments. Und die Entwicklung überrollte uns. Wir wurden von schrecklichen Ereignissen dazu gezwungen, aufzuhören. Wenn es dabei so etwas wie »Sünde« gegeben hat, dann bestand sie darin, daß diese Menschen die gute Zeit, die sie sich machten, immer weiter ausdehnen wollten und dafür bestraft wurden, aber wenn es so war, dann bin ich – wie ich schon sagte – der Ansicht, daß diese Strafe viel zu hart war, und ich würde es vorziehen, diese Dinge nur in griechischen oder moralisch neutralen Kategorien zu betrachten, sozusagen in Form reiner Wissenschaft, deterministischer, unparteiischer Kausalzusammenhänge. Ich habe sie alle geliebt. Hier ist die Liste jener, denen ich in Liebe dieses Buch widme. Der dunkle Schirm ist … und für so viele andere. In Memoriam. Sie alle waren meine Kameraden; es gibt keine besseren. Sie bleiben in meinem Herzen, und dem Feind soll keine Vergebung zuteil werden. Der Feind war ihre Entscheidung, zu spielen. Mögen sie alle wieder spielen, auf irgendeine andere Weise, und mögen sie glücklich sein. ENDE notes Примечания 1 Anm. d. Übersetz.: Deutsch im Original 2 Anm. d. Übers.: Etwa: »Wo es Stoff gibt, da gibt es auch noch Hoffnung.« 3 Anm. d. Übers.: Die Universität von Kalifornien in Los Angeles 4 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original. 5 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original. 6 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original. 7 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original 8 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original. 9 Anm. d. Übers.: Im Gegensatz zu Kapitel XI, wo diese drei Gedichtzeilen im Original in Deutsch zitiert werden, steht hier im Original eine englische Übersetzung. 10 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original. 11 Anm. d. Übers.: Im Original zuerst in Deutsch und dann in Englisch. 12 Anm. d. Übers.: Im Original zuerst in Deutsch und dann in Englisch. 13 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original. 14 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original 15 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original 16 Anm. des Übers.: Im Original: »I am not a crook » – ein wörtliches Zitat eines Ausspruchs des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon anläßlich seiner vom Fernsehen übertragenen Verteidigungsrede gegen die im Zusammenhang mit der Watergate-Affäre gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Außer Dick haben auch andere amerikanische Künstier dieses Zitat als Anspielung auf Richard »Tricky Dicky« Nixon ironisch verarbeitet, u. a. der Rockmusiker Frank Zappa in seinem Song »Son of Orange County«. Der »Sohn von Orange County« ist natürlich Richard Nixon, dessen Geburtsort im kalifornischen Orange County liegt – wo ja auch Philip K. Dick ganz bewußt die Handlung des vorliegenden Romans angesiedelt hat. 17 Anm. d. Übers.: Deutsch im Original 18 Anm. des Übers.: Ein amerikanischer Festtag, der sich in etwa mit dem deutschen Erntedankfest vergleichen läßt. 19 Anm. des Übers.: Dick bezieht sich hier und in den folgenden Zeilen auf die politische Entwicklung in den Vereinigten Staaten unter der Regierung des republikanischen Präsidenten Richard Nicon, die ihren Höhepunkt in der »Watergate-Affäre« fand.