The Stand. Das letze Gefecht Stephen King Kurzbeschreibung In einem entvölkerten Amerika versucht eine Handvoll Überlebender, die Zivilisation zu retten. Ihr Gegenspieler ist eine mytische Gestalt, die man den Dunklen Mann nennt, die Verkörperung des absolut Bösen. In der Wüste von Nevada kommt es zum Entscheidungskampf um das Schicksal der Menschheit. "The Stand", Stephen Kings Vision vom letzten Gefecht zwischen Gut und Böse, war bislang nur in einer stark gekürzten Version zugänglich.Die hier veröffentlichte Urfassung zeigt die Größe seines apokalyptischen Entwurfs.Manche nennen diesen Roman sein Meisterwerk! Autorenportrait Stephen King wurde 1947 in Portland, Maine, geboren. Er war zunächst als Englischlehrer tätig, bevor ihm 1973 mit seinem ersten Roman 'Carrie' der Durchbruch gelang. Seither hat er mehr als 30 Romane geschrieben und über 100 Kurzgeschichten verfasst und gilt als einer der erfolgreichsten Schriftsteller weltweit. FÜR TABBY Diese dunkle Truhe voller Wunder VORBEMERKUNG DES AUTORS The Stand ist ein Produkt der Phantasie, wie das Thema an sich schon deutlich macht. Zahlreiche Geschehnisse spielen sich an tatsächlich existierenden Schauplätzen ab - zum Beispiel Ogunquit, Maine; Las Vegas; Nevada und Boulder, Colorado -, aber ich habe mir bei diesen Schauplätzen die Freiheit genommen, sie so zu verändern, wie es mir für den Gang der Handlung richtig erschien. Ich hoffe, Leser, die an den genannten oder ändern im Roman geschilderten Schauplätzen wohnen, verübeln mir diese »monströse Anmaßung« nicht, (um Dorothy Sayers zu zitieren, die sich derlei Freiheiten auch stets in größerem Umfang nahm). Andere Orte, zum Beispiel Arnette, Texas und Shoyo, Arkansas, sind ebenso frei erfunden wie die Handlung selbst. S. K. EIN VORWORT IN ZWEI TEILEN Teil 1: Vor dem Kauf lesen Einiges müssen Sie von vornherein über diese Fassung von The Stand - Das letzte Gefecht wissen, bevor Sie die Buchhandlung verlassen. Daher hoffe ich, daß ich Sie noch rechtzeitig erwischt habe - im Idealfall, während Sie jetzt vor dem Buchstaben K der belletristischen Neuerscheinungen stehen, Ihre anderen Erwerbungen unter dem Arm und dieses Buch aufgeschlagen vor sich haben. Mit anderen Worten: Ich hoffe, ich habe Sie erwischt, so lange Sie Ihr Portemonnaie noch sicher in der Tasche haben. Bereit? Okay; danke. Ich verspreche Ihnen, ich fasse mich kurz. Erstens, dies ist kein neuer Roman. Sollten Sie einer diesbezüglichen Fehleinschätzung unterliegen, so lassen Sie uns das hier und jetzt klarstellen, während Sie noch in sicherer Entfernung von der Registrierkasse sind, wo das Geld aus Ihrer Tasche in die meine fließt. The Stand wurde ursprünglich vor mehr als zehn Jahren veröffentlicht. Zweitens, dies ist keine brandneue, vollkommen andere Version des Romans, der als Das letzte Gefecht erschienen ist. Sie werden feststellen, daß die alten Hauptfiguren sich im wesentlichen genauso verhalten, und der Verlauf der Erzählung zweigt auch nicht an einer bestimmten Stelle von der alten Version ab und führt Sie, mein Dauerleser, in eine völlig neue Richtung. Diese Fassung von Das letzte Gefecht ist eine Erweiterung des bereits erschienenen Romans. Wie ich schon sagte, Sie werden keine alten Bekannten treffen, die sich auf merkwürdige Weise anders verhalten, aber Sie werden feststellen, daß fast alle Figuren in dieser Originalfassung des Buches mehr gemacht haben, und wenn ich nicht der Meinung wäre, daß manches davon interessant ist - vielleicht sogar erhellend -, hätte ich diesem Projekt niemals zugestimmt. Wenn Sie das nicht interessiert, kaufen Sie dieses Buch nicht! Sollten Sie es schon gekauft haben, dann haben Sie hoffentlich den Kassenzettel behalten. Den will die Buchhandlung sehen, wo Sie es gekauft haben, andernfalls bekommen Sie weder eine Gutschrift noch Ihr Geld zurück. Wenn diese erweiterte Fassung Sie aber interessiert, dann bitte ich Sie, mich ein Stückchen weiter zu begleiten. Ich habe Ihnen viel zu erzählen, und ich glaube, hinter der Ecke können wir uns besser unterhalten. Im Dunkeln. Teil 2: Nach dem Kauf lesen Dies ist eigentlich gar kein Vorwort, sondern vielmehr eine Erklärung, warum diese neue Version von The Stand - Das letzte Gefecht überhaupt erscheint. Das Buch war in der bisherigen Form schon außerordentlich lang, und diese erweiterte Fassung wird von manchen - vielleicht von vielen - als Akt der Selbstgefälligkeit eines Autors angesehen werden, dessen Werke inzwischen so erfolgreich sind, daß er es sich leisten kann. Ich hoffe nicht, aber ich müßte schon verdammt dumm sein, wenn ich nicht wüßte, daß ich damit zu rechnen habe. Schließlich haben viele Kritiker schon die frühere Fassung als aufgebläht und überlang angesehen. Ob das Buch von Anfang an zu lang war, oder es in dieser Ausgabe geworden ist, diese Frage will ich dem einzelnen Leser überlassen. Ich möchte diese wenigen Zeilen nur nutzen und sagen, daß ich The Stand, wie es ursprünglich geschrieben worden ist, nicht veröffentliche, um mir selbst oder einem bestimmten Leser einen Gefallen zu tun, sondern den vielen, die mich darum gebeten haben. Ich würde das Buch nicht in dieser Form anbieten, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß die Passagen, die aus dem Manuskript herausgekürzt worden sind, die Geschichte bereichern, und ich wäre ein Lügner, würde ich nicht zugeben, daß ich neugierig bin, wie das erweiterte Buch aufgenommen wird. Ich möchte Ihnen die Geschichte ersparen, wie The Stand entstanden ist - die Gedankengänge, die einen Roman hervorbringen, interessieren kaum jemanden, abgesehen von angehenden Romanautoren. Sie neigen zu dem Glauben, daß es eine Geheimformel gebe, einen erfolgreichen Roman zu schreiben, aber die gibt es nicht. Man hat einen Einfall; an einer bestimmten Stelle klinkt sich ein anderer Einfall ein; man zieht eine oder mehrere Verbindungen zwischen den Einfällen; ein paar Figuren (anfangs normalerweise nichts weiter als Schatten) bieten sich an; dem Schriftsteller fällt ein mögliches Ende ein (obwohl das tatsächliche Ende meistens anders ausfällt, als der Verfasser es sich vorgestellt hat); und irgendwann macht sich der Autor mit Papier und Bleistift, einer Schreibmaschine oder einem Textcomputer an die Arbeit. Wenn ich gefragt werde: »Wie schreiben Sie?«, dann antworte ich darauf regelmäßig: »Ein Wort nach dem anderen«, und diese Antwort stößt ebenso regelmäßig auf Unglauben. Aber es ist so. Es hört sich zu einfach an, um wahr zu sein, aber denken Sie an die Chinesische Mauer, wenn Sie wollen: ein Stein nach dem anderen, Mann. Mehr nicht. Ein Stein nach dem anderen. Aber ich habe gelesen, daß man das Scheißding ohne Teleskop aus dem All sehen kann. Falls es doch jemanden interessiert: Die Geschichte wird im letzten Kapitel von Danse Macabre erzählt, einem geschwätzigen, aber benutzerfreundlichen Überblick über das Horror-Genre, den ich 1981 veröffentlicht habe. Dies soll keine Werbung für das Buch sein; ich sage nur, daß die Story dort steht, wenn Sie sie lesen wollen, aber sie wird nicht erzählt, weil sie an sich interessant ist, sondern um ein vollkommen andersgeartetes Anliegen zu verdeutlichen. Was das vorliegende Buch betrifft, ist es wichtig zu wissen, daß alles in allem etwa vierhundert Manuskriptseiten aus der endgültigen Fassung herausgekürzt wurden. Der Grund dafür war nicht inhaltlicher Natur; wäre dies der Fall, dann wäre ich damit zufrieden, das Buch sein Leben leben und seinen letztendlichen Tod sterben zu lassen, wie es ursprünglich veröffentlicht worden ist. Die Kürzungen wurden auf Verlangen der Buchhaltung vorgenommen. Man rechnete die Herstellungskosten zusammen, verglich diese mit den Verkaufszahlen der Hardcover-Ausgaben meiner vorherigen vier Bücher und kam zum Ergebnis, daß ein Ladenpreis von 11,95 Dollar für den Markt das Äußerste war. Ich wurde gefragt, ob ich die Kürzungen selbst vornehmen wollte oder es mir lieber wäre, wenn jemand im Lektorat es macht. Ich stimmte widerwillig zu, den chirurgischen Eingriff selbst vorzunehmen. Ich glaube, ich habe eine recht gute Arbeit abgeliefert - für einen Schriftsteller, dem man immer wieder vorwirft, daß er an Textcomputerdiarrhöe leidet. Es gibt nur eine Stelle - die Reise des Mülleimermanns quer durch das Land von Indiana nach Las Vegas -, die mir in der ersten Fassung deutlich amputiert zu sein scheint. Wenn also die Geschichte komplett vorhanden ist, könnte man sich nun fragen, warum dann überhaupt die Mühe? Ist es nicht doch Selbstgefälligkeit? Hoffentlich nicht; denn sollte das der Fall sein, dann habe ich einen großen Teil meines Lebens meine Zeit vergeudet. Nun bin ich aber einmal der Meinung, daß das Ganze immer größer ist als die Summe seiner Teile. Wäre dem nicht so, dann wäre die nachfolgende Version von »Hänsel und Gretel« in jeder Hinsicht akzeptabel: Hänsel und Gretel waren zwei Kinder mit einem lieben Vater und einer lieben Mutter. Die liebe Mutter starb, und der Vater heiratete eine Schlampe. Die Schlampe wollte die Kinder loswerden, damit sie mehr Geld für sich selbst ausgeben konnte. Sie brachte ihren feigen, matschköpfigen Manne dazu, Hänsel und Gretel in den Wald zu führen und umzubringen. Im letzten Augenblick überlegte der Vater der Kinder es sich anders und ließ sie leben, damit sie langsam im Wald verhungern konnten, anstatt schnell und barmherzig durch das Messer zu sterben. Beim Herumspazieren fanden die Kinder ein Haus aus Lebkuchen. Das gehörte einer Hexe, die auf Kannibalismus abfuhr. Sie sperrte die Kinder ein und sagte ihnen, wenn sie groß und fett geworden waren, würde sie sie essen. Aber die Kinder zeigten ihr, was eine Harke ist. Hänsel stieß sie in ihren eigenen Herd. Sie fanden den Schatz der Hexe, und sie müssen auch eine Karte gefunden haben, denn schließlich fanden sie wieder nach Hause. Als sie dort ankamen, schickte Paps die Schlampe in die Wüste, und danach lebten sie alle glücklich. Ende. Ich weiß nicht, was Sie davon halten, aber für mich ist diese Version ein Reinfall. Die Geschichte ist da, aber sie ist nicht elegant. Sie ist wie ein Cadillac, dessen Chromteile man entfernt und dessen Farbe man bis aufs stumpfe Metall abgeschmirgelt hat. Man kann damit fahren, aber er ist irgendwie nicht, wie soll ich sagen, geil. Ich habe nicht die ganzen vierhundert gekürzten Seiten wieder eingefügt; es ist ein Unterschied, ob man etwas richtig macht oder schlicht und einfach nur vulgär ist. Ein Teil dessen, was auf dem Boden des Schneideraums geblieben ist, als ich die verkürzte Version eingereicht habe, verdiente es, dort zu bleiben, und darum bleibt es auch dort. Andere Stellen, beispielsweise Frannies Begegnung mit ihrer Mutter am Anfang des Buches, bilden eine Bereicherung und verleihen eine Tiefe, die ich, als Leser, außerordentlich schätze. Kehren wir einen Moment zu »Hänsel und Gretel« zurück; Sie werden sich vielleicht erinnern, die böse Stiefmutter verlangt von ihrem Mann, daß er ihr die Herzen der Kinder als Beweis dafür mitbringt, daß der unglückliche Holzfäller ihren Befehl ausgeführt hat. Der Holzfäller beweist einen letzten Überrest Intelligenz, indem er ihr die Herzen von zwei Kaninchen mitbringt. Oder nehmen Sie die berühmte Spur aus Brotkrumen, die Hänsel hinter sich ausstreut, damit er und seine Schwester den Rückweg finden. Pfiffiges Kerlchen! Aber als er der Spur zurück folgen will, muß er feststellen, daß Vögel die Krumen gefressen haben. Beides ist für die Handlung nicht von entscheidender Bedeutung, aber in gewisser Weise bildet es die Handlung - beides sind großartige, magische Versatzstücke des Geschichtenerzählens. Sie machen aus einem potentiell langweiligen Stück eine Geschichte, die seit über hundert Jahren Leser bezaubert und das Gruseln lehrt. Ich habe so eine Ahnung, als ob nichts, was ich neu eingefügt habe, so gut ist wie Hansels Brotkrumenspur, aber ich habe immer bedauert, daß niemand außer mir und ein paar Leuten bei Doubleday je den Irren kennengelernt hat, der sich The Kid nennt... oder Zeuge wird, was ihm vor einem Tunnel zustößt, der wiederum ein Kontrapunkt zu einem anderen Tunnel ist - dem Lincoln Tunnel in New York, den zwei Personen früher im Roman durchqueren müssen. Hier also The Stand - Das letzte Gefecht, mein Dauerleser, wie es gemäß den Vorstellungen seines Verfassers ursprünglich aus dem Vorführraum flackern sollte. Alle Chromteile sind wieder montiert, ob gut oder schlecht. Der letzte Grund, warum ich diese Version präsentiere, ist der einfachste. Es ist zwar nie mein Lieblingsroman gewesen, aber den Leuten, die meine Bücher mögen, scheint er stets am besten zu gefallen. Wenn ich irgendwo einen Vortrag halte (was ich so selten wie möglich tue), sprechen mich die Leute immer auf Das letzte Gefecht an. Sie sprechen von den Figuren, als wären es lebende Menschen, und manchmal fragen sie: »Was ist aus Soundso geworden?« ... als würde ich ab und an Briefe von meinen Romanfiguren bekommen. Ich werde unweigerlich gefragt, ob das Buch jemals verfilmt werden wird. Die Antwort lautet übrigens ja. Wird es ein guter Film? Ich weiss nicht. Schlecht oder gut, Filme haben immer eine seltsam abschwächende Wirkung auf Fantasy-Werke (Es gibt selbstverständlich Ausnahmen; Der Zauberer Oz fällt mir sofort ein). Bei Diskussionen verteilen die Leute endlos Rollen für die verschiedenen Figuren. Ich war immer der Meinung, Robert Duvall würde einen großartigen Randall Flagg abgeben, aber ich habe Leute schon Schauspieler wie Clint Eastwood, Bruce Dem und Christopher Walken vorschlagen hören. Sie klingen alle nicht schlecht, ebenso wie Bruce Springsteen einen interessanten Larry Underwood abgeben würde, sollte er sich jemals an der Schauspielerei versuchen (was er, wenn ich mir seine Videos so ansehe, ziemlich gut machen würde, glaube ich... trotzdem wäre mein persönlicher Favorit Marshall Crenshaw). Aber letztendlich ist es vielleicht besser, wenn Stu, Larry, Glen, Frannie, Ralph, Tom Cullen, Lloyd und der dunkle Bursche nur dem Leser gehören, der sie sich durch die Linse der Phantasie in einer lebhaften, wechselhaften Form vorstellen kann, die keine Kamera nachempfinden könnte. Schließlich vermitteln Filme nur mit Tausenden von starren Fotos die Illusion von Bewegung. Die Phantasie dagegen fließt mit ihren eigenen Gezeiten. Filme, auch die besten, lassen die Literatur erstarren - wer sich je Einer flog über das Kuckucksnest angesehen und danach Ken Keseys Roman gelesen hat, wird feststellen, daß es schwer, wenn nicht sogar unmöglich ist, nicht das Gesicht von Jack Nicholson bei Rändle Patrick McMurphy zu sehen. Das ist nicht zwangsläufig schlecht... aber es schränkt doch ein. Der Vorzug einer guten Geschichte liegt darin, daß sie grenzenlos und flüssig ist; eine gute Geschichte gehört jedem Leser auf seine spezielle Weise. Zuletzt: Ich schreibe nur aus zwei Gründen: um mich und andere zu erfreuen. Ich hoffe, indem ich zu dieser langen Geschichte einer dunklen Christenheit zurückgekehrt bin, ist mir beides gelungen. 24. Oktober 1989 DER KREIS ÖFFNET SICH »Wir brauchen Hilfe, dachte der Dichter.« Edward Dorn Outside the street's on fire In a real death waltz Between what's flesh and fantasy And the poets down here Don t write nothing at all They just stand back and let it all be And in the quick of the night They reach for their moment And try to make a honest stand But they wind up wounded Not even dead Tonight in Jungle Land Bruce Springsteen And it was clear she couldn't go on! The door was opened and the wind appeared, The candles blew and then disappeared, The curtains blew and then he appeared, Said, »Don't be afraid, Come on, Mary«, And she had no fear And she ran to him and they started to fly... She had taken his hand... »Come on, Mary; Don't fear the Reaper!« Blue Oyster Cult WHAT'S THAT SPELL? WHAT'S THAT SPELL? WHAT'S THAT SPELL? Country Joe and the Fish  »Sally.« Ein Grummeln. »Wach jetzt auf, Sally.« Ein lauteres Grummeln: Laß mich schlafen. Er schüttelte sie heftiger. »Wach auf. Du mußt aufwachen!« Charlie. Charlies Stimme. Er rief nach ihr. Wie lange schon? Sally schwamm aus dem Schlaf empor. Zuerst blickte sie auf die Uhr auf dem Nachttisch und stellte fest, dass es Viertel nach zwei morgens war. Charlie hatte hier gar nichts verloren; er müßte im Dienst sein. Dann sah sie ihn zum ersten Mal richtig an, und irgend etwas schoß in ihr hoch, eine tödliche Intuition. Ihr Mann war leichenblaß. Seine Augen waren aufgerissen und quollen aus den Höhlen. Er hatte die Autoschlüssel in einer Hand. Mit der anderen schüttelte er sie immer noch, obwohl sie die Augen aufgeschlagen hatte. Es war, als hätte er die Tatsache, daß sie wach war, gar nicht registriert. »Was ist denn, Charlie? Was ist los?« Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Sein Adamsapfel hüpfte sinnlos; außer dem Ticken der Uhr war in dem kleinen Firmenbungalow kein Laut zu hören. »Brennt's?« Eine dämliche Frage, aber eine andere Erklärung für seinen merkwürdigen Zustand wollte ihr nicht einfallen. Sie wußte, seine Eltern waren bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. »In gewisser Weise«, sagte er. »In gewisser Weise ist es schlimmer. Du mußt dich anziehen, Liebes. Hol Baby LaVon. Wir müssen hier weg.« »Warum?« fragte sie und stand auf. Schwarze Angst hatte sie gepackt. Alles war auf einmal so merkwürdig. Es war wie ein böser Traum. »Wohin? In den Garten?« Aber sie wußte, er meinte nicht den Garten. Sie hatte Charlie noch nie so ängstlich gesehen. Sie holte tief Luft, konnte aber keinen Rauch und kein Feuer riechen. »Sally, Liebes, stell keine Fragen. Wir müssen weg. Weit weg. Hol Baby LaVon und zieh sie an.« »Aber soll ich... haben wir Zeit zu packen?« Das schien ihm Einhalt zu geben. Ihn irgendwie aus dem Geleise zu bringen. Sie hatte gedacht, ihre Furcht könnte nicht mehr größer werden, aber sie hatte sich geirrt. Was sie bei ihm für Angst gehalten hatte, kam eher nackter Panik gleich; das wurde ihr jetzt klar. Er strich sich abwesend mit einer Hand durchs Haar und antwortete: »Ich weiß nicht. Ich muß erst die Windrichtung prüfen.« Mit dieser bizarren Bemerkung, die sie überhaupt nicht begriff, ließ er sie frierend und ängstlich und verwirrt barfuß und in ihrem Baby-DollHemdchen stehen. Es war, als hätte er den Verstand verloren. Was hatte die Windrichtung damit zu tun, ob sie Zeit zum Packen hatte oder nicht? Und was sollte überhaupt >weit weg< heißen? Reno? Vegas? Salt Lake City? Und... Sie legte die Hand an den Hals, als eine andere Erklärung sie durchfuhr. Desertieren. Dieser überstürzte nächtliche Aufbruch bedeutete, dass Charlie desertieren wollte. Sie ging in das kleine Zimmer, das als LaVons Kinderzimmer diente, stand einen Augenblick da und sah unentschlossen auf das schlafende Baby in seinem rosa Strampelanzug hinunter. Sie klammerte sich an die schwache Hoffnung, daß dies nichts weiter als ein außergewöhnlich lebhafter Traum war. Er würde vorbeigehen, sie würde morgens um sieben aufwachen, wie gewöhnlich, La Von und sich selbst etwas zu essen machen und dabei die erste Stunde der Larry-Show ansehen, und wenn Charlie um acht Uhr von der Arbeit kam, nachdem er wieder einmal seine Nachtschicht im Nordturm des Reservats abgesessen hatte, würde sie ihm Eier kochen. In zwei Wochen würde er wieder die Tagesschicht übernehmen und nicht mehr so launisch sein, und wenn er nachts bei ihr schlief, würde sie keine verrückten Träume wie diesen mehr haben und... »Beeil dich!« zischte er sie an und machte ihre schwache Hoffnung zunichte. »Wir haben gerade noch Zeit, ein paar Sachen zusammenzukramen... aber bei Gott, Frau, wenn du sie lieb hast...«, er deutete auf die Wiege, »... dann zieh sie an!« Er hustete nervös in die Hand, riß Sachen aus den Kommodenschubladen und warf sie achtlos in zwei alte Koffer. Sie weckte Baby LaVon und beruhigte die Kleine, so gut sie konnte; die Dreijährige war quengelig und verwirrt, weil sie mitten in der Nacht geweckt wurde, und sie fing an zu weinen, als Sally ihr Unterhose, Bluse und eine Latzhose anzog. Das Weinen des Kindes machte ihr mehr Angst denn je. Es erinnerte sie an die anderen Anlässe, wenn LaVon, die normalerweise ein wahrer Engel war, geweint hatte: von Windeln wundgescheuert, beim Zahnen, Keuchhusten oder bei Kolik. Ihre Angst wurde langsam zu Wut, als sie Charlie sah, der mit einem großen Bündel ihrer Unterwäsche in den Armen an der Tür vorbeistürmte. BH-Träger wehten hinter ihm her wie die Papierrollen von Silvesterknallbonbons. Er warf die Wäsche in einen der Koffer und klappte ihn zu. Der Saum ihres besten Slips hing heraus, und sie könnte wetten, daß er zerrissen war. »Was ist denn los?« schrie sie, und ihre wütende Stimme hatte zur Folge, daß LaVon wieder in Tränen ausbrach, nachdem sie sich gerade beruhigt und nur noch geschnieft hatte. »Bist du übergeschnappt? Sie schicken Soldaten hinter uns her, Charlie! Soldaten!« »Heute nacht nicht«, sagte er, und seine Stimme klang so überzeugt, daß es erschreckend war. »Und jetzt hör mal zu, Schatz. Wenn wir nicht schnellstens abhauen, kommen wir nie mehr aus dem Stützpunkt raus. Ich weiß nicht mal, wie ich es überhaupt geschafft habe, vom Turm wegzukommen. Das Sicherheitssystem war wohl defekt. Warum auch nicht? Das ganze ver-dämmte System hat einen riesengroßen Defekt.« Und dann stieß er ein schrilles, irres Lachen aus, das ihr mehr angst machte als alles andere zuvor. »Ist das Baby angezogen? Gut. Stopf ein paar von seinen Kleidern in den anderen Koffer. Den Rest in den blauen Beutel im Schrank. Und dann nichts wie weg hier. Ich glaube, wir kommen durch. Der Wind weht von Osten nach Westen. Wenigstens das, Gott sei Dank.« Er hustete wieder in die Hand. »Daddy!« verlangte Baby La Von und hielt die Arme hoch. »Will zu Daddy! Ja. Huckepack, Daddy! Huckepack! Ja!« »Jetzt nicht«, sagte Charlie und verschwand in der Küche. Einen Augenblick später hörte Sally Geschirr klappern. Er holte ihr Erspartes aus der blauen Suppenschüssel auf dem obersten Regal. Dreißig oder vierzig Dollar, die sie, einen Dollar, manchmal nur einen halben, nach dem anderen gespart hatte. Ihr Haushaltsgeld. Also war es Wirklichkeit. Was auch immer geschehen war, es war Wirklichkeit. LaVon, der von ihrem Vater - der ihr selten, wenn überhaupt je, etwas abschlug - der Huckepackritt verweigert worden war, fing wieder an zu weinen. Sally bemühte sich, ihr das leichte Jäckchen überzustreifen, dann stopfte sie den größten Teil ihrer Kleider achtlos in den Beutel. Allein der Gedanke, noch etwas anderes in den zweiten Koffer zu packen, war lächerlich. Er würde platzen. Sie mußte darauf knien, damit sie die Schnallen zubekam. Sie dankte Gott, daß LaVon sauber war und daß sie keine Windeln mehr brauchten. Charlie kam ins Schlafzimmer zurück, und jetzt rannte er tatsächlich. Er stopfte noch immer Dollarscheine in die Hosentasche. Sally hob LaVon auf. Das Baby war jetzt hellwach und hätte alleine laufen können, aber Sally wollte es in den Armen halten. Sie bückte sich und hob den Beutel auf. »Wohin dehn wir, Daddy?« fragte LaVon. »Hab' deschlaf'n.« »Baby kann im Auto weiterschlafen«, sagte Charlie und packte die beiden Koffer. Der Saum von Sallys Slip flatterte. Seine Augen hatten immer noch diesen starren Ausdruck. Eine Ahnung, die zur Überzeugung wuchs, stieg in Sally auf. »Ein Unfall?« flüsterte sie. »O Jesus, Maria und Josef, es stimmt, nicht? Es war ein Unfall. Da draußen.« »Ich habe Solitaire gespielt«, sagte er. »Ich habe aufgeblickt und festgestellt, daß die Uhr von Grün auf Rot gesprungen war. Ich habe den Monitor eingeschaltet. Sally, sie sind alle...« Er verstummte und blickte in Baby LaVons Augen, die groß und neugierig waren, wenn auch immer noch verweint. »Da unten sind alle T-O-T«, sagte er. »Alle bis auf einen oder zwei, und die sind inzwischen wahrscheinlich auch schon ab oder hinüber.« »Was ist T-O-T?« fragte LaVon. »Nicht wichtig, Schatz«, sagte Sally. Ihr war, als würde ihre Stimme aus einem langen Canyon ertönen. Charlie schluckte. Etwas klickte in seinem Hals. »Wenn die Uhr auf Rot springt, müßten Magnetschlösser eigentlich alles abriegeln. Sie haben einen Chubb-Computer, der die ganze Anlage steuert, und der ist angeblich narrensicher. Ich habe gesehen, was auf dem Monitor ist, und da hab' ich einen Satz zur Tür raus gemacht. Ich dachte, das verdammte Ding würde mich in zwei Teile schneiden. Die Tür hätte sich in dem Augenblick abschotten müssen, als die Uhr auf Rot umsprang, und ich weiß nicht, wie lange sie schon auf Rot stand, bevor ich aufgesehen und es bemerkt habe. Auf jeden Fall war ich schon fast beim Parkplatz, bis ich hörte, wie die Tür zuging. Wenn ich dreißig Sekunden später zur Uhr raufgeschaut hätte, dann wäre ich jetzt im Kotrollraum im Turm eingeschlossen wie ein Käfer im Glas.« »Was ist es? Was...« »Keine Ahnung. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich weiß nur, dass es sie ruckzuck ge... G-E-T-Ö-T-E-T hat. Wenn sie mich wollen, dann müssen sie mich fangen. Ich habe Gefahrenzulage bekommen, aber so viel bezahlen sie mir nicht, daß ich hier bleiben würde. Der Wind weht nach Westen. Wir fahren nach Osten. Komm jetzt.« Immer noch im Halbschlaf, und in einem gräßlichen Traum, folgte sie ihm in die Einfahrt, wo ihr zehn Jahre alter Chevy in der Wüstendunkelheit der kalifornischen Nacht langsam vor sich hin rostete. Charlie warf die Koffer in den Kofferraum und den Beutel auf den Rücksitz. Sally stand einen Augenblick mit dem Baby auf dem Arm an der Beifahrertür und betrachtete den Bungalow, wo sie die letzten vier Jahre gelebt hatten. Als sie eingezogen waren, überlegte sie, war La Von noch in ihrem Leib gewachsen und hatte alle Huckepackritte noch vor sich gehabt. »Los doch!« sagte er. »Steig ein, Frau!« Sie gehorchte. Er stieß zurück, die Scheinwerfer des Chevy strahlten das Haus ganz kurz an. Ihre Spiegelbilder in den Fenstern sahen wie die Augen eines gejagten Tieres aus. Er saß verkrampft über dem Lenkrad, sein Gesicht wirkte im trüben Schein des Armaturenbretts erschöpft. »Wenn die Tore des Stützpunkts geschlossen sind, versuche ich durchzubrechen.« Das war sein Ernst. Aber zu derart verzweifelten Maßnahmen bestand kein Anlaß. Die Tore des Stützpunkts standen offen. Ein Wachmann war über einer Zeitschrift eingenickt. Den anderen konnte sie nicht sehen; vielleicht war er im Wachlokal. Dies war der äußere Teil des Stützpunkts, ein ganz normales Fahrzeugdepot der Armee. Was im Zentrum des Stützpunkts vor sich ging, interessierte diese Burschen hier nicht. Ich habe aufgesehen und festgestellt, daß die Uhr auf Rot geschaltet hatte. Sie zitterte und legte ihm die Hand aufs Bein. Baby LaVon war wieder eingeschlafen. Charlie tätschelte ihre Hand: »Alles wird gut, Liebes.« Bei Dämmerung fuhren sie nach Osten durch Nevada, und Charlie hustete ununterbrochen. BUCH I Captain Trips 16. Juni - 4. Juli 1990 »I called the doctor on the telephone, Said doctor, doctor, please, I got this feeling, rocking and reeling, Tell me, what can it be? Is it some new disease?« The Sylvers »Baby, can you dig your man? He's a righteous man, Baby, can you dig your man?« Larry Underwood  1 Hapscombs Texaco-Tankstelle lag an der US 93 ein Stück nördlich von Arnette, einem kleinen Kuhdorf mit vier Straßen, ungefähr 110 Meilen von Houston entfernt. Heute abend saßen die Stammgäste neben der Registrierkasse, tranken Bier, redeten dummes Zeug und sahen zu, wie Nachtfalter gegen die große Leuchtreklame flogen. Der Laden gehörte Bill Hapscomb, der aus diesem Grunde von den anderen respektiert wurde, obwohl er ein ausgemachter Trottel war. Sie hätten den gleichen Respekt erwartet, wenn man sich in ihren eigenen Läden zusammengesetzt hätte. Nur hatten sie keine. In Arnette waren schwere Zeiten ausgebrochen. 1980 hatte es in der Stadt zwei Industriebetriebe gegeben. Eine Fabrik, die Papierprodukte herstellte (hauptsächlich für Picknicks und GrillPartys), und eine Firma, die elektronische Taschenrechner herstellte. Inzwischen hatte die Papierfabrik dichtgemacht, und die Firma kränkelte vor sich hin - die Rechner ließen sich, genau wie die tragbaren Fernseher und Transistorradios, in Taiwan wesentlich billiger herstellen. Norman Bruett und Tommy Wannamaker, die beide in der Papierfabrik gearbeitet hatten, lebten von der Sozialhilfe, weil ihre Arbeitslosenunterstützung vor einiger Zeit abgelaufen war. Henry Carmichael und Stu Redman arbeiteten beide in der Rechnerfirma, aber selten länger als dreißig Stunden die Woche. Victor Palfrey war Rentner und rauchte stinkende selbstgedrehte Zigaretten, weil er sich keine anderen leisten konnte. »Ich will euch mal was sagen«, fing Hap an, stützte die Hände auf die Knie und beugte sich vor. »Wir Amerikaner müssen einfach sagen, scheiß auf die Inflation. Scheiß auf die Staatsverschuldung. Wir haben die Druckerpresse, und wir haben das Papier. Wir drucken einfach fünfzig Millionen Tausenddollarscheine und bringen sie in Umlauf.« Palfrey, der bis 1984 Maschinenmeister gewesen war, hatte als einziger der Anwesenden so viel Selbstachtung, daß er Hap darauf aufmerksam machte, wenn dieser besonders dummes Zeug von sich gab. Er drehte sich gerade eine seiner stinkenden Zigaretten und sagte: »Das hilft uns überhaupt nichts. Wenn wir das tun, wird es genauso sein wie in Richmond in den letzten zwei Jahren des Bürgerkriegs. Wenn du dir damals Lebkuchen kaufen wolltest und dem Bäcker einen Dollar der Konföderierten gegeben hast, hat der den Schein auf den Lebkuchen gelegt und ein Stück von genau der Größe abgeschnitten. Geld ist nur Papier, wißt ihr.« »Ich kenne ein paar Leute, die anderer Meinung sind«, sagte Hap giftig. Er nahm einen schmierigen roten Plastikschnellhefter vom Schreibtisch. »Diesen Leuten schulde ich Geld, und sie kriegen langsam ziemlich kalte Füße.« Stuart Redman, vielleicht der schweigsamste Mann in Arnette, sass mit einer Dose Pabst in der Hand auf einem der gesprungenen Woolco-Plastik-Stühle und blickte durch das große Fenster der Tankstelle auf die 93 hinaus. Stu wußte, was es heißt, arm zu sein. Er war hier in dieser Stadt arm aufgewachsen, als Sohn eines Zahnarztes, der starb, als Stu sieben war, und neben Stu eine Frau und zwei weitere Kinder hinterließ. Seine Mutter hatte beim Redball Truck Stop außerhalb von Arnette Arbeit gefunden - Stu hätte den Laden von seinem Platz aus sehen können, wenn dieser nicht 1979 abgebrannt wäre. Die vier hatten immer genug zu essen gehabt, mehr aber auch nicht. Mit neun Jahren hatte Stu angefangen zu arbeiten, zuerst für Rog Tucker, den Inhaber des Red Ball, hatte nach der Schule für fünfunddreißig Cents die Stunde geholfen, Lastwagen zu entladen, später dann in der Nachbarstadt Braintree auf dem Schlachthof, wo er ein falsches Alter angab, damit er zwanzig Stunden pro Woche zum Mindestlohn Knochenarbeit leisten durfte. Als er jetzt Hap und Vic Palfrey über Geld und dessen Eigenschaft, auf geheimnisvolle Weise zusammenzuschrumpfen, reden hörte, dachte er daran, wie seine Hände anfangs geblutet hatten, als er die Handwagen mit Häuten und Innereien ziehen mußte. Er hatte versucht, es vor seiner Mutter zu verbergen, aber sie hatte es schon in der ersten Woche gemerkt. Sie hatte geweint, und seine Mutter war keine Frau gewesen, die so schnell weinte. Aber sie hatte ihn nicht gebeten, den Job aufzugeben. Sie war Realistin. Seine Schweigsamkeit rührte zum Teil daher, daß er nie Freunde, geschweige denn Zeit für sie gehabt hatte. Da war die Schule, und da war die Arbeit. Dev, sein jüngerer Bruder, war in dem Jahr, als Stu im Schlachthof angefangen hatte, an Lungenentzündung gestorben, und darüber war Stu nie ganz hinweggekommen. Schuldgefühle, vermutete er. Er hatte Dev von allen am liebsten gemocht... aber sein Tod hatte auch bedeutet, daß ein Maul weniger zu füttern war. Auf der High School hatte er angefangen, Football zu spielen, und darin hatte seine Mutter ihn bestärkt, obwohl er nicht mehr so viele Stunden arbeiten konnte. »Du spielst«, sagte sie. »Wenn es eine Fahrkarte hier heraus gibt, dann ist es Football, Stuart. Du spielst. Denk an Eddie Warfield.« Eddie Warfield war eine hiesige Berühmtheit. Er stammte aus einer noch ärmeren Familie als Stu, hatte sich als Quarterback der Mannschaft der High School mit Ruhm bekleckert, war mit einem Sportstipendium an die Texas A&M gegangen und hatte dann zehn Jahre für die Green Bay Packers gespielt, meistens als Ersatzquarterback, aber bei manch merkwürdigem Spiel auch als Starter. Heute besaß Eddie eine Imbißkette im Westen und Südwesten und war in Arnette ein bleibender Mythos geworden. Wenn man in Arnette »Erfolg« sagte, meinte man Eddie Warfield. Stu war kein Quarterback, und er war kein Eddie Warfield. Aber in seinem ersten Jahr an der High School hoffte auch er auf ein kleines Sportstipendium ... und dann gab es Studienprogramme, und der pädagogische Berater der Schule hatte ihn auf Darlehen der Nationalen Schulbehörde hingewiesen. Dann war seine Mutter krank geworden und konnte nicht mehr arbeiten. Krebs. Zwei Monate, bevor er die High School abschloß, starb sie, und Stu mußte für seinen Bruder Bryce sorgen. Er verzichtete auf das Sportstipendium und arbeitete in der Taschenrechnerfirma. Bryce lebte jetzt in Minnesota und arbeitete als Systemanalytiker bei IBM. Er schrieb nicht oft, und das letzte Mal hatte Stu ihn gesehen, als seine, Stu's Frau, gestorben war - an derselben Krankheit wie seine Mutter. Er dachte, Bryce mochte seine eigene Schuld zu tragen haben... und Bryce mochte sich sehr wohl der Tatsache schämen, daß sein Bruder jetzt als erfolgloser Mann in einer sterbenden Stadt in Texas lebte, wo er tagsüber seine Stunden in der Taschenrechnerfirma absaß und abends bei Hap oder im Indian Head sein Lone Star Bier trank. Seine Ehe war noch die beste Zeit gewesen, aber die hatte nur achtzehn Monate gedauert. Der Schoß seiner jungen Frau hatte nur eine einzige dunkle und bösartige Frucht getragen. Das war vor drei Jahren gewesen. Seitdem hatte er daran gedacht, aus Arnette wegzuziehen und sich etwas Besseres zu suchen, aber die Kleinstadtträgheit hielt ihn hier fest - der leise Sirenengesang vertrauter Örtlichkeit und vertrauter Gesichter. Er war in Arnette beliebt, und Vic Palfrey hatte ihm einmal das größte Kompliment gemacht, indem er ihn eine »gute alte Haut« nannte. Während Vic und Hap weiter diskutierten, war der Horizont noch hell, aber das Land lag schon im Schatten. Auf der 93 fuhren heutzutage nicht mehr viele Autos, und das war einer der Gründe, warum Hap so viele unbezahlte Rechnungen hatte. Aber jetzt sah Stu ein Auto kommen. Es war noch eine Viertelmeile entfernt, und das letzte Tageslicht warf einen matten Glanz auf das bißchen Chrom, das der Wagen noch hatte. Stu hatte gute Augen und identifizierte ihn als alten Chevrolet, wahrscheinlich Baujahr '75. Ein Chevy ohne Licht, der höchstens fünfzehn Meilen fuhr und über die ganze Breite der Straße schlingerte. Bisher hatte ihn außer Stu keiner gesehen. »Nehmen wir mal an, du mußt eine Hypothek auf deine Tankstelle abzahlen«, sagte Vic, »sagen wir, fünfzig Dollar im Monat.« »Ist aber 'ne Stange mehr.« »Ja, aber nehmen wir mal an, es sind fünfzig. Und nehmen wir an, die Bundesbehörde druckt dir eine ganze Wagenladung Geld. Dann würden die Leute von der Bank daherkommen und hundertfünfzig verlangen. Du wärst genauso arm dran wie vorher.« »Stimmt«, fügte Henry Carmichael hinzu. Hap sah ihn erbost an. Er wußte zufällig, daß Hank es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, Colaflaschen aus dem Automaten zu holen, ohne zu bezahlen; zudem wußte Hank, daß Hap das wußte, und wenn Hank schon für eine Seite Partei ergreifen wollte, dann gefälligst für ihn. »Nicht unbedingt«, sagte Hap gewichtig aus den Tiefen seiner Schulbildung, die immerhin bis zur neunten Klasse gediehen war. Dann fuhr er mit der Erklärung fort. Stu, der nur wußte, daß sie in einer verflixten Klemme steckten, drehte Haps Stimme zu einem sinnlosen Murmeln herunter und beobachtete, wie der Chevy schlingernd und bockend die Straße heraufkam. So, wie er fuhr, glaubte Stu nicht, daß er noch weit kommen würde. Er schlingerte über den weißen Mittelstreifen, und die Reifen wirbelten am linken Straßenrand Staub auf. Jetzt schwenkte er wieder nach rechts, blieb kurz auf der richtigen Spur und wäre danach fast in den Straßengraben gekippt. Als hätte der Fahrer das hellerleuchtete Schild der Texaco-Tankstelle plötzlich wie ein Richtfeuer erblickt, kam der Wagen dann wie ein Geschoß, dessen Schub fast verbraucht ist, auf die asphaltierte Fläche zu. Jetzt konnte Stu das unregelmäßige Tuckern des Motors, das konstante Gurgeln und Heulen eines defekten Vergasers und das Klappern loser Ventile hören. Der Wagen verfehlte die Einfahrt und holperte über den Bordstein. Das Licht der Neonröhren über den Zapfsäulen spiegelte sich in der verdreckten Windschutzscheibe, so daß schwer zu erkennen war, was drinnen vor sich ging, aber Stu sah undeutlich die Gestalt des Fahrers, der mit jeder Unebenheit herumgeschleudert wurde. Es sah aus, als würde das Auto seine fünfzehn Meilen pro Stunde gnadenlos beibehalten. »Ich sage, mit mehr Geld im Umlauf wäre man...« »Schalt lieber deine Zapfsäulen ab, Hap«, sagte Stu leise. »Die Zapfsäulen? Was?« Norm Bruett hatte sich umgedreht und sah zum Fenster hinaus. »Allmächtiger«, sagte er. Stu sprang von seinem Stuhl auf, beugte sich über Tommy Wannamaker und Hank Carmichael hinweg und drückte alle acht Schalter auf einmal aus, vier mit jeder Hand. Deshalb war er der einzige, der nicht sah, wie der Chevy die Zapfsäulen auf der oberen Insel rammte und wegrasierte. Er pflügte so langsam in sie hinein, daß es unerbittlich und irgendwie grandios wirkte. Tommy Wannamaker schwor am nächsten Tag im Indian Head, daß die Bremslichter nicht ein einziges Mal aufgeleuchtet hatten. Der Chevy fuhr die ganze Zeit sein 15-MeilenTempo. Der Unterboden rutschte kreischend über die Betoninsel, und als die Reifen hochprallten, sahen alle außer Stu, wie der Kopf des Fahrers schlaff nach vorn gegen die Windschutzscheibe kippte, die sternförmig zersplitterte. Der Chevy sprang wie ein alter, getretener Hund und pflügte die Zapfsäule für Super weg. Sie knickte um, rollte einmal um die Achse und vergoß ein paar Tropfen Benzin. Das Ventil, das sich ausgehakt hatte, blitzte unter den Neonröhren. Sie sahen alle die Funken, die der über den Beton scheppernde Auspuff schlug, und Hap, der in Mexiko einmal eine Tankstellenexplosion gesehen hatte, schützte instinktiv die Augen vor dem Feuerball, den er erwartete. Statt dessen drehte sich das Heck des Chevy und rutschte von der Insel in Richtung Tankstellengebäude. Der Bug traf die Bleifrei-Säule, die mit einem hohen Knall umkippte. Wie absichtlich beendete der Chevrolet seine Drehung um 360 Grad und prallte wieder gegen die Insel, diesmal volle Breitseite. Das Heck rutschte auf die Insel und schmetterte die Zapfsäule für Normalbenzin um. So kam der Chevy zum Stillstand, sein rostiger Auspuff schleifte hinter ihm her. Er hatte alle drei Zapfsäulen auf der am Highway gelegenen Insel zerstört. Der Motor spuckte noch ein paar Sekunden, dann erstarb er. Die Stille war geradezu beängstigend laut. »Himmel, Arsch«, sagte Tommy Wannamaker atemlos. »Ob sie hochgeht, Hap?« »Wenn, dann war' sie schon weg«, sagte Hap und stand auf. Mit der Schulter stieß er gegen den Kartenständer und verstreute Texas, New Mexico und Arizona in alle Himmelsrichtungen. Hap empfand verhaltene Freude. Seine Zapfsäulen waren versichert, die Versicherung bezahlt. Mary hatte immer ganz besonders auf die Versicherung geachtet. »Der Kerl muß sternhagelvoll sein«, sagte Norm. »Ich hab' seine Bremslichter gesehen«, sagte Tommy mit vor Aufregung schriller Stimme. »Die haben kein einziges Mal aufgeleuchtet. Schockschwerenot! Wenn er sechzig gefahren wäre, wären wir jetzt alle tot!« Sie liefen aus dem Büro, Hap zuerst, Stu bildete die Nachhut. Hap, Tommy und Norm waren gleichzeitig am Wagen. Sie rochen Benzin und hörten das langsame, uhrwerkähnliche Ticken des abkühlenden Chevymotors. Hap machte die Fahrertür auf, und der Mann hinter dem Steuer quoll heraus wie ein alter Wäschesack. »Gott verdammt!« rief, schrie Norm Bruett fast. Er wandte sich ab, hielt sich den stattlichen Bauch und übergab sich. Nicht wegen des Mannes, der herausgefallen war (den hatte Hap geschickt aufgefangen, bevor er den Boden erreichte), sondern wegen des Geruchs, der aus dem Wagen drang, ein widerlicher Gestank von Blut, Exkrementen, Erbrochenem und menschlicher Verwesung. Ein gespenstischer, durchdringender Geruch von Krankheit und Tod. Einen Augenblick später drehte sich Hap um und zerrte den Fahrer an den Achselhöhlen heraus. Tommy packte hastig die baumelnden Füße, dann trug er ihn zusammen mit Hap ins Büro. Ihre Gesichter waren im Schein der Neonröhren käsig und von Ekel erfüllt. Hap hatte das Geld von der Versicherung vergessen. Die ändern blickten ins Wageninnere, dann wandte Hank sich ab und hielt eine Hand vor den Mund, den kleinen Finger abgespreizt wie ein Mann, der ein Weinglas hält und einen Trinkspruch ausbringt. Er stapfte zur Nordseite des Tankstellengrundstücks und ließ sein Abendessen hochkommen. Vic und Stu sahen eine Weile in den Wagen, blickten einander an und wieder hinein. Auf der Beifahrerseite saß eine junge Frau, das Kleid über die Schenkel hochgeschoben. An ihr lehnte ein Junge oder Mädchen von etwa drei Jahren. Sie waren beide tot. Ihre Hälse waren schlauchartig angeschwollen, die Haut dort purpurschwarz, wie bei einem Blut erguß. Auch unter ihren Augen war die Haut aufgedunsen. Vic sagte später, sie hätten ausgesehen wie Baseballspieler, die sich Ruß unter die Augen schmieren, damit sie nicht so stark geblendet werden. Ihre Augen quollen blind aus den Höhlen. Die Frau hielt die Hand des Kindes. Dicker Schleim war aus ihren Nasen geflossen und angetrocknet. Fliegen summten um sie herum, ließen sich auf dem Schleim nieder und krochen ihnen in die offenen Münder und wieder heraus. Stu war im Krieg gewesen, aber er hatte noch nie etwas so schrecklich Erbarmenswertes gesehen. Er mußte immer wieder die verschränkten Hände ansehen. Er und Vic wandten sich ab und sahen einander ausdruckslos an. Dann gingen sie zur Tankstelle. Sie konnten Hap sehen, der aufgeregt in den Münzapparat sprach. Norm folgte ihnen zur Tankstelle und sah sich hin und wieder über die Schulter nach dem Wrack um. Die Fahrertür des Chevy stand zu Tränen rührend offen. Am Rückspiegel baumelte ein Paar Babyschuhe. Hank stand an der Tür und wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch den Mund ab. »Mein Gott, Stu«, sagte er unglücklich, und Stu nickte. Hap legte den Hörer auf. Der Fahrer des Chevy lag auf dem Fußboden. »Der Krankenwagen ist in zehn Minuten da. Glaubt ihr, daß sie...« Er deutete mit dem Daumen auf den Chevy. »Ja, sie sind tot.« Vic nickte. Sein runzeliges Gesicht war gelblichweiß, und er verstreute beim Versuch, sich eine seiner stinkenden Zigaretten zu drehen, Tabak über den ganzen Fußboden. »Das sind die beiden totesten Leute, die ich je gesehen habe.« Er sah Stu an, und Stu nickte und steckte die Hände in die Taschen. Er hatte Schmetterlinge im Bauch. Der Mann auf dem Fußboden stöhnte dumpf durch die Kehle, und sie sahen alle zu ihm hinunter. Nach einem Augenblick, als deutlich wurde, daß der Mann sprach oder sich zumindest angestrengt bemühte zu sprechen, kniete sich Hap neben ihn. Immerhin war es seine Tankstelle. Der Mann hatte dieselben Symptome wie die Frau und das Kind im Auto. Aus seiner Nase lief Schleim, und sein Atem hatte einen eigentümlich unterseeischen Klang, ein Gurgeln irgendwo aus der Brust. Die Haut unter den Augen war aufgedunsen, zwar noch nicht schwarz, aber purpurn. Sein Hals war unnatürlich dick, die Haut wurde wie eine Säule hochgedrückt, so daß er ein Dreifachkinn bekommen hatte. Er hatte hohes Fieber; neben ihm zu kauern war, als würde man neben einem offenen Grill stehen, in dem gute Holzkohle glühte. »Der Hund«, murmelte er. »Haben Sie ihn rausgelassen?« »Mister«, sagte Hap und schüttelte ihn sanft. »Ich hab' den Krankenwagen gerufen. Bald wird es Ihnen bessergehen.« »Alarmstufe rot«, ächzte der Mann auf dem Fußboden und fing an zu husten, eine Kette rasselnder Explosionen, die in langen, zähen Fäden aus dickem Schleim aus seinem Mund spritzten. Hap lehnte sich zurück und verzog verzweifelt das Gesicht. »Dreht ihn lieber auf die Seite«, sagte Vic. »Sonst erstickt er noch daran.« Aber bevor sie das tun konnten, verflachte der Husten schon wieder zu keuchendem, unregelmäßigem Atmen. Der Fremde blinzelte angestrengt und sah die um ihn versammelten Männer an. »Wo... sind wir hier?« »Arnette«, sagte Hap. »Bill Hapscombs Texaco-Tankstelle. Sie haben ein paar von meinen Zapfsäulen umgemäht.« Dann fügte er hastig hinzu: »Macht aber nichts. Sind versichert.« Der Mann auf dem Fußboden versuchte, sich aufzurichten, aber er konnte es nicht. Er mußte sich damit begnügen, Hap die Hand auf den Arm zu legen. »Meine Frau... meine kleine Tochter...« »Denen geht es gut«, sagte Hap mit einem albernen, hündischen Grinsen. »Sieht aus, als wäre ich ziemlich krank«, sagte der Mann. Sein Atem hörte sich an wie ein belegtes, leises Brüllen. »Die beiden sind auch krank. Seit wir vor zwei Tagen aufgebrochen sind. Salt Lake City...« Er machte langsam blinzelnd die Augen zu. » Krank... sind wohl doch nicht schnell genug weggekommen...« Aus der Ferne hörten sie die Sirene der Freiwilligen Ambulanz von Arnette, die langsam lauter wurde. »Mann«, sagte Tommy Wannamaker. »O Mann.« Der Kranke schlug blinzelnd die Augen wieder auf, und jetzt lag ein Ausdruck größter Besorgnis darin. Er versuchte noch einmal, sich aufzurichten. Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er packte Hap. »Ist mit Sally und Baby LaVon alles in Ordnung?« wollte er wissen. Speichel flog ihm von den Lippen, und Hap spürte die brennende Hitze, die von dem Mann ausging. Der Mann war krank, halb verrückt und stank. Hap fühlte sich an den Geruch erinnert, den alte Hundedecken manchmal annehmen. »Denen geht es gut«, beharrte Hap ein wenig panisch. »Legen Sie... legen Sie sich wieder hin, und beruhigen Sie sich, okay?« Der Mann legte sich wieder zurück. Sein Atem klang jetzt rauher. Hap und Hank rollten ihn auf die Seite, worauf sich seine Atmung ein wenig zu normalisieren schien. »Bis gestern abend fühlte ich mich ganz gut«, sagte er. »Husten, aber sonst nichts. Die Nacht bin ich dann damit aufgewacht. Ich bin nicht schnell genug weggekommen. Was ist mit Baby LaVon... ?« Der Rest war so undeutlich, daß es keiner verstehen konnte. Die Sirene des Krankenwagens kam immer näher. Stu trat ans Fenster, um Ausschau zu halten. Die anderen blieben im Kreis um den Mann auf dem Fußboden stehen. »Kannst du dir vorstellen, was ihm fehlt, Vic?« fragte Hap. Vic schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« »Vielleicht haben sie irgendwas gegessen«, sagte Norm Bruett. »Der Wagen hat ein kalifornisches Kennzeichen. Sie haben unterwegs wahrscheinlich immer nur in Autobahnraststätten gegessen. Vielleicht einen vergifteten Hamburger. So was kommt vor.« Der Krankenwagen fuhr aufs Gelände, wich dem schrottreifen Chevy aus und blieb zwischen ihm und der Tür stehen. Das rote Warnlicht warf irre tanzende Kreise. Inzwischen war es völlig dunkel. »Gib mir die Hand, ich zieh dich da unten raus«, rief der Mann auf dem Fußboden plötzlich und verstummte. »Lebensmittelvergiftung«, sagte Vic. »Ja, das könnte sein. Ich hoffe es, denn sonst...« »Sonst was?« fragte Hank. »Sonst könnte es was Ansteckendes sein.« Vic sah die anderen besorgt an. »1958 habe ich in der Nähe von Nogales Cholerafälle gesehen, und das sah so ähnlich aus.« Drei Männer rollten eine Bahre herein. »Hap«, sagte einer von ihnen. »Du hast Glück gehabt, daß du mit deinem runzligen Arsch nicht ins Jenseits geflogen bist. Der da, hm?« Sie traten zur Seite, um die Männer durchzulassen - Billy Verecker, Monty Sullivan, Carlos Ortega, alles Männer, die sie kannten. »Im Auto sind noch zwei«, sagte Hap und zog Monty beiseite. »Eine Frau und ein kleines Mädchen. Beide tot.« »Ach du Scheiße! Bist du sicher?« »Ja. Der Mann weiß es noch nicht. Bringt ihr ihn nach Braintree?« »Wahrscheinlich.« Monty sah ihn bestürzt an. »Was soll ich mit den beiden im Auto anfangen? Ich weiß nicht, was ich machen soll, Hap.« »Stu kann die State Patrol anrufen. Macht es dir was aus, wenn ich mit euch fahre?« »Nein, verdammt!« Sie legten den Mann auf die Bahre, und als sie ihn hinausrollten, ging Hap zu Stu hinüber. »Ich fahr' mit dem Burschen nach Braintree. Rufst du die State Patrol an?« »Klar.« »Und Mary auch. Ruf an und sag ihr, Was passiert ist.« »Okay.« Hap ging nach draußen und stieg in den Krankenwagen. Billy Verecker schlug hinter ihm die Tür zu und rief die beiden anderen. Sie hatten entsetzt und fasziniert zugleich in das Wrack des Chevy gestarrt. Augenblicke später fuhr der Krankenwagen mit heulender Sirene davon, und das Rotlicht warf pulsierende blutige Schatten auf den Asphalt der Tankstelle. Stu ging zum Telefon und warf eine Münze ein. Der Mann aus dem Chevy starb zwanzig Meilen vom Krankenhaus entfernt. Er holte noch einmal gurgelnd Luft, atmete aus, atmete noch ganz kurz ein und war still. Hap nahm dem Mann di e Brieftasche aus der Hosentasche und sah hinein. Der Mann hatte siebzehn Dollar in bar. Ein kalifornischer Führerschein wies ihn als Charles D. Campion aus. Außerdem fand Hap einen Armeeausweis und ein in Plastik eingeschweißtes Foto von der Frau des Mannes und seiner kleinen Tochter. Hap wollte das Bild nicht ansehen. Er stopfte die Börse wieder in die Taschen des Toten und sagte Carlos, daß er die Sirene abschalten könne. Es war zehn nach neun. 2 In Ogunquit, Maine, führte vom Strand aus eine lange, aus Steinen errichtete Mole in den Atlantischen Ozean. Heute erinnerte sie Frannie Goldsmith an einen vorwurfsvollen grauen Finger, und als sie das Auto auf dem öffentlichen Parkplatz abgestellt hatte, sah sie Jess am Ende der Mole sitzen, eine Silhouette im Nachmittagssonnenschein. Möwen kreisten und kreischten über ihm, ein lebensecht gezeichnetes Porträt New Englands, und sie glaubte nicht, daß eine Möwe es wagen würde, dieses Bild zu verschandeln, indem sie einen Platscher weißer Kacke auf Jesse Riders makelloses blaukariertes Baumwollhemd fallen ließ. Immerhin war er praktizierender Dichter. Sie wußte, daß es Jess war, weil sie sein Zehngangrennrad sah, das er ans Metallgeländer hinter der Bude des Parkwächters angekettet hatte. Gus, eine kahlköpfige und schmerbäuchige städtische Institution, kam heraus, um sie zu begrüßen. Für Besucher betrug die Gebühr einen Dollar pro Auto, aber er wußte, daß Frannie in der Stadt lebte, auch ohne den Aufkleber EINHEIMISCH an der Windschutzscheibe des Volvo anzusehen. Frannie kam oft hierher. Ja, oft, dachte Frannie. Ich bin sogar hier unten am Strand schwanger geworden, ungefähr vier Meter über der Hochwassermarke. Liebes Kleines: Du bist an der malerischen Küste des Staates Maine gezeugt worden, vier Meter über der Hochwassermarke und zwanzig Meter östlich der Strandbegrenzung. Die Stelle ist mit einem X markiert. Gus hob die Hand und machte das Peace-Zeichen. »Ihr Freund sitzt draußen auf der Mole, Miss Goldsmith.« »Danke, Gus. Wie läuft das Geschäft?« Er zeigte lächelnd zum Parkplatz hinüber. Dort standen alles in allem vielleicht zwei Dutzend Wagen, an den meisten konnte sie den blauweißen Aufkleber EINHEIMISCH sehen. »Ist noch zu früh«, sagte er. Es war der 17. Juni. »Warten Sie zwei Wochen, dann verdienen wir schon noch ein paar Dollar für die Stadt.« »Jede Wette. Wenn Sie nicht alles unterschlagen.« Gus lachte und ging wieder in seine Bude. Frannie lehnte sich mit einem Arm gegen das warme Metall des Autos, zog die Turnschuhe aus und schlüpfte in ein Paar Gummisandalen. Sie war groß und hatte kastanienbraunes Haar, das ihr lang über den Rücken ihres braungelben Kleides fiel. Gute Figur. Lange Beine, die ihr bewundernde Blicke einbrachten. Erste Sahne war, glaubte sie, unter Studenten wohl der korrekte Ausdruck. Auf die Plätzchen, hier kommt Schätzchen. Miß College Girl 1990. Dann mußte sie über sich lachen, und das Lachen war ein wenig bitter. Du tust gerade so, als wäre dies eine Weltsensation. Kapitel sechs: Hester Prynne bringt Reverend Dimmesdale die Nachricht von Pearls bevorstehender Geburt. Dimmesdale war er nicht. Er war Jess Rider, zwanzig, ein Jahr jünger als unsere Heldin, die kleine Frau. Er war praktizierender Vorsemester-College-StudentenDichter. Das erkannte man an seinem makellosen blauen Baumwollhemd. Sie blieb am Rand des Sandstrandes stehen und spürte durch die Gummisandalen die Wärme an den Fußsohlen. Die Silhouette am anderen Ende der Mole warf immer noch flache Steine ins Wasser. Frans Gedanken waren teils amüsant, hauptsächlich aber bestürzend. Er weiß, wie er da draußen aussieht, dachte sie. Lord Byron, einsam, aber unerschrocken. In tiefer Einsamkeit sitzt er dort und blickt über das Meer, das dorthin zurückführt, wo England liegt. Aber ich, ein Verbannter, werde nie mehr... Ach, Scheiße! Nicht so sehr der Gedanke selbst beunruhigte sie, sondern was er über ihren Seelenzustand aussagte. Dort draußen saß der junge Mann, den sie zu lieben glaubte, und sie stand hier und karikierte ihn hinter seinem Rücken. Sie ging die Mole entlang und schritt anmutig über spitze Steine und aufgerissene Stellen. Die Mole war alt und ursprünglich Teil eines Wellenbrechers gewesen. Heute machten die meisten Boote am südlichen Ende der Stadt fest, wo es drei Yachtbecken und sieben Absteigen gab, die den ganzen Sommer über Hochbetrieb hatten. Sie ging langsam und versuchte mit dem Gedanken fertig zu werden, daß sie ihn seit elf Tagen nicht mehr liebte, seit sie wußte, daß sie - wie Amy Lauders es ausgedrückt hatte - ein kleines bißchen schwanger war. Schließlich hatte er sie ja in diesen Zustand gebracht, oder? Aber nicht allein, soviel stand fest. Und sie hatte die Pille genommen. Das war die einfachste Sache der Welt gewesen. Sie war auf dem Campus in die Krankenstation gegangen und hatte dem Arzt erklärt, sie habe Menstruationsschmerzen und alle möglichen peinlichen Pusteln auf der Haut, und der Arzt hatte ihr ein Rezept ausgeschrieben. Er hatte ihr sogar einen ganzen Monatsbedarf umsonst mitgegeben. Weiter draußen, schon über dem Wasser, blieb sie noch einmal stehen. Rechts und links von ihr schlugen die Wellen ans Ufer. Ihr fiel ein, daß die Ärzte auf dem Campus wahrscheinlich genauso oft von Menstruationsschmerzen und zu vielen Pickeln hörten, wie den Drogisten erzählt wird, daß die Kondome für den Bruder sind - heutzutage sogar noch öfter. Sie hätte genausogut sagen können: »Geben Sie mir die Pille. Ich will vögeln.« Sie war volljährig. Warum so schüchtern? Sie betrachtete Jessies Rücken und seufzte. Weil Schüchternheit zur Gewohnheit werden kann. Sie ging weiter. Jedenfalls hatte die Pille nichts genützt. Jemand von der Qualitätskontrolle in der guten alten Ovril-Fabrik mußte geschlafen haben. Oder sie hatte eine Pille vergessen und dann vergessen, dass sie sie vergessen hatte. Sie trat leise hinter ihn und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Jess, der Kieselsteine in der linken Hand hielt und sie mit der rechten in Mutter Atlantik warf, tat einen Schrei und sprang auf. Kieselsteine flogen in alle Richtungen, und er hätte Frannie fast von der Mole gestoßen. Beinahe wäre er selbst kopfüber ins Wasser gestürzt. Sie fing an, hilflos zu kichern, drückte beide Hände auf den Mund und wich langsam zurück, während er sich wütend umdrehte, ein stattlicher junger Mann mit schwarzem Haar, Nickelbrille und ebenmäßigen Gesichtszügen, die nie die ganze Empfindsamkeit in ihm zum Abdruck brachten - sehr zu seinem Mißfallen. »O Jess«, kicherte sie. »O Jess, tut mir leid, aber das war echt komisch.« »Wir wären fast ins Wasser gefallen«, sagte er und ging aufgebracht einen Schritt auf sie zu. Sie machte einen gleich langen Schritt zurück, stolperte über einen Stein und setzte sich hart auf den Boden. Ihre Kiefer klackten aufeinander, mit der Zunge dazwischen - erlesene Schmerzen! -, und ihr Kichern verstummte wie mit dem Messer abgeschnitten. Allein die Tatsache, daß sie so plötzlich verstummte - schalt mich ab, ich bin ein Radio -, war so komisch, daß sie wieder anfing zu kichern, obwohl ihre Zunge blutete und ihr vor Schmerzen die Tränen aus den Augen liefen. »Alles klar, Frannie?« Er kniete sich besorgt neben sie. Ich liebe ihn doch, dachte sie erleichtert. Gut für mich. »Hast du dich verletzt, Fran?« »Nur meinen Stolz«, sagte sie und ließ sich aufhelfen. »Und ich habe mir auf die Zunge gebissen. Siehst du?« Sie streckte ihm die Zunge heraus und erwartete ein Lächeln zur Belohnung, aber er runzelte die Stirn. »Mein Gott, Fran, du blutest ja.« Er zog ein Taschentuch aus der Gesäßtasche und betrachtete es zweifelnd. Dann steckte er es wieder weg. Sie stellte sich vor, wie sie beide Hand in Hand zum Parkplatz zurückgingen, zwei junge Liebende unter der Sommersonne, sie mit seinem Taschentuch im Mund. Sie winkt dem lächelnden, freundlichen Parkwächter mit der Hand und sagt: Tchüch, bich bald. Sie fing wieder an zu kichern, obwohl ihre Zunge schmerzte und sie einen Übelkeit erregenden Blutgeschmack im Mund hatte. »Dreh dich um«, sagte sie altjüngferlich. »Ich werde mich jetzt sehr undamenhaft benehmen.« Er lächelte verhalten und hielt sich theatralisch die Augen zu. Sie stützte sich auf einen Arm, hielt den Kopf über den Rand der Mole und spuckte - hellrot. Bäh. Noch einmal. Und noch einmal. Allmählich schien ihr Mund wieder frei zu sein. Sie drehte sich um und sah, dass er zwischen den Fingern hindurch spähte. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin so eine dumme Gans.« »Nein«, sagte Jessie, meinte aber eindeutig ja. »Gehen wir ein Eis essen?« fragte sie. »Du fährst, und ich bezahle.« »Abgemacht.« Er stand auf und half ihr hoch. Sie spuckte noch einmal auf die Seite. Hellrot. Sie fragte ängstlich: »Ich hab' mir doch kein Stück davon abgebissen, oder?« »Ich weiß nicht«, antwortete Jess freundlich. »Hattest du das Gefühl, einen Klumpen verschluckt zu haben?« Sie hielt angewidert die Hand vor den Mund. »Das ist nicht komisch.« »Nein. Tut mir leid. Du hast nur draufgebissen, Frannie.« »Hat man Arterien in der Zunge?« Sie gingen jetzt Hand in Hand die Mole entlang zurück. Frannie blieb ab und zu stehen und spie über die Seite. Hellrot. Sie wollte nichts von dem Zeug schlucken, hm-mmm, auf keinen Fall. »Nö.« »Gut.« Sie drückte seine Hand und lächelte ihn zuversichtlich an. »Ich bin schwanger.« »Wirklich? Toll. Weißt du, wenn ich in Port...« Er blieb stehen und sah sie an, sein Gesicht war plötzlich starr und sehr verschlossen. Es brach ihr ein wenig das Herz, dieses Mißtrauen zu sehen. »Was hast du gesagt?« »Ich bin schwanger.« Sie lächelte ihn strahlend an und spie über die Seite der Mole. Hellrot. »Guter Witz, Frannie«, sagte er unsicher. »Kein Witz.« Er sah sie immer noch an. Nach einer Weile gingen sie weiter. Als sie über den Parkplatz gingen, kam Gus aus seiner Bude und winkte ihnen zu. Frannie winkte zurück. Jess auch. Sie hielten vor der Dairy-Queen-Milchbar an der US 1. Jess holte sich eine Cola, die er nachdenklich hinter dem Steuer des Volvo schlürfte. Fran hatte sich von ihm ein Banana Boat Supreme mitbringen lassen, lehnte an der Tür, fünfzig Zentimeter Sitz zwischen ihnen, und löffelte Nüsse und Ananassirup und das Kunsteis von Dairy Queen. »Weißt du«, sagte sie, »das Eis von D.Q. besteht hauptsächlich aus Luftblasen. Hast du das gewußt? Die meisten Leute wissen es nicht.« Jess sah sie an und sagte nichts. »Doch«, sagte sie. »Diese Eismaschinen sind eigentlich nichts anderes als riesige Luftblasenmaschinen. Darum kann Dairy Queen das Eis auch so billig verkaufen. In der Vorlesung über Betriebswirtschaftslehre hatten wir darüber einen Sonderdruck. Es gibt viele Möglichkeiten, einem das Fell über die Ohren zu ziehen.« Jess sah sie an und sagte nichts. »Wenn man richtiges Eis essen will, muß man in eine DeeringEisdiele gehen, und das ist...« Sie brach in Tränen aus. Er rutschte über den Sitz zu ihr hinüber und legte ihr die Arme um den Hals. »Frannie, nicht. Bitte.« »Mein Banana Boat tropft auf mich«, sagte sie, immer noch weinend. Er zog wieder das Taschentuch heraus und wischte sie ab. Inzwischen waren die Tränen einem leisen Schniefen gewichen. »Banana Boat Supreme mit Blutsoße«, sagte sie und sah ihn mit roten Augen an. »Ich glaube, ich kann nichts mehr essen. Wirfst du es bitte weg?« »Klar«, sagte er steif. Er nahm ihr das Eis ab, stieg aus und warf es in den Mülleimer. Er geht komisch, dachte Fran, als hätte man ihn da unten reingetreten, da wo es Jungs besonders weh tut. Und irgendwie war er ja auch dort reingetreten worden. Aber wenn man es anders betrachten wollte, nun, so ähnlich war sie auch gegangen, nachdem er sie am Strand entjungfert hatte. Ein Gefühl, als hätte sie sich wundgescheuert, aber davon wird man nicht schwanger. Er kam zurück und stieg ein. »Bist du wirklich schwanger, Fran?« fragte er abrupt. »Bin ich.« »Wie konnte das passieren? Ich dachte, du nimmst die Pille.« »Ich vermute, entweder hat in der guten alten Ovril-Fabrik jemand von der Qualitätskontrolle geschlafen, als meine Pillenpackung über das Förderband gelaufen ist, oder sie geben euch Jungs in der Mensa was zu essen, das die Samenproduktion fördert. Oder ich hab' vergessen, die Pille zu nehmen, und dann vergessen, daß ich es vergessen habe.« Sie schenkte ihm ein so hartes, dünnes und sonniges Lächeln, dass er kaum merklich zurückfuhr. »Warum bist du wütend, Fran? Ich hab' doch nur gefragt.« »Gut, um deine Frage anders zu beantworten, an einem warmen Aprilabend, es mußte der zwölfte, dreizehnte oder vierzehnte gewesen sein, hast du deinen Penis in meine Vagina gesteckt, einen Orgasmus gehabt und dadurch Millionen Samenfäden ejakuliert...« »Hör auf«, sagte er schneidend. »Du mußt nicht...« »Was?« Sie war äußerlich unbewegt, aber innerlich bestürzt. Sie hatte sich oft ausgemalt, wie diese Szene ablaufen würde, aber so hatte sie es sich nicht vorgestellt. »So wütend sein«, sagte er lahm. »Ich werde nicht abhauen.« »Nein«, sagte sie sanfter. In diesem Augenblick hätte sie eine seiner Hände vom Steuer nehmen und festhalten können, und der Bruch wäre völlig geheilt. Aber sie brachte es nicht fertig. Er hatte keinen Anspruch darauf, getröstet zu werden, wie stillschweigend und unbewußt dieser Anspruch auch sein mochte. Ihr wurde plötzlich klar, daß es vorerst so oder so mit dem Lachen und den lustigen Zeiten vorbei war. Das brachte sie fast wieder zum Weinen, aber sie verbiß sich trotzig die Tränen. Sie war Frannie Goldsmith, Pete Goldsmith' Tochter, und sie würde sich nicht auf dem Parkplatz des Dairy Queen in Ogunquit die dämlichen Augen ausweinen. »Was willst du machen?« fragte Jess und holte seine Zigaretten heraus. »Was willst du machen?« Er zündete ein Streichholz an, und als der Rauch aufstieg, sah sie einen Augenblick in seinem Gesicht ganz deutlich den Mann und den Jungen in ihm kämpfen. »Scheiße«, sagte er. »Ich sehe verschiedene Möglichkeiten«, sagte sie. »Wir können heiraten und das Baby behalten. Wir können heiraten und das Baby weggeben. Oder wir heiraten nicht, und ich behalte das Baby. Oder...« »Frannie...« » O der wir heiraten nicht, und ich behalte das Baby nicht. Oder ich könnte abtreiben lassen. Ist damit alles abgedeckt? Habe ich etwas vergessen?« »Frannie, können wir nicht einfach reden...« »Wir reden doch!« fuhr sie ihn an. »Du hast deine Chance gehabt, und du hast gesagt >Scheiße<. Ich habe alle denkbaren Möglichkeiten aufgezählt. Natürlich habe ich etwas mehr Zeit gehabt, eine Liste zu erstellen.« »Möchtest du eine Zigarette?« »Nein. Schlecht für das Baby.« »Frannie, verdammt!« »Warum schreist du?« fragte sie leise. »Weil du es anscheinend darauf abgesehen hast, mich um jeden Preis wütend zu machen.« Er riß sich zusammen. »Tut mir leid. Ich sehe einfach nicht ein, daß alles meine Schuld sein soll.« »Nicht?« Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Und siehe, eine Jungfrau soll empfangen.« »Mußt du denn so verdammt schnippisch sein? Du hast gesagt, dass du die Pille nimmst. Ich habe mich darauf verlassen. War das so falsch?« »Nein. Das war nicht falsch. Aber es ändert nichts an den Tatsachen.« »Wohl kaum«, sagte er finster und schnippte die halb gerauchte Zigarette hinaus. »Und was machen wir jetzt?« »Was fragst du mich, Jessie? Ich habe die Möglichkeiten aufgezählt, die ich sehe. Bliebe natürlich noch Selbstmord, aber den ziehe ich zur Zeit noch nicht in Betracht. Entscheide dich für eine, dann reden wir darüber.« »Laß uns heiraten«, sagte er plötzlich mit fester Stimme. Er benahm sich wie ein Mann, der davon überzeugt ist, daß sich das Problem des Gordischen Knotens am besten lösen läßt, indem man ihn mitten durchschlägt. Volle Fahrt voraus, und die Memmen unter Deck. »Nein«, sagte sie. »Ich will dich nicht heiraten.« Es war, als würde sein Gesicht von einer Anzahl unsichtbarer Schrauben zusammengehalten, die sich plötzlich alle um anderthalb Umdrehungen gelockert hatten. Alles sackte auf einmal ab. Das Bild war auf so grausame Weise komisch, daß sie die verletzte Zunge an den rauhen Mundpartien rieb, um nicht wieder zu kichern. Sie wollte Jess nicht auslachen. »Warum nicht?« fragte er. »Fran...« »Ich muß erst über meine Gründe nachdenken, warum nicht. Ich lasse mich nicht von dir in ein Gespräch über meine Gründe verwickeln, warum nicht, weil ich sie im Augenblick selbst noch nicht kenne.« »Du liebst mich nicht«, sagte er verdrossen. »In den meisten Fällen schließen sich Liebelnd Ehe gegenseitig aus. Mach einen anderen Vorschlag.« Er schwieg sehr lange. Er spielte mit einer neuen Zigarette, zündete sie aber nicht an. Schließlich sagte er: »Ich kann keinen anderen Vorschlag machen, weil du gar nicht diskutieren willst. Du willst nur Punkte machen.« Das traf sie ein wenig. Sie nickte. »Vielleicht hast du recht. Gegen mich wurden in den letzten Wochen auch ein paar gemacht. Aber du bist der typische Student, Jess. Wenn ein Räuber mit dem Messer auf dich losgehen würde, würdest du auf der Stelle ein Seminar darüber abhalten wollen. « »Jetzt hör aber auf.« »Dann mach einen ändern Vorschlag.« »Nein. Du hast deine Gründe schon parat. Vielleicht brauche auch ich ein wenig Zeit zum Nachdenken.« »Okay. Fährst du zum Parkplatz zurück? Ich lass' dich raus und mach' noch ein paar Besorgungen.« Er sah sie erschrocken an. »Frannie, ich bin mit dem Rad von Portland gekommen. Ich habe ein Zimmer in einem Motel vor der Stadt. Ich dachte, daß wir das Wochenende gemeinsam verbringen.« »In deinem Motelzimmer. Nein, Jess. Die Situation hat sich geändert. Setz dich auf dein Rennrad, fahr nach Portland zurück und lass wieder von dir hören, wenn du darüber nachgedacht hast. Es eilt nicht.« »Hör auf, auf mir rumzureiten, Frannie.« »Nein, Jess, du bist auf mir rumgeritten«, spottete sie in plötzlicher, zornbebender Wut, und da schlug er ihr mit dem Handrücken leicht auf die Wange. Er sah sie fassungslos an. »Tut mir leid, Fran.« »Akzeptiert«, sagte sie aschfahl. »Fahr los.« Auf dem Weg zum Parkplatz am Strand sprachen sie nicht miteinander. Sie hatte ihre Hände im Schoß gefaltet und betrachtete die Ausschnitte des Ozeans zwischen den Strandhütten westlich der Kaimauer. Die Hütten sehen wie ein Elendsviertel aus, dachte sie. Wem gehörten diese Häuser, die größtenteils mit geschlossenen Läden auf den Sommer warteten, der offiziell in knapp einer Woche anfangen sollte? Professoren vom MIT. Ärzten aus Boston. New Yorker Anwälten. Diese Häuser waren nicht die großen Knüller wie die Anwesen an der Küste, die Männern mit sieben- oder achtstelligen Vermögen gehörten. Aber wenn die Familien, denen sie gehörten, hier einzogen, würde der niedrigste IQ an der Shore Road der von Gus, dem Parkplatzwächter, sein. Die Kinder hatten wahrscheinlich Zehngang-Rennräder, wie Jess. Gelangweilte Gesichter. Und sie würden mit ihren Eltern Hummer essen gehen und im Ogunquit Playhouse Theateraufführungen besuchen. Sie würden müßig die Hauptstraße entlangschlendern und sich nach der milden Sommerdämmerung als Passanten verkleiden. Frannie betrachtete immer wieder das herrliche Kobaltleuchten zwischen den zusammengepferchten Häusern und merkte, daß ihre Sicht erneut von Tränen getrübt wurde. Die kleine weiße Wolke, die weinte. Sie erreichten schließlich den Parkplatz, und Gus winkte ihnen zu. Sie winkten zurück. »Tut mir leid, daß ich dich geschlagen habe, Frannie«, sagte Jess mit schuldbewußter Stimme. »Das wollte ich nicht.« »Ich weiß. Fährst du nach Portland zurück?« »Ich bleib' über Nacht hier und ruf dich morgen an. Aber es ist deine Entscheidung, Fran. Wenn du meinst, daß eine Abtreibung das Beste ist, werde ich das Nötige schon zusammenkratzen.« »Soll das ein Wortspiel sein?« »Nein«, sagte er. »Ganz und gar nicht.« Er rutschte im Sitz zu ihr hinüber und küßte sie sanft. »Ich liebe dich, Fran.« Das glaube ich dir nicht, dachte sie. Plötzlich glaube ich es überhaupt nicht mehr... aber ich mache gute Miene zum bösen Spiel. Wenigstens das kann ich machen. »Gut«, sagte sie leise. »Es ist das Lighthouse Motel. Ruf an, wenn du willst.« »Okay.« Sie glitt hinter das Steuer und fühlte sich plötzlich sehr müde. Ihre Zunge schmerzte entsetzlich, wo sie sich gebissen hatte. Er ging zu seinem Rad, das er an das Eisengeländer angeschlossen hatte, und schob es neben sich her zurück zum Auto. »War' schön, wenn du anrufst, Fran.« Sie lächelte gekünstelt. »Mal sehen. Bis bald, Jess.« Sie legte den ersten Gang des Volvo ein, wendete und fuhr über den Parkplatz zur Shore Road. Sie sah Jess bei seinem Fahrrad stehen, im Hintergrund das Meer, und zum zweiten Mal an diesem Tag machte sie ihm in Gedanken den Vorwurf, daß er ganz genau wußte, was für ein Bild er abgab. Aber diesmal war sie nicht erbost, sondern ein bißchen traurig. Sie fuhr weiter und fragte sich, ob der Ozean je wieder so aussehen würde wie früher, bevor dies alles passiert war. Ihre Zunge tat noch immer furchtbar weh. Sie drehte das Fenster weiter herunter und spie aus. Kein Hellrot mehr. Alles weiß, alles klar. Sie konnte deutlich das Salz des Meeres riechen, wie bittere Tränen. 3 Norm Bruett wurde morgens um Viertel nach zehn wach, weil Kinder sich vor dem Schlafzimmerfenster stritten und Country Music aus dem Radio in der Küche plärrte. Er ging in seiner schmuddeligen Unterwäsche zur Hintertür, riß sie auf und schrie: »Schnauze, Kinder!« Ein Moment Stille. Luke und Bobby sahen von dem verrosteten alten Kipper auf, um den sie sich gestritten hatten. Wie immer, wenn er seine Kinder sah, war Norm hin und her gerissen. Ihm blutete das Herz, wenn er sie in den abgetragenen Sachen und Klamotten von der Heilsarmee sah, wie die Niggerkinder in Ost-Arnette sie trugen, gleichzeitig empfand er eine so schreckliche, unbeherrschte Wut, daß er hinausgehen und sie windelweich prügeln wollte. »Ja, Daddy«, sagte Luke unterwürfig. Er war neun. »Ja, Daddy«, echote Bobby. Er war sieben, fast acht. Norm blieb noch einen Augenblick stehen und sah sie böse an, dann schlug er die Tür zu. Er stand einen Moment unschlüssig da und betrachtete die Sachen, die er gestern angehabt hatte. Sie lagen auf einem Haufen am Fuß des durchgelegenen Doppelbetts, wo er sie hingeworfen hatte. Elende Schlampe, dachte er. Hat nicht mal die Hose aufgehängt. »Lila!« brüllte er. Keine Antwort. Er überlegte, ob er die Tür wieder aufreißen und Luke fragen sollte, wo sie sich wieder herumtrieb. Kleiderbasar war erst nächste Woche wieder, und wenn sie wieder beim Arbeitsamt in Braintree war, dann war sie' noch blöder, als er dachte. Er verzichtete darauf, die Kinder zu fragen. Er fühlte sich müde und hatte dumpfe, pochende Kopfschmerzen. Wie bei einem Kater, dabei hatte er gestern abend bei Hap nur drei Bier getrunken. Dieser Unfall war eine schlimme Sache gewesen. Die Frau und das Baby tot im Wagen, der Mann, dieser Campion, auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Als Hap zurückkam, war die State Patrol schon dagewesen und wieder weg, ebenso der Abschleppwagen und der Leichenwagen des Bestattungsunternehmers von Braintree. Vic Palfrey hatte den Ordnungshütern stellvertretend für alle fünf ausgesagt. Der Bestattungsunternehmer, gleichzeitig der amtliche Leichenbeschauer, hatte sich geweigert, Vermutungen darüber anzustellen, um welche Krankheit es sich handeln konnte. »Cholera ist es nicht. Geht nicht her und macht den Leuten damit angst. Es wird eine Autopsie durchgeführt, und das Ergebnis könnt ihr in der Zeitung lesen.« Mieser kleiner Pisser, dachte Norm und zog langsam die Klamotten von gestern an. Seine Kopfschmerzen wurden echt zur Qual. Die Kinder sollten besser ruhig sein, sonst würden sie bald mit zwei gebrochenen Armen einen Grund zum Schreien haben. Verdammt, konnten sie nicht das ganze Jahr Schule haben? Er überlegte, ob er das Hemd in die Hose stopfen sollte, entschied, daß der Präsident wahrscheinlich nicht ausgerechnet heute vorbeikommen würde, und ging auf Socken in die Küche. Er blinzelte in die helle Sonne, die durch die nach Osten gelegenen Fenster schien. Das gesprungene Philco-Radio über dem Herd dudelte: »But ba-yay -yaby you can tell me if anyone can, Baby, can you dig your man? He's a righteous man, Tell me baby, can you dig your man?« Es war weit gekommen, wenn sie diese Niggermusik im lokalen Country-Sender spielen mußten. Norm schaltete aus, bevor ihm der Kopf platzte. Neben dem Radio lag ein Zettel, er hob ihn auf und kniff die Augen zusammen, damit er ihn lesen konnte. Lieber Norm! Sally Hodges sagt sie braucht jemand der heute morg en auf ihre Kinder aufpast und sagt sie will mir ein Dolar geben. Ich bin zum Esen zurück. Wenn Du willst, kanst Du Dir Würste machen. Ich liebe Dich Schatz. Lila. Norm legte den Zettel wieder hin, blieb einen Augenblick stehen, dachte darüber nach und versuchte, den Sinn zu begreifen. Bei diesen Kopfschmerzen fiel das Denken verdammt schwer. Babysitting... ein Dollar. Für die Frau von Ralph Hodges. Langsam kamen diese drei Elemente in seinem Kopf zusammen. Lila war weggegangen, um für einen lausigen Dollar auf Sally Hodges' drei Kinder aufzupassen, und hatte ihn mit Luke und Bobby sitzenlassen. Es waren wahrhaftig harte Zeiten, wenn ein Mann zu Hause bleiben mußte, um seinen Kindern die Nase zu putzen, damit seine Frau einen Dollar verdienen konnte, der nicht einmal für drei Liter Sprit reichte. Verdammt harte Zeiten. Dumpfe Wut überkam ihn, und seine Kopfschmerzen verschlimmerten sich noch. Er schlurfte langsam zum Kühlschrank, den er gekauft hatte, als er noch reichlich Überstunden machte, und öffnete ihn. Die meisten Fächer waren leer, außer ein paar Resten, die Lila in Plastikschüsseln getan hatte. Er haßte diese Tupperschüsseln. Alte Bohnen, alter Mais, ein Rest Chili... nichts, was ein Mann gern essen würde. Nur diese Tupperschüsseln und drei in Butterbrotpapier gewickelte kleine alte Würstchen. Er bückte sich, betrachtete sie, und die vertraute hilflose Wut verschmolz mit seinen Kopfschmerzen. Diese Würstchen sahen aus, als hätte jemand die Pimmel von drei Pygmäen aus Afrika abgeschnitten, aus Südamerika oder weiß der Geier, wo sie eben zu Hause waren. Er hatte sowieso keinen Appetit. Wenn er es recht überlegte, war ihm verdammt elend. Er ging zum Herd, riß an dem an die Wand genagelten Stück Schmirgelpapier ein Streichholz an, zündete den vorderen Gasring an und setzte Kaffeewasser auf. Dann hockte er sich hin und wartete stumpfsinnig darauf, daß es kochte. Und kurz bevor es kochte, mußte er den Rotzlappen aus der Gesäßtasche reißen und sich gewaltig und naß hineinschneuzen. Erkältet, dachte er. Ist das nicht toll, zu allem anderen. Aber auf die Idee, an den Schleim zu denken, der gestern abend aus dem Zinken dieses Campion gelaufen war, kam er nicht. Hap war in seiner Werkstatt damit beschäftigt, einen neuen Auspuff an Tony Leominsters Scout einzubauen, und Vic Palfrey schaukelte auf einem Klappstuhl, sah zu und trank Dr. Pepper, als es vorne klingelte. Vic blinzelte. »Die State Patrol«, sagte er. »Sieht aus wie dein Vetter. Joe Bob.« »Okay.« Hap kam unter dem Scout hervor und wischte sich die Hände an einem Putzlappen ab. Auf dem Weg durchs Büro mußte er kräftig niesen. Er haßte Sommererkältungen. Das waren die schlimmsten. Joe Bob Brentwood, der fast zwei Meter groß war, stand neben seinem Streifenwagen und tankte. Hinter ihm lagen die drei Zapfsäulen, die Campion am Vorabend umgefahren hatte, säuberlich aufgereiht, wie tote Soldaten. '»He, Joe Bob!« sagte Hap, als er nach draußen kam. »Hap, altes Arschloch«, sagte Joe Bob, stellte den Handgriff auf Automatik und trat über den Schlauch. »Hast Glück, daß der Laden heute morgen noch steht.« »Scheiße. Stu Redman hat den Kerl kommen sehen und die Pumpen abgeschaltet. Aber es hat 'n Arschvoll Funken geschlagen.« »Ja?« Joe Bob sah zu Vic, der in der Tankstellentür stand. »War der alte Penner gestern abend auch hier?« »Wer? Vic? Ja, der kommt fast jeden Abend rüber.« »Kann er den Mund halten?« »Klar, denk' schon. Ist 'n guter alter Junge.« Die Automatik schaltete aus. Hap quetschte noch für zwanzig Cent Sprit raus, dann hängte er den Schlauch auf den Haken. Er ging zu Joe Bob zurück. »Also? Was liegt an?« »Laß uns reingehen. Ich denke, der alte Knabe sollte es auch hören. Und wenn du Zeit hast, kannst du die ändern anrufen, die gestern hier waren.« Sie gingen über den Asphalt und ins Büro. »Schönen guten Morgen, Officer«, sagte Vic. Joe Bob nickte. »Kaffee, Joe Bob?« fragte Hap. »Lieber nicht.« Er sah sie ernst an. »Ich weiß nämlich nicht, ob es meinen Vorgesetzten gefallen würde, daß ich hier bin. Wohl kaum. Wenn die Jungs herkommen, sagt ihnen nicht, daß ich euch einen Tip gegeben habe.« »Welche Jungs, Officer?« fragte Vic. »Leute vom Gesundheitsamt«, sagte Joe Bob. Vic sagte: »Großer Gott, es war Cholera. Ich hab's gewußt.« Hap sah von einem zum ändern. »Joe Bob?« »Ich weiß von nix«, sagte Joe Bob und setzte sich auf einen der Woolco-Plastikstühle. Die knochigen Knie reichten ihm fast bis ans Kinn. Er nahm eine Packung Chesterfield aus der Brusttasche und zündete eine an. »Finnegan, dieser Leichenbeschauer -« »Der ist ein Klugscheißer«, sagte Hap wütend. »Hättest sehen sollen, wie der hier rumstolziert ist, Joe Bob. Wie ein Truthahn, der seinen ersten Ständer bekommen hat. Hat die Leute angepflaumt, und so.« »Ich weiß, er ist ein kleiner Gernegroß «, pflichtete Joe Bob ihm bei. » Also, er hat Dr. James geholt, damit der sich diesen Campion ansieht, und dann haben die beiden einen anderen Arzt geholt, den ich nicht kenne. Dann haben sie mit Houston telefoniert, und heute morgen gegen drei sind sie auf dem kleinen Flugplatz bei Braintree gelandet.« »Wer?« »Pathologen. Drei Mann hoch. Sie waren bis um acht mit den Leichen beschäftigt. Haben dran rumgeschnippelt, glaub' ich, aber sicher weiß ich's nicht. Dann haben sie die Seuchenzentrale in Atlanta angerufen, und die Jungs sollen heute nachmittag hier sein. Aber sie haben gesagt, vorher kommen die Leute vom staatlichen Gesundheitsamt her und wollen mit allen Jungs sprechen, die gestern abend in der Tankstelle waren, und mit den Typen, die den Krankenwagen nach Braintree gefahren haben. Ich weiß nicht, aber es sieht so aus, als ob sie euch in Quarantäne stecken wollen.« »Moses im Schilfrohr«, sagte Hap erschrocken. »Die Seuchenzentrale in Atlanta ist eine Bundesbehörde«, sagte Vic. »Würden sie bloß wegen eines Cholerafalls ein ganzes Flugzeug voll Bundesbeamte schicken?« »Was weiß ich«, sagte Joe Bob. »Aber ich dachte, ihr hättet ein Recht darauf, es zu erfahren. Soweit ich gehört habe, habt ihr nur helfen wollen.« »Danke, Joe Bob«, sagte Hap langsam. »Was haben James und der andere Arzt gesagt?« »Nicht viel. Aber sie schienen Angst zu haben. Ich habe noch nie so ängstliche Ärzte gesehen. Hat mir überhaupt nicht gefallen.« Bedrückendes Schweigen trat ein. Joe Bob ging zum Getränkeautomaten und zog sich eine Flasche Fresca. Das leise Zischen von Kohlensäure war zu hören, als er den Kronkorken abhebelte. Als Joe Bob sich wieder setzte, nahm Hap ein Kleenex aus dem Kasten neben der Registrierkasse, wischte sich die Triefnase und steckte es in die Tasche seines schmierigen Overalls. »Was habt ihr über Campion rausgekriegt?« fragte Vic. »Irgendwas?« »Das prüfen wir noch«, sagte Joe Bob mit einem Anflug von Wichtigtuerei. »Aus seinem Ausweis geht hervor, daß er aus San Diego stammt, aber viele seiner Papiere sind schon seit zwei oder drei Jahren abgelaufen. Auch der Führerschein. Er hatte eine BankAmericard, die 1986 ausgegeben wurde, und die war nicht mehr gültig. Er hatte einen Armeeausweis, darum haben wir bei denen nachgefragt. Der Captain hat so eine Ahnung, daß Campion schon seit etwa vier Jahren nicht mehr in San Diego gelebt hat.« »Desertiert?« fragte Vic. Er zog ein großes buntes Taschentuch hervor, räusperte sich und spuckte hinein. »Das weiß ich noch nicht. In seinem Armeeausweis steht, daß er noch bis 1997 dienen mußte. Aber er war in Zivil, und seine Familie war bei ihm, und er war verdammt weit weg von Kalifornien, und ich hab' mich total verplappert. « »Gut, ich ruf die ändern an und sag' ihnen, was du gesagt hast«, sagte Hap. »Vielen Dank.« Joe Bob stand auf. »Gut. Aber laßt meinen Namen aus dem Spiel. Ich will meinen Job nicht verlieren. Deine Kumpels müssen ja nicht wissen, wer euch gewarnt hat, oder?« »Nein«, sagte Hap, und Vic bekräftigte es. Als Joe Bob zur Tür ging, sagte Hap bedauernd: »Macht fünf Dollar für den Sprit, Joe Bob. Ich berechne es dir nur ungern, aber wie die Lage nun mal ist...« »Schon gut«, sagte Joe Bob und gab ihm eine Kreditkarte. »Vater Staat bezahlt. Und ich habe die Quittung als Vorwand, warum ich hier war.« Während Hap das Formular ausfüllte, mußte er zweimal niesen. »Du mußt aufpassen«, sagte Joe Bob. »Es gibt nichts Schlimmeres als eine Erkältung im Sommer.« »Kann man wohl sagen.« Plötzlich sagte Vic hinter ihnen: »Vielleicht ist es gar keine Erkältung.« Sie drehten sich zu ihm um. Vic sah verängstigt aus. »Ich bin heute morgen aufgewacht und hab' geniest und gehustet wie Harry«, sagte Vic. »Außerdem hatte ich elende Kopfschmerzen. Ich hab' ein paar Aspirin genommen, und die Schmerzen sind ein bißchen zurückgegangen, aber ich bin immer noch voll Rotz. Vielleicht kriegen wir es auch. Was Campion hatte. Woran er gestorben ist.« Hap sah ihn lange an, und als er gerade alle Gründe vortragen wollte, warum das nicht sein konnte, mußte er wieder niesen. Joe Bob sah die beiden eine Weile ernst an und sagte dann: »Weißt du, Hap, es wäre vielleicht nicht dumm, die Tankstelle zu schließen. Nur heute.« Hap sah ihn erschrocken an und versuchte, sich an die besagten Gründe zu erinnern. Ihm fiel kein einziger mehr ein. Er wußte nur, daß er auch mit Kopfschmerzen und einer Triefnase aufgewacht war. Nun, jeder erkältet sich hin und wieder. Aber bevor dieser Campion aufgetaucht war, war es ihm gutgegangen. Sehr gut sogar. Die drei Hodges-Kinder waren sechs, vier und achtzehn Monate alt. Die beiden jüngsten schliefen, und der Älteste grub draußen ein Loch. Lila Bruett saß im Wohnzimmer und sah sich The Young and the Restless an. Sie hoffte, daß Sally erst zurückkommen würde, wenn der Film zu Ende war. Ralph Hodges hatte den großen Farbfernseher gekauft, als in Arnette noch bessere Zeiten geherrscht hatten, und Lila sah die Nachmittagsfilme gern in Farbe. Da war alles viel hübscher. Sie zog an ihrer Zigarette und stieß den Rauch ruckweise aus, weil sie plötzlich von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Sie ging in die Küche und spuckte den Mundvoll Schleim, den sie hochgehustet hatte, in den Abfluß. Sie war schon mit Husten aufgewacht und hatte den ganzen Tag ein Gefühl gehabt, als würde jemand sie mit einer Feder im Rachen kitzeln. Sie ging ins Wohnzimmer zurück, nachdem sie zum Küchenfenster hinausgeblickt und sich vergewissert hatte, daß Bert Hodges zurechtkam. Jetzt lief ein Werbespot, zwei tanzende Flaschen Toilettenreiniger. Lila ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und wünschte, ihr eigenes Haus würde so hübsch aussehen. Sallys Hobby war, nach Zahlen zu malen, und die Christusbilder hingen in hübschen Rahmen überall im Wohnzimmer. Besonders gut gefiel ihr das große Bild des Abendmahls hinter dem Fernseher; es war mit sechzig verschiedenen Ölfarben geliefert worden, wie Sally ihr versichert hatte, und es hatte fast drei Monate gedauert, bis es fertig war. Es war ein richtiges Kunstwerk. Gerade als der Film weiterging, fing Baby Cheryl an zu weinen, ein anhaltendes häßliches Geschrei, das von Hustenanfällen unterbrochen wurde. Lila drückte die Zigarette aus und eilte ins Schlafzimmer. Eva, die Vierjährige, schlief fest, aber Cheryl lag auf dem Rücken in der Wiege, und ihr Gesicht hatte eine beängstigende Purpurfarbe angenommen. Ihre Schreie klangen allmählich erstickt. Lila hatte keine Angst vor dem Krupp, weil ihre eigenen Kinder ihn schon gehabt hatten, daher hielt sie Cheryl an den Füßen hoch und schlug ihr kräftig den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, ob Dr. Spock diese Behandlung empfohlen hätte oder nicht, denn sie hatte ihn nie gelesen. Aber bei Baby Cheryl funktionierte sie großartig. Das Baby quakte wie ein Frosch und spuckte plötzlich einen erstaunlich dicken gelben Schleimklumpen auf den Boden. »Besser?« fragte Lila. »Thön«, sagte Baby Cheryl. Sie schlief fast schon wieder. Lila wischte die Schweinerei mit einem Kleenex weg. Sie hatte ein Baby noch nie soviel Rotz auf einmal ausspucken sehen. Stirnrunzelnd setzte sie sich wieder vor den Fernseher. 4 Vor einer Stunde war die Dunkelheit hereingebrochen. Starkey drückte auf den Knopf unter dem mittleren Bildschirm, und das Bild leuchtete auf, mit der entnervenden Abruptheit unveränderlicher Komponenten. Es zeigte die Wüste Westkaliforniens, Richtung Osten. Eine trostlose Gegend; durch die rötliche Tönung der Infrarotphotographie wirkte die Trostlosigkeit noch unheimlicher. Dort draußen ist es, genau geradeaus, dachte Starkey. Projekt Blau. Wieder drohte die Angst ihn zu überwältigen. Er griff in die Tasche und holte eine blaue Tablette heraus. Seine Tochter würde so etwas einen »Schlaffmacher« nennen. Bezeichnungen spielten keine Rolle, nur Ergebnisse. Er schluckte sie trocken und verzog kurz das harte Gesicht, als er spürte, wie sie die Speiseröhre hinunterrutschte. Projekt Blau. Er blickte auf die anderen leeren Monitore und ließ auf allen ein Bild aufleuchten. 4 und 5 zeigten Labors. 4 war Physik, 5 Virusbiologie. Das Vibi-Labor stand voller Tierkäfige, hauptsächlich Meerschweinchen, Rhesusaffen und ein paar Hunde. Keins der Tiere schien zu schlafen. Im Physik-Labor drehte sich noch immer unablässig eine Zentrifuge. Darüber hatte Starkey sich beschwert. Bitter beschwert. Es war etwas Gespenstisches an dieser Zentrifuge, die sich fröhlich rundherum und rundherum und rundherum drehte, während Dr. Ezwick ganz in der Nähe tot auf dem Fußboden lag, verrenkt wie eine Vogelscheuche, die ein Windstoß umgeworfen hatte. Man hatte ihm erklärt, daß die Zentrifuge aus derselben Stromquelle wie die Beleuchtung versorgt wurde, und wenn man die Zentrifuge ausschaltete, würde gleichzeitig das Licht ausgehen. Und die Kameras dort unten waren nicht für Infrarot ausgerüstet. Vielleicht kamen noch mehr hohe Tiere aus Washington, die sich den toten Nobelpreisträger ansehen wollten, der kaum eine Meile entfernt hundertzwanzig Meter tief unter der Wüste lag. Wenn wir die Zentrifuge abschalten, schalten wir den Professor ab. Elementar. Seine Tochter hätte es »Catch-22« genannt. Er nahm noch einen »Schlaffmacher« und betrachtete Monitor 2. Das Bild gefiel ihm am allerwenigsten. Ihm gefiel der Mann mit dem Gesicht in der Suppe nicht. Angenommen, jemand kommt zu einem und sagt: Sie werden die Ewigkeit mit dem Gesicht in einem Suppenteller verbringen. Wie der Gag mit der Torte im Gesicht: bei einem selbst ist er nicht mehr komisch. Monitor 2 zeigte die Kantine von Projekt Blau. Der Unfall hatte sich fast genau zum Schichtwechsel ereignet, deshalb war die Kantine nur mäßig besucht gewesen. Starkey vermutete, daß es den Leuten ziemlich egal gewesen sein mußte, ob sie im Restaurant, in ihren Betten oder in ihren Labors gestorben waren. Aber der Mann mit dem Gesicht in der Suppe... Ein Mann und eine Frau in blauen Overalls lagen verrenkt vor dem Süßigkeitenautomaten; ein Mann in weißem Overall neben der Seeburg-Musicbox. An den Tischen selbst waren neun Männer und vierzehn Frauen, manche neben Hostess Twinkies umgekippt, manche noch mit Bechern voll Cola oder Sprite in den steifen Händen. Und am zweiten Tisch, ziemlich hinten, ein als Frank D. Bruce identifizierter Mann mit dem Gesicht in einem Teller voll Gulaschsuppe. Campbell's Gulaschsuppe, vermutlich. Der erste Monitor zeigte nur eine Digitaluhr. Bis zum 13. Juni waren alle Ziffern der Uhr grün gewesen. Jetzt waren sie leuchtend rot. Die Uhr war stehengeblieben. Die Ziffernfolge lautete 13:06:90:02:37:16. 13. Juni 1990. Siebenunddreißig Minuten nach zwei Uhr morgens. Und sechzehn Sekunden. Hinter ihm ertönte ein kurzer Summton. Starkey schaltete die Monitoren einen nach dem anderen aus und drehte sich um. Er sah die Kopien auf dem Boden und legte sie wieder auf den Tisch. »Herein.« Es war Creighton. Er sah ernst aus, seine Haut war schiefergrau. Wieder schlechte Nachrichten, dachte Starkey ganz ruhig. Noch jemand, der in einen Teller Rindfleischsuppe getaucht war. »Hi, Len«, sagte er leise. Len Creighton nickte. »Billy. Es... Herrgott, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« »Am besten ein Wort nach dem anderen, Soldat.« »Die Männer, die mit Campion in Berührung gekommen sind, wurden in Atlanta untersucht, und es sieht nicht gut aus.« »Alle?« »Fünf sicher. Einer - er heißt Stuart Redman - ist bisher negativ. Aber soweit wir wissen, war auch Campion länger als fünfzig Stunden negativ.« »Wenn Campion nur nicht geflohen wäre«, sagte Starkey. »Schlampige Sicherheitsvorkehrungen, Len. Sehr schlampig.« Creighton nickte. »Weiter.« »Arnette wurde unter Quarantäne gestellt. Bisher haben wir mindestens sechzehn konstant veränderliche A-Primär-Grippefälle isoliert. Und das sind nur die offenkundigen Fälle.« »Die Nachrichtenmedien?« »Bis jetzt kein Problem. Sie halten es für Milzbrand.« »Was noch?« »Ein sehr ernstes Problem. Wir haben einen Highwaypolizisten aus Texas namens Joseph Robert Brentwood. Seinem Vetter gehört die Tankstelle, wo Campion angekommen ist. Er war gestern morgen dort und hat Hapscomb gesagt, daß die Leute vom Gesundheitsamt kommen. Wir haben Brentwood vor drei Stunden aufgegriffen, und er ist auf dem Weg nach Atlanta. Inzwischen ist er durch das halbe östliche Texas Streife gefahren. Gott allein weiß, mit wie vielen Leuten er Kontakt hatte.« »Ach du Scheiße«, sagte Starkey und war entsetzt über die wäßrige Schwäche seiner Stimme und das Hautkribbeln, das am Hodenansatz angefangen hatte und sich jetzt den Bauch hocharbeitete. Übertragbarkeit 99,4%, dachte er. Es ging ihm wie irrsinnig immer wieder durch den Kopf. Und das bedeutete eine Sterblichkeitsrate von 99,4%; denn der menschliche Körper kann die zur Abwehr eines sich ständig verändernden Antigen-Virus erforderlichen Antikörper nicht produzieren. Immer wenn der Körper den richtigen Antikörper produziert hat, nimmt das Virus einfach eine leicht veränderte Form an. Aus dem gleichen Grunde war es unmöglich, einen geeigneten Impfstoff herzustellen. 99,4%. »Mein Gott«, sagte er. »Ist das alles?« »Nun...« »Weiter. Alles.« Daraufhin sagte Carsleigh ganz leise: »Hammer ist tot, Billy. Selbstmord. Er hat sich mit seiner Dienstpistole ins Auge geschossen. Die Unterlagen über Projekt Blau lagen auf seinem Schreibtisch. Wahrscheinlich glaubte er, sie würden als Abschiedsbrief vollkommen ausreichen.« Starkey schloß die Augen. Vic Hammer war sein Schwiegersohn... gewesen. Wie sollte er das Cynthia beibringen? Tut mir leid, Cindy. Vic ist heute in einen Teller kalte Suppe gefallen. Hier, nimm einen »Schlaffmacher«. Weißt du, es gab da eine Panne. Jemand hat einen Fehler mit einem Behälter gemacht. Jemand anders hat vergessen, einen Schalter zu drücken, der den Stützpunkt abgeriegelt hätte. Die Verzögerung betrug nur vierzig Sekunden und ein paar Zerquetschte, aber das reichte. Der Behälter wird in der Branche »Schnüffler« genannt. Er wird in Portland, Oregon, hergestellt, Auftrag Nummer 164480966 des Verteidigungsministeriums. Die Behälter werden von den Technikerinnen an verschiedenen Fließbändern zusammengesetzt, und das wird deshalb so gemacht, damit die Damen nicht genau wissen, was sie eigentlich bauen. Eine hat vielleicht gerade überlegt, was sie zum Abendessen kochen sollte, und wer immer ihre Arbeit kontrollieren sollte, dachte viel-leicht gerade daran, ein neues Auto zu kaufen. Cindy, wie auch immer, der letzte Zufall war der, daß ein Mann am Sicherheitsposten vier, ein Mann namens Campion gesehen hat, wie die Zahlen rot wurden, und er verließ das Zimmer gerade noch rechtzeitig, bevor die Türen automatisch versperrt wurden. Dann hat er seine Familie geholt und ist geflohen. Er fuhr vier Minuten, bevor die Alarmsirenen losgingen und der ganze Stützpunkt abgeriegelt wurde, durch das Haupttor. Man hat erst eine volle Stunde später angefangen, nach ihm zu suchen, weil bei den Wachmännern keine Kameras in den Räumen sind - irgendwo muß man einmal aufhören, die Überwacher zu überwachen, sonst wäre jeder auf der Welt ein verdammter Spitzel -, und deshalb hat jeder angenommen, er sitzt da drinnen und wartet darauf, daß die Schnüffler herausfinden, welche Bereiche kontaminiert sind und welche nicht. Aus diesem Grund hat er einen gewissen Vorsprung bekommen, und er war schlau genug, über Landstraßen zu fahren, und hatte das Glück, daß er nicht an eine Straßensperre geriet. Dann mußte jemand eine Entscheidung treffen, ob man die State Police oder das FBI oder beide einschalten sollte, und der Amtsschimmel galoppierte hin und her und her und hin, als endlich jemand entschieden hatte, daß sich die Firma um die Angelegenheit kümmern sollte, war dieses glückliche Arschloch - dieses infizierte Arschloch - bis nach Texas gekommen, und als sie ihn endlich geschnappt haben, war er nicht mehr auf der Flucht, weil er und seine Frau und seine kleine Tochter alle zusammen zum Abkühlen in der Leichenhalle eines kleinen Scheißkaffs namens Braintree lagen. Braintree, Texas. Ich will damit eigentlich nur sagen, Cindy, das war eine Verkettung von Zufällen, die man eigentlich nur noch damit vergleichen kann, den Jackpot beim Lotto abzuräumen. Zum Glück - oder besser gesagt, Unglück, bitte entschuldige - kam noch ein gerüttelt Maß Inkompetenz hinzu, aber größtenteils waren es unglückliche Zufälle. Deinen Mann traf eigentlich keine Schuld, aber er war der Projektleiter, er hat gesehen, wie die Situation eskaliert, und dann... »Danke, Len«, sagte er. »Billy, willst du lieber...« »Ich bin in zehn Minuten oben. Ich möchte, daß du in fünfzehn Minuten eine Stabssitzung anberaumst. Wenn die Leute im Bett liegen, schmeiß ich sie raus.« »Ja, Sir.« »Und, Len...« »Ja?« »Ich bin froh, daß du es mir gesagt hast.« »Ja, Sir.« Carsleigh ging. Starkey sah auf die Uhr, dann ging er zu den Monitoren an der Wand. Er schaltete Nummer 2 ein, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah nachdenklich in die stumme Kantine von Projekt Blau. 5 Larry Underwood fuhr um die Ecke und fand zwischen einem Hydranten und einer in den Rinnstein gekippten Mülltonne einen Parkplatz, der groß genug für seinen Datsun Z war. In der Mülltonne war etwas Abstoßendes, und Larry versuchte sich einzureden, dass er die Katze und die Ratte, die an ihrem weißen Bauch nagte, gar nicht gesehen hatte. Die Ratte war so schnell aus dem Scheinwerferlicht verschwunden, daß sie möglicherweise wirklich nicht dagewesen war. Die Katze aber hatte Leichenstarre. Und, dachte er, als er den Motor des Z abstellte, wenn man das eine glaubte, mußte man auch das andere glauben. Hieß es nicht, Paris hätte die größte Rattenpopulation der Welt? Die alten Abwasserkanäle. Aber auch New York lag nicht schlecht im Rennen. Und wenn ihn die Erinnerung an seine verkorkste Jugend nicht trog, liefen nicht alle Ratten in New York City auf vier Beinen. Und warum parkte er überhaupt vor diesem verfallenen Sandsteinhaus und dachte an Ratten? Vor fünf Tagen, am 14. Juni, war er noch im sonnigen Südkalifornien gewesen, Heimat der Spinner und Sekten, der einzigen S/M-Nachtclubs der Welt mit Gogo-Tänzern und Geburtsstätte von Disneyland. Heute morgen um Viertel nach drei war er am Ufer des anderen Ozeans angekommen und hatte an der Triborough Bridge seine Gebühren bezahlt. Trübseliger Nieselregen war gefallen. Nur in New York kann ein Frühsommerregen so gnadenlos verdrießlich sein. Jetzt sah Larry die Tropfen an der Windschutzscheibe des Z zusammenfließen, während die ersten Vorboten der Dämmerung über den östlichen Himmel krochen. Liebes New York: Ich bin wieder zu Hause. Vielleicht hatten die Yankees ein Heimspiel. Dann hätte sich die Reise gelohnt. Mit der U-Bahn zum Stadion fahren, Bier trinken, Hot Dogs essen und zusehen, wie die Yankees Cleveland oder Boston die Ärsche aufreißen. Seine Gedanken schweiften ab, und als er den Faden endlich wiederfand, sah er, daß es viel heller geworden war. Die Uhr am Armaturenbrett stand auf 6:05. Er war eingenickt. Die Ratte war echt gewesen. Die Ratte war wieder da. Die Ratte hatte schon ein richtiges Loch in die Gedärme der toten Katze gefressen. Larrys leerer Magen machte langsam eine Rolle vorwärts. Er überlegte, ob er hupen sollte, um das Tier endgültig zu vertreiben, aber die schlafenden Sandsteinhäuser mit den leeren Mülltonnen, die Wache hielten, schüchterten ihn ein. Er duckte sich tiefer in den Sitz, damit er der Ratte nicht beim Frühstück zusehen mußte. Nur ein Happen, guter Mann, und dann wieder ins U-Bahn-Netz. Heute abend ins Yankee-Stadion? Vielleicht sehe ich dich, alter Junge. Aber ich bezweifle ernsthaft, ob du mich sehen wirst. Die Fassade des Gebäudes war mit rätselhaften und geheimnisvollen Graffiti vollgesprüht worden: CHICO 116, ZORRO 93, LITTLE ABIE NR. 1! Als er ein Junge war, vor dem Tod seines Vaters, war dies eine gute Gegend gewesen. Zwei steinerne Hunde hatten die Stufen zur großen Doppeltür hinauf bewacht. Ein Jahr, bevor er an die Küste fuhr, hatten Vandalen den rechten von den Pfoten aufwärts demoliert. Jetzt waren beide weg, abgesehen von der Hinterpfote des linken Hundes. Der Körper, den sie hätte tragen sollen, war nicht mehr an seinem Platz und schmückte jetzt vielleicht die Bruchbude irgendeines puertoricanischen Junkies. Vielleicht hatten die Ratten ihn in einer dunklen Nacht in einen verlassenen U-Bahn-Tunnel geschleppt. Vielleicht hatten sie auch seine Mutter mitgenommen. Er dachte, er sollte wenigstens die Stufen hinaufsteigen und nachsehen, ob ihr Name noch auf dem Briefkasten der Wohnung Nummer 15 stand, aber er war zu müde. Nein, er würde einfach hier sitzen bleiben, dösen und sich darauf verlassen, daß die Reste der roten Pillen in seinem Körper ihn um sieben Uhr wecken würden. Dann würde er nachsehen, ob seine Mutter noch hier wohnte. Vielleicht wäre es besser, wenn sie nicht mehr da war. Vielleicht würde er dann sogar auf die Yankees verzichten. Vielleicht nur ein Zimmer im Biltmore nehmen, drei Tage schlafen und dann wieder zurück in den goldenen Westen fahren. In diesem Licht, im Nieselregen und mit seinen Kopf- und Beinschmerzen von der langen Fahrt hatte New York den Charme einer toten Hure. Seine Gedanken schweiften wieder ab, er dachte über die letzten neun Wochen nach und versuchte, einen Schlüssel zu finden, der alles klarmachte und erklärte, wieso man sechs lange Jahre gegen eine Mauer anrennt, in den Clubs spielt, Demo-Bänder macht, sich als Session-Musiker verdingt und so weiter, und es dann plötzlich in neun Wochen schafft. Das gedanklich zu verarbeiten war, als wollte man einen Türknauf verschlucken. Es muß eine Antwort geben, dachte er, eine Erklärung, die es ihm ermöglichte, die häßliche Vorstellung zu verdrängen, daß die ganze Sache nur ein Zufall war, »a simple twist of fate« - eine Laune des Schicksals -, wie Bob Dylan sang. Mit über der Brust verschränkten Armen döste er tiefer, und es ging ihm immer wieder durch den Kopf, aber jetzt stahl sich etwas Neues hinein, wie ein tiefer und bedrohlicher Kontrapunkt, ein kaum hörbar auf einem Synthesizer gespielter Ton, den man unter Kopfschmerzen wahrnimmt und der einen wie eine böse Vorahnung befällt: die Ratte, die sich in den Körper der toten Katze hineinfrißt, mampf, mampf, und dort etwas sucht, das ihr schmeckt. Das Gesetz des Dschungels, alter Junge, wenn du auf den Bäumen bist, mußt du schwingen... Es hatte eigentlich vor achtzehn Monaten angefangen. Er hatte mit den Tattered Remnants in einem Club in Berkeley gespielt, und ein Mann von der Columbia hatte angerufen. Kein hohes Tier, nur einer von vielen Wasserträgern der Plattenbranche. Neu Diamond dachte daran, einen von Larrys Songs aufzunehmen, ein Stück mit dem Titel »Baby, Can You Dig Your Man?« Diamond produzierte ein Album, alles eigene Sachen, außer einem alten Song von Buddy Holly, »Peggie Sue Got Married«, und vielleicht dieses Stück von Larry Underwood. Ob Larry gerne herkommen, ein Demo des Stücks aufnehmen und bei den Aufnahmen dabei sein wollte? Diamond wollte eine zweite akustische Gitarre, und der Song gefiele ihm sehr gut. Larry sagte ja. Die Session dauerte drei Tage. Schöne Tage. Larry lernte Neu Diamond kennen, Robbie Robertson und Richard Perry. Er wurde auf der Albuminnenseite erwähnt und nach Tarif bezahlt. Aber »Baby, Can You Dig Your Man?« schaffte es nicht auf die Platte. Am zweiten Abend der Session kam Diamond mit einem neuen eigenen Song, und der kam statt dessen ins Album. Tja, sagte der Mann von der Columbia, zu dumm. Kann vorkommen. Ich will Ihnen mal was sagen - warum nehmen Sie das Demo nicht trotzdem auf? Mal sehen, ob ich was machen kann. Larry machte das Demo und stand wieder auf der Straße. Harte Zeiten in L. A. Er hatte ein paar Sessions, aber nicht viele. Schließlich fand er einen Job in einem Speiserestaurant, wo er Gitarre spielte und Lieder wie »Softly as I Leave You« und »Moon River« schmachtete, während alte Hasen über Geschäfte redeten und italienische Spezialitäten in sich reinschaufelten. Er schrieb sich die Texte auf kleine Zettel, weil er sie sonst durcheinanderbrachte oder ganz vergaß, in welchem Falle er einfach die Melodie anschlug und dazu »hmmmm-hmmmm, ta-da-hmm« summte, versuchte, Tony Bennets verführerischen Schlafzimmerblick nachzuahmen, und sich dabei wie ein Arschloch vorkam. In Fahrstühlen und Supermärkten war ihm auf morbide Weise klargeworden, was für beschissene Musik ständig gespielt wurde. Vor neun Wochen hatte dann wie aus heiterem Himmel der Mann von der Columbia angerufen. Sie wollten sein Demo als Single herausbringen. Ob er wohl kommen und die Rückseite machen konnte? Klar, sagte Larry. Konnte er. Und so war er an einem Sonntag nachmittag in die Columbia-Studios in L.A. gegangen, hatte in etwa einer Stunde einen zweiten Track seiner Stimme für »Baby, Can You Dig Your Man?« aufgenommen und anschließend für die BSeite »Pocket Savior«, ein Stück, das er für die Tattered Remnants geschrieben hatte. Der Mann von der Columbia gab ihm einen Scheck über fünfhundert Dollar und einen zum Himmel stinkenden Vertrag, der ihn zumehr verpflichtete als die Plattenfirma. Er schüttelte Larry die Hand, sagte ihm, daß es schön war, ihn an Bord zu haben, lächelte mitleidig, als Larry fragte, wie die Single promotet werden sollte, und ging wieder. Es war zu spät, den Scheck einzulösen, daher hatte Larry ihn noch in der Tasche, als er bei Gino sein Repertoire spielte. Gegen Ende seines ersten Auftritts sang er eine entschärfte Version von »Baby, Can You Dig Your Man?« Der einzige, der davon Notiz nahm, war der Inhaber des Restaurants, der ihm riet, das Nigger-Geheul für die Putzkolonne aufzuheben. Vor sieben Wochen hatte der Mann von der Columbia wieder angerufen und ihm gesagt, er solle sich ein Exemplar von Billboard kaufen. Larry rannte los. »Baby, Can You Dig Your Man?« war unter den drei heißen Tips der Woche aufgeführt. Larry rief den Mann von der Columbia zurück, und der hatte ihn gefragt, ob er mit ein paar von den hohen Tieren essen gehen wollte. Um über eine LP zu reden. Alle waren mit der Single zufrieden, die bereits in Detroit, Philadelphia und Portland, Maine, im Radio gespielt wurde. Sah aus, als würde sie zünden. In einem Soul-Sender in Detroit hatte sie vier Abende nacheinander den »Battle-of-the-Sounds«-Wettbewerb gewonnen. Niemand schien zu wissen, daß Larry Underwood ein Weißer war. Er hatte sich beim Essen betrunken und kaum gemerkt, wie der Lachs schmeckte. Niemand schien Anstoß daran zu nehmen, daß er besoffen war. Eines der hohen Tiere sagte, er wäre nicht überrascht, wenn »Baby, Can You Dig Your Man?« nächstes Jahr einen Grammy einheimsen würde. Das hörte sich für Larry alles wunderbar an. Er kam sich wie ein Mann in einem Traum vor, und als er wieder in seine Wohnung ging, war er überzeugt, daß ihn ein Lastwagen überfahren würde und alles zu Ende wäre. Die hohen Tiere von der Columbia hatten ihm wieder einen Scheck gegeben, diesmal über 2500 Dollar. Als Larry nach Hause kam, setzte er sich ans Telefon und erledigte Anrufe. Sein erster galt Mort »Gino« Green. Larry sagte ihm, er würde einen anderen suchen müssen, der »Yellow Bird« spielte, während die Gäste seine lausige halbgare Pasta fraßen. Dann rief er alle an, die ihm einfielen, einschließlich Barry Greig von den Remnants. Anschließend ging er weg und ließ sich bis zum Umfallen vollaufen. Vor fünf Wochen hatte die Single die Top 100 von Billboard geschafft. Platz neunundachtzig. Mit einem Paukenschlag. Das war die Woche, als in Los Angeles wirklich der Frühling anfing, und an einem strahlenden Mainachmittag, als die Häuser so weiß und der Ozean so blau waren, daß einem fast die Augen aus dem Kopf fielen wie Murmeln, da hörte er seine Platte zum ersten Mal im Radio. Drei oder vier Freunde waren da, darunter sein derzeitiges Mädchen, und alle waren einigermaßen high auf Kokain. Larry kam mit einer Tüte Tollhaus-Kekse aus der Kochnische ins Wohnzimmer, als der altbekannte KLMT-Slogan »Neue Musiiiiiiiik!« ertönte. Und dann hatte Larry gebannt seine eigene Stimme aus den TechnicsLautsprechern gehört: »I know l didn't say I was comin down I know you didn't know l was here in town, But bay-yay-yaby you can tell me if anyone can, Baby, can you dig your man? He's a righteous man, Tell me baby, can you dig your man?« »Mein Gott, das bin ich«, hatte er gesagt. Er ließ die Kekse auf den Boden fallen und stand mit offenem Mund und total baff da, während seine Freunde applaudierten. Vor vier Wochen war sein Stück in den Billboard-Charts auf Platz dreiundsiebzig gesprungen. Er kam sich allmählich vor, als hätte man ihn grob in einen alten Stummfilm gestoßen, in dem alles zu schnell abläuft. Das Telefon klingelte sich wund. Die Columbia schrie nach dem Album, weil sie aus dem Erfolg der Single Kapital schlagen wollte. Ein wahnsinniger Dummsack von Werbefachmann rief ihn an einem Tag dreimal an und erzählte ihm, er müßte ins Studio Record One kommen, und zwar am besten schon gestern, und eine Coverversion von »Hang On, Sloopy« von den McCoys als Nachfolger aufnehmen. Wahnsinn! brüllte der Irre immer wieder. Der einzig denkbare Nachfolger, Lar! (Er hatte den Typen nie kennengelernt und war trotzdem schon nicht einmal mehr Larry, sondern Lar.) Das wird der Wahnsinn! Ich meine, der totale Wahnsinn! Larry hatte die Geduld verloren und dem Wahnsinn-Brüller gesagt, wenn er die Wahl hätte, »Hang On, Sloopy« aufzunehmen oder sich fesseln und ein Klistier mit Coca-Cola verpassen zu lassen, würde er sich für das Klistier entscheiden. Dann hatte er aufgelegt. Die Ereignisse nahmen trotzdem ihren Lauf. Dies könnte der größte Single-Hit seit fünf Jahren werden, ganz bestimmt, kam dem Fassungslosen zu Ohren. Agenten riefen im Dutzend an. Sie klangen alle geldgierig. Er nahm Aufputschmittel und hatte allmählich den Eindruck, als würde er seinen Song überall hören. Am Samstag vormittag hörte er ihn in »Soul Train« und verbrachte den Rest des Tages damit, sich selbst davon zu überzeugen, daß das tatsächlich geschehen war. Es war plötzlich ein Problem, Julie loszuwerden, das Mädchen, mit dem er seit seinen Auftritten bei Gino ging. Sie machte ihn mit allen möglichen Leuten bekannt, von denen er nur die wenigsten kennenlernen wollte. Ihre Stimme erinnerte ihn allmählich an die der Möchtegern-Agenten am Telefon. Nach einem lauten und gehässigen Streit trennte er sich von ihr. Sie hatte ihn angeschrien, sein Kopf würde bald so groß sein, daß er nicht mehr durch die Tür eines Aufnahmestudios paßte, daß er ihr noch fünfhundert Dollar für Dope schuldete und die Antwort der neunziger Jahre auf Zagar und Evans war. Sie hatte gedroht, sich umzubringen. Hinterher hatte Larry das Gefühl, als hätte er eine lange Kissenschlacht überstanden, bei der alle Kissen mit leichtem Giftgas behandelt worden waren. Vor drei Wochen hatten sie angefangen, das Album aufzunehmen, und Larry hatte fast allen »gutgemeinten« Vorschlägen widerstanden. Er nutzte jeden Spielraum, den sein Vertrag ihm ließ. Er holte sich drei von den Tattered Remnants - Barry Greig, AI Spellman und Johnny McCall - und zwei Musiker, mit denen er schon gearbeitet hatte, Neu Goodman und Wayne Stukey. Sie nahmen das Album in neun Tagen auf, das Äußerste an Studiozeit, was sie bekamen. Columbia wollte ein Album, das auf einen Verkaufserfolg von zwanzig Wochen ausgelegt war, mit »Baby, Can You Dig Your Man?« am Anfang und »Hang on, Sloopy« am Ende. Larry wollte mehr. Das Albumcover zeigte ein Foto von Larry in einer altmodischen Badewanne mit Klauenfüßen voll Seifenschaum. Auf den Kacheln über ihm standen, mit dem Lippenstift einer Columbia-Sekretärin geschrieben, die Worte POCKET SAVIOR und LARRY UNDERWOOD! Die Columbia hatte das Album Baby, Can You Dig Your Man? nennen wollen, aber dagegen hatte sich Larry ausdrücklich verwahrt, schließlich hatten sie sich auf einen Aufkleber MIT HIT-SINGLE! geeinigt. Vor zwei Wochen stand die Single auf Platz siebenundvierzig, und die Party hatte richtig angefangen. Er hatte für einen Monat ein Strandhaus in Malibu gemietet, und danach wurde alles ein wenig verschwommen. Leute kamen und gingen, immer mehr. Einige kannte er, aber die meisten waren Fremde. Er erinnerte sich daran, daß ihn noch mehr Agenten belästigten, die »seine große Karriere fördern« wollten. Er erinnerte sich an ein Mädchen, das einen schlechten Trip erwischt hatte und schreiend und splitternackt über den weißen Strand gelaufen war. Er erinnerte sich, daß er Kokain geschnupft und mit Tequila nachgespült hatte. Er erinnerte sich, dass er an einem Samstag morgen wachgerüttelt worden war, es mußte vor einer Woche oder so gewesen sein, und gehört hatte, wie Kasey Käsern in American Top Forty seine Scheibe als Debüt-Song spielte, der auf Platz sechsunddreißig stand. Er erinnerte sich, daß er viele rote Tabletten geschluckt und mit einem Scheck über viertausend Dollar, der mit der Post gekommen war, um den Datsun Z gefeilscht hatte. Und dann kam der 13. Juni, vor sechs Tagen, als Wayne Stukey Larry gebeten hatte, mit ihm einen Spaziergang am Strand zu machen. Es war erst neun Uhr morgens gewesen, aber die Stereoanlage und beide Fernsehgeräte waren eingeschaltet, und es hörte sich an, als würde im Spielzimmer im Keller eine Orgie stattfinden. Larry saß in Unterhosen auf einem Plüschsessel im Wohnzimmer und versuchte krampfhaft, einen Superboy-Comic zu lesen und zu verstehen. Er fühlte sich topfit, aber die Worte ergaben keinen Zusammenhang. Ein Stück von Wagner donnerte aus den Quadrolautsprechern, und Wayne mußte drei- oder viermal rufen, bis er gehört wurde. Dann nickte Larry. Er fühlte sich, als hätte er Meilen zurücklegen können. Aber als der Sonnenschein Larry wie Nadeln in die Augen stach, überlegte er es sich plötzlich anders. Kein Spaziergang. Hmmmm. Seine Augen hatten sich in Vergrößerungsgläser verwandelt, und die Sonne würde so lange hineinscheinen, bis sie ihm das Gehirn verbrannt hatte. Sein armes altes Gehirn schien trocken wie Zunder zu sein. Wayne ließ nicht locker und packte ihn fest am Arm. Sie gingen zum Strand hinunter, über den warmen Sand zum dunkleren, härteren Boden beim Wasser, und jetzt fand Larry, daß es doch eine ganz gute Idee gewesen war. Das anschwellende Geräusch der Wellen, die ans Ufer schlugen, war beruhigend. Eine Möwe, die sich bemühte, Höhe zu gewinnen, hing wie ein gemaltes M am Himmel. Wayne zog ihn fest am Arm. »Komm mit.« Larry durfte mehr Meilen zurücklegen, als ihm lieb war, bis er keine Lust mehr hatte. Er hatte häßliche Kopfschmerzen, und sein Rückgrat fühlte sich an, als hätte es sich in Glas verwandelt. Seine Augen pulsierten, und er hatte dumpfe Schmerzen in den Nieren. Ein Amphetaminkater ist zwar nicht ganz so schlimm wie der Morgen nach der Nacht, in der man sich zehn Milligramm Four Roses eingepfiffen hat, aber er ist auch nicht so angenehm, wie, zum Beispiel, Raquel Welch zu bumsen. Wenn er noch ein paar Aufputscher nahm, konnte er vielleicht den Kater kitten. Er wollte in die Tasche greifen, um die Tabletten herauszuholen, und merkte erst jetzt, daß er nur eine Unterhose anhatte, die vor drei Tagen frisch gewesen war. »Wayne, ich will wieder zurück.« »Laß uns noch ein Stück gehen.« Es schien ihm, daß Wayne ihn seltsam ansah, mit einer Mischung aus Zorn und Mitleid. »Nein, Mann. Ich hab' nur 'ne Unterhose an. Ich werd' wegen Exhibitionismus eingelocht.« »An diesem Teil der Küste kannst du dir ein Taschentuch um den Dödel binden und die Eier frei hängen lassen und wirst trotzdem nicht wegen Exhibitionismus eingesperrt. Komm schon, Mann.« »Ich bin müde«, sagte Larry quengelnd. Wayne ging ihm allmählich auf den Geist. So also wollte Wayne ihm heimzahlen, daß Larry einen Hit hatte und er, Wayne, auf dem Album nur als Keyboardspieler genannt wurde! Er war genau wie Julie. Alle haßten ihn jetzt. Alle hatten die Messer gezückt. Allzu schnelle Tränen verschleierten seinen Blick. »Komm schon, Mann«, wiederholte Wayne, und sie gingen weiter den Strand entlang. Sie waren vielleicht noch eine Meile gegangen, als Larry plötzlich einen Krampf in beiden Oberschenkelmuskeln hatte. Er schrie auf und ließ sich in den Sand fallen. Ihm war, als hätte ihm jemand gleichzeitig zwei Dolche ins Fleisch gestoßen. »Ein Krampf!« brüllte er. »O Mann, ein Krampf!« Wayne kauerte sich neben ihn und zog ihm die Beine gerade. Die Schmerzen fingen wieder an, aber Wayne klopfte die verkrampften Muskeln und knetete sie durch. Schließlich entspannte sich das zu gering durchblutete Gewebe. Larry, der den Atem angehalten hatte, stieß jetzt hörbar die Luft aus. »O Mann«, sagte er. »Danke. Das war... das war schlimm.« »Klar«, sagte Wayne ohne viel Mitgefühl. »Kann ich mir denken, Larry. Geht's jetzt?« »Okay. Aber laß uns ausruhen, hm? Und dann gehen wir zurück.« »Ich will mit dir reden. Ich mußte dich dort wegbringen. Ich wollte, daß du einen klaren Kopf kriegst und kapierst, was ich dir sagen will.« »Was soll das, Wayne?« Er dachte: Jetzt kommt's. Der Knüller. Aber was Wayne sagte, war so wenig ein Knüller, daß Larry einen Augenblick wieder an den Superboy-Comic denken mußte und versuchte, einen Satz mit fünf Worten zu begreifen. »Schluß mit der Party, Larry.« »Hm?« »Die Party. Wenn du zurückkommst. Du ziehst alle Stecker raus, gibst allen die Autoschlüssel, bedankst dich für den Besuch und bringst sie zur Tür.« »Das kann ich nicht«, sagte Larry erschrocken. »Du mußt«, sagte Wayne. »Aber warum? Mann, die Party fängt gerade erst an.« »Larry, wieviel hat dir Columbia als Vorschuß gezahlt?« »Warum willst du das wissen?« fragte Larry argwöhnisch. »Glaubst du, ich will dich ausnehmen, Larry? Mach dich nicht lächerlich.« Larry dachte nach, und ihm dämmerte mit wachsender Bestürzung, daß Wayne Stukey nicht den geringsten Grund hatte, ihn auszunehmen. Wayne hatte es noch nicht geschafft, er mußte noch kämpfen wie die anderen, mit denen Larry das Album aufgenommen hatte, aber Wayne stammte aus einer wohlhabenden Familie und verstand sich gut mit seinen Eltern. Waynes Vater gehörte die Hälfte des drittgrößten Herstellers von elektronischen Spielen des Landes, und die Stukeys bewohnten ein palastartiges Haus in Bei Air. Larry überlegte sich bestürzt, daß sein plötzlicher Wohlstand für Wayne wohl eher Kleinkram war. »Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte er mürrisch. »Tut mir leid. Aber mir kommt es so vor, als wollte jeder verarmte Kakerlakenjäger westlich von Las Vegas -« »Wieviel also?« Larry dachte einen Augenblick nach. »Sieben Riesen Vorschuß. Alles in allem.« »Für die Single zahlen sie dir die Tantiemen vierteljährlich und für das Album halbjährlich?« »Richtig.« Wayne nickte. »Die Schweine halten das Geld zurück, bis der Adler schreit. Zigarette?« Larry nahm eine und hielt zum Anzünden die hohlen Hände darum. »Weißt du, was dich diese Party kostet?« »Klar«, sagte Larry. »Du hast das Haus nicht für weniger als tausend gemietet.« »Stimmt.« Es waren 1200 Dollar gewesen plus 500 Dollar Kaution für eventuelle Schäden. Er hatte die Kaution und die halbe Monatsmiete bezahlt, insgesamt 500 Dollar, 600 schuldete er noch. »Wieviel für Dope?« fragte Wayne. »Ach, Mann, das braucht man nun mal. Wie Käse für Ritz Cracker...« »Hasch und Koks. Wieviel? Raus damit.« »Scheißdealer«, sagte Larry verdrossen. »Je fünfhundert.« »Und am zweiten Tag war alles weg.« »Einen Scheißdreck war es!« sagte Larry. »Als wir heute morgen weggegangen sind, habe ich zwei Typen beim Koksen gesehen, Mann. Gut, das meiste ist weg, aber...« »Mensch, kannst du dich nicht an The Deck erinnern?« Waynes Stimme parodierte jetzt erstaunlich gut Larrys gedehnte Sprechweise. »Schreib's auf meine Rechnung, Dewey. Versorg sie.« Larry sah Wayne mit dämmerndem Entsetzen an. Er erinnerte sich wirklich an einen drahtigen kleinen Mann mit einem seltsamen Haarschnitt, den man vor zehn oder fünfzehn Jahren eine Wuschelfrisur genannt hätte, ein kleiner drahtiger Kerl mit einer Wuschelfrisur und einem T-Shirt, auf dem stand: JESUS KOMMT - UND ER IST STINKSAUER. Dem Burschen schien guter Stoff praktisch aus dem Arschloch zu fallen. Er erinnerte sich auch noch daran, daß er dem Typen, Dewey the Deck, gesagt hatte, er solle die Gästekörbchen nachfüllen und ihm alles auf die Rechnung setzen. Aber das war... das war schon vor Tagen gewesen. Wayne sagte: »Was Besseres als du ist Dewey Deck schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen.« »Wieviel schulde ich ihm?« »Nicht viel für Hasch. Hasch ist billig. Zwölfhundert. Acht Riesen für Koks.« Einen Augenblick dachte Larry, er müßte kotzen. Er glotzte Wayne stumm an. Er versuchte zu sprechen und konnte nur stammeln: »Neuntausendzweihundert?« »Inflation, Mann«, sagte Wayne. »Willst du den Rest hören?« Larry wollte den Rest nicht hören, aber er nickte. »Im Obergeschoß stand ein Fernseher. Jemand hat einen Stuhl reingeschlagen. Dreihundert für die Reparatur, schätze ich. Die Holztäfelung im Erdgeschoß ist völlig versaut. Vierhundert. Wenn du Glück hast. Das große Panoramafenster zum Strand ist vorgestern eingeschlagen worden. Dreihundert. Der Teppich im Wohnzimmer ist total im Arsch - Brandflecken, Bier, Whisky. Vierhundert. Ich habe den Spirituosenladen angerufen, und die freuen sich genauso über ihre Rechnung wie Deck über seine. Sechshundert.« »Sechshundert für Fusel?« flüsterte Larry. Ihm stand das kalte Grausen bis zum Hals. »Sei froh, daß die meisten nur Bier und Wein gesoffen haben. Im Supermarkt hast du vierhundert Dollar auf der Latte stehen, hauptsächlich für Pizza, Chips und so leckere Sachen. Aber das Schlimmste ist der Lärm. Bald werden die Bullen aufkreuzen. Les flies. Ruhestörender Lärm. Und du hast vier oder fünf Jungs auf Heroin. In der Bude liegen mindestens achtzig bis hundert Gramm Mexican Brown rum.« »Auch auf meine Rechnung?« fragte Larry heiser. »Nein. The Deck läßt die Finger vom Heroin. Das ist das Geschäft der Organisation, und Deck mag keinen Stiefel aus Beton. Aber wenn die Bullen erst kommen, dann geht die ganze Scheiße auf Deine Rechnung.« »Aber ich wußte nicht...« »Unschuldig wie ein Neugeborenes, klar.« »Aber...« »Deine Gesamtrechung für diese kleine Eskapade beläuft sich bisher auf über zwölftausend Dollar«, sagte Wayne. »Du bist losgezogen und hast Dir den Z gekauft... wieviel hast Du hingeblättert?« »Zweieinhalb«, sagte Larry dumpf. Ihm war zum Heulen. »Und was hast Du noch bis zum nächsten Tantiemenscheck? Ein paar tausend?« »Ungefähr«, sagte Larry, der Wayne nicht sagen konnte, dass er weit weniger hatte, etwa achthundert, zu gleichen Teilen Bargeld und Schecks. «Larry, hör gut zu, weil ich keine Lust habe, es dir zweimal zu sagen. Hier steigt immer wieder eine neue Party. Das einig Konstante hier darußen ist der konstante Irrsinn und die konstante Party. Die TYpen kommen angeströmt wie die Vögel, die auf dem Rücken von Nilpferden Ungeziefer suchen.Jetzt sind sie hier. Pflück sie dir aus dem Pelz und schick sie fort.« Larry dachte an die Dutzende Leute im Haus. Von drei Gästen kannte er derzeit vielleicht einen. Der Gedanke, diesen fremden Lauten zu sagen, dass sie gehen sollten,schnürte ihm die Kehle zu. Sie würden keine gute Meinung mehr von ihm haben. Gegen diesen Gedanken stand das Bild Dewey Decks, der die Schüsseln wieder auffüllte und dann sein Notizbuch aus der Tasche zog und alles aufschrieb. Er und seine Wuschelfrisur und sein modisches T-Shirt. Wayne sah in ganz ruhig an, währand Larry zwischen diesen beiden Bildern hin und her schwankte. «Mann, ich werde aussehen wie das letzte Arschloch«, sagte Larry endlich und hasste diese schwachen und kläglichen Worte schon, während er sie aussprach. «Ja, sie werden kein gutes Haar an dir lassen. Sie werden sagen, du kommst dir vor wie ein Hollywood-Star. Wirst größenwahnsinnig. Vergißt deine alten Freunde. Aber keiner von ihnen ist dein Freund, Larry. Deine Freunde haben vor drei Tagen gesehen, was hier los ist, und sich verdrückt. Es macht keinen Spaß zu sehen, wie ein Freund sich sozusagen in die Hose pisst und es noch nicht einmal merkt.« «Warum musst du es mir dann sagen?« fragte Larry plötzlich wütend. Der Grund dafür war die Erkenntnis, dass seine wirklichen Freunde verschwunden waren, und rückblickend kamen ihm ihre Erklärungen fadenscheinig vor. Barry Greig hatte ihn beiseite genommen und versucht, mit ihm zu reden, aber Larrywar einfach zu high gewesenund hatte nur genickt und gelacht und Barry nachsichti angelächelt. Jetzt fragte er sich, on Barry versucht hatte, ihm dasselbe zu erzählen. Dieser Gedanke war ihm peinlich und machte ihn noch wütender. «Warum musst du es mir sagen?« wiederholte er. «Ich habe das Gefühl, dass du mich gar nicht so gut leiden kannst.« «Nein... Ich habe auch nichts gegen dich. Darüber hinaus kann ich nichts sagen. Ich hätte auch warten können, bis du eins auf die Nase kriegst. Einmal hätte dir gereicht.« «Wie meinst du das?« «Du wirst es ihnen sagen. Hart genug bist du. Du hast etwas an dir, als ob man auf Stannoil beisst. Was immer man zum Erfolg braucht, du hast es. Du wirst eine hübsche kleine Karriere machen. Mittelmäßiger Pop, an den sich in fünf Jahren kein Mensch mehr erinnert. Die Jungs von der Junior High werden deine Platten sammeln. Du wirst Geld machen.« Larry ballte die Fäuste auf den Beinen. Er hätte gern in dieses unbewegte Gesicht geschlagen. Bei den, was Wayne sagte, kam er sich wie ein Haufen Hundescheiße neben einem Stopschild vor. «Geh zurück und zieh die Stecker raus«, sagte Waxne leise. «Tauch unter, bis du weißt, daß der nächste Tantiemenscheck auf dich wartet.« «Aber Dewey...« «Ich werde einen Mann finden, der mit Dewey redet. Ist mir ein Vergnügen. Der Kerl wird Dewey sagen, daß er auf sein Geld warten soll wie ein kleiner Junge, und Dewey wird mit Freuden gehorchen.« Er schwieg und sah zwei kleinen Kindern nach, die in bunten Badeanzügen über den Strand liefen. Neben ihnen ein Hund, der laut den blauen Himmel anbellte. Larry stand auf udn sagte danke, wenn es ihm auch schwerfiel. Der Wind fuhr ihm durch die nicht mehr frische Unterhose. Das Wort kam ihm wie ein Backstein aus dem Mund. «Du fährt irgendwohin und bringst die Scheiße wieder in Ordnung«, sagte Wayne, der neben ihm aufstand udn immer noch die Kinder beobachtete. «Du hast eine Menge Scheiße in Ordnung zu bringen. Wen du als Manager haben willst, wie du dir die Tournee vorstellst, wie der Vertrag aussehen soll, wenn >Pocket Savior< ein Hit geworden ist. Ich glaube, es wird einer; es hat diesen hübschen Beat. Wenn du es ruhig angehst, schaffst du's. TYpe wie du schaffen es immer.« Typen wie du schaffen es immer. Typen wie ich schaffen es immer. Typen wie... Jemand klopfte mit dem Finger gegen die Scheibe. Larry schreckte hoch und setzte sich auf. Stechender Schmwerz fuhr ihm durch den Nacken, und er zuckte zusammen, weil sich das Fleisch dort verkrampft und wie tot anfühlt.Er hatte geschlafen, nicht nur gedöst. Von Kalifornien geträumt. Aber hier und jetzt herrschte graues New Yorker Tageslicht, und der Finger klopfte wieder. Er drehte vorsichtig und unter Schmerzen den Kopf und sah seine Mutter, die ein schwarzes Haarnetz trug und hereinsah. Für einen Moment blickten sie sich nur durch die Scheiben an, und Larry fühlte sich seltsam nackt, wie ein Tier, das im Zoo angestarrt wird. Aber dann lächelte er und drehte die Scheibe herunter. »Mom?« »Ich wußte, daß du es bist«, sagte sie mit seltsamer Stimme. »Steig da aus, steh auf und laß dich ganz anschauen.« Beide Beine waren eingeschlafen; Nadeln pieksten von den Fußballen aufwärts, als er die Tür öffnete und ausstieg. Er hatte nicht erwartet, ihr so gegenübertreten zu müssen, unvorbereitet und bloßgestellt. Er kam sich vor wie ein Wachtposten, der eingeschlafen ist und plötzlich zur Achtung gebrüllt wird. Irgendwie hatte er sich seine Mutter kleiner vorgestellt, weniger selbstsicher, ein Trick der Jahre, die ihn reifer gemacht und sie unverändert gelassen hatten. Wie sie ihn hier gefunden hatte, war fast unheimlich. Als er zehn Jahre alt war, hatte sie ihn jeden Samstagmorgen geweckt, wenn er ihrer Meinung nach lange genug geschlafen hatte, indem sie mit dem Finger an seine Zimmertür klopfte. Und so hatte sie ihn jetzt, vierzehn Jahre später, geweckt, als er in seinem neuen Auto schlief wie ein müder kleiner Junge, der versucht hatte, die ganze Nacht wach zu bleiben und vom Sandmann in einer unwürdigen Stellung erwischt worden war. Jetzt stand er vor ihr, mit Dauerwellen im Haar und einem leichten, ein wenig albernen Lächeln im Gesicht. Die Nadeln pieksten immer noch in seinen Beinen, er trat von einem Fuß auf den anderen. Ihm fiel ein, daß sie ihn früher immer gefragt hatte, ob er aufs Klo mußte, wenn er das gemacht hatte, daher blieb er stehen und ließ sich ergeben von den Nadeln pieksen. »Hi, Mom«, sagte er. Sie sah ihn wortlos an, und plötzlich brütete Angst in seinem Herzen, wie ein böser Vogel, der zu einem alten Nest zurückgekehrt ist. Es war die Angst, daß sie sich von ihm abwenden, ihn verleugnen, ihm den Rücken ihres billigen Mantels zeigen würde und einfach davonging, im nächsten U-Bahn-Eingang um die Ecke verschwand und ihn allein ließ. Dann seufzte er, wie ein Mann, bevor er eine schwere Last hochhebt. Aber als sie sprach, klang ihre Stimme so natürlich und aufrichtig erfreut, daß er seinen ersten Eindruck vergaß. »Hi, Larry«, sagte sie. »Komm mit rauf. Ich wußte, daß du es bist, als ich aus dem Fenster gesehen habe. Ich hab' schon in der Firma angerufen und gesagt, daß ich krank bin. Die Krankmeldung war sowieso fällig.« Sie wollte ihm vorausgehen, zwischen den verschwundenen Steinhunden hindurch die Treppe hinauf. Er ging drei Schritte hinter ihr, holte auf, zuckte aber bei jedem Schritt wegen der Nadeln zusammen. »Mom?« Sie drehte sich zu ihm um, und er nahm sie in die Arme. Einen Augenblick sah sie ängstlich aus, als befürchtete sie, nicht umarmt, sondern überfallen zu werden. Dann verschwand der Ausdruck, und sie ließ sich umarmen und umarmte ihn auch. Der Geruch ihres Duftkissens stieg ihm in die Nase und rief unerwartete nostalgische Erinnerungen hervor, wild, süß und bitter. Einen Augenblick dachte er, er müßte weinen und war ganz sicher, daß sie weinen würde; es war ein rührender Augenblick. Über ihre hängende rechte Schulter hinweg sah er die tote Katze halb in der Abfalltonne liegen. Als sie sich von ihm löste, waren ihre Augen trocken. »Komm, ich mach' dir Frühstück. Bist du die ganze Nacht gefahren?« »Ja«, sagte er, und seine Stimme war aufgewühlt und etwas heiser. »Dann komm. Der Fahrstuhl ist kaputt, aber es sind ja nur zwei Stockwerke. Mrs. Halsley mit ihrer Arthritis ist schlimmer dran. Die wohnt im fünften. Vergiß nicht, dir die Füße abzutreten. Wenn du Dreck machst, habe ich Mr. Freeman am Hals wie einen geölten Blitz. Ich schwöre bei Gott, der riecht den Dreck. Dreck ist sein Feind.« Sie waren jetzt auf der Treppe. »Schaffst du drei Eier? Ich kann auch Toast machen, wenn du Pumpernickel magst. Komm jetzt.« Er folgte ihr an den verschwundenen Steinhunden vorbei und sah etwas mulmig zu der Stelle, wo sie gewesen waren, um sich zu vergewissern, daß sie auch wirklich weg waren, daß er nicht etwa um sechzig Zentimeter geschrumpft und das Jahrzehnt der Achtziger in der Vergangenheit verschwunden war. Sie stieß die Tür auf, und sie gingen hinein. Sogar die dunkelbraunen Schatten und die Kohlgerüche waren noch dieselben. Alice Underwood machte ihm drei Eier mit Speck, Toast, Saft und Kaffee. Als er mit allem bis auf den Kaffee fertig war, zündete er sich eine Zigarette an und schob den Stuhl vom Tisch zurück. Das gab ihm einen Teil seines Selbstvertrauens zurück - aber nicht viel. Sie hatte es immer verstanden, die Zeit abzuwarten. Sie ließ die gußeiserne Bratpfanne ins graue Abwaschwasser gleiten, und es zischte ein wenig. Sie hat sich nicht sehr verändert, dachte Larry. Ein wenig älter - sie mußte jetzt einundfünfzig sein -, ein wenig grauer, aber unter dem Haarnetz sah er noch genügend Schwarz in ihrem Haar. Sie trug ein einfaches graues Kleid, wahrscheinlich das, das sie zur Arbeit trug. Ihr Busen war immer noch das dralle Ungetüm, das aus dem Ausschnitt des Kleides quoll - noch draller, wenn überhaupt. Mom, sag die Wahrheit, ist dein Busen größer geworden? Ist das die bedeutsame Veränderung? Er klopfte Zigarettenasche auf die Untertasse. Sie riß sie weg und stellte den Aschenbecher hin, den sie immer im Schrank hatte. In der Untertasse war sowieso schon Kaffee gewesen, deshalb hatte er sich nichts dabei gedacht. Der Aschenbecher war sauber, geradezu vorwurfsvoll fleckenlos, und er streifte die Asche mit schlechtem Gewissen hinein. Sie konnte die Zeit abwarten, und sie konnte einen ständig in kleine Fallen tappen lassen, bis einem die Knöchel bluteten und man anfing zu brabbeln. »Du bist also zurückgekommen«, sagte Alice, nahm ein gebrauchtes Akopads aus einem gespülten Joghurtbecher und fing an, die Bratpfanne zu bearbeiten. »Warum?« Nun, Ma, ich habe da einen Freund , der mir beigebracht hat, wie das Leben läuft - Arschlöcher laufen in Rudeln herum, und diesmal waren sie hinter mir her. Musikalisch respektiert er mich ungefähr so wie ich die 1910 Fruitgum Company. Aber er hat dafür gesorgt, dass ich die Wanderschuhe angezogen habe, und hat nicht Robert Frost gesagt, daß das Zuhause der Ort ist, wo sie einen nicht abweisen können? Laut sagte er: »Ich glaube, ich habe dich vermißt, Mom.« Sie schnaufte verächtlich. »Hast du mir deshalb so oft geschrieben?« »Ich bin kein großer Briefeschreiber.« Er bewegte seine Zigarette langsam auf und ab. An der Spitze bildeten sich Rauchringe und schwebten davon. »Das kannst du laut sagen.« »Ich bin kein großer Briefeschreiber!« sagte er laut und lächelte. »Aber du bist immer noch frech zu deiner Mutter. Das hat sich nicht geändert. « »Tut mir leid«, sagte er. »Wie ist es dir ergangen, Mom?« Sie stellte die Bratpfanne aufs Abtropfgitter, zog den Stöpsel und wischte sich den Seifenschaum von den geröteten Händen. »Nicht so schlecht«, sagte sie und setzte sich wieder an den Tisch. »Meine Rückenschmerzen machen mir zu schaffen, aber ich habe Tabletten. Es geht so.« . »Du hast ihn dir nicht wieder verrenkt, seit ich weg bin?« »Doch, einmal. Aber das hat Dr. Holm wieder hingekriegt.« »Mom, diese Chiropraktiker sind...« Betrüger. Er biß sich auf die Zunge. »Sind was?« Er zuckte unbehaglich die Achseln, als er ihr schiefes Lächeln sah. »Du bist frei, weiß und einundzwanzig. Wenn er dir hilft, um so besser.« Sie seufzte und nahm eine Rolle wintergrüne Life Saver aus der Tasche. »Ich bin viel älter als einundzwanzig. Und ich spüre es. Möchtest du einen?« Er schüttelte den Kopf, als sie ihm den Life Saver anbot, und sie steckte sich selbst einen in den Mund. »Du bist noch ein flottes Mädchen«, sagte er mit einem Anflug der scherzhaften Schmeicheleien von früher. Die hatten ihr immer gefallen, aber jetzt brachten sie nur den Schatten eines Lächelns auf ihre Lippen. »Gibt es neue Männer in deinem Leben?« »Mehrere«, sagte sie. »Und bei dir?« »Nein«, sagte er ernst. »Keine neuen Männer. Ein paar Mädchen, aber keine neuen Männer.« Er hatte gehofft, daß sie lachen würde, bekam aber wieder nur den Schatten eines Lächelns. Ich beunruhige sie, dachte er. Das ist es. Sie weiß nicht, was ich hier will. Sie hat nicht drei Jahre lang darauf gewartet, dass ich wiederkomme. Sie wollte, daß ich wegbleibe. »Immer noch der alte Larry«, sagte sie. »Nie ernst. Bist du verlobt? Hast du eine feste Freundin?« »Ich grase auf vielen Weiden, Mom.« »Wie immer. Jedenfalls bist du nie nach Hause gekommen und hast mir erzählt, daß du ein nettes katholisches Mädchen entehrt hast. Das muß ich dir lassen. Du warst entweder sehr vorsichtig, oder du hast Glück gehabt.« Er versuchte, sein Pokerface beizubehalten. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß sie mit ihm über Sex sprach, direkt oder indirekt. »Du wirst es noch lernen«, sagte Alice. »Es heißt, Junggesellen hätten mehr Spaß. Stimmt nicht. Man wird nur alt, verknöchert und unangenehm, wie Mr. Freeman. Er hat unten die Souterrainwohnung, und da steht er den ganzen Tag am Fenster und hofft auf eine starke Brise.« Larry grunzte. »Ich habe deinen Song im Radio gehört. Ich sage den Leuten, das ist mein Sohn. Das ist Larry. Die meisten glauben es nicht.« »Du hast ihn gehört?« Er wunderte sich, warum sie das nicht gleich erwähnt hatte, anstatt ihm mit diesen Moralpredigten zu kommen. »Klar, er läuft dauernd im Rock-'n'-Roll-Sender, den die jungen Mädchen hören. WABC.« »Gefällt er dir?« »Nicht mehr oder weniger wie diese Musik überhaupt.« Sie sah ihn streng an. »Ich finde, es ist voller Andeutungen. Schlüpfrig.« Er merkte, daß er mit den Füßen schlurfte, und zwang sich, damit aufzuhören. »Es soll nur... leidenschaftlich klingen, Mom. Weiter nichts.« Blut schoß ihm ins Gesicht. Er hatte nie gedacht, daß er in der Küche seiner Mutter sitzen und mit ihr über Leidenschaft reden würde. »Der Ort für Leidenschaft ist das Schlafzimmer«, sagte sie knapp und beendete damit jede Diskussion über die ästhetischen Aspekte seiner Schallplatte. »Außerdem hast du etwas mit deiner Stimme gemacht. Du hörst dich an wie ein Nigger.« »Jetzt?« fragte er amüsiert. "»Nein, im Radio.« »The brown sound is goin' around«, sagte Larry mit einer tiefen BillWithers-Stimme und lächelte. »Genau so«, nickte sie. »Als ich ein Mädchen war, hielten wir Frank Sinatra für gewagt. Heute haben sie diese Disco-Musik. Disco nennen sie es. Ich nenne es Kreischen.« Sie sah ihn verdrossen an. »Wenigstens wird auf deiner Platte nicht gekreischt.« »Ich bekomme Tantiemen«, sagte er. »Einen gewissen Prozentsatz für jede verkaufte Platte. Es beläuft sich auf...« »Ach, hör auf«, sagte sie und brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Ich hab' beim Rechnen immer abgeschrieben. Hat man dich schon bezahlt, oder hast du das kleine Auto auf Kredit gekauft?« »Sie haben mir noch nicht viel gezahlt«, sagte er und schlitterte an den Rand einer Lüge, aber nicht darüber hinaus. »Ich habe das Auto anbezahlt. Den Rest finanziere ich.« »Günstiger Kredit«, sagte sie giftig. »So ist dein Vater pleite gegangen. Der Arzt hat gesagt Herzanfall, aber das war es nicht. Er ist angebrochenem Herzen gestorben. Ein günstiger Kredit hat deinen Vater ins Grab gebracht.« Es war das alte Lied, und Larry ließ es einfach über sich ergehen und nickte an den richtigen Stellen. Sein Vater hatte ein Kurzwarengeschäft gehabt. Nicht weit entfernt hatte dann ein Robert-Hall-Discountladen eröffnet, und ein Jahr später war sein Vater bankrott gewesen. Er hatte den Kummer in sich reingefressen, im wahrsten Sinne des Wortes, und in drei Jahren hundertzehn Pfund zugenommen. Als Larry neun war, war sein Vater in der Imbißstube an der Ecke vor einem Teller mit einem halb aufgegessenen Hackfleischsandwich tot umgefallen. Bei der Totenwache, wo ihre Schwester versuchte, eine Frau zu trösten, die ganz und gar nicht aussah, als würde sie Trost brauchen, hatte Alice Underwood gesagt, es hätte schlimmer sein können. Er hätte, sagte sie und sah ihrer Schwester über die Schultern und ihren Schwager direkt an, am Suff sterben können. Alice zog Larry fortan alleine groß und beherrschte sein Leben mit ihren Sprichwörtern und Vorurteilen, bis er aus dem Haus ging. Als er mit Rudy Schwartz in Rudys altem Ford wegfuhr, waren ihre Abschiedsworte gewesen, daß es auch in Kalifornien Armenhäuser gebe. Ja, Leute, das ist meine Mama. »Willst du hierbleiben, Larry?« fragte sie leise. Er antwortete verblüfft: »Würde es dir was ausmachen?« »Hier ist Platz genug. Das Rollbett steht immer noch im Hinterzimmer. Ich habe Sachen dort verstaut, aber du könntest die Kartons ja wegräumen.« »In Ordnung«, sagte er langsam. »Wenn es dir wirklich nichts ausmacht. Nur ein paar Wochen. Ich dachte, ich besuche alte Freunde. Mark... Galen... David... Chris... diese Typen.« Sie stand auf, ging zum Fenster und schob es hoch. »Du kannst bleiben, solange du willst, Larry. Ich kann mich vielleicht nicht so gut ausdrücken, aber ich freue mich, dich zu sehen. Wir haben uns nicht sehr freundlich verabschiedet. Es sind böse Worte gefallen.« Sie zeigte ihm das noch verschlossene, aber zugleich auch von schrecklicher, widerwilliger Liebe erfüllte Gesicht. »Ich bedaure diese Worte. Ich habe sie nur ausgesprochen, weil ich dich liebe. Ich wußte nie, wie ich es dir gegenüber ausdrücken sollte, deshalb habe ich es auf andere Weise gesagt.« »Schon gut«, sagte er und sah auf den Tisch. Das Blut schoß ihm wieder ins Gesicht. Er spürte es. »Hör mal, ich zahle natürlich Kostgeld.« »Wenn du willst. Wenn nicht, mußt du es nicht. Ich arbeite. Tausende arbeiten nicht. Du bist immer noch mein Sohn.« Er dachte an die steife tote Katze, die halb in der Mülltonne lag, und an Dewey Deck, der lächelnd den Gästen Nachschub besorgte, und plötzlich brach er in Tränen aus. Als er seine Hände nur noch verschwommen sah, dachte er, daß das eigentlich ihre Rolle sein sollte - nichts war so gelaufen, wie er gedacht hatte, nichts. Sie hatte sich doch verändert. Er auch, aber nicht so, wie er gedacht hatte. Eine unnatürliche Umkehrung hatte stattgefunden; sie war gewachsen, und er war irgendwie kleiner geworden. Er war nicht zu ihr nach Hause gekommen, weil er irgendwohin gehen mußte. Er war gekommen, weil er Angst hatte und seine Mutter brauchte. Sie stand am offenen Fenster und sah ihn an. Die weißen Vorhänge wurden von der feuchten Brise hereingeweht und verschleierten ihr Gesicht, verdeckten es nicht ganz, verliehen ihm aber ein geisterhaftes Aussehen. Verkehrslärm drang zum Fenster herein. Sie nahm das Taschentuch aus dem Ausschnitt des Kleides, kam zum Tisch und gab es ihm in eine ausgestreckte Hand. Larry hatte etwas Hartes an sich. Sie hätte ihn taxieren können, aber wozu? Sein Vater war ein Weichling gewesen, sie wußte im Grunde ihres Herzens, daß ihn eigentlich das ins Grab gebracht hatte; Max Underwood hatte pleite gemacht, weil er Kredit gegeben, nicht weil er ihn genommen hatte. Was nun diese Harte betraf, wem mußte Larry danken? Oder die Schuld geben? Seine Tränen konnten diese Felsformation seines Charakters ebensowenig ändern wie ein kurzer Sommerregen das Aussehen von Felsen verändern kann. Man konnte diese Härte einem guten Zweck zuführen - das wußte sie, hatte es als Mutter erfahren, die ihren Jungen allein in einer Stadt großzog, die nichts auf Mütter gab, und noch weniger auf ihre Kinder -, aber Larry hatte noch keinen gefunden. Er war genau das, was sie gesagt hatte: der alte Larry. Er würde in den Tag hineinleben, nicht nachdenken, würde Leute - sich eingeschlossen - in verzwickte Lagen bringen, und wenn es zu schlimm würde, würde er auf seine Härte zurückgreifen und sich aus dem Schlamassel befreien. Und die anderen? Die würde er zurücklassen, damit sie selbst schwimmen oder untergehen konnten. Fels war hart, und diese Härte prägte seinen Charakter, aber er setzte sie immer noch destruktiv ein. Sie sah es seinem Gesicht an und seiner Haltung, sogar der Art, wie er mit dem Sargnagel wippte und kleine Rauchkringel in die Luft steigen ließ. Er hatte diese Härte in sich noch nicht bearbeitet und geschliffen, so daß er Menschen damit weh tun konnte, und das war immerhin etwas, aber wenn er sie brauchte, berief er sich trotzdem darauf, so wie ein Kind - er benützte sie als Keule, um sich den Weg aus Fallen freizuschlagen, die er sich selbst gestellt hatte. Früher hatte sie sich gesagt, Larry würde sich ändern. Sie hatte; er würde. Aber vor ihr saß kein kleiner Junge, sondern ein erwachsener Mann, und sie hegte die Befürchtung, eines Tages könnte seine Chance, sich zu verändern - eine grundlegende, fundamentale Veränderung, die ihr Pfarrer eine Veränderung der Seele, nicht des Herzens, zu nennen pflegte -, vertan sein. Larry hatte etwas in sich, das einen mit bitteren Schauern erfüllte, als würde man Kreide auf einer Tafel kreischen hören. Tief in seinem Inneren war nur Larry und sah heraus. Er duldete nur sich selbst in seinem Herzen. Aber sie hatte ihn trotzdem lieb. Es war auch Gutes in Larry, viel Gutes, das wußte sie. Es war da, aber in diesen späten Stunden würde bestenfalls eine Katastrophe das Gute zum Vorschein bringen. Hier war keine Katastrophe; nur ihr weinender Sohn. »Du bist müde«, sagte sie. »Hier, wasch dich. Ich schaffe die Kartons weg, dann kannst du schlafen. Wahrscheinlich gehe ich doch noch zur Arbeit.« Sie ging durch den kurzen Flur ins Hinterzimmer, Larrys früheres Schlafzimmer, und Larry hörte sie ächzen und Kartons umräumen. Er wischte sich langsam die Augen. Verkehrslärm drang zum Fenster herein. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt vor seiner Mutter geweint hatte. Er dachte an die tote Katze. Seine Mutter hatte recht. Er war müde. Müde wie noch nie. Er ging ins Bett und schlief fast achtzehn Stunden lang. 6 Am späten Nachmittag ging Frannie nach draußen, wo ihr Vater geduldig Erbsen und Bohnen jätete. Sie war ein Nachk ömmling, und er war schon über sechzig; unter der Baseballkappe, die er immer trug, lugten weiße Haare hervor. Ihre Mutter war in Portland, wo sie weiße Handschuhe kaufen wollte. Amy Lauder, Frans beste Jugendfreundin, wollte Anfang nächsten Monats heiraten. Sie betrachtete einen friedlichen Augenblick lang den Rücken ihres Vaters und hatte ihn einfach nur gern. Um diese Tageszeit hatte das Licht eine besondere Beschaffenheit, die sie liebte, etwas Zeitloses, das nur die flüchtigste Zeit in Maine auszeichnete, den Frühsommer. Wenn sie im Januar an dieses ganz besondere Licht dachte, wurde sie wehmütig. Im Licht eines Nachmittags im Frühsommer, der sich dem Abend zuneigte, lagen so viele schöne Dinge verborgen: Baseball der Junioren, wo Fred immer mitgespielt hatte; Wassermelonen; der erste Mais; Eistee in gekühlten Gläsern; Kindheit. Frannie räusperte sich dezent. »Soll ich dir helfen?« Er drehte sich um und grinste. »Hallo, Fran, hast mich wieder beim Wühlen erwischt, was?« »Sieht so aus.« »Ist deine Mutter schon wieder da?« Er runzelte leicht die Stirn, aber dann hellte sich seine Miene wieder auf. »Nein, richtig, sie ist ja eben erst weggefahren, nicht? Ja, hilf mir ruhig ein bißchen. Vergiß nur nicht, dich anschließend zu waschen.« » Eine Dame erkennt man an ihren Händen «, spöttelte Fran und schnaubte. Peter versuchte einen mißbilligenden Blick, aber er gelang ihm nicht. Sie nahm sich die Reihe neben ihm vor und fing an zu jäten. Sperlinge zwitscherten, und von der kaum einen Block entfernten US i klang konstanter Verkehrslärm herüber. Noch nicht so laut wie im Juli, wenn zwischen hier und Kittery fast jeden Tag ein tödlicher Unfall passierte, aber laut genug. Peter erzählte ihr von seinem Tag, und sie antwortete mit den richtigen Fragen und nickte an den richtigen Stellen. Da er so sehr in seine Arbeit vertieft war, konnte er ihr Nicken nicht sehen, aber er sah aus dem Augenwinkel ihren Schatten nicken. Er war Maschinist in einer großen Fabrik in Sanford, die Autoteile herstellte, die größte Automobilfirma nördlich von Boston. Er war vierundsechzig und kurz vor seinem letzten Jahr vor der Pensionierung. Ein kurzes Jahr, weil er noch vier Wochen alten Urlaub gespart hatte, den er im September nehmen wollte, wenn die »Itzigs« nach Hause gefahren waren. Er mußte ständig an die Pensionierung denken. Er sagte ihr, daß er sich bemühte, den Ruhestand nicht als endlose Ferien zu betrachten; er hatte mittlerweile genügend Freunde im Ruhestand, die ihm sagten, daß es ganz und gar nicht so war. Er glaubte nicht, daß er sich langweilen würde wie Harlan Enders oder so beschämend arm sein würde wie die Carons - der gute Paul hatte in seinem ganzen Leben kaum einen Tag krankgefeiert, und trotzdem waren er und seine Frau gezwungen gewesen, ihr Haus zu verkaufen und zu Tochter und Schwiegersohn zu ziehen. Peter Goldsmith hatte sich nicht mit der Sozialversicherung begnügt; er hatte ihr schon früher nicht getraut, bevor das System unter Rezession, Inflation und ständig steigenden Arbeitslosenzahlen ins Wanken gekommen war. In den dreißiger und vierziger Jahren hatte es in Maine nicht viele Demokraten gegeben, erzählte er seiner lauschenden Tochter, aber ihr Großvater war einer gewesen, und ihr Großvater hatte, bei Gott, auch einen aus ihrem Vater gemacht. In den glorreichen Zeiten von Ogunquit waren die Goldsmiths deshalb gewissermaßen Parias gewesen. Aber sein Vater hatte ein Sprichwort gehabt, das so felsenfest war wie die Philosophie des störrischsten Republikaners in Maine: Verlaß dich nicht auf die Fürsten dieser Welt, denn sie hauen dich in die Pfanne, wie auch ihre Regierungen, bis ans Ende aller Tage. Frannie gefiel es, wenn ihr Vater so erzählte. Er erzählte nicht oft so, denn die Frau, die seine Ehefrau und Frannies Mutter war, hatte seine Zunge mit dem Gift, das die ihre versprühte, fast zum Schweigen gebracht. Man mußte auf sich selbst vertrauen, fuhr er fort, und die Fürsten dieser Welt, so gut sie konnten, mit den Leuten zurechtkommen lassen, die sie gewählt hatten. Meistens ging das nicht besonders gut, aber das machte nichts; sie verdienten einander. »Bargeld ist die Lösung«, erzählte er Frannie. »Will Rogers sagt, Land ist die Lösung, weil das das einzige ist, wovon sie nicht mehr machen, aber das gilt auch für Gold und Silber. Ein Mann, der Geld liebt, ist ein Drecksack, den man hassen muß. Ein Mann, der nicht damit umgehen kann, ist ein Narr. Man haßt ihn nicht, aber man bemitleidet ihn.« Fran fragte sich, ob er an den armen Paul Caron dachte, mit dem er schon vor ihrer Geburt befreundet gewesen war, beschloß aber, nicht zu fragen. Jedenfalls mußte er ihr nicht sagen, daß er in den guten Jahren genügend auf die Seite gelegt hatte, daß sie zurechtkamen. Er sagte ihr aber, daß Fran ihnen nie eine Last gewesen war, weder in guten noch in schlechten Zeiten, und er erzählte seinen Freunden stolz, daß er ihr die Schulausbildung finanziert hatte. Wo sein Geld und ihr Grips nicht gereicht hatten, hatte sie es auf die altmodische Weise gemacht: indem sie den Rücken gekrümmt und die Möpse geschüttelt hatte. Man mußte arbeiten, hart arbeiten, wenn man das beschissene Landleben hinter sich lassen wollte. Ihre Mutter hatte das nicht immer verstanden. Veränderungen waren für die Frauen gekommen, ob sie den Frauen nun gefielen oder nicht, und Carla konnte kaum begreifen, daß Fran nicht nur deshalb zur Uni ging, um nach einem Ehemann zu suchen. »Und jetzt muß sie erleben, daß Amy Lauder heiratet«, sagte Peter, »und sie denkt: >Das müßte meine Fran sein. Amy ist hübsch, aber wenn man meine Fran daneben stellt, sieht Amy wie eine alte gesprungene Schüssel aus.< Deine Mutter hat sich ihr ganzes Leben lang an alte Vorstellungen geklammert, und die kann sie nicht mehr überwinden. Das ist der Grund, warum ihr beiden von Zeit zu Zeit aneinandergeratet, daß die Fetzen fliegen. Keinen trifft Schuld. Du mußt nur eines bedenken, Fran; sie ist zu alt, sich noch zu ändern, und du wirst allmählich alt genug, das einzusehen.« Danach plapperte er wieder von seiner Arbeit, erzählte ihr, wie ein Kollege fast den Daumen in einer kleinen Stanzmaschine verloren hatte, weil er mit den Gedanken in der Spielhalle war, während er den Daumen unter der Stanze hatte. Zum Glück hatte Lester Crowley ihn noch rechtzeitig weggezogen. Aber, fügte er hinzu, eines Tages würde Lester Crowley nicht mehr da sein. Er seufzte, als wäre ihm eingefallen, daß er bald auch nicht mehr da sein würde, und dann strahlte er und erzählte ihr von einem Einfall, wie man die Autoantenne im Chrom der Motorhaube verstecken könnte. Seine Stimme wechselte von Thema zu Thema, sanft und beruhigend. Ihre Schatten wurden immer länger und gingen ihnen die Reihen entlang voraus. Sie ließ sich einlullen, wie immer. Sie war hergekommen, um etwas zu erzählen, aber wie seit frühester Kindheit hörte sie doch wieder nur zu. Nicht, daß er sie langweilte. Soweit sie wußte, langweilte er niemanden, außer vielleicht ihre Mutter. Er war der geborene Geschichtenerzähler. Sie merkte, daß er aufgehört hatte zu reden. Er saß auf einem Stein am Ende seiner Reihe, stopfte die Pfeife und sah sie an. »Was hast du denn auf dem Herzen, Frannie?« fragte er. Sie sah ihn einen Augenblick benommen an und wußte nicht, wie sie anfangen sollte. Sie war hergekommen, um es ihm zu erzählen, und jetzt war sie nicht sicher, ob sie es fertigbringen würde. Das Schweigen zwischen ihnen wurde immer größer, zuletzt war es ein Abgrund, den sie nicht ertragen konnte. Sie sprang. »Ich bin schwanger«, sagte sie einfach. Er hörte auf, sich die Pfeife zu stopfen, und sah sie nur an. »Schwanger«, sagte er, als hätte er das Wort noch nie gehört. Dann sagte er: »O Frannie... ist das ein Witz? Oder ein Spiel?« »Nein, Daddy.« »Komm her und setz dich zu mir.« Gehorsam ging sie die Reihe entlang und setzte sich neben ihn. Eine Steinmauer trennte ihr Grundstück vom Gemeindeland nebenan. Hinter der Mauer war eine dichte, duftende Hecke, die auf höchst anmutige Art verwildert war. Fran hatte Kopfschmerzen und ein mulmiges Gefühl im Magen. »Wirklich?« fragte er sie. »Wirklich«, sagte sie, und dann fing sie an zu weinen - nicht gekünstelt, sie konnte einfach nicht anders -, ein gewaltiges, schüttelndes Schluchzen. Er legte einen Arm um sie und hielt sie scheinbar sehr lange fest. Als die Tränen allmählich versiegten, stellte sie die Frage, die sie am meisten gequält hatte. »Daddy, magst du mich jetzt noch?« »Was?« Er sah sie erstaunt an. »Ja. Ich mag dich sogar noch sehr, Frannie.« Das brachte sie wieder zum Weinen, aber diesmal ließ er sie allein damit fertig werden, während er seine Pfeife anzündete. Borkum Riff verwehte langsam in der leichten Brise. »Bist du enttäuscht?« fragte sie. »Ich weiß nicht. Ich hatte noch nie eine schwangere Tochter und weiß nicht, wie ich es aufnehmen soll. War es dieser Jess?« Sie nickte. »Hast du es ihm gesagt?« Sie nickte wieder. »Was hat er gesagt?« »Er hat gesagt, er würde mich heiraten. Oder die Abtreibung bezahlen.« »Heirat oder Abtreibung«, sagte Peter Goldsmith und sog an der Pfeife. »Der Junge fährt richtig zweigleisig.« Sie blickte auf ihre Hände, die sie gespreizt auf die Jeans gelegt hatte. In den kleinen Falten an den Knöcheln und unter den Fingernägeln war Erde. Eine Dame erkennt man an ihren Händen, sagte ihre Mutter im Geiste. Eine schwangere Tochter. Ich werde aus der Kirche austreten müssen. Eine Dame erkennt man... Ihr Vater sagte: »Ich will nicht persönlicher werden als unbedingt nötig, aber war er... oder warst du... nicht vorsichtig?« »Ich habe die Pille genommen«, sagte sie. »Hat aber nicht funktioniert.« »Dann kann ich keine Schuld zuweisen, höchstens beiden«, sagte er und blickte sie eingehend an. »Und das kann ich schon gar nicht. Mit vierundsechzig vergißt man leicht, wie es mit einundzwanzig war. Von Schuld wollen wir nicht reden.« Sie fühlte sich so erleichtert, daß ihr fast schwindlig wurde. »Deine Mutter wird eine Menge über Schuld zu sagen haben«, sagte er, »und ich werde sie nicht daran hindern, aber ich stehe nicht auf ihrer Seite. Hast du das verstanden?« Sie nickte. Ihr Vater versuchte nicht mehr, ihrer Mutter zu widersprechen. Jedenfalls nicht laut, wegen ihrer Zunge, die Gift versprühte. Widersprach man ihr, verlor sie manchmal die Beherrschung, hatte er einmal gesagt. Und wenn sie die Beherrschung verlor, wurde sie manchmal beleidigend und dachte so spät an Reue, daß es dem Beleidigten nichts mehr nützte. Es kam Frannie so vor, als hätte es für ihren Vater vor vielen Jahren zwei Möglichkeiten gegeben: fortgesetzte Opposition, die mit Scheidung geendet hätte, oder Kapitulation. Er hatte sich für letzteres entschieden - aber zu seinen Bedingungen. Sie fragte leise: »Bist du sicher, daß du dich da raushalten kannst?« »Soll ich für dich Partei ergreifen?« »Ich weiß nicht.« »Was hast du jetzt vor?« »Wegen Mom?« »Nein. Wegen dir, Frannie.« »Ich weiß nicht.« »Ihn heiraten? Zu zweit lebt es sich so billig wie allein, heißt es jedenfalls.« »Ich glaube, das kann ich nicht. Ich glaube, ich liebe ihn nicht mehr, wenn ich ihn überhaupt je geliebt habe.« »Das Baby?« Seine Pfeife zog jetzt gut, und der Rauch hing süßlich in der Sommerluft. In den Vertiefungen des Gartens wuchsen Schatten, Grillen fingen an zu zirpen. »Nein, das Baby ist nicht der Grund. Es wäre sowieso passiert. Jessie ist...« Sie verstummte und versuchte, sich darüber klarzuwerden, was genau mit Jessie nicht stimmte, was sie bei der Belastung, den der Gedanke an das Baby verursachte, übersehen konnte, bei der Belastung durch den Versuch, aus dem drohenden Schatten ihrer Mutter wegzukommen, die momentan im Kaufhaus war und Handschuhe für die Hochzeit von Frans Jugendfreundin kaufte. Was jetzt begraben werden konnte, aber trotzdem unruhig warten würde - sechs Monate, sechzehn oder sechsundzwanzig -, um dann schließlich doch aus dem Grab aufzuerstehen und ihnen beiden das Leben schwerzumachen. Schnell gefreit hat lang gereut. Ein Lieblingssprichwort ihrer Mutter. »Er ist schwach«, sagte sie. »Besser kann ich es nicht erklären.« »Du bist nicht recht davon überzeugt, daß er der Richtige für dich ist, oder, Frannie?« »Stimmt«, sagte sie und dachte, daß ihr Vater der Wurzel des Übels eben nähergekommen war als sie selbst. Sie traute Jessie nicht, der aus einer reichen Familie kam und blaue Arbeiterhemden trug. »Jessie meint es gut. Er will alles richtig machen; wirklich. Aber... wir waren vor zwei Semestern bei einer Dichterlesung. Ein Mann namens Ted Enslin hat sie gehalten. Der Hörsaal war brechend voll. Alle haben sehr ernst zugehört... so aufmerksam... damit ihnen kein einziges Wort entging. Und ich... du kennst mich ja...« Er legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern und sagte: »Frannie bekam das Kichern.« »Ja. Stimmt. Du kennst mich wirklich gut.« »Ein bißchen«, sagte er. »Es - ich meine, das Kichern - kam wie aus dem Nichts. Ich mußte immerzu denken: >Der struppige Mann, der struppige Mann, wir sind alle hergekommen, um den struppigen Mann zu hören.< Eingängig, wie ein Lied, das man im Radio hört. Und ich bekam das Kichern. Ich wollte es nicht. Es hatte eigentlich gar nichts mit Mr. Enslins Gedichten zu tun, die waren ziemlich gut, und auch nicht mit seinem Aussehen. Nur damit, wie sie ihn angesehen haben.« Sie sah ihren Vater an, wie er es aufnahm. Er nickte einfach, daß sie fortfahren sollte. »Wie auch immer, ich mußte da raus. Ich mußte. Und Jessie war wütend auf mich. Ich bin sicher, er hatte ein Recht, wütend zu sein... es war eine kindische Handlungsweise, eine kindische Denkweise, ganz bestimmt... aber so bin ich nun mal öfters. Nicht immer. Ich kann etwas durchstehen...« »Das stimmt.« »Aber manchmal...« »Manchmal klopft König Lachen bei dir an, und du gehörst zu denen, die ihn nicht abweisen können«, sagte Peter. »So muß es wohl sein. Jedenfalls gehört Jess nicht zu diesen Leuten. Und wenn wir verheiratet wären... würde er heimkommen und diesen ungebetenen Gast vorfinden, den ich eingelassen habe - König Lachen. Nicht jeden Tag, aber oft genug, daß er wütend werden würde. Dann würde ich versuchen, mich zusammenzunehmen und... und...« »Und unglücklich sein«, sagte Peter und drückte sie noch fester an sich. »Wahrscheinlich«, sagte sie. »Dann laß dich von deiner Mutter nicht umstimmen.« Sie schloß die Augen, und diesmal war ihre Erleichterung noch größer. Er hatte es verstanden. Wie durch ein Wunder. »Was hältst du von einer Abtreibung?« fragte sie nach einer Weile. »Ich vermute, daß du eigentlich darüber mit mir reden wolltest.« Sie sah ihn erstaunt an. Er betrachtete sie halb fragend, halb lächelnd, eine buschige Braue - die linke - hochgezogen. Und dennoch war der allgemeine Eindruck, den sie empfand, großer Ernst. »Das stimmt vielleicht«, sagte sie langsam. »Hör zu«, sagte er, verstummte aber paradoxerweise gleich wieder. Aber sie hörte dennoch, und sie hörte Sperlinge, Grillen, das ferne, hohe Brummen eines Flugzeugs, jemand, der Jackie rief, daß er endlich reinkommen sollte, einen Motormäher, ein Auto mit schallgedämpftem Auspuff, das auf der US i beschleunigte. Sie wollte ihn gerade fragen, ob alles in Ordnung war, als er ihre Hand nahm und weitersprach. »Frannie, eigentlich hast du so einen alten Vater nicht verdient, aber ich kann nichts dafür. Ich habe erst 1956 geheiratet.« Er sah sie im Dämmerlicht nachdenklich an. »Damals war Carla anders. Sie war... ach, verflucht, zunächst einmal war sie selbst noch jung. Sie hat sich erst verändert, als dein Bruder Freddy gestorben ist. Bis dahin war sie jung. Nach Freddys Tod hat sie aufgehört zu wachsen. Das... du darfst nicht denken, daß ich gegen deine Mutter rede, Frannie, auch wenn es sich ein wenig so anhören mag. Ich habe jedenfalls den Eindruck, als hätte Carla... aufgehört zu wachsen, als Freddy gestorben war. Sie hat drei Schichten Beton und eine Schicht Schnellbinder auf ihre Ansichten gekleistert und fand es gut. Heute ist sie wie ein Museumswärter, und wenn sie sieht, daß sich jemand an den Ausstellungsstücken zu schaffen macht, kommt sie ihnen jedesmal mit einem >Paßt bloss auf<. Aber sie war nicht immer so. Das mußt du mir glauben, sie war nicht immer so.« »Wie war sie denn, Daddy?« »Nun...« Er ließ gedankenverloren den Blick über den Garten schweifen. »Sie war dir sehr ähnlich, Frannie. Sie bekam das Kichern. Wir sind nach Boston gegangen und haben die Spiele der Red Sox angesehen, und in der siebten Runde ist sie mit mir auf ein Bier zum Imbiß gegangen.« »Mama... hat Bier getrunken?« »O ja. Und sie verbrachte den größten Teil der neunten Runde auf der Damentoilette und hat mich anschließend beschimpft, weil sie meinetwegen den besten Teil des Spiels verpaßt hatte. Dabei war sie immer diejenige, die zum Imbiß und ein Bier trinken wollte.« Frannie versuchte, sich ihre Mutter mit einem Becher NarragansettBier in einer Hand vorzustellen, während sie zu ihrem Mann aufsah wie ein Mädchen bei einer Verabredung. Es gelang Frannie einfach nicht. »Sie wurde einfach nicht schwanger«, sagte er nachdenklich. »Wir gingen zum Arzt, sie und ich, um festzustellen, an wem es lag. Der Arzt sagte, an keinem. 1960 kam dann dein Bruder Fred auf die Welt. Sie hat den Jungen einfach abgöttisch geliebt, Fran. Weißt du, Fred hieß ihr Vater. 1965 hatte sie eine Fehlgeburt, und wir dachten beide, daß es mit Nachwuchs aus und vorbei wäre. Dann bist du gekommen, 1969, einen Monat zu früh, aber gesund und munter. Und ich habe dich abgöttisch geliebt. Wir hatten beide unseren Abgott. Aber sie hat ihren verloren.« Er verstummte und brütete düster. Fred Goldsmith war 1973 gestorben. Er war dreizehn gewesen, Frannie sechs. Der Mann, der Fred angefahren hatte, war betrunken gewesen. Er hatte ein langes Register von Verkehrsdelikten, darunter überhöhte Geschwindigkeit, verkehrsgefährdendes Verhalten, Fahren unter Alkoholeinfluß. Fred hatte noch sieben Tage gelebt. »Ich finde, Abtreibung ist ein zu sauberer Name dafür«, sagte Peter Goldsmith. Seine Lippen formten jedes Wort langsam, als würden sie ihm Schmerzen bereiten. »Ich halte es für Kindesmord, schlicht und einfach. Tut mir leid, daß ich das sage, daß ich so... unflexibel bin, festgefahren, was auch immer ... und noch dazu über etwas, das du jetzt in Erwägung ziehen mußt, und sei es nur, weil dir das Gesetz die Möglichkeit gibt, es in Erwägung zu ziehen. Ich habe dir ja gesagt, ich bin ein alter Mann.« »Du bist nicht alt, Daddy«, murmelte sie. »Bin ich, bin ich!« sagte er rauh. Er sah plötzlich gequält drein. »Ich bin ein alter Mann, der seiner jungen Tochter einen Rat geben will, und es ist, als würde ein Affe einem Bären Tischsitten beibringen wollen. Vor siebzehn Jahren hat ein betrunkener Autofahrer meinen Sohn getötet, und seither ist meine Frau nicht mehr dieselbe. Bei Abtreibung mußte ich immer an Fred denken. Ich kann nicht anders, so wie du nicht anders gekonnt hast, als du bei der Dichterlesung das Kichern bekommen hast, Frannie. Deine Mutter würde sich aus allen sattsam bekannten Gründen dagegen aussprechen. Moral, würde sie sagen. Eine Moral, die zweitausend Jahre alt ist. Das Recht auf Leben. Unsere ganze westliche Moral basiert auf diesem Gedanken. Ich habe die Philosophen gelesen. Ich habe sie abgeklappert wie eine Hausfrau mit einem Dividendenscheck einen Laden von Sears and Roebuck. Deine Mutter hält sich an den Reader's Digest, aber es endet immer damit, daß ich vom Gefühl her argumentiere und sie von der Moral. Ich sehe immer Fred. Er hatte schwere innere Verletzungen. Er hatte keine Chance. Die Abtreibungsgegner halten ihre Bilder von in Salz ertränkten Babies hoch, von Armen und Beinen, die auf einen Stahltisch ausgeschabt worden sind. Na und? Der Tod ist niemals schön. Ich sehe nur Fred, der sieben Tage in seinem Bett lag, alles kaputt und verbunden. Das Leben ist billig und Abtreibung macht es noch billiger. Ich lese mehr als deine Mutter, aber letztendlich ist sie diesbezüglich die Vernünftigere. Was wir tun, was wir denken... das beruht so oft auf willkürlichen Entscheidungen, auch wenn es richtig ist. Darüber komme ich nicht hinweg. Es ist wie ein Kloß in meinem Hals, dass jede wahre Logik aus dem Irrationalen zu kommen scheint. Aus dem Glauben. Ich rede dummes Zeug, was?« »Ich will keine Abtreibung«, sagte sie. »Ich habe meine Gründe.« »Und die wären?« »Das Baby ist ein Teil von mir«, sagte sie und hob leicht das Kinn. »Wirst du es weggeben, Frannie?« »Ich weiß nicht.« »Möchtest du es?« »Nein. Ich will es behalten.« Er schwieg. Sie glaubte, seine Mißbilligung zu spüren. »Du denkst ans Studium, nicht wahr?« fragte sie. »Nein«, sagte er und stand auf. Er stemmte die Hände gegen den Rücken und grinste zufrieden, als die Gelenke knackten. »Ich denke, wir haben genug geredet. Und daß diese Entscheidung noch ein wenig Zeit hat.« »Mom ist wieder da«, sagte sie. Er folgte ihrem Blick und sah den Kombi in die Einfahrt einbiegen, wo das Chrom im letzten Licht des Tages glänzte. Carla sah sie, hupte und winkte fröhlich. »Ich muß es ihr sagen«, meinte Frannie. »Ja. Aber warte ein oder zwei Tage, Frannie.« »Gut.« Sie half ihm die Gartenwerkzeuge aufsammeln, dann gingen sie gemeinsam zum Kombi. 7 Im düsteren Licht, das sich nach Sonnenuntergang, aber noch vor der wahren Dunkelheit über das Land senkt, in einer von den wenigen Minuten, die Filmemacher die »magische Stunde« nennen, erwachte Vic Palfrey aus einem grünen Delirium zu kurzer geistiger Klarheit. Ich sterbe, dachte er, und die Worte hallten seltsam durch seinen Verstand, was ihn in dem Glauben wiegte, er hätte sie laut ausgesprochen, obwohl es nicht so war. Er sah sich um und erblickte ein Krankenhausbett, das hochgekurbelt war, damit seine Lunge nicht in Flüssigkeit ertrank. Er war mit Wäscheklammern aus Metall gesichert, die Seitenteile des Betts waren hochgezogen. Muß um mich geschlagen haben, dachte er leicht amüsiert. Hab' gestrampelt. Und verspätet: Wo bin ich? Er hatte einen Latz um den Hals, und dieser Latz war von Schleimklumpen verkrustet. Er hatte Kopfschmerzen. Seltsame Gedanken tanzten in seinem Kopf und wieder hinaus, und er wußte, er war im Delirium gewesen... und würde es bald wieder sein. Er war krank, und dies war nicht die Genesung, nicht einmal der Anfang davon, sondern lediglich eine kurze Atempause. Er drückte die Innenseite des Handgelenks auf die Stirn und zog sie wieder weg, so wie man die Hand von einem heißen Herd wegzieht. Am Verbrennen und voller Schläuche. Zwei kleine durchsichtige aus Plastik kamen ihm aus der Nase. Ein weiterer kam unter dem Laken hervor und führte zu einer Flasche auf dem Boden, und er wußte, womit dessen anderes Ende verbunden war. Zwei Flaschen hingen an einem Gestell neben dem Bett, aus jeder kam ein Schlauch heraus, die sich zu einem Y vereinten, das dicht unter dem Ellbogen in seinen Arm hineinführte. Eine Infusion. Das sollte eigentlich genügen, dachte er. Aber er hatte auch noch Kabel am Leib. Auf der Kopfhaut. Der Brust. Am linken Arm. Eines schien in seinen gottverdammten Nabel gekleistert zu sein. Und um allem die Krone aufzusetzen, war er ziemlich sicher, daß er auch etwas im Arsch stecken hatte. Was in Gottes Namen konnte das sein? Ein Scheiße-Radar? »He!« Er hatte einen hallenden, entrüsteten Schrei ausstoßen wollen. Statt dessen kam das bescheidene Flüstern eines todkranken Mannes heraus. Und mit dem Flüstern kam Schleim geflogen, an dem er zu ersticken schien. Mama, hat George das Pferd reingebracht? Das war die Sprache des Deliriums. Ein irrationaler Gedanke, der wie ein Meteor kühn über das Firmament vernünftigeren Überlegens schoß. Dennoch hielt er ihn einen Augenblick lang beinahe zum Narren. Er würde nicht lange bei klarem Verstand bleiben. Dieser Gedanke wiederum erfüllte ihn mit Panik. Er betrachtete seine knochigen Arme und schätzte, daß er an die dreißig Pfund verloren haben mußte, und er hatte schon vorher nicht eben viel gewogen. Dieses... was immer es war... brachte ihn um. Die Vorstellung, er könnte Unsinn und Unflat brabbeln wie ein seniler alter Mann, entsetzte ihn. Georgie ist mit Norma Willis ausgegangen. Du mußt das Pferd ganz alleine reinbringen und ihm den Futterbeutel umhängen, sei ein braver Junge. Ist nicht meine Aufgabe. Victor, du hast deine Mama doch lieb, also los. Schon. Aber es ist nicht... Du mußt jetzt lieb zu deiner Mama sein. Mama hat Grippe. Nein, hast du nicht, Mama. Du hast TB. Und die TB wird dich umbringen. Neunzehnhundertsiebenundvierzig. Und George wird sechs Tage nach seiner Ankunft in Korea sterben, gerade Zeit für einen einzigen Brief, und dann peng peng. George ist... Vic, du hilfst mir jetzt und bringst das Pferd rein, und das ist mein letztes Wort. »Ich habe die Grippe, nicht sie«, flüsterte er, als er wieder an die Oberfläche kam. »Ich.« Er sah die Tür an und dachte, daß es selbst für ein Krankenhaus eine verdammt komische Tür war. Abgerundet, die Fugen abgedichtet, das untere Ende mehr als zehn Zentimeter vom Kachelboden entfernt. Sogar ein Stümper von einem Zimmermann wie Vic Palfrey konnte (gib mir die Comics Vic du hast sie lange genug gehabt)  (Mama, er hat mir die Sonntagsbeilage weggenommen! Gib sie her! Gib sie heeeeeeer!)  eine bessere bauen. Sie war aus (Stahl) Dieser Gedanke fuhr ihm wie ein Nagel tief ins Gehirn, und Vic rappelte sich hoch, damit er die Tür besser sehen konnte. Ja, es stimmte. Es stimmte eindeutig. Eine Stahltür. Warum war er im Krankenhaus hinter einer Stahltür? Was war passiert? Lag er wirklich im Sterben? Sollte er sich besser Gedanken machen, wie er vor seinen Schöpfer treten wolle? Herrgott, was war nur passiert? Er bemühte sich verzweifelt, den grauen Nebelvorhang zu durchdringen, aber es kamen nur Stimmen durch, ferne Stimmen, denen er keine Namen zuordnen konnte. Ich will euch mal was sagen... sie müssen einfach sagen, scheiß auf die Inflation... Schalt lieber deine Zapfsäulen ab, Hap. (Hap? Bill Hapscomb? Wer war das? Ich kenne diesen Namen) Schockschwerenot... Ja, sie sind tot. Gib mir die Hand, ich zieh' dich da unten raus... Gib mir die Comics Vic du hast sie... In diesem Augenblick sank die Sonne so weit unter den Horizont, daß ein lichtaktivierter (oder in diesem Fall, ein durch Fehlen von Licht aktivierter) Schalter einrastete. In Vics Zimmer gingen die Lichter an. Als es im Zimmer hell wurde, sah er die Reihe Gesichter, die ihn ernst hinter zwei Schichten Glas betrachteten, und er schrie, weil er zuerst dachte, sie hätten die Unterhaltung in seinem Kopf geführt. Eine der Gestalten, ein wie ein Arzt weißgekleideter Mann, gestikulierte hektisch mit jemandem außerhalb von Vics Gesichtsfeld, aber Vic hatte die Angst bereits überwunden. Er war zu schwach, um lange Angst zu haben. Doch die plötzliche Furcht, die mit dem aufflammenden Eicht und der Vision gaffender Gesichter gekommen war (die im Krankenhausweiß wie Geister-Geschworene wirkten), hatte einen Teil der Sperre in seinem Denken eingerissen, und er wußte jetzt, wo er war. Atlanta. Atlanta, Georgia. Sie waren gekommen und hatten ihn geholt - ihn und Hap und Norm und Norms Frau und Kinder. Sie hatten Hank Carmichael geholt. Stu Redman. Gott allein wußte, wie viele andere. Vic war ängstlich und erbost gewesen. Klar, er hatte Schnupfen und Niesen, aber auf gar keinen Fall Cholera oder was immer Campion, der arme Teufel, und seine Familie gehabt hatten. Leichtes Fieber hatte er auch gehabt, und jetzt fiel ihm wieder ein, daß Norm Bruett gestolpert war und die Stufen zum Flugzeug nur mit fremder Hilfe hinauf konnte. Seine Frau hatte Angst gehabt und geweint, und der kleine Billy Bruett hatte auch geweint - geweint und gehustet. Ein rauhes, sämiges Husten. Das Flugzeug hatte auf der kleinen Startbahn außerhalb von Braintree gewartet, aber um die Stadtgrenze von Arnette verlassen zu können, mußten sie durch eine Straßensperre an der US 93, wo Männer Stacheldraht gezogen hatten... Stacheldraht in die verfluchte Wüste hinaus... Über der seltsamen Tür ging ein rotes Eicht an. Ein Zischen, dann Geräusche wie von einer laufenden Pumpe. Als diese Geräusche verstummten, ging die Tür auf. Der Mann, der hereinkam, trug einen klobigen weißen Druckanzug mit transparenter Gesichtsplatte. Hinter dieser Gesichtsplatte nickte der Kopf des Mannes wie ein Ballon in einer Kapsel. Er hatte Druckflaschen auf dem Rücken, und seine Stimme klang metallisch und alles andere als menschlich. Es hätte eine Stimme aus einem Videospiel sein können, wie zum Beispiel diejenige, die sagte: »Versuch's noch mal, Weltraumkadett«, wenn man seinen letzten Versuch versaut hatte. Sie schepperte: »Wie geht es Ihnen, Mr. Palfrey?« Aber Vic konnte nicht antworten. Vic war wieder in die grünen Tiefen weggetaucht. Er sah seine Mama hinter dem Visier des weißen Anzugs. Mama hatte auch Weiß getragen, als Papa ihn und George zum letzten Mal mit zu ihr ins Sanat orium genommen hatte. Sie hatte ins Sanatorium gemußt, damit nicht die ganze Familie bekam, was sie hatte. TB war ansteckend. Man konnte sterben. Er sprach mit seiner Mama... sagte, er würde lieb sein und das Pferd reinbringen... sagte ihr, daß George ihm die Sonntagsbeilage mit den Comics weggenommen hatte... fragte sie, ob es ihr besser ging... fragte sie, ob sie bald wieder nach Hause kommen würde... und der Mann im weißen Anzug gab ihm eine Spritze, und er sank tiefer hinab, und seine Worte wurden unverständlich. Der Mann im weißen Anzug betrachtete die Gesichter hinter der Glasscheibe und schüttelte den Kopf. Er drückte mit dem Kinn den Knopf der Sprechanlage in seinem Helm und sagte: »Wenn das nicht hilft, ist er um Mitternacht tot.« Für Vic Palfrey war die magische Stunde vorbei. »Bitte krempeln Sie den Ärmel hoch, Mr. Redman«, sagte die hübsche dunkelhaarige Schwester. »Es dauert nicht lange.« Sie hatte Handschuhe an und hielt den Blutdruckmesser. Sie lächelte hinter der Plastikmaske, als teilten sie beide ein amüsantes Geheimnis. »Nein«, sagte Stu. Das Lächeln wurde ein wenig unsicher. »Nur den Blutdruck. Es dauert höchstens eine Minute.« »Nein.« »Anweisungen des Arztes«, sagte sie und wurde sachlich. »Bitte.« »Wenn es eine Anweisung des Arztes ist, will ich den Arzt sprechen.« »Tut mir leid, der ist beschäftigt. Wenn Sie bitte...« »Ich warte«, sagte Stu gleichmütig und machte keine Anstalten, die Manschette des Hemdsärmels aufzuknöpfen. »Ich mache nur meine Arbeit. Wollen Sie denn, daß ich Schwierigkeiten bekomme ?« Sie schenkte ihm den Rest ihres bezaubernden Lächelns. » Lassen Sie mich nur...« »Nein«, sagte Stu. »Gehen Sie, und sagen Sie es ihnen. Sie werden jemand schicken.« Mit einem besorgten Blick trat die Schwester zur Stahltür und drehte einen Vierkantschlüssel im Schloß. Die Pumpe sprang an, die Tür öffnete sich zischend, die Schwester trat hinaus. Bevor sie die Tür wieder schloß, sah sie Stu vorwurfsvoll an. Stu erwiderte den Blick freundlich. Als die Tür zu war, stand er auf und trat unruhig ans Fenster - Doppelscheiben, außen vergittert -, aber es war schon dunkel, und er konnte nichts erkennen. Er ging zurück und setzte sich. Er trug verblichene Jeans, ein kariertes Hemd und braune Stiefel, bei denen die Seitennähte sich wölbten. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und zog eine mißbilligende Grimasse, als er die Stoppeln spürte. Man gestattete ihm nicht, sich zu rasieren, und sein Bart wuchs schnell. Gegen die Tests selbst hatte er nichts einzuwenden. Er hatte etwas dagegen, daß sie ihn im unklaren, in Angst, ließen. Er war nicht krank, jedenfalls noch nicht, aber er hatte Angst. Hier ging irgend etwas vor sich, und er wollte erst wieder mitspielen, wenn ihm jemand sagte, was in Arnette geschehen war und was dieser Campion damit zu tun hatte. Dann hätte er wenigstens einen vernünftigen Grund für seine Angst. Sie hatten schon früher damit gerechnet, daß er fragen würde, er hatte es in ihren Augen gesehen. Im Krankenhaus hat man gewisse Methoden, einem etwas zu verheimlichen. Vor vier Jahren war seine Frau mit siebenunddreißig Jahren an Krebs gestorben, der in der Gebärmutter angefangen und sich rasch über den ganzen Körper ausgebreitet hatte, wie ein Waldbrand, und Stu hatte miterlebt, wie die Ärzte ihren Fragen auswichen, indem sie entweder das Thema wechselten oder ihr die Informationen nur in unverständlichem Fachlatein gaben. Deshalb hatte er einfach nicht gefragt und gemerkt, daß es den Leuten hier Sorgen machte. Aber jetzt war es Zeit, Fragen zu stellen, und er würde Antworten bekommen. In leicht verständlichen Worten. Einige Lücken konnte er selbst ausfüllen. Campion, dessen Frau und dessen Tochter hatten etwas ziemlich Böses gehabt. Es befiel einen wie Grippe oder eine Sommererkältung, nur daß es immer schlimmer wurde, vermutlich bis man an seinem eigenen Rotz erstickte oder einen das Fieber verbrannte. Es war außerordentlich ansteckend. Sie hatten ihn am Nachmittag des Siebzehnten geholt, vor zwei Tagen. Vier Männer von der Armee und ein Arzt. Höflich, aber bestimmt. Eine Weigerung stand außer Frage; alle vier Soldaten waren bewaffnet gewesen. Da hatte Stu Redman es echt mit der Angst zu tun bekommen. Als regelrechte Karawane hatten sie Arnette verlassen und waren zum Flugplatz von Braintree gefahren. Stu war mit Vic Palfrey, Hap, den Bruetts, Hank Carmichael, dessen Frau und zwei Unteroffizieren gefahren. Sie hatten sich alle in den Armeekombi zwängen müssen, und die Jungs von der Armee hatten weder ja noch nein noch vielleicht gesagt, wie hysterisch Lila Bruett sich auch aufführte. Auch die anderen Wagen waren voll besetzt. Stu hatte nicht alle erkannt, aber er hatte alle fünf Angehörigen der Familie Hodges gesehen, und Chris Ortega, Bruder von Carlos und Fahrer des Krankenwagens. Chris war Barkeeper in Indian Head. Stu hatte Parker Mason und seine Frau gesehen, die beiden älteren Leute aus der Wohnwagenkolonie in der Nähe seines Hauses. Stu vermutete, daß die Soldaten sich jeden gegriffen hatten, der bei der Tankstelle gewesen war, und jeden, mit dem die Leute von der Tankstelle gesprochen hatten, seit Campion die Zapfsäulen umgenietet hatte. An der Stadtgrenze hatten zwei olivgrüne Lastwagen die Straße versperrt. Stu nahm an, daß die anderen Straßen, die nach Arnette führten, ebenfalls gesperrt waren. Die Soldaten waren dabeigewesen, Stacheldraht auszurollen, und wenn sie die Stadt abgeriegelt hatten, würden sie wahrscheinlich auch Posten aufstellen. Demnach war es ernst. Todernst. Er saß geduldig neben dem Krankenhausbett, das er noch nicht benutzt hatte, und wartete darauf, daß die Schwester jemanden brachte. Der erste Jemand würde ein Niemand sein. Vielleicht würden sie bis zum nächsten Morgen einen Jemand bringen, der befugt war, ihm alles zu erzählen, was er wissen mußte. Er konnte warten. Geduld war schon immer Stu Redmans starke Seite gewesen. Um sich zu beschäftigen, dachte er über den Zustand der Leute nach, die mit ihm zusammen zum Flugplatz gefahren waren. Norm war der einzige offensichtlich Kranke gewesen. Er hatte gehustet, Schleim ausgespuckt und Fieber gehabt. Die übrigen schienen alle mehr oder weniger stark erkältet zu sein. Luke Bruett hatte geniest. Lila Bruett und Vic Palfrey hatten leichten Husten gehabt. Hap hatte sich einen Schnupfen geholt und sich laufend die Nase geschneuzt. Es hatte sich kaum anders angehört als früher in der ersten oder zweiten Schulklasse, wenn zwei Drittel der Kinder ständig irgendwas gehabt hatten. Aber was ihm am meisten angst gemacht hatte, war geschehen, als sie auf die Startbahn fuhren. Vielleicht war es Zufall gewesen, aber der Armeefahrer hatte dreimal schallend geniest. Wahrscheinlich nur Zufall. Für Leute mit Allergien war der Juni im östlichen Texas eine schlimme Zeit. Vielleicht hatte der Fahrer sich auch nur eine ganz gewöhnliche Erkältung geholt und nicht die unheimliche Scheiße wie die anderen. Denn etwas, das so schnell von einem Menschen auf den anderen übertragen wurde... Ihre Armee-Eskorte war mit ihnen an Bord des Flugzeugs gegangen. Die Männer flogen mit stoischer Ruhe und weigerten sich, Fragen zu beantworten, außer nach dem Flugziel: Atlanta. Dort würde man ihnen mehr sagen (eine schamlose Lüge). Darüber hinaus gaben die Männer von der Armee keine Auskunft. Hap saß während des Fluges neben Stu und war ziemlich besoffen. Das Flugzeug war eine Militärmaschine, kaum Komfort, aber Fusel und Essen entsprachen zivilem Flugverkehr erster Klasse. Statt einer hübschen Stewardeß nahm zwar ein Sergeant Wünsche entgegen, aber wenn man darüber hinwegsah, ließ es sich aushalten. Als sie ein paar Grasshoppers intus hatte, beruhigte sich sogar Lila Bruett. Hap beugte sich herüber und hüllte Stu in einen warmen Whiskynebel. »Komische Bande, Stuart. Keiner unter fünfzig, keiner trägt einen Ehering. Karrieretypen, untere Schiene.« Ungefähr eine halbe Stunde vor der Landung hatte Norm Bruett eine Art Ohnmachtsanfall, und Lila Bruett fing an zu kreischen. Zwei der groben Stewards wickelten Norm in eine Decke und brachten ihn ziemlich schnell wieder zu sich. Lila war nicht mehr ruhig zu bekommen und schrie weiter. Nach einer Weile kotzte sie die Grasshoppers und das Geflügelsalatsandwich, das sie gegessen hatte, wieder aus. Mit ausdruckslosen Gesichtern machten sich zwei der alten Kameraden daran, alles aufzuwischen. »Was hat das zu bedeuten?« kreischte Lila. »Was ist mit meinem Mann los? Müssen wir sterben? Müssen meine Babies sterben?« Sie hatte unter jedem Arm eins der »Babies« im Schwitzkasten, die Köpfe an die gewaltigen Brüste gedrückt. Luke und Bobby sahen ängstlich und unwohl aus, und das Gezeter ihrer Mutter schien ihnen peinlich zu sein. »Warum antwortet mir niemand? Sind wir nicht in Amerika?« »Kann der nicht mal jemand das Maul stopfen?« knurrte Chris Ortega aus dem hinteren Teil des Flugzeugs. »Die Frau ist ja schlimmer als eine Musicbox mit 'ner kaputten Platte drin.« Einer der Soldaten hatte Lila ein Glas Milch aufgedrängt, und damit war ihr das Maul gestopft. Sie verbrachte den Rest des Fluges damit, aus dem Fenster zu schauen, die vorüberziehende Landschaft zu betrachten und zu summen. Stu vermutete, daß in dem Glas mehr als nur Milch gewesen war. Als sie landeten, hatten vier Cadillac-Limousinen auf sie gewartet. Die Leute aus Arnette stiegen in drei der Wagen ein. Ihre ArmeeEskorte in den vierten. Stu nahm an, daß diese alten Jungs ohne Eheringe - und wohl auch ohne nahe Verwandte - jetzt ebenfalls irgendwo in diesem Gebäude waren. Das rote Licht über der Tür ging an. Als der Kompressor, die Pumpe oder was auch immer verstummte, kam ein Mann in einem dieser weißen Raumanzüge durch die Tür. Dr. Denninger. Er war jung. Er hatte schwarzes Haar, olivfarbene Haut, scharfgeschnittene Züge und blasse Lippen. »Patty Greer sagt, Sie haben ihr Schwierigkeiten gemacht«, tönte es aus Denningers Brustlautsprecher, während er zu Stu herüberstapfte. »Sie ist ganz schön sauer.« »Dazu hat sie keinen Grund«, sagte Stu unbekümmert. Es fiel ihm nicht leicht, sich so locker zu geben, aber er fand es wichtig, seine Angst vor diesem Mann zu verbergen. Denninger war der Typ, der Untergebenen die Hölle heiß machte und sie herumkommandierte, Vorgesetzten aber in den Arsch kroch. Solche Typen wurden nur dann umgänglich, wenn man sie glauben machte, daß man die Peitsche in der Hand hielt. Aber wenn so jemand Angst an einem witterte, gab er einem den altbekannten Kuchen: ein dünner Zuckerguß von »Tut-mir-leid,-mehr-kann-ich-Ihnen-nicht-Sagen« über jeder Menge Verachtung für dumme Zivilisten, die mehr wissen wollten, als gut für sie war. »Ich will Auskunft«, sagte Stu. »Tut mir leid, aber...« »Wenn Sie wollen, daß ich mitspiele, müssen Sie reden.« »Wenn die Zeit gekommen ist, werden Sie...« »Ich kann es Ihnen schwermachen.« »Das wissen wir«, sagte Denninger mürrisch. »Ich bin aber nun mal nicht befugt, Ihnen etwas zu sagen, Mr. Redman. Ich weiß selbst kaum etwas.« »Sie haben wahrscheinlich mein Blut untersucht. Die vielen Nadeln.« »Das ist richtig«, sagte Denninger vorsichtig. »Wozu?« »Noch einmal, Mr. Redman: Ich kann Ihnen nichts sagen, was ich selbst nicht weiß.« Wieder dieser mürrische Ton, und Stu war geneigt, dem Mann zu glauben. In seinem Job war Denninger nur ein besserer Handlanger, und das gefiel ihm überhaupt nicht. »Sie haben meine Heimatstadt unter Quarantäne gestellt.« »Auch davon weiß ich nichts.« Aber Denninger hielt seinem Blick nicht stand, und diesmal glaubte Stu, daß er log. »Wieso habe ich nichts darüber gesehen?« fragte er und zeigte auf den an die Wand geschraubten Fernseher. »Bitte?« »Wenn man eine Stadt abriegelt, Straßensperren errichtet und Stacheldraht zieht, macht das Schlagzeilen«, sagte Stu. »Mr. Redman, wenn Sie Patty Ihren Blutdruck messen lassen...« »Nein. Wenn Sie etwas von mir wollen, müssen Sie schon zwei kräftige Männer schicken. Und ganz gleich, wie viele Sie schicken, ich werde versuchen, Löcher in diese Schutzanzüge zu reißen. Er griff spielerisch nach Denningers Anzug, und Denninger fuhr zurück und wäre fast gestürzt. Aus dem Lautsprecher seiner Sprechanlage ertönte ein entsetzter Schrei, und hinter dem Doppelfenster sah Stu Bewegungen. »Natürlich könnten Sie mir etwas ins Essen tun, das mich flachlegt, aber das würde Ihre Testergebnisse durcheinanderbringen, oder?« -»Mr. Redman, Sie verhalten sich unvernünftig!« Denninger wahrte peinlich Distanz. »Durch Ihre Weigerung, mit uns zusammenzuarbeiten, leisten Sie Ihrem Land einen schlechten Dienst. Verstehen Sie das?« »Nee«, sagte Stu. »Im Augenblick kommt es mir so vor, als leiste mein Land mir einen schlechten Dienst. Es hat mich in ein Krankenzimmer in Georgia gesperrt, mit einem schmollmündigen kleinen Arschloch von Arzt, der Scheiße nicht von Schuhwichse unterscheiden kann. Verpissen Sie sich, und schicken Sie mir jemand, der mit mir redet, oder schicken Sie genug Jungs, damit Sie mit Gewalt bekommen, was Sie haben wollen. Aber ich werde mich wehren, darauf können Sie Gift nehmen.« Als Denninger gegangen war, blieb er ganz ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Die Schwester kam nicht wieder. Es kamen auch keine zwei kräftigen Pfleger, um ihm den Blutdruck gewaltsam zu messen. Aber als er darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß ja selbst eine Kleinigkeit wie die Blutdruckmessung nicht viel taugen würde, wenn sie unter großer Belastung vorgenommen wurde. Vorläufig ließen sie ihn im eigenen Saft schmoren. Er stellte das Fernsehgerät an und starrte auf den Bildschirm, ohne etwas zu sehen. Tief in ihm rumorte die Angst, wie ein wildgewordener Elefant. Zwei Tage lang hatte er darauf gewartet, daß auch er anfangen würde zu niesen, husten, schwarzen Schleim hochzuwürgen und ins Becken zu spucken. Er dachte an die anderen Leute, die er sein ganzes Leben lang gekannt hatte. Er fragte sich, ob einer von ihnen so schlimm dran war wie Campion. Er dachte an die tote Frau und das Kind in dem alten Chevy, und immer wieder sah er Lila Bruetts Gesicht in dem der Frau und das der kleinen Cheryl Hodges in dem des Babys. Das Fernsehgerät kreischte und knisterte. Sein Herz schlug langsam in der Brust. Er konnte schwach das Geräusch der Klimaanlage hören, die gereinigte Luft in den Raum blies. Er spürte die Angst, die sich hinter seinem Pokerface drehte und wendete. Manchmal wurde sie groß und panisch und trampelte alles nieder: der Elefant. Manchmal war sie klein und nagend und biß mit winzigen Zähnen zu: die Ratte. Aber sie verließ ihn nicht. Es dauerte vierzig Stunden, bis sie einen Mann zu ihm schickten, der redete. 8 Am 18. Juni, fünf Stunden nachdem er mit seinem Vetter Bill Hapscomb gesprochen hatte, erwischte Joe Bob Brentwood auf dem Texas Highway 40, etwa fünfundzwanzig Meilen östlich von Arnette, einen Raser. Der Raser war Harry Trent aus Braintree, Versicherungsvertreter. Er war auf einer Strecke, auf der fünfzig Meilen erlaubt waren, fünfundsechzig gefahren. Joe Bob gab ihm einen Strafzettel. Trent akzeptierte ihn ergeben und amüsierte Joe Bob gleich darauf, indem er versuchte, ihm eine Hausrats- und eine Lebensversicherung anzudrehen. Joe Bob fühlte sich großartig; er dachte als allerletztes ans Sterben. Dennoch war er schon ein kranker Mann. Er hatte an Bill Hapscombs Texaco-Tankstelle mehr als nur Benzin bekommen. Und er gab Harry Trent mehr als nur einen Strafzettel. Harry, ein geselliger Mann, der seine Arbeit liebte, gab die Krankheit an diesem und dem nächsten Tag an über vierzig Menschen weiter. Man kann unmöglich sagen, wie viele andere diese vierzig wiederum ansteckten - ebensogut könnte man fragen, wie viele Engel auf einem Stecknadelkopf tanzen können. Bei einer zurückhaltenden Schätzung von jeweils fünf, kommt man auf zweihundert. Mit derselben zurückhaltenden Formel kann man sagen, daß diese zweihundert tausend ansteckten, die tausend wiederum fünftausend, und diese fünftausend schließlich fünfundzwanzigtausend. In der Wüste Kaliforniens hatte jemand, unterstützt vom Geld der Steuerzahler, endlich einen Kettenbrief erfunden, der wirklich funktionierte. Einen ausgesprochen tödlichen Kettenbrief. Am 19. Juni, dem Tag, als Larry Underwood nach New York zurückkehrte und Frannie Goldsmith ihrem Vater von dem zu erwartenden kleinen Neuankömmling berichtete, machte Harry Trent im östlichen Texas in einem Imbiß namens Babe's Quik -Eat Rast, weil er schnell etwas essen wollte. Er bestellte ein CheeseburgerMenü und als Nachtisch ein Stück von Babe's köstlicher Erdbeertorte. Er hatte eine leichte Erkältung, vielleicht eine Allergie, und mußte ständig niesen und spucken. Beim Essen steckte er Bäbe an, den Tellerwäscher, zwei Trucker in der Ecke, den Brotlieferanten, den Mann, der die Schallplatten in der Musicbox auswechseln wollte. Dem süßen Ding, das an seinem Tisch bediente, gab er einen Dollar Trinkgeld, an dem der Tod klebte. Als er ging, fuhr ein Kombi vor. Dieser hatte einen Dachgepäckträger und war vollgestopft mit Kindern und Koffern. Das Auto hatte ein New Yorker Nummernschild, und der Fahrer, der das Fenster herunterkurbelte und Harry fragte, wie er zur US 21 Richtung Norden kam, hatte einen New Yorker Akzent. Harry beschrieb dem Mann sehr genau, wie er zum Highway 2.1 kam. Er stellte gleichzeitig ihm und seiner ganzen Familie die Totenscheine aus, ohne es zu wissen. Der New Yorker war Edward M. Norris, Polizeilieutenant im siebenundachtzigsten New Yorker Revier. Dies war sein erster richtiger Urlaub seit fünf Jahren. Er und seine Familie hatten eine schöne Zeit hinter sich. In Orlando, in Disney World, waren die Kinder im siebten Himmel gewesen, und Norris, der nicht wußte, dass die ganze Familie am zweiten Juli tot sein würde, wollte diesem sauertöpfischen Steve Carella erzählen, daß es doch möglich war, Frau und Kinder mit in Urlaub zu nehmen und sich trotzdem zu erholen. Steve, würde er sagen, du bist vielleicht ein guter Polizist, aber ein Mann, der nicht auf seine eigene Familie aufpassen kann, ist weniger wert als ein Pißloch in einer Schneewehe. Die Familie Norris aß einen Happen bei Bäbe und folgte dann Harrys bewundernswert korrekten Angaben zum Highway 2.1. Ed und seine Frau Trish äußerten sich erstaunt über die Gastfreundschaft im Süden, während die Kinder auf dem Rücksitz schon Farbe bekamen. Nur der Himmel konnte wissen, überlegte Harry, was Carellas zwei Monster angestellt haben würden. Die Nacht verbrachten sie in einem Motel in Eustace, Oklahoma. Ed und Trish steckten den Portier an. Marsha, Stanley und Hector, die Kinder, steckten die Kinder an, mit denen sie auf dem Spielplatz spielten - Kinder, die nach West-Texas, Alabama, Arkansas und Tennessee unterwegs waren. Trish steckte die beiden Frauen an, die in der zwei Blocks entfernten Wäscherei wuschen. Als Ed Eis holen wollte, steckte er einen Mann an, der im Flur an ihm vorbeiging. Alle gesellten sich zu dem Reigen. Trish weckte Ed in den frühen Morgenstunden und sagte ihm, dass Hector, das Baby, krank war. Es hatte einen häßlichen kratzenden Husten und Fieber. Es hörte sich wie Krupp an. Ed Norris stöhnte und sagte ihr, sie solle dem Kind Aspirin geben. Wenn das Kind mit seinem verdammten Krupp noch vier oder fünf Tage gewartet hätte, wäre er erst zu Hause ausgebrochen, und Ed wäre die Erinnerung an einen perfekten Urlaub geblieben (ganz zu schweigen von der Häme, die er versprühen wollte). Er hörte das arme Kind durch die Verbindungstür; es hustete wie der Teufel. Trish ging davon aus, daß sich Hectors Zustand im Laufe des Vormittags bessern würde - beim Krupp mußte man nur im Bett bleiben -, aber am zwanzigsten gegen Mittag mußte sie sich eingestehen, daß das nicht der Fall war. Das Aspirin hatte das Fieber nicht gesenkt; der arme Heck hatte immer noch glasige Augen. Sein Husten hatte einen hohlen Klang, der ihr nicht gefiel, sein Atem klang keuchend und verschleimt. Was es auch sein mochte, Marsha schien es ebenfalls zu bekommen, und Trish spürte ein unangenehmes Kratzen im Hals, so daß sie dauernd husten mußte, bisher zum Glück nur ein leichter Husten, den sie mit einem kleinen Taschentuch ersticken konnte. »Wir müssen mit Heck zum Arzt«, sagte sie schließlich. Ed fuhr auf das Gelände einer Tankstelle und sah auf die Karte, die er an der Sonnenblende des Kombi festgeklemmt hatte. Sie waren in Hammer Crossing, Kansas. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht finden wir zumindest einen Arzt, der uns ein Rezept ausschreibt.« Er strich sich seufzend und ungehalten mit einer Hand durchs Haar. »Hammer Crossing, Kansas! Großer Gott! Warum mußte er so krank werden, daß er in einem Kuhdorf wie dem hier einen Arzt braucht?« Marsha, die über die Schulter ihres Vaters hinweg die Karte studierte, sagte: »Da steht, daß Jesse James hier die Bank ausgeraubt hat, Daddy. Zweimal.« »Scheiß auf Jesse James«, knurrte Ed. »Ed!« rief Trish. »Tut mir leid«, sagte er, obwohl es ihm überhaupt nicht leid tat. Er fuhr weiter. Nach sechs Anrufen, bei denen er sich nur mühsam beherrschen konnte, fand er schließlich einen Arzt in Polliston, der sich Hector ansehen wollte, wenn sie es schafften, bis um drei bei ihm zu sein. Polliston lag abseits ihrer Strecke, zwanzig Meilen westlich von Hammer Crossing, aber momentan zählte nur Hector. Ed machte sich allmählich große Sorgen um ihn. Er hatte sein Kind noch nie mit so wenig Mumm gesehen. Nachmittags um zwei Uhr saßen sie im Wartezimmer von Dr. Brendan Sweeney. Inzwischen nieste auch Ed. Sweeneys Wartezimmer war überfüllt; sie kamen erst kurz vor vier an die Reihe. Trish konnte Heck höchstens zu einem benommenen Dämmerzustand aufrütteln, und sie fühlte sich selbst 8z fiebrig. Nur Stan Norris, neun, war noch in guter Verfassung und alberte herum. Während sie im Wartezimmer saßen, übertrugen sie die Krankheit, die bald im ganzen zusammenbrechenden Land als Captain Trips bekannt sein sollte, auf mehr als fünfundzwanzig Menschen, darunter eine matronenhafte Frau, die nur gekommen war, um eine Rechnung zu bezahlen, und die anschließend ihren ganzen Bridgeclub ansteckte. Diese matronenhafte Frau war Mrs. Robert Bradford, für den Bridgeclub Sarah Bradford, für ihren Mann und enge Freunde Cookie. Sarah spielte an diesem Abend gut, vielleicht weil sie Angela Dupray, ihre beste Freundin, als Partnerin hatte. Es war wie Telepathie. Sie gewannen alle drei Runden wie im Schlaf, die letzte mit Glanz und Gloria. Das einzige Haar in der Suppe war für Sarah, daß sie eine Erkältung zu bekommen schien. Das war nicht fair; sie hatte gerade erst eine gehabt. Sie und Angela gingen noch auf einen gemütlichen Drink in eine Cocktailbar, als sich die Runde um zehn auflöste. Angela hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. David war an der Reihe, sein wöchentliches Pokerspiel fand heute bei ihnen zu Hause statt, und sie würde bei dem Lärm bestimmt kein Auge zutun... wenn sie nicht vorher ein selbstverschriebenes Schlafmittel zu sich nahm, in ihrem Fall zwei doppelte Gin Fizz. Sarah nahm einen Ward 8, dann unterhielten sich die beiden Frauen über die Bridge-Partie. Dabei gelang es ihnen, jeden in der CocktailBar von Polliston anzustecken, darunter auch zwei junge Männer, die in der Nähe ein Bier tranken. Sie waren auf dem Weg nach Kalifornien - genau wie seinerzeit Larry Underwood und sein Freund Rudy Schwartz -, um ihr Glück zu machen. Ein Freund hatte ihnen Arbeit bei einer Umzugsfirma versprochen. Am nächsten Tag brachen sie nach Westen auf und verbreiteten die Krankheit unterwegs. Kettenbriefe funktionieren nicht. Das ist bekannt. Die Million Dollar, die einem versprochen wird, wenn man nur einen einzigen Dollar an die oberste Adresse schickt, seinen eigenen Namen unten anfügt und den Brief dann an fünf Freunde schickt, trifft nie ein. Dieser, der Captain-Trips -Kettenbrief, funktionierte ausgezeichnet. Die Pyramide wurde nicht vom Fundament aus gebaut, sondern von der Spitze abwärts - und diese Spitze war ein verstorbener Wachmann der Armee namens Charles Campion. Alle Vögel kehrten zum Nisten heim. Aber statt des Briefträgers, der jedem Teilnehmer waschkorbweise Briefumschläge mit Eindollarnoten brachte, kam Captain Trips und brachte den Tod, eine oder zwei Leichen im Schlafzimmer, Massengräber und schließlich Tote, die an jeder Küste ins Meer gekippt wurden, in Steinbrüche und in die Baugruben angefangener Häuser. Und zuletzt verwesten die Leichen einfach dort, wo sie lagen, saßen, lehnten. Sarah Bradford und Angela Dupray gingen gemeinsam zu ihren geparkten Autos zurück (und steckten unterwegs vier oder fünf Leute an, denen sie auf der Straße begegneten), dann umarmten sie sich und gingen getrennte Wege. Angela ging nach Hause und steckte ihren Mann, seine Pokerfreunde und ihre Teenager-Tochter Samantha an. Ihre Eltern wußten nicht, daß Sarah Sterbensangst hatte, ihr Freund könnte sie mit Tripper angesteckt haben. Was, ganz nebenbei, auch stimmte. Dennoch hatte sie keinen Grund, sich Sorgen zu machen; verglichen mit dem, was ihre Mutter ihr angehängt hatte, war der Tripper ungefähr so ernst wie ein kleines Ekzem an der Braue. Am nächsten Tag steckte Samantha jeden im Schwimmbad des CVJM von Polliston an. Und so weiter. 9 Sie fielen nach Einbruch der Dämmerung über ihn her, als er auf der Böschung die US Route 2.7 entlangging, die eine Meile hinter ihm, wo sie durch die Stadt führte, Main Street hieß. Ein oder zwei Meilen weiter hatte er nach Westen auf die 63 abbiegen wollen, die ihn zur Schnellstraße und damit zum Startpunkt seines langen Wegs nach Norden geführt hätte. Vielleicht waren seine Sinne von den zwei Bier, die er gerade getrunken hatte, ein wenig abgestumpft, aber er hatte gewußt, daß etwas nicht stimmte. Eben erinnerte er sich an die vier oder fünf vierschrötigen Einwohner, die am hinteren Ende der Bar gestanden hatten, als sie aus der Deckung sprangen und auf ihn zuliefen. Nick lieferte einen guten Kampf, brachte einen von ihnen zu Fall und schlug einem anderen die Nase blutig - dem Geräusch nach war sie sogar gebrochen. Einen Augenblick oder zwei wiegte er sich sogar in der Hoffnung, er könnte gewinnen. Die Tatsache, daß er beim Kampf nicht den geringsten Laut von sich gab, entnervte die Angreifer etwas. Sie waren weichlich. Vielleicht hatten sie bei so etwas schon leichtes Spiel gehabt, und sie hatten ganz sicher von dem mageren Jungen mit dem Rucksack keinen ernsten Widerstand erwartet. Dann traf ihn einer der Gegner knapp über dem Kinn, riß ihm mit einer Art Schulring die Lippen auf, und er schmeckte warmes Blut, das ihm in den Mund lief. Er taumelte rückwärts, und einer hielt ihm die Arme fest. Er wehrte sich heftig und bekam eine Hand frei, als ihm eine Faust ins Gesicht fuhr wie ein wildgewordener Mond. Bevor sie sein rechtes Auge schloß, sah er den Ring wieder, der matt im Licht der Sterne funkelte. Er selbst sah auch Sterne und spürte, wie sein Bewußtsein sich trübte und ins Unbekannte abzudriften drohte. Panik stieg in ihm auf; er wehrte sich noch verbissener. Der Mann mit dem Ring stand jetzt vor ihm, und Nick, der vor dem nächsten Schlag Angst hatte, trat ihm in den Bauch. Schulring stieß die Luft aus, klappte zusammen und gab eine Reihe keuchender, japsender Laute von sich wie ein Terrier mit Kehlkopfentzündung. Die anderen umringten ihn. Für Nick waren sie nur noch Schemen, muskulöse Männer - gute alte Jungs, wie sie sich selbst nannten - in grauen Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln, damit man die gewaltigen sommersprossigen Oberarmmuskeln sehen konnte. Sie trugen schwarze Arbeitsstiefel. Fettige Haarsträhnen fielen ihnen in die Stirn. Im letzten Licht des Tages kam ihm dies alles wie ein böser Traum vor. Blut floß ihm in das offene Auge. Der Rucksack wurde ihm von der Schulter gerissen. Schläge hagelten auf ihn herab, und er wurde zu einer zitternden, rückgratlosen Marionette an einer zerschlissenen Schnur. Das Bewußtsein verließ ihn nicht ganz. Die einzigen Geräusche waren ihr atemloses Keuchen, wenn sie die Fäuste in ihn rammten, und das Zwitschern eines Ziegenmelkers in dem nahe gelegenen Pinienhain. Schulring hatte sich wieder aufgerappelt. »Haltet ihn fest«, sagte er. »Haltet ihn an den Haaren fest.« Hände packten seine Arme. Jemand krallte beide Hände in Nicks krauses schwarzes Haar. »Warum schreit er nicht?« fragte einer der Schläger erregt. »Warum schreit er nicht, Ray?« »Ich hab' dir gesagt, du sollst keine Namen nennen«, sagte Schulring. »Ist mir scheißegal, warum er nicht schreit. Ich mach' ihn fertig. Der Pisser hat mich getreten. Ist 'n unfairer Kämpfer.« Die Faust schoß vor. Nick riß den Kopf zur Seite, und der Ring schürfte ihm die Wange auf. »Ich hab' gesagt, haltet ihn«, sagte Ray. »Was seid ihr denn, Memmen?« Die Faust schlug wieder zu, und Nicks Nase wurde eine zerquetschte, triefende Tomate. Sein Atem verdichtete sich zu einem Keuchen. Sein Bewußtsein war nur noch ein bleistiftdünner Lichtstrahl. Er klappte den Mund auf und zog die Nachtluft ein. Der Ziegenmelker zwitscherte wieder, melodisch und lieblich. Nick hörte es ebensowenig wie beim ersten Mal. »Haltet ihn«, sagte Ray. »Haltet ihn, verdammt.« Die Faust schoß vor. Zwei von Nicks Schneidezähnen brachen ab, als der Schulring dagegenschmetterte. Er spürte rasende Schmerzen, konnte aber nicht schreien. Seine Beine gaben nach, und er sackte zusammen, aber die Hände hielten ihn wie einen Mehlsack. - »Das reicht, Ray! Willst du ihn umbringen?« »Haltet ihn. Der Pisser hat mich getreten. Ich mach' ihn fertig.« Dann leuchteten Scheinwerfer die Straße entlang, an deren Rand hier dichtes Unterholz und alte Pinien wuchsen. »Scheiße!« »Laßt ihn fallen, laßt ihn fallen!« Das war Rays Stimme, aber Ray stand nicht mehr vor ihm. Nick spürte dumpfe Erleichterung, aber sein letztes Fünkchen Bewußtsein war mit den Schmerzen im Mund beschäftigt. Er spürte Zahnsplitter auf der Zunge. Hände schubsten ihn und stießen ihn mitten auf die Straße. Dort erfaßten ihn die heranjagenden Lichtkegel wie einen Schauspieler auf der Bühne. Bremsen kreischten. Nick ruderte mit den Armen und versuchte auszuweichen, aber die Beine gehorchten ihm nicht; sie hielten ihn für tot und hatten ihn aufgegeben. Er brach auf der Straße zusammen, und das Quietschen von Bremsen und Reifen erfüllte die ganze Welt, während er betäubt darauf wartete, überfahren zu werden. Wenigstens würden die Schmerzen im Mund vorbei sein. Dann flogen ihm Kiesel um die Ohren, und er sah einen Reifen, der knapp zwanzig Zentimeter vor seinem Gesicht zum Stillstand gekommen war. Er sah einen kleinen weißen Stein, der im Profil festgeklemmt war wie eine Münze zwischen zwei Fingerknöcheln. Ein Stück Quarz, dachte er zusammenhanglos und verlor das Bewußtsein. Als Nick wieder zu sich kam, lag er auf, einer Pritsche. Sie war hart, aber er hatte in den letzten drei Jahren schon härter gelegen. Nur mit Mühe konnte er die Augen aufschlagen. Sie schienen zugeklebt, und das rechte, das von dem wildgewordenen Mond getroffen worden war, kam nur auf Halbmast. Er sah eine rissige graue Betondecke. Isolierte Rohre liefen daran entlang. Über eines dieser Rohre krabbelte emsig ein großer Käfer. Eine Kette zerschnitt Nicks Gesichtsfeld in zwei Teile. Er hob ein wenig den Kopf, was teuflisch weh tat, und sah eine zweite Kette, die vom äußeren Rand der Pritsche zu einem Bolzen an der Wand führte. Er drehte den Kopf nach links (was wieder teuflisch weh tat, wenn auch nicht mehr so ganz unerträglich) und sah eine grobe Betonwand. Risse zogen sich darüber. Sie war vollgekritzelt. Manche Aufschriften waren neu, manche alt, die meisten vulgär. HIER GIBT ES WANZEN. LOUIS DRAGONSKY, 1987. ICH MAG'S IM ARSCH. EPPI LEPPI ABER HAPPY. GEORGE RAMPLING IST EIN WICHSER. ICH LIEBE DICH IMMER NOCH, SUZANNE. DIESES LOCH STINKT. CLYDE D. FRED 1981. Daneben Zeichnungen von großen baumelnden Fimmeln, gigantischen Brüsten und unbeholfen hingekritzelten Vaginas. Das alles verriet Nick, wo er war. In einer Gefängniszelle. Vorsichtig stützte er sich auf die Ellbogen, ließ die Füße (in Papierpantoffeln) über den Rand der Pritsche hinab und brachte sich in eine sitzende Position. Wieder fuhr ihm eine Großpackung Schmerz durch den Kopf, und seine Wirbelsäule knackte bedenklich. Sein Magen wogte erschreckend im Bauch, und eine lähmende Übelkeit überkam ihn, die bestürzende Art entmannender Übelkeit, bei der man weinen und zu Gott flehen möchte, er möge sie beenden. Anstatt zu schreien - das hätte er gar nicht gekonnt - beugte sich Nick über die Knie, stützte den Kopf in die Hände und wartete darauf, daß es besser wurde. Nach einer Weile war das auch der Fall. Er spürte das Pflaster, das man ihm über den Riß in der Wange geklebt hatte, und als er die betroffene Gesichtshälfte ein paarmal verzog, stellte er fest, daß ihm ein Kurpfuscher obendrein noch ein paar Stiche verpaßt haben mußte. Er sah sich um. Er saß in einer kleinen Zelle, die wie ein aufrechtgestellter Karton aussah. Im Anschluß an die Pritsche kam eine Gittertür. An der Wand neben der Pritsche stand eine Toilette ohne Brille und Deckel. Hinten über ihm - er sah es, als er den steifen Hals ganz vorsichtig reckte - war ein kleines vergittertes Fenster. Nachdem er so lange auf der Bettkante sitzen geblieben war, daß er sicher sein konnte, er würde nicht in Ohnmacht fallen, streifte er die grauen, verwaschenen Pyjamahosen, die er trug, nach unten, setzte sich auf die Toilette und urinierte mindestens eine Stunde. So kam es ihm jedenfalls vor. Als er fertig war, stand er auf und hielt sich dabei wie ein alter Mann an der Pritsche fest. Er sah ängstlich nach Blutspuren im Becken, aber sein Urin war klar. Er spülte ihn weg. Er ging vorsichtig zur Gittertür und sah auf den kurzen Flur hinaus. Links war die Ausnüchterungszelle. Ein alter Mann lag auf einer der fünf Pritschen, eine Hand wie Treibholz baumelte auf dem Fußboden. Rechts führte der Flur zu einer Tür, die angelehnt war. In der Mitte des Flurs hing eine Lampe mit grünem Schirm, wie er sie schon in Billardhallen gesehen hatte. Ein Schatten erhob sich und tanzte auf der angelehnten Tür. Dann betrat ein großer Mann in Khaki-Uniform den Flur. Er trug einen Sam-Browne-Gürtel und eine großkalibrige Pistole. Er hakte die Daumen in die Hosentaschen und sah Nick fast eine Minute schweigend an. Dann sagte er: »Als ich ein Junge war, haben wir einmal in den Bergen einen Puma gestellt, geschossen und dann auf steinigen Wegen zwanzig Meilen bis in die Stadt geschleift. Was von dem Tier übrig war, als wir zu Hause ankamen, war der traurigste Anblick meines Lebens. Du bist der zweittraurigste, Junge.« Nick fand, daß die Worte einstudiert klangen, sorgfältig zurechtgelegt und gehütet, Fremden und Vagabunden vorbehalten, die von Zeit zu Zeit die vergitterten Kartons bewohnten. »Hast du einen Namen, Babalugah?« Nick legte einen Finger auf die geschwollenen und aufgerissenen Lippen und schüttelte den Kopf. Er hielt eine Hand vor den Mund, führte sie mit einer langsamen diagonalen Bewegung durch die Luft und schüttelte noch einmal den Kopf. »Was? Kannst nicht sprechen? Was ist denn das für eine Scheiße?« Die Worte waren mit freundlicher Miene gesprochen, aber Nick konnte Aussprache und Betonungen nicht folgen. Er griff einen unsichtbaren Bleistift aus der Luft und schrieb damit. »Du willst einen Stift?« Ein zustimmendes Nicken. »Wenn du stumm bist, warum hast du dann keinen Ausweis?« Nick zuckte die Achseln. Er kehrte die leeren Taschen nach außen. Er ballte die Fäuste und machte Schattenboxen in der Luft, was wieder zu stechenden Kopfschmerzen und Übelkeitsgefühl im Magen führte. Am Ende tippte er leicht mit den Fäusten an die Schläfen, verdrehte die Augen nach oben und sank gegen die Gitterstäbe. Dann deutete er auf seine leeren Taschen. »Du bist ausgeraubt worden.« Nick nickte. Der Mann in Khaki wandte sich ab und ging wieder in sein Büro. Einen Augenblick später kam er mit einem stumpfen Bleistift und Notizblock zurück. Oben auf jedem Zettel stand: Büro Sheriff John Baker. Nick drehte den Block um und zeigte mit dem Radiergummiende auf den Namen. Er zog fragend die Brauen hoch. »Ja, das bin ich. Und wer bist du?« »Nick Andros«, schrieb er. Er steckte die Hände durch das Gitter. Baker schüttelte den Kopf. »Ich geb' dir nicht die Hand. Bist du auch taub?« Nick nickte. »Was ist gestern abend passiert? Doc Soames und seine Frau hätten dich fast überfahren wie ein Waldmurmeltier, Junge.« »Zusammengeschlagen und ausgeraubt«, schrieb Nick. »Ungefähr eine Meile von einer Kneipe an der Main Street entfernt. Zack's Place.« »Kein Lokal für einen Jungen wie dich, Babalugah. Du bist noch nicht alt genug zum Trinken.« Nick schüttelte empört den Kopf. »Ich bin zweiundzwanzig«, schrieb er. »Ich kann ein paar Bier trinken, ohne deshalb zusammengeschlagen & ausgeraubt zu werden, oder?« Baker las das mit einem gallig amüsierten Gesichtsausdruck. »In Shoyo kannst du das offenbar nicht. Was treibst du hier, Junge?« Nick riß den ersten Zettel vom Block, knüllte ihn zusammen und liess ihn auf den Fußboden fallen. Bevor er seine Antwort schreiben konnte, fuhr ein Arm durch das Gitter, und eine stählerne Hand packte ihn an der Schulter. Nicks Kopf fuhr hoch. »Meine Frau putzt die Zellen«, sagte Baker, »und ich sehe keinen Grund, warum du deine dreckig machen mußt. Wirf das ins Klo.« Nick bückte sich, zuckte vor Rückenschmerzen zusammen und hob die Papierkugel vom Boden auf. Er ging zur Toilette, warf sie hinein und sah Baker mit hochgezogenen Brauen an. Baker nickte. Nick kam zurück. Diesmal schrieb er länger, der Bleistift flog über das Papier. Baker überlegte, daß es ziemlich knifflig sein mußte, einem taubstummen Kind Lesen und Schreiben beizubringen, und daß dieser Nick Andros im Oberstübchen ganz gut ausgestattet sein mußte, wenn er es kapiert hatte. Es gab Jungs hier in Shoyo, Arkansas, die es nie richtig kapiert hatten, und mehr als ein paar davon waren regelmäßig in Zack's Place. Aber das konnte ein Junge, den es gerade in die Stadt verschlagen hatte, natürlich nicht wissen. Nick schob den Notizblock durch das Gitter. »Ich bin herumgereist, bin aber kein Landstreicher. Gestern habe ich für einen Mann namens Rieh Ellerton gearbeitet, ungefähr sechs Meilen westlich von hier. Ich habe die Scheune saubergemacht und einen Wagen Heu auf den Boden geschafft. Letzte Woche habe ich in Watts, Okla, einen Zaun gezogen. Die Männer, die mich zusammenschlugen, haben meinen ganzen Wochenlohn. « »Bist du sicher, daß du für Rieh Ellerton gearbeitet hast? Das kann ich nachprüfen, weißt du.« Baker hatte Nicks Erklärung abgerissen, sie zur Größe eines Geldbörsenfotos zusammengefaltet und in die Hemdtasche gesteckt. Nick nickte. »Hast du seinen Hund gesehen?« Nick nickte »Welche Rasse?« Nick bat mit einer Geste um den Notizblock. »Großer Dobermann«, schrieb er. »Aber lieb. Nicht böse.« Baker nickte, wandte sich ab und ging wieder in sein Büro. Nick stand am Gitter und sah ihm ängstlich nach. Wenig später kam Baker mit einem großen Schlüsselbund zurück, schloß die Tür der Arrestzelle auf und schob sie in ihrer Schiene zurück. »Komm mit ins Büro«, sagte Baker. »Möchtest du frühstücken?« Nick schüttelte den Kopf und verdeutlichte durch Gesten Eingießen und Trinken. »Kaffee? Hab' ich. Milch und Zucker?« Nick schüttelte den Kopf. »Du trinkst ihn wie ein Mann, was?« Baker lachte. »Komm mit.« Baker wandte sich ab, und Nick konnte nicht verstehen, was er redete, da Baker ihm den Rücken zugekehrt hatte und Nick seine Lippen nicht lesen konnte. »Mich stört die Gesellschaft nicht. Ich hab' Schlafstörungen. Ist inzwischen so schlimm, daß ich keine Nacht mehr als drei oder vier Stunden schlafen kann. Meine Frau meint, ich soll zu so 'nem sauteuren Doktor in Pine Bluff. Wenn's so weitergeht, mach' ich das vielleicht. Ich meine, sieh dir das an - es ist fünf Uhr morgens, noch nicht mal hell draußen, und ich futtere Eier und fettige Fritten von der Raststätte an der Straße.« Beim letzten Satz drehte er sich um, und Nick bekam gerade noch »...Raststätte an der Straße« mit. Er zog die Brauen hoch und zuckte die Schultern, um seiner Verwirrung Ausdruck zu verleihen. »Nicht wichtig«, sagte Baker. »Jedenfalls nicht für einen jungen Kerl wie dich.« Im Büro schenkte Baker ihm aus einer riesigen Thermosflasche schwarzen Kaffee ein. Das halbgegessene Frühstück des Sheriffs stand auf der Schreibunterlage auf dem Tisch, und er zog es zu sich herüber. Nick schlürfte Kaffee. Die Lippen taten ihm weh, aber der Kaffee war gut. Er tippte Baker auf die Schulter, und als der aufsah, deutete Nick auf den Kaffee, strich sich den Bauch und zwinkerte ihm ernst zu. Baker lächelte. »Das will ich meinen. Den macht meine Frau Jane.« Er schob sich ein halbes gebratenes Ei in den Mund, kaute und zeigte mit der Gabel auf Nick. »Du bist ganz gut. Wie die Pantomimen. Ich wette, du hast kaum Schwierigkeiten, dich verständlich zu machen, hm?« Nick machte eine wippende Geste mit der Hand. Comme ci, comme ca. »Ich werde dich nicht festhalten«, sagte Baker und wischte mit einem Stück Toast Fett vom Teller, »aber ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du noch eine Weile bleibst, erwischen wir vielleicht den Burschen, der dich so zugerichtet hat. Einverstanden?« Nick nickte und schrieb: »Glauben Sie, ich bekomme mein Geld zurück?« »Keine Chance«, sagte Baker geradeheraus. »Ich bin nur ein Hinterwäldlersheriff. Für so etwas brauchtest du Oval Roberts.« Nick nickte und zuckte die Achseln. Er legte die Hände zusammen und machte einen davonfliegenden Vogel nach. »Ja, so ungefähr. Wie viele waren es?« Nick hielt vier Finger hoch, zuckte dann die Achseln, fünf. »Könntest du sie identifizieren?« Nick hielt einen Finger hoch und schrieb: »Groß & blond. Ihre Größe, vielleicht etwas dicker. Graue Hosen & Hemd. Er trug einen großen Ring. Dritter Finger, rechte Hand. Purpurfarbener Stein. Damit hat er mich geschnitten.« Als Baker das las, ging in seinem Gesicht eine Veränderung vor. Zuerst Sorge, dann Wut. Nick, der glaubte, die Wut richte sich gegen ihn, bekam wieder Angst. »Mein Gott«, sagte Baker. »Das ist der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Bist du sicher?« Nick nickte. »Sonst noch was? Hast du sonst noch was gesehen?« Nick dachte angestrengt nach, dann schrieb er: »Kleine Narbe. An der Stirn.« Baker las die Worte. »Das ist Ray Booth«, sagte er. »Mein Schwager. Danke, Junge. Fünf Uhr morgens, und schon ist mein Tag versaut.« Nick machte die Augen ein wenig weiter auf und deutete mit der Hand vorsichtig sein Bedauern an. »Ja, schon gut«, sagte Baker mehr zu sich selbst als zu Nick. »Er ist ein schlechter Schauspieler. Janey weiß es. Als sie noch Kinder waren, hat er sie oft genug verprügelt. Trotzdem sind sie Geschwister, und ich denke, für diese Woche kann ich mein Liebesleben vergessen.« Nick senkte verlegen den Kopf. Nach einer Weile schüttelte Baker ihn an der Schulter, damit Nick ihn sprechen sehen konnte. »Hat wahrscheinlich sowieso keinen Zweck«, sagte er. »Ray und seine Wichserkumpel werden sich gegenseitig ein Alibi verschaffen. Dein Wort gegen ihres. Hast du ihnen auch was verpaßt?« »Diesen Ray in den Bauch getreten«, schrieb Nick. »Einen anderen auf die Nase geschlagen. Wahrscheinlich gebrochen.« »Ray lungert hauptsächlich mit Vince Hogan, Billy Warner und Mike Childress rum«, sagte Baker. »Wenn ich Vince allein erwische, krieg' ich ihn vielleicht klein. Er hat so wenig Rückgrat wie 'ne altersschwache Qualle. Wenn ich ihn hab', könnte ich mich um Mike und Billy kümmern. Ray hat den Ring von einer Studentenverbindung an der LSU. Er ist nach dem ersten Semester ausgestiegen.« Er schwieg und klopfte mit den Fingern auf den Rand des Frühstückstellers. »Schätze, wir könnten es versuchen, Junge, wenn du willst. Aber ich warne dich vorher, wahrscheinlich werden wir sie nicht erwischen. Sie sind so bösartig und feige wie eine Hundemeute, aber sie stammen aus der Stadt, und du bist nur ein taubstummer Herumtreiber. Und wenn sie ungeschoren davonkommen, hast du sie wieder auf dem Hals.« Nick dachte darüber nach. In Gedanken sah er immer wieder sich selbst, wie er von einem zum anderen gestoßen wurde wie eine blutende Vogelscheuche, und Rays Lippen, die die Worte formten: Ich mach' ihn fertig. Der Pisser hat mich getreten. Und wie sie ihm den Rucksack, seinen alten Freund aus zwei Wanderjahren vom Rücken gerissen hatten. Auf den Notizblock schrieb er zwei Worte und unterstrich sie: »Versuchen wir's.« Baker seufzte und nickte. »Okay. Vince Hogan arbeitet unten in der Sägemühle ... nein, das stimmt nicht ganz. Meistens verpißt er sich zur Sägemühle. Wir können gegen neun hinfahren, wenn es dir recht ist. Vielleicht können wir ihn so erschrecken, daß er auspackt.« Nick nickte. »Was macht dein Mund? Doc Soames hat ein paar Tabletten hiergelassen. Er sagt, daß du Schmerzen haben wirst.« Nick nickte kläglich. »Ich hol' sie. Es...« Er brach ab, und in seiner Stummfilmwelt sah Nick den Sheriff mehrere Male explosionsartig in sein Taschentuch niesen. »Auch so was«, fuhr Baker fort, aber er hatte sich abgewandt, und Nick hatte nur das erste Wort mitbekommen. »Ich hab' mir 'ne richtig schöne Erkältung geholt. Mein Gott, ist das Leben nicht herrlich? Willkommen in Arkansas, Junge.« Er holte die Tabletten und brachte sie Nick. Nachdem er sie ihm zusammen mit einem Glas Wasser gegeben hatte, rieb sich Baker sachte unter dem Kinn. Er hatte eindeutig eine schmerzhafte Schwellung dort. Geschwollene Drüsen, Husten, Schnupfen und, wie es schien, leichtes Fieber. Ja, sah wirklich danach aus, als würde es ein prächtiger Tag werden. 10 Larry wachte mit einem Kater auf, der nicht allzu schlimm war, einem Geschmack im Mund, als hätte ein Babydrache ihn als Nachttopf benutzt, und dem Gefühl, als wäre er irgendwo, wo er nichts zu suchen hatte. Es war ein Einzelbett, aber mit zwei Kissen. Er konnte brutzelnden Speck riechen. Er setzte sich auf, sah, daß draußen ein neuer grauer Tag in New York anbrach, und sein erster Gedanke war, daß sie über Nacht etwas Schreckliches mit Berkeley gemacht hatten. Sie hatten es schmutzig und rußig gemacht, gealtert. Dann dämmerte ihm der vergangene Abend, und er wußte, er sah Fordham, nicht Berkeley. Er war in der Tremont Avenue in einer Wohnung im zweiten Stock, nicht weit vom Concourse entfernt, und seine Mutter würde sich fragen, wo er letzte Nacht gewesen war. Hatte er sie angerufen und ihr irgendeine Ausrede aufgetischt, wie dürftig sie auch immer gewesen sein mochte? Er schwang die Beine aus dem Bett und fand eine zerknüllte Packung Winston, in der noch eine verbogene Zigarette war. Er zündete sie mit einem grünen Bic-Plastikfeuerzeug an. Sie schmeckte wie tote Pferdescheiße. Draußen in der Küche hörte er immer noch den Speck brutzeln, wie Rauschen im Radio. Das Mädchen hieß Maria, und sie hatte gesagt, sie war... was? Fachfrau für Mundhygiene, war es das? Larry wußte nicht, was sie von Hygiene wußte, aber mit dem Mund war sie eine Offenbarung. Er konnte sich vage erinnern, daß sie ihn gelutscht hatte wie eine Zuckerstange. Im Hintergrund Crosby, Stills und Nash in der beschissenen kleinen Stereoanlage im Wohnzimmer, die gesungen hatten, wieviel Wasser unter der Brücke durchgeflossen war und wieviel Zeit wir unterwegs vergeudet hatten. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Maria ganz sicher nicht viel Zeit vergeudet. Sie war überwältigt gewesen, als sie herausfand, daß er der Larry Underwood war. Waren sie nicht einmal während der abendlichen Orgie losgezogen und hatten einen offenen Plattenladen gesucht, damit sie »Baby, Can You Dig Your Man?« kaufen konnten? Er stöhnte ganz leise und versuchte, den gestrigen Tag von seinem unschuldigen Anfang bis zum hektischen, lutschenden Finale zu rekonstruieren. Die Yankees waren nicht in der Stadt, daran konnte er sich erinnern. Als er aufwachte, war seine Mutter schon zur Arbeit gegangen, aber sie hatte den Spielplan der Yankees zusammen mit einem Zettel auf dem Küchentisch liegenlassen: »Larry. Wie Du siehst, sind die Yankees erst am i. Juli wieder da. Sie spielen am 4. Juli ein Doppelmatch. Wenn Du heute nichts anderes vorhast, könntest Du mit Deiner Mutter zum Ball Park gehen. Ich zahle Bier und Hot Dogs. Im Kühlschrank sind Eier und Würstchen, im Brotkasten Plunderstücke, wenn Du die lieber magst. Paß auf Dich auf, Junge.« Darunter ein typisches Alice-Underwood-PS: »Die meisten Kinder, mit denen Du Dich abgegeben hast, sind weggezogen, und ich trauere den Tunichtguten nicht nach, aber ich glaube, Buddy Max arbeitet in der Druckerei in der Stricker Avenue.« Wenn er nur an diesen Zettel dachte, zuckte er zusammen. Kein »Lieber« vor seinem Namen, kein »Alles Liebe« vor der Unterschrift. Sie hielt nichts von Getue. Alles Wichtige war im Kühlschrank. Während er die Erschöpfung seiner Fahrt durch Amerika ausgeschlafen hatte, war sie weggegangen und hatte jede verdammte Köstlichkeit eingekauft, die er gern aß. Ihre Erinnerung war so perfekt, es war beängstigend. Dosenschinken Marke Daisy. Zwei Pfund echte Butter - wie konnte sie sich das bei ihrem Gehalt leisten? Zwei Sechserpacks Coke. Würstchen. Roastbeef, das bereits in Alices Geheimmarinade eingelegt war, deren Zutaten sie nicht einmal ihrem Sohn preisgab, und eine Dreiliterpackung BaskinRobbins Eiskrem »Peach Delight« im Gefrierfach. Und obendrein ein Käsekuchen Marke Sara Lee. Mit Erdbeeren drauf. Einer Eingebung folgend, war er ins Bad gegangen, nicht nur, um diese Blase zu leeren, sondern auch, um im Alibert nachzusehen. Eine brandneue Pepsodent-Zahnbürste hing im alten Halter, wo sämtliche Zahnbürsten seiner Kindheit gehangen hatten, eine nach der anderen. In der Schublade war eine Packung Rasierklinmgen, Burma-Shave-Rasierschaum und sogar eine Flasche Old Spiee Aftershave. Nichts Besonderes, hätte sie wohl dazu gesagt - Larry konnte sie buchstäblich hören -, aber für den Preis gut genug. Er hatte alle Sachen stumm betrachtet und dann die neue Zahnbürste herausgenommen und in der Hand gehalten. Kein »Lieber«, kein »Alles Liebe, Mama«. Nur eine neue Zahnbürste, eine neue Tube Zahnpasta, eine neue Flasche Rasierwasser. Manchmal, dachte er, ist wahre Liebe nicht nur blind, sondern auch stumm. Er putzte sich die Zähne und überlegte, ob das nicht ein Thema für einen Song war. Die Mundhygienikerin kam herein; sie hatte einen knappen rosa Slip an, und sonst nichts. »Hi, Larry«, sagte sie. Sie war klein, auf eine unbestimmte, an Sandra Dee erinnernde Weise hübsch, und ihre Brüste ragten ihm spitz und ohne eine Spur von Hängen entgegen. Wie ging der alte Witz? Ganz recht, Kumpel - sie hatte ein Paar achtunddreißiger und einen echten Revolver. Ha-ha, sehr witzig. Er hatte dreitausend Meilen zurückgelegt, damit er eine Nacht mit Sandre Dee verbringen und sich beinahe bei lebendigem Leib auffressen lassen konnte. »Hi«, sagte er und stand auf. Er war nackt, aber seine Kleidungsstücke lagen am Fußende des Betts. Er zog sie nacheinander an. »Ich hab' einen Morgenmantel, wenn du den anziehen willst. Es gibt Hörnchen und Speck.« Hörnchen und Speck? Sein Magen zog sich zusammen und überschlug sich. »Nein, Liebes, ich muß los. Muß jemand treffen.« »He, du kannst mich nicht einfach so stehen lassen...« »Es ist wirklich wichtig.« »Gut, ich bin auch wichtig!« Sie wurde schrill. Larry bekam Kopfschmerzen. Er mußte ohne ersichtlichen Grund an Fred Feuerstein denken, wenn der aus vollen Zeichentrick-Lungen »Wiiilmaaaa!« schrie. »Deine Bronx-Herkunft kommt durch, Liebes«, sagte er. »Was soll das denn heißen?« Sie stemmte die Hände in die Hüften, aus einer ragte der fettige Bratwender hervor wie eine Blume aus Stahl. Ihre Brüste wippten aufreizend, aber Larry ließ sich nicht aufreizen. Er zog die Hose an und knöpfte sie zu. »Ich bin aus der Bronx, na gut, macht mich das zu einer Schwarzen? Was hast du gegen die Bronx? Bist du vielleicht ein Rassist?« »Ich habe nichts gegen die Bronx und bin kein Rassist«, sagte er und ging barfuß zu ihr. »Hör zu, ich muß dringend zu meiner Mutter. Ich bin erst vor zwei Tagen in die Stadt gekommen und hab' sie gestern abend nicht angerufen... oder doch?« fügte er hoffnungsvoll hinzu. »Du hast niemand angerufen«, sagte sie mürrisch. »Klar doch, deine Mutter. « Er ging zum Bett zurück und zog die Schuhe an. »Wirklich. Meine Mutter. Sie arbeitet im Chemical Bank Building. Sie ist Putzfrau. Nun, heute ist sie wohl Etagenaufsicht.« »Ich wette, du bist auch nicht der Larry Underwood, der die Platte gemacht hat.« »Glaub was du willst. Ich muß mich beeilen.« »Du elender Drecksack!« kreischte sie ihn an. »Was soll ich mit dem Essen machen, das ich gekocht habe?« »Zum Fenster rauswerfen?« schlug er vor. Sie stieß einen schrillen Wutschrei aus und warf den Bratwender nach ihm. An jedem anderen Tag seines Lebens hätte das Ding ihn verfehlt. Eines der wichtigsten physikalischen Gesetze lautet: Ein Bratwender beschreibt niemals eine gerade Flugbahn, wenn er von einer wütenden Mundhygienikerin geworfen wird. Aber dies war die Ausnahme, die die Regel bestätigte, hui-bui, Kurve und zack, genau gegen Larrys Stirn. Es tat nicht sehr weh. Dann sah er zwei Tropfen Blut auf den Teppich fallen, als er sich bückte, um das Wurfgeschoss aufzuheben. Er ging mit dem Bratwender in der Hand zwei Schritte auf sie zu. »Ich sollte dich damit übers Knie legen«, schrie er sie an. »Klar«, sagte sie, wich zurück und fing an zu weinen. »Warum nicht? Du großer Star. Ficken und verpissen. Ich dachte, du bist ein netter Kerl. Du bist kein netter Kerl.« Ein paar Tränen liefen über ihre Wangen und tropften vom Kiefer auf den Brustkorb. Fasziniert beobachtete er, wie eine Träne an der Wölbung der rechten Brust herablief und an der Brustwarze hängenblieb. Die Träne wirkte wie ein Vergrößerungsglas. Er sah Poren und ein schwarzes Haar, das aus dem Warzenhof hervorsproß. Mein Gott, ich werde verrückt, dachte er verwundert. »Ich muß gehen«, sagte er. Seine weiße Jacke lag am Fußende des Bettes. Er hob sie auf und warf sie über die Schultern. »Du bist kein netter Kerl!« schrie sie, als er ins Wohnzimmer ging. »Ich bin nur mit dir gegangen, weil ich dich für einen netten Kerl gehalten habe.« Der Anblick des Wohnzimmers ließ ihn innerlich aufstöhnen. Auf der Couch, wo sie ihm einen geblasen hatte, wie er sich dumpf erinnerte, lagen mindestens zwei Dutzend Exemplare »Baby, Can You Dig Your Man?« Drei weitere lagen auf dem Plattenteller des verstaubten tragbaren Plattenspielers. An der hintersten Wand hing ein riesiges Poster mit Ryan O'Neil und Ali McGraw. Einen geblasen kriegen heißt, niemals um Verzeihung bitten zu müssen, ha-ha. Mein Gott, ich werde tatsächlich verrückt. Sie stand in der Schlafzimmertür, weinte immer noch und sah in dem knappen Slip erbarmenswert aus. Er entdeckte an einem Schienbein eine kleine Wunde, wo sie sich beim Rasieren geschnitten hatte. »Hör zu«, sagte sie. »Ruf mich an. Ich bin nicht böse.« Er hätte »klar« sagen sollen, dann wäre alles in Ordnung gewesen. Statt dessen hörte er sich nur verrückt lachen und sagen: »Dein Hering brennt an.« Sie schrie ihn an und kam durchs Zimmer, stolperte aber über ein Sitzkissen am Boden und fiel hin. Mit einer Hand warf sie eine halbvolle Milchflasche um und stieß eine leere Flasche Scotch an, die daneben stand. Heiliger Gott, dachte Larry, haben wir das etwa gemischt? Er machte, daß er rauskam, und sprang die Treppe hinunter. Als er die letzten sechs Stufen zur Haustür ging, hörte er sie oben schreien: »Du bist kein netter Kerl! Du bist kein...« Er schlug die Tür hinter sich zu, und dunstige, feuchte Wärme, die den Geruch von frischem Grün und Autoabgasen mit sich brachte, hüllte ihn ein. Es war wie Parfüm nach dem Gestank von Bratfett und kaltem Zigarettenrauch. Er hielt immer noch die Zigarette in der Hand, die schon bis auf den Filter heruntergebrannt war, und er warf sie in den Rinnstein und atmete die frische Luft ein. Herrlich, diesem Wahnsinn den Rücken gekehrt zu haben. Folgen Sie uns nicht in die guten alten normalen Zeiten zurück, sondern... Oben wurde polternd ein Fenster aufgeschoben, und er wußte schon, was kommen würde. »Hoffentlich verfaulst du!« schrie sie zu ihm hinunter. Ganz das keifende Fischweib aus der Bronx. »Hoffentlich fällst du vor eine verdammte U-Bahn! Du bist gar kein Sänger! Du bist beschissen im Bett! Du Wanze! Schreib dir das hinter die Ohren! Das kannst du deiner Mutter sagen, du Wanze!« Die Milchflasche kam aus ihrem Schlafzimmerfenster im zweiten Stock geflogen. Larry duckte sich. Wie eine Bombe explodierte sie im Rinnstein, Glassplitter übersäten die Straße. Die Flasche Scotch folgte. Sie überschlug sich in der Luft und zerplatzte dicht vor seinen Füßen. Was immer sie sein mochte, sie konnte verdammt gut zielen. Er fing an zu laufen und hielt einen Arm über den Kopf. Dieser Wahnsinn würde nie enden. Hinter sich hörte er einen letzten langen Schrei, triumphierend und mit dem saftigen Akzent der Bronx. »LECK MICH AM ARSCH, DU BILLIGER SCHEISSKERL!« Dann hatte er die Ecke hinter sich gelassen, stand auf der Brücke über der Schnellstraße, beugte sich über das Geländer, lachte mit einer nervösen Intensität, die an Hysterie grenzte, und betrachtete die Autos, die unten vorbeifuhren. »Hättest du das nicht besser machen können?« sagte er und merkte gar nicht, daß er laut sprach. »O Mann, das hättest du besser machen können. Eine üble Szene. Scheiß drauf, Mann.« Er merkte, daß er laut sprach, und fing wieder an zu lachen. Plötzlich spürte er kreisende, benommene Übelkeit im Magen und kniff fest die Augen zu. Eine Erinnerung stieg aus der Abteilung für Masochismus auf, und er hörte Wayne Stukey sagen: Du hast etwas an dir, als ob man auf Stanniol beißt. Er hatte das Mädchen wie eine alte Hure am Morgen nach dem Collegeabschluß-Rudelbums behandelt. Du bist kein netter Kerl. Doch. Doch. Aber als die Leute auf der großen Party gegen seinen Beschluss protestiert hatten, sie alle rauszuwerfen, hatte er mit der Polizei gedroht, und das hatte er ernst gemeint. Oder nicht? Doch. Doch. Die meisten waren Fremde, das stimmte, und sie hätten seinethalben auf eine Tretmine scheißen können, aber vier oder fünf der Protestierenden kannte er aus alten Zeiten. Und Wayne Stukey, der Dreckskerl, hatte mit verschränkten Armen in der Tür gestanden wie der Henker vor seinem Auftritt. Als Sal Doria rausging, hatte er gesagt: Wenn der Erfolg dir so zu Kopf steigt, Larry, wäre es mir lieber, du wärst heute noch Sessionmusiker. Er machte die Augen auf, ließ die Brücke hinter sich und sah sich nach einem Taxi um. Klar. Die »gekränkter-Freund«-Tour. Wenn Sal wirklich so ein guter Freund war, warum hatte der ihn dann überhaupt ausgenommen? Ich war dumm, und niemand sieht es gern, wenn ein Dummer schlau wird. Das ist die ganze Geschichte. Du bist kein netter Kerl. »Ich bin ein netter Kerl«, sagte er verdrossen. »Und wen geht das überhaupt was an?« Ein Taxi kam, und Larry winkte. Es schien einen Moment zu zögern, ehe es an den Straßenrand fuhr, und Larry fiel das Blut auf der Stirn wieder ein. Er machte die Hecktür auf und stieg ein, bevor es sich der Fahrer anders überlegen konnte. »Nach Manhattan. Zum Chemical Bank Building«, sagte er. Das Taxi fädelte sich in den Verkehr ein. »Sie haben sich an der Stirn geschnitten«, sagte der Fahrer. »Ein Mädchen hat einen Bratwender nach mir geworfen«, sagte Larry geistesabwesend. Der Fahrer schenkte ihm ein seltsam falsches, verständnisvolles Lächeln, fuhr weiter und ließ Larry sich auf dem Rücksitz einrichten und überlegen, wie er seiner Mutter die nächtliche Abwesenheit erklären sollte. 11 Larry fand in der Lobby eine müde aussehende farbige Frau, die ihm sagte, Alice Underwood sei wahrscheinlich im vierundzwanzigsten Stock, wo sie Inventur mache. Er ging zum Fahrstuhl, fuhr hinauf und stellte fest, daß ihm die anderen in der Kabine verstohlene Blicke zuwarfen. Die Verletzung an der Stirn blutete nicht mehr, war aber zu einer abstoßenden Kruste getrocknet. Im vierundzwanzigsten Stock befanden sich die Büros einer japanischen Kamerafirma. Larry ging fast zwanzig Minuten die Flure entlang, suchte nach seiner Mutter und kam sich wie das letzte Arschloch vor. Es waren eine Menge Angestellte aus dem Okzident anwesend, aber auch so viele Japaner, daß er sich mit seinen eins siebenundachtzig wie ein ziemlich großes Arschloch vorkam. Die kleinen Männer und Frauen mit den hochgezogenen Schlitzaugen betrachteten seine verkrustete Stirn und den blutigen Jackettärmel mit beunruhigender orientalischer Unverbindlichkeit. Hinter einem sehr großen Farnbaum entdeckte er schließlich eine Tür mit der Aufschrift HAUSMEISTER & ZUBEHÖR. Er drehte den Knauf. Die Tür war nicht verschlossen, und er spähte hinein. Seine Mutter war drinnen, sie trug die abgetragene graue Uniform, Putzzeug und Schuhe mit Kreppsohlen. Das Haar war straff unter einem schwarzen Netz verborgen. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. In einer Hand hielt sie einen Notizblock und schien Putzmittelflaschen auf einem hohen Regal zu zählen. Larry verspürte den starken und schuldbewußten Impuls, sich einfach umzudrehen und wegzulaufen. Zum Parkhaus zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt und den Z holen. Scheiß auf die zwei Monatsmieten, die er gerade für den Parkplatz hingeblättert hatte. Einfach reinsetzen und Boogie. Aber Boogie wohin? Irgendwohin. Bar Harbor, Maine. Tampa, Florida. Salt Lake City, Utah. Alles war gut, wo er sich in sicherer Entfernung von Dewey the Deck und seinem nach Seife riechenden Köfferchen befand. Er wußte nicht, ob es am Neonlicht oder der Stirnverletzung lag, aber er bekam Scheißkopfschmerzen. " Ach, hör auf zu flennen, alter Waschlappen. »Hi, Mom«, sagte er. Sie zuckte etwas zusammen, drehte sich aber nicht um. »Aha, Larry. Demnach hast du deinen Weg in die besseren Viertel gefunden.« »Klar.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte mich entschuldigen. Ich hätte gestern abend anrufen sollen...« »Ja. Gute Idee.« »Ich war bei Buddy. Wir... äh... waren auf Tour. Haben die Stadt unsicher gemacht.« »Das dachte ich mir. Oder etwas Ähnliches.« Sie hakte mit dem Fuss einen kleinen Hocker zu sich heran, stieg darauf und fing an, die Bohnerwachsflaschen auf dem obersten Regal zu zählen, wobei sie jede einzelne kurz mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand berührte. Sie mußte sich dabei strecken, weshalb ihr Kleid hochrutschte, und er konnte über dem braunen Saum ihrer Strümpfe das weiße Fleisch der Oberschenkel sehen und wandte sich abrupt ab, weil ihm plötzlich wie aus heiterem Himmel einfiel,was mit Noahs drittem Sohn passiert war, als dieser seinen alten Herrn angesehen hatte, der nackt und betrunken auf der Decke lag. Der arme Kerl war hinterher bloß noch Holzfäller und Wasserträger gewesen. Er und seine sämtlichen Nachfahren. Und deshalb haben wir heute Rassenunruhen, Sohn. Gelobt sei Gott. »Bist du nur gekommen, um mir das zu sagen?« fragte sie und drehte sich zum ersten Mal zu ihm um. »Um zu sagen, wo ich war und mich zu entschuldigen. Es war gemein von mir, daß ich es vergessen habe.« »Ja«, sagte sie wieder. »Aber du hast eine gemeine Seite, Larry. Glaubst du, das hätte ich vergessen?« Er wurde rot. »Mom, hör mal...« »Du blutest. Hat dir eine Stripperin die Strapse um die Ohren geschlagen?« Sie wandte sich wieder dem obersten Regal zu, und als sie die ganze Flaschenreihe gezählt hatte, trug sie die Zahl auf dem Block ein. »Irgendwer hat vergangene Woche zwei Flaschen Bohnerwachs mitgehen lassen«, bemerkte sie. »Die Glückliche.« »Ich wollte sagen, daß es mir leid tut!« sagte Larry laut. Sie zuckte nicht zusammen, aber er. Etwas. »Ja, das hast du schon gesagt. Mr. Geoghan wird wie der Zorn Gottes über uns kommen, wenn noch mehr von diesem verdammten Bohnerwachs verschwindet.« »Ich habe mich nicht in einer Bar geprügelt und war auch nicht in einem Striplokal. Nichts dergleichen. Es war nur...« Er verstummte. Sie drehte sich um und hatte die Brauen auf die sardonische Weise hochgezogen, an die er sich nur zu gut erinnerte. »War was?« »Nun...« Er konnte sich nicht schnell genug eine überzeugende Lüge ausdenken. »Es war. Ein. Ah. Bratwender.« »Hat dich jemand mit einem Spiegelei verwechselt? Du und Buddy scheint ja eine tolle Nacht in der Stadt hinter euch zu haben.« Er vergaß, daß sie ihn in die Enge treiben konnte; das hatte sie immer gekonnt und würde es wahrscheinlich auch immer können. »Es war ein Mädchen, Ma. Sie hat ihn nach mir geworfen.« »Muß ja eine regelrechte Kunstschützin sein«, sagte Alice Underwood und wandte sich wieder ab. »Diese verflixte Consuela versteckt schon wieder die Bestellformulare vor uns. Nicht, daß sie viel nützen würden; wir bekommen nie alles, was wir brauchen, aber wir bekommen eine Menge Sachen, mit denen ich nichts anzufangen weiß, und wenn mein Leben davon abhängen würde.« »Ma, bist du böse auf mich?« Plötzlich ließ sie die Hände sinken. Ihre Schultern sackten herab. »Sei nicht böse auf mich«, flüsterte er. »Bitte nicht. Okay? Hm?« Sie drehte sich um, und er sah ein unnatürliches Funkeln in ihren Augen - nun, wahrscheinlich war es durchaus natürlich, aber es wurde ganz sicher nicht vom Neonlicht hier drinnen verursacht, und er hörte die Mundhygienikerin wieder mit großer Endgültigkeit sagen: Du bist kein netter Kerl. Warum hatte er sich überhaupt erst die Mühe gemacht, nach Hause zu kommen, wenn er ihr so etwas antat... und nichts darauf gab, was sie für ihn alles tat. »Larry«, sagte sie zärtlich. »Larry, Larry, Larry.« Einen Augenblick dachte er, sie würde nichts mehr sagen; wiegte sich sogar in der Hoffnung, es wäre so. »Mehr kannst du nicht sagen? >Sei mir nicht böse, Mom. Bitte nichtPokerisierer< nannte, sechs Schrotflinten - zwei mit abgesägten Läufen - und eine SchmeisserMaschinenpistole. Mord lag ein wenig über ihren intellektuellen Fähigkeiten, aber sie wußten genau, daß sie Ärger bekommen würden, wenn die Arizona State Police sie mit einem gestohlenen Wagen voll Stoff und Schießeisen erwischte. Zu allem Überfluss waren sie Staaten-Flüchtlinge. Schon seit sie Nevadas Grenze überschritten hatten. Staaten-Flüchtlinge. Hörte sich gut an, fand Lloyd Henreid. Nimm das, dreckige Ratte. Friß blaue Bohnen, dreckiger Bulle. Sie waren also bei Deming nach Norden abgebogen und fuhren auf der 180; sie hatten Hurley und Bayard und die etwas größere Stadt Silver City passiert, wo Lloyd eine Tüte Hamburger und acht Milchshakes gekauft (warum, in Gottes Namen, hatte er acht verdammte Dinger gekauft? Bald würden sie Schokolade pissen) und dabei die Bedienung so leer und doch heiter angestarrt hatte, daß sie noch Stunden später nervös war. Ich glaube, dieser Mann hätte mich genausogut umbringen wie anstarren können, sagte sie ihrem Chef an diesem Nachmittag. Hinter Silver City waren sie durch Cliff gedröhnt, wo die Straße wieder nach Westen bog, genau die Richtung, in die sie nicht wollten. Durch Buckhorn, und dann waren sie wieder im Land, das Gott vergessen hatte; eine zweispurige Asphaltstraße führte zwischen Beifuß und Sand hindurch, im Hintergrund Berge und Tafelland, immer dieselbe alte Leier, so daß man sich einfach rauslehnen und draufkotzen wollte. »Benzin wird knapp«, sagte Poke. »Nicht, wenn du nicht so verdammt schnell fahren würdest«, sagte Lloyd. Er trank einen Schluck von seinem dritten Milchshake, würgte, ließ das Fenster herunter und warf den ganzen Müll zusammen mit den Milchshakes, die sie noch nicht angerührt hatten, nach draußen. »Hüah! Hüah!« schrie Poke. Er fing an, mit dem Gaspedal zu spielen. Der Connie schoß vorwärts, fiel zurück, schoß vorwärts. »Reit sie, Cowboy!« brüllte Lloyd. »Hüah! Hüah!« »Willst du rauchen?« »Rauch, solange du hast«, sagte Poke. »Hüah! Hüah!« Zwischen Lloyds Füßen stand eine große grüne Tüte auf dem Boden. Sie enthielt die sechzehn Pfund Marihuana. Er griff hinein, holte eine Handvoll heraus und fing an, einen Bomber-Joint zu drehen. »Hüah! Hüah!« Der Connie schlingerte hin und her über den Mittelstreifen. »Laß den Scheiß!« schrie Lloyd. »Ich verschütte alles.« »Wo das herkommt, ist noch mehr... Hüah!« »Komm, wir müssen den Stoff verkaufen, Mann. Wir müssen den Stoff verkaufen, sonst werden wir erwischt und landen in irgendeinem Kofferraum.« »Okay, Sportsfreund.« Poke fuhr wieder normal, aber sein Gesicht war verdrossen. »Es war deine Idee, deine Scheißidee.« »Du warst begeistert davon.« »Ja, aber ich hab' nicht gewußt, daß wir um ganz verdammt Arizona rumfahren müssen. Wie sollen wir denn so jemals nach New York kommen?« »Wir schütteln die Verfolger ab, Mann«, sagte Lloyd. In Gedanken sah er, wie sich die Türen der Polizeigaragen auftaten und Tausende 1940er Funkstreifenwagen in die Nacht fuhren. Scheinwerfer, die über Ziegelwände huschten. Kommen Sie raus, Canarsie, wir wissen, daß Sie da drin sind. »Verdammte Scheiße«, sagte Poke immer noch verdrossen. »Wir haben echt ganze Arbeit geleistet. Weißt du, was wir außer Stoff und Kanonen noch haben? Sechzehn Piepen und dreihundert verdammte Kreditkarten, die wir vor lauter Schiß nicht benützen. Scheiß drauf, wir haben nicht mal genug Geld zum Tanken.« »Der Herr gibt's den Seinen«, sagte Lloyd und klebte den Bomber mit Spucke zu. Er steckte ihn mit dem Zigarettenanzünder am Armaturenbrett an. »Scheißleben.« »Wenn du das Zeug verkaufen willst, warum rauchen wir es dann?« fragte Poke, den der Gedanke, daß der Herr den Seinen gibt, nicht sehr beruhigen konnte. »Dann verkaufen wir eben ein paar getürkte Gramm. Komm schon, Poke. Rauch eine.« Das verfehlte auf Poke nie seine Wirkung. Er lachte wiehernd und nahm den Joint. Die vollgeladene Schmeisser stand auf ihrem Stativ zwischen ihnen. Der Connie schoß weiter die Straße entlang. Die Benzinanzeige stand auf ein Achtel. Poke und Lloyd hatten sich vor einem Jahr in der Brownsville Minimal Security Station kennengelernt, einer Arbeitsfarm in Nevada. Brownsville hatte eine 3,6 Hektar große bewässerte Anbaufläche und einen Gefängniskomplex, der aus einzelnen Hütten bestand, alles lag etwa sechzig Meilen nördlich von Tonopah und etwa achtzig nordöstlich von Gabbs. Eine üble Institution für kurze Haftstrafen. Obwohl Brownsville eine Farm sein sollte, wuchs hier wenig. Karotten und Salat bekamen eine Portion sengende Sonne, kicherten resigniert und gingen ein. Hülsenfrüchte und Unkraut konnten hier überleben, aber die staatliche Legislative war geradezu besessen von der Idee, daß hier eines Tages Sojabohnen wachsen würden. Günstigstenfalls könnte man über Brownsvilles vorgeblichen Zweck sagen, daß die Wüste sich unchristlich lange Zeit ließ, um zu erblühen. Der Gefängnisleiter (der sich gern »Boß« nennen ließ) war stolz darauf, ein Brutalo zu sein und stellte nur Leute ein, die er seinerseits für Brutalos hielt. Er erzählte Grünschnäbeln gerne, dass Brownsville vorwiegend deshalb »Minimum Security « - unterste Sicherheitsstufe - war, weil es, wenn es um Flucht ging, wie in dem Song war: noplace to run to, baby, noplace to hide. Ein paar versuchten es trotzdem, aber die meisten wurden nach zwei oder drei Tagen wieder zurückgebracht, mit Sonnenbrand, halbblind und bereit, dem Boß ihre eingeschrumpften Rosinen von Seelen für ein Glas Wasser zu verkaufen. Einige lachten irre, und ein junger Mann, der drei Tage draußen gewesen war, behauptete, er habe ein paar Meilen südlich von Gabbs ein großes Schloß gesehen, ein Schloss mit einem Graben. Der Graben, sagte er, wurde von Kobolden bewacht, die auf großen schwarzen Pferden ritten. Als ein paar Monate später ein Erweckungsprediger in Brownsville seine Show abzog, fand er in demselben jungen Mann seinen gläubigsten Anhänger. Andrew »Poke« Freeman, der nur wegen Körperverletzung saß, wurde im April 1989 entlassen. Er hatte ein Bett neben Lloyd Henreid gehabt und ihm erzählt, falls Lloyd an einem großen Ding interessiert sei, wüßte er was Interessantes in Vegas. Lloyd war interessiert. Lloyd wurde am 1.Juni entlassen. Sein Verbrechen, in Reno begangen, war versuchte Vergewaltigung. Die Dame war ein Showgirl auf dem Heimweg gewesen und hatte Lloyd eine Ladung Tränengas in die Augen gesprüht. Er war froh, daß er nur zwei bis vier Jahre bekommen hatte, Untersuchungshaft angerechnet, und Erlaß wegen guter Führung. In Brownsvi lle war es so verdammt heiß, daß es unmöglich war, sich nicht gut zu führen. Er nahm einen Bus nach Las Vegas, und Poke erwartete ihn an der Endstation. Und dann erklärte Poke ihm, was Sache war. Er kannte einen Burschen, einen »einmaligen Geschäftspartner«, wie Poke sich ausdrückte. Dieser Bursche war in gewissen Kreisen als Göttlicher George bekannt. Er machte die Dreckarbeit für eine Gruppe mit hauptsächlich italienischen oder sizilianischen Namen. George war ausschließlich Teilzeitkraft. Die Arbeit, mit der diese sizilianischen Typen ihn betrauten, bestand hauptsächlich darin, irgendwelche Dinge wegzubringen und andere Dinge zu holen. Manchmal beförderte er etwas von Vegas nach L.A.; manchmal holte er etwas aus L.A. nach Vegas. Meistens kleinere Drogenlieferungen, Geschenke für Großkunden. Manchmal Waffen. Die Waffen wurden immer gebracht, nie geholt. Poke dachte (und sein Denken reichte selten über das hinaus, was man in der Filmbranche »Weichzeichnung« nannte), daß diese sizilianischen Typen manchmal Schießeisen an nicht organisierte Einbrecher verkauften. Nun, sagte Poke, der Göttliche George hatte versprochen, ihm Ort und Zeit mitzuteilen, sobald eine ansehnliche Lieferung solcher Artikel auf Lager war. George verlangte fünfundzwanzig Prozent vom Erlös. Poke und Lloyd würden bei George eindringen, ihn fesseln und knebeln, das Zeug nehmen und ihm vielleicht noch zu guter Letzt ein paar Knüffe und Rempler verpassen. Es mußte echt aussehen, hatte George gewarnt, denn mit diesen sizilianischen Typen war nicht zu spaßen. »Ja«, sagte Lloyd. »Hört sich gut an.« Am nächsten Tag besuchten Poke und Lloyd den Göttlichen George, einen netten, eins achtzig großen Mann mit einem kleinen Kopf, der auf zu breiten Schultern sowie einem Hals saß, der nicht zu existieren schien. Er hatte dichtes blondes Haar, was ihm das Aussehen eines berühmten Ringers gab. Lloyd waren Zweifel an dem Geschäft gekommen, aber Poke hatte ihn ein zweites Mal überredet. Darin war Poke gut. George bestellte sie für nächsten Freitag gegen sechs Uhr abends in sein Haus. »Tragt um Himmels willen Masken«, sagte er .»Und schlagt mir die Nase blutig und ein blaues Auge. Mein Gott, ich wollte, ich hätte mich nie drauf eingelassen.« Der große Abend kam. Poke und Lloyd fuhren mit dem Bus zur Ecke der Straße, wo George wohnte, und zogen vor seiner Haustür Skibrillen auf. Die Tür war verschlossen, aber, wie George versprochen hatte, nicht sehr gründlich. Unten war ein Hobbyraum, und dort stand George vor einer großen Tüte Marihuana. Die Tischtennisplatte war mit Schußwaffen beladen. George hatte Angst. »Mein Gott, mein Gott, hätte ich mich bloß nie darauf eingelassen«, sagte er immer wieder, als Lloyd ihm die Füße mit einer Wäscheleine fesselte und Poke ihm die Hände mit Tesapack verschnürte. Dann schlug Lloyd ihm auf die Nase, daß sie blutete, und Poke verpaßte ihm, wie gewünscht, ein blaues Auge. »Mein Gott«, rief George. »Mußte es so fest sein?« »Du hast doch gewollt, daß es echt wirkt«, erinnerte Lloyd ihn. Poke klebte George Klebeband auf den Mund. Die beiden fingen an, die Beute einzusammeln. »Weißt du was, alter Junge?« fragte Poke und hielt inne. »Nee«, sagte Lloyd und kicherte nervös. »Überhaupt nichts.« »Ich frage mich, ob old George ein Geheimnis für sich behalten kann.« Für Lloyd war das eine völlig neue Überlegung. Er sah den Göttlichen George eine lange Minute hart an. Georges Augen quollen plötzlich entsetzt aus den Höhlen. Dann sagte Lloyd: »Klar. Ist doch auch sein Arsch.« Aber das klang so unsicher, wie er sich fühlte. Wenn bestimmte Samen gepflanzt werden, wachsen sie fast immer. Poke lächelte. »Oh, er könnte einfach sagen: >He, Jungs, ich hab' einen alten Freund und seinen Kumpel getroffen. Wir haben über allen möglichen Scheiß geredet und ein paar Bier getrunken, und was meint ihr, kommen die Hurensöhne doch in mein Haus und nehmen mich auseinander. Hoffentlich kriegt ihr sie. Will euch mal sagen, wie sie aussehen.<« George schüttelte wild den Kopf, seine Augen waren große Os des Entsetzens. Die Waffen waren jetzt in einem großen Wäschesack aus derbem Leinen, den sie unten im Badezimmer gefunden hatten. Lloyd hob den Beutel nervös auf und sagte: »Was meinst du, sollen wir machen?« »Ich denke, wir sollten ihn pokerisieren, alter Junge«, sagte Poke bedauernd. »Einzige Möglichkeit.« Lloyd sagte: »Verdammt hart, wo er uns die Sache doch gesteckt hat.« »Die Welt ist hart, Junge.« »Ja«, seufzte Lloyd, und sie gingen zu George hinüber. -»Mfff«, sagte George, und wieder schüttelte er wild den Kopf. »Mmmmmmmm! Mmmmmmmff!« »Ich weiß«, beruhigte Poke ihn. »Scheiße, was? Tut mir leid, George. Ehrlich. Ist nichts Persönliches, vergiß das nicht. Halt seinen Kopf fest, Lloyd.« Das war leichter gesagt als getan. Der Göttliche George zuckte wie verrückt mit dem Kopf hin und her. Er saß in der Ecke seines Hobbyraums, und die Wände waren aus Ziegelsteinen, und er schlug ständig mit dem Kopf dagegen, schien es aber nicht einmal zu spüren. »Halt ihn fest«, sagte Poke gelassen und riß noch einen Klebestreifen von der Rolle. Schließlich packte Lloyd ihn an den Haaren und schaffte es, seinen Kopf so lange ruhig zu halten, daß Poke ihm den zweiten Streifen säuberlich über die Nase kleben konnte, wodurch ihm die Luft endgültig abgeschnitten wurde. George drehte völlig durch. Er rollte aus der Ecke, bäumte sich auf, und dann lag er da, zuckte und wand sich auf dem Boden und gab erstickte Laute von sich, die, wie Lloyd vermutete, wohl Schreie sein sollten. Armer Kerl. Es dauerte fast fünf Minuten, bis George ganz still lag. Er wälzte sich hin und her, er bäumte sich auf, er zappelte mit den Füßen. Sein Gesicht wurde so rot wie die Wände von Daddys alter Scheune. Zuletzt hob er die Beine zwanzig oder dreißig Zentimeter und ließ sie polternd auf den Boden fallen. Es erinnerte Lloyd an eine Szene, die er mal in einem Bugs-BunnyTrickfilm oder so gesehen hatte, und er kicherte und fühlte sich ein bißchen aufgeheitert. Bis jetzt war es ein eher grausamer Anblick gewesen. Poke kniete sich neben George und fühlte seinen Puls. »Und?« sagte Lloyd. »Tickt nur noch seine Uhr, alter Junge«, sagte Poke. »Da wir gerade davon sprechen...« Er hob Georges Arm und sah die Uhr an. »Nee, nur 'ne Timex. Ich dachte, es wäre 'ne Casio oder so was.« Er liess Georges Arm fallen. George hatte die Autoschlüssel in der Hosentasche. Und oben in einem Schrank fanden sie ein Skippy-Erdnußbutterglas, das zur Hälfte mit Zehncentstücken gefüllt war. Sie nahmen das Geld mit. Zwanzig Dollar und sechzig Cents in Zehncentstücken. Georges Auto war ein asthmatischer alter Mustang mit einem popeligen Vierganggetriebe, beschissenen Stoßdämpfern und Reifen, die so glatzköpfig waren wie Telly Savalas. Sie verließen Vegas auf der US 93 und fuhren in südöstlicher Richtung nach Arizona. Gegen Mittag des nächsten Tages, vorgestern, hatten sie Phoenix auf Landstraßen umfahren. Gestern gegen neun Uhr hatten sie vor einem schäbigen alten Laden zwei Meilen hinter Sheldon auf dem Arizona Highway 75 gehalten. Sie waren in den Laden eingedrungen und hatten den Inhaber pokerisiert, einen älteren Herrn mit einem Versandhausgebiß. Sie erbeuteten dreiundsechzig Dollar und den Kleintransporter des alten Tattergreises. Heute morgen waren zwei Reifen des Kleintransporters geplatzt. Zwei Reifen gleichzeitig, und keiner von ihnen konnte Nägel auf der Straße finden, obwohl sie fast eine halbe Stunde suchten und einander dabei einen Bomber-Joint hin und her reichten. Schließlich sagte Poke, es müsse ein Zufall gewesen sein. Und Lloyd meinte, er hätte weiß Gott schon von seltsameren Dingen gehört. Und dann kam der weiße Connie des Wegs, als wären ihre Gebete erhört worden. Sie hatten vor einiger Zeit die Staatsgrenze von Arizona nach New Mexiko überquert, obwohl sie das beide nicht wußten, und damit waren sie ein Fall für das FBI geworden. Der Fahrer des Connie hatte angehalten, sich hinausgebeugt und gesagt: »Braucht ihr Hilfe?« »Klar doch«, hatte Poke geantwortet und den Burschen auf der Stelle pokerisiert. Erwischte ihn mit der 3.57er Mag voll zwischen die Augen. Das arme Schwein hatte wahrscheinlich gar nichts mehr mitgekriegt. »Warum biegst du hier nicht ab?« sagte Lloyd und deutete auf eine Kreuzung vor ihnen. Er fühlte sich richtig schön high. »Mach ich glatt«, sagte Poke fröhlich. Er verringerte die Geschwindigkeit des Connie von achtzig auf sechzig. Er zog nach links, daß die rechten Räder sich kaum vom Boden hoben, und dann lag vor ihnen ein neuer Straßenabschnitt. Route 78, nach Westen. Und so kamen sie wieder nach Arizona und wußten nicht, daß sie es je verlassen und das hinter sich hatten, was die Zeitungen eine AMOKFAHRT DURCH DREI STAATEN nannten. Ungefähr eine Stunde später sahen sie rechts ein Schild: BURRACK 6. »Baracke?« fragte Lloyd benommen. »Burrack«, sagte Poke und riß das Steuer hin und her, so daß der Wagen große, anmutige Schlangenlinien fuhr. »Hüah! Hüah!« »Willst du hier halten? Ich hab' Hunger, Mann.« »Du hast immer Hunger.« »Leck mich am Arsch. Wenn ich stoned bin, brauch' ich was zu kauen.« »Du kannst ja auf meinem 25-Zentimeter-Schwanz kauen, wie war's? Hüah! Hüah!« »Im Ernst, Poke. Laß uns anhalten.« »Okay. Wir brauchen sowieso Geld. Wir haben erst mal genug Verfolger abgeschüttelt. Wir holen uns hier Geld und verpissen uns nach Norden. In dieser Wüstenscheiße hier komm' ich nicht klar.« »Okay«, sagte Lloyd. Er wußte nicht, ob es am Stoff lag, aber plötzlich hatte er eine unheimliche Platter, noch schlimmer als vorher auf dem Highway. Poke hatte recht. Vor diesem Burrack anhalten und ein Ding drehen wie das bei Sheldon. Ein bißchen Geld und ein paar Straßenkarten beschaffen, diesen verdammten Connie gegen etwas eintauschen, das in die Landschaft paßte, und dann auf Nebenstraßen nach Nordosten. Bloß raus aus Arizona. »Ich sag's dir ehrlich«, sagte Poke. »Ich bin plötzlich so nervös wie 'ne langschwänzige Katze in 'nem Zimmer voller Schaukelstühle.« "»Ich weiß, was du meinst, Gummibärchen«, sagte Lloyd feierlich, und dann wurden beide wieder lockerer, weil sie die Bemerkung so komisch fanden. Burrack war nicht viel mehr als eine Verbreiterung der Straße. Sie rasten durch, und auf der anderen Seite lag eine Kombination von Cafe, Laden und Tankstelle. Auf dem sandigen Parkplatz standen ein alter Ford und ein staubbedeckter Olds mit Pferdeanhänger. Als Poke den Connie auf den Platz fuhr, sah das Pferd sie an. »Scheint genau die richtige Adresse für uns zu sein«, sagte Lloyd. Poke stimmte zu. Er griff nach hinten, nahm die 3. 57er und prüfte das Magazin. »Startklar?« »Glaub' schon«, sagte Lloyd und nahm die Schmeisser. Sie gingen über den ausgetrockneten Boden des Parkplatzes. Die Polizei wußte seit vier Tagen, wer sie waren; sie hatten überall im Haus des Göttlichen George ihre Fingerabdrücke hinterlassen; ebenso im Laden, wo sie den alten Mann mit dem Versandhausgebiß pokerisiert hatten. Der Transporter des alten Mannes war fünfzehn Meter neben den Leichen der drei Insassen des Continental gefunden worden, und man durfte getrost annehmen, daß die Männer, die den Göttlichen George und den Ladenbesitzer getötet hatten, auch diese drei umgebracht hatten. Hätten sie anstelle des Cassettenrecorders das Radio des Connie eingeschaltet, hätten sie erfahren, daß die Polizei von Arizona und New Mexiko die größte Fahndung seit vierzig Jahren eingeleitet hatte, und das alles wegen ein paar kleinen Ganoven, die nicht ganz begriffen hatten, was sie denn groß getan haben könnten, um einen solchen Wirbel auszulösen. Die Tankstelle hatte Selbstbedienung; der Tankwart mußte nur die Zapfsäule einschalten. Deshalb gingen sie die Stufen hoch und hinein in den Laden. Zwischen Regalen mit Konserven führten drei Gänge zum Ladentisch. Dort bezahlte ein Mann in Cowboykleidung eine Packung Zigaretten und ein halbes Dutzend Slim Jims. Im mittleren Gang versuchte eine müde aussehende Frau mit strähnigen schwarzen Haaren, sich für eine von zwei Sorten Spaghetti-Soße zu entscheiden. Der Laden roch nach abgestandenem Lakritz und Sonne und Tabak und Alter. Der Inhaber war ein sommersprossiger Mann im grauen Hemd. Er trug eine Firmenmütze mit der Aufschrift SHELL in roten Buchstaben auf weißem Grund. Er sah hoch, als die Eingangstür zuschlug, und riss die Augen auf. Lloyd riß den Stahlbügel der Schmeisser an die Schulter und feuerte eine Salve zur Decke. Die beiden hängenden Glühbirnen platzten wie Bomben. Der Mann in Cowboykleidung drehte sich um. »Ruhig bleiben, und es passiert nichts!« schrie Lloyd, und Poke strafte ihn auf der Stelle Lügen, indem er ein Loch durch die Frau schoß, die die Soßen betrachtet hatte. Sie flog aus den Schuhen. »Jesses, Poke!« brüllte Lloyd. »Das war nicht unbedingt...« »Ich hab' sie pokerisiert, alter Junge«, kreischte Poke. »Sie wird nie wieder Jerry Falwell sehen! Hüah! Hüah!« Der Mann in Cowboykleidung drehte sich immer noch um. Er hielt die Zigaretten in der linken Hand. Das grelle Licht, das durch Fenster und Tür hereinfiel, ließ Sterne auf den dunklen Gläsern seiner Sonnenbrille funkeln. Am Gürtel trug er einen Revolver Kaliber 45, und während Lloyd und Poke die tote Frau anstarrten, zog er ihn ohne jede Eile. Er zielte, drückte ab, und die linke Seite von Pokes Gesicht verschwand plötzlich in einer Fontäne aus Blut und Gewebe und Zähnen. »Getroffen!« brüllte Poke, ließ die 357er fallen und taumelte rückwärts. Dabei schlug er mit den rudernden Händen um sich und riß Kartoffelchips und Tacos und Käsestangen von den Regalen. »Er hat mich getroffen, Lloyd! Paß auf! Er schießt! Er hat mich getroffen!« Er torkelte gegen die Eingangstür. Sie flog auf, und Poke kippte nach draußen auf die Veranda und riß eine der altersschwachen Türangeln ab. Lloyd, fassungslos, feuerte mehr einem Reflex folgend als aus Selbstverteidigung. Das Hämmern der Schmeisser dröhnte durch den Raum. Dosen flogen. Flaschen zerschellten, Ketchup, Mixed Pickles und Oliven spritzten herum. Die Scheibe des Pepsiautomaten splitterte nach innen. Flaschen mit Dr. Pepper und Jolt Orangensaft explodierten wie Tontauben. Überall floß Schaum. Der Mann in Cowboykleidung feuerte in aller Seelenruhe noch einmal. Lloyd hörte den Schuß kaum, aber er spürte die Kugel, die so nahe an seinem Kopf vorbeipfiff, daß die Haare flogen. Er mähte mit der Schmeisser von links nach rechts durch den Raum. Der Mann mit der SHELL-Mütze verschwand so schnell hinter dem Ladentisch, daß man meinen konnte, eine Falltür habe sich unter ihm aufgetan. Ein Kaugummiautomat löste sich in seine Bestandteile auf. Rote, blaue und grüne Kaugummikugeln prasselten auf den Boden. Auf dem Ladentisch explodierten die Glasflaschen. In der einen waren eingelegte Eier gewesen, in der anderen marinierte Schweinsfüße. Sofort erfüllte scharfer Essiggeruch den Raum. Drei Kugeln der Schmeisser rissen Löcher in das Khakihemd des Cowboys, und der größte Teil seiner Innereien spritzte nach hinten und auf Spuds Mackenzie. Die Fünfundvierziger noch in der einen, die Packung Luckies in der anderen Hand, ging der Cowboy zu Boden. Fast verrückt vor Angst feuerte Lloyd weiter. Die Maschinenpistole wurde heiß in seinen Händen. Ein Kasten mit leeren Pfandflaschen fiel klirrend zu Boden. Ein Pin-up-Girl in Hotpants bekam ein Einschußloch in den bezaubernden pfirsichfarbenen Schenkel. Ein Gestell mit Taschenbüchern ohne Umschläge stürzte krachend um. Dann war die Schmeisser leergeschossen, und die plötzliche Stille war ohrenbetäubend. Pulvergeruch hing schwer und dicht in der Luft. »Heiliger Jesus«, sagte Lloyd. Er sah mißtrauisch zu dem Cowboy hinüber. Es sah nicht so aus, als würde der Cowboy in naher oder ferner Zukunft zu einem Problem werden. »Er hat mich getroffen!« wimmerte Poke und taumelte wieder herein. Er riß die Tür mit solcher Wucht auf, daß auch die zweite Angel abriss und die Tür auf die Veranda knallte. »Er hat mich getroffen, Lloyd, paß auf!« »Ich hab' ihn erwischt, Poke«, tröstete Lloyd ihn, aber Poke schien es nicht zu hören. Er sah fürchterlich aus. Das rechte Auge glühte wie ein unheilvoller Saphir. Das linke war weg. Die linke Wange war verdampft; wenn er sprach, konnte man die Kiefermuskeln arbeiten sehen. Auf der Seite waren auch fast alle Zähne weg. Sein Hemd war blutgetränkt. Alles in allem war Poke ziemlich im Arsch. »Der Dummfick hat mich angeschossen!« kreischte Poke. Er bückte sich und hob die .357er Magnum auf. »Ich werd' dir beibringen, auf mich zu schießen, Dummfick!« Er ging auf den Cowboy zu, ein Dr. Sardonicus vom Lande. Er stellte einen Fuß auf die Hüfte des Cowboys, wie ein Jäger, der sich mit dem Bären fotografieren läßt, dessen Kopf demnächst sein Wohnzimmer schmücken soll, und traf Anstalten, die 3.57er Magnum in den Kopf des Mannes zu entleeren. Lloyd sah mit weit aufgerissenem Mund zu, hielt immer noch die rauchende Maschinenpistole in der Hand und überlegte krampfhaft, wie das alles hatte geschehen können. In diesem Augenblick sprang der Mann mit der SHELL-Mütze hinter dem Ladentisch hoch wie Jack aus seiner Box, sein Gesicht zeigte verzweifelte Entschlossenheit, beide Hände hielten eine doppelläufige Schrotflinte. »Ha?« sagte Poke, sah hoch und bekam beide Läufe ab. Lloyd entschied, daß es Zeit wurde zu gehen. Scheiß auf das Geld. Geld gab es überall. Es wurde entschieden Zeit, wieder ein paar Verfolger abzuschütteln. Er warf sich herum und verließ den Laden mit Riesenschritten, wobei seine Füße kaum die Bodenbretter berührten. Er war die Treppe halb herunter, als ein Wagen der Arizona State Police auf den Hof fuhr. Ein Beamter sprang aus der Beifahrertür und zog die Pistole. »Bleiben Sie stehen! Was geht da drinnen vor?« »Drei Tote«, schrie Lloyd. »Verdammte Schweinerei! Der Kerl ist hinten raus. Ich hau' ab.« Er lief zum Connie, war gerade im Begriff, sich hinter das Steuer zu klemmen, als ihm einfiel, daß die Schlüssel in Pokes Tasche waren, und der Beamte schrie: »Halt! Halt, oder ich schieße!« Lloyd hielt. Die Erinnerung an die radikalen chirurgischen Eingriffe an Pokes Gesicht hatte ihn überzeugt, besser aufzugeben. »Ach du Scheiße«, sagte Lloyd traurig, als ein zweiter Beamter ihm eine riesige Pistole an den Kopf hielt. Der erste legte ihm Handschellen an. »Hinten in den Wagen, Sunny Jim.« Der Mann mit der SHELL-Mütze war auf die Veranda gekommen und hatte die Schrotflinte immer noch in der Hand. »Er hat Bill Markson erschossen!« schrie er mit einer seltsam hohen Stimme. »Der andere hat Mrs. Storni erschossen! Ich kann's nicht fassen! Ich hab' den andern erschossen. Er ist so tot wie 'ne Scheißhauswanze. Den da will ich auch erschießen, wenn ihr Jungs zur Seite geht.« »Ruhig, Opa«, sagte einer der Beamten. »Der Spaß ist vorbei.« »Ich knalle ihn ab, wo er steht!« keifte der Alte. »Ich leg' ihn um!« Dann machte er eine Verbeugung wie ein englischer Butler und kotzte sich auf die Schuhe. »Jungs, schafft mich von diesem Kerl weg«, jammerte Lloyd. »Ich glaube, er ist verrückt.« »Im Laden hast du es nicht anders gewollt, Sunny Jim«, sagte der Polizist, der ihn gestellt hatte. Der Lauf der Pistole schwenkte hoch, bis er in der Sonne glänzte; dann sauste er auf Lloyd Henreids Kopf herunter, und Lloyd wachte erst abends in der Krankenstation des Staatsgefängnisses von Apache wieder auf. 17 Starkey stand vor Monitor Nummer zwei und betrachtete den Techniker zweiter Klasse Frank D. Bruce eingehend. Als wir Bruce zuletzt gesehen hatten, lag er mit dem Gesicht in einem Teller Rindfleischsuppe. Daran hat sich nichts geändert, ausgenommen die positive Identifizierung. Situation normal, alles im Eimer. Nachdenklich und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, wie ein General, der die Truppe inspiziert, wie General Black Jack Pershing, sein Jugendidol, ging Starkey zum Monitor Nummer vier, wo sich die Situation zum Besseren gewendet hatte. Dr. Emmanuel Ezwick lag immer noch tot auf dem Boden, aber die Zentrifuge war stehengeblieben. Um 19:40 Uhr gestern abend waren zarte Rauchwölkchen aus der Zentrifuge emporgestiegen. Um 19:55 Uhr hatten die Lautsprecher in Ezwicks Labor ein Geräusch, eine Art Wunga-Wunga-Wunga, übermittelt, das sich allmählich in ein volleres, tieferes und befriedigenderes Ronk! Ronk! Ronk! verwandelt hatte. Um 21:07 Uhr hatte die Zentrifuge ihr letztes Ronk geronkt und war langsam zur Ruhe gekommen. Hatte nicht Newton gesagt, daß es irgendwo, hinter dem fernsten Stern, einen Körper geben mochte, der vollkommen in Ruhe war? Newton hatte mit allem recht behalten, überlegte Starkey, außer mit der Entfernung. Man mußte nicht so weit gehen. Projekt Blau war vollkommen in Ruhe. Starkey war sehr froh. Die Zentrifuge war die letzte Illusion von Leben gewesen, und das Problem, auf das er Steffens Hauptcomputer angesetzt hatte (Steffen hatte ihn angesehen, als wäre er verrückt, und ja, dachte Starkey, vielleicht war er es auch), war: Wie lange, konnte man annehmen, lief die Zentrifuge? Die Antwort, die nach 6,6 Sekunden erfolgte, hatte gelautet: ± DREI JAHRE; WAHRSCHEINLICHE FEHLFUNKTION IN DEN NÄCHSTEN ZWEI WOCHEN 0,009%; TEILE WAHRSCHEINLICHSTER FEHLFUNKTION: LAGER 38%;HAUPTMOTOR: 16%; ALLE ANDEREN: 54%. Es war ein schlauer Computer. Nachdem Ezwicks Zentrifuge den Geist aufgegeben hatte, hatte Starkey Steffens den Computer noch einmal befragen lassen. Der Computer rief die Datenbank des Maschinensystems ab und gab an, daß tatsächlich die Lager der Zentrifuge ausgebrannt waren. Nicht vergessen, dachte Starkey, während sein Piepser hinter ihm frenetisch zu piepsen anfing. Das Geräusch von Lagern im letzten Stadium des Zusammenbruchs ist Ronk-ronk-ronk. Er ging zur Sprechanlage und drückte den Knopf, der den Piepser ausschaltete. »Ja, Len.« »Billy, ich habe einen dringenden Anruf von einem unserer Teams in einer Stadt namens Sipe Springs, Texas. Fast vierhundert Meilen von Arnette entfernt. Sie sagen, sie müssen mit dir sprechen; sie brauchen eine Stabsentscheidung. « »Worum geht es, Len?« fragte er ruhig. Er hatte in den vergangenen zehn Stunden über sechzehn »Schlappmacher« genommen und fühlte sich, allgemein gesprochen, großartig. Keine Spur von Ronk. »Drück auf den Knopf.« »Lieber Gott«, sagte Starkey geduldig. »Stell sie durch.« Man hörte dumpfes statisches Rauschen; im Hintergrund war eine unverständliche Stimme zu vernehmen. »Kleinen Moment«, sagte Len. Die statischen Geräusche ließen langsam nach. »...Löwe, Team Löwe, hören Sie uns, Basis Blau? Hören Sie uns? Eins... zwei... drei... vier... hier spricht Team Löwe...« »Ich höre Sie, Team Löwe«, sagte Starkey. »Hier spricht Basis Blau, Nummer eins.« »Das Problem ist unter >Blumentopf< im Kodebuch kodiert«, sagte die blecherne Stimme. »Wiederhole, >Blumentopf<.« »Verdammt noch mal, ich weiß, was >Blumentopf< ist«, sagte Starkey. »Wie ist die Situation?« Die blecherne Stimme aus Sipe Springs redete fast fünf Minuten ununterbrochen. Die Situation als solche war unwichtig, dachte Starkey, weil der Computer sie vor zwei Tagen informiert hatte, dass genau diese Situation (in der einen oder anderen Form) bis Ende Juni eintreten würde. 88% Wahrscheinlichkeit. Die Einzelheiten spielten keine Rolle. Wenn es zwei Beine und Gürtelschlaufen hatte, war es eine Hose. Farbe nebensächlich. Ein Arzt in Sipe Springs hatte ein paar naheliegende Vermutungen angestellt, und zwei Reporter einer Tageszeitung in Houston hatten die Geschehnisse in Sipe Springs mit denen in Arnette, Verona, Commerce City und einer Stadt namens Polliston, Kansas, in Verbindung gebracht. Das waren die Orte, wo sich das Problem so schnell so sehr verschlimmert hatte, daß die Armee geschickt worden war, um sie unter Quarantäne zu stellen. Der Computer hatte eine Liste von fünfundzwanzig anderen Städten in zehn Staaten ausgespuckt, wo sich Anzeichen von Blau zeigten. Die Situation in Sipe Springs war nicht wichtig, weil sie nicht einmalig war. Die Chance auf etwas Einmaliges hatten sie in Arnette gehabt - jedenfalls beinahe -, und dort hatten sie es vermasselt. Entscheidend war, daß die »Situation« nun zum ersten Mal auf etwas anderem als gelbem Kanzleipapier der Armee gedruckt erscheinen würde; das heißt, falls Starkey keine Schritte unternahm. Er hatte noch nicht entschieden, ob er das tun sollte oder nicht. Aber als die blecherne Stimme zu reden aufhörte, wurde Starkey klar, daß er die Entscheidung doch schon gefällt hatte. Er hatte sie vielleicht schon vor zwanzig Jahren gefällt. Entscheidend war die Frage, was wichtig war. Und wichtig war nicht die Tatsache der Krankheit; nicht die Tatsache, daß die Integrität von Atlanta irgendwie zunichte gemacht worden war und sie die gesamte Präventivoperation einer sehr viel weniger kompetenten Einrichtung in Stovington, Vermont, übertragen mußten; nicht die Tatsache, dass sich Blau in der tückischen Verkleidung einer gewöhnlichen Erkältung ausbreitete. »Wichtig ist...« »Bitte wiederholen, Basis Blau Nummer eins«, sagte die Stimme ängstlich. »Wir haben nichts empfangen.« Wichtig war, daß ein bedauerlicher Unfall stattgefunden hatte. Starkey reiste in Gedanken zweiundzwanzig Jahre in der Zeit zurück, ins Jahr 1968. Er war im Offiziersclub in San Diego gewesen, als die Nachricht über Calley und was in My Lai Vier passiert war, hereingekommen war. Starkey hatte mit vier anderen Männern Poker gespielt, von denen zwei mittlerweile im Generalstab saßen. Das Pokerspiel war im Verlauf der Diskussion darüber, was dieser Zwischenfall dem Militär antun würde - nicht einem Teil, sondern dem Militär als Ganzem, zumal in der Hexenjagd-Atmosphäre von Washingtons viertem Stand -, vollkommen vergessen worden. Und einer der Runde, ein Mann, der jetzt direkt zu dem erbärmlichen Wurm durchwählen konnte, der sich seit dem 20. Januar 1989 als oberster Boß verkleidet hatte, hatte die Karten sorgfältig auf den grünen Filztisch gelegt und gesagt: Meine Herren, ein bedauerlicher Unfall hat stattgefunden. Und wenn ein bedauerlicher Unfall stattfindet, der mit einer Abteilung des Militärs der Vereinigten Staaten zu tun hat, fragen wir nicht nach den Ursachen, sondern überlegen uns, wie wir ihn am besten vertuschen können. Die Armee ist Mutter und Vater für uns. Denn wenn man seine Mutter vergewaltigt vorfindet oder seinen Vater überfallen und ausgeraubt, bedeckt man zuerst einmal ihre Blöße, bevor man die Polizei ruft oder selbst Ermittlungen anstellt. Weil man sie liebt. Starkey hatte weder vorher noch nachher jemals jemanden so gut reden hören. Jetzt schloß er die unterste Schublade seines Schreibtischs auf und holte den dünnen blauen Ordner hervor, der mit rotem Klebeband zugeklebt war. Der Schriftzug auf dem Umschlag lautete: WENN DAS SIEGEL ERBROCHEN IST, UNVERZÜGLICH ALLE SICHERHEITSKRÄFTE BENACHRICHTIGEN. Starkey brach das Siegel. »Sind Sie noch da, Basis Blau Nummer eins?« fragte die Stimme. »Wir empfangen Sie nicht. Wiederhole, empfangen nicht.« »Ich bin hier, Löwe«, sagte Starkey. Er blätterte zur letzten Seite des Buchs und fuhr mit dem Finger eine Spalte mit der Überschrift EXTREME VERDECKTE GEGENMASSNAHMEN entlang. »Löwe, hören Sie mich?« »Wir empfangen Sie, Basis Blau Nummer eins.« »Troja«, sagte Starkey mit großem Nachdruck. »Ich wiederhole, Löwe: Troja. Bitte wiederholen Sie. Kommen.« Schweigen. Ein fernes Murmeln der Statik. Starkey erinnerte sich ganz kurz an Walkie-talkies, die sie als Kinder selbst gemacht hatten, aus zwei DelMonte-Blechdosen und zwanzig Meter gewachster Schnur. »Ich fordere Sie nochmals auf...« »Großer Gott!« stöhnte eine sehr junge Stimme in Sipe Springs. »Wiederholen Sie, mein Junge«, sagte Starkey. »T-Troja«, sagte die Stimme. Dann, fester: »Troja.« »Ausgezeichnet«, sagte Starkey ruhig. »Gott segne Sie, mein Junge. Ende und Aus.« »Und Sie, Sir. Ende und aus.« Ein Klicken, gefolgt von lauter Statik, gefolgt von einem weiteren Klicken, Stille und schließlich Len Creightons Stimme: »Billy?« »Ja, Len.« »Ich habe die ganze Unterhaltung aufgezeichnet.« »Prima, Len«, sagte Starkey müde. »Du mußt tun, was du für richtig hältst. Selbstverständlich.« »Du verstehst nicht, Billy«, sagte Len. »Du hast richtig gehandelt. Glaubst du, ich wüßte das nicht?« Starkey ließ die Augen zufallen. Einen Augenblick ließen ihn die vielen lieben Schlaffmacher im Stich. »Gott segne dich auch, Len«, sagte er mit beinahe brechender Stimme. Er schaltete ab und stellte sich wieder vor Monitor zwei. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken wie Black Jack Pershing bei der Inspektion der Truppe. Er betrachtete Frank D. Bruce und dessen letzte Ruhestätte. Nach einer Weile hatte er sich wieder beruhigt. Fährt man über die US 36 von Sipe Springs in Richtung Südosten, dann fährt man in die ungefähre Richtung von Houston, das eine Tagesfahrt entfernt ist. Das Auto, das über den Highway donnerte, mit achtzig Meilen die Stunde, war ein drei Jahre alter Pontiac Bonneville, und als er über die Hügelkuppe kam und den Ford ohne Nummernschilder sah, der die Straße versperrte, kam es beinahe zum Unfall. Der Fahrer, ein sechsunddreißigjähriger Reporter einer großen Houstoner Tageszeitung, trat auf die bremskraftverstärkte Bremse, und die Reifen fingen an zu quietschen, die Schnauze des Pontiac neigte sich erst zur Straße, rutschte nach links weg und machte eine Drehung um hundertachtzig Grad. »Großer Gott!« schrie der Fotograf auf dem Beifahrersitz, ließ die Kamera auf den Wagenboden fallen und zog panisch den Sicherheitsgurt über. Der Fahrer ließ die Bremse los, lenkte verzweifelt gegen und merkte, wie die linken Reifen im weichen Boden am Straßenrand abschmierten. Er trat aufs Gas, der Bonneville reagierte mit neuerlichem Schlingern und kam wieder auf die Fahrbahn. Blauer Rauch stieg von den Reifen auf. Aus dem Radio plärrte unablässig: »Baby, can you dig your man, He's a righteous man, Baby, can you dig your man?« Er stieg wieder auf die Bremse und der Bonneville kam inmitten der heißen nachmittäglichen Öde schlingernd zum Stillstand. Der Fahrer sog keuchend und voller Entsetzen den Atem ein und stieß ihn in Form eines abgehackten Hustens wieder aus. Er wurde wütend. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf den Ford und die beiden Männer zu, die dahinter warteten. »Hör mal«, sagte der Fotograf nervös. Er war dick und seit der neunten Klasse nicht mehr in eine Schlägerei verwickelt gewesen. »Hör mal, vielleicht sollten wir besser...« Er wurde grunzend nach vorne geschleudert, als der Reporter den Pontiac wieder mit quietschenden Bremsen zum Stehen brachte, den Schalthebel mit einer groben Handbewegung auf Parkstellung hieb und ausstieg. Er ballte die Hände zu Fäusten und ging auf die beiden jungen Männer hinter dem Ford zu. »Also gut, ihr Wichser!« brüllte er. »Ihr hättet uns fast umgebracht, und mich würde interessieren...« Er hatte gedient, vier Jahre in der Armee. Freiwilliger. Er konnte die Gewehre gerade noch als die neuen M-3As identifizieren, als sie sie hinter dem Ford vorzogen. Er blieb erschrocken unter der heißen texanischen Sonne stehen und pinkelte sich in die Hose. Er fing an zu schreien und warf sich in Gedanken herum, um zum Bonneville zurückzulaufen, aber seine Füße setzten sich nie in Bewegung. Die Männer eröffneten das Feuer auf ihn, die Kugeln pusteten ihm Brust und Unterleib weg. Als er auf die Knie sank und mit erhobenen Händen stumm um Gnade flehte, traf ihn eine Kugel zwei Zentimeter über dem linken Auge und riß ihm die Schädeldecke weg. Der Fotograf, der über den Rücksitz gespäht hatte, begriff nicht ganz, was geschehen war, bis die beiden jungen Männer mit ihren Gewehren über den Leichnam des Reporters stiegen und auf ihn zukamen. Er rutschte über den Vordersitz des Pontiac, warme Speichelbläschen sammelten sich in seinen Mundwinkeln. Der Zündschlüssel steckte noch. Er ließ den Motor an und fing in dem Augenblick an zu schreien, als sie das Feuer eröffneten. Er spürte, wie der Wagen nach rechts rutschte, als hätte ein Riese gegen den linken Hinterreifen getreten; das Lenkrad tanzte wild in seinen Händen. Der Fotograf wurde auf und ab geschüttelt, während der Bonneville mit dem platten Reifen über die Fahrbahn hoppelte. Eine Sekunde später trat der Riese gegen die andere Seite des Autos. Der Tanz wurde wilder. Funken stoben vom Asphalt hoch. Der Fotograf winselte. Die Hinterreifen des Pontiac schlingerten und flatterten wie schwarze Lumpen. Die beiden jungen Männer liefen zu dem Ford zurück, dessen Seriennummer unter vielen im Fuhrpark des Pengaton aufgelistet war, und einer wendete ihn in einem engen, schlingernden Kreis. Der Bug wippte heftig, als sie von der Straße abkamen und über den toten Reporter fuhren. Der Sergeant auf dem Beifahrersitz pustete ein verblüfftes Niesen gegen die Windschutzscheibe. Vor ihnen torkelte der Pontiac wie eine Waschmaschine auf den beiden Platten dahin, die Motorhaube wippte auf und ab. Der dicke Fotograf am Steuer fing an zu weinen, als er den dunklen Ford im Rückspiegel immer größer werden sah. Er hatte das Gaspedal bis zum Boden durchgetreten, aber der Pontiac schaffte nicht mehr als vierzig Stundenmeilen und fuhr Slalom von einer Straßenseite zur anderen. Im Radio war Larry Underwood von Madonna abgelöst worden. Madonna versicherte, daß sie ein »material girl« war. Der Ford setzte sich an die Seite des Bonneville, und für eine Sekunde kristallklarer Hoffnung dachte der Fotograf, die Kerle würden einfach Gas geben, am Wüstenhorizont verschwinden und ihn in Ruhe lassen. Dann scherte der Ford wieder ein, und die wild schwankende Schnauze des Pontiac rammte die Stoßstange. Metall kreischte auf Metall. Der Kopf des Fotografen prallte gegen das Lenkrad, Blut spritzte ihm aus der Nase. Mit entsetzten, ungelenken Blicken über die Schulter schlitterte er über den warmen Plastiksitz, als wäre es eine Rutschbahn, und stieg auf der Beifahrerseite aus. Er lief die Böschung hinunter. Unten war ein Stacheldrahtzaun; er sprang darüber, schwebte hoch und höher, wie ein Segelflieger, und er dachte: Ich schaffe es. Ich kann ewig laufen... Er fiel auf der anderen Seite herunter und verfing sich mit einem Bein im Stacheldraht. Er schrie gellend auf und versuchte immer noch, das Hosenbein loszureißen, als die beiden jungen Männer mit gezückten Gewehren die Böschung herunt erkamen. Warum, wollte er sie fragen, aber er brachte nur ein leises, hilfloses Krächzen heraus, und dann machte sein Gehirn einen Abgang hinten zum Schädel hinaus. An diesem Tag wurde kein Artikel über die Krankheit oder irgendwelche anderen Probleme in Sipe Springs, Texas, gedruckt. 18 Nick öffnete die Tür zwischen Sheriff Bakers Büro und den Gefängniszellen, und sie pöbelten ihn sofort an. Vincent Hogan und Billy Warner saßen in den Zellen links von Nick. Mike Childress hockte in einer der beiden Schuhkarton-Zellen auf der rechten Seite. Die andere war leer, denn Ray Booth, der mit dem Studentenverbindungsring der LSU, war abgehauen. »He, Dödel!« rief Childress. »He, verdammter Dödel! Was passiert wohl mit dir, wenn wir wieder draußen sind? Hm? Was meinst du, passiert mit dir?« »Ich reiß' dir höchstpersönlich die Eier ab und stopf sie dir ins Maul, bis du dran erstickst«, sagte Billy Warner. »Hast du mich verstanden?« Nur Vince Hogan beteiligte sich nicht an den Beschimpfungen. Mike und Billy waren an diesem 6. Juni, an dem sie ins Gefängnis von Calhoun gebracht werden sollten, um an Ort und Stelle ihren Prozess abzuwarten, ziemlich sauer auf ihn. Sheriff Baker hatte sich Vince vorgenommen, und Vince hatte die Hosen runtergelassen. Baker hatte Nick gesagt, er könnte einen Anklagebeschluß gegen die guten Jungs erwirken, aber wenn es zur Verhandlung vor einem Geschworenengericht kam, stand Nicks Wort gegen das der drei - vier, wenn sie Ray Booth erwischten. Nick hatte in den vergangenen Tagen einen gesunden Respekt vor Sheriff John Baker entwickelt. Baker war ein zweihundertfünfzig Pfund schwerer Ex-Farmer, der von seinen Wählern, wie nicht anders zu erwarten, Big Bad John genannt wurde. Nick hatte nicht deshalb Respekt vor ihm, weil Baker ihm diesen Job hier gegeben hatte, den Zellentrakt aufzuräumen, damit er seinen verlorenen Wochenlohn wieder verdienen konnte, sondern weil er die Männer verfolgt hatte, die Nick zusammengeschlagen und ausgeraubt hatten. Er hatte es getan, als wäre Nick Mitglied einer der ältesten und angesehensten Familien der Stadt, nicht nur ein taubstummer Streuner. Nick wußte, daß es im Grenzbereich im Süden jede Menge Sheriffs gab, die ihn statt dessen zu sechs Wochen Farm - oder Straßenarbeit verdonnert hätten. Sie waren mit Bakers Privatwagen, einem Power Wagon, zur Sägemühle gefahren, wo Vince Hogan arbeitete, und nicht mit dem Dienstwagen des County. Unter dem Armaturenbrett war eine Schrotflinte (»Immer abgeschlossen und immer geladen«, sagte Baker) und ein Blinklicht, das Baker bei Einsätzen auf das Armaturenbrett stellte. Als sie auf den Hof des Sägewerks gefahren waren, was inzwischen zwei Tage her war, hatte er es dorthin gestellt. Baker hatte sich geräuspert, zum Fenster rausgespuckt, sich geschneuzt und die roten Augen mit dem Taschentuch gerieben. Seine Stimme klang näselnd, wie ein Nebelhorn. Das konnte Nick natürlich nicht hören, aber es war auch nicht nötig. Es war offensichtlich, daß der Mann eine schlimme Erkältung hatte. »Wenn wir ihn sehen, packe ich ihn am Arm«, sagte Baker. »Dann frage ich dich: >Ist das einer von ihnen?< Und dann nickst du wie ein Wilder. Es ist mir gleich, ob er dabei war oder nicht. Kapiert?« Nick nickte. Kapiert. Vince arbeitete an der Hobelmaschine, wo er lange Bretter einführte und fast bis zum Rand der Arbeitsstiefel in Sägemehl stand. Er lächelte John Baker nervös zu und warf Nick, der neben dem Sheriff stand, unsichere Blicke zu. Nicks Gesicht war hager und zerschunden und immer noch zu blaß. »Hi, Big John, was treibst du denn hier draußen bei der arbeitenden Bevölkerung?« Die anderen Männer der Schicht beobachteten die Szene und sahen ernst von Nick zu Vince, von Vince zu Baker und dann wieder zurück, wie Zuschauer bei einer komplizierten neuen Form von Tennis. Einer spie einen Priem Honey Cut ins frische Sägemehl und wischte sich mit dem Handrücken das Kinn ab. Baker packte Vince Hogan an einem faltigen, sonnenverbrannten Arm und zerrte ihn nach vorne. »He, was soll das, Big John?« Baker drehte sich um, so daß Nick seine Lippen sehen konnte. »Ist das einer von ihnen?« Nick nickte heftig, sicherheitshalber deutete er auch noch auf Vince. »Was soll das?« protestierte Vince noch einmal. »Ich hab' den Taubstummen noch nie gesehen.« »Woher weißt du denn, daß er taubstumm ist? Komm mit, Vince, du wanderst in den Bau. Los, ab die Post. Einer von den Jungs kann dir deine Zahnbürste bringen.« Der protestierende Vince wurde zum Power Wagon geführt und hineingesetzt. Unter Protest wurde er in die Stadt gefahren. Unter Protest wurde er in die Zelle gesperrt und ein paar Stunden schmoren gelassen. Baker machte sich nicht die Mühe, ihm seine Rechte vorzulesen. »Würde den Dummkopf nur verwirren«, sagte er zu Nick. Als Baker am Nachmittag wieder hineinging, hatte Vince so viel Hunger und Angst, daß er nicht mehr protestierte. Er packte aus. Mike Childress saß um eins im Bau, und Baker schnappte Billy Warner in dessen Haus, als Billy gerade seinen alten Chrysler vollpackte, um wegzufahren - weit weg, nach den vielen Schnapskisten und gebündelten Kleidungsstücken zu urteilen. Aber jemand hatte Ray Booth einen Tip gegeben, und Ray war schlau genug gewesen, sich ein wenig schneller abzusetzen. Baker nahm Nick mit nach Hause, damit er seine Frau kennenlernte und etwas zu essen bekam. Im Auto schrieb Nick auf den Notizblock: »Tut mir wirklich leid, daß es der Bruder Ihrer Frau ist. Wie hat sie es aufgenommen?« »Sie wird damit fertig«, sagte Baker mit beinahe amtlicher Stimme und Haltung. »Ich schätze, sie hat seinetwegen ein paar Tränen vergossen, aber sie wußte, was er ist. Und sie weiß, man kann sich seine Verwandten nicht aussuchen wie seine Freunde.« Jane Baker war eine kleine, hübsche Frau, die tatsächlich geweint hatte. Als Nick ihre tief in den Höhlen liegenden Augen sah, wurde ihm unbehaglich zumute. Aber sie schüttelte ihm herzlich die Hand und sagte: »Freut mich, Sie kennenzulernen, Nick. Und ich möchte mich von ganzem Herzen für den Ärger entschuldigen. Ich fühle mich mitverantwortlich, wo doch jemand aus meiner Familie was damit zu tun hat.« Nick schüttelte den Kopf und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe ihm einen Job im Büro angeboten«, sagte Baker. »Dort sieht's aus wie im Schweinestall, seit Bradley nach Little Rock versetzt worden ist. Hauptsächlich Streichen und Aufräumen. Er muss sowieso eine Weile hierbleiben, du weißt schon, wegen der...« »Der Verhandlung, ja«, sagte sie. Es folgte ein Augenblick so drückenden Schweigens, daß selbst Nick sich unbehaglich fühlte. Dann sagte sie mit erzwungener Fröhlichkeit: »Ich hoffe, Sie mögen Rippchen, Nick. Dazu gibt's Maiskolben und eine große Schüssel Püree. Mein Püree ist nie so gut, wie Johns Mutter es immer gemacht hat. Behauptet er jedenfalls.« Nick rieb sich den Bauch und lächelte. Beim Nachtisch (Erdbeerkuchen - von dem sich Nick, der in den vergangenen Wochen auf knappe Rationen gesetzt worden war, gleich zwei Stück nahm), sagte Jane Baker zu ihrem Mann: »Deine Erkältung ist schlimmer geworden. Du arbeitest zuviel, John Baker. Und von dem, was du gegessen hast, könnte nicht mal eine Fliege satt werden.« Baker sah einen Moment schuldbewußt auf den Teller, dann zuckte er die Achseln. »Ich kann es mir leisten, ab und zu mal eine Mahlzeit auszulassen«, sagte er und strich über sein Doppelkinn. Nick sah sie an und fragte sich, wie zwei so durch und durch unterschiedlich große Menschen es im Bett machten. Irgendwie kommen sie schon zurecht, dachte er mit einem inneren Grinsen. Sie scheinen sich jedenfalls zu mögen. Und außerdem geht es mich auch gar nichts an. »Und rot bist du auch. Hast du Fieber?« Baker zuckte die Achseln. »Nee... na ja, vielleicht ein bißchen.« »Heute abend gehst du jedenfalls nicht mehr weg. Das ist mein letztes Wort.« »Schatz, ich habe Gefangene. Und selbst wenn man sie nicht eigens bewachen muß, Essen und Wasser muß man ihnen schon geben.« »Das kann Nick machen«, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Du gehst ins Bett. Und komm mir nicht mit deinen Schlafstörungen; das wird dir gar nichts nützen.« »Ich kann Nick nicht schicken«, sagte er ergeben. »Er ist taubstumm. Außerdem ist er kein Hilfssheriff.« »Dann machst du ihn eben zum Hilfssheriff.« »Er ist kein Hiesiger!« »Ich will nichts mehr hören«, sagte Jane Baker nachdrücklich. Sie stand auf und räumte den Tisch ab. »Du hast gar keine andere Wahl, John.« Und so wurde Nick Andres innerhalb von vierundzwanzig Stunden vom Gefangenen von Shoyo zum Hilfssheriff von Shoyo. Als er sich fertig machte, um zum Büro des Sheriffs zu gehen, kam Baker, der in seinem zerschlissenen Morgenmantel zerbrechlich und geisterhaft aussah, in die Diele herunter. Es schien ihm peinlich zu sein, daß ihn jemand in diesem Aufzug sah. »Ich hätte mich nie von ihr dazu überreden lassen sollen«, sagte er. »Hätte ich auch nicht, wenn mir nicht so elend wäre. Die Brust ist wie zugeschnürt, und ich bin so heiß wie der Christbaumverkauf zwei Tage vor Weihnachten. Und erschöpft.« Nick nickte mitfühlend. »Ich hab' im Moment keinen Hilfssheriff. Bradley Caide und seine Frau sind nach Little Rock gezogen, als ihr Baby gestorben ist. Im Kindbett. Schlimme Sache. Kann ihnen nicht übelnehmen, daß sie fortgezogen sind.« Nick deutete sich auf die Brust und machte einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger. »Klar kommst du zurecht. Sieh einfach nur nach ihnen, hast du verstanden? In der dritten Schreibtischschublade ist ein Fünfundvierziger, aber nimm ihn nicht mit nach hinten. Und die Schlüssel auch nicht. Kapiert?« Nick nickte. »Wenn du nach hinten gehst, bleib außerhalb ihrer Reichweite. Fall nicht drauf rein, wenn sich einer krank stellt. Das ist der älteste Trick der Welt. Sollte doch einer krank werden, kann Doc Soames auch morgen früh nach ihm sehen. Bis dahin bin ich wieder da.« Nick nahm den Bleistift aus der Tasche und schrieb: »Freut mich, daß Sie mir trauen. Danke, daß Sie die Männer eingesperrt haben, & danke für den Job.« Baker las es sorgfältig. »Du bist ein Ausbund an Höflichkeit, Junge. Woher kommst du? Und wieso bist du ganz alleine unterwegs?« »Das ist eine lange Geschichte«, schrieb Nick. »Wenn Sie wollen, schreibe ich sie Ihnen heute nacht auf.« »Mach das«, sagte Baker. »Du weißt wahrscheinlich, daß ich deinen Namen über Funk abgerufen habe.« Nick nickte. Das war üblich. Aber er hatte keine Vorstrafen. »Ich sag' Jane, sie soll Ma's Truck Stop am Highway anrufen. Die Kerle werden wegen Polizeiwillkür maulen, wenn sie nichts zu essen bekommen.« Nick schrieb: »Sagen Sie ihr, wer das Essen bringt, soll einfach reinkommen. Ich kann das Klopfen nicht hören.« »Okay.« Baker zögerte noch einen Augenblick. »In der Ecke steht deine Pritsche. Sie ist hart, aber sauber. Und sei vorsichtig, Nick. Du kannst nicht um Hilfe rufen, wenn es Ärger gibt.« Nick nickte und schrieb: »Ich kann auf mich aufpassen.« »Das glaube ich auch. Trotzdem würde ich jemanden aus der Stadt holen, wenn ich nur einen wüßte, der...« Er verstummte, als Jane hereinkam. »Hältst du dem armen Jungen immer noch eine Predigt? Laß ihn gehen, bevor mein dummer Bruder kommt und sie alle rausholt.« Baker lachte bitter. «Der ist inzwischen wahrscheinlich schon in Tennessee.« Er stieß einen langen Seufzer aus, der in einen heftigen, verschleimten Hustenanfall überging. »Ich denke, ich geh' rauf und leg mich hin, Janey.« »Ich bring' dir ein paar Aspirin gegen das Fieber«, sagte sie. Als sie ihren Mann zur Treppe begleitete, sah sie über die Schulter zu Nick. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Nick. Egal, unter welchen Umständen. Seien Sie nur so vorsichtig, wie er sagt.« Nick machte eine Verbeugung, und sie deutete einen Knicks an. Er glaubte, Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen. Etwa eine halbe Stunde nachdem Nick im Gefängnis angekommen war, brachte ein komischer pickliger Kellnerlehrling mit schmutziger Jacke drei Portionen Essen. Nick deutete auf die Pritsche, und während der Junge das Essen dort abstellte, kritzelte Nick: »Ist es bezahlt?« Der Kellnerlehrling las es mit der ganzen Konzentration eines Erstsemesterstudenten, der sich an Moby Dick wagt. »Klar«, sagte er. »Das Sheriff-Büro hat bei uns ein Konto. Sag mal, kannst du nicht sprechen?« Nick schüttelte den Kopf. »Scheiße«, sagte der Junge und verschwand so schnell, als könnte der Zustand ansteckend sein. Nick brachte ein Essen nach dem anderen in den Zellentrakt und schob es jeweils mit einem Besenstiel durch die Öffnung unten in der Tür. Er sah auf und erkannte gerade noch »... feiger Scheißer, was?« von Mike Childress. Lächelnd zeigte Nick ihm den Mittelfinger. »Ich werd' dir schon zeigen, was das heißt, Dödel«, sagte Childress und grinste unangenehm. »Wenn ich hier rauskomme, werde ich...« Nick wandte sich ab und verzichtete auf den Rest. Im Büro setzte er sich auf Bakers Stuhl, legte den Notizblock mitten auf die Schreibunterlage, dachte einen Augenblick nach und schrieb an den Rand: Lebensgeschichte von Nick Andros  Er hielt inne und lächelte verhalten. Er war schon an seltsamen Orten gewesen, aber selbst in seinen wildesten Träumen hätte er sich nicht vorstellen können, eines Tages als Deputy im Büro eines Sheriffs zu sitzen, drei Männer zu bewachen, die ihn zusammengeschlagen hatten, und seine Lebensgeschichte zu schreiben. Nach einer Weile schrieb er weiter: Ich wurde am 14. November 1968 in Caslin, Nebraska, geboren. Mein Daddy war selbständiger Farmer. Er und Mom standen immer am Rand der Pleite. Sie waren bei drei verschiedenen Banken verschuldet. Meine Mutter war sechs Monate schwanger mit mir, als mein Vater sie in die Stadt zum Arzt fuhr. Eine Spurstange brach, und der Pritschenwagen landete im Graben. Mein Vater hatte einen Herzanfall und starb. Wie dem auch sei, meine Mutter brachte mich drei Monate später zur Welt, und ich wurde so geboren, wie ich bin: taubstumm. War sicher ein schwerer Schlag für sie, nachdem sie den Mann so plötzlich verloren hatte. Sie bewirtschaftete die Farm bis 1973, dann verlor sie sie an die »Großmacker«, wie sie immer sagte. Sie hatte keine Verwandten, schrieb aber manchmal Freunden in Big Springs, lowa. Und einer dieser Freunde besorgte ihr einen Job in einer Bäckerei. Wir lebten dort, bis sie 1977 bei einem Unfall ums Leben kam. Ein Motorradfahrer fuhr sie auf dem Nachhauseweg von der Arbeit an, als sie über die Straße ging. Er war nicht einmal schuld, es war einfach Pech, weil die Bremsen versagt hatten. Er war nicht einmal zu schnell gefahren. Die Baptistenkirche gab meiner Mama ein Gnadenbegräbnis. Dieselbe Kirche, die Barmherzigen Baptisten, schickten mich in das Waisenhaus der Kinder Jesu in Des Moines. Das Haus wird von allen möglichen Kirchen gemeinsam unterhalten. Dort lernte ich lesen und schreiben... Er hielt inne. Seine Hand tat ihm vom vielen Schreiben weh, aber das war nicht der Grund. Er fühlte sich anbehaglich, heiß und unwohl, weil er das alles wieder aufleben lassen mußte. Er ging zu den Zellen und sah hinein. Childress und Warner schliefen. Vince Hogan stand am Gitter, rauchte eine Zigarette und sah zu der leeren Zelle hinüber, in der Ray Booth heute nacht gesessen hätte, wäre er nicht so schnell verschwunden. Hogan sah aus, als ob er geweint hätte, und das brachte Nick wieder zu dem kleinen stummen Bündel Mensch namens Nick Andres zurück. Er hatte als Kind im Kino ein Wort gelernt. Dieses Wort hiess INCOMMUNICADO, und es hatte für Nick immer einen phantastischen, Lovecraftschen Beigeschmack gehabt, ein beängstigendes Wort, das im Gehirn dröhnte und hallte, ein Wort, das alle Nuancen der Angst umschrieb, die nur außerhalb der gesunden Welt, in der menschlichen Seele, leben. Er war sein ganzes Leben lang INCOMMUNICADO gewesen. Er setzte sich und las die letzte Zeile, die er geschrieben hatte. Dort lernte ich lesen und schreiben. Aber so einfach war es nicht gewesen. Er lebte in einer schweigenden Welt. Schreiben war ein Kode. Sprechen war Lippenbewegung, Auf und Ab von Zähnen, ein Tanz der Zunge. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, Lippen zu lesen und mit krakeligen, mühsamen Buchstaben seinen Namen zu schreiben. Das ist dein Name, hatte sie gesagt. Das bist du, Nicky. Aber sie hatte es natürlich stumm gesagt, bedeutungslos. Der wesentliche Zusammenhang war ihm klargeworden, als sie auf das Papier tippte, dann auf seine Brust. Das Schlimmste an der Taubstummheit war nicht, daß man in einer Stummfilmwelt lebte; das Schlimmste war, daß man die Namen der Dinge nicht kannte. Das Konzept von Namen hatte er erst mit vier Jahren allmählich verstanden. Erst mit sechs hatte er gewußt, daß man die großen grünen Dinger Bäume nannte. Er hatte es wissen wollen, aber niemand hatte daran gedacht, es ihm zu sagen, und er konnte nicht fragen: Er war INCOMMUNICADO. Als sie starb, hatte er sich fast völlig in sich selbst zurückgezogen. Das Waisenhaus war ein Ort brüllender Stille, wo magere Jungs mit grausamen Gesichtern sich über sein Schweigen lustig machten; zwei Jungen liefen etwa auf ihn zu, der eine hatte die Hände vor dem Mund, der andere auf den Ohren. Wenn kein Personal in der Nähe war, schlugen sie ihn. Warum? Ohne Grund. Abgesehen yon dem, daß es in der riesigen anonymen Klasse der Opfer eine Unterklasse gab: die Opfer der Opfer. Er wollte nicht mehr kommunizieren, und als das geschah, begann der Denkprozeß selbst einzurosten und auseinanderzufallen. Er fing an, ziellos von Ort zu Ort zu gehen und die namenlosen Dinge zu betrachten, von denen die Welt voll war. Er beobachtete Kinder auf dem Spielplatz und sah, wie sie die Lippen bewegten, die Zähne wie weiße Zugbrücken hoben und senkten und die Zungen im rituellen Balztanz der Sprache hüpfen ließen. Manchmal betrachtete er eine einzige Wolke eine ganze Stunde lang. Dann war Rudy gekommen. Ein großer Mann mit Narben im Gesicht und einer Glatze. Er war eins fünfundneunzig groß, aber für den winzigen Nick Andros hätten es auch drei Meter sein können. Sie trafen sich zum ersten Mal im Keller, wo ein Tisch, sechs oder sieben Stühle und ein Fernsehgerät standen, das nur funktionierte, wenn es Lust hatte. Rudy kauerte sich nieder und brachte die Augen ungefähr auf eine Höhe mit denen von Nick. Dann nahm er die riesigen, narbigen Hände und hielt sie sich vor Mund und Ohren. Ich bin taubstumm. Nick wandte das Gesicht mürrisch ab. Wen interessiert das? Rudy schlug ihn. Nick fiel zu Boden. Er machte den Mund auf, und stumme Tränen liefen ihm aus den Augen. Er wollte nicht hier bei diesem narbigen Troll sein, diesem kahlen Schreckgespenst. Der Mann war nicht taubstumm, es war nur ein grausamer Scherz. Rudy zog ihn sanft auf die Füße und führte ihn zum Tisch. Dort lag ein unbeschriebenes Blatt Papier. Rudy deutete darauf, dann auf Nick. Nick sah das Blatt, dann den kahlen Mann verdrossen an. Er schüttelte den Kopf. Rudy nickte und deutete wieder auf das leere Blatt. Er holte einen Bleistift hervor und gab ihn Nick. Rudy deutete auf den Bleistift, auf Nick, dann auf das Blatt. Nick schüttelte den Kopf. Rudy schlug ihn wieder. Weitere stumme Tränen. Das Narbengesicht sah ihn mit tödlicher Geduld an. Rudy deutete wieder auf das Papier. Auf den Bleistift. Auf Nick. Nick nahm den Bleistift in die Faust. Er schrieb die vier Worte, die er kannte, rief sie aus dem spinnwebigen, rostenden Mechanismus seines denkenden Gehirns ab. Er schrieb: Dann brach er den Bleistift entzwei und sah Rudy wütend und trotzig an. Aber Rudy lächelte. Plötzlich griff er über den Tisch und hielt Nicks Kopf zwischen den harten schwieligen Händen. Seine Hände waren warm, sanft. Nick konnte sich kaum erinnern, wann er zuletzt so liebevoll berührt worden war. Seine Mutter hatte ihn so berührt. Rudy nahm seine Hände wieder von Nicks Gesicht. Dann nahm er die Bleistifthälfte mit der Spitze in die Hand. Er drehte nun das Papier auf die unbeschriebene Seite um. Er tippte mit der Bleistiftspitze auf die leere Seite des Blattes, dann tippte er Nick an. Noch einmal. Noch einmal. Und noch einmal. Und plötzlich begriff Nick. Du bist diese leere Seite. Nick fing an zu weinen. Rudy kam die nächsten zehn Jahre lang. ... lernte ich lesen und schreiben. Ein Mann namens Rudy Sparkman half mir. Es war ein Glück für mich, daß ich ihn hatte. 1984 war das Waisenhaus pleite. Sie versuchten, so viele Kinder wie möglich bei Familien unterzubringen, aber ich gehörte nicht dazu. Sie sagten, ich würde mit der Zeit zu einer Familie kommen, die vom Staat Geld dafür bekommt, daß sie mich versorgt. Ich wäre gern zu Rudy gegangen, aber Rudy war in Afrika, wo er für das Friedenskorps arbeitete. Also lief ich weg. Weil ich schon sechzehn war, haben sie sich wahrscheinlich keine besondere Mühe gegeben, mich zu suchen. Ich dachte mir, wenn ich mir nicht selbst Schwierigkeiten einhandle, komme ich zurec ht, und so weit so gut. Ich habe dann Fernkurse an einer High School belegt. Rudy hat nämlich immer wieder gesagt, Bildung ist das wichtigste. Wenn ich mich einmal eine Zeitlang niederlasse, will ich die Prüfung machen, die dem Abschluß an der High School entspricht. Die könnte ich bestimmt schnell schaffen. Ich mag die Schule gern. Vielleicht gehe ich eines Tages sogar aufs College. Ich weiß, bei einem taubstummen Herumtreiber wie mir hört sich das ziemlich verrückt an, aber ich halte es nicht für unmöglich. Wie auch immer, das ist meine Geschichte. Gestern morgen war Baker um halb acht ins Büro gekommen, als Nick gerade Abfallkörbe ausleerte. Der Sheriff sah besser aus. »Wie geht es Ihnen?« schrieb Nick. »Ganz gut. Bis Mitternacht war ich heiß wie ein Ofen. Das schlimmste Fieber, das ich seit meiner Kindheit gehabt habe. Aspirin hat nicht geholfen. Jane wollte den Doc rufen, aber gegen halb eins war das Fieber plötzlich weg. Danach habe ich geschlafen wie ein Murmeltier. Und wie geht es dir?« Nick machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. »Wie geht es unseren Gästen?« Nick machte den Mund ein paarmal auf und zu, um schnelles Sprechen anzudeuten. Machte ein wütendes Gesicht. Rüttelte an unsichtbaren Gitterstäben. Baker warf den Kopf zurück und lachte, dann nieste er mehrmals. »Du solltest im Fernsehen auftreten«, sagte er. »Hast du deine Lebensgeschichte aufgeschrieben, wie du versuchen wolltest?« Nick nickte und gab ihm die beiden handbeschriebenen Blätter. Der Sheriff setzte sich und las sie aufmerksam durch. Als er fertig war, sah er Nick so lange und durchdringend an, daß Nick einen Augenblick verlegen und verwirrt auf seine Füße starrte. Als er wieder aufsah, sagte Baker: »Du lebst, seit du sechzehn warst, allein? Sechs Jahre?« Nick nickte. »Und du hast wirklich diese ganzen High-School -Kurse gemacht?« Nick schrieb eine Weile auf den Block. »Ich lag zurück, weil ich so spät lesen & schreiben lernte. Als das Waisenhaus zumachte, fing ich gerade an aufzuholen. Von dort bekam ich sechs Anrechnungspunkte für die High School und anschließend sechs weitere von La Salle in Chicago. Ich hatte auf einem Streichholzbriefchen davon gelesen. Jetzt brauche ich noch vier.« »Was für Kurse brauchst du noch?« fragte Baker, dann drehte er sich um und brüllte: »Ruhe da hinten! Ihr bekommt Kaffee und Kuchen, wenn es mir paßt, und nicht vorher.« Nick schrieb: »Geometrie, höhere Mathematik. Zwei Jahre Fremdsprache. Das verlangt das College.« »Eine Fremdsprache. Du meinst wie Französisch? Deutsch? Spanisch?« Nick nickte. Baker lachte und schüttelte den Kopf. »Das schlägt doch alles. Ein Taubstummer lernt eine Fremdsprache sprechen. Nichts gegen dich, Junge. Aber das mußt du verstehen.« Nick lächelte und nickte. »Und warum hast du dich so viel herumgetrieben?« »Als Minderjähriger wagte ich nirgends lange zu bleiben«, schrieb Nick. »Ich hatte Angst, sie würden mich wieder ins Waisenhaus stecken oder so. Als ich alt genug war, mir einen festen Job zu suchen, waren die Zeiten schlechter geworden. Sie haben gesagt, der Aktienmarkt wäre zusammengekracht oder so was, aber weil ich taub bin, habe ich es nicht gehört (ha-ha).« »Man hätte dich wahrscheinlich fast überall weiterziehen lassen«, sagte Baker. »Wenn die Zeiten schlecht sind, fließt die Milch menschlicher Güte nicht so reichlich, Nick. Was einen festen Job angeht, könnte ich dir vielleicht hier etwas besorgen, wenn dir die Jungs Shoyo und Arkansas nicht endgültig vergällt haben. Aber... wir sind nicht alle so.« Nick nickte, um zu zeigen, daß er verstanden hatte. »Wie geht es deinen Zähnen? Hast ja ordentlich eins aufs Maul bekommen.« Nick zuckte die Achseln. »Hast du eine Schmerztablette genommen?« Nick hielt zwei Finger hoch. »Hör zu, ich muß noch den Papierkram für die drei Jungs erledigen. Geh du an deine Arbeit. Wir reden später weiter.« Dr. Soames, der Mann, der Nick fast mit seinem Wagen überfahren hatte, kam am gleichen Morgen gegen halb zehn vorbei. Er war um die sechzig und hatte zottiges weißes Haar, einen dürren Truthahnhals und stechende blaue Augen. »Big John hat mir erzählt, du kannst Lippen lesen«, sagte er. »Er hat mir auch gesagt, daß er dir eine vernünftige Arbeit besorgen will; darum sollte ich dafür sorgen, daß du ihm nicht unter den Händen wegstirbst. Zieh das Hemd aus.« Nick knöpfte das blaue Arbeitshemd auf und zog es aus. »Großer Gott, sieh sich einer das an«, sagte Baker. »Die Kerle haben ganze Arbeit geleistet.« Soames sah Nick an und sagte trocken: »Junge, du hättest fast die linke Brustwarze verloren.« Er deutete auf ein halbmondförmiges Stück Schorf über der Brustwarze. Nicks Bauch und sein Brustkorb sahen aus wie ein kanadischer Sonnenaufgang. Soames befühlte und betastete ihn und sah ihm eingehend in die Pupillen. Zuletzt untersuchte er die abgebrochenen Reste von Nicks Schneidezähnen, trotz der schlimmen Prellungen das einzige, was ihm jetzt noch wirkliche Schmerzen bereitete. »Das muß saumäßig weh tun«, sagte Soames, und Nick nickte kläglich. »Du wirst sie verlieren«, fuhr Somaes fort. »Du...« Er nieste dreimal in rascher Folge. »Entschuldigung.« Er packte seine Utensilien wieder in die schwarze Tasche. »Die Prognose ist günstig, junger Mann, ausgenommen bei Blitzschlägen oder weiteren Ausflügen zu Zacks Bumslokal. Ist dein Sprechproblem physiologisch bedingt oder auf die Taubheit zurückzuführen?« Nick schrieb: »Physiologisch. Geburtsfehler.« Soames nickte. »Eine Schande. Aber denk positiv und danke Gott, daß er nicht auch noch dein Gehirn angetickt hat, wo er schon mal dabei war. Zieh das Hemd wieder an.« Nick gehorchte. Er mochte Soames; in gewisser Weise erinnerte er ihn an Rudy Sparkman, der einmal gesagt hatte, Gott habe allen taubstummen Männern unter der Gürtellinie fünf Zentimeter mehr gegeben, als Ausgleich für das bißchen, was er ihnen oberhalb des Schlüsselbeins genommen hatte. Soames sagte: »Ich werde in der Apotheke Bescheid sagen, daß sie dir noch Schmerztabletten geben sollen. Sag dem Geldsack hier, er soll sie bezahlen.« »Ho-ho«, sagte John Baker. »Er hat mehr Geld in Marmeladegläsern versteckt, als ein Schwein Warzen hat«, fuhr Soames fort. Er nieste wieder, putzte sich die Nase, wühlte in der Tasche und holte ein Stethoskop heraus. »Vorsicht, Opa, sonst sperre ich dich wegen Trunkenheit und ungebührlichen Benehmens ein«, sagte Baker lächelnd. »Ja, ja, ja«, sagte Soames. »Eines Tages wirst du das Maul so weit aufreißen, daß du selber reinfällst. Zieh das Hemd aus, John. Mal sehen, ob deine Titten noch so groß sind wie früher.« »Mein Hemd ausziehen? Warum?« »Weil deine Frau will, daß ich mal 'nen Blick auf dich werfe, deshalb. Sie glaubt, daß du ein kranker Mann bist und will nicht, daß du noch kränker wirst, weiß Gott warum. Habe ich dir nicht oft genug gesagt, daß sie und ich es nicht mehr heimlich tun müßten, wenn du endlich unter der Erde bist? Los, Johnny. Zeig uns mehr Haut.« »Es war nur 'ne Erkältung«, sagte Baker und knöpfte widerwillig das Hemd auf. »Heute morgen geht's mir schon wieder besser. Um ehrlich zu sein, Ambrose, du hörst dich schlimmer an als ich.« »Du stellst dem Arzt keine Diagnose, sondern er dir«, sagte Soames. Als Baker das Hemd auszog, wandte sich Soames an Nick und sagte: »Weißt du, es ist komisch, wie sich eine Erkältung verbreitet. Mrs. Lathrop liegt krank im Bett, die ganze Familie Richie, und die Armen an der Barker Road husten sich die Lungen aus dem Hals. Sogar Billy Warner da drin hustet sich einen ab.« Baker hatte sich inzwischen aus dem Unterhemd gewunden. »Da, was hab' ich gesagt?« fragte Soames. »Hat er nicht ein Paar Möpse an sich? Sogar ein alter Arsch wie ich könnte geil werden, wenn er das sieht.« Baker ächzte, als das Stethoskop seine Brust berührte. »Mein Gott, ist das kalt! Wo bewahrst du das Ding auf, in der Tiefkühltruhe?« »Einatmen«, sagte Soames stirnrunzelnd. »Und jetzt aus.« Bakers Ausatmen ging in leichten Husten über. Soames beschäftigte sich lange mit dem Sheriff. Brust und Rücken. Schließlich legte er das Stethoskop beiseite, drückte Bakers Zunge mit einem Holzspatel runter und sah ihm in den Rachen. Als er fertig war, zerbrach er den Spatel und warf ihn in den Papierkorb. »Und?« sagte Baker. Soames drückte die Finger der rechten Hand unterhalb des Kinns gegen Bakers Hals. Baker zuckte zurück. »Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob das weh tut«, sagte Soames. »John, geh nach Hause und leg dich hin, das ist kein Rat, sondern ein Befehl.« Der Sheriff blinzelte. »Ambrose«, sagte er leise, »hör auf. Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich habe hier drei Gefangene, die heute nachmittag nach Camden müssen. Ich habe diesen Jungen letzte Nacht bei ihnen gelassen, aber das war unverantwortlich und kommt nicht wieder vor. Er ist stumm. Ich hätte mich auch gestern abend nicht darauf eingelassen, wenn ich bei klarem Verstand gewesen wäre.« »Vergiß es. Du hast eigene Probleme. Du hast eine Infektion der Atemwege, und zwar eine verdammt ekelhafte, wie es sich anhört, und dazu noch Fieber. Johnny, deine Röhren sind krank, und um ehrlich zu sein, bei einem Mann, der soviel zusätzliches Gewicht mit sich herumschleppt wie du, ist damit nicht zu spaßen. Geh ins Bett. Wenn es dir morgen früh immer noch gutgeht, schaff die Burschen weg. Noch besser, ruf die State Patrol und laß sie abholen.« Baker sah Nick an, als wollte er sich entschuldigen. »Weißt du«, sagte er, »mir geht es wirklich nicht besonders. Vielleicht etwas Ruhe...« »Gehen Sie heim, legen Sie sich hin«, schrieb Nick. »Ich passe auf. Außerdem muß ich das Geld für die Tabletten verdienen.« »Keiner arbeitet so hart für dich wie ein Junkie«, sagte Soames und gackerte. Baker nahm die beiden Blätter mit Nicks Lebensgeschichte. »Darf ich die mitnehmen, damit Janey sie lesen kann? Du hast bei ihr 'nen Stein im Brett, Nick, wirklich.« Nick kritzelte auf den Block: »Gerne. Sie ist sehr nett.« »Sie ist einmalig«, sagte Baker und seufzte, während er das Hemd zuknöpfte. »Das Fieber kommt wieder. Ich dachte, das wäre vorbei.« »Nimm Aspirin«, sagte Soames und schnallte seine Tasche zu. »Was mir Sorgen macht, ist die Drüsenschwellung.« »In der untersten Schublade steht eine Zigarrenkiste«, sagte Baker. »Portokasse. Du kannst in Ruhe ausgehen, irgendwo essen und dir deine Tabletten holen. Die Jungs sind eher Dildos als Desperados. Schreib auf einen Zettel, wieviel Geld du genommen hast, und leg ihn in die Kiste. Ich setze mich mit der State Patrol in Verbindung, und heute nachmittag bist du die Jungs los.« Nick machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. »Ich setze schon nach verdammt kurzer Zeit viel Vertrauen in dich«, sagte Baker ernst, »aber Janey meint, das ist in Ordnung. Du gibst acht, ja?« Nick nickte. Jane Baker war gestern abend gegen sechs gekommen und hatte Essen und eine Tüte Milch gebracht. Nick schrieb: »Vielen Dank. Wie geht es Ihrem Mann?« Sie lachte, eine kleine Frau mit kastanienbraunem Haar, hübsch angezogen mit einem karierten Hemd und verblichenen Jeans. »Er wollte selbst kommen, aber ich hab's ihm ausgeredet. Er hatte heute nachmittag so hohes Fieber, daß ich es mit der Angst bekam, aber heute abend ist die Temperatur fast wieder normal. Wahrscheinlich wegen der State Patrol. Johnny ist nie richtig glücklich, wenn er nicht auf die State Patrol schimpfen kann.« Nick sah sie fragend an. »Sie haben ihm gesagt, daß sie die Gefangenen erst um neun Uhr morgen früh abholen können. Zwanzig oder mehr Beamte sind wegen Krankheit ausgefallen. Und eine Menge Beamte, die Dienst tun, müssen Leute zum Krankenhaus nach Camden oder sogar bis nach Pine Bluff fahren. Überall diese Krankheit. Ich glaube, Am Soames macht sich mehr Sorgen, als er zugibt.« Sie sah selbst besorgt aus. Dann nahm sie die beiden zusammengefalteten Blätter aus der Brusttasche. »Das ist wirklich eine tolle Geschichte«, sagte sie leise und gab ihm die Blätter zurück. »Sie haben soviel Pech gehabt wie kaum einer, von dem ich je gehört hätte. Aber wie Sie mit Ihren Schwierigkeiten fertig geworden sind, ist bewundernswert. Und ich muß mich noch einmal für meinen Bruder entschuldigen.« Nick war verlegen und konnte nur die Achseln zucken. »Hoffentlich bleiben Sie in Shoyo«, sagte sie und stand auf. »Mein Mann mag Sie, und ich mag Sie auch. Hüten Sie sich nur vor diesen Männern da drin.« »Das werde ich tun«, schrieb Nick. »Sagen Sie dem Sheriff, ich wünsche ihm gute Besserung.« »Das werde ich gerne ausrichten.« Danach ging sie, und Nick verbrachte eine unruhige Nacht mit Schlafpausens weil er ab und zu aufstand und nach den drei Inhaftierten sah. Desperados waren sie wahrhaftig nicht; um zehn Uhr schliefen sie alle. Zwei Leute aus der Stadt kamen und vergewisserten sich, daß Nick zurecht kam, und Nick stellte fest, dass beide erkältet zu sein schienen. Er hatte seltsame Träume, aber beim Aufwachen konnte er sich nur noch daran erinnern, daß er durch endlose Reihen von grünem Mais gewandert zu sein schien, nach etwas gesucht hatte und vor etwas anderem schreckliche Angst empfand, das hinter ihm zu sein schien. Heute morgen war er früh auf den Beinen und fegte gründlich den hinteren Teil des Gefängnisses, ohne auf Billy Warner und Mike Childress zu achten. Beim Hinausgehen rief Billy ihm nach: »Ray kommt zurück, und wenn der dich erwischt, wirst du dir wünschen, du wärst nicht nur taub und stumm, sondern auch noch blind!« Nick, der ihm den Rücken zugekehrt hatte, bekam fast nichts davon mit. Im Büro nahm er eine alte Ausgabe des Time-Magazins und fing an zu lesen. Er überlegte, ob er die Füße auf den Tisch legen sollte, entschied aber, daß das ein todsicherer Weg war, Ärger zu bekommen, sollte der Sheriff reinschauen. Um acht Uhr wurde er langsam beunruhigt, ob Sheriff Baker in der Nacht einen Rückfall gehabt haben mochte. Nick war davon ausgegangen, daß Baker mittlerweile hier sein würde, damit er die drei Häftlinge in seinem Gefängnis dem County übergeben konnte, wenn die State Patrol kam, um sie zu holen. Zudem knurrte Nicks Magen bedrohlich. Niemand war vom Truck Stop an der Straße vorbeigekommen, und er sah das Telefon mehr verdrossen als sehnsüchtig an. Er war ein großer Science-fiction-Fan, und von Zeit zu Zeit kaufte er für ein paar Münzen alte, zerlesene Taschenbücher in Wühlkisten, und jetzt dachte er, nicht zum ersten Mal, daß es ein großartiger Tag für die Taubstummen dieser Welt sein würde, wenn es die Bildtelefone, die in Science-fiction-Romanen immer benutzt wurden, wirklich einmal geben sollte. Um Viertel vor neun fühlte er sich ziemlich unwohl in seiner Haut. Er ging zur Tür zum Zellentrakt und sah hinein. Billy und Mike standen an den Zellentüren. Beide traten mit den Schuhen gegen die Gitterstäbe... was nur beweist, daß Menschen, die nicht sprechen können, nur einen kleinen Teil der Behinderten der Welt ausmachen. Vince Hogan lag auf der Pritsche. Er drehte nur den Kopf und sah Nick an, als dieser zur Tür kam. Hogans Gesicht war blaß, abgesehen von hektischen Flecken auf den Wangen, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Nick sah den apathischen, fiebrigen Blick des Mannes und wußte, er war krank. Sein Unbehagen wuchs. »He, Dödel, wie war's mit was zu futtern?« rief Mike ihm zu. »Und der olle Vince sieht aus, als könnte er einen Arzt vertragen. Das Verpfeifen scheint ihm nicht zu bekommen, was, Bill?« Bill wollte nicht streiten. »Tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe, Mann. Vince ist echt krank. Er braucht einen Arzt.« Nick ging hinaus und versuchte zu überlegen, was er jetzt machen sollte. Er ging zum Schreibtisch und schrieb auf den Block: »Sheriff Baker oder wer das liest: Ich bin weggegangen und versuche, den Gefangenen Frühstück zu holen und Dr. Soames zu finden - für Vincent Hogan. Er scheint wirklich krank zu sein und sich nicht nur zu verstellen. Nick Andros.« Er riß das Blatt vom Block und ließ es mitten auf dem Schreibtisch liegen. Dann steckte er den Block in die Tasche und ging auf die Straße hinaus. Als erstes fiel ihm die stille Hitze des Tages und der Geruch von Grün auf. Am Nachmittag würde es sengend sein. Es war ein Tag, an dem die Menschen ihre tagtäglichen Arbeiten gerne in aller Herrgottsfrühe erledigen, damit sie den Nachmittag so ruhig wie möglich verbringen konnten, aber Nick kam die Hauptstraße von Shoyo an diesem Vormittag seltsam menschenleer vor, mehr wie an einem Sonntag als einem Werktag. Die meisten der schrägen Parkplätze vor den Geschäften waren leer. Ein paar Autos und Lieferwagen waren unterwegs, aber nicht viele. Der Eisenwarenladen schien geöffnet zu haben, aber die Rollos der Kreditbank waren noch heruntergelassen, obwohl es schon neun war. Nick wandte sich nach rechts, Richtung Truck Stop, der fünf Blocks entfernt war. Er war gerade an der Ecke des dritten Blocks, als er das Auto von Dr. Soames langsam auf der Straße auf sich zukommen sah - es schlingerte ein wenig von einer Seite auf die andere, als wäre der Fahrer erschöpft. Nick winkte ungestüm, nicht sicher, ob Soames halten würde, aber Soames kam an den Straßenrand gefahren und belegte gleichgültig vier der schrägen Parkplätze. Er stieg nicht aus, sondern blieb einfach hinter dem Steuer sitzen. Es erschreckte Nick, wie der Mann aussah. Seit er ihn das letzte Mal beim lockeren Geplänkel mit dem Sheriff gesehen hatte, schien Soames um zwanzig Jahre gealtert zu sein. Teilweise lag es wohl an der Erschöpfung, aber Erschöpfung konnte nicht der einzige Grund sein - das war selbst Nick klar. Als wollte er Nicks Gedanken bestätigen, holte der Doktor ein zerknittertes Taschentuch aus der Tasche, wie ein alter Zauberer, der einen einfachen Trick abzieht, welcher ihn eigentlich gar nicht mehr interessiert, und nieste mehrmals hinein. Als er fertig war, lehnte er den Kopf gegen den Autositz und atmete schwer mit geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund. Seine Haut wirkte so durchscheinend und gelblich, daß er Nick an eine Leiche erinnerte. Plötzlich schlug Soames die Augen auf und sagte: »Sheriff Baker ist tot. Wenn du mich deswegen angehalten hast, dann weißt du jetzt Bescheid. Er ist heute morgen kurz nach zwei Uhr gestorben. Und jetzt hat es Janey gepackt. « Nick riß die Augen auf. Sheriff Baker tot? Aber seine Frau war gestern abend noch da gewesen und hatte gesagt, daß es ihm besser ging. Und sie... sie war gesund gewesen. Nein, es war unmöglich. »Ja, tot«, sagte Soames, als hätte Nick seine Gedanken laut ausgesprochen. »Und er ist nicht der einzige. Ich habe in den vergangenen zwölf Stunden zwölf Totenscheine ausgestellt. Und ich kenne noch zwanzig, die am Nachmittag tot sein werden, wenn Gott ihnen nicht gnädig ist. Aber ich bezweifle, ob das Gottes Werk ist. Ich glaube eher, er hält sich bei dieser Geschichte ziemlich raus.« Nick zog den Block aus der Tasche und schrieb: »Was ist mit ihnen los?« »Ich weiß nicht«, sagte Soames, knüllte den Zettel langsam zusammen und warf ihn in den Rinnstein. »Aber jeder in der Stadt scheint sich angesteckt zu haben, und ich habe mehr Angst als jemals in meinem Leben. Mich selbst hat's auch erwischt, obwohl mir momentan mehr die Erschöpfung zu schaffen macht. Ich bin kein junger Mann mehr. Weißt du, ich kann nicht mehr so lange schuften, ohne den Preis dafür zu bezahlen.« Seine Stimme hatte einen müden, ängstlichen und resignierten Tonfall angenommen, den Nick glücklicherweise nicht hören konnte. »Aber es hilft nichts, wenn ich mich selbst bedaure.« Nick, der nicht mitbekommen hatte, daß Soames sich selbst bemitleidete, konnte ihn nur verwirrt ansehen. Soames stieg aus dem Wagen und stützte sich einen Moment auf Nicks Arm ab. Der Griff seiner Hand war wie der eines alten Mannes, schlaff und ein wenig zittrig. »Komm mit zu der Bank da, Nick. Mit dir kann man gut reden. Ich schätze, das hat man dir schon oft gesagt.« Nick deutete zum Gefängnis. »Die können da nicht raus«, sagte Soames, »und wenn es sie auch erwischt hat, stehen sie im Moment ganz unten auf meiner Liste.« Sie setzten sich auf die Bank, die hellgrün gestrichen war und Werbung für eine hiesige Versicherung auf der Lehne trug. Soames wandte das Gesicht dankbar der wärmenden Sonne zu. »Schüttelfrost und Fieber«, sagte er. »Seit gestern abend zehn Uhr. Zuletzt nur noch Schüttelfrost. Gott sei Dank kein Durchfall.« »Sie sollten sich ins Bett legen«, schrieb Nick. »Sollte ich. Werde ich. Ich will nur vorher ein paar Minuten ausruhen...« Seine Augen fielen zu, und Nick dachte, er wäre eingeschlafen. Er fragte sich, ob er zum Truck Stop gehen und Billy und Mike Frühstück holen sollte. Dann begann Dr. Soames wieder zu reden, ohne die Augen aufzumachen. Nick beobachtete aufmerksam seine Lippen. »Die Symptome sind alle bekannt«, sagte Soames und fing an, sie an den Fingern aufzuzählen, bis er alle zehn von sich gestreckt hatte, wie einen Fächer. »Schüttelfrost. Fieber. Kopfschmerzen. Schwäche und allgemeines Unwohlsein. Appetitlosigkeit. Schmerzen beim Wasserlassen. Drüsenschwellung von unbedeutend bis akut. Schwellungen unter den Achseln und am Unterleib. Atemschwäche und Atemnot.« Er sah Nick an. »Das sind die Symptome der gewöhnlichen Erkältung, der Influenza, der Grippe. Das alles können wir heilen, Nick. Es sei denn, der Patient ist sehr jung, sehr alt oder bereits durch eine vorhergehende Krankheit geschwächt. Normalerweise werden Antibiotika schnell damit fertig. Aber damit nicht. Der Patient bekommt es schnell oder langsam. Das scheint keine Rolle zu spielen. Nichts hilft. Dann eskaliert das Ganze, flaut ab, eskaliert wieder; die Entkräftung nimmt zu; die Schwellungen werden schlimmer; zuletzt Tod. Jemand hat einen Fehler gemacht. Und man versucht es zu vertuschen.« Nick sah ihn zweifelnd an, fragte sich, ob er richtig von den Lippen des Doktors gelesen hatte oder ob Soames irre redete. »Hört sich ziemlich verrückt an, was?« fragte Soames und sah Nick belustigt an. »Ich hatte einmal Angst vor der Paranoia der jüngeren Generation, hast du das gewußt? Sie glaubten immer, jemand würde ihr Telefon abhören ... sie bespitzeln... sie vom Computer überprüfen lassen... und jetzt muß ich feststellen, daß sie recht hatten und ich unrecht. Das Leben ist schön, Nick, aber ich habe feststellen müssen, daß das Alter einen unangemessen hohen Tribut von den ach so hoch geschätzten Vorurteilen fordert.« »Was meinen Sie damit?« schrieb Nick. »Kein Telefon in Shoyo funktioniert«, sagte Soames. Nick hatte keine Ahnung, ob das die Antwort auf seine Frage war (Soames hatte seinen letzten Zettel nur ganz flüchtig angesehen), oder ob sich der Arzt einem neuen Thema zugewandt hatte - er vermutete, dass das Fieber für Soames' sprunghafte Gedanken verantwortlich war. Der Arzt betrachtete Nicks verwirrtes Gesicht und schien zu denken, daß der Taubstumme ihm nicht glaubte. »Stimmt«, sagte er. »Wenn man versucht, eine Nummer zu wählen, die nicht zum Netz dieser Stadt gehört, bekommt man eine Bandansage. Außerdem sind die beiden Aus- und Zufahrten von und nach Shoyo auf der Autobahn gesperrt, auf den Schildern steht STRASSENARBEITEN. Aber da sind keine Straßenarbeiten. Nur die Absperrungen. Ich war draußen. Ich glaube, man könnte die Absperrungen einfach wegräumen, aber wozu? Der Verkehr auf der Schnellstraße schien heute vormittag ziemlich schwach zu sein. Hauptsächlich Fahrzeuge der Armee, Laster und Jeeps.« »Was ist mit den anderen Straßen?« schrieb Nick. »Route 63 ist am Ostrand der Stadt aufgerissen worden, weil ein Wasserrohr ausgewechselt werden muß«, sagte Soames. »Am Westrand der Stadt scheint es einen bösen Autounfall gegeben zu haben. Zwei Wagen quer über der Straße; sie ist vollkommen blockiert. Es sind Warnleuchten aufgestellt, aber keine Spur von State Troopers oder Abschleppfahrzeugen.« Er verstummte, nahm das Taschentuch und schneuzte sich. »Die Männer, die am Wasserrohr arbeiten, lassen sich reichlich Zeit, meint Joe Rackman, der da draußen wohnt. Ich war vor etwa zwei Stunden bei den Rackmans und habe mir ihren kleinen Jungen angesehen, der wirklich ziemlich krank ist. Joe glaubt, die Männer an der Baustelle sind in Wirklichkeit Soldaten, obwohl sie wie städtische Straßenarbeiter gekleidet sind und einen Wagen des Bundesstaats fahren.« Nick schrieb: »Woher weiß er das?« Soames stand auf und sagte: »Bauarbeiter salutieren normalerweise nicht voreinander.« Nick stand auch auf. »Nebenstraßen?« kritzelte er. »Möglich.« Soames nickte. »Aber ich bin Arzt, kein Held. Joe hat gesagt, er hat Gewehre auf dem Lastwagen gesehen. Armeekarabiner. Wenn man versucht, Shoyo über Nebenstraßen zu verlassen und wird gesehen, wer weiß? Und was findet man außerhalb von Shoyo? Ich wiederhole: Jemand hat einen Fehler gemacht. Und jetzt versuchen sie, es zu vertuschen. Wahnsinn. Wahnsinn. Natürlich kommt so etwas ans Licht, es wird nicht mehr lange dauern. Aber wie viele werden bis dahin sterben?« Der verängstigte Nick sah nur Dr. Soames an, der wieder zum Auto ging und langsam einstieg. »Und du, Nick«, sagte Soames und sah ihn aus dem Fenster heraus an. »Wie geht es dir? Erkältet? Niesen? Husten?« Nick schüttelte jedesmal den Kopf. »Versuchst du, die Stadt zu verlassen? Wenn du über die Felder gehst, könntest du es vielleicht schaffen.« Nick schüttelte den Kopf und schrieb: »Die Männer sind eingesperrt. Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen. Vincent Hogan ist krank, aber den beiden anderen scheint es gutzugehen. Ich besorge ihnen Frühstück und sehe nach Mrs. Baker.« »Du bist ein umsichtiger Junge«, sagte Soames. »Das ist selten. Ein Junge in diesen abgehalfterten Zeiten, der Verantwortung zeigt, ist noch seltener. Das wird ihr gefallen, Nick, ich weiß es. Mr. Braceman, der Methodistenpfarrer, hat auch gesagt, daß er sie besuchen möchte. Ich fürchte, bis dieser Tag vorbei ist, wird er noch viele Besuche machen müssen. Du bist doch vorsichtig mit den drei Eingesperrten, ja?« Nick nickte ernst. »Gut. Ich will versuchen, heute nachmittag vorbeizuschauen und nach dir zu sehen.« Er legte den Gang ein und fuhr müde, eingesunken und mit blutunterlaufenen Augen davon. Nick sah ihm mit besorgtem Gesicht nach, dann ging er weiter in Richtung Truck Stop. Es war offen, aber einer der beiden Köche war nicht da, und drei von vier Kellnerinnen waren nicht zur Schicht von sieben bis drei erschienen. Nick mußte lange warten, bis er seine Bestellung bekam. Als er wieder ins Gefängnis kam, sahen Billy und Mike ausgesprochen ängstlich drein. Vince Hogan war im Delirium, um sechs Uhr an diesem Abend war er tot. 19 Larry war so lange nicht mehr am Times Square gewesen, daß er erwartet hatte, alles würde irgendwie anders aussehen, verzaubert. Die Dinge würden kleiner und trotzdem da sein, und er würde keine Angst mehr vor der üppigen, übelriechenden und manchmal gefährlichen Vitalität des Ortes haben, wie er sie als Kind empfunden hatte, wenn er mit Buddy Marx oder allein hingegangen war, um sich für 99 Cents zwei Filme anzusehen oder den glitzernden Tand in den Schaufenstern der Geschäfte und Arkaden und Billardhallen zu betrachten. Aber alles sah wie damals aus - zu sehr wie damals sogar, denn einiges hatte sich tatsächlich verändert. Wenn man die Treppe von der U-Bahn heraufkam, war der Zeitungskiosk gleich an der Ecke nicht mehr da. Einen halben Block weiter, wo früher eine Spielhalle mit blitzenden Lichtern und Glocken und gefährlich aussehenden jungen Männern gewesen war, die ihre Zigaretten in den Mundwinkeln hängen ließen, während sie Desert Isle oder Space Race spielten, war jetzt ein Orange Julius, vor dem eine Horde junger Schwarzer standen, die sanft die Unterleiber bewegten, als würde irgendwo unablässig Jive gespielt, Jive, den nur schwarze Ohren hören konnten. Und es gab mehr Massagesalons und Pornokinos. Dennoch war alles noch fast wie früher, und das machte ihn traurig. Irgendwie verschlimmerte der einzige wirkliche Unterschied zu früher alles nur: Er kam sich hier jetzt wie ein Tourist vor. Aber vielleicht kamen sich sogar die einheimischen New Yorker auf dem Square wie Touristen vor, zwergenhaft, während sie nach oben sehen und die ständig wechselnden Leuchtreklamen lesen wollten. Er konnte es nicht sagen; er hatte vergessen, was für ein Gefühl es war, ein Teil New Yorks zu sein. Und der Wunsch, es wieder zu lernen, war nicht sonderlich groß. Seine Mutter war heute morgen nicht zur Arbeit gegangen. Sie hatte seit einigen Tagen mit einer Erkältung zu kämpfen und war am Morgen mit Fieber aufgewacht. Er hatte sie in dem schmalen, sicheren Bett in seinem alten Zimmer rumoren hören, sie hatte geniest und leise »Scheiße!« gemurmelt und das Frühstück vorbereitet. Das Fernsehgerät war eingeschaltet worden, dann kamen die Nachrichten im »Today«-Programm. Versuchter Staatsstreich in Indien. In Wyoming war ein Kraftwerk in die Luft geflogen. Vom Obersten Gericht erwartete man eine richtungsweisende Entscheidung im Zusammenhang mit den Rechten der Schwulen. Als Larry in die Küche kam und sich das Hemd zuknöpfte, waren die Nachrichten vorbei, und Gene Shalitt interviewte einen Mann mit Glatze. Der Mann mit der Glatze zeigte eine Anzahl kleiner Glastiere, die er selbst hergestellt hatte. Glasblasen, sagte er, war seit vierzig Jahren sein Hobby, und sein Buch darüber würde bei Random House herauskommen. Dann nieste er. »Gesundheit«, sagte Gene Shalitt und kicherte. »Spiegel- oder Rühreier?« fragte Alice Underwood. Sie trug einen Bademantel. »Rühreier«, sagte Larry. Er wußte, daß es keinen Zweck hatte, gegen Eier zu protestieren. Nach Alices Ansicht war ein Frühstück ohne Eier (wenn sie bei Laune war, nannte sie sie »Gackerbeeren«) kein Frühstück. Sie hätten Proteine und hohen Nährwert. Ihre Vorstellungen von Nährwert waren vage, aber allumfassend. Sie hatte eine Liste von Lebensmitteln mit hohem Nährwert im Kopf, wie Larry wußte, aber auch eine mit Dingen, die abzulehnen waren - Bonbons, Mixed Pickles, Slim Jims, die Streifen rosa Kaugummi, die man zusammen mit Baseballkarten bekam und, weiß Gott, noch eine ganze Menge anderer. Er setzte sich und sah zu, wie sie die Eier machte, sie in dieselbe schwarze Pfanne goß und mit demselben Schneebesen schlug, den sie schon benutzt hatte, als er noch in die erste Klasse der P.S. 162 gegangen war. Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres Bademantels, hustete hinein, nieste hinein und murmelte undeutlich »Scheiße!« »Machst du blau, Mom?« »Ich habe mich krankgemeldet. Diese Erkältung will mich fertigmachen. Ich hasse es, mich am Freitag krank zu melden, das machen so viele, aber ich muß mich einfach hinlegen. Ich habe Fieber. Die Mandeln sind auch geschwollen. « »Hast du den Arzt gerufen?« »Als ich ein hübsches Mädchen war, haben die Ärzte noch Hausbesuche gemacht«, sagte sie. »Wenn man heute krank ist, muss man ins Krankenhaus zur Notaufnahme. Entweder das, oder ich verbringe den Tag damit, daß ich auf einen Quacksalber warte, der einen irgendwo empfängt, wo sie - haha - medizinische Sozialfürsorge haben. Stellen Sie sich hinten an, und warten Sie auf Ihre Notration! Dort geht es schlimmer zu als eine Woche vor Weihnachten bei der Heilsarmee. Ich bleib' zu Hause und nehm' Aspirin, und morgen habe ich es überstanden.« Er blieb fast den ganzen Vormittag zu Hause und versuchte, ihr zu helfen. Er trug das Fernsehgerät an ihr Bett, wobei seine Oberarmmuskeln heroisch hervortraten (»Du hebst dir einen Bruch, nur damit ich >Let's Make a Deal< sehen kann«, schniefte sie), brachte ihr etwas zu trinken und eine alte Flasche Nyquil wegen ihrer Blähungen, und er lief nach unten zum Markt, um ihr ein paar Taschentücher zu kaufen. Dann konnten sie nicht mehr viel tun, außer einander auf die Nerven zu gehen. Sie beschwerte sich darüber, wieviel schlechter der Fernsehempfang im Schlafzimmer war, und er verbiß sich einen giftigen Kommentar, von wegen ein schlechter Empfang sei immer noch besser als gar kein Empfang. Schließlich sagte er ihr, er wolle ausgehen und sich ein wenig die Stadt ansehen. »Das ist eine gute Idee«, sagte sie sichtlich erleichtert, »ich werde etwas schlafen. Du bist ein guter Junge, Larry.« Und so war er erleichtert und doch voller Schuldgefühle die schmale Treppe hinunter (der Fahrstuhl war immer noch defekt) und auf die Straße gegangen. Der Tag gehörte ihm, und er hatte immer noch zweihundert Dollar in bar. Aber jetzt, am Times Square, war er nicht mehr so fröhlich. Er schlenderte ziellos umher; die Brieftasche hatte er schon lange in eine der vorderen Taschen gesteckt. Er blieb vor einem Schallplattenladen stehen und hörte gebannt seine eigene Stimme aus den angeschlagenen Lautsprechern über ihm. Die Mittelstrophe. »I didn't come to ask you to stay all night Or to find out if you've seen the light I didn't come to make a fuss or pick a fight I just want you to tell me if you can think you can Baby, can you dig your man? Dig him, baby - Baby, can you dig your man?« Das bin ich, dachte er und sah mit leerem Blick die Alben an, aber heute deprimierte ihn der Klang. Schlimmer, er bekam Heimweh. Er wollte nicht hier unter diesem grauen Waschküchenhimmel sein, New Yorker Abgase riechen und mit einer Hand dauernd Taschenbillard mit der Brieftasche spielen, um sich zu vergewissern, daß sie noch da war. New York, dein Name ist Paranoia. Plötzlich wollte er in einem Aufnahmestudio an der Westküste sein, ein neues Album aufnehmen. Larry beschleunigte seine Schritte und betrat eine Spielhalle. Glocken und Summer taten ihm in den Ohren weh, das verstärkte, durchdringende Knurren von Deathrace 2000 war zu hören, einschließlich der schauderhaften elektronischen Schreie sterbender Fußgänger. Hübsches Spiel, dachte Larry, und bald gibt es Dachau 2000. Das wird den Kids gefallen. Er ging zur Wechselkabine und wechselte einen Zehner in Vierteldollarmünzen. Neben dem Beef 'n Brew auf der anderen Straßenseite war ein Telefonkiosk, der geöffnet hatte, und er wählte die Nummer von Jane's Place direkt aus dem Gedächtnis. Jane's war eine Spielhölle, wo sich Wayne Stukey manchmal herumtrieb. Larry steckte Münzen in den Schlitz, bis ihm die Hand weh tat, und dreitausend Meilen entfernt klingelte das Telefon. Eine weibliche Stimme sagte: »Jane's. Offen.« »Für alles?« fragte er tief und sexy. »Hör zu, du Klugscheißer, dies ist kein... He, ist das Larry?« »Ja, ich bin's. Hi, Arlene.« »Wo bist du? Du läßt dich gar nicht mehr blicken, Larry.« »Nun, an der Ostküste«, sagte er vorsichtig. »Jemand hat mir gesagt, Blutegel hätten sich an mir festgesetzt, und ich sollte aus dem Teich verschwinden, bis sie abfallen.« »Hat das mit einer großen Party zu tun?« »Ja.« »Davon habe ich gehört«, sagte sie. »Big Spender.« »Ist Wayne da, Arlene?« »Du meinst Wayne Stukey?« »John Wayne meine ich nicht - der ist tot.« »Soll das heißen, du hast es noch gar nicht gehört?« »Was soll ich gehört haben? Ich bin an der anderen Küste. Ihm fehlt doch nichts, oder?« »Er liegt mit diesem Grippevirus im Krankenhaus. Captain Trips nennen sie es hier drüben. Nicht, daß es zum Lachen wäre. Viele Leute sind daran gestorben, heißt es. Die Leute haben Angst und bleiben zu Hause. Wir haben sechs leere Tische, und du weißt, dass Jane's nie leere Tische hat.« »Wie geht es ihm?« »Wer weiß? Die Krankenhäuser sind voll von Leuten, und keiner darf Besuch empfangen. Richtig unheimlich, Larry. Und es sind eine Menge Soldaten hier.« »Auf Urlaub?« »Soldaten auf Urlaub tragen keine Waffen oder fahren in Lastwagenkonvois durch die Gegend. Viele Leute haben echt Angst. Du kannst froh sein, daß du weit weg bist.« »War nichts in den Nachrichten?« »In der Zeitung hat gestanden, man solle sich gegen Grippe impfen lassen, mehr nicht. Aber ein paar Leute sagen, daß die Armee nicht vorsichtig genug mit einem Seuchenkampfstoff umgegangen ist. Ist das nicht unheimlich?« »Das ist nur Panikmache.« »Gibt es das bei euch nicht?« »Nein«, sagte er, aber dann mußte er an die Erkältung seiner Mutter denken. Und hatte er in der U-Bahn nicht jede Menge Niesen und Husten gehört? Er erinnerte sich, er war sich vorgekommen wie auf der TB-Station. Aber Niesen und triefende Nasen gab es schließlich in jeder Stadt. Grippeviren sind gesellig, dachte er. Sie teilen sich den Reichtum. »Janey selbst ist auch nicht da«, sagte Arlene. »Sie sagt, sie hat Fieber und geschwollene Mandeln. Ich dachte, die alte Hure wäre viel zu zäh, um krank zu werden.« »Drei Minuten sind um, bitte melden, wenn Gespräch beendet«, fuhr das Fräulein vom Amt dazwischen. Larry sagte: »Ich bin in ungefähr einer Woche wieder da, Arlene. Wir treffen uns.« »Einverstanden. Ich wollte schon immer mit einem berühmten Plattenstar ausgehen.« »Arlene? Du kennst nicht zufällig einen Typen namens Dewey the Deck, oder?« »Oh!« sagte sie plötzlich erschrocken. »O Mann! Larry! »Was?« »Gott sei Dank hast du noch nicht aufgelegt. Ich habe Wayrie gesehen, zwei Tage bevor er ins Krankenhaus gegangen ist. Hatte ich ganz vergessen. Herrje!« »Ja, was denn?« »Es ist ein Umschlag. Er sagte, der sei für dich, aber er bat mich, ihn eine Woche oder so in der Kasse zu lassen oder ihn dir zu geben, wenn ich dich sehe. Er sagte so was wie >Er kann verdammt froh sein, daß Dewey the Deck den nicht an seiner Stelle kriegt!<« »Was ist drin?« Er nahm den Hörer von einer Hand in die andere. »Moment. Ich seh' nach.« Ein Augenblick Stille, dann hörte er Papier zerreißen. »Es ist ein Sparbuch«, sagte Arlene. »First Commercial Bank of California. Der Kontostand ist... Mann! Etwas mehr als dreizehntausend Dollar. Wenn du mich in eine billige Klitsche einlädst, schlage ich dir den Schädel ein.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte er grinsend. »Danke, Arlene. Bitte, heb das für mich auf.« »Nein, ich werf es in den Gully. Arschloch.« »Es ist so schön, wenn man geliebt wird.« Sie seufzte. »Du bist ein Knallkopf, Larry. Ich tue es in einen Umschlag mit unseren beiden Namen. Dann kannst du mich nicht bescheißen, wenn du nach Hause kommst.« »Das würde ich nie wagen, Süße.« Sie legten auf, und dann meldete sich das Fräulein vom Amt und verlangte noch drei Dollar für Ma Bell, sprich: die Telefongesellschaft. Larry, der immer noch das breite, alberne Grinsen im Gesicht spürte, steckte sie bereitwillig in den Schlitz. Er betrachtete das Kleingeld, das noch auf der Ablage der Telefonzelle lag, suchte ein Zehncentstück heraus und steckte es in den Schlitz. Einen Moment später klingelte das Telefon seiner Mutter. Der erste Impuls ist, eine gute Nachricht anderen mitzuteilen, der zweite, damit jemanden zu erschlagen. Er dachte - nein, er glaubte -, daß ausschließlich ersteres der Fall war. Er wollte sich selbst und ihr mit der Auskunft Erleichterung verschaffen, daß er wieder flüssig war. Ganz allmählich verschwand das Lächeln von seinen Lippen. Das Telefon klingelte nur. Vielleicht hatte sie sich doch noch entschlossen, zur Arbeit zu gehen. Er dachte an ihr gerötetes, fiebriges Gesicht, an ihr Husten und Niesen und dann, wie sie ungeduldig »Scheiße!« ins Taschentuch gesagt hatte. Er glaubte nicht, daß sie zur Arbeit gegangen war. Er war sich fast sicher, dass sie dazu gar nicht kräftig genug war. Er legte auf und nahm zerstreut die durchgefallene Münze an sich, als sie zurückkam. Er ging hinaus und ließ das Geld in der Hand klimpern. Er sah ein Taxi und winkte ihm, und als das Taxi sich wieder in den Verkehr einfädelte, fing es an zu regnen. Die Tür war verschlossen, und als er zwei- oder dreimal geklopft hatte, war er sicher, daß niemand in der Wohnung war. Er hatte so laut geklopft, daß ein Stockwerk höher jemand zurückgeklopft hatte, wie ein erzürntes Gespenst. Aber er mußte hinein, um sich zu vergewissern, und er hatte keinen Schlüssel. Er wollte gerade nach unten in Mr. Freemans Wohnung gehen, da hörte er das leise Stöhnen hinter der Tür. Die Wohnungstür seiner Mutter hatte drei verschiedene Schlösser, aber trotz ihrer fast krankhaften Angst vor Puertoricanern benutzte sie selten alle drei gleichzeitig. Larry warf sich mit der Schulter gegen die Tür, und sie knirschte im Rahmen. Er warf sich noch einmal dagegen, und das Schloß gab nach. Die Tür sprang auf und knallte gegen die Wand. »Mom?« Wieder dieses Stöhnen. Die Wohnung lag im Halbdunkel; der Tag war plötzlich sehr finster geworden, es donnerte, und das Geräusch des Regens schwoll an. Das Wohnzimmerfenster war halb geöffnet, die weißen Gardinen bauschten sich über den Tisch, dann wurden sie wieder nach draußen durch die Öffnung und in den Luftschacht gesogen. An der Stelle, wo der Regen eingedrungen war, war ein großer, nasser Fleck auf dem Fußboden. »Mom, wo bist du?« Ein lautes Stöhnen. Er ging in die Küche, und wieder grollte der Donner. Er wäre fast über sie gestolpert. Sie lag auf dem Fußboden, halb im Schlafzimmer, halb draußen. »Mom! Mein Gott, Mom!« Als sie seine Stimme hörte, versuchte sie, sich umzudrehen, aber sie konnte nur den Kopf bewegen - sie drehte das Kinn, bis es auf der linken Wange lag. Ihr Atem klang röchelnd und verschleimt. Aber das Schlimmste war - ein Anblick, den er nie vergessen würde -, wie ihr sichtbares Auge sich nach oben drehte und ihn anglotzte wie das eines Schweins im Schlachthaus. Ihr Gesicht glühte vor Fieber. »Larry?« »Ich bring' dich ins Bett, Mom.« Er bückte sich, wehrte sich wütend gegen das Zittern in den Knien und nahm sie in die Arme. Ihr Morgenmantel glitt zur Seite und entblößte ein verwaschenes Nachthemd und ihre von dicken blauen Krampfadern durchzogenen fischbauchweißen Beine. Sie glühte förmlich. Er war entsetzt. Niemand konnte so hohes Fieber haben und am Leben bleiben. Das Gehirn mußte ihr im Kopf backen. Wie zur Bestätigung sagte sie: »Larry, hol deinen Vater. Er ist in der Kneipe.« »Sei ruhig«, sagte er bestürzt. »Sei ruhig und schlaf, Mom.« »Er ist in der Kneipe mit diesem Fotografen!« rief sie schrill in das greifbare Halbdunkel des Nachmittags, und draußen krachte wütend der Donner. Larry hatte ein Gefühl, als wäre sein Körper mit langsam fließendem Schleim bedeckt. Vom halb geöffneten Fenster im Wohnzimmer her wehte ein kühler Wind durch die Wohnung. Als würde sie darauf reagieren, begann Alice zu zittern und bekam eine Gänsehaut an den Armen. Sie klapperte mit den Zähnen. Ihr Gesicht war ein Vollmond im Halbdunkel des Schlafzimmers. Larry zog die Decke herunter, legte ihre Beine aufs Bett und zog ihr die Decke bis zum Kinn. Trotzdem zitterte sie hilflos, so daß die Decke sich heftig bewegte. Ihr Gesicht war trocken und ohne Schweiß. »Geh und sag ihm, daß ich gesagt hab', er soll da rauskommen!« rief sie, und dann war sie still, abgesehen von ihrem bronchitischen Atmen. Ihr Gesicht war ein Vollmond im Halbdunkel des Schlafzimmers. Larry zog die Decke herunter, legte ihre Beine aufs Bett und zog ihr die Decke bis zum Kinn. Trotzdem zitterte sie hilflos, so daß die Decke sich heftig bewegte. Ihr Gesicht war trocken und ohne Schweiß. Er ging ins Wohnzimmer zurück, Richtung Telefon, aber dann machte er einen Umweg. Er schlug das Fenster mit einem Knall zu und ging erst dann an den Apparat. Die Telefonbücher waren auf der Ablage unter dem Tischchen. Er suchte die Nummer des Mercy Hospital und wählte, während draußen wieder Donner krachte. Ein Blitz verwandelte das Fenster, das er gerade zugemacht hatte, in eine blauweiße Röntgenplatte. Im Schlafzimmer schrie seine Mutter so kurzatmig, daß ihm das Blut gefror. Das Telefon klingelte einmal, dann ein Summen und ein Klicken. Eine monotone und hohe Stimme sagte: »Hier ist der Anrufbeantworter des Mercy General Hospital. Zur Zeit sind alle Leitungen besetzt. Warten Sie bitte, Ihr Anruf wird so bald wie möglich entgegengenommen. Danke. Hier ist der Anrufbeantworter des Mercy General Hospital. Zur Zeit sind alle Leitungen...« »Wir schicken die Wuschelköpfe nach unten!« schrie seine Mutter. Donner grollte. »Diese Puertorickies haben keine Ahnung!« »...Anruf wird so bald wie möglich entgegengenommen...« Er knallte den Hörer hin und stand schwitzend auf. Was für ein Scheißkrankenhaus war das, wo man nur eine gottverdammte Tonband-Auskunft erhielt, während die Mutter im Sterben lag? Was ging hier vor? Larry beschloß, nach unten zu gehen und Mr. Freeman zu bitten, auf sie zu achten, während er selbst zum Krankenhaus ging. Oder konnte er einen privaten Krankenwagen rufen? Mein Gott, warum wußte man so etwas nicht, wenn man es brauchte? Warum lernte man so etwas nicht in der Schule? Im Schlafzimmer rasselte unablässig das angestrengte Atmen seiner Mutter. »Ich bin bald wieder da«, murmelte er und ging zur Tür. Er hatte schreckliche Angst um sie, aber in seinem Innern sagte eine andere Stimme etwas ganz anderes: Warum muß so etwas immer mir passieren? Und: Warum mußte es gleich nach dieser guten Nachricht passieren? Und besonders abscheulich: Wie sehr bringt das meine Pläne durcheinander? Was muß ich jetzt wieder alles umdisponieren? Er haßte diese Stimme und wünschte, sie möge einen raschen und häßlichen Tod sterben, aber er konnte sie nicht zum Schweigen bringen. Er lief die Treppe zu Freemans Wohnung hinunter, und Donner krachte durch die dunklen Wolken. Als er im Erdgeschoß war, blies der Wind die Tür auf und fegte Regen ins Haus. 20 Das Harborside war das älteste Hotel in Ogunquit. Die Aussicht war nicht berauschend, da man auf der anderen Seite den neuen Yachtclub gebaut hatte, aber an so einem Nachmittag, wenn Pockennarben aufziehender Gewitter den Himmel überzogen, war der Ausblick dennoch schön. Frannie saß seit beinahe drei Stunden am Fenster und versuchte, Grace Duggan, einer High-School -Kommilitonin, die jetzt nach Oberlin ging, einen Brief zu schreiben. Es war kein Beichtbrief über die Schwangerschaft und die Szene mit ihrer Mutter, denn darüber zu schreiben, hätte sie nur deprimiert; zudem vermutete sie, dass Grace es sowieso bald aus ihren eigenen Quellen in der Stadt erfahren würde. Sie hatte nur versucht, einen netten Brief zu schreiben. Der Fahrradausflug, den Jesse und ich im Mai zusammen mit Sam Lothrop und Sally Wenscelas nach Rangely unternommen haben. Wie ich bei der Bioabschlußprüfung Glück gehabt habe. Peggy Täte (auch eine Freundin von der High School und gemeinsame Bekannte) und ihr neuer Job als Hostess im Senat. Die bevorstehende Hochzeit von Amy Lauder. Aber der Brief wollte sich einfach nicht schreiben lassen. Die interessante Pyrotechnik des Tages trug ihren Teil dazu bei - wie konnte man schreiben, wenn ständig kleine Gewitter über dem Meer aufzogen und wieder verschwanden? Nein, genauer gesagt: Die Neuigkeiten in dem Brief schienen alle nicht besonders ehrlich zu sein. Irgendwie hatten sie sich verkehrt, als würde man ein Messer falsch in der Hand halten und statt der Kartoffel den eigenen Finger schneiden. Der Fahrradausflug war schön gewesen, aber sie und Jesse hatten nicht mehr das gute Verhältnis von damals. Sie hatte wirklich bei der BY-7 Abschlußprüfung Glück gehabt, aber nicht bei der Bioabschlußprüfung, die wirklich zählte. Weder ihr noch Grace war je soviel an Peggy Täte gelegen, und Amys bevorstehende Vermählung kam Fran in ihrem derzeitigen Zustand mehr wie ein gräßlicher, garstiger Streich vor und nicht wie ein freudiger Anlaß. Amy heiratet, aber ich bekomme das Baby, ha-ha-ha. Sie hatte das Gefühl, daß sie den Brief beenden sollte, und sei es nur, damit sie sich nicht mehr damit herumärgern mußte, und daher schrieb sie: »Ich habe eigene Probleme, Mann o Mann, und was für welche, aber ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie alle niederzuschreiben. Es ist schon schlimm genug, nur daran denken zu müssen! Ich hoffe immer noch, daß wir uns am vierten sehen, wenn Du Deine Pläne seit dem letzten Brief nicht geändert hast. (Ein Brief in sechs Wochen? Ich habe langsam schon gedacht, jemand hätte Dir die Tipp-Finger abgehackt, Mädchen!) Wenn wir uns sehen, werde ich Dir alles erzählen! Ich könnte Deinen Rat auf jeden Fall brauchen.  Vertraue mir, dann vertraue ich Dir,  Fran.« Sie unterschrieb mit ihrer gewohnt üppig-krakelnden Signatur, damit sie den verbleibenden Platz noch halb verbrauchte. Allein damit kam sie sich wie eine Hochstaplerin vor. Sie faltete ihn zusammen, schob ihn in den Umschlag, klebte ihn zu, schrieb die Adresse darauf und stellte ihn hochkant an den Spiegel. Auftrag ausgeführt. Also. Was nun? Es wurde schon wieder dunkler. Sie stand auf und ging rastlos durchs Zimmer; sie überlegte, ob sie gehen sollte, bevor es wieder zu regnen anfing, aber wohin sollte sie gehen? Ins Kino? Den einzigen Film, der in der Stadt lief, hatte sie schon gesehen. Mit Jesse. Nach Portland, einen Schaufensterbummel machen? Machte keinen Spaß. Die einzigen Kleidungsstücke, die sie sich heutzutage realistisch ansehen konnte, waren die mit Gummizug um die Taille. Platz für zwei. Sie hatte heute drei Anrufe bekommen, der erste brachte gute Neuigkeiten, der zweite uninteressante, der dritte schlechte. Sie wünschte sich, sie wären in umgekehrter Folge eingetroffen. Draußen hatte es angefangen zu regnen, der Pier des Yachtbeckens war wieder dunkel. Sie beschloß, einen Spaziergang zu machen, und den bevorstehenden Regen sollte der Teufel holen. In der frischen Luft und der schwülen Sommeratmosphäre ging es ihr vielleicht bald besser. Vielleicht machte sie irgendwo Rast und trank eine Flasche Bier. Glück aus der Flasche. Zumindest Gleichgültigkeit. Als erste hatte Debbie Smith aus Somersworth angerufen. Fran konnte jederzeit kommen, hatte Debbie herzlich versichert. Sie wurde sogar gebraucht. Eines der drei Mädchen, die sich die Wohnung teilten, war im Mai ausgezogen und hatte in einem Warenhaus einen Job als Sekretärin angenommen. Ohne Dritte konnten Debbie und Rhoda sich die Miete nicht mehr leisten. »Und wir stammen beide aus Großfamilien«, sagte Debbie. »Schreiende Babys machen uns nichts aus.« Fran sagte, sie würde zum ersten Juli einziehen, und als sie auflegte, spürte sie, wie ihr Freudentränen die Wangen entlangliefen. Tränen der Erleichterung. Wenn sie aus dieser Stadt, wo sie aufgewachsen war, fortkonnte, würde alles gut werden, glaubte sie. Weg von ihrer Mutter, und auch weg von ihrem Vater. Das Baby und die Tatsache, daß sie allein lebte, würden ihr Leben wieder in eine vernünftige Perspektive rücken. Sicher ein wichtiger Faktor, aber nicht der einzige. Es gab ein Ti er, einen Käfer oder Frosch, dachte sie, welches zu doppelter Größe anschwoll, wenn es sich bedroht fühlte. Zumindest in der Theorie sah der Angreifer das, fühlte sich bedroht, bekam es mit der Angst zu tun und verschwand. Sie kam sich ein wenig wie dieses Tier vor, und die Stadt, die ganze Umgebung (»Umfeld« mochte das zutreffende Wort sein) löste das Gefühl in ihr aus. Sie wußte, niemand würde sie zwingen, einen scharlachroten Buchstaben zu tragen, aber sie wußte auch, wenn ihr Verstand ihre Nerven von dieser Tatsache überzeugen wollte, war ein Bruch mit Ogunquit nötig. Wenn sie auf der Straße war, dann spürte sie, dass die Leute sie zwar nicht anstarrten, aber sich bereit machten, sie anzustarren. Selbstverständlich die Einwohner, nicht die Sommergäste. Die Einwohner brauchten ständig jemanden, den sie anstarren konnten - einen Penner, Sozialhilfeempfänger, einen Jungen aus gutem Hause, der in Portland oder Old Orchard Beach beim Ladendiebstahl erwischt worden war... oder das Mädchen mit dem anschwellenden Bauch. Der zweite Anruf, der so la-la gewesen war, kam von Jess Rider. Er hatte aus Portland angerufen und es zuerst im Haus versucht. Glücklicherweise hatte Peter abgenommen und ihm Frans Telefonnummer im Harborside ohne Moralpredigt gegeben. Trotzdem hatte er gleich zu Anfang gesagt: »Du hast 'ne Menge Zoff daheim, was?« »Etwas«, sagte sie zurückhaltend, weil sie sich nicht darüber auslassen wollte. Das würde sie in gewisser Weise zu Mitverschwörern machen. »Deine Mutter?« »Wie kommst du darauf?« »Weil sie der Typ zu sein scheint, der ausflippt. Das sieht man in den Augen, Frannie. Wenn du meine heiligen Kühe schlachtest, schlachte ich deine.« Sie schwieg. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen.« »Das hast du nicht«, sagte sie. Seine Beschreibung war sogar ziemlich zutreffend - an der Oberfläche zutreffend jedenfalls -, aber sie war immer noch bemüht, ihre Überraschung über das Verb beleidigen zu überwinden. Aus seinem Mund war das ein seltsames Wort. Vielleicht ist es ja ein Signal, dachte sie. Wenn dein Liebhaber anfängt, von »beleidigen« zu sprechen, ist er nicht mehr dein Liebhaber. »Frannie, das Angebot steht noch. Wenn du ja sagst, kann ich zwei Ringe besorgen und noch heute nachmittag vorbeikommen.« Auf dem Fahrrad, dachte sie und kicherte fast. Ein Kichern wäre etwas Gräßliches gewesen, das sie ihm nicht antun mußte, daher hielt sie den Hörer einen Moment zu, bis sie sicher war, daß es nicht herauskommen würde. Sie hatte in den vergangenen sechs Tagen mehr geweint und gekichert als in der ganzen Zeit, seit sie fünfzehn und zum ersten Mal mit einem Jungen ausgegangen war. »Nein, Jess«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Es ist mein Ernst!« sagte er überraschend nachdrücklich, als hätte er gesehen, wie sie das Kichern unterdrückte. »Das weiß ich«, sagte sie. »Aber ich bin noch nicht bereit für eine Ehe. Ich kenne mich, Jess. Das hat nichts mit dir zu tun.« »Was ist mit dem Baby?« »Ich werde es bekommen.« »Und weggeben?« »Das weiß ich noch nicht.« Er schwieg einen Augenblick, und sie konnte andere Stimmen in anderen Zimmern hören. Sie hatten eigene Probleme, vermutete sie. Junge, die Welt ist ein Drama rund um die Uhr. Wir lieben unser Leben, und daher halten wir nach dem Licht Ausschau, das uns leitet, so wie wir nach dem Morgen suchen. »Ich habe echte Zweifel, was das Baby betrifft«, sagte er schließlich. Das bezweifelte wiederum sie, aber wahrscheinlich war es das einzige, was er ihr sagen konnte, das wirklich weh tat. Und es tat weh. »Jess...« »Wohin gehst du?« fragte er brüsk. »Du kannst nicht den ganzen Sommer über im Harborside bleiben. Wenn du eine Bleibe brauchst, kann ich mich in Portland umsehen.« »Ich habe eine Bleibe.« »Wo? Oder geht mich das nichts an?« »Das geht dich nichts an«, sagte sie und biß sich auf die Zunge, weil sie keine diplomatischere Möglichkeit gefunden hatte, es ihm zu sagen. » Oh«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam tonlos. Schließlich sagte er vorsichtig: »Kann ich dich etwas fragen, ohne daß du gleich sauer wirst, Frannie? Ich will es nämlich wirklich wissen. Es ist keine rhetorische Frage, oder so.« »Frag ruhig«, sagte sie argwöhnisch. Sie wappnete sich geistig schon dagegen, sauer zu werden, denn wenn Jess mit so einer Eröffnung kam, dann folgte meistens eine scheußliche und vollkommen unerwartete Lektion Chauvinismus. »Habe ich in dieser ganzen Sache überhaupt keine Rechte?« fragte Jess. »Kann ich nicht auch Mitverantwortung übernehmen und mit entscheiden?« Einen Moment war sie sauer, aber dann flaute das Gefühl ab. Jess war eben nur Jess, er versuchte, das Bild zu beschützen, das er von sich selbst hatte, wie es alle denkenden Menschen machen, damit sie nachts schlafen können. Sie hatte ihn immer auch wegen seiner Intelligenz gemocht, aber in so einer Situation konnte Intelligenz langweilig sein. Menschen wie Jess - und auch sie selbst - hatten ihr Leben lang eingebleut bekommen, daß es gut und richtig war, sich Aufgaben zu setzen und aktiv zu sein. Manchmal mußte man sich verletzen - und zwar schlimm -, damit man einsah, es war besser, sich ins hohe Gras zu legen und zu zögern. Seine Fangnetze waren schön geknüpft, aber es waren und blieben trotzdem Fangnetze. Er wollte sie nicht davon lassen. »Jess«, sagte sie, »wir wollten dieses Baby beide nicht. Wir haben uns geeinigt, daß ich die Pille nehme, damit es nicht dazu kommt. Du hast keine Verantwortung ...« »Aber...« »Nein, Jess«, sagte sie mit Nachdruck. Er seufzte. »Meldest du dich, wenn du umgezogen bist?« »Ich denke schon.« »Hast du immer noch vor, wieder zur Uni zu gehen?« »Später. Ich lasse das Herbstsemester ausfallen. Vielleicht aufgrund der Krankheitsregelung oder so.« »Wenn du mich brauchst, Frannie, du weißt, wo ich bin. Ich laufe nicht weg.« »Das weiß ich, Jess.« »Wenn du Geld brauchst...« »Ja.« »Melde dich. Ich will dich nicht drängen, aber... ich möchte dich gerne wiedersehen.« »Gut, Jess.« »Lebwohl, Fran.« »Lebwohl.« Als sie aufgelegt hatte, kam ihr das Lebewohl zu endgültig vor, die Unterhaltung nicht beendet. Dann fiel ihr der Grund ein. Sie hatten kein »Ich liebe dich« hinzugefügt, und das war das erste Mal. Es machte sie traurig, und sie befahl sich, es seinzulassen, aber das half nichts. Der letzte Anruf kam gegen Mittag, von ihrem Vater. Vorgestern hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, und er hatte ihr gesagt, daß es ihn bekümmerte, welche Auswirkungen die ganze Sache auf Carla hatte. Sie war gestern nacht nicht ins Bett gekommen, sondern war im Salon geblieben und hatte die alten Stammbäume durchgesehen. Gegen halb zwölf war er nach unten gegangen und hatte sie gefragt, wann sie ins Bett kommen wollte. Sie hatte das Haar offen getragen; es fiel über die Schultern und das Leibchen des Nachthemds, und Peter hatte gesagt, sie sah aus, als wäre sie nicht völlig in Kontakt mit der Wirklichkeit. Das schwere Buch lag auf ihrem Schoß, und sie hatte ihn nicht einmal angesehen, sondern einfach weiter umgeblättert. Sie hatte gesagt, daß sie nicht müde war. Sie wollte noch eine Weile aufbleiben. Sie habe eine Erkältung, sagte Peter zu Frannie, während sie in der Nische im Corner Lunch saßen. Schnupfen. Als Peter sie gefragt habe, ob sie ein Glas warme Milch wolle, habe sie überhaupt nicht geantwortet. Gestern morgen hatte er sie dann schlafend im Sessel gefunden, das Buch auf dem Schoß. Als sie schließlich aufgewacht war, schien es ihr besser zu gehen und sie wieder ganz die Alte zu sein, aber die Erkältung war schlimmer geworden. Sie wollte aber nicht, daß Dr. Edmonton sich herbemühte. Sie hatte sich mit Wick Vaporup eingerieben und sich ein warmes Mulltuch auf die Brust gelegt, und sie dachte, daß die Stirnhöhlen schon wieder frei wurden. Aber Peter sagte Frannie, daß ihm Carlas Aussehen überhaupt nicht gefiel. Sie ließ ihn zwar nicht Fieber messen, aber er glaubte, daß sie hohes Fieber hatte. Heute hatte er sie angerufen, kurz nachdem das erste Gewitter angefangen hatte. Die purpurnen und schwarzen Wolken türmten sich stumm über dem Hafen, und dann fing es an zu regnen, anfangs sacht, aber dann wie aus Kübeln geschüttet. Während sie sich unterhielten, sah sie zum Fenster hinaus und konnte Blitze sehen, die jenseits des Wellenbrechers ins Meer einschlugen, und jedesmal, wenn das passierte, hörte sie ein leises Kratzen in der Leitung, wie von einer Plattenspielernadel, die über die Platte gleitet. »Heute ist sie im Bett«, sagte Peter. »Sie war endlich einverstanden, daß Tom Edmonton einmal nach ihr sieht.« »War er schon da?« »Er ist grade gegangen. Er glaubt, sie hat die Grippe.« »O Gott«, sagte Frannie und machte die Augen zu. »Bei einer Frau in ihrem Alter ist damit nicht zu spaßen.« »Nein, wirklich nicht.« Er machte eine Pause. »Ich habe ihm alles erzählt, Frannie. Über das Baby, über deinen Streit mit Carla. Tom ist dein Arzt, seit du selbst noch ein Baby warst, der kann den Mund halten. Ich wollte wissen, ob euer Streit der Auslöser dafür gewesen sein könnte. Er sagte nein. Grippe ist Grippe.« »Flu made who?« sagte Frannie tonlos. »Bitte?« »Vergiß es«, sagte Fran. Ihr Vater war erstaunlich vielseitig gebildet, aber ein Fan von AC/DC war er eindeutig nicht. »Nur weiter.« »Nun, viel gibt es nicht mehr zu erzählen, Liebes. Tom sagte, im Moment grassiert eine Grippewelle. Eine besonders tückische Art. Sie scheint aus dem Süden zu kommen, und ganz New York leidet darunter.« »Aber die ganze Nacht im Salon zu schlafen...«, begann sie zweifelnd. »Er sagte, im Sitzen zu schlafen sei vermutlich besser für Lungen und Bronchien. Sonst hat er nichts gesagt, aber Alberta Edmonton ist Mitglied in allen Clubs, in denen Carla auch ist, daher mußte er wohl nicht mehr sagen. Wir wissen beide, daß sie es förmlich herausgefordert hat, Fran. Sie ist Vorsitzende des Historischen Komitees der Stadt, sie arbeitet zwanzig Stunden die Woche in der Bibliothek, sie ist Sekretärin des Frauenclubs und des Literarischen Frauenkreises, sie organisiert den hiesigen Basar, und das schon vor Freds Tod, und vergangenen Winter hat sie sich zu guter Letzt noch dem Heart Fund angeschlossen. Obendrein versucht sie, Interessenten für eine genealogische Gesellschaft in Südmaine zu finden. Sie ist ausgelaugt, überarbeitet. Darum ist sie auch so wütend auf dich gewesen. Edmonton hat nur gesagt, sie war ein willkommenes Ziel für den erstbesten bösen Erreger, der des Wegs kommt. Und mehr mußte er nicht sagen. Frannie, sie wird alt und will es nicht wahrhaben. Sie hat schwerer gearbeitet als ich.« »Ist sie sehr krank, Daddy?« »Sie liegt im Bett, trinkt Saft und nimmt die Tabletten, die Tom verschrieben hat. Ich habe einen Tag freigenommen, und morgen kommt Mrs. Halliday und bleibt bei ihr. Carla bestancKauf Mrs. Halliday, damit sie die Tagesordnung für die Versammlung der Historischen Gesellschaft im Juli ausarbeiten können.« Er seufzte tief, und wieder kratzte ein Blitz in der Leitung. »Manchmal glaube ich, sie will in voller Rüstung sterben.« Fran sagte schüchtern: »Glaubst du, es würde sie stören, wenn ich...« »Momentan schon. Aber laß ihr Zeit, Fran. Sie kommt wieder zur Besinnung.« Jetzt, vier Stunden später, als sie den Regenschal übers Haar zog, fragte sie sich, ob ihre Mutter tatsächlich wieder zur Besinnung kommen würde. Wenn sie das Baby weggab, bekam vielleicht niemand in der Stadt Wind davon. Aber das war unwahrscheinlich. In kleinen Orten riechen die Leute den Wind mit außergewöhnlich feinen Nasen. Und wenn sie das Baby behielt... aber daran dachte sie ja nicht im Ernst, oder? Oder? Sie spürte Schuldgefühle in sich, als sie den leichten Übermantel anzog. Ihre Mutter war ausgelaugt, selbstverständlich. Das hatte Fran gesehen, als sie vom College nach Hause gekommen war und sie beide sich auf die Wangen geküßt hatten. Carla hatte Tränensäcke unter den Augen, ihre Haut sah . zu gelb aus, und das Grau im Haar, das immer schön frisiert war, hatte sich trotz Tönungen für dreißig Dollar weiter ausgebreitet. Trotzdem... Sie war hysterisch gewesen, absolut hysterisch. Und Fran stand plötzlich mit der Frage da, in welchem Maße sie selbst Verantwortung übernehmen wollte, falls die Grippe ihrer Mutter sich zu einer Lungenentzündung entwickelte oder sie einen Zusammenbruch erlitt. Oder sogar starb. Herrgott, was für ein schrecklicher Gedanke. Das durfte nicht geschehen, bitte, lieber Gott, nein, natürlich nicht. Die Tabletten, die sie nahm, würden die Grippe besiegen, und wenn Frannie ihr aus den Augen war und den kleinen Ankömmling still und heimlich in Somersworth zur Welt brachte, würde ihre Mutter sich von dem Schlag erholen, den sie hatte einstecken müssen. Sie würde... Das Telefon läutete. Sie sah es einen Moment mit leerem Blick an, draußen flackerten weitere Blitze, gefolgt von Donner, so nahe und heftig, daß sie zusammenzuckte und aufsprang. Ring, ring, ring. Aber sie hatte ihre drei Anrufe gehabt, wer könnte es sein? Debbie mußte sie nicht zurückrufen, und sie bezweifelte, daß Jess es tun würde. Vielleicht war es die Organisation Dialing for Dollars. Oder ein Saladmaster-Vertreter. Vielleicht war es doch Jess, der die alte College-Masche versuchen wollte. Kurz bevor sie abnahm, war sie sicher, daß es ihr Vater war, der schlechte Neuigkeiten brachte. Es ist wie Kuchen, dachte sie. Verantwortung ist ein Kuchen. Alles Gute, das man tut, alle Pflichten, die man erfüllt, werden in den Teig eingerührt, aber man macht sich etwas vor, wenn man glaubt, daß man sich nicht eines Tages selbst ein möglichst großes, saftiges Stück von diesem Kuchen für sich abschnitt. Und es bis zum letzten Krümel aß. »Hallo?« Einen Moment lang herrschte nur Schweigen - sie runzelte verwirrt die Stirn, sagte noch einmal: »Hallo?« Dann sagte ihr Vater: »Fran?« und gab einen seltsam erstickten Laut von sich. »Frannie?« Wieder der erstickte Laut, und Fran wurde mit aufkeimendem Entsetzen klar, daß ihr Vater Tränen unterdrückte. Sie griff mit einer Hand zum Hals und berührte den Knoten, wo sie den Regenschal gebunden hatte. »Daddy? Was ist? Etwas mit Mom?« »Frannie, ich muß dich abholen. Ich... komme einfach vorbei und hol' dich ab, ja?« »Ist mit Mom alles in Ordnung?« schrie sie ins Telefon. Über dem Harborside rollte erneut Donner und machte ihr angst, sie weinte. »Sag es mir, Daddy!« »Es geht ihr schlechter, mehr weiß ich nicht«, sagte Peter. »Etwa eine Stunde, nachdem ich mit dir gesprochen habe, hat sich ihr Zustand verschlimmert. Das Fieber ist gestiegen. Sie war im Delirium. Ich habe versucht, Tom anzurufen... Kachel sagte, er wäre unterwegs, viele Leute wären sehr krank... darum habe ich das Sanford Hospital angerufen, und sie haben gesagt, beide Krankenwagen wären im Einsatz, aber sie würden Carla auf die Liste setzen. Die Liste, Frannie, zum Teufel, was ist das plötzlich für eine Liste? Ich kenne Jim Warrington. Er fährt einen Krankenwagen des Sanford, und wenn nicht gerade auf der 95 ein Unfall ist, sitzt er den ganzen Tag herum und spielt Romme. Was ist das für eine Liste?« Er schrie beinahe. »Beruhige dich, Daddy. Beruhige dich. Beruhige dich.« Sie brach wieder in Tränen aus, und die Hand wanderte vom Knoten des Schals zu den Augen. »Wenn sie noch daheim ist, solltest du sie selbst hinbringen.« »Nein... nein, der Wagen ist vor etwa einer Viertelstunde gekommen. Herrgott, Frannie, es waren sechs Leute in dem Krankenwagen. Darunter auch Will Ronson, der Mann, dem der Drugstore gehört. Und Carla... deine Mutter... ist ein wenig zu sich gekommen, als man sie in den Wagen geladen hat, und sie hat immer nur gesagt: >Ich kann nicht atmen, Peter, ich kann nicht atmen, warum bekomme ich keine Luft?< Mein Gott«, seufzte er mit schluchzender, kindlicher Stimme, die ihr Angst machte. »Kannst du fahren, Daddy? Kannst du bis hierher fahren?« »Ja«, sagte er. »Ja, sicher.« Er schien sich zusammenzunehmen. »Ich warte auf der Veranda.« Sie legte auf und ging rasch mit zitternden Knien nach unten. Auf der Veranda sah sie, daß es zwar noch regnete, die Wolken des letzten Gewitters aber bereits aufbrachen und die Spätnachmittagssonne durchschien. Sie suchte automatisch nach einem Regenbogen und sah ihn weit draußen über dem Wasser, eine dunstige, mystische Sichel. Schuldgefühle nagten wie pelzige Leiber in ihrem Bauch, da drinnen, wo dieses andere Ding war, und sie fing wieder an zu weinen. Iß deinen Kuchen, sagte sie sich, während sie auf ihren Vater wartete. Er schmeckt gräßlich, aber iß den Kuchen. Du kannst ein zweites Stück haben, sogar ein drittes. Iß deinen Kuchen, Frannie, jeden Bissen. 21 Stu Redman hatte Angst. Er blickte durch das vergitterte Fenster seines neuen Zimmers in Stovington, Vermont, und sah tief unten eine kleine Stadt, Tankstellenschilder im Miniaturmaßstab, eine Art Fabrikgebäude, einen Schlagbaum und hinter dem Schlagbaum die Granitwirbelsäule des westlichen Neu England - die Green Mountains. Er hatte Angst, weil dieses Zimmer nicht wie ein Krankenzimmer, sondern wie eine Gefängniszelle aussah. Er hatte Angst, weil Denninger weg war. Er hatte Denninger nicht mehr gesehen, seit dieser ganze verrückte Drei-Manegen-Zirkus von Atlanta nach hier verlegt worden war. Auch Deitz war nicht mehr da. Stu dachte, dass Denninger und Deitz vielleicht krank waren, möglicherweise schon tot. Jemand hatte Scheiße gebaut. Entweder das, oder die Krankheit, die Charles D. Campion nach Arnette gebracht hatte, war viel leichter übertragbar, als alle vermutet hatten. Auf jeden Fall war das Seuchenzentrum in Atlanta verseucht worden, und Stu vermutete, daß alle, die dort gewesen waren, jetzt die Möglichkeit hatten, am eigenen Leibe Erkenntnisse über den Virus zu sammeln, den sie Eins-A oder Supergrippe nannten. Sie führten immer noch Tests mit ihm durch, aber diese wirkten ziellos. Der Zeitplan war völlig willkürlich. Sie schrieben die Befunde auf, aber er hatte den Verdacht, daß irgend jemand die Unterlagen nur überflog, den Kopf schüttelte und sie in den nächsten Reißwolf warf. Das war noch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Waffen. Die Schwestern, die hereinkamen, um ihm Blut oder Speichel oder Urin abzunehmen, wurden jetzt immer von einem Soldaten in weißem Anzug begleitet, und der Soldat trug einen Revolver in einem Plastikbeutel. Dieser Plastikbeutel war über dem Handschuh am rechten Handgelenk befestigt. Der Revolver war ein Fünfundvierziger in Armeeausführung, und Stu zweifelte nicht daran, daß der Fünfundvierziger das Ende des Plastikbeutels in rauchende, brennende Fetzen verwandeln und Stu Redman zu einem Golden Oldie machen würde, wenn er ein Spielchen versuchen sollte wie bei Deitz. Wenn dies nur noch Routine war, dann war er entbehrlich geworden. Unter Arrest zu stehen war schlimm. Unter Arrest zu stehen und entbehrlich zu sein... das war ganz schlimm. Er verfolgte die Sechs-Uhr-Nachrichten jetzt jeden Abend. Die Männer, die in Indien einen Staatsstreich versucht hatten, waren als ausländische Agitatoren bezeichnet und erschossen worden. Die Polizei suchte immer noch die Person oder Personen, die in Laramie, Wyoming, gestern ein Kraftwerk in die Luft gesprengt hatten. Das Oberste Bundesgericht hatte mit sechs zu drei Stimmen beschlossen, daß Homosexuelle nicht aus dem Staatsdienst entlassen werden durften. Und zum ersten Mal wurden auch andere Dinge angedeutet. Beamte der Atomenergiekommission in Miller County, Arkansas, hatten bestritten, daß es zu einer Reaktorkatastrophe kommen könnte. Das Atomkraftwerk in Fouke, einer kleinen Stadt, etwa dreißig Meilen von der Grenze nach Texas entfernt, habe zwar Probleme mit dem Kühlsystem, aber zu besonderer Sorge bestünde kein Anlaß. Die Entsendung von Armee-Einheiten in die Gegend sei lediglich eine Vorsichtsmaßnahme. Stu fragte sich, welche Vorsichtsmaßnahmen die Armee wohl ergreifen könnte, sollte es im Reaktor in Fouke tatsächlich zum China-Syndrom kommen. Er glaubte, daß die Armee aus ganz anderen Gründen im Südwesten von Arkansas war. Fouke war nicht weit von Arnette entfernt. Eine andere Meldung besagte, daß sich an der Ostküste eine Grippe-Epidemie abzeichnete - die sogenannte russische Grippe, die allenfalls sehr alten und sehr jungen Menschen gefährlich werden konnte. Ein erschöpfter Arzt aus New York City wurde auf dem Korridor des Mercy Hospital in Brooklyn interviewt. Er sagte, die Grippe sei für den russischen A-Virus außergewöhnlich hartnäckig und ermahnte die Zuschauer, sich gegen Grippe impfen zu lassen. Dann sagte er plötzlich etwas anderes, aber der Ton wurde abgedreht, und man sah nur noch, wie er die Lippen bewegte. Schnitt zum Nachrichtensprecher im Studio, der sagte: »Aus New York wurden im Zusammenhang mit der jüngsten Grippewelle einige Todesfälle gemeldet, aber bei den meisten waren zusätzliche Ursachen wie Luftverschmutzung und möglicherweise der AIDS Virus mitverantwortlich. Beamte der Gesundheitsbehörden weisen darauf hin, daß es sich um die russische A-Grippe und nicht um die viel gefährlichere Schweinegrippe handelt. Einstweilen ist alter Rat guter Rat, sagen die Ärzte. Bleiben Sie im Bett, gönnen Sie sich viel Ruhe, trinken Sie reichlich Flüssigkeit, und nehmen Sie Aspirin gegen das Fieber.« Der Nachrichtensprecher lächelte beruhigend, und außerhalb der Kamera nieste jemand. Die Sonne berührte jetzt den Horizont und tauchte ihn in ein Gold, das bald zu Rot und schwachen Orangetönen verblassen würde. Das Schlimmste waren die Wächter. Sie hatten ihn in eine Gegend des Landes geflogen, die ihm fremd war, und nachts wirkte sie irgendwie noch fremder. Jetzt, im Frühsommer, kam ihm das viele Grün, das er von seinem Fenster aus sehen konnte, abnormal vor, überreichlich und ein wenig beängstigend. Er hatte keine Freunde mehr; soweit er wußte, waren alle Leute, die mit ihm zusammen von Braintree nach Atlanta geflogen waren, inzwischen tot. Er war von unfreundlichen Automaten umgeben, die ihm Blut abnahmen und dabei Revolver auf ihn richteten. Er fürchtete um sein Leben, obwohl er sich immer noch wohl fühlte und nicht mehr glaubte, daß er Es bekommen würde, was immer Es auch sein mochte. Nachdenklich überlegte Stu, ob es möglich wäre, von hier zu fliehen. 22 Als Creighton am 24. Juni kam, stand Starkey mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor den Monitoren. Creighton sah den Ring von West Point an der Hand des alten Mannes blitzen und empfand Mitleid mit ihm. Starkey war schon seit zehn Tagen auf Tabletten und dem unvermeidlichen Zusammenbruch sehr nahe. Aber, dachte Creighton, wenn sein Verdacht im Zusammenhang mit diesem Telefongespräch zutraf, dann hatte der Zusammenbruch schon stattgefunden. »Len«, sagte Starkey, als sei er überrascht. »Schön, daß du gekommen bist.« »De nada«, sagte Creighton und lächelte ein wenig. »Du weißt, wer am Apparat war.« »Er war es also tatsächlich?« »Der Präsident, ja. Ich bin abgelöst. Der alte Herr hat mich gefeuert, Len. Natürlich wußte ich, daß es so kommen würde. Aber es tut trotzdem weh. Verdammt weh. Es tut besonders weh, weil es von diesem grinsenden, katzbuckelnden Lahmarsch kommt.« Len Creighton nickte. »Nun«, sagte Starkey und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Es ist passiert. Kann nicht zurückgenommen werden. Du hast jetzt das Sagen. Du sollst auf dem schnellsten Wege nach Washington kommen. Er wird dich zu Bücklingen zwingen und dir den Arsch aufreißen, bis du blutest, aber du wirst nur dastehen und >Ja, Sir< sagen und alles über dich ergehen lassen. Wir haben gerettet, was wir konnten. Das ist genug. Ich bin überzeugt, daß es genug ist.« »In dem Fall müßte dir dieses Land auf den Knien danken.« »Das Ventil hat mir die Hand verbrannt, aber ich... ich habe es gehalten, so lange ich konnte, Len. Ich habe es gehalten.« Er sprach mit verhaltener Vehemenz, aber seine Augen wanderten immer wieder zum Monitor, und einen Moment zitterte sein Mund unsicher. »Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.« »Nun... wir ziehen uns eine Meile oder drei zurück, Billy, oder nicht?« »Das kannst du laut sagen, Soldat. Und jetzt hör zu. Eines hat höchste Priorität: Du mußt bei erster sich bietender Gelegenheit Jack Cleveland sprechen. Er weiß, wen wir hinter beiden Vorhängen haben, dem eisernen und dem aus Bambus. Er weiß, wie man mit diesen Leuten Verbindung aufnimmt, und er wird nicht zögern, zu tun, was zu tun ist. Er weiß, daß es schnell geschehen muß.« »Ich verstehe nicht, Billy.« »Wir müssen das Schlimmste annehmen«, sagte Starkey, und ein seltsames Grinsen kroch über sein Gesicht . Er hob die Oberlippe und runzelte sie wie die Schnauze eines Hundes, der einen Hof bewacht. Er deutete mit dem Finger auf die gelben Kopien, die auf dem Tisch lagen. »Es ist außer Kontrolle. Es ist in Oregon, Nebraska, Louisiana und Florida aufgetaucht. Möglicherweise Fälle in Mexiko und Chile, aber das ist noch nicht bestätigt. Als wir Atlanta aufgeben mußten, haben wir drei Männer verloren; die am besten geeignet waren, das Problem zu lösen. Mit Mr. Stuart >Prinz< Redman kommen wir absolut keinen Schritt weiter. Weißt du, daß sie ihm Virus Blau sogar injiziert haben? Er dachte, es sei ein Beruhigungsmittel. Sein Körper hat es abgemurkst, und kein Mensch hat auch nur die geringste Ahnung, wie. Wenn wir sechs Wochen Zeit hätten, würden wir vielleicht dahinterkommen, aber die haben wir nicht. Die Grippe-Version ist noch die beste, aber es ist dringend geboten - dringend -, daß die andere Seite dies nie als eine... als eine in Amerika künstlich hervorgerufene Situation betrachtet. Sonst könnten sie auf dumme Gedanken kommen. Cleveland hat zwischen acht und zwanzig Männer und Frauen in der UdSSR und zwischen fünf und zehn in jedem europäischen Satellitenstaat. Nicht einmal ich weiß, wie viele er in Rotchina hat.« Starkeys Mund zitterte wieder. »Wenn du Cleveland heute nachmittag triffst, mußt du ihm nur sagen: Rom fällt. Das vergißt du doch nicht?« »Nein«, sagte Len. Seine Lippen fühlten sich seltsam kalt an. »Aber glaubst du wirklich, daß sie es tun werden? Diese Männer und Frauen?« »Unsere Leute haben die Phiolen vor einer Woche erhalten. Sie glauben, es handelt sich um radioaktive Teilchen, die von unseren Sky-Satelliten registriert werden. Und mehr müssen sie nicht wissen, oder, Len?« »Ja, Billy.« »Und wenn es... zum Schlimmsten kommt, wird niemand es je erfahren. Projekt Blau war bis zuletzt nicht infiltriert, das wissen wir genau. Ein neuer Virus, eine Mutation... die Gegenseite kann Vermutungen anstellen, aber sie werden nicht genug Zeit haben. Gleiches mit Gleichem, Len.« »Ja.« Starkey sah wieder auf die Monitoren. »Meine Tochter hat mir vor Jahren einen Gedichtband geschenkt. Von einem Mann namens Yeets. Sie sagte, alle Militärs müßten Yeets lesen. Ich glaube, das war ihre Art von Humor. Hast du schon mal was von Yeets gehört, Len?« »Ich glaube schon«r sagte Creighton und überlegte, ob er Starkey sagen sollte, daß der Name wie >Yates< ausgesprochen wurde, liess es aber bleiben. »Ich habe jede Zeile gelesen«, sagte Starkey und sah in das ewige Schweigen der Kantine. »Hauptsächlich weil sie glaubte, daß ich es nie lesen würde. Man macht einen Fehler, wenn man allzu berechenbar ist. Ich habe nicht viel verstanden - ich glaube, der Mann muß verrückt gewesen sein -, aber ich habe es gelesen. Komische Gedichte. Reimen sich nicht einmal immer. Aber in dem Buch stand ein Gedicht, das mir nicht mehr aus dem Kopf will. Es kam mir vor, als hätte der Mann all das beschrieben, dem ich mein Leben gewidmet habe, seine Hoffnungslosigkeit, seine verdammte Größe. Er sagte, daß alles auseinanderfällt. Er sagte, daß das Zentrum nicht hält. Ich glaube, er wollte sagen, daß die Lage verworren wird, Len. Ich glaube, daß er das sagen wollte. Yeets wußte, früher oder später franst der Rand aus, auch wenn er sonst nichts wußte.« »Ja, Sir«, sagte Creighton leise. »Beim Ende bekam ich eine Gänsehaut, als ich es zum ersten Mal las. Den Teil kenne ich auswendig. >Welch gefährliche Bestie, deren Stunde endlich gekommen ist, schleicht sich nach Bethlehem, um geboren zu werden?<« Creighton stand schweigend da. Er wußte nichts zu sagen. »Die Bestie ist auf dem Weg«, sagte Starkey und drehte sich um. Er weinte und grinste gleichzeitig. »Sie ist unterwegs, und sie ist viel gefährlicher als dieser Bursche Yeets sich je hätte vorstellen können. Alles bricht auseinander. Unsere Aufgabe ist es, so lange wir können soviel wie möglich zusammenzuhalten.« »Ja, Sir«, sagte Creighton und verspürte zum ersten Mal selbst Tränen in den Augen. »Ja, Billy.« Starkey streckte die Rechte aus, und Creighton ergriff sie mit beiden Händen. Starkeys Hand war alt und kalt, wie die abgestreifte Haut einer Schlange, in der ein kleines Prärietier verendet ist, dessen eigenes zerbrechliches Skelett in der Hülle des Reptils verblieben war. Tränen quollen über Starkeys untere Lider und liefen an den makellos rasierten Wangen hinab. »Ich muß mich um meine Aufgaben kümmern«, sagte Starkey. »Ja, Sir.« Starkey zog den West-Point-Ring von der rechten und den Ehering von der linken Hand. »Für Cindy«, sagte er. »Für meine Tochter. Sieh zu, daß sie sie bekommt, Len.« »In Ordnung.« Starkey ging zur Tür. »Billy?« rief Len Creighton ihm nach. Starkey drehte sich um. Creighton stand starr wie ein Pfahl; auch ihm liefen Tränen über die Wangen. Er salutierte. Starkey erwiderte den Gruß und ging zur Tür hinaus. Der Fahrstuhl summte leistungsstark und zeigte das jeweilige Stockwerk an. Eine Sirene begann zu heulen - kläglich, als wüßte sie bereits, daß sie vor einer Situation warnte, die längst nicht mehr zu retten war -, als er den Fahrstuhl mit seinem Spezialschlüssel oben aufmachte, damit er den Fahrzeugpark betreten konnte. Starkey stellte sich vor, wie Len Creighton ihn auf einer Kette von Monitoren beobachtete: wie er sich erst einen Jeep aussuchte und dann über das ausgedehnte Wüstenareal des Testgeländes und durch das Tor mit dem Schild HOCHSICHERHEITSZONE - ZUTRITT NUR MIT SONDERERLAUBNIS fuhr. Die Wachkabinen sahen wie die Mauthäuschen auf den Autobahnen aus. Sie waren immer noch bemannt, aber die Soldaten hinter dem gelben Glas waren tot und mumifizierten in der trockenen Wüstenluft rasch. Die Kabinen waren kugelsicher, aber virensicher waren sie nicht gewesen. Glasige, eingesunkene Augen starrten Starkey beim Vorbeifahren an - sein Jeep war das einzige, das sich auf dem Wirrwarr der Feldwege zwischen den Baracken und flachen Gebäuden bewegte. Vor einem klobigen Blockhaus mit der Aufschrift KEIN ZUTRITT OHNE BEFUGNIS an der Tür hielt er an. Er verschaffte sich mit einem Schlüssel Zutritt und rief mit einem anderen den Fahrstuhl. Ein Wachsoldat, so tot wie ein Türnagel und so steif wie eine Fahnenstange, glotzte ihn aus der verglasten Sicherheitskabine links von den Fahrstuhltüren an. Als der Fahrstuhl kam und die Tür aufging, trat Starkey hastig ein. Er schien den Blick des toten Wachsoldaten auf sich zu spüren, das schwache Gewicht von zwei Augen, gleich staubigen Steinen. Der Fahrstuhl sank so schnell, daß sich ihm der Magen umdrehte. Als der Lift zum Stillstand kam, ertönte eine leise Glocke. Die Tür ging auf; süßlicher Verwesungsgeruch traf ihn wie ein leichter Schlag. Allzu penetrant war er nicht, da die Luftreinigungsanlage noch funktionierte, aber nicht einmal die Lüftung konnte den Geruch völlig beseitigen. Wenn ein Mensch gestorben ist, dann will er, dass man es erfährt, dachte Starkey. Fast ein Dutzend Leichen lagen vor der Fahrstuhltür. Starkey trippelte zwischen ihnen hindurch, da er nicht auf eine verwesende, wachsweiche Hand treten oder über ein ausgestrecktes Bein stolpern wollte. Dann müßte er vielleicht schreien, und das wollte er auf gar keinen Fall. In einer Gruft wollte man nicht schreien, weil einen das Geräusch vielleicht wahnsinnig machen konnte, und genau da befand er sich momentan - in einer Gruft. Sah vielleicht wie ein bestens ausgestattetes Forschungsprojekt aus, aber in Wahrheit war es eine Gruft. Die Tür des Fahrstuhls glitt hinter ihm zu; der Lift fuhr summend automatisch wieder hoch. Starkey wußte, er würde nicht wieder automatisch herunterkommen, wenn nicht jemand anders den Schlüssel hineinsteckte; kaum waren die Anlagen der Station kontaminiert worden, hatte der Computer sämtliche Fahrstühle auf Sicherheitsprogramm geschaltet. Warum lagen diese armen Männer und Frauen hier? Sie hatten offenbar gedacht, die Computer würden das Umschalten auf Gefahrensituation versauen. Warum nicht? Das schien nicht einmal unlogisch. Immerhin war praktisch alles andere versaut worden. Starkey schritt mit klickenden Absätzen den Flur Richtung Kantine entlang. Die Neonröhren oben in ihren langen Halterungen, die langen Eiswürfelbehältern glichen, warfen ein grelles, schattenloses Licht. Hier lagen weitere Leichen. Ein Mann und eine Frau, nackt und mit Löchern im Kopf. Sie haben gevögelt, dachte Starkey, dann hat er sie erschossen und anschließend sich selbst. Liebe unter Viren. Die Pistole, eine Armeewaffe Kaliber 45, hielt er noch in der Hand. Der Fliesenboden war mit Blut und einer grauen Masse bespritzt, die wie Weizenkleie aussah. Er verspürte den gräßlichen und glücklicherweise rasch überstandenen Impuls, sich zu bücken und die Brüste der toten Frau zu berühren, ob sie fest oder schlaff waren. Ein Stück weiter im Flur saß ein Mann mit dem Rücken an einer geschlossenen Tür; er hatte sich mit einem Schnürsenkel ein Schild um den Hals gehängt. Sein Kinn war auf die Brust gesunken und verdeckte das Geschriebene. Starkey schob die Finger unter das Kinn des Mannes und hob den Kopf. Als er das tat, kippten die Augäpfel des Toten mit einem fleischigen leisen Plopp in den Schädel hinein. Die Worte auf dem Schild waren mit einem roten Markierstift geschrieben. JETZT WISST IHR, DASS ES FUNKTIONIERT, stand auf dem Schild: NOCH FRAGEN? Starkey ließ das Kinn des Mannes los. Der Kopf blieb in dem starren Winkel, die leeren Augenhöhlen glotzten fasziniert nach oben. Starkey wich zurück. Er weinte wieder. Er vermutete, daß er weinte, weil er keine Fragen hatte. Die Türen der Kantine waren offen. Davor befand sich eine große Pinnwand aus Kork. Starkey sah, daß am 20. Juni ein Bowlingturnier stattfinden sollte. Die Grimmigen Kugler gegen die ErstschlagTruppe für das Projekt Champion. Darüber hinaus suchte Anna Floss für den 9. Juli eine Mitfahrgelegenheit nach Denver. Sie würde sich an Fahrt und Unkosten beteiligen. Richard Betts wollte ein paar liebe Welpen abgeben, halb Collie und halb Bernhardiner. Daneben fanden wöchentliche Gottesdienste in der Kantine statt. Starkey las jede Notiz an der Pinnwand, dann trat er ein. Hier drinnen war der Geruch noch schlimmer - verdorbenes Essen und Leichen. Starkey sah sich voll dumpfem Entsetzen um. Ein paar schienen ihn anzustarren. »Männer...«, sagte Starkey, doch dann verstummte er. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er ging langsam zu der Stelle, wo Frank D. Bruce mit dem Gesicht im Suppenteller lag. Er sah mehrere Augenblicke auf Frank D. Bruce hinab. Dann zog er den Kopf von Frank D. Bruce an den Haaren hoch. Der Suppenteller folgte, er klebte am Gesicht, weil die Suppe schon längst geronnen war, und Starkey schlug voller Entsetzen danach und brach ihn schließlich los. Der Teller polterte verkehrt herum auf den Boden. Der größte Teil der Suppe klebte imrner noch am Gesicht von Frank D. Bruce wie schimmlige Götterspeise. Starkey holte das Taschentuch heraus und wischte, soviel er konnte, ab. Die Augen von Frank D. Bruce schienen von Suppe zugeklebt zu sein, aber Starkey unterließ es, die Lider abzuwischen. Er hatte Angst, die Augen von Frank D. Bruce würden ebenso in den Schädel hineinfallen wie die des Mannes mit dem Schild. Noch mehr Angst hatte er davor, die von der Klebe befreiten Augen könnten wie Jalousien hochschnellen und flattern. Aber am allermeisten fürchtete er sich vor dem möglichen Ausdruck in den Augen von Frank D. Bruce. »Gefreiter Bruce«, sagte Starkey leise, »rühren.« Er legte das Taschentuch behutsam aufs Gesicht von Frank D. Bruce. Es blieb kleben. Starkey drehte sich um und verließ die Kantine mit langen, gleichmäßigen Schritten, wie auf dem Exerzierplatz. Auf halbem Weg zum Fahrstuhl kam er an dem Mann mit dem Schild um den Hals vorbei. Starkey setzte sich neben ihn, löste den Haltegurt der Pistole im Halfter und schob sich den Lauf in den Mund. Der Schuß war gedämpft und undramatisch. Keine der Leichen merkte auch nur im mindesten auf. Die Lüftung kümmerte sich um das Rauchwölkchen. In den Eingeweiden von Projekt Blau herrschte Schweigen. In der Kantine löste sich Starkeys Taschentuch vom Gesicht des Gefreiten Frank D. Bruce und schwebte zu Boden. Frank D. Bruce schien es nichts weiter auszumachen, aber Len Creighton sah immer öfter auf den Monitor, der Bruce zeigte, und fragte sich, warum zum Teufel Billy dem Mann nicht auch die Suppe aus den Augenbrauen hatte wischen können, so er schon einmal dabei war. Len würde bald, sehr bald, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gegenüberstehen, aber die Suppe, die im Gesicht von Frank D. Bruce gerann, machte ihm mehr Kopfzerbrechen. Viel mehr. 23 Randall Flagg, der dunkle Mann, ging auf der US 51 nach Süden und lauschte den nächtlichen Geräuschen, die von beiden Seiten dieser schmalen Straße, die ihn früher oder später aus Idaho hinaus nach Nevada führen würde, auf ihn eindrangen. Von Nevada aus konnte er dann gehen, wohin er wollte. Von New Orleans nach Nogales, von Portland, Oregon, nach Portland, Maine; es war sein Land, und niemand kannte es besser und liebte es mehr als er. Er wußte, wohin die Straßen führten, und wanderte nachts. Jetzt, eine Stunde vor Tagesanbruch, war er irgendwo zwischen Grasmere und Riddle, westlich von Twin Falls und immer noch nördlich der Duck Valley Reservation, die sich über zwei Staaten erstreckt. War es nicht herrlich? Er ging rasch, seine abgelaufenen Absätze klopften auf dem Straßenbelag, und wenn am Horizont Autoscheinwerfer auftauchten, zog er sich immer zurück, über die weiche Böschung ins hohe Gras, wo die Nachtinsekten zu Hause waren... und das Auto fuhr an ihm vorbei; der Fahrer spürte vielleicht einen kalten Hauch, als wäre er durch ein Luftloch gefahren, und seine schlafende Frau und die Kinder bewegten sich unruhig, als habe ein böser Traum sie alle gleichzeitig berührt. Er ging nach Süden, nach Süden auf der US 51; die abgelaufenen Absätze seiner spitzen Cowboystiefel klopften auf das Pflaster: ein großer Mann unbestimmten Alters in verblichenen Nietenjeans und einer Jacke aus grobem Baumwollstoff. In seinen Taschen steckten fünfzig verschiedene Exemplare gegensätzlicher Literatur, Flugschriften für jede Gelegenheit, Rhetorik für jeden Anlaß. Wenn dieser Mann einem ein Traktat reichte, nahm man es, ganz gleich, um welches Thema es sich dabei handelte: Die Gefahren von Atomkraftwerken, die Rolle der internationalen jüdischen Verschwörung beim Sturz befreundeter Regierungen, die CIA Contra-Kokain -Connection, die Farmarbeitergewerkschaft, die Zeugen Jehovas (Wenn Sie diese zehn Fragen mit »ja« beantworten können, ist Ihre Seele G E R E T T E T !), die Blacks for Militant Equality, der Kodex des Klan. Er hatte sie alle, und noch mehr dazu. Auf jeder Seite der Jacke trug er einen Button. Auf der rechten ein gelbes lächelndes Gesicht. Auf der linken ein Schwein mit einer Polizeimütze. Darunter stand mit bluttriefender Schrift: HEUTE SCHWEIN - MORGEN SCHINKEN. Er bewegte sich weiter, ohne stehenzubleiben, ohne langsamer zu werden, aber empfänglich für die Geräusche der Nacht. Die Möglichkeiten der Nacht ließen seine Augen wie im Wahn glänzen. Er trug einen alten, schäbigen Pfadfinder-Rucksack auf dem Rücken. In seinem Gesicht lag düstere Ausgelassenheit, und vielleicht auch in seinem Herzen. Es war das Gesicht eines haßerfüllt glücklichen Menschen, ein Gesicht, das eine entsetzliche, angenehme Wärme ausstrahlte, ein Gesicht, das Wassergläser in den Händen müder Truck-Stop-Kellnerinnen zerplatzen ließ, das kleine Kinder dazu veranlaßte, mit ihren Dreirädern in Bretterzäune zu fahren, um dann mit Splittern in den Knien jammernd zu ihren Müttern zu laufen. Es war ein Gesicht, das garantiert jede harmlose Biertischdiskussion über Sportergebnisse in eine blutige Schlägerei verwandelt hätte. Er ging nach Süden, irgendwo auf der 51 zwischen Grasmere und Riddle, jetzt näher an Nevada. Bald würde er sein Lager aufschlagen, den Tag über schlafen und aufwachen, wenn sich der Abend herabsenkte. Während sein Abendessen auf dem rauchlosen Lagerfeuer kochte, würde er lesen, ganz gleich, was; Worte aus einem zerfledderten Porno ohne Umschlag, oder vielleicht Mein Kampf oder einen Comic von R. Crumb, vielleicht auch aus einer reaktionären Zeitung der America Firsters oder der Sons of the Patriots. Wenn es um Gedrucktes ging, gab Flagg keinem den Vorzug. Nach dem Essen würde er weiterziehen, nach Süden auf diesem herrlichen zweispurigen Highway, der diese gottverlassene Wildnis durchschnitt, und er würde sich umschauen und riechen und lauschen, während das Klima immer trockener wurde, bis die Vegetation nur noch aus Salbei und Steppengras bestand, würde die Berge sehen, die wie Saurierknochen aus der Erde ragten. Morgen früh in der Dämmerung oder einen Tag später würde er in Nevada sein und zuerst Owyhee erreichen und dann Mountain City, und in Mountain City lebte ein Mann namens Christopher Bradenton, der dafür sorgen würde, daß er ein Auto bekam und Papiere, die beide clean waren, und dann würde sich ihm das Land in all seinen strahlenden Möglichkeiten erschließen, ein Körper, dessen Haut von einem wunderbaren, Kapillargefäßen gleichen Straßennetz durchzogen war, welches ihn, das dunkle Fleckchen fremder Materie, irgendwo hinbringen würde, oder überallhin - Herz, Leber, Augen, Gehirn. Er war eine Embolie, die nach einer Stelle suchte, wo sie passieren konnte, ein Knochensplitter auf der Suche nach einem weichen Organ zum Durchbohren, eine einsame Krebszelle, die nach einer Gefährtin suchte - dann würden sie einen Hausstand gründen und sich einen niedlichen kleinen bösartigen Tumor großziehen. Er stapfte weiter und ließ die Arme an den Seiten schwingen. Er war bekannt, gut bekannt, an diesen verborgenen Straßen, auf denen die Armen und Verrückten reisen, die Berufsrevolutionäre und jene, die so gut hassen gelernt haben, daß sich der Haß in ihren Gesichtern zeigt wie Hasenscharten und die nirgends willkommen sind, außer bei ihresgleichen, die sie in billige Räume mit Parolen und Postern an den Wänden einlassen, in Keller, in denen abgesägte Rohre in gepolsterten Schraubstöcken eingeklemmt sind und mit Sprengstoff gefüllt werden, in Hinterzimmer, in denen wahnwitzige Pläne ausgeheckt werden: ein Kabinettmitglied zu ermorden, das Kind eines Würdenträgers zu entführen oder mit Handgranaten und Maschinengewehren in eine Aufsichtsratssitzung der Standard Oil einzudringen und im Namen des Volkes zu morden. Er war dort bekannt, und selbst der Verrückteste unter ihnen konnte ihm nur von der Seite in das dunkle, grinsende Gesicht sehen. Die Frauen, die er mit ins Bett nahm, nahmen ihn mit starren Gliedmaßen in sich auf, auch wenn Geschlechtsverkehr für sie etwas so Nebensächliches war, wie einen Snack aus dem Kühlschrank zu holen. Sie empfingen ihn wie einen Widder mit goldenen Hörnern oder einen schwarzen Hund - und wenn es vorüber war, war ihnen kalt, so kalt, es schien unmöglich, daß ihnen jemals wieder warm werden würde. Wenn er in einer Versammlung erschien, hörte das hysterische Schreien auf - die Verleumdungen, die Beschuldigungen, die Anklagen, die ideologische Rhetorik. Einen Augenblick lang herrschte Totenstille, und alle sahen ihn an und wandten sich ab, als wäre er mit einem schrecklichen alten Instrument der Zerstörung hereingekommen, tausendmal schlimmer als der Plastiksprengstoff, der in den Kellern abtrünniger Chemiestudenten hergestellt wurde, oder die Waffen, die auf dem schwarzen Markt von einem geldgierigen Magazinverwalter der Armee verkauft wurden. Es schien, als wäre er mit einem Instrument zu ihnen gekommen, das, rostig von Blut und seit Jahrhunderten in unzählige Schreie eingehüllt war, jetzt aber in ihre Versammlung getragen wurde wie ein Geschenk der Hölle, ein Geburtstagskuchen mit Kerzen aus Nitroglyzerin. Und wenn die Gespräche wieder auflebten, dann rational und diszipliniert - so rational und diszipliniert, wie es unter Fanatikern möglich ist -, und man wurde sich einig. Er ging weiter, seine Füße fühlten sich wohl in den Stiefeln, die genau an den richtigen Stellen Risse hatten. Seine Füße und diese Stiefel waren alte Freunde. Christopher Bradenton in Mountain City kannte ihn als Richard Fry. Bradenton half politisch Verfolgten, in den Untergrund zu gehen, und organisierte Reisen. Ein halbes Dutzend verschiedene Organisationen, von den Weathermen bis zur Guevara-Brigade, sorgten dafür, daß Bradenton Geld hatte. Er war Dichter und lehrte gelegentlich an der Freien Universität oder reiste in die westlichen Staaten Utah, Nevada und Arizona, wo er vor Schulklassen Vorträge hielt und die Schüler und Schülerinnen der Mittelschicht (hoffte er) mit der Nachricht verblüffte, daß Dichtung lebte - sie war zwar bettlägerig, aber nichtsdestotrotz bösartig aktiv. Er war jetzt Ende Fünfzig, aber Bradenton war vor über zwanzig Jahren von einer Hochschule in Kalifornien entlassen worden, weil er sich zu eng mit der SDS eingelassen hatte. 1968 war er bei der »Great Chicago Pig Convention« aufgeflogen und hatte mit einer radikalen Gruppe nach der anderen Verbindung aufgenommen, zuerst hatte er die Besessenheit dieser Gruppen akzeptiert, dann war er ganz von ihnen aufgesogen worden. Der dunkle Mann ging und lächelte. Bradenton repräsentierte nur ein Ende einer Leitung, und es gab Tausende - Kanäle, auf denen die Besessenen reisten und ihre Bücher und Bomben transportierten. Diese Kanäle waren untereinander verbunden, die Hinweisschilder verschlüsselt, aber für Eingeweihte verständlich. In New York war er als Robert Franq bekannt, und seiner Behauptung, er sei Schwarzer, hatte niemand widersprochen, obwohl seine Haut sehr hell war. Er und ein schwarzer Vietnam-Veteran - der schwarze Veteran kompensierte sein fehlendes linkes Bein mit glühendem Haß - hatten in New York und New Jersey sechs Polizisten abgemurkst. In Georgia war er Ramsey Forrest, ein entfernter Nachkomme von Nathan Bedford Forrest, und unter der weißen Kapuze des Klans hatte er an zwei Vergewaltigungen, einer Kastration und dem Niederbrennen eines Niggerviertels teilgenommen. Aber das war vor langer Zeit gewesen, in den frühen Sechzigern während der ersten Bürgerrechtsdemonstrationen. Manchmal glaubte er, daß er während dieser Kämpfe geboren wurde. Er konnte sich eindeutig kaum an Dinge erinnern, die vor dieser Zeit lagen, außer daß er aus Nebraska stammte und daß er zusammen mit einem rothaarigen o-beinigen Jungen namens Charles Starkweather die High School besucht hatte. Er konnte sich schon besser an die Bürgerrechtsmärsche der Jahre 1960 und 1961 erinnern - an die Prügel, die nächtlichen Fahrten und an die Kirchen, die explodiert waren, als wären sie von einem Wunder gesprengt worden, das ihr Inneres nicht mehr fassen konnte. Er erinnerte sich daran, daß es ihn 1962 nach New Orleans verschlagen hatte, wo er einen schwachsinnigen jungen Mann kennenlernte, der Flugblätter verteilte, in denen Amerika aufgefordert wurde, Kuba in Ruhe zu lassen. Das war ein gewisser Mr. Oswald gewesen, und er hatte einige Flugblätter von Oswald genommen, und er hatte immer noch ein paar sehr alte und zerknüllte in einer seiner vielen Taschen. Er hatte an Sitzungen von hundert verschiedenen Komitees teilgenommen. Er war auf dem Gelände von hundert verschiedenen Universitäten bei Demonstrationen gegen das ständig gleiche Dutzend Firmen mitmarschiert. Er hatte die Fragen formuliert, die die Herrschenden am meisten aus der Fassung brachten, wenn sie Vorträge hielten, aber er hatte die Fragen nie selbst gestellt; die Mächtigen hätten sein grinsendes, glühendes Gesicht sehen und voller Angst von der Rednerbühne fliehen können. Darum sprach er auch nie auf Massenversammlungen, denn dann kreischten die Mikrofone, und der Stromkreis brach zusammen. Aber er hatte für andere Redner die Reden geschrieben, und verschiedentlich hatten diese Reden mit Tumulten geendet, mit umgekippten Autos, Studentenstreiks und gewalttätigen Demonstrationen. Anfang der siebziger Jahre hatte er eine Zeitlang mit einem Mann namens Donald De Freeze zu tun gehabt, und er hatte DeFreeze geraten, den Namen Cinque anzunehmen. Er hatte geholfen, Pläne auszuarbeiten, die auf die Entführung einer reichen Erbin hinausliefen, und er war es gewesen, der dann vorgeschlagen hatte, diese Erbin einer Gehirnwäsche zu unterziehen, anstatt einfach nur Lösegeld für sie zu fordern. Zwanzig Minuten vor der Ankunft der Polizei hatte er das kleine Haus in Los Angeles verlassen, in dem DeFreeze und die anderen sich verbarrikadiert hatten; er war die Straße hinaufgegangen und hatte sich davongemacht, ein wildes Grinsen im Gesicht, das Mütter veranlaßte, ihre Kinder zu packen und ins Haus zu zerren; ein Grinsen, bei dem schwangere Frauen zu früh Wehen bekamen. Und später, als die verstreuten Reste der Gruppe aufgegriffen wurden, wußten sie nur noch, daß jemand anders mit der Gruppe in Verbindung gestanden hatte, vielleicht ein wichtiger Mann, vielleicht auch nur ein Mitläufer, ein Mann unbestimmbaren Alters, der manchmal der wandelnde Geck genannt wurde, und manchmal der Schwarze Mann. Er ging mit gleichmäßigen, ausgreifenden Schritten. Vor zwei Tagen war er mit einem Sabotagetrupp in Laramie, Wyoming, gewesen, wo sie ein Kraftwerk in die Luft gesprengt hatten. Heute war er auf der US 51 zwischen Grasmere und Riddle auf dem Weg nach Mountain City. Und er war glücklicher, als er je zuvor gewesen war, weil... Er blieb stehen. Weil etwas in der Luft lag. Er konnte es fühlen, konnte es in der Nacht schmecken. Er konnte es schmecken, ein rußiger, heißer Geschmack, der von überall herkam, als wollte Gott ein Grillfest machen, bei dem die ganze Zivilisation das Barbecue war. Die Holzkohle war außen schon heiß, weiß und blättrig und innen rot wie Dämonenaugen. Etwas Riesiges, etwas Gewaltiges. Die Zeit seiner Verwandlung war gekommen. Er würde zum zweiten Mal geboren werden; eine große sandfarbene Bestie, die jetzt schon in den Wehen lag, würde ihn unter Schmerzen aus ihrem Schoss ausstoßen und langsam die Beine bewegen, während Geburtsblut herausquoll, und sie würde dabei mit sonnenheißen Augen in die Leere starren. Er war geboren worden, als sich die Zeiten änderten, und die Zeiten würden sich wieder ändern. Es lag im Wind, im Wind dieses warmen Abends in Idaho. Die Zeit seiner Wiedergeburt war fast gekommen. Das spürte er. Warum sonst konnte er plötzlich Wunder tun? Er schloß die Augen und wandte das heiße Gesicht leicht dem dunklen Himmel zu, der schon bereit war, die Dämmerung zu empfangen. Er konzentrierte sich. Lächelte. Die staubigen, abgelaufenen Absätze seiner Stiefel hoben sich von der Straße. Einen Zentimeter. Zwei. Drei. Das Lächeln wurde zum Grinsen. Jetzt schwebte er dreißig Zentimeter hoch. Fünfzig Zentimeter über der Straße schwebte er konstant, während unter ihm etwas Staub dahinwehte. Dann spürte er den ersten Streifen der Dämmerung am Himmel, und er sank wieder nach unten. Die Zeit war noch nicht gekommen. Aber die Zeit würde bald kommen. Er ging wieder weiter, grinste und suchte schon nach einem Platz, wo er den Tag verbringen konnte. Die Zeit würde bald kommen, und dieses Wissen genügte ihm vorläufig. 24 Lloyd Henreid, den die Zeitungen in Phoenix »den gnadenlosen Killer mit dem Babygesicht« nannten, wurde von zwei Wärtern durch den Korridor des Hochsicherheitstrakts im Stadtgefängnis von Phoenix geführt. Dem einen lief die Nase, beide sahen mißmutig aus. Die anderen Insassen des Trakts bereiteten Lloyd ihre Version eines Triumphzugs. Im HS -Trakt war er eine Berühmtheit. »Heee, Henreid!« »Nur zu, Junge!« »Sag dem Bezirksstaatsanwalt, wenn er mich rausläßt, paß ich auf, daß du ihm nichts tust.« »Laß knacken, Henreid!« »Weiter so, Bruder! Weiterweiterweiterweiter!« »Billige, großmäulige Arschlöcher«, murmelte der Wärter mit der laufenden Nase und nieste. Lloyd grinste fröhlich. Er sonnte sich in seinem frischen Ruhm. Hier war es anders als in Brownsville, ganz klar. Sogar das Essen war besser. Wenn man hart zuschlagen konnte, wurde man hier respektiert. Er stellte sich vor, daß sich so Tom Cruise bei einer Filmpremiere fühlen mußte. Am Ende des Flurs gingen sie durch einen Torweg und eine doppelt vergitterte, elektrisch betriebene Pforte. Er wurde wieder abgetastet. Der Wärter mit der Erkältung atmete so schwer durch den geöffneten Mund, als sei er eine Treppe hochgerannt. Zu guter Letzt führten sie ihn noch durch einen Metalldetektor, wahrscheinlich um festzustellen, ob er sich auch nichts in den Arsch geschoben hatte, wie dieser Papillon im Film. »Okay«, sagte der Wärter mit der Triefnase, und ein anderer Wärter in einem kugelsicheren Kabuff winkte sie weiter. Sie wanderten einen weiteren Korridor entlang, der in einem tristen Grün gestrichen war. Hier war es sehr still; nur die klackenden Absätze des Wärters waren zu hören (Lloyd selbst hatte Papierslipper an), sowie das asthmatische Röcheln rechts von Lloyd. Am anderen Ende des Korridors wartete wieder ein Wärter vor einer verschlossenen Tür. Die Tür hatte ein Fenster, kaum mehr als ein Guckloch, dessen Glas drahtverstärkt war. »Warum stinkt der Knast eigentlich immer nach Pisse?« fragte Lloyd, nur um Konversation zu machen. »Ich meine, selbst wo keine Leute eingesperrt sind, stinkt es nach Pisse. Pinkelt ihr Burschen womöglich in die Ecken?« Er kicherte bei dem Gedanken, der ja auch wirklich ziemlich komisch war. »Maul halten, Killer«, sagte der Wärter mit der Erkältung. »Du siehst gar nicht gut aus«, sagte Lloyd. »Du solltest zu Hause im Bett liegen.« »Maul halten«, sagte der andere. Lloyd hielt das Maul. Das hatte man davon, wenn man versuchte, mit diesen Leuten zu reden. Nach seiner Erfahrung hatte die Klasse der Gefängnisbeamten ganz einfach keine Klasse. »Hi, Drecksack«, sagte der Wärter an der Tür. »Wie geht's dir, Arschgesicht«, erwiderte Lloyd. Eine freundliche Antwort wirkt immer erfrischend. Zwei Tage im Bau, und schon spürte er wieder den alten Knast-Tran. »Das kostet dich einen Zahn«, sagte der Wärter an der Tür. »Genau einen. Zähl nach. Einen Zahn.« »He, hör zu, du kannst doch nicht...« »Doch, ich kann. Hier drin sitzen Typen, die würden ihre lieben alten Muttchen für zwei Schachteln Chesterfield abmurksen, Drecksack. Wären dir zwei Zähne lieber?« Lloyd schwieg. »Gut, das ist also geklärt«, sagte der Wärter an der Tür. »Dann eben nur einen Zahn. Schafft ihn rein, Jungs.« Lächelnd öffnete der Wärter mit der Erkältung die Tür, und der andere führte Lloyd in den Raum, wo sein Pflichtverteidiger auf einem Metalltisch saß und in Papieren aus seiner Aktentasche blätterte. »Hier ist Ihr Mann, Herr Anwalt.« Der Anwalt schaute auf. Er war kaum alt genug, sich zu rasieren, fand Lloyd, aber scheiß drauf. Wer arm dran ist, darf nicht wählerisch sein. Sie hatten ihn kalt erwischt, und Lloyd rechnete mit zwanzig Jahren. Wenn sie einen am Schlafittchen hatten, mußte man die Augen zumachen und mit den Zähnen knirschen. »Vielen Da...« »Der Kerl da«, sagte Lloyd und zeigte auf den Wärter an der Tür, »hat mich Drecksack genannt. Und als ich darauf antwortete, sagte er, daß irgendein Kerl mir einen Zahn ausschlagen wird. Ist das Polizeiwillkür oder nicht?« Der Anwalt fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Stimmt das?« fragte er den Wärter an der Tür. Der Wärter rollte seltsam mit den Augen, eine burleske Mein-Gott,-das-ist-doch-nicht-zu-glauben-Geste. »Diese Jungs, Counselor«, sagte er, »sollten für das Fernsehen schreiben. Ich hab' hi gesagt. Er hat hi gesagt. Das war alles.« »Das ist eine verdammte Lüge«, sagte Lloyd theatralisch. »Dazu möchte ich mich nicht äußern«, sagte der Wärter und sah Lloyd ungerührt an. »Das glaube ich gern«, sagte der Anwalt, »aber ich denke, bevor ich gehe, werde ich Mr. Henreids Zähne zählen.« Ein Ausdruck wütender Verdrossenheit glitt über das Gesicht des Wärters, und er wechselte mit den beiden, die Lloyd gebracht hatten, einen raschen Blick. Lloyd lächelte. Vielleicht war der Junge doch in Ordnung. Seine beiden letzten Pflichtverteidiger waren alte Knacker gewesen, einer war mit einem Kolostomiebeutel vor Gericht erschienen, war das zu glauben, einem verdammten Scheißbeutel. Plädoyer halten und abhauen, das war ihr Motto. Schaffen wir ihn weg, damit wir mit dem Richter weiter schmutzige Witze reißen können. Vielleicht konnte dieser Kerl für ihn zehn Jahre aushandeln, bewaffneter Raubüberfall. Vielleicht wurde sogar die Untersuchungshaft angerechnet. Schließlich hatte er selbst nur die Frau des Typen im weißen Connie pokerisiert, und das konnte er vielleicht Poke in die Schuhe schieben. Poke wäre es egal. Poke war so tot wie das Hutband seines alten Vaters. Lloyds Lächeln wurde ein wenig breiter. Man mußte immer die Sonnenseite sehen. Das war der gewisse Kniff. Das Leben war zu kurz, es anders zu machen. Er merkte, daß der Wärter sie allein gelassen hatte, und sein Anwalt - er hieß Andy Devins, fiel Lloyd wieder ein - sah ihn seltsam an. Ungefähr so, wie man eine Klapperschlange mit gebrochenem Rücken betrachtet, deren Biß aber immer noch tödlich sein kann. »Sie sitzen schön in der Scheiße, Sylvester«, verkündete Devins plötzlich. Lloyd zuckte zusammen. »Was? Verdammt, was meinen Sie damit, ich sitze in der Scheiße? Übrigens, ich finde, daß Sie es dem Fettsack hier prima gegeben haben. Der sah so wütend aus, als könnte er Nägel fressen und...« »Hören Sie mir zu, Sylvester, und zwar gut.« »Ich heiße nicht...« »Sie haben keine Ahnung, in was für einer Scheiße Sie sitzen, Sylvester.« Devins Blick war stahlhart. Er sprach mit leiser, durchdringender Stimme. Er hatte blondes Haar und einen Bürstenschnitt, kaum mehr als Flaum. Die rosa Kopfhaut war darunter zu sehen. Er hatte einen schlichten goldenen Ehering am dritten Finger der linken Hand und einen schnörkeligen Bruderschaftsring am dritten Finger der rechten. Er schlug sie aneinander, und sie gaben ein leises metallisches Pling von sich, das Lloyd nervös machte. »Aufgrund einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 14. Oktober 1989 findet Ihre Verhandlung schon in neun Tagen statt.« »Was war das?« Lloyd fühlte sich unbehaglicher denn je. »Es war der Fall Markham gegen South Carolina«, sagte Devins, »und es hatte etwas mit den Umständen zu tun, unter denen bestimmte Bundesstaaten die Rechtsprechung beschleunigen können in Fällen, bei denen die Todesstrafe gefordert wird.« »Todesstrafe?« kreischte Lloyd entsetzt. »Sie meinen den elektrischen Stuhl? He, Mann, ich hab' kein' umgebracht. Schwör' ich bei Gott!« »Vor dem Gesetz ist das egal«, sagte Devins. »Mitgefangen, mitgehangen.« »Was soll das heißen, ist egal?« schrie Lloyd beinahe. »Das ist nicht egal! Das darf nicht egal sein! Ich hab' die Leute nicht abgemurkst, das war Poke! Er ist verrückt! Er war...« »Sind Sie bitte still, Sylvester?« bat Devins mit seiner leisen, durchdringenden Stimme, und Lloyd war still. In seiner plötzlichen Angst hatte er die Jubelrufe für ihn im HS-Trakt ganz vergessen und sogar die beunruhigende Möglichkeit, daß er einen Zahn verlieren könnte. Plötzlich hatte er eine Vision von Tweety, der Sylvester eins auswischte. Aber in seiner Vision schlug Tweety dem dämlichen alten Kater nicht mit einer Keule auf die Birne oder stellte eine Mausefalle vor seine tastende Pfote; Lloyd sah Sylvester auf den ollen Elektrischen geschnallt, während das Vögelchen neben einem großen Schalter auf einem Hocker stand. Er konnte sogar die Wärtermütze auf Tweetys kleinem gelben Kopf sehen. Kein besonders lustiges Bild. Devins sah ihm das teilweise vielleicht im Gesicht an, denn er schien zum ersten Mal einigermaßen zufrieden zu sein. Er faltete die Hände über dem Stapel Unterlagen, die er aus der Aktentasche geholt hatte. »Es gibt keine Begünstigung im Falle von Mord bei einem Gewaltverbrechen«, sagte er. »Der Staat hat drei Zeugen, wonach Sie und Andrew Freeman gemeinsame Sache gemacht haben. Damit ist Ihr knochiger Hintern schon so gut wie gegrillt. Kapiert?« »Ich...« »Gut. Und jetzt wieder zu Markham gegen South Carolina. Ich werde Ihnen mit einfachen Worten erklären, wie sich dieses Urteil auf Ihren Fall auswirkt. Aber vorher möchte ich Sie auf eine Tatsache hinweisen, die Sie zweifellos bei einem Ihrer zahlreichen Durchgänge durch die neunte Klasse gelernt haben: Die Verfassung der Vereinigten Staaten verbietet ausdrücklich grausame und ungewöhnliche Bestrafungen.« »Wie den verfluchten elektrischen Stuhl, verdammt richtig«, sagte Lloyd rechtschaffen. Devins schüttelte den Kopf. »Genau in diesem Punkt war das Gesetz unklar«, sagte er, »und bis 1989 haben sich die Gerichte förmlich überschlagen und versucht, die Sache auf die Reihe zu bekommen. Beinhaltet grausame und ungewöhnliche Bestrafung den elektrischen Stuhl und die Gaskammer? Oder nur die Wartezeit zwischen Verurteilung und Hinrichtung? Die Eingaben, die Petitionen, die Verzögerungen, die Aufenthalte, die Monate und Jahre, die bestimmte Gefangene - Edgar Smith, Caryl Chessman und Ted Bundy sind wahrscheinlich die berühmtesten - gezwungenermaßen in den unterschiedlichsten Todeszellen verbracht haben? Ende der siebziger Jahre gestattete der Gerichtshof die Wiederaufnahme von Hinrichtungen, aber die Todeszellen waren immer noch überfüllt, und die quälende Frage blieb: Was ist eine grausame und ungewöhnliche Bestrafung? Okay... im Fall Markham gegen South Carolina wurde ein Mann wegen Vergewaltigung und Ermordung von drei Collegeschülerinnen zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Der Vorsatz ging eindeutig aus einem Tagebuch hervor, das dieser John Markham geführt hatte. Die Geschworenen haben ihn daraufhin zum Tode verurteilt.« »Schöne Scheiße«, flüsterte Lloyd. Devins nickte und schenkte Lloyd ein etwas galliges Lächeln. »Der Fall ging bis vor den Obersten Gerichtshof, und der bestätigte, dass die Todesstrafe unter bestimmten Umständen keine grausame und ungewöhnliche Bestrafung ist. Der Gerichtshof gab zu verstehen, daß schneller hier besser sei - vom juristischen Standpunkt aus. Geht Ihnen langsam ein Licht auf, Sylvester? Kapieren Sie, worum es geht?« Lloyd kapierte nicht. »Wissen Sie, warum Sie in Arizona angeklagt werden und nicht in Nevada oder New Mexico?« Lloyd schüttelte den Kopf. »Weil Arizona einer von vier Bundesstaaten ist, die einen Außerordentlichen Obersten Gerichtshof haben, der nur in Fällen zusammentritt, wo die Todesstrafe gefordert und gewährt worden ist.« »Versteh' ich nicht.« »Sie haben Ihre Verhandlung in vier Tagen«, sagte Devins. »Der Staat hat so eine hieb- und stichfeste Anklage, daß man es sich leisten kann, die erstbesten zwölf Männer und Frauen, die dem Gericht über den Weg laufen, auf die Geschworenenbank zu setzen. Ich werde so lange ich kann verzögern, aber wir werden die Geschworenen trotzdem schon am ersten Verhandlungstag zusammenhaben. Der Staat wird seine Anklage am zweiten Tag vorbringen. Ich werde versuchen, drei Tage herauszuschinden und schwafle bei meinem Verteidigungsplädoyer, bis mich der Richter unterbricht, aber drei Tage ist echt das Äußerste. Wir können schon von Glück sagen, wenn wir die bekommen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden sich die Geschworenen zurückziehen und Sie in schätzungsweise drei Minuten für schuldig befinden. In neun Tagen von heute an sind Sie zum Tode verurteilt, und eine Woche später tot wie Hundefutter. Das Volk von Arizona wird begeistert sein, desgleichen der Oberste Gerichtshof. Weil ein schnelles Ende alle glücklich macht. Ich kann den Termin vielleicht ein bißchen rausziehen, aber nicht viel.« »Mein Gott, das ist unfair!« schrie Lloyd. »Die Welt ist hart, Lloyd«, sagte Devins. »Besonders zu >amoklaufenden Killern<, und genauso haben die Zeitungen und Fernsehreporter Sie genannt. Sie sind in der Welt des Verbrechens eine wirklich große Nummer. Sie stehen im Rampenlicht. Sie haben sogar die Grippeepidemie im Osten auf Seite zwei verdrängt.« »Ich hab' keinen nicht pokerisiert«, sagte Lloyd mürrisch. »Das war nur Poke. Der hat sogar das Wort erfunden.« »Das ist egal«, sagte Devins. »Ich habe versucht, Ihnen das in Ihren Dickschädel zu hämmern, Sylvester. Der Richter wird dem Gouverneur Raum für einen Aufschub gewähren, aber nur für einen. Ich reiche ein Gnadengesuch ein, aber unter dem neuen Gesetz muß dieses Gnadengesuch innerhalb von sieben Tagen in den Händen des Außerordentlichen Gerichts sein, sonst haben wir das Spiel verloren. Wenn sie beschließen, nicht auf das Gnadengesuch einzugehen, habe ich weitere sieben Tage Zeit für eine Petition beim Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Ich glaube, in Ihrem Fall wird folgendes passieren: Ich reiche mein Gnadengesuch am letztmöglichen Tag ein, am siebten. Der Außergewöhnliche Gerichtshof wird uns wahrscheinlich anhören - das System ist immer noch neu, und darum wollen sie so wenig Kritik wie möglich. Sie würden sich wahrscheinlich sogar um das Gnadengesuch von Jack the Ripper kümmern.« »Wie lange dauert es, bis ich von denen was höre?« murmelte Lloyd. »Oh, sie werden sich in null Komma nichts darum kümmern«, antwortete Devins mit einem leicht wölfischen Grinsen. »Wissen Sie, der Außerordentliche Gerichtshof besteht aus fünf Richtern im Ruhestand. Die haben nichts anderes zu tun, als angeln gehen, pokern, Bourbon trinken und darauf zu warten, daß solch ein armes Arschloch wie Sie in ihrem Gerichtssaal aufkreuzt, der eigentlich gar keiner ist; in Wirklichkeit handelt es sich um ein paar Computermodems, die mit dem State House, dem Büro des Gouverneurs und untereinander verbunden sind. Sie haben Telefone mit Modems in ihren Autos, ihren Blockhütten, sogar auf ihren Yachten und natürlich zu Hause. Ihr Durchschnittsalter liegt bei zweiundsiebzig...« Lloyd zuckte zusammen. »...und das bedeutet, manche von ihnen sind so alt, daß sie draußen in der finstersten Provinz von der Pike auf gedient haben, wenn nicht als Richter, dann als Staats- oder Rechtsanwälte. Sie glauben alle an den Kodex des Westens - eine schnelle Verhandlung und dann aufknüpfen. So wurde es da draußen bis etwa 1950 gehandhabt. Wenn es um mehrfachen Mord geht, wurde es nie anders gemacht.« »Gottverflucht, warum machen Sie mir so 'n Schiß?« »Damit Sie wissen, womit wir es zu tun haben«, sagte Devins. »Sie wollen nur gewährleisten, daß Ihnen keine grausame und ungewöhnliche Bestrafung widerfährt, Lloyd. Sie sollten ihnen dankbar sein.« »Dankbar sein? Ich würde sie gerne...« »Pokerisieren?« fragte Devins leise. »Nein, natürlich nicht«, sagte Lloyd wenig überzeugend. »Man wird unser Wiederaufnahmegesuch ablehnen und meine Gründe allesamt abschmettern. Wenn wir Glück haben, gibt mir das Gericht am neunzehnten und zwanzigsten Tag die Möglichkeit, Zeugen vorzuführen. Und wenn es mir diese Gelegenheit gibt, rufe ich jeden einzelnen Zeugen, der bei der ersten Verhandlung ausgesagt hat, nochmals auf und dazu alle anderen, die mir einfallen. Bis dahin werde ich sogar Ihre Klassenkameraden von der Junior High School als Charakterzeugen aufrufen, sofern Sie sie auftreiben können.« »Ich bin nach der sechsten Klasse von der Schule abgegangen«, sagte Lloyd düster. »Sobald der Außerordentliche Gerichtshof unser Gesuch endgültig abgelehnt hat, ersuche ich um eine Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof. Ich gehe davon aus, daß das noch am selben Tag abgelehnt wird.« Devins verstummte und zündete sich eine Zigarette an. »Und dann?« fragte Lloyd. »Dann?« fragte Devins, der angesichts von Lloyds anhaltender Begriffsstutzigkeit gelinde überrascht und entnervt aussah. »Na dann wandern Sie in die Todeszelle des Staatsgefängnisses und können sich am guten Essen erfreuen, bis man Ihnen Funken in den Arsch jagt.« »Das glaube ich nicht«, sagte Lloyd. »Sie wollen mir nur angst machen.« »Lloyd, die vier Staaten, die den Außerordentlichen Gerichtshof haben, machen das die ganze Zeit. Bis jetzt wurden vierzig Männer und Frauen gemäß dem Markham-Urteil hingerichtet. Das kostet den Steuerzahler ein bißchen für das zusätzliche Gericht, aber soviel auch wieder nicht, da es nur bei Mord ersten Grades in Funktion tritt, der einen winzigen Bruchteil aller Verfahren ausmacht. Außerdem macht es den Steuerzahlern nichts aus, den Geldbeutel für Todesstrafe aufzumachen. Es gefällt ihnen.« Lloyd sah aus, als müßte er gleich kotzen. »Wie dem auch sei«, sagte Devins, »der Bezirksstaatsanwalt klagt jemande nur gemäß Markham an, wenn überhaupt kein Zweifel an seiner Schuld besteht. Der Hund muß nicht nur Federn an der Schnauze haben, er muß auch noch im Hühnerhaus erwischt worden sein. Und genau dort sind Sie erwischt worden.« Lloyd, der sich vor nicht einmal fünfzehn Minuten im Jubel der Jungs des HST gesonnt hatte, sah jetzt einen öden Korridor von neunundfünfzig Tagen hinunter in ein schwarzes Loch. »Haben Sie Schiß, Sylvester?« fragte Devin fast freundlich. Lloyd mußte sich die Lippen lecken, bevor er antworten konnte. »Himmel, ja, ich hab' Schiß. Das alles heißt doch, daß ich ein toter Mann bin.« »Ich will nicht, daß Sie sterben«, sagte Devins. »Aber ich will, dass Sie Angst haben. Wenn Sie grinsend und johlend vor Gericht erscheinen, dann schnallt man Sie auf den Stuhl und drückt auf den Knopf. Dann sind Sie das einundvierzigste Markham-Steak. Aber wenn Sie auf mich hören, kommen wir vielleicht durch. Ich sage nicht daß, ich sage nur vielleicht.« »Schießen Sie los.« »Worauf es ankommt, sind die Geschworenen«, sagte Devins. »Zwölf ganz normale Heinis von der Straße. Ich wünsche mir ein Geschworenengericht mit vielen zweiundvierzigjährigen Damen, die immer noch Puh der Bär auswendig aufsagen können und ihre Kanarienvögel im Garten begraben, das wünsche ich mir. Wenn sie vereidigt werden, werden alle Geschworenen auf die Konsequenzen von Markham aufmerksam gemacht. Sie fällen kein Todesurteil, das in sechs Monaten oder sechs Jahren vollstreckt wird - oder auch nicht -, wenn sie es schon längst vergessen haben; der Bursche, den sie im Juni verurteilen, harft auf seiner Wolke herum, noch ehe die Rennsaison vorbei ist.« »Sie haben vielleicht eine Ausdrucksweise.« Devin achtete nicht auf ihn und fuhr fort: »In manchen Fällen hat allein dieses Wissen ausgereicht, die Geschworenen dazu zu bringen, mit >nicht schuldig< zu stimmen. Vom rechtlichen Standpunkt ist das genau das Gegenteil von dem, was das Hohe Gericht beabsichtigt hat. In manchen Fällen haben Geschworene einen überführten Mörder laufen lassen, weil sie kein so frisches Blut an den Händen haben wollten.« Er nahm ein Blatt Papier zur Hand. »Es wurden zwar vierzig Menschen gemäß Markham hingerichtet, aber alles in allem wurde die Todesstrafe unter Markham siebzigmal gefordert. Von den dreißig, die nicht hingerichtet worden sind, wurden sechsundzwanzig von den Geschworenen für >nicht schuldig< erklärt. Nur vier Urteile wurden vom Außerordentlichen Gerichtshof aufgehoben, eines in South Carolina, zwei in Florida und eines in Alabama.« »Nie in Arizona?« »Nie. Ich habe es Ihnen doch gesagt. Der Kodex des Westens. Diese fünf alten Männer wollen Ihnen den Arsch aufreißen. Wenn wir Sie vor den Geschworenen nicht raushauen können, sind Sie geliefert. Darauf wette ich mit Ihnen neunzig zu eins.« »Wie viele Angeklagte wurden denn in Arizona unter diesem Gesetz von regulären Geschworenen für nicht schuldig befunden?« »Zwei von vierzehn.« »Auch ein beschissenes Verhältnis.« Devins lächelte sein wölfisches Lächeln. »Ich sollte nicht unerwähnt lassen«, sagte er, »daß einer der beiden von keinem Geringeren als meiner Wenigkeit verteidigt worden ist. Er war so schuldig wie die Sünde, Lloyd, genau wie Sie. Richter Pechert hat den zehn Frauen und zwei Männern zwanzig Minuten lang die Hölle heiß gemacht. Ich dachte schon, er würde einen Herzschlag bekommen.« »Wenn ich nicht schuldig gesprochen werde, können sie mich doch nicht noch einmal anklagen, oder?« »Auf gar keinen Fall.« »Also alles oder nichts.« »Ja.« »Mann«, sagte Lloyd und wischte sich die Stirn. »Solange Sie die Situation begreifen«, sagt Devins, »und wissen, wo wir stehen müssen, kommen wir vielleicht durch.« »Ich begreif sie schon. Aber sie gefällt mir nicht.« »Sie wären auch verrückt, wenn sie Ihnen gefallen würde.« Devins faltete die Hände und stützte sich darauf. »Also. Sie haben mir und der Polizei gesagt, daß Sie, äh...« Er griff nach dem Stapel neben der Aktentasche und blätterte ihn durch. »Aha. Da haben wir's ja. >Ich hab' keinen nicht umgebracht. Poke hat sie alle abgemurkst. Das war seine Idee, nicht meine. Poke war verrückt wie eine Bettwanze, und es war, schätze ich, ein Segen für die Welt, daß er abserviert worden ist.<« »Ja, das stimmt. Na und?« fragte Lloyd. »Nur eins«, sagte Devins gemütlich. »Das bedeutet, Sie hatten Angst vor Poke Freeman. Hatten Sie Angst vor ihm?« »Na ja, nicht so richtig...« »Sie hatten sogar Angst um Ihr Leben.« »Ich glaube nicht, daß...« »Todesangst. Glauben Sie's, Sylvester. Sie haben sich fast in die Hosen geschissen.« Lloyd sah den Anwalt stirnrunzelnd an. Es war das Stirnrunzeln eines Kindes, das ein guter Schüler sein möchte, aber größte Schwierigkeiten hat, die Lektion zu begreifen. »Lassen Sie sich nicht von mir beeinflussen, Lloyd«, sagt Devins. »Das will ich nicht. Sie glauben vielleicht, ich deute an, daß Poke fast ununterbrochen high war...« »War er! Wir beide!« »Nein. Sie nicht, aber er. Und wenn er high war, hat er durchgedreht...« »Mann, da ist wohl was dran.« In den Sälen von Lloyds Erinnerungen johlte Poke Freemann fröhlich Hüah! Hüah! und erschoß die Frau im Laden in Burrack. »Und er hat Sie ein paarmal mit der Waffe bedroht...« »Nein, nicht einmal...« »O doch. Sie hatten das nur eine Weile vergessen. Er hat sogar einmal gedroht, Sie zu erschießen, wenn Sie sein Spiel nicht mitmachen.« »Nun, ich hatte eine Waffe...« »Ich glaube«, sagte Devins und sah ihn stechend an, »wenn Sie sich ganz angestrengt erinnern, fällt Ihnen wieder ein, daß Poke gesagt hat, Ihre Waffe sei mit Platzpatronen geladen. Können Sie sich daran erinnern?« »Jetzt, wo Sie es sagen...« »Und keiner war überraschter als Sie, als plötzlich echte Kugeln herauskamen, richtig?« »Klar«, sagte Lloyd. Er nickte heftig. »Ich hätt' beinah' 'nen Blutsturz bekommen.« »Sie wollten diese Waffe gerade auf Poke Freeman richten, als Ihnen jemand die Arbeit abgenommen hat.« Lloyd sah seinen Anwalt mit aufkeimender Hoffnung an. »Mr. Devins«, sagte er zutiefst aufrichtig, »ganz genauso ist die Scheiße abgelaufen.« Etwas später an diesem Morgen saß er im Hof, sah einem Softballspiel zu und grübelte über alles nach, was Devins ihm gesagt hatte, als ein großer, kräftiger Mithäftling namens Mather zu ihm kam und ihn am Kragen hochzog. Mathers Kopf war kahlgeschoren, à la Telly Savalas, und die Glatze glänzte freundlich in der heißen Wüstenluft. »Moment mal«, sagte Lloyd. »Mein Anwalt hat meine Zähne gezählt. Siebzehn. Wenn du also...« »Ja, weiß ich von Shockley«, sagte Mathers. »Deshalb hat er mir gesagt, ich soll...« Mathers rammte Lloyd das Knie zwischen die Beine, und entsetzliche Schmerzen rasten durch Lloyds Körper, so lähmend, daß Lloyd nicht einmal schreien konnte. Er brach zu einem zuckenden, strampelnden Bündel zusammen und hielt sich die Hoden, die zerquetscht zu sein schienen. Die Welt war ein einziger roter Nebel des Schmerzes. Irgendwann - er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war - konnte er aufblicken. Mathers sah ihn immer noch an, und sein Kahlkopf glänzte immer noch. Die Wärter sahen betont anderswohin. Lloyd stöhnte und wand sich, Tränen quollen ihm aus den Augen, er hatte eine rotglühende Kugel im Unterleib. »Das war nicht persönlich gemeint«, sagte Mathers aufrichtig. »Rein geschäftlich, klar? Ehrlich, ich hoffe, daß du einigermaßen glimpflich davonkommst. Das Markham-Gesetz ist Scheiße.« Dann schlenderte er davon, und Lloyd sah den Türwärter am anderen Ende des Hofs auf einer Rampe in der Ladezone stehen. Er hatte die Daumen in den Sam-Browne-Gürtel gehakt und grinste Lloyd an. Als er merkte, daß er Lloyds ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, zeigte er ihm mit den Mittelfingern beider Hände den Vogel. Mathers spazierte zu ihm hinüber, und der Türwärter warf ihm eine Packung Tareytons zu. Mathers steckte sie in die Brusttasche, salutierte lässig und verschwand. Lloyd lag mit an die Brust gezogenen Knien da und hielt sich den schmerzenden Leib. Devins Worte gingen ihm durch den Kopf: Das Leben ist hart, Lloyd. Wie wahr. 25 Nick Andros schob einen der Vorhänge zur Seite und blickte hinaus auf die Straße. Von hier, aus dem ersten Stock im Haus des verstorbenen John Baker, sah man links die ganze Innenstadt von Shoyo, und rechts die Route 63, die aus der Stadt hinausführte. Die Main Street war völlig verlassen. Ein elend aussehender Hund sass mitten auf der Straße, ließ den Kopf hängen; seine Flanken blähten sich, weißer Schaum tropfte ihm aus dem Maul auf das in der Hitze flimmernde Pflaster. Einen halben Block weiter lag ein anderer Hund in der Gosse - tot. Die Frau hinter ihm stöhnte laut und kehlig, aber Nick hörte sie nicht. Er zog den Vorhang wieder zu, rieb sich einen Moment die Augen und ging dann zu der Frau, die aufgewacht war. Jane Baker war in mehrere Decken eingemummt, denn vor ein paar Stunden hatte sie plötzlich angefangen zu frieren. Jetzt lief ihr Schweiß in Strömen übers Gesicht, und sie hatte die Decken weggestrampelt - Nick stellte verlegen fest, daß sie das dünne Nachthemd stellenweise so durchgeschwitzt hatte, daß es durchsichtig war. Aber sie sah ihn nicht, und er bezweifelte, ob die Tatsache, daß sie halbnackt war, in diesem Stadium überhaupt noch eine Rolle spielte. Sie lag im Sterben. »Johnny, bring die Schüssel, ich glaube, ich muß mich übergeben!« rief sie. Er holte die Schüssel unter dem Bett hervor und stellte sie ihr hin, aber die Frau strampelte und stieß sie mit einem hohlen Poltern, das er auch nicht hören konnte, auf den Fußboden. Er hob sie auf, hielt sie fest und sah die Frau an. »Johnny!« kreischte sie. »Ich kann mein Nähkästchen nicht finden! Es steht nicht im Schrank!« Er schenkte ihr aus dem Krug auf dem Nachttisch ein Glas Wasser ein und hielt es ihr an die Lippen, aber sie schlug wieder um sich und hätte es ihm fast aus der Hand geschlagen. Er stellte es in ihre Reichweite, bis sie sich beruhigt hatte. Seine Stummheit war ihm noch nie so bitter bewußt gewesen wie in den letzten zwei Tagen. Am Dreiundzwanzigsten, als Nick hier ins Haus gekommen war, war der Methodistenpfarrer Braceman bei ihr gewesen. Er las ihr im Wohnzimmer aus der Bibel vor, aber er wirkte nervös und schien nicht schnell genug wieder gehen zu können. Nick konnte sich denken, warum. Das Fieber gab ihr ein rosiges, mädchenhaftes Aussehen, das nicht zu ihrem schmerzlichen Verlust paßte. Vielleicht hatte der Pfarrer geglaubt, sie wolle ihn anmachen, aber wahrscheinlicher war, daß er seine Familie zusammenrufen und möglichst schnell über Land verschwinden wollte. In einer kleinen Stadt verbreiten sich Neuigkeiten rasch, und auch andere hatten schon beschlossen, Shoyo zu verlassen. Seit Braceman vor etwa achtundvierzig Stunden das Wohnzimmer der Bakers verlassen hatte, war alles zu einem Alptraum geworden. Mrs. Baker ging es schlechter, so viel schlechter, daß Nick befürchtet hatte, sie würde vor Sonnenuntergang sterben. Um so schlimmer, daß er nicht bei ihr bleiben konnte. Er mußte ja immer wieder zum Truck Stop hinunter, um seinen drei Gefangenen etwas zu essen zu besorgen, aber Vince Hogan hatte nicht essen können. Er lag im Delirium. Mike Childress und Billy Warner wollten raus, aber Nick brachte es nicht über sich, sie freizulassen. Nicht aus Angst; er glaubte nicht, daß sie Zeit damit vergeuden würden, ihn zusammenzuschlagen, um sich zu rächen; sie würden, wie die anderen, so schnell wie möglich aus Shoyo verschwinden wollen. Aber er hatte die Verantwortung. Er hatte einem Mann sein Wort gegeben, der jetzt tot war. Und früher oder später würde die State Patrol die Dinge in die Hand nehmen und die Gefangenen abholen. In der untersten Schublade von Bakers Schreibtisch fand er den ins Halfter gerollten Fünfundvierziger. Nach einem Augenblick des Nachdenkens schnallte er sich die Waffe um. Als er nach unten schaute und den Holzgriff des schweren Colts an seiner mageren Hüfte sah, kam er sich lächerlich vor - aber das Gewicht war beruhigend. Am Nachmittag des Dreiundzwanzigsten hatte er Vinces Zellentür aufgeschlossen und ihm provisorische Eispackungen auf Brust, Stirn und Hals gelegt. Vince hatte die Augen aufgeschlagen und Nick so elend und flehentlich angesehen, daß Nick gewünscht hatte, er könnte etwas sagen - wie er es zwei Tage später bei Mrs. Baker wünschte -, irgend etwas, um den Mann mit ein paar Worten zu trösten. Es wird schon wieder gut oder ich glaube, das Fieber läßt bald nach hätte schon gereicht. Die ganze Zeit, während er sich um Vince kümmerte, schrien Billy und Mike ihn an. Solange er sich über den kranken Mann beugte, war das egal, aber jedesmal wenn er hochsah, blickte er in ihre ängstlichen Gesichter, und ihre Lippen formten Worte, die stets auf dasselbe hinausliefen: Bitte, laß uns raus. Nick hielt sich wachsam von ihnen fern. Er war noch nicht erwachsen, aber alt genug zu wissen, daß Panik Männer gefährlich machte. Am Nachmittag war er auf fast leeren Straßen hin- und hergewandert und hatte immer damit gerechnet, Vince Hogan an einem oder Mrs. Baker am anderen Ende tot vorzufinden. Er hielt nach Dr. Soames' Auto Ausschau, sah es aber nicht. An diesem Nachmittag hatten einige Geschäfte noch geöffnet gehabt, auch die Texaco-Tankstelle, aber er war mehr und mehr davon überzeugt, daß die Stadt sich zusehends entvölkerte. Die Leute schlichen auf Holzfällerpfaden durch die Wälder oder wateten vielleicht sogar den Shoyo Stream hinauf, der durch Smackover floß und schließlich in der Stadt Mount Holly herauskam. Nach Einbruch der Dunkelheit würden noch mehr Leute die Stadt verlassen, dachte Nick. Die Sonne war gerade untergegangen, als er das Haus der Bakers erreichte, wo Jane zitternd im Bademantel in der Küche umherschlurfte und Tee aufbrühte. Sie schaute Nick dankbar an, als er hereinkam, und er sah, daß sie kein Fieber mehr hatte. »Ich möchte Ihnen danken, daß Sie auf mich aufgepaßt haben«, sagte sie ruhig. »Es geht mir schon viel besser. Möchten Sie eine Tasse Tee?« Und dann brach sie in Tränen aus. Er ging zu ihr, denn er hatte Angst, sie könnte das Bewußtsein verlieren. Sie hielt sich an seinen Armen fest und legte den Kopf an seine Schulter, ihr dunkles Haar fiel über den hellblauen Morgenmantel. »Johnny«, sagte sie in der dunklen Küche. »Oh, mein armer Johnny.« Wenn ich nur sprechen könnte, dachte Nick unglücklich. Aber er konnte sie nur festhalten und durch die Küche zu einem Stuhl am Tisch führen. »Der Tee...« Nick deutete auf sich und half ihr, sich zu setzen. »Ja, gut«, sagte sie. »Es geht mir wirklich besser. Viel besser. Es ist nur, daß... daß...« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Nick machte ihnen heißen Tee und brachte ihn an den Tisch. Eine Weile tranken sie schweigend. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen, wie ein Kind. Schließlich stellte sie sie ab und sagte: »Wie viele in der Stadt haben es, Nick?« »Das weiß ich nicht mehr«, schrieb Nick. »Es ist ziemlich schlimm.« »Hast du den Doktor gesehen?« »Seit heute morgen nicht mehr.« »Am wird sich völlig verausgaben, wenn er nicht aufpaßt«, sagte sie. »Er wird doch vorsichtig sein, oder, Nick? Sich nicht völlig verausgaben?« Nick nickte und versuchte zu lächeln. »Was ist mit-Johns Gefangenen? Hat die Patrol sie schon abgeholt?« »Nein«, schrieb Nick. »Hogan ist sehr krank. Ich tue, was ich kann. Die anderen wollen, daß ich sie rauslasse, bevor Hogan sie ansteckt.« »Laß sie nicht raus!« sagte sie energisch. »Ich hoffe, daß du nicht mal im Traum daran denkst.« »Nein«, schrieb Nick und fügte nach einem Augenblick hinzu: »Sie sollten wieder ins Bett gehen. Sie brauchen Ruhe.« Sie lächelte ihn an, und als sie den Kopf bewegte, sah er die dunklen Flecken unter ihrem Kinn - und fragte sich unbehaglich, ob sie wirklich schon übern Berg war. »Ja. Ich werde rund um die Uhr schlafen. Irgendwie kommt es mir unrecht vor zu schlafen, wo John tot ist... ich kann kaum glauben, daß er tot ist, weißt du. Ich stolpere immer wieder über den Gedanken, wie über etwas, das ich nicht aufgeräumt habe.« Er nahm ihre Hand und drückte sie. Sie lächelte müde. »Vielleicht findet sich mit der Zeit etwas anderes, wofür es sich zu leben lohnt. Hast du schon das Abendessen für deine Gefangenen geholt, Nick?« Nick schüttelte den Kopf. »Das solltest du aber. Warum nimmst du nicht Johns Auto?« »Ich kann nicht fahren«, schrieb Nick. »Trotzdem danke. Ich werde zum Truck Stop laufen. Es ist nicht weit, und morgen sehe ich nach Ihnen, wenn es recht ist.« »Ja«, sagte sie. »Gut.« Er stand auf und deutete streng auf die Teetasse. »Jeden Tropfen«, versprach sie. Er war schon halb aus der Tür, als er ihre zögernde Berührung am Arm spürte. »John...«, sagte sie, brach ab und zwang sich, weiterzusprechen. »Ich hoffe, sie... haben ihn in die Leichenhalle nach Curtis gebracht. Von dort aus haben Johns und meine Familie immer ihre Toten bestattet. Glauben Sie, daß man ihn dort hingebracht hat?« Nick nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie fing wieder an zu schluchzen. Als er sich an diesem Abend von ihr verabschiedet hatte, ging er direkt zum Truck Stop. Ein Schild GESCHLOSSEN hing schief im Fenster. Er war um das Haus herum zum Wohnwagen gegangen, aber da war ebenfalls alles dunkel gewesen. Unter diesen Umständen hielt er einen kleinen Einbruch für gerechtfertigt; das Geld in Sheriff Bakers Kasse würde reichen, den Schaden zu ersetzen. Er schlug die Scheibe am Türgriff des Restaurants ein und ging hinein. Selbst bei eingeschalteter Beleuchtung war es unheimlich hier drin; die Musikbox war dunkel und tot, niemand stand am Billardtisch oder den Videospielen, die Nischen waren leer, die Hocker nicht besetzt. Der Grill war mit der Haube abgedeckt. Nick ging nach hinten und briet auf dem Gasherd ein paar Hamburger, die er in eine Plastiktüte tat. Dazu eine Flasche Milch und einen halben Apfelkuchen, der unter einer Plastikglocke auf dem Tresen stand. Dann ging er wieder ins Gefängnis, nachdem er einen Zettel auf den Tresen gelegt hatte, wer hier eingedrungen war und warum. Vince Hogan war tot. Er lag zwischen schmelzendem Eis und nassen Handtüchern auf dem Boden seiner Zelle. Er hatte im Todeskampf die Hände an den Hals gelegt, als hätte er sich gegen einen unsichtbaren Würger gewehrt. Seine Fingerspitzen waren blutig. Fliegen ließen sich auf ihm nieder und summten wieder davon. Sein Hals war so schwarz und geschwollen wie ein Luftballon, den ein übermütiges Kind bis zum Zerplatzen aufgepumpt hatte. »Läßt du uns jetzt raus?« fragte Mike Childress. »Er ist tot, du verdammter Taubstummer, bist du nun zufrieden? Ist das deine Rache? Und ihn hat's jetzt auch erwischt.« Er deutete auf Billy Warner. Billy Warners Gesicht war entsetzt. Er hatte hektische rote Flecken auf Hals und Wangen; die Ärmel seines Baumwollhemds, an denen er sich oft die Nase abgewischt hatte, waren rotzverkrustet und steif. »Das ist eine Lüüge!« sang er hysterisch. »Eine Lüge, eine Lüge, eine gott-ver-damm-te Lüüge! Das ist eine Lü...« Er fing plötzlich an zu niesen, so heftig, daß er sich zusammenkrümmte und eine volle Ladung Speichel und Schleim ve rsprühte. »Siehst du?« fragte Mike. »Bist du jetzt zufrieden, du verdammter taubstummer Schwachkopf? Laß mich raus! Ihn kannst du behalten, wenn du willst, aber mich nicht. Das ist Mord. Nichts anderes, kaltblütiger Mord!« Nick schüttelte den Kopf, und Mike bekam einen Wutanfall. Er warf sich gegen das Gitter seiner Zelle, verletzte sich das Gesicht und schlug sich die Knöchel beider Hände blutig. Er sah Nick mit aufquellenden Augen an, während er sich nochmals die Stirn aufschlug. Nick wartete, bis Mike sich ausgetobt hatte, dann schob er mit dem Besenstiel das Essen unter der Tür durch. Billy Warner glotzte seinen Teller einen Augenblick stumpfsinnig an, dann fing er an zu essen. Mike warf sein Glas Milch gegen die Gitterstäbe. Es zerplatzte, die Milch spritzte in alle Richtungen. Er warf seine beiden Hamburger gegen die mit Sprüchen gezierte hintere Wand der Zelle. Einer blieb in einem Flecken Senf, Ketchup und Tunke kleben, der auf groteske Weise fröhlich aussah, wie ein Gemälde von Jackson Pollock. Er stampfte auf seinem Stück Apfelkuchen herum und zermatschte es. Apfelstücke flogen überallhin. Der weiße Plastikteller zersplitterte. »Ich bin im Hungerstreik!« brüllte er. »Im verdammten Hungerstreik! Ich esse nichts! Eher wirst du mir den Pimmel lutschen, bevor ich runterwürge, was du angeschleppt hast, du gottverdammtes taubstummes, schwachsinniges Arschloch. Du wirst...« Nick wandte sich ab, und sofort trat Stille ein. Er ging ins Büro zurück und wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte Angst. Wenn er Auto fahren könnte, hätte er die beiden selbst nach Camden gebracht. Aber er konnte nicht fahren. Und er mußte auch an Vince denken. Er konnte ihn nicht einfach als Futter für die Fliegen liegenlassen. Vom Büro gingen zwei Türen ab. Hinter der einen befand sich ein Kleiderschrank. Hinter der anderen führte eine Treppe hinab. Nick ging hinunter und sah, daß es da eine Kombination von Keller und Lagerraum gab. Hier unten war es kühl. Es würde reichen, wenigstens eine Zeitlang. Er ging wieder nach oben. Mike saß auf dem Fußboden und sammelte verdrossen zerquetschte Apfelstücke auf, die er abwischte und aß. Er sah Nick nicht an. Nick nahm die Leiche in die Arme und versuchte, sie hochzuheben. Der widerliche Gestank, der von dem Leichnam ausging, veranlaßte seinen Magen, Handstand und Purzelbaum zu machen. Vince war zu schwer für ihn. Er betrachtete die Leiche einen Augenblick hilflos und merkte, daß die beiden anderen jetzt an den Zellentüren standen und mit einem Ausdruck grausiger Faszination zusahen. Nick konnte sich vorstellen, was sie dachten. Vince war einer von ihnen gewesen, vielleicht ein Windbeutel, aber trotzdem ihr Kumpel. Er war gestorben wie eine Ratte in der Falle, an einer fürchterlichen Krankheit, die sie nicht verstanden. Nick fragte sich an diesem Tag nicht zum ersten Mal, wann er anfangen würde zu niesen und Fieber und diese seltsamen Schwellungen am Hals zu bekommen. Er packte Vince Hogans fleischige Unterarme und schleifte ihn aus der Zelle. Wegen des Gewichts auf den Schultern war Vinces Gesicht ihm zugewandt, und er schien Nick anzustarren und ihn wortlos zu bitten, er solle doch vorsichtig sein und ihn nicht zu sehr schütteln. Nick brauchte zehn Minuten, den Leichnam des kräftigen Mannes die steile Treppe hinunterzuschaffen. Keuchend legte Nick ihn auf den Beton unter den Neonleuchten und bedeckte ihn rasch mit einer abgewetzten Armeedecke von der Pritsche in seiner Zelle. Dann versuchte er zu schlafen, aber der Schlaf kam erst in den frühen Morgenstunden, als der 13. Juni schon zum 14. geworden war, zu gestern. Seine Träume waren immer sehr lebhaft gewesen, und manchmal hatte er Angst vor ihnen. Er hatte selten ausgesprochene Alpträume gehabt, aber in letzter Zeit waren sie immer geheimnisvoller geworden, und er hatte das Gefühl, dass nichts darin war, was es zu sein schien, und daß die normale Welt sich in einen Ort verwandelt hatte, wo Babys hinter geschlossenen Fensterläden geopfert wurden und in verschlossenen Kellerräumen unablässig riesige schwarze Maschinen dröhnten. Und hinzu kam natürlich seine ureigene Angst - eines Tages selbst damit aufzuwachen. Er schlief dann doch ein wenig und hatte einen Traum, den er jüngst schon einmal gehabt hatte: das Maisfeld, der Geruch von warmen, wachsenden Dingen, das Gefühl, daß etwas - oder jemand - sehr Gutes und Schützendes in der Nähe war. Ein Gefühl, zu Hause zu sein. Aber dieses Gefühl verwandelte sich in kaltes Entsetzen, als er merkte, daß etwas in dem Mais hockte und ihn beobachtete. Er dachte: Mama, es sind Wiesel im Hühnerstall!, und er wachte im Licht des frühen Morgens auf, am ganzen Körper schweißbedeckt. Er setzte Kaffeewasser auf und sah nach seinen beiden Gefangenen. Mike Childress war in Tränen aufgelöst. Hinter ihm klebte der Hamburger mit seinem Leim allmählich trocknender Zutaten noch immer an der Wand. »Bist du jetzt zufrieden? Ich hab' es auch. Hast du dir das gewünscht? Ist das deine Rache? Hör mal, wie ich atme. Klingt wie 'n alter Güterzug, der sich 'nen Berg rauf quält!« Nicks erste Sorge war Billy Warner gewesen, der im Koma auf seiner Pritsche lag. Sein Hals war geschwollen und schwarz, die Brust hob und senkte sich krampfartig. Nick eilte ins Büro zurück, sah zum Telefon und fegte es in einem Ansturm von Wut und Schuldgefühlen vom Tisch auf den Fußboden, wo es sinnlos am Ende seiner Schnur liegenblieb. Er schaltete die Heizplatte aus und lief die Straße hinunter zum Haus der Bakers. Er läutete scheinbar eine Stunde, bis Jane, im Morgenmantel, endlich erschien. Der Fieberschweiß stand ihr wieder im Gesicht. Sie war nicht im Delirium, aber sie sprach langsam und undeutlich und hatte Blasen an den Lippen. »Nick, kommen Sie rein. Was ist denn?« »Hogan ist gestern abend gestorben. Ich glaube, Billy Warner stirbt auch. Er ist sehr krank. Haben Sie Dr. Soames gesehen?« Sie schüttelte den Kopf, zitterte in der leichten Zugluft, nieste und schwankte ein wenig. Nick legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu einem Stuhl. Er schrieb: »Können Sie für mich seine Praxis anrufen?« »Ja, natürlich. Bringen Sie mir das Telefon, Nick. Ich scheine... in der Nacht einen Rückfall gehabt zu haben.« Er brachte ihr das Telefon, und sie wählte Soames' Nummer. Nachdem sie den Hörer über eine halbe Minute ans Ohr gehalten hatte, wußte er, daß niemand antworten würde. Sie versuchte es in seiner Wohnung, dann bei seiner Sprechstundenhilfe. Keine Antwort. »Ich versuch's bei der State Patrol«, sagte sie, aber nachdem sie eine einzige Ziffer gewählt hatte, legte sie den Hörer wieder auf die Gabel. »Ich glaube, Ferngespräche kann man immer noch nicht führen. Wenn ich die Eins gewählt habe, macht es immer nur tut -tuttut.« Sie lächelte blaß und weinte wieder hilflos. »Armer Nick«, sagte sie. »Und ich arme Frau. Wir sind alle so arm. Können Sie mir nach oben helfen? Ich fühle mich so schwach und kann kaum atmen. Ich glaube, ich werde bald bei John sein.« Er sah sie an und wünschte sich, er könnte sprechen. »Ich werde mich hinlegen, wenn Sie mir helfen.« Er half ihr die Treppe hinauf und schrieb: »Ich komme wieder.« »Danke, Nick. Sie sind ein guter Junge...« Sie war schon im Begriff einzuschlafen. Nick verließ das Haus, blieb auf dem Gehweg stehen und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Wenn er Auto fahren könnte, könnte er etwas unternehmen. Aber so... Er sah ein Kinderfahrrad auf dem Rasen eines Hauses auf der anderen Straßenseite liegen. Er ging hinüber, betrachtete das Haus, vor dem es lag, dessen Rollos heruntergelassen waren (wie bei den Häusern in seinen Träumen), schließlich klopfte er an die Tür. Niemand kam aufmachen, obwohl er mehrmals klopfte. Er ging wieder zu dem Fahrrad. Es war klein, aber nicht so klein, dass er nicht damit fahren konnte, sofern es ihn nicht störte, daß seine Knie an die Handgriffe stießen. Er würde albern aussehen, gewiß, aber er war nicht sicher, ob überhaupt noch jemand in Shoyo war, der ihn sehen konnte... und selbst wenn, glaubte er nicht, daß vielen zum Lachen zumute sein würde. Er stieg auf das Fahrrad und radelte unbeholfen die Main Street entlang, am Gefängnis vorbei, dann auf der Route 63 nach Osten, dorthin, wo Joe Rackman die Soldaten gesehen hatte, die sich als Straßenarbeiter tarnten. Wenn sie tatsächlich Soldaten und noch da waren, würde Nick sie darum bitten, sich um Billy Warner und Mike Childress zu kümmern. Das heißt, wenn Billy noch lebte. Wenn die Männer Shoyo unter Quarantäne gestellt hatten, dann war Shoyos Krankheit sicher ihre Schuld. Er brauchte eine Stunde, um zu der Baustelle zu radeln, das Fahrrad schlingerte trunken über den Mittelstreifen hin und her, und seine Knie stießen mit monotoner Regelmäßigkeit gegen die Handgriffe. Aber als er dort ankam, waren die Soldaten, Straßenarbeiter oder was auch immer sie waren, verschwunden. Ein paar Warnlichter standen noch da, manche blinkten auch noch. Und zwei orangefarbene Sägeböcke. Die Straße war aufgerissen, aber Nick glaubte, daß sie trotzdem passierbar war, wenn man auf die Stoßdämpfer seines Autos nicht allzuviel Rücksicht nahm. Er erblickte aus dem Augenwinkel ein schwarzes, waberndes Etwas, gleichzeitig erhob sich ein leichter Wind, nur eine schwache Sommerbrise, aber ausreichend, daß sie den schweren, ekelerregenden Geruch von Verwesung zu ihm trug. Das schwarze, sich bewegende Etwas war eine Wolke Fliegen, die sich ständig neu formierten. Er schob das Fahrrad zum Straßengraben auf der anderen Seite. Dort lagen die Leichen von vier Männern neben einem funkelnden neuen Abwasserrohr. Ihre Gesichter und geschwollenen Hälse waren schwarz. Nick wußte nicht, ob sie Soldaten waren oder nicht, und er ging nicht näher hin. Du mußt dich einfach umdrehen und weggehen, sagte er sich. Du brauchst keine Angst zu haben, sie sind tot, und Tote können einem nichts tun. Aber als er zwanzig Meter vom Graben entfernt war, rannte er schon, und dann radelte er von Panik erfüllt nach Shoyo zurück. Am Stadtrand fuhr er über einen Stein und machte eine Bruchlandung mit dem Rad, Er flog über die Lenkstange, schlug sich den Kopf an und schürfte sich die Hände auf. Trotzdem verweilte er nur einen Augenblick mitten auf der Straße, am ganzen Körper zitternd. Die nächsten anderthalb Stunden an diesem Morgen, gestern morgen, klopfte Nick an Türen und drückte auf Klingelknöpfe. Irgend jemand mußte gesund sein, sagte er sich. Er selbst fühlte sich gut, und er konnte sicher nicht der einzige sein. Es mußte jemanden geben, einen Mann oder eine Frau oder vielleicht einen Teenager mit einem Anfängerführerschein, und er oder sie würde sagen: Ja, klar doch. Bringen wir sie nach Camden. Wir nehmen den Kombi. Oder Ähnliches. Aber sein Klopfen oder Klingeln wurde nur etwa ein dutzendmal beantwortet. Die Türen öffneten sich so weit, wie die Kette es zuließ, und ein krankes, aber hoffnungsvolles Gesicht erschien im Spalt, sah Nick, und die Hoffnung erstarb. Der Kopf machte eine verneinende Bewegung, dann wurde die Tür wieder zugemacht. Wenn Nick sprechen könnte, hätte er den Leuten gesagt: Wenn ihr gehen könnt, könnt ihr auch fahren. Wenn ihr meine Gefangenen nach Camden bringt, kommt ihr selbst dorthin, und da ist ein Krankenhaus. Dort wird man euch gesundpflegen. Aber er konnte nicht sprechen. Einige fragten ihn, ob er Dr. Soames gesehen hatte. Ein Mann riß im Fieberwahn die Tür seines kleinen Ranchhauses weit auf, stürzte nur in Unterhosen auf die Veranda und versuchte, Nick zu packen. Er sagte, er wolle tun, »was ich schon in Houston mit dir hätte tun sollen«. Er hielt Nick für jemand namens Jenner. Er torkelte auf der Veranda hinter Nick her wie ein Zombie in einem drittklassigen Horrorfilm. Seine Genitalien waren schrecklich geschwollen; seine Unterhose sah aus, als hätte jemand eine Honigmelone hineingesteckt. Schließlich fiel er krachend auf die Veranda, und Nick beobachtete ihn mit Herzklopfen vom Rasen aus. Der Mann schüttelte müde die Faust und kroch ins Haus zurück, ohne die Tür zu schließen. Aber die meisten Häuser waren dunkel und geheimnisvoll, und zuletzt konnte er nicht mehr. Das traumgleiche Gefühl des Geheimnisvollen überkam ihn, und es wurde unmöglich, den Gedanken abzuschütteln, daß er an Gräber klopfte, daß er klopfte, um die Toten zu wecken, und die Toten früher oder später antworten würden. Es half nicht viel, sich zu vergegenwärtigen, daß die meisten Häuser leerstanden, ihre Bewohner nach Camden oder El Dorado oder Texarkana geflohen waren. Er ging zum Haus der Bakers zurück. Jane Baker schlief fest, ihre Stirn war kühl. Aber diesmal hatte er nicht mehr so viel Hoffnung. Es war Mittag. Nick ging zum Truck Stop zurück und spürte jetzt, dass er in der Nacht wenig geschlafen hatte. Sein ganzer Körper schmerzte vom Sturz mit dem Rad. Bakers Fünfundvierziger schlug ihm gegen die Hüfte. Im Truck Stop machte er zwei Dosen Suppe heiß und füllte sie in Thermosflaschen. Die Milch im Kühlschrank schien noch gut zu sein, daher nahm er auch davon eine Flasche. Billy Warner war tot, und als Mike Nick sah, kicherte er hysterisch und deutete mit dem Finger auf ihn: »Zwei sind weg und einer übrig! Zwei sind weg und einer übrig! Du bekommst deine Rache, stimmt's? Stimmt's?« Nick schob vorsichtig mit dem Besenstiel die Thermosflasche mit Suppe unter der Tür durch, dann ein großes Glas Milch. Mike trank die Suppe in kleinen Schlucken direkt aus der Thermosflasche. Nick nahm seine eigene Thermosflasche und setzte sich im Flur hin. Er würde Billy nach unten schaffen, aber zuerst mußte er etwas essen. Er hatte Hunger. Während er seine Suppe trank, sah er Mike nachdenklich an. »Willst du wissen, wie es mir geht?« fragte Mike. Nick nickte. »Genauso wie heute morgen, als du weggegangen bist. Ich muß ein Pfund Rotz ausgehustet haben.« Er sah Nick hoffnungsvoll an. »Meine Mutter hat immer gesagt, wenn man so viel Rotz aushustet, wird es besser. Vielleicht habe ich es nicht so schlimm, hm? Hältst du das für möglich?« Nick zuckte die Achseln. Alles war möglich. »Ich hab' eine Konstitution wie ein Messingadler«, sagte Mike. »Ich glaube, es ist nichts. Ich glaube, ich überstehe es. Hör zu, Mann, lass mich raus. Bitte. Ich flehe dich an, verdammt.« Nick dachte darüber nach. »Herrgott, du hast doch die Waffe. Ich will nichts von dir. Ich will nur raus aus der Stadt. Aber erst will ich nach meiner Frau sehen...« Nick deutete auf Mikes linke Hand, an der kein Ring steckte. »Ja, wir sind geschieden, aber sie ist immer noch in der Stadt, draußen an der Ridge Road. Ich möchte gern nach ihr sehen. Was meinst du, Mann?« Mike fing an zu weinen. »Gib mir eine Chance. Laß mich nicht in diesem Rattenloch eingesperrt.« Nick stand langsam auf, ging ins Büro und öffnete die Schublade. Die Schlüssebwaren da. Die Logik des Mannes war unerbittlich. Es war sinnlos zu glauben, daß jemand kommen und sie aus dieser schrecklichen Lage befreien würde. Er nahm die Schlüssel und ging zurück. Er hielt denjenigen hoch, den Big John Baker ihm gezeigt hatte, den mit dem weißen Band. Er warf ihn Mike Childress durch die Gitterstäbe zu. »Danke«, stammelte Mike. »Oh, danke. Es tut mir leid, daß wir dich zusammengeschlagen haben, ich schwöre bei Gott, es war Rays Idee, Vince und ich haben noch versucht, ihm das auszureden, aber wenn Ray trinkt, dreht er durch...« Er rasselte mit dem Schlüssel im Schloß. Nick trat ein paar Schritte zurück, die Hand am Griff des Revolvers. Die Zellentür ging auf, Mike kam heraus. »Das hab' ich ernst gemeint«, sagte er. »Ich will nur raus aus der Stadt.« Er schob sich an Nick vorbei, ein Grinsen umspielte seine Lippen. Dann schoß er durch die Tür zwischen dem kleinen Zellentrakt und dem Büro. Nick lief hinterher und sah noch, wie Mike die Bürotür von außen zumachte. Nick ging nach draußen. Mike stand am Bordstein, stützte sich mit der Hand auf eine Parkuhr und blickte die verlassene Straße entlang. »Mein Gott«, flüsterte er und sah Nick mit fassungslosem Gesicht an. »Alles? Alles?« Nick nickte, die Hand immer noch am Griff der Waffe. Mike wollte etwas sagen, aber es wurde ein Hustenanfall daraus. Er hielt sich die Hand vor den Mund, dann wischte er sich die Lippen ab. »Ich zieh' Leine«, sagte er. »Wenn du schlau bist, machst du das auch, Stummer. Das ist wie der Schwarze Tod oder so was.« Nick zuckte die Achseln, und Mike machte sich auf den Weg. Er ging immer schneller, bis er fast rannte. Nick beobachtete ihn, bis er nicht mehr zu sehen war, und ging dann wieder hinein. Er sah Mike nie wieder. Ihm war leichter ums Herz, und er war plötzlich sicher, dass er richtig gehandelt hatte. Er legte sich auf die Pritsche und schlief fast sofort ein. Er schlief den ganzen Nachmittag auf der Koje ohne Wolldecken, wachte verschwitzt auf und fühlte sich ein wenig besser. Über den Hügeln tobten Gewitter - er konnte den Donner nicht hören, sah aber die blauweißen Gabeln der Blitze, die sich in die Hügel bohrten -, aber bis nach Shoyo war an diesem Abend nichts vorgedrungen. Nach Anbrach der Dämmerung ging er auf der Main Street zu Paulie's Radio und TV und unternahm noch einen seiner schuldbewußten Raubzüge. Er legte einen Zettel neben die Registrierkasse und schleppte einen tragbaren Sony-Fernseher ins Gefängnis. Er machte ihn an und schaltete einen Kanal nach dem anderen durch. Der örtliche Sender der CBS strahlte nur eine Mitteilung aus: SCHWIERIGKEITEN MIT DEM UKW-RELAIS BITTE BLEIBEN SIE AUF EMPFANG! Die ABC zeigte I Love Lucy, und NBC brachte die Wiederholung einer Folge aus der laufenden Serie um ein selbstbewußtes junges Mädchen, das unbedingt Mechanikerin beim Stock-Car-Rennen werden wollte. Texarkana, ein unabhängiger Sender, der hauptsächlich alte Filme, Quizsendungen und religiöse Heuler Marke Jack Van Impe zeigte, hatte abgeschaltet. Nick machte den Fernseher aus, ging zum Truck Stop und bereitete Suppe und Sandwiches für zwei Personen. Es hatte für ihn etwas Unheimliches an sich, daß alle Straßenlampen noch angingen, die sich inmitten von weißen Lichtpfützen in beide Richtungen der Main Street erstreckten. Auf dem Weg zu Jane Bakers Haus kam eine Meute von etwa drei oder vier Hunden auf ihn zu, offenbar ausgehungert und gefräßig, weil sie rochen, was er im Korb hatte. Nick zog den Fünfundvierziger, aber er brachte es nicht übers Herz abzudrücken, bis einer der Hunde versuchte, ihn zu beißen. Er feuerte, und die Kugel schlug fünf Schritte entfernt vom Beton ab und hinterließ einen silbernen Bleistreifen. Er hörte den Knall nicht, aber er spürte das dumpfe Pochen der Vibration. Die Hunde stoben auseinander und liefen weg. Jane schlief, ihre Stirn und Wangen waren heiß, ihr Atem ging schwer und langsam. Nick fand, sie sah ganz verfallen aus. Er nahm einen kalten Waschlappen und wischte ihr das Gesicht ab. Er stellte ihr das Essen auf den Nachttisch, ging nach unten ins Wohnzimmer und schaltete Bakers großes Farbfernsehgerät an. CBS sendete die ganze Nacht nicht. NBC sendete das reguläre Programm, aber das Bild des örtlichen Senders der ABC verschwamm immer wieder, manchmal war nur Schnee auf dem Bildschirm, dann plötzlich war das Bild wieder klar. Über den ABCKanal kamen nur Wiederholungen, als sei die Verbindung zur Sendezentrale abgeschnitten. Das war unwichtig. Nick wartete auf die Nachrichten. Als sie kamen, war er völlig verblüfft. Zuerst wurde über die »SuperGrippe-Epidemie« berichtet, wie man es jetzt nannte, aber die Nachrichtensprecher beider Sender sagten, man sei im Begriff, sie unter Kontrolle zu bringen. Das Seuchenkontrollzentrum in Atlanta habe einen Impfstoff entwickelt, Anfang nächster Woche könne man sich vom Arzt eine Spritze geben lassen. Besorgniserregend sei die Krankheit in New York, San Francisco, Los Angeles und London ausgebrochen, aber sie habe überall eingedämmt werden können. In einigen Gebieten, fuhr der Sprecher fort, hätten öffentliche Versammlungen vorläufig gestrichen werden müssen. In Shoyo, dachte Nick, war die ganze Stadt gestrichen worden. Wer hielt hier wen zum Narren? Der Nachrichtensprecher schloß mit der Meldung, in den Ballungsgebieten unterliege der Reiseverkehr gewissen Beschränkungen, die aber aufgehoben werden sollten, sobald der neue Impfstoff allgemein zur Verfügung stand. Dann meldete der Sprecher einen Flugzeugabsturz in Michigan und verlas die Kommentare einiger Kongreßabgeordneter zu der die Bürgerrechte der Homosexuellen betreffenden Entscheidung des Obersten Bundesgerichts. Nick schaltete das Gerät aus und ging auf die Veranda der Bakers. Er setzte sich auf die Hollywoodschaukel. Die Schaukelbewegung wirkte beruhigend auf ihn, und das Quietschen der rostigen Stellen, die John Baker immer wieder zu ölen vergessen hatte, konnte er nicht hören. Er beobachtete Glühwürmchen, die unregelmäßige Lichtmuster in die Dunkelheit zeichneten. Blitze fuhren durch die Wolken am Horizont, so daß sie aussahen, als hätten sie ihre eigenen Glühwürmchen, wahre Ungeheuer von Glühwürmchen, so groß wie Dinosaurier. Die Nacht war stickig und schwül. Weil das Fernsehen für Nick lediglich ein visuelles Medium war, hatte er bei der Nachrichtensendung einiges bemerkt, was anderen vielleicht nicht aufgefallen wäre. Man hatte keine Filmausschnitte gezeigt, keinen einzigen. Man hatte keine Baseballergebnisse gebracht, vielleicht weil keine Baseballspiele stattgefunden hatten. Einen vagen Wetterbericht, und die Karte der Hoch- und Tiefdruckgebiete war ausgeblieben. Es war, als hätte das Meteorologische Bundesamt den Laden dichtgemacht. Nick vermutete, daß das tatsächlich der Fall war. Beide Nachrichtensprecher hatten nervös und aufgeregt gewirkt. Einer war offensichtlich erkältet, er hatte einmal ins Mikrophon gehustet und sich anschließend entschuldigt. Beide Sprecher hatten vor der Kamera ständig nach rechts und links gesehen... als wäre jemand bei ihnen im Studio, der darauf achtete, daß sie nichts falsch machten. Das war am Abend des 24. Juni; er schlief unruhig auf der vorderen Veranda der Bakers, und seine Träume waren sehr schlimm. Und jetzt, am Nachmittag des folgenden Tages, sah er Jane Baker sterben, diese wunderbare Frau... und er konnte ihr kein tröstendes Wort sagen. Sie zupfte an seiner Hand. Nick betrachtete ihr blasses, erschöpftes Gesicht. Die Haut war jetzt trocken, der Schweiß verdunstet, was ihm allerdings weder Trost noch Zuversicht spendete. Sie starb. Er kannte die Anzeichen inzwischen. »Nick«, sagte sie lächelnd. Sie nahm eine seiner Hände zwischen die ihren. »Ich möchte Ihnen nochmals danken. Niemand will ganz alleine sterben, oder?« Er schüttelte heftig den Kopf, und sie begriff, daß er damit ihrer Bemerkung nicht zustimmte, sondern nachdrücklich widersprach. »Doch, ich sterbe«, entgegnete sie. »Machen Sie sich nichts draus. Dort im Schrank hängt ein Kleid, Nick. Ein weißes. Sie erkennen es an...« Ein Hustenanfall unterbrach sie. »... an den Spitzen. Das habe ich im Zug getragen, als wir in die Flitterwochen gefahren sind. Es paßt mir noch... jedenfalls hat es gepaßt. Inzwischen dürfte es mir etwas zu groß sein, weil ich abgenommen habe, aber das macht nichts. Es war immer mein Lieblingskleid. John und ich waren am Lake Ponchetrain. Das waren die beiden glücklichsten Wochen meines Lebens. John hat mich immer glücklich gemacht. Denken Sie an das Kleid, Nick? Ich möchte darin begraben werden. Es ist Ihnen doch nicht peinlich, mich... mich anzuziehen, oder?« Er schluckte heftig, schüttelte den Kopf und sah auf die Tagesdecke. Sie schien seine Mischung aus Traurigkeit und Unbehagen zu spüren, denn sie erwähnte das Kleid nicht noch einmal. Statt dessen sprach sie von anderen Dingen - heiter, fast kokett. Sie hatte an der High School einen Vortragswettbewerb gewonnen und war daraufhin zum staatlichen Wettbewerb von Arkansas geschickt worden, und dort war ihr der knappe Slip heruntergerutscht und um die Knöchel liegengeblieben, als sie gerade den brausenden Höhepunkt von Shirley Jacksons »Die Teufelsbraut« erreicht hatte. Sie erzählte von ihrer Schwester, die als Mitglied einer Missionarsgruppe der Baptisten Vietnam besucht hatte und nicht mit einem oder zwei Adoptivkindern zurückgekommen war, sondern gleich mit dreien. Von einem Campingausflug, den sie und John vor drei Jahren gemacht hatten, und wie ein wütender Elch in Hitze sie auf einen Baum gejagt und den ganzen Tag da oben festgehalten hatte. »Wir saßen auf dem Ast und haben geturtelt«, sagte sie schläfrig, »wie ein paar High-School-Kids auf dem Balkon. Meine Güte, war er in einem Zustand, als wir wieder runter konnten... Er... wir... haben uns geliebt... so sehr geliebt... Liebe sorgt dafür, daß die Welt sich dreht, das war immer meine Meinung... nur die Liebe ermöglicht es Männern und Frauen, in einer Welt aufrecht zu stehen, in der die Schwerkraft sie immer nach unten zieht... niederdrücken will... damit sie kriechen... wir haben... uns so sehr geliebt...« Sie döste ein und schlief, bis er sie wieder weckte, indem er den Vorhang zurückzog oder vielleicht nur auf eine quietschende Diele trat; sie war im Delirium. »John!« schrie sie jetzt mit verschleimter Stimme. »O John, ich kapier' diese elende Lenkradschaltung nie! John, du mußt mir helfen! Du mußt...« Ihre Worte verstummten in einem langen, rasselnden Keuchen, das er zwar nicht hören konnte, aber trotzdem spürte. Ein dünnes Rinnsal dunkelroten Blutes floß ihr aus einem Nasenloch. Sie fiel aufs Kissen zurück, ihr Kopf schnappte einmal, zweimal, dreimal hin und her, als hätte sie eine lebenswichtige Entscheidung getroffen und die Antwort war nein. Dann lag sie still. Nick legte die Hand schüchtern auf ihren Hals, die Innenseite des Handgelenks zwischen die Brüste. Nichts. Sie war tot. Die Uhr auf dem Nachttisch tickte gewichtig, aber keiner der beiden hörte sie. Er legte einen Moment den Kopf auf die Knie und weinte auf die ihm eigene stumme Weise. Du kannst nicht mehr machen als die Tränen kurz rauslassen, hatte Rudy einmal zu ihm gesagt, aber in einer Seifenopernwelt macht sich das gut. Er wußte, was als nächstes kam, wollte es aber nicht tun. Es war nicht fair, schrie ein Teil von ihm. Es war nicht seine Sache. Aber da sonst niemand da war - möglicherweise im Umkreis von Meilen nicht -, mußte er es wohl oder übel erledigen. Entweder das, oder er mußte sie hier liegen und verwesen lassen, und das brachte er nicht fertig. Sie war freundlich zu ihm gewesen, und er hatte nicht viele Menschen getroffen, von denen er das sagen konnte, ob krank oder gesund. Er sollte wohl besser gleich damit anfangen. Je länger er hier saß und nichts tat, desto mehr würde ihm vor der Aufgabe grauen. Er wußte, wo das Bestattungsinstitut Curtis war - drei Blocks weiter, einen Block westlich. Und draußen war es sicher heiß. Er zwang sich, aufzustehen und zum Schrank zu gehen, und er hoffte, das weiße Flitterwochenkleid wäre nur Teil ihres Deliriums gewesen. Aber es war da. Es war durch die Jahre etwas vergilbt, aber er erkannte es trotzdem. An den Spitzen. Er holte es heraus und legte es auf die Bank am Fußende des Bettes. Er betrachtete das Kleid, betrachtete die Frau und dachte: Heute wird es ihr mehr als nur etwas zu groß sein. Die Krankheit, was auch immer sie sein mochte, war grausamer zu ihr gewesen, als sie geahnt hatte... aber das ist wohl besser so. Er ging widerstrebend zu ihr und zog ihr das Nachthemd aus. Als sie nackt vor ihm lag, verschwand das Grauen, und er empfand nur Mitleid - ein Mitleid, das so tief in ihm saß, daß es schmerzte und er wieder zu weinen anfing, während er ihren Leichnam wusch und ankleidete, so wie sie auf dem Weg zum Lake Ponchetrain gekleidet gewesen war. Und als sie angezogen war wie an diesem besagten Tag, nahm er sie auf die Arme und trug sie in Spitzen, oh, in Spitzen, zum Bestattungsinstitut; er trug sie wie ein Bräutigam, der seine Braut auf den Armen über eine endlose Schwelle trug. 26 Eine Studentenvereinigung, möglicherweise die Students for a Democratic Society oder die Young Maoists, hatte in der Nacht vom 25. auf den 2.6. Juni emsig an der Druckerpresse gearbeitet. Am nächsten Morgen waren überall auf dem Campus der University of Kentucky in Louisville folgende Plakate angeklebt: ACHTUNG! ACHTUNG! ACHTUNG! ACHTUNG! IHR WERDET BELOGEN! DIE REGIERUNG BELÜGT EUCH ALLE! DIE PRESSE, DIE SICH IN DEN HÄNDEN DER PARAMILITÄRISCHEN POLIZEI BEFINDET, BELÜGT EUCH! DIE VERWALTUNG DIESER UNIVERSITÄT BELÜGT EUCH, EBENSO DIE ÄRZTESCHAFT - AUF BEFEHL DER REGIERUNG! ES GIBT KEINEN IMPFSTOFF GEGEN DIE SUPERGRIPPE DIE SUPERGRIPPE IST KEINE ERNSTE KRANKHEIT, SIE IST EINE TÖDLICHE KRANKHEIT DIE ANSTECKUNGSGEFAHR LIEGT MÖGLICHERWEISE ÜBER 75% DIE SUPERGRIPPE WURDE VON DEN PARAMILITÄRISCHEN KRÄFTEN DER USA ENTWICKELT UND DURCH EINEN UNFALL FREIGESETZT DIE PARAMILITÄRISCHEN POLIZEITRUPPEN DER USA HABEN NUN DIE ABSICHT, IHREN MÖRDERISCHEN UNFALL ZU VERTUSCHEN, AUCH WENN ES BEDEUTET, DASS 75% DER BEVÖLKERUNG STERBEN WERDEN! GRÜSSE AN ALLE REVOLUTIONÄREN KRÄFTE! DIE ZEIT FÜR UNSEREN KAMPF IST GEKOMMEN! VEREINT EUCH, KÄMPFT, SIEGT! GENERALVERSAMMLUNG UM 19.00 UHR IN DER SPORTHALLE! STREIK! STREIK! STREIK! STREIK! STREIK! STREIK! Was sich bei WBZ-TV in Boston zutrug, war am Abend zuvor von drei Nachrichtensprechern und sechs Technikern geplant worden, die alle im Studio 6 arbeiteten. Fünf der Männer spielten regelmäßig zusammen Poker, sechs der neun waren bereits krank. Sie glaubten, daß sie nichts mehr zu verlieren hatten. Sie sammelten fast ein Dutzend Handfeuerwaffen. Bob Palmer, der die Morgennachrichten verlas, schaffte sie in einer Fliegertasche, in der er normalerweise seine Kugelschreiber und Notizblöcke transportierte, nach oben. Die gesamte Senderanlage war, hatte man ihnen mitgeteilt, von der Nationalgarde abgeriegelt worden, aber Palmer hatte George Dickerson am Abend zuvor gesagt, es wären die ersten Nationalgardisten über fünfzig, die er jemals gesehen hatte. Um 9.01 Uhr, als Palmer gerade angefangen hatte, eine Beschwichtigungsmeldung zu verlesen, die ihm zehn Minuten vorher ein Uffz der Armee gegeben hatte, fand der Coup statt. Die neun Männer brachten den Fernsehsender in ihre Gewalt. Die Soldaten, die keinen Widerstand von den verweichlichten Zivilisten erwartet hatten, welche Unglücksbotschaften normalerweise nur auf große Entfernungen verkündeten, waren vollkommen überrascht und wurden entwaffnet. Weiteres Senderpersonal beteiligte sich spontan an der Rebellion, räumte den gesamten sechsten Stock und verbarrikadierte sämtliche Türen. Die Fahrstühle wurden in den sechsten Stock gerufen, ehe die Soldaten im Erdgeschoß richtig begriffen, was los war. Drei Soldaten versuchten, die östliche Feuerleiter heraufzukommen, aber ein Hausmeister namens Charles Yorkin, der mit einem Armeekarabiner bewaffnet war, gab einen Warnschuß über ihre Köpfe hinweg ab. Das war der einzige Schuß, der abgefeuert wurde. Zuschauer im Bereich des Senders WBZ-TV erlebten mit, wie Bob Palmer die Nachrichten mitten im Satz unterbrach, und hörten ihn sagen: »Okay, jetzt!« Gedämpfte Laute hinter der Kamera. Als sie aufhörten, sahen Tausende bestürzte Fernsehzuschauer, daß Bob Palmer jetzt eine Maschinenpistole in der Hand hielt. Eine heisere Stimme schrie jubilierend im Off: »Wir haben sie, Bob! Wir haben die Drecksäcke! Wir haben sie alle!« »Okay, gute Arbeit«, sagte Palmer. Dann blickte er wieder in die Kamera. »Mitbürger von Boston und Amerikaner in unserem Sendegebiet. Soeben ist in diesem Studio etwas Ernstes und ungeheuer Wichtiges geschehen, und ich bin froh, daß es hier in Boston, der Wiege der amerikanischen Unabhängigkeit, zuerst geschehen ist. Die letzten sieben Tage wurde dieser Sender von Männern bewacht, die sich als Nationalgardisten ausgaben. Bewaffnete Männer in Armeeuniformen standen neben unseren Kameramännern, in unseren Regiekabinen, neben den Fernschreibern. Wurden die Nachrichten gefälscht? Ich muß leider zugeben, daß es so ist. Man hat mir die Texte gegeben und mich praktisch buchstäblich mit einem Revolver am Kopf gezwungen, sie zu verlesen. Was ich Ihnen vorgelesen habe, hat mit der sogenannten >Supergrippe< zu tun, und es war alles von A bis Z erlogen.« Auf der Schaltkonsole flackerten Lichter auf. Innerhalb von fünfzehn Minuten waren alle Lichter an. »Unsere Kameraleute haben Aufnahmen gemacht, die entweder beschlagnahmt oder vorsätzlich vernichtet wurden. Die Artikel unserer Reporter sind verschwunden. Aber wir haben Filmaufnahmen, meine Damen und Herren, und wir haben Korrespondenten hier im Studio - keine professionellen Reporter, sondern Augenzeugen der größten Katastrophe, die jemals über unser Land hereingebrochen ist... und diese Worte verwende ich nicht leichtfertig. Wir werden Ihnen jetzt einen Teil des Filmmaterials zeigen. Alles wurde heimlich aufgenommen, die Bildqualität ist teilweise schlecht. Aber wir, die wir soeben unseren eigenen Fernsehsender befreit haben, sind der Meinung, Sie sehen genug. Vielleicht mehr, als Sie je sehen wollten.« Er blickte auf, nahm ein Taschentuch aus dem Sportblazer und schneuzte sich. Zuschauer mit guten Farbfernsehern konnten erkennen, daß Palmers Gesicht gerötet und fiebrig aussah. »Wenn du bereit bist, George, Film ab.« Palmers Gesicht wurde durch Bilder aus dem General Hospital von Boston ersetzt. Die Stationen waren überfüllt. Patienten lagen auf den Böden. Die Flure waren gedrängt voll, Krankenschwestern, von denen viele sichtlich selbst krank waren, eilten hin und her, manche weinten hysterisch, andere schienen bis fast zum Koma unter Schock zu stehen. Aufnahmen von Soldaten, die mit gezückten Waffen an Straßenecken standen. Aufnahmen von Gebäuden, in die eingebrochen worden war. Bob Palmer erschien wieder. »Wenn Sie Kinder haben, meine Damen und Herren, dann geben wir Ihnen jetzt den Rat, sie aus dem Zimmer zu schicken.« Die körnige Aufnahme eines Lastwagens, eines großen, olivfarbenen Armeelastwagens, der auf einen Pier im Charles River fuhr. Darunter schwankte unruhig eine mit Segeltuchplanen bedeckte Barke. Zwei Soldaten, denen Gasmasken ein fremdartiges, bedrohliches Aussehen verliehen, sprangen aus dem Führerhaus des Lastwagens. Das Bild wackelte, dann wurde es wieder ruhig, als sie die Plane am Heck des Lastwagens hochzogen. Sie sprangen hinein und warfen Leichen von der Ladefläche auf den Boden: Frauen, alte Männer, Kinder, Polizisten, Krankenschwestern; eine grausige Sturzflut, die nicht aufzuhören schien. Im Verlauf des Filmausschnitts wurde deutlich, daß die Soldaten sie mit Mistgabeln hinauswarfen. Palmer sendete zwei Stunden lang weiter. Mit zunehmend heiserer Stimme verlas er Meldungen, Berichte und interviewte andere Mitglieder seines Teams. Es ging so lange, bis jemand im Erdgeschoß dahinterkam, daß man nicht den sechsten Stock zurückerobern mußte, um der Sache ein Ende zu machen. Um 11.16 Uhr wurde der Sender von WBZ mit zwanzig Pfund Plastiksprengstoff endgültig lahmgelegt. Palmer und die anderen im sechsten Stock wurden allesamt wegen Hochverrats an der Regierung der Vereinigten Staaten hingerichtet. Es handelte sich um eine wöchentliche Kleinstadtzeitung in West Virginia mit Namen Durbin Call-Clarion, die von einem Anwalt im Ruhestand namens James D. Hogliss herausgegeben wurde und deren Auflage immer gut war, weil Hogliss Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre nachdrücklich für das Recht der Minenarbeiter, sich zu organisieren, eingetreten war und weil seine Anti-Establishment-Leitartikel immer voller Zündstoff waren, Marschflugkörper, die er gegen Regierungshandlanger auf allen Ebenen abfeuerte, von den städtischen bis zu den Bundesbehörden. Hogliss hatte eine Anzahl regelmäßiger Zeitungsausträger, aber an diesem klaren Sommermorgen fuhr er die Zeitung persönlich mit seinem 1948er Cadillac aus, dessen breite Weißwandreifen durch die Straßen von Durbin flüsterten ... und diese Straßen waren beängstigend verlassen. Die Zeitungen stapelten sich auf den Sitzen des Cadillacs und im Kofferraum. Es war nicht der übliche Erscheinungstag des Call-Clarion, aber die Zeitung bestand ohnedies nur aus einem einzigen, groß gesetzten Blatt in schwarzer Umrandung. Ganz oben stand das Wort EXTRA -AUSGABE, und es war die erste Extraausgabe, die Hogliss seit 1980 herausbrachte, als die Ladybird-Mine explodiert war und vierzig Minenarbeiter für alle Zeiten unter Felsmassen begraben hatte. Die Schlagzeile lautete: REGIERUNGSTRUPPEN VERSUCHEN, SEUCHENAUSBRUCH ZU VERTUSCHEN! Darunter: »Sondermeldung für den Call-Clarion von James D. Hogliss.« Und darunter: »Unserem Reporter wurde aus zuverlässiger Quelle mitgeteilt, daß die Grippeepidemie (die hier in West Virginia manchmal Röchelkrankheit oder Schleimtod genannt wird) in Wirklichkeit eine von der Regierung gezüchtete tödliche Mutation des normalen Grippevirus ist, die zur biologischen Kriegführung dienen sollte und damit in krassem Widerspruch zur revidierten Genfer Konvention steht, welche Repräsentanten der Vereinigten Staaten vor sieben Jahren unterzeichnet haben. Der Informant, ein jetzt in Wheeling stationierter Offizier der Armee, erklärte außerdem, dass Versprechungen eines in Kürze zur Verfügung stehenden Impfstoffs schamlose Lügen seien. Unserem Informaten zufolge wurde noch kein Impfstoff entwickelt. Mitbürger, dies ist mehr als eine Katastrophe oder Tragödie, es bedeutet das Ende jeglichen Vertrauens in unsere Regierung. Sollten wir uns dies tatsächlich selbst eingebrockt haben, dann...« Hogliss war krank und sehr schwach. Er schien beim Abfassen des Artikels seine letzten Kraftreserven verbraucht zu haben. Sie waren aus ihm in die Worte geflossen und nicht wieder ersetzt worden. Seine Bronchien waren verschleimt, und selbst beim normalen Atmen war ihm zumute, als würde er bergauf laufen. Dennoch ging er methodisch vor, fuhr von Haus zu Haus und hinterließ eine Sonderausgabe, ohne überhaupt zu wissen, ob die Häuser noch bewohnt waren, und wenn, ob die Bewohner noch genügend Kraft hatten, herauszukommen und sich seine Mitteilung zu holen. Schließlich kam er zum westlichen Stadtteil, dem Elendsviertel mit seinen Hütten und Wohnwagen und dem stechenden Geruch von Desinfektionsmitteln. Jetzt hatte er nur noch den Kofferraum mit Zeitungen, den er offenließ, so daß die Klappe auf und ab wippte, wenn er über Straßenunebenheiten fuhr. Er versuchte, mit beängstigenden Kopfschmerzen fertig zu werden, und vor seinen Augen verschwamm immer wieder die Umgebung. Als er das letzte Haus versorgt hatte, eine halbverfallene Hütte nahe Rack's Crossing, der Stadtgrenze, hatte er immer noch ein Bündel mit etwa fünfundzwanzig Zeitungen. Er schnitt mit seinem alten Taschenmesser die Schnur durch, mit der sie zusammengebunden waren, und ließ sie vom Wind dorthin wehen, wohin es dem Wind gefiel, wobei er an seinen Informanten dachte, einen Major mit dunklen, gequälten Augen, der erst vor drei Monaten von einem streng geheimen >Probjekt Blau< in Kalifornien abkommandiert worden war. Der Major hatte Sicherheitsaufsicht im Außenbereich gehabt, und er fingerte ständig an der Pistole an der Hüfte herum, während er Hogliss alles erzählte, was er wußte. Hogliss dachte, es würde nicht mehr lange dauern, bis der Major von der Waffe Gebrauch machen würde, wenn er es nicht schon getan hatte. Er kletterte wieder hinter das Lenkrad seines Cadillac, das einzige Auto, das er je besessen hatte, seit er siebenundzwanzig Jahre alt gewesen war, und stellte fest, daß er zu müde war, um in die Stadt zurückzufahren. Daher lehnte er sich schläfrig zurück, lauschte dem Rasseln in der Brust und sah zu, wie der Wind seine Extraausgabe träge die Straße entlang Richtung Rack's Crossing wehte. Manche Zeitungen waren in den Zweigen von Bäumen hängengeblieben und sahen aus wie seltsame Früchte. Er konnte das Rauschen und Blubbern des Durbin Stream in der Nähe hören, wo er als Junge geangelt hatte. Heute gab es nat ürlich keine Fische mehr darin - dafür hatten die Kohlefirmen gesorgt -, aber das Geräusch war immer noch beruhigend. Er machte die Augen zu, schlief ein und starb anderthalb Stunden später. Die Los Angeles Times druckte nur 26000 Exemplare ihrer aus einer Seite bestehenden Sonderausgabe, bis die diensthabenden Offiziere herausfanden, daß es sich nicht um eine Werbebeilage handelte, wie es geheißen hatte. Die Strafe war rasch und blutig. Offizielle Verlautbarungen des FBI verkündeten, daß »radikale Revolutionäre«, die alterprobten Buhmänner, einen Bombenanschlag auf das Büro der L. A. Times verübt hatten, bei dem achtundzwanzig Mitarbeiter ums Leben gekommen waren. Das FBI mußte nicht erklären, wie die achtundzwanzig Mitarbeiter bei der Explosion sämtlich eine Kugel in den Kopf bekommen konnten, denn die Opfer wurden zusammen mit Tausenden anderen, Opfer der Epidemie, im Meer versenkt. Aber 10000 Exemplare gelangten in Umlauf, und das genügte. Die Schlagzeile, in einer 36-Punkt-Schrift, verkündete schreiend: WESTKÜSTE IM GRIFF DER SEUCHENEPIDEMIE Tausende fliehen vor der tödlichen Supergrippe Vertuschungsversuch der Regierung steht fest LOS ANGELES - Zahlreiche Soldaten, die während der momentan andauernden Tragödie aushelfen und sich als Angehörige der Nationalgarde ausgeben, sind Berufssoldaten mit zum Teil mehr als vierzig Dienstjahren. Teil ihrer Aufgabe ist es, den besorgten Einwohnern von Los Angeles weiszumachen, daß die Supergrippe, die unter Jugendlichen in weiten Gebieten »Captain Trips« genannt wird, »nur unwesentlich gefährlicher als die Hong-Kong- oder London-Grippe« ist. Dann aber stellt sich die Frage, warum die angeblichen Nationalgardisten permanent Atemschutzgeräte tragen. Der Präsident soll heute abend um 18.00 Uhr Pacific Standard Time eine Rede halten, und sein Pressesprecher Hubert Ross bezeichnete Berichte, wonach der Präsident zwar vor der Kulisse des Oval Office sprechen wird, diese aber in Wahrheit im Bunker des Weißen Hauses nachgebaut worden sei, als »hysterisch, gemein und völlig unbegründet«. Vorabausgaben der Rede zeigen, daß der Präsident die amerikanische Bevölkerung aufgrund übertriebener Reaktionen »schelten« und die momentan herrschende Panik mit der vergleichen wird, die in den dreißiger Jahren von Orson Welles' Hörspiel »Krieg der Welten« ausgelöst wurde. Die Times hat fünf Fragen, die der Präsident in seiner Rede beantworten sollte: 1. Warum wird die Times von Schlägern in Armeeuniform daran gehindert, die Nachrichten zu drucken, was eine grobe Verletzung ihrer Verfassungsmäßigen Rechte bedeutet? 2. Warum wurden folgende Straßen - US 5, US 10 und US 15 - von bewaffneten Fahrzeugen und Truppentransportern abgeriegelt? 3. Wenn es sich tatsächlich nur um eine »unbedeutende Grippeepidemie« handelt, warum wurde dann über die ganze Umgebung von Los Angeles der Notstand verhängt? 4. Wenn es sich tatsächlich um eine »unbedeutende Grippeepidemie« handelt, warum werden dann ganze Wagenladungen auf den Pazifik hinausgefahren und ins Meer gekippt? Transportieren diese Wagen und Schiffe tatsächlich das, was wir befürchten und uns aus gut unterrichteten Kreisen bestätigt wird - die Leichen von Grippeopfern? 5. Zuletzt, wenn wirklich Anfang nächster Woche ein Impfstoff an die Ärzte und Krankenhäuser der Gegend ausgeliefert werden soll, wie kommt es dann, daß kein einziger der sechsundvierzig Ärzte, mit denen diese Zeitung Verbindung aufgenommen hat, irgendwelche Einzelheiten über einen Verteilungsplan gehört hat? Warum ist nicht eine einzige Klinik darauf vorbereitet, Grippeschutzimpfungen durchzuführen? Warum hat nicht eine einzige von zehn pharmazeutischen Großfirmen, die wir angerufen haben, Lieferscheine oder Regierungsinformationen über diesen Impfstoff erhalten? Wir fordern den Präsidenten auf, diese Fragen in seiner Rede zu beantworten, aber vor allem verlangen wir von ihm, daß er die Polizeistaat-Methoden und die aberwitzigen Versuche unterbindet, die Wahrheit zu vertuschen... In Duluth ging ein Mann in Khaki-Shorts und Sandalen, der sich die Stirn dick mit Asche beschmiert hatte und ein handbeschriftetes Sandwich-Pl akat über den mageren Schultern trug, die Piedmont Avenue auf und ab. Auf der Vorderseite stand: DIE ZEIT DER ABRECHNUNG IST GEKOMMEN CHRIST UNSER HERR WIRD BALD WIEDERKEHREN SEID BEREIT VOR EUREN GOTT ZU TRETEN! Auf der Rückseite stand: SIEHE DIE HERZEN DER SÜNDER SIND GEBROCHEN WER SICH SELBST ERHÖHT DER SOLL ERNIEDRIGT WERDEN UND WER SICH SELBST ERNIEDRIGT DER SOLL ERHÖHT WERDEN DIE TAGE DES BÖSEN SIND ANGEBROCHEN WEHE DIR O ZION Vier junge Männer in Motorradjacken, alle mit einem heftigen Husten und triefenden Nasen, fielen über den Mann mit den Khaki-Shorts her und schlugen ihn mit seinem eigenen Sandwich-Plakat bewußtlos. Dann flohen sie, und einer brüllte hysterisch über die Schulter zurück: »Das wird dich lehren, den Leuten angst zu machen! Das wird dich lehren, den Leuten angst zu machen, du Spinner!« Die Vormittagssendung mit den höchsten Einschaltquoten in Springfield, Missouri, war die von KLFT ausgestrahlte morgendliche Telefon-Show »Speak your Piece« mit Ray Flowers. Er hatte sechs Telefonleitungen in seiner Studio-Kabine, und am Morgen des 26. Juni war er der einzige KLFT-Angestellte, der zur Arbeit erschienen war. Er wußte, was draußen in der Welt vor sich ging, und es machte ihm angst. Seit etwa einer Woche schien es Ray, als wären alle Leute, die er kannte, krank geworden. In Springfield waren keine Truppen, aber er hatte gehört, die Nationalgarde sei nach K.C. und nach St. Louis gerufen worden, um der »um sich greifenden Panik« entgegenzuwirken und »Plünderungen zu verhindern«. Ray Flowers selbst fühlte sich ausgezeichnet. Er betrachtete nachdenklich seine Ausrüstung - Telefone, Zeitverzögerung, um die Anrufer zu schneiden, die ab und zu Schimpfworte von sich gaben, jede Menge Werbespots auf Cassette (»Wenn die Toilette überquillt - Und niemand das Schlamassel stillt - Ist der Mann mit dem Schlauch parat - Der Kleen-Owt-Mann weiß Rat!«), und natürlich das Mikro. Er zündete eine Zigarette an, ging zur Studiotür und schloß sie ab. Er ging in seine Kabine und schloß diese ebenfalls ab. Er schaltete die Musik vom Band aus, spielte dafür seine eigene Erkennungsmelodie ein und setzte sich ans Mikrophon. »Hallo Leute«, sagte er, »hier ist Ray Flowers mit >Speak your Piece<, und ich glaube, heute morgen können wir uns nur über eines unterhalten, oder? Ob wir es nun Schleimtod oder Supergrippe oder Captain Trips nennen, es ist immer dasselbe gemeint. Ich habe Schreckensmeldungen gehört, daß die Armee alles niederknüppelt, und wenn Sie darüber sprechen wollen, höre ich gern zu. Dies ist immer noch ein freies Land, richtig? Und da ich hier heute morgen allein bin, werden wir es ein wenig anders machen als sonst. Ich denke, wir können heute auf die Werbung verzichten. Wenn das Springfield, das Sie sehen, so aussieht wie das Springfield, das ich aus den Fenstern von KLFT sehe, scheint ohnehin niemand Lust zum Einkaufen zu haben. Okay, wenn Sie wach und munter sind, wie meine Mutter immer sagte, können wir anfangen. Unsere gebührenfreien Nummern sind 656-8600 und 656-8601. Wenn besetzt sein sollte, haben Sie bitte Geduld. Vergessen Sie nicht, ich muß alles allein machen.« In Carthage, fünfzig Meilen von Springfield entfernt, lag eine ArmeeEinheit, und ein Kommando von zwanzig Mann wurde losgeschickt, die sich um Ray Flowers kümmern sollten. Zwei Mann verweigerten den Befehl. Sie wurden auf der Stelle erschossen. In der Stunde, die sie brauchten, um Springfield zu erreichen, nahm Ray Flowers Gespräche entgegen von: einem Arzt, der sagte, dass die Menschen wie die Fliegen wegstarben und die Regierung seines Erachtens dreist log, was den Impfstoff betraf; einer Krankenschwester, die bestätigte, daß aus den Krankenhäusern in Kansas City Leichen lastwagenweise weggeschafft wurden; einer Frau im Delirium, die behauptete, fliegende Untertassen aus dem Weltraum wären an allem schuld; einem Farmer, der sagte, daß eine Armeeeinheit südlich von Kansas City in der Nähe der Route 71 mit Schaufelbaggern einen verdammt langen Graben ausgehoben hätte; sechs oder sieben weiteren Anrufern, die ihre Geschichten erzählten. Dann wurde donnernd an die Studiotür gepocht. »Aufmachen!« schrie eine gedämpfte Stimme. »Im Namen der Vereinigten Staaten, aufmachen!« Ray sah auf die Uhr. Viertel vor zwölf. »Nun«, sagte er, »sieht so aus, als wären die Marines gelandet. Aber wir werden weitere Gespräche annehmen, nicht w...« Dann rasselte ein Feuerstoß aus einem automatischen Gewehr, und der Griff der Studiotür polterte auf den Teppich. Blauer Rauch zog durch das gezackte Loch. Die Tür wurde nach innen aufgestoßen, und ein halbes Dutzend Soldaten mit Atemmasken und Kampfanzügen stürmten herein. »Mehrere Soldaten sind soeben in das äußere Büro eingedrungen«, sagte Ray. »Sie sind schwerbewaffnet... sie sehen aus, als wollten sie wie vor fünfzig Jahren in Frankreich anfangen aufzuräumen. Abgesehen von den Atemmasken vor ihren Gesichtern...« »Schluß jetzt!« schrie ein Mann mit Sergeantenstreifen an den Ärmeln. Er stand vor der verglasten Studiokabine und gestikulierte mit dem Gewehr. »Ich denke nicht daran«, rief Ray zurück. Ihm war kalt, und als er die Zigarette aus dem Aschenbecher fischte, sah er, daß seine Hände zitterten. »Dieser Sender hat eine Lizenz der Bundesmedienkommission FCC, und ich werde...« »Ich setze Ihre Scheißlizenz außer Kraft! Und jetzt hören Sie auf!« »Ich denke nicht daran«, sagte Ray noch einmal und nahm wieder das Mikrofon. »Meine Damen und Herren, man hat mir befohlen, den Sender KLFT abzuschalten, und ich habe diesen Befehl selbstverständlich nicht befolgt. Diese Männer benehmen sich wie Nazis, nicht wie amerikanische Soldaten. Ich werde nicht...« »Letzte Chance!« Der Sergeant hob das Gewehr. »Sergeant«, sagte einer der Soldaten an der Tür, »Sie können nicht einfach ...« »Wenn der Mann noch ein Wort sagt, pusten wir ihn weg«, sagte der Sergeant. »Ich glaube, sie werden mich erschießen«, sagte Ray Flowers, und im nächsten Augenblick splitterte das Glas der Studiokabine nach innen, und er sank über seinem Schaltpult zusammen. Von irgendwoher kam ein schreckliches Rückkoppelungspfeifen, das immer schriller wurde. Der Sergeant feuerte sein ganzes Magazin auf das Schaltpult ab, und die Rückkoppelung hörte auf. Die Kontrollampen der Konsole blinkten weiter. »Okay«, sagte der Sergeant und drehte sich um. »Ich will um ein Uhr wieder in Carthage sein, und ich habe keine Lust...« Drei seiner Männer eröffneten gleichzeitig das Feuer auf ihn, einer mit einem rückstoßfreien Gewehr, das siebzig Gasprojektile pro Sekunde abfeuerte. Der Sergeant begann einen zuckenden schlurfenden Todestanz und stürzte zwischen die zertrümmerten Reste der Kabinenscheibe. Ein Bein zuckte, und sein Kampfstiefel fegte Glassplitter aus dem Türrahmen. Ein Gefreiter mit Pickeln im käsigen Gesicht brach in Tränen aus. Die anderen standen nur ungläubig staunend daneben. Korditgestank hing dicht und stechend in der Luft. »Wir haben ihn abgeknallt!« schrie der Gefreite hysterisch. »Großer Gott, wir haben Sergeant Peters abgeknallt!« Niemand antwortete. Ihre Gesichter waren immer noch starr und ungläubig, aber später sollten sie sich noch wünschen, sie hätten es früher getan. Das alles war ein tödliches Spiel, aber es war nicht ihr Spiel. Das Telefon, das Ray Flowers kurz vor seinem Tod in die Verstärkergabel gehängt hatte, gab quäkende Geräusche von sich. »Ray? Sind Sie da, Ray?« Die Stimme klang müde und näselnd. »Ich höre immer Ihre Sendung, ich und mein Mann, und wir wollten Ihnen nur sagen, machen Sie weiter so und lassen Sie sich nicht einschüchtern. Okay, Ray? Ray?... Ray?...« MITTEILUNG Z34 ZONE 2 GEHEIM VERNICHTEN VON: LANDON ZONE 2 NEW YORK AN: BEFEHLSHABER CREIGHTON BETR: OPERATION KARNEVAL ZUR LAGE: NEW YORKER ABSPERRUNG NOCH INTAKT BESEITIGUNG DER LEICHEN GEHT VORAN STADT RELATIV RUHIG X COVER STORY WIRD SCHNELLER ALS ERWARTET ENTTARNT, ABER BISLANG KEINE REAKTIONEN DER BEVÖLKERUNG, MIT DENEN WIR NICHT FERTIGWERDEN WÜRDEN SUPERGRIPPE HÄLT DIE MEISTEN IN DEN HÄUSERN XX NEUESTE SCHÄTZUNG: 50% DER TRUPPE AN DEN BARRIKADEN AN ZUFAHRTS/AUSFAHRTSPUNKTEN [GEORGE WASHINGTON BRIDGE TRIBOROUGH BRIDGE BROOKLYN BRIDGE LINCOLN UND HOLLAND TUNNELS PLUS EINGESCHRÄNKTE ZUFAHRTSSTRASSEN IN DEN AUSSENBEZIRKEN] JETZT AN SUPERGRIPPE ERKRANKT DIE MEISTEN SOLDATEN NOCH AKTIVER PFLICHTERFÜLLUNG FÄHIG UND DIENSTBEREIT XXX DREI FEUER IN DER STADT AUSSER KONTROLLE HARLEM 5TH AVENUE SHEA STADIUM XXXX UNERLAUBTES ENTFERNEN VON DER TRUPPE ALLMÄHLICH GRÖSSERES PROBLEM DESERTEURE WERDEN JETZT STANDRECHTLICH ERSCHOSSEN XXXXX PERSÖNLICHER EINDRUCK: SITUATION IST IMMER NOCH KONTROLLIERBAR ABER ZUNEHMEND AUFLÖSUNGSERSCHEINUNGEN XXXXXX ENDE KOMMUNIKATION LANDON ZONE 2 NEW YORK In Boulder, Colorado, verbreitete sich das Gerücht, das Meteorologische US-Testzentrum wäre in Wirklichkeit eine Einrichtung zur Entwicklung biologischer Waffen. Ein Discjockey des UKW-Senders in Denver erwähnte das Gerücht im Delirium. Am Abend des 26. Juni gegen elf Uhr begann ein lemminggleicher Exodus aus Boulder. Aus Denver-Arvada wurde eine Kompanie Soldaten entsandt, um den Flüchtlingsstrom aufzuhalten, aber es war, als hätte man einen Mann mit einem Reisigbesen beauftragt, den Stall des Augias zu reinigen. Mehr als elftausend Zivilisten - krank, verängstigt und nur von dem Gedanken erfüllt, möglichst viele Meilen zwischen sich und das Meteorologische Testzentrum zu bringen - überrollten sie. Tausende weitere Einwohner Boulders flohen in andere Himmelsrichtungen. Um Viertel nach elf erhellte am Broadway, wo das Meteorologische Testzentrum seinen Sitz hatte, eine donnernde Explosion die Nacht. Ein junger Radikaler namens Desmond Ramage hatte mehr als sechzehn Pfund Plastiksprengstoff, der ursprünglich für verschiedene Gerichts- und Parlamentsgebäude im Mittleren Westen bestimmt gewesen war, in der Lobby des MTZ deponiert. Der Sprengstoff war gut; der Zünder war schlecht. Ramage wurde zusammen mit allen möglichen harmlosen Geräten für meteorologische Forschung und Instrumenten, mit denen der genaue Grad der Luftverschmutzung ermittelt werden konnte, in die Luft gesprengt. Derweil ging der Exodus aus Boulder weiter. MITTEILUNG 771 ZONE 6 GEHEIM VERNICHTEN VON: GARETH ZONE 6 LITTLE ROCK AN: BEFEHLSHABER CREIGHTON BETR: OPERATION KARNEVAL ZUR LAGE: BRODSKY NEUTRALISIERT WIEDERHOLE BRODSKY NEUTRALISIERT WURDE HIER IN EINEM KRANKENHAUS GEFUNDEN ANGEKLAGT UND ANSCHLIESSEND WEGEN HOCHVERRATS AN DEN VEREINIGTEN STAATEN HINGERICHTET VERSCHIEDENE BEHANDELTE HABEN VERSUCHT, SICH EINZUMISCHEN 14 ZIV ILISTEN ANGESCHOSSEN, 6 GETÖTET 3 MEINER MÄNNER VERWUNDET, KEINER ERNSTHAFT X STREITKRÄFTE ZONE 6 IN DIESEM GEBIET ARBEITEN NUR MIT 40% KAPAZITÄT SCHÄTZUNGSWEISE 25% DER NOCH DIENSTAKTIVEN AN SUPERGRIPPE ERKRANKT 15% DESERTIERT XX ERNSTHAFTESTER ZWISCHENFALL HINSICHTLICH KONTINGENTSPLAN F WIE FRANK XXX SERGEANT T. L. PETERS STATIONIERT CARTHAGE MO. BEI NOTEINSATZ SPRINGFIELD MO. OFFENBAR VON DEN EIGENEN MÄNNERN HINGERICHTET XXXX ANDERE ÄHNLICHE ZWISCHENFÄLLE MÖGLICH ABER NICHT BESTÄTIGT SITUATION GERÄT ZUSEHENDS AUSSER KONTROLLE XXXXX ENDE KOMMUNIKATION GARETH ZONE 6 LITTLE ROCK Als sich der Abend über den Himmel ausbreitete wie ein mit Äther betäubter Patient auf dem Operationstisch, gingen zweitausend Studenten der Kent State University in Ohio auf den Kriegspfad - mit Volldampf. Die zweitausend Aufständischen setzten sich aus Sommer-Erstsemesterstudenten zusammen, aus Teilnehmern eines Symposiums über die Zukunft des Collegejournalismus, einhundertundzwanzig Mitgliedern eines Theaterworkshops und zweihundert Angehörigen der Future Farmers of America, Sektion Ohio, deren Hauptversammlung zufällig mit dem von der Supergrippe entfachten Steppenbrand zusammenfiel. Sie alle waren seit dem 22. Juni, vor vier Tagen also, auf dem Campus eingepfercht. Nachfolgend die Niederschrift des Funkverkehrs über Polizeifunk in der Gegend im Zeitraum zwischen 7.16 und 7.26 Uhr. »Einheit 16, Einheit 16, hört ihr mit? Ende.« »Ja, hören mit, Einheit 20 Ende.« »Äh, wir haben hier eine Horde Jugendlicher, die Richtung Einkaufszentrum kommen. Etwa siebzig Mann hoch, würde ich sagen, und... ah, aufpassen, Einheit 16, eine weitere Gruppe kommt aus der anderen Richtung... mein Gott, die scheint aus zweihundert Leuten oder mehr zu bestehen. Ende.« »Einheit 20, hier Basis. Hören Sie mit? Ende.« »Wir können Sie gut verstehen, Basis. Ende.« »Ich schicke Chumm und Halliday rüber. Versperrt die Straße mit eurem Wagen. Sonst nichts unternehmen. Wenn sie über euch kommen, macht die Beine breit und genießt es. Kein Widerstand, verstanden? Ende.« »Bestätige, kein Widerstand, Basis. Was machen die Soldaten an der Ostseite des Einkaufszentrums, Basis? Ende.« »Was für Soldaten? Ende.« »Das frage ich euch, Basis. Sie sind...« »Basis, hier Dudley Chumm. Ach, Scheiße, hier Einheit 12. Tut mir leid, Basis. Eine Bande Jugendlicher kommt den Burrows Drive herunter. Schätzungsweise hundertfünfzig. Ziel Einkaufszentrum. Singen oder frohlocken oder so was. Aber Cap, mein Gott, wir sehen auch Soldaten. Ich glaube, sie tragen Gasmasken. Sie scheinen in Gefechtslinie zu gehen. Ende.« »Basis an Einheit 12. Unterstützt Einheit 20 beim Einkaufszentrum. Dieselben Anweisungen. Kein Widerstand. Ende.« »Verstanden, Basis. Bin schon unterwegs. Ende.« »Basis, hier Einheit 17. Hier spricht Halliday, Basis. Hört ihr mit? Ende.« »Ich höre mit, 17. Ende.« »Ich bin hinter Chumm. Weitere zweihundert Jugendliche kommen aus Osten und Westen zum Zentrum. Sie haben Transparente, wie in den Sechzigern. Auf einem steht SOLDATEN, WERFT DIE WAFFEN WEG. Ich sehe ein anderes, darauf steht DIE WAHRHEIT, DIE GANZE WAHRHEIT UND NICHTS ALS DIE WAHRHEIT. Sie...« »Mir ist scheißegal, was auf den Transparenten steht, Einheit 17. Gehen Sie mit Chumm und Peters hin und sperren Sie die Straße. Sieht nach einer Massenveranstaltung aus. Ende.« »Verstanden. Ende und aus.« »Hier spricht Campus-Sicherheitsbeauftragter Richard Burleigh, ich spreche zum Befehlshaber der Streitkräfte am Südrand des Campus. Wiederhole: Dies ist Campus-Sicherheitsbeauftragter Burleigh. Ich weiß, daß Sie unseren Funkverkehr überwachen, also ersparen Sie mir bitte das Flehen und Herummachen und melden Sie sich. Ende.« »Hier spricht Oberst Albert Philips, US-Armee. Wir hören Sie, Chief Burleigh. Ende.« »Basis, hier Einheit 16. Die Jugendlichen versammeln sich am Kriegerdenkmal. Sie scheinen gegen die Soldaten vorzugehen. Sieht übel aus. Ende.« »Hier spricht Burleigh, Oberst Philips. Bitte bekunden Sie Ihre Absichten. Ende.« »Meine Befehle lauten, die auf dem Campus Anwesenden dort festzuhalten. Ich habe nur die Absicht, diesen Befehl zu befolgen, nichts sonst. Wenn diese Bengel nur demonstrieren, passiert ihnen nichts. Wenn sie aber versuchen, vom Campus auszubrechen, geht es ihnen schlecht. Ende.« »Sie meinen doch nicht...« »Ich meine, was ich gesagt habe, Burleigh. Ende und aus.« »Philips! Philips! Antworten Sie mir, verdammt! Das da draußen sind keine kommunistischen Guerillas! Es sind Jugendliche! Amerikanische Jugendliche! Sie sind unbewaffnet. Sie...« »Einheit 13 an Basis. Äh, diese Jugendlichen marschieren direkt auf die Soldaten zu, Cap. Sie winken mit den Spruchbändern. Singen dieses Lied. Das von dieser Fotze Baez, von wegen >overcome< und so. Ach du Scheiße, ich glaube, ein paar werfen Steine. Sie... O Gott! O mein Gott! Das können die doch nicht machen!« »Basis an Einheit 13! Was ist da draußen los? Was passiert?« »Hier ist Chumm, Dick. Ich will Ihnen sagen, was passiert. Ein Gemetzel. Ich wünschte, ich wäre blind. Diese Drecksäcke! Sie... äh, sie mähen die Kids einfach um. Mit Maschinengewehren, wie es aussieht. Soweit ich das sagen kann, erfolgte keine Warnung. Diejenigen, die noch stehen, äh, fliehen in alle Himmelsrichtungen. O nein, nein, nein! Ich habe gerade gesehen, wie ein Mädchen von MG-Feuer in zwei Teile zerschnitten wurde! Blut... es müssen siebzig, achtzig Jugendliche da draußen auf dem Gras liegen. Sie...« »Chumm! Kommen! Kommen, Einheit 12!« »Basis, hier Einheit 17. Hören Sie mich? Ende.« »Verdammt, ja, ich höre Sie, aber wo ist der beschissene Chumm? Ende, verdammt noch mal!« »Chumm... und Halliday, glaube ich... sind aus den Autos ausgestiegen, damit sie besser sehen können. Wir kommen zurück, Dick. Es sieht jetzt so aus, als würden sich die Soldaten gegenseitig erschießen. Ich weiß nicht, wer gewinnt, und es ist mir auch gleich, denn wahrscheinlich werden sie sich anschließend über uns hermachen. Wenn unsere Leute, die zurückkehren können, tatsächlich zurückkehren, sollten wir uns meiner Meinung nach im Keller einschließen und abwarten, bis die Verrückten hier ihre Munition verschossen haben. Ende.« »Ihr könnt doch nicht...« »Die Schießerei hält immer noch an, Dick. Kein Witz. Ende, aus.« Fast während der gesamten oben wiedergegebenen Unterhaltung kann der Zuhörer im Hintergrund leise knallende Laute hören, so ähnlich wie Kastanien in einem heißen Feuer. Man kann auch leise Schreie hören... und, während der letzten vierzig Sekunden oder so, das dumpfe, schwere Poltern von detonierenden Mörsergranaten. Nachfolgend die Niederschrift eines Gesprächs, geführt auf speziellem Hochfrequenzfunkband in Südkalifornien. Die Niederschrift umfaßt den Zeitraum zwischen 7.17 und 7.20 Uhr PST. »Massingill, Zone 10. Sind Sie da, Basis Blau? Diese Nachricht hat Kode Annie Oakley, Priorität-plus-10. Kommen, wenn Sie uns hören. Ende.« »Hier spricht Len, David. Ich glaube, wir können auf den Jargon verzichten. Es hört eh niemand mit.« »Es ist außer Kontrolle, Len. Alles. L.A. geht in Flammen auf. Die ganze Scheißstadt und alles drum rum. Meine Männer sind entweder krank oder rebellieren oder sind desertiert oder plündern zusammen mit der verdammten Zivilbevölkerung. Ich bin im Skylight Room der Bank of America, Hauptgebäude. Unten wollen mehr als sechshundert Leute herein und mir an den Kragen. Die meisten sind Soldaten.« »Alles fällt auseinander. Das Zentrum hält nicht fest.« »Bitte wiederholen. Habe nicht verstanden.« »Macht nichts. Können Sie raus?« »Nein! Aber ich werde dem ersten Abschaum, der reinkommt, eine Lektion erteilen. Ich habe ein rückstoßfreies Gewehr! Dreckiger Abschaum!« »Viel Glück, David.« »Ihnen auch. Halten Sie die Stellung, solange Sie können.« »Werd's versuchen.« »Ich bin nicht sicher...« An diesem Punkt endet die verbale Kommunikation. Man hört einen splitternden, krachenden Laut, das Kreischen von Metall, Klirren berstenden Glases. Viele Stimmen, die durcheinanderschreien. Handfeuerwaffen, dann sehr nahe am Funkgerät, so nahe, daß es stört, die donnernden Explosionen eines rückstoßfreien Gewehrs. Die schreienden, gellenden Stimmen kommen näher. Man hört das Heulen eines Querschlägers, einen Schrei dicht am Funkgerät, ein Poltern, dann Stille. Nachfolgend die Niederschrift des Funkverkehrs auf der regulären Armeefrequenz in San Francisco. Der Zeitraum der Niederschrift liegt zwischen 7.28 und 7.30 Uhr PST. »Soldaten und Brüder! Wir haben die Funkzentrale und das HQ des Befehlshabers eingenommen! Eure Unterdrücker sind tot! Ich, Bruder Zeno, vor wenigen Minuten noch Sergeant First Class Robert Gibbs, erkläre mich hiermit zum ersten Präsidenten der unabhängigen Republik Nordkalifornien! Wir haben die Macht! Wir haben die Macht! Wenn die Offiziere im Feld versuchen, sich meinen Befehlen zu widersetzen, erschießt sie wie streunende Köter! Wie Hunde! Wie Hündinnen, an deren Fell die Scheiße trocknet! Schreibt Name, Dienstgrad und Dienstnummer von Deserteuren auf! Meldet alle, die sich verräterisch gegen die Republik Nordkalifornien äußern! Ein neuer Tag bricht an! Die Tage der Unterdrücker sind gezählt! Wir haben...« Knattern von Maschinengewehrfeuer. Schreie. Poltern und Prasseln. Pistolenschüsse, neuerliche Schreie, eine gedehnte Maschinengewehrsalve. Ein langer Sterbeseufzer. Drei Sekunden Stille. »Hier spricht Major Alfred Nunn, Armee der Vereinigten Staaten. Ich übernehme den provisorischen und vorübergehenden Oberbefehl über die Truppen der Vereinigten Staaten in der Region San Francisco. Die Handvoll Verräter in diesem HQ wurden liquidiert. Ich habe den Oberbefehl, wiederhole, ich habe den Oberbefehl. Die Operation wird fortgesetzt. Bei Deserteuren und Verrätern weiter vorgehen wie gehabt: äußerste Vorsicht, wiederhole, äußerste Vorsicht. Ich bin jetzt...« Erneutes Gewehrfeuer. Ein Schrei. Hintergrund: »...sie alle! Schnappt sie euch alle! Tod den Kriegshetzern ...« Anhaltendes Gewehrfeuer. Dann Funkstille. Um 9.16 Eastern Standard Time schalteten diejenigen im Gebiet Portland, Maine, die noch so gesund waren, daß sie fernsehen konnten, den Sender WGAN-TV ein und sahen voll betäubtem Entsetzen zu, wie ein hünenhafter Neger, der abgesehen von einem rosa Lendenschurz und der Mütze eines Offiziers der Marines nackt war und offensichtlich krank, eine Serie von zweiundsechzig öffentlichen Hinrichtungen durchführte. Seine Kollegen, ebenfalls schwarz, ebenfalls so gut wie nackt, trugen allesamt Lendenschurze und irgendein Abzeichen, das zeigte, dass sie einmal Armeeangehörige gewesen waren. Sie waren mit automatischen und halbautomatischen Waffen ausgerüstet. In dem Teil, wo das Studiopublikum früher Diskussionen von Lokalpolitikern oder Dialing for Dollars angesehen hatte, hielten weitere Mitglieder dieser schwarzen »Junta« mit Gewehren und Handfeuerwaffen etwa zweihundert in Khaki gekleidete Soldaten in Schach. Der hünenhafte Farbige, der ständig grinste und dabei erstaunlich gleichmäßige weiße Zähne in dem kohlrabenschwarzen Gesicht zeigte, hielt eine automatische Pistole Kaliber 45 in der Hand und stand neben einer großen Glastrommel. In einer Zeit, die bereits längst vergangen schien, hatte diese Trommel Schnipsel zerschnittener Telefonbücher für die Sendung Dialing for Dollars enthalten. Jetzt drehte er die Trommel, zog einen Führerschein heraus und rief: »Gefreiter Franklin Stern, bitte in die Mitte vortreten.« Die bewaffneten Männer, die das Publikum von allen Seiten flankierten, bückten sich und lasen Namensschilder, während ein Kameramann, der offensichtlich neu im Geschäft war, verwackelte, zuckende Aufnahmen der Zuschauer präsentierte. Schließlich wurde ein Mann mit blonden Haaren, kaum älter als neunzehn, unter Schreien und Gegenwehr auf die Füße gezogen und in den Bühnenbereich geführt. Zwei Farbige zwangen ihn auf die Knie. Der Neger grinste, nieste, spuckte Schleim und legte dem Gefreiten Stern die Fünfundvierziger an die Schläfe. »Nein!« schrie Stern hysterisch. »Ich komme mit euch, ich schwöre es bei Gott! Ich...« »Imnamendesvatersunddessohnesunddesheiligengeistes«, intonierte der Neger grinsend und drückte ab. Hinter der Stelle, wo der Gefreite Stern auf die Knie gezwungen worden war, befand sich ein gewaltiger Klecks Blut und Gehirn. Und nun setzte der Farbige noch seinen eigenen Beitrag darauf. Pflatsch. Der Neger nieste erneut und kippte beinahe um. Ein anderer Schwarzer im Regieraum (er trug eine grüne Freizeitmütze mit langem Schild und makellos weiße Unterhosen) drückte auf den APPLAUS-Knopf, und das Zeichen leuchtete vor dem Studiopublikum auf. Die Schwarzen, die Publikum/Gefangene bewachten, hoben drohend die Gewehre, und die festgehaltenen weißen Soldaten, auf deren Gesichtern Schweiß und Entsetzen glitzerten, applaudierten wie von Sinnen. »Der nächste!« verkündete der Neger mit Lendenschurz heiser und griff wieder in die Trommel. Er betrachtete den Papierschnipsel und verkündete: »Master Tech Sergeant Roger Petersen, bitte in die Mitte vortreten!« Ein Mann im Publikum fing an zu heulen und versuchte einen vergeblichen Ausfall Richtung Studiotür. Sekunden später war er auf der Bühne. In der allgemeinen Verwirrung versuchte einer der Männer, das an seinem Hemd festgesteckte Namensschild zu entfernen. Ein Schuß ertönte, und der Mann sackte auf seinem Stuhl zusammen; seine Augen waren glasig, als hätte der schlechte Schuss ihn so gelangweilt, daß er in ein todesgleiches Dösen verfallen war. Dieses Schauspiel ging weiter bis fast Viertel vor elf, als vier Schwadronen regulärer Armeeinheiten mit Atemmasken und Maschinenpistolen ins Studio eindrangen. Die beiden sterbenden Gruppen von Soldaten stürzten sich sofort ins Gefecht. Der schwarze Mann mit dem Lendenschurz fiel fast auf der Stelle; obwohl vom Kugelhagel durchbohrt, schwitzte und fluchte er und feuerte mit seiner automatischen Pistole irre in den Boden. Der Renegat, der Kamera 2 bedient hatte, bekam einen Bauchschuß ab, und als er sich vornüber bückte, um seine herausquellenden Eingeweide festzuhalten, machte die Kamera eine langsame Drehung und zeigte den Zuschauern ein behäbiges Panorama der Hölle. Die halbnackten Wachen erwiderten das Feuer, während die Soldaten mit Atemschutzgeräten gleichgültig ins gesamte Zuschauerfeld schössen. Die unbewaffneten Soldaten in der Mitte mußten feststellen, daß sie nicht gerettet, sondern ihre Hinrichtungen lediglich beschleunigt worden waren. Ein junger Mann mit karottenfarbigem Haar und einem verzerrten, panischen Gesichtsausdruck kletterte über die Lehnen von sechs Stuhlreihen wie ein Zirkuskünstler auf Stelzen, bevor seine Beine von Kugeln Kaliber 45 abgesägt wurden. Andere krochen auf dem Teppichboden der Gänge, die Nasen an den Boden gepreßt, und duckten sich unter dem MG-Feuer, wie man es ihnen in der Grundausbildung beigebracht hatte. Ein alternder Sergeant mit grauem Haar stand mit ausgebreiteten Armen auf, wie ein Quizmaster, und schrie aus vollen Lungen: »STOOOOOOOP!« Heftiges Feuer von beiden Seiten wurde auf ihn eröffnet, und er begann einen Jig-Tanz wie eine auseinanderfallende Puppe. Das Brüllen der Gewehre und die Schreie der Sterbenden und Verwundeten jagte die Audionadel der Studioanzeigen auf +50 dB hoch. Der Kameramann fiel nach vorne über den Griff der Kamerabedienung, so daß die Zuschauer nicht den Rest des Gemetzels, sondern gnädigerweise nur die Studiodecke zu sehen bekamen. Innerhalb von fünf Minuten wurde das konstante Gewehrfeuer zu vereinzelten Explosionen. Dann Stille. Nur die Schreie hielten an. Fünf Minuten nach elf wurde die Studiodecke vom gezeichneten Bild eines Mannes ersetzt, der einen Fernseher anstarrte. Auf dem Fernsehschirm stand zu lesen: BITTE ENTSCHULDIGEN SIE, WIR HABEN PROBLEME! Als sich der Abend dem Ende zuneigte, traf das auf fast alle zu. In Des Moines fuhr um 23.30 CST ein alter Buick, der mit religiösen Stickern vollgeklebt war - darunter HUPEN SIE, WENN SIE JESUS LIEBEN -, unablässig durch die verlassenen Straßen der Innenstadt. An diesem Tag hatte in Des Moines ein Feuer gewütet, das die Südseite der Hüll Avenue und das Grandview Junior College verwüstete; später kam es zu einem Aufstand, in dessen Verlauf der größte Teil der Innenstadt in Trümmer gelegt worden war. Nach Sonnenuntergang waren die Straßen von einer unablässig kreisenden Menge erfüllt gewesen, die meisten unter fünfundzwanzig, viele davon auf Choppern. Sie hatten Schaufenster eingeworfen, Fernseher gestohlen und an verwaisten Tankstellen getankt, während sie nach Leuten mit Gewehren Ausschau gehalten hatten. Jetzt waren die Straßen verlassen. Ein paar - vorwiegend Motorradfahrer - ließen den verbleibenden Dampf auf den Interstate 80 ab. Aber die meisten hatten sich in Häuser verkrochen und die Türen abgeschlossen; sie waren entweder an der Supergrippe erkrankt oder litten Todesangst davor, während sich die Nacht über das flache grüne Land senkte. Jetzt sah Des Moines aus wie die Kulisse nach einer gigantischen Sylvesterfeier, nachdem die letzten betrunkenen Besucher zu Bett gegangen sind. Die Reifen des Buick flüsterten und knirschten über die Glasscherben auf der Straße, während er von der 14ten nach Westen in die Euclid Avenue abbog und dabei an zwei Autos vorbeikam, die frontal zusammengestoßen waren und nun mit ineinander verhakten Stoßstangen auf den Seiten lagen wie ein Liebespaar nach erfolgreichem Doppelselbstmord. Auf dem Dach des Buick war ein Lautsprecher, und dieser gab nun verstärkte Brumm- und Piepstöne von sich, gefolgt vom Kratzen der Anfangsrille einer alten Schallplatte, wenig später dröhnte die liebliche Stimme von Mother Maybelle Carter, die Keep on the Sunny Side sang, durch die geisterhaften, verlassenen Straßen von Des Meines. »Keep on the sunny side,  Always on the sunny side,  Keep on the sunny side of life,  Though your Problems may be many  It will seem you don't have any  If you keep on the sunny side of life...« Der alte Buick fuhr unbeirrt weiter, fuhr Achten, Schleifen, und manchmal umkreiste er denselben Block drei-bis viermal. Wenn er über den Bordstein fuhr (oder einen Toten) hüpfte die Nadel des Plattenspielers. Zwanzig Minuten vor Mitternacht fuhr der Buick an den Bordstein und verharrte im Leerlauf. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Aus dem Lautsprecher dröhnte Elvis Presley mit The Old Rugged Cross, und der Nachtwind wehte durch die Bäume und wirbelte ein letztes Rauchwölkchen aus den schwelenden Ruinen des Junior College auf. Aus der Rede des Präsidenten, gehalten um 21.00 Uhr EST, in den meisten Gegenden nicht empfangen. ».. eine große Nation wie diese tun muß. Wir können es uns nicht leisten, wie kleine Kinder in einem dunklen Zimmer vor jedem Schatten zu erschrecken; aber wir können es uns auch nicht leisten, diesen schweren Ausbruch von Influenza auf die leichte Schulter zu nehmen. Meine amerikanischen Mitbürger, ich bitte Sie, zu Hause zu bleiben. Wenn Sie sich krank fühlen, bleiben Sie im Bett, nehmen Sie Aspirin und trinken Sie viel klare Flüssigkeiten. Vertrauen Sie darauf, daß es Ihnen in höchstens einer Woche wieder bessergehen wird. Lassen Sie mich wiederholen, was ich am Anfang meiner Ansprache heute abend zu Ihnen gesagt habe: Die Gerüchte, wonach diese Abart der Grippe tödlich ist, sind völlig - ich wiederhole: völlig - aus der Luft gegriffen. In der Mehrzahl aller Fälle kann der Erkrankte davon ausgehen, daß es ihm nach einer Woche wieder bessergeht. Des weiteren...« [ein Hustenanfall] »Des weiteren wurden von gewissen radikalen, gesellschaftsfeindlichen Gruppen böswillige Gerüchte in Umlauf gebracht, wonach diese Grippeart von der Regierung als biologischer Kampfstoff gezüchtet worden ist. Meine amerikanischen Mitbürger, das sind dreiste Lügen, und als solche möchte ich sie hier und jetzt bloßstellen. Dieses Land hat die revidierte Genfer Konvention über Giftgas, Nervengas und bakterielle Kriegführung guten Gewissens und guten Glaubens unterschrieben. Die Regierung hat jetzt nicht und hat niemals...« [ein Niesanfall] »... niemals die Erforschung und Herstellung von Substanzen angeordnet, die den Bestimmungen der Genfer Konventionen zuwiderlaufen. Es handelt sich um eine mittelschwere Grippeepidemie, nicht mehr und nicht weniger. Heute abend erreichen uns Meldungen über Ausbrüche ähnlicher Epidemien in anderen Ländern, darunter der Sowjetunion und der Volksrepublik China. Wir bitten Sie daher...« [Husten- und Niesanfälle] »... sich ruhig zu verhalten, und weisen darauf hin, daß Ende dieser oder Anfang der nächsten Woche ein Grippeimpfstoff für alle zur Verfügung stehen wird, die noch nicht wieder übern Berg sind. In verschiedenen Gebieten wurde die Nationalgarde eingesetzt, um die Bevölkerung vor Räubern, Plünderern und Panikmachern zu beschützen, aber es trifft in keiner Weise zu, daß verschiedene Städte von regulären Armeeinheiten >besetzt< und die Nachrichten zensiert wurden. Meine amerikanischen Mitbürger, das sind dreiste Lügen, und als solche möchte ich sie hier und jetzt...« Graffiti, mit roter Sprühfarbe an die Mauer der First Baptist Church of Atlanta geschrieben: »Lieber Heiland. Wir sehen uns bald. Dein Freund Amerika. PS: Ich hoffe, Du hast bis Ende der Woche noch Zimmer frei.« 27 Larry Underwood saß am Morgen des 24.Juni auf einer Bank im Central Park und sah in die Menagerie. Die Fifth Avenue hinter ihm war auf gespenstische Weise mit Autos verstopft, aber sie waren alle stumm, ihre Besitzer entweder tot oder geflüchtet. Viele der eleganten Geschäfte weiter unten an der Fifth waren qualmende Ruinen. Von seiner Bank aus sah Larry einen Löwen, eine Antilope, ein Zebra und einen Affen. Außer dem Affen waren alle tot. Larry glaubte nicht, daß sie an Grippe gestorben waren; sie waren weiß Gott wie lange nicht gefüttert und getränkt worden, das hatte sie umgebracht, alle außer dem Affen. Aber in den drei Stunden, die Larry schon hier war, hatte dieser sich nur vier- oder fünfmal bewegt. Bis jetzt war der Affe schlau gewesen und weder verdurstet noch verhungert, aber er hatte mit Sicherheit gehörig die Supergrippe. Der Affe litt auf jeden, Fall Schmerzen. Es war eine grausame Welt. Rechts von Larry schlug die Uhr mit den vielen Tieren elf. Die kleinen Tierfiguren, die sonst alle Kinder in Entzücken versetzten, spielten jetzt vor leeren Rängen. Der Bär stieß in sein Hörn, ein mechanischer Affe, der nie krank werden konnte (er konnte höchstens stehenbleiben) spielte auf dem Tambourin, der Elefant schlug mit dem Rüssel die Trommel. Düstere Töne, Baby, verdammt düstere Töne. Die Suite zum Ende der Welt, arrangiert für mechanische Figuren. Nach einer Weile verstummte die Uhr, und Larry hörte wieder das heisere Schreien, diesmal glücklicherweise leiser, weiter entfernt. Der Monster-Schreier war an diesem hübschen Vormittag links von Larry, wahrscheinlich auf dem Heckscher-Spielplatz. Vielleicht fiel er dort ins Planschbecken und ertrank. » Die Monster kommen!« schrie die leise, heisere Stimme. Am Morgen war die Bewölkung aufgerissen, der Tag war hell und heiß. Eine Biene summte an Larrys Nase vorbei, kreiste um eines der nahen Blumenbeete und machte eine Dreipunktlandung auf einer Pfingstrose. Von der Menagerie kam das beruhigende, einschläfernde Summen der Fliegen, die sich auf den toten Tieren niederließen. »Jetzt kommen die Monster!« Der Monster-Schreier war ein hochgewachsener Mann Mitte Sechzig. Zum ersten Mal hatte Larry ihn in der vergangenen Nacht gehört, die er im Sherry -Netherland verbracht hatte. Als die Finsternis über der unnatürlich ruhigen Stadt lag, hatte die schwac he, heulende Stimme sonor und dunkel geklungen, die Stimme eines wahnsinnigen Jeremias, die durch die Straßen von Manhattan schwebte, von den Wänden zurückgeworfen und durch das Echo verzerrt wurde. Larry hatte schlaflos und bei voller Beleuchtung in einem königlichen Doppelbett gelegen und war auf rationale Weise davon überzeugt gewesen, daß der MonsterSchreier es auf ihn abgesehen hatte und ihn verfolgte, wie es die Wesen in seinen häufigen Alpträumen manchmal taten. Lange Zeit hatte es sich angehört, als würde die Stimme immer näher kommen - Die Monster kommen! Die Monster sind unterwegs! Sie sind schon in den Vororten! - und Larry war überzeugt, daß die Tür der Suite, die er dreifach abgeschlossen hatte, bersten und der Monster-Schreier vor ihm stehen würde... kein menschliches Wesen, sondern ein riesiger Troll mit einem Hundekopf, Fliegenaugen so groß wie Untertassen und mit gefletschten Zähnen. Aber heute morgen hatte Larry ihn im Park gesehen, und er war nur ein verrückter alter Mann in Kordhosen und Zoris und mit einer Hornbrille, deren einer Bügel von Klebestreifen zusammengehalten wurde. Larry hatte versucht, mit ihm zu sprechen, aber der MonsterSchreier war voll Entsetzen weggelaufen und hatte über die Schulter gerufen, daß die Monster jeden Augenblick in den Straßen auftauchen würden. Er war über einen knöchelhohen Drahtzaun gestolpert und mit einem komischen Platsch-Laut der Länge nach auf den Radfahrweg gestürzt, so daß seine Brille weggeflogen, aber nicht zerbrochen war. Larry war zu ihm gegangen, aber bevor er ihn erreichte, hatte der Monster-Schreier seine Brille aufgerafft und war zur Laubenpromenade hinübergerannt, wobei er unaufhörlich seine Warnungen hinausschrie. Larrys Einstellung zu ihm hatte sich innerhalb von zwölf Stunden von nacktem Entsetzen in äußerste Langeweile und leichte Verärgerung verwandelt. Im Park waren noch andere Leute, und Larry hatte mit ein paar gesprochen. Sie waren alle gleich, und Larry glaubte nicht, daß er anders war als sie. Sie waren wie betäubt, redeten unzusammenhängend und konnten nicht anders, als einem immer wieder nach dem Ärmel zu greifen, wenn sie mit einem sprachen. Jeder hatte seine Geschichte zu erzählen. Alle Geschichten waren gleich. Ihre Freunde und Verwandten waren tot oder lagen im Sterben. Sie hatten Schüsse auf der Straße gehört, in der Fifth Avenue war ein Großbrand ausgebrochen, und stimmte es, dass Tiffany's nicht mehr existierte? Konnte das sein? Wer würde die Straßen reinigen? Wer den Müll wegschaffen? Sollten sie New York verlassen? Sie hatten gehört, die Straßen nach draußen würden von Truppen bewacht. Eine Frau hatte entsetzliche Angst davor, daß die Ratten aus der Kanalisation hervorkriechen und die Erde in Besitz nehmen würden, was Larry unangenehm an seine eigenen Gedanken am Tag seiner Rückkehr nach New York erinnerte. Ein junger Mann, der aus einer großen Tüte Fritos mampfte, erzählte Larry im Plauderton, er wolle sich den Traum seines Lebens verwirklichen. Er wolle ins Yankee Stadion fahren, nackt um die Aschenbahn laufen und auf dem Schlagmal masturbieren. »Die Chance meines Lebens, Mann«, sagte er augenzwinkernd zu Larry und ging Fritos essend weiter. Viele Leute im Park waren krank, aber nicht viele waren dort gestorben. Vielleicht hatte der Gedanke sie beunruhigt, sie könnten von den Tieren gefressen werden, und sie waren in ihre Häuser zurückgekrochen, als sie spürten, daß das Ende nahe war. Heute morgen war Larry nur einmal mit dem Tod konfrontiert worden, und das reichte ihm vollauf. Er war die Transverse Number One entlang zur öffentlichen Toilette gegangen. Er hatte die Tür aufgemacht, und ein grinsender Toter, dem die Maden kreuz und quer übers Gesicht krochen, hatte dort gesessen, die Hände auf den nackten Schenkeln, und Larry mit eingefallenen Augen angestarrt. Ein widerlicher süßer Geruch schlug Larry entgegen, als wäre der Mann, der dort saß, ein ranziges Bonbon, eine Süßigkeit, die man bei der ganzen Verwirrung für die Fliegen hatte liegenlassen. Larry schlug die Tür zu, aber zu spät: Er erbrach die Cornflakes, die er zum Frühstück gegessen hatte, und würgte dann trocken, bis er Angst hatte, daß seine Innereien reißen könnten. Gott, wenn Du da bist, hatte er gebetet, während er zur Menagerie zurückstolperte, und wenn Du heute Wünsche entgegennimmst, alter Junge, wünsche ich mir, daß ich heute nicht noch einmal so etwas sehen muß. Die Irren sind schlimm genug, aber so etwas könnte ich nicht noch einmal ertragen. Recht vielen Dank auch. Während er jetzt auf der Bank saß (der Monster-Schreier war im Augenblick nicht zu hören), dachte Larry an die Baseball-Meisterschaft vor fünf Jahren. Es war gut, sich daran zu erinnern, denn es kam ihm heute so vor, als wäre er damals zum letzten Mal wirklich glücklich gewesen, seine körperliche Verfassung tiptop, sein Verstand ausgeglichen und nicht im Clinch mit sich selbst. Das war gewesen, kurz nachdem er sich von Rudy getrennt hatte. War ein Scheißspiel gewesen, diese Trennung, und sollte er Rudy je wiedersehen (niemals, sagte ihm sein Verstand seufzend), wollte Larry sich entschuldigen. Er würde auf die Knie sinken und Rudys Schuhspitzen küssen, wenn das erforderlich war, Rudy wieder zu versöhnen. Sie waren mit einem schrottreifen 68er Mercury, der in Omaha seine Innereien ausgeschissen hatte, zu ihrer Reise durch das Land aufgebrochen. Sie wollten eine Weile jobben, per Anhalter nach Westen fahren, wieder ein paar Wochen jobben und weiter trampen. Eine Zeitlang arbeiteten sie auf einer Farm im Westen von Nebraska, gleich unterhalb des Pfannenstiels, und eines Nachts hatte Larry sechzig Dollar beim Pokern verloren. Am nächsten Tag hatte er Rudy bitten müssen, ihm etwas zu leihen, damit er über die Runden kam. Monate später waren sie in L. A. eingetroffen, und Larry hatte als erster einen Job bekommen - wenn man es überhaupt als Arbeit bezeichnen konnte, Geschirr zum Mindestlohn zu spülen. Eines Abends, etwa drei Wochen später, hatte Rudy die Frage des Darlehens angesprochen. Er sagte, er hätte einen Typen getroffen, der eine echt gute Arbeitsvermittlung kannte, Erfolg garantiert, aber die Gebühr betrug fünfundzwanzig Piepen. Was zufälligerweise genau die Summe war, die er Larry nach dem Pokerspiel geliehen hatte. Normalerweise, sagte Rudy, hätte er nie danach gefragt, aber... Larry hatte protestiert, er habe das geliehene Geld zurückgezahlt. Sie seien quit. Wenn Rudy fünfundzwanzig Mäuse wolle, okay, aber er hoffe, daß Rudy sich das geliehene Geld nicht zweimal zurückzahlen lassen wolle. Rudy sagte, er wollte kein Geschenk; er wollte das Geld, das Larry ihm schuldete und war nicht daran interessiert, sich die übliche Larry-Underwood-Scheiße anzuhören. Mein Gott, hatte Larry gesagt und versucht, heiter zu lachen, ich hätte nicht geglaubt, daß ich eine Quittung von dir brauche, Rudy. Ich hab' mich wohl geirrt. Es war zu einem handfesten Krach eskaliert und hätte fast mit einer Schlägerei geendet. Zuletzt war Rudy ganz rot im Gesicht geworden. Larry hatte geschrien. Typisch. Ganz typisch. Du bist nun mal so. Ich dachte, ich würde meine Lektion nie lernen, aber ich glaube, jetzt hab' ich's. Verpiß dich, Larry. Rudy ging, und Larry folgte ihm die Treppen der billigen Pension hinunter und zog den Geldbeutel aus der Tasche. Im Geheimfach hinter den Fotos steckten drei säuberlich zusammengefaltete Zehner, und er warf sie Rudy hinterher. Komm, du dreckiger kleiner Lügner! Nimm es! Nimm das gottverdammte Geld! Rudy hatte die Tür laut polternd aufgerissen und war in die Nacht hinausgegangen, dem Schicksal entgegen, das die Rudys dieser Welt erwarten können. Er sah nicht zurück. Larry hatte schweratmend oben auf der Treppe gestanden, und nach ungefähr einer Minute hatte er nach seinen drei Zehnern gesucht, sie wieder aufgehoben und weggesteckt. Er hatte im Lauf der Jahre hin und wieder über den Vorfall nachgedacht Er hatte die Tür aufgemacht, und ein grinsender Toter, dem die Maden kreuz und quer übers Gesicht krochen, hatte dort gesessen, die Hände auf den nackten Schenkeln, und Larry mit eingefallenen Augen angestarrt. Ein widerlicher süßer Geruch schlug Larry entgegen. Und war mehr und mehr zu der Überzeugung gekommen, daß Rudy im Recht gewesen war. Inzwischen war er sogar sicher. Selbst wenn er Rudy das Geld zurückgezahlt hatte, sie waren seit Beginn der Grundschule Freunde, und (rückblickend) kam es Larry so vor, als habe ihm für die Samstagnachmittagsvorstellung regelmäßig ein Zehncentstück gefehlt, weil er sich auf dem Weg zu Rudy Lakritzkringel oder ein paar Schokoladenriegel gekauft hatte, oder er hatte sich von Rudy ein Fünfcentstück für sein Schulfrühstück geliehen, oder sieben Cent für Fahrgeld. Über die Jahre mußte er sich von Rudy fünfzig Dollar in Kleingeld gepumpt haben, vielleicht sogar hundert. Larry wußte noch, wie er innerlich zusammengezuckt war, als Rudy ihn um das Geld gebeten hatte. Sein Gehirn hatte die fünfundzwanzig Dollar von den drei Zehndollarscheinen abgezogen und ihm gesagt: Dann sind nur noch fünf Dollar übrig. Deshalb mußt du sie ihm schon zurückgezahlt haben. Ich weiß zwar nicht genau, wann, aber zurückgezahlt habe ich sie. Also keine weitere Diskussion in dieser Angelegenheit. Und es hatte auch keine weitere Diskussion mehr gegeben. Aber danach war er allein in der Stadt gewesen. Er hatte keine Freunde und hatte nicht einmal versucht, im Cafe in der Encino, wo er arbeitete, welche zu finden. Tatsache war, er glaubte, daß alle, die dort arbeiteten, vom cholerischen Chefkoch bis zur arschwippenden, kaugummikauenden Kellnerin, Dummköpfe waren. Ja, er war wirklich überzeugt gewesen, alle in Tonys 'Teed Bag wären Dummköpfe, außer ihm, dem heiligen, bald erfolgreichen (könnt ihr getrost glauben) Larry Underwood. Da er allein in einer Welt voller Dummköpfe war, hatte er Schmerzen wie ein geprügelter Hund und Heimweh wie ein auf einer einsamen Insel gestrandeter Mann. Er dachte immer öfter daran, sich einen Ameri-Pass der GreyhoundBuslinie zu kaufen und sich nach New York zurückzuschleppen. Noch einen Monat, vielleicht nur noch zwei Wochen, und er hätte es getan ... wäre da nicht Yvonne gewesen. Er lernte Yvonne Wetterlen im Kino zwei Blocks von der Bar entfernt kennen, wo sie als Strip-Tänzerin arbeitete. Als der zweite Film zu Ende war, hatte sie geweint und im Gang um ihren Sitz herum nach der Brieftasche gesucht. Sie hatte den Führerschein darin, ihr Scheckbuch, den Gewerkschaftsausweis, ihre einzige Kreditkarte, eine Fotokopie ihrer Geburtsurkunde und ihre Sozialversicherungskarte. Larry war zwar überzeugt, daß die Brieftasche gestohlen worden war, sagte es aber nicht, sondern half ihr suchen. Und es schien, als würden wirklich manchmal noch Zeichen und Wunder geschehen, denn er hatte sie drei Reihen weiter gefunden, als das Mädchen gerade aufgeben wollte. Er vermutete, daß die Brieftasche dorthin gewandert war, weil die Zuschauer während der Vorführung des wirklich ziemlich langweiligen Films mit den Füßen gescharrt hatten. Yvonne hatte ihn umarmt und ihm weinend gedankt. Larry, der sich wie Captain America gefühlt hatte, sagte ihr, er würde sie wirklich gerne auf einen Burger einladen, war aber momentan knapp bei Kasse. Yvonne sagte, sie würde einen ausgeben. Larry, der Märchenprinz, war ziemlich sicher gewesen, daß sie das würde. Sie trafen sich regelmäßig; nach nicht einmal zwei Wochen gingen sie fest miteinander. Larry fand einen besseren Job als Angestellter in einer Buchhandlung und trat nebenher mit einer Gruppe namens The Hotshot Rhythm Rangers & All-Time Boogie Band auf. Der Name war eigentlich das beste an der Gruppe, aber Rhythmusgitarrist war Johnny McCall, der später The Tattered Remnants gründete, und das war eine ziemlich gute Band gewesen. Larry und Yvonne zogen zusammen, und für Larry änderte sich alles. Teilweise lag es daran, daß er endlich eine Wohnung hatte, eine eigene Wohnung, für die er die halbe Miete bezahlte. Yvonne hängte Vorhänge auf; die beiden kauften ein paar billige gebrauchte Möbelstücke und richteten sie gemeinsam her, andere Mitglieder der Band und Yvonnes Freunde kamen zu Besuch. Die Wohnung war tagsüber hell, und nachts wehte eine duftende kalifornische Brise zum Fenster herein, die nach Orangen zu riechen schien, selbst wenn sie nur Smog mit sich brachte. Manchmal kam niemand, und dann saßen er und Yvonne zu Hause und sahen fern, und manchmal brachte sie ihm eine Dose Bier, setzte sich auf die Lehne seines Sessels und kraulte ihm den Hals. Es war seine eigene Wohnung, ein Zuhause, verdammt noch mal, und manchmal lag er nachts wach im Bett, während Yvonne neben ihm schlief, und staunte, wie gut es ihm ging. Danach schlief er ungestört ein, es war der Schlaf der Gerechten, und er dachte gar nicht mehr an Rudy Marks. Jedenfalls nicht oft. Sie lebten vierzehn Monate zusammen, und es war eine schöne Zeit, abgesehen von den letzten sechs Wochen, als Yvonne echt unerträglich wurde, und die Baseball-Meisterschaft hatte Larry dann den Rest gegeben. Er arbeitete tagsüber in der Buchhandlung, und abends ging er zu Johnny McCall, wo die beiden - die ganze Gruppe probte nur am Wochenende, weil die beiden anderen Nachtschicht arbeiteten - an neuen Stücken herummachten oder einfach nur die großen Oldies durchzogen, die Johnny immer »Aufheizer« nannte, Songs wie »Nobody but Me« und »Double Shot of My Baby's Love«. Dann ging er nach Hause, sein Zuhause, wo Yvonne das Essen fertig hatte. Keine Fertiggerichte und so eine Scheiße. Richtiges, selbstgekochtes Essen. Das Mädchen war gut erzogen. Hinterher gingen sie ins Wohnzimmer, schalteten die Glotze ein und schauten sich die Baseball-Spiele an. Und später, Liebe. Alles schien gut zu sein, alles schien ihm zu gehören. Überhaupt nichts hatte ihn bedrückt. Seither war nichts mehr so gut gewesen. Nichts. Er merkte, daß er ein bißchen weinte, und verspürte momentane Verdrossenheit darüber, daß er auf einer Bank im Central Park sass und in der Sonne weinte wie ein seniler alter Rentner. Aber dann überlegte er sich, daß er ein Recht hatte, über etwas zu weinen, das er verloren hatte, daß er ein Recht hatte, traufig zu sein, wenn es Grund zur Trauer gab. Seine Mutter war vor drei Tagen gestorben. Als sie starb, lag sie auf einem Rollbett auf dem Flur des Mercy Hospital, eingepfercht mit Tausenden weiterer Patienten, die auch nichts anderes zu tun hatten, als zu sterben. Als es zu Ende ging, kniete Larry neben ihr und glaubte, er würde durchdrehen, weil er seine Mutter sterben sah, und ringsum waren der Gestank von Urin und Kot, das höllische Brabbeln der Kranken, der Erstickenden, der Wahnsinnigen; die Schreie der Trauernden. Zuletzt hatte sie ihn gar nicht mehr erkannt; es gab keinen letzten Augenblick des Wiedererkennens. Ihre Brust hatte sich ein letztes Mal gehoben und langsam gesenkt, wie das Gewicht eines Automobils sich auf einen Platten senkt. Er kauerte zehn Minuten oder länger neben ihr, wußte nicht, was er machen sollte und dachte auf verwirrte Weise, daß er warten sollte, bis der Totenschein ausgestellt war oder jemand ihn fragte, was passiert war. Aber es war eindeutig, was passiert war; es passierte ja überall. Und ebenso eindeutig war die Klinik ein Irrenhaus. Kein ernster junger Arzt würde vorbeikommen, sein Beileid aussprechen und dann die Maschinerie bei Sterbefällen in Gang setzen. Früher oder später würde seine Mutter einfach wie ein Sack Sägemehl weggeschleppt werden, und das wollte er nicht mit ansehen. Ihre Handtasche war unter dem Bett. Er fand einen Kugfelschreiber, eine Büroklammer und ihr Scheckbuch darin. Er riß einen Scheckbeleg aus dem Buch, schrieb Namen, Adresse und, nach kurzem Zögern, ihr Alter auf die Rückseite. Er heftete den Zettel mit der Büroklammer an ihre Bluse und fing an zu weinen. Er küßte sie auf die Wange und entfernte sich weinend. Er kam sich wie ein Deserteur vor. Auf der Straße war es ein wenig besser gewesen, obwohl die Straßen da noch voll von Verrückten, Kranken und marschierenden ArmeeEinheiten gewesen waren. Jetzt konnte er hier auf der Bank sitzen und um allgemeinere Dinge trauern: daß seine Mutter nie in den Genuß ihrer Rente gekommen war, daß seine Karriere aus und vorbei war, um die Zeit in L. A., als er mit Yvonne die Baseballspiele angesehen und gewußt hatte, später würden sie ins Bett gehen und miteinander schlafen, und um Rudy. Am meisten trauerte er um Rudy und wünschte sich, er hätte Rudy die fünfundzwanzig Dollar grinsend und achselzuckend gegeben und sich damit die sechs verlorenen Jahre erspart. Der Affe starb um Viertel vor zwölf. Er saß auf seinem Ast, wo er apathisch hockte, die Hände unterm Kinn, dann flatterten seine Lider, und er kippte nach vorne und schlug mit einem letzten gräßlichen Platsch auf den Betonboden. Larry wollte nicht mehr sitzen bleiben. Er stand auf und schlenderte rastlos zur Laubenpromenade mit ihrem großen Orchesterpavillon hinüber. Vor fünfzehn Minuten hatte er weit weg den MonsterSchreier gehört, aber jetzt schienen die einzigen Geräusche im Park das Klappern seiner Absätze auf dem Beton und das Zwitschern der Vögel zu sein. Vögel bekamen anscheinend keine Grippe. Gut für sie. Als er sich dem Orchesterpavillon näherte, sah er, daß eine Frau davor auf einer Bank saß. Sie mochte um die Fünfzig sein, hatte sich aber große Mühe gegeben, jünger auszusehen. Sie trug teuer aussehende graugrüne Hosen und eine schulterfreie Bauernbluse aus Seide... abgesehen davon, dachte Larry, daß Bauern sich seines Wissens keine Seide leisten konnten. Als sie Larrys Schritte hörte, sah sie sich um. Sie hatte eine Tablette in der Hand und warf sie sich beiläufig in den Mund wie eine Erdnuß. »Hi«, sagte Larry. Ihr Gesicht war gelassen, ihre Augen blau. Aufgewecktheit und Intelligenz leuchteten darin. Sie trug eine Brille mit Goldrand, und ihre Handtasche war mit etwas abgesetzt, das eindeutig wie Nerz aussah. Sie trug vier Ringe an den Fingern: einen Trauring, zwei Diamanten und einen Smaragd so groß wie ein Katzenauge. »Äh, ich bin nicht gefährlich«, sagte er. Es war vermutlich lächerlich, so etwas zu sagen, schätzte er, aber es sah tatsächlich so aus, als hätte sie ungefähr 20000 Dollar an den Fingern. Natürlich konnte der Schmuck unecht sein, aber sie sah nicht wie eine Frau aus, die Messing und Zirkone tragen würde. »Nein«, sagte sie, »Sie sehen nicht gefährlich aus. Und Sie sind nicht krank.« Beim letzten Wort hob sie die Stimme ein wenig, so daß der Satz halb wie eine höfliche Frage klang. Sie war nicht so gelassen, wie es auf den ersten Blick schien; an ihrem Hals zuckte ein Muskel, und hinter der strahlenden Intelligenz ihrer blauen Augen lag der gleiche dumpfe Schock, den Larry heute morgen beim Rasieren in den eigenen Augen gesehen hatte. »Nein, ich glaube nicht. Sind Sie's denn?« »Kein bißchen. Wissen Sie, daß Sie Eiscremepapier am Schuh haben?« Er schaute nach unten und sah, daß es stimmte. Er wurde rot, weil er glaubte, sie hätte ihm im gleichen Tonfall gesagt, daß sein Hosenstall offen stand. Er hob das Bein und versuchte, es zu entfernen. »Sie sehen aus wie ein Storch. Versuchen Sie es im Sitzen. Ich heiße Rita Blakemoor.« »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Larry Underwood.« Er setzte sich. Sie gab ihm die Hand, er schüttelte sie leicht und spürte die Ringe an seine Finger drücken. Dann entfernte er mit spitzen Fingern das Eiscremepapier vom Schuh und warf es artig in einen Behälter neben der Bank, auf dem stand: ES IST IHR PARK! HALTEN SIE IHN SAUBER! Die ganze Prozedur kam ihm komisch vor. Er warf den Kopf zurück und lachte. Es war das erste herzliche Lachen, seit er nach Hause gekommen war und seine Mutter auf dem Fußboden der Wohnung vorgefunden hatte, und er stellte erleichtert fest, daß Lachen immer noch schön war. Es stieg aus dem Bauch empor und kam auf die altbekannte fröhliche Scheißdoch-drauf Weise zwischen den Zähnen heraus. Rita Blakemoor lächelte ihn an und lachte mit ihm, und wieder fiel ihm ihre ungezwungene und doch elegante Schönheit auf. Sie sah aus wie eine Frau aus einem Roman von Irwin Shaw. Nightwork vielleicht, oder derjenige, der für das Fernsehen verfilmt wurde, als er noch ein Kind war. »Als ich Sie kommen hörte, hätte ich mich fast versteckt«, sagte sie. »Ich dachte schon, Sie wären vielleicht der Mann mit der kaputten Brille und der merkwürdigen Philosophie.« »Der Monster-Schreier?« »Nennen Sie ihn so, oder nennt er sich selbst so?« »Ich nenne ihn so.« »Sehr passende Bezeichnung«, sagte sie und öffnete ihre (vielleicht) mit Nerz abgesetzte Tasche, der sie eine Packung Mentholzigaretten entnahm. »Er erinnert mich an einen wahnsinnigen Diogenes.« »Ja, er sucht ein anständiges Monster«, sagte Larry und lachte wieder. Sie zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch aus. »Er ist auch nicht krank«, sagte Larry. »Aber die meisten anderen.« »Dem Pförtner in unserem Gebäude geht es ausgezeichnet«, sagte Rita. »Er tut sogar noch Dienst. Als ich heute morgen weggegangen bin, habe ich ihm einen Fünfer gegeben. Ich weiß nicht, ob ich ihm das Trinkgeld gegeben habe, weil er gesund war oder weil er Dienst tat. Was glauben Sie?« »Ich kenne Sie nicht gut genug, das zu beantworten.« »Nein, natürlich nicht.« Sie verstaute die Zigaretten wieder in ihrer Handtasche, und er sah, daß sie einen Revolver darin hatte. »Der gehörte meinem Mann. Er war leitender Karrierist bei einer großen New Yorker Bank. So hat er sich selbst immer genannt, wenn jemand ihn gefragt hat, wie er sein Geld für die Cocktailzwiebeln verdiente. Ich-bin-leitender-Karrierist-bei-einergroßen-New-Yorker-Bank. Er starb vor zwei Jahren. Er war bei einem Essen mit einem dieser Araber, die immer aussehen, als hätten sie jedes sichtbare Stück Haut mit Brylcrem eingerieben. Er bekam einen Herzanfall. Er starb mit umgebundener Krawatte. Glauben Sie, das könnte für unsere Generation das Äquivalent für das Sprichwort sein, daß man in den Stiefeln stirbt? Harry Blakemoor starb mit umgebundener Krawatte. Das gefällt mir, Larry.« Ein Fink landete vor ihnen und pickte auf dem Boden herum. »Er hatte wahnsinnige Angst vor Einbrechern, darum hatte er diese Waffe. Ob Revolver wirklich rückstoßen und großen Lärm machen, wenn sie losgehen, Larry?« Larry, der in seinem ganzen Leben noch keinen Revolver abgefeuert hatte, sagte: »Bei einer so kleinen Waffe wird der Rückstoß nicht so stark sein. Ist es ein Achtunddreißiger?« »Ich glaube, es ist ein Zweiunddreißiger.« Sie nahm ihn aus der Tasche, und Larry sah, daß sie eine ganze Anzahl von Fläschchen mit Tabletten bei sich hatte. Diesmal folgte sie seinem Blick nicht. Sie sah zu einem kleinen Zedrachbaum, der etwa fünfzehn Schritte entfernt stand. »Ich glaube, ich versuche es. Meinen Sie, daß ich den Baum da drüben treffe?« »Ich weiß nicht«, sagte er besorgt. »Aber ich finde, Sie sollten nicht...« Sie drückte ab, und die Waffe ging mit einem eindrucksvollen Knall los. Der Zedrachbaum hatte ein kleines Loch. »Ins Schwarze«, sagte sie und blies den Rauch vom Lauf wie ein Revolverheld. »Echt gut«, sagte Larry, und als sie die Waffe in die Tasche zurücklegte, schlug sein Herz wieder in normalem Rhythmus. »Auf einen Menschen könnte ich damit niemals schießen. Und bald wird keiner mehr da sein, auf den man schießen könnte, nicht wahr?« »Oh, ich weiß nicht so recht.« »Sie haben meine Ringe betrachtet. Möchten Sie einen haben?« »Hm? Nein!« Er wurde wieder rot. »Als Bankier glaubte mein Mann an Diamanten. Er glaubte an sie, wie die Baptisten an die Offenbarung glauben. Ich habe jede Menge Diamanten, und alle sind versichert. Wir besaßen nicht nur ein Stück vom Fels der Zeiten, mein Harry und ich, manchmal glaubte ich, wir hätten ein Pfandrecht auf das ganze verdammte Ding. Aber wenn jemand meine Diamanten haben wollte, würde ich sie ihm geben. Es sind schließlich nur Steine, nicht wahr?« »Das stimmt wohl.« »Natürlich«, sagte sie, und ihr Halsmuskel zuckte wieder leicht. »Und wenn plötzlich ein Bandit vor mir stehen würde und sie haben wollte, würde ich sie ihm nicht nur überlassen, ich würde ihm außerdem die Adresse von Cartier's geben. Die haben eine viel schönere Kollektion als ich.« »Was haben Sie jetzt vor?« fragte Larry. »Was würden Sie vorschlagen?« »Ich weiß wirklich nicht«, sagte Larry seufzend. »Das wäre genau meine Antwort gewesen.« »Wissen Sie was? Ich habe heute morgen einen Typen getroffen, der sagte, er wolle ins Yankee Stadion gehen und auf dem Schlagmal wi... masturbieren.« Er merkte, daß er wieder rot wurde. »Da muß er ja entsetzlich lange laufen«, sagte sie. »Warum haben Sie ihm nicht etwas Näheres vorgeschlagen?« Sie seufzte, und der Seufzer ging in ein Zittern über. Dann machte sie die Handtasche auf, nahm eines dieser Tablettenfläschchen heraus und warf sich eine Gel-Kapsel in den Mund. »Was ist das?« fragte Larry. »Vitamin E«, sagte sie mit einem glitzernden falschen Lächeln. Der Muskel an ihrem Hals zuckte noch ein- oder zweimal, dann hörte er wieder auf. Sie wurde wieder gelassen. »In den Bars ist kein Mensch«, sagte Larry plötzlich. »Ich war bei Pat's an der Forty-third, und es war völlig leer. Es gibt da eine große Mahagoni-Bar, und ich ging dahinter und schenkte mir ein Wasserglas Johnny Walker ein. Dann mochte ich dort nicht mehr bleiben. Ich ließ das Glas auf der Bar stehen.und ging raus.« Sie seufzten beide im Chor. »Sie sind angenehme Gesellschaft«, sagte sie. »Ich mag Sie sehr. Und ich bin froh, daß Sie nicht verrückt sind.« »Danke, Mrs. Blakemoor.« Er war überrascht und erfreut. »Rita. Ich heiße Rita.« »Okay.« »Haben Sie Hunger, Larry?« »Das kann man wohl sagen.« »Vielleicht würden Sie die Dame zum Essen ausführen.« »Es wäre mir ein Vernügen.« Sie stand auf und bot ihm mit einem etwas herablassenden Lächeln den Arm. Als er sich bei ihr einhakte, roch er ihr Duftkissen, das bei ihm tröstliche und beunruhigend erwachsene, ja, alte Assoziationen wachrief. So ein Duftkissen hatte seine Mutter immer bei sich gehabt, wenn sie mit ihm ins Kino gegangen war. Aber er vergaß es gleich wieder, während sie aus dem Park hinaus und die Fifth Avenue entlanggingen, weg von dem toten Affen, dem Monster-Schreier und der verderbenden Süßigkeit, die ewig in der öffentlichen Toilette an der Transverse Number One saß. Sie plapperte unaufhörlich, und später konnte er sich an nichts von dem erinnern, was sie geplappert hatte (doch, an eines: Sie hatte immer davon geträumt, sagte sie, mit einem gutaussehenden jungen Mann die Fifth Avenue entlangzugehen, einem jungen Mann, der ihr Sohn hätte sein können, es aber nicht war), aber er dachte später oft an diesen Spaziergang, besonders, als sie langsam auseinanderfiel wie ein schlampig gefertigtes Spielzeug. An ihr schönes Lächeln, ihr leichtes zynisches und lässiges Geplapper und das leise Rascheln ihrer Hosen. Sie gingen in ein Steak-House, und Larry kochte, zwar ein wenig ungeschickt, aber sie applaudierte bei jedem Gang: Steak, Pommes Frites, Instant-Kaffee und Erdbeerrhabarbertorte. 28 Im Kühlschrank stand eine Erdbeertorte. Sie war mit Folie Marke Saran Wrap bedeckt, und nachdem Frannie die Torte eine Weile mit stumpfen, nachdenklichen Augen betrachtet hatte, nahm sie sie heraus. Sie stellte sie auf den Tisch und schnitt ein Stück ab. Eine Erdbeere fiel leise klatschend auf den Tisch, als sie das Stück Torte auf einen kleinen Teller legen wollte. Sie hob die Beere auf und ass sie. Sie wischte den kleinen Saftfleck auf dem Tisch mit dem Putzlappen weg. Sie zog das Saran Wrap über den Rest der Torte und stellte sie wieder in den Kühlschrank. Als sie sich umdrehte, um ihre Torte zu holen, fiel ihr Blick auf das Messergestell neben den Wandschränken. Ihr Vater hatte es gebastelt. Es hatte zwei Magnetschienen. Daran hingen die Messer mit den Klingen nach unten. Die Sonne des frühen Nachmittags spiegelte sich auf ihnen. Sie sah die Messer lange an, starr, dumpf und etwas neugierig, ohne die Augen abzuwenden, während sie mit den Händen unablässig die Falten der Schürze knetete, die sie sich um die Hüften gebunden hatte. Endlich, etwa fünfzehn Minuten später, fiel ihr ein, daß sie sich eben mit etwas beschäftigt hatte. Womit? Ohne jeden Grund fiel ihr eine Bibelstelle ein, eine Spruchweisheit: Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht. Sie grübelte darüber nach. Splitter? Balken? Was für ein Balken? Ein Dachbalken? Ein Dachbalken? Ein Lichtbalken? Mondschein? Sonnenschein? New York hatte einmal einen Bürgermeister namens Abe Beam gehabt, ganz zu schweigen von einem Lied, das sie in der Bibelstunde gelernt hatte - »I'll be a Sunbeam for Him.« - den Splitter im Auge deines Bruders - Aber es war kein Auge, es war ein Kuchen. Sie drehte sich um und sah, daß eine Fliege über ihre Torte krabbelte. Sie verscheuchte sie mit einer Handbewegung. »Bye-bye, Mr. Fly. Hast nichts zu suchen auf Frannies Kuchen.« Sie betrachtete das Stück Torte sehr lange. Sie wußte, daß ihre Mutter und ihr Vater beide tot waren. Ihre Mutter war im Krankenhans in Sanford gestorben, und ihr Vater, in dessen Werkstatt sie sich als Mädchen so wohlgefühlt hatte, lag in seinem Zimmer wie immer und lebte nimmer. Warum kamen ihr die Gedanken immer in Reimen? Sie kamen und gingen in häßlichen Silben und Reimen, wie jene idiotischen Verse, die man, einmal gehört, nie wieder vergißt: jung gefreit, nie gereut... Sie kam plötzlich wieder zu sich, eine Art Schrecken durchfuhr sie. Ein heißer Gestank hing im Zimmer. Etwas brannte an. Frannie drehte ruckartig den Kopf und sah eine Friteuse mit Pommes frites in Öl, die sie auf den Herd gestellt und vergessen hatte. Eine stinkende Rauchwolke wallte zur Decke auf. Fett spritzte böse zischend aus der Pfanne; die Spritzer, die auf dem Brenner landeten, flammten kurz auf und erloschen, als würde ein unsichtbarer Butanbrenner von unsichtbarer Hand angezündet. Der Boden des Topfes war schwarz. Sie griff nach dem Pfannenstiel und zog die Hände japsend zurück. Zu heiß zum Anfassen. Sie nahm ein Geschirrtuch, schlug es um den Stiel und trug das Utensil, das wie ein Drache zischte, zur Hintertür hinaus. Auf der obersten Stufe der Veranda stellte sie es ab. Sie roch Geißblatt und hörte die Bienen summen, nahm aber kaum Notiz davon. Für einen Augenblick wurden die dicken, dämmenden Decken, die ihre Gefühlsreaktionen die zurückliegenden vier Tage eingehüllt hatten, aufgerissen, und sie hatte wahrhaftig Angst. Angst? Nein - sie war im Stadium des Entsetzens, nur einen kleinen Schritt von der Panik entfernt. Sie konnte sich erinnern, wie sie die Kartoffeln geschält und in Wesson Oil gelegt hatte, um sie zu fritieren. Jetzt konnte sie sich daran erinnern. Aber eine Zeitlang hatte sie... puh! Sie hatte es einfach vergessen gehabt. Sie stand auf der Veranda, hielt das Geschirrtuch noch in einer Hand und versuchte sich zu erinnern, woran sie genau gedacht hatte, nachdem sie die Pommes auf den Herd gestellt hatte. Es schien sehr wichtig zu sein. Nun, zuerst hatte sie gedacht, daß eine Mahlzeit, die nur aus Pommes bestand, nicht besonders nahrhaft war. Der zweite Gedanke: Wenn das McDonalds an der Route 1i noch aufgehabt hätte, hätte sie nicht selbst kochen müssen und obendrein noch einen Burger essen können. Einfach mit dem Auto zum Mitnahmefenster fahren. Sie hätte einen Viertelpfünder und eine große Portion Fritten geholt, die in der hellroten Pappverpackung. Drinnen Fettflecken am Karton. Zweifellos ungesund, aber tröstlich. Und außerdem - schwangere Frauen haben seltsame Gelüste. Das führte sie zum nächsten Glied der Kette. Gedanken an seltsame Gelüste hatten zu Gedanken an die Erdbeertorte geführt, die zitternd im Kühlschrank harrte. Plötzlich war ihr gewesen, als wollte sie ein Stück dieser Erdbeertorte mehr als alles andere auf der Welt. Also hatte sie sich ein Stück geholt, aber dabei hatte sie das Messerregal gesehen, das ihr Vater für ihre Mutter gemacht hatte (Mrs. Edmonton, die Frau des Arztes, war so neidisch auf das Regal gewesen, daß Peter ihr vor zwei Jahren auch eins zu Weihnachten gebastelt hatte), und dann hatte ihr Verstand einfach einen... Kurzschluß gehabt. Splitter... Balken... Fliegen. »Mein Gott«, sagte sie in den leeren Hof und den ungejäteten Garten ihres Vaters. Sie setzte sich, schlug die Schürze vors Gesicht und weinte. Als die Tränen getrocknet waren, schien es ihr ein wenig besser zu gehen.. . aber sie hatte immer noch Angst. Verliere ich den Verstand? fragte sie sich. Läuft es so ab, ist es so, wenn man einen Nervenzusammenbruch hat, oder wie immer man es nennen will? Seit ihr Vater gestern abend um halb neun gestorben war, schien ihre Fähigkeit, sich auf etwas zu konzentrieren, im Eimer zu sein. Sie vergaß Dinge, die sie gerade erledigte, ihre Gedanken schweiften verträumt ab, und manchmal saß sie einfach nur da, dachte an überhaupt nichts und bekam von der Welt nicht mehr mit als ein Blumenkohlkopf. Als ihr Vater gestorben war, saß sie lange Zeit an seinem Bett. Schließlich ging sie nach unten und schaltete den Fernseher ein. Ohne besonderen Grund; es schien einfach eine gute Idee zu sein. Der einzige Sender, der etwas ausstrahlte, war CBS in Portland, WGAN, und da schienen sie eine irre Hinrichtungssendung auszustrahlen. Ein Neger, der wie der schlimmste Alptraum afrikanischer Kopfjäger aussah, den ein Ku-Klux-Klaner haben konnte, tat so, als würde er mit einer Pistole weiße Männer erschießen, während andere Männer im Publikum applaudierten. Das mußte natürlich gestellt sein - so etwas zeigten sie nicht im Fernsehen, wenn es echt war -, aber es hatte nicht ausgesehen, als wäre es gestellt. Es erinnerte sie auf makabre Weise an Alice im Wunderland, aber es war nicht die Rote Königin, die »Runter mit ihrem Kopf!« schrie, sondern... was? Wer? Der schwarze Prinz, vermutete sie. Nicht, daß der Kerl im Lendenschurz wie Prince ausgesehen hätte. Später im Verlauf der Sendung (wieviel später konnte sie nicht sagen), brachen andere Männer in das Studio ein, und es kam zu einer Schießerei, die noch realistischer inszeniert war als die Hinrichtungen. Sie sah Männer, die von großkalibrigen Waffen beinahe geköpft wurden, sie wurden rückwärts geschleudert, Blut spritzte im fröhlichen Rhythmus des Pulses aus ihren zerfetzten Hälsen. Sie dachte in ihrer zusammenhanglosen Art daran, sie hätten ab und zu einen Zwischentitel einblenden sollen, der Eltern ermahnte, die Kinder ins Bett zu bringen oder den Sender zu wechseln. Sie erinnerte sich, sie hatte auch gedacht, daß WGAN die Sendelizenz trotz allem entzogen bekommen konnte. Es war ja wirklich eine schrecklich brutale Sendung. Als die Kamera nach oben kippte und nur noch die Studioscheinwerfer zeigte, die von der Decke herabhingen, schaltete sie ab, legte sich aufs Sofa und sah zur Decke ihres Zimmers empor. Dort war sie dann eingeschlafen, und heute morgen war sie halb davon überzeugt gewesen, daß sie die ganze Sendung geträumt hatte. Und genau das war im Grunde genommen der springende Punkt: Alles wirkte plötzlich wie ein Alptraum voller Urängste. Mit dem Tod ihrer Mutter hatte es angefangen; der Tod ihres Vaters hatte nur verstärkt, was bereits dagewesen war. Wie in Alice wurde alles einfach immer seltsamer und seltsamer. Es war eine Sondersitzung des Stadtrats einberufen worden, die ihr Vater besucht hatte, obwohl er da schon krank gewesen war. Frannie, die sich unwirklich und wie unter Drogen vorgekommen war - aber körperlich nicht anders als sonst -, hatte ihn begleitet. Das Rathaus war überfüllt gewesen, viel überfüllter als bei den Versammlungen Ende Februar und Anfang März. Es wurde viel gehustet und geniest und in Taschentücher geschneuzt. Die Anwesenden waren ängstlich und scheinbar darauf aus, beim geringsten Grund Wutausbrüche zu bekommen. Sie sprachen mit lauten, heiseren Stimmen. Sie standen auf. Sie drohten mit den Fäusten. Sie lamentierten. Viele - und nicht nur Frauen - hatten geweint. Anlaß war die Entscheidung gewesen, die Stadt vollkommen abzuriegeln. Niemand durfte hinein. Einwohner durften die Stadt zwar verlassen, mußten sich aber darüber im klaren sein, daß sie nicht zurückkommen konnten. Die Zufahrtssraßen von und zur Stadt - allen voran die US 1 - sollten mit Autos verbarrikadiert werden (nach einem brüllenden Wortwechsel, der über eine halbe Stunde andauerte, bekam der städtische Fuhrpark diese Aufgabe zugewiesen), Freiwillige sollten an drei Straßensperren mit Schrotflinten Wache stehen. Wer versuchen wollte, auf der US 1 nach Norden oder Süden zu fahren, sollte nach Norden über Wells und nach Süden über York umgeleitet werden, wo er auf die Interstate 95 gelangen und damit Ogunquit umfahren konnte. Wenn trotzdem jemand durchwollte, sollten die Waffen sprechen. Erschießen? fragte jemand. Jede Wette, antworteten mehrere andere. Eine kleine, etwa zwanzig Personen starke Gruppe sprach sich dafür aus, daß die bereits Erkrankten sofort aus der Stadt geschafft werden sollten. Sie wurden mit überwältigender Mehrheit überstimmt, denn am Abend des 24., als die Versammlung abgehalten wurde, hatten alle in der Stadt, die nicht selbst krank waren, Verwandte oder Freunde, die es waren. Viele glaubten den Nachrichten, in denen mitgeteilt wurde, daß in Kürze ein Impfstoff zur Verfügung stehen würde. Wie, argumentierten sie, sollte man einander je wieder in die Augen sehen können, wenn sich alles nur als ernst, aber vorübergehend entpuppte und man die Eigenen ausgesetzt hatte wie Parias? Daraufhin wurde vorgeschlagen, man sollte alle kranken Sommergäste ausweisen. Die Sommergäste, ein gewaltiges Kontingent, wiesen darauf hin, dass sie jahrelang die Schulen, Straßen, Obdachlosen und öffentlichen Strande der Stadt mit ihren Steuern unterstützt hatten, die sie für ihre Sommerhäuser bezahlten. Geschäfte, die von Mitte September bis Mitte Juni unter dem Existenzminimum wirtschafteten, konnten sich nur mit Hilfe ihrer Sommerdollars über Wasser halten. Wenn man sie derart ungerecht behandelte, konnten sich die Bewohner von Ogunquit darauf verlassen, daß sie nie wiederkehren würden. Dann konnten die Bewohner wieder Hummer und Venusmuscheln fischen und Miesmuscheln aus dem Dreck buddeln, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Vorschlag, die Sommergäste aus der Stadt zu weisen, wurde mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Bis Mitternacht wurden die Barrikaden errichtet, bei Einbruch der nächsten Morgendämmerung, am Morgen des 25., war auf ein paar Leute an den Barrikaden das Feuer eröffnet worden; die meisten wurden nur verwundet, aber drei oder vier wurden getötet. Es handelte sich fast ausschließlich um Menschen, die aus Boston kamen und panisch und blind vor Angst nach Norden flohen. Ein paar von ihnen ließen sich bereitwillig nach York zur Mautstraße umleiten, andere waren so von Sinnen, daß sie nicht kapierten und versuchten, die Barrikaden zu rammen oder über die Böschung um sie herumzufahren. Man wurde mit ihnen fertig. Aber am selben Abend waren fast alle Männer an den Barrikaden selbst krank, glühten vor Fieber und mußten ständig die Schrotflinten zwischen die Beine stellen, damit sie sich die Nasen schneuzen konnten. Ein paar, zum Beispiel Freddy Delancey und Curtis Beauchamp, fielen einfach bewußtlos um und wurden später ins Notlazarett im Rathaus gefahren, wo sie starben. Gestern morgen hatte sich Frannies Vater, der sich gegen die Barrikaden ausgesprochen hatte, ins Bett gelegt, und Frannie blieb zu Hause und versorgte ihn. Er duldete nicht, daß sie ihn ins Krankenhaus brachte. Wenn er schon sterben mußte, sagte er Frannie, dann hier zu Hause, abgeschieden und mit Anstand. Am Nachmittag war der Verkehr fast völlig zum Erliegen gekommen. Gus Dismore, der Parkwächter am öffentlichen Strand, sagte, seiner Schätzung nach waren so viele Autos auf den Straßen liegengeblieben, daß nicht einmal mehr geübte Fahrer (oder Fahrerinnen) durchkommen konnten, was ganz gut war, denn am Nachmittag des 25. konnten nicht einmal mehr drei Dutzend Männer Wache stehen. Gus, dem es bis gestern ausgezeichnet gegangen war, hatte selbst eine laufende Nase bekommen. Der einzige in der ganzen Stadt, außer ihr selbst, dem es noch einwandfrei zu gehen schien, war Amy Lauders sechzehnjähriger Bruder Harold. Amy selbst war kurz vor der ersten Stadtversammlung gestorben, ihr Hochzeitskleid hing noch ungetragen im Schrank. Fran war heute nicht weggewesen, und seit Gus gestern nachmittag bei ihr gewesen war, hatte sie niemanden mehr gesehen. Heute morgen hatte sie ein paarmal Motoren gehört, und einmal ganz in der Nähe die Doppelexplosion einer Schrotflinte, aber das war alles. Die anhaltende, ununterbrochene Stille verstärkte das Gefühl des Unwirklichen noch. Und jetzt waren viele Fragen zu bedenken. Fliegen... Augen... Kuchen. Frannie stellte fest, daß sie dem Kühlschrank lauschte. Der verfügte über eine automatische Eiswürfelmaschine, und etwa alle zwanzig, Sekunden ertönte im Innern ein kaltes Poltern, wenn ein neuer Eiswürfel ausgeworfen wurde. Sie blieb fast eine Stunde vor ihrem Teller sitzen, immer noch mit diesem dumpfen, halb fragenden Gesichtsausdruck. Ganz allmählich kam ihr ein anderer Gedanke - eigentlich zwei Gedanken, die zusammenzuhängen und doch nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Waren sie vielleicht verbundene Teile eines größeren Gedankens? Sie dachte darüber nach, hörte aber trotzdem mit einem Ohr zu, wie Würfel aus der Eiswürfelmaschine des Kühlschranks polterten. Der erste Gedanke war, daß ihr Vater nicht mehr lebte; er war zu Hause gestorben, und so hätte er es gewollt. Der zweite Gedanke hatte mit diesem Tag zu tun. Es war ein herrlicher Sommertag, makellos; wegen solcher Tage kamen die Touristen an die Küste von Maine. Man kommt nicht zum Schwimmen her, denn dafür ist das Wasser eigentlich nie warm genug; man kommt, um sich von solchen Tagen verzaubern zu lassen. Die Sonne schien hell, und Franny konnte das Thermometer lesen, das draußen vor dem hinteren Küchenfenster hing. Die Quecksilbersäule zeigte knapp unter siebenundzwanzig Grad an. Es war ein wunderschöner Tag, und ihr Vater war tot. Gab es einen anderen Zusammenhang außer dem offensichtlichen Tränendrüsendrücker? Sie dachte stirnrunzelnd darüber nach, ihre Augen waren verwirrt und apathisch. Ihre Gedanken kreisten um das Problem und schweiften dann ab zu anderen Dingen. Aber sie kamen immer wieder darauf zurück. Es war ein schöner warmer Tag, und ihr Vater war tot. Das machte ihr plötzlich alles bewußt, und sie machte die Augen zu, als sei sie geschlagen worden. Gleichzeitig zuckten ihre Hände unwillkürlich auf der Tischdecke und zerrten den Teller auf den Fußboden. Er zersplitterte wie eine Bombe, und Franny schrie und fuhr sich mit den Händen an die Wangen, die unter ihren Fingern Falten bildeten. Die unbestimmte, apathische Ferne verschwand aus ihren Augen, die plötzlich hart und fest blickten. Es war, als hätte man ihr eine kräftige Ohrfeige gegeben oder eine offene Ammoniakflasche unter die Nase gehalten. Man kann eine Leiche nicht im Haus behalten. Nicht im Hochsommer. Die Apathie kam wieder zurück und nahm dem Gedanken die Konturen. Das ganze Ausmaß des Entsetzens wurde verschwommen, gedämpft. Sie lauschte wieder dem leisen Klirren und Fallen der Eiswürfel... Sie kämpfte dagegen an. Sie sprang auf, ging zur Spüle, drehte das kalte Wasser voll auf und spritzte sich aus hohlen Händen ins Gesicht, ein angenehmer Schock für ihre leicht verschwitzte Haut. Sie konnte ihre Gedanken abschweifen lassen, soviel sie wollte, aber zuerst mußte dieses Problem gelöst werden. Sie konnte ihn nicht einfach dort oben im Bett liegenlassen, wenn der Juni in den Juli überging. Das wäre zu sehr wie die Geschichte von Faulkner, die in allen College-Lesebüchern zu finden war, »Eine Rose für Emily«. Die Stadtväter hatten nicht gewußt, um was es sich bei dem entsetzlichen Gestank handelte, aber nach einer Weile war er verschwunden. Er... er... »Nein!« schrie sie laut in die sonnige Küche hinein. Sie lief hin und her und dachte darüber nach. Ihr erster Gedanke galt dem örtlichen Bestattungsunternehmer. Aber wer würde... würde... »Hör auf, dich davor zu drücken!« schrie sie wütend in die leere Küche. »Wer wird ihn begraben?« Und beim Klang ihrer eigenen Stimme fiel ihr auch die Antwort ein. Es war völlig klar. Sie natürlich. Wer sonst? Sie selbst. Es war zwei Uhr dreißig nachmittags, als sie ein Auto in die Einfahrt einbiegen hörte, dessen starker Motor bei niedriger Drehzahl selbstgefällig schnurrte. Frannie stellte den Spaten an den Rand der Grube - sie hob sie im Garten zwischen Tomaten und Salat aus - und drehte sich ein wenig ängstlich um. Das Auto war ein brandneuer Cadillac Coupe de Ville, flaschengrün, und heraus stieg der fette sechzehnjährige Harold Lauder. Frannie empfand sofort Widerwillen. Sie mochte Harold nicht und kannte auch keinen, der ihn mochte, einschließlich seiner verstorbenen Schwester Amy. Wahrscheinlich hatte seine Mutter ihn gemocht. Frannie nahm voll müder Ironie zur Kenntnis, daß der einzige Mensch, der sich außer ihr noch in Ogunquit aufhielt, ausgerechnet einer der wenigen sein mußte, die sie nicht ausstehen konnte. Harold gab das literarische Magazin der High School von Ogunquit heraus und schrieb seltsame Kurzgeschichten, die im Präsens oder vom Standpunkt der zweiten Person aus geschrieben waren, oder beides. Du kommst den Korridor des Deliriums entlang, zwängst dich mit der Schulter durch die gesplitterte Tür und siehst dir die Stars der Rennbahn an - das war Harolds Stil. »Er wichst sich in die Unterhosen«, hatte Amy Fran einmal im Vertrauen erzählt. »Eklig, was? Wichst sich in die Unterhosen und trägt dasselbe Paar so lange, bis sie von alleine stehen.« Harold hatte schwarzes, fettiges Haar. Er war ziemlich groß, ungefähr ein Meter fünfundachtzig, aber er wog fast hundertzwanzig Kilo. Er trug gern spitze Cowboystiefel und einen breiten Ledergürtel, den er ständig hochzog, weil seine Wampe um einiges dicker war als sein Hinterquartier, dazu geblümte Hemden, die sich um ihn bauschten wie Stagsegel. Frannie war es gleichgültig, wie oft er wichste, wieviel er wog und ob er in dieser Woche Wright Morris oder Hubert Selby jr. imitierte. Aber wenn sie ihn sah, fühlte sie sich immer unbehaglich und leicht angeekelt, als ob sie fast telepathisch spürte, daß jeder Gedanke, den Harold hatte, leicht mit Schleim überzogen war. Sie glaubte nicht, daß Harold gefährlich werden könnte, nicht einmal in dieser Situation, aber er würde wahrscheinlich genauso unangenehm sein wie immer, vielleicht noch unangenehmer. Er hatte sie nicht gesehen. Er sah am Haus empor. »Jemand da?« schrie er. Dann griff er durch das Fenster in den Cadillac und drückte auf die Hupe. Das Geräusch zerrte an Frannies Nerven. Sie hätte sich ruhig verhalten, aber wenn Harold sich umdrehte, um wieder ins Auto einzusteigen, mußte er die Grube sehen, auf deren Rand sie saß. Einen Augenblick war sie versucht, tiefer in den Garten zu kriechen, um sich zwischen Erbsen und Bohnen hinzulegen und darauf zu warten, bis er die Geduld verlor und wieder wegfuhr. Hör auf, sagte sie sich, hör doch auf. Er ist schließlich auch nur ein Mensch. »Hier, Harold«, rief sie. Harold zuckte zusammen, seine fetten Hinterbacken wackelten in der engen Hose. Offensichtlich hatte er nur einen Versuch gemacht und gar nicht damit gerechnet, jemanden anzutreffen. Er drehte sich um, und Fran ging zum Rand des Gartens, strich sich über die Beine und fand sich resigniert damit ab, daß sie nur Turnhosen und ein Oberteil anhatte und angestarrt werden würde. Harolds Augen krochen förmlich über sie, während er ihr entgegenkam. »Schau an, Fran«, sagte er glücklich. »Hi, Harold.« »Ich hab' gehört, daß du dieser schrecklichen Krankheit erfolgreich getrotzt hast, darum war hier mein erster Halt. Ich klappere die Stadt ab.« Er lächelte und entblößte Zähne, die bestenfalls eine flüchtige Beziehung mit einer Zahnbürste haben konnten. »Ich war sehr traurig, als ich das mit Amy gehört habe, Harold. Sind deine Mutter und dein Vater...« »Leider ja«, sagte Harold. Er ließ den Kopf einen Augenblick hängen, dann riß er ihn so ruckartig hoch, daß die verklebten Haare flogen. »Aber das Leben geht weiter, oder?« »Glaub' schon«, sagte Fran müde. Sein Blick war wieder auf ihre Brüste gerichtet und tanzte dort, und sie wünschte sich einen Pullover. »Wie gefällt dir mein Auto?« »Gehört Mr. Brannigan, nicht?« Roy Brannigan war ein hiesiger Immobilienmakler. »Gehörte«, sagte Harold gleichgültig. »Ich war immer der Meinung, wer in diesen mageren Zeiten so ein vorsintflutliches Monster fährt, müßte am nächsten Sunoco-Schild aufgehängt werden, aber das ist jetzt alles anders geworden. Weniger Leute heißt mehr Benzin.« Benzin, dachte Fran benommen, er hat tatsächlich Benzin gesagt. »Mehr von allem«, fügte Harold hinzu. Seine Augen bekamen ein verstohlenes Funkeln, während er ihren Nabel studierte, ihr wieder ins Gesicht sah, dann zu den Turnhosen hinunter und wieder in ihr Gesicht. Sein Lächeln war fröhlich und unbehaglich zugleich. »Harold, wenn du mich bitte entschuldigen würdest...« »Was in aller Welt kannst du zu tun haben, mein Kind?« Das Gefühl des Unwirklichen kam wieder, und sie fragte sich, wieviel das menschliche Gehirn aushaken konnte, bevor es zerriß wie ein überdehntes Gummiband. Meine Eltern sind tot, das kann ich ertragen. Eine seltsame Krankheit scheint sich über das ganze Land verbreitet zu haben, möglicherweise über die ganze Welt, und mäht die Gerechten und die Ungerechten gleichermaßen hinweg - das kann ich ertragen. Ich hebe in dem Garten, in dem mein Vater noch vor einer Woche Unkraut gejätet hat, eine Grube aus, und wenn sie tief genug ist, werde ich ihn hineinlegen - ich glaube, auch das kann ich ertragen. Aber Harold Lauder in Roy Brannigans Cadillac? Harold Lauder, der mich mit den Augen auszieht und mich »mein Kind« nennt? Das weiß ich nicht, lieber Gott. Das weiß ich einfach nicht. »Harold«, sagte sie geduldig. »Ich bin nicht dein Kind. Ich bin fünf Jahre älter als du. Es ist biologisch unmöglich, daß ich dein Kind bin.« »Nur eine Redewendung«, sagte er und blinzelte angesichts ihrer beherrschten Wut. »Was ist das eigentlich? Dieses Loch?« »Ein Grab. Für meinen Vater.« »Oh«, sagte Harold Lauder mit leiser, unbehaglicher Stimme. »Ich will einen Schluck Wasser trinken, bevor ich weitermache. Um ehrlich zu sein, Harold, es wäre mir lieber, wenn du gleich wieder gehen würdest. Ich bin außer mir.« »Das kann ich verstehen«, sagte er steif. »Aber Fran... im Garten?« Sie war zum Haus gegangen, aber jetzt drehte sie sich wütend zu ihm um. »Was würdest du denn vorschlagen? Soll ich ihn in einen Sarg legen und zum Friedhof schleppen? Wozu, in Gottes Namen? Er hat seinen Garten geliebt. Und was kümmert dich das überhaupt? Was geht es dich an?« Sie fing an zu weinen. Sie drehte sich um und lief in die Küche, wobei sie fast gegen die vordere Stoßstange des Cadillacs gestoßen wäre. Sie wußte, Harold würde ihre wogenden Pobacken anstarren und das Material für die Pornofilme speichern, die dauernd in seinem Kopf liefen, und das machte sie wütender, trauriger und weinerlicher denn je. Die Küchentür fiel krachend hinter ihr ins Schloß. Sie ging zur Spüle und trank drei Gläser kaltes Wasser. Zu schnell. Eine Silbernadel des Schmerzes bohrte sich in ihre Stirn. Ihr überrumpelter Magen krampfte sich zusammen, sie hielt den Kopf einen Moment über das Emaillebecken, kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und wartete, ob sie sich übergeben mußte. Nach einem Augenblick meldete ihr Magen, daß er das kalte Wasser akzeptieren würde, wenn auch nur probeweise. »Fran?« Die Stimme war tief und zögernd. Sie drehte sich um und sah Harold mit an den Seiten schlaff herabhängenden Händen vor der Tür stehen. Er sah besorgt und unglücklich aus, und plötzlich tat er Fran leid. Harold Lauder, der in Roy Brannigans Cadillac durch die traurige, verlassene Stadt kreuzte, Harold Lauder, der sich wahrscheinlich noch nie in seinem Leben mit einem Mädchen verabredet hatte und dabei noch so tat, als würde er damit seine Verachtung für alles Weltliche ausdrücken. Verabredungen, Mädchen, Freunde, alles. Ihn selbst wahrscheinlich eingeschlossen. »Harold, es tut mir leid.« »Nein, ich hatte kein Recht, etwas zu sagen. Hör zu, wenn du willst, helfe ich dir.« »Danke, aber ich mache es lieber allein. Es ist...« »Es ist etwas Persönliches. Natürlich, das verstehe ich.« Sie hätte sich einen Pullover aus dem Küchenschrank nehmen können, aber er hätte natürlich gewußt, warum, und sie wollte ihn nicht wieder in Verlegenheit bringen. Harold gab sich größte Mühe, ein guter Junge zu sein - was für ihn ungefähr so sein mußte, als würde er versuchen, eine fremde Sprache zu sprechen. Sie ging wieder auf die Veranda hinaus, und einen Augenblick standen sie nur da, sahen in den Garten und in das Loch, um dessen Ränder Erde aufgeworfen war. Der Nachmittag summte feierlich um sie herum, so als wäre überhaupt nichts geschehen. »Was machst du jetzt?« fragte sie Harold. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Weißt du...« Seine Stimme verlor sich. »Was?« »Es ist schwer zu sagen. Ich gehöre nicht zu den beliebtesten Leuten in diesem Fleckchen von Neu England. Ich bezweifle, ob man mir im Stadtpark ein Denkmal errichten würde, selbst wenn ich ein berühmter Schriftsteller geworden wäre, wie ich einmal gehofft habe. Offen gesagt, ich glaube, ich bin ein alter Mann mit einem Bart bis zur Gürtelschnalle, bevor es wieder einen berühmten Schriftsteller geben wird.« Sie sagte nichts; sah ihn nur an. »Also!« rief Harold, und sein Körper ruckte, als sei das Wort aus ihm explodiert. »Also ich kann nur staunen, wie unfair das alles ist. Es ist so unfair, daß man es, finde ich jedenfalls, geradezu monströs nennen muß und es mir leichter fällt zu glauben, daß es den Burschen in unserer Zitadelle der Gelehrsamkeit endlich gelungen ist, mich in den Wahnsinn zu treiben.« Er schob sich die Brille auf der Nase hoch, und sie bemerkte voll Mitgefühl, wie schlimm seine Akne wirklich war. Ob ihm nie jemand gesagt hatte, fragte sie sich, daß Seife und Wasser das Problem wenigstens teilweise lösen würden? Oder waren sie alle zu sehr damit beschäftigt gewesen, die hübsche kleine Amy zu beobachten, wie sie mit einem phänomenalen Durchschnitt ihr Studium an der University of Maine absolvierte und unter tausend Studenten ihrer Klasse bei der Abschlußprüfung den dreiundzwanzigsten Platz erreichte? Die hübsche Amy, die so gescheit und lebhaft war, während Harold einem nur auf die Nerven ging. »Wahnsinn«, wiederholte Harold leise. »Ich bin mit einem Anfängerführerschein in einem Cadillac in der Stadt herumgefahren. Und sieh diese Stiefel an.« Er zog die Beine der Jeans etwas hoch und zeigte ihr ein glänzendes Paar Cowboystiefel mit schöner Stickerei. »Sechsundzwanzig Dollar. Ich bin einfach ins Shoe Boat gegangen und hab' mir meine Größe ausgesucht. Ich komme mir wie ein Hochstapler vor. Ein Schauspieler in einem Stück. Es hat heute Augenblicke gegeben, da war ich überzeugt, daß ich verrückt bin.« »Nein«, sagte Frannie. Er roch, als hätte er drei oder vier Tage nicht gebadet, aber das stieß sie nicht mehr ab. »Wie heißt noch die Zeile? Ich werde in deinem Traum sein, wenn du in meinem bist? Wir sind nicht wahnsinnig, Harold.« »Vielleicht wäre es besser, wenn wir es wären.« »Irgend jemand wird kommen«, sagte Frannie. »Mit der Zeit. Wenn diese Krankheit, was es auc h ist, sich ausgebrannt hat.« »Wer?« »Jemand von der Regierung«, sagte sie unsicher. »Jemand, der... nun... der alles wieder in Ordnung bringt.« Er lachte bitter. »Mein liebes Kind... entschuldige, Fran. Fran, die Leute von der Regierung sind doch daran schuld. Wenn es darum geht, alles wieder in Ordnung zu bringen, sind sie sehr gut. Sie haben die Rezession, die Umweltverschmutzung, die Ölknappheit und den kalten Krieg auf einen Schlag bereinigt. Sie haben alles genauso gelöst wie Alexander der Große das Problem des gordischen Knotens - mit einem einzigen Schwerthieb.« »Aber es ist nur eine gefährliche Grippe, Harold. Das habe ich im Radio gehört...« »Aber so macht Mutter Natur das nicht, Fran. Deine Leute von der Regierung haben einen Haufen Bakteriologen, Virologen und Epidemiologen in einem regierungseigenen Forschungslabor zusammengepfercht, um herauszufinden, wie viele komische Viecher sie sich gemeinsam ausdenken können. Bakterien, Viren, Krankheitserreger, was weiß ich. Und eines Tages ist einer dieser hochbezahlten Handlanger dahergekommen und hat gesagt: >Seht euch an, was ich gemacht habe. Es bringt praktisch jeden um. Ist das nicht toll?< Und sie haben ihm einen Orden gegeben, eine Gehaltserhöhung und ein Sommerhaus auf dem Land, und dann hat jemand seine Erfindung verschüttet.« Er verstummte. Dann: »Was wirst du machen, Fran?« »Meinen Vater begraben«, sagte sie leise. »Oh... klar.« Er sah sie einen Augenblick an und sagte dann schnell: »Hör mal, ich verschwinde von hier. Raus aus Ogunquit. Wenn ich noch länger bleibe, werde ich wirklich wahnsinnig, Fran, warum kommst du nicht mit mir?« »Wohin?« »Ich weiß es nicht. Noch nicht.« »Gut, wenn dir ein Ort einfällt, kannst du mich ja noch mal fragen.« Harold strahlte. »Okay, mach' ich. Es... weißt du, es ist eine Frage von...« Er verstummte und ging wie benommen die Verandatreppe hinunter. Seine neuen Cowboystiefel glänzten in der Sonne. Fran sah ihm belustigt und traurig zugleich nach. Bevor er sich ans Steuer des Caddy setzte, winkte er. Fran winkte zurück. Der Wagen bockte unprofessionell, als Harold den Rückwärtsgang einlegte und ruckend und quietschend in der Einfahrt zurücksetzte. Er schwenkte nach links; die äußeren Räder rollten über Carlas Blumen, und als er auf die Straße einbog, wäre er fast in den Straßengraben gerutscht. Dann hupte er zweimal und war verschwunden. Fran blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann ging sie wieder in den Garten ihres Vaters. Irgendwann nach vier Uhr zwang sie sich, mit schleppenden Schritten nach oben zu gehen. Von Hitze und Anstrengung und der inneren Anspannung hatte sie in Schläfen und Stirn pochende Kopfschmerzen bekommen. Sie hatte sich gesagt, daß sie noch einen Tag warten konnte, aber das würde alles nur noch schlimmer machen. Unter dem Arm trug sie die beste Damasttischdecke ihrer Mutter, die nur zu feierlichen Anlässen benützt wurde. Es ging nicht so gut, wie sie gehofft hatte, aber es war auch nicht annähernd so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Fliegen landeten auf seinem Gesicht und rieben die haarigen Vorderbeine aneinander und flogen wieder weg, und seine Haut hatte eine staubgraue Färbung angenommen, aber die Arbeit im Garten hatte ihn so gebräunt, dass es kaum auffiel... das heißt, wenn man beschloß, es nicht zu merken. Kein Geruch, und davor hatte sie am meisten Angst gehabt. Das Bett, in dem er gestorben war, war das Doppelbett, in dem er jahrelang mit Carla gelegen hatte. Sie breitete das Tischtuch auf der Seite ihrer Mutter aus, so daß dessen Saum Arm, Hüfte und Bein ihres Vaters berührte. Dann schluckte sie fest (ihr Kopf pochte schlimmer denn je) und machte sich bereit, ihren Vater auf sein Leichentuch zu rollen. Peter Goldsmith hatte seinen gestreiften Pyjama an, was ihr unangemessen frivol vorkam, aber es ging nun mal nicht anders. Den Gedanken, ihn erst aus- und dann wieder anzuziehen, konnte sie nicht ertragen. Sie wappnete sich und ergriff seinen linken Arm - der so hart und unnachgiebig wie ein Möbelstück war -, zog und drehte ihn um. Als sie das tat, gab er einen teuflischen Rülpslaut von sich, einen Rülpser, der nicht mehr aufzuhören und in seinem Hals zu rasseln schien, als wäre eine Grille hineingekrochen und hätte nun in der dunklen Röhre angefangen zu singen. Sie kreischte, wich zurück und stieß den Nachttisch um. Sein Kamm, die Bürsten, der Wecker, ein kleiner Stapel Wechselgeld und ein paar Krawattennadeln und Manschettenknöpfe fielen klimpernd zu Boden, jetzt hatte sie ihren Geruch, einen verwesten Gasgeruch, und der letzte schützende Nebel, der sie umhüllt hatte, löste sich auf - sie wußte die Wahrheit. Sie sank auf die Knie, schlang die Arme um den Kopf und schluchzte. Sie begrub keine lebensgroße Puppe, sie begrub ihren Vater, und der letzte Rest seines Menschseins, der allerletzte, war dieser flüssige Gasgeruch, der jetzt in der Luft hing. Auch der würde sich bald verzogen haben. Die Welt wurde grau, und die Laute ihres Kummers, wimmernd und unaufhörlich, schienen aus weiter Ferne zu kommen, als würde jemand anders sie ausstoßen, vielleicht eine der kleinen braunen Frauen, die man in Nachrichtensendungen sah. Etwas Zeit verging, sie hatte keine Ahnung, wieviel, und dann kam sie allmählich wieder zu sich und wußte, daß die Arbeit immer noch getan werden mußte. Alle Verrichtungen, die sie vorher nicht über sich gebracht hätte. Sie ging zu ihm und drehte sich um. Er rülpste noch einmal, jetzt leise und erlöschend. Sie küßte ihn auf die Stirn. »Ich liebe dich, Daddy«, sagte sie. »Ich liebe dich, Frannie liebt dich.« Ihre Tränen fielen auf sein Gesicht und glitzerten dort. Sie zog ihm den Pyjama aus und seinen besten Anzug an, und sie achtete nicht auf das Pochen im Rücken, die Schmerzen in Armen und Hals, wenn sie jeden Teil seines Gewichts hochheben, ankleiden, fallenlassen und sich dem nächsten Teil zuwenden mußte. Sie schob ihm zwei Bände vom Buch des Wissens unter den Kopf, damit sie ihm die Krawatte binden konnte. In der untersten Schublade, unter den Socken, fand sie seine Orden von der Armee - das Purple Heart, Verdienstmedaillen und Auszeichnungen für einzelne Schlachten... und den Bronze Star, den er in Korea bekommen hatte. Sie befestigte sie alle am Aufschlag. Im Badezimmer fand sie Johnson's Babypuder und puderte ihm Gesicht, Hals und Hände. Der vertraute süßliche Geruch des Puders ließ ihr wieder die Tränen kommen. Vor Erschöpfung hatte sie dunkle Ringe unter den Augen. Sie faltete das Tischtuch über ihn, holte das Nähzeug ihrer Mutter und nähte den Saum zu. Sie schlug den Saum doppelt und nähte noch einmal. Mit einem schluchzenden, pfeifenden Grunzen zog sie die Leiche auf den Fußboden, ohne sie fallen zu lassen. Dann ruhte sie sich halb ohnmächtig eine Weile aus. Als sie spürte, daß sie weitermachen konnte, packte sie die Leiche am oberen Ende, zog sie bis zur Treppe und trug sie dann, so vorsichtig sie konnte, ins Erdgeschoß hinunter. Sie hielt erneut inne und atmete schnell und keuchend. Ihre Kopfschmerzen waren jetzt rasend, sie bohrten sich wie Nadeln in ihr Hirn, ein rasches, explosionsartiges Stechen. Sie schleifte die Leiche durch die Diele, durch die Küche und auf die Veranda. Die Verandastufen hinunter. Dann mußte sie wieder eine Pause machen. Das goldene Licht des frühen Abends lag jetzt über dem Land. Sie hielt wieder inne und setzte sich neben ihn, den Kopf auf die Knie gesenkt, wippte hin und her und weinte. Vögel zwitscherten. Nach einer Weile war sie imstande, ihn in den Garten zu ziehen. Schließich war es vollbracht. Als sie die letzten Grassoden an ihren Platz legte (sie hatte sie auf den Knien zusammengesetzt, wie ein Puzzlespiel), war es Viertel nach acht. Sie war schmutzig. Nur um ihre Augen herum war die Haut noch weiß; Tränen hatten diese Stelle reingewaschen. Sie taumelte vor Erschöpfung. Das Haar klebte ihr in matten Strähnen an den Wangen. »Ruhe in Frieden, Daddy«, murmelte sie. »Bitte.« Sie trug den Spaten in den Geräteschuppen ihres Vaters zurück und warf ihn achtlos hinein. Als sie die sechs Stufen zur Veranda hochstieg, mußte sie zweimal stehenbleiben. Sie ging durch die Küche, ohne das Licht einzuschalten, und streifte die Turnschuhe ab, als sie den Salon betrat. Sie sank auf die Couch und schlief sofort ein. Im Traum stieg sie wieder die Treppe hoch, zu ihrem Vater, um ihre Pflicht zu tun und ihn anständig unter die Erde zu bringen. Aber als sie den Raum betrat, lag das Tischtuch schon über der Leiche, und ihre Trauer über den Verlust verwandelte sich in etwas anderes... etwas wie Angst. Sie ging durch das dunkle Zimmer, ohne es zu wollen; sie wollte nur fliehen, aber sie konnte nicht stehenbleiben. Das Tischtuch schimmerte im Schatten, geisterhaft, abstoßend und sie wußte: Nicht ihr Vater lag darunter. Und was darunter lag, war nicht tot. Etwas - jemand - von dunklem Leben und böser Heiterkeit erfüllt, lag darunter, und sie hätte um ihr Leben nicht das Tischtuch wegziehen können, aber sie konnte ihre Füße nicht zwingen stehenzubleiben. Sie streckte die Hand aus, ließ sie über dem Tischtuch schweben - und riß es zurück. Er grinste, aber sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Eine Woge eisiger Kälte schlug ihr von diesem entsetzlichen Grinsen entgegen. Nein, sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie sah das Geschenk, das diese schreckliche Erscheinung für ihr ungeborenes Kind mitgebracht hatte: einen verbogenen Kleiderbügel. Sie floh, floh aus dem Zimmer, aus dem Traum, kam hoch und erwachte kurz... Erwachte kurz um drei Uhr in der Dunkelheit des Salons, schlug die Augen auf, und ihr Körper trieb auf der Gischt der Angst, während der Traum zerfaserte und verwehte und ein Gefühl kommenden Unheils hinterließ, wie den ranzigen Nachgeschmack einer verdorbenen Mahlzeit. In diesem Augenblick zwischen Schlafen und Wachen dachte sie: Er, er ist es, der Wandelnde Geck, der Mann ohne Gesicht. Dann schlief sie weiter, diesmal traumlos, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, konnte sie sich nicht mehr an den Traum erinnern. Aber als sie an das Baby in ihrem Leib dachte, wurde sie von einem heftigen Gefühl der Fürsorge ergriffen, das so tief und so intensiv war, daß es sie verwirrte und ängstigte. 29 Am selben Abend, als Larry Underwood mit Rita Blakemoor schlief und Frannie Goldsmith allein schlief und ihren sonderbaren, geheimnisvollen Traum träumte, wartete Stuart Redman auf Eider. Er hatte schon drei Tage auf ihn gewartet - und heute abend enttäuschte Eider ihn nicht. Am Vierundzwanzigsten gleich nach Mittag waren Eider und zwei Pfleger gekommen und hatten das Fernsehgerät abgeholt. Die Pfleger hatten es von der Wand genommen, während Eider seinen Revolver (säuberlich in eine Plastikhülle gewickelt) auf Stu gerichtet hielt. Zu der Zeit wollte und brauchte Stu das Fernsehgerät nicht mehr - es wurde ohnehin nur noch jede Menge verworrener Mist gesendet. Er konnte nur noch an seinem vergitterten Fenster sitzen und auf die Stadt und den Fluß hinuntersehen. Wie der Mann auf der Schallplatte sagte, »you don't need a weatherman to know which way the wind blows« - man braucht keinen Meteorologen, um zu wissen, woher der Wind weht. Aus den Schornsteinen der Textilfabrik quoll kein Rauch mehr. Die fröhlichen Streifen und Flecken der Farben auf dem Fluß waren verschwunden, das Wasser floß wieder klar und sauber. Die meisten Autos, die aus der Entfernung wie, glitzerndes Spielzeug aussahen, hatten den Parkplatz der Textilfabrik verlassen und waren nicht zurückgekehrt. Gestern, am Sechsundzwanzigsten, fuhren nur noch wenige Autos auf der Mautstraße, und diese wenigen mußten wie Skiläufer bei einem Slalomrennen um die liegengebliebenen Wagen herumfahren. Kein Abschleppwagen war gekommen, um die Fahrzeuge wegzuschaffen. Das Gebiet der Innenstadt breitete sich wie eine Reliefkarte unter ihm aus, und es wirkte völlig menschenleer. Die Turmuhr, die die Stunden seiner Gefangenschaft gezählt hatte, war seit heute morgen um neun Uhr verstummt, als die kleine Melodie, die jedem Stundenschlag vorausging, schon langgezogen und seltsam geklungen hatte, wie eine Melodie, die unter Wasser von einer absaufenden Musicbox gespielt wurde. Außerhalb der Stadt war in einem Gebäude, das aussah wie ein Cafe oder ein kleines Kaufhaus, ein Feuer ausgebrochen. Es hatte den ganzen Nachmittag wie verrückt gebrannt, schwarzer Qualm war in den blauen Himmel gestiegen, aber keine Feuerwehrfahrzeuge waren zum Löschen gekommen. Wenn das Gebäude nicht mitten auf einem asphaltierten Parkplatz gestanden hätte, vermutete Stu, dann hätte die halbe Stadt in Flammen aufgehen können. Heute abend rauchten die Trümmer immer noch, obwohl es am Nachmittag geregnet hatte. Stu nahm an, daß Eiders letzter Auftrag darin bestand, ihn zu töten. Warum auch nicht? Er wäre nur eine weitere Leiche, und er kannte ihr kleines Geheimnis. Es war ihnen nicht gelungen, ein Gegenmittel zu entwickeln oder festzustellen, welche körperliche Besonderheit ihn von allen denen unterschied, die der Krankheit erlegen waren. Der Gedanke, daß es wahrscheinlich nur noch verschwindend wenig Menschen gab, denen er ihr Geheimnis hätte mitteilen können, hatte wahrscheinlich keinen Eingang in ihre Berechnungen gefunden. Er war ein loser Faden, der von einer Bande dummer Arschlöcher als Geisel gehalten wurde. Stu war sicher, daß dem Helden einer Fernsehserie oder eines Romans eine Fluchtmöglichkeit eingefallen wäre, sogar ein paar Leuten im wirklichen Leben, aber zu diesen Leuten gehörte er nicht. Zuletzt hatte er in einer Art panischer Resignation beschlossen, ganz einfach auf Eider zu warten, allzeit bereit., Eider war das beste Indiz dafür, daß auch dieses Institut von der Krankheit infiltriert war, die yom Personal manchmal als »Blau« und manchmal als »Supergrippe« bezeichnet wurde. Die Schwestern nannten ihn Dr. Eider, aber er war kein Doktor. Er war Mitte Fünfzig, hatte eiskalte Augen und war völlig humorlos. Keiner der Ärzte vor Eider hatte es für nötig gehalten, eine Waffe auf ihn zu richten. Eider machte Stu angst, denn einem solchen Mann konnte man weder mit vernünftigen Argumenten noch mit Bitten kommen. Eider wartete auf Befehle. Wenn sie eintrafen, würde er sie ausführen. Er war ein Lanzenträger, die Armee-Version eines Mafia-Killers, und es würde ihm nie einfallen, seine Befehle im Lichte der tatsächlichen Ereignisse zu hinterfragen. Vor drei Jahren hatte Stu ein Buch mit dem Titel Watership Down gekauft, das er einem Neffen in Waco schicken wollte. Er hatte einen Karton geholt, um das Buch einzupacken, aber da ihm Geschenkeeinpacken noch mehr mißfiel als Lesen, hatte er die erste Seite aufgeschlagen und gedacht, will doch mal nachsehen, um was es geht. Er hatte die erste Seite gelesen, dann die zweite... und dann war er gebannt gewesen. Er war die ganze Nacht wach geblieben, hatte Kaffee getrunken, Zigaretten geraucht und sich zäh durchgebissen, wie es ein Mann eben macht, der nicht daran gewöhnt ist, zur Unterhaltung zu lesen. Wie sich herausstellte, handelte das Buch von Kaninchen, Herrgott noch mal. Die dümmsten, feigsten Tiere auf Gottes Erde... aber der Bursche, der das Buch geschrieben hatte, schilderte sie anders. Man mochte sie wirklich. Es war eine verdammt gute Geschichte, und Stu, der im Schneckentempo las, hatte sie zwei Tage später durch. Am deutlichsten blieb ihm ein Ausdruck aus dem Buch im Gedächtnis: »tharn werden« oder einfach nur »tharn«. Das begriff er sofort, denn er hatte jede Menge Tiere gesehen, die tharn geworden waren, und er hatte auch schon welche auf dem Highway überfahren. Ein Tier, das tharn geworden war, kauerte mit angelegten Ohren mitten auf der Straße, sah dem Auto entgegen, das dahergerast kam, und konnte dem sicheren Tod nicht entfliehen. Ein Hirsch konnte schon tharn werden, wenn ihm Autoscheinwerfer in die Augen leuchteten. Laute Musik wirkte bei einem Waschbären, unablässiges Pochen gegen den Käfig bei einem Papagei. Eider vermittelte Stu genau dieses Gefühl. Stu sah ihm in die kalten blauen Augen und spürte, wie jegliche Willenskraft aus ihm wich. Wahrscheinlich brauchte Eider nicht einmal die Pistole, um ihn loszuwerden. Elder hatte wahrscheinlich den schwarzen Gurt in Karate, Savate und obendrein jede Menge schmutzige Tricks auf Lager. Was konnte er gegen so einen Mann schon ausrichten? Wenn er nur an Eider dachte, spürte er die Willenskraft entweichen, es auch nur zu versuchen. Tharn. Ein gutes Wort für eine schlimme geistige Verfassung. Kurz nach 22.00 Uhr ging das rote Licht über der Tür an, und Stu spürte, wie ihm auf Armen und Gesicht der Schweiß ausbrach. So war es jedesmal, wenn das rote Licht anging, denn irgendwann einmal würde Eider alleine kommen. Er würde alleine kommen, weil er keine Zeugen wollte. Irgendwo würde es ein Krematorium geben, um die Opfer der Seuche zu verbrennen. Eider würde ihn verschnüren und hineinschieben. Zack. Kein loses Rädchen mehr. Eider kam zur Tür herein. Allein. Stu saß auf dem Bett und hatte eine Hand auf der Stuhllehne liegen. Als er Eider sah, hatte er das schon vertraute, unangenehme Gefühl im Magen. Er verspürte den altbekannten Drang, eine ganze Sturzflut stammelnder, flehentlicher Worte hervorzustoßen, obwohl er wußte, daß dieses Flehen ihm nichts nützen würde. Das Gesicht hinter dem transparenten Helmvisier des weißen Anzugs war keines Mitleids fähig. Jetzt erschien ihm alles sehr klar, sehr farbig, sehr langsam. Er konnte fast hören, wie seine Augen sich in den feuchten Höhlen drehten, während er Eider mit Blicken ins Zimmer folgte. Er war ein großer, kräftiger Mann, und der weiße Anzug saß zu knapp an ihm. Das Loch am Ende seiner Pistole war so groß wie ein Tunneleingang. »Wie geht es Ihnen?« fragte Eider, und selbst durch den blechern klingenden Lautsprecher hörte Stu den näselnden Klang von Eiders Stimme. Eider war krank. »Wie immer«, sagte Stu und war erstaunt darüber, wie gelassen seine Stimme klang. »Sagen Sie, wann komme ich hier raus?« »Bald«, sagte Eider. Er hielt die Pistole auf Stus ungefähre Richtung, nicht direkt auf ihn, aber auch nicht ganz weg. Er unterdrückte ein Niesen. »Sie sind nicht sehr gesprächig, was?« Stu zuckte die Achseln. »Das schätze ich an einem Mann«, sagte Eider. »Schwätzer sind allesamt Jammerlappen, Schwächlinge und Heulsusen. Was Sie betrifft, Mr. Redman, habe ich vor zwanzig Minuten meine Befehle bekommen. Keine wahnsinnig tollen Befehle, aber ich glaube, Sie werden es durchstehen.« »Was für Befehle?« »Nun, man hat mir befohlen...« Stus Blick zuckte über Eiders Schulter hinweg zum genieteten Rahmen der Luftschleuse. »Allmächtiger!« rief er. »Eine Ratte, was ist denn das für ein Laden, wo es Ratten gibt?« Eider drehte sich um, und Stu war so überrascht vom Erfolg seiner List, daß er beinahe nicht weitergemacht hätte. Dann glitt er vom Bett und packte die Stuhllehne mit beiden Händen, während Eider sich wieder zu ihm umdrehte. Eiders Augen waren plötzlich groß und ängstlich. Stu hob den Stuhl über den Kopf, kam vorwärts, schlug damit zu und legte jedes Gramm seiner neunzig Kilo hinein. »Zurück!« schrie Eider. »Nicht...« Der Stuhl traf krachend seinen rechten Arm. Aus der Pistole löste sich ein Schuß, der Plastikbeutel zerriß und die Kugel prallte heulend vom Fußboden ab. Dann fiel die Pistole auf den Teppich. Stu fürchtete, daß er nur noch einen Schlag mit dem Stuhl landen konnte, bevor Eider sich wieder erholt hatte. Eider wollte den gebrochenen rechten Arm heben, konnte es aber nicht. Ein Stuhlbein krachte auf den Helm des weißen Anzugs. Das Plastikvisier splitterte, Eider in Augen und Nase hinein. Er schrie auf und fiel nach hinten. Er rollte sich auf alle viere, um an die Pistole zu kommen, die auf dem Teppich lag. Stu schwang den Stuhl ein letztes Mal und schmetterte ihn auf Eiders Hinterkopf. Eider brach zusammen. Keuchend bückte Stu sich und hob die Pistole auf. Er trat zurück und richtete sie auf die liegende Gestalt, aber Eider bewegte sich nicht. Einen Augenblick später quälte ihn ein alptraumhafter Gedanke: Wenn Eiders Befehl nun gelautet hatte, ihn freizulassen, nicht zu erschießen? Aber das wäre unsinnig, oder? Wenn Eider den Befehl erhalten hatte, ihn freizulassen, wozu dann das Geschwätz über Wimmern und Winseln? Warum hätte er dann von »keinen wahnsinnig tollen« Befehlen sprechen sollen? Nein - Eider war hergeschickt worden, um ihn umzubringen. Stu betrachtete zitternd die Gestalt am Boden. Wenn Eider jetzt aufstand, überlegte Stu, würde er ihn wahrscheinlich auf kürzeste Entfernung mit allen fünf Kugeln verfehlen. Aber er glaubte nicht, daß Eider aufstehen würde. Jetzt nicht; überhaupt nie mehr. Plötzlich war der Wunsch, hier wegzukommen, so übermächtig, dass er beinahe blind durch die Luftschleuse und in den angrenzenden Raum gestolpert wäre. Er war seit über einer Woche eingesperrt, jetzt wollte er nur noch frische Luft atmen und weit, weit weg von diesem gräßlichen Gefängnis. Aber er mußte vorsichtig sein. Stu ging zur Luftschleuse, trat hinein und drückte einen Knopf mit der Aufschrift MECHANISMUS. Eine Pumpe sprang an, lief kurze Zeit, dann ging die äußere Tür auf. Dahinter lag ein kleiner Raum, der nur mit einem Schreibtisch möbliert war. Draußen lagen ein dünner Stoss medizinischer Diagramme... und seine Kleidungsstücke. Diejenigen, die er auf dem Flug von Braintree nach Atlanta getragen hatte. Der kalte Finger des Grauens berührte ihn wieder. Diese Sachen wären zweifellos mit ihm zusammen im Krematorium gelandet. Medizinische Unterlagen, seine Kleidung. Leb wohl, Stuart Redman. Stuart Redmann wäre zur Unperson geworden. Sogar... Stu hörte ein leises Geräusch hinter sich und fuhr herum. Eider taumelte gebückt auf ihn zu und ließ dabei die Arme schlaff herunterhängen. Ein gezackter Plastiksplitter steckte in einem bluttriefenden Auge. Eider lächelte. »Stehenbleiben!« sagte Stu. Er zielte mit der Pistole, aber obwohl er sie mit beiden Händen hielt, zitterte der Lauf. Eider schien nichts gehört zu haben. Er kam weiter auf Stu zu. Stu verzog das Gesicht und drückte ab. Die Pistole ruckte in seinen Händen. Eider blieb stehen. Das Lächeln war zur Grimasse geworden, als hätte er plötzlich schmerzhafte Blähungen. Jetzt hatte sein weißer Anzug vorn an der Brust ein kleines Loch. Einen Augenblick schwankte er, dann brach er zusammen. Stu konnte ihn einen Moment nur entsetzt anstarren und stolperte dann in den Raum, wo seine persönlichen Habseligkeiten auf dem Schreibtisch gestapelt waren. Er probierte die Tür am anderen Ende des Büros, die sich öffnen ließ. Hinter dem Büro lag ein von gedämpften Neonleuchten erhellter Gang. Auf halbem Weg zu den Fahrstühlen, wahrscheinlich vor der Schwesternstation, stand ein leerer Medikamentenwagen. Er konnte ein schwaches Stöhnen hören. Jemand hustete, ein rauher, würgender Laut, der nicht mehr aufzuhören schien. Er ging ins Büro zurück, sammelte seine Sachen auf und klemmte sie sich unter den Arm. Dann ging er hinaus, machte die Tür hinter sich zu und schritt den Korridor hinunter. Seine Hand schwitzte am Griff von Eiders Pistole. Als er den Wagen erreicht hatte, drehte er sich um, weil Stille und Einsamkeit ihn nervös machten. Der Huster hatte aufgehört. Stu rechnete immer noch damit, daß Eider hinter ihm herkriechen oder -schleichen würde, um seinen letzten Befehl auszuführen. Er ertappte sich dabei, daß er sich nach den geschlossenen und vertrauten Dimensionen seiner Zelle zurücksehnte. Das Stöhnen setzte wieder ein, diesmal lauter. Bei den Fahrstühlen verlief ein zweiter Korridor im rechten Winkel zu diesem, und dort lehnte ein Mann an der Wand, in dem Stu einen seiner Pflege r erkannte. Sein Gesicht war geschwollen und schwarz, die Brust hob und senkte sich in kurzen Stößen. Als Stu ihn ansah, fing er wieder an zu stöhnen. Hinter ihm lag, in Embryohaltung zusammengerollt, ein Toter. Weiter unten im Gang lagen drei weitere Leichen, darunter eine Frau. Der Pfleger - Vic, erinnerte sich Stu, sein Name war Vic - fing wieder an zu husten. »Herrgott«, sagte Vic. »Herrgott, was machen Sie hier draußen? Sie dürfen nicht raus.« »Eider kam und wollte sich meiner annehmen, aber ich habe mich statt dessen seiner angenommen«, sagte Stu. »Ich hatte Glück, dass er krank war.« »Heiliger Strohsack. Kann man wohl sagen, daß Sie Glück hatten«, sagte Vic, und ein neuerlicher Hustenanfall, wenn auch ein etwas schwächerer, schüttelte seine Brust. »Das tut weh, Mann, Sie glauben gar nicht, wie weh das tut. Es ist alles total versaut. Verdammte Scheiße!« »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Stu linkisch. »Wenn Sie es ernst meinen, können Sie mir den Lauf ins Ohr stecken und abdrücken. Ich huste mich innerlich in Fetzen.« Er fing wieder an zu husten. Aber Stu konnte das nicht, und als Vics Stöhnen kein Ende nehmen wollte, verlor er die Nerven. Er lief zu den Fahrstühlen, weg von diesem schwarzen Gesicht, das aussah wie der Mond bei einer halben Finsternis, und rechnete fast damit, daß Vic ihm in dem schrillen und quengelnd rechtschaffenen Ton etwas hinterherrufen würde, den Kranke immer anzuschlagen scheinen, wenn sie etwas von Gesunden wollen. Aber Vic stöhnte nur weiter, und das war irgendwie schlimmer. Die Fahrstuhltür hatte sich schon geschlossen, und die Kabine fuhr nach unten, als Stu plötzlich daran dachte, daß eine Falle eingebaut sein könnte. Das würde ihnen ähnlich sehen. Vielleicht Giftgas oder eine Schaltung, die die Kabel lösen und den Lift abstürzen und unten zerschmettern lassen würde. Er trat in die Mitte der Kabine und sah sich nervös nach verborgenen Ventilen oder Schlitzen um. Klaustrophobie liebkoste ihn mit ihrer Gummihand, und plötzlich schien der Fahrstuhl nicht größer als eine Telefonzelle zu sein, dann eng wie ein Sarg. Jemand an einer vorzeitigen Beerdigung interessiert? Er streckte einen Finger zum Nothalt-Knopf aus, aber dann fragte er sich, was es bringen würde, zwischen zwei Etagen steckenzubleiben. Bevor er diese Frage beantworten konnte, kam der Fahrstuhl weich und ganz normal zum Stillstand. Wenn draußen nun bewaffnete Männer stehen? Aber die einzige Wache, die er sah, als die Tür zurückglitt, war eine tote Frau in Schwesterntracht. Sie lag in Embryohaltung vor einer Tür mit der Aufschrift DAMEN. Stu betrachtete sie so lange, daß die Tür sich wieder schloß. Er streckte die Hand hindurch, und die Tür glitt gehorsam wieder zurück. Er trat nach draußen. Der Korridor führte zu einer T-förmigen Abzweigung, und er ging darauf zu, wobei er einen weiten Bogen um die tote Schwester machte. Er hörte ein Geräusch hinter sich, fuhr herum und riß die Pistole hoch. Aber es war nur die Fahrstuhltür, die sich zum zweiten Mal schloß. Er betrachtete sie einen Augenblick, schluckte heftig und ging weiter. Die Gummihand war wieder da und spielte Melodien am Ansatz seines Rückgrats und sagte ihm: Scheiß darauf, unauffällig und langsam zu gehen; verschwinden wir von hier, bevor jemand... etwas... uns noch erwischen kann. Das Echo seiner Schritte im halbdunklen Korridor des Verwaltungsflügels weckte zu sehr Gedanken an makabere Gesellschaft - Kommst du zum Spielen, Stuart? Sehr gut. Türen mit Ornamentglasscheiben zogen an ihm vorüber, und jede erzählte ihre eigene Geschichte: DR. SLOANE. AKTEN UND ABSCHRIFTEN. MR.BALLINGER. MIKROFILME. REGISTRATUR. MRS.WIGGS. An der T-förmigen Abzweigung war ein Trinkbrunnen, aber der warme Chlorgeschmack des Wassers drehte ihm den Magen um. Links war kein Ausgang; auf einem Schild an der Fliesenwand, von dem ein orangefarbener Pfeil nach unten zeigte, stand BIBLIOTHEK. Auf dieser Seite schien der Korridor meilenweit zu verlaufen. Etwa fünfzig Meter weiter lag der Leichnam eines Mannes im weißen Anzug, wie ein seltsames Tier, das an eine steile Küste gespült worden war. Er verlor langsam die Übersicht. Die Anlage war viel größer, als er sich vorgestellt hatte. Nicht, daß er sich nennenswert viel hätte vorstellen können, schließlich hatte er seit seiner Einlieferung kaum etwas gesehen - zwei Korridore, einen Fahrstuhl, ein Zimmer. Jetzt vermutete er, daß das Ganze die Ausmaße eines Großstadtkrankenhauses haben mußte. Er könnte stundenlang hier herumstolpern, wo seine Schritte hallten und Echos erzeugten, und ab und zu über einen Leichnam stolpern. Die lagen hier verstreut wie Preise bei einer grausigen Schatzsuche. Er erinnerte sich noch daran, daß er Norma, seine Frau, in ein großes Krankenhaus in Houston gebracht hatte, als man bei ihr Krebs feststellte. Wohin man dort auch ging, überall hingen kleine Pläne an den Wänden, wo Pfeile auf einen Punkt deuteten. Auf jedem Pfeil standen die Worte: SIE BEFINDEN SICH HIER. Sie hatten sie angebracht, damit die Leute sich nicht verirrten. Wie er jetzt. Er hatte sich verirrt. O Mann, das war schlimm. Das war so schlimm. »Jetzt werd bloß nicht tharn, du hast es fast geschafft«, sagte er, und seine Worte hallten fremd und tonlos wider. Er hatte nicht laut sprechen wollen, das machte es noch schlimmer. Er wandte sich nach rechts und ließ den Bibliothekstrakt hinter sich liegen, ging an weiteren Büros vorbei und kam zu einem anderen Korridor und bog dort ein. Er sah sich immer häufiger um und vergewisserte sich, daß ihm niemand folgte - Eider vielleicht -, konnte es aber kaum glauben. Der Korridor endete an einer geschlossenen Tür mit der Aufschrift RADIOLOGIE. Am Türknauf hing ein handgeschriebenes Schild: BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN. RANDALL. Stu ging zurück und spähte um die Ecke in die Richtung, aus der er gekommen war. Der Leichnam im weißen Anzug sah aus der Entfernung winzig aus, wenig mehr als ein Fleck, aber als er ihn dort so unveränderlich und für alle Ewigkeit liegen sah, wollte er nur so schnell wie möglich weglaufen. Er ging nach rechts und ließ ihn wieder hinter sich liegen. Knapp zwanzig Meter weiter endete der Flur wieder in einer T-förmigen Abzweigung. Stu bog rechts ein und ging an weiteren Büros vorbei. Der Korridor führte zum mikrobiologischen Labor. In einer der Laborkabinen war ein junger Mann in kurzen Hosen am Schreibtisch zusammengesunken. Er war im Koma und blutete aus Nase und Mund. Sein Atem rasselte wie Wind, der durch tote Maishülsen weht. Und dann fing Stu an zu laufen, von einem Korridor in den anderen, und kam immer mehr zu der Überzeugung, daß es keinen Ausgang gab, wenigstens nicht auf dieser Ebene. Das Echo seiner Schritte verfolgte ihn, als hätte entweder Eider oder Vic noch lange genug gelebt, um ihm eine Geisterschwadron MPs auf den Hals zu hetzen. Dann wurde das von einer anderen Vorstellung verdrängt, die er irgendwie mit den seltsamen Träumen der letzten paar Nächte in Verbindung brachte. Diese Vorstellung wurde so übermächtig, dass er Angst davor hatte, sich umzudrehen und eine Gestalt im weißen Anzug zu sehen, die ihn verfolgte, eine weißgekleidete Gestalt ohne Gesicht, hinter deren Plexiglashelmvisier nur Schwärze zu sehen war. Eine entsetzliche Erscheinung, ein Killer von jenseits jeglicher Vernunft in Zeit und... Keuchend bog Stu um eine Ecke und lief etwa zehn Schritte, bis er merkte, daß der Korridor eine Sackgasse war, und gegen eine Tür prallte, über der ein Schild hing. Auf dem Schild stand AUSGANG. Er drückte gegen den Riegel und war überzeugt, daß dieser sich nicht rühren würde, aber er ließ sich leicht öffnen. Stu ging vier Stufen zu einer weiteren Tür hinunter. Links vom Treppenabsatz führte eine andere Treppe in dichte Dunkelheit hinab. Die obere Hälfte der zweiten Tür hatte eine mit Drahtgitter verstärkte Glasscheibe. Dahinter lag nur die Nacht, die wunderschöne milde Sommernacht, und alle Freiheit, von der ein Mann nur träumen kann. Stu sah gebannt nach draußen, als eine Hand aus der Dunkelheit der Treppe schnellte und ihn am Knöchel packte. Ein Schrei zerkratzte Stus Hals wie ein Dorn. Er drehte sich um - sein Magen war eine treibende Eisscholle - und erblickte ein aus der Dunkelheit heraufstarrendes blutiges und grinsendes Gesicht. »Komm runter und laß uns zusammen bibbern, schöner Knabe«, flüsterte es mit gebrochener, sterbender Stimme. »Es ist ja soooooo dunkel...« Stu kreischte und versuchte sich loszureißen. Das grinsende Ding aus der Dunkelheit aber hielt ihn fest und redete und grinste und kicherte. Blut oder Kotze floß ihm aus den Mundwinkeln. Stu trat gegen die Hand, die seinen Knöchel festhielt, dann stampfte er darauf. Das Gesicht, das im Dunkel des Treppenschachts schwebte, verschwand. Eine Reihe polternder Geräusche waren zu hören... dann fingen die Schreie an. Ob Schreie des Schmerzes oder Schreie der Wut, wußte Stu nicht. Es war ihm auch einerlei. Er warf sich mit der Schulter gegen die äußere Tür. Sie flog auf, und er taumelte nach draußen, wild mit den Armen rudernd, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er verlor es trotzdem und stürzte auf den betonierten Weg. Er richtete sich langsam, fast argwöhnisch auf. Die Schreie hinter ihm waren verstummt. Ein kühler Abendwind strich ihm übers Gesicht und trocknete den Schweiß auf seiner Stirn. Er stellte beinahe erstaunt fest, daß hier Rasen und Blumenbeete angelegt waren. Noch nie hatte eine Nacht so angenehm für ihn geduftet. Eine Mondsichel beherrschte den Himmel. Stu sah dankbar nach oben, dann ging er über den Rasen zur Straße, die in die Stadt Stovington hinunterführte. Das Gras war taubenetzt. Er konnte den Wind in den Fichten flüstern hören. »Ich lebe«, rief Stu Redman in die Nacht. Er fing an zu weinen. »Ich lebe, Gott sei Dank, ich lebe, ich danke dir, Gott, ich danke dir, Gott, ich danke dir...« Leicht schwankend machte er sich auf den Weg die Straße hinunter. 30 Staub wehte über das Buschland von Texas, bildete in der Dämmerung einen durchsichtigen Schleier, der die Stadt Arnette wie ein Geisterbild erscheinen ließ. Bill Hapscombs Texaco-Schild war heruntergeweht und lag mitten auf der Straße. Jemand hatte in Norm Bruetts Haus das Gas angelassen, und am Vortag hatte ein Funke aus der Klimaanlage das ganze Domizil in die Luft gejagt. Schindeln und Steine und Kinderspielzeug waren überall auf der Laurel Street verstreut. Auf der Main Street lagen Soldaten und Hunde tot in der Gosse. In Randy's Imbiß hing ein Mann im Pyjama mit herabhängenden Armen tot über dem Fleischtresen. Einer der Hunde, die jetzt tot im Rinnstein lagen, hatte sich mit dem Gesicht des Mannes beschäftigt, bis er den Appetit verloren hatte. Katzen bekamen die Grippe nicht, sie strichen zu Dutzenden wie dunkle, rauchige Schatten durch die Dämmerung. Aus mehreren Häusern war das leere Rauschen von Fernsehern zu hören. Ein Fensterladen klapperte hin und her. Ein roter Lastwagen, alt, verrostet und verblichen, mit dem fast unleserlichen Schriftzug SPEEDWAY EXPRESS auf der Seite, stand mitten auf der Durgin Street vor der Indian Head Tavern. Auf dem Wagen standen kistenweise leere Pfandflaschen von Bier und Sodawasser. An der Logan Lane, Arnettes bester Wohngegend, brachte der Wind das Glockenspiel auf der Veranda von Tony Leominsters Haus zum Erklingen. Tonys Scout stand mit heruntergedrehten Fenstern in der Einfahrt. Auf dem Rücksitz hatte sich eine Eichhörnchenfamilie häuslich eingerichtet. Die Sonne wandte sich von Arnette ab; in der Stadt wurde es dunkel unter den Schwingen der Nacht. Abgesehen vom Zirpen und Flüstern kleiner Tiere und dem Klingeln von Tony Leominsters Windspiel war es in der Stadt still. Still. Still. 31 Christopher Bradenton quälte sich aus dem Delirium wie ein Mann, der versucht, aus Treibsand herauszukommen. Er hatte Schmerzen am ganzen Körper. Sein Gewicht kam ihm fremd vor, als hätte jemand ihm an mehreren Stellen Silikon eingespritzt, so daß es jetzt so groß wie ein Heißluftballon war. Sein Hals war ein einziger Schmerz, und was schlimmer war, die Luftröhre schien von ihrer normalen Größe zum Umfang der Öffnung einer Kinderspritzpistole zugewachsen zu sein. Sein Atem pfiff durch diese schrecklich winzige Verbindung mit der Welt herein und hinaus. Aber er reichte nicht aus, und schlimmer als das Gefühl einer konstant pochenden offenen Wunde dort war der Eindruck, als würde Christopher ertrinken. Und am allerschlimmsten, ihm war heiß. Er konnte sich nicht erinnern, daß ihm jemals so heiß gewesen war, nicht einmal vor zwei Jahren, als er zwei politische Gefangene, (die in Texas auf Kaution freigelassen worden und geflohen waren, nach Los Angeles gebracht hatte. Auf der Route 190 im Death Valley hatte der uralte Pontiac Tempest den Geist aufgegeben, und damals war ihm heiss gewesen, aber das hier war schlimmer. Ihm war innen drin heiß, als hätte er die Sonne verschluckt. Er stöhnte und versuchte, die Decke wegzustrampeln, hatte aber keine Kraft mehr. Hatte er es alleine ins Bett geschafft? Er glaubte es nicht. Jemand oder etwas war bei ihm im Haus gewesen. Jemand oder etwas... er sollte sich erinnern, konnte es aber nicht. Bradenton konnte sich nur noch erinnern, daß er schon Angst gehabt hatte, bevor er krank geworden war; denn er hatte gewußt, jemand (oder etwas) würde kommen, und er mußte... was? Er stöhnte wieder und drehte den Kopf auf dem Kissen hin und her. Er konnte sich nur an das Delirium erinnern. Heiße Phantome mit klebrigen Augen. Seine Mutter war in das schlichte, holzgebaute Schlafzimmer gekommen, seine Mutter, die 1969 gestorben war, und sie hatte zu ihm gesagt: »Kit, o Kit, hab' ich's dir nicht gesagt? >Lass dich nicht mit den Leuten ein<, hab' ich gesagt. >Mir liegt gar nix an Politik<, hab' ich gesagt, >aber die Männer, mit denen du dich herumtreibst, sind verrückt wie tolle Hunde, und die Mädchen sind nichts weiter als Huren.< Ich hab's dir gleich gesagt, Kit...« Dann war ihr Gesicht entzweigebrochen, ein Schwärm Grabkäfer war aus den aufgerissenen Pergamentfalten hervorgekrochen, und er hatte geschrien, bis ihn Schwärze verschlang und wirre Schreie ertönten, das Tapsen von Ledersohlen laufender Menschen... Lichter, Taschenlampen, Gasgeruch, und er war wieder in Chicago, es war das Jahr 1968, irgendwo sangen Stimmen: Die ganze Welt schaut zu! Die ganze Welt schaut zu! Die ganze Welt... und da lag ein Mädchen beim Eingang zum Park im Rinnstein, in einen Jeansoverall gekleidet und barfuß, ihr langes Haar voll von Glassplittern, das Gesicht eine glänzende Maske aus Blut, das im herzlosen weißen Schein der Straßenlampen schwarz wirkte, die Maske eines zertretenen Insekts. Er half ihr auf die Füße, und sie schrie und klammerte sich an ihn, denn ein Monster aus dem Weltall kam aus den Gasschwaden auf sie zu, eine Kreatur in blanken schwarzen Stiefeln und einer Fliegerjacke und einer glubschäugigen Gasmaske, die in einer Hand einen Schlagstock und in der anderen eine Sprühdose Tränengas hielt und grinste. Und als das Monster aus dem Weltall die Maske zurückgeschoben und das grinsende, flammende Gesicht enthüllt hatte, schrien sie beide, denn es war der Jemand oder das Etwas, worauf er gewartet, der Mann, vor dem Kit Bradenton immer Todesängste ausgestanden hatte. Es war der Wandelnde Geck gewesen. Bradentons Schreie hatten die Substanz dieses Traums zerschmettert, wie das hohe C feines Kristallglas zerschmettern kann, und er war in Boulder, Colorado, in einem Apartment am Canyon Boulevard, es war Sommer und heiß, so heiß, daß dir selbst in Shorts der Schweiß am ganzen Körper herabtroff, und dir gegenüber steht der wunderschönste Boy der Welt, groß und braungebrannt und muskulös, er trägt ein zitronengelbes Tangahöschen, das sich zärtlich an jede Rundung und Wölbung seiner königlichen Pobacken schmiegt, und du weißt, wenn er sich umdreht, wirst du das Gesicht eines raffaelitischen Engels sehen und er wird bestückt sein wie der Hengst des einsamen Reiters. Hiyo, Silver, und weg. Wo hast du ihn aufgegabelt? Bei einer Diskussion über Rassismus auf dem Campus der CU, oder in der Mensa? Beim Trampen? Spielt das überhaupt eine Rolle? Oh, es ist so heiß, aber da ist Wasser, ein Krug Wasser, eine Urne voll Wasser, die merkwürdige Figuren im Basrelief trägt, und daneben die Pille - nein...! DIE PILLE! Die Pille, die dich in das Reich schicken wird, das der blonde Engel im zitronengelben Tanga »Huxleyland« nennt, das Land, wo der Finger an der Wand schreibt und sich doch nicht bewegt, wo an abgestorbenen Eichen Blumen wachsen, und Mann o Mann, was für eine Erektion ragt aus deinen Shorts heraus! Ist Kit Bradenton schon jemals so geil und so willig gewesen? »Komm ins Bett«, sagst du zu dem glatten braungebrannten Rücken, »komm ins Bett und besorg mir's, und dann besorg' ich dir's. Ganz genau so, wie du es gern hast.« - »Nimm erst deine Pille«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Dann werden wir sehen.« Du nimmst die Pille, das Wasser rinnt kühl deinen Hals hinunter, und ganz allmählich wird dein Sehvermögen seltsam, und jeder Winkel im Zimmer wird auf unheimliche Weise etwas mehr oder etwas weniger als neunzig Grad. Du stellst fest, daß du eine Zeitlang den Ventilator im billigen Grand Rapids Büro anstarrst, und dann siehst du deine eigene Reflexion im wogenden Glas darüber. Dein Gesicht sieht schwarz und geschwollen aus, aber deswegen machst du dir keine Sorgen, denn das ist ja nur die Pille, nur die !!PILLE !! »Trips«, murmelst du. »O Mann, Captain Trips, und ich bin sooo geil...« Er fängt an zu laufen, und du mußt zuerst die glatten Hüften betrachten, wo der Saum des Tangas so tief hängt, und dann wandert dein Blick weiter an dem flachen, braunen Bauch hinauf, verweilt einen Moment auf dem köstlichen Nabel, den deine Zunge erforscht hat und sehnlichst wieder erforschen möchte, dann die herrliche unbehaarte Brust entlang und schließlich über den schlanken, sehnigen Hals zum Gesicht... und es ist sein Gesicht, eingesunken und glücklich und diabolisch grinsend, nicht das Gesicht des Engels von Raffael, sondern eines Teufels von Goya, und aus jeder leeren Augenhöhle glotzt das reptilienhafte Antlitz eines Alligators; er kommt auf dich zu, während du schreist, und flüstert: Trips, Baby, Captain Trips... Dann Düsternis, Gesichter und Stimmen, an die er sich nicht erinnern kann, und schließlich war er hier zu sich gekommen, in dem kleinen Haus, das er mit eigenen Händen am Stadtrand von Mountain City gebaut hat. Heute war heute, die Woge der Rebellion, die über das Land gekommen war, war längst wieder zurückgeflutet, die jungen Boys von damals waren heute größtenteils alte Fürze mit Grau in den Barten und großen Kokslöchern, wo die Nasenscheidewand gewesen war, und dies waren die Trümmer, Baby, das Treibgut. Der Junge mit dem gelben Tanga, das war schon lange her, und in Bomder war Kit Bradenton selbst kaum mehr als ein Junge gewesen. Mein Gott, sterbe ich? Er verdrängte den Gedanken voll quälendem Entsetzen, während die Hitze in seinem Kopf wie ein Sandsturm wehte und wogte. Und plötzlich hörten seine raschen, flachen Atemzüge auf, als draußen vor der geschlossenen Schlafzimmertür ein Geräusch einsetzte. Erst dachte Bradenton, es wäre eine Feuerwehrsirene oder eine Polizeisirene. Sie schwoll an und wurde lauter, je näher sie kam; dazwischen konnte er das abgehackte Pochen von Schritten hören, die unten in die Diele eindrangen, durchs Wohnzimmer stürmten und dann wie eine Stampede die Treppe herauf. Er drückte sich ins Kissen, und sein Gesicht verzog sich zur Leichenstarre des Entsetzens, während die Augen zu großen Kreisen in dem aufgequollenen schwarzen Gesicht wurden und die Geräusche näher kamen. Keine Sirene mehr, sondern ein Schrei, schrill und trillernd, ein Schrei, den keine menschliche Kehle erzeugen oder ausstoßen konnte, gewiß der Schrei einer Banshee oder eines schwarzen Charon, der gekommen war, um ihn über den Fluß zu bringen, der das Land der Lebenden vom Land der Toten trennte. Jetzt kamen die polternden Schritte im oberen Flur direkt auf ihn zu, die Dielen ächzten und quietschten und protestierten unter dem Gewicht der gnadenlosen abgetretenen Absätze, und plötzlich wußte Kit Bradenton, wer es war, und fing an zu schreien, als der Mann im verblichenen Jeansjäckchen auch schon hereingeplatzt kam; in seinem Gesicht spielte das mörderische Grinsen wie ein surrender weißer Kreis aus Messern, und dabei war dieses Gesicht so fröhlich wie das eines übergeschnappten Nikolaus, der einen verzinkten Stahleimer hoch über der rechten Schulter trug. »HIIIIIIAAAAAHHHHHH!« »Nein!« kreischte Bradenton und schlug entkräftet die Arme vors Gesicht. »Nein! Neiiiin...!« Der Eimer kippte, und das Wasser strömte heraus, schien einen Moment im gelben Lampenschein zu hängen wie der größte ungeschliffene Diamant im Universum, und er konnte das Gesicht des dunklen Mannes dahinter erkennen, das reflektiert und zur Fratze eines übermütig grinsenden Trolls gebrochen wurde, der gerade aus den tiefsten scheißegefüllten Eingeweiden der Hölle heraufgekommen ist, um die Erde heimzusuchen; dann platschte das Wasser auf ihn, so kalt, daß sein zugeschwollener Hals momentan aufging und dicke Blutströpfchen aus seinen Wänden preßte, Atem wie ein Schock in ihn hineinzwängte und ihn dazu brachte, die Decke mit einem einzigen konvulsivischen Tritt über die Bettkante zu befördern, damit sein ganzer Körper wie ein Taschenmesser zusammenklappen konnte, als teuflische Krämpfe von diesen unwillkürlichen Bewegungen durch ihn hindurchrasten wie beißende Windhunde auf der Flucht. Er schrie und schrie. Dann lag er zitternd da, sein fiebriger Körper war vom Scheitel bis zur Sohle tropfnaß, in seinem Kopf pochte es, und die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Sein Hals wurde wieder zu einem wunden Schlitz, er rang erneut kläglich nach Atem. Er schlotterte am ganzen Körper. »Ich wußte, daß dich das abkühlen würde«, rief der Mann, den er als Richard Fry kannte, fröhlich. Er stellte den Eimer mit einem Scheppern ab. »Sach bloß, sach bloß, ich hab gewußt, daß das den Trick fettichbringen würrte, Kingfish! Dank wird gern entgegengenommen, mein Bester, Dank von dir an mich. Dankst du mir? Kannst nicht sprechen, hm? Nein? Doch ich weiß, im Grunde deines Herzens bist du mir dankbar. leee-HAAAA!« Er sprang in die Luft wie Bruce Lee in einem Kung-Fu-Epos von Run Run Shaw, mit gespreizten Knien, und schien einen Augenblick direkt über Kit Bradenton zu schweben, genau wie das Wasser, sein Schatten war ein Fleck auf Bradentons nassem Pyjama, und Bradenton tat einen kläglichen Schrei. Dann landeten die Knie rechts und links von Bradentons Brustkorb, und Richard Frys Schritt in den Jeans war wie die zwei Zinken einer Gabel, Zentimeter über der Brust, das Gesicht brannte auf Bradenton herunter wie die Fackel im Keller in einem Schauerroman. »Ich mußte dich aufwecken, Mann«, sagte Fry. »Ich wollte nicht, dass du 'nen Abgang machst, ohne daß wir uns vorher noch mal unterhalten hätten.« »... runter... runter... runter von mir...« »Ich bin nicht auf dir, Mann, sachte, sachte. Ich schwebe nur über dir. Wie die große, unsichtbare Welt.« Bradenton, der Todesängste ausstand, konnte nur keuchen und die gebannten Augen von dem fröhlichen, rauchenden Gesicht abwenden. »Wir müssen uns über Segelwichs und Bienenwachs unterhalten und ob Hummeln einen Stachel haben. Außerdem über die Papiere, die du angeblich für mich hast, und das Auto, und die Autoschlüssel. Aber in deiner Gay-Rasche sehe ich nur einen Chevvy-Lieferwagen, und ich weiß, Kitekat, daß das deiner ist, also wie sieht's aus?« »... sie... Papiere... kann nicht... kann nicht sprechen...« Er rang keuchend nach Luft. Seine Zähne flatterten aufeinander wie kleine Vögel in einem Baum. »Du solltest aber sprechen können«, sagte Fry und streckte die Daumen aus. Sie hatten beide Gummigelenke (wie alle seine Finger), und er bewegte sie in Winkeln, die jeglicher Biologie und Physik zu trotzen schienen. »Wenn du es nämlich nicht machst, muss ich mir deine beiden Babyblauen an den Schlüsselbund hängen, und du wirst mit einem Blindenhund in der Hölle herumspazieren müssen.« Er stieß die Daumen auf Bradentons Augen zu, und Bradenton zuckte hilflos ins Kissen zurück. »Wenn du es mir sagst, Mann«, sagte Fry, »lasse ich dir die richtigen Pillen da. Ich halte dich sogar hoch, damit du sie schlucken kannst. Dann geht's dir wieder gut, Mann. Pillen, die alles heilen.« Bradenton, der jetzt nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst schlotterte, preßte die Worte zwischen klappernden Zähnen hervor. »Papiere... auf den Namen Randall Flagg. Unten im Sekretär. Unter dem... Blaupapier.« »Auto?« Bradenton versuchte verzweifelt nachzudenken. Hatte er dem Mann ein Auto besorgt? Es war so weit weg, die Flammen des Deliriums lagen dazwischen, und das Delirium schien etwas mit seinem Denken angestellt und ganze Datenbänke gelöscht zu haben. Ganze Abschnitte seiner Vergangenheit waren ausgebrannte Fächer voll verschmorter Drähte und rußgeschwärzter Relais. Anstatt des Autos, über das der gräßliche Mann etwas wissen wollte, kam ihm das Bild seines eigenen allerersten Autos in den Sinn, ein Studebaker Baujahr 1953 mit einem Bug, den er rosa angemalt hatte. Fry legte Bradenton sanft eine Hand auf den Mund und drückte ihm mit der anderen die Nasenlöcher zu. Bradenton bäumte sich unter ihm auf. Gedämpftes Stöhnen drang unter Frys Hand hervor. Fry nahm beide Hände weg und sagte: »Bringt das deine Erinnerung auf Trab?« Seltsamerweise ja. »Auto...«, sagte er und hechelte dann wie ein Hund. Die Welt kreiste, kam zum Stillstand, und er konnte weitersprechen. »Auto parkt... hinter der Conoco-Tankstelle... gleich außerhalb der Stadt. Route 51.« »Nördlich oder südlich der Stadt?« »Söh... söh...« »Ja, söh! Schon verstanden. Weiter.« »Unter einer Plane. Buh... Buh... Buick. Fahrzeugschein am Lenkrad. Ausgestellt auf... Randall Flagg.« Er fing wieder an zu keuchen und konnte nicht mehr sagen oder tun, sondern Fry nur voll dumpfer Hoffnung ansehen. »Schlüssel?« »Bodenmatte. Unter...« Frys Kehrseite schnitt alle weiteren Worte ab, indem sie auf Bradentons Brust sank. Dort ließ Fry sich nieder, als würde er sich in der Wohnung eines Freundes auf ein gemütliches Sitzkissen setzen, und plötzlich bekam Bradenton überhaupt keine Luft mehr. Er hauchte seinen allerletzten Atem mit einem einzigen Wort hinaus: »...bitte...« »Schönen Dank auch«, sagte Richard Fry/Randall Flagg mit einem breiten Grinsen. »Sag gute Nacht, Kit.« Kit Bradent on konnte nicht sprechen, sondern nur die Augen in den aufgequollenen Höhlen verdrehen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. »Du sollst nicht denken, daß ich undankbar bin«, sagte der dunkle Mann sanft und sah auf ihn herab. »Es ist nur so, daß wir uns jetzt sputen müssen. Der Jahrmarkt macht früher auf. Alle Fahrten haben schon geöffnet, die Schießbuden und auch das Glücksrad. Und heute ist meine Glücksnacht, Kit. Ich spüre es. Ich spüre es ganz deutlich. Darum müssen wir uns beeilen.« Es waren eineinhalb Meilen bis zur Conoco-Tankstelle, und als er dort ankam, war es Viertel nach drei Uhr morgens. Der Wind wehte stärker und heulte durch die Straßen; auf dem Weg hierher hatte der Mann drei tote Hunde und einen toten Mann gesehen. Der Mann hatte eine Art Uniform angehabt. Die Sterne hoch droben schienen kalt und hell, Fünkchen, die von der dunklen Haut des Universums schlugen. Die Plane über dem Buick war straff auf den Boden gespannt, das Segeltuch flatterte im Wind. Als Flagg die Heringe herauszog, flog die Plane wirbelnd in die Nacht wie ein braunes Gespenst auf dem Weg nach Osten. Die Frage war, in welche Richtung ging sein Weg? Er stand neben dem Buick, einem gut erhaltenen Modell Baujahr 1975 (Autos hielten sich gut hier draußen: wenig Feuchtigkeit, so daß der Rost kaum einen Ansatz hatte), und schnupperte die nächtliche Sommerluft wie ein Kojote. Sie brachte das Parfüm der Wüste mit sich, wie man es so deutlich nur nachts riechen kann. Der Buick stand unversehrt inmitten eines Autofriedhofs ausgeschlachteter Teile, Monolithen der Osterinsel gleich in der windigen Stille. Ein Motorblock. Eine Achse, die wie die Hantel eines Bodybuilders aussah. Ein Stapel Reifen, in denen der Wind heulende Geräusche erzeugen konnte. Eine gesprungene Windschutzscheibe. Und vieles mehr. Inmitten solcher Umgebungen konnte er am besten nachdenken. In solchen Umgebungen konnte jeder Mann Jago sein. Er ging an dem Buick vorbei und strich mit der Hand über eine verbeulte Motorhaube, die einst zu einem Mustang gehört haben mochte. »Hey, little Cobra, don't ya know ya gonna shut ehm down...«, sang er leise. Er kickte mit einem staubigen Stiefel einen Einbauheizkörper um und legte ein Nest Juwelen frei, deren Feuer düster glomm. Rubine, Smaragde, Perlen so groß wie Gänseeier, Diamanten, Sternen gleich. Schnippte mit den Fingern in ihre Richtung. Weg waren sie. Wohin sollte er gehen? Der Wind stöhnte durch das Flügelfenster eines alten Plymouth, in dessen Inneren kleine Lebewesen raschelten. Etwas anderes raschelte hinter ihm. Er drehte sich um; es war Kit Bradenton, der nur eine knallgelbe Unterhose anhatte, wobei sein Dichterwanst über den Bund hing wie ein im Fallen erstarrter Erdrutsch. Bradenton kam über die verstreuten Bruchstücke von fahrbarem Metall aus Detroit auf ihn zu. Ein Grashalm stach durch seinen Fuß wie ein Kreuznagel, aber aus der Wunde floß kein Blut. Bradentons Nabel war ein schwarzes Auge. Der dunkle Mann schnippte mit den Fingern, und Bradenton war fort. Er grinste und ging zu dem Buick zurück. Legte die Stirn auf di e Dachwölbung der Beifahrerseite. Zeit verging. Nach einer Weile richtete er sich, immer noch grinsend, wieder auf. Jetzt wußte er es. Er glitt hinters Lenkrad des Buick und trat das Gaspedal ein paarmal durch, um den Vergaser bereitzumachen. Der Motor sprang schnurrend an, die Nadel der Benzinanzeige schwenkte auf voll. Er fuhr an und um die Tankstelle herum, und die Scheinwerfer leuchteten einen Moment ein weiteres Paar Smaragde an, Katzenaugen, die argwöhnisch aus dem hohen Gras neben der Damentoilette der Conoco-Tankstelle hervorspähten. Im Maul der Katze hing der winzige, schlaffe Körper einer Maus. Als die Katze das grinsende, mondgleiche Gesicht hinter dem Fenster der Fahrerseite erblickte, ließ sie ihre Beute fallen und lief weg. Flagg lachte laut und aus vollem Herzen, das Lachen eines Mannes, der ausschließlich Gutes im Sinn hat. Als der Asphalt der ConocoTankstelle in den Highway überging, wandte er sich nach rechts und folgte dem Highway nach Süden. 32 Jemand hatte die Tür zwischen dem HS -Trakt und dem Zellentrakt gegenüber offengelassen, die Metallwände des Korridors wirkten wie ein natürlicher Verstärker, der das monotone Gebrüll, das schon den ganzen Morgen andauerte, ins Ungeheuerliche steigerte und hallen und widerhallen ließ, bis Lloyd Henreid davon überzeugt war, daß er durch das Geschrei und die sehr menschliche Angst, die er empfand, voll und ganz durchdrehen würde. »Mutter«, ertönte der heisere, hallende Schrei. »Muutteer!« Lloyd saß mit überkreuzten Beinen auf dem Fußboden seiner Zelle. Seine Hände waren blutbeschmiert; er sah aus wie ein Mann, der ein Paar rote Handschuhe angezogen hat. Das hellblaue Baumwollhemd der Gefängniskleidung war ebenfalls voll Blut, denn er hatte immer wieder die Hände daran abgewischt, um besser arbeiten zu können. Es war zehn Uhr morgens, 29. Juni. Gegen sieben Uhr heute morgen hatte er bemerkt, daß das rechte vordere Bein seiner Pritsche lose war, und seitdem versuchte er, die Bolzen herauszudrehen, mit denen es am Fußboden und der Unterkante des Bettrahmens befestigt war. Er versuchte es nur mit den Fingern als Werkzeuge, und es war ihm tatsächlich gelungen, fünf der sechs Bolzen herauszudrehen. Dafür sahen seine Finger jetzt wie rohes Hackfleisch aus. Der sechste Bolzen erwies sich als harte Nuß, aber Lloyd dachte, daß er auch ihn schaffen würde. Darüber hinaus hatte er überhaupt nicht gedacht. Nicht nachzudenken war die einzige Möglichkeit, nackter Panik zu entgehen. »Muutteeer...« Er sprang auf die Füße, von seinen verletzten, pochenden Fingern spritzten Blutstropfen auf den Fußboden, packte mit den Händen die Gitterstangen, schob das Gesicht so weit er konnte in den Korridor hinaus, und seine Augen quollen wütend hervor. »Halt's Maul, Wichser!« schrie er. »Halt's Maul, du machst mich wahnsinnig!« Eine lange Pause. Lloyd genoß die Stille, wie er früher einen brandheißen Viertelpfünder mit Käse von McD genossen hatte. Schweigen ist Gold hatte er immer für ein dummes Sprichwort gehalten, aber es war doch eindeutig was dran. »MUUUUTTEERR....«, kam die Stimme wieder aus dem metallenen Hals der Wände zwischen den Zellen, so traurig wie ein Nebelhorn. »Gott im Himmel«, murmelte Lloyd. »RUHE! RUHE! RUHE, DU ELENDER SCHWACHKOPF!« »MUUUUUUUTTEEERRR...« Lloyd wandte sich wieder dem Bein seiner Pritsche zu, machte sich wütend darüber her, wünschte sich wieder, er hätte ein Stemmeisen oder so etwas in seiner Zelle, und versuchte, nicht an die schmerzenden Finger und die Panik in seinem Kopf zu denken. Er versuchte sich zu erinnern, wann er seinen Anwalt zum letzten Mal gesehen hatte - solche Dinge wurden sehr rasch verschwommen in Lloyds Kopf, der den chronologischen Ablauf vergangener Ereignisse etwa so gut halten konnte wie ein Sieb Wasser. Vor drei Tagen. Ja. Am Tag, nachdem Mathers, der Wichser, ihm in die Eier getreten hatte. Zwei Wärter hatten ihn wieder nach unten ins Besprechungszimmer gebracht, und Shockley stand immer noch an der Tür, und hatte ihn begrüßt: Schau, da ist ja unser KlugscheißerSchleimbeutel wieder, was liegt denn an, Schleimbeutel, wieder was Vorlautes zu sagen? Und dann hatte Shockley den Mund aufgemacht, Lloyd mitten ins Gesicht geniest und mit dicker Spucke besprüht. Da hast du ein paar Bazillen, Schleimbeutel. Vom Gefängnisdirektor abwärts sind alle erkältet, und ich glaube, daß der Reichtum gerecht verteilt werden sollte. In Amerika sollte sogar elender Abschaum wie du sich wenigstens erkälten können. Dann hatten sie ihn hineingeführt, und Devins hatte wie ein Mann ausgesehen, der versucht, ein paar ziemlich gute Neuigkeiten zurückzuhalten, falls sie sich letztendlich vielleicht doch als schlechte Neuigkeiten entpuppen sollten. Der Richter, der Llodys Fall anhören sollte, lag mit Grippe im Bett. Zwei andere Richter waren ebenfalls krank, entweder mit der Grippe, die umging, oder mit etwas anderem, daher waren die verbliebenen auf der Ersatzbank überlastet. Vielleicht konnten sie eine Verschiebung herausschinden. Halten Sie uns die Daumen, sagte der Anwalt. Wann wissen wir es? hatte Lloyd gefragt. Wahrscheinlich erst in allerletzter Minute, hatte Devins geantwortet. Keine Bange, ich lasse es Sie wissen. Aber seither hatte Lloyd ihn nicht mehr gesehen, und als er jetzt daran zurückdachte, fiel ihm ein, daß der Anwalt selbst eine laufende Nase gehabt hatte und ... »Aaauuuuuuu Scheiße!« Er sackte die Finger der rechten Hand in den Mund und schmeckte Blut. Aber der verdammte Bolzen hatte ein wenig nachgegeben, und das bedeutete, daß er ihn todsicher rauskriegen würde. Nicht einmal über den Mutter-Schreier hinten im Korridor ärgerte er sich mehr... wenigstens nicht so sehr. Er würde ihn kriegen. Danach brauchte er nur noch abzuwarten, was geschehen würde. Er saß mit den Fingern im Mund da und gönnte ihnen etwas Ruhe. Wenn er fertig war, würde er sein Hemd in Streifen reißen und sie verbinden. »Mutter?« »Ich weiß, was du mit deiner Mutter machen kannst«, murmelte Lloyd. Am Abend, nachdem er Devins zum letzten Mal gesehen hatte, wurden die ersten kranken Gefangenen hinausgebracht, sie wurden hinausgetragen, um es nicht noch deutlicher zu sagen, denn sie schafften nur die weg, die total hinüber waren. Trask, der Mann in Lloyds rechter Nachbarzelle, hatte ihn darauf hingewiesen, daß auch die meisten Wärter sich anhörten, als hätten sie selbst die Nase voll Rotz. Vielleicht bringt uns das was, sagte Trask. Was, hatte Lloyd gefragt. Ich weiß nicht, sagte Trask. Er war ein hagerer Mann mit langem Bluthund-Gesicht und erwartete im HS-Trakt seinen Prozess wegen bewaffnetem Raubüberfalls und Körperverletzung mit einer tödlichen Waffe. Vielleicht Aufschub, sagte er. Keine Ahnung. Trask hatte sechs Joints unter der dünnen Matratze seiner Pritsche und gab vier davon einem Wärter, der noch okay zu sein schien, damit er ihm erzählte, was draußen vor sich ging. Der Wärter sagte, daß die Leute Phoenix in alle Himmelsrichtungen verließen. Viele seien krank, und die Leute krächzten schneller, als ein Pferd traben konnte. Die Regierung behauptete, daß bald ein geeigneter Impfstoff zur Verfügung stehen werde, aber die meisten Leute hielten das für Käse. Viele kalifornische Radiosender berichteten echt schreckliche Dinge über Kriegsrecht und Straßensperren durch die Armee, Nationalgardisten mit automatischen Waffen und Gerüchte, die besagten, daß die Leute zu Zehntausenden starben. Der Wärter sagte, er würde sich nicht wundern, wenn sich herausstellte, daß die langhaarigen perversen Sympathisanten etwas ins Trinkwasser getan hätten. Der Wärter sagte, ihm selbst ginge es gut, aber nach der Schicht würde er sofort abhauen. Er habe gehört, die Armee würde ab morgen früh die US 17, US 1-10 und die US 80 sperren, aber vorher wolle er seine Frau und sein Kind in den Wagen laden, dazu so viele Lebensmittel, wie er auftreiben konnte, und in den Bergen bleiben, bis alles vorbei sei. Er habe dort oben eine Hütte, sagte der Wärter, und wenn einer sich auf mehr als dreißig Meter näherte, würde er ihm eine Kugel durch den Kopf jagen. Am nächsten Morgen fing Trasks Nase an zu laufen, und er sagte, er habe Fieber. Lloyd erinnerte sich, während er an den Fingern saugte, daß Trask vor Angst ganz fickrig geworden war. Trask hatte jeden Wärter, der vorüberkam, angeschrien, er solle ihn hier rausholen, bevor er ernstlich krank würde. Aber die Wärter würdigten weder ihn noch die anderen Gefangenen, die jetzt so unruhig waren wie hungrige Löwen im Zoo, auch nur eines Blickes. Auch Lloyd bekam es nun mit der Angst zu tun. Normalerweise hielten sich bis zu zwanzig Wärter auf dem Korridor auf. Wie kam es, daß er höchstens vier oder fünf verschiedene Gesichter jenseits der Gitter gesehen hatte? Seit diesem Tag, dem Siebenundzwanzigsten, aß Lloyd nur noch die Hälfte der Mahlzeiten, die zwischen den Gitterstäben durchgeschoben wurden, und bewahrte die andere Hälfte - erbärmlich wenig - unter der Matratze seiner Pritsche auf. Gestern hatte Trask plötzlich Krämpfe bekommen. Sein Gesicht war so schwarz wie das Pik-As geworden, und er war gestorben. Lloyd hatte sehnsüchtig zu Trasks halb gegessenem Frühstück gesehen, aber es war unerreichbar für ihn. Gestern nachmittag waren immer noch ein paar Wärter auf dem Korridor gewesen, aber sie brachten niemanden mehr zur Krankenstation, ganz gleich wie krank. Vielleicht starben sie auch schon unten in der Krankenstation, und die Wärter hatten beschlossen, sich nicht mehr die Mühe zu machen. Niemand kam, um Trasks Leiche wegzuschaffen. Gestern am späten Nachmittag schlief Lloyd ein wenig. Als er aufwachte, waren die Korridore des HST wie ausgestorben. Das Abendessen war nicht serviert worden. Jetzt hörte sich der Trakt tatsächlich wie das Löwenhaus im Zoo an. Lloyd hatte nicht genug Phantasie sich auszumalen, wieviel wilder es sich angehört hätte, wenn der HS -Trakt voll belegt gewesen wäre. Er hatte keine Ahnung, wie viele noch lebten und kräftig genug waren, nach ihrem Essen zu schreien, aber das Echo täuschte eine größere Anzahl vor. Lloyd wußte nur, daß Trasks Leiche rechts nebenan Fliegen anzog. Die Zelle links von ihm war leer. Ihr früherer Insasse, ein junger, NiggerSlang redender Schwarzer, der versucht hatte, eine alte Dame zu berauben, und sie statt dessen getötet hatte, war schon vor Tagen in die Krankenstation gebracht worden. Gegenüber sah er zwei leere Zellen und die herabbaumelnden Beine eines Mannes, der seine Frau und seinen Schwager im Verlauf eines Pokeno-Spiels um Centstücke umgebracht hatte. Der Pokeno-Killer, wie er genannt wurde, mußte sich mit seinem Gürtel oder, wenn man ihm den weggenommen hatte, mit der eigenen Hose erhängt haben. Später am Abend, als sich das Licht automatisch eingeschaltet hatte, aß Lloyd von den Bohnen, die er vorgestern aufbewahrt hatte. Sie schmeckten scheußlich, aber er aß sie trotzdem. Er spülte sie mit Wasser aus der Kloschüssel runter, kroch dann auf die Pritsche, zog die Knie an die Brust und verfluchte Poke, daß er ihm das alles eingebrockt hatte. Es war alles Pokes Schuld. Lloyd wäre allein nie ehrgeizig genug gewesen, sich mehr als kleinen Ärger einzuhandeln. Mit der Zeit hatte das Geschrei nach Essen nachgelassen, und Lloyd vermutete, daß er nicht der einzige war, der sich einen kleinen Vorrat angelegt hatte. Aber er hatte nicht viel. Wenn er wirklich geglaubt hätte, daß es so kommen würde, hätte er sich mehr zurückgelegt. Und irgend etwas spukte ihm im Kopf herum, dem er nicht ins Gesicht sehen wollte. Es war, als würden im Hinterzimmer seines Verstands Vorhänge flattern, hinter denen etwas verborgen war. Man konnte nur die knochigen Skelettfüße des Dings unter dem Saum der Vorhänge sehen. Aber mehr wollte man auch nicht sehen. Denn die Füße gehörten einem nickenden ausgemergelten Leichnam, und der hieß HUNGERTOD! »O nein«, sagte Lloyd. »Jemand wird kommen. Ganz bestimmt. So sicher, wie Scheiße am Bettlaken klebt.« Aber er mußte immer wieder an das Kaninchen denken. Er konnte nicht anders. Er hatte das Kaninchen samt Käfig in der Schule bei einer Tombola gewonnen. Sein Vater wollte nicht, daß er es behielt, aber Lloyd hatte ihn irgendwie überzeugt, daß er es versorgen und von seinem eigenen Taschengeld Futter kaufen würde. Er liebte das Kaninchen, und er kümmerte sich darum. Anfangs. Das Schlimme war, daß er nach einiger Zeit alles vergaß. So war es immer gewesen. Und eines Tages, als er in dem alten Autoreifen schaukelte, der hinter ihrem schäbigen Haus in Marathon, Pennsylvania, an einem verkrüppelten Ahornbaum hing, war er plötzlich kerzengerade hochgeschreckt und hatte an das Kaninchen gedacht. Er hatte schon seit... nun, mehr als zwei Wochen nicht mehr an das Kaninchen gedacht. Er hatte es einfach völlig vergessen. Er lief zu dem kleinen Schuppen neben der Scheune. Es war Sommer, genau wie jetzt, und als er in den Schuppen trat, schlug ihm der Geruch des toten Kaninchens entgegen wie ein gewaltiger rechter Schwinger. Das Fell, das er so gern gestreichelt hatte, war zottig und verdreckt. In den Höhlen, in denen die hübschen rosa Augen des Kaninchens gewesen waren, krochen geschäftige weiße Maden. Die Pfoten des Tieres waren aufgekratzt und blutig. Er versuchte sich einzureden, daß die Pfoten blutig waren, weil es versucht hatte, sich aus dem Käfig zu befreien, und so war es zweifellos auch gewesen, aber eine flüsternde Stimme in einem dunklen, kranken Teil seines Verstands sagte, daß das Kaninchen im letzten Extremstadium des Hungers versucht hatte, sich selbst zu fressen. Lloyd hatte das Kaninchen genommen, ein tiefes Loch ausgehoben und es mitsamt dem Käfig begraben. Sein Vater hatte ihn nie nach dem Kaninchen gefragt, hatte vielleicht sogar vergessen, daß sein Sohn überhaupt ein Kaninchen gehabt hatte - Lloyd war nicht sonderlich gescheit, aber verglichen mit seinem Vater war er ein Geistesriese -, aber Lloyd hatte es nie vergessen. Er hatte immer lebhaft geträumt, aber der Tod des Kaninchens löste eine Serie schrecklicher Alpträume aus. Die Vision des Kaninchens hatte er jetzt wieder deutlich vor Augen, als er mit zur Brust gezogenen Knien auf der Pritsche saß und sich sagte, daß jemand kommen würde, daß ganz bestimmt jemand kommen und ihn freilassen würde. Er hatte diese Captain-Trips-Grippe nicht; er hatte nur Hunger. Wie sein Kaninchen Hunger gehabt hatte. So einfach war das. Kurz nach Mitternacht war er eingeschlafen, und heute morgen hatte er angefangen, am Bein der Pritsche zu arbeiten. Und als er seine blutigen Finger betrachtete, dachte er mit neuem Entsetzen an die blutigen Pfoten seines einstigen Kaninchens, dem er nichts zuleide hatte tun wollen. Am 29. Juni um ein Uhr nachmittags hatte er das Bein der Pritsche gelöst. Am Ende hatte der Bolzen lächerlich leicht nachgegeben, das Bein war auf den Boden der Zelle gepoltert, und er hatte es eine Weile betrachtet und sich gefragt, wozu in aller Welt er es überhaupt gewollt hatte. Es war etwa neunzig Zentimeter lang. Er trug es zum vorderen Gitter der Zelle und begann wütend gegen die Stahlstäbe zu hämmern. »He!« brüllte er unter dem tief hallenden, gongartigen Dröhnen der Stangen. »He, ich will raus! Ich will raus, habt ihr nicht gehört? He, verdammt noch mal, hei« Er schwieg und lauschte, während die Echos verstummten. Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille, dann kam von unten aus dem Zellentrakt die heisere, inbrünstige Antwort: »Mutter! Hier unten, Mutter! Ich bin hier unten!« »Scheeeiiiiße!« schrie Lloyd und warf das Pritschenbein in die Ecke. Er hatte sich stundenlang abgemüht und praktisch die Finger kaputtgemacht, nur um dieses Arschloch zu wecken. Er setzte sich auf die Pritsche, hob die Matratze an und nahm ein Stück Schwarzbrot heraus. Er fragte sich, ob er eine Handvoll Datteln dazu nehmen sollte, sagte sich, er sollte sie aufheben, und nahm sie dann doch. Er aß eine nach der anderen und verzog dabei das Gesicht, und das Brot hob er bis zuletzt auf, um den schleimigen fruchtigen Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Als er diesen jämmerlichen Ersatz für eine Mahlzeit hinter sich hatte, ging er rastlos zur rechten Seite der Zelle. Er sah nach unten und unterdrückte einen Aufschrei des Ekels. Trask lag halb auf der Pritsche, seine Hosenbeine waren ein wenig hochgerutscht. Über den Gefängnispantoffeln, die sie einem hier gaben, waren die bloßen Knöchel zu sehen. Eine große schlanke Ratte tat sich an Trasks Bein gütlich. Ihr widerlicher rosa Schwanz war fein säuberlich um den grauen Leib geringelt. Lloyd ging in die andere Ecke seiner Zelle und hob das Pritschenbein auf. Er ging zurück und wartete ab, ob die Ratte ihn sehen und einen Ort mit etwas stillerer Gesellschaft aufsuchen würde. Aber die Ratte wandte ihm den Rücken zu, und soweit Lloyd abschätzen konnte, ahnte sie nicht einmal etwas von seiner Anwesenheit. Lloyd schätzte die Entfernung mit dem Auge ab und kam zum Ergebnis, daß das Pritschenbein einen Volltreffer landen würde. »Hah!« machte Lloyd und holte mit dem Pritschenbein aus. Es quetschte die Ratte gegen Trasks Bein, und Trask rutschte mit einem steifen Platscher von der Pritsche. Die Ratte lag betäubt auf der Seite und atmete nur noch schwach. Sie hatte Blutstropfen in den Schnurrhaaren. Ihre Hinterbeine bewegten sich, als würde das kleine Rattenhirn ihr den Rat geben wegzulaufen, aber irgendwo entlang der Wirbelsäule schienen die Signale völlig durcheinanderzugeraten. Lloyd schlug noch einmal zu und machte ihr den Garaus. »Das hast du davon, Mistvieh«, sagte Lloyd. Er legte das Pritschenbein weg und ging zur Koje zurück. Ihm war heiß, ängstlich und zum Weinen zumute. Er blickte über die Schulter zurück und schrie: »Wie gefällt es dir in der Rattenhöhle, elender kleiner Pisser?« »Mutter?« antwortete eine fröhliche Stimme. »Muuutter!« »Halt's Maul!« brüllte Lloyd. »Ich bin nicht deine Mutter! Deine Mutter ist in einem Hurenhaus in Asshole, Indiana, fürs Blasen zuständig!« »Mutter?« sagte die Stimme voller Zweifel. Dann verstummte sie. Lloyd fing an zu weinen. Dabei rieb er sich wie ein kleiner Junge mit den Fäusten die Augen. Er wollte ein Steak-Sandwich, er wollte mit seinem Anwalt sprechen, er wollte hier raus. Schließlich legte er sich auf die Pritsche, legte einen Arm über die Augen und masturbierte. Die Methode war zum Einschlafen so gut wie jede andere. Als er wieder aufwachte, war es fünf Uhr nachmittags, und im Hochsicherheitstrakt herrschte Totenstille. Benommen stand Lloyd von der Pritsche auf, die sich jetzt wie betrunken zu der Seite hinabneigte, wo ihr ein Bein fehlte. Er ergriff das Bein und schlug damit gegen die Gitterstäbe wie der Koch auf einer Farm, der das Gesinde zum Essen ruft. Essen. Welch ein Wort, hatte es je ein schöneres gegeben? Schweinesteaks mit Kartoffeln und Soßen und jungen grünen Erbsen und Milch mit Hershey-Schokoladensirup drin. Und ein großer Becher Erdbeereis als Nachtisch. Nein, es gab kein Wort, daß sich mit Essen vergleichen ließ. »He, ist niemand da?« rief Lloyd, und seine Stimme überschlug sich. Keine Antwort. Nicht einmal der Ruf nach der Mutter. In diesem Augenblick hätte er sich sogar darüber gefreut. Selbst Verrückte waren bessere Gesellschaft als Tote. Lloyd ließ das Pritschenbein klirrend auf den Boden fallen. Er stolperte zu seiner Pritsche zurück, hob die Matratze hoch und machte Inventur. Noch zwei Kanten Brot, zwei Handvoll Datteln, ein halb abgenagtes Kotelett, ein Stück Wurst. Er riß die Wurst in zwei Teile und aß das größere Stück, aber das regte nur seinen Appetit an und entfachte ihn um so mehr. »Jetzt nichts mehr«, flüsterte er, dann nagte er den Rest Fleisch vom Knochen und machte sich bittere Vorwürfe und fing wieder an zu weinen. Er würde hier drinnen sterben, so wie das Kaninchen in seinem Käfig gestorben war und Trask in seiner Zelle. Trask. Er sah lange und nachdenklich in Trasks Zelle und beobachtete die Fliegen beim Kreisen, Landen und Wiederaufsteigen. Trasks Gesicht war ein regelrechter L. A. International Airport für Fliegen. Schließlich nahm Lloyd das Pritschenbein, ging zu den Gitterstäben und schob es hindurch. Wenn er sich auf Zehenspitzen stellte, konnte er den Kadaver der Ratte gerade noch erreichen und in seine Zelle herüberziehen. Als sie nahe genug war, kniete Lloyd sich hin und zog die Ratte auf seine Seite. Er hob sie am Schwanz hoch und ließ den Kadaver lange vor seinen Augen baumeln. Dann legte er sie unter die Matratze, wo die Fliegen sie nicht erreichen konnten, aber er legte den schlaffen Körper getrennt von den Resten seiner Verpflegung hin. Er starrte die Ratte eine lange Zeit an, bevor er die Matratze fallen ließ und das Tier gnädig vor seinen Blicken verbarg. »Für alle Fälle«, flüsterte Lloyd Henreid in die Stille. »Nur für alle Fälle.« Dann stieg er auf das andere Ende der Pritsche, zog die Knie bis ans Kinn und saß still. 33 Als die Uhr über der Tür im Büro des Sheriffs zweiundzwanzig Minuten vor neun zeigte, ging das Licht aus. Nick Andros las ein Taschenbuch, das er vom Regal im Drugstore genommen hatte, einen Schauerroman über eine verängstigte Gouvernante, die dachte, daß es auf dem einsamen Anwesen, wo sie die Söhne ihres hübschen Dienstherrn unterrichten sollte, nicht geheuer sei und spukte. Obwohl er nicht einmal die Hälfte des Buches gelesen hatte, wußte Nick schon, daß es sich bei dem Gespenst in Wirklichkeit um die Frau des hübschen Dienstherrn handelte, die höchstwahrscheinlich auf dem Dachboden eingesperrt war und vollkommen plemplem war. Als das Licht ausging, spürte er, wie sein Herz in der Brust einen Schlag aussetzte und eine Stimme tief aus seinem Inneren, wo die Alpträume warteten, die ihn mittlerweile jedesmal heimsuchten, wenn er schlief, flüsterte: Er kommt zu dir... er ist schon da draußen, auf den Highways der Nacht... den versteckten Highways... der dunkle Mann... Er legte das Taschenbuch auf den Tisch und ging auf die Straße hinaus. Der letzte Rest Tageslicht war noch nicht vom Himmel verschwunden, aber die Dämmerung war fast vorbei. Alle Straßenlaternen waren dunkel. Das Neonlicht im Drugstore, das Tag und Nacht gebrannt hatte, war ebenfalls erloschen. Auch das gedämpfte Summen der Verteilerkästen auf den Strommasten war verstummt; Nick fand das heraus, indem er eine Hand an einen hielt und nur Holz spürte. Die Vibration, die ihm in diesem Fall das Gehör ersetzte, hatte aufgehört. In der Vorratsschublade des Büros waren Kerzen, eine ganze Schachtel, aber der Gedanke an Kerzen tröstete Nick nicht sonderlich. Die Tatsache, daß die Lichter ausgegangen waren, hatte ihn schwer getroffen, und jetzt stand er nur da, sah nach Westen und flehte das Licht stumm an, es möge ihn nicht im Stich und in diesem dunklen Friedhof allein lassen. Aber das Licht schwand. Gegen zehn nach neun konnte Nick nicht einmal mehr so tun, als wäre noch ein schwacher Streif am Horizont, daher ging er ins Büro zurück und tastete sich zu dem Schrank, wo die Kerzen verwahrt wurden. Er kramte in der Schublade nach der richtigen Schachtel, als die Tür hinter ihm aufgestoßen wurde und Ray Booth mit schwarzem, aufgedunsenem Gesicht und dem LSU-Ring am Finger hereingetaumelt kam. Seit dem Abend des 22. Juni, vor einer Woche, hatte er sich in den Wäldern am Stadtrand versteckt. Am Morgen des 24. hatte er sich krank gefühlt, und heute abend schließlich hatten ihn Hunger und Angst um sein Leben in die Stadt getrieben, wo er keinen Menschen mehr gesehen hatte, außer dem verfluchten Taubstummen, der ihn überhaupt erst in diese Klemme gebracht hatte. Der Taubstumme war über den Marktplatz stolziert und hatte sich aufgeplustert wie Billy-der-Verfluchte, als würde ihm die Stadt gehören, wo Ray sein ganzes Leben verbracht hatte, und er hatte die Waffe des Sheriffs an der rechten Hüfte im Halfter, das mit einem Lederband wie bei einem echten Revolvermann am Schenkel gesichert war. Vielleicht dachte er ja wirklich, daß ihm die Stadt gehörte. Ray ahnte, daß auch er bald an dem sterben würde, was offenbar alle anderen abgemurkst hatte, aber vorher wollte er dem elenden Krüppel zeigen, daß ihm ein Scheißdreck gehörte. Nick stand mit dem Rücken zur Tür und hatte daher keine Ahnung, daß er nicht mehr allein im Büro des Sheriffs war, bis sich die Hände um seinen Hals legten und zudrückten. Die Schachtel, die er gerade gefunden hatte, fiel ihm aus den Händen, Wachskerzen zerbrachen und rollten überall auf dem Boden herum. Er war halb erdrosselt, ehe er den ersten Schrecken überwunden hatte und plötzlich zu der Gewißheit gelangte, daß die schwarze Kreatur aus seinen Träumen zum Leben erwacht war: Ein Dämon aus dem Keller der Hölle war hinter ihm her und hatte ihm, kaum war der Strom ausgefallen, die schuppigen Klauen um den Hals gelegt. Dann legte er unwillkürlich, instinktiv, die eigenen Hände auf die, die ihn würgten, und versuchte sich zu befreien. Heißer Atem blies gegen sein rechtes Ohr und erzeugte einen Windtunnel dort, den er spüren, aber nicht hören konnte. Er konnte einmal keuchend Atem holen, bevor die Hände wieder zudrückten. Die beiden wiegten sich in der Schwärze wie dunkle Tänzer. Ray Booth konnte spüren, wie ihn die Kräfte verließen, während der Bengel sich wehrte. Sein Kopf dröhnte. Wenn er den Taubstummen nicht rasch erledigte, würde er es nicht schaffen. Er drückte dem mageren Bürschchen mit aller verbliebenen Kraft den Hals zu. Nick spürte, wie die Welt davonglitt. Der Schmerz im Hals, der anfangs stechend gewesen war, war jetzt dumpf und weit entfernt - fast angenehm. Er trat mit dem Absatz fest auf einen Fuß von Booth und lehnte gleichzeitig das Gewicht gegen den großen Mann. Booth war gezwungen, einen Schritt zurückzuweichen. Er trat mit einem Fuß auf eine Kerze. Sie rollte unter ihm weg, und er krachte mit dem Rücken auf den Boden und Nick auf ihn. Er konnte die Hände nicht mehr halten. Nick rollte sich weg, atmete in keuchenden Stößen. Alles schien weit entfernt zu schweben, abgesehen von den Schmerzen im Hals, die in langsamen, pochenden Schüben zurückgekehrt waren. Er konnte glitschiges Blut im Hals schmecken. Der große, gebückte Schemen des Wesens, das ihn überfallen hatte, rappelte sich auf die Füße. Nick erinnerte sich an den Revolver und griff danach. Er war da, kam aber nicht aus dem Halfter. Er hatte sich irgendwie verhakt. Nick zerrte heftig und voller Panik daran. Ein Schuß löste sich. Die Kugel zuckte an seinem Bein entlang und knallte in den Boden. Der Schemen kam über ihn wie ein Todesgott. Der Atem wurde Nick explosionsartig aus der Brust gedrückt, dann griffen große, weiße Hände nach seinem Gesicht, die Daumen in Richtung seiner Augen gekrümmt. Nick sah an einer Hand etwas Purpurnes im schwachen Mondlicht funkeln, und in seiner Überraschung formte er mit dem Mund das Wort Booth in der Dunkelheit. Er zerrte mit der rechten Hand weiter an dem Revolver. Er spürte das heiße Brennen entlang seines Oberschenkels kaum. Ein Daumen von Ray Booth stieß in Nicks rechtes Auge. Unerträgliche Schmerzen funkelten und zerstoben in seinem Kopf. Endlich bekam er den Revolver frei. Booths Daumen, der Schwielen und Hornhaut von der Arbeit hatte, drehte sich heftig im Uhrzeiger- und Gegenuhrzeigersinn, Nicks Augapfel zu zermalmen. Nick stieß einen unartikulierten Schrei aus, wenig mehr als ein heftiges Ausstoßen von Luft, und rammte den Revolver in Ray Booths schwammige Seite. Er drückte ab und spürte das gedämpfte Whump! der Waffe, das er als starken Rückstoß empfand, der ausschließlich in seinen Arm ging; die Kimme hatte sich in Ray Booths Hemd verhakt. Nick sah das Auflodern des Mündungsfeuers und roch einen Moment später Schießpulver und Booths verbranntes Hemd. Ray Booth erstarrte und sackte über ihm zusammen. Nick schluchzte vor Schmerz und Entsetzen, stemmte sich gegen das Gewicht, das auf ihm lag, und Booths Leichnam fiel und glitt halb von ihm herunter. Nick kroch unter ihm hervor; eine Hand hielt er über das verletzte Auge. Er lag lange Zeit mit brennendem Hals auf dem Boden. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre eine riesige, unbarmherzige Schraubzwinge in seine Schläfe gedreht worden. Schließlich tastete er um sich, fand eine Kerze und zündete sie mit dem Feuerzeug vom Schreibtisch an. In ihrem schwachen Licht konnte er Ray Booth mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen sehen. Ray sah aus wie ein ans Ufer gespülter toter Wal. Die Kugel hatte in seinem Hemd einen schwarzen Kreis, etwa so gross wie ein Vierteldollarstück, hinterlassen. Und jede Menge Blut. Im unsicheren Flackern der Kerze erstreckte sich Booths Schatten riesig und formlos bis zur gegenüberliegenden Wand. Nick torkelte stöhnend in das kleine Bad, ohne die Hand vom Auge zu nehmen, dann sah er in den Spiegel. Er sah Blut zwischen den Fingern hervortropfen und nahm die Hand widerwillig weg. Er war nicht sicher, dachte aber, daß er jetzt möglicherweise nicht nur taub und stumm, sondern auch noch einäugig war. Er ging ins Büro zurück und trat mit dem Fuß gegen den leblosen Körper von Ray Booth. Hast es mir gegeben, sagte er dem toten Mann. Erst meine Zähne, jetzt mein Auge. Bist du jetzt glücklich? Du hättest mir beide Augen genommen, wenn du gekonnst hättest, was? Hättest mir beide Auge genommen und mich taub, stumm und blind in einer Welt der Toten zurückgelassen. Wie schmeckt dir das, Junge? Er trat Booth noch einmal, aber als er spürte, wie sich sein Fuß in das tote Fleisch grub, wurde ihm übel. Nach einer Weile zog er sich zur Pritsche zurück, setzte sich und barg den Kopf in den Händen. Draußen gewann die Dunkelheit die Oberhand. Draußen erloschen alle Lichter der Welt. 34 Lange Zeit, tagelang (wie viele Tage? wer wußte das schon? der Mülleimermann jedenfalls nicht, das stand fest) war Donald Merwin Elbert, der bei den Gefährten seiner düsteren und verwirrenden Grundschulzeit als Mülleimermann bekannt war, in den Straßen von Powtanville, Indiana, auf und abgewandert, hatte sich vor den Stimmen in seinem Kopf geduckt und hatte die Hände hochgerissen, um sich vor Steinen zu schützen, die Gespenster nach ihm warfen. He, Mülleimer! He, Mülleimermann, wir haben dich erwischt, Müll! Diese Woche wieder schöne Feuer angezündet? Was hat Oma Sempel gesagt, als du ihren Rentenscheck verbrannt hast, Müll? He, Müllbaby, willst du ein bißchen Benzin kaufen? Wie hat dir die Schockbehandlung in Terre Haute gefallen, Mülli? Müll... - He, Mülleimer - Manchmal wußte er, daß diese Stimmen nicht real waren, aber manchmal schrie er laut, daß sie aufhören sollten, und merkte dann, daß nur seine eigene Stimme von den Wänden und Schaufenstern der Läden widerhallte, von der Schlackenwand des Scrubba-Dubba Car Wash zurücksprang, wo er früher gearbeitet hatte und heute, am Morgen des 30. Juni, saß und ein matschiges Sandwich mit Erdnußbutter, Sülze, Tomaten und Guldens Teufelssenf aß. Nur seine eigene Stimme prallte gegen die Häuser und die Läden, wurde abgewiesen wie ein ungebetener Gast und kehrte deshalb zu seinen eigenen Ohren zurück. Denn irgendwie war Powtanville leer. Alle waren verschwunden... oder doch nicht? Sie hatten immer gesagt, er sei verrückt, und genauso etwas würde ein Verrückter denken, dass seine Heimatstadt leer war, abgesehen von ihm selbst. Aber sein Blick kehrte immer wieder zu den Öltanks am Horizont zurück, riesig und weiß und rund wie tiefhängende Wolken. Sie standen zwischen Powtanville und der Straße nach Gary und Chicago, und er wußte, was er tun wollte, und das war kein Traum. Es war böse, aber kein Traum, und er würde sich nicht zusammennehmen können. Die Finger verbrannt, Müll? He, Mülleimermann, weißt du nicht, daß man Bettnässer wird, wenn man mit Feuer spielt? Etwas schien an ihm vorbeizufliegen, er schluchzte, hob die Hände, ließ das Sandwich in den Staub fallen und zog den Kopf ein, aber da war nichts, niemand. Hinter der Schlackensteinwand des ScrubbaDubba Car Wash lag nur der Indiana Highway 130, der nach Gary führte, aber vorher an den großen Öltanks der Cheery Oil Company vorbeikam. Er hob leise schluchzend das Sandwich auf und wischte, so gut er konnte, den grauen Staub von dem Weißbrot. Dann aß er weiter. Waren es Träume? Früher einmal hatte er einen Vater gehabt, und der Sheriff hatte ihn direkt vor der Methodistenkirche niedergeschossen, und damit hatte er selbst sein ganzes Leben lang fertig werden müssen. He, Mülleimer, Sheriff Greeley hat deinen Alten erschossen wie einen tollen Hund, weißt du das, alter Spinner? Sein Vater war im O'Toole's gewesen; es gab Streit, Wendell Elbert hatte eine Pistole, damit ermordete er den Barmann; dann ging er nach Hause und ermordete mit derselben Pistole Mülleimers zwei ältere Brüder und seine Schwester - oh, Wendell Elbert war ein komischer Kauz und verdammt jähzornig, und er war schon lange vor diesem Abend wunderlich geworden, das sagten alle in Powtanville, und sie sagten auch: wie der Vater, so der Sohn -, und er hätte auch Mülleimers Mutter ermordet, aber Sally Elbert war schreiend in die Nacht geflüchtet, mit dem fünfjährigen Donald (später als Mülleimermann bekannt) auf dem Arm. Wendell Elbert hatte auf der Treppe gestanden und ihnen nachgeschossen, die Kugeln waren heulend und pfeifend von der Straße abgeprallt, und beim letzten Schuß war die billige Pistole, die Wendell in einer Bar in der State Street in Chicago von einem Nigger gekauft hatte, in seiner Hand explodiert. Die herumfliegenden Splitter hatten ihm einen Großteil des Gesichts weggerissen. Er war die Straße entlanggetorkelt, Blut war ihm in die Augen gelaufen, er hatte geschrien und die Überbleibsel der billigen Pistole, deren Lauf zerfranst war wie eine explodierte Scherzzigarre, in einer Hand geschwenkt, und gerade als er die Methodistenkirche erreicht hatte, kam Sheriff Greeley mit Powtanvilles einzigem Streifenwagen vorgefahren und hatte ihm befohlen, stehenzubleiben und die Pistole fallenzulassen. Statt dessen richtete Wendell Elbert die Überbleibsel seines Saturday Night Special auf den Sheriff, und Greeley bemerkte entweder nicht, daß der Lauf des Saturday Night Special ausgefranst war, oder tat so, als würde er es nicht bemerken; das Ergebnis war so oder so dasselbe. Er verpaßte Wendell Elbert beide Ladungen seiner Doppelläufigen. He, Müll, haste dir schon' SCHWANZ abgebrannt? Er drehte sich um, wer das gerufen hatte - es hatte sich angehört wie Carley Yates oder einer der Jungs, mit denen er sich herumtrieb -, aber Carley Yates war kein Junge mehr, ebensowenig wie er selbst. Vielleicht konnte er jetzt wieder nur Don Elbert sein statt der Mülleimermann, so wie Carley Yates jetzt nur Carl Yates war und bei Stout, dem örtlichen Chrysler-Plymouth-Händler, Autos verkaufte. Aber Carl Yates war weg, alle waren weg, und vielleicht war es zu spät für ihn, irgend jemand zu sein. Und er saß nicht mehr an der Wand des Scrubba-Dubba; er war eine Meile oder mehr nordwestlich der Stadt, ging die 130 entlang, und die Stadt Powtanville lag unter ihm wie das maßstabgetreue Modell einer Stadt einer Spielzeugeisenbahn. Die Tanks waren nur noch eine halbe Meile entfernt, und er hatte einen Werkzeugkasten in der einen und einen 20-Liter-Kanister Benzin in der anderen Hand. Oh, es war so böse, aber... Als Wendell Elbert unter der Erde war, hatte Sally Elbert eine Stelle im Powtanville Cafe angenommen, und irgendwann, in der ersten oder zweiten Klasse, hatte ihr letztes überlebendes Kücken, Donald Merwin Elbert, damit angefangen, Feuer in den Mülleimern anderer Leute anzuzünden und wegzulaufen. Aufgepaßt, Mädchen, da kommt der Mülleimermann, der zündet euch die Kleider an! Hiiiii! Ein Freeeeeak! Erst als er in der dritten Klasse war, fanden die Erwachsenen heraus, wer es war, und der Sheriff kam vorbei, der gute alte Sheriff Greeley, und Don schätzte, so war es gekommen, daß der Mann, der seinen Vater direkt vor der Methodistenkirche niedergestreckt hatte, sein Stiefvater wurde. Hey, Carley, hab 'n Rätsel für dich: Wie kann dein Vater deinen Vater abknallen? Keine Ahnung, Petey, wie? Weiß auch nicht, aber es geht, wenn man der Mülleimermann ist! HihihahabaHarrHarrHarr! Jetzt stand er am Anfang der gekiesten Zufahrt, und die Schultern taten ihm weh, weil er Werkzeugkasten und Benzin geschleppt hatte. Auf dem Schild am Tor stand: CHEERY PETROLEUM COMPANY, INC. ALLE BESUCHER BITTE IM BÜRO ANMELDEN! VIELEN DANK! Ein paar Autos parkten auf dem Platz, nicht viele. Eine ganze Menge hatten platte Reifen. Mülleimermann schritt die Zufahrt entlang und durch das Tor, das nur angelehnt war. Seine blauen, seltsam fremden Augen waren starr auf die spinnwebgleiche Treppe gerichtet, die sich spiralförmig um den ersten Tank schlang, bis ganz zur Spitze. Unten vor dieser Treppe hing eine Kette, und an der Kette baumelte noch ein Schild. Darauf stand: BETRETEN VERBOTEN! PUMPSTATION GESCHLOSSEN. Er kletterte über die Kette und ging die Treppe hinauf. Es war nicht richtig, daß seine Mutter diesen Sheriff Greeley geheiratet hatte. In dem Jahr, als er in die vierte Klasse kam, legte er Feuer in Briefkästen - das war das Jahr, in dem er den Rentenscheck der alten Mrs. Semple verbrannt hatte - und wurde wieder erwischt. Sally Elbert Greeley wurde hysterisch, als ihr zweiter Mann einmal vorschlug, den Jungen in die Anstalt in Terre Haute zu schicken. (Du glaubst, er ist verrückt! Wie kann ein zehnjähriger Junge verrückt sein? Ich glaube, du willst ihn nur loswerden! Seinen Vater hast du aus dem Weg geräumt, und jetzt willst du ihn loswerden!) Greeleys einzige andere Möglichkeit wäre gewesen, den Jungen anzuklagen, und man schickte keinen Zehnjährigen in die Jugendstrafanstalt, wenn man nicht wollte, dass er mit einem Arschloch Größe elf wieder rauskam, wenn man nicht wollte, daß die neue Frau sich von einem scheiden ließ. Die Treppe hinauf, die Treppe hinauf. Seine Füße erzeugten ein leises Klingen auf dem Stahl. Er hatte die Stimmen unten zurückgelassen, und so hoch konnte niemand einen Stein werfen. Die Autos auf dem Parkplatz sahen wie glänzende CorgiSpielsachen aus. Er hörte nur die Stimme des Windes, die ihm leise ins Ohr flüsterte und irgendwo durch eine Öffnung heulte; das, und den fernen Ruf eines Vogels. Ringsum erstreckten sich Bäume und freies Feld in allen Schattierungen von Grün, dem verträumter Morgendunst einen ganz leichten bläulichen Schimmer verlieh. Er lächelte jetzt glücklich, während er der Stahlspirale höher und höher folgte, immer rundherum. Als er die flache runde Haube des Tanks erreicht hatte, kam es ihm so vor, als würde er direkt unter dem Dach der Welt stehen und könnte, wenn er nach oben griff, mit den Fingernägeln blaue Kreide vom Grund des Himmels kratzen. Er setzte Benzinkanister und Werkzeugkasten ab und sah sich einfach nur um. Man konnte tatsächlich von hier aus Gary sehen, weil der Industriequalm, den die hohen Schornsteine gewöhnlich ausstießen, fehlte und die Luft dort oben genauso klar war wie hier. Chicago war ein in Sommerdunst gehüllter Traum, und fern im Norden sah er ein schwaches blaues Glitzern, das entweder der Michigan-See oder ein Wunschbild war. Die Luft hatte ein sanftes, goldenes Aroma, das ihn an ein beschauliches Frühstück in einer hellen Küche denken ließ. Und bald würde der Tag brennen. Er ließ das Benzin stehen, wo es war, trug den Werkzeugkasten zur Pumpanlage und machte sich Gedanken. Er hatte ein intuitives Verständnis für Maschinen; er konnte damit ähnlich umgehen, wie gewisse Geisteskranke mit siebenstelligen Zahlen im Kopf multiplizieren und dividieren können. Es hatte nichts mit Wissen oder Erkennen zu tun; er ließ einfach eine Zeitlang seine Blicke schweifen, dann bewegten sich seine Hände rasch und mühelos. »He, Mülleimer, warum hast'n 'ne Kirche angesteckt? Warum nicht die SCHULE?« Als er in der fünften Klasse war, hatte er in der Nachbarstadt Sedley im Wohnzimmer eines verlassenen Hauses Feuer gelegt, und das Haus war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Sein Stiefvater Sheriff Greeley hatte ihn in den Bau gesteckt, weil ihn eine Bande Jugendlicher verprügelt hatte, und jetzt wollten die Erwachsenen ran (Wenn es nicht geregnet hätte, wäre wegen diesem verdammten Feuerteufel vielleicht die halbe Stadt abgebrannt!). Greeley sagte Sally, daß Donald in die Anstalt in Terre Haute gebracht werden und den Test machen müßte. Sally sagte, sie würde ihn verlassen, wenn er ihrem Baby, ihrem ein und alles, das antun würde, aber Greeley ließ den Richter die Einweisungsverfügung unterschreiben, und so verschwand der Mülleimermann eine Weile, zwei Jahre, aus Powtanville, seine Mutter ließ sich von dem Sheriff scheiden, der Sheriff wurde in dem Jahr nicht wiedergewählt und endete als Fließbandarbeiter in einer Automobilfabrik in Gary. Sally besuchte Müll jede Woche und weinte immer dabei. Mülleimermann flüsterte: »Los geht's, du Scheißhaufen«, und sah sich verstohlen um, ob jemand das schlimme Schimpfwort gehört hatte. Natürlich hatte es niemand gehört, denn er stand oben auf dem Öltank Nummer 1 der Cheery Oil, und selbst wenn er unten auf dem Boden gewesen wäre - es war niemand mehr da. Nur die Gespenster. Über ihm zogen dicke weiße Wolken vorbei. Aus dem Wirrwarr der Pumpanlage ragte ein dickes Rohr hervor, das einen Durchmesser von mehr als zwanzig Zentimetern und am Ende ein Gewinde hatte, um einen, wie es im Öljargon hieß, Kupplungsschlauch anzubringen. Es war ausschließlich für Abfluss oder Überlauf gedacht, aber jetzt war der Tank mit bleifreiem Benzin gefüllt, und etwas davon, vielleicht ein halber Liter, war ausgelaufen und bildete irisierende Spuren auf dem staubigen Metall. Mülleimer trat mit leuchtenden Augen einen Schritt zurück, einen schweren Schraubenschlüssel in der einen und einen Hammer in der anderen Hand. Er ließ sie fallen, und sie schepperten. Also brauchte er das Benzin, das er mitgebracht hatte, doch nicht. Er hob den Kanister, schrie: »Bomben los!« und ließ ihn über die Seite fallen. Der Kanister drehte sich blinkend im Fallen; Müll verfolgte den Absturz mit Interesse. Nach einem Drittel des Weges schlug er auf der Metalltreppe auf, prallte ab und fiel dann ganz nach unten, wobei er sich immer wieder überschlug und bernsteinfarbenes Benzin aus der Seite spritzte, die beim Aufprall aufgeplatzt war. Er wandte sich wieder dem Überlaufrohr zu. Er betrachtete die irisierenden Benzinpfützen. Er holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Brusttasche und betrachtete sie schuldbewußt, fasziniert und aufgeregt. Auf der Vorderseite war eine Anzeige, wonach man durch die La Salle University in Chicago im Fernunterricht jedwede Ausbildung erhalten konnte. Ich stehe auf einer Bombe, dachte er. Er machte die Augen zu, zitterte vor Angst und Ekstase, und die vertraute kalte Erregung packte ihn und machte Finger und Zehen taub. He, Müll, du alter Feuerteufel! Als er dreizehn war, wurde er aus Terre Haute entlassen. Sie wußten nicht, ob er geheilt war oder nicht, aber sie behaupteten es. Sie brauchten sein Zimmer, damit sie ein anderes verrücktes Kind ein paar Jahre einsperren konnten. Mülleimer ging nach Hause. Er war jetzt in der Schule weit zurück und kam auch nicht mehr richtig mit. In Terre Haute hatte man ihm Elektroschocks verpaßt, und als er wieder in Powtanville war, konnte er nichts mehr im Kopf behalten. Er lernte für eine Prüfung, vergaß dann die Hälfte und bekam bestenfalls eine 4 oder 5. Eine Zeitlang zündete er wenigstens keine Feuer mehr an. Es schien, als sei alles so, wie es sein sollte. Der vatermordende Sheriff war weg; er war oben in Gary und machte Scheinwerfer an Dodges fest (»Macht das Zeug ans Fahrzeug«, sagte Dons Mutter manchmal). Seine Mutter arbeitete im Powtanville Cafe. Alles war in Ordnung. Natürlich war da CHEERY OIL, weiße Tanks, die sich am Horizont erhoben wie riesige weißgetünchte Blechdosen, und dahinter der Industriequalm von Gary - wo der vatermordende Sheriff lebte -, als würde Gary schon in Flammen stehen. Er fragte sich oft, wie die Tanks von Cheery Oil wohl hochgehen würden. Drei einzelne Explosionen, so laut, daß einem die Trommelfelle platzten, und so hell, daß einem die Augen in den Höhlen geröstet wurden? Drei Feuersäulen (Vater, Sohn und der heilige vatermordende Sheriff), die monatelang Tag und Nacht brannten? Oder würden sie vielleicht überhaupt nicht brennen? Er würde es herausfinden. Der leichte Sommerwind blies die ersten zwei Streichhölzer aus, und er ließ die verkohlten Enden auf den genieteten Stahl fallen. Zu seiner Rechten, in der Nähe des kniehohen Geländers, das um den Tank herumlief, sah er einen Käfer, der in einer Benzinpfütze strampelte. Ich bin wie dieser Käfer, dachte er giftig, und was ist das für eine Welt, in der Gott einen nicht nur in klebriger Pampe stecken läßt wie einen Käfer in einer Benzinpfütze, sondern einen auch noch am Leben und stundenlang zappeln läßt, tagelang... oder, in seinem Fall, jahrelang. So eine Welt verdient nichts anderes, als zu verbrennen. Er stand mit gesenktem Kopf da und wollte gerade das dritte Streichholz anzünden, als der Wind nachließ. Als er zurückgekommen war, wurde er eine Weile Irrer und Schwachkopf und Feurio genannt, aber Carley Yates, der ihm inzwischen drei Klassen voraus war, erinnerte sich an die Mülleimer, und Carleys Name blieb an ihm haften. Als er sechzehn wurde, ging er mit Erlaubnis seiner Mutter von der Schule ab. (Was soll man denn erwarten? Die haben ihn da unten in Terre Haute fertichgemacht, ich würd' sie verklagen, wenn ich das Geld hätte. Elektroschockbehandlung sagen sie dazu. Ich sag dazu elektrischer Stuhl!) und fing bei Scrubba-Dubba Car Wash an: Scheinwerfer abseifen / Scheibenwischer prüfen / Stoßstangen abseifen / Spiegel abwischen / he, Mister, wollen Sie auch Heißwachs? Und eine Weile ging noch alles seinen geregelten Gang. Leute schrien ihn an Straßenecken und aus fahrenden Autos an, wollten wissen, was die alte Mrs. Semple (die schon vier Jahre im Grab lag) gesagt hatte, als er ihren Rentenscheck verbrannt hatte, oder ob er ins Bett gemacht hatte, nachdem er das Haus in Sedley angesteckt hatte; sie pfiffen einander zu, wenn sie vor der Milchbar lungerten oder im Eingang von O'Toole's lehnten; sie rieten einander laut, Streichhölzer zu verstecken und Zigaretten auszumachen, weil der Mülleimermann unterwegs war. Die Stimmen wurden alle zu Phantomstimmen, aber die Steine, die aus dunklen Toreinfahrten oder von der anderen Straßenseite auf ihn zugesaust kamen, konnte er nicht einfach mißachten. Einmal hatte jemand aus einem vorbeifahrenden Auto eine halbvolle Bierdose nach ihm geworfen, und die Bierdose hatte ihn an der Stirn getroffen, so daß er in die Knie ging. Das war das Leben: Stimmen, ab und zu geworfene Steine, das Scrubba-Dubba. Und in der Frühstückspause saß er da, wo er auch heute gesessen hatte, aß die Vesper, die seine Mutter ihm mitgegeben hatte, sah zu den Öltanks von Cheery Oil und fragte sich, wie es sein würde. Das war jedenfalls das Leben, bis er sich eines Tages mit einem 20Liter-Kanister Benzin im Vorraum der Methodistenkirche wiederfand und es überall verspritzte - besonders auf die Gesangbücher, die in einer Ecke lagen, dann hatte er sich besonnen und gedacht: Das ist böse, und vielleicht noch schlimmer, es ist DUMM, sie werden wissen, wer es getan hat, sie würden auch wissen, wer es getan hat, wenn es ein anderer gewesen wäre, und sie werden dich »fortbringen«; er dachte darüber nach und roch Benzin, während die Stimmen in seinem Kopf flatterten wie Fledermäuse in einem Glockenturm, in dem es spukt. Dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht, er drehte den Benzinkanister um, lief damit durch das Mittelschiff und verspritzte Benzin vom Vorraum bis zum Altar, wie ein Bräutigam, der zu seiner eigenen Hochzeit zu spät kommt und so ungeduldig ist, daß er schon die heiße Flüssigkeit verspritzt, die dem künftigen Ehebett vorbehalten bleiben sollte. Dann war er in den Vorraum zurückgerannt, hatte ein einziges Streichholz aus der Brusttasche gezogen, es am Reißverschluss seiner Jeans angerissen und auf den Stapel benzindurchtränkter Gesangbücher geworfen, Volltreffer, kablamm! und am nächsten Tag fuhr er an den schwarzen Trümmern der Methodistenkirche vorbei in die Jugendstrafanstalt von Northern Indiana. Und gegenüber von Scrubba-Dubba stand Carley Yates an den Laternenpfahl gelehnt, eine Lucky Strike im Mundwinkel, und Carley hatte ihm seinen Abschiedsgruß, seinen Epitaph, seine letzten Worte nachgerufen: He, Müll, warum hast'n 'ne Kirche angesteckt? Warum nicht die SCHULE? Er war siebzehn, als er in die Jugendstrafanstalt kam, und als er achtzehn wurde, schickten sie ihn ins Staatsgefängnis, und wie lange war er da? Wer wollte das wissen? Der Mülleimermann nicht, soviel stand fest. Im Knast war es den Leuten egal, daß er die Methodistenkirche niedergebrannt hatte. Im Knast waren Leute, die viel Schlimmeres getan hatten. Mord. Vergewaltigung. Älteren Bibliothekarinnen den Schädel eingeschlagen. Manche Zellengenossen wollten mit ihm etwas machen, manche wollten, dass er mit ihnen etwas machte. Ihm war es gleichgültig. Es passierte, wenn das Licht aus war. Ein Mann mit Kahlkopf hatte ihm gesagt, daß er ihn liebe - Ich liebe dich, Donald-, und das war bestimmt besser, als mit Steinen beworfen zu werden. Manchmal dachte er, wenn ich nur für immer hier bleiben könnte. Aber manchmal träumte er nachts von CHEERY OIL, und in den Träumen gab es immer eine einzige donnernde Explosion, der zwei weitere folgten, und es hörte sich an wie WAMM!... WAMM! WAMM! Gewaltige tonlose Explosionen, die sich ins helle Tageslicht hämmerten, die das Tageslicht formten wie Hammerschläge dünnes Kupfer. Und die Leute in der Stadt würden alles stehen- und liegenlassen und nach Norden in Richtung Gary schauen, wo die drei Tanks sich gegen den Horizont abhoben wie riesige weißgetünchte Blechdosen. Carley Yates würde gerade versuchen, einem jungen Paar mit Baby einen zwei Jahre alten Plymouth Fury zu verkaufen und mitten im Gespräch innehalten und aufblicken. Die Müßiggänger im O'Toole's und dem Süßwarenladen würden Bier und Schokomalz stehenlassen und sich nach draußen drängen. Im Cafe würde seine Mutter sich vor der Kasse umdrehen. Der neue Gehilfe im Scrubba-Dubba, der gerade einen Scheinwerfer einseifte, würde sich aufrichten, den Schwammhandschuh noch an der Hand, und nach Norden sehen, wo der gewaltige, ungeheure Lärm wie ein Vorschlaghammer das dünne Kupferblech der täglichen Routine zerschlug: WAMM! Das war sein Traum. Irgendwann wurde er Vertrauensmann, und als die seltsame Krankheit kam, mußte er in der Krankenstation helfen, aber vor einigen Tagen waren keine Kranken mehr da gewesen, denn alle, die krank gewesen waren, waren nun tot. Alle waren tot oder abgehauen, mit Ausnahme von einem jungen Wärter namens Jason Debbins, der sich am Steuer im Wagen der Gefängniswäscherei erschossen hatte. Und wohin hätte er selber schon gehen sollen, wenn nicht nach Hause? Der Wind strich ihm sanft über die Wange und erstarb dann. Er zündete noch ein Streichholz an und ließ es fallen. Es landete in einer kleinen Benzinpfütze, und das Benzin fing Feuer. Die Flammen waren blau. Sie breiteten sich anmutig aus, eine Art Korona mit dem brennenden Streichholz als Mittelpunkt. Vor Faszination wie gelähmt sah Mülleimer einen Augenblick zu, dann trat er rasch zur Treppe, die um den Tank herum nach unten führte und blickte noch einmal über die Schulter zurück. Er sah die Pumpanlage jetzt durch Hitzeflimmern hindurch, so zitternd und verschwommen wie ein Trugbild. Die blauen, nur fünf Zentimeter hohen Flammen wanderten zur Anlage und dem offenen Rohr hin, ein ständig wachsender Halbkreis. Der Käfer hatte aufgehört zu zappeln. Er war nur noch eine verkohlte Hülle. Das könnte ich auch mit mir geschehen lassen. Aber das wollte er nicht. Ihm schien auf unbestimmte Weise, als könnte sein Leben jetzt noch einen anderen Sinn haben, einen großen und gewaltigen. Daher empfand er einen Hauch von Angst und begann im Laufschritt die Treppe hinabzusteigen, daß seine Schritte dröhnten und seine Hände rasch über das steile, rostzerfressene Geländer rutschten. Abwärts, abwärts, im Kreis, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die Dämpfe über dem offenen Überlaufrohr anfingen zu brennen, bis die Hitze groß genug war, daß sie den Hals des Rohrs in den Bauch des Tanks hinabraste. Mit fliegenden Haaren und einem verkrampften entsetzten Grinsen im Gesicht, dem Rauschen von Wind in den Ohren, lief er nach unten. Jetzt hatte er den halben Weg geschafft und rannte an den sechs Meter hohen Buchstaben CH vorbei, die sich in leuchtendem Grün vom Weiß des Tanks abhoben. Abwärts, abwärts, und wenn seine rasenden Füße ausrutschten oder über etwas stolperten, würde er abstürzen wie der Kanister, und seine Knochen würden wie tote Äste brechen. Der Boden kam näher, die Kreise aus weißem Kies um den Tank herum, das grüne Gras jenseits des Kieses. Die Autos auf dem Parkplatz hatten fast schon wieder ihre normale Größe. Und immer noch schien er zu schweben, zu schweben wie in einem Traum, und er würde nie unten ankommen, immer nur laufen und laufen und nirgends hingelangen. Er befand sich neben einer Bombe, deren Zündschnur schon brannte. Von weit oben hörte er plötzlich einen lauten Knall, wie von einem Fünf-Zoll-Kanonenschlag am 4. Juli. Ein metallisches Klingen, dann sauste etwas an ihm vorbei. Er sah, daß es ein Teil des Überlaufrohrs war, und er sah es mit einer stechenden, beinahe lustvollen Angst. Es war ganz schwarz und durch die Hitze in eine völlig neue und aufregend sinnlose Form verbogen. Er legte die Hand aufs Geländer, setzte hinüber und hörte dabei ein Knacken im Handgelenk. Übelkeit erregender Schmerz breitete sich bis zum Ellenbogen aus. Müll stürzte die letzten sieben Meter, landete im Kies und fiel hin. Die Kieselsteine hatten ihm die Unterarme aufgeschürft, aber er spürte es kaum. Er war von einer stöhnenden, grinsenden Panik erfüllt, und der Tag schien sehr hell zu sein. Mülleimermann rappelte sich auf, drehte den Kopf herum und sah, noch während er zu laufen anfing, nach oben. Auf der Spitze des mittleren Tanks waren gelbe Haare gewachsen, und diese Haare wuchsen mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Das ganze Ding konnte jede Sekunde hochgehen. Er rannte; die rechte Hand baumelte am gebrochenen Gelenk. Er sprang über die Parkplatzeinfassung, und seine Füße traten auf Asphalt. Jetzt hatte er den Parkplatz hinter sich, sein Schatten folgte ihm auf dem Fuß, während er die Einfahrt entlanglief, sich durch das angelehnte Tor stürzte und den Highway 130 erreichte. Er lief schnurstracks auf die andere Seite, warf sich dort in den Graben, landete weich in einem Haufen welker Blätter und nassem Moos, schlang die Arme um den Kopf, und sein Atem schnitt in die Lungen wie brutale Messerstiche. Der Öltank ging hoch. Nicht WAMM! sondern KA-WAPP!, ein so gewaltiges Geräusch, und doch so kurz und kehlig, daß er spürte, wie seine Trommelfelle nach innen, seine Augen nach außen gedrückt wurden, als die Luft sich irgendwie änderte. Eine zweite Explosion folgte, dann eine dritte, und Mülleimer warf sich auf das Laub und grinste und stieß stumme Schreie aus. Er richtete sich auf, hielt die Hände auf die Ohren, und ein plötzlicher Wind erfaßte ihn und stieß ihn mit solcher Gewalt zu Boden, als wäre er nur ein Stück Abfall. Die jungen Bäume hinter ihm bogen sich zurück, und ihre Blätter erzeugten ein schrilles, sirrendes Geräusch, wie Wimpel, die an einem stürmischen Tag über dem Platz des Gebrauchtwagenhändlers flatterten. Einer oder zwei brachen mit einem knackenden Geräusch, als würde jemand eine Pistole abfeuern. Brennende Stücke des Tanks stürzten auf der anderen Straßenseite zu Boden, einige sogar auf die Straße. Beim Auftreffen dröhnten sie metallisch, in den Stücken hingen teilweise noch Nieten, und sie waren verbogen und schwarz, genau wie das Teil vom Überlaufrohr. KA-WAMM! Mülleimer richtete sich wieder auf und sah hinter dem Parkplatz der CHEERY OIL eine riesige Feuersäule aufsteigen. Schwarzer Rauch wirbelte aus ihrer Spitze erstaunlich hoch gerade in die Luft, bevor der Wind ihn auseinandertrieb. Man konnte nicht hinsehen, ohne die Augen zusammenzukneifen, und jetzt wehte sengende Hitze über die Straße zu ihm herüber und straffte ihm die Haut, bis sie glänzend wirkte. Seine Augen tränten protestierend. Ein weiteres Stück brennenden Metalls, das einen Durchmesser von mindestens zwei Metern hatte und wie ein Diamant geformt war, fiel vom Himmel, landete sechs Meter links von ihm im Graben, und die trockenen Blätter auf dem nassen Moos standen sofort in Flammen. KA-WAMM-KA-WAMM! Wenn er noch länger hier blieb, würde er in einem Akt spontaner Verbrennung in Flammen aufgehen. Er kroch aus dem Graben, lief auf der Böschung neben der Straße in Richtung Gary, und der Atem wurde immer heißer und heißer in seinen Lungen. Die Luft schmeckte mit einem Mal wie Schwermetall. Er griff sich in die Haare, um zu prüfen, ob sie schon brannten. Der süße Gestank von Benzin erfüllte die Luft und schien ihn ganz einzuhüllen. Heißer Wind zerrte an seiner Kleidung. Er kam sich vor wie jemand, der aus einem Mikrowellenherd fliehen will. Vor seinen tränenden Augen sah er die Straße doppelt, dann dreifach. Er hörte ein weiteres hustendes Donnern, als der steigende Luftdruck das Bürogebäude der CHEERY OIL implodieren ließ. Glasscherben sirrten durch die Luft. Betonbrocken und Teile der Schlackenwand regneten aus dem Himmel und hagelten auf die Straße. Ein Stück Stahl mit einem Durchmesser von einem Vierteldollar und so lang wie ein Mars-Schokoriegel fuhr zischend durch Mülleimers Ärmel und riß ihm einen dünnen Kratzer in die Haut. Ein Stück, das so groß war, daß es seinen Kopf in Guajavenmarmelade verwandelt hätte, schlug vor seinen Füßen auf die Straße, riß einen Krater und prallte ab. Dann hatte er die Gefahrenzone hinter sich, lief aber weiter, und das Blut pulsierte in seinem Kopf, als wäre sein Gehirn mit Heizöl überschüttet und dann angezündet worden. KA-WAMM! Das war der nächste Tank, und der Luftwiderstand vor ihm schien zu verschwinden, eine große warme Hand stieß ihn fest von hinten, eine Hand, die sich von Kopf bis Fuß den Konturen seines Körpers anzupassen schien; sie schob ihn vorwärts, so daß seine Zehen kaum noch die Straße berührten, und in seinem Gesicht zeigte sich das entsetzte, bettnässerische Grinsen eines Mannes, den man an den größten Drachen der Welt angebunden und fliegen gelassen hat, fly, fly, up into the sky, und der jetzt im Aufwind hoch in den Himmel schwebt, bis der Wind plötzlich weg ist und er schreiend in die Tiefe stürzen muß. Hinter einer perfekten Salve von Explosionen ging Gottes Munitionslager in den Flammen der Gerechtigkeit auf, Satan erstürmte den Himmel, sein Artilleriehauptmann war ein wild grinsender Narr mit rotem abgeschälten Gesicht und dem Namen Mülleimermann und nie wieder Donald Merwin Elbert. Bilder zitterten vorbei: Autowracks am Straßenrand, Mr. Strangs blauer Briefkasten mit seiner Flagge, ein toter Hund mit hochgereckten Beinen, eine in ein Maisfeld gestürzte Überlandleitung. Die Hand schob ihn jetzt nicht mehr so heftig. Vor sich spürte er wieder Luftwiderstand. Müll riskierte einen Blick zurück, und er sah, daß die Anhöhe, auf der die Tanks gestanden hatten, eine einzige Flammenwand war. Alles brannte. Dort hinten schien selbst die Straße zu lodern, und er sah, daß auch die sommergrünen Bäume wie Fackeln brannten. Er rannte noch eine Viertelmeile und verfiel dann in ein schnaufendes, keuchendes und stöhnendes Gehen. Nach einer weiteren Meile gönnte er sich eine Pause, sah zurück und nahm den frohen Brandgeruch wahr. Ohne Löschwagen und Feuerwehrleute würde sich das Feuer dorthin ausbreiten, wohin der Wind wehte. Vielleicht würde es noch monatelang brennen. Powtanville würde verbrennen, und das Feuer würde sich nach Süden wenden und Häuser, Dörfer, Farmen, Ernten, Wiesen und Wälder zerstören. Vielleicht lief es so weit nach Süden, daß es Terre Haute erreichte und die Anstalt verbrannte, in der er gelebt hatte. Vielleicht brannte es noch weiter. Es könnte sogar... Er wandte den Blick wieder nach Norden, nach Gary. Er konnte die Stadt jetzt sehen; ihre großen Industrieschornsteine standen ruhig und unschuldig da wie Kreidestriche auf einer hellblauen Wandtafel. Dahinter Chicago. Wie viele Öltanks? Wie viele Tankstellen? Wie viele Züge voll Benzin oder brennbarer Düngemittel standen dort auf den Abstellgleisen? Wie viele Slums mit Häusern so trocken wie Zunder? Wie viele Städte hinter Gary und Chicago? Ein ganzes Land lag unter der Sommersonne und war bereit, verbrannt zu werden. Grinsend stand der Mülleimermann auf und ging weiter. Seine Haut wurde schon krebsrot. Er merkte es nicht, obwohl er deshalb in der Nacht nicht würde schlafen können. Die Schmerzen würden ihn in einer Art Ekstase wach halten. Es lagen noch größere und schönere Feuer vor ihm. Seine Augen blickten sanft und heiter und völlig irre. Es waren die Augen eines Mannes, der die große Achse seines Schicksals entdeckt und seine Hand darauf gelegt hatte. 35 »Ich möchte aus der Stadt raus«, sagte Rita, ohne sich umzudrehen. Sie stand auf dem kleinen Balkon des Apartments, der Morgenwind spielte mit dem durchsichtigen Nachthemd, das sie trug, und wehte den Stoff durch die offene Schiebetür herein. »Gut«, sagte Larry. Er saß am Tisch und aß ein Spiegeleisandwich. Sie drehte sich mit verhärmtem Gesicht zu ihm um. Als er sie im Park kennengelernt hatte, hatte sie wie eine elegante Spätvierzigerin ausgesehen, aber jetzt wirkte sie wie eine Frau, die auf des zeitlichen Messers Schneide tanzte, welche Anfang von Ende Sechzig trennte. Sie hatte eine Zigarette zwischen den Fingern, deren Spitze zitterte, so daß Rauchfähnchen aufstiegen, wenn sie sie zum Mund führte und rauchte, ohne zu inhalieren. »Wirklich, es ist mein Ernst.« Er wischte sich mit der Serviette den Mund. »Das weiß ich«, sagte er, »und ich verstehe es. Wir müssen weg.« Ihre Gesichtsmuskeln wurden schlaff, als etwas wie Erleichterung in ihre Züge trat, und Larry stellte beinahe (aber nicht ganz) voll unterbewußtem Ekel fest, daß sie dadurch noch älter aussah. »Wann?« »Warum nicht gleich heute?« fragte er. »Bist ein lieber Junge«, sagte sie. »Möchtest du noch Kaffee?« »Kann ich selbst holen.« »Unsinn. Bleib sitzen, wo du bist. Ich habe meinem Mann auch immer eine zweite Tasse geholt. Er bestand darauf. Und dabei habe ich beim Frühstück immer nur seinen Haaransatz gesehen. Der Rest steckte hinter dem Wall Street Journal oder einem gräßlich schweren Stück Literatur. Nicht nur etwas Bedeutungsvolles oder etwas mit Tiefgang, sondern etwas definitiv vor Bedeutung Triefendes. Böll. Camus. Milton, um Himmels willen. Du bist eine willkommene Abwechslung.« Auf dem Weg zur Kochnische sah sie über die Schulter; ihre Miene war schelmisch. »Es wäre jammerschade, dein Gesicht hinter einer Zeitung zu verstecken.« Er lächelte verhalten. Heute morgen schien ihr Humor gezwungen zu sein, wie gestern nachmittag schon. Er erinnerte sich, wie er sie im Park kennengelernt hatte und ihre Unterhaltung ihm wie achtlos auf den grünen Filz eines Billardtischs gestreute Diamanten erschienen war. Seit gestern nachmittag waren Unterhaltungen wie funkelnde Zirkone, perfekte Imitationen, aber eben nur Imitationen. »Hier.« Sie stellte die Tasse ab, und weil ihre Hand immer noch zitterte, tropfte ihm heißer Kaffee auf den Unterarm. Er zuckte mit einem katzenhaft zischenden Einatmen vor ihr zurück. »Oh, tut mir leid...« Ihr Gesicht drückte mehr als Betroffenheit aus; es war fast so etwas wie Entsetzen. »Schon gut...« »Nein, ich hole nur... ein kaltes Tuch... sitz nicht... einfach so da... ich Dummkopf.« Sie brach in Tränen aus und schluchzte abgehackt, als hätte sie gerade den scheußlichen Tod eines guten Freundes mit ansehen müssen und nicht nur ihn leicht mit etwas Kaffee verbrüht. Er stand auf, nahm sie in den Arm und nahm nicht ohne Mißfallen zur Kenntnis, wie fest sie ihn ihrerseits hielt. Es war beinahe ein Umklammern. Kosmische Umklammerung - Cosmic Clutch, das neue Album von Larry Underwood, dachte er unglücklich. O Scheiße. Du bist kein netter Kerl. Schon wieder. »Tut mir leid, ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich bin sonst nie so, es tut mir so leid...« »Schon gut, das macht doch nichts.« Er fuhr fort, sie mechanisch zu trösten und ihr mit den Händen über das melierte Haar zu streichen, das viel besser aussehen würde (wie überhaupt alles an ihr), wenn sie mal wieder längere Zeit im Bad verbringen würde. Selbstverständlich wußte er, was teilweise dafür verantwortlich war. Etwas Persönliches und etwas Allgemeines. Es hatte auch ihn beeinflußt, aber nicht so plötzlich und tiefgreifend. Bei ihr war es, als wäre in den letzten vierundzwanzig Stunden oder so ein innerer Kristall geborsten. Allgemein, vermutete er, war es der Geruch. Derzeit kam er durch die Öffnung zwischen Wohnzimmer und Balkon herein - mit der kühlen Morgenbrise, die später stehender, schwüler Hitze weichen würde, wenn sich der Tag so wie die vorhergehenden entwickelte. Der Geruch war schwer so zu definieren, daß es korrekt und trotzdem nicht so schmerzhaft wie die nackte Wahrheit war. Man konnte sagen, er war wie schimmlige Orangen oder verdorbener Fisch oder der Gestank in U-Bahn-Schächten, den man mitbekam, wenn die Fenster offen waren; nichts davon traf den Kern der Sache genau. Den Kern traf voll und ganz, daß es der Geruch Tausender Menschen war, die hinter geschlossenen Türen in der Hitze verwesten, aber vor diesem Eingeständnis scheute man denn doch etwas zurück. In Manhattan funktionierte der Strom noch, aber Larry glaubte nicht, daß das noch lange so weitergehen würde. In den meisten anderen Stadtteilen war er schon ausgegangen. Gestern abend hatte er, als Rita schon eingeschlafen war, auf dem Balkon gestanden, und von da oben konnte man sehen, daß die Lichter in halb Brooklyn und ganz Queens ausgegangen waren. Jenseits der North bis zum Ende von Manhattan Island war eine dunkle Fläche. In der anderen Richtung konnte er noch helle Lichter in Union City und - möglicherweise - Bayonne sehen, aber ansonsten war New Jersey schwarz. Die Schwärze freilich bedeutete mehr als nur den Ausfall des Lichts. Unter anderem bedeutete sie den Ausfall der Klimaanlagen, diesem modernen Komfort, der es möglich machte, nach Mitte Juni in dieser besonders eklatanten Stadt zu leben. Sie bedeutete, daß alle Menschen, die friedlich in ihren Wohnungen gestorben waren, jetzt in Backöfen verwesten, und jedesmal, wenn er daran dachte, mußte er wieder an das Ding denken, das er in der öffentlichen Toilette an der Transverse Number One gesehen hatte. Er hatte davon geträumt, und in seinen Träumen erwachte diese schwarze Süßigkeit zum Leben und lockte ihn. Persönlich machte ihr seiner Meinung nach zu schaffen, was sie herausgefunden hatten, als sie gestern durch den Park gegangen waren. Am Anfang war sie heiter und schwatzhaft und fröhlich gewesen, aber als sie zurückkam, fing sie an zu altern. Der Monster-Schreier hatte auf einem der Wege in einer Lache seines eigenen Blutes gelegen. Seine Brille, beide Gläser gesplittert, lagen zertreten neben seiner ausgestreckten linken Hand. Offenbar war doch ein Monster unterwegs gewesen. Der Mann wies zahlreiche Stichwunden auf. Larry betrachtete ihn ekelerfüllt und fand, daß er wie ein menschliches Nadelkissen aussah. Sie hatte nicht mehr aufgehört zu schreien, und als ihre Hysterie schließlich abgeklungen war, hatte sie darauf bestanden, daß sie ihn begruben. Also hatten sie es getan. Als sie in die Wohnung zurückgingen, war sie die Frau geworden, die er heute morgen vorgefunden hatte. »Schon gut«, sagte er. » Nur leicht verbrüht. Die Haut ist nicht mal gerötet.« »Ich hole Brandsalbe. Im Arzneischränkchen ist welche.« Sie wollte weggehen, aber er hielt sie fest an den Schultern und drückte sie auf den Stuhl. Sie sah ihn mit dunklen Ringen unter den Augen an. »Nein, du wirst essen«, sagte er. »Rührei, Toast, Kaffee. Dann besorgen wir uns Stadtpläne und suchen den besten Weg, Manhattan zu verlassen. Dir ist klar, daß wir zu Fuß gehen müssen.« »Ja... das müssen wir wohl.« Er ging in die Kochnische, weil er das stumme Flehen in ihren Augen nicht mehr sehen wollte, und nahm die beiden letzten Eier aus dem Kühlschrank. Er schlug sie in eine Schüssel, warf die Schalen in den Müllschlucker und fing an, sie zu verquirlen. »Wohin willst du?« fragte er. »Was? Ich weiß nicht...« »In welche Richtung?« sagte er mit einem Anflug von Ungeduld. Er goß Milch in die Eier und stellte die Stielpfanne wieder auf den Herd. »Nach Norden? Dort liegt Neuengland. Süden? Scheint mir sinnlos zu sein. Wir könnten nach...« Ein ersticktes Schluchzen. Er drehte sich um und stellte fest, daß sie ihn mit glänzenden Augen ansah und ihre Hände im Schoß dabei miteinander kämpften. Sie versuchte, sich zu beherrschen, hatte aber keinen Erfolg damit. »Was ist denn los?« sagte er und ging zu ihr. »Was hast du?« »Ich glaube nicht, daß ich etwas essen kann«, schluchzte sie. »Ich weiß, du willst es... ich versuche es... aber der Geruch...« Er ging durchs Wohnzimmer, schob die Balkontür auf ihrer Schiene aus rostfreiem Stahl zu und verschloß sie fest. »So«, sagte er und wünschte sich etwas, daß man ihm seinen Zorn auf sie nicht zu sehr anmerken würde. »Besser?« »Ja«, sagte sie übereifrig. »Viel besser. Jetzt kann ich essen.« Er ging in die Kochnische zurück und rührte die Eier um, die Blasen zu werfen begannen. In der Besteckschublade war eine Reibe, und er rieb noch einen Würfel Käse damit und machte ein kleines Häufchen, das er über die Eier streute. Sie bewegte sich hinter ihm, und einen Augenblick später ertönte Debussy durch das Apartment - für Larrys Geschmack zu leicht und hübsch. Ihm lag nichts an leichter klassischer Musik. Wenn man sich schon den klassischen Scheiß anhören mußte, dann sollte man aber auch auf die Vollen gehen und sich Beethoven oder Wagner oder so was reinziehen. Warum herumalbern? Sie hatte ihn beiläufig gefragt, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente ... der Beiläufigkeit von jemand, überlegte er mißfällig, für den so etwas Nebensächliches wie »Lebensunterhalt« nie ein Problem gewesen war. Ich war Rocksänger, hatte er ihr gesagt und sich dabei gewundert, wie mühelos ihm die Vergangenheitsform über die Lippen kam. Habe eine Weile mit dieser Band gesungen, dann mit jener. Manchmal Studioaufnahmen. Sie hatte genickt, und das war's gewesen. Er verspürte nicht den Wunsch, ihr von »Baby, Can You Dig Your Man?« zu erzählen - das war jetzt Vergangenheit. Die Kluft zwischen diesem und jenem Leben war so riesig, daß er sie noch gar nicht richtig begriffen hatte. In jenem Leben war er vor einem Kokaindealer davongelaufen; in diesem konnte er einen Mann im Central Park begraben und es (mehr oder weniger) als natürlichen Lauf der Dinge akzeptieren. Er tat die Eier auf einen Teller, stellte eine Tasse löslichen Kaffee mit viel Milch und Zucker dazu (Larry selbst hielt sich an den TruckerWahlspruch: »Wenn du eine Tasse Milch und Zucker willst, warum bestellst du dann Kaffee?«) und trug alles zum Tisch. Sie saß auf einem Sitzkissen, hielt sich die Ellbogen und war der Stereoanlage zugewandt. Debussy erklang wie geschmolzene Butter aus den Lautsprechern. »Zur Suppe«, rief er. Sie kam zaghaft lächelnd zu Tisch und betrachtete die Eier ungefähr so, wie ein Hürdenläufer eine Reihe Hürden ansehen würde; dann fing sie an zu essen. »Gut«, sagte sie. »Hast recht gehabt. Danke.« »Mehr als gern geschehen«, sagte er. »Und jetzt paß auf. Ich habe folgenden Vorschlag. Wir gehen die Fifth bis zur 39th Street runter und biegen nach Westen ab. Im Lincoln Tunnel durch New Jersey. Der 495 können wir bis Passaic nach Nordwesten folgen und... sind die Eier gut? Sie sind doch nicht verdorben, oder?« Sie lächelte. »Prima.« Sie schaufelte mehr in den Mund und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. »Genau das, was ich brauche. Sprich weiter, ich höre zu.« »Von Passaic aus arbeiten wir uns einfach nach Westen vor, bis die Straßen so weit frei sind, daß wir fahren können. Ich dachte mir, dann könnten wir nach Nordosten fahren, Richtung Neuengland. Eine Art Haken schlagen, klar? Sieht vielleicht länger aus, aber ich glaube, wir werden jede Menge Kilometer sparen. Vielleicht nehmen wir uns in Maine ein Haus am Meer. Kitterey, York, Wells, Ogunquit, vielleicht Scarborough oder Boothbay Harbor. Wie hört sich das an?« Er hatte zum Fenster hinausgesehen und beim Sprechen nachgedacht, jetzt drehte er sich zu ihr um. Was er sah, machte ihm einen Moment große Angst - es war, als hätte sie den Verstand verloren. Sie lächelte, aber es war ein Starrkrampf der Pein und des Entsetzens. Große, runde Schweißperlen standen ihr im Gesicht. »Rita? Herrgott, Rita, was...« »... tut mir leid...« Sie sprang auf, stieß den Stuhl dabei um und lief quer durchs Wohnzimmer. Sie blieb mit einem Fuß an dem Sitzkissen hängen, auf dem sie gesessen hatte; es kippte um wie ein riesiger Damestein. Sie wäre um ein Haar selbst gestürzt. »Rita?« Dann war sie im Bad, und er konnte die Würgelaute ihres Frühstücks hören, das wieder hochkam. Er schlug erbost mit der flachen Hand auf den Tisch, dann stand er auf und ging ihr nach. Herrgott, er konnte es nicht ab, wenn Leute kotzten. Man wollte dann immer selbst gleich mitkotzen. Als er den anverdauten Reibkäse im Bad roch, war ihm selbst nach Würgen zumute. Rita saß auf dem meisenblauen Fliesenboden, hatte die Beine untereinander verschränkt und hing immer noch schlapp über der Kloschüssel. Sie wischte sich den Mund mit einem Stück Toilettenpapier ab und sah ihn dann mit leichenblassem Gesicht flehentlich an. »Tut mir leid, ich konnte es einfach nicht essen, Larry. Wirklich nicht. Es tut mir so leid.« »Mein Gott, wenn du das so genau gewußt hast, warum hast du es dann überhaupt versucht?« »Weil du es wolltest. Ich wollte nicht, daß du böse auf mich bist. Aber das bist du jetzt, nicht? Du bist böse auf mich.« Er mußte an gestern nacht denken. Sie hatte so hemmungslos mit ihm geschlafen, daß er zum ersten Mal an ihr Alter gedacht und Ekel empfunden hatte. Ihm war gewesen, als stecke er in einer dieser Trainingsmaschinen fest. Er war schnell gekommen, beinahe wie in Selbstverteidigung, und sie war lange Zeit später keuchend und unbefriedigt zurückgesunken. Später, als er kurz vor dem Einschlafen war, hatte sie sich dicht an ihn gekuschelt, und er hatte erneut ihr Duftkissen riechen können, eine teurere Version des Geruches, den seine Mutter immer aufgelegt hatte, wenn sie ins Kino gegangen waren, und da hatte sie etwas gemurmelt, das ihn zurückgerissen und noch zwei Stunden lang wach gehalten hatte: Du verläßt mich doch nicht, oder? Du wirst mich doch nicht verlassen?  Davor war sie gut im Bett gewesen, so gut, daß er fassungslos war. Nach ihrem Abendessen am Tag, als sie sich kennenlernten, hatte sie ihn mit hierher gebracht, und was sich ergeben hatte, hatte sich ganz natürlich ergeben. Er erinnerte sich an einen Augenblick des Ekels, als er sah, wie schlaff ihre Brüste und wie blau die Adern zu sehen waren (er mußte an die Krampfadern seiner Mutter denken), aber das alles hatte er vergessen, als sie die Beine angezogen und die Schenkel mit erstaunlicher Kraft gegen seine Schenkel gedrückt hatte. Langsam hatte sie gelacht. Die Letzten werden die Ersten und die Ersten die Letzten sein. Er war kurz davor gewesen, als sie ihn von sich herunter stieß und aufstand, um Zigaretten zu holen. Scheiße, was machst du da? fragte er fassungslos, während sein Johannes sichtlich pulsierend und ungehalten in die Luft ragte.  Sie hatte gelächelt. Du hast eine Hand frei, oder? Ich auch. Also hatten sie das gemacht, während sie rauchten, und sie schwatzte unbekümmert über alles mögliche - aber ihre Wangen bekamen Farbe, und nach einer Weile wurde ihr Atem abgehackter, und was sie sagte, blieb unvollendet und vergessen. Jetzt, hatte sie gesagt, seine und ihre Zigarette genommen und ausgedrückt. Mal sehen, ob du zu Ende bringen kannst, was du angefangen hast. Wenn nicht, reiße ich dich wahrscheinlich in Stücke. Er brachte es für sie beide einigermaßen befriedigend zu Ende, danach waren sie eingeschlafen. Irgendwann nach vier wachte er auf und überlegte sich, daß doch etwas dran war an der Erfahrung. Er hatte in den vergangenen Jahren eine ganze Menge gevögelt, aber das, was vorhin passiert war, war nicht nur Vögeln gewesen. Es war viel besser, wenn auch ein klein wenig dekadent. Nun, sie hat natürlich Liebhaber gehabt. Das hatte ihn wieder erregt, und er hatte sie geweckt. So war es gewesen, bis sie den Monster-Schreier gefunden hatten, bis letzte Nacht. Vorher war es auch zu Vorfällen gekommen, die ihn beunruhigten, aber er hatte sie akzeptiert. Wenn einen so etwas, hatte er es begründet, nur ein klein wenig verschroben machte, geht's einem noch ganz gut. Vor zwei Nächten war er gegen zwei aufgewacht und hatte gehört, wie sie sich im Bad ein Glas Wasser einschenkte. Er wußte, sie nahm wahrscheinlich wieder eine Schlaftablette. Sie hatte diese großen rot-gelben Gelatinekapseln, die an der Westküste als »Gelbjacken« bekannt waren. Starke Schlaffmacher. Er sagte sich, daß sie sie wahrscheinlich schon lange vor der Supergrippe genommen hatte. Dann die Art, wie sie ihm auch in der Wohnung auf Schritt und Tritt folgte und sogar unter der Badezimmertür stand, wenn er duschte oder sich erleichterte. Er selbst war im Bad gerne ungestört, sagte sich aber, daß das nicht auf alle zutreffen mußte. Kam wohl auf die Erziehung an. Er würde mit ihr reden ... irgendwann einmal. Aber jetzt... Würde er sie auf dem Rücken tragen müssen? Himmel, hoffentlich nicht. Sie hatte einen stärkeren Eindruck gemacht, wenigstens anfangs. Das war ein Grund, warum sie ihm damals im Park so gut gefallen hatte... eigentlich der Hauptgrund. Ebenso wenig wahr wie die Werbung, dachte er verbittert. Verdammt, wie sollte er sich um sie kümmern, wenn er nicht einmal auf sich selbst aufpassen konnte? Und das hatte er ja hinreichend bewiesen, als seine Platte den Durchbruch geschafft hatte. Auch Wayne Stukey hatte ihm das nur allzu deutlich zu verstehen gegeben. »Nein«, sagte er zu ihr. »Ich bin nicht böse. Es ist einfach so, weißt du... ich bin nicht dein Boß. Wenn du nichts essen willst, sag es einfach.« »Ich habe es dir gesagt... ich habe gesagt, ich glaube nicht, dass ich...« »Einen Scheißdreck hast du«, schnappte er aufgebracht. Sie beugte den Kopf nach unten und sah auf ihre Hände, und er wußte, sie bemühte sich, nicht zu schluchzen, weil ihm das nicht gefallen würde. Einen Moment lang machte ihn das wütender denn je, und er hätte beinahe geschrien: Ich bin nicht dein Vater oder dein dicker, fetter Mann! Ich habe keine Lust, auf dich aufzupassen! Herrgott, du bist dreißig Jahre älter als ich! Aber dann verspürte er die altbekannte Abscheu vor sich selbst und fragte sich, was nur mit ihm los sein mochte. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich bin ein gefühlloses Arschloch.« »Nein, das bist du nicht«, sagte sie schniefend. »Es ist nur... allmählich wird mir alles erst richtig bewußt. Es... gestern... dieser arme Mann im Park... Ich dachte mir: Niemand wird je die Leute schnappen, die ihm das angetan haben, und sie ins Gefängnis bringen. Sie können es immer wieder machen. Wie Tiere im Dschungel. Und plötzlich war alles schreckliche Wirklichkeit. Verstehst du das, Larry? Ist dir klar, was ich meine?« Sie sah mit verweinten Augen zu ihm auf. »Ja«, sagte er, verspürte aber immer noch Zorn auf sie, gemischt mit einem ganz klein wenig Verachtung. Es war eine reale Situation, wie sollte es anders sein? Sie steckten mittendrin, er hatte selbst mit ansehen müssen, wie es so weit gekommen war. Seine eigene Mutter war tot; er hatte sie sterben sehen. Wollte sie etwa sagen, daß sie allem gegenüber viel feinfühliger war als er? Er hatte seine Mutter verloren und sie den Mann, der ihren Mercedes vorgefahren hatte, aber irgendwie schien ihr Verlust angeblich größer zu sein. Das war Scheiße. Schlicht und einfach Scheiße. »Bitte sei nicht böse auf mich«, sagte sie. »Ich versuche mich zu bessern.« Das hoffe ich. Das hoffe ich wirklich. »Du bist großartig«, sagte er und half ihr auf die Beine. »Komm jetzt. Was meinst du? Wir haben viel vor uns. Fühlst du dich dazu imstande?« »Ja«, sagte sie, aber ihr Gesichtsausdruck war derselbe wie eben, als er ihr die Eier angeboten hatte. »Wenn wir aus der Stadt sind, geht es dir wieder besser.« Sie sah ihn unverhohlen an. »Wirklich?« »Klar«, sagte Larry aus tiefstem Herzen. »Auf jeden Fall.« Sie gingen ins erste Haus am Platz. Manhattan Sporting Goods war verschlossen, aber Larry schlug mit einem langen Eisenrohr, das er gefunden hatte, ein Loch ins Schaufenster. Der Einbruchalarm heulte sinnlos in die verlassene Straße. Er stellte ein großes Bündel für sich und ein kleineres für Rita zusammen. Sie hatte ihnen beiden zweimal Kleidungsstücke zum Wechseln eingepackt - mehr duldete er nicht -, die trug er in einer Reisetasche von PanAm, die sie im Schrank gefunden hatte, zusammen mit den Zahnbürsten. Die Zahnbürsten kamen ihm etwas absurd vor. Rita hatte sich für den Fußmarsch sportlich gekleidet weiße Seidenhose und Chiffonbluse. Larry trug verwaschene Jeans und ein weißes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Sie luden gefriergetrocknete Lebensmittel in die Rucksäcke, sonst nichts. Es hatte keinen Sinn, sagte Larry ihr, sich mit unnützem Zeug zu belasten - einschließlich Kleidung -, wo sie sich doch auf der anderen Seite des Flusses einfach nehmen konnten, was sie wollten. Sie stimmte ergeben zu, und ihr mangelndes Interesse brachte ihn erneut auf die Palme. Nach einem kurzen, inneren Streitgespräch mit sich selbst, packte er auch eine doppelläufige Flinte Kaliber 30 und hundert Schuss Munition ein. Es war ein wunderschönes Gewehr; auf dem Preisschild, das er vom Abzug riß und gleichgültig auf den Boden fallen ließ, stand vierhundertfünfzig Dollar. »Glaubst du wirklich, daß wir die brauchen?« fragte sie furchtsam. Sie hatte ihre Zweiunddreißiger immer noch in der Handtasche. »Ich glaube, wir sollten sie lieber mitnehmen«, sagte er ihr; mehr wollte er nicht sagen, aber er mußte an das häßliche Ende des Monster-Schreiers denken. »Oh«, sagte sie mit leiser Stimme, und er sah ihren Augen an, dass sie ebenfalls daran dachte. »Der Rucksack ist nicht zu schwer für dich, oder?« »O nein. Auf keinen Fall. Nein.« »Die Dinger werden mit der Zeit schwerer. Sag einfach Bescheid, dann trage ich ihn eine Weile für dich.« »Ich schaffe es«, sagte sie und lächelte. Als sie wieder auf dem Gehweg standen, sah sie in beide Richtungen und sagte: »Wir verlassen New York.« »Ja.« Sie drehte sich zu ihm um. »Ich bin froh. Ich komme mir vor wie... oh, als ich ein kleines Mädchen war. Und mein Vater sagte: >Heute machen wir einen Ausflug.< Kannst du dich auch erinnern, wie das war?« Larry lächelte ebenfalls verhalten und dachte an die Abende, wenn seine Mutter gesagt hatte: >Der Western, den du sehen wolltest, läuft unten im Crest, Larry. Mitchum und Palance. Was meinst du?< »Ich kann mich erinnern«, sagte er. Sie streckte sich auf Zehenspitzen und rückte den Rucksack etwas auf den Schultern zurecht. »Der Anfang einer Reise«, sagte sie, und dann so leise, daß er nicht sicher war, ob er richtig verstanden hatte: »Die Straße gleitet fort und fort...« »Was?« »Das ist ein Zitat von Tolkien«, sagte sie. »Der Herr der Ringe. Ich habe es immer als eine Art Tor ins Abenteuer betrachtet.« »Je weniger Abenteuer, desto besser«, sagte Larry, aber er verstand fast gegen seinen Willen, was sie meinte. Sie betrachtete immer noch die Straße. Hier, an dieser Kreuzung, war sie ein schmaler Canyon zwischen hohen Steinmauern und Abschnitten mit Thermopanescheiben, in denen sich die Sonne spiegelte, und von meilenlangen Autoschlangen verstopft. Es war, als hätte sich ganz New York gleichzeitig überlegt, auf der Straße zu parken. Sie sagte: »Ich war in Bermuda und England und Jamaica und Montreal und Saigon und in Moskau. Aber einen Ausflug habe ich nicht mehr gemacht, seit ich ein kleines Mädchen war und mein Vater mich und meine Schwester Bess in den Zoo mitgenommen hat. Gehen wir, Larry.« Es war ein Spaziergang, den Larry Underwood nie vergaß. Er dachte, daß sie nicht so unrecht gehabt hatte, Tolkien zu zitieren, Tolkien mit seinen mythischen Ländern, die durch die Linse der Zeit und halb verrückter, halb erhabener Ideen gesehen wurden und von Eiben und Ents und Trollen und Orks bevölkert waren. Das alles gab es in New York natürlich nicht, aber es hatte sich so viel verändert, so vieles war aus den Fugen geraten, daß es unmöglich war, nicht an Fantasy zu denken. An einem Laternenpfahl der Fifth und East 45th, unterhalb des Parks in einer freundlichen Wohngegend, hing ein Mann, der ein Schild mit dem Wort PLÜNDERER um den Hals hatte. Eine Katze lag auf einem sechseckigen Abfalleimer (auf dessen Seiten immer noch Plakate einer Broadway-Show klebten, die wie neu aussahen), säugte ihre Jungen und genoß die Morgensonne. Ein junger Mann mit breitem Grinsen und einem Aktenkoffer unter dem Arm kam zu Larry und sagte ihm, er würde ihm eine Million geben, wenn er die Frau fünfzehn Minuten benützen dürfe. Die Million befand sich wahrscheinlich in dem Aktenkoffer. Larry nahm die Flinte zur Hand und sagte ihm, er solle sich seine Million woanders hin stecken. »Klar, Mann. Nimm's mir nicht übel, klar? Versuchen kann man's ja mal, oder? Schönen Tag noch. Und immer schön locker bleiben.« Kurz nach der Begegnung mit dem Mann (den Rita voll hysterischer Heiterkeit John Bearsford Tipton nannte, ein Name, der Larry nichts sagte) kamen sie zur Ecke Fifth und East 39th. Es war fast Mittag, und Larry schlug vor, daß sie etwas essen sollten. An der Ecke war ein Imbiß, aber als er die Tür aufstieß, wich sie vor dem Gestank verfaulenden Fleisches zurück, der herausströmte. »Wenn ich das bißchen Appetit nicht verlieren will, sollte ich besser nicht da hineingehen«, sagte sie als Entschuldigung. Larry dachte sich, daß er unverdorbene Lebensmittel drinnen finden könnte - Salami, Pepperoniwurst, so etwas -, aber nachdem sie vier Blocks zurück »John Bearsford Tipton« über den Weg gelaufen waren, wollte er sie nicht einmal die kurze Zeit allein lassen, die er brauchen würde, um reinzugehen und nachzusehen. Daher setzten sie sich einen halben Block westlich auf eine Bank und aßen getrocknetes Obst und Dörrfleisch. Als Nachtisch gab es Käse auf Ritz Crackers, dazu reichten sie eine Thermoskanne eisgekühlten Kaffee hin und her. »Diesmal hatte ich echt Hunger«, sagte sie stolz. Er lächelte sie an und fühlte sich besser. Einfach unterwegs zu sein, etwas zu unternehmen, war gut. Er hatte ihr gesagt, wenn sie New York hinter sich hätten, würde es ihr bessergehen. Das hatte er nur so hingesagt gehabt. Aber wenn er jetzt überlegte, wie sehr sich seine Laune verbessert hatte, mußte doch was drangewesen sein. New York war wie ein Friedhof, wo die Toten noch nicht ganz ruhig waren. Je früher sie wegkamen, desto besser. Vielleicht würde sie wieder so werden wie an jenem ersten Tag im Park. Sie würden sich auf Nebenstraßen nach Maine durchschlagen und einen Haushalt in einem Sommerhaus der Stinkreichen einrichten. Jetzt nach Norden, und im September oder Oktober nach Süden. Boothbay Harbor im Sommer, Key Biscayne im Winter. Hörte sich gut an. Weil er so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, sah er nicht, wie sie vor Schmerzen das Gesicht verzog, während sie aufstand und die Waffe, die er mitgenommen hatte, über die Schulter hängte. Sie gingen jetzt nach Westen, und ihre Schatten folgten ihnen - anfangs als platt gequetschte Frösche, später länger, je weiter der Nachmittag fortschritt. Sie überquerten die Avenue of the Americans, Seventh Avenue, Eigth, Ninth, Tenth. Die Straßen waren verstopft und stumm, gefrorene Automobilflüsse in allen Farben, aber beherrscht vom Gelb der Taxis. Viele der Autos waren zu Leichenwagen geworden, die verwesenden Fahrer saßen noch am Lenkrad, die Passagiere waren zusammengesunken, als hätten sie den Stau satt und wären eingedöst. Larry begann zu erwägen, ob sie sich vielleicht Motorräder besorgen sollten, wenn sie aus der Stadt waren. Damit wären sie beweglich und könnten die schlimmsten Staus abgestellter Fahrzeuge, die überall die Highways verstopfen mußten, umgehen. Immer vorausgesetzt, sie kann ein Motorrad fahren, dachte er. Und wie die Dinge so liefen, würde sich sicher herausstellen, daß sie es nicht konnte. Das Zusammenleben mit Rita wurde zu einer regelrechten Belastung, wenigstens in mancher Hinsicht. Aber wenn es hart auf hart ging, konnte sie wohl auf dem Soziussitz mit ihm fahren. An der Kreuzung Thirty-ninth und Seventh sahen sie einen jungen Mann, der abgeschnittene Jeans anhatte und sonst nichts, auf dem Dach eines Ding-dong Taxi liegen. »Ist er tot?« fragte Rita, und beim Klang ihrer Stimme setzte der junge Mann sich auf, schaute sich um, sah sie und winkte. Sie winkten zurück. Der junge Mann legte sich ruhig wieder hin. Kurz nach zwei Uhr überquerten sie die Eleventh Avenue. Larry hörte einen unterdrückten Schmerzensschrei hinter sich und merkte, daß Rita nicht mehr links neben ihm ging. Sie war auf ein Knie gesunken und hielt sich den Fuß. Mit so etwas wie Entsetzen sah Larry zum ersten Mal, daß sie teure offene Sandaletten trug, wahrscheinlich in der Größenordnung achtzig Dollar, genau das richtige für einen Schaufensterbummel auf der Fifth Avenue, aber für einen langen Fußmarsch - fast eine Expedition -, den sie vor sich hatten... Die Riemchen hatten die Haut aufgescheuert. Blut rann an ihren Knöcheln hinab. »Larry, es tut mir so...« Er riß sie unsanft auf die Füße. »Was hast du dir eigentlich gedacht?« schrie er ihr ins Gesicht. Er empfand einen Augenblick Scham, weil sie so kläglich zurückzuckte, aber gleichzeitig ein gemeines Vergnügen. »Hast du gedacht, du könntest mit dem Taxi in deine Wohnung zurück, wenn deine Füße müde werden?« »Ich dachte nie...« »Herrgott noch mal!« Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar. »Natürlich nicht. Du blutest, Rita. Wie lange tut es schon weh?« Ihre Stimme klang so tief und heiser, daß er selbst in dieser unnatürlichen Stille Mühe hatte, sie zu verstehen. »Seit... ungefähr seit Fifth und Fortyninth, glaube ich.« »Deine Füße tun seit zwanzig verdammten Blocks weh, und du hast nichts gesagt?« »Ich dachte... es würde... aufhören... nicht mehr wehtun... ich wollte nicht... wir sind so gut vorangekommen... aus der Stadt raus... ich dachte einfach...« »Du hast überhaupt nicht gedacht«, sagte er wütend. »Wie sollen wir vor. ankommen, wenn du so rumläufst? Deine Scheißfüße sehen aus, als hätte man dich gekreuzigt.« »Fluch mich nicht an, Larry«, sagte sie und fing an zu schluchzen. »Bitte, nicht... es ist schrecklich, wenn du... bitte fluch mich nicht an...« Aber er war jetzt in einer Ekstase der Wut, und später sollte er überhaupt nicht mehr begreifen, wieso der Anblick ihrer blutenden Füße seine sämtlichen Sicherungen derart hatte durchbrennen lassen. Im Augenblick war ihm das egal. Er schrie ihr ins Gesicht: »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Das Wort hallte schwach und sinnlos von den Fassaden der Hochhäuser wider. Sie schlug die Hände vors Gesicht und krümmte sich weinend nach vorne. Das machte ihn nur noch wütender, und er vermutete, teilweise deshalb, weil sie einfach nicht sehen wollte: Sie schlug einfach die Hände vors Gesicht und ließ sich von ihm führen; warum auch nicht, es war immer jemand da gewesen, der gut für unsere Heldin Klein-Rita gesorgt hatte. Jemand, der den Wagen fuhr, die Einkäufe erledigte, das Toilettenbecken scheuerte und die Einkommensteuererklärung ausfüllte. Also legen wir einfach den zum Kotzen süßlichen Debussy auf, schlagen die gut manikürten Hände vor die Augen und überlassen alles andere Larry. Paß gut auf mich auf, Larry! Nachdem ich gesehen habe, was mit dem MonsterSchreier passiert ist, habe ich beschlossen, daß ich überhaupt nichts mehr sehen will. Für jemanden meiner Herkunft ist das alles doch recht unerquicklich. Er riß ihr die Hände weg. Sie zuckte zusammen und versuchte, sie wieder vor die Augen zu legen. »Sieh mich an.« Sie schüttelte den Kopf. »Verdammt noch mal, sieh mich an, Rita.« Schließlich sah sie ihn an, aber so ängstlich, als rechnete sie damit, daß er sie nicht nur mit Worten, sondern auch mit den Fäusten bearbeiten würde. Wie ihm momentan zum Teil zumute war, käme ihm das genau recht. »Ich will dir mal ein paar Tatsachen erklären, weil du sie ganz offensichtlich nicht begreifst. Tatsache ist, daß wir vielleicht zwanzig oder dreißig Meilen zu Fuß gehen müssen. Tatsache ist, daß deine aufgescheuerte Haut sich entzünden könnte, und du könntest eine Blutvergiftung bekommen und sterben. Tatsache ist, du mußt endlich den Arsch bewegen und mir helfen.« Er hatte sie am Oberarm festgehalten und sah, daß seine Daumen fast in ihrem Fleisch verschwunden waren. Seine Wut ließ nach, als er sie losließ und die roten Stellen sichtbar wurden. Er trat ein Stück zurück, fühlte sich wieder unsicher, von der niederschmetternden Einsicht erfüllt, daß er völlig überzogen reagiert hatte. Larry Underwood schlägt wieder zu. Wenn er so verdammt schlau war, warum hatte er dann nicht vorher ihre Schuhe überprüft? Weil, das ihr Problem ist, sagte eine mürrische Stimme in ihm zur Verteidigung. Nein, das stimmte nicht. Es war sein Problem gewesen. Sie wußte es nicht. Wenn er sie mitnehmen wollte (und erst heute hatte er sich überlegt, wieviel einfacher das Leben wäre, wenn er sie nicht mitgenommen hätte), dann war er ganz einfach für sie verantwortlich. Einen Scheißdreck bin ich, sagte die mürrische Stimme. Seine Mutter: Du willst nur immer nehmen, Larry. Die Oralhygienikerin, die ihm aus dem Fenster nachgerufen hatte: Ich dachte, du bist ein netter Kerl! Du bist kein netter Kerl! Dir fehlt etwas, Larry. Du willst nur immer nehmen. Das ist eine Lüge. Das ist eine gottverdammte Lüge! »Rita«, sagte er, »es tut mir leid.« Sie setzte sich mit der ärmellosen Bluse und der weißen Hose auf den Gehweg, ihr Haar sah grau und alt aus. Sie senkte den Kopf und hielt sich den verletzten Fuß. Sie sah ihn nicht an. »Es tut mir leid«, wiederholte er. »Ich... hör zu, ich hatte kein Recht, so mit dir zu reden.« Er hatte natürlich das Recht, aber das spielte keine Rolle. Wenn man sich entschuldigt, konnte man die Dinge bereinigen. Das war der Lauf der Welt. »Geh nur weiter, Larry«, sagte sie, »laß dich von mir nicht aufhalten.« »Ich hab' gesagt, daß es mir leid tut«, sagte er mit leicht verdrossener Stimme. »Wir werden dir neue Schuhe und weiße Socken besorgen. Wir...« »Nichts werden wir. Geh.« »Rita, es tut mir leid...« »Wenn du das noch einmal sagst, schreie ich. Du bist ein Drecksack, und ich akzeptiere deine Entschuldigung nicht. Und jetzt geh.« »Ich habe doch gesagt...« Sie warf den Kopf zurück und kreischte. Er ging einen Schritt zurück und sah sich um, ob jemand sie gehört hatte, ob vielleicht ein Polizist herbeirannte, um zu sehen, was für entsetzliche Dinge dieser junge Bursche der alten Dame zufügte, die mit ausgezogenen Schuhen auf dem Gehweg saß. Kulturelle Konditionierung, dachte er abwesend, zum Schreien komisch. Sie hörte auf zu schreien und sah ihn an. Sie winkte mit der Hand, als wäre er eine lästige Fliege. »Hör besser auf«, sagte er, »oder ich gehe wirklich.« Sie sah ihn nur an. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, senkte den Blick und haßte sie, weil sie ihn so weit gebracht hatte. »Also gut«, sagte er. »Viel Spaß, wenn du vergewaltigt und ermordet wirst.« Er schulterte das Gewehr und ging weiter, jetzt nach links zur von Autos verstopften Einfahrt der 495, die zum Tunnel hinunterführte. Er sah, daß es am Ende der Einfahrt zu einem schlimmen Unfall gekommen war; der Fahrer eines Mayflower-Möbelwagens hatte versucht, sich in den Verkehrsstrom einzufädeln, Autos lagen um ihn herum wie umgeworfene Kegel. Ein ausgebrannter Pinto lag fast unter dem Lastwagen. Der Fahrer des Lasters hing halb aus der Fahrerkabine, sein Kopf hing herab, die Arme baumelten herunter. Getrocknetes Blut und Kotze klebten fächerförmig unter ihm an der Tür. Larry drehte sich um und war überzeugt, daß Rita ihm entweder folgen oder dastehen und ihn vorwurfsvoll ansehen würde. Aber Rita war verschwunden. »Hol dich der Teufel«, sagte er nervös und beleidigt. »Ich habe versucht, mich zu entschuldigen.« Einen Augenblick konnte er nicht weiter; er fühlte sich von Hunderten von wütenden toten Augen gepfählt, die ihn aus den vielen Autos anstarrten. Ihm fielen ein paar Zeilen von Bob Dylan ein: »I waited for you inside the frozen traffic... when you knew I had some other place to be... but where are you tonight, sweet Marie?« Vor sich sah er dichten Verkehr auf vier nach Westen führenden Fahrspuren im dunklen Halbrund des Tunnels verschwinden und bemerkte mit einem Anflug von Grauen, daß die Neonlampen im Tunnel nicht brannten. Als würde er in einen Autofriedhof gehen. Sie würden warten, bis er in der Mitte war, und dann würden sie alle anfangen, sich zu bewegen... lebendig zu werden ...er würde hören, wie sich die Autotüren öffneten und leise wieder schlössen... ihre leisen, schlurfenden Schritte... Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus. Über ihm krächzte ein Vogel, und Larry schrak zusammen. Du bist albern, sagte er sich. Kindisches Zeug, weiter nichts. Du mußt nur auf dem Fußgängerweg bleiben und wirst in Null Komma nichts... ... von den wandelnden Toten erwürgt. Er leckte sich die Lippen und versuchte zu lachen. Es hörte sich schlimm an. Er ging fünf Schritte zu der Stelle, wo die Einfahrt sich in den Highway einfädelte, und blieb dann stehen. Links von ihm stand ein Caddy, ein El Dorado, und eine Frau mit schwarzem Trollgesicht starrte ihn an. Sie drückte die Nase am Fenster platt. Blut und Rotz waren an der Scheibe herabgelaufen. Der Mann, der den Caddy gefahren hatte, hing über dem Steuer, als würde er etwas auf dem Boden suchen. Alle Fenster des Caddy waren geschlossen; da drinnen mußte es wie in einem Treibhaus sein. Wenn er die Tür aufmachte, würde die Frau herausfallen und auf dem Pflaster zerplatzen wie ein Sack verrotteter Melonen, und der Gestank würde warm und süß sein, naß und von Fäulnis erfüllt. Und so würde es auch im Tunnel stinken. Larry drehte sich unvermittelt um, stapfte den Weg zurück, den er gekommen war, und spürte, wie der Wind, den er selbst erzeugte, den Schweiß auf seiner Stirn abkühlte. »Rita! Rita, hör zu! Ich will...« Die Worte erstarben, als er wieder oben an der Einfahrt angekommen war. Rita war immer noch verschwunden. Die 39. Straße schrumpfte zu einem Punkt zusammen. Er lief vom südlichen Gehweg zum nördlichen hinüber, zwängte sich zwischen Stoßstangen hindurch und kletterte über Motorhauben, die so heiss waren, daß man fast Blasen an den Händen bekommen konnte. Aber der nördliche Gehweg war ebenfalls verlassen. Er hob die Hände trichterförmig an den Mund und rief: »Rita! Rital« Die einzige Antwort war ein totes Echo: »Rita.. .ita.. .ita...« Gegen vier Uhr hatten sich dunkle Wolken über Manhattan zusammengezogen, und Donner grollte über den Steinschluchten der Stadt. Gabelförmige Blitze zuckten auf die Häuser herab. Es war, als würde Gott versuchen, die wenigen Überlebenden zu erschrecken, damit sie aus ihren Verstecken kamen. Das Licht war gelb und seltsam geworden, was Larry überhaupt nicht gefiel. Sein Magen war verkrampft; als er eine Zigarette anzündete, zitterte sie so in seiner Hand wie die Kaffeetasse heute morgen in Ritas. Er saß am Straßenende der Einfahrt und lehnte sich an die unterste Stange des Geländers. Den Rucksack hatte er auf dem Schoß, und die doppelläufige 30er lehnte neben ihm am Geländer. Er hatte geglaubt, sie würde sich ängstigen und früher oder später wieder zu ihm zurückkommen, aber das hatte sie nicht getan. Vor fünfzehn Minuten hatte er es aufgegeben, sie zu rufen. Das Echo machte ihn nervös. Wieder grollte Donner, diesmal ganz nahe. Ein kalter Wind strich mit der Hand über den Rücken seines Hemdes, das ihm mit Schweiß an der Haut klebte. Er mußte sich irgendwo unterstellen oder mit dem Scheiß aufhören und durch den Tunnel gehen. Wenn er den Mumm dazu nicht aufbrachte, würde er eine weitere Nacht in der Stadt verbringen und am nächsten Morgen über die George Washington Bridge gehen müssen, aber die lag 140 Blocks nördlich. Er versuchte, sachlich über den Tunnel nachzudenken. Da drinnen war nichts, was ihn beißen würde. Er hatte vergessen, eine starke Taschenlampe mitzunehmen - Herrgott, man konnte doch nicht an alles denken -, aber er hatte sein Bic-Gasfeuerzeug, und zwischen dem Fußgängerweg und der Straße verlief ein Geländer. Alles andere... an die Toten in ihren Autos zu denken, zum Beispiel... das war nur die Panik in ihm, dummes Zeug aus Comics, etwa so vernünftig, als würde man an den Schwarzen Mann im Schrank denken. Wenn du an nichts anderes denken kannst, Larry (ermahnte er sich), wirst du in dieser schönen neuen Welt nicht weiterkommen. Wirklich nicht. Du bist... Fast direkt über ihm riß ein Blitz den Himmel auf, er zuckte zusammen. Ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Wir haben den 1. Juli, fiel ihm ein, heute müßte man eigentlich mit seiner Süßen nach Coney Island fahren und im Dutzend Hot Dogs essen. Mit einem einzigen Ball die drei hölzernen Milchflaschen umwerfen und die Kewpie-Puppe gewinnen. Und abends das Feuerwerk ... Ein kalter Regenguß klatschte ihm ins Gesicht, ein zweiter traf seinen Hals und lief ihm in den Hemdkragen. Große Tropfen gingen um ihn herum nieder. Er stand auf, warf sich den Rucksack über die Schulter und nahm das Gewehr auf. Er wußte immer noch nicht, wohin er gehen sollte - zurück zur 39th oder in den Lincoln Tunnel. Aber er mußte irgendeinen Unterschlupf finden, denn es fing an zu schütten. Droben grollte Donner mit einem gewaltigen Brüllen, und er schrie auf vor Entsetzen - ein Schrei, der sich in nichts von denen unterschied, die vor zwei Millionen Jahren die Cromagnon-Menschen ausgestoßen haben mochten. »Du elender Feigling«, sagte er und lief auf den Schlund des Tunnels zu und beugte den Kopf tiefer, weil der Regen noch heftiger herunterprasselte. Das Wasser tropfte ihm schon aus den Haaren. Larry lief an der Frau vorbei, die die Nase gegen das Beifahrerfenster des El Dorado drückte, und versuchte, nicht hinzuschauen, aber er sah sie trotzdem aus dem Augenwinkel. Der Regen trommelte auf die Autodächer wie ein Schlagzeugsolo. Er fiel jetzt so heftig, daß die Tropfen wieder hochspritzten und einen leichten Dunstschleier bildeten. Larry blieb eine Weile unentschlossen und wieder ängstlich vor dem Tunneleingang stehen. Dann fing es an zu hageln, und das gab den Ausschlag. Die Hagelkörner waren groß und schmerzhaft. Donner brüllte erneut. Okay, dachte er. Okay, okay, okay, das hat mich überzeugt. Er trat in den Lincoln Tunnel. Drinnen war es viel schwärzer, als er gedacht hatte. Zuerst warf die Öffnung hinter ihm noch spärliches weißes Licht herein, und er konnte noch mehr Autos sehen, Stoßstange an Stoßstange (es mußte schrecklich gewesen sein, hier zu sterben, dachte er, und die Klaustrophobie schlang ihren klammen Bananenfinger zärtlich um seinen Kopf, liebkoste ihn und drückte ihm die Schläfen zusammen, es mußte wirklich schrecklich, es mußte verdammt grauenhaft gewesen sein), und die grünlich-weißen Fliesen, die die gewölbten Wände bedeckten. Rechts sah er das Fußgängergeländer, das sich im Dunkel verlor, links standen in Abständen von zehn oder zwölf Metern große Stützpfeiler. Ein Zeichen riet: NICHT DIE FAHRSPUR WECHSELN. In der Tunneldecke waren dunkle Neonlampen und die leeren Glasaugen von Videokameras eingelassen. Als er die erste sanft geneigte Kurve hinter sich hatte, die leicht nach rechts verlief, wurde das Licht trüber, bis er nur noch das gedämpfte Blinken der Chromleisten sah. Danach hörte das Licht einfach auf zu existieren. Er kramte das Bic aus der Tasche, hielt es hoch und drehte das Rad. Das Licht, das es erzeugte, war jämmerlich klein und machte sein Unbehagen eher größer als kleiner. Selbst wenn er die Flamme ganz aufdrehte, bekam er einen Lichtkreis von höchstens anderthalb Metern Durchmesser. Er steckte es wieder in die Tasche und ging weiter, wobei er mit der Hand sanft am Geländer entlangstrich. Auch hier drinnen gab es ein Echo, und das gefiel ihm noch weniger als das draußen. Das Echo hörte sich an, als wäre jemand hinter ihm... als würde er verfolgt. Er blieb ein paarmal mit schiefgelegtem Kopf und weit aufgerissenen (aber blinden) Augen stehen und wartete, bis das Echo verstummt war. Nach einer Weile schlich er nur noch, ohne die Füße vom Boden zu nehmen, damit das Echo nicht wiederkehrte. Bald darauf blieb er wieder stehen und hielt das Feuerzeug dicht an die Armbanduhr. Es war 4.20 Uhr, aber er wußte nichts damit anzufangen. In dieser Schwärze schien die Zeit keine objektive Bedeutung zu haben. Entfernung im übrigen auch nicht; wie lang war der Lincoln Tunnel überhaupt? Eine Meile? Zwei? Der Hudson war doch keine zwei Meilen breit. Sagen wir, eine Meile. Aber wenn es nur eine Meile war, hätte er schon lange das andere Ende erreicht haben müssen. Wenn der durchschnittliche Mensch vier Meilen in einer Stunde zurücklegt, kann er eine Meile in fünfzehn Minuten schaffen, und er steckte schon fünf Minuten länger in diesem stinkenden Loch. »Ich gehe viel langsamer«, sagte er und erschrak beim Klang seiner eigenen Stimme. Das Feuerzeug fiel ihm aus der Hand und schlug mit einem Klicken auf dem Pflaster auf. Das Echo antwortete ihm und verzerrte sich zu der gefährlich heiteren Stimme eines näher kommenden Irren: »...viel langsamer... samer... samer...« »Mein Gott«, murmelte Larry, und das Echo flüsterte: „ott... ott... ott« Er strich sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte, die aufsteigende Panik zu bekämpfen und den Drang, nicht mehr zu denken, sondern einfach blind loszustürmen. Statt dessen kniete er sich hin (seine Knie hallten wie Pistolenschüsse, was ihm wieder angst machte) und strich mit den Fingern über die Miniaturtopographie des Fußgängerwegs - unebenmäßige Täler im Beton, die Erhebung einer alten Zigarettenkippe, den Berg einer zusammengeknüllten Metallfolie - und zu guter Letzt sein Bic. Mit einem inneren Seufzer der Erleichterung nahm er es fest in die Hand, stand auf und ging weiter. Larry hatte sich allmählich wieder unter Kontrolle, als er mit dem Fuss gegen etwas Steifes und Unnachgiebiges stieß. Er stieß eine Art inhalierenden Schrei aus und taumelte zwei Schritte rückwärts. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, während er das Bic-Feuerzeug aus der Tasche holte und anzündete. Die Flamme flackerte irre in seinem zitternden Griff. Er war auf die Hand eines Soldaten getreten. Dieser saß mit dem Rücken an die Tunnelwand gelehnt und streckte die Beine über den Fußgängerweg aus, ein grausiger Wachposten, der den Durchgang versperrte. Er starrte Larry aus glasigen Augen an. Seine Lippen waren von den Zähnen gefault, er schien zu grinsen. Ein Springmesser ragte keck aus seinem Hals. Das Feuerzeug in Larrys Hand wurde warm. Er ließ es ausgehen. Er leckte sich die Lippen, klammerte sich an das Geländer und zwang sich dazu weiter' zugehen, bis er mit der Schuhspitze wieder gegen die Hand des toten Soldaten stieß. Mit einem übertriebenen langen Schritt stieg er über ihn hinweg, und plötzlich überkam ihn eine Art alptraumhafte Gewißheit. Er würde das Scharren der Stiefel hören, wenn der Soldat sich bewegte, und dann würde der Soldat ihn mit kaltem Griff am Bein packen. In schlurfendem Trab lief Larry noch zehn Schritte und blieb dann stehen, weil er wußte, wenn er nicht stehenblieb, würde die Panik wieder die Oberhand gewinnen, und er würde, von einem schrecklichen Regiment Echos verfolgt, blind weiterlaufen. Als er merkte, daß er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, ging er weiter. Aber jetzt war es noch schlimmer; die Zehen schrumpften ihm in den Schuhen zusammen, er fürchtete, jeden Moment wieder über eine Leiche zu stolpern... und gleich darauf geschah es auch. Er stöhnte und holte das Feuerzeug wieder aus der Tasche. Diesmal war es noch schlimmer. Die Leiche, die er mit dem Fuß angestoßen hatte, war die eines alten Mannes im blauen Anzug. Die Schirmmütze aus schwarzer Seide war ihm vom kahlen Schädel auf den Schoß gerutscht. Am Aufschlag trug er einen sechszackigen silbernen Stern. Hinter ihm lag noch ein halbes Dutzend Leichen: zwei Frauen, ein Mann in mittlerem Alter, eine Frau von vielleicht Ende Siebzig und zwei halbwüchsige Jungen. Das Feuerzeug wurde so heiß, daß er es nicht mehr halten konnte. Er machte es aus und ließ es in die Hosentasche gleiten, wo es wie warme Kohle an seinem Bein glomm. Diese Leute waren ebensowenig wie der Soldat von Capt ain Trips dahingerafft worden. Larry hatte das Blut gesehen, die zerrissene Kleidung, die zersplitterten Fliesen, die Einschußlöcher. Sie waren niedergeschossen worden. Larry erinnerte sich an die Gerüchte, dass die Ausfallstraßen von Manhattan Island von Soldaten abgesperrt worden seien. Er hatte nicht gewußt, ob er das glauben sollte; er hatte im Laufe des allgemeinen Zusammenbruchs in der letzten Woche so viele Gerüchte gehört. Die Situation hier war leicht zu rekonstruieren. Sie waren im Tunnel erwischt worden, aber nicht so krank gewesen, daß sie nicht mehr gehen konnten. Sie waren aus den Fahrzeugen ausgestiegen und zu Fuß in Richtung Jersey gegangen, auf dem Gehweg, genau wie er. Ein Militärkommando hatte gewartet, eine Maschinengewehrstellung, irgendwas in der Art. Schwitzend stand Larry da und versuchte, einen Entschluß zu fassen. Die undurchdringliche Dunkelheit bot die perfekte Bühne, auf der seine Gedanken ihre Phantasien inszenieren konnten. Er sah: grimmig blickende Soldaten in virensicheren Anzügen hinter einem Maschinengewehr mit Infrarot -Zieleinrichtungen sitzen, deren Aufgabe es war, jeden zu erschießen, der versuchte, durch den Tunnel zu gelangen; einen einzelnen Soldaten als Selbstmordkommando, der mit einer Infrarotbrille vor den Augen und einem Messer zwischen den Zähnen auf ihn zukroch; zwei Soldaten, die stumm einen Mörser mit einer Giftgasgranate luden. Und doch konnte er sich nicht zur Umkehr entschließen: Er war ganz sicher, daß seine Vorstellungen Hirngespinste waren, und der Gedanke, wieder zurückzugehen, war unerträglich. Bestimmt waren die Soldaten jetzt fort. Der tote Soldat, über den er gestiegen war, schien das zu bestätigen... Aber was ihm wirklich Sorgen machte, schätzte er, waren die Leichen direkt vor ihm. Sie lagen fast zwei Meter hoch übereinander. Er konnte nicht einfach über sie hinwegsteigen wie über den toten Soldaten. Und wenn er vom Fußgängerweg sprang, um ihnen auszuweichen, riskierte er, sich Bein oder Knöchel zu brechen. Wenn er weiterwollte, mußte er... nun, über sie steigen. Hinter ihm bewegte sich etwas in der Dunkelheit. Larry fuhr herum und empfand schon allein durch diesen Knirschlaut wieder Angst... ein Schritt. »Wer ist da?« rief er und schlang das Gewehr von der Schulter. Als das Geräusch verstummte, hörte er leises Atmen - oder glaubte es zu hören. Er starrte glubschäugig in die Dunkelheit, seine Nackenhaare sträubten sich. Er hielt den Atem an. Kein Laut. Er glaubte schon an eine Sinnestäuschung, aber dann hörte er es wieder... ein leiser, schleichender Schritt. Er fummelte panisch nach dem Feuerzeug. Der Gedanke, daß es ihn zum Ziel machen könnte, kam ihm erst gar nicht. Als er es aus der Tasche zog, verfing sich das Rädchen am Saum, und das Feuerzeug glitt ihm aus der Hand. Er hörte ein Klick, als es gegen das Geländer prallte, dann ein leises Plong, als es auf Kühlerhaube oder Kofferraum eines Autos aufschlug. Wieder hörte er die leisen, gleitenden Schritte, diesmal etwas näher, aber es war unmöglich zu sagen, wie nahe. Jemand kam und wollte ihn umbringen, und sein panischer Verstand gaukelte ihm das Bild des Soldaten mit dem Messer in der Kehle vor, der in der Dunkelheit langsam auf ihn zuschlich... Wieder ein leiser, knirschender Schritt. Larry besann sich auf die Flinte. Er riß den Kolben an die Schulter und feuerte. Die Explosionen waren in dem geschlossenen Raum ohrenbetäubend laut; er schrie auf bei dem Geräusch, aber der Schrei ging im Dröhnen unter. Während das Feuer aus der doppelläufigen 30er hervorschoß, sah er die Fliesen an den Wänden und die einzelnen Fahrzeuge in der Wagenschlange wie eine Serie von Schwarzweiß-Blitzlichtbildern. Querschläger heulten wie Banshees. Der Kolben schlug ihm immer wieder gegen die Schulter, bis sie ganz taub war, bis er merkte, daß der Rückstoß ihn auf den Füßen gedreht hatte und er über die Fahrbahn schoß anstatt über den Fußgängerweg. Trotzdem konnte er nicht aufhören. Sein Finger hatte die Funktion des Gehirns übernommen und verkrampfte sich automatisch, bis Larry nur noch das trockene und ohnmächtige Klicken des Schlagbolzens hörte. Das Echo rollte davon. Grelle, dreifach belichtete Nachbrenner schwebten vor seinen Augen. Er nahm schwach Korditgestank und das Wimmern wahr, das er tief in der Brust erzeugte. Er wirbelte herum, die Flinte noch in der Hand, und jetzt sah er im Geiste nicht mehr die Soldaten in ihren sterilen Andromeda-Anzügen auf der Kinoleinwand seines Verstandes, sondern die Morlocks aus der Illustrierte-Klassiker-Version von H. G. Wells' Zeitmaschine, bucklige und blinde Geschöpfe, die aus den Löchern in der Erde krochen, wo in den Eingeweiden der Erde unablässig Maschinen liefen. Dann arbeitete er sich über die weiche und doch starre Barrikade der Leichen hinweg, stolperte, stürzte beinahe, packte das Geländer, hastete weiter. Sein Fuß trat in etwas gräßlich Schleimiges; gasiger Fäulnisgeruch stieg auf, den er kaum bemerkte. Keuchend eilte er weiter. Plötzlich hörte er hinter sich einen lauten Schrei in der Dunkelheit und blieb wie angewurzelt stehen. Es war ein verzweifelter, kläglicher Laut, hart an der Grenze zum Wahnsinn: »Larry! O Larry, um Gottes willen...« Es war Rita Blakemoor. Er drehte sich um. Jetzt hörte er ein Schluchzen, ein wildes Schluchzen, das neue Echos erzeugte. Einen Moment war er wütend entschlossen, trotzdem weiterzugehen und sie zurückzulassen. Sie würde den Weg nach draußen schon finden, warum sollte er sich erneut mit ihr belasten? Aber dann riß er sich zusammen und schrie: »Rita! Bleib, wo du bist. Kannst du mich hören?« Das Schluchzen hielt an. Er stolperte über den Leichenhaufen zurück und versuchte, die Luft anzuhalten, das Gesicht zu einer Grimasse des Ekels verzerrt. Dann lief er auf sie zu, wußte aber wegen des verzerrenden Echos nicht, wie weit er noch laufen mußte. Schließlich wäre er fast über sie gefallen. » Larry...« Sie warf sich gegen ihn und klammerte sich mit der Kraft eines Würgers an seinen Hals. Er spürte, wie ihr Herz unter der Bluse mit halsbrecherischer Geschwindigkeit raste. »Larry Larry laß mich hier nicht allein laß mich hier nicht in der Dunkelheit allein...« »Nein.« Er hielt sie fest. »Habe ich dich verletzt? Bist... bist du getroffen ?« »Nein... ich habe den Luftzug gespürt... eine sauste so nahe vorbei, daß ich den Luftzug gespürt habe... und die Splitter... ich glaube, von den Fliesen... in meinem Gesicht... haben mir das Gesicht...« »Herrgott, Rita, das wußte ich nicht. Ich wäre fast ausgeflippt. Die Dunkelheit. Und ich habe mein Feuerzeug verloren... Du hättest rufen sollen. Ich hätte dich töten können.« Jetzt wurde ihm erst klar, daß das stimmte. »Ich hätte dich töten können«, wiederholte er wie eine fassungslose Offenbarung. »Ich war nicht sicher, ob du es bist. Als du die Einfahrt runtergegangen bist, bin ich in ein Mietshaus. Du bist zurückgekommen und hast gerufen, und ich hätte beinahe... aber ich konnte nicht... als es zu regnen angefangen hatte, sind zwei Männer gekommen... ich glaube, sie haben nach uns gesucht... oder nach mir. Also bin ich geblieben, wo ich war, und als sie weg waren, dachte ich mir, vielleicht sind sie gar nicht weg, vielleicht verstecken sie sich und warten auf mich, darum habe ich mich nicht getraut, wieder rauszugehen, bis ich dachte, du wärst bestimmt schon auf der anderen Seite und ich würde dich nie wiedersehen... also habe ich... ich... Larry, du verläßt mich nicht, ja? Du gehst nicht weg?« »Nein«, sagte er. »Ich hatte unrecht, was ich gesagt habe, war verkehrt, du hattest recht, ich hätte dir das mit den Sandalen sagen sollen, ich meine die Schuhe, ich esse, wenn du es sagst... ich... ich... ooooohhooo...« »Pssst«, sagte er und hielt sie fest. »Jetzt ist alles wieder gut. Alles gut.« Aber in Gedanken sah er sich in blinder Panik auf sie schießen und dachte, wie leicht hätte eine Kugel ihr den Arm zerschmettern oder den Magen durchbohren können. Plötzlich mußte er dringend auf die Toilette, und seine Zähne wollten klappern. »Wir bleiben hier, bis du wieder gehen kannst. Laß dir Zeit.« »Da war ein Mann... ich glaube, es war ein Mann... ich bin auf ihn getreten, Larry.« Sie schluckte und schnalzte dabei im Hals. »Ich hätte fast geschrien, aber ich habe es nicht getan, weil ich dachte, daß du es vielleicht nicht bist, sondern einer der beiden Männer. Und als du gerufen hast... das Echo... ich wußte nicht, ob du es warst... oder... oder...« »Vor uns liegen noch mehr Tote. Kannst du das ertragen?« »Wenn du bei mir bist. Bitte... wenn du bei mir bist.« »Ich bin ja bei dir.« »Dann gehen wir. Ich will hier raus.« Sie drückte sich krampfhaft zitternd an ihn. »Ich habe mir in meinem ganzen Leben noch nichts so sehr gewünscht.« Er tastete nach ihrem Gesicht und küßte sie, erst die Nase, dann jedes Auge, dann den Mund. »Danke«, sagte er unterwürfig, hatte aber nicht die leiseste Ahnung, was er meinte. »Danke. Danke.« »Danke«, wiederholte sie. »O liebster Larry. Du verläßt mich nicht, ja?« »Nein«, sagte er. »Ich verlasse dich nicht. Sag mir, wenn du bereit bist, Rita, dann gehen wir gemeinsam.« Als sie sich bereit fühlte, gingen sie. Sie stiegen über die Leichen hinweg und hatten sich dabei gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt wie zwei Betrunkene, die aus einer Kneipe nach Hause stolpern. Ein Stück weiter kamen sie wieder an ein Hindernis. Es war nicht zu erkennen, aber als sie es mit den Händen betastet hatten, meinte Rita, daß es ein hochkant gestelltes Bett sein könnte. Mit ve reinten Kräften hoben sie es über das Geländer. Es krachte mit einem lauten Knall auf eins der Autos, daß sie beide zusammenzuckten und sich aneinander festhielten. Hinter der Stelle, wo das Bett gestanden hatte, lagen weitere drei Leichen, und Larry vermutete, daß es die der Soldaten waren, die die jüdische Familie erschossen hatten. Sie stiegen über sie hinweg und gingen Hand in Hand weiter. Wenig später blieb Rita plötzlich stehen. »Was ist denn los?« fragte Larry. »Wieder ein Hindernis?« »Nein. Ich kann sehen, Larry. Es ist das Ende des Tunnels!« Er blinzelte und merkte, daß er auch sehen konnte. Es war nur ein ganz schwacher Schimmer, und er war so allmählich gekommen, daß er ihn nicht bemerkt hatte, bis Rita ihn darauf hinwies. Er konnte schon schwach den Schimmer der Fliesen und näher den weißen Fleck von Ritas blassem Gesicht sehen. Links sah er den erstarrten Strom der Automobile. »Komm weiter«, sagte er triumphierend. Sechzig Schritte weiter lagen noch mehr Leichen auf dem Fußgängerweg, alles Soldat en. Sie stiegen über sie hinweg. »Warum haben sie nur New York abgesperrt?« fragte sie. »Außer vielleicht... Larry, vielleicht ist es nur in New York passiert!« »Das glaube ich nicht«, sagte er, verspürte aber trotzdem eine irrationale Hoffnung. Sie gingen schneller. Vor ihnen lag jetzt die Öffnung des Tunnels. Sie war von zwei schweren Armeelastwagen blockiert, die Kühler an Kühler standen. Sie nahmen viel Licht weg. Wenn sie nicht dort gestanden wären, hätten Larry und Rita schon viel weiter hinten im Tunnel Licht gehabt. Wo der Fußgängerweg zur Straße nach draußen hinunterführte, lagen ebenfalls Leichen. Sie zwängten sich zwischen den Lastwagen hindurch und kletterten über die verkeilten Stoßstangen der Fahrzeuge. Rita vermied es, in die Wagen hineinzusehen, aber Larry tat es. Er sah ein halb zusammengebautes Maschinengewehr samt dreibeinigem Stativ, Munitionskisten und Kanister, die nach Tränengas aussahen. Außerdem drei Tote. Als sie draußen waren, schlug ihnen regenfeuchter Wind entgegen, für dessen wunderbar frischen Geruch es sich schon allein gelohnt hätte. Das sagte er Rita, und sie nickte und legte einen Augenblick den Kopf an seine Schulter. »Nicht für eine Million würde ich noch mal reingehen«, sagte sie. »In ein paar Jahren wirst du Geldscheine als Klopapier benutzen«, sagte er. »Please Don't Squeeze the Greenbacks.« »Aber bist du sicher...« »Daß es nicht nur New York war?« Er zeigte mit dem Finger. »Sieh dir das an.« Die Gebührenhäuschen waren leer. Das mittlere stand in einem Haufen von Glassplittern. Die nach Westen führenden Fahrspuren dahinter waren leer, aber die östlicher Richtung, in den Tunnel und die Stadt, die sie gerade verlassen hatten, waren von stummem Verkehr verstopft. Auf der Standspur lagen Leichen, von ein paar Möwen bewacht, wirr durcheinander. »Gütiger Gott«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Es wollten ebenso viele Leute aus New York rein wie raus. Ich weiss überhaupt nicht, warum sie sich die Mühe gemacht und den Tunnel auf der Jersey-Seite versperrt haben. Wahrscheinlich wußten sie auch nicht warum. Irgendwer hat eine gute Idee gehabt, Arbeitsbeschaffung...« Aber sie hatte sich auf die Straße gesetzt und weinte. »Nicht weinen«, sagte er und kniete sich neben sie. Die Erlebnisse im Tunnel waren noch zu frisch, als daß er jetzt wütend auf sie sein konnte. »Alles ist gut, Rita.« »Was denn?« schluchzte sie. »Was? Sag mir nur eines.« »Jedenfalls sind wir draußen. Das ist schon mal was. Und wir haben frische Luft. New Jersey hat noch nie so gut gerochen.« Das brachte ihm ein zaghaftes Lächeln ein. Larry untersuchte die Kratzer, die die Fliesensplitter ihr an Wangen und Schläfe gerissen hatten. »Wir sollten uns einen Drugstore suchen und Jod auf die Schnitte tun«, sagte er. »Kannst du wieder gehen?« »Ja.« Sie sah ihn so leutselig dankbar an, daß er sich unbehaglich fühlte. »Und ich besorge neue Schuhe. Turnschuhe. Ich werde tun, was du mir sagst, Larry. Das will ich.« »Ich habe dich angeschrien, weil ich aufgeregt war«, sagte er leise. Er strich ihr das Haar zurück und küßte einen Kratzer über dem rechten Auge. »So ein schlechter Kerl bin ich gar nicht«, sagte er. »Verlaß mich nur nicht.« Er half ihr auf die Füße und legte ihr einen Arm um die Hüften. Dann gingen sie langsam an den Kassenhäuschen vorbei und ließen New York hinter sich, jenseits des Flusses, zurück. 36 Im Zentrum von Ogunquit lag ein kleiner Park mit einer Kanone aus dem Bürgerkrieg und einem Gefallenenehrenmal, und als Gus Dinsmore gestorben war, war Frannie Goldsmith dorthin gegangen und hatte sich an den Ententeich gesetzt, müßig Steine ins Wasser geworfen und die Wellenkreise beobachtet, die sich im stillen Wasser ausbreiteten, bis sie die Seerosenblätter am Ufer erreichten und sich in einen Wirrwarr von Linien auflösten. Vorgestern hatte sie Gus ins Haus der Greens unten am Strand gebracht, weil sie gefürchtet hatte, wenn sie noch länger warteten, würde Gus nicht mehr gehen können und sein »letztes Hemd«, ein grausamer und doch angemessener Ausdruck ihrer Vorfahren, in seinem heißen, engen Kabuff beim Parkplatz des öffentlichen Strands tragen müssen. Sie hatte gedacht, Gus würde in dieser Nacht sterben. Er hatte hohes Fieber gehabt und war im Delirium gewesen, war zweimal aus dem Bett gefallen und einmal sogar in Mr. Greens Schlafzimmer herumgetorkelt, hatte Sachen umgestoßen, war auf die Knie gestürzt und wieder aufgestanden. Er rief nach Leuten, die nicht da waren, antwortete ihnen und betrachtete sie mit Gefühlen, die von Ausgelassenheit bis Entsetzen reichten, bis Fran überzeugt war, Gus' imaginäre Gesprächspartner wären real und sie das Phantom. Sie hatte Gus angefleht, wieder ins Bett zu gehen, aber für Gus war sie gar nicht da. Sie mußte ihm immer wieder aus dem Weg gehen; wenn nicht, hätte er sie umgestoßen und wäre über sie hinweggetrampelt. Schließlich war er aufs Bett gefallen und von seinem tobenden Delirium in eine keuchende, kurzatmige Bewußtlosigkeit gefallen, die Fran als das letzte Koma betrachtete. Aber als sie am nächsten Morgen nach ihm sah, saß Gus im Bett und las ein Westerntaschenbuch, das er auf einem Regal gefunden hatte. Er war des Dankes voll, daß sie sich um ihn kümmerte, und gab seiner aufrichtigen Hoffnung Ausdruck, daß er vergangene Nacht nichts gesagt und getan hatte, das sie in Verlegenheit brachte. Als sie gesagt hatte, daß dem nicht so war, hatte sich Gus zweifelnd in den Trümmern des Schlafzimmers umgesehen und ihr gesagt, daß es auf jeden Fall schön von ihr war, das zu sagen. Sie machte Suppe, die er mit Heißhunger aß, und als er sich beschwerte, wie schwer es sei, ohne Brille zu lesen (seine ,war zerbrochen worden, als er vergangene Woche seine Wache an der Barrikade am Südende der Stadt gehalten hatte), hatte sie das Taschenbuch - trotz seiner schwachen Proteste - in die Hand genommen und ihm vier Kapitel des Westerns von dieser Frau, die im Norden wohnte, in Haven, vorgelesen. Rimfire Christmas war der Titel. Sheriff John Stoner hatte, schien es, gewisse Probleme mit den Tunichtguten der Stadt Roaring Rock, Wyoming, und schlimmer - er fand einfach nichts, was er seiner reizenden jungen Frau zu Weihnachten schenken konnte. Fran war optimistischer weggegangen und hatte gedacht, daß sich Gus vielleicht erholen würde. Aber letzte Nacht war es wieder schlimmer gewesen, und Viertel vor acht heute morgen war er gestorben; erst eineinhalb Stunden war das her. Am Ende war er vernünftig gewesen, aber ohne zu begreifen, wie ernst sein Zustand war. Er hatte ihr sehnsüchtig gesagt, daß er gerne ein Eis haben würde, wie sein Daddy ihm und seinen Brüdern immer am vierten Juli und am Labor Day gekauft hatte, wenn der Jahrmarkt nach Bangor kam. Aber da war in Ogunquit schon der Strom ausgefallen - er war, wollte man den elektrischen Uhren glauben, am 28. Juni exakt um 9:17 Uhr ausgegangen -, und es gab kein Eis mehr. Sie hatte sich überlegt, ob jemand in der Stadt nicht vielleicht einen Dieselgenerator mit Notstromaggregat hatte, an das ein Kühlschrank angeschlossen war, und hatte sich sogar schon überlegt, ob sie Harold Lauder aufspüren und fragen sollte, aber dann machte Gus seine letzten, keuchenden, hoffnungslosen Atemzüge. Es dauerte vier oder fünf Minuten, während sie mit einer Hand seinen Kopf hoch- und ihm mit der anderen ein Tuch unter die Nase hielt, um die zähflüssigen Schleimabsonderungen aufzufangen. Dann war es vorbei. Frannie hatte ein sauberes Laken über ihn gebreitet und ihn auf dem Bett des alten Jake Green mit Blick aufs Meer liegenlassen. Dann war sie in den Park gegangen, und seitdem saß sie hier, ließ Steine über den See hüpfen und dachte an nichts. Aber ihr war unterbewußt klar, daß es eine gute Art war, an nichts zu denken; es war nicht die seltsame Apathie, die sie am Tag nach dem Tod ihres Vaters wie ein Leichentuch eingehüllt hatte. Seitdem hatte sie immer mehr zu sich selbst zurückgefunden. In Nathans Blumengeschäft hatte sie einen Rosenstock geholt und am Fußende von Peters Grab eingepflanzt. Sie war überzeugt, daß er gut Wurzeln schlagen würde, wie ihr Vater gesagt hätte. Nachdem sie Gus' Tod miterlebt hatte, war es eine Art Erholung für sie, eine Zeitlang an nichts zu denken. Anders als das Vorspiel des Wahnsinns, das sie zuvor durchgemacht hatte. Das war gewesen, als wäre sie durch einen stinkenden grauen Tunnel voller Gestalten gegangen, die sie mehr fühlte als sah; es war ein Tunnel, durch den sie nie wieder gehen wollte. Aber sie würde sich nun bald Gedanken machen müssen, was als nächstes zu tun war, und diese Gedanken mußten Harold Lauder mit einschließen. Nicht nur, weil sie und Harold die einzigen Menschen in dieser Gegend waren, sondern auch weil sie keine Ahnung hatte, was aus Harold werden sollte, wenn niemand auf ihn aufpaßte. Sie war gewiß nicht der praktischste Mensch auf der Welt, aber da nur sie hier war, mußte das genügen. Sie mochte ihn immer noch nicht besonders, aber er hatte wenigstens versucht, taktvoll zu sein, und es hatte sich herausgestellt, daß auch er einen gewissen Anstand besaß. Eine ganze Menge sogar, auf seine verschrobene Art. Seit er sie vor vier Tagen aufgesucht hatte, hatte Harold sie in Ruhe gelassen; offenbar respektierte er den Wunsch, um ihre Eltern zu trauern. Aber sie hatte ihn von Zeit zu Zeit gesehen, wenn er mit Roy Brannigans Cadillac ziellos von einem Ort zum ändern fuhr. Und zweimal, als der Wind günstig stand, hatte sie das Klappern seiner Schreibmaschine hören können - die Tatsache, daß es so still war, daß sie diesen Laut hören konnte, obwohl das Haus der Lauders fast eineinhalb Meilen entfernt lag, betonte, daß das Geschehene wirklich war. Es amüsierte sie ein wenig, daß Harold sich zwar einen Cadillac besorgt, aber nicht daran gedacht hatte, seine mechanische Schreibmaschine durch einen dieser leise summenden elektronischen Torpedos zu ersetzen. Nicht, daß es ihm jetzt etwas genützt hätte, dachte sie, als sie aufstand und sich den Hosenboden abklopfte. Eis und elektronische Schreibmaschinen gehörten der Vergangenheit an. Das stimmte sie nostalgisch und traurig, und sie fragte sich wieder tief bestürzt, wie so eine Katastrophe innerhalb weniger Wochen hatte eintreten können. Ganz gleich, was Harold sagte, es mußte noch andere Menschen geben. Wenn das Regierungssystem vorübergehend zusammengebrochen war, mußten sie einfach die verstreuten anderen finden und es neu aufbauen. Es kam ihr nicht in den Sinn zu fragen, warum Regierung - »Autorität« - so unverzichtbar erschien, und ebensowenig fragte sie sich, warum sie sich automatisch für Harold verantwortlich fühlte. Es war einfach so. Eine gewisse Ordnung war notwendig. Sie verließ den Park und ging langsam die Main Street hinunter zum Haus der Lauders. Der Tag war schon warm, aber eine frische Brise wehte vom Meer. Sie hatte plötzlich Lust, zum Strand zu gehen, ein Stück Tang zu suchen und daran zu knabbern. » Mein Gott, du bist widerlich «, sagte sie laut. Natürlich war sie nicht widerlich; sie war nur schwanger. Das war es. Nächste Woche würde es ein Bermudazwiebel-Sandwich sein. Mit Sahnemeerrettich. Einen Block von Harolds Haus entfernt blieb sie an der Ecke stehen und war erstaunt, wie lange sie nicht mehr an ihren »heiklen Zustand« gedacht hatte. Vorher war ihr der Gedanke ich-binschwanger aus den seltsamsten Anlässen gekommen, wie ein Schlamassel, den sie vergessen hatte wegzuräumen: Ich muß mein blaues Kleid noch vor Freitag zur Reinigung bringen (in ein paar Monaten kann ich es in den Schrank hängen, denn ich-bin-schwanger); ich denke, ich werde jetzt duschen (in ein paar Monaten wird es aussehen, als wäre ein Wal in der Duschkabine, denn ich-bin-schwanger); ich müßte einen Ölwechsel machen lassen, bevor die Kolben aus den Zylindern fallen, oder was weiß ich (und ich frage mich, was Johnny drunten bei Citgo wohl sagen würde, wenn er wüßte, ich-bin-schwanger). Aber vielleicht hatte sie sich inzwischen an den Gedanken gewöhnt. Schließlich war sie schon im dritten Monat, fast ein Drittel des Weges. Zum ersten Mal fragte sie sich unbehaglich, wer ihr wohl helfen würde, das Baby zu bekommen. Hinter dem Haus der Lauders ertönte das konstante, ratschende Klickklickklickklick eines mechanischen Rasenmähers, und als Frannie um die Ecke bog, sah sie etwas so Komisches, daß nur ihre Überraschung sie daran hinderte, laut loszulachen. Harold, der nur eine enge und knappe blaue Badehose trug, mähte den Rasen. Seine weiße Haut glänzte von Schweiß; die langen Haare wippten ihm gegen den Hals (um Harold Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Er schien sie in nicht allzu ferner Vergangenheit gewaschen zu haben). Die Fettwülste über dem Hosenbund und unter den Schenkelbünden hüpften wild auf und ab. Seine Füße waren bis an die Knöchel grün vom gemähten Gras. Sein Rücken war gerötet, aber sie konnte nicht sagen, ob vor Anstrengung oder leichtem Sonnenbrand. Aber Harold mähte nicht nur; er rannte. Der hintere Rasen der Lauders fiel sanft zu einer malerischen, verfallenen Steinmauer hin ab, in der Mitte stand ein achteckiges Gartenhaus. Sie und Amy hatten dort ihre »Teeparties« abgehalten, als sie noch kleine Mädchen waren, fiel Frannie mit einem unerwartet schmerzlichen Anflug von Nostalgie ein - damals, als sie noch über das Ende von Charlotte's Web weinen oder verliebt über Chuckie Mayo seufzen konnten, den süßesten Jungen der Schule. Der Rasen der Lauders war so grün und friedlich, daß er irgendwie englisch wirkte, aber jetzt war ein Derwisch in blauer Badehose in diese ländliche Idylle eingedrungen. Sie konnte Harold in einer Weise keuchen hören, die beängstigend war, während er die nordöstliche Ecke bearbeitete, wo der Garten durch eine Reihe von Maulbeerbäumen vom Grundstück der Wilsons getrennt war. Über den T-Griff des Rasenmähers gebeugt, lief Harold den Rasen hinunter. Die Klingen sirrten. Eine grüne Grasfontäne spritzte empor und überzog Harolds Beine. Er hatte den Rasen etwa halb gemäht, übrig blieb ein verschwindendes Viereck mit dem Gartenhaus in der Mitte. Er fuhr am Fuße des Hügels um die Ecke, wurde einen Augenblick von dem Gartenhaus verdeckt und kam wieder zum Vorschein, über die Maschine gebeugt wie ein Formel-Eins-Rennfahrer. Als er halb oben war, sah er sie. Im gleichen Augenblick sagte Frannie schüchtern: »Harold?« Und sie sah, daß er weinte. »Heh?« sagte - oder vielmehr quiekte - Harold. Sie hatte ihn aus seiner privaten Welt geschreckt und fürchtete, daß er nach der Anstrengung und dem plötzlichen Schreck einen Herzinfarkt bekommen könnte. Dann lief er zum Haus, seine Füße kickten das Gras hoch, und sie nahm nebenbei dessen frischen Geruch in der Sommerluft wahr. Sie ging ihm einen Schritt nach. »Harold, was ist denn?« Dann sprang er die Stufen zur Veranda hoch. Die Hintertür ging auf, Harold lief ins Haus, und die Tür schlug krachend hinter ihm zu. In der Stille, die sich danach herniedersenkte, hörte sie den schrillen Schrei einer Elster, und ein kleines Tier raschelte in den Büschen hinter der Steinmauer. Der Rasenmäher stand (verlassen) an der Grenze zwischen gemähtem Gras dahinter und hohem Gras davor, ein Stück vom Gartenhaus entfernt, wo sie und Amy einst ihre Brause aus Tassen einer Barbie-Küche getrunken und dabei vornehm die kleinen Finger abgespreizt hatten. Frannie blieb eine Weile unentschlossen stehen, schließlich ging sie zur Tür und klopfte. Sie bekam keine Antwort, hörte Harold aber drinnen weinen. »Harold?« Keine Antwort. Er weinte immer noch. Sie betrat den hinteren Flur der Lauders, wo es kühl, dunkel und duftend war - Mrs. Lauders Speisekammer lag links vom Flur, und so weit Frannie zurückdenken konnte, hatte es hier hinten immer angenehm nach getrockneten Äpfeln und Zimt gerochen, als warteten Kuchen nur darauf, gebacken zu werden. »Harold?« Sie ging durch den Flur in die Küche, dort saß Harold am Tisch. Er hatte die Hände ins Haar gekrallt, die grünen Füße standen auf dem verblichenen Linoleum, das Mrs. Lauder immer so fleckenlos sauber gehalten hatte. »Harold, was ist denn los?« »Geh weg!« schrie er unter Tränen. »Geh weg, du magst mich nicht!« »Doch, ich mag dich. Du bist in Ordnung, Harold. Vielleicht nicht großartig, aber in Ordnung.« Sie machte eine Pause. »Wenn man die Umstände betrachtet, könnte ich momentan sogar sagen, du bist mir einer der liebsten Menschen auf der ganzen Welt.« Daraufhin schien Harold noch lauter zu weinen. »Hast du was zu trinken?« »Brause«, sagte er. Er schniefte, wischte sich die Nase und sagte, ohne vom Tisch aufzusehen: »Sie ist warm.« »Logisch. Hast du das Wasser von der Standpumpe geholt?« Wie viele kleine Städte hatte auch Ogunquit noch eine öffentliche Pumpe hinter dem Rathaus, die allerdings seit über vierzig Jahren eher eine Antiquität als eine eigentliche Wasserquelle war. Manchmal fotografierten Touristen sie. Das ist die öffentliche Pumpe in der kleinen Küstenstadt, wo wir unseren Urlaub verbracht haben. Ist das nicht kurios? »Ja, da hab' ich es geholt.« Sie schenkte jedem ein Glas ein und setzte sich. Wir sollten das im Gartenhaus trinken, dachte sie. Wir könnten beim Trinken die kleinen Finger in die Luft strecken. »Was ist los, Harold?« Harold lachte seltsam hysterisch und hob zittrig die Brause an die Lippen. Er trank das Glas leer und stellte es ab. »Los? Was könnte denn los sein?« »Ich meine, ist es etwas Bestimmtes?« Sie kostete die Brause und mußte sich anstrengen, das Gesicht nicht zu verziehen. Harold mußte das Wasser erst vor kurzem geholt haben, es war gar nicht so warm, aber er hatte den Zucker vergessen. Schließlich sah er zu ihr auf. Sein Gesicht zeigte Tränenspuren, und ihm war immer noch zum Weinen zumute. »Ich brauche meine Mutter«, sagte er schlicht. »O Harold...« »Als es passierte, als sie starb, dachte ich noch: >Gar nicht so schlimm.<« Er griff nach seinem Glas und sah sie so verstört an, dass es fast beängstigend war. »Ich weiß, wie schrecklich sich das für dich anhören muß. Aber ich wußte nie, wie ich reagieren würde, wenn sie starben. Ich bin ein sehr sensibler Mensch. Deshalb haben die Schwachsinnigen in diesem Haus des Grauens, das die Stadtväter High School zu nennen beliebten, auch immer auf mir rumgehackt. Ich dachte, ich würde nach ihrem Tod vor Kummer fast verrückt werden oder mich mindestens ein Jahr lang verkriechen... meine innere Sonne, sozusagen, würde... würde... und als es geschah, meine Mutter... Amy... mein Vater... da sagte ich mir: >War ja gar nicht so schlimm.< Ich... sie...« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß sie zusammenzuckte. »Warum kann ich nicht ausdrücken, was ich meine?« schrie er. »Ich konnte immer ausdrücken, was ich meinte! Ein Schriftsteller muß Sprache zurechtschnitzen können, er muß dicht am Empfinden sein. Warum kann ich also nicht ausdrücken, was ich empfinde?« »Harold, nicht. Ich weiß, was du empfindest.« Er sah sie verblüfft an. »Du weißt...?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das kannst du nicht wissen.« »Weißt du noch, als du bei uns warst? Und ich das Grab ausgehoben habe? Ich war halb wahnsinnig. Ich wußte manchmal kaum noch, was ich tat. Als ich versucht habe, mir Bratkartoffeln zu machen, hätte ich fast das Haus angesteckt. Du kannst ruhig den Rasen mähen, wenn es dir dann besser geht. Aber wenn du dazu nur die Badehose anziehst, bekommst du einen Sonnenbrand. Es fängt schon an«, fügte sie mit einem kritischen Blick auf seine Schultern hinzu. Um höflich zu sein, trank sie noch einen Schluck von der scheußlichen Brause. Er wischte sich mit der Hand über den Mund. »Ich mochte sie nicht einmal so gern«, sagte er, »aber ich dachte, man empfindet trotzdem Kummer. Wenn die Blase voll ist, muß man urinieren. Und wenn nahe Verwandte sterben, muß man trauern.« Sie nickte, weil sie es seltsam fand, aber passend. »Meine Mutter hat immer Amy vorgezogen. Amy war ihr Liebling«, betonte er übertrieben und beinahe mitleidig kindisch. »Und vor meinem Vater hat mir gegraut.« Das leuchtete Fran ein. Brad Lauder war ein großer, muskulöser Mann gewesen, Vorarbeiter der Wollspinnerei in Kennebunk. Es leuchtete ein, daß er nicht wußte, was er von diesem sonderbaren fetten Sohn halten sollte, den seine Lenden hervorgebracht hatten. »Er nahm mich einmal beiseite«, fuhr Harold fort, »und fragte mich, ob ich ein Schwulenbübchen wäre. Genau den Ausdruck hat er gebraucht. Ich bekam solche Angst, daß ich anfing zu weinen, und er schlug mir ins Gesicht und sagte, wenn ich so ein gottverdammtes Baby wäre, wäre es besser für mich, aus der Stadt zu verschwinden. Und Amy... ich glaube, man kann getrost sagen, daß es Amy scheißegal gewesen wäre. Wenn sie ihre Freundinnen mit nach Hause brachte, war ich nur eine Peinlichkeit. Sie hat mich behandelt wie ein unaufgeräumtes Zimmer.« Mit Überwindung trank Fran die Brause leer. »Und als sie gestorben waren und ich nichts dabei empfand, dachte ich zunächst, das war's denn. Wenn man trauert, muß man nicht unbedingt mit den Knien schlottern, sagte ich mir. Aber ich habe mir etwas vorgemacht. Ich habe sie jeden Tag mehr vermißt. Besonders meine Mutter. Wenn ich sie nur noch einmal sehen könnte... sie war oft nicht da, wenn ich sie sehen wollte... brauchte... weil sie sich mit Amy beschäftigte, aber sie war nie gemein zu mir. Und als ich heute morgen wieder daran denken mußte, sagte ich mir: >Ich mähe den Rasen. Dann komme ich auf andere Gedanken.< Aber es klappte nicht. Und ich habe immer schneller und schneller gemäht... als könnte ich davor weglaufen... und ich schätze, da bist du hereingeschneit. Habe ich so verrückt ausgesehen, wie mir zumute war, Fran?« Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Es ist nicht schlimm, so zu empfinden, Harold.« »Bist du sicher?« Er sah sie wieder mit diesen großen, kindlichen Augen an. »Ja.« »Sind wir Freunde?« »Ja.« »Gott sei Dank«, sagte Harold. »Gott sei Dank.« Seine Hand lag schweißfeucht in ihrer, er schien es zu merken und zog sie widerwillig zurück. »Möchtest du noch Brause?« fragte er unterwürfig. Sie lächelte ihr diplomatischstes Lächeln. »Vielleicht später«, sagte sie. Sie .veranstalteten ein Picknick im Park: Erdnußbutter- und Marmeladenbrote, Hostess Twinkies und für jeden eine große Flasche Cola. Die Cola schmeckte gut, weil sie sie vorher im Ententeich gekühlt hatten. »Ich habe mir überlegt, was ich machen könnte«, sagte er. »Willst du den Rest von dem Twinkie nicht mehr?« »Nein, ich bin satt.« Ihr Twinkie verschwand mit einem Bissen in Harolds Mund. Seine verspätete Trauer hatte seinen Appetit nicht im geringsten beeinträchtigt, bemerkte Frannie, aber dann schalt sie sich für diesen häßlichen Gedanken. »Was?« »Ich habe mir überlegt, nach Vermont zu gehen«, sagte er unsicher. »Möchtest du mitkommen?« »Warum Vermont?« »Dort ist ein Zentrum der Regierung für Seuchen und ansteckende Krankheiten, in einer Stadt namens Stovington. Es ist nicht so gross wie in Atlanta, aber dafür ein ganzes Stück näher. Wenn noch Leute leben, habe ich mir gedacht, und sich mit dieser Grippe beschäftigen, werden viele von ihnen dort sein.« »Und warum sollten sie nicht auch gestorben sein?« »Das wäre möglich, das wäre möglich«, sagte Harold leicht pikiert. »Aber in einem Institut wie Stovington sind sie daran gewöhnt, sich mit ansteckenden Krankheiten zu beschäftigen, und treffen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. Und wenn dort noch gearbeitet wird, könnte ich mir vorstellen, daß sie nach Leuten wie uns suchen. Leuten, die immun sind.« »Woher weißt du das alles, Harold ?« Sie sah ihn mit unverhohlener Bewunderung an, und Harold wurde rot vor Freude. »Ich lese viel. Diese Institute sind ja nicht geheim. Was hältst du davon, Fran?« Sie hielt es für eine ausgezeichnete Idee. Sie entsprach ihrem uneingestandenen Bedürfnis nach Struktur und Autorität. Der Einwand, daß alle in diesen Instituten tot sein könnten, war erledigt. Sie würden nach Stovington fahren, sie würden dort aufgenommen und untersucht werden, und die Untersuchungen würden eine Diskrepanz zwischen ihnen und den Leuten ergeben, die krank geworden und gestorben waren. Sie kam nicht auf den Gedanken, sich zu fragen, was ein Impfstoff jetzt noch nützen sollte. »Wir müssen uns eine Straßenkarte besorgen und feststellen, wie wir dort hinkommen - möglichst gestern«, sagte sie. Sein Gesicht strahlte. Sie dachte einen Augenblick, daß er sie küssen würde, und in diesem einzigen wunderbaren Augenblick hätte sie es wahrscheinlich gestattet, aber der Augenblick verstrich. Zurückblickend war sie sehr froh darüber. Auf der Straßenkarte, wo alle Entfernungen auf Fingerlänge reduziert waren, sah es ganz einfach aus. US 1 zur I-95, von der I-95 zur US 302 nach Nordwesten durch die Städte des Seengebiets von Maine, auf derselben Straße durch den Schornstein von New Hampshire, dann nach Vermont. Stovington lag nur dreißig Meilen westlich von Barre und war über die Vermont Route 61 oder die 1-89 zu erreichen. »Wie weit ist es alles in allem?« fragte Fran. Harold nahm ein Lineal, maß und konsultierte den Maßstab. »Du wirst es nicht glauben«, sagte er düster. »Wie weit? Hundert Meilen?« »Über dreihundert.« »Mein Gott«, sagte Fran. »Das ist das Aus für meine Idee. Ich habe einmal gelesen, daß man durch einen Großteil der Neuenglandstaaten an einem einzigen Tag zu Fuß marschieren kann.« »Das ist ein Trick«, sagte Harold mit seiner schulmeisterlichsten Stimme. »Es ist möglich, innerhalb von vierundzwanzig Stunden durch vier Bundesstaaten zu gehen - Connecticut, Rhode Island, Massachusetts und gerade noch über die Grenze von Vermont -, wenn man es genau richtig macht, aber das ist genau wie das Geduldsspiel mit den beiden ineinanderverschlungenen Nägeln - wenn man es weiß, ist es leicht, wenn nicht, ist es unmöglich.« »Woher, um alles in der Welt, weißt du das denn?« fragte sie erheitert. »Aus dem Guinness Buch der Rekorde«, sagte er abfällig. »Auch als Bibel des Lesesaals der High School von Ogunquit bekannt. Ich habe mehr an Fahrräder gedacht. Oder... ich weiß auch nicht... vielleicht Mopeds.« »Harold«, sagte sie feierlich, »du bist ein Genie.« Harold hustete und wurde rot, aber er freute sich. »Wir könnten morgen früh mit dem Fahrrad bis Wells kommen. Da ist eine Hondavertretung... kannst du eine Honda fahren, Fran?« »Das kann ich lernen, wenn wir am Anfang etwas langsamer fahren.« »Oh, ich glaube, es wäre unklug, schnell zu fahren«, sagte Harold ernst. »Bei unübersichtlichen Kurven kann man nie wissen, ob dahinter nicht drei Wagen zusammengestoßen sind und die Straße blockieren.« »Nein, das stimmt. Aber bis morgen warten? Warum fahren wir nicht schon heute los?« »Es ist schon nach zwei«, sagte er. »Wir würden nicht viel weiter als bis nach Wells kommen, und wir müssen uns einigermaßen ausrüsten. Das wäre hier in Ogunquit leichter, weil wir wissen, wo alles ist. Und wir brauchen natürlich Schußwaffen.« Es war wirklich seltsam. Sobald er das sagte, mußte sie an das Baby denken. »Warum brauchen wir Schußwaffen?« »Weil es keine Polizei und keine Gerichte mehr gibt und du eine Frau bist, noch dazu eine hübsche, und weil manche Leute... manche Männer... vielleicht keine... keine Gentlemen sind. Deshalb.« Er wurde so rot, daß es fast ins Purpurne ging. Er spricht von Vergewaltigung, dachte sie. Vergewaltigung. Aber wie könnte jemand mich vergewaltigen wollen, ich-bin-schwanger. Aber das wußte niemand, nicht einmal Harold. Und selbst wenn sie dem Vergewaltiger sagte: Würden Sie es bitte nicht tun, denn ich-bin-schwanger, konnte sie wirklich in aller Vernunft erwarten, daß der Vergewaltiger sagte: Herrje, Lady, das tut mir leid, dann vergewaltige ich eben ein anderes Mädel? »Gut«, sagte sie. »Schußwaffen. Aber bis Wells können wir heute trotzdem noch.« »Ich will hier noch etwas anderes erledigen«, sagte Harold. Unter dem Dach von Moses Richardsons Scheune war es sengend heiß. Als sie den Heuboden erreichten, lief ihr der Schweiß am Körper herab, aber als sie noch eine Treppe höher gestiegen waren, floß er in Strömen, färbte ihre Bluse dunkel und klebte sie an die Brüste. »Glaubst du wirklich, daß es nötig ist, Harold?« »Ich weiß nicht.« Harold trug einen Eimer mit weißer Farbe und einen breiten Pinsel, der noch in der schützenden Zellophanhülle steckte. »Aber die Scheune ist von der US 1 gut zu sehen, und die fahren die meisten, die hier vorbeikommen. Auf jeden Fall kann es nicht schaden.« »Es schadet aber, wenn du runterfällst und dir die Knochen brichst.« Sie hatte Kopfschmerzen von der Hitze, die Cola, die sie zu Mittag getrunken hatte, schwappte ihr im Magen herum, daß ihr ganz übel wurde. »Das könnte sogar dein Ende sein.« »Ich falle nicht«, sagte Harold nervös. Er sah sie an. »Fran, du siehst krank aus.«. »Das macht die Hitze«, sagte sie schwach. »Dann geh nach unten, um Gottes willen. Leg dich unter einen Baum. Beobachte die menschliche Fliege bei ihrem todesmutigen Akt an der zehnprozentigen Steilwand des Daches von Moses Richardsons Scheune.« »Mach keine Witze. Ich halte es immer noch für albern. Und gefährlich.« »Ja, aber ich werde mich wohler fühlen, wenn ich es tue. Geh nur, Fran.« Sie dachte: Er tut es für mich. Schwitzend und voll Angst stand er vor ihr, alte Spinnweben hingen an seinen feisten, nackten Schultern, sein Bauch fiel wie ein Wasserfall über den Gürtel der engen Jeans; er war entschlossen, nichts auszulassen, keinen Fehler zu machen. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küßte ihn sacht auf den Mund. »Sei vorsichtig«, sagte sie und ging dann hastig die Treppe hinunter, während die Cola in ihrem Bauch schwappte, schwipp-schwapp, iiiiiih; sie ging hastig, aber nicht so hastig, daß sie nicht seinen verblüfften und glücklichen Ausdruck gesehen hätte. Sie ging die genagelten Sprossen vom Heuschober zum strohbestreuten Scheunenboden so schnell hinunter, weil sie wußte, daß sie jetzt kotzen mußte, und sie wußte zwar, daß es an Hitze, Coke und dem Baby lag, aber was sollte Harold denken, wenn er es hörte? Sie wollte raus, wo er es nicht hören konnte. Und sie schaffte es. Gerade so. Um Viertel vor vier kam Harold wieder vom Dach herunter, sein Sonnenbrand jetzt flammend rot, die Arme mit weißer Farbe bespritzt. Während er arbeitete, hatte Fran unruhig in Richardsons Vorgarten unter einer Ulme gelegen, ohne fest einzuschlafen, weil sie jeden Augenblick damit rechnete, das Krachen der Schindeln und Harolds Verzweiflungsschrei zu hören, wenn er achtzehn Meter tief vom Scheunendach auf den harten Boden stürzte. Aber dazu kam es nicht - Gott sei Dank -, und jetzt stand er stolz vor ihr - grasgrüne Füße, weiße Arme, rote Schultern. »Warum hast du dir die Mühe gemacht und die Farbe mit runtergeschleppt?« fragte sie ihn neugierig. »Ich wollte sie nicht da oben lassen. Sie könnte sich in der Hitze selbst entzünden, und dann wäre unser Schild weg.« Sie dachte wieder daran, wie entschlossen er war, keine Möglichkeit außer acht zu lassen. Es war fast ein wenig furchteinflößend. Sie sahen beide zum Scheunendach hinauf. Die weiße Farbe glänzte in scharfem Kontrast zu den verbliebenen grünen Schindeln, und die Worte, die er gemalt hatte, erinnerten Fran an die Aufschriften, die man im Süden manchmal auf Scheunendächern sah - JESUS RETTET UNS oder KAUEN SIE RED INDIAN. Harold hatte geschrieben: SIND NACH STOVINGTON, VT. SEUCHENZENTRUM US 1 NACH WELLS INTERSTATE 95 NACH PORTLAND US 302 NACH BARRE INTERSTATE 89 NACH STOVINGTON ABFAHRT VON OGUNQUIT AM 2. JULI 1990 HAROLD EMERY LAUDER FRANCES GOLDSMITH »Ich wußte deinen zweiten Namen nicht«, erklärte Harold. »Sehr schön«, sagte Frannie, die immer noch die Aufschrift betrachtete. Die erste Zeile hatte er dicht unter dem Dachfenster geschrieben, die letzte, ihren Namen, direkt über der Dachrinne. »Wie hast du denn die letzte Zeile gemalt?« fragte sie. »Das war nicht schwer«, sagte er stolz. »Ich mußte nur die Füße ein wenig baumeln lassen, mehr nicht.« »Oh, Harold. Warum hast du nicht nur deinen Namen geschrieben?« »Aber wir sind doch ein Team«, sagte er und sah sie ein wenig ängstlich an. »Oder nicht?« »Das sind wir... solange du dich nicht umbringst. Hast du Hunger?« Er strahlte. »Wie ein Bär.« »Dann wollen wir essen. Und ich werde dir etwas Baby-Öl auf deinen Sonnenbrand streichen. Du mußt dein Hemd anziehen, Harold. Du wirst heute nacht nicht schlafen können.« »Ich werde sehr gut schlafen«, sagte er und lächelte sie an. Frannie lächelte zurück. Sie aßen aus Dosen und tranken Brause (Frannie machte sie-mit Zucker), und später, als es schon dunkel wurde, kam Harold mit etwas unter dem Arm zu Frannies Haus. »Es hat Amy gehört«, sagte er. »Ich habe ihn auf dem Boden gefunden. Ich glaube, Mom und Dad haben ihn ihr geschenkt, als sie die High School abgeschlossen hat. Ich weiß nicht einmal, ob er noch funktioniert, aber ich habe aus dem Eisenwarengeschäft ein paar Batterien geholt.« Er schlug sich auf die Taschen, die mit Ever Ready-Batterien vollgestopft waren. Es war ein tragbarer Plattenspieler mit Plastikdeckel, bestens geeignet für Strand- und Gartenparties von dreizehn- oder vierzehnjährigen Teenagern. Die Art Plattenspieler, die gedacht ist für Singles von den Osmonds, Leif Garrett, John Travolta, Shaun Cassidy. Sie sah ihn sich genau an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Nun«, sagte sie. »Wir können es ja versuchen.« Er funktionierte. Und fast vier Stunden lang saßen sie da, jeder an einem Ende der Couch, der tragbare Plattenspieler auf dem Kaffeetisch vor ihnen, die Gesichter starr und bleich vor stummer und trauriger Faszination, und lauschten der Musik einer toten Welt, die durch die Sommernacht hallte. 37 Stu akzeptierte die Laute zunächst fraglos; sie waren solch ein typischer Teil eines hellen Sommermorgens. Er hatte gerade South Ryegate, New Hampshire, hinter sich gelassen, jetzt führte der Highway durch eine hübsche Landschaft überhängender Ulmen, die Münzen aus goldenem Sonnenlicht auf die Straße warfen. Auf beiden Seiten stand dichtes Gebüsch-leuchtender Sumach, blaugrauer Wacholder und viele Büsche, deren Namen er nicht kannte. Die Vielfalt war ein Wunder für seine Augen, die an den Osten von Texas gewöhnt waren, wo die Flora am Straßenrand bei weitem nicht so mannigfaltig war. Links verlief eine alte Steinmauer mäanderförmig durch das Gebüsch, und rechts plätscherte ein kleiner Bach fröhlich nach Osten. Hin und wieder huschten kleine Tiere durch das Unterholz (gestern hatte ihn der Anblick einer großen Hirschkuh verzaubert, die auf dem weißen Mittelstreifen der 302. stand und die Morgenluft einzog), und er konnte rauhe Vogelschreie hören. Gegen den Hintergrund dieser Geräusche schien der bellende Hund ganz natürlich zu sein. Er ging noch fast eine Meile, bis ihm einfiel, daß der Hund - wie es sich anhörte - vielleicht doch etwas Ungewöhnliches sein mochte. Seit er Stovington verlassen hatte, hatte er viele tote Hunde gesehen, aber keine lebenden. Nun, dachte er sich, die Grippe hatte die meisten Menschen umgebracht, aber nicht alle. Offenbar hatte sie auch die meisten Hunde umgebracht, aber nicht alle. Das Tier mußte inzwischen äußerst menschenscheu geworden sein. Wenn es ihn witterte, würde es wahrscheinlich ins Gebüsch zurückkriechen und hysterisch bellen, bis Stu sein Revier wieder verlassen hatte. Stu zog die Riemen seines Rucksacks an und faltete die Taschentücher neu zusammen, die er auf jeder Schulter unter den Riemen hatte. Er trug ein Paar Georgia Giants, aber nach drei Tagen Fußmarsch sahen sie nicht mehr neu aus. Auf dem Kopf trug er einen eleganten roten Filzhut mit breiter Krempe und über der Schulter einen Armeekarabiner. Er rechnete nicht damit, daß er auf Wegelagerer stoßen würde, hatte aber die vage Idee gehabt, ein Gewehr könnte nützlich sein. Vielleicht wegen Frischfleisch. Nun, gestern hatte er Frischfleisch gesehen, noch auf Hufen, war allerdings viel zu überrascht und erstaunt gewesen, um überhaupt ans Schießen zu denken. Der Rucksack trug sich wieder bequemer, und Stu ging weiter die Straße entlang. Der Hund hörte sich an, als wäre er gleich hinter der nächsten Kurve. Vielleicht sehe ich ihn doch, dachte Stu. Er hatte die 302 Richtung Osten gewählt, weil er annahm, daß sie ihn früher oder später zum Meer führen würde. Er hatte eine Art Abmachung mit sich selbst getroffen: Wenn ich das Meer erreiche, überlege ich mir, was ich tun werde. Bis dahin werde ich überhaupt nicht darüber nachdenken. Sein Fußmarsch - heute war der vierte Tag - war eine Art Heilungsprozeß. Er hatte daran gedacht, sich ein Fahrrad mit zehn Gängen oder vielleicht ein Motorrad zu beschaffen, damit hätte er die vereinzelten Unfallstellen umfahren können, die die Straße versperrten, aber er hatte sich statt dessen entschlossen, zu Fuß zu gehen. Er war schon immer gern gewandert, und sein Körper schrie nach Betätigung. Vor seiner Flucht aus Stovington war er fast zwei Wochen lang eingesperrt gewesen, er fühlte sich schlapp und außer Form. Früher oder später, dachte er, würde ihn die langsame Art der Fortbewegung ungeduldig machen, und er würde sich ein Fahrrad oder Motorrad besorgen, aber vorläufig war er damit zufrieden, auf dieser Straße nach Osten zu gehen, alles zu sehen, was er sehen wollte, eine Pause zu machen, wann immer er Lust dazu hatte, und nachmittags, wenn es besonders heiß war, ein wenig zu schlafen. Das tat ihm gut. Ganz allmählich war seine verrückte Suche nach einem Ausgang zur bloßen Erinnerung geworden, zu etwas Vergangenem, nichts Deutlichem mehr, das ihm kalten Schweiß heraustrieb. Die Erinnerung an das Gefühl, daß ihn jemand verfolgte, war nicht so leicht abzuschütteln gewesen. In den ersten beiden Nächten auf der Straße hatte er immer wieder von seiner letzten Begegnung mit Eider geträumt, als Eider gekommen war, um seine Befehle auszuführen. Im Traum war Stu immer zu langsam mit dem Stuhl. Eider wich dem Schlag aus, drückte die Pistole ab, und Stu spürte einen harten, aber schmerzlosen Schlag mit einem Boxhandschuh voll Bleischrot auf der Brust. Davon träumte er immer wieder, bis er morgens unausgeschlafen aufwachte, aber so froh war, noch zu leben, daß es ihm gar nichts ausmachte. Letzte Nacht hatte er keine Träume gehabt. Er bezweifelte, ob seine Ängste alle mit einem Mal aufhören würden, aber er hoffte, daß er durch das Wandern das Gift allmählich aus dem Körper bekommen würde. Vielleicht würde er es nie wieder völlig loswerden, aber er war sicher, wenn der Großteil weg war, würde er besser darüber nachdenken können, was als nächstes kam, ob er das Meer bis dahin erreicht hatte oder nicht. Er ging um die Kurve, und da stand der Hund, ein kastanienfarbener Irischer Setter. Als er Stu sah, bellte er freudig und kam die Straße entlanggelaufen, daß seine Krallen auf dem Asphalt klickten, und er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Er sprang an Stu hoch, drückte ihm die Vorderpfoten auf den Bauch, so daß Stu einen Schritt zurücktaumelte. »He, Junge«, sagte er grinsend. Als der Hund seine Stimme hörte, bellte er fröhlich und sprang wieder hoch. »Kojak!« sagte eine strenge Stimme, und Stu zuckte zusammen und sah sich um. »Runter! Laß den Mann in Ruhe! Du machst ihm das Hemd schmutzig! Böser Hund!« Kojak brachte wieder alle viere auf die Straße und ging mit eingezogenem Schwanz um Stu herum. Der Schwanz wedelte aber trotz der Behinderung noch ein wenig vor unterdrückter Freude, und Stu kam zu dem Ergebnis, daß dieser hier nie ein guter HundeBetrüger werden würde. Jetzt sah er auch den Besitzer der Stimme - und von Kojak, vermutete er. Ein Mann von etwa Sechzig, der einen zerlumpten Pullover, eine alte graue Hose... und eine Baskenmütze trug. Er sass auf einem Klavierhocker und hielt eine Palette in der Hand. Vor ihm stand eine Staffelei mit aufgespannter Leinwand. Jetzt erhob er sich und legte die Palette auf den Hocker (»Bloß nicht nachher draufsetzen«, hörte Stu ihn murmeln), dann ging er mit ausgestreckter Hand auf Stu zu. Unter seiner Baskenmütze quoll lockiges graues Haar hervor und wehte im Wind. »Hoffentlich verfolgen Sie mit dem Gewehr keine bösen Absichten, Sir. Glen Bateman, zu Ihren Diensten.« Er kam einen Schritt vorwärts und nahm die ausgestreckte Hand (Kojak wurde wieder übermütig, er hüpfte um Stu herum, wagte aber nicht, wieder mit seinen Sprüngen anzufangen - jedenfalls noch nicht). »Stuart Redman. Machen Sie sich wegen des Gewehrs keine Sorgen. Ich habe noch nicht genug Menschen gesehen, daß ich anfangen könnte, sie zu erschießen. Ich hab' eigentlich noch gar keinen gesehen, außer Ihnen.« »Mögen Sie Kaviar?« »Habe ich noch nie probiert.« »Dann wird es Zeit. Und wenn er Ihnen nicht schmeckt, sind noch genügend andere Dinge da. Kojak, nicht springen. Ich weiß, du hast schon wieder deine verrückten Sprünge im Sinn - ich lese in dir wie in einem Buch -, aber beherrsche dich. Denk immer daran, Kojak, Beherrschung ist das, was die höheren Ordnungen von den niederen trennt. Also beherrsch dich!« Nachdem solchermaßen an seine bessere Natur appelliert worden war, setzte sich Kojak auf die Hinterbeine und fing an zu hecheln. Sein Hundegesicht grinste breit. Stu wußte aus Erfahrung, daß ein grinsender Hund entweder ein bissiger Hund oder ein verdammt guter Hund ist. Und der hier sah nicht wie ein bissiger Hund aus. »Ich lade Sie zum Frühstück ein«, sagte Bateman. »Sie sind das erste menschliche Wesen, das ich in der letzten Woche gesehen habe. Bleiben Sie?« »Mit Vergnügen.« »Sie stammen aus dem Süden, richtig?« »Aus dem Osten von Texas.« »Aus dem Osten, mein Fehler.« Bateman gluckste über seinen eigenen Witz und wandte sich wieder seinem Bild zu, einem durchschnittlichen Aquarell des Waldes jenseits der Straße. »Ich würde mich lieber nicht auf den Klavierhocker setzen«, sagte Stu. »Scheiße, nein! Das wäre ganz schlecht, was?« Er änderte den Kurs und ging zu der kleinen Lichtung zurück. Stu sah, daß eine Kühltasche in Weiß und Orange dort im Schatten stand, darüber eine Art weißes Altartuch. Als Bateman es ausschüttelte, sah Stu, daß es genau das war. »Es gehörte zur Abendmahlsausrüstung der Baptisten-Gnadenkirche in Woodsville«, sagte Bateman. »Ich habe es befreit. Ich glaube nicht, daß die Baptisten es vermissen werden. Sie sind alle heimgegangen zu Jesus Christus. Jedenfalls alle Baptisten in Woodsville. Jetzt können sie ihr Abendmahl mit dem Herrn selber feiern. Ich glaube allerdings, der Himmel wird eine herbe Enttäuschung für die Baptisten sein, wenn die Direktion ihnen keine Fernseher gestattet - vielleicht nennen sie sie da oben ja auch Himmelseher -, damit sie Jerry Falwell und Jack van Impe sehen können. Was wir hier haben, ist ein alter Heide, der statt dessen mit der Natur Zwiesprache hält. Kojak, nicht auf dem Tischtuch schlafen. Beherrschung, vergiß das nicht, Kojak. Mach Beherrschung zu deinem Leitwort, was du auch tust. Sollen wir über die Straße gehen und uns waschen, Mr. Redman?« »Nennen Sie mich Stu.« »In Ordnung, mach' ich.« Sie gingen die Straße hinunter und wuschen sich im kühlen, klaren Wasser. Stu war glücklich. Genau diesen Mann zu genau dieser Zeit zu treffen schien irgendwie genau richtig zu sein. Weiter unten am Bach schlabberte Kojak im Wasser und verschwand dann fröhlich bellend im Wald. Er scheuchte einen Waldfasan auf, und Stu sah ihn aus dem Unterholz hochschießen und dachte überrascht, dass vielleicht alles gut werden würde. Irgendwie gut. Er mochte den Kaviar nicht besonders - schmeckte wie kalter Fisch in Aspik -, aber Bateman hatte auch eine Peperoniwurst, Salami, zwei Dosen Ölsardinen, ein paar nicht mehr ganz frische Äpfel und einen Karton mit abgepackten Feigen. Großartig für die Verdauung, Feigen, sagte Bateman. Seit er aus Stovington geflohen war und seine Wanderschaft begonnen hatte, hatte Stu keine Probleme mit der Verdauung gehabt, aber die Feigen schmeckten ihm auch so, und er aß jede Menge. Er aß eigentlich von allem jede Menge. Beim Essen, das sie weitgehend auf Saltines aßen, erzählte Bateman Stu, daß er Assistenzprofessor der Soziologie am Community College von Woodsville gewesen war. Woodsville, sagte er, war eine Kleinstadt (»berühmt für ihr Community College und die vier Tankstellen«, erklärte er Stu), die sechs Meilen entfernt lag. Seine Frau war seit zehn Jahren tot. Sie waren kinderlos geblieben. Die meisten seiner Kollegen hatten ihn nicht leiden können, sagte er, ein Gefühl, das ganz auf Gegenseitigkeit beruhte. »Sie haben mich für einen Irren gehalten«, sagte er. »Die Möglichkeit, daß sie recht haben könnten, hat auch nicht zur Entspannung unseres Verhältnisses beigetragen.« Er habe die Supergrippe-Epidemie gelassen hingenommen, sagte er, weil sie ihm wenigstens ermöglicht habe, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen und der Malerei zu widmen, was immer sein Wunsch gewesen sei. Während er den Nachtisch aufteilte (einen Kuchen Marke Sara Lee) und Stu seine Hälfte auf einem Pappteller reichte, sagte er: »Ich bin schrecklich als Maler, schrecklich. Aber ich sage mir einfach, diesen Juli ist niemand mehr auf der Welt, der bessere Landschaften malt als Glendon Pequod Bateman, B.A., M.A., M.F.A. Ich weiß, ein billiger Ego-Trip, aber meiner.« »War Kojak schon immer Ihr Hund?« »Nein - das wäre ein erstaunlicher Zufall gewesen, oder? Ich glaube, Kojak hat jemand aus einem anderen Stadtviertel gehört. Ich habe ihn ein paarmal gesehen, aber da ich nicht wußte, wie er heißt, habe ich mir die Frechheit genommen und ihn umgetauft. Scheint ihm nichts auszumachen. Entschuldigen Sie mich einen Moment, Stu.« Er ging über die Straße, und Stu hörte ihn im Wasser plätschern. Wenig später kam er mit bis zu den Knien hochgekrempelten Hosen zurück. Er trug ein tropfendes Sechserpack Narragansett-Bier in jeder Hand. »Hätte eigentlich zum Essen gehört. Zu dumm.« »Schmeckt danach genauso gut«, sagte Stu und zog eine Dose von der Plastikverschweißung ab. »Danke.« Sie zogen die Ringe ab, Bateman hob die Dose. »Auf uns, Stu. Mögen wir glückliche Tage erleben, stets zufrieden sein und keine Schmerzen im verlängerten Rücken haben.« »Amen.« Sie stießen mit den Dosen an und tranken. Stu fand, dass ihm ein Schluck Bier noch nie so gut geschmeckt hatte. »Sie machen nicht viele Worte«, sagte Bateman. »Ich hoffe, Sie sind nicht der Meinung, daß ich auf dem Grab der Welt tanze, sozusagen.« »Nein«, sagte Stu. »Ich hatte Vorurteile gegenüber der Welt«, sagte Bateman. »Das gebe ich offen zu. Die Welt im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts hatte für mich soviel Charme wie ein achtzigjähriger Mann, der an Prostatakrebs stirbt. Man sagt, das wäre eine Stimmung, die alle Menschen im Westen empfinden, wenn sich ein Jahrhundert - egal, welches - dem Ende nähert. Wir haben uns jedesmal in Trauergewänder gehüllt, sind herumgezogen und haben wehe dir, Jerusalem geschrien... oder Cleveland, je nachdem. Ende des fünfzehnten Jahrhunderts grassierte der Veitstanz. Beulenpest - der schwarze Tod - dezimierte Europa gegen Ende des sechzehnten. Keuchhusten gegen Ende des siebzehnten, die ersten Ausbrüche von Influenza gegen Ende des neunzehnten. Wir haben uns so sehr an die Grippe gewöhnt - uns kommt sie wie eine gewöhnliche Erkältung vor, nicht? -, daß nur noch Historiker wissen, sie hat vor hundert Jahren überhaupt noch nicht existiert. In den letzten drei Jahrzehnten eines jeden Jahrhunderts erscheinen religiöse Fanatiker auf der Bildfläche und können >stichhaltig< beweisen, daß Armageddon endlich bevorsteht. Solche Leute sind natürlich immer da, aber zum Ende eines Jahrhunderts hin nimmt ihre Zahl zu... und jede Menge Leute nehmen sie ernst. Ungeheuer erscheinen auf der Bildfläche. Attila der Hunne, Dschingis Khan, Jack the Ripper, Lizzie Bordon. Charles Manson und Richard Speck in unserer Zeit, wenn sie so wollen. Seriösere Kollegen als ich haben angedeutet, daß der Mensch in der westlichen Zivilisation gelegentlich eine Läuterung braucht, und diese findet am Ende eines Jahrhunderts statt, damit er rein und voller Optimismus ins nächste gehen kann. In diesem Fall haben wir ein Superklistier bekommen, was, wenn man darüber nachdenkt, völlig logisch ist. Immerhin steht nicht nur das Ende eines Jahrhunderts bevor. Wir nähern uns einem neuen Jahrtausend.« Bateman verstummte und überlegte. »Wenn ich darüber nachdenke, ich tanze doch auf dem Grab der Welt. Noch ein Bier?« Stu nahm eines und dachte darüber nach, was Bateman gesagt hatte. »Eigentlich ist es nicht das Ende«, sagte er schließlich. »Jedenfalls glaube ich das nicht. Nur eine... Übergangsphase.« »Zutreffend. Gut gesagt. Aber jetzt kümmere ich mich wieder um mein Bild, wenn Sie gestatten.« »Nur zu.« »Haben Sie irgendwelche anderen Hunde gesehen?« fragte Bateman, als Kojak fröhlich über die Straße gehüpft kam. »Nein.« »Ich auch nicht. Sie sind der einzige andere Mensch, den ich gesehen habe, aber Kojak scheint der einzige seiner Art zu sein.« »Wenn er lebt, muß es noch andere geben.« »Nicht sehr wissenschaftlich«, sagte Bateman freundlich. »Was sind Sie nur für ein Amerikaner? Zeigen Sie mir einen zweiten Hund - vorzugsweise eine Hündin -, dann akzeptiere ich Ihre Theorie, dass es irgendwo noch einen dritten geben muß. Aber zeigen Sie mir nicht bloß einen und leiten daraus einen zweiten ab. Das reicht nicht.« »Ich habe Kühe gesehen«, sagte Stu nachdenklich. »Kühe, ja, und Wild. Aber die Pferde sind alle tot.« »Das stimmt«, bestätigte Stu. Er hatte unterwegs mehrere tote Pferde gesehen. In manchen Fällen hatten Kühe in der Nähe der aufgeblähten Kadaver gegrast, aber gegen den Wind. »Wie kommt das?« »Keine Ahnung. Wir atmen ja alle ähnlich, und es scheint im wesentlichen eine Krankheit der Atmungsorgane zu sein. Ich frage mich aber, ob es nicht noch einen anderen Faktor gibt? Menschen, Hunde und Pferde bekommen sie. Kühe und Wild nicht. Die Ratten waren eine Zeitlang angeschlagen, scheinen sich aber zu erholen.« Bateman mischte tollkühn Farben auf der Palette. »Überall Katzen, eine regelrechte Katzenplage, und soweit ich das beurteilen kann, sind Insekten gar nicht betroffen. Selbstverständlich machen denen die kleinen faux pas, die die Menschheit begeht, selten etwas aus - und die Vorstellung von einem Moskito mit Grippe ist einfach zu albern. Aber an der Oberfläche ergibt nichts einen Sinn. Es ist verrückt.« »Das stimmt«, sagte Stu und riß die zweite Dose Bier auf. In seinem Kopf summte es angenehm. »Wir werden wohl einige interessante Veränderungen der Ökologie erleben«, sagte Bateman. Er beging gerade den entsetzlichen Fehler des Versuchs, auch Kojak in sein Bild hineinzumalen. »Es bleibt abzuwarten, ob der Homo sapiens im Kielwasser der Katastrophe imstande sein wird, sich fortzupflanzen - es bleibt sehr abzuwarten -, aber wir können uns wenigstens zusammentun und es versuchen. Wird aber Kojak je ein Weibchen finden? Wird er jemals stolzer Papa werden?« »Mein Gott, vielleicht nie.« Bateman stand auf, legte die Palette auf den Klavierhocker und holte sich noch ein Bier. »Ich denke, Sie haben recht«, sagte er. »Wahrscheinlich leben noch andere Menschen, Hunde, Pferde. Aber viele Tiere könnten sterben, ohne sich fortzupflanzen. Es mag natürlich noch Exemplare der betroffenen Arten geben, die trächtig waren, als die Grippe ausgebrochen ist. Es könnte momentan Dutzende gesunder Frauen in den Vereinigten Staaten geben, die - wenn sie die rüde Ausdrucksweise verzeihen - einen Braten in der Röhre haben. Aber manche Tierarten werden wohl zahlenmäßig unter den >point of no return< sinken. Wenn Sie die Hunde aus der Gleichung herausnehmen, wird sich das Wild - das immun zu sein scheint - über alle Maßen vermehren. Es sind auf keinen Fall genügend Menschen da, die den Wildbestand in Grenzen halten können. Die Jagdzeit wird ein paar Jahre ausfallen.« »Nun«, sagte Stu, »das überzählige Wild wird verhungern.« »Nein, wird es nicht. Nicht alles, nicht einmal der Großteil. Jedenfalls nicht hier oben. Ich weiß nicht, wie es im Osten von Texas aussieht, aber hier in Neuengland waren alle Gärten bepflanzt und gediehen prächtig, bevor diese Grippe ausbrach. Das Wild wird in diesem und im nächsten Jahr genug zu fressen haben. Selbst danach werden unsere Nutzpflanzen wild wachsen. Es wird wahrscheinlich sieben Jahre kein hungerndes Wild geben. Wenn Sie in ein paar Jahren wieder herkommen, Stu, werden Sie das Wild mit dem Ellbogen aus dem Weg schieben müssen, um auf der Straße weiterzukommen.« Darüber dachte Stu eine Weile nach. Schließlich sagte er: »Übertreiben Sie da nicht?« »Nicht absichtlich. Es mag einen Faktor oder Faktoren geben, die ich nicht in Betracht gezogen habe, aber ganz ehrlich, das glaube ich nicht. Und wir könnten meine Hypothese über die Auswirkung des fast völligen Verschwindens der Hundepopulation auf die Wildpopulation nehmen und auf die Beziehungen zwischen anderen Gattungen übertragen. Katzen vermehren sich zügellos. Was bedeutet das? Nun, ich habe gesagt, Ratten sind an der Ökobörse im Keller, erholen sich aber langsam. Wenn es genügend Katzen gibt, könnte sich das ändern. Eine Welt ohne Ratten hört sich zunächst einmal nicht schlecht an, aber ich weiß nicht.« »Was haben Sie gemeint, als Sie sagten, ob die Menschen sich fortpflanzen können oder nicht, wäre noch offen?« »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Bateman. »Zumindest zwei, die ich sehe. Die erste ist, Babys könnten nicht immun sein.« »Sie meinen, sie könnten sterben, sobald sie auf die Welt kommen?« »Ja, möglicherweise schon in utero. Weniger wahrscheinlich, aber denkbar wäre, die Supergrippe könnte auf uns Überlebende eine sterilisierende Wirkung gehabt haben.« »Das ist verrückt«, sagte Stu. »Mumps auch«, bemerkte Glen Bateman trocken. »Aber wenn die Mütter der Babys, die... die in utero sind... wenn diese Mütter immun sind...« »Ja, in manchen Fällen kann Immunität von Mutter auf Kind übertragen werden, wie Krankheiten auch. Aber nicht in allen Fällen. Darauf kann man sich nicht verlassen. Ich glaube, die Zukunft der Babys, die derzeit in utero sind, ist sehr fraglich. Zugegeben, die Mütter sind immun, aber die statistische Wahrscheinlichkeit sagt, daß die meisten Väter es nicht waren und jetzt tot sind.« »Und die andere Möglichkeit?« »Wir könnten die Aufgabe, unsere Rasse auszurotten, selbst zu Ende bringen«, sagte Bateman ruhig. »Das halte ich sogar für sehr wahrscheinlich. Nicht sofort, weil wir alle zu weit verstreut sind. Aber der Mensch ist ein geselliges Herdentier, und wir werden schließlich und endlich alle wieder zusammenfinden, und sei es nur, damit wir uns gegenseitig Geschichten erzählen können, wie wir die große Seuche von 1990 überlebt haben. Die meisten Gesellschaftsformen, die entstehen, werden wahrscheinlich primitive Diktaturen mit kleinen Cäsars an der Macht sein, wenn wir nicht großes Glück haben. Vielleicht wird es ein paar aufgeklärte demokratische Gesellschaften geben, und ich kann Ihnen ganz genau sagen, auf was diese Gemeinschaften in den neunziger Jahren und den Anfangsjahren des nächsten Jahrtausends angewiesen sein werden: eine Gemeinschaft mit genügend Technikern zu sein, die die Lichter wieder anbekommen. Das ließe sich bewerkstelligen, und zwar ganz einfach. Wir befinden uns nicht im Kielwasser eines Atomkriegs, wo alles in Trümmern liegt. Sämtliche Maschinen stehen nur da und warten, daß jemand daherkommt - der richtige Jemand, der weiß, wie man die Stecker saubermacht und ein paar durchgeschmorte Relais auswechselt -, der sie wieder anläßt. Die Frage ist nur, wieviel Überlebende sind noch da, die die Technologie verstehen, die wir alle als etwas Selbstverständliches betrachtet haben.« Stu trank Bier. »Glauben Sie?« »Klar doch.« Bateman trank selbst einen Schluck Bier, dann beugte er sich nach vorne und lächelte Stu grimmig an. »Ich will Ihnen einmal eine hypothetische Situation schildern, Mr. Stuart Redman aus dem Osten von Texas. Angenommen, wir haben Gemeinschaft A in Boston und Gemeinschaft B in Utica. Sie wissen voneinander, und alle kennen die Lage in den jeweiligen Gemeinschaften. Gesellschaft A ist in gutem Zustand. Sie wohnen im Luxus auf dem Beacon Hill, weil einer von ihnen zufällig Elektriker ist. Der Bursche hat gerade soviel Ahnung, daß er das Kraftwerk Beacon Hill wieder in Betrieb nehmen konnte. Es kommt hauptsächlich darauf an zu wissen, welche Knöpfe man drücken muß, nachdem das Kraftwerk automatisch abgeschaltet hat. Wenn es läuft, geht sowieso fast alles automatisch. Der Elektriker kann anderen Mitgliedern der Gesellschaft A beibringen, welche Knöpfe man drücken und auf welche Skalen man achtgeben muß. Die Turbinen laufen mit Öl, und das gibt es im Überfluß, weil alle, die es benützt haben, mausetot sind. Also läuft in Boston der Saft. Sie haben Wärme, wenn es kalt wird, Licht, so daß sie nachts lesen können, Kühlschränke, damit sie Scotch wie zivilisierte Menschen >on the rocks< trinken können. Das Leben ist fast idyllisch. Keine Umweltverschmutzung. Kein Drogenproblem. Kein Rassenproblem. Keine Verknappungen. Keine Probleme mit Geld oder Tausch; denn alle Waren, wenn auch nicht alle Dienstleistungen, stehen zur Verfügung, und zwar soviel, daß sie einer radikal dezimierten Gesellschaft die nächsten dreihundert Jahre reichen. Soziologisch gesehen müßte so eine Gruppe wahrscheinlich in ihrer Natur kommunal werden. Keine Diktatur. Kein guter Nährboden für Diktaturen, kein Mangel, kein Bedarf, keine Unsicherheit, Privatbesitz... das würde einfach nicht existieren. Wahrscheinlich würde Boston wieder von einer Art Stadtversammlung regiert werden. Und nun zu Gemeinschaft B in Utica. Niemand kann das Kraftwerk in Betrieb nehmen. Alle Techniker sind tot. Sie brauchen lange, bis sie dahinterkommen, wie man etwas wieder zum Laufen bringen kann. Derweil frieren sie nachts, und der Winter steht vor der Tür, sie essen aus Dosen, es geht ihnen elend. Ein starker Mann übernimmt die Führung. Sie sind froh, daß sie ihn haben, denn sie sind verwirrt und krank und frieren. Soll er ruhig die Entscheidungen treffen. Was er natürlich auch tut. Er schickt jemand mit einer Bitte nach Boston. Könnten sie ihren verhätschelten Techniker nach Utica schicken, damit er dort das Kraftwerk auch wieder in Gang bringt? Die Alternative wäre ein langer und gefährlicher Zug nach Süden zum Überwintern. Und was macht Gemeinschaft A, wenn sie diese Nachricht hören?« »Sie schicken den Mann?« fragte Stu. »Heilands Sack, nein! Er könnte gegen seinen Willen festgehalten werden, was sogar ziemlich wahrscheinlich sein würde. In der nachgrippalen Welt wird technologisches Wissen Gold als begehrteste Tauschware ablösen. Diesbezüglich ist Gesellschaft A reich und Gesellschaft B arm. Also, was macht Gesellschaft B?« »Ich würde sagen, sie ziehen nach Süden«, sagte Stu. Er grinste. »Vielleicht sogar in den Osten von Texas.« »Vielleicht. Vielleicht drohen sie den Menschen in Boston aber auch mit einem nuklearen Marschflugkörper.« »Klar«, sagte Stu. »Sie bringen ihr Kraftwerk nicht in Gang, aber sie können vom Elendsviertel aus eine Atomrakete starten.« Bateman sagte: »Ich persönlich würde mir nicht die Mühe mit der Rakete machen. Ich würde mir einfach überlegen, wie man den Sprengkopf abbekommt, und den dann in dem Kombi nach Boston fahren. Glauben Sie, das könnte gehen?« »Keinen blassen Schimmer.« »Und selbst wenn nicht, es stehen ja genügend konventionelle Waffen herum. Genau das ist es ja. Alles ist da und wartet nur darauf, benützt zu werden. Und wenn die Gemeinschaften A und B beide einen verhätschelten Techniker haben, fangen sie vielleicht sogar eine Art rostigen nuklearen Schlagabtausch wegen Religion oder Gebietsansprüchen oder einer hirnrissigen ideologischen Differenz an. Stellen Sie sich das nur einmal vor, anstatt sechs oder sieben Nuklearmächten in der Welt haben wir sechzig oder siebzig allein hier auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten. Wäre die Situation anders, würde es ganz bestimmt zu Kämpfen mit Steinen und Stachelkeulen kommen. Tatsache ist aber, die ganzen alten Soldaten sind weggestorben, haben aber ihre Spielsachen dagelassen. Es ist schlimm, darüber nachzudenken, zumal so viele schlimme Dinge schon passiert sind... aber ich fürchte, es wäre durchaus denkbar.« Schweigen herrschte zwischen ihnen. Weit entfernt konnten sie Kojak im Wald bellen hören, während sich der Tag um die Achse des Mittags drehte. »Wissen Sie«, sagte Bateman schließlich, »ich bin im Grunde meines Herzens ein fröhlicher Mensch. Vielleicht, weil meine Befriedigungsschwelle sehr niedrig liegt. Darum war ich auf meinem Gebiet so unbeliebt. Ich habe meine Fehler; ich rede zuviel, wie Sie sicher festgestellt haben, und ich bin ein schrecklicher Maler, wie Sie sehen können, und ich konnte überhaupt nicht mit Geld umgehen. Manchmal habe ich die letzten drei Tage vor dem Zahltag von Erdnußbutterbroten gelebt, und ich war in Woodsville berüchtigt dafür, daß ich Sparbücher angelegt und das Geld eine Woche später wieder abgehoben habe. Aber ich habe mich davon nie unterkriegen lassen, Stu. Exzentrisch aber fröhlich, so bin ich. Der einzige Fluch meines Lebens sind Träume. Seit meiner Kindheit quälen mich erstaunlich lebhafte Träume. Viele waren ziemlich schrecklich. Als Junge waren es Trolle unter Brücken, die hochgegriffen und meinen Fuß gepackt haben, oder eine Hexe, die mich in einen Vogel verwandelt hat... Ich machte den Mund auf und wollte schreien, brachte aber nur ein paar Krächzer heraus. Haben Sie manchmal Alpträume, Stu?« »Manchmal«, sagte Stu und dachte an Eider und wie Eider ihn manchmal in seinen Träumen verfolgte, durch Flure, die kein Ende hatten, sondern immer wieder im Kreis verliefen, die von kaltem Neonlicht erhellt wurden und voll waren von hallenden Echos. »Dann wissen Sie es ja. Als Teenager hatte ich meinen regelmäßigen Anteil von Sex-Träumen, feuchte und trockene, aber dazwischen manchmal auch welche, in denen sich das Mädchen, mit dem ich zusammen war, in eine Kröte verwandelte, eine Schlange oder sogar in einen verwesenden Leichnam. Als ich älter wurde, hatte ich Träume vom Versagen, Träume der Erniedrigung, Träume von Selbstmord, Träume von einem gräßlichen Unfalltod. Am häufigsten war der, in dem ich langsam von einer Hebebühne zerquetscht wurde. Ich glaube, das alles sind einfache Abwandlungen des Troll-Traums. Ich bin der festen Überzeugung, daß solche Träume ein simples psychologisches Überdruckventil sind, und die Leute, die sie haben, sind mehr gesegnet als verflucht.« »Wenn man es sich vom Hals schafft, staut es sich nicht auf.« »Genau. Es gibt alle möglichen Traumdeutungen - die von Freud sind die berüchtigtsten -, aber ich war immer der Meinung, Träume haben eine schlichte abführende Wirkung, mehr nicht - sie sind ein Mittel der Psyche, ab und zu einmal Müll abzuladen. Und dass Menschen, die nicht träumen - oder nicht auf eine Weise träumen, an die sie sich nach dem Aufwachen erinnern können - unter einer Art geistiger Verstopfung leiden. Schließlich ist die einzige praktische Kompensation für einen Alptraum, wenn man aufwacht und erkennt, es war alles nur ein Traum.« Stu lächelte. »Aber in letzter Zeit habe ich einen ziemlich schlimmen Traum. Er kommt immer wieder, wie mein Traum, unter der Hebebühne zerquetscht zu werden, aber dagegen wirkt dieser wie ein Ammenmärchen. Er gleicht keinem Traum, den ich jemals gehabt habe, und doch in gewisser Weise auch wieder allen. Als wäre... als wäre er die Summe aller bösen Träume. Wenn ich aufwache, ist mir elend zumute, als wäre es gar kein Traum gewesen, sondern eine Vision. Ich weiß, wie verrückt sich das anhören muß.« »Wie ist er?« »Es geht um einen Mann«, sagte Bateman leise. »Jedenfalls glaube ich, daß es ein Mann ist. Er steht auf dem Dach eines hohen Gebäudes, möglicherweise auf einer Klippe. Was auch immer, es ist so hoch, daß es Hunderte Meter tiefer im Nebel verschwindet. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, aber er sieht in die andere Richtung, nach Osten. Manchmal hat er Jeans und Jeansjacke an, aber häufiger eine Kutte mit Kapuze. Sein Gesicht kann ich nie sehen, aber seine Augen. Er hat rote Augen. Und ich habe das Gefühl, dass er nach mir sucht - und daß er mich früher oder später finden wird oder ich zu ihm gehen muß... und das wird mein Tod sein. Daher versuche ich zu schreien...« Er verstummte mit einem knappen, verlegenen Achselzucken. »Dann wachen Sie auf?« »Ja.« Sie sahen Kojak zu, der zurückkam; Bateman tätschelte ihn, während Kojak die Schnauze in die Aluminiumschale steckte und die letzten Kuchenkrümel herausholte. »Nun, ich schätze, es ist nur ein Traum«, sagte Bateman. Er stand auf und verzog das Gesicht, als seine Knie knackten. »Ein Psychologe, der das Ganze analysiert, würde vielleicht sagen, der Traum drücke meine unterbewußte Angst vor einem Führer aus, der die ganze Scheiße wieder von vorne anfängt. Vielleicht eine Angst vor der Technologie allgemein. Denn ich glaube, alle neuen Gesellschaften, die sich bilden, zumindest in der westlichen Zivilisation, werden Technologie als Eckstein haben. Das ist ein Jammer, und es muß nicht sein, aber es wird sein, weil wir süchtig sind. Sie werden sich nicht an die Ecke erinnern - oder erinnern wollen -, in die wir uns selbst gedrängt haben. Die verdreckten Flüsse, das Ozonloch, die Atombombe, die Luftverschmutzung. Sie werden sich nur daran erinnern, daß sie es früher einmal ohne nennenswerte Anstrengung nachts warm haben konnten. Sie sehen, zusätzlich zu meinen anderen Unzulänglichkeiten bin ich auch noch Euddit. Aber dieser Traum... der beschäftigt mich, Stu.« Stu sagte nichts. »Ich mache mich jetzt auf den Heimweg«, sagte Bateman brüsk. »Ich bin schon halb betrunken, und ich glaube, es gibt heute nachmittag Gewitter.« Er ging zum hinteren Teil der Lichtung und stöberte dort herum. Wenig später kam er mit einer Schubkarre zurück. Er drehte den Klavierhocker ganz herunter, legte ihn hinein, danach die Staffelei, die Kühlbox und zu guter Letzt sein mittelmäßiges Bild oben auf den wackeligen Stapel. »Haben Sie das alles hierhergekarrt?« fragte Stu. »Bis ich etwas gesehen habe, das ich malen wollte. Ich gehe jeden Tag in eine andere Richtung. Gutes Training. Wenn Sie nach Osten gehen, warum kommen Sie nicht mit mir nach Woodville und übernachten in meinem Haus? Wir können uns beim Schieben ablösen, und ich habe drüben im Bach noch ein Sechserpack Bier stehen. Damit dürften wir standesgemäß nach Hause kommen.« »Einverstanden«, sagte Stu. »Gut. Ich werde unterwegs wahrscheinlich die ganze Zeit reden. Sie befinden sich in der Gewalt des Geschwätzigen Professors, TexasOst. Wenn ich Sie langweile, sagen Sie mir einfach, ich soll die Klappe halten. Wird mich nicht kränken.« »Ich höre gern zu«, sagte Stu. »Dann sind Sie einer von Gottes Auserwählten. Gehen wir.« Sie gingen die 302 entlang, und während der eine die Karre schob, trank der andere Bier. Ganz gleich, wer gerade was tat, Bateman redete, ein endloser Monolog, der ohne Pause von einem Thema zum anderen sprang. Kojak sprang neben ihnen her. Stu hörte eine Weile zu, dann schweiften seine Gedanken eine Weile ab, und dann hörte er wieder zu. Er war beunruhigt von Batemans Vision von Hunderten menschlicher Enklaven, manche militaristisch, die in einem Land lebten, in dem Tausende Weltvernichtungswaffen herumlagen wie Bauklötze eines Kindes. Aber seltsamerweise mußte er immer wieder an Glen Batemans Traum denken, den Mann ohne Gesicht auf einem hohen Gebäude - oder am Rand einer Klippe -, den Mann mit den roten Augen, der, der sinkenden Sonne den Rücken zugewandt, ruhelos nach Osten sah. Kurz vor Mitternacht wachte er schweißgebadet auf und fürchtete, er hätte geschrien. Aber Glen Bateman im Nebenzimmer atmete langsam, ruhig und ungestört, und auf dem Flur sah er Kojak mit dem Kopf auf den Pfoten schlafen. Alles erstrahlte so hell im Mondschein, daß es surrealistisch anmutete. Als er aufwachte, hatte Stu sich auf den Ellenbogen aufgerichtet, und jetzt ließ er sich wieder auf das feuchte Laken sinken und hielt einen Arm vor die Augen; er wollte sich nicht an den Traum erinnern, konnte es aber nicht verhindern. Er war wieder in Stovington gewesen. Eider war tot. Alle waren tot. Das Gebäude war eine hallende Gruft. Er war als einziger am Leben, und er konnte den Ausgang nicht finden. Zuerst versuchte er, seine Panik zu unterdrücken. Gehen, nicht laufen, sagte er sich immer wieder, aber zuletzt lief er doch. Seine Schritte wurden immer schneller, und der Zwang, über die Schulter zurückzuschauen und sich zu vergewissern, daß nur das Echo ihn verfolgte, wurde unerträglich. Er kam an verschlossenen Bürotüren vorbei, auf deren Milchglasscheiben Namen in schwarzer Schrift standen. An einem umgestürzten Rollwägelchen vorbei. An der Leiche einer Schwester vorbei, deren Rock bis über die Schenkel hochgerutscht war und deren schwarzes, verzerrtes Gesicht zu den Neonleuchten aufsah, die wie umgekehrte Eiswürfelschalen an der Decke hingen. Schließlich fing er an zu rennen. Schneller, schneller glitten die Türen an ihm vorbei und weg, seine Füße stampften auf das Linoleum. Verschwimmende orangefarbene Pfeile an der weißen Wand. Schilder. Zuerst erschienen sie ganz normal: RADIOLOGIE und KORRIDOR B ZU DEN LABORS und KEIN ZUTRITT OHNE GÜLTIGEN AUSWEIS. Und dann war er plötzlich in einem anderen Teil der Anlage, einem Teil, den er noch nie gesehen hatte und auch nie hätte sehen sollen. Die Farbe an diesen Wänden blätterte schon ab. Manche Neonlampen waren aus; andere summten wie gefangene Fliegen. Viele Milchglasscheiben an den Bürotüren waren eingeschlagen, und durch die gezackten Löcher sah er Trümmer und zusammengekrümmte Leichen. Er sah Blut. Diese Leute waren nicht an der Grippe gestorben. Sie waren ermordet worden. Ihre Leichen wiesen Stiche und Schußwunden und schlimme Verletzungen auf, die nur von stumpfen Gegenständen herrühren konnten. Ihre Augen waren aus den Höhlen gequollen. Er lief eine Rolltreppe hinunter, die außer Betrieb war, und in einen langen, dunklen Tunnel mit gekachelten Wänden. Am anderen Ende lagen weitere Büroräume, aber jetzt waren die Türen tiefschwarz gestrichen. Die Pfeile waren hellrot. Die Neonlampen summten und flackerten. Auf den Schildern stand: KOBALTBEHÄLTER und LASER-ARSENAL und SIDEWINDERRAKETEN und SEUCHENRAUM. Und dann sah er schluchzend vor Erleichterung einen Pfeil, der um eine rechtwinklige Ecke wies, und darüber das gesegnete Wort: AUSGANG. Er ging um die Ecke, die Tür stand offen. Draußen die angenehm duftende Nacht. Er wollte auf die Tür zustürzen und hinaus, aber ein Mann in Jeans und grober Jacke trat davor und versperrte ihm den Weg. Stu blieb rutschend stehen, ein Schrei blieb ihm im Hals stecken. Als der Mann unter das trübe Licht der flackernden Neonlampen trat, sah Stu dort, wo sein Gesicht hätte sein müssen, nur einen kalten schwarzen Schatten, eine Schwärze, aus der zwei seelenlose rote Augen hervorstarrten. Keine Seele, aber Humor. Das war es; eine Art tanzende, irre Heiterkeit. Der dunkle Mann streckte die Hände aus, und Stu sah, daß Blut von ihnen herabtropfte. »Himmel und Erde«, flüsterte der dunkle Mann aus dem leeren Loch, wo sein Gesicht hätte sein müssen. »Der ganze Himmel und die ganze Erde.« Dann war Stu aufgewacht. Jetzt winselte und knurrte Kojak leise im Flur. Er zuckte im Schlaf sogar mit den Pfoten, und Stu nahm an, daß sogar Hunde träumten. Träumen war ganz normal, auch gelegentliche Alpträume. Aber es dauerte lange, bis er wieder einschlafen konnte. 38 Im Kielwasser der Supergrippe-Epidemie folgte eine zweite Epidemie, die ungefähr zwei Monate dauerte. Diese Epidemie war in technologischen Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten weit verbreitet, weniger dagegen in unterentwickelten Ländern wie Peru oder Senegal. In den USA raffte diese zweite Epidemie etwa sechzehn Prozent der Überlebenden der Supergrippe dahin. In Peru und Senegal nicht mehr als drei Prozent. Die zweite Epidemie hatte keinen Namen, weil die Symptome von Fall zu Fall grundverschieden waren. Ein Soziologe wie Glen Bateman hätte diese zweite Epidemie vielleicht »natürlichen Tod« genannt oder »den alten Unfallaufnahme-Nachklapp«. Im streng darwinistischen Sinn war es der letzte Schnitt - der schlimmste Schnitt von allen, hätten manche vielleicht gesagt. Sam Tauber war fünfeinhalb Jahre alt. Seine Mutter war am 24. Juni im General Hospital von Murfreesboro, Georgia, gestorben. Am 25. starben sein Vater und seine kleine Schwester, die zwei Jahre alte April. Am 27. starb sein ältester Bruder Mike, und damit war Sam sich selbst überlassen. Sam war seit dem Tod seiner Mutter im Schock. Er irrte gleichgültig durch die Straßen von Murfreesboro, aß, wenn er Hunger hatte, und weinte manchmal. Nach einer Weile hörte er auf zu weinen, weil es nichts nützte zu weinen. Es brachte die Menschen nicht zurück. Nachts wurde sein Schlaf von gräßlichen Alpträumen unterbrochen, in denen Papa, April und Mike immer wieder starben; ihre Gesichter waren schwarz und aufgedunsen, und sie hatten alle ein schlimmes Rasseln in der Brust, während sie an ihrem eigenen Rotz erstickten. Am Morgen des 2. Juli um Viertel vor zehn verirrte sich Sam in ein Gebüsch mit wilden Brombeeren hinter Hattie Reynolds' Haus. Geistesabwesend und mit leeren Augen ging er im Zickzack um Brombeersträucher herum, die fast zweimal so hoch waren wie er, und pflückte Beeren und aß sie, bis Lippen und Kinn schwarz verschmiert waren. Dornen rissen an seiner Kleidung und manchmal der bloßen Haut, aber er merkte es kaum. Bienen summten träge um ihn herum. Er sah die alte und verfaulte Brunnendeckplatte nicht, die halb unter hohem Gras und Brombeerranken verborgen war. Sie gab mit einem knirschenden, splitternden Krachen unter seinen Füßen nach, Sam stürzte sechs Meter tief den gemauerten Schacht hinunter auf den trockenen Grund, wo er sich beide Arme brach. Er starb vierundzwanzig Stunden später an Angst und Elend ebenso wie an Schock, Hunger und Wassermangel. Irma Fayette lebte in Lodi, Kalifornien. Sie war alleinstehend, sechsundzwanzig Jahre alt, Jungfrau und von morbider Angst vor einer Vergewaltigung erfüllt. Seit dem 23. Juni, als es in der Stadt zu Plünderungen gekommen war und keine Polizei mehr da war, um den Plünderern Einhalt zu gebieten, war ihr Leben ein einziger langer Alptraum geworden. Irma besaß ein kleines Haus in einer Seitenstraße; ihre Mutter hatte mit ihr dort gewohnt, bis sie 1985 an einem Schlaganfall gestorben war. Als die Plünderungen begannen, die Schüsse und das gräßliche Grölen betrunkener Männer, die auf Motorrädern die Hauptstraße entlang fuhren, hatte Irma sämtliche Türen abgeschlossen und sich dann in der Rumpelkammer im Keller versteckt. Seither schlich sie regelmäßig nach oben, mucksmäuschenstill, um etwas zu essen zu holen oder sich zu erleichtern. Irma konnte die Menschen nicht ausstehen. Wenn alle auf der Welt gestorben wären, außer ihr, wäre sie darüber nicht unglücklich gewesen. Aber so war es nicht. Erst gestern, als sie schon die zaghafte Hoffnung hegte, zumindest in Lodi könnte außer ihr niemand mehr sein, hatte sie einen üblen, betrunkenen Mann gesehen, einen Hippie mit T-Shirt, auf dem stand: ICH HABE AUF SEX UND ALKOHOL VERZICHTET - ES WAREN DIE SCHLIMMSTEN 20 MINUTEN MEINES LEBENS, der mit einer Flasche Whiskey in der Hand durch die Straßen gezogen war. Er hatte langes blondes Haar, das unter der Schirmmütze hervorquoll, die er aufhatte, und bis auf die Schultern fiel. Im Saum der engen Jeans hatte er eine Pistole stecken. Irma hatte ihn hinter dem Schlafzimmervorhang beobachtet, bis er nicht mehr zu sehen war, dann war sie nach unten in die Rumpelkammer geeilt, als wäre ein böser Bann von ihr genommen worden. Sie waren nicht alle tot. Wenn noch ein Hippie übrig war, würde es noch andere Hippies geben. Und alle waren Vergewaltiger. Sie würden sie vergewaltigen. Früher oder später würden sie sie finden und vergewaltigen. Heute morgen war sie noch vor Anbruch der Dämmerung auf den Dachboden geschlichen, wo die wenigen Habseligkeiten ihres Vaters in Kartons verstaut waren. Ihr Vater war bei der Handelsmarine gewesen. Er hatte Irmas Mutter Ende der sechziger Jahre verlassen. Irmas Mutter hatte Irma alles darüber erzählt. Sie war ganz offen zu ihr gewesen. Irmas Vater war ein Scheusal gewesen, der sich betrank und sie dann vergewaltigen wollte. Das wollten sie alle. Wenn man verheiratet war, gab das einem Mann das Recht, einen zu vergewaltigen, wann immer er wollte. Sogar bei Tage. Irmas Mutter faßte die Tatsache, daß ihr Mann sie verlassen hatte, stets mit drei Worten zusammen, dieselben Worte, die Irma zum Tod aller Männer, Frauen und Kinder auf der Welt hätte sagen können: »Kein großer Verlust.« Die meisten Kisten enthielten lediglich billige Kinkerlitzchen, die in fremden Häfen gekauft worden waren - Souvenir aus Hong Kong, Souvenir aus Saigon, Souvenir aus Kopenhagen. Daneben ein Album mit Fotos. Die meisten zeigten ihren Vater auf einem Schiff, manchmal hatte er den Arm um seine befreundeten Scheusale gelegt und lächelte in die Kamera. Nun, wahrscheinlich hatte ihn die Krankheit, die sie Captain Trips nannten, dort erwischt, wohin er sich verkrümelt hatte. Kein großer Verlust. Aber es war auch eine kleine Holzkiste mit Messingscharnieren dabei, in diesem Kästchen war eine Waffe. Eine Pistole Kaliber 45. Sie lag auf rotem Samt, in einem Geheimfach unter dem roten Samt befanden sich auch ein paar Kugeln. Sie waren grün und sahen schimmlig aus, aber Irma dachte, daß sie trotzdem funktionieren würden, Kugeln waren aus Metall. Die wurden nicht schlecht wie Milch oder Käse. Sie lud die Waffe unter der Glühbirne voller Spinnweben auf dem Dachboden, dann ging sie hinunter und frühstückte an ihrem eigenen Küchentisch. Sie würde sich nicht länger wie eine Maus in ihrem Loch verkriechen. Sie war bewaffnet. Die Vergewaltiger sollten bloss aufpassen. Am Nachmittag ging sie auf die Veranda, um ihr Buch zu lesen. Der Titel des Buches lautete Satan lebt auf der Welt und fühlt sich wohl. Grimmige und dennoch freudige Lektüre. Die Sünder und Tunichtgute hatten ihre gerechte Strafe erhalten, genau wie das Buch es vorhergesagt hatte. Sie waren alle tot. Abgesehen von ein paar Hippie-Vergewaltigern, und mit denen, glaubte sie, würde sie schon fertig werden. Die Pistole lag neben ihr. Um zwei Uhr kam der Mann mit dem blonden Haar zurück. Er war so betrunken, daß er kaum stehen konnte. Er sah Irma und strahlte, zweifellos weil er sich freute, daß er endlich eine »Möse« gefunden hatte. »He, Baby!« rief er. »Nur noch wir beide! Wie lange...« Dann umwölkte Entsetzen sein Gesicht, als er sah, wie Irma das Buch weglegte und die Fünfundvierziger hob. »He, hör mal, leg das Ding weg... ist es geladen? He...!« Irma drückte ab. Die Pistole explodierte und tötete sie auf der Stelle. Kein großer Verlust. George McDougall lebte in Nyack, New York. Er war Mathematiklehrer an der High School und hatte sich auf Förderkurse spezialisiert. Er und seine Frau waren praktizierende Katholiken, und Harriett McDougall hatte ihm elf Kinder geboren, neun Jungs und zwei Mädchen. Zwischen dem 22. Juni, als sein neunjähriger Sohn Jeff der Krankheit erlag, welche zu dem Zeitpunkt noch als »grippale Erkrankung der Atemwege« diagnostiziert wurde, und dem 29. Juni, als seine sechzehnjährige Tochter Patricia (o Gott, sie war so jung und so wunderschön gewesen) an derselben Krankheit gestorben war, die inzwischen alle - die noch lebten - »Halswürger« nannten, hatte George mit ansehen müssen, wie die zwölf Menschen, die er am meisten auf der Welt liebte, gestorben waren, während er selbst sich wohl und bei bester Gesundheit fühlte. In der Schule hatte er immer Witze gemacht, daß er sich nicht an alle Namen seiner Kinder erinnern könne, aber die Reihenfolge ihres Todes war in seine Erinnerung eingraviert: Jeff am 22.., Marty und Heien am 23., seine Frau Harriett und Bill und George Junior und Robert und Stan am 24., Richard am 25., Danny am 27., der dreijährige Frank am 28. und zuletzt Pat - dabei hatte es bis zum Ende ausgesehen, als würde es Pat besser gehen. George glaubte, er würde durchdrehen. Auf Anraten seines Hausarztes hatte er vor zehn Jahren angefangen zu joggen. Er spielte weder Tennis noch Handball, bezahlte ein Kind dafür, daß es den Rasen mähte (selbstverständlich eines seiner eigenen), und fuhr in aller Regel mit dem Wagen zum Laden an der Ecke, wenn Harriett einen Laib Brot brauchte. Sie nehmen zu, hatte Dr. Warner gesagt. Zuviel Sitzen. Nicht gut fürs Herz. Versuchen Sie es mit Joggen. Also hatte er sich einen Jogginganzug gekauft und war jeden Abend joggen gegangen, anfangs kurze Strecken, aber dann immer längere. Anfangs war er unsicher gewesen, davon überzeugt, dass sich die Nachbarn an die Stirn klopfen und die Augen verdrehen würden, aber dann waren ein paar Männer, die er sonst nur winken sah, wenn sie den Rasen sprengten, zu ihm gekommen und hatten gefragt, ob sie mitmachen könnten - möglicherweise fühlte man sich in der Gruppe einfach sicherer. Zu dem Zeitpunkt hatten Georges zwei älteste Söhne ebenfalls mitgemacht. Es wurde zu einer Sache in der Nachbarschaft, und obwohl sich die Zusammensetzung veränderte, weil Leute kamen und gingen, blieb es eine Sache in der Nachbarschaft. Jetzt waren alle tot, aber er joggte immer noch. Jeden Tag. Stundenlang. Nur wenn er joggte, sich ausschließlich auf das Pochen der Turnschuhe auf dem Gehweg, das Armeschwingen und seinen keuchenden Atem konzentrierte, wurde er das Gefühl los, jeden Moment durchzudrehen. Er konnte nicht Selbstmord begehen, denn als praktizierender Katholik wußte er, daß Selbstmord eine Todsünde war und Gott ihn sicher mit gutem Grund am Leben gelassen hatte, daher joggte er. Gestern hatte er fast sechs Stunden gejoggt, bis er völlig außer Atem war und vor Erschöpfung beinahe gewürgt hatte. Er war einundfünfzig, kein junger Spund mehr, und er ging davon aus, daß zuviel Laufen nicht gut für ihn war, aber in einem anderen, wichtigeren Sinne war es das einzige für ihn, das gut war. Er war heute morgen nach einer weitgehend schlaflosen Nacht beim ersten Licht der Dämmerung aufgestanden (nur ein einziger Gedanke war ihm durch den Kopf gegangen: Jeff-Marty-Helen Harriett-Bill-George-Junior Robert-Stanley-Richard-Danny -Frank Patty-und-ich-dachte-es-würde-ihr-besser-gehen) und hatte den Jogginganzug angezogen. Er ging hinaus und lief durch die einsamen Straßen von Nyack, und manchmal knirschten seine Füße auf Glasscherben, einmal mußte er über einen Fernseher springen, der aus dem Fenster geworfen worden war und auf dem Gehweg lag, vorbei an den Häusern der Wohngegend, wo die Jalousien heruntergelassen waren, und auch an dem schrecklichen Verkehrsunfall an der Kreuzung der Main Street vorbei, in den drei Autos verwickelt waren. Anfangs joggte er nur, aber er mußte immer schneller laufen, damit die Gedanken hinter ihm zurückblieben. Er joggte, dann lief er, dann rannte er, und zuletzt sprintete er, ein einundfünfzigjähriger Mann mit grauem Haar, in grauem Jogginganzug und weißen Turnschuhen, der durch die verlassenen Straßen floh, als wären sämtliche Teufel der Hölle hinter ihm her. Viertel nach elf erlitt er eine massive Arterienthrombose und fiel ganz in der Nähe eines Feuermelders an der Ecke Oak und Pine tot um. Sein Gesicht drückte so etwas wie Dankbarkeit aus. Mrs. Eileen Drummond aus Clewiston, Florida, betrank sich am Nachmittag des 2. Juli mit DeKuyper Creme de Menthe. Sie wollte sich betrinken, denn wenn sie betrunken war, mußte sie nicht an ihre Familie denken, und Creme de Menthe war die einzige Form von Alkohol, die sie zu sich nehmen konnte. Am Vortag hatte sie im Zimmer ihres Sechzehnjährigen ein Tütchen Marihuana gefunden und hatte es geschafft, high zu werden, aber high zu sein machte alles irgendwie nur noch schlimmer. Aus diesem Grund betrank sie sich am fraglichen Nachmittag, trank eine ganze Flasche Creme de Menthe; ihr wurde übel, sie ging ins Bad und übergab sich, dann legte sie sich ins Bett, zündete eine Zigarette an, schlief ein, brannte das Haus nieder und mußte nicht mehr darüber nachdenken, niemals mehr. Wind war aufgekommen, und dadurch brannte sie den größten Teil von Clewiston mit nieder. Kein großer Verlust. Arthur Stimson lebte in Reno, Nevada. Am Nachmittag des 29., nachdem er im Lake Tahoe schwimmen gewesen war, trat er in einen rostigen Nagel. Er bekam Wundbrand. Diese Diagnose stellte er anhand des Geruchs und versuchte, sich den Fuß zu amputieren. Während der Operation verlor er das Bewußtsein und starb an Schock und Blutverlust in der Halle von Toby Harrahs Spielcasino, wo er die Operation versucht hatte. In Swanville, Maine, fiel ein zehnjähriges Mädchen namens Candice Moran vom Fahrrad und starb an Schädelbruch. Milton Craslow, Farmer in Harding Country, New Mexico, wurde von einer Klapperschlange gebissen und starb eine halbe Stunde später. In Milltown, Kentucky, war Judy Horton sehr zufrieden mit der Lage. Judy war siebzehn Jahre alt und hübsch. Vor zwei Jahren hatte sie zwei große Fehler gemacht: Sie war schwanger geworden und hatte sich vo n ihren Eltern beschwatzen lassen, den verantwortlichen Jungen zu heiraten, einen brillentragenden Ingenieurstudenten der State University. Mit fünfzehn hatte sie sich geschmeichelt gefühlt, daß einer vom College sie überhaupt einlud (auch wenn er gerade angefangen hatte), aber heute konnte sie sich, selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte, nicht mehr daran erinnern, warum sie Waldo - Waldo Horton, was für ein Scheißname - »zu Willen gewesen« war. Wenn sie schon geschwängert wurde, warum dann ausgerechnet von ihm? Judy war auch Steve Phillips und Mark Collins »zu Willen gewesen«; sie gehörten beide der Footballmannschaft der High School von Milltown an (den Milltown Cougars, um genau zu sein, fight-fight-fight-fight-for-the-dearblueand-white), sie selbst war Cheerleader gewesen. Wäre der beschissene Waldo Horton nicht gewesen, wäre sie schon im Juniorjahr zur Anführerin der Cheerleaders geworden, problemlos. Und, um wieder zur Sache zu kommen, Steve oder Mark hätten beide akzeptablere Ehemänner abgegeben. Sie hatten beide breite Schultern, und Mark hatte herrliches, schulterlanges blondes Haar. Aber es war Waldo, es konnte kein anderer als Waldo sein. Sie mußte nur in ihr Tagebuch schauen und nachrechnen. Und als das Baby da war, hatte sich sogar das erübrigt. Es sah aus wie er. Beschissen. Sie hatte sich zwei Jahre durchgequält, die verschiedensten Scheißjobs in Imbißrestaurants und Motels angenommen, während Waldo selbst zum College ging. Es kam so weit, daß sie Waldos College am meisten haßte, noch mehr als Waldo und das Baby. Wenn er sich so sehr eine Familie wünschte, warum ging er dann nicht arbeiten? Sie hatte es doch auch getan. Aber das ließen seine und ihre Eltern nicht zu. Sie allein hätte ihn beschwatzen können (sie hätte es ihn versprechen lassen können, bevor sie sich im Bett von ihm anfassen ließ), aber sämtliche Eltern und Schwiegereltern steckten andauernd ihre Nasen in alles hinein. O Judy, wenn Waldo eine gute Stelle hat, wird alles viel besser werden. O Judy, alles würde viel besser aussehen, wenn du öfter zur Kirche gehen würdest. O Judy, du mußt schlucken und dir nichts anmerken lassen. Nichts anmerken lassen. Dann war die Supergrippe gekommen und hatte all ihre Probleme gelöst. Ihre Eltern waren gestorben, ihr kleiner Sohn Petie war gestorben (das war schon irgendwie traurig, aber nach ein paar Tagen war sie darüber hinweg), dann waren Waldos Eltern gestorben und zuletzt Waldo selbst, und sie war frei. Der Gedanke, daß sie selbst sterben könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen, und sie starb dann auch nicht. Sie hatte in einem großen und lauten Mietshaus in der Innenstadt von Milltown gewohnt. Was Waldo so dafür eingenommen hatte (sie selbst hatte kein Mitspracherecht gehabt), war eine große Fleischkühlhalle im Keller. Sie hatten im September 1988 eine Wohnung bezogen, die im dritten Stock lag, und wer hatte immer runtergehen und Roastbeef oder Hamburger aus der Kühlhalle holen müssen? Dreimal darfst du raten, die beiden ersten zählen nicht. Waldo und Petie waren daheim gestorben. Da konnte man schon keine Krankenhausbehandlung mehr bekommen, wenn man kein Großkopferter war, und die Leichenhallen waren überfüllt (es waren unheimliche, dunkle Klötze, Judy wäre nicht für viel Geld hingegangen), aber der Strom funktionierte noch. Daher hatte sie sie nach unten in die Kühlhalle gebracht. Vor drei Tagen war in Milltown der Strom ausgefallen, aber hier unten war es immer noch ziemlich kühl. Judy wußte es, weil sie drei-bis viermal täglich nach unten ging, um sich die Leichen anzusehen. Sie sagte sich, daß sie nur nachsah. Was sollte es sonst sein? Sie trauerte doch sicher nicht? Am Nachmittag des 2. Juli ging sie hinein und vergaß, den Gummikeil unter die Tür der Kühlhalle zu kanten. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Da erst stellte sie fest, nachdem sie zwei Jahre lang hier fast jeden Tag unten gewesen war, daß die Tür innen keine Klinke hatte. Mittlerweile war es so warm, daß sie nicht erfror, aber nicht zu kalt zum Verhungern. So kam es, daß Judy Horton doch noch in Gesellschaft von Mann und Kind starb. Jim Lee aus Hattiesburg, Mississippi, schloß alle elektrischen Leitungen in seinem Haus an einen Benzingenerator an und starb durch Stromschlag, als er versuchte, ihn anzulassen. Richard Hoggins war ein junger Farbiger, der sein ganzes Leben in Detroit, Michigan, verbracht hatte. Die letzten fünf Jahre war er süchtig nach dem weißen Pulver, das er »Herroinn« nannte. Während die Supergrippe grassierte, hatte er extreme Entzugserscheinungen gehabt, weil sämtliche Dealer und Pusher, die er kannte, gestorben oder geflohen waren. An diesem warmen Sommernachmittag saß er auf einer müllübersäten Veranda, trank warmes 7-Up und wünschte sich, er hätte einen Schuß, nur einen kleinen, klitzekleinen Schuß. Er mußte an Allie McFarlane denken und an etwas über Allie McFarlane, das er auf der Straße gehört hatte, bevor die Kacke am Dampfen gewesen war. Die Leute sagten, daß Allie, schätzungsweise der Drittgrößte in Detroit, gerade eine eins a Lieferung bekommen hatte. Allen würde es gutgehen. Nicht die übliche braune Scheiße. China White, richtig guter Stoff. Richie wußte nicht mit Sicherheit, wo McFarlane so eine große Lieferung aufbewahren würde - es war nicht gut für die Gesundheit, so etwas zu wissen -, aber er hatte mehrmals im Vorbeigehen sagen hören, wenn die Polizei jemals einen Durchsuchungsbefehl für das Haus am Grosse Point bekommen würde, das Allie seinem Großonkel gekauft hatte, dann würde Allie hinter Gitter wandern, bis der Neumond golden wurde. Richie entschied, daß er zum Grosse Point gehen würde. Er hatte schließlich nichts Besseres vor. Die Adresse von Erin D. McFarlane am Lake Shore Drive fand er im Telefonbuch und ging zu Fuß dorthin. Als er dort war, war es fast dunkel, und die Füße taten ihm weh. Er versuchte sich nicht mehr einzureden, daß es nur ein Spaziergang war; er brauchte einen Schuß, und zwar dringend. Das Anwesen war von einer grauen Steinmauer umgeben, und Richie kletterte wie ein schwarzer Schatten hinüber und schnitt sich die Hände an den Glasscherben oben auf. Als er eine Scheibe einschlug, damit er hinein konnte, ging der Einbruchalarm los, und er war schon halb über den Rasen geflohen, bis ihm einfiel, daß keine Bullen mehr dawaren, die den Alarm hören konnten. Flatterig und schweißnaß ging er zurück. Der Hauptstrom war aus, und die Scheißbude hatte gut und gerne zwanzig Zimmer. Er mußte warten bis morgen, bis er richtig suchen konnte, und selbst bei Tage würde es drei Wochen dauern, das ganze Haus ordentlich auf den Kopf zu stellen. Und dabei war der Stoff wahrscheinlich nicht einmal hier. Herrgott. Richie war ganz krank vor Verzweiflung. Aber er wollte wenigstens an den offensichtlichsten Stellen suchen. Oben im Schlafzimmer fand er ein Dutzend weiße Plastiksäcke randvoll mit weißem Pulver. Sie waren im Wassertank der Toilette, einem altbekannten Versteck. Richie sah sie krank vor Verlangen an und dachte am Rande, daß Allie alle richtigen Leute bestochen haben mußte, wenn er es sich leisten konnte, so eine Ladung in einem blöden Toilettentank zu lassen. Der Stoff hätte einem einzigen wahrscheinlich sechzehn Jahrhunderte gereicht. Er nahm einen Beutel mit ins Schlafzimmer und riß ihn auf der Steppdecke auf. Seine Hände zitterten, als er das Besteck herausnahm und aufkochte. Er kam nicht auf die Idee, sich zu fragen, ob der Stoff verschnitten war. Auf der Straße war die größte Dosis, die Richie sich je verpaßt hatte, zwölf Prozent pur gewesen, und daraufhin hatte er so tief geschlafen, daß es fast schon ein Koma gewesen war. Er hatte nicht einmal genickt. Einfach zackbumm, und weg war er, out of the blue and into the black. Er stach sich die Nadel oberhalb des Ellbogens rein und drückte den Stöpsel. Der Stoff war fast sechsundneunzig Prozent rein. Er knallte in seine Blutbahn wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug, und Richie fiel auf den Heroinbeutel und bestäubte sich das Hemd damit. Sechs Minuten später war er tot. Kein großer Verlust. 39 Lloyd Henreid kniete auf dem Boden. Er summte und grinste. Hin und wieder vergaß er, was er gesummt hatte, dann verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht, und er schluchzte ein kleines bißchen, aber dann vergaß er, daß er geweint hatte, und summte weiter. Das Lied, das er summte, hieß »Camptown Races«. Ab und zu summte und schluchzte er nicht, sondern flüsterte »Duu-dah, duu-dah«. Abgesehen vom Summen, dem Schluchzen, dem gelegentlichen Duu-dah und dem leisen Scharren des Pritschenbeins, mit dem sich Lloyd zu schaffen machte, herrschte völlige Stille im Zellentrakt. Er versuchte, Trasks Leiche umzudrehen, damit er ein Bein erreichen konnte. Bitte, Herr Ober, bringen Sie mir noch etwas Krautsalat und noch ein Bein. Lloyd sah aus wie ein Mann, den man auf eine radikale Diät gesetzt hatte. Der Gefängnis-Overall hing an seinem Körper wie ein schlaffes Segel. Die letzte Mahlzeit, die im Zellentrakt serviert wurde, war das Frühstück vor acht Tagen gewesen. Lloyds Haut spannte straff über dem Gesicht, jeder Knochen war darunter zu erkennen. Seine Augen waren hell und glänzend. Er hatte die Lippen von den Zähnen zurückgezogen. Sein Kopf wirkte seltsam gescheckt, weil ihm die Haare allmählich büschelweise ausfielen. Er sah aus wie ein Wahnsinniger. »Duu-dah, duu-dah«, flüsterte Lloyd und angelte mit dem Pritschenbein. Es war einmal, da hatte er nicht gewußt, warum er sich die Finger kaputtmachte, um das verdammte Ding abzuschrauben. Es war einmal, da hatte er zu wissen geglaubt, was Hunger heißt. Aber verglichen mit dem, was er jetzt erlebte, war der Hunger von damals lediglich ein etwas kräftigerer Appetit gewesen. »Ride around all night... ride around all day... duu-dah...« Das Pritschenbein hakte sich in Trasks Hosenaufschlag fest und rutschte wieder ab. Lloyd senkte den Kopf und schluchzte wie ein Kind. Hinter ihm, achtlos in die Ecke geschmissen, lag das Skelett der Ratte, die er vor fünf Tagen, am 2.9. Juni, in Trasks Zelle totgeschlagen hatte. Der lange rosa Schwanz der Ratte hing noch am Skelett. Lloyd hatte wiederholt versucht, auch den Schwanz zu essen, aber er war zu zäh. Fast alles Wasser in der Kloschüssel war verschwunden, obwohl er versucht hatte, es möglichst lange aufzubewahren. In der Zelle stank es nach Urin; er hatte in den Korridor gepinkelt, um seinen Wasservorrat nicht zu verderben. Den Darm hatte er - was einleuchtete, wenn man die radikal zurückgeschraubten Standards seiner Diät berücksichtigte - nicht entleeren müssen. Er hatte die Lebensmittel, die er sich zurückgelegt hatte, zu schnell verschlungen. Das war ihm jetzt klar. Er hatte gedacht, daß jemand kommen würde. Er hatte nicht glauben können... Er wollte Trask nicht essen. Die Vorstellung, Trask zu essen, war schrecklich. Gestern abend war es ihm gelungen, mit dem Pantoffel eine Kakerlake zu fangen, und er hatte sie lebendig gegessen; wie verrückt war sie in seinem Mund herumgewuselt, bis er sie halb durchgebissen hatte. Sie hatte nicht einmal schlecht geschmeckt, viel köstlicher als die Ratte. Nein, er wollte Trask nicht essen. Er wollte kein Kannibale sein. Es war wie mit der Ratte. Er wollte Trask in Reichweite haben... für alle Fälle. Nur für alle Fälle. Er hatte einmal gehört, daß ein Mensch es lange ohne Nahrung aushaken konnte, wenn er nur Wasser hatte. (nicht viel Wasser aber darüber will ich jetzt nicht nachdenken nicht jetzt nein nicht jetzt) Er wollte nicht sterben. Er wollte nicht verhungern. Er war zu sehr von Haß erfüllt. Dieser Haß hatte sich in den letzten drei Tagen ganz allmählich in ihm aufgestaut und war mit dem Hunger gewachsen. Wenn sein Kaninchen, das schon so lange tot war, hätte denken können, hätte es ihn genauso gehaßt (er schlief jetzt viel, und dabei träumte er immer wieder von seinem Kaninchen mit aufgeblähtem Körper, mattem, verfilztem Fell, wimmelnden Maden in den Augen und, am schlimmsten, blutigen Pfoten: Wenn er aufwachte, betrachtete er seine eigenen Finger, von grausiger Faszination erfüllt). Lloyds Hass war um ein einfaches bildliches Konzept herum geronnen, und dieses Konzept war der SCHLÜSSEL. Er war eingesperrt. Früher einmal war ihm das gerecht vorgekommen. Er war einer von den bösen Jungs. Kein wirklich böser Junge. Der wirklich böse Junge war Poke gewesen. Ohne Poke hätte er sich höchstens kleinen Scheißdreck geleistet. Trotzdem gebührte ihm natürlich eine Mitschuld. Der schöne George in Vegas und die drei Insassen des weißen Continental - da war er dabeigewesen, und wahrscheinlich traf ihn ein Teil der Schuld. Er schätzte, daß er seinen Sturz verdient hatte und eine gewisse Zeit absitzen mußte. Nicht, daß man sich dazu freiwillig meldete, aber wenn sie einen kalt erwischten, servierten sie einem die Chose, und man schluckte sie eben. Wie er seinem Anwalt gesagt hatte, seiner Meinung nach verdiente er schätzungsweise zwanzig für seinen Anteil an der »Amokfahrt durch drei Staaten«. Aber nicht den elektrischen Stuhl. Himmel, nein. Der Gedanke, daß Lloyd Henreid einen zappelnden Abgang machte, war... war verrückt. Aber sie hatten den SCHLÜSSEL, darum ging es. Sie konnten einen einsperren und mit einem machen, was sie wollten. Während der letzten drei Tage hatte Lloyd vage die symbolhafte magische Bedeutung des SCHLÜSSELS begriffen. Der SCHLÜSSEL war die Belohnung dafür, daß man die Regeln beachtete. Beachtete man sie nicht, wurde man eingesperrt. Es war nicht anders als bei der Gehen-Sie-in-das-Gefängnis-Karte beim Monopoly. Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie nicht 200 Dollar ein. Und mit dem SCHLÜSSEL waren Vorrechte verbunden. Sie konnten dir zehn Jahre deines Lebens stehlen, oder zwanzig, oder vierzig. Sie konnten Leute wie Mathers beauftragen, dich zusammenzuschlagen. Sie konnten dir sogar auf dem elektrischen Stuhl das Leben nehmen. Aber den SCHLÜSSEL zu haben, gab ihnen nicht das Recht, wegzugehen und dich im Kittchen verhungern zu lassen. Es gab ihnen nicht das Recht, dich zu zwingen, eine tote Ratte zu essen oder zu versuchen, die trockene Füllung deiner Matratze zu verspeisen. Es gab ihnen nicht das Recht, dich in einer Lage zurückzulassen, wo du vielleicht den Mann aus der Zelle nebenan aufessen mußtest, um am Leben zu bleiben (das heißt, wenn du ihn zu packen kriegst - duu-dah, duu-dah). Es gab gewisse Dinge, die machte man einfach nicht mit Menschen. Auch mit dem SCHLÜSSEL konnte man nur bis hierher gehen und nicht weiter. Sie hatten ihn hier zurückgelassen, damit er eines grausamen Todes starb, dabei hätten sie ihn rauslassen können. Er war kein tollwütiger Killer, der den ersten Menschen abservierte, den er sah, auch wenn die Zeitungen das behauptet hatten. Bevor er Poke kennengelernt hatte, hatte er nur kleine Sachen begangen. Deshalb haßte er, und der Haß befahl ihm zu leben... oder es wenigstens zu versuchen. Eine Zeitlang schien ihm, als wären der Haß und der Lebenswille etwas Nutzloses, weil alle, die den SCHLÜSSEL hatten, Opfer der Grippe geworden waren. An ihnen konnte er sich nicht mehr rächen. Dann, ganz allmählich, als der Hunger immer schlimmer wurde, überkam es ihn, daß die Grippe sie nicht umbringen würde. Sie würde nur Verlierer wie ihn umbringen. Sie würde Mathers umbringen, aber nicht diesen Scheißwärter, der Mathers auf ihn angesetzt hatte, denn der Wärter hatte den SCHLÜSSEL. Sie würde den Gouverneur oder den Gefängnisdirektor nicht umbringen - der Wärter, der gesagt hatte, der Gefängnisdirektor sei krank, war offensichtlich ein dreckiger Lügner. Sie würde die Polizisten nicht umbringen, auch nicht die Sheriffs oder die FBI-Agenten. Die Grippe würde den Leuten, die den SCHLÜSSEL hatten, nichts anhaben. Aber Lloyd würde es ihnen zeigen. Wenn er hier lebend rauskam, würde er es ihnen sogar gewaltig zeigen. Das Pritschenbein verfing sich wieder in Trasks Hosenaufschlag. »Komm schon«, flüsterte Lloyd. »Komm. Komm rüber... schon... Camptown ladies sing this song... all du-dah day.« Trasks Leichnam rutschte langsam, steif, über den Boden seiner Zelle. Geduldiger und geschickter als Lloyd Trask hatte noch nie ein Angler eine Makrele eingeholt. Einmal riß der Stoff von Trasks Hose, und Lloyd mußte an einer anderen Stelle einhaken. Aber schließlich war der Fuß nahe genug, daß Lloyd durch die Gitterstäbe greifen und ihn packen konnte... wenn er wollte. »Ist nicht persönlich gemeint«, flüsterte er Trask zu. Er berührte Trasks Bein. Er streichelte es. »Ist nicht persönlich gemeint, ich werde dich nicht essen, alter Junge. Nur, wenn es sein muß.« Er war sich nicht bewußt, daß ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Lloyd hörte jemanden im aschfahlen Widerschein der Dämmerung, zuerst war das Geräusch so weit entfernt und so seltsam - das Klirren von Metall auf Metall -, daß er glaubte, er würde es träumen. Wachen und Schlafen waren mittlerweile fast gleiche Zustände für ihn; er überschritt die Grenze zwischen ihnen, fast ohne es zu merken. Aber dann kam die Stimme, und er fuhr kerzengerade von der Pritsche hoch, seine Augen glänzten riesig, weiß und unstet in dem abgemagerten Gesicht. Die Stimme drang von Gott weiß wie weit entfernt aus dem Verwaltungsflügel herunter und dann die Treppe herab durch die Flure, welche die Besuchszimmer mit dem zentralen Zellenblock verbanden, wo Lloyd war. Sie dröhnte heiter immer weiter durch die doppelt verriegelten Türen und drang schließlich an Lloyds Ohren: »Hoooo-hoooo! Jemand da?« Und seltsam, Lloyds erster Gedanke war: Nicht antworten. Vielleicht geht er wieder. »Jemand da? Zum ersten, zum zweiten?... Okay, ich muß weiter, bin dabei, mir den Staub von Phoenix von den Stiefeln zu schütteln...« Das riß Lloyd aus seiner Lethargie. Er katapultierte sich von der Pritsche, packte das Pritschenbein und schlug wie wild gegen die Gitterstäbe; die Vibrationen pflanzten sich durch das Metall fort und brachten die Knochen seiner geballten Faust zum Erzittern. »Nein!« schrie er. »Nein! Gehen Sie nicht weg! Bitte gehen Sie nicht weg!« Die Stimme (inzwischen näher) kam von der Treppe zwischen der Verwaltung und diesem Zellentrakt: »Wir haben dich zum Fressen gern, so lieben wir dich... und, oh, da hört sich jemand so... hungrig an.« Dem folgte ein träges Lachen. Lloyd ließ das Pritschenbein fallen und umklammerte die Gitterstäbe der Zellentür mit beiden Händen. Jetzt konnte er die Schritte hinten im Schatten hören, sie kamen gleichmäßig den Korridor herauf, der zum Zellentrakt führte. Lloyd hätte vor Erleichterung in Tränen ausbrechen mögen, schließlich war er gerettet... aber er empfand keine Freude, sondern Angst im Herzen, ein wachsendes Grauen, das den Wunsch in ihm weckte, er wäre lieber still geblieben. Still geblieben? Großer Gott! Was konnte schlimmer sein, als zu verhungern? Beim Stichwort »verhungern« mußte er an Trask denken. Trask lag auf dem Rücken im aschfahlen Widerschein der Dämmerung; ein Bein ragte steif in Lloyds Zelle, und an der Wadenregion (der fleischigen Region) dieses Beins hatte eine sichtbare Veränderung stattgefunden. Dort waren Spuren von Zähnen zu sehen. Lloyd wußte, wer dort abgebissen hatte, aber er konnte sich nur noch ganz vage erinnern, Filet de Trask gegessen zu haben. Dennoch war er von übermächtigen Empfindungen des Ekels, der Schuld und des Grauens erfüllt. Er hastete zu den Gitterstäben und schob Trasks Bein wieder in dessen Zelle. Dann sah er über die Schulter, vergewisserte sich, daß der Besitzer der Stimme noch nicht zu sehen war, griff hinüber und zog, das Gesicht gegen die Gitterstäbe gepreßt, Trasks Hosenbein herunter, um zu verbergen, was er getan hatte. Natürlich bestand kein Grund zur Eile, denn die massiven Türen am Ende des Zellentrakts waren zu, und da der Strom ausgefallen war, funktionierte der automatische Türöffner nicht. Sein Retter würde zurückgehen und den SCHLÜSSEL suchen müssen. Er würde... Lloyd grunzte, als der Elektromotor, der die Tür öffnete, surrend zum Leben erwachte. Die Stille im Zellentrakt machte das Geräusch noch lauter, nachdem das altbekannte Klick-bumm! ertönte, mit dem das Schloß aufging. Dann kamen die Schritte stetig den Flur des HS-Trakts entlang. Nachdem er Trask aufgeräumt hatte, war Lloyd wieder zu seiner Zellentür gegangen; jetzt wich er unwillkürlich zwei Schritte zurück. Er richtete den Blick auf den Boden draußen und sah als erstes ein Paar staubige Cowboystiefel mit spitzen Zehen und abgelaufenen Absätzen, und sein erster Gedanke war: Poke hatte auch so ein Paar gehabt. Die Stiefel blieben vor seiner Zelle stehen. Langsam hob er den Blick, sah die verblichenen Jeans über den Stiefeln, den Ledergürtel mit der Messingschnalle (verschiedene astrologische Symbole in zwei konzentrischen Kreisen), die Jeansjacke mit einem Button auf jeder Brusttasche - ein Smiley-Gesicht auf der einen, ein totes Schwein und die Worte GESTERN SCHWEIN - HEUTE SCHINKEN auf der anderen. In dem Augenblick, als Lloyd widerstrebend in Flaggs dunkles, gerötetes Gesicht sah, schrie Flagg »Buuuh!« Der kurze Laut schwebte durch den toten Zellenblock und kam rasch wieder zurück. Lloyd kreischte, stolperte über seine eigenen Füße, stürzte und fing an zu weinen. »Schon gut«, beruhigte ihn Flagg. »He, Mann, schon gut. Alles in bester Ordnung.« Lloyd schluchzte: »Können Sie mich rauslassen? Bitte, lassen Sie mich raus. Ich will nicht wie mein Kaninchen sein, so will ich nicht enden, das ist nicht fair, wenn Poke nicht gewesen wäre, hätte ich nur kleine Sachen abgezogen, bitte, lassen Sie mich raus, Mister, ich mache alles.« »Armer Kerl. Du siehst aus wie Reklame für einen Sommerurlaub in Dachau.« Obwohl Flaggs Stimme mitfühlend klang, wagte Lloyd nicht, höher als bis zu den Knien des Fremden zu sehen. Wenn er noch einmal in dieses Gesicht blickte, würde er sterben. Es war das Gesicht eines Teufels. »Bitte-«, murmelte Lloyd. »Bitte, lassen Sie mich raus. Ich verhungere.« »Wie lange sitzt du in diesem Scheißhaus, mein Freund?« »Ich weiß nicht«, sagte Lloyd und massierte sich die Augen mit den dünnen Fingern. »Ziemlich lange.« »Wie kommt es, daß du noch nicht tot bist?« »Ich wußte, was kommen würde«, sagte Lloyd zu den Beinen in den Bluejeans und raffte die letzten Fetzen seiner Verschlagenheit um sich. »Ich habe etwas Verpflegung weggelegt. Deshalb.« »Hast nicht zufällig ein Stück von dem netten jungen Mann in der Zelle nebenan gemampft, oder?« »Was?« krächzte Lloyd. »Was? Nein! Um Himmels willen! Wofür halten Sie mich? Mister, Mister, bitte...« »Sein linkes Bein sieht dünner aus als das rechte. Nur aus dem Grund hab' ich gefragt, guter Freund.« »Davon weiß ich nichts«, flüsterte Lloyd. Er zitterte am ganzen Körper. »Und was ist mit Bruder Ratte? Hat er geschmeckt?« Lloyd schlug die Hände vors Gesicht und sagte nichts. »Wie heißt du?« Lloyd versuchte, es zu sagen, brachte aber nur ein Stöhnen heraus. »Wie heißt du, Soldat?« »Lloyd Henreid.« Er überlegte krampfhaft, was er als nächtes sagen sollte, aber sein Verstand war ein chaotisches Durcheinander. Er hatte Angst gehabt, als sein Anwalt ihm sagte, daß er vielleicht auf den elektrischen Stuhl müßte, aber nicht solche Angst. Solche Angst hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehabt. »Alles war Pokes Idee!« schrie er. »Poke müßte hier sein, nicht ich.« »Sieh mich an, Lloyd.« »Nein«, flüsterte Lloyd. Er rollte wild mit den Augen. »Warum nicht?« »Weil...« »Nur weiter.« »Weil ich nicht glaube, daß Sie wirklich existieren«, flüsterte Lloyd. »Und wenn Sie wirklich existieren... Mister, wenn Sie wirklich existieren, dann sind Sie der Teufel.« »Sieh mich an, Lloyd.« Hilflos richtete Lloyd den Blick auf das schwarze, grinsende Gesicht, das zwischen einer Kreuzung der Gitterstäbe hing. Die rechte Hand hielt etwas neben dem rechten Auge hoch. Als er es sah, wurde Lloyd heiß und kalt zugleich. Es sah aus wie ein schwarzer Stein, so schwarz, daß er fast harzig oder pechig wirkte. In der Mitte war eine rote Stelle, die Lloyd wie ein schreckliches blutiges und halb offenes Auge vorkam, das ihn anstarrte. Dann drehte Flagg es zwischen den Fingern hin und her. Jetzt war es das Auge, dann der Schlüssel. Er sang: »She brought me coffee... she brought me tea... she brought me... damn near everything... but the workhouse key. Nur nicht den Schlüssel, Lloyd, richtig?« »Ja«, sagte Lloyd heiser. Er ließ den kleinen schwarzen Stein nicht aus den Augen. Flagg ließ ihn von einem Finger zum ändern wandern wie ein Zauberer, der einen Trick vorführt. »Du bist gewiß ein Mann, der den Wert eines guten Schlüssels zu schätzen weiß«, sagte der Mann. Der schwarze Stein verschwand in seiner geballten Faust und tauchte plötzlich in der andren Hand wieder auf, wo er aufs neue von einem Finger zum andern wanderte. »Davon bin ich überzeugt. Ein Schlüssel ist dazu da, Türen zu öffnen. Gibt es etwas Wichtigeres im Leben, als Türen zu öffnen, Lloyd?« »Mister, ich habe schrecklichen Hunger...« »Logisch«, sagte der Mann. Sein Gesichtsausdruck wurde besorgt, aber so übertrieben besorgt, daß es grotesk wirkte. »Mein Gott, eine Ratte ist doch nichts zu essen! Weißt du, was ich heute gegessen habe? Ein wunderbares Roastbeef-Sandwich, englisch, auf Wiener Brot, mit ein paar Zwiebeln und Guldens süßem Senf. Hört sich das gut an?« Lloyd nickte, Tränen flössen aus seinen fiebrig glänzenden Augen. »Dazu Pommes und eine Schokoladenmilch und als Nachtisch... herrje, ich quäle dich, was? Jemand müßte mich auspeitschen, das müßte man, ja. Tut mir leid. Ich laß dich sofort raus, und dann besorgen wir was zu essen, okay?« Lloyd war so verblüfft, daß er nicht einmal nicken konnte. Er war zu dem Ergebnis gekommen, daß der Mann mit dem Schlüssel wirklich ein Teufel war, vielleicht sogar nur ein Trugbild, und daß das Trugbild vor seiner Zelle stehen würde, bis Lloyd tot umfiel, und dabei munter über Gott und Jesus und Guldens süßen Senf plaudern und den seltsamen Stein verschwinden und wieder zum Vorschein kommen lassen würde. Aber jetzt schien das Mitleid im Gesicht des Mannes echt zu sein, und er hörte sich an, als wäre er wirklich empört über sich selbst. Der schwarze Stein verschwand wieder in seiner geballten Faust. Und als die Faust sich wieder öffnete, sahen Lloyds erstaunte Augen einen flachen silbernen Schlüssel mit reich verziertem Griff in der Hand des Fremden. »O - du - mein - Gott!« »Gefällt dir das?« fragte der dunkle Mann erfreut. »Den Trick habe ich von einem Mädchen in einem Massagesalon in Secaucus, New Jersey, gelernt, Lloyd. Secaucus, Heimat der größten Schweinefarmen der Welt.« Er beugte sich vor und steckte den Schlüssel ins Schloß von Lloyds Zelle. Und das war seltsam, denn wenn Lloyd seinem Gedächtnis trauen durfte (das im Augenblick nicht sehr gut war), hatten diese Zellen gar keine Schlüssellöcher, sondern wurden elektronisch geöffnet und geschlossen. Aber er zweifelte nicht daran, daß der Silberschlüssel funktionieren würde. Als sich der Schlüssel schon drehte, hielt Flagg plötzlich inne, sah Lloyd mit einem listigen Grinsen an, und Verzweiflung kam wieder über Lloyd. Es war also doch nur ein Trick. »Habe ich mich überhaupt vorgestellt? Mein Name ist Flagg, mit zwei g. Freut mich, dich kennenzulernen.« »Ganz meinerseits«, krächzte Lloyd. »Und ich denke, bevor ich diese Zelle öffne und wir essen gehen, sollte eines klar sein, Lloyd.« »Natürlich«, krächzte Lloyd und fing wieder an zu weinen. »Du sollst meine rechte Hand werden, Lloyd. Ich werde dich dem heiligen Petrus gleichstellen. Wenn ich diese Tür geöffnet habe, werde ich dir den Schlüssel zum Königreich in die Hand geben. Tolles Geschäft, was?« »Ja «, flüsterte Lloyd und bekam wieder Angst. Es war jetzt fast ganz dunkel. Flagg war wenig mehr als eine dunkle Gestalt, aber seine Augen waren noch deutlich zu sehen. Sie schienen in der Dunkelheit zu glühen wie die Augen eines Luchses, eins links von der Gitterstange, die im Schließkasten endete, und eins rechts davon. Lloyd empfand Entsetzen, aber gleichzeitig noch etwas anderes: eine Art religiöse Ekstase. Freude. Die Freude, auserwählt zu sein. Das Gefühl, daß er etwas erreicht hatte... etwas. »Du möchtest gern mit den Leuten abrechnen, die dich hier eingesperrt haben, richtig?« »Junge, und wie«, sagte Lloyd und vergaß seine Angst einen Augenblick. Sie wurde von einer ausgehungerten, zügellosen Wut aufgesogen. »Und nicht nur mit den Leuten, sondern mit allen, die so etwas fertigbringen«, fügte Flagg hinzu. »Es ist ein bestimmter Typ Mensch, richtig? Für einen bestimmten Typ Mensch ist ein Mann wie du nur Dreck. Denn sie sind ganz oben. Für sie haben Leute wie du überhaupt kein Recht zu leben.« »Stimmt genau«, sagte Lloyd. Sein großer Hunger hatte sich plötzlich in eine andere Art Hunger verwandelt. Er hatte sich so verwandelt, wie sich der schwarze Stein in einen silbernen Schlüssel verwandelt hatte. Dieser Mann hatte all seine vielschichtigen Empfindungen in ein paar Sätzen ausgedrückt. Er wollte nicht nur mit der Torwache abrechnen - Da ist ja unser Klugscheißer, wie geht's denn, Klugscheißer, wieder was Vorlautes zu sagen? -, weil der Torwärter nicht der war, den er suchte. Die Torwache hatte zwar den SCHLÜSSEL gehabt, richtig, aber die Torwache hatte den SCHLÜSSEL nicht gemacht. Jemand hatte ihn ihr gegeben. Der Direktor, vermutete Lloyd, aber auch der Direktor hatte den SCHLÜSSEL nicht gemacht. Lloyd wollte die Macher und Schmiede finden. Sie waren bestimmt immun gegen die Grippe, und er mußte mit ihnen abrechnen. O ja, und wie er abrechnen mußte. »Weißt du, was in der Bibel über solche Menschen steht?« fragte Flagg leise. »Dort steht, wer sich erhöht, der soll erniedrigt werden, und Hochmut kommt vor dem Fall. Und weißt du, was über Menschen wie dich darin steht, Lloyd? Es steht geschrieben, selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Und es steht geschrieben, selig sind, die da geistig arm sind, denn sie werden Gott schauen.« Lloyd nickte. Nickte und weinte. Einen Augenblick schien es, als hätte sich eine lodernde Korona um Flaggs Kopf gebildet, ein so grelles Licht, daß es Lloyds Augen zu Schlacke verbrennen würde, wenn er es zu lange ansah. Dann war es weg, als wäre es nie da gewesen, und es konnte auch nicht dagewesen sein, denn Lloyd hatte nicht einmal seine Nachtsicht verloren. »Du bist nicht besonders hell im Kopf«, sagte Flagg, »aber du bist der erste. Und ich habe das Gefühl, du wirst sehr loyal sein. Du und ich, Lloyd, wir werden es weit bringen. Es herrschen gute Zeiten für Menschen wie uns. Alles ist für uns bereit. Ich brauche nur dein Wort.« »W-Wort?« »Daß wir zusammenhalten, du und ich. Keine Weigerung. Auf Posten wird nicht geschlafen. Sehr bald werden andere kommen - sie sind schon auf dem Weg nach Westen -, aber im Augenblick gibt es nur uns. Ich gebe dir den Schlüssel, wenn du mir dein Versprechen gibst.« »Ich gebe Ihnen... mein Versprechen«, sagte Lloyd, und die Worte schienen in der Luft zu hängen und seltsam zu vibrieren. Er lauschte den Vibrationen mit geneigtem Kopf und sah die Worte fast vor sich; sie glühten so dunkel, wie sich das Nordlicht in den Augen eines Toten widerspiegelt. Dann vergaß er die Worte, als die Zuhaltungen innerhalb des Schließkastens klickten. Im nächsten Moment fiel Flagg das Schloss vor die Füße, leichter Rauch stieg davon auf. »Du bist frei, Lloyd. Komm raus.« Ungläubig und zögernd berührte Lloyd die Stäbe, als könnten sie ihn verbrennen; und wirklich, sie schienen warm zu sein. Aber als er schob, glitt die Tür leicht und geräuschlos zurück. Er sah seinem Erlöser in die flammenden Augen. Etwas wurde ihm in die Hand gedrückt. Der Schlüssel. »Er gehört jetzt dir, Lloyd.« »Mir?« Flagg packte Lloyds Finger und drückte sie zu... und Lloyd spürte, wie der Schlüssel sich in seiner Hand bewegte, sich veränderte. Er stieß einen heiseren Schrei aus und machte die Hand auf. Der Schlüssel war verschwunden, er hielt den schwarzen Stein mit dem roten Fleck in der Hand. Er hielt ihn erstaunt hoch und drehte ihn so und so. Mal sah der rote Fleck wie ein Schlüssel aus, mal wie ein Schädel, dann wieder wie ein blutiges, halb geschlossenes Auge. »Mir«, antwortete Lloyd sich selbst. Diesmal schloß er die Hand ohne Hilfe und hielt den Stein verbissen fest. »Wollen wir uns ein Abendessen besorgen?« fragte Flagg. »Wir müssen heute nacht noch weit fahren.« »Abendessen«, sagte Lloyd. »Okay.« »Es gibt viel zu tun«, sagte Flagg heiter. »Und wir werden uns sehr beeilen.« Sie gingen an den toten Männern in den Zellen vorbei, gemeinsam zur Treppe. Als Lloyd vor Schwäche stolperte, ergriff Flagg seinen Arm über dem Ellenbogen und stützte ihn. Lloyd wandte sich ihm zu, und sein Blick in dieses grinsende Gesicht verriet mehr als Dankbarkeit. Er sah Flagg mit so etwas wie Liebe an. 40 Nick Andros lag unruhig schlafend auf der Pritsche in Sheriff Bakers Büro. Er war bis auf Shorts nackt, sein ganzer Körper war von einem Schweißfilm überzogen. Gestern abend, bevor ihn der Schlaf übermannt hatte, war sein letzter Gedanke gewesen, daß er am Morgen tot sein würde; der dunkle Mann, der unablässig seine Fieberträume heimgesucht hatte, würde irgendwie durch die letzte dünne Barriere des Schlafes brechen und ihn mitnehmen. Es war seltsam. Das Auge, das Ray Booth gequetscht hatte, bis er nichts mehr sehen konnte, hatte nur zwei Tage weh getan. Am dritten Tag war das Gefühl, als wären ihm gigantische Schrauben in den Schädel gedreht worden, einem dumpf pochenden Schmerz gewichen. Wenn er jetzt durch dieses Auge sah, nahm er nur graue Schlieren wahr; graue Schlieren, in denen sich manchmal Gestalten bewegten oder zu bewegen schienen. Aber nicht die Augenverletzung brachte ihn um, sondern der Streifschuß am Bein. Er hatte ihn nicht desinfiziert. Die Schmerzen im Auge waren so gross gewesen, daß er die Beinwunde kaum bemerkt hatte. Der Streifschuß verlief den rechten Oberschenkel entlang und hörte am Knie auf; er hatte am nächsten Tag das Loch in der Hose, wo die Kugel eingedrungen war, staunend bet rachtet. Am Tag darauf, dem 30. Juni, war die Wunde an den Rändern rot gewesen, und sämtliche Muskeln des Beins schienen weh zu tun. Er war zur Praxis von Dr. Soames gehinkt und hatte sich eine Flasche Jod genommen. Er hatte die ganze Flasche über die etwa dreißig Zentimeter lange Wunde geschüttet. Aber er hatte eben erst gehandelt, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war. An diesem Abend hatte das ganze Bein wie ein fauler Zahn gepocht, und er konnte unter der Haut die verräterischen roten Linien einer Blutvergiftung sehen, die von der Verletzung ausgingen, auf der sich gerade erst Schorf gebildet hatte. Am 1. Juli war er wieder in der Praxis von Dr. Soames gewesen, hatte den Arzneimittelschrank durchwühlt und nach Penizillin gesucht. Er hatte welches gefunden und nach einigem Zögern beide Tabletten in der Probepackung geschluckt. Ihm war klar, daß er sterben würde, wenn sein Körper gegen das Penizillin allergisch reagierte, aber er dachte, die Alternative wäre ein noch schlimmerer Tod. Die Infektion raste, raste. Das Penizillin brachte ihn nicht um, verbesserte seinen Zustand aber auch nicht nennenswert. Gestern nachmittag hatte er hohes Fieber gehabt; er vermutete, dass er größtenteils im Delirium gewesen war. Er hatte genug zu essen da, wollte aber nichts zu sich nehmen; er wollte nur eine Tasse destilliertes Wasser nach der anderen aus dem Spender trinken, der in Bakers Büro stand. Als er gestern abend eingeschlafen (oder bewußtlos geworden) war, war das Wasser fast verbraucht gewesen, und er hatte keine Ahnung, wo er frisches herbekommen konnte. In seinem fiebrigen Zustand war ihm das auch einerlei. Er würde bald sterben und sich keine Gedanken mehr machen müssen. Er war nicht versessen darauf zu sterben, aber die Vorstellung, keine Schmerzen oder Sorgen mehr zu haben, war sehr verlockend. Sein Bein pochte und juckte und brannte. Sein Schlaf war ihm in den Nächten, nachdem er Ray Booth getötet hatte, gar nicht wie Schlaf vorgekommen. Seine Träume waren eine Sturzflut. Ihm schien, als würden alle, die er je gekannt hatte, auf einen Besuch zurückkommen. Rudy Sparkman, der auf das leere Blatt Papier deutete. Du bist dieses leere Blatt. Seine Mutter, die ihm geholfen hatte, Linien und Kreise auf ein anderes Blatt Papier zu kritzeln, wodurch dessen Reinheit versehrt wurde: Das heißt Nick Andros, Liebes. Das bist du. Jane Baker, die das Gesicht auf dem Kissen auf die Seite gedreht hatte und sagte: Johnny, mein armer Johnny. In seinem Traum bat Dr. Soames John Baker immer wieder, das Hemd auszuziehen, und Ray Booth sagte immer wieder: Haltet ihn fest... ich mach' ihn fertig... das Schwein hat mich geschlagen... haltet ihn fest... Anders als in in seinen sonstigen Träumen mußte Nick ihnen nicht von den Lippen lesen. Er konnte richtig hören, was die Leute sagten. Die Träume waren unglaublich lebhaft. Sie verblaßten, wenn die Schmerzen in seinem Bein ihn ins Wachsein zurückriefen. Wenn er wieder in Schlaf versank, folgte eine neue Szene. In zwei Träumen kamen Menschen vor, die er noch nie gesehen hatte, das waren die Träume, an die er sich nach dem Aufwachen am deutlichsten erinnerte. Er war an einem hohen Ort. Das Land erstreckte sich unter ihm wie eine Reliefkarte. Es war eine Wüste, und die Sterne über ihm besaßen die irre Klarheit hoher Luftschichten. Neben ihm war ein Mann... nein, kein Mann, sondern die Gestalt eines Mannes. Als wäre die Gestalt aus der Wirklichkeit herausgeschnitten worden und in Wirklichkeit nur noch das Negativ eines Mannes neben ihm, ein schwarzes Loch in Menschengestalt. Und die Stimme dieser Gestalt flüsterte: Alles, was du siehst, wird dir gehören, wenn du niederkniest und mich anbetest. Nick schüttelte den Kopf und wollte weg von dem gräßlichen Steilhang, weil er Angst hatte, die Gestalt könnte die schwarzen Arme ausstrecken und ihn über den Rand stoßen. Warum sprichst du nicht? Warum schüttelst du nur den Kopf? Im Traum machte Nick die Geste, die er im wachen Zustand schon so häufig gemacht hatte: Er legte einen Finger an die Lippen und die flache Hand an den Hals... und dann hörte er sich mit vollkommen klarer und wohlklingender Stimme sagen: »Ich kann nicht sprechen. Ich bin stumm.« Du kannst. Wenn du willst, kannst du. Nick streckte die Hand aus, um die Gestalt zu berühren, denn einen Augenblick war seine Angst wie weggefegt von Erstaunen und heller Freude. Aber als seine Hand sich der Schulter der Gestalt näherte, wurde sie eiskalt, so kalt, als sei sie verbrannt. Er riß sie weg, als sich an den Knöcheln Eiskristalle gebildet hatten. Da bemerkte er es. Er konnte hören. Die Stimme der dunklen Gestalt; die entfernten Schreie eines jagenden Nachtvogels; das endlose Heulen des Windes. Dieses Wunder machte ihn fast wieder taub. Hier offenbarte die Welt ihm eine Dimension, die er nie vermißt hatte, weil er sie nicht kannte, und nun stimmte alles. Er hörte Geräusche. Er wußte ohne Erklärung, was jedes einzelne Geräusch bedeutete. Sie waren schön. Schöne Geräusche. Er fuhr mit den Fingern über sein Hemd und staunte über das geschwinde Flüstern der Fingernägel auf dem Stoff. Dann wandte sich der dunkle Mann ihm zu, und Nick hatte schreckliche Angst. Er wußte nicht, wer diese Kreatur war, aber sie ließ nicht umsonst Wunder geschehen. ... wenn du niederkniest und mich anbetest. Und Nick schlug die Hände vors Gesicht, denn er wünschte sich alles, was die schwarze Menschengestalt ihm hoch über der Wüste gezeigt hatte: Städte, Frauen, Reichtum, Macht. Aber am meisten wollte er das wunderbare Geräusch hören, wenn seine Fingernägel über den Stoff des Hemdes glitten, das Ticken einer Uhr in einem leeren Haus nach Mitternacht, das geheimnisvolle Rauschen des Regens. Aber er sagte nur das Wort Nein, und dann legte sich wieder die Kälte über ihn, und er wurde gestoßen, er stürzte kopfüber und schrie lautlos, während er durch die wolkenverhangenen Tiefen stürzte, hinein in den Geruch von... ...Mais? Ja, Mais. Das war der andere Traum; sie fügten sich so nahtlos aneinander, daß man kaum eine Bruchstelle erkennen konnte. Er war im Mais, im grünen Mais, und es roch nach sommerlicher Erde, nach Kuhmist und wachsenden Pflanzen. Er stand auf, ging die Furche entlang, in der er gelandet war, und blieb einen Augenblick stehen, als er merkte, daß er den Wind hören konnte, der durch den Juli-Mais und dessen grüne, schwertähnliche Blätter strich... und noch etwas anderes. Musik? Ja, eine Art Musik. Und im Traum dachte er: »Das meinen sie also.« Die Musik kam direkt von vorn, und er ging darauf zu, weil er sehen wollte, ob diese spezielle Folge schöner Geräusche von etwas kam, das »Klavier« oder »Hörn« oder »Cello« oder wie auch immer genannt wurde. Der heiße Duft des Sommers, das blaue Himmelsrund oben, die wunderbaren Geräusche. Nie war Nick glücklicher gewesen als in diesem Traum. Als er sich der Stelle näherte, von der die Musik zu hören war, fiel eine Stimme in die Musik ein, eine alte Stimme, eine Stimme wie dunkles Leder, die die Worte undeutlich sprach, als sei das Lied ein oft aufgewärmtes Gericht, das dennoch nichts von seinem Wohlgeschmack verloren hatte. Nick ging gebannt darauf zu. »I come to the garden alone While the dew is still on the roses And the voice l hear, falling on my ear The son... of God... disclo-o-ses And he walks with me and he talks with me Tells me I am his own And the joy we share as we tarry there None other... has ever... known.« Als der Vers zu Ende war, hatte Nick das Ende der Furche erreicht, und dort auf der Lichtung stand eine Hütte, nicht viel mehr als ein Schuppen, mit einem rostigen Abfallkübel links und einer alten Reifenschaukel rechts. Die Schaukel hing an einem knorrigen alten Apfelbaum, der aber noch wunderschön grünte. Vor dem Haus war eine Veranda, ein baufälliges altes Ding, das von alten, ölverklebten Wagenhebern gestützt wurde. Die Fenster standen offen, und der warme Sommerwind wehte die zerschlissenen weißen Gardinen hinein und hinaus. Aus dem Dach ragte in seltsamem Winkel ein spitzer, verbeulter Schornstein aus galvanisiertem Blech hervor. Um die Hütte dehnten sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte, Maisfelder aus, unterbrochen nur von einem Sandweg, der am flachen Horizont zu einem Punkt geschrumpft war. Und in diesem Augenblick wußte Nick, wo er war: Polk County, Nebraska, westlich von Omaha und ein Stück nördlich von Osceola. Weit hinten am Sandweg verlief die US 30, und dort lag auch Columbus am Nordufer des Platte. Auf der Veranda sitzt die älteste Frau Amerikas, eine Schwarze mit dünnem weißen Haar - sie ist selbst dünn und trägt Hauskleid und Brille. Sie sieht so dünn aus, daß man glaubt, die Nachmittagsbrise könnte sie davonwehen, sie hoch in den Himmel wirbeln und möglicherweise bis Julesburg, Colorado, tragen. Und das Instrument, auf dem sie spielt (vielleicht hält das sie unten, auf der Erde), ist eine »Gitarre«, und Nick denkt im Traum: So klingt also eine »Gitarre«. Hübsch. Er hat das Gefühl, er könnte den ganzen Tag hier stehen bleiben und die alte Frau beobachten, die mitten zwischen den grünen Maisfeldern Nebraskas auf einer von Wagenhebern gestützten Veranda sitzt, hier, westlich von Omaha und ein Stück nördlich von Osceola in Polk County, und ihr zuhören. Ihr Gesicht hat eine Million Falten und sieht aus wie die Landkarte eines Staates, dessen Geographie noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Flüsse und tiefe Täler in den braunen ledrigen Wangen, Gebirgsketten unter dem knochigen Kinn, erhabene, aufragende Moränen am Stirnansatz, die Höhlen der Augen. Sie hat wieder angefangen zu singen und begleitet sich auf der alten Gitarre. »Jee-sus, won't you kun-bah-yere Oh Jee-sus, won't you kun-bah-yere Jesus won't you come by here? Cause now... is the needy time Oh now... is the needy time Now is the...« Sag, Junge, willst du da Wurzeln schlagen? Sie legt die Gitarre auf den Schoß wie ein Baby und winkt ihn zu sich. Nick kommt. Er sagt, daß er sie nur singen hören wollte, das Singen sei so schön. Nun, Singen ist eine Narretei Gottes. Ich singe heute fast den ganzen Tag... wie kommst du mit diesem schwarzen Mann zurecht? Ich habe Angst vor ihm. Er macht mir... Junge, du mußt auch Angst haben. Selbst vor einem Baum in der Dämmerung mußt du Angst haben, wenn du ihn nur auf die richtige Weise betrachtest. Wir sind alle sterblich. Gelobt sei Gott. Wie soll ich nein zu ihm sagen? Wie soll ich... Wie atmest du? Wie träumst du? Niemand weiß es. Aber komm mich besuchen. Jederzeit. Man nennt mich Mutter Abagail. Ich bin die älteste Frau in dieser Gegend, glaube ich, und ich backe meine Plätzchen immer noch selbst. Du kannst mich jederzeit besuchen, Junge, und bring deine Freunde mit. Aber wie komme ich hier raus? Gott segne dich, Junge, niemand kommt jemals hier raus. Du mußt nur das Beste hoffen und Mutter Abagail besuchen kommen, wann immer du Lust hast. Ich denke, ich werde hier sein; ich gehe nicht mehr oft weg. Also, besuch mich. Ich werde hier... sein, ich werde hier sein... Er wurde nach und nach wach, bis Nebraska und der Geruch von Mais und Mutter Abagails zerfurchtes Gesicht verschwunden waren. Die Wirklichkeit kam wieder, aber sie trat nicht an die Stelle der Traumwelt, sondern überdeckte sie, bis sie nicht mehr zu sehen war. Er war in Shoyo, Arkansas, sein Name war Nick Andros, er hatte noch nie gesprochen oder eine »Gitarre« gehört... aber er lebte noch. Er richtete sich auf der Pritsche auf, stellte die Beine auf den Fußboden und betrachtete den Streifschuß. Die Schwellung war zurückgegangen. Die Schmerzen waren nur noch ein Pochen. Es heilt, dachte er mit großer Erleichterung. Ich glaube, ich werde gesund. Er stand von der Pritsche auf und hinkte in den Shorts zum Fenster. Sein Bein war steif, aber er wußte, mit etwas Training würde das besser werden. Er sah auf die schweigende Stadt hinaus, die nicht mehr Shoyo war, sondern der Leichnam von Shoyo, und er wußte, er mußte die Stadt noch heute verlassen. Weit würde er nicht kommen, aber er würde immerhin einen Anfang machen. Wohin? Er glaubte es zu wissen. Träume waren Schäume, vorläufig aber würde er nach Nordwesten gehen. Nach Nebraska. Am Nachmittag des 3. Juli um Viertel nach eins radelte er aus der Stadt hinaus. Am Morgen hatte er einen Rucksack gepackt: einen Vorrat Penicillintabletten, falls er sie brauchen sollte, und Konserven. Besonders Campbeils Tomatensuppe und Ravioli Marke Chef Boyardee, zwei seiner Lieblingsgerichte. Er steckte auch ein paar Schachteln Munition für den Revolver ein und nahm eine Feldflasche mit. Er ging die Straße entlang und sah in Garagen, bis er gefunden hatte, was er suchte: ein Zehngangfahrrad, das für seine Größe genau richtig war. Er fuhr vorsichtig in einem niedrigen Gang die Main Street hinunter, und allmählich gewöhnte sich das verletzte Bein an die Anstrengung. Er fuhr nach Westen, und sein Schatten folgte ihm auf seinem eigenen schwarzen Fahrrad. Er fuhr an den hübschen, kühl wirkenden Häusern in den Außenbezirken der Stadt vorbei, die im Schatten standen und deren Jalousien für immer zugezogen waren. In einem Farmhaus zehn Meilen westlich von Shoyo richtete er sich für die Nacht ein. Am Abend des 4. Juli war er schon fast in Oklahoma. An diesem Abend stand er wieder auf dem Hof eines Farmhauses, sah zum Himmel auf und betrachtete einen Meteorschwarm, der die Nacht mit kaltem weißen Feuer zerkratzte. Er hatte noch nie so etwas Schönes gesehen, dachte er. Was immer vor ihm lag, er war froh, daß er lebte. 41 Larry wachte um halb neun auf; die Sonne schien, und die Vögel zwitscherten. Beides machte ihn fertig. Seit sie New York City verlassen hatten, jeden Morgen Sonnenschein und Vogelzwitschern. Und als besondere Attraktion, als Gratisbonus, wenn man so wollte, roch die Luft sauber und frisch. Das war selbst Rita aufgefallen. Er dachte immer wieder: Besser kann es nicht werden. Aber es wurde immer besser. Bis man sich fragte, was sie dem Planeten angetan hatten. Und man fragte sich, ob die Luft an Orten wie dem Staat Minnesota, Oregon und den westlichen Hängen der Rockies immer so gerochen hatte. Während er in seiner Hälfte des Doppelschlafsacks unter der niederen Segeltuchdecke des Zwei-Mann-Zelts lag, das sie am Morgen des 2. Juli in Passaic ihrer Reiseausrüstung zugefügt hatten, erinnerte sich Larry, wie AI Spellman, einer der Tattered Remnants, ihn einmal hatte überreden wollen, mit ihm und zwei oder drei anderen Jungs einen Campingausflug zu machen. Sie wollten nach Osten, eine Nacht in Vegas Zwischenstation machen und dann einen Ort namens Loveland, Colorado, besuchen. Sie wollten fünf Tage oder so in den Bergen über Loveland campen. »Diese >Rocky-Mountain-High< -Scheiße kannst du John Denver überlassen«, hatte Larry gebrummt. »Ihr werdet alle mit Moskitostichen und wahrscheinlich einem Giftefeu-Ausschlag im Arschloch zurückkommen, weil ihr in den Wald scheißen müßt. Wenn ihr es euch anders überlegt und beschließt, fünf Tage im Dunes in Vegas zu campen, ruf mich an.« Aber vielleicht war es genau so gewesen. Allein, niemand, der einen störte (abgesehen von Rita, und deren Störungen konnte er aushaken, dachte er), gute Luft zum Atmen und nachts Schlaf ohne Herumwälzen, einfach peng, fest eingeschlafen, als hätte man eine mit dem Hammer auf den Kopf bekommen. Keine Probleme, abgesehen von der Frage, wohin man morgen fahren würde und wie schnell. Es war herrlich. Und dieser Morgen in Bennington, Vermont, auf dem Weg nach Osten über den Highway 9, war ein ganz besonderer Morgen. Es war, bei Gott, der 4. Juli, Unabhängigkeitstag. Er setzte sich im Schlafsack auf und sah zu Rita hinüber, aber sie schlief noch wie ein Murmeltier, er sah nur die Umrisse ihres Körpers unter dem gesteppten Material und einen Schöpf ihres Haars. Nun, heute morgen würde er sie mit Stil wecken. Larry zog an seiner Seite den Reißverschluß auf und stieg splitternackt aus dem Schlafsack. Zuerst bekam er eine Gänsehaut, aber dann war die Luft angenehm warm, möglicherweise schon zwanzig Grad. Der Tag würde wieder erste Sahne werden. Er kroch aus dem Zelt und stand auf. Neben dem Zelt stand die 200er Harley-Davidson-Maschine in Schwarz und Chrom. Wie Schlafsack und Zelt hatten sie auch die Maschine in Passaic besorgt. Bis dahin hatten sie schon drei Autos gehabt, zwei waren vor fürchterlichen Staus geendet, das dritte vor Nuttey im Schlamm steckengeblieben, als er zwei zusammengestoßenen Lastwagen ausweichen wollte. Das Motorrad war die Lösung. Damit konnte man Unfallstellen langsam umfahren. Wenn man auf einen ernsten Verkehrsstau traf, konnte man auf der Standspur oder dem Fußweg fahren, falls vorhanden. Rita gefiel es nicht - es machte sie nervös, auf dem Soziussitz mitzufahren, und sie klammerte sich verzweifelt an Larry -, aber sie hatte zugeben müssen, daß es die praktischste Lösung war. Der »letzte Verkehrsstau« der Menschheit war ein Ärgernis. Aber seit sie Passaic hinter sich gelassen und das offene Land erreicht hatten, waren sie gut vorangekommen. Am Abend des 2. Juli hatten sie wieder die Grenze des Bundesstaats New York überquert und ihr Zelt am Stadtrand von Quarryville aufgeschlagen, wo sie im Westen mystisch und dunstverhangen die Catskill Mountains sehen konnten. Am Nachmittag des 3. wandten sie sich ostwärts und erreichten in der Dämmerung Vermont. Da waren sie jetzt, in Bennington. Sie hatten auf einem Hügel vor der Stadt gezeltet, und als Larry jetzt nackt neben dem Motorrad stand und pinkelte, konnte er nach unten sehen und die malerische Neuengland-Stadt bewundern. Zwei hübsche weiße Kirchen, deren Türme aufragten, als wollten sie den blauen Morgenhimmel aufspießen; eine Privatschule, graue efeuüberwucherte Gebäude aus Feldsteinen; eine Fabrik; ein paar Schulgebäude aus roten Ziegeln; viele Bäume in grünem Sommerkleid. Das einzig Störende an diesem Bild war, daß aus dem Schornstein der Fabrik kein Rauch aufstieg und auf der Main Street, die zugleich der Highway war, dem sie folgten, so viele funkelnde Spielzeugautos in seltsamen Winkeln parkten. Aber in der sonnigen Stille (das heißt, Stille, abgesehen von gelegentlichem Vogelzwitschern), hätte Larry vielleicht auch das Bonmot der verstorbenen Irma Fayette wiederholt, hätte er die Dame gekannt: kein großer Verlust. Aber es war der 4. Juli, und er schätzte, daß er immer noch Amerikaner war. Er räusperte sich, spie aus und summte ein Weilchen, bis er die Tonlage gefunden hatte. Er holte tief Luft, genoß den Morgenwind auf der nackten Brust und den Pobacken, und fing schmetternd an zu singen. »Oh, say, can you see,  by the dawn's early light,  What so proudly we bailed  at the twilight's last gleaming...« Er sang alle Strophen, während er auf Bennington hinabsah, machte ein paar alberne, burleske Sprünge am Ende, denn mittlerweile würde Rita schon am Zelteingang stehen und ihn anlächeln. Er beendete die Darbietung mit einem zackigen Salut zu dem Haus hinüber, das er für das Gerichtsgebäude hielt, drehte sich um und dachte, die beste Art, ein weiteres Jahr der Unabhängigkeit der guten alten Vereinigten Staaten anzufangen, wäre ein guter alter AllAmerican Fick. »Larry Underwood, junger Patriot, wünscht dir einen wunderschönen guten M...« Aber das Zelt war noch geschlossen, und er verspürte ihretwegen wieder momentanen Zorn. Er unterdrückte ihn resolut. Schließlich konnte sie nicht immer auf seiner Wellenlänge sein. Das war alles. Wenn man das erst einmal erkannt und akzeptiert hatte, war man reif genug, eine erwachsene Beziehung aufzubauen. Nach den zermürbenden Erlebnissen im Tunnel hatte er das mit Rita versucht und fand, es war ihm ganz gut gelungen. Man mußte sich in ihre Lage hineinversetzen, darum ging es. Man mußte einsehen, daß sie viel älter und ihr Leben lang einen gewissen Stil gewohnt gewesen war. Natürlich fiel es ihr viel schwerer, sich an eine Welt anzupassen, die auf den Kopf gestellt war. Die Tabletten zum Beispiel. Er war nicht gerade erfreut gewesen, als er feststellen mußte, daß sie ihre ganze verdammte Apotheke in einem Marmeladenglas mit Schraubverschluss mitgenommen hatte. Gelb Jacken, Quaalud, Darvon und ein Zeug, das sie »meine kleinen Muntermacher« nannte. Die kleinen Muntermacher waren rot. Drei von denen mit einem Schuß Tequila, und man zappelte den ganzen lieben Tag herum. Ihm gefiel das nicht, denn die Schlaff- und Muntermacher würden letztendlich dazu führen, daß man, wie Drogensüchtige das zu nennen pflegten, einen Affen auf dem Rücken hatte. Einen Affen, der schätzungsweise so groß wie King Kong war. Und es gefiel ihm nicht, weil es, wenn man der Sache auf den Grund ging, ja gewissermaßen ein Schlag ins Gesicht für ihn war. Was hatte sie für einen Grund, so nervös zu sein? Warum konnte sie nachts nicht einschlafen? Ihm machte das eindeutig keine Probleme. Wieso gab er denn nicht auf sie acht? Aber klar gab er auf sie acht. Er ging zum Zelt zurück, zögerte aber einen Augenblick. Vielleicht sollte er sie schlafen lassen. Vielleicht war sie erschöpft. Aber... Er sah nach unten und betrachtete Schwanzi, und Schwanzi wollte sie eigentlich nicht schlafen lassen. Das olle Star-Speckled Banana zu singen hatte ihn regelrecht geil gemacht. Also... »Rita?« Nach der frischen Morgenluft draußen traf es ihn wie ein Schlag; er mußte vorhin noch halb geschlafen haben, sonst hätte er es gleich gemerkt. Der Geruch war nicht übermäßig stark, weil das Zelt gut belüftet war, aber er war unverkennbar: der süßsaure Geruch von Erbrochenem und Krankheit. »Rita?« Seine Unruhe wuchs, als er sie so reglos im Schlafsack liegen sah, aus dem nur der Haarschopf herausschaute. Er kroch auf Händen und Knien zu ihr hinüber, und der Geruch von Erbrochenem war jetzt so stark, daß sich sein Magen zusammenkrampfte. »Rita, ist alles in Ordnung? Wach auf, Rita!« Keine Bewegung. Er rollte sie herum und sah, daß der Reißverschluß des Schlafsacks halb aufgezogen war, als hätte sie nachts versucht herauszukriechen, vielleicht weil sie wußte, was ihr geschah; als hätte sie es versucht, aber es sei ihr nicht gelungen, und er hatte die ganze Zeit friedlich neben ihr geschlafen, Mr. Rocky Mountain High persönlich. Als er sie herumrollte, fiel ihr eine ihrer Tablettenflaschen aus der Hand, ihre Augen waren stumpfe, wolkige Murmeln hinter halb geschlossenen Lidern, und ihr Mund war voll grüner Kotze, an der sie erstickt war. Er sah ihr, wie ihm schien, lange in das tote Gesicht. Sie waren fast Nase an Nase, das Zelt schien immer heißer zu werden, so heiß wie ein Dachboden an einem Augustnachmittag, bevor die kühlenden Gewitterschauer einsetzen. Sein Kopf schien immer mehr anzuschwellen. Ihr ganzer Mund war voll grüner Scheiße, und er konnte den Blick kaum abwenden. Die Frage, die in seinem Kopf kreiste wie das mechanische Kaninchen um eine Hunderennbahn, war: Wie lange habe ich hier neben ihr geschlafen, als sie schon tot war? Ekelhaft, Mann. Eeee-kelhaft. Seine Erstarrung löste sich, er kroch aus dem Zelt und schürfte sich beide Knie auf, als er von der Zeltbahn auf den steinigen Boden kam. Er dachte schon, er müßte selber kotzen, und kämpfte dagegen an, er haßte Kotzen mehr als alles andere, und dann dachte er: Mann, ich bin doch reingegangen, um sie zu FICKEN! Und da kam ihm alles auf einmal hoch, und er kroch von der dampfenden Schweinerei weg und weinte und ekelte sich vor dem sauren Geschmack in Mund und Nase. Er dachte fast den ganzen Morgen an sie. Er empfand eine gewisse Erleichterung darüber, daß sie gestorben war - eine sehr große sogar. Das würde er keinem Menschen je erzählen. Es bestätigte alles, was seine Mutter über ihn gesagt hatte und Wayne Stukey und sogar die dumme Pute mit ihrer Wohnung in der Nähe der Fordham University. Larry Underwood, der Blitzer von Fordham. »Ich bin kein netter Kerl«, sagte er laut, und als er es gesagt hatte, ging es ihm besser. Es wurde jetzt leichter, die Wahrheit zu sagen, und die Wahrheit zu sagen, das war das allerwichtigste. Er hatte sich im Hinterstübchen seines Unterbewußtseins, wo die Mächte am Drücker schalteten und walteten, fest vorgenommen, auf sie achtzugeben. Vielleicht war er kein netter Kerl, aber er war auch kein Mörder, und was er im Tunnel getan hatte, kam einem versuchten Mord schon ziemlich nahe. Er wollte auf sie achtgeben, er wollte sie nicht mehr anschreien, ganz gleich, wie sehr er sich über sie ärgerte - zum Beispiel, wenn sie hinter ihm auf die Harley stieg und ihn dabei mit ihrem patentierten Kansas-City-Griff umklammerte -, er wollte nicht mehr wütend werden, wie sehr sie ihn auch aufhielt und wie dumm sie sich auch manchmal anstellte. Am Vorabend hatte sie eine Dose Erbsen in die Glut des Lagerfeuers gestellt, ohne ein Loch in den Deckel zu machen, und als er die Dose aus dem Feuer angelte, war sie schwarz und ausgeheult und wäre drei Sekunden später hochgegangen wie eine Bombe; sie hätten blind werden können, wenn ihnen die Blechfetzen in die Augen geflogen wären. Hatte er ihr Vorwürfe gemacht ? Nein. Hatte er nicht. Er hatte einen Witz gemacht und die Sache auf sich beruhen lassen. Genau wie mit den Tabletten. Die Tabletten waren ihre Sache, dachte er sich. Vielleicht hättest du mit ihr darüber reden sollen. Vielleicht hat sie das gewollt. »Es war schließlich kein romantisches Rendezvous zum Kennenlernen«, sagte er laut. Es ging ums Überleben. Aber sie hatte es nicht lassen können. Vielleicht hatte sie es gewußt, und zwar seit dem Tag, im Central Park, als sie mit einer billigen Zweiunddreißiger, die ihr in der Hand hätte hochgehen können, achtlos auf einen Zedrachbaum geschossen hatte. Vielleicht... »Vielleicht Scheiße!« sagte Larry wütend. Er hob die Feldflasche zum Mund,; aber sie war leer, und er hatte noch immer diesen schleimigen Geschmack im Mund. Vielleicht gab es überall im Land Leute wie sie. Die Grippe verschonte nicht nur die Überlebenstypen, warum sollte sie auch? Vielleicht gab es in diesem Augenblick irgendwo im Land einen jungen Mann in perfekter körperlicher Verfassung, der immun gegen die Grippe war, aber gerade an einer Mandelentzündung starb. Wie Henny Youngman vielleicht gesagt haben würde, keine Bange, Leute, ich hab' 'ne ganze Million davon. Larry saß an einem gepflasterten, malerischen Aussichtspunkt direkt am Highway. Der Blick über Vermont, das sich im goldenen Morgendunst nach New York hin erstreckte, war atemberaubend. Ein Schild wies darauf hin, daß dies der Zwölf-Meilen-Punkt war, aber Larry glaubte, viel weiter als zwölf Meilen sehen zu können. An einem klaren Tag konnte man unendlich weit sehen. Am entgegengesetzten Ende des Aussichtspunkts gab es eine kniehohe, zementierte Steinmauer, davor ein paar zertrümmerte Flaschen Budweiser. Und ein gebrauchtes Kondom. Er vermutete, dass Schüler und Schülerinnen der High School bei Dämmerung hier heraufkamen und zusahen, wie unten in der Stadt die Lichter ausgingen. Erst genossen sie die Aussicht, dann vögelten sie. BFD, wie sie zu sagen pflegten: Big fucking deal. Und warum ging es ihm dann so beschissen? Er sagte die Wahrheit, oder nicht? Ja. Und das schlimmste an der Wahrheit war, daß er Erleichterung empfand, richtig? Daß er den Klotz am Bein losgeworden war. Nein, das schlimmste ist, allein zu sein. Einsam zu sein.  Abgedroschen, aber wahr. Er brauchte jemanden, der mit ihm die Aussicht bewunderte. Jemanden, zu dem er sich umdrehen und, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben, sagen konnte: An einem klaren Tag kann man unendlich weit sehen. Und seine einzige Begleiterin lag mit dem Mund voll Kotze anderthalb Meilen weiter in einem Zelt. Wurde steif. Zog Fliegen an. Larry legte den Kopf auf die Knie und machte die Augen zu. Er nahm sich vor, nicht zu weinen. Weinen haßte er fast genauso sehr wie Kotzen. Und am Ende kniff er. Er konnte sie nicht beerdigen. Er dachte an möglichst scheußliche Dinge - an Maden und Käfer und an die Waldmurmeltiere, die ihre Leiche wittern und kommen würden, um an ihr zu knabbern; wie unfair es war, wenn ein Mensch einen anderen einfach liegen läßt wie ein Stück zerknülltes Papier oder eine weggeworfene Pepsi-Dose. Irgendwie kam es ihm auch vage illegal vor, sie zu beerdigen, aber um die Wahrheit zu sagen (und jetzt sagte er wohl doch die Wahrheit), das war nur eine billige Ausrede. Er würde es fertigbringen, nach Bennington zu gehen und in das »allzeit beliebte« Eisenwarengeschäft einzubrechen, um einen Spaten und eine Spitzhacke zu besorgen; er würde es auch fertigbringen, hierher zurückzukommen, wo es so still und schön war, um am »allzeit beliebten« Zwölf-MeilenPunkt das »allzeit beliebte« Grab auszuheben. Aber in das Zelt zu gehen (das jetzt wahrscheinlich genauso roch wie die öffentliche Toilette an der Transverse Number One im Central Park, wo die »allzeit beliebte« Süßigkeit bis in alle Ewigkeit sitzen würde), den Schlafsack ganz zu öffnen, die steife, schwere Leiche herauszuziehen, sie unter den Achselhöhlen zu packen und bis zur Grube zu zerren und dann Erde auf sie zu schaufeln, die auf ihre weißen Schenkel mit den dunklen Krampfadern fiel und in ihrem Haar hängenblieb... Hm-hmm, Kumpel. Werd' ich's dann doch lieber aussitzen. Bin ich eben feige, na und. Ätsch-ätsch-ätsch. Er ging zu der Stelle zurück, wo das Zelt aufgebaut war, und schlug die Klappe zurück. Er suchte einen langen Stock. Dann holte er einmal tief frische Luft, hielt den Atem an und fischte seine Kleidung mit dem Stock heraus. Wich damit zurück, zog sie an. Holte noch einmal tief Luft, hielt den Atem an und fischte mit dem Stock seine Stiefel heraus. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und zog auch sie an. Der Geruch saß in seiner Kleidung. »Scheiße«, flüsterte er. Er sah sie halb im Schlafsack, die steife Hand, die noch die Tablettenflasche hielt, die nicht mehr da war. Ihre halbgeöffneten Augen schienen ihn vorwurfsvoll anzusehen. Er mußte wieder an den Tunnel und seine Vision von dem wandelnden Toten denken. Er nahm rasch den Stock und machte die Zeltklappe zu. Aber er hatte immer noch ihren Geruch an sich. Also machte er doch noch Halt in Bennington, zog in Bennington's Men Shop seine alte Kleidung aus und holte sich neue, dreimal Sachen zum Wechseln, vier Paar Socken und Shorts. Er fand sogar ein neues Paar Stiefel. Als er sich im dreiteiligen Spiegel betrachtete, sah er hinter sich den leeren Laden und draußen die Harley, die aufdringlich am Bordstein lehnte. »Scharfe Sachen«, murmelte er. »Geil, geil.« Aber es war niemand da, der seinen Geschmack bewundern konnte. Er verließ den Laden und ließ die Harley an. Er sollte eigentlich beim Eisenwarengeschäft anhalten, dachte er, und nachsehen, ob sie ein Zelt und einen neuen Schlafsack hatten, aber er wollte nur fort von Bennington. Er würde anderswo anhalten. Er blickte zu der Stelle zurück, wo das Land sanft anstieg, und sah, während er mit der Harley aus dem Ort fuhr, den Zwölf-Meilen-Punkt, aber nicht, wo sie das Zelt aufgeschlagen hatten. Das war auch am besten so, es war... Larry sah wieder auf die Straße, und Entsetzen schoß ihm den Hals hinunter. Ein International-Harvester-Kleintransporter mit Pferdeanhänger hatte einem Auto ausweichen wollen, dabei war der Pferdeanhänger umgestürzt. Er hatte nicht aufgepaßt, und jetzt fuhr er mit der Harley direkt darauf zu. Er riß die Maschine nach rechts, sein neuer Stiefel schleifte über die Straße, und er hatte es fast geschafft, aber die linke Fußraste verhakte sich an der hinteren Stoßstange des Hängers und riß das Motorrad unter ihm weg. Larry landete mit einem Aufprall, der jeden Knochen erschütterte, auf der Standspur. Die Harley tuckerte noch eine Weile und ging dann aus. »Alles in Ordnung?« fragte er laut. Gott sei Dank war er nur etwa zwanzig gefahren. Gott sei Dank war Rita nicht bei ihm, sie wäre vor Hysterie wieder ausgerastet. Allerdings hätte er auch nicht dort hoch gesehen, wenn Rita bei ihm gewesen wäre, er hätte ADWG - »auf den Weg geachtet«, für die Abkürzungsfetischisten unter euch. »Alles in Ordnung«, beantwortete er seine Frage, war aber nicht ganz sicher. Er richtete sich auf. Die Stille wurde ihm wieder bewußt; es war so still, daß man verrückt werden konnte, wenn man darüber nachdachte. Selbst Ritas Geschrei wäre in diesem Augenblick eine Wohltat gewesen. Plötzlich schienen überall Sterne hell aufzublitzen, und er glaubte voll Entsetzen, daß er das Bewußtsein verlieren würde. Er dachte: Ich bin verletzt. In einer Minute, wenn der Schock abgeklungen ist, werde ich es spüren. Ich habe schlimme Schnittwunden, oder so, und wer soll mir einen Druckverband anlegen? Aber als der Schwächeanfall vorbei war, sah er an sich hinab und stellte fest, daß ihm doch nichts weiter passiert war. Er hatte sich beide Hände aufgerissen, und seine neue Hose war am rechten Knie zerfetzt - auch das Knie war aufgeschlagen -, aber es waren alles nur Kratzer, und was war schon dabei, verdammt, jeder schmeißt mal sein Motorrad hin, irgendwann passiert das jedem. Aber er wußte genau, was los war. Er hätte mit dem Kopf unglücklich aufschlagen und sich den Schädel brechen können, und dann hätte er hier in der heißen Sonne gelegen, bis er gestorben wäre. Oder er hätte an seiner eigenen Kotze ersticken können, wie eine gewisse, inzwischen leider verschiedene Freundin von ihm. Er ging zitternd zur Harley hinüber und richtete sie auf. Sie schien nicht weiter beschädigt zu sein, sah aber jetzt anders aus. Vorher war sie nur eine Maschine gewesen, eine sehr schöne Maschine, die den doppelten Zweck erfüllte, daß sie ihn beförderte und er sich gleichzeitig wie James Dean oder wie Jack Nicholson in Hell's Angels on Wheels fühlen konnte. Aber jetzt schien das Chrom ihn anzugrinsen wie ein Jahrmarktsschreier, der ihn aufzufordern schien, doch raufzukommen und zu zeigen, ob er Manns genug war, das Monster mit den zwei Rädern zu reiten. Beim dritten Versuch sprang sie an, und er fuhr im Schrittempo aus Bennington hinaus. Er trug Ringe aus kaltem Schweiß an den Armen, und nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so sehnlich wie in diesem Augenblick gewünscht, ein menschliches Gesicht zu sehen. Aber an diesem Tag sah er keins mehr. Am Nachmittag fuhr er etwas schneller, brachte es aber nicht über sich, das Gas weiter aufzudrehen, sobald die Tachonadel bei zwanzig Meilen stand, nicht einmal, wenn er sehen konnte, daß die Straße vor ihm frei war. Am Stadtrand von Wilmington fand er ein Sport- und Motorradgeschäft, hielt an und holte sich dicke Handschuhe und einen Helm, aber nicht einmal damit fuhr er schneller als fünfundzwanzig. An unübersichtlichen Kurven bremste er so stark ab, daß er die große Maschine praktisch schob. Er sah förmlich vor Augen, wie er bewußtlos am Straßenrand lag und verblutete. Um fünf Uhr näherte er sich Brattleboro, und die Temperaturanzeige der Harley leuchtete rot auf. Larry hielt an und würgte sie mit gemischten Gefühlen von Erleichterung und Verdrossenheit ab. »Hättest auch schieben können«, sagte er. »Sie ist für sechzig Stundenmeilen gedacht, Dummkopf!« Er ließ sie stehen und ging zu Fuß in die Stadt, ohne zu wissen, ob er sie wieder holen würde. In dieser Nacht schlief er unter dem Dach des Musikpavillons im öffentlichen Stadtpark von Brattleboro. Er legte sich hin, sobald es dunkel geworden war, und schlief fast auf der Stelle ein. Einige Zeit später weckte ihn ein Geräusch, und er schrak hoch. Er sah auf die Uhr. Die dünnen Radiumlinien auf dem Zifferblatt zeigten 11:20 Uhr. Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah in die Dunkelheit, spürte den riesigen Musikpavillon ringsum und vermißte das kleine Zelt, das seine Körperwärme festgehalten hatte. Warm wie in einem hübschen kleinen Mutterleib aus Segeltuch. Falls da ein Geräusch gewesen war, war es jetzt nicht mehr da; sogar die Grillen waren verstummt. War das richtig? Konnte es richtig sein? »Ist jemand da?« rief Larry, und seine eigene Stimme machte ihm angst. Er griff nach der doppelläufigen 30er und konnte sie einen panischen Augenblick, der sich in die Länge zog, nicht finden. Als er sie hatte, betätigte er, ohne nachzudenken, den Abzug, wie ein im Meer Ertrinkender den Rettungsring drückt, den man ihm zuwirft. Wäre das Gewehr nicht gesichert gewesen, hätte er es abgefeuert. Wahrscheinlich gegen sich selbst. Etwas lauerte in der Stille. Vielleicht ein Mensch, vielleicht ein gefährliches Tier. Natürlich konnte auch ein Mensch gefährlich sein. Ein Mensch wie der, der den Monster-Schreier mit zahllosen Stichen ermordet hatte, oder wie John Bearsford Tipton, der ihm für seine Frau eine Million in bar geboten hatte. »Wer ist da?« Er hatte eine Taschenlampe im Rucksack, aber um danach zu suchen, hätte er das Gewehr loslassen müssen, das er über den Schoß gezogen hatte. Außerdem... wollte er wirklich sehen, wer es war? Und so saß er nur still da, wartete auf eine Bewegung oder eine Wiederholung des Geräuschs, das ihn geweckt hatte (war es ein Geräusch gewesen oder hatte er es nur geträumt?), und nach einer Weile nickte ihm erst der Kopf nach unten, dann döste er ein. Plötzlich riß er ruckartig den Kopf hoch, machte die Augen weit auf und spürte, wie sein Fleisch gegen die Knochen zu schrumpeln schien. Jetzt hatte er ein Geräusch gehört, und wenn die Nacht nicht bewölkt gewesen wäre, hätte der Mond, der beinahe voll war, ihm gezeigt... Aber er wollte es nicht sehen. Nein, er wollte es ganz eindeutig nicht sehen. Dennoch beugte er sich nach vorne und lauschte mit geneigtem Kopf den Geräuschen staubiger Stiefelabsätze, die sich auf dem Gehweg der Main Street in Brattleboro, Vermont, in westlicher Richtung von ihm entfernten und immer leiser wurden, bis sie in der allgemeinen Geräuschkulisse untergingen. Larry verspürte den plötzlichen, irren Impuls, aufzuspringen, den Schlafsack um die Knöchel hinunterrutschen zu lassen und zu schreien: Kommen Sie zurück, wer Sie auch sein mögen! Es ist mir gleich! Kommen Sie zurück! Aber er wollte eigentlich niemandem so einen Blankoscheck ausschreiben. Der Musikpavillon hätte seinen Ruf verstärkt - sein Flehen. Und was wäre, wenn die Stiefelschritte tatsächlich zurückkämen, in der Stille, in der nicht einmal Grillen zirpten, immer lauter würden? Statt aufzustehen, legte er sich wieder hin und rollte sich in Embryonalhaltung zusammen, ohne die Flinte loszulassen. Heute nacht mache ich kein Auge mehr zu, dachte er, aber schon nach drei Minuten war er wieder eingeschlafen und ganz sicher, daß er alles nur geträumt hatte. 42 Während Larry Underwood am 4. Juli nur einen Staat weiter mit dem Motorrad stürzte, saß Stuart Redman auf einem großen Stein am Straßenrand und verzehrte sein Frühstück. Er hörte Motorenlärm, der näher kam. Stu trank seine Dose Bier in einem Zug leer und faltete die Rolle mit den Ritz Crackers sorgfältig oben zu. Sein Gewehr lehnte neben ihm an dem Stein. Er nahm es auf, entsicherte es und stellte es wieder hin, ein wenig näher zur Hand. Dem Geräusch nach waren es leichte Motorräder. Zweihundertfünfziger? Bei der Stille ließ sich unmöglich abschätzen, wie weit sie noch entfernt waren. Zehn Meilen vielleicht, aber nur vielleicht. Zeit genug, noch eine Kleinigkeit zu essen, aber er wollte nicht. Inzwischen genoß er den Sonnenschein und freute sich darauf, Menschen zu begegnen. Seit er Glen Batemans Haus in Woodville verlassen hatte, war ihm keine Menschenseele begegnet. Er betrachtete sein Gewehr. Er hatte es entsichert, weil die Neuankömmlinge vielleicht wie Eider waren. Er ließ das Gewehr an den Stein gelehnt, weil er hoffte, daß sie wie Bateman sein würden - vielleicht nicht so pessimistisch, was die Zukunft anbetraf. Die Gesellschaft wird erstehen, hatte Bateman gesagt. Beachten Sie, daß ich nicht »neu« erstehen gesagt habe. Das wäre nicht angemessen. Es gibt verdammt wenig Neues unter den Menschen. Bateman selbst wollte nichts mit dem Wiederaufbau der Gesellschaft zu tun haben. Er schien durchaus zufrieden zu sein - jedenfalls vorläufig -, mit Kojak spazierenzugehen, seine Bilder zu malen, in seinem Garten herumzubasteln und über die soziologischen Folgen der beinahe völligen Ausrottung nachzudenken. Wenn Sie wieder herkommen und Ihr Angebot erneuern, mich »einzureihen«, Stu, werde ich wahrscheinlich einwilligen. Das ist der Fluch der Menschheit. Der Herdentrieb. Christus hätte sagen sollen: »Ja, wahrlich, wenn zwei oder drei von euch beisammen sind, wird irgendein anderer Typ fürchterlich eins auf die Rübe kriegen.« Soll ich Ihnen sagen, was uns die Soziologie über die menschliche Rasse lehrt? Ich fasse mich kurz. Zeigen Sie mir einen einzelnen Mann oder eine Frau, und Sie werden einen Heiligen oder eine Heilige sehen. Zeigen Sie mir zwei Menschen, und sie werden sich ineinander verlieben. Geben Sie mir drei, und sie werden das bezaubernde Ding erfinden, das wir » Gesellschaft« nennen. Geben Sie mir vier, und sie werden eine Pyramide bauen. Geben Sie mir fünf, und sie werden einen zum Paria stempeln. Geben Sie mir sechs, und sie werden das Vorurteil neu erfinden. Geben Sie mir sieben, und in sieben Jahren erfinden sie den Krieg neu. Der Mensch mag nach Gottes Ebenbild erschaffen worden sein, die menschliche Gesellschaft aber ganz sicherlich nach dem Ebenbild seines Gegenspielers, und sie will immer wieder nach Hause.  Stimmte das? Wenn es stimmte, dann mochte ihr Gott helfen. Stu hatte oft an alte Freunde und Bekannte gedacht. In der Erinnerung offenbarte sich eine gewisse Tendenz, ihre weniger liebenswerten Seiten herunterzuspielen oder ganz zu vergessen - Bill Hapscombs Angewohnheit, in der Nase zu bohren und den Popel an der Schuhsohle abzustreifen, Norm Bruetts übermäßige Strenge gegenüber seinen Kindern, Billy Vereckers unangenehme Methode, die Anzahl der Katzen in der Nähe seines Hauses dadurch zu reduzieren, daß er die dünnen Schädel der jungen Kätzchen mit den Absätzen seiner Range-Rider-Stiefel zertrat. Man wollte nur gute Erinnerungen. Der Jagdausflug im Morgengrauen in gesteppten Jacken und orangeroten Day -GloWesten. Die Pokerabende bei Ralph Hodges und Willy Craddocks Gejammer, daß er schon vier Dollar im Einsatz habe, obwohl er schon zwanzig gewonnen hatte. Wie sie einmal mit sechs oder sieben Mann Tony Leominsters Scout wieder auf die Straße geschoben hatten, mit dem er stockbesoffen in den Graben gefahren war. Tony war herumgetorkelt und hatte bei Gott und allen Heiligen geschworen, er habe nur einem Trupp illegaler mexikanischer Einwanderer ausweichen wollen. Herrgott, hatten sie gelacht. Chris Ortegas unendlich reicher Schatz an Minderheiten-Witzen. Der Abend im Puff von Huntsville, als sich Joe Bob Brentwood Filzläuse geholt hatte und jedem erzählen wollte, er hätte sie vom Sofa unten in der Halle und nicht von dem Mädchen im ersten Stock. Das waren verdammt schöne Zeiten gewesen. Nicht was diese vornehmen Leute mit ihren Nachtklubs und ausgefallenen Restaurants und Museen schön nennen würden, vielleicht aber trotzdem schöne Zeiten. Er dachte an das alles, es ging ihm immer wieder durch den Kopf, so wie ein alter Einsiedler mit fettigen, abgegriffenen Karten eine Patience nach der anderen legt. Am meisten wollte er menschliche Stimmen hören, jemanden kennenlernen, sich zu ihm umdrehen können und sagen: Hast du das gesehen?, wenn so etwas geschah wie der Meteoritenschwarm, den er gestern nacht gesehen hatte. Er war kein redseliger Mensch, aber auch nicht gern allein, noch nie gewesen. Er richtete sich ein wenig auf, als die Motorräder endlich um die Kurve gerauscht kamen, und sah, daß es zwei 250er Hondas waren, die von einem etwa achtzehnjährigen Jungen und einem hübschen Mädchen gefahren wurden, das wahrscheinlich etwas älter als der Junge war. Das Mädchen trug eine gelbe Bluse und hellblaue Levi's. Sie sahen ihn auf dem Stein sitzen, beide Hondas schlingerten ein wenig, als die Überraschung der Fahrer die Oberhand gewann. Der Junge klappte den Mund auf. Einen Augenblick war nicht sicher, ob sie anhalten oder einfach weiter nach Westen brausen würden. Stu hob eine Hand und rief mit freundlicher Stimme: »Hi!« Sein Herz schlug heftig in der Brust. Er wollte, daß sie anhielten. Sie hielten. Einen Moment wunderte er sich über die angespannte Haltung der beiden. Besonders der Junge sah aus, als wäre literweise Adrenalin in seinen Blutkreislauf geschüttet worden. Stu hatte natürlich sein Gewehr, aber er hielt es nicht in der Hand, und die beiden waren ebenfalls bewaffnet; er trug eine Pistole, und sie hatte eine kleine Jagdflinte umgehängt, wie eine Schauspielerin, die nicht sehr überzeugend Patty Hearst darzustellen versuchte. »Ich glaube, es ist in Ordnung, Harold«, sagte das Mädchen, aber der Junge, den sie mit Harold angeredet hatte, blieb auf dem Motorrad sitzen und betrachtete Stu mit einer Mischung aus Überraschung und Feindseligkeit. »Ich sagte, ich glaube...« fing sie wieder an. »Woher wollen wir das wissen?« fauchte Harold, der sie nicht aus den Augen ließ. »Nun, ich freue mich, Sie zu sehen, wenn Ihnen das hilft«, sagte Stu. »Und wenn ich Ihnen das nicht glaube?« forderte Harold ihn heraus, und Stu sah, daß er grün vor Angst war. Angst vor ihm und seiner Verantwortung für das Mädchen. »Dann weiß ich auch nicht.« Stu kletterte von seinem Stein hinunter. Harolds Hand fuhr zum Griff seiner Pistole. »Harold, laß das«, sagte das Mädchen. Dann schwieg sie, und eine Weile schienen sie alle nicht recht zu wissen, wie es weitergehen sollte - eine Anordnung von drei Punkten, die, wenn man sie miteinander verband, ein Dreieck bilden würden, dessen genaue Form noch nicht abzusehen war. »Ooooh«, sagte Frannie, als sie sich am Straßenrand auf ein moosbewachsenes Fleckchen unter einer Ulme niederließ. »Die Schwielen am Hintern werde ich nie wieder los, Harold.« Harold grunzte mürrisch. Sie wandte sich an Stu. »Sind Sie schon einmal hundertsiebzig Meilen auf einer Honda gefahren, Mr. Redman? Nicht zu empfehlen.« Stu lächelte. »Wohin fahren Sie?« »Was geht Sie das an?« fragte Harold grob. »Und was ist das für ein Benehmen?« fragte Frannie ihn. »Mr. Redman ist der erste Mensch, den wir gesehen haben, seit Gus Dinsmore gestorben ist. Ich meine, wir sind doch aufgebrochen, um Menschen zu finden!« »Er paßt eben auf Sie auf«, sagte Stu ruhig. Er pflückte einen Grashalm und nahm ihn in den Mund. »Ganz recht, so ist es«, sagte Harold, der keineswegs besänftigt war. »Ich dachte, jeder paßt auf den anderen auf«, sagte sie, und Harold wurde dunkelrot. Stu dachte: Geben Sie mir drei Menschen, und sie werden eine Gesellschaft bilden. Aber waren diese beiden die Richtigen für ihn? Das Mädchen gefiel ihm, aber der Junge kam ihm wie ein feiger Wichtigtuer vor. Und unter den richtigen - oder falschen - Umständen konnte ein feiger Wichtigtuer ein sehr gefährlicher Mann sein. »Wie du meinst«, sagte Harold. Er sah Stu drohend an und holte eine Packung Marlboro aus der Brusttasche. Er rauchte wie jemand, der es sich erst kürzlich angewöhnt hatte. Zum Beispiel vorgestern. »Wir fahren nach Stovington, Vermont«, sagte Frannie. »Zum Seuchenzentrum. Wir - was ist denn los, Mr. Redman?« Er war plötzlich blaß geworden, und der Grashalm, an dem er gekaut hatte, fiel ihm aus dem Mund. »Warum dorthin?« fragte Stu. »Weil es dort eine Abteilung gibt, wo ansteckende Krankheiten studiert werden«, sagte Harold von oben herab. »Ich habe mir gedacht, wenn es überhaupt noch eine Ordnung in diesem Land gibt und wenn es noch verantwortliche Leute gibt, die dieser jüngsten Geißel entgangen sind, dann werden sie wahrscheinlich in Stovington oder Atlanta sein, wo es ein ähnliches Institut gibt.« »Das stimmt«, sagte Frannie. Stu sagte: »Sie verschwenden Ihre Zeit.« Frannie sah ihn verblüfft an. Harold war empört; die Röte stieg ihm wieder aus dem Kragen. »Ich glaube kaum, daß Sie das beurteilen können, guter Mann.« »Ich glaube doch. Ich komme von dort.« Jetzt waren sie beide verblüfft. Verblüfft und erstaunt. »Sie kennen es?« fragte Frannie fassungslos. »Sie haben sich da umgesehen?« »Nein, ganz so war es nicht. Es...« »Sie sind ein Lügner!« Harolds Stimme war hoch und schrill geworden. Fran sah ein gefährliches Aufblitzen kalter Wut in Redmans Augen, dann waren sie wieder braun und freundlich. »Nein. Bin ich nicht.« »Das sind Sie doch!« »Halt den Mund, Harold!« Harold sah sie gekränkt an. »Aber Frannie, wie kannst du nur glauben...« »Und wie kannst du so unhöflich und feindselig sein?« fragte sie aufbrausend. »Willst du dir nicht wenigstens anhören, was er zu sagen hat, Harold?« »Ich traue ihm nicht.« Recht und billig, dachte Stu, damit sind wir quitt. »Wie kannst du einem Menschen nicht trauen, dem du eben erst begegnet bist? Wirklich, Harold, du bist ekelhaft.« »Ich will Ihnen erzählen, warum ich das weiß«, sagte Stu gelassen. Er gab ihnen eine Kurzfassung der Geschichte, die damit anfing, dass Campion Haps Zapfsäulen umgemäht hatte. Er schilderte seine Flucht aus Stovington vor einer Woche. Harold betrachtete mißmutig seine Hände. Er hatte ein wenig Moos ausgerissen, das er jetzt zerkrümelte. Aber das Gesicht des Mädchens zeigte grenzenlose Enttäuschung, und sie tat Stu leid. Sie war mit diesem Jungen zusammen losgefahren (der, das mußte man ihm lassen, eine gute Idee gehabt hatte) und hatte verzweifelt gehofft, irgendwo noch etwas vom alten Lauf der Dinge vorzufinden. Nun war sie enttäuscht. Bitter enttäuscht, wie man ihr deutlich ansah. »Atlanta auch? Die Seuche hat beide Zentren erwischt?« fragte sie. »Ja«, sagte Stu, und sie brach in Tränen aus. Er hätte sie gern getröstet, aber das hätte der Junge nicht geduldet. Harold sah verstört zu Fran und betrachtete dann das Moos an seinen Ärmeln. Stu gab ihr sein Taschentuch. Sie dankte ihm zerstreut, ohne ihn anzusehen. Harold starrte Stu wieder wütend an, die Blicke eines trotzigen kleinen Jungen, der die ganze Plätzchendose für sich allein haben will. Wird der überrascht sein, dachte Stu, wenn er feststellt, daß ein Mädchen keine Plätzchendose ist. Als ihr Weinen zu Schniefen geworden war, sagte sie: »Ich glaube, Harold und ich müssen uns bei Ihnen bedanken. Auf jeden Fall haben Sie uns eine lange Fahrt erspart, an deren Ende eine Enttäuschung gewartet hätte.« »Soll das heißen, daß du ihm glaubst? Einfach so? Er erzählt dir eine irre Geschichte, und du... du kaufst sie ihm einfach ab?« »Harold, warum sollte er lügen. Was hätte er davon?« »Weißt du, was er im Sinn hat?« fragte Harold brutal. »Vielleicht Mord. Oder Vergewaltigung.« »Ich selber halte nichts von Vergewaltigung«, sagte Stu freundlich. »Davon verstehen Sie vielleicht mehr als ich.« »Schluß jetzt!« sagte Fran. »Harold, würdest du bitte versuchen, nicht so abscheulich zu sein?« »Abscheulich?« brüllte Harold. »Ich versuche, auf dich aufzupassen - auf uns -, und das soll abscheulich sein?« »Sehen Sie mal«, sagte Stu und schob den Ärmel hoch. In seiner Armbeuge waren mehrere heilende Einstiche und die letzten Reste eines blauen Flecks zu sehen. »Sie haben mir alles mögliche injiziert.« »Vielleicht sind Sie ein Junkie«, sagte Harold. Wortlos krempelte Stu den Ärmel wieder herunter. Es ging natürlich um das Mädchen. Er hatte ihr gegenüber eine Art Besitzdenken entwickelt. Nun, einige Mädchen konnte man besitzen, andere nicht. Dieses Mädchen schien zur letzteren Sorte zu gehören. Sie war gross und hübsch und wirkte sehr frisch. Ihr dunkles Haar und die dunklen Augen unterstrichen einen Ausdruck, den man für Hilflosigkeit hätte halten können. Man übersah nur allzu leicht die Linie zwischen ihren Augenbrauen (die Ich-will-Linie, hatte Stus Mutter sie genannt), die so deutlich hervortrat, wenn sie sich aufregte, ihre geschickten Handbewegungen und selbst die Art, wie sie das Haar aus der Stirn zurückwarf. »Und was machen wir jetzt?« fragte sie und ging gar nicht auf Harolds letzten Beitrag zur Diskussion ein. »Auf jeden Fall weiterfahren«, sagte Harold, und als sie ihn mit dieser steilen Falte zwischen den Brauen ansah, fügte er hastig hinzu: »Irgendwohin müssen wir ja fahren. Wahrscheinlich sagt er die Wahrheit, aber das könnten wir prüfen.Und dann überlegen wir uns, was wir tun wollen.« Fran sah Stu mit einem >Ich-will-Ihre-Gefühle-nicht-verletzen-aberPiano< Smith war vor meiner Zeit.« Jahre später hatte Johnny Rivers einen von Hueys Songs neu aufgenommen, »Rockin Pneumonia and the Boogie Woogie Flu«. Larry Underwood konnte sich noch gut daran erinnern und fand es der Situation sehr angemessen. Der gute alte Johnny Rivers. Der gute alte »Piano« Smith. »Scheiß drauf«, bemerkte Larry noch einmal. Er sah schrecklich aus - ein bleiches, ausgezehrtes Phantom, das über einen Highway in Neuengland stolperte. »Es leben die Sechziger.« Ja, die Sechziger, das waren noch Zeiten. Mitte der Sechziger, Ende der Sechziger, Flower Power. Gettin clean for Gene. Andy Warhol mit seiner Brille mit rosa Gestell und seinen dummen Brillo-Kartons. Velvet Underground. The Return of the Creature from Yorba Linda. Norman Spinrad, Norman Mailer, Norman Thomas, Norman Rockwell und der gute alte Name Norman Bates von Bates Motel, hihi-hi. Dylan brach sich das Genick. Barry McGuire krächzte »The Eye of Destruction«. Diana Ross hob das Bewußtsein aller weißen Jugendlichen in Amerika. Die vielen tollen Gruppen, dachte Larry benommen, gebt mir die Sechziger und schiebt euch die Achtziger in den Arsch. Wenn es um Rock' n' Roll ging, waren die sechziger Jahre das letzte Hurra der Goldenen Horde gewesen. Cream. Rascals. Spoonful. Airplane mit Grace Slick als Sängerin, Norman Mailer an der Leadgitarre und der gute alte Norman Bates am Schlagzeug. Beatles. Who. Dead... Er stürzte und schlug mit dem Kopf auf. Die Welt schwamm schwarz davon und kam in hellen Wellen zurück. Er strich sich mit der Hand über die Schläfe und sah einen dünnen Blutfilm daran. Spielte keine Rolle. Scheiß drauf, wie sie in den fernen, legendären Sechzigern zu sagen pflegten. Was waren schon ein Sturz und eine harmlose Kopfverletzung, wenn er daran dachte, daß er seit einer Woche kaum geschlafen hatte, immer wieder aus Alpträumen aufgewacht war und es schon als ruhige Nacht betrachtete, wenn ihm kein Schrei über die Lippen kam. Wenn man wirklich laut schrie und davon aufwachte, machte man sich selbst noch viel mehr Angst. Träume vom Lincoln Tunnel. Jemand war hinter ihm her, aber in den Träumen war es nicht Rita. Es war der Teufel, und er schlich sich mit einem starren, dunklen Grinsen im Gesicht an Larry heran. Der schwarze Mann war nicht der wandelnde Tote; er war schlimmer als der wandelnde Tote. Larry lief und empfand dabei die langsame, zähe Panik von Alpträumen, stolperte über Leichen, die er nicht sah, wußte aber, daß sie ihn mit den glasigen Augen ausgestopfter Tiere aus den Grüften ihrer Autos anstarrten, er lief, aber welchen Sinn hatte es, zu laufen, wo doch der schwarze Teufel, der schwarze Zauberer, mit Augen wie Infrarotgläsern in der Dunkelheit sehen konnte? Und nach einer Weile gurrte der dunkle Mann ihm lockend zu: Komm Laarry, komm doch, gemeinsam schaffen wir eeees. Laaaarry... Er spürte den Atem des schwarzen Mannes an der Schulter, und dann kämpfte er sich stets aus dem Schlaf hoch, versuchte, vor dem Schlaf zu fliehen, und der Schrei blieb ihm im Hals stecken wie ein heißer Knochen oder kam ihm tatsächlich über die Lippen - laut genug, um Tote zu wecken. Tagsüber verschwand die Vision des dunklen Mannes. Der dunkle Mann arbeitete ausschließlich in Nachtschicht. Tagsüber machte Larry die große Einsamkeit zu schaffen und fraß sich mit den scharfen, spitzen Zähnen eines unermüdlichen Nagetiers in sein Gehirn - eine Ratte oder vielleicht ein Wiesel. Tagsüber waren seine Gedanken bei Rita. Lovely Rita, Motorradbraut. Immer wieder drehte er sie im Geiste herum, sah die verkniffenen Augen, die Augen eines Tieres, das überrascht und unter Schmerzen gestorben war, und den Mund, den er geküßt hatte und der jetzt voll abgestandener grüner Kotze war. Sie war so friedlich gestorben, in der Nacht, im selben verdammten Schlafsack, und jetzt war er am... Tja, am Durchdrehen. Das war es doch, oder? Das geschah mit ihm. Er drehte durch. »Durchdrehen«, krächzte er. »Du lieber Himmel, ich werd' bekloppt.« Ein Teil von ihm, der sich noch einen gewissen Rest Vernunft erhalten hatte, bestätigte, daß das zutreffen konnte, aber momentan litt er lediglich unter den Folgen der Hitze. Nach Ritas Tod hatte er das Motorrad nicht mehr fahren können. Es war einfach unmöglich gewesen; wie eine geistige Sperre. Er sah immer wieder sein Blut über den Highway verschmiert. Darum hatte er die Maschine schließlich stehen lassen. Seither ging er zu Fuß - wie lange? Vier Tage? Acht? Neun? Er wußte es nicht. Es hatte seit zehn Uhr heute morgen schon um die dreißig Grad, jetzt war es fast vier, die Sonne war direkt hinter ihm, und er hatte keinen Hut auf. Er wußte nicht mehr, vor wie vielen Tagen er das Motorrad zurückgelassen hatte. Nicht gestern und wahrscheinlich auch nicht vorgestern (vielleicht, aber wahrscheinlich nicht), aber was spielte das schon für eine Rolle? Er war abgestiegen, hatte den Gang eingelegt, das Gas aufgedreht und die Kupplung losgelassen. Die Maschine hatte sich wie ein Derwisch aus seinen zitternden, kranken Händen gerissen und war irgendwo östlich von Concord bockend und sich aufbäumend in den Straßengraben der US 9 gerast. Er glaubte, der Name der Stadt, in der er sein Motorrad ermordet hatte, war Gossville gewesen, aber auch das spielte keine sonderliche Rolle. Tatsache war, das Motorrad hatte ihm nichts mehr genützt. Er hatte nicht mehr gewagt, schneller als fünfzehn Meilen die Stunde zu fahren, und selbst bei fünfzehn hatte er alptraumhafte Visionen gehabt, wie er über die Lenkstange geschleudert wurde und sich den Schädel brach oder um eine unübersichtliche Kurve fuhr, gegen einen umgestürzten LKW prallte und in einem Feuerball explodierte. Und nach einer Weile war das kotzbeschissene Warnlicht aufgeleuchtet: Mehr überhitzt, logisch, und ihm war fast gewesen, als hätte er das Wort FEIGLING in kleinen Buchstaben über der kleinen roten Plastikbirne lesen können - kein Witz. Hatte es Zeiten gegeben, als er ein Motorrad nicht nur als gegeben betrachtet, sondern sogar Spaß daran gehabt hatte, am Gefühl der Geschwindigkeit, wenn einem der Wind ins Gesicht rauschte und der Asphalt knappe zehn Zentimeter unter den Fußstützen dahinraste? Ja. Als Rita bei ihm gewesen war, bevor Rita sich in einen Mund voll grüner Kotze und ein paar Schlitzaugen verwandelt hatte, da hatte es ihm Spaß gemacht. Er hatte das Motorrad über die Böschung in den unkrautüberwucherten Straßengraben rollen lassen und es hinterher angestarrt, von einer Art argwöhnischem Entsetzen erfüllt, als könnte das Ding irgendwie auferstehen und ihn zerschmettern. Komm schon, hatte er gedacht, komm schon und stell dich, Dreckstück. Aber das Motorrad gehorchte lange Zeit nicht. Es wütete und tobte lange Zeit hilflos unten im Straßengraben, das Hinterrad drehte sich vergebens, die gierige Kette verschlang das Laub des vergangenen Herbstes und spie braunen, bitter riechenden Staub aus. Blauer Rauch quoll aus dem verchromten Auspuffrohr. Schon damals war er so weit hinüber gewesen, daß er dachte, das Motorrad könnte etwas Übernatürliches an sich haben, könnte sich plötzlich aufrichten, aus seinem Grab auferstehen und ihn verschlingen... entweder das, oder er würde eines Nachmittags über die Schulter blicken, weil er anschwellenden Motorenlärm hörte, und sein Motorrad sehen, sein verdammtes Motorrad, das nicht einfach seinen Geist aufgab und mit Anstand starb, sondern den Highway entlang direkt auf ihn zugerast kam, mit achtzig Meilen, und über die Lenkstange würde sich dieser dunkle Mann beugen, dieser Unerbittliche, und hinter ihm auf dem Sozius, mit im Wind flatternden weißen Seidenhosen, würde Rita Blakemoor sitzen - kreidebleiches Gesicht, Schlitzaugen, Haar so trocken und tot wie ein Maisfeld im Winter. Aber dann endlich keuchte und hustete das Motorrad; Fehlzündungen peitschten wie Gewehrschüsse, und als der Motor endlich verstummt war, hatte er die Maschine betrachtet und war traurig gewesen, als hätte er einen Teil von sich selbst getötet. Ohne das Motorrad konnte er unmöglich einen ernstzunehmenden Angriff gegen die Stille unternehmen, und diese Stille war in gewisser Weise schlimmer als seine Angst vor dem Sterben oder, bei einem Unfall ernsthaft verletzt zu werden. Seither war er zu Fuß gegangen. Er war durch mehrere Kleinstädte entlang der Route 9 gekommen, in denen es Motorradgeschäfte gab und Vorführmodelle, bei denen die Schlüssel im Schloß steckten, aber wenn er sie zu lange betrachtete, tauchten die Visionen, wie er selbst in einer Blutlache am Straßenrand lag, in grellen, überzeichneten Technicolor-Farben vor seinem geistigen Auge auf, wie etwas aus einem jener gräßlichen, aber doch irgendwie faszinierenden HorrorFilme von Charles Band, in denen immerzu Menschen unter den Rädern riesiger Trucks starben oder aber als Opfer großer, namenloser Käfer, die in ihren warmen Eingeweiden ausgeschlüpft und gewachsen waren, bis sie sich schließlich in einem ekelerregenden Umherspritzen von Blut und Fleisch ins Freie fraßen. Und danach war er jedesmal weitergegangen und hatte blass und zitternd die Stille ertragen. Er war mit kleinen Schweißperlen auf Oberlippe und Schläfen weitergegangen. Er hatte abgenommen - na und? Er schritt den ganzen Tag aus, jeden Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Er schlief nicht. Die Alpträume weckten ihn um vier; dann machte er seine Coleman-Lampe an, kauerte in ihrem Schein und wartete darauf, bis die Sonne aufgegangen war, damit er sich traute, weiterzuziehen. Er lief, bis es so dunkel war, daß man fast nichts mehr sehen konnte, und dann schlug er sein Lager mit der hastigen, verstohlenen Schnelligkeit eines geflohenen Sträflings auf. Wenn das Lager bereitet war, lag er bis spät in die Nacht wach und kam sich wie ein Mann vor, durch dessen Körper schätzungsweise zwei Gramm Kokain jagten. O Baby, shake, rattle and roll. Und wie ein Koksabhängiger, aß er auch kaum etwas; er hatte nie Hunger. Kokain steigert den Appetit nicht und Entsetzen auch nicht. Larry hatte seit der lange zurückliegenden Party in Kalifornien kein Koks mehr angerührt, aber Entsetzen verspürte er rund um die Uhr. Wenn ein Vogel im Wald krächzte, zuckte er zusammen. Wenn er den Todesschrei eines kleinen Tieres hörte, das Opfer eines größeren wurde, fuhr er jedesmal fast aus der Haut. Er war dünn geworden, dann mager, dann hager. Jetzt saß er auf einem metaphorischen (oder metabolischen) Zaun zwischen hager und ausgezehrt. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, der. sogar recht eindrucksvoll aussah, kräftig rot-golden, etwa zwei Schattierungen heller als sein Haar. Seine Augen lagen tief in den Höhlen; sie spähten daraus hervor wie kleine, verzweifelte Tiere, die in zwei nebeneinanderliegenden Schlangengruben gefangen waren. »Durchdrehen«, stöhnte er wieder. Die gebrochene Verzweiflung seines trockenen Winseins entsetzte ihn. War es so schlimm geworden? Einst hatte es einen Larry Underwood mit einem bescheidenen Single-Hit gegeben, der Visionen hatte, zum Elton John seiner Zeit zu werden... meine Güte, wie Jerry Garcia darüber lachen würde... und dieser Mann war jetzt in das gebrochene Ding verwandelt worden, das irgendwo im südöstlichen New Hampshire über den schwarzen Asphalt der Route 9 kroch, ja, kroch, crawling kingsnake, das war er. Jener andere Larry Underwood hatte ganz sicher keine Ähnlichkeit mit diesem kriechenden Hosenscheißer... diesem... Er versuchte aufzustehen, konnte es aber nicht. »Mann, ist das 'ne lächerliche Scheiße«, sagte er halb lachend und halb weinend. Auf einem Hügel auf der anderen Straßenseite, zweihundert Meter entfernt, lag ein großes weißes Farmhaus im Neuengland-Stil, einer wunderschönen Fata Morgana gleich. Es hatte grüne Läden, grüne Verzierungen und ein grünes Schindeldach. Davor befand sich ein grüner Rasen, der so allmählich ungepflegt auszusehen anfing. Am Ende des Rasens verlief ein kleiner Wassergraben; er konnte ihn gurgeln und blubbern hören, ein bezaubernder Laut. Daneben verlief mäanderförmig eine Steinmauer, die wahrscheinlich die Grundstücksgrenze markierte; in Abständen lehnten sich große, schattenspendende Ulmen über diese Mauer. Er würde seinen weltberühmten Crawling-Hosenscheißer-Jive dort hinüber machen und eine Weile im Schatten sitzen, ja, das würde er. Und wenn es ihm etwas besser ging... ganz allgemein... würde er aufstehen, zum Bach gehen, trinken und sich waschen. Wahrscheinlich stank er. Aber wen störte das? Wer konnte ihn riechen, wo Rita doch tot war? Lag sie immer noch dort oben im Zelt? fragte er sich zaghaft. Schwoll an? Beute für die Fliegen? Sah immer mehr wie die schwarzverfaulte Süßigkeit in der öffentlichen Toilette an der Transverse Number One aus? Himmel, Arsch, wo sollte sie denn sonst sein? In Palm Springs, mit Bob Hope Golf spielen? »Was für ein Scheißdreck«, flüsterte er und kroch über die Straße. Er war sicher, wenn er erst einmal im Schatten war, würde er auch aufstehen können, aber die Anstrengung schien zu groß zu sein. Immerhin brachte er noch genügend Energie auf, um argwöhnisch in die Richtung zu sehen, aus der er gekommen war, ob sein Motorrad nicht auf ihn zugerast kam. Im Schatten war es mindestens fünfzehn Grad kühler, und Larry stieß den Atem als langen Stoßseufzer der Freude und Erleichterung aus. Er griff sich mit der Hand in den Nacken, auf den die Sonne fast den ganzen Tag niedergebrannt hatte, und zog sie mit einem leisen Zischen des Schmerzes wieder weg. Sonnenbrand? Nehmen Sie Xylocaine. Und den ganzen anderen Pißkram. Holt die Kerle aus der heißen Sonne. Burn, baby, burn. Watts. Wißt ihr noch, Watts? Eins, zwei, drei, wieder mal wie einst im Mai. Die ganze Menschheit hatte sich verpißt. Kein Wunder, bei dieser Hitze. »Mann, bist du krank?« sagte er, stützte die Hand an die rauhe Rinde der Ulme und schloß die Augen. Sonnengesprenkelte Schatten riefen bewegliche Muster in Rot und Schwarz auf den Innenseiten seiner Lider hervor. Das Geräusch des blubbernden, gurgelnden Wassers war lieblich und einlullend. Noch eine Minute, dann würde er dort runtergehen, trinken und sich waschen. Nur noch eine Minute. Er döste ein. Die Minuten zogen dahin, und aus dem Dösen wurde der erste tiefe und traumlose Schlaf seit Tagen. Er hatte die Hände schlaff im Schoß liegen. Seine dünne Brust hob und senkte sich, durch den Bart sah sein Gesicht noch hagerer aus, das bekümmerte Gesicht eines einsamen Flüchtlings, der einem gräßlichen Gemetzel entkommen war, jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Nach und nach wurden die tiefen Furchen in seinem Gesicht weicher. Er sank in weiten Spiralen zu den tiefsten Ebenen der Bewußtlosigkeit hinab und ruhte dort aus wie ein kleines Flußlebewesen, das im kühlen Schlamm den Sommer überdauert. Die Sonne sank tiefer am Himmel. In der Nähe des Bachrands raschelte es in einem ausladenden Gebüsch - etwas bewegte sich verstohlen in den Zweigen, hielt inne, bewegte sich wieder. Nach einer Weile kam ein Junge heraus. Er war vielleicht dreizehn, vielleicht auch zehn und groß für sein Alter. Abgesehen von Fruit-of-the-Loom-Shorts war er nackt. Sein Körper war gleichmäßig mahagonifarben braungebrannt, abgesehen von einem verblüffend weißen Streifen gleich über dem Saum der Shorts. Seine Haut war von Moskitostichen und Insektenbissen verunziert, manche frisch, die meisten alt. Er hielt ein Schlachtermesser in der rechten Hand. Die Klinge war dreißig Zentimeter lang, die Schneide gezackt. Sie funkelte grell in der Sonne. Leise, in den Hüften leicht nach vorne gebeugt, näherte er sich der Ulme und der Mauer, bis er direkt hinter Larry stand. Seine Augen waren blaugrün, die Farbe von Meerwasser, und in den Augenwinkeln leicht hochgezogen, was seinem Gesicht einen chinesischen Einschlag gab. In den ausdruckslosen Augen lag eine verhaltene Wildheit. Er hob das Messer. Eine leise, aber bestimmte Frauenstimme sagte: »Nein.« Er drehte sich zu ihr um und lauschte mit gesenktem Kopf und immer noch erhobenem Messer. Seine Haltung war fragend und enttäuscht zugleich. »Wir beobachten nur und warten ab«, sagte die Frauenstimme. Der Junge machte eine Pause, sah vom Messer zu Larry und dann wieder zum Messer; auf seinem Gesicht lag ein seltsam sehnsüchtiger Ausdruck; dann wich er den Weg zurück, den er gekommen war. Larry schlief weiter. Als er aufwachte, stellte Larry als erstes fest, daß er sich gut fühlte. Als zweites, daß er Hunger hatte. Als drittes, daß die Sonne am falschen Ort stand; sie schien am Himmel rückwärts gewandert zu sein. Als viertes, daß er - bitte verzeihen Sie die Ausdrucksweise - pissen mußte wie ein Brauereipferd. Als er aufstand und beim Strecken das Knacken seiner Sehnen hörte, wurde ihm plötzlich klar, daß er nicht nur gedöst hatte; er hatte die ganze Nacht geschlafen. Er blickte auf die Uhr und sah, warum die Sonne falsch stand. Es war 9 Uhr 20 am Vormittag. Hunger. In dem großen weißen Haus mußte es Lebensmittel geben. Dosensuppe, vielleicht Corned Beef. Sein Magen knurrte. Bevor er dorthin ging, legte er die Kleidung ab, kniete am Bach nieder und spritzte sich Wasser über den Körper. Er stellte fest, wie mager er geworden war - so ging das nicht weiter. Er stand auf, trocknete sich mit seinem Hemd ab und zog die Hose wieder an. Ein paar Steine streckten die nassen, schwarzen Rücken aus dem Bach heraus, auf ihnen ging er zur anderen Uferseite. Dort blieb er plötzlich starr stehen und blickte zu dem dichten Gebüsch hinüber. Die Angst, die seit dem Aufwachen in ihm geschlummert hatte, flammte plötzlich auf wie ein Feuer explodierender Tannenzapfen und erlosch genau so schnell wieder. Es mußte ein Eichhörnchen oder Waldmurmeltier gewesen sein, vielleicht auch ein Fuchs. Kein Grund zur Panik. Er wandte sich beruhigt wieder ab und ging über den Rasen zu dem großen weißen Haus hinauf. Auf halbem Wege stieg ein Gedanke wie ein Luftbläschen zur Oberfläche seines Verstandes und zerplatzte. Es geschah ganz nebenbei, ohne Fanfarenstoß, aber er blieb dennoch vor Verblüffung wie angewurzelt stehen. Der Gedanke war: Warum bist du nicht mit einem Rad gefahren? Er stand auf halbem Weg zwischen Haus und Bach mitten auf dem Rasen, und es war so einfach, daß er es kaum fassen konnte. Er war zu Fuß gegangen, seit er die Harley stehengelassen hatte, hatte sich verausgabt und war zum Schluß mit einem Hitzschlag zusammengebrochen, oder mit etwas Ähnlichem; es spielte jetzt keine Rolle mehr. Er hätte radeln können, nicht schneller als im Schrittempo, wenn er wollte, und könnte schon lange an der Küste sein und sich ein Sommerhaus aussuchen und einrichten. Er fing an zu lachen, zuerst leise, weil es gespenstisch in der unendlichen Stille klang. Zu lachen, ohne daß jemand da war, der mitlachen konnte, war ein weiteres Zeichen dafür, daß man ohne Rückfahrkarte auf dem Weg in das legendäre Land Plemplem war. Aber das Lachen klang so natürlich und herzlich, so gottverdammt gesund und so sehr nach dem alten Larry Underwood, daß er es einfach herausließ. Er stemmte die Hände in die Hüften, legte den Kopf himmelwärts zurück und brüllte vor Lachen über seine eigene unfaßbare Dummheit. Hinter ihm, wo die Büsche am dichtesten standen, beobachteten blaugrüne Augen das alles, und sie beobachteten auch noch, wie Larry, immer noch lachend und kopfschüttelnd, die letzten Schritte zum Haus zurücklegte. Sie beobachteten, wie er auf die Veranda stieg und durch die Vordertür eintrat, die offen war. Sie beobachteten, wie er hineinging. Dann bewegten sich die Büsche und machten das raschelnde Geräusch, das Larry gehört, aber weiter nicht beachtet hatte. Der Junge zwängte sich heraus, immer noch nackt bis auf die Shorts, und schwang das Schlachtermesser. Eine andere Hand kam aus dem Gebüsch und streichelte seine Schulter. Der Junge blieb sofort stehen. Die Frau kam heraus - sie war groß und eindrucksvoll und geschmeidig; sie schien die Büsche kaum zu bewegen. Sie hatte dichtes schwarzes Haar mit Strähnen von reinstem Weiß; attraktives, aufregendes Haar. Es war zu einem Zopf geflochten, der ihr nach vorn über eine Schulter hing und erst dünner wurde, als er die Wölbung der Brust erreichte. Wenn man die Frau sah, fiel einem zuerst ihre Größe auf, dann richtete man den Blick auf das Haar und mochte glauben, seine rauhe und doch ölige Glätte mit den Augen fühlen zu können. Und wenn man ein Mann war, überlegte man vielleicht, wie ihr Haar wohl offen aussehen würde, befreit im Mondschein über ein Kissen ausgebreitet. Man fragte sich, wie sie im Bett sein würde. Aber sie hatte nie einen Mann in sich empfangen. Sie war rein. Sie wartete. Sie hatte Träume gehabt. Einmal, auf dem College, hatte sie das Ouija-Brett befragt. Und sie fragte sich nun wieder, ob es dieser Mann sein könnte. »Warte«, sagte sie zu dem Jungen. Er drehte sein verzweifeltes Gesicht zu dem ihren, ruhigen herum. Sie wußte, woran er dachte. »Dem Haus wird nichts geschehen. Warum sollte er dem Haus etwas tun, Joe?« Er wandte sich ab und blickte sehnsüchtig und besorgt zum Haus hinüber. »Wenn er geht, folgen wir ihm.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Doch; das müssen wir. Ich muß es.« Ja, sie verspürte das heftige Verlangen. Er war vielleicht nicht der Mann, aber selbst wenn er es nicht war - er war ein Glied in der Kette, der sie nun schon jahrelang folgte und die sich jetzt ihrem Ende näherte. Joe - das war nicht sein richtiger Name - hob wütend das Messer, als wollte er die Klinge in ihren Körper bohren. Sie machte keine Anstalten, sich zu wehren oder zu fliehen, und der Junge ließ es langsam wieder sinken. Er drehte sich zum Haus um und stieß das Messer ein paarmal in diese Richtung. »Nein, das wirst du nicht tun«, sagte sie. »Weil er ein menschliches Wesen ist, und er führt uns zu...« Sie verstummte. Anderen menschlichen Wesen, hatte sie sagen wollen. Er ist ein menschliches Wesen, und er führt uns zu anderen menschlichen Wesen. Aber sie war nicht sicher, ob sie das gemeint hatte, und selbst wenn, ob sie nur das gemeint hatte. Sie fühlte sich bereits hin und her gerissen und wünschte sich, sie hätte Larry nie gesehen. Sie versuchte wieder, den Jungen zu streicheln, aber er riß sich wütend los. Er sah zu dem großen weißen Haus, und seine Augen glühten vor Eifersucht. Nach einer Weile glitt er in das Gebüsch zurück und sah sie vorwurfsvoll an. Sie folgte ihm, um nach ihm zu sehen. Er legte sich hin, rollte sich in Embryonalhaltung zusammen und hielt das Messer vor der Brust. Er steckte den Daumen in den Mund und machte die Augen zu. Nadine ging an die Stelle, wo der Bach einen kleinen See bildete, und kniete sich hin. Sie trank aus hohlen Händen, dann setzte sie sich ins Gras, um das Haus zu beobachten. Ihre Augen waren ruhig, ihr Gesicht sah fast aus wie das einer Madonna von Raphael. Am Spätnachmittag, als Larry die Route 9 entlangfuhr - über eine Allee -, sah er plötzlich en großes, reflektierendes grünes Schild vor sich und hielt erstaunt an, um die Aufschrift zu lesen. Die besagte, daß hier das Ferienland Maine begann. Er konnte es kaum glauben; er mußte in seiner Verwirrung und Angst eine unglaubliche Strecke zurückgelegt haben. Oder ihm waren ein paar Tage abhanden gekommen. Er wollte gerade weiterfahren, als etwas - ein Geräusch in den Büschen oder vielleicht auch nur in seinem Kopf - ihn veranlaßte, sich umzudrehen. Da war nichts, nur die Route 9, die verlassen zurück nach New Hampshire führte. Seit seinem Besuch in dem großen weißen Haus, wo er zum Frühstück Cornflakes und schon etwas schale Ritz Cracker mit Käsekrem aus der Sprühdose gegessen hatte, war er das Gefühl nicht losgeworden, daß er beobachtet und verfolgt würde. Er hörte etwas, sah vielleicht sogar etwas aus den Augenwinkeln. Seine Beobachtungsgabe, die in dieser seltsamen Situation erst langsam zu vollem Leben erwachte, sprach schon auf optische oder akustische Reize an, die so unmerklich waren, daß man sie fast schon unterbewußt nennen konnte, und bestürmte seine Nervenenden mit solch winzigen Stimuli, daß er selbst bei gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit nur eine vage Ahnung hatte, ein Gefühl des »Beobachtet-Seins«. Dieses Gefühl machte ihm aber keine Angst wie die anderen. Es hatte nichts mit Halluzinationen oder einem Delirium gemein. Wenn ihn jemand beobachtete und sich nicht zeigte, dann wahrscheinlich nur deshalb, weil dieser Jemand Angst vor ihm hatte. Und wenn er Angst vor dem armen alten und abgemagerten Larry Underwood hatte, der inzwischen zu feige war, mit einem Motorrad schneller als fünfundzwanzig Meilen pro Stunde zu fahren, brauchte Larry sich höchstwahrscheinlich wegen dieses Jemands keine Sorgen zu machen. Jetzt stand er breitbeinig über dem Rad, das er vier Meilen östlich von dem großen weißen Haus aus einem Sportgeschäft geholt hatte, und rief deutlich: »Kommt doch raus, wenn jemand da ist! Ich tu' euch nichts.« Keine Antwort. Er stand auf der Straße vor dem Schild, das die Grenze markierte, beobachtete und wartete. Ein Vogel zwitscherte und flog dann über den Himmel. Sonst bewegte sich nichts. Nach einer Weile fuhr er weiter. Um sechs Uhr an diesem Abend erreichte er am Schnittpunkt von Route 9 und 4 die kleine Stadt North Berwick. Er beschloß, hier zu rasten und am nächsten Morgen zur Küste zu fahren. An der Kreuzung von 9 und 4 in North Berwick befand sich ein kleiner Laden. Dort holte er einen Sechserpack Bier aus der toten Kühltruhe. Black Label, eine Marke, die er noch nie probiert hatte - wahrscheinlich ein hiesiges Bier. Außerdem nahm er eine große Tüte Salz-und-Essig-Kartoffelchips von Humpty Dumpty und zwei Dosen Dinty Moore Beef Stew mit. Das alles verstaute er im Rucksack und ging zur Tür hinaus. Auf der anderen Straßenseite war ein Restaurant, und dann hatte er für einen Augenblick den Eindruck, zwei Schatten gesehen zu haben, die dahinter verschwanden. Vielleicht hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt, aber das glaubte er nicht. Er überlegte, ob er über den Highway laufen und versuchen sollte, die beiden aus ihrem Versteck zu scheuchen: Hopp-hopp, Kinder, Schluß jetzt, das Spiel ist vorbei. Er entschied sich dagegen. Er wußte, was Angst ist. Statt dessen schritt er ein Stück den Highway entlang und schob das Rad, an dessen Lenkstange der gefüllte Rucksack baumelte. Er sah ein großes Schulgebäude aus rotem Backstein, dahinter eine Baumgruppe. In diesem Hain sammelte er soviel Holz, daß er ein anständiges Feuer machen konnte, und entfachte es auf dem asphaltierten Spielplatz der Schule. In der Nähe war ein Bach, der an einer Textilfabrik vorbei und unter dem Highway hindurch floß. Dort kühlte er sein Bier und machte über dem Feuer eine Dose Rindfleisch warm. Er aß es aus seinem Pfadfindereßgeschirr und saß dabei auf einer Schaukel des Spielplatzes, schwang langsam hin und her, und sein Schatten fiel lang über die verblaßten Linien des Basketballfelds. Er überlegte sich, warum er so wenig Angst vor den Menschen hatte, die ihm folgten - denn mittlerweile war er sicher, daß ihm welche folgten; mindestens zwei, möglicherweise mehr. In diesem Zusammenhang dachte er auch darüber nach, warum er sich den ganzen Tag über so ausgezeichnet gefühlt hatte, als wäre während des langen Schlafs am gestrigen Nachmittag ein schwarzes Gift aus seinem Körper ausgeschieden worden. Hatte er einfach nur Ruhe gebraucht? Nichts weiter? Es schien zu einfach. Wenn man es logisch betrachtete, sagte er sich, hätten seine Verfolger ihm schon längst ein Leid zugefügt, wäre das ihre Absicht gewesen. Sie hätten aus einem Hinterhalt auf ihn geschossen oder ihn zumindest gewaltsam gezwungen, seine Waffen abzulegen. Sie hätten sich nehmen können, was sie wollten ... aber wieder logisch gedacht (es war so gut, wieder logisch zu denken, denn in den vergangenen Tagen war sein ganzes Denken in einem ätzenden Säurebad des Entsetzens geformt worden), was konnte er schon mit sich führen, das jemand besitzen mochte? Was weltliche Güter anbelangte, gab es sie jetzt für jeden im Überfluß, weil herzlich wenig Leute übriggeblieben waren. Weshalb sollte sich jemand die Mühe machen, es zu stehlen und zu töten und sein Leben zu riskieren, wenn alles, wovon man je geträumt hatte, während man mit dem Katalog von Sears zwischen den Beinen auf dem Scheißhaus saß, jetzt umsonst hinter jedem Schaufenster in Amerika zur Verfügung stand? Nur die Scheibe einschlagen, reingehen und es sich nehmen. Das heißt, alles, ausgenommen die Gesellschaft von Artgenossen. Dieses Gut war knapp, wie Larry selbst nur zu genau wußte. Und an eben diesem Gut war den Leuten gelegen, die ihn beobachteten, klarer Fall. Und das wiederum war der Grund dafür, daß er keine Angst hatte. Logik, süße Logik. Früher oder später würde ihr Wunsch nach Kontakt ihre Angst überwinden. Bis dahin würde er warten. Er wollte sie nicht aufscheuchen wie Rebhühner; das würde alles nur verschlimmern. Vor zwei Tagen wäre er wahrscheinlich selbst aus den Latschen gekippt, wenn er jemanden gesehen hätte. Da war die Angst einfach noch zu groß gewesen. Nun, er konnte warten. Aber, Mann, er wollte wirklich wieder jemanden sehen. Wirklich. Er ging zum Bach zurück und spülte das Eßgeschirr aus. Er fischte den Sechserpack aus dem Wasser und ging wieder zu seiner Schaukel. Er riß den Verschluß der ersten Dose auf und hob sie in Richtung des Restaurants, wo er die Schatten gesehen hatte. »Auf euer Wohl«, sagte Larry und trank die halbe Dose auf einen Zug leer. Ging runter wie Butter, konnte man echt sagen. Als er den Sechserpack leergetrunken hatte, war sieben Uhr durch, und die Sonne machte sich zum Untergehen bereit. Er kickte die letzten glühenden Kohlen des Feuers auseinander und sammelte seine Sachen zusammen. Dann radelte er halb betrunken und voller Wohlbefinden eine Viertelmeile die Route 9 entlang, bis er ein Haus mit verglaster Veranda gefunden hatte. Er stellte das Rad auf dem Rasen ab, nahm den Schlafsack und öffnete die Verandatür mit einem Schraubenzieher. Er drehte sich noch einmal in der Hoffung um, ihn oder sie oder mehrere zu sehen - sie folgten ihm noch, das spürte er -, aber die Straße war einsam und verlassen. Er betrat achselzuckend das Haus. Es war noch früh, und er ging davon aus, daß er eine ganze Weile unruhig wach liegen und auf den Schlaf warten würde, aber offenbar mußte er immer noch Schlaf nachholen. Fünfzehn Minuten nachdem er sich hingelegt hatte, war er entschlummert, atmete langsam und gleichmäßig, das Gewehr in der Nähe seiner rechten Hand. Nadine war müde. Es schien der längste Tag ihres Lebens zu sein. Sie war überzeugt, daß sie zweimal gesehen worden waren, einmal in der Nähe von Strafford, das zweite Mal an der Grenze von Maine und New Hampshire, als Joe über die Schulter geblickt und gerufen hatte. Ihr selbst war es einerlei, ob sie entdeckt wurden oder nicht. Dieser Mann war nicht verrückt, wie der Mann, der vor zehn Tagen an dem großen weißen Haus vorbeigekommen war. Es war ein Soldat gewesen, der unter der Last von Gewehren und Granaten und Patronengurten und Munition gestöhnt hatte. Und dann hatte er gelacht und geweint und gedroht, jemandem namens Lieutenant Morton die Eier abzuschießen. Lieutenant Morton war nirgends zu sehen gewesen, was wahrscheinlich gut für ihn war, falls er noch lebte. Auch Joe hatte Angst vor dem Soldaten gehabt, und in diesem Fall war vermutlich auch das ganz gut gewesen. »Joe?« Sie drehte sich um. Joe war nicht mehr da. Sie war müde, war fast schon eingeschlafen. Sie stieß die Decke zurück, stand auf und verzog das Gesicht wegen hundert Wehwehchen. Wie lange war es her, seit sie so viele Stunden auf einem Fahrrad gesessen hatte? Wahrscheinlich hatte sie das noch nie getan. Und dann die permanente, nervenaufreibende Anstrengung, den goldenen Mittelweg zu finden. Wenn sie dem Mann zu nahe kamen, würde er sie sehen, und das würde Joe beunruhigen. Wenn sie zu weit zurückblieben, wechselte er möglicherweise von der Route 9 auf eine andere Straße über, und sie verloren ihn. Das würde sie beunruhigen. Sie war nie auf den Gedanken gekommen, Larry könnte einen Kreis fahren und hinter sie gelangen. Glücklicherweise (jedenfalls für Joe) war auch Larry nie darauf gekommen. Sie sagte sich immer wieder, Joe würde einsehen, daß sie ihn brauchten... und nicht nur ihn. Sie konnten nicht allein bleiben. Wenn sie allein blieben, würden sie allein sterben. Joe würde sich an die Vorstellung gewöhnen; er hatte sein früheres Leben ebensowenig in einem Vakuum verbracht wie sie. »Joe«, rief sie nochmals leise. Er konnte so lautlos sein wie ein Guerilla des Vietkong, der durch das Unterholz schlich, aber in den vergangenen drei Wochen hatten sich ihre Ohren an ihn gewöhnt, und heute abend schien als zusätzlicher Bonus der Mond. Sie hörte leises Kratzen und Klickern von Geröll und wußte, wohin er ging. Sie achtete nicht auf ihre Schmerzen und folgte ihm. Es war Viertel nach zehn. Sie hatten ihr Lager (wenn man zwei Decken im Gras »Lager« nennen wollte) hinter dem North Berwick Grille gegenüber vom Supermarkt aufgeschlagen und die Räder in einem Schuppen hinter dem Restaurant versteckt. Der Mann, dem sie folgten, hatte auf dem Spielplatz der Schule vis-à-vis gegessen (»Ich wette, wenn wir zu ihm gehen, wird er uns von seinem Essen abgeben, Joe«, hatte sie taktvoll gesagt. »Es ist heiß... und duftet es nicht herrlich? Ich wette, es schmeckt viel besser als diese Wurst.« Joe hatte die Augen aufgerissen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und mit dem Messer haßerfüllt in Larrys Richtung gefuchtelt); danach war der Mann die Straße entlang bis zu einem Haus mit verglaster Veranda gefahren. Offenbar war er, wie er das Fahrrad lenkte, ein wenig betrunken. Jetzt schlief er auf der Veranda des Hauses, für das er sich entschieden hatte. Sie ging schneller und zuckte zusammen, wenn sich spitze Steine in ihre Fußsohlen bohrten. Links standen Häuser, und sie ging zu deren Rasen, die jetzt wild wuchsen. Das Gras, das naß von Tau war und angenehm roch, reichte ihr bis zu den Schienbeinen. Sie mußte an eine Zeit denken, als sie mit einem Jungen durch solches Gras gelaufen war, unter einem Vollmond, nicht einem abnehmenden, wie jetzt. Ein heißer, angenehmer Ball der Erregung hatte in ihrem Unterleib geglüht, und sie war sich deutlich bewußt gewesen, daß ihre Brüste, die, voll und erblüht, bei jedem Schritt wippten, etwas Sexuelles waren. Der Mond hatte ihr ein Gefühl vermittelt, als wäre sie trunken, ebenso das Gras, das ihre Beine mit seiner nächtlichen Feuchtigkeit benetzt hatte. Sie hatte gewußt, wenn der Junge sie erwischte, würde sie ihm ihre Jungfräulichkeit schenken. Sie war wie eine Indianerin durch den Mais gelaufen. Hatte er sie erwischt? Was für eine Rolle spielte das jetzt noch? Sie lief schneller und sprang auf einen Betonweg, der wie eine Bahn aus Eis in der Dunkelheit schimmerte. Und da war Joe; er stand am Rand der verglasten Veranda, wo der Mann schlief. Seine weiße Unterhose war das Hellste in der Dunkelheit; die Haut des Jungen war so dunkel, daß man auf den ersten Blick den Eindruck hatte, als würde die Unterhose allein dastehen und in der Luft schweben oder als hätte H. G. Wells' Unsichtbarer sie angezogen. Joe war aus Epsom, das wußte sie, denn dort hatte sie ihn gefunden. Nadine kam aus South Barnstead, eine fünfzehn Meilen nordöstlich von Epsom gelegene Stadt. Sie hatte systematisch nach anderen gesunden Menschen gesucht, aber gezögert, ihr Haus und ihre Heimatstadt zu verlassen. Sie hatte ihr Suchgebiet erweitert, in konzentrischen Kreisen, die immer größer und größer wurden. Sie hatte nur Joe gefunden, der von einem Tier gebissen worden war - Ratte oder Eichhörnchen, der Größe nach -, Fieber hatte und im Delirium war. Er hatte nackt bis auf die Unterhose auf dem Rasen eines Hauses in Epsom gesessen und das Schlachtermesser in der Hand gehabt wie ein alter Steinzeitwilder oder ein sterbender, aber immer noch tückischer Pygmäe. Nadine hatte Erfahrung bei der Behandlung von Infektionen. Sie hatte ihn ins Haus getragen. War es sein Elternhaus? Sie hielt es für wahrscheinlich, konnte aber nicht sicher sein, falls Joe es ihr nicht sagte. In dem Haus waren Tote gewesen, viele Tote - Mutter, Vater, drei andere Kinder, das älteste um die Fünfzehn. Nadine hatte eine Arztpraxis gefunden, wo es Desinfektionsmittel und Antibiotika und Verbandszeug gab. Sie war nicht sicher, welche Antibiotika die richtigen sein würden, und sie wußte, sie konnte ihn umbringen, wenn sie die falsche Wahl traf, aber wenn sie nichts tat, würde er auch sterben. Die Bißwunde war am Knöchel, der zur Größe eines Abwasserrohrs angeschwollen war. Das Glück war ihr hold. Drei Tage später hatte der Knöchel wieder seine normale Größe, und das Fieber war weg. Der Junge vertraute ihr. Sonst offenbar keinem, aber ihr. Sie wachte morgens auf, und er klammerte sich an ihr fest. Sie waren zu dem großen weißen Haus gegangen. Sie nannte ihn Joe. Das war nicht sein richtiger Name, aber als Lehrerin hatte sie jedes Mädchen, dessen Namen sie nicht kannte, Jane und jeden Jungen Joe genannt. Der Soldat war vorbeigekommen, hatte gelacht und geweint und Lieutenant Morton verflucht. Joe wollte hinausstürzen und ihn mit dem Messer umbringen. Und jetzt diesen Mann. Sie fürchtete sich davor, ihm das Messer wegzunehmen, denn es war Joes Talisman. Wenn sie es versuchte, konnte ihn das gegen sie aufbringen. Sogar im Schlaf hielt er es fest in der Hand, und eines Nachts hatte sie versucht, es ihm wegzunehmen - nur um zu versuchen, ob es gelingen würde. Er war sofort aufgewacht, aus tiefem Schlaf. Im nächsten Augenblick hatten die beunruhigend blau-grauen Augen mit ihrem chinesischen Schnitt sie voll verhaltener Wildheit angestarrt. Er hatte das Messer mit leisem Knurren weggezogen. Gesagt hatte er nichts. Jetzt hob er das Messer, senkte es, hob es wieder. Knurrte tief in der Kehle und stieß das Messer in Richtung Veranda. Brachte sich möglicherweise in eine Art Trance, um tatsächlich die Tür zu stürmen. Sie trat hinter ihn und gab sich keine besondere Mühe, leise zu sein, aber er hörte sie trotzdem nicht; Joe war in seiner eigenen Welt. Einen Augenblick später packte sie ihn, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, mit einer Hand am Handgelenk und drehte es brutal im Gegenuhrzeigersinn. Joe stieß einen zischenden Seufzer aus, und Larry Underwood regte sich im Schlaf, drehte sich um und lag wieder still. Das Messer fiel zwischen ihnen ins Gras; das silberne Mondlicht spiegelte sich auf den Zacken der Klinge. Sie sahen aus wie leuchtende Schneeflocken. Er blickte sie mit wütenden, vorwurfsvollen und mißtrauischen Augen an. Nadine erwiderte den Blick unnachgiebig. Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Joe schüttelte nachdrücklich den Kopf. Er deutete auf die Glaswand und die schlafende Gestalt im Schlafsack dahinter. Er machte eine gräßlich deutliche Geste, strich sich mit dem Daumen über Hals und Adamsapfel. Dann grinste er. Nadine hatte ihn noch nie grinsen gesehen; es durchlief sie kalt. Es hätte nicht wilder aussehen können, wenn die schimmernden weißen Zähne des Jungen spitz zugefeilt gewesen wären. »Nein«, sagte sie leise. »Sonst wecke ich ihn auf der Stelle.« Joe sah erschrocken drein. Er schüttelte hastig den Kopf. »Dann komm mit mir. Schlaf.« Er sah zu dem Messer hinunter, dann wieder zu ihr auf. Wenigstens war die Wildheit verschwunden. Er war nur noch ein hilfloser kleiner Junge, der seinen Teddy wollte oder die kratzige Decke, die ihn seit der Wiege begleitete. Nadine wurde klar, dies konnte der geeignete Zeitpunkt sein, ihm das Messer endgültig auszureden, einfach nur den Kopf zu schütteln: »Nein.« Aber was dann? Würde er schreien? Er hatte geschrien, nachdem der verrückte Soldat weitergezogen war. Immerzu geschrien, langgezogene, unverständliche Laute des Entsetzens und der Wut. Wollte sie den Mann im Schlafsack in der Nacht kennenlernen, während solche Schreie in ihren und seinen Ohren gellten? »Kommst du mit mir?« Joe nickte. »Gut«, sagte sie leise. Er bückte sich hastig und hob das Messer auf. Sie gingen gemeinsam zurück, und er kuschelte sich eng an sie; das Vertrauen war wieder hergestellt, der Störenfried wenigstens vorläufig vergessen. Er schlang die Arme um sie und schlief ein. Sie spürte den altbekannten Schmerz im Unterleib, der soviel tiefer und allumfassender war als derjenige, den die Anstrengung hervorrief. Es war ein Frauenschmerz, und dagegen konnte sie nichts tun. Sie schlief ein. In den frühen Morgenstunden wachte sie auf - sie trug keine Uhr -, war kalt und steif und entsetzt und fürchtete plötzlich, Joe könnte hinterhältig gewartet haben, bis sie schlief, um dann zum Haus zurückzuschleichen und dem Mann im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Joes Arme waren nicht mehr um sie geschlungen. Sie fühlte sich verantwortlich für den Jungen; sie hatte sich stets für die Kleinen verantwortlich gefühlt, die nicht darum gebeten hatten, auf die Welt zu kommen, aber wenn er das getan hatte, würde sie ihn verlassen. Leben zu nehmen, wo so vieles ausgelöscht worden war, war eine unverzeihliche Sünde. Und sie konnte es ohne Hilfe nicht mehr lange allein mit Joe schaffen; mit ihm zu sein war, als wäre man mit einem launischen Löwen in einem Käfig eingesperrt. Und wie ein Löwe, konnte (oder wollte) Joe nicht sprechen; er konnte nur mit seiner hilflosen Kleinjungenstimme brüllen. Sie richtete sich auf und sah, daß der Junge immer noch bei ihr war. Er hatte sich im Schlaf ein wenig von ihr entfernt, das war alles. Er hatte sich wie ein Fötus zusammengerollt, den Daumen im Mund und die Hand um den Griff des Messers geklammert. Nachdem sie über das Gras gegangen war, Wasser gelassen hatte und wieder unter die Decke gekrochen war, schlief sie sofort wieder ein. Am nächsten Morgen war sie nicht sicher, ob sie in der Nacht wirklich aufgewacht war oder ob sie es nur geträumt hatte. Wenn ich geträumt habe, dachte Larry, dann müssen es gute Träume gewesen sein. Er konnte sich an keinen einzigen erinnern. Er fühlte sich fast schon wieder wie der alte Larry und dachte, der Tag würde schön werden. Noch heute würde er das Meer sehen. Er rollte seinen Schlafsack zusammen, schnallte ihn auf den Gepäckträger, ging zurück, um den Rucksack zu holen... und blieb stehen. Ein Betonweg führte zu den Verandastufen, und das Gras auf beiden Seiten war lang und unvorstellbar grün. Rechts, ganz dicht an der Veranda, war das taufeuchte Gras niedergetreten. Wenn der Tau verdunstete, würde sich das Gras wieder aufrichten, aber jetzt waren deutlich Fußspuren zu erkennen. Er war in der Stadt aufgewachsen und alles andere als ein Waldläufer (er hatte lieber Hunter S. Thompson als James Fenimore Cooper gelesen), aber man mußte blind sein, dachte er, nicht zu merken, daß sie zu zweit gewesen waren: ein Großer und ein Kleiner. Irgendwann in der Nacht waren sie zur Tür gekommen und hatten ihn beobachtet. Ihn fröstelte. Die Heimlichtuerei gefiel ihm nicht. Die ersten Vorboten neuer Angst noch weniger. Wenn sie sich nicht bald zeigen, beschloß er, werde ich versuchen, sie hervorzuscheuchen. Allein der Gedanke, daß ihm das gelingen könnte, brachte den größten Teil seines Selbstvertrauens zurück. Er schnallte den Rucksack über und machte sich auf den Weg. Gegen Mittag hatte er die US 1 in Wells erreicht. Kopf oder Zahl! Er warf eine Münze. Zahl. Er wandte sich auf der US1 nach Süden und liess die Münze gleichgültig im Staub funkeln. Joe fand sie zwanzig Minuten später und starrte sie an wie die Kristallkugel eines Hypnotiseurs. Er steckte sie in den Mund, und Nadine befahl ihm, sie auszuspucken. Zwei Meilen weiter sah Larry es zum ersten Mal, das riesige blaue Tier, das heute träge und langsam war. Es war ganz anders als der Pazifik oder der Atlantik von Long Island. Dort sah der Ozean friedlich aus, fast zahm. Dieses Wasser war von einem dunkleren Blau, fast kobaltfarben; gleichgültig rollten die Wogen ans Ufer, nagten an den Felsen. Gischt wie geschlagenes Eiweiß spritzte in die Luft und klatschte wieder zurück. Die Wellen donnerten mit unablässigem tiefen Grollen an die Klippen. Larry stellte sein Fahrrad ab, ging zum Meer hinunter und spürte eine seltsame Erregung, die er nicht erklären konnte. Er war hier, er hatte den Ort erreicht, wo die See die Herrschaft übernahm. Hier war der Osten zu Ende. Land's End. Er ging über eine sumpfige Wiese, und seine Schuhe machten schmatzende Geräusche im feuchten Boden zwischen Erdhügeln und Schilfbüscheln. Der durchdringende, fruchtbare Geruch der Flut hing in der Luft. Näher am Wasser war die dünne Haut der Erdschicht abgeschält, und der nackte Knochen aus Granit trat zutage - Granit, die »letzte Wahrheit« von Maine. Möwen stiegen hellweiß vor blauem Grund zum Himmel, kreischten und wimmerten. Er hatte noch nie so viele Vögel auf einmal gesehen. Ihm fiel ein, daß diese Vögel trotz ihrer weißen Schönheit Aasfresser waren. Der Gedanke, der sich anschloß, war unaussprechlich, aber er hatte ihn schon gedacht, bevor er ihn verdrängen konnte: Sie müssen in letzter Zeit reiche Ernte gehalten haben. Er ging wieder weiter; jetzt klickten und kratzten seine Schuhe auf von der Sonne getrockneten Felsen, die wegen der Brandung in ihren Rissen und Fugen dennoch immer feucht bleiben würden. Entenmuscheln wuchsen in diesen Rissen, und hier und da lagen wie zerfetzte Knochensplitter die Schalen, die die Möwen fallengelassen hatten, um an das weiche Fleisch im Innern heranzukommen. Einen Augenblick später stand er an der kahlen Küste. Der Wind vom Meer traf ihn mit voller Wucht und wehte ihm den dichten Haarschopf aus der Stirn. Larry hob ihm das Gesicht entgegen, dem herben, sauberen Salzgeruch des blauen Tiers. Die gläsernen, blaugrünen Wellenkämme rollten langsam herein, ihre Spitzen wurden deutlicher, je flacher der Boden unter ihnen wurde; zuerst bildete sich ein Hauch Schaum auf den Gipfeln, dann ein feiner Zuckerguß. Und dann schlugen sie selbstmörderisch ans Ufer, wie seit Anbeginn der Zeiten, zerstörten sich selbst und gleichzeitig ein unendlich kleines Stückchen Land. Ein gluckerndes, hustendes Dröhnen war zu hören, als Wasser in einen tiefen, halb versunkenen Felstunnel gedrückt wurde, der im Laufe von Jahrtausenden entstanden war. Er drehte sich zuerst nach links, dann nach rechts, und sah in jeder Richtung dasselbe, so weit das Auge reichte... Wellen, Brecher, Gischt, aber größtenteils einen endlosen Überfluß an Farben, die ihm den Atem raubten. Das war Land's End. Er setzte sich, ließ die Füße über den Rand einer Klippe baumeln und fühlte sich ruhig, besänftigt. Dort saß er eine halbe Stunde oder länger. Der Wind regte seinen Appetit an; er kramte im Rucksack nach etwas Eßbarem. Er aß kräftig. Gischt hatte die Beine seiner Blue Jeans schwarz gefärbt. Er fühlte sich gesäubert, erfrischt. Er ging langsam über die sumpfige Wiese zurück und war so in Gedanken versunken, daß er den Schrei, der vor ihm anschwoll, für den der Möwen hielt. Er hatte schon den Kopf zum Himmel gehoben, als er plötzlich voller Angst merkte, daß es der Schrei eines Menschen war. Ein Kampfschrei. Er sah ruckartig wieder nach unten und erblickte einen kleinen Jungen, der mit pumpenden Beinmuskeln über die Straße auf ihn zugelaufen kam. In der Hand hielt er ein langes Schlachtermesser. Er war nackt bis auf die Unterhose, seine Beine waren von Brennesselmalen gezeichnet. Hinter ihm trat in diesem Moment eine Frau aus Gestrüpp und Brennesseln auf der anderen Seite des Highway. Sie sah blaß aus und hatte dunkle Ringe der Erschöpfung unter den Augen. »Joe!« rief sie und fing an zu laufen, als würde es ihr Schmerzen bereiten. Joe lief weiter, ließ nicht nach, seine nackten Füße spritzten dünne Schleier des Marschwassers auf. Sein Gesicht war zu einem verkniffenen, mörderischen Grinsen verzerrt. Er hielt das Schlachtermesser hoch über dem Kopf, es glitzerte in der Sonne. Er will mich umbringen, dachte Larry, der bei diesem Gedanken wie vom Donner gerührt stehenblieb. Dieser Junge... was habe ich ihm denn getan? »Joe!« schrie die Frau, diesmal mit schriller, müder und verzweifelter Stimme. Joe lief noch immer, verringerte zusehends die Entfernung. Larry merkte gerade noch, daß er sein Gewehr beim Fahrrad gelassen hatte, dann war der schreiende Junge schon bei ihm. Als er mit dem Schlachtermesser in hohem, weitem Bogen ausholte, erwachte Larry aus seiner Lähmung. Er sprang zur Seite, hob instinktiv den rechten Fuß und trat dem Jungen mit seinem nassen, gelben Stiefel in den Leib. Und empfand Mitleid: Es war nichts als ein kleiner Junge, erschöpft, kraftlos; er fiel um wie ein Kegel. Er sah gefährlich aus, war aber alles andere als ein Schwergewicht. »Joe!« rief Nadine. Sie stolperte über einen Erdklumpen, fiel auf die Knie und bespritzte ihre weiße Bluse mit braunem Schlamm. »Tun Sie ihm nichts! Er ist nur ein kleiner Junge! Bitte, tun Sie ihm nichts!« Sie rappelte sich auf und mühte sich weiter. Joe war flach auf den Rücken gefallen. Er lag da wie ein X: Die Arme bildeten ein V, die gespreizten Beine ein zweites, umgekehrtes V. Larry machte einen Schritt vorwärts, trat dem Jungen aufs Handgelenk und nagelte die Hand, mit der er das Messer hielt, am schlammigen Boden fest. »Laß den Piekser los, Junge.« Der Junge fauchte und stieß dann ein grunzendes, kollerndes Geräusch aus, wie ein Truthahn. Er zog die Oberlippe über die Zähne. Seine Chinesenaugen starrten böse in die von Larry. Den Fuß auf dem Handgelenk des Jungen zu lassen war, wie auf eine verletzte, aber immer noch bösartige Schlange zu treten. Er merkte, wie der Junge versuchte, seine Hand freizubekommen, ohne sich darum zu kümmern, ob der Preis aufgeschürfte Haut, blutiges Fleisch oder sogar ein gebrochenes Handgelenk war. Er richtete sich in eine halb sitzende Position auf und versuchte, Larry durch den schweren, nassen Stoff seiner Jeans ins Bein zu beißen. Larry trat noch fester auf das dünne Handgelenk, und Joe stieß einen Schrei aus - nicht vor Schmerzen, sondern vor Wut. »Laß es los, Junge.« Joe wehrte sich immer noch. Das Patt hätte andauern können, bis Joe das Messer freibekommen oder Larry ihm den Arm gebrochen hätte, wenn Nadine nicht schließlich schlammverschmiert, atemlos und vor Erschöpfung taumelnd bei ihnen eingetroffen wäre. Ohne Larry anzusehen, sank sie auf die Knie. »Laß es los!« sagte sie leise, aber energisch. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, zeigte jedoch keine Regung. Sie brachte es dicht vor Joes verzerrte, zuckende Fratze. Er schnappte nach ihr wie ein Hund und wehrte sich weiter. Wütend versuchte Larry, die Balance zu halten. Wenn es dem Jungen jetzt gelang, sich loszureißen, würde er wahrscheinlich zuerst auf die Frau einstechen. »Laß... es... los!« sagte Nadine. Der Junge knurrte. Speichel quoll zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Auf der rechten Wange hatte er einen Schlammspritzer in Form eines Fragezeichens. »Wir lassen dich zurück, Joe. Ich lasse dich zurück. Ich gehe mit ihm. Wenn du nicht brav bist.« Larry spürte, wie die Spannung des Arms unter seinem Fuß noch stärker wurde und dann nachließ. Aber der Junge sah die Frau verletzt, anklagend und vorwurfsvoll an. Als er den Blick etwas abwandte und Larry ansah, konnte dieser glühende Eifersucht in den Augen erkennen. Obwohl ihm der Schweiß in Strömen vom Körper troff, fröstelte Larry unter diesem Blick. Sie sprach mit ruhiger Stimme auf ihn ein. Niemand würde ihm weh tun. Niemand würde ihn zurücklassen. Wenn er das Messer losließ, konnten sie alle Freunde werden. Allmählich spürte Larry, daß sich die Hand unter seinem Schuh entspannt und das Messer losgelassen hatte. Der Junge lag reglos da und starrte zum Himmel. Er hatte aufgegeben. Larry nahm den Fuß von Joes Handgelenk, bückte sich rasch und hob das Messer auf. Er drehte sich um und schleuderte es in Richtung Küste. Das Messer drehte sich im Kreis und reflektierte funkelnd das Sonnenlicht. Joes seltsame Augen folgten seiner Bahn; er stieß ein langes, heulendes Wimmern des Schmerzes aus. Das Messer prallte mit blechernem Klirren auf die Felsen und schlitterte über den Rand. Larry drehte sich wieder um und betrachtete die beiden. Die Frau untersuchte Joes rechten Unterarm, wo sich das Profil von Larrys Stiefelsohlen tief eingegraben hatte und langsam grellrot wurde. Sie sah auf, blickte Larry ins Gesicht. Ihre dunklen Augen waren voller Traurigkeit. Larry spürte die altbekannte, eigennützige Ausrede in sich aufsteigen - Ich mußte es tun, es war nicht meine Schuld, hören Sie, Lady, er wollte mich umbringen -, weil er glaubte, das Urteil in diesen kummervollen Augen lesen zu können: Du bist kein netter Kerl. Aber er schwieg. Es gab nichts zu sagen. Die Situation war eindeutig, der Junge hatte Larrys Gegenwehr erzwungen. Als er Joe betrachtete, der sich jetzt verzweifelt über die Knie gekrümmt und den Daumen in den Mund gesteckt hatte, bezweifelte er, ob der Junge selbst die Situation ausgelöst hatte. Aber es hätte schlimmer ausgehen können, mit einer Stichwunde oder möglicherweise sogar einem Toten. Also sagte er nichts, sah der Frau in die sanften Augen und dachte: Ich glaube, ich habe mich verändert. Irgendwie. Ich weiß nicht, wie sehr. Er mußte an etwas denken, das Barry Grieg einmal zu ihm gesagt hatte - über einen Rhythmusgitarristen aus L. A., einen Typen namens Jory Baker, der stets pünktlich kam, nie eine Probe versäumte oder eine Aufnahme versaute. Kein Gitarrist, der einem ins Auge fiel, kein Showman wie Angus Young oder Eddie Van Haien, aber ein fähiger Bursche. Barry hatte gesagt, daß dieser Jory Baker mal die treibende Kraft einer Gruppe namens Sparx gewesen war, eine Gruppe, die jedermann als die erfolgversprechendste des Jahres betrachtete. Sie hatten einen Sound draufgehabt wie die frühen Creedence: harter, solider Gitarren-Rock. Jory Baker hatte die Sachen fast sämtlich alleine geschrieben und durch die Bank selbst gesungen. Dann ein Autounfall, gebrochene Knochen, jede Menge Dope im Krankenhaus. Er war rausgekommen, wie es in einem Song von John Prine hieß, »with a steel plate in his head and a monkey on his back« - »mit einer Stahlplatte im Schädel und einem Affen auf dem Rücken«. Er stieg von Demerol auf Heroin um. Wurde ein paarmal hopps genommen. Nach einer Weile war er einer von vielen namenlosen Junkies mit zittrigen Fingern, der am GreyhoundBusbahnhof um Kleingeld bettelte und auf dem Strich rumhing. Dann war er irgendwie über einen Zeitraum von achtzehn Monaten hinweg clean geworden und clean geblieben. Aber er war nicht mehr derselbe. Er war nicht mehr die treibende Kraft einer Gruppe, ob erfolgversprechendste des Jahres oder sonstwas, aber er kam immer noch pünktlich, versäumte keine Probe und versaute keine Aufnahme. Er redete nicht viel, aber der Highway der Nadeleinstiche am linken Arm war verschwunden. Und Barry Grieg hatte gesagt: Er ist auf der anderen Seite rausgekommen. Mehr nicht. Niemand kann sagen, was sich zwischen der Person, die man war, und der Person, die man wird, abspielt. Niemand kann diese deprimierende, einsame Sektion der Hölle kartographieren. Es gibt keine Karten der Veränderung. Man kommt... eben einfach auf der anderen Seite raus. Oder auch nicht. Ich habe mich irgendwie verändert, dachte Larry dumpf. Ich bin auch auf der anderen Seite rausgekommen. Sie sagte: »Ich bin Nadine Cross. Das ist Joe, Freut mich, Sie kennenzulernen. « »Larry Underwood.« Sie gaben sich die Hand und mußten beide wegen der absurden Situation lächeln. »Gehen wir zur Straße zurück«, sagte Nadine. Sie gingen nebeneinander, und nach ein paar Schritten sah Larry über die Schulter zu Joe, der immer noch über die Knie gebeugt saß, am Daumen lutschte und offenbar gar nicht mitbekommen hatte, dass sie gegangen waren. »Er wird schon kommen«, sagte sie leise. »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher.« Als sie die Schotterböschung des Highway erreicht hatten, stolperte sie, und Larry nahm ihren Arm. Sie sah ihn dankbar an. »Können wir uns setzen?« fragte sie. Sie setzten sich einander gegenüber auf das Pflaster. Nach einer Weile stand Joe auf und trottete mit gesenktem Kopf zu ihnen herüber. Er setzte sich ein Stück von ihnen entfernt hin. Larry sah ihn mißtrauisch an, dann Nadine Cross. »Sie beide sind mir gefolgt.« »Das haben Sie gewußt? Ja. Dachte ich mir.« »Wie lange?« »Zwei Tage«, sagte Nadine. »Wir waren in dem großen Haus in Epsom.« Als sie seinen verwirrten Blick sah, fügte sie hinzu: »Am Bach. Sie sind an der Steinmauer eingeschlafen.« Er nickte. »Und gestern nacht sind Sie beide gekommen und haben mich beobachtet, als ich auf der Veranda geschlafen habe. Vielleicht um zu sehen, ob ich Hörner oder einen langen roten Schwanz habe.« »Das war Joe«, sagte sie leise. »Als ich sah, daß er weg war, bin ich ihm nachgelaufen. Woher wußten Sie das?« »Sie haben Spuren im Tau hinterlassen.« »Oh.« Sie sah ihn prüfend an, musterte ihn, und Larry hätte gern die Augen niedergeschlagen, tat es aber nicht. »Ich möchte nicht, dass Sie wütend auf uns sind. Das klingt wahrscheinlich ein bißchen lächerlich, nachdem Joe gerade versucht hat, Sie umzubringen, aber dafür ist Joe nicht verantwortlich.« »Ist das sein richtiger Name?« »Nein, ich nenne ihn nur so.« »Er ist wie ein Wilder in einer Fernsehsendung von National Geographie.« »Ja, genau. Ich habe ihn vor einem Haus auf dem Rasen gefunden. Vielleicht war es sein Elternhaus. An der Tür stand >Rockway<. Joe war krank. Er war gebissen worden. Wahrscheinlich von einer Ratte. Er spricht nicht. Er knurrt und grunzt nur. Bis heute morgen hatte ich ihn unter Kontrolle. Aber ich... ich bin müde, wissen Sie... und...« Sie zuckte die Achseln. Der Schlamm trocknete in Mustern auf ihrer Bluse, die wie chinesische Schriftzeichen aussahen. »Ich mußte ihn erst anziehen. Er hat alles wieder ausgezogen, bis auf die Unterhose. Zuletzt hatte ich keine Lust mehr. Ich bin Lehrerin, keine Missionarin. Die Mücken und Moskitos scheinen ihn nicht zu stören.« Sie machte eine Pause. »Ich will, daß Sie uns mitnehmen. Was das betrifft, muss man in dieser Situation wohl nicht schüchtern sein.« Larry fragte sich, was sie wohl denken würde, wenn er ihr von der letzten Frau erzählte, die mit ihm kommen wollte. Das würde er natürlich nie tun; diese Episode war tief begraben, auch wenn die betreffende Frau es nicht war. Er wollte Ritas Namen ebensowenig ins Spiel bringen, wie ein Mörder den Namen seines Opfers auf einer Party erwähnen würde. »Ich weiß nicht, wohin ich gehe«, sagte er. »Ich bin von New York City gekommen, wahrscheinlich über einen ziemlichen Umweg. Ich wollte mir ein schönes Haus an der Küste suchen und dort bis Oktober oder so bleiben. Aber je länger ich unterwegs bin, um so mehr sehne ich mich nach anderen Menschen. Je länger ich unterwegs bin, um so schlimmer trifft mich das alles.« Er drückte sich ungeschickt aus und konnte es wohl auch nicht besser, ohne Rita oder seine schlimmen Träume von dem dunklen Mann zu erwähnen. »Ich hatte oft schreckliche Angst«, sagte er vorsichtig. »Weil ich allein bin. Ziemlich verrückt. Als hätte ich erwartet, daß Indianer mich überfallen und skalpieren.« »Mit anderen Worten, Sie suchen jetzt keine Häuser mehr, sondern Menschen.« »Ja, vielleicht.« »Sie haben uns gefunden. Ist doch schon was.« »Ich glaube, Sie haben mich gefunden. Und dieser Junge macht mir Sorgen, Nadine. Das muß ich ehrlich sagen. Sein Messer ist weg, aber die Welt wimmelt von Messern, man muß sie nur aufsammeln.« »Ja.« »Ich will mich nicht brutal ausdrücken, aber...« Er verstummte und hoffte, sie würde es selbst sagen, aber sie sagte gar nichts, sah ihn nur mit ihren dunklen Augen an. »Wären Sie bereit, ihn zurückzulassen?« Jetzt war es heraus, ausgespuckt wie ein Stein, und er hörte sich immer noch nicht wie ein netter Kerl an... aber war es richtig, eine schlimme Situation noch schlimmer zu machen, indem man sich mit einem zehnjährigen Psychopathen belastete? Er hatte ihr gesagt, daß er brutal sein würde, und das war er wohl auch gewesen. Aber sie lebten jetzt in einer brutalen Welt. Derweil bohrte sich der Blick von Joes meerwasserblauen Augen in ihn. »Das könnte ich nicht«, sagte Nadine ruhig. »Ich sehe die Gefahr, und ich weiß, daß in erster Linie Sie gefährdet sind. Er ist eifersüchtig. Er hat Angst, daß Sie wichtiger für mich werden könnten als er. Es könnte sein, daß er... daß er es noch einmal versucht, es sei denn, Sie können mit ihm Freundschaft schließen oder ihn wenigstens davon überzeugen, daß Sie nicht die Absicht haben...« Sie verstummte und ließ offen, was sie hatte sagen wollen. »Aber wenn ich ihn zurückließe, wäre das gleichbedeutend mit Mord. Damit will ich nichts zu tun haben. So viele sind gestorben, daß man keinen mehr töten sollte.« »Wenn er mir mitten in der Nacht die Kehle durchschneidet, damit haben Sie dann etwas zu tun.« Sie senkte den Kopf. So leise, daß hoffentlich nur sie ihn hören konnte - er wußte nicht, ob Joe, der sie beobachtete, ihre Unterhaltung verstand oder nicht-, sagte Larry: »Er hätte es wahrscheinlich schon gestern nacht getan, wenn Sie ihm nicht gefolgt wären. Oder nicht?« Sie antwortete leise: »Könnte sein.« Larry lachte. »Der Geist der zukünftigen Weihnacht?« Sie sah auf. »Ich will mit Ihnen gehen, Larry, aber ich kann Joe nicht zurücklassen. Das müssen Sie entscheiden.« »Sie machen es mir nicht leicht.« »Heutzutage ist das ganze Leben nicht mehr leicht.« Er dachte darüber nach. Joe saß auf der weichen Böschung an der Straße und sah aus seinen Meerwasseraugen zu ihnen herüber. Hinter ihnen schlugen die Wellen des Ozeans unaufhörlich gegen die Felsen und dröhnten in den geheimen Tunneln, wo sie das Land ausgehöhlt hatten. »Na gut«, sagte er. »Ich finde, Sie sind gefährlich weichherzig, aber... na gut.« »Danke«, sagte Nadine. »Ich übernehme die Verantwortung für alles, was er tut.« »Ein schöner Trost, wenn er mich aufgeschlitzt hat.« »Das würde mir bis an mein Lebensende auf der Seele liegen«, sagte Nadine, und eine plötzliche Gewißheit, daß sich alle ihre Worte über die Unverletzlichkeit des Lebens eines nicht zu fernen Tages erheben und sie verspotten würden, durchfuhr sie wie ein kalter Wind, so daß sie erschauerte. Nein, sagte sie sich. Ich werde nicht töten. Das nicht. Niemals. Sie verbrachten die Nacht im weichen weißen Sand des öffentlichen Strandes von Wells. Larry entfachte ein großes Lagerfeuer oberhalb des Tangstreifens, der den letzten Hochwasserstand markierte, und Joe saß abseits von ihm und Nadine und warf hin und wieder kleine Äste in die Flammen. Ab und zu hielt er einen größeren Ast ins Feuer, bis dieser wie eine Fackel brannte; dann lief er damit am Strand entlang und hielt ihn hoch wie eine riesige brennende Geburtstagskerze. Sie beobachteten ihn, bis er aus dem dreißig Schritte messenden Lichtkreis des Feuers verschwunden war, sahen dann nur noch die Fackel, deren Flamme bei Joes schnellem Lauf nach hinten geweht wurde. Der Wind war stärker geworden, es war so frisch wie seit Tagen nicht mehr. Larry erinnerte sich vage an den Regenguß an dem Nachmittag, als er seine sterbende Mutter gefunden hatte, bevor die Super-Grippe wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug über New York hinweggerast war. Erinnerte sich an das Gewitter und die weißen Vorhänge, die wild in die Wohnung geweht worden waren. Er zitterte ein wenig, und der Wind ließ eine Flammenspirale aus dem Feuer zum schwarzen Sternenhimmel emportanzen. Fünkchen stoben noch höher und erloschen. Er dachte an den Herbst, der immer noch in weiter Ferne lag, aber nicht mehr so weit wie an dem Tag im Juni, als er seine Mutter im Delirium auf dem Fußboden gefunden hatte. Im Norden, weit entfernt am Strand, hüpfte Joes Fackel auf und ab. Er fühlte sich einsam und noch kälter - und nur wegen diesem einen Licht, das in der gewaltigen, stummen Dunkelheit flackerte. Die Brandung rollte und dröhnte. »Spielen Sie?« Er zuckte zusammen, als er ihre Stimme hörte, und betrachtete den Gitarrenkasten, der neben ihnen im Sand lag. Er hatte im Musikzimmer des großen Hauses, in das sie eingebrochen waren, um ihre Vorräte zu ergänzen, an einem Steinway-Flügel gelehnt. Larry hatte so viele Dosen in den Rucksack gepackt, wie sie brauchten, um die heute verzehrten Vorräte zu ergänzen, und die Gitarre ganz impulsiv mitgenommen, ohne in den Kasten zu sehen, um was für ein Modell es sich handelte - wenn sie aus so einem Herrenhaus stammte, mußte sie einfach gut sein. Er hatte seit dieser irren Party in Malibu nicht mehr gespielt, und das war vor sechs Wochen gewesen. In einem anderen Leben. »Ja, ich kann spielen«, sagte er und stellte fest, daß er spielen wollte, nicht für sie, sondern weil es manchmal gut tat zu spielen; es entspannte. Und wenn man ein Feuer am Strand hatte, mußte einfach jemand Gitarre spielen. Das war eine praktisch in Stein gemeißelte Weisheit. »Mal sehen, was wir da haben«, sagte er und ließ die Laschen des Gitarrenkastens aufklappen. Er hatte ein teures Instrument erwartet, aber was er in dem Kasten fand, war dennoch eine freudige Überraschung. Es war eine zwölfsaitige Gibson, ein wunderschönes Instrument, vielleicht sogar handgefertigt. Larry war nicht Fachmann genug, das zu beurteilen. Er wußte aber, daß die Intarsien am Griffbrett aus echtem Perlmutt waren - das orangerote Leuchten des Feuers spiegelte sich darin und machte sie zu Prismen des Lichts. »Sie ist wunderschön«, sagte Nadine. Er schlug die Saiten an, und der Klang gefiel ihm, obwohl die Gitarre offen und obendrein nicht richtig gestimmt war. Der Klang war voller als der einer sechssaitigen. Ein harmonischer Klang, aber hart. Das war das Gute an einer Gitarre mit Stahlsaiten, der schöne harte Klang. Und die Saiten waren Black Diamonds, abgegriffen und leicht verzogen, aber man bekam einen schönen, ehrlichen Preis für sein Spiel; das Instrument klang nur ein wenig rauh, wenn man Akkorde wechselte - zing! Er lächelte ein wenig, als er an Barry Grieg dachte, der die glatten, flachen Stahlsaiten so verachtet hatte. »Dollardrähte«, hatte er sie immer genannt. Der gute alte Barry, der Steve Miller sein wollte, wenn er groß war. »Weshalb lächeln Sie?« fragte Nadine. »Wegen der alten Zeiten«, sagte er, und ein wenig Trauer stieg in ihm auf. Er stimmte nach Gehör, genau richtig, und dachte immer noch an Barry und Johnny McCall und Wayne Stukey. Als er zum Ende kam, tippte sie ihn leicht auf die Schulter, und er sah auf. Joe stand neben dem Feuer und hielt den abgebrannten Ast weltvergessen in der Hand. Er stand mit offenem Mund da und blickte Larry mit unverhohlener Faszination in den seltsamen Augen an. Sehr leise, so leise, daß es ein Gedanke in seinem Kopf hätte sein können, sagte Nadine: »Musik hat einen Zauber...« Larry schlug eine einfache Melodie auf der Gitarre an, einen alten Blues, den er als Teenager aus einem Elektra-Folk-Album nachgespielt hatte. Ursprünglich von Koerner Ray und Glover, dachte er. Als er glaubte, daß er die Melodie im Griff hatte, ließ er sie über den Strand klingen, und dann sang er... sein Gesang war schon immer besser als sein Spiel gewesen. »Well you see me comin baby from a long ways away  I will turn the night mamma right into day  Cause l'm here  A long ways from my home  But you can hear me comin baby  By the slappin on my black cat bone.« Der Junge grinste jetzt, grinste so erstaunt wie jemand, der ein kostbares Geheimnis entdeckt hat. Er sah aus wie einer, der lange, lange Zeit an einem Jucken zwischen den Schulterblättern litt, wo er nicht hinkam, fand Larry, und endlich jemanden gefunden hatte, der ganz genau wußte, wo er kratzen mußte. Er kramte in den lange brach gelegenen Archiven seines Verstandes nach einer zweiten Strophe und fand eine. »I can do some things mamma that other men can't do  They can't find the numbers baby, can't work the conqueror root  But I can, cause l'm a long ways from my home  And you know you'll hear me comin  By the whacking on my black cat bone.« Das offene, entzückte Grinsen des Jungen ließ seine Augen aufleuchten und verwandelte sie in etwas, dachte Larry, das höchstwahrscheinlich die Schenkelmuskeln eines jeden jungen Mädchens etwas entkrampfen würde. Er suchte nach einer instrumentalen Überleitung und bewerkstelligte sie gar nicht so schlecht. Seine Finger entlockten der Gitarre die richtigen Töne: hart, knapp, ein klein wenig kitschig, wie gestohlener Modeschmuck, der an einer Straßenecke aus einer Papiertüte verkauft wurde. Er prahlte ein wenig damit, wechselte aber hastig zu einem guten alten E mit drei Fingern über, ehe er die Melodie völlig versaute. An die letzte Strophe, etwas über Eisenbahnschienen, konnte er sich nicht mehr erinnern, daher wiederholte er die erste und hörte dann auf. Als Stille eingetreten war, lachte Nadine und klatschte in die Hände. Joe warf den Ast weg, hüpfte im Sand auf und ab und stiess Freudenschreie aus. Larry konnte die Veränderung des Jungen kaum fassen und ermahnte sich, sie nicht zu ernst zu nehmen. Damit würde er nur eine Enttäuschung riskieren. Musik hat einen Zauber, der selbst die wilde Bestie zähmen kann. Er fragte sich voll ungewolltem Mißtrauen, ob es wirklich so einfach sein konnte. Joe gestikulierte, und Nadine sagte: »Er möchte, dass Sie noch etwas spielen. Würden Sie das tun? Es war wunderschön. Ich fühle mich schon besser. Viel besser.« Er spielte Geoff Maladurs »Goin Downtown« und seinen eigenen »Sally's Fresno Blues«; er spielte »The Springhill Mine Disaster« und Arthur Crudups »That's All Right, Mamma«. Dann ging er zu einfachen Rock'-n'-Roll-Rhythmen über-»Milk Cow Blues«, »Jim Dandy«, »Twenty Flight Rock« (hier spielte er den Boogie-WoogieRhythmus des Refrains so gut er konnte, obwohl seine Finger mittlerweile langsam und taub wurden und schmerzten), und als Abschluß einen Song, der ihm immer gut gefallen hatte, »Endless Sleep« von Jody Reynolds. »Ich kann nicht mehr spielen«, sagte er zu Joe, der während der ganzen Darbietung reglos dagestanden hatte. »Meine Finger.« Er streckte sie aus und zeigte die tiefen Rillen, die die Saiten in seine Finger gedrückt hatten, und die abgebrochenen Nägel. Der Junge streckte ebenfalls die Hände aus. Larry überlegte einen Augenblick und zuckte innerlich die Achseln. Er gab dem Jungen die Gitarre, Hals voraus. »Man braucht viel Übung«, sagte er. Aber es erfolgte das Erstaunlichste, das er je im Leben gehört hatte. Der Junge spielte »Jim Dandy« fast fehlerlos an, aber er heulte die Worte mehr als er sie sang, als würde ihm die Zunge am Gaumen kleben. Gleichzeitig war völlig klar, daß er noch nie im Leben Gitarre gespielt hatte; er drückte die Saiten nicht fest genug, so daß der Klang nicht voll und rein war, und seine Akkordwechsel waren verzerrt und unbeholfen. Der Klang war gedämpft und gespenstisch, als würde Joe auf einer Gitarre spielen, in die man Watte gestopft hatte, aber sonst war es eine perfekte Nachahmung dessen, was Larry gespielt hatte. Als er fertig war, betrachtete Joe neugierig seine Finger, als versuchte er zu begreifen, warum sie nur die Substanz der Melodie hervorbringen konnten, die Larry gespielt hatte, aber nicht die klaren Töne selbst. Wie aus weiter Ferne hörte Larry sich benommen sagen: »Du drückst nicht fest genug, das ist alles. Du mußt Hornhaut - harte Schwielen - an den Fingerspitzen bekommen. Und die Muskeln deiner linken Hand müssen kräftiger werden.« Joe sah ihn aufmerksam an, während er sprach, aber Larry wußte nicht, ob der Junge ihn wirklich verstand. Er wandte sich an Nadine. »Wußten Sie, daß er das kann?« »Nein. Ich bin so erstaunt wie Sie. Als wäre er eine Art Wunderkind, nicht wahr?« Larry nickte. Der Junge spielte »That's All Right, Mamma« und brachte wieder fast jede Nuance, die Larry in sein Spiel hineingelegt hatte. Aber die Saiten klangen manchmal dumpf wie Holz, wenn Joes Finger die Schwingungen blockierten, anstatt sie schwingen zu lassen. »Komm, ich zeig' es dir«, sagte Larry und streckte die Hände nach der Gitarre aus. Joe kniff sofort mißtrauisch die Augen zusammen. Larry vermutete, daß er an das Messer dachte, das im Meer verschwunden war. Der Junge wich zurück und hielt die Gitarre fest. »Na gut«, sagte Larry. »Sie gehört dir. Wenn du Unterricht möchtest, komm zu mir.« Der Junge johlte vor Freude, lief mit der Gitarre den Strand entlang und hielt sie hoch über den Kopf, wie eine Opfergabe. »Er wird sie in Stücke schlagen«, sagte Larry. »Nein«, erwiderte Nadine, »das glaube ich nicht.« Irgendwann in der Nacht wachte Larry auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Nadine war eine in drei Decken gehüllte weibliche Gestalt; sie lag ein Viertel des Weges um das erloschene Feuer herum. Larry direkt gegenüber lag Joe. Auch er war in mehrere Wolldecken gehüllt, aber sein Kopf schaute heraus. Er hatte den Daumen wieder fest in den Mund gekorkt. Die Beine hatte er angezogen, dazwischen lag die zwölfsaitige Gibson. Joes freie Hand lag locker um den Hals des Instruments. Larry betrachtete ihn fasziniert. Er hatte dem Jungen das Messer weggenommen und es ins Wasser geworfen; jetzt hatte der Junge die Gitarre. Gut, sollte er sie haben. Mit einer Gitarre konnte man niemanden erstechen, obwohl sie, wie Larry vermutete, immerhin eine brauchbare stumpfe Waffe abgeben würde. Er schlief wieder ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, saß Joe mit der Gitarre im Schoß auf einem Felsen, ließ die nackten Füße in die Gischt baumeln und spielte »Sally's Fresno Blues«. Er war besser geworden. Nadine wachte zwanzig Minuten später auf und lächelte ihn strahlend an. Larry stellte fest, daß sie eine hübsche Frau war, und ihm fiel eine Zeile aus einem Song von Chuck Berry ein: Nadine, honey is that you? Laut sagte er: »Mal sehen, was wir zum Frühstück haben?« Er zündete das Feuer wieder an, und die drei setzten sich dicht darum, um die nächtliche Kälte aus den Knochen zu vertreiben. Nadine machte Haferbrei mit Milchpulver, und sie tranken starken Tee, nach Landstreicherart in einer Konservendose aufgebrüht. Joe hatte beim Essen die Gibson auf dem Schoß liegen. Und zweimal überraschte Larry sich dabei, daß er den Jungen anlächelte. Jemanden, der die Gitarre liebt, kann man nicht hassen, dachte er. Sie fuhren auf der US 1 weiter nach Süden. Joe fuhr mit seinem Rad direkt auf dem Mittelstreifen, manchmal bis zu einer Meile voraus. Als sie ihn einmal einholten, schob er sein Rad am Straßenrand entlang und aß auf amüsante Weise Brombeeren - er warf jede einzelne Beere in die Luft und fing sie dann unfehlbar mit dem Mund auf. Eine Stunde später sahen sie ihn auf einem historischen Gedenkstein des Unabhängigkeitskriegs sitzen und »Jim Dandy« auf der Gitarre spielen. Kurz vor elf Uhr kamen sie vor einer kleinen Stadt namens Ogunquit an eine bizarre Straßensperre. Drei orangerote Wagen von der städtischen Müllabfuhr blockierten die Straße in ihrer ganzen Breite. Hinten in einem der Müllbehälter lag die von Krähen angefressene Leiche eines Mannes. Die Hitze der letzten zehn Tage war nicht ohne Wirkung geblieben. Wo der Körper nicht bekleidet war, wimmelten Maden. Nadine wandte sich ab. »Wo ist Joe?« fragte sie. »Ich weiß nicht. Irgendwo da vorn.« »Ich wünschte, ihm wäre der Anblick erspart geblieben. Oder ob er's schon gesehen hat?« »Wahrscheinlich«, sagte Larry. Ihm war aufgefallen, daß die Route 1 für eine Hauptverkehrsader reichlich verödet war, seit sie Wells verlassen hatten - nicht mehr als ein Dutzend liegengebliebener Autos unterwegs. Jetzt wurde ihm der Grund dafür klar. Sie hatten die Straße gesperrt. Wahrscheinlich standen auf der anderen Seite der Stadt Hunderte, möglicherweise Tausende Autos. Er wußte, was Nadine für Joe empfand. Es wäre gut gewesen, dem Jungen das zu ersparen. »Warum hat man die Straße gesperrt?« fragte sie ihn. »Warum hat man das getan?« »Weil die Leute wahrscheinlich versucht haben, ihre Stadt abzuriegeln. Ich könnte mir vorstellen, daß wir am anderen Ende ebenfalls eine Straßensperre finden.« »Sind da noch mehr Leichen?« Larry stellte das Rad auf den Klappständer und sah nach. »Drei«, sagte er. »Drei. Ich will sie nicht zu Gesicht kriegen.« Er nickte. Sie schoben die Räder an den Autos vorbei und fuhren weiter. Der Highway führte jetzt wieder am Meer entlang, es war kühler. Ferienhäuser standen in langen, tristen Reihen zusammengedrängt. In solchen Unterkünften verbrachten Leute ihren Urlaub? fragte Larry sich verwundert. Warum nicht gleich nach Harlem gehen und die Kinder unter dem Spritzwasser der Hydranten spielen lassen? »Nicht sehr hübsch, was?« fragte Nadine. Auf beiden Straßenseiten sahen sie die Quintessenz eines schäbigen Strandbadeorts: Tankstellen, Verkaufsstände für fritierte Muscheln, Eisbuden, in fiebernden Pastellfarben gestrichene Motels, Minigolfanlagen. Der Anblick war für Larry in zweifacher Hinsicht schmerzlich. Zum einen beklagte er die triste und schreiende Häßlichkeit der Umgebung und die kranken Hirne der Menschen, die aus diesem großartigen wilden Küstenstreifen einen einzigen riesigen Vergnügungspark für Familien in Kombiwagen gemacht hatten. Aber ein umsichtiger, tieferer Teil von ihm flüsterte von den Leuten, die diesen Ort und diese Straße sonst im Sommer mit Leben erfüllt hatten. Damen in Sonnenhüten und in Shorts, die viel zu eng waren für ihre gewaltigen Hinterteile. College-Studenten in rotschwarzgestreiften Rugbyhemden. Mädchen in knappen Strandanzügen und Riemensandalen. Schreiende kleine Kinder, die Eiscreme im Gesicht verschmiert. Allesamt Amerikaner, und wenn sie in Gruppen auftraten, ging eine gewisse schmutzige, rührende Romantik von ihnen aus - ganz gleich, ob die Gruppe sich in einer Skihütte in Aspen befand oder an der US 1 in Maine ihren prosaischen Sommerritualen folgte. Und jetzt waren all diese Amerikaner fort. Ein Gewittersturm hatte einen Ast von einem Baum gerissen, und dieser hatte die riesige Plastikreklame »Dairy Treet« der Eisbude auf den Parkplatz gestoßen, wo sie wie eine verblichene Narrenkappe lag. Das Gras auf dem Minigolfplatz wucherte. Dieses Straßenstück zwischen Portland und Portsmouth war früher ein siebzig Meilen langer Vergnügungspark gewesen, aber jetzt war es nur noch eine verlassene Geisterbahn. »Nicht sehr hübsch, nein«, sagte er, »aber es hat einmal uns gehört, Nadine. Einmal hat es uns gehört, auch wenn wir noch nie hier gewesen sind. Und jetzt ist es dahin.« »Aber nicht für immer«, sagte sie, und er sah sie an, ihr sauberes, strahlendes Gesicht. Ihre Stirn, aus der das erstaunliche Haar mit den weißen Strähnen nach hinten gekämmt war, leuchtete wie eine Lampe. »Ich bin nicht religiös, aber wenn ich es wäre, würde ich das, was geschehen ist, eine Strafe Gottes nennen. In zweihundert Jahren wird alles wieder uns gehören.« »Diese Lastwagen werden auch in zweihundert Jahren nicht verschwunden sein.« »Nein, aber die Straße. Die Lastwagen werden mitten auf einem Feld oder in einem Wald stehen, und wo früher ihre Reifen waren, werden Rittersporn und Frauenschuh wachsen. Es werden keine Lastwagen mehr sein. Es werden Relikte sein.« »Ich glaube, Sie irren sich.« »Warum sollte ich mich irren?« »Weil wir andere Menschen suchen«, sagte Larry. »Und warum machen wir das? Was meinen Sie?« Sie sah ihn besorgt an. »Nun... weil es das Richtige ist«, sagte sie. »Menschen brauchen andere Menschen. Haben Sie das nicht auch gespürt? Als Sie allein waren?« »Doch«, sagte Larry. »Wenn wir einander nicht haben, werden wir vor Einsamkeit verrückt. Und wenn wir zusammen sind, dann werden wir verrückt, weil wir zusammen sind. Wenn wir zusammen sind, bauen wir meilenlange Sommerhäuserzeilen und bringen einander samstagsabends in Bars um.« Er lachte. Es war ein kalter, unglücklicher und völlig humorloser Laut, und er hing noch ziemlich lange in der Luft. »Es gibt keine Antwort. Es ist, als würde man im Innern eines Eisblocks stecken. Kommen Sie - Joe dürfte uns schon weit voraus sein.« Sie stand noch einen Moment breitbeinig über dem Fahrrad und sah mit besorgtem Blick Larrys Rücken nach. Dann folgte sie ihm. Er konnte unmöglich recht haben. Unmöglich. Wenn etwas so Monströses wie das hier passiert war, ohne einen Grund, was hatte dann alles andere für einen Sinn? Warum waren sie dann überhaupt noch am Leben? Joe war doch nicht so weit vorausgefahren. Sie fanden ihn in einer Einfahrt auf der hinteren Stoßstange eines Ford. Er blätterte in einem Sex-Magazin, das er irgendwo gefunden hatte, und Larry stellte peinlich berührt fest, daß der Junge eine Erektion hatte. Er warf Nadine einen raschen Blick zu, aber sie sah in eine andere Richtung - vielleicht absichtlich. Als sie die Einfahrt erreichten, fragte Larry: »Kommst du?« Joe legte das Magazin weg, aber statt aufzustehen, stieß er einen gutturalen, fragenden Laut aus und deutete in die Luft. Larry sah hektisch hoch und glaubte zuerst, der Junge habe ein Flugzeug gesehen. Dann rief Nadine: »Nicht der Himmel, die Scheune!« Ihre Stimme klang belegt und gepreßt vor Aufregung. »An der Scheune! Gott sei Dank, dass wir dich haben, Joe. Wir hätten es nie gesehen!« Sie ging zu Joe und nahm ihn in die Arme. Larry wandte sich zur Scheune, wo sich große weiße Buchstaben deutlich von dem verwitterten Schindeldach abhoben. SIND NACH STOVINGTON, VT. SEUCHENZENTRUM Darunter standen Wegbeschreibungen. Und ganz unten: ABFAHRT VON OGUNQUIT AM 2. JULI 1990 HAROLD EMERY LAUDER FRANCES GOLDSMITH »Mein lieber Mann, der muß mit dem Hintern ganz schön hoch im Wind gehangen haben, als er die letzte Zeile geschrieben hat«, sagte Larry. »Das Seuchenzentrum«, sagte Nadine, ohne ihn zu beachten. »Warum habe ich daran nicht gleich gedacht? Ich habe vor nicht mal drei Monaten in der Sonntagsbeilage einen Artikel darüber gelesen! Dorthin sind sie also!« »Wenn sie noch leben.« »Noch leben? Natürlich leben sie noch. Am 2. Juli war die Seuche vorbei. Und wenn sie auf das Scheunendach steigen konnten, waren sie nicht krank.« »Einer der beiden muß jedenfalls ganz schön munter gewesen sein«, stimmte Larry zu und spürte, wie sich eine fast widerwillige Aufregung in seinem Magen ausbreitete. »Wenn ich daran denke, daß ich selbst durch Vermont gefahren bin.« »Stovington liegt ein ganzes Stück nördlich des Highway 9«, sagte Nadine, die immer noch zur Scheune sah, abwesend. »Trotzdem müssen sie inzwischen dort sein, Larry. Der 2. Juli war heute vor zwei Wochen.« Ihre Augen glänzten. »Glauben Sie, es sind noch andere im Seuchenzentrum, Larry? Wäre doch möglich, meinen Sie nicht auch? Dort weiß man doch alles über Quarantäne und sterile Kleidung. Die Leute arbeiten bestimmt an einem Gegenmittel, oder?« »Ich weiß nicht«, sagte Larry vorsichtig. »Ganz bestimmt«, sagte sie ungeduldig und ein wenig aufgebracht. Larry hatte sie noch nie so erregt gesehen, nicht einmal als Joe seine erstaunliche Darbietung von Mimikry auf der Gitarre vorgeführt hatte. »Ich wette, Harold und Frances haben Dutzende Leute getroffen, vielleicht Hunderte. Wir brechen sofort auf. Der kürzeste Weg...« »Warten Sie«, sagte Larry und faßte sie an den Schultern. »Was heißt warten? Wissen Sie überhaupt...« »Ich weiß, daß die Nachricht zwei Wochen darauf gewartet hat, dass wir vorbeikommen, und sie kann noch ein wenig länger warten. Zuerst werden wir essen. Und der gute Joe, der süchtige Gitarrenspieler, schläft schon im Stehen ein.« Sie drehte sich um. Joe blätterte wieder in dem Sex-Magazin, aber sein Kopf sank herab, und die Augen, unter denen dunkle Ringe lagen, blinzelten glasig. »Sie haben doch gesagt, daß er gerade eine Infektion überstanden hat«, sagte Larry. »Und Sie haben auch eine weite Reise hinter sich... ganz zu schweigen davon, daß Sie unseren blauäugigen Gitarristen verfolgen mußten.« »Sie haben recht... daran habe ich nicht gedacht.« »Er braucht ein gutes Essen und Schlaf.« »Sicher. Joe, es tut mir leid. Das war dumm von mir.« Joe grunzte verschlafen und weitgehend desinteressiert. Bei dem, was Larry als nächstes sagen wollte, spürte er einen dicken Kloss Angst im Hals, aber es mußte gesagt werden. Wenn er es nicht sagte, würde es Nadine tun, sobald sie Ruhe zum Nachdenken hatte... und außerdem wurde es Zeit, herauszufinden, ob er sich wirklich so sehr geändert hatte, wie er glaubte. »Nadine, können Sie fahren?« »Fahren? Sie meinen, ob ich einen Führerschein habe? Ja, aber ein Auto wäre bei den vielen Hindernissen auf der Straße unpraktisch, oder nicht? Ich meine...« »Ich hatte nicht an ein Auto gedacht«, sagte er, und Ritas Bild, wie sie hinter dem geheimnisvollen Mann auf dem Soziussitz saß (in seiner Vorstellung wahrscheinlich die symbolische Darstellung des Todes), erschien plötzlich vor seinem inneren Auge: Beide waren dunkel und bleich und rasten auf einer riesigen Harley auf ihn zu, wie unheimliche apokalyptische Reiter. Bei diesem Gedanken wurde sein Mund trocken, und seine Schläfen pochten, aber er sprach mit ruhiger Stimme weiter. Jedenfalls schien Nadine nichts zu bemerken. Seltsamerweise war es Joe, der aus seinem Halbschlaf zu ihm aufsah und eine Veränderung festzustellen schien. »Ich dachte an Motorräder. Wir könnten mit weniger Anstrengung längere Strecken zurücklegen und sie um... um irgendwelche Hindernisse herumschieben. Wie wir die Fahrräder um die Lastwagen dort hinten geschoben haben.« Wachsende Erregung in ihren Augen. »Ja, das könnten wir. Ich bin noch nie mit einem Motorrad gefahren, aber das könnten Sie mir ja beibringen, nicht wahr?« Bei den Worten ich bin noch nie mit einem Motorrad gefahren wuchs Larrys Grauen. »Ja«, sagte er. »Aber ich kann Ihnen für den Anfang nur beibringen, ganz langsam zu fahren, bis Sie das Gefühl für die Maschine bekommen. Sehr langsam. Ein Motorrad verzeiht keinen Fehler, und ich kann Sie nicht zum Arzt bringen, wenn Sie auf dem Highway einen Unfall bauen.« »Dann machen wir es so. Wir werden... sagen Sie, Larry, sind Sie Motorrad gefahren, bevor Sie uns getroffen haben? Müssen Sie wohl, sonst hätten Sie es nicht so schnell von New York bis hier geschafft.« »Ich hab' die Maschine stehenlassen«, sagte er ruhig. »Es hat mich nervös gemacht, allein zu fahren.« »Gut, jetzt sind Sie nicht mehr allein«, sagte Nadine fröhlich. Sie wirbelte zu Joe herum. »Wir fahren nach Vermont, Joe! Wir werden andere Menschen treffen! Ist das nicht schön? Ist das nicht großartig?« Joe gähnte. Nadine sagte, sie wäre zu aufgeregt zum Schlafen, würde sich aber mit Joe hinlegen, bis dieser eingeschlafen war. Larry fuhr nach Ogunquit, um eine Motorradhandlung zu suchen. Er fand keine, aber er glaubte, auf der Fahrt durch Wells eine gesehen zu haben. Er fuhr zurück, um es Nadine zu sagen, aber die beiden schliefen im Schatten des blauen Ford, wo Joe das Oui durchgeblättert hatte. Er legte sich ein Stück von ihnen entfernt hin, konnte aber nicht schlafen. Schließlich überquerte er die Straße und ging durch das kniehohe Timoteusgras zur Scheune hinüber, wo sich die Aufschrift befand. Tausende Grashüpfer sprangen ihm panisch aus dem Weg, wenn er sich ihnen näherte, und Larry dachte: lch bin ihre Heimsuchung. Ich bin ihr dunkler Mann. In der Nähe der breiten Doppeltür fand er zwei leere Pepsidosen und die Kruste eines Sandwichs. In normalen Zeiten hätten sich die Möwen sicher schon die Kruste geholt, aber die Zeiten hatten sich geändert, und die Möwen waren zweifellos besseres Essen gewohnt. Er stieß die Kruste mit der Stiefelspitze an, dann eine der Dosen. Bringen Sie das sofort ins Labor, Sergeant Briggs. Ich glaube, unser Killer hat endlich einen Fehler gemacht. Sofort, Inspektor Underwood. Der Tag, als Scotland Yard beschlossen hat, Sie zu uns zu schicken, war ein Glückstag für Squinchly-on-the-Green. Nicht der Rede wert, Sergeant. Ich tue nur meine Pflicht. Larry trat ein - es war dunkel, heiß und vom sanften Flügelschlag der Schwalben erfüllt. Der Heugeruch war angenehm. Es waren keine Tiere im Stall; der Besitzer mußte sie freigelassen haben, damit sie die Supergrippe überlebten oder starben, anstatt sie dem sicheren Hungertod auszuliefern. Merken Sie das für die Untersuchung des Gerichtsmediziners vor, Sergeant. Selbstverständlich, Inspektor Underwood. Er sah auf den Boden und erblickte die Verpackung eines Schokoriegels. Er hob sie auf. Es war einst ein Payday-Riegel darin eingewickelt gewesen. Der Scheunenschreiber hatte Mut gehabt. Aber guten Geschmack? Nein. Wem Payday-Riegel schmeckten, der hatte zu lange in der Sonne gelegen. Sprossen, die zum Heuboden führten, waren an einen Stützbalken genagelt. Larry, der bereits schweißnaß war und nicht einmal wußte, was er hier suchte, kletterte hinauf. In der Mitte des Heubodens (er ging langsam und hielt nach Ratten Ausschau) führte eine ganz normale Leiter zum Schober hinauf; die Sprossen waren von weißen Farbspritzern übersät. Ich glaube, Sergeant, wir sind über einen weiteren Fund gestolpert. Inspektor, ich kann es nicht fassen. Ihr ermittlerischer Scharfsinn wird nur noch von Ihrem guten Aussehen und der außergewöhnlichen Länge Ihres Fortpflanzungsorgans übertroffen. Nicht der Rede wert, Sergeant. Er ging auf den Schober. Dort oben war es noch heißer, drückend heiß. Wenn Francis und Harold die Farbe nach getaner Arbeit hier oben gelassen hätten, überlegte Larry, wäre die ganze Scheune schon vor einer Woche bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Fenster waren staubig und voll zerrissener Spinnweben, die zweifellos frisch gesponnen worden waren, als Gerald Ford noch Präsident war. Ein Fenster war geöffnet worden, und als sich Larry hinausbeugte, hatte er eine meilenweite, atemberaubende Aussicht über das umliegende Land. Diese Seite der Scheune lag nach Osten, und Larry befand sich in so großer Höhe, daß die Unfallstellen am Straßenrand, die so abgrundtief häßlich waren, wenn man sie vom Boden aus sah, von hier oben so harmlos wie kleine Abfallhaufen auf dem Straßenbelag wirkten. Jenseits des Highways, erhaben, war das Meer, dessen anstürmende Wogen sauber von dem Wellenbrecher aufgehalten wurden, der von der Nordseite des Hafens hinaus ins Meer verlief. Das Land war ein Ölgemälde des Hochsommers, grün und gold, im ruhigen Dunst des Nachmittags. Er konnte Salz und Tang riechen. Und wenn er über das Dach blickte, konnte er Harolds Schild verkehrt herum sehen. Wenn er nur daran dachte, so hoch über dem Boden auf dem Dach herumzuklettern, verspürte Larry Übelkeit im Magen. Und der Bursche mußte wirklich über die Regenrinne hinausgehangen haben, um den Namen des Mädchens zu schreiben. Warum hat er sich diese Mühe gemacht, Sergeant? Ich glaube, diese Frage sollten wir uns selbst stellen. Wenn Sie meinen, Inspektor Underwood. Er ging die Treppe hinunter, langsam und mit vorsichtigen Schritten. Bloß kein Bein brechen. Unten fiel ihm etwas anderes auf, etwas, das in einen Stützbalken eingeschnitzt war, erstaunlich frisch und weiß und in deutlichem Kontrast zur ansonsten staubigen Dunkelheit des Schuppens. Er ging zu dem Balken und betrachtete das Geschnitzte, dann strich er mit dem Daumen darüber, teilweise belustigt, teilweise erstaunt, daß ein anderer Mensch das gemacht hatte, während er und Rita nach Norden gereist waren. Er strich noch einmal mit dem Fingernagel über die geschnitzten Buchstaben. In einem Herz. Mit einem Pfeil. Ich glaube, Sergeant, der Tölpel muß verliebt gewesen sein. »Schön für dich, Harold«, sagte Larry und ging aus der Scheune. Der Motorradladen in Wells war eine Honda-Vertretung, und daran, wie die Motorräder aufgereiht waren, erkannte Larry, daß zwei fehlten. Auf einen zweiten Fund war er noch stolzer - ein zerknülltes Süßigkeitenpapier neben dem Papierkorb. Ein Payday-Riegel. Es sah aus, als hätte jemand - höchstwahrscheinlich der verliebte Harold Lauder - einen Schokoriegel gegessen, während er überlegt hatte, welche Motorräder für ihn und seine Angebetete am geeignetsten sein würden. Er hatte das Papier zusammengeknüllt und in Richtung Abfallkorb gezielt. Und ihn verfehlt. Nadine hielt Larrys Schlußfolgerungen für stichhaltig, war aber nicht so beeindruckt davon wie Inspektor Underwood selbst. Sie betrachtete die verbliebenen Motorräder und konnte es kaum erwarten, aufzubrechen. Joe sass auf den Stufen zum Ausstellungsraum, spielte die zwölfsaitige Gibson und grölte zufrieden. »Wissen Sie«, sagte Larry, »es ist jetzt fünf Uhr. Es ist ganz unmöglich, vor morgen aufzubrechen.« »Aber wir haben noch drei Stunden Tageslicht! Wir können nicht einfach herumsitzen! Vielleicht verpassen wir sie!« »Wenn wir sie verpassen, ist das Pech«, sagte er. »Harold Lauder hat eindeutige Hinweise hinterlassen, bis hin zu den Straßen, auf denen sie fahren wollten. Wenn sie weiterreisen, wird er es wahrscheinlich wieder machen.« »Aber...« »Ich weiß, daß Sie es eilig haben«, sagte er und legte ihr die Hände auf die Schultern. Er merkte, wie die alte Ungeduld in ihm aufstieg, und zwang sich, sie zu verdrängen. »Aber Sie haben noch nie auf einem Motorrad gesessen.« »Aber ich kann radfahren. Und ich weiß, wie man die Kupplung betätigt, das habe ich Ihnen gesagt. Bitte, Larry. Wenn wir keine Zeit vergeuden, können wir heute in New Hampshire übernachten und morgen abend schon fast dort sein. Wir...« »Es ist aber kein Fahrrad, verdammt noch mal!« brüllte er los, und die Gitarre hinter ihm verstummte mit einem Mißklang. Er sah, dass Joe mit zusammengekniffenen und sofort mißtrauischen Augen über die Schulter zu ihnen blickte. Mein Gott, ich habe aber auch eine Art, mit den Leuten umzugehen, dachte Larry. Das machte ihn noch wütender. Nadine sagte leise: »Sie tun mir weh.« Er sah, daß seine Finger sich in das weiche Fleisch ihrer Schultern gegraben hatten, und seine Wut verwandelte sich in dumpfe Scham. »Verzeihung«, sagte er. Joe sah ihn immer noch an, und Larry wurde klar, daß er den Boden, den er bei dem Jungen gewonnen hatte, halb wieder verloren hatte. Vielleicht mehr. Nadine hatte etwas gesagt. »Was?« »Ich wollte wissen, warum ein Motorrad nicht wie ein Fahrrad ist.« Sein erster Impuls war, sie anzuschreien: Wenn du so verdammt schlau bist, dann steig doch auf und versuch's. Du wirst schon sehen, wie die Welt aussieht, wenn dein Kopf plötzlich verkehrtherum auf deinen Schultern sitzt. Aber er beherrschte sich. Er hatte nicht nur bei dem Jungen Boden verloren, auch bei sich selbst. Er war vielleicht auf der anderen Seite herausgekommen, aber mit ihm ein Teil des alten, kindischen Larry, der an ihm klebte und ihm folgte wie ein Schatten, der in der Nachmittagssonne geschrumpft, aber nicht ganz verschwunden ist. »So eine Maschine ist viel schwerer als ein Rad«, sagte er. »Wenn man aus dem Gleichgewicht kommt, kann man das nicht so leicht abfangen wie bei einem Fahrrad. Eine Dreihundertsechziger wiegt an die dreieinhalb Zentner. Man gewöhnt sich ziemlich schnell an das größere Gewicht, aber man muß sich eben erst daran gewöhnen. In einem normalen Auto betätigt man die Gangschaltung mit der Hand und das Gas mit dem Fuß. Bei einem Motorrad ist es genau umgekehrt: Man betätigt die Gangschaltung mit dem Fuß, das Gas mit der Hand, das ist eine gewaltige Umstellung. Es gibt nicht nur eine Bremse, sondern zwei. Mit dem rechten Fuß bremst man das Hinterrad, mit der rechten Hand das Vorderrad. Wenn man das vergißt und nur die Handbremse betätigt, fliegt man höchstwahrscheinlich in hohem Bogen über den Lenker. Außerdem müssen Sie sich daran gewöhnen, daß Sie einen Passagier hinter sich sitzen haben.« »Joe? Aber ich dachte, der würde mit Ihnen fahren.« »Von mir aus gern«, sagte Larry. »Aber ich glaube nicht, daß er mich im Augenblick sonderlich gern hat. Oder sind Sie da anderer Meinung?« Nadine sah Joe lange bekümmert an. »Nein«, sagte sie und seufzte. »Vielleicht will er nicht einmal mit mir fahren. Vielleicht hat er Angst.« »Falls doch, sind Sie für ihn verantwortlich. Ich will nicht erleben, dass Sie stürzen.« »Ist Ihnen das passiert, Larry? Waren Sie mit jemand unterwegs?« »Ja«, sagte Larry, »und ich bin auch gestürzt. Aber zu dem Zeitpunkt war die Dame, mit der ich unterwegs war, schon tot.« »Ist sie mit dem Motorrad verunglückt ?« Nadines Gesicht war ganz ruhig. »Nein. Ich würde sagen, es war zu siebzig Prozent ein Unfall und zu dreißig Prozent Selbstmord. Was sie von mir brauchte... Freundschaft, bekam sie nicht genug.« Er war jetzt aufgeregt; seine Schläfen pochten dumpf, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er war den Tränen nahe. »Sie hieß Rita. Rita Blakemoor. Ich würde es bei Ihnen gerne besser machen, das ist alles. Bei Ihnen und Joe.« »Larry, warum haben Sie mir das nicht vorher erzählt?« »Weil es weh tut, darüber zu reden«, sagte er ohne Umschweife. »Es tut sehr weh.« Das war die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Da waren noch die Träume. Er fragte sich, ob Nadine Alpträume hatte - letzte Nacht war er kurz aufgewacht, da hatte sie sich unruhig hin und her gewälzt und gemurmelt. Aber sie hatte sich nicht darüber geäußert. Und Joe? Hatte Joe Alpträume? Nun, was die beiden anging, wußte er es nicht, aber der furchtlose Inspektor Larry Underwood von Scotland Yard hatte Angst vor seinen Träumen... und wenn Nadine mit dem Motorrad stürzte, würden sie vielleicht wiederkommen. »Gut, dann fahren wir morgen«, sagte sie. »Und heute abend bringen Sie es mir bei.« Aber zuerst stellte sich das Problem, die beiden kleinen Motorräder, die Larry ausgesucht hatte, aufzutanken. Die Vertretung hatte eine Zapfsäule, aber ohne Strom funktionierte sie nicht. Er fand ein weiteres Süßigkeitenpapier neben der Abdeckung, unter der sich der unterirdische Tank befand, und leitete daraus ab, daß der stets findige Harold Lauder die Abdeckplatte erst vor kurzem aufgebrochen haben mußte. Verliebt oder nicht, Payday-süchtig oder nicht, Larry empfand eine Menge Respekt vor Harold, den er beinahe mochte, ohne ihn zu kennen. Er hatte sich im Geiste schon ein Bild von Harold gemacht. Wahrscheinlich Mitte Dreißig, möglicherweise Farmer, groß und braungebrannt, mager, vielleicht nicht besonders helle, aber dafür mit jeder Menge Bauernschläue. Er grinste. Es war albern, sich ein Bild von jemand zu machen, den man nie gesehen hatte, denn die Leute waren nie so, wie man sie sich vorstellte. Schließlich kannte jeder den Witz von dem über dreihundert Pfund schweren Discjockey mit der Fistelstimme. Während Nadine ein kaltes Abendessen zusammenstellte, sah sich Larry auf dem Gelände der Vertretung um. Er fand einen großen Mülleimer aus Blech. Eine Brechstange lehnte daran, am oberen Rand hing ein Stück Gummischlauch heraus. Hab' ich dich wieder erwischt, Harold! Sehen Sie sich das an, Sergeant Briggs. Unser Mann hat Benzin aus dem unterirdischen Tank geschläuchelt, damit er weiterfahren kann. Überrascht mich, daß er den Schlauch nicht mitgenommen hat. Vielleicht hat er ein Stück abgeschnitten, und das ist der Rest, Inspektor Underwood - bitte um Verzeihung, aber immerhin ist es in der Mülltonne. Beim Jupiter, Sergeant, Sie haben recht. Ich werde Sie für eine Beförderung vorschlagen. Er nahm Brechstange und Gummischlauch mit zur Tankabdeckung. »Joe, kannst du einen Moment herkommen und mir helfen?« Der Junge, der Käse und Cracker aß, sah auf und betrachtete Larry mißtrauisch. »Geh, ist schon gut«, sagte Nadine leise. Joe kam mit schlurfenden Schritten zu ihm. Larry schob die Brechstange in den Schlitz der Platte.»Stemm dich drauf, mal sehen, ob wir sie hochkriegen«, sagte er. Einen Moment dachte er, der Junge hätte ihn nicht verstanden oder wollte ihn nicht verstehen. Aber dann nahm er das andere Ende der Stange und drückte darauf. Seine Arme waren dünn, aber sehnig und muskulös, jene Art von Muskeln, die arbeitende Männer aus armen Familien immer zu haben scheinen. Die Platte neigte sich etwas, kam aber nicht so weit aus der Einfassung, daß Larry die Finger darunter stemmen konnte. »Leg dich drauf«, sagte er. Die halbwilden Schlitzaugen betrachteten ihn einen Moment gelassen, dann balancierte Joe auf der Brechstange und hob die Füße vom Boden, als er das ganze Gewicht auf die Stange stemmte. Die Platte kam ein Stückchen höher als vorher, so hoch, daß Larry jetzt die Finger darunter schieben konnte. Während er die Platte zu packen versuchte, schoß es ihm durch den Kopf, daß der Junge jetzt die beste Gelegenheit hatte zu beweisen, ob er ihn immer noch nicht leiden konnte. Wenn Joe das Gewicht von der Brechstange nahm, würde die Platte herunterknallen und ihm bis auf die Daumen sämtliche Finger zerquetschen. Das war auch Nadine klar geworden, wie Larry bemerkte. Sie hatte eines der Motorräder betrachtet, drehte sich nun aber um und beobachtete die beiden; ihr ganzer Körper war nervös verkrampft. Ihre dunklen Augen sahen von Larry, der auf einem Knie kauerte, zu Joe, der Larry ansah, während er sein Körpergewicht auf die Stange stemmte. Die Meerwasseraugen waren unergründlich. Und Larry konnte immer noch keinen Halt finden. »Brauchen Sie Hilfe?« fragte Nadine, deren normalerweise ruhige Stimme jetzt ein klein wenig schrill klang. Schweiß lief ihm in ein Auge, er blinzelte ihn weg. Immer noch kein fester Griff. Er konnte Benzin riechen. »Ich glaube, wir schaffen es«, sagte Larry und blickte sie direkt an. Einen Augenblick später glitten seine Finger in eine leichte Vertiefung an der Unterseite der Platte. Er stemmte die Schultern dagegen, die Platte hob sich und prallte mit einem dumpfen Scheppern auf den Asphaltboden. Er hörte Nadine seufzen und die Brechstange auf den Boden klirren. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Jungen an. »Gute Arbeit, Joe«, sagte er. »Wenn du die Stange losgelassen hättest, hätte ich mir für den Rest meines Lebens den Hosenschlitz mit den Zähnen hochziehen müssen. Danke.« Er erwartete keine Antwort (außer vielleicht einem undefinierbaren Heulen, während Joe wieder zum Motorrad zurückging), aber Joe sagte mit krächzender, angestrengter Stimme: »Gengeschen.« Larry warf Nadine einen Blick zu, die erst ihn ansah und dann Joe. Ihr Gesicht zeigte Überraschung und Freude, aber irgendwie sah sie aus - warum, konnte er nicht genau sagen -, als hätte sie es erwartet. Es war ein Ausdruck, den er schon einmal gesehen hatte, momentan aber nicht deutlich fassen konnte. »Joe«, sagte er, »hast du >gern geschehen< gesagt?« Joe nickte heftig. »Gengeschen. Gengeschen.« Nadine streckte die Arme aus und lächelte. »Das ist gut, Joe. Sehr, sehr gut.« Joe ging zu ihr und ließ sich einen Augenblick oder zwei von ihr in den Arm nehmen. Dann sah er wieder die Motorräder an, heulte und kicherte vor sich hin. »Er kann sprechen«, sagte Larry. »Ich wußte, daß er nicht stumm ist«, antwortete Nadine. »Aber es ist schön zu wissen, daß er wieder zu sich selbst finden kann. Ich glaube, er brauchte zwei von unserer Sorte. Zwei Hälften. Er... ach, ich weiß auch nicht.« Er sah, daß sie errötete, und glaubte, den Grund zu wissen. Er schob das Stück Gummischlauch in das Loch im Beton und wurde sich plötzlich darüber klar, daß das, was er da machte, als symbolische (und recht vulgäre) Anspielung interpretiert werden konnte. Er sah hastig zu ihr auf. Sie wandte sich schnell ab, aber ihm war nicht entgangen, wie gebannt sie beobachtete, was er tat, und wie rot ihre Wangen waren. Eine Woge greller Angst stieg in ihm auf, und er rief: »Um Himmels willen, Nadine, paß auf!« Sie konzentrierte sich auf die Handkontrollen und achtete nicht darauf, wohin sie fuhr, und sie war im Begriff, die Honda mit halsbrecherischen fünf Meilen die Stunde gegen eine Pinie zu rammen. Sie sah auf, und er hörte sie mit verblüffter Stimme »Oh!« sagen. Dann schlug sie vi el zu heftig den Lenker ein und fiel vom Motorrad. Die Honda wurde abgewürgt. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er zu ihr lief. »Alles in Ordnung? Nadine? Alles...« Dann richtete sie sich benommen auf und betrachtete die aufgeschürften Hände. »Ja, alles klar. Zu dumm, daß ich nicht darauf geachtet habe, wohin ich fahre. Ist dem Motorrad was passiert?« »Lassen Sie das Scheißmotorrad, ich möchte Ihre Hände sehen.« Sie streckte sie ihm hin, und er nahm eine Plastikflasche Bactine aus der Hosentasche und sprühte sie damit ein. »Sie zittern«, sagte sie. »Kümmern Sie sich nicht darum«, antwortete Larry gröber als beabsichtigt. »Hören Sie, vielleicht sollten wir lieber bei den Fahrrädern bleiben. Es ist gefährlich...« »Das Atmen auch«, antwortete sie ruhig. »Und ich glaube, Joe sollte mit Ihnen fahren, jedenfalls am Anfang.« »Er wird nicht...« »Ich glaube doch«, sagte Nadine und sah ihm ins Gesicht. »Und Sie auch.« »Hören wir für heute abend auf. Man kann fast nichts mehr sehen.« »Noch einmal. Habe ich nicht gelesen, daß man gleich wieder aufsteigen soll, wenn einen das Pferd abwirft?« Joe, der Blaubeeren aus einem Motorradhelm mampfte, kam herüber. Er hatte wilde Blaubeerbüsche hinter der Vertretung gefunden und die Beeren gepflückt, während Nadine ihre erste Lektion bekommen hatte. »Na gut«, sagte Larry resigniert. »Aber passen Sie bitte auf, wohin Sie fahren.« »Ja, Sir. Gut, Sir.« Sie salutierte und lächelte ihn an. Sie hatte ein wunderbares, zaghaftes Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellte. Larry erwiderte das Lächeln; was konnte er schon machen. Wenn Nadine lächelte, lächelte sogar Joe. Diesmal fuhr sie zweimal rund um den Platz und dann auf die Straße hinaus, lenkte wieder zu heftig, und wieder schlug Larrys Herz bis zum Hals. Aber sie stützte sich geschickt mit dem Fuß ab, wie er ihr beigebracht hatte, und fuhr den Hügel hinauf. Er sah sie vorsichtig in den zweiten Gang schalten. Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld. Er hörte noch, wie sie in den dritten Gang schaltete. Dann wurde das Dröhnen des Motors zu einem Summen und verstummte schließlich ganz. Larry stand ängstlich in der Dunkelheit und schlug ab und zu geistesabwesend nach einem Moskito. Joe kam wieder herüber; sein Mund war blau. »Gengeschen«, sagte er und grinste. Larry brachte als Antwort ein gepreßtes Lächeln zustande. Wenn sie nicht bald zurückkam, würde er ihr folgen. Visionen, wie er sie mit gebrochenem Genick im Straßengraben fand, geisterten düster durch seinen Kopf. Als er schon zum Motorrad ging und sich fragte, ob er Joe mitnehmen sollte oder nicht, hörte er wieder das dröhnende Summen, welches zum Motorenlärm der Honda anschwoll, die im vierten Gang heranbrauste. Er entspannte sich... etwas. Ihm wurde widerwillig klar, daß er sich niemals völlig würde entspannen können, wenn sie mit diesem Ding fuhr. Sie kam wieder in Sicht; der Scheinwerfer des Motorrads war jetzt eingeschaltet. Sie hielt neben ihm. »Ganz gut, hm?« Sie stellte den Motor ab. »Ich wollte Ihnen schon hinterherfahren. Ich dachte, Sie hätten einen Unfall gebaut.« »In gewisser Weise hatte ich auch einen.« Sie sah, wie er sich verkrampfte, und fügte hinzu: »Ich habe zu langsam gewendet und vergessen, die Kupplung zu drücken. Ich hab' den Motor abgewürgt.« »Oh. Genug für heute, hm?« »Ja«, sagte sie. »Mein Steiß tut weh.« In dieser Nacht lag er unter der Decke und fragte sich, ob sie zu ihm kommen würde, wenn Joe eingeschlafen war, oder ob er zu ihr gehen sollte. Er begehrte sie. Und danach zu urteilen, wie sie seine absurde kleine Darbietung mit dem Gummischlauch verfolgt hatte, begehrte sie ihn seiner Meinung nach auch. Schließlich schlief er ein. Er träumte, daß er sich in einem Maisfeld verirrt hatte. Aber er hörte Musik, Gitarrenmusik. Joe spielte Gitarre. Wenn er Joe fand, würde alles gut werden. Also folgte er den Klängen, brach durch eine Reihe Mais nach der anderen, wenn es sein mußte, und gelangte schließlich zu einer unregelmäßigen Lichtung. Dort stand ein kleines Haus, eigentlich mehr eine Hütte, deren Veranda von rostigen alten Wagenhebern gestützt wurde. Nicht Joe spielte die Gitarre. Wie wäre das auch möglich gewesen? Denn Joe hielt seine linke Hand, Nadine seine rechte. Sie waren bei ihm. Eine alte Frau spielte Gitarre, eine Art Jazz-Spiritual, das Joe zum Lächeln brachte. Die alte Frau war schwarz, sie saß auf der Veranda, und Larry vermutete, daß sie die älteste Frau war, die er in seinem Leben gesehen hatte. Aber sie hatte etwas an sich, das ihn mit Wärme und Wohlbehagen erfüllte... so wie früher bei seiner Mutter, als er noch klein gewesen war und sie ihn plötzlich in den Arm genommen und gesagt hatte: Da kommt der beste Junge, da kommt Alice Underwoods allerbester Junge. Die alte Frau hörte auf zu spielen und blickte zu ihnen herüber. Sieh einer an, ich hab' Gesellschaft. Kommt raus, damit ich euch sehen kann, meine Gucker sind nicht mehr das, was sie mal waren. Also kamen sie näher, alle drei, Hand in Hand, und Joe streckte die Hand aus und schubste die alte Reifenschaukel an, als sie daran vorbei kamen. Der krapfenförmige Schatten des Reifens glitt auf dem unkrautüberwucherten Boden hin und her. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, auf einer Insel in einem Meer von Mais. Im Norden verlief ein Feldweg, der am Horizont zu einem Punkt wurde. Möchtest du gerne damit spielen, mein Kleiner? fragte sie Joe, und Joe ging freudig zu ihr und nahm ihr die Gitarre aus den knotigen Händen. Er spielte die Melodie, der sie durch den Mais gefolgt waren, aber schneller und besser als die alte Frau. Gott segne ihn, er spielt gut. Ich bin zu alt. Die Finger sind nicht mehr so schnell. Liegt am Rheuma. Aber 1895 hab' ich in der Stadthalle gespielt. Ich war die erste Negerin, die je dort gespielt hatte, die allerbeste. Nadine fragte die Frau, wer sie war. Sie befanden sich in einer Art zeitlosem Ort, wo die Sonne eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit stehengeblieben zu sein schien und der Schatten der Schaukel, die Joe angeschubst hatte, für alle Zeiten über den überwucherten Hof gleiten würde. Larry wünschte sich, er könnte für immer hier bleiben, er und seine Familie. Es war ein guter Ort. Hier konnte der Mann ohne Gesicht ihn nie erwischen und Nadine und Joe auch nicht. Mutter Abagail, so nennt man mich. Ich glaube, ich bin die älteste Frau in Ostnebraska, und ich back' meine Plätzchen immer noch selbst. Kommt so schnell wie möglich zu mir. Wir müssen gehen, bevor er Wind von uns bekommt. Eine Wolke zog vor die Sonne. Die Schaukel bewegte sich nicht mehr. Joe hörte mit einem scheppernden Mißklang auf zu spielen, und Larry spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Die alte Frau schien es nicht zu bemerken. Bevor wer Wind von uns bekommt? fragte Nadine, und Larry wünschte sich, er könnte sprechen, aufschreien, sie möge die Frage zurücknehmen, bevor sie davonschnellen und ihnen schaden konnte. Der schwarze Mann. Der Diener des Teufels. Wir haben die Rockies zwischen ihm und uns, Gott sei Dank, aber die werden ihn nicht aufhalten. Darum müssen wir zusammenfinden. In Colorado. Gott ist mir im Traum erschienen und hat mir gezeigt, wo. Aber wir müssen schnell sein, so schnell wir können. Also kommt zu mir. Auch andere sind zu mir unterwegs. Nein, sagte Nadine mit kalter, ängstlicher Stimme. Wir gehen nach Vermont, das ist alles. Nur nach Vermont - nur ein kurzer Ausflug. Eure Reise wird länger sein als unsere, wenn ihr nicht gegen seine Macht kämpft, antwortete die alte Frau in Larrys Traum. Sie sah Nadine sehr traurig an. Dies könnte ein guter Mann sein, den du da bei dir hast, Frau. Er will etwas aus sich machen. Warum hilfst du ihm nicht, anstatt ihn zu benützen? Nein! Wir gehen nach Vermont, nach VERMONT! Die alte Frau lachte Nadine mitleidig aus. Du wirst direkt in die Hölle gehen, wenn du nicht aufpaßt, Tochter Evas. Und wenn du dort bist, wirst du feststellen, daß die Hölle kalt ist. Da zersplitterte der Traum in Bruchstücke von Dunkelheit, die ihn verschluckten. Aber etwas in dieser Dunkelheit verfolgte ihn. Es war kalt und gnadenlos, und jeden Moment würde er seine grinsenden Zähne zu sehen bekommen. Aber bevor das geschah, wachte er auf. Es war eine halbe Stunde vor Anbruch der Dämmerung, die Welt war in dichten weißen Bodennebel gehüllt, der sich verziehen würde, wenn die Sonne aufgegangen war. Das Gebäude der Motorradvertretung ragte daraus hervor wie ein seltsamer Schiffsbug, der aus Mauersteinen statt aus Holz gebaut war. Jemand war neben ihm, und er sah, daß nicht Nadine in der Nacht zu ihm gekommen war, sondern Joe. Der Junge lag neben ihm, hatte den Daumen in den Mund gedrückt und zitterte im Schlaf, als hätte er seinen eigenen Alptraum. Larry fragte sich, ob Joes Träume so anders als die seinen waren... und er lag auf dem Rücken, starrte in den weißen Nebel und dachte darüber nach, bis die anderen eine Stunde später aufwachten. Als sie mit dem Frühstück fertig waren, hatte sich der Nebel so weit verzogen, daß sie die Sachen auf die Motorräder packen und aufbrechen konnten. Wie Nadine gesagt hatte, zögerte Joe nicht, bei Larry mitzufahren; er stieg sogar unaufgefordert auf Larrys Motorrad. »Langsam«, sagte Larry zum vierten Mal. »Wir werden uns nicht beeilen und einen Unfall bauen.« »Prima«, sagte Nadine. »Ich bin so aufgeregt. Es ist wie eine heilige Suche!« Sie lächelte ihn an, aber Larry konnte das Lächeln nicht erwidern. Rita Blakemoor hatte etwas ganz Ähnliches gesagt, als sie New York City verlassen hatten. Zwei Tage vor ihrem Tod hatte sie es gesagt. Zum Mittagessen hielten sie in Epsom, aßen gebackenen Schinken aus der Dose und tranken Orangenlimonade unter dem Baum, wo Larry eingeschlafen war und Joe mit dem Messer über ihm gestanden hatte. Larry hatte erleichtert festgestellt, daß das Motorradfahren gar nicht so schlimm war, wie er gedacht hatte; meistens kamen sie ganz gut voran, und selbst in den Ortschaften war es nur nötig, im Schrittempo über die Bürgersteige dahinzurollen. Nadine war vor unübersichtlichen Kurven außerordentlich vorsichtig, und selbst auf offener Straße drängte sie Larry nicht, schneller als die fünfunddreißig Meilen zu fahren, die er vorlegte. Wenn kein schlechtes Wetter dazwischenkam, konnten sie nach seiner Vermutung am 19. in Stovington sein. Zum Abendessen hielten sie westlich von Concord, und Nadine sagte, sie könnten Zeit sparen, wenn sie statt der Route von Lauder und Goldsmith direkt auf der Verbindungsstraße 189 fuhren. »Dort dürften jede Menge Staus sein«, sagte Larry zweifelnd. »Die können wir umgehen«, sagte sie zuversichtlich, »und, wenn nötig, auf der Standspur fahren. Schlimmstenfalls müssen wir zurück zu einer Ausfahrt und auf eine Nebenstraße ausweichen.« Sie versuchten es zwei Stunden nach dem Essen und kamen tatsächlich an eine Barrikade von einer Seite der Fahrspuren nach Norden auf die andere. Kurz hinter Warner war ein Auto mit Wohnwagen wie ein Taschenmesser zusammengeklappt; der Fahrer und seine Frau, seit Wochen tot, lagen wie Sandsäcke auf den Vordersitzen ihres Electra. Zu dritt gelang es ihnen, die Motorräder über die geknickte Kupplung zwischen Auto und Anhänger zu heben. Danach waren sie so erschöpft, daß sie nicht mehr weiter konnten, und in dieser Nacht erwog Larry nicht, ob er zu Nadine sollte, die ihre Decke zehn Schritte von ihm ausgebreitet hatte (der Junge lag zwischen ihnen). In dieser Nacht war er so müde, daß er nur schlafen wollte. Am nächsten Tag kamen sie an ein Hindernis, das sie nicht umgehen konnten. Ein Lastwagen war umgestürzt, und sechs Autos waren hineingerast. Glücklicherweise lag die Ausfahrt Enfield erst zwei Meilen hinter ihnen. Sie fuhren zurück, die Ausfahrt hinunter und machten müde und entmutigt im Stadtpark von Enfield zwanzig Minuten Rast. »Was haben Sie vorher gemacht, Nadine?« fragte Larry. Er hatte an den Ausdruck in ihren Augen gedacht, als Joe endlich gesprochen hatte (der Junge hatte seinem Wortschatz mittlerweile noch >Larry, Nadine, dangefön< und >musaufsklo< hinzugefügt), und nun stellte er eine darauf beruhende Vermutung an. »Waren Sie Lehrerin?« Sie sah ihn überrascht an. »Ja. Gut geraten.« »Grundschule?« »Richtig. Erst- und Zweitkläßler.« Das erklärte ihre unerbittliche Weigerung, Joe zurückzulassen. Zumindest geistig war der Junge auf dem Stadium eines Siebenjährigen verblieben. »Wie haben Sie es erraten?« »Ich bin vor langer Zeit einmal mit einer Sprachtherapeutin aus Long Island ausgegangen «, sagte Larry. »Ich weiß, das hört sich wie der Anfang eines typischen New-York-Witzes an, aber es stimmt. Sie arbeitete für die Ocean-View-Schule. Untere Klasse. Kinder mit Sprachproblemen, Gaumendeformierungen, Hasenscharten, Gehörlosigkeit. Sie sagte immer, daß man den Kindern nur andere Möglichkeiten zeigen muß, die richtigen Laute hervorzubringen, um ihre Sprachstörungen zu beheben. Zeigen, das Wort sagen, zeigen, das Wort sagen. Immer wieder, bis etwas im Kopf des Kindes klick machte. Und wenn sie über dieses Klick redete, sah sie aus wie Sie, als Joe >gern geschehen< gesagt hat.« »Wirklich?« Sie lächelte ein wenig sehnsüchtig. »Ich hatte die Kleinen so gern. Manche waren störrisch, aber in diesem Alter sind sie noch nicht unwiderruflich verdorben. Die Kleinen sind die einzigen guten Menschen.« »Reichlich romantische Vorstellung, finden Sie nicht?« Sie zuckte die Achseln. »Kinder sind gut. Und wenn man mit ihnen arbeitet, muß man romantisch sein. Das ist nicht so schlimm. War Ihre Sprachtherapeutin nicht glücklich in ihrem Beruf?« »Doch, hat ihr gefallen«, stimmte Larry zu. »Waren Sie verheiratet? Vorher?« Da war es wieder - dieses einfache, unscheinbare Wort. Vorher. Nur zwei Silben, aber es war allumfassend geworden. »Verheiratet? Nein. Nicht verheiratet.« Sie sah wieder nervös aus. »Ich bin die klassische altjüngferliche Lehrerin, jünger, als ich aussehe, aber älter, als ich mich fühle. Siebenunddreißig.« Er hatte ihr Haar betrachtet, ehe er es verhindern konnte, und sie nickte, als hätte er es laut gesagt. »Vorzeitig ergraut«, sagte sie sachlich. »Als meine Großmutter vierzig war, war ihr Haar schlohweiß. Ich vermute, ich habe mindestens fünf Jahre länger Zeit.« »Wo haben Sie unterrichtet?« »An einer kleinen Privatschule in Pittsfield. Sehr exklusiv. Efeuberankte Wände, das Neueste vom Neuen auf dem Spielplatz. Vergeßt die Rezession, Leute, volle Kraft voraus. Der Fuhrpark besaß zwei Thunderbirds, drei Mercedes Benz, ein paar Lincolns und einen Chrysler Imperial.« »Sie müssen sehr gut in Ihrem Job gewesen sein.« »Ja, ich glaube, das war ich«, sagte sie ungekünstelt, dann lächelte sie. »Ist jetzt aber nicht mehr wichtig.« Er legte einen Arm um sie. Sie zuckte leicht zusammen, dann spürte er, wie sie sich verkrampfte. Ihre Hand und Schulter waren warm. »Bitte nicht«, sagte sie unbehaglich. »Möchten Sie es nicht?« »Nein. Ich möchte es nicht.« Er zog den Arm fassungslos zurück. Sie wollte es, das war es; er spürte ihr Verlangen in milden, aber deutlich wahrnehmbaren Wellen von ihr ausgehen. Sie hatte hektische Flecken im Gesicht und betrachtete verzweifelt ihre Hände, die wie verletzte Spinnen in ihrem Schoß zuckten. Ihre Augen glänzten, als wäre sie den Tränen nahe. »Nadine...« (honey, is that you?) Sie blickte zu ihm auf, und er erkannte, daß die Gefahr, in Tränen auszubrechen, gebannt war. Sie wollte gerade etwas sagen, als Joe hinzukam, den Gitarrenkasten in einer Hand. Sie blickten ihn schuldbewußt an, als hätten sie etwas Intimeres gemacht, als nur zu reden. »Lady«, sagte Joe im Plauderton. »Was?« fragte Larry aufgeschreckt und begriff nicht. »Lady!« sagte Joe noch einmal und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Larry und Nadine sahen einander an. Plötzlich erklang eine vierte Stimme, schrill und emotionsgeladen und so aufrüttelnd wie die Stimme des Herrn. »Gott sei Dank!« rief sie. »O Gott sei Dank!« Sie standen auf und blickten der Frau entgegen, die jetzt die Straße entlang auf sie zu gerannt kam. Sie lachte und weinte gleichzeitig. »Ich bin so froh, Sie zu sehen«, sagte sie. »So froh, Sie zu sehen, Gott sei Dank...« Sie schwankte und wäre vielleicht zu Boden gefallen, hätte Larry sie nicht rasch ergriffen und gestützt, bis ihre Benommenheit geschwunden war. Er schätzte sie auf etwa fünfundzwanzig Jahre. Sie trug Blue Jeans und eine schlichte weiße Baumwollbluse. Ihr Gesicht war blaß, die blauen Augen unnatürlich starr; diese Augen blickten Larry so intensiv an, als wollten sie das Hirn dahinter mit aller Kraft überzeugen, daß die drei Menschen, die sie vor sich sahen, keine Halluzination, sondern aus Fleisch und Blut waren. »Ich bin Larry Underwood«, sagte er. »Die Dame hier ist Nadine Cross. Der Junge heißt Joe. Wir sind sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Die Frau sah ihn noch einen Moment wortlos an, dann trat sie langsam von ihm weg und ging zu Nadine hinüber. »Ich freue mich so...«, begann sie, »...so sehr, daß ich Sie treffe.« Ihre Schritte waren unsicher. »Mein Gott, sind Sie wirklich Menschen?« »Ja«, sagte Nadine. Die Frau warf die Arme um Nadine und schluchzte. Nadine hielt sie fest. Joe stand bei einem liegengebliebenen Lastwagen auf der Straße, hielt den Gitarrenkasten in der Rechten und den Daumen der Linken im Mund. Schließlich kam er zu Larry und blickte zu ihm auf. Larry nahm seine Hand. So standen die beiden da und betrachteten die Frauen ernst. Und so lernten sie Lucy Swann kennen. Als sie Lucy sagten, wohin sie unterwegs waren und daß sie hofften, am Ziel mindestens zwei weitere Menschen zu treffen, brannte sie darauf, mit ihnen zu kommen. Larry fand im Enfield Sporting Goods einen mittelgroßen Rucksack für sie, und Nadine begleitete sie zu ihrem Haus am Stadtrand, um ihr beim Packen zu helfen... zweimal Kleidung zum Wechseln, Unterwäsche, ein zweites Paar Schuhe, ein Regenmantel. Und ein Bild ihres verstorbenen Mannes und ihrer Tochter. In dieser Nacht rasteten sie in einer Stadt namens Queechee, die schon jenseits der Staatengrenze in Vermont lag. Lucy Swann erzählte eine kurze Geschichte, die schlicht und einfach war und sich nicht sehr von den anderen unterschied, die sie noch zu hören bekommen sollten. Kummer war unvermeidlich, und der Schock hatte Lucy zumindest in Rufweite des Wahnsinns gebracht. Ihr Mann war am fünfundzwanzigsten Juni erkrankt, ihre Tochter einen Tag später. Sie hatte sich, so gut sie konnte, um die beiden gekümmert und ständig damit gerechnet, daß sie das Sabbern, wie man die Krankheit in ihrer Ecke in Neu-England genannt hatte, auch bekommen würde. Am siebenundzwanzigsten, als ihr Mann ins Koma gefallen war, war Enfield weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Der Fernsehempfang war verschwommen und verzerrt geworden. Die Menschen starben wie die Fliegen. Während der letzten Juniwoche waren starke Truppenbewegungen auf der Mautstraße beobachtet worden, doch die hatten in einem kleinen Fleckchen wie Enfield, New Hampshire, nichts verloren. In den frühen Morgenstunden des achtundzwanzigsten war ihr Mann gestorben. Am neunundzwanzigsten schien es ihrer kleinen Tochter eine Zeitlang besser zu gehen, aber am Abend war ihr Zustand ganz unvermittelt kritisch geworden, und gegen elf Uhr war sie gestorben. Am 3. Juli waren alle Einwohner von Enfield, außer ihr selbst und einem alten Mann namens Pop Carmody, tot gewesen. Pop war krank gewesen, sagte Lucy, schien das Sabbern aber völlig überwunden zu haben. Am Morgen des Unabhängigkeitstages hatte sie Pop tot auf der Main Street gefunden, aufgedunsen und schwarz, wie alle anderen. »Dann habe ich meinen Mann, meine kleine Tochter und Pop gemeinsam beerdigt«, sagte Lucy, während sie um das prasselnde Feuer herum saßen. »Es hat einen ganzen Tag gedauert, aber ich habe sie zur letzten Ruhe gebettet. Und dann dachte ich mir, daß ich besser nach Concord gehe, wo meine Eltern wohnen. Aber... irgendwie bin ich nie dazu gekommen.« Sie sah die anderen flehentlich an. »War das falsch? Glauben Sie, sie waren noch am Leben?« »Nein«, sagte Larry. »Die Immunität ist sicher nicht vererbbar. Meine Mutter...« Er blickte ins Feuer. »Wes und ich, wir mußten heiraten«, sagte Lucy. »Das war der Sommer nach meinem High-School-Abschluß. 1984. Meine Eltern wollten nicht, daß ich ihn heirate. Sie wollten, daß ich weggehe, das Baby bekomme und es hergebe. Aber das wollte ich nicht. Meine Mutter sagte, wir würden uns sowieso über kurz oder lang scheiden lassen. Mein Dad sagte, Wes wäre ein Habenichts, immer rastlos. Ich sagte nur: Das mag sein, warten wir eben ab, was passiert. Ich wollte das Risiko einfach eingehen. Verstehen Sie?« »Ja«, sagte Nadine. Sie saß neben Lucy und sah sie voll Mitgefühl an. »Wir hatten ein hübsches kleines Haus. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß es einmal so enden würde, wirklich nicht«, sagte Lucy mit einem Seufzer, der halb Schluchzen war. »Wir hatten uns so schön eingerichtet. Wes wurde mehr Marcy als mir zuliebe seßhaft. Für ihn ging mit der Kleinen die Sonne auf und unter. Sie war für ihn...« »Pssst«, sagte Nadine. »Das war alles vorher.« Wieder dieses Wort, dachte Larry. Das kleine zweisilbige Wort. »Ja. Es ist vorbei. Und ich glaube, ich hätte damit fertig werden können. Ich wurde auch damit fertig, bis ich die schlimmen Alpträume bekam.« Larry riß den Kopf hoch. »Träume?« Nadine blickte Joe an. Vor einem Augenblick hatte der Junge vor dem Feuer gedöst. Jetzt schaute er Lucy mit glänzenden Augen an. »Schlimme Träume, Alpträume«, sagte Lucy. »Nicht immer dieselben. Meistens verfolgte mich ein Mann, und ich kann nicht genau sehen, wie er aussieht, weil er fast immer in einen... wie sagt man... einen Umhang gehüllt ist. Und er hält sich in Schatten und Gassen.« Sie erschauerte. »Es ist schon so weit gekommen, daß ich Angst vor dem Schlafen habe. Aber vielleicht kann ich jetzt...« »Schwarrr-tser Mann!« schrie Joe plötzlich so unvermittelt und heftig, daß sie alle zusammenzuckten. Er sprang auf, die Beine wie ein winziger Bela Lugosi; die Finger hatte er zu Krallen geformt. »Schwarrr-tser Mann! Schlimme Träume! Verfolgt! Verfolgt mich! Macht mir 'ngst!« Er schmiegte sich an Nadine und starrte mißtrauisch in die Dunkelheit. Schweigen senkte sich über sie. »Das ist verrückt«, sagte Larry schließlich und verstummte gleich wieder. Sie sahen ihn alle an. Plötzlich wirkte die Dunkelheit sehr, sehr dunkel, und Lucy sah wieder ängstlich aus. Larry zwang sich, weiterzusprechen. »Lucy, haben Sie je von einem... von einem Ort in Nebraska geträumt?« »Ich hatte einmal einen Traum über eine alte Negerin«, sagte Lucy, »aber es war ein ganz kurzer Traum. Die alte Frau sagte so etwas wie: >Komm mich besuchen.< Dann war ich wieder in Enfield, und dieser... dieser schreckliche Mann hat mich verfolgt. Und dann bin ich aufgewacht.« Larry blickte sie so lange an, daß sie errötete und wegsah. Er betrachtete Joe. »Joe, hast du je von... äh, Mais geträumt? Von einer alten Frau? Einer Gitarre?« Joe sah ihn nur aus Nadines schützenden Armen an. »Lassen Sie ihn in Ruhe, Sie regen ihn nur auf«, sagte Nadine, aber sie schien diejenige zu sein, die aufgeregt war. Larry überlegte. »Ein Haus, Joe? Ein kleines Haus mit einer Veranda auf Wagenhebern?« Er glaubte, ein Funkeln in Joes Augen zu erkennen. »Hören Sie auf, Larry!« sagte Nadine. »Eine Schaukel, Joe? Eine Schaukel aus einem Reifen?« Plötzlich zuckte Joe in Nadines Armen zusammen. Er nahm den Daumen aus dem Mund. Nadine versuchte, ihn zu halten, aber Joe riß sich los. »Die Schaukel!« sagte Joe aufgeregt. »Die Schaukel! Die Schaukel!« Er wirbelte herum und deutete zuerst auf Nadine, dann auf Larry. »Sie! Du! Viele!« »Viele?« fragte Larry, aber Joe war schon wieder in sich versunken. Lucy Swann sah fassungslos drein. »Die Schaukel«, sagte sie. »Daran kann ich mich auch erinnern.« Sie blickte Larry an. »Warum haben wir alle dieselben Träume? Richtet jemand einen Strahl auf uns oder so was?« »Ich weiß nicht.« Er sah Nadine an. »Haben Sie auch diese Träume gehabt?« »Ich träume nicht«, sagte sie schneidend und senkte sofort darauf den Kopf. Er dachte: Du lügst. Aber warum? »Nadine, wenn Sie...« begann er. »Ich habe Ihnen gesagt, ich träume nicht!« schrie Nadine schrill, beinahe hysterisch. »Können Sie mich denn nicht in Ruhe lassen? Müssen Sie mich bedrängen?« Sie stand auf und entfernte sich fast im Laufschritt vom Feuer. Lucy sah ihr einen Augenblick unsicher nach, dann stand sie auf. »Ich gehe ihr nach.« »Ja, tun Sie das. Joe, du bleibst bei mir, okay?« »Kay«, sagte Joe und klappte den Gitarrenkasten auf. Lucy kam zehn Minuten später mit Nadine zurück. Larry sah, daß sie beide geweint hatten, jetzt aber wieder beruhigt zu sein schienen. »Tut mir leid«, sagte Nadine zu Larry. »Ich bin nur ständig nervös. Manchmal macht sich das auf seltsame Weise Luft.« »Macht nichts.« Das Thema wurde nicht mehr angeschnitten. Sie saßen da und hörten zu, wie Joe sein Repertoire spielte. Er wurde wirklich immer besser, und allmählich konnte man zwischen Heulen und Grunzen Bruchstücke der Texte hören. Schließlich schliefen sie, Larry an einem Ende, Nadine am anderen, Joe und Lucy dazwischen. Larry träumte zuerst vom dunklen Mann an seinem hohen Ort, dann von der alten schwarzen Frau, die auf ihrer Veranda saß. Aber in diesem Traum wußte er, daß der schwarze Mann kam; er schritt durch den Mais, drängte seine verhüllte Gestalt durch die Stauden, sein schreckliches, heißes Grinsen war ihm wie ins Gesicht geschweißt, und er kam auf sie zu, immer näher, näher. Larry wachte mitten in der Nacht auf, außer Atem und mit vor Angst zugeschnürter Brust. Die anderen schliefen wie Steine. Irgendwie hatte er es in diesem Traum gewußt. Der schwarze Mann war nicht mit leeren Händen gekommen. In den Armen hielt er, während er durch den Mais schritt, wie eine Opfergabe den verwesten Leichnam von Rita Blakemoor, der jetzt steif und aufgedunsen war, das Fleisch von Murmeltieren und Wieseln zerfetzt. Eine stumme Anklage, die ihm vor die Füße geworfen werden würde, damit sie den anderen seine Schuld hinausschrie und damit stumm verkündete, daß er kein netter Kerl war, daß ihm etwas fehlte, daß er ein Verlierer war, ein Nehmer. Schließlich schlief er wieder ein, und bis er am nächsten Morgen um sieben frierend, hungrig und mit voller Blase aufwachte, war sein Schlaf traumlos. »Mein Gott«, sagte Nadine mit ausdrucksloser Stimme. Larry betrachtete sie und sah eine Enttäuschung, die zu überwältigend für Tränen war. Ihr Gesicht war blaß, die so bemerkenswerten Augen blickten umwölkt und stumpf. Es war Viertel nach sieben am 19. Juli, die Schatten wurden lang. Sie waren den ganzen Tag gefahren, hatten jeweils nur fünf Minuten Rast gemacht und nur eine halbe Stunde Mittagspause in Randolph. Keiner hatte sich beschwert, obwohl Larrys Körper nach sechs Stunden auf dem Motorrad verkrampft war und schmerzte und ihn überall Nadeln stachen. Jetzt standen sie zusammen in einer Reihe vor einem schmiedeeisernen Zaun des Seuchenzentrums. Unter und hinter ihnen lag die Stadt Stovington, die sich kaum verändert hatte, seit Stu Redman sie in den letzten Tagen seines Aufenthalts in diesem Komplex gesehen hatte. Hinter dem Zaun und dem Rasen, der einmal so gepflegt gewesen, jetzt aber verwuchert und mit Blättern und Zweigen übersät war, die die nachmittäglichen Stürme darauf geweht hatten, befand sich die Anlage selbst, drei Stockwerke hoch. Aber der größte Teil, vermutete Larry, unterirdisch. Die Anlage war verlassen, still, einsam. Mitten auf dem Rasen stand ein Schild mit der Aufschrift: SEUCHENZENTRUM STOVINGTON REGIERUNGSGELÄNDE! BESUCHER BEIM PFÖRTNER ANMELDEN Daneben stand ein zweites Schild, und darauf schauten sie alle. ROUTE 7 nach RUTLAND HIER SIND ALLE TOT ROUTE 4 nach SCHUYLERVILLE WIR ZIEHEN WEITER NACH NEBRASKA ROUTE 2 zur I-87 BLEIBEN SIE AUF UNSERER ROUTE I-87 SÜDLICH ZUR I-90 HALTEN SIE NACH SCHILDERN AUSSCHAU  I-90 NACH WESTEN HAROLD EMERY LAUDER FRANCES GOLDSMITH STUART REDMAN LAWRENCE BATEMAN 8. JULI 1990 »Mein guter Harold«, murmelte Larry. »Ich kann es kaum erwarten, dir die Hand zu schütteln und dir ein Bier auszugeben... oder einen Payday-Riegel.« »Larry!« sagte Lucy erschrocken. Nadine war ohnmächtig geworden. 45 Um zwanzig vor elf am 20. Juli schlurfte sie auf die Veranda und trug Kaffee und Toast mit sich hinaus, wie jeden Tag, wenn das Coca-Cola-Thermometer vor dem Fenster über der Spüle mehr als zehn Grad anzeigte. Es war Hochsommer, der schönste Sommer seit 1955, wie sich Mutter Abagail genau erinnerte, jenem Jahr, als ihre Mutter im gesegneten Alter von dreiundneunzig Jahren gestorben war. Schade, daß nicht mehr Leute da sind, die sich an einem solchen Sommer erfreuen können, dachte sie, als sie sich vorsichtig in den Schaukelstuhl ohne Lehnen setzte. Aber hatten sich die Leute je darüber gefreut? Einige natürlich: junge Menschen, die sich liebten, und alte Leute, deren Knochen sich noch deutlich an die tödliche Umklammerung des Winters erinnerten. Jetzt waren die meisten jungen und alten Leute tot, und die dazwischen auch. Gott hatte ein strenges Gericht über die Menschheit gebracht. Manche mochten ein so strenges Gericht als zu hart empfinden, aber Mutter Abagail zählte nicht dazu. Er hatte es schon einmal mit Wassser getan, und irgendwann einmal würde Er es mit Feuer tun. Es war nicht ihre Sache, über Gott zu richten, obwohl sie wünschte, Er hätte diesen Kelch an ihr vorübergehen lassen. Aber wenn es um Gericht ging, gab sie sich mit der Antwort zufrieden, die Gott Moses aus dem brennenden Busch gegeben hatte, als Moses Fragen für angebracht hielt. Wer bist du! fragt Moses, und Gott ruft so gewitzt, wie man sich nur wünschen kann aus dem Busch: Ich bin der ICH BIN. Mit anderen Worten: Moses, hör auf, auf diesen Busch hier zu klopfen, und sieh zu, daß du deinen alten Hintern bewegst. Sie kicherte und nickte mit dem Kopf und tauchte den Toast in den breiten Mund der Tasse, bis er so weich war, daß sie ihn kauen konnte. Vor sechzehn Jahren hatte sie ihrem letzten Zahn Lebewohl gesagt. Zahnlos war sie aus dem Leib ihrer Mutter gekommen, und zahnlos würde sie ins Grab sinken. Ihre Urenkelin Molly und ihr Mann hatten ihr ein Jahr später zum Muttertag ein Gebiß geschenkt, dem Jahr, als sie selbst dreiundneunzig wurde, aber es tat ihr am Gaumen weh, und sie trug es nur, wenn Molly und Jim zu Besuch kamen. Dann nahm sie es aus dem Kasten in der Schublade, spülte es gut ab und setzte es ein. Und wenn sie noch Zeit hatte, bevor Molly und Jim kamen, schnitt sie Grimassen im fleckigen Spiegel in der Küche und knurrte durch diese großen, weißen falschen Zähne und lachte Tränen. Sie sah aus wie ein alter schwarzer Alligator aus den Everglades. Sie war alt und schwach, aber ihr Verstand war noch ziemlich in Ordnung. Sie hieß Abagail Freemantle und war 1882 geboren, was sie mit ihrer Geburtsurkunde beweisen konnte. Sie hatte in ihrem Leben auf Erden viel gesehen, aber nichts, was man mit den Ereignissen des vergangenen Monats oder so auch nur annähernd vergleichen konnte. Nein, so etwas war noch nie dagewesen, und jetzt kam die Zeit, wo sie in die Sache hineingezogen wurde, und das war ihr zuwider. Sie war alt. Sie wollte ihre Ruhe haben und sich am Wechsel der Jahreszeiten freuen, bis Gott es leid war, sie bei ihrer täglichen Runde zu beobachten, und beschloß, sie in sein Reich zu holen. Aber was geschah, wenn man Gott in Frage stellte? Die Antwort, die man dann bekam, hieß: Ich bin der ICH BIN, und das war alles. Als sein eigener Sohn ihn bat, er möge den Kelch an ihm vorübergehen lassen, hatte Gott nicht einmal geantwortet ... und sie stand unendlich viel tiefer. Nur eine ganz gewöhnliche Sünderin, das war sie, und der Gedanke ängstigte sie, daß Gott herabgeschaut hatte, als im Frühjahr 1882 ein kleines Mädchenbaby den Kopf zwischen den Beinen seiner Mutter herausstreckte, und zu sich gesagt hatte: Ich werde sie lange Zeit auf der Erde lassen. 1990, hinter einem riesigen Berg von Kalenderblättern, wartet Arbeit auf sie. Ihre Zeit hier in Hemingford Home ging zu Ende, und die letzte Arbeit, die sie noch zu verrichten hatte, lag vor ihr im Westen, in der Nähe der Rocky Mountains. Er hatte Moses einen Berg besteigen und Noah ein Boot bauen lassen; er hatte mitangesehen, wie sein eigener Sohn ans Kreuz genagelt wurde. Was kümmerte es ihn, welche schreckliche Angst Abagail Freemantle vor dem Mann ohne Gesicht hatte, vor ihm, der sie in ihren Träumen verfolgte? Sie sah ihn nie; sie mußte ihn nicht sehen. Er war ein Schatten, der um die Mittagszeit durch den Mais schlich, ein kalter Lufthauch, eine Aaskrähe, die von einem Telefondraht auf einen herabsah. Seine Stimme sprach zu ihr in all jenen Lauten, vor denen sie sich immer gefürchtet hatte - flüsternd war sie wie das Ticken eines Klopfkäfers unter der Treppe, der den baldigen Tod eines nahen Angehörigen verkündet; dröhnend war sie wie der Donner in den Wolken, die aus dem Westen kamen wie ein tobendes Armageddon. Und manchmal hörte sie keinen Laut, nur das einsame Rauschen des Nachtwinds im Mais, aber sie wußte, daß er in der Nähe war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, und das war das Allerschlimmste, denn dann schien der Mann ohne Gesicht nur wenig geringer als Gott selbst zu sein; dann schien es, als wäre sie in Reichweite des dunklen Engels, der schweigend über Ägypten geflogen war und in jedem Haus, dessen Türpfosten nicht mit Blut bespritzt war, das Erstgeborene getötet hatte. Das ängstigte sie am allermeisten. Sie wurde wieder zum Kind in ihrer Angst und wußte, daß auch andere ihn kannten und Angst vor ihm hatten, aber nur ihr allein war eine klare Vision von seiner schrecklichen Macht zuteil geworden. »Ach, ja«, sagte sie und schob das letzte Stück Toast in den Mund. Sie schaukelte hin und her und trank Kaffee. Es war ein schöner heller Tag, kein Teil ihres Körpers machte ihr besondere Beschwerden, und sie sprach ein kurzes Dankgebet für dieses Geschenk. Gott ist groß, Gott ist gut; das kleinste Kind konnte diese Worte lernen, und sie umfaßten die ganze Welt und alles, was darin war, gut und böse. »Gott ist groß«, sagte Mutter Abagail. »Gott ist gut. Danke für den Sonnenschein und für den Kaffee. Für den guten Stuhlgang von gestern abend. Du hattest recht, die Datteln haben es geschafft, aber lieber Gott, ich finde den Geschmack so ekelhaft. Was bin ich nur für eine? Gott ist groß...« Sie hatte den Kaffee fast ausgetrunken. Sie stellte die Tasse ab und schaukelte; ihr der Sonne zugewandtes Gesicht war wie ein seltsames lebendes, von Kohleadern durchzogenes Stück Fels. Sie döste... sie schlief. Ihr Herz, dessen Wände jetzt so dünn waren wie Seidenpapier, schlug, wie es während der letzten 39475 Tage jede Minute geschlagen hatte. Wie bei einem Baby in der Wiege hätte man die Hand auf ihre Brust legen müssen, um festzustellen, ob sie überhaupt atmete. Aber das Lächeln blieb. Seit den Jahren, da sie ein Mädchen gewesen war, hatte sich alles sehr verändert. Die Freemantles waren als befreite Sklaven nach Nebraska gekommen, und Abagails eigene Urenkelin Molly hatte einmal auf gemeine, zynische Weise gelacht und angedeutet, dass das Geld, mit dem Abbys Vater ihr Haus gekauft hatte - Geld, das ihm Sam Freemantle aus Lewis, South Carolina, als Lohn für die acht Jahre bezahlt hatte, die ihr Daddy und seine Brüder nach Ende des Bürgerkriegs geblieben waren -, »Gewissensgeld« gewesen sei. Abagail hatte den Mund gehalten, als Molly das gesagt hatte - Molly und Jim und die anderen waren jung und verstanden nur extrem Gutes und extrem Böses - aber innerlich hatte sie die Augen verdreht und zu sich gesagt: Gewissensgeld? Nun, kann es denn Geld geben, das sauberer ist? Die Freemantles hatten sich also in Hemingford Home niedergelassen, und Abby war als letztes Kind ihrer Eltern hier geboren worden. Ihr Vater hatte es verstanden, die Leute umzustimmen, die weder von Niggern kaufen noch ihnen etwas verkaufen wollten; er erwarb immer nur ein kleines Stück Land auf einmal, um keinen zu beunruhigen, der sich wegen »dieser schwarzen Dreckskerle in Columbus« Sorgen machte; er war der erste im Polk-County gewesen, der den Fruchtwechsel einführte, der erste, der Kunstdünger verwendete; und im März 1902 war Gary Sites ins Haus gekommen, um John Freemantle mitzuteilen, daß er in die Farmervereinigung aufgenommen worden war. Er war der erste Schwarze im ganzen Staat Nebraska, der das geschafft hatte. Das war ein großartiges Jahr gewesen. Ihr kam in den Sinn, daß jeder, der auf sein Leben zurückblickte, sich ein Jahr herausgreifen und sagen konnte: »Das war das beste.« Es schien, als gäbe es für jeden eine Jahreszeit, wenn alles sich zusammenfügte, passend und harmonisch und voller Wunder. Erst später machte man sich Gedanken darüber, warum es so gekommen war. Es war, als würde man zehn Köstlichkeiten zugleich in den Kühlschrank tun, so daß jede ein wenig den Geschmack der anderen annahm. Die Pilze schmeckten nach Schinken, der Schinken nach Pilzen; das Wildbret hatte einen Hauch des wilden Geschmacks von Rebhuhn und das Rebhuhn einen winzigen Hauch Gurke. Im späteren Leben wünschte man sich vielleicht, daß all die guten Dinge, die man in einem einzigen Jahr bekommen hatte, etwas besser verteilt gewesen wären, daß man eines der goldenen Dinge nehmen und über einen Zeitraum von vielleicht drei Jahren verteilen könnte, in denen einem nichts Gutes widerfahren war, an das man sich erinnern konnte, nicht einmal etwas Schlechtes. Aber es hatte eben alles seinen geregelten Gang genommen, wie es nun mal auf dieser Welt sein sollte, die Gott geschaffen und Adam und Eva um ein Haar zerstört hatten - die Wäsche war gewaschen, die Böden waren geschrubbt, die Kinder versorgt und die Kleider genäht worden; drei Jahre, in denen nichts den einförmigen grauen Strom der Zeit unterbrochen hatte, abgesehen von Ostern, dem 4. Juli, Erntedank und Weihnachten. Aber die Art und Weise, wie Gott seine Wunder wirkte, war für die Menschen unergründlich, und für Abby Freemantle und ihren Vater war 1902 ein großartiges Jahr gewesen. Abby hielt sich für die einzige in der Familie - das heißt, abgesehen von ihrem Daddy -, die begriff, was für eine große, fast beispiellose Sache es war, in die Farmervereinigung aufgenommen zu werden. Er war der erste Neger in Nebraska, wahrscheinlich der erste in den Vereinigten Staaten. Er machte sich keinerlei Illusionen über den Preis, den er und seine Familie in Form von grausamen Witzen und Diskriminierungen jener Männer bezahlen mußten - zu allererst von Ben Conveigh -, die dagegen gewesen waren. Aber Daddy sah auch ein, daß Gary Sites ihm mehr als eine Chance zum Überleben gab: Gary gab ihm die Möglichkeit, wie alle anderen im Maisgürtel zu Wohlstand zu kommen. Als Mitglied der Vereinigung würde er keine Probleme mehr haben, gutes Saatgut zu kaufen. Und er mußte seine Ernte nicht mehr bis Omaha bringen, um einen Käufer zu finden. Die Mitgliedschaft in der Farmervereinigung konnte das Ende des Streits über Wasserrechte bedeuten, den er mit Ben Conveigh hatte, der rasend wurde, wenn es ums Thema Nigger wie John Freemantle und Niggerfreunde wie Gary Sites ging. Es wäre sogar möglich, daß der Steuereintreiber des County mit seinen endlosen Schikanen aufhörte. Daher nahm John Freemantle die Einladung an, und die Abstimmung erfolgte zu seinen Gunsten (und zwar mit einer beruhigenden Mehrheit), und es wurden derbe Witze gemacht, Witze darüber, wie ein Waschbär auf dem Dachboden des Gebäudes der Farmervereinigung erwischt worden war, und darüber, daß man ein Niggerbaby, wenn es in den Himmel kam und seine schwarzen Flügel erhielt, nicht Engel, sondern Fledermaus nannte, und Ben Conveigh lief eine Weile herum und erzählte, der einzige Grund, warum die Vereinigung John Freemantle aufgenommen hatte, wäre der, daß die Kinderkirmes bevorstand und sie einen Nigger brauchten, der den afrikanischen Orang-Utan spielte. John Freemantle hatte so getan, als hätte er das alles nicht gehört, und daheim las er aus der Bibel - »eine leise Antwort vertreibt den Zorn« und »Brüder, wie ihr säet, so sollt ihr auch ernten«, und sein Lieblingszitat, das er nicht demütig sprach, sondern voll grimmiger Überzeugung und Vorfreude: »Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen.« Und im Laufe der Zeit hatte er auch die Nachbarn für sich gewonnen. Nicht alle natürlich; nicht die Fanatiker wie Ben Conveigh und dessen Halbbruder George, nicht die Arnolds und die Deacons, aber alle anderen. 1903 waren sie bei Gary Sites und seiner Familie zum Dinner eingeladen worden, in der guten Stube, genau wie die Weißen. 1902 hatte Abagail im großen Saal der Farmervereinigung Gitarre gespielt; und zwar nicht am Negerabend, sondern in einer TalentShow der Weißen Ende des Jahres. Ihre Mutter war strikt dagegen gewesen; es war einer der wenigen Anlässe, als sie Einwände gegen eine Entscheidung ihres Mannes vor den Kindern aussprach (nur waren die Jungs da schon in mittleren Jahren, und John selbst hatte mehr als nur ein paar weiße Strähnen im Haar). »Ich weiß, wie es gewesen ist«, sagte sie weinend. »Du und Sites und dieser Frank Fenner habt das ausgeheckt. Für sie ist das recht und schön, aber was hast du dir dabei gedacht, John Freemantle? Es sind Weiße. Du kannst dich mit ihnen auf den Hof hocken und übers Pflügen reden! Du kannst unten in der Stadt mit ihnen ein Bier trinken, wenn Nate Jackson dich in seinen Saloon läßt. Schön! Ich weiß, was du die letzten Jahre durchgemacht hast - das ändert nichts. Ich weiß, du hast gelächelt, auch wenn du im Herzen Todesqualen empfunden haben mußt. Aber dies ist etwas anderes! Es geht um deine eigene Tochter! Was wirst du sagen, wenn sie in ihrem schönen weißen Kleid da oben steht und ausgelacht wird? Was, wenn sie mit faulen Tomaten nach ihr werfen wie nach Brick Sullivan, als er versucht hat, in der Neger-Show aufzutreten? Und was wirst du ihr sagen, wenn sie mit dem Kleid voller Tomaten vor dir steht und sagt: >Warum, Daddy? Warum haben sie das getan, und warum hast du es zugelassen?<« »Nun, Rebecca«, antwortete John, »ich denke, das überlassen wir ihr und David.« David war ihr erster Mann gewesen; 1901 war aus Abagail Freemantle Abagail Trotts geworden. David Trotts war ein schwarzer Farmarbeiter aus Valparaiso, und um sie zu werben, war er fast dreißig Meilen gekommen. John Freemantle hatte einmal zu Rebecca gesagt, daß es Trotts gehörig erwischt haben mußte, wo er doch soviel trottete. Und viele hatten über ihren ersten Mann gelacht und Sachen gesagt wie: »Ich weiß, wer in dieser Familie die Hosen anhat.« Aber David war kein Schwächling; nur ruhig und nachdenklich. Als er zu John und Rebecca Freemantle sagte: »Was Abagail für richtig hält, wird gemacht«, hatte Abby ihn dafür gesegnet und ihrer Mutter und ihrem Vater gesagt, daß sie mit ihm zusammenbleiben wollte. Sie war mit ihrem ersten Kind schon im dritten Monat, als sie am 27. Dezember 1902 im großen Saal der Farmervereinigung auf die Bühne stieg - unter eisigem Schweigen, das eintrat, als der Zeremonienmeister ihren Namen ansagte. Vor ihr war Gretchen Tilyons auf der Bühne gewesen, hatte einen rassigen französischen Tanz aufs Parkett gelegt und den pfeifenden, johlenden und mit den Füßen stampfenden Männern im Publikum ihre Beine und Unterröcke gezeigt. Sie stand in der eisigen Stille und wußte, wie schwarz ihr Gesicht und ihr Hals in ihrem neuen weißen Kleid aussehen mußten, und sie hatte schreckliches Herzklopfen und dachte: Ich habe jedes Wort vergessen, jedes einzelne Wort, aber ich habe Daddy versprochen, daß ich nicht weine, ganz gleich, was geschieht, ich weine nicht, aber Ben Conveigh sitzt da unten, und wenn Ben Conveigh NIGGER schreit, werde ich bestimmt weinen, oh, warum habe ich mich nur darauf eingelassen? Mama hatte recht, ich habe meinen Platz vergessen und werde dafür büßen müssen... Der Saal war voll weißer Gesichter, die zu ihr heraufsahen. Jeder Stuhl war besetzt, und hinten im Saal standen die Leute sogar noch in zwei Reihen. Petroleumlampen leuchteten und flackerten. Die roten Samtvorhänge waren zurückgezogen und mit Goldkordeln festgebunden. Und sie dachte: Ich bin Abagail Freemantle Trotts, ich spiele gut, und ich singe gut, das muß mir nicht erst jemand sagen.  Und in die reglose Stille sang sie »The Old Rugged Cross«, und ihre Finger zupften die Melodie. Dann, mit einem Akkord, die kräftigere Melodie »How I Love My Jesus«, dann noch lauter »Camp Meeting in Georgia«. Ohne es zu wollen, fingen die Leute im Saal jetzt an zu schunkeln. Einige grinsten und klatschten auf die Knie. Sie sang Lieder aus dem Bürgerkrieg: »When Johnny Comes Marching Home«, »Marching Through Georgia« und dann »Goober Peas«, das Lied von den Erdnüssen (wieder wurde gelacht; viele der Männer im Saal, Bürgerkriegsveteranen, hatten während ihrer Dienstzeit mehr Erdnüsse essen müssen, als ihnen lieb war). Zum Schluß sang sie »Tenting Tonight on the Old Campground«, und als die letzten Töne in der jetzt nachdenklichen und traurigen Stille verhallten, dachte sie: Jetzt werft eure Tomaten, wenn ihr wollt. Ich habe gespielt und gesungen, so gut ich konnte, und ich war wirklich gut. Als der letzte Akkord in die Stille verklang, hielt diese Stille einen langen, beinahe verzauberten Augenblick an, als wären die Leute auf den Sitzen und hinten in den Reihen plötzlich weit fortgetragen worden, so weit, daß sie den Rückweg nicht gleich fanden. Dann setzte der Beifall ein und schlug wie eine Woge über ihr zusammen, lang und anhaltend, so daß sie errötete, sich verwirrt fühlte, schwitzte und am ganzen Körper zitterte. Sie sah ihre Mutter, die ungeniert weinte, und ihren Vater und David, der sie anstrahlte. Da hatte sie versucht, von der Bühne zu gehen, aber Rufe »Zugabe! Zugabe!« wurden laut, und daher spielte sie lächelnd »Digging My Potatoes«. Dieses Lied war ein klein wenig riskant, aber sie dachte sich, wenn Gretchen Tilyons in aller Öffentlichkeit die Knöchel zeigen konnte, dann konnte sie ein Lied singen, das ein ganz klein wenig zotig war. Immerhin war sie eine verheiratete Frau. »Someone's been digging my potatoes  They've left em in my bin,  And now that someone's gone  And see the trouble I've got in.« Das Lied hatte noch sechs solche Strophen (manche schlimmer als diese, und sie sang jede einzelne; der Beifall nach jeder letzten Zeile wurde immer johlender. Später dachte sie, wenn sie in dieser Nacht einen Fehler gemacht hatte, dann den, dieses Lied zu singen, weil es genau der Song war, den die Leute wahrscheinlich von einem Nigger erwartet hatten). Sie endete und bekam erneut donnernden Applaus und Rufe »Zugabe!«. Sie ging wieder auf die Bühne, und als sich die Menge beruhigt hatte, sagte sie: »Haben Sie vielen herzlichen Dank. Ich hoffe, Sie finden es nicht ungebührlich, wenn ich nur noch ein Stück singe, das ich eigens gelernt habe, obwohl ich nie damit ge rechnet hätte, daß ich es hier singen würde. Es ist das beste Lied, das ich kenne, und es handelt davon, was Präsident Lincoln und dieses Land noch vor meiner Geburt für mich und meinesgleichen getan haben.« Jetzt waren sie ganz ruhig und lauschten erwartungsvoll. Ihre Familie saß mucksmäuschenstill beim linken Gang, wie ein Fleck Johannisbeermarmelade auf einem weißen Tischtuch. »Aufgrund dessen, was damals im Bürgerkrieg passiert ist«, fuhr sie unerschütterlich fort, »war es meiner Familie möglich, hierherzukommen und mit den netten Nachbarn zu leben, die wir haben.« Dann sang und spielte sie »The Star-Spangled Banner«, und alle standen auf und lauschten; manches Taschentuch wurde hervorgeholt, und als Abby endete, applaudierten die Leute, daß es beinahe das Dach abdeckte. Es war der stolzeste Tag ihres Lebens. Kurz nach Mittag wurde sie wach, richtete sich auf und blinzelte ins Sonnenlicht, eine alte, hundertundachtjährige Frau. Sie hatte mit verrenktem Rücken geschlafen, und jetzt tat er ihr weh. Würde den ganzen Tag weh tun, das stand jetzt schon fest. »Ach ja«, sagte sie und stand vorsichtig auf. Sie ging die Verandastufen hinunter, hielt sich sorgfältig am wackeligen Geländer fest, zuckte zusammen, weil sich Messer in ihren Rücken und Nadeln in die Beine bohrten. Ihr Kreislauf war auch nicht mehr das, was er mal gewesen war... warum auch ? Sie hatte sich immer wieder ermahnt, was es für Folgen haben würde, wenn sie in diesem Schaukelstuhl einschlief. Sie döste ein, und die alten Zeiten fingen wieder an, und das war herrlich, o ja, besser als fernsehen, aber wenn sie aufwachte, mußte sie einen bitteren Preis dafür bezahlen. Sie konnte sich ermahnen, soviel sie wollte, sie war wie ein alter Hund, der sich vor dem Kamin ausstreckte. Wenn sie sich in die Sonne setzte, schlief sie ein, so war das. Was das betraf, hatte sie kein Wort mehr mitzureden. Sie kam nun zur letzten Sprosse, machte eine längere Pause, damit ihre »Beine auch mit ihr Schritt halten konnten«, räusperte einen ordentlichen Klumpen Rotz hoch und spie ihn in den Sand. Als sie sich wie immer fühlte (abgesehen von den Rückenschmerzen), ging sie langsam nach hinten zum Abort, den ihr Enkel Victor im Jahr 1931 hinter dem Haus gebaut hatte. Sie ging rein, dann machte sie penibel die Tür zu, hing den Haken fest in die Öse, als wäre eine ganze Armee Schaulustiger draußen, nicht nur ein paar Amseln, und setzte sich. Einen Augenblick später ließ sie Wasser und seufzte zufrieden. Das Älterwerden brachte ein Problem mit sich, von dem einem niemand je erzählte (oder hörte man einfach nie zu?) - man vergaß, wann man Wasser lassen mußte. Es schien, als würde man da unten in der Blase jegliches Gefühl verlieren, und wenn man nicht aufpaßte, mußte man, ehe man sich's versah, die Kleidung wechseln. Sie war nicht gern schmutzig, darum hockte sie sich sechs-bis siebenmal am Tag hierher, und nachts hatte sie den Nachttopf neben dem Bett stehen. Mollys Mann Jim hatte einmal zu ihr gesagt, sie wäre wie ein Hund, der an keinem einzigen Hydranten vorbeikam, ohne nicht wenigstens kurz das Bein zum Gruß zu heben; darüber hatte sie lachen müssen, bis ihr die Tränen aus den Augen gequollen und an den Wangen hinuntergelaufen waren. Mollys Jim war Angestellter in einer Werbeagentur in Chicago und machte Karriere... hatte jedenfalls Karriere gemacht. Sie ging davon aus, daß er tot war, wie alle anderen. Molly, du bist tot. Gott segne dich, Gott segne sie alle, jetzt waren sie alle im Himmel. Im letzten Jahr waren Molly und Jim die einzigen gewesen, die sie noch hier draußen besuchen kamen. Alle anderen schienen vergessen zu haben, daß sie noch lebte, aber dafür hatte sie Verständnis. Sie hatte lange über ihre Zeit gelebt. Sie war wie ein Dinosaurier, dem es nicht zustand, daß er noch Fleisch an den Knochen hatte, ein Ding, dessen angemessener Platz in einem Museum war (oder auf dem Friedhof). Sie konnte verstehen, daß sie nicht kommen und sie sehen wollten, aber sie verstand nicht, warum sie nicht das Land sehen wollten. Es war nicht mehr viel übrig, nein; nur noch wenige Hektar der einstmals riesigen Farm. Aber es gehörte noch ihnen; es war noch ihr Land. Aber den Schwarzen schien nicht mehr so viel am Land zu liegen. Manche schienen sich sogar dafür zu schämen. Sie waren weggezogen, um ihr Dasein in den Städten zu fristen, und die meisten kamen, wie Jim, ganz gut zurecht... aber wie sehr blutete ihr das Herz, wenn sie an die vielen Schwarzen denken mußte, die sich vom Land abgewendet hatten! Vorletztes Jahr hatten Molly und Jim ihr eine Toilette mit Wasserspülung einbauen wollen und waren beleidigt gewesen, als sie abgelehnt hatte. Sie hatte versucht, es ihnen begreiflich zu machen, aber Molly hatte nur immer wieder gesagt: »Mutter Abagail, du bist hundertacht Jahre alt. Was meinst du, wie mir zumute ist, wenn ich mir vorstelle, daß du manchmal hier rausgehst und dich hinhockst, wenn es nur zehn Grad über Null hat? Weißt du nicht, dass schon der Kälteschock deinem Herz den Garaus machen könnte?« »Wenn der Herr mich bei sich haben will, wird der Herr mich zu sich holen«, sagte Abagail beim Stricken, und daher glaubten Molly und Jim, sie würde ihr Strickzeug betrachten und nicht sehen, wie die beiden die Augen verdrehten. Manches konnte man einfach nicht ändern, aber das schienen die jungen Leute nicht begreifen zu können, wie so vieles andere. Damals, 1984, als sie hundert geworden war, hatten Cathy und David ihr einen Fernseher angeboten, und darauf hatte sie sich eingelassen. Das Fernsehen war ein netter Zeitvertreib, wenn man ganz allein war. Aber als Christopher und Susy gekommen waren und gesagt hatten, sie wollten ihr Haus an die städtische Wasserversorgung anschließen, hatte Abby ebenso abgelehnt wie beim freundlichen Angebot von Molly und Jim, ihr ein Wasserklosett zu bauen. Sie hatten gemeint, ihr Brunnen wäre zu seicht und könnte austrocknen, wenn es wieder einen Sommer wie den 1988 gab, als die Dürre kam. Das stimmte, aber sie sagte trotzdem nein. Molly und Jim dachten natürlich, daß Abby nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, daß sie Schicht für Schicht senil wurde, wie man Wachs auf den Fußboden auftrug, aber sie selbst war der Meinung, daß ihr Verstand so gut wie eh und je war. Sie erhob sich vom Klositz, streute Zitruspulver in das Loch und ging langsam wieder hinaus in den Sonnenschein. Sie duftete ihren Abort immer ein, aber es war trotzdem eine stinkige alte Bruchbude, wie sauber sie auch duften mochte. Es war, als hätte ihr die Stimme Gottes ins Ohr geflüstert, als Chris und Susy ihr Haus an die städtische Wasserversorgung anschließen lassen wollten ... die Stimme Gottes, schon damals, als Molly und Jim ihr den Porzellanthron mit dem Knopf der Wasserspülung bringen wollten. Gott sprach zu den Menschen; hatte er nicht zu Noah gesprochen, ihm von der Arche erzählt und ihm genau gesagt, wie lang, breit und tief sie sein mußte? Jawohl. Und sie glaubte, dass er auch zu ihr gesprochen hatte, nicht aus einem brennenden Busch oder einer Feuersäule, sondern mit einer stillen, leisen Stimme, die sagte: Abby, du wirst deine Handpumpe brauchen. Genieß deinen elektrischen Strom, Abby, aber sorge dafür, daß deine Öllampen voll und die Dochte in Ordnung sind. Laß deinen Eisschrank so, wie ihn deine Mutter vor dir gehabt hat. Und laß dir von den jungen Leuten nichts aufschwatzen, Abby, das gegen meinen Willen ist. Sie sind dein Fleisch und Blut, aber ich bin dein Vater. Sie blieb mitten auf ihrem Hof stehen und sah auf das Maisfeld hinaus, das nur vom Sandweg geteilt wurde, der nach Duncan und Columbus führte. Drei Meilen vom Haus entfernt war der Weg asphaltiert. Der Mais stand gut in diesem Jahr, eine Schande, dass außer den Saatkrähen niemand da war, um ihn zu ernten. Es war ein trauriger Gedanke, daß die großen Erntemaschinen in diesem September in den Scheunen stehenbleiben mußten; traurig, daß es kein Maisschälen und keine Tänze auf der Tenne geben würde. Traurig, daß sie zum ersten Mal in den letzten hundertacht Jahren nicht hier in Hemingford Home sein würde, um den Wechsel der Jahreszeiten zu sehen, wenn der Sommer dem fröhlichen, heidnischen Herbst Platz machte. Sie würde diesen Somme r um so mehr lieben, weil es ihr letzter war - das spürte sie ganz deutlich. Und sie würde nicht hier zur letzten Ruhe gebettet werden, sondern weiter im Westen, in einem fremden Land. Das war bitter. Sie schlurfte zur Reifenschaukel hinüber und schubste sie an. Es war ein alter Traktorreifen, den ihr Bruder Lucas 1922 hier aufgehängt hatte. Das Seil war seitdem viele Male ausgewechselt worden, aber der Reifen niemals. Das Leinen kam an vielen Stellen durch, und am inneren Ring war eine tiefe Einbuchtung, wo Generationen junger Hintern gesessen hatten. Unter dem Reifen war eine lange, staubige Narbe im Boden, wo das Gras jeden Versuch zu wachsen längst aufgegeben hatte, und am Ast, an dem die Seile festgemacht waren, war die Rinde abgeschabt und der weiße Knochen des Holzes zu sehen. Das Seil knarrte leise, und diesmal sagte sie laut: »Bitte, o Herr, o Herr, nur wenn ich muß, bitte, laß diesen Kelch an mir vorübergehen, wenn Du kannst. Ich bin alt, ich habe Angst, und am liebsten möchte ich hier zu Hause begraben werden. Ich bin bereit, jetzt gleich zu gehen, wenn Du es willst. Dein Wille geschehe, Herr, aber Abby ist eine müde alte schwarze Frau. Dein Wille geschehe.« Kein Laut, nur das leise Knarren des Seils und das Krächzen der Krähen im Maisfeld. Sie lehnte die alte, gefurchte Stirn gegen die alte, gefurchte Borke des Apfelbaums, den ihr Vater vor so langer Zeit gepflanzt hatte, und weinte bitterlich. In dieser Nacht träumte sie, daß sie wieder die Stufen zur Halle der Farmervereinigung hinaufging, eine junge, hübsche Abagail, im dritten Monat schwanger, ein dunkles äthiopisches Juwel im weißen Kleid; sie hielt die Gitarre an der Brust, stieg hinauf, hinauf in diese Dunkelheit, ihre Gedanken ein einziges Durcheinander, aber eines wußte sie ganz genau: Ich bin Abagail Freemantle Trotts, ich spiele gut und singe gut, das muß ich mir nicht erst sagen lassen. Im Traum drehte sie sich langsam zu den weißen Gesichtern um, die wie Monde zu ihr emporgerichtet waren, und sah in den Saal, in dem so hell die Lampen leuchteten, sah den weichen Glanz, der von den dunklen, leicht angelaufenen Scheiben reflektiert wurde und die roten Samtvorhänge mit den Goldkordeln. Sie klammerte sich fest an diesen einen Gedanken und spielte »Rock of Ages«. Sie spielte und ließ ihre Stimme erklingen, nicht nervös und gehemmt, sondern genau so, wie sie beim Üben geklungen hatte, voll und sanft, wie das gelbe Lampenlicht selbst, und sie dachte: Ich überzeuge sie. Mit Gottes Hilfe überzeuge ich sie. Mein Volk, wenn dich dürstet, lasse ich nicht Wasser aus dem Fels sprudeln? Ich überzeuge sie, und David wird stolz auf mich sein, Mama und Daddy werden stolz auf mich sein, ich selbst werde stolz auf mich sein, ich zaubere Musik aus der Luft und Wasser aus dem Fels... Und dann sah sie ihn zum ersten Mal. Er stand ganz hinten in der Ecke, hinter allen Sitzreihen, und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug Jeans und eine Jeansjacke mit Knöpfen an den Taschen. Er trug staubige schwarze Stiefel mit abgelaufenen Absätzen; Stiefel, die aussahen, als wären sie manche dunkle und staubige Meile gelaufen. Seine Stirn war so weiß wie Gaslicht, die Wangen glühend und kräftig durchblutet, die Augen funkelnde blaue Diamanten, in denen infernalische Fröhlichkeit blitzte, als hätte der Dämon Satans die Arbeit von Kris Kringle übernommen. Er hatte die Zähne gefletscht, ein heißes, loderndes Grinsen, das beinahe ein Fauchen war. Die Zähne waren weiß und scharf und spitz, wie die Zähne eines Wiesels. Er streckte die Hände vom Körper ab. Beide waren zu Fäusten geballt und so fest und hart wie Knoten an einem Apfelbaum. Sein Grinsen blieb, fröhlich und unsagbar böse. Blutstropfen fielen von den Fäusten herab. In ihrem Verstand versiegten die Worte. Ihre Finger vergaßen, wie man spielte; es folgte ein letzter mißtönender Akkord, dann Stille. Gott! Gott! schrie sie, aber Gott hatte Sein Antlitz abgewendet. Dann stand Ben Conveigh mit rotem, flammendem Gesicht auf, und seine kleinen Schweinsäuglein funkelten. Niggerhure! schrie er. Was hat die Niggerbure auf der Bühne verloren? Keine Niggerhure hat je Musik aus der Luft gezaubert! Keine Niggerhure hat je Wasser aus dem Fels sprudeln lassen! Ungestüme Schreie der Zustimmung. Leute drängten nach vorne. Sie sah, wie ihr Mann aufstand und versuchte, auf die Bühne zu klettern. Eine Frau traf ihn am Mund, er kippte nach hinten. Schafft die dreckigen Coons nach hinten! brüllte Bill Arnold, und jemand stieß Rebecca Freemantle gegen die Wand. Ein anderer - Chet Deacon, wie es aussah - schlang einen der roten Samtvorhänge um Rebecca und fesselte sie dann mit der Goldkordel. Er schrie: Seht euch das an! Coon im Schlafrock! Waschbär im Schlafrock! Andere liefen zu Chet Deacon hinüber und fingen an, die zappelnde Frau unter dem Vorhang zu schlagen und zu schubsen. Mama! schrie Abby. Die Gitarre war aus ihren gefühllosen Fingern geglitten und am Bühnenrand zu Splittern und Saiten zerschellt. Sie suchte panisch nach dem dunklen Mann hinten im Saal, aber die Maschine war in Gang gebracht worden und lief heiß und reibungslos; er war schon anderswo hingegangen. Mama! schrie sie wieder, dann zerrten grobe Hände sie von der Bühne, wanderten unter ihr Kleid, begrabschten sie, fummelten, zwickten sie in den Po. Jemand riß brutal ihre Hand herum und verrenkte den Arm im Gelenk. Sie wurde gegen etwas Hartes, Heißes gedrückt. Ben Conveighs Stimme in ihrem Ohr: Wie gefällt dir MEIN >Rock of Ages<, Niggerhure?« Der Saal drehte sich um sie herum. Sie sah, wie ihr Vater versuchte, zur leblosen Gestalt ihrer Mutter zu gelangen, und sie sah eine weiße Hand, die eine Flasche an der Lehne eines Klappstuhls zerschlug. Ein Rasseln und Klirren, dann wurde der gezackte Flaschenhals, der im warmen Schein der Lampen funkelte, ins Gesicht ihres Vaters geschlagen. Sie sah seine aufgerissenen, hervorquellenden Augen wie Trauben platzen. Sie schrie, und die Heftigkeit ihres Schreis schien den Saal entzweizureißen, die Dunkelheit hereinzulassen, und sie war wieder Mutter Abagail, hundertundacht Jahre alt, zu alt, o Herr, zu alt (aber Dein Wille geschehe), und sie ging im Mais spazieren, dem mystischen Mais, der flach in der Erde wurzelte, aber breit; sie hatte sich im Mais zwischen silbernem Mondlicht und schwarzen Schatten verirrt; sie konnte den Sommernachtwind hören, der sanft darin raschelte, sie konnte seinen lebenden Wachstumsgeruch riechen, den sie ihr ganzes Leben gerochen hatte (sie hatte oft gedacht, dass dies die Pflanze war, die dem ganzen Leben am nächsten kam, der Mais, dessen Geruch der Geruch des Lebens selbst war, der Anfang des Lebens, oh, sie hatte drei Männer geheiratet und an ihren Gräbern gestanden, David Trotts, Henry Hardesty und Nate Brooks, sie hatte drei Männer im Bett gehabt, hatte sie empfangen, wie eine Frau einen Mann empfangen mußte, indem sie sich ihnen fügte, und sie hatte stets sehnsüchtige Freude empfunden, den Gedanken: O Gott, welchen Spaß es mir bereitet, Sex mit meinem Mann zu machen, und wie ich es genieße, wenn er Sex mit mir macht, wenn er mir gibt, was er zu geben hat, wenn er es in mich hineinspritzt; und manchmal hatte sie im Augenblick des Höhepunkts an den Mais gedacht, den Mais mit seinen flachen, aber breiten Wurzeln, sie dachte an Fleisch und dann an den Mais, und wenn es vorbei war und ihr Mann neben ihr lag, hing der Sex -Geruch im Zimmer, der Geruch des Samens, den der Mann in sie hineingespritzt hatte, der Geruch ihrer eigenen Säfte, die sein Eindringen erleichterten, und es war ein Geruch wie geschälter Mais, mild und lieblich, ein guter Geruch). Und dennoch hatte sie Angst, schämte sich eben dieser intimen Verbundenheit mit Erde und Sommer und Fruchtbarkeit, weil sie nicht allein war. Er war hier bei ihr, zwei Reihen links oder rechts, immer ein Stück voraus oder zurück. Der dunkle Mann war da; seine staubigen Stiefel gruben sich ins Fleisch des Bodens und schleuderten es in Klumpen weg; er grinste in der Nacht wie eine Sturmlampe. Dann sprach er, zum ersten Mal sprach er laut, und sie konnte seinen Mondschatten sehen, groß und geduckt und grotesk fiel er in die Reihe, in der sie ging. Seine Stimme war wie der Nachtwind, der im Oktober durch die alten und fleischlosen Maisstauden stöhnt, wie das Rasseln der alten, weißen, unfruchtbaren Maispflanzen selbst, wenn sie von ihrem eigenen Ende zu sprechen scheinen. Es war eine sanfte Stimme. Es war die Stimme des Untergangs. Sie sagte: Ich habe dein Blut in den Fäusten, alte Frau. Wenn du zu Gott betest, dann bete, daß er dich holt, bevor du jemals meine Schritte deine Stufen hinaufkommen hörst. Nicht du hast Wasser aus dem Fels sprudeln lassen, und ich habe dein Blut in den Fäusten. Dann wachte sie auf, wachte auf in der Stunde vor der Dämmerung und dachte zuerst, sie hätte ins Bett gemacht, aber es war nur nächtlicher Schweiß, so schwer wie Tau im Mai. Ihr magerer Körper zitterte hilflos, jeder Teil von ihr sehnte sich nach Ruhe. O Gott, o Gott, laß diesen Kelch an mir vorübergehen.  Ihr Gott antwortete nicht. Nur der sanfte Morgenwind klopfte an die Fensterscheiben, die lose waren und frischen Kitt vertragen konnten. Schließlich stand sie auf, machte Feuer im alten Holzofen und stellte Kaffeewasser auf. In den nächsten Tagen hatte sie viel zu tun, denn sie erwartete Gäste. Träume oder nicht, sie hatte immer gern Gäste gehabt, und das sollte auch so bleiben. Aber sie mußte alles bedächtig tun, sonst vergaß sie wieder etwas - sie vergaß in letzter Zeit vieles - oder verlegte etwas, bis sie nicht mehr wußte, wo ihr der Kopf stand. Als erstes mußte sie zu Addie Richardsons Hühnerstall gehen, und das war ein weiter Weg, vier oder fünf Meilen. Sie fragte sich, ob ihr der Herr einen Adler schicken würde, mit dem sie diese vier Meilen fliegen konnte, oder ob er Elias schicken würde, der sie in seinem Flammenwagen mitnahm. »Gotteslästerung«, sagte sie. »Der Herr gibt Kraft, kein Taxi.« Als sie das wenige Geschirr abgewaschen hatte, zog sie ihre derben Schuhe an und nahm den Stock. Sie benutzte den Stock selten, aber heute brauchte sie ihn. Vier Meilen hin, vier Meilen zurück. Mit sechzehn wäre sie den Hinweg gerannt und den Rückweg gelaufen, aber sechzehn war sie schon lange nicht mehr. Sie ging um acht Uhr morgens los und hoffte, die Farm der Richardsons gegen Mittag zu erreichen und während des heißesten Teils des Tages zu schlafen. Am Spätnachmittag würde sie die Hühner schlachten und in der Dämmerung den Heimweg antreten. Sie würde erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein, und dabei mußte sie an den Traum von gestern nacht denken, aber der Mann war noch weit weg. Ihre Gäste waren viel näher. Sie ging sehr langsam, langsamer noch, als sie glaubte gehen zu müssen, weil selbst jetzt noch, um halb neun am Abend, die Sonne rund und heiß und brütend am Himmel stand. Sie schwitzte nicht viel - sie hatte nicht genügend überflüssiges Fleisch auf den Knochen, den Schweiß herauszuwringen -, aber als sie den Briefkasten der Goodells erreicht hatte, mußte sie ein wenig ausruhen. Sie saß im Schatten ihres Pfefferstrauchs und aß ein paar Feigen. Weder ein Adler noch ein Taxi zu sehen. Darüber kicherte sie etwas, stand auf, wischte sich Krümel vom Kleid und ging weiter. Nee, kein Taxi. Der Herr half denen, die sich selbst halfen. Trotzdem spürte sie schon, wie ihre sämtlichen Gelenke sich einstimmten; heute nacht würde es ein Knochen-Gala-Konzert geben. Sie bückte sich beim Gehen immer weiter über den Stock, obwohl ihre Handgelenke auch zunehmend Verdruß bereiteten. Ihre Schuhe mit den gelben Wildlederschnürsenkeln schlurften im Staub. Die Sonne schien sengend auf sie herab, und im Lauf der Zeit wurde ihr Schatten immer kürzer. An diesem Morgen sah sie mehr wilde Tiere, als sie seit den zwanziger Jahren gesehen hatte: Füchse, Waschbären, Stachelschweine, Fischreiher, Krähen waren allgegenwärtig, sie krächzten und keiften und zogen Kreise am Himmel. Hätte sie Stu Redman und Glen Bateman gehört, die sich über die willkürliche Weise unterhielten - jedenfalls erschien sie ihnen willkürlich -, wie die Super-Grippe manche Tiergattungen getötet und andere verschont hatte, dann hätte sie gelacht. Die Grippe hatte Haustiere hinweggerafft und wilde Tiere verschont, so einfach war das. Ein paar Haustiergattungen hatten zwar überlebt, aber als Faustregel galt: Die Grippe hatte die Menschen und deren beste Freunde ausgerottet. Sie hatte die Hunde geholt, aber die Wölfe in Ruhe gelassen, weil die Wölfe wild waren und die Hunde nicht. Rotglühende Schmerzzentren waren tief in ihren Hüften, hinter jedem Knie, in den Knöcheln und den Handgelenken entstanden, mit denen sie sich auf den Stock stützte. Sie schritt aus und sprach mit ihrem Gott, ohne sich bewußt zu sein, daß sie manchmal leise, manchmal laut redete. Und sie mußte wieder über ihre Vergangenheit nachdenken. 1902 war das beste Jahr gewesen, das stimmte. Es schien, als hätte die Zeit sich danach beschleunigt; die Seiten eines dicken Abreißkalenders waren umgeblättert worden, ohne Pause. Das Leben eines Körpers ging so schnell vorbei... wie kam es, daß ein Körper es so müde sein konnte zu leben? Sie hatte fünf Kinder von Davy Trotts bekommen; eines, Maybelle, war im alten Haus im Garten an einem Stück Apfel erstickt. Abby hatte Wäsche aufgehängt, sich umgedreht und das Baby auf dem Rücken gesehen, wo es die Händchen um den Hals krallte und purpurn anlief. Sie hatte das Apfelstück schließlich herausbekommen, aber da war die kleine Maybelle schon still und kalt gewesen, ihre einzige Tochter und das einzige ihrer vielen Kinder, das Opfer eines Unfalls geworden war. Jetzt saß sie im Schatten einer Ulme am Zaun der Nauglers; zweihundert Meter entfernt sah sie den Staub in Asphalt übergehen - dort wurde die Freemantle Road zur Polk County Road. Die Tageshitze erzeugte ein Flimmern über dem Teer; der Horizont war Quecksilber und schimmernd wie Wasser in einem Traum. An einem heißen Tag sah man dieses Quecksilber immer ganz am Ende seines Sichtfeldes, konnte es aber nie einholen. Sie jedenfalls nie. David war 1913 gestorben, an einer ähnlichen Grippe wie dieser jetzt, die viele Menschenleben gekostet hatte. 1916, als sie vierunddreißig gewesen war, hatte sie Henry Hardesty geheiratet, einen schwarzen Farmer aus Wheeler County im Norden. Er war eigens zur Brautwerbung gekommen. Henry war Witwer mit sieben Kindern, die bis auf zwei erwachsen und eigene Wege gegangen waren. Er war sieben Jahre älter als Abagail. Er hatte ihr zwei Jungen geschenkt, bevor er im Spätsommer unter seinen eigenen Traktor geriet und starb. Ein Jahr danach hatte sie Nate Brookes geheiratet, und die Leute hatten geredet - o ja, die Leute reden, die Leute reden so gern, manchmal schien es, als hätten sie gar nichts anderes zu tun. Nate war Henry Hardestys Hilfskraft gewesen, und er war ihr ein guter Ehemann. Vielleicht nicht so lieb wie Henry und ganz sicher nicht so zäh, aber ein guter Mann, der meistens das gemacht hatte, was sie ihm sagte. Wenn eine Frau in die Jahre kam, war es tröstlich zu wissen, wer die Hosen anhatte. Ihre sechs Jungs hatten ihr eine Schar von zweiunddreißig Enkelkindern beschert. Ihre zweiunddreißig Enkel hatten wiederum einundneunzig Urenkel hervorgebracht. Es wären mehr gewesen ohne die Pille, die die Mädchen heutzutage nahmen, damit sie keine Babys bekamen. Es schien, als wäre Sex für sie nur ein Spielplatz, auf dem sie sich austobten. Abagail hatte nichts für die modernen Lebensweisen der Jungen übrig, sagte aber niemals etwas. Es lag an Gott zu entscheiden, ob sie mit diesen Pillen sündigten oder nicht (und nicht an diesem kahlköpfigen alten Furz in Rom - Mutter Abagail war ihr ganzes Leben lang Methodistin gewesen und verdammt stolz darauf, daß sie nichts mit diesen verklemmten Katholiken am Hut hatte), aber Abagail wußte, was ihnen entging: die Ekstase, die man empfindet, wenn man am Eingang des Tals der Schatten steht; die Ekstase, die man empfindet, wenn man sich seinem Mann und seinem Gott hingibt, wenn man sagt, dein Wille geschehe und Dein Wille geschehe; die endgültige Ekstase von Sex im Angesicht Gottes, wenn Mann und Frau die alte Sünde von Adam und Eva neu durchlebten, die jetzt aber vom Blut des Lammes reingewaschen und geläutert worden war. Ja, ja... Sie wollte ein Glas Wasser, sie wollte daheim in ihrem Schaukelstuhl sein, sie wollte in Ruhe gelassen werden. Jetzt konnte sie sehen, wie sich die Sonne im Dach des Hühnerstalles vorne links spiegelte. Eine Meile, mehr nicht. Es war Viertel nach zehn, und sie kam für ihre alten Tage gar nicht schlecht voran. Sie würde hineingehen und schlafen, bis der Abend kühler würde. Das war keine Sünde. In ihrem Alter nicht. Sie schlurfte an der Böschung entlang; inzwischen waren ihre schweren Schuhe von Straßenstaub überzogen. Nun, sie hatte viele Verwandte als Trost ihres hohen Alters, das war immerhin etwas. Manche, wie Linda und der fahrende Händler, den sie geheiratet hatte, kamen nicht zu Besuch, aber es gab auch Gute wie Molly und Jim und David und Cathy, und die machten mehr als tausend Lindas und fahrende Händler wett, die von Tür zu Tür gingen und Kochtöpfe ohne Wasser verkauften. Luke, ihr letzter Bruder, war 1949 im Alter von achtzigundirgendwas gestorben, und das letzte ihrer Kinder, Samuel, 1974 im Alter von vierundfünfzig. Sie hatte alle Kinder überlebt, und das sollte eigentlich nicht sein, aber es schien, als hätte der Herr besondere Pläne mit ihr. 1984, als sie hundert geworden war, war ihr Bild in der Zeitung von Omaha abgebildet gewesen, und sie hatten einen Fernsehreporter geschickt, der einen Bericht über sie machte. »Welcher Tatsache schreiben Sie Ihr hohes Alter zu?« hatte der junge Mann sie gefragt, und er schien enttäuscht über die kurze, beinahe schroffe Antwort zu sein: »Gott.« Die Leute wollten hören, daß sie Bienenwachs aß oder kein gebratenes Schweinefleisch anrührte oder daß sie die Beine beim Schlafen hochlegte. Aber das alles machte sie nicht, warum sollte sie lügen? Gott gibt Leben und nimmt es, wenn es ihm gefällt. Cathy und David hatten ihr einen Fernseher geschenkt, damit sie sich selbst in den Nachrichten sehen konnte, und sie bekam einen Brief von Präsident Reagan persönlich (auch nicht mehr der Jüngste), der ihr zu ihrem »fortgeschrittenen Alter« und der Tatsache gratulierte, daß sie, seit sie das Stimmrecht besaß, republikanisch gewählt hatte. Nun, für wen hätte sie sonst stimmen sollen? Roosevelt und seine Bande waren allesamt Kommunisten gewesen. Und als Abby die Hundert vollgemacht hatte, hatte ihr die Stadt Hemingford Home die Steuern »auf Dauer« erlassen, und zwar wegen demselben »fortgeschrittenen Alter«, zu dem Ronald Reagan ihr gratuliert hatte. Sie bekam eine Urkunde, auf der stand, daß sie die älteste lebende Einwohnerin von Nebraska wäre, als wäre das etwas, das kleine Kinder auch werden wollten, wenn sie gross wurden. Das mit den Steuern jedenfalls war gut, auch wenn der Rest reine Narretei gewesen war - hätten sie das mit den Steuern nicht getan, hätte sie das bißchen Land, das ihr geblieben war, auch noch verloren. Das meiste war sowieso schon lange fort; der Grundbesitz der Freemantles und die Macht der Farmervereinigung hatten beide im magischen Jahr 1902 die Hochwassermarke erreicht, und danach war es stetig bergab gegangen. Fünfzehn Hektar, mehr war es nicht mehr. Der Rest war entweder wegen Steuerschulden verkauft oder im Lauf der Jahre zu Geld gemacht worden ... und ihre eigenen Söhne hatten einen Großteil verkauft, wie Abby beschämt zugeben mußte. Letztes Jahr hatte sie einen Brief von einer Gesellschaft in New York bekommen, die sich American Geriatrics Society nannte. In dem Brief stand, sie wäre der sechstälteste Mensch in den Vereinigten Staaten, die drittälteste Frau. Der älteste US-Bürger war ein Mann in Santa Rosa, Kalifornien. Der Mann in Santa Rosa war hundertzweiundzwanzig. Sie hatte sich diesen Brief von Jim einrahmen lassen und neben den Brief des Präsidenten gehängt. Dazu war Jim erst im Februar gekommen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte - damals hatte sie Molly und Jim zuletzt gesehen. Sie hatte nun die Farm der Richardsons erreicht. Sie lehnte sich fast völlig erschöpft an den Zaunpfahl dicht bei der Scheune und betracht ete sehnsüchtig das Haus. Drinnen war es kühl, kühl und angenehm. Ihr war, als könnte sie eine Ewigkeit schlafen. Aber bevor sie das konnte, mußte sie noch etwas tun. Viele Tiere waren auch an der Krankheit eingegangen - Pferde, Hunde, Ratten -, und sie mußte wissen, ob Hühner auch dazu gehörten. Es wäre ein bitterer Witz, zu erfahren, daß sie den weiten Weg zurückgelegt hatte, nur um festzustellen, daß es hier bloß tote Hühner gab. Sie schlurfte zum Hühnerstall, der an die Scheune angrenzte, und blieb stehen, als sie die Hühner drinnen gackern hören konnte. Einen Moment später krähte gereizt ein Hahn. »Na also«, murmelte sie. »Soweit, so gut.« Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie den Leichnam beim Holzstoß sah. Eine Hand lag auf dem Gesicht des Toten. Es war Bill Richardson, Addies Schwager. Hungrige Tiere hatten sich ausgiebig über ihn hergemacht. »Armer Mann«, sagte Abagail. »Armer, armer Mann. Engelscharen mögen dich singend zur letzten Ruhe betten, Billy Richardson.« Sie wandte sich wieder dem kühlen, einladenden Haus zu. Es schien Meilen entfernt zu sein, obwohl es sich in Wirklichkeit nur auf der anderen Hofseite befand. Sie war nicht sicher, ob sie es bis dahin schaffen würde; sie war vollkommen erschöpft. »Der Wille des Herrn geschehe«, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Die Sonne schien durch das Fenster des Gästezimmers, wo sie sofort eingeschlafen war, als sie die Schuhe ausgezogen und sich hingelegt hatte. Eine Zeitlang begriff sie gar nicht, warum das Licht noch so hell war; es war ungefähr so ein Gefühl, wie es Larry Underwood gehabt hatte, als er neben der Steinmauer in New Hampshire aufgewacht war. Sie setzte sich auf, und die angestrengten Muskeln und schwachen Knochen ihres Körpers schrien vor Schmerz. »Allmächtiger Gott, muß den Nachmittag und die ganze Nacht geschlafen haben!« Wenn das so war, mußte sie wirklich müde gewesen sein. Sie fühlte sich so lahm, daß sie fast zehn Minuten brauchte, um aus dem Bett aufzustehen und ins Bad zu gehen; weitere zehn, urn die Schuhe anzuziehen. Das Gehen war eine Qual, aber sie wußte, daß sie gehen mußte. Wenn sie es nicht tat, würde sie starr wie ein Stück Eisen werden. Hinkend und lahmend ging sie zum Hühnerhaus, trat ein und verzog das Gesicht angesichts der explosiven Hitze, des Geruchs von Geflügel und des unvermeidlichen Gestanks nach Verwesung. Die Wasserversorgung funktionierte automatisch, eine Schwerkraftpumpe holte es aus Richardsons artesischem Brunnen, aber es war fast kein Futter mehr da, und viele Tiere waren an der Hitze eingegangen. Die schwächeren waren schon lange verhungert oder totgepickt worden; sie lagen zwischen Futter und Dreck herum wie Schneereste, die traurig vor sich hinschmolzen. Die meisten Hühner liefen flügelschlagend vor ihr davon, aber die brütigen blinzelten sie nur mit ihren dummen Augen an, während Abby langsam auf sie zuschlurfte. So viele Krankheiten waren tödlich für Hühner, daß sie schon Angst gehabt hatte, sie könnten an der Grippe eingegangen sein, aber diese sahen gesund aus. Gott hat's gegeben. Sie nahm drei der fettesten Tiere und steckte ihnen die Köpfe unter die Flügel. Sie schliefen sofort ein. Abby steckte sie in einen Sack und stellte fest, sie war so steif, daß sie den Sack nicht heben konnte. Sie mußte ihn über den Boden schleifen. Die anderen Hennen äugten mißtrauisch von ihren Stangen herab, bis die alte Frau verschwunden war, dann setzten sie ihren Streit um das schwindende Futter fort. Es war jetzt fast neun Uhr vormittags. Sie setzte sich auf die Bank, die Richardson auf dem Hof um seine große Eiche herumgebaut hatte, und dachte ein wenig nach. Es schien ihr am günstigsten, erst bei Einbruch der Dämmerung nach Hause zu gehen, wie sie es sich ursprünglich vorgenommen hatte. Sie hatte einen Tag verloren, aber ihre Gäste waren noch unterwegs. Sie konnte den Tag nutzen, die Hühner schlachten und rupfen und sich ausruhen. Ihre Muskeln ließen sich schon etwas besser bewegen, und sie hatte ein lange vermißtes, nagendes, aber angenehmes Gefühl unter dem Brustbein. Sie brauchte einige Zeit, bis ihr klar war, was es war... sie hatte Hunger! Heute morgen hatte sie tatsächlich Hunger, gelobt sei Gott, und wie lange war es her, seit sie zuletzt aus einem anderen Grund als der Macht der Gewohnheit gegessen hatte? Sie war wie der Heizer einer Lokomotive gewesen, der Kohlen schaufelte, mehr nicht. Aber wenn sich diese drei Hühner von ihren Köpfen verabschiedet hatten, würde sie nachsehen, was Addie noch in der Speisekammer hatte, und beim gesegneten Herrn, sie würde genießen, was sie fand. Siehst du? ermahnte sie sich selbst. Der Herr weiß es eben am besten. Gesegnete Zuversicht, Abagail, gesegnete Zuversicht. Ächzend und schnaufend schleppte sie den Sack zum Haublock, der zwischen Scheune und Holzschuppen stand. Gleich hinter der Tür des Schuppens hing Billy Richardsons Hackbeil an einem Holzpflock, dazu ein Gummihandschuh. Sie nahm das Beil und ging wieder nach draußen. »O Herr«, sagte sie, als sie in ihren staubigen gelben Stiefeln neben dem Sack stand und zum wolkenlosen Sommerhimmel aufsah, »Du hast mir die Kraft gegeben, den langen Weg zu gehen, und ich glaube, Du wirst mir auch die Kraft geben, den Rückweg zu schaffen. Dein Prophet Jesaja hat gesagt, wenn ein Mann oder eine Frau an den Herrn der Heerscharen glaubt, dann soll er aufsteigen mit Adlerschwingen. Ich verstehe nicht viel von Adlern, o Herr, außer, daß sie bösartige Vögel sind, die weit sehen können, aber ich habe drei Brathühner in diesem Sack, und ich will ihnen die Köpfe abhacken und nicht meine eigene Hand. Dein Wille geschehe, Amen.« Sie nahm den Sack, öffnete ihn und sah hinein. Eine der Hennen hatte immer noch den Kopf unter dem Flügel und schlief. Die beiden anderen hatten sich aneinandergedrängt und bewegten sich kaum. Im Sack war es dunkel, die Hennen glaubten, es wäre Nacht. Nur ein New Yorker Demokrat konnte dümmer sein als eine brütige Henne. Abagail nahm eine heraus und legte sie auf den Block, bevor sie wußte, wie ihr geschah. Sie schlug kräftig mit dem Beil zu und zuckte wie immer zusammen, als sie hörte, wie die Schneide endgültig und häßlich ins Holz fuhr. Der Kopf fiel auf einer Seite des Hackklotzes in den Staub. Die enthauptete Henne rannte blutspritzend und flügelschlagend über Richardsons Hof. Nach einer Weile stellte sie schließlich fest, daß sie tot war, und legte sich hin, wie es sich gehört. Brütige Hennen und New Yorker Demokraten, mein Gott, mein Gott. Dann war sie fertig, und ihre Sorge, sie könnte es vielleicht nicht schaffen oder sich dabei verletzen, war für die Katz gewesen. Gott hatte ihr Gebet erhört. Drei gute Hühner, und sie mußte sie nur noch nach Hause bringen. Sie verstaute die Tiere wieder im Sack und hängte Billy Richardsons Beil wieder auf. Dann ging sie ins Haus, um etwas Eßbares zu suchen. Sie schlief den frühen Nachmittag über und träumte, daß ihre Gäste sich allmählich näherten; sie waren jetzt südlich von New York und fuhren in einem alten Kleintransporter. Es waren sechs, darunter ein taubstummer junger Mann. Aber dennoch ein gescheiter Junge. Er war derjenige, mit dem sie reden mußte. Sie wachte gegen halb vier auf, ein wenig steif, aber sonst fühlte sie sich ausgeruht und erfrischt. In den nächsten zweieinhalb Stunden rupfte sie die Hennen, machte Pause, wenn die Arbeit den arthritischen Fingern zuviel Schmerz bereitete, und fing wieder an. Bei der Arbeit sang sie fromme Lieder - »Seven Gates to the City (My Lord Hallelu')«, »Trust and Obey« und ihr Lieblingslied »In the Garden«. Als sie mit der letzten Henne fertig war, hatte sie Migräne in jedem Finger, und das Tageslicht hatte jenen stillen goldenen Glanz angenommen, der den Vorboten der Dämmerung ankündigt. Es war Ende Juli, die Tage wurden kürzer. Sie ging ins Haus und aß noch etwas. Das Brot war alt, aber nicht schimmlig-kein Schimmel würde es wagen, in Addie Richardsons Küche sein grünes Gesicht zu zeigen -, und sie fand ein angebrochenes Glas Erdnußbutter. Sie aß ein Erdnußbutterbrot und machte noch eins, das sie in die Tasche ihres Kleides steckte - für den Fall, daß sie später Hunger bekommen sollte. Jetzt war es zwanzig vor sieben. Sie ging wieder nach draußen, nahm den Sack auf und ging vorsichtig die Verandastufen hinunter. Sie hatte die Federn ordentlich in einen anderen Sack gerupft, aber ein paar waren davongeflogen und hingen jetzt in Richardsons Hecke, die vor Wassermangel vertrocknete. Abagail seufzte schwer und sagte: »Ich mache mich auf den Weg, Herr. Nach Hause. Ich werde langsam gehen und wohl erst gegen Mitternacht ankommen, aber die Schrift sagt, fürchtet nicht die Schrecken der Nacht noch die Gefahren des Tages. Ich erfülle Deinen Willen, so gut ich kann. Begleite mich auf meinem Weg. Um Jesu willen, Amen.« Als sie die Stelle erreichte, wo der Asphalt aufhörte und der Sandweg anfing, war es schon dunkel. Grillen zirpten, Frösche quakten an einer Wasserstelle, wahrscheinlich Cal Coodells Tränke. Der Mond würde groß und rot wie Blut aufgehen, bis er höher am Himmel stand. Sie setzte sich, um sich auszuruhen, und aß ihr Erdnußbutterbrot (sie hätte viel für Johannisbeergelee gegeben, damit es nicht so klebrig schmeckte, aber Addie bewahrte ihr Eingemachtes im Keller auf, und das waren einfach zu viele Stufen). Der Sack stand neben ihr. Sie hatte wieder Schmerzen, und ihre Kraftreserven schienen fast verbraucht, obwohl sie noch zweieinhalb Meilen vor sich hatte... aber sie empfand eine seltsame Heiterkeit. Wie lange war es her, daß sie in der Dunkelheit draußen gewesen war, unter dem Baldachin der Sterne? Sie schienen so hell wie immer, und wenn sie Glück hatte, sah sie vielleicht eine Sternschnuppe und konnte sich etwas wünschen. Eine warme Nacht wie heute, die Sterne und der Mond, der mit seinem roten Liebhabergesicht über den Horizont sah, erinnerten sie an ihre Mädchenzeit mit ihrer Unruhe, ihren Temperamentsausbrüchen und der Verletzbarkeit, als die Zeit des Mysteriums nahte. Oh, auch sie war ein junges Mädchen gewesen. Es gab viele Leute, die das nicht glauben wollten, so wenig wie die Tatsache, daß jeder Mammutbaum einmal ein grüner Schößling war. Aber sie war ein Mädchen gewesen, und zu der Zeit war die kindliche Angst vor der Nacht ein wenig zurückgetreten, und die Angst, die Erwachsene in der Nacht empfinden, wenn alles leise ist und man die Stimme seiner ewigen Seele hören kann, lag noch in der Ferne. In der kurzen Zeit, die dazwischenlag, war die Nacht ein duftendes Rätsel gewesen, eine Zeit, wenn man zum sternenübersäten Himmel hinaufsah und der Brise lauschte, die so berauschende Düfte herantrug, und man fühlte sich dem Herzschlag des Universums nahe, der Liebe und dem Leben. Es erschien, als würde man ewig jung bleiben und - Dein Blut ist in meinen Fäusten. Sie spürte, wie heftig an dem Sack gezerrt wurde, und zuckte zusammen. »He!« schrie sie mit ihrer brüchigen alten Stimme. Sie zog den Sack zu sich heran und sah, daß er unten einen Riß hatte. Dann hörte sie ein leises Knurren. Am Straßenrand, zwischen Schotterböschung und Maisfeld, saß ein großes braunes Wiesel. Es sah sie mit rollenden Augen an, in denen sich das rote Licht des Mondes spiegelte. Dann kam noch eins. Noch eins. Noch eins. Sie sah zur anderen Straßenseite und stellte fest, daß dort eines neben dem anderen hockte. Sie witterten die Hühner im Sack. Wie hatten sich so viele um sie herumschleichen können? fragte sie sich mit wachsender Angst. Sie war einmal von einem Wiesel gebissen worden; sie hatte den Arm unter die Veranda des großen Hauses gestreckt, um einen roten Gummiball zu holen, der dorthin gerollt war, und etwas, das sich wie ein Mundvoll Nadeln angefühlt hatte, hatte sich in ihren Unterarm verbissen. Die unerwartete Tücke, der Schmerz, rotglühend und plötzlich und grell, hatte sie aus dem täglichen Einerlei gerissen, und das Erschrecken hatte ebenso wie die körperlichen Schmerzen dazu geführt, daß sie schrie. Sie hatte den Arm zurückgezogen, und das Wiesel war daran hängengeblieben; ihr eigenes Blut war ihm über das braune Fell geperlt, und der Körper des Wiesels hatte in der Luft hin und her gezuckt wie der einer Schlange. Sie hatte geschrien und mit dem Arm gerudert, aber das Wiesel hatte nicht losgelassen; es schien ein Teil von ihr geworden zu sein. Ihre Brüder Micah und Matthew waren im Hof gewesen, ihr Vater auf der Veranda, wo er in einem Versandhauskatalog blätterte. Sie waren alle herangestürmt, und einen Augenblick standen sie wie vom Donner gerührt, als sie Abagail sahen, gerade zwölf, die auf der Lichtung herumhüpfte, wo bald die neue Scheune gebaut werden sollte, während das braune Wiesel, dessen Pfoten in der Luft nach Halt suchten, wie eine Stola von ihrem Arm hing. Blutspritzer waren auf ihrem Kleid, ihren Beinen und Schuhen. Ihr Vater hatte als erster gehandelt. John Freemantle hatte ein Stück Feuerholz neben dem Hackklotz aufgehoben und gebrüllt: »Bleib stehen, Abby!« Seine Stimme, schon seit ihrer frühesten Kindheit die Stimme absoluter Befehlsgewalt, drang durch das Zetern und Schnattern der Panik in ihren Verstand, wo alles andere wahrscheinlich ungehört geblieben wäre. Sie blieb still stehen, das Holzscheit sauste herunter, stechende Schmerzen rasten bis hinauf in ihre Schulter (sie hatte gedacht, daß der Arm ganz sicher gebrochen war), dann lag das braune DING, das derartigen Schmerz und Schock in ihr bewirkt hatte - in der gräßlichen Hitze dieser wenigen Augenblicke waren die beiden Empfindungen untrennbar miteinander verbunden -, auf dem Boden, sein Fell war mit ihrem Blut verschmiert, und dann sprang Micah in die Luft und landete mit beiden Füßen darauf; man hörte ein letztes, häßliches, endgültiges Knirschen, als würde man eine Zuckerstange mit den Zähnen zerbeißen, und wenn es bis dahin nicht tot gewesen war, dann war es jetzt ganz bestimmt tot. Abagail hatte nicht das Bewußtsein verloren, aber sie war in schluchzende, kreischende Hysterie verfallen. Inzwischen war Richard, der älteste Sohn, erschreckt und mit blassem Gesicht gelaufen gekommen. Er und sein Vater wechselten einen ernsten, ängstlichen Blick. »In meinem ganzen Leben hab' ich ein Wiesel so was noch nicht machen sehen«, sagte John Freemantle und hielt seine schluchzende Tochter an den Schultern. »Gott sei Dank, daß deine Mutter mit den Bohnen unterwegs war.« »Vielleicht war es tollw...«, begann Richard. »Du hältst den Mund«, warf sein Vater ein, bevor Richard weitersprechen konnte. Seine Stimme klang kalt und wütend und ängstlich zugleich. Und Richard hielt den Mund - er klappte ihn sogar so schnell und fest zu, daß Abby die Zähne klacken hörte. Dann sagte ihr Vater zu ihr: »Gehen wir zur Pumpe, Abby, Liebes, und waschen wir den Schlamassel ab.« Ein Jahr später sagte Luke ihr, was Richard auf Geheiß seines Vaters nicht laut aussprechen durfte: daß das Wiesel mit Sicherheit tollwütig gewesen sein mußte, so etwas zu machen, und wenn es tollwütig gewesen wäre, dann wäre sie eines schrecklichen Todes gestorben, schlimmer als die schlimmste Folter, wie die Menschen sie kannten. Aber das Wiesel war nicht tollwütig gewesen; die Wunde war sauber verheilt. Dennoch hatte Abby von diesem Tag an bis heute eine Todesangst vor solchen Geschöpfen - eine Angst, wie andere Menschen sie vor Ratten und Spinnen haben. Wenn die Seuche doch sie anstatt der Hunde weggerafft hätte! Aber es war anders gekommen, und sie selbst war... Dein Blut ist in meinen Fäusten. Eines sprang näher und riß an der groben Naht des Sacks. »Ih!« kreischte sie. Das Wiesel huschte davon, schien zu grinsen und hatte einen Fetzen vom Sack zwischen den Zähnen. Er hatte sie geschickt - der dunkle Mann. Entsetzen packte sie. Jetzt waren es Hunderte, graue, braune und schwarze, und alle rochen die Hühner. Sie säumten beide Straßenseiten und drängten sich übereinander, um möglichst schnell an das heranzukommen, was sie rochen. Ich muß sie ihnen geben. Es war alles umsonst. Wenn ich sie ihnen nicht gebe, reißen sie mich in Stücke, um sie zu bekommen. Alles umsonst. In der Dunkelheit ihrer Gedanken sah sie den dunklen Mann grinsen, sah die Fäuste, die er ausstreckte, und das Blut, das von ihnen tropfte. Wieder ein Zerren am Sack. Dann noch eines. Die Wiesel auf der anderen Straßenseite kamen jetzt auf sie zu; ihre Bäuche schleiften im Staub. Ihre bösartigen kleinen Augen glänzten im Mondschein wie Eiszapfen. Doch siehe, wer an mich glaubt, der soll nicht zuschanden werden... denn ich habe mein Zeichen auf ihn gesetzt, und nichts soll ihm geschehen ...er ist mein, spricht der Herr... Sie stand auf, hatte immer noch schreckliche Angst, wußte jetzt aber, was sie zu tun hatte. »Verschwindet!« schrie sie. »Ja, es sind Hühner, aber sie sind für meine Gäste! Und jetzt macht, daß ihr fortkommt!« Sie zogen sich zurück. Ihre kleinen Augen schienen unruhig zu werden. Und plötzlich waren sie verschwunden wie Rauch, der sich in der Luft auflöst. Ein Wunder, dachte sie, Freude erfüllte sie, sie lobte den Herrn. Dann wurde ihr plötzlich kalt. Irgendwo weit entfernt im Westen, jenseits der Rockies, die nicht einmal am Horizont zu sehen waren, schienen sich glitzernde Augen plötzlich weit zu öffnen und forschend nach ihr suchen. So deutlich, als würden die Worte laut gesprochen, hörte sie ihn sagen: Wer ist dort? Bist du es, alte Frau? »Er weiß, daß ich hier bin«, flüsterte sie in der Nacht. »Hilf mir, o Herr. Hilf mir, hilf uns allen.« Sie zog den Sack hinter sich her und machte sich auf den Heimweg. Sie kamen zwei Tage später, am 24. Juli. Was Abbys Vorbereitungen anbetraf, war sie nicht so weit, wie ihr lieb gewesen wäre; sie war wieder einmal kreuzlahm und schwach, konnte nur mit dem Stock von einem Ort zum ändern hinken und kaum Wasser aus dem Brunnen heraufpumpen. Am Tag, nachdem sie die Hühner geschlachtet und die Wiesel in die Flucht geschlagen hatte, war sie am Nachmittag lange und erschöpft eingeschlafen. Sie träumte, dass sie sich auf einem hohen, kalten Paß mitten in den Rockies befand, westlich der Kontinentalscheide. Highway 6 schlängelte sich zwischen hohen Felswänden hindurch, die diese Kluft den ganzen Tag über in Schatten hüllten; nur von elf Uhr fünfundvierzig am Vormittag bis gegen zwölf Uhr fünfzig am Nachmittag schien die Sonne in die Schlucht. Aber in ihrem Traum herrschte kein Tageslicht, sondern undurchdringliche Neumond-Dunkelheit. Irgendwo heulten Wölfe. Und plötzlich öffnete sich ein Auge in der Dunkelheit, das gräßlich von einer Seite zur anderen blickte, während der Wind einsam durch die Pinien und blauen Bergfichten heulte. Es war er, und er suchte nach ihr. Sie war aus diesem langen, tiefen Schlaf erwacht und hatte sich nicht so ausgeruht wie vorher gefühlt, und sie hatte wieder zu Gott gebetet, er möge sie in Frieden lassen oder ihr wenigstens die Richtung zeigen, in die er sie schicken wollte. Norden, Süden oder Osten, Herr, und ich werde Hemingford verlassen und Dein Loblied singen. Aber nicht nach Westen, nicht zum dunklen Mann. Die Rockies sind nicht groß genug zwischen ihm und uns. Die Anden wären nicht groß genug. Aber das spielte keine Rolle mehr. Früher oder später, wenn der Mann sich stark genug fühlte, würde er nach denen suchen kommen, die sich gegen ihn stellten. Wenn nicht dieses Jahr, dann im nächsten. Die Hunde waren dahin, die Seuche hatte sie ausgerottet, aber die Wölfe lebten noch in den Hochländern der Berge und waren bereit, dem Dämon Satans zu dienen. Aber nicht nur die Wölfe würden ihm dienen. Am Morgen des Tages, an dem ihre Gäste endlich ankamen, hatte sie um sieben Uhr mit der Arbeit angefangen; sie hatte Holzscheite geschleppt, immer zwei auf einmal, bis der Herd heiß und die Holzkiste voll war. Gott hatte ihr einen kühlen, wolkenverhangenen Tag beschert, den ersten seit Wochen. Heute abend könnte es regnen. Ihre Hüfte, die sie sich 1958 gebrochen hatte, prophezeite es jedenfalls. Sie backte ihre ersten Kuchen mit den eingemachten Früchten aus der Speisekammer und frischem Rhabarber und Erdbeeren aus dem Garten. Die Erdbeeren waren gerade reif, Gott sei gelobt, und es war gut zu wissen, daß sie nicht verderben würden. Allein das Kochen bewirkte, daß sie sich besser fühlte, denn Kochen war Leben. Ein Blaubeerkuchen, zwei Kuchen mit Rhabarber und Erdbeeren, ein Apfelkuchen. Ihr Duft zog durch die morgendliche Küche. Sie stellte sie zum Abkühlen auf die Fensterbank, wie sie es ihr Leben lang getan hatte. Sie gab sich große Mühe mit dem Teig, obwohl es ohne frische Eier gar nicht so leicht war - dabei war sie im Hühnerhaus gewesen; es war ihre eigene Schuld. Eier oder nicht, am frühen Nachmittag roch die kleine Küche mit ihrem unebenen Fußboden und dem abgewetzten Linoleum nach Brathühnern. Es war drinnen recht heiss geworden, daher humpelte sie auf die Veranda, um wie jeden Tag zu lesen; dann fächelte sie sich mit ihrem eselsohrigen Exemplar von The Upper Room kühle Luft ins Gesicht. Die Hühner gelangen ihr so knusprig und gut, wie man es sich nur wünschen konnte. Einer der Burschen konnte hinausgehen und zwei Dutzend frische Maiskolben holen, und sie würden sich zu einer herrlichen Mahlzeit ins Freie setzen. Nachdem sie die Brathühner auf Papiertücher gelegt hatte, setzte sie sich mit der Gitarre auf die hintere Veranda und fing an zu spielen. Sie sang alle ihre Lieblingslieder; ihre hohe, zitternde Stimme ertönte in die stille Sommerluft. »Have we trials and temptations,  Are we cumbered with a load of care?  We must never be discouraged,  Take it to the Lord in prayer.« Sie fand, die Musik klang so wunderbar (obwohl ihre Hörkraft stark abgenommen hatte, so daß sie nicht mehr sicher sein konnte, ob die alte Gitarre richtig gestimmt war), daß sie noch ein Lied spielte, noch eins und noch eins. Sie sang gerade »We Are Marching to Zion«, als sie Motorengeräusch im Norden vernahm, das auf der County Road näher kam. Sie hörte auf zu singen, aber ihre Finger strichen noch geistesabwesend über die Saiten, als sie den Kopf schräg hielt und lauschte. Sie kommen, ja, Herr, sie haben den Weg gut gefunden, und jetzt konnte Abby den Staub sehen, den die Räder des Wagens aufwirbelten, als er vom Asphalt auf den Sandweg gelenkt wurde, der zu ihrem Haus führte. Sie freute sich darauf, die Gäste zu begrüßen, und war froh, daß sie ihr bestes Kleid angezogen hatte. Sie stellte die Gitarre zwischen die Knie und hielt die Hand über die Augen, obwohl die Sonne immer noch nicht schien. Jetzt war das Motorengeräusch schon viel lauter. Noch einen Moment, und dort, wo der Mais aufhörte und der Bewässerungsgraben von Cal Coodell anfing... Ja, jetzt sah sie ihn, einen alten Chevrolet-Lieferwagen, der langsam fuhr. Die Fahrerkabine war voll; wie es aussah, drängten sich dort vier Leute (selbst mit hundertacht konnte Abby noch sehr gut auf weite Entfernung sehen), und auf der Ladefläche saßen noch drei, die jetzt aufstanden und über das Fahrerhaus blickten. Sie sah einen schlanken blonden Mann, ein Mädchen mit roten Haaren, und in der Mitte... ja, das war er, ein Junge, der gerade die letzten Lektionen lernte, was es heißt, ein Mann zu sein. Dunkles Haar, schmales Gesicht, hohe Stirn. Er sah sie auf der Veranda sitzen und winkte aufgeregt. Ein wenig später tat der blonde Mann es ihm nach. Das rothaarige Mädchen schaute nur. Mutter Abagail hob die Hand und winkte zurück. »Gott sei Lob, daß er sie hergebracht hat«, murmelte sie heiser. Tränen liefen ihr heiß über die Wangen. »Herr, ich danke Dir so sehr.« Der Wagen fuhr holpernd und rumpelnd auf den Hof. Der Mann am Steuer trug einen Strohhut mit blauem Samtband, in dem eine Feder steckte. »Jjuuhuuuuh!« schrie er und winkte. »Hallo, Mutter! Nick sagte, dass Sie hier sein müssen, und das sind Sie ja auch, juuhuuuu!« Er drückte auf die Hupe. Neben ihm im Fahrerhaus saßen ein Mann um die Fünfzig, eine Frau im gleichen Alter und ein kleines Mädchen im roten Cordoverall. Das kleine Mädchen winkte schüchtern; den Daumen der anderen Hand hatte es fest in den Mund gedrückt. Der junge Mann mit der Augenklappe und dem dunklen Haar - Nick - sprang herunter, bevor der Wagen hielt. Er behielt das Gleichgewicht und kam langsam auf sie zu. Sein Gesicht war ernst, aber die Augen strahlten vor Freude. Er blieb vor den Stufen zur Veranda stehen und sah sich erstaunt um... Hof, Haus, den alten Baum mit der Reifenschaukel. Aber ganz intensiv sah er Abby an. »Hallo, Nick«, sagte sie. »Ich freue mich, dich zu sehen. Gott segne dich.« Er lächelte, und auch bei ihm flossen jetzt Tränen. Er ging die Stufen hinauf zu ihr und nahm ihre Hände. Sie bot ihm ihre faltige Wange, und er küßte sie behutsam. Inzwischen hatte der Wagen hinter ihm angehalten, und die anderen waren ausgestiegen. Der Mann, der gefahren war, hielt das kleine Mädchen im roten Overall, das am rechten Bein einen Gipsverband trug, an sich gedrückt. Sie hatte die Arme fest um den sonnengebräunten Nacken des Fahrers geschlungen. Neben ihm stand die etwa fünfzigjährige Frau, neben dieser der Rotschopf und der blonde junge Mann mit Bart. Nein, kein Mann, dachte Mutter Abagail; er ist schwach. Als letzter in der Reihe stand der Mann, der im Fahrerhaus gesessen hatte. Er putzte die Gläser seiner Nickelbrille. Nick sah Abby auffordernd an, und sie nickte. »Du hast das Richtige getan«, sagte sie. »Der Herr hat dich geschickt, und Mutter Abagail wird dir zu essen geben. Ihr seid alle willkommen!« fügte sie mit lauterer Stimme hinzu. »Wir können nicht lange bleiben, aber bevor wir aufbrechen, werden wir ausruhen, zusammen das Brot brechen und gute Gemeinschaft halten.« Das kleine Mädchen auf den sicheren Armen des Fahrers piepste: »Bist du die älteste Lady der Welt?« Die etwa fünfzigjährige Frau sagte: »Pssst, Gina!« Aber Mutter Abagail legte eine Hand an die Hüfte und lachte. »Vielleicht, mein Kind. Vielleicht.« Sie ließ ihr rotkariertes Taschentuch hinter dem alten Apfelbaum ausbreiten, und die beiden Frauen, Olivia und June, trugen das Picknick nach draußen, während die Männer Mais pflücken gingen. Dieser war rasch gedünstet, und wenn auch keine richtige Butter im Haus war, hatte sie doch genügend Öl und Salz. Während des Essens wurde kaum geredet - nur Kaugeräusche und hin und wieder ein leises Grunzen des Behagens waren zu hören. Es tat ihrem Herzen gut, Leute mit solchem Appetit essen zu sehen, und diese Leute erwiesen ihrem Essen alle Ehre. Ihr Ausflug zur Farm der Richardsons und die Rangelei mit den Wieseln waren nicht vergeblich gewesen. Ihre Gäste waren nicht gerade ausgehungert, aber wenn man über einen Monat lang nur aus Dosen lebt, bekommt man Heißhunger auf etwas frisch Gekochtes. Sie selbst aß drei Stückchen Huhn, einen Maiskolben und ein kleines Stück Kuchen mit Erdbeeren und Rhabarber. Als sie alles gegessen hatte, war sie so satt wie eine Bettwanze in der Matratze. Als sie fertig waren und der Kaffee eingeschenkt wurde, sagte der Fahrer, ein sympathischer Mann namens Ralph Brentner: »Das war ein Knüller von einer Mahlzeit, Madam. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir je etwas so gut geschmeckt hat. Unseren besten Dank.« Die anderen murmelten zustimmend. Nick lächelte und nickte. Das kleine Mädchen sagte: »Darf ich bei dir sitzen, Grannylady?« »Ich fürchte, du bist zu schwer, Liebes«, sagte Olivia Walker, die ältere Frau. »Unsinn«, sagte Abagail. »Der Tag, an dem ich ein kleines Mädchen nicht mehr auf den Schoß nehmen kann, ist der, wenn man mich ins Leichentuch hüllt. Komm nur, Gina.« Ralph trug sie zu ihr hinüber und setzte sie ab. »Wenn sie zu schwer wird, sagen Sie es mir.« Er setzte sich wieder hin. »Was ist mit deinem Bein passiert, Gina?« fragte Abagail. »Ich habe es gebrochen, als ich vom Heuboden gefallen bin«, sagte Gina. »Dick hat es wieder heilgemacht. Ralph sagt, Dick hat mir das Leben gerettet. « Sie warf dem Mann mit der Nickelbrille eine Kußhand zu, er errötete leicht, hüstelte und lächelte. Nick, Tom Cullen und Ralph hatten Dick Ellis mitten in Kansas getroffen, als er mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Stock in der Hand die Straße entlangging. Er war Tierarzt. Am nächsten Tag, als sie durch die kleine Stadt Lindsbourg kamen, hatten sie gerastet, um zu Mittag zu essen, und vom südlichen Ende der Stadt Ginas schwache Schreie gehört. Wenn der Wind in die andere Richtung geweht hätte, wären ihnen die Schreie nie aufgefallen. »Gottes Barmherzigkeit«, sagte Abagail selbstvergessen und strich dem kleinen Mädchen über das Haar. Gina war drei Wochen allein gewesen. Einen oder zwei Tage vorher hatte sie in der Scheune ihres Onkels auf dem Heuboden gespielt, als die morschen Bretter nachgaben und sie zwölf Meter tief auf den Scheunenboden gestürzt war. Zwar hatte das Heu den Fall gebremst, aber sie war heruntergerollt und hatte sich das Bein gebrochen. Zuerst hatte Dick Ellis ihr kaum Chancen gegeben. Er hatte sie örtlich betäubt, um das Bein zu richten; sie hatte soviel Gewicht verloren, und ihre allgemeine Verfassung war so erbärmlich, daß er befürchtet hatte, sie würde sterben (während der Schlüsselworte dieser Unterhaltung spielte Gina McCone sorglos mit den Knöpfen an Mutter Abagails Kleid). Gina hatte sich aber so schnell erholt, daß alle überrascht waren. Sie hatte sofort Zuneigung zu Ralph und seinem kecken Hut entwickelt. Mit leiser, verhaltener Stimme sagte Ellis, er vermutete, ihr größtes Problem sei wohl die erdrückende Einsamkeit gewesen. »Natürlich war es das«, sagte Abagail. »Wenn ihr sie nicht gehört hättet, wäre sie gestorben.« Gina gähnte. Sie hatte große, glasige Augen. »Ich nehme sie jetzt«, sagte Olivia Walker. »Bring sie in den kleinen Raum am Ende des Korridors«, sagte Abby. »Wenn du willst, kannst du bei ihr schlafen. Das andere Mädchen... wie war der Name, Honey? Ich habe ihn ganz vergessen.« »June Brinkmeyer«, sagte die Rothaarige. »Nun, du kannst bei mir im Zimmer schlafen, June, es sei denn, du möchtest es nicht. Das Bett ist allerdings nicht breit genug für zwei, aber du wirst ohnehin wohl kaum neben einem alten Knochengestell wie mir schlafen wollen. Doch oben auf dem Boden liegt noch eine Matratze, die es eigentlich tun müßte, falls sich kein Ungeziefer darin eingenistet hat. Einer der starken Männer könnte sie dir herunterholen, glaube ich.« »Klar«, sagte Ralph. Olivia brachte Gina, die schon eingeschlafen war, zu Bett. Die Küche war jetzt so voll, wie schon seit Jahren nicht mehr und halb dunkel in der Dämmerung. Ächzend stand Mutter Abagail auf und zündete drei Petroleumlampen an; eine stellte sie auf den Tisch, eine auf den Herd (der gußeiserne Blackwood kühlte ab und knackte zufrieden vor sich hin) und die dritte auf den Fenstersims zur Veranda. Die Dunkelheit war zurückgedrängt. »Vielleicht sind die alten Methoden die besten«, sagte Dick plötzlich, und alle sahen ihn an. Er errötete und hustete wieder, aber Abagail kicherte nur. »Ich meine«, fuhr Dick ein wenig defensiv fort, »das war die erste selbstgekochte Mahlzeit seit... ich glaube, seit dem 30. Juni. Dem Tag, als der Strom ausfiel. Und das Essen habe ich selbst gekocht. Aber was ich fabriziert habe, konnte man kaum ein Essen nennen. Meine Frau... die war eine ganz ausgezeichnete Köchin. Sie...« Er verstummte tonlos. Olivia kam wieder herein. »Fest eingeschlafen«, sagte sie. »Ein müdes kleines Mädchen.« »Backen Sie Ihr Brot noch selbst?« fragte Dick Mutter Abagail. »Gewiß. Wie immer. Natürlich kein Hefebrot; die ganze Hefe ist hinüber. Aber es gibt auch noch andere Sorten.« »Ich sterbe für Brot«, sagte er schlicht. »Helen... meine Frau... hat zweimal die Woche Brot gebacken. In letzter Zeit scheint das mein einziger Wunsch zu sein. Ich glaube, ich könnte glücklich sterben, wenn ich drei Scheiben Brot und etwas Erdbeermarmelade bekommen würde.« »Tom Cullen ist müde«, sagte Tom plötzlich. »M-O-N-D, das buchstabiert man müde.« Er gähnte, daß seine Kieferknochen knackten. »Du kannst draußen im Schuppen schlafen«, sagte Abagail. »Er riecht ein bißchen muffig, ist aber trocken.« Eine Weile lauschten sie dem gleichmäßigen Rauschen des Regens, der schon seit einer Stunde fiel. Wäre Abby allein gewesen, hätte es sich trostlos angehört. In Gesellschaft war es ein angenehmes, geheimnisvolles Geräusch, das sie alle gemeinsam umfing. Er gurgelte durch die galvanisierten Blechrinnen und plätscherte in die Regentonne, die Abby noch auf der anderen Seite des Hauses stehen hatte. Donner grollte über dem fernen lowa. »Ihr habt gewiß Camping-Ausrüstung?« fragte sie sie. »Alles mögliche«, sagte Ralph. »Wir kommen zurecht. Komm, Tom.« »Ich frage mich«, sagte Abagail, »ob Nick und du noch eine Weile bleiben könnt, Ralph.« Nick hatte während der ganzen Unterhaltung am Tisch gesessen, von Abbys Schaukelstuhl aus gesehen auf der anderen Seite des Zimmers. Man sollte meinen, dachte sie, daß ein Mann, der nicht hören kann, sich in einem Raum voller Menschen verloren vorkommt, daß er ganz einfach untergeht. Aber Nick hatte etwas an sich, das dem entgegenstand. Er saß völlig ruhig da; seine Augen folgten der Unterhaltung reihum; man sah seiner Miene die Reaktion auf das Gesagte an. Er hatte ein offenes und intelligentes Gesicht, aber etwas verhärmt für einen so jungen Mann. Abby bemerkte, dass die Leute im Verlauf der Unterhaltung häufig Nick ansahen, als erwarteten sie seine Zustimmung oder Ablehnung. Sie schienen seine Meinung hoch zu schätzen. Ein paarmal sah Abby, wie Nick mit besorgtem Gesicht nach draußen in die Dunkelheit blickte. »Könnte ich jetzt die Matratze bekommen?« fragte June leise. »Nick und ich holen sie«, sagte Ralph und stand auf. »Ich will nicht allein in den Schuppen gehen«, sagte Tom. »Meine Güte, nein.« »Ich gehe mit dir raus, Boß«, sagte Dick. »Wir zünden die ColemanLampe an und legen uns schlafen.« Er stand auf. »Nochmals danke, Ma'am. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wunderbar das alles war.« Auch die anderen bedankten sich noch einmal. Nick und Ralph holten die Matratze, die sich als ungezieferfrei erwies. Tom und Dick - denen nur noch ein Harry fehlte, dann wären sie komplett, dachte Abagail - gingen in den Schuppen hinaus, wo schon bald die Coleman-Lampe aufleuchtete. Kurz darauf waren Nick, Ralph und Mutter Abagail allein in der Küche. »Stört es Sie, wenn ich rauche, Ma'am?« fragte Ralph. »Nein, solange Sie nicht die Asche auf den Fußboden werfen. Gleich hinter Ihnen im Schrank steht ein Aschenbecher.« Ralph stand auf, ihn zu holen, und Abby sah Nick an. Er trug ein Khakihemd, Blue jeans und eine verblichene Drillichweste. Er hatte etwas an sich, das ihr das Gefühl gab, als hätte sie ihn schon vorher gekannt oder als wäre es ihr immer vorherbestimmt gewesen, ihn kennenzulernen. Wenn sie ihn ansah, verspürte sie ein stilles Gefühl des Wissens und der Vollendung, als wäre dieser Augenblick einfach Schicksal gewesen. Als wäre an einem Ende ihres Lebens ihr Vater John Freemantle gewesen, groß und schwarz und stolz, und dieser Mann am anderen Ende, jung, weiß und stumm, mit einem strahlenden, ausdrucksvollen Auge, das sie aus diesem verhärmten Gesicht ansah. Sie schaute zum Fenster hinaus und erblickte das Licht der Coleman-Batterielampe, das zum Schuppenfenster herausschien und ein Stück des Hofes beleuchtete. Sie fragte sich, ob der Schuppen immer noch nach Kuh roch; sie war seit fast drei Jahren nicht mehr dort gewesen. Unnötig. Daisy, ihre letzte Kuh, war 1975 verkauft worden, aber 1987 hatte der Schuppen immer noch nach Kuh gerochen. Was wahrscheinlich bis auf den heutigen Tag so geblieben war. Einerlei; es gab schlimmere Gerüche. »Ma'am?« Sie sah wieder auf. Ralph saß jetzt neben Nick, hielt einen Zettel in der Hand und betrachtete ihn blinzelnd im trüben Licht der Petroleumlampe. Nick hielt Schreibblock und Kugelschreiber. Er sah sie immer noch aufmerksam an. »Nick sagt...« Ralph räusperte sich verlegen. »Nur weiter.« »Auf dem Zettel steht, es ist so schwer, Ihnen von den Lippen zu lesen, weil...« »Ich glaube, ich weiß, warum«, sagte sie. »Keine Angst.« Sie stand auf und schlurfte zum Schreibpult. Auf dem zweiten Regal darüber stand ein Plastikbehälter, in dem in einer milchigen Flüssigkeit zwei Gebißplatten wie medizinische Ausstellungsstücke schwammen. Sie fischte sie heraus und spülte sie in einem Krug Wasser ab. »Mein Gott, habe ich gelitten«, sagte Mutter Abagail kläglich und setzte das Gebiß ein. »Wir müssen miteinander reden«, sagte sie. »Ihr zwei seid die Anführer, und wir müssen uns über ein paar Dinge klar werden.« »Nun«, sagte Ralph, »ich nicht. Ich war nie mehr als Vollzeitfabrikarbeiter und Teilzeitfarmer. Ich habe zu meiner Zeit mehr Schwielen als Einfälle gehabt. Ich glaube eher, Nick hat das Sagen.« »Stimmt das?« fragte sie und sah Nick an. Nick schrieb kurz, und Ralph las es laut vor, und so hielt er es auch weiterhin. »Es war meine Idee, hierherzukommen, ja. Aber ob ich der Anführer bin, weiß ich nicht.« »June und Olivia haben wir etwa neunzig Meilen südlich von hier getroffen«, sagte Ralph. »Das war vorgestern, Nick, nicht?« Nick nickte. »Da waren wir schon auf dem Weg zu Ihnen, Mutter. Die Frauen waren auch nach Norden unterwegs. Und Dick. Wir haben uns zusammengetan.« »Habt ihr sonst noch Leute gesehen?« fragte sie. »Nein«, schrieb Nick. »Aber ich hatte das Gefühl - Ralph auch -, dass da noch andere waren, die sich versteckt hatten und uns beobachteten. Ich denke, sie hatten Angst. Sie müssen noch den Schock überwinden.« Sie nickte. »Dick hat gesagt, am Tag, bevor er uns getroffen hat, hat er irgendwo im Süden ein Motorrad gehört. Also sind noch andere Menschen unterwegs. Ich glaube, eine so große Gruppe macht ihnen angst.« »Warum seid ihr hergekommen?« Ihre Augen blickten Nick aus einem Gewirr von Runzeln gespannt an. Nick schrieb: »Ich habe von Ihnen geträumt. Dick Ellis auch einmal, sagt er. Und die kleine Gina nannte Sie schon lange, bevor wir hier waren, >Grannylady<. Sie hat Ihr Haus beschrieben. Die Reifenschaukel.« »Gott segne das Kind«, sagte Mutter Abagail zerstreut. Sie sah Ralph an. »Und du?« »Ein- oder zweimal, Ma'am«, sagte Ralph. Er fuhr mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe hauptsächlich von diesem... von diesem anderen Kerl geträumt.« »Von welchem Kerl?« Nick schrieb. Kreiste das Geschriebene ein. Gab es ihr diesmal. Auf die Nähe konnte sie ohne ihre Brille oder die Leuchtlupe, die sie vor einem Jahr im Hemingford Center gekauft hatte, nicht mehr gut sehen, aber dies konnte sie lesen. Es war groß geschrieben wie die Flammenschrift, die Gott in Belsazers Palast an der Wand erscheinen ließ. Der bloße Anblick des Eingekreisten machte sie schon frösteln. Sie dachte an die Wiesel, die auf dem Bauch über die Straße krochen und mit nadelspitzen Killerzähnen an dem Sack zerrten. Sie dachte an ein einzelnes rotes Auge, das sich in der Dunkelheit öffnete, das schaute und suchte, jetzt nicht nur eine alte Frau, sondern eine ganze Gruppe Männer und Frauen... und ein kleines Mädchen. Die drei eingekreisten Worte waren: Der dunkle Mann. »Ich habe erfahren«, sagte sie, faltete den Zettel zusammen, klappte ihn auf, faltete ihn wieder zusammen und dachte momentan gar nicht an die Schmerzen ihrer Arthritis, »daß wir nach Westen gehen sollen. Das hat mir Gott der Herr im Traum gesagt. Ich wollte nicht darauf hören. Ich bin eine alte Frau und möchte nur auf diesem Stück Land sterben. Es gehört seit hundertzwölf Jahren meiner Familie, aber es ist mir genauso wenig bestimmt, hier zu sterben, wie es Moses bestimmt war, mit den Kindern Israels nach Kanaan zu gehen.« Sie schwieg. Die beiden Männer sahen sie im Schein der Lampe an, draußen rauschte langsam und unaufhörlich der Regen. O Herr, dachte sie, dieses Gebiß tut mir im Mund weh. Ich möchte es rausnehmen und ins Bett gehen. »Schon zwei Jahre bevor diese Seuche ausbrach, hatte ich Träume. Ich habe immer geträumt, und manchmal wurden meine Träume wahr. Weissagungen sind eine Gabe Gottes, jeder hat ein wenig davon. Meine Großmutter nannte sie den Lampenschein Gottes, manchmal auch nur das Shining. In meinen Träumen sah ich mich nach Westen gehen. Zuerst nur mit wenigen Leuten, dann mit ein paar mehr, dann noch ein paar. Westen, immer Westen, bis ich die Rocky Mountains sehen konnte. Zuletzt waren wir eine ganze Karawane, zweihundert oder mehr. Und es gab Zeichen... nein, keine Zeichen von Gott, sondern gewöhnliche Straßenzeichen, und auf allen stand so etwas wie BOULDER, COLORADO, 609 MEILEN oder RICHTUNG BOULDER.« Sie machte eine Pause. »Diese Träume, die haben mir angst gemacht. Ich hab' nie einer Menschenseele erzählt, daß ich sie hatte, solche Angst hab' ich gehabt. Mir war etwa so zumute, wie Hiob zumute gewesen sein muß, als Gott aus dem Wirbelwind zu ihm gesprochen hat. Ich hab' sogar so getan, als wären es nur Träume; ich war eine dumme alte Frau, die vor Gott weggelaufen ist wie Jonas. Aber du siehst, der große Fisch hat uns trotzdem verschluckt. Und wenn Gott zu Abby sagt: Du mußt es erzählen!, dann muß ich es erzählen. Und ich habe mir immer gedacht, daß jemand zu mir kommen würde, jemand ganz Besonderes, und so würde ich erfahren, daß die Zeit gekommen ist.« Sie betrachtete Nick, der am Tisch saß und sie mit seinem guten Auge ernst durch den Dunst von Ralph Brentners Zigarettenrauch ansah. »Ich wußte es, als ich dich gesehen habe«, sagte sie. »Du bist es, Nick. Gott hat seinen Finger auf dein Herz gelegt. Aber er hat mehr als einen Finger, und draußen sind andere, die noch kommen, und auch auf sie hat er seinen Finger gelegt. Ich träume von ihm, wie er immer nach uns sucht, und, Gott vergebe meinem kranken Geist, ich verfluche ihn von ganzem Herzen.« Sie fing an zu weinen und stand auf, um Wasser zu trinken und sich etwas ins Gesicht zu spritzen. Ihre Tränen waren das Menschliche an ihr, schwach und gebrechlich. Als sie sich wieder umdrehte, schrieb Nick etwas. Schließlich riß er den Zettel ab und gab ihn Ralph. »Ich weiß nichts von Gott, aber ich weiß, daß etwas im Gange ist. Alle, die wir getroffen haben, waren auf dem Weg nach Norden. Als wüßten Sie die Antwort. Haben Sie auch von den anderen Leuten geträumt? Dick? June oder Olivia? Vielleicht von dem kleinen Mädchen?« 'Von denen nicht. Von einem Mann, der nicht viel redet. Von einer schwangeren Frau. Von einem jungen Mann in deinem Alter, der seine Gitarre mitbringt. Und von dir, Nick.« »Und Sie glauben, daß es das Richtige wäre, nach Boulder zu gehen?« Mutter Abagail sagte: »Wir sollen dorthin gehen.« Nick kritzelte einen Moment müßig auf seinem Notizblock herum, dann schrieb er: »Was wissen Sie über den dunklen Mann? Wissen Sie, wer er ist?« »Ich weiß, was er vorhat, aber nicht, wer er ist. Er ist das reinste Böse, das es auf der Welt noch gibt. Die übrigen Bösen sind kleine Fische. Ladendiebe und Sexualverbrecher und Leute, die gern die Fäuste gebrauchen. Aber er wird sie rufen. Er hat schon angefangen. Er versammelt sie viel schneller um sich, als wir uns zusammenfinden. Nicht nur die Bösen, die wie er sind, auch die Schwachen... die Einsamen... und diejenigen, die Gott nicht in ihr Herz lassen.« »Vielleicht gibt es ihn gar nicht«, schrieb Nick. »Vielleicht ist er nur...« Er mußte eine Weile an seinem Stift knabbern und nachdenken. Schließlich fügte er hinzu: »...das Ängstliche, Böse in uns allen. Vielleicht träumen wir nur die Dinge, vor denen wir selbst Angst haben, wir könnten sie tun.« Ralph runzelte die Stirn, als er das laut vorlas, aber Abby verstand sofort, was Nick meinte. Es unterschied sich kaum von dem, was diese neuen Prediger redeten, die seit ungefähr zwanzig Jahren durch das Land zogen. In Wirklichkeit gab es keinen Satan, das war ihr Evangelium. Es gab das Böse, und das war wahrscheinlich auf die Erbsünde zurückzuführen, aber es steckte in uns allen, und es war genauso unmöglich, es auszutreiben, wie man ein Ei aus der Schale holen konnte, ohne sie zu zerbrechen. Wie diese neuen Prediger behaupteten, war Satan wie ein Puzzle - jeder Mann, jede Frau, jedes Kind auf Erden fügte sein kleines Teil zum Ganzen hinzu. Ja, das klang alles ziemlich modern; das Dumme war nur, dass es nicht stimmte. Und wenn Nick es noch länger glaubte, würde ihn der dunkle Mann zum Frühstück verspeisen. Sie sagte: »Du hast von mir geträumt. Gibt es mich etwa nicht?« Nick nickte. »Und ich habe von dir geträumt. Gibt es dich nicht? Gelobt sei Gott, du sitzt mir gegenüber, mit einem Notizblock auf den Knien. Diesen anderen Mann, Nick, gibt es wirklich, genau wie dich.« Ja, es gab ihn. Sie dachte an die Wiesel und an das rote Auge, das sich in der Dunkelheit öffnete. Und als sie weitersprach, war ihre Stimme heiser. »Er ist nicht Satan«, sagte sie. »Aber er und der Satan kennen einander, sie stecken von altersher unter einer Decke. Die Bibel sagt nicht, was aus Noah und seiner Familie wurde, als das Wasser zurückging. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn es einen schrecklichen Kampf um die Seelen dieser wenigen Menschen gegeben hätte - um ihre Seelen, ihre Körper, ihre Art zu denken. Und es würde mich nicht wundern, wenn uns das auch bevorsteht. Er ist jetzt westlich der Rockies. Früher oder später wird er nach Osten kommen. Vielleicht nicht dieses Jahr, aber sobald er bereit ist. Und es ist unser Los, mit ihm fertigzuwerden.« Nick schüttelte beunruhigt den Kopf. »Doch«, sagte sie leise. »Du wirst es sehen. Vor uns liegen bittere Tage. Tod und Entsetzen, Verrat und Tränen. Und wir werden nicht alle am Leben bleiben und sehen, wie es ausgeht.« »Mir gefällt das alles nicht«, murmelte Ralph. »Ist nicht alles schon schlimm genug auch ohne diesen Burschen, von dem Sie und Nick reden ? Haben wir nicht schon genügend Probleme, keine Ärzte, keinen Strom, nichts? Warum müssen wir uns auch noch mit diesem verdammten Problem herumschlagen?« »Ich weiß es nicht. Das ist Gottes Art. Er erklärt Leuten wie Abby Freemantle nichts.« »Wenn das seine Art ist«, sagte Ralph, »dann wünschte ich, er würde abtreten und einem Jüngeren Platz machen.« »Wenn der dunkle Mann im Westen ist«, schrieb Nick, »sollten wir vielleicht lieber unsere Sachen packen und nach Osten ziehen.« Sie schüttelte geduldig den Kopf. »Nick, alle Dinge dienen dem Herrn. Glaubst du nicht, daß dieser schwarze Mann Ihm auch dient? Er tut es, wie unergründlich Gottes Wege auch sein mögen. Wohin du auch gehst, der dunkle Mann wird dir folgen, denn es dient Gottes Zwecken, daß du ihm begegnest. Es nützt nichts, wenn man vor dem Willen des Herrn der Heerscharen davonläuft. Ein Mann oder eine Frau, die das versuchen, landen unweigerlich im Bauch der Bestie.« Nick schrieb kurz. Ralph studierte den Zettel, rieb sich an der Nase und wünschte, er müßte ihn nicht vorlesen. »Was sagt er?« fragte Abagail. »Er sagt...« Ralph räusperte sich; die Feder im Hutband wippte. »Er sagt, daß er nicht an Gott glaubt.« Nachdem er die Botschaft übermittelt hatte, blickte Ralph unbehaglich auf seine Schuhe und wartete auf die Explosion. Aber sie kicherte nur, stand auf und ging zu Nick hinüber. Sie nahm seine Hand und tätschelte sie. »Gott segne dich, Nick, denn das spielt keine Rolle. Er glaubt an dich.« Sie blieben auch am nächsten Tag in Mutter Abagails Haus, und es war der schönste Tag, an den sie sich erinnern konnten, seit die Supergrippe abgeklungen war wie die Wasser, die vom Berg Ararat herunterflössen. In den frühen Morgenstunden hatte es aufgehört zu regnen, um neun Uhr glich der Himmel einem bezaubernden Mittelwesten-Wandgemälde mit Sonne und Wölkchen. Der Mais funkelte in allen Richtungen wie ein Kästchen voller Smaragde. Es war so kühl wie seit Wochen nicht mehr. Tom Cullen lief den ganzen Vormittag mit ausgebreiteten Armen durch die Maisreihen und scheuchte ganze Schwärme Krähen auf. Gina McCone saß zufrieden bei der Reifenschaukel im Sand und spielte mit einer Vielzahl von Papierpuppen, die Abagail ganz unten in einer Truhe in ihrem Schlafzimmer gefunden hatte. Eine Weile vorher hatten sie schon mit Autos, Lastwagen und der Garage von Fisher-Price gespielt, die Tom aus dem Five-and-Dime in May, Oklahoma, mitgenommen hatte. Tom befolgte Ginas Anweisungen nur allzu bereitwillig. Dick Ellis, der Tierarzt, kam zögernd zu Mutter Abagail und fragte sie, ob jemand in der Gegend Schweine gehalten hatte. »Sicher, die Stoners haben immer Schweine gehabt«, sagte sie. Sie saß im Schaukelstuhl auf der Veranda, schlug Akkorde auf der Gitarre an und beobachtete Gina mit ihrem geschientes Bein beim Spielen im Hof. »Glauben Sie, es könnten noch welche leben?« »Da müßtest du nachsehen. Könnte sein. Könnte auch sein, daß sie ihre Pferche umgestürzt haben und wild geworden sind.« Ihre Augen funkelten. »Und es könnte sein, daß ich einen Mann kenne, der gestern nacht von Schweinekoteletts geträumt hat.« »Könnte schon sein«, sagte Dick. »Schon mal ein Schwein geschlachtet?« »Nein, Ma'am«, sagte er und grinste breit. »Ein paar entwurmt, aber geschlachtet noch keins. Bin schon immer Pazifist gewesen.« »Glaubst du, du und Ralph würdet mit einer Vorarbeiterin klarkommen?« »Gut möglich«, sagte er. Zwanzig Minuten später waren die drei unterwegs. Abagail sass zwischen den beiden Männern im Führerhaus des Chevy und hatte den Stock fest zwischen die Knie geklemmt. Bei den Stoners fanden sie zwei einjährige Schweine im Pferch hinten im Hof, die gesund und wohlgenährt waren. Es schien, als hätten sie sich an ihren schwächeren und nicht so glücklichen Artgenossen gütlich getan, als das Futter zu Ende ging. Ralph stellte Reg Stoners Flaschenzug auf, und Dick gelang es auf Geheiß von Mutter Abagail schließlich, einem Einjährigen ein Seil fest um die Hinterbeine zu schlingen. Es wurde quiekend und um sich tretend in den Hof gezogen und mit dem Kopf nach unten an den Flaschenzug gehängt. Ralph kam mit einem siebzig Zentimeter langen Schlachtermesser aus dem Haus. Das ist kein Messer, das ist, bei Gott, ein regelrechtes Bajonett, dachte Abby. »Wissen Sie, ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte er. »Dann gib her«, sagte Abagail und streckte die Hand aus. Ralph sah Dick zweifelnd an. Dick zuckte die Achseln. Ralph gab ihr das Messer. »Herr«, sagte Abagail, »wir danken Dir für die Gabe, die wir aus Deiner Güte empfangen. Segne dieses Schwein, daß es uns nähren möge. Amen. Weg da, Jungs, es wird gleich spritzen.« Mit geübtem Schwung schnitt sie dem Schwein die Kehle durch - es gibt Dinge, die man nie vergißt, wie alt man auch wird - und wich, so schnell sie konnte, zurück. »Hast du das Feuer unter dem Kessel angezündet?« fragte sie Dick. »Ein schönes, heißes Feuer draußen auf dem Hof?« »Ja, Ma'am«, sagte Dick, der kein Auge von dem Schwein nehmen konnte. »Hast du die Bürsten?« fragte sie Ralph. Ralph zeigte zwei große Scheuerbürsten mit steifen gelben Borsten. »Nun denn, tragt es rüber und werft es rein. Wenn es eine Weile gekocht hat, lassen sich die Borsten leicht abschrubben, und dann könnt ihr Mr. Schwein abschälen wie eine Banane.« Bei dieser Vorstellung nahmen die Gesichter der beiden eine leicht grünliche Färbung an. »Los doch«, sagte sie. »Ihr könnt es nicht essen, solange es noch seinen Mantel anhat. Vorher müßt ihr es ausziehen.« Ralph und Dick Ellis sahen einander an, schluckten und ließen das Schwein langsam am Flaschenzug herunter. Nachmittags um drei waren sie damit fertig, um vier erreichten sie mit einer Wagenladung Fleisch Abagails Haus und aßen frische Schweinekoteletts zum Abendessen. Die Männer aßen nicht viel, aber Abagail verzehrte allein zwei Koteletts und genoß es, wie die fette Kruste zwischen ihrem Gebiß knackte. Es gab nichts Schöneres als frisches Fleisch aus eigener Schlachtung. Es war kurz nach neun Uhr. Gina schlief, und Tom Cullen war auf der Veranda in Mutter Abagails Schaukelstuhl eingenickt. Fern im Westen zuckte Wetterleuchten über den Himmel. Die anderen Erwachsenen hatten sich in der Küche versammelt, außer Nick, der einen Spaziergang machte. Abagail wußte, womit der Junge kämpfte, und ihr Herz war bei ihm. »Sagen Sie, Sie sind doch nicht wirklich hundertacht, oder?« fragte Ralph, dem etwas einfiel, das Abby heute morgen gesagt hatte, bevor sie zu ihrer Schweinesafari aufgebrochen waren. »Kleinen Moment mal«, sagte Abagail. »Ich will dir etwas zeigen, mein Lieber.« Sie ging ins Schlafzimmer und holte den eingerahmten Brief von Präsident Reagan aus der obersten Schublade der Kommode. Sie brachte ihn Ralph und legte ihn auf dessen Schoß. »Lies das, Jungchen«, sagte sie stolz. Ralph las ihn. »...Anlaß Ihres einhundertsten Geburtstages... eine von zweiundsiebzig erwiesenen Hundertjährigen in den Vereinigten Staaten von Amerika... fünftälteste amtlich erfaßte Republikanerin in den Vereinigten Staaten von Amerika... Grüße und Glückwünsche von Präsident Ronald Reagan, 14. Januar 1982.« Er sah sie mit großen Augen an. »Da soll doch die Schei...« Er verstummte und errötete verwirrt. »Verzeihung, Ma'am.« »Was Sie alles gesehen haben müssen!« staunte Olivia. »Das ist alles nichts verglichen mit dem, was ich im Lauf des vergangenen Monats gesehen habe.« Sie seufzte. »Oder was ich noch zu sehen erwarte.« Die Tür ging auf, und Nick trat ein - die Unterhaltung verstummte, als hätten sie alle sich die Zeit vertrieben und nur auf ihn gewartet. Sie sah seinem Gesicht an, daß er sich entschieden hatte, und glaubte zu wissen, wie die Entscheidung ausgefallen war. Er gab ihr einen Zettel, den er bei Tom auf der Veranda geschrieben hatte. Sie hielt den Zettel auf Armlänge, um ihn zu lesen. »Wir sollten morgen nach Boulder aufbrechen«, hatte Nick geschrieben. Sie sah vom Zettel in Nicks Gesicht und nickte bedächtig. Sie gab den Zettel June Brinkmeyer, die ihn an Olivia weiterreichte. »Das denke ich auch«, sagte Abagail. »Ich will ebenso wenig wie ihr, aber wir müssen es tun. Wie bist du zu dem Entschluß gekommen?« Er zuckte fast wütend die Achseln und deutet auf sie. »So sei es«, sagte Abagail. »Ich vertraue dem Herrn.« Nick dachte: Ich wünschte, ich könnte das auch. Am nächsten Morgen, dem 26. Juli, brachen Dick und Ralph nach einer kurzen Besprechung mit Ralphs Wagen nach Columbus auf. »Ich trenne mich ungern von dem Ding«, sagte Ralph. »Aber wenn es so ist, wie du sagst, Nick, okay.« Nick schrieb: »Kommt so schnell wie möglich zurück.« Ralph lachte kurz auf und sah über den Hof. June und Olivia wuschen in einer großen Wanne, in der ein Waschbrett stand, einige Kleidungsstücke. Tom war im Mais und scheuchte Krähen auf - eine Beschäftigung, die er endlos unterhaltsam zu finden schien. Gina spielte mit Toms Corgi-Modellautos und der Tankstelle. Die alte Frau döste in ihrem Schaukelstuhl, döste und schnarchte. »Du hast es ja furchtbar eilig, den Kopf in den Rachen des Löwen zu stecken, Nicky.« Nick schrieb: »Hast du einen besseren Vorschlag?« »Du hast recht. Es hat keinen Zweck, in der Gegend herumzuziehen. Dabei fühlt man sich wertlos. Ein Mensch fühlt sich eigentlich nur wohl, wenn er ein Ziel hat, ist dir das schon mal aufgefallen?« Nick nickte. »Okay.« Ralph schlug Nick auf die Schulter und wandte sich ab. »Dick, können wir jetzt fahren?« Tom Cullen kam aus dem Mais gerannt; Maisfäden hingen ihm an Hemd, Hose und den blonden Haaren. »Ich auch! Tom Cullen will auch mitfahren! Meine Güte, ja!« »Dann komm«, sagte Ralph. »Sieh dir das an. Von oben bis unten und von Bug bis Heck voller Maisfäden. Und du hast immer noch keine Krähe gefangen. Laß dich abbürsten.« Tom grinste dümmlich, während Ralph ihm Hemd und Hose abbürstete. Für Tom, überlegte Nick, mußten die letzten zwei Wochen die glücklichsten seines Lebens gewesen sein. Er war bei Leuten, die ihn akzeptierten und brauchten. Warum auch nicht? Er mochte schwachsinnig sein, aber er war in dieser neuen Welt eine ausgesprochene Seltenheit: ein lebendes menschliches Wesen. »Tschüs, Nicky«, sagte Ralph und stieg hinter das Lenkrad des Chevy. »Tschüs, Nicky«, wiederholte Tom Cullen noch grinsend. Nick sah dem Wagen nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann ging er in den Schuppen, wo er eine alte Kiste und einen Eimer Farbe fand. Er brach ein Seitenbrett der Kiste ab und nagelte ein langes Stück Zaunpfahl daran. Er trug Schild und Farbe auf den Hof und schrieb sorgfältig etwas darauf, während Gina ihm interessiert über die Schulter sah. »Was heißt das?« fragte sie. »Es heißt: >Wir sind nach Boulder, Colorado, gefahren. Wir benutzen Nebenstraßen, um Verkehrsstaus auszuweichen. Citizen Band, Kanal 14<«, las Olivia vor. »Was soll das?« fragte June, die herüberkam. Sie nahm Gina auf den Arm, und sie sahen beide zu, wie Nick das Schild so aufstellte, daß es der Stelle zugewandt war, wo der Sandweg in Mutter Abagails Einfahrt überging. Er grub neunzig Zentimeter der Zaunlatte ein. Jetzt würde nur noch ein schwerer Sturm sie umwerfen. Selbstverständlich herrschten in diesem Teil der Welt schwere Stürme; er dachte an den, der Tom und ihn fast fortgerissen hätte, und die Angst, die sie im Keller ausgestanden hatten. Er schrieb eine Notiz und gab sie June. »Dick und Ralph sollen in Columbus unter anderem ein CB Funkgerät besorgen. Jemand muß die ganze Zeit Kanal 14 überwachen.« »Oh«, sagte Olivia. »Schlau.« Nick tippte sich feierlich an die Stirn und lächelte. Die beiden Frauen gingen weg, um ihre Wäsche aufzuhängen. Gina hinkte auf einem Bein zu ihren Spielzeugautos. Nick ging über den Hof, stieg die Stufen zur Veranda hoch und setzte sich neben die schlafende alte Frau. Er sah über das Maisfeld und fragte sich, was aus ihnen werden sollte. Aber wenn es so ist, wie du sagst, Nick, okay. Sie hatten ihn zum Anführer gemacht. Das hatten sie, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, warum. Man konnte von einem Taubstummen keine Befehle entgegennehmen; das war wie ein schlechter Witz. Dick hätte ihr Anführer sein müssen. Er selbst war nur ein Speerträger, der dritte von links, keine Streifen, den nur seine Mutter gelten ließ. Aber von dem Augenblick an, als sie Ralph Brentner getroffen hatten, der mit seinem alten Chevrolet die Straße entlangtuckerte, ohne zu wissen, wohin er fuhr, hatte es angefangen: Immer wenn jemand etwas sagte, sah er rasch Nick an, als ob er eine Bestätigung brauchte. Auf die Tage zwischen Shoyo und May, vor Tom und der Verantwortung, hatte sich jetzt schon ein Nebel von Nostalgie gelegt. Es war leicht, die Einsamkeit zu vergessen und die Angst, die ständigen entsetzlichen Träume könnten bedeuten, daß er den Verstand verlor. Und leicht, sich zu erinnern, wie man für sich selbst sorgen mußte, den Speerträger, dritter von links, ein Statist in diesem grauenhaften Stück. Als ich dich sah, wußte ich es. Du bist es, Nick. Gott hat seinen Finger auf dein Herz gelegt... Nein, das akzeptiere ich nicht. Ich akzeptiere auch Gott nicht, was das angeht. Mochte die alte Frau ihren Gott behalten; Gott war für alte Frauen so notwendig wie Einläufe und Teebeutel von Lipton. Er würde sich darauf konzentrieren, eins nach dem anderen zu erledigen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er würde sie nach Boulder bringen und sehen, was dann kam. Die alte Frau hatte gesagt, den dunklen Mann gäbe es wirklich, er wäre nicht nur ein psychologisches Symbol, und auch das wollte er nicht glauben... aber in seinem Herzen glaubte er es doch. In seinem Herzen glaubte er alles, was die alte Frau gesagt hatte, und es machte ihm angst. Er wollte nicht ihr Anführer sein. Du bist es, Nick. Eine Hand drückte seine Schulter, er zuckte überrascht zusammen und drehte sich um. Sie mochte geschlafen haben, aber jetzt nicht mehr. Sie lächelte ihn aus ihrem Schaukelstuhl ohne Armlehnen an. »Ich habe hier gesessen und über die große Wirtschaftskrise nachgedacht«, sagte sie. »Weißt du, daß dieses Land früher im Umkreis von vielen Meilen meinem Daddy gehört hat? Es stimmt. Keine Kleinigkeit für einen Schwarzen. Und ich habe neunzehnnullzwo im großen Saal der Farmervereinigung Gitarre gespielt und gesungen. Das ist lange her, Nick. Sehr, sehr lange.« Nick nickte. »Es waren schöne Zeiten, Nick - meistens jedenfalls. Aber ich schätze, nichts ist von Dauer. Nur die Liebe des Herrn. Mein Daddy starb, und das Land wurde unter seinen Söhnen aufgeteilt, auch mein erster Mann bekam ein Stück, nicht viel, nur vierundzwanzig Hektar. Dies Haus steht auf einem Teil dieser vierundzwanzig Hektar. Jetzt sind nur noch anderthalb Hektar übrig. O ja, jetzt könnte ich das ganze Land wieder beanspruchen, aber es wäre irgendwie nicht dasselbe.« Nick tätschelte ihre knochige Hand, und sie seufzte tief. »Brüder vertragen sich nicht immer gut, sie fangen fast immer an zu streiten; siehe Kain und Abel. Jeder wollte der Boß sein, keiner wollte auf dem Feld arbeiten! Dann kam 1931, und die Bank wollte ihr Geld. Da zogen sie plötzlich alle an einem Strang, aber es war schon fast zu spät. 1945 war alles weg, bis auf meine vierundzwanzig Hektar und noch fünfzehn oder zwanzig, wo jetzt Goodells Haus steht.« Sie zog das Taschentuch aus der Tasche ihres Kleides und wischte sich langsam und nachdenklich die Augen. »Am Ende lebte nur noch ich und hatte kein Geld und nichts. Und jedes Jahr, wenn die Steuer fällig war, nahmen sie mir ein wenig mehr Land weg, und dann ging ich nach draußen auf die Veranda, sah mir das Land an, das mir nicht mehr gehörte, und weinte darum, so wie jetzt. Jedes Jahr ging ein Stück für die Steuer weg, so war das. Hier ein Stück, da ein Stück. Das restliche Land hatte ich verpachtet, aber die Einnahmen reichten nie für die verflixte Steuer aus. Dann, als ich hundert Jahre alt wurde, haben sie mir die Steuern für immer erlassen. Ja, sie haben mir das Land überlassen, nachdem sie mir bis auf dieses kleine Stück alles genommen hatten. Großzügig von ihnen, was?« Nick drückte ihr leicht die Hand und sah sie an. »O Nick«, sagte Mutter Abagail, »in meinem Herzen habe ich den Herrn gehaßt. Jeder Mann, der ihn liebt, und jede Frau, die ihn liebt, sie hassen ihn gleichzeitig, denn er ist ein harter Gott, ein eifersüchtiger Gott. Er ist, was er ist, und in dieser Welt vergilt er treuen Dienst mit Schmerzen, während die Bösen in Cadillacs auf den Straßen fahren. Selbst die Freude, ihm zu dienen, ist eine bittere Freude. Ich handle nach seinem Willen, aber in meinem Herzen habe ich ihn verflucht. >Abby<, sagt der Herr zu mir, >in ferner Zukunft wartet Arbeit auf dich. Deshalb werde ich dich lange leben lassen, bis das Fleisch dir an den Knochen bitter wird. Du sollst alle deine Kinder vor dir sterben sehen und immer noch auf Erden wandeln. Ich zeige dir, wie dir das Land deines Vaters Stück für Stück genommen wird. Und am Ende wird deine Belohnung sein, daß du mit Fremden zusammen fortziehst und alles verlassen mußt, was du liebst, und du wirst in einem fremden Land sterben, und die Arbeit wird noch nicht getan sein. Das ist mein Wille, Abby<, sagt er, und ich sagte: >Ja, Herr. Dein Wille gesehenes und im Herzen verfluche ich ihn und frage: >Warum, warum, warum?< und bekomme nur eine Antwort: >Wo warst du, als ich die Welt erschaffen habe?<« Jetzt flössen ihre Tränen wie eine bittere Flut über die Wangen und das Leibchen ihres Kleides, und Nick wunderte sich darüber, daß so viele Tränen in so einer alten Frau waren, die so dürr und trocken aussah wie ein abgestorbener Zweig. »Hilf mir weiter, Nick«, sagte sie. »Ich will nur das Richtige tun.« Er hielt ihre Hände ganz fest. Hinter ihnen kicherte Gina und hielt eins der Spielzeugautos in die Luft, so daß sich die Sonne darauf spiegelte. Gegen Mittag kamen Dick und Ralph aus Columbus zurück. Dick saß am Steuer eines neuen Dodge-Lieferwagens, und Ralph fuhr einen roten Abschleppwagen mit Kran und Haken, der hinten herunterbaumelte. Tom stand auf der Ladefläche und winkte. Sie hielten vor der Veranda an, und Dick stieg aus. »Der Abschleppwagen hat ein hervorragendes CB-Gerät«, sagte er zu Nick. »Mit vierzig Kanälen. Ich glaube, Ralph ist ganz verliebt in das Ding.« Nick grinste. Die Frauen waren dazugekommen und begutachteten die Fahrzeuge. Abag ail fiel auf, wie Ralph June zum Abschleppwagen führte, damit sie das Funkgerät bewundern und beifällig nicken konnte. Die Frau hatte gutgebaute Hüften, und gewiss befand sich dazwischen eine ordentliche Verandatür. Sie würde so viele Kinder bekommen können, wie sie wollte. . . ,-»Und wann fahren wir?« fragte Ralph. Nick kritzelte: »Sobald wir gegessen haben. Hast du das CB ausprobiert?« »Ja«, sagte Ralph. »Es war die ganze Zeit eingeschaltet. Schreckliche Statik; es hat einen Dämmknopf, aber der scheint nicht sehr gut zu funktionieren. Weißt du, ich schwöre, ich habe etwas gehört, ob Statik oder nicht. Weit entfernt. Vielleicht nicht einmal Stimmen. Aber ich sage die Wahrheit, Nicky, es hat mir gar nicht gefallen. So wenig wie die Träume.« Schweigen senkte sich über sie. »Nun«, sagte Olivia in die Stille. »Ich werde etwas kochen. Hoffentlich stört es niemanden, zwei Tage hintereinander Schweinefleisch zu essen.« Es störte niemanden. Um ein Uhr waren die Camping-Ausrüstung - und Abagails Schaukelstuhl und Gitarre - im Lieferwagen verstaut, und sie fuhren los, der Abschleppwagen voraus, um etwaige Hindernisse wegzuschieben. Abagail saß vorn im Lieferwagen, als sie zur Route 30 fuhren, die nach Westen führte. Sie weinte nicht. Sie hatte den Stock zwischen die Knie geklemmt. Das Weinen war vorbei. Es war der Wille des Herrn, und Sein Wille sollte geschehen. Der Wille des Herrn sollte geschehen, aber sie dachte an das rote Auge, das sich im dunklen Herzen der Nacht öffnete, und sie hatte Angst. 46 Es war der späte Abend des 27. Juli. Sie lagerten auf einem Platz, den ein von Sommerstürmen halb demoliertes Schild als das Messegelände von Kunkle auswies. Kunkle selbst, Kunkle, Ohio, lag südlich von ihnen. Dort hatte es offenbar gebrannt, der größte Teil von Kunkle war zerstört. Stu sagte, es wäre wahrscheinlich ein Blitz gewesen. Harold hatte naturlich widersprochen. Wenn Stu sagte, daß ein Löschwagen der Feuerwehr rot war, dann führte Harold Lauder Fakten und Zahlen an, die bewiesen, daß die meisten heutzutage grün waren. Sie seufzte und drehte sich um. Sie konnte nicht schlafen. Sie hatte Angst vor dem Traum. Links von ihr standen die fünf Motorräder in einer Reihe auf den Kickständern, das Mondlicht spiegelte sich in Chrornteilen und Auspuffrohren. Als hätte sich eine Gruppe Hell's Angels heute abend diesen Platz für ein Treffen ausgesucht. Nicht, daß die Angels so harmlose Maschinen wie diese Hondas und Yamahas fahren würden, überlegte sie. Sie fuhren »Hogs«... oder war das etwas, das nur sie in alten Motorradepen von American-International aufgeschnappt hatte? The Wild Angels. The Devil's Angels. Hell's Angels on Wheels. Als sie noch die High School besuchte, waren Motorradfilme in den Drive-lns - den Autokinos - das Schärfste gewesen: Wells Drive-In, Sanford Drive-In, South Portland Twin, du zahlst dein Geld und hast die Wahl. Jetzt waren sie kaputt, alle Drive-lns waren kaputt, ganz zu schweigen von den Hell's Angels und den guten alten American-International-Pictures. Schreib es in dein Tagebuch, Frannie, sagte sie sich und drehte sich auf die andere Seite. Nicht heute abend. Heute abend wollte sie schlafen, Träume oder nicht. Zwanzig Schritte von ihr entfernt konnte sie die anderen sehen, die in ihren Schlafsäcken knackten wie Hell's Angels nach einer riesigen Bier-Party, der Party, bei der alle im Film vögelten, außer Peter Fonda und Nancy Sinatra. Harold, Stu, Glen Bateman, Mark Braddock, Perion McCarthy. Nehmen Sie heute abend Sominex und schlaaaaafen Sie... Sie waren nicht auf Sominex, sondern jeder bekam eine halbe Tablette Veronal. Stu war auf den Gedanken gekommen, als die Träume richtig schlimm und alle schlecht gelaunt wurden und einander auf die Nerven gingen. Bevor er es den anderen gegenüber erwähnte, hatte er Harold beiseite genommen, denn die beste Methode, Harold zu schmeicheln, war, ihn um seine Meinung zu fragen, und außerdem wußte Harold einfach gewisse Dinge. Das war sehr gut, aber andererseits war es auch ein wenig unheimlich, als würde ein fünftklassiger Gott mit ihnen reisen - mehr oder weniger allwissend, aber seelisch labil und möglicherweise jederzeit kurz vor dem Durchdrehen. Harold hatte sich in Albany, wo sie Mark und Perion getroffen hatten, eine zweite Waffe besorgt, und jetzt trug er beide Pistolen überkreuzt an den Hüften wie ein neuer Johnny Ringo. Harold tat ihr leid, aber allmählich bekam sie Angst vor ihm. Sie fragte sich immer öfter, ob Harold nicht eines Nachts ausrasten und anfangen würde, mit seinen Pistolen herumzuballern. Sie mußte oft an den Tag zurückdenken, als sie Harold im Garten angetroffen hatte, wo er seelisch völlig zusammengebrochen in der Badehose den Rasen gemäht und dabei geweint hatte. Sie wußte genau, wie Stu mit ihm darüber geredet hatte, sehr ruhig, beinahe verschwörerisch: Harold, diese Träume sind ein Problem. Ich habe da eine Idee, aber ich weiß nicht genau, wie ich sie verwirklichen kann... ein leichtes Beruhigungsmittel... aber es müßte genau die richtige Dosis sein. Zu viel, und wir würden nicht aufwachen, wenn es Ärger gibt. Was schlägst du vor?  Harold hatte vorgeschlagen, es mit einer Tablette Veronal zu versuchen, das man in jedem Drugstore bekommen konnte, und wenn diese den Traumzyklus unterbrach, konnte man es mit einer Dreivierteltablette probieren, dann mit einer halben. Stu hatte auch heimlich mit Glen Bateman gesprochen, um einen anderen Standpunkt zu hören, und das Experiment war gemacht worden. Bei einer Vierteltablette kamen die Träume wieder, und so blieb es bei einer halben. Jedenfalls für die anderen. Frannie nahm jeden Abend ihre halbe Tablette in Empfang, schluckte sie aber nicht. Sie wußte nicht, ob Veronal dem Baby schaden konnte oder nicht, wollte aber kein Risiko eingehen. Es hieß, daß selbst Aspirin den Chromosomen gefährlich werden konnte. So mußte sie die Träume erleiden - erleiden, das war das richtige Wort. Einer der Träume war vorherrschend; wenn die übrigen anders waren, gingen sie doch früher oder später in diesen über. Sie war in ihrem Haus in Ogunquit, und der dunkle Mann verfolgte sie. Durch schattige Flure hin und her, durch den Salon ihrer Mutter, wo die Uhr unablässig Jahreszeiten in einem Zeitalter der Dürre tickte... sie wußte, daß sie ihm entkommen könnte, wenn sie nicht die Leiche tragen müßte. Es war die in ein Bettlaken gehüllte Leiche ihres Vaters, und wenn sie sie fallen ließ, würde der dunkle Mann ihr etwas antun, sie vielleicht schrecklich schänden. Deshalb lief sie und merkte, daß er immer näher kam, bis er zuletzt seine Hand auf ihre Schulter legen würde, seine heiße, widerliche Hand. Sie verlor das Rückgrat und alle Kraft, und die Leiche ihres Vaters glitt ihr aus den Armen, sie drehte sich um und wollte rufen: Nehmen Sie ihn, machen Sie, was Sie wollen, es ist mir gleich, nur verfolgen Sie mich nicht mehr. Und dann stand er vor ihr, in etwas Dunkles gehüllt, das aussah wie eine Mönchskutte mit Kapuze, und von seinen Zügen war nichts zu sehen außer seinem breiten Grinsen. Und in einer Hand hielt er den verbogenen Kleiderbügel. Da traf das Grauen sie wie eine Faust, und sie versuchte aufzuwachen, schweißgebadet und mit klopfendem Herzen, und sie wollte niemals wieder schlafen. Denn er wollte nicht die Leiche ihres Vaters; er wollte das lebende Kind in ihrem Leib. Sie drehte sich wieder um. Wenn sie nicht bald einschlief, würde sie ihr Tagebuch nehmen und etwas hineinschreiben. Sie führte seit dem 5. Juli Tagebuch. In gewisser Weise führte sie es für das Baby. Es war ein Akt des Glaubens - des Glaubens, daß das Baby leben würde. Es sollte später erfahren, wie es gewesen war, wie die Seuche in einen Ort namens Ogunquit gekommen war, wie sie und Harold ihr entgangen waren und was dann aus ihnen wurde. Das Kind sollte wissen, wie das alles gewesen war. Der Mond schien so hell, daß man schreiben konnte, und zwei oder drei Seiten Tagebuch reichten immer aus, sie müde zu machen. Sie nahm an, daß das nicht unbedingt für ihre schriftstellerische Begabung sprach. Aber vorher wollte sie dem Schlaf noch einmal eine faire Chance geben. Sie machte die Augen zu. Und dachte weiter über Harold nach. Die Situation hätte sich entspannen können, als Mark und Perion zu ihnen gestoßen waren, wären die beiden nicht von vorneherein miteinander liiert gewesen. Perion war dreiunddreißig, elf Jahre älter als Mark, aber in dieser neuen Welt spielten derlei Dinge keine Rolle mehr. Sie hatten einander gesucht und gefunden und wollten zusammenbleiben. Perion hatte Frannie gestanden, daß sie versuchten, ein Baby zu machen. Gott sei Dank habe ich die Pille genommen und keine Spirale gehabt, sagte Peri. Wie in Gottes Namen hätte ich die je rausbekommen sollen? Frannie hätte ihr beinahe von dem Baby erzählt, das sie selbst im Leib trug (mittlerweile war sie schon im vierten Monat), aber irgend etwas hatte sie zurückgehalten. Sie hatte Angst, es könnte eine gespannte Situation noch schlimmer machen. So kam es, daß sie jetzt zu sechst waren, nicht mehr zu viert (Glen weigerte sich standhaft, ein Motorrad zu fahren, und fuhr stets als Beifahrer bei Stu oder Harold mit), aber die Situation hatte sich durch das Auftauchen einer weiteren Frau nicht verändert. Was ist mit dir, Frannie? Was willst du? Wenn sie in so einer Welt leben mußte und eine Art biologische Uhr in sich trug, die in knapp sechs Monaten ablaufen würde, dann wollte sie einen Mann wie Stu Redman zum Gefährten - nein, keinen Mann wie ihn. Sie wollte ihn. Jetzt war es heraus, offen eingestanden. Da es keine Zivilisation mehr gab, war das Auto der menschlichen Gesellschaft Chrom und Zierleisten losgeworden. Über dieses Thema ließ sich Glen Bateman oft aus, und es schien Harold immer ungewöhnlich gut zu gefallen. Women's Lib, fand Frannie (die dachte, wenn sie schon offen war, konnte sie auch rückhaltlos offen sein), war nicht mehr und nicht weniger als ein Auswuchs der technologischen Gesellschaft. Frauen waren der Gnade ihrer Körper ausgeliefert. Sie waren kleiner. Sie waren gewöhnlich schwächer. Ein Mann konnte keine Kinder bekommen, das konnte nur eine Frau - jeder Vierjährige wußte das. Und eine schwangere Frau ist ein verwundbares Menschenwesen. Die Zivilisation hatte einen Schirm der Vernunft errichtet, unter dem beide Geschlechter Platz fanden. Liberation - Befreiung - das eine Wort sagte alles. Vor der Zivilisation mit ihrem behutsamen und barmherzigen System von Schutzvorrichtungen waren Frauen Sklaven gewesen. Da half keine Schönfärberei; wir waren Sklaven, dachte Fran. Dann gingen die bösen Tage zu Ende. Und das Credo der Frauen, das man in den Büros des Magazins Ms. aufhängen sollte, vorzugsweise in Großbuchstaben, lautete ganz einfach: Vielen Dank, Männer, für die Eisenbahn. Vielen Dank, daß ihr das Automobil erfunden und die Indianer massakriert habt, die glaubten, es wäre schön, noch eine Weile in Amerika zu bleiben, zumal sie zuerst da waren. Vielen Dank, Männer, für die Krankenhäuser, die Polizei, die Schulen. Aber jetzt würde ich gerne wählen, bitte, und ich beanspruche das Recht, meinen Weg selbst zu bestimmen und mein Schicksal selbst zu gestalten. Früher habe ich gekuscht, aber das ist jetzt überflüssig. Meine Tage der Sklaverei sind gezählt; ich muss ebensowenig Sklavin sein, wie ich den Atlantik in einem winzigen Segelboot überqueren muß. Flugzeuge sind schneller und sicherer als kleine Segelboote, und Freiheit ist vernünftiger als Sklaverei. Ich habe keine Angst vorm Fliegen. Vielen Dank, Männer.  Was war noch zu sagen? Nichts. Die Spießer mochten stöhnen, wenn Büstenhalter verbrannt wurden, die Reaktionäre ihre kleinen intellektuellen Spiele trieben, aber die Wahrheit lächelt nur. Jetzt hatte sich das alles geändert, in wenigen Wochen hatte es sich geändert - wie sehr, konnte nur die Zeit lehren. Aber jetzt lag sie hier in der Nacht und wußte, daß sie einen Mann brauchte. O Gott, sie brauchte so sehr einen Mann. Und es ging ihr nicht darum, sich und ihr Kind durchzubringen, nach der Nummer eins zu suchen (und Nummer zwei, vermutete sie). Sie mochte Stu, besonders nach Jess Rider. Stu war ruhig, tüchtig und vor allem nicht das, was ihr Vater »zwanzig Pfund Scheiße in einem Zehnpfundsack« genannt haben würde. Er mochte sie auch. Das wußte sie ganz genau, seit sie am 4. Juli in diesem verlassenen Restaurant zum ersten Mal gemeinsam gegessen hatten. Einen Moment - nur einen Moment hatten sich ihre Blicke getroffen, und der Funke war übergesprungen, wie bei einem plötzlichen Stromstoß, bei dem sämtliche Nadeln in den roten Bereich sausen. Stu wußte vermutlich, wie es stand, aber er wartete auf sie, überließ es ihr, sich zu gegebener Zeit zu entscheiden. Sie war zuerst in Harolds Begleitung gewesen, deshalb war sie Harolds Sklavin. Eine stinkende Macho-Vorstellung, aber sie fürchtete, dass es wieder eine stinkende Macho-Welt werden würde, wenigstens für eine gewisse Zeit. Wenn nur jemand für Harold da wäre, aber es war niemand da, und sie fürchtete, sie konnte nicht mehr lange warten. Sie dachte an den Tag, an dem Harold auf seine tolpatschige Art versucht hatte, mit ihr zu schlafen, um seinen Besitzanspruch deutlich zu machen. Wie lange war das her? Zwei Wochen? Es kam ihr länger vor. Die ganze Vergangenheit schien jetzt ausgedehnt zu sein. Sie war zerlaufen wie ein warmgewordener Sahnekaramellbonbon. Hin und her gerissen zwischen den Sorgen, was sie Harolds wegen unternehmen sollte, und der Angst, was er anstellen konnte, wenn sie zu Stuart ging, und ihrer Angst vor den Träumen, würde sie nie zum Schlafen kommen. Mit diesem Gedanken döste sie ein. Als sie aufwachte, war es noch dunkel. Jemand schüttelte sie. Sie murmelte protestierend - ihr Schlaf war zum ersten Mal seit einer Woche ruhig und ohne Träume -, aber dann kam sie doch widerwillig zu sich und dachte, es müßte Morgen und Zeit zum Aufbruch sein. Aber warum sollten sie in der Dunkelheit aufbrechen? Als sie sich aufrichtete, sah sie, daß sogar der Mond untergegangen war. Harold schüttelte sie, und Harold sah verängstigt aus. »Harold? Was ist denn los?« Sie sah, daß Stu auch auf war. Und Glen Bateman. Perion kniete auf der anderen Seite ihrer kleinen Feuerstelle. »Mark«, sagte Harold. »Er ist krank.« »Krank?« sagte sie, dann ertönte das leise Stöhnen von der anderen Seite der Asche des Lagerfeuers, wo Perion kniete und die beiden Männer standen. Frannie spürte, wie das Grauen gleich einer schwarzen Säule in ihr emporstieg. Vor Krankheiten hatten sie alle am meisten Angst. »Doch nicht... die Grippe, oder, Harold?« Wenn Mark jetzt mit Verspätung an Captain Trips erkrankte, bedeutete das, daß sie es alle bekommen konnten. Vielleicht lag der Erreger immer noch in der Luft. Vielleicht war er sogar mutiert. Damit ich dich besser fressen kann. »Nein, nicht die Grippe. Ganz und gar nicht. Fran, hast du heute abend Austern aus der Dose gegessen ? Oder vielleicht, als wir Rast gemacht haben ?« Sie versuchte nachzudenken, aber ihr Verstand war immer noch verschlafen. »Ja, beide Male«, sagte sie. »Haben gut geschmeckt. Ich mag Austern. Ist es eine Lebensmittelvergiftung? Ist es das?« »Fran, ich frage ja nur. Keiner weiß, was es ist. Wir haben keinen Arzt im Haus. Wie geht es dir? Alles in Ordnung?« »Prima, nur müde.« Aber das war sie nicht. Nicht mehr. Von der anderen Seite des Lagers drang wieder ein Stöhnen herüber, als würde Mark ihr Vorwürfe machen, weil es ihr gut ging und ihm nicht. Harold sagte: »Glen glaubt, es könnte der Blinddarm sein.« »Was?« Harold grinste nur düster und nickte. Fran stand auf und ging zu den anderen. Harold folgte ihr wie ein unglücklicher Schatten. »Wir müssen ihm helfen«, sagte Perion. Sie sprach mechanisch, als hätte sie es schon oft gesagt. Ihre Augen sahen unablässig von einem zum anderen - Augen, die so voll Entsetzen und Hilflosigkeit waren, daß sich Frannie wieder einmal schuldig fühlte. Ihre Gedanken kreisten egoistisch um das Baby, und sie versuchte, sie zu verdrängen. Unangemessen oder nicht, sie wollten nicht weichen. Geh weg von ihm, schrie ein Teil von ihr dem anderen Teil zu. Geh sofort weg, er könnte ansteckend sein. Sie sah Glen an, der im Licht der Coleman-Laterne blaß und alt aussah. »Harold sagt, ihr denkt, es ist der Blinddarm?« fragte sie. »Ich weiß nicht«, sagte Glen, der unbehaglich und ängstlich dreinsah. »Die Symptome hat er auf jeden Fall; Fieber, der Unterleib ist geschwollen und fühlt sich hart an, schmerzt bei Berührung...« »Wir müssen ihm helfen«, sagte Perion wieder und brach in Tränen aus. Glen berührte Marks Bauch, und Mark riß die Augen, die halb geschlossen und glasig waren, weit auf. Er schrie. Glen riß die Hand weg, als hätte er in einen heißen Ofen gefaßt, und sah mit kaum verhohlener Panik von Stu zu Harold und wieder zu Stu zurück. »Was schlagen die beiden Herren vor?« Harold stand da, sein Hals arbeitete konvulsivisch, als wäre etwas darin steckengeblieben, das ihn würgte. Schließlich stieß er hervor: »Gebt ihm etwas Aspirin.« Perion, die durch Tränen auf Mark hinabgesehen hatte, wirbelte zu Harold herum. »Aspirin?« fragte sie. Ihre Stimme klang wütend und fassungslos. »Aspirin?« diesmal kreischte sie es. »Mehr fällt euch nicht ein, wo ihr doch sonst solche Klugscheißer seid? Aspirin?« Harold steckte die Hände in die Taschen, sah sie kläglich an und nahm den Verweis hin. Stu sagte ganz leise: »Aber Harold hat recht, Perion. Momentan können wir nichts Besseres tun, als ihm Aspirin zu geben. Wie spät ist es?« »Ihr wißt nicht, was ihr machen sollt!« schrie Perion sie an. »Warum gebt ihr es nicht einfach zu?« »Es ist Viertel vor drei«, sagte Frannie. »Und wenn er stirbt?« Peri strich sich eine Strähne kastanienfarbenes Haar aus dem vom Weinen verquollenen Gesicht. »Laß sie in Ruhe, Peri«, sagte Mark mit dumpfer, müder Stimme. Sie schraken alle auf. »Sie tun, was sie können. Wenn es weiterhin so weh tut, wäre ich sowieso lieber tot. Gebt mir Aspirin. Irgendwas.« »Ich hole es«, sagte Harold, der sich liebend gern entfernte. »In meinem Rucksack ist welches. Exedrin extra stark«, fügte er hinzu, als wartete er auf ihre Zustimmung, dann ging er, stolperte beinahe in seiner Hast. »Wir müssen ihm helfen«, sagte Perion, die zu ihrer alten Litanei zurückkehrte. Stu zog Glen und Frannie beiseite. »Habt ihr eine Ahnung, was wir machen sollen?« fragte er leise. »Ich weiß es jedenfalls nicht, soviel kann ich sagen. Peri war wütend auf Harold, aber sein Einfall mit dem Aspirin war doppelt so gut wie jeder von mir.« »Sie ist durcheinander, das ist alles«, sagte Fran. Glen seufzte. »Vielleicht ist es nur der Magen. Zuviel Aufregungen. Vielleicht hat er guten Stuhlgang, und es geht wieder weg.« Frannie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Wenn es der Magen wäre, hätte er kein Fieber. Und ich glaube auch nicht, dass der Bauch so aufgebläht wäre.« Es sah fast so aus, als wäre über Nacht ein Tumor dort entstanden. Sie wurde ganz krank, wenn sie nur daran dachte. Sie konnte sich nicht erinnern (außer in ihren Träumen), wann sie zuletzt solche Angst gehabt hatte. Was hatte Harold gesagt: Wir haben keinen Arzt im Haus. Wie zutreffend das war. Wie schrecklich zutreffend. Herrgott, mit einem Mal wurde ihr alles bewußt, brach förmlich über sie herein. Wie schrecklich allein sie waren. Wie schrecklich weit draußen auf dem Hochseil, und jemand hatte vergessen, das Sicherheitsnetz zu spannen. Sie sah von Glens verkrampftem Gesicht in das von Stu. In beiden sah sie größte Besorgnis, aber in keinem eine Lösung. Hinter ihnen schrie Mark erneut, und Perion wiederholte seinen Schrei, als würde sie seine Schmerzen empfinden. In gewisser Weise war das auch so, vermutete Frannie. »Was sollen wir nur tun?« fragte Frannie hilflos. Sie dachte an das Baby, und die Frage, die ihr immer und immer wieder in den Sinn kam, lautete: Was ist, wenn ein Kaiserschnitt gemacht werden muß? Was ist, wenn ein Kaiserschnitt gemacht werden muß? Was ist... Hinter ihr schrie Mark wieder wie ein gräßlicher Prophet, und sie haßte ihn. Sie sahen einander in der zitternden Dunkelheit an. Aus Fran Goldsmiths Tagebuch  6.Juli 1990 Nach einigem Überreden hat Mr. Bateman eingewilligt, mit uns zu kommen. Er sagt, nach seinen vielen Artikeln (»Ich schreibe sie in großen Worten, damit niemand merkt, wie einfältig sie in Wirklichkeit sind«, sagt er) und nachdem er zwanzig Jahre lang Studenten in SY-1 und SY-2 zu Tode gelangweilt hat, ganz zu schweigen von »Soziologie des Trotzverhaltens« und »Ländliche Soziologie«, ist er zu dem Ergebnis gekommen, daß er diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen kann. Stu wollte wissen, was für eine Gelegenheit er meinte. »Das ist doch wohl eindeutig«, sagte Harold auf seine UNERTRÄGLICH ROTZNÄSIGE Weise (manchmal kann Harold lieb sein, aber manchmal ist er auch eine Rotznase, und heute abend war er letzteres). »Mr. Bateman...« »Bitte nenn mich Glen«, sagte er ganz leise, aber Harold sieht ihn an, daß man meinen könnte, er hätte Harold vorgeworfen, er habe eine Geschlechtskrankheit. »Glen sieht das als Soziologe, die Entstehung einer Gesellschaftsordnung aus erster Hand mitzuerleben, glaube ich. Er möchte wissen, wie sich Theorie und Praxis zueinander verhalten.« Langer Rede kurzer Sinn, Glen (wie ich ihn von nun an nennen möchte, weil es ihm so gefällt) stimmte zu, daß es hauptsächlich das war, fügte aber hinzu: »Darüber hinaus habe ich bestimmte Theorien aufgestellt, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit ich beweisen möchte. Ich glaube nicht, daß der Mensch, der sich aus der Asche der Supergrippe erhebt, derselbe sein wird wie der Mensch, der aus der Wiege des Nil entstand, mit einem Knochen in der Nase und einer Frau an den Haaren. Das ist eine der Theorien.« Stu sagte auf seine stille Weise: »Weil alles herumliegt und nur daraufwartet, wieder benützt zu werden.« Er sah so grimmig drein, als er das sagte, daß ich überrascht war und sogar Harold ihn irgendwie komisch angesehen hat. Aber Glen nickte nur und sagte: »Stimmt. Die technologische Gesellschaft hat das Spielfeld sozusagen geräumt, aber sie hat sämtliche Basketbälle zurückgelassen. Es wird jemand kommen, der sich an das Spiel erinnert und es den anderen wieder beibringt. Hübsch, nicht? Sollte ich später aufschreiben.« [Aber ich habe es selbst aufgeschrieben, falls er es vergißt. Who knows - wer weiß! The Shadow - hi-hi.] Darauf sagt also Harold: »Hört sich an, als würdest du glauben, dass alles wieder von vorne anfängt - das Wettrüsten, Umweltverschmutzung und so weiter. Ist das auch eine Theorie? Die Folge der ersten?« »Nicht genau«, fing Glen an, aber bevor er weitersprechen konnte, platzte Harold mit seiner eigenen Theorie dazwischen. Ich kann nicht alles Wort für Wort wiedergeben, denn wenn Harold aufgeregt ist, plappert er zu schnell, aber was er sagte, lief darauf hinaus, daß er zwar eine generell schlechte Meinung von den Menschen hat, aber s o dumm könnten sie wohl kaum sein. Er sagte, seiner Meinung nach würden diesmal bestimmte Gesetze erlassen werden. Eines würde die Bestimmung enthalten, daß keiner mit schlimmen Sachen wie Kernfusion und Florkohlenwasserstoffen herumspielt (das habe ich wahrscheinlich falsch buchstabiert), mit Sprays und solchen Sachen. Aber eines kann ich mich erinnern, weil es ein so zutreffender Vergleich war. »Daß der gordische Knoten für uns durchgeschlagen worden ist, heißt ja nicht zwangsläufig, daß wir jetzt wieder anfangen, ihn zusammenzuknüpfen.« Mir war klar, daß es ihm nur auf ein Streitgespräch ankam - daß man Harold so schwer leiden kann, liegt teilweise daran, daß er immer zeigen will, wie schlau er ist (und er ist wirklich schlau, das muß ich ihm lassen, Harold weiß eine Menge) - aber Glen sagte nur: »Die Zeit wird es zeigen, richtig?« Das alles ging vor einer Stunde zu Ende, und jetzt bin ich in einem Schlafzimmer im Obergeschoß, und Kojak liegt neben mir auf dem Boden. Guter Hund! Es ist alles ziemlich schnuckelig und erinnert mich an zu Hause, aber ich versuche, nicht zu sehr an zu Hause zu denken, weil ich dann immer weinen muß. Ich weiß, es klingt schrecklich, aber ich wünschte mir wirklich jemanden, der mir helfen würde, dieses Bett zu wärmen. Mir schwebt sogar schon ein Kandidat vor. Vergiß es, Frannie! Morgen brechen wir also nach Stovington auf, und ich weiß, das gefällt Stu ganz und gar nicht. Er hat Angst vor dem Zentrum. Ich mag Stu sehr und wünschte, Harold könnte ihn besser leiden. Harold kompliziert alles nur, aber ich glaube, er kann eben nicht aus seiner Haut. Glen hat sich entschlossen, Kojak zurückzulassen. Das tut ihm leid, wenn Kojak auch keine Schwierigkeiten haben wird, Futter zu finden. Es bleibt aber nichts anderes übrig, es sei denn, wir könnten ein Motorrad mit Beiwagen finden, aber selbst dann wäre es schwierig, denn Kojak könnte Angst bekommen und rausspringen. Sich verletzen und sterben. Auf jeden Fall fahren wir morgen los. Zur Erinnerung: Die Texas Rangers (eine Baseballmannschaft) hatten einen Werfer namens Nolan Ryan, der mit seinem berühmten Fastball alle möglichen Nicht -Treffer und dergleichen machte, und ein Nicht-Treffer ist sehr gut. Es gab Fernsehkomödien mit einer Lachspur (eine Lachspur ist ein Tonband, auf dem die Leute an den lustigen Stellen lachen), die einen aufheitern sollen. Im Supermarkt konnte man tiefgekühlte Kuchen und Pasteten kaufen, die man einfach auftaute und aß. Am liebsten mochte ich den Erdbeerkäsekuchen von Sara Lee. 7. Juli 1990 Ich kann nicht lange schreiben. Sind den ganzen Tag gefahren. Mein Hintern fühlt sich an wie Hackfleisch, und ich habe ein Gefühl, als hätte ich einen Stein im Rücken. Letzte Nacht hatte ich wieder diesen schrecklichen Traum. Auch Harold hat von diesem Mann? geträumt und ist sehr beunruhigt, denn er kann sich nicht erklären, wieso wir beide im wesentlichen denselben Traum haben. Stu sagt, er träumt immer noch von Nebraska und der alten schwarzen Frau dort. Sie sagt immer noch, daß er sie jederzeit besuchen kann. Stu sagt, sie wohnt in einer Stadt namens Holland Home oder Hometown oder so ähnlich. Sagt, er könnte sie finden. Harold hat ihn ausgelacht und lange darüber geschwatzt, dass Träume psycho-freudianische Manifestationen der Dinge sind, an die wir im wachen Zustand nicht zu denken wagen. Ich glaube, Stu war wütend, hat sich aber beherrscht. Ich habe immer Angst, daß die Spannung zwischen den beiden sich einmal entlädt. ICH WOLLTE, ES WÄRE ANDERS! Stu sagte jedenfalls: »Wie kommt es dann, daß Frannie und du denselben Traum habt?« Harold murmelte etwas von Zufall und ging einfach weg. Stu hat Glen und mir gesagt, daß er von Stovington aus gern mit uns nach Nebraska fahren würde. Glen zuckte die Achseln und sagte: »Warum nicht? Irgendwo müssen wir ja hin.« Harold wird selbstverständlich aus Prinzip widersprechen. Der Teufel soll dich holen, Harold, werd endlich erwachsen! Zur Erinnerung: Es gab eine Benzinknappheit, weil jeder Amerikaner ein Fahrzeug hatte, wir den größten Teil unserer Ölvorräte verbraucht und die Araber uns in der Hand hatten. Die Araber hatten so viel Geld, daß sie es buchstäblich nicht ausgeben konnten. Es gab eine Rock-'n'-Roll-Gruppe namens The Who, die ihre LiveAuftritte gelegentlich damit beendete, daß sie Gitarren und Verstärker zertrümmerte. So etwas nannte man »sichtbaren Konsum«. 8.Juli 1990 Es ist spät, ich bin schon wieder müde, aber ich sollte versuchen, soviel wie möglich aufzuschreiben, bevor mir die Augen einfach ZUFALLEN. Harold hat sein Schild vor einer Stunde fertigbekommen (reichlich mißmutig, muß ich sagen) und stellte es auf den Rasen des Seuchenzentrums von Stovington. Stu half ihm dabei und liess sich auch von Harolds gemeinen Sticheleien nicht aus der Ruhe bringen. Ich hatte mich schon auf eine Enttäuschung eingerichtet. Ich habe nie geglaubt, daß Stu lügt, und Harold wahrscheinlich auch nicht. Darum war ich sicher, daß alle tot waren, aber es war trotzdem ein beunruhigendes Erlebnis, und ich mußte weinen. Ich konnte nichts dafür. Aber ich war nicht die einzige, die beunruhigt war. Als Stu die Anlage sah, wurde er totenblaß. Er hatte ein kurzärmeliges Hemd an, und ich konnte sehen, daß er Gänsehaut an den Armen hatte. Seine Augen sind normalerweise blau, aber sie waren schieferfarben geworden, wie das Meer an einem grauen Tag. Er deutete in den dritten Stock und sagte: »Das war mein Zimmer.« Harold drehte sich zu ihm um, ich konnte sehen, wie er sich darauf vorbereitete, eine seiner patentierten Harold-LauderKlugscheißereien von sich zu geben, aber dann sah er Stus Gesicht und blieb still. Ich glaube, das war ausgesprochen klug von ihm. Nach einer Weile sagt Harold: »Gehen wir rein und sehen uns um.« »Wozu das?« antwortet Stu fast hysterisch, beherrscht sich aber eisern. Das hat mir Angst gemacht, denn normalerweise ist er so kühl wie Eiswasser. Man muß nur dafür sorgen, daß Harold es nicht schafft, ihn auf die Palme zu bringen. »Stuart...«, fängt Glen an, aber Stu unterbricht ihn mit: »Wozu? Seht ihr denn nicht, daß alle tot sind? Keine Lamettaträger, kein Fußvolk, niemand. Glaubt mir«, sagte er, »wenn sie hier wären, hätten sie uns schon in Empfang genommen. Wir wären in den weißen Zimmern eingesperrt wie beschissene Meerschweinchen.« Dann sieht er mich an und sagt: »Tut mir leid, Fran - ich wollte das nicht sagen. Ich bin wohl durcheinander.« »Also, ich geh' rein«, sagt Harold. »Wer kommt mit?« Aber ich konnte sehen, daß Harold zwar versuchte, KÜHN & STARK zu sein, aber selbst Angst hatte. Glen wollte mit ihm gehen, aber Stu sagte: »Geh auch rein, Fran. Überzeug dich selbst.« Ich wollte sagen, daß ich draußen bei ihm bleiben würde, weil er so nervös ausgesehen hat (und weil ich eigentlich gar nicht rein wollte), aber das hätte wieder Ärger mit Harold gegeben, daher sagte ich okay. Wenn wir, Glen und ich, Zweifel an Stus Geschichte gehabt hätten - wir hätten sie verwerfen können, sobald wir das Tor aufgemacht hatten. Es war der Geruch. Dasselbe kann man in allen größeren Städten riechen, durch die wir kommen, ein Geruch wie verfaulte Tomaten, Herrgott, ich weine schon wieder, aber es ist nicht recht, daß Menschen nicht nur sterben, sondern dann auch noch stinken wie Warte (später) Also, ich habe mein zweites GROSSES WEINEN des Tages hinter mir, was ist nur mit der putzigen Fran Goldsmith los, dem kleinen Sonnenscheinchen, das Stahlnägel kauen und Teppichklammern ausspucken konnte, wie das Sprichwort sagte, ha-ha. Keine Tränen mehr heute nacht, das ist ein Versprechen. Ich ging trotzdem rein, morbide Neugier, schätze ich. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber ich wollte das Zimmer sehen, in dem man Stu gefangengehalten hatte. Und nicht nur der Geruch war erschreckend, sondern auch die Tatsache, daß es nach der Hitze draußen so kühl hier drin war. Jede Menge Granit und Marmor, wahrscheinlich perfekt isoliert. Im zweiten Stock war es wärmer, aber unten war der Geruch... und die Kühle... wie eine Gruft. IGITT. Und es war gruselig, wie in einem Spukhaus - wir drei drängten uns aneinander wie Schafe, und ich war froh, daß ich mein Gewehr hatte, auch wenn es nur Kaliber .22 war. Unsere Schritten hallten zu uns zurück, als würde uns jemand folgen, ja, und ich mußte wieder an den Traum denken, in dem der Mann im schwarzen Umhang erscheint. Kein Wunder, daß Stu nicht mit uns kommen wollte. Schließlich kamen wir zu den Fahrstühlen und fuhren in den zweiten Stock hinauf. Dort waren nur Büros... und mehrere Leichen. Der dritte Stock war wie in einem Krankenhaus, aber alle Zimmer hatten luftdichte Türen (Luftschleusen haben Glen und Harold sie genannt) und spezielle Sichtfenster. Da oben waren viele Leichen, in den Zimmern und auch auf den Fluren. Kaum Frauen. Ich frage mich, ob man am Ende versucht hat, die Frauen zu evakuieren. So vieles werden wir nie erfahren. Aber wozu auch? Jedenfalls fanden wir am Ende des Flurs, der vom Hauptkorridor abzweigte, wo die Fahrstuhlschächte waren, ein Zimmer, dessen Luftschleuse offenstand. Dort lag ein Toter, aber er war kein Patient (die trugen alle weiße Krankenhausschlafanzüge), und er war sicher nicht an der Grippe gestorben. Er lag in einer großen getrockneten Blutlache und sah aus, als hätte er noch im Sterben versucht, aus dem Zimmer zu kriechen. Ein zertrümmerter Stuhl lag dort, und alles war durcheinander, als hätte ein Kampf stattgefunden. Glen sah sich lange um, dann sagte er: »Ich glaube, wir sollten dieses Zimmer Stu gegenüber nicht erwähnen. Ich glaube, er war hier drinnen dem Tod sehr nahe.« Ich betrachtete den ausgestreckten Leichnam und gruselte mich mehr denn je. »Was meinen Sie damit?« fragte Harold, und sogar seine Stimme klang gedämpft. Eines der wenigen Male, daß sie sich einmal nicht so anhörte, als würde Harold vor einem aufmerksam lauschenden Auditorium reden. »Ich glaube, dieser Mann hatte die Absicht, Stuart zu töten«, sagte Glen, »und Stu hat ihn irgendwie überrumpelt.« »Aber warum?« fragte ich. »Warum wollte man Stu töten, wenn er immun war? Das ist doch Unsinn!« Er sah mich an, und seine Augen waren furchteinflößend. Sie sahen fast tot aus, wie Fischaugen. »Das spielt keine Rolle, Fran«, sagte er. »Wie es aussieht, sind Sinn und Zweck hier bedeutungslos gewesen. Diesen Leuten ging es nur noch darum, zu vertuschen - eine Geisteshaltung, die in jedem von uns ist. Diese Menschen hier glaubten so blind und fanatisch an ihre Sache, wie bestimmte religiöse Gruppen an die göttliche Herkunft Jesu. Denn für solche Menschen ist die Notwendigkeit zu vertuschen auch dann noch die einzig wichtige, wenn der Schaden schon eingetreten ist. Ich frage mich, wie viele Immune man in Atlanta und San Francisco und dem Viral Center in Topeka ermordet hat, bevor die Seuche schließlich die Mörder getötet und ihrem Gemetzel ein Ende bereitet hat. Dieses Arschloch da? Ich bin froh, daß er tot ist. Mir tut nur Stu leid, der seinetwegen wahrscheinlich den Rest seines Lebens Alpträume haben wird.« Und kannst du dir vorstellen, was Glen Bateman dann gemacht hat? Dieser nette Mann, der die schrecklichen Bilder malt? Er ging hin und trat dem Toten ins Gesicht. Harold gab ein gedämpftes Grunzen von sich, als wäre er getreten worden. Dann zog Glen den Fuss wieder zurück. »Nein!« schreit Harold, aber Glen trat den Toten trotzdem noch einmal. Dann drehte er sich um und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, aber seine Augen hatten wenigstens nicht mehr diesen gräßlichen toten Ausdruck. »Kommt«, sagt er. »Verschwinden wir. Stu hatte recht. Hier sind alle tot.« Also gingen wir raus; Stu saß mit dem Rücken am Eisentor in der hohen Mauer, die um das Institut herum verlief, und ich wollte... los doch, Frannie, wenn du deinem Tagebuch nicht alles anvertrauen kannst, wem dann! Ich wollte zu ihm laufen, ihn küssen und ihm sagen, wie ich mich schämte, weil wir ihm nicht geglaubt hatten, mich schämte, weil wir unablässig davon geredet hatten, wie schlimm es uns ergangen war, als die Seuche ausgebrochen war, und Stu hatte kaum etwas gesagt, obwohl er die ganze Zeit gewußt hatte, daß der Mann ihn beinahe umgebracht hätte. Meine Güte, ich glaube, ich verliebe mich in ihn, ich habe die schwärmerischste Schwärmerei meines Lebens - wenn Harold nicht wäre, ich würde es riskieren! Jedenfalls (es gibt immer ein jedenfalls, obwohl meine Finger inzwischen so taub sind, daß sie fast abfallen) hat uns Stu da zum ersten Mal gesagt, daß er nach Nebraska will, daß er erfahren möchte, ob sein Traum der Realität entspricht. Er hatte einen störrischen, irgendwie verlegenen Gesichtsausdruck, als wüßte er, daß er sich wieder den altklugen Stuß von Harold anhören mußte, aber Harold war nach unserem Ausflug ins Seuchenzentrum Stovington so mitgenommen, daß er nur pro forma Einwände erhob. Und selbst damit hörte er auf, als Glen auf sehr beiläufige Weise erwähnte, daß er vergangene Nacht auch von der alten Frau geträumt hätte. »Könnte natürlich deshalb sein, weil Stu uns von seinem Traum erzählt hat«, sagte er, rot im Gesicht, »aber die Ählichkeit war verblüffend.« Darauf erklärte Harold natürlich, genau das wäre der Grund für den Traum, aber Stu meinte: »Moment mal, Harold - ich hab' eine Idee.« Seine Idee? Nun, wir sollten alle ein Blatt Papier nehmen und alles aufschreiben, was wir von unseren Träumen der vergangenen Woche noch wußten, und dann sollten wir die Notizen vergleichen. Das war immerhin wissenschaftlich genug, um Harold von weiteren Einwänden abzuhalten. Nun, ich hatte nur den einen Traum, den ich bereits aufgeschrieben habe. Ich möchte ihn nicht wiederholen. Nur soviel: Ich habe meinem Tagebuch nur das mit meinem Vater anvertraut, aber nicht das mit dem Baby und dem Kleiderbügel, den er immer bei sich hat. Als wir die Zettel verglichen, waren die Ergebnisse recht erstaunlich. Harold, Stu und ich hatten alle von dem »dunklen Mann« geträumt, wie ich ihn nenne. Stu und ich haben ihn als Mann in Mönchskutte gesehen, ohne erkennbare Gesichtszüge - sein Gesicht ist immer im Schatten. Auf Harolds Zettel stand, daß er immer unter einer dunklen Tür stand und ihm winkte »wie ein Zuhälter«. Manchmal konnte er nur seine Schuhe und das Funkeln seiner Augen sehen - »wie die Augen eines Wiesels«, hat er sich ausgedrückt. Stu und Glen haben fast identische Träume von der alten Frau. Es gibt so viele Übereinstimmungen, daß man sie kaum einzeln aufzählen kann (das ist meine »literarische« Weise zu sagen, dass meine Finger taub sind). Jedenfalls sind sich beide einig, daß sie in Polk County, Nebraska, wohnt, nur den Namen der Stadt bekamen sie nicht zusammen - Stu sagt Hollingford Home, Glen sagt Hemingway Home. Klingt jedenfalls ziemlich ähnlich. Sie scheinen beide der Meinung zu sein, daß sie es finden könnten. (Aufgepaßt, Tagebuch: Ich vermute »Hemingford Home«). Glen sagte: »Wirklich erstaunlich. Wir scheinen alle ein gemeinsames übersinnliches Erlebnis zu haben.« Harold widersprach natürlich lebhaft, aber es schien, als hätte er eine Menge Stoff zum Nachdenken bekommen. Er stimmte nur auf der Basis zu, daß »wir ja irgendwo hin müßten«. Wir brechen am Morgen auf. Ich bin ängstlich, aufgeregt, vor allem aber glücklich, daß ich das tote Stovington verlassen kann. Und diese alte Frau ist mir allemal lieber als der dunkle Mann. Zur Erinnerung: »Locker bleiben« heißt nicht aufregen. »Stark« und »klasse« bedeuten, daß etwas gut ist. »Keine Bange« heißt, dass man sich keine Sorgen machen muß. »Einen draufmachen« ist, wenn man es sich gutgehen läßt, und viele Menschen haben TShirts mit der Aufschrift SCHEISSE KOMMT VOR getragen, was sicher so war... und noch so ist. »Läuft wie geschmiert« war ein verbreiteter Ausdruck (ich habe ihn erst dieses Jahr gehört), er bedeutete, daß alles gut lief. »Kammer«, ein alter britischer Ausdruck, war gerade im Begriff, »Bude« oder »Bleibe« als Ausdruck für den Ort, wo man vor der Supergrippe wohnte, zu verdrängen. Es galt als ausgesprochen cool, zu sagen: »Da steh' ich drauf.« Dumm, was? Aber so war das Leben eben. Es war kurz nach zwölf Uhr mittags. Perion war erschöpft neben Mark eingeschlafen, den die anderen zwei Stunden vorher vorsichtig in den Schatten getragen hatten. Mal war er bei Bewußtsein, mal nicht; es war für alle Beteiligten angenehmer, wenn er es nicht war. Er hatte den Rest der Nacht den Schmerzen getrotzt, aber nach Tagesanbruch hatte er sich ihnen schließlich ergeben, und wenn er bei Bewußtsein war, ließen seine Schreie einem das Blut in den Adern gefrieren. Alle standen da und sahen sich hilflos an. Niemand wollte etwas essen. »Es ist der Blinddarm«, sagte Glen. »Ich glaube, daran besteht kein Zweifel mehr.« »Vielleicht sollten wir versuchen, ihn... nun, zu operieren«, sagte Harold. Er sah Glen an. »Du kannst wohl nicht...« »Wir würden ihn umbringen«, sagte Glen unumwunden. »Das weißt du, Harold. Selbst wenn wir ihn aufschneiden könnten, ohne daß er verblutet - und das können wir nicht -, könnten wir den Blinddarm nicht vom Dickdarm unterscheiden. Das Zeug da drin hat keine Etiketten, weißt du.« »Wenn wir nichts unternehmen, bringen wir ihn auch um«, sagte Harold. »Willst du es versuchen?« fragte Glen ätzend. »Manchmal bin ich nicht sicher, woran ich bei dir bin, Harold.« »Du bist in der momentanen Situation auch keine nennenswerte Hilfe«, sagte Harold errötend. »He, kommt schon, hört auf«, sagte Stu. »Was soll das? Wenn ihr sowieso nicht vorhabt, ihn mit einem Taschenmesser aufzuschneiden, dann streitet euch nicht rum.« »Stu!« Frannie stöhnte es fast. »Was denn?« fragte er achselzuckend. »Das nächste Krankenhaus ist in Maumee. Dorthin können wir ihn unmöglich bringen. Ich glaube, wir kriegen ihn nicht einmal bis zur Schnellstraße.« »Du hast natürlich recht«, murmelte Glen und strich sich mit einer Hand über die sandpapierrauhen Wangen. »Bitte entschuldige, Harold. Ich bin so durcheinander. Ich wußte, so etwas könnte passieren - pardon, würde passieren -, aber ich vermute, ich wußte es nur auf akademische Weise. Das hier ist anders, als im Arbeitszimmer zu sitzen und Situationen durchzuspielen. Harold knurrte eine undankbare Erwiderung und stapfte, die Hände tief in den Taschen vergraben, davon. Er sah wie ein mürrischer, zu groß geratener Zehnjähriger aus. »Warum können wir ihn nicht transportieren?« fragte Fran verzweifelt und sah von Stu zu Glen. »Weil sein Blinddarm mittlerweile stark angeschwollen sein muß«, sagte Glen. »Wenn er platzt, schüttet er soviel Gift in Marks Körper, daß zehn Menschen daran sterben könnten.« Stu nickte. »Peritonitis.« Frannies Gedanken kreisten. Appendicitis? Das war heutzutage gar nichts! Nichts. Wenn man wegen Gallensteinen oder so etwas im Krankenhaus war, nahmen sie den Blinddarm manchmal gleich mit heraus, wenn sie einen schon offen hatten. Sie erinnerte sich an einen Freund aus der Grundschule, einen Jungen namens Charley Biggers, den alle Biggy nannten, der den Blinddarm in den Sommerferien zwischen der fünften und sechsten Klasse herausbekommen hatte. Er war nur zwei oder drei Tage im Krankenhaus gewesen. Den Blinddarm herauszunehmen war rein gar nichts, medizinisch gesehen. Ebensowenig war es gar nichts, ein Baby zu bekommen, medizinisch gesehen. »Aber wenn ihr ihn in Ruhe laßt«, sagte sie, »platzt der Blinddarm dann nicht trotzdem?« Stu und Glen sahen einander unbehaglich an, sagten aber nichts. »Dann seid ihr wirklich so schlimm wie Harold sagt!« stieß sie wütend hervor. »Ihr müßt etwas unternehmen, auch wenn ihr's mit dem Taschenmesser tut! Ihrmüßt!« »Warum wir?« fragte Glen wütend. »Warum nicht du! Wir haben nicht mal ein medizinisches Lexikon, verdammt noch mal!« »Aber ihr... er... es kann doch nicht einfach so passieren! Es ist gar nichts, den Blinddarm rauszubekommen!« »Tja, früher vielleicht nicht, aber heute schon«, sagte Glen, aber da hatte sie sich schon weinend von ihm abgewandt. Sie kam gegen drei Uhr zurück. Sie schämte sich und wollte sich entschuldigen. Aber weder Stu noch Glen waren im Lager. Harold hockte niedergeschlagen auf einem umgestürzten Baumstamm. Perion saß mit überkreuzten Beinen bei Mark und tupfte ihm das Gesicht mit einem Tuch ab. Sie war blaß, aber gefaßt. »Frannie!« sagte Harold und strahlte sichtlich. »Hi, Harold.« Sie ging zu Peri. »Wie geht es ihm?« »Er schläft«, sagte Perion, aber er schlief nicht; das konnte selbst Fran sehen. Er war bewußtlos. »Wo sind die anderen hin, Peri? Hast du eine Ahnung?« Harold antwortete ihr. Er war hinter sie getreten, und Frannie konnte spüren, daß er den Wunsch hatte, ihr Haar zu berühren oder ihr den Arm um die Schultern zu legen. Das wollte sie nicht. Mittlerweile erfüllte Harold sie fast ständig mit Unbehagen. »Die anderen sind nach Kunkle. Um nach einer Arztpraxis zu suchen.« »Sie wollen versuchen, ein paar Bücher zu besorgen«, sagte Peri. »Und ein paar... ein paar Instrumente.« Sie schluckte, kühlte weiter Marks Gesicht, tauchte das Tuch ab und zu in ein Feldbesteck und wrang es aus. »Es tut uns echt leid«, sagte Harold unbehaglich. »Ich weiß, das hört sich dämlich an, aber es stimmt.« Peri sah auf und schenkte Harold ein gezwungen-freundliches Lächeln. »Das weiß ich«, sagte sie. »Danke. Niemand trägt die Schuld an Marks Zustand. Es sei denn, es gibt einen Gott. Wenn es einen Gott gibt, dann ist es seine Schuld. Und wenn ich ihn sehe, trete ich ihm dafür in die Eier.« Sie hatte ein Pferdegesicht und einen stämmigen Bauernkörper. Fran, die bei anderen immer zuerst die positiven und dann erst die negativen Merkmale sah (Harold, beispielsweise, hatte hübsche Hände für einen Jungen), fiel auf, daß Peris kastanienfarbenes Haar fast unvergleichlich war, und die dunklen Indigoaugen blickten klar und intelligent. Sie hatte ihnen erzählt, daß sie Anthropologie an der University of New York - NYU - gelehrt hatte; zudem war sie für verschiedene politische Belange eingetreten, darunter Frauenrecht und Gleichbehandlung für AIDS-Infizierte. Sie war nie verheiratet gewesen. Mark, hatte sie Frannie einmal anvertraut, war besser zu ihr gewesen, als sie es je von einem Mann erwartet hätte. Alle anderen, die sie gekannt hatte, hatten sie entweder links liegen gelassen, oder sie mit anderen Mädchen als »Trampel« oder »Vogelscheuche« über einen Kamm geschoren. Sie gab zu, dass Mark unter normalen Umständen wahrscheinlich zu denjenigen gehört hätte, die sie immer links liegen ließen, aber die Umstände waren nun mal nicht normal. Sie hatten sich in Albany kennengelernt, wo Perion den Sommer bei ihren Eltern verbrachte - am letzten Tag des Juni, und sie hatten beschlossen, aus der Stadt zu verschwinden, bevor die Krankheitserreger sämtlicher Toter an ihnen beiden vollenden konnten, was die Supergrippe nicht geschafft hatte. Sie waren aufgebrochen und in der nächsten Nacht ein Pärchen geworden, wenn auch mehr aus verzweifelter Einsamkeit als aus Liebe (das war Mädchengeschwätz, und Frannie hatte es nicht einmal in ihr Tagebuch geschrieben). Er war gut zu ihr, erzählte Peri Fran in der leisen, erstaunten Weise aller unscheinbaren Frauen, die einen netten Mann in einer harten Welt gefunden haben. Sie hatte angefangen, ihn zu lieben; jeden Tag hatte sie ihn ein bißchen mehr geliebt. Und jetzt das. »Komisch«, sagte sie. »Außer Stu und Harold haben alle hier einen Collegeabschluß, und du hättest sicher einen gemacht, wenn die Dinge ihren normalen Verlauf genommen hätten, Harold.« »Ja, stimmt«, sagte Harold. Peri drehte sich wieder zu Mark um und tupfte ihm zärtlich und liebevoll die Stirn. Frannie mußte an eine Farbabbildung in ihrer Familienbibel denken, die drei Frauen zeigte, die Jesus für die Beerdigung vorbereiteten - sie rieben ihn mit Öl und duftenden Krautern ein. »Frannie hat Englisch studiert, Glen hat Soziologie studiert, Mark hat seinen Doktor in amerikanischer Geschichte gemacht, und du Harold, hast auch Englisch gewählt und wolltest Schriftsteller werden. Wir könnten herumsitzen und hochgeistige Diskussionen führen. Haben wir ja eigentlich auch, oder?« »Ja«, stimmte Harold zu. Seine normalerweise penetrante Stimme war so leise, daß man sie kaum hören konnte. »Eine geisteswissenschaftliche Ausbildung lehrt einen, wie man denkt - das habe ich irgendwo gelesen. Die harten Fakten, die man lernt, sind zweitrangig. Das Wesentliche, was man von der Schule mitnimmt, ist die Fähigkeit, sich auf konstruktive Weise zu engagieren.« »Das ist gut«, sagte Harold. »Gefällt mir.« Jetzt legte er die Hand auf Frannies Schulter. Sie schüttelte sie nicht ab, doch die Berührung bereitete ihr Unbehagen. »Nein, es ist nicht gut«, sagte Peri aufbrausend, und Harold nahm vor Überraschung die Hand von Frannies Schulter. Sie fühlte sich augenblicklich erleichtert. »Nein?« fragte er fast schüchtern. »Er stirbt!« sagte Peri - nicht laut, sondern wütend und hilflos. »Er stirbt, weil wir alle unsere Zeit damit verplempert haben, uns in Hörsälen und billigen Studentenwohnungen in Universitätsstädten mit Scheiße vollzustopfen. Oh, ich könnte euch von den MidiIndianern auf Neu Guinea erzählen, und Harold könnte uns die literarischen Techniken der jüngeren englischen Dichter erläutern, aber was nützt das alles Mark?« »Wenn wir jemand von der medizinischen Fakultät hätten...« begann Fran zögernd. »Ja, wenn. Haben wir aber nicht. Wir haben nicht einmal einen Automechaniker bei uns oder jemanden, der die Landwirtschaftsschule besucht und zumindest einmal gesehen hat, wie ein Tierarzt ein Pferd oder eine Kuh behandelt.« Peri sah die beiden an, und ihre Indigoaugen wurden noch dunkler. »So sehr ich euch mag, ich glaube, momentan würde ich euch alle mit Freuden für Mrs. Goodwrench eintauschen. Ihr habt alle Angst, Mark auch nur zu berühren, obwohl ihr genau wißt, was passiert, wenn ihr es nicht macht. Ich bin genauso - ich schließe mich nicht aus.« »Jedenfalls sind die beiden...« Fran verstummte. Sie hatte sagen wollen: jedenfalls sind die beiden Männer losgefahren, entschied dann aber, daß das ein unglücklicher Ausdruck wäre, da Harold noch bei ihnen war. »Jedenfalls sind Stu und Glen losgefahren. Das ist doch schon mal was, oder nicht?« Peri seufzte. »Ja - das ist schon mal was. Aber es war Stus Entscheidung zu fahren, richtig? Er war der einzige, der sich überlegt hat, daß es besser sein könnte, etwas zu versuchen, als nur herumzustehen und die Hände zu ringen.« Sie sah Frannie an. »Hat er dir erzählt, womit er vorher seinen Lebensunterhalt verdient hat?« »Er hat in einer Fabrik gearbeitet«, antwortete Fran prompt. Sie sah nicht, wie Harolds Miene düster wurde, weil sie diese Information so schnell parat hatte. »Er hat Stromkreise in elektronische Taschenrechner eingebaut. Man könnte vielleicht sagen, daß er Computertechniker war.« »Ha!« sagte Harold und lachte gallig. »Er ist der einzige von uns, der versteht, wie man etwas auseinandernimmt«, sagte Peri. »Was er und Mr. Bateman vorhaben, wird Mark ziemlich sicher umbringen, aber es ist besser, wenn er ums Leben kommt, während jemand versucht, ihm zu helfen, als einfach zu sterben, während wir herumstehen und zusehen... als wäre er ein Hund, der auf der Straße überfahren worden ist.« Darauf wußten weder Harold noch Fran eine Antwort. Sie standen nur neben ihr und betrachteten Marks stilles, regloses Gesicht. Nach einer Weile legte Harold wieder seine schwitzige Hand auf Frannies Schulter. Sie hätte am liebsten geschrien. Stu und Glen kamen um Viertel vor vier zurück. Sie waren mit einem Motorrad unterwegs gewesen. Jetzt waren die Instrumententasche eines Arztes und mehrere Bücher auf dem Gepäckträger festgeschnallt. »Wir versuchen es«, sagte Stu nur. Peri sah auf. Ihr Gesicht war weiß und angespannt, ihre Stimme ruhig. »Ja? Bitte. Es ist unser beider Wunsch«, sagte sie. »Stu?« sagte Perion. Es war zehn nach vier. Stu kniete auf einer Gummimatte, die unter dem Baum ausgebreitet worden war. Schweiß floß ihm in Strömen vom Gesicht. Seine Augen waren glänzend und panisch und gequält. Frannie hielt ein Buch aufgeschlagen vor ihn und blätterte zwischen zwei Farbabbildungen hin und her, wenn Stu den Kopf hob und nickte. Neben ihm hielt ein totenblasser Glen Bateman eine Spule dünnes weißes Garn, Zwischen ihnen stand ein offener Kasten mit Instrumenten aus Edelstahl. Der Kasten war blutbespritzt. »Hier!« rief Stu. Seine Stimme klang plötzlich schrill und hart und aufgeregt. Seine Augen waren zwei winzige Punkte. »Da ist der kleine Dreckskerl! Hier! Genau hier!« »Stu?« sagte Perion. »Fran, zeig mir noch mal die andere Abbildung! Schnell! Schnell!« »Kannst du ihn rausnehmen?« fragte Glen. »Jesus, Ost-Texas, glaubst du wirklich?« Harold war nicht da. Er hatte die Runde verfrüht und mit einer Hand vor dem Mund verlassen. Seit fünfzehn Minuten stand er in einem kleinen Hain östlich und hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Jetzt drehte sich sein großes, rundes Gesicht voller Hoffnung zu ihnen um. »Ich weiß nicht«, sagte Stu, »aber es könnte sein. Könnte sein.« Er betrachtete die Abbildung, die Fran ihm zeigte. Marks Blut reichte ihm bis zu den Ellbogen, wie scharlachrote Abendhandschuhe. »Stu?« sagte Perion. »Er ist oben und unten abgeschlossen«, flüsterte Stu. Seine Augen glitzerten aufgeregt. »Der Blinddarm. Eine abgeschlossene kleine Einheit. Er... wisch mir die Stirn ab, Frannie, Herrgott, ich schwitze wie ein Schwein... danke... O Gott, ich will ihn nicht schlimmer zerschnippeln, als ich muß... schließlich sind es seine Eingeweide... aber ich muß, ich muß, verdammte Scheiße.« »Stu?« sagte Perion. »Gib mir die Schere, Glen. Nein - nicht die. Die kleinere.« »Stu.« Er sah Perion endlich an. »Du brauc hst sie nicht mehr.« Ihre Stimme war ruhig, leise. »Er ist tot.« Stu sah sie an, seine zusammengekniffenen Augen wurden langsam groß. Sie nickte. »Vor fast zwei Minuten. Trotzdem danke. Danke, daß du es versucht hast.« Stu sah sie lange an. »Bist du sicher?« flüsterte er schließlich. Sie nickte wieder. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Stu wandte sich von ihnen ab, ließ das winzige Skalpell fallen, das er in der Hand gehabt hatte, und schlug die Hände in einer Geste völliger Verzweiflung vors Gesicht. Glen war schon gegangen, ohne sich umzudrehen; er hatte die Schultern wie nach einem schweren Schlag gesenkt. Frannie legte die Arme um Stu und zog ihn an sich. »Das war's«, sagte er. Er sagte es immer wieder, mit leiser, tonloser Stimme, die ihr angst machte. »Das war's. Alles aus. Das war's. Das war's.« »Du hast dein Bestes gegeben«, sagte sie und hielt ihn noch fester, als könnte er davonfliegen. »Das war's«, sagte er noch einmal und mit dumpfer Endgültigkeit. Frannie hielt ihn in den Armen. Trotz der Gefühle, die sie in den letzten drei Wochen für ihn entwickelt hatte, trotz ihrer »schwärmerischen Schwärmerei« hatte sie keinerlei eindeutige Absichten bekundet. Sie war fast schmerzlich berührt gewesen, ihre Empfindungen nicht zu zeigen. Die Situation mit Harold stand zu sehr auf des Messers Schneide. Und nicht einmal jetzt zeigte sie wirklich, was sie für Stu empfand, nicht rückhaltlos. Sie umarmte ihn nicht wie eine Liebende. Nur wie eine Überlebende, die sich an einen anderen klammert. Das schien Stu zu verstehen. Er hob die Hände von ihren Schultern; dunkle Handabdrücke blieben auf der Khakibluse zurück und zeichneten sie so, als wären sie Komplizen bei einem tragischen Verbrechen. Irgendwo krähte schrill ein Eichelhäher, und in der Nähe fing Perion an zu weinen. Harold Lauder, der den Unterschied zwischen den Umarmungen Liebender und Überlebender nicht kannte, betrachtete Stu und Frannie mit dämmerndem Mißtrauen und Angst. Nach einem Moment stapfte er wütend ins Unterholz und kam erst lange nach dem Essen zurück. Am nächsten Morgen wachte sie früh auf. Jemand schüttelte sie. Ich öffne die Augen, und es ist Glen oder Harold, dachte sie schläfrig. Wir machen es wieder durch, immer weiter, bis wir es richtig machen. Wer nicht aus der Geschichte lernt... Aber es war Stu. Und es war irgendwie schon Tag; eine graue Dämmerung, vom Morgennebel gedämpft wie glänzendes Gold, das durch dünnen Mull schimmert. Die anderen waren reglose, schlafende Gestalten. »Was ist?« fragte sie und richtete sich auf. »Stimmt was nicht?« »Ich habe wieder geträumt«, sagte er. »Nicht von der alten Frau, von dem... dem anderen. Dem dunklen Mann. Ich hatte Angst, und darum...« »Hör auf«, sagte sie, weil ihr sein Gesichtsausdruck Furcht einjagte. »Komm zur Sache, bitte.« »Perion. Das Veronal. Sie hat das Veronal aus Glens Rucksack genommen.« Fran atmete keuchend. »O Mann«, sagte Stu gebrochen. »Sie ist tot, Frannie. Mein Gott, was für eine verfluchte Schweinerei.« Sie wollte sprechen, konnte nicht. »Ich glaube, ich sollte die beiden anderen aufwecken«, sagte Stu geistesabwesend, wandte sich ab, rieb sich die stoppeligen Wangen. Fran konnte sich erinnern, wie sich seine Bartstoppeln an ihren Wangen angefühlt hatten, als sie ihn gestern umarmte. Er drehte sich bestürzt zu ihr um. »Wann hört das endlich auf?« Sie sagte leise: »Ich glaube, niemals.« Sie sahen einander in der frühen Dämmerung in die Augen. Aus Fran Goldsmiths Tagebuch  9. Juli 1990 Heute nacht haben wir unser Lager westlich von Guilderland (NY) aufgeschlagen, nachdem wir endlich den großen Highway, Route 80/90, erreicht hatten. Die Aufregung, daß wir Mark und Perion (findest du nicht auch, daß das ein schöner Name ist? Ich schon) gestern nachmittag getroffen haben, hat sich mehr oder weniger gelegt. Sie sind übereingekommen, sich uns anzuschließen ... sie haben es selbst vorgeschlagen, bevor einer von uns dazu gekommen ist. Ich bin nicht sicher, ob Harold es angeboten hätte. Du weißt ja, wie er ist. Und er war ziemlich geschockt (Glen auch, glaube ich) wegen der Sachen, die Mark und Perion bei sich hatten, darunter auch halbautomatische Gewehre (zwei). Aber er wollte wohl hauptsächlich nur seine übliche Schau abziehen... er mußte seine Anwesenheit kundtun, du weißt ja. Ich glaube, ich habe ganze Seiten mit der PSYCHOLOGIE VON HAROLD gefüllt, und wenn du ihn jetzt nicht kennst, wirst du ihn nie kennen. Unter seiner Überheblichkeit und den vollmundigen Worten versteckt sich ein sehr unsicherer kleiner Junge. Er kann nicht begreifen, daß sich alles verändert hat. Ein Teil von ihm - ein ziemlich großer Teil, meine ich - muß weiterhin glauben, daß seine sämtlichen Peiniger von der High School eines schönen Tages aus ihren Gräbern auferstehen und wieder anfangen, Dreck nach ihm zu schleudern oder ihn Wichser-Harry nennen, wie Amy mir einmal verraten hat. Manchmal glaube ich, es wäre besser für ihn gewesen (und für mich auch), wenn wir uns in Ogunquit nicht zusammengetan hätten. Ich gehöre seinem alten Leben an, ich war einmal die beste Freundin seiner Schwester, und so weiter und so weiter. Zusammenfassend könnte man über meine merkwürdige Beziehung zu Harold folgendes sagen: So seltsam es sich anhören mag, nach allem, was ich jetzt weiß, würde ich mich wahrscheinlich mit Harold anfreunden und nicht mit Amy, die immer scharf auf Jungs mit schönen Autos und Kleidern von Sweetie's war und die (Gott vergebe mir, daß ich schlecht von den Toten spreche) ein regelrechter Snob in Ogunquit gewesen ist, wie es nur jemand sein kann, der ständig in der Stadt wohnt. Harold ist auf seine verschrobene Weise irgendwie cool. Das heißt, wenn er nicht seine ganze geistige Energie darauf konzentriert, ein Arschloch zu sein. Aber weißt du, Harold könnte nie glauben, daß ihn jemand mag. Ein Teil von ihm hat soviel darin investiert, grob zu sein. Er ist entschlossen, seine sämtlichen Probleme ohne fremde Hilfe mit in diese nicht ganz so schöne neue Welt zu schleppen. Er hätte sie ebensogut in seinen Rucksack packen können, zusammen mit den Payday-Schokoriegeln, die er so gerne ißt. O Harold, Herrgott, ich weiß einfach nicht. Zur Erinnerung: Der Papagei von Gilette. Der wandelnde Kool-Aid Saftkrug, der immer sagte: »Oh...YEAAAAHHH!« » O.B.-Tampons, von einer Gynäkologin erfunden.« Gegensätzliche All-Stars. Die Nacht der lebenden Toten. Brrr! Das trifft den wahren Kern zu sehr. Ich geb's auf. 14. Juli 1990 Heute beim Essen haben wir uns lange und ernst über diese Träume unterhalten und viel länger gerastet, als wahrscheinlich gut war. Wir sind übrigens gerade nördlich von Batavia, New York. Gestern hat Harold sehr zurückhaltend (für ihn) vorgeschlagen, wir sollten Veronal besorgen und leichte Dosen zu uns nehmen, um festzustellen, ob wir »den Traumzyklus nicht unterbrechen können«, wie er sich ausgedrückt hat. Ich habe dem Vorschlag zugestimmt, damit niemand auf die Idee kommt zu fragen, ob etwas mit mir nicht in Ordnung ist, aber ich werde meine Tabletten nicht nehmen, weil ich nicht weiß, was sie mit dem Einsamen Reiter in mir anstellen werden (ich hoffe, daß er einsam ist; ich weiß nicht, ob ich Zwillinge verkraften würde). Als der Veronal-Vorschlag angenommen worden war, hatte Mark etwas zu sagen. »Wißt ihr«, sagte er, »über so etwas sollte man sich nicht allzu sehr den Kopf zerbrechen. Demnächst halten wir uns alle für Moses oder Josef und glauben, daß wir Telefonanrufe von Gott bekommen.« »Der dunkle Mann ruft nicht aus dem Himmel an«, sagt Stu. »Wenn es ein R-Gespräch ist, kommt es wahrscheinlich von viel weiter unten.« »Das ist Stus Art zu sagen, der olle Pferdefuß ist hinter uns her«, flötet Frannie dazwischen. »Und diese Erklärung ist so gut wie jede andere«, sagt Glen. Wir sahen ihn alle an. »Na ja«, fuhr er -wie ich den Eindruck hatte -ein wenig defensiv fort, »wenn man es vom theologischen Standpunkt betrachtet, sieht es so aus, als wären wir der Knoten im Seil bei einem Tauziehen zwischen Himmel und Hölle, oder nicht? Wenn irgendwelche Jesuiten die Supergrippe überlebt haben, müssen sie ja höchstwahrscheinlich total ausrasten.« Darüber hat sich Mark fast schiefgelacht. Ich habe es eigentlich nicht verstanden, aber den Mund gehalten. »Ich finde, das Ganze ist lächerlich«, warf Harold ein. »Ehe wir uns versehen, seid ihr bei Edgar Cayce und der Seelen-Wanderung.« Er sprach Cayce Case aus, und als ich ihn verbesserte (man spricht es wie die Anfangsbuchstaben von Kansas City aus - Kay -Si), sah er mich mit einem BÖSEN-HAROLD-BLICK an. Liebes Tagebuch, er gehört nicht zu den Leuten, die einem dankbar sind, wenn man sie auf kleine Fehler aufmerksam macht! »Wenn etwas eindeutig Paranormales passiert«, sagte Glen, »ist der theologische Erklärungssatz der einzige, der wirklich stichhaltig ist und seine innere Logik behält. Darum gehen das Übersinnliche und die Religion stets Hand in Hand, bis hin zu unseren modernen Geistheilern.« Harold grollte, aber Glen sprach trotzdem weiter. »Ich bin der Meinung, daß jeder übersinnlich begabt ist... das ist so tief in uns, daß wir es selbst kaum bemerken. Die Begabung könnte größtenteils präventiv sein, und auch daher bleibt sie weitgehend unbemerkt.« »Warum?« fragte ich. »Weil sie ein Negativfaktor ist, Fran. Hat jemand von euch einmal D. L. Stauntons 1958 erschienene Studie über Zug- und Flugzeugunglücke gelesen? Sie wurde ursprünglich in einer soziologischen Fachzeitschrift veröffentlicht, aber die Regenbogenpresse hat sich immer wieder darauf berufen.« Wir alle schüttelten die Köpfe. »Solltet ihr nachholen«, sagte er. »Staunton war das, was meine Studenten vor zwanzig Jahren einen >echt klugen Kopf< genannt haben würden - ein sanftmütiger klinischer Soziologe, der das Okkulte als eine Art Hobby studierte. Er hat eine ganze Anzahl Artikel über beide Gebiete verfaßt, bevor er auf die andere Seite ging, um Nachforschungen aus erster Hand anzustellen.« Harold schnaubte, aber Stu und Mark grinsten. Ich auch, fürchte ich. »Erzählen Sie uns von den Zügen und Flugzeugen«, sagt Peri. »Nun, Staunton besorgte sich Statistiken über mehr als fünfzig Flugzeugabstürze seit 1925 und mehr als zweihundert Zugunglücke seit 1900. Er gab alle Daten in einen Computer ein. Im Grunde genommen verglich er drei Faktoren: die Anwesenden bei einem Ereignis, das mit einer Katastrophe endete, die ums Leben Gekommenen und die Kapazität des Fahrzeugs.« »Ich verstehe nicht, was er beweisen wollte«, sagte Stu. »Um das zu verstehen, muß man auch wissen, daß er eine zweite Datenfolge in den Computer eingegeben hat - diesmal dieselbe Anzahl Passagiere, Züge und Flugzeuge, die nicht Opfer einer Katastrophe wurden.« Mark nickte. »Eine Kontrollgruppe und eine Experimentiergruppe. Klingt hieb- und stichfest.« »Was er herausfand, war ziemlich einfach, aber in seiner Bedeutung umwerfend. Eine Schande, daß man so viele Umwege in Kauf nehmen muß, um die zugrundeliegenden statistischen Fakten herauszubekommen.« »Was für Fakten?« fragte ich. »Voll besetzten Zügen und Flugzeugen stößt selten ein Unglück zu.« »Ach, verdammte SCHEISSE!« schreit Harold beinahe. »Ganz und gar nicht«, sagt Glen ruhig. »Das war Stauntons Theorie, und der Computer hat sie bestätigt. Wenn einem Zug oder Flugzeug ein Unglück zustößt, ist die Passagierkapazität zu einundsechzig Prozent ausgelastet. Tritt keine Katastrophe ein, beträgt die Auslastung sechsundsiebzig Prozent. Das macht einen Unterschied von fünfzehn Prozent bei einem ausgedehnten Computerexperiment, und eine so starke Abweichung ist signifikant. Staunton weist darauf hin, daß statistisch gesehen schon eine Abweichung von drei Prozent signifikant wäre, und er hat recht. Aber fünfzehn Prozent ist eine Anomalie so groß wie Texas. Staunton hat daraus abgeleitet, daß die Leute wissen, welche Flugzeuge und Züge verunglücken werden... daß sie unterbewußt die Zukunft vorhersehen. Tante Sally bekommt Magenschmerzen, bevor Flug 61 von Chicago nach San Diego startet. Und wenn das Flugzeug über der Wüste von Nevada abstürzt, sagt jeder: >Oh, Tante Sally, diese Magenschmerzen waren ein Geschenk Gottes.< Aber bevor James Staunton seine Studie erstellte, war keinem bewußt, daß es sich in Wahrheit um dreißig Menschen mit Magenschmerzen handelte... oder Kopfschmerzen... oder einfach nur dem komischen Gefühl in den Beinen, das man hat, wenn der Körper dem Kopf sagen will, dass etwas total schiefgehen wird.« »Das kann ich einfach nicht glauben«, sagt Harold und schüttelt verdrossen den Kopf. »Paßt auf«, sagte Glen, »etwa eine Woche, nachdem ich Stauntons Artikel zum ersten Mal gelesen hatte, ist ein Flugzeug von Majestic Airlines auf dem Flughafen von Logan abgestürzt. Alle Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Nachdem sich die Aufregung etwas gelegt hatte, habe ich das Büro von Majestic in Logan angerufen. Ich habe ihnen gesagt, ich wäre Reporter vom Manchester Union-Leader, eine kleine Notlüge für einen guten Zweck. Ich sagte ihnen, wir würden für eine Serie über Flugzeugunglücke recherchieren und wollte wissen, ob sie mir sagen konnten, wie viele Passagiere den Unglücksflug nicht angetreten hatten. Der Mann schien überrascht, denn er sagte mir, darüber hätte sich das Personal auch unterhalten. Die Zahl war sechzehn. Sechzehn Passagiere waren nicht erschienen. Ich fragte den Mann nach der Zahl der durchschnittlichen Rücktritte bei Flügen von Denver nach Boston, und er sagte, es wären drei.« »Drei«, sagte Perion erstaunt. »Richtig. Aber der Mann ging noch weiter. Er sagte auch, es wären fünfzehn Stornierungen eingegangen, der Durchschnitt wäre acht. Die Schlagzeile lautete zwar: 94 MENSCHEN KOMMEN BEI FLUGZEUGABSTURZ IN LOGAN UMS LEBEN, aber sie hätte auch lauten können: 35 ENTGEHEN TOD BEI FLUGZEUGABSTURZ IN LOGAN.« Nun, es wurde noch viel über übersinnliche Phänomene geredet, aber wir entfernten uns immer weiter vom Thema unserer Träume und ob sie vom Großen Vater im Himmel kommen oder nicht. Nachdem Harold stocksauer unsere Runde verlassen hatte, wandte sich Stu an Glen: »Wenn wir alle übersinnliche Fähigkeiten entwickeln, wie kommt es dann, daß wir nicht wissen, wann ein Geliebter gestorben ist oder unser Haus gerade von einem Tornado weggerissen wurde, oder so was?« »Es gibt Fälle, wo genau das passiert ist«, sagte Glen, »aber ich muß zugeben, sie sind bei weitem nicht so verbreitet... oder mit einem Computer so leicht zu beweisen. Eine interessante Frage übrigens. Ich habe eine Theorie... « (Hat er das nicht immer, liebes Tagebuch?) ».. .daß das etwas mit der Evolution zu tun hat. Ihr wißt schon, die Vorfahren der frühmenschlichen Formen hatten Schwänze, waren am ganzen Körper behaart, und ihre Sinne waren viel besser ausgebildet als unsere. Warum haben wir das alles nicht mehr? Schnell, Stu! Das ist Ihre Chance, Klassenprimus zu werden, mit Doktorhut und allem drum und dran.« »Na, aus demselben Grund, warum die Leute beim Autofahren keine Schutzbrillen und Lederkappen mehr tragen müssen. Manchmal wird etwas überflüssig. Einmal kommt der Punkt, da braucht man irgendwas nicht mehr.« »Genau. Und was hat es für einen Sinn, eine übersinnliche Begabung zu haben, die in praktischer Hinsicht nutzlos ist? Was würde es dir nützen, wenn du im Büro sitzt und plötzlich weißt, dass deine Frau auf dem Heimweg vom Einkauf einen Autounfall hatte und ums Leben kam? Jemand wird dich anrufen und es dir sagen, stimmt's? Die übersinnliche Begabung, falls unsere Vorfahren sie je hatten, könnte verkümmert sein, könnte den Weg unserer Schwänze und Pelze gegangen sein. Was mich an unseren Träumen interessiert«, fuhr er fort, »ist die Tatsache, daß sie auf einen künftigen Kampf hinzudeuten scheinen. Wir bekommen unscharfe Bilder eines Protagonisten... und eines Gegenspielers. Eines Widersachers, wenn ihr so wollt. Wenn das zutrifft, wäre es so, als hätten wir einen Flug gebucht, stünden vor der Maschine... und haben plötzlich Bauchweh. Wir bekommen möglicherweise die Mittel, mit denen wir unsere eigene Zukunft formen können. Eine Art vierdimensionalen freien Willen: die Chance, uns vor dem Eintritt der Ereignisse zu entscheiden.« »Aber wir wissen nicht, was die Träume bedeuten«, sagte ich. »Nein, das wissen wir nicht. Aber vielleicht erfahren wir es. Ich weiss nicht, ob das kleine Rinnsal übersinnlicher Wahrnehmung bedeutet, daß wir göttlicher Herkunft sind. Viele Menschen nehmen das Wunder des Augenblicks als gegeben hin, ohne darin einen Beweis für die Existenz Gottes zu sehen, und zu denen gehöre ich auch; aber ich glaube auch, daß diese Träume eine konstruktive Kraft sind, obwohl sie uns angst machen. Deswegen habe ich Zweifel, was das Veronal betrifft. Die Pillen zu schlucken ist etwa so, als würde man Pepto-Bismol einnehmen, um den Magen zu beruhigen, und dann trotzdem in das Flugzeug einzusteigen.« Zur Erinnerung: Rezession, Verknappung, den Ford Growler, der auf dem Highway mit knapp vier Litern Sprit sechzig Meilen weit fahren konnte. Das Wunderauto. Das reicht; ich höre auf. Wenn ich mich nicht kürzer fasse, wird dieses Tagebuch länger als Vom Winde verweht, noch ehe der Einsame Reiter eintrifft (aber bitte nicht auf einem weißen Pferd namens Silver). Ach ja, noch etwas, das man nicht vergessen sollte. Edgar Cayce. Ihn kann ich nicht vergessen. Er hat angeblich in seinen Träumen die Zukunft gesehen. 16. Juli 1990 Nur zwei Anmerkungen, beide zu den Träumen (siehe Eintrag von vor zwei Tagen). Erstens: Glen Bateman war die beiden vergangenen Tage sehr blaß und still, und ich habe gesehen, daß er heute abend eine besonders hohe Dosis Veronal genommen hat. Ich vermute, er hat die Tabletten vorher nicht geschluckt und darum ein paar SEHR SCHLIMME Träume gehabt. Das beunruhigt mich. Wenn ich nur wüßte, wie ich ihn darauf ansprechen soll, aber mir fällt nichts ein. Zweitens: Meine eigenen Träume. Vorgestern nacht nichts (die Nacht nach unserer Diskussion); ich habe geschlafen wie ein Baby und kann mich an nichts erinnern. Gestern nacht habe ich zum ersten Mal von der alten Frau geträumt. Habe dem, was bereits gesagt worden ist, nichts hinzuzufügen, außer vielleicht, daß sie eine Aura des FREUNDLICHEN, des GÜTIGEN ausstrahlt. Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum Stu trotz Harolds Sarkasmus nach Nebraska wollte. Ich bin heute morgen durch und durch erfrischt aufgewacht und habe mir gedacht, wenn wir zu dieser alten Frau gehen könnten, Mutter Abagail, dann würde alles gut werden. Ich hoffe, sie ist wirklich dort. (Ich bin übrigens ziemlich sicher, daß der Name der Stadt Hemingford Home ist.) Zur Erinnerung: Mutter Abagail! 47 Als es passierte, passierte es schnell. Es war gegen Viertel vor zehn am 30. Juli; sie waren erst eine Stunde unterwegs. Sie kamen nur mühsam voran, weil es vergangene Nacht stark geregnet hatte und die Straße immer noch rutschig war. Seit gestern morgen hatten die vier kaum miteinander gesprochen, als Stu erst Frannie geweckt hatte, dann Harold und Glen, um ihnen von Perions Selbstmord zu erzählen. Er gab sich selbst die Schuld, dachte Fran voller Trauer und Mitleid, gab sich die Schuld für etwas, das ebensowenig seine Schuld war wie ein Gewitter. Das hätte sie ihm gerne gesagt, teils, weil er für sein Selbstmitleid gescholten werden mußte, teils, weil sie ihn liebte. Letzteres war eine Tatsache, die sie nicht mehr vor sich verheimlichen konnte. Sie glaubte, sie könnte ihn überzeugen, daß Peris Tod nicht seine Schuld war... aber dabei hätte sie ihm ihre Gefühle für ihn offenbaren müssen. Sie mußte ihm das Herz ausschütten, damit er es einsah. Unglücklicherweise würde es dann aber auch Harold mitbekommen. Also war es verschoben... aber nur vorläufig. Sie entschied, daß sie es bald tun mußte, Harold hin oder her. Sie konnte ihn nur eine gewisse Zeit schonen. Dann mußte er es erfahren... und es entweder akzeptieren oder nicht. Sie fürchtete, Harold würde es nicht einfach hinnehmen. So eine Entscheidung konnte zu etwas Schrecklichem führen. Immerhin hatten sie eine Menge Schießeisen bei sich. Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie um eine Kurve bogen und einen großen umgestürzten Wohnwagen sahen, der die Straße von einer Seite zur anderen versperrte. Auf der rostigen rosa Seite glänzte noch der Regen der vergangenen Nacht. Das wäre schon überraschend genug gewesen, aber es gab noch mehr Überraschungen - drei Autos, allesamt Kombis, und ein großer Abschleppwagen parkten am Straßenrand. Und Leute standen herum, mindestens ein Dutzend. Fran war so überrascht, daß sie zu plötzlich bremste. Die Honda, die sie fuhr, rutschte weg, und Fran wäre beinahe gestürzt, bevor sie die Maschine wieder unter Kontrolle bekam. Dann standen sie alle vier in einer Reihe auf der Straße und blinzelten mehr als erstaunt über den Anblick so vieler lebender Menschen. »Okay, steigt ab«, sagte einer der Männer. Er war groß, hatte einen sandfarbenen Bart und trug eine dunkle Sonnenbrille. Frans Verstand ging auf eine Zeitreise: Sie befand sich auf der Mautstraße in Maine und wurde von einem State Trooper wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten. Als nächstes will er unseren Führerschein sehen, dachte Fran. Aber dies war kein einsamer State Trooper, der Verkehrssünder anhielt und Strafzettel schrieb. Es waren vier Männer. Drei standen als kurze Gefechtslinie hinter dem Mann mit dem sandfarbenen Bart. Alle anderen waren Frauen. Insgesamt acht. Sie sahen ängstlich und blaß aus und drängten sich in kleinen Gruppen um die geparkten Kombis. Der Mann mit dem sandfarbenen Bart hatte eine Pistole. Die Männer hinter ihm hatten Gewehre. Zwei trugen Teile von Armeeausrüstungen. »Steigt ab, verdammt«, sagte der Bärtige, während einer von den Männern hinter ihm sein Gewehr durchlud. Es war ein lautes, bitter befehlendes Geräusch in der nebligen Morgenluft. Glen und Harold sahen verwirrt und ängstlich drein. Mehr nicht. Zielscheiben, dachte Frannie mit aufkeimender Panik. Sie begriff die Situation selbst noch nicht, aber sie wußte, die Gleichung hier stimmte nicht. Vier Männer, acht Frauen, sagte ihr Verstand und wiederholte es dann, lauter und in besorgtem Tonfall: Vier Männer! Acht Frauen! »Harold«, sagte Stu mit leiser Stimme. Etwas war in seinen Augen. Eine Erkenntnis. »Harold, nicht...« Und dann geschah alles gleichzeitig. Stu hatte das Gewehr über der Schulter hängen. Ein kurzer Ruck, und der Trageriemen rutschte ihm am Arm entlang; dann hielt er das Gewehr in der Hand. »Nicht!« schrie der bärtige Mann wütend. »Garvey! Virge! Ronnie! Schnappt sie! Verschont die Frau!« Harold griff nach den Pistolen und vergaß zunächst, daß sie noch in den Halftern festgezurrt waren. Glen Bateman saß immer noch fassungslos erstaunt hinter Harold. »Harold!« rief Stu noch einmal. Fran wand ihr eigenes Gewehr los. Ihr war, als wäre die Luft um sie herum plötzlich von unsichtbarer Molasse erfüllt, von zäher Masse, die sie niemals würde rechtzeitig durchdringen können. Ihr wurde klar, daß sie hier möglicherweise sterben würden. Eines der Mädchen schrie: »JETZT!« Während sie sich mit dem Gewehr abmühte, sah Frannie zu dem Mädchen hinüber. Eigentlich war es gar kein Mädchen; sie war mindestens fünfundzwanzig. Ihr aschblondes Haar klebte ihr wie ein deformierter Helm am Kopf; es sah aus, als hätte sie ihr Haar erst vor kurzem mit einer Heckenschere geschnitten. Nicht alle Frauen bewegten sich; manche schienen vor Angst fast gelähmt zu sein. Aber das blonde Mädchen und drei weitere handelten. Alles geschah innerhalb weniger Sekunden. Der bärtige Mann hatte die Pistole auf Stu gerichtet. Als die blonde junge Frau Jetzt! schrie, ruckte der Lauf leicht in ihre Richtung wie eine Wünschelrute, die auf Wasser reagiert. Die Waffe ging mit einem Laut los, als würde Stahl durch Pappkarton gestoßen werden. Stu fiel vom Motorrad, und Frannie kreischte seinen Namen. Dann stützte sich Stu auf beide Ellbogen (die vom Sturz aufgeschürft waren; die Honda lag auf seinem Bein) und feuerte. Der Bärtige schien rückwärts zu tanzen wie ein Vaudevillestar, der nach einer Zugabe die Bühne verläßt. Das verblichene karierte Hemd, das er trug, bauschte sich auf. Er riß die Pistole, eine Automatik, himmelwärts, und das Geräusch von Stahl durch Pappkarton wiederholte sich viermal. Er fiel auf den Rücken. Beim Schrei der blonden Frau waren zwei der drei Männer hinter dem Bärtigen herumgefahren. Einer drückte beide Abzüge der Waffe, die er in der Hand hatte, eine altmodische Remington Kaliber 12. Er hatte das Schulterstück des Gewehrs nirgends angelegt - er hielt es neben der rechten Hüfte -, als es mit einem Laut wie Donner in einem kleinen Zimmer losging, flog es ihm nach hinten aus der Faust und riß dabei Haut von den Fingern. Es fiel polternd auf die Straße. Das Gesicht einer der Frauen, die nicht auf den Ruf der Blonden reagiert hatten, verschwand in einem unglaublichen Blutschwall; einen Augenblick konnte Frannie ihr Blut tatsächlich auf den Asphalt regnen hören, wie bei einem plötzlichen Wolkenbruch. Ein Auge starrte unverletzt durch die Maske aus Blut, die die Frau jetzt trug. Es war glasig und leer. Dann fiel die Frau vornüber auf die Straße. Der Kombi hinter ihr, ein Country Squire, war vom Schrot durchsiebt. Ein Fenster war ein Wasserfall milchiger Risse. Das blonde Mädchen rang mit dem zweiten Mann, der sich ihr zugewandt hatte. Das Gewehr des Mannes ging zwischen den beiden los. Ein Mädchen rannte auf die zu Boden gefallene Schrotflinte zu. Der dritte Mann, der sich nicht zu den Frauen umgedreht hatte, feuerte auf Fran. Frannie saß breitbeinig auf dem Motorrad und blinzelte ihn dümmlich an. Er hatte olivfarbene Haut und sah wie ein Italiener aus. Sie spürte eine Kugel an der linken Schläfe vorbeisirren. Harold hatte endlich eine Pistole aus dem Holster bekommen. Er hob sie und schoß auf den Mann mit der olivfarbenen Haut. Die Entfernung betrug etwa fünfzehn Schritte. Harold schoß fehl. Im Blech des rosa Wohnwagens, unmittelbar links vom Kopf des Mannes mit der olivfarbenen Haut, war ein Einschußloch zu sehen. Der Mann mit der olivfarbenen Haut sah Harold an und sagte: »Jetzt massakrier' ich dich, Hurensohn!« »Nein, nicht!« schrie Harold. Er ließ die Pistole fallen und breitete die leeren Hände aus. Der Mann mit der olivfarbenen Haut feuerte dreimal auf Harold. Alle drei Schüsse gingen daneben. Der dritte kam am nächsten; er heulte als Querschläger vom Auspuff von Harolds Yamaha ab. Die Maschine kippte um; Harold und Glen wurden abgeworfen. Inzwischen waren zwanzig Sekunden verstrichen. Harold und Stu lagen flach am Boden. Glen saß mit überkreuzten Beinen auf der Straße. Er machte immer noch den Eindruck, als wüßte er nicht genau, wo er war oder was vor sich ging. Frannie versuchte verzweifelt, den Mann mit der olivfarbenen Haut zu erschießen, bevor er Harold und Stu erschießen konnte, aber ihr Gewehr ging nicht los, es schoß nicht, weil sie vergessen hatte, den Sicherungsbolzen mit dem Daumen zurückzuschieben. Die blonde Frau kämpfte noch mit dem zweiten Mann, und die Frau, die zu der Schrotflinte auf dem Boden gerannt war, rang jetzt mit einer anderen Frau um die Waffe. Der Mann mit der olivfarbenen Haut, der in einer Sprache fluchte, bei der es sich ganz zweifellos um Italienisch handelte, legte wieder auf Harold an, dann feuerte Stu; die Stirn des Mannes mit der olivfarbenen Haut wurde nach innen gedrückt, und er klappte zusammen wie ein Sack Kartoffeln. Mittlerweile beteiligte sich noch eine dritte Frau am Gerangel um die Schrotflinte. Der Mann, der sie verloren hatte, bemühte sich, alle drei wegzudrängen. Die dritte Frau griff ihm zwischen die Beine, packte den Schritt seiner Jeans und drückte zu. Fran sah, wie ihre Sehnen bis hinauf zum Ellbogen hervortraten. Der Mann schrie. Der Mann verlor das Interesse an der Schrotflinte. Der Mann griff sich an die Genitalien und humpelte vornübergebeugt davon. Harold kroch über die Straße zu seiner Pistole und warf sich darauf. Er hob sie und schoß auf den Mann, der sich die Genitalien hielt. Er feuerte dreimal - und dreimal daneben. Wie bei Bonnie und Clyde, dachte Frannie. Herrgott, überall Blut! Die blonde Frau mit dem geschorenen Haar hatte den Kampf um die Waffe des zweiten Mannes verloren. Er riß sich los und trat nach der Frau, möglicherweise nach dem Magen, aber statt dessen traf er sie mit einem schweren Stiefel am Oberschenkel. Sie kippte nach hinten, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und landete mit einem feuchten Platscher auf dem Hintern. Jetzt erschießt er sie, dachte Frannie, aber der zweite Mann wirbelte herum wie ein betrunkener Soldat, der eine Kehrtwendung macht, und feuerte rasch hintereinander in die Gruppe der drei Frauen, die sich immer noch an die Seite des Country Squire drängten. »Jaaa! Flittchen!« schrie dieser Herr. »Jaaaa! Ihr Flittchen!« Eine der Frauen kippte um und zappelte auf dem Asphalt zwischen Kombi und umgestürztem Wohnwagen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die beiden anderen Frauen stürmten los. Stu feuerte auf den Schützen und verfehlte ihn. Der zweite Mann schoß auf eine der fliehenden Frauen und verfehlte nicht. Sie warf die Hände hoch und stürzte zu Boden. Die andere schlug einen Haken nach links und verschwand hinter dem rosa Wohnwagen. Der dritte Mann, der die Schrotflinte verloren und nicht zurückbekommen hatte, stolperte immer noch herum und hielt sich den Unterleib. Eine der Frauen richtete die Schrotflinte auf ihn und drückte beide Abzüge - sie hatte die Augen zugekniffen und den Mund in Erwartung des Knalls verzerrt. Der Knall erfolgte nicht. Die Schrotflinte war leer. Die Frau drehte sie um, so daß sie die Waffe am Lauf hielt, und holte in weitem Bogen mit dem Kolben aus. Sie verfehlte seinen Kopf, traf aber die Stelle, wo der Hals in die rechte Schulter überging. Der Mann sank auf die Knie. Er kroch davon. Die Frau, die ein blaues Sweatshirt mit der Aufschrift KENT STATE UNIVERSITY und verwaschene Jeans trug, ging neben ihm her und schlug dabei mit der Schrotflinte auf ihn ein. Der Mann kroch weiter und blutete mittlerweile ganze Sturzbäche, und die Frau im Sweatshirt von Kent State drosch immer noch auf ihn ein. »Jaaaaa, ihr Flittchen!« schrie der zweite Mann und feuerte auf eine benommen murmelnde Frau mittleren Alters. Die Entfernung zwischen Frau und Mündung betrug bestenfalls drei Schritte; sie hätte fast die Hand ausstrecken und den Lauf mit einem rosa Finger berühren können. Er verfehlte. Er drückte noch einmal den Abzug, aber diesmal löste sich kein Schuß mehr. Harold hielt die Pistole jetzt mit beiden Händen, wie er es bei Polizisten im Film gesehen hatte. Er drückte ab, die Kugel zerschmetterte dem zweiten Mann den Ellbogen. Der zweite Mann ließ das Gewehr fallen, tanzte auf und ab und gab ein schrilles, abgehacktes Wimmern von sich. Frannie fand, er hörte sich ein wenig wie Roger Rabbit an, der »B -b-biiiitte!« sagte. »Ich hab' ihn!« kreischte Harold wie von Sinnen. »Hab' ihn! Bei Gott, ich habe ihn!« Schließlich fiel Frannie der Sicherungsbolzen ihres Gewehrs wieder ein. Sie drückte ihn in dem Moment mit dem Daumen hinunter, als Stu noch einmal schoß. Der zweite Mann stürzte und hielt sich jetzt den Magen, nicht mehr den Ellbogen. Er schrie weiterhin. »Mein Gott, mein Gott«, sagte Glen leise. Er verbarg das Gesicht in den Händen und fing an zu weinen. Harold schoß noch einmal mit der Pistole. Der Körper des zweiten Mannes zuckte. Er hörte auf zu schreien. Die Frau im Kent -State-University-Sweatshirt schlug wieder mit dem Kolben der Schrotflinte zu; diesmal erwischte sie den Kopf des kriechenden Mannes mit voller Wucht. Es hörte sich an, als hätte Jim Rice - Wumm! - einen hohen, harten Fastball getroffen. Sowohl der Walnußkolben der Schrotflinte als auch der Kopf des Mannes zersplitterten. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Ein Vogel unterbrach es: Witwit... witivit... witwit. Dann stellte sich das Mädchen im Sweatshirt breitbeinig über den Leichnam des dritten Mannes und stieß einen langen, urwelthaften Triumphschrei aus, der Fran Goldsmith für den Rest ihres Lebens verfolgen sollte. Das blonde Mädchen war Dayna Jürgens aus Xenia, Ohio. Das Mädchen im Sweatshirt der Kent State war Susan Stern. Die dritte Frau, die den Schrotflintenschützen in die Genitalien gekniffen hatte, war Patty Kroger. Die beiden anderen waren deutlich älter. Die älteste, sagte Dayna, war Shirley Hammett. Den Namen der anderen Frau, die Mitte Dreißig zu sein schien, kannt en sie nicht; sie war im Trancezustand durch die Straßen geschlendert, als AI, Garvey, Virge und Ronnie sie vor zwei Tagen in der Stadt Archbold aufgelesen hatten. Die neun verließen den Highway und lagerten in einem Farmhaus westlich von Columbia, jenseits der Staatsgrenze lowas. Sie alle standen unter Schock, und Fran dachte später oft, der Fußmarsch der Gruppe vom umgestürzten rosa Wohnwagen auf der Mautstraße durch die Felder müßte einem zufälligen Beobachter wie der Ausflug der Insassen des nächstgelegenen Irrenhauses vorgekommen sein. Das Gras, das hoch war und noch naß vom nächtlichen Regen, hatte ihre Hosen bald durchweicht. Weiße Schmetterlinge, noch träge mit ihren feuchten Flügeln, flatterten in trunkenen Kreisen und Achten auf sie zu und wieder weg. Die Sonne bemühte sich durchzukommen, hatte es aber noch nicht geschafft; sie war ein heller, wäßriger Fleck, der schwach eine eintönige weiße Wolkendecke erhellte, die sich von einem Horizont zum nächsten spannte. Aber mit oder ohne Wolkendecke, der Tag war jetzt schon heiß und schwül; kreisende Krähenschwärme mit ihren krächzenden, häßlichen Schreien zogen am Himmel dahin. Es gibt jetzt mehr Krähen als Menschen, dachte Fran benommen. Wenn wir nicht aufpassen, picken sie uns buchstäblich vom Antlitz der Erde. Rache der schwarzen Vögel. Waren Krähen Fleischfresser? Sie hatte die starke Befürchtung. Hinter diesem unablässigen, sinnlosen Strom, kaum sichtbar wie die Sonne hinter der schmelzenden Wolkendecke (aber kräftig wie die Sonne an diesem schrecklichen, schwülen Morgen des 30. Juli 1990), rasten immer wieder die Bilder Schießerei durch ihr Hirn. Das Gesicht der Frau, das von der Schrotsalve zerfetzt wurde. Stu, wie er zu Boden stürzte. Der Augenblick des Entsetzens, als sie sicher gewesen war, daß es Stu erwischt hatte. Ein Mann, der Jaaa, ihr Flittchen! schrie und sich anhörte wie Roger Rabbit, als Harold ihn durchlöcherte. Das Stahl-durch-Pappkarton-Geräusch der Pistole des Bärtigen. Susan Sterns animalischer Siegesschrei, als sie breitbeinig über dem Leichnam ihres Feindes stand, während sein noch warmes Gehirn aus seinem zertrümmerten Schädel quoll. Glen ging neben ihr; sein schmales, sonst sardonisches Gesicht war jetzt beunruhigt, das graue Haar flatterte strähnig um seinen Kopf, als wollte es die Schmetterlinge nachahmen. Er hielt ihre Hand und tätschelte sie ständig wie zwanghaft. »Du darfst dich nicht davon beeinflussen lassen«, sagte er. »Solche Schrecken... mußten passieren. Der beste Schutz dagegen ist Vielzahl. Gesellschaft, weißt du. Gesellschaft ist das Fundament des Bauwerks, das wir Zivilisation nennen, der einzig wirksame Schutz gegen Gesetzlosigkeit. Du mußt solche... solche Vorkommnisse als Gang der Dinge sehen. Das vorhin war ein absoluter Einzelfall. Stell dir einfach vor, es waren Trolle. Ja! Trolle oder Gnome oder Bestien. Monster der übelsten Sorte. Kannst du das? Ich bin überzeugt, dass Wahrheit für sich sprechen muß. Eine sozio-konstitutionelle Ethik, könnte man sagen. Ha! Ha!« Sein Lachen war mehr ein Stöhnen. Sie kontrapunktierte jeden seiner unvollendeten Sätze mit einem »Ja, Glen«, aber er schien es nicht zu hören. Glen roch leicht nach Erbrochenem. Die Schmetterlinge prallten gegen sie und flatterten auf ihren unergründlichen Schmetterlingswegen weiter. Fran und die anderen waren nun fast beim Farmhaus angelangt. Der Kampf hatte weniger als eine Minute gedauert. Weniger als eine Minute, aber Frannie vermutete, daß sie die Bilder lange nicht aus dem Kopf bekommen würde. Glen tätschelte ihre Hand. Sie wollte ihm sagen, er möge das sein lassen, befürchtete aber, daß er dann zu weinen anfing. Das Tätscheln konnte sie ertragen. Sie war nicht sicher, ob sie es ertragen konnte, Glen Bateman weinen zu sehen. Stu wurde auf der einen Seite von Dayna Jürgens, dem blonden Mädchen, und auf der anderen von Harold flankiert. Susan Stern und Patty Kroger hatten die namenlose katatonische Frau zwischen sich, die in Archbold aufgelesen worden war. Shirley Hammett, die von dem Mann, der im Todeskampf Roger Rabbit gespielt hatte, auf kürzeste Distanz verfehlt worden war, ging ein Stück links, murmelte und schnappte ab und zu nach einem vorbeiflatternden Schmetterling. Die Gruppe kam langsam voran, aber Shirley Hammett konnte selbst dieses Tempo kaum mithalten. Das graue Haar hing ihr wirr ins Gesicht, ihre benommenen Augen sahen in die Welt wie ängstliche Mäuse, die aus einem vorübergehenden Versteck blickten. Harold sah Stu unbehaglich an. »Wir haben sie vernichtet, Stu, was? Wir haben sie weggepustet. Ihnen die Ärsche aufgerissen.« »Stimmt, Harold.« »Mann, aber wir mußten es tun«, sagte Harold eindringlich, als hätte Stu angedeutet, daß es auch anders hätte kommen können. »Sie oder wir!« »Sie hätten euch die Köpfe weggepustet«, sagte Dayna Jürgens leise. »Ich war mit zwei Typen zusammen, als die Kerle uns erwischt haben. Sie haben Rieh und Dämon aus dem Hinterhalt erschossen. Als es vorbei war, haben sie jedem noch eine Kugel in den Kopf gejagt, um ganz sicher zu gehen. Ihr mußtet es tun, jawohl. Normalerweise müßtet ihr jetzt tot sein.« »Normalerweise müßten wir jetzt tot sein!« rief Harold zu Stu. »Schon gut«, sagte Stu. »Nimm's nicht so schwer, Harold.« »Klar. Null Problemo!« sagte Harold von Herzen. Er kramte mit fliegenden Fingern im Rucksack, holte einen Payday-Schokoriegel heraus und ließ ihn beinahe fallen, als er hektisch das Papier abriß. Er verfluchte ihn bitter, dann schlang er den Riegel hinunter, wobei er ihn wie einen Lutscher mit beiden Händen hielt. Sie hatten das Farmhaus erreicht. Harold mußte sich verstohlen betasten, während er den Schokoriegel aß - um sicherzustellen, dass er nicht verletzt war. Ihm war kotzübel. Er wagte kaum, sich zwischen die Beine zu sehen. Er war sicher, daß er in die Hose gepinkelt hatte, als das Fest beim rosa Wohnwagen so richtig in Schwung gekommen war. Dayna und Susan erzählten während eines späten Frühstücks, bei dem alle niedergeschlagen auf ihren Tellern herumstocherten, ohne daß jemand einen Bissen aß, was sich zugetragen hatte. Patty Kroger, die siebzehn und eine Schönheit war, fügte gelegentlich etwas hinzu. Die namenlose Frau drückte sich in die entfernteste Ecke der Küche des Farmhauses. Shirley Hammett saß am Tisch, verdrückte schale Nabisco-Honigschnitten und murmelte vor sich hin. Dayna hatte Xenia in Begleitung von Richard Darliss und Dämon Bracknell verlassen. Wie viele andere nach der Supergrippe noch in Xenia gelebt hatten? Sie hatte nur drei gesehen, einen alten Mann, eine Frau und ein kleines Mädchen. Dayna und ihre Freunde fragten das Trio, ob sie mitkommen wollten, aber der alte Mann winkte ab und erzählte etwas von »Geschäften in der Wüste«. Am 8. Juli litten Dayna, Richard und Dämon unter Alpträumen vom Schwarzen Mann. Schlimmen Alpträumen. Rieh war sogar zur Überzeugung gelangt, daß es den Schwarzen Mann tatsächlich gab, sagte Dayna, und daß er in Kalifornien lebte. Rieh hatte die Vermutung, daß es sich bei diesem Mann um das »Geschäft in der Wüste« handelte, von dem der Alte in Xenia geredet hatte. Dayne und Dämon fürchteten um Richs geistige Gesundheit. Er nannte den Traum-Mann den »Hartgesottenen« und behauptete, daß er eine Armee von Hartgesottenen um sich versammelte. Er sagte, diese Armee würde bald von Westen aus losziehen und alle noch Lebenden versklaven, zuerst in Amerika, dann im Rest der Welt. Dayna und Dämon unterhielten sich heimlich darüber, ob sie Rieh eines Nachts zurücklassen sollten, denn sie waren zu der Überzeugung gekommen, daß ihre eigenen Alpträume die Folge von Richs beängstigenden Hirngespinsten waren. In Williamson waren sie um eine Kurve gefahren und hatten einen großen Mülltransporter gesehen, der mitten auf der Straße auf der Seite lag. Daneben parkten ein Kombi und ein Abschleppwagen. »Wir sind davon ausgegangen, daß es nur ein Unfall von vielen war«, sagte Dayna, die nervös einen Grahamcracker zwischen den Fingern zerkrümelte, »und genau das sollten wir natürlich auch denken.« Sie stiegen von den Motorrädern ab, um sie um den Laster herumzuschieben, und da eröffneten die vier Hartgesottenen - um Richs Ausdruck zu verwenden - das Feuer aus dem Straßengraben. Sie hatten Rieh und Dämon getötet und sie, Dayna, ihrer Gruppe einverleibt, die sie manchmal den »Zoo« und manchmal den »Harem« nannten. Dayna war bereits die vierte Frau im »Harem«. Einer der drei anderen war Shirley Hammett, die damals noch fast normal gewesen war, obwohl sie wiederholt vergewaltigt worden war, auch anal, und man gezwungen hatte, bei allen vier Fellatio auszuführen. »Einmal«, sagte Dayne, »als sie sich mal in die Hosen geschissen hat, weil sich keiner der Kerle bequemte, mit ihr in die Büsche zu gehen, hat Ronnie ihr den Hintern mit einem Stück Stacheldraht abgewischt. Sie hat drei Tage lang aus dem After geblutet.« »Jesus Christus«, sagte Stu. »Welcher war das?« »Der Mann mit der Schrotflinte«, sagte Patty Kroger. »Dem ich den Schädel eingeschlagen habe. Ich wünschte, er würde hier vor mir liegen, damit ich es noch einmal machen kann.« Den Mann mit dem sandfarbenen Bart und der Sonnenbrille hatten sie nur als »Doc« gekannt. Er und Virge gehörten zu einer Armeeinheit, die nach Akron geschickt worden war, als die Grippe ausbrach. Ihre Aufgabe war »Medienkontakt« gewesen, bei der Armee ein anderes Wort für »Medienunterdrückung«. Als sie diese Aufgabe einigermaßen im Griff hatten, waren sie der »Massenkontrolle« zugeteilt worden, ein Armeeausdruck für die Erschließung fliehender und das Hängen gefaßter Plünderer. Am 2.7. Juni, hatte Doc ihnen gesagt, wies die Befehlskette mehr Löcher als Glieder auf. Viele der eigenen Männer waren so krank, daß sie keinen Dienst mehr tun konnten, aber das spielte zu diesem Zeitpunkt schon keine Rolle mehr, da die Einwohner von Akron zu schwach waren, Nachrichten zu lesen oder zu schreiben, ganz zu schweigen davon, Banken und Juweliere zu überfallen. Am 30. Juni gab es die Einheit nicht mehr - ihre Mitglieder waren tot, lagen im Sterben oder waren in alle Winde zerstreut. Doc und Virge waren gewissermaßen die einzigen in alle Winde Zerstreuten, und da hatten sie ihr neues Leben als Zoowärter angefangen. Garvey war am 1. Juli dazugestoßen, Ronnie am 3. An diesem Punkt hatten sie keine neuen Mitglieder mehr in ihrem seltsamen kleinen Klub aufgenommen. »Aber nach einer Weile müssen sie, die Gefangenen, doch in der Überzahl gewesen sein«, sagte Glen. Unerwarteterweise antwortete Shirley Hammett darauf. »Tabletten«, sagte sie und sah die anderen mit ihren ängstlichen Mausaugen unter den grauen Brauen hervor an. »Jeden Morgen Tabletten zum Aufstehen und jeden Abend Tabletten zum Hinlegen. Rauf und runter.« Ihre Stimme wurde immer leiser, das letzte war kaum zu hören. Sie machte eine Pause, dann fing sie wieder an zu murmeln. Susan Stern nahm den Faden der Geschichte auf. Sie und eine der toten Frauen, Kachel Carmody, waren am 17. Juni außerhalb von Columbus aufgegriffen worden. Da reiste die Gruppe schon in einem Konvoi, der aus zwei Kombis und dem Abschleppwagen bestand. Mit dem Abschleppwagen räumten die Männer liegengebliebene Fahrzeuge aus dem Weg oder sperrten den Highway ab, je nachdem, was für Gelegenheiten sich boten. Doc führte die Hausapotheke in einem übergroßen Beutel am Gürtel mit sich. Starke Betäubungsmittel zum Schlafen; Beruhigungsmittel für die Reise; rote Pillen zum Aufmuntern. »Ich stand morgens auf, wurde zwei- oder dreimal vergewaltigt und wartete nur darauf, daß Doc die Pillen verteilte«, sagte Susan nüchtern. »Die Tagespillen meine ich. Am dritten Tag hatte ich Abschürfungen an der... nun, Sie wissen schon, an der Vagina, und jede Art von normalem Verkehr war äußerst schmerzhaft. Ich hoffte auf Ronnie, denn Ronnie wollte immer nur einen geblasen bekommen. Aber nach den Pillen wurde man ganz ruhig. Nicht schläfrig, nur ruhig. Wenn man ein paar von diesen blauen Pillen geschmissen hatte, war einem alles scheißegal. Man wollte nur noch mit den Händen im Schoß dasitzen und zusehen, wie sie mit dem Abschleppwagen ein Hindernis aus dem Weg räumten. Eines Tages wurde Garvey wütend, weil ein Mädchen, sie konnte nicht älter als zwölf gewesen sein, sie wollte nicht... ich werde es Ihnen nicht erzählen. So schlimm war es. Garvey hat ihr einfach den Kopf weggepustet. Es war mir einerlei. Ich war nur... ruhig. Nach einer Weile dachte man fast nicht mehr an Flucht. Diese blauen Tabletten waren wichtiger als die Flucht.« Dayna und Patty Kroger nickten. Aber den Kerlen schien klarzusein, daß zwölf Frauen ihre Leistungsgrenze waren, sagte Patty. Als sie Patty am 22. Juli in ihren »Zoo« nahmen, nachdem sie den etwa fünfzigjährigen Mann, mit dem sie reiste, ermordet hatten, töteten sie eine sehr alte Frau, die etwa eine Woche Mitglied des »Zoo« gewesen war. Als das namenlose Mädchen in der Nähe von Archbold aufgegriffen wurde, hatten sie ein sechzehnjähriges Mädchen erschossen und im Straßengraben liegenlassen, weil es schielte. »Doc hat Witze darüber gemacht«, sagte Patty. »Er sagte immer: >Ich gehe nicht unter Leitern durch, ich laufe keiner schwarzen Katze über den Weg, und ich dulde keine dreizehn Frauen in meinem Zoo.<« Am 29. hatten sie Stu und die anderen zum ersten Mal gesehen. Der Zoo hatte an einem Rastplatz an der Interstate gelagert, als die vier vorbeigefahren waren. »Garvey war sehr angetan von Ihnen«, sagte Susan und nickte Frannie zu. Frannie erschauerte. Dayna beugte sich näher zu ihnen und sagte: »Und die Kerle haben uns deutlich zu verstehen gegeben, wessen Platz Sie einnehmen sollten.« Sie nickte fast unmerklich zu Shirley Hammett, die immer noch murmelte und Grahamcracker aß. »Die arme Frau«, sagte Frannie. »Dayna kam zur Überzeugung, daß ihr unsere Chance sein könntet«, sagte Patty. »Oder vielleicht unsere letzte Chance. Es waren drei Männer in eurer Gruppe - das hatten sie und Heien Roget gesehen. Drei bewaffnete Männer. Und Doc war ein wenig zu selbstsicher geworden, was den Trick mit dem umgestürzten Wohnwagen auf der Straße anbelangt. Doc benahm sich einfach wie ein Beamter, und die Männer der Gruppen, denen sie begegneten - sofern überhaupt Männer dabei waren -, fügten sich einfach. Und wurden erschossen. Das funktionierte wie Zauberei.« »Dayna hat uns gebeten zu versuchen, die Tabletten heute morgen nicht zu nehmen«, fuhr Susan fort. »Doc und die anderen achteten nicht mehr so genau darauf, ob wir sie wirklich nahmen, und wir wußten, heute morgen würden sie damit beschäftigt sein, den großen Wohnwagen auf die Straße zu schleppen und umzukippen. Wir haben es nicht allen gesagt. Nur Dayna und Patty und Heien Roget waren eingeweiht... eins der Mädchen, das Ronnie erschossen hat. Und natürlich ich. Heien sagte: >Wenn sie uns dabei erwischen, wie wir die Tabletten in die Handflächen spucken, bringen sie uns um.< Und Dayna sagte, früher oder später würden sie uns sowieso umbringen. Wenn wir Glück hatten, früher. Das war uns allen klar. Also haben wir es gemacht.« »Ich mußte meine Tablette eine ganze Weile im Mund behalten«, sagte Patty. »Als ich sie endlich ausspucken konnte, hatte sie schon angefangen, sich aufzulösen.« Sie sah Dayna an. »Ich glaube, Helen mußte ihre sogar tatsächlich schlucken. Darum war sie so langsam.« Dayna nickte. Sie betrachtete Stu mit einer Zuneigung, die Frannie unbehaglich stimmte. »Es hätte trotzdem nicht funktioniert, wenn du nicht so schnell geschaltet hättest, Großer.« »Sieht so aus, als hätte ich längst nicht schnell genug geschaltet«, sagte Stu. »Aber nächstes Mal.« Er stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. »Wißt ihr, das ist auch etwas, was mir angst macht«, sagte er. »Wie schnell wir alle schalten.« Fran gefiel noch weniger, wie verständnisvoll Dayna ihm nachsah. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hatte Dayna kein Recht, verständnisvoll dreinzublicken. Und sie ist trotz allem viel hübscher als ich, dachte Fran. Und ich bezweifle, daß sie schwanger ist. »In dieser Welt muß man schnell schalten, Großer«, sagte Dayna. »Schnell schalten oder sterben.« Stu drehte sich zu ihr um und sah sie zum ersten Mal wirklich an, und Frannie verspürte einen Stich unverhohlenster Eifersucht. Ich habe zu lange gewartet, dachte sie. Mein Gott, das habe ich, ich habe dagesessen und zu lange gewartet. Sie sah zu Harold und stellte fest, daß Harold verhalten lächelte - hinter vorgehaltener Hand, damit man es nicht sah. Es sah wie ein erleichtertes Lächeln aus. Ihr war zumute, als müßte sie aufstehen, ganz beiläufig zu Harold gehen und ihm mit den Fingernägeln die Augen auskratzen. Niemals, Harold! würde sie schreien, während sie das tat. Niemals! Niemals? Aus Fran Goldsmiths Tagebuch 11. Juli 1990 O Gott. Schlimmer hätte es nicht kommen können. In Romanen geschieht etwas, aber dann ist es auch vorbei, oder irgend etwas ändert sich. Aber im wirklichen Leben scheint es immer weiterzugehen, wie bei einer Familienserie, wo es nie zu einem Finale kommt. Vielleicht sollte ich jetzt etwas unternehmen, um die Dinge zu klären, es einfach riskieren, aber ich habe solche Angst, daß zwischen den beiden etwas passieren könnte und. Man kann einen Satz nicht mit »und« beenden, aber ich habe Angst davor, was nach der Konjunktion kommen könnte. Laß mich dir alles erzählen, liebes Tagebuch, obwohl es wirklich keinen Spaß macht, es aufzuschreiben. Ich denke nicht mal gern daran. Glen und Stu fuhren kurz vor Anbrach der Dämmerung in die Stadt (es handelt sich um Girard, Ohio) und wollten Lebensmittel besorgen, möglichst Nahrungskonzentrate oder gefriergetrocknete Sachen. Die sind leicht zu transportieren, und einige Konzentrate schmecken echt lecker, aber was mich betrifft, hat das ganze gefriergetrocknete Essen den gleichen Geschmack, nämlich wie getrocknete Truthahnkacke. Und wann hat man schon getrocknete Truthahnkacke gegessen, um mal einen Vergleich zu bringen? Vergiß es, Tagebuch, es gibt Dinge, über die man nie spricht, ha-ha. Die anderen fragten Harold und mich, ob wir mitkommen wollten, aber ich sagte, ich hätte für heute die Nase voll vom Motorradfahren, und ob sie ohne mich auskommen könnten, und Harold sagte nein, er wolle Wasser holen und es abkochen. Wahrscheinlich heckte er schon einen Plan aus. Es tut mir leid, daß ich ihn so ränkeschmiedend darstelle, aber Tatsache ist, er ist es nun einmal. Dazu eine Anmerkung: Wir alle haben gekochtes Wasser bis über beide Ohren satt, weil es schal und völlig SAUERSTOFFARM schmeckt, aber Mark und Glen sagen, die Fabriken usw. sind noch nicht lange genug außer Betrieb, daß sich die Bäche und Flüsse von selbst wieder gereinigt hätten, besonders im industrialisierten Norden und dem, wie man so sagt, Rostgürtel, daher kochen wir es ab, weil es sicherer ist. Wir hoffen alle, daß wir früher oder später einen großen Vorrat Mineralwasser in Flaschen finden, was eigentlich schon der Fall hätte sein müssen - sagt Harold -, aber ein Großteil scheint auf geheimnisvolle Weise verschwunden zu sein. Stu glaubt, viele Menschen haben gedacht, daß Leitungswasser sie krank macht, und darum haben sie viel Mineralwasser getrunken, bevor sie gestorben sind. Nun, Mark und Perion waren irgendwo unterwegs, wahrscheinlich auf der Suche nach wilden Beeren als Abwechslung unseres Speisezettels, aber möglicherweise haben sie auch etwas anderes gemacht - sie sind ziemlich bescheiden deswegen & schüchtern, sage ich -, daher suchte ich zuerst Holz für ein Feuer und zündete dann eins für Harolds Kessel an... und etwas später kam er damit zurück (er war offenbar lange genug am Bach geblieben, ein Bad zu nehmen und sich das Haar zu waschen). Er hängte den Eimer ans Wie-heißt-es-doch-gleich über dem Feuer. Dann kommt er rüber & setzt sich neben mich. Wir saßen auf einem Baumstamm und sprachen über dies und das, als er plötzlich den Arm um mich legte und versuchte, mich zu küssen. Ich sage versuchte, aber es gelang ihm tatsächlich, zumindest anfangs, weil ich so überrascht war. Dann riß ich mich von ihm los - im Rückblick wirkt es ziemlich komisch, obwohl mir noch alles weh tut - und fiel rückwärts vom Stamm runter. Der Rücken meiner Bluse ist zerrissen, und ich habe mir schätzungsweise einen Quadratmeter Haut abgeschürft. Ich stiess einen Schrei aus. Da wir schon davon gesprochen haben, daß sich die Geschichte wiederholt... das erinnert mich zu sehr an das Gespräch mit Jess auf dem Wellenbrecher, als ich mir auf die Zunge gebissen hatte... so sehr, daß es nicht tröstlich war. Innerhalb eines Augenblicks ist Harold neben mir auf den Knien, fragt, ob alles in Ordnung ist, und wird rot bis unter die frischgewaschenen Haarwurzeln. Harold versucht manchmal, so eiskalt zu sein, so gebildet - er kommt mir immer vor wie ein erschöpfter junger Schriftsteller, der ununterbrochen nach dem speziellen Traurigen Cafe am Westufer sucht, wo er den ganzen Tag sitzen und herumtrödeln, sich über Jean Paul Sartre unterhalten und billigen Fusel kippen kann - aber darunter verbirgt sich, gut versteckt, ein Teenager mit weit weniger reifen Phantasien. Glaube ich wenigstens. Hauptsächlich Phantasien aus Samstagsmatineen: Errol Flynn in Captain from Castile, Humphrey Bogart in Dark Passage, Steve McQueen in Bullitt. In Streßzeiten scheint immer diese Seite von ihm zum Vorschein zu kommen, vielleicht, weil er sie als Kind zu sehr unterdrückt hat, ich weiß nicht. Wie auch immer, wenn er versucht, einen auf Bogie zu machen, dann erinnert er mich immer nur an den Typen, der Bogie in Woody Allans Film Mach's noch einmal, Sam gespielt hat. Als er neben mir kniete und sagte: »Ist dir auch nichts passiert, Baby?«, fing ich an zu kichern. Wiederholt sich die Geschichte nicht tatsächlich? Aber es war nicht nur das Komische an der ganzen Sache, weißt du. Wenn das alles gewesen wäre, hätte ich mir das Kichern verkneifen können. Nein, es war mehr in der Gegend der Hysterie. Die schrecklichen Träume, die Angst um mein Baby, was ich mit meinen Gefühlen für Stu anfangen sollte, das tägliche Fahren, die Krämpfe, das Wundscheuern, der Verlust meiner Eltern, das alles schien plötzlich nicht mehr so schlimm... zuerst machte es sich durch Kichern Luft, dann durch hysterisches Gelächter, mit dem ich einfach nicht mehr aufhören konnte. »Was ist so komisch?« fragte Harold und stand auf. Er hatte es wohl in seinem gewohnten selbstgerechten Ton sagen wollen, aber in diesem Augenblick dachte ich schon nicht mehr an Harold, sondern hatte dieses verrückte Bild von Donald Duck im Kopf. Donald Duck, der durch die Trümmer der westlichen Zivilisation watschelt und wütend quakt: Was ist so komisch, he? Was ist so verdammt komisch? Ich schlug die Hände vors Gesicht & kicherte & schluchzte & kicherte, bis Harold mich für total verrückt gehalten haben muß. Nach einer Weile konnte ich aufhören. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und wollte Harold bitten nachzuschauen, wie schlimm ich mich am Rücken aufgeschürft hatte. Aber ich ließ es sein, weil ich fürchtete, er würde sich FREIHEITEN herausnehmen. Leben, Freiheit und das Streben nach Frannie, oh-ho, das ist nicht komisch. »Fran«, sagte Harold, »es fällt mir schwer, das zu sagen.« »Dann solltest du es vielleicht nicht sagen«, sagte ich. »Ich muß«, antwortete er, und ich sah allmählich ein, daß er kein Nein akzeptieren würde, es sei denn, ich hätte ihn angeschrien. »Frannie«, sagte er, »ich liebe dich.« Ich hatte wohl die ganze Zeit gewußt, daß es so schwärmerisch war. Es wäre leichter gewesen, wenn er nur mit mir hätte schlafen wollen. Liebe ist gefährlicher als bloßes Bumsen, und ich steckte in der Klemme. Wie sollte ich nein zu Harold sagen? Ich schätze, es gibt nur eine Methode, ganz gleich, wem man es sagen muß. »Ich liebe dich nicht, Harold«, sagte ich. Seine Gesichtszüge entgleisten. »Er ist es, nicht wahr?« sagte er, und jetzt wurde sein Gesicht zu einer häßlichen Fratze. »Es ist Stu Redman, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich. Ich habe ein Temperament, das ich leider nicht immer zügeln kann - das habe ich von meiner Mutter, glaube ich. Bei Harold allerdings habe ich mir bewundernswerte Mühe gegeben. Aber ich merkte, wie es an seinen Zügeln zerrte. »Ich weiß.« Seine Stimme war schrill und voller Selbstmitleid. »Ich weiß schon. Ich wußte es schon am ersten Tag, als wir ihn trafen. Ich wollte nicht, daß er mitkommt, weil ich es wußte. Und er hat gesagt...« »Was hat er gesagt?« »Daß er dich nicht will! Daß du mir gehören kannst!« »Als hätte er dir ein neues Paar Schuhe geschenkt, richtig, Harold?« Er antwortete nicht; vielleicht weil ihm klar wurde, daß er zu weit gegangen war. Mit etwas Mühe erinnerte ich mich an den Tag in Fabyan. Harolds erste Reaktion auf Stu war die eines Hundes gewesen, wenn ein neuer Hund, ein fremder Hund, ins Revier des ersten Hundes kommt. In sein Revier. Ich konnte fast sehen, wie sich Harolds Nackenhärchen aufstellten. Mir wurde klar, was Stu gesagt hatte; er hatte es gesagt, um uns aus der Gattung der Hunde herauszuholen und wieder in die Gattung der Menschen zu bringen. Und geht es nicht ganz genau darum? Ich meine, bei diesem unvorstellbaren Kampf, in den wir gerade verwickelt sind? Wenn nicht, warum machen wir uns dann überhaupt erst die Mühe und versuchen, uns zivilisiert zu benehmen? »Ich gehöre niemandem, Harold«, sagte ich. Er murmelte etwas. »Was?« »Ich sagte, du wirst deine Meinung vielleicht ändern müssen.« Mir fiel eine scharfe Erwiderung ein, aber ich sprach sie nicht aus. Harolds Augen blickten in die Ferne; sein Gesicht war sehr still und ausdruckslos. Dann sagte er: »Ich kenne den Typ schon lange. Das kannst du mir glauben, Frannie. Der Kerl ist Quarterback der Footballmannschaft, sitzt aber im Unterricht nur da, schießt Krampen und zeigt Leuten den Vogel, weil er weiß, der Lehrer muß ihm mindestens eine 3 geben, damit er in der Schulmannschaft weiterspielen kann. Der Typ geht fest mit der hübschesten Cheerleaderin, und sie hält ihn für Jesus Christus persönlich. Der Typ, der furzt, wenn der Englischlehrer dich bittet, deinen Aufsatz vorzulesen, weil es der beste der ganzen Klasse ist. O ja, ich kenne Pisser wie ihn. Viel Glück, Fran.« Dann ging er einfach davon. Ich bin ziemlich sicher, es war nicht der GROSSE DONNERNDE ABGANG, den er wollte. Es war mehr so, als hätte er einen geheimen Traum gehabt, in den ich gerade jede Menge Löcher geschossen hatte - den Traum, daß sich alles geändert hatte, aber in Wahrheit hatte sich gar nichts geändert. Bei Gott, er tat mir schrecklich leid, denn als er wegging, da spielte er nicht den ermatteten Zyniker, sondern er empfand ECHTEN Zynismus, und auch nicht ermattet, sondern scharf & verletzend wie eine Messerklinge. Er war geprügelt. Aber Harold wird nie begreifen, daß er zuerst seinen Kopf etwas verändern muß, daß die Welt immer gleichbleiben wird, solange er gleichbleibt. Er hortet Maßregelungen, wie Piraten angeblich Schätze horten... Nun gut. Jetzt sind alle wieder da, das Essen ist verzehrt, Zigaretten geraucht, Veronal ausgegeben (meins ist in meiner Tasche, statt sich in meinem Magen aufzulösen), alle richten sich für die Nacht ein. Harold und ich haben eine schmerzliche Konfrontation hinter uns, aber ich habe das Gefühl, daß sich nichts wirklich aufgeklärt hat und daß er Stu und mich beobachtet, um zu sehen, was als nächstes passieren wird. Es macht mich krank und unnötig wütend, das zu schreiben. Welches Recht hat er, uns zu beobachten? Welches Recht hat er, diese erbärmliche Situation, in der wir uns befinden, noch zu verkomplizieren ? Zur Erinnerung: Tut mir leid, Tagebuch. Muß an meiner Verfassung liegen. Ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern. Als Frannie ihn fand, saß Stu auf einem Stein und rauchte eine Zigarre. Er hatte mit dem Absatz ein kleines rundes Loch in den Boden gescharrt und benutzte es als Aschenbecher. Er sah nach Westen, in den Sonnenuntergang. Die Wolken waren gerade so weit aufgerissen, daß die rote Sonne den Kopf durchstrecken konnte. Obwohl Frannie und die anderen die vier Frauen erst gestern getroffen und in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten, schien es schon lange zurückzuliegen. Sie hatten einen der Kombiwagen ohne große Mühe aus dem Straßengraben geschoben, und jetzt waren sie mit den Motorrädern schon eine ziemliche Karawane, die auf der Mautstraße langsam nach Westen fuhr. Der Geruch des Zigarrenrauchs ließ Frannie an ihren Vater und dessen Pfeife denken. Mit dieser Erinnerung kam der Kummer, der schon fast zu Nostalgie abgeschwächt war. Ich komme darüber hinweg, daß ich dich verloren habe, Daddy, dachte sie. Ich glaube, es macht mir nichts aus. Stu drehte sich um. »Frannie«, sagte er aufrichtig erfreut. »Wie geht es dir?« Sie zuckte die Achseln. »So einigermaßen.« »Willst du dich zu mir auf den Stein setzen und den Sonnenuntergang betrachten?« Sie setzte sich zu ihm, und ihr Herz klopfte ein wenig schneller. Aber warum war sie sonst hergekommen? Sie hatte gewußt, in welcher Richtung er das Lager verlassen hatte, wie sie gewußt hatte, dass Harold und Glen und zwei der Mädchen nach Brighton gefahren waren, um ein CB-Funkgerät aufzutreiben (zur Abwechslung Glens und nicht Harolds Idee). Patty Kroger war im Lager und machte Babysitter bei ihren kampfesmüden Patientinnen. Shirley Hammett schien allmählich aus ihrer Lethargie zu erwachen, aber heute morgen hatte sie alle anderen aufgeweckt, weil sie im Schlaf geschrien und mit den Händen abwehrend in der Luft herumgefuchtelt hatte. Die andere Frau, die ohne Namen, schien sich in die andere Richtung zu entwickeln. Sie saß nur da. Sie aß, wenn sie gefüttert wurde. Sie führte die Ausscheidungsfunktionen aus. Sie beantwortete keine Fragen. Nur im Schlaf wurde sie richtig wach. Selbst mit einer großen Dosis Veronal stöhnte sie häufig und kreischte manchmal. Frannie glaubte ziemlich sicher zu wissen, wovon die arme Frau träumte. »Es scheint, als hätten wir noch einen langen Weg vor uns, was?« Stu antwortete eine Weile nicht und sagte dann: »Es ist weiter, als wir dachten. Die alte Frau ist nicht mehr in Nebraska.« »Ich weiß...«, fing sie an und verschluckte den Rest. Er sah sie resigniert grinsend an. »Sie haben Ihre Medizin nicht genommen, Ma'am.« »Mein Geheimnis ist enthüllt«, sagte sie mit einem ebenso schwachen Lächeln. »Wir sind nicht die einzigen«, sagte Stu. »Ich habe heute nachmittag mit Dayna gesprochen« (sie empfand den inneren Stich der Eifersucht - und Angst-, weil er ihren Namen so vertraut aussprach), »und sie sagte mir, daß weder sie noch Susan die Tabletten nehmen wollen.« Fran nickte. »Warum hast du damit aufgehört? Hat man dich... dort unter Drogen gesetzt?« Er ließ die Asche in den Erdbodenaschenbecher fallen. »Abends leichte Beruhigungsmittel, mehr nicht. Sie mußten mich nicht unter Drogen setzen. Ich war sicher und wohlbehalten eingesperrt. Nein, ich habe vor drei Tagen damit aufgehört, weil ich... mir abgeschnitten vorkam.« Er überlegte einen Augenblick und führte dann weiter aus: »Glen und Harold wollen ein CB -Funkgerät holen, das war eine wirklich gute Idee. Wozu braucht man Sender-Empfänger? Damit man nicht abgeschnitten ist. Ein Freund von mir in Arnette, Tony Leominster, hatte eins in seinem Scout. Tolles Spielzeug. Man kann mit Leuten reden, und wenn man in Schwierigkeiten kommt, kann man Hilfe rufen. Diese Träume sind fast so, als hätten wir ein CB im Kopf, aber die Übertragung scheint gestört zu sein, wir können nur empfangen.« »Vielleicht senden wir auch«, sagte Fran leise. Er sah sie verblüfft an. Sie saßen eine Weile schweigend da. Die Sonne blinzelte durch die Wolken, als wollte sie auf dem Weg zum Horizont rasch Lebewohl sagen. Fran begriff, warum primitive Völker sie anbeteten. Während die gigantische Stille der fast leeren Landschaft sich von Tag zu Tag anhäufte, ihre Wahrhaftigkeit sich durch ihr bloßes Gewicht dem Gehirn einprägte, wirkten die Sonne - und der Mond, was das betraf - viel größer und wichtiger. Persönlicher. Diese großen Himmelsschiffe sah man jetzt wieder wie durch die Augen eines Kindes. »Jedenfalls habe ich aufgehört«, sagte Stu. »Letzte Nacht habe ich wieder von diesem schwarzen Mann geträumt. Es war bis jetzt der schlimmste Traum. Er ist jetzt irgendwo in der Wüste. In Las Vegas, glaube ich. Und Frannie... ich glaube, er kreuzigt Menschen. Solche, die ihm Schwierigkeiten machen.« »Was macht er?« »Das habe ich geträumt. Reihenweise Kreuze am Highway 15, die aus Scheunenbalken und Telegrafenmasten gemacht sind. Und daran hängen Menschen.« »Nur ein Traum«, sagte sie erschaudernd. »Vielleicht.« Er rauchte und sah nach Westen, den rotgetönten Wolken nach. »Aber in den beiden anderen Nächten, bevor wir diese Wahnsinnigen mit den Frauen getroffen haben, habe ich von ihr geträumt - von der Frau, die sich Mutter Abagail nennt. Sie saß im Fahrerhaus eines alten Kleintransporters, der am Rand des Highway 76 parkte. Ich stand daneben, lehnte mit einem Arm am Fenster und unterhielt mich mit ihr so ungezwungen wie mit dir. Und sie sagt: >Du mußt noch schneller mit ihnen reisen, Stuart; wenn eine alte Dame wie ich es kann, sollte es ein großer, kräftiger Bursche aus Texas erst recht können !<« Stu lachte, ließ die Zigarre fallen, zertrat sie unter dem Absatz. Auf geistesabwesende Weise, als wüßte er nicht, was er tat, legte er Frannie einen Arm um die Schulter. »Sie fahren nach Colorado«, sagte sie. »Äh, ja, das glaube ich auch.« »Haben... haben Dayna oder Susan von ihr geträumt?« »Beide. Und letzte Nacht hat Susan von den Kreuzen geträumt. Genau wie ich.« »Es sind jetzt eine Menge Leute bei der alten Frau.« Stu stimmte zu. »Zwanzig, vielleicht mehr. Weißt du, wir kommen fast jeden Tag an Menschen vorbei. Sie verstecken sich und warten, bis wir weg sind. Sie haben Angst vor uns, aber zu ihr... zu ihr werden sie gehen, glaube ich. Wenn die Zeit gekommen ist.« »Oder zu dem anderen«, sagte Frannie. Stu nickte. »Ja, oder zu ihm, Fran. Warum nimmst du das Veronal nicht mehr?« Sie stieß einen zitternden Seufzer aus und fragte sich, ob sie es ihm sagen sollte. Sie wollte es, wußte aber nicht, wie er reagieren würde. »Man weiß nie, was eine Frau tun wird«, sagte sie schließlich. »Nein«, stimmte er zu. »Aber vielleicht kann man feststellen, was sie denkt.« »Was...«, fing sie an, aber er verschloß ihr den Mund mit einem Kuß. Sie lagen im letzten Dämmerschein im Gras. Leuchtendes Rot war kaltem Purpur gewichen, während sie sich liebten, und jetzt konnte Frannie die Sterne durch die letzten Wolken funkeln sehen. Morgen würden sie gutes Reisewetter haben. Mit etwas Glück konnten sie fast ganz Indiana hinter sich bringen. Stu schlug träge nach einer Stechmücke, die über seiner Brust schwebte. Sein Hemd hing in der Nähe an einem Busch. Fran hatte die Bluse an, aber aufgeknöpft. Ihre Brüste rieben an Stoff, und sie dachte: Ich werde merklich dicker... noch sieht's keiner, nur ich selbst. »Ich wollte dich schon ziemlich lange«, sagte Stu, ohne sie direkt anzusehen. »Ich glaube, das weißt du.« »Ich wollte Schwierigkeiten mit Harold vermeiden«, sagte sie. »Und da ist noch etwas, das...» »Harold muß noch viel lernen«, sagte Stu, »aber er hat das Zeug zu einem prima Kerl in sich, wenn er sich zusammenreißt. Du magst ihn, oder nicht?« »Das ist nicht das richtige Wort. Es gibt im Englischen kein Wort für das, was ich für Harold empfinde.« »Und was empfindest du für mich?« fragte er. Sie sah ihn an und stellte fest, es war ihr unmöglich, ihm zu sagen, daß sie ihn liebte, jedenfalls so direkt, obwohl sie es wollte. »Nein«, sagte er, als hätte sie ihm widersprochen. »Ich möchte nur klare Verhältnisse. Du willst nicht, daß Harold jetzt schon davon erfährt. Ist es nicht so?« »Ja«, sagte sie dankbar. »Ist auch besser so. Wenn wir uns etwas zurückhalten, regelt sich vielleicht alles von selbst. Ich habe gesehen, wie er manchmal Patty anschaut. Sie ist ungefähr in seinem Alter.« »Ich weiß nicht...« »Du empfindest ihm gegenüber aus Verpflichtung Dankbarkeit, richtig?« »Ich glaube schon. Wir waren die einzigen Überlebenden in Ogunquit und...« »Das war Zufall, Frannie, reines Glück, mehr nicht. Das verpflichtet dich zu gar nichts.« »Vermutlich.« »Ich glaube, ich liebe dich«, sagte er. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen.« »Ich glaube, ich liebe dich auch. Aber da ist noch etwas...« »Das wußte ich.« »Du hast mich gefragt, warum ich die Tabletten nicht mehr nehme.« Sie zupfte an ihrer Bluse und wagte nicht, ihn anzusehen. Ihre Lippen fühlten sich ungewöhnlich trocken an. »Ich habe gedacht, sie wären schlecht für das Baby«, flüsterte sie. »Für das...« Er verstummte. Dann nahm er sie und drehte sie zu sich. »Du bist schwanger?« Sie nickte. »Und hast du keinem gesagt?« »Nein.« »Harold. Weiß Harold es?« »Nur du.« »Gott im Himmel«, sagte er. Er sah ihr auf eine so intensive Weise ins Gesicht, daß sie Angst bekam. Sie hatte sich zwei Möglichkeiten vorgestellt: Er würde sie auf der Stelle verlassen (was Jess zweifellos gemacht hätte, hätte er herausgefunden, daß sie von einem anderen Mann schwanger war), oder er würde sie in den Arm nehmen, ihr sagen, sie solle sich keine grauen Haare wachsen lassen, er würde sich um alles kümmern. Diese verblüffte, eingehende Musterung hatte sie nicht erwartet, und sie mußte an den Abend denken, als sie es ihrem Vater im Garten gesagt hatte. Er hatte sie ganz ähnlich angesehen. Sie wünschte sich, sie hätte Stu ihren Zustand gestanden, bevor er mit ihr geschlafen hatte. Vielleicht hätten sie dann überhaupt nicht miteinander geschlafen, aber wenigstens hätte er dann nicht das Gefühl gehabt, daß er an der Nase herumgeführt worden war, daß sie... wie lautete der alte Ausdruck? Aus zweiter Hand war. Dachte er das? Sie konnte es nicht sagen. »Stu?« sagte sie mit ängstlicher Stimme. »Du hast es keinem gesagt«, wiederholte er. »Ich wußte nicht wie.« Jetzt waren die Tränen dicht unter der Oberfläche. »Wann ist es soweit?« »Januar«, sagte sie, und die Tränen kamen. Er nahm sie in die Arme und ließ sie, ohne etwas zu sagen, wissen, daß alles in Ordnung war. Er sagte ihr nicht, sie solle sich keine grauen Haare wachsen lassen und er würde sich schon um alles kümmern, aber er schlief noch einmal mit ihr, und sie hatte das Gefühl, noch nie im Leben so glücklich gewesen zu sein. Keiner von ihnen sah Harold, der schwarz und stumm wie der dunkle Mann selbst in den Büschen stand und sie beobachtete. Keiner von ihnen wußte, daß er die Augen zu kleinen bösartigen Dreiecken zusammenkniff, als Fran ihre Lust hinausschrie, als der herrliche Orgasmus sie durchflutete. Als sie sich erhoben, war es völlig dunkel. Harold schlich leise davon. Aus Fran Goldsmiths Tagebuch 1. August 1990 Gestern abend keine Eintragung, zu aufgeregt, zu glücklich. Stu und ich sind zusammen. Er war auch der Meinung, daß ich das Geheimnis meines Einsamen Reiters so lange wie möglich bewahren soll, am besten, bis wir seßhaft geworden sind. Wenn's in Colorado ist, soll es mir recht sein. So, wie ich mich heute fühle, wäre mir sogar ein Mondkrater recht. Klingt das wie Gesülze eines verknallten Schulmädchens? Nun - wenn eine Frau in ihrem Tagebuch sich nicht wie ein verknalltes Schulmädchen ausdrücken kann, wo dann? Aber eines muß ich noch loswerden, bevor ich das Thema Einsamer Reiter fallenlasse. Es hat mit meinen »mütterlichen Instinkten« zu tun. Gibt es so etwas? Ich finde ja. Wahrscheinlich hormonell bedingt. Ich bin seit ein paar Wochen nicht mehr die alte, aber es fällt schwer, die durch die Schwangerschaft verursachten Veränderungen von denen zu trennen, die auf die schreckliche Katastrophe zurückzuführen sind, die über die Welt gekommen ist. Aber ein Gefühl der Eifersucht BESTEHT (»Eifersucht« ist eigentlich nicht das richtige Wort, aber ein besseres finde ich heute nacht nicht), ein Gefühl, daß man dem Mittelpunkt des Universums ein Stück nähergerückt ist und seine Position dort verteidigen muß. Deshalb scheint mir das Veronal ein größeres Risiko als die Alpträume zu sein, auch wenn mir die Vernunft sagt, daß das Veronal dem Baby nicht schaden kann - jedenfalls nicht mit den geringen Dosen, die die anderen nehmen. Und ich glaube, dieses Gefühl der Eifersucht ist auch ein Teil der Liebe, die ich für Stu Redman empfinde. Mir ist, als würde ich nicht nur für zwei essen, sondern auch lieben. So, ich muß mich kurz fassen. Ich brauche meinen Schlaf, was für Träume er auch bringen mag. Wir sind nicht so schnell durch Indiana gekommen, wie wir gehofft hatten - ein schrecklicher Verkehrsunfall in der Nähe der Kreuzung Elkhart hat uns aufgehalten. Viele Fahrzeuge der Armee. Tote Soldaten. Glen, Susan Stern, Dayna und Stu nahmen so viele Waffen mit, wie sie finden konnten - etwa zwei Dutzend Gewehre, ein paar Granaten und - ja, Leute, wahrhaftig - einen Raketenwerfer. Während ich das schreibe, versuchen Harold und Stu herauszufinden, wie der Raketenwerfer, für den siebzehn oder achtzehn Raketen da sind, funktioniert. Bitte, lieber Gott, pass auf, daß sie sich nicht selbst in die Luft jagen. Und da wir gerade von Harold sprechen, ich muß dir sagen, liebes Tagebuch, daß er NICHT DEN GERINGSTEN VERDACHT HAT (hört sich wie eine Dialogzeile aus einem alten Bette-Davis-Film an, was?). Wenn wir die Gruppe um Mutter Abagail erreicht haben, muss ich es ihm wohl sagen; es wäre nicht recht, es ihm länger zu verheimlichen, komme, was da wolle. Aber heute war er fröhlicher & und heiterer, als ich ihn je gesehen habe. Er hat so sehr gegrinst, daß ich gedacht habe, sein Gesicht würde zerreißen! Er hat vorgeschlagen, daß Stu ihm mit dem gefährlichen Raketenwerfer helfen soll, und… Aber jetzt kommen sie zurück. Schreibe später weiter. Frannie schlief tief und traumlos. Wie alle, außer Harold Lauder. Irgendwann kurz nach Mitternacht stand er auf, ging leise zu der Stelle, wo Frannie lag, blieb stehen und sah auf sie hinab. Jetzt lächelte er nicht mehr, obwohl er den ganzen Tag gelächelt hatte. Manchmal hatte er heute das Gefühl gehabt, das Lächeln würde ihm das Gesicht spalten, so daß sein gemartertes Gehirn herausquoll. Vielleicht wäre das eine Wohltat gewesen. Er sah auf sie hinab und lauschte dem sommerlichen Zirpen der Grillen. Wir haben jetzt die Hundstage, dachte er. Die Hundstage, vom 25. Juli bis zum 28. August, laut Webster's Lexikon. Sie werden so genannt, weil sich um diese Zeit die meisten Hunde mit Tollwut infizieren. Er sah auf Fran hinab, die so friedlich schlief und den zusammengerollten Pullover als Kissen benützte. Ihr Rucksack stand neben ihr. Jeder Hund hat seinen Tag, Frannie. Er kniete sich hin und erstarrte, als seine Kniegelenke wie Pistolenschüsse knackten, aber niemand bewegte sich. Er machte ihren Rucksack auf, löste die Zugschnur und griff hinein. Er richtete seine winzige Taschenlampe auf den Inhalt des Rucksacks. Frannie murmelte tief im Schlaf, regte sich, und Harold hielt den Atem an. Er fand das Ringbuch ganz unten hinter drei Blusen und einem eselsohrigen Taschenatlas. Er zog es heraus, schlug es auf und richtete das Licht auf Frannies enge, aber lesbare Handschrift. 6.Juli 1990 - Nach einiger Überredung war Mr. Bateman bereit, mit uns zu kommen... Harold klappte das Buch zu und kroch damit zu seinem Schlafsack zurück. Er kam sich wie der kleine Junge von damals vor, der Junge mit wenigen Freunden (er war, bis er drei wurde, ein hübsches Baby gewesen, aber seitdem war er ein dicker und häßlicher Witz) und vielen Feinden, der Junge, den seine Eltern ganz einfach nur hingenommen hatten - deren Aufmerksamkeit hatte nur Amy gegolten, als diese den Miss-America-Atlantic-City-Weg ihres Lebens betrat -, der Junge, der in Büchern Trost suchte, der Junge, der seine Enttäuschung darüber, daß ihn beim Baseball niemand in seiner Mannschaft haben wollte und er stets übergangen wurde, wenn Schülerlotsen gesucht wurden, dadurch kompensierte, daß er sich in Long John Silver oder Tarzan oder Philip Kent verwandelte... der Junge, der spät abends zu diesen Gestalten wurde, wenn er unter der Bettdecke die Taschenlampe auf die bedruckten Seiten richtete, vor Aufregung große Augen bekam und seine eigenen Bettfürze nicht roch; dieser Junge kroch jetzt Kopf voraus mit Frannies Tagebuch und seiner Taschenlampe in seinen Schlafsack. Als er den Lichtstrahl auf die erste Seite des Ringbuchs richtete, erlebte er noch einen Augenblick der Vernunft. Nur einen Augenblick lang schrie etwas in ihm Harold! Hör auf! - so zwingend, daß er am ganzen Körper zitterte. Und er hätte fast aufgehört. Einen Augenblick schien es möglich aufzuhören, das Tagebuch wieder dorthin zu legen, wo er es gefunden hatte, Frannie aufzugeben und die beiden ihrer Wege ziehen zu lassen, bevor etwas Schreckliches und Unwiderrufliches geschah. In diesem Augenblick schien es, als könnte er den bitteren Trank von sich weisen, ihn aus dem Becher gießen und diesen mit dem füllen, was diese Welt für ihn bereithielt. Gib es zurück, Harold, bat diese Stimme der Vernunft, aber vielleicht war es schon zu spät. Im Alter von sechzehn Jahren hatte er Burroughs und Stevenson und Robert Howard zugunsten anderer Phantasien aufgegeben, Phantasien, die geliebt und verhaßt zugleich waren - die nichts mit Weltraumraketen oder Piraten zu tun hatten, sondern mit Mädchen in durchsichtigen Seidenpyjamas, die auf Satinkissen vor ihm knieten, während Harold der Große sich nackt auf seinem Thron räkelte und bereit war, sie mit kleinen Lederpeitschen oder einem Stock mit silbernem Knauf zu züchtigen. Es waren bittere Phantasien, in denen jedes hübsche Mädchen der High School von Ogunquit irgendwann einmal aufgetreten war. Diese Tagträume endeten stets mit einem wachsenden Druck in den Lenden, einer Explosion von Körperflüssigkeit, die mehr Fluch als Lust war. Dann schlief er ein, und das Sperma trocknete auf seinem Bauch zu Schuppen. Jedes Hündchen hat seinen Tag. Jetzt waren es diese bitteren Phantasien, die alten Kränkungen, die er wie gelbe Laken um sich hüllte, die alten Freunde, die nie starben, deren Zähne nie stumpf wurden, deren tödliche Zuneigung nie wankte. Er schlug die erste Seite auf, richtete die Taschenlampe auf die Worte und fing an zu lesen. Eine Stunde vor Einbruch der Dämmerung stopfte er das Buch wieder in Frans Rucksack und schnallte ihn zu. Er war nicht einmal besonders vorsichtig. Wenn sie aufwachte, dachte er kalt, würde er sie umbringen und verschwinden. Aber wohin? Nach Westen. Doch er würde nicht in Nebraska halten, nicht einmal in Colorado, o nein. Sie wachte nicht auf. Er ging zu seinem Schlafsack zurück. Er masturbierte voll bitterer Verzweiflung. Als er endlich einschlief, schlief er unruhig. Er träumte, er würde auf halbem Weg an einem steilen Abhang mit Felsbrocken und Findlingen sterben. Hoch über ihm kreisten Bussarde in den nächtlichen Aufwinden und warteten darauf, daß sein Körper zu ihrer Mahlzeit würde. Kein Mond schien, keine Sterne... Und dann öffnete sich in der Dunkelheit ein schreckliches rotes Auge: wölfisch, geisterhaft. Das Auge erfüllte ihn mit Entsetzen und hielt ihn doch in seinem Bann. Das Auge lockte ihn. Nach Westen, wo sich jetzt die Schatten zu ihrem Totentanz in der Dämmerung versammelten. Als sie an diesem Abend ihr Lager aufschlugen, waren sie westlich von Joliet, Illinois. Es gab einen Kasten Bier, nette Gespräche, Gelächter. Sie hatten das Gefühl, als hätten sie mit Indiana auch den Regen hinter sich gelassen. Alle machten Bemerkungen über Harold, der noch nie so fröhlich gewesen war. »Weißt du, Harold«, sagte Frannie später am Abend, als die Party sich langsam auflöste, »ich glaube, ich habe dich noch nie so gut gelaunt gesehen. Was ist los?« Er zwinkerte ihr fröhlich zu. »Jeder Hund hat seinen Tag, Frannie.« Sie lächelte ihn ein wenig verdutzt an. Aber sie dachte, daß Harold sich eben geheimnisvoll gab. Unwichtig. Viel wichtiger war, daß sich alles zum Guten wendete. An diesem Abend fing Harold an, selbst Tagebuch zu führen. 48 Er taumelte und stolperte eine lange Steigung hinauf; die sengende Sonne kochte seinen Magen und röstete sein Gehirn. Die Interstate flimmerte in der Hitze. Er war einmal Donald Merwin Elbert gewesen, aber jetzt war er für alle Zeiten der Mülleimermann und erblickte die legendären sieben Städte von Cibola. Wie lange reiste er schon nach Westen? Wie lange, seit er The Kid getroffen hatte? Gott mochte es wissen; der Mülleimermann nicht. Es waren Tage. Nächte. Oh, an die Nächte erinnerte er sich! Er stand schwankend in seinen Lumpen da und sah auf Cibola hinab, die verheißene Stadt, die Stadt der Träume. Er war ein Wrack. Das Handgelenk, das er gebrochen hatte, als er über das Geländer auf die an den Tank der Cheery Oil genieteten Treppe sprang, war nicht richtig geheilt; das Handgelenk war ein grotesker, mit einem dreckigen Verband umwickelter Klumpen. Die Knochen sämtlicher Finger hatten sich irgendwie zusammengezogen und die Hand in eine Quasimodo-Klaue verwandelt. Sein linker Arm war vom Ellbogen bis zur Schulter eine nur langsam verheilende Masse verbrannten Gewebes. Es roch nicht mehr schlecht und vereitert, aber das neue Fleisch war haarlos und rosa wie die Haut einer billigen Puppe. Sein grinsendes, irres Gesicht war von der Sonne verbrannt, rissig, stoppelbärtig und von den schorfigen Wunden seines Sturzes bedeckt, als sich der Vorderreifen seines Fahrrads vom Rahmen verabschiedet hatte. Er trug ein verblichenes blaues J.C.-Penney-Arbeitshemd, auf dem sich konzentrisch Schweißflecken ausbreiteten, und eine schmutzige Cordhose. Sein Rucksack, der vor kurzem noch neu gewesen war, hatte sich in Aussehen und Substanz seinem Besitzer angeglichen - ein Riemen war gerissen; Müll hatte ihn, so gut er konnte, zusammengeknotet; jetzt hing der Rucksack so schief auf seinem Rücken wie der Fensterladen eines Spukhauses; er war verstaubt, die Falten voll Wüstensand. An den Füßen trug Müll Turnschuhe Marke Kids, die mit Strohschnüren gebunden waren; die Knöchel ragten daraus hervor - zerkratzt, vom Sand aufgescheuert und bar jeglicher Socken. Er sah zu der weit entfernten Stadt hinunter. Er wandte das Gesicht dem unerbittlichen stahlblauen Himmel und der glühenden Sonne zu, die herabgleißte und ihn mit Backofenhitze einhüllte. Er schrie. Es war ein wilder, triumphierender Schrei, fast genau wie der, den Patty Kroger ausstieß, als sie Roger Rabbit mit dem Kolben seiner eigenen Schrotflinte den Schädel gespalten hatte. Er begann einen schlurfenden Siegestanz auf dem kochenden, hitzeflimmernden Asphalt der Interstate 15, während der heiße Wüstenwind Sand über den Highway wehte und die blauen Gipfel der Bergketten Pahranagat und Spotted mit ihren weißen Zähnen ungerührt am strahlenden Himmel sägten, wie seit Jahrtausenden. Auf der anderen Seite des Highway waren ein Lincoln Continental und ein Thunderbird fast im Sand vergraben, die Insassen hinter dem Sicherheitsglas mumifiziert. Auf Mülleimers Straßenseite hatte sich ein Stück weiter ein Kleinlaster überschlagen; nur die Räder und das Bodenblech waren noch zu sehen. Er tanzte. Seine Füße in den zusammengebundenen und ausgetretenen Kids hüpften wie bei einem trunkenen Volkstanz auf dem Highway auf und ab. Sein zerfetztes Hemd flatterte im Wind. Die Feldflasche klapperte gegen den Rucksack. Die losen Enden des Ace-Verbands wehten im heißen Atem des Windes. Das rosa Gewebe der verheilenden Brandwunden schimmerte häßlich. Seine Schläfenadern traten hervor wie Stricke. Er wanderte jetzt schon eine Woche durch Gottes Bratpfanne nach Südwesten durch Utah, die Spitze von Arizona und dann nach Nevada, und er war ein Irrer, total verrückt. Während er tanzte, sang er monoton, immer wieder dieselben Worte zu einer Melodie, die populär gewesen war, als er noch in der Anstalt in Terre Haute gesessen hatte, einem Song mit dem Titel »Down to the Nightclub« von einer schwarzen Gruppe namens Tower of Power. Aber der Text war von ihm. Er sang: »Ci-a-bola, Ci-a-bola, bump-ty, bump-ty, bump! Ci-a-bola, Ci-a-bola, bump-ty, bump-ty, bump!«, und auf jedes letzte bump! folgte ein Hüpfschritt, bis in der Hitze alles verschwamm und der harsche blaue Himmel dämmergrau wurde, bis er halb bewußtlos auf der Straße zusammenbrach und sein überlastetes Herz wie verrückt in der ausgedörrten Brust klopfte. Brabbelnd und grinsend zog er sich mit letzter Kraft über den umgestürzten Lastwagen und lag in dessen schwindendem Schatten zitternd und keuchend in der Gluthitze. »Ciabola!« krächzte er. »Bumpty-bumpty-fe« Er fummelte mit seiner Klauenhand die Feldflasche von der Schulter und schüttelte sie. Die Flasche war fast leer. Einerlei. Er würde den letzten Tropfen austrinken und sich hier hinlegen, bis die Sonne unterging, und dann würde er auf dem Highway nach Cibola laufen, zu den legendären sieben Städten. Heute abend würde er aus ewig sprudelnden goldenen Brunnen trinken. Aber erst wenn die Mördersonne unterging. Gott war der größte Feuerteufel von allen. Vor langer, langer Zeit hatte ein Junge namens Donald Merwin Elbert den Rentenscheck der alten Oma Semple verbrannt. Derselbe Junge hatte die Methodistenkirche in Powtanville angesteckt, und wenn noch etwas von diesem Donald Merwin Elbert in dieser Hülle gewesen wäre, dann wäre es ganz bestimmt mit den Öltanks in Gary, Indiana, verbrannt worden. Mehr als neun Dutzend, und sie waren wie ein Strang-Kracher hochgegangen. Und obendrein noch rechtzeitig zum 4. Juli. Hübsch. Im Kielwasser der Feuersbrunst war nur der Mülleimermann übriggeblieben, dessen linker Arm ein rissiges, kochendes Gulasch war, und in dessen Körper ein Feuer brannte, das nie mehr ausgehen würde... jedenfalls nicht, bevor sein Körper zu schwarzer Kohle geworden war. Und heute abend würde er das Wasser von Cibola trinken, ja, es würde schmecken wie Wein. Er hob die Flasche, und sein Adamsapfel hüpfte, als das letzte Wasser pißwarm in seinen Magen gurgelte. Als sie leer war, warf er die Flasche in die Wüste. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Das Wasser verkrampfte ihm köstlich den Magen. »Cibola!« murmelte er. »Cibola! Ich komme! Ich komme! Ich mach' alles, was du willst! Mein Leben für dich! Bumpty-bumpty-bump« Müdigkeit überkam ihn, nachdem der Durst etwas gestillt war. Er war fast eingeschlafen, als ihm ein völlig anderer Gedanke wie eine eiskalte Dolchklinge durch den Boden seines Verstands fuhr: Wenn Cibola nun bloß eine Fata Morgana war? »Nein«, murmelte er. »Nein, hm-hm, nein.« Aber ihn einfach nicht wahrhaben zu wollen verscheuchte den Gedanken nicht. Die Klinge stieß und bohrte und hielt den Schlaf fern. Wenn er nun mit dem letzten Schluck Wasser eine Fata Morgana gefeiert hatte? Auf seine Weise erkannte er seinen Wahnsinn; genau wie er würde ein Verrückter handeln. Wenn es eine Fata Morgana war, würde er hier in der Wüste sterben, und die Bussarde würden sich an ihm gütlich tun. Schließlich konnte er die grauenhafte Möglichkeit nicht mehr ertragen, kam taumelnd auf die Füße, arbeitete sich wieder zur Straße vor und kämpfte gegen die Wogen von Erschöpfung und Übelkeit, die ihn überwältigen wollten. Auf der Hügelkuppe sah er gespannt über die mit Yucca und Steppenhexe und Teufelsmantel bewachsene riesige flache Ebene. Der Atem blieb ihm im Halse stecken und franste dann zu einem langen Seufzer aus wie ein Stück Stoff, das an einem Nagel hängenbleibt. Da war es! Cibola, seit alters her Legende, von vielen gesucht, vom Mülleimermann entdeckt! Weit unten in der Wüste, von blauen Bergen umgeben, glänzten seine Türme und Straßen, selbst blau im Dunst der Entfernung, im Wüstentag. Dort standen Palmen... er konnte Palmen sehen... und Bewegungen... und Wasser! »Oh, Cibola!« frohlockte er und taumelte in den Schatten des umgestürzten Wagens zurück. Cibola lag weiter entfernt, als es aussah, das wußte er. Heute nacht, wenn Gottes Fackel vom Himmel verschwunden war, würde er laufen wie nie zuvor. Er würde Cibola erreichen und sich als erstes kopfüber in den nächsten Brunnen stürzen, an dem er vorbeikam. Dann würde er ihn suchen, den Mann, der ihn zu sich befohlen hatte. Den Mann, der ihn durch die Ebenen und über die Berge und schließlich in die Wüste gezogen hatte - und das alles innerhalb eines Monats und trotz des gräßlich verbrannten Arms. Er, der ist - der dunkle Mann, der Hartgesottene. Er wartete in Cibola auf den Mülleimermann, und ihm gehörten die Heere der Nacht, ihm gehörten die bleichen Totenreiter, die von Westen dahersprengten ins Gesicht der aufgehenden Sonne. Sie würden toben und grinsen und nach Schweiß und Pulverdampf stinken. Es würden Schreie ertönen, und Mülleimer störten solche Schreie kaum; es würde zu Vergewaltigungen und Unterdrückung kommen, was ihn noch weniger störte; es würde Mord geben, was ihm gleichgültig war - und es würde einen großen Brand geben. Das gefiel ihm sehr gut. In den Träumen kam der dunkle Mann zu ihm, breitete an einem hohen Orte die Arme aus und zeigte Mülleimer ein Land in Flammen. Städte, die wie Bomben explodierten. Bebaute Felder, über die der Feuersturm raste. Und selbst auf den Flüssen von Chicago und Pittsburgh und Detroit und Birmingham loderte treibendes Öl. Und der dunkle Mann hatte ihm in seinen Träumen etwas ganz Einfaches gesagt, das ihn veranlaßt hatte, sofort loszulaufen: Du wirst in meiner Artillerie einen hohen Rang einnehmen. Du bist der Mann, den ich brauche.  Er rollte sich auf die Seite, seine Wangen und Lider waren vom Sand wundgescheuert. Er hatte die Hoffnung schon verloren -, ja, als sich das Vorderrad vom Rahmen gelöst hatte, hatte er die Hoffnung verloren. Gott, der Gott vatermordender Sheriffs, der Gott von Charley Yates war anscheinend doch stärker als der dunkle Mann, wie es schien. Aber er hatte den Glauben nicht verloren und weitergemacht. Und zuletzt, als es ausgesehen hatte, als würde er in der Wüste verbrennen, bevor er Cibola erreichte, wo der dunkle Mann auf ihn wartete, hatte er es weit unten in der Sonne träumen sehen. »Cibola«, flüsterte er und schlief ein. Den ersten Traum hatte er vor über einem Monat in Gary gehabt, nachdem er sich den Arm verbrannt hatte. An dem Abend war er mit der Gewißheit eingeschlafen, daß er sterben würde; niemand konnte sich so schlimm verbrennen wie er und überleben. Ein Refrain hatte sich seinem Kopf eingeprägt: Lebe durchs Feuer, stirb durchs Feuer. Lebe dadurch, stirb dadurch. In einem kleinen Stadtpark hatten die Beine unter ihm nachgegeben; er war gestürzt und hatte den linken Arm mit dem versengten Ärmel von sich weggestreckt wie etwas Totes. Die Schmerzen waren gigantisch, unglaublich gewesen. Er hätte sich nie träumen lassen, daß es solche Schmerzen auf der Welt gab. Er war fröhlich von einem Block Öltanks zum nächsten gelaufen und hatte provisorische Zeitzünder angebracht, die aus einem Stahlrohr und einer entflammbaren Paraffinmischung bestanden, welche mittels eines Stahlplättchens von einer kleinen Menge Säure getrennt war. Diese Vorrichtungen hatte er in die Überlaufrohre oben auf den Tanks gesteckt. Wenn sich die Säure durch den Stahl gefressen hatte, entzündete sich das Paraffin, und die Tanks gingen hoch. Er hatte vorgehabt, zum Westrand von Gary zu gehen, zu dem Wirrwarr von Kreuzungen und Dreiecken der zahlreichen Straßen Richtung Chicago oder Milwaukee, bevor einer der Tanks explodierte. Er wollte das Spektakel verfolgen, wenn die ganze dreckige Stadt von einem Feuersturm verzehrt wurde. Aber er hatte den Zündzeitpunkt der letzten Bombe falsch eingeschätzt oder sie fehlerhaft konstruiert. Sie war detoniert, während Müll noch den Deckel auf dem Überlaufrohr mit einem Schraubenschlüssel löste. Das brennende Paraffin rülpste eine grellweiße Flamme aus der Röhre und hüllte seinen linken Arm in Feuer. Es war kein schmerzloser Handschuh aus Feuerzeugbenzin, den man in der Luft schwenken und wie ein großes Streichholz ausblasen konnte. Das waren Schmerzen, als hätte man den Arm in einen Vulkan gesteckt. Er lief kreischend und wie irrsinnig auf dem Öltank hin und her und sprang von dem hüfthohen Geländer ab wie eine fleischgewordene Flipperkugel. Wären die Geländer nicht dagewesen, wäre er hinuntergestürzt und hätte sich dabei immer wieder überschlagen wie eine Fackel, die in einen Brunnen geworfen wurde. Nur der Zufall rettete sein Leben; er stolperte über die eigenen Füße, fiel mit dem Körper auf den linken Arm und erstickte die Flammen. Er richtete sich auf und war immer noch halb irr vor Schmerzen. Später dachte er, daß ihn nur reines Glück - oder der Wille des dunklen Mannes davor bewahrt hatten zu verbrennen. Der Großteil des Paraffinstrahls hatte ihn verfehlt. Er war dankbar - aber die Dankbarkeit kam erst später. Zu dem Zeitpunkt konnte er nur weinen, hin und her wippen und den verbrannten Arm vom Körper Wegstrecken, während die Haut schmorte und aufplatzte und sich zusammenzog. Als das Licht vom Himmel schwand, fiel ihm vage ein, daß er schon ein Dutzend seiner Zünder angebracht hatte. Sie konnten jeden Moment hochgehen. Zu sterben und aus diesem unsäglichen Elend erlöst zu sein wäre wunderbar, aber in den Flammen zu sterben das absolute Grauen. Irgendwie war er vom Tank heruntergekrochen, zwischen den liegengebliebenen Wagen hindurchgelaufen, und dabei hatte er die ganze Zeit den gegrillten Arm weit vom Körper gehalten. Als er einen kleinen Park in der Nähe des Stadtzentrums erreichte, ging die Sonne unter. Er setzte sich zwischen zwei ShuttleboardSpielfeldern auf den Rasen und überlegte, was man bei Brandwunden unternehmen könnte. Butter draufstreichen, das hätte Donald Merwin Elberts Mutter gesagt. Aber das half nur, wenn man sich verbrüht hatte oder das Bratenfett besonders hoch spritzte und einem den Arm mit heißem Öl übergoß. Er konnte sich nicht vorstellen, Butter auf das aufgeplatzte schwarze Fleisch zwischen Ellenbogen und Schulter zu streichen; er konnte sich nicht einmal vorstellen, es zu berühren. Sich umbringen. Das war es, das war die Lösung. Er würde sich von seinem Elend erlösen, wie man einen alten Hund... Plötzlich erfolgte im Osten der Stadt eine gewaltige Explosion, als wäre das Weltgefüge brutal entzweigerissen worden. Eine flüssige Feuersäule raste in das tiefe Indigo der Dämmerung empor. Er mußte die Augen zu tränenden, schmerzenden Schlitzen zusammenkneifen. Selbst mit den Schmerzen hatte er Freude an dem Feuer... mehr noch, es entzückte und erfüllte ihn. Feuer war die beste Medizin, besser als das Morphium, das er am nächsten Tag fand (als Vertrauensmann im Gefängnis hatte er außer in der Bibliothek und der Fahrbereitschaft auch in der Krankenstation gearbeitet und wußte über Morphium und Elavil und Darvon Complex Bescheid). Er brachte den momentanen Schmerz nicht mit der Feuersäule in Verbindung. Er wußte nur, das Feuer war gut, das Feuer war schön, das Feuer brauchte er und würde es immer brauchen. Wunderbares Feuer! Augenblicke später explodierte ein zweiter Öltank, und selbst hier, drei Meilen entfernt, spürte er den heißen Lufthauch der Druckwelle. Noch ein Tank ging hoch, und noch einer. Eine kleine Pause, dann explodierten sechs in dröhnender Folge, und jetzt war es so hell, dass man nicht mehr hinübersehen konnte, aber er sah trotzdem hinüber, grinste, und in seinen Augen spiegelten sich die gelben Flammen; sein verbrannter Arm und die Gedanken an Selbstmord waren vergessen. Es dauerte über zwei Stunden, bis alle Tanks explodiert waren, bis es Nacht war, aber es war nicht dunkel, die Nacht war gelb und orangefarben und fiebrig von den Flammen. Das Feuer tanzte am gesamten östlichen Bogen des Horizonts. Das Bild erinnerte ihn an einen Illustrierte-Klassiker-Comic, den er als Kind gelesen hatte, eine Adaption von H. G. Well's Krieg der Welten. Jetzt, Jahre später, war der Junge, dem das Comic-Heft gehört hatte, verschwunden, aber der Mülleimermann war da, und Müll besaß das wunderbare, schreckliche Geheimnis der marsianischen Todesstrahlen. Es war Zeit, den Park zu verlassen. Die Temperatur war schon um zehn Grad angestiegen. Er mußte nach Westen gehen, vor dem Feuer bleiben, wie in Powtanville, mußte vor dem sich ständig erweiternden Ring der Zerstörung davonlaufen. Aber sein Zustand erlaubte es ihm nicht, davonzulaufen. Deshalb schlief er im Gras ein, und das Licht der Flammen flackerte über das Gesicht eines müden, mißhandelten Kindes. In seinem Traum kam der dunkle Mann mit seinem Kapuzenmantel, das Gesicht unsichtbar... und doch glaubte der Mülleimermann, dass er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Wenn die Leute, die in Powtanville in der Milchbar oder der Kneipe herumlungerten, hinter ihm herpfiffen, schien dieser Mann unter ihnen gewesen zu sein, schweigend und nachdenklich. Als er bei Scrubba-Dubba gearbeitet hatte (Scheinwerfer abseifen, Scheibenwischer prüfen, Spiegel abwischen, he, Mister, möchten Sie auch Heißwachs?) und den Schwammhandschuh so lange trug, bis die Hand darunter wie ein bleicher toter Fisch aussah und die Fingernägel so weiß waren wie frisches Elfenbein, schien er das tückische und voll irrer Freude grinsende Gesicht dieses Mannes hinter dem schlierigen Wasserfilm, der die Windschutzscheibe herablief, gesehen zu haben. Als der Sheriff ihn in die Klapsmühle nach Terre Haute schickte, war dieser Mann der Angestellte in der Psychiatrie gewesen, der in dem Raum stand, wo man die Elektroschocks bekam; der Mann hatte die Hand am Schalter gehabt (Ich werde dir das Gehirn rösten, Junge, und dir auf den Weg helfen, wenn du dich von Donald Merwin Elbert in den Mülleimermann verwandelst, möchtest du Heißwachs?) und war bereit gewesen, ihm etwa tausend Volt ins Hirn zu jagen, bis es zu brodeln schien. Er kannte diesen dunklen Mann durchaus, dessen Gesicht man nie ganz sah, dessen Hände sämtliche Pik aus einem schlechten Blatt austeilten, dessen Augen jenseits der Flammen waren und dessen Grinsen von jenseits des Grabes der Welt kam. »Ich mache alles, was du willst«, sagte er dankbar im Traum. »Mein Leben für dich!« Der dunkle Mann hob die Arme unter dem Mantel und machte ihn so zu einem schwarzen Drachen. Sie standen an einem hohen Ort, und unter ihnen lag Amerika in Flammen. Du wirst in meiner Artillerie einen hohen Rang einnehmen. Du bist der Mann, den ich brauche. Dann sah er eine Armee von zehntausend zerlumpten und verstoßenen Männern und Frauen, die sich nach Osten wälzte, durch die Wüste in die Berge, ein wildes Tier von einer Armee, dessen Zeit endlich gekommen war; sie fuhren in Lastwagen und Jeeps und Campingwagen und Panzern, jeder Mann und jede Frau trugen einen dunklen Stein um den Hals, tief in manchen dieser Steine war eine Figur eingebettet, die ein Auge oder ein Schlüssel sein konnte. Und ihnen voraus sah er sich selbst in einem riesigen Tanklastzug mit schweren Reifen und wußte, es war Napalm im Tank... und hinter ihm in der Kolonne fuhren Lastwagen mit Tellerminen und Plastiksprengstoff; mit Flammenwerfern und Leuchtbomben und Infrarot-Raketen; mit Granaten und Maschinengewehren und Raketenwerfern. Der Totentanz sollte in Kürze beginnen, die Saiten der Fidein und Gitarren rauchten bereits, der Geruch von Schwefel und Schießpulver erfüllte die Luft. Der dunkle Mann hob wieder die Arme, und als er sie sinken ließ, war alles kalt und stumm, die Feuer erloschen, selbst die Asche war kalt, und einen Augenblick war er wieder Donald Merwin Elbert, klein und ängstlich und verwirrt. Einen Augenblick argwöhnte er, nur eine Figur im riesigen Schachspiel des dunklen Mannes zu sein, getäuscht worden zu sein. Dann sah er, daß das Gesicht des dunklen Mannes nicht mehr völlig verborgen war; zwei dunkle rote Kohlen glühten in den dunklen Höhlen, wo die Augen sein sollten, und erhellten eine Nase, die so schmal wie eine Messerklinge war. »Ich mach' alles, was du willst«, sagte Müll dankbar im Traum. »Mein Leben für dich! Meine Seele für dich!« »Ich werde dich Feuer entfachen lassen«, sagte der dunkle Mann ernst. »Du mußt in meine Stadt kommen, dort werden wir alles besprechen.« »Wo? Wo?« Er empfand Qualen der Hoffnung und Erwartung. »Im Westen«, sagte der dunkle Mann und verblaßte. »Im Westen. Hinter den Bergen!« Dann wachte er auf, und es war immer noch Nacht und immer noch hell. Die Flammen waren näher gekommen, die Hitze war erstickend. Häuser explodierten. Die Sterne waren nicht mehr zu sehen; sie waren von einem Leichentuch dichten schwarzen Ölqualms verhüllt. Feiner Ascheregen hatte eingesetzt. Die Shuttleboard-Spielfelder waren mit schwarzem Schnee bestäubt. Jetzt hatte er ein Ziel vor Augen und stellte fest, daß er laufen konnte. Er hinkte nach Westen und sah dabei von Zeit zu Zeit ein paar andere Menschen, die Gray verließen und die Feuersbrunst über die Schultern betrachteten. Narren, dachte der Mülleimermann fast zärtlich. Ihr werdet brennen. Wenn die Zeit gekommen ist, werdet ihr brennen. Sie nahmen keine Notiz von ihm; für sie war der Mülleimermann nur einer der Überlebenden. Sie verschwanden im Rauch, und der Mülleimermann hinkte kurz nach Einbruch der Dämmerung über die Grenze von Illinois. Chicago lag nördlich von ihm, Joliet im Südwesten, das Feuer war hinter seinem eigenen Rauch, der den Horizont verdeckte, verschwunden. Es war der Morgen des 2. Juli gewesen. Er hatte seinen Traum vergessen, Chicago niederzubrennen - seine Träume von weiteren Öltanks und Güterwaggons voll Flüssiggas auf Abstellgleisen und knochentrockenen Mietshäusern. Ihm lag überhaupt nichts mehr an der Stadt der Winde. An diesem Nachmittag brach er in eine Arztpraxis in Chicago Heights ein und stahl eine Packung Morphinampullen. Das Morphium drängte die Schmerzen ein wenig zurück, aber es hatte noch eine andere wichtige Nebenwirkung: Ihm machten die Schmerzen, die er noch empfand, nicht mehr so viel aus. Am Abend nahm er aus einem Drugstore ein großes Glas Vaseline mit und trug sie einen Zentimeter dick auf die verbrannte Haut seines Arms auf. Er hatte großen Durst; es schien, als wollte er unablässig trinken. Hirngespinste vom dunklen Mann schwirrten summend in seinen Kopf und wieder hinaus, wie Fliegen. Als er in der Dämmerung zusammenbrach, dachte er schon, die Stadt, in welche der dunkle Mann ihn geleiten wollte, müßte Cibola sein, die sieben Städte in einer, die Stadt der Verheißung. Der Mülleimermann erwachte aus diesen wirren TraumErinnerungen an das Gewesene in klirrender Wüstenkälte. In der Wüste herrschten immer Eis oder Feuer; es gab kein Dazwischen. Er stöhnte leise, stand auf und klammerte sich so fest an sich selbst, wie er konnte. Über ihm leuchteten Milliarden Sterne, die fast so nahe schienen, als könnte man sie berühren; sie übergössen die Wüste mit ihrem kalten Hexenlicht. Er ging zur Straße zurück und zuckte wegen seiner verbrannten und empfindlichen Haut und den zahllosen Schmerzen und Blessuren zusammen. Jetzt bedeuteten sie ihm wenig. Er verweilte einen Moment und sah auf die Stadt hinab, die in der Nacht träumte (hier und da waren winzige Lichtfünkchen zu sehen, wie elektrische Lagerfeuer). Dann begann er zu laufen. Als Stunden später die Morgendämmerung den Himmel zu färben begann, schien Cibola noch fast genauso weit entfernt zu sein wie in dem Augenblick, als er über den Hügel gekommen war und es gesehen hatte. Er war so dumm gewesen, sein ganzes Wasser auszutrinken, weil er vergessen hatte, wie vergrößert hier alles wirkte. Nach Sonnenaufgang wagte er aus Angst vor Austrocknung nicht mehr lange zu gehen. Er würde sich wieder hinlegen müssen, bevor die Sonne mit voller Kraft schien. Eine Stunde nach Dämmerung kam er zu einem Mercedes Benz am Straßenrand, dessen rechte Seite bis zur Türverkleidung im Sand versunken war. Er öffnete eine der linken Türen und zog die beiden geschrumpften, affenähnlichen Insassen heraus - eine alte Frau, die eine Menge Modeschmuck trug, und ein alter Mann mit theatralisch aussehendem weißen Haar. Müll zog murmelnd den Zündschlüssel ab, ging nach hinten und machte den Kofferraum auf. Die Koffer waren nicht verschlossen. Er hängte eine Reihe Kleidungsstücke über die Fenster des Mercedes und beschwerte sie mit Steinen. Jetzt hatte er eine kühle, schattige Höhle. Er kroch hinein und legte sich schlafen. Meilen weiter westlich glänzte die Stadt Las Vegas im Licht der Wüstensonne. Er konnte kein Auto fahren, das hatten sie ihm im Gefängnis nicht beigebracht, aber er konnte Fahrrad fahren. Am 4. Juli, als Larry Underwood feststellte, daß Rita Blakemoor eine Überdosis genommen hatte und im Schlaf gestorben war, stahl der Mülleimermann ein Rad mit Zehngangschaltung und fuhr los. Zuerst kam er nur langsam voran, weil er.den verletzten linken Arm kaum gebrauchen konnte. Am ersten Tag fiel er zweimal vom Rad, einmal genau auf die Brandwunden, was entsetzliche Schmerzen verursachte. Inzwischen eiterten die Brandwunden durch die Vaseline hindurch; der Gestank war fürchterlich. Hin und wieder machte er sich wegen Wundbrand Gedanken, aber nie lange. Er mischte die Vaseline mit einer antiseptischen Salbe, wußte zwar nicht, ob das helfen wüde, war aber überzeugt, daß es nicht schlimmer werden konnte. Die Mischung hatte eine milchige, viskose Beschaffenheit, die an Sperma erinnerte. Allmählich gewöhnte er sich daran, das Fahrrad fast die ganze Zeit einhändig zu fahren, und stellte fest, daß er gutes Tempo machte. Die Landschaft war flacher geworden, er konnte fröhlich mit dem Rad dahinbrausen. Er fuhr trotz der Verbrennungen und der ständigen Benommenheit einigermaßen sicher, weil er dauernd high vom Morphium war. Er trank literweise Wasser und aß gewaltige Mengen. Er dachte über die Worte des dunklen Mannes nach: Du wirst in meiner Artillerie einen hohen Rang einnehmen. Du bist der Mann, den ich brauche. Es waren wunderbare Worte - hatte ihn vorher schon jemals jemand gebraucht? Die Worte gingen ihm immer wieder durch den Kopf, während er unter der heißen Sonne des Mittleren Westens in die Pedale trat. Und er fing an, die Melodie des Schlagers »Down to the Nightclub« zu summen. Die Worte (»Cia-bola! Bumpty-bumpty-bump«) kamen erst später. Da war er noch nicht so verrückt, wie er werden sollte, aber auf dem besten Weg dorthin. Am 5.Juli, am Tag, als Nick Andres und Tom Cullen Büffel in Comanche County, Kansas, grasen sahen, überquerte Mülleimermann den Mississippi beim Städtegeviert Davenport, Rock Island, Bettendorf, Moline in lowa. Am vierzehnten Tag, dem Tag, als Larry in der Nähe des großen weißen Hauses im östlichen New Hampshire aufwachte, überquerte Mülli den Missouri nördlich von Council Bluffs und gelangte nach Nebraska. Er konnte die linke Hand wieder etwas gebrauchen, seine Beinmuskeln hatten sich an die Anstrengung gewöhnt, er raste weiter, weil er den unstillbaren Drang verspürte, sich zu sputen. Auf der Westseite des Missouri argwöhnte Müll zum ersten Mal, dass Gott selbst sich zwischen den Mülleimermann und dessen Schicksal stellen könnte. Mit Nebraska war etwas nicht in Ordnung, ganz und gar nicht in Ordnung. Etwas, das ihm angst machte. Nebraska sah so aus wie lowa... aber es war nicht so. Der dunkle Mann war ihm jede Nacht im Traum erschienen, aber als Mülli in Nebraska war, kam der dunkle Mann nicht mehr. Statt dessen träumte er von einer alten Frau. In diesen Träumen sah er sich vor Angst und Haß fast gelähmt auf dem Bauch in einem Maisfeld liegen. Er hörte Krähenschwärme krächzen. Vor ihm war ein Vorhang von breiten, schwertähnlichen Maisblättern. Er schob mit zitternder Hand die Blätter zur Seite, was er nicht wollte, aber nicht verhindern konnte, und sah hindurch. Mitten auf einer Lichtung erblickte er ein altes Haus. Das Haus stand auf Blöcken oder Stützen oder so was. Daneben ein Apfelbaum mit einer Reifenschaukel an einem Ast. Auf der Veranda saß eine alte schwarze Frau, die Gitarre spielte und einen altmodischen Gospelsong sang. Der Song war von Traum zu Traum verschieden, aber Müll kannte die meisten, weil er einmal eine Frau gekannt hatte, die Mutter eines Jungen namens Donald Merwin Elbert, die viele solcher Songs während der Hausarbeit gesungen hatte. Dieser Traum war ein Alptraum, aber nicht nur, weil am Ende etwas überaus Entsetzliches geschah. Zuerst hätte man sagen können, daß der ganze Traum überhaupt kein erschreckendes Element enthielt. Mais? Blauer Himmel? Alte Frau? Reifenschaukel? Was konnte daran beängstigend sein? Alte Frauen verspotteten einen nicht und warfen keine Steine, schon gar nicht so alte Frauen, die hausbackene Pfaffenlieder wie »In That Great Getting-Up Morning« und »Bye-and-Bye, Sweet Lord, Bye-and-Bye« sangen. Es waren die Carley Yates' dieser Welt, die mit Steinen warfen. Aber lange bevor der Traum zu Ende ging, war er vor Angst wie gelähmt, als wäre es keine alte Frau, die er vor sich sah, sondern ein geheimnisvolles, ein kaum verborgenes Licht, das jeden Augenblick um sie herum aufleuchten konnte, um sie mit einem so strahlenden Glanz zu umspielen, daß die brennenden Öltanks von Gary wie Kerzen im Wind wirken würden - ein so grelles Licht, daß es seine Augen zu Schlacken verbrennen würde. Und immer, wenn er im Traum an diesen Punkt gelangte, hatte er nur einen Gedanken: Oh, bitte, bring mich hier weg, ich will mit dieser alten Henne nichts zu tun haben, bitte, o bitte, bring mich raus aus Nebraska! Und dann hörte das Lied, das sie gerade spielte, mit einem scheppernden Mißklang auf. Sie sah direkt zu der Stelle, wo er durch die Lücke im dichten Blattwerk spähte. Ihr Gesicht war alt und zerfurcht, das Haar so dünn, daß er den braunen Schädel sehen konnte, aber ihre Augen waren hell wie Diamanten und erfüllt von dem Licht, das er fürchtete. Mit einer alten, brüchigen, aber trotzdem kräftigen Stimme rief sie: Wiesel im Mais!, und er spürte die Veränderung in sich, sah an sich hinab und stellte fest, daß er ein Wiesel geworden war, ein pelziges braunschwarzes schleichendes Ding; seine Nase war lang und spitz geworden, die Augen waren zu kleinen schwarzen Perlen geschmolzen, die Finger in Klauen verwandelt. Er war ein Wiesel, ein feiges Nachtlebewesen, dessen Beute die Schwachen und Kleinen waren. Dann fing er an zu schreien, und schließlich weckte ihn sein eigenes Geschrei, und er erwachte schweißüberströmt und mit hervorquellenden Augen. Er huschte mit den Händen über den Körper und vergewisserte sich, daß alle menschlichen Teile noch da waren. Als Abschluß seiner panischen Inspektion griff er sich an den Kopf, um sicherzustellen, daß es noch ein menschlicher Kopf war und nicht etwas Langes, Glattes, Stromlinienförmiges, pelzig und wie eine Gewehrkugel geformt. Er legte vierhundert Meilen durch Nebraska in drei Tagen zurück; Entsetzen mit hoher Oktanzahl war sein Treibstoff. In der Nähe von Julesburg betrat er Colorado, und der Traum verblaßte und nahm die Farbe eines Sepiadrucks an. (Was Mutter Abagail anbetraf, so wachte sie in der Nacht des 15. Juli auf - kurz nachdem der Mülleimermann nördlich von Hemingford Home vorbeigekommen war -, fror und empfand ein Gefühl von Mitleid und Angst zugleich, obwohl sie nicht wußte, für wen. Sie glaubte, daß sie von ihrem Enkel Anders geträumt haben könnte, der im Alter von nur sechs Jahren einem sinnlosen Jagdunfall zum Opfer gefallen war.) Am 18. Juli hatte Mülli südwestlich von Sterlin, Colorado, noch immer ein paar Meilen von Brush entfernt, The Kid getroffen. Müll wachte auf, als sich die Dämmerung herabsenkte. Trotz der Kleidungsstücke, die er über die Fenster gehängt hatte, war es in dem Mercedes heiß geworden. Sein Hals war ein ausgetrockneter Brunnenschacht, den man mit Schmirgelpapier abgerieben hatte. Seine Schläfen pochten und dröhnten. Er streckte die Zunge heraus, und als er mit den Fingern darüberstrich, fühlte sie sich an wie ein abgestorbener Zweig. Er richtete sich auf, legte eine Hand auf das Lenkrad des Mercedes und zog sie sofort wieder mit einem gequälten Aufzischen zurück. Er mußte den Hemdzipfel um den Türgriff wickeln, damit er aussteigen konnte. Er hatte gedacht, er könnte einfach hinaustreten, hatte aber seine Kräfte über- und das Ausmaß der Austrocknung an diesem Augustabend unterschätzt: Die Beine gaben unter ihm nach, und er fiel auf die Straße, die ebenfalls heiß war. Stöhnend krabbelte er in den Schatten des Mercedes wie ein verkrüppelter Tausendfüßler. Dort saß er keuchend und ließ die Arme zwischen den angewinkelten Knien baumeln. Er betrachtete die beiden Leichen, die er aus dem Auto geholt hatte, mit morbidem Interesse - die Frau mit den Reifen an den verschrumpelten Armen und den Mann mit dem theatralischen weißen Haarschopf über dem mumifizierten Affengesicht. Er mußte Cibola erreichen, ehe die Sonne morgen früh aufging. Wenn nicht, konnte er sterben... mit dem Ziel vor Augen! So grausam konnte der dunkle Mann doch sicher nicht sein - sicher nicht! »Mein Leben für dich«, flüsterte der Mülleimermann, und als die Sonne hinter dem Umriß der Berge verschwunden war, rappelte er sich auf und begann den Türmen, Minaretts und Prachtstraßen von Cibola entgegenzugehen, wo die Lichtfünkchen wieder erstrahlten. Als die Hitze des Tages der Kälte der Wüstennacht wich, konnte er besser gehen. Seine aufgerissenen, verknoteten Turnschuhe schlurften und stapften über den Asphalt der 115. Er trottete dahin, ließ den Kopf hängen wie eine sterbende Sonnenblume und sah das grüne, spiegelnde Schild LAS VEGAS 30 nicht, als er daran vorbeikam. Er dachte an The Kid. Rechtens hätte Kid jetzt eigentlich bei ihm sein müssen. Sie sollten gemeinsam nach Cibola fahren, die Auspuffrohre des Teufelscoupes von Kid sollten donnernde Echos in der Wüste erzeugen. Aber The Kid hatte sich als unwürdig erwiesen, und Müll war alleine in die Wüste gesandt worden. Er hob und senkte die Füße auf dem Asphalt. »Ci-a-bola!« krächzte er. »Bumpty-bumpty-bump« Gegen Mitternacht brach er am Straßenrand zusammen und verfiel in unruhigen Schlummer. Jetzt war die Stadt näher. Er würde es schaffen. Er war ganz sicher, daß er es schaffen würde. Er hörte The Kid, lange bevor er ihn sah. Das laute, knatternde Dröhnen ungedämpfter Auspuffrohre, das aus Osten heranbrandete, zeichnete den Tag. Der Lärm kam den Highway 34 aus Richtung Yuma, Colorado, entlang. Sein erster Impuls war, sich zu verstecken, wie er sich vor einigen anderen Überlebenden versteckt hatte, die er seit Gary gesehen hatte. Aber diesmal gebot ihm eine innere Stimme zu bleiben, wo er war, auf dem Fahrrad am Straßenrand, wo er ängstlich und erwartungsvoll zugleich über die Schulter sah. Das Donnern wurde lauter und lauter, und dann blitzte die Sonne auf Chrom und (??FEUER??)  etwas Grellem und Orangefarbenem. Der Fahrer sah ihn. Schaltete mit einer maschinengewehrähnlichen Salve von Fehlzündungen herunter. Goodyear-Gummi schmierte in heißen Schlieren auf dem Highway. Und dann war das Auto neben ihm, nicht tuckernd, sondern keuc hend wie ein Raubtier, das vielleicht gezähmt war, vielleicht aber auch nicht, und der Fahrer stieg aus. Aber zunächst hatte Mülleimer nur Augen für das Auto. Er kannte Autos, er liebte Autos, auch wenn er nie den Führerschein gemacht hatte. Dies war eine Schönheit, ein Auto, an dem jemand jahrelang gearbeitet und Tausende Dollar investiert hatte, wie man es normalerweise nur bei Autoausstellungen sah, ein Liebhaberstück. Es war ein 1932er Ford Coupe Zweisitzer, aber der Besitzer hatte sich nicht mit dem üblichen serienmäßigen Coupe zufriedengegeben. Er hatte immer weiter gemacht und es in eine Parodie aller amerikanischen Autos verwandelt, ein funkelndes Science-fiction-Vehikel, aus dessen zahlreichen Röhren gemalte Flammen schlugen. Die Farbe war Blattgold. Die verchromten Auspuffröhren, die sich fast über die gesamte Länge des Fahrzeugs zogen, reflektierten grell die Sonne. Die Windschutzscheibe war eine konvexe Blase. Die Hinterreifen waren gigantische GoodyearBreitreifen, die Kotflügel übertrieben tief und weit ausgeschnitten, damit die Reifen Platz fanden. Aus der Motorhaube ragte ein Kompressormotor wie eine groteske Heizungsröhre heraus. Aus dem Dach wuchs eine Haifischflosse aus Stahl, pechschwarz, aber mit roten Flecken gleich glühenden Kohlen. Auf beiden Seiten standen zwei Worte mit schräg geneigten Buchstaben, welche Geschwindigkeit suggerieren sollten. THE KID stand da. »He, bist du aber man grouß und hößlich«, polterte der Fahrer, und Müll richtete seine Aufmerksamkeit von den gemalten Flammen auf den Fahrer dieser rollenden Bombe. Dieser war etwa einen Meter sechzig groß. Sein Haar war gelockt und getürmt und voll Pomade und Brillantine. Allein das Haar machte ihn zehn Zentimeter größer. Sämtliche Locken vereinten sich im Nacken nicht nur zu einem Entenarsch, sondern zum Inbegriff aller Entenarschfrisuren, die die Punks und Teddys dieser Welt jemals getragen hatten. Er trug schwarze Stiefel mit spitzen Zehen. Die Seiten waren elastikverstärkt. Die Absätze, die Kid noch einmal sechs Zentimeter größer machten, alles in allem beachtliche einsachtundneunzig, waren mehrschichtige Cubans. Die verwaschenen Nietenjeans waren so knalleng, daß man das Prägungsjahr der Münzen in den Taschen lesen konnte. Sie machten aus jedem Pobacken eine Art blaue Skulptur und verliehen seinem Schritt das Aussehen, als hätte er möglicherweise einen Gamslederbeutel mit Golfbällen Marke Spaulding hineingesteckt. Er trug ein weinrotes Westernhemd aus Seide. Es war mit gelben Zierknöpfen und saphirimitierten Knöpfen geschmückt. Die Manschettenknöpfe sahen aus wie polierte Knochen, und Müll sollte später herausfinden, daß sie genau das waren. Kid hatte zwei Paar, eines bestand aus menschlichen Backenzähnen, das andere aus den Kieferknochen eines Dobermanns. Über diesem Wunder von einem Hemd trug er trotz der großen Tageshitze eine schwarze Motorradlederjacke mit einem Adler auf dem Rücken. Sie war kreuz und quer voll Reißverschlüssen, deren Zähne in der Sonne funkelten wie Diamanten. Von Schulterklappen und Taillengurt hingen drei Hasenpfoten. Eine war weiß, eine braun und eine von einem hellen St.-Paddy's-Day-Grün. Diese Jacke, die noch wunderbarer war als das Hemd, ächzte wunderbar eingeölt. Über dem Adler standen die Worte THE KID mit weißer Seide gestickt. Das Gesicht, das den Mülleimermann jetzt zwischen dem hochziselierten glänzenden Haarschopf und dem aufgestellten Kragen der glänzenden Motorradj acke ansah, war klein und bleich, ein Puppengesicht mit vollen, makellos modellierten Schmollippen, toten grauen Augen, einer breiten Stirn ohne Fältchen oder Runzeln und seltsam aufgeblähten Wangen. Er sah aus wie Baby Elvis. Er trug zwei Revolvergurte über Kreuz über dem flachen Bauch, aus jedem hängenden Hüfthalfter ragte ein gigantischer 45er hervor. »He, Junge, was sagst'n?« brabbelte Kid. Und Mülleimer fiel nur eine einzige Antwort ein: »Dein Auto gefällt mir.« Das war das richtige. Vielleicht das einzige. Fünf Minuten später sass Müll auf dem Beifahrersitz; und das Coupe beschleunigte auf Reisegeschwindigkeit von Kid, etwa fünfundneunzig Meilen. Das Fahrrad, mit dem Müll vom östlichen Illinois bis hierher gefahren war, wurde zu einem Pünktchen am Horizont. Der Mülleimermann wies schüchtern darauf hin, daß Kid bei dieser Geschwindigkeit keine Unfallstelle und kein Hindernis auf der Straße sehen würde, wenn sie an eins kamen (tatsächlich waren sie schon an ein paar vorbeigekommen; The Kid fuhr einfach Slalom um sie herum, und die Reifen quietschten lautstark Protest). »He, Junge«, sagte The Kid. »Ich hab' Reflexe. Ich hab' Zeitgefühl. Ich schaff Dreifünftl vonner Sekunde. Glaubste das?« »Ja, Sir«, sagte Müll leise. Er kam sich wie ein Mann vor, der gerade mit einem Stock ein Schlangengehege aufgeschreckt hat. »Ich mag dich, Junge«, sagte Kid mit seiner seltsam dröhnenden Stimme. Seine Puppenaugen sahen über das leuchtende Orange des Lenkrads auf die schimmernde Straße. Große Styroporwürfel mit Totenköpfen statt Punkten baumelten am Rückspiegel. »Nimm dir'n Bier aufm Rücksitz.« Es waren Coors, und sie waren warm, und der Mülleimermann verabscheute Bier, und er trank eines ganz schnell und sagte, wie gut es war. »He, Junge«, sagte Kid. »Coors ist das einzige Bier. Ich würd' Coors pissen, wenn ich könnte. Glaubste diese Heißescheiße?« Mülleimer sagte, daß er diese Heißescheiße wirklich glaubte. »Sie nennen mich The Kid. Aus Shreveport Luusjanna. Weißte das? Die Mühle hier hat jede verdammte Autoausstellung im Süden gewonnen. Glaubste diese Heißescheiße?« Mülleimer sagte ja und bekam noch ein warmes Bier. Es schien unter den Umständen die beste Vorgehensweise zu sein. »Wie nennen sie dich, Junge?« »Mülleimermann.« »Woss?« Einen gräßlichen Moment ruhten die toten Puppenaugen auf Mülleimers Gesicht. »Verarschste mich, Junge? Niemand verarscht The Kid. Und diese Heißescheiße sollteste besser glauben.« »Glaube ich«, sagte Mülleimer aufrichtig, »aber so nennt man mich nun mal. Weil ich Feuer in Mülleimern und Briefkästen von Leuten gelegt habe und so. Ich hab' den Rentenscheck der alten Oma Semple angezündet. Deswegen bin ich in die Anstalt geschickt worden. Außerdem habe ich die Methodistenkirche in Powtanville, Indiana, niedergebrannt.« »Ehrlich?« meinte Kid entzückt. »Junge, du scheinst ja verrückter als 'ne Scheißhausratte zu sein. Schon recht. Ich mag Irre. Bin selber einer. Hab' echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Mülleimermann, hm? Gefällt mir. Wir sind'n tolles Paar. Der olle Kid und der olle Mülleimermann. Handschlag, Mülli.« Kid streckte ihm die Hand hin, und Müll schüttelte sie, so schnell er konnte, damit Kid wieder beide Hände ans Steuer bekam. Sie schössen um eine Kurve, ein Bekins -Transporter blockierte fast die ganze Straße, und Mülleimer schlug die Hände vors Gesicht und bereitete sich auf eine unverzügliche Versetzung auf die Astralebene vor. Kid verzog keine Miene. Das Coupe schlitterte wie ein Wasserfloh über die linke Seite des Highway, und sie schössen so knapp am Führerhaus des Transporters vorbei, daß keine Zeitung mehr dazwischengepaßt hätte. »Knapp«, sagte Müll, als er dachte, er könne wieder ohne Zittern in der Stimme sprechen. , »He, Junge«, sagte Kid tonlos. Dann blinzelte er erst mit einem Auge. »Brauchste mir nicht zu sagen - ich sag's dir. Wie ist das Bier? Verdammt knorke, was? Nach der Fahrt mit deinem Kinderfahrrad haut das echt rein, was?« »Unbedingt«, sagte der Mülleimermann und trank noch einen Schluck warmes Coors. Er war verrückt, aber nicht so verrückt, Kid zu widersprechen, solange er fuhr. Noch lange nicht. »Hat kein' Zweck, wie die Katze ummen heißen Brei zu gehen«, sagte Kid und griff auf den Rücksitz, um sich auch eine Dose Seichbrühe zu holen. »Ich schätze, wir haben dasselbe Ziel.« »Gut möglich«, sagte Müll vorsichtig. »Alle Mann dabei«, sagte Kid. »Nach Westen. Rein in die gute Stube. Erste Etage. Glaubste die Heißescheiße?« »Aber ja doch.« »Hast auch Alpträume vom Buhmann in seinem schwarzen Kampfanzug gehabt, was?« »Du meinst den Priester.« »Ich mein' immer, was ich sage, und sag', was ich meine«, antwortete Kid unverblümt. »Brauchste mir nicht zu sagen, Feuerteufel, ich sag's dir. Ist'n schwarzer Sprunganzug, und der Typ trägt Brille. Wie innem John-WayneFilm über'n Zweiten, 'ne so große Brille, daß man sein verwichstes Gesicht nicht sehen kann. Unheimlicher alter Dödel, was?« »Ja«, sagte Mülleimer und trank sein warmes Bier. Allmählich summte ihm der Kopf. Kid beugte sich über das orangefarbene Lenkrad und fing an, einen Bomberpilot im Gefecht nachzuahmen - wahrscheinlich einen, der seine Einsätze im »Zweiten« - dem Zweiten Weltkrieg - absolviert hatte. Das Coupe schlingerte beängstigend von einer Seite auf die andere, während er Schleifen und Sturzflüge und Kurven nachahmte. Hiiiijaaaaahhh... eheheheheheheheheh... rattattattatta... nimm das, elender Kraut... Capt'n! Banditen bei zwölf Uhr...! Die luftgekühlte Kanone auf sie gerichtet, verfluchter Lahmarsch... tacka... tacka... tacka-tackatacka! Wir haben sie, Sir! Alles klar... Oh huuaaaa! Ducken, Männer! HuAAAAAJAH!« Sein Gesicht war ausdruckslos, während er dieses Hirngespinst durchspielte; kein einziges geöltes Härchen fiel aus der Frisur, bis er das Auto wieder auf seine Fahrspur lenkte und weiter die Straße entlang drosch. Mülleimermann schlug das Herz heftig in der Brust. Ein leichter Schweißfilm überzog seinen Körper. Er trank sein Bier. Er mußte Pipi machen. »Aber mir macht er keine Angst«, sagte Kid, als wäre er nie vom vorherigen Gesprächsthema abgewichen. »Nein, verdammt. Er ist ein harter Knochen, aber Kid ist schon mit anderen harten Knochen fertig geworden. Ich mach' sie an, und dann mach' ich sie alle, genau wie der Boss sagt. Glaubste die Heißescheiße?« »Klar«, sagte Müll. »Kennste den Boss?« »Klar«, sagte Müll. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer der Boss war oder gewesen war. »Den Boss solltest du auch kennen. Hör mal, weißt du, was ich mache?« »Nach Westen fahren?« riet Müll. Das schien sicher zu sein. Kid sah ungeduldig drein. »Danach, meine ich. Wenn ich dort bin. Weißt du, was ich danach mache?« »Nein. Was?« »Ich halt' 'ne Weile die Fresse unten. Check die Situation ab. Kapierst du die Heißescheiße?« »Klar«, sagte Müll. »Scheiß-A. Brauchst mir nichts zu sagen, ich sag's dir. Einfach abchecken. Den großen Mann abchecken. Dann...« Kid verstummte und brütete über dem orangefarbenen Lenkrad. »Was dann?« fragte Mülleimer zögernd. »Dann mach' ich ihn fertig. Schick' ihn über 'n Jordan. Lass' ihn auf der verdammten Cadillac Ranch grasen. Glaubste das?« »Ja, klar.« »Ich übernehme«, sagte Kid zuversichtlich. »Ich dreh' ihm das Getriebe raus und lass' ihn auf der Cadillac Ranch. Bleib bei mir, Müllmann, oder wie du dich nennst. Wir geben uns nicht mit Schwein und Bohnen ab, wir reißen mehr Hühner auf, als jemand je gesehen hat.« Das Coupe raste die Straße entlang, gemalte Flammen schlugen an der Karosserie hoch. Mülleimermann saß auf dem Beifahrersitz, hatte ein warmes Bier auf dem Schoß und den Kopf voll besorgter Gedanken. Der Morgen des 5. August dämmerte fast, als der Mülleimermann Cibola erreichte, sonst als Vegas bekannt. Irgendwo auf den letzten fünf Meilen hatte er einen Turnschuh verloren, und als er jetzt die gewundene Ausfahrt hinunterging, hörten sich seine Schritte so an: klatsch-BUMM, klatsch-BUMM. Es klang wie das Flappen eines kaputten Reifens. Er war so gut wie fix und fertig, aber als er den Strip entlangging, der von liegengebliebenen Autos und einer ansehnlichen Menge toter Menschen verstopft war, die meisten von den Bussarden übel zugerichtet, erfüllte ihn doch ein gewisses Staunen. Er hatte es geschafft. Er war in Cibola. Er war geprüft worden und hatte die Prüfung bestanden. Er sah hundert schäbige Nachtklubs. Er sah Schilder mit Aufschriften wie: FAIRE AUTOMATEN und BLUEBELL-HOCHZEITSKIRCHE und TRAUUNG IN 60 SEKUNDEN FÜR EIN GANZES LEBEN! Er sah einen Rolls-Royce Silver Ghost, der halb ins Schaufenster einer Porno-Buchhaltung gerast war. Er sah eine nackte Frau, die kopfunter an einem Laternenpfahl hing. Er sah zwei Seiten der Las Vegas Sun vorbeiwehen. Die Schlagzeile, die immer wieder zu sehen war, wählend die Zeitung flatterte und sich überschlug, lautete: SEUCHE NIMMT GEFÄHRLICHE AUSMASSE AN. WASHINGTON SCHWEIGT. Er sah ein riesiges Anschlagbrett, auf dem stand: NEIL DIAMOND! THE AMERICANA HOTEL 15. JUNI30. AUGUST! Jemand hatte auf die Schaufensterscheibe eines Juweliergeschäfts, das sich auf Trauringe und Verlobungsringe spezialisiert zu haben schien, die Worte STIRB FÜR DEINE SÜNDEN, LAS VEGAS gekritzelt. Er sah einen umgestürzten Konzertflügel wie ein großes totes Holzpferd auf der Straße liegen. Seine Augen nahmen diese Wunder staunend wahr. Als er weiterging, erblickte er auch andere Zeichen, deren Neon in diesem Mittsommer zum ersten Mal seit Jahren tot war. Flamingo. The Mint. Dunes, Sahara. Glass Slipper. Imperial. Aber wo waren die Menschen? Wo war das Wasser? Ohne zu wissen, was er tat, ließ er seine Füße den Weg bestimmen und bog vom Strip ab. Sein Kopf kippte nach vorn, das Kinn ruhte auf der Brust. Er döste beim Gehen. Und als seine Füße über den Bordstein stolperten, als er stürzte und sich auf dem Pflaster die Nase blutig schlug, als er aufblickte und sah, was er vor sich hatte, konnte er es kaum glauben. Blut floß ihm unbeachtet aus der Nase über das zerfetzte blaue Hemd. Es war, als würde er noch dösen und dies wäre sein Traum. Ein hohes weißes Gebäude reckte sich in den Wüstenhimmel, ein Monolith in der Wüste, eine Nadel, ein Monument so großartig wie die Sphinx oder die Cheopspyramide. Die Fenster der östlichen Fassade warfen die Glut der aufgehenden Sonne zurück wie ein Omen. Vor diesem schneeweißen Wüstengebäude flankierten zwei riesige goldene Pyramiden den Eingang. Über dem Baldachin hing eine große Bronzeplatte, auf der als Relief der Kopf eines brüllenden Löwen zu sehen war. Darüber, ebenfalls in Bronze, eine einfache, aber gewaltige Aufschrift: MGM GRAND HOTEL. Doch sein Blick wurde von dem gefesselt, was auf dem Rasenrechteck zwischen Parkplatz und Eingang war. Mülleimer gaffte gebannt, ein orgiastisches Zittern schüttelte ihn so heftig, dass er sich einen Augenblick nur auf die blutigen Hände, zwischen denen das lose Ende des Ace-Verbands flatterte, stützen und den Springbrunnen mit seinen blaßblauen Augen anstarren konnte, Augen, welche die grelle Sonne mittlerweile halb blind gemacht hatte. Er gab ein leises Stöhnen von sich. Der Springbrunnen funktionierte. Er war eine atemberaubende Konstruktion aus Stein und Elfenbein, gefaßt und eingelegt mit Gold. Bunte Lichter strahlten die Gischt an und machten das Wasser purpurn, dann gelb-orange, dann rot, dann grün. Das unablässige Prasseln, wenn das Wasser in den Pool zurückfiel, war sehr laut. »Cibola«, murmelte er und rappelte sich auf die Füße. Aus seiner Nase tropfte immer noch Blut. Er taumelte auf den Springbrunnen zu. Sein Stolpern wurde zum Trab. Der Trab wurde zum Laufen, das Laufen zum Sprinten, das Sprinten zum halsbrecherischen Rennen. Die schorfigen Knie schossen wie Kolben fast bis zum Hals. Ein Wort kam aus seinem Mund, ein langes Wort wie eine Papiergirlande, die himmelwärts wehte und die Menschen oben an die Fenster lockte (und wer sah sie? Gott möglicherweise oder der Teufel, auf jeden Fall nicht der Mülleimermann). Das Wort wurde höher und schriller, länger und länger, während er sich dem Springbrunnen näherte, und das Wort war: »CIIIIIIIIIBOLAAAAAAA!« Das letzte »aahh« zog sich immer länger, ein Laut jeglicher Lust, die sämtliche Menschen, welche je auf Erden lebten, jemals erlebt hatten, und hörte erst auf, als er mit der Brust gegen die Mauer des Springbrunnens prallte, sich hinaufzog und in das Bad unglaublicher Kühle und Barmherzigkeit sank. Er konnte spüren, wie sich die Poren seines Körpers wie eine Million Münder öffneten und das Wasser wie ein Schwamm in sich aufsogen. Er schrie. Er senkte den Kopf, prustete Wasser in sich und spie es mit einer Mischung von Niesen und Husten wieder aus, so daß Blut und Wasser und Rotz an den Brunnenrand platschten. Er senkte den Kopf und trank wie eine Kuh. »Cibola! Cibola!« schrie Müll verzückt. »Mein Leben für dich!« Er paddelte wie ein Hund um die Fontäne herum, trank noch einmal, kletterte dann über den Rand und ließ sich mit einem ungeschickten Plumpser auf den Rasen fallen. Es hatte sich gelohnt, alles hatte sich gelohnt. Wasserkrämpfe schüttelten ihn plötzlich, und er übergab sich mit einem lauten Grunzen. Sogar das Übergeben war großartig. Er kam auf die Füße, hielt sich mit der Klauenhand am Brunnenrand fest und trank noch einmal. Diesmal akzeptierte sein Magen die Gabe dankbar. Er schwappte wie ein voller Ziegenlederschlauch, als er zur Alabastertreppe taumelte, die in diesen legendären Ort hineinführte, zwischen den goldenen Pyramiden hindurch. Auf halber Treppe packte ihn ein Wasserkrampf, und er klappte zusammen. Als es vorbei war, torkelte er wacker weiter. Oben war eine Drehtür; er mußte sämtliche schwachen Kraftreserven aufbringen, um sie in Bewegung zu bringen. Er drang in eine Halle mit Plüschteppichboden ein, die meilenlang zu sein schien. Der Teppich unter seinen Füßen war dick und weich und preiselbeerfarben. Es gab einen Schreibtisch der Rezeption, einen Schreibtisch für die Post, einen Schreibtisch für die Schlüssel, die Fenster der Geldwechsler. Alles leer. Rechter Hand lag das Casino hinter einem geschnitzten Geländer. Der Mülleimermann sah es ehrfürchtig an - reihenweise Spielautomaten wie Soldaten bei einer Parade, dahinter Rouletteund Würfeltische, die Marmorgeländer, welche die Backaratische abgrenzten. »Ist wer da?« krächzte Müll, bekam aber keine Antwort. Da bekam er es mit der Angst zu tun, denn dies war ein Ort der Geister, wo Monster lauern mochten, aber seine Müdigkeit dämpfte die Angst. Er stolperte die Stufen ins Casino hinunter, an der Cub Bar vorbei, wo Lloyd Henreid stumm in dem tiefen Schatten saß, ein Glas Mineralwasser in der Hand hielt und ihn beobachtete. Er kam zu einem mit grünem Filz bespannten Tisch, auf dem die mystischen Worte GEBER MUSS 16 ERREICHEN UND BEI 17 PASSEN. Müll kletterte hinauf und schlief sofort ein. Wenig später standen ein halbes Dutzend Männer um die zerlumpte Vogelscheuchengestalt des Mülleimermanns herum. »Was machen wir mit ihm?« fragte Ken DeMott. »Schlafen lassen«, antwortete Lloyd. »Flagg will ihn haben.« »Ach ja? Wo steckt Flagg eigentlich?« fragte ein anderer. Lloyd drehte sich zu dem Mann um, der fast kahl und ganze dreißig Zentimeter größer als Lloyd selbst war. Dennoch wich er einen Schritt zurück, als er Lloyds Blick sah. Der Stein um Lloyd Henreids Hals war der einzige, der nicht pechschwarz war; in seinem Inneren glomm ein winziger, beunruhigender roter Makel. »Bist du so scharf drauf, ihn zu sehen, Heck?« fragte Lloyd. »Nein«, sagte der Kahle. »He, Lloyd, weißt du, ich wollte nicht...« »Schon klar.« Lloyd betrachtete den Mann, der auf dem Blackjacktisch schlief. »Flagg wird schon aufkreuzen«, sagte er. »Er hat auf diesen Typen gewartet. Dieser Typ ist was Besonderes.« Auf dem Tisch schlief der Mülleimermann selig und bekam von alledem nichts mit. Müll und The Kid verbrachten die Nacht des 18. Juli in einem Motel in Golden, Colorado. Kid wählte zwei Zimmer mit Verbindungstür. Die Verbindungstür war verschlossen. Kid, der inzwischen schon reichlich zugedröhnt war, löste dieses unbedeutende Problem, indem er das Schloß mit drei Kugeln aus einem seiner 45er wegpustete. Kid hob einen winzigen Stiefel und trat die Tür ein. Sie ging im feinen blauen Dunst des Revolverrauchs auf. »Siehste, Scheiß-A«, sagte er. »Welches Zimmer? Entscheide dich, Mülli.« Mülleimer entschied sich für das Zimmer rechts und durfte eine Weile alleine bleiben. Kid war weggegangen. Mülleimer überlegte, ob er ganz einfach in der Dämmerung verschwinden sollte, bevor etwas Schlimmes passierte - er versuchte, diese Möglichkeit gegen das durchaus real existente Fehlen eines jeglichen Transportmittels abzuwägen -, als Kid zurückkam. Mülleimermann stellte erschrocken fest, daß er einen Einkaufswagen schob, der voll beladen mit Sechserpacks Coors-Bier war. Die Puppenaugen waren jetzt blutunterlaufen und von roten Ringen umgeben. Die Pompadourfrisur zerfiel wie eine kaputte, ausgeleierte Uhrfeder, fettige Haarsträhnen hingen Kid über Ohren und Wangen, so daß er wie ein gefährlicher (wenngleich widersinniger) Höhlenmensch aussah, der eine von einem Zeitreisenden vergessene Lederjacke gefunden und angezogen hatte. Die Hasenpfoten am Gürtel der Jacke baumelten hin und her. »Es ist warm«, sagte Kid, »aber wen schert das schon, hab' ich recht?« »Vollkommen recht«, sagte der Mülleimermann. »Nimm 'n Bier, Arschloch«, sagte Kid und warf ihm eine Dose zu. Als Mülleimer den Ring abzog, bekam er eine Gesichtvoll Schaum ab, und Kid wurde von einem seltsam verhaltenen Lachen geschüttelt und hielt sich den flachen Bauch mit beiden Händen. Müll lächelte ergeben. Er beschloß, später in der Nacht, wenn dieses kleine Monster eingeschlafen war, einfach weiterzuziehen. Er hatte genug. Und was Kid über den dunklen Priester gesagt hatte... Mülleimermanns Angst war so groß, daß er sie nicht einmal ausdrücken konnte. So etwas zu sagen, und sei es im Scherz, war etwa so, als würde man in der Kirche auf den Altar scheißen oder bei einem Gewitter das Gesicht himmelwärts heben und den Blitz auffordern, einen zu treffen. Das Schlimmste war aber, er glaubte nicht, daß Kid gescherzt hatte. Mülleimermann hatte nicht die Absicht, mit diesem irren Zwerg, der den ganzen Tag trank (und höchstwahrscheinlich auch die ganze Nacht) und davon sprach, den dunklen Mann zu stürzen und seine Stelle einzunehmen, in die Berge und durch sämtliche Haarnadelkurven zu fahren. Derweil hatte Kid zwei Bier in zwei Minuten gekippt, die Dosen zusammengedrückt und gleichgültig auf eines der Doppelbetten des Zimmers geworfen. Er hielt eine frische Dose Coors in der linken und den 45er, mit dem er die Verbindungstür aufgeschossen hatte, in der rechten Hand und starrte verdrossen den RCA Chromacolor an. »Kein Scheißstrom, also auch kein Scheißfernsehen«, sagte er. Je betrunkener er wurde, um so deutlicher wurde sein Südstaatenakzent und machte die Worte pelzig. »Wie mir das stinkt. Freut mich, daß sämtliche Arschlöcher abgenibbelt sind, aber Himmelarschundzwirn, wo ist HBO? Wo sind die elenden Sportsendungen? Wo ist der Playboy Channel? Der war gut, Mülli. Ich meine, die haben nie Typen gezeigt, die Muschis geleckt, haarige Pflaumen vernascht haben, du weißt schon, was ich meine, aber ein paar Damen dort hatten Beine bis rauf zum Kinn, ist dir klar, was ich sage?« »Klar«, sagte Mülleimer. »Bist 'n Scheiß-A. Brauchst du mir nicht zu sagen, ich sag's dir.« Kid starrte den Fernseher an. »Taube Fotze«, sagte er und schoss auf den Fernseher. Die Bildröhre implodierte mit einem lauten, hohlen Plopp. Glas wurde auf den Teppichboden gerülpst. Mülleimermann hob die Arme, um das Gesicht zu schützen, dabei blubberte Bier auf den grünen Nylonteppich. »Sieh dir das an, Dummkopf!« rief Kid. Sein Ton war zutiefst erbost. Plötzlich war der Fünfundvierziger auf Müll gerichtet, und die Mündung war so groß und dunkel wie der Schornstein eines Ozeanriesen. Mülleimer spürte, wie sein Unterleib taub wurde. Es war möglich, daß er sich vollpißte, aber er war nicht sicher. »Dafür mach' ich 'n Sieb aus deiner Denkmaschine«, sagte Kid. »Man verschüttet kein Bier. Beiner annern Marke würdichs nich machn, aber du hast Coors verschüttet. Ich wurde Coors pissen, wenn ich könnte, glaubst die Heißescheiße?« »Klar«, flüsterte Mülleimer. »Und glaubst du, sie brauen heutzutage noch Coors, Müll? Scheint das besonders wahrscheinlich?« »Nein«, flüsterte Mülleimer. »Wohl nicht.« »Stimmt auffallend. Eine vom Aussterben 'drohte Rasse.« Er hob den Revolver etwas. Mülleimer dachte, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Dann senkte Kid die Waffe wieder... etwas. Sein Gesicht hatte einen vollkommen leeren Ausdruck. Mülleimer vermutete, dieser Ausdruck deutete angestrengtes Nachdenken an. »Ich sag' dir was, Müll. Du holst dir noch 'ne Dose und kippst sie ex. Wenn du das ganze Ding ex kippen kannst, schick ich dich nicht zur Cadillac Ranch. Glaubste die Heißescheiße?« »Was ist... was ist >ex kippenIch wälzte mich und wurde des satt bis zur Dämmerung.< Das ist Ihr Mann, Lucy. Das ist haargenau Larry Underwood.« »Ich weiß«, sagte sie und seufzte. »Wenn ich nur wüßte, was mit ihm los ist.« Der Richter, der seine Vermutungen hatte, schwieg. »Die Träume können es nicht sein«, sagte sie. »Die hat keiner mehr, außer vielleicht Joe. Und Joe ist... anders.« »Ja. Das ist er. Armer Kerl.« »Und alle sind gesund. Jedenfalls seit Mrs. Vollman gestorben ist.« Zwei Tage nachdem der Richter zu ihnen gestoßen war, hatte sich ein Paar, das sich als Dick und Sally Vollman vorstellte, zu Larry und seiner zusammengewürfelten Schar Überlebender gesellt. Lucy hielt es für höchst unwahrscheinlich, daß die Grippe einen Mann und dessen Frau verschont haben sollte, und sie vermutete, daß ihre Ehe wild war und noch nicht lange dauerte. Sie waren um die Vierzig und offensichtlich sehr verliebt. Dann war Sally Vollman vor einer Woche im Haus der alten Frau in Hemingford Home krank geworden. Sie hatten zwei Tage kampiert und hilflos darauf gewartet, daß sie wieder gesund würde oder starb. Sie war gestorben. Dick Vollman war immer noch bei ihnen, aber er war nicht mehr derselbe - er war schweigsam, nachdenklich, blaß. »Das hat er sich zu Herzen genommen, richtig?« fragte sie Richter Farris. »Larry ist ein Mann, der relativ spät im Leben zu sich selbst gefunden hat«, sagte der Richter und räusperte sich. »Wenigstens kommt mir das so vor. Männer, die spät zu sich selbst finden, bleiben unsicher. Sie sind all das, was ein guter Bürger nach den bürgerlichen Vorstellungen sein sollte; sie ergreifen Partei, sind aber niemals Fanatiker; sie respektieren in jeder Situation die Tatsachen, verändern sie aber nie; fühlen sich in Führungspositionen unwohl, können aber selten Verantwortung ablehnen, wenn sie ihnen übertragen ... oder aufgedrängt wird. In einer Demokratie sind sie die geeignetsten Führer, denn es ist unwahrscheinlich, daß sie sich in die Macht verlieben. Im Gegenteil. Und wenn etwas schiefgeht... wenn eine Mrs. Vollman stirbt... Könnte es Diabetes gewesen sein?« unterbrach der Richter seinen eigenen Gedankengang. »Möglich. Verfärbte Haut, das rasche Koma... möglich, möglich. Aber wenn ja, wo war ihr Insulin? Hat sie vielleicht sogar sterben wollen? Könnte es Selbstmord gewesen sein?« Der Richter machte eine Denkpause und faltete die Hände unterm Kinn. Er sah aus wie ein großer, brütender schwarzer Raubvogel. »Sie wollten sagen, was passiert, wenn etwas schiefgeht«, drängte Lucy sanft. »Wenn etwas schiefgeht - wenn eine Sally Vollman an Diabetes oder inneren Blutungen oder was auch immer stirbt -, gibt ein Mann wie Larry sich selbst die Schuld. Der Mann, den Schulbücher vergöttern, nimmt selten ein gutes Ende. Melvin Purvis, der Super-FBI-Agent der dreißiger Jahre, erschoß sich 1959 mit seiner eigenen Dienstpistole. Als Lincoln ermordet wurde, war er ein vor seiner Zeit gealterter Mann am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Wir haben im Fernsehen beobachten können, wie Präsidenten vor unseren Augen verfielen, von Monat zu Monat, sogar von Woche zu Woche - außer natürlich Nixon, der von Macht gediehen ist wie ein Vampir vom Blut seiner Opfer, und Reagan, der wohl einfach ein bißchen zu dumm war, um alt zu werden. Ich glaube, mit Gerald Ford war es genauso.« »Ich glaube, da ist noch etwas anderes«, sagte Lucy traurig. Er sah sie fragend an. »Wie lautete der Satz noch? Ich wälzte mich und wurde des satt bis zur Dämmerung?« Er nickte. Lucy sagte: »Ziemlich gute Beschreibung eines verliebten Mannes, nicht wahr?« Er sah sie an und war überrascht, daß sie die ganze Zeit gewußt hatte, was er nicht aussprechen wollte. Lucy zuckte die Achseln und lächelte - ein bitteres Verziehen der Lippen. »Frauen wissen es«, sagte sie. »Frauen wissen es fast immer.« Bevor er antworten konnte, war sie zur Straße gegangen, wo Larry sitzen und an Nadine Cross denken würde. »Larry?« »Hier«, sagte er kurz. »Warum bist du aufgestanden?« »Mir ist kalt geworden«, sagte sie. Er saß mit untergeschlagenen Beinen am Straßenrand, als würde er meditieren. »Hast du Platz für mich?« »Klar.« Er rückte. Der Asphalt hatte noch die Wärme des Tages gespeichert, der gerade zu Ende ging. Sie setzte sich. Er legte einen Arm um sie. Nach Lucys Schätzung waren sie heute nacht fünfzig Meilen östlich von Boulder. Wenn sie morgen um neun aufbrachen, konnten sie zum Mittagessen in der Freien Zone Boulder sein. Der Mann am Funkgerät nannte es Freie Zone Boulder; sein Name war Ralph Brentner, und er sagte (einigermaßen verlegen), dass Freie Zone Boulder eigentlich nichts weiter war als ein Funkverkehrskennwort, aber Lucy gefiel, wie es sich anhörte. Es hörte sich richtig an. Es hörte sich nach einem Neuanfang an. Und Nadine Cross hatte den Namen mit beinahe religiösem Eifer übernommen, als wäre er ein Talisman. Drei Tage nachdem Larry, Nadine, Joe und Lucy in Stovington angekommen waren und das Seuchenzentrum verlassen vorgefunden hatten, hatte Nadine vorgeschlagen, das CB -Funkgerät einzuschalten und alle vierzig Kanäle abzuhören. Larry hatte diesen Vorschlag begeistert aufgegriffen - wie er die meisten ihrer Vorschläge akzeptiert, dachte Lucy. Sie konnte Nadine Cross überhaupt nicht verstehen. Larry war scharf auf sie, das war klar, aber außerhalb der täglichen Routine schien Nadine nicht viel mit ihm zu tun haben zu wollen. Wie dem auch sei, das CB war eine gute Idee gewesen, wenn sie auch aus einem Gehirn kam, das eisumschlossen war (wenn es nicht gerade um Joe ging). Es wäre der einfachste Weg, andere Gruppen aufzuspüren, hatte Nadine gesagt, und eventuell einen Treffpunkt auszumachen. Das führte zu einer verwirrten Diskussion in ihrer Gruppe, die zu diesem Zeitpunkt ein halbes Dutzend zählte; neu hinzugekommen waren Mark Zellman, ein Schweißer aus dem Staat New York, und Laurie Constable, eine sechsundzwanzigjährige Krankenschwester. Und diese verwirrte Diskussion hatte zu einem weiteren beunruhigenden Streit über die Träume geführt. Laurie hatte als erste eingewendet, sie wüßten genau, wohin sie führen. Sie folgten dem einfallsreichen Harold Lauder und seiner Gruppe nach Nebraska. Natürlich, und zwar aus demselben Grund. Die Träume waren von einer Überzeugungskraft, der man sich nicht entziehen konnte. Nach einigem Hin und Her war Nadine hysterisch geworden. Sie hatte keine Träume - Wiederholung: keine verdammten Träume. Wenn die anderen gegenseitig Autohypnose praktizieren wollten, bitte sehr. So lange es vernünftige Gründe gab, nach Nebraska zu fahren, zum Beispiel das Schild vor dem Seuchenzentrum in Stovington, bitte sehr. Sie wollte nur klargemacht haben, daß sie nicht auf Grundlage von metaphysischem dummen Zeug mitfuhr. Wenn es ihnen einerlei war, dann vertraute sie lieber auf Funkverkehr als auf Visionen. Mark hatte die aufgebrachte Nadine nur freundlich angegrinst und gesagt: »Wenn du keine Träume hast, wieso hast du dann gestern nacht im Schlaf geredet und mich damit geweckt?« Nadine war kalkweiß geworden. »Soll das heißen, ich lüge?« kreischte sie. »Wenn ja, sollte einer von uns besser sofort gehen!« Joe drückte sich wimmernd an sie. Larry hatte geschlichtet und dem Vorschlag mit dem CB-Gerät zugestimmt. Seit etwa einer Woche fingen sie Funksprüche auf, nicht aus Nebraska (das schon verlassen war, bevor sie es erreichten - das hatten die Träume ihnen gesagt; aber auch die Träume waren schwächer geworden und hatten an Dringlichkeit verloren), sondern aus Boulder, Colorado, sechshundert Meilen weiter westlich - Signale, die Ralphs leistungsstarkes Gerät aussandte. Lucy erinnerte sich noch an die erfreuten, fast ekstatischen Gesichter, als Ralph Brentners gedehnter Oklahoma-Akzent nasal durch die statischen Geräusche drang: »Hier spricht Ralph Brentner, Freie Zone Boulder. Wenn Sie mich hören, antworten Sie auf Kanal 14. Wiederhole, Kanal 14.« Sie konnten Ralph hören, hatten aber keinen Sender, der stark genug war zu antworten, noch nicht. Aber inzwischen waren sie näher und hatten seit dem ersten Empfang festgestellt, daß die alte Frau, sie hieß Abagail Freemantle (wenn sie auch für Lucy immer Mutter Abagail bleiben würde), und ihre Gruppe als erste dort angekommen war, aber seitdem waren noch Leute zu zweit und zu dritt und in Gruppen bis zu dreißig eingetroffen. Als Brentner zum ersten Mal Kontakt mit ihnen aufnahm, waren in Boulder schon zweihundert Leute gewesen; heute abend erfuhren sie im Gespräch (sie konnten Boulder inzwischen auch mit ihrem Gerät erreichen), daß es schon dreihundertfünfzig waren. Zusammen mit ihrer Gruppe würden es fast vierhundert sein. »Ein Penny für deine Gedanken«, sagte Lucy zu Larry und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich habe an diese Uhr und den Untergang des Kapitalismus gedacht«, sagte Larry und deutete auf ihre Pulsar. »Es hieß friß oder stirb, und wer am meisten fraß, hatte einen rotweißblauen Cadillac und eine Pulsar-Uhr. Jetzt haben wir eine wahre Demokratie. Jede Lady in Amerika kann eine Pulsar-Digital und einen blauen Nerz haben.« Er lachte. »Mag sein«, sagte sie. »Aber ich will dir was sagen, Larry. Ich weiss vielleicht nicht viel über den Kapitalismus, aber ich weiß etwas über diese Uhr für tausend Dollar. Ich weiß, daß sie nichts taugt.« »Nein?« Er sah sie erstaunt an und lächelte. Es war nur ein kurzes Lächeln, aber es war echt. Sie war froh, dieses Lächeln zu sehen - ein Lächeln, das ihr galt. »Warum nicht?« »Weil niemand weiß, wie spät es ist«, sagte Lucy schnippisch. »Vor vier oder fünf Tagen habe ich Mr. Jackson und Mark und dich gefragt, einen nach dem anderen. Und ihr habt mir alle drei verschiedene Zeiten genannt und gesagt, daß eure Uhren mindestens einmal stehengeblieben sind... weißt du noch, es gibt diesen Ort, wo die Weltzeit festgehalten wird. Ich habe beim Arzt im Wartezimmer in einer Illustrierten einen Artikel darüber gelesen. Es war enorm. Sie hatten die Zeit bis auf eine Mikro-mikro-Sekunde genau bestimmt. Sie hatten Pendel und Solaruhren und alles mögliche. Jetzt denke ich manchmal an diesen Ort, und es macht mich verrückt. Dort müssen alle Uhren stehengeblieben sein, und ich habe eine Pulsar für tausend Dollar, die ich bei einem Juwelier gekauft habe, und sie zeigt die Zeit nicht einmal wie vorgesehen auf die Sekunde genau an. Wegen der Grippe. Der verdammten Grippe.« Sie verstummte, und sie saßen eine Weile ohne zu reden da. Dann deutete Larry zum Himmel. »Sieh mal!« »Was? Wo?« »Drei Uhr hoch. Jetzt zwei.« Sie sah hoch, erkannte aber nicht, worauf er deutete, bis er die warmen Hände an ihre Wangen preßte und ihr Gesicht zum richtigen Himmelsquadranten drehte. Dann sah sie es und hielt den Atem an. Ein helles Licht, so hell wie die Sterne, aber hart und ohne Flimmern. Es zog rasch auf Ost-WestKurs über den Himmel. »Mein Gott«, rief sie, »es ist ein Flugzeug, nicht wahr, Larry? Ein Flugzeug?« »Nein. Ein Erdsatellit. Er wird die Erde wahrscheinlich die nächsten siebenhundert Jahre umkreisen.« Sie sahen ihm nach, bis er hinter dem dunklen Massiv der Rockies verschwunden war. »Larry«, sagte sie leise. »Warum hat Nadine es nicht zugegeben? Das mit den Träumen?« Er verkrampfte sich kaum merklich, und sie bedauerte schon, dass sie es erwähnt hatte. Aber sie hatte es getan, und jetzt war sie entschlossen, das Thema weiter zu verfolgen... es sei denn, er lehnte es ab, darüber zu sprechen. »Sie sagt, sie hat keine Träume.« »Sie hat aber welche - Mark hat recht. Und sie spricht im Schlaf. Einmal war sie so laut, daß sie mich geweckt hat.« Jetzt sah er sie an. Nach einer langen Pause fragte er: »Was hat sie gesagt?« Lucy überlegte und versuchte, sich genau zu erinnern. »Sie wälzte sich in ihrem Schlafsack herum und sagte immer wieder: >Tu's nicht, es ist so kalt, tu's nicht, ich kann es nicht ertragen, wenn du es tust, es ist so kalt, so kalt.< Und dann riß sie sich an den Haaren. Sie riss sich im Schlaf an den Haaren. Und stöhnte. Mir wurde ganz unheimlich zumute.« »Man kann doch Alpträume haben, Lucy. Das bedeutet nicht, daß... nun, daß sie von ihm handeln.« »Es ist besser, nach Einbruch der Dunkelheit nicht viel über ihn zu reden, richtig?« »Ja, das ist besser.« »Sie benimmt sich, als würde sie durchdrehen, Larry. Weißt du, was ich meine?« »Ja.« Er wußte es. Obwohl sie darauf beharrte, daß sie nicht träumte, hatte sie dunkle Ringe unter den Augen gehabt, als sie in Hemingford Home ankamen. Ihr wunderschönes dichtes Haar war deutlich weißer geworden. Und wenn er sie berührte, fuhr sie zusammen. Sie zuckte zurück. Lucy sagte: »Du liebst sie, nicht wahr?« »Oh, Lucy«, sagte er vorwurfsvoll. »Nein, ich will doch nur, daß du weißt...« Sie schüttelte heftig den Kopf, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Ich muß es sagen. Ich sehe doch, wie du sie anschaust... wie sie dich manchmal anschaut, wenn du mit etwas anderem beschäftigt bist... und es sicher ist. Sie liebt dich, Larry. Aber sie hat Angst.« »Angst wovor? Angst wovor?« Er dachte an seinen Versuch, mit ihr zu schlafen - drei Tage nach dem Fiasko von Stovington. Seitdem war sie still geworden - sie war gelegentlich immer noch heiter, aber neuerdings schien sie sich zur Heiterkeit zu zwingen. Joe hatte geschlafen. Larry hatte sich neben sie gesetzt, und sie hatten sich eine Weile unterhalten, nicht über ihre gegenwärtige Situation, sondern über vergangene Dinge. Larry hatte versucht, sie zu küssen. Sie hatte ihn weggestoßen und sich abgewandt, aber vorher hatte er gespürt, was Lucy ihm gerade gesagt hatte. Er hatte es noch einmal versucht, grob und zärtlich zugleich, weil er sie so begehrt hatte. Und einen Augenblick hatte sie sich ihm hingegeben und ihm gezeigt, wie es sein könnte, wenn... Dann hatte sie sich losgerissen und war von ihm abgerückt, das Gesicht blaß, die Hände vor der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt. Mach das nie wieder, Larry. Bitte nicht. Sonst muß ich Joe nehmen und gehen. Warum? Warum, Nadine? Warum muß es denn so ein Getue sein? Sie hatte nicht geantwortet. Hatte einfach mit gesenktem Kopf dagestanden, und die braunen, aufgedunsenen Ringe unter ihren Augen hatten sich schon herausgebildet. Wenn ich es dir sagen könnte, würde ich es tun, sagte sie schließlich und ging fort, ohne sich umzuschauen. »Ich hatte mal eine Freundin, die sich ein wenig wie sie benommen hat«, sagte Lucy. »In meinem letzten Jahr an der High School. Sie hieß Joline. Joline Majors. Joline war nicht an der High School. Sie war abgegangen, um ihren Freund zu heiraten. Er war bei der Marine. Als sie geheiratet haben, war sie schwanger, aber sie hat das Baby verloren. Ihr Mann war häufig fort und Joline ... die ging gern auf Parties. Zu gern, aber ihr Mann war ein eifersüchtiger Bär. Er sagte ihr, wenn er je rauskriegen würde, daß sie was hinter seinem Rücken trieb, würde er ihr beide Arme brechen und ihr Gesicht verunstalten. Kannst du dir vorstellen, wie dieses Leben gewesen sein muß? Dein Mann kommt heim und sagt: >Nun, ich fahr' jetzt zur See, Schatz. Gib mir 'nen Kuß, dann wälzen wir uns noch eine Runde im Heu, und übrigens, wenn ich heimkomme und jemand erzählt mir, daß du rumgevögelt hast, breche ich dir beide Arme und mach dir das Gesicht kaputt.<« »Ja, das ist schlimm.« »Nach einer Weile lernte sie einen Typ kennen«, sagte Lucy. »Er war Turnlehrer an der Burlington High. Sie haben miteinander rumgemacht und dabei immer über die Schulter gesehen, und ich weiß nicht, ob ihr Mann jemanden auf sie angesetzt hatte, aber nach einer Weile war das auch unwichtig. Nach einer Weile wurde Joline echt nervös. Sie war so weit, daß sie dachte, ein Typ, der an der Ecke auf den Bus wartete, wäre ein Freund ihres Mannes. Oder der Vertreter, der sich nach ihr und Herb in einer verlausten Absteige eintrug. Das dachte sie auch, wenn sie sich in einem x-beliebigen Motel irgendwo im Staat New York trafen. Vielleicht gehörte sogar der Polizist dazu, der ihnen den Weg zu einem Picknickplatz erklärte, wenn sie zusammen waren. Es wurde so schlimm, daß sie geschrien hat, wenn der Wind eine Tür zuwehte, und zusammengezuckt ist, wenn jemand die Treppe raufkam. Und da sie in einem Haus wohnte, das in sieben kleine Wohnungen unterteilt war, kam immer irgend jemand die Treppe rauf. Herb bekam Angst und verließ sie. Er bekam keine Angst vor Jolines Mann - er bekam Angst vor ihr. Kurz bevor ihr Mann auf Landurlaub kam, hatte Joline einen Nervenzusammenbruch. Und nur, weil sie sich zu gerne verliebte... und er krankhaft eifersüchtig war. Nadine erinnert mich an dieses Mädchen, Larry. Sie tut mir leid. Ich glaube, ich kann sie nicht besonders gut leiden, aber sie tut mir leid. Sie sieht schrecklich aus.« »Willst du damit sagen, Nadine hat Angst vor mir, wie dieses Mädchen Angst vor ihrem Mann gehabt hat?« Lucy sagte: »Vielleicht. Ich will dir eines sagen - wo immer Nadines Mann ist, hier ist er nicht.« Er lachte ein wenig unbehaglich. »Wir sollten wieder schlafen gehen. Morgen wird ein schwerer Tag.« »Ja«, sagte sie und dachte, daß er kein Wort begriffen hatte. Und plötzlich fing sie an zu weinen. »He«, sagte er. »He.« Er versuchte, einen Arm um sie zu legen. Sie schlug ihn weg. »Von mir bekommst du, was du willst, das kannst du dir sparen!« Es war immer noch so viel von dem alten Larry in ihm, daß er sich fragte, ob man ihre Stimme im Lager hören konnte. »Lucy, ich habe dich nicht gezwungen«, sagte er grimmig. »Oh, du bist so dumm!« schrie sie und schlug nach seinem Bein. »Warum sind Männer so dumm, Larry? Du siehst nur Schwarz und Weiß. Nein, du hast mich nicht gezwungen. Ich bin nicht wie sie. Du könntest sie zwingen, und sie würde dir trotzdem ins Gesicht spucken und die Beine zusammenkneifen. Für Mädchen wie mich haben Männer Wörter, die schreiben sie an Toilettenwände, hab' ich gehört. Aber es geht doch nur darum, daß man Wärme braucht, sich warm fühlen muß. Daß man Liebe braucht. Ist das so schlimm?« »Nein. Nein, das ist es nicht. Aber Lucy...« »Aber das glaubst du ja nicht«, sagte sie verächtlich. »Du läufst weiter Miss Rührmichnichtan nach, denn du hast ja Lucy, die du nach Sonnenuntergang flachlegen kannst.« Er saß schweigend da und nickte. Es stimmte, jedes Wort. Er war zu müde, zu geschlagen, um zu widersprechen. Das schien sie zu merken; ihr Gesicht entspannte sich wieder, und sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Wenn du sie erwischst, Larry, bin ich die erste, die mit Blumen kommt. Ich habe noch nie im Leben gegen jemanden Groll gehegt. Nur... versuch, nicht allzu enttäuscht zu sein.« »Lucy...« Ihre Stimme schwoll plötzlich an, rauh und mit unerwarteter Schärfe; einen Moment bekam Larry eine Gänsehaut. »Ich glaube nun einmal, daß Liebe sehr wichtig ist; nur Liebe kann uns helfen, dies alles zu überstehen, und gutes Einvernehmen, denn gegen uns steht Haß, schlimmer noch, Leere.« Ihre Stimme wurde wieder leiser. »Du hast recht. Es ist spät. Ich geh' wieder schlafen. Kommst du mit?« »Ja«, sagte er, und als sie aufstanden, nahm er sie ohne Berechnung in die Arme und küßte sie fest. »Ich liebe dich, so sehr ich kann, Lucy.« »Das weiß ich«, sagte sie und lächelte ihn müde an. »Das weiß ich, Larry.« Diesmal wehrte sie sich nicht, als er den Arm um sie legte. Sie gingen gemeinsam ins Lager zurück, liebten sich zaghaft und schliefen ein. Zwanzig Minuten nachdem Larry Underwood und Lucy Swann ins Lager zurückgekommen waren und zehn Minuten nach ihrem zögernden Liebesakt, als sie schon wieder schliefen, wachte Nadine wie eine Katze im Dunkeln auf. Der schrille Ton des Entsetzens erklang in ihren Adern. Jemand will mich, dachte sie und lauschte ihrem Herzschlag, der sich langsam normalisierte. Ihre Augen, weit aufgerissen und voll Dunkelheit, starrten nach oben, wo die überhängenden Zweige einer Ulme Schatten an den Himmel zeichneten. So ist es. jemand will mich. Es stimmt. Aber... es ist so kalt. Ihre Eltern und ihr Bruder waren bei einem Autounfall umgekommen, als sie sechs Jahre alt war; sie war an jenem Tag nicht mitgefahren, Onkel und Tante besuchen, sondern zu Hause geblieben, um mit ihrer Freundin zu spielen. Sie hatten ihren Bruder sowieso lieber gehabt, das wußte sie noch. Der Bruder war nicht so wie sie gewesen, kein kleiner Wechselbalg, den sie im Alter von viereinhalb Monaten aus der Krippe eines Waisenhauses gestohlen hatten. Bruders Herkunft war klar. Bruder war - Fanfaren, bitte - ihr Eigenes. Aber Nadine hatte immer und ewig nur Nadine gehört. Sie war das Kind der Erde. Nach dem Unfall zog sie zu Tante und Onkel, weil sie die einzigen Verwandten waren. In die White Mountains im Osten von New Hampshire. Sie konnte sich noch erinnern, wie die beiden an ihrem achten Geburtstag mit ihr in der Zahnradbahn auf den Mount Washington fuhren, sie in der Höhenluft Nasenbluten bekam und sie böse mit ihr gewesen waren. Tante und Onkel waren zu alt, sie waren Mitte Fünfzig gewesen, als sie sechzehn wurde, in dem Jahr, als sie unter dem Mond durch das taufeuchte Gras gerannt war - die Nacht des Weins, als Träume aus der dünnen Luft kondensierten wie die nächtliche Milch der Phantasie. Eine Liebesnacht. Und wenn der Junge sie eingeholt hätte, wäre sie bereit gewesen, ihm den Preis zu geben, den sie zu geben hatte, und was machte es schon aus, ob er sie einholte? Sie waren gerannt, war das nicht das wichtigste? Aber er hatte sie nicht eingeholt. Eine Wolke hate sich vor den Mond geschoben. Der Tau fühlte sich naßkalt, unangenehm und beängstigend an. Der Geschmack des Weins in ihrem Mund war sauer geworden. Eine Art Verwandlung hatte stattgefunden, ein Gefühl, daß sie warten sollte, warten mußte. Und wo war er damals gewesen, ihr vorbestimmter, ihr dunkler Bräutigam? Auf welchen Straßen, welchen Gassen in der Dunkelheit der Vorstadt draußen, während drinnen das spröde Klirren des Cocktailgeplauders die Welt in hübsche, rationale Sektionen einteilte? Welche kalten Winde trieben ihn? Wie viele Stangen Dynamit waren in seinem abgewetzten Rucksack? Wer wußte, wie sein Name lautete, als sie sechzehn war? Wie uralt er war? Wo seine Heimat lag? Welche Mutter ihn an die Brust gedrückt hatte? Sie wußte nur, daß er eine Waise war, genau wie sie, und seine Zeit noch kommen würde. Er ging größtenteils auf Straßen, die noch nicht gebaut waren, während sie nur einen Fuß auf eben diesen Straßen hatte. Die Kreuzung, an der sie sich treffen würden, lag noch weit voraus. Er war Amerikaner, das wußte sie, ein Mann, der Milch und Apfelkuchen mochte, der die schlichte Schönheit von etwas Rotkariertem oder Baumwollenem zu würdigen wußte. Seine Heimat war Amerika, und seine Wege waren die geheimen Wege, die verborgenen Straßen, die Verbindungswege unter der Erde, wo die Richtungen in Runen geschrieben sind. Er war der andere Mann, das andere Gesicht, der Hartgesottene, der dunkle Mann, der wandelnde Geck, dessen abgetretene Absätze in lauen Sommernächten über stille Wege klapperten. Wer weiß, wann der Bräutigam kommt? Sie hatte auf ihn gewartet, ein unberührtes Gefäß. Mit sechzehn wäre sie fast gefallen, und noch einmal am College. Aber beide Jungen waren wütend und verwirrt weggegangen, wie Larry jetzt, sie hatten die Kreuzwege in ihr gespürt, die Ahnung jenes vorherbestimmten mystischen Treffpunkts. Boulder war der Ort, wo die Straßen auseinanderliefen. Die Zeit war nahe. Er hatte gerufen, sie zu sich befohlen. Nach dem College hatte sie sich in ihre Arbeit vergraben, hatte mit zwei anderen Mädchen ein Haus gemietet. Was für zwei Mädchen? Nun, sie kamen und gingen. Nur Nadine blieb, und sie war freundlich zu den jungen Männern, die ihre wechselnden Mitbewohnerinnen nach Hause brachten, aber sie selbst hatte nie einen jungen Mann. Wahrscheinlich redeten sie über sie, nannten sie eine künftige alte Jungfer, hielten sie vielleicht sogar für eine heimliche Lesbierin. Das stimmte nicht. Sie war nur... Unberührt. Wartend. Manchmal war es ihr vorgekommen, als würde sich eine Veränderung anbahnen. Wenn sie am Ende des Tages im stillen Klassenzimmer Spielzeug wegräumte, blieb sie manchmal plötzlich stehen, mit flackernden und wachen Augen und vielleicht einem Kastenteufel achtlos in der Hand. Und dann dachte sie: Eine Veränderung wird kommen... ein großer Wind wird wehen. Manchmal, wenn sie diesen Gedanken hatte, sah sie wie eine Verfolgte über die Schulter. Dann verschwand der Gedanke, und sie lachte unsicher. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war ihr Haar allmählich grau geworden - dem Jahr, als sie gejagt, aber nicht eingeholt wurde -, zuerst nur ein paar Strähnen, die in dem Schwarz erschreckend deutlich sichtbar waren, und nicht grau, nein, das war das falsche Wort... weiß, sie waren weiß. Jahre später hatte sie im Kellerraum des Hauses einer Studentenverbindung an einer Party teilgenommen. Das Licht war schummrig gewesen, und nach einiger Zeit waren die Leute paarweise auf den Zimmern verschwunden. Viele Mädchen - unter ihnen Nadine - hatten sich für die Nacht von ihren Internatshäusern beurlauben lassen. Sie hatte damals vollauf beabsichtigt, es hinter sich zu bringen... aber etwas, das noch unter Monaten und Jahren begraben lag, hatte sie zurückgehalten. Und am nächsten Morgen, im kalten Licht um sieben Uhr früh, hatte sie sich im Badezimmer des Internats in einem der vielen Spiegel betrachtet und gesehen, daß das Weiß scheinbar über Nacht zugenommen hatte - obwohl das natürlich unmöglich war. Und so waren die Jahre vergangen, waren dahingetickt wie Jahreszeiten in einem trockenen Zeitalter, und sie hatte Gefühle gehabt, ja, Gefühle, und manchmal war sie im toten Grab der Nacht heiß und kalt zugleich erwacht, schweißgebadet, auf lustvolle Weise lebendig und sich in der Kuhle ihres Bettes ihrer selbst bewußt, und dann hatte sie auf Gossenweise an unheimlichen dunklen Sex gedacht. Sich in heißer Flüssigkeit gewälzt. War gekommen und hatte gebissen, gleichzeitig. Und am Morgen danach hatte sie in den Spiegel geblickt und sich eingebildet, daß sie mehr Weiß sah. Diese Jahre hindurch war sie äußerlich nur Nadine Cross gewesen: lieb, gut zu den Kindern, gut in ihrer Arbeit, alleinstehend. Früher hätten solche Frauen in der Gemeinschaft Neugier und dumme Bemerkungen auf sich gezogen, aber die Zeiten hatten sich geändert. Und ihre Schönheit war so einmalig, daß es für sie irgendwie genau richtig erschien, so und nicht anders zu sein. Und jetzt änderten die Zeiten sich wieder. Jetzt kam die Veränderung, und in ihren Träumen lernte sie ihren Bräutigam kennen, lernte ihn ein wenig verstehen, obwohl sie nie sein Gesicht gesehen hatte. Er war derjenige, auf den sie gewartet hatte. Sie wollte zu ihm gehen... und wollte es doch wieder nicht. Sie war für ihn bestimmt, aber ihr graute vor ihm. Dann war Joe gekommen und nach ihm Larry. Damit war alles äußerst kompliziert geworden. Sie fühlte sich wie der Preisring bei einem Wettbewerb im Tauziehen. Sie wußte, daß ihre Reinheit, ihre Jungfräulichkeit für den dunklen Mann irgendwie wichtig war. Wenn sie sich Larry hingab (oder einem anderen Mann), war der dunkle Zauberbann gebrochen. Und sie fühlte sich zu Larry hingezogen. Sie hatte sich ihm bewußt hingeben, hatte es wieder einmal hinter sich bringen wollen. Sollte er sie haben, sollte es vorbei sein, sollte alles vorbei sein. Sie war müde, und Larry war richtig. Sie hatte zu lange auf den anderen gewartet, zu vi ele trockene Jahre lang. Aber Larry war nicht richtig... schien es jedenfalls anfangs. Sie hatte seine ersten Avancen mit einer Art Verachtung abgetan, so wie eine Mähre eine Fliege mit dem Schweif verscheuchen mochte. Sie erinnerte sich, wie sie gedacht hatte: Wenn er nicht mehr zu bieten hat, wer kann mir zum Vorwurf machen, daß ich seinen Antrag ablehne? Aber sie war ihm gefolgt. Das war eine Tatsache. Doch sie hatte sich verzweifelt gesehnt, andere Menschen zu finden, nicht nur wegen Joe, sondern weil sie schon fast soweit gewesen war, den Jungen zu verlassen und auf eigene Faust nach Westen zu gehen, um den Mann zu finden. Nur jahrelanges Pflichtgefühl gegenüber den Kindern, die ihrer Obhut anvertraut worden waren, hatte sie daran gehindert, das zu tun... und das Wissen, daß Joe auf sich allein gestellt sterben würde. In einer Welt, in der so viele gestorben sind, ist es sicher die größte Sünde, weiteres Sterben herbeizuführen. Und so war sie mit Larry gegangen, der immerhin besser als nichts oder niemand war. Aber wie sich herausstellte, war viel mehr als nichts oder niemand an Larry Underwood dran, er war wie ein optische Täuschung (vielleicht sogar für sich selbst), wo das Wasser seicht aussieht, nur drei, vier Zentimeter tief, aber wenn man die Hand hineinstreckt, ist der Arm plötzlich bis zur Schulter naß. Wie er Joes Zuneigung gewonnen hatte, war eines. Wie Joe auf ihn ansprach, etwas anderes, und ihre wachsende Eifersucht auf die Beziehung zwischen Joe und Larry das dritte. In der Motorradvertretung in Wells hatte Larry dem Jungen die Finger beider Hände anvertraut und gewonnen. Hätten sie nicht ihre volle Aufmerksamkeit auf den Deckel über dem Benzintank konzentriert, hätten sie sehen können, wie sie vor Überraschung den Mund aufklappte. Sie hatte dagestanden und sie beobachtet, hatte sich nicht bewegen können, den Blick einzig auf das helle Metall der Brechstange gerichtet und darauf gewartet, dass sie erst wackeln und dann wegkippen würde. Erst als es vorbei war, wurde ihr klar, daß sie auf die Schreie gewartet hatte. Der Deckel war offen und beiseite geklappt, und sie erkannte ihre Fehleinschätzung, einen geradezu fundamentalen Fehler ihrerseits. In diesem Fall hatte er Joe besser gekannt als sie, ohne besondere Ausbildung und schon nach kürzester Zeit. Sie begriff nur intuitiv, wie bedeutend der Vorfall mit der Gitarre gewesen war, wie schnell und grundlegend dieser Larrys Beziehung zu Joe bestimmt hatte. Und was lag im Mittelpunkt dieser Beziehung? Selbstverständlich Abhängigkeit - was sonst hätte diesen plötzlichen Stromstoß der Eifersucht durch ihren ganzen Körper jagen können? Wenn Joe von Larry abhängig gewesen wäre, dann wäre das eine Sache gewesen, normal und akzeptabel. Sie war beunruhigt, weil Larry auch von Joe abhängig war und Joe auf eine Weise brauchte, wie sie nicht... und Joe wußte es. Hatte sie Larrys Charakter falsch eingeschätzt? Jetzt glaubte sie, daß die Antwort darauf ja lautete. Dieses nervöse, selbstsüchtige Äußere war eine Larve, die vom vielen Gebrauch abgenutzt wurde. Allein die Tatsache, daß er sie während dieser weiten Reise alle zusammengehalten hatte, sprach für seine Entschlossenheit. Die Schlußfolgerung schien klar. Hinter der Entscheidung, mit Larry zu schlafen, war ein Teil von ihr immer noch diesem anderen Mann verpflichtet... und wenn sie mit Larry schlief, war das, als würde sie diesen Teil für immer abtöten. Sie war nicht sicher, ob sie das konnte. Und inzwischen war sie nicht mehr die einzige, die von dem dunklen Mann träumte. Das hatte sie erst beunruhigt, dann geängstigt. Als sie es mit Joe und Larry zu tun gehabt hatte, war es Angst gewesen; als sie Lucy Swann getroffen hatten und diese behauptete, sie habe dieselben Träume gehabt, wurde die Angst zu einer Art rasendem Entsetzen. Sie konnte sich nicht länger einreden, daß deren Träume sich nur wie ihre anhörten. Und wenn alle Überlebenden sie hatten? Wenn die Zeit des dunklen Mannes endlich gekommen war - nicht nur für sie, sondern für alle, die noch auf diesem Planeten lebten? Mehr als alles andere löste dieser Gedanke widerstreitende Empfindungen von höchstem Entsetzen und starker Anziehung in ihr aus. Sie hatte sich fast panisch an den Gedanken an Stovington geklammert. Es stand allein durch die Natur seiner Funktion als Symbol der Normalität und Vernunft gegen die ansteigende Flut dunkler Magie ringsum. Aber Stovington war verlassen, ein Hohn auf den sicheren Hort, zu dem sie es in ihren Vorstellungen gemacht hatte. Das Symbol von Normalität und Vernunft, ein Totenhaus. Während sie nach Westen fuhren und weitere Überlebende um sich scharten, war die Hoffnung, es könnte ohne Konfrontation für sie enden, erloschen. Sie erlosch, und Larry stieg in ihrer Wertschätzung. Er schlief jetzt mit Lucy Swann, aber was machte das schon? Über sie war entschieden. Die anderen hatten zwei entgegengesetzte Träume gehabt: der dunkle Mann und die alte Frau. Die alte Frau schien, genau wie der dunkle Mann, eine Art elementare Kraft zu verkörpern. Die alte Frau war der Kern, um den sich die anderen allmählich sammelten. Nadine hatte nie von ihr geträumt. Nur von dem dunklen Mann. Und während die Träume der anderen plötzlich so unerklärlich verblaßten, wie sie gekommen waren, schienen ihre eigenen an Kraft und Klarheit zuzunehmen. Sie wußte vieles, was die anderen nicht wußten. Der dunkle Mann hieß Randall Flagg. Diejenigen im Westen, die sich ihm widersetzt oder gegen sein Vorgehen Einwände erhoben hatten, waren entweder gekreuzigt oder irgendwie wahnsinnig gemacht und in den kochenden Hexenkessel des Death Valley geschickt worden. In San Francisco und Los Angeles gab es kleinere Gruppen von technisch versierten Leuten, aber das war nur vorübergehend; bald würden sie sich nach Las Vegas begeben, wo sich die Hauptmacht seiner Leute konzentrierte. Er hatte keine Eile. Der Sommer neigte sich dem Ende zu. Bald würden die Pässe der Rocky Mountains einschneien, und es gab zwar Schneepflüge, um sie freizumachen, aber nicht genügend warme Leiber, um die Pflüge zu bemannen. Ein langer Winter würde folgen, in dem sie sich konsolidieren konnten. Und im nächsten April... oder Mai... Nadine lag im Dunkeln und sah zum Himmel empor. Boulder war ihre letzte Hoffnung. Die alte Frau war ihre letzte Hoffnung. Die Normalität und Vernunft, die sie in Stovington zu finden gehofft hatte, schien sich in Boulder abzuzeichnen. Sie waren die Guten, dachte sie, die Guten; könnte es doch auch für sie so einfach sein, die sie sich in einem verrückten Netz widerstreitender Begierden verfangen hatte. Über allem erklang wie ein vorherrschender Akkord ihr fester Glaube, daß Mord in einer so dezimierten Welt die schwerste Sünde war, und ihr Herz sagte ihr deutlich und bestimmt, daß der Tod Randall Flaggs Geschäft war. Aber oh, wie sehnte sie sich nach seinem kalten Kuß - viel mehr als nach den Küssen des Jungen von der High School oder des Jungen vom College... mehr sogar, fürchtete sie, als nach Larry Underwoods Küssen und Umarmungen. Morgen werden wir in Boulder sein, dachte sie. Vielleicht werde ich dann wissen, ob die Reise zu Ende ist oder... Eine Sternschnuppe zog ihre Feuerspur am Himmel, und wie ein kleines Kind wünschte sie sich etwas. 50 Die Dämmerung kam und malte den östlichen Himmel in zarten Rosatönen. Stu Redman und Glen Bateman hatten den Flagstaff Mountain in West Boulder, wo die ersten Vorgebirge der Rockies sich wie eine Vision der Vorgeschichte aus der Ebene erheben, halb erklommen. Im Licht der Dämmerung fand Stu, daß die Pinien, welche zwischen den nackten und fast lotrechten Felswänden wuchsen, wie die Adern einer Riesenhand aussahen, die aus der Erde herausgriff. Irgendwo im Osten versank Nadine Cross endlich in einen leichten, unbefriedigenden Schlaf. »Ich werde heute nachmittag Kopfschmerzen bekommen«, sagte Glen. »Ich glaube, ich habe seit dem College keine ganze Nacht mehr durchgetrunken.« »Der Sonnenaufgang ist es wert«, sagte Stu. »Das stimmt. Wunderschön. Warst du vorher schon einmal in den Rockies?« »Nee«, sagte Stu. »Aber ich bin froh, daß ich hergekommen bin.« Er hob den Weinkrug hoch und trank einen Schluck. »Ich hab' selbst ordentlich einen in der Krone.« Er betrachtete den Ausblick ein paar Augenblicke stumm, dann drehte er sich mit einem schiefen Eächeln zu Glen um. »Was wird jetzt passieren?« »Passieren?« Glen zog die Brauen hoch. »Klar. Darum bin ich hier raufgekommen. Ich hab' zu Frannie gesagt: >Ich mach' ihn betrunken, und dann werde ich ihn aushorchen.< Prima, hat sie gesagt. « Glen grinste. »Auf dem Grund einer Weinflasche sind keine Teeblätter.« »Nein, aber sie hat mir erklärt, was genau du eigentlich gemacht hast. Soziologie. Die Lehre von Gruppenwechselwirkungen. Also stell ein paar wohlbegründete Vermutungen an.« »Mach ein silbernes Kreuz auf meine Handfläche, o Aspirant des Wissens.« »Vergiß das Silber, Kahlkopf. Ich geh' morgen mit dir zur First National Bank von Boulder und geb' dir eine Million Dollar. Wie ist das?« »Im Ernst, Stu - was willst du wissen?« »Ich denke, dasselbe, was auch dieser Stumme Nick Andros wissen will. Was wird als nächstes passieren? Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll.« »Es wird sich eine Gesellschaft bilden«, sagte Glen langsam. »Welcher Art? Das kann man jetzt unmöglich sagen. Es sind jetzt fast vierhundert Menschen hier. Wie sie momentan eintreffen - jeden Tag mehr -, schätze ich, daß wir am ersten September fünfzehnhundert sein werden. Viereinhalbtausend am ersten Oktober und möglicherweise achttausend, bis im November der Schnee fällt und die Straßen unpassierbar werden. Schreib das als Vorhersage Nummer eins auf.« Zu Glens Belustigung brachte Stu tatsächlich ein Notizbuch aus der Gesäßtasche seiner Jeans zum Vorschein und schrieb auf, was er gerade gesagt hatte. »Kann ich kaum glauben«, sagte Stu. »Wir sind durch das ganze Land gereist und haben alles in allem keine hundert Menschen gesehen.« »Ja, aber es kommen doch ständig welche, nicht?« »Ja... in Grüppchen und Stüppchen.« »In was?« fragte Glen grinsend. »Grüppchen und Stüppchen. Hat meine Mutter immer gesagt. Verscheißerst du die Ausdrücke meiner Mutter?« »Der Tag wird niemals kommen, an dem ich genügend Respekt vor meiner eigenen Haut verliere, daß ich eine texanische Mutter verscheißere, Stuart.« »Nur, sie kommen, das stimmt. Ralph hat momentan Kontakt mit fünf oder sechs Gruppen, die unsere Zahl bis Ende der Woche auf fünfhundert bringen.« Glen lächelte wieder. »Ja, und Mutter Abagail sitzt bei ihm in seiner >Funkzentrale<, weigert sich aber, über CB zu sprechen. Sagt sie hat Angst, sie könnte einen Stromschlag bekommen.« »Frannie vergöttert die alte Frau«, sagte Stu. »Teilweise, weil sie soviel darüber weiß, wie man Kinder entbindet, aber teilweise auch nur... weil sie sie eben gern hat. Klar?« »Ja. Fast alle denken genauso.« »Achttausend Menschen im Winter«, sagte Stu und kam wieder zum ursprünglichen Thema zurück. »Mann o Mann.« »Simple Arithmetik. Sagen wir, die Grippe hat neunundneunzig Prozent der Bevölkerung ausgelöscht. Vielleicht war es nicht so schlimm, aber gehen wir von dieser Zahl als Grundlage aus. Wenn die Grippe in neunundneunzig Prozent der Fälle tödlich war, so bedeutet das, sie hat fast zweihundertachtzehn Millionen Menschen umgebracht - allein in diesem Land.« Er sah Stus schockiertes Gesicht und nickte grimmig. »Vielleicht war es nicht so schlimm, aber wir können gut und gerne davon ausgehen, daß diese Zahl hinkommt. Dagegen wirken die Nazis wie Stümper, was?« »Mein Gott«, sagte Stu mit trockener Stimme. »Aber dann blieben immer noch über zwei Millionen Menschen übrig, ein Fünftel der Bevölkerung Tokios vor der Seuche, ein Viertel der Bevölkerung New Yorks vor der Seuche. Und das allein in diesem Land. Ich glaube allerdings, daß etwa zehn Prozent dieser zwei Millionen die Nachwirkungen der Grippe nicht überlebt haben. Leute, die dem Schock danach zum Opfer gefallen sind. Leute wie der arme Mark Braddock mit seinem geplatzten Blinddarm, aber auch Unfallopfer, Selbstmorde und auch Morde. Das bringt uns auf 1,8 Millionen. Aber wir vermuten ja, daß wir einen Gegenspieler haben, nicht wahr? Den dunklen Mann, von dem wir geträumt haben. Irgendwo westlich von uns. Da drüben liegen sieben Staaten, die legitim als sein Territorium bezeichnet werden könnten... wenn er wirklich existiert.« »Ich glaube schon, daß er existiert«, sagte Stu. »Das Gefühl habe ich auch. Aber hat er einfach die Macht über alle Leute da drüben? Das glaube ich nicht, ebensowenig wie Mutter Abagail automatisch Macht über die Leute in den anderen einundvierzig Staaten von Kontinentalamerika hat. Ich glaube, momentan ist alles noch fließend, aber dieser Zustand geht dem Ende entgegen. Die Leute schließen sich zusammen. Als du und ich uns damals in New Hampshire darüber unterhalten haben, hatte ich mir Dutzende kleiner Gesellschaften vorgestellt. Was ich nicht einberechnet hatte - weil ich nicht davon wußte -, war die fast unwiderstehliche Wirkung dieser beiden gegensätzlichen Träume. Das war eine neue Tatsache, die niemand vorhersehen konnte.« »Willst du damit sagen, daß wir am Ende neunhunderttausend Leute haben werden und er am Ende neunhunderttausend Leute haben wird?« »Nein. Erstens wird der kommende Winter seine Opfer fordern. Er wird sie hier fordern, aber noch schlimmer wird es für die kleinen Gruppen, die es nicht bis hierher schaffen, bevor der Schnee einsetzt. Hast du daran gedacht, daß wir in der Freien Zone nicht einmal einen Arzt haben? Unser medizinisches Personal besteht aus einem Tierarzt und Mutter Abagail, die mehr Naturheilkunde vergessen hat, als du oder ich je lernen werden. Dennoch würden sie dumm dastehen, wenn sie eine Stahlplatte in deinen Schädel einsetzen müßten, nachdem du gestürzt bist und dir den Hinterkopf aufgeschlagen hast, meinst du nicht auch?« Stu kicherte. »Der olle Rolf Dannemont würde wahrscheinlich seine Remington holen und mir ein Loch verpassen, durch das Tageslicht scheint.« »Ich schätze, die Gesamtzahl der amerikanischen Bevölkerung dürfte sich bis nächstes Frühjahr auf 1,6 Millionen reduziert haben - und das ist eine optimistische Schätzung. Ich hoffe, daß wir davon eine Million bekommen.« »Eine Million Menschen«, sagte Stu ehrfürchtig. Er sah über die ausgedehnte, größtenteils verlassene Stadt Boulder, die heller wurde, während die Sonne sich über den flachen östlichen Horizont erhob. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Stadt würde aus den Nähten platzen.« »Boulder könnte sie nicht fassen. Ich weiß, man dreht durch, wenn man durch die verlassenen Straßen Richtung Table Mesa geht, aber es ist unmöglich. Wir müßten die Gemeinden ringsum besiedeln. Man hätte die Situation einer riesigen Gemeinschaft hier, während der Rest des Landes östlich von hier völlig verlassen wäre.« »Warum meinst du, daß wir die Mehrzahl bekommen?« »Aus einem sehr unwissenschaftlichen Grund«, sagte Glen und zauste sich mit einer Hand seine Tonsur. »Ich möchte glauben, dass die meisten Menschen gut sind. Und ich glaube, daß der Mann, der im Westen den Laden schmeißt, wahrhaftig böse ist. Und ich habe so eine Ahnung...« Er verstummte. »Los, spuck's aus.« »Werd' ich, weil ich betrunken bin. Aber es bleibt unter uns, Stuart.« »Gut.« »Dein Wort?« »Mein Wort«, sagte Stu. »Ich glaube, er wird die meisten Techniker bekommen«, sagte Glen schließlich. »Frag mich nicht, warum; es ist nur eine Ahnung. Techniker arbeiten größtenteils gern in einer Atmosphäre strenger Disziplin und fest abgesteckter Ziele. Sie haben es gern, wenn die Züge pünktlich sind. Wir haben hier in Boulder ein riesiges Durcheinander, alle wursteln vor sich hin und ziehen ihre eigene Sache durch... und wir müssen etwas unternehmen, um alles auf die Reihe zu bekommen, wie meine Studenten gesagt hätten. Aber dieser andere Bursche... Ich wette, bei ihm sind die Züge pünktlich, und alle stehen in Reih und Glied. Und Techniker sind Menschen wie du und ich, sie gehen dorthin, wo sie am meisten gebraucht werden. Ich habe den Verdacht, daß unser Gegenspieler so viele haben will, wie er bekommen kann. Zum Teufel mit den Farmern, lieber will er ein paar Männer, die in Idaho die Raketensilos abstauben und wieder funktionsfähig machen können. Ebenso Panzer und Hubschrauber und vielleicht einen oder zwei B52-Bomber, nur so zum Spaß. Ich bezweifle, ob er schon soweit ist - nein, ich bin sicher, daß nicht. Wir wüßten es. Im Augenblick konzentriert er sich wahrscheinlich noch darauf, den Strom anzuschalten und die Nachrichtenverbindungen wiederherzustellen... vielleicht hat er sogar ein paar Zweifler ausmerzen können. Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden, das weiß er. Er hat Zeit. Aber wenn ich abends die Sonne untergehen sehe - das ist mein Ernst, Stuart, habe ich Angst. Ich brauche keine Alpträume mehr, um Angst zu haben. Ich muß nur an die Leute auf der anderen Seite der Rockies denken, die fleißig wie die Bienen sind.« »Was sollen wir tun?« »Soll ich dir eine Liste geben?« erwiderte Glen grinsend. Stuart deutete auf das zerfledderte Notizbuch. Auf dem grellrosa Umschlag waten die Silhouetten zweier Tänzer und die Worte BOOGIE DOWN! zu sehen. »Ja«, sagte er. »Du machst Witze.« »Im Gegenteil. Du hast selbst gesagt, Glen, wir müssen alles in den Griff bekommen. Mit jedem Tag verlieren wir mehr Zeit. Wir können nicht einfach hier herumsitzen, die Hände in den Schoß legen und CB-Funk hören. Sonst wachen wir eines Morgens auf und stellen fest, daß dieser Verbrecher an der Spitze einer bewaffneten Streitmacht in Boulder einrückt - mit Luftunterstützung. « »Aber doch nicht gleich morgen«, sagte Glen. »Nein. Aber wie ist es nächsten Mai?« »Möglich«, sagte Glen. »Ja, durchaus möglich.« »Und was glaubst du, wird dann aus uns?« Glen antwortete nicht mit Worten. Er machte mit dem Zeigefinger der rechten Hand eine vielsagende Geste, als würde er eine Pistole abdrücken, und trank hastig den Rest Wein aus. »Ja«, sagte Stu. »Deshalb sollten wir es allmählich auf die Reihe bekommen.« Glen machte die Augen zu. Die aufgehende Sonne schien auf seine faltigen Wangen und Stirn. »Okay«, sagte er. »Hör zu, Stu. Erstens. Amerika neu erschaffen. Klein-Amerika. Mit fairen und unfairen Mitteln. Zuerst kommen Organisation und Regierung. Wenn wir jetzt anfangen, können wir die Regierung bilden, die wir wollen. Wenn wir warten, bis sich die Bevölkerung verdreifacht hat, bekommen wir ernste Probleme. Sagen wir, wir berufen für heute in einer Woche eine Versammlung ein, das wäre am achtzehnten August. Jeder muß teilnehmen. Vor der Versammlung sollte ein Ad-hoc-Organisationskomitee gebildet werden. Ein Komitee mit, sagen wir mal, sieben Leuten. Du, ich, Andros, Fran, Harold Lauder vielleicht, und ein paar andere. Die Aufgabe des Komitees wäre es, die Tagesordnung für die Versammlung am achtzehnten August zusammenzustellen. Und ich könnte dir schon jetzt ein paar Punkte sagen, die diese Tagesordnung enthalten sollte.« »Schieß los.« »Erstens, Verlesung und Ratifizierung der Unabhängigkeitserklärung. Zweitens der Verfassung. Drittens Erklärung der Menschenrechte. Alle Ratifikationen durch mündliche Abstimmung.« »Herrgott, Glen, wir sind doch alle Amerikaner.« »Nein, genau da irrst du dich«, sagte Glen und machte die Augen auf. Sie waren blutunterlaufen und lagen tief in den Höhlen. »Wir sind eine Bande Überlebende ohne Regierung. Ein zusammengewürfelter Haufen aus jeder Altersgruppe, Religionszugehörigkeit, Gesellschaftsschicht und Rasse. Regierung ist eine Vorstellung, Stu, mehr nicht, wenn man die Bürokratie und den ganzen Mist wegläßt. Ich gehe sogar noch weiter. Sie ist eine Einprägung, nichts weiter als ein durchs Gehirn getretener Erinnerungspfad. Momentan arbeitet der Kulturschock für uns. Die meisten Menschen hier glauben noch an die Regierung mittels gewählter Vertreter - die Republik -, das, was sie als >Demokratie< ansehen. Aber der Kulturschock dauert nie lange. Nach einer Weile kommen die Einsichten: der Präsident ist tot, das Pentagon steht leer, im Repräsentantenhaus und im Senat debattiert niemand außer vielleicht Termiten und Küchenschaben. Unsere Leute werden einsehen, daß die alte Lebensweise dahin ist und sie die Gesellschaft neu erschaffen können, wie sie sie wollen. Wir sollten - wir müssen - sie überrumpeln, bevor sie aufwachen und etwas Dummes anstellen.« Er deutete mit dem Finger auf Stu. »Wenn jemand am achtzehnten August in der Versammlung aufstehen und vorschlagen würde, Mutter Abagail zur uneingeschränkten Anführerin zu wählen, mit dir und mir und diesem Andres als Beratern, würden die Leute ihrer Ernennung durch Zuruf zustimmen und nicht einmal wissen, daß sie damit die erste funktionierende Diktatur in Amerika seit Huey Long an die Macht gebracht haben.« »Oh, das kann ich nicht glauben. Wir haben Universitätsstudenten hier, Rechtsanwälte, politische Aktivisten...« »Das waren sie vielleicht. Jetzt sind sie nur ein Haufen müder, verängstigter Leute, die nicht wissen, was aus ihnen werden soll. Einige würden vielleicht motzen, aber sie würden die Klappe halten, wenn ihnen jemand erzählt, daß Mutter Abagail und ihre Berater binnen sechzig Tagen für Strom sorgen. Nein, Stu, es ist sehr wichtig, daß wir den Geist der alten Gesellschaft schnellstmöglich wieder festschreiben. Das habe ich mit >Amerika neu erschaffen< gemeint. Und es muß so geschehen, solange wir unter der direkten Bedrohung durch den Mann operieren, den wir den Gegenspieler nennen.« »Weiter.« »Na gut. Der nächste Punkt der Tagesordnung wäre, daß wir die Regierung organisieren wie eine Stadt in Neuengland. Vollkommene Demokratie. Solange wir relativ wenige sind, wird das prima funktionieren. Nur, statt eines Stadtverordnetenrats haben wir sieben... Repräsentanten, denke ich. Repräsentanten der Freien Zone. Wie hört sich das an?« »Hört sich gut an.« »Finde ich auch. Und wir werden dafür sorgen, daß die Leute, die gewählt werden, dieselben sind, die auch dem Ad-hoc-Komitee angehören. Wir werden so schnell wählen lassen, daß die Leute keine Zeit haben, sich mit ihren Freunden zu besprechen. Wir können uns die Leute aussuchen, die uns nominieren und dann unterstützen. Die Abstimmung wird so reibungslos ablaufen wie Scheiße durchs Toilettenrohr.« »Toll«, sagte Stu bewundernd. »Klar«, sagte Glen. »Wenn du den demokratischen Prozess kurzschließen willst, frag einen Soziologen.« »Was dann?« »Das dürfte sehr populär werden. Der nächste Punkt der Tagesordnung würde lauten: Beschlußfassung: Mutter Abagail wird das absolute Vetorecht gegen jede von den Repräsentanten vorgeschlagene Handlung eingeräumt.« »Mein Gott! Wird sie damit einverstanden sein?« »Ich glaube ja. Ich kann mir allerdings keine Situation vorstellen, in der sie dieses Vetorecht je ausüben würde. Wir dürfen nicht erwarten, hier eine handlungsfähige Regierung zu bekommen, wenn wir sie nicht zum nominellen Staatsoberhaupt machen. Sie ist unsere Gemeinsamkeit. Wir haben alle paranormale Erlebnisse gehabt, die sich um sie drehen. Und sie hat... eine gewisse Aura. Die Leute benutzen alle dieselben Adjektive, wenn sie sie beschreiben: gut, freundlich, alt, weise, schlau, nett. Diese Leute haben einen Traum gehabt, der ihnen eine Heidenangst gemacht hat, und einen anderen, bei dem sie sich sicher und geborgen fühlten. Sie lieben die Quelle des guten Traumes und vertrauen ihr um so mehr wegen des Traums, der ihnen Angst gemacht hat. Und wir können ihr klarmachen, daß sie nur nominell unsere Anführerin ist. Ich glaube, das ist ihr auch lieber. Sie ist alt, müde...« Stu schüttelte den Kopf. »Sie ist alt und müde, aber sie sieht das Problem des dunklen Mannes als religiösen Kreuzzug, Glen. Und sie ist nicht die einzige. Das weißt du.« »Du meinst, sie könnte sich entschließen, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen?« »Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht«, meinte Stu. »Schließlich haben wir von ihr geträumt, nicht von einem Repräsentantenrat.« Glen schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann den Gedanken nicht akzeptieren, daß wir alle Figuren in einem post-apokalyptischen Spiel zwischen Gut und Böse sind, Träume hin, Träume her. Verdammt, das ist irrational!« Stu zuckte die Achseln. »Gut, darauf müssen wir jetzt nicht eingehen. Ich finde deine Idee gut, ihr ein Vetorecht einzuräumen. Ich finde sogar, daß das nicht weit genug geht. Wir sollten ihr auch ein Vorschlagsrecht einräumen.« »Auf der Seite dürfte sie aber keine absolute Gewalt haben«, sagte Glen schnell. »Nein, ihre Vorschläge müßten vom Repräsentantenrat ratifiziert werden«, sagte Stu und fügte dann listig hinzu: »Aber am Ende sind wir vielleicht ihre ausführenden Organe, statt umgekehrt.« Ein längeres Schweigen folgte. Glen stützte die Stirn auf eine Hand. Schließlich sagte er: »Du hast recht. Sie kann nicht nur eine Galionsfigur sein... wir müssen mindestens damit rechnen, daß sie eigene Vorstellungen haben könnte. Und hier muß ich meine umwölkte Kristallkugel einpacken, Mann aus Ost-Texas. Denn sie ist das, was wir Freunde von der soziologischen Fakultät >fremdbestimmt< nennen.« »Wer ist dieser >FremdeHerzlichen Glückwunsch, du mußt die ganze harte Arbeit machen.< Das würde mir nichts ausmachen, ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Aber Komitees brauchen Einfälle, und damit hapert es bei mir.« Nick zeichnete schnell ein CB-Funkgerät auf den Block und im Hintergrund einen Sendeturm, von dessen Spitze elektrische Blitze zuckten. »Ja, aber das ist etwas ganz anderes«, sagte Ralph finster. »Du schaffst es«, schrieb Nick. »Glaub mir.« »Wenn du es sagst, Nicky. Ich werd's versuchen. Aber ich glaube immer noch, daß ihr mit diesem Underwood besser bedient wärt,« Nick schüttelte den Kopf und klopfte Ralph auf die Schulter. Ralph sagte gute Nacht und ging nach oben. Als er gegangen war, studierte Nick lange nachdenklich das Flugblatt. Falls Stu und Glen schon Exemplare gesehen hatten - und er war sicher, daß -, dann wußten sie, daß er von sich aus Harold Lauders Namen von der Liste gestrichen hatte. Er wußte nicht, wie sie es aufnehmen würden, aber die Tatsache, daß sie ihn noch nicht aufgesucht hatten, war wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Sie erwarteten vermutlich einen Kuhhandel von ihm, und falls erforderlich, würde er sich darauf einlassen, damit Harold nicht in die Führungsspitze kam. Notfalls würde er ihnen Ralph geben. Ralph wollte die Position sowieso nicht, aber verdammt, Ralph hatte so viel praktischen Verstand und ein unbezahlbares Talent, Probleme zu knacken. Er wäre der Richtige für ein ständiges Komitee, und Nick hatte das Gefühl, daß Stu und Glen das Komitee ohnehin schon mit ihren Freunden vollgepackt hatten. Wenn er, Nick, Lauder nicht haben wollte, mußten sie einfach mitmachen. Wenn sie diesen Führungscoup durchziehen wollten, durfte es keine Uneinigkeit unter ihnen geben. Sag mal, Mom, wie hat der Mann das Kaninchen aus dem Hut geholt? Nun, mein Sohn, ich bin nicht sicher, aber ich glaube, er könnte das alte Ablenkungsmanöver mit Kuchen und Za-Rex benützt haben. Das klappt einfach immer. Er wandte sich wieder der Seite zu, auf der er gekritzelt hatte, als Ralph hereingekommen war. Er betrachtete die Worte, die er nicht nur einmal, sondern gleich dreimal eingekreist hatte, als wollte er verhindern, daß sie rauskonnten. Autorität. Organisation. Plötzlich schrieb er noch eines darunter - es hatte gerade noch Platz. Jetzt lauteten die Worte im dreifachen Kreis: Autorität. Organisation. Politik. Aber er versuchte nicht, Lauder hinauszudrängen, weil er meinte, daß Stu und Glen Bateman das Spielzeug an sich reißen wollten, das eigentlich ihm gehörte. Klar, er war ein wenig beleidigt. Anders wäre es auch befremdlich gewesen. In gewisser Weise hatten er, Ralph und Mutter Abagail die Freie Zone Boulder ja gegründet. Es sind mittlerweile Hunderte Menschen hier und Tausende auf dem Weg, wenn Bateman recht hat, dachte er und tippte mit dem Filzstift auf die eingekreisten Wörter. Je länger er sie betrachtete, desto häßlicher kamen sie ihm vor. Aber als Ralph und ich und Mutter Abagail und Tom Cullen und der Rest unserer Gruppe hierhergekommen sind, lebten hier nur Katzen und das Wild, das vom Nationalpark heruntergekommen war, um sich in den Gärten der Leute gütlich zu tun... und sogar in den Läden. Wie das Reh, das irgendwie in den Table-Mesa-Supermarkt hinein-, aber nicht mehr herausgekommen war. Es lief wie irrsinnig durch die Gänge, stiess die Waren um, fiel hin, rappelte sich auf und lief weiter. Klar, wir sind Spätzünder, wir sind noch keinen Monat hier, aber wir waren die ersten! Es besteht eine gewisse Kränkung, aber gekränkte Eitelkeit ist nicht der Grund, warum ich Harold nicht dabeihaben will. Ich will ihn nicht, weil ich ihm nicht traue. Er lächelt andauernd, aber er hat ein wasserdichtes (lächeldichtes?) Dach zwischen Mund und Augen. Es hat einmal Spannungen zwischen ihm und Stu gegeben, wegen Frannie; sie sagen zwar alle drei, das ist vorbei, aber ich frage mich, ob es wirklich vorbei ist. Manchmal blickt Frannie Harold an, als wäre ihr nicht ganz wohl dabei. Sie sieht aus, als wollte sie wissen, wie »vorbei« dieses vorbei wirklich ist. Er ist schlau, aber ich finde, er ist unzuverlässig.  Nick schüttelte den Kopf. Das war nicht alles. Er hatte sich mehr als einmal gefragt, ob Harold Lauder nicht verrückt war. Es liegt hauptsächlich an diesem Grinsen. Ich will keine Geheimnisse mit jemandem teilen müssen, der so grinst und aussieht, als würde er nachts nicht gut schlafen. Nein, Lauder. Dem müssen sie sich fügen. Nick schlug das Ringbuch zu und verstaute es in der untersten Schublade seines Schreibtischs. Dann stand er auf und zog sich aus. Er wollte duschen. Er kam sich irgendwie schmutzig vor. Die Welt, dachte er, nicht wie Garp sie sah, sondern wie sie nach der Supergrippe war. Diese schöne neue Welt. Aber ihm kam sie nicht besonders schön vor, und besonders neu auch nicht. Es war, als hätte jemand einen großen Kanonenschlag in die Spielzeugkiste eines Kindes geworfen. Nach dem großen Knall war alles in alle Richtungen geflogen. Spielzeuge waren von einem Ende des Kinderzimmers bis zum anderen verstreut. Manche waren irreparabel kaputt, andere konnte man wieder richten, aber größtenteils war eben alles verstreut. Es war noch so heiß, daß man es nicht anfassen konnte, aber wenn es abgekühlt war, würde alles gut werden. Derweil bestand die Aufgabe darin, alles auszusortieren: Die Sachen wegzuwerfen, die nicht mehr gut waren. Die Spielzeuge beiseite zu legen, die man reparieren konnte. Alles aufzulisten, was noch einwandfrei war. Eine neue Spielzeugkiste zu besorgen, in der man alles verstauen konnte, eine schöne neue Spielzeugkiste. Eine starke Spielzeugkiste. Es hat eine erschreckende, ekelerregende Leichtigkeit - und deutliche Faszination -, wie man etwas hochjagen kann. Schwer ist nur, alles wieder zusammenzusetzen. Das Sortieren. Das Reparieren. Das Auflisten. Und natürlich alles wegwerfen, was nichts mehr taugt. Aber... konnte man es überhaupt über sich bringen, die Sachen wegzuwerfen, die nichts mehr taugten? Nick blieb nackt, mit den Kleidungsstücken in der Hand, auf halbem Weg zum Badezimmer stehen. Oh, die Nacht war so still... aber waren nicht alle seine Nächte Symphonien der Stille? Warum hatte er plötzlich Gänsehaut am ganzen Körper? Weil ihm plötzlich bewußt geworden war, daß das Komitee der Freien Zone keine Spielzeuge aufsammeln würde, ganz und gar keine Spielzeuge. Ihm war plötzlich, als wäre er Mitglied eines bizarren Nähkreises des menschlichen Geistes - er und Redman und Bateman und Mutter Abagail, ja, selbst Ralph mit seinem großen Funkgerät und der Sendeanlage, die das Signal der Freien Zone weit über den toten Kontinent strahlte. Sie hatten alle eine Nadel, und sie arbeiteten vielleicht zusammen, damit sie eine warme Decke für den kalten Winter nähen konnten... oder vielleicht hatten sie auch nur nach längerer Pause angefangen, ein großes Leichentuch für die menschliche Rasse zu nähen, fingen mit der Arbeit bei den Zehen an und arbeiteten sich langsam nach oben. Nach dem Liebesakt war Stu eingeschlafen. Er hatte in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekommen, und gestern nacht war er mit Glen Bateman aufgeblieben, hatte sich betrunken und Pläne für die Zukunft gemacht. Frannie hatte den Morgenmantel angezogen und war auf den Balkon herausgekommen. Das Gebäude, in dem sie wohnten, lag in der Innenstadt Ecke Pearl Street und Broadway. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, und unten konnte sie die Straßenkreuzung sehen; Pearl verlief von Osten nach Westen, Broadway von Norden nach Süden. Ihr gefiel es hier. Sie hatten alle vier Himmelsrichtungen. Die Nacht war warm und windstill, der schwarze Stein des Himmels trug die Makel von Millionen Sternen. In deren schwachem, eisigem Licht sah Fran die Felsen der Flatirons im Westen aufragen. Sie strich mit der Hand vom Hals bis zu den Schenkeln. Der Morgenmantel, den sie anhatte, war aus Seide, darunter war sie nackt. Die Hand glitt über die Brüste, aber anstatt flach bis zur leichten Wölbung des Schambeins zu streichen, wanderte die Hand über eine Kurve des Bauchs, die vor zwei Wochen noch nicht so deutlich gewesen war. Man sah es, noch nicht sehr, aber Stu hatte heute abend eine Bemerkung gemacht. Seine Frage war beiläufig gewesen, sogar komisch: Wie lange können wir es noch treiben, ohne daß ich ihn, äh, drücke? Oder sie, hatte sie amüsiert geantwortet. Was hältst du von vier Monaten, Großer Häuptling? Prima, hatte er geantwortet und war lustvoll in sie eingedrungen. Vorher hatten sie sich ernsthafter unterhalten. Kurz nach ihrer Ankunft in Boulder hatte Stu ihr gesagt, daß er mit Glen über das Baby gesprochen und Glen vorsichtig angedeutet hatte, daß der Virus oder Erreger der Supergrippe immer noch virulent sein könnte. Wenn ja, könnte das Baby sterben. Das war ein beunruhigender Gedanke (man konnte sich immer auf Glen Bateman verlassen, dachte sie, wenn es um einen beunruhigenden Gedanken ging), aber wenn die Mutter immun war, müßte das Baby doch auch...? Aber viele Leute hatten Kinder durch die Seuche verloren. Ja, aber das würde bedeuten... Was würde es bedeuten? Nun, zunächst könnte es bedeuten, daß alle Menschen hier nur einen Epilog auf die Menschheit darstellten, eine kurze Nachstrophe. Sie wollte das nicht glauben, konnte es nicht glauben. Wenn es stimmte... Jemand kam die Straße entlang, drehte sich zur Seite und zwängte sich zwischen der Wand eines Restaurants namens Pearl Street Kitchen und einem Wagen von der Müllabfuhr durch, der mit zwei Reifen auf dem Gehweg liegengeblieben war. Die Gestalt hatte sich eine leichte Jacke über eine Schulter gehängt und trug in einer Hand etwas, das eine Flasche oder ein Revolver mit langem Lauf war. In der anderen Hand hatte er einen Zettel, wahrscheinlich mit einer Adresse, so wie er die Hausnummern verglich. Schließlich blieb er vor ihrem Gebäude stehen. Er sah sich die Tür an, als würde er überlegen, was er als nächstes tun sollte. Frannie fand, er sah wie ein Detektiv in einer alten Fernsehserie aus. Sie stand keine sechs Meter über seinem Kopf und steckte in einer typischen Klemme. Rief sie ihm etwas zu, erschreckte sie ihn vielleicht. Rief sie nicht, klopfte er vielleicht und weckte Stuart. Und was wollte er mit einem Revolver in der Hand... wenn es ein Revolver war? Plötzlich drehte er den Hals und blickte hoch, wahrscheinlich, um zu sehen, ob irgendwo im Haus noch Eicht brannte. Frannie schaute immer noch nach unten. Sie sahen einander genau in die Augen. »Heiliger Himmel!« rief der Mann auf dem Gehweg. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück, geriet vom Bordstein in den Rinnstein und setzte sich ziemlich unsanft hin. » Oh «, sagte Frannie im selben Augenblick und wich auf dem Balkon ebenfalls einen Schritt zurück. Hinter ihr stand ein Ragwurz in einer großen Keramikvase auf einem Schemel. Frannie stieß mit der Kehrseite dagegen. Die Vase kippte, beschloß um ein Haar, noch ein Weilchen länger zu leben, und stürzte sich dann laut klirrend auf den Fliesen des Balkonbodens zu Tode. Im Schlafzimmer grunzte Stu, drehte sich um und war wieder still. Frannie begann, wie nicht anders zu erwarten, zu kichern. Sie preßte beide Hände auf den Mund und kniff sich heftig in die Lippen, aber sie kicherte trotzdem weiter, eine Serie von rauhen Flüsterlauten. Grace schlägt wieder zu, dachte sie und kicherte flüsternd in die hohlen Hände. Wenn er mit einer Gitarre gekommen wäre, hätte ich ihm die verdammte Vase auf den Kopf werfen können. O Sole Mio... RUMS! Der Bauch tat ihr weh, so sehr bemühte sie sich, das Kichern zu unterdrücken. Ein verschwörerisches Flüstern drang von unten herauf: »He, Sie... Sie auf dem Balkon... pssst!« »Pssst«, flüsterte Frannie zu sich. »Pssst, Wahnsinn!« Sie mußte hier weg, bevor sie ih-aahte wie ein Esel. Sie hatte das Lachen noch nie zurückhalten können, wenn es einmal über sie gekommen war. Sie huschte durch das dunkle Schlafzimmer, nahm vom Haken an der Badezimmertür eine solidere - und keuschere - Umhüllung, die sie sich überstreifte, während sie den Flur entlanglief und dabei das Gesicht wie eine Gummimaske verzog. Sie kam auf den Treppenabsatz hinaus und die erste Stufenflucht hinunter, dann brach das Lachen ungehindert aus ihr heraus. Die letzten beiden Treppenfluchten ging sie hemmungslos wiehernd hinunter. Der Mann - ein junger Mann, wie sie jetzt sah - war inzwischen aufgestanden und klopfte sich ab. Er war schlank und gut gebaut, das Gesicht von einem Bart größtenteils verdeckt, der bei Tageslicht blond oder möglicherweise wie roter Sand aussehen mochte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, lächelte aber ein wenig kläglich. »Was haben Sie umgestoßen?« fragte er. »Hat sich angehört wie ein Klavier.« »Eine Vase«, sagte sie. »Sie... Sie...« Aber dann kam das Kichern wieder, und sie konnte nur mit dem Finger auf ihn deuten und leise lachen und den Kopf schütteln und sich den schmerzenden Bauch halten. Tränen kullerten ihr die Wangen hinab. »Sie haben zu komisch ausgesehen... Ich weiß, das sollte man nicht zu jemand sagen, den man gerade kennengelernt hat, aber... Herrje! Es ist nunmal so!« »Wären dies die alten Zeiten«, sagte er grinsend, »wäre mein nächster Schritt, Sie auf mindestens eine Viertelmillion zu verklagen. Auf Teufel komm raus. Richter, ich habe nach oben gesehen, und diese junge Frau hat auf mich heruntergeblickt. Ja, ich glaube, sie hat mir ein Gesicht geschnitten. Jedenfalls hatte sie ein Gesicht. Wir entscheiden für den Kläger, diesen armen Jungen. Und wir lassen den Gerichtsvollzieher kommen. Die Verhandlung wird zehn Minuten vertagt.« Sie lachten beide ein wenig. Der junge Mann trug saubere verblichene Jeans und ein dunkelblaues Hemd. Die Sommernacht war warm und mild. Frannie freute sich, daß sie herausgekommen war. »Sie heißen nicht zufällig Fran Goldsmith?« »Zufällig ja. Aber ich kenne Sie nicht.« »Larry Underwood. Wir sind heute erst angekommen. Eigentlich suche ich einen Burschen namens Harold Lauder. Man hat mir gesagt, er wohnt mit Stu Redman und Frannie Goldsmith und ein paar anderen Leuten in 161 Pearl.« Das trocknete ihr Kichern ein. »Harold hat in dem Haus gewohnt, als wir in Boulder ankamen, aber er ist schon lange weg. Er wohnt jetzt in der Arapahoe Street im Westen der Stadt. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen seine Adresse geben und den Weg erklären.« »Das wäre nett. Aber ich denke, ich warte bis morgen. So etwas wie heute riskiere ich nicht noch mal.« »Kennen Sie Harold?« »Ja und nein - so wie ich Sie kenne und doch wieder nicht. Um ehrlich zu sein, muß ich sagen, Sie sehen ganz anders aus, als ich Sie mir vorgestellt habe. In meiner Vorstellung habe ich Sie als blonde Walküre gesehen, wie aus einem Gemälde von Frank Frazetta, womöglich mit einem Fünfundvierziger an jeder Hüfte. Aber ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er streckte die Hand aus, und Frannie nahm sie mit einem knappen erstaunten Lächeln. »Ich fürchte, ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.« »Setzen Sie sich einen Moment auf den Bordstein, dann erzähle ich es Ihnen.« Sie setzte sich. Der Geist eines Windhauchs wehte durch die Straße, raschelte mit Papierfetzen und zerzauste die alten Ulmen auf dem Rasen des Gerichtsgebäudes drei Blocks entfernt. »Ich hab' ein paar Sachen für Harold Lauder«, sagte Larry. »Aber es soll eine Überraschung sein, also wenn Sie ihn vor mir sehen, Schweigen ist Gold, und so weiter.« »Klar, logisch«, sagte Frannie. Sie war verwirrter denn je. Er hielt den Revolver mit dem langen Lauf hoch, und es war gar kein Revolver, sondern eine Weinflasche mit langem Hals. Er hielt das Etikett ins Sternenlicht, und sie konnte gerade das großgeschriebene BORDEAUX oben und das Datum ganz unten lesen: 1947. »Der beste Bordeaux in diesem Jahrhundert«, sagte er. »Hat jedenfalls ein alter Freund von mir immer gesagt. Sein Name war Rudy. Gott sei seiner Seele gnädig.« »Aber 1947... das ist dreiundvierzig Jahre her. Ist er nicht... nun, hinüber?« »Rudy hat immer gesagt, ein guter Bordeaux ist nie hinüber. Wie auch immer, ich schleppe ihn seit Ohio mit. Wenn es schlechter Wein ist, dann wenigstens weitgereister schlechter Wein.« »Und der ist für Harold?« »Ja, und dies hier.« Er holte etwas aus der Jackentasche, und das mußte sie nicht ins Sternenlicht halten, um die Schrift zu lesen. Sie prustete los. »Ein Payday-Schokoriegel!« rief sie aus. »Harolds Lieblingsmarke... aber wie konnten Sie das wissen?« »Das ist eine lange Geschichte.« »Schießen Sie los.« »Nun gut. Es war einmal ein Mann namens Larry Underwood, der von Kalifornien nach New York gekommen ist, um seine liebe alte Mutter zu besuchen. Das war nicht der einzige Grund für seinen Besuch, aber die anderen waren nicht so erfreulich, und deshalb wollen wir uns mit dem guten Grund begnügen, ja?« »Warum nicht?« stimmte Fran zu. »Und siehe, die böse Hexe des Westens oder ein Arschloch im Pentagon brachte eine große Plage über das Land, und ehe man >Hier kommt Captain Trips< sagen konnte, waren alle Leute in New York tot. Einschließlich Larrys Mutter.« »Das tut mir leid. Meine Eltern auch.« »Ja - sämtliche Eltern. Wenn wir uns alle Beileidskarten schicken würden, würde es bald keine mehr geben. Aber Larry hatte Glück. Er verließ die Stadt mit einer Dame namens Rita, die nicht gut mit der neuen Lage fertig wurde. Und unglücklicherweise war Larry nicht darauf vorbereitet, ihr zu helfen, damit fertig zu werden.« »Darauf war niemand vorbereitet.« »Aber manche haben es schneller gelernt als andere. Wie dem auch sei, Larry und Rita fuhren zur Küste von Maine. Sie kamen bis Vermont, und dort hat die Dame mit Schlaftabletten ihren Abgang gemacht.« »O Larry, das ist so traurig.« »Larry nahm es sich sehr zu Herzen. Er sah es sogar mehr oder weniger als Gottesurteil über seine Charakterfestigkeit. Darüber hinaus hatten ihm verschiedene Leute, die es wissen mußten, einmal gesagt, daß sein unverwüstlichster Charakterzug eine deutliche Spur Eigennutz war, die immer wieder aufleuchtete wie eine Lichtermadonna auf dem Armaturenbrett eines neunundfünfziger Cadillac.« Frannie rutschte etwas auf dem Bordstein hin und her. »Ich hoffe, ich beunruhige Sie nicht, aber ich trage das alles schon viel zu lange mit mir herum und es hat wirklich mit Harolds Teil der Geschichte zu tun. Okay?« »Okay.« »Danke. Ich glaube, seit ich eingetroffen und die alte Frau ges ehen habe, suche ich nach einem freundlichen Wesen, dem ich mich anvertrauen kann. Ich dachte, es würde Harold sein. Wie auch immer - Larry fuhr allein weiter nach Maine, weil er kein anderes Ziel hatte. Da hatte er schon schlimme Alpträume, aber da er allein war, konnte er nicht wissen, daß andere Menschen sie auch hatten. Er nahm einfach an, sie waren ein weiteres Symptom für seinen geistigen Zusammenbruch. Aber schließlich kam er in ein kleines Küstenstädtchen namens Wells, wo er eine Frau namens Nadine Cross und einen seltsamen kleinen Jungen fand, dessen Name, wie sich herausstellte, Leo Rockway war.« »Wells«, staunte sie leise. »Jedenfalls warfen die drei Reisenden gewissermaßen eine Münze, um zu entscheiden, in welcher Richtung sie auf der US 1 weiterziehen sollten, und da die Münze Kopf zeigte, fuhren sie nach Süden und kamen schließlich nach...« »Ogunquit!« sagte Frannie entzückt. »Und dort machte ich meine erste Bekanntschaft mit Harold Lauder und Frances Goldsmith in riesigen Buchstaben auf dem Dach einer Scheune.« »Harolds Botschaft. O Larry, das wird ihn freuen.« »Wir folgten der Wegbeschreibung auf der Scheune nach Stovington, den Anweisungen in Stovington nach Nebraska und den Anweisungen an Mutter Abagails Haus nach Boulder. Unterwegs trafen wir Leute. Darunter ein Mädchen namens Lucy Swann, meine Freundin. Ich möchte, daß Sie sie kennenlernen. Ich glaube, sie wird Ihnen gefallen. Aber dann geschah etwas, das Larry gar nicht wollte. Seine kleine Gruppe von vier Leuten wuchs auf sechs an. Im Staat New York stießen die sechs auf vier weitere Leute, und unsere Gruppe absorbierte ihre. Als wir Harolds Schild vor Mutter Abagails Haus erreichten, waren wir schon sechzehn, und als wir aufbrachen, trafen wir noch drei. Larry führte diese tapfere Schar an. Niemand hatte ihn gewählt. Es war einfach so. Und er wollte die Verantwortung gar nicht. Sie war eine Last. Sie raubte ihm nachts den Schlaf. Er warf Tums und Rolaids ein. Aber es ist komisch, wie der Verstand sich manchmal gegen den Verstand stellt. Ich konnte es nicht lassen. Hatte mit Selbstachtung zu tun. Und ich - er - hatte immer Angst, dass er es mit Pauken und Trompeten vermasseln, daß er eines Morgens aufwachen und feststellen würde, daß jemand in seinem Schlafsack gestorben war wie Rita damals in Vermont und alle um ihn herumstehen und mit dem Finger auf ihn zeigen und sagen würden: >Es ist deine Schuld. Du hast es nicht besser gewußt, es ist deine Schuld.< Und darüber konnte ich mit niemandem sprechen, nicht einmal mit dem Richter...« »Wer ist der Richter?« »Richter Farris. Ein alter Kerl aus Peoria. Ich glaube, daß er in den frühen Fünfzigern wirklich mal Richter gewesen ist, vielleicht Bezirksrichter oder so, aber er war schon lange vor der GrippeEpidemie pensioniert. Ziemlich schlauer Kerl. Wenn er einen ansieht, könnte man schwören, daß er Röntgenaugen hat. Jedenfalls war Harold für mich wichtig. Er wurde immer wichtiger, je mehr Leute wir waren. Sozusagen direkt proportional, könnte man sagen.« Er lachte. »Diese Scheune. Mann! Die letzte Zeile, die mit Ihrem Namen, war so weit unten, daß ich mir gedacht habe, er muß mit dem Arsch ganz schön im Wind gehangen haben, als er sie geschrieben hat.« »Ja. Ich habe geschlafen, als er es geschrieben hat. Sonst hätte ich es nicht zugelassen.« »Ich habe mir ein Bild von ihm gemacht«, sagte Larry. »Ich habe ein Paydaypapier auf dem Boden der Scheune in Ogunquit gefunden, und dann die Schnitzerei an dem Balken...« »Was für eine Schnitzerei?« Sie merkte, daß Larry sie in der Dunkelheit prüfend ansah, und zog den Morgenmantel fester zu... keine Geste der Keuschheit, denn sie fühlte sich nicht von diesem Mann bedroht, sondern von Nervosität. »Nur seine Initialen«, sagte Larry beiläufig. »H. E. L. Wenn das alles gewesen wäre, wäre ich jetzt nicht hier. Aber dann, in der Motorradvertretung in Wells...« »Da waren wir!« »Das weiß ich. Ich habe gesehen, daß zwei Motorräder verschwunden waren. Was mich noch mehr beeindruckt hat, war, daß Harold Benzin aus dem unterirdischen Tank abgesaugt hatte. Sie müssen ihm geholfen haben, Fran. Ich hätte fast die Finger verloren.« »Nein, das war gar nicht nötig. Harold hat so lange gesucht, bis er etwas gefunden hat, das er Entlüftungsventil nannte...« Larry stöhnte und schlug sich an die Stirn. »Das Entlüftungsventil! Mein Gott! Ich habe nicht mal nachgesehen, wo sie den Tank entlüftet haben! Sie sagen, er hat einfach gesucht... einen Stöpsel rausgezogen... und den Schlauch reingehalten?« »Nun... ja.« »Oh, Harold«, sagte Larry in einem Tonfall der Bewunderung, wie sie ihn noch nie gehört hatte, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit Harold Lauder. »Das ist einer seiner Tricks, der mir entgangen ist. Jedenfalls sind wir nach Stovington gefahren. Nadine war so bestürzt, daß sie ohnmächtig wurde.« »Ich habe geweint«, sagte Fran. »Ich habe geheult, als könnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich hatte gedacht, wenn wir dort sind, würde jemand rauskommen und sagen: >Hi! Treten Sie ein. Entlausung links, Kantine rechts.<« Sie schüttelte den Kopf. »Kommt mir heute so albern vor.« »Ich war nicht enttäuscht. Der wackere Harold war vor mir dagewesen, hatte sein Schild hinterlassen und war weitergezogen. Ich kam mir wie ein Grünschnabel aus dem Osten vor, der diesem Indianer aus Coopers Pfadfinder folgt.« Seine Meinung über Harold faszinierte und erstaunte sie. Hatte nicht eigentlich Stu ihre Gruppe angeführt, nachdem sie Vermont verlassen hatten und nach Nebraska aufgebrochen waren? Sie konnte sich wirklich nicht erinnern. Zu der Zeit waren sie alle schon mit den Träumen beschäftigt gewesen. Larry erinnerte sie an Dinge, die sie vergessen... schlimmer, als selbstverständlich betrachtet hatte. Harold hatte sein Leben riskiert, als er die Botschaft auf das Scheunendach malte - sie hatte es für ein sinnloses Risiko gehalten, aber es hatte doch sein Gutes bewirkt. Und Benzin aus dem unterirdischen Tank zu holen... für Larry schien das eine gewaltige Anstrengung gewesen zu sein, aber für Harold etwas ganz Normales. Sie fühlte sich klein und hatte ein schlechtes Gewissen. Sie gingen alle mehr oder weniger davon aus, daß Harold nur ein grinsender Statist war. Aber Harold hatte während der letzten sechs Wochen einige Tricks draufgehabt. War sie so verliebt in Stu gewesen, daß erst dieser Fremde kommen mußte, um ihr einige Wahrheiten über Harold zu erzählen? Die Tatsache, daß Harold vollkommen erwachsen auf sie und Stu reagierte, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, machte das Gefühl nur um so unbehaglicher. Larry sagte: »Und in Stovington ist wieder ein Schild mit den genauen Straßenbezeichnungen, richtig. Und daneben im Gras liegt wieder eine leere Payday-Packung. Ich hatte das Gefühl, als würde ich nicht zerknickten Zweigen und niedergetretenem Gras folgen, sondern Harolds Payday-Spur. Nun, wir sind nicht die ganze Zeit eurer Route gefolgt. In der Nähe von Gary, Indiana, sind wir nach Norden abgebogen, denn da war ein Großfeuer, das stellenweise noch brannte. Es sah aus, als wäre jeder verdammte Öltank in der Stadt explodiert. Wie auch immer, durch diesen Umweg trafen wir den Richter und machten dann Rast in Hemingford Home - wir wußten, daß sie schon weg war, Sie wissen ja, die Träume, aber wir wollten alle den Ort wenigstens sehen. Den Mais... die Reifenschaukel... Sie verstehen, was ich meine?« »Ja«, sagte Frannie. »Ja, das verstehe ich.« »Und ich bin die ganze Zeit fast verrückt geworden und dachte, eine Motorradbande würde uns überfallen, das Wasser würde uns ausgehen oder sonst was. Meine Mutter hatte ein Buch, sie hatte es von ihrer Großmutter oder so. Auf seinen Spuren, das war der Titel. Und darin standen kurze Geschichten von Leuten, die schreckliche Probleme hatten. Größtenteils ethische Probleme. Und der Mann, der das Buch geschrieben hatte, sagte, um Probleme zu lösen, müßte man sich nur fragen: >Was würde Jesus tun?< Dann würde sich alles klären. Wissen Sie, was ich glaube? Es ist eine Zen-Frage, eigentlich keine Frage, sondern eine Methode, seine Gedanken zu klären, wie Om sagen und seine Nasenspitze betrachten.« Fran lächelte. Sie wußte, was ihre Mutter zu so etwas gesagt haben würde. »Und wenn ich so richtig in der Klemme saß, sagte Lucy - das ist mein Mädchen, habe ich das schon erwähnt? -, dann sagte Lucy: >Los, stell die Frage. <« »Was würde Jesus tun?« fragte Fran amüsiert. »Nein, was würde Harold tun«, antwortete Larry ernst. Fran war fast von den Socken. Sie wünschte sich dabeizusein, wenn Larry Harold kennenlernte. Wie, um alles in der Welt, würde er reagieren? »Wir lagerten eines Nachts auf dem Hof einer Farm und hatten fast kein Wasser mehr. Es gab einen Brunnen, aber wir konnten kein Wasser heraufholen, weil kein Strom da war und die Pumpe nicht funktionierte. Und Joe Leo, Entschuldigung, sein richtiger Name ist Leo -, Leo kam immer wieder zu uns und sagte: >Durst, Larry, schrecklicher Durst.< Ich spürte, wie ich gereizt wurde, und wenn er noch einmal gekommen wäre, hätte ich ihn wahrscheinlich geschlagen. Netter Kerl, hm? Ein verstörtes Kind schlagen! Aber der Mensch kann sich nicht schlagartig ändern. Ich hatte Zeit genug, das selbst festzustellen.« »Sie haben sie immerhin unversehrt von Maine hierher gebracht«, sagte Frannie. »Bei uns ist einer gestorben. Blinddarmdurchbruch. Stu hat versucht, ihn zu operieren, aber es hat nichts genützt. Alles in allem, Larry, würde ich sagen, Sie haben Ihre Sache ziemlich gut gemacht.« »Harold und ich waren nicht schlecht«, korrigierte er sie. »Lucy sagte jedenfalls: >Schnell, Larry, stell die Frage.< Also stellte ich sie. Auf dem Hof stand eine Windmühle, mit der Wasser zur Scheune gepumpt wurde. Sie drehte sich ausgezeichnet, aber aus den Hähnen in der Scheune kam auch kein Wasser. Also machte ich den großen Kasten unten an der Windmühle auf und sah, daß die Antriebswelle aus ihrem Loch gesprungen war. Ich setzte sie wieder ein, und bingo! Soviel Wasser, wie wir wollten. Kühl und frisch. Dank Harold.« »Dank Ihnen. Harold war nicht da, Larry.« »Nun, in meinen Gedanken war er da. Und jetzt bin ich hier und habe ihm Wein und Schokoriegel gebracht.« Er sah sie von der Seite an. »Wissen Sie, ich hab' irgendwie gedacht, Harold wäre Ihr Mann.« Sie schüttelte den Kopf und betrachtete die verschränkten Finger. »Nein. Er... Harold nicht.« Er sagte lange Zeit nichts, aber sie spürte, daß er sie ansah. Schließlich sagte er: »Okay? Wie habe ich mich geirrt? Wegen Harold?« Sie stand auf. »Ich sollte wieder reingehen. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Larry. Kommen Sie morgen her, damit Sie Stu kennenlernen. Bringen Sie Ihre Lucy mit, wenn sie Zeit hat.« »Was ist mit ihm?« beharrte er und stand mit ihr auf. »Ach, ich weiß nicht«, sagte sie belegt. Plötzlich war sie den Tränen nahe. »Sie geben mir das Gefühl, als... als hätte ich Harold ziemlich mies behandelt, und ich weiß nicht... warum oder wie ich es getan habe... kann man mir zum Vorwurf machen, daß ich ihn nicht liebe wie Stu? Ist das etwa meine Schuld?« »Nein, natürlich nicht.« Larry sah erschrocken drein. »Hören Sie, es tut mir leid. Ich bin einfach hereingeplatzt. Ich gehe.« »Er hat sich verändert.« platzte Frannie heraus. »Ich weiß nicht wie und warum, und manchmal glaube ich, zu seinem Vorteil... aber ich weiß es nicht... wirklich nicht. Manchmal habe ich Angst.« »Angst vor Harold?« Sie antwortete nicht; sah nur auf ihre Füße. Sie dachte, daß sie schon zuviel gesagt hatte. »Sie wollten mir doch sagen, wie ich dorthin komme«, meinte er leise. »Ganz einfach. Gehen Sie die Arapahoe geradeaus, bis Sie zu dem kleinen Park kommen... Ebene G. Fine Park, glaube ich. Der Park liegt rechts. Harolds kleines Haus links, genau gegenüber.« »Gut, danke. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Fran, samt kaputter Vase und allem.« Sie lächelte, aber es war mechanisch. Die beschwingte gute Stimmung des Abends war dahin. Larry hob die Weinflasche und schenkte ihr sein schiefes Lächeln. »Und wenn Sie ihn vor mir treffen... nichts verraten, hm?« »Klar.« »Nacht, Frannie.« Er ging den Weg zurück, den er gekommen war. Sie sah ihm nach, bis er fort war. Dann ging sie nach oben und legte sich zu Stu ins Bett, der immer noch schlief wie ein Murmeltier. Harold, dachte sie und zog die Decke bis ans Kinn. Wie sollte sie es Larry sagen, der auf seine verlorene Weise so nett zu sein schien (aber waren sie heute nicht alle verloren?), daß Harold Lauder dick und halbwüchsig und selbst verloren war? Sollte sie ihm sagen, dass sie eines noch gar nicht so lange vergangenen Tages den klugen Harold, den spitzfindigen Harold, den Was-würde-Jesus -tun-Harold gefunden hatte, wie er in der Badehose den Rasen mähte und weinte? Sollte sie ihm sagen, daß der manchmal mürrische, häufig ängstliche Harold, der von Ogunquit nach Boulder gekommen war, sich in einen gestandenen Politiker verwandelt hatte, einen Rückenklopfer, einen Hallo-Leute-wir-sehen-uns-Typ, der einen trotzdem mit den ausdruckslosen, kalten Augen eines Gürteltiers ansah? Sie fürchtete, daß sie heute nacht lange auf den Schlaf warten mußte. Harold hatte sich hoffnungslos in sie verliebt, und sie hatte sich hoffnungslos in Stu Redman verliebt; das Leben war schon hart. Aber wenn ich Harold sehe, bekomme ich eine Gänsehaut. Obwohl es aussieht, als hätte er zehn Pfund abgenommen, und er nicht mehr so viele Pickel hat, bekomme ich eine... Plötzlich stockte ihr hörbar der Atem; sie stützte sich auf die Ellenbogen und riß die Augen im Dunkeln auf. Etwas hatte sich in ihr bewegt. Sie strich mit den Händen über die Wölbung der Leibesmitte. Es war noch zu früh. Es war ihre Einbildung. Aber... Aber die war es nicht. Sie legte sich langsam mit klopfendem Herzen zurück. Sie hätte Stu fast geweckt, ließ es dann aber doch sein. Wenn nur er ihr das Baby gemacht hätte, nicht Jess. In diesem Fall hätte sie ihn geweckt und den Augenblick mit ihm geteilt. Beim nächsten Baby. Das hieß, wenn es ein nächstes Baby gab. Dann kam die Bewegung wieder, so unmerklich, als wäre es eine Blähung gewesen. Aber sie wußte es besser. Es war das Baby. Und das Baby lebte. »Wie schön«, murmelte sie zu sich und lehnte sich zurück. Larry Underwood und Harold Lauder waren vergessen. Was ihr widerfahren war, seit ihre Mutter krank wurde, war vergessen. Sie wartete, daß es sich wieder bewegte, lauschte nach dem Wesen in ihrem Inneren und schlief darüber ein. Ihr Baby lebte. Harold saß in einem Sessel auf dem Rasen des kleinen Hauses, das er sich ausgesucht hatte, sah zum Himmel und dachte an einen alten Rock'n'Roll-Song. Er haßte Rock, aber an diesen erinnerte er sich fast Zeile für Zeile, kannte sogar noch den Namen der Gruppe, die ihn gesungen hatte: Cathy Young and the Innocents. Die Leadsängerin, Vokalistin, wie auch immer, hatte eine hohe, schmachtende, rauhe Stimme, die ihn irgendwie gefesselt hatte. Goldkehlchen nannten die DJs sowas. Eine Miß mit Biß. Die Leadsängerin hörte sich an, als wäre sie sechzehn Jahre alt, blaß, blond und unscheinbar. Als würde sie ein Bild ansingen, das fast immer in einer Schublade versteckt lag, ein Bild, das nur spät abends herausgenommen wurde, wenn alle anderen im Haus schliefen. Sie klang hoffnungslos. Das Bild, das sie ansang, hatte sie möglicherweise aus dem High-School -Jahrbuch ihrer großen Schwester ausgeschnitten, das Bild des hiesigen großen Zampano - Kapitän der Footballmannschaft und Vorsitzender des Studentenausschusses. Der große Zampano schob ihn auf irgendeiner abgelegenen Waldlichtung der Anführerin der Cheerleader rein, während dieses unscheinbare Mädchen ohne Brüste und mit einem Pickel im Mundwinkel irgendwo weit entfernt im Vorort sang: »A thousand stars in the sky... make me realize... you are the one love that I'll adore... tell me you love me... tell me you're mine, all mine...« Heute abend standen mehr als tausend Sterne am Himmel, aber es waren keine Sterne der Liebenden. Kein sanft leuchtendes Netz der Milchstraße. Hier, eine Meile über dem Meeresspiegel, waren sie grell und grausam wie eine Milliarde Löcher in schwarzem Samt, Löcher von Gottes Spitzhacke. Es waren die Sterne von Hassenden, und weil das so war, fühlte Harold sich berufen, heute nacht etwas auf sie zu wünschen. Sternenglanz, Sternenschein, laß den Wunsch erfüllet sein. Fallt alle tot um. Er saß stumm mit zurückgelehntem Kopf da, ein düsterer Astronom. Harolds Haar war länger denn je, aber nicht mehr schmutzig und verfilzt und strähnig. Er roch nicht mehr wie ein Furz im Heuhaufen. Und weil er die Süßigkeiten wegließ, gingen sogar die Pickel weg. Und durch die harte Arbeit und das viele Laufen nahm er ab. Er sah ziemlich gut aus. In den vergangenen Wochen war es häufig vorgekommen, daß er an einem Spiegel vorbeiging und verblüfft über die Schulter sah, als hätte er einen völlig Fremden erblickt. Er regte sich im Sessel. Ein Buch lag auf seinem Schoß, ein großer Foliant mit marmoriertem Rücken und Kunstledereinband. Wenn er weg war, versteckte er es hinter einem lockeren Mauerstein im Haus. Wenn jemand das Buch fand, wäre der Traum in Boulder für ihn ausgeträumt. Ein Wort stand in Goldbuchstaben auf dem Umschlag, dieses Wort hieß HAUPTBUCH. Es war das Tagebuch, das er angefangen hatte, nachdem er das von Fran gelesen hatte. Die ersten Seiten waren schon von einem Rand zum anderen mit seiner engen Handschrift bedeckt. Keine Absätze, nur ein solider Schriftblock, eine Absonderung des Hasses wie Eiter aus einem Abszeß. Er hätte nicht gedacht, daß er soviel Haß in sich haben könnte. Man sollte meinen, der Strom müßte mittlerweile ausgetrocknet sein, aber es schien, als hätte er ihn gerade erst angebohrt. Wie in dem alten Witz. Warum war der ganze Boden nach Güsters letzter Schlacht weiß? Weil die Indianer unaufhörlich kamen und kamen und kamen... Und warum haßte er? Er richtete sich gerade auf, als wäre die Frage von außen gekommen. Es war eine schwere Frage, außer vielleicht für ein paar Wenige, ein paar Auserwählte. Hatte nicht Einstein gesagt, es würde nur sechs Menschen auf der Welt geben, die die ganze Bedeutung von E= mc² begriffen? Und was war mit der Gleichung in seinem eigenen Kopf? Harolds Relativität? Oh, darüber könnte er zweimal so viele Seiten füllen, wie er bisher geschrieben hatte, und immer obskurer und geheimnisvoller werden, bis er sich schließlich in seinem inneren Räderwerk verlor, ohne auch nur in die Nähe der Hauptfeder zu gelangen. Vielleicht... vergewaltigte er sich selbst. War es das? Jedenfalls dicht dran. Ein obszöner, endloser Akt der Unzucht. Die Indianer kamen und kamen. Er würde Boulder bald verlassen. Ein Monat oder zwei, mehr nicht. Bis er sich klar war, wie er einige offene Rechnungen begleichen konnte. Dann würde er nach Westen gehen. Und wenn er dort war, würde er den Mund aufmachen und gründlich über die Lage hier auspacken. Er würde ihnen erzählen, was in den öffentlichen Sitzungen los war und, noch wichtiger, in den nichtöffentlichen. Er war sicher, daß man ihn ins Komitee der Freien Zone wählen würde. Sie würden ihn willkommen heißen, und der Mann, der drüben die Macht hatte, würde ihn reichlich belohnen... nicht indem er seinem Haß ein Ende setzte, sondern indem er ihm das perfekte Vehikel dafür gab, einen Haß-Cadillac, ein Angstmobil, lang und dunkel glänzend. Er würde einsteigen und seinen Haß unter sie fahren. Er und Flagg würden diese elende Ansiedlung auseinandertreten wie einen Ameisenhaufen. Aber zuerst würde er mit Redman abrechnen, der ihn belogen und ihm die Frau gestohlen hatte. Ja, Harold, aber warum haßt du? Nein; darauf gab es keine zufriedenstellende Antwort, nur eine Art... Zusatzvermerk zum Haß selbst. War es überhaupt eine faire Frage? Er war der Meinung, daß nein. Ebensogut konnte man eine Frau fragen, warum sie ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, eine Stunde oder einen Augenblick, als er daran gedacht hatte, den Haß über Bord zu werfen. Das war gewesen, als er Frannies Tagebuch gelesen und erfahren hatte, dass sie unwiderruflich Stu Redman verfallen war. Diese plötzliche Erkenntnis hatte auf ihn gewirkt wie ein kalter Wasserguß auf eine Schnecke, die zur kleinen Kugel wird statt zum ausgebreiteten, tastenden Organismus. In dieser Stunde oder in diesem Augenblick hatte er gewußt, daß er einfach akzeptieren konnte, was war, und dieses Wissen hatte ihn entzückt und entsetzt zugleich. In dieser Zeitspanne hatte er gewußt, daß er sich in einen anderen Menschen verwandeln konnte, in einen neuen Harold Lauder, der durch das scharfe Skalpell der Supergrippe aus dem alten geklont worden war. Er begriff deutlicher als die anderen, daß es in der Freien Zone Boulder genau darum ging. Die Leute waren anders, als sie gewesen waren. Die Gesellschaft dieser kleinen Stadt war mit keiner anderen amerikanischen Gesellschaft vor der Seuche vergleichbar. Sie sahen das nicht, weil sie nicht wie er außerhalb der Grenzen standen. Männer und Frauen lebten offensichtlich ohne den Wunsch zusammen, die Institution Ehe wieder einzuführen. Ganze Gruppen lebten in kleinen Untergruppen wie in Kommunen zusammen. Es gab wenig Streit. Die Leute schienen miteinander auszukommen. Und, am seltsamsten, keiner schien die tiefe religiöse Bedeutung der Träume zu erkennen... und der Seuche selbst. Boulder selbst war eine geklonte Gesellschaft, eine Tabula, die so rasa war, daß sie die neugewonnene Schönheit nicht empfanden. Harold empfand sie, und er haßte sie. Weit drüben hinter den Bergen war noch eine geklonte Kreatur. Ein Stück der dunklen Bösartigkeit, eine Krebszelle aus dem sterbenden Leib der alten Gesellschaft, ein einsamer Vertreter des Karzinoms, das die alte Gesellschaft bei lebendigem Leibe gefressen hatte. Eine einzige Zelle, die aber schon angefangen hatte, sich zu reproduzieren und weitere wilde Zellen zu erzeugen. Für die Gesellschaft bedeutete das den alten Kampf, das Bemühen des gesunden Gewebes, den bösartigen Eindringling abzuwehren. Aber für jede individuelle Zelle stellte sich die alte, alte Frage, die bis zum Garten Eden zurückreichte - aß man den Apfel oder ließ man es sein? Dort drüben, im Westen, aßen sie bereits Unmengen Apfelkuchen und Apfelkompott. Die Assassinen von Eden waren da, die dunklen Füsiliere. Und er selbst hatte im Angesicht des Wissens, daß es ihm freistand zu akzeptieren, was war, die neue Chance für eine menschliche Gesellschaft abgelehnt. Sie zu ergreifen, wäre gleichbedeutend mit Selbstmord gewesen. Die Gespenster aller Demütigungen, die er je erlitten hatte, bäumten sich dagegen auf. Seine gemordeten Träume und Ambitionen lebten auf unheimliche Weise wieder auf und fragten, ob er sie wirklich so einfach vergessen konnte. In der neuen Gesellschaft der Freien Zone konnte er nur Harold Lauder sein. Dort drüben aber ein Prinz. Das Bösartige lockte ihn. Es war ein dunkler Jahrmarkt - Riesenräder mit ausgeschaltetem Licht, die sich über einer schwarzen Landschaft drehten, ein niemals endender Zirkus mit Freaks wie ihm, und im Hauptzelt fraßen die Löwen die Zuschauer. Die mißtönende Musik des Chaos sprach ihn an. Er schlug sein Tagebuch auf und schrieb im Licht der Sterne mit fester Hand. 16. August 1990 (frühmorgens). Es heißt, die beiden großen Sünden der Menschheit seien Stolz und Haß. Wirklich? Ich ziehe es vor, beide für große Tugenden zu halten. Auf Haß und Stolz verzichten hieße, sich zugunsten der Welt zu verändern. Edler ist es, wenn ich sie mir zu eigen mache und ihnen freien Lauf lasse, denn dann muß sich die Welt zu meinen Gunsten verändern. Das Leben ist ein großes Abenteuer. HAROLD EMERY LAUDER Er schlug das Buch zu. Er ging ins Haus, legte das Buch in sein Loch im Kamin zurück und brachte sorgfältig den Stein wieder an. Er ging ins Bad, stellte die Coleman-Lampe so aufs Waschbecken, daß sie in den Spiegel leuchtete, und übte die nächsten fünfzehn Minuten lang zu lächeln. Er war schon ziemlich gut. 51 Ralphs Plakate, die die Versammlung am 18. August ankündigten, hingen überall in Boulder. Es gab erregte Diskussionen, bei denen es hauptsächlich um die guten und schlechten Eigenschaften der sieben Mitglieder des Ad-hoc-Komitees ging. Mutter Abagail ging erschöpft zu Bett, bevor das Licht des Tages erloschen war. Den ganzen Tag war der Strom der Besucher, die alle ihre Meinung wissen wollten, nicht abgerissen. Sie räumte ein, daß sie die für das Komitee benannten Personen für eine gute Auswahl hielt. Die meisten Leute wollten besorgt wissen, ob sie in einem ständigen Komitee mitarbeiten wollte, sollte während der Versammlung eins gewählt werden. Sie erwiderte, daß das ein wenig zu ermüdend sein würde, sie jedoch ein Komitee aus gewählten Repräsentant en jederzeit nach Kräften unterstützen wolle, falls man ihre Unterstützung wollte. Immer wieder versicherten ihr die Leute, daß ein ständiges Komitee, das auf ihre Hilfe keinen Wert legte, sofort abgesetzt werden würde, komplett. Mutter Abagail ging müde, aber zufrieden zu Bett. Wie Nick Andros an diesem Abend. Innerhalb eines einzigen Tages war die Freie Zone mittels eines handbetriebenen Matritzenkopierers und eines einzigen damit bedruckten Plakats von einer Ansammlung Flüchtlinge zu einem Wahlvolk geworden. Das gefiel den Leuten; sie hatten das Gefühl, nach einer langen Periode des freien Falls endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Am Nachmittag hatte Ralph ihn zum Kraftwerk gefahren. Ralph, Stu und er hatten für übermorgen ein vorbereitendes Treffen bei Stu und Frannie verabredet. So hätten die sieben noch zwei Tage Zeit, die Ansichten der Leute anzuhören. Nick lächelte und legte die Hände an die nutzlosen Ohren. »Lippenlesen ist noch besser«, sagte Stu. »Weißt du, Nick, ich glaube, wir machen mit den durchgeschmorten Motoren Fortschritte. Dieser Brad Kitchner arbeitet wie der Teufel. Wenn wir zehn wie ihn hätten, würde die ganze Stadt bis zum ersten September wieder perfekt funktionieren.« Nick machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, und sie gingen gemeinsam hinein. An diesem Nachmittag gingen Larry Underwood und Leo Rockway durch die Arapahoe Street nach Westen zu Harolds Haus. Larry trug den Rucksack, den er durch das ganze Land geschleppt hatte, aber heute abend waren nur die Flasche Wein und ein halbes Dutzend Paydays darin. Lucy war mit einer Gruppe von sechs Leuten unterwegs, die zwei Abschleppwagen genommen hatten und anfingen, in und um Boulder die liegengebliebenen Wagen von den Straßen zu räumen. Das Problem war, sie arbeiteten auf sich allein gestellt - es war eine sporadische Operation, die nur gemacht wurde, wenn genügend Leute Lust hatten, sich zusammenzutun und anzufangen. Ziellose Bienen, keine fleißigen Bienen, dachte Larry und betrachtete ein Plakat mit der Überschrift MASSENVERSAMMLUNG, das an einen Telegrafenmast genagelt war. Vielleicht war das die Lösung. Verdammt, die Leute hier wollten arbeiten; sie brauchten nur jemanden, der alles koordinierte und ihnen sagte, was sie tun sollten. Er glaubte, am allermeisten wollten sie die Spuren dessen tilgen, was im Frühsommer hier passiert war (konnte es tatsächlich schon Spätsommer sein?), wie man mit einem Schwamm schlimme Wörter von einer Tafel wischte. Vielleicht können wir es nicht von einem Ende Amerikas zum anderen, dachte Larry, aber hier in Boulder sollten wir es schaffen, bevor Schnee fällt, wenn Mutter Natur mitspielt. Er drehte sich um, als er Glas klirren hörte. Leo hatte einen großen Stein aus einem Steingarten durch das Fenster eines alten Ford geworfen. Auf einem Aufkleber an der hinteren Stoßstange des Ford stand: ES MACHT SPASS ÜBER'N PASS - GOLD CREEK CANYON. »Nicht, Joe.« »Ich bin Leo.« »Leo«, verbesserte er sich. »Mach das nicht.« »Warum nicht?« fragte Leo unschuldig, und Larry fiel lange keine zufriedenstellende Antwort ein. »Weil es sich häßlich anhört«, sagte er schließlich. »Oh. Okay.« Sie gingen weiter. Larry steckte die Hände in die Taschen. Leo folgte seinem Beispiel. Larry trat nach einer Bierdose. Leo machte einen Schlenker, um einen Stein wegzutreten. Larry pfiff eine Melodie. Leo versuchte ein flüsterndes, schnaufendes Geräusch als Begleitung. Larry strich dem Jungen durchs Haar, und Leo sah mit seinen seltsamen Chinesenaugen zu ihm auf und grinste. Larry dachte: Herrgott, ich habe mich in den Jungen verliebt. Wahnsinn. Sie kamen zu dem Park, den Frannie erwähnt hatte; gegenüber sahen sie ein grünes Haus mit weißen Fensterläden. Auf dem Betonpfad, der zur Haustür führte, stand eine Schubkarre mit Ziegelsteinen, daneben ein Abfalleimer mit Do-it-yourselfZementmischung, in die man nur noch Wasser kippen mußte. Daneben hockte mit dem Rücken zu ihnen ein breitschultriger Typ, der das Hemd ausgezogen und auf dem Rücken noch Spuren eines schlimmen Sonnenbrands hatte. In einer Hand hatte er eine Maurerkelle. Er war damit beschäftigt, eine flache geschwungene Begrenzung um ein Blumenbeet zu machen. Larry dachte an Frans Worte: Er hat sich verändert... ich weiß nicht, wie und warum... und manchmal glaube ich zu seinem Vorteil... und manchmal habe ich Angst. Dann trat er vor und sagte, wie er es sich auf seiner langen Reise durch das Land vorgenommen hatte: »Harold Lauder, vermute ich?« Harold fuhr überrascht hoch, dann drehte er sich mit einem Ziegel in der einen und der Kelle, von der noch Mörtel tropfte und die er wie eine Waffe hochhielt, in der anderen Hand um und stand auf. Aus dem Augenwinkel meinte Larry zu sehen, wie Leo zurückzuckte. Sein erster Gedanke war, klar, Harold sah nicht aus wie er ihn sich vorgestellt hatte. Sein zweiter Gedanke galt der Kelle. Mein Gott, will er mir mit dem Ding eins überziehen? Harolds Gesicht war verkniffen, die Augen schmal und dunkel. Das Haar fiel als verklebte Locke in die schweißbedeckte Stirn. Seine Lippen waren zusammengepreßt und fast weiß. Und dann trat eine so plötzliche und vollkommene Verwandlung ein, daß Larry später kaum glauben konnte, dieses verkniffene Gesicht gesehen zu haben, das Gesicht eines Mannes, dem man eher zutrauen würde, daß er jemanden im Keller lebendig einmauert, als eine Begrenzung um ein Blumenbeet zu ziehen. Er lächelte, ein breites und argloses Grinsen, das tiefe Grübchen an beiden Mundwinkeln bildete. Der drohende Glanz verschwand aus seinen Augen (sie waren flaschengrün, und wie konnten so klare und fleckenlose Augen bedrohlich, sogar finster gewirkt haben?). Er stiess die Mörtelkelle in den Beton - flatsch -, wischte sich die Hände an den Jeans ab und kam mit ausgestreckter Hand näher. Larry dachte: Mein Gott, er ist ein Kind, jünger als ich. Wenn er schon achtzehn ist, fresse ich die Kerzen von seinem letzten Geburtstagskuchen. »Ich glaube, ich kenne dich nicht«, sagte Harold und grinste beim Händeschütteln. Er hatte einen festen Griff. Larrys Hand wurde genau dreimal auf und ab bewegt und dann losgelassen. Es erinnerte Larry daran, wie er einmal George Bush die Hand geschüttelt hatte, als der alte Buschklopfer für das Präsidentenamt kandidiert hatte. Das war bei einer politischen Versammlung gewesen, welche er auf den Rat seiner Mutter hin besucht hatte, die ihm vor vielen Jahren gesagt hatte: Wenn du dir das Kino nicht leisten kannst, geh in den Zoo. Wenn du dir den Zoo nicht leisten kannst, geh zu einer politischen Versammlung. Aber Harolds Grinsen war ansteckend, und Larry grinste auch. Kind oder nicht, Händedruck eines Politikers oder nicht, sein Grinsen schien echt zu sein, und nach der ganzen Zeit, nach allen PaydayPackungen, sah er Harold Lauder jetzt leibhaftig vor sich. »Nein, du kennst mich nicht«, sagte Larry. »Aber ich dich.« »Tatsächlich?« rief Harold, und sein Grinsen eskalierte. Wenn es noch breiter wird, dachte Larry amüsiert, würden die Mundwinkel am Hinterkopf zusammentreffen und die oberen zwei Drittel seines Kopfes einfach herunterfallen. »Ich bin dir von Maine aus durch das ganze Land gefolgt«, sagte Larry. »Na so was! Echt?« »Echt.« Larry nahm den Rucksack von den Schultern. »Hier, ich hab' dir was mitgebracht.« Er holte die Flasche Bordeaux heraus und gab sie Harold. »Das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte Harold und betrachtete erstaunt die Flasche. »1947?« »Ein guter Jahrgang«, sagte Larry. »Und das hier.« Er gab Harold fast ein halbes Dutzend Payday -Riegel in die andere Hand. Einer glitt ihm durch die Finger und fiel ins Gras. Harold bückte sich, um ihn aufzuheben, und dabei sah Larry wieder flüchtig den anderen Gesichtsausdruck. Harold kam lächelnd wieder hoch. »Woher hast du das gewußt?« »Ich bin deinen Zeichen gefolgt... und deinen Payday-Packungen.« »Ich werd' verrückt. Komm ins Haus. Wir müssen ein großes Palaver veranstalten, wie mein Dad so gern gesagt hat. Trinkt der Junge eine Cola?« »Sicher. Leo, möchtest du...« Er drehte sich um, aber Leo stand nicht mehr neben ihm. Er war ganz zur Straße zurückgelaufen und betrachtete einige Risse im Pflaster, als wären sie von großem Interesse für ihn. »He, Leo! Willst du 'ne Cola?« Leo murmelte etwas, das Larry nicht hören konnte. »Sprich lauter!« sagte er gereizt. »Wozu hat Gott dir eine Stimme gegeben? Ich habe gefragt, ob du eine Cola willst.« Kaum hörbar sagte Leo: »Ich glaube, ich gehe zu Nadine-Mom zurück.« »Warum das denn? Wir sind eben erst angekommen!« »Ich will zurück!« sagte Leo und sah vom Pflaster auf. Die Sonne blitzte zu hell in Leos Augen, und Larry dachte: Um Gottes willen, was soll das? Er weint ja fast. »Moment mal«, sagte er zu Harold. »Klar«, sagte Harold. »Kinder sind manchmal schüchtern. War ich auch.« Larry ging zu Leo hinüber und kauerte sich nieder, so daß sie Auge in Auge waren. »Was ist los, Junge?« »Ich will einfach zurück«, sagte Leo, ohne ihn anzusehen. »Ich will zu Nadine-Mom.« »Aber du...« Er schwieg hilflos. »Ich will zurück.« Er sah Larry kurz an. Sein Blick flackerte über Larrys Schulter zu Harold, der mitten auf dem Rasen stand. Dann wieder auf das Pflaster. »Bitte.« »Magst du Harold nicht?« »Ich weiß nicht... doch... ich will nur zurück.« Larry seufzte. »Findest du denn den Weg?« »Klar.« »Okay. Aber ich wünsche mir, du würdest mit reinkommen und eine Cola trinken. Ich habe mich schon lange darauf gefreut, Harold kennenzulernen. Das weißt du doch, oder?« »Ja-a.« »Und wir könnten zusammen nach Hause gehen.« »Ich gehe nicht in das Haus«, zischte Leo, und einen Moment war er wieder Joe mit leer und wild blickenden Augen. »Okay«, sagte Larry hastig. Er stand auf. »Geh aber gleich nach Hause. Ich werde nachhören. Treib dich nicht auf der Straße rum.« »Mach' ich.« Und plötzlich stieß Leo heiser flüsternd hervor: »Warum kommst du nicht mit? Gleich jetzt? Wir gehen zusammen. Bitte, Larry. Okay ?« »Mein Gott, Leo, wa...« »Vergiß es«, sagte Leo. Und bevor Larry etwas sagen konnte, war Leo schon davongelaufen. Larry blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Er wandte sich mit einem besorgten Stirnrunzeln Harold zu. »Das macht nichts«, sagte Harold. »Kinder sind manchmal komisch.« »Er auf jeden Fall, aber er hat wohl ein Recht dazu. Er hat viel durchgemacht.« »Jede Wette«, sagte Harold, und einen Augenblick empfand Larry Mißtrauen und spürte, daß Harolds rasche Sympathie für einen Jungen, den er nie gesehen hatte, so falsch war wie Eipulver. »Na, komm rein«, sagte Harold. »Du bist sozusagen mein erster Besuch. Frannie und Stu sind ein paarmal hier gewesen, aber die zählen kaum.« Sein Grinsen wurde ein Lächeln, ein etwas trauriges Lächeln, und Larry empfand plötzlich Mitleid mit dem Jungen - denn er war wirklich noch ein Junge. Er war einsam, und hier stand Larry, derselbe alte Larry, der nie ein gutes Wort für jemanden hatte, und beurteilte ihn aufgrund von heißer Luft. Das war nicht gerecht. Er mußte aufhören, so verdammt mißtrauisch zu sein. »Gern«, sagte er. Das Wohnzimmer war klein, aber gemütlich. »Wenn ich Zeit habe, stelle ich ein paar neue Möbel rein«, sagte Harold. »Moderne. Chrom und Leder. Scheiß auf die Kosten. Ich habe Master-Card.« Larry lachte herzlich. »Im Keller sind ein paar gute Gläser, die hol' ich. Ich glaube, ich verzichte auf die Schokoriegel, wenn es dir nichts ausmacht - ich lass die Süßigkeiten sein und versuche abzunehmen, aber den Wein müssen wir probieren, immerhin ist es ein besonderer Anlaß. Du bist uns durch ganz Maine gefolgt und hast dich nach meinen - unseren - Zeichen gerichtet. Echt stark. Davon mußt du mir erzählen. Nimm derweil den grünen Sessel. Er ist das kleinste Übel.« Während dieses Wortschwalls hatte Larry einen letzten zweifelnden Gedanken: Er redet sogar wie ein Politiker - aalglatt und schnell und gewieft. Harold ging, und Larry setzte sich in den grünen Sessel. Er hörte eine Tür und Harold mit schweren Schritten die Kellertreppe hinuntergehen. Er sah sich um. Nein, keines der großen Wohnzimmer der Welt, aber mit einem Zottelteppich und ein paar neuen Möbeln könnte es was werden. Das beste war der schöne Kamin. Wunderbare Handarbeit, sorgfältig ausgeführt. Aber ein Stein hatte sich gelockert. Es kam Larry vor, als wäre er herausgefallen und etwas nachlässig wieder eingesetzt worden. Es so zu lassen wäre, als würde man ein Teil aus dem Puzzle lassen oder ein Bild schief an die Wand hängen. Er stand auf und nahm den Stein aus dem Kamin. Harold machte sich immer noch im Keller zu schaffen. Larry wollte den Stein gerade wieder einsetzen, als er unten in der Öffnung ein Buch sah, dessen Deckel leicht eingestaubt war, aber nicht so sehr, daß man das goldgeprägte Wort nicht lesen konnte: HAUPTBUCH. Er schämte sich etwas, als hätte er absichtlich herumgeschnüffelt, und setzte rasch den Stein wieder ein, als Harolds Schritte wieder die Treppe heraufkamen. Diesmal saß er perfekt, und als Harold das Zimmer betrat, in jeder Hand ein Weinglas, saß Larry schon wieder in dem grünen Sessel. »Ich mußte sie unten im Spülbecken auswaschen«, sagte Harold. »Sie waren ein wenig staubig.« »Die sehen gut aus«, sagte Larry. »Hör mal, ich kann nicht beschwören, daß der Bordeaux nicht umgekippt ist. Vielleicht ist er schon Essig.« »Wer nicht wagt«, sagte Harold grinsend, »der nicht gewinnt.« Sein Grinsen machte Larry Unbehagen, er mußte an das Hauptbuch denken - gehörte es Harold, oder hatte es dem früheren Besitzer des Hauses gehört? Und wenn es Harolds Buch war, was in aller Welt könnte er hineingeschrieben haben? Sie köpften die Flasche Bordeaux und fanden zu ihrer gemeinsamen Freude heraus, daß der Wein hervorragend war. Nach einer halben Stunde waren sie beide angenehm beschwipst, Harold ein wenig mehr als Larry. Aber Harolds Grinsen war geblieben, sogar noch breiter als vorher. Der Wein hatte Larry ein wenig die Zunge gelöst, als er sagte: »Diese Plakate. Die große Versammlung am achtzehnten August. Wieso bist du nicht in diesem Komitee, Harold? Jemand wie du wäre doch die logische Wahl.« Harolds Lächeln wurde riesig, strahlend. »Nun, ich bin noch ziemlich jung. Wahrscheinlich halten sie mich für zu unerfahren.« »Ich finde, das ist eine Schande.« Fand er das wirklich? Das Grinsen. Der so plötzlich verschwundene finstere Ausdruck von Mißtrauen. Fand er das wirklich? Er war nicht sicher. »Nun, wer weiß, was die Zukunft bringt«, sagte Harold und grinste breit. »Jeder Hund hat seinen Tag.« Gegen fünf Uhr ging Larry. Der Abschied von Harold war freundlich; Harold schüttelte ihm die Hand, grinste und bat ihn, öfter zu kommen. Aber Larry wurde das Gefühl nicht los, daß es Harold scheißegal war, ob er je wiederkam. Langsam ging er den Betonpfad zur Straße hinunter, drehte sich um und wollte winken, aber Harold war schon wieder reingegangen. Die Tür war geschlossen. Im Haus war es kühl gewesen, weil die Jalousien heruntergelassen waren, und das hatte er als angenehm empfunden, aber als er jetzt wieder draußen stand, fiel ihm ein, dass er in Boulder noch nie in einem Haus gewesen war, bei dem die Jalousien heruntergelassen waren. Natürlich gab es viele Häuser mit heruntergelassenen Jalousien. Das waren die Häuser der Toten. Als sie krank wurden, hatten sie die Vorhänge vor der Welt zugezogen. Sie hatten sie zugezogen und waren im Verborgenen gestorben, wie ein Tier, wenn seine Stunde gekommen ist. Die Lebenden - vielleicht in der unbewußten Erkenntnis, daß es einen Tod gibt -, machten Jalousien und Vorhänge weit auf. Er hatte leichte Kopfschmerzen von dem Wein und versuchte sich einzureden, daß die Kopfschmerzen daher kamen, daß sie Teil eines kleineren Katers waren, die gerechte Strafe dafür, daß er guten Wein gekippt hatte wie billigen Muskateller. Aber das traf es nicht genau - nein, ganz und gar nicht. Er sah die Straße hinauf und hinunter und dachte: Gott sei Dank für unsere Scheuklappen. Gott sei Dank für die selektive Wahrnehmung. Denn ohne sie könnten wir alle Figuren in einer Geschichte von Lovecraft sein. Seine Gedanken wurden wirr. Er war plötzlich überzeugt davon, dass Harold ihn hinter den heruntergelassenen Rollos beobachtete, seine Hände sich zum Griff eines Würgers schlössen und öffneten, sein Grinsen in eine Grimasse des Hasses verwandelt worden war... jeder Hund hat seinen Tag. Gleichzeitig erinnerte er sich an die Nacht in Bennington, wo er im Musikpavillon geschlafen hatte und mit dem schrecklichen Gefühl aufgewacht war, es war jemand da... und wie er dann gehört (oder nur geträumt?) hatte, wie staubige Absätze nach Westen stapften. Hör auf. Hör auf, dich verrückt zu machen. Hügel der blutigen Stiefel, assoziierte sein Verstand frei. Herrgott, hör doch auf, wenn ich nur nie über die Toten nachgedacht hätte, die Toten hinter den heruntergelassenen Jalousien und zugezogenen Vorhängen und undurchsichtigen Rollos, im Dunkeln, so wie im Tunnel, im Lincoln Tunnel, Himmel, wenn sie alle anfingen, sich zu bewegen, sich zu regen, lieber Gott, laß das doch... Und plötzlich fiel ihm ein Ausflug mit seiner Mutter in den Bronx -Zoo ein, als er noch klein gewesen war. Sie waren ins Affenhaus gegangen, und der Geruch dort hatte ihn wie ein Schlag getroffen, eine Faust, die nicht nur auf seine Nase schlug, sondern hinein. Er hatte sich umgedreht, um hinauszustürmen, aber seine Mutter hatte ihn aufgehalten. Einfach normal atmen, Larry, hatte sie gesagt. In fünf Minuten merkst du den schlimmen Geruch gar nicht mehr. Und so war er geblieben, obwohl er ihr nicht geglaubt hatte, hatte einfach gekämpft, nicht zu kotzen (schon im Alter von sieben hatte er Kotzen mehr gehaßt als alles andere), und wie sich herausstellte, hatte sie recht gehabt. Als er das nächste Mal wieder auf die Uhr sah, stellte er fest, daß sie schon eine halbe Stunde im Affenhaus waren, und verstand nicht, warum die Damen, die durch die Tür kamen, plötzlich die Hände vor die Nasen schlugen und angeekelt dreinsahen. Das hatte er seiner Mutter gesagt, und Alice Underwood hatte gelacht. Oh, es riecht immer noch schlimm. Nur für dich nicht. Wie kommt das, Mommy? Das weiß ich nicht. Aber das kann jeder. Und jetzt sag dir einfach: >Ich rieche jetzt, wie das Affenhaus WIRKLICH riecht<, und hol dann tief Luft. Das tat er, und der Gestank war da, der Gestank war sogar noch schlimmer als zuvor, beim Eintreten, Hot Dogs und Kirschkuchen kamen wieder nach oben, er stürzte zur Tür und an die frische Luft und es gelang ihm gerade noch, alles unten zu behalten. Das ist selektive Wahrnehmung, dachte er jetzt, und sie wußte, was es war. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, hörte er die Stimme seiner Mutter im Geiste: Sag dir einfach: >Ich rieche jetzt, wie Boulder WIRKLICH riecht.< Und er roch es - einfach so, er roch es. Er roch, was hinter den geschlossenen Türen und heruntergelassenen Rollos und zugezogenen Vorhängen war, er roch die langsame Verwesung, die auch in diesem Ort hier stattfand, der fast verlassen gestorben war. Er ging schneller, rannte nicht, kam dem aber immer näher und näher, er roch den fruchtigen, vollen Gestank, den er - und alle anderen - nicht mehr bewußt wahrnahmen, weil er überall war, weil er alles war, weil er ihre Gedanken färbte und weil man die Rollos nicht herunterließ, nicht einmal beim Liebesakt, denn die Toten liegen hinter heruntergelassenen Rollos und die Lebenden wollen bei allem die Welt sehen. Alles wollte ihm hochkommen, heute nicht Hot Dogs und Kirschkuchen, sondern Wein und Payday -Riegel. Denn dies war ein Affenhaus, aus dem er niemals herauskommen konnte, wenn er nicht auf eine Insel zog, wo niemand je gelebt hatte, und obwohl er das Kotzen immer noch mehr als alles andere haßte, mußte er jetzt... »Larry? Alles klar?« Er war dermaßen verblüfft, daß ein kurzer Laut aus seinem Hals drang - »Yik!« - und er zusammenzuckte. Es war Leo, der etwa drei Blocks von Harolds Haus entfernt auf dem Bordstein saß. Er hatte einen Tischtennisball und ließ ihn auf dem Gehweg auf und ab hüpfen. »Was machst du hier?« fragte Larry. Sein Herzschlag wurde langsam wieder normal. »Ich wollte mit dir nach Hause gehen«, sagte Leo schüchtern, »aber ich wollte nicht zu dem Mann in das Haus.« »Warum nicht?« fragte Larry. Er setzte sich neben Leo auf den Bordstein. Leo zuckte die Achseln und widmete sich wieder seinem Tischtennisball. Dieser prallte immer wieder mit einem leisen KlackKlack auf das Pflaster und in Leos Hand zurück. »Ich weiß nicht.« »Leo?« »Was?« »Es ist sehr wichtig für mich. Denn ich mag Harold... und mag ihn auch wieder nicht. Ich bin geteilter Meinung über ihn. Warst du schon mal geteilter Meinung über jemand?« »Ich habe nur eine Meinung über ihn.« Klack-Klack. »Welche?« »Angst«, sagte Leo. »Können wir nach Hause zu Nadine-Mom und Lucy-Mom gehen?« »Klar.« Schweigend gingen sie die Arapahoe Street hinunter; Leo ließ den Tischtennisball hüpfen und fing ihn geschickt wieder auf. »Tut mir leid, daß du so lange warten mußtest«, sagte Larry. »Ach, macht nichts.« »Nein, wirklich, wenn ich das gewußt hätte, wäre ich früher gekommen.« »Ich hatte ja was zu tun. Ich hab' das auf einem Rasen gefunden. Es ist ein Pong-Ping-Ball.« »Ping-Pong«, korrigierte Larry automatisch. »Was meinst du, warum läßt Harold seine Jalousien herunter?« »Damit keiner reinsehen kann«, sagte Leo. »Dann kann er was Heimliches tun. Es ist wie bei den toten Leuten, nicht?« Klack-Klack. Sie gingen weiter und bogen Ecke Broadway nach Süden ab. Jetzt sahen sie Leute auf der Straße: Frauen, die sich die Kleider in den Schaufenstern ansahen; einen Mann, der eine Hacke bei sich hatte; einen Mann, der sich ein Angelgerät in einem Sportartikelgeschäft hinter einer zerbrochenen Schaufensterscheibe ansah. Larry sah Dick Vollman aus seiner Gruppe in eine andere Richtung radeln. Er winkte Larry und Leo zu. Die beiden winkten zurück. »Was Heimliches«, dachte Larry laut, ohne daß er den Jungen weiter ausfragen wollte. »Vielleicht betet er zu dem dunklen Mann«, sagte Leo nebenbei, und Larry fuhr zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Leo bemerkte es nicht. Er schlug den Ball jetzt auf das Pflaster und fing ihn, wenn er von der Wand abprallte, an der sie gerade vorbeigingen... Klack-plopp. » Meinst du wirklich ?« fragte Larry und bemühte sich, gleichgültig zu klingen. »Ich weiß nicht. Aber er ist nicht wie wir. Er lacht viel. Aber ich glaube, in ihm sind Würmer, die ihn zum Lachen bringen. Große weiße Würmer, die sein Gehirn fressen. Wie Maden.« »Joe... ich meine, Leo...« Leos Augen, dunkel, distanziert und chinesisch, strahlten plötzlich. Er lächelte. »Da ist Dayna. Die mag ich. He, Dayna!« rief er und winkte. »Hast du 'n Kaugummi?« Dayna, die gerade das Kettenrad in ihrem spindeldürren Zehngangrad ölte, drehte sich um und lächelte. Sie griff in die Tasche ihrer Bluse und fächerte fünf Streifen Juicy Fruit wie Pokerkarten auf. Mit einem fröhlichen Lachen rannte Leo zu ihr hinüber, daß seine langen Haare flogen; er hielt den Tischtennisball fest in der Hand, und Larry sah ihm nach. Diese Vorstellung von weißen Maden hinter Harolds Lächeln... woher hatte Joe (nein, Leo, er heißt Leo, glaube ich wenigstens) nur diese komplizierte - und entsetzliche - Idee ? Der Junge war in einer Art Halbtrance gewesen. Und er war nicht der einzige; wie oft hatte Larry in den wenigen Tagen Leute plötzlich auf der Straße stehenbleiben, eine Weile ins Leere starren und dann weitergehen sehen? Alles hatte sich verändert. Die Bandbreite der Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen schien größer geworden zu sein. Es war beängstigend. Larry setzte sich in Bewegung und ging zu Dayna und Leo hinüber, die damit beschäftigt waren, den Kaugummi untereinander aufzuteilen. An diesem Nachmittag fand Stu Frannie auf dem kleinen Hof hinter dem Haus beim Wäschewaschen. Sie hatte eine flache Wanne mit Wasser gefüllt, fast ein halbes Paket Tide hinzugetan und mit einem Besenstiel so lange gerührt, bis eine trübe Brühe entstanden war. Sie wußte nicht, ob sie es richtig gemacht hatte, aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie zu Mutter Abagail ging und ihre Unwissenheit eingestand. Sie warf die Wäsche in das Wasser, sprang wild entschlossen in die Wanne und fing an zu stampfen wie ein sizilianischer Traubentreter. Ihr neues Modell Maytag 5000, dachte sie. Die neue zwei-Fuß-Umwälzmethode, ideal für Ihre Buntwäsche und Feinwäsche und... Als sie sich umdrehte, sah sie ihren Mann in der Hintertür stehen und amüsiert zusehen. Ein wenig außer Atem hörte Frannie auf. »Ha-ha, sehr komisch. Wie lange stehst du schon da, Klugscheißer?« »Ein paar Minuten. Wie nennst du das übrigens? Den Paarungstanz der wilden Waldente?« »Noch mal: ha-ha.« Sie sah ihn kühl an. »Noch so ein dummer Witz, und du kannst heute nacht auf der Couch schlafen, oder mit deinem Freund Glen Bateman auf dem Flagstaff.« »Hör zu, ich wollte nicht...« »Es ist auch Ihre Wäsche, Mr. Stuart Redman. Sie mögen einer der Gründerväter sein, aber Sie hinterlassen dennoch gelegentlich Bremsspuren in Ihren Unterhosen.« Stu grinste, das Grinsen wurde breiter, schließlich fing er an zu lachen. »Das war deutlich, Liebling.« »Im Moment ist mir auch nicht nach Höflichkeiten zumute.« »Gut, komm einen Augenblick raus. Ich muß mit dir reden.« Sie war froh, obwohl sie sich die Füße waschen mußte, bevor sie wieder in die Wanne stieg. Ihr Herz klopfte, aber nicht fröhlich, sondern überfordert wie eine getreue Maschine, die von jemand ohne gesunden Menschenverstand mißbraucht wird. Wenn es meine Ur-Ur-Großmutter so machen mußte, dachte sie, dann hatte sie vielleicht ein Anrecht auf das Zimmer, das schließlich der kostbare Salon ihrer Mutter wurde. Vielleicht hat sie es als Gefahrenzulage betrachtet oder so. Sie betrachtete entmutigt Füße und Waden. Immer noch klebte ein grauer Film Seifenschaum daran. Sie wischte ihn mißfällig ab. »Wenn meine Frau mit der Hand gewaschen hat«, sagte Stu, »hat sie immer ein... wie nennt man das noch? Ein Waschbrett, glaube ich, genommen. Soweit ich weiß, muß meine Mutter ungefähr drei gehabt haben.« »Das weiß ich«, sagte Frannie gereizt. »June Brinkmeyer und ich haben ganz Boulder abgeklappert, um eins aufzutreiben. Wir haben kein einziges gefunden. Die Technologie hat zugeschlagen.« Er lächelte wieder. Frannie stemmte die Hände in die Hüften. »Willst du mich verarschen, Stuart Redman?« »Nein. Aber ich glaube, ich weiß, wo ich dir ein Waschbrett besorgen kann. Und June, wenn sie eins haben will.« »Wo?« »Das muß ich erst noch sehen.« Sein Lächeln verschwand, er legte die Arme um sie und drückte seine Stirn an ihre. »Weißt du, ich finde es lieb von dir, daß du meine Wäsche wäschst«, sagte er, »und ich weiß, daß eine schwangere Frau besser als ihr Mann abschätzen kann, was sie tun und lassen sollte. Aber, Frannie, warum die Arbeit?« »Warum?« Sie sah ihn perplex an. »Was willst du anziehen? Willst du in schmutziger Wäsche rumlaufen?« »Frannie, die Läden sind voll von Kleidung, und ich habe eine gängige Größe.« »Was? Die alten Sachen wegwerfen, nur weil sie schmutzig sind?« Er zuckte unbehaglich die Achseln. »Kommt nicht in Frage, hm-hm«, sagte sie. »Das ist die alte Denkweise, Stu. Wie die Schachteln, in denen die Big Macs waren, oder Einwegflaschen. Damit sollten wir nicht neu anfangen.« Er küßte sie leicht. » Okay. Aber am nächsten Waschtag bin ich dran, hörst du?« »Klar.« Sie lächelte listig. »Und wie lange gilt das? Bis ich entbunden habe?« »Bis der Strom wieder eingeschaltet ist«, sagte Stu. »Dann besorge ich dir die größte, schönste Waschmaschine, die du je gesehen hast, und schließe sie eigenhändig an.« »Angebot angenommen.« Sie küßte ihn, er erwiderte den Kuß, und seine kräftigen Hände fuhren rastlos durch ihr Haar. Davon wurde ihr warm (nein, heiß, warum so zimperlich, ich bin heiß, ich werde immer heiß, wenn er das macht), ihre Brustwarzen stellten sich auf, die Hitze breitete sich bis in den Unterleib aus. »Hör lieber auf«, sagte sie außer Atem, »es sei denn, du willst mehr als mit mir reden.« »Wir können ja später reden.« »Die Wäsche...« »Einweichen ist gut für den tiefen Schmutz«, sagte er ernsthaft. Sie fing an zu lachen, und er verschloß ihr den Mund mit einem Kuß. Als er sie aufhob, auf die Füße stellte und ins Haus führte, spürte sie die Wärme der Sonne auf den Schultern und dachte: Ist es schon jemals so heiß gewesen? War die Sonne schon jemals so stark? Die ganzen Pickel an meinem Rücken sind weg. Ob es an der ultravioletten Strahlung liegt? Oder an der Höhenluft? Ist es hier jeden Sommer so? Ist es immer so heiß? Und dann machte er etwas mit ihr, schon auf der Treppe machte er es, machte sie nackt, machte sie heiß, liebte sie. »Nein, du setzt dich«, sagte er. »Aber...« »Das ist mein Ernst, Frannie.« »Stuart, die Wäsche quillt auf oder so. Ich habe ein halbes Paket Tide reingetan ...« »Mach dir keine Sorgen.« Sie setzte sich unter dem Vordach auf einen Liegestuhl. Nachdem sie wieder heruntergekommen waren, hatte er zwei draußen hingestellt. Stu zog Schuhe und Socken aus und krempelte die Hosenbeine bis über die Knie hoch. Als er in die Wanne stieg und anfing, bierernst auf der Wäsche herumzustampfen, fing sie an zu kichern. Stu sah hinüber und sagte: »Willst du die Nacht auf der Couch verbringen?« »Nein, Stuart«, sagte sie mit gespielter Reue, und dann fing sie wieder an zu kichern... bis ihr die Tränen die Wangen herabliefen und die kleinen Muskeln in ihrem Bauch sich weich wie Gummi anfühlten. Als sie sich wieder in der Gewalt hatte, sagte sie: »Zum dritten und letzten Mal, worüber wolltest du mit mir sprechen?« »Ach ja.« Er marschierte hin und her und hatte schon ordentlich Schaum erzeugt. Ein Paar Bluejeans kamen an die Oberfläche, und er stampfte sie unter das Wasser zurück, so daß cremiger Seifenschaum auf den Rasen spritzte. Frannie dachte: Es sieht ein wenig aus wie... nein, Schluß jetzt, sonst bekommst du vom Lachen noch eine Fehlgeburt. »Wir haben heute abend die erste Ad-hoc-Versammlung«, sagte Stu. »Ich habe zwei Kästen Bier, Käsecracker, Käsedip und Peperoni, die eigentlich noch gut...« »Darum geht es nicht, Frannie. Dick Ellis war heute hier und hat gesagt, daß er aus dem Komitee raus will.« »Echt?« Sie war überrascht. Dick schien ihr nicht der Mann zu sein, der sich vor der Verantwortung drückte. »Er meinte, er würde gern mitarbeiten, aber erst müßten wir hier einen Arzt haben, momentan sei es ihm unmöglich. Heute sind wieder fünfundzwanzig Leute angekommen, und eine Frau hatte eine Blutvergiftung im Bein. Von einem Kratzer, als sie unter einem rostigen Stacheldrahtzaun hindurchgekrochen ist.« »Oh, das ist schlimm.« »Dick hat sie gerettet... Dick und diese Krankenschwester, die mit Underwood gekommen ist. Ein großes, hübsches Mädchen. Laurie Constable heißt sie. Dick sagte, ohne sie wäre die Frau gestorben. Jedenfalls haben sie ihr das Bein unter dem Knie amputiert und sind völlig erschöpft. Sie haben drei Stunden gebraucht. Dann ist da noch ein kleiner Junge mit Krämpfen, und Dick ist halb verrückt, weil er nicht weiß, ob es Epilepsie ist oder eine Art Schädeldruck oder Diabetes. Sie haben einige Fälle von Lebensmittelvergiftung, Leute haben verdorbene Lebensmittel gegessen, und er sagt, daß Leute sterben werden, wenn wir nicht sofort Zettel drucken, damit die Leute erfahren, wie sie ihre Lebensmittel auswählen müssen. Mal sehen, wo war ich stehengeblieben? Zwei gebrochene Arme, zwei Grippefälle...« »Mein Gott! Hast du Grippe gesagt?« »Ruhig. Normale Grippe. Aspirin senkt das Fieber, keine Panik... und es geht nicht wieder hoch. Auch keine schwarzen Flecken am Hals. Aber Dick weiß nicht, welche Antibiotika er anwenden soll, wenn überhaupt, und er sitzt bis in die Nacht hinein, um es rauszufinden. Außerdem hat er Angst, die Grippe könnte um sich greifen und die Leute in Panik versetzen.« »Wer ist es?« »Eine Dame namens Rona Hewett. Sie ist fast den ganzen Weg von Laramie, Wyoming, bis hierher zu Fuß gegangen, und Dick sagt, sie war anfällig.« Fran nickte. »Glücklicherweise scheint sich diese Laurie Constable irgendwie in Dick verschossen zu haben, obwohl er doppelt so alt ist wie sie. Aber das macht wohl nichts.« »Wie edel von dir, daß du ihre Beziehung billigst, Stuart.« Er lächelte. »Jedenfalls ist Dick achtundvierzig, und er hat einen leichten Herzfehler. Im Augenblick meint er, daß er sich nicht zuviel zumuten kann. Herrgott, er studiert praktisch Medizin.« Er sah Frannie ernst an. »Ich verstehe schon, warum Laurie sich in ihn verknallt hat. Er ist so etwas wie ein Held. Er ist nur ein Tierarzt vom Land und hat eine Heidenangst, daß er jemand umbringt. Und er weiß, daß jeden Tag mehr Leute kommen, und manche sind übel mitgenommen.« »Also brauchen wir noch jemand für das Komitee.« »Ja. Ralph Brentner schwört auf diesen Larry Underwood, und wie du gesagt hast, findest du ihn ja auch ganz in Ordnung.« »Ja. Ich glaube, daß er geeignet wäre. Und ich habe heute in der Stadt seine Freundin getroffen, sie heißt Lucy Swann. Sie ist unheimlich nett und hält große Stücke auf Larry.« »Ich glaube, jede gute Frau empfindet so. Aber Frannie, um ganz ehrlich zu sein - es hat mir nicht gefallen, daß er jemandem, den er gerade kennengelernt hat, gleich seine ganze Lebensgeschichte erzählt.« »Ich glaube, das war nur, weil ich von Anfang an mit Harold gereist bin. Ich glaube, er hat nicht verstanden, wieso ich mit dir und nicht mit Harold zusammen bin.« »Ich wüßte gern, was er von Harold hält.« »Frag ihn doch.« »Mach ich.« »Willst du ihm vorschlagen, dem Komitee beizutreten?« *, »Wahrscheinlich.« Er stand auf. »Ich hätte gern diesen alten Knaben, den sie Richter nennen. Aber er ist siebzig, und das ist einfach zu alt.« »Hast du mit ihm über Larry gesprochen?« »Nein, aber Nick. Nick Andros ist ein gescheiter Junge, Fran. Er hat Glen und mir ein paar Flausen ausgetrieben. Glen war zuerst eingeschnappt, aber selbst er mußte zugeben, daß Nicks Einfälle gut waren. Der Richter hat Nick jedenfalls gesagt, daß Larry genau der Mann ist, den wir suchen. Er meinte, Larry findet gerade heraus, dass er für etwas gut ist und noch besser werden kann.« »Das nenne ich eine gute Empfehlung.« »Ja«, sagte Stu. »Aber ich möchte wissen, was er über Harold denkt, bevor ich ihm den Vorschlag mache.« »Was soll das immer mit Harold?« fragte sie aufgebracht. »Ebensogut könnte ich fragen, was ist mit dir, Fran. Du fühlst dich immer noch für ihn verantwortlich.« »Tatsächlich? Ich weiß nicht. Aber wenn ich an ihn denke, habe ich immer noch leichte Schuldgefühle - das kann ich dir sagen.« »Warum? Weil ich ihn ausgebootet habe? Fran, hast du ihn jemals gewollt?« »Nein. Herrgott, nein.« Sie erschauerte fast. »Ich habe ihn einmal belogen«, sagte Stu. »Nun... eigentlich war es keine Lüge. Es war an dem Tag, als wir drei uns getroffen haben. Vierter Juli. Ich glaube, er hat da schon gespürt, was kommen würde. Ich habe gesagt, ich wollte dich nicht. Wie sollte ich da schon wissen, ob ich dich wollte oder nicht? In Büchern gibt es vielleicht Liebe auf den ersten Blick, aber im wahren Leben...« Er verstummte, ein Grinsen breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus. »Weswegen grinst du, Stuart Redman?« »Ich habe gerade nachgedacht«, sagte er, »daß ich im wahren Leben mindestens...« Er rieb sich überlegend das Kinn. »Oh, ich würde sagen, vier Stunden gebraucht habe.« Sie küßte ihn auf die Wange. »Das ist süß.« »Es ist die Wahrheit. Ich glaube jedenfalls, daß er mir das, was ich gesagt habe, immer noch übelnimmt.« »Er sagt kein schlechtes Wort über dich, Stu... oder sonstwen.« »Nein«, stimmte Stu zu. »Er lächelt. Das gefällt mir nicht.« »Du glaubst doch nicht, daß er... Rachepläne schmiedet oder so was?« Stu stand auf und lächelte. »Nein, nicht Harold. Glen denkt, daß sich die Opposition um Harold gruppieren könnte. Das ist in Ordnung. Ich hoffe nur, er versucht nicht kaputtzumachen, was wir momentan alles aufbauen.« »Vergiß nicht, daß er ängstlich und einsam ist.« »Und eifersüchtig.« »Eifersüchtig?« Sie dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Das glaube ich nicht - wirklich nicht. Ich habe mit ihm geredet und bilde mir ein, das wüßte ich. Aber er fühlt sich vielleicht zurückgewiesen. Ich glaube, er hat damit gerechnet, daß er im Adhoc-Komitee sein würde...« »Das war eine von Nicks einseitigen - ist das das richtige Wort? - Entscheidungen, mit der wir alle einverstanden waren. Der Grund war wohl letztlich, daß keiner von uns ihm so ganz traute.« »In Ogunquit«, sagte sie, »war er der unerträglichste Junge, den du dir vorstellen kannst. Ich glaube, vieles war Kompensierung für seine familiäre Situation... ihnen muß es vorgekommen sein, als wäre er aus einem Kuckucksei ausgeschlüpft oder so... aber nach der Grippe schien er sich zu ändern. Jedenfalls in meinen Augen. Er schien zu versuchen, nun... ein Mann zu sein. Dann hat er sich wieder verändert. Auf einmal. Er lächelte ständig. Man konnte nicht mehr mit ihm reden. Er war... in sich gekehrt. Wie Menschen werden, wenn sie zur Religion bekehrt werden oder lesen...« Sie verstummte, und ihre Augen nahmen kurz einen verblüfften Ausdruck an, der fast Angst gleichkam. »Was lesen?« fragte Stu. »Etwas, das ihr Leben verändert«, sagte sie. »Das Kapital. Mein Kampf. Oder vielleicht nur abgefangene Liebesbriefe.« »Wovon sprichst du?« »Hmm?« Sie sah ihn an, als hätte er sie aus einem tiefen Tagtraum geschreckt. Dann lächelte sie. »Nichts. Wolltest du nicht Larry Underwood besuchen?« »Klar... wenn alles in Ordnung ist.« »Mehr als das... mir geht es ungeheuer gut. Geh schon. Husch. Das Treffen ist um sieben. Wenn du dich beeilst, kannst du vorher noch eine Kleinigkeit essen.« »Gut.« Er war am Tor, das den Garten vom Hof trennte, da rief sie ihm nach: »Vergiß nicht, ihn zu fragen, was er von Harold hält.« »Keine Bange«, sagte Stu. »Auf keinen Fall.« »Und sieh ihm in die Augen, wenn er antwortet, Stu.« Als Stu ihn beiläufig nach seinem Eindruck von Harold fragte (da hatte Stu die freie Stelle im Ad-hoc-Komitee noch mit keinem Wort erwähnt), wurden Larry Underwoods Augen argwöhnisch und verwirrt zugleich. »Fran hat dir von meiner Fixierung auf Harold erzählt, hm?« »Jawoll.« Larry und Stu waren im Wohnzimmer des kleinen Reihenhauses am Table Mesa. Draußen in der Küche machte Lucy das Essen, sie wärmte Konserven auf einem Grill, den Larry für sie gebaut hatte. Er lief mit Propangas. Sie sang Verse aus »Honky Tonk Woman« bei der Arbeit und schien sehr glücklich zu sein. Stu zündete eine Zigarette an. Er rauchte nur noch fünf oder sechs am Tag; er wollte nicht riskieren, daß Dick Ellis ihn wegen Lungenkrebs operieren würde. »Nun, die ganze Zeit, während ich Harold folgte, habe ich mir immer wieder gesagt, daß er wohl nicht so aussehen würde, wie ich ihn mir vorstellte. Und so war es auch, aber ich versuche immer noch herauszubekommen, was mit ihm ist. Er war verdammt nett. Ein guter Gastgeber. Er hat die Flasche Wein aufgemacht, die ich mitgebracht hatte, und wir haben angestoßen. Alles wunderbar, aber...« »Aber?« »Wir tauchten plötzlich hinter ihm auf. Leo und ich. Er baute gerade eine Mauer um den Vorgarten und fuhr herum... er hatte uns wohl nicht kommen hören... und einen Augenblick habe ich gedacht: >Mein Gott, der Kerl will mich umbringen.<« Lucy kam herein. »Stu, bleiben Sie zum Essen? Es ist genug da.« »Danke, aber Frannie erwartet mich. Ich kann höchstens eine Viertelstunde bleiben.« »Sicher?« »Nächstes Mal, Lucy. Vielen Dank.« »Okay.« Sie ging in die Küche zurück. »Bist du nur gekommen, um mich nach Harold zu fragen?« fragte Larry. »Nein«, sagte Stu, der zu einem Entschluß gekommen war. »Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du in unserem kleinen Ad-hocKomitee mitarbeiten willst. Einer der anderen, Dick Ellis, mußte absagen.« »So ist es also, ja?« Larry trat ans Fenster und sah auf die stille Straße hinaus. »Ich hatte gedacht, ich könnte wieder Privatmann sein.« »Das mußt du entscheiden. Wir brauchen jemand. Du bist empfohlen worden.« »Von wem, wenn ich fragen darf...« »Wir haben uns erkundigt. Frannie scheint dich für ganz brauchbar zu halten. Und Nick Andres hat mit einem der Männer gesprochen, die mit dir gekommen sind - natürlich nicht gesprochen, du weißt, was ich meine. Richter Farris.« Larry schien erfreut zu sein. »Der Richter hat mich empfohlen, hm? Großartig. Weißt du, ihn solltet ihr nehmen. Er ist klug wie der Teufel.« »Das hat Nick auch gesagt. Aber er ist siebzig, und unsere medizinische Versorgung ist ziemlich primitiv.« Larry drehte sich zu Stu um und lächelte. »Das Komitee ist also nicht so kurzlebig, wie getan wird?« Stu lächelte und entspannte sich etwas. Er hatte sich immer noch nicht entschieden, was er von Larry Underwood hielt, aber es war eindeutig, daß der Mann nicht auf den Kopf gefallen war. »Hmm, ich will mal so sagen. Es wäre uns recht, wenn unser Komitee sich für eine volle Amtsperiode zur Wahl stellen würde.« »Und möglichst ohne Opposition«, sagte Larry. Er sah Stu freundlich aber scharf an - sehr scharf. »Soll ich dir ein Bier bringen?« »Lieber nicht. Ich habe vor ein paar Tagen mit Glen Bateman zusammen zuviel getrunken. Fran ist geduldig, aber irgendwo hat ihre Geduld Grenzen. Was meinst du, Larry? Willst du mitmachen?« »Ich denke... ach, verdammt, ich sage ja. Ich dachte, nichts auf der Welt würde mich glücklicher machen, als meine Leute loszuwerden und jemand anderem die Verantwortung zu geben. Und jetzt, bitte die Ausdrucksweise zu entschuldigen, fällt mir vor Langeweile der Hintern ab...« »Wir treffen uns heute abend in meiner Wohnung, um ein wenig über die große Versammlung am achtzehnten zu reden. Könntest du kommen?« »Kann ich Lucy mitbringen?« Stu schüttelte langsam den Kopf. »Du darfst nicht einmal mit ihr darüber reden. Gewisse Dinge wollen wir fürs erste geheimhalten.« Larrys Lächeln verschwand. »Ich bin kein Mantel-und-Degen-Typ, Stu. Das möchte ich klarstellen, damit es später keinen Ärger gibt. Ich denke, das im Juni konnte nur geschehen, weil zu viele Leute zu viele Dinge verschleiert haben. Das war keine Strafe Gottes. Das war eine von Menschen angerichtete grandiose Versaubeutelung.« »Das solltest du nicht Mutter Abagail sagen«, sagte Stu. Er lächelte immer noch erleichtert. »Im übrigen bin ich deiner Meinung. Aber würdest du genauso denken, wenn Krieg wäre?« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Diesen Mann, von dem wir geträumt haben. Ich bezweifle, daß er einfach verschwunden ist.« Larry sah erschrocken und nachdenklich drein. »Glen sagt, er kann verstehen, warum niemand darüber spricht«, fuhr Stu fort, »obwohl wir alle gewarnt worden sind. Die Leute hier leiden immer noch an der Kriegsneurose. Sie haben das Gefühl, durch die Hölle gegangen zu sein, um hierher zu kommen. Sie wollen nur noch ihre Wunden lecken und ihre Toten begraben. Aber wenn Mutter Abagail hier ist, muß er dort sein.« Stu machte eine Kopfbewegung zum Fenster, das den Blick auf die im Sommerdunst aufragenden Flatirons freigab. »Und auch wenn die meisten Leute hier nicht an ihn denken, ich wette meinen letzten Dollar, daß er an uns denkt.« Larry sah zur Küchentür hinüber, aber Lucy war nach draußen gegangen und unterhielt sich mit Jane Hovington von nebenan. »Du glaubst, er ist hinter uns her«, sagte er mit leiser Stimme. »Hübscher Gedanke kurz vor dem Essen. Gut für den Appetit.« »Larry, ich bin meiner Sache selbst nicht sicher. Aber Mutter Abagail sagt, es wird so oder so nicht vorbei sein, bis er uns hat oder wir ihn.« »Hoffentlich erzählt sie es nicht weiter. Die Leute würden nach Australien auswandern.« »Ich dachte, du hältst nichts von Geheimniskrämerei.« »Nein, aber das...« Larry verstummte. Stu lächelte freundlich, und Larry lächelte etwas gallig zurück. »Okay. Ein Punkt für dich. Wir werden es durchdiskutieren und den Mund halten.« »Fein. Also bis sieben.« »Geht in Ordnung.« Sie gingen zusammen zur Tür. »Dank Lucy noch mal für die Einladung«, sägte Stu. »Frannie und ich werden sie bald beim Wort nehmen.« »Okay.« Als Stu schon an der Tür war, sagte Larry: »He!« Stu drehte sich fragend um. »Da ist ein Junge«, sagte Larry langsam, »der mit uns aus Maine gekommen ist. Er heißt Leo Rockway. Ein Problemfall. Lucy und ich teilen ihn gewissermaßen mit einer Frau namens Nadine Cross. Nadine ist selbst etwas ungewöhnlich, weißt du.« Stu nickte. Es wurde erzählt, daß es zwischen Mutter Abagail und dieser Cross eine sonderbare Szene gegeben hatte, als Larry mit seiner Gruppe ankam. »Bevor ich sie getroffen habe, hat Nadine für Leo gesorgt. Leo scheint in die Menschen hineinsehen zu können. Und er ist nicht der einzige. Vielleicht hat es schon immer solche Menschen gegeben, aber seit der Grippe scheinen es irgendwie mehr geworden zu sein. Und Leo... er hat sich geweigert, Harolds Haus zu betreten. Er wollte nicht einmal auf dem Rasen sitzenbleiben. Das ist... irgendwie seltsam, nicht?« »Stimmt«, meinte Stu. Sie sahen sich einen Augenblick nachdenklich an, dann ging Stu nach Hause zum Abendessen. Beim Essen schien Frannie mit sich selbst beschäftigt zu sein und sagte wenig. Und während sie in einem Plastikeimer mit warmem Wasser das letzte Geschirr spülte, erschienen schon die Leute zur ersten Sitzung des Ad-hoc-Komitees der Freien Zone. Als Stu zu Larry gegangen war, lief Frannie nach oben ins Schlafzimmer. In einer Ecke des Schranks lag der Schlafsack, den sie auf dem Motorradgepäckträger durch das Land kutschiert hatte. Ihre persönlichen Sachen bewahrte sie in einer kleinen Tasche mit Reißverschluß auf. Die meisten davon hatte sie schon in der Wohnung verteilt, die sie mit Stu teilte, aber manche hatten noch keinen Platz gefunden und steckten im Schlafsack. Einige Flaschen Reinigungsmilch - nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie eine Zeitlang an Hautausschlag gelitten, aber der war inzwischen weg -; eine Packung Slipeinlagen für den Fall, daß sie Ausfluß haben sollte (sie hatte gehört, daß das bei schwangeren Frauen manchmal vorkam); zwei Kisten billige Zigarren, die eine mit der Aufschrift: ES IST EIN JUNGE!, die andere mit: ES IST EIN MÄDCHEN! Zuletzt ihr Tagebuch. Sie zog es heraus und betrachtete es nachdenklich. Seit ihrer Ankunft in Boulder hatte sie nur acht oder neun Einträge gemacht, die meisten kurz, fast bruchstückhaft. Den größten Ausstoß hatte sie gehabt, als sie noch unterwegs gewesen waren... wie eine Nachgeburt, dachte sie etwas reuig. In den letzten vier Tagen hatte sie gar nichts geschrieben und vermutete, daß das Tagebuch vielleicht einmal völlig in Vergessenheit geraten wäre, obwohl sie es um so penibler führen wollte, wenn alles ruhiger geworden war. Für das Baby. Aber jetzt dachte sie wieder an nichts anderes. Wie Menschen werden, wenn sie zur Religion bekehrt werden... oder etwas lesen, das ihr Leben verändert... vielleicht nur abgefangene Liebesbriefe ... Plötzlich kam es ihr so vor, als wäre das Buch schwerer geworden und als würde ihr der Schweiß auf der Stirn ausbrechen, wenn sie nur den Pappband aufschlug und... und... Sie sah plötzlich über die Schulter, ihr Herz klopfte wie wild. Hatte sich hinter ihr etwas bewegt? Vielleicht eine Maus hinter der Wand. Nichts anderes. Wahrscheinlich nur Einbildung. Es gab keinen Grund, überhaupt keinen, jetzt plötzlich an den Mann im schwarzen Mantel zu denken, den Mann mit dem Kleiderbügel. Ihr Baby lebte und war in Sicherheit, und dies war nur ein Buch, und es gab keine Möglichkeit festzustellen, ob jemand es gelesen hatte, und selbst wenn, konnte man nicht wissen, ob es Harold Lauder gewesen war. Dennoch schlug sie das Buch auf, blätterte es langsam durch und bekam Momentaufnahmen der jüngsten Vergangenheit wie Schwarzweißbilder eines Amateurfotografen. Heimkino der Gedanken. Heute haben wir sie bewundert, und Harold redete über Farbe & Struktur & Ton, und Stu blinzelte mir sehr ernst zu. Ich Böse habe zurückgeblinzelt... Harold wird natürlich aus Prinzip dagegen sein. Verdammt, Harold, werd erwachsen! ... und ich sah schon, daß er wieder eine seiner patentierten Harold-7 3 7 - Lauder-Klugscheißerbemerkungen loslassen wollte... (Mein Gott, Fran, warum hast du das alles über ihn geschrieben? Zu welchem Zweck?) Nun, du kennst ja Harold... seine Großspurigkeit... diese bombastischen Sprüche... ein unsicherer kleiner Junge...  Das war am 12. Juli. Sie zuckte zusammen und blätterte hastig weiter, immer schneller, um es hinter sich zu bringen. Die Sätze sprangen ihr entgegen, ohrfeigten sie: Zur Abwechslung hat Harold heute ziemlich sauber gerochen ... Harolds Mundgeruch hätte heute abend selbst einen Drachen vertrieben... Und ein fast prophetischer Satz: Er sammelt Zurückweisungen wie einen Piratenschatz. Aber zu welchem Zweck? Um seinem heimlichen Gefühl der Überlegenheit und seinem Verfolgungswahn Nahrung zu geben? Oder ging es um Vergeltung? Oh, er macht eine Liste... und prüfet sie fein ...er weiß ganz genau... wer bös' ist und rein... Dann am 1. August, gerade zwei Wochen alt. Die Eintragung fing unten auf einer Seite an. Gestern abend keine Eintragung. Ich war zu glücklich. War ich schon jemals so glücklich? Ich glaube nicht. Stu und ich sind zusammen. Wir Ende der Seite. Sie schlug die nächste auf. Die ersten Worte: haben zweimal miteinander geschlafen. Aber das sah sie kaum, denn sie betrachtete die Mitte der Seite. Dort, neben Geschwätz über Mutterinstinkte, war etwas, das sie erstarren ließ. Es war ein dunkler, schmieriger Daumenabdruck. Sie dachte panisch: Ich bin den ganzen Tag Motorrad gefahren, jeden Tag, sicher, ich habe mich immer so gut es ging gewaschen, aber die Hände werden schmutzig und... Sie streckte die Hand aus und war nicht überrascht, daß sie stark zitterte. Sie legte den Daumen auf den Fleck. Der Fleck war viel größer. Logisch, sagte sie zu sich. Wenn man etwas verschmiert, wird es selbstverständlich größer. Darum; nur darum... Aber der Daumenabdruck war nicht so verschmiert. Die kleinen Kringel und Streifen waren größtenteils noch deutlich. Und es war weder Schmiere noch Öl, da mußte sie sich gar nichts vormachen. Es war getrocknete Schokolade. Paydays, dachte Fran voll Ekel. Payday-Schokoriegel. Einen Augenblick hatte sie solche Angst, daß sie es kaum wagte, sich umzudrehen - sie hatte Angst, Harolds Grinsen über ihrer Schulter hängen zu sehen wie das Grinsen der Cheshire-Katze in Alice. Harolds wulstige Lippen sich bewegen zu sehen, wenn er feierlich sagte: Jeder Hund hat seinen Tag, Frannie. Jeder Hund hat seinen Tag. Aber selbst wenn Harold heimlich einen Blick in ihr Tagebuch geworfen hatte, mußte das bedeuten, daß er einen Rachefeldzug gegen sie oder Stu oder die anderen plante? Aber Harold hat sich verändert, flüsterte eine innere Stimme. »Verdammt, so sehr hat er sich nicht verändert!« schrie sie in das leere Zimmer. Sie zuckte beim Klang ihrer eigenen Stimme zusammen, dann lachte sie zittrig. Sie ging nach unten und bereitete das Abendessen vor. Wegen der Versammlung wollten sie heute früh essen... aber plötzlich kam ihr die Versammlung nicht mehr so wichtig wie vorher vor. Auszüge aus dem Protokoll der Sitzung des Ad-hoc-Komitees 13. August 1990 Die Sitzung fand in der Wohnung von Stuart Redman und Frances Goldsmith statt. Alle Mitglieder des Ad-hoc -Komitees waren anwesend, im einzelnen: Stuart Redman, Frances Goldsmith, Nick Andres, Glen Bateman, Ralph Brentner, Susan Stern und Larry Underwood... Zum Leiter der Sitzung wurde Stu Redman, zur Protokollführerin Frances Goldsmith gewählt... Diese Aufzeichnungen (einschließlich Räuspern und Rülpsen auf Memorex-Kassetten, aufgezeichnet für jeden, der verrückt genug ist, es sich anzuhören) werden in einem Schließfach der First Bank of Boulder deponiert... Stu Redman präsentierte einen von Dick Ellis und Laurie Constable verfaßten Leitfaden zum Problem der Lebensmittelvergiftungen (auffällig betitelt WENN SIE ESSEN, SOLLTEN SIE DIES LESEN!). Er sagte, Dick wolle diesen Bericht noch vor der großen Versammlung am 18. August drucken und überall in Boulder anschlagen lassen, denn es habe schon fünfzehn Fälle von Lebensmittelvergiftung in Boulder gegeben, darunter zwei sehr ernste. Das Komitee beschloß 7:0 tausend Exemplare von Dicks Plakat drucken zu lassen und zehn Leute damit zu beauftragen, es überall in der Stadt auszuhängen... Susan Stern brachte ein Thema zur Sprache, das Dick und Laurie der Versammlung präsentieren wollten (und uns allen wäre es lieb gewesen, wenn der eine oder andere dabei gewesen wäre). Die beiden finden, daß ein Beerdigungskomitee nötig ist; Dick bestand darauf, dieses Thema vor der öffentlichen Versammlung zur Sprache zu bringen, aber nicht als Seuchenproblem - was vielleicht Panik auslösen würde -, sondern als moralische Verpflichtung. Wir alle wissen, daß es im Verhältnis zur Bevölkerungszahl vor Ausbruch der Seuche in Boulder überraschend wenige Leichen gibt, aber wir wissen nicht, warum... nicht, daß es wichtig wäre. Aber es gibt immer noch Tausende Leichen, und wenn wir hierbleiben wollen, müssen sie weggeschafft werden. Stu wollte wissen, wie dringlich das Problem sei, und Susan sagte, daß es im Herbst kritisch würde, weil nach der heißen Trockenperiode normalerweise Niederschläge einsetzen. Larry Underwood beantragte, Dicks Vorschlag, ein Beerdigungskomitee einzusetzen, in der Tagesordnung für die Versammlung am 18. August zu berücksichtigen. Der Antrag wurde 7:0 angenommen. Dann wurde Nick Andros aufgerufen. Ralph Brentner verlas seinen vorbereiteten Kommentar, den ich hier wörtlich zitiere: »Eine der wichtigsten Fragen, mit denen sich dieses Komitee unbedingt befassen muß, ist die, ob wir Mutter Abagail uneingeschränkt ins Vertrauen ziehen können und ob wir sie über alles informieren sollen, was in unseren Versammlungen besprochen wird, ob sie nun öffentlich oder geheim sind. Die Frage kann auch andersherum gestellt werden: >Soll Mutter Abagail dieses Komitee - und das ständige Komitee, das folgen wird - ins Vertrauen ziehen, und soll das Komitee über alles informiert werden, was bei ihren Begegnungen mit Gott, oder wem auch immer, besprochen wird, besonders bei den geheimen ?< Das mag sich nach Quatsch anhören, und ich will es erklären, denn es ist eigentlich eine ganz pragmatische Frage. Wir müssen Mutter Abagails Stellung in unserer Gemeinschaft sofort festlegen, denn unser Problem besteht nicht nur darin, >wieder auf die Füße zu kommen<. Wenn das alles wäre, würden wir sie überhaupt nicht brauchen. Wir wissen alle, daß es ein weiteres Problem gibt, das des Mannes, den unsereins bisweilen als den dunklen Mann bezeichnet oder Glen, wie er sich ausdrückt, als den Gegenspieler. Mein Beweis für seine Existenz ist sehr einfach, das werdet ihr gleich sehen, und ich glaube, daß die meisten Leute in Boulder meiner Argumentation folgen würden - wenn sie überhaupt an das Problem denken wollen. Hier ist mein Beweis: Ich habe von Mutter Abagail geträumt, und sie existiert; ich habe von dem dunklen Mann geträumt, und deshalb muß er auch existieren, obwohl ich ihn nie gesehen habe. Die Menschen hier lieben alle Mutter Abagail, und ich liebe sie auch. Aber wir werden nicht sehr weit kommen - ja, wir werden überhaupt nichts erreichen -, wenn wir nicht von Anfang an ihre Zustimmung für unsere Pläne einholen. Deshalb habe ich die alte Dame heute nachmittag auch aufgesucht, und ich habe sie direkt und mit allem Nachdruck gefragt: Wollen Sie mit uns zusammenarbeiten? Sie ist dazu bereit, aber sie stellte eine Reihe von Bedingungen. Sie war ganz ehrlich und offen. Sie sagte, sie würde es uns überlassen, die >weltlichen Angelegenheiten der Gemeinschaft wahrzunehmen - ihre Formulierung. Unsere Aufgabe müßte es sein, die Straßen frei zu machen, Wohnraum zuzuteilen, den Strom wieder einzuschalten. Aber sie machte deutlich, daß sie in allen Angelegenheiten, die mit dem dunklen Mann zu tun haben, konsultiert werden will. Sie glaubt, daß wir alle die Figuren in einem Schachspiel zwischen Gott und dem Satan sind und daß der Gegenspieler in diesem Spiel der Vertreter des Satans ist. Sie sagt, daß er Randall Flagg heißt (>der Name, den er diesmal benutzt waren ihre Worte); daß Gott aus Gründen, die nur er weiß, sie in dieser Angelegenheit als seine Vertreterin ausersehen hat. Sie glaubt, und hier stimme ich ihr zu, daß ein Kampf bevorsteht: wir oder er. Sie glaubt, daß dieser Kampf wichtiger ist als alles andere, und besteht unerbittlich darauf, konsultiert zu werden, wenn unsere Pläne damit zu tun haben... und mit ihm. Ich will nicht auf die religiösen Aspekte eingehen oder diskutieren, ob sie recht hat oder nicht. Aber klar ist, daß wir uns, davon abgesehen, in einer Situation befinden, mit der wir fertig werden müssen. Deshalb möchte ich einige Anträge stellen.« Nicks Vortrag wurde diskutiert. Nick stellte diesen Antrag: Können wir, als Komitee, uns darauf einigen, während der Versammlungen nicht über die theologischen, religiösen oder übernatürlichen Verwicklungen des Gegenspielers zu sprechen? Das Komitee sprach sich 7:0 dafür aus, sich Diskussionen über dieses Thema zu enthalten, wenigstens »während der Versammlungen«. Dann stellte Nick diesen Antrag: Können wir uns darauf einigen, dass alle Angelegenheiten, die mit der als dunkler Mann, Gegenspieler oder Randall Flagg bekannten Macht im Zusammenhang stehen, im Komitee unter strikter Geheimhaltung abgehandelt werden? Glen Bateman unterstützte diesen Antrag und fügte hinzu, daß es von Zeit zu Zeit auch andere Angelegenheiten geben könne - wie zum Beispiel der wahre Grund für die Einsetzung eines Beerdigungskomitees -, die geheimgehalten werden müßten. Der Antrag wurde 7: 0 angenommen. Dann stellte Nick seinen ursprünglichen Antrag, Mutter Abagail über alle öffentlich oder geheim im Komitee behandelten Angelegenheiten zu informieren. Dieser Antrag wurde 7:0 angenommen. Nachdem das Thema Mutter Abagail vorläufig abgehandelt war, beschäftigte sich das Komitee auf Nicks Antrag mit dem Problem, das der dunkle Mann selbst darstellt. Nick schlug vor, drei Freiwillige nach Westen zu schicken, die sich unter seine Leute mischen und Informationen sammeln sollen, was dort wirklich vor sich geht. Susan Stern meldete sich sofort freiwillig. Das führte zu einer heftigen Diskussion, dann erteilte Stu Glen Bateman das Wort, der folgenden Antrag stellte: Man möge beschließen, daß kein Mitglied des Ad-hoc-Komitees oder des ständigen Komitees sich freiwillig für dieses Unternehmen melden dürfe. Sue Stern wollte wissen, warum. Glen: »Jeder erkennt deinen aufrichtigen Wunsch zu helfen an, Sue, aber Tatsache ist, daß wir einfach nicht wissen, ob die Leute, die wir schicken, jemals zurückkommen werden und wir haben keine Ahnung, in welchem Zustand. Inzwischen haben wir die nicht ganz leichte Aufgabe, in Boulder wieder Ordnung zu schaffen. Wenn du nicht mehr hier bist, brauchen wir jemanden, der deinen Platz einnimmt, und er müßte über alles informiert werden, was wir bereits durchgesprochen haben. Diesen Zeitverlust können wir uns nicht leisten.« Sue: »Ich glaube, du hast recht... oder bist wenigstens vernünftig... aber manchmal frage ich mich, ob beides immer ein und dasselbe ist. Oder selbst für gewöhnlich dasselbe. In Wirklichkeit sagst du, wir können keinen vom Komitee schicken, weil wir alle so verdammt unentbehrlich sind. Also gehen wir einfach her und... und... ich weiss nicht...« Stu: »Ruhen uns auf unseren Lorbeeren aus?« Sue: »Ja. Danke. Genau das habe ich gemeint. Wir ruhen uns auf unseren Lorbeeren aus und schicken jemand anderen hin, der möglicherweise an einem Telefonmast gekreuzigt wird, möglicherweise Schlimmeres.« Ralph: »Verflucht, was könnte denn schlimmer sein?« Sue: »Ich weiß nicht, aber wenn es jemand weiß, dann Flagg. Das stinkt mir eben.« Glen: »Es mag dir stinken, aber du hast unsere Position sehr klar umrissen. Wir sind hier Politiker. Die ersten Politiker des neuen Zeitalters. Wir können nur hoffen, daß unsere Sache gerechter ist als alle, für die Politiker Menschen vor uns in Situationen geschickt haben, bei denen es um Leben und Tod ging.« Sue: »Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich mal Politikerin werde.« Larry: »Willkommen im Club.« Glens Antrag, daß niemand vom Ad-hoc-Komitee als Kundschafter geschickt werden sollte, wurde - mißvergnügt - mit 7:0 angenommen. Daraufhin fragte Fran Goldsmith Nick, welche Qualifikationen mögliche Geheimagenten haben und was sie herausfinden sollten. Nick: »Wir wissen erst, was es herauszufinden gibt, wenn sie zurückkommen. Wenn sie zurückkommen. Tatsache ist, wir haben keine Ahnung, was er da drüben vorhat. Wir sind mehr oder weniger Angler mit menschlichen Ködern.« Stu sagte, seiner Meinung nach sollte das Komitee die Leute aussuchen, denen der Vorschlag unterbreitet werden soll, was sofort allgemeine Zustimmung fand. Gemäß Abstimmung des Komitees wurde die Diskussion von diesem Punkt an weitgehend wortwörtlich von den Tonbandaufzeichnungen niedergeschrieben. Es schien allen wichtig, dauerhafte Aufzeichnungen über ihre Betrachtungen zum Thema Kundschafter (oder Spione) zu haben, weil das Thema nicht nur kompliziert, sondern zugleich höchst beunruhigend war. Larry: »Ich wüßte jemanden, den ich in die engere Wahl ziehen würde, wenn ich könnte. Es mag sich für alle, die ihn nicht kennen, weit hergeholt anhören, aber ich finde es eine gute Idee. Ich würde gern Richter Farris schicken.« Sue: » Was, den alten Mann ? Larry, du mußt den Verstand verloren haben!« Larry: »Er ist der klügste alte Mann, den ich je getroffen habe. Und fürs Protokoll, er ist erst siebzig. Vergeßt nicht, Ronald Reagan war als Präsident noch älter.« Fran: »Das würde ich nicht als besonders gute Empfehlung betrachten.« Larry: »Aber er ist rüstig und gesund. Und ich denke, der dunkle Mann geht nicht davon aus, daß wir einen alten Tattergreis wie Farris schicken, um ihn auszuspionieren... und wir dürfen seinen Argwohn nicht außer acht lassen, wißt ihr. Er muß mit so einem Schachzug rechnen, und es würde mich nicht wundern, wenn er da drüben Grenzposten hat, die Neuankömmlinge auf mögliche Spione abklopfen. Und - es wird sich brutal anhören, ich weiß, besonders für Fran - wenn wir ihn verlieren, haben wir nicht jemanden verloren, der noch gute fünfzig Jahre vor sich hat.« Fran: »Du hast recht. Das hört sich brutal an.« Larry: »Ich möchte nur noch anfügen, ich weiß, der Richter würde ja sagen. Er will wirklich helfen. Und ich glaube felsenfest, daß er es bringen würde.« Glen: »Gut vorgetragen. Was meinen die anderen?« Ralph: »Ich schließe mich beiden an, weil ich den Herrn nicht kenne. Aber ich bin der Meinung, wir sollten den Mann nicht grundsätzlich außen vor lassen, weil er alt ist. Überlegt mal, wer hier das Sagen hat - eine alte Frau mit über hundert.« Glen: »Ebenfalls gut gesagt.« Stu: »Du hörst dich wie ein Tennisschiedsrichter an, Platte.« Sue: »Hör mal, Larry. Was ist, wenn er den dunklen Mann überlistet und dann an einem Herzanfall stirbt, während er sich die Beine aus dem Bauch läuft, um zurückzukommen?« Stu: »Das könnte jedem passieren. Oder ein Unfall.« Sue: »Zugegeben... aber bei einem alten Mann ist das Risiko größer.« Larry: »Stimmt, aber du kennst den Richter nicht, Sue. Wenn, dann würdest du einsehen, daß die Vorteile die Nachteile überwiegen. Er ist echt klug. Die Verteidigung ruht.« Stu: »Ich finde, Larry hat recht. Mit so etwas rechnet Flagg vielleicht nicht. Ich unterstütze den Antrag. Wer ist noch dafür?« Das Komitee stimmte dafür, 7:0. Sue: »Nun, ich habe deinen Vorschlag unterstützt, Larry - vielleicht unterstützt du meinen.« Larry: »Na klar, so ist das in der Politik. [Allgemeines Gelächter.] Wer ist es?« Sue: »Dayna.« Ralph: »Welche Dayna?« Sue: »Dayna Jürgens. Sie hat mehr Mumm als jede Frau, die ich sonst kenne. Ich weiß, sie ist keine siebzig, aber wenn wir ihr den Vorschlag unterbreiten, wird sie zustimmen.« Fran: »Ja - ich glaube, wenn es wirklich sein muß, wäre sie geeignet. Ich unterstütze den Vorschlag.« Stu: »Okay - es wurde beantragt und unterstützt, daß wir Dayna Jürgens bitten. Wer ist dafür?« Das Komitee stimmte mit ja, 7:0. Glen: »Okay - wer ist Nummer drei?« Nick (von Ralph vorgelesen): »Wenn Fran Larrys Vorschlag nicht gefallen hat, dann wird ihr, fürchte ich, meiner überhaupt nicht gefallen. Ich nominiere ...« Ralph: »Nick, du bist verrückt! Das ist doch nicht dein Ernst!« Stu: »Komm schon, Ralph, lies einfach vor.« Ralph: »Nun... hier steht, wen er nominieren möchte... Tom Cullen.« Aufruhr des Komitees. Stu: »Okay: Nick hat das Wort. Er hat geschrieben wie ein Irrer, also solltest du es auch vorlesen, Ralph.« Nick: »Zunächst einmal kenne ich Tom so gut, wie Larry den Richter kennt, wahrscheinlich besser. Er liebt Mutter Abagail. Er würde alles für sie tun, sich sogar über kleiner Flamme rösten lassen. Das ist mein Ernst - keine Übertreibung. Er würde sich selbst für sie anzünden, wenn sie es von ihm verlangen würde.« Fran: »O Nick, das bestreitet ja niemand, aber Tom ist...« Stu: »Laß - Nick hat das Wort.« Nick: »Als zweites Argument kann ich nur dasselbe bringen wie Larry beim Richter. Unser Gegenspieler wird mit allem rechnen, aber ganz sicher nicht damit, daß wir einen Zurückgebliebenen als Spion zu ihm schicken. Eure Reaktionen auf diesen Vorschlag sind wahrscheinlich das beste Argument dafür. So einen Schritt kann er nicht einkalkulieren. Mein drittes - und letztes - Argument ist, Tom mag zwar zurückgeblieben sein, aber er ist kein Schwachkopf. Er hat mir einmal das Leben gerettet, als ein Tornado gekommen ist, und er hat viel schneller reagiert als sonst jemand, den ich kenne. Tom ist kindisch, aber selbst einem Kind kann man bestimmte Sachen beibringen, wenn man sie ihm einbleut. Ich sehe kein Problem, Tom eine einfache Geschichte zu geben, die er sich einprägen kann. Letztendlich werden sie alle davon ausgehen, daß wir ihn weggeschickt haben, weil...« Sue: »Weil wir nicht wollen, daß er unser Genreservoir befleckt? Ja, das ist gut.« Nick: »... weil er zurückgeblieben ist. Er kann sogar sagen, er ist böse auf die Leute, die ihn weggeschickt haben, und will es ihnen heimzahlen. Man müßte ihm nur eines einschärfen, daß er nie von seiner Geschichte abweicht, was auch immer geschieht.« Fran: »Oh, ich kann mir nicht vorstellen...« Stu: »Hör zu, Nick hat das Wort. Wir wollen uns an die Regeln halten.« Fran: »Ja - tut mir leid.« Nick: »Manche von euch denken vielleicht, weil Tom zurückgeblieben ist, dürfte es leichter sein, ihm die Wahrheit zu entlocken als einem intelligenteren Menschen, aber...« Larry: »Ja.« Nick: »...aber in Wirklichkeit ist es umgekehrt. Wenn ich Tom sage, er muß sich an die Geschichte halten, die ich ihm gebe, was auch immer passiert, dann wird er das tun. Ein sogenannter normaler Mensch kann nur soundsoviel Stunden Wasserfolter aushaken, oder soundsoviel Elektroschocks und Splitter unter den Fingernägeln...« Fran: »Dazu wird es doch nicht kommen, oder? Oder? Ich meine, es glaubt doch niemand ernsthaft, daß es dazu kommen würde, nicht?« Nick: »...bis er sagt: >Okay, ich gebe auf. Ich sage alles, was ich weiß.< Das wird Tom niemals machen. Wenn er seine Geschichte lange genug übt, kennt er sie nicht nur auswendig, er wird fast glauben, daß sie wahr ist. Niemand wird ihn erschüttern können. Ich möchte nur klarstellen, daß Toms Behinderung bei einem solchen Unternehmen sogar ein Plus sein kann. >Unternehmen< hört sich vielleicht wichtigtuerisch an, aber genau das ist es.« Stu: »Ist das alles, Ralph?« Ralph: »Noch eine Kleinigkeit.« Sue: »Wenn er seine Geschichte tatsächlich glaubt, Nick, wie soll er dann wissen, wann er zurückkommen muß?« Ralph: »Bitte um Entschuldigung, aber es sieht so aus, als würde es genau darum gehen.« Sue: »Oh.« Nick (von Ralph vorgelesen): »Wir können Tom einen posthypnotischen Befehl geben, bevor wir ihn losschicken. Auch das sage ich nicht einfach ins Blaue hinein; als ich den Einfall gehabt habe, habe ich Stan Nogotny gefragt, ob er versuchen würde, Tom zu hypnotisieren. Stan hat das manchmal als Trick bei Partys gemacht, habe ich ihn sagen hören. Nun, Stan dachte nicht, daß es funktionieren würde... aber Tom war binnen sechs Sekunden weg.« Stu: »Wäre ich auch. Das beherrscht der olle Stan, hm?« Nick: »Der Grund dafür, weshalb ich Tom für ultraempfänglich halte, reicht zu der Zeit zurück, als ich ihn in Oklahoma kennengelernt habe. Er hat sich offenbar im Lauf der Jahre den Trick angeeignet, sich selbst zu hypnotisieren - bis zu einem gewissen Grad. Dadurch kann er leichter Schlüsse ziehen. Am Tag, als ich ihn kennenlernte, wußte er nicht, was ich wollte - warum ich nicht mit ihm redete oder seine Fragen beantwortete. Ich habe dauernd die Hand auf den Mund und dann den Hals gelegt, um ihm zu zeigen, daß ich stumm bin, aber er hat es nicht begriffen. Dann hat er auf einmal einfach abgeschaltet. Besser kann ich es nicht erklären. Er stand vollkommen reglos da. Seine Augen sahen in die Ferne. Dann kam er zu sich wie ein Hypnotisierter zu sich kommt, wenn ihm der Hypnotiseur sagt, daß es vorbei ist. Und er wußte es. Einfach so. Er hat sich in sich selbst verkrochen und die Lösung gefunden.« Glen: »Wirklich erstaunlich.« Stu: »Unbedingt.« Nick: »Als wir das versucht haben, vor etwa fünf Tagen, habe ich ihm von Stan einen posthypnotischen Befehl geben lassen. Der Vorschlag war, wenn Stan sagt: >Ich würde gerne einen Elefanten sehen<, sollte Tom den Drang verspüren, in die Ecke zu gehen und einen Kopfstand zu machen. Stan hat es eine halbe Stunde, nachdem er Tom geweckt hatte, gesagt, und Tom lief sofort in die Ecke und hat den Kopfstand gemacht. Sämtliche Spielsachen und Murmeln sind ihm aus den Taschen gefallen. Dann setzte er sich, grinste uns an und sagte: Jetzt frag' ich mich, warum Tom Cullen das gemacht hat?<« Glen: »Das kann ich förmlich hören.« Nick: »Diese weitschweifige Erklärung der Hypnose dient nur dazu, zwei einfache Punkte klarzumachen. Erstens, wir können einen posthypnotischen Befehl einsetzen, daß Tom zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückkehrt. Logisch wäre der Mond. Vollmond. Zweitens, wir versetzen ihn in tiefe Hypnose, und wenn er zurückkommt, wird er sich perfekt an alles erinnern, was er gesehen hat.« Ralph: »Hier endet das, was Nick aufgeschrieben hat. Mann.« Larry: »Klingt mir nach diesem alten Film, The Manchurian Candidate.« Stu: »Was?« Larry: »Nichts.« Sue: »Ich habe eine Frage, Nick. Würdest du Tom auch programmieren - ich glaube, das ist das richtige Wort -, nichts zu verraten, was wir hier machen?« Glen: »Nick, laß mich das beantworten, und wenn du andere Argumente hast, schüttle einfach den Kopf. Ich würde sagen, Tom muß überhaupt nicht programmiert werden. Soll er alles über uns ausplaudern, was er weiß. Was Flagg betrifft, halten wir uns ohnehin bedeckt, und sonst machen wir nicht viel, was er sich nicht selbst zusammenreimen könnte... auch wenn seine Kristallkugel trüb ist.« Nick: »Genau.« Glen: »Okay - ich unterstütze Nicks Antrag rückhaltlos. Ich finde, wir haben alles zu gewinnen und nichts zu verlieren. Es ist eine überaus originelle und herausfordernde Idee.« Stu: »Gestellt und unterstützt. Wir können uns noch einen Moment darüber unterhalten, wenn ihr wollt, aber nur einen Moment. Wenn wir uns nicht sputen, sitzen wir die ganze Nacht hier. Hat noch jemand was zu sagen?« Fran: »Und ob. Du hast gesagt, wir haben alles zu gewinnen und nichts zu verlieren, Glen. Und was ist mit Tom? Was ist mit unseren eigenen Seelen? Euch macht es vielleicht nichts aus, daran zu denken, jemand könnte Tom... etwas... unter die Fingernägel schieben oder ihm Elektroschocks verpassen, aber mich beschäftigt das. Wie könnt ihr nur so kaltblütig sein? Und Nick, der hypnotisiert ihn, so daß er sich benimmt wie ein Huhn, dem man einen Beutel über den Kopf gezogen hat! Ihr solltet euch schämen! Ich habe gedacht, er wäre euer Freund!« Stu: »Fran...« Fran: »Nein, jetzt rede ich. Ich trete nicht aus dem Komitee aus oder zieh' mich in den Schmollwinkel zurück, wenn ich überstimmt werde, aber ich kann nicht schweigen. Möchtet ihr wirklich aus diesem süßen, umnebelten Jungen ein lebendes U2-Flugzeug machen? Ist euch nicht klar, daß das gleichbedeutend damit ist, die alte Scheiße wieder anzufangen? Begreift ihr das nicht? Was machen wir, wenn sie ihn umbringen, Nick? Was machen wir, wenn sie alle umbringen? Irgendeinen neuen Erreger züchten? Eine verbesserte Version von Captain Trips?« Eine Pause, während Nick eine Antwort schrieb. Nick (von Ralph vorgelesen): »Was Fran gesagt hat, macht mich zutiefst betroffen, aber ich bleibe bei meiner Nominierung. Nein, es macht mir keinen Spaß, Tom einen Kopfstand machen zu lassen oder ihn in eine Situation zu schicken, wo er gefoltert und getötet werden könnte. Ich weise nur noch einmal darauf hin, daß er es für Mutter Abagail und deren Ideale machen würde und für ihren Gott, nicht für uns. Ich bin auch der tiefen Überzeugung, daß wir jedes uns zur Verfügung stehende Mittel nützen müssen, um die Bedrohung durch dieses Wesen auszuschalten. Er kreuzigt Menschen da drüben. Das weiß ich sicher aus meinen Träumen, und ich weiß, manche von euch haben ähnliche Träume gehabt. Mutter Abagail selbst hat ihn gehabt. Und ich weiß, Flagg ist böse. Wenn jemand eine neue Abart von Captain Trips züchtet, Frannie, dann er, damit er sie gegen uns einsetzen kann. Ich möchte ihn nur aufhalten, solange wir es noch können.« Fran: »Das stimmt alles, Nick. Ich kann nicht widersprechen. Ich weiß, daß er böse ist. Soviel ich weiß, könnte er der Dämon Satans sein, wie Mutter Abagail sagt. Aber wir legen den Finger auf denselben Knopf, um ihn aufzuhalten. Erinnert ihr euch noch an Farm der Tiere? >Sie sahen von den Schweinen zu den Menschen und konnten keinen Unterschied erkennen.< Ich glaube, ich will von dir hören - auch wenn es Ralph vorliest -, daß wir, wenn wir schon so handeln müssen, um ihn aufzuhalten... wenn es sein muß... daß wir damit aufhören, wenn es vorbei ist. Kannst du das sagen?« Nick: »Nicht mit Bestimmtheit, glaube ich. Nicht mit Bestimmtheit.« Fran: »Dann stimme ich mit nein. Wenn wir schon Menschen nach Westen schicken müssen, dann wenigstens Menschen, die wissen, worum es geht.« Stu: »Noch jemand?« Sue: »Ich bin auch dagegen, aus praktischeren Gründen. Wenn wir unser Vorhaben in die Tat umsetzen, dann nicht mit einem alten Mann und einem Debilen. Entschuldigt den Ausdruck, ich mag ihn ja auch gern, aber das ist er nun mal. Ich bin dagegen, und jetzt halte ich den Mund.« Glen: »Stell die Frage, Stu.« Stu: »Okay. Reihum. Ich stimme mit ja. Frannie?« Fran: »Nein.« Stu: »Glen?« Glen: »Ja.« Stu: »Sue?« Sue: »Nein.« Stu: »Nick?« Nick: »Ja.« Stu: »Ralph?« Ralph: »Nun - mir gefällt es auch nicht, aber wenn Nick dafür ist, bin ich dabei. Ja.« Stu: »Larry?« Larry: »Soll ich ehrlich sein? Ich finde, der Vorschlag ist so beschissen, daß ich mir wie eine öffentliche Toilette vorkomme. Ich schätze, mit so was bekommt man es zu tun, wenn man ganz oben ist. Eine Scheißlage. Ich stimme mit ja.« Stu: »Antrag 5:2. angenommen.« Fran: »Stu?« Stu: »Ja?« Fran: »Ich würde meine Stimme gerne ändern. Wenn wir Tom wirklich losschicken, dann sollten wir es gemeinsam machen. Tut mir leid, daß ich so ein Aufhebens gemacht habe, Nick. Ich weiß, es tut dir weh - ich sehe es deinem Gesicht an. Es ist so dumm! Wie konnte es so weit kommen? Eins kann ich euch sagen, wie das Komitee für den Schulabschlußball ist das hier nicht. Frannie stimmt ja.« Sue: »Dann ich auch. Einheitsfront. Nixon bleibt standfest und sagt: Ich bin kein Schurke. Ja.« Stu: »Abstimmungsergebnis ist 7:0. Hier, ein Taschentuch, Fran. Ich möchte für das Protokoll festhalten, daß ich dich liebe.« Larry: »Ich glaube, mit dieser Bemerkung sollten wir die Sitzung beenden.« Sue: »Ich unterstütze die Idee.« Stu: »Zippy und Zippys Mom sind sich einig, daß wir aufhören. Wer dafür ist, hebt die Hand. Wer dagegen ist, soll damit rechnen, daß er eine Bierdose aufs Haupt bekommt.« Das Abstimmungsergebnis war 7:0. »Kommst du ins Bett, Stu?« »Ja. Ist es schon spät?« »Fast Mitternacht. Spät genug.« Stu kam vom Balkon herein. Er trüg nur Boxershorts, die sich weiss von seiner sonnengebräunten Haut abhoben. Frannie, die sich mit einer Coleman-Gaslampe auf dem Nachttisch im Bett aufgestützt hatte, war wieder erstaunt, wie tief und voller Vertrauen ihre Liebe zu ihm war. »Hast du über die Sitzung nachgedacht?« fragte sie ihn. »Ja.« Er goß sich aus dem Krug auf dem Nachttisch ein Glas Wasser ein und verzog das Gesicht, so schal und abgekocht schmeckte es. »Ich finde, du warst ein guter Leiter. Hat Glen dich nicht gebeten, auch die öffentliche Versammlung zu leiten? Machst du dir darüber Gedanken? Hast du abgelehnt?« »Nein. Ich habe ja gesagt. Ich habe an die drei Leute gedacht, die wir über die Berge schicken wollen. Spione zu schicken ist ein dreckiges Geschäft. Du hattest recht, Frannie. Das Dumme ist, dass Nick auch recht hatte. Was soll man in so einem Fall tun?« »Sein Gewissen prüfen und schlafen, so gut man kann, würde ich sagen«, sagte Frannie. Sie griff nach dem Schalter der ColemanLampe. »Bist du soweit?« »Ja.« Sie machte das Licht aus, und er legte sich neben sie ins Bett. »Gute Nacht, Frannie«, sagte er. »Ich liebe dich.« Sie sah zur Decke. Sie hatte ihren Frieden mit Tom Cullen gemacht, aber den Gedanken an den schmierigen Daumenabdruck wurde sie nicht los. Jeder Hund hat seinen Tag, Fran. Vielleicht sollte ich es sofort Stu sagen, dachte sie. Aber wenn es ein Problem war, dann ihres. Sie würde abwarten müssen... aufpassen... sehen, ob etwas geschah. Es dauerte lange, bis sie einschlief. 52 In den frühen Morgenstunden lag Mutter Abagail schlaflos im Bett. Sie versuchte zu beten. Sie stand auf, ohne Licht zu machen, und kniete in ihrem weißen Baumwollnachthemd nieder. Sie legte ihre Stirn auf die Bibel, in der sie die Apostelgeschichte aufgeschlagen hatte. Die Wandlung des störrischen alten Saulus auf der Straße nach Damaskus. Er war vom Licht geblendet worden, und auf der Straße war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Die Apostelgeschichte war das letzte Buch in der Bibel, wo die Lehre noch von Wundern untermauert wurde, und was waren Wunder anderes als das Wirken der göttlichen Hand auf Erden? Und oh, auch sie hatte Schuppen vor den Augen. Würden sie je abfallen? Die einzigen Geräusche im Raum waren das Zischen der Öllampe, das Ticken der mechanischen Westclox und ihre leise, murmelnde Stimme. »Zeig mir meine Sünde, Herr. Ich kenne sie nicht. Ich weiß, mir ist etwas entgangen, das Du mich sehen lassen wolltest. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht kacken, und ich fühle Dich nicht, Herr. Es ist, als würde ich in ein totes Telefon beten, und das geschieht zu einer ungünstigen Zeit. Womit habe ich Dich beleidigt, Herr? Ich lausche, Herr. Ich lausche der leisen, kleinen Stimme in meinem Herzen.« Und sie lauschte. Sie legte die arthritisgekrümmten Finger vor die Augen, beugte sich noch weiter nach vorne und versuchte, ihren Verstand zu klären. Aber dort war alles dunkel, so dunkel wie ihre Haut, so dunkel wie die fruchtbare Erde, die auf das gute Saatgut wartet. »Bitte, Herr, bitte, Herr -« Aber das Bild, das in ihr aufstieg, war das eines Sandweges in einem Meer von Mais. Dort stand eine Frau mit einem Sack voll frisch geschlachteter Hühner. Und die Wiesel kamen. Sie schossen vor und zerrten an dem Sack. Sie rochen das Blut - das alte Blut der Sünde und das frische Opferblut. Sie hörte die alte Frau die Stimme zu Gott erheben, aber ihre Stimme war schwach und kläglich, eine mürrische Stimme, die nicht demütig bat, daß Gottes Wille geschehe, welchen Platz sie auch immer in seinem Plan einnahm, sondern forderte, daß Gott sie rettete, damit sie ihre Arbeit vollenden konnte... ihre Arbeit... als würde sie Gottes Gedanken kennen und könnte seinen Willen dem ihren unterordnen. Die Wiesel wurden immer frecher; der Sack riß auf, wo sie an ihm zerrten und nagten. Ihre Finger waren zu alt, zu schwach. Und wenn sie die Hühner erst hatten, würden die Wiesel immer noch Hunger haben und sie anfallen. Sie würden... Und dann stoben die Wiesel auseinander, rannten quiekend in die Nacht, ließen den halb verschlungenen Inhalt des Sacks zurück, und sie dachte voll Freude: Gott hat mich dennoch errettet! Gelobt sei sein Name! Gott hat seine gute und treue Dienerin errettet.  Nicht Gott, alte Frau. Ich. In ihrer Vision wandte sie sich um; Angst fuhr ihr wie der Geschmack von Kupfer in die Kehle. Und aus dem Mais trat wie ein gezacktes silbernes Gespenst ein riesiger Bergwolf, höhnisch grinsend und mit aufgerissenem Rachen; um den Hals trug er einen Ring aus getriebenem Silber, ein Stück von barbarischer Schönheit, und an diesem Ring hing ein kleiner tiefschwarzer Gagat... in der Mitte hatte der Stein einen kleinen roten Fleck, wie ein Auge. Oder ein Schlüssel. Sie bekreuzigte sich und hielt der gräßlichen Erscheinung das Zeichen gegen den bösen Blick entgegen, aber der Rachen grinste um so breiter, und zwischen den Kiefern bewegte sich der nackte rosa Muskel der Zunge. Ich hole dich, Mutter. Nicht jetzt, aber bald. Wir werden dich jagen wie die Hunde das Wild. Ich bin alles, was du denkst, aber ich bin mehr. Ich bin der Magier. Ich bin der Mann, der für das letzte Zeitalter spricht. Deine eigenen Leute kennen mich am besten, Mutter. Sie nennen mich Johannes den Eroberer. Geh! Laß ab von mir, im Namen Gottes des Allmächtigen! Aber sie hatte entsetzliche Angst! Nicht um die Leute in ihrer Nähe, die in dem Traum durch die Hühner im Sack versinnbildlicht wurden, sondern um sich selbst. Die Angst saß tief in ihrer Seele, und sie hatte Angst um ihre Seele. Dein Gott hat keine Macht über mich, Mutter. Sein Gefäß ist schwach. Nein! Das ist nicht wahr! Meine Stärke ist wie die von zehn Männern, und ich werde mich erheben mit Adlerschwingen - Aber der Wolf grinste nur und kam näher. Sie schrak vor seinem Atem zurück, der schwer und wild war. Dies war der Schrecken am Nachmittag, der Schrecken, der um Mitternacht flieht. Und sie hatte Angst. Eine extreme Angst. Und immer noch grinsend, fing der Wolf an, mit zwei Stimmen zu reden, fragte und antwortete sich selbst. »Wer schlug das Wasser aus dem Fels, als uns dürstete?« »Ich war es«, sagte der Wolf mit mürrischer, halb quäkender Stimme. »Wer rettete uns, als wir schwach waren?« fragte der grinsende Wolf, dessen Schnauze nur noch Zentimeter von ihr entfernt war und dessen Atem den Gestank der Schlachthöfe trug. »Ich war es«, winselte der Wolf, der immer noch näher kam; seine grinsende Schnauze war voll des spitzen Todes, die Augen rot und haßerfüllt. »Sinkt nieder und preist meinen Namen, denn in der Wüste bringe ich euch das Wasser, preiset meinen Namen, ich bin der gute und getreue Diener, der euch in der Wüste das Wasser bringt, und mein Name ist auch der Name meines Herrn...« Das Maul des Wolfs öffnete sich weit, um sie zu verschlingen. »... mein Name«, murmelte sie. »Preiset meinen Namen, lobet Gott, von dem aller Segen kommt, lobet ihn, ihr Kreaturen hier auf Erden...« Sie hob den Kopf und sah sich wie betäubt im Zimmer um. Ihre Bibel war zu Boden gefallen. Im Fenster nach Osten zeigte sich das Licht der Dämmerung. »O Herr!« schrie sie mit lauter und zitternder Stimme. Wer schlug das Wasser aus dem Fels, als uns dürstete? War es das? Lieber Gott, war es das? War das der Grund, warum sie Schuppen vor den Augen gehabt hatte und blind war für das, was sie wissen sollte? Aus ihren Augen flössen bittere Tränen; sie stand langsam und unter Schmerzen auf und ging zum Fenster. Die Arthritis stach mit stumpfen Nadeln durch die Gelenke ihrer Hüften und Knie. Sie sah hinaus und wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Sie ging zum Schrank zurück und zog das weiße Baumwollnachthemd über den Kopf, ließ es auf den Boden fallen. Jetzt stand sie nackt da und zeigte einen so faltigen und zerfurchten Leib, daß er das Bett des großen Stromes der Zeit hätte sein können. »Dein Wille geschehe«, sagte sie und kleidete sich an. Eine Stunde später ging sie langsam durch die Mapletown Avenue nach Westen zu den waldigen Hängen der engen Schluchten jenseits der Stadt. Stu war mit Nick im Kraftwerk, als Glen hereinstürzte. Ohne Vorrede sagte er: »Mutter Abagail. Sie ist weg.« Nick sah ihn stechend an. »Was redest du da?« fragte Stu und zog Glen gleichzeitig von den Leuten weg, die damit beschäftigt waren, Kupferdraht um eine der durchgeschmorten Turbinen zu wickeln. Glen nickte. Er war mit dem Fahrrad die fünf Meilen hierher gefahren und immer noch ein wenig außer Atem. »Ich wollte zu ihr, um ihr ein wenig von der Versammlung zu erzählen und ihr das Band vorzuspielen, falls sie es hören wollte. Sie sollte das mit Tom erfahren, weil mir die ganze Sache nicht gefällt... was Frannie gesagt hat, hat mich in der Nacht nicht losgelassen, glaube ich. Ich wollte es früh tun, denn Ralph hatte mir gesagt, dass heute zwei weitere Gruppen eintreffen, und du weißt ja, daß sie Wert darauf legt, die Leute zu begrüßen. Ich ging gegen halb neun zu ihr. Sie antwortete nicht auf mein Klopfen, und ich ging hinein. Wenn sie geschlafen hätte, wäre ich wieder gegangen... aber ich wollte nachsehen, ob sie nicht tot war oder so... sie ist so alt.« Nick ließ keinen Blick von Glens Lippen. »Aber sie war überhaupt nicht da. Und ich habe das auf ihrem Kopfkissen gefunden.« Er reichte ihnen ein Papierhandtuch. Sie hatte mit großen, zittrigen Buchstaben folgendes darauf geschrieben: Ich werde eine Weile fort sein. Ich habe gesündigt und mir angemaßt, die Gedanken des Herrn zu kennen. Meine Sünde war STOLZ, und er will, daß ich meinen Platz in seiner Arbeit neu suche. Ich werde bald wieder bei Euch sein, wenn es Gottes Wille ist.  Abby Freemantle  »Also da soll doch gleich«, sagte Stu. »Was machen wir jetzt? Was meinst du, Nick?« Nick nahm den Zettel und las ihn noch einmal. Er gab ihn Glen zurück. Sein Gesicht war nicht mehr böse, nur traurig. »Ich glaube, wir müssen die Versammlung heute abend verschieben«, sagte Glen. Nick schüttelte den Kopf. Er nahm seinen Block, schrieb, riß den Zettel ab und gab ihn Glen. Stu sah ihm über die Schulter. »Der Mensch denkt, Gott lenkt. Der Spruch gefiel Mutter A., sie hat ihn oft zitiert. Glen, du hast selbst gesagt, sie sei fremdbestimmt; von Gott oder ihren eigenen Gedanken oder ihren Selbsttäuschungen oder was es auch sei. Was können wir machen? Sie ist weg. Wir können es nicht ändern.« »Aber der Aufruhr...« fing Stu an. »Natürlich wird es einen Aufruhr geben«, sagte Glen. »Nick, sollten wir nicht wenigstens eine Sitzung des Komitees einberufen und die Sache diskutieren?« Nick schrieb: »Wozu? Was nützt uns eine Sitzung, wenn wir nichts bewerkstelligen können?« »Wir könnten einen Suchtrupp auf die Beine stellen. Sie kann noch nicht weit sein.« Nick malte einen doppelten Kreis um die Worte Der Mensch denkt, Gott lenkt. Darunter schrieb er: »Wenn ihr sie findet, wie wollt ihr sie zurückbringen? In Ketten?« »Mein Gott, nein!« rief Stu. »Aber wir können sie doch nicht herumirren lassen, Nick! Sie hat die verrückte Idee, daß sie Gott beleidigt hat. Wenn sie nun denkt, daß sie dafür in die Wüste gehen muß wie jemand aus dem Alten Testament?« Nick schrieb: »Ich bin sicher, daß sie genau das getan hat.« »Da haben wir's!« Glen legte Stu eine Hand auf den Arm. »Nun mal langsam, OstTexaner. Wir müssen uns über den Sinn der Sache klarwerden.« »Zum Teufel mit dem Sinn! Ich sehe keinen Sinn darin, eine alte Frau Tag und Nacht in der Wildnis herumirren zu lassen, bis sie an Unterkühlung stirbt!« »Sie ist nicht nur eine alte Frau. Sie ist Mutter Abagail, und hier ist sie der Papst. Wenn der Papst beschließt, nach Jerusalem zu wandern, würdest du dann als guter Katholik mit ihm darüber streiten?« »Verdammt, das ist etwas anderes, das weißt du genau!« »Es ist nichts anderes. Nein. Jedenfalls werden die Leute in der Freien Zone es so sehen. Stu, würdest du darauf schwören, dass Gott ihr nicht gesagt hat, sie soll in die Wildnis gehen?« »Nein... aber...« Nick hatte geschrieben und zeigte den Zettel Stu, der nicht gleich alle Worte entziffern konnte. Nick hatte sonst eine gestochene Handschrift, aber dies hatte er eilig, vielleicht ungeduldig geschrieben. »Stu, das ändert nichts, außer daß es möglicherweise die Moral der Leute in der Freien Zone beeinträchtigen könnte. Aber auch das ist nicht sicher. Die Leute werden nicht gleich auseinanderlaufen, bloss weil sie weg ist. Es bedeutet nur, daß wir sie nicht gleich in unsere Pläne einweihen müssen. Das ist vielleicht ganz gut.« »Ich werde noch verrückt«, sagte Stu. »Manchmal reden wir von ihr wie von einem Hindernis, das wir überwinden müssen, wie eine Straßensperre oder so was. Dann wieder tut ihr so, als wäre sie der Papst und könnte keinen Fehler machen, selbst wenn sie wollte. Und zufällig mag ich sie. Was willst du, Nicky? Daß im Herbst jemand in einer der Schluchten westlich der Stadt über ihre Leiche stolpert? Willst du sie dort draußen lassen, damit sie... eine heilige Mahlzeit für die Krähen abgibt?« »Stu«, sagte Glen leise. »Es war ihre Entscheidung zu gehen.« »Verdammt, was für ein Mist«, sagte Stu. Um die Mittagszeit hatte sich die Nachricht von Mutter Abagails Verschwinden schon überall herumgesprochen. Wie Nick vorausgesagt hatte, herrschte eher betrübte Resignation als Entsetzen vor. Die Leute hatten das Empfinden, sie sei hinausgegangen, um zu beten und Gott um Rat zu bitten, damit sie ihnen auf der Massenversammlung am achtzehnten helfen konnte, den rechten Weg zu finden. »Ich will sie nicht Gott nennen, denn das wäre Lästerung«, sagte Glen, als sie im Park eine Kleinigkeit aßen, » aber sie ist eine Art Stellvertreterin Gottes. Die Stärke des Glaubens einer Gemeinschaft läßt sich daran messen, wieviel schwächer der Glaube wird, wenn ihm sein empirisches Objekt entzogen wird.« »Sag das noch mal.« »Als Moses das goldene Kalb zertrümmert hat, haben die Israeliten es nicht mehr angebetet. Als eine Flutwelle den Tempel von Baal vernichtet hat, sind die Malachiten zu dem Ergebnis gekommen, dass er doch kein so toller Gott ist. Aber Jesus macht schon seit zweitausend Jahren Mittagspause, und die Leute folgen nicht nur immer noch seiner Lehre, sondern sie leben und sterben in dem Glauben, daß er eines Tages zurückkehren und damit wieder alles beim alten sein wird. So empfindet die Freie Zone gegenüber Mutter Abagail. Die Leute sind völlig sicher, daß sie zurückkommen wird. Hast du mit ihnen gesprochen?« »Ja«, sagte Stu. »Es ist kaum zu glauben. Eine alte Frau irrt dort draußen herum, und alle sagen: Oho, ich frage mich, ob sie rechtzeitig zur Versammlung die Zehn Gebote auf Steintafeln mitbringt.« »Vielleicht tut sie es ja«, sagte Glen ernst. »Übrigens sagen nicht alle Oho. Ralph Brentner rauft sich die Haare.« »Schön für Ralph.« Er sah Glen eingehend an. »Und was ist mit dir, Platte? Wie denkst du über die ganze Sache?« »Wenn du mich nur nicht so nennen würdest. Es ist so würdelos. Aber ich will dir mal was sagen... es ist ein bißchen komisch. Es stellt sich heraus, daß der alte Ost-Texaner gegen den Gotteszauber, den sie über diese Gemeinschaft gelegt hat, eher immun ist als der ungläubige alte Soziologe. Ich glaube, daß sie zurückkommen wird. Wie denkt Frannie darüber?« »Ich weiß nicht. Ich habe sie den ganzen Morgen noch nicht gesehen. Womöglich ist sie auch dort draußen und ißt mit Mutter Abagail Heuschrecken und wilden Honig.« Er sah zu den Flatirons, die sich aus dem Dunst des frühen Nachmittags erhoben. »Mein Gott, Glen, ich hoffe nur, der alten Dame ist nichts passiert.« Fran wußte nicht einmal, daß Mutter Abagail verschwunden war. Sie hatte den Vormittag in der Bibliothek verbracht und über Gartenbau gelesen. Und sie war nicht die einzige Studentin. Sie sah zwei oder drei Leute mit Büchern über Ackerbau, einen brillentragenden jungen Mann von etwa fünfundzwanzig mit einem Buch, das den Titel trug: Sieben unabhängige Energiequellen für Ihr Heim, und ein hübsches blondes Mädchen von ungefähr vierzehn Jahren mit einem zerlesenen Taschenbuch mit dem Titel 600 einfache Rezepte. Gegen Mittag verließ sie die Bibliothek und ging zur Walnut Street hinunter. Sie war schon halb zu Hause, als sie Shirley Hammett traf, die ältere Frau, die mit Dayna, Susan und Patty Kroger gereist war. Shirleys Aussehen hatte sich seither auffallend verbessert. Jetzt sah sie wie eine hübsche, lebhafte Dame von Welt aus. Sie blieb stehen und begrüßte Fran. »Was meinst du, wann kommt sie zurück? Ich habe jeden gefragt. Wenn diese Stadt eine Zeitung hätte, könnte ich es glatt als Umfrage veröffentlichen. >Was halten Sie von Senator Bungholes Stellungnahme zur Ölverknappung?< Was in der Art.« »Wann wer zurückkommt?« »Mutter Abagail natürlich. Wo warst du, Mädchen, in der Tiefkühltruhe?« »Was soll das alles?« fragte Fran aufgeschreckt. »Was ist passiert?« »Das ist es ja gerade. Niemand weiß es genau.« Und Shirley erzählte Fran, was vorgefallen war, während sich Fran in der Bibliothek aufgehalten hatte. »Sie ist einfach... weggegangen?« fragte Frannie stirnrunzelnd. »Ja. Selbstverständlich kommt sie zurück«, fügte Shirley zuversichtlich hinzu. »Das steht in dem Brief.« »>Wenn es Gottes Wille ist?<« »Ich bin sicher, das ist nur so ein Ausdruck«, sagte Shirley und sah Fran mit einer gewissen Kühle an. »Nun... hoffentlich. Danke, daß du es mir gesagt hast, Shirley. Hast du immer noch Kopfschmerzen?« »O nein. Die sind jetzt weg. Ich stimme für dich, Fran.« »Hmmm?« Ihr Verstand war weit entfernt und jagte diesen neuen Informationen hinterher; einen Augenblick hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wovon Shirley sprach. »Für das ständige Komitee« »Oh. Ja, danke. Ich bin nicht mal sicher, ob ich den Job überhaupt will.« »Ihr werdet es prima machen. Du und Susy. Aber jetzt muß ich los, Fran. Tschüs.« Sie gingen auseinander. Fran hastete zur Wohnung, weil sie vor allem anderen Stu sehen wollte. So kurz nach dem Treffen gestern abend erfüllte das Verschwinden der alten Frau ihr Herz mit einer Art abergläubischem Grauen. Es gefiel ihr nicht, daß sie ihre wichtigsten Entscheidungen - zum Beispiel, Leute nach Westen zu schicken - nicht Mutter Abagail vorlegen konnten. Jetzt, da sie weg war, spürte Fran zuviel Verantwortung auf den eigenen Schultern. Als sie nach Hause kam, war die Wohnung leer. Sie hatte Stu um etwa fünfzehn Minuten verpaßt. Auf einem Zettel unter der Zuckerdose stand nur: »Bin 9:30 wieder da. Bin bei Ralph und Harold. Keine Sorge. Stu.« Ralph und Harold? dachte sie und verspürte erneutes Grauen, das nichts mit Mutter Abagail zu tun hatte. Und warum sollte sie sich Sorgen um Stu machen? Mein Gott, wenn Harold versucht hat, etwas zu machen... nun, etwas Komisches... Stu würde ihn in Stücke reißen. Es sei denn... es sei denn, Harold schlich sich von hinten an und... < Sie umklammerte die Ellbogen, fror, fragte sich, was Stu bei Harold und Ralph suchen konnte. Bin 9:30 wieder da. Herrgott, das war noch so lange. Sie stand noch einen Augenblick in der Küche und betrachtete den Rucksack, den sie auf die Theke gestellt hatte. Bin bei Ralph und Harold. Das bedeutete, Harolds kleines Haus draußen an der Arapahoe würde heute abend bis gegen halb zehn verlassen sein. Es sei denn, sie waren dort, und wenn, konnte sie zu ihnen gehen und ihre Neugier befriedigen. Sie konnte mit dem Rad ganz schnell hinfahren. Wenn niemand dort war, fand sie vielleicht etwas, das sie beruhigen würde... oder... aber darüber wollte sie nicht nachdenken. Dich beruhigen? nagte die innere Stimme. Oder alles noch schlimmer machen? Angenommen, du findest WIRKLICH Komisches? Was dann? Was wirst du unternehmen? Sie wußte es nicht. Sie hatte nicht einmal den leisesten Schimmer einer Idee. Keine Sorge. Stu. Aber sie machte sich Sorgen. Der Daumenabdruck in ihrem Tagebuch bedeutete, daß es Grund zur Sorge gab. Denn ein Mann, der ein Tagebuch stahl und fremde Gedanken las, war ein Mann ohne Prinzipien und Skrupel. So ein Mann konnte sich durchaus hinter jemanden schleichen, den er haßte, und ihn aus der Höhe herunterstoßen. Oder einen Stein nehmen. Oder ein Messer. Oder eine Pistole. Keine Sorge. Stu. Wenn Harold so etwas tat, wäre er in Boulder erledigt. Und was konnte er dann machen? Aber Fran wußte, was dann. Sie wußte nicht, ob Harold der Typ Mensch war, den sie sich ausgemalt hatte - noch nicht, nicht mit Bestimmtheit -, aber sie wußte tief in ihrem Herzen, daß es heute einen Platz für solche Menschen gab. O ja, wahrhaftiglich. Sie schnallte den Rucksack mit eckigen Bewegungen auf und ging zur Tür hinaus. Drei Minuten später radelte sie im hellen Nachmittagssonnenschein den Broadway entlang Richtung Arapahoe und dachte: Sie sitzen ganz bestimmt in Harolds Wohnzimmer, trinken Kaffee und reden über Mutter Abagail, und alles ist prima. Einfach prima. Aber Harolds Haus war dunkel, verlassen... und abgeschlossen. Das an sich war in Boulder schon seltsam. Früher schloß man das Haus ab, damit niemand den Fernseher, die Juwelen der Frau oder die Stereo-Anlage stahl. Aber Fernseher und Stereo-Anlagen gab es umsonst, wenn man ohne Saft auch nichts mit ihnen anfangen konnte, und was Juwelen betraf, so konnte man jederzeit nach Denver fahren und sich einen Sack voll holen. Warum schließt du deine Tür ab, Harold, wo alles umsonst ist? Weil niemand so viel Angst vor einem Einbruch hat wie ein Dieb? Könnte es das sein? Sie war kein Schloßknacker. Sie hatte sich schon damit abgefunden, unverrichteter Dinge zu gehen, als ihr die Kellerfenster einfielen. Sie lagen dicht über dem Erdboden und waren staubblind. Das erste, das sie probierte, ließ sich seitlich aufschieben, gab quietschend nach; Dreck rieselte auf den Kellerboden. Fran sah sich um, aber die Welt war still. Außer Harold hatte sich noch niemand an diesem entlegenen Ende der Arapahoe Street niedergelassen. Auch das war seltsam. Harold mochte lächeln, bis ihm das Gesicht platzte, den Leuten auf die Schultern klopfen, den Tag mit ihnen verbringen und ihnen seine Hilfe anbieten, wenn er darum gebeten wurde, und manchmal auch, wenn nicht; er mochte und konnte sich noch so beliebt machen - und Tatsache war, daß er in Boulder hohes Ansehen genoß. Aber wo er seinen Wohnort gewählt hatte... das stand wieder auf einem anderen Blatt, richtig? Das zeigte eine etwas andere Ansicht Harolds über die Gesellschaft und seinen Platz darin... vielleicht. Vielleicht gefiel ihm auch einfach nur die Stille. Sie zwängte sich durch das Fenster, wobei sie sich die Bluse schmutzig machte, und sprang auf den Boden. Jetzt war das Fenster in Augenhöhe. Sie war genausowenig Sportlerin wie Schloßknackerin und würde sich auf etwas stellen müssen, wenn sie wieder hinauswollte. Fran sah sich um. Der Keller war zu einem Spiel- oder Hobbyraum ausgebaut. So etwas hat ihr Daddy immer gewollt, war aber nie dazu gekommen, dachte sie mit einem Anflug von Traurigkeit. In die mit Fichtenholz getäfelten Wände waren Quadrophonie-Lautsprecher eingelassen, die Decke war mit Holz verkleidet, sie sah einen Kasten mit Puzzlespielen und Büchern, eine elektrische Eisenbahn, eine Autorennbahn. In einer Ecke stand ein Tischhockeyspiel, auf das Harold achtlos eine Kiste Cola gestellt hatte. Es war ein Kinderzimmer gewesen, an den Wänden hingen Poster - das größte - mittlerweile alt und zerrissen - zeigte George Bush, der mit hoch erhobenen Händen und einem breiten Grinsen im Gesicht aus einer Kirche in Harlem herauskam. Die Legende, in großen roten Buchstaben, lautete: MAN KOMMT DEM KING OF ROCK AND ROLL NICHT MIT BOOGIE -WOOGIE DAHER! Plötzlich war sie traurig wie... nun, wie schon lange nicht mehr, um ehrlich zu sein. Sie hatte Schock und Angst und regelrechtes Entsetzen erlebt und war vor Kummer wie betäubt gewesen, aber diese tiefe und quälende Traurigkeit war etwas Neues. Mit ihr kam ein plötzliches Heimweh nach Ogunquit, nach dem Meer, nach dem schönen Maine mit seinen Hügeln und Tannenwäldern. Ohne ersichtlichen Grund mußte sie plötzlich an Gus denken, den Wachmann auf dem öffentlichen Strandparkplatz von Ogunquit, und einen Moment dachte sie, ihr Herz würde vor Kummer und Verlust zerspringen. Was hatte sie hier zwischen den Ebenen und den Bergen, die das Land durchteilten, verloren? Es war nicht ihre Heimat. Sie gehörte nicht hierher. Sie schluchzte, und es hörte sich so verzweifelt und einsam an, dass sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag die Hände vor den Mund schlug. Schluß, frannte, altes Mädchen. Über etwas so Großes kommt man nicht so schnell hinweg. Nur ganz allmählich. Und wenn du unbedingt heulen mußt, dann später und nicht ausgerechnet in Harold Lauders Keller. Erst das Geschäft. Auf dem Weg zur Treppe ging sie an dem Poster vorbei, und ein bitteres, kurzes Lächeln huschte über ihr Ges icht, als sie an George Bushs grinsendem und unermüdlich fröhlichem Gesicht vorbeiging. Dir sind sie ganz schön mit einem Boogie-Woogie dahergekommen, dachte sie. Jedenfalls irgendwer. Als sie oben auf der Kellertreppe war, kam sie zur Überzeugung, die Tür würde verschlossen sein, aber sie ließ sich mühelos öffnen. Die Küche war ordentlich und blitzblank, das Geschirr war gespült und trocknete auf der Spüle, der kleine Coleman-Gasofen war abgewaschen und funkelte... aber alter Fettgeruch hing noch in der Luft wie ein Geist von Harolds altem Wesen, dem Harold, der in ihr Leben getreten war, als er am Steuer von Roy Brannigans Cadillac hinter ihrem Haus vorgefahren war, wo sie gerade ihren Vater begrub. Ich würde ganz schön in der Klemme sitzen, wenn Harold ausgerechnet jetzt zurückkäme, dachte sie. Bei dem Gedanken sah sie plötzlich über die Schulter. Sie rechnete fest damit, Harold unter der Wohnzimmertür stehen und sie angrinsen zu sehen. Es war niemand da, aber ihr Herz schlug unangenehm gegen die Rippen. In der Küche war nichts, daher ging sie ins Wohnzimmer. Dort war es so dunkel, daß sie nervös wurde. Harold schloß nicht nur die Tür ab, er hatte auch die Jalousien heruntergelassen. Wieder war ihr, als würde sie Zeugin einer unterbewußten äußerlichen Manifestation von Harolds Persönlichkeit werden. Warum sollte jemand die Jalousien in einer kleinen Stadt herunterlassen, wo die Lebenden daran die Häuser der Toten erkannten? Das Wohnzimmer war, genau wie die Küche, makellos sauber, aber das Mobiliar war alt und sah verwohnt aus. Das Schönste in dem Zimmer war ein riesiger, gemauerter Kamin mit so breitem Sims, dass man darauf sitzen konnte. Sie setzte sich tatsächlich einen Moment und sah sich nachdenklich um. Als sie sich bewegte, spürte sie einen lockeren Stein unter dem Allerwertesten und wollte gerade aufstehen und ihn sich ansehen, als jemand an der Tür klopfte. Angst senkte sich auf sie wie eine erstickende Last Federn. Sie war plötzlich wie gelähmt vor Entsetzen. Ihr Atem stockte, und sie sollte erst später bemerken, daß sie ein wenig eingenäßt hatte. Es klopfte wieder, sechs rasche, feste Schläge. Mein Gott, dachte sie. Aber die Jalousien sind runtergelassen. Gott sei Dank, wenigstens das. Diesem Gedanken folgte eine plötzliche, eiskalte Gewißheit, daß sie ihr Fahrrad draußen gelassen hatte, wo jeder es sehen konnte. Ja? Sie versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, aber sie bekam lange nichts zusammen, außer Gestammel, das auf beunruhigende Weise vertraut war: Bevor du den Splitter aus dem Auge deines Nächsten entfernst, nimm den Balken aus deinem eigenen ... Es klopfte wieder, dann eine Frauenstimme: »Jemand daheim?« Fran saß stockstill da. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie das Fahrrad hinten abgestellt hatte, unter Harolds Wäscheleine. Von vorne nicht zu sehen. Aber wenn Harolds Besucherin es an der Hintertür versuchte... Der Knauf der Eingangstür - Frannie konnte ihn durch den kurzen Dielenabschnitt sehen - drehte sich in frustrierten Halbkreisen hin und her. Wer sie auch sein mag, hoffentlich hat sie von Schlössern genauso wenig Ahnung wie ich, dachte Frannie und mußte sich wieder die Hände vor den Mund halten, um einen irren Lachanfall zurückzuhalten. Sie sah auf ihre Hose und merkte, daß sie wirklich große Angst gehabt haben mußte. Wenigstens war es keine Scheißangst, dachte Fran. Noch nicht. Das Lachen wollte aus ihr heraus, es war hysterisch und entsetzt, dicht unter der Oberfläche. Mit unbeschreiblicher Erleichterung hörte sie Schritte sich entfernen und über den Beton von Harolds Einfahrt zur Straße gehen. Was Frannie als nächstes tat, war keine bewußte Entscheidung. Sie lief nach vorn und spähte durch den schmalen Spalt zwischen Jalousie und Fensterrahmen. Sie sah eine Frau mit langem dunklen Haar, das weiße Streifen hatte. Diese stieg auf einen kleinen VespaMotorroller, der am Bordstein parkte. Als der Motor ansprang, warf sie das Haar zurück und steckte es fest. Das ist diese Cross - die mit Larry Underwood gekommen ist! Kennt sie Harold? Dann legte Nadine den Gang ein. Sie fuhr ruckartig an und war bald nicht mehr zu sehen. Fran stieß einen lauten Seufzer aus; ihre Beine wurden zu Wasser. Sie machte den Mund auf, um das Lachen herauszulassen, das unter der Oberfläche blubberte, und wußte schon, wie es sich anhören würde - zitterig erleichtert. Statt dessen fing sie an zu weinen. Fünf Minuten später - zu nervös, um sich weiter umzusehen - schob sie einen Korbstuhl ans Kellerfenster und kletterte nach draußen. Es gelang ihr, ihn ein Stück wegzuschieben, damit nicht auffiel, dass jemand darauf aus dem Fenster gestiegen war. Er stand noch immer nicht so wie vorher, aber so etwas bemerken die Leute meistens nicht... und es sah nicht so aus, als ob Harold den Keller benutzte, außer als Vorratskammer für seine Cola. Sie schob das Fenster wieder zu und nahm ihr Fahrrad. Wenigstens trocknen meine Hosen, dachte sie. Wenn du das nächste Mal einbrechen gehst, Frances Rebecca, solltest du lieber eine Gummihose tragen. Sie strampelte aus Harolds Garten, bog so schnell wie möglich von der Arapahoe Street ab und fuhr über den Canyon Boulevard zur Innenstadt. Fünfzehn Minuten später war sie wieder in ihrer Wohnung. Dort war es totenstill. Sie schlug ihr Tagebuch auf, betrachtete den schmutzigen Fingerabdruck und überlegte sich, wo Stu sein konnte. Sie fragte sich, ob Harold bei ihm war. O Stu, bitte komm nach Hause. Ich brauche dich. Nach dem Mittagessen hatte Stu sich von Glen verabschiedet und war nach Hause gegangen. Er hatte eine Weile düster im Wohnzimmer gesessen, überlegt, wo Mutter Abagail sein mochte und sich gefragt, ob Nick und Glen recht hatten, wenn sie die Sache auf sich beruhen lassen wollten, als es klopfte. »Stu?« rief Ralph Brentner. »Hallo, Stu, bist du da?« Harold Lauder war bei ihm. Harolds Lächeln war heute gedämpft, aber nicht ganz verschwunden; er sah aus wie ein fröhlicher Hinterbliebener, der bei der Beerdigung ernst wirken will. Ralph, der wegen Mutter Abagails Verschwinden tief betrübt war, hatte Harold vor einer halben Stunde getroffen, als Harold auf dem Heimweg war, nachdem er einer Gruppe geholfen hatte, Wasser vom Boulder Creek zu holen. Ralph mochte Harold, der immer Zeit zum Zuhören und Trösten hatte, wenn jemand eine traurige Geschichte loswerden wollte... und Harold schien nie eine Gegenleistung zu erwarten. Ralph hatte ihm von Mutter Abagails Verschwinden und seinen Befürchtungen erzählt, sie könnte einen Herzanfall erleiden, sich einen ihrer spröden Knochen brechen oder an Unterkühlung sterben, wenn sie nachts draußen blieb. »Du weißt ja, es regnet jetzt schon jeden verdammten Nachmittag«, sagte Ralph, während Stu Kaffee einschenkte. »Wenn sie durchnäßt wird, erkältet sie sich bestimmt. Was dann? Wahrscheinlich Lungenentzündung.« »Was können wir unternehmen?« fragte Stu die beiden. »Wir können sie nicht mit Gewalt zurückholen, wenn sie nicht will.« »Das nicht«, gab Ralph zu. »Aber Harold hat eine echt gute Idee.« Stu sah ihn an. »Wie geht es dir überhaupt, Harold?« »Ganz gut. Und dir?« »Prima.« »Und Fran? Paßt du gut auf sie auf?« Harold sah Stu unverwandt an, und seine Augen behielten ihren freundlichen und leicht belustigten Ausdruck, aber einen Moment erinnerten Harolds lächelnde Augen Stu an Sonnenlicht auf dem Wasser von Breekman's Quarry zu Hause - das Wasser sah so einladend aus, aber unter seiner Oberfläche lagen schwarze Tiefen, die nie ein Sonnenstrahl erreichte, und in diesem Wasser hatten im Laufe der Jahre vier Jungen ihr Leben gelassen. »So gut ich kann«, sagte er. »Was für eine Idee, Harold?« »Hör zu. Ich verstehe Nicks Standpunkt. Glens auch. Sie haben erkannt, daß die Freie Zone Mutter Abagail als theokratisches Symbol sieht... und sie sind ja jetzt gewissermaßen Sprecher der Zone, oder nicht?« Stu trank Kaffee. »Theokratisches Symbol, was meinst du damit?« »Ich würde es ein irdisches Symbol für einen Bund mit Gott nennen«, sagte Harold, und seine Augen verschleierten sich ein wenig. »Wie die heilige Kommunion oder heilige Kühe in Indien.« Darüber dachte Stu ein wenig nach. »Ja, sehr gut. Diese Kühe... sie lassen sie auf den Straßen laufen, wo sie Verkehrsstaus verursachen, richtig? Sie dürfen in den Läden ein und aus gehen und die Stadt ganz verlassen.« »Ja«, stimmte Harold zu. »Aber die meisten Kühe sind krank, Stu. Sie stehen immer kurz vor dem Verhungern. Viele sind tuberkulös. Und alles nur, weil sie in ihrer Gesamtheit ein Symbol sind. Die Leute sind überzeugt, daß Gott für sie sorgen wird, genau wie unsere Leute überzeugt sind, daß er für Mutter Abagail sorgen wird. Aber ich habe meine Zweifel hinsichtlich eines Gottes, der es zuläßt, daß eine arme dumme Kuh so leiden muß.« Ralph sah momentan unbehaglich drein, und Stu wußte, was er empfand. Er empfand es auch; daran konnte er ermessen, was Mutter Abagail auch für ihn bedeutete. Was Harold sagte, grenzte an Blasphemie. »Jedenfalls«, sagte Harold rasch und ließ das Thema >heilige Kühe in Indien< fallen, »können wir die Einstellung der Leute zu ihr nicht ändern...« »Das wollen wir auch nicht«, sagte Ralph schnell. »Richtig!« rief Harold. »Sie hat uns alle schließlich zusammengebracht, und zwar nicht durch Kurzwellenfunk. Aber mein Gedanke war, daß wir uns auf unsere treuen Motorräder schwingen und den Nachmittag damit verbringen, die westliche Umgebung von Boulder zu erkunden. Wenn wir dicht zusammen bleiben, können wir uns per Walkie-talkie verständigen.« Stu nickte. Das hatte er die ganze Zeit vorgehabt. Heilige Kühe oder nicht, Gott oder nicht, es war falsch, sie allein in der Wildnis umherirren zu lassen. Das hatte nichts mit Religion zu tun; so etwas zu tun war schlicht und einfach gemeine Gleichgültigkeit. »Und wenn wir sie finden«, sagte Harold, »können wir sie fragen, ob sie etwas braucht.« »Zum Beispiel eine Fahrt in die Stadt«, mischte sich Ralph ein. »Jedenfalls können wir sie im Auge behalten«, sagte Harold. »Okay«, sagte Stu. »Ein prima Vorschlag. Ich will nur Fran noch rasch einen Zettel schreiben.« Aber während er schrieb, verspürte er dauernd den Drang, über die Schulter zu blicken und Harold zu betrachten - um zu sehen, was Harold trieb, wenn Stu nicht hinsah, und was für ein Ausdruck in Harolds Augen sein mochte. Harold hatte sich das gewundene Stück Straße zwischen Boulder und Nederland ausgebeten und bekommen, denn hier vermutete er sie am allerwenigsten. Er glaubte nicht, daß er den Weg von Boulder nach Nederland an einem Tag geschafft hätte, ganz zu schweigen von der verrückten alten Fotze. Aber es war eine angenehme Fahrt, und sie gab ihm Zeit zum Nachdenken. Jetzt, Viertel vor sieben, war er auf dem Rückweg. Seine Honda stand auf einem Rastplatz, er saß an einem Picknicktisch und genoss Cola und ein paar Slim Jims. Das Walkie-talkie hing mit ausgefahrener Antenne am Lenker der Honda, Ralphs Stimme knisterte leise darin. Es waren Geräte mit kurzer Reichweite, und Ralph war irgendwo oben auf dem Flaggstaff Mountain. »...Sunrise Amphitheater... keine Spur von ihr... hier oben stürmt es ganz schön.« Dann Stus Stimme, lauter und näher. Er war im Chautauqua Park, nur vier Meilen von Harold entfernt. »Wiederholen, Ralph.« Wieder Ralphs Stimme, diesmal brüllend. Vielleicht bekam er einen Herzschlag, dachte Harold. Das würde den Tag wunderbar beenden. »Hier oben keine Spur von ihr. Ich komme runter, bevor es dunkel wird. Ende.« »Zehn-vier«, sagte Stu resigniert. »Harold, bist du da?« Harold stand auf und wischte sich Slim-Jim-Fett an den Jeans ab. »Harold? Ich rufe Harold Lauder! Kannst du mich hören, Harold?« Harold zeigte mit dem Mittelfinger - den Fickfinger hatten die Neandertaler der High School in Ogunquit ihn genannt - auf das Walkie-talkie; dann drückte er die Sprechtaste und sagte freundlich, aber mit genau dem richtigen Tonfall von Enttäuschung: »Ich bin hier. Ich war nicht auf der Straße... dachte, ich hätte was im Graben gesehen. War aber nur eine alte Jacke. Ende.« »Ja, okay. Komm doch nach Chautauqua, Harold. Da warten wir auf Ralph.« Kommandierst gern rum, Arschloch, was? Vielleicht hab' ich was für dich. Ja, vielleicht. »Harold, hörst du mich noch?« »Ja. Tut mir leid, Stu, ich hab' geträumt. Ich bin in fünfzehn Minuten da.« »Hast du verstanden, Ralph?« bellte Stu, und Harold zuckte zusammen. Wieder zeigte er Stus Stimme den Mittelfinger und grinste dabei verstohlen. Nimm das, du Wildwestwichser. »Verstanden, komme zum Chautauqua Park«, kam Ralphs Stimme schwach durch das Rauschen der Statik. »Bin unterwegs. Ende und aus.« »Bin auch unterwegs«, sagte Harold. »Ende und aus.« Er schaltete das Walkie-talkie aus, schob die Antenne zusammen und hing das Gerät wieder an den Lenker, aber er blieb noch eine Weile auf seiner Honda sitzen, ohne den Kickstarter zu treten. Er trug eine Fliegerjacke aus Armeebeständen, deren dickes Futter gut war, wenn man im August in achtzehnhundert Meter Höhe mit dem Motorrad unterwegs war. Aber die Jacke hatte noch einen Vorteil. Sie hatte viele Taschen mit Reißverschluß, und in einer davon steckte eine Achtunddreißiger Smith & Wesson. Harold zog den Revolver heraus und ließ ihn von einer Hand in die andere gleiten. Dieser war vollgeladen und lag schwer in seiner Hand, als wäre ihm klar, daß sein Zweck ernst war: Tod, Vernichtung, Ermordung. Heute abend? Warum nicht? Er hatte diese Expedition angeregt, weil er hoffte, er könnte lange genug mit Stu allein sein, um es über die Bühne zu bringen. Jetzt sah es aus, als hätte er die Chance in weniger als fünfzehn Minuten im Chatauqua Park. Aber die Reise hatte noch einen anderen Zweck erfüllt. Er hatte nicht vorgehabt, ganz nach Nederland zu fahren, einem erbärmlichen kleinen Kaff hoch über Boulder, eine Ortschaft, deren einziger Anspruch auf Ruhm darin bestand, daß Patty Hearst dort angeblich einmal auf der Flucht übernachtet hatte. Aber während er nach oben fuhr, die Honda gleichmäßig zwischen seinen Beinen summte und ihm die Luft kalt wie eine Rasierklinge ins Gesicht schnitt, war etwas geschehen. Wenn man einen Magneten an ein Tischende und ein Stück Eisen ans andere legt, passiert nichts. Wenn man das Eisen langsam, in kleinen Schritten näher an den Magneten schubst (dieses Bild hielt er eine Weile in Gedanken, erfreute sich daran und nahm sich vor, es heute abend in sein Tagebuch zu schreiben), kommt einmal der Zeitpunkt, da der Schubs das Eisenstück weiter bringt, als normal wäre. Das Eisenstück kommt zum Stillstand, aber scheinbar widerwillig, als hätte es ein Eigenleben entwickelt, zu dem auch die Weigerung gehört, dem physikalischen Gesetz der Trägheit zu gehorchen. Noch einen Schubs oder zwei, und man kann fast - vielleicht sogar tatsächlich - sehen, wie das Eisenstück auf dem Tisch vibriert und scheinbar hüpft und zittert wie eine mexikanische Springbohne, die man in Scherzartikelläden kaufen kann - sie sehen aus wie ein knöchelgroßes Stück Holz, haben aber in Wirklichkeit einen lebenden Wurm in sich. Noch ein Schubs, und das Gleichgewicht zwischen Reibung/Trägheit und der magnetischen Anziehungskraft neigt sich auf die andere Seite. Das Eisenstück bewegt sich, inzwischen völlig zum Leben erwacht, aus eigenem Antrieb weiter, schneller und schneller, bis es schließlich auf den Magneten prallt und dort haften bleibt. Ein gräßlich faszinierender Vorgang. Als in diesem Juni das Ende der Welt gekommen war, hatte man die Kraft des Magnetismus immer noch nicht völlig verstanden gehabt, doch Harold (dessen Verstand nie rational-wissenschaftlicher Prägung gewesen war) glaubte, die Physiker, die so etwas studierten, wären der Meinung gewesen, sie hätte etwas mit der Schwerkraft zu tun, und die Schwerkraft war der Grundstein des Universums. Auf dem Weg nach Nederland, Richtung Westen, nach oben, während die Luft ringsum immer kälter wurde und er sah, wie sich Gewitterwolken um die höheren Berggipfel jenseits von Nederland zusammenzogen, hatte Harold diesen Vorgang in sich selbst zu spüren begonnen. Er näherte sich dem Punkt des Gleichgewichts... und nicht mehr lange, dann würde er den Punkt erreichen, wo der Sog zu wirken anfing. Er war ein Eisenstück in genau der Entfernung vom Magneten, wo ein Schubs es weiter als unter normalen Umständen transportiert. Er konnte die Vibration in sich spüren. Es kam einem heiligen Erlebnis so nahe wie noch nichts in seinem Leben. Die Jugend leugnet das Heilige, weil dessen Anerkennung bedeutet, den eventuellen Tod aller empirischen Objekte anzuerkennen, und Harold lehnte es ebenfalls ab. Die alte Frau war irgendwie übersinnlich begabt, hatte er gedacht, ebenso Flagg, der dunkle Mann. Sie waren menschliche Funksender, mehr nicht. Ihre wahre Macht würde in den Gesellschaften liegen, die sich rings um ihre Signale herum bildeten, welche so verschieden voneinander waren. Hatte er gedacht. Aber als er auf seiner geparkten Honda am Ende der mickrigen Hauptstraße von Nederland saß, das Kontrollicht der Honda neutral wie ein Katzenauge leuchtete und er dem winterlichen Heulen des Windes in den Pinien und Espen lauschte, verspürte er mehr als nur magnetische Anziehung. Er spürte eine gewaltige, irrationale Macht aus Westen kommen, eine derart große Faszination, daß er das Gefühl hatte, wenn er sich jetzt näher damit beschäftigte, würde er verrückt werden. Er hatte das Gefühl, wenn er sich viel weiter über den Punkt des Gleichgewichts hinauswagte, würde er jeden freien Willen verlieren. Er würde so aufbrechen, wie er war, mit leeren Händen. Und dafür würde der dunkle Mann ihn töten, obwohl ihn eigentlich keine Schuld traf. Daher hatte er sich mit der freudlosen Erleichterung eines potentiellen Selbstmörders abgewendet, der lange in einen tiefen Abgrund geblickt hat. Aber wenn er wollte, könnte er noch heute gehen. Ja, er könnte Redman mit einer einzigen Kugel aus nächster Nähe erschießen. Dann vor Ort bleiben, eiskalt bleiben und warten, bis dieser Dorftrottel aus Oklahoma auftauchte. Noch ein Schuß in die Schläfe. Niemand würde sich um die Schüsse kümmern; es gab genug Wild, und viele Leute ballerten auf das Wild, das in die Stadt kam. Es war jetzt zehn vor sieben. Bis halb acht könnte er sie beide erledigt haben. Franny würde frühestens um halb elf Alarm schlagen, bis dahin konnte er längst weg sein und mit der Honda samt Rucksack und Hauptbuch nach Westen fahren. Aber soweit würde es nicht kommen, wenn er nur hier auf dem Motorrad saß und Zeit verrinnen ließ. Die Honda sprang beim zweiten Tritt an. Eine gute Maschine. Harold lächelte. Harold grinste. Harold strahlte richtiggehend Fröhlichkeit aus. Er fuhr zum Chautauqua Park. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als Stu Harolds Motorrad in den Park fahren hörte. Einen Augenblick später sah er den Scheinwerfer der Honda zwischen den Bäumen aufblitzen, die an der steilen Zufahrt zum Park standen. Dann sah er, wie sich Harolds Kopf samt Helm nach rechts und links drehte und ihn suchte. Stu, der auf dem Rand eines gemauerten Grills saß, winkte und rief. Augenblicke später sah Harold ihn, winkte zurück und tuckerte im zweiten Gang näher. Seit der gemeinsamen Expedition der drei heute nachmittag hatte Stu eine bessere Meinung von Harold... sogar besser denn je. Harolds Vorschlag war verdammt gut gewesen, auch wenn ihre Suche ergebnislos geblieben war. Und Harold hatte darauf bestanden, die Straße nach Nederland abzusuchen ... da oben mußte es trotz seiner warmen Jacke ziemlich kalt gewesen sein. Als er anhielt, sah Stu, daß Harolds ständiges Grinsen mehr einer Grimasse glich; sein Gesicht wirkte angespannt und zu blaß. Enttäuscht, daß es nicht besser gelaufen ist, dachte Stu. Plötzlich verspürte er Schuldgefühle, weil er und Frannie Harold so schlecht behandelt hatten, als wären sein ständiges Grinsen und der überfreundliche Umgang mit den Leuten eine Art Tarnung. Hatten sie eigentlich je die Möglichkeit erwogen, daß der Bursche vielleicht wirklich versuchte, eine neue Seite von sich aufzuschlagen und nur deshalb so komisch vorging, weil er so etwas noch nie im Leben versucht hatte? So war es wohl, überlegte Stu. »Nichts, hm?« fragte er Harold und sprang mit taubem Gefühl vom Grill herab. »De nada«, sagte Harold. Das Grinsen kam wieder, aber es war automatisch, ohne Kraft, wie ein Starrkrampf. Sein Gesicht sah immer noch seltsam und leichenblaß aus. Er hatte die Hände in den Jackentaschen stecken. »Macht nichts. Der Vorschlag war gut. Wer weiß, vielleicht ist sie schon wieder im Haus. Wenn nicht, suchen wir morgen weiter.« »Dann suchen wir vielleicht nach einer Leiche.« Stu seufzte. »Vielleicht... ja, vielleicht. Harold, möchtest du heute abend zum Essen vorbeikommen?« »Was?« Harold schien in der zunehmenden Düsternis unter den Bäumen zusammenzuzucken. Sein Grinsen wirkte noch verkrampfter als vorher. »Essen«, sagte Stu geduldig. »Frannie würde sich auch freuen, dich zu sehen. Ohne Quatsch. Wirklich.« »Ja, vielleicht«, sagte Harold, der immer noch unbehaglich dreinsah. »Aber ich bin... ich war mal in sie... du weißt schon. Vielleicht ist es besser, wenn wir... es vorerst lassen. Das ist nicht persönlich gemeint. Ihr zwei paßt gut zusammen. Das weiß ich.« Sein Lächeln strahlte wieder vor Aufrichtigkeit. Es war ansteckend; Stu lächelte auch. »Du mußt es wissen, Harold. Aber die Tür steht dir jederzeit offen.« »Danke.« »Nein, ich muß dir danken«, sagte Stu ernst. Harold blinzelte. »Mir?« »Daß du uns suchen geholfen hast, wo alle anderen der Natur ihren Lauf lassen wollten. Auch wenn nichts dabei herausgekommen ist. Hand drauf?« Stu streckte die Hand aus. Harold starrte sie eine Weile unentschlossen an, und Stu glaubte nicht, daß er seine Geste akzeptieren würde. Dann nahm Harold die rechte Hand aus der Jackentasche - sie schien an etwas hängenzubleiben, vielleicht am Reißverschluß - und schüttelte Stu kurz die Hand. Harolds Hand war warm und verschwitzt. Stu trat vor ihn und sah zur Einfahrt. »Ralph müßte schon da sein. Hoffentlich hat er keinen Unfall auf der Bergstrecke gehabt. Er... da ist er ja.« Stu ging zum Straßenrand vor; ein zweiter Scheinwerfer blitzte jetzt in der Einfahrt auf und spielte Verstecken zwischen der Abschirmung der Bäume. »Ja, das ist er«, sagte Harold mit seltsam gepreßter Stimme hinter ihm. »Da kommt noch jemand«, sagte Stu. »W-was?« »Da.« Stu deutete auf einen zweiten Motorradscheinwerfer hinter dem ersten. »Oh.« Wieder diese seltsam gepreßte Stimme. Stu drehte sich um. »Alles klar, Harold?« »Nur müde.« Das zweite Fahrzeug gehörte Glen Bateman; es war ein Moped, die einzige Form von Motorrad, an die er sich gewöhnen konnte; Nadines Vespa wirkte dagegen wie eine Harley. Hinter Ralph sass Nick Andres als Sozius. Nick lud sie alle auf Kaffee und/oder Brandy ins Haus ein, das er mit Ralph bewohnte. Stu war einverstanden, aber Harold, der abgespannt und müde wirkte, lehnte ab. Er ist so verdammt enttäuscht, dachte Stu und überlegte, daß er nicht nur zum ersten Mal Sympathie für Harold empfand, sondern es auch höchste Zeit dafür war. Er wiederholte Nicks Einladung noch einmal, aber Harold schüttelte nur den Kopf und sagte Stu, er hätte genug für heute. Er wollte nur heim und ausschlafen. Als Harold zu Hause ankam, zitterte er so heftig, daß er kaum den Schlüssel ins Türschloß brachte. Als er die Tür endlich geöffnet hatte, stürzte er ins Haus, als hätte er Angst, ein Wahnsinniger würde sich hinter ihm auf dem Gehweg anschleichen. Er schlug die Tür zu, schloß ab, schob den Riegel vor. Dann lehnte er sich einen Moment mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen gegen die Tür und war am Rande eines hysterischen Weinkrampfs. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, tastete er sich durch die Diele ins Wohnzimmer und zündete alle drei Gaslampen an. Das Zimmer wurde hell, und hell war besser. Er setzte sich in seinen Lieblingssessel und machte die Augen zu. Als sein Herz langsamer schlug, ging er zum Kamin, nahm den losen Stein heraus und holte das HAUPTBUCH. Es beruhigte ihn. In einem Hauptbuch verzeichnete man Schulden, Außenstände und Kapitalerträge. In einem Hauptbuch wurde letztendlich alles abgerechnet. Er setzte sich wieder, schlug die Seite auf, wo er aufgehört hatte, zögerte und schrieb dann: 14. August 1990. Er schrieb fast anderthalb Stunden lang; sein Kugelschreiber füllte Zeile für Zeile, Seite für Seite. Sein Gesicht war beim Schreiben abwechselnd grimmig amüsiert und düster rechtschaffen, entsetzt und erfreut, verletzt und heiter. Als er fertig war, las er durch, was er geschrieben hatte (»Dies sind meine Briefe an die Welt/die mir nie geschrieben hat...«) und massierte sich dabei abwesend die schmerzende rechte Hand. Er verbarg das Hauptbuch wieder unter dem lockeren Stein. Er war ruhig; er hatte alles aus sich herausgeschrieben; er hatte sein Entsetzen und seine Wut auf die Seiten fließen lassen, und sein Wille war stark. Das war gut. Manchmal machte der Vorgang des Schreibens ihn unruhig, und dann wußte er, daß er falsch geschrieben hatte oder ohne die Anstrengung, welche erforderlich war, die stumpfe Kante der Wahrheit dahingehend zu schleifen, dass sie schneiden konnte - daß sie Blut fließen ließ. Aber heute abend konnte er das Buch ruhig und gelassen zurücklegen. Wut und Angst und Hilflosigkeit waren wohlbehalten in das Buch übertragen worden, und darüber kam ein Stein, der alles fernhielt, während er selbst schlief. Harold zog eine Jalousie hoch und sah auf die stumme Straße hinaus. Während er die Flatirons betrachtete, dachte er ruhig darüber nach, daß er nahe daran gewesen war, es einfach doch zu tun, einfach den Achtunddreißiger herauszuziehen und alle vier umzunieten. Das hätte es ihrem stinkenden, selbstgefälligen Ad-hocKomitee gezeigt. Wenn er mit ihnen fertig gewesen wäre, hätten sie nicht einmal eine beschlußfähige Mehrheit mehr übrig gehabt. Aber im letzten Augenblick hatte ein letzter Faden der Vernunft gehalten, anstatt zu reißen. Er war imstande gewesen, die Waffe loszulassen und dem falschen Halunken die Hand zu drücken. Wie, das wußte er nicht, aber es war Gott sei Dank gelungen. Ein Genie erkennt man an seiner Fähigkeit, den rechten Zeitpunkt abzuwarten - und das würde er. Jetzt war er müde; es war ein langer und ereignisreicher Tag gewesen. Während er sich das Hemd aufknöpfte, schaltete Harold zwei der drei Gaslampen aus und nahm die letzte, um ins Schlafzimmer zu gehen. Als er durch die Küche ging, blieb er wie angewurzelt stehen. Die Tür zum Keller stand offen. Er ging hin, hob die Eampe hoch und schritt die ersten drei Stufen hinunter. Angst schlich sich in sein Herz und vertrieb die Ruhe. »Wer ist da?« rief er. Keine Antwort. Er sah das Hockeyspiel. Die Poster. In der hinteren Ecke ein paar buntgestreifte Krocketschläger in ihrem Gestell. Er ging noch drei Stufen hinunter. »Ist da jemand?« Nein, er hatte nicht das Gefühl. Aber das vertrieb die Angst nicht. Er ging ganz nach unten und hielt die Lampe hoch über den Kopf; auf der anderen Seite des Zimmers folgte ein monströser SchattenHarold, so riesig und schwarz wie der Affe in der Rue Morgue, seinem Beispiel. War da etwas auf dem Fußboden da drüben? Ja. Eindeutig. Er ging an der Autorennbahn vorbei zum Fenster, durch das Fran eingestiegen war. Auf dem Fußboden lag hellbrauner Staub. Harold stellte die Lampe daneben. Mitten im Staub, so deutlich wie ein Fingerabdruck, war der Abdruck eines Turn- oder Tennisschuhs... kein Waffel- oder Zickzackmuster, sondern eine Anordnung von Kreisen und Linien. Er sah ihn an, brannte ihn sich ins Gedächtnis ein, dann kickte er den Staub zu einer Wolke auf und verwischte den Abdruck. Im Licht der Coleman-Lampe wirkte sein Gesicht wie das einer Wachsfigur. »Das werdet ihr büßen«, sagte Harold leise. »Wer von euch es auch war, das werdet ihr büßen! Ja, das werdet ihr!« Er ging wieder die Treppe hinauf und durchsuchte das ganze Haus nach weiteren Spuren des Eindringlings. Er fand keine. Er gelangte zuletzt ins Wohnzimmer und war nicht mehr müde. Er glaubte schon, daß jemand - vielleicht ein Kind - aus Neugier eingebrochen war, als ihn plötzlich der Gedanke HAUPTBUCH wie eine Explosion durchzuckte. Das Motiv für den Einbruch war so klar, so entsetzlich, daß er es fast völlig übersehen hätte. Er lief zum Kamin, entfernte den Stein und riß das HAUPTBUCH heraus. Zum ersten Mal begriff er, wie gefährlich das Buch war. Wenn jemand es fand, war alles aus. Das sollte gerade er am besten wissen; hatte nicht alles mit Frans Tagebuch angefangen? Das HAUPTBUCH. Der Fußabdruck. Bedeutete letzterer, dass ersteres entdeckt worden war? Natürlich nicht. Aber wie konnte er Gewißheit bekommen? Es gab keine Möglichkeit, das war die pure, höllische Wahrheit der Sache. Er legte den Stein wieder an seinen Platz und nahm das Buch mit ins Schlafzimmer. Zusammen mit dem Smith & Wesson-Revolver legte er es unter das Kopfkissen und dachte, er sollte es verbrennen. Das Beste, das er je geschrieben hatte, war zwischen diesen beiden Buchdeckeln, das einzige Geschriebene, das je aus Glaube und persönlicher Überzeugung entstanden war. Er legte sich hin und machte sich auf eine schlaflose Nacht gefaßt, während er im Geiste rastlos mögliche Verstecke durchging. Unter einem lockeren Brett? Hinten im Schrank? Konnte er möglicherweise den alten Trick mit dem entwendeten Brief durchziehen und es tollkühn aufs Bücherregal stellen, ein Band unter vielen, zwischen einem Reader's Digest Auswahlbuch auf der einen und Die sinnliche Frau auf der anderen Seite? Nein - das war zu tollkühn; dann könnte er das Haus nicht mehr ruhigen Gewissens verlassen. Wie wäre es mit einem Bankschließfach? Nein, das war nicht gut - er wollte es bei sich haben, damit er es ansehen konnte. Schließlich döste er ein, und sein Verstand, der vom aufziehenden Schlaf freigesetzt wurde, schwebte ohne Führung des Bewußtseins davon, eine Flipperkugel in Zeitlupe. Er dachte: Es muß versteckt werden, darauf kommt es an... wenn Frannie ihres besser versteckt hätte... wenn ich nicht gelesen hätte, was sie wirklich von mir hält... ihre Scheinheiligkeit... wenn sie... Harold richtete sich kerzengerade im Bett auf, stieß einen leisen Schrei aus und riß die Augen auf. So saß er lange Zeit, und nach einer Weile fing er an zu zittern. Wußte sie es? War es Frans Fußabdruck? Tagebücher... Alben... Hauptbücher... Schließlich legte er sich wieder hin, aber es dauerte lange, bis er einschlafen konnte. Er überlegte ständig, ob Fran Goldsmith für gewöhnlich Tennis- oder Turnschuhe trug. Und wenn, was für ein Muster hatten ihre Sohlen? Sohlenmuster, Seelenmuster. Als er endlich einschlief, quälten ihn unbehagliche Träume und er schrie mehr als einmal kläglich in der Dunkelheit auf, als wollte er Wesen vertreiben, denen er längst für immer Einlaß gewährt hatte. Stu kam Viertel nach neun. Fran lag zusammengerollt auf dem Doppelbett, trug eines seiner Hemden - das ihr fast bis zu den Knien reichte - und las ein Buch mit dem Titel Fünfzig Nutzpflanzen. Sie stand auf, als er eintrat. »Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht!« Stu berichtete Harolds Vorschlag, nach Mutter Abagail zu suchen, damit sie sie wenigstens im Auge behalten konnten. Von Heiligen Kühen sagte er nichts. Als er sein Hemd aufknöpfte, kam er zum Ende: »Wir hätten dich mitgenommen, Kleines, aber du warst unauffindbar.« »Ich war in der Bibliothek«, sagte sie und sah ihm zu, wie er das Hemd auszog und in den Wäschesack stopfte, der hinter der Tür hing. Er war ziemlich behaart, an Brust und Rücken, und sie dachte, bis sie Stu kennengelernt hatte, hatte sie haarige Männer immer ein wenig abstoßend gefunden. Sie vermutete, die Erleichterung, dass sie ihn wiederhatte, machte sie etwas albern im Kopf. Harold hatte ihr Tagebuch gelesen, das wußte sie jetzt. Sie hatte entsetzliche Angst gehabt, daß Harold versuchen würde, Stu allein zu erwischen, um... nun, um ihm etwas anzutun. Aber warum jetzt, heute, wo sie es herausgefunden hatte? Wenn Harold den schlafenden Hund so lange nicht geweckt hatte, war es dann nicht logisch anzunehmen, daß er den Hund überhaupt nicht wecken wollte? Und war es nicht möglich, daß Harold bei der Lektüre ihres Tagebuchs eingesehen hatte, daß es völlig sinnlos war, ihr dauernd nachzustellen? So kurz nach der Neuigkeit von Mutter Abagails Verschwinden war sie genau in der richtigen Stimmung gewesen, böse Vorzeichen in Hühnereingeweiden zu sehen, aber schließlich hatte Harold nur ihr Tagebuch gelesen, kein Geständnis aller Verbrechen der Welt. Und wenn sie Stu erzählte, was sie festgestellt hatte, würde sie dumm dastehen und ihn unnütz gegen Harold aufbringen... und wahrscheinlich gegen sie selbst, weil sie so albern gewesen war. »Keine Spur von ihr, Stu?« »Nee.« »Was hat Harold für einen Eindruck gemacht?« Stu zog die Hosen aus. »Ganz erschlagen. Enttäuscht, daß seine Idee nichts gebracht hat. Ich habe ihn zum Essen eingeladen, wann immer er will. Hoffentlich bist du einverstanden. Weißt du, ich glaube, der Kerl könnte mir doch gefallen. Wenn du mir das an dem Tag gesagt hättest, als wir uns in New Hampshire getroffen haben, hätte ich es nicht geglaubt. War es falsch, ihn einzuladen?« »Nein«, sagte sie nach einer nachdenklichen Pause. »Nein, ich möchte gern ein gutes Verhältnis zu Harold haben.« Ich sitze hier zu Hause und denke, daß Harold ihm vielleicht den Kopf wegpusten will, dachte sie, und Stu lädt ihn zum Essen ein. Das nenne ich Hirngespinste einer schwangeren Frau! Stu sagte: »Wenn Mutter Abagail bei Tagesanbruch noch nicht zurück ist, werde ich Harold bitten, wieder mit mir rauszufahren.« »Ich würde gern mitfahren«, sagte Fran hastig. »Und es gibt noch andere Leute, die überzeugt sind, daß sie nicht von den Raben gefüttert wird. Dick Vollman ist einer. Larry Underwood ein anderer.« »Okay, prima«, sagte er und legte sich zu ihr ins Bett. »Sag mal, was hast du eigentlich unter diesem Hemd an?« »Das sollte ein großer starker Mann wie du eigentlich auch ohne meine Hilfe herausfinden können«, sagte Fran schnippisch. Wie sich herausstellte, gar nichts. Am nächsten Tag brach der Suchtrupp bescheiden um acht Uhr mit einem halben Dutzend Suchenden auf - Stu, Fran, Harold, Dick Vollman, Larry Underwood und Lucy Swann. Am Mittag war die Zahl auf zwanzig gestiegen, bei Einbruch der Dämmerung (die wie immer von einem kurzen Regenschauer und Wetterleuchten in den Vorgebirgen begleitet wurde), durchkämmten mehr als fünfzig Leute das Unterholz westlich von Boulder, stapften durch Bäche, jagten Täler rauf und runter und überlasteten den CB-Kanal. Eine seltsame Stimmung resignierter Niedergeschlagenheit hatte die gestrige Hinnähme ersetzt. Trotz der Macht der Träume, die Mutter Abagail in den Augen der Leute in der Zone als halbe Göttin erscheinen ließen, waren sie realistisch, was ihre Überlebenschancen anbetraf. Die alte Frau war weit über hundert und schon die ganze Nacht draußen. Und jetzt brach bereits die zweite Nacht an. Der Bursche, der sich mit zwölf Leuten von Louisiana bis Boulder durch das Land gequält hatte, faßte es perfekt zusammen. Er war gestern mittag mit seinen Leuten angekommen. Als er erfuhr, dass Mutter Abagail verschwunden war, warf dieser Mann, der Norman Kellogg hieß, seine Houston-AstrosBaseballmütze auf den Boden und sagte: »Was für ein verdammtes Pech... und wen habt ihr losgeschickt, um sie zu suchen?« Charlie Impening, der mehr oder weniger zum ständigen Schwarzseher der Zone geworden war (er hatte die frohe Botschaft verbreitet, daß es im September schneien würde), meinte, wenn Mutter Abagail verschwunden sei, wäre das für alle anderen ein Zeichen, ebenfalls zu verschwinden. Boulder lag einfach zu nahe. Zu nahe woran? Ihr wißt doch alle, woran zu nahe, und Impenings Sohn Charlie würde sich in New York oder Boston echt sicherer fühlen. Er fand keine Anhänger. Die Leute waren müde und wollten bleiben. Wenn es kalt wurde und keine Heizung gab, zogen sie vielleicht weiter, aber vorher nicht. Sie genasen. Impening wurde höflich gefragt, ob er allein gehen wollte. Impening sagte, er würde warten, bis noch ein paar Leute einsichtig geworden seien. Man hörte, wie Glen Bateman die Meinung bekundete, daß Charlie Impening einen reichlich armseligen Moses abgeben würde. »Resignierte Niedergeschlagenheit«, darin erschöpften sich die Empfindungen der Gemeinschaft, glaubte Glen Bateman, denn trotz aller Träume und trotz ihrer Angst vor dem, was möglicherweise westlich der Rockies vor sich ging, waren sie immer noch vernünftig denkende Menschen. Aberglaube braucht, genau wie wahre Liebe, Zeit zu wachsen und sich auf sich selbst zu besinnen... Wenn ihr eine Scheune gebaut habt, sagte er zu Nick, Stu und Fran, als die Dunkelheit der Suche ein Ende machte, hängt ihr ein Hufeisen mit den Enden nach oben an die Tür, um das Glück zu beschwören. Aber wenn ein Nagel herausfällt und das Hufeisen sich dreht und mit den Enden nach unten hängt, gebt ihr die Scheune nicht auf. »Der Tag mag kommen, da unsere Kinder die Scheune vielleicht aufgeben, wenn das Hufeisen kein Glück mehr bringt, aber das ist noch Jahre entfernt. Im Augenblick fühlen wir uns alle ein wenig seltsam und verloren. Aber das geht vorbei, denke ich. Wenn Mutter Abagail tot ist - weiß Gott, ich hoffe, sie ist es nicht -, hätte es wahrscheinlich zu keinem besseren Zeitpunkt für den geistigen Gesundungsprozeß dieser Gemeinschaft kommen können.« Nick schrieb: »Aber wenn sie als Gegenpol zu unserem Widersacher gedacht war, als sein Gegenspieler, als jemand, der das Gleichgewicht bewahren soll...« »Ja, ich weiß«, sagte Glen düster. »Ich weiß. Die Tage, als Hufeisen wirklich nicht wichtig waren, gehen vielleicht dem Ende entgegen... oder sind schon zu Ende. Glaubt mir, ich weiß es.« Frannie sagte: »Glaubst du wirklich, daß unsere Enkel abergläubische Wilde sein werden, Glen? Die Hexen verbrennen und sich über die Schulter spucken, damit sie Glück haben?« »Ich kann nicht in die Zukunft sehen, Fran«, sagte Glen, und sein Gesicht sah im Lampenschein alt und verfallen aus - vielleicht das Gesicht eines gescheiterten Zauberers. »Ich hatte nicht einmal den Einfluß begriffen, den Mutter Abagail auf die Gemeinschaft hatte, bis Stu mich in der Nacht auf dem Flagstaff Mountain darauf hingewiesen hat. Aber eines weiß ich: Wir alle sind aus zwei Gründen in dieser Stadt. Die Supergrippe können wir der Dummheit der Menschen zuschreiben. Es spielt keine Rolle, ob wir es getan haben, die Russen oder die Letten. Wer den Kanister verschüttet hat, ist nicht so wichtig, wenn man die allgemeine Wahrheit bedenkt: Am Ende aller Vernunft steht das Massengrab. Die Gesetze der Physik, die Gesetze der Biologie, die Axiome der Mathematik sind alle Teil dieses Todes-Trips, denn wir sind nun einmal, was wir sind. Wenn es nicht Captain Trips gewesen wäre, dann etwas anderes. Es war Mode, alles auf die >Technologie< zu schieben, aber die >Technologie< ist der Stamm des Baumes, nicht die Wurzel. Die Wurzel ist Rationalismus, und dieses Wort würde ich so definieren: Nationalismus ist die Vorstellung, daß wir einmal alles über das Dasein begreifen können.< Es ist ein Todes -Trip. Das ist es immer gewesen. Man kann die Seuche dem Rationalismus zuschreiben, wenn man will. Aber der andere Grund für unser Hiersein sind die Träume, und die Träume sind irrational. Wir waren uns einig, daß wir diese einfache Tatsache nicht im Komitee diskutieren, aber dies ist keine Sitzung des Komitees. Deshalb sage ich, was wir alle wissen: Wir werden von Kräften geleitet, die wir nicht begreifen. Für mich bedeutet das, wir akzeptieren vielleicht allmählich - vorerst noch unterbewußt und mit zahlreichen, kulturell bedingten Rückschlägen - eine neue Definition von Existenz. Die Vorstellung, daß wir niemals etwas über das Dasein begreifen können. Und wenn Rationalismus ein Todes-Trip ist, dann könnte Irrationalismus möglicherweise ein Lebens-Trip sein... jedenfalls so lange, bis das Gegenteil bewiesen ist.« Stu sagte sehr langsam: »Nun, ich bin abergläubisch. Ich bin dafür ausgelacht worden, aber ich bin es. Ich weiß, es spielt keine Rolle, ob jemand zwei oder drei Zigaretten mit einem Streichholz anzündet, aber zwei machen mich nicht nervös, drei schon. Ich gehe nicht unter Leitern durch und sehe es nicht gern, wenn mir eine schwarze Katze über den Weg läuft. Aber ganz ohne Wissenschaft leben... möglicherweise die Sonne anbeten... vielleicht zu denken, dass Ungeheuer Bowlingkugeln über den Himmel rollen, wenn es donnert... ich kann nicht sagen, daß mich diese Vorstellung besonders anmacht, Platte. Das scheint mir wie eine Art Sklaverei zu sein.« »Aber angenommen, das alles stimmt?« sagte Glen leise. »Was?« »Angenommen, das Zeitalter des Rationalismus ist vorbei. Ich selbst bin fast überzeugt, daß es so ist. Es war früher schon dicht am Ende, weißt du; in den sechziger Jahren, dem sogenannten Zeitalter des Wassermanns, war es fast vorbei, und im Mittelalter hat es praktisch ununterbrochen Ferien gemacht. Und angenommen... angenommen, wenn der Rationalismus nicht mehr ist, dann ist es, als wäre eine Weile ein grelles Flimmern weg, und wir sehen...« Er verstummte. Sein Blick war nach innen gerichtet. »Sehen was?« fragte Frannie. Er sah ihr in die Augen; seine waren grau und seltsam, ein inneres Licht schien darin zu leuchten. »Dunkle Magie«, sagte er leise. »Ein Universum der Wunder, in dem Wasser bergauf fließt, Trolle im tiefen Wald leben und Drachen unter Bergen hausen. Strahlende Wunder, weiße Macht. >Lazarus, komm heraus.< Wasser in Wein. Und... und nur vielleicht... Teufelsaustreibung.« Er machte eine Pause und lächelte. »Der Lebens-Trip.« »Und der dunkle Mann?« fragte Fran leise. Glen zuckte die Achseln. »Mutter Abagail nennt ihn den Dämon des Teufels. Vielleicht ist er der letzte Zauberer rationalen Denkens, der die Werkzeuge der Technologie gegen uns sammelt. Vielleicht auch mehr, vielleicht etwas viel Dunkleres. Ich weiß nur, daß er ist, und ich glaube nicht mehr, daß ihm Soziologie oder Psychologie oder sonst eine -ologie ein Ende machen können. Ich glaube, das kann nur weiße Magie... und unser weißer Magier ist irgendwo da draußen und streift alleine herum.« Glens Stimme brach fast, er sah rasch nach unten. Draußen herrschte Dunkelheit, der Regen vom Berg herab wehte frische Schauer gegen das Fenster von Stus und Frans Wohnzimmer. Glen zündete die Pfeife an. Stu hatte eine Handvoll Kleingeld aus der Tasche genommen, schüttelte es und machte dann die Hand auf, um zu sehen, wie oft er Kopf und wie oft er Zahl hatte. Nick malte komplexe Kringel auf das oberste Blatt seines Blocks; in Gedanken sah er die verlassenen Straßen von Shoyo und hörte - ja, hörte - eine Stimme flüstern: Er kommt zu dir, Stummer. Er ist schon viel näher. Nach einer Weile machten Glen und Stu Feuer im Kamin, und sie sahen alle in die Flammen und sprachen wenig. Als sie gegangen waren, fühlte Fran sich niedergeschlagen und unglücklich. Stu war auch in keiner guten Verfassung. Er sieht müde aus, dachte sie. Wir sollten morgen zu Hause bleiben, einfach zu Hause bleiben, miteinander reden und am Nachmittag ein Nickerchen machen. Wir sollten alles nicht so schwer nehmen. Sie betrachtete die Coleman-Gaslampe und sehnte sich nach elektrischem Licht, hellem elektrischen Licht, das aufleuchtete, wenn man einen Schalter an der Wand drückte. Sie spürte, wie ihr Tränen in den Augen brannten. Sie ermahnte sich wütend, nicht anzufangen, nicht ihre Probleme noch zu vergrößern, aber der Teil von ihr, der die Wasserpumpen bediente, wollte nicht aufhören. Dann strahlte Stu plötzlich. »Jemine! Fast hätte ich es vergessen, oder?« »Was vergessen?« »Ich zeig's dir! Bleib da!« Er ging zur Tür hinaus und polterte die Treppe hinunter. Sie ging zur Tür, und nach einem Augenblick hörte sie ihn zurückkommen. Er hatte etwas in der Hand, und es war ein... ein... »Stuart Redman, wo hast du das denn auf getrieben?« fragte sie freudig überrascht. »Folk Arts Music«, sagte er grinsend. Sie nahm das Waschbrett und drehte es hin und her. Das bläuliche Metall glänzte im Licht. »Folk...?« »Unten in der Walnut Street.« »Ein Waschbrett in einem Musikgeschäft?« »Ja. Da stand auch ein total wahnsinniger Waschzuber, aber in den hatte schon jemand ein Loch gebohrt und einen Baß daraus gemacht.« Sie fing an zu lachen. Sie legte das Waschbrett aufs Sofa, kam zu ihm und nahm ihn fest in die Arme. Seine Hände wanderten zu ihren Brüsten, und sie umarmte ihn noch fester. »Der Arzt hat gesagt, es soll Blasmusik hören«, flüsterte sie. »Hm?« Sie drückte ihr Gesicht an seinen Hals. »Dann fühlt es sich wohl. So heißt es jedenfalls in dem Lied. Kannst du dafür sorgen, daß ich mich wohl fühle, Stu?« Lächelnd hob er sie hoch. »Nun«, sagte er. »Ich könnte es ja mal versuchen.« Am nächsten Nachmittag um Viertel nach zwei stürzte Glen Bateman, ohne anzuklopfen, in die Wohnung. Fran war bei Lucy Swann, wo die beiden Frauen versuchten, einen Sauerteig zu bereiten. Stu las einen MaxBrand-Western. »Was ist denn los?« fragte er Glen schneidend. »Ist... hat jemand sie gefunden?« »Nein«, sagte Glen. Er setzte sich so rasch, als würden seine Beine ihn nicht mehr tragen. »Keine schlechte Nachricht, eine gute. Aber es ist sehr seltsam.« »Was? Was denn?« »Es ist Kojak. Ich hatte mich nach dem Essen ein wenig hingelegt, und als ich aufstand, schlief Kojak auf der Veranda. Er ist übel zugerichtet, Stu, sieht aus, als hätte man ihn durch einen Mixer mit stumpfen Messern gedreht, aber er ist es.« »Du meinst den Hund? Den Kojak?« »Den meine ich.« »Bist du sicher?« »Auf der Hundemarke steht Woodsville, N. H. Dasselbe rote Halsband. Derselbe Hund. Er ist klapperdürr und muß gekämpft haben. Dick Ellis - Dick war überglücklich, daß er endlich mal ein Tier behandeln konnte - er sagt, daß ein Auge nicht mehr zu retten ist. Er hat böse Kratzer an Flanken und Bauch, ein paar sind entzündet, aber Dick hat sie behandelt. Er hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben und ihn verbunden. Dick meint, er muß mit einem Wolf aneinandergeraten sein, vielleicht mehreren. Aber keine Tollwut. Er ist sauber.« Glen schüttelte langsam den Kopf, zwei Tränen liefen ihm über die Wangen. »Der elende Hund ist zu mir zurückgekommen. Ich wünsche bei Gott, ich hätte ihn nicht allein zurückgelassen, Stu. Ich komme mir so mies vor.« »Es wäre unmöglich gewesen, Glen. Nicht mit den Motorrädern.« »Ja, aber... er ist mir gefolgt, Stu. Solche Geschichten liest man sonst im Star Weekly... Treuer Hund folgt seinem Herrn zweitausend Meilen. Wie hat er das nur geschafft? Wie?« »Vielleicht so wie wir. Hunde träumen, weißt du - auf jeden Fall. Hast du nie gesehen, wie einer auf dem Küchenboden liegt und mit den Pfoten zuckt? In Arnette lebte ein alter Mann, Vic Palfrey, der hat gesagt, Hunde hätten zwei Träume, einen guten und einen schlechten. Den guten haben sie, wenn die Pfoten zucken. Den schlechten, wenn sie knurren. Wenn man einen Hund im schlechten Traum aufweckt, ist die Gefahr groß, daß er einen beißt.« Glen schüttelte wie betäubt den Kopf. »Willst du damit sagen, er hat geträumt...« »Das ist nicht seltsamer als das, was du gestern abend erzählt hast«, tadelte Stu ihn. Glen grinste und nickte. »Oh, so was könnte ich stundenlang erzählen. Ich bin einer der größten Laberer aller Zeiten. Aber wenn wirklich etwas passiert ...« »In Theorie aufgepaßt, im praktischen Unterricht geschlafen.« »Hol dich der Teufel, Ost-Texaner. Willst du dir meinen Hund ansehen?« »Darauf kannst du Gift nehmen.« Glens Haus lag in der Spruce Street, etwa zwei Blocks vom Hotel Boulderado entfernt. Die Efeuranken an den Verandastreben waren größtenteils abgestorben, ebenso der Rasen und fast alle Blumen in Boulder ohne tägliche Bewässerung durch die städtische Wasserversorgung hatte das trockene Klima triumphiert. Auf der Veranda stand ein kleiner runder Tisch mit einem Glas Gin Tonic (»Ist das ohne Eis nicht absolut gräßlich?« fragte Stu, und Glen antwortete: »Nach dem dritten merkt man das nicht mehr so sehr.«). Neben dem Glas stand ein Aschenbecher mit fünf Pfeifen, Ausgaben von Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, Ball Four und Ich ziehe schneller - alle waren an verschiedenen Stellen aufgeschlagen. Dazu noch ein offener Karton Käsecracker von Kraft. Kojak lag auf der Veranda und hatte die verletzte Schnauze friedlich auf den Vorderpfoten liegen. Der Hund war dürr und erbärmlich zugerichtet, aber Stu erkannte ihn auf den ersten Blick. Er kauerte sich nieder und streichelte Kojaks Kopf. Kojak wachte auf und sah Stu glücklich an. Er schien auf Hundeweise zu grinsen. »Ja, braver Hund«, sagte Stu, der einen albernen Kloß im Hals spürte. Wie bei einem Kartenspiel, das rasch offen ausgeteilt wird, sah er jeden Hund vor sich, den er gehabt hatte, seit seine Mom ihm Old Spike gab, als Stu gerade fünf Jahre alt war. Viele Hunde. Vielleicht nicht einen für jede Karte im Spiel, aber trotzdem eine Menge Hunde. Ein Hund war etwas Schönes, und soweit er wußte, war Kojak der einzige in Boulder. Er sah zu Glen auf und rasch wieder hinunter. Er ging davon aus, daß nicht einmal alte glatzköpfige Soziologen, die drei Bücher auf einmal lasen, sich gerne erwischen ließen, wenn ihnen die Augen tränten. »Braver Hund«, wiederholte er, und Kojak klopfte mit dem Schwanz auf die Verandadielen und wollte damit wahrscheinlich bekräftigen, daß er wahrhaftig ein braver Hund war. »Ich geh' mal eben rein«, sagte Glen mit belegter Stimme. »Muss aufs Klo.« »Klar«, sagte Stu, ohne aufzusehen. »He, guter Junge, was, Kojak, warst du nicht ein guter Junge? Bist du nicht einer?« Kojak wedelte zustimmend mit dem Schwanz. »Kannst du herumrollen? Stell dich tot, Junge. Los.« Kojak drehte sich gehorsam auf den Rücken, streckte die Hinterbeine von sich und die Vorderpfoten in die Luft. Stus Gesicht wurde besorgt, als er mit der Hand behutsam über die steifen weißen Verbände strich, die Dick Ellis angelegt hatte. Weiter oben konnte er rote, aufgedunsen aussehende Kratzer erkennen, die unter dem Verband zweifellos zu tiefen Wunden wurden. Etwas war hinter ihm hergewesen, das stimmte, und sicher kein anderer streunender Hund. Ein Hund hätte nach Schnauze oder Hals geschnappt. Kojak war von etwas angegriffen worden, das niederer als ein Hund war. Verstohlener. Möglicherweise ein Wolfsrudel, aber Stu bezweifelte, ob Kojak einem Wolfsrudel hätte entkommen können. Wie auch immer, er hatte Glück gehabt, daß er nicht ausgeweidet worden war. Die Tür schlug zu, als Glen wieder auf die Veranda kam. »Was ihn angegriffen hat, hat die lebenswichtigen Organe nur knapp verfehlt«, sagte Stu. »Die Wunden waren tief, er hat viel Blut verloren«, stimmte Glen zu. »Ich komme einfach nicht darüber hinweg, daß das alles auf mein Konto geht.« »Dick hat von Wölfen gesprochen.« »Wölfe, vielleicht Kojoten... aber er hielt es für unwahrscheinlich, dass Kojoten so etwas machen, und ich habe zugestimmt.« Stu tätschelte Kojaks Rumpf, Kojak drehte sich wieder auf den Bauch. »Wie kommt es, daß fast alle Hunde ausgestorben, aber noch genügend Wölfe da sind - auch noch östlich der Rockies -, dass sie einen guten Hund so zurichten können?« »Das werden wir wohl nie erfahren«, sagte Glen. »Genausowenig, warum die gottverdammte Seuche alle Pferde umgebracht hat, aber nicht die Rinder und die meisten Menschen, aber nicht uns. Ich will nicht einmal mehr darüber nachdenken. Ich werde mir einen großen Vorrat an Hundefutter anlegen und ihn füttern.« »Ja.« Stu sah Kojak an, dem die Augen zugefallen waren. »Er ist ziemlich lädiert, aber seine Organe sind noch in Ordnung - das hab' ich gesehen, als er sich umgedreht hat. Wir sollten uns nach einer Hündin umsehen, findest du nicht auch?« »Ja, stimmt«, sagte Glen nachdenklich. »Willst du einen warmen Gin Tonic, Ost-Texaner?« »Um Gottes willen, nein. Ich mag zwar nur ein Jahr die Berufsschule besucht haben, aber deswegen bin ich kein Barbar. Hast du ein Bier?« »Eine Dose Coors könnte ich vielleicht auftreiben. Aber warm.« »Gekauft.« Bevor er Glen ins Haus folgte, drehte er sich mit dem Türgriff in der Hand noch einmal zu dem schlafenden Hund um. »Schlaf gut, alter Junge«, sagte er dem Hund. »Schön, daß du hier bist.« Glen und er gingen hinein. Aber Kojak schlief nicht. Er befand sich irgendwo dazwischen, wo sich die meisten Lebewesen befinden, wenn sie schwer verletzt sind, aber nicht so schwer, daß der Schatten des Todes über ihnen liegt. Ein Juckreiz lag in seinem Bauch, der Juckreiz der Heilung. Glen würde viele Stunden damit verbringen müssen, ihn von diesem Juckreiz abzulenken, damit er sich nicht den Verband abriß, die Wunden aufkratzte und erneut infizierte. Aber das kam später. Vorläufig gab sich Kojak damit zufrieden (der sich gelegentlich immer noch für Big Steve hielt, denn das war sein ursprünglicher Name gewesen), in diesem Dazwischen vor sich hinzudämmern. Die Wölfe waren in Nebraska über ihn hergefallen, als er noch verzweifelt an dem Haus auf Wagenhebern in der kleinen Stadt Hemingford Home schnüffelte. Der Geruch des MANNES - das Gefühl des MANNES - hatten ihn hergeführt und dann aufgehört. Wohin war er verschwunden? Kojak wußte es nicht. Und dann waren die Wölfe, vier an der Zahl, mit gesträubtem Nackenhaar wie Totengeister aus dem Mais gekommen. Ihre Augen hatten Kojak angefunkelt, die Lefzen hatten sie von den Zähnen gefletscht und das tiefe, fauchende Knurren ihrer bösen Absicht herausgelassen. Kojak war vor ihnen zurückgewichen und hatte selbst geknurrt und mit steifen Pfoten den Sand von Mutter Abagails Hof aufgescharrt. Links hing die Reifenschaukel, die einen flachen, runden Schatten warf. Der Leitwolf hatte in dem Augenblick angegriffen, als Kojaks Hinterteil im Schatten der Veranda verschwand. Er kam von unten und wollte an den Bauch, die anderen folgten. Kojak sprang auf und über das schnappende Maul des Leitwolfs hinweg, präsentierte ihm den Bauch, und als er ihn biß, grub Kojak die Zähne in die Kehle des Wolfs und biß so fest zu, daß Blut kam, der Wolf heulte und sich losriß und plötzlich keinen Mut mehr hatte. Bevor er sich befreien konnte, biß Kojak ihm in die empfindliche Schnauze, und der Wolf stieß einen heulenden Schmerzensschrei aus, als ihm die Nase bis zu den Nüstern aufgerissen und zerfetzt wurde. Er floh heulend vor Qual, schüttelte wild den Kopf hin und her, so daß Blut nach allen Seiten spritzte, und aufgrund der groben Telepathie, die verwandte Tiere miteinander verbindet, konnte Kojak seinen unablässigen Gedanken lesen: (Wespen in mir o die Wespen die Wespen in meinem Kopf mein Kopf ist voller Wespen o) Und dann fielen die anderen über ihn her, einer von links, einer von rechts, wie riesige weiche Geschosse, und der dritte kam schnappend von unten und wollte ihm die Eingeweide herausreißen. Mit heiserem Gebell war Kojak nach rechts gesprungen, hatte wütend gekläfft und sich erst um diesen kümmern wollen, damit er unter die Veranda kriechen konnte. Wenn er unter die Veranda kam, konnte er sie abwehren, vielleicht für immer. Jetzt lag er auf Glens Veranda und erlebte den Kampf noch einmal in einer Art Zeitlupe: das Knurren und Heulen, das Zuschnappen und Zurückweichen, den Blutgeruch, der ihm ins Gehirn gedrungen war und ihn in eine Kampfmaschine verwandelt hatte, so daß er die eigenen Wunden nicht spürte, erst später. Den Wolf, der von rechts angegriffen hatte, nahm er an wie den ersten, biß ihm ein Auge aus und fügte ihm eine klaffende und wahrscheinlich tödliche Wunde am Hals zu. Aber der Wolf hatte auch ihn verletzt; das meiste war oberflächlich, aber am Bauch hatte er zwei tiefe Wunden, die zu hartem Gewebe in Form eines gekritzelten kleinen t vernarben würden. Und noch als ganz altem Hund (Kojak lebte noch sechzehn Jahre, als Glen Bateman schon lange gestorben war) machten ihm diese Narben an feuchten Tagen zu schaffen und pochten. Er hatte sich freigekämpft und war unter die Veranda gekrochen, und als einer der beiden Wölfe in seiner Blutgier versuchte, ihn bis unter die Veranda zu verfolgen, sprang Kojak ihn an, nagelte ihn fest und zerfleischte ihm den Hals. Der andere zog sich fast bis zum Rand des Maisfelds zurück und winselte nervös. Wenn Kojak sich zum Kampf gestellt hätte, wäre der Wolf mit eingezogenem Schwanz davongerannt. Aber Kojak kam nicht heraus, noch nicht. Er war am Ende. Er konnte nur auf der Seite liegen, rasch und schwach hecheln, sich die Wunden lecken, und immer wenn er sah, daß der Schatten des Wolfs sich näherte, leise knurren. Dann war es dunkel, und ein nebelverhangener Halbmond stand am Himmel über Nebraska. Und jedesmal wenn der letzte Wolf hörte, daß Kojak noch lebte und vermutlich bereit war, ihn anzuspringen, zog er sich winselnd zurück. Irgendwann nach Mitternacht verschwand er und ließ Kojak allein zurück. In den frühen Morgenstunden hatte er die Anwesenheit eines anderen Tieres gespürt, von etwas, das ihn so in Angst versetzte, daß er mehrmals leise winselte. Es war etwas im Maisfeld, etwas, das durch den Mais ging und vielleicht nach ihm suchte. Kojak blieb zitternd liegen und wartete ab, ob dieses Wesen ihn finden würde, dieses schreckliche Wesen, das nach seinem Gefühl ein Mann und ein Wolf und ein Auge war, ein dunkles Wesen im Mais, wie ein altes Krokodil. Eine unbekannte Zeitspanne später, als der Mond untergegangen war, spürte Kojak, daß es verschwunden war. Er schlief ein. Er hatte drei Tage unter der Veranda gelegen und war nur herausgekommen, wenn Hunger und Durst ihn trieben. Unter der Handpumpe auf dem Hof fand er immer etwas Wasser, das sich dort angesammelt hatte, und im Haus gab es alle möglichen Brocken, hauptsächlich Reste der Mahlzeit, die Mutter Abagail für Nicks Gruppe zubereitet hatte. Als Kojak sich in der Lage fühlte weiterzulaufen, wußte er, wohin. Das sagte ihm nicht seine Witterung; es war ein Hitzegefühl tief in seinem sterblichen Wesen, daß sich weit im Westen Hitze konzentrierte. Und so kam er, hinkte den größten Teil der letzten fünfhundert Meilen auf drei Beinen, und der Schmerz nagte ständig in seinem Leib. Von Zeit zu Zeit roch er den MANN und wußte, daß er auf der richtigen Spur war. Schließlich war er angekommen. Der MANN war hier. Hier waren keine Wölfe. Hier gab es Futter. Hier spürte er das dunkle Wesen nicht... den Mann mit dem Gestank eines Wolfes, der ein Auge hatte, mit dem er über Meilen sehen konnte. Vorerst war alles in Ordnung. Mit diesen Gedanken (soweit ein Hund in einer Welt denken kann, die er fast nur mit dem Gefühl wahrnimmt) entschlummerte Kojak tiefer, nun in richtigen Schlaf, in einen Traum, einen guten Traum, in dem er Kaninchen durch Klee und Wiesenlischgras jagte, das ihm bis zum Bauch reichte und taufeucht war. Sein Name war Big Steve. Dies war der vierzigste Breitengrad. Und an diesem grauen und endlosen Morgen waren überall Kaninchen... Während er träumte, zuckte er mit den Pfoten. 53 Auszüge aus dem Protokoll der Sitzung des Ad-hoc-Komitees  17. August 1990 Die Sitzung fand in der Wohnung Larry Underwoods in der South 4 znd Street im Stadtteil Table Mesa statt. Alle Mitglieder des Komitees waren da... Der erste Punkt betraf die Wahl des Ad-hoc -Komitees zum ständigen Komitee von Boulder. Fran Goldsmith erhielt das Wort. Fran: »Stu und ich sind uns darüber einig, daß wir am problemlosesten gewählt würden, wenn Mutter Abagail die Vorschlagsliste gutheißen würde. Dann hätten wir nicht das Problem, daß zwanzig Leute von ihren Freunden nominiert werden und uns eventuelle Schwierigkeiten machen. Aber jetzt muß die Sache anders gehandhabt werden. Ich werde nichts vorschlagen, das nicht absolut demokratisch wäre, und ihr kennt ohnehin alle unseren Plan, aber ich will noch einmal deutlich darauf hinweisen, daß jeder von uns jemand finden muß, der ihn nominiert, und noch jemand, der die Nominierung unterstützt. Wenn ihr keinen findet, der euch nominiert und unterstützt, könnt ihr gleich einpacken.« Sue: »Mann! Das ist fies, Fran!« Fran: »Ja - ein bißchen.« Glen: »Wir kommen wieder aufs Thema der Moral des Komitees zu sprechen, und ich bin sicher, wir alle halten das für ein endlos faszinierendes Thema, aber ich würde es trotzdem gerne für die nächsten Monate vertagt sehen. Ich glaube, wir müssen uns einfach darauf einigen, daß wir die Interessen der Freien Zone vertreten und es dabei belassen.« Ralph: »Du hörst dich ein wenig sauer an, Glen.« Glen: »Ich bin ein wenig sauer. Das gebe ich zu. Allein die Tatsache, daß wir soviel Zeit mit diesem Thema vergeudet und uns gequält haben, spricht eigentlich deutlich dafür, was wir im Herzen empfinden.« Sue: »Die Straße zur Hölle ist gepflastert mit...« Glen: »Guten Absichten, ich weiß, und da wir uns alle ständig wegen unserer Absichten Gedanken machen, müssen wir auf jeden Fall auf dem Highway zum Himmel sein.« Darauf sagte Glen, daß er das Komitee auf das Thema Kundschafter oder Spione oder wie man sie immer nennen wollte, anzusprechen gedachte, aber statt dessen nun den Antrag stellen wollte, das Thema auf den 19. zu verschieben. Stu fragte, warum. Glen: »Weil wir am 19. vielleicht nicht mehr alle hier sind. Vielleicht wird jemand abgewählt. Eine entfernte Möglichkeit, aber niemand weiß, was eine große Menschenmenge macht, wenn alle an einem Platz versammelt sind. Wir sollten so vorsichtig sein, wie wir können.« Das sorgte für einen Augenblick Stille, dann beschloß das Komitee 7:0, sich am 19. zu treffen - als ständiges Komitee - und die Frage von Kundschaftern ... oder Spionen... oder was auch immer zu diskutieren. Stu erhielt das Wort, um einen dritten Tagesordnungspunkt vorzutragen, der Mutter Abagail betraf. Stu: »Wie ihr wißt, ist sie aus persönlichen Gründen fortgegangen. Ihre Notiz besagt, daß sie >eine Weile< fort sein wird, was ziemlich vage klingt, und daß sie wiederkommen wird, >wenn es Gottes Wille ist<. Das klingt nicht sehr ermutigend. Unser Suchtrupp ist schon seit drei Tagen unterwegs, und wir haben noch nichts gefunden. Wenn sie nicht zurückkommen will, werden wir sie nicht zwingen, aber wenn sie ein Bein gebrochen hat oder möglicherweise bewußtlos irgendwo liegt, ist es etwas anderes. Das Problem ist teilweise, dass wir nicht genügend Leute haben, um die gesamte Umgebung gründlich abzusuchen. Und noch ein anderes Problem macht uns zu schaffen. Es ist dasselbe Problem, das unsere Arbeiten im Kraftwerk behindert: Keine Organisation. Ich beantrage daher, das Thema Suchtrupp auf die Tagesordnung der großen Versammlung zu setzen, die morgen stattfindet, ebenso die Themen Kraftwerk und Beerdigungskomitee. Ich möchte die Leitung gern Harold Lauder übertragen, denn es war schließlich sein Vorschlag.« Glen meinte, daß ein Suchtrupp nach etwa einer Woche wohl keine gute Nachricht nach Hause bringen würde. Die fragliche Dame war immerhin hundertacht Jahre alt. Das Komitee war seiner Meinung und nahm Stus Antrag, wie er ihn gestellt hatte, mit 7:0 an. Damit diese Aufzeichnungen so ehrlich wie möglich sind, sollte ich hinzufügen, daß es mehrere Einwände gab, Harold die Leitung des Suchtrupps zu übertragen... aber wie Stu ausgeführt hatte, war es ursprünglich sein Vorschlag gewesen, und ihm die Leitung nicht zu übertragen wäre für ihn ein Schlag ins Gesicht. Nick: »Ich ziehe meinen Einwand gegen Harold zurück, nicht aber meine grundsätzlichen Bedenken. Ich mag ihn nun mal nicht besonders.« Ralph Brentner fragte, ob Glen oder Stu den die Suche betreffenden Antrag von Stu schriftlich festhalten würde, damit er ihn auf die Tagesordnung setzen könnte, die er heute noch in der High School drucken wollte. Stu sagte, das würde er mit Vergnügen machen. Larry Underwood beantragte dann eine Vertagung, Ralph unterstützte ihn, und der Antrag wurde 7:0 angenommen. Frances Goldsmith, Protokollführerin  Fast alle Einwohner nahmen am nächsten Abend an der Versammlung teil, und zum ersten Mal bekam Larry Underwood, der sich erst seit einer Woche in der Freien Zone aufhielt, einen Eindruck davon, wie groß die Gemeinschaft inzwischen geworden war. Es war ein Unterschied, ob man die Leute auf der Straße allein oder zu zweit kommen und gehen sah oder ob sie alle in einem Raum versammelt waren - dem Chautauqua-Auditorium. Der Saal war voll, jeder Platz besetzt, und in den Gängen saßen noch mehr Menschen oder standen hinten im Saal. Man hörte aus der Menge nur unterdrückte Geräusche; die Leute murmelten oder flüsterten, aber keiner sprach laut. Heute hatte es zum ersten Mal, seit er in Boulder war, den ganzen Tag geregnet, zuerst ein leichtes Nieseln, das schon lange in der Luft gehangen hatte und einen eher einnebelte als durchnäßte, und selbst in dieser Versammlung von fast sechshundert konnte man das leise Geräusch des Regens auf dem Dach hören. Das lauteste Geräusch im Saal war das ständige Rascheln von Papier, wenn die Leute die hektografierte Tagesordnung durchblätterten, die auf zwei Kartentischen gleich innerhalb der Doppeltür gestapelt war. Diese Tagesordnung lautete folgendermaßen: FREIE ZONE BOULDER Tagesordnung der öffentlichen Versammlung 18. August 1990 Folgende Punkte werden zur Diskussion vorgeschlagen: Ob die Freie Zone einverstanden ist, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu verlesen und zu bekräftigen. Ob die Freie Zone einverstanden ist, die Menschenrechte zusätzlich zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu verlesen und zu bekräftigen. Ob die Freie Zone einen Rat von sieben Repräsentanten nominieren und wählen soll, der als Regierung fungiert. Ob die Freie Zone bereit ist, Abagail Freemantle ein Vetorecht bei allen von den Repräsentanten der Freien Zone beschlossenen Angelegenheiten einzuräumen. Ob die Freie Zone ein Beerdigungskomitee von mindestens zwanzig Personen einsetzt, die den in Boulder an der Supergrippe Verstorbenen ein würdiges Begräbnis zuteil werden lassen sollen. Ob die Freie Zone ein Energiekomitee mit mindestens sechzig Personen einsetzt, dessen Aufgabe sein soll, die Stromversorgung vor Einbruch der kalten Witterung sicherzustellen. Ob die Freie Zone einen Suchtrupp mit mindestens fünfzig Personen zusammenstellt, dessen Aufgabe sein soll, wenn möglich den Aufenthaltsort von Abagail Freemantle zu ermitteln. Larry stellte fest, daß er die Tagesordnung, die er fast auswendig kannte, in seiner Nervosität zu einem Papierflugzeug gefaltet hatte. Es hatte Spaß gemacht, im Ad-hoc -Komitee mitzuarbeiten, es war ein Spiel - Kinder, die in einem Wohnzimmer Parlament spielten, herumsaßen, Cola tranken, Kuchen aßen, den Frannie gebacken hatte, und sich unterhielten. Selbst der Gedanke, Spione über die Berge und direkt in den Schoß des dunklen Mannes zu schicken, hatte etwas von einem Spiel an sich, teils weil es ihm unvorstellbar erschien, so etwas selbst zu machen. Man müßte ja auch nicht mehr alle Tassen im Schrank haben, sich so einem lebenden Alptraum auszusetzen. Aber in den geheimen Sitzungen, im behaglichen Licht der Coleman-Gaslampen, hatte es sich gut angehört. Und ob der Richter oder Dayna Jürgens oder Tom Cullen erwischt wurden, erschien - wenigstens in den geheimen Sitzungen - nicht wichtiger, als beim Schach einen Turm oder die Dame zu verlieren. Aber jetzt saß er hier im Saal zwischen Lucy und Leo (Nadine hatte er den ganzen Tag noch nicht gesehen, und Leo schien auch nicht zu wissen, wo sie sich aufhielt; »Weg«, war seine gleichgültige Antwort gewesen), und jetzt wurde ihm das ganze Ausmaß bewußt, und ihm war, als würde ein Rammbock in seinem Magen toben. Es war kein Spiel. Hier saßen fünfhundertachtzig Leute, und die meisten hatten keine Ahnung, daß Larry Underwood kein netter Kerl war und daß der erste Mensch, dem er nach der Epidemie helfen wollte, an einer Überdosis Tabletten gestorben war. Seine Hände waren feucht und kalt. Sie versuchten schon wieder, die Tagesordnung zu einem Papierflugzeug zusammenzufalten, und er untersagte es ihnen. Lucy nahm eine seiner Hände, drückte sie und lächelte ihn an. Er konnte nur mit einer Grimasse reagieren, und in seinem Innern hörte er die Stimme seiner Mutter: Irgend etwas fehlt dir, Larry. Ein Gefühl der Panik beschlich ihn, als er daran dachte. Gab es noch einen Ausweg, oder war die Sache schon zu weit gediehen? Er wollte diesen Mühlstein nicht. Er hatte schon einen Antrag in geheimer Sitzung gestellt, der Richter Farris in den Tod schicken konnte. Wenn man ihn abwählte und jemand anderen für ihn nahm, würden sie über die Entsendung des Richters neu abstimmen müssen, oder nicht? Klar doch. Und sie würden einen anderen schicken. Wenn Laurie Constable mich nominiert, stehe ich einfach auf und sage, daß ich ablehne. Wer braucht diesen Ärger überhaupt? Wayne Stukey hatte vor langer Zeit an jenem Strand zu ihm gesagt: Bei dir ist es, als ob man auf Stanniol beißt. Lucy sagte leise: »Du wirst es schon schaffen.« Er zuckte zusammen. »Hm?« »Ich sagte, du wirst es schon schaffen. Oder nicht, Leo?« »O ja«, sagte Leo und nickte mit dem Kopf. Er nahm keinen Blick vom Publikum, als wären seine Augen noch nicht imstande gewesen, dem Gehirn dessen Größe zu übermitteln. »Bestimmt.« Du hast keine Ahnung, du dumme Kuh, dachte Larry. Du hältst meine Hand und begreifst nicht, daß ich eine falsche Entscheidung treffen könnte, die für euch beide den Tod bedeutet. Ich bin jetzt schon im Begriff, Richter Farris umzubringen, und er unterstützt auch noch meine verdammte Nominierung. Was für ein Schlamassel das alles ist. Er seufzte leise. »Hast du was gesagt?« fragte Lucy. »Nein.« Dann ging Stu über die Bühne zum Rednerpult. Sein roter Pullover und seine Bluejeans strahlten hell und klar im Schein der Notleuchten, die von einem Honda-Generator gespeist wurden, den Brad Kitchner mit einigen seiner Leute aus dem Kraftwerk aufgestellt hatte. Irgendwo in der Mitte des Saales begann der Applaus, Larry wußte nicht genau wo, und der Zyniker in ihm war überzeugt, dass dieser Applaus von Glen Bateman, dem hiesigen Fachmann für Massenbeeinflussung, arrangiert worden war. Es spielte eigentlich auch keine Rolle. Nach dem anfänglichen zögernden Klatschen schwoll der Applaus zu einem Orkan an. Auf der Bühne blieb Stu am Rednerpult stehen und wirkte komisch erstaunt. Jetzt mischten sich Hochrufe und schrille Pfiffe in den Applaus. Dann standen die Anwesenden auf; der Beifall schwoll an wie das Prasseln heftigen Regens und die Leute schrien: »Bravo! Bravo!« Stu hob die Hände, aber sie hörten nicht auf; der Beifall wurde sogar doppelt so laut. Larry sah Lucy an und stellte fest, daß sie begeistert klatschte. Sie hielt den Blick auf Stu gerichtet. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem zitternden, aber triumphierenden Lächeln. Sie weinte. Auf der anderen Seite applaudierte Leo ebenfalls und klatschte so heftig in die Hände, daß Larry fürchtete, sie würden abfallen, wenn Leo nicht aufhörte. In seiner Freude hatte Leo seinen mühsam wiedererlangten Wortschatz vergessen, so wie ein Mann oder eine Frau das Englische vergessen, wenn sie es als Fremdsprache gelernt haben. Er konnte nur laut und begeistert johlen. Brad und Ralph hatten auch ein Mikrofon an den Generator angeschlossen, und nun blies Stu hinein und sagte: »Ladies and Gentlemen...« Aber der Applaus hielt an. »Ladies and Gentlemen, wenn Sie bitte Platz nehmen wollen...« Aber sie waren nicht bereit, sich zu setzen. Der Applaus ging immer weiter, und Larry sah nach unten, weil seine eigenen Hände schmerzten, und merkte, daß er selbst genauso frenetisch klatschte wie die anderen. »Ladies and Gentlemen...« Der Applaus donnerte und hallte. Eine Familie Schwalben, die sich, nachdem die Seuche zugeschlagen hatte, in diesem schönen ruhigen Saal eingenistet hatten, flatterten panisch herum und versuchten verzweifelt, irgendwohin zu fliegen, wo keine Menschen waren. Wir applaudieren uns selbst, dachte Larry. Wir applaudieren der Tatsache, daß wir hier zusammen sind und noch leben. Vielleicht sagen wir unserem neuen Gruppenbewußtsein Hallo, ich weiß nicht. Hallo, Boulder. Endlich. Schön, daß wir hier sind, schön, daß wir leben. »Ladies and Gentlemen, nehmen Sie bitte Platz, das wäre mir sehr recht.« Der Applaus ließ allmählich ein wenig nach. Jetzt hörte man Frauen - und auch ein paar Männer - schluchzen. Nasen wurden geschneuzt. Unterhaltungen wurden geflüstert. Das typische Auditoriumsrauschen, als die Leute sich wieder setzten. »Ich bin froh, daß Sie alle hier sind«, sagte Stu. »Ich bin auch froh, daß ich selbst hier bin.« Aus dem Mikrofon kamen pfeifende Rückkopplungsgeräusche, und Stu murmelte: »Verdammtes Ding«, was deutlich in den ganzen Saal übertragen wurde. Hier und da wurde gelacht; Stu wurde rot. »Ich glaube, an so was werden wir uns alle erst wieder gewöhnen müssen«, sagte er, und das löste wieder Beifall aus. Als der nachgelassen hatte, sagte Stu: »Für diejenigen, die mich nicht kennen, ich bin Stuart Redman aus Arnette, Texas, und ich kann Ihnen sagen, das liegt ziemlich weit von hier entfernt.« Er räusperte sich, und wieder erklang Rückkopplungspfeifen, so daß er argwöhnisch einen Schritt vom Mikro zurücktrat. »Außerdem bin ich ziemlich nervös hier oben, haben Sie bitte Verständnis...« »Haben wir, Stu!« brüllte Harry Dunbarton fröhlich, und einige lachten zustimmend. Wie die Zeltmission, dachte Larry. Als nächstes werden sie anfangen, Psalmen zu singen. Wenn Mutter Abagail hier wäre, würden wir es sicher schon. »Ich habe zuletzt vor so vielen Leuten gestanden, als unsere kleine High School an den Footballmeisterschaften teilnehmen durfte, und da standen außer mir noch einundzwanzig andere Jungs zum Ansehen da, ganz abgesehen von Mädchen in kurzen Röcken.« Eine herzliche Lachsalve. Lucy zupfte Larry am Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Worüber hat er sich Sorgen gemacht? Er ist ein Naturtalent.« Larry nickte. »Aber wenn Sie Verständnis haben, werde ich es schon irgendwie durchstehen«, sagte Stu. Wieder Applaus. Diese Menge würde bei Nixons Rücktrittsansprache applaudieren und verlangen, daß er sie mit Klavierbegleitung wiederholt, dachte Larry. »Zuerst sollte ich Ihnen einiges über das Ad-hoc-Komitee erzählen, und warum ich überhaupt hier bin«, sagte Stu. »Wir haben uns zu siebt zusammengesetzt und diese Versammlung geplant, denn es ist dringend erforderlich, daß wir uns irgendwie organisieren. Es gibt viel zu tun, und ich möchte Ihnen jedes Mitglied unseres Komitees vorstellen. Ich hoffe, daß Sie für diese Leute ebenfalls noch ein wenig Beifall übrig haben, denn sie haben mit viel Fleiß die Tagesordnung ausgearbeitet, die Sie jetzt in Händen halten. Zuerst Miss Frances Goldsmith. Steh auf, Frannie, damit die Leute sehen, wie du in einem Kleid aussiehst.« Fran stand auf. Sie trug ein hübsches mattgrünes Kleid und eine schlichte Perlenkette, die früher zweitausend Dollar gekostet haben mochte. Die Leute klatschten, und in den Applaus mischten sich beifällige Pfiffe. Fran setzte sich errötend wieder, und bevor der Applaus ganz abklingen konnte, fuhr Stu fort: »Mr. Glen Bateman aus Woodsville, New Hampshire.« Glen stand auf, und sie applaudierten ihm. Er machte mit beiden Händen die Geste des V, worauf die Menge zustimmend tobte. Als zweitletzten stellte Stu Larry vor, und der stand auf, merkte, dass Lucy ihm zulächelte, und dann schlug auch über ihm eine warme Woge Applaus zusammen. Früher, dachte er, in einer anderen Welt, hätte es Konzerte gegeben, und diese Art Beifall wäre dem letzten Lied vorbehalten gewesen, einem unwichtigen kleinen Song mit dem Titel »Baby, Can You Dig Your Man?« Aber dies war besser. Er stand nur eine Sekunde, aber es kam ihm länger vor. Er wußte jetzt, daß er seine Nominierung nicht ablehnen würde. Stu stellte Nick als letzten vor, und der bekam den längsten und lautesten Applaus. Als er abflaute, sagte Stu: »Es ist zwar in der Tagesordnung nicht vorgesehen, aber ich schlage vor, daß wir zuerst die Nationalhymne singen. Ich denke, Sie werden sich an Text und Melodie erinnern.« Scharren und Rascheln, als die Leute aufstanden, dann eine Pause, während alle darauf warteten, daß jemand anfing. Dann sang ein Mädchen mit wohlklingender Stimme die ersten drei Silben: »Oh, say can -« Es war Frannies Stimme, aber ganz kurz kam es Larry so vor, als würde sie eine andere Stimme begleiten, seine eigene, und er war nicht in Boulder, sondern in Vermont, es war der 4. Juli, die Republik war zweihundertvierzehn Jahre alt, und Rita lag mit grüner Kotze im Mund tot hinter ihm im Zelt, die Flasche mit den Tabletten noch in der steifen Hand. Eine Gänsehaut überlief ihn, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie beobachtet wurden, von etwas beobachtet, das, wie es in dem alten Song der Who hieß, for miles and miles and miles sehen konnte. Etwas Schrecklichem und Dunklem und Fremdem. Einen Augenblick lang verspürte er den Drang, von hier wegzulaufen, zu laufen und nie mehr stehenzubleiben. Dies war kein Spiel. Es war eine ernste Angelegenheit; eine tödliche Angelegenheit. Vielleicht noch schlimmer. Dann fielen andere Stimmen ein. »...can you see, by the dawn's early light«, und Lucy sang mit, hielt dabei seine Hand, weinte wieder, und auch andere weinten, die meisten weinten, weinten um alles Verlorene und Bittere, um den verschwundenen amerikanischen Traum mit chromglänzenden Rädern und Einspritzmotor, und Larry dachte nicht mehr an Rita, die tot im Zelt lag, sondern an sich und seine Mutter im Yankee-Stadion - es war der 29. September, die Yankees lagen nur eineinhalb Spiele hinter den Red Sox, alles war noch möglich. Im Stadion waren 55000 Menschen, alle standen, die Spieler auf dem Platz hielten die Mützen ans Herz, Guidry auf dem Hügel, Ricky Henderson im hinteren Mittelfeld (»...by the twilight's last gleaming...«), und in der purpurfarbenen Dämmerung war das Flutlicht eingeschaltet, Falter und andere nächtliche Insekten flogen mit weichem Aufprall dagegen, und um sie herum lag das pulsierende New York, Stadt der Nacht und des Lichts. Larry stimmte ein, und als die Hymne verklungen war und der Beifall wieder einsetzte, weinte auch er ein wenig. Rita war tot. Alice Underwood war tot. New York war tot. Amerika war tot. Und selbst, wenn es ihnen gelang, Randall Flagg zu besiegen, nichts würde mehr so sein wie jene Welt der dunklen Straßen und strahlenden Träume. Stu, der unter den hellen Notleuchten schwitzte, rief die einzelnen Punkte auf: Verlesung und Ratifizierung der Verfassung und der Menschenrechte. Das Absingen der Nationalhymne hatte auch ihn tief gerührt, und er war nicht der einzige. Die Hälfte der Zuhörer waren in Tränen ausgebrochen. Niemand bestand darauf, daß die beiden Dokumente auch tatsächlich verlesen wurden - was nach dem parlamentarischen Verfahren ihr gutes Recht gewesen wäre -, und dafür war Stu ausgesprochen dankbar. Im Vorlesen war er nicht gut. Die Punkte wurden von den Bürgern der Freien Zone ohne Lesung gebilligt. Glen Bateman stand auf und beantragte, beide Dokumente als für die Freie Zone gültiges Recht anzuerkennen. Hinten rief eine Stimme: »Ich unterstütze den Antrag.« »Gestellt und unterstützt«, sagte Stu. »Wer dafür ist, sagt ja.« »JA!« erklang es bis unters Dach. Kojak, der neben Glens Stuhl geschlafen hatte, sah hoch, blinzelte, dann ließ er die Schnauze wieder auf die Pfoten sinken. Einen Moment später sah er wieder auf, als die Menge sich selbst donnernden Beifall spendete. Das Abstimmen gefällt ihnen, dachte Stu. Sie haben das Gefühl, als hätten sie endlich wieder etwas unter Kontrolle. Weiß Gott, sie brauchen dieses Gefühl. Wir brauchen dieses Gefühl. Wir brauchen es alle. Nachdem dieser Punkt erledigt war, spürte Stu, wie sich nervöse Spannung in seine Muskeln schlich. Jetzt, dachte er, werden wir sehen, ob ein paar häßliche Überraschungen auf uns warten. »Der dritte Punkt der Tagesordnung lautet«, sagte er und mußte sich wieder räuspern. Rückkopplungsgeräusche pfiffen ihm entgegen; er schwitzte noch mehr als vorher. Fran sah ihn ruhig an und nickte ihm ermutigend zu. »Er lautet: feststellen, ob die Freie Zone einen Rat von sieben Repräsentanten nominieren und wählen wird, der als Regierung fungiert.< Das bedeutet...« »Herr Vorsitzender? Herr Vorsitzender!« Stu sah von seinen Notizen auf und erlebte einen echten Anflug von Angst, begleitet von einer bösen Vorahnung. Es war Harold Lauder. Harold trug Anzug und Krawatte, sein Haar war ordentlich gekämmt, er stand halb oben im mittleren Gang. Glen hatte einmal gesagt, die Opposition wird sich möglicherweise um Harold formieren. Aber jetzt schon? Hoffentlich nicht. Ganz kurz dachte er daran, Harold einfach zu ignorieren - aber Nick und Glen hatten ihn vor den Gefahren gewarnt, die damit verbunden waren, diese Sache mit der Holzhammermethode durchzuziehen. Er fragte sich, ob Harold tatsächlich ein anderer geworden war. Sah aus, als sollte er das heute erfahren. »Harold Lauder hat das Wort.« Köpfe wurden gedreht und Hälse gereckt, um Harold besser zu sehen. »Ich beantrage, daß wir die Liste des Ad-hoc-Komitees in toto als ständiges Komitee akzeptieren«, sagte Harold. »Das heißt, wenn sie der Wahl zustimmen.« Einen Augenblick herrschte Stille. Stu dachte entgeistert Toto? Toto? Ist das nicht der Hund in Der Zauberer Oz? Dann erfüllte wieder Beifall den Saal, Dutzende Rufe »Ich unterstütze!« wurden laut. Harold hatte wieder Platz genommen, lächelte und unterhielt sich mit Leuten, die ihm auf die Schulter klopften. Stu schlug ein paarmal mit dem Hammer auf das Pult, um sich Gehör zu verschaffen. Das hat er geplant, dachte Stu. Die Leute werden uns wählen, aber an Harold werden sie sich erinnern. Er hat das Problem von einer Seite angepackt, an die wir gar nicht gedacht haben, nicht einmal Glen. Es war geradezu ein Geniestreich. Warum sollte er sich also aufregen? War er vielleicht eifersüchtig? Gingen seine guten Vorsätze hinsichtlich Harold, die er gestern erst gefaßt hatte, schon wieder über Bord? »Es liegt ein Antrag vor«, plärrte er ins Mikrofon, und diesmal achtete er nicht auf die Rückkopplung. »Es liegt ein Antrag vor, Leute!« Er schlug wieder mit dem Hammer, und der Lärm wurde zu einem Murmeln. »Es wurde beantragt und unterstützt, das Ad-hoc-Komitee, so wie es steht, als ständiges Komitee der Freien Zone zu akzeptieren. Bevor wir den Antrag diskutieren oder abstimmen, sollte ich fragen, ob ein Mitglied des Komitees dagegen Einwände hat oder zurücktreten möchte.« Stille im Saal. »Gut«, sagte Stu. »Wollen wir den Antrag diskutieren?« »Ich glaube, wir können auf eine Diskussion verzichten, Stu«, sagte Dick Ellis. »Es ist ein ausgezeichneter Vorschlag. Laß uns abstimmen!« Dem folgte Applaus, und Stu mußte sich nicht mehr drängen lassen. Charlie Impening winkte mit der Hand und bat ums Wort, aber Stu ignorierte ihn - Glen Bateman hätte das ein Musterbeispiel von selektiver Wahrnehmung genannt - und rief zur Abstimmung auf. »Wer Harold Lauders Antrag zustimmt, möge mit ja antworten.« »Ja!!« brüllten sie, und die Schwalben gerieten wieder in helle Aufregung. » Gegenstimmen?« Es gab keine; nicht einmal von Charlie Impening - jedenfalls nicht laut. Nicht ein Nein im Saal. Stu rief den nächsten Punkt der Tagesordnung auf, aber er fühlte sich leicht benommen, als hätte sich jemand - nämlich Harold Lauder - hinter ihn geschlichen und ihm mit einem großen Gummihammer auf den Kopf geschlagen. »Laß uns absteigen und ein Stück schieben, ja?« sagte Fran. Ihre Stimme klang müde. »Klar.« Er stieg vom Fahrrad und ging neben ihr her. »Alles okay, Fran? Ist es das Baby?« »Nein, ich bin nur müde. Es ist Viertel vor eins, falls du das noch nicht gemerkt hast.« »Ja, es ist spät«, gab Stu zu, dann schoben sie ihre Räder in einträchtigem Schweigen nebeneinander her. Die Versammlung hatte bis vor einer Stunde gedauert, am längsten war über die Suche nach Mutter Abagail diskutiert worden. Die übrigen Punkte waren alle nach kurzer Diskussion abgehakt, obwohl Richter Farris mit interessanten Informationen aufgewartet hatte, die erklärten, warum es in Boulder relativ wenige Leichen gab. Laut den letzten vier Ausgaben der Camera, der in Boulder erscheinenden Tageszeitung, hatte es in der Gemeinde wilde Gerüchte gegeben, nach denen die Supergrippe von Boulders Meteorologischem Institut am Broadway ausgegangen sei. Sprecher des Instituts - die wenigen, die noch auf den Beinen waren - erklärten das für kompletten Unsinn, jeder könne sich selbst davon überzeugen, aber bei einem Besuch des Instituts würde man nichts Gefährlicheres finden als Meßgeräte zur Ermittlung der Luftverschmutzung. Dennoch hielt sich das Gerücht hartnäckig, wozu die hysterische Stimmung jener entsetzlichen Tage im späten Juni wahrscheinlich beigetragen hatte. Auf das Meteorologische Institut war ein Bomben- oder Brandanschlag verübt worden, und die meisten Einwohner Boulders waren geflüchtet. Beerdigungskomitee und Energiekomitee waren mit einem Abänderungsvorschlag Harold Lauders, der sich offenbar ausgezeichnet auf die Versammlung vorbereitet hatte, angenommen worden: Beide Komitees sollten bei einem Bevölkerungszuwachs der Freien Zone von je hundert um zwei Mitglieder erweitert werden. Auch der Suchtrupp wurde ohne Gegenstimmen verabschiedet, aber die Diskussion um Mutter Abagails Verschwinden zog sich in die Länge. Glen hatte Stu vor der Versammlung den Rat gegeben, die Diskussion über dieses Thema nur einzuschränken, wenn es sich ganz und gar nicht vermeiden ließ; es beunruhigte sie alle, besonders die Vorstellung, daß sich ihre geistige Leiterin in dem Glauben wog, sie habe eine Art Sünde begangen. Am besten, man ließ die Leute sich alles von der Seele reden. Auf die Rückseite ihres Briefes hatte die alte Frau zwei Bibelhinweise gekritzelt: Sprüche 11-3 und Sprüche 21, 28-31. Richter Farris hatte sie mit der sorgfältigen Aufmerksamkeit eines Anwalts nachgeschlagen, der ein Plädoyer vorbereitet, und am Anfang der Diskussion stand er auf und las sie mit seiner brüchigen und apokalyptischen Altherrenstimme vor. Die Zeilen im elften Kapitel der Sprüche lauteten: »Falsche Waage ist dem Herrn ein Greuel; aber völliges Gewicht ist sein Wohlgefallen. Wo Stolz ist, da ist auch Schmach; aber Weisheit ist bei den Demütigen. Unschuld wird die Frommen leiten; aber die Bosheit wird die Verächter verstören.« Das Zitat aus dem einundzwanzigsten Kapitel hatte denselben Tenor: »Ein lügenhafter Zeuge wird umkommen; aber wer sich sagen läßt, den läßt man auch allezeit wiederum reden. Der Gottlose fährt mit dem Kopf hindurch; aber wer fromm ist, des Weg wird bestehen. Es hilft keine Weisheit, kein Verstand, kein Rat wider den Herrn. Rosse werden zum Streittage bereitet; aber der Sieg kommt vom Herrn.« Die Diskussion, nachdem der Richter diese beiden Verse feierlich deklamiert hatte (anders konnte man es nicht nennen), überspannte breitgefächerte - und manchmal komische - Themenpaletten. Ein Mann verkündete geheimnisvoll, wenn man die Kapitelzahlen zusammenzähle, komme man auf einunddreißig, die Zahl der Kapitel in der Offenbarung. Richter Farris stand erneut auf und sagte, die Offenbarung habe nur zweiundzwanzig Kapitel, jedenfalls in seiner Bibel, und überhaupt ergab elf und einundzwanzig zweiunddreißig und nicht einunddreißig. Der aufstrebende Numerologe murrte, sagte aber nichts mehr. Ein anderer Mann verkündete, er habe in der Nacht vor Mutter Abagails Verschwinden Lichter am Himmel gesehen, und der Prophet Jesaja habe ja schon die Existenz fliegender Untertassen bestätigt... also sollten sie auch darüber besser einmal zusammen nachdenken, oder nicht? Wieder stand Richter Farris auf; diesmal legte er dar, daß sein geneigter Vorredner Jesaja mit Hesekiel verwechselt habe, daß der genaue Hinweis nicht fliegenden Untertassen, sondern einem »Rad innerhalb eines Rades« galt und er, der Richter, der Meinung wäre, die einzigen wirklich bewiesenen fliegenden Untertassen wären die, die manchmal während eines Ehekrachs flogen. Der größte Teil der nachfolgenden Diskussion kreiste um die Träume, die mittlerweile völlig aufgehört hatten und manchen selbst nur noch traumgleich schienen. Einer nach dem anderen stand auf und entkräftete die Vorwürfe, die Mutter Abagail gegen sich selbst erhoben hatte, namentlich den des Stolzes. Sie sprachen von ihrer Höflichkeit und der Gabe, jemanden mit nur einem einzigen Wort zu beruhigen. Ralph Brentner, der die Menschenmenge ehrfürchtig bestaunte und einen Kloß im Hals hatte, aber entschlossen schien, seinen Teil zu sagen, stand auf und sprach fast fünf Minuten in dieser Tonlage; am Schluß fügte er hinzu, daß er seit dem Tod seiner Mutter keine so gute Frau mehr gesehen hätte. Als er sich setzte, schien er fast den Tränen nahe zu sein. Alles in allem erinnerte die Diskussion Stu unangenehm an eine Totengedenkfeier. Sie sagte ihm, daß sie sie im Herzen schon halb abgeschrieben hatten. Wenn sie jetzt wiederkehrte, würde Abby Freemantle willkommen sein, man würde sie immer noch aufsuchen, immer noch anhören... aber, dachte Stu, sie würde auch feststellen, daß sich ihre Stellung unmerklich verschoben hatte. Wenn es zu einer Konfrontation zwischen ihr und dem Komitee der Freien Zone kommen sollte, würde längst nicht mehr feststehen, daß sie die Oberhand behalten würde, Vetorecht hin oder her. Sie war weggegangen, und die Gemeinschaft hatte weiterexistiert. Das würde die Gemeinschaft nicht vergessen, wie sie bereits halb die Macht vergessen hatte, welche die Träume kurze Zeit über ihr Leben gehabt hatten. Nach der Versammlung saßen mehr als zwei Dutzend Menschen eine Weile auf dem Rasen hinter der Chautauqua Hall; es hatte aufgehört zu regnen, die Wolken rissen auf, der Abend war angenehm kühl. Stu und Frannie saßen bei Larry, Lucy, Leo und Harold. »Heute abend hättest du uns um ein Haar die Schau gestohlen«, sagte Larry zu Harold. Er stieß Frannie mit dem Ellbogen an. »Ich hab' dir gleich gesagt, daß er ein Pfundskerl ist, oder nicht?« Harold hatte lediglich gelächelt und bescheiden die Schultern gezuckt. »Ein paar Vorschläge, mehr nicht. Ihr sieben habt wieder was ins Rollen gebracht. Ihr solltet wenigstens die Möglichkeit haben, auch alles bis zum Ende vom Anfang in der Hand zu behalten.« Jetzt, fünfzehn Minuten später, hatten die beiden diese spontane Zusammenkunft verlassen, und immer noch zehn Minuten von Zuhause entfernt, wiederholte Stu: »Sicher, daß alles in Ordnung ist?« »Ja. Meine Beine sind ein wenig müde, das ist alles.« »Nimm's nicht so schwer, Frances.« »Nenn mich nicht so, du weißt genau, daß ich es nicht leiden kann.« »Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor, Frances.« »Alle Männer sind Dreckskerle.« »Ich werde versuchen, mich zu bessern, Frances - wirklich.« Sie zeigte ihm die Zunge, was zu einem interessanten Gespräch führte, aber er sah, daß sie nicht mit dem Herzen bei dem Geplänkel dabei war, daher ließ er es sein. Sie sah blaß und apathisch aus, ein verblüffender Kontrast zu der Frannie, die vor ein paar Stunden aus vollem Herzen die Nationalhymne gesungen hatte. »Bedrückt dich was, Liebes?« Sie schüttelte verneinend den Kopf, aber er dachte, daß er Tränen in ihren Augen sah. »Was ist es? Sag's mir.« »Nichts. Das ist es ja gerade. Nichts bedrückt mich. Es ist vorbei, das ist mir endlich klar geworden, das ist alles. Weniger als sechshundert Menschen, die >Star-Spangled Banner< singen. Es ist mir eben auf einmal klar geworden. Keine Würstchenbuden. Das Riesenrad auf Coney Island dreht sich heute abend nicht. Niemand trinkt einen Betthupfer in der Space Needle in Seattle. Jemand hat endlich einen Weg gefunden, das Drogenproblem in der Combat Zone von Boston und die Kinderprostitution am Times Square zu unterbinden. Das alles war schrecklich, aber ich glaube, das Heilmittel war in dem Fall viel schlimmer als die Krankheit. Weißt du, was ich meine?« »Klar.« »In meinem Tagebuch habe ich immer kleine Abschnitte mit der Überschrift >Zur Erinnerung< eingefügt. Damit das Baby einmal weiß... oh, was es nie erleben wird. Und wenn ich daran denke, bin ich niedergeschlagen. Ich hätte die Überschrift >Was aus und vorbei ist< wählen sollen.« Sie schluchzte leise und hielt mit dem Fahrrad an, damit sie die Hand vor den Mund legen und es unterdrücken konnte. »Das geht allen so«, sagte Stu und legte einen Arm um sie. »Heute abend werden viele Leute sich in den Schlaf weinen. Das darfst du mir glauben.« »Ich verstehe nicht, wie man um ein ganzes Land trauern kann«, sagte sie und weinte noch lauter, »aber es geht wohl. Kleinigkeiten... Kleinigkeiten gehen mir immerzu durch den Kopf. Autohändler. Frank Sinatra. Old Orchard Beach im Juli, voller Menschen, die meisten aus Quebec. Dieser dumme Kerl bei MTV - ich glaube, sein Name war Randy. Die Zeiten... O Gott, ich höre mich an wie ein fa-faverdammtes Gedicht von Rod Me-McKuen!« Er hielt sie fest, tätschelte ihren Rücken, erinnerte sich, wie seine Tante Betty einmal einen Weinkrampf wegen einem Brotteig gehabt hatte, der nicht aufgegangen war; damals war sie schon dick und rund mit Vetter Laddie gewesen, im siebten Monat oder so, und Stu konnte sich erinnern, wie sie die Augen mit dem Zipfel eines Geschirrtuchs abgewischt und gesagt hatte, er solle sich nichts daraus machen, schwangere Frauen seien immer einen Schritt von der Irrenanstalt entfernt, weil die Säfte, die ihre Drüsen produzierten, immer zu einem schrecklichen Allerlei wurden. Nach einer Weile sagte Frannie: »Okay. Okay. Besser. Gehen wir.« »Frannie, ich liebe dich«, sagte er. Sie schoben ihre Fahrräder weiter. Sie fragte ihn: »Woran erinnerst du dich am besten? Was ist dieses Spezielle?« »Nun, weißt du...«, sagte er, dann lachte er kurz auf. »Nein, ich weiß nicht, Stuart.« »Es ist verrückt.« »Sag es mir.« »Ich weiß nicht, ob ich will. Du wirst nach den Typen mit den Schmetterlingsnetzen suchen.« »Sag es mir!« Sie hatte Stu in vielen Stimmungen gesehen, aber diese seltsame, verlegene Nervosität war ihr neu. »Ich habe es nie jemandem erzählt«, sagte er, »aber in den letzten Wochen habe ich oft daran gedacht. Mir ist 1982 etwas passiert. Ich habe damals in Bill Hapscombs Tankstelle Benzin gepumpt. Er hat mich beschäftigt, wenn er konnte und ich keine Arbeit in der Taschenrechnerfabrik in der Stadt hatte. Er hatte mich als Teilzeitkraft, elf Uhr bis Ladenschluß, was damals um drei Uhr morgens war. Wenn die Leute der Schicht von drei bis elf in der DixiePapierfabrik getankt hatten, war nicht mehr viel zu tun... in vielen Nächten hat zwischen zwölf und drei nicht ein Auto gehalten. Ich habe herumgesessen, Bücher oder Zeitschriften gelesen und bin häufig eingenickt. Klar?« »Ja.« Sie verstand es. Sie sah ihn vor dem geistigen Auge, den Mann, der im Lauf der Zeit und der eigentümlichen Ereignisse ihr Mann werden sollte, ein Mann mit breiten Schultern, der auf einem Woolco-Plastikstuhl schlief und ein aufgeschlagenes Buch verkehrt herum auf dem Schoß liegen hatte. Sie sah ihn in einer Insel aus weißem Licht schlafen, einer Insel, die vom großen Meer der texanischen Nacht umgeben war. Sie liebte ihn in diesem Bild, wie überhaupt in allen Bildern, die ihr Verstand von ihm entwarf. »Nun, in dieser speziellen Nacht war es etwa Viertel nach zwei, ich saß mit aufgelegten Füßen hinter Haps Schreibtisch und las einen Western - Louis L'Amour, Elmore Leonard, so jemanden, und da kommt ein riesiger Pontiac angefahren, wo sämtliche Fensterscheiben heruntergekurbelt waren und der Cassettenrekorder wie verrückt plärrte, Hank Williams. Ich kann mich sogar noch an das Stück erinnern, >Movin' On<. Der Bursche, weder jung noch alt, war ganz allein. Ein gutaussehender Mann, aber auf eine etwas beängstigende Weise - ich meine, er hat ausgesehen, als könnte er gefährliche Sachen machen, ohne weiter darüber nachzudenken. Er hatte buschiges, dunkles Lockenhaar. Zwischen den Beinen hatte er eine Flasche Wein eingeklemmt, Würfel aus Styropor hingen am Rückspiegel. Er sagt: >Super<, und ich sagte okay, aber ich stand eine Weile nur da und habe ihn angesehen. Weil er vertraut aussah. Ich habe das Gesicht gesucht.« Jetzt waren sie an der Ecke; ihr Haus lag auf der anderen Straßenseite. Sie blieben stehen. Frannie sah ihn eingehend an. »Also sagte ich: >Kennen wir uns nicht? Stammen Sie nicht aus Corbett oder Maxin?< Aber ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, als würde ich ihn aus diesen beiden Orten kennen. Und er sagte: >Nein, aber ich bin mal mit meiner Familie durch Corbett gekommen, als ich noch ein Kind war. Ich glaube, als Kind bin ich durch ziemlich jede Stadt in Amerika gekommen. Mein Dad war bei der Luftwaffe. Ich habe sein Auto vollgetankt, und dabei habe ich die ganze Zeit an ihn gedacht und versucht, das Gesicht einzuordnen, und plötzlich fiel es mir ein. Plötzlich wußte ich es. Ich hätte mir beinahe in die Hosen gemacht, denn der Mann am Steuer des Pontiac galt als tot.« »Wer war es, Stu? Wer war es?« »Nein, laß es mich auf meine Weise erzählen, Frannie. Es ist eine verrückte Geschichte, ganz gleich, wie man sie erzählt. Ich ging ans Fenster zurück und hab' gesagt: >Das macht sechs Dollar und dreißig Cent.< Er gab mir zwei Fünfer und hat gesagt, den Rest könnte ich behalten. Und ich sagte: >Ich glaube, jetzt weiß ich, wer Sie sind.< Und er antwortete: >Nun, vielleicht<, und lächelte mich seltsam und beunruhigend an, während die ganze Zeit Hank Williams sang, daß er in die Stadt wollte. Ich sagte: >Wenn Sie sind, wer ich glaube, müßten Sie eigentlich tot sein.< Er sagt: >Sie sollten nicht alles glauben, was Sie lesen, Mann.< Ich sagte: >Sie mögen Hank Williams, was?< Mehr fiel mir nicht ein. Mir war klar, Frannie, wenn ich nicht irgend etwas sagte, würde er einfach das Fenster hochkurbeln und weiterfahren... und ich wollte, daß er geht, aber auch wieder nicht. Noch nicht. Erst wenn ich sicher war. Damals wußte ich noch nicht, daß man in manchen Dingen nie sicher sein kann, so sehr man es sich auch wünscht. Er sagte: >Hank Williams ist einer der besten. Ich mag RoadhouseMusik.< Dann sagt er: >Ich fahre nach New Orleans, fahre die ganze Nacht, schlafe den ganzen Tag und ziehe dann die ganze Nacht durch die Kneipen. Ist es noch dasselbe? New Orleans?< Und ich sage: >Wie was?< Worauf er sagt: >Sie wissen schon.< Und ich sage: >Nun, es ist eben der Süden. Aber da unten hat es viel mehr Bäume.< Das bringt ihn zum Lachen. Er sagt: >Vielleicht sehen wir uns wieder.< Aber ich wollte ihn nicht wiedersehen, Frannie. Denn er hatte die Augen eines Mannes, der lange Zeit versucht hat, ins Dunkel zu sehen und allmählich eine Vorstellung bekommt, wie es dort aussieht. Ich glaube, wenn ich diesen Flagg jemals zu Gesicht bekomme, werde ich feststellen, daß seine Augen ähnlich aussehen.« Stu schüttelte den Kopf, während sie die Räder über die Straße schoben und abstellten. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich habe mich damals gefragt, ob ich ein paar seiner Platten kaufen sollte, aber ich wollte sie nicht. Seine Stimme... es ist eine gute Stimme, aber ich bekomme eine Gänsehaut davon.« »Stuart, von wem redest du?« »Erinnerst du dich an eine Rockgruppe namens The Doors? Der Mann, der in jener Nacht in Arnette getankt hat, war Jim Morrison. Ich bin ganz sicher.« Sie sperrte den Mund auf. »Aber der ist gestorben! Er ist in Frankreich gestorben! Er...« Dann verstummte sie. Denn Morrisons Tod war irgendwie komisch gewesen, oder nicht? Geheimnisvoll. »Wirklich?« fragte Stu. »Ich weiß nicht. Vielleicht, und der Typ, den ich getroffen habe, hat ihm nur ähnlich gesehen, aber...« »Glaubst du wirklich, daß er es war?« fragte sie. Sie waren jetzt auf der Haustreppe und stießen mit den Schultern zusammen wie zwei kleine Kinder, die darauf warten, daß ihre Mutter sie zum Essen ruft. »Ja«, sagte er. »Ja, das glaube ich. Und bis zu diesem Sommer habe ich immer gedacht, das wäre das Seltsamste, das mir je zustoßen würde. Mann, so kann man sich täuschen.« »Und das hast du nie jemandem erzählt«, staunte sie. »Du hast Jim Morrison Jahre nach seinem angeblichen Tod gesehen und es nie einem Menschen gesagt. Stuart Redman, Gott hätte dir ein Zahlenschloß statt eines Munds geben sollen, als er dich in die Welt geschickt hat.« Stu lächelte. »Nun, die Jahre zogen dahin, wie es in Büchern so schön heißt, und wenn ich an diese Nacht dachte - was von Zeit zu Zeit vorgekommen ist-, wurde ich jedesmal sicherer, daß er es doch nicht gewesen war. Nur jemand, der ihm ähnlich gesehen hat, weißt du. Ich dachte nicht besonders viel über das Thema nach. Aber in den vergangenen Wochen habe ich wieder angefangen, darüber nachzugrübeln. Und jetzt komme ich immer mehr zur Überzeugung, daß er es wirklich war. Verdammt, vielleicht ist er jetzt noch am Leben. Das wäre ein echter Lachschlager, was?« »Wenn«, sagte sie, »ist er nicht hier.« »Nein«, stimmte Stu zu. »Ich könnte mir auch nicht vorstellen, daß er hier ist. Weißt du, ich habe seine Augen gesehen.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Eine tolle Geschichte.« »Ja - und in diesem Land lebten wahrscheinlich zwanzig Millionen Menschen, die eine ähnliche zu erzählen hatten... nur über Elvis Presley oder Howard Hughes.« »Aber jetzt nicht mehr.« »Nein - nicht mehr. Harold hat heute abend losgelegt, was?« »Ich glaube, so was nennt man Themenwechsel.« »Ich glaube, du hast recht.« »Ja«, sagte sie. »Das hat er.« Er lächelte über ihren besorgten Tonfall und das Stirnrunzeln, das ihr Gesicht verdüsterte. »Hat dir etwas zu schaffen gemacht, was?« »Ja, aber das werde ich nicht sagen. Du bist ja jetzt in Harolds Mannschaft.« »Das ist nicht fair, Fran. Ich habe mir auch meine Gedanken gemacht. Wir haben diese beiden vorbereitenden Versammlungen abgehalten... haben alles zu einer befriedigenden Lösung gebracht - dachten wir jedenfalls -, und dann kommt Harold des Wegs. Er läßt hier was los und da was los und sagt: >Habt ihr nicht eigentlich das gemeint?< Und wir sagen: >Ja, danke, Harold. So ist es.<« Stu schüttelte den Kopf. »Alle für eine Gesamtabstimmung aufzustellen - warum sind wir nicht darauf gekommen, Fran ? Das war schlau. Und wir haben nicht einmal darüber gesprochen.« »Nun, keiner konnte wissen, in welcher Stimmung sie sein würden. Ich habe gedacht besonders, nachdem Mutter Abagail fortgegangen ist, sie würden düster, vielleicht sogar aggressiv sein. Und dann dieser Impening, der immer wie ein Schwarzseher daherschwätzt...« »Ich frage mich, ob man den nicht irgendwie mundtot machen sollte«, sagte Stu nachdenklich. »Aber es war ganz anders. Sie waren so... fröhlich, weil sie zusammen sein konnten. Hast du das gespürt?« »Ja, habe ich.« »Fast wie bei der Zeltmission. Ich glaube, Harold hat das nicht geplant. Er hat einfach die Gunst der Stunde genutzt.« »Ich weiß einfach nicht, was ich von ihm halten soll«, sagte Stu. »An dem Abend, als wir nach Mutter Abagail gesucht haben, hat er mir regelrecht leid getan. Als Glen und Ralph erschienen sind, hat er schrecklich ausgesehen, als würde er ohnmächtig werden oder so. Aber als wir eben noch auf dem Rasen beisammen waren und alle ihm gratuliert haben, war er aufgebläht wie eine Kröte. Als hätte er äußerlich gelächelt und innerlich gedacht, da, jetzt seht ihr, was euer Komitee wert ist, ihr dummes Narrenpack. Er ist wie eines dieser Puzzle, die man als Kind nie lösen konnte. Chinesische Kästchen oder die drei Ringe, die auseinandergingen, wenn man richtig daran gezogen hat.« Fran streckte die Füße aus und sah sie an. »Da wir von Harold sprechen, fällt dir etwas Komisches an meinen Füßen auf, Stuart?« Stu betrachtete sie eingehend. »Nee. Nur daß du diese komischen Bioschuhe aus dem Geschäft da vorne trägst. Und was für große.« Sie schlug nach ihm. »Bioschuhe sind ausgezeichnet für die Füße. Das steht in den besten Fachzeitschriften. Und zu deiner Information, ich habe Größe zweiundvierzig. Das ist eigentlich ziemlich normal.« »Und was haben deine Füße mit Harold zu tun? Es ist spät, Liebling.« Er schob sein Rad weiter, und sie folgte ihm. »Nichts, denke ich. Harold hat nur immer meine Füße angesehen. Nach der Versammlung, als wir im Gras gesessen und uns über alles unterhalten haben.« Sie schüttelte den Kopf und runzelte leicht die Stirn. »Warum sollte sich Harold Lauder für meine Füße interessieren?« fragte sie. Larry und Lucy gingen Hand in Hand allein nach Hause. Leo war schon vor einiger Zeit in das Haus gegangen, in dem er mit »NadineMom« wohnte. Als sie zu ihrer Haustür gingen, sagte Lucy: »Das war eine Versammlung. Ich hätte nie gedacht...« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Veranda löste. Larry spürte, wie ihm heiße Angst im Hals emporschnellte. Er ist es, dachte er panisch. Er ist gekommen, um mich zu holen... ich werde sein Gesicht sehen. Aber dann fragte er sich, wie er das gedacht haben konnte, denn es war Nadine Cross, sonst niemand. Sie trug ein Kleid aus weichem blaugrauen Material; das Haar fiel ihr lose über die Schultern, schwarzes Haar mit Strähnen von reinstem Weiß. Neben ihr sieht Lucy wie ein Gebrauchtwagen auf einer Verkaufsausstellung aus, dachte er, ehe er es verhindern konnte, und verabscheute sich dafür. Das war der alte Larry... der alte Larry? Man könnte genausogut sagen, der alte Adam. »Nadine«, sagte Lucy mit zitternder Stimme und einer Hand auf der Brust. »Du hast mir den Schreck meines Lebens verpaßt. Ich habe gedacht... ach, ich weiß nicht, was ich gedacht habe.« Sie beachtete Lucy nicht. »Kann ich mit dir reden?« fragte sie Larry. »Was? Jetzt?« Er sah Lucy von der Seite an, oder glaubte es jedenfalls... später wußte er nicht mehr, wie Lucy in diesem Augenblick ausgesehen hatte. Es war, als wäre sie von einer Eklipse verdeckt worden, aber von einem dunklen Stern, nicht von einem hellen. »Jetzt. Es muß jetzt sein.« »Morgen früh wäre...« »Es muß jetzt sein, Larry. Oder nie.« Er sah wieder zu Lucy, und diesmal sah er sie, sah die Resignation in ihrem Gesicht, als sie von Larry zu Nadine und wieder zurück blickte. Er sah, wie gekränkt sie war. »Ich komm' gleich wieder, Lucy.« »Nein, wirst du nicht«, sagte sie betrübt. Tränen glitzerten in ihren Augen. »O nein, das bezweifle ich.« »Zehn Minuten.« »Zehn Minuten, zehn Jahre«, sagte Lucy. »Sie will dich holen. Hast du auch Hundehalsband und Maulkorb mitgebracht, Nadine?« Für Nadine existierte Lucy Swann nicht. Ihre Augen waren auf Larry fixiert, diese großen, dunklen Augen. Für Larry würden es immer die seltsamsten und schönsten Augen bleiben, die er je gesehen hatte, Augen, die einen ruhig und tief ansahen, wenn man litt oder Schwierigkeiten hatte oder vor Kummer außer sich war. »Ich komme gleich, Lucy«, sagte er mechanisch. »Sie...« »Geh schon mal.« »Ja, das werde ich wohl. Sie ist gekommen. Ich habe ausgedient.« Sie lief die Stufen hoch, stolperte über die oberste, behielt das Gleichgewicht, zog die Tür auf und schlug sie hinter sich zu und schnitt damit das Schluchzen ab, als es gerade anfing. Nadine und Larry sahen einander wie in Trance an. So passiert es, dachte er. Wenn man in Augen sieht, die man nie wieder vergißt, oder im Gedränge auf dem Bahnsteig der U-Bahn plötzlich jemanden sieht, der ein Doppelgänger sein könnte, oder auf der Straße ein Lachen hört, das das Lachen des ersten Mädchens gewesen sein könnte, mit dem man geschlafen hat. Aber er hatte einen so bitteren Geschmack im Mund. »Laß uns zur Ecke und zurück gehen«, sagte Nadine mit leiser Stimme. »Würdest du das für mich tun?« »Ich sollte lieber zu ihr gehen. Du hast dir einen verdammt ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht.« »Bitte? Nur zur Ecke und zurück? Wenn du willst, werde ich vor dir knien und dich anflehen. Hier. Siehst du?« Zu seinem Entsetzen sank sie tatsächlich auf die Knie, wobei sie den Rock ein Stück hochschieben mußte, ihm die nackten Beine zeigte und ihm die eigenartige Gewißheit vermittelte, daß darunter auch alles andere nackt war. Warum dachte er das? Er wußte es nicht. Ihre Augen sahen ihn an, daß sein Kopf wirbelte, und irgendwo schwang hier ein ekelerregendes Gefühl der Macht mit, das damit zu tun hatte, daß sie hier vor ihm auf den Knien lag und den Mund auf einer Ebene hatte mit... »Steh auf!« sagte er grob. Er nahm ihre Hände und zerrte sie hoch und versuchte, nicht zu sehen, wie der Rock noch weiter hinaufrutschte, bevor er wieder herunterfiel, daß ihre Schenkel cremefarben waren, von jenem weißen Farbton, der nicht blaß und tot ist, sondern voller Leben und gesund und erregend. »Komm«, sagte er, fast vollkommen entnervt. Sie gingen nach Westen, in Richtung der Berge, die eine weit entfernte negative Präsenz darstellten, dreieckige Schemen der Dunkelheit, welche die Sterne verdeckten, die nach dem Regen herausgekommen waren. Wenn er nachts auf diese Berge zuging, fühlte er sich immer irgendwie unbehaglich, aber auch irgendwie abenteuerlustig, und jetzt, während Nadine an seiner Seite ging, die Hand leicht auf seinen Ellbogen gelegt, schienen diese Empfindungen noch stärker zu sein. Er hatte immer lebhafte Träume gehabt und vor drei oder vier Nächten von diesen Bergen; er hatte geträumt, daß Trolle darin hausten, tückische Kreaturen mit hellgrünen Augen, unförmigen Wasserköpfen und kräftigen Händen mit kurzen Fingern. Würgerhände. Geistlose Trolle, welche die Gebirgspässe bewachten. Die warteten, bis seine Zeit gekommen war - die Zeit des dunklen Mannes. Ein leichter Windhauch wehte mäanderförmig die Straße entlang und blies Papierschnipsel vor sich her. Sie kamen am King Sooper's vorbei, wo ein paar Einkaufswagen wie tote Wachtposten auf dem großen Parkplatz standen, und er mußte an den Lincoln-Tunnel denken. Im Lincoln-Tunnel waren Trolle gewesen. Sie waren tot, aber das bedeutete nicht, daß alle Trolle in dieser neuen Welt tot waren. »Es ist schwer«, sagte Nadine immer noch mit leiser Stimme. »Sie hat es schwergemacht, weil sie recht hat. Ich will dich jetzt. Und ich fürchte, ich komme zu spät. Ich möchte hier bleiben.« »Nadine...« »Nein!« sagte sie aufbrausend. »Laß mich ausreden. Ich will hier bleiben, kannst du das nicht verstehen? Und wenn wir zusammen sind, kann ich es. Du bist meine letzte Chance«, sagte sie mit brechender Stimme. »Joe ist auch weg.« »Aber das stimmt nicht«, sagte Larry und kam sich begriffsstutzig und dumm und langsam vor. »Wir haben ihn auf dem Rückweg vor deinem Haus abgeliefert. Ist er nicht da?« »Nein. Ein Junge namens Leo Rockway schläft in seinem Bett.« »Was willst du...« »Hör zu«, sagte sie. »Hör mir zu, kannst du nicht zuhören? Solange ich Joe hatte, war alles in Ordnung. Ich konnte... so stark sein, wie ich sein mußte. Aber er braucht mich nicht mehr. Und ich muss gebraucht werden.« »Er braucht dich!« »Natürlich«, sagte Nadine, und Larry hatte wieder Angst. Sie sprach nicht mehr von Leo; er wußte nicht, von wem sie sprach. »Er braucht mich. Davor habe ich Angst. Deshalb bin ich zu dir gekommen.« Sie trat vor ihn und sah mit zurückgelegtem Kopf zu ihm auf. Er roch ihren heimlichen, sauberen Geruch und begehrte sie. Aber ein Teil von ihm wandte sich Lucy zu. Das war der Teil von ihm, den er brauchte, wenn er es hier in Boulder schaffen wollte. Wenn er ihn verleugnete und mit Nadine ging, konnten sie sich genausogut gleich heute nacht aus Boulder hinausschleichen. Dann wären sie fertig mit ihm. Der alte Larry würde triumphieren. »Ich muß nach Hause«, sagte er. »Tut mir leid. Damit mußt du allein fertig werden, Nadine.« Damit mußt du allein fertig werden, waren das nicht die Worte, die er in der einen oder anderen Form den Leuten sein ganzes Leben lang gesagt hatte? Warum mußten sie gerade jetzt hervorkommen, wo er doch im Recht war, ihn quälen und an sich selbst zweifeln lassen? »Schlaf mit mir«, sagte sie und legte ihm die Arme um den Hals. Sie preßte den Körper an seinen, und er merkte an der Gelöstheit, Wärme und Straffheit, daß sie tatsächlich nur das Kleid anhatte. Splitternackt, dachte er, und dieser Gedanke erregte ihn auf nachtschwarze Weise. »Das ist schön, ich kann dich spüren«, sagte sie und bewegte sich an ihm - seitwärts, auf- und abwärts, was eine köstliche Spannung bewirkte. »Schlaf mit mir, dann ist es zu Ende. Dann bin ich in Sicherheit. In Sicherheit.« Er griff nach oben und wußte später nicht mehr, wie er es geschafft hatte, wo er doch mit drei raschen Bewegungen und einem Stoß in ihren warmen Leib hätte eindringen können, wie sie es wollte, aber irgendwie griff er nach oben und löste ihre Hände und stieß sie so heftig von sich, daß sie stolperte und fast gestürzt wäre. Sie stöhnte leise. »Larry, wenn du wüßtest...« »Ich weiß es nicht. Warum versuchst du nicht, es mir zu erzählen, anstatt... mich zu vergewaltigen?« »Vergewaltigen!« wiederholte sie und lachte schrill. »Oh, das ist aber komisch! Was redest du da! Ich! Dich vergewaltigen! O Larry!« »Was du von mir willst, hättest du haben können. Du hättest es letzte Woche haben können oder die Woche davor. Vor zwei Wochen habe ich dich sogar darum gebeten. Ich wollte, daß du es bekommst.« »Das war zu früh«, flüsterte sie. »Und jetzt ist es zu spät«, sagte er und verabscheute den brutalen Klang seiner Stimme, aber er hatte sie nicht unter Kontrolle. Er zitterte noch vor Begierde, wie sollte er anders klingen? »Was machst du jetzt, hm?« »Schon gut. Lebwohl, Larry.« Sie wandte sich ab. In diesem Augenblick war sie mehr als Nadine, die sich für immer von ihm abwandte. Sie war die Oralhygienikerin. Sie war Yvonne, mit der er in L. A. eine gemeinsame Wohnung gehabt hatte - sie war ihm auf die Nerven gegangen, und er hatte einfach die Wanderstiefel angezogen und ihr die Wohnung überlassen. Sie war Rita Blakemoor. Am schlimmsten, sie war seine Mutter. »Nadine?« Sie drehte sich nicht um. Sie war ein dunkler Schatten, der sich nur von anderen dunklen Schatten unterschied, als sie die Straße überquerte. Dann verschwand sie ganz vor dem schwarzen Hintergrund der Berge. Er rief noch einmal ihren Namen, aber sie antwortete nicht. Die Art, wie sie von ihm weggegangen war, wie sie mit jenem schwarzen Hintergrund verschmolzen war, hatte etwas Entsetzliches. Er stand mit geballten Fäusten vor King Sooper's und hatte trotz der nächtlichen Kühle Schweißperlen auf der Stirn. Alle Gespenster aus seiner Vergangenheit waren bei ihm, und er wußte endlich, welchen Preis man dafür zahlen muß, daß man kein netter Kerl ist, daß man sich nie über seine Motivation klar ist, daß man Kränkung und Hilfe immer nur grob gegeneinander abwägt, daß man nie den sauren Geschmack des Zweifels im Mund los wird und... Er riß den Kopf hoch. Seine Augen wurden so groß, daß sie fast aus den Höhlen zu quellen schienen. Der Wind wehte wieder stärker und heulte laut in einer Einfahrt, und weiter weg glaubte er Schritte zu hören, die in die Nacht wanderten, abgewetzte Absätze irgendwo in den Vorgebirgen, die ihm der kalte Hauch dieser frühmorgendlichen Brise zutrug. Schmutzige Absätze, die den Weg ins Grab des Westens tappten. Lucy hörte ihn hereinkommen, und ihr Herz klopfte wie rasend. Sie versuchte, es zu beruhigen; wahrscheinlich kam er nur, um seine Sachen zu holen, aber es wurde nicht langsamer. Er hat sich für mich entschieden, war der Gedanke, den ihr Herz ihr ins Hirn hämmerte wie mit einem Dampfhammer. Er hat sich für mich entschieden... Trotz ihrer Aufregung und Hoffnung, die sie nicht kontrollieren konnte, lag sie starr auf dem Rücken im Bett und sah nur zur Decke. Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt, als sie meinte, daß der einzige Fehler von ihr und von Mädchen wie ihrer Freundin Joline der war, daß sie zuviel Bedürfnis nach Liebe in sich hatten. Aber sie war immer treu gewesen. Sie war keine Betrügerin. Sie hatte ihren Mann niemals betrogen, und sie hatte Larry niemals betrogen, und wenn sie in den Jahren, bevor sie sie kennengelernt hatte, nicht gerade eine Nonne gewesen war... das war Vergangenheit. Man konnte das, was man getan hatte, nicht einfach wieder nehmen und zurechtbiegen. Diese Macht hatten vielleicht die Götter, aber nicht Männer und Frauen, und das war wahrscheinlich gut so. Wäre es anders, würden die Menschen höchstwahrscheinlich an Altersschwäche sterben und immer noch versuchen, ihre Jugend neu zu schreiben. Wenn man wußte, daß diese Vergangenheit unerreichbar fern war, konnte man vielleicht verzeihen. Tränen stahlen sich ihre Wangen hinab. Die Tür ging klickend auf, und sie sah ihn darin, nur als Umriß. »Lucy? Bist du noch wach?« »Ja.« »Kann ich die Lampe anmachen?« »Wenn du willst.« Sie hörte das leise Zischen von Gas, dann ging das Licht an, zu einem Flämmchen heruntergedreht, und machte ihn sichtbar. Er sah blaß und erschüttert aus. »Ich muß dir etwas sagen.« »Nein, mußt du nicht. Komm einfach ins Bett.« »Ich muß es sagen. Ich...« Er drückte die Hand auf die Stirn und fuhr sich durchs Haar. »Larry?« Sie setzte sich auf. »Alles in Ordnung?« Er redete, als hätte er sie nicht gehört, und er redete, ohne sie anzusehen. »Ich liebe dich. Wenn du mich willst, bekommst du mich. Aber ich weiß nicht, ob du viel bekommst. Ich werde nie deine beste Wahl sein, Lucy.« »Das Risiko nehme ich auf mich. Komm ins Bett.« Das machte er. Und sie machten es. Und als es vorbei war, sagte sie ihm, daß sie ihn liebte, weiß Gott, und es schien zu sein, was er hören wollte, hören mußte, aber sie glaubte, er schlief lange nicht ein. Einmal wurde sie in der Nacht wach (vielleicht hatte sie es nur geträumt) und glaubte, Larry am Fenster stehen zu sehen, wo er nach draußen sah und den Kopf schräg hielt, als lauschte er, und Licht und Schatten machten sein Gesicht zu einer ausgezehrten Maske. Aber bei Tageslicht war sie sicher, daß es ein Traum gewesen sein mußte; bei Tageslicht schien er wieder der alte zu sein. Nur drei Tage später erfuhren sie von Ralph Brentner, daß Nadine zu Harold Lauder gezogen war. Darauf wurde Larrys Gesicht verkniffen, aber nur einen Augenblick. Und wenn sie sich selbst dafür mißfiel, Ralph Brentners Neuigkeit ließ sie aufatmen. Es schien vorbei zu sein. Nachdem sie mit Larry gesprochen hatte, ging sie nur kurz nach Hause. Sie schloß auf, ging ins Wohnzimmer und zündete die Lampe an. Diese hoch erhoben, ging sie in den hinteren Teil des Hauses und blieb einen Augenblick stehen, um in das Zimmer des Jungen zu leuchten. Sie wollte wissen, ob sie Larry die Wahrheit gesagt hatte. Hatte sie. Leo lag nur in Unterhosen auf dem zerwühlten Laken... aber die Schnittwunden und Kratzer waren verblaßt, in den meisten Fällen ganz verschwunden, und die Rundumbräune, die er gehabt hatte, weil er praktisch dauernd nackt herumgelaufen war, war auch verschwunden. Aber es war mehr als das, dachte sie. Etwas in seinem Gesicht hatte sich verändert - sie konnte die Veränderung sehen, obwohl er schlief. Der Ausdruck stummer, begieriger Wildheit war daraus verschwunden. Er war nicht mehr Joe. Dies war nur ein Junge, der nach einem geschäftigen Tag schlief. Sie dachte an die Nacht, als sie fast am Schlafen gewesen und aufgewacht war und festgestellt hatte, daß er nicht mehr neben ihr lag. Das war in North Berwick, Maine, gewesen - nun einen halben Kontinent entfernt. Sie war ihm zu dem Haus gefolgt, wo Larry auf der Veranda geschlafen hatte. Larry drinnen schlafend, Joe draußen wartend, das Messer voll stummer Wildheit gezückt, und lediglich das dünne Fliegengitter dazwischen. Sie hatte ihn gezwungen, mit ihr zu kommen. Haß brandete in Nadine auf, schlug Funken wie Stahl auf Feuerstein. Die Coleman-Lampe bebte in ihrer Hand und ließ wilde Schatten springen und tanzen. Sie hätte ihn gewähren lassen sollen! Sie hätte Joe selbst die Tür aufhalten, ihn hineinlassen sollen, um zu stechen und zu zerfetzen und zu schneiden und zu schlitzen und zu töten. Sie hätte... Der Junge rollte sich herum und stöhnte leise, als würde er aufwachen. Seine Hände zuckten hoch und schlugen durch die Luft, als wollte er im Traum ein schwarzes Phantom abwehren. Nadine zog sich zurück; sie spürte heftigen Pulsschlag in den Schläfen. Es war immer noch etwas Seltsames in dem Jungen, und ihr gefiel nicht, wie er sich gerade bewegt hatte, als hätte er ihre Gedanken erraten. Sie mußte weitermachen. Sie mußte sich beeilen. Sie ging in ihr Zimmer. Auf dem Boden lag ein Teppich. Ein schmales Einzelbett - das Bett einer alten Jungfer. Mehr nicht. Nicht einmal ein Bild. Das Zimmer hatte überhaupt keine Individualität. Sie machte die Schranktür auf und wühlte hinter den aufgehängten Kleidern. Sie war jetzt auf den Knien und schwitzte. Sie nahm einen bunten Karton heraus, den ein Bild lachender Menschen zierte, die ein Party-Spiel machten. Ein Party-Spiel, das mindestens dreitausend Jahre alt war. Sie hatte das Spiritistenbrett in einem Scherzartikelladen in der Innenstadt gefunden, aber im Haus hatte sie es nicht anzuwenden gewagt, weil der Junge hier war. Sie hatte überhaupt noch nicht gewagt, es anzuwenden... bis jetzt. Etwas hatte sie getrieben, den Laden zu betreten, und als sie das Brett in seiner bunten Verpackung sah, war ein schrecklicher Kampf in ihrem Innern entbrannt - die Psychologen nennen so einen Kampf Aversion/Kompulsion. Sie hatte damals wie heute geschwitzt und zweierlei gleichzeitig gewollt: aus dem Geschäft fliehen, ohne zurückzusehen, und den Karton nehmen, den gräßlich fröhlichen Karton, und ihn nach Hause tragen. Der zweite Wunsch machte ihr mehr Angst, denn er schien gar nicht ihr Wunsch zu sein. Schließlich hatte sie den Karton mitgenommen. Das war vier Tage her. Der Zwang war jede Nacht stärker geworden, bis sie heute nacht, halb wahnsinnig vor Ängsten, die sie nicht begriff, in ihrem blaugrauen Kleid, unter dem sie nichts anhatte, zu Larry gegangen war. Sie hatte diesen Ängsten ein für allemal ein Ende machen wollen. Als sie auf der Veranda darauf gewartet hatte, daß die beiden von der Versammlung zurückkamen, war sie überzeugt gewesen, endlich das Richtige zu tun. Sie hatte dieses Gefühl in sich gehabt, dieses leicht trunkene, beschwingte Gefühl, das sie nicht mehr gekannt, seit jener Junge sie damals durch das taufeuchte Gras verfolgt hatte. Nur würde der Junge sie diesmal fangen. Sie würde sich fangen lassen. Das wäre das Ende. Aber als er sie gefangen hatte, hatte er sie nicht gewollt. Nadine stand auf, hielt den Karton vor die Brust und machte die Lampe aus. Er hatte sie abgewiesen, und hieß es nicht, daß die Hölle keine Schrecken kennt...? Eine abgewiesene Frau mochte sich leicht mit dem Teufel verbünden... oder seinem Henker. Sie holte rasch noch die große Taschenlampe vom Tisch im Flur. Hinten im Haus schrie der Junge im Schlaf; sie erstarrte einen Moment, ihre Haare sträubten sich. Dann verließ sie das Haus. Ihre Vespa stand am Bordstein, die Vespa, mit der sie vor ein paar Tagen zu Harold Lauders Haus gefahren war. Warum war sie dorthin gegangen? Seit sie nach Boulder gekommen war, hatte sie kaum ein Dutzend Worte mit Harold gewechselt. Aber in ihrer Verwirrung wegen des Spiritistenbretts und in ihrer Angst vor den Träumen, die sie immer noch hatte, obwohl sie alle anderen nicht mehr quälten, schien ihr, als müßte sie unbedingt mit Harold sprechen. Auch vor diesem Impuls hatte sie Angst gehabt, erinnerte sie sich, während sie den Zündschlüssel der Vespa ins Schloß steckte. Wie der plötzliche Drang, das Spiritistenbrett zu nehmen (Verblüffen Sie Ihre Freunde! Verschönern Sie Ihre Parties! stand auf dem Karton), schien auch das ein Einfall gewesen zu sein, der nicht aus ihr selbst kam. Möglicherweise sein Einfall. Aber als sie sich gefügt hatte und zu Harold gegangen war, war er nicht dagewesen. Das Haus war abgeschlossen, das einzige abgeschlossene Haus, das ihr in Boulder aufgefallen war, die Jalousien heruntergezogen. Das hatte ihr irgendwie gefallen, und sie war einen Augenblick bitter enttäuscht gewesen, daß Harold nicht da war. Wenn ja, hätte er sie einlassen und die Tür hinter ihr abschließen können. Sie hätten ins Wohnzimmer gehen können, reden, oder miteinander schlafen oder unaussprechliche Dinge miteinander machen, und niemand hätte es erfahren. Harolds Haus war ein geheimes Plätzchen. »Was geschieht nur mit mir?« flüsterte sie der Dunkelheit zu, aber die Dunkelheit hatte keine Antwort für sie. Sie startete die Vespa, und das gleichmäßige rülpsende Knattern des Motors schien die Nacht zu entweihen. Sie legte den Gang ein und fuhr davon. Nach Westen. Als ihr während der Fahrt die kühle Nachtluft übers Gesicht strich, fühlte sie sich endlich besser. Blas die Spinnweben fort, Nachtwind. Du weißt es, nicht wahr? Wenn es keine Alternativen mehr gibt, was macht man dann? Man nimmt die Alternative, die übrigbleibt. Man wählt das Abenteuer, das einem bestimmt ist, wie dunkel es auch immer sei. Man überläßt Larry diese kleine dumme Schlampe mit ihren engen Hosen, ihrem einsilbigen Vokabular und mit ihrem Filmillustriertenverstand. Man entfremdet sich von ihnen. Man riskiert... was es zu riskieren gibt. Im Licht des kleinen Scheinwerfers der Vespa rollte die Straße unter ihr weg. Als die Straße anstieg, mußte sie in den zweiten Gang zurückschalten; sie war in der Baseline Road, die zum schwarzen Berg hinaufführte. Sollten sie doch ihre Versammlungen abhalten! Sie kümmerten sich darum, den Strom wieder anzuschalten; ihr Geliebter kümmerte sich um die Welt. Der Motor der Vespa ächzte und keuchte, aber irgendwie lief er weiter. Eine schreckliche, aber doch sexy Angst packte sie; der vibrierende Sattel des Motorrollers machte sie da unten ganz heiss (du bist ja geil, Nadine, dachte sie in einer schrillen guten Laune, schlimm, schlimm, SCHLIMM.) Rechts von ihr fiel das Gelände steil ab. Dort unten lauerte der Tod. Und dort oben? Sie würde es feststellen. Es war zu spät umzukehren, und allein dieser Gedanke gab ihr ein paradoxes und herrliches Gefühl der Freiheit. Eine Stunde später war sie im Sunrise Amphitheater - aber der Sonnenaufgang war noch drei oder mehr Stunden entfernt. Das Amphitheater lag dicht unter dem Gipfel des Flagstaff Mountain, und fast alle Einwohner der Freien Zone hatten schon kurz nach ihrer Ankunft in Boulder einen Ausflug zum Campingplatz auf dem Gipfel gemacht. An klaren Tagen - und in Boulder waren wenigstens im Sommer die Tage meistens klar - konnte man Boulder und die I-25 sehen, die in südlicher Richtung nach Denver führte, und weiter in den Dunst, wo zweihundert Meilen entfernt New Mexico lag. Im Osten war das flache Land, das sich bis Nebraska erstreckte; näher lag der Boulder Canyon, ein tiefer Einschnitt in den Ausläufern der Berge, wo Pinien und Fichten wuchsen. In vergangenen Sommern waren Segelflugzeuge wie Vögel mit den Aufwinden über dem Sunrise Amphitheater geschwebt. Jetzt sah Nadine nur, was sie im Schein ihrer Taschenlampe erkennen konnte, die sie in der Nähe des Steilhangs auf einen Picknicktisch gelegt hatte. Daneben lag ein großer Zeichenblock, in dem sie ein leeres Blatt aufgeschlagen hatte, und darauf stand wie eine große Spinne das dreieckige Brett. Aus seinem Bauch ragte wie der Stachel einer Spinne ein Bleistift, der leicht das Papier berührte. Nadine war in einem fiebrigen Zustand, der halb Euphorie und halb Entsetzen war. Als sie mit der tapfer schnurrenden Vespa, die gewiss nicht für Bergfahrten gedacht war, hierhergefahren war, hatte sie etwas Ähnliches gespürt wie Harold damals in Nederland. Sie spürte ihn. Aber während Harold es auf eine präzise und technologische Weise empfunden hatte, als ein Stück Eisen, welches von einem Magneten angezogen wurde, als einen Sog, empfand Nadine es als mystische Erfahrung, als Grenzüberschreitung. Es war, als wären diese Berge, in deren Vorgebirge sie sich erst befand, ein Niemandsland zwischen zwei Einflußsphären - Flagg im Westen, die alte Frau im Osten. Und hier wirkte die Magie nach beiden Seiten, mischte sich zu einem Gebräu, das weder Gott noch dem Satan gehörte, aber völlig heidnisch war. Sie kam sich vor wie in einer Geisterstätte. Und das Spiritistenbrett... Sie hatte den bunten Karton mit der Aufschrift MADE IN TAIWAN achtlos weggeworfen; mochte der Wind ihn sich holen. Das Brett selbst bestand nur aus einer schäbigen Holzfaser- oder Preßspanplatte. Aber das spielte keine Rolle. Es war ein Werkzeug, das sie nur einmal benutzen würde - nur einmal zu benutzen wagte -, und selbst ein schlecht hergestelltes Werkzeug kann seinem Zweck dienen: eine Tür aufbrechen, ein Fenster schließen, einen Namen schreiben. Ihr fiel die Aufschrift auf dem Karton wieder ein: Verblüffen Sie Ihre Freunde! Verschönern Sie Ihre Parties! Wie hieß noch der Song, den Larry manchmal während der Fahrt auf dem Sitz seiner Honda geplärrt hatte? Hello, Central, what's the matter with your line? I want to talk to... Mit wem sprechen? Aber das war ja gerade die Frage. Sie dachte zurück, wie sie das Spiritistenbrett im College ausprobiert hatte. Das war über zwölf Jahre her... aber es hätte auch erst gestern sein können. Sie war nach oben gegangen, um jemand im dritten Stock des Wohnheims, ein Mädchen namens Kachel Timms, nach den Hausaufgaben in einer Arbeitsgemeinschaft zu fragen, die sie beide besuchten. Der Saal war voller Mädchen, mindestens sechs oder acht, die kicherten und lachten. Nadine wußte noch, sie hatte gedacht, daß sie sich benahmen, als wären sie von etwas high, als hätten sie etwas geraucht, womöglich sogar gedrückt. »Aufhören!« sagte Rachel, die selbst kicherte. »Wie könnt ihr erwarten, daß die Geister sich melden, wenn ihr euch alle wie alberne Gänse benehmt?« Die Vorstellung kichernder Gänse erschien ihnen überaus komisch, daher hallte eine Weile eine neuerliche weibliche Lachsalve durch den Saal. Das Spiritistenbrett hatte damals wie heute ausgesehen, eine dreieckige Spinne auf drei Stummelbeinen, ein Bleistift, der nach unten zeigte. Während sie kicherten, nahm Nadine eines der überformatigen Blätter des Zeichenblocks und las die »Botschaften von der Astralebene« durch, die schon eingetroffen waren. Tommy sagt, du hast schon wieder diese Erdbeerdusche benützt.  Mutter sagt, es geht ihr gut. Chunga! Chunga! John sagt, du furzt nicht soviel, wenn du keine BOHNEN aus der MENSA mehr ißt!!!!! Andere, ebenso alberne. Mittlerweile war das Kichern so weit abgeklungen, daß sie von vorne anfangen konnten. Drei Mädchen saßen auf einem Bett; jede hatte eine Fingerspitze auf einer anderen Seite des Bretts. Einen Moment passierte gar nichts. Dann zitterte das Brett. »Das warst du, Sandy!« sagte Rachel vorwurfsvoll. »Nein!« »Pssst!« Das Brett bewegte sich wieder, und die Mädchen verstummten. Es bewegte sich, hielt inne, bewegte sich wieder. Es machte den Buchstaben V. »Vau...«, sagte das Mädchen namens Sandy. »Vau weia, kann ich da nur sagen«, sagte eine andere, worauf sie wieder zu kichern anfingen. »Pssst!« sagte Rachel streng. Der Bleistift bewegte sich schneller, schrieb die Buchstaben A, T, E und R. »Vater mein, ich bin dein«, sagte ein Mädchen namens Patty sooder-so und kicherte. »Das muß mein Vater sein, er ist an einem Herzanfall gestorben, als ich drei war.« »Es schreibt noch mehr«, sagte Sandy. S, A, G, T, buchstabierte das Brett langwierig. »Was geht hier vor?« flüsterte Nadine einem großen Mädchen mit Pferdegesicht zu, das sie nicht kannte. Das Mädchen mit dem Pferdegesicht hatte die Hände in den Taschen und sah alles mit einem mißbilligenden Gesichtsausdruck an. »Ein paar Mädchen spielen mit etwas, das sie nicht verstehen«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht. »Das geht vor.« Sie flüsterte noch leiser. »VATER SAGT PATTY«, las Sandy vor. »Es ist tatsächlich dein alter Herr, Pats.« Neuerliches Kichern. Das Mädchen mit dem Pferdegesicht hatte eine Brille auf. Jetzt nahm es die Hände aus den Taschen des Overalls, den es trug, und zog damit die Brille ab. Es polierte sie und erklärte Nadine weiter im Flüsterton: »Das Spiritistenbrett ist ein Werkzeug, das von Hellsehern und Medien benützt wird. Kinästheologen...« »Was für -ologen?« »Wissenschaftler, die Bewegung studieren, und das Zusammenwirken von Muskeln und Nerven.« »Oh.« »Sie behaupten, daß der Bleistift eigentlich auf winzigste Muskelbewegungen reagiert und dabei mehr vom unterbewußten als vom bewußten Verstand gelenkt wird. Selbstverständlich behaupten Hellseher und Medien, daß Wesenheiten aus der Geisterwelt den Bleistift bewegen...« Die Mädchen, die sich um das Brett drängten, stießen wieder eine hysterische Kichersalve aus. Nadine sah über die Schulter des Mädchens mit dem Pferdegesicht und sah, daß die Nachricht nun lautete: »VATER SAGT PATTY SOLLTE NICHT MEHR.« »... so oft aufs Klo gehen«, schlug eines der Mädchen aus dem Zuschauerkreis vor, worauf sie wieder lachten. »Wie auch immer, sie albern nur damit herum«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht und schniefte mißbilligend. »Das ist sehr unklug. Medien und Wissenschaftler sind sich darin einig, dass automatisches Schreiben gefährlich sein kann.« »Glaubst du, die Geister sind heute nacht nicht wohlgesonnen?« fragte Nadine leichthin. »Vielleicht sind die Geister nie wohlgesonnen«, sagte das Mädchen mit dem Pferdegesicht und sah sie stechend an. »Oder man bekommt eine Botschaft aus dem Unterbewußtsein, auf die man überhaupt nicht vorbereitet war. Es gibt nachweisliche Fälle, bei denen das automatische Schreiben völlig außer Kontrolle geraten ist, weißt du. Leute sind verrückt geworden.« »Ach, das ist aber weit hergeholt. Es ist doch nur ein Spiel.« »Aus Spiel wird manchmal Ernst.« Die lauteste Kichersalve bis dahin unterband die Bemerkung des Mädchens mit dem Pferdegesicht, bevor Nadine antworten konnte. Das Mädchen namens Patty So-oder-so war vom Bett gefallen und lag auf dem Boden, hielt sich den Bauch und lachte und kickte schwach mit den Beinen. Die vollständige Botschaft lautete: VATER SAGT PATTY SOLLTE NICHT MEHR MIT LEONARD KATZ ZUM UBOOT-RENNEN GEHEN. »Du warst das!« sagte Patty zu Sandy, als sie sich endlich wieder aufrichtete. »Nein, Patty! Ehrlich!« »Es war dein Vater! Aus dem Jenseits. Von drüben!« sagte ein anderes Mädchen mit einer Boris-Karloff-Stimme, die Nadine ziemlich gelungen fand. »Vergiß nicht, daß er dich sieht, wenn du das nächste Mal auf dem Rücksitz von Leonard Katz' Dodge die Hosen ausziehst.« Eine erneute Lachsalve folgte dieser Ermahnung. Als sie abgeklungen war, ging Nadine nach vorne und zupfte Kachel am Arm. Sie wollte nach den Hausaufgaben fragen und wieder gehen. »Nadine!« rief Kachel. Ihre Augen funkelten fröhlich. Ihre Wangen waren rosa erblüht. »Setz dich, mal sehen, ob die Geister eine Nachricht für dich haben!« »Nein, wirklich nicht, ich bin nur wegen der Hausaufgaben gekommen ...« »Ach, pups doch auf die Hausaufgaben! Das ist wichtig, Nadine! Es ist toll! Du mußt es versuchen. Hier, setz dich neben mich. Janey, du nimmst die andere Seite.« Janey setzte sich gegenüber von Nadine hin, und nach wiederholtem Drängen von Kachel Timms legte Nadine acht Finger ihrer Hände sacht auf das Brett. Aus irgendeinem Grund sah Nadine über die Schulter zu dem Mädchen mit dem Pferdegesicht. Sie schüttelte einmal nachdrücklich den Kopf in Nadines Richtung, und das Neonlicht von oben spiegelte sich in ihren Brillengläsern und verwandelte ihre Augen in ein Paar greller weißer Lichtblitze. Da hatte sie einen Anflug von Angst empfunden, fiel ihr jetzt wieder ein, während sie auf ein anderes Brett im Licht einer SechsBatterien-Taschenlampe sah, aber ihre Bemerkung zu dem Mädchen mit dem Pferdegesicht war ihr wieder eingefallen - es war nur ein Spiel, um Himmels willen, und was konnte inmitten einer Gruppe kichernder Mädchen denn schon Schreckliches passieren? Nadine konnte sich keine ungünstigere Atmosphäre für Geister, böse oder andere, vorstellen. »Alles ruhig«, befahl Kachel. »Geister, habt ihr eine Botschaft für unsere Schwester und Musterschülern! Nadine Cross?« Das Brett bewegte sich nicht. Nadine verspürte gelinde Verlegenheit. »Lene-meene-kurze-Beene«, sagte das Mädchen, das Boris Karloff nachgeahmt hatte, mit einer gleichermaßen erfolgreichen BullwinkleMooseStimme. »Die Geister sprechen gleich« Erneutes Kichern. »Pssst!« befahl Kachel. Nadine entschied, wenn die beiden anderen Mädchen nicht bald anfingen, das Brett zu bewegen, damit es die alberne Botschaft schrieb, die sie für sie hatten, würde sie es selbst machen - es herumrücken, damit es etwas Kurzes und Dummes buchstabierte, beispielsweise BUH!, damit sie die Hausaufgaben bekommen und gehen konnte. Als sie gerade versuchen wollte, das zu machen, bewegte sich der Bleistift heftig unter ihren Fingern. Der Bleistift hinterließ einen dunklen diagonalen Riß auf der frischen Seite. »He! Nicht grob werden, Geister«, sagte Kachel mit vage nervöser Stimme. »Warst du das, Nadine?« »Nein.« »Janey.« »Hm -hmm. Ehrlich.« Das Brett zuckte wieder, so daß ihre Finger beinahe abrutschten, und raste in die linke obere Ecke des Papiers. »Puh«, sagte Nadine. »Habt ihr gespürt...« Sie spürten es, alle, obwohl weder Kachel noch Jane Fargood später mit ihr darüber sprechen wollten. Nach diesem Abend war sie auch in keinem Zimmer der beiden Mädchen mehr besonders gern gesehen gewesen. Danach war es, als hätten sie beide etwas Angst gehabt, ihr zu nahe zu kommen. Plötzlich fing das Brett an, unter ihren Fingern zu vibrieren; es war, als würde man den Kühler eines Autos im Leerlauf anfassen. Die Vibration war konstant und beängstigend. So eine Bewegung konnte kein Mensch in aller Heimlichkeit erzeugen. Die Mädchen waren still geworden. Sie hatten alle einen eigentümlichen Gesichtsausdruck, den Gesichtsausdruck von Menschen, die an einer Seance teilgenommen haben, bei der etwas unerwartet Echtes passiert ist - wenn der Tisch sich bewegt, wenn unsichtbare Knöchel an die Wand klopfen, wenn rauchgraues Ektoplasma aus den Nasenlöchern des Mediums quillt. Es ist ein blasser, abwartender Gesichtsausdruck, halb wird gewünscht, das Angefangene möge aufhören, halb, es soll weitergehen. Es ist ein Ausdruck grausiger, verwirrter Aufregung... und mit diesem speziellen Ausdruck sieht das menschliche Gesicht dem Totenschädel, der einen halben Zentimeter unter der Haut verborgen ist, am ähnlichsten. »Aufhören!« rief das Mädchen mit dem Pferdegesicht plötzlich. »Hört sofort auf, sonst werdet ihr es bereuen!« Und Jane Fargood schrie mit panischer Stimme: »Ich kann die Finger nicht wegnehmen!« Jemand stieß einen kurzen unterdrückten Schrei aus. Im selben Augenblick wurde Nadine bewußt, daß ihre Finger auch an dem Brett festklebten. Die Armmuskeln wölbten sich vor Anstrengung, die Fingerspitzen von dem Brett wegzuziehen, aber sie blieben, wo sie waren. »Also gut, der Spaß ist vorbei«, sagte Kachel mit gepreßter, furchtsamer Stimme. »Wer...« Und plötzlich fing der Bleistift an zu schreiben. Er bewegte sich blitzschnell, zog ihre Finger mit sich, zerrte ruckartig ihre Arme herum, was komisch gewirkt hätte, wären da nicht die hilflosen, gequälten Mienen auf den Gesichtern aller drei Mädchen gewesen. Nadine dachte später, es war, als hätten ihre Arme in einer Trainingsmaschine festgesteckt. Die vorherigen Botschaften waren mit steifen, krakeligen Buchstaben geschrieben gewesen - Botschaften, die aussahen, als hätte ein Siebenjähriger sie verfaßt. Diese Buchstaben waren ebenmäßig und nachdrücklich... große, schräge Großbuchstaben, die über das weiße Papier verliefen. Sie hatten etwas Übermütiges und Teuflisches. NADINE, NADINE, NADINE, schrieb der wirbelnde Bleistift. WIE ICH NADINE LIEBE DASS SIE MEIN IST LIEBE MEINE NADINE MEINE KÖNIGIN WENN DU WENN DU WENN DU REIN FÜR MICH BIST WENN DU UNBERÜHRT FÜR MICH BIST WENN DU WENN DU TOT FÜR MICH BIST TOT DU BIST Der Bleistift zuckte, raste und fing weiter unten wieder an. DU BIST TOT WIE DIE ANDEREN DU BIST IM BUCH DER TOTEN ZUSAMMEN MIT DEN ANDEREN NADINE IST TOT WIE SIE NADINE VERFAULT WIE SIE WENN SIE NICHT Er hörte auf. Pulsierte. Nadine dachte, hoffte - oh, hoffte so sehr -, daß es vorbei wäre, aber dann raste er an den Rand des Papiers und fing noch einmal an. Jane kreischte kläglich. Die Gesichter der anderen Mädchen waren erschrockene weiße Os des Staunens und der Fassungslosigkeit. DIE WELT DIE WELT BALD IST DIE WELT TOT UND WIR WIR WIR NADINE NADINE ICH ICH ICH WIR WIR SIND WIR SIND WIR Jetzt schienen die Buchstaben über die Seite zu schreien: WIR SIND IM HAUS DER TOTEN NADINE Das letzte Wort heulte in zentimetergroßen Buchstaben über das Papier, dann rutschte der Bleistift vom Brett und ließ dabei eine lange Graphitspur wie einen Schrei zurück. Er fiel auf den Boden und zerbrach in zwei Hälften. Es folgte ein Augenblick erschrockenen, reglosen Schweigens, dann fing Jane Fargood schrill und hysterisch zu weinen an. Es hatte damit geendet, daß die Herbergsmutter nach oben gekommen war und nach dem Rechten gesehen hatte, fiel Nadine wieder ein, und sie hatte schon die Krankenstation wegen Jane anrufen wollen, als das Mädchen sich endlich wieder zusammenreißen konnte. Rachel Timms hatte die ganze Zeit über blaß und stumm auf dem Bett gesessen. Als die Herbergsmutter und die meisten anderen Mädchen (auch das Mädchen mit dem Pferdegesicht, das zweifellos der Überzeugung war, daß eine Prophetin im eigenen Land nichts gilt) gegangen waren, fragte sie Nadine mit tonloser, seltsamer Stimme: »Wer war es, Nadine?« »Ich weiß nicht«, hatte Nadine aufrichtig geantwortet. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt. Damals nicht. »Du hast die Handschrift nicht erkannt?« »Nein.« »Nun, vielleicht nimmst du einfach diese Botschaft... diese Botschaft aus dem Jenseits... und gehst auf dein Zimmer.« »Du hast mich aufgefordert, mich dazuzusetzen!« fuhr Nadine sie an. »Woher sollte ich wissen, daß so... so etwas passieren würde? Ich habe mitgemacht, weil ich nicht unhöflich sein wollte, Herrgott noch mal!« Rachel besaß wenigstens soviel Anstand, daraufhin zu erröten; sie hatte sich sogar ein bißchen entschuldigt. Aber danach hatte Nadine das Mädchen kaum noch zu Gesicht bekommen; dabei war Rachel Timms eines der wenigen Mädchen gewesen, denen sich Nadine in den ersten drei Semestern am College wirklich verbunden gefühlt hatte. Bis heute hatte sie niemals mehr eine dieser dreieckigen Spinnen aus Hartfaser angefaßt. Aber die Zeit war... nun, die Zeit war endlich gekommen, oder nicht? Ja, wahrhaftig. Nadine setzte sich mit klopfendem Herzen auf die Picknickbank und drückte die Finger leicht gegen zwei der drei Seiten des Bretts. Sie spürte fast auf der Stelle, wie es sich unter ihren Fingerspitzen zu bewegen anfing, und mußte an ein Auto mit Motor im Leerlauf denken. Aber wer war der Fahrer? Wer war er wirklich? Wer würde einsteigen, die Tür zuschlagen, die braungebrannten Hände um das Lenkrad klammern? Wessen Fuß würde brutal und gewichtig, mit einem alten, zerschlissenen Cowboystiefel angetan, aufs Gaspedal treten und sie fortbringen... wohin? Fahrer, wohin bringst du uns? Nadine, die weder auf Hilfe noch auf Erlösung hoffte, saß aufrecht auf der Bank am Fuß des Flagstaff Mountain in der schwarzen Senke des frühen Morgens, riß die Augen auf und empfand das Gefühl, an der Grenze zu stehen, stärker denn je. Sie sah nach Osten, spürte seine Präsenz aber hinter sich, wie sie sich heftig an sie drängte, sie hinabzog wie an den Füßen einer toten Frau festgebundene Gewichte: Flaggs dunkle Präsenz, die in konstanten, unentrinnbaren Wogen übermittelt wurde. Irgendwo war der dunkle Mann in der Nacht unterwegs, und sie sprach die drei Worte wie eine Beschwörung aller bösen Geister aus, die jemals existierten - Beschwörung und Aufforderung zugleich: »Sag es mir.« Unter ihren Fingern fing das Brett an zu zucken. 54 Auszüge aus dem Protokoll der  Sitzung des ständigen Komitees der Freien Zone  19. August 1990 Diese Sitzung fand in Stu Redmans und Fran Goldsmiths Wohnung statt. Alle Mitglieder des Komitees der Freien Zone waren anwesend. Stu Redman gratulierte uns allen, einschließlich sich selbst, zu unserer Wahl in das ständige Komitee. Er stellte den Antrag, einen Dankesbrief an Harold Lauder abzufassen und von jedem Mitglied des Komitees unterzeichnen zu lassen. Dieser wurde einstimmig angenommen. Stu: »Wenn wir die alten Sachen erledigt haben, hat Glen Bateman ein paar neue Themen. Ich weiß ebensowenig, worum es sich handelt, wie ihr, aber ich nehme an, eines davon hat mit der nächsten öffentlichen Versammlung zu tun. Richtig, Glen?« Glen: »Ich warte ab, bis ich dran bin.« Stu: »Typisch Platte. Der Hauptunterschied zwischen einem Betrunkenen und einem alten glatzköpfigen Collegeprofessor ist der, daß der Professor wartet, bis er an der Reihe ist, bevor er einem das Ohr vollschwätzt.« Glen: »Danke für diese Perlen der Weisheit, Ost-Texaner.« Fran sagte, sie würde sehen, daß Stu und Glen sich prächtig amüsierten, aber ob sie nicht vielleicht doch zur Sache kommen konnten, da ihre Lieblingssendungen im Fernsehen alle um neun anfingen. Diese Bemerkung erntete mehr Gelächter, als sie wahrscheinlich verdient hatte. Der erste richtige Tagesordnungspunkt waren unsere Kundschafter im Westen. Zur Erinnerung, das Komitee hat entschieden, Richter Farris, Tom Cullen und Dayna Jürgens zu schicken. Stu schlug vor, wer den jeweiligen Kandidaten nominiert habe, solle ihm auch den Vorschlag unterbreiten - will heißen, Larry Underwood fragt den Richter, Nick wird mit Tom reden müssen - mit Ralph Brentners Hilfe - und Sue wird mit Dayna reden. Nick sagte, es könnte ein paar Tage erfordern, mit Tom zu arbeiten, und Stu sagte, damit wäre wohl das Thema angeschnitten, wann man sie schicken sollte. Larry sagte, man könnte sie nicht zusammen schicken, sonst würden sie möglicherweise alle zusammen erwischt werden. Er führte weiter aus, daß sowohl der Richter wie auch Dayna sicher vermuten würden, daß wir mehr als einen Spion geschickt hätten, aber wenn sie keine Namen wüßten, könnten sie auch nichts ausplaudern. Fran meinte, plaudern wäre kaum das richtige Wort, wenn man überlegte, was der Mann im Westen mit ihnen anstellen konnte - wenn es ein Mann war. Glen: »Ich an deiner Stelle würde nicht alles so schwarz sehen, Fran. Wenn wir unserem Gegenspieler auch nur ein Minimum an Intelligenz unterstellen, wird er wissen, daß wir unseren Agenten - so könnte man sie wohl nennen - keine Informationen mitgeben, die wir als seinen Interessen dienlich betrachten. Er wird wissen, daß ihm Folter wenig nützen wird.« Fran: »Du meinst, er wird ihnen wahrscheinlich die Köpfe streicheln und sie ermahnen, es nicht noch mal zu tun? Ich könnte mir denken, er foltert sie einfach aus dem Grund, weil ihm Folter gefällt. Was sagst du dazu?« Glen: »Ich glaube, dazu kann ich nicht viel sagen.« Stu: »Die Entscheidung wurde getroffen, Frannie. Wir waren uns alle einig, daß wir unsere Leute in eine gefährliche Situation schicken, und wir wissen auch alle, daß uns die Entscheidung nicht leichtgefallen ist.« Glen schlug vor, daß wir uns vorbehaltlich auf folgenden Zeitplan einigen: Der Richter bricht am 26. August auf, Dayna am 27. und Tom am 28.; keiner weiß von den anderen, jeder benützt eine andere Straße. Damit bliebe auch genügend Zeit, mit Tom zu arbeiten, fügte er hinzu. Nick sagte, mit Ausnahme von Tom Cullen, der durch posthypnotische Suggestion gesagt bekommen würde, wann er zurückkommen mußte, würden die anderen sich auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen und den Zeitpunkt für ihre Rückkehr selbst bestimmen müssen, aber das Wetter könnte zu einem Faktor werden - in der ersten Oktoberwoche kann es in den Bergen schon heftig schneien. Nick schlug vor, ihnen zu raten, sich nicht länger als drei Wochen im Westen aufzuhalten. Fran meinte, sie könnten nach Süden ausweichen, wenn in den Bergen früh Schnee fiel, aber Larry widersprach und gab zu bedenken, daß die Sangre-deCristo-Kette im Wege war, wenn sie nicht bis runter nach Mexiko auswichen. Wenn sie das machten, würden wir sie wahrscheinlich erst im Frühjahr wiedersehen. Larry sagte, wenn das der Fall war, sollte man dem Richter lieber einen Vorsprung geben. Er schlug den 21. August vor, übermorgen. Damit war das Thema Kundschafter - oder Spione, wenn man so will - abgehandelt. Dann wurde Glen das Wort erteilt; ich zitiere jetzt die Tonbandaufzeichnung: Glen: »Ich möchte beantragen, daß wir eine weitere öffentliche Versammlung für den 25. August einberufen und schlage einige Punkte vor, die auf dieser Versammlung angesprochen werden sollten. Zu Anfang möchte ich auf etwas hinweisen, das euch vielleicht überraschen wird. Wir haben angenommen, daß sich etwa sechshundert Leute in der Zone aufhalten; Ralph hat über die größeren Gruppen, die eingetroffen sind, bewundernswert genau Buch geführt, und auf diesen Zahlen basieren unsere Schätzungen der Bevölkerungszahl. Aber es sind auch Leute tröpfchenweise eingetrudelt, manchmal bis zu zehn pro Tag. Ich bin darum heute mit Leo Rockway zum Chautauqua-Auditorium gegangen, und wir haben die Stühle gezählt. Es sind sechshundertsieben Stück. Sagt euch das etwas?« Sue Stern meinte, das könnte nicht stimmen, denn viele, die keinen Sitzplatz bekamen, hätten in den Gängen gesessen oder hinten gestanden. Dann verstanden wir alle, worauf Glen hinaus wollte, und man könnte sagen, das Komitee war wie vom Donner gerührt. Glen: »Wir können nicht abschätzen, wie viele Stehplätze und Sitzplätze in den Gängen belegt waren, aber ich kann mich noch gut an die Versammlung erinnern und würde sagen, hundert wäre eine ziemlich zurückhaltende Schätzung. Ihr seht also, wir haben schon über siebenhundert Menschen hier in der Zone. Als Folge der Entdeckung, die Leo und ich heute gemacht haben, würde ich beantragen, daß wir als einen Punkt auf die Tagesordnung der nächsten Versammlung ein Volkszählungskomitee setzen.« Ralph: »Hol's der Teufel! Das hat aber gesessen!« Glen: »Es ist nicht deine Schuld. Du hast schätzungsweise ein halbes Dutzend Eisen im Feuer, und wir sind uns alle einig, daß du sie hervorragend geschmiedet hast...« Larry: »Das kann man wohl sagen.«, Glen: »...aber selbst wenn nur vier Vereinzelte täglich eingetroffen sind, macht das fast dreißig pro Woche. Meiner Schätzung nach sind es aber eher zwölf bis vierzehn. Wißt ihr, sie kommen nicht einfach zu einem von uns und stellen sich vor, und da Mutter Abagail nicht da ist, haben sie keinen Anlaufpunkt nach ihrem Eintreffen.« Daraufhin unterstützte Fran Goldsmith Glens Antrag, daß das Komitee ein Volkszählungskomitee auf die Tagesordnung der Sitzung am 25. August setzen sollte. Besagtes Komitee sollte dafür verantwortlich sein, jeden Einwohner der Freien Zone zu erfassen. Larry: »Ich bin auch dafür, wenn es einen stichhaltigen, praktischen Grund dafür gibt. Aber...« Nick: »Aber was, Larry?« Larry: »Nun, haben wir nicht genügend anderes, um das wir uns Sorgen machen müssen, auch ohne Korinthenkackerei und kleinkarierte Bürokratie?« Fran: »Mir fällt gleich ein stichhaltiger Grund ein, Larry.« Larry: »Was für einer?« Fran: »Nun, wenn Glen recht hat, bedeutet das, wir brauchen für die nächste Versammlung einen größeren Saal. Das ist eines. Wenn wir bis zum fünfundzwanzigsten achthundert Menschen hier haben, bekommen wir die nie alle ins Chautauqua Auditorium gequetscht.« Ralph: »Herrgott, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Ich habe euch ja gesagt, daß ich für diese Arbeit nicht geeignet bin.« Stu: »Ruhig, Ralph, du machst das großartig.« Sue: »Und wo sollen wir die verdammte Versammlung abhalten?« Glen: »Moment mal, Moment mal. Eins nach dem anderen. Es ist ein Antrag eingebracht worden!« Es wurde 7:0 beschlossen, das Volkszählungskomitee auf die Tagesordnung der nächsten öffentlichen Versammlung zu setzen. Stu schlug daraufhin vor, wir sollten die Versammlung am 25. August im Munzinger Auditorium der C.U. abhalten, das eine größere Kapazität hat - wahrscheinlich über tausend. Dann bat Glen wieder ums Wort, das ihm erteilt wurde. Glen: »Bevor wir fortfahren, möchte ich noch darauf hinweisen, dass es noch einen guten Grund für das Volkszählungskomitee gibt, und der ist wichtiger als die Frage, wieviel Snacks und Chipstüten wir zu den Versammlungen mitbringen müssen. Wir sollten wissen, wer kommt, aber wir sollten auch wissen, wer geht. Ich glaube nämlich, daß auch welche gehen, wißt ihr. Vielleicht ist es nur Paranoia, aber ich könnte schwören, daß es Gesichter gibt, an die ich mich gewöhnt habe, die einfach nicht mehr da sind. Wie auch immer, als wir im Chautauqua Auditorium fertig waren, sind Leo und ich zu Charlie Impenings Haus gefahren. Und wißt ihr was? Das Haus ist leer, Charlies Sachen sind fort, und Charlies BSA auch.« Aufruhr des Komitees, auch Schimpfworte, die zwar durchaus phantasievoll waren, aber in diesem Protokoll nichts zu suchen haben. Daraufhin fragte Ralph, was es uns nützen würde, zu wissen, wer geht. Er sagte, wenn Leute wie Impening sich auf die Seite des dunklen Mannes schlagen wollten, sollten wir doch froh sein, daß wir sie los sind. Mehrere Mitglieder des Komitees spendeten Ralph Beifall, der wie ein Schuljunge errötete, wie ich hinzufügen möchte. Sue: »Nein, ich verstehe Glen. Es wäre wie ein konstanter Informationsabfluß.« Ralph: »Und was können wir machen? Sie ins Gefängnis stecken?« Glen: »So häßlich es sich anhören mag, ich glaube, wir sollten ernsthaft darüber nachdenken.« Fran: »Nein, Sir. Spione schicken... damit werde ich fertig. Aber Leute, die hierhergekommen sind, einsperren, weil ihnen nicht gefällt, was wir machen? Himmel, Glen! Das sind Polizeistaatmethoden!« Glen: »Ja, genau darauf läuft es hinaus. Aber unsere Situation hier ist äußerst prekär. Du bringst mich in eine Position, wo ich Repressionen befürworten muß, und das ist ziemlich unfair. Ich habe nur gefragt, ob ihr es angesichts unseres Gegenspielers dulden wollt, daß Informationen abfließen.« Fran: »Es gefällt mir trotzdem nicht. In den fünfziger Jahren hatte Joe McCarthy den Kommunismus. Wir haben den dunklen Mann. Wie schön für uns.« Glen: »Fran, möchtest du das Risiko eingehen, daß jemand mit einer Information von entscheidender Wichtigkeit von hier verschwindet? Zum Beispiel, daß Mutter Abagail fort ist.« Fran: »Das kann Charlie Impening ihm sagen. Was haben wir sonst für Informationen von entscheidender Wichtigkeit, Glen? Wandern wir nicht größtenteils ahnungslos und unbedarft durch die Gegend?« Glen: »Soll er unsere zahlenmäßige Stärke erfahren? Wie wir im technischen Bereich vorankommen? Daß wir nicht einmal einen Arzt haben?« Fran sagte, das wäre ihr lieber, als Leute einzusperren, weil ihnen nicht gefällt, wie wir die Angelegenheiten in die Hand nehmen. Stu beantragte, daß wir die Diskussion darüber, Leute wegen andersartiger Meinungen einzusperren, vertagen sollten. Der Antrag wurde mit Glens Gegenstimme verabschiedet. Glen: »Ihr solltet euch lieber damit abfinden, daß ihr euch früher oder später damit auseinandersetzen müßt, wahrscheinlich früher. Schlimm genug, daß Charlie Impening Flagg sein Herz ausschütten kann. Ihr müßt euch fragen, ob ihr das, was Impening weiß, mit einem theoretischen Faktor X multiplizieren wollt. Gut, vergeßt es, ihr habt abgestimmt, die Sache ist vom Tisch. Aber noch etwas... wir sind ohne zeitliche Begrenzung gewählt, ist das schon jemandem aufgefallen? Wir wissen nicht, ob wir sechs Wochen, sechs Monate oder sechs Jahre im Amt sind. Mein Vorschlag wäre ein Jahr... damit dürfte das Ende vom Anfang erreicht sein, um Harolds Ausdruck zu gebrauchen. Ich würde den Zeitraum von einem Jahr auch gerne auf der Tagesordnung der nächsten Sitzung sehen. Jetzt noch ein Punkt, dann bin ich fertig. Regierung durch Stadtversammlungen - das haben wir grundsätzlich momentan hier, mit uns als gewählten Repräsentanten der Stadt - wird noch eine Weile prima funktionieren, bis wir dreitausend Leute oder so hier haben, aber wenn die Sache zu groß wird, werden sich hauptsächlich Cliquen und Leute einfinden, die ein Anliegen haben... Trinkwasserfluoridierung macht unfruchtbar, Leute, die eine bestimmte Flagge wollen, und so weiter. Mein Vorschlag wäre, dass wir uns alle die Köpfe darüber zerbrechen, wie wir Boulder bis Winter, spätestens nächsten Frühling, in eine Republik verwandeln können.« Glens letzter Vorschlag wurde formlos diskutiert, aber während dieser Versammlung wurde noch nichts unternommen. Nick bat ums Wort und gab Ralph etwas zum Lesen. Nick: »Ich schreibe das am Morgen des 19. und möchte es Ralph heute abend geben, damit er es als letzten Punkt vorliest. Manchmal ist es schwer, stumm zu sein, aber ich habe versucht, alle möglichen Folgen meines Vorschlags durchzudenken. Ich möchte auf die Tagesordnung unserer nächsten öffentlichen Versammlung gerne folgende Anfrage setzen: Ob die Freie Zone ein Ministerium für Recht und Ordnung mit Stu Redman als Chef einberufen soll.« Stu: »Wie kannst du mich mit so was überfallen, Nick?« Glen: »Interessant. Geht auf das zurück, was wir gerade besprochen haben. Laß ihn zu Ende lesen - Stuart, du bekommst noch Gelegenheit zu sprechen. « Nick: »Sitz dieses Ministeriums für Recht und Ordnung sollte das County-Gerichtsgebäude von Boulder sein. Stu bekommt die Macht, bis zu dreißig Mann als Ordnungshüter zu ernennen, bei mehr als dreißig muß die Mehrheit des Komitees der Freien Zone die Zustimmung erteilen, bei mehr als siebzig muß die Mehrheit der Freien Zone in einer öffentlichen Sitzung zustimmen. Das ist eine Resolution, die ich auf der nächsten Tagesordnung sehen möchte. Wir können selbstverständlich zustimmen, bis wir schwarz im Gesicht sind, wenn Stu nicht mitmacht.« Stu: »Stimmt genau!« Nick: »Wir sind so groß geworden, daß wir ein Gesetz brauchen. Ohne geht es nicht mehr. Wir hatten den Fall des jungen Gehringer, der mit seinem Fastcar die Pearl Street auf und ab gerast ist. Zuletzt hat er einen geparkten Wagen gerammt und Glück gehabt, daß er mit einer Stirnwunde davongekommen ist. Er hätte sich oder andere umbringen können. Jeder, der ihn gesehen hat, wußte genau, dass es nur Ärger geben wird, M-O-N-D, und das buchstabiert man Ärger, wie Tom sagen würde. Aber keiner hat ihn aufgehalten, weil keiner sich dazu befugt glaubte. Das war nur ein Fall. Dann Rieh Moffat. Wahrscheinlich wissen einige von euch, wer Rieh ist, aber für diejenigen, die es nicht wissen, er ist wahrscheinlich der einzige schwere Alkoholiker der Zone. Wenn er nüchtern ist, ist er ein passabler Kerl, aber wenn er getrunken hat, wird er völlig unberechenbar, und er ist oft betrunken. Vor drei oder vier Tagen hat er sich vollaufen lassen und beschlossen, jede Schaufensterscheibe in der Arapahoe einzuschlagen. Als er ein bißchen nüchtern geworden war, habe ich mit ihm darüber gesprochen - natürlich auf meine Art, ihr wißt schon, schriftlich -, und er hat sich ziemlich geschämt. Er deutete hinter sich und sagte: >Sieh dir das an. Das war ich. Überall Glas auf dem Gehweg. Und wenn sich nun ein Kind verletzt? Dann bin ich schuld.<« Ralph: »Dafür habe ich kein Verständnis. Gar keins.« Fran: »Komm schon, Ralph. Jeder weiß, daß Alkoholismus eine Krankheit ist.« Ralph: »Daß ich nicht lache, Krankheit! Mangel an Selbstbeherrschung, das ist es.« Stu: »Und ich rufe euch beide zur Ordnung. Regt euch wieder ab.« Ralph: »Tut mir leid, Stu. Ich werde mich damit begnügen, Nicks Brief hier vorzulesen.« Fran: »Und ich bin mindestens zwei Minuten still, Herr Vorsitzender. Ich verspreche es.« Nick: »Langer Rede kurzer Sinn, ich habe Rieh einen Besen besorgt, und er hat das meiste zusammengefegt. Sogar recht ordentlich. Aber er hatte recht zu fragen, warum ihn keiner daran gehindert hat. Früher konnte ein Mann wie Rieh hochprozentiges Zeug gar nicht bekommen; Leute wie Rieh waren Wermutbrüder. Aber heute warten unglaubliche Mengen Schnaps in den Läden nur darauf, daß sie von den Regalen geholt werden. Im übrigen bin ich der Meinung, daß er spätestens nach dem zweiten Fenster hätte aufgehalten werden müssen, aber er hat auf der Südseite der Straße über drei Blocks hinweg sämtliche Fenster eingeschlagen. Er hat nur aufgehört, weil er müde wurde. Und noch ein Beispiel: Wir hatten einen Fall, wo ein Mann, dessen Namen ich nicht nennen will, herausgefunden hat, daß seine Frau, deren Namen ich ebenfalls nicht nenne, ihr Mittagsschläfchen mit einer dritten Partei verbracht hat. Ich glaube, ihr wißt alle, wen ich meine.« Sue: »Ja, ich glaube auch. Groß mit den Fäusten.« Nick: »Jedenfalls hat der fragliche Mann die dritte Partei zusammengeschlagen, und danach die Frau. Ich denke, es kommt uns nicht so sehr darauf an, wer recht oder unrecht hatte...« Glen: »Da täuschst du dich, Nick.« Stu: »Laß den Mann ausreden, Glen.« Glen: »Das werde ich, aber auf den Punkt möchte ich noch einmal zurückkommen.« Stu: »Gern. Weiter, Ralph.« Ralph: »Jawoll - ist sowieso bald zu Ende.« Nick: »... entscheidend ist, der fragliche Mann hat ein Verbrechen begangen, Tätlichkeiten und Prügel, und er läuft frei herum. Von den drei Fällen machen sich Normalbürger deswegen am meisten Sorgen. Wir haben eine Schmelztiegelgesellschaft, einen regelrechten Eintopf; es wird zu allen möglichen Konflikten und Unstimmigkeiten kommen. Ich glaube, keiner von uns möchte eine Situation wie in einem Grenzposten hier. Stellt euch einmal vor, der Mann hätte sich einen Fünfundvierziger aus der Pfandleihe geholt und die beiden nicht zusammengeschlagen, sondern erschossen. Dann hätten wir einen Mörder, der frei herumläuft.« Sue: »Mein Gott, Nicky, was soll das sein? Das Wort zum Sonntag?« Larry: »Klar, klingt nicht schön, aber er hat recht. Es gibt in der Armee ein altes Sprichwort, das lautet: >Was schiefgehen kann, geht auch schief.<« Nick: »Stu ist unser privater und öffentlicher Sprecher, was bedeutet, die meisten sehen ihn schon als Autoritätsfigur. Und ich persönlich finde, Stu ist ein guter Mann.« Stu: »Danke für die netten Worte, Nick. Ich glaube, dir ist nie aufgefallen, daß ich Plateausohlen trage. Aber im Ernst - ich nehme die Nominierung an, wenn ihr es wollt. Ich will den elenden Job eigentlich nicht - soweit ich mich an Texas erinnern kann, besteht Polizeiarbeit hauptsächlich darin, sich die Kotze vom Hemd zu wischen, wenn ein Typ wie Rieh Moffat einen vollgereihert hat, oder Dummköpfe wie den kleinen Gehringer von der Straße abzukratzen. Ich möchte nur, daß wir, wenn es in der öffentlichen Versammlung angesprochen wird, ebenfalls einen Zeitraum von einem Jahr festlegen, wie beim Komitee. Und ich möchte klarstellen, daß ich nach Ablauf dieses Jahres abtrete. Wenn das akzeptabel ist, okay.« Glen: »Ich glaube, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, daß es das ist. Ich möchte Nick für seinen Antrag danken und fürs Protokoll festhalten, daß ich dies für einen Geniestreich halte. Ich unterstütze den Antrag.« Stu: »Okay, der Antrag wurde gestellt. Eine Diskussion?« Fran: »Ja, ich wünsche eine Diskussion. Ich hab' eine Frage. Was ist, wenn dir jemand den Kopf wegpustet?« Stu: »Ich glaube nicht...« Fran: »Nein, du glaubst nicht. Du glaubst es nicht. Aber was wird Nick mir erzählen, wenn es sich herausstellt, daß ihr alle falsch denkt? Oh, tut mir leid, Fran. Wird er das sagen? Dein Mann liegt mit einem Einschußloch im Kopf unten im Gerichtsgebäude; wir haben wohl einen Fehler gemacht. Heilige Maria und Josef, ich bekomme ein Baby, und ihr wollt, daß er Pat Garett spielt!« Es folgte eine Diskussion von zehn Minuten, die teilweise irrelevant war, und eure pflichtbewußte Protokollführerin Fran fing an zu weinen, hatte sich aber bald wieder in der Gewalt. Die Abstimmung, Stu zum Marshal der Freien Zone zu machen, ging 6:1 aus, und diesmal änderte Fran ihre Meinung nicht. Glen bat noch einmal ums Wort, bevor die Sitzung geschlossen wurde. Glen: »Dies sind wieder ein paar Gedanken, über die wir nicht abstimmen müssen, aber nachdenken sollten. Ich möchte den letzten der drei Fälle aufgreifen, die Nick beschrieben hat. Er beschrieb den Fall und sagte abschließend, es ginge nicht darum, wer recht oder unrecht hat. Ich finde, da irrt er sich. Stu ist einer der gerechtesten Männer, die ich je kennengelernt habe. Aber die Einhaltung von Gesetzen ohne Gerichte ist keine Gerechtigkeit. Es wäre Volksjustiz, Faustrecht. Nehmen wir an, der Mann, den wir alle kennen, hätte einen Fünfundvierziger gehabt und seine Frau und ihren Geliebten erschossen. Und nehmen wir weiter an, Stu als unser Marshal hätte ihn am Schlafittchen gepackt und in den Bunker gesteckt. Was dann? Wie lange könnten wir ihn eingesperrt lassen? Von Rechts wegen könnten wir ihn überhaupt nicht einsperren, denn in der Verfassung, die wir gestern abend angenommen haben, steht ausdrücklich, daß ein Mann als unschuldig zu gelten hat, bis seine Schuld vor einem ordentlichen Gericht erwiesen wurde. Nun wissen wir natürlich alle, daß wir ihn einsperren würden, wenn er frei herumläuft! Wir würden es also tun, obwohl es gegen die Verfassung wäre, denn wenn Sicherheit und Verfassungsmäßigkeit nicht zu vereinbaren sind, muß Sicherheit den Vorrang haben. Wir müssen also Sicherheit und Verfassungsmäßigkeit so schnell wie möglich in Übereinstimmung bringen. Wir müssen über eine Gerichtsbarkeit nachdenken.« Fran: »Das ist sehr interessant, und ich stimme zu, daß wir darüber nachdenken sollten, aber ich möchte an dieser Stelle den Antrag einbringen, daß wir die Sitzung beenden. Es ist spät, und ich bin sehr müde.« Ralph: »Mann, den Antrag unterstütze ich. Sprechen wir nächstesmal über Gerichte. Ich habe momentan soviel im Kopf, dass mir ganz schwindlig ist. Den Staat neu zu erfinden ist viel schwieriger, als es am Anfang ausgesehen hat.« Larry: »Amen.« Stu: »Der Antrag, die Sitzung zu beenden, wurde gestellt. Seid ihr einverstanden, Leute?« Der Antrag wurde mit 7:0 Stimmen angenommen. Frances Goldsmith, Protokollführerin  Fran und Stu hatten die anderen zur Tür gebracht und standen noch beisammen in der lauen Sommernacht. Frans Augen waren noch rot vom Weinen während der Versammlung, und Stu fand, daß sie noch nie so müde ausgesehen hatte. »Diese Sache mit dem Marshal...« fing er an. »Stu, darüber möchte ich nicht reden.« »Jemand muß es machen, Liebes. Und Nick hat recht. Ich bin die logische Wahl.«' »Scheiß auf die Logik. Was ist mit mir und dem Kind? Siehst du in uns keine Logik, Stu?« »Ich weiß genau, was du dir für dein Kind wünschst«, sagte er leise. »Hast du es mir nicht oft genug gesagt? Du willst, daß es in eine Welt geboren wird, die nicht total verrückt ist. Du willst, daß er - oder sie - in Sicherheit aufwächst. Das will ich auch. Aber darüber wollte ich vor den anderen nicht sprechen. Das geht nur dich und mich etwas an. Du und das Baby seid der Hauptgrund, weshalb ich okay gesagt habe.« »Das weiß ich«, sagte sie mit leiser, erstickter Stimme. Er legte ihr die Finger unters Kinn und hob ihr Gesicht hoch. Er lächelte sie an, und auch sie versuchte zu lächeln. Es war ein müdes Lächeln, Tränen liefen ihr über die Wangen, aber es war besser als gar kein Lächeln. »Es wird schon alles gut werden«, sagte er. Sie schüttelte langsam den Kopf, und ein paar Tränen flogen in die warme Dunkelheit. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Nein, das kann ich nicht glauben.« Sie lag bis tief in die Nacht wach und dachte, daß Wärme nur durch Feuer entsteht - Prometheus wurde dafür die Leber ausgehackt - und Liebe immer Blutzoll fordert. Eine seltsame Gewißheit, daß sie eines Tages in Blut waten würden, stahl sich über sie wie eine schleichende Betäubung. Bei diesem Gedanken legte sie schützend die Hände auf den Bauch und mußte zum ersten Mal seit Wochen wieder an ihre Träume denken: an den dunklen Mann mit seinem Grinsen... und dem verbogenen Kleiderbügel. Harold Lauder beteiligte sich nicht nur in seiner Freizeit mit einer Gruppe von ausgesuchten Freiwilligen an der Suche nach Mutter Abagail, er arbeitete auch im Beerdigungskomitee mit, und am 21. August saß er mit fünf anderen Männern, die alle Gummistiefel und Schutzkleidung und dicke Latexhandschuhe trugen, hinten auf einem Kipplastwagen. Der Leiter des Beerdigungskomitees, Chad Nords, war draußen auf dem Beerdigungsplatz Nr. 1, wie er ihn mit fast schauerlicher Gelassenheit nannte. Dieser lag zehn Meilen südwestlich von Boulder in einem Gebiet, wo früher Kohle im Tagebau gewonnen wurde. Der Platz lag so kahl und öde wie Mondgebirge unter der glühenden Augustsonne. Chad hatte den Posten widerwillig angenommen, weil er früher Assistent eines Bestattungsinstituts in Morristown, New Jersey, gewesen war. »Dies hat nichts mit einem Beerdigungsunternehmen zu tun«, hatte er heute morgen im Greyhound-Busbahnhof zwischen Arapahoe und Walnut Street gesagt, wo das Komitee seine Operationsbasis hatte. Er zündete sich mit einem Streichholz eine Winston an und grinste den zwanzig Männern zu, die um ihn saßen. »Das heißt, es ist ein Unternehmen, aber kein Geschäft, wenn ihr versteht, was ich meine.« Das erntete gequältes Lächeln, und das von Harold Lauder war das breiteste. Sein Magen knurrte ständig, denn er hatte nicht gewagt zu frühstücken. Er war nicht sicher gewesen, daß er nicht alles wieder von sich geben würde, wenn er an die vor ihm liegende Arbeit dachte. Er hätte sich auch an der Suche nach Mutter Abagail beteiligen können, und kein Mensch hätte ein Widerwort gemurmelt, obwohl jeder denkende Mensch in der Zone (falls es außer ihm denkende Menschen in der Freien Zone gab, was fraglich war) es natürlich für eine recht komische Freizeitbeschäftigung hielt, in den Tausenden von Quadratmeilen großen Wäldern und Ebenen um Boulder nach ihr zu suchen. Und es war sehr gut möglich, daß sie Boulder überhaupt nicht verlassen hatte; daran schien niemand gedacht zu haben (aber das überraschte Harold überhaupt nicht). Sie hätte sich in einem Haus in den Randbezirken einrichten können, und sie würden sie nie finden, wenn sie nicht jedes Haus einzeln durchsuchten. Weder Redman noch Andres hatten protestiert, als Harold vorschlug, nur abends und an Wochenenden nach ihr zu suchen, was Harold verriet, daß auch sie den Fall für abgeschlossen hielten. Er hätte sich damit begnügen können, aber wer macht sich in einer Gemeinschaft am schnellsten beliebt? Wem traut man am meisten? Natürlich dem Mann, der die Dreckarbeit macht, und das auch noch lächelnd. Der Mann, der die Arbeit tut, vor der man sich selbst gern drückt. »Es ist, als würde man Klafterholz vergraben«, hatte Chad zu ihnen gesagt. »Wenn es euch gelingt, es so zu sehen, ist alles okay. Manche werden vielleicht gleich am Anfang kotzen müssen. Das ist keine Schande; aber versucht, es irgendwo zu machen, wo die anderen euch nicht dabei zusehen müssen. Wenn ihr gekotzt habt, fällt es auch leichter, so zu denken: Klafterholz. Nur Klafterholz.« Die Männer sahen einander unbehaglich an. Chad teilte sie in drei Gruppen zu sechs Mann auf. Er und die beiden überzähligen Männer bereiteten die Plätze für die Leichen vor. Jeder der drei Gruppen wurde ein bestimmter Stadtteil zugeteilt. Harolds Gruppe sollte den Tag in Table Mesa verbringen, wo sie sich von der Abfahrt Denver-Boulder langsam nach Westen vorarbeiteten. Martin Drive hinauf zur Kreuzung Broadway. Thirty-ninth Street hinunter, Fortieth Street wieder hinauf, an Reihenhäusern entlang, die vor dreißig Jahren zur Zeit von Boulders Bevölkerungsboom gebaut worden waren, einstöckige Häuser mit Souterrain. Chad hatte aus dem hiesigen Arsenal der Nationalgarde Gasmasken besorgt, aber die benötigten sie erst nach dem Mittagessen (Mittagessen? Was für ein Mittagessen? Das von Harold bestand aus einer Dose Berry's Apfelkuchenfüllung; mehr brachte er nicht hinunter), als sie die Kirche der Heiligen der letzten Tage am unteren Table Mesa Drive betraten. Dorthin waren sie von der Seuche gezeichnet gekommen, dort waren sie gestorben, über siebzig, und der Gestank war grauenhaft. »Klafterholz«, hatte einer der Männer aus Harolds Gruppe mit hoher, angewiderter, pieksender Stimme gesagt, und Harold drehte sich um und stolperte an ihm vorbei nach draußen. Er lief hinter ein hübsches Ziegelgebäude, das in Wahljahren als Wahllokal gedient hatte, dort kam ihm Berry's Apfelkuchenfüllung wieder hoch, und er stellte fest, daß Norris recht gehabt hatte: ohne sie ging es ihm besser. Sie mußten zweimal fahren und brauchten fast den ganzen Nachmittag, bis die Kirche leer war. Zwanzig Männer, dachte Harold, um alle Leichen in Boulder zu beseitigen. Das ist fast komisch. Die meisten früheren Bewohner Boulders waren zwar aus Angst vor dem metereologischen Institut wie die Kaninchen geflohen, aber dennoch... selbst wenn sie die Beerdigungstrupps mit dem Anwachsen der Bevölkerung verstärkten, würden sie es gerade so schaffen, vor den ersten schweren Schneefällen alle Leichen unter die Erde zu bekommen (er selbst würde dann natürlich nicht mehr hier sein), und die meisten Leute würden nie erfahren, wie groß die Gefahr einer neuen Seuche war - eine, gegen die sie nicht immun waren. Das Komitee der Freien Zone hat so tolle Einfälle, dachte er voll Verachtung. Und das Komitee würde es schaffen... natürlich nur, solange sie Harold Lauder hatten, der darauf achtete, daß sie die Schnürsenkel gebunden hatten. Dafür war der gute alte Harold gut genug, aber nicht so gut, daß sie ihn in ihr gottverdammtes ständiges Komitee aufgenommen hätten. Himmel, nein. Er war nie gut gewesen, nicht einmal gut genug, um ein Mädchen zum Klassenfest der High School von Ogunquit einzuladen. Gott nein, wir wollen doch nicht Harold Lauder. Wir wollen nicht vergessen, Leute - und jetzt kommen wir zu der sprichwörtlichen Stelle, wo das altbekannte Säuge- und Haustier zur letzten Ruhe gebettet ist -, daß es keine logische Frage ist, nicht einmal eine Frage des gesunden Menschenverstands. In letzter Analyse handelt es sich ganz einfach um einen verdammten Schönheitswettbewerb. Nun, jemand erinnert sich. Jemand schreibt die Punkte auf, Jungs. Und der Name dieses Jemand lautet - könnten wir bitte einen Trommelwirbel haben, Maestro? - Harold Emery Lauder. Er ging in die Kirche zurück, wischte sich den Mund ab, grinste, so gut er konnte, und nickte den anderen zu, daß er weitermachen konnte. Jemand klopfte ihm auf den Rücken; Harolds Grinsen wurde breiter, und er dachte: Eines Tages wirst du dafür deine Hand verlieren, Scheißhaufen. Ihre letzte Tour machten sie um Viertel nach vier, den Lastwagen voll mit den letzten Leichen der letzten Tage. In der Stadt mußte der Lastwagen den liegengebliebenen Fahrzeugen ausweichen, aber auf der Colorado-119 waren den ganzen Tag Abschleppfahrzeuge im Einsatz gewesen und hatten liegengebliebene Autos in den Straßengraben auf beiden Seiten geschafft. Dort lagen sie wie weggeworfenes Spielzeug eines Riesenkindes. Am Beerdigungsplatz parkten schon die beiden anderen orangefarbenen Laster. Die Männer standen neben den Fahrzeugen, hatten die Handschuhe ausgezogen, und ihre Fingerspitzen waren weiß und runzlig, weil sie den ganzen Tag unter Gummi geschwitzt hatten. Sie rauchten und unterhielten sich unzusammenhängend. Die meisten waren blaß. Norris und seine beiden Helfer hatten inzwischen eine Wissenschaft daraus gemacht. Sie rollten eine große Plastikplane auf dem Felsboden aus. Norman Kellogg, der Mann aus Louisiana, der Harolds Laster fuhr, setzte bis zum Rand der Plane zurück. Die hintere Ladeklappe knallte herunter, die ersten Leichen purzelten wie steife Puppen auf die Plastikplane. Harold hätte sich gern abgewandt, fürchtete aber, die anderen könnten es als Schwäche auslegen. Es machte ihm nicht allzuviel aus, sie herauspurzeln zu sehen; es war das Geräusch, das ihn fertigmachte. Das Geräusch, das sie machten, wenn sie auf ihrem zukünftigen Leichentuch aufprallten. Der Motor des Kippers dröhnte tiefer; die Hydraulik jaulte, als die Ladefläche sich hob. Jetzt rollten die Leichen wie ein grotesker menschlicher Regen herunter. Harold empfand einen Augenblick Mitleid, so tief, daß es schmerzte. Klafterholz, dachte er. Wie recht Norris hatte. Mehr ist nicht von ihnen übriggeblieben. Nur... Klafterholz. »Ho!« schrie Chad Norris, und Kellogg fuhr den Kipper weg und machte ihn aus. Chad und seine Helfer sprangen mit Harken auf die Plane, und jetzt drehte sich Harold um und tat so, als wollte er nach Zeichen von Regen am Himmel sehen, und er war nicht der einzige - aber er hörte das Geräusch, das ihn bis in seine Träume verfolgen sollte, und das war das Klimpern des Kleingelds, das aus den Taschen der toten Männer und Frauen fiel, während Chad und seine Helfer die Leichen mit den Harken gleichmäßig verteilten. Die Münzen, die auf Plastik fielen, erzeugten ein Geräusch, das Harold auf absurde Weise an ein Flohhüpfspiel erinnerte. Der ekelerregende süßliche Geruch von Verwesung stieg in die warme Luft auf. Als er wieder hineinsah, zogen die drei die Enden der schweren Plane über die Leichen, daß ihre Armmuskeln sich spannten, und grunzten dabei vor Anstrengung. Ein paar Männer, darunter auch Harold, kamen ihnen zu Hilfe. Zwanzig Minuten später war dieser Teil der Arbeit erledigt, die Plastikplane lag auf dem Boden wie eine riesige Gelatinekapsel. Norris stieg ins Fahrerhaus einer hellgelben Planierraupe und ließ den Motor an. Der zerschrammte Schieber sank herab. Die Planierraupe rollte vorwärts. Ein Mann namens Weizak, ebenfalls von Harolds Laster, verließ die Szene mit den ruckartigen Schritten einer schlecht geführten Marionette. Eine Zigarette zitterte zwischen seinen Fingern. »Mann, das kann ich nicht sehen«, sagte er, als er an Harold vorbeiging. »Es ist wirklich komisch. Bis heute war mir nicht bewußt, daß ich Jude bin.« Die Planierraupe schob und rollte das große Plastikpaket in eine lange rechteckige Grube. Chad setzte zurück, stellte den Motor ab und kletterte herunter. Er winkte den Männern, sich um ihn zu versammeln, ging zu einem der Lastwagen und stellte einen Fuß auf das Trittbrett. »Keine Durchhalteparolen«, sagte er, »aber ihr habt verdammt gut gearbeitet. Ich schätze, wir haben heute fast tausend Einheiten weggeschafft.« Einheiten, dachte Harold. »Ich weiß, was diese Arbeit einem Mann abverlangt. Das Komitee hat versprochen, vor Ende der Woche noch zwei Leute zu schicken, aber ich weiß, das ändert nichts daran, wie euch zumute ist - mir übrigens auch. Ich will nur sagen, wenn einer von euch genug hat, wenn er glaubt, daß er es keinen Tag mehr aushaken kann, dann muß er mir auf der Straße nicht aus dem Weg gehen. Aber wenn ihr meint, daß ihr es nicht schafft, ist es verdammt wichtig, daß ihr morgen einen Ersatzmann stellt. Für mich ist dies die wichtigste Aufgabe in der Zone. Jetzt ist es nicht so schlimm, aber wenn nächsten Monat die Regenfälle einsetzen und wir in Boulder immer noch zwanzigtausend Leichen liegen haben, werden die Leute krank. Wenn ihr denkt, daß ihr es schafft, sehen wir uns morgen früh im Busbahnhof.« »Ich bin da«, sagte jemand. »Ich auch«, sagte Norman Kellogg. »Wenn ich heute abend sechs Stunden gebadet habe.« Gelächter. »Rechnen Sie mit mir«, schloß sich Weizak an. »Mit mir auch«, sagte Harold ruhig. »Es ist eine Dreckarbeit«, sagte Norris mit leiser, bewegter Stimme. »Ihr seid gute Leute. Ich bezweifle, daß die anderen je erfahren, wie gut.« Harold verspürte Zusammengehörigkeitsgefühl, Kameradschaft, und kämpfte ängstlich dagegen an. Das gehörte nicht zum Plan. »Wir sehen uns morgen, Hawk«, sagte Weizak und drückte ihm kurz die Schulter. Harold grinste erschrocken und abwehrend. Hawk? War das ein Witz? Natürlich, ein schlechter. Billiger Sarkasmus. Den dicken, pickligen Harold Lauder >Habicht< zu nennen. Er spürte, wie der alte schwarze Haß in ihm hochkam, diesmal gegen Weizak gerichtet, aber dann verschwand er in plötzlicher Verwirrung. Er war nicht mehr dick. Man konnte ihn nicht einmal mehr untersetzt nennen. Seine Pickel waren während der letzten sieben Wochen verschwunden. Weizak wußte nicht, daß er früher das Gespött der Schule gewesen war. Weizak wußte nicht, daß Harolds Vater ihn einmal gefragt hatte, ob er homosexuell sei. Weizak wußte nicht, daß er das Kreuz gewesen war, das seine allseits beliebte Schwester tragen mußte. Und wenn er es gewußt hätte, wäre es Weizak wahrscheinlich scheißegal gewesen. Harold stieg auf die Ladefläche eines der Laster; in seinem Kopf herrschte heilloses Durcheinander. Plötzlich erschienen ihm der alte Kummer, die alten Kränkungen und die unbeglichenen Rechnungen so wertlos wie das Papiergeld, an dem sämtliche Registrierkassen Amerikas erstickten. Konnte das wahr sein? Konnte das wirklich wahr sein? Er fühlte sich panisch einsam, ängstlich. Nein, entschied er schließlich. Es konnte nicht wahr sein. Bedenke: Wenn ein Mann einen so starken Willen hat, daß er der schlechten Meinung, die andere von ihm haben, widerstehen kann, wenn er es erträgt, daß sie ihn für schwul halten, für lästig oder bloß ein altes Arschloch, dann muß er stark genug sein, Widerstand aufzubieten gegen... Gegen was? Ihre gute Meinung? War diese Art von Logik nicht... nun, diese Art von Logik war Irrsinn, oder nicht? Ein altes Zitat ging ihm durch den gequälten Verstand, der Ausspruch eines Generals, der im Zweiten Weltkrieg dafür eingetreten war, die Amerikaner japanischer Abstammung zu internieren. Diesem General wurde erklärt, daß es an der Westküste, wo die meisten eingebürgerten Japaner lebten, keinen Sabotageakt gegeben hatte. Der General hatte geantwortet: »Gerade die Tatsache, daß es keine Sabotageakte gegeben hat, ist eine bedenkliche Entwicklung. « War das so? War er so? Der Kipper fuhr auf den Parkplatz des Busbahnhofs. Harold sprang über die Wagenseite und überlegte, daß sich auch seine Geschicklichkeit um tausend Prozent verbessert hatte, entweder durch das Abnehmen oder die ständige körperliche Betätigung oder beides. Der Gedanke kam hartnäckig wieder und wollte sich nicht verdrängen lassen: Ich könnte ein Segen für diese Gemeinschaft sein. Aber sie hatten ihn ausgeschlossen. Das spielt keine Rolle. Ich habe Verstand genug, das Schloß der Tür zu knacken, die sie mir vor der Nase zugeschlagen haben. Und ich glaube, wenn sie erst aufgeschlossen ist, werde ich auch den Mut haben, sie zu öffnen. Aber... Hör auf! Hör auf! Du könntest genausogut Handschellen und Fußketten mit diesem einen Wort darauf tragen. Aber! Aber! Aber! Kannst du nicht damit aufhören, Harold? Kannst du, um Himmels willen, nicht von deinem ach so hohen Roß heruntersteigen? »He, Mann, alles in Ordnung?« Harold zuckte zusammen. Es war Norris, der aus dem Büro des Fahrdienstleiters kam, das er in Beschlag genommen hatte. Er sah müde aus. »Ich? Mir geht es gut. Ich habe nur nachgedacht.« »Mir scheint, wenn du nachdenkst, kommt immer was dabei raus.« Harold schüttelte den Kopf. »Stimmt nicht.« »Nicht?« Chad ließ es dabei bewenden. »Kann ich dich irgendwo absetzen?« »Hm -hmm. Ich hab' den Chopper.« »Weißt du was, Hawk? Ich glaube, die meisten Jungs kommen morgen wirklich wieder.« »Ja, ich auch.« Harold ging zu seinem Motorrad und stieg auf. Er stellte fest, daß ihm sein neuer Spitzname gegen seinen Willen gefiel. Norris schüttelte den Kopf. »Das hätte ich mir nie träumen lassen. Ich dachte mir, wenn sie sehen, wie die Arbeit tatsächlich ist, würden ihnen tausend andere Dinge einfallen, die sie zu tun haben.« »Ich will dir sagen, was ich glaube«, sagte Harold. »Ich glaube, es ist einfacher, eine Dreckarbeit für sich selbst zu machen als für andere. Manche Männer haben zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben für sich gearbeitet.« »Ja, ich glaube, da ist was dran. Wir sehn uns dann morgen, Hawk.« »Um acht«, bestätigte Harold und fuhr über die Arapahoe zum Broadway. Rechts sah er eine Gruppe, größtenteils Frauen, die mit einem Abschleppwagen und Seilwinde ein Lastwagengespann aus dem Weg räumten, das sich quergestellt hatte und teilweise die Straße versperrte. Eine beachtliche Menschenmenge sah zu. Die Stadt wächst, dachte Harold. Ich kenne nicht einmal die Hälfte dieser Leute. Er fuhr nach Hause und machte sich Gedanken über das Problem, das er längst gelöst zu haben glaubte. Als er daheim war, parkte eine kleine weiße Vespa am Bordstein. Und eine Frau saß auf den Stufen zur Eingangstür. Sie stand auf, als Harold den Gehweg entlangkam, und streckte die Hand aus. Sie war eine der bemerkenswertesten Frauen, die Harold je gesehen hatte - er hatte sie natürlich schon vorher gesehen, aber noch nie so nahe. »Ich bin Nadine Cross«, sagte sie. Sie hatte eine tiefe, fast rauhe Stimme. Ihr Händedruck war fest und kühl. Harolds Blick glitt kurz über ihren Körper, eine Angewohnheit, die Mädchen haßten, wie er wußte, die er aber nicht lassen konnte. Ihr schien es nichts auszumachen. Sie trug eine leichte Baumwollhose, die sich eng um ihre langen Beine schmiegte, und eine ärmellose Bluse aus einem hellblauen Seidenstoff. Und keinen BH darunter. Wie alt mochte sie sein? Dreißig? Fünfunddreißig? Eher jünger. Sie war vor ihrer Zeit grau geworden. Überall? fragte der ewig geile (und scheinbar ewig jungfräuliche) Teil seines Verstands, und sein Herz schlug etwas schneller. »Harold Lauder«, sagte er lächelnd. »Sie sind mit Larry Underwoods Gruppe gekommen, richtig?« »Stimmt.« »Sie sind Stu und Frannie und mir durch die endlose Weite gefolgt, soweit ich weiß. Larry hat mich letzte Woche besucht und mir eine Flasche Wein und ein paar Schokoriegel gebracht.« Seine Worte hatten einen falschen Klang, und er wußte plötzlich genau, ihr war klar, daß er sie abgeschätzt und in Gedanken ausgezogen hatte. Er bekämpfte den Impuls, sich die Lippen zu lecken, was ihm gelang... wenigstens vorerst. »Ein verdammt netter Kerl.« »Larry?« Sie lachte leise, ein seltsames und irgendwie geheimnisvolles Geräusch. »Ja, Larry ist ein Prinz.« Sie sahen sich einen Moment an, und Harold war noch nie von einer Frau angesehen worden, deren Augen so offen und zugleich fragend waren. Er spürte wieder seine Erregung und die warme Nervosität im Bauch. »Nun«, sagte er. »Was kann ich heute nachmittag für Sie tun, Miss Cross?« »Erst einmal können Sie mich Nadine nennen. Und Sie könnten mich zum Abendessen einladen. Dann wären wir schon ein Stück weiter.« Das Gefühl der nervösen Erregung breitete sich aus. »Darf ich Sie zum Abendessen einladen, Nadine?« »Sehr gern«, sagte sie und lächelte. Als sie die Hand auf seinen Unterarm legte, verspürte er ein Kribbeln wie einen elektrischen Schlag. Sie sah ihn unverwandt an. »Vielen Dank.« Er fummelte den Haustürschlüssel ins Schloß und dachte: Jetzt wird sie mich gleich fragen, warum ich meine Tür abschließe, und ich werde murmeln und stottern und nach einer Antwort suchen und wie ein Trottel dastehen. Aber Nadine fragte nicht. Er kochte das Essen nicht; das übernahm sie. Harold hatte schon den Punkt erreicht, wo er es für unmöglich hielt, eine halbwegs vernünftige Mahlzeit aus Dosen zu bereiten, aber Nadine gelang es recht gut. Plötzlich erinnerte er sich voll Abscheu daran, mit welcher Arbeit er den Tag verbracht hatte, und er bat sie, sich zwanzig Minuten allein zu beschäftigen (wahrscheinlich war sie aus rein weltlichen Gründen hier, beschwichtigte er sich verzweifelt), während er duschte. Als er zurückkam - er hatte sich geschrubbt und mit zwei Eimern Wasser geduscht -, machte sie sich schon in der Küche zu schaffen. Auf dem Gaskocher sprudelte fröhlich das Wasser. Als er die Küche betrat, schüttete sie eine halbe Tasse Hörnchen in den Topf. In einer Pfanne auf dem anderen Brenner brutzelte etwas; er roch französische Zwiebelsuppe, Rotwein und Pilze. Sein Magen knurrte. Die ekelhafte Arbeit des Tages hatte plötzlich ihre Macht über seinen Appetit verloren. »Riecht phantastisch«, sagte er. »Es wäre nicht nötig gewesen, aber ich will mich nicht beschweren.« »Es ist Filet Stroganoff«, sagte sie und wandte sich ihm lächelnd zu. »Es ist selbstverständlich nur ein Notbehelf, fürchte ich. Dosenfleisch gehört nicht zu den empfohlenen Zutaten, wenn sie das Gericht in den besten Restaurants der Welt zubereiten, aber...« Sie zuckte die Achseln und wies damit auf die Unzulänglichkeiten hin, unter denen sie alle zu leiden hatten. »Nett, daß Sie das tun.« »Gern geschehen.« Sie sah ihn wieder mit diesem fragenden Blick an, wandte sich ihm halb zu, und der seidige Stoff der Bluse straffte sich über ihren Brüsten und brachte sie reizvoll zur Geltung. Er spürte, wie ihm heiße Röte den Hals emporkroch und bemühte sich krampfhaft, keine Erektion zu bekommen. Er fürchtete, seine Willenskraft würde für diese Aufgabe nicht ausreichen. Er fürchtete sogar, sie würde nicht einmal annähernd ausreichen. »Wir werden gute Freunde sein«, sagte sie. »Wir... werden?« »Ja.« Sie wandte sich wieder dem Herd zu, schien das Thema abgeschlossen zu haben und ließ Harold in einem wahren Dschungel von Möglichkeiten zurück. Danach beschränkte sich ihre Unterhaltung ausschließlich auf Triviales... Klatsch der Freien Zone, mehr nicht. Aber davon gab es schon genügend. Einmal, beim Essen, versuchte er noch einmal, sie zu fragen, was sie hergeführt hatte, aber sie lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Ich sehe einen Mann gern essen.« Einen Moment dachte Harold, sie würde von einem anderen sprechen, aber dann merkte er, daß sie ihn meinte. Und er aß; er nahm drei Portionen Stroganoff, und das Dosenfleisch beeinträchtigte den Geschmack nach Harolds Meinung überhaupt nicht. Die Unterhaltung schien wie von selbst zu laufen und ließ ihm Zeit, den Löwen in seinem Bauch zu füttern und sie dabei anzusehen. Für eine bemerkenswerte Frau hatte er sie gehalten? Sie war wunderschön. Reif und wunderschön. Ihr Haar, das sie zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, damit sie leichter kochen konnte, war mit weißen Strähnen durchsetzt, nicht grauen, wie er zuerst gedacht hatte. Sie hatte ernste, dunkle Augen, und wenn sie ohne Bedenken in seine eigenen sahen, wurde Harold schwindlig. Ihre Stimme klang tief und vertraulich. Ihr Klang beeinflußte ihn allmählich auf eine Weise, die unangenehm und doch zugleich auf beinahe quälende Weise erfreulich war. Als sie mit dem Essen fertig waren, wollte er aufstehen, aber sie kam ihm zuvor. »Kaffee oder Tee?« »Wirklich, ich könnte...« »Sie könnten, aber Sie werden nicht. Kaffee, Tee... oder mich?« Sie lächelte, aber es war nicht das Lächeln von jemand, der eine oberflächliche frivole Bemerkung gemacht hat (»frivoles Gerede« hätte seine gute alte Mom gesagt und mißbilligend den Mund verkniffen), sondern ein leises, träges Lächeln, so vollmundig wie ein Sahnehäubchen auf einem cremigen Dessert. Und wieder dieser fragende Blick. Harolds Gedanken wirbelten durcheinander, und er erwiderte mit fast wahnwitziger Lässigkeit: »Die beiden letzteren«, und hatte alle Mühe, ein pubertäres Kichern zu unterdrücken. »Nun, fangen wir mit Tee für zwei an«, sagte Nadine und ging zum Gaskocher. Kaum hatte sie ihm den Rücken zugedreht, schoß Harold heißes Blut in den Kopf und machte sein Gesicht zweifellos so purpurn wie rote Bete. Ein schöner Schwerenöter bist du! schalt er sich hektisch. Du hast dich wie ein blöder Narr benommen und eine völlig unschuldige Bemerkung falsch interpretiert, und damit hast du wahrscheinlich eine gute Gelegenheit verpatzt. Geschieht dir recht. Geschieht dir völlig recht! Als sie die dampfenden Teetassen zum Tisch trug, hatte Harolds hektische Röte etwas nachgelassen und er hatte sich wieder besser unter Kontrolle. Das Schwindelgefühl hatte sich unvermittelt in Verzweiflung verwandelt, und ihm war (nicht zum ersten Mal), als wären sein Körper und Geist kantiperkantaper in den Wagen einer riesigen Achterbahn aus reinsten Gefühlen gestoßen worden. Es gefiel ihm nicht, aber er konnte die Fahrt nicht mehr anhalten. Wenn sie sich überhaupt für mich interessiert hat, dachte er (und wieso sollte sie denn, fügte er düster hinzu), habe ich das wahrscheinlich durch meinen Pennälerwitz gründlich kaputtgemacht. Nun, so etwas war ihm schon früher passiert, und er konnte wohl mit dem Wissen leben, daß er es wieder geschafft hatte. Sie sah ihn mit diesen beunruhigend offenen Augen über den Rand der Teetasse an und lächelte wieder, und das Quentchen Gelassenheit, das er hatte aufbringen können, zerstob augenblicklich wieder. »Kann ich irgendwas für Sie tun?« fragte er. Es hörte sich wie eine tumbe Zweideutigkeit an, aber etwas mußte er ja sagen, denn es mußte ja auch einen Grund geben, weshalb sie hier war. Er spürte, wie sein eigenes Lächeln in seiner Verwirrung von den Lippen verschwand. »Ja«, sagte sie und stellte entschlossen die Teetasse ab. »Ja, das können Sie. Vielleicht können wir etwas füreinander tun. Können wir ins Wohnzimmer gehen?« »Klar.« Seine Hände zitterten, als er die Tasse auf den Tisch stellte und sich erhob; fast hätte er etwas verschüttet. Als er ihr ins Wohnzimmer folgte, sah er, wie glatt der Stoff der Hose an ihren Gesäßbacken klebte. Er hatte einmal gelesen, daß das glatte Aussehen der Hose einer Frau an der Stelle unterbrochen ist, wo der Slip durchdrückt, wahrscheinlich in einem der Magazine, die er in seinem Schlafzimmerschrank hinter den Schuhkartons versteckt hatte, und in den Magazinen stand weiter, wenn eine Frau wirklich glatt und nahtlos aussehen wollte, mußte sie einen Tanga oder gar nichts drunter tragen. Er schluckte; versuchte es wenigstens. Ein dicker Kloß schien ihm im Hals zu stecken. Das Wohnzimmer war düster, nur vom Licht erhellt, das durch die heruntergelassenen Jalousien hereinfiel. Es war nach halb sieben; draußen ging der Abend in die Dämmerung über. Harold trat an eines der Fenster, um die Jalousie hochzuziehen und mehr Licht hereinzulassen, aber sie legte die Hand auf seinen Arm. Er drehte sich mit trockenem Mund zu ihr um. »Nein, laß sie unten. Das ist intimer.« »Intimer?« krächzte Harold. Seine Stimme war wie die eines altersschwachen Papageis. »Damit ich das machen kann«, sagte sie und kam sanft in seine Arme. Sie hatte den Körper frei und offen an seinen gepreßt, das erste Mal, daß ihm so etwas geschah, und sein Erstaunen war total. Durch ihre blaue Seidenbluse und sein weißes Baumwollhemd spürte er die beiden Brüste einzeln an seinem Leib. Ihr Bauch lag fest und doch verletzlich an seinem und wich nicht vor seiner Erektion zurück. Sie roch angenehm, vielleicht Parfüm, vielleicht ihr eigener Geruch, der ihm wie ein Geheimnis vorkam, das dem Zuhörer plötzlich offenbart wird. Seine Hände fanden ihr Haar und wühlten sich hinein. Schließlich hörte der Kuß auf, aber sie wich nicht zurück. Ihr Körper blieb heiß wie leise glimmendes Feuer an seinem. Sie war etwa zehn Zentimeter kleiner als er und hatte das Gesicht zu ihm hochgewendet. Vage kam ihm der Gedanke, daß dies eine der amüsantesten Ironien seines Lebens war: Nun, da die Liebe - oder ein ausreichendes Faksimile davon - ihn schließlich gefunden hatte, war es, als wäre er seitlich zwischen die Seiten der Liebesgeschichte in einer Frauenzeitschrift geschlittert. Die Verfasser solcher Geschichten, hatte er einmal in einem anonymen Brief an Redbook geschrieben, waren eines der wenigen schlagkräftigen Argumente für Geburtenkontrolle. Aber jetzt hielt sie das Gesicht zu ihm hoch gewandt, ihre Lippen waren feucht und halb geöffnet, die Augen strahlend und fast... fast... ja, fast sternenglänzend. Das einzige Detail, das sich nicht mit der Darstellung der heilen Welt in Redbook vertrug, war sein Ständer, der wahrhaft erstaunlich war. »Jetzt«, sagte sie. »Auf dem Sofa.« Irgendwie gelangten sie dorthin und lagen ineinander verschlungen darauf; ihr Haar ging auf und wallte über ihre Schultern; ihr Parfüm schien allgegenwärtig. Er hatte die Hände auf ihren Brüsten, und es machte ihr nichts aus; sie wand und räkelte sich sogar, so daß seine Hände besseren Zugriff hatten. Er liebkoste sie nicht; in seiner hektischen Begierde begrapschte er sie nur. »Du bist Jungfrau«, sagte Nadine. Keine Frage... und es war einfacher, nicht lügen zu müssen. Er nickte. »Dann machen wir das zuerst. Nächstes Mal wird es langsamer. Besser.« Sie knöpfte seine Jeans auf, und sie klafften bis zum Reißverschluss auseinander. Sie strich sanft mit dem Zeigefinger dicht unter dem Nabel über seinen Bauch. Harold erschauerte und zuckte unter ihrer Berührung zusammen. »Nadine...« »Pssst!« Ihr Gesicht war im Haar verborgen, was es unmöglich machte, ihren Ausdruck zu lesen. Der Reißverschluß wurde heruntergezogen, und das »lächerliche Ding«, das durch die weiße Baumwollhose, in die es gehüllt war (Gott sei Dank hatte er sich nach dem Duschen umgezogen), noch lächerlicher wirkte, schnellte heraus wie ein Jack-in-the-Box. Das »lächerliche Ding« merkte gar nicht, wie komisch es wirkte, denn sein Anliegen war todernst. Das Anliegen von Jungfrauen ist immer todernst - nicht Lust, sondern Erfahrung. »Meine Bluse...« »Kann ich...?« »Ja, ich will es. Und dann kümmere ich mich um dich.« Kümmere ich mich um dich. Die Worte hallten in seinem Verstand wie Steine, die in einen Brunnen geworfen worden waren, und dann saugte er gierig an ihrer Brust und kostete ihren salzigen, süßen Geschmack. Sie atmete heftig ein. »Harold, das ist schön.« Kümmere ich mich um dich, dröhnten und polterten die Worte in seinem Verstand. Sie glitt mit der Hand ins Taillenband seiner Unterhose, und seine Jeans rutschten mit einem Klirren von Schlüsseln bis zu den Knöcheln hinunter. »Steh auf«, flüsterte sie, und er gehorchte. E s dauerte nicht einmal eine Minute. Er schrie auf, weil er nicht anders konnte, so heftig war der Höhepunkt. Es war, als hätte jemand ein Streichholz an das gesamte Nervensystem dicht unter der Haut gehalten, Nerven, die sich vereinigten und das empfindsame Netz seiner Lenden bildeten. Er verstand, warum so viele Schriftsteller einen Zusammenhang zwischen Orgasmus und Tod herstellten. Dann legte er sich im Halbdunkel zurück, hatte den Kopf auf dem Sofa, seine Brust hob und senkte sich, sein Mund war offen. Er hatte Angst, nach unten zu sehen. Ihm war, als müßten Samentropfen überall hingespritzt sein. Junger Mann, wir sind auf Öl gestoßen! Er sah sie verlegen an, weil er so unbeherrscht gekommen war. Aber sie lächelte ihn mit ruhigen, dunklen Augen an, die alles zu wissen schienen, den Augen eines sehr jungen Mädchens in einem viktorianischen Gemälde. Eines Mädchens, das vielleicht zuviel über seinen Vater wußte. »Tut mir leid«, murmelte er. »Warum? Was?« Sie nahm den Blick nicht von seinem Gesicht. »Du hast nicht viel davon gehabt.« »Au contraire. Ich hatte durchaus meine Befriedigung.« Aber er glaubte nicht, daß er das genau gemeint hatte. Bevor er darüber nachdenken konnte, fuhr sie fort: »Du bist jung. Wir können es so oft machen, wie du willst.« Er sah sie sprachlos an - außerstande zu sprechen. »Aber eines mußt du wissen.« Sie legte sanft eine Hand auf ihn. »Du hast mir gesagt, du bist eine Jungfrau. Nun, ich auch.« »Du...« Sein fassungsloser Gesichtsausdruck mußte komisch gewesen sein, denn sie warf den Kopf zurück und lachte. »Ist in deiner Philosophie kein Platz für Jungfräulichkeit, Horatio?« »Nein... doch... aber...« »Ich bin eine Jungfrau. Und das werde ich auch bleiben. Denn es steht einem anderen zu, mich... mich zu entjungfern.« »Wem?« »Du weißt, wem.« Er sah sie an und fror plötzlich am ganzen Körper. Sie gab den Blick unbewegt zurück. »Ihm?« Sie wandte sich halb ab und nickte. »Aber ich kann dir vieles zeigen«, sagte sie, sah ihn aber immer noch nicht an. »Wir können vieles machen. Sachen, von denen du nicht einmal ge... nein, das nehme ich zurück. Vielleicht hast du davon geträumt, aber du hast dir nie träumen lassen, daß du sie einmal machen würdest. Wir können spielen. Wir können uns daran berauschen. Wir können darin waten. Wir können ...« Sie verstummte, und dann sah sie ihn an, ein so listiger und sinnlicher Blick, daß er spürte, wie er sich wieder regte. »Wir können alles machen - alles - außer dieser Kleinigkeit. Und diese Kleinigkeit ist auch gar nicht so wichtig, oder?« Bilder wirbelten schwindlig durch seinen Verstand. Seidenschals... Stiefel... Leder... Gummi. Herrgott. Phantasien eines Schulknaben. Eine unheimliche Art sexuelles Solitaire. Aber es war alles irgendwie ein Traum, nicht? Eine von einer Phantasie gezeugte Phantasie, die Ausgeburt eines dunklen Traums. Er wollte alles, wollte sie, aber er wollte noch mehr. Die Frage war, mit wieviel würde er sich begnügen? »Du kannst mir alles sagen«, meinte sie. »Ich bin deine Mutter, deine Schwester, deine Hure, deine Sklavin. Du mußt es mir nur sagen, Harold.« Wie das in seinem Verstand hallte! Wie es ihn berauschte! Er machte den Mund auf, und die Stimme, die herauskam, war so tonlos wie eine Glocke mit Sprung. »Aber für einen Preis. Ist es nicht so? Für einen Preis. Weil nichts umsonst ist. Nicht einmal jetzt, wo alles herumliegt und nur darauf wartet, daß man es aufhebt.« »Ich will, was du willst«, sagte sie. »Ich weiß, was in deinem Herzen ist.« »Das weiß niemand.« »Was in deinem Herzen ist, steht in deinem Hauptbuch. Ich könnte es dort lesen - ich weiß, wo es ist -, aber das ist nicht nötig.« Er zuckte zusammen und sah sie schuldbewußt an. »Es war unter dem losen Stein dort«, sagte sie und deutete zum Kamin, »aber du hast es weggebracht. Jetzt ist es hinter der Isolierung auf dem Speicher.« »Woher weißt du das? Woher weißt du das?« »Ich weiß es, weil er es mir gesagt hat. Er... man könnte sagen, er hat mir einen Brief geschrieben. Und was wichtiger ist, er hat mir von dir erzählt, Harold. Wie der Cowboy dir die Frau weggenommen und dann dafür gesorgt hat, daß du nicht ins Komitee der Freien Zone kommst. Er will, daß wir zusammen sind, Harold. Und er ist großzügig. Von jetzt an, bis zu unserem Aufbruch von hier, haben wir eine Atempause, du und ich.« Sie faßte ihn an und lächelte. »Von jetzt an ist Spielzeit, verstehst du?« »Ich...« »Nein«, antwortete sie, »du verstehst nicht. Noch nicht. Aber du wirst verstehen, Harold. Du wirst.« Der irrsinnige Gedanke ging ihm durch den Kopf, ihr zu befehlen, ihn Hawk zu nennen. »Und später, Nadine? Was will er später?« »Was du willst. Und was ich will. Was du fast mit Redman gemacht hast, als du den ersten Abend nach der alten Frau gesucht hast... aber in einem viel größeren Maßstab. Und wenn das vollbracht ist, können wir zu ihm gehen, Harold. Wir können bei ihm sein. Wir können bei ihm bleiben.« Sie schloß halb in Verzückung die Augen. Paradoxerweise war es womöglich die Tatsache, daß sie den anderen liebte, sich aber ihm hingeben wollte - und es vielleicht sogar genoß -, die sein Verlangen heiß und drängend wieder auflodern ließ. »Und wenn ich nein sage?« Seine Lippen waren kalt, äschern. Sie zuckte die Schultern; ihre Brüste wogten aufreizend. »Das Leben geht weiter, Harold, oder nicht? Ich werde einen Weg finden, zu tun, was ich tun muß. Du wirst weiterleben. Früher oder später wirst du ein Mädchen finden, das... diese Kleinigkeit für dich machen wird. Aber diese Kleinigkeit ist nach einer Weile langweilig. Sehr langweilig.« »Woher willst du das wissen?« fragte er und grinste sie schief an. »Ich weiß es, weil Sex Leben in kleinem Maßstab ist, und das Leben ist langweilig - Zeit, die man in verschiedenen Wartezimmern verbringt. Du hast hier vielleicht deine kleinen Triumphe, Harold, aber zu welchem Ziel? Alles in allem wird es ein schäbiges, banales Leben sein, und du wirst dich immer an mich ohne Bluse erinnern und dich fragen, wie ich ohne alles ausgesehen haben könnte. Du wirst dich fragen, wie es gewesen wäre, wenn ich schmutzige Worte zu dir gesagt hätte... oder wenn ich Honig über deinen ganzen... Körper... geschüttet und dann abgeleckt hätte... und du wirst dich fragen...« »Hör auf«, sagte er. Er zitterte am ganzen Leib. Aber sie hörte nicht auf. »Ich glaube, du wirst dich auch fragen, wie es auf seiner Seite der Welt gewesen wäre«, sagte sie. »Das vielleicht mehr als alles andere.« »Ich...« »Entscheide dich, Harold. Soll ich die Bluse wieder an- oder alles andere ausziehen?« Wie lange dachte er nach? Er wußte es nicht. Später war er nicht einmal mehr sicher, ob er sich überhaupt mit der Frage gequält hatte. Aber als er sprach, schmeckten die Worte in seinem Mund wie der Tod: »Ins Schlafzimmer. Gehen wir ins Schlafzimmer.« Sie lächelte ihn an, ein solches Lächeln des Triumphs und sinnlicher Verlockungen, daß er davor und vor seiner begierigen Reaktion darauf erschauerte. Sie nahm seine Hand. Und Harold Lauder ergab sich in sein Schicksal. 55 Das Haus des Richters lag über einem Friedhof. Larry und er saßen nach dem Abendessen auf der hinteren Veranda, rauchten Roi-Tan-Zigarren und betrachteten den Sonnenuntergang, der hinter den Bergen zu Orange verblaßte. »Als ich ein Junge war«, sagte der Richter, »wohnten wir in der Nähe des schönsten Friedhofs in Illinois. Er hießt Mount Hope, Berg der Hoffnung. Jeden Abend machte mein Vater, der damals Anfang sechzig war, nach dem Essen einen Spaziergang. Manchmal ging ich mit. Und wenn unser Weg uns an diesem hervorragend gepflegten Gottesacker vorbeiführte, sagte er oft: >Was meinst du, Teddy, gibt es Hoffnung?< Und ich antwortete: >Da ist der Berg der Hoffnung<, und er brüllte jedesmal vor Lachen, als hätte er es noch nie gehört. Ich glaube manchmal, daß wir nur deshalb an dem Friedhof vorbeigegangen sind, daß er diesen Witz mit mir machen konnte. Er war ein wohlhabender Mann, aber einen komischen Witz schien er nicht zu kennen.« Der Richter rauchte mit gesenktem Kopf und hochgereckten Schultern. »Er ist 1937 gestorben, da war ich nicht mal zwanzig«, sagte er. »Ich vermisse ihn seitdem. Ein Junge braucht keinen Vater, wenn es kein guter Vater ist, aber ein guter Vater ist unersetzlich. Keine Hoffnung außer Mount Hope. Das hat ihm so gefallen! Er war achtundsiebzig, als er gestorben ist. Er ist gestorben wie ein König, Larry. Er saß auf dem Thron im kleinsten Zimmer unseres Hauses, die Zeitung auf dem Schoß.« Larry, der nicht wußte, wie er auf diese recht bizarre nostalgische Enthüllung reagieren sollte, sagte nichts. Der Richter seufzte. »Nicht mehr lange, dann wird das hier ein beachtliches Unternehmen sein«, sagte er. »Das heißt, wenn ihr den Strom wieder einschalten könnt. Wenn nicht, werden die Leute nervös und ziehen nach Süden, bevor das schlechte Wetter sie daran hindern kann.« »Ralph und Brad sagen, sie schaffen es. Ich vertraue ihnen.« »Dann wollen wir hoffen, daß dein Vertrauen begründet ist, oder nicht? Vielleicht ist es ganz gut, daß die alte Frau fort ist. Vielleicht hat sie gewußt, daß es so besser sein würde. Vielleicht sollten die Leute selber entscheiden können, was die Lichter am Himmel sind und ob ein Baum ein Gesicht hat oder es nur ein Trick von Licht und Schatten war. Verstehst du mich, Larry?« »Nein, Sir«, antwortete Larry wahrheitsgemäß. »Ich bin nicht sicher.« »Ich frage mich, ob wir wirklich diese langweilige Sache mit Göttern und Erlösern und so weiter neu erfinden müssen, bevor wir das Wasserklosett neu erfunden haben. Das wollte ich damit sagen. Ich frage mich, ob dies die richtige Zeit für Götter ist.« »Glauben Sie, sie ist tot?« »Sie ist nun seit sechs Tagen fort. Die Suchtrupps haben keine Spur von ihr gefunden. Ja, ich glaube, sie ist tot, aber ich bin nicht einmal jetzt ganz sicher. Sie war eine erstaunliche Frau, völlig außerhalb von rationalen Maßstäben. Vielleicht bin ich hauptsächlich deshalb so froh, daß sie weg ist, weil ich ein so rationaler alter Griesgram bin. Ich mache gern meine tägliche Runde, gieße meinen Garten - hast du gesehen, wie sich die Begonien wieder erholt haben? Darauf bin ich ganz stolz -, lese meine Bücher oder mache Notizen für mein eigenes Buch über die Seuche. Das alles mache ich gern, und abends möchte ich ein Glas Wein trinken und ohne Sorgen einschlafen. Ja. Keiner von uns will Vorzeichen und Omen sehen, auch wenn wir Gespenstergeschichten und Gruselfilme lieben. Keiner von uns will wirklich einen Stern im Osten oder eine Feuersäule bei Nacht sehen. Wir wollen Frieden und Vernunft und Routine. Wenn wir Gott im schwarzen Gesicht einer alten Frau sehen müssen, dann kann uns das nur daran erinnern, daß es für jeden Gott einen Teufel gibt - und unser Teufel mag schon näher sein, als uns lieb ist.« »Deshalb bin ich hier«, sagte Larry unbeholfen. Ihm wäre es lieber gewesen, der Richter hätte seinen Garten, seine Bücher, seine Notizen und sein Glas Wein vor dem Schlafengehen nicht erwähnt. Larry hatte eine zweischneidige gute Idee bei einem Treffen von Freunden gehabt und einen leichtfertigen Vorschlag gemacht. Jetzt fragte er sich, ob es eine Möglichkeit gab, weiterzusprechen, ohne sich wie ein grausamer und opportunistischer Narr anzuhören. »Ich weiß, warum du hier bist. Ich bin einverstanden.« Larry fuhr hoch, daß das Gefl echt seines Korbstuhls knarrte und ächzte. »Wer hat Ihnen das gesagt? Es sollte streng geheim bleiben, Richter. Wenn jemand aus dem Komitee nicht dichthalten kann, stecken wir schön in der Klemme.« Der Richter hob eine Hand voller Leberflecke und brachte ihn zum Schweigen. Die Augen in seinem von der Zeit gezeichneten Gesicht strahlten. »Ruhig, Junge - ruhig. Niemand aus eurem Komitee hat geplaudert, nicht, daß ich wüßte, und ich hab' das Ohr immer dicht am Boden. Nein, ich habe mir das Geheimnis selbst eingeflüstert. Warum bist du heute abend gekommen? Dein Gesicht verrät alles, Larry. Ich hoffe, du spielst nicht Poker. Als ich von meinen schlichten Freuden gesprochen habe, konnte ich sehen, wie dein Gesicht immer länger geworden ist... es hat einen recht komischen Ausdruck angenommen...« »Ist das so komisch? Was soll ich machen, fröhlich aussehen, wo... wo...« »Wo ich nach Westen geschickt werde«, sagte der Richter leise. »Um die Gegend auszukundschaften. Darum geht es, richtig?« »Genau darum geht es.« »Ich habe mich gefragt, wie lange es dauert, bis das Thema zur Sprache kommt. Es ist nämlich enorm wichtig, sogar unbedingt notwendig, wenn die Freie Zone ihr Überleben sichern will. Wir wissen nicht, was er dort drüben plant. Er könnte genausogut auf der dunklen Seite des Mondes sein.« »Wenn er wirklich da ist.« »Oh, er ist da. In der einen oder anderen Form ist er da. Kein Zweifel.« Er nahm einen Nagelclip aus der Hosentasche und beschäftigte sich mit seinen Fingernägeln, die schnippenden Geräusche unterstrichen seine Worte. »Sag mal, hat das Komitee darüber gesprochen, was passiert, wenn es uns dort besser gefällt? Wenn wir bleiben wollen?« Larry war verblüfft von dieser Vorstellung. Er sagte dem Richter, dass seines Wissens noch niemand darüber nachgedacht hatte. »Ich kann mir vorstellen, daß bei ihm die Lichter schon wieder an sind«, sagte der Richter mit trügerischer Gelassenheit. »Das ist ein Anreiz, weißt du. Das hat dieser Impening offenbar gemerkt.« »Ab mit Schaden«, sagte Larry grimmig, und der Richter lachte lange und herzlich. Als er sich beruhigt hatte, sagte er: »Ich breche morgen auf. Mit einem Landrover, glaube ich. Erst nach Norden, Wyoming, dann nach Westen. Gott sei Dank kann ich noch gut fahren! Ich werde durch Idaho nach Nordkalifornien fahren. Es mag zwei Wochen dauern, der Rückweg wahrscheinlich länger. Wenn ich zurückkomme, könnte es schneien.« »Ja. Die Möglichkeit haben wir in Betracht gezogen.« »Und ich bin alt. Alte neigen zu Herzanfällen und Dummheit. Ich nehme an, ihr schickt noch andere?« »Nun...« »Nein, darüber darfst du nicht reden. Ich ziehe die Frage zurück.« »Hören Sie, Sie können ablehnen«, platzte Larry heraus. »Niemand setzt Ihnen die Pistole auf die Br...« »Willst du versuchen, dich deiner Verantwortung mir gegenüber zu entledigen?« fragte der Richter schneidend. »Vielleicht. Vielleicht will ich das. Vielleicht denke ich auch nur, dass Ihre Chancen zurückzukommen eins zu zehn stehen und Ihre Chancen, mit Informationen zurückzukommen, die für uns wesentlich sind, vielleicht eins zu zwanzig. Vielleicht will ich Ihnen auch nur auf nette Weise sagen, daß ich vielleicht einen Fehler gemacht habe. Sie könnten zu alt sein.« »Ich bin zu alt für Abenteuer«, sagte der Richter und steckte den Clip weg, »aber hoffentlich nicht zu alt, das zu tun, was ich für richtig halte. Irgendwo dort draußen liegt eine alte Frau, die wahrscheinlich elend gestorben ist, weil sie es für richtig hielt. Ich zweifle nicht daran, daß religiöser Wahn sie motiviert hat. Aber Leute, die unbedingt das Richtige tun wollen, wirken immer verrückt. Ich werde gehen. Es wird kalt sein. Meine Verdauung wird Schwierigkeiten machen. Ich werde einsam sein. Ich werde meine Begonien vermissen. Aber...« Er sah Larry an, seine Augen glitzerten in der Dunkelheit. »Ich werde auch klug sein.« »Das glaube ich aufs Wort«, sagte Larry und spürte, wie ihm Tränen in den Augenwinkeln brannten. »Wie geht es Lucy?« fragte der Richter, der das Thema seiner Abreise offenbar für abgeschlossen hielt. »Gut«, sagte Larry. »Es geht uns beiden gut.« »Keine Probleme?« »Nein«, sagte Larry und dachte an Nadine. Er machte sich immer noch Gedanken wegen ihrer Verzweiflung bei der letzten Begegnung. Du bist meine letzte Chance, hatte sie gesagt. Seltsame Worte, fast selbstmörderisch. Wie konnte man ihr helfen? Psychiatrie? Das war lächerlich, wo sie allenfalls einen Pferdedoktor anzubieten hatten. Und nicht einmal die Telefonseelsorge gab es mehr. »Es ist gut, daß du mit Lucy zusammen bist«, sagte der Richter, »aber ich vermute, du machst dir wegen der anderen Frau Sorgen.« »Ja, das tue ich.« Was jetzt folgte, war schwer auszusprechen, aber es war ihm viel wohler, wenn er es jemand anderem beichten und anvertrauen konnte. »Ich fürchte, daß sie an, nun, Selbstmord denkt.« Er fuhr rasch fort: »Sicher nicht nur meinetwegen, denken Sie bloß nicht, ich wäre der Meinung, daß sich ein Mädchen umbringen könnte, weil sie sexy Larry Underwood nicht bekommt. Aber der Junge, für den sie gesorgt hat, ist aus seiner Schale herausgekrochen, und ich glaube, sie fühlt sich einsam, weil niemand mehr auf sie angewiesen ist.« »Wenn ihre Depressionen chronisch und zyklisch werden, kann es durchaus sein, daß sie sich umbringt«, sagte der Richter mit erschreckender Gleichgültigkeit. Larry sah ihn entsetzt an. »Aber du kannst dich nicht zweiteilen«, sagte der Richter. »Du kannst nur einer sein. Stimmt das nicht?« »Ja.« »Und du hast deine Wahl getroffen?« »Ja.« »Endgültig?« »Ja. Endgültig.« »Dann mußt du damit leben«, sagte der Richter mit großer Erleichterung. »Um Gottes willen, Larry, werd erwachsen. Entwickle ein bißchen Selbstgefälligkeit. Vieles daran ist häßlich, weiß Gott, aber etwas davon auf deine vielen Skrupel getüncht, das muss unbedingt sein! Es ist für die Seele, was ein guter Lichtschutzfaktor für die Haut ist. Du kannst nur deine eigene Seele meistern, und ab und zu kommt ein klugscheißerischer Psychologe des Wegs und stellt sogar die Fähigkeit dazu in Frage. Werd erwachsen! Deine Lucy ist ein prima Mädchen. Wenn du Verantwortung für mehr als ihre und deine Seele übernimmst, mutest du dir zuviel zu, und sich zuviel zuzumuten ist eine der beliebtesten Methoden der Menschheit, eine Katastrophe herauszufordern. « »Ich unterhalte mich gern mit Ihnen«, sagte Larry und war erschrocken und amüsiert zugleich über den Tiefsinn dieser Bemerkung. »Wahrscheinlich nur, weil ich dir genau das sage, was du hören willst«, sagte der Richter heiter. Und dann fügte er hinzu: »Es gibt viele Möglichkeiten, Selbstmord zu begehen, weißt du.« Bevor allzuviel Zeit vergangen war, sollte Larry Gelegenheit haben, sich unter bitteren Umständen an diese Bemerkung zu erinnern. Am nächsten Morgen um Viertel nach acht fuhr Harolds Wagen wieder vom Greyhound-Bahnhof zum Stadtteil Table Mesa. Harold, Weizak und zwei andere saßen hinten auf dem Wagen. Norman Kellogg und ein weiterer Mann saßen im Fahrerhaus. Sie waren gerade an der Kreuzung Arapahoe Street und Broadway, als ihnen langsam ein brandneuer Landrover entgegenkam. Weizak winkte und rief: »Wo fahren Sie hin, Richter?« Der Richter, der in Wollhemd und Weste ziemlich komisch aussah, hielt an. »Ich dachte mir, ich fahre einen Tag nach Denver«, sagte er unverbindlich. »Schaffen Sie das mit dem Ding?« rief Weizak. »Oh, ich glaube schon, wenn ich die Hauptstraßen meide.« »Wenn Sie an einem Sex-Shop vorbeikommen, bringen Sie doch einen Kofferraum voll Bücher mit.« Alle lachten über diese Bemerkung - auch der Richter-, nur Harold nicht. Er sah heute morgen blaß und übernächtigt aus, als hätte er schlecht geschlafen. In Wirklichkeit hatte er überhaupt kaum geschlafen. Nadine hatte Wort gehalten; in der vergangenen Nacht waren einige seiner Träume in Erfüllung gegangen. Träume der feuchten Art, wollen wir einmal sagen. Er freute sich schon auf heute abend, und Weizaks anzügliche Bemerkung über Pornographie war heute, da er ein wenig Erfahrung aus erster Hand hatte, nur noch für den Hauch eines Lächelns gut. Nadine hatte noch geschlafen, als er gegangen war. Bevor sie gegen zwei aufgehört hatten, hatte sie ihm gesagt, sie wolle sein Hauptbuch lesen. Er hatte gesagt, nur zu, wenn es ihr Wunsch sei. Vielleicht lieferte er sich damit ihrer Gnade aus, aber er war zu verwirrt, ganz sicher zu sein. Etwas Besseres hatte er in seinem Leben nie geschrieben, und der auslösende Faktor war sein Wunsch - nein, sein Bedürfnis. Sein Bedürfnis, jemand anderen seine beste Arbeit lesen und erfahren zu lassen. Jetzt lehnte sich Kellogg aus dem Fahrerhaus des Müllautos und sah den Richter an. »Seien Sie vorsichtig, Väterchen. Okay? Heutzutage sind komische Leute auf den Straßen unterwegs.« »Allerdings«, sagte der Richter mit einem seltsamen Lächeln. »Ich werde schon aufpassen. Guten Tag, meine Herren. Auch Ihnen, Mr. Weizak.« Neuerliches Gelächter, dann fuhren sie weiter. Der Richter fuhr nicht Richtung Denver. Als er die Route 36 erreichte, querte er sie und fuhr auf der Route 7 weiter. Die Morgensonne schien hell und sanft, und auf dieser Nebenstraße waren keine Staus, die sie blockierten. In der Stadt Brighton war es schlimmer; an einer Stelle mußte er die Straße verlassen und über das Football-Feld der örtlichen High School fahren, um einem gewaltigen Stau auszuweichen. Er fuhr weiter nach Osten, bis er die 1-25 erreichte. Rechts ging es nach Denver. Aber er bog links ab - nach Norden - und fuhr die Einfahrtsrampe hinunter. Als er halb unten war, nahm er den Gang raus und sah nach links, nach Westen, wo die Rockies, zu deren Füßen Boulder lag, malerisch in den blauen Himmel ragten. Er hatte Larry gesagt, er wäre zu alt für Abenteuer, aber bei Gott, das war eine Lüge gewesen. Seit zwanzig Jahren hatte sein Herz nicht mehr in diesem frischen Rhythmus geschlagen, hatte die Luft nicht so lieblich geduftet, waren die Farben nicht so leuchtend gewesen. Er würde auf der 1-25 nach Cheyenne fahren und dann nach Westen abbiegen, um zu sehen, was ihn hinter den Bergen erwartete. Seine Haut, vom Alter trocken, juckte nichtsdestotrotz bei diesem Gedanken, und die Härchen stellten sich auf. Auf der 1-80 in westlicher Richtung nach Sah Lake City, dann durch Nevada nach Reno. Dann wollte er sich wieder nach Norden wenden, aber das war wohl ziemlich gleich. Denn irgendwo zwischen Salt Lake und Reno, möglicherweise vorher, würde man ihn anhalten, verhören und möglicherweise anderswo hinschicken, wo er wieder verhört wurde. Am einen oder anderen Ort wurde dann möglicherweise eine Einladung ausgesprochen. Es war nicht einmal unmöglich, daß er den dunklen Mann selbst kennenlernte. »Jetzt aber weiter, Alter«, sagte er leise. Er legte den Gang des Rover wieder ein und fuhr langsam auf die 125. Nach Norden führten drei Fahrspuren, alle verhältnismäßig frei. Wie er vermutet hatte, war der fließende Verkehr schon in Denver durch Staus und Unfälle blockiert worden. Auf der anderen Seite des Mittelstreifens standen die Wagen dicht an dicht - die armen Narren, die nach Süden fahren wollten, weil sie hofften, im Süden wäre es besser -, aber hier hatte er freie Fahrt. Vorläufig wenigstens. Richter Farris fuhr weiter und war froh, daß er unterwegs war. Er hatte die letzte Nacht schlecht geschlafen. Heute nacht, unter den Sternen, den alten Leib fest in zwei Schlafsäcke gehüllt, würde er besser schlafen. Er fragte sich, ob er Boulder je wiedersehen würde, und dachte, daß die Chancen wahrscheinlich nicht sehr gut standen. Und dennoch war er sehr aufgeregt. Es war einer der schönsten Tage seines Lebens. Am frühen Nachmittag fuhren Nick, Ralph und Stu zu dem kleinen stuckverzierten Haus im Norden Boulders hinaus, in dem Tom Cullen ganz allein lebte. Für die »alten« Einwohner Boulders war Toms Haus schon zu einer Sehenswürdigkeit geworden. Stan Nogotny sagte, es war, als hätten Katholiken, Baptisten und Seventh-DayAdventisten sich mit den Demokraten und den Moonies zusammengetan, um ein religiös-politisches Disneyland zu schaffen. Der vordere Rasen war ein seltsames Tableau von Statuen. Ein dutzendmal die Jungfrau Maria, die in manchen Fällen gerade Schwärme von rosa Plastikflamingos zu füttern schien. Der größte Flamingo war größer als Tom selbst und stand auf einem Bein, das in einen meterlangen Stachel überging. Zwischen den Figuren stand ein riesiger Wunschbrunnen, in dessen verziertem Eimer ein großer, im Dunkeln leuchtender Plastikjesus stand, der die Hände ausgestreckt hatte. Neben dem Wunschbrunnen stand eine große Gipskuh, die anscheinend aus einem Vogelbad trank. Das Fliegengitter vor der Eingangstür wurde aufgestoßen, und Tom, mit bloßem Oberkörper, kam heraus, um sie zu begrüßen. Aus der Ferne, überlegte Nick, hätte man ihn mit seinen hellblauen Augen und dem rotblonden Bart für einen kraftstrotzenden Schriftsteller oder Maler halten können. Wenn er näherkam, gab man diese Vorstellung zugunsten von etwas weniger Intellektuellem auf... vielleicht eine Art Handwerker aus der Gegenkultur, der Originalität zugunsten von Kitsch aufgegeben hatte. Und wenn er ganz nahe war und lächelte und mit einem Kilometer pro Stunde daherplapperte, wurde einem endgültig klar, daß es in Tom Cullens Oberstübchen nicht ganz richtig war. Nick wußte, ein Grund, warum er sich so sehr mit Tom Cullen verbunden fühlte, war der, daß man ihn selbst früher für geistig zurückgeblieben gehalten hatte - anfangs, weil seine Behinderung ihn daran gehindert hatte, lesen und schreiben zu lernen, später dann, weil die Leute einfach davon ausgingen, wer taubstumm war, mußte geistig zurückgeblieben sein. Er hatte jeden umgangssprachlichen Ausdruck dafür schon einmal gehört. Nicht alle Tassen im Schrank. Plemplem. Einen Sparren locker haben. Dem Typ fehlt ein Zacken in der Krone. Er mußte an den Abend denken, als er im Zack's ein paar Bier trinken wollte, der Kneipe am Stadtrand von Shoyo - der Abend, als Ray Booth und seine Kumpane ihm aufgelauert hatten. Der Barkeeper hatte am anderen Ende der Bar gestanden, über die er sich vertraulich gebeugt hatte, um mit einem Kunden zu sprechen. Er hatte den Mund mit der Hand abgeschirmt, so daß Nick nur unvollständig verstand, was er sagte. Aber mehr mußte er auch nicht verstehen. Taubstumm... wahrscheinlich zurückgeblieben... Von allen häßlichen Ausdrücken für geistige Behinderung gab es einen einzigen, der auf Tom Cullen zutraf. Nick selbst gebrauchte ihn in der Stille seines eigenen Verstands häufig und mit großer Anteilnahme. Der Ausdruck war: Der Typ spielt nicht mit einem vollen Blatt. Das war es, was mit Tom nicht stimmte. Darauf lief es hinaus. Das Elend in Toms Fall war, daß so wenig Karten fehlten, und noch dazu wertlose Karten - Kreuz zwei, Karo drei, was in der Art. Aber ohne diese Karten konnte man eben kein gutes Spiel spielen. Man konnte nicht einmal beim Solitaire gewinnen, wenn diese Karten im Blatt fehlten. »Nicky!« schrie Tom. »Bin ich froh, dich zu sehen! Meine Fresse, ja! Tom Cullen ist so froh!« Er schlang die Arme um Nicks Hals und drückte ihn an sich. Nick spürte, wie Tränen in seinem schlimmen Auge hinter der Klappe stachen, die er an sonnigen Tagen wie diesem immer noch trug. »Und Ralph auch! Und der da. Du bist... mal sehen...« »Ich bin...« begann Stu, aber Nick brachte ihn mit einer brüsken Bewegung der linken Hand zum Schweigen. Er hatte Gedächtnistraining mit Tom gemacht, was Erfolg zu haben schien. Wenn man etwas, das man kannte, mit einem Namen assoziieren konnte, den man sich einprägen wollte, prägte er sich einem häufig ein. Auch das hatte Rudy ihm vor vielen Jahren beigebracht. Jetzt nahm er den Block aus der Tasche und kritzelte darauf. Dann gab er ihn Ralph, damit er ihn laut vorlas. Ralph gehorchte stirnrunzelnd: »Was ißt du gerne, das in einer Schüssel mit Fleisch und Gemüse und Soße gemacht wird?« Tom stand stockstill da. Sein Gesicht wurde reglos. Er sperrte den Mund auf und wurde zum Inbegriff eines Idioten. Stu regte sich unbehaglich und sagte: »Nick, ich finde, wir sollten...« Nick hielt einen Finger an die Lippen und brachte ihn zum Schweigen; im selben Augenblick erwachte Tom Cullen wieder zum Leben. »Stew!« sagte er, lachte und machte Luftsprünge. »Du bist Stew!« Er sah Nick zur Bestätigung an, und Nick zeigte ihm das V für Sieg. »M-O-N-D, und das buchstabiert man Stew, das weiß Tom Cullen, das weiß jeder!« Nick deutete zur Tür von Toms Haus. »Wollt ihr reinkommen? Meine Fresse, ja! Wir werden alle reingehen. Tom hat sein Haus geschmückt.« Ralph und Stu warfen sich einen amüsierten Blick zu, während sie Nick und Tom die Verandastufen hinauf folgten. Tom »schmückte« immer. Er »möblierte« nicht, denn das Haus war natürlich möbliert gewesen, als er einzog. Als sie ins Haus gingen, fanden sie eine wirre Märchenwelt vor. Gleich hinter der Tür hing ein riesiger vergoldeter Vogelkäfig, auf dessen Stange, sorgfältig mit Draht befestigt, ein ausgestopfter grüner Papagei saß, und Nick mußte sich darunter durchducken. Das Verblüffende war, dachte er, daß Toms Schmuck nicht aus beliebigem Trödel bestand. In dem Fall hätte das Haus ausgesehen wie ein Ramschladen. Hier war mehr, etwas, das jenseits dessen zu liegen schien, was ein normaler Verstand als Muster erkennen konnte. In einem großen Viereck über dem Kamin im Wohnzimmer waren eine Reihe von Kreditkartenzeichen angebracht, alle sorgfältig montiert und regelmäßig angeordnet. VISA CARD WILLKOMMEN. SAGEN SIE NUR MASTERCHARGE. WIR NEHMEN AMERICAN EXPRESS. DINER'S CLUB. Nun ergab sich die Frage: Woher wußte Tom, daß alle diese Zeichen zu einer Kategorie gehörten? Er konnte nicht lesen, aber er hatte das Muster irgendwie begriffen. Auf dem Kaffeetisch stand ein großer Hydrant aus Styropor. Auf der Fensterbank stand das Blaulicht eines Polizeiwagens, wo es das Sonnenlicht auffangen und als blauen Fächer an die Wand werfen konnte. Tom zeigte ihnen das ganze Haus. Das Spielzimmer im Keller war mit ausgestopften Vögeln und anderen Tieren vollgestellt, die er bei einem Tierpräparator gefunden hatte; er hatte die Vögel an fast unsichtbare Klavierdrähte gehängt, sie schienen zu fliegen, Eulen und Habichte und sogar ein Adler mit mottenzerfressenem Gefieder, dem eins seiner gelben Glasaugen fehlte. In einer Ecke stand ein Murmeltier auf den Hinterbeinen, in einer anderen ein Ziesel, in der nächsten ein Stinktier und ein Wiesel in der vierten. Mitten im Zimmer stand ein Coyote, der irgendwie der Brennpunkt der kleineren Tiere zu sein schien. Das Geländer der Treppe nach oben war mit rotem und weißem Papier umwickelt, so daß es aussah wie die Stange vor einem Friseurladen. Im oberen Flur hingen verschiedene Jagdflugzeuge ebenfalls an Klavierdrähten - Fockers, Spads, Stukas, Spitfires, Zeros, Messerschmitts. Der Boden des Badezimmers war knallblau gestrichen worden. Toms erlesene Sammlung von Spielzeugbooten stand darauf; sie segelten auf einem Porzellanmeer um vier weiße Porzellaninseln und einen weißen Porzellankontinent herum: die Füße der Badewanne und die Kloschüssel. Schließlich führte sie Tom wieder nach unten. Sie setzten sich unter die Kreditkartenmontage gegenüber einem 3-D-Bild von John und Robert Kennedy vor einem Hintergrund goldgesäumter Wolken. Die Legende darunter lautete BRÜDER IM HIMMEL VEREINT. »Gefällt dir Toms Schmuck? Was meinst du? Hübsch?« »Sehr hübsch«, sagte Stu. »Sag mal. Diese Vögel da unten... gehen sie dir nicht manchmal auf die Nerven?« »Meine Fresse, nein!« sagte Tom erstaunt. »Die sind voller Sägemehl.« Nick gab Ralph einen Zettel. »Tom, Nick will wissen, ob es dir etwas ausmacht, dich noch einmal hypnotisieren zu lassen. Wie es Stan damals gemacht hat. Aber diesmal ist es wichtig, nicht nur ein Spiel. Nick erklärt dir später, warum.« »Nur zu«, sagte Tom. »Duuu... wirst... gaaanz müüüde..., richtig?« »Ja, das ist es«, sagte Ralph. »Soll ich wieder auf die Uhr sehen? Das macht mir nichts aus. Wenn sie hin- und herpendelt? Gaaanz... müüüde...« Tom sah sie zweifelnd an. »Aber ich bin nicht müde. Meine Fresse, nein. Ich bin gestern früh ins Bett gegangen. Tom Cullen geht immer früh ins Bett, weil es kein Fernsehen mehr gibt.« Stu sagte leise: »Möchtest du gern einen Elefanten sehen, Tom?« Tom machte sofort die Augen zu. Sein Kopf sank locker nach vorn. Seine Atmung ging in langsamen, gleichmäßigen Zügen. Stu sah ihn überrascht an. Nick hatte ihm das Schlüsselwort gegeben, aber Stu hatte nicht recht glauben können, daß es funktionieren würde. Und er hätte nie gedacht, daß es so schnell gehen würde. »Als ob man einem Huhn den Kopf unter den Flügel steckt«, staunte Ralph. Nick reichte Stu das vorbereitete »Drehbuch« für diese Begegnung. Stu sah Nick lange an. Nick sah ihn ebenfalls an, dann nickte er ernst, daß Stu anfangen sollte. »Tom, hörst du mich?« fragte Stu. »Ja, ich höre dich«, sagte Tom mit einer Stimme, bei der Stu ruckartig aufsah. Sie war anders als Toms übliche Stimme, aber auf eine Weise, die Stu nicht fassen konnte. Sie erinnerte ihn an einen Vorfall, als er achtzehn gewesen war und den Abschluß an der High School gemacht hatte. Sie waren vor dem Festakt in der Umkleidekabine der Jungs gewesen, alle Jungs, mit denen er zur Schule ging seit... nun, in mindestens vier Fällen seit dem ersten Schultag der ersten Klasse, in vielen anderen fast genauso lang. Einen Augenblick hatte er gesehen, wie sehr sich ihre Gesichter zwischen den alten Zeiten, den Anfangstagen, und diesem Moment der Einsicht, als er mit einem schwarzen Talar in der Hand auf dem Kachelboden des Umkleideraums stand, verändert hatten. Diese Vision der Veränderung hatte ihn damals zum Zittern gebracht, und sie brachte ihn jetzt wieder zum Zittern. Die Gesichter, in die er gesehen hatte, waren nicht mehr die Gesichter von Kindern gewesen... aber auch noch nicht die Gesichter von Männern. Es waren Gesichter im Limbus, Gesichter, die genau zwischen zwei klar umrissenen Existenzebenen hingen. Diese Stimme, die aus dem Schattenland von Tom Cullens Unterbewußtsein kam, schien wie diese Gesichter zu sein, nur unendlich trauriger. Stu fand, es war die Stimme des Mannes, der er niemals sein würde. Aber sie warteten, daß er weitermachte, und er mußte weitermachen. »Ich bin Stu Redman, Tom.« »Ja. Stu Redman.« »Nick ist hier.« »Ja, Nick ist hier.« »Ralph Brentner ist auch hier.« »Ja, Ralph auch.« »Wir sind deine Freunde.« »Ich weiß.« »Wir möchten, daß du etwas tust, Tom. Für die Zone. Es ist gefährlich.« »Gefährlich...« Sorge zog über Toms Gesicht, so langsam wie ein Wolkenschatten über ein sommerliches Maisfeld zieht. »Muß ich Angst haben? Muß ich...« Er verstummte und seufzte. Stu sah Nick besorgt an. Nick formte mit den Lippen: Ja. »Er ist es«, sagte Tom und seufzte voll Grauen. Es hörte sich an wie ein kalter Novemberwind, der durch die kahlen Zweige von Eichen fährt. Stu schauderte wieder innerlich. Ralph war blaß geworden. »Wer, Tom?« fragte Stu sanft. »Flagg. Sein Name ist Randy Flagg. Der dunkle Mann. Soll ich...« Wieder dieser langgezogene, bittere und klägliche Seufzer. »Woher kennst du ihn, Tom?« Das stand nicht im Drehbuch. »Träume... ich habe sein Gesicht in Träumen gesehen.« Ich habe sein Gesicht in Träumen gesehen. Aber keiner von ihnen hatte sein Gesicht gesehen. Es war immer verborgen. »Du hast ihn gesehen?« »Wie sieht er aus, Tom?« Tom sagte lange nichts. Stu dachte schon, daß er nicht antworten würde, und wollte anhand des »Drehbuchs« weitermachen, als Tom sagte: »Er sieht aus wie jeder, den man auf der Straße sieht. Aber wenn er grinst, fallen die Vögel tot von Telefonleitungen. Wenn er einen auf bestimmte Weise ansieht, tut die Prostata weh und der Urin brennt. Wo er ausspuckt, wird das Gras gelb und stirbt. Er ist immer draußen. Er kam aus der Zeit. Er kennt sich selbst nicht. Er hat die Namen von tausend Dämonen. Jesus hat ihn einmal unter die Schweine gestoßen. Sein Name ist Legion. Er hat Angst vor uns. Wir sind drinnen. Er beherrscht Magie. Er kann die Wölfe rufen und in den Krähen leben. Er ist der König von Nirgendwo. Aber er hat Angst vor uns. Er hat Angst vor dem... Drinnen.« Tom verstummte. Die drei sahen einander bleich wie Grabsteine an. Ralph hatte den Hut vom Kopf genommen und knetete ihn zwanghaft zwischen den Händen. Nick hielt sich eine Hand vor die Augen. Stus Hals hatte sich in trockenes Glas verwandelt. Sein Name ist Legion. Er ist der König von Nirgendwo. »Kannst du noch etwas über ihn sagen?« fragte Stu mit leiser Stimme. »Nur, daß ich auch Angst vor ihm habe. Aber ich mache, was ihr wollt. Aber Tom... hat solche Angst.« Wieder dieser schreckliche Seufzer. »Tom«, sagte Ralph plötzlich. »Weißt du, ob Mutter Abagail... ob sie noch lebt?« Ralphs Gesicht war starr vor Verzweiflung, das Gesicht eines Mannes, der alles auf eine Karte gesetzt hat. »Sie lebt.« Ralph lehnte sich aufatmend an die Stuhllehne. »Aber sie ist noch nicht mit Gott einig«, fügte Tom hinzu. »Nicht mit Gott einig? Warum nicht, Tommy?« »Sie ist in der Wildnis, Gott hat sie in die Wildnis geschickt, sie fürchtet nicht den Schrecken des Tages oder das Grauen, das um Mitternacht umgeht.. . keine Schlange wird sie beißen, keine Biene sie stechen... aber sie ist noch nicht mit Gott einig. Es war nicht Moses' Hand, die das Wasser aus dem Felsen schlug. Es war nicht die Hand von Abagail, die die Wiesel mit leerem Bauch vertrieben hat. Sie ist bemitleidenswert. Sie wird sehen, aber sie wird zu spät sehen. Es wird Tod geben. Seinen Tod. Sie wird auf der falschen Seite des Flusses sterben. Sie...« »Er soll aufhören«, stöhnte Ralph. »Könnt ihr nicht dafür sorgen, dass er aufhört?« »Tom«, sagte Stu. »Ja.« »Bist du der Tom, den Nick in Oklahoma kennengelernt hat? Bist du der Tom, den wir kennen, wenn du wach bist?« »Ja, aber ich bin mehr als Tom.« »Ich verstehe nicht.« Tom bewegte sich ein wenig, aber sein schlafendes Gesicht blieb ruhig. »Ich bin Gottes Tom.« Der völlig entnervte Stu hätte fast Nicks Notizen fallen lassen. »Du sagst, du machst, was wir wollen?« »Ja.« »Aber siehst du... glaubst du, daß du zurückkommen wirst?« »Das zu sehen oder sagen ist nicht meine Sache. Wohin soll ich gehen?« »Nach Westen, Tom.« Tom stöhnte. Es war ein Laut, bei dem sich Stus Nackenhaare sträubten. Wohin schicken wir ihn? Und vielleicht wußte er es. Vielleicht war Stu selbst dort gewesen, nur in Vermont, in einem Labyrinth von Korridoren, wo das Echo ihm vorgaukelte, daß ihm Schritte folgten. Und näher kamen. »Westen«, sagte Tom. »Westen, ja.« »Du sollst dich dort umsehen, Tom. Beobachten. Und dann zurückkommen.« »Zurückkommen und erzählen«, sagte Tom. »Kannst du das?« »Ja. Wenn sie mich nicht fangen und töten.« Stu zuckte zusammen; sie zuckten alle zusammen. »Du gehst allein, Tom. Immer nach Westen. Kannst du ihn finden?« »Wo die Sonne untergeht.« »Ja, und wenn jemand dich fragt, warum du dort bist, sagst du: Sie haben dich aus der Freien Zone verjagt...« »Mich verjagt. Tom verjagt. Auf die Straße gesetzt.« »... weil du schwachsinnig bist...« »Sie haben Tom verjagt, weil Tom schwachsinnig ist.« ».. und weil du vielleicht eine Frau nimmst und die Frau dumme Kinder bekommt.« »Dumme Kinder wie Tom.« Stus Magen drehte sich hilflos hin und her. Sein Kopf kam ihm wie Eisen vor, das schwitzen gelernt hat. Es war, als hätte er einen schrecklichen, entkräftenden Kater. »Und jetzt wiederhole, was du sagst, wenn jemand fragt, warum du im Westen bist.« »Sie haben Tom verjagt, weil er schwachsinnig ist. Meine Fresse, ja. Sie haben Angst, daß ich eine Frau nehme, so wie ihr mit dem Schwanz im Bett. Daß ich sie mit Idioten schwanger mache.« »Das ist richtig, Tom. Das ist...« »Mich verjagt«, sagte er mit leiser, trauriger Stimme. »Tom aus seinem schönen Haus gejagt und auf die Straße geschickt.« Stu strich mit einer zitternden Hand über die Augen. Er sah Nick an. Nick wurde vor seinen Augen zuerst doppelt, dann dreifach. »Nick, ich weiß nicht, wie ich zum Schluß kommen soll«, sagte er hilflos. Nick sah Ralph an. Ralph, der käseweiß war, konnte nur den Kopf schütteln. »Schluß«, sagte Tom unerwartet. »Laßt mich nicht hier im Dunkeln.« Stu zwang sich dazu, weiterzusprechen. »Tom, weißt du, wie der Vollmond aussieht?« »Ja... groß und rund.« »Nicht der Halbmond oder der fast volle Mond.« »Nein«, sagte Tom. »Wenn du den großen runden Mond siehst, kommst du in den Osten zurück. Zurück zu uns. Zurück in dein Haus, Tom.« »Ja, wenn ich ihn sehe, komme ich zurück«, bestätigte Tom. »Zurück nach Hause.« »Und wenn du zurückkommst, mußt du nachts gehen und am Tag schlafen.« »Nachts gehen, am Tag schlafen.« »Richtig. Und laß dich von niemandem sehen, wenn du es vermeiden kannst.« »Nein.« »Aber Tom, es könnte dich trotzdem jemand sehen.« »Ja, jemand könnte mich sehen.« »Wenn es nur einer ist, Tom, bringst du ihn um.« »Umbringen«, sagte Tom zweifelnd. »Wenn es mehr als einer ist, läufst du weg.« »Weglaufen«, sagte Tom zuversichtlicher. »Aber versuch, dich gar nicht sehen zu lassen. Kannst du das alles wiederholen?« »Ja. Ich komme zurück, wenn Vollmond ist. Nicht Halbmond, Fingernagelmond. Nachts gehen, am Tag schlafen. Von niemandem sehen lassen. Wenn mich einer sieht, bringe ich ihn um. Wenn mehr als einer mich sieht, laufe ich weg. Aber versuchen, mich nicht sehen zu lassen.« »Das ist sehr gut. Ich möchte, daß du in ein paar Sekunden aufwachst, okay?« »Okay.« »Wenn ich nach dem Elefanten frage, wachst du auf, okay?« »Okay.« Stu lehnte sich mit einem langen, zitternden Seufzer zurück. »Gott sei Dank, es ist vorbei.« Nick sah ihn zustimmend an. »Hast du gewußt, was passieren könnte, Nick?« Nick schüttelte den Kopf. »Wie konnte er das alles wissen?« murmelte Stu. Nick deutete auf seinen Block. Stu gab ihn ihm und war froh, ihn loszuwerden. Seine Finger hatten die Seite mit Nicks »Drehbuch« so durchgeschwitzt, daß sie fast durchsichtig war. Nick schrieb und gab ihn Ralph. Ralph las, bewegte dabei die Lippen und gab ihn an Stu weiter. »Im Verlauf der Geschichte haben immer wieder Leute die Wahnsinnigen und geistig Zurückgebliebenen als Auserwählte Gottes betrachtet. Ich glaube nicht, daß er uns etwas gesagt hat, das von praktischem Nutzen für uns sein kann, aber ich weiß, er hat uns einen Heidenschrecken eingejagt. Magie, hat er gesagt. Wie kämpft man denn gegen Magie?« »Das ist mir alles zu hoch«, murmelte Ralph. »Was er über Mutter Abagail gesagt hat, daran will ich gar nicht denken. Weck ihn auf, Stu, daß wir so schnell wie möglich hier raus kommen.« Ralph war den Tränen nahe. Stu beugte sich wieder vor. »Tom?« »Ja.« »Möchtest du einen Elefanten sehen?« Tom schlug sofort die Augen auf und sah sich um. »Ich hab' euch gesagt, daß es nicht funktioniert«, sagte er. »Meine Fresse, nein. Mitten am Tag wird Tom nicht müde.« Nick gab Stu einen Zettel; der las ihn und sagte zu Tom: »Nick sagt, das hast du sehr gut gemacht.« »Ja? Habe ich wieder Kopfstand gemacht, wie vorher?« Voller bitterer Scham dachte Nick: Nein, Tom, diesmal hast du eine Menge viel besserer Tricks gemacht. »Nein«, sagte Stu. »Tom, wir wollten fragen, ob du uns helfen kannst.« »Ich? Helfen? Klar! Ich helfe gern!« »Es ist gefährlich, Tom. Wir wollen, daß du nach Westen gehst und dann zurückkommst und uns erzählst, was du gesehen hast.« »Okay, klar«, sagte Tom ohne das geringste Zögern, aber Stu glaubte, kurz einen Schatten über Toms Gesicht huschen zu sehen... einen Schatten, der hinter den arglosen blauen Augen verweilte. »Wann?« Stu legte Tom sanft eine Hand auf den Nacken und fragte sich, was um Gottes willen er hier trieb. Wie sollte man das alles auf die Reihe kriegen, wenn man nicht Mutter Abagail war und keinen heißen Draht zum Himmel hatte? »Bald«, sagte er sanft. »Schon bald.« Als Stu in die Wohnung kam, machte Frannie das Abendessen. »Harold war da«, sagte sie. »Ich habe ihn gebeten, zum Essen zu bleiben, aber er hat sich entschuldigt.« »Oh.« Sie sah ihn genauer an. »Stuart Redman, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?« »Eine Laus namens Tom Cullen, glaube ich.« Und er erzählte ihr alles. Sie setzten sich zum Abendessen hin. »Was bedeutet das alles?« fragte Fran. Ihr Gesicht war blaß; sie aß eigentlich nichts, sondern schob das Essen lediglich von einem Tellerrand zum anderen. »Wenn ich das nur selbst wüßte«, sagte Stu. »Es ist eine Art... eine Art Sehen, glaube ich. Ich weiß nicht, warum uns die Tatsache, dass Tom Cullen unter Hypnose Visionen hat, so fertigmacht, schließlich haben wir alle auf dem Weg hierher Träume gehabt. Wenn sie nicht auch eine Art Sehen waren, weiß ich nicht, was sie waren.« »Aber das ist schon so lange her... jedenfalls für mich.« »Ja, für mich auch«, stimmte Stu zu und stellte fest, daß er sein Essen auch nur herumschob. »Hör mal, Stu - ich weiß, wir waren uns einig, Komiteefragen nicht außerhalb des Komitees zu besprechen, wenn es sich vermeiden läßt. Du hast gesagt, wir würden uns ständig zanken, und da hast du wahrscheinlich recht gehabt. Ich habe kein Wort darüber verloren, daß du nach dem fünfundzwanzigsten Marshal Dillon wirst, oder?« Er lächelte kurz. »Nein, Fran, das hast du nicht.« »Aber ich muß dich fragen, ob du es immer noch gut findest, Tom Cullen nach Westen zu schicken. Nach allem, was heute nachmittag passiert ist.« »Ich weiß nicht«, sagte Stu. Er schob den Teller weg. Das Essen war kaum angerührt. Er stand auf, ging zum Schrank in der Diele und holte eine Packung Zigaretten. Er hatte seinen Konsum auf drei oder vier täglich reduziert. Er zündete eine an, sog rauhen, schalen Tabakrauch in die Lungen und stieß ihn aus. »Auf der positiven Seite ist die Geschichte so einfach, daß sie glaubwürdig klingt. Wir haben ihn weggejagt, weil er schwachsinnig ist. Davon wird ihn keiner abbringen können. Und wenn er unversehrt zurückkommt, können wir ihn hypnotisieren - er ist schneller weg, als du mit den Fingern schnippen kannst -, und er wird uns alles erzählen, was er gesehen hat, Wichtiges und Unwichtiges. Es wäre möglich, daß er ein besserer Beobachter ist als die anderen. Daran zweifle ich nicht.« »Wenn er unversehrt zurückkommt.« »Ja, wenn. Wir haben ihm den Befehl gegeben, bei seiner Rückkehr nach Osten nur nachts zu reisen und sich tagsüber zu verstecken. Wenn er mehr als einen Menschen sieht, soll er weglaufen. Wenn er nur einen sieht, soll er ihn umbringen.« »Stu, das ist nicht dein Ernst!« »Selbstverständlich!« sagte er wütend und drehte sich zu ihr um. »Wir spielen hier nicht Backe-backe-Kuchen, Frannie! Du mußt wissen, was mit ihm... oder dem Richter... oder Dayna... da drüben passiert, wenn sie erwischt werden! Warum warst du denn anfänglich dagegen?« »Okay«, sagte sie leise. »Okay, Stu.« »Nein, es ist nicht okay!« sagte er und drückte die frisch angezündete Zigarette im Tonaschenbecher aus, daß Fünkchen hochstoben. Mehrere landeten auf seinem Handrücken; er wischte sie mit einer heftigen Bewegung weg. »Es ist nicht okay, einen schwachsinnigen Jungen für unsere Sache in den Kampf zu schicken, und es ist nicht okay, Menschen wie Bauern auf einem Scheißschachbrett herumzuschieben, und es ist nicht okay, den Befehl zum Töten zu geben so wie ein Mafiaboß. Aber ich weiss nicht, was wir sonst machen können. Ich weiß es einfach nicht. Wenn wir nicht herausfinden, was er vorhat, ist die Chance groß, daß er die ganze Freie Zone nächstes Frühjahr in einer einzigen riesigen Pilzwolke hochgehen läßt.« »Okay. He. Okay.« Er ballte die Fäuste langsam. »Ich habe dich angeschrien. Tut mir leid. Dazu hatte ich kein Recht, Frannie.« »Schon gut. Du warst nicht derjenige, der die Büchse der Pandora aufgemacht hat.« »Ich glaube, die machen wir alle auf«, sagte er düster und holte sich eine neue Zigarette aus der Packung im Schrank. »Wie auch immer, als ich ihm diesen... wie nennt man das? Als ich ihm sagte, daß er einen einzelnen Menschen, der ihm begegnet, umbringen soll, habe ich gemerkt, wie eine Art Schatten über sein Gesicht ging. Er war gleich wieder verschwunden, und ich weiß nicht einmal, ob Ralph oder Nick ihn gesehen haben. Aber ich habe ihn gesehen. Als würde er denken: >Okay, ich weiß, was du meinst, aber wenn es soweit kommt, werde ich mich selbst entscheiden.<« »Ich habe gelesen, daß man niemand veranlassen kann, unter Hypnose etwas zu tun, was er nicht auch im Wachzustand getan hätte. Ein Mensch verstößt nicht gegen seinen eigenen Ehrenkodex, bloß weil man es ihm befiehlt, wenn er hypnotisiert ist.« Stu nickte. »Ja, daran habe ich auch gedacht. Aber wenn dieser Flagg nun an seiner Ostgrenze Posten aufgestellt hat? Ich an seiner Stelle hätte das getan. Wenn Tom auf dem Weg nach Westen auf diese Posten stößt, hat er seine Geschichte als Schutz. Aber wenn er wieder nach Osten will und auf sie stößt, heißt es töten oder getötet werden. Und wenn Tom nicht töten will, dann ist er so gut wie tot.« »Über diesen Aspekt machst du dir vielleicht unnötig Sorgen«, sagte Frannie. »Ich meine, wenn es dort eine Postenkette gibt, wäre die nicht ziemlich dünn?« »Ja. Vielleicht ein Mann alle fünfzig Meilen. Es sei denn, er hat fünfmal soviel Leute wie wir.« »Wenn sie nicht schon kompliziertes Gerät aufgestellt haben, Radar und Infrarot und all das Zeug, das man in Spionagefilmen sieht, könnte Tom den Posten dann nicht aus dem Weg gehen?« »Das hoffen wir ja. Aber...« »Aber du hast einen bösen Anfall von schlechtem Gewissen«, sagte sie leise. »Läuft es darauf hinaus? Nun, vielleicht. Was hat Harold gewollt, Liebes?« »Er hat ein paar Landkarten dagelassen. Gebiete, wo sein Suchtrupp nach Mutter Abagail gesucht hat. Wie auch immer, Harold arbeitet beim Beerdigungstrupp und beim Suchtrupp mit. Er hat sehr müde ausgesehen, aber seine Pflichten in der Freien Zone sind nicht der einzige Grund. Es scheint, als hätte er sich noch um etwas anderes gekümmert.« »Und das wäre?« »Harold hat eine Frau.« Stu zog die Brauen hoch. »Jedenfalls ist er deshalb nicht zum Essen geblieben. Kannst du erraten, wer sie ist?« Stu blinzelte zur Decke hinauf. »Nun, mit wem könnte Harold herummachen. Mal sehen...« »Du hast aber eine Art, das auszudrücken! Was meinst du, machen wir denn?« Sie schlug scherzhaft nach ihm, und er wich grinsend zurück. »Komisch, was? Ich gebe auf. Wer ist es?« »Nadine Cross.« »Die Frau mit den weißen Strähnen im Haar?« »Das ist sie.« »Ach, die muß doppelt so alt sein wie er.« »Ich bezweifle«, sagte Frannie, »ob Harold sich in diesem Stadium seiner Beziehung darüber Gedanken macht.« »Weiß Larry es?« »Ich weiß es nicht, und es interessiert mich noch weniger. Die Cross ist nicht mehr Larrys Mädchen. Wenn sie es überhaupt jemals war.« »Ja«, sagte Stu. Er war froh, daß Harold jemand gefunden hatte, aber nicht schrecklich an dem Thema interessiert. »Und was meint Harold zum Suchtrupp? Hat er etwas gesagt?« »Du kennst ja Harold. Er lächelt dauernd, aber... ohne Hoffnung. Ich glaube, darum beschäftigt er sich hauptsächlich mit den Beerdigungen. Sie nennen ihn jetzt Hawk, hast du das gewußt?« »Tatsächlich?« »Ich habe es heute gehört. Ich wußte nicht, über wen geredet wurde, und da habe ich gefragt.« Sie überlegte einen Augenblick, dann lachte sie. »Was ist denn so komisch?« fragte Stu. Sie streckte die Füße aus, die in flachen Turnschuhen steckten. An den Sohlen hatten sie ein Muster von Kreisen und Linien. »Er hat mir zu meinen Turnschuhen gratuliert. Ist das nicht witzig?« »Du bist witzig«, sagte Stu grinsend. Kurz vor Morgendämmerung wachte Harold mit einem dumpfen, aber nicht unangenehmen Schmerz im Unterleib auf. Er zitterte ein wenig, als er aufstand. Es war jetzt früh morgens schon merklich kühler, obwohl es erst der 22.. August war und der Herbst noch einen Kalendermonat entfernt. Aber unterhalb der Gürtellinie war ihm heiß, o ja. Nur die schönen Rundungen ihrer Hinterbacken unter diesem winzigen durchscheinenden Slip zu sehen, während sie noch schlief, machte ihn schon heiß. Es würde ihr nichts ausmachen, wenn er sie weckte... nun, vielleicht würde es ihr doch etwas ausmachen, aber sie würde nicht widersprechen. Er hatte immer noch keine Ahnung, was sich hinter ihren dunklen Augen verbergen mochte, und er hatte ein wenig Angst vor ihr. Statt sie zu wecken, zog er sich leise an. Er wollte jetzt nicht mit Nadine herummachen, so gern er es auch getan hätte. Erst einmal mußte er wohin gehen, wo er allein war, und nachdenken. Als er angezogen war, blieb er einen Augenblick an der Tür stehen und hielt die Stiefel in der linken Hand. Die Kälte im Zimmer und die profane Beschäftigung des Ankleidens hatten sein Verlangen abgekühlt. Er konnte jetzt das Zimmer riechen, und der Geruch war nicht gerade sehr ansprechend. Nur eine Kleinigkeit, hatte sie gesagt, etwas, worauf sie verzichten konnten. Vielleicht stimmte das. Sie konnte mit Mund und Händen Dinge tun, die unglaublich waren. Aber wenn es so eine Kleinigkeit war, warum hatte dieses Zimmer dann den schalen und leicht sauren Geruch, den er mit den einsamen Freuden seiner schlimmen Jahre assoziierte? Vielleicht möchtest du, daß es schlecht ist. Beunruhigender Gedanke. Er ging hinaus und machte die Tür leise hinter sich zu. Nadine machte in dem Moment die Augen auf, als die Tür zu war. Sie richtete sich auf, sah nachdenklich zu der Tür und legte sich dann wieder hin. Ihr ganzer Körper schmerzte im langsamen, unbefriedigten Zyklus des Verlangens. Es war fast wie Menstruationsbeschwerden. Wenn es so eine Kleinigkeit war, dachte sie (ohne zu wissen, wie nahe ihre Gedanken denen Harolds waren), warum empfand sie dann so? Einmal in der vergangenen Nacht hatte sie sich auf die Lippen beißen müssen, um nicht zu schreien: Hör auf herumzuspielen und STECK das Ding in mich rein! Hast du verstanden? STECK es mir rein, hau es mir VOLL rein! Glaubst du, was du da machst, bringt mir etwas? Steck ihn mir rein und laß uns um Himmels - zumindest um meinetwillen - mit diesem verrückten Spiel aufhören! Er hatte den Kopf zwischen ihren Beinen gehabt und seltsame Laute der Lust von sich gegeben, Laute, die komisch gewesen wären, wären sie nicht so aufrichtig drängend, beinahe wild gewesen. Sie hatte aufgesehen, während diese Worte hinter ihren Lippen zitterten, und hatte (oder hatte sie es sich nur eingebildet?) ein Gesicht am Fenster gesehen. In diesem Augenblick war das Feuer ihrer Lust zu kalter Asche niedergebrannt. Es war sein Gesicht gewesen, das sie wild angegrinst hatte. Ein Schrei war ihr im Hals emporgestiegen... und dann war das Gesicht fort, nichts weiter als die Bewegung eines Schattenmusters auf dem dunklen Glas, verbunden mit Staubschlieren. Nichts weiter als der schwarze Mann, im Schrank oder listig hinter der Spielzeugkiste in der Ecke versteckt, den sich ein Kind einbildet. Nichts weiter. Aber es war mehr; sie konnte sich nicht einmal jetzt, im ersten kalten und vernünftigen Licht der Dämmerung, etwas anderes einreden. Es wäre gefährlich, sich etwas anderes einzureden. Er war es gewesen, und er hatte sie gewarnt. Der künftige Ehemann wachte über seine Versprochene. Und die geschändete Braut würde keine Gnade finden. Sie sah zur Decke und dachte: Ich lutsche seinen Schwanz, aber das ist nicht geschändet. Ich lasse es zu, daß er ihn mir in den Arsch steckt, aber auch das ist nicht geschändet. Ich ziehe mich wie eine Straßenhure für ihn an, und das ist vollkommen in Ordnung.  Sie mußte sich doch fragen, was für ein Mann ihr Bräutigam eigentlich war. Nadine sah lange, lange Zeit zur Decke hinauf. Harold machte Instant-Kaffee, verzog das Gesicht beim Trinken und nahm ein paar kalte Pop-Tarts mit auf die Eingangsstufen. Er setzte sich, aß und sah zu, wie die Dämmerung über das Land kroch. Zurückblickend erschienen ihm die letzten Tage wie eine verrückte Jahrmarktsfahrt. Sie waren ein trübes Panorama von orangefarbenen Lastwagen; von Weizak, der ihm auf die Schulter klopfte und ihn Hawk nannte (sie nannten ihn jetzt alle so); von Leichen, einem endlosen verwesenden Strom; und nach soviel Tod ging es dann nach Hause zu einem endlosen Strom von abartigem Sex. Das reichte, einem den Kopf zu verwirren. Aber jetzt, hier auf den Stufen zum Eingang, die so kalt wie ein Grabstein aus Marmor waren, und mit einer Tasse dieses widerlichen Kaffees im Magen, konnte er die nach Sägemehl schmeckenden kalten Pop-Tarts mampfen und nachdenken. Er war wieder klar im Kopf, normal nach einer Periode des Wahnsinns. Es kam ihm in den Sinn, daß er für einen Mann, der sich immer für einen Cro-Magnon-Menschen inmitten einer brüllenden Horde von Neandertalern gehalten hatte, in letzter Zeit sehr selten zum Nachdenken gekommen war. Er war herumgeführt worden, nicht an der Nase, sondern am Schwanz. Als er jetzt zu den Flatirons hinübersah, mußte er an Frannie Goldsmith denken. Frannie war der ungebetene Besucher in seinem Haus gewesen, das wußte er jetzt mit Sicherheit. Er hatte sie unter einem Vorwand besucht, wo sie mit Redman hauste, und gehofft, sich ihre Schuhe näher betrachten zu können. Und es hatte sich herausgestellt, daß sie tatsächlich Schuhe trug, deren Sohlen dem Abdruck entsprachen, den er auf dem Kellerfußboden gefunden hatte. Kreise und Linien statt des normalen Waffel- oder Zickzackmusters. Keine Frage, Baby. Er konnte es sich ohne große Mühe einigermaßen zusammenreimen. Irgendwie mußte sie herausgefunden haben, dass er ihr Tagebuch gelesen hatte. Er mußte auf einer Seite einen Schmutzfleck oder Fingerabdruck hinterlassen haben... vielleicht mehr als einen. Deshalb war sie in sein Haus gekommen, um nach einem Hinweis zu suchen, was er über das dachte, was er gelesen hatte. Etwas Schriftlichem. Da war natürlich sein Hauptbuch. Aber er war sicher, daß sie es nicht gefunden hatte. In seinem Hauptbuch stand schwarz auf weiß, daß er Stuart Redman töten wollte. Wenn sie das gelesen hätte, hätte sie es Stu gesagt. Und selbst wenn sie es ihm nicht gesagt hätte, es wäre ihr unmöglich gewesen, so normal und unbefangen mit ihm zu reden wie gestern. Er aß die letzte Tarte, verzog das Gesicht, als er auf den kalten Überzug und die noch kältere Marmeladenfüllung biß. Er beschloß, nicht das Motorrad zu nehmen, sondern zu Fuß zum Busbahnhof zu gehen; Teddy Weizak und Norris konnten ihn abends auf dem Heimweg absetzen. Er ging los und zog den Reißverschluß der leichten Jacke ganz hoch gegen die Kälte, die in spätestens einer Stunde vorbei sein würde. Er ging an den leeren Häusern mit den heruntergelassenen Jalousien vorbei, und als er auf der Arapahoe ungefähr sechs Blocks weit gegangen war, sah er an einer Tür nach der anderen ein kühnes X aus Kreide. Wieder sein Einfall. Der Beerdigungstrupp hatte alle Häuser überprüft, die mit einem X markiert waren, und die Leichen weggeschafft, die es wegzuschaffen gab. X, ein Durchstreichen. Die Menschen, die in den Häusern gewohnt hatten, wo das Zeichen auftauchte, waren für alle Zeiten fort. Noch ein Monat, dann würde das X überall in Boulder sein und das Ende eines Zeitalters kennzeichnen. Es war Zeit, nachzudenken, und zwar gründlich nachzudenken. Ihm schien, als hätte er ganz einfach aufgehört zu denken, seit Nadine zu ihm gekommen war... aber vielleicht hatte er ja schon lange vorher damit aufgehört. Ich habe ihr Tagebuch gelesen, weil ich gekränkt und eifersüchtig war, dachte er. Dann ist sie in mein Haus eingebrochen und hat wahrscheinlich mein Tagebuch gesucht, aber sie hat es nicht gefunden. Aber allein der Schock, daß jemand eingebrochen war, war Rache genug. Jedenfalls hatte es ihm gehörig zu schaffen gemacht. Vielleicht waren sie jetzt quitt. Er wollte Frannie nicht mehr, oder?... Oder? Er spürte, wie die heiße Glut der Zurückweisung in seiner Brust brannte. Vielleicht nicht. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß man ihn ausgeschlossen hatte. Nadine hatte sich nicht weiter darüber geäußert, warum sie zu ihm gekommen war, aber Harold vermutete, daß auch sie irgendwie ausgeschlossen worden war, zurückgewiesen, mißachtet. Sie waren zwei Außenseiter, und Außenseiter schmieden Komplotte. Vielleicht ist das das einzige, was ihnen den Verstand erhält. (Vergiß nicht, das in das Hauptbuch zu schreiben, dachte Harold... er war jetzt fast in der Innenstadt.) Auf der anderen Seite der Berge gab es eine ganze Gesellschaft von Außenseitern. Und wo genügend Außenseiter an einem Ort zusammenkommen, findet eine mystische Osmose statt, und man ist drinnen. Drinnen, wo es warm ist. Eine kleine Sache, drinnen zu sein, wo es warm ist, und doch so ungemein wichtig. Die wichtigste Sache der Welt. Vielleicht wollte er gar nicht quitt sein. Vielleicht wollte er kein Unentschieden, keine Karriere auf diesem Leichenkarren des zwanzigsten Jahrhunderts und keine sinnlosen Dankesbriefe für seine Ideen und nicht fünf Jahre lang darauf warten, daß Bateman von dem wunderbaren Komitee zurücktrat und er reinkonnte... und wenn sie beschlossen, ihn wieder zu übergehen? Vielleicht hatten sie das vor, schließlich war es nicht eine Frage des Alters. Den verfluchten Taubstummen hatten sie genommen, und der war nur ein paar Jahre älter als Harold selbst. Die Glut der Zurückweisung loderte jetzt hell. Denken, klar, denken - das war leicht gesagt und manchmal leicht getan... aber was nützte alles Denken, wenn man von den Neandertalern, die die Welt regierten, nur wieherndes Gelächter erntete oder, noch schlimmer, einen Dankesbrief? Er kam zum Busbahnhof. Es war früh, noch keiner war da. An der Tür hing ein Plakat, auf dem stand, daß am fünfundzwanzigsten wieder eine öffentliche Versammlung stattfinden sollte. Öffentliche Versammlung? Öffentlicher Lachschlager. Der Warteraum war mit Touristikplakaten und Werbung für den Greyhound-Ameripass und Bildern von großen Ausflugsbussen voll Muttchen, die bei Kaffeefahrten durch Atlanta und New Orleans und San Francisco und Nashville und wo auch immer kreuzten, geschmückt. Er setzte sich und sah mit dunklem Morgenblick auf die Flippergeräte, den Cola-Automaten und die Kaffeemaschine, aus der man einen Becher Lipton O'Soup bekommen konnte, der ungefähr wie toter Fisch schmeckte. Er zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf den Fußboden. Sie hatten die Verfassung angenommen. Juhuuh. Wie ausgesprochen und ganz überaus. Herrgott, sie hatten sogar die »Star-Spangled Banana« gesungen. Was aber, wenn Harold Lauder aufgestanden wäre, nicht etwa, um ein paar konstruktive Vorschläge zu machen, sondern um ihnen in diesem ersten Jahr nach der Seuche zu sagen, worum es eigentlich ging? Ladies and Gentlemen, mein Name ist Harold Emery Lauder, und ich stehe hier, um Ihnen zu sagen, daß, mit den Worten des alten Liedes, die grundsätzlichen Dinge immer noch gelten, auch wenn sieb die Zeiten ändern. Wie Darwin. Wenn Sie das nächste Mal aufstehen, um die Nationalhymne zu singen, Freunde und Nachbarn, dann denken Sie doch bitte daran: Amerika ist tot, mausetot, so tot wie Jacob Marley und Buddy Holly und die Big Poppers und Harry S. Truman, aber die Prinzipien, die Mr. Darwin als erster zu bedenken gegeben hat, sind immer noch sehr lebendig - so lebendig wie der Geist von Jacob Marley für Ebenezer Scrooge. Während Sie über die Schönheit einer konstitutionellen Regierung meditieren, nehmen Sie sich doch auch ein wenig Zeit, über Randall Flagg nachzudenken, den Mann des Westens. Ich bezweifle sehr, ob er für Lächerlichkeiten wie öffentliche Versammlungen und Notifizierungen und Diskussionen über die wahre Bedeutung eines Pfirsichs Zeit hat, alles nach bester liberaler Sitte. Statt dessen hat er sich auf die grundsätzlichen Dinge konzentriert, auf seinen Darwin und darauf, den großen Tisch des Universums mit euren Leichen abzuwischen. Ladies and Gentlemen, darf ich ganz bescheiden daran erinnern, daß er, während wir versuchen, das Licht wieder anzuschalten und darauf warten, daß sich ein Arzt in unseren fröhlichen kleinen Bienenstock verirrt, nach jemandem sucht, der einen Pilotenschein hat, damit er in bester Tradition eines Francis Gary Powers Boulder überfliegen kann. Während wir die brennende Frage diskutieren, wer wohl in das Straßenreinigungskomitee gewählt werden sollte, hat er wahrscheinlich schon ein Waffenreinigungs-Komitee gegründet, von Mörsern, Raketenbasen und möglicherweise sogar biologischen Waffen ganz zu schweigen, die ja auch zu den Dingen gehören, die dieses Land groß gemacht haben - welches Land, ha-ha-ha -, aber Sie sollten immerhin daran denken, daß er, während wir hier eine Wagenburg errichten ...« »He, Hawk, machst du Überstunden?« Harold sah lächelnd hoch. »Ja, ich habe mir gedacht, ich mach' ein bißchen Moos«, sagte er zu Weizak. »Ich habe auch für dich gestempelt, als ich hier war. Du hast schon sechs Dollar verdient.« Weizak lachte. »Du bist vielleicht ein Kerl, Hawk, weißt du das?« »Bin ich«, stimmte Harold immer noch lächelnd zu. Er schnürte sich die Stiefel neu. »Ein Teufelskerl.« 56 Stu verbrachte den nächsten Tag im Kraftwerk, wickelte Motoren und fuhr nach der Arbeit mit dem Motorrad nach Hause. Er war bei dem kleinen Park gegenüber der First National Bank, als Ralph ihn zu sich winkte. Er stellte das Motorrad ab und ging zum Musikpavillon, wo Ralph saß. »Ich habe auf dich gewartet, Stu. Hast du eine Minute Zeit?« »Aber nur eine. Ich komme zu spät zum Abendessen. Frannie wird sich Sorgen machen.« »Ja. Warst wieder im Kraftwerk und hast Kupfer gewickelt, wie deine Hände aussehen?« Ralph sah zerstreut und besorgt aus. »Ja. Da helfen nicht einmal Arbeitshandschuhe. Meine Hände sind kaputt.« Ralph nickte. Im Park waren vielleicht noch ein halbes Dutzend andere Leute; einige sahen sich die Schmalspureisenbahn an, die früher zwischen Boulder und Denver gefahren war. Ein Trio junger Frauen hatte ein Picknick gerichtet. Stu fand es sehr angenehm, einfach mit den zerschundenen Händen im Schoß hier zu sitzen. Vielleicht ist es doch nicht so schlimm, Marshal zu sein, dachte er. Wenigstens brauche ich dann nicht mehr an dem verdammten Fließband zu stehen. »Wie läuft es da draußen?« fragte Ralph. »Das kann ich dir nicht sagen - ich bin nur Hilfsarbeiter, wie alle anderen. Brad Kitchner sagt, es wird losgehen wie ein brennendes Haus. Er sagt, Ende der ersten Septemberwoche sind die Lichter wieder an, möglicherweise früher, Mitte des Monats haben wir wieder Heizung. Er ist natürlich ziemlich jung und seine Vorhersagen vielleicht nicht...« »Ich würde mein Geld auf Brad setzen«, sagte Ralph. »Ich vertraue ihm. Er hat jede Menge Praxisausbildung bekommen.« Ralph versuchte zu lachen; aber das Lachen wurde zu einem Seufzer, der von den Schuhsohlen des großen Mannes heraufzukommen schien. »Warum bist du so niedergeschlagen, Ralph?« »Ich habe Neuigkeiten über Funk bekommen«, sagte Ralph. »Manche sind gut, manche sind... nun, manche sind nicht so gut, Stu. Ich möchte, daß du es weißt, weil man es nicht geheimhalten kann. Viele Leute in der Zone haben CB. Ich denke mir, sie haben zugehört, als ich mit den Neuen gesprochen habe, die unterwegs sind.« »Wie viele?« »Über vierzig. Einer ist Arzt und heißt George Richardson. Klingt nach einem guten Mann. Auf dem Boden der Tatsachen.« »Das ist ja eine gute Nachricht!« »Er stammt aus Derbyshire, Tennessee. Die meisten Leute in seiner Gruppe kommen aus dem Süden. Sie hatten eine schwangere Frau bei sich, die vor zehn Tagen niedergekommen ist, am dreizehnten. Der Arzt hat sie entbunden - es waren Zwillinge -, und die Kinder waren gesund. Zuerst waren sie gesund.« Ralph verfiel wieder in sein Schweigen, seine Kiefer mahlten. Stu packte ihn an den Schultern. »Sind sie gestorben? Sind die Babys gestorben? Willst du mir das sagen? Daß sie gestorben sind? Sprich, verdammt noch mal!« »Sie sind gestorben«, sagte Ralph mit leiser Stimme. »Eins nach zwölf Stunden. Einfach erstickt. Das andere starb zwei Tage später. Richardson konnte sie nicht retten. Die Frau wurde verrückt. Sie schrie von Tod und Vernichtung und keine Kinder mehr. Du solltest darauf achten, daß Frannie nicht dabei ist, wenn sie ankommen, Stu. Das wollte ich dir nur sagen. Und du solltest sie es gleich wissen lassen. Denn wenn du es nicht machst, macht es ein anderer.« Stu ließ langsam Ralphs Hemd los. »Dieser Richardson wollte wissen, wie viele schwangere Frauen wir haben, und ich sagte, unseres Wissens nur eine. Er wollte wissen, in welchem Monat sie sei, und ich sagte im vierten. Stimmt das?« »Sie ist im fünften Monat. Aber Ralph, ist er sicher, daß die Babys an der Supergrippe gestorben sind. Ist er sicher?« »Nein, ist er nicht, und das mußt du Frannie auch sagen, damit sie es weiß. Er sagt, es hätte alles mögliche sein können... was die Mutter gegessen hat... etwas Erbliches... eine Infektion der Atemwege... oder vielleicht waren es einfach, du weißt schon, lebensunfähige Babys. Er sagte, es könnte der Rhesus-Faktor gewesen sein, was immer das ist. Er wußte es einfach nicht, schließlich wurden sie auf einem Acker neben der verdammten Interstate 70 geboren. Er sagte, daß er und drei andere, die die Gruppe leiteten, bis spät in die Nacht zusammen gesessen und den Vorfall diskutiert hätten. Richardson hat den anderen erklärt, was es bedeutet, wenn Captain Trips die Babys getötet hat, und wie wichtig es wäre, das eindeutig festzustellen.« »Glen und ich haben uns darüber unterhalten«, sagte Stu tonlos. »An dem Tag, als wir uns kennengelernt haben. Wenn wirklich die Supergrippe die Babys umgebracht hat, bedeutet das wahrscheinlich, wir können in vierzig oder fünfzig Jahren die ganze Meschpoke den Ratten und Stubenfliegen und Spatzen überlassen.« »Ich glaube, das ist so ziemlich das, was Richardson ihnen gesagt hat. Jedenfalls waren sie zu der Zeit etwa vierzig Meilen westlich von Chicago, und er überredete sie, am nächsten Tag zurückzufahren, um die Leichen in ein großes Krankenhaus zu bringen, wo er eine Autopsie machen konnte. Er sagte, dann würde er genau wissen, ob es die Supergrippe war. Die hat er ja Ende Juni zur Genüge erlebt. Wie alle anderen Ärzte wahrscheinlich auch.« »Ja.« »Aber am nächsten Morgen waren die Babys verschwunden. Diese Frau hatte sie beerdigt, wollte aber nicht sagen wo. Sie haben zwei Tage gegraben, weil sie glaubten, so kurz nach der Niederkunft hätte die Frau sie weder sehr weit entfernt noch sehr tief vergraben können. Aber sie fanden sie nicht, und obwohl sie der Frau immer wieder beteuerten, wie wichtig es sei, hat sie die Stelle nicht verraten. Die arme Frau war vollkommen außer sich.« »Das kann ich gut verstehen«, sagte Stu und dachte daran, wie sehr Fran sich ihr Baby wünschte. »Der Doktor sagte, auch wenn die Babys an der Supergrippe gestorben sind, könnten zwei immune Leute möglicherweise ein immunes Kind zeugen«, sagte Ralph hoffnungsvoll. »Die Chancen, daß der leibliche Vater von Frans Baby immun war, stehen etwa eins zu einer Milliarde«, sagte Stu. »Jedenfalls ist er nicht hier.« »Ja, das ist kaum möglich, was? Tut mir leid, daß ich dir das sagen mußte, Stu. Aber ich fand, du mußt es wissen. Damit du sie darauf vorbereiten kannst.« »Darauf freue ich mich wirklich nicht«, sagte Stu. Aber als er nach Hause kam, mußte er erfahren, daß ihm schon jemand zuvorgekommen war. »Frannie?« Keine Antwort. Das Essen stand auf dem Kocher - das meiste davon angebrannt -, aber die Wohnung war dunkel und still. Stu ging ins Wohnzimmer und sah sich um. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher mit zwei Zigarettenkippen, aber Fran rauchte nicht, und seine Marke war es nicht. »Baby?« Er ging ins Schlafzimmer, und da fand er sie; sie lag im Halbdunkel auf dem Bett und starrte zur Decke hinauf. Ihr Gesicht war verquollen und tränenfeucht. »Hi, Stu«, sagte sie leise. »Wer hat es dir gesagt?« fragte er wütend. »Wer konnte es nicht abwarten, die gute Nachricht zu verbreiten? Wer immer es war, ich breche ihm den verdammten Arm.« »Es war Sue Stern. Sie weiß es von Jack Jackson. Er hat ein CB und konnte mithören, als Ralph mit dem Arzt gesprochen hat. Sie wollte es mir sagen, bevor jemand anders ungeschickt damit herausplatzt. Arme kleine Frannie. Vorsicht, zerbrechlich. Erst zu Weihnachten öffnen!« Sie lachte kurz. Es klang so verzweifelt, dass Stu zum Weinen zumute war. Er ging durch das Zimmer, legte sich neben sie auf das Bett und strich ihr das Haar aus der Stirn. »Liebes, es ist nicht sicher. Es ist überhaupt nicht sicher.« »Das weiß ich. Und vielleicht können wir trotzdem eigene Kinder haben.« Sie sah ihn mit blutunterlaufenen, unglücklichen Augen an. »Aber ich will dieses Kind. Ist das so schlimm?« »Nein. Natürlich nicht.« »Ich habe die ganze Zeit gelegen und darauf gewartet, daß er sich bewegt. Er hat sich nicht mehr bewegt, seit Larry hier war und nach Harold gefragt hat. Weißt du noch?« »Ja.« »Ich habe gespürt, wie sich das Baby bewegte, und wollte dich nicht wecken. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan.« Sie fing wieder an zu weinen und hielt einen Arm übers Gesicht, damit er es nicht sah. Stu nahm den Arm weg, streckte sich neben ihr aus, küßte sie. Sie umarmte ihn wild und lag dann reglos neben ihm. Als sie sprach, klangen die Worte gedämpft an seinem Hals. »Nichts zu wissen macht es viel schlimmer. Ich kann nur abwarten. Und das Warten dauert so lange, wenn man damit rechnen muß, daß das Baby stirbt, bevor es noch einen Tag alt ist.« »Du wartest nicht allein«, sagte er. Sie umarmte ihn dankbar, und sie blieben lange still nebeneinander liegen. Nadine Cross war fast fünfzehn Minuten im Wohnzimmer ihrer alten Wohnung und sammelte ihre Sachen ein, als sie ihn im Sessel in der Ecke sitzen sah; nackt bis auf die Unterhose und mit dem Daumen im Mund betrachtete er sie mit seinen seltsam grau-grünen Chinesenaugen. Sie erschrak so sehr sowohl über die Erkenntnis, daß er die ganze Zeit da gesessen haben mußte, wie über seinen tatsächlichen Anblick -, daß ihr Herz einen furchtsamen Sprung in der Brust machte und sie aufschrie. Die Taschenbücher, die sie gerade in den Rucksack stopfen wollte, fielen mit Papierrascheln zu Boden. »Joe... ich meine, Leo...« Sie legte eine Hand zwischen Brust und Hals, als wollte sie das irre Pochen ihres Herzens beruhigen. Aber ihr Herz wollte sich noch nicht beruhigen lassen, mit oder ohne Hand. Ihn plötzlich zu sehen war schlimm; ihn halbnackt und so zu sehen, wie er sich benommen hatte, als sie ihn in New Hampshire kennenlernte, war noch schlimmer. Es glich zu sehr einer Rückkehr, als hätte ein irrationaler Gott sie plötzlich in der Zeit zurückversetzt und dazu verdammt, die letzten sechs Wochen noch einmal zu durchleben. »Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt«, sagte sie leise. Joe sagte nichts. Sie ging langsam zu ihm und rechnete halb damit, ein langes Küchenmesser in seiner Hand zu sehen, wie in alten Zeiten, aber die Hand, die er nicht am Mund hatte, lag unschuldig in seinem Schoß. Sie sah, daß das Kaffeebraun seiner Haut milchig geworden war. Die alten Narben und Kratzer waren nicht mehr da. Aber die Augen waren dieselben... Augen, die einen verfolgten. Was in ihnen gewesen war, jeden Tag ein bißchen mehr, seit er Larry am Feuer Gitarre spielen gehört hatte, war jetzt vollkommen verschwunden. Seine Augen waren wie bei ihrer ersten Begegnung, und das erfüllte sie mit einer Art schleichendem Entsetzen. »Was machst du hier?« Joe sagte nichts. »Warum bist du nicht bei Larry und Lucy-Mom?« Keine Antwort. »Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden, aber bevor sie weitersprechen konnte, überlegte sie, wie lange er tatsächlich schon hier war. Es war der Morgen des 24. August. Sie hatte die beiden letzten Nächte bei Harold verbracht. Der Gedanke kam ihr, daß er seit vierzig Stunden mit dem Daumen im Mund hier sitzen mochte. Das war natürlich eine lächerliche Vorstellung, er mußte essen und trinken (oder nicht?), aber als Gedanke und Bild erst einmal da waren, ließen sie sich nicht mehr abschütteln. Das schleichende Grauen kam wieder über sie, und ihr wurde mit einem Anflug von Verzweiflung klar, wie sehr sie sich verändert hatte: früher hatte sie ohne Furcht neben diesem kleinen Wilden geschlafen, als er noch bewaffnet und gefährlich war. Jetzt hatte er keine Waffen mehr, aber sie empfand ihm gegenüber Todesangst. Sie hatte gedacht, (Joe? Leo?) seine frühere Persönlichkeit wäre ein für allemal abgetötet worden. Jetzt war sie wieder da. Und er war hier. »Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie. »Ich bin nur gekommen, um ein paar Sachen zu holen. Ich ziehe aus. Ich ziehe zu... zu einem Mann.« Ach ist Harold das, spöttelte eine innere Stimme. Ich dachte, er wäre nur ein Werkzeug, um etwas zu erreichen. »Leo, hör mal...« Er schüttelte sacht aber wahrnehmbar den Kopf. Seine ernsten, glitzernden Augen waren auf ihr Gesicht gerichtet. »Du bist nicht Leo?« Wieder das sachte Kopfschütteln. »Bist du Joe?« Ein ebenso schwaches Nicken. »Na gut. Aber du mußt einsehen, daß es keine Rolle spielt, wer du bist«, sagte sie und versuchte, geduldig zu sein. Das irre Gefühl, dass sie eine Zeitreise hinter sich hatte, daß sie wieder auf dem Ausgangsfeld stand, ging nicht weg. Sie fühlte sich unwirklich und ängstlich. »Dieser Teil unseres Lebens der Teil, als wir allein und nur auf uns gestellt waren - ist vorbei. Du hast dich verändert, ich habe mich verändert, wir können uns nicht zurückverwandeln.« Aber seine seltsamen Augen blickten weiterhin starr in die ihren und schienen das zu bestreiten. »Hör auf, mich so anzusehen«, schnappte sie. »Es ist sehr unhöflich, Leute so anzustarren.« Nun schienen seine Augen leicht vorwurfsvoll zu werden. Sie schienen anzudeuten, daß es auch unhöflich war, Menschen im Stich zu lassen, und noch unhöflicher, Menschen seine Liebe zu entziehen, die sie noch brauchten und darauf angewiesen waren. »Es ist nicht so, daß du auf dich allein gestellt wärest«, sagte sie, drehte sich um und hob die Bücher auf, die sie fallen gelassen hatte. Sie kniete linkisch und ohne Anmut, und ihre Knie knackten dabei wie Holzscheite im Feuer. Sie stopfte die Bücher kunterbunt in den Rucksack zu den Monatsbinden und dem Aspirin und ihrer Unterwäsche - schlichte Baumwollunterwäsche, ganz anders als die Sachen, die sie trug, um Harolds ungestüme Lust anzustacheln. »Du hast Larry und Lucy. Du magst sie, und sie mögen dich. Nun, Larry mag dich, und darauf kommt es an, weil sie alles will, was er auch will. Sie ist wie ein Blatt Blaupapier. Für mich ist jetzt alles anders, Joe, und das ist nicht meine Schuld. Überhaupt nicht meine Schuld. Also hör gefälligst auf zu versuchen, mir Schuldgefühle zu machen.« Sie versuchte, die Riemen des Rucksacks zuzuschnüren, aber ihre Finger zitterten unbeherrscht, und es fiel ihr schwer. Das Schweigen um sie herum wurde immer schwerer und schwerer. Schließlich stand sie auf und schnallte den Rucksack auf die Schultern. »Leo.« Sie versuchte, ruhig und vernünftig zu sprechen wie mit den Problemkindern in ihrer Klasse, wenn sie Anfälle gehabt hatten. Es war einfach unmöglich. Ihre Stimme klang kieksig und zittrig, und sein schwaches Kopfschütteln angesichts des Wortes Leo machte es noch schlimmer. »Es ist nicht wegen Larry und Lucy«, sagte sie nachdrücklich. »Das hätte ich verstehen können, wenn es nur das gewesen wäre. In Wirklichkeit war es die alte Schlampe, für die du mich aufgegeben hast, oder nicht? Diese dumme alte Frau in ihrem Schaukelstuhl, die mit ihren falschen Zähnen in die Welt gegrinst hat. Jetzt ist sie fort, und du kommst wieder zu mir gerannt. Aber ich spiele nicht mit, hast du verstanden? Ich spiele nicht mit!« Joe sagte nichts. »Und als ich Larry angefleht habe... als ich auf die Knie gefallen bin und ihn angefleht habe... wollte er nicht belästigt werden. Er war zu sehr damit beschäftigt, den großen Mann zu spielen. Du siehst also, es ist nicht meine Schuld. Nichts ist meine Schuld!« Der Junge sah sie nur gleichgültig an. Ihr Entsetzen kam zurück und begrub ihre unschuldige Wut unter sich. Sie wich vor ihm zur Tür zurück und tastete hinter ihrem Rücken nach der Klinke. Schließlich fand sie sie, drückte sie nieder und riß die Tür auf. Der kalte Luftstrom von draußen an ihren Schultern war mehr als angenehm. »Geh zu Larry«, murmelte sie. »Lebwohl, Junge.« Sie ging linkisch hinaus, blieb einen Augenblick auf der obersten Stufe stehen und versuchte, den Kopf wieder klar zu bekommen. Plötzlich fiel ihr ein, das Ganze könnte eine Halluzination gewesen sein, hervorgerufen durch ihre eigenen Schuldgefühle... Schuldgefühle, weil sie den Jungen im Stich ließ, weil sie Larry zu lange hatte warten lassen, Schuldgefühle wegen dem, was sie und Harold miteinander trieben, und dem viel Schlimmeren, was ihnen noch bevorstand. Vielleicht war gar kein echter Junge in dem Haus gewesen. Er war ebenso wenig real wie die Hirngespinste von Poe - der Herzschlag des alten Mannes, der sich wie eine in Watte verpackte Uhr anhörte, oder der Rabe, der auf der Büste von Pallas Athene kauerte. »Als klopfe - klopfe jemand sacht ans Tor«, flüsterte sie laut und ohne nachzudenken, und darauf stieß sie ein entsetztes, krächzendes Lachen aus, das sich wahrscheinlich nicht sehr von den Schreien eines Raben unterschied. Aber sie mußte es wissen. Sie ging zum Fenster neben der Eingangstreppe und sah ins Wohnzimmer ihres ehemaligen Hauses. Nicht, daß es jemals wirklich ihres gewesen wäre. Wenn man irgendwo wohnte und auszog und alles, was man mitnehmen wollte, in einen Rucksack paßte, war es im Grunde nie wirklich ein Zuhause gewesen. Als sie hineinsah, erblickte sie Teppiche, Vorhänge und Tapeten einer toten Frau, die Pfeife eines toten Mannes und Ausgaben von Sports Illustrated, die achtlos auf dem Kaffeetischchen lagen. Bilder von toten Kindern auf dem Kaminsims. Und im Sessel in der Ecke der kleine Junge einer toten Frau, der nur eine Unterhose trug und immer noch saß, immer noch saß, saß wie zuvor... Nadine floh stolpernd und wäre beinahe über den niedrigen Drahtzaun gefallen, der das Blumenbeet rechts von dem Fenster umgab, wo sie hineingesehen hatte. Sie warf sich auf die Vespa und ließ sie an. Die ersten paar Blocks fuhr sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, fuhr Slalom zwischen den liegengebliebenen Fahrzeugen, die immer noch die Nebenstraßen unsicher machten, aber allmählich beruhigte sie sich wieder. Als sie wieder vor Harolds Haus war, hatte sie sich einigermaßen unter Kontrolle. Aber sie wußte, ihres Bleibens hier in der Zone ward nicht mehr lange. Wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte, mußte sie sich, so schnell es ging, auf den Weg machen. Die Versammlung im Munzinger Auditorium nahm einen guten Verlauf. Sie fingen wieder damit an, daß sie die Nationalhymne sangen, aber diesmal blieben die meisten Augen trocken; es wurde einfach zum Teil eines Rituals. Die Wahl des Volkszählungskomitees wurde routinemäßig durchgezogen und Sandy DuChiens zur Vorsitzenden ernannt. Sie und ihre vier Helfer gingen gleich durchs Publikum, zählten Köpfe und schrieben Namen auf. Am Ende der Versammlung verkündete sie unter anhaltenden Jubelrufen, dass mittlerweile 814 Seelen in der Freien Zone lebten, und versprach (vorschnell, wie sich herausstellen sollte), sie würde bis zur nächsten Versammlung der Zone ein vollständiges Bevölkerungsverzeichnis zusammengestellt haben - ein Verzeichnis, das sie Woche für Woche aktualisieren wollte, welches die Namen in alphabetischer Folge enthielt, ebenso Alter, Anschrift in Boulder, vorherige Anschrift und den ehemaligen Beruf. Wie sich herausstellte, erfolgte der Zustrom in die Zone so stark und unregelmäßig, daß sie ständig zwei oder drei Wochen hinterherhinkte. Dann kam die Dauer der Amtsperiode des Komitees der Freien Zone zur Sprache, und nach einigen extravaganten Vorschlägen (einer lautete auf zehn Jahre, ein anderer auf lebenslänglich, und Larry brachte das ganze Haus zum Lachen, als er sagte, das würde sich eher nach Gefängnisstrafen als nach Amtsperioden anhören) wurde die Dauer der Amtsperiode auf ein Jahr festgesetzt. Hinten im Saal winkte Harry Dunbarton mit der Hand, und Stu erteilte ihm das Wort. Harry brüllte, um verstanden zu werden: »Selbst ein Jahr mag zu lange sein. Ich habe nichts gegen die Damen und Herren vom Komitee, ich glaube, sie haben hervorragende Arbeit geleistet« - Beifall und Pfiffe - »aber wenn die Bevölkerung weiter zunimmt, wächst uns bald alles über den Kopf.« Glen hob die Hand. Stu erteilte ihm das Wort. »Herr Vorsitzender, das steht zwar nicht auf der Tagesordnung, aber ich glaube, Mr. Dunbarton hat recht.« Ich wette, daß du das glaubst, Platte, dachte Stu, du hast es schließlich selbst vor einer Woche zur Sprache gebracht. »Ich beantrage, ein repräsentatives Regierungs-Komitee einzusetzen, damit wir die Verfassung wirklich wieder einführen können. Ich finde, Harry Dunbarton sollte Vorsitzender dieses Komitees werden, und ich selbst werde mitarbeiten, es sei denn, jemand würde einen Interessenkonflikt vermuten.« Wieder Beifall. In der letzten Reihe drehte Harold sich zu Nadine und flüsterte ihr ins Ohr: »Ladies and Gentlemen, das öffentliche Liebesritual der Freien Zone nimmt seinen demokratischen Lauf.« Stu wurde durch donnernden Zuruf zum Marshal der Freien Zone gewählt. »Ich werde mein Bestes tun«, sagte er. »Einige von Ihnen, die mir heute Beifall spenden, werden das vielleicht noch bereuen, wenn ich sie bei etwas Verbotenem erwische. Verstanden, Rieh Moffat?« Brüllendes Gelächter. Rieh, der voll wie eine Haubitze war, lachte fröhlich mit. »Aber ich sehe keinen Grund, warum wir hier ernsthafte Schwierigkeiten bekommen sollten. Wie ich es sehe, besteht die Hauptaufgabe eines Marshals darin, zu verhindern, daß die Leute sich etwas antun. Und keiner von uns will das. Es sind schon genügend Leute zu Schaden gekommen. Mehr habe ich nicht zu sagen.« Die Menge applaudierte anhaltend. »Jetzt zum nächsten Punkt«, sagte Stu, »es hat gewissermaßen mit meinem Amt als Marshal zu tun. Wir brauchen ein Justiz-Komitee mit etwa fünf Leuten, denn wenn es soweit kommt, daß ich jemand einsperren muß, muß es rechtens geschehen. Höre ich Nominierungen?« »Was ist mit dem Richter?« schrie jemand. »Ja, genau, der Richter!« brüllte ein zweiter. Hälse wurden gereckt, die Leute wollten sehen, daß der Richter irgendwo im Saal aufstand, um die Verantwortung in seinem üblichen Rokoko-Stil zu übernehmen; ein Murmeln ging durch den Saal, als die Leute noch einmal die Geschichte erzählten, wie der Richter den Verrückten mit seinen fliegenden Untertassen lächerlich gemacht hatte. Sie legten schon die Tagesordnung aus der Hand, um zu applaudieren. Stu und Glen sahen einander mit beiderseitigem Mißbehagen an: Jemand im Komitee hätte das voraussehen müssen. »Nicht da«, sagte jemand. »Wer hat ihn gesehen?« fragte Lucy Swann erschrocken. Larry sah sie unbehaglich an, aber sie sah sich immer noch im Saal nach dem Richter um. »Ich habe ihn gesehen.« Ein interessiertes Raunen, als Teddy Weizak im hinteren Viertel aufstand und sich mit dem Taschentuch nervös und zwanghaft die Nickelbrille putzte. »Wo?« »Wo ist er, Teddy?« »War er in der Stadt?« »Was hat er gemacht?« Teddy Weizak zuckte unter dem Bombardement der Fragen sichtlich zusammen. Stu schlug mit dem Hammer auf. »Kommt schon, Leute. Ruhe.« »Ich habe ihn vor zwei Tagen gesehen«, sagte Teddy. »Er fuhr einen Landrover. Sagte, er wollte nach Denver. Warum, hat er nicht gesagt. Wir haben Witze gemacht. Er schien bester Laune zu sein. Mehr weiß ich nicht.« Er setzte sich wieder, putzte weiter seine Brille und wurde krebsrot. Wieder bat Stu um Ruhe. »Ich bedaure, daß der Richter nicht hier ist. Er wäre der geeignete Mann für den Job gewesen. Aber da er nun einmal nicht hier ist, bitte ich um weitere Nominierungen...« »Nein, lassen wir es nicht dabei bewenden!« protestierte Lucy und stand auf. Sie trug einen engen blauen Overall, der die interessierten Blicke der meisten Männer im Saal auf sich zog. »Richter Farris ist ein alter Mann. Wenn er nun in Denver krank geworden ist und nicht mehr zurückfahren kann?« »Lucy«, sagte Stu. »Denver ist groß.« Eine seltsame Stille senkte sich über den Saal, als die Leute darüber nachdachten. Lucy setzte sich wieder; sie sah blaß aus, und Larry legte seinen Arm um sie. Er sah Stu an, aber Stu wich seinem Blick aus. Ein halbherziger Antrag wurde gestellt, die Frage des JustizKomitees erst nach der Rückkehr des Richters zu behandeln, und nach einer Diskussion von zwanzig Minuten abgelehnt. Unter den Anwesenden war ein Anwalt, ein junger Mann um die sechsundzwanzig namens AI Bundell, der am Spätnachmittag mit Dr. Richardsons Gruppe angekommen war; er übernahm den Vorsitz, als er ihm angeboten wurde, gab jedoch der Hoffnung Ausdruck, daß in den nächsten vier Wochen niemand schreckliche Missetaten begehen würde, da es mindestens so lange dauern würde, eine Art rotierendes Gerichtssystem einzurichten. Richter Farris wurde in Abwesenheit in das Komitee gewählt. Brad Kitchner, der blaß, nervös und mit Anzug und Krawatte ein bißchen albern aussah, trat ans Rednerpult, verlor seine Notizen, sammelte sie in verkehrter Reihenfolge wieder auf und begnügte sich dann damit, zu sagen, sie hofften und erwarteten, den Strom am zweiten oder dritten September wieder einschalten zu können. Diese Bemerkung erntete so viel Beifall, daß er mit Stil zum Ende kam und sich sogar ein wenig in die Brust warf, als er das Podium verließ. Der nächste war Chad Nords, und Stu sagte später zu Frannie, dass er die Sache genau richtig angegangen war: Sie begruben die Toten aus Anstand; bis das geschehen war und das Leben wieder seinen gewohnten Gang nahm, würde sich keiner richtig wohl fühlen, und wenn sie vor der Regenzeit fertig waren, würde es allen besser gehen. Er bat um ein paar Freiwillige und hätte gut drei Dutzend haben können, wenn er gewollt hätte. Dann bat er die Mitglieder der Spatenschwadron (wie er sie nannte), sich zu erheben und zu verbeugen. Harold Lauder stand nur kurz auf und setzte sich wieder, und als die Versammlung sich auflöste, sagte der eine oder andere, was für ein intelligenter und so bescheidener junger Mann er doch sei. In Wirklichkeit hatte Nadine ihm einiges ins Ohr geflüstert, und er hatte Angst, mehr zu tun, als eine Verbeugung anzudeuten. Er hatte unter der Hose ein ziemlich großes Zelt am Unterleib gebaut. Als Norris das Rednerpult verließ, trat Ralph Brentner an seine Stelle. Er sagte ihnen, daß sie endlich einen Arzt hatten. George Richardson stand auf (unter gewaltigem Applaus; Richardson machte mit beiden Händen das Peace-Zeichen, da wurde der Applaus zu Jubel) und sagte, daß seines Wissens weitere sechzig Leute in den nächsten Tagen eintreffen würden. »Soweit die Tagesordnung«, sagte Stu. Er sah über die Versammlung. »Ich werde Sandy DuChiens bitten, noch einmal heraufzukommen und uns zu sagen, wie viele wir sind, aber vorher möchte ich fragen, ob es heute abend noch etwas zu besprechen gibt?« Er wartete. Er sah Glens Gesicht in der Menge und das von Sue Stern und Larry und Nick und natürlich von Frannie. Sie wirkten alle ein wenig abgespannt. Wenn jemand die Sprache auf Flagg bringen wollte, um zu fragen, was das Komitee seinetwegen unternommen hatte, wäre dies der Zeitpunkt gewesen. Aber es herrschte Schweigen. Nach fünfzehn Sekunden erteilte Stu Sandy das Wort, die für ein gelungenes Ende sorgte. Als die Leute den Saal verließen, dachte Stu: Das hätten wir wieder geschafft. Mehrere Leute gratulierten ihm nach der Versammlung, darunter der neue Arzt. »Das haben Sie gut gemacht, Marshal«, sagte er, und Stu hätte fast hinter sich gesehen, wen Richardson meinte. Dann fiel es ihm ein, und er hatte plötzlich Angst. Ein Mann des Gesetzes? Er war ein Hochstapler. Ein Jahr, sagte er sich. Ein Jahr, nicht länger. Aber er hatte immer noch Angst. Stu, Fran, Sue Stern und Nick gingen gemeinsam Richtung Innenstadt; ihre Schritte klangen hohl auf dem Betonweg, als sie den Campus der Universität Richtung Broadway überquerten. Unter leisen Gesprächen strömten um sie herum auch die anderen Leute nach Hause. Es war fast elf Uhr dreißig. »Es ist kühl«, sagte Fran. »Wenn ich bloß eine Jacke angezogen hätte, nicht nur den Pullover.« Nick nickte. Er fror auch. Die Abende in Boulder waren immer kühl, aber heute hatte es höchstens zehn Grad. Das zeigte, daß dieser seltsame und schreckliche Sommer sich dem Ende zuneigte. Nicht zum erstenmal wünschte er, Mutter Abagails Gott oder Muse oder was es auch sei hätte Miami oder New Orleans den Vorzug gegeben. Aber dann fiel ihm ein, daß das vielleicht auch nicht besonders gut gewesen wäre. Hohe Luftfeuchtigkeit, viel Regen... und viele Leichen. Wenigstens war Boulder trocken. »Sie haben mich total aus der Fassung gebracht, als sie den Richter für das Justiz-Komitee wollten«, sagte Stu. »Damit hätten wir rechnen müssen.« Frannie nickte, und Nick kritzelte hastig auf seinen Block: »Klar. Sie werden auch Tom & Dayna vermissen, gebt 8.« »Glaubst du, die Leute schöpfen Verdacht, Nick?« fragte Stu. Nick nickte. »Sie werden sich fragen, ob sie nach Westen sind. Für immer. « Sie dachten alle darüber nach, und Nick holte sein Gasfeuerzeug aus der Tasche und verbrannte den Zettel. »Das ist schlimm«, sagte Stu schließlich. »Glaubst du wirklich?« »Klar, er hat recht«, sagte Sue finster. »Was sollten sie sonst denken? Daß Richter Farris zum Far-Rockaway-Rummelplatz ist, um Achterbahn zu fahren?« »Wir können von Glück sagen, daß wir heute abend keine große Diskussion bekommen haben, was im Westen los ist«, sagte Fran. Nick schrieb: »Unbedingt. Ich glaube, nächstes Mal müssen wir es dreist selber ansprechen. Darum will ich die nächste Versammlung so lange wie möglich rauszögern. Vielleicht drei Wochen. 15.September?« Sue sagte: »So lange halten wir durch, wenn Brad den Strom einschalten kann.« »Ich glaube, das schafft er«, sagte Stu. »Ich geh' nach Hause«, sagte Sue zu ihnen. »Morgen ist ein großer Tag. Dayna bricht auf. Ich begleite sie bis Colorado Springs.« »Glaubst du, das ist sicher, Sue?« Sie zuckte die Achseln. »Für sie sicherer als für mich.« »Wie hat sie es aufgenommen?« fragte Fran sie. »Sie ist ein komisches Mädchen. Am College war sie die Wucht, wißt ihr. Besonders gut war sie im Tennis und Schwimmen, obwohl sie alle Sportarten gemacht hat. Sie besuchte ein kleines College in Georgia, aber die ersten beiden Jahre war sie noch mit ihrem Freund von der High School zusammen. Er war ein großer Lederjackentyp, ich Tarzan, du Jane, also ab in die Küche und laß Töpfe und Pfanne klappern. Dann hat ihre Zimmergenossin, eine große Emanze, sie mit zu verschiedenen Frauentreffen geschleppt.« »Und als Reingeschmeckte war sie am Ende eine noch größere Emanze als ihre Zimmergenossin«, vermutete Fran. »Erst Emanze, dann Lesbierin«, sagte Sue. Stu blieb wie vom Donner gerührt stehen, und Fran sah ihn verhalten amüsiert an. »Komm, du schöne Blume im Gras«, sagte sie. »Versuch mal, das Scharnier an deinem Mund zu reparieren.« Stu klappte hörbar den Mund zu. Sue fuhr fort: »Sie hat ihrem Höhlenmenschen beides zusammen vor den Latz geknallt. Er ist total ausgerastet und mit einem Gewehr wiedergekommen. Sie hat ihn entwaffnet. Sie sagt, das sei der wichtigste Wendepunkt in ihrem Leben gewesen. Sie erzählte mir, sie hätte immer gewußt, daß sie stärker und wendiger war als er - das hätte sie intellektuell gewußt. Es hat aber lange gedauert, bis sie den Mut dazu fand.« »Willst du sagen, sie haßt Männer?« fragte Stu und sah sie eindringlich an. Sue schüttelte den Kopf. »Sie is' bi.« »Sisbi?« fragte Stu zweifelnd. »Sie ist mit beiden Geschlechtern glücklich, Stuart. Und ich hoffe, du wirst jetzt nicht im Komitee einbringen, daß zusammen mit >Du sollst nicht töten< auch wieder die alten Moralgesetze eingeführt werden.« »Ich habe genug zu tun, auch ohne mich darum zu kümmern, wer mit wem schläft«, murmelte er, und alle lachten. »Ich habe nur gefragt, weil ich nicht will, daß jemand diese Sache als Kreuzzug betrachtet. Wir brauchen Beobachter da drüben, keine Guerillakämpfer. Es ist eine Aufgabe für ein Wiesel, nicht für einen Löwen.« »Das weiß sie«, sagte Susan. »Fran hat mich gefragt, wie sie es aufgenommen hat, als ich sie gefragt habe, ob sie für uns da rüber gehen würde. Sie hat es ziemlich gut aufgenommen. Zunächst einmal hat sie mich daran erinnert, wenn wir bei diesen Männern geblieben wären... weißt du noch, wie ihr uns gefunden habt, Stu?« Er nickte. »Wenn wir bei ihnen geblieben wären, wären wir entweder tot oder letztendlich doch im Westen gelandet, denn in diese Richtung sind sie gefahren... jedenfalls wenn sie nüchtern genug waren, daß sie die Schilder lesen konnten. Sie sagte, sie hätte sich schon gefragt, wo ihr Platz in der Zone sei, und dieser Platz war offensichtlich außerhalb. Und sie hat gesagt...« »Was?« fragte Fran. »Daß sie versuchen würde zurückzukommen«, sagte Sue brüsk und schwieg danach. Was Dayna Jürgens sonst noch gesagt hatte, ging nur sie beide etwas an, nicht einmal die Mitglieder des Komitees sollten es wissen. Dayna ging nach Westen und hatte ein zehn Zoll langes Klappmesser an den Unterarm geschnallt. Wenn sie das Handgelenk heftig abknickte, schnappte die Feder, und presto hatte sie plötzlich einen sechsten Finger, der zehn Zoll lang war und eine zweischneidige Klinge hatte. Sie dachte, die meisten - die Männer - würden das nicht verstehen. Wenn er wirklich der große Diktator ist, dann band vielleicht nur er sie zusammen. Wenn er nicht mehr ist, fangen sie vielleicht an, untereinander zu streiten und zu kämpfen. Das könnte ihr Ende sein, wenn er stirbt. Und wenn ich in seine Nähe komme, Susie, sollte er besser seinen Schutzteufel bei sich haben. Sie werden dich töten, Dayna. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht rechtfertigt allein der Anblick, seine Eingeweide auf den Boden fallen zu sehen, ja alles.  Susan hätte sie vielleicht daran hindern können, aber sie hatte es nicht versucht. Sie hatte sich damit begnügt, Dayna das Versprechen zu entlocken, daß sie sich an den ursprünglichen Plan halten würde, wenn sich keine absolut perfekte Gelegenheit bot. Dem hatte Dayna zugestimmt, und Sue glaubte nicht, daß ihre Freundin die Chance bekommen würde. Flagg hielt sich sicher gut bedeckt. Trotzdem hatte Sue Stern in den drei Tagen, seit sie ihrer Freundin den Vorschlag unterbreitet hatte, als Spionin nach Westen zu gehen, nur ziemlich schlecht geschlafen. »Nun«, sagte sie jetzt zu den ändern, »ich muß heim ins Bett. Nacht, Leute.« Sie ging mit den Händen in den Jackentaschen davon. »Sie sieht älter aus«, sagte Stu. Nick schrieb etwas und zeigte den beiden den Block. Wir alle, stand dort. Am nächsten Morgen war Stu auf dem Weg zum Kraftwerk, als er Susan und Dayna auf Motorrädern den Canyon Boulevard entlangkommen sah. Er winkte, und sie hielten an. Er fand, dass Dayna nie hübscher ausgesehen hatte. Sie hatte sich das Haar mit einem grünen Seidenschal nach hinten gebunden; über Jeans und einem karierten Baumwollhemd trug sie einen Wildledermantel. Auf den Gepäckträger hatte sie einen zusammengerollten Schlafsack geschnallt. »Stuart!« rief sie und winkte ihm lächelnd zu. Lesbisch? dachte er ungläubig. »Du machst einen kleinen Ausflug, soweit ich weiß«, sagte er. »Klar. Und du hast mich nicht gesehen.« »Nein«, sagte Stu. »Nie. Zigarette?« Dayna nahm eine Marlboro und hielt die Hände über sein Streichholz. »Sei vorsichtig, Mädchen.« »Mach ich.« »Und komm heil zurück.« »Hoffentlich.« Sie sahen einander im hellen Spätsommermorgen an. »Paß auf Frannie auf, Großer.« »Mach ich.« »Und sei als Marshal nicht so streng.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Sie warf die Zigarette weg. »Was meinst du, Suze?« Susan nickte, legte den Gang ein und lächelte ein wenig gequält. Sie sah ihn an, und Stu hauchte ihr einen Kuß auf den Mund. »Viel Glück.« Sie lächelte. »Du mußt es zweimal machen, wenn es wirklich Glück bringen soll. Hast du das nicht gewußt?« Er küßte sie noch einmal, diesmal länger und gründlicher. Lesbisch? fragte er sich erneut. »Frannie kann sich glücklich schätzen«, sagte Dayna. »Das kannst du ihr sagen.« Stu trat lächelnd einen Schritt zurück und wußte nicht recht, was er sagen sollte, daher sagte er überhaupt nichts. Zwei Blocks weiter rumpelte einer der großen orangefarbenen Lastwagen des Beerdigungskomitees wie ein Omen über die Kreuzung, und der Augenblick war vorüber. »Gehen wir, Mädchen«, sagte Dayna. »Auf und davon.« Sie fuhren los, und Stu stand am Bordstein und sah ihnen nach. Sue Stern kam zwei Tage später zurück. Sie hatte Dayna von Colorado Springs aus nach Westen fahren sehen, sagte sie, und ihr nachgesehen, bis sie als winziger Fleck in der großen, schweigenden Landschaft verschwunden war. Dann hatte sie ein bißchen geweint. In der ersten Nacht hatte Sue in der Nähe von Monument ihr Lager aufgeschlagen und war in den frühen Morgenstunden voller Angst durch ein tiefes, heulendes Geräusch aufgewacht, das aus einem Abwasserkanal unter der Straße zu kommen schien, an der sie kampiert hatte. Schließlich hatte sie allen Mut zusammengenommen, mit ihrer Taschenlampe in das Wellblechrohr hineingeleuchtet und einen abgemagerten, zitternden Welpen entdeckt. Ungefähr sechs Monate alt. Er scheute vor ihrer Berührung zurück, und sie war zu groß, um in das Rohr zu kriechen. So war sie schlußendlich in die Stadt Monument gefahren, in den dortigen Supermarkt eingebrochen und im kalten Licht einer falschen Dämmerung mit einem Rucksack voll Hundefutterkonserven Marke Alpo und Cycle One zurückgekommen. Der Trick funktionierte. Der Welpe fuhr in einer der BSA-Satteltaschen mit ihr zurück. Dick Ellis geriet in Verzückung über den Welpen. Es war ein Irish Setter, eine Hündin, und entweder reinrassig oder so nahe dran, dass es keinen Unterschied machte. Wenn sie älter war, würde Kojak ihr sicher gern seine Aufwartung machen. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile in der Freien Zone, und in der Aufregung über Adam und Eva in Hundegestalt war das Thema Mutter Abagail für diesen Tag vergessen. Susan Stern wurde zu einer Art Heldin, und soweit die Mitglieder des Komitees wußten, hatte sich keiner gefragt, was Susan in dieser Nacht in Monument zu suchen gehabt hatte, das weit südlich von Boulder lag. Aber Stu erinnerte sich noch lange an den Morgen, als die beiden Boulder verlassen hatten und er sie zur Autobahn Denver-Boulder fahren sah. Denn niemand in der Freien Zone sollte Dayna Jürgens wiedersehen. 27. August; kurz vor der Dämmerung; Venus am Himmel. Nick, Ralph, Larry und Stu saßen auf der Treppe von Tom Cullens Haus. Tom stand auf dem Rasen, frohlockte und schlug Krocketbälle durch verschiedene Tore. Es ist Zeit, schrieb Nick. Stu fragte leise, ob sie ihn wieder hypnotisieren müßten, und Nick schüttelte den Kopf. »Gut«, sagte Ralph. »Ich glaube nicht, daß ich das aushalten würde.« Dann rief er mit lauterer Stimme: »Tom! He, Tommy! Komm mal rüber!« Tom kam grinsend herübergelaufen. »Tommy, es ist Zeit zu gehen«, sagte Ralph. Toms Lächeln verschwand. Er schien zum ersten Mal zu bemerken, daß es dunkel wurde. »Gehen? Jetzt? Meine Fresse, nein! Wenn es dunkel wird, geht Tom ins Bett. M-O-N-D und das buchstabiert man Bett. Tom mag nicht im Dunkeln draußen sein. Wegen den Gespenstern. Tom... Tom...« Er verstummte, und die anderen sahen ihn unruhig an. Tom war in dumpfes Schweigen verfallen. Er kam wieder zu sich... aber nicht auf die übliche Weise. Es war kein plötzliches Wiedererwachen, bei dem alles Leben auf einen Schlag zurückkehrte, sondern eine langsame Angelegenheit, widerwillig, fast traurig. »Nach Westen gehen?« sagte er. »Ihr meint, es ist die Zeit?« Stu legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ja, Tom. Wenn du kannst.« »Auf die Straße.« Ralph gab einen erstickten, murmelnden Laut von sich und ging hinter das Haus. Tom schien es nicht zu bemerken. Er sah abwechselnd Stu und Nick an. »Nachts gehen. Am Tag schlafen.« Tom fügte langsam in der Dämmerung hinzu: »Und den Elefanten sehen.« Nick nickte. Larry brachte Toms Rucksack, der neben der Treppe gestanden hatte. Tom streifte ihn langsam und verträumt über. »Du mußt vorsichtig sein, Tom«, sagte Larry mit belegter Stimme, »Vorsichtig. Meine Fresse, ja.« Stu fragte sich ein wenig zu spät, ob sie Tom nicht noch ein Einmannzelt geben sollten, aber er verwarf den Gedanken. Tom hätte auch das einfachste Zelt nicht aufschlagen können. »Nick«, flüsterte Tom. »Muß ich das wirklich?« Nick legte einen Arm um Tom und nickte langsam. »Gut.« »Du mußt immer auf der breiten vierspurigen Straße bleiben, Tom«, sagte Larry. »Die 70 heißt. Ralph fährt dich mit dem Motorrad dorthin, wo sie anfängt. « »Ja, Ralph.« Pause. Ralph war hinter dem Haus hervorgekommen. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Augen. »Bist du fertig, Tom?« fragte er rauh. »Nicky? Ist es noch mein Haus, wenn ich zurückkomme?« Nick nickte heftig. »Tom liebt sein Haus. Meine Fresse, ja.« »Das wissen wir, Tommy.« Stu konnte jetzt auch warme Tränen tief in der Kehle spüren. »Gut. Ich bin fertig. Mit wem fahre ich?« »Mit mir, Tom«, sagte Ralph. »Zur Route 70, erinnerst du dich?« Tom nickte und ging zu Ralphs Motorrad. Nach einem Augenblick folgte ihm Ralph mit hängenden Schultern. Selbst die Feder in seinem Hutband schien traurig herabzuhängen. Er stieg auf das Motorrad und trat den Starter durch. Einen Augenblick später fuhr er auf den Broadway und bog nach Osten ab. Sie standen beisammen und sahen, wie das Motorrad in der purpurnen Dämmerung zu einer Silhouette vor dem Scheinwerferlicht wurde. Dann verschwand das Eicht hinter dem Holiday Twin Autokino und war nicht mehr zu sehen. Mit hängendem Kopf und den Händen in den Taschen ging Nick davon. Stu wollte sich ihm anschließen, aber Nick schüttelte fast wütend den Kopf und winkte ihn fort. Stu ging zu Larry zurück. »Das war's«, sagte Larry, und Stu nickte düster. »Glaubst du, daß wir ihn je wiedersehen, Larry?« »Wenn nicht, dann werden wir sieben - nun, vielleicht nicht Fran, sie war nie dafür, ihn zu schicken - den Rest unseres Lebens mit der Entscheidung, ihn zu schicken, leben müssen. Ich wünsche manchmal, ich hätte nie von dem elenden Komitee der Freien Zone gehört.« »Nick mehr als jeder andere«, sagte Larry. »Ja, Nick mehr als jeder andere.« Sie sahen Nick nach, der langsam den Broadway hinabschritt und in den Schatten unterging, die um ihn herum wuchsen. Dann betrachteten sie eine Zeitlang schweigend Toms dunkles Haus. »Verschwinden wir von hier«, sagte Larry plötzlich. »Der Gedanke an all die ausgestopften Tiere... ich habe plötzlich einen Eins-A Gruselanfall.« George Richardson, der neue Arzt, hatte sich im Dakota Ridge Medical Center eingenistet, denn es lag in der Nähe des Boulder City Hospital mit seiner medizinischen Ausrüstung, seinen großen Medikamentenvorräten und seinen Operationssälen. Am 28. August war er bereits voll im Geschäft, unterstützt von Laurie Constable und Dick Ellis. Dick hatte gebeten, die Welt der Medizin verlassen zu dürfen, die Erlaubnis dazu aber nicht erhalten. »Du leistest hier hervorragende Arbeit«, sagte Richardson. »Du hast eine Menge gelernt, und du wirst noch mehr lernen. Außerdem haben wir so viel zu tun, daß ich es nicht alleine schaffe. Wir werden sowieso den Verstand verlieren, wenn wir nicht in ein oder zwei Monaten einen weiteren Arzt bekommen. Gratuliere, Dick, du bist der erste Assistenzarzt der Freien Zone. Gib ihm einen Kuß, Laurie.« Laurie gehorchte. Gegen elf an diesem Vormittag Ende August kam Fran ins Wartezimmer und sah sich neugierig und ein wenig nervös um. Laurie saß am Schreibtisch und las eine alte Ausgabe des Ladies Home Journal. »Hi, Fran«, sagte sie und sprang auf. »Ich habe mir schon gedacht, daß wir dich früher oder später zu sehen bekommen würden. George kümmert sich gerade um Candy Jones, aber er kommt gleich zu dir. Wie geht es dir?« »Ziemlich gut, danke«, sagte Fran. »Ich glaube...« Die Tür eines Sprechzimmers ging auf, und Candy Jones kam heraus, gefolgt von einem großen, gebückten Mann in Kordhosen und einem Freizeithemd mit dem Izod-Alligator auf der Brust. Candy betrachtete zweifelnd eine Flasche rosa Substanz, die sie in einer Hand hielt. »Sind Sie sicher, daß es das ist?« fragte sie Richardson zweifelnd. »Das habe ich noch nie gehabt. Ich habe gedacht, ich wäre immun.« »Das sind Sie nicht, und jetzt haben Sie es«, sagte George grinsend. »Vergessen Sie nicht die Stärkebäder, und bleiben Sie in Zukunft aus dem hohen Gras raus.« Sie lächelte kläglich. »Jack hat es auch. Soll er herkommen?« »Nein, aber Sie können aus den Stärkebädern eine Familienangelegenheit machen.« Candy nickte kläglich, dann sah sie Fran. »Hallo, Frannie, wie geht's dir, Mädchen?« »Okay. Und dir?« »Schrecklich.« Candy hielt die Flasche hoch, so daß Fran die Aufschrift CALADRYL auf dem Etikett lesen konnte. »Giftefeu. Und du wirst nie erraten, wo ich es mir geholt habe.« Sie strahlte. »Aber ich wette, du kannst erraten, wo Jack es sich geholt hat.« Als sie ging, sahen sie ihr amüsiert nach, dann sagte George: »Miss Goldsmith, nicht wahr? Komitee der Freien Zone. Es ist mir ein Vergnügen.« Sie gab ihm die Hand. »Nur Fran, bitte. Oder Frannie.« »Okay, Frannie. Was haben Sie für ein Problem?« »Ich bin schwanger«, sagte Fran. »Und habe eine Heidenangst.« Dann brach sie ohne Vorwarnung in Tränen aus. George legte ihr einen Arm um die Schultern. »Laurie, ich brauche Sie in etwa fünf Minuten.« »Gut, Doktor.« Er führte sie in das Behandlungszimmer, wo sie sich auf den schwarzen Tisch setzen mußte. »Aber warum die Tränen? Wegen Mrs. Wentworths Zwillingen?« Frannie nickte kläglich. »Es war eine schwierige Geburt, Fran. Die Mutter war Kettenraucherin. Die Babys waren zu leicht, selbst für Zwillinge. Sie kamen ganz plötzlich am späten Abend. Ich hatte keine Möglichkeit zu einer Obduktion. Regina Wentworth wird jetzt von einigen Frauen gepflegt, die mit unserer Gruppe gekommen sind. Ich glaube - ich hoffe -, daß sie aus dem seelischen Tief herauskommt, in dem sie sich momentan befindet. Vorläufig kann ich nur sagen, daß die Babys es von Anfang an mit zwei Handicaps zu tun hatten. Die Todesursache kann alles mögliche gewesen sein.« »Auch die Supergrippe?« »Ja. Auch die.« »Also müssen wir einfach abwarten.« »Nein, verdammt. Sie bekommen sofort die komplette Schwangerschaftsfürsorge. Ich werde Sie ständig überwachen, genau wie jede andere Frau, die schwanger wird oder schwanger ist. General Electric hatte einen Slogan: Fortschritt ist unser wichtigstes Produkte In der Zone sind die Babys unser wichtigstes Produkt, und sie werden entsprechend behandelt.« »Aber wir wissen wirklich nichts.« »Nein, leider. Aber trotzdem Kopf hoch, Fran.« »Ja, gut. Ich will's versuchen.« Es klopfte kurz an der Tür, und Laurie kam herein. Sie reichte George ein Formular, und George fing an, Frannie Fragen nach ihrer Krankengeschichte zu stellen. Als die Untersuchung vorbei war, ließ George sie eine Weile allein und erledigte etwas im Nebenzimmer. Laurie blieb bei ihr, während Fran sich anzog. Als sie die Bluse zuknöpfte, sagte Laurie leise: »Ich beneide dich, weißt du. Trotz Unsicherheit und so. Dick und ich haben wie verrückt versucht, ein Baby zu machen. Wirklich komisch - ich war diejenige, die einen ZEROPOPULATION-Button zur Arbeit getragen hat. Ich meinte natürlich >Zero Population Growth< - Bevölkerungs-Nullwachstum -, aber wenn ich heute an diesen Button denke, wird mir echt unheimlich zumute. O Frannie, deins wird das erste. Und ich weiß, es wird alles gut. Es muß.« Fran lächelte nur und nickte, weil sie Laurie nicht daran erinnern wollte, daß ihres nicht das erste sein würde. Mrs. Wentworths Zwillinge waren die ersten gewesen. »Fein«, sagte George eine halbe Stunde später. Fran zog die Brauen hoch. Sie dachte zuerst, er habe ihren Namen falsch ausgesprochen. Sie erinnerte sich ohne guten Grund daran, daß der kleine Mickey Post, der unten in der Straße gewohnt hatte, sie bis zur dritten Klasse Fan genannt hatte. »Das Baby. Es geht ihm gut.« Fran nahm ein Kleenex-Tuch und hielt es krampfhaft fest. »Ich habe gespürt, wie es sich bewegt... aber das ist schon eine Weile her. Seitdem nichts mehr. Ich hatte Angst...« »Es lebt, aber ich bezweifle, daß Sie gespürt haben, wie es sich bewegte. Das waren wahrscheinlich Blähungen.« »Es war das Baby«, sagte Fran leise. »Nun, ob oder ob nicht, es wird sich in Zukunft oft bewegen. Sie werden Anfang bis Mitte Januar niederkommen. Wie hört sich das an?« »Gut.« »Essen Sie richtig?« »Ich glaube - ich gebe mir alle Mühe.« »Gut. Keine Übelkeit?« »Am Anfang hin und wieder, aber das ist vorbei.« »Wunderbar. Haben Sie genug Bewegung?« Einen alptraumhaften Augenblick mußte sie daran denken, wie sie das Grab ihres Vaters ausgehoben hatte. Sie blinzelte die Vision fort. Das war ein anderes Leben gewesen. »Ja, viel.« »Haben Sie zugenommen?« »Ungefähr fünf Pfund.« »Sie dürfen noch zwölf Pfund zunehmen; ich bin heute großzügig.« Sie grinste. »Sie sind der Arzt.« »Ja, und ich war Geburtshelfer, Sie sind also in den richtigen Händen. Befolgen Sie den Rat Ihres Arztes, und alles wird gut. Übrigens, was Fahrräder, Motorräder und Mopeds anbetrifft, etwa ab, sagen wir 15. November, nein nein. Um die Zeit fährt sowieso niemand mehr damit. Zu kalt. Sie rauchen oder trinken nicht übermäßig, oder?« »Nein.« »Hin und wieder einen Schlummertrunk, dagegen ist nichts einzuwenden. Ich werde Ihnen Vitamintabletten verschreiben, die können Sie in jedem Drugstore in der Stadt holen...« Frannie brach in Gelächter aus, und George lächelte unsicher. »Habe ich etwas Komisches gesagt?« »Nein. Unter den Umständen hat es sich nur komisch angehört.« »Oh! Ja, ich verstehe. Jedenfalls kann sich niemand mehr über zu hohe Arzneimittelpreise beschweren, richtig? Noch etwas, Fran. Haben Sie sich schon mal ein Pessar einsetzen lassen... eine Spirale?« »Nein, warum?« fragte Frannie und mußte wieder an ihren Traum denken: an den dunklen Mann mit dem Kleiderbügel. Sie schauderte. »Nein«, sagte sie noch einmal. »Gut. Das war's.« Erstand auf. »Ich werde Ihnen nicht sagen, dass Sie sich keine Sorgen machen sollen...« »Nein«, stimmte sie zu. Das Lachen war aus ihren Augen verschwunden. »Lieber nicht.« »Aber ich möchte Sie bitten, sich möglichst wenig Sorgen zu machen. Übermäßige Aufregung der Mutter kann die Drüsenfunktion durcheinanderbringen. Und das ist nicht gut für das Baby. Schwangeren Frauen verschreibe ich nicht gern Beruhigungsmittel, aber wenn Sie meinen...« »Nein, nicht nötig«, sagte Fran, aber als sie in die heiße Mittagssonne hinaustrat, wußte sie, daß sie die ganze zweite Hälfte ihrer Schwangerschaft Gedanken an Mrs. Wentworths gestorbene Zwillinge quälen würden. Am neunundzwanzigsten August trafen drei Gruppen ein, eine mit zweiundzwanzig Mitgliedern, eine mit sechzehn und eine mit fünfundzwanzig. Sandy DuChiens besuchte alle sieben Mitglieder des Komitees und teilte ihnen mit, daß die Freie Zone jetzt über tausend Einwohner hatte. Boulder glich nicht mehr so sehr einer Geisterstadt. Am Abend des dreißigsten stand Nadine in Harolds Keller, beobachtete ihn und hatte ein ungutes Gefühl. Wenn Harold etwas tat, was nichts mit irgendwelchen seltsamen Sexspielen mit ihr zu tun hatte, schien er sich an einen privaten Ort zurückzuziehen, wo sie keinen Einfluß auf ihn hatte. Wenn das der Fall war, wirkte er kalt; mehr noch, er schien sie zu verachten und auch sich selbst. Das einzige, was sich nicht änderte, war sein Hass auf Stuart Redman und die anderen im Komitee. Im Keller stand ein altes Tischhockeyspiel, und Harold arbeitete auf dessen durchlöcherter Oberfläche. Neben ihm lag ein aufgeschlagenes Buch. Auf der aufgeschlagenen Seite war ein Diagramm zu sehen. Er betrachtete das Diagramm eine Weile, dann den Apparat, an dem er arbeitete, und dann machte er etwas damit. Neben seiner rechten Hand lag der Werkzeugsatz seines TriumphMotorrads. Auf dem Hockeytisch lagen kleine Stücke Draht. »Weißt du«, sagte er abwesend, »du solltest Spazierengehen.« »Warum?« Sie war ein wenig gekränkt. Harolds Gesicht war angespannt; er lächelte nicht. Nadine begriff, warum Harold immer lächelte: Wenn er aufhörte zu lächeln, sah er wie ein Verrückter aus. Sie vermutete, daß er verrückt war, oder fast. »Weil ich nicht weiß, wie alt dieses Dynamit ist«, sagte Harold. »Was meinst du damit?« »Altes Dynamit schwitzt, Herzblatt«, sagte er und sah zu ihr hoch. Sie bemerkte, daß der Schweiß ihm nur so über das Gesicht lief, als wollte er seine Aussage bestätigen. »Es transpiriert, um taktvoll zu sein. Und was es transpiriert, ist reines Nitroglyzerin, eine der instabilsten Substanzen der Welt. Wenn es alt ist, kann dieses kleine wissenschaftliche Projekt uns über den Gipfel des Flagstaff Mountain und den ganzen Weg bis ins Land Oz pusten.« »Deshalb mußt du nicht gleich so patzig sein«, sagte Nadine. »Nadine? Ma chère?« »Was?« Harold sah sie ruhig und ohne zu lächeln an. »Halt dein verdammtes Maul.« Sie gehorchte, aber sie machte keinen Spaziergang, obwohl sie es gern getan hätte. Wenn es Flaggs Wille war (und das Spiritistenbrett hatte ihr gesagt, daß Harold Flaggs Instrument war, mit dem Komitee zu Rande zu kommen), konnte das Dynamit nicht alt sein. Und selbst wenn es alt war, würde es erst explodieren, wenn es sollte... oder? Wieviel Einfluß hatte Flagg überhaupt auf die Ereignisse? Genug, sagte sie sich, er hat genug. Aber sie war nicht sicher, und sie wurde zunehmend unruhig. Sie war noch einmal in ihr Haus zurückgegangen, und Joe war verschwunden gewesen - diesmal endgültig. Sie hatte Lucy aufgesucht und den kühlen Empfang lange genug ertragen, um zu erfahren, daß Joe (Lucy nannte ihn natürlich Leo), seit sie zu Harold gezogen war, »einen leichten Rückfall« gehabt hatte. Auch dafür machte Lucy sie offenbar verantwortlich... aber wenn eine Lawine vom Flagstaff Mountain herabkommen oder ein Erdbeben die Pearl Street aufreißen würde, würde Lucy ihr wahrscheinlich auch das zur Last legen. Nicht, daß es nicht bald genug geben würde, für das man sie und Harold verantwortlich machen konnte. Aber sie war bitter enttäuscht gewesen, daß sie Joe nicht mehr gesehen hatte... um ihm einen Abschiedskuß zu geben. Sie und Harold würden nicht mehr lange in der Freien Zone Boulder bleiben. Vergiß es, am besten läßt du ihn völlig in Ruhe, nachdem du dich auf diese Obszönität eingelassen hast. Du würdest ihm nur schaden... und dir wahrscheinlich auch, weil Joe... sieht, weiß. Laß ihn aufhören, Joe zu sein, laß mich aufhören, Nadine-Mom zu sein. Lass ihn wieder Leo sein, für immer. Aber das Paradoxon war unerbittlich. Sie glaubte nicht, daß auch nur einer der Zone länger als ein Jahr zu leben hatte, und dazu gehörte auch der Junge. Es war nicht sein Wille, daß sie lebten... ... also die Wahrheit, nicht nur Harold ist sein Instrument. Du bist es auch. Du, die einst Moral als die unverzeihlichste Sünde der Welt nach der Seuche definiert hat... Plötzlich wünschte sie sich, das Dynamit würde alt sein und sie beide in die Luft sprengen und ihnen ein Ende bereiten. Ein gnädiges Ende. Und dann dachte sie wieder an das, was geschehen würde, wenn sie über die Berge gegangen waren, und spürte wieder die alte schlüpfrige Wärme in ihrem Bauch. »So«, sagte Harold sanft. Er hatte den Apparat in einem HushPuppiesSchuhkarton verstaut und beiseite gestellt. »Ist es fertig?« »Ja. Fertig.« »Wird es funktionieren?« »Willst du es ausprobieren?« Seine Worte klangen bitter sarkastisch, aber jetzt machte ihr das nichts aus. Er betrachtete sie wieder mit diesem gierigen, tastenden Schuljungenblick, den sie schon kannte. Er war von seinem fernen Ort zurückgekehrt - dem Ort, von dem er geschrieben hatte, was in seinem Hauptbuch stand, welches sie gelesen und anschließend wieder achtlos unter den losen Kaminstein gelegt hatte, wo es ursprünglich gewesen war. Jetzt wurde sie mit ihm fertig. Jetzt war sein Gerede nur Gerede. »Möchtest du mir vorher wieder zusehen, wie ich an mir herumspiele?« fragte sie. »Wie gestern nacht?« »Ja«, sagte er. »Gut. Okay.« »Dann gehen wir hoch.« Sie klimperte mit den Wimpern. »Ich gehe vor.« »Ja«, sagte er heiser. Kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, aber diesmal hatte nicht Angst sie dorthin gezaubert. »Geh du vor.« Also ging sie vor, und sie konnte spüren, wie er unter den Rock des mädchenhaften Matrosenkleids sah, das sie trug. Darunter hatte sie nichts an. Die Tür ging zu, und das Ding, das Harold gebastelt hatte, stand im Dämmerlicht in dem offenen Schuhkarton. Es war ein batteriebetriebenes Walkietalkie Marke Realistic aus dem Radio Shack. Die Rückplatte war abgeschraubt. Harold hatte acht Stangen Dynamit durch Drähte damit ve rbunden. Das Buch lag noch aufgeschlagen da. Es stammte aus Boulders öffentlicher Bibliothek, der Titel lautete: 65 Preisträger der Nationalen Wissenschaftsausstellung. Die Konstruktionszeichnung zeigte eine Türklingel, die mit einem Walkie-talkie ähnlich dem in der Schuhschachtel verbunden war. Die Bildunterschrift besagte: Dritter Preis, Nationale Wissenschaftsausstellung 1977, konstruiert von Brian Ball, Rutland, Vermont. Sagen Sie das richtige Wort und klingeln Sie über eine Entfernung bis zu zwölf Meilen! Ein paar Stunden später kam Harold wieder nach unten, legte den Deckel auf den Schuhkarton und trug ihn vorsichtig nach oben. Er stellte ihn auf das oberste Regal im Küchenschrank. Ralph Brentner hatte ihm am Nachmittag erzählt, daß das Komitee der Freien Zone Chad Norris eingeladen hatte, bei der nächsten Sitzung zu sprechen. Wann würde das sein, hatte Harold sich beiläufig erkundigt. 2. September, hatte Ralph gesagt. 2. September. 57 Larry und Leo saßen vor dem Haus auf dem Bordstein. Larry trank ein warmes Hamm's-Bier, Leo ein warmes Orange Spot. Heutzutage konnte man in Boulder trinken, was man wollte, wenn es in einer Dose war und man sich nicht daran störte, es warm zu trinken. Von draußen drang das konstante griesgrämige Dröhnen des Lawnboy. Lucy mähte den Rasen. Larry hatte sich angeboten, das zu machen, aber Lucy hatte den Kopf geschüttelt. »Sieh zu, daß du herausfindest, was mit Leo los ist.« Es war der letzte Tag im August. Am Tag, nachdem Nadine bei Harold eingezogen war, war Leo nicht zum Frühstück gekommen. Larry hatte den Jungen nur mit einer Unterhose bekleidet und mit dem Daumen im Mund in seinem Zimmer gefunden. Er war wortkarg und feindselig. Larry war erschrockener gewesen als Lucy, denn sie wußte nicht, wie Leo gewesen war, als Larry ihn kennengelernt hatte. Damals war sein Name Joe gewesen, und er hatte ein Messer geschwungen. Seitdem war fast eine Woche verstrichen, und Leo ging es ein wenig besser, aber er war noch nicht wieder voll da und wollte nicht darüber reden, was passiert war. »Diese Frau hat etwas damit zu tun«, hatte Lucy gesagt und den Tankverschluß des Rasenmähers zugeschraubt. »Nadine? Wie kommst du darauf?« »Ich wollte es nicht erwähnen, aber sie war gestern da, als du mit Leo am Cold Creek zum Angeln warst. Sie wollte den Jungen sehen. Ich war froh, daß ihr beide weg wart.« »Lucy...« Sie hatte ihm rasch einen Kuß gegeben, und er hatte die Hand unter das Oberteil ihres Kleides geschoben und sie zärtlich gedrückt. »Ich habe dich einmal falsch beurteilt«, sagte sie. »Ich glaube, das wird mir ewig leid tun. Aber Nadine Cross werde ich nie mögen. Mit der stimmt etwas nicht.« Larry antwortete nicht, aber er vermutete, daß Lucys Urteil wahrscheinlich zutreffend war. An jenem Abend vor King Sooper's hatte Nadine sich tatsächlich wie eine Verrückte aufgeführt. »Noch etwas - als sie hier war, hat sie ihn nicht Leo genannt. Sie hat den anderen Namen benützt. Joe.« Er sah sie mit leerem Blick an, während sie den automatischen Starter umdrehte und den Lawnboy anließ. Jetzt, eine halbe Stunde nach diesem Gespräch, trank er sein Hamm's und sah zu, wie Leo mit dem Ping-Pong-Ball spielte, den er an dem Tag gefunden hatte, als sie beide zu Harold gegangen waren, wo Nadine jetzt lebte. Der kleine weiße Ball war schmutzig, aber noch nicht eingebeult. Tock-tock-tock auf dem Pflaster. Bällchen-Bällchen-hüpf, sieh-mal-wie-wir-spielen. Leo (er war jetzt Leo, oder nicht?) hatte Harolds Haus an dem Tag nicht betreten wollen. Das Haus, in dem Nadine-Mom jetzt wohnte. »Möchtest du Angeln gehen, Junge?« bot Larry plötzlich an. »Keine Fische«, sagte Leo. Er sah Larry mit seinen seltsamen, meerwassergrünen Augen an. »Kennst du Mr. Ellis?« »Klar.« »Er sagt, wir können das Wasser trinken, wenn die Fische zurückkommen. Es trinken, ohne...« Er gab ein heulendes Geräusch von sich und bewegte die Finger vor den Augen. »Du weißt schon.« »Ohne es zu kochen.« »Ja.« Tock-tock-tock. »Ich mag Dick. Ihn und Laurie. Geben mir immer was zu essen. Er hat Angst, daß sie es nicht können, aber ich glaube doch.« »Was nicht können?« »Ein Baby machen. Dick glaubt, er könnte zu alt sein. Aber ich glaube das nicht.« Larry wollte gerade fragen, wie Leo und Dick auf das Thema gekommen waren, ließ es aber sein. Die Antwort war natürlich: gar nicht. Über etwas so Persönliches wie ein Baby machen würde Dick niemals mit einem kleinen Jungen sprechen. Leo hatte einfach... hatte es einfach gewußt. Tock-tock-tock. Ja, Leo wußte Dinge... vielleicht durch Intuition. Er hatte nicht in Harolds Haus gehen wollen und etwas über Nadine gesagt... Larry wußte nicht mehr genau, was... aber er hatte sich an das Gespräch erinnert und war sehr besorgt gewesen, als er hörte, daß Nadine zu Harold gezogen war. Es war, als wäre der Junge in Trance gewesen, als... (-tock-tock-tock-) Larry sah zu, wie der Ping-Pong-Ball auf und ab hüpfte, und plötzlich blickte er in Leos Gesicht. Die Augen des Jungen waren dunkel und sahen in die Ferne. Das Geräusch des Rasenmähers war ein weit entferntes, einschläferndes Summen. Die Sonne schien hell und warm. Und Leo war wieder in Trance, als hätte er Larrys Gedanken gelesen und einfach darauf reagiert... Leo war den Elefanten sehen gegangen. Ganz beiläufig sagte Larry: »Ja, ich glaube, sie können ein Baby machen. Dick ist höchstens fünfundfünfzig. Cary Grant hat eins gemacht, als er fast siebzig war, glaube ich.« »Wer ist Cary Grant?« fragte Leo. Der Ball hüpfte auf und ab, auf und ab. (Berüchtigt. Der unsichtbare Dritte.) »Weißt du das nicht?« fragte er Leo. »Er war Schauspieler«, sagte Leo. »Er hat in Berüchtigt gespielt. Und in Der Unsichtbare.« (Der unsichtbare Dritte.) »Der unsichtbare Dritte, meine ich«, sagte Leo in zustimmendem Tonfall. Er nahm keinen Blick von dem hüpfenden Ping-Pong-Ball. »Das stimmt«, sagte er. »Wie geht es Nadine-Mom, Leo?« »Sie nennt mich Joe. Für sie bin ich Joe.« »Oh.« Ein kalter Schauer kroch Larry langsam über den Rücken. »Es ist jetzt schlimm.« »Schlimm?« »Es ist mit beiden schlimm.« »Nadine und...« (Harold?) »Ja, er.« »Sind sie nicht glücklich?« »Er hält sie zum Narren. Sie glauben, er will sie.« »Er?« »Er.« Das Wort hing in der stillen Sommerluft. Tock-tock-tock. »Sie werden nach Westen gehen«, sagte Leo. »Mein Gott«, murmelte Larry. Jetzt war ihm sehr kalt. Wollte er noch mehr davon hören? Es war, als würde man auf einem Friedhof stehen und sehen, wie eine Gruft aufgeht, aus der sich eine Hand streckt... Was es auch ist, ich will es nicht hören, ich will es nicht wissen. »Nadine-Mom will glauben, daß es deine Schuld ist«, sagte Leo. »Sie will glauben, daß du sie zu Harold getrieben hast. Aber sie hat absichtlich gewartet, bis du Lucy-Mom zu sehr liebst. Sie hat gewartet, bis sie sicher war. Es ist, als ob er den Teil ihres Gehirns ausradiert, der Recht und Unrecht unterscheiden kann. Ganz allmählich radiert er diesen Teil aus. Und wenn er weg ist, wird sie so verrückt sein wie alle im Westen. Vielleicht noch verrückter.« »Leo...« flüsterte Larry, und Leo antwortete sofort: »Sie nennt mich Joe. Für sie bin ich Joe.« »Soll ich dich Joe nennen?« fragte Larry zweifelnd. »Nein.« Das Wort klang wie ein Flehen. »Nein, bitte nicht.« »Du vermißt Nadine-Mom, nicht wahr, Leo?« »Sie ist tot«, sagte Leo mit erschreckender Nüchternheit. »Bist du darum so spät in die Nacht weggeblieben?« »Ja.« »Und hast du deshalb nicht gesprochen?« »Ja.« »Aber jetzt sprichst du.« »Jetzt habe ich dich und Lucy-Mom, mit denen ich sprechen kann.« »Ja, natürlich...« »Aber nicht für immer«, sagte der Junge wütend. »Nicht für immer, wenn du nicht mit Frannie sprichst! Sprich mit Frannie! Sprich mit Frannie!« »Über Nadine?« »Nein!« »Über was? Über dich?« Leos Stimme wurde lauter, schriller. »Es ist alles aufgeschrieben! Du weißt es! Frannie weiß es! Sprich mit Frannie!« »Das Komitee...« »Nicht das Komitee! Das Komitee kann dir nicht helfen, es kann keinem helfen, das Komitee ist aus den alten Zeiten, und er lacht über dieses Komitee, weil es aus den alten Zeiten ist, und die alten Zeiten sind seine Zeiten, weißt du, Frannie weiß es, und wenn ihr miteinander sprecht, könnt ihr...« Leo schlug den Ball hart auf - TOCK! - und er sprang hoch über seinen Kopf, kam herunter und rollte weg. Mit trockenem Mund sah Larry dem Ball nach, und sein Herz klopfte garstig in der Brust. »Ich hab' den Ball fallen lassen«, sagte Leo und lief ihn holen. Larry beobachtete ihn. Frannie, dachte er. Die beiden saßen auf dem Podium des Musikpavillons und ließen die Beine baumeln. Es war eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit, und ein paar Leute gingen noch durch den Park, manche Hand in Hand. Die Stunde der Kinder ist auch die Stunde der Liebenden, dachte Frannie zusammenhanglos. Larry hatte ihr gerade alles erzählt, was Leo in Trance gesagt hatte, und ihre Gedanken wirbelten durcheinander. »Was meinst du?« fragte Larry. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie leise. »Aber was passiert ist, gefällt mir überhaupt nicht. Traumvisionen. Eine alte Frau, die eine Weile die Stimme Gottes ist und dann in die Wildnis geht. Und jetzt scheint ein kleiner Junge Telepath zu sein. Es ist ein Leben wie im Märchen. Manchmal glaube ich, die Supergrippe hat uns zwar verschont, aber alle in den Wahnsinn getrieben.« »Er hat gesagt, ich soll mit dir sprechen. Das tue ich.« Sie antwortete nicht. »Nun«, sagte Larry, »wenn dir etwas einfällt...« »Aufgeschrieben«, sagte Frannie leise. »Er hat recht, der Junge. Ich glaube, das ist die ganze Wurzel des Übels. Wenn ich nicht so dumm gewesen wäre, so verblendet, alles aufzuschreiben... ach, Scheiße!« Larry sah sie erstaunt an. »Wovon redest du?« »Es geht um Harold«, sagte sie, »und ich habe Angst. Ich habe es Stu nicht gesagt. Ich habe mich geschämt. Es war so dumm, das Tagebuch zu führen... und Stu... er mag Harold sogar... alle in der Freien Zone mögen Harold, auch du.« Sie stieß ein Lachen aus, das von Tränen erstickt wurde. »Immerhin war er dein... dein geistiger Führer auf dem Weg hierher, oder nicht?« »Ich komme da nicht ganz mit«, sagte Larry langsam. »Kannst du mir sagen, wovor du Angst hast?« »Das ist es ja - ich weiß es eigentlich gar nicht.« Sie sah ihn mit tränenfeuchten Augen an. »Ich glaube, ich sollte dir erzählen, was ich kann, Larry. Ich muß mit jemand reden... Gott weiß, ich kann es nicht mehr in mir behalten, und Stu... Stu ist vielleicht nicht derjenige, der es hören sollte. Jedenfalls nicht als erster.« »Schieß los, Fran.« Sie erzählte ihm ihre ganze Geschichte, angefangen mit jenem Junitag, an dem Harold in Roy Brannigans Cadillac vor ihrem Haus in Ogunquit vorgefahren war. Während sie sprach, nahm das letzte helle Tageslicht allmählich einen blauen Schimmer an. Die Liebespaare verschwanden eins nach dem anderen aus dem Park. Eine schmale Mondsichel zog am Himmel auf. In dem Wohnblock auf der anderen Seite des Canyon Boulevard waren einige ColemanLampen angezündet worden. Sie erzählte ihm von der Botschaft am Scheunendach und daß sie geschlafen hatte, als Harold sein Leben riskierte, um als letzte Zeile ihren Namen zu schreiben. Davon, wie sie Stu in Fabyan getroffen hatten, und von Harolds übertriebener abweisender Reaktion. Sie erzählte ihm von ihrem Tagebuch und dem Daumenabdruck. Als sie fertig war, war es schon nach neun; die Grillen zirpten. Schweigen senkte sich über sie, und sie wartete ängstlich darauf, daß Larry es brach. Aber er saß gedankenverloren da. Schließlich sagte er: »Bist du dir über diesen Fingerabdruck ganz sicher? Bist du fest davon überzeugt, daß er von Harold stammt?« Sie zögerte nur einen Augenblick: »Ja. Ich habe sofort gewußt, dass es Harolds Daumenabdruck war.« »Diese Scheune, wo er seine Botschaft geschrieben hat«, sagte Larry. »An dem Abend, an dem wir uns kennengelernt haben, habe ich dir doch gesagt, daß ich oben war, nicht? Und daß Harold seine Initialen in einen Balken geschnitzt hatte?« »Ja.« »Es waren nicht nur seine Initialen. Es waren auch deine. In einem Herz. Wie es ein verliebter kleiner Junge in die Schulbank einritzt.« Sie wischte sich mit beiden Händen die Augen. »Was für ein Schlamassel«, sagte sie heiser. »Du bist nicht für Harold Lauders Tun verantwortlich, Mädchen.« Er nahm mit beiden Händen ihre Hand und hielt sie fest. Er sah sie an. »Glaub einem alten, mit allen Wassern gewaschenen Haudegen wie mir«, sagte er. »Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Wenn du das machst...« Er drückte so fest zu, daß es weh tat, aber seine Stimme blieb leise. »Wenn du das machst, dann wirst du tatsächlich verrückt. Man hat genug damit zu tun, daß einem selbst die Socken nicht rutschen, man kann sich nicht auch noch um die anderer Leute kümmern.« Er nahm seine Hand weg, und sie schwiegen eine Weile. »Glaubst du, Harold haßt Stu so, daß er ihn umbringen möchte?« »Ja«, sagte sie. »Das halte ich tatsächlich für möglich. Vielleicht das ganze Komitee. Aber ich weiß nicht, was...« Er legte die Hand auf ihre Schulter und brachte sie mit einem festen Griff zum Schweigen. Er hatte in der Dunkelheit die Haltung verändert, die Augen aufgerissen. Seine Lippen bewegten sich lautlos. »Larry? Was...« »Als er nach unten gegangen ist«, murmelte Larry. »Er ist runtergegangen, um einen Korkenzieher oder so was zu holen.« »Was?« Er wandte sich ihr langsam zu, als wäre sein Kopf an einem rostigen Scharnier befestigt. »Weißt du«, sagte er, »es gibt vielleicht eine Möglichkeit, alles zu klären. Ich kann es nicht garantieren, denn ich habe nicht in das Buch hineingesehen, aber es paßt so wunderbar zusammen... Harold liest dein Tagebuch und erfährt nicht nur eine Menge, er hat auch eine gute Idee... Verdammt, vielleicht war er eifersüchtig, daß du zuerst drauf gekommen bist. Haben nicht alle guten Schriftsteller Tagebuch geführt?« »Willst du damit sagen, daß Harold ein Tagebuch hat?« »An dem Tag, als ich ihm den Wein brachte, ist er in den Keller gegangen und ich habe mich in seinem Wohnzimmer umgesehen. Er sagte, er wolle ein paar Möbel aus Chrom und Leder hineinstellen, und ich versuchte, mir vorzustellen, wie das aussehen würde. Dabei habe ich den losen Stein am Kamin bemerkt...« »JA!« schrie sie so laut, daß er zusammenzuckte. »An dem Tag, an dem ich mich eingeschlichen habe... und Nadine Cross gekommen ist... saß ich auf dem Kamin... ich erinnere mich an den losen Stein.« Sie sah Larry an. »Da haben wir es wieder. Als ob uns etwas in die richtige Richtung führt...« »Zufall«, sagte er, hörte sich aber unbehaglich an. »Wirklich? Wir waren beide in Harolds Haus. Wir haben beide den losen Stein bemerkt. Und jetzt sind wir beide hier. Ist das Zufall?« »Ich weiß nicht.« »Was war unter dem Stein?« »Ein Hauptbuch«, sagte er langsam. »Stand jedenfalls auf dem Umschlag. Ich habe nicht hineingesehen. Damals habe ich gedacht, es hätte ebensogut der früheren Besitzer des Hauses gehören können wie Harold. Aber wenn, hätte es Harold dann nicht gefunden? Wir haben beide den losen Stein bemerkt. Nehmen wir an, er findet es. Selbst wenn der Kerl, der vor der Grippe dort gewohnt hat, es mit kleinen Geheimnissen vollgeschrieben hätte - um wieviel er das Finanzamt betrogen hat, Sex-Phantasien mit seiner Tochter und was sonst noch alles -, es wären nicht Harolds Geheimnisse gewesen. Kapierst du das?« »Ja, aber...« »Nicht unterbrechen, wenn Inspektor Underwood kombiniert, ungezogenes kleines Mädchen. Wenn die Geheimnisse nicht Harolds Geheimnisse waren, warum hätte er das Hauptbuch dann wieder unter den Stein legen sollen? Weil es seine Geheimnisse waren. Das war Harolds Tagebuch.« »Glaubst du, es ist noch da?« »Vielleicht. Ich finde, wir sollten mal nachsehen.« »Jetzt?« »Morgen. Dann ist er mit dem Beerdigungskomitee unterwegs, und Nadine hilft nachmittags im Kraftwerk.« »Also gut«, sagte sie. »Meinst du, ich sollte es Stu erzählen?« »Warum warten wir nicht noch? Es ist sinnlos, Panik zu machen, solang wir nicht sicher sind. Vielleicht ist das Buch weg. Vielleicht ist es nur eine Liste dessen, was er sich vorgenommen hat. Es könnte völlig harmlos sein. Oder Harolds politischen Meisterplan enthalten. Oder vielleicht ist es verschlüsselt geschrieben.« »Daran habe ich gar nicht gedacht. Was werden wir tun, wenn... wir etwas Wichtiges finden?« »Dann werden wir vor dem Komitee der Freien Zone darüber sprechen müssen. Ein weiterer Grund dafür, es schnell über die Bühne zu bringen. Wir treffen uns am zweiten. Das Komitee wird sich darum kümmern.« »Wirklich?« »Ja, ich bin überzeugt«, sagte Larry, mußte aber gleichzeitig daran denken, was Leo über das Komitee gesagt hatte. Sie glitt vom Rand des Pavillons auf den Boden. »Jetzt geht es mir besser. Danke, daß du gekommen bist, Larry.« »Wo wollen wir uns treffen?« »In dem kleinen Park gegenüber von Harolds Haus. Wie war's damit, morgen nachmittag um ein Uhr?« »Gut«, sagte Larry. »Bis dann also.« Frannie ging heim, leichteren Herzens als seit Wochen. Wie Larry gesagt hatte, waren die Alternativen jetzt ziemlich klar. Das Hauptbuch bewies vielleicht, daß ihre Befürchtungen allesamt unbegründet waren. Und wenn es das Gegenteil bewies... Nun, wenn es das Gegenteil bewies, sollte das Komitee entscheiden. Wie Larry sie erinnert hatte, trafen sie sich am Abend des zweiten bei Nick und Ralph am Ende der Baseline Road. Als sie nach Hause kam, saß Stu im Schlafzimmer, hatte einen Kugelschreiber in der einen und einen voluminösen Lederband in der anderen Hand. Auf den Schutzumschlag des Bandes war in Gold geprägt: Einführung ins Strafrecht von Colorado. »Schwere Lektüre«, sagte sie und küßte ihn auf den Mund. »Ach.« Er warf das Buch durchs Zimmer; es landete polternd auf der Kommode. »AI Bundell hat es vorbeigebracht. Er und sein Justizkomitee legen echt los, Fran. Er möchte zum Komitee der Freien Zone sprechen, wenn wir uns übermorgen treffen. Was hast du gemacht, schönes Kind?« »Mit Larry Underwood geredet.« Er sah sie einen Moment eindringlich an. »Fran - hast du geweint?« »Ja«, sagte sie und hielt seinem Blick stand. »Aber jetzt geht es mir besser. Viel besser.« »Geht's um das Baby?« »Nein.« »Um was dann?« »Das sage ich dir morgen abend. Ich werde dir alles sagen, was mir so durch den sogenannten Kopf gegangen ist. Bis dahin keine Fragen. Klar?« »Ist es etwas Ernstes?« »Stu, das weiß ich nicht.« Er sah sie lange, lange Zeit an. »Also gut, Frannie«, sagte er. »Ich liebe dich.« »Ich weiß. Ich liebe dich auch.« »Bett?« Sie lächelte. »Wer erster ist.« Der erste September dämmerte grau und regnerisch, ein trostloser Tag, den man getrost vergessen konnte - den aber kein Bewohner der Freien Zone jemals vergaß. Das war der Tag, an dem im Norden von Boulder der Strom wieder anging... jedenfalls für kurze Zeit. Zehn vor zwölf sah Brad Kitchner im Kontrollraum des Kraftwerks Stu, Nick, Ralph und Jack Jackson an, die alle hinter ihm standen. Brad lächelte nervös und sagte: »Heil Maria, Gnadenreiche, hilf und stell mir diese Weiche.« Er legte heftig zwei Schalthebel um. In der riesigen, höhlenartigen Halle unter ihnen heulten zwei Versuchsgeneratoren auf. Die fünf Männer traten an die riesige Wand aus polarisiertem Glas und sahen nach unten, wo ungefähr hundert Männer und Frauen standen, die auf Brads Befehl alle Schutzbrillen trugen. »Wenn wir etwas verkehrt gemacht haben, sollen lieber zwei als zweiundfünfzig hochgehen«, hatte Brad ihnen schon vorher gesagt. Die Generatoren heulten lauter. Nick stieß Stu mit dem Ellenbogen an und deutete zur Decke des Kontrollraums. Stu sah hoch und fing an zu grinsen. Die Neonlampen unter den durchsichtigen Scheiben glühten schwach auf. Die Generatoren drehten hoch, erreichten ein hohes, gleichmäßiges Summen und pendelten sich ein. Die versammelten Arbeiter unten in der Halle fingen spontan an zu applaudieren. Manche zuckten dabei zusammen; ihre Hände waren zerschnitten und wund, weil sie Stunde für endlose Stunde Kupferdraht gewickelt hatten. Die Neonlampen leuchteten jetzt hell und normal. Für Nick war das Gefühl das genaue Gegenteil der Angst, die er empfunden hatte, als in Shoyo die Lichter ausgegangen waren - kein Gefühl des Begrabenwerdens, sondern der Wiederauferstehung. Die beiden Generatoren versorgten nur einen kleinen Teil im Norden Boulders um die North Street mit Energie. In der Gegend wohnten Leute, die nichts von dem Test heute morgen wußten, und viele rannten davon, als wären alle Teufel der Hölle hinter ihnen her. Fernsehgeräte erwachten zu flimmerndem Leben. In einem Haus in der Spruce Street sprang ein Mixer an und versuchte Käse und Eier zu verrühren, die schon lange eingetrocknet waren. Der Motor des Mixers war nach kurzer Zeit überlastet und verschmorte. In einer verlassenen Garage setzte sich eine Kreissäge in Bewegung und spuckte Sägemehl aus ihren Eingeweiden. Auf einigen Herden fingen die Heizplatten an zu glühen. Marvin Gaye sang aus den Lautsprechern eines Oldie-Plattenladens mit Namen The Wax Museum; die Worte, die von einem Jive-Disco-Rhythmus begleitet wurden, schienen wie ein Traum einer zum Leben erwachten Vergangenheit zu sein: »Let's dance... let's shout... get funky what it's all about... let's dance... let's shout...« In der Maple Street ging ein Trafo hoch; ein fröhlicher Regen purpurner Fünkchen sank herab ins feuchte Gras und erlosch. Im Kraftwerk fing einer der Generatoren in einer höheren, verzweifelteren Tonlage an zu winseln. Er begann zu rauchen. Leute wichen beinahe panisch davor zurück. Der eklig-süße Geruch von Ozon erfüllte die Halle. Ein durchdringender Alarmton erklang. »Zu hoch!« brüllte Brad. »Das Miststück überdreht! Überlastung!« Er rannte durch den Raum und riß beide Schalthebel wieder hoch. Das Heulen der Generatoren ließ nach, aber erst nach einem Knall und Schreien, die vom Panzerglas gedämpft wurden. »Heiliger Himmel«, sagte Ralph. »Einer brennt.« Die Neonröhren über ihnen verblaßten zu schmalen weißen Lichtstreifen und gingen dann ganz aus. Brad riß die Tür zur Halle auf und trat auf die Plattform. Die riesige Halle warf das Echo seiner Worte zurück: »Schaum dort rüber! Beeilung!« Mehrere Feuerlöscher wurden auf die Generatoren gerichtet, das Feuer gelöscht. Der Ozongeruch hing immer noch in der Luft. Die anderen drängten sich zu Brad auf die Plattform. Stu legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, daß es so gekommen ist, Mann«, sagte er. Brad drehte sich grinsend zu ihm um. »Leid? Warum?« »Nun, er hat Feuer gefangen, oder nicht?« sagte Jack. »Scheiße, ja! Und wie! Und irgendwo um die North Street ist jetzt ein Trafo im Arsch. Wir haben eins vergessen, verdammt, wir haben es vergessen. Sie sind krank geworden und gestorben, aber sie haben es nicht mehr geschafft, vorher ihre Elektrogeräte auszuschalten. Überall in Boulder sind Fernsehgeräte, Herde und Heizdecken eingeschaltet. Eine gewaltige Netzbelastung. Diese Generatoren sind so konstruiert, daß sie umschalten, wenn die Belastung an einer Stelle hoch und an der anderen gering ist. Das hat der da unten auch versucht, aber alle anderen waren abgeschaltet, kapiert?« Brad war fahrig vor Aufregung. »Gary! Ihr wißt doch noch, wie Gary, Indiana, niedergebrannt ist?« Sie nickten. »Bin nicht sicher, wir können nie sicher sein, aber was hier passiert ist, könnte auch dort passiert sein. Könnte sein, daß der Strom nicht schnell genug ausgeblieben ist. Unter den richtigen Umständen kann ein Kurzschluß in einer Heizdecke ausgereicht haben, so wie Mrs. O'Learys Kuh, die in Chicago eine Laterne umgetreten hat. Die Gennies haben versucht, auf andere umzuschalten, aber es waren keine da. Also sind sie durchgeschmort. Wir haben Glück, daß das passiert ist, das ist meine Meinung - glaubt mir.« »Wenn du das sagst«, meinte Ralph zweifelnd. Brad sagte: »Wir müssen die Arbeit noch mal machen, aber nur an einem Motor. Wir kommen ins Geschäft. Aber...« Brad hatte angefangen, mit den Fingern zu schnippen, eine unbewußte Geste der Aufregung. »Wir können den Saft erst wieder einschalten, wenn wir sicher sind. Können wir noch einen Arbeitstrupp bekommen? Ein Dutzend Leute, oder so?« »Wahrscheinlich«, sagte Stu. »Wofür?« »Einen Abschalttrupp. Nur ein paar Leute, die durch Boulder gehen und alles abschalten, was angelassen worden ist. Wir können erst wieder wagen, den Saft einzuschalten, wenn das passiert ist. Wir haben keine Feuerwehr, Mann.« Brad lachte ein wenig irre. »Wir haben morgen abend eine Versammlung des Komitees der Freien Zone«, sagte Stu. »Du kannst vorbeikommen und erklären, warum du sie brauchst. Dann wirst du deine Männer bekommen. Bist du sicher, daß so eine Überlastung nicht wieder vorkommt?« »Ziemlich sicher, ja. Wenn nicht soviel eingeschaltet gewesen wäre, wäre es auch heute nicht passiert. Da wir gerade davon sprechen, jemand sollte nach Nord-Boulder und nachsehen, ob es abbrennt.« Niemand war sicher, ob Brad einen Witz gemacht hatte oder nicht. Wie sich herausstellte, waren mehrere kleine Feuer ausgebrochen, hauptsächlich an Heizgeräten. Aber im Nieselregen breitete sich keines aus. Und später erinnerten sich die Leute nur noch daran, daß der erste September 1990 der Tag gewesen war, als der Strom wieder anging - wenn auch nur dreißig Sekunden oder so. Eine Stunde später fuhr Fran mit dem Fahrrad zum Eben G. Fine Park gegenüber von Harolds Haus. Am Nordende des Parks, gleich hinter den Picknicktischen, blubberte der Boulder Stream munter dahin. Der Nieselregen des Morgens wurde zu leichtem Dunst. Sie sah sich nach Larry um, fand ihn nicht und stellte das Rad ab. Sie ging durch das feuchte Gras zu den Schaukeln, als eine Stimme sagte: »Hier drüben, Fran.« Verblüfft sah sie zu dem Gebäude, in dem sich die Damen- und Herrentoiletten befanden, und verspürte einen Augenblick völlig verwirrte Angst. Eine hochgewachsene Gestalt stand im Schatten des kurzen Durchgangs zwischen den beiden öffentlichen Toiletten, und einen Moment dachte sie... Dann kam die Gestalt heraus, und es war Larry, der verblichene Jeans und ein Khakihemd trug. Fran entspannte sich. »Habe ich dir angst gemacht?« fragte er. »Ein bißchen.« Sie setzte sich auf eine Schaukel, ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder. »Ich habe nur eine Gestalt gesehen, die dort im Dunkeln stand...« »Tut mir leid. Ich dachte, es wäre sicherer, obwohl man von Harolds Haus nicht hierher sehen kann. Wie ich gesehen habe, bist du auch mit dem Fahrrad gekommen.« Sie nickte. »Leiser.« »Ich hab' meins dort in dem Schuppen versteckt.« Er deutete mit dem Kinn zu einem offenen Gebäude mit Flachdach beim Spielplatz. Frannie schob das Rad zwischen Schaukeln und Rutschbahn hindurch zu dem Schuppen. Drinnen roch es stickig und abgestanden. Der Schuppen war ein Treffpunkt für Jugendliche gewesen, die zu jung oder zu high zum Fahren waren, vermutete sie. Es wimmelte von Bierflaschen und Zigarettenkippen. In der Ecke hinten lag ein zusammengeknüllter Damenschlüpfer, in der vorne befanden sich die Überreste einer kleinen Feuerstelle. Sie stellte das Rad neben dem von Larry ab und kam rasch wieder heraus. In dem Schatten, wo ihr der Geruch von längst schal gewordenem Sex in die Nase stieg, konnte sie sich nur zu leicht vorstellen, daß der dunkle Mann mit seinem verbogenen Kleiderbügel hinter ihr stand. »Ein regelrechtes Holiday Inn, was?« sagte Larry trocken. »Nicht das, was ich mir unter einer freundlichen Umgebung vorstelle«, sagte Fran erschauernd. »Was immer dabei herauskommt, Larry, ich will Stu heute abend alles erzählen.« Larry nickte. »Ja, und nicht nur, weil er im Komitee ist. Er ist auch der Marshal. « Fran sah ihn besorgt an. Ihr wurde zum ersten Mal klar, daß diese Expedition Harold ins Gefängnis bringen konnte. Sie hatten vor, ohne Durchsuchungsbefehl oder so in sein Haus einzudringen und herumzuschnüffeln. »Schlimm«, sagte sie. »Nicht gut, was?« stimmte er zu. »Wollen wir es abblasen?« Sie dachte lange nach und schüttelte dann den Kopf. »Gut. Ich finde, wir müssen es erfahren, so oder so.« »Bist du sicher, daß sie beide weg sind?« »Ja. Ich habe Harold heute morgen mit einem der Lastwagen des Beerdigungskomitees wegfahren sehen. Und alle Leute im Kraftwerkstrupp sind zum Probelauf eingeladen worden.« »Bist du sicher, daß sie hingegangen ist?« »Es würde doch verdammt komisch aussehen, wenn nicht, oder?« Frannie dachte darüber nach und nickte. »Wahrscheinlich schon. Stu hat übrigens gesagt, sie hoffen, daß sie den größten Teil der Stadt bis zum sechsten wieder mit Strom versorgen können.« »Das wird ein Tag werden«, sagte Larry und dachte daran, wie schön es sein würde, mit einer großen Fender-Gitarre und einem noch größeren Verstärker im Shannon's oder Broken Drum zu sitzen und etwas zu spielen - irgend etwas, wenn es nur unkompliziert war und einen schweren Rhythmus hatte - bei voller Lautstärke. Vielleicht »Gloria« oder »Walkin' the Dog«. Irgend etwas, nur nicht »Baby, Can You Dig Your Man?« »Vielleicht«, sagte Fran, »sollten wir uns trotzdem eine Ausrede überlegen. Für alle Fälle.« Larry grinste schief. »Willst du etwa sagen, wir verkaufen Zeitschriftenabos, wenn einer zurückkommt?« »Ha-ha, Larry.« »Nun, wir könnten sagen, daß wir gekommen sind, um das zu berichten, was du mir gerade gesagt hast, von wegen Strom wieder einschalten. Wenn sie da ist.« Fran nickte. »Ja, das wäre gut.« »Mach dir nichts vor, Fran. Sie wäre selbst dann argwöhnisch, wenn wir ihr sagen würden, daß Jesus Christus gerade wiedergekommen ist und auf dem Wasserturm hin und her läuft.« »Wenn sie schuldig ist.« »Ja. Wenn sie schuldig ist.« »Komm«, sagte Fran nach kurzem Zögern. »Gehen wir.« Sie brauchten die Ausrede nicht. Lautes, anhaltendes Klopfen an Vorder- und Hintertür überzeugte sie davon, daß Harolds Haus tatsächlich leer war. Um so besser, dachte Frannie - je mehr sie über ihre Ausrede nachdachte, um so dünner kam sie ihr vor. »Wie bist du reingekommen?« fragte Larry. »Durchs Kellerfenster.« Sie gingen zur Seite des Hauses, und Larry zog und zerrte vergeblich an dem Fenster, während Frannie Schmiere stand. »Damals vielleicht«, sagte er, »aber jetzt ist es abgeschlossen.« »Nein, es klemmt nur. Laß mich versuchen.« Aber sie hatte auch nicht mehr Glück. Irgendwann zwischen ihrem ersten heimlichen Besuch und heute hatte Harold das Fenster verriegelt. »Was machen wir jetzt?« fragte sie. »Laß uns einbrechen.« »Larry, das merkt er doch.« »Soll er. Wenn er nichts zu verbergen hat, wird er denken, daß es nur ein paar Kinder waren, die Fensterscheiben von leeren Häusern eingeschlagen haben. Mit den runtergelassenen Rollos sieht es eindeutig leer aus. Und wenn er etwas zu verbergen hat, dann wird es ihm eine Menge Kopfzerbrechen machen, aber das geschieht ihm dann auch recht. Richtig?« Sie sah zweifelnd drein, hinderte ihn aber nicht, als er sein Hemd auszog, um Hand und Unterarm wickelte und das Kellerfenster eindrückte. Glas fiel klirrend nach innen; er tastete nach dem Riegel. »Hab' ihn.« Er drückte ihn zurück und schob das Fenster auf. »Sei vorsichtig, Mädchen. Bitte keine Fehlgeburten in Harold Lauders Keller.« Er griff ihr unter die Arme und half ihr herunter. Sie sahen sich gemeinsam im Kellerraum um. Die Krocketschläger standen Wache. Auf dem Tischhockey lagen Schnipsel von bunten Stromkabeln. »Was ist das?« sagte sie und hob ein Stück auf. »Das war vorher nicht da.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht bastelt Harold an einer Mausefalle.« Er angelte sich den Karton, der unter dem Tisch stand. Auf dem Deckel hieß es: DELUXE REALISTIC WALKIE-TALKIE SET, BATTERIES NOT INCLUDED. Larry öffnete den Karton, aber das Gewicht hatte ihm schon verraten, daß er leer war. »Er baut keine Mausefallen, sondern Walkie-talkies«, sagte Fran. »Nein, dies war kein Bausatz. Diese Dinger kauft man fertig. Vielleicht wollte er es irgendwie umbauen. Das würde Harold ähnlich sehen. Weißt du noch, wie Stu sich über den Walkie-talkie-Empfang geärgert hat, als er und Harold und Ralph Mutter Abagail gesucht haben?« Sie nickte, aber etwas an diesen Drahtabfällen machte ihr Sorgen. Larry ließ den Karton auf den Boden fallen und machte eine Bemerkung, die er später als den größten Irrtum seines Lebens ansehen sollte. »Ist nicht wichtig«, sagte er. »Gehen wir.« Sie gingen die Treppe hinauf, aber diesmal war die obere Tür abgeschlossen. Sie sah ihn an, und Larry zuckte die Achseln. »Wir sind soweit gekommen, richtig?« Fran nickte. Larry stieß ein paarmal mit der Schulter gegen die Tür, um den Riegel auf der anderen Seite zu prüfen, dann warf er sich kräftig dagegen. Sie hörten ein metallisches Knacken, ein Klirren, und die Tür sprang auf. Larry bückte sich und hob Schrauben und Riegel vom Linoleumfußboden der Küche auf. »Das schraube ich wieder an, und er wird nichts merken. Das heißt, wenn ich einen Schraubenzieher auftreibe.« »Wozu die Mühe? Er wird das eingeschlagene Fenster sehen.« »Das stimmt. Aber wenn der Riegel wieder an der Tür ist, wird er... warum lachst du?« »Bring meinetwegen den Riegel wieder an. Aber wie willst du ihn von der Kellerseite zumachen?« Er dachte darüber nach und sagte: »Verdammt, wenn ich etwas hasse, dann neunmalkluge Weiber.« Er warf den Riegel auf den Küchentresen. »Sehen wir unter dem Kaminstein nach.« Sie gingen in das halbdunkle Wohnzimmer, und Fran spürte, wie Angst in ihr hochkroch. Beim letzten Mal hatte Nadine keinen Schlüssel gehabt. Diesmal schon, wenn sie zurückkam. Es wäre ein schlechter Witz, wenn Stus erste Amtshandlung als Marshai darin bestehen sollte, seine eigene Frau wegen Einbruchs festzunehmen. »Dort drüben, nicht«, sagte Larry und zeigte auf den Kamin. »Ja. Beeil dich.« »Die Möglichkeit ist ohnehin groß, daß er es anderswo versteckt hat.« Das hatte Harold auch. Nadine hatte es wieder unter dem losen Kaminstein verstaut. Das wußten Larry und Fran natürlich nicht, aber als Larry den losen Kaminstein weggezogen hatte, lag das Buch in dem Hohlraum darunter, und das Wort HAUPTBUCH glänzte ihnen in goldgeprägten Buchstaben entgegen. Sie sahen es beide an. Plötzlich schien es heißer, stickiger und dunkler in dem Zimmer zu sein. »Nun«, sagte Larry. »Wollen wir es bewundern oder lesen?« »Lies du«, sagte Fran. »Ich will es nicht einmal anfassen.« Larry nahm es aus der Vertiefung und wischte automatisch den weißen Steinstaub vom Einband. Er blätterte es wahllos durch. Es war mit einem Filzstift beschrieben worden, der unter dem kämpferischen Markennamen Hardhead in den Handel gekommen war. Mit ihm hatte Harold mit gedrängter winziger Schrift schreiben können - der Schrift eines äußerst gewissenhaften Mannes, vielleicht eines Besessenen. Es gab keine Absätze. Rechts und links war nur ein winziger Rand, aber dieser Rand war so gleichmäßig und gerade, daß er mit dem Lineal hätte gezogen sein können. »Ich brauche drei Tage, um das alles zu lesen«, sagte Larry und blätterte zum Anfang des Buches zurück. »Halt«, sagte Fran und griff über seinen Arm, um ein paar Seiten zurückzublättern. Hier war der gleichmäßig fließende Text durch einige scharf umrandete Stellen unterbrochen. Die umrandeten Stellen schienen jeweils eine Art Motto darzustellen: Seinem Stern zu folgen bedeutet, sich einer höheren Macht, einer Vorsehung auszuliefern; aber ist es nicht dennoch möglich, dass dieser Akt der Selbstentäußerung den Zugang zu noch größerer Macht erschließt? Dein GOTT, dein TEUFEL hat den Schlüssel zum Leuchtturm; ich habe mich in den letzten zwei Monaten sehr intensiv damit auseinandergesetzt; aber jedem von uns hat er die Verantwortung des NAVIGIERENS selbst überlassen. HAROLD EMERY LAUDER »Tut mir leid«, sagte Larry. »Das ist mir zu hoch. Verstehst du das?« Fran schüttelte langsam den Kopf. »Ich vermute, Harold will damit ausdrücken, daß Gehorchen genauso ehrenhaft ist wie Befehlen. Aber als Sprichwort kann es >Spare in der Zeit, dann hast du in der Not< gewiß nicht verdrängen.« Larry blättert e noch ein Stück nach vorn und fand vier oder fünf weitere umrandete Maximen, unter denen in Großbuchstaben Harolds Name stand. »Puuuh«, sagte Larry. »Sieh dir das an, Frannie.« Es heißt, die beiden großen Sünden der Menschen seien Stolz und Haß. Wirklich? Ich ziehe es vor, beide für große Tugenden zu halten. Auf Haß und Stolz zu verzichten hieße, sich zugunsten der Welt zu verändern. Edler ist es, wenn ich sie mir zu eigen mache und ihnen freien Lauf lasse, denn dann muß sich die Welt zu meinen Gunsten verändern. Das Leben ist ein großes Abenteuer. HAROLD EMERY LAUDER »Das kann nur ein zutiefst verwirrter Geist geschrieben haben«, sagte Fran. Ihr war kalt. »Das ist die Denkweise, die uns in diese Lage gebracht hat«, stimmte Larry zu. Er blätterte ganz bis zum Anfang zurück. »Wir verlieren Zeit. Mal sehen, was wir damit anfangen können.« Keiner von beiden wußte, was sie zu erwarten hatten. Sie hatten nur die umrandeten Stellen gelesen und den einen oder anderen Satz. Harolds überladener Stil (der Schachtelsatz schien mit Harold im Sinn erfunden worden zu sein) sagte ihnen wenig bis gar nichts. Was sie am Anfang des Hauptbuchs lasen, war ein ziemlicher Schock für sie. Das Tagebuch fing ganz oben auf der ersten rechten Seite an. Diese war ordentlich mit einer eingekreisten 1 gekennzeichnet. Dort war ein Absatz, der einzige Absatz in dem ganzen Buch, soweit Frannie das sagen konnte, von den in Kästchen gesetzten Motti einmal abgesehen. Sie lasen den ersten Satz und hielten dabei das Hauptbuch zwischen sich wie Kinder bei der Chorprobe, und Fran sagte mit leiser, erstickter Stimme »Oh!«, wich zurück und preßte leicht eine Hand auf den Mund. »Fran, wir müssen das Buch mitnehmen«, sagte Larry. »Ja...« »Und es Stu zeigen. Ich weiß nicht, ob Leo recht hat und sie auf der Seite des dunklen Mannes stehen, aber Harold ist in einer gefährlichen Geistesverfassung. Das sieht man.« »Ja«, sagte sie wieder. Sie fühlte sich schwach, ausgelaugt. So ging das Thema Tagebücher also zu Ende. Es war, als hätte sie es von dem Augenblick an gewußt, als sie den großen, verschmierten Daumenabdruck sah, und sie mußte sich immer wieder sagen, nicht ohnmächtig werden, bloß nicht ohnmächtig werden. »Fran? Frannie? Alles in Ordnung?« Larrys Stimme. Von weit her. Der erste Satz in Harolds Hauptbuch lautete: In diesem herrlichen Sommer nach der Apokalypse wird es mein allergrößtes Vergnügen sein, endlich Mr. Stuart Redman, dieses Arschloch, umzubringen, und, wer weiß, vielleicht sie auch. »Ralph? Ralph Brentner, bist du zu Hause? Huuu-huuu, jemand daheim?« Sie stand auf den Eingangsstufen und sah zum Haus. Auf dem Hof standen keine Motorräder, nur ein paar Fahrräder neben dem Haus. Ralph hätte sie gehört, aber sie mußte an den Stummen denken. Den Taubstummen. Man konnte schreien, bis man schwarz wurde, und er würde sich nicht melden, obwohl er vielleicht da war. Nadine nahm die Einkaufstasche von einer Hand in die andere, griff nach der Tür und stellte fest, sie war nicht abgeschlossen. Sie ging aus dem feinen Nieselregen hinein. Jetzt stand sie in einem kleinen Vorraum. Vier Stufen führten zur Küche hinauf, eine Treppe in den Keller hinunter, wo laut Harold Nick seine Wohnung hatte. Nadine setzte ihr freundlichstes Gesicht auf, ging nach unten und legte sich zurecht, was sie sagen würde, falls er zu Hause sein sollte. Ich bin gleich reingekommen, weil ich dachte, daß du mein Klopfen nicht hören würdest. Wir möchten gern wissen, ob wir wegen des beschädigten Motors eine Spätschicht einlegen müssen. Hat Brad etwas gesagt? Unten waren nur zwei Zimmer. Das eine war ein Schlafzimmer, so schlicht wie eine Mönchszelle. Das andere war ein Arbeitszimmer. Dort standen ein Schreibtisch, ein Sessel, ein Papierkorb und ein Bücherregal. Auf der Schreibtischplatte lagen viele lose Zettel, die sie müßig durchsah. Die meisten sagten ihr nicht viel - es waren wohl Nicks Äußerungen während eines Gesprächs (wahrscheinlich schon, aber sollten wir ihn nicht fragen, ob das auch einfacher geht? stand auf einem). Auf anderen hatte er verschiedene Gedanken notiert. Einige erinnerten sie an die umrandeten Stellen in Harolds Hauptbuch, seine Wegweiser zu einem besseren Leben, wie er sie mit einem sarkastischen Lächeln genannt hatte. Auf einem stand: Muß mit Glen über Volkswirtschaft reden. Weiss einer von uns, wie Handel anfängt? Warenknappheit? Ein veränderter Markt? Individuelle Fähigkeiten! Das mag ein Schlüsselwort sein. Was ist, wenn Brad Kitchner plötzlich nicht mehr umsonst arbeiten will? Oder der Doktor? Womit sollten wir ihn bezahlen? Hmmm. Auf einem anderen: Schutz der Gemeinschaft ist ein zweischneidiges Schwert. Auf einem anderen: Immer wenn wir über Recht und Gesetz reden, habe ich Alpträume und denke an Shoyo. Ich sah sie sterben. Ich sah, wie Childress sein Essen durch die Zelle warf. Das Gesetz, das Gesetz, wie machen wir es nur mit dem gottverdammten Gesetz? Todesstrafe. Lustiger Gedanke. Wenn Brad den Strom erst wieder eingeschaltet hat, wie lange wird es dann dauern, bis jemand einen elektrischen Stuhl fordert? Sie wandte sich von den Zetteln ab - widerwillig. Es war faszinierend, die Papiere eines Mannes durchzusehen, der nur in Schriftzeichen denken konnte (einer ihrer College-Professoren pflegte zu sagen, daß der Denkprozeß ohne Artikulation nie vollständig sein könne), aber sie hatte ihr Ziel hier unten schon fast erreicht. Nick war nicht hier, niemand war hier. Noch länger zu bleiben hieße, das Glück herauszufordern. Sie ging wieder nach oben. Harold hatte ihr gesagt, daß sie sich wahrscheinlich im Wohnzimmer versammeln würden. Es war ein riesiges, mit einem dicken weinroten Teppich ausgelegtes Zimmer, das von einem freistehenden Kamin beherrscht wurde, dessen Abzug wie eine Felssäule durch die Decke führte. Die Westwand war ein einziges großes Panoramafenster, durch das man eine herrliche Aussicht auf die Flatirons hatte. Sie kam sich den Blicken ausgesetzt wie ein Käfer an der Wand vor. Sie wußte, daß die Außenseite der Thermoplexscheibe isoliert war, so daß man draußen ein Bild wie in einem Spiegel sah, aber der psychologische Eindruck war trotzdem, entblößt zu sein. Sie wollte es schnell hinter sich bringen. An der Südseite des Zimmers fand sie, was sie suchte, einen großen Schrank, den Ralph nicht ausgeräumt hatte. Im Schrank hingen Mäntel, und in der hinteren Ecke lagen Schuhe und Wollsachen und Handschuhe fast einen Meter hoch aufgestapelt. Rasch nahm sie die Lebensmittel aus der Einkaufstasche. Sie waren nur Tarnung und bildeten nur eine Schicht. Unter den Dosen mit Tomatenpüree und Sardinen stand der Hush-Puppies-Schuhkarton mit Dynamit und Walkie-talkie darin. »Wird es auch funktionieren, wenn ich den Karton in den Schrank stelle?« hatte sie gefragt. »Wird die zusätzliche Wand die Wucht der Explosion nicht mindern?« »Nadine«, hatte Harold geantwortet, »wenn das Gerät funktioniert, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dann zerstört es das ganze Haus und die nähere Umgebung. Du mußt es irgendwohin stellen, wo es vor der Sitzung nicht gefunden wird. Ein Schrank wäre gut. Die zusätzliche Wand wird wie Schrapnellsplitter wirken. Ich verlasse mich ganz auf dein Urteil, Liebes. Es wird sein wie in dem alten Märchen vom tapferen Schneiderlein. Sieben auf einen Streich. Nur haben wir es in diesem Fall mit sieben politischen Fliegen zu tun.« Nadine stellte den Schuhkarton in die Schrankecke und versteckte ihn unter den Sachen. Dann machte sie die Schranktür zu. Da. Fertig. So oder so. Sie verließ rasch das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen, und versuchte die innere Stimme zu ignorieren, die Stimme, die ihr sagte, sie solle umkehren und die Drähte zwischen den Sprengkapseln und dem Walkie-talkie lösen. Denn war es nicht Wahnsinn, der vor ihr lag, vielleicht weniger als zwei Wochen entfernt? War Wahnsinn nicht die logische Konsequenz? Sie stellte die Tasche mit den Lebensmitteln auf den Gepäckträger der Vespa und trat den Starter. Und während der ganzen Fahrt sagte die Stimme in ihr: Du wirst sie doch nicht dort stehen lassen? Du wirst doch die Bombe nicht dort stehen lassen? In einer Welt, in der schon so viele sterben mußten...  Sie legte sich in die Kurve, sah abe r kaum, wohin sie fuhr. Tränen nahmen ihr die Sicht. ... ist es die größte Sünde, einem Menschen das Leben zu nehmen.  In diesem Fall sieben Menschenleben. Nein, mehr, denn das Komitee wollte sich von Angehörigen verschiedener Unterkomitees Bericht erstatten lassen. An der Ecke Baseline und Broadway hielt sie an und dachte, sie würde umkehren und zurückfahren. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie spürte, wie eine Schwärze sich um ihre Augen legte. Es war, als würde ein dunkler Vorhang langsam zugezogen, der in einer leichten Brise flatterte. Hin und wieder kam ein stärkerer Windstoß, der Vorhang bewegte sich heftiger, und sie sah an seinem Saum ein wenig Licht, einen kleinen Ausschnitt dieser verlassenen Straßenkreuzung. Aber immer wieder verdeckte der Vorhang ihr die Sicht, bis sie zuletzt ganz darin eingehüllt war. Sie war blind, sie war taub, sie hatte keinen Tastsinn mehr. Die denkende Kreatur, das Nadine-Ego, trieb in einem warmen schwarzen Kokon wie Meerwasser, wie Fruchtwasser. Und sie spürte, wie er in sie hineinkroch. Ein Schrei baute sich in ihr auf, aber sie hatte keinen Mund, mit dem sie schreien konnte. Penetration: Entropie. Sie wußte nicht, was diese beiden Worte zusammengenommen bedeuteten; sie wußte nur, daß sie richtig waren. Sie hatte noch niemals so etwas empfunden. Später fielen ihr Vergleiche ein, um es zu beschreiben, aber sie verwarf sie einen nach dem anderen wieder. Man schwimmt, und plötzlich gerät man mitten im warmen Wasser in eine Stelle, wo es lähmend eiskalt ist. Man hat Novokain bekommen, und der Zahnarzt zieht einen Zahn. Dieser löst sich schmerzlos aus dem Kiefer. Man spuckt Blut in das weiße Emaillebecken. Man hat ein Loch; man ist ausgehöhlt worden. Man kann die Zunge in das Loch schieben, in dem eine Sekunde vorher ein Teil von einem selbst gelebt hat. Man betrachtet sein Gesicht im Spiegel. Man betrachtet es lange. Fünf Minuten, zehn, fünfzehn. Ohne zu blinzeln. Man sieht mit einer Art intellektuellem Entsetzen, wie das Gesicht sich verändert, wie das Gesicht von Lon Chaney jr. in einem Werwolf-Film. Man wird sich selbst ein Fremder, ein olivhäutiger Doppelgänger, eine psychotische Vampirin mit blasser Haut und Fischaugen. Es war eigentlich nichts von diesen Dingen, aber es hatte von allem einen leichten Geschmack. Der dunkle Mann drang in sie ein, und er war kalt. Als Nadine die Augen aufschlug, dachte sie zuerst, sie wäre in der Hölle. Die Hölle war weiß, These zu des dunklen Mannes Antithese. Sie sah weißes, elfenbeinfarbenes, ausgebleichtes Nichts. Weiß-weißweiß. Es war die weiße Hölle, und sie war überall. Sie betrachtete das Weiß (es war unmöglich, hinein zu sehen) fasziniert, gequält, mehrere Minuten lang, bis sie merkte, daß sie den Sattel der Vespa zwischen den Schenkeln spüren konnte und an der Peripherie ihres Sichtfelds eine andere Farbe - grün - auftauchte. Mit einem Ruck riß sie die Augen aus ihrem leeren, starren Blick. Sie sah sich um. Ihr Mund war offen, zitterte; die Augen selbst waren benommen und voller Entsetzen. Der dunkle Mann war in ihr gewesen, Flagg war in ihr gewesen, und als er gekommen war, hatte er sie vom Fenster ihrer fünf Sinne verdrängt, von ihren Verbindungen zur Wirklichkeit. Er hatte sie verscheucht wie ein Mann ein kleines Tier. Und hatte sie hierher gebracht... wohin? Sie sah zum Weiß und stellte fest, daß es die riesige, leere Leinwand eines Autokinos vor dem Hintergrund des verregneten weißen Spätnachmittagshimmels war. Als sie sich umdrehte, sah sie die Snack-Bar. Sie war scheußlich fleischfarben rosa gestrichen. Folgende Worte waren darauf geschrieben: WILLKOMMEN IM HOLIDAY TWIN! LASSEN SIE SICH HEUTE NACHT UNTER DEN STERNEN UNTERHALTEN! Die Dunkelheit hatte sich Ecke Baseline und Broadway über sie gesenkt. Jetzt war sie weit draußen an der 28th Street, fast jenseits der Stadtgrenze nach... Longmont, nicht? Ein Nachgeschmack von ihm war immer noch in ihr, weit hinten in ihrem Verstand, wie kalter Schleim auf einem Fußboden. Sie war von Pfosten umgeben, Stahlpfosten, gleich Wächtern, jeder einen Meter fünfzig hoch, auf jedem befand sich ein Set Autokinolautsprecher. Unter ihren Füßen war Kies, aber Gras und Löwenzahn wuchsen dazwischen. Sie vermutete, die Geschäfte gingen seit etwa Mitte Juni oder so schlecht im Holiday Twin. Man konnte sagen, daß es für die Unterhaltungsbranche sozusagen ein toter Sommer gewesen war. »Warum bin ich hier?« flüsterte sie. Sie redete nur laut, führte Selbstgespräche; sie rechnete nicht mit einer Antwort. Als sie eine Antwort bekam, entrang sich ihrem Hals ein Entsetzensschrei. Alle Lautsprecher fielen auf einmal von den Lautsprecherpfosten auf den unkrautüberwucherten Kies. Sie gaben ein lautes, verstärktes PLATSCH! von sich - ein Geräusch, als wäre ein Leichnam auf Kies geplumpst. » NADINE«, plärrten die Lautsprecher, und es war seine Stimme, und wie sie da erst schrie! Sie riß die Hände zum Kopf, preßte die Handflächen auf die Ohren, aber sämtliche Lautsprecher ertönten auf einmal; sie konnte sich nicht vor der monströsen Stimme verbergen, die voll beängstigender Fröhlichkeit und grausiger, komischer Lust war. »NADINE, NADINE; O WIE ICH LIEBE WIE ICH DICH LIEBE NADINE, MEIN SCHOSSTIER, MEIN HÜBSCHES...« »Hör auf!« kreischte sie zurück und überanstrengte die Stimmbänder mit der Wucht ihres Schreis, aber dennoch war ihre Stimme leise im Vergleich zu diesem gewaltigen Brüllen. Dennoch verstummte seine Stimme einen Augenblick. Es herrschte Schweigen. Die heruntergefallenen Lautsprecher sahen sie vom Kies an wie die Facettenaugen gigantischer Insekten. Nadine nahm langsam die Hände von den Ohren. Du bist verrückt geworden, tröstete sie sich. Das ist alles. Die Belastung des Wartens... und Harolds Spielchen... zuletzt die Bombe verstecken... das alles hat dich wahnsinnig gemacht, Teuerste, und du bist übergeschnappt. Wahrscheinlich ist es so besser. Aber sie war nicht verrückt geworden, das wußte sie. Dies war schlimmer, als verrückt zu sein. Wie um das zu beweisen, ertönten die Lautsprecher nun mit der gestrengen und doch beinahe weinerlichen Stimme eines Rektors, der die Studentenschaft der High School wegen eines gemeinsam begangenen Streiches zurechtweist. »NADINE, SIE WISSEN ES.« »Sie wissen es«, wiederholte sie wie ein Papagei. Sie war nicht sicher, wer »sie« waren oder was sie wußten, aber sie war ziemlich sicher, daß es unumkehrbar war. »DU WARST DUMM. GOTT LIEBT VIELLEICHT DUMMHEIT, ICH NICHT.« Die Worte knisterten und rollten in den Spätnachmittag davon. Plötzlich klebte ihre Kleidung an der Haut, das Haar haftete feucht an den blassen Wangen, und sie fing an zu zittern. Dumm, dachte sie. Dumm, dumm. Ich weiß, was das Wort bedeutet, glaube ich. Es bedeutet Tod. »SIE WISSEN ALLES... NUR NICHTS VON DEM SCHUHKARTON, DEM DYNAMIT.« Lautsprecher. Überall Lautsprecher, die vom weißen Kies zu ihr hochsahen, sie zwischen Löwenzahnblüten ansahen, welche sich wegen des Regens geschlossen hatten. »GEHT ZUM SUNRISE AMPHITHEATER. BLEIBT DORT BIS MORGEN ABEND. BIS SIE SICH TREFFEN. DANN DARFST DU MIT HAROLD KOMMEN. ZU MIR KOMMEN.« Jetzt empfand Nadine eine einfache, strahlende Dankbarkeit. Sie waren dumm gewesen... aber sie hatten auch eine zweite Chance gewährt bekommen. Sie waren so wichtig, daß sein Eingreifen gerechtfertigt war. Und bald, sehr bald, würde sie bei ihm sein... und dann würde sie wahnsinnig werden, da war sie ganz sicher, und dies alles würde keine Rolle mehr spielen. »Sunrise Amphitheater könnte zu weit sein«, sagte sie. Ihre Stimmbänder waren irgendwie verletzt, sie konnte nur noch krächzen. »Es ist vielleicht zu weit für das...« Für was? Sie überlegte. Oh! O ja! Richtig! »Für das Walkietalkie. Das Signal.« Keine Antwort. Die Lautsprecher lagen auf dem Kies und starrten sie an, Hunderte. Sie trat den Kickstarter der Vespa; der Motor erwachte hustend zum Leben. Das Echo ließ sie zusammenzucken. Es hörte sich an wie Gewehrfeuer. Sie wollte weg von diesem schrecklichen Ort, weg von den glotzenden Lautsprechern. Mußte weg. Sie kippte das Motorrad zu sehr, als sie um die Einlaßschranke herum fuhr. Auf einer asphaltierten Oberfläche hätte sie es vielleicht halten können, aber die Hinterreifen der Vespa rutschten im Kies unter ihr weg, sie fiel, biß sich die Lippen blutig und schürfte die Wange auf. Sie stand mit aufgerissenen, ängstlichen Augen auf und fuhr weiter. Sie zitterte am ganzen Körper. Jetzt war sie in der Gasse, wo die Autos zum Kino fuhren, und das Kartenhäuschen, das wie eine kleine Mautkabine aussah, war direkt vor ihr. Sie würde hinausfahren. Sie würde entkommen. Sie verzog dankbar den Mund. Hinter ihr erwachten Hunderte Lautsprecher auf einmal plärrend zum Leben, und jetzt sang die Stimme, ein gräßlicher, unmelodischer Gesang: »I'LL BE SEEING YOU... IN ALL THE OLD FAMILIAR PLACES... THAT THIS HEART OF MINE EMBRACES... ALL DAU THROOOOO...« Nadine schrie mit ihrer brüchigen Stimme. Gewaltiges, monströses Gelächter, dann ein dunkles und steriles Kichern, welches die ganze Erde auszufüllen schien. »MACH'S GUT, NADINE«, dröhnte die Stimme. »MACH'S GUT, MEINE TEUERSTE, MEINE HERZALLERLIEBSTE.« Dann war sie auf der Straße und floh in Richtung Boulder, was die Vespa an Geschwindigkeit hergab, und ließ die körperlose Stimme und die glotzenden Lautsprecher hinter sich... aber sie würde sie auf immer und ewig in ihrem Herzen tragen. Sie wartete eine Ecke von der Bushaltestelle entfernt auf Harold. Als er sie sah, wurde sein Gesicht starr und verlor alle Farbe. »Nadine...« flüsterte er. Die Frühstücksdose fiel ihm aus der Hand und schlug klappernd aufs Pflaster. »Harold«, sagte sie. »Sie wissen es. Wir müssen...« »Dein Haar, Nadine, mein Gott, dein Haar...« »Hör mir zu!« Er schien sich wieder in der Gewalt zu haben. »A-also gut. Was?« »Sie sind in dein Haus gegangen und haben dein Buch gefunden. Sie haben es mitgenommen.« Widerstreitende Gefühle in Harolds Gesicht: Wut, Entsetzen, Scham. Ganz langsam verschwanden sie und ein gefrorenes Grinsen erschien in Harolds Gesicht. »Wer? Wer war es?« »Ich weiß nicht alles, und es spielt auch keine Rolle. Fran Goldsmith war dabei. Das weiß ich genau. Vielleicht Bateman oder Underwood. Keine Ahnung. Aber sie werden dich holen, Harold.« »Wie kannst du das wissen?« Er packte sie grob an den Schultern und erinnerte sich daran, daß sie das Buch wieder unter den Kaminstein gelegt hatte. Er schüttelte sie wie eine Puppe, aber Nadine sah ihn unerschrocken an. Sie hatte an diesem langen Tag Schlimmerem gegenübergestanden als Harold Lauder. »Du Miststück, wie kannst du das wissen?« »Er hat es mir gesagt.« Harold ließ die Hände sinken. »Flagg?« Ein Flüstern. »Er hat es dir gesagt. Er hat mit dir gesprochen? Und das ist dabei passiert?« Harolds Grinsen war schauderhaft, das Grinsen des reitenden Sens enmannes. »Wovon redest du denn?« Sie standen vor einem Installationsgeschäft. Wieder nahm Harold sie bei den Schultern und drehte ihr Gesicht zum Glas hin. Nadine betrachtete lange ihr Spiegelbild. Ihr Haar war weiß geworden. Ganz weiß. Es hatte keine einzige schwarze Strähne mehr. Oh, wie ich liebe, wie ich dich liebe, Nadine. »Komm«, sagte sie. »Wir müssen die Stadt verlassen.« »Jetzt?« »Nach Einbruch der Dunkelheit. Bis dahin verstecken wir uns und besorgen uns die Camping-Ausrüstung, die wir für unterwegs brauchen.« »Nach Westen?« »Noch nicht. Nicht vor morgen abend.« »Vielleicht will ich gar nicht mehr«, flüsterte Harold. Er betrachtete immer noch ihr Haar. Sie legte seine Hand darauf. »Zu spät, Harold«, sagte sie. 58 Fran und Larry saßen in der Wohnung von Stu und Fran am Küchentisch und tranken Kaffee. Unten spielte Leo auf der Gitarre, die Larry bei Earthly Sounds für ihn ausgesucht hatte. Es war eine schöne Gibson aus handpoliertem Kirschbaumholz für sechshundert Dollar. Dann hatte er noch einen batteriebetriebenen Plattenspieler und ungefähr ein Dutzend Folk- und Blues-Alben mitgenommen. Jetzt war Lucy unten bei ihm, und eine erstaunlich gute Version von Dave van Ronks »Backwater Blues« drang zu ihnen herauf. »Well it rained five days  and the sky turned black as night... There's trouble takin place,  on the bayou tonight.« Durch den Türbogen zum Wohnzimmer konnten Fran und Larry Stu in seinem Lieblingssessel sitzen sehen. Harolds Hauptbuch lag offen auf seinem Schoß. Seit vier Uhr nachmittags saß er schon so. Jetzt war es neun und dunkel. Er hatte nichts gegessen. Als Frannie hinübersah, blätterte er eine weitere Seite um. Unten war Leo mit dem »Backwater Blues« fertig; es folgte eine Pause. »Er spielt gut, nicht?« sagte Fran. »Besser, als ich je werde«, antwortete Larry. Er trank einen Schluck Kaffee. Von unten erklang plötzlich ein vertrauter Rhythmus, ein rascher Lauf am Griffbrett, eine nicht ganz standardisierte Blues-Folge, bei der Larry mit der Kaffeetasse innehielt. Und dann Leos Stimme, leise und einschmeichelnd, die den Text zu dem langsamen, treibenden Beat beisteuerte: »Hey baby I come down bere tonight  And l didn't come to get in no fight,  I just want to say if you can,  Tell me once and I'll understand,  Baby, can you dig your man? He's a righteous man,  Baby, can you dig your man?« Larry verschüttete seinen Kaffee. »O je«, sagte Fran, stand auf und holte einen Lappen. »Laß mich das machen«, sagte er, »wenn ich mich schon so dämlich anstelle. « »Nein, bleib sitzen.« Sie nahm das Tuch und wischte rasch den Fleck weg. »An den Song erinnere ich mich. Kurz vor der Grippe war er ein Hit. Er muß sich die Single in der Stadt besorgt haben.« »Sicher.« »Wie hieß der Typ noch? Der Sänger, der die Platte gemacht hat?« »Das weiß ich nicht mehr«, sagte Larry. »Die Pop-Musik ist so schnell gekommen und gegangen.« »Ja, aber er kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte sie und wrang den Lappen über der Spüle aus. »Komisch, wie einem so was auf der Zunge liegen kann, nicht?« »Ja«, sagte Larry. Stu klappte das Hauptbuch mit einem leisen Schnappen zu, und zu Larrys Erleichterung sah Fran nun ihn an, als er in die Küche kam. Ihr Blick fiel zuerst auf den Revolver an seiner Hüfte. Er trug ihn seit seiner Wahl zum Marshal und hatte eine Menge Witze darüber gemacht, daß er sich einmal in den Fuß schießen würde. Fran fand diese Witze überhaupt nicht komisch. »Nun?« fragte Larry. Stus Gesicht zeigte tiefe Verstörung. Er legte das Hauptbuch auf den Tisch und setzte sich. Fran wollte ihm eine Tasse Kaffee bringen, aber er schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Liebes«, sagte er. Er sah Larry zerstreut, fast abwesend an. »Ich habe es ganz durchgelesen, und jetzt habe ich elende Kopfschmerzen. Ich bin es nicht gewöhnt, soviel zu lesen. Das letzte Buch, das ich auf einmal durchgelesen habe, war diese Kaninchengeschichte. Watership Down. Ich habe es für einen Neffen gekauft und einfach zu lesen angefangen ...« Er schwieg einen Augenblick und dachte nach. »Das habe ich auch gelesen«, sagte Larry. »Tolles Buch.« »Da gab es diesen einen Kaninchenbau«, sagte Stu, »da hatten sie es alle gut. Sie waren groß und wohlgenährt, und sie lebten immer nur an einem Ort. Dort stimmte etwas nicht, aber kein Kaninchen wußte, was es war. Es schien, als wollten sie es nicht wissen. Nur... nur, wißt ihr, da war dieser Farmer...« Larry sagte: »Er ließ den Bau in Ruhe, damit er jederzeit ein Kaninchen für den Kochtopf bekam, wenn er eins wollte. Oder er hat sie verkauft. Jedenfalls hatte er seine eigene kleine Kaninchenfarm.« »Ja. Und da gab es ein Kaninchen, es hieß Silverweed, und es machte Gedichte über den glänzenden Draht - die Schlinge, in der der Farmer sie gefangen hat, vermute ich. Darüber machte Silverweed Gedichte.« Er schüttelte langsam, müde und ungläubig den Kopf. »Und daran erinnert Harold mich. An das Kaninchen Silverweed.« »Harold ist krank«, sagte Fran. »Ja.« Stu zündete sich eine Zigarette an. »Und gefährlich.« »Was sollen wir tun? Ihn verhaften?« Stu klopfte auf das Hauptbuch. »Er und diese Cross planen etwas, das ihnen im Westen einen freundlichen Empfang garantiert. Aber in diesem Buch steht nicht, was es ist.« »Es werden eine Menge Leute erwähnt, nach denen er nicht gerade verrückt ist«, sagte Larry. »Werden wir ihn verhaften?« fragte Fran noch einmal. »Ich weiß es einfach nicht. Ich möchte es vorher im Komitee besprechen. Was liegt denn für morgen vor, Larry?« »Nun, die Sitzung gliedert sich in zwei Hälften, öffentliche Angelegenheiten und private. Brad will über sein Elektrogeräte-Team sprechen. AI Bundell will einen vorläufigen Bericht des JustizKomitees abgeben. Mal sehen... George Richardson über Sprechzeiten in Dakota Ridge, dann Chad Norris. Danach gehen sie, und wir sind unter uns.« »Wenn wir AI Bundell bitten, noch zu bleiben, und ihn über diese Sache mit Harold informieren, können wir sicher sein, daß er den Mund hält?« »Da bin ich ganz sicher«, sagte Fran. Stu sagte verdrossen: »Ich wünschte, der Richter wäre hier. Dem Mann habe ich vertraut.« Sie schwiegen einen Augenblick, dachten an den Richter und fragten sich, wo er heute nacht sein würde. Von unten konnte man Joe hören, der »Sister Kate« wie Tom Rush spielte. »Aber wenn es nun mal AI sein muß, na gut. Ich sehe sowieso nur zwei Möglichkeiten. Wir müssen die beiden aus dem Verkehr ziehen. Aber ich will sie nicht einsperren, verdammt.« »Was bleibt dann?« fragte Larry. Fran antwortete. »Verbannung.« Larry drehte sich zu ihr um. Stu nickte langsam und zog an der Zigarette. »Ihn einfach wegjagen?« fragte Larry. »Ihn und sie«, sagte Stu. »Aber wird Flagg sie einfach so nehmen?« fragte Frannie. Da sah Stu zu ihr auf. »Liebes, das ist nicht unser Problem.« Sie nickte und dachte: Oh, Harold, ich habe nicht gewollt, daß es so endet. In einer Million Jahre wollte ich nicht, daß es so endet. »Eine Ahnung, was er im Schilde führen könnte?« fragte Stu. Larry zuckte die Achseln. »Dazu müßte man die Meinung des ganzen Komitees hören, Stu. Aber ein paar Sachen fallen mir ein.« »Zum Beispiel?« »Das Kraftwerk. Sabotage. Ein Anschlag auf dich und Frannie. Die beiden fallen mir zuerst ein.« Fran sah blaß und entsetzt drein. Larry fuhr fort: »Er hat es zwar nicht offen ausgesprochen, aber ich glaube, er hat sich nur an der Suche nach Mutter Abagail beteiligt, weil er gehofft hat, er könnte dich allein erwischen und umbringen.« Stu sagte: »Die Chance hatte er.« »Vielleicht hat er Schiß gekriegt.« »Könnt ihr denn nicht aufhören?« fragte Fran dumpf. »Bitte.« Stu stand auf und ging ins Wohnzimmer zurück. Dort war ein CB an eine Die-Hard-Batterie angeschlossen. Nach einigen Bemühungen erreichte er Brad Kitchner. »Brad, alter Junge! Stu Redman. Hör zu. Kannst du ein paar Leute zusammentrommeln, die heute nacht das Kraftwerk bewachen?« »Klar«, sagte Brads Stimme. »Aber warum, in Gottes Namen?« »Eine heikle Angelegenheit, Bradley. Ich habe hie und da munkeln hören, daß jemand dort was anstellen könnte.« Brads Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Stu nickte dem Mikro zu und lächelte. »Ich kann dich verstehen. Es ist nur für heute abend, vielleicht für morgen, soweit ich es beurteilen kann. Dann haben wir die Sache wahrscheinlich ausgebügelt.« Brad sagte ihm, er könne zwölf Leute vom Kraftwerkskomitee auftreiben, ohne weiter als zwei Blocks zu laufen, und jeder einzelne würde es gerne mit jedem Unruhestifter aufnehmen. »Geht es um Rieh Moffat?« »Nein, nicht Rieh. Hör mal, ich erzähl' dir alles später, okay?« »Okay, Stu. Ich lasse Wachen aufstellen.« Stu schaltete das CB-Gerät aus und ging in die Küche zurück. »Die Leute fragen nicht einmal nach, und das macht mir Angst. Der alte kahle Soziologe hat recht. Wir könnten uns hier wie Könige etablieren, wenn wir wollten.« Fran legte ihre Hand auf seine. »Du mußt mir etwas versprechen. Ihr beide. Versprecht mir, daß wir es in der Sitzung morgen abend ein für allemal klären. Ich will, daß es vorbei ist.« Larry nickte. »Verbannung. Ja. Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber ich halte das für die beste Lösung. Nun, jetzt nehme ich Lucy und Leo und gehe nach Hause.« »Wir sehen uns morgen, Stu.« »Ja.« Er ging hinaus. Bevor es am Morgen des 2. September dämmerte, stand Harold am Rand des Sunrise Amphitheater und schaute nach unten. Die Stadt lag im Dunkeln. Nadine schlief hinter ihm in dem kleinen Zwei-MannZelt, das sie sich zusammen mit anderer Camping-Ausrüstung besorgt hatten, als sie aus der Stadt geschlichen waren. Wir werden zurückkommen. Mit Streitwagen. Aber insgeheim zweifelte Harold daran. In mehr als einer Hinsicht lag Finsternis über ihm. Die elenden Dreckskerle hatten ihm alles genommen - Frannie, seine Selbstachtung, sein Hauptbuch und jetzt auch noch seine Hoffnung. Er sah seinen Niedergang kommen. Der Wind wehte heftig, zerzauste sein Haar und schlug die straffe Zeltplane unablässig wie Maschinengewehrfeuer flatternd hin und her. Hinter ihm stöhnte Nadine im Schlaf. Es war ein furchteinflößender Laut. Harold dachte, daß sie so schlimm wie er dran war, vielleicht schlimmer. Die Laute, die sie im Schlaf von sich gab, waren nicht die eines Menschen, der glückliche Träume hatte. Aber ich kann geistig gesund bleiben. Das kann ich. Wenn ich dem, was mich erwartet, mit klarem Verstand gegenübertreten kann, das ist schon mal was. Ja, das ist was. Er fragte sich, ob sie momentan da unten waren, Stu und seine Freunde, und sein kleines Haus umzingelten, darauf warteten, dass er nach Hause kam, damit sie ihn festnehmen und in den Bunker werfen konnten. Er würde in die Geschichtsbücher eingehen - das hieß, wenn einer von diesen Jammerlappen übrigblieb, um sie zu schreiben - als erster Knastbruder der Freien Zone. Willkommen, harte Zeiten. HAWK GEFANGEN, brabbel, brabbel, lesen Sie die Hintergründe. Nun, da konnten sie lange warten. Das große Abenteuer hatte begonnen, und er sah noch zu deutlich vor sich, wie Nadine die Hand auf das schlohweiße Haar gelegt und gesagt hatte: Zu spät, Harold. Ihre Augen waren wie die einer Leiche gewesen. »Also gut«, flüsterte Harold. »Wir ziehen es durch.« Um ihn herum und über ihm trommelte der dunkle Septemberwind in den Bäumen. Die Versammlung des Komitees der Freien Zone Boulder wurde etwa vierzehn Stunden später im Wohnzimmer des Hauses von Ralph Brentner und Nick Andros feierlich eröffnet. Stu saß in einem Ohrensessel und pochte mit einer Bierdose auf den Tisch. »Okay, Leute, wir sollten anfangen.« Glen saß mit Larry auf dem Sims des freistehenden Kamins; sie hatten dem bescheidenen Feuer, das Ralph dort gemacht hatte, den Rücken zugewandt. Nick, Susan Stern und Ralph selbst saßen auf dem Sofa. Nick hielt den unvermeidlichen Block nebst Bleistift in der Hand. Brad Kitchner stand mit einer Dose Coors in der Hand unter der Tür und unterhielt sich mit AI Bundeil, der an einem Scotch mit Soda tätig war. George Richardson und Chad Norris saßen am großen Fenster und betrachteten den Sonnenuntergang über den Flatirons. Frannie saß gemütlich mit dem Rücken an der Schranktür, wo Nadine die Bombe versteckt hatte. Den Rucksack mit Harolds Hauptbuch darin hatte sie zwischen den überkreuzten Beinen. »Ruhe, bitte, Ruhe!« sagte Stu und klopfte fester. »Läuft das Band, Platte?« »Prima«, sagte Glen. »Wie ich sehe, funktioniert dein Mundwerk auch bestens, Ost-Texaner.« »Ich öle es immer gut, dann läuft es wie geschmiert«, sagte Stu lächelnd. Er betrachtete die elf Menschen, die sich im Wohn/Eßzimmer verteilt hatten. »Okay, wir haben eine Menge zu tun, aber vorher möchte ich mich bei Ralph bedanken, der uns das Dach über dem Kopf, Fusel und Cracker liefert...« Er wird wirklich ziemlich gut, dachte Frannie. Sie versuchte abzuschätzen, wie sehr sich Stu verändert hatte, seit sie und Harold ihm begegnet waren, konnte es aber nicht. Man beurteilt das Verhalten von Menschen, denen man nahe ist, zu subjektiv, entschied sie. Aber sie wußte, als sie ihn kennengelernt hatte, hätte die Vorstellung, den Vorsitz über eine Versammlung von elf Menschen führen zu müssen, ihn in Panik versetzt, und angesichts der Vorstellung, eine Versammlung von mehr als tausend Mitbürgern der Freien Zone zu leiten, wäre er wahrscheinlich durch die Decke gegangen. Sie sah jetzt einen Stu vor sich, den es ohne die Seuche nie gegeben hätte. Sie hat dich befreit, Liebster, dachte sie. Ich kann um die anderen weinen und trotzdem stolz auf dich sein und dich so sehr lieben...  Sie ruckte ein Stück und preßte den Rücken fester gegen die Schranktür. »Zuerst werden unsere Gäste sprechen«, sagte Stu, »danach halten wir eine kurze nichtöffentliche Sitzung ab. Einwände?« Es gab keine. »Okay«, sagte Stu. »Ich erteile Brad Kitchner das Wort, und ihr solltet ihm besser zuhören, denn seinetwegen habt ihr in drei Tagen wieder Eiswürfel für euren Bourbon.« Das löste eine herzhafte Runde spontanen Applaus aus. Brad errötete heftig, zupfte an der Krawatte und ging in die Mitte des Zimmers. Unterwegs stolperte er beinahe über ein Sitzkissen. »Ich bin wirklich glücklich hier zu sein«, begann Brad mit zitternder, monotoner Stimme. Er sah aus, als hätte er sich überall wohler gefühlt, sogar am Südpol vor einer Versammlung von Pinguinen. »Der... äh...« Er verstummte, studierte seine Notizen und strahlte dann. »Der Strom!« rief er dann aus, als hätte er gerade eine bedeutende Entdeckung gemacht. »Der Strom ist fast wieder an. Richtig.« Er fummelte noch einmal mit seinen Notizen, dann sprach er weiter. »Gestern hatten wir zwei Generatoren laufen, und wie ihr alle wißt, war einer überlastet und hat den Geist aufgegeben. Sozusagen. Ich will damit sagen, er ist durchgebrannt. Durchgeschmort, besser gesagt. Nun... ihr wißt ja, was ich meine.« Sie kicherten alle, worauf sich Brad ein wenig zu entspannen schien. »Das ist passiert, weil durch die Seuche eine Menge Elektrogeräte eingeschaltet geblieben sind und wir die anderen Generatoren nicht zugeschaltet hatten, um die Überlastung abzufangen. Die Gefahr der Überlastung können wir bannen, indem wir mehr Generatoren einschalten - schon drei oder vier hätten die Überlastung mühelos absorbiert -, aber das löst nicht das Problem der Feuergefahr. Also müssen wir alles abschalten, was wir können. Elektroherde, Heizdecken, und so weiter. Ich hatte mir folgendes gedacht: Die schnellste Möglichkeit wäre wahrscheinlich, in jedes Haus zu gehen, wo keiner wohnt, und einfach die Sicherungen rauszudrehen oder die Hauptschalter auszuschalten. Klar? Wenn wir also zum Einschalten bereit sind, sollten wir aber trotzdem ein paar grundlegende Feuerverhütungsmaßnahmen treffen. Ich habe mir die Freiheit genommen, die Feuerwache von East Boulder zu überprüfen...« Das Feuer knackte gemütlich. Alles wird gut, dachte Fran. Harold und Nadine haben sich von alleine aus dem Staub gemacht, und das war vielleicht am besten so. Das löst das Problem, und Stu ist vor ihnen sicher. Armer Harold, du hast mir leid getan, aber zuletzt hatte ich mehr Angst als Mitleid. Das Mitleid ist immer noch da, und ich habe Angst davor, was dir zustoßen könnte, aber ich bin froh, dass dein Haus verlassen ist und du und Nadine gegangen seid. Ich bin froh, daß ihr uns in Frieden laßt. Harold saß auf einem mit Graffiti verkritzelten Picknicktisch, der einer Seite aus dem Zen-Handbuch eines Wahnsinnigen glich. Seine Beine waren gekreuzt. Seine Augen waren distanziert, verträumt, nachdenklich. Er war wieder an jenem kalten fremden Ort, wohin Nadine ihm nicht folgen konnte, und sie hatte Angst. In den Händen hielt er das Gegenstück des Walkie-talkie im Schuhkarton. Vor ihnen lagen in atemberaubender Schönheit die steil abfallenden Hänge und die mit Fichten gesäumten Schluchten der Berge. Meilen im Osten - vielleicht zehn, vielleicht vierzig - ging das Land in die Ebene des Mittelwestens über und erstreckte sich bis zum blassen, blauen Horizont. Über diesen Teil der Welt hatte sich schon die Nacht gesenkt. Hinter ihnen war die Sonne gerade hinter den Bergen untergegangen und überzog sie mit Gold, das abblättern und verschwinden würde. »Wann?« fragte Nadine. Sie war schrecklich aufgedreht und mußte dringend zur Toilette. »Ziemlich bald«, sagte Harold. Sein Grinsen war zu einem weichen Lächeln geworden. Sie konnte den Ausdruck nicht recht deuten, denn sie hatte ihn bei Harold noch nie gesehen. Sie brauchte ein paar Minuten, um ihn richtig einzuordnen. Harold sah glücklich aus. Das Komitee ermächtigte Brad 7:0, zwanzig Männer und Frauen für sein Elektrogeräte-Team zu rekrutieren. Ralph Brentner erklärte sich bereit, zwei alte Tankwagen der Feuerwehr am Boulder Reservoir mit Wasser zu füllen und am Kraftwerk bereitzustellen, wenn Brad wieder einschaltete. Chad Norris war der nächste. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und berichtete mit leiser Stimme von der Arbeit des Beerdigungskomitees während der letzten drei Wochen. Er sagte ihnen, sie hätten die unglaubliche Zahl von fünfundzwanzigtausend Leichen begraben, also mehr als achttausend pro Woche, und er glaubte, sie hätten das Gröbste geschafft. »Wir haben entweder Glück gehabt, oder ein Wunder ist geschehen«, sagte er. »Dieser Massenexodus - ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll - hat uns die meiste Arbeit abgenommen. In jeder anderen Stadt von der Größe Boulders hätten wir sonst ein ganzes Jahr gebraucht. Wir glauben, daß wir bis zum ersten Oktober noch etwa zwanzigtausend Seuchenopfer begraben müssen, und wahrscheinlich werden wir noch lange danach über die eine oder andere Leiche stolpern, aber ihr sollt wissen, die Arbeit geht zügig weiter, und ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen mehr machen, daß von den noch unbegrabenen Toten Seuchen ausgehen werden.« Fran drehte sich um, so daß sie den letzten Rest des Tages sehen konnte. Das Gold um die Gipfel verwandelte sich schon in ein weniger spektakuläres Zitronengelb. Sie verspürte plötzlich einen Anflug von Heimweh. Es war fünf Minuten vor acht. Wenn sie nicht in die Büsche ging, würde sie in die Hose machen. Sie ging hinter einen Strauch, kauerte sich hin und ließ strömen. Als sie zurückkam, saß Harold immer noch mit dem Walkie-talkie in der Hand auf dem Picknicktisch. Er hatte die Antenne herausgezogen. »Harold«, sagte sie. »Es wird spät. Es ist schon nach acht.« Er sah sie gleichgültig an. »Sie werden die halbe Nacht dort sein und sich auf die Schultern klopfen. Ich werde rechtzeitig den Stecker ziehen. Mach dir keine Sorgen.« »Wann?« Harolds Lächeln wurde breit und leer. »Sobald es ganz dunkel ist.« Fran unterdrückte ein Gähnen, während AI Bundell selbstbewußt neben Stu trat. Es würde spät werden, und plötzlich wünschte sie sich, sie wären in der Wohnung, nur sie beide. Es lag nicht nur an der Müdigkeit und auch nicht nur am Gefühl von Heimweh. Sie wollte plötzlich nicht mehr in diesem Haus sein. Es gab keinen Grund für das Gefühl, aber es war stark. Sie wollte raus. Sie wollte sogar, dass alle rausgingen. Ich habe gerade meine fröhlichen Gedanken für den Abend verloren, dachte sie. Schwangerschaftsdepression, mehr nicht. »Das Gesetzes-Komitee hat letzte Woche vier Sitzungen abgehalten«, sagte AI, »und ich will mich so kurz wie möglich fassen. Wir haben uns als System für eine Art Tribunal entschieden. Mitglieder werden durch eine Lotterie bestimmt, so wie früher junge Männer eingezogen wurden...« »Zisch! Buuuh!« sagte Susan, was freundschaftliches Gelächter erntete. AI lächelte. »Aber, wollte ich hinzufügen, der Dienst in diesem Tribunal dürfte für die Auserwählten wesentlich erträglicher sein als für diejenigen, die dienen mußten. Das Tribunal soll aus drei Erwachsenen bestehen - achtzehn und darüber -, die sechs Monate berufen werden. Ihre Namen werden aus einer großen Trommel gezogen, die die Namen aller Erwachsenen in Boulder enthält.« Larry winkte mit der Hand. »Gibt es Ablehnungs- oder Entschuldigungsgründe?« AI runzelte die Stirn ob dieser Unterbrechung und sagte: »Darauf wollte ich gerade kommen. Es müßte...« Fran regte sich unbehaglich, und Sue Stern zwinkerte ihr zu. Fran zwinkerte nicht zurück. Sie hatte Angst - Angst vor ihrer eigenen unbegründeten Furcht, falls so etwas möglich war. Woher kam dieses erstickende Gefühl der Klaustrophobie? Sie wußte, man sollte gar nicht auf unbegründete Gefühle achten... jedenfalls in der alten Welt. Aber was war mit Tom Cullens Trance? Mit Leo Rockway? Raus hier, schrie ihre innere Stimme plötzlich. Schaff sie alle hier raus! Aber es war verrückt. Sie reckte sich noch einmal und beschloß, nichts zu sagen. »...eine kurze Begründung der Person geben, die sich entschuldigen möchte, aber ich glaube nicht...« »Jemand kommt«, sagte Fran plötzlich und stand auf. Es folgte eine Pause. Sie konnten alle Motorräder hören, die rasch auf der Baseline in ihre Richtung kamen. Hupen erklangen. Und plötzlich lief Frannies Panik über. »Hört zu«, sagte sie, »alle!« Überraschte, besorgte Gesichter drehten sich zu ihr um. »Frannie, bist du...« Stu wollte auf sie zukommen. Sie schluckte. Ihr war, als hätte sie eine schwere Last auf der Brust, die sie erstickte. »Wir müssen hier raus. Auf... der Stelle.« Es war acht Uhr fünfundzwanzig. Das letzte Licht war vom Himmel verschwunden. Es war Zeit. Harold setzte sich etwas gerader hin und hielt das Walkie-talkie an den Mund. Sein Daumen ruhte leicht auf der Sendetaste. Es würde sie alle zur Hölle sprengen, wenn er sie drückte und sagte... »Was ist das?« Nadines Hand an seinem Arm lenkte ihn ab; sie deutete in die Nacht. Tief unten schlich eine helle Lichterkette die Baseline hinauf. In der Ferne hörten sie das entfernte Dröhnen von vielen Motorrädern. Harold verspürte leichte Unruhe, schüttelte sie ab. »Laß mich«, sagte er. »Jetzt ist es soweit.« Ihre Hand fiel von seiner Schulter. Ihr Gesicht war ein weißer Fleck in der Dunkelheit. Harold drückte die Sendetaste. Sie wußte nicht, ob die Motorräder oder ihre Worte die anderen in Bewegung setzten. Aber sie bewegten sich nicht schnell genug. Das würde ihr immer auf der Seele liegen; sie bewegten sich nicht schnell genug. Stu war als erster draußen; das Dröhnen wurde ohrenbetäubend. Sie kamen mit gleißenden Scheinwerfern über die Brücke, die den ausgetrockneten Wasserlauf an Ralphs Haus überspannte. Stu griff nach der Waffe. Hinter ihm ging die Tür auf, und er drehte sich in Erwartung von Frannie um. Sie war es nicht; es war Larry. »Was ist los, Stu?« »Ich weiß nicht. Aber wir sollten uns besser bereithalten.« Dann fuhren die Motorräder in die Einfahrt, und Stu entspannte sich etwas. Er sah Dick Vollman, den jungen Gehringer, Teddy Weizak und andere, die er kannte. Jetzt konnte er sich eingestehen, was seine größte Angst gewesen war: daß die grellen Scheinwerfer und brüllenden Motoren die Vorhut von Flaggs Streitkräften sein könnten, daß der Krieg begonnen hatte. »Dick«, rief Stu. »Was denn?« »Mutter Abagail!« brüllte Dick über den Motorradlärm hinweg. Immer mehr Motorräder fuhren auf den Hof, und die Mitglieder des Komitees drängten aus dem Haus. Es war ein Karneval aufblitzender Scheinwerfer und kreisender Schatten. »Was?« schrie Larry. Hinter ihm und Stu tauchten Glen, Ralph und Chad Norris auf und drängten Larry und Stu die Stufen hinunter. »Sie ist zurückgekommen!« Dick mußte brüllen, um sich über die Motorfäder Gehör zu verschaffen. »Aber sie ist in schrecklicher Verfassung! Wir brauchen einen Arzt... mein Gott, wir brauchen ein Wunder!« George Richardson schob sich nach vorn. »Die alte Frau? Wo?« »Los doch, Doc!« rief Dick ihm zu. » Keine Fragen! Aber um Himmels willen, machen Sie schnell!« Richardson stieg hinter Dick auf das Motorrad. Dick fuhr einen engen Kreis und schlängelte sich zwischen den anderen Maschinen hindurch. Stu sah Larry in die Augen. Larry sah so bestürzt aus, wie Stu zumute war... aber eine Wolke zog in Stus Kopf auf, und plötzlich hatte er das schreckliche Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe. »Nick, komm! Komm doch!« schrie Fran und packte ihn an der Schulter. Nick stand mit starrem Gesicht im Wohnzimmer. Er konnte nicht sprechen, aber er wußte es plötzlich. Er wußte es. Es kam von nirgendwo, von überall. Etwas war im Schrank. Er versetzte Frannie einen gewaltigen Stoß. »Nick...« GEH!! gestikulierte er. Sie ging. Er ging an den Schrank, riß die Tür auf, wühlte in dem Haufen Sachen darin und betete zu Gott, daß er nicht zu spät kam. Plötzlich war Frannie neben Stu; ihr Gesicht war fahl, die Augen weit aufgerissen. Sie klammerte sich an ihn. »Stu... Nick ist noch da drin... etwas... etwas...« »Frannie, wovon redest du?« »Tod!« schrie sie ihn an. »Ich spreche vom Tod, und NICK IST IMMER NOCH DA DRIN!« Er zog eine Handvoll Schals und Handschuhe zur Seite und spürte etwas. Ein Schuhkarton. Er griff danach, und in diesem Augenblick tönte wie eine grausige Totenbeschwörung Harold Lauders Stimme daraus. »Was ist mit Nick?« schrie Stu und packte sie an den Schultern. »Wir müssen ihn rausholen - Stu - etwas wird passieren - etwas Schreckliches...« AI Bundell rief: »Was, zum Teufel, geht hier vor, Stuart?« »Keine Ahnung«, sagte Stu. »Stu, bitte, wir müssen Nick da rausholen!« kreischte Frannie. In diesem Augenblick flog das Haus hinter ihnen in die Luft. Als Harold die Sendetaste gedrückt hatte, verschwanden die statischen Geräusche und machten einer weichen dunklen Stille Platz. Leere, die nur darauf wartete, daß er sie ausfüllte. Mit gekreuzten Beinen saß Harold auf dem Picknicktisch und konzentrierte sich. Dann hob er den Arm, und oben an seinem Arm ragte ein Finger aus der Faust hervor, und in diesem Moment war er wie Bäbe Ruth, alt und fast verbraucht, der auf die Stelle zeigt, wo er einen Home-Run machen will, es allen Spöttern und Lästermäulern im Yankee-Stadion zeigt und ihnen ein für allemal das Maul stopft. Mit fester aber leiser Stimme sprach er in das Gerät: »Hier spricht Harold Emery Lauder. Ich tue dies aus freiem Willen.« Bei Hier spricht sprühte ein blauweißer Funke. Bei Harold Emery Lauder schoß eine Flamme hoch. Bei ich tue dies hörten sie einen schwachen, gedämpften Knall, wie von einem in eine Blechdose gesteckten Kanonenschlag, und als er aus freiem Willen gesagt und das jetzt nutzlose Walkie-talkie weggeschleudert hatte, sahen sie am Fuße des Flagstaff Mountain eine Rose aus Feuer erblühen. »Treffer, Treffer, eine volle Breitseite, Ende und aus«, sagte Harold leise. Nadine klammerte sich an ihn, wie Fran sich vor Sekunden an Stu geklammert hatte. »Wir müssen sicher sein. Wir müssen sicher sein, daß wir sie erwischt haben.« Harold sah sie an und deutete auf die blühende Rose der Zerstörung. »Glaubst du im Ernst, daß jemand das überlebt haben kann?« »Ich... ich weiß n-n-nicht... oh, Harold, ich bin...« Nadine wandte sich ab, umklammerte den Magen und fing an zu würgen. Es war ein tiefes, gleichmäßiges, gurgelndes Geräusch. Harold beobachtete sie mit verhaltener Verachtung. Schließlich drehte sie sich keuchend und blaß wieder zu ihm um und wischte sich den Mund mit einem Kleenex-Tuch ab. Schrubbte sich den Mund. »Was jetzt?« »Jetzt fahren wir nach Westen, denke ich«, sagte Harold. »Es sei denn, du möchtest da runter und feststellen, wie die Stimmung in der Gemeinde ist.« Nadine erschauerte. Harold glitt vom Picknicktisch und zuckte zusammen, weil Nadeln in seine Füße stachen, als sie den Boden berührten. Sie waren eingeschlafen. »Harold...« Sie wollte ihn berühren, aber er riß sich los. Ohne sie auch nur anzusehen, fing er an, das Zelt abzubrechen. »Ich dachte, wir wollten bis morgen warten«, sagte sie ängstlich. »Klar doch«, höhnte er. »Damit zwanzig oder dreißig von ihnen sich auf ihre Motorräder schwingen, ausschwärmen und uns fangen. Hast du je gesehen, was sie mit Mussolini gemacht haben?« Sie zuckte zusammen. Harold rollte das Zelt zusammen und verschnürte es. »Und wir berühren uns nicht mehr. Das ist vorbei. Es hat Flagg gebracht, was er wollte. Wir haben das Komitee der Freien Zone ausgelöscht. Sie sind erledigt. Vielleicht gelingt es ihnen noch, den Strom einzuschalten, aber als funktionierende Gruppe sind sie erledigt. Er wird mir eine Frau besorgen, neben der du aussiehst wie ein Kartoffelsack, Nadine. Und du... du bekommst ihn. Glückliche Zeiten, was? Aber wenn ich in deinen Hush Puppies stecken würde, würde ich darin ganz schön zittern.« »Harold... bitte...« Ihr war elend, sie weinte. Er konnte ihr Gesicht im trüben Feuerschein sehen, und sie tat ihm leid. Er drängte das Gefühl aus seinem Herzen wie einen unerwünschten Trunkenbold, der sich in eine nette kleine Vorstadtkneipe gewagt hat, wo jeder jeden kennt. Die nicht wiedergutzumachende Tatsache des Mordens war ihr auf ewig ins Herz gebrannt - das sah man überdeutlich in ihren Augen. Na und? In seines auch. Es würde für alle Zeiten darauf liegen, schwer wie Steine. »Gewöhn dich daran«, sagte Harold brutal. Er warf das Zelt hinten auf das Motorrad und band es fest. »Für die da unten ist alles vorbei und für uns auch und für alle, die an der Seuche gestorben sind. Gott ist auf einen himmlischen Angelausflug gegangen, und er wird lange fortbleiben. Es ist völlig dunkel. Der dunkle Mann sitzt jetzt auf dem Fahrersitz. Er. Also gewöhn dich daran.« Sie gab einen winselnden, stöhnenden Kehllaut von sich. »Komm schon, Nadine. Dies ist seit zwei Minuten kein Schönheitswettbewerb mehr. Hilf mir, diese Scheiße zusammenzupacken. Ich möchte vor Sonnenaufgang noch hundert Meilen hinter uns bringen.« Sie drehte der Zerstörung den Rücken zu - einer Zerstörung, die aus dieser Höhe fast nebensächlich wirkte - und half ihm, die restliche Ausrüstung in den Satteltaschen und auf dem Gepäckträger zu verstauen. Fünfzehn Minuten später hatten sie die Feuer-Rose hinter sich gelassen und fuhren in der kalten und stürmischen Dunkelheit nach Westen. Für Fran Goldsmith endete dieser Tag schmerzlos und unkompliziert. Sie spürte einen warmen Luftzug am Rücken und flog plötzlich durch die Nacht. Sie war aus den Sandalen geschleudert worden. Wasne Scheiße, dachte sie. Sie landete auf der Schulter, landete hart, hatte aber immer noch keine Schmerzen. Sie lag in dem Graben, der vor Ralphs Grundstück von Norden nach Süden verlief. Vor ihr landete ein Stuhl, ganz korrekt auf seinen vier Beinen. Sein Bezug war eine schwelende Masse. Wasne SCHEISSE? Etwas flog auf die Sitzfläche des Stuhls und rollte zu Boden. Etwas, das tropfte. Mit schwachem und klinischem Entsetzen sah sie, dass es ein Arm war. Stu? Stu! Was ist passiert? Konstanter, dröhnender, brüllender Lärm hüllte sie ein, und allerorten regneten Sachen herunter. Steine. Zerborstene Balken. Ziegel. Ein spinnwebartig zersplitterter Glasblock (war der Bücherschrank in Ralphs Wohnzimmer nicht aus solchen Blöcken zusammengesetzt gewesen?). Ein Motorradhelm, der hinten ein schreckliches, tödliches Loch hatte. Sie sah alles ganz klar... Viel zu klar. Vor ein paar Sekunden war es draußen noch dunkel gewesen ... Oh, Stu, mein Gott, wo bist du? Was ist passiert? Nick? Larry?  Leute schrien. Der dröhnende Lärm hörte nicht auf. Es war jetzt heller als um die Mittagszeit. Jeder Kieselstein warf einen Schatten. Immer noch regneten Sachen ringsum hernieder. Vor ihrer Nase schlug ein Brett, aus dem ein Sechs -Zoll-Nagel ragte, auf dem Rasen auf. - das Baby! - Und dann auf den Fersen ein anderer Gedanke, eine Wiederholung ihrer bösen Vorahnung: Harold hat es getan, Harold hat es getan, Harold... Etwas traf sie an den Kopf, Hals und Rücken. Ein riesiges Ding stürzte auf sie wie ein gepolsterter Sarg. O MEIN GOTT O MEIN BABY... Dann zog die Dunkelheit sie in ein Nirgendwo, in das nicht einmal der dunkle Mann ihr folgen konnte. 59 Vögel. Sie konnte Vögel hören. Lange Zeit lag Fran in der Dunkelheit und lauschte den Vögeln, bis sie merkte, daß die Dunkelheit gar nicht dunkel war. Sie war rötlich, beweglich, friedlich. Sie rief Fran ihre Kindheit ins Gedächtnis zurück. Ein Samstagmorgen ohne Schule und Kirche, ein Tag, an dem man lange schlafen durfte. An einem solchen Tag konnte man ganz gemächlich und nach eigenem Belieben aufwachen. Man lag mit geschlossenen Augen da und sah nichts als die rote Dunkelheit, die entstand, wenn die Sonne durch das zarte Geflecht der Kapillaren in den Augenlidern drang. Man lauschte den Vögeln draußen in den alten Eichen und vielleicht roch man die salzige Meeresluft, denn man hieß Frances Goldsmith und war elf Jahre alt an einem Samstagmorgen in Ogunquit... Vögel. Sie konnte Vögel hören. Aber dies war nicht Ogunquit; es war (Boulder). Sie dachte in der roten Dunkelheit lange Zeit darüber nach, und plötzlich erinnerte sie sich an die Explosion. (?Explosion?) (!Stu!) Sie riß die Augen auf. Plötzliches Entsetzen. »Stu!« Und Stu saß neben ihrem Bett. Stu mit einem sauberen weißen Verband am Unterarm und einer häßlichen Schramme auf der Wange, an der das Blut schon getrocknet war, und mit teilweise verbranntem Haar, aber es war Stu, er lebte und war bei ihr, und als sie die Augen aufschlug, drückte sein Gesicht große Erleichterung aus, und er sagte: »Frannie. Gott sei Dank.« »Das Baby«, sagte sie. Ihr Hals war trocken. Es kam nur als Flüstern heraus. Sein Gesicht war unbewegt, und blinde Angst stahl sich in ihren Körper, kalt und lähmend. »Das Baby«, sagte sie und zwang die Worte durch den Hals, der rauh wie Sandpapier war. »Habe ich das Baby verloren?« Begreifen erhellte sein Gesicht. Er hielt sie ungeschickt mit dem gesunden Arm. »Nein, Frannie, nein. Du hast das Baby nicht verloren.« Dann fing sie an zu weinen, heiße Tränen, die ihr an den Wangen herabliefen. Sie umarmte ihn wild und achtete nicht darauf, daß alle Muskeln in ihrem Körper vor Schmerz zu schreien schienen. Sie umarmte ihn. Die Zukunft konnte warten. Was sie jetzt am meisten brauchte, war hier in diesem sonnendurchfluteten Raum. Durch das offene Fenster hörte sie Vogelstimmen. Später fragte sie ihn: »Sag mir. Wie schlimm ist es?« Sein Gesicht war düster und bekümmert und zurückhaltend. »Fran...« »Nick?« flüsterte sie. Sie schluckte, und in ihrem Hals klickte es leise. »Ich sah einen Arm, einen abgerissenen Arm...« »Vielleicht sollten wir lieber warten...« »Nein. Ich muß es wissen. Wie schlimm ist es?« »Sieben Tote«, sagte er mit leiser, rauher Stimme. »Wir haben Glück gehabt. Es hätte viel schlimmer kommen können.« »Wer, Stuart?« Er hielt linkisch ihre Hände. »Nick war auch dabei, Liebes. Da war diese Glasscheibe, würde ich sagen - du weißt schon, dieses polarisierte Glas -, und sie... sie...« Er verstummte einen Moment, betrachtete seine Hände, dann sah er sie wieder an. »Er... wir konnten ihn nur anhand... bestimmter Narben identifizieren...« Er wandte sich einen Augenblick von ihr ab. Fran stieß einen schroffen Seufzer aus. Als Stu weitersprechen konnte, sagte er: »Und Sue. Sue Stern. Sie war noch im Haus, als die Bombe hochging.« »Das... ist einfach unvorstellbar, was?« sagte Fran. Sie war fassungslos, benommen, bestürzt. »Es stimmt aber.« »Wer noch?« »Chad Norris«, sagte Stu, und Fran stieß wieder diesen harschen Seufzer aus. Eine einzelne Träne lief ihr aus dem Augenwinkel; sie wischte sie fast abwesend weg. »Die drei waren die einzigen drinnen. Es ist wie ein Wunder. Brad meint, in dem Schrank müssen acht oder neun Stangen Dynamit gewesen sein. Und Nick muß fast... wenn ich mir vorstelle, daß Nick die Hände genau auf diesem Schuhkarton gehabt haben muß...« »Nicht«, sagte sie. »Das konnte man nicht wissen.« »Ein schwacher Trost«, sagte er. Die anderen vier Leute, die mit Motorrädern aus der Stadt gekommen waren - Andrea Terminello, Dean Wykoff, Dale Pedersen und ein junges Mädchen namens Patsy Store. Stu erzählte Fran nicht, daß Patsy, die Leo Flötenunterricht gegeben hatte, von einem Stück von Glen Batemans Wollensak-Tonbandgerät getroffen und fast enthauptet worden war. Fran nickte, was ihr am Hals weh tat. Als sie den Körper auch nur ein kleines Stück verlagerte, schien ihr gesamter Rücken vor Schmerzen aufzuschreien. Zwanzig waren bei der Explosion verletzt worden, und einer davon, Teddy Weizak vom Beerdigungskomitee, hatte keine Überlebenschance. Zwei andere waren in kritischem Zustand. Ein Mann namens Lewis Deschamps hatte ein Auge verloren. Ralph Brentner hatte den dritten und vierten Finger der linken Hand eingebüßt. »Wie schwer bin ich verletzt?« wollte Fran wissen. »Du hast eine Schürfwunde, einen verstauchten Rücken und einen gebrochenen Fuß«, sagte Stu. »Das hat mir George Richardson gesagt. Die Explosion hat dich über den ganzen Hof geschleudert. Den Fuß gebrochen und den Rücken verrenkt hast du dir, als das Sofa auf dich gefallen ist.« »Sofa?« »Kannst du dich nicht erinnern?« »Ich erinnere mich an etwas wie einen Sarg... einen gepolsterten Sarg...« »Das war das Sofa. Ich habe es selbst von dir runtergezogen. Ich war wie von Sinnen... und ziemlich hysterisch, glaube ich. Larry wollte mir helfen, und ich habe ihm eine runtergehauen. So schlimm stand es um mich.« Sie strich ihm über die Wange, und er legte seine Hand auf ihre. »Ich habe gedacht, du wärst tot. Ich weiß noch, daß ich mir überlegt habe, was ich dann tun würde, und ich wußte es nicht. Wahrscheinlich wäre ich verrückt geworden. « »Ich liebe dich«, sagte sie. Er umarmte sie - vorsichtig wegen ihres Rückens -, und sie blieben eine Weile so. »Harold?« fragte sie schließlich. »Und Nadine Cross«, stimmte er zu. »Sie haben uns weh getan. Sie haben uns schwer zugesetzt. Aber sie haben bei weitem nicht den Schaden angerichtet, den sie wollten. Und wenn wir ihn erwischen, bevor sie zu weit nach Westen gelangen...« Er hielt die zerkratzten und schorfigen Hände vor sich und ballte sie mit solcher Gewalt zu Fäusten, daß die Knöchel knackten. An seinen Handgelenken standen die Sehnen vor. Und plötzlich hatte er ein so kaltes Grinsen im Gesicht, daß Fran erschauerte. Es war ihr nur zu vertraut. »So darfst du nicht lächeln«, sagte sie. »Nie wieder.« Das Lächeln erlosch. »Die Leute durchkämmen seit Tagesanbruch die Berge nach ihnen«, sagte er. »Aber sie werden sie wohl nicht finden. Ich habe den Leuten befohlen, fünfzig Meilen westlich von Boulder wieder umzukehren, was auch geschieht, und ich kann mir vorstellen, daß Harold schlau genug war, inzwischen viel weiter zu fahren. Aber wir wissen, wie sie es gemacht haben. Sie haben die Bombe mit einem Walkie-talkie gekoppelt.« Fran stöhnte, worauf Stu sie besorgt ansah. »Was ist denn, Baby? Dein Rücken?« »Nein.« Plötzlich begriff sie, was Stu gemeint hatte, als er sagte, Nick hätte die Hände am Schuhkarton gehabt, als der Sprengstoff detonierte. Plötzlich begriff sie alles. Sie erzählte ihm ganz langsam von den Drahtstückchen und dem Walkie-talkie-Karton unter dem Hockeytisch. »Wenn wir das ganze Haus durchsucht hätten, anstatt nur dieses verdammte B-buch mitzunehmen, hätten wir die Bombe vielleicht gefunden«, sagte sie mit erstickter, brechender Stimme. »N-Nick und Sue würden noch l-l-leben, und...« Er hielt sie fest. »Ist Larry deshalb heute morgen so niedergeschlagen? Und ich dachte, weil ich ihn geschlagen habe. Frannie, wie hättest du es wissen können? Wie hättest du es denn wissen können?« »Wir hätten! Wir hätten es wissen müssen!« Sie legte die Stirn an seine schützende Schulter. Weitere bittere Tränen. Er hielt sie, ungeschickt gebeugt, da sich das Krankenhausbett ohne Strom nicht verstellen ließ. »Ich will nicht, daß du dir Vorwürfe machst, Frannie. Es ist passiert. Glaub mir, kein Mensch - abgesehen von Sprengstoffspezialisten - hätte aus ein paar Drahtschnipseln und einem leeren Karton auf so etwas schließen können. Wenn sie ein paar Stangen Dynamit oder eine Sprengkapsel dort liegen lassen hätten, wäre das etwas anderes gewesen. Aber das haben sie nicht. Ich mache dir keine Vorwürfe, und kein Mensch in der Freien Zone wird dir welche machen.« Während er sprach, fanden langsam und mit Verspätung zwei Dinge in ihrem Verstand zusammen. Die drei waren die einzigen drinnen ...es ist wie ein Wunder. Mutter Abagail... sie ist zurückgekommen... sie ist in einer schrecklichen Verfassung... wir brauchen ein Wunder! Sie zog sich unter Schmerzen ein Stück hoch, damit sie Stu ins Gesicht sehen konnte. »Mutter Abagail«, sagte sie. »Wir wären alle drinnen gewesen, wenn sie nicht gekommen wären, um uns zu sagen...« »Es ist wie ein Wunder«, wiederholte Stu. »Sie hat uns das Leben gerettet. Auch wenn sie...« Er verstummte. »Stu?« »Sie hat uns durch ihre Rückkehr das Leben gerettet, Frannie. Das Leben gerettet.« »Ist sie tot?« fragte Fran. Sie packte seine Hand, hielt sie fest. »Stu, ist sie auch tot?« »Sie ist gegen Viertel nach sieben in die Stadt zurückgekommen. Larry Underwoods Junge führte sie an der Hand. Er konnte nicht sprechen, du weißt ja, daß er stumm wird, wenn er sich aufregt, aber er hat sie zu Lucy gebracht. Dann ist sie einfach zusammengebrochen.« Stu schüttelte den Kopf. »Mein Gott, wie hat sie es nur geschafft, so weit zu laufen... was hat sie nur gegessen... was hat sie die ganze Zeit gemacht? Ich will dir was sagen, Fran. Es gibt mehr Dinge auf dieser Welt - und außerhalb -, als ich mir in Arnette je habe träumen lassen. Ich glaube, diese Frau ist von Gott. Oder war es.« Sie machte die Augen zu. »Sie ist gestorben, nicht wahr? In der Nacht. Sie ist zurückgekommen, um zu sterben.« »Sie ist noch nicht tot. Sie müßte es sein, und George Richardson sagt, daß sie bald sterben wird, aber sie ist noch nicht tot.« Er sah sie offen und unverhohlen an. »Und ich habe Angst. Sie hat uns durch ihre Rückkehr das Leben gerettet, aber ich habe Angst vor ihr, und ich habe Angst davor, warum sie zurückgekommen ist.« »Was meinst du damit, Stu? Mutter Abagail würde nie jemand ein Leid...« »Mutter Abagail tut, was ihr ihr Gott befiehlt«, sagte er schroff. »Der Gott, der seinen eigenen Jungen ermordet hat, wie ich gehört habe.« »Stu!« Das Feuer in seinen Augen erlosch. »Ich weiß nicht, warum sie zurückgekommen ist oder ob sie uns überhaupt noch etwas zu sagen hat. Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht wird sie sogar sterben, ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen. George hält das für wahrscheinlich. Aber ich weiß, daß die Explosion... und Nicks Tod... und ihre Rückkehr... das alles hat den Leuten die Augen geöffnet. Sie reden von ihm. Sie wissen, daß Harold die Explosion ausgelöst hat, aber sie glauben, daß er Harold dazu veranlaßt hat. Verdammt, das glaube ich auch. Viele sagen, Flagg ist auch dafür verantwortlich, dass Mutter Abagail in diesem Zustand zurückgekommen ist. Ich weiß es nicht. Mir kommt es vor, als wüßte ich überhaupt nichts. Aber ich habe Angst. Als würde es ein böses Ende nehmen. Die hatte ich vorher nicht, aber jetzt.« »Aber wir sind noch da«, sagte sie fast flehentlich. »Wir und das Baby. Oder nicht?« Er antwortete lange nicht. Sie glaubte nicht, daß er antworten würde. Und dann sagte er: »Ja. Aber wie lange noch?« An diesem Tag, dem dritten September, kurz vor Sonnenaufgang, machten sich die Leute langsam - fast ziellos - auf den Weg zum Table Mesa Drive zu Larrys und Lucys Haus. Einzeln, zu zweit oder zu dritt. Sie setzten sich auf Treppenstufen der Häuser, auf deren Türen Harold sein X gemalt hatte. Sie saßen auf dem Bordstein oder auf dem Rasen, der am Ende dieses langen Sommers braun und vertrocknet war. Sie unterhielten sich wortkarg und gedämpft. Sie rauchten ihre Zigaretten und ihre Pfeifen. Brad Kitchner war unter ihnen, einen dick verbundenen Arm in der Schlinge. Auch Candy Jones war da, und Rieh Moffat hatte in einer Zeitungstasche zwei Flaschen Black Velvet mitgebracht. Norman Kellogg saß neben Tommy Gehringer, hatte die Ärmel aufgekrempelt und zeigte die kräftigen, sonnengebräunten und mit Sommersprossen übersäten Oberarme. Der junge Gehringer hatte die Ärmel in Nachahmung hochgekrempelt. Harry Dunbarton und Sandy DuChiens saßen auf einer Wolldecke und hielten Händchen. Dick Vollman, Chip Hobart und der sechzehnjährige Tony Donahue saßen in einem überdachten Gang ein wenig von Larrys Haus entfernt und ließen eine Flasche Canadian Club kreisen, den sie mit warmem Seven-Up hinunterspülten. Patty Kroger saß bei Shirley Hammett. Zwischen ihnen stand ein Picknickkorb. Der Korb war gut gefüllt, aber sie aßen kaum etwas. Gegen acht Uhr war die Straße voll von Menschen, die alle zum Haus sahen. Vor dem Haus stand Larrys Fahrrad, daneben George Richardsons schwere Kawasaki 650. Larry beobachtete sie durch das Schlafzimmerfenster. Hinter ihm, in seinem und Lucys Bett, lag Mutter Abagail, bewußtlos. Der trockene Krankengeruch, der von ihr ausging, stieg ihm in die Nase, und er hätte kotzen mögen - aber er haßte es zu kotzen -, doch er rührte sich nicht. Dies war seine Buße, daß er mit dem Leben davongekommen war, während Nick und Susan sterben mußten. Hinter sich hörte er leise Stimmen, die Totenwache an ihrem Bett. George würde bald ins Krankenhaus fahren, um nach seinen anderen Patienten zu sehen. Es waren nur noch sechzehn. Drei waren entlassen worden. Und Teddy Weizak war gestorben. Larry selbst war völlig unverletzt geblieben. Der gute alte Larry-behält den Kopf, während alle anderen um ihn herum ihren verlieren. Die Explosion hatte ihn quer über die Einfahrt und in ein Blumenbeet geschleudert, aber er hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen. Um ihn herum hatte es zerfetzte Trümmer geregnet, aber er selbst war nicht getroffen worden. Nick war gestorben, Susan war gestorben, aber er war unverletzt. Ja, der gute alte Larry Underwood. Totenwache drinnen. Totenwache draußen. Den ganzen Block entlang. Mindestens sechshundert Leute. Harold, du solltest mit ein paar Handgranaten kommen und den Rest erledigen. I. Er war Harold durch das ganze Land gefolgt; er war einer Spur von leeren Payday-Packungen und klugen Improvisationen gefolgt. In Wells hätte Larry um ein Haar seine Finger verloren, als er sich Benzin verschaffen wollte. Harold hatte einfach das Entlüftungs ventil gesucht und einen Siphon benutzt. Es war Harold gewesen, der vorgeschlagen hatte, die Besetzung der Komitees mit wachsender Bevölkerungszahl zu verstärken. Harold, der vorgeschlagen hatte, das Ad-hoc-Komitee als Ganzes zu akzeptieren. Der kluge Harold. Harold und sein Hauptbuch. Harold und sein Grinsen. Stu hatte gut reden, daß niemand aus ein paar Drahtschnipseln auf einem Hockeytisch hätte erkennen können, was Harold und Nadine vorhatten. Larry genügte diese Argumentation einfach nicht. Er hatte Harolds brillantes Improvisationstalent ja selbst erlebt. Ein Beispiel davon stand mit Riesenbuchstaben fast sechs Meter hoch auf einem Scheunendach geschrieben, um Himmels willen! Er hätte es erkennen müssen. Inspektor Underwood war großartig, wenn es galt, einer Spur von Payday-Packungen zu folgen, aber wenn es um Dynamit ging, ließ er gewaltig nach. Mehr noch: Inspektor Underwood war ein ausgesprochenes Arschloch. Larry, wenn du wüßtest... Nadines Stimme. Wenn es sein muß, falle ich auf die Knie und flehe dich an. Das wäre eine weitere Chance gewesen, Mord und Zerstörung zu verhindern ... eine, von der er nie einem Menschen erzählen konnte. Hatten sie es schon damals ins Auge gefaßt? Wahrscheinlich. Sie mochten noch nicht an das mit einem Walkie-talkie gekoppelte Dynamit gedacht haben, aber einen Plan hatten sie auf jeden Fall gehabt. Flaggs Plan. Ja - im Hintergrund stand immer Flagg, der dunkle Marionettenspieler, der bei Harold und Nadine und Charlie Impening die Fäden zog, vielleicht auch bei vielen anderen. Die Leute in der Zone würden Harold auf der Stelle lynchen, aber es war Flaggs Werk... und Nadines. Und wer hatte sie zu Harold geschickt, wenn nicht Flagg? Aber bevor sie zu ihm gegangen war, hatte sie sich an Larry gewandt. Und er hatte sie fortgeschickt. Wie hätte er ja sagen können? Er hatte eine Verantwortung Lucy gegenüber. Das war wichtiger als alles andere gewesen, nicht nur Lucys, auch seinetwegen - er hatte nur zu genau gewußt, dass höchstens noch zwei oder drei Ausrutscher nötig waren, und er wäre als Mensch endgültig erledigt gewesen. Deshalb hatte er sie fortgeschickt, und er vermutete, daß Flagg mit der Arbeit von gestern abend zufrieden war... wenn er überhaupt Flagg hieß. Oh, Stu lebte noch und sprach für das Komitee - er war der Mund, den Nick nie benutzen konnte. Auch Glen lebte, und Larry hielt ihn für den Kopf des Komitees. Aber Nick war das Herz des Komitees und Sue zusammen mit Frannie dessen moralisches Gewissen gewesen. Ja, dachte er verbittert, alles in allem hat der Drecksack gute Arbeit geleistet. Wenn sie je nach drüben gelangen sollten, müßte er Harold und Nadine ihren verdienten Lohn zukommen lassen. Er wandte sich vom Fenster ab und spürte ein dumpfes Klopfen in den Schläfen. Richardson fühlte Mutter Abagails Puls. Laurie beschäftigte sich mit den IV-Flaschen an ihrem T-förmigen Ständer. Dick Ellis stand daneben. Lucy saß an der Tür und sah Larry an. »Wie geht es ihr?« fragte Larry George. »Unverändert«, sagte Richardson. »Wird sie die Nacht überleben?« »Kann ich nicht sagen, Larry.« Die Frau auf dem Bett war ein mit dünner, aschgrauer Haut überzogenes Skelett. Sie wirkte geschlechtslos. Fast alle Haare waren ausgefallen. Ihre Brüste waren verschwunden. Sie hatte den Mund geöffnet und atmete röchelnd. Sie kam Larry vor wie eine der Mumien von Yucatän, die er auf Bildern gesehen hatte - nicht verwest, sondern geschrumpft; konserviert; trocken; ohne Alter. Ja, das war sie jetzt, keine Mutter, sondern eine Mumie. Abgesehen vom rasselnden Seufzen ihrer Atmung, die Wind glich, der durch Strohstoppeln wehte. Wie konnte sie noch am Leben sein, fragte sich Larry... und welcher Gott konnte ihr das auferlegen? Zu welchem Zweck? Es mußte ein Witz sein, ein großer kosmischer Lachschlager. George sagte, er habe von ähnlichen Fällen gehört, aber noch nie von einem so extremen, und er hätte nie geglaubt, einen zu Gesicht zu bekommen. Irgendwie... verzehrte sie sich selbst. Lange nachdem sie an Unterernährung hätte sterben müssen, hatte ihr Körper noch funktioniert. Er hatte eigene Substanz aufgezehrt, die nie hätte aufgezehrt werden dürfen. Lucy hatte sie auf das Bett gehoben und erstaunt berichtet, sie habe kaum mehr als ein Kastendrachen gewogen, ein Kinderspielzeug, das der leiseste Windhauch fortwehen konnte. Und jetzt meldete sich Lucy aus ihrer Ecke an der Tür und erschreckte sie alle: »Sie will uns etwas sagen.« Laurie sagte unsicher: »Sie liegt in einem tiefen Koma, Lucy. Vielleicht erlangt sie nicht einmal mehr das Bewußtsein...« »Sie ist zurückgekommen, um uns etwas zu sagen. Und Gott wird sie nicht sterben lassen, bevor sie es gesagt hat.« »Aber was könnte das sein, Lucy?« fragte Dick sie. »Ich weiß nicht«, sagte Lucy. »Aber ich habe Angst davor, es zu hören. Das weiß ich. Das Sterben ist nicht vorbei. Es hat erst angefangen. Zumindest fürchte ich das.« Es folgte ein längeres Schweigen, das George Richardson schließlich brach. »Ich muß ins Krankenhaus. Laurie, Dick, ich brauche euch beide.« Du willst uns doch nicht mit dieser Mumie alleinlassen? hätte Larry beinahe gefragt, und er biß sich auf die Lippen, damit er es nicht aussprach. Die drei gingen zur Tür, und Lucy holte ihnen die Mäntel. Heute abend hatte es unter fünfzehn Grad, eine Motorradfahrt in Hemdsärmeln wäre unangenehm gewesen. »Können wir etwas für sie tun?«, fragte Larry George leise. »Lucy kennt sich mit dem IV-Tropf aus«, sagte George. »Sonst könnt ihr nichts tun. Weißt du...« Er sprach nicht zu Ende. Natürlich wußten es alle. Es lag ja auf dem Bett, oder? »Gute Nacht, Larry, Lucy«, sagte Dick. Sie gingen. Larry trat wieder ans Fenster. Draußen waren alle aufgestanden und sahen her. Lebte sie noch? War sie tot? Lag sie im Sterben? War sie womöglich von der Kraft Gottes genesen. Hatte sie etwas gesagt? Lucy legte ihm einen Arm um die Hüfte, und er zuckte zusammen. »Ich liebe dich«, sagte sie. Er tastete nach ihr, hielt sie fest. Er senkte den Kopf und zitterte hilflos. »Ich liebe dich«, sagte sie ruhig. »Schon gut. Versuch nicht, es zurückzuhalten.« Er weinte. Seine Tränen waren so heiß und hart wie Gewehrkugeln. »Lucy...« »Pssst.« Ihre Hände um seinen Nacken, ihre tröstenden Hände. »Oh, Lucy, mein Gott, was hat das alles nur zu bedeuten?« rief er, und sie hielt ihn so fest sie konnte, sie wußte es nicht, noch nicht, und Mutter Abagail atmete noch immer schwer hinter ihnen aus ihrem tiefen Koma heraus. George fuhr im Schrittempo die Staße entlang und verkündete immer wieder dieselbe Botschaft: Ja, sie lebt noch. Aber die Prognose ist ungünstig. Nein, sie hat nichts gesagt und wird es wahrscheinlich auch nicht mehr. Ihr solltet nach Hause gehen. Wenn etwas geschieht, erfahrt ihr es. Als sie zur Ecke kamen, beschleunigten sie und bogen in Richtung Krankenhaus ab. Der Auspufflärm der Motorräder knatterte und hallte zurück, prallte auf Häuser und davon ab und verschwand schließlich im Nichts. Die Leute gingen nicht nach Hause. Sie blieben noch eine Weile stehen, nahmen ihre Gespräche wieder auf und prüften jedes Wort, das George gesagt hatte. Prognose? Was konnte das bedeuten? Koma. Gehirntod. Wenn ihr Gehirn tot war, konnte man nichts mehr machen. Man könnte genausogut versuchen, mit einer Dose Erbsen zu sprechen wie mit einem Menschen, dessen Gehirn tot ist. Nun, jedenfalls wenn es sich um eine natürliche Situation handelte, aber hier war kaum noch etwas natürlich, oder? Sie setzten sich wieder. Es wurde dunkel. Im Haus, in dem die alte Frau lag, wurde eine Coleman-Lampe angezündet. Sie würden später nach Hause gehen und lange schlaflos liegen. Zögernd kamen die Gespräche auf den dunklen Mann. Wenn Mutter Abagail starb, bedeutete das, daß er stärker war? Was meinst du damit, »nicht unbedingt«? Nun, ich halte ihn ganz einfach für den Satan. Ich glaube, er ist ein Antichrist. Wir leben jetzt schon wie im Buch der Offenbarung... wie könnt ihr daran zweifeln? »Und die sieben Schalen des Zorns wurden ausgegossen...« Das hört sich ganz nach der Supergrippe an. Ach, Quatsch, die Leute haben gesagt, Hitler war der Antichrist. Wenn diese Träume wiederkommen, bringe ich mich um. In meinem war ich in einer U-Bahn-Station und er war der Fahrscheinverkäufer, aber ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich hatte Angst. Ich lief in den U-Bahn-Tunnel. Dann konnte ich hören, wie er mich verfolgte. Und näherkam. In meinem bin ich in den Keller gegangen, um ein Glas eingemachte Melonenscheiben zu holen, und sah ihn beim Heizofen stehen... nur ein Schemen. Und ich wußte, daß er es war. Die Grillen fingen an zu zirpen. Sterne erschienen am Himmel. Man sprach pflichtschuldig darüber, wie kühl es geworden war. Es wurde getrunken. Pfeifen und Zigaretten glommen in der Dunkelheit. Ich habe gehört, daß die Leute vom Kraftwerk überall die elektrischen Geräte ausschalten. Das wird auch Zeit. Wenn wir nicht bald Licht und Heizung haben, geht es uns schlecht. Leises Stimmengewirr, in der Dunkelheit ohne Gesichter. Ich denke, diesen Winter sind wir in Sicherheit. Bestimmt. Er kann nicht über die Pässe kommen. Zuviel Schnee und Fahrzeuge. Aber im Frühling... Und wenn er ein paar A-Bomben hat? Scheiß auf die A-Bomben, was ist, wenn er ein paar von diesen schmutzigen Neutronenbomben hat? Oder die anderen sechs von Sandys sieben Schalen des Zorns? Oder Flugzeuge? Was können wir tun? Ich weiß es nicht. Ich genausowenig. Ich hab' nicht die geringste Ahnung. Ein Loch graben, reinspringen und zuschütten. Und gegen zehn Uhr mischten sich Stu Redman, Glen Bateman und Ralph Brentner unter sie, sprachen leise mit den Leuten, verteilten Flugblätter und baten sie, diejenigen zu informieren, die heute nicht gekommen waren. Glen hinkte leicht, denn ein durch die Luft wirbelnder Herdschalter hatte ihm ein Stück Fleisch aus der rechten Wade gerissen. Auf den hektographierten Blättern stand: VERSAMMLUNG DER FREIEN ZONE * MUNZINGER AUDITORIUM * 4. SEPTEMBER * 8 UHR ABENDS. Das schien das Signal zum Aufbruch zu sein. Die Leute verschwanden in der Dunkelheit. Die meisten nahmen die Flugblätter, aber eine ganze Menge wurden zusammengeknüllt und weggeworfen. Sie gingen alle nach Hause, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Schlafen, vielleicht träumen. Als Stu am nächsten Abend die Versammlung eröffnete, war das Auditorium brechend voll, aber äußerst still. Hinter ihm saßen Larry, Ralph und Glen. Fran hatte versucht aufzustehen, aber ihr Rücken schmerzte noch zu sehr. Ohne sich durch die grausige Ironie davon abhalten zu lassen, hatte Ralph dafür gesorgt, daß sie über Walkietalkie mit dem Komitee in Verbindung stand. »Es gibt ein paar Dinge, über die wir reden müssen«, sagte Stu gelassen und bemüht untertrieben. Seine Stimme wurde nur schwach verstärkt, aber in der Stille, die im Saal herrschte, war jedes Wort zu verstehen. »Ich gehe davon aus, es ist niemand hier, der nicht von der Explosion gehört hat, der Nick, Sue und die anderen zum Opfer gefallen sind, und niemand, der nicht weiß, daß Mutter Abagail zurückgekommen ist. Darüber müssen wir reden, aber zuerst haben wir eine gute Nachricht für Sie. Ich möchte, daß Sie Brad Kitchner einen Augenblick zuhören. Brad?« Brad, der längst nicht so nervös wie in der vorgestrigen Nacht war, betrat das Podium und wurde von halbherzigem Applaus begrüßt. Als er dort war, wandte er sich ihnen zu, hielt sich mit beiden Händen am Pult fest und sagte nur schlicht: »Morgen schalten wir wieder ein.« Diesmal war der Applaus schon viel lauter. Brad hob die Hände, aber der Applaus wogte über ihn hinweg. Es dauerte dreißig Sekunden oder länger. Wenn die traurigen Ereignisse der letzten zwei Tage nicht gewesen wären, sagte Stu später zu Frannie, hätten die Leute Brad wahrscheinlich auf den Schultern durch das Auditorium getragen, wie einen Football-Halfback, der in einem Meisterschaftsspiel in den letzten dreißig Sekunden den entscheidenden Touchdown gemacht hat. Der Sommer ging schon so sehr dem Ende entgegen, daß dieser Vergleich gar nicht so weit hergeholt war. Aber schließlich verstummte der Beifall. »Wir werden um zwölf Uhr mittags einschalten, und ich bitte Sie alle, sich um die Zeit zu Hause aufzuhalten und bereit zu sein. Bereit wofür? Vier Dinge. Hören Sie gut zu, es ist wichtig. Erstens, schalten Sie in Ihrem Haus das Licht und alle elektrischen Geräte aus, die Sie gerade nicht benutzen. Zweitens, machen Sie dasselbe in unbewohnten Nachbarhäusern. Drittens, wenn Sie Gas riechen, verfolgen Sie den Geruch zu seiner Quelle und schalten Sie das entsprechende Gerät ab. Viertens, wenn Sie eine Feuersirene hören, gehen Sie dem Lärm nach... aber vorsichtig und vernünftig. Wir wollen nicht, daß sich jemand bei einem Motorradunfall das Genick bricht. Noch Fragen?« Es gab mehrere, die ausnahmslos noch einmal Brads Aussagen bestätigt haben wollten. Er beantwortete alle Fragen geduldig, und man sah seine Nervosität nur daran, wie er unablässig das kleine schwarze Notizbuch in den Händen hin und her drehte. Als der Strom der Fragen versiegte, sagte Brad: »Ich möchte den Leuten danken, die sich den Allerwertesten aufgerissen haben, damit wir wieder auf die Beine kommen. Im übrigen möchte ich das Kraftwerk-Komitee daran erinnern, daß es keineswegs aufgelöst wird. Es müssen Leitungen wiederhergestellt, Stromausfälle behoben, Ölreserven in Denver aufgespürt und hierher gebracht werden. Hoffentlich bleiben Sie alle bei der Stange. Mr. Glen Bateman meint, daß wir vielleicht zehntausend Menschen hier haben, wenn die Schneefälle einsetzen, und nächstes Frühjahr noch mehr. Die Kraftwerke in Longmont und Denver müssen ans Netz angeschlossen werden, ehe das nächste Jahr vorbei ist...« »Wenn uns dieser Typ keinen Strich durch die Rechnung macht!« schrie eine heisere Stimme im hinteren Teil der Halle. Es folgte einen Augenblick Totenstille. Brads Hände krampften sich mit Todesgriff am Rednerpult fest; er war leichenblaß geworden. Er wird nicht weitersprechen können, dachte Stu, aber Brad setzte seinen Vortrag fort, und seine Stimme klang erstaunlich gelassen: »Wer immer das gesagt hat - ich habe nur mit der Energieversorgung zu tun. Aber ich bin überzeugt, daß wir noch hier sind, wenn dieser andere Mann schon lange tot und vergessen ist. Wenn ich das nicht wäre, würde ich wahrscheinlich bei ihm Kraftwerke in Gang setzen. Wen interessiert der schon?« Brad verließ das Podium, und jemand schrie: »Da hast du verdammt recht!« Diesmal war der Applaus laut und anhaltend, fast wütend, aber etwas daran gefiel Stu nicht. Er mußte lange mit dem Hammer klopfen, bis er die Versammlung wieder unter Kontrolle hatte. »Der nächste Punkt der Tagesordnung...« »Scheiß auf deine Tagesordnung!« schrie eine junge Frau gellend. »Reden wir über den dunklen Mann! Reden wir über Flagg! Ich sage, das ist schon lange überfällig!« Zustimmendes Gebrüll. Rufe: »Der Reihe nach!« Mißbilligende Bemerkungen über die Wortwahl der jungen Frau. Getuschel. Stu schlug so fest auf das Pult, daß der Kopf des Hammers abbrach und davonflog. »Dies ist eine Versammlung!« schrie er. »Sie werden Gelegenheit bekommen, über alles zu reden, worüber Sie reden wollen, aber solange ich die Versammlung leite, verlange... ich... ORDNUNG!« Er brüllte das letzte Wort so laut, daß Rückkopplungen wie ein Bumerang durch das Auditorium schrillten, und endlich trat Ruhe ein. »Als nächstes«, sagte Stu absichtlich leise und ruhig, »möchte ich Ihnen berichten, was sich am Abend des zweiten September in Ralphs Wohnung ereignet hat. Ich denke, das sollte ich selbst tun, da ich der gewählte Ordnungshüter bin.« Jetzt herrschte zwar Stille, aber diese Stille gefiel Stu ebensowenig wie der Beifall, den Brad am Ende seiner Ausführungen erhalten hatte. Sie beugten sich gespannt und mit begierigen Gesichtern vor. Der Anblick beunruhigte Stu, als hätte sich die Freie Zone in den letzten achtundvierzig Stunden radikal verändert und er wüßte nicht mehr, was sie war. Ihm war wie damals zumute, als er versucht hatte, aus dem Seuchenzentrum in Stovington zu fliehen - eine Fliege, die sich in einem unsichtbaren Spinnennetz gefangen hatte und zappelte. So viele Gesichter, die er nicht kannte, so viele Fremde... Aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er beschrieb kurz die Ereignisse, die zu der Explosion geführt hatten, verschwieg aber die böse Vorahnung, die Fran in letzter Minute gehabt hatte; in ihrer jetzigen Stimmung mußten sie das nicht auch noch erfahren. »Gestern vormittag sind Brad, Ralph und ich hinaufgegangen und haben drei Stunden oder so in den Trümmern gestöbert. Wir haben festgestellt, dass eine mit einem Walkie-talkie gekoppelte Dynamitbombe verwendet worden ist. Es sieht so aus, als wäre die Bombe im Wohnzimmerschrank versteckt worden. Bill Scanion und Ted Frampton haben oben am Sunrise Amphitheater ein weiteres Walkie-talkie gefunden, und wir nehmen an, daß die Bombe von dort gezündet wurde. Sie...« »Nehmen an, im Arsch!« brüllte Ted Frampton aus der dritten Reihe. »Das waren dieser Lauder und seine kleine Hure!« Unbehagliches Murmeln lief durch den Saal. Das sollen die Guten sein? Nick und Sue und Chad und die anderen sind ihnen scheißegal. Sie sind wie ein Lynchmob, sie sind nur daran interessiert, Harold und Nadine zu erwischen und aufzuhängen ...als eine Art Zauber gegen den dunklen Mann. Zufällig traf sich sein Blick mit dem Glens; Glen zuckte sehr leicht und sehr zynisch die Achseln. »Wenn noch jemand dazwischenbrüllt, ohne daß ich ihm das Wort erteilt habe, werde ich diese Versammlung schließen und ihr könnt miteinander reden«, sagte Stu. »Dies ist kein Stammtisch. Wohin kommen wir, wenn wir nicht die Regeln beachten?« Ted Frampton starrte ihn wütend an, und Stu starrte zurück. Nach ein paar Augenblicken sah Ted weg. »Wir verdächtigen Harold Lauder und Nadine Cross. Wir haben gute Gründe, ein paar ziemlich überzeugende Indizien. Aber wir haben keine handfesten Beweise gegen sie, vergeßt das nicht.« Mürrische Unterhaltungen wurden laut und verstummten. »Ich habe das nur gesagt, damit folgendes klar ist«, fuhr Stu fort. »Falls sie wieder in die Zone zurückkommen, wünsche ich, daß sie zu mir gebracht werden. Ich werde sie einsperren, und AI Bundell wird dafür sorgen, daß sie ihren Prozeß bekommen... und ein Prozeß bedeutet, daß sie ihre Gründe vortragen, falls sie welche haben. Wir hier... wir sollten eigentlich die Guten sein. Ich glaube, wir wissen, wo die Bösen sind. Und wenn wir die Guten sind, dann müssen wir uns hier zivilisiert verhalten.« Er betrachtete sie hoffnungsvoll, sah aber nur Ablehnung. Stuart Redman hatte erlebt, daß zwei seiner besten Freunde in die Luft gesprengt wurden, sagten ihre Augen, und wollte mit den Tätern auch noch Nachsicht üben. »Wenn es Ihnen hilft, ich glaube, sie waren es«, sagte er. »Aber die Angelegenheit muß korrekt abgewickelt werden. Und ich garantiere Ihnen, daß das geschehen wird.« Augen sahen ihn stechend an. Über tausend Paare, und in jedem einzelnen erblickte er einen Gedanken: Was redest du für eine Scheiße. Sie sind weg. Nach Westen gegangen. Du tust so, als würden sie einen zweitägigen Ausflug machen, um die Vögel zu beobachten. Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank einen Schluck, um das trockene Gefühl im Hals loszuwerden. Es schmeckte so fade und abgekocht, daß er angewidert das Gesicht verzog. »Das ist jedenfalls unsere Einstellung«, sagte er lahm. »Als nächstes stellt sich das Problem, das Komitee wieder auf volle Stärke zu bringen. Das machen wir nicht heute abend, aber Sie sollten sich überlegen, wen Sie im Komitee haben wollen...« Eine Hand schnellte unten in die Höhe, und Stu erteilte das Wort. »Nur zu. Aber weisen Sie sich aus, damit alle wissen, wer Sie sind.« »Ich bin Sheldon Jones«, sagte ein großer Mann im karierten Hemd. »Warum wählen wir die beiden Neuen nicht gleich heute? Ich nominiere Ted Frampton da drüben.« »He, das unterstütze ich!« schrie Bill Scanion. »Wunderbar!« Ted Frampton hob die verschränkten Hände unter spärlichem Applaus über den Kopf, und Stu hatte wieder dieses Gefühl der Verzweiflung. Sie sollten Nick Andros durch Ted Frampton ersetzen? Es war wie in einem dieser schlechten Witze. Ted hatte sich dem KraftwerksKomitee angeschlossen und dann gemerkt, daß es sich um Arbeit handelte. Dann hatte er sich für das Beerdigungskomitee gemeldet, und das hatte ihm anscheinend besser zugesagt, aber Chad hatte Stu gegenüber erwähnt, daß Ted zu den Leuten gehört, die eine Kaffeepause auf eine Mittagspause und eine Mittagspause auf einen halben Urlaubstag ausdehnen konnten. Er hatte sich gestern rasch der Suche nach Harold und Nadine angeschlossen, wahrscheinlich weil es eine Abwechslung war. Er und Bill Scanion hatten oben am Sunrise durch einen reinen Zufall das Walkie-talkie gefunden (das hatte Ted allerdings ehrlich zugegeben), aber seit diesem Fund hatte er eine Großspurigkeit entwickelt, die Stu überhaupt nicht gefiel. Wieder trafen Stus und Glens Blicke sich, und in Glens zynischem Gesichtsausdruck, dem hochgezogenen Mundwinkel, konnte Stu erkennen, was Glen dachte: Vielleicht sollten wir Harold bitten, den da auch zu erledigen. Ein Wort, das Nixon oft gebraucht hatte, kam Stu plötzlich in den Sinn, und als es ihm einfiel, begriff er die Ursache seiner Verzweiflung und Unsicherheit. Das Wort hieß »Mandat«. Sie hatten kein Mandat mehr. Es war vorgestern abend in Rauch und Flammen aufgegangen. »Du magst wissen, wen du willst, Sheldon, aber ich kann mir vorstellen, daß einige andere Leute gern noch Zeit zum Nachdenken möchten. Stellen wir die Frage. Wer wünscht, daß wir die beiden neuen Repräsentanten heute noch wählen, ruft ja.« Ziemlich viele Jas wurden gebrüllt. »Und wer noch eine Woche darüber nachdenken will, ruft nein.« Die Nein-Rufe waren lauter, wenn auch nicht allzu deutlich. Viele beteiligten sich überhaupt nicht an der Abstimmung, als würde das Thema sie gar nicht interessieren. »Okay«, sagte Stu. »Die nächste Versammlung findet in einer Woche hier im Munzinger Auditorium statt, am elften September, dann werden wir für die beiden leeren Sitze im Komitee die Kandidaten nominieren und wählen.« Ein ziemlich beschissener Nachruf, Nick. Tut mir leid. »Dr. Richardson wird Ihnen über Mutter Abagail berichten und über die Leute, die bei der Explosion verletzt wurden. Doc?« Richardson erhielt eine solide Runde Applaus, als er vortrat und die Brille putzte. Er erzählte ihnen, daß die Explosion neun Menschenleben gefordert hatte. Drei schwebten in Lebensgefahr, zwei waren schwer verletzt und acht auf dem Wege der Besserung. »Bedenkt man die Wucht der Explosion, kann man sagen, das Glück war mit uns. Und jetzt zu Mutter Abagail.« Sie beugten sich vor. »Ich denke, eine allgemeine Auskunft und eine kurze Beschreibung ihres Zustands dürften genügen. Die Auskunft lautet: Ich kann nichts für sie tun.« Ein Murmeln ging durch die Menge und verstummte. Stu sah Traurigkeit, aber keine Überraschung. »Einwohner der Zone, die schon vor ihrem Verschwinden hier waren, haben mir erzählt, die Dame behauptet, sie sei hundertacht Jahre alt. Das kann ich nicht nachprüfen, aber ich kann sagen, daß sie das älteste menschliche Wesen ist, das ich je gesehen und behandelt habe. Man hat mir gesagt, daß sie zwei Wochen fort war, und meine Diagnose - nein, meine Vermutung - ist, daß sie während der ganzen Zeit keine zubereitete Nahrung zu sich genommen hat. Sie muß sich von Wurzeln, Kräutern, Gräsern und anderen Dingen ähnlicher Art ernährt haben.« Pause. »Sie hat seit ihrer Rückkehr einmal ein wenig Stuhlgang gehabt. Er enthielt kleine Zweige und Äste.« »Mein Gott«, murmelte jemand, und es war unmöglich zu sagen, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte. »Ein Arm weist starke Einwirkungen von Giftsumach auf. Ihre Beine sind von Geschwüren bedeckt, die nässen würden, wenn ihr Zustand nicht so...« »He, können Sie nicht aufhören?« brüllte Jack Jackson und stand auf. Sein Gesicht war blaß, wütend, elend. »Haben Sie keine verdammte Pietät?« »Pietät ist nicht mein Anliegen, Jack. Ich berichte lediglich über ihren Zustand. Sie ist komatös, unterernährt, und, wichtiger noch, sehr, sehr alt. Ich vermute, daß sie sterben wird. Wenn es nicht gerade sie wäre, hätte ich das als Gewißheit hingestellt. Aber ich habe - wie Sie alle - von ihr geträumt. Von ihr und einem anderen.« Wieder das leise Murmeln, wie ein vorüberziehender Windhauch, und Stu spürte, wie sich seine Nackenhärchen erst rührten und dann ins Achtung schnellten. »Mir erscheinen Träume von so entgegengesetzter Art mystisch«, sagte George. »Die Tatsache, daß wir alle diese Träume hatten, scheint mindestens auf eine telepathische Fähigkeit hinzuweisen. Aber genau wie bei Pietät muß ich bei Parapsychologie und Theologie passen, und das aus einem einzigen Grund: Sie sind nicht mein Fach. Wenn die Frau von Gott ist, mag es ihm gefallen, sie zu heilen. Ich kann es nicht. Allein die Tatsache, daß sie noch lebt, erscheint mir wie ein Wunder. Soweit meine Ausführungen. Irgendwelche Fragen?« Es gab keine. Sie sahen ihn wie betäubt an; einige weinten unverhohlen. »Danke«, sagte George und kehrte in einem toten Meer des Schweigens zu seinem Platz zurück. »Okay«, flüsterte Stu Glen zu. »Du bist dran.« Glen näherte sich dem Podium ohne Ankündigun g und hielt sich mit zerstreutem Griff daran fest. »Wir haben alles diskutiert, nur nicht den dunklen Mann«, sagte er. Wieder das Murmeln. Einige Männer und Frauen bekreuzigten sich instinktiv. Eine ältere Frau am linken Gang hielt sich die Hände rasch vor Augen, Mund und Ohren, eine gespenstische Nachahmung von Nick Andres. Dann faltete sie die Hände über der großen schwarzen Handtasche auf dem Schoß. »Wir haben uns in nichtöffentlichen Sitzungen des Komitees ansatzweise darüber unterhalten«, fuhr Glen in ruhigem Plauderton fort, »und die Frage wurde gestellt, ob wir öffentlich darüber diskutieren sollten. Wir kamen zum Ergebnis, daß eigentlich niemand in der Zone darüber reden wollte, jedenfalls nicht nach den Irrenhaus-Träumen, die wir alle auf dem Weg hierher gehabt haben. Vielleicht war eine Erholungsphase nötig. Jetzt finde ich es an der Zeit, das Thema zur Sprache zu bringen. Sozusagen ihn ans Licht zu zerren. Bei der Polizeiarbeit haben sie ein sinnvolles Hilfsmittel, das Phantombild heißt, mit dessen Hilfe ein Zeichner das Gesicht eines Verbrechers anhand verschiedener Zeugenaussagen gestaltet. In unserem Fall haben wir kein Gesicht, aber eine Reihe Erinnerungen, die zumindest einen groben Umriß unseres Widersachers ergeben. Ich habe mit zahlreichen Leuten darüber gesprochen und würde Ihnen gerne mein eigenes Phantombild präsentieren. Der Name des Mannes scheint Randall Flagg zu sein, aber manche Menschen haben auch die Namen Richard Frye, Robert Freemont und Richard Freemantle mit ihm assoziiert. Die Initialen R. F. könnten eine Bedeutung haben, aber wenn ja, kennt sie niemand in der Freien Zone. Seine Gegenwart erzeugt - zumindest in Träumen-Gefühle von Grauen, Unbehagen, Entsetzen, Schrecken. In allen Fällen wird ein körperliches Gefühl der Kälte mit ihm in Verbindung gebracht.« Köpfe nickten, das aufgeregte Summen der Unterhaltungen fing wieder an. Stu fand, sie waren wie Jungs, die gerade den Sex entdeckt hatten, ihr Wissen austauschten und aufgeregt feststellten, daß alle Meldungen übereinstimmend vom selben Gerät handelten. Er bedeckte ein leichtes Grinsen mit der Hand und beschloß, sich das für später, für Fran, zu merken. »Dieser Flagg ist im Westen«, fuhr Glen fort. »Zahlenmäßig gleiche Gruppen haben ihn in Las Vegas, Los Angeles, San Francisco und Portland >gesehen<. Viele - unter ihnen Mutter Abagail - behaupten, daß Flagg Leute kreuzigt, die sich ihm widersetzen. Alle scheinen zu glauben, daß sich eine Konfrontation zwischen diesem Mann und uns anbahnt und Flagg vor nichts zurückschrecken wird, um uns zu vernichten. Und vor nichts zurückschrecken kann vieles heißen. Bewaffnete Streitkräfte. Kernwaffen. Vielleicht... Seuchen.« »Ich möchte den elenden Dreckskerl schnappen«, schrie Rieh Moffat mit schriller Stimme. »Dem würde ich eine Dosis seiner beknackten Seuche verpassen!« Befreiendes Gelächter brach los, Rieh bekam Applaus. Glen grinste. Er hatte Richard sein Stichwort und seinen Dialog eine halbe Stunde vor der Versammlung eingetrichtert, und Rieh hatte bewundernswert darauf angesprochen. Stu mußte feststellen, daß der gute alte Platte zumindest mit einem goldrichtig gelegen hatte: Bei großen Versammlungen kam eine Ausbildung in Soziologie häufig blendend zupaß. »Nun gut, ich habe zusammengefaßt, was ich über ihn weiß«, fuhr er fort. »Mein letzter Beitrag, bevor ich die Diskussion eröffne, ist dies: Ich glaube, Stu hat recht, wenn er meint, daß wir mit Harold und Nadine zivilisiert umgehen müssen, falls wir sie erwischen, aber das halte ich, wie er, für ziemlich unwahrscheinlich. Und ich glaube, wie er, daß sie es auf Flaggs Befehl getan haben.« Seine Worte tönten laut im Saal. »Mit diesem Mann müssen wir uns auseinandersetzen. George Richardson hat Ihnen gesagt, Mystizismus ist nicht sein Gebiet. Meins auch nicht. Aber ich sage soviel: Ich glaube, diese sterbende alte Frau verkörpert irgendwie die Kräfte des Guten, so wie Flagg die Kräfte des Bösen verkörpert. Ich glaube, die Kraft, von der sie geleitet wird - was es auch sei -, hat sie benutzt, uns hier zu vereinen. Ich glaube nicht, daß diese Kraft uns jetzt im Stich lassen wird. Vielleicht sollten wir darüber diskutieren und versuchen, ein wenig Licht in diese Alpträume zu bringen. Vielleicht sollten wir uns allmählich entscheiden, was wir seinetwegen unternehmen. Aber er kann im nächsten Frühjahr nicht einfach in diese Zone kommen und sie übernehmen, wenn wir alle auf der Hut sind. Jetzt gebe ich das Wort an Stu zurück, der die Diskussion leiten wird.« Sein letzter Satz ging in donnerndem Applaus unter, und Glen ging zufrieden an seinen Platz zurück. Er hatte mit einem großen Löffel gerührt... oder sollte man lieber sagen, er hatte sie wie eine Violine gespielt? Spielte eigentlich keine Rolle. Sie waren eher wütend als verängstigt, sie waren bereit für eine Herausforderung (obwohl sie nächsten April vielleicht nicht mehr so begeistert sein würden, wenn sie einen langen Winter gehabt hatten, um sich etwas abzukühlen)... und vor allem waren sie bereit zu reden. Und sie redeten wirklich, drei Stunden lang. Gegen Mitternacht brachen einige auf, aber nicht viele. Wie Larry schon vermutet hatte, kam nichts Vernünftiges dabei heraus. Es wurden wilde Vorschläge gemacht: ein eigenes Jagdbombergeschwader und/oder Atomwaffenarsenal, ein Gipfeltreffen, eine ausgebildete Mörderschwadron. Aber kaum praktische Vorschläge. Im Verlauf der letzten Stunde stand einer nach dem anderen auf und gab seinen Traum zum besten, was alle anderen zu faszinieren schien. Stu mußte wieder an die endlosen Diskussionen über Sex denken, an denen er (weitgehend als Zuhörer) als Teenager teilgenommen hatte. Ihre zunehmende Bereitschaft zu reden erstaunte und rührte Glen, ebenso die spannungsgeladene Atmosphäre, welche das teilnahmslose Desinteresse zu Beginn der Versammlung verdrängt hatte. Eine große, längst überfällige Katharsis fand statt, und auch er mußte an Gespräche über Sex denken, wenn auch auf eine andere Weise. Sie sprechen wie Menschen, dachte er, die die verborgenen Geheimnisse ihrer Schuldgefühle und Unzulänglichkeiten lange Zeit für sich behalten haben, nur um nun herauszufinden, daß alles, wenn es erst einmal ausgesprochen wurde, längst nicht mehr so überlebensgroß war. Als das im Schlaf gesäte innere Entsetzen schließlich in dieser öffentlichen Marathonsitzung geerntet wurde, wurde das Entsetzen besser handhabbar... vi elleicht sogar besiegbar. Die Versammlung löste sich um halb zwei Uhr morgens auf, und Glen verließ sie mit Stu und fühlte sich zum ersten Mal seit Nicks Tod wieder fröhlich. Er hätte das Gefühl, als hätten sie die ersten schweren Schritte aus sich selbst heraus gemacht, dem Schlachtfeld entgegen, das sie erwartete. Er verspürte Hoffnung. Der Strom wurde zur Mittagszeit des 5. September wieder eingeschaltet, wie Brad versprochen hatte. Die Luftschutzsirene auf dem Dach des Gerichtsgebäudes stimmte ein lautstarkes, wimmerndes Heulen an, lockte eine Menge ängstlicher Menschen auf die Straße, wo sie panisch in den wolkenlosen Himmel sahen, um die Luftwaffe des dunklen Mannes zu erspähen. Manche flohen in ihre Keller und blieben dort, bis Brad einen durchgeschmorten Schalter fand und die Sirene ausschaltete. Dann kamen sie verschämt wieder nach oben. Strom verursachte ein Feuer in der Willow Street, und ein paar freiwillige Feuerwehrleute rasten hin und löschten. An der Kreuzung Broadway und Walnut explodierte ein Kanaldeckel, flog fast fünfzehn Meter durch die Luft und landete wie ein großer, rostiger Flohhüpfstein auf dem Dach des Oz-Spielzeugladens. An diesem Tag, der in der Zone später Energietag genannt wurde, gab es nur einen tödlichen Unfall. Aus unbekannter Ursache explodierte eine Karosseriewerkstatt draußen in der Pearl Street. Rieh Moffat saß mit einer Flasche Jack Daniels im Schoß in einem Hauseingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite; er wurde von einem Stück Wellblech getroffen und war auf der Stelle tot. Er würde keine Schaufensterscheiben mehr einschlagen. Stu war bei Fran, als die Neonlampen in ihrem Krankenzimmer summten und aufleuchteten. Er sah sie flackern, flackern, flackern, bis sie schließlich das vertraute Licht ausstrahlten. Er konnte den Blick nicht abwenden, bis sie fast drei Minuten lang gebrannt hatten. Als er Frannie wieder ansah, glitzerten Tränen in ihren Augen. »Fran? Was ist los? Sind es die Schmerzen?« »Es ist wegen Nick«, sagte sie. »Es ist nicht richtig, daß Nick das nicht mehr erleben kann. Halt mich fest, Stu. Ich will für ihn beten, wenn ich kann. Ich will es wenigstens versuchen.« Er hielt sie fest, wußte aber nicht, ob sie betete oder nicht. Plötzlich stellte er fest, daß er Nick sehr vermißte und Harold Lauder mehr haßte als je zuvor. Fran hatte recht. Harold hatte nicht nur Nick und Sue umgebracht; er hatte ihnen das Licht gestohlen. »Psst«, sagte er. »Pssst, Frannie.« Aber sie weinte noch lange. Als die Tränen schließlich versiegt waren, drückte er auf den Knopf, um das Bett höher zu stellen, und schaltete die Nachtlampe ein, damit sie lesen konnte. Stu wurde wach gerüttelt; er brauchte lange, bis er zu sich kam. Eine langsame und scheinbar endlose Reihe von Namen und Leuten, die versuchen könnten, ihm den Schlaf zu rauben, zog ihm durch den Kopf. Es war seine Mutter, die ihm befahl, aufzustehen, Feuer zu machen und sich für die Schule zu richten. Es war Manuel, der Rausschmeißer in dem schäbigen kleinen Bordell in Nuevo Laredo, der ihm sagte, seine zwanzig Dollar wären verbraucht und er müßte noch zwanzig zahlen, wenn er die ganze Nacht bleiben wollte. Es war eine Schwester im weißen Overall, die seinen Blutdruck messen und einen Abstrich machen wollte. Es war Frannie. Es war Randall Flagg. Der letzte Name riß ihn wach wie ein Guß kaltes Wasser ins Gesicht. Es war keiner davon. Es war Glen Bateman, und neben ihm Kojak. »Du bist schwer zu wecken, Ost-Texaner«, sagte Glen. »Du schläfst wie ein Murmeltier.« Er war nur ein vager Schatten in der fast völligen Dunkelheit. »Du hättest für den Anfang einfach mal das Licht einschalten können.« »Weißt du, das habe ich ganz vergessen.« Stu schaltete die Lampe an und sah blinzelnd auf den mechanischen Wecker. Es war Viertel vor drei Uhr morgens. »Was machst du hier, Glen? Ich habe geschlafen, falls du das nicht gemerkt haben solltest.« Als Stu den Wecker hinstellte, sah er Glen erstmals richtig an. Er sah blaß und verängstigt aus... und alt. Er hatte tiefe Furchen im Gesicht und wirkte hager. »Was ist los?« »Mutter Abagail«, sagte Glen leise. »Tot?« »Gott behüte, ich wünschte fast, sie wäre es. Sie will uns sehen.« »Uns beide?« »Uns fünf. Sie...« Seine Stimme wurde rauh und heiser. »Sie wußte, daß Nick und Susan tot sind, und sie wußte, daß Fran im Krankenhaus ist. Ich weiß nicht wie, aber sie wußte es.« »Und sie will das Komitee sehen?« »Was davon übrig ist. Sie liegt im Sterben, und sie sagt, daß sie uns etwas mitzuteilen hat. Aber ich weiß nicht, ob ich es hören will.« Die Nacht draußen war kalt - nicht nur frisch, sondern kalt. Die Jacke, die Stu aus dem Schrank geholt hatte, tat gut, und er machte den Reißverschluß bis oben zu. Oben stand ein frostiger Mond am Himmel; er mußte an Tom denken, der Anweisung hatte, bei Vollmond zu ihnen zurückzukommen. Dieser Mond war erst kurz nach dem ersten Viertel. Gott allein wußte, wo dieser Mond auf Tom hinuntersah, auf Dayna Jürgens, auf Richter Farris. Gott wußte, er sah auf seltsame Geschehnisse hier unten herab. »Ich habe Ralph zuerst geweckt«, sagte Glen. »Ich habe ihm gesagt, er soll Frannie aus dem Krankenhaus holen.« »Wenn der Doktor der Meinung wäre, daß sie aufstehen kann, hätte er sie nach Hause geschickt«, sagte Stu ärgerlich. »Dies ist ein besonderer Fall, Stu.« »Für jemanden, der nicht hören will, was die alte Frau zu sagen hat, bist du verdammt erpicht darauf, es ihr recht zu machen.« »Ich habe Angst, es nicht zu tun«, sagte Glen. Der Jeep fuhr zehn Minuten nach drei vor Larrys Haus vor. Es war hell erleuchtet - keine Gaslampen mehr, sondern gutes elektrisches Licht. Auch jede zweite Straßenlaterne brannte, nicht nur hier, sondern überall in der Stadt, und Stu hatte sie während der Fahrt in Glens Jeep immer wieder fasziniert betrachtet. Die letzten nächtlichen Insekten des Sommers flogen kraftlos und träge vor Kälte gegen die Natriumdampfkugeln. Als sie aus dem Jeep stiegen, bogen Scheinwerfer um die Ecke. Es war Ralphs klappriger alter Lastwagen, und er fuhr bis an den Kühler des Jeeps. Ralph stieg aus, und Stu eilte zur Beifahrerseite, wo Fran saß, mit einem gesteppten Sofakissen im Rücken. »Hallo, Baby«, sagte er leise. Sie nahm seine Hand. Ihr Gesicht war eine blasse Scheibe in der Dunkelheit. »Schlimme Schmerzen?« fragte Stu. »Es geht. Ich habe ein paar Advil genommen. Aber verlang nicht, daß ich Sprünge mache.« Er half ihr aus dem Wagen, und Ralph nahm ihren anderen Arm. Beide sahen sie zusammenzucken, als sie vom Auto wegging. »Soll ich dich tragen?« »Nicht nötig. Aber leg den Arm um mich, hm?« »Klar doch.« »Und mach langsam. Wir Großmütterchen können nicht so schnell.« Sie gingen mehr schlurfend als gehend hinten um Ralphs Lastwagen herum. Als sie auf dem Gehweg waren, sah Stu, daß Ralph, Glen und Larry in der Tür standen und ihnen entgegensahen. Gegen das Licht sahen sie wie aus schwarzer Pappe ausgeschnittene Gestalten aus. »Was meinst du, worum geht es?« murmelte Frannie. Stu schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Sie gingen den Weg entlang, Frannie jetzt offensichtlich unter Schmerzen, und Ralph half Stu, sie ins Haus zu führen. Larry sah so blaß und bekümmert aus wie Glen. Er trug verblichene Jeans, ein Hemd, das aus der Hose hing und am untersten Knopfloch falsch geknöpft war, sowie teure Mokassins an den bloßen Füßen. »Es tut mir wahnsinnig leid, daß ich euch wecken mußte«, sagte er. »Ich bin bei ihr gesessen und ab und zu eing enickt. Wir haben Wache gehalten.« »Ja. Ich verstehe«, sagte Frannie. Aus irgendwelchem Grund erinnerte der Ausdruck »Wache gehalten« sie an den Salon ihrer Mutter.,, und zwar in einem freundlicheren, versöhnlicheren Licht als je zuvor. »Lucy war etwa eine Stunde im Bett. Ich bin aus meinem Dösen hochgeschreckt und - Fran, kann ich dir helfen?« Fran schüttelte den Kopf und lächelte angestrengt. »Nein, ich komme zurecht. Mach weiter.« »... und sie hat mich angesehen. Sie kann nur flüstern, aber man kann sie deutlich verstehen.« Larry schluckte. Alle fünf standen jetzt im Vorraum. »Sie sagte, der Herr würde sie bei Sonnenaufgang zu sich holen. Aber sie müsse erst noch mit denjenigen von uns reden, die Gott noch nicht geholt hat. Ich habe sie gefragt, was sie meinte, und sie sagte, Gott hätte Nick und Susan geholt. Sie wußte es.« Er stöhnte heiser und fuhr sich mit den Händen durch das lange Haar. Lucy erschien am Ende des Flurs. »Ich habe Kaffee gemacht. Er steht hier, wenn ihr wollt.« »Danke, Liebes«, sagte Larry. Lucy sah unsicher aus. »Soll ich mit euch rein? Oder ist es geheim, wie das Komitee?« Larry sah Stu an, der leise sagte: »Komm nur mit. Ich habe so eine Ahnung, als würden keine großen Enthüllungen mehr kommen.« Frannies wegen gingen sie langsam durch den Flur zum Schlafzimmer. »Sie wird es uns sagen«, sagte Ralph plötzlich. »Mutter wird es uns sagen. Kein Grund zur Ungeduld.« Sie gingen zusammen hinein, und Mutter Abagail sah sie mit ihren hellen, sterbenden Augen an. Fran wußte um die körperliche Verfassung der alten Frau, aber es war dennoch ein häßlicher Schock. Mutter Abagail bestand nur noch aus einer trockenen Membran von Haut und Sehnen, die die Knochen zusammenhielt. Im Zimmer roch es nicht einmal nach Fäulnis und bevorstehendem Tod; vielmehr herrschte ein trockener Geruch nach Dachboden vor... nein, ein Geruch nach Salon. Die halbe Infusionsnadel ragte aus ihrem Fleisch, weil sie einfach keinen Platz hatte. Aber die Augen hatten sich nicht verändert. Sie waren sanft und gütig und menschlich. Das war eine Erleichterung, aber dennoch empfand Fran so etwas wie Entsetzen... nicht eigentlich Angst, aber vielleicht etwas Geheiligteres - Ehrfurcht. War es Ehrfurcht? Ein Gefühl des Kommenden. Kein Verhängnis, aber es war, als hinge eine entsetzliche Verantwortung wie ein Stein über ihren Köpfen.  Der Mensch denkt, Gott lenkt. »Setz dich, kleines Mädchen«, flüsterte Mutter Abagail. »Du hast Schmerzen.« Larry führte sie zu einem Sessel, und Fran setzte sich mit einem dünnen, pfeifenden Seufzer der Erleichterung, obwohl sie wußte, selbst das Sitzen würde ihr nach einer Weile Schmerzen bereiten. Mutter Abagail sah sie immer noch mit diesen hellen Augen an. »Du bist schwanger«, flüsterte sie. »Ja... wie...« »Pssst...« Schweigen senkte sich über den Raum, tiefes Schweigen. Fasziniert, hypnotisiert sah Fran die alte Frau an, die zuerst in ihren Träumen und dann in ihrem Leben aufgetaucht war. »Schau aus dem Fenster, kleines Mädchen.« Fran wandte den Kopf zum Fenster, wo Larry vor zwei Tagen gestanden und die versammelten Menschen beobachtet hatte. Sie sah keine erdrückende Dunkelheit, sondern ruhiges Licht. Es war nicht der Widerschein des Zimmers; es war das Licht des dämmernden Morgens. Sie sah das schwache, leicht verzerrte Bild eines Kinderzimmers mit karierten Vorhängen. Dort stand ein Kinderbett - aber es war leer. Dort stand ein Laufstall - leer. Ein Mobile aus hellen Plastikschmetterlingen - nur vom Wind bewegt. Grauen legte seine kalten Hände um ihr Herz. Die anderen sahen es ihrem Gesicht an, verstanden es aber nicht; sie sahen nur ein von der Straßenlaterne erhelltes Stück Rasen durch das Fenster. »Wo ist das Baby?« fragte Fran heiser. »Stuart ist nicht der Vater des Babys, kleines Mädchen. Aber sein Leben liegt in Stuarts und in Gottes Händen. Der Junge wird vier Väter haben. Wenn Gott ihn überhaupt atmen läßt.« »Wenn er atmen...« »Das hat Gott vor meinen Augen verborgen«, flüsterte sie. Das leere Kinderzimmer war verschwunden. Fran sah nur Dunkelheit. Und jetzt ballte das Grauen die Hände zu Fäusten, und ihr Herz schlug dazwischen. Mutter Abagail flüsterte: »Der Dämon hat seine Braut gerufen, und er will ihr ein Kind zeugen. Wird er dein Kind leben lassen?« »Hören Sie auf«, stöhnte Frannie. Sie legte die Hände vors Gesicht. Stille, tiefe Stille lag wie Schnee im Raum. Glen Batemans Gesicht war ein alter trüber Scheinwerfer. Lucy strich mit der rechten Hand unablässig über den Kragen ihres Bademantels. Ralph hielt den Hut in der Hand und zupfte zerstreut an der Feder. Stu sah zu Frannie, konnte aber nicht zu ihr gehen. Jetzt nicht. Er mußte kurz an die Frau bei der Versammlung denken, die hastig Augen, Ohren und Mund bedeckt hatte, als der dunkle Mann erwähnt worden war. »Mutter, Vater, Frau, Mann«, flüsterte Mutter Abagail. »Auf der anderen Seite der Fürst der hohen Stätten, der Herr des dunklen Morgens. Ich habe in meinem Stolz gesündigt. Ihr habt alle im Stolz gesündigt. Wißt ihr nicht, daß geschrieben steht, ihr sollt nicht in die Fürsten und Herren dieser Welt euren Glauben setzen?« Sie sahen sie an. »Elektrisches Licht ist nicht die Antwort, Stu Redman, CB-Funk auch nicht, Ralph Brentner. Soziologie macht ihm kein Ende, Glen Bateman. Und deine Buße um ein Leben, das längst ein versiegeltes Buch ist, wird es nicht aufhalten können, Larry Underwood. Und dein Sohn wird es auch nicht aufhalten, Fran Goldsmith. Der böse Mond ist aufgegangen. Ihr seid nichts vor dem Antlitz des Herrn.« Nacheinander sah sie jeden an. »Gott wird es fügen, wie er es für richtig hält. Ihr seid nicht der Töpfer, ihr seid der Ton. Vielleicht ist der Mann im Westen das Rad, auf das ihr geflochten werdet. Ich darf es nicht wissen.« Eine Träne, erstaunlich in dieser sterbenden Wüste, stahl sich aus ihrem linken Auge und rollte ihr über die Wange. »Mutter, was sollen wir tun?« fragte Ralph. »Kommt näher, ihr alle. Meine Zeit läuft ab. Ich gehe heim in die Herrlichkeit, und nie war ein Mensch dazu mehr bereit als ich. Kommt nahe zu mir.« Ralph setzte sich auf die Bettkante. Larry und Glen stellten sich ans Fußende. Fran verzog das Gesicht, als sie aufstand, und Stu zog den Stuhl neben Ralph. Sie setzte sich wieder und nahm seine Hand mit ihren kalten Fingern. »Gott hat euch nicht zusammengebracht, damit ihr ein Komitee oder eine Gemeinschaft gründet«, sagte sie. »Er hat euch hergeführt, um euch weiterzuschicken, auf eine Suche. Er möchte, daß ihr versucht, diesen Dunklen Fürsten, diesen Mann ferner Meilen, zu vernichten.« Tickendes Schweigen. Mutter Abagail seufzte. »Ich habe gedacht, Nick sollte euch führen, aber er hat Nick genommen - obwohl mir scheint, daß Nick nicht ganz verschwunden ist. Nein, ganz und gar nicht. Nun mußt du führen, Stuart. Und wenn es Gottes Wille ist, Stuart zu nehmen, dann mußt du führen, Larry. Und wenn er dich nimmt, dann fällt es Ralph zu.« »Sieht aus, als wäre ich das fünfte Rad am Wagen«, sagte Glen. »Was...« »Führen?« fragte Fran kalt. »Führen? Wohin führen...?« »Nach Westen, kleines Mädchen«, sagte Mutter Abagail. »Nach Westen. Du sollst nicht gehen. Nur die vier.« »Nein!« Trotz ihrer Schmerzen war sie aufgesprungen. »Was sagen Sie da? Daß die vier sich in seine Hände geben sollen? Herz, Seele und Mut der Freien Zone?« Ihre Augen funkelten. »Damit er sie ans Kreuz schlagen und nächsten Sommer hier ungehindert einmarschieren kann, um uns alle umzubringen? Ich will nicht, dass mein Mann Ihrem Mördergott geopfert wird. Der Teufel soll ihn holen.« »Frannie!« keuchte Stu. »Mördergott! Mördergott!« fauchte sie. »Millionen - vielleicht Milliarden Tote durch die Seuche. Millionen danach. Wir wissen nicht einmal, ob unsere Kinder leben werden. Hat er immer noch nicht genug? Soll es immer so weitergehen, bis die Erde den Ratten und Insekten gehört? Er ist ein Dämon, und Sie sind seine Hexe!« »Hör auf, Frannie.« »Kein Problem. Ich bin fertig. Ich will gehen. Bring mich nach Hause, Stu. Nicht ins Krankenhaus, sondern nach Hause.« »Wir werden uns anhören, was sie zu sagen hat.« »Gut. Dann hör du es für uns beide an. Ich gehe.« »Kleines Mädchen.« »Nennen Sie mich nicht so!« Ihre Hand schoß vor und umklammerte Frannies Handgelenk. Fran erstarrte. Sie machte die Augen zu. Sie riß den Kopf zurück. »Nein. N-N-Nein... O MEIN GOTT - STU...« »Halt! Halt!« brüllte Stu. »Was machen Sie mit ihr?« Mutter Abagail antwortete nicht. Der Augenblick wurde länger, schien sich zu einem Stück Unendlichkeit zu dehnen, dann ließ die alte Frau los. Langsam, wie betäubt, massierte Fran das Handgelenk, das Mutter Abagail ergriffen hatte, obwohl keine Rötung darauf hindeutete, dass Druck angewendet worden war. Plötzlich wurden Frannies Augen ganz groß. »Liebes?« fragte Stu ängstlich. »Weg«, murmelte Fran. »Wovon... wovon redet sie?« Stu sah die anderen erschüttert und flehentlich an. Glen schüttelte nur den Kopf. Sein Gesicht war weiss und angespannt, aber nicht ungläubig. »Die Schmerzen... das Reißen. Meine Rückenschmerzen. Sie sind weg.« Sie sah Stu benommen an. »Sie sind ganz weg. Sieh doch.« Sie bückte sich und berührte die Zehen leicht: einmal, dann zweimal. Dann bückte sie sich zum dritten Mal und preßte die Handfläche auf den Boden, ohne die Knie anzuwinkeln. Sie richtete sich wieder auf und sah Mutter Abagail in die Augen. »Ist das die Bestechung Gottes? Wenn ja, kann er seine Heilung zurücknehmen. Ich habe lieber die Schmerzen, wenn ich dafür Stu behalten kann.« »Gott besticht nicht, Mädchen«, flüsterte Mutter Abagail. »Er setzt nur ein Zeichen und läßt die Menschen es nehmen, wie sie wollen.« »Stu geht nicht nach Westen«, sagte Fran, aber jetzt mischte sich Unsicherheit in ihre Angst. »Setz dich«, sagte Stu. »Wir werden uns anhören, was sie zu sagen hat.« Fran setzte sich erschrocken, fassungslos, verwirrt. Ihre Hände betasteten immer wieder den Rücken. »Geht nach Westen«, flüsterte Mutter Abagail. »Nehmt weder Nahrung noch Wasser mit. Geht noch heute und in den Kleidern, die ihr am Leibe tragt. Geht zu Fuß. Ich weiß, daß einer von euch das Ziel nicht erreichen wird, aber ich weiß nicht, wer derjenige ist, der fallen wird. Ich weiß, daß die anderen vor diesen Mann Flagg gebracht werden, der überhaupt kein Mann ist, sondern ein übernatürliches Wesen. Ich weiß nicht, ob es Gottes Wille ist, daß ihr ihn besiegt. Ich weiß nicht, ob es Gottes Wille ist, daß ihr Boulder jemals wiederseht. Das zu sehen ist mir nicht vergönnt. Aber er ist in Las Vegas, und dort müßt ihr hingehen, und dort werdet ihr euer letztes Gefecht austragen. Ihr werdet gehen, und ihr werdet nicht verzagen, denn ihr könnt euch auf des Herrn starken und ewigen Arm stützen. Ja. Mit Gottes Hilfe werdet ihr bestehen. « Sie nickte. »Das ist alles. Ich habe meinen Teil gesagt.« »Nein«, flüsterte Fran. »Das kann nicht sein.« »Mutter«, sagte Glen krächzend. Er räusperte sich. »Mutter, uns ist nicht >gegeben< zu verstehen, wenn Sie wissen, was ich meine. Wir... wir sind nicht mit Ihrer Nähe zu dieser Art oberster Instanz gesegnet. Das ist uns nicht gegeben. Fran hat recht. Wenn wir da rübergehen, werden wir wahrscheinlich von den ersten Posten totgeschlagen, denen wir begegnen.« »Habt ihr keine Augen? Ihr habt gerade gesehen, wie Gott Fran durch mich von ihrem Leiden geheilt hat. Glaubt ihr, sein Plan ist es, daß ihr von den niedersten Häschern des Dunklen Fürsten erschossen und getötet werdet?« »Aber Mutter...« »Nein.« Sie hob die Hand und tat seine Worte mit einem Winken ab. »Es ist nicht meine Sache, mit euch zu streiten oder euch zu überzeugen, sondern nur, euch Gottes Plan mit euch verständlich zu machen. Hör zu, Glen.« Plötzlich kam die Stimme von Glen Bateman aus Mutter Abagails Mund, die ihnen allen Angst machte, Fran so sehr, daß sie sich kreischend an Stu drückte. »Mutter Abagail nennt ihn den Vasallen des Teufels«, sagte die kräftige Männerstimme, die irgendwie in der verbrauchten Brust der alten Frau ihren Ursprung nahm und durch den zahnlosen Mund herauskam. »Vielleicht ist er nur der letzte Zauberer rationalen Denkens, der die Werkzeuge der Technologie gegen uns sammelt. Vielleicht ist er mehr, etwas Dunkleres. Ich weiß nur, er ist. Und ich glaube nicht mehr, daß Soziologie oder Psychologie oder sonst eine -ologie ihn aufhalten können. Ich glaube, das kann nur weiße Magie.« Glens Mund stand offen. »Ist das die Wahrheit, oder sind dies die Worte eines Lügners?« sagte Mutter Abagail. »Ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht, aber es sind meine Worte«, sagte Glen erschüttert. »Habt Vertrauen. Ihr alle. Vertrauen. Larry... Ralph... Stu... Glen... Frannie. Besonders du, Frannie. Vertrauen... und gehorcht dem Wort Gottes.« »Haben wir denn eine Wahl?« fragte Larry bitter. Sie sah ihn erstaunt an. »Eine Wahl? Es gibt immer eine Wahl. Das ist Gottes Art, immer. Euer Wille ist frei. Macht was ihr wollt. Euch sind keine Fußfesseln angelegt. Aber... das will Gott von euch.« Wieder diese Stille, wie tiefer Schnee. Schließlich unterbrach Ralph sie. »In der Bibel steht, was David mit Goliath gemacht hat«, sagte er. »Ich werde gehen, wenn Sie sagen, daß es richtig ist, Mutter.« Sie nahm seine Hand. »Ich«, sagte Larry. »Ich auch. Okay.« Er seufzte und hielt die Hände an die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. Glen machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber bevor er es konnte, hörten sie einen tiefen Seufzer aus der Ecke, und ein Poltern. Es war Lucy, die sie alle vergessen hatten. Sie war in Ohnmacht gefallen. Die Dämmerung berührte den Rand der Welt. Sie saßen um Larrys Küchentisch und tranken Kaffee. Es war zehn vor fünf, als Fran durch den Flur kam und unter der Tür stehenblieb. Sie hatte ein verweintes Gesicht, aber sie hinkte nicht mehr beim Gehen. Sie war tatsächlich geheilt. »Ich glaube, sie stirbt«, sagte Fran. Sie gingen hinein; Larry hatte den Arm um Lucy gelegt. Mutter Abagails Atem klang hohl und rasselnd und erinnerte in schrecklicher Weise an die Supergrippe. Schweigend und voll Ehrfurcht versammelten sie sich um das Bett. Ralph war überzeugt, daß am Ende etwas geschehen, daß sich ihnen das Wunder Gottes unverhüllt und deutlich offenbaren würde. Sie würde mit einem Blitz gen Himmel fahren. Oder sie würden ihre Seele sehen, die in einen Strahlenkranz verwandelt durch das Fenster himmelwärts stieg. Aber am Ende starb sie einfach. Sie tat noch einen einzigen Atemzug, den letzten von Millionen. Sie sog ihn ein, hielt ihn, stieß ihn wieder aus. Dann hob sich ihre Brust nicht mehr. »Sie ist tot«, murmelte Stu. »Gott sei ihrer Seele gnädig«, sagte Ralph, der keine Angst mehr hatte. Er faltete ihr die Hände über der dünnen Brust und benetzte sie mit seinen Tränen. »Ich werde gehen«, sagte Glen plötzlich. »Sie hatte recht. Weiße Magie. Mehr bleibt uns nicht.« »Stu«, flüsterte Frannie. »Bitte, Stu, sag nein.« Sie sahen ihn an - alle. Nun mußt du führen, Stuart. Er dachte an Arnette, an den alten Wagen mit Charles D. Campion und seiner Todesfracht, der wie eine böse Büchse der Pandora in Bill Hapscombs Zapfsäulen gefahren war. Er dachte an Denninger und Deitz und wie er sie in Gedanken mit den lächelnden Ärzten verglichen hatte, die ihn und seine kranke Frau - und vielleicht auch sich selbst - über ihren Zustand belogen und belogen und belogen hatten. Und ganz besonders dachte er an Frannie. Und an Mutter Abagail, die gesagt hatte: Das will Gott von euch. »Frannie«, sagte er. »Ich muß gehen.« »Und sterben.« Sie sah ihn bitter, fast haßerfüllt an, dann hilfesuchend zu Lucy. Aber Lucy war selbst betäubt und geistesabwesend und keine Hilfe. »Wenn wir nicht gehen, sterben wir«, sagte Stu und tastete sich an den Worten entlang. »Sie hatte recht. Wenn wir warten, kommt der Frühling. Und dann? Wie wollen wir ihn aufhalten? Wir wissen es nicht. Wir haben keinen Schimmer. Noch nie gehabt. Wir hatten die Köpfe in den Sand gesteckt. Wir können ihn nicht aufhalten, nur, wie Glen sagt, Weiße Magie. Oder die Macht Gottes.« Sie fing bitterlich an zu weinen. »Frannie, nicht«, sagte er und wollte ihre Hand nehmen. »Faß mich nicht an«, schrie sie. »Du bist ein toter Mann, du bist eine Leiche, also faß mich nicht an!« Als die Sonne aufging, standen sie immer noch wie ein Stilleben um das Bett herum. Stu und Frannie fuhren gegen elf Uhr zum Flagstaff Mountain. Sie parkten auf halber Höhe, und Stu brachte den Picknickkorb, während Fran die Tischdecke und eine Flasche Blue Nun trug. Das Picknick war ihre Idee gewesen, aber ein seltsames und verlegenes Schweigen herrschte zwischen ihnen. »Hilf mir die Decke ausbreiten«, sagte sie. »Und paß auf Dornen auf.« Sie standen auf einer kleinen, flach abfallenden Wiese etwa dreihundert Meter unterhalb des Sunrise Amphitheater. Boulder lag im blauen Dunst unter ihnen. Heute herrschte der Sommer wieder uneingeschränkt. Die Sonne schien mit Macht und Kraft. Im Gras zirpten Grillen. Ein Grashüpfer sprang hoch, und Stu fing ihn mit einer raschen Bewegung der rechten Hand. Er konnte sein ängstliches Kribbeln an den Fingern spüren. »Spuck, und ich laß dich gehen«, sagte er, eine alte Kindheitsfloskel, und als er aufschaute, sah Fran ihn traurig an. Sie drehte mit rascher Präzision den Kopf und spie aus. Es tat ihm in der Seele weh, das zu sehen. »Fran...« »Nein, Stu. Sprich nicht darüber. Nicht jetzt.« Sie breiteten das weiße Tischtuch aus, das Fran aus dem Hotel Boulderado gemopst hatte, und Fran richtete mit knappen, ökonomischen Bewegungen (es gab ihm ein seltsames Gefühl zu sehen, wie sie sich so anmutig und geschmeidig bewegte, als hätte es nie eine Verletzung und einen verrenkten Rücken gegeben) das Essen: Gurken und grünen Salat mit Essig; Schinkensandwiches; den Wein; einen Apfelkuchen als Nachtisch. »Für alle guten Gaben danken wir dir, amen«, sagte sie. Er setzte sich neben sie und nahm ein Sandwich und Salat. Er war nicht hungrig. Er war innerlich verletzt. Aber er aß. Als sie beide ihr symbolisches Sandwich und den größten Teil des Salats gegessen hatten - das frische Grün war köstlich gewesen -, und ein Stück Apfelkuchen als Nachtisch, sagte sie: »Wann brecht ihr auf?« »Zu Mittag«, sagte er. Er zündete sich eine Zigarette an und schützte dabei die Flamme mit den hohlen Händen. »Wie lange braucht ihr, bis ihr dort seid?« Er zuckte die Achseln. »Zu Fuß? Keine Ahnung. Glen ist nicht mehr der Jüngste. Ralph auch nicht, was das betrifft. Wenn wir dreißig Meilen am Tag schaffen, könnten wir ungefähr am ersten Oktober drüben sein.« »Und wenn in den Bergen schon Schnee liegt? Oder in Utah?« Er zuckte die Achseln und sah sie fest an. »Noch Wein?« fragte sie. »Nein. Davon bekomme ich Sodbrennen. Schon immer.« Fran schenkte sich noch ein Glas ein und trank einen Schluck, »War sie Gottes Stimme, Stu? War sie das?« »Frannie, ich weiß es nicht.« »Wir haben von ihr geträumt, und sie existierte. Diese ganze Sache gehört zu einem albernen Spiel, weißt du das, Stuart? Hast du je das Buch Hiob gelesen?« »Ich glaube, ich war nie sehr bibelfest.« »Aber meine Mutter. Sie hat immer Wert darauf gelegt, daß mein Bruder und ich uns mit Religion beschäftigen. Warum hat sie uns nie gesagt. Soweit ich weiß, habe ich davon nur einen Vorteil gehabt: Ich konnte immer die Bibelfragen in >Jeopardy< beantworten. Erinnerst du dich noch an >Jeopardy<, Stu?« Er lächelte und sagte: »Und hier kommt Ihr Gastgeber, Alex Trebeck.« »Ja, genau der. Es ging immer umgekehrt. Zuerst erhielt man die Antwort, dann mußte man die Frage dazu finden. Was die Bibel anbetraf, kannte ich alle Fragen. Hiob war wie eine Wette zwischen Gott und dem Teufel. Der Teufel sagte: >Natürlich betet er dich an. Es geht ihm gut. Aber wenn du ihm lange genug ins Gesicht pißt, wird er dir abschwören. < Und Gott nahm die Wette an. Er hat sie gewonnen.« Sie lächelte betrübt. »Gott gewinnt immer. Ich wette, Gott ist Fan der Boston Celtics.« »Vielleicht ist es eine Wette«, sagte Stu, »aber es geht um das Leben der Leute dort unten. Und um das des Kleinen in dir. Wie hat sie ihn genannt? Den Jungen?« »Nicht einmal für ihn konnte sie mir Hoffnung machen«, sagte Fran. »Wenn sie das getan hätte... nur das... wäre es wenigstens ein bißchen leichter gewesen, dich gehen zu lassen.« Stu wußte nicht, was er sagen sollte. »Es wird langsam Mittag«, sagte Fran. »Hilf mir einpacken, Stuart.« Zusammen mit der Tischdecke legten sie das halbgegessene Frühstück und den Rest Wein in den Korb zurück. Stu betrachtete die Stelle und dachte, daß nur noch ein paar Krumen Zeugnis von ihrem Picknick ablegten... und auch die würden bald die Vögel fressen. Als er aufsah, schaute Frannie ihn weinend an. Er ging zu ihr. »Ist schon gut. Das ist die Schwangerschaft. Ich muß immerfort weinen. Ich kann nichts dafür.« »Schon recht«, sagte Stu. »Schlaf mit mir, Stu.« »Hier? Jetzt?« Sie nickte und lächelte ein wenig. »Es wird schon gehen. Wenn wir auf die Dornen achten.« Sie breiteten die Tischdecke wieder aus. Am Ende der Baseline Road bat sie ihn, vor dem Haus anzuhalten, das bis vor vier Tagen noch Nick und Ralph gehört hatte. Die gesamte Rückfront des Hauses war weggesprengt worden. Trümmer lagen im Garten. Ein zertrümmert er Radiowecker lag auf einer zerfetzten Hecke. In der Nähe war das Sofa, das Fran unter sich begraben hatte. Auf der hinteren Treppe war ein Blutfleck. Sie sah ihn gebannt an. »Ist das Nicks Blut? Könnte das sein?« »Frannie, was soll das?« fragte Stu unbehaglich. »Könnte es sein?« »Herrgott, ich weiß nicht. Wahrscheinlich schon.« »Leg die Hand darauf, Stu.« »Frannie, bist du übergeschnappt?« Die Stirnfalte furchte ihre Stirn, die Ich-will-Falte, die ihm erstmals in New Hampshire aufgefallen war. »Leg die Hand darauf!« Widerstrebend legte Stu die Hand auf den Fleck. Er wußte nicht, ob es Nicks Blut war oder nicht (und vermutete, eher nicht), aber die Geste verursachte ihm ein unheimliches, schauderndes Gefühl. »Und jetzt schwöre mir, daß du zurückkommen wirst.« Die Stufe schien an dieser Stelle zu warm zu sein; er wollte die Hand wegnehmen. »Fran, wie kann ich...« »Man kann nicht alles Gott überlassen«, zischte sie. »Nicht alles. Schwöre, Stu, schwöre es mir.« »Frannie, ich schwöre, daß ich es versuchen will.« »Das wird mir genügen müssen, oder?« »Wir müssen zu Larry.« »Ich weiß.« Aber sie hielt ihn nur noch fester. »Sag, daß du mich liebst.« »Das weißt du doch.« »Ich weiß es, aber sag es. Ich will es hören.« Er hielt sie an den Schultern. »Fran, ich liebe dich.« »Danke«, sagte sie und legte die Wange an seine Schulter. »Ich glaube, jetzt kann ich mich verabschieden. Ich glaube, jetzt kann ich dich gehen lassen.« Sie umarmten einander in dem verwüsteten Vorgarten. 60 Sie und Lucy standen vor Larrys Haus und erlebten den undramatischen Anfang der Suche. Die vier standen einen Augenblick auf dem Gehweg, ohne Gepäck, ohne Schlafsäcke und ohne besondere Ausrüstung... wie befohlen. Alle trugen derbe Wanderschuhe. »Tschüs, Larry«, sagte Lucy. Ihr Gesicht war wachsbleich. »Vergiß es nicht, Stuart«, sagte Frannie. »Vergiß nicht, was du geschworen hast.« »Ja. Ich vergesse es nicht.« Glen steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Kojak, der einen Kanaldeckel inspizierte, kam gelaufen. »Also, gehen wir«, sagte Larry. Er war genauso blaß wie Lucy, seine Augen unnatürlich hell, fast glitzernd. »Bevor ich die Nerven verliere.« Stu warf Fran eine Kußhand zu, was er nicht mehr getan hatte, fiel ihm ein, seit seine Mutter ihn zum Schulbus brachte. Frannie winkte ihm zu. Die Tränen wollten wieder strömen, heiß und brennend, aber sie unterdrückte sie. Sie brachen auf. Sie gingen einfach fort. Sie hatten schon den halben Block hinter sich, und irgendwo sang ein Vogel. Die Mittagssonne war warm und unspektakulär. Sie kamen zum Ende des Blocks. Stu drehte sich um und winkte. Auch Larry winkte. Fran und Lucy winkten zurück. Sie gingen über die Straße. Sie waren fort. Lucy erschien beinahe krank vor Angst und Kummer. »Großer Gott«, sagte sie. »Gehen wir rein«, sagte Fran. »Ich will Tee.« Sie gingen rein. Fran stellte den Teekessel auf. Das Warten hatte begonnen. Den Nachmittag über zogen die vier langsam nach Südwesten, ohne viel zu reden. Ihr erstes Ziel war Golden, wo sie die erste Nacht verbringen wollten. Sie kamen an den Beerdigungsplätzen vorbei - es waren inzwischen drei -, und gegen vier Uhr, als ihre Schatten länger und der Tag kühl wurden, erreichten sie das Ortsschild am südlichen Stadtrand von Boulder. Einen Augenblick hatte Stu das Gefühl, daß sie alle kurz davor waren, wieder umzukehren und nach Hause zu gehen. Vor ihnen lagen Dunkelheit und Tod. Hinter ihnen ein wenig Wärme, ein wenig Liebe. Glen nahm ein grobes Taschentuch aus der Gesäßtasche und band es sich um den Kopf. »Kapitel dreiundvierzig«, sagte er hohl. »Der kahlköpfige Soziologe legt sein Schweißband an.« Kojak war vorausgelaufen und schon über der Grenze von Golden, wo er fröhlich in den Wildblumen schnupperte. »O Mann«, sagte Larry mit fast schluchzender Stimme. »Ich habe das Gefühl, als wäre dies das Ende von allem.« »Ja«, sagte Ralph. »Das Gefühl habe ich auch.« »Will jemand umkehren?« fragte Glen ohne große Hoffnung. »Kommt«, sagte Stu und lächelte. »Hunde, wollt ihr ewig leben?« Sie gingen weiter und ließen Boulder hinter sich. Gegen neun Uhr abends machten sie in Golden Rast, eine halbe Meile von dem Punkt entfernt, von dem aus die Route 6 sich am Clear Creek entlang und ins steinerne Herz der Rockies zu winden beginnt. In dieser ersten Nacht schlief keiner gut. Sie fühlten sich schon weit von zu Hause entfernt und unter dem Schatten des Todes. BUCH III  DAS LETZTE GEFECHT 7. September 1990 - 10. Januar 1991 This land is your land, this land is my land, front California to the New York island, from the redwood forests, to the Gulf stream waters, this land was made for you and me. Woody Guthrie »He, Müll, was hat die alte Oma Semple gesagt, als du ihren Rentenscheck verbrannt hast?«  Carley Yates When the night has come And the land is dark And the moon is the only light we'll see, I won't be afraid Just as long as you stand by me. Ben E. King  61 Der dunkle Mann hatte überall entlang der östlichen Grenze Oregons Posten errichtet. Der größte befand sich in Ontario, wo die I-80 von Idaho herüberführt; hier hatten sich sechs Männer im Anhänger eines großen Peterbilt-Lastwagens einquartiert. Sie saßen schon eine Woche und spielten Poker um Zwanziger und Fünfziger, die so wenig wert waren wie Monopoly-Geld. Ein Mann lag etwa sechzigtausend Dollar voraus, und ein anderer - ein Mann, dessen Jahresgehalt in der Welt vor der Seuche etwa zehntausend Dollar betragen hatte - war über vierzigtausend in den Miesen.  Es hatte fast die ganze Woche geregnet die Stimmung im Anhänger war gereizt. Sie waren aus Portland gekommen und wollten dorthin zurück. In Portland gab es Frauen. An einem Nagel hing ein starkes Funkgerät, aus dem nur Statik zu hören war. Sie warteten auf zwei schlichte Worte: Kommt zurück. Das würde bedeuten, daß der Mann, nach dem sie Ausschau hielten, anderswo gefangengenommen worden war. Der Mann, den sie suchten, war etwa siebzig Jahre alt, kräftig, mit schütterem Haar. Er trug eine Brille und fuhr einen blauen, weiss abgesetzten Wagen mit Vierradantrieb, entweder einen Jeep oder einen International Harvester. Sobald sie ihn sahen, sollte er getötet werden. Sie waren nervös und langweilten sich - der Reiz des Neuen, um höchste Einsätze echten Geldes zu pokern, war selbst dem dümmsten unter ihnen schon vor zwei Tagen vergangen -, aber sie langweilten sich nicht so sehr, daß sie einfach auf eigene Faust nach Portland zurückgekehrt wären. Sie hatten ihre Befehle vom Wandelnden Gecken selbst bekommen, und wenn ihnen auch der vom Regen verursachte Kabinenkoller zusetzte, überwog doch die Angst vor ihm. Wenn sie ihren Job verpatzten und er es herausfand, dann helfe ihnen Gott. Daher spielten sie Karten und hielten abwechselnd Wache an dem Beobachtungsschlitz, der an der Seitenwand des Anhängers durch den Stahl geschnitten worden war. Die I-80 lag im stumpfsinnigen, unablässigen Regen verlassen da. Aber wenn der Kundschafter in Sicht kam, würde er gesehen... und aufgehalten werden. »Er ist ein Spion von drüben«, hatte der Wandelnde Geck gesagt und dabei das Gesicht zu einem entsetzlichen Grinsen verzerrt. Warum dieses Grinsen so fürchterlich war, hätte keiner von ihnen sagen können, aber wenn er einen angrinste, hatte man das Gefühl, als würde sich das eigene Blut in heiße Tomatensuppe verwandeln. »Er ist ein Spion. Wir könnten ihn mit offenen Armen empfangen. Wir könnten ihn herumführen, ihm alles zeigen und ohne Schaden für uns wieder zurückschicken. Aber ich will ihn. Ich will sie beide. Und bevor der erste Schnee fällt, werden wir ihre Köpfe über die Berge zurückschicken. Daran können sie den ganzen Winter kauen.« Und er hatte vor den Leuten, die sich in einem der Konferenzräume des Gemeindezentrums von Portland um ihn versammelt hatten, heißes Lachen hinausgebrüllt. Sie ' hatten ebenfalls gelacht, aber es war ein kaltes, unbehagliches Lachen gewesen. Sie hätten sich gegenseitig dazu gratulieren können, daß sie für so eine Verantwortung auserkoren worden waren, aber innerlich wünschten sie, der Blick seiner fröhlichen und entsetzlichen Wieselaugen wäre nicht ausgerechnet auf sie gefallen. Ein weiterer großer Wachtposten befand sich weit südlich von Ontario, in Sheaville. Hier hielten sich vier Männer in einem kleinen Haus dicht an der 1-95 auf, die sich dort zur Alvord Desert mit ihren unheimlichen Felsformationen und dunklen, trüben Wasserläufen hinunterschlängelte. Die anderen Posten waren paarweise bemannt, ein rundes Dutzend, angefangen von der winzigen Stadt Flora an der Route 3, sechzig Meilen von der Grenze von Washington entfernt, bis nach McDermitt an der Grenze Oregon-Nevada. Ein alter Mann in einem blauweißen Fahrzeug mit Vierradantrieb. Alle Wachen hatten denselben Befehl: Töten, aber nicht den Kopf verletzen! Über dem Adamsapfel durfte es keine Verletzungen oder Blutergüsse geben. »Ich will keine beschädigte Ware zurückschicken«, hatte Randy Flagg ihnen gesagt und sein gräßliches Lachen gebrüllt. Der Snake River bildet die nördliche Grenze zwischen Oregon und Idaho. Wenn man dem Fluß von Ontario aus, wo die sechs Männer in ihrem Peterbilt saßen und um wertloses Geld pokerten, nach Norden folgt, kommt man der Stadt Copperfield zum Greifen nahe. Hier macht der Snake einen Bogen (Geologen nennen es eine USchleife), und in der Nähe von Copperfield wird er vom OxbowDamm gestaut. Und an jenem siebten September, an dem Stu Redman und seine Gruppe auf dem Colorado Highway 6 über tausend Meilen entfernt im Südosten dahinstapften, saß Bobby Terry in Copperfield im Five and Dirne, einen Stapel Comics neben sich, und überlegte, in welchem Zustand der Oxbow-Damm sein mochte und ob die Schleusentore geöffnet oder geschlossen waren. Draußen führte der Oregon Highway 86 an dem Kramladen vorbei. Er und sein Partner Dave Roberts (er schlief gerade in der Wohnung eins höher) hatten über den Damm schon ausführlich diskutiert. Es regnete seit einer Woche. Der Snake River führte Hochwasser. Wenn der alte Oxbow-Damm nun brach? Schlechte Karten. Eine gewaltige Wasserwand würde sich über Copperfield stürzen und den alten Bobby Terry und den alten Dave Roberts möglicherweise bis in den Pazifik spülen. Sie hatten den Damm auf Risse untersuchen wollen, es aber am Ende nicht gewagt. Flaggs Befehle waren unmißverständlich gewesen: Versteckt halten. Dave hatte darauf hingewiesen, daß Flagg überall sein konnte. Er war ungeheuer mobil, und man munkelte schon darüber, wie er plötzlich in einem abgelegenen Kaff auftauchen konnte, wo nur ein paar Leute eine Stromleitung reparierten oder ein Armee-Depot auf Waffenbestände untersuchten. Er materialisierte sich wie ein Gespenst. Nur war er ein grimmiges schwarzes Gespenst in staubigen Stiefeln mit abgelaufenen Absätzen. Manchmal war er allein, und manchmal hatte er Lloyd Henreid bei sich - am Steuer eines großen fetten Daimler, schwarz wie ein Leichenwagen und fast ebenso lang. Manchmal ging er zu Fuß. Eben war er nicht da, im nächsten Augenblick war er es. An einem Tag war er in Los Angeles (so hieß es wenigstens), und einen Tag später tauchte er in Boise auf... zu Fuß. Aber auch darauf hatte Dave hingewiesen - nicht einmal Flagg konnte an sechs verschiedenen Orten zugleich sein. Einer von ihnen konnte zu diesem verflixten Damm preschen, ihn sich ansehen und wieder zurückpreschen. Die Chancen standen tausend zu eins zu ihren Gunsten. Gut, du fährst, hatte Bobby Terry zu ihm gesagt. Du hast meine Erlaubnis. Aber Dave hatte die Einladung mit einem ängstlichen Grinsen abgelehnt. Denn Flagg wußte vieles, auch wenn er nicht persönlich zur Stelle war. Manche behaupteten, er hätte unnatürliche Macht über die Raubtiere des Tierreichs. Eine Frau namens Rose Kingman sagte, sie hätte selbst gesehen, wie er einmal mit den Fingern schnippte, als ein paar Krähen auf Telefondrähten saßen, worauf ihm die Krähen auf die Schulter geflogen waren. So sagte Rose Kingman, und sie führte weiter aus, sie hätten unablässig »Flagg... Flagg... Flagg« gekrächzt. Das war natürlich lächerlich, und das wußte er. Ein Trottel glaubte das vielleicht, aber Bobby Terrys Mutter Delores hatte nie einen Trottel großgezogen. Er wußte, wie Geschichten die Runde machten und zwischen dem Mund des Erzählers und dem Ohr des Zuhörers immer wilder wurden. Und mit welchem Vergnügen der dunkle Mann solche Geschichten ermutigen würde! Aber dennoch lief ihm bei diesen Geschichten ein atavistischer kleiner Schauer über den Rücken, als wäre an jeder ein Körnchen Wahrheit. Einige sagten, er konnte Wölfe rufen oder seine Seele in den Körper einer Katze versetzen. Ein Mann in Portland behauptete, er würde ein Wiesel oder einen Fischotter oder etwas Unaussprechliches in seinem zerschlissenen Pfadfinderrucksack, den er auf Reisen bei sich hatte, mit sich herumtragen. Alles natürlich dummes Zeug. Aber... wenn er nun tatsächlich mit den Tieren sprechen konnte, wie ein satanischer Dr. Doolittle? Und wenn er oder Dave entgegen seinen Befehlen zum Damm fuhren und gesehen wurden? Die Strafe für Ungehorsam war Kreuzigung. Bobby Terry sagte sich, der alte Damm würde ohnehin nicht brechen. Er schnippte eine Kent aus der Packung auf dem Tisch, zündete sie an und verzog das Gesicht bei dem heißen, trockenen Geschmack. In sechs Monaten würde man die verdammten Zigaretten überhaupt nicht mehr rauchen können. War vielleicht ganz gut. Die Scheißdinger waren sowieso der Tod. Er seufzte und nahm ein anderes Comic-Heft vom Stapel. Ein alberner Mist mit dem Titel Teenage Ninja Mutant Turtles. Die Ninja Turtles - Schildkröten - waren angeblich »Helden im Rückenpanzer«. Er schleuderte Raphael, Donatello und ihre gehirnamputierten Freunde quer durch das Geschäft, und das Comic-Heft, in dem sie lebten, flatterte wie ein Zelt auf die Registrierkasse. Wenn man etwas wie Teenage Mutant Ninja Turtles sah, dachte er, wollte man gerne glauben, daß die Welt es verdient hatte, vor die Hunde zu gehen. Er nahm das nächste Heft, Batman - das war wenigstens noch ein Held, an den man irgendwie glauben konnte -, und wandte sich gerade der ersten Seite zu, als er draußen den blauweißen Scout Richtung Westen vorbeifahren sah. Die breiten Reifen spritzten schlammiges Regenwasser hoch. Mit offenem Mund starrte Bobby Terry auf die Stelle, wo er vorbeigefahren war. Er konnte kaum glauben, daß der Wagen, den sie alle suchten, eben seinen Posten passiert hatte. Insgeheim hatte er diesen Job die ganze Zeit für eine Scheißbeschäftigungstherapie gehalten. Er lief zur Tür und riß sie auf. Er rannte auf die Straße und hielt noch den Batman-Comic in der Hand. Vielleicht war das Ganze nur eine Halluzination gewesen. Allein beim Gedanken an Flagg konnte man Halluzinationen haben. Aber es war keine. Er sah noch das Dach des Scout, als dieser hinter dem nächsten Hügel aus der Stadt verschwand. Bobby lief durch den leeren Kramladen und rief, was die Lungen hergaben, nach Dave. Der Richter hielt verbissen das Lenkrad fest und tat so, als würde es keine Arthritis geben, und wenn doch, als hätte er sie nicht oder, wenn er sie schon hatte, als würde er sie bei feuchtem Wetter nicht spüren. Weiter wollte er nicht gehen, denn der Regen war eine Tatsache, eine nackte Tatsache, wie sein Vater gesagt hätte, und es gab keine Hoffnung außer dem Mount Hope. Der Rest seiner abschweifenden Überlegungen brachte ihn auch nicht weiter. Drei Tage lang fuhr er schon durch den Regen. Manchmal war er nur ein Nieseln, aber meistens nicht mehr und nicht weniger als ein guter, solider Wolkenbruch. Auch das war eine nackte Tatsache. Die Straßen waren stellenweise unterspült, und einige würden im nächsten Frühjahr schlicht unpassierbar sein. Er hatte Gott schon mehrmals während dieser Expedition für den Scout gedankt. Die ersten drei Tage auf der I-80 hatten ihn überzeugt, daß er die Westküste keinesfalls vor dem Jahr 2000 erreichen würde, wenn er nicht Nebenstraßen benutzte. Die Interstate war über lange Strecken geradezu unheimlich leer gewesen; stellenweise konnte er sich im zweiten Gang durch den liegengebliebenen Verkehr schlängeln. Aber häufig hatte er auch die hintere Stoßstange eines Wagens auf den Haken der Seilwinde des Scout nehmen und diesen von der Straße ziehen müssen, um sich eine Lücke zu schaffen, durch die er schlüpfen konnte. In Rawlins hatte er die Nase voll. Er bog nach Nordwesten auf die 1-287, fuhr um das Great Divide Basin herum und kampierte zwei Tage später in der nordwestlichen Ecke von Wyoming, östlich von Yellowstone. Hier oben waren die Straßen fast völlig verlassen. Sein Weg durch Wyoming und das östliche Idaho war erschreckend und alptraumhaft gewesen. Er hätte nie gedacht, daß das Gefühl des Todes derart auf einem so leeren Land und auf seiner Seele liegen könnte. Aber es war da - eine bösartige Stille unter diesem großen westlichen Himmel, wo einstmals Büffel und Winnebagos umhergestreift waren. Es lag ebenso in den Telefonmasten, die umgestürzt waren und die niemand repariert hatte, wie in der kalten Stille der kleinen Städte, durch die er fuhr: Laniont, Muddy Gap, Jeffrey City, Lander, Crowheart. Seine Einsamkeit wuchs mit der Erkenntnis der Leere, mit einer Verinnerlichung des Todesgefühls. Er wurde zunehmend überzeugter, daß er die Freie Zone Boulder nie wiedersehen würde oder die Menschen, die dort lebten - Frannie, Lucy, den jungen Lauder, Nick Andres. Er glaubte zu wissen, wie Kain zumute gewesen sein mußte, als Gott ihn ins Land Nod verbannt hatte. Aber das Land hatte jenseits von Eden gelegen - im Osten. Der Richter war jetzt diesseits - im Westen. Am deutlichsten spürte er das, als er die Grenze zwischen Wyoming und Idaho überquerte. Er war über den Targhee-Paß nach Idaho gekommen und hatte am Straßenrand angehalten, um einen kleinen Imbiß zu sich zu nehmen. Rundherum Stille, abgesehen vom Rauschen des Hochwassers in einem nahen Bach und einem seltsamen knirschenden Geräusch, das ihn an Schmutz in einer Türangel erinnerte. Der blaue Himmel über ihm zog sich mit grauen Fischschuppen zu. Regen kam, und mit ihm seine Arthritis. Trotz der Anstrengung und der langen Fahrt hatte ihn seine Arthritis bisher in Ruhe gelassen, und... ...und was war dieses knirschende Geräusch? Als er mit dem Essen fertig war, holte er sein Garand-Gewehr aus dem Scout und ging zum Picknickplatz am Fluß - bei schönem Wetter wäre es eine reizende Umgebung zum Essen gewesen. Hier stand eine kleine Baumgruppe, dazwischen mehrere Tische. An einem dieser Bäume hing ein Mann, dessen Schuhe fast den Boden berührten; sein Kopf war grotesk verrenkt, Vögel hatten das Fleisch fast ganz weggepickt. Das knirschende Geräusch wurde von dem Seil verursacht, das an dem Ast schwang, über den es geschlungen worden war. Es war fast durchgescheuert. So erfuhr er, daß er im Westen war. Zwei Tage später erreichte er Butte City, und die Schmerzen in Fingern und Kniegelenken waren so schlimm geworden, daß er sich einen ganzen Tag in einem Motelzimmer verkroch. Wie er so auf dem Bett ausgestreckt lag, heiße Handtücher um Hände und Knie gewickelt, und Laphams Law and the Classes of Society las, sah Richter Farris wie eine unheimliche Kreuzung zwischen dem alten Matrosen und einem Überlebenden von Valley Forge aus. Nachdem er sich reichlich mit Aspirin und Brandy eingedeckt hatte, fuhr er weiter, hielt sich geduldig an Nebenstraßen, schaltete den Allradantrieb des Scout zu und fuhr im Schlamm um Wracks herum, statt die Seilwinde zu benutzen, damit er sich das damit verbundene Bücken und Heben sparen konnte. Es war nicht immer möglich. Als er sich vor zwei Tagen, am 5. September, den Salmon River Mountains genähert hatte, war er gezwungen gewesen, einen großen Telefonlaster von ConTel einzuklinken und anderthalb Meilen im Rückwärtsgang zu schleppen, bis die Böschung auf einer Seite abfiel und er das Miststück in einen Fluß kippen konnte, dessen Namen er nicht kannte. Am Abend des 4. September, ein Tag vor dem ConTel-Truck und drei Tage bevor Bobby Terry ihn durch Copperfield fahren sah, kampierte er in New Meadows, wo etwas Beunruhigendes passierte. Er war beim Ranchhand-Motel vorgefahren, hatte sich im Büro den Schlüssel zu einem Zimmer besorgt und dabei einen Bonus gefunden - ein batteriebetriebenes Heizgerät, das er ans Fußende des Bettes stellte. Als der Morgen dämmerte, fühlte er sich zum ersten Mal seit einer Woche warm und behaglich. Das Heizgerät verströmte ein sanftes, helles Glühen. Nur mit Unterhose bekleidet, lag er in den Kissen und las über den Fall einer ungebildeten schwarzen Frau aus Brixton, Mississippi, die wegen einfachen Ladendiebstahls zu zehn Jahren verurteilt worden war. Der Staatsanwalt der Verhandlung und drei Geschworene waren Schwarze gewesen, und Lapham wies darauf hin, daß... Tack, tack, tack: am Fenster. Das alte Herz des Richters stockte in der Brust. Lapham flog davon. Er griff nach dem Garand-Gewehr, das am Stuhl lehnte, und drehte sich, auf das Schlimmste gefaßt, zum Fenster herum. Die Geschichte, die er den Leuten erzählen mußte, wirbelte ihm durch den Kopf wie vom Wind verwehte Strohhalme. Das war es, sie würden wissen wollen, wer er war, woher er kam... Es war eine Krähe. Der Richter beruhigte sich allmählich und brachte sogar ein zittriges Lächeln zustande. Nur eine Krähe. Sie saß draußen im Regen auf dem Fenstersims, die nassen, schwarzglänzenden Federn auf komische Weise zusammengeklebt, und betrachtete mit ihren kleinen Augen durch die tropfnasse Scheibe einen sehr alten Juristen und ältesten Amateurspion der Welt, der in Unterhose mit der Aufschrift LOS ANGELES LAKERS in Purpur und Gold und einem schweren juristischen Buch auf dem Bauch über einem Motelbett im westlichen Idaho lag. Die Krähe schien bei diesem Anblick zu grinsen. Der Richter entspannte sich und grinste zurück. Stimmt, der Witz geht auf meine Kosten. Aber nachdem er zwei Wochen lang allein durch das menschenleere Land gefahren war, stand es ihm seiner Meinung nach zu, etwas nervös zu sein. Tack, tack, tack. Die Krähe klopfte mit dem Schnabel an die Scheibe. Klopfte, wie sie vorher geklopft hatte. Der Richter lächelte nicht mehr so sehr. Irgendwie gefiel ihm nicht, wie die Krähe ihn anstarrte. Sie schien immer noch fast zu grinsen, aber er hätte schwören können, daß sie verächtlich grinste, fast höhnisch. Tack, tack, tack. Wie der Rabe, der sich auf der Büste der Pallas niedergelassen hatte. Wann werde ich herausfinden, was sie in der Freien Zone, die ich so weit hinter mir gelassen habe, wissen müssen? Nimmermehr. Werde ich je erfahren, welche Schwachstellen die Rüstung des dunklen Mannes aufweist? Nimmermehr. Werde ich heil zurückkommen? Nimmermehr. Tack, tack, tack. Die Krähe sah ihn an, schien zu grinsen. Eine traumgleiche Gewißheit, die seine Hoden zusammenzog, erfüllte ihn, dies war der dunkle Mann, seine Seele, sein Ka, das er irgendwie in diese vor Nässe triefende Krähe projiziert hatte, die ihn, Richter Farris, beobachtete. Er betrachtete sie fasziniert. Die Augen der Krähe schienen größer zu werden. Er bemerkte, dass sie rotgerändert waren, in der dunklen Farbe von Rubinen. Regenwasser tropfte. Die Krähe beugte sich vor und klopfte mit voller Absicht ans Glas. Der Richter dachte: Ich glaube, sie will mich hypnotisieren. Vielleicht versucht sie es tatsächlich. Aber vielleicht bin ich für so etwas zu alt. Und angenommen ...es ist natürlich albern, aber angenommen, er ist es. Und angenommen, ich reiße das Gewehr mit einer raschen Bewegung hoch? Es ist vier Jahre her, daß ich zuletzt auf Tontauben geschossen habe, aber 1976 und 1979 war ich immerhin Klubmeister, und auch 1986 war ich noch ganz gut. Nicht toll, kein Band in diesem Jahr, darum habe ich aufgehört, mein Stolz war besser als meine Augen, aber immer noch Platz fünf von zweiundzwanzig. Und dieses Fenster ist näher als die Entfernung beim Tontaubenschießen. Wenn er es ist, ob ich ihn töten kann? Sein Ka - wenn es so etwas gibt - im Körper der sterbenden Krähe fangen? Wäre es so unpassend, wenn ein alter Knacker die ganze Angelegenheit undramatisch löst, indem er im westlichen Idaho eine Rabenkrähe erschießt? Die Krähe grinste ihn an. Jetzt war er ganz sicher, daß sie grinste. Mit einem plötzlichen Ruck setzte sich der Richter auf und riß mit sicherem Griff den Gewehrkolben an die Schulter - es ging besser, als er sich hätte träumen lassen. Die Krähe schien plötzlich von einer Art Entsetzen gepackt. Sie flatterte mit den regennassen Flügeln und spritzte Wasser. Durch die Scheibe hörte der Richter sie ein gedämpftes Kräh! ausstoßen, und in diesem Augenblick hatte er die triumphierende Gewißheit: Es war der dunkle Mann, er hatte den Richter unterschätzt, und dafür würde er mit seinem elenden Leben bezahlen... »NIMM DAS!« donnerte der Richter und drückte ab. Aber der Abzug ließ sich nicht bewegen, denn er hatte nicht entsichert. Im nächsten Augenblick sah er nur noch Regen vor dem Fenster. Der Richter ließ die Garand auf den Schoß sinken und kam sich dumm und albern vor. Er sagte sich, daß es doch nur eine Krähe gewesen war, eine vorübergehende Ablenkung an diesem trüben Abend. Wenn er die Scheibe weggepustet und dem Regen Zutritt verschafft hätte, müßte er jetzt die Mühe auf sich nehmen und in ein anderes Zimmer ziehen. Eigentlich war es Glück. Aber in dieser Nacht schlief er schlecht, schrak mehrere Male hoch und sah in der Überzeugung zum Fenster, daß er dort ein gespenstisches Klopfen gehört hatte. Wenn die Krähe noch einmal dort landete, würde sie nicht entkommen. Er hatte das Gewehr entsichert. Aber die Krähe kam nicht wieder. Am nächsten Morgen war er weiter nach Westen gefahren; seine Arthritis war nicht schlimmer geworden, aber auch nicht besser, und kurz nach elf Uhr machte er Pause in einem kleinen Cafe. Während er sein Sandwich verzehrte und aus seiner Thermosflasche Kaffee trank, sah er eine große Krähe einen halben Block entfernt auf einem Telefondraht landen. Der Richter beobachtete sie fasziniert, die rote Thermosflasche auf halbem Weg zwischen Tisch und Mund. Es war natürlich nicht dieselbe Krähe. Es mußte inzwischen Millionen Krähen geben, alle fett und unverschämt. Dies war jetzt eine Krähenwelt. Aber er wurde trotzdem das Gefühl nicht los, daß es dieselbe Krähe war, und er verspürte eine Vorahnung von Unheil, eine schleichende, resignierte Erkenntnis, daß alles aus war. Er hatte keinen Hunger mehr. Er fuhr weiter. Und ein paar Tage später, Viertel nach zwölf Uhr mittags, mittlerweile in Oregon und auf dem Highway 86 nach Westen unterwegs, fuhr er durch die Stadt Copperfield, ohne das Five -and-Dime, wo Bobby Terry ihn mit vor Fassungslosigkeit offenem Mund sah, auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Garand lag neben ihm auf dem Sitz, entsichert, eine Schachtel Munition daneben. Der Richter hatte beschlossen, jede Krähe zu erschießen, die er sah. Nur aus Prinzip. »Schneller! Kannst du das verdammte Ding nicht schneller fahren?« »Geh mir nicht auf den Wecker, Bobby Terry. Nur weil du geschlafen hast, mußt du mir nicht auf den Wecker gehen.« Dave Roberts saß am Steuer des Willys International, der mit der Schnauze zur Straße neben dem Five and Dirne geparkt hatte. Bis Bobby Terry Dave geweckt und dieser sich angezogen hatte, hatte der alte Kerl mit seinem Scout schon einen Vorsprung von zehn Minuten gehabt. Es regnete in Strömen, die Sicht war schlecht. Bobby Terry hielt eine Winchester auf dem Schoß. In seinem Gürtel steckte ein 45er Colt. Dave, der Cowboystiefel, Jeans, einen gelben Regenmantel und sonst nichts trug, sah ihn an. »Du mußt ihn nur einholen«, sagte Bobby Terry. Er murmelte vor sich hin: »In den Bauch. Ich muß ihn in den Bauch treffen. Dann passiert dem Kopf nichts. Richtig.« »Hör auf mit deinen Selbstgesprächen. Wer Selbstgespräche führt, spielt auch an sich selbst rum. Das ist meine Meinung.« »Wo ist er?« fragte Bobby Terry. »Wir kriegen ihn. Wenn du es nicht nur geträumt hast. Dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken, Bruder.« »Ich habe es nicht geträumt. Das war der Scout. Aber wenn er nun abbiegt?« »Wo abbiegt? Bis zur Interstate gibt es nur Feldwege. Auf denen kommt er keine zehn Meter weit, ohne bis zu den Stoßstangen im Schlamm steckenzubleiben, mit oder ohne Allradantrieb. Nur die Ruhe, Bobby Terry.« Bobby Terry sagte kläglich: »Ich kann nicht. Ich muß mich immer fragen, wie es ist, wenn man in der Wüste an einem Telefonmast zum Trocknen aufgehängt wird.« »Laß das! Sieh dort! Siehst'n? Wir schnuppern ihm schon am Arsch!« Vor ihnen war es - wahrscheinlich vor Minuten - zu einem Frontalzusammenstoß zwischen einem Chevy und einem schweren Buick gekommen, die im Regen die Straße versperrten wie die Knochen unbegrabener Mastodons. Rechts waren frische Reifenspuren auf der Böschung zu sehen. »Das ist er«, sagte Dave. »Die Spuren sind keine fünf Minuten alt.« Er zog den Willys an den verunglückten Fahrzeugen vorbei, und sie holperten rüttelnd über die Böschung. Dave steuerte an derselben Stelle wieder auf die Straße wie zuvor der Richter, und sie sahen beide das schlammige Fischgrätenmuster der Reifen des Scout auf dem Asphalt. Auf dem nächsten Hügel sahen sie den Scout gerade über die Kuppe verschwinden. »Hip-hip-hurrah!« rief Dave Roberts. »Nichts wie hinterher!« Er trat das Gas durch, und der Willys beschleunigte langsam auf sechzig. Vor der Windschutzscheibe hing ein silberner Regenschleier, mit dem die Scheibenwischer nicht einmal annähernd fertig wurden. Auf der Hügelkuppe sahen sie den Scout wieder, näher. Dave betätigte die Lichthupe. Augenblicke später leuchteten die Bremslichter des Scout auf. »Na gut«, sagte Dave. »Wir geben uns freundlich. Damit er aussteigt. Dreh nicht wieder durch, Bobby Terry. Wenn wir das richtig machen, kriegen wir eine Suite im MGM Grand in Vegas. Versauen wir's, reißt er uns den Arsch auf. Also bau keine Scheiße. Laß ihn aussteigen.« » O Gott, hätte er nicht durch Robinette fahren können?« jammerte Bobby Terry. Seine Hände umklammerten die Winchester. Dave schlug ihm auf die Hand. »Und das Gewehr nimmst du auch nicht mit.« »Aber...« »Schnauze! Lächle, verdammt noch mal!« Bobby Terry fing an zu grinsen. Es war, als würde man einen mechanischen Jahrmarktclown grinsen sehen. »Du bist zu nichts zu gebrauchen«, knurrte Dave. »Ich mach's. Bleib in dem verdammten Wagen sitzen.« Sie waren jetzt auf Höhe des Scout, der mit zwei Rädern auf der Straße und mit zweien auf der weichen Böschung stand. Lächelnd stieg Dave aus. Er hatte die Hände in den Taschen seiner gelben Wetterjacke. In der linken Tasche steckte eine 38er Police Special. Der Richter kletterte vorsichtig aus dem Scout. Er trug ebenfalls eine gelbe Wetterjacke. Er ging behutsam, wie ein Mann, der eine zerbrechliche Vase trägt. In seinen Gelenken wütete die Arthritis wie ein Rudel Tiger. Er trug die Garand in der linken Hand. »He, Sie wollen mich damit doch nicht erschießen?« fragte der Mann aus dem Willys mit einem freundlichen Grinsen. »Wohl nicht«, sagte der Richter. Er sprach über das unablässige Zischen des Regens hinweg. »Sie müssen in Copperfield gewesen sein.« »Das waren wir. Ich heiße Dave Roberts.« Er streckte die rechte Hand aus. »Mein Name ist Farris«, sagte der Richter und streckte ebenfalls die rechte Hand aus. Er sah zum Beifahrerfenster des Willys und erblickte Bobby Terry, der sich herauslehnte und mit beiden Händen einen Fünfundvierziger auf ihn richtete. Regen tropfte vom Lauf. Sein totenblasses Gesicht war immer noch zu diesem mechanischen Jahrmarktsgrinsen verzerrt. »Verdammt«, murmelte der Richter und zog die Hand in dem Augenblick aus Roberts' regenfeuchtem Griff, als Roberts durch die Tasche seiner Wetterjacke schoß. Die Kugel pflügte sich unterhalb des Magens durch den Leib des Richters, drehte sich, drückte sich platt und trat neben der Wirbelsäule wieder aus und hinterließ ein Loch, das so groß wie eine Untertasse war. Die Garand fiel ihm aus der Hand auf den Boden; er selbst wurde in die offene Fahrertür des Scout geschleudert. Keiner hatte die Krähe bemerkt, die auf einen Telefondraht auf der anderen Straßenseite geflattert war. Dave Roberts trat einen Schritt vor, um die Sache zu beenden. Als er sich in Bewegung setzte, feuerte Bobby Terry vom Beifahrersitz des Willys. Die Kugel traf Roberts am Hals und riß diesen größtenteils weg. Ein Blutschwall ergoß sich vorn über Roberts' Jacke und vermischte sich mit dem Regen. Er drehte sich zu Bobby Terry um; seine Kiefer arbeiteten in stummem, sterbendem Erstaunen, die Augen quollen aus den Höhlen. Er machte zwei schlurfende Schritte vorwärts, und das Erstaunen verschwand aus seinem Gesicht. Alles verschwand daraus. Er fiel tot um. Regen trommelte und putschte auf den Rücken seiner Wetter Jacke. »O Scheiße, sieh dir das an!« schrie Bobby Terry völlig verzweifelt. Der Richter dachte: Meine Arthritis ist weg. Wenn ich am Leben bliebe, würde ich die ganze Zunft in Erstaunen versetzen. Das Heilmittel gegen Arthritis ist eine Kugel in den Bauch. O Gott, sie haben mich hier erwartet. Ob Flagg es ihnen gesagt hat? Das muss er, Gott schütze die anderen, die das Komitee ausgeschickt hat.  Die Garand lag auf der Straße. Er bückte sich danach und spürte, wie ihm die Gedärme aus dem Leib quellen wollten. Ein seltsames Gefühl. Nicht sehr angenehm. Nicht darauf achten. Er packte das Gewehr. War es entsichert? Ja. Er hob es langsam auf. Es schien tausend Pfund zu wiegen. Endlich nahm Bobby Terry den fassungslosen Blick von Daves Leiche und sah, daß der Richter gerade auf ihn schießen wollte. Der Richter saß auf der Straße. Seine Jacke war von der Brust bis zum Saum rot von Blut. Er hatte den Lauf der Garand aufs Knie gelegt. Bobby schoß, verfehlte aber. Die Garand entlud sich mit einem Donnerhall; zersplittertes Glas spritzte Bobby Terry ins Gesicht. Er hielt sich für tödlich getroffen und schrie auf. Dann sah er, daß die linke Hälfte der Windschutzscheibe verschwunden und er noch im Rennen war. Der Richter korrigierte mühsam und verschob den Lauf der Garand auf seinem Knie um etwa zwei Grad. Bobby Terry, der mittlerweile völlig die Nerven verloren hatte, schoß dreimal in schneller Folge. Die erste Kugel riß ein Loch in die Seite des Scout. Die zweite traf den Richter über dem rechten Auge. Ein Fünfundvierziger ist eine große Waffe und kann auf kurze Entfernung Unangenehmes bewirken. Diese Kugel zertrümmerte dem Richter den Schädel und wirbelte die Knochensplitter in den Scout. Sein Kopf flog nach hinten, und Bobby Terrys dritte Kugel traf den Richter einen halben Zentimeter unter der Unterlippe und schlug ihm die Zähne in den Mund, von wo er sie mit seinem letzten Atemzug einsaugte. Kinn und Unterkiefer zersplitterten. Sein Finger krümmte sich im Todeskampf um den Abzug der Garand, aber die Kugel sauste in den weißen, verregneten Himmel. Stille senkte sich herab. Regen prasselte auf die Dächer von Scout und Willys. Auf die Jacken der beiden Toten. Das waren die einzigen Geräusche, bis die Krähe mit heiserem Krächzen vom Telefonkabel startete. Das schreckte Bobby Terry aus seiner Lähmung. Langsam stieg er aus, immer noch den rauchenden 45er in der Hand. »Ich habe es geschafft!« sagte er selbstbewußt in den Regen. »Kaltgemacht. Man glaubt es nicht. Schießerei am O.K. Corral. In die vollen. Der olle Bobby Terry hat ihm den Arsch weggeschossen.« Aber dann dämmerte ihm mit wachsendem Entsetzen, daß er dem Richter nicht nur den Arsch weggeschossen hatte. Der Richter war sterbend in den Scout zurückgesunken. Jetzt packte Bobby Terry ihn an den Aufschlägen seiner Jacke, riß ihn hoch und sah in das, was von den Zügen des Richters übriggeblieben war. Eigentlich nur die Nase. Und um ehrlich zu sein, auch die war in keinem besonders guten Zustand. Es hätte irgendwer sein können. Und in einer Vision des Grauens hörte Bobby Terry Flagg sagen: Ich will ihn unbeschädigt zurückschicken. Herr im Himmel, dies konnte irgendwer sein. Es war, als hätte er absichtlich genau das Gegenteil von dem getan, was der Wandelnde Geck befohlen hatte. Zwei Treffer direkt ins Gesicht. Sogar die Zähne waren weg. Regen prasselte, prasselte. Hier drüben war es aus. Er wagte nicht, nach Osten zu gehen, und er wagte nicht, im Westen zu bleiben. Er würde entweder mit nacktem Rücken einen Telefonmast reiten... oder Schlimmeres. Gab es Schlimmeres? Solange dieses grinsende Gespenst hier herrschte, hatte Bobby Terry daran nicht den geringsten Zweifel. Was also war zu tun? Er strich sich mit den Händen durchs Haar, betrachtete das verwüstete Gesicht des Richters und versuchte zu denken. Süden. Das war die Lösung. Süden. Keine Grenzposten mehr. Nach Mexiko, und wenn es dann nicht weit genug war, nach Guatemala oder Panama oder vielleicht sogar ins elende Brasilien. Nur raus aus diesem Schlamassel. Kein Osten, kein Westen, nur Bobby Terry, der vor dem Wandelnden Geck so weit weglaufen mußte, wie seine Siebenmeilenstiefel ihn trugen... Ein neues Geräusch im verregneten Nachmittag. Bobby Terrys Kopf fuhr hoch. Der Regen, ja, der auf die Dächer der beiden Wagen trommelte, und das Schnurren von zwei Motoren im Leerlauf, und... Ein seltsames klackendes Geräusch, wie abgelaufene Absätze, die rasch über den Asphalt der Nebenstraße stapften. »Nein«, flüsterte Bobby Terry. Er drehte sich langsam um. Das klackende Geräusch wurde schneller. Ein schnelles Gehen, ein Traben, ein Laufen, Rennen, Sprint, und dann hatte Bobby Terry sich ganz umgedreht, zu spät, er kam, Flagg kam auf ihn zu wie ein schreckliches Ungeheuer aus dem schlimmsten Gruselfilm, der je gedreht wurde. Die Wangen des dunklen Mannes waren fröhlich gerötet, und seine Augen blinzelten vergnügt und kameradschaftlich, ein hungriges, gefräßiges Grinsen entblößte riesige Zähne, die wie Grabsteine aussahen, wie Haifischzähne, und er hielt die Hände vor sich gestreckt, und in seinem Haar hingen glänzende schwarze Krähenfedern. Nein, wollte Bobby Terry sagen, aber es kam nichts heraus. »HE, BOBBY TERRY, DU HAST ES VERPATZT!« bellte der dunkle Mann und stürzte sich auf den unglücklichen Bobby Terry. Es gab Schlimmeres als Kreuzigung. Es gab Zähne. 62 Dayna Jürgens lag nackt auf dem riesigen Doppelbett, lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers in der Duschkabine und betrachtete ihr Bild in dem großen runden Deckenspiegel, der genau die gleiche Form und Größe hatte wie das Bett, das er reflektierte. Sie fand, daß der weibliche Körper immer am besten aussieht, wenn er ausgestreckt flach auf dem Rücken liegt, der Bauch flach, die Brüste natürlich aufrecht und nicht von der Schwerkraft nach unten gezogen. Es war neun Uhr dreißig am Morgen des 8. September. Der Richter war seit achtzehn Stunden tot, Bobby Terry - zu seinem Unglück - erst seit beträchtlich kürzerer Zeit. Die Dusche lief und lief. Der Mann muß wohl an Waschzwang leiden, dachte sie. Was ist nur los mit ihm, daß er sich jedesmal mehr als eine geschlagene halbe Stunde duschen muß? Sie mußte wieder an den Richter denken. Wer hätte das gedacht? In gewisser Weise war es eine brillante Idee gewesen. Wer hätte einen so alten Mann verdächtigt? Nun, Flagg ganz offensichtlich. Irgendwie hatte er bestimmt gewußt, wann und vermutlich auch wo der Richter auftauchen würde. Eine lange Postenkette überwachte die gesamte Grenze zwischen Oregon und Idaho, und die Männer hatten den strikten Befehl, ihn zu töten, sobald sie seiner ansichtig wurden. Aber irgend etwas mußte schiefgegangen sein. Seit gestern abend liefen die Männer der Sicherheitsabteilung hier in Las Vegas mit käsigen Gesichtern und gesenkten Blicken herum. Whitney Horgan, sonst ein sehr guter Koch, hatte etwas serviert, das wie Hundefutter aussah und so angebrannt war, daß es nach nichts schmeckte. Der Richter war tot, aber etwas war schiefgegangen. Sie stand auf, trat ans Fenster und sah auf die weite Wüstenlandschaft hinaus. Auf der US 95 sah sie zwei große Busse der High School von Las Vegas unter der heißen Sonne nach Westen rollen; sie fuhren wahrscheinlich zur Airbase von Indian Springs, wo, wie Dayna aus sicherer Quelle wußte, Lehrgänge für den Umgang mit Düsenflugzeugen abgehalten wurden. Im Westen waren mehr als ein Dutzend Leute, die fliegen konnten, aber zum großen Glück - für die Freie Zone - hatte keiner eine Ausbildung für die Jets der Nationalgarde in Indian Springs. Aber sie lernten. O ja. Für Dayna war am Tod des Richters momentan nur wichtig, daß sie etwas gewußt hatten, was sie eigentlich nicht wissen durften. Hatten sie auch einen Spion in der Freien Zone? Das war möglich, vermutete sie; Spionieren war ein Spiel, das auch zwei spielen konnten. Aber Sue Stern hatte ihr gesagt, von der Entscheidung, Spione nach Westen zu schicken, wüßte nur das Komitee, und sie bezweifelte stark, daß einer der sieben auf der Seite von Flagg stand. Mutter Abagail hätte gewußt, wenn das Komitee verderbt geworden wäre. Da war Dayna ganz sicher. Damit blieb eine äußerst unangenehme Alternative. Flagg selbst hatte es einfach gewußt. Dayna war jetzt schon acht Tage in Las Vegas, und soweit sie wußte, war sie ohne Einschränkungen in die Gemeinschaft aufgenommen worden. Sie hatte schon genügend Informationen über das gesammelt, was hier vor sich ging, um die Leute in Boulder in nackte Angst zu versetzen. Dazu würden schon die Auskünfte über das Programm für die Ausbildung an den Düsenflugzeugen reichen. Was ihr aber persönlich am meisten Angst machte, war die Art, wie die Leute sich abwandten, wenn man Flaggs Namen erwähnte, wie sie taten, als hätten sie nichts gehört. Manche kreuzten die Finger, andere machten einen Knicks, wieder andere hinter der vorgehaltenen Hand das Zeichen des Bösen Blicks. Er war der große Da/Nicht-da. Das war am Tage. Aber abends, wenn man ruhig in der Club Bar des Grand oder im Silver Slipper Room im The Cashbox saß, hörte man Geschichten über ihn, die einen Mythos begründeten. Sie sprachen langsam und stockend und ohne den anderen anzusehen, und dabei tranken sie meistens Bier. Wenn man stärkere Sachen trank, kon nte man zu leicht die Kontrolle über das Mundwerk verlieren, und das war gefährlich. Sie wußte, daß nicht alles stimmte, was geredet wurde, aber es war schon fast unmöglich, Schein und Sein zu unterscheiden. Sie hatte gehört, er wäre ein Gestaltveränderer, ein Werwolf, er habe selbst die Seuche auf das Land losgelassen, er sei der Antichrist, dessen Kommen in der Offenbarung geweissagt worden war. Sie hatte von der Kreuzigung von Hector Drogan gehört, wie er einfach gewußt hatte, daß Heck Drogen nahm... wie er anscheinend auch gewußt hatte, daß der Richter unterwegs war. Und bei diesen nächtlichen Gesprächen wurde er niemals Flagg genannt; es war, als glaubten sie, ihn beim Namen zu nennen, würde ihn herbeirufen wie den Geist aus der Flasche. Sie nannten ihn den dunklen Mann. Den Wandelnden Gecken. Den großen Mann. Und Rattie Erwins nannte ihn den alten kriechenden Judas. Wenn er alles über den Richter gewußt hatte, war es dann nicht logisch, daß er auch alles über sie wußte? Die Dusche wurde abgestellt. Ruhig bleiben, Liebling. Er unterstützt den Hokus-Pokus. Das läßt ihn größer erscheinen. Es könnte durchaus sein, daß er in der Freien Zone einen Spion hat - es muß nicht unbedingt ein Mitglied des Komitees sein, vielleicht nur jemand, der ihm erzählt hat, daß Richter Farris nicht der Typ eines Überläufers ist. »Puppe, du solltest nicht ohne Kleider herumlaufen. Sonst machst du mich sofort wieder geil.« Sie drehte sich mit strahlendem, einladendem Lächeln zu ihm um und dachte dabei, sie wäre am liebsten mit ihm nach unten in die Küche gegangen und hätte das Ding, auf das er so verdammt stolz war, in Whitney Horgans elektrischen Fleischwolf gesteckt. »Was meinst du denn, warum ich so herumlaufe?« Er sah auf die Uhr. »Wir haben vielleicht noch vierzig Minuten.« Sein Penis geriet schon in zuckende Bewegung... wie eine Wünschelrute, dachte Dayna gallig amüsiert. »Gut, dann komm.« Er trat auf sie zu, und sie deutete auf seine Brust. »Und nimm das Ding ab. Es macht mir Gänsehaut.« Lloyd Henreid betrachtete das Amulett, die dunkle Träne mit dem roten Fleck, zog es aus und legte es auf den Nachttisch. Die feingliedrige Kette machte ein zischendes Geräusch. »Besser?« »Viel besser.« Sie breitete die Arme aus. Einen Augenblick später lag er auf ihr. Einen Augenblick danach drang er stoßend in sie ein. »Magst du das?« keuchte er. »Magst du das Gefühl, Süße?« »O Gott, ich mag es«, stöhnte sie und dachte dabei an den Fleischwolf, Emaille und Edelstahl rostfrei. »Was?« »Ich habe gesagt, ich mag es!« schrie sie. Kurz danach täuschte sie einen Orgasmus vor, verzerrte die Lippen, schrie auf. Er kam Sekunden später (sie teilte jetzt seit vier Tagen das Bett mit Lloyd und kannte seinen Rhythmus schon nahezu perfekt), und während sie spürte, wie sein Samen an ihrem Schenkel hinabfloß, sah sie auf den Nachttisch. Schwarzer Stein. Roter Makel. Er schien sie anzustarren. Plötzlich hatte sie das schreckliche Gefühl, daß er sie tatsächlich anstarrte, daß der Stein sein Auge war, dem die Kontaktlinse der Menschlichkeit abgenommen worden war, das sie anstarrte wie das Auge Saurons Frodo im dunklen Barad-Dur angesehen hatte, im Lande Mordor, wo die Schatten dröhn. Es sieht mich, dachte sie voll hoffnungslosem Entsetzen in diesem schutzlosen Augenblick, bevor die Vernunft wieder die Oberhand gewinnen konnte. Schlimmer: Es DURCHSCHAUT mich. Anschließend redete Lloyd, wie sie gehofft hatte. Auch das gehörte zu seinem Rhythmus. Er legte einen Arm um ihre nackten Schultern, rauchte eine Zigarette, betrachtete ihre Spiegelbilder an der Decke und erzählte ihr, was sich hier abspielte. »Ich hätte nicht in Bobby Terrys Haut stecken mögen«, sagte er. »Nein, Sir, auf keinen Fall. Der Boß wollte den Kopf des alten Furzes völlig unbeschädigt und ohne eine einzige Schramme. Wollte ihn über die Rockies zurückschicken. Und was passiert? Der Dummsack schießt ihm zwei Fünfundvierzigerkugeln ins Gesicht. Auf kurze Entfernung. Ich schätze, er hat verdient, was er bekommen hat, aber ich bin froh, daß ich nicht dabei war.« »Was ist mit ihm passiert?« »Nicht fragen, Süße!« »Wie konnte er es wissen? Der Boß?« »Er war da.« Es überlief sie kalt. »Zufällig?« »Ja. Er ist immer zufällig da, wo es Ärger gibt. Mein Gott, wenn ich daran denke, was er mit Eric Strellerton, diesem neunmalklugen Anwalt gemacht hat, mit dem Mülli und ich nach Los Angeles gefahren waren...« »Was hat er denn mit ihm gemacht?« Lange glaubte sie, daß er nicht antworten würde. Gewöhnlich gelang es ihr, ihn ganz sanft dorthin zu bringen, wo sie ihn haben wollte, indem sie ihn ganz leise und höflich fragte, so daß er sich (wie es ihre kleine Schwester einmal so unvergeßlich formulierte) vorkam wie Graf Rotz. Aber heute hatte sie das Gefühl, daß sie zu weit gegangen war, bis Lloyd schließlich mit gepreßter Stimme sagte: »Er hat ihn nur angesehen. Eric trug seine ganze Scheiße vor, wie das seiner Meinung nach in Vegas laufen müßte... wir sollten dies und jenes tun. Der arme alte Mülli - er ist ja selbst nicht ganz dicht - hat ihn angestarrt wie einen Fernsehstar. Eric lief auf und ab, als würde er sich an Geschworene wenden und überzeugt sein, daß er sie in der Tasche hatte. Und er sagte - ganz leise - >Eric<. Genau so. Und Eric sah ihn an. Ich habe nichts weiter gesehen. Aber Eric hat ihn lange angesehen. Vielleicht fünf Minuten. Seine Augen wurden immer größer... dann fing er an zu sabbern... und dann fing er an zu kichern.,. und er kicherte mit Eric, und das machte mir Angst. Wenn Flagg lacht, hat man immer Angst. Aber Eric hörte nicht auf zu kichern, und dann sagte er: >Wenn ihr zurückfahrt, setzt ihn in der Mojave-Wüste aus.< Und das haben wir dann auch getan. Und vielleicht läuft Eric dort immer noch herum. Er sah Eric nur fünf Minuten an, und Eric verlor den Verstand.« Er zog kräftig an seiner Zigarette und drückte sie aus. Dann legte er einen Arm um sie. »Warum reden wir eigentlich über diese ganze Scheiße?« »Ich weiß es nicht... wie sieht es draußen in Indian Springs aus?« Lloyd strahlte. Das Projekt Indian Springs war sein Baby. »Gut. Echt gut. Bis zum ersten Oktober haben drei Jungs ihre Ausbildung an den Skyhawks, vielleicht sogar schon früher. Hank Rawson macht sich ganz hervorragend. Und dieser Mülleimermann ist ein wahres Genie. In mancher Hinsicht ist er nicht so helle, aber wenn es um Waffen geht, ist er unglaublich.« Sie hatte den Mülleimermann zweimal gesehen. Jedesmal war es ihr kalt über den Rücken gelaufen, als er sie mit seinen trüben Augen ansah, und sie hatte sichtliche Erleichterung empfunden, als er den Blick wieder abwandte. Ganz offensichtlich sahen viele andere - Lloyd, Hank Rawson, Ronnie Sykes, der Rattenmann - in ihm eine Art Maskottchen, einen Glücksbringer. Sein lädierter Arm war eine scheußliche Masse von frisch verheiltem verbrannten Gewebe, und vor zwei Tagen war ihr abends etwas Eigenartiges aufgefallen. Hank Rawson sprach. Er steckte eine Zigarette in den Mund, zündete ein Streichholz an und sprach zu Ende, bevor er sich die Zigarette ansteckte und das Streichholz löschte. Dayna sah, wie der Mülleimermann auf die Streichholzflamme starrte, wie er den Atem anzuhalten schien. Er schien sich mit seiner ganzen Existenz auf diese winzige Streichholzflamme zu konzentrieren. Es war, als würde ein Verhungernder eine Mahlzeit mit neun Gängen vor sich sehen. Dann hatte Hank das Streichholz ausgeschnippt und den schwarzen Stummel in den Aschenbecher geworfen. Der Augenblick war vorbei gewesen. »Er kann also gut mit Waffen umgehen?« fragte sie Lloyd. »Großartig. Die Skyhawks haben Luft-Boden-Raketen unter den Tragflächen. Shrike-Raketen. Ist es nicht komisch, wie sie den ganzen Mist nennen? Kein Mensch wußte, wie man die gottverdammten Dinger an den Flugzeugen anbringt. Kein Mensch wußte, wie man sie scharf macht und zündet. Wir haben schon einen ganzen Tag gebraucht, um uns zu überlegen, wie man sie aus den Halterungen im Arsenal herausbekommt. Und Hank sagte: >Wir sollten Mülli holen, wenn er wieder hier ist, vielleicht kommt er damit zurecht.<« »Wenn er wieder hier ist?« »Er ist ein komischer Kerl. Diesmal ist er schon fast eine Woche hier in Vegas, aber er wird bald wieder verschwinden.« »Wohin geht er denn?« »In die Wüste. Er nimmt einen Landrover und fährt einfach los. Er ist ein komischer Kauz, das kann ich dir sagen. Auf seine Art ist Müll genauso unheimlich wie der Boß. Westlich von hier liegt nur Wüste und gottverlassene Öde. Ich muß es wissen. Ich habe da in einem Höllenloch namens Brownsville Station im Knast gesessen. Ich weiss nicht, wovon er da draußen lebt, aber er schafft es. Er sucht neues Spielzeug und bringt immer etwas mit zurück. Ungefähr eine Woche nachdem ich mit ihm aus L.A. zurückgekommen war, schleppte er ein paar >Maschinengewehre, die immer treffen<. Das letzte Mal brachte er Tellerminen, Tretminen, Splitterminen und einen Kanister voll Parathion. Er sagte, er habe jede Menge Parathion gefunden. Außerdem genug Entlaubungsmittel, um den ganzen Staat Colorado so kahl wie ein Hühnerei zu machen.« »Wo findet er das?« »Überall«, sagte Lloyd schlicht. »Er riecht es, Süße. Das Ganze ist gar nicht so verwunderlich. Große Teile von West-Nevada und OstKalifornien haben den guten alten Vereinigten Staaten gehört. Dort haben sie ihre Spielsachen getestet, einschließlich Atombomben. Eines Tages wird er auch noch so eine anschleppen.« Er lachte. Dayna fühlte sich plötzlich kalt, schrecklich kalt. »Auch die Supergrippe hat irgendwo da draußen angefangen«, sagte Lloyd. »Darauf wette ich jeden Betrag. Vielleicht findet Mülli die Stelle. Ich sagte dir ja, er kann so was riechen. Der Boß sagt, man soll ihm seinen Willen lassen, und er soll fahren, wohin er will. Das macht er. Kennst du schon sein neuestes Lieblingsspielzeug?« »Nein«, sagte Dayna. Sie war nicht sicher, ob sie es wissen wollte, aber weshalb war sie denn hier? »Flammenwerfer.« »Was sind Flammenwärter?« »Nicht Wärter, Werfer. In Indian Springs hat er fünf Stück nebeneinander aufgestellt wie Formel-Eins-Rennwagen.« Lloyd lachte. »Die wurden in Vietnam eingesetzt. Die Jungs nannten sie Zippos. Sie sind mit Napalm gefüllt. Mülli liebt sie.« »Schön«, murmelte sie. »Als Müll diesmal zurückkam, haben wir ihn nach Springs gebracht. Er hat sich die Shrikes angesehen, gesummt und gemurmelt, und sie innerhalb von sechs Stunden montiert und scharf gemacht. Ist das zu glauben? Techniker der Air Force müssen sie schätzungsweise neunzig Jahre dafür ausbilden. Aber sie sind eben nicht Müll. Er ist ein Genie.« Du meinst, ein Fachidiot. Ich wette, ich weiß, woher seine Brandwunden stammen. Lloyd sah auf die Uhr und richtete sich auf. »Da wir gerade von Indian Springs reden, ich muß hinfahren. Die Zeit reicht nur noch zum Duschen. Kommst du mit?« »Diesmal nicht.« Als die Dusche wieder rauschte, zog sie sich an. Bisher war es ihr immer gelungen, sich an- oder auszuziehen, wenn er nicht im Zimmer war, und so sollte es auch bleiben. Sie schnallte sich das Messer um den Arm und schob es in die Klammer mit der Feder. Eine rasche Bewegung des Handgelenks, und sie hätte eine Zehnzollklinge in der Hand. Nun, dachte sie, als sie die Bluse anzog, ein paar Geheimnisse muss ein Mädchen schon haben. Am Nachmittag arbeitete sie in einem Trupp, der die Straßenlaternen wartete. Die Arbeit bestand darin, mit einem simplen Gerät zu prüfen, ob die Birnen noch intakt waren, und sie gegebenenfalls auszuwechseln, wenn sie ausgebrannt oder zur Zeit der Grippe in L. A. von Vandalen zertrümmert worden waren. Sie arbeiteten mit vier Leuten und benutzten einen Kirschenpflücker mit ausfahrbarer Plattform, mit dem sie von einer Laterne zur anderen und von Straße zu Straße rollten. Am späten Nachmittag stand Dayna auf der Plattform des Kirschenpflückers, löste die Plexiglaskugel von einer der Straßenlaternen und überlegte, wie sympathisch ihr die Leute eigentlich waren, mit denen sie zusammenarbeitete, besonders Jenny Engstrom, eine energische und hübsche ehemalige Nachtklubtänzerin, die jetzt den Kirschenpflücker fuhr. Als Mädchen war sie der Typ, den Dayna gern als beste Freundin gehabt hätte, und sie wunderte sich darüber, daß Jenny auf der Seite des dunklen Mannes stand. Sie wunderte sich so sehr, daß sie es nicht wagte, Jenny um eine Erklärung zu bitten. Die anderen waren auch in Ordnung. Sie fand, daß der Anteil der Dummen in Vegas größer war als in der Zone, aber keiner hatte Reißzähne, und sie verwandelten sich auch nicht in Fledermäuse, wenn der Mond aufging. Die Leute hier arbeiteten viel härter als die in der Zone. In der Freien Zone sah man die Leute zu jeder Tageszeit im Park Spazierengehen, und viele dehnten ihre Mittagspause auf zwei Stunden aus. So etwas passierte hier nicht. Von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags arbeitete hier jeder, entweder in Indian Springs oder bei den Wartungstrupps hier in der Stadt. Und auch die Schule hatte wieder angefangen. In Vegas waren ungefähr zwanzig Kinder im Alter von vier (das war Daniel McCarthy, der Liebling aller, den die meisten Dinny nannten) bis fünfzehn. Sie hatten zwei Leute mit Lehrbefähigung gefunden, und an fünf Tagen in der Woche fand der Unterricht statt. Lloyd, der die Schule schon verlassen hatte, nachdem er die vorletzte Klasse zweimal wiederholt hatte, betonte immer wieder seinen Stolz auf die Bildungsmöglichkeiten, die es hier gab. Die Apotheken waren geöffnet und wurden nicht bewacht. Die Leute gingen ständig ein und aus... aber sie nahmen nichts Schlimmeres mit als ein paar Aspirin oder eine Flasche Gelusil. Ein Drogenproblern gab es im Westen nicht. Wer gesehen hatte, was mit Hector Drogan passiert war, kannte die Strafe für Sucht. Es gab keine Rieh Moffats. Alle waren freundlich und ehrlich. Und es war vernünftig, nichts Stärkeres als Flaschenbier zu trinken. Deutschland im Jahre 1938, dachte sie. Die Nazis? Oh, das sind nette Leute. Sehr athletisch. Sie besuchen keine Nachtklubs, die Nachtklubs sind für die Touristen. Was machen sie? Sie machen Uhren. War das ein fairer Vergleich, fragte sich Dayna unbehaglich und dachte an Jenny Engstrom, die sie so gerne hatte. Sie wußte es nicht... aber wahrscheinlich schon. Sie prüfte die Birne in der Kuppel des Lichtmastes. Die war defekt. Sie schraubte sie aus, legte sie vorsichtig zwischen ihre Füße und schraubte ihre letzte neue ein. Gut, der Tag war ohnehin zu Ende. Es war... Sie schaute nach unten und erstarrte. Die Leute aus Indian Springs kamen von der Bushaltestelle. Alle sahen beiläufig nach oben, so wie Leute eben nach oben schauen, wenn sich oben etwas abspielt. Das Gratis-Zirkus -Syndrom. Dieses Gesicht, das zu ihr hochsah. Dieses breite, lächelnde, erstaunte Gesicht. Gott im Himmel, ist das Tom Cullen? Salziger Schweiß lief ihr in die Augen, so daß sie doppelt sah. Als sie sich die Augen ausgewischt hatte, war das Gesicht verschwunden. Die Leute von der Bushaltestelle waren schon ein ganzes Stück die Straße hinuntergegangen, ließen ihre Frühstücksbehälter baumeln, sprachen und scherzten miteinander. Dayna suchte den Mann, den sie für Tom gehalten hatte, aber von hinten war er schwer zu erkennen... Tom? Würden sie Tom schicken? Sicherlich nicht. Das war so verrückt, das war fast... Fast vernünftig. Aber sie konnte es einfach nicht glauben. »He, Jürgens!« schrie Jenny frech. »Bist du da oben eingeschlafen oder spielst du an dir rum?« Dayna beugte sich über das niedrige Geländer der Plattform und schaute in Jennys nach oben gewandtes Gesicht. Sie zeigte ihr den Finger. Jenny lachte. Dayna schraubte die letzte Birne ein, und als sie es geschafft hatte, war auch schon Feierabend. Auf der Rückfahrt in die Garage war sie schweigsam und in sich gekehrt... so schweigsam, daß Jenny eine Bemerkung machte. »Ich glaube, ich hab' einfach nichts zu sagen«, meinte Dayna halb lächelnd. Das konnte nicht Tom Cullen gewesen sein. Oder doch? »Wach auf! Wach auf! Verdammt, wach auf, du Miststück!« Sie erwachte aus einem trüben Schlaf, als sie einen Fußtritt in den Rücken bekam, der sie aus dem runden Bett auf den Fußboden schleuderte. Sie war sofort wach und blinzelte verwirrt. Lloyd stand vor ihr und sah sie mit kalter Wut an. Whitney Horgan. Ken DeMott. Ace High. Jenny. Aber auch Jennys gewöhnlich freundliches Gesicht war leer und kalt. »Jen...?« Keine Antwort. Dayna kam auf die Knie und war sich vage ihrer Nacktheit bewußt; die kalten Gesichter der Leute um sie herum nahm sie deutlicher wahr. Lloyds Gesichtsausdruck war der eines Mannes, der betrogen wurde und diesen Betrug entdeckt hatte. »Zieh dich an, verdammt, du verlogene Schnüfflerin!« Träume ich das? Okay, es war also kein Traum. Vor Entsetzen verkrampfte sich ihr der Magen, aber sie hatte es geahnt. Sie waren dem Richter auf die Spur gekommen und jetzt ihr. Er hatte es ihnen gesagt. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es war kurz nach vier Uhr morgens. Die Stunde der Gestapo, dachte sie. »Wo ist er?« fragte sie. »In der Nähe«, sagte Lloyd böse. Sein Gesicht war blaß und glänzend. Im offenen V seines Hemdkragens sah Dayna das Amulett. »Du wirst sehr bald wünschen, daß er weit weg wäre.« »Lloyd?« »Was ist?« »Ich habe dir eine Geschlechtskrankheit angehängt. Ich hoffe, er fault dir ab.« Er trat sie gegen das Brustbein; sie fiel auf den Rücken. »Ich hoffe, er fault dir ab, Lloyd.« »Halt's Maul und zieh dich an.« »Raus mit euch. Ich zieh' mich nicht vor Männern an.« Wieder trat Lloyd sie, diesmal an den Bizeps des rechten Oberarms. Die Schmerzen waren entsetzlich, ihr Mund verzog sich zu einem zitternden Bogen, aber sie schrie nicht. »Steckst in der Scheiße, Lloyd, was? Hast mit Mata Hari geschlafen?« Sie grinste ihn mit Tränen des Schmerzes in den Augen an. »Komm, Lloyd«, sagte Whitney Horgan. Er sah Mordlust in Lloyds Augen, trat rasch auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm. »Wir gehen ins Wohnzimmer. Jenny kann aufpassen, wenn sie sich anzieht.« »Und wenn sie nun aus dem Fenster springt?« »Die Gelegenheit wird sie nicht haben«, sagte Jenny. Ihr breites Gesicht war tot und leer, und jetzt merkte Dayna zum ersten Mal, daß sie eine Pistole an der Hüfte trug. »Sie könnte es ohnehin nicht«, sagte Ace High. »Die Fenster hier oben sehen nur so aus, wußtet ihr das nicht? Mancher, der an den Tischen viel verloren hat, möchte gern tief springen, und das wäre keine gute Reklame für das Hotel. Deshalb lassen sie sich nicht öffnen.« Sein Blick fiel auf Dayna, und in seinen Augen lag ein Anflug von Mitleid. »Und du, Baby, bist jetzt wirklich die große Verliererin.« »Komm, Lloyd«, wiederholte Whitney. »Wenn du jetzt nicht hier rauskommst, machst du vielleicht etwas, was du später bereuen wirst.« »Okay.« Sie gingen gemeinsam zur Tür, und Lloyd drehte sich noch einmal um. »Er wird dir ganz schön einheizen, Miststück.« »Du warst der beschissenste Liebhaber, den ich je hatte, Lloyd«, sagte sie freundlich. Er wollte sie anspringen, aber Whitney und Ken DeMott hielten ihn fest und schoben ihn durch die Tür. Die Doppeltüren schlössen sich mit einem leisen, klickenden Geräusch. »Zieh dich an, Dayna«, sagte Jenny. Dayna stand auf und rieb den purpurnen Bluterguß am Arm. »Gefallen dir solche Leute?« fragte sie. »Mit solchen Leuten steckst du unter einer Decke? Mit Leuten wie Lloyd Henreid?« »Du hast mit ihm geschlafen, nicht ich.« Zum erstenmal war ihr eine Gefühlsregung anzumerken. Wütende Mißbilligung. »Findest du es schön, hierherzukommen und die Leute auszuspionieren? Du verdienst alles, was dir bevorsteht. Und dir steht eine Menge bevor, Schwester.« »Ich hatte meine Gründe, mit ihm zu schlafen.« Sie zog ihren Slip an. » Und auch für das Spionieren.« »Warum hältst du nicht einfach den Mund?« Dayna drehte sich um und sah Jenny an. »Was glaubst du, geht hier vor, Mädchen? Warum bilden sie in Indian Springs Leute an Düsenmaschinen aus? Glaubst du, daß Flagg mit diesen ShrikeRaketen auf der nächsten Kirmes seinem Mädchen eine Puppe schießen will?« Jenny verkniff die Lippen. »Das geht mich nichts an.« »Geht es dich auch nichts an, wenn sie die Jets dazu verwenden, nächstes Frühjahr über die Rockies zu fliegen und alle umzubringen?« »Hoffentlich machen sie das. Ihr oder wir, das sagt er. Und ich glaube ihm.« »Hitler haben sie auch geglaubt. Aber du glaubst ihm nicht. Du hast nur Schiß vor ihm.« »Zieh dich an, Dayna.« Dayna zog ihre Hose an und machte Knöpfe und Reißverschluß zu. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Ich... ich glaube, ich muß mich übergeben ... oh, Gott...« Sie packte die Bluse mit den langen Ärmeln, drehte sich um und lief ins Badezimmer. Sie verriegelte die Tür und machte laute würgende Geräusche. »Mach die Tür auf, Dayna! Mach auf, oder ich schieße das Schloss raus!« »Schlecht...« sie würgte noch einmal laut. Auf Zehenspitzen tastete sie mit der Hand über den Medikamentenschrank, dankte Gott, dass sie das Messer hier oben liegengelassen hatte, betete um noch zwanzig Sekunden... Sie hatte das Messer. Sie schnallte es um. Jetzt hörte sie andere Stimmen im Schlafzimmer. Mit der linken Hand drehte sie den Wasserhahn über dem Waschbecken auf. »Moment, mir ist schlecht, verdammt noch mal!« Aber sie ließen ihr nicht einmal einen Moment. Jemand trat gegen die Badezimmertür, und sie bewegte sich in ihrem Rahmen. Dayna schob die Klinge zurück. Sie lag in ihrem Unterarm wie ein tödlicher Pfeil. In fliegender Hast streifte sie sich die Bluse über und knöpfte die Ärmel zu. Spritzte sich Wasser über den Mund. Zog die Wasserspülung. Wieder ein Tritt gegen die Tür. Dayna drehte am Knopf, und sie stürzten herein. Lloyd mit wildem Blick, Jenny stand mit gezückter Pistole hinter Ken DeMott und Ace High. »Ich hab' gekotzt«, sagte Dayna kalt. »Schade, daß du nicht zuschauen konntest, was?« Lloyd packte sie an den Schultern und stieß sie ins Schlafzimmer. »Ich sollte dir das Genick brechen, Fotze.« »Denkt an die Stimme eures Herrn.« Sie knöpfte ihre Bluse vorn zu und sah die Umstehenden mit blitzenden Augen an. »Er ist euer Hundegott, nicht wahr? Leckt ihm den Arsch, und ihr werdet ihm gehören.« »Du solltest lieber das Maul halten«, sagte Whitney grob. »Du machst alles nur noch schlimmer für dich.« Sie sah Jenny an und begriff nicht, wie sich dieses kecke Mädchen mit dem offenen Lächeln in ein Nachtwesen mit leerem Gesicht verwandeln konnte. »Seht ihr denn nicht, daß er mit allem wieder von vorn anfangen will?« fragte sie verzweifelt. »Dem Töten, dem Schießen... der Seuche?« »Er ist der Größte und der Stärkste«, sagte Whitney merkwürdig sanft. »Er wird eure Leute vom Antlitz der Erde tilgen.« »Schluß mit dem Gerede«, sagte Lloyd. »Gehen wir.« Sie wollten sie an den Armen packen, aber sie wich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Ich gehe«, sagte sie. Außer einigen Männern mit Gewehren, die an den Türen saßen oder standen, war das Kasino leer. Diese betrachteten interessiert die Wände, die Decke und die verlassenen Spieltische, als die Fahrstuhltür aufging und Lloyds Gruppe Dayna vorführte. Sie wurde an den Kassenschaltern vorbei zu einer Tür gebracht. Lloyd öffnete sie mit einem kleinen Schlüssel, und sie traten hindurch. Sie wurde rasch durc h einen Raum getrieben, der wie eine Bank aussah: Dort standen Rechenmaschinen, Papierkörbe voller Bänder und Schalen mit Gummiringen und Büroklammern. Computer-Bildschirme, die jetzt grau und leer waren. Aufgerissene Schubladen. Geld war aus einigen herausgefallen und lag auf dem Kachelboden. Hauptsächlich Fünfziger und Hunderter. Am Ende des Schalterraumes öffnete Whitney eine zweite Tür, und Dayna wurde durch einen mit Teppichen ausgelegten Flur in ein unbesetztes Empfangsbüro geführt. Geschmackvoll ausgestattet. Ein schön gestalteter weißer Schreibtisch für eine geschmackvolle Sekretärin, die vor einigen Monaten gestorben war und dabei große, grüne Brocken Schleim gehustet hatte. An der Wand ein Bild, das ein Druck von Paul Klee sein konnte. Ein hellbrauner Zottelteppich. Das Vorzimmer zur Macht. Angst tröpfelte in ihre Körperhöhlungen wie kaltes Wasser, und sie kam sich linkisch und unbeholfen vor. Lloyd lehnte sich über den Schreibtisch und drückte einen Kippschalter. Dayna sah, daß er leicht schwitzte. »Wir haben sie, R.F.« Sie spürte hysterisches Gelächter in sich hochblubbern und konnte es nicht zurückhalten - es war ihr auch gleichgültig. »R.F.! R.F.! Oh, das ist gut! Alles klar, J.R.!« Sie ließ eine Kichersalve los, bis Jenny ihr ins Gesicht schlug. »Sei still!« zischte sie. »Du weißt nicht, was dir bevorsteht.« »Ich weiß es«, sagte Dayna. »Aber du und der Rest, ihr wißt es nicht.« Aus der Gegensprechanlage erklang eine angenehme, fröhliche Stimme: »Sehr gut, Lloyd, danke. Schick sie bitte herein.« »Allein?« »Ja, durchaus.« Ein nachsichtiges Kichern war zu hören, als die Sprechanlage ausgeschaltet wurde. Als Dayna es hörte, wurde ihr Mund trocken. Lloyd drehte sich zu ihr um. Er schwitzte jetzt stärker, Schweißtropfen liefen ihm von der Stirn und wie Tränen über die Wangen. »Du hast ihn gehört. Los jetzt!« Sie verschränkte die Arme unter den Brüsten, so daß das Messer innen war. »Und wenn ich nicht will?« »Dann schleife ich dich rein.« »Sieh dich doch an, Lloyd. Du hast solche Angst, daß du nicht mal einen jungen Hund reinschleifen könntest.« Sie sah die anderen an. »Ihr habt alle Angst. Jenny, du machst dir schon fast in die Hose. Das ist nicht gut für deinen Teint, Beste. Schon gar nicht für die Hose.« »Hör auf, du widerliche Schlange«, flüsterte Jenny. »Solche Angst hatte ich in der Freien Zone nie«, sagte sie. »Dort habe ich mich wohl gefühlt. Ich bin gekommen, weil ich mich auch in Zukunft wohl fühlen will. Noch politischer war die Sache nicht. Ihr solltet darüber nachdenken; vielleicht verkauft er Angst, weil er sonst nichts zu verkaufen hat.« »Madame«, sagte Whitney höflich, »ich hätte mir noch gern den Rest Ihres Vortrags angehört, aber der Mann wartet. Es tut mir leid, aber Sie sagen entweder Amen und gehen freiwillig durch diese Tür, oder ich zerre Sie rein. Sie können ihm Ihre Geschichte erzählen, wenn Sie drinnen sind... das heißt, wenn Sie dann noch den Mumm aufbringen. Aber bis dahin unterstehen Sie unserer Verantwortung.« Und das Seltsame ist, dachte sie, er hört sich aufrichtig bedauernd an. Zu dumm, daß er sich auch aufrichtig ängstlich anhörte. »Das ist nicht nötig.« Sie zwang ihre Füße, sich in Bewegung zu setzen, dann ging es ein wenig leichter. Sie ging in den Tod; das war ihr völlig klar. Wenn es so war, sollte es eben so sein. Sie hatte das Messer. Zuerst für ihn, wenn sie konnte, und dann für sie selbst, wenn notwendig. Sie dachte: Mein Name ist Dayna Roberta Jürgens, ich habe Angst, aber ich habe schon öfter Angst gehabt. Er kann mir nur etwas nehmen, was ich eines Tages sowieso aufgeben muß - mein Leben. Ich werde mich nicht von ihm brechen lassen. Ich werde nicht zulassen, daß er mich zu weniger macht als ich bin, wenn ich es verhindern kann. Ich will mit Würde sterben... und ich werde meinen Willen bekommen. Sie drehte den Knauf herum und betrat das innere Büro und das Reich von Randall Flagg. Das Büro war groß und fast leer. Der Schreibtisch war ganz an die hintere Wand gerückt worden, der teure Drehstuhl dahinter eingeklemmt. Die Bilder an den Wänden waren mit Tüchern verhängt. Das Licht war ausgeschaltet. Am anderen Ende des Raumes gab der zurückgezogene Vorhang den Blick auf ein riesiges Panoramafenster frei, durch das man die Wüste sehen konnte. Dayna fand, daß sie noch nie im Leben ein so steriles und trostloses Bild gesehen hatte. Oben hing der fast runde Mond wie eine polierte Silbermünze. Er war beinahe voll. Am Fenster sah sie die Gestalt eines Mannes. Er sah immer noch nach draußen und wandte ihr gleichgültig den Rücken zu, als sie schon lange eingetreten war. Wie lange braucht ein Mann dazu, sich umzudrehen? Zwei, höchstens drei Sekunden. Aber Dayna kam es vor, als würde der dunkle Mann sich ewig umdrehen und dabei immer mehr von sich zeigen, wie der zunehmende Mond, zu dem er hinaufgesehen hatte. Sie wurde wieder ein Kind, das von der schrecklichen Neugier großer Angst gebannt wird. Er hatte sie einen Augenblick völlig im Netz seiner Anziehungskraft, seines Glamours, gefangen. Und sie war überzeugt, wenn er sich endlich ganz umgedreht hatte, unbekannte Äonen später, würde sie das Gesicht ihrer Träume sehen: einen grotesken Mönch in seiner Kutte, nur Dunkelheit unter der Kapuze. Das Negativ eines Mannes ohne Gesicht. Sie würde ihn sehen und wahnsinnig werden. Dann sah er sie an, lächelte freundlich, ging auf sie zu, und ihr entsetzter Gedanke war: Mein Gott, er ist in meinem Alter! Randy Flagg hatte dunkles, zerzaustes Haar. Sein Gesicht war hübsch und wettergegerbt, als würde er viel Zeit im Wüstenwind verbringen. Seine Gesichtszüge waren beweglich und sensibel, die Augen strahlten vor Freude wie die eines kleinen Kindes mit einem großen und wunderschönen Geheimnis. »Dayna!« sagte er. »Hallo.« »H-H-Hallo.« Mehr brachte sie nicht heraus. Sie hatte geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein, aber daraufwar sie nicht vorbereitet. Ihr Verstand ging k.o. auf die Matte. Flagg lächelte über ihre Verwirrung. Dann breitete er die Hände aus, aus wollte er sich entschuldigen. Er trug ein verblichenes Paisleyhemd mit abgewetztem Kragen, Nietenjeans und ein Paar sehr alte Cowboystiefel mit abgelaufenen Absätzen. »Was hast du erwartet? Einen Vampir?« Sein Lächeln wurde breiter und verlangte fast, daß sie zurücklächelte. »Einen Gestaltwandler? Was haben sie dir über mich erzählt?« »Sie haben Angst«, sagte sie. »Lloyd... hat geschwitzt wie ein Schwein.« Sein Lächeln verlangte immer noch ein Lächeln als Antwort; sie mußte ihre ganze Willenskraft aufbieten, es ihm zu verweigern. Sie war auf seinen Befehl mit Fußtritten aus dem Bett gejagt worden. Sie war zu ihm gebracht worden, um... was? Zu gestehen? Alles zu sagen, was sie über die Freie Zone wußte? Sie glaubte nicht, daß es viel gab, was er nicht schon wußte. »Lloyd«, sagte Flagg und lachte leutselig. »Lloyd hat in Phoenix Schlimmes erlebt, als die Grippe grassierte. Er spricht nicht gern darüber. Ich habe ihn vor dem sicheren Tod gerettet und...« Sein Lächeln wurde noch entwaffnender, wenn das überhaupt möglich war, »und vor einem schlimmeren Schicksal als dem Tod. Er assoziiert dieses Erlebnis in hohem Maße mit mir, obwohl seine Situation nicht mein Tun war. Glaubst du mir?« Sie nickte langsam. Sie glaubte ihm und fragte sich, ob Lloyds ständiges Duschen etwas mit seinem schlimmen Erlebnis in Phoenix zu tun hatte. Darüber hinaus empfand sie etwas für ihn, das sie im Zusammenhang mit Lloyd Henreid nie für möglich gehalten hätte: Mitleid. »Gut, setz dich, meine Liebe.« Sie sah sich fragend um. »Auf den Fußboden. Der Fußboden ist gut. Wir müssen miteinander reden und die Wahrheit sagen. Lügner sitzen auf Stühlen, darum verzichten wir darauf. Wir sitzen einander gegenüber wie Freunde auf zwei Seiten eines Lagerfeuers. Setz dich, Mädchen.« Seine Augen sprühten förmlich vor unterdrückter Heiterkeit, und es sah aus, als wollte er bersten vor mühsam zurückgehaltenem Lachen. Er setzte sich, kreuzte die Beine, sah zu ihr hoch, und sein Ausdruck schien zu sagen: Du wirst mich doch nicht allein auf dem Fußboden dieses lächerlichen Büros sitzen lassen, oder? Nach kurzer Überlegung setzte sie sich. Sie kreuzte die Beine und legte die Hände locker auf die Knie. Sie spürte das beruhigende Gewicht des Messers. »Du bist hergeschickt worden, um zu spionieren, meine Liebe«, sagte er. »Ist das eine zutreffende Beschreibung der Situation?« »Ja.« Es hatte keinen Zweck zu leugnen. »Und du weißt, was in Kriegszeiten gewöhnlich mit Spionen geschieht?« »Ja.« Sein Lächeln wurde strahlend wie ein Sonnenaufgang. »Ist es dann nicht ein Glück, daß zwischen deinen und meinen Leuten kein Krieg ist?« Sie sah ihn völlig überrascht an. »Du weißt doch, daß keiner ist«, sagte er freundlich. »Aber... Sie...« Tausend wirre Gedanken schössen ihr durch den Kopf. Indian Springs. Die Shrikes. Der Mülleimermann mit seinem Entlaubungsmittel und den Zippos. Wie die Unterhaltungen immer verstummten, wenn der Name des Mannes genannt wurde oder er selbst auftauchte. Und dieser Anwalt Eric Strellerton, der mit ausgebranntem Gesicht durch die MojaveWüste wanderte. Er hat ihn nur angesehen. »Haben wir eure sogenannte Freie Zone angegriffen? In irgendeiner Weise feindselig gehandelt?« »Nein... aber...« »Und habt ihr uns angegriffen?« »Natürlich nicht.« »Nein. Und wir haben auch keine diesbezüglichen Pläne. Sieh her!« Er hob plötzlich die Hand und formte sie zu einem Kreis. Als sie hindurchsah, konnte sie die Wüste jenseits des Panoramafensters sehen. »Die große westliche Wüste!« rief er. »Das große Scheiß-Drauf! Nevada! Arizona! New Mexico! Kalifornien! Gruppen meiner Leute sind in Washington, in der Gegend von Seattle, und in Portland, Oregon. Je eine Handvoll in Idaho und New Mexico. Wir sind so weit verstreut, daß wir dieses Jahr nicht einmal mehr an eine Volkszählung denken können! Wir sind viel verwundbarer als eure Freie Zone. Die Freie Zone ist wie ein gut organisierter Bienenstaat, eine Gemeinschaft. Wir hier sind bestenfalls ein lockerer Bund mit mir als nominellem Oberhaupt. Es ist Platz für uns beide. Und auch im Jahr 2190 wird noch Platz für uns beide sein. Das heißt, wenn die Babys überleben, was wir hier frühestens in fünf Monaten wissen. Wenn das der Fall ist und die Menschheit weiterexistiert, sollen unsere Großväter es austragen, wenn sie Groll hegen. Oder deren Großväter. Aber was, in Gottes Namen, haben wir für einen Grund zu kämpfen?« »Keinen«, murmelte sie. Sie war wie betäubt. Und empfand noch etwas anderes... war es Hoffnung! Sie sah ihm in die Augen. Sie schien den Blick nicht abwenden zu können. Sie würde nicht verrückt werden. Er würde sie nicht in den Wahnsinn treiben. Er war... ein sehr vernünftiger Mann. »Wir haben weder wirtschaftliche Gründe zu kämpfen noch technologische. Unsere politischen Ansichten sind anders, aber das ist nebensächlich, zumal die Rockies zwischen uns liegen...« Er hypnotisiert mich! Mit einer gewaltigen Anstrengung wandte sie die Augen von seinen ab und betrachtete über seine Schulter den Mond. Flaggs Lächeln wurde dünner; ein Schatten der Veränderung schien über sein Gesicht zu huschen. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Als sie ihn wieder ansah (diesmal wachsamer), lächelte er wieder freundlich. »Sie haben den Richter töten lassen«, sagte sie schroff. »Sie wollen etwas von mir, und wenn Sie es haben, werden Sie auch mich töten lassen.« Er sah sie geduldig an. »Entlang der ganzen Grenze zwischen Idaho und Oregon waren Wachen aufgestellt, die den Auftrag hatten, nach Richter Farns Ausschau zu halten, das stimmt. Aber nicht, ihn zu töten. Ihr Befehl lautete, ihn zu mir zu bringen. Ich war bis gestern in Portland. Ich wollte mit ihm reden, wie ich jetzt mit dir rede: ruhig, gelassen und vernünftig. Zwei meiner Posten haben ihn in Copperfield, Oregon, gestellt. Er stieg aus und schoß, verwundete einen meiner Männer tödlich und erschoß den anderen auf der Stelle. Der Verwundete tötete den Richter, bevor er selbst starb. Es tut mir leid, daß es so geschehen ist, mehr als du wissen oder begreifen kannst.« Seine Augen wurden dunkler, und das glaubte sie ihm sogar... aber wahrscheinlich nicht so, wie er sie glauben machen wollte. Und dann spürte sie wieder diese Kälte. »Die Leute haben es mir anders erzählt.« »Du kannst ihnen glauben oder mir, Liebe. Aber vergiß nicht, ich gebe ihnen die Befehle.« Er war so überzeugend... so verdammt überzeugend. Er schien fast harmlos zu sein - aber das stimmte nicht, oder? Der Eindruck rührte nur daher, daß er ein Mensch war... oder etwas, das wie ein Mensch aussah. Das brachte so viel Erleichterung mit sich, daß sie sich zu einer dummen Pute machen ließ. Er besaß eine Präsenz und die Gabe eines Politikers, einem sämtliche Befürchtungen zu zerstreuen... aber das machte er alles auf eine Weise, die sie äußerst beunruhigend fand. »Wenn Sie keinen Krieg führen wollen, warum dann die Düsenflugzeuge und alles andere in Indian Springs?« »Verteidigungsmaßnahmen«, sagte er prompt. »Wir machen Ähnliches in Searles Lake in Kalifornien und in der Edwards Air Force Base. Eine Gruppe arbeitet im Atomreaktor am Yakima Ridge in Washington. Deine Leute werden dasselbe tun... wenn sie nicht schon dabei sind.« Dayna schüttelte ganz langsam den Kopf. »Als ich die Zone verließ, versuchten sie immer noch, den Strom wieder einzuschalten.« »Und ich hätte ihnen gern zwei oder drei Techniker geschickt, wenn ich nicht wüßte, daß es Brad Kitchner schon gelungen ist. Gestern hatten sie noch einen kurzen Stromausfall, aber er hat das Problem sehr schnell gelöst. Es war eine Überlastung in der Arapahoe.« »Woher wissen Sie das alles?« »Ich habe so meine Methoden«, sagte Flagg freundlich. »Übrigens ist die alte Frau zurückgekommen. Die nette alte Frau.« »Mutter Abagail?« »Ja.« Seine Augen waren distanziert und verhangen; möglicherweise traurig. »Sie ist tot. Schade. Ich hatte wirklich gehofft, sie persönlich kennenzulernen. « »Tot? Mutter Abagail ist tot?« Der verhangene Blick wurde klar, und er lächelte sie an. »Überrascht dich das so sehr?« »Nein. Aber es überrascht mich, daß sie zurückgekommen ist. Und es überrascht mich noch mehr, daß Sie es wissen.« »Sie ist zurückgekommen, um zu sterben.« »Hat sie noch etwas gesagt?« Einen Augenblick verrutschte die Maske freundlicher Gelassenheit und zeigte schwarze und wütende Fassungslosigkeit. »Nein«, sagte er. »Ich dachte, sie würde... würde sprechen. Aber sie starb im Koma.« »Sind Sie sicher?« Er lächelte wieder so strahlend wie die Sommersonne, die Bodennebel vertreibt. »Vergiß es, Dayna. Laß uns über angenehmere Dinge reden, zum Beispiel deine Rückkehr in eure Zone. Ich bin sicher, daß du lieber dort sein möchtest als hier. Ich habe etwas, das du mitnehmen sollst.« Er griff in sein Hemd, zog einen Lederbeutel heraus und entnahm ihm drei Straßenkarten. Er reichte sie Dayna, die sie mit wachsender Verblüffung betrachtete. Die Karten zeigten die sieben westlichen Staaten. Bestimmte Regionen waren rot gekennzeichnet. Die handgeschriebene Legende unten auf jeder Karte wies sie als Gebiete aus, die wieder bevölkert waren. »Sie möchten, daß ich die mitnehme?« »Ja. Ich weiß, wo eure Leute sind, ihr sollt wissen, wo meine sind. Als Geste guten Willens und der Freundschaft. Und wenn du zurückgehst, sollst du ihnen folgendes sagen: Flagg will ihnen nichts Böses, und seine Leute wollen ihnen auch nichts Böses. Sag ihnen, sie sollen keine Spione mehr schicken. Wenn sie Leute zu uns schicken wollen, sollten sie es eine diplomatische Mission nennen... oder Studentenaustausch... oder was sie wollen. Aber sie sollen nicht heimlich kommen. Wirst du ihnen das sagen?« Sie fühlte sich überrumpelt und durcheinander. »Natürlich. Ich werde es ihnen sagen, aber...« »Das ist alles.« Er breitete wieder die leeren, offenen Handflächen aus. Sie sah etwas und beugte sich beunruhigt vor. »Was siehst du?« Seine Stimme klang nervös. »Nichts.« Aber sie hatte etwas gesehen, und sie sah an seinem verkniffenen Gesichtsausdruck, daß er es gemerkt hatte. Flaggs Handflächen hatten keine Linien. Sie waren so glatt und leer wie die Haut am Bauch eines Kindes. Keine Lebenslinie, keine Liebeslinie, keine Ringe oder Schnörkel oder Schlingen. Nur... leer. Sie sahen einander lange an. Dann sprang Flagg auf die Füße und ging zum Schreibtisch. Auch Dayna stand auf. Sie glaubte inzwischen tatsächlich, daß er sie vielleicht gehen lassen würde. Er setzte sich auf die Schreibtischkante und zog das Sprechgerät zu sich. »Ich werde Lloyd sagen, daß er bei deinem Motorrad das Öl wechseln und neue Zündkerzen einsetzen soll«, sagte er und drückte auf den Knopf. »Ich sage ihm auch, er soll es volltanken lassen. Heute gibt es keine Sorgen wegen Ölknappheit mehr, hm? Es gibt alles im Überfluß. Aber es gab Zeiten - ich erinnere mich noch daran, und du wahrscheinlich auch, Dayna, als es ausgesehen hat, als würde die ganze Welt wegen einer Knappheit an bleifrei Super in einem Feuerball aufgehen.« Er schüttelte den Kopf. »Die Menschen sind sehr, sehr dumm.« Er drückte den Daumen auf die Sprechanlage. »Lloyd?« »Ja, zur Stelle.« »Sorg bitte dafür, daß Daynas Motorrad gewartet und aufgetankt und vor das Hotel gebracht wird. Sie wird uns verlassen.« »Ja.« Flagg schaltete aus. »Das war's, meine Liebe.« »Ich kann... einfach gehen?« »Ja, Ma'am. Es war mir ein Vergnügen.« Er hob die Hand und deutete auf die Tür... Handfläche nach unten. Sie ging zur Tür. Sie hatte kaum den Knauf berührt, als er sagte: »Da wäre noch etwas. Nur... eine Kleinigkeit.« Dayna drehte sich zu ihm um. Er grinste sie an, und es war ein freundliches Grinsen, aber einen Sekundenbruchteil erinnerte er sie an eine riesige schwarze Bulldogge, deren Zunge zwischen spitzen weißen Zähnen hervorhängt, mit denen sie einen Arm abreißen könnte, als sei er ein Wischlappen. »Das wäre?« »Noch einer von euren Leuten ist hier«, sagte Flagg. Sein Lächeln wurde breiter. »Wer könnte das sein?« »Wie in aller Welt soll ich das wissen?« fragte Dayna, und ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf: Tom Cullen!... Kann er es wirklich gewesen sein? »Komm schon, Mädchen. Ich dachte, wir hätten alles geregelt.« »Wirklich«, sagte sie. »Betrachten Sie es einmal unvoreingenommen, dann werden Sie sehen, daß ich absolut ehrlich bin. Das Komitee hat mich geschickt... und den Richter... und wer weiß wie viele andere... und sie waren sehr vorsichtig. Damit wir einander nicht verpetzen können, falls etwas... Sie wissen schon, passiert.« »Falls wir beschließen, ein paar Fingernägel auszureißen?« »Okay, ja. Susan Stern hat sich an mich gewandt. Wahrscheinlich hat Larry Underwood... er ist ja auch im Komitee...« »Ich weiß, wer Mr. Underwood ist.« »Ja. Nun, ich denke, daß er mit dem Richter gesprochen hat. Aber was die anderen betrifft...« Sie schüttelte den Kopf. »Es könnte jeder sein. Möglicherweise hat jedes der sieben Mitglieder des Komitees einen Spion rekrutiert. « »Ja, das könnte sein, ist es aber nicht. Es ist nur noch einer, und du weißt, wer es ist.« Er grinste noch breiter, und jetzt bekam sie Angst. Es war ein unnatürliches Grinsen. Es erinnerte sie an toten Fisch, verunreinigtes Wasser, die Oberfläche des Mondes, durch ein Teleskop gesehen. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihre Blase schlaff und voll heißer Flüssigkeit. »Du weißt es«, wiederholte Flagg. »Nein, ich...« Flagg beugte sich wieder über das Sprechgerät. »Ist Lloyd schon weg?« »Nein, ich bin noch da.« Eine teure Gegensprechanlage, ausgezeichnete Verständigung. »Warte noch mit Daynas Motorrad«, sagte er. »Wir müssen noch etwas ...« Er sah sie mit nachdenklich leuchtenden Augen an, »... miteinander klären.« »Okay.« Mit einem Klick schaltete sich die Sprechanlage aus. Flagg lächelte und sah sie mit gefalteten Händen an. Er sah sie sehr lange an. Dayna fing an zu schwitzen. Seine Augen schienen größer und dunkler zu werden. Als würde man in sehr tiefe, sehr alte Brunnen sehen. Sie versuchte wegzuschauen, aber diesmal konnte sie es nicht. »Sag es mir«, sagte er. »Wir wollen nichts, meine Liebe.« Von weit weg hörte sie ihre eigene Stimme sagen: »Das Ganze war inszeniert, richtig? Ein kleiner Einakter.« »Meine Liebe, ich weiß nicht, was du meinst.« »Das wissen Sie ganz genau. Der Fehler war, daß sich Lloyd so schnell gemeldet hat. Wenn Sie hier Frosch sagen, dann springen alle. Er hätte mit meinem Motorrad schon halb den Strip runter sein müssen. Es sei denn, Sie hätten ihm gesagt, daß er bleiben soll, weil Sie gar nicht die Absicht haben, mich gehen zu lassen.« »Meine Liebe, du leidest an schwerer Paranoia. Ich vermute, das liegt an deinem Erlebnis mit diesen Männern. Denen mit dem fahrenden Zoo. Muß schrecklich für dich gewesen sein. Dies könnte auch schrecklich werden, aber das wollen wir doch nicht, oder?« Alle Kraft verließ sie; sie spürte sie als Energiestrom aus den Beinen fließen. Mit letzter Kraft ballte sie die gefühllose rechte Hand zur Faust und versetzte sich selbst einen Schlag über dem rechten Auge. Schmerz explodierte in ihrem Schädel; ihre Sicht verschwamm. Mit einem dumpfen Knall schlug ihr Kopf gegen die Tür. Aber sie hatte den Blick von ihm abgewendet und spürte, dass ihre Willenskraft zurückkehrte. Und die Kraft zum Widerstand. »Oh, Sie sind gut«, sagte sie abgehackt. »Du weißt, wer er ist«, sagte er. Er stand vom Schreibtisch auf und kam auf sie zu. »Du weißt es, und du wirst es mir sagen. Dich selbst an den Kopf zu schlagen, wird dir nichts nützen, meine Liebe.« »Wie kommt es, daß Sie es nicht wissen?« schrie sie ihn an. »Sie wußten vom Richter und von mir. Wie kommt es, daß Sie nichts über...« Seine Hände legten sich mit schrecklicher Macht auf ihre Schultern, sie waren kalt, kalt wie Marmor. »Wer?« »Ich weiß nicht.« Er schüttelte sie wie eine Puppe; sein Gesicht war grinsend und verzerrt und schrecklich. Seine Hände waren kalt, aber sein Gesicht strahlte die Backofenhitze der Wüste aus. »Du weißt es. Sag es mir. Wer?« »Warum wissen Sie es nicht?« »Weil ich es nicht sehen kann!« brüllte er und schleuderte sie durch den Raum. Sie wurde zu einem schlaffen Bündel ohne Skelett, und als sie den Suchscheinwerfer seines Gesichts in der Düsternis über sich sah, konnte sie ihre Blase nicht mehr kontrollieren, und Wärme breitete sich an ihren Beinen entlang aus. Das sanfte und hilfsbereite Gesicht der Vernunft war nicht mehr da. Randy Flagg war nicht mehr da. Vor ihr stand der Wandelnde Geck, der große Mann, der Boss, und Gott mochte ihr gnädig sein. »Du wirst es sagen«, erklärte er. »Du wirst mir sagen, was ich wissen will.« Sie sah ihn an und stand langsam auf. Sie spürte das Gewicht des Messers an ihrem Unterarm. »Ja, ich werde es Ihnen erzählen«, sagte sie. »Kommen Sie näher heran.« Er trat einen Schritt auf sie zu und grinste. »Nein. Noch näher. Ich will es Ihnen ins Ohr flüstern.« Er kam noch näher. Sie spürte glühende Hitze, eisige Kälte. Sie hatte ein hohes, atonales Singen in den Ohren. Sie roch nasse Fäulnis, intensiv, süßlich und erstickend. Sie roch Wahnsinn, wie verrottetes Gemüse in einem dunklen Keller. »Näher«, flüsterte sie heiser. Er kam noch einen Schritt näher, und sie machte eine wütende Bewegung mit dem rechten Handgelenk. Sie hörte die Feder klicken. Das Gewicht des Messers glitt in ihre Hand. »Hier!« schrie sie hysterisch und riß den Arm mit einer heftigen, ausholenden Geste hoch, um ihm den Leib aufzuschlitzen, damit er blind im Raum umhertorkelte und seine Eingeweide als dampfende Wülste heraushängen sollten. Statt dessen brüllte er vor Lachen, stemmte die Hände in die Hüften und warf das gerötete, vor Heiterkeit verzerrte Gesicht zurück. »Aber meine Liebe!« rief er und konnte sich kaum halten vor Lachen. Sie betrachtete verblüfft ihre Hand. Statt des Messers hielt sie eine feste gelbe Banane mit einem blau-weißen Chiquita-Aufkleber. Entsetzt ließ sie sie auf den Teppich fallen, wo sie wie ein gelbes, häßliches Grinsen aussah, das Flaggs eigenes Grinsen nachahmte. »Du wirst es mir sagen«, flüsterte er. »O ja, das wirst du.« Und Dayna wußte, daß er recht hatte. Sie wirbelte so schnell herum, daß selbst der dunkle Mann überrascht war. Mit einer der schwarzen Hände versuchte er, sie festzuhalten, bekam aber nur ihre Bluse zu fassen, aus der er einen Fetzen Seide herausriß. Dayna lief zum Panoramafenster. »Nein!« kreischte er, und sie spürte ihn hinter sich wie einen schwarzen Wind. Sie stieß sich auf den Beinen ab, benützte sie wie Sprungfedern und prallte mit dem Kopf gegen die Scheibe. Ein dumpfes, klirrendes Geräusch war zu hören, und sie sah erstaunlich dicke Glasscherben nach unten auf den Angestelltenparkplatz fallen. Von der Stelle, wo das Fenster zersplittert war, sprangen Risse wie Quecksilberspritzer nach allen Seiten. Die Wucht des Aufpralls hatte sie halb durch die Scheibe getragen; dort hing sie nun, blutend. Sie fühlte seine Hände auf den Schultern und fragte sich, wie lange er brauchen würde, bis er sie zum Reden brachte. Eine Stunde? Zwei? Sie lag im Sterben, das wußte sie, aber es ging nicht schnell genug. Es war Tom, und du kannst ihn nicht fühlen oder wie immer du deine Informationen bekommst, weil er anders ist, er ist... Er riß sie zurück. Sie tötete sich durch eine heftige Kopfbewegung nach rechts. Eine rasiermesserscharfe Glasscheibe bohrte sich tief in ihren Hals. Eine andere ins rechte Auge. Ihr Körper wurde einen Moment steif, und sie schlug mit den Händen gegen das Glas. Dann erschlaffte sie. Als der dunkle Mann sie hereinzog, war sie nur noch ein blutendes Bündel. Sie war tot, und vielleicht hatte sie noch im Tod triumphiert. Flagg schrie seine Wut hinaus und trat nach ihr. Die schlaffen, nachgebenden Bewegungen ihres Körpers machten ihn noch wütender. Brüllend und knurrend kickte er sie durch den Raum. Aus seinen Haaren sprangen Funken, als wäre ein Zyklotron in ihm angesprungen und hätte ein elektrisches Feld aufgebaut und ihn in eine Batterie verwandelt. Seine Augen sprühten dunkles Feuer. Er brüllte und trat, trat und brüllte. Draußen wurden Lloyd und die anderen blaß. Sie sahen einander an. Schließlich konnten sie es nicht mehr ertragen. Jenny, Ken und Whitney gingen weg - ihre kalkweißen Gesichter waren verschlossen, die Gesichter von Leuten, die nichts hören und auch weiterhin nichts sehen wollen. Nur Lloyd blieb - nicht weil er wollte, sondern weil er wußte, daß es von ihm erwartet wurde. Schließlich rief Flagg ihn hinein. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem großen Schreibtisch und hatte die Hände auf die Knie der Jeans gelegt. Er sah über Lloyds Kopf hinweg in die Ferne. Es zog, und Lloyd sah, daß das Panoramafenster in der Mitte eingeschlagen war. Die gezackten Ränder des Lochs waren blutig. Am Boden lag zusammengekrümmt eine vage menschliche Gestalt, die in einen Vorhang gehüllt war. »Schaff das weg«, sagte Flagg. »Okay.« Lloyds Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Soll ich den Kopf nehmen?« »Schaff das Ding in den Osten der Stadt, gieß Benzin darüber und verbrenne es. Hast du verstanden? Verbrenn es! Verbrenn das ganze verdammte Ding!« »Gut.« »Ja.« Flagg lächelte gütig. Zitternd, mit trockenem Mund und vor Angst fast stöhnend, versuchte Lloyd das unförmige Bündel anzuheben. Die Unterseite war klebrig. In seinen Armen knickte es zu einem U zusammen, entglitt ihm und fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den Teppichboden zurück. Er warf Flagg einen entsetzten Blick zu, aber der saß immer noch halb erschlafft da und sah nach draußen. Lloyd packte noch einmal zu und schleifte das Bündel zur Tür. »Lloyd?« Er blieb stehen und drehte sich um. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm. Flagg war immer noch halb im Lotussitz, aber jetzt schwebte er etwa zwanzig Zentimeter über dem Schreibtisch, den Blick immer noch heiter durchs Zimmer gerichtet. »W-W-W-as?« »Hast du noch den Schlüssel, den ich dir in Phoenix gegeben habe?« »Ja.« »Halte ihn bereit. Die Zeit rückt heran.« »G-G-Gut.« Er wartete, aber Flagg sagte nichts mehr. Er schwebte in der Dunkelheit wie ein Hindu-Fakir, der einen verwirrenden Trick vorführt, sah hinaus, lächelte gelöst. Lloyd verschwand, so schnell er konnte, wie immer froh, daß er Leben und Verstand noch hatte. Der Tag war ruhig in Vegas. Als Lloyd gegen zwei Uhr nachmittags zurückkam, roch er nach Benzin. Der Wind war stärker geworden, und um fünf fegte er über den Strip und erzeugte heulende, wehklagende Laute zwischen den Hotels. Die Palmen, die abstarben, weil sie im Juli und August nicht von der Stadt bewässert worden waren, bogen sich im Wind; ihre Wedel flatterten wie zerfetzte Kriegsfahnen. Seltsam geformte Wolken zogen am Himmel auf. In der Cub Bar saßen Whitney Horgan und Ken DeMott, tranken Flaschenbier und aßen Sandwiches mit Eiersalat. Drei alte Damen - alle nannten sie die Unheimlichen Schwestern - hielten am Stadtrand Hühner, und niemand schien von den Eiern genug zu bekommen. Unter Whitney und Ken im Kasino kroch der kleine Dinny McCarthy fröhlich auf einem der Spieltische herum und spielte mit einer Armee Plastiksoldaten. »Schau dir den kleinen Knirps an«, sagte Ken zärtlich. »Man hat mich gebeten, eine Stunde auf ihn aufzupassen. Ich würde eine ganze Woche auf ihn aufpassen. Bei Gott, ich wünschte, er wäre meiner. Meine Frau hatte nur einen, und der kam zwei Monate zu früh. Nach drei Tagen starb er im Brutkasten.« Er sah auf, als Lloyd hereinkam. »He, Dinny!« rief Lloyd. »Yoyd! Yoyd!« schrie Dinny. Er krabbelte zum Rand des Tischs, sprang herunter und lief ihm entgegen. Lloyd hob ihn hoch, schwenkte ihn herum und drückte ihn fest. »Einen Kuß für Lloyd?« fragte er. Dinny gab ihm einen schmatzenden Kuß. »Ich hab' was für dich«, sagte Lloyd und nahm eine Handvoll eingewickelte Hershey's Kisses aus der Brusttasche. Dinny krähte vor Vergnügen und packte sie. »Lloyd?« »Was, Dinny?« »Warum riechst du wie ein Benzinfaß?« Lloyd lächelte. »Ich habe Abfälle verbrannt, Kleiner. Nun geh wieder spielen. Wer ist denn jetzt deine Mom?« »Angelina.« Er sprach es Antschejiinah aus. »Dann wieder Bonnie. Ich mag Bonnie. Aber ich mag auch Angelina.« »Sag ihr nicht, daß Lloyd dir Süßigkeiten gegeben hat. Angelina würde Lloyd hauen.« Dinny versprach, es ihr nicht zu erzählen, und kicherte bei dem Gedanken, daß Angelina Lloyd hauen könnte. Gleich darauf saß er wieder auf dem Spieltisch und dirigierte, den Mund voll Schokolade, seine Armee. Whitney kam in seiner weißen Schürze herbei und reichte Lloyd zwei Sandwiches und eine kalte Flasche Hamm's. »Danke«, sagte Lloyd. »Sieht gut aus.« »Das ist selbstgebackenes syrisches Brot«, sagte Whitney stolz. Lloyd kaute eine Weile. »Hat jemand ihn gesehen?« fragte er schließlich. Ken schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist wieder weg.« Lloyd dachte darüber nach. Draußen heulte eine ungewöhnlich starke Bö, die sich in der Wüste einsam und verloren anhörte. Dinny hob einen Moment unruhig den Kopf und spielte dann weiter. »Ich glaube, er ist noch irgendwo in der Nähe«, sagte Lloyd schließlich. »Ich weiß nicht, warum, aber ich bin ganz sicher... Ich glaube, er ist in der Nähe und wartet auf etwas. Ich weiß nur nicht, auf was.« Whitney sagte mit leiser Stimme: »Glaubst du, daß er es aus ihr herausgekriegt hat?« »Nein«, sagte Lloyd und beobachtete Dinny. »Das glaube ich nicht. Irgendwie ist die Sache für ihn schiefgelaufen. Sie... sie hat Glück gehabt oder schneller gedacht als er. Und das kommt nicht oft vor.« »Auf lange Sicht spielt es keine Rolle«, sagte Ken, aber er sah dennoch besorgt aus. »Nein, sicher nicht.« Lloyd lauschte eine Weile dem Wind. »Vielleicht ist er wieder nach L.A.« Aber das glaubte er nicht, und man sah es seinem Gesicht an. Whitney ging in die Küche zurück und holte noch eine Runde Bier. Sie tranken schweigend, erfüllt von beunruhigenden Gedanken. Zuerst der Richter und nun die Frau. Beide tot. Und keiner hatte geredet. Keiner war unversehrt geblieben, wie er es befohlen hatte. Es war, als hätten die alten Yankees mit Mantle und Marris und Ford die beiden Eröffnungsspiele der FootballMeisterschaft verloren; es war kaum zu glauben - und beängstigend. Der Wind wehte die ganze Nacht hindurch. 63 Am späten Nachmittag des 10. September spielte Dinny in dem kleinen Park nördlich des Hotel- und Kasinobezirks der Stadt. Angelina Hirschfield, seine »Mutter« für diese Woche, saß auf einer Parkbank und unterhielt sich mit einem jungen Mädchen, das vor etwa fünf Wochen nach Las Vegas gekommen war, ungefähr zehn Tage später als Angie selbst. Angie Hirschfield war siebenundzwanzig. Das Mädchen war zehn Jahre jünger und trug heute Jeans und eine kurze Matrosenbluse, die nichts der Phantasie überließ. Der Reiz ihres straffen jungen Körpers stand in einem fast obszönen Kontrast zu ihrem kindlichen Schmollmund und dem leeren Gesichtsausdruck. Ihre Konversation war monoton und scheinbar endlos: Rock-Stars, Sex, ihr lausiger Waffenreinigungsjob in Indian Springs, Sex, ihr Diamantring, Sex, Fernsehsendungen, die sie so sehr vermißte, und Sex. Angie wünschte sich, sie würde mit jemand gehen und Sex machen, damit sie selbst ihre Ruhe hatte. Und sie hoffte, daß Dinny mindestens dreißig war, bevor dieses Mädchen seine »Mutter« wurde. In diesem Augenblick schaute Dinny auf, lächelte und rief: »Tom! He, Tom!« Auf der anderen Seite des Parks schlurfte ein großer, kräftiger Mann mit strohblondem Haar vorbei, dessen Frühstücksdose ihm beim Gehen gegen das Knie schlug. »Sieht aus, als war' der Kerl besoffen«, sagte das Mädchen zu Angie. Angie lächelte. »Nein, das ist Tom. Er ist nur...« Aber Dinny war schon losgerannt und rief: »Tom! Warte! Tom!« Tom drehte sich grinsend um. »Dinny! He-he!« Dinny sprang an Tom hoch. Tom ließ den Vesperkoffer fallen und nahm Dinny hoch. Wirbelte ihn herum. »Flugzeug machen, Tom! Flugzeug machen!« Tom packte Dinny an den Handgelenken und wirbelte ihn herum, schneller und schneller. Die Fliehkraft hob den Körper des Jungen, bis seine Beine parallel zum Boden waren. Er jauchzte vor Vergnügen. Nach zwei oder drei weiteren Umdrehungen setzte Tom ihn vorsichtig ab. Dinny lachte, wankte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. »Noch mal, Tom! Bitte, noch mal!« »Nein, dann mußt du brechen. Und Tom muß jetzt nach Hause. Meine Fresse, ja.« »Okay, Tom. Tschüs.« Angie sagte: »Ich glaube, von allen Leuten in der Stadt mag Dinny am liebsten Lloyd Henreid und Tom Cullen. Tom Cullen ist einfältig, aber...« Sie sah das Mädchen an und verstummte. Das Mädchen betrachtete Tom mit schmalen, nachdenklichen Augen. »Ist er mit einem anderen Mann gekommen?« fragte sie. »Wer? Tom? Nein, soweit ich weiß, ist er ganz allein gekommen. Vor anderthalb Wochen. Er war bei den anderen Leuten in der Zone, aber sie haben ihn weggejagt. Ihr Verlust ist unser Gewinn, möchte ich sagen.« »Und ist er wirklich nicht mit einem Tauben gekommen? Einem Taubstummen?« »Einem Taubstummen? Nein. Er ist allein gekommen. Dinny liebt ihn über alles.« Das Mädchen sah Tom nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Sie dachte an Pepto-Bismol in der Flasche. Sie dachte an eine gekritzelte Notiz: Wir brauchten dich nicht. Das war damals in Kansas gewesen, vor tausend Jahren. Sie hatte auf die beiden geschossen. Wenn sie sie doch nur getötet hätte, besonders den Taubstummen. »Julie? Alles in Ordnung?« Julie Lawry antwortete nicht. Sie sah Tom Cullen nach. Nach einer Weile fing sie an zu lächeln. 64 Der Sterbende öffnete sein Permacover-Notizbuch, entfernte die Kappe von seinem Füller, überlegte eine Weile und fing dann an zu schreiben. Es war seltsam; wo früher die Feder über das Papier geglitten war und wie in einem magischen Prozeß das Blatt mit Zeilen gefüllt hatte, kamen die Worte jetzt nur schleppend und ungelenk, die Buchstaben groß und unregelmäßig, als würde eine private Zeitmaschine ihn in seine ersten Schultage zurückversetzen. Damals hatten seine Eltern noch ein wenig Liebe für ihn übrig gehabt. Amy war noch nicht erblüht, und seine Zukunft als der erstaunliche fette und-möglicherweise-homosexuelle Junge aus Ogunquit war noch nicht beschlossen. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er damals mit einem Glas Cola neben sich am sonnigen Eßtisch gesessen und Wort für Wort ein Tom-Swift-Buch in ein Schreibheft Marke Blue Horse - billiges Papier, blaue Linien - abgeschrieben hatte. Er konnte die Worte seiner Mutter aus dem Wohnzimmer hören. Manchmal sprach sie ins Telefon, manchmal mit einer Nachbarin. Es ist nur Babyspeck, sagt der Arzt. Gott sei Dank hat er nichts mit den Drüsen. Und er ist so klug! Buchstabe für Buchstabe sah er die Worte entstehen. Wort für Wort die Sätze. Absätze, jeder ein Stein in dem großen gemauerten Bollwerk, das man Sprache nennt. »Dies ist meine größte Erfindung«, sagte Tom energisch. »Gebt acht, was passiert, wenn ich die Platte herausziehe, aber um Gottes willen, schützt eure Augen!« Die Mauersteine der Sprache. Ein Stein, ein Blatt, eine Tür, die man nicht findet. Worte. Worte. Magie. Leben und Unsterblichkeit. Macht. Ich weiß nicht, woher er es hat, Rita. Vielleicht von seinem Großvater. Der war Priester, und es heißt, daß er die wunderbarsten Predigten gehalten hat... Er beobachtete, wie die Buchstaben mit der Zeit besser wurden. Beobachtete, wie sie sich zusammenfügten, keine Druckschrift mehr, sondern Schreibschrift. Er trug Gedanken und Handlungen zusammen. Schließlich war die Welt nichts anderes als Gedanken und Handlungen. Er hatte schließlich eine Schreibmaschine bekommen (und mittlerweile war nicht mehr viel anderes für ihn übrig; Amy war an der High School, National Honor Society, Cheerleader, Laienschauspielgruppe, Diskussionsrunde, lauter Einsen, die Zahnspangen waren abgenommen worden, und ihre allerbeste Freundin auf der Welt war Frannie Goldsmith... und der Babyspeck ihres Bruders war noch nicht weg, obwohl dieser Bruder schon dreizehn Jahre alt war; und er fing an, große Worte zur Verteidigung zu gebrauchen, und ihm war mit allmählich aufkeimendem Entsetzen klargeworden, was das Leben wirklich war: ein einziger großer Kochtopf von Heiden', in dem er als einziger Missionar steckte und langsam gesotten wurde). Die Schreibmaschine setzte das übrige, das not tat, für ihn frei. Zuerst langsam, so langsam, und die ständigen Tippfehler waren unglaublich frustrierend. Es war, als würde sich die Maschine bewußt - und heimtückisch - seinem Willen widersetzen. Aber als er besser damit umgehen konnte, begriff er allmählich, was die Maschine wirklich war - eine Art magisches Stromkabel zwischen seinem Gehirn und der leeren Seite, die er zu erobern trachtete. Zur Zeit der Supergrippe konnte er mehr als hundert Worte pro Minute tippen, und damit konnte er endlich mit seinen rasenden Gedanken Schritt halten und alle einfangen. Aber er hatte nie völlig aufgegeben, mit der Hand zu schreiben, weil er wußte, daß Moby Dick mit der Hand geschrieben worden war, und Der scharlachrote Buchstabe und Das verlorene Paradies. Die Art zu schreiben, die Frannie in seinem Hauptbuch gesehen hatte, hatte er in jahrelanger Übung entwickelt - keine Abschnitte, keine Absätze, keine Pause für das Auge. Es war Arbeit - gräßliche Arbeit, die die Hände verkrampfte -, aber es war eine heißgeliebte Arbeit. Er benützte die Schreibmaschine gern und bereitwillig, aber für seine Sternstunden behielt er sich stets die Handschrift vor. Und jetzt würde er den letzten Rest von sich selbst auf eben diese Weise zu Papier bringen. Er sah auf und erblickte Bussarde, die am Himmel kreisten, wie in einer Samstagsmatinee in einem Film mit Randolph Scott oder einem Roman von Max Brand. Er stellte sich vor, wie es in einem Roman beschrieben sein würde: Harold sah die Bussarde wartend am Himmel kreisen. Er betrachtete sie einen Augenblick gelassen, dann beugte er sich wieder über sein Tagebuch. Er beugte sich wieder über sein Tagebuch. Am Ende mußte er wieder zu den krakeligen Buchstaben zurückkehren, dem Besten, was seine zitternde Motorik am Anfang zustande gebracht hatte. Er mußte schmerzlich an die sonnige Küche denken, das kalte Glas Cola, das alte und stockfleckige TomSwift-Buch. Und jetzt endlich, dachte er (und schrieb er), würde er seinen Vater und seine Mutter glücklich machen. Er hatte den Babyspeck verloren. Und obwohl er rein technisch gesehen immer noch Jungfrau war, war er todsicher, daß er kein Homosexueller war. Er machte den Mund auf und krächzte: »Der totale Gipfel, Ma.« Er hatte die Seite halb vollgeschrieben. Er betrachtete zuerst das Geschriebene, dann sein Bein, das verbogen und gebrochen war. Gebrochen? Ein zu mildes Wort. Es war zerschmettert. Er saß jetzt schon fünf Tage lang im Schatten dieses Felsens. Er hatte nichts mehr zu essen. Er wäre schon gestern oder vorgestern verdurstet, wenn es nicht zweimal stark geregnet hätte. Sein Bein eiterte. Es hatte einen grünen, gasigen Geruch, und das Fleisch war so geschwollen, daß der Khakistoff seiner Hose sich straffte, und das Hosenbein wie eine Wursthülle aussah. Nadine war lange fort. Harold nahm die Pistole, die neben ihm lag, und überprüfte die Ladung. Heute hatte er sie hundertmal überprüft. Während der Regenschauer hatte er sorgfältig darauf geachtet, daß die Waffe nicht naß wurde. Er hatte noch drei Kugeln. Die ersten beiden hatte er auf Nadine abgefeuert, als sie zu ihm hinuntergeschaut und ihm gesagt hatte, daß sie ihn hier zurücklassen würde. Sie waren um eine Haarnadelkurve gefahren, Nadine auf der Innen- und er mit seiner Triumph auf der Außenseite. Sie waren auf dem Colorado West Slope, etwa siebzig Meilen von der Grenze nach Utah entfernt. Am äußersten Rand der Kurve war eine Ölspur gewesen, und in den Tagen danach hatte Harold oft über diese Ölspur nachgedacht. Es kam ihm zu perfekt vor. Eine Ölspur wovon? Gewiß war seit mindestens zwei Monaten hier oben niemand mehr vorbeigekommen. Genügend Zeit für eine Ölspur zu trocknen. Es war, als hätte sein rotes Auge sie beobachtet und den richtigen Moment abgepaßt, um Harold mit Hilfe einer Ölspur aus dem Verkehr zu ziehen. Ihn mit Nadine bis in die Berge zu lassen, falls es Ärger gab, und dann auszuschalten. Harold hatte, wie man so schön sagt, seine Schuldigkeit getan. Die Triumph war gegen die Leitplanke geschlittert, Harold in hohem Bogen den Abhang hinuntergeschleudert worden. Er hatte einen grauenhaften Schmerz im rechten Bein gespürt. Er hatte das nasse Knacken gehört, als es brach. Er schrie. Der steinige Hang kam auf ihn zu, der Hang, der ekelhaft steil abfiel und in einer Schlucht endete. Er schlug auf den Boden auf, wurde in die Luft geschleudert und landete wieder auf dem rechten Bein, schrie wieder und hörte es wieder brechen, diesmal an einer anderen Stelle, flog noch einmal in die Luft und rollte gegen einen vielleicht vor Jahren bei einem Gewitter umgestürzten Baum. Wenn dieser nicht dort gelegen hätte, wäre er ganz in die Schlucht gestürzt, und statt der Bussarde hätten die Bergforellen sich an ihm gütlich tun können. Er wunderte sich immer noch über seine ungelenke Kinderschrift, als er in sein Notizbuch schrieb: lch mache Nadine keine Vorwürfe. Das stimmte. Aber damals hatte er ihr Vorwürfe gemacht. Erschrocken und mit rasend schmerzendem rechten Bein war er ein Stück den Hang hinaufgekrochen. Hoch oben sah er Nadine, die über die Leitplanke blickte. Ihr Gesicht war weiß und winzig, das Gesicht einer Puppe. »Nadine!« rief er. Seine Stimme war ein hartes Krächzen. »Das Seil! Es ist in der linken Satteltasche!« Sie sah nur zu ihm hinunter. Er glaubte schon, daß sie ihn nicht gehört hatte, und wollte seine Worte gerade wiederholen, als er sah, wie sie den Kopf nach links, nach rechts und wieder nach links bewegte. Ganz langsam. Sie schüttelte den Kopf. »Nadine! Ich komme ohne Seil nicht wieder nach oben! Mein Bein ist gebrochen!« Sie antwortete nicht. Sie schaute nur zu ihm hinunter. Sie schüttelte nicht einmal mehr den Kopf. Er hatte das Gefühl, in einer tiefen Grube zu sitzen, in die sie vom Rand aus hinuntersah. »Nadine, wirf mir das Seil runter!« Wieder das langsame Kopfschütteln, wie die Tür einer Gruft, die vor einem Mann zufiel, welcher nicht tot war, sondern nur im Griff einer schrecklichen Katalepsie. »NADINE! UM GOTTES WILLEN! NADINE!« Endlich drang ihre Stimme zu ihm herunter, leise, aber in der Stille der Berge deutlich zu verstehen. »Es war alles so geplant, Harold. Ich muß weiter. Es tut mir sehr leid.« Aber sie ging noch nicht; sie blieb an der Leitplanke stehen und beobachtete ihn, wo er lag, ungefähr sechzig Meter tiefer. Schon waren die Fliegen da, die emsig sein Blut auf den zahlreichen Steinen kosteten, wo er aufgeschlagen war und Teile seiner selbst abgeschürft hatte. Harold versuchte, den Hang hinaufzukriechen, wobei er sein zertrümmertes Bein hinter sich herschleifte. Zuerst empfand er keinen Haß und kein Bedürfnis, ihr eine Kugel zu verpassen. Aber es schien ihm wichtig, ihren Gesichtsausdruck zu sehen. Es war kurz nach Mittag. Es war heiß. Schweiß lief ihm über das Gesicht und tropfte auf die scharfen Steine und Felsbrocken, über die er kletterte. Er bewegte sich mit Hilfe der Ellenbogen und stiess sich mit dem linken Fuß ab, wie ein verkrüppeltes Insekt. Sein Atem feilte im Hals wie eine heiße Raspel. Er wußte nicht, wie lange es dauerte, aber ein- oder zweimal stieß er mit dem verletzten Bein gegen einen Stein, und die unerträglichen Schmerzen machten ihn fast bewußtlos. Mehrere Male war er zurückgerutscht und hatte hilflos gestöhnt. Zuletzt wurde ihm dumpf bewußt, daß er nicht mehr weiter konnte. Die Schatten hatten sich verändert. Drei Stunden waren vergangen. Er wußte nicht mehr, wann er zuletzt zur Leitplanke und zur Straße hinaufgeschaut hatte, aber eine Stunde war es bestimmt her. In seiner Qual hatte er sich ganz auf den Aufstieg konzentriert. Nadine war wahrscheinlich schon längst gegangen. Aber sie war immer noch da, und obwohl er nur sieben oder acht Meter geschafft hatte, konnte er ihre Miene grausam deutlich erkennen. In ihrem Blick lag ein Ausdruck von Trauer, aber ihr leerer Blick war in die Ferne gerichtet. Ihr Blick galt ihm. Da fing er an, sie zu hassen und griff nach seinem Schulterhalfter. Der Colt war noch da; er war während des Sturzes von dem über den Griff geknöpften Riemen festgehalten worden. Er knöpfte den Riemen ab, wobei er den Oberkörper beugte, damit sie es nicht sah. »Nadine...« »Es ist besser so, Harold. Besser für dich, denn seine Methode wäre viel schlimmer. Das siehst du doch ein, nicht wahr? Du willst ihm bestimmt nicht Auge in Auge gegenüberstehen, Harold? Er meint, daß jemand, der eine Seite verrät, wahrscheinlich auch die andere verraten wird. Er würde dich töten, aber vorher würde er dich in den Wahnsinn treiben. Er hat diese Fähigkeit. Er hat mich vor die Wahl gestellt. So - oder auf seine Weise. Ich habe mich hierfür entschieden. Du kannst schnell ein Ende machen, wenn du den Mut hast. Du weißt, was ich meine.« Er prüfte die Pistole zum ersten von hundert (möglicherweise tausend) Malen, wobei er sie im Schatten seines verrenkten Ellbogens hielt. »Was ist mit dir?« rief er hinauf. »Bist du nicht auch eine Verräterin?« Ihre Stimme klang traurig. »Im Herzen habe ich ihn nie verraten.« »Ich glaube, genau da hast du ihn verraten«, rief Harold zu ihr hinauf. Er versuchte, eine ehrliche Miene aufzusetzen, aber in Wirklichkeit schätzte er nur die Entfernung. Er würde höchstens zwei Schüsse abgeben können. Und eine Pistole war eine notorisch unzuverlässige Waffe. »Und ich glaube, er weiß es auch.« »Er braucht mich«, sagte sie, »und ich brauche ihn. Du hattest damit nie etwas zu tun, Harold. Und wenn wir zusammen weitergefahren wären, hätte ich dich vielleicht... vielleicht etwas machen lassen. Diese bewußte Kleinigkeit. Und das hätte alles zerstört. Das konnte ich nach all den Opfern, dem Blut und den Scheußlichkeiten einfach nicht riskieren. Wir haben gemeinsam unsere Seelen verkauft, Harold, aber von mir ist noch genug übrig, daß ich für meine den vollen Preis will.« »Ich gebe dir den vollen Preis«, sagte Harold und schaffte es, auf die Knie zu kommen. Die Sonne blendete. Schwindel packte ihn mit grober Faust und brachte seinen Gleichgewichtssinn durcheinander. Ihm war, als hörte er Stimmen - eine Stimme - überrascht und brüllend protestieren. Er drückte ab. Der Schuß hallte krachend und donnernd von Felsen zu Felsen wider, bis er verstummte. Nadines überraschter Gesichtsausdruck war fast komisch. In einer Art trunkenem Triumph dachte Harold: Sie hat nicht gedacht, daß ich es fertigbringe! Ihr Mund war ein erschrockenes, überraschtes O. Ihre Augen waren aufgerissen. Die Finger ihrer Hand verkrampften sich und flogen hoch, als ob sie im Begriff wäre, eine abnormale Melodie auf dem Klavier zu spielen. Der Augenblick war so köstlich, daß er ihn eine oder zwei Sekunden zu lange genoss und nicht merkte, daß er sie verfehlt hatte. Als es ihm klar wurde, legte er wieder an, versuchte zu zielen und umklammerte das rechte Handgelenk mit der linken Hand. »Harold! Nein! Das kannst du nicht tun!« Nicht? Es ist eine Kleinigkeit, eine Pistole abzudrücken. Klar kann ich es. Sie schien sich vor Entsetzen nicht bewegen zu können, und als er ihren Hals genau vor der Kimme der Pistole hatte, verspürte er die plötzliche kalte Gewißheit, daß es so vorbestimmt war - das Ende als kurzer, sinnloser Ausbruch von Gewalt. Jetzt hatte er sie genau im Visier. Aber als er abdrücken wollte, passierte zweierlei. Schweiß lief ihm in die Augen und nahm ihm die Sicht. Und er rutschte ab. Später sagte er sich, daß das Geröll nachgegeben haben oder sein verletztes Bein eingeknickt sein mußte oder beides. Vielleicht stimmte das sogar. Aber es fühlte sich an... es fühlte sich an wie ein Stoß, und in den langen Nächten zwischen damals und jetzt war es ihm nicht gelungen, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Tagsüber dachte Harold streng rational, aber in den Nächten erfüllte ihn die grauenhafte Überzeugung, daß der dunkle Mann selbst eingegriffen und ihn behindert hatte. Der Schuß, den er ihr genau in den Hals verpassen wollte, ging fehl; hoch, daneben, ab in den blauen Himmel. Harold rollte kopfüber bis zu dem toten Baum; sein rechtes Bein wurde verdreht und gestoßen und bildete eine einzige Schmerzquelle vom Knöchel bis zu den Hüften. Er prallte gegen den Baum und verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, war es Nacht, und der Mond, drei Viertel voll, stand schweigend über der Schlucht. Nadine war fort. Die erste Nacht verbrachte er in einem Delirium des Entsetzens und der Überzeugung, daß er nicht zur Straße kriechen konnte und hier in der Kluft sterben mußte. Als der Morgen graute, kroch er trotzdem nach oben, schwitzend und von Schmerzen gequält. Er begann den Aufstieg gegen sieben Uhr, etwa um die Zeit, als in Boulder die Beerdigungstrupps in ihren orangefarbenen Lastwagen vom Busbahnhof abfuhren. Um fünf Uhr an diesem Nachmittag berührten seine zerschundenen und mit Blasen bedeckten Hände die Leitplanke. Sein Motorrad war noch da, und er weinte fast vor Erleichterung. In fliegender Hast riß er ein paar Dosen und einen Öffner aus der Satteltasche und stopfte sich Corned Beef aus vollen Händen in den Mund. Aber es schmeckte schlecht, und nach einem langen Kampf erbrach er es. Da begann er die unwiderlegbare Tatsache seines bevorstehenden Todes zu begreifen, legte sich neben die Triumph und weinte, sein verletztes Bein unter sich. Danach gelang es ihm, ein wenig zu schlafen. Am nächsten Tag überraschte ihn ein heftiger Regenschauer, nach dem er bis auf die Haut durchnäßt war und vor Kälte zitterte. Sein Bein roch nach Wundbrand, und er war ängstlich darauf bedacht, das Schießeisen mit dem Körper vor Nässe zu schützen. An jenem Abend hatte er begonnen, in sein Notizbuch zu schreiben, und zum ersten Mal entdeckt, wie seine Handschrift sich allmählich zurückzuentwickeln begann. Er mußte an eine Geschichte von Daniel Keyes denken - sie trug den Titel »Blumen für Algernon«. Darin hatten eine Gruppe Wissenschaftler ein geistig zurückgebliebenes Faktotum irgendwie in ein Genie verwandelt... eine Zeitlang. Dann verlor der arme Kerl die Gabe wieder. Wie hiess er doch gleich? Charly irgendwas, richtig? Klar, denn das war der Titel der Verfilmung. Charly. Ziemlich guter Film. Nicht so gut wie die Geschichte, voll psychedelischer Scheiße aus den sechziger Jahren, soweit er sich erinnern konnte, aber trotzdem ziemlich gut. Früher war Harold oft ins Kino gegangen und hatte sich noch mehr Filme zu Hause auf Video angesehen. In den Tagen, als die Welt noch etwas war, das das Pentagon Zitat lebensfähige Alternative Zitat Ende genannt haben würde. Er hatte die meisten alleine gesehen. Er schrieb in sein Notizbuch, die Worte entstanden langsam aus krakeligen Buchstaben: Ich frage mich, ob sie alle tot sind. Das Komitee. Wenn ja, tut es mir leid. Ich war irregeleitet. Das ist eine schwache Entschuldigung für mein Tun, aber ich schwöre bei allem, was ich weiß, es ist die einzige Entschuldigung, die zählt. Der dunkle Mann ist so real wie die Supergrippe selbst, so real wie die Atombomben, die immer noch irgendwo in ihren Betonschächten stehen. Und wenn das Ende kommt, und wenn es so schrecklich ist, wie die guten Menschen es immer gewußt haben, bleibt nur eines zu sagen, wenn sich diese guten Menschen dem Thron des Richters nähern: Ich war irregeleitet. Harold las, was er geschrieben hatte, und strich sich mit einer dünnen, zitternden Hand über die Stirn. Es war keine gute Entschuldigung, es war eine schlechte. Man konnte beschönigen, soviel man wollte, es stank zum Himmel. Jemand, der diesen Absatz las, nachdem er sein Hauptbuch gelesen hatte, mußte ihn für einen völligen Heuchler halten. Er hatte sich als König der Anarchie gesehen, aber der dunkle Mann hatte ihn durchschaut und mühelos in ein zitterndes Knochenbündel verwandelt, das jetzt elend am Straßenrand sterben würde. Sein Bein war angeschwollen wie ein Abwasserrohr und roch wie faulende, überreife Bananen, und er sass da, während Bussarde über ihm mit den Aufwinden kreisten, und versuchte, das Unfaßbare vernunftmäßig zu begründen. Er war das Opfer der Tatsache geworden, daß er nicht erwachsen geworden war, so einfach war das. Seine eigenen tödlichen Visionen hatten ihn vergiftet. Sterbend empfand er, daß er ein wenig Vernunft zurückgewonnen hatte, vielleicht ein wenig Würde. Und das wollte er nicht durch billige Entschuldigungen beflecken, die auf Krücken vom Blatt gehinkt kamen. »Ich hätte in Boulder etwas werden können«, sagte er leise, und diese einfache, schreckliche Wahrheit hätte ihm Tränen in die Augen getrieben, wenn er nicht so müde und ausgetrocknet gewesen wäre. Er sah von den ungelenken Buchstaben zum Colt. Plötzlich wollte er Schluß machen und versuchte, darüber nachzudenken, wie er sein Leben auf die ehrlichste und einfachste Weise beenden konnte. Es erschien ihm notwendiger denn je, seine Gedanken aufzuschreiben und sie dem zurückzulassen, der ihn finden mochte, sei es in einem oder in zehn Jahren. Er nahm den Stift. Überlegte. Schrieb: Ich bitte um Vergebung für die Zerstörung, die ich angerichtet habe, leugne aber nicht, daß ich aus freien Stücken gehandelt habe. Meine Schularbeiten habe ich immer mit Harold Emery Lauder unterschrieben. Auch meine Manuskripte - so armselig sie waren - habe ich so unterschrieben. Gott helfe mir, ich habe den Namen einmal in einen Meter großen Buchstaben auf ein Scheunendach geschrieben. Jetzt will ich mit dem Namen unterschreiben, den man mir in Boulder gegeben hat. Damals konnte ich ihn nicht akzeptieren, aber heute ist er mir lieb. Ich werde bei gesundem Verstand sterben. Unten an den Rand setzte er säuberlich seine Unterschrift: Hawk. Er klappte das Permacover-Notizbuch langsam zu. Er schob die Kappe auf den Stift und steckte ihn in die Tasche. Er nahm den Lauf der Pistole in den Mund und sah zum blauen Himmel hinauf. Er dachte an ein Spiel, das sie als Kinder gespielt hatten, ein Spiel, bei dem die anderen ihn gehänselt hatten, weil er sich nicht traute, es mitzumachen. Außerhalb der Stadt lag an einer der Nebenstraßen eine Kiesgrube, von deren Rand man in die Tiefe springen und einen Augenblick, bei dem einem das Herz stillstand, fallen mußte, bis man im Sand landete, sich ein paarmal überschlug und nach oben kletterte, um wieder von vorne anzufangen. Alle außer Harold. Harold stand oben auf der Kante und rief Eins... Zwei... Drei! wie die anderen, aber bei ihm funktionierte der Zauber nicht. Seine Füße wollten sich nicht bewegen. Er konnte nicht hinunterspringen. Und die anderen jagten ihn manchmal bis nach Hause, beschimpften ihn und nannten ihn Harold, den Angsthasen. Er dachte: Wenn ich nur einmal gesprungen wäre... nur ein einziges Mal... wäre ich vielleicht nicht hier. Aber das letzte Mal zählt. Er dachte: Eins... Zwei... DREI! Er drückte ab. Der Schuß ging los. Harold sprang. Nördlich von Las Vegas liegt Emigrant Valley, und in dieser Nacht brannte ein kleines Feuer in dieser mit Felsbrocken übersäten Wildnis. Randall Flagg saß davor und grillte mißmutig ein kleines Kaninchen. Er drehte es an dem primitiven Bratspieß, den er sich gebaut hatte, und sah zu, wie es brutzelte und Fett zischend in die Flammen tropfte. Ein leichter Wind wehte den Bratenduft in die Wüste hinaus, und die Wölfe waren gekommen. Sie saßen zwei Bodenerhebungen von seinem Feuer entfernt und heulten den fast vollen Mond an, und weil sie das Fleisch rochen. Hin und wieder sah er zu ihnen hinüber, und zwei oder drei Tiere fingen an, sich zu beißen, nach einander zu schnappen und mit den kräftigen Hinterbeinen zu treten, bis der Schwächste vertrieben war. Dann fingen die anderen wieder an zu heulen, die Schnauzen zum rötlichen, geschwollenen Mond emporgereckt. Aber inzwischen langweilten ihn die Wölfe. Er trug seine Jeans und seine abgenutzten Stiefel und seine Schaf fell Jacke mit den zwei Buttons auf den Brusttaschen: Smiley und HEUTE SCHWEIN - MORGEN SCHINKEN. Der Nachtwind spielte mit seinem Kragen. Es gefiel ihm nicht, wie die Dinge sich entwickelten. Der Wind trug ihm böse Omen zu, schlimme Vorzeichen wie Fledermäuse, die im Dachboden einer verlassenen Scheune flatterten. Die alte Frau war gestorben, und anfangs hatte er gedacht, das wäre gut. Trotz allem hatte er vor der alten Frau Angst gehabt. Sie war gestorben, und er hatte Dayna Jürgens erzählt, sie sei im Koma gestorben. Aber stimmte das? Er war nicht mehr ganz so sicher. Hatte sie zuletzt noch geredet? Und wenn, was hatte sie gesagt? Hatten sie etwas vor? Er hatte eine Art drittes Auge entwickelt. Es war wie seine Fähigkeit zu levitieren; etwas, das er akzeptiert hatte, aber nicht recht begriff. Er konnte es ausschicken, um zu sehen... fast immer. Aber manchmal wurde das Auge auf geheimnisvolle Weise blind. Es war ihm gelungen, in das Sterbezimmer der alten Frau zu schauen, er hatte sie alle um ihr Bett herumstehen sehen, die Schwanzfedern noch von Harolds und Nadines kleiner Überraschung versengt ... aber dann war ihm plötzlich die Sicht getrübt worden, und er war wieder in der Wüste gewesen, im Schlafsack zusammengerollt, und hatte nur Cassiopeia in ihrem Schaukelstuhl aus Sternen gesehen. Und seine innere Stimme hatte ihm gesagt: Sie ist gestorben. Sie haben darauf gewartet, daß sie redet, aber sie hat es nicht.  Aber er traute dieser Stimme nicht mehr. Da war diese beunruhigende Sache mit den Spionen. Der Richter, der fast keinen Kopf mehr hatte. Das Mädchen, das ihm in letzter Sekunde entwischt war. Und sie hatte es gewußt, gottverdammt! Sie hatte es gewußt.  Er warf einen wütenden Blick zu den Wölfen hinüber, und fünf oder sechs Tiere fingen wieder an, sich zu beißen. In der Stille klangen ihre kehligen Laute wie zerreißendes Tuch. Er kannte alle ihre Geheimnisse, außer... dem dritten. Wer war der dritte? Er hatte das Auge immer wieder ausgesandt, aber es sah immer nur das rätselhafte, idiotische Gesicht des Mondes. M-O-N-D, das buchstabiert man Mond. Wer war der dritte? Wie war es dem Mädchen gelungen, ihm zu entkommen? Er war völlig überrascht gewesen und hatte nur ein Stück von ihrer Bluse in der Hand gehabt. Er hatte von dem Messer gewußt, das war ein Kinderspiel, aber nichts von dem plötzlichen Sprung zum Fenster. Und nicht, daß sie sich so kaltblütig, ohne zu zögern, das Leben nehmen würde. Innerhalb weniger Sekunden war sie fort gewesen. Wie Wiesel jagten sich die Gedanken in seinem Kopf. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Lauder, zum Beispiel. Da war Lauder. Er hatte ausgezeichnet funktioniert, wie eines dieser Spielzeugtiere zum Aufziehen, die einen Schlüssel im Rücken stecken haben. Geh hierhin. Geh dorthin. Tu dies. Tu das. Aber die Dynamitbombe hatte nur zwei von ihnen erwischt - die Rückkehr der alten Negerfrau hatte den ganzen Plan, die viele Mühe vereitelt. Und dann... nachdem er Harold erledigt hatte, hätte dieser fast Nadine umgebracht! Er empfand Wut und Erstaunen, als er daran dachte. Und die dumme Fotze hatte mit offenem Mund dagestanden und gewartet, daß er noch einmal schoß, fast als wollte sie getötet werden. Und wer hatte es auszubaden, wenn Nadine starb? Wer, wenn nicht sein Sohn? Das Kaninchen war gar. Er zog es vom Spieß und legte es auf den Blechteller. »Okay, ihr Arschlöcher, fressen!« Er mußte regelrecht laut grinsen. War er nicht mal bei den Marines gewesen? Er glaubte ja. Allerdings in Parris Island ausgebildet. Da war ein Junge gewesen, ein Fahnenflüchtiger, Boo Dinkway. Sie hatten... Was? Flagg betrachtete stirnrunzelnd Sein Eßbesteck. Hatten sie den alten Boo mit diesen umwickelten Stöcken in den Boden geprügelt? Hatten sie ihn erwürgt? Er glaubte sich an etwas mit Benzin zu erinnern. Aber was? Er wurde wütend und hätte fast das Kaninchen ins Feuer geworfen. Er müßte sich daran erinnern können, gottverdammt! »Hunde, wollt ihr ewig leben«, flüsterte er, aber wieder war es nur ein vager Schemen auf der Straße der Erinnerung. Früher hatte er die sechziger und siebziger Jahre überblicken können wie ein Mann, der eine Treppe in einen abgedunkelten Raum hinuntersieht. Heute konnte er sich nur noch an die Ereignisse nach der Supergrippe deutlich erinnern. Davor lag alles hinter einem Nebel, der sich nur gelegentlich so weit hob, daß gerade ein rätselhafter Gegenstand oder eine Erinnerung sichtbar wurde (Boo Dinkway, zum Beispiel... wenn es ihn je gegeben hatte), bevor er sich wieder senkte. Die früheste genaue Erinnerung, die er hatte, war sein Marsch auf der US 51 nach Mountain City, zum Haus von Kit Bradenton. Wo er geboren wurde. Wiedergeboren. Er war genaugenommen kein Mensch mehr, wenn er überhaupt je einer gewesen war. Er war wie eine Zwiebel, von der sich eine Schicht nach der anderen abschält, nur schälten sich bei ihm die menschlichen Eigenschaften ab: organisiertes Denken, Erinnerungsvermögen, möglicherweise sogar der freie Wille... wenn es so etwas je gegeben hatte. Er fing an, das Kaninchen zu essen. Früher, davon war er überzeugt, hätte er sich rasch davongemacht, wenn die Lage brenzlig wurde. Diesmal nicht. Dies war sein Ort, seine Zeit, hier würde er sein letztes Gefecht austragen. Es spielte keine Rolle, daß er den dritten Spion nicht entdeckt hatte und dass Harold zum Schluß außer Kontrolle geraten war und die kolossale Unverschämtheit besessen hatte zu versuchen, die ihm versprochene Braut zu ermorden, die Mutter seines Sohnes. Irgendwo in der Wüste war dieser seltsame Mülleimermann und suchte die Waffen zusammen, mit denen die lästige Freie Zone endgültig ausgelöscht werden würde. Auch den Mülleimermann konnte sein Auge nicht sehen, und in gewisser Weise fand Flagg Müll, eine Art menschlicher Bluthund, der Kordit und Napalm und Dynamit mit tödlicher, radarähnlicher Genauigkeit wittern konnte, noch seltsamer als sich selbst. In einem Monat oder früher würden die Jets der Nationalgarde mit einem vollen Satz Shrike-Raketen unter den Flügeln in der Luft sein. Und sobald er sicher war, daß seine Braut empfangen hatte, würden sie nach Osten fliegen. Er sah verträumt zum Basketball-Mond hinauf und lächelte. Es gab noch eine weitere Möglichkeit. Er dachte, das Auge würde sie ihm zeigen, wenn die Zeit gekommen war. Er ging vielleicht dorthin, möglicherweise als Krähe, möglicherweise als Wolf, möglicherweise als Insekt - eine Gottesanbeterin vielleicht, etwas, das klein genug war, durch eine sorgfältig getarnte Belüftungsklappe in der Mitte eines dornigen Büschels Wüstengras zu kriechen. Er würde durch dunkle Rohrleitungen hüpfen oder krabbeln und schließlich durch das Gitter einer Klimaanlage oder einen stillstehenden Ventilator kriechen. Der fragliche Ort war unterirdisch. Gleich jenseits der Grenze nach Kalifornien. Dort standen Retorten, lange Reihen Retorten, und auf jeder war ein Klebestreifen angebracht, der den Inhalt beschrieb: Eine SuperCholera, ein Super-Anthrax, eine neue und verbesserte Version der Beulenpest, und alle basierten auf der Fähigkeit der Krankheitserreger, durch ständige Veränderung die Bildung von Antikörpern zu verhindern, eine Fähigkeit, die die Supergrippe fast universell tödlich gemacht hatte. Es gab Hunderte solcher Erreger; in jeder Geschmacksrichtung, wie es in den Werbespots für Life Savers zu hören war. Wie wäre es mit ein wenig in eurem Wasser, Freie Zone? Oder einer Luftverschmutzung? Eine hübsche Legionärskrankheit zu Weihnachten, oder wäre euch die neue und weiterentwickelte Schweinegrippe lieber? Randall Flagg, der dunkle Weihnachtsmann, auf seinem Schlitten der Nationalgarde, mit einem kleinen Virus, den er in jeden Kamin werfen konnte. Er würde warten, und er würde die richtige Stunde erkennen, wenn sie endlich gekommen war. Etwas würde sie ihm verraten. Alles würde gut werden. Kein rasches Ausblenden diesmal. Er war ganz oben, und dort würde er auch bleiben. Das Kaninchen war verzehrt. Voll heißer Nahrung, fühlte er sich wieder wie er selbst. Er stand mit dem Blechteller in der Hand da und warf die Knochen in die Nacht. Die Wölfe jagten danach, balgten sich darum, heulten und knurrten und bissen sich; ihre Augen rollten leer im Mondlicht. Flagg stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und lachte brüllend zum Mond hinauf. Früh am nächsten Morgen verließ Nadine die Stadt Gemdale und fuhr auf ihrer Vespa die I-15 entlang. Ihr schneeweißes offenes Haar flatterte im Wind und sah aus wie ein Brautschleier. Ihr tat die Vespa leid, die ihr so lange treu gedient hatte und jetzt am Ende war. Die vielen Meilen und die Gluthitze in der Wüste, die anstrengende Fahrt über die Rockies und die mangelhafte Wartung hatten ihren Tribut gefordert. Der Motor klang jetzt heiser und angestrengt. Der Drehzahlmesser blieb nicht mehr brav bei 5 x 1000 stehen, sondern zitterte hin und her. Es machte nichts. Wenn die Maschine den Geist aufgab, bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, würde sie zu Fuß weitergehen. Niemand jagte sie. Harold war tot. Und wenn sie zu Fuß gehen mußte, würde er es wissen und jemanden schicken, der sie abholte. Harold hatte auf sie geschossen! Harold hatte versucht, sie umzubringen! Immer wieder mußte sie daran denken, so gern sie es auch verdrängt hätte. Ihr Verstand spielte damit wie ein Hund mit einem Knochen. So hätte es nicht sein dürfen. In der ersten Nacht nach der Explosion war ihr Flagg im Traum erschienen, als Harold endlich bereit war, eine Weile zu rasten. Flagg hatte ihr im Traum gesagt, daß er Harold bei ihr lassen wolle, bis sie auf dem Western Slope waren, fast in Utah. Dann wolle er ihn schnell und schmerzlos durch einen Unfall beseitigen. Eine Ölspur. Über die Böschung. Kein Ärger, kein Schlamassel, keine Plage. Aber es war nicht schnell und schmerzlos gewesen, und Harold hätte sie fast umgebracht. Die Kugel war zwei Zentimeter an ihrer Wange vorbeigesaust, und dennoch hatte sie sich nicht bewegen können. Sie war starr vor Schreck gewesen und hatte sich gefragt, wie er so etwas tun konnte, wie zugelassen werden konnte, daß er so etwas auch nur versuchte. Sie hatte versucht, eine Begründung dafür zu finden, indem sie sich einredete, daß Flagg ihr nur Angst machen und sie daran erinnern wollte, zu wem sie gehörte. Aber das ergab keinen Sinn! Es war verrückt. Und selbst wenn es einen Sinn gehabt hätte... eine überzeugte, wissende innere Stimme sagte ihr, daß Flagg auf diesen Zwischenfall einfach nicht vorbereitet gewesen war. Sie versuchte, diese innere Stimme von sich zu weisen, wie man eine Tür verrammelt, wenn jemand Unerwünschter mit Mordlust in den Augen draußen steht. Aber es gelang ihr nicht. Die Stimme sagte ihr, daß sie nur durch blinden Zufall noch lebte. Daß Harolds Kugel sie genausogut zwischen den Augen hätte treffen können, und es wäre so oder so nicht Randall Flaggs Tun gewesen. Sie nannte die innere Stimme eine Lügnerin. Flagg wußte alles, wo der kleinste Sperling vom Himmel gefallen war... Nein, das ist Gott, antwortete die Stimme unerbittlich. Gott, er ist nicht Gott. Du lebst nur durch blinden Zufall, und das bedeutet, es ist alles offen. Du schuldest ihm nichts. Wenn du willst, kannst du umkehren und zurückfahren. Zurückfahren, das war ein Lachschlager. Wohin zurückfahren? Zu diesem Thema hatte die Stimme wenig zu sagen; es hätte sie auch überrascht. Wenn der dunkle Mann auf tönernen Füßen stand, hatte sie diese Tatsache ein wenig zu spät herausgefunden. Sie versuchte, sich statt auf die Stimme auf die kühle Schönheit des Wüstenmorgens zu konzentrieren. Aber die Stimme blieb, so leise und beharrlich, daß sie sie kaum wahrnahm: Wenn er nicht gewußt hat, daß Harold ihm trotzen und versuchen würde, dich zu töten, was weiß er sonst noch alles nicht? Und wird es beim nächsten Mal auch wieder ein Fehlschuß sein?  Aber, o Gott, es war zu spät. Um Tage, Wochen, vielleicht sogar Jahre zu spät. Warum hatte die innere Stimme gewartet, bis es nutzlos war, die Stimme zu erheben? Und wie zur Bestätigung verstummte die Stimme, und der Morgen gehörte wieder ihr. Sie fuhr, ohne an etwas zu denken, die Augen auf die Straße vor ihr gerichtet. Die Straße, die nach Las Vegas führte. Die Straße, die zu ihm führte. Am Nachmittag gab die Vespa den Geist auf. In ihren Eingeweiden klapperte und knirschte es, und der Motor blieb stehen. Nadine roch etwas Heißes, Abnormales, wie brennendes Gummi, aus dem Motorgehäuse. Die Geschwindigkeit sank von konstanten vierzig auf Schrittempo. Sie schob die Vespa auf die Standspur und trat den Starter ein paarmal, wußte aber, daß es keinen Zweck hatte. Sie hatte die Vespa gekillt. Sie hatte auf dem Weg zu ihrem Gatten vieles getötet. Sie war dafür verantwortlich, daß das ganze Komitee der Freien Zone samt allen geladenen Gästen bei der letzten explosiven Versammlung ausgelöscht worden war. Und da war Harold. Und, bin so frei nebenbei, Frannie Goldsmiths ungeborenes Kind. Ihr wurde übel. Sie taumelte zur Leitplanke und erbrach ihr Frühstück. Sie fühlte sich heiß, wie im Delirium, und sehr elend, das einzige lebende Wesen in diesem Wüstenalptraum. Es war heiß... so heiß. Sie drehte sich um und wischte sich den Mund. Die Vespa lag auf der Seite wie ein totes Tier. Nadine betrachtete sie noch ein paar Augenblicke, dann ging sie weiter. An Dry Lake war sie schon vorbei. Das bedeutete, daß sie am Straßenrand schlafen mußte, wenn niemand sie abholen kam. Mit Glück konnte sie am nächsten Morgen in Las Vegas sein. Und plötzlich wußte sie, daß der dunkle Mann sie zu Fuß gehen lassen würde. Hungrig und durstig und von der Sonne verbrannt sollte sie in Las Vegas ankommen, jede Erinnerung an ihr früheres Leben sollte erloschen sein. Die Frau, die an einer Privatschule in New England kleine Kinder unterrichtet hatte, würde fort sein, so tot wie Napoleon. Mit etwas Glück würde die leise Stimme, die in ihr nagte und quälte, als letzter Teil der alten Nadine sterben. Aber letztendlich würde natürlich auch der Teil erlöschen. Sie ging weiter; der Nachmittag verrann. Schweiß lief ihr übers Gesicht. Wo die Straße und der verblichene Jeans -Himmel zusammenstießen, schimmerte Quecksilber. Sie knöpfte die Bluse auf, zog sie aus und ging nur im Büstenhalter weiter. Sonnenbrand? Na und? Offen gesagt, meine Liebe, das ist mir scheißegal. Als es dämmerte, war ihre Haut so stark gerötet, daß sie um die Knochenwülste des Schlüsselbeins fast purpurfarben aussah. Die Abendkühle kam plötzlich, und sie zitterte. Jetzt fiel ihr ein, daß sie ihre Campingausrüstung bei der Vespa liegen gelassen hatte. Sie sah sich suchend um, erblickte hier und da Autos, manche bis an die Kühlerfiguren zugeweht. Der Gedanke, in einem dieser Särge Schutz zu suchen, machte sie elend - schlimmer als der schreckliche Sonnenbrand. Ich bin im Delirium, dachte sie. Nicht, daß es eine Rolle gespielt hätte. Sie beschloß, lieber die ganze Nacht nach Westen zu marschieren, als in einem dieser Autos zu schlafen. Wenn dies nur der Mittlere Westen wäre! Sie hätte dann eine Scheune, einen Heuschober oder ein Kleefeld finden können. Etwas Sauberes und Weiches. Hier draußen gab es nur die Straße, den Sand, die ausgedörrte Wüste. Sie strich das lange weiße Haar aus dem Gesicht und stellte betroffen fest, daß sie wünschte, sie wäre tot. Jetzt war die Sonne hinter dem Horizont, der Tag genau zwischen Licht und Dunkelheit. Der Wind, der nun über sie strich, war tödlich kalt. Sie sah sich um und hatte plötzlich Angst. Er war zu kalt. Die Spitzkuppen waren zu dunklen Monolithen geworden. Die Sanddünen wirkten wie unheimliche umgestürzte Kolosse. Selbst die Kandelaberkakteen sahen aus wie die Skelettfinger von anklagenden Toten, die sich aus flachen Gräbern durch den Sand emporreckten. Oben das kosmische Rad des Himmels. Eine Songzeile fiel ihr ein, aus einem Stück von Dylan, kalt und trostlos: Hunted like a crocodile... ravaged in the corn... Und dem dicht auf den Fersen ein anderer Song, von den Eagles, plötzlich furchterregend: I want to sleep in the desert tonight... with a million stars all around... Plötzlich wußte sie, er war da. Noch bevor er etwas gesagt hatte, wußte sie es. »Nadine.« Seine leise Stimme kam aus zunehmender Dunkelheit. Unendlich sanft, das letzte allumfassende Grauen, das wie eine Heimkehr war. »Nadine, Nadine... wie ich es liebe zu lieben, Nadine.« Sie drehte sich um, und da war er, wie sie immer gewußt hatte, dass es eines Tages geschehen würde; so einfach war das. Er saß auf der Haube einer alten Chevrolet-Limousine (war diese vor einem Augenblick schon da gewesen? Sie wußte es nicht mit Sicherheit, glaubte es aber nicht), hatte die Beine überkreuzt, die Hände locker auf den Knien der verblichenen Jeans liegen. Er sah sie an und lächelte sanft. Aber seine Augen waren überhaupt nicht sanft. Sie straften die Vorstellung Lügen, daß dieser Mann etwas Sanftes empfinden konnte. Sie sah schwarzes Vergnügen darin, das endlos tanzte, wie die Beine eines Mannes, der gerade durch die Plattform des Galgens gefallen ist. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin hier.« »Ja. Endlich bist du hier. Wie versprochen.« Sein Lächeln wurde breiter, er streckte ihr die Hände entgegen. Sie nahm sie, und als sie ihm nahe war, spürte sie seine kochende Hitze. Er strahlte sie ab wie ein geheizter Kachelofen. Seine glatten Hände ohne Linien schlössen sich um ihre... und legten sich dann so fest wie Handschellen darum. »Oh, Nadine«, flüsterte er und beugte sich vor, um sie zu küssen. Sie drehte den Kopf nur ein klein wenig und sah zum kalten Feuer der Sterne empor, und sein Kuß ging auf die Vertiefung oberhalb des Kinns, nicht auf die Lippen. Er ließ sich nicht täuschen. Sie spürte die spöttische Kurve seines Grinsens an ihrem Fleisch. Er stößt mich ab, dachte sie. Aber Abscheu war nur die schuppige Kruste über etwas Schlimmerem - einer verklebten, lange verborgenen Lust, einem zeitlosen Pickel, der reif war und bald eine widerliche Flüssigkeit absondern würde, einer Süße, die längst vergoren war. Seine Hände, die über ihren Rücken glitten, waren viel heißer als ihr Sonnenbrand. Sie drängte sich an ihn, und der schlanke Sattel zwischen ihren Beinen schien plötzlich dicker, voller, zärtlicher und bewußter zu sein. Der Saum ihrer Hose rieb zärtlich und obszön an ihr, bis sie sich selbst reiben wollte, um das Jucken loszuwerden, sich ein für allemal davon zu befreien. »Sag mir eines«, bat sie. »Alles.« »Du hast gesagt >wie versprochen< Wer hat mich dir versprochen? Warum ich? Und wie soll ich dich nennen? Nicht einmal das weiss ich. Ich habe dich fast mein ganzes Leben lang gekannt und weiss nicht, wie ich dich nennen soll.« »Nenn mich Richard. Das ist mein richtiger Name. Nenn mich so.« »Das ist dein richtiger Name?« fragte sie zweifelnd, und er kicherte gegen ihren Hals, so daß sie vor Abscheu und Lust eine Gänsehaut bekam. »Und wer hat mich dir versprochen?« »Nadine«, sagte er, »das habe ich vergessen. Komm.« Er hielt immer noch ihre Hände, als er von der Motorhaube sprang, und sie hätte sich fast losgerissen und wäre weggelaufen... aber welchen Sinn hätte das gehabt? Er hätte sie verfolgt, gefangen und vergewaltigt. »Der Mond«, sagte er. »Er ist voll. Wie ich.« Er schob ihre Hand auf den verblichenen und glatten Schritt seiner Jeans, und dort war etwas Schreckliches, das unter den kalten Noppen des Reißverschlusses ein pulsierendes Eigenleben führte. »Nein«, murmelte sie und versuchte, ihre Hand wegzuziehen, und dachte daran, wie sehr sich dies von jener mondhellen Nacht unterschied, wie anders es war. Dies war das andere Ende des Regenbogens der Zeit. Er zog ihre Hände zu sich. »Komm mit in die Wüste und sei meine Frau«, sagte er. »Nein!« »Es ist viel zu spät, nein zu sagen, Liebste.« Sie ging mit ihm. Sie sah einen Schlafsack und die verkohlten Gebeine eines Lagerfeuers unter den silbernen Gebeinen des Mondes. Er legte sie hin. »Nun gut«, keuchte er. »Nun gut.« Seine Finger machten die Gürtelschnalle auf und dann den Knopf, dann den Reißverschluß. Sie sah, was er für sie hatte und begann zu kreischen. Bei diesem Laut schnellte das Grinsen des dunklen Mannes förmlich vorwärts, riesig und glitzernd und obszön in der Nacht, und der aufgeblähte und käsige Mond starrte mit leerem Blick auf sie beide herunter. Nadine entrang sich ein Schrei nach dem anderen, und sie versuchte, von ihm fortzukriechen, und er packte sie; sie preßte die Beine, so fest sie konnte, zusammen, und als er eine seiner glatten Hände dazwischenschob, spreizte sie sie willenlos und dachte: Ich werde nach oben sehen... ich werde zum Mond sehen... ich werde nichts spüren, und es wird vorbei sein ...es wird vorbei sein... ich werde nichts spüren... Und als seine tödliche Kälte in sie eindrang, wurde ihr Schreien schriller und brach sich Bahn, explodierte aus ihrer Kehle, und sie wehrte sich, aber die Gegenwehr war vergebens. Er rammte in sie, Eroberer, Zerstörer, und kaltes Blut rann an ihren Schenkeln hinab, und er war in ihr, bis zur Gebärmutter, und der Mond schien ihr in die Augen, kaltes und silbernes Feuer, und als er kam, war es wie geschmolzenes Eisen, geschmolzenes Roheisen, geschmolzenes Messing, und sie kam selbst, kam schreiend vor unermeßlicher Lust, vor Entsetzen, vor Grauen, wandelte durch die Pforten aus Eisen und Messing in die Wüste des Wahnsinns, wurde hindurch gejagt, hindurchgeiveht wie ein Blatt vom Bellen seines Gelächters, sah sein Gesicht schmelzen, und nun war es das zottelige Gesicht eines Dämons dicht über ihrem, eines Dämons mit grellen gelben Lampen als Augen, Fenster in eine nie für möglich gehaltene Hölle, und trotzdem war noch diese gräßliche Heiterkeit in ihnen, in diesen Augen, welche in die verwinkelten Gassen von tausend finsteren nächtlichen Städten gesehen hatten; diese Augen waren leuchtend und funkelnd und schließlich stumpf. Er fing noch einmal an... und noch einmal ... und noch einmal. Es schien, als wären seine Reserven nie verbraucht. Kalt. Er war tödlich kalt. Und alt. Älter als die Menschheit, älter als die Erde. Immer und immer wieder füllte er sie mit seiner nächtlichen Flüssigkeit und lachte brüllend. Erde. Licht. Und kam. Und kam noch einmal. Der letzte Schrei entrang sich ihr und wurde vom Wüstenwind aufgegriffen und in die entferntesten Kammern der Nacht geweht, hinaus, wo tausend Waffen daraufwartet en, daß ihr neuer Besitzer kam und sie für sich beanspruchte. Zotteliger Dämonenkopf, aus dem eine tief gegabelte Zunge hing. Sein toter Atem streifte über ihr Gesicht. Sie war jetzt im Land des Wahnsinns. Die eisernen Pforten waren geschlossen. Der Mond...! Der Mond war fast untergegangen. Er hatte noch ein Kaninchen gefangen, hatte das zitternde kleine Ding mit bloßen Händen gehalten und ihm das Genick gebrochen. Er hatte ein neues Feuer auf den Gebeinen des ersten gemacht, und jetzt grillte das Kaninchen und ließ Duftschleier emporsteigen. Jetzt waren keine Wölfe mehr da. Heute nacht waren sie ferngeblieben - und das war nur mehr als recht und billig. Immerhin war dies seine Hochzeitsnacht, und das verwirrte und apathische Ding, das zusammengesunken auf der anderen Seite des Feuers saß, war seine errötende Braut. Er griff hinüber und hob ihre Hand aus ihrem Schoß. Als er sie losließ, verharrte die Hand an Ort und Stelle, auf der Höhe des Mundes. Er studierte dieses Phänomen einen Augenblick, dann legte er die Hand wieder in ihren Schoß. Dort bewegten sich die Hände träge wie sterbende Schlangen. Er stieß zwei Finger vor ihre Augen, aber sie blinzelte nicht. Sie sah einfach nur ins Leere. Er war aufrichtig verwirrt. Was hatte er mit ihr gemacht? Er konnte sich nicht erinnern. Es spielte auch keine Rolle. Sie war schwanger. Wenn sie darüber hinaus noch katatonisch war, was machte das? Sie war der perfekte Brutkasten. Sie würde seinen Sohn austragen, gebären, und dann hatte sie ihren Zweck erfüllt und konnte sterben. Schließlich war sie nur dazu da. Das Kaninchen war fertig. Er brach es in zwei Hälften. Er riß ihre Hälfte in kleine Stückchen, wie Babynahrung. Er fütterte ihr ein Stück nach dem anderen. Manche Stückchen fielen ihr halb gekaut aus dem Mund in den Schoß, aber den größten Teil aß sie. Wenn sie so blieb, brauchte sie eine Krankenschwester. Vielleicht Jenny Engstrom. »Es war sehr gut, Liebste«, sagte er leise. Sie sah mit leeren Augen zum Mond hinauf. Flagg lächelte ihr zärtlich zu und verschlang sein Hochzeitsmahl. Guter Sex machte ihn immer hungrig. Er erwachte in der zweiten Nachthälfte und richtete sich verwirrt und voller Angst in seinem Schlaf sack auf... es war die instinktive, unwissende Angst eines Tieres - eines Raubtiers, das spürt, daß es vielleicht selbst gejagt wird. War es ein Traum gewesen? Eine Vision...? Sie kommen. Erschrocken versuchte er, diesen Gedanken zu begreifen, ihn in einen Zusammenhang zu bringen. Aber es gelang ihm nicht. Er schwebte wie ein böser Zauber im Raum. Sie sind schon näher. Wer? Wer war schon näher? Der Nachtwind flüsterte und schien ihm eine Witterung zuzutragen. Jemand kam und... Jemand ging. Während er schlief, war jemand in östlicher Richtung an seinem Lager vorbeigegangen. Der unbekannte Dritte? Er wußte es nicht. Es war Vollmondnacht. War der Dritte entkommen? Dieser Gedanke versetzte ihn in Panik. Ja, aber wer kommt? Er betrachtete Nadine. Sie schlief in Embryohaltung zusammengerollt, die Haltung, die sein Sohn in wenigen Monaten in ihrem Bauch einnehmen würde. Sind es Monate? Wieder hatte er das Gefühl, daß die Dinge an den Rändern unscharf wurden. Er legte sich wieder hin und glaubte, in dieser Nacht nicht mehr schlafen zu können. Aber er schlief doch. Und als er am nächsten Morgen nach Las Vegas fuhr, lächelte er wieder und hatte die nächtliche Panik fast vergessen. Nadine saß fügsam neben ihm auf dem Sitz, eine große Puppe mit einem sorgfältig in ihrem Leib verborgenen Samen. Er fuhr zum Grand; dort erfuhr er, was geschehen war, während er schlief. Er sah den neuen Ausdruck in ihren Augen, argwöhnisch und fragend, und spürte wieder, wie ihn die Angst mit ihren leichten Mottenflügeln berührte. 66 Etwa zu der Zeit, als Nadine ein paar Einsichten kamen, die eigentlich auf der Hand hätten liegen sollen, saß Lloyd Henreid allein in der Cub Bar, spielte Big Clock Solitaire und mogelte. Er war gereizt. An diesem Tag war es in Indian Springs zu einem Brand gekommen, ein Toter, drei Verletzte, und davon würde einer mit Sicherheit an den Brandwunden sterben. Sie hatten niemand in Vegas, der solche Verletzungen behandeln konnte. Carl Hough hatte die Nachricht überbracht. Er hatte eine extreme Stinklaune gehabt und war nicht der Mann, den man leicht nahm. Vor der Seuche war er Pilot bei Ozark Airlines gewesen, davor bei den Marines, und er hätte Lloyd mit einer Hand in zwei Hälften brechen und gleichzeitig mit der anderen einen Daiquiri mixen können, wenn er gewollt hätte. Carl behauptete, daß er im Verlauf seiner langen und aufregenden Karriere mehrere Menschen getötet hatte, und Lloyd war geneigt, ihm zu glauben. Nicht, daß Lloyd körperlich Angst vor Carl Hough gehabt hätte; der Pilot war groß und stark, hatte aber wie alle anderen im Westen einen Heidenrespekt vor dem Wandelnden Gecken, und Lloyd trug immerhin Flaggs Amulett. Aber er war einer ihrer Piloten, und aus diesem Grund mußte er diplomatisch behandelt werden. Und seltsamerweise war Lloyd Diplomat. Seine Referenzen waren schlicht, aber ehrfurchtgebietend: Er hatte mehrere Wochen mit einem Wahnsinnigen namens Poke Freeman verbracht und überlebt. Außerdem verbrachte er schon diverse Wochen mit Randall Flagg und atmete immer noch und war bei klarem Verstand. Carl war am 12. September gegen zwei Uhr eingetroffen und hatte den Motorradhelm unter dem rechten Arm gehalten. Auf der linken Wange hatte er häßliche Brandwunden und Blasen an der Hand. Ein Feuer war ausgebrochen. Schlimm, aber nicht so schlimm, wie es hätte werden können. Ein Tanklastwagen war explodiert, brennendes Benzin war über den ganzen Asphalt verspritzt worden. »Gut«, hatte Lloyd gesagt. »Ich werde zusehen, daß der Boß es erfährt. Sind die Verletzten im Krankenhaus?« »Ja, sind sie. Ich glaube nicht, daß Freddy Campanari den Sonnenuntergang noch erleben wird. Bleiben zwei Piloten, ich und Andy. Sag ihm das, und sag ihm noch etwas, wenn er zurückkommt. Ich will, daß dieser Wichser von Mülleimermann verschwindet. Das ist meine Bedingung, wenn ich bleiben soll.« Lloyd sah Carl Hough an. »Wirklich?« »Ich hab's doch eben gesagt.« »Dann will ich dir jetzt was sagen, Carl«, antwortete Lloyd. »Ich kann ihm diese Nachricht nicht überbringen. Wenn du ihm Befehle erteilen willst, mußt du es selbst machen.« Carl wirkte plötzlich unsicher und ängstlich. Angst nahm sich in seinem harten Gesicht seltsam aus. »Ich weiß, was du meinst. Ich bin nur müde und hab' die Schnauze voll, Lloyd. Mein Gesicht tut höllisch weh. Aber das will ich nicht an dir auslassen.« »Schon gut, Mann. Dazu bin ich da.« Manchmal wünschte er sich, daß es nicht so wäre. Er hatte schon wieder Kopfschmerzen. Carl sagte: »Aber er muß weg. Wenn ich es dem Boß sagen muß, werde ich es. Ich weiß, daß er einen dieser schwarzen Steine hat. Der Boß muß viel von ihm halten. Aber hör zu.« Carl setzte sich und legte den Helm auf einen Backarat-Tisch. »Müll war für das Feuer verantwortlich. Mein Gott, wie sollen wir je die Maschinen in die Luft bringen, wenn einer von den Männern vom Boß die verdammten Piloten verbrennt?« Einige Leute, die durch das Foyer des Grand gingen, warfen besorgte Blicke zu dem Tisch, wo Lloyd und Carl saßen. »Nicht so laut, Carl.« »Okay. Aber du siehst das Problem, oder nicht?« »Bist du ganz sicher, daß es Müll war?« »Hör zu«, sagte Carl und beugte sich nach vorne, »er war im Fahrzeuglager. Er war lange dort. Viele haben ihn gesehen, nicht nur ich.« »Ich dachte, er wäre irgendwo draußen. In der Wüste. Du weißt ja, nach Material suchen.« »Nun, er ist zurückgekommen, klar? Sein Geländewagen war voller Material. Gott weiß vielleicht, wo er es hernimmt, ich nicht. Nun, während der Kaffeepause hat er den Leuten alles vorgeführt. Du weißt ja, wie er ist. Waffen sind für ihn das, was Süßigkeiten für ein Kind sind.« »Ja.« »Als letztes hat er uns eine Brandbombenzündschnur gezeigt. Man zieht am Riemen, und eine kleine Phosphorflamme fängt an zu brennen. Dann eine halbe Stunde oder vierzig Minuten nichts, je nachdem, wie lang die Zündschnur ist, klar? Kapiert? Und dann ein Höllenfeuer. Klein, aber heiß.« »Ja.« »Also gut. Müll zeigt es uns und sabbert förmlich über dem Ding, und Freddy Campanari sagt: >He, Leute, die mit Feuer spielen, sind Bettnässer, Müll.< Und Steve Tobin - du kennst ihn ja, der ist komischer als eine Gummikrücke -, der sagt: >Jungs, ihr solltet lieber die Streichhölzer verstecken, Mülli ist wieder in der Stadt.< Und Müll ist echt unheimlich geworden. Er hat uns alle angesehen und leise gemurmelt. Ich habe gleich neben ihm gesessen und glaube, er hat gesagt: >Fragt mich jetzt bloß nicht noch nach dem Rentenscheck der alten Oma Semple.< Kapierst du das?« Lloyd schüttelte den Kopf. Er kapierte überhaupt nichts, wenn es um den Mülleimermann ging. »Dann ist er einfach gegangen. Hat das Zeug genommen, das er uns gezeigt hat, und weg war er. Nun, uns war allen nicht wohl in unserer Haut. Wir wollten seine Gefühle nicht verletzen. Die meisten Jungs mögen Müll wirklich. Oder haben es. Er ist wie ein Kind, weißt du?« Lloyd nickte. »Eine Stunde später geht der verdammte Tanklaster hoch wie eine Rakete. Und während wir die Trümmer einsammeln, sehe ich hoch, und da ist Müll in seinem Geländewagen bei den Baracken und sieht mit dem Fernglas zu uns herüber.« »Mehr hast du nicht in der Hand?« fragte Lloyd erleichtert. »Nein. Hab' ich nicht. Hätte ich mehr, hätte ich mir nicht mal die Mühe gemacht, zu dir zu kommen, Lloyd. Aber ich habe darüber nachgedacht, wie der Laster hochgegangen ist. Genau für so etwas braucht man diese Zündschnur. In Nam haben die Kong viele unserer Munitionswagen auf diese Weise hochgejagt, und zwar mit unseren eigenen Scheißzündschnüren. Man klebt sie unter den Wagen ans Auspuffrohr. Läßt niemand den Motor an, geht die Ladung hoch, wenn die Uhr abgelaufen ist. Läßt ihn jemand an, geht sie hoch, wenn das Auspuffrohr heiß wird. So oder so - WUMM, kein Laster mehr. Was nicht paßt - es stehen immer ein Dutzend Treibstofflaster in der Fahrzeughalle, und wir benützen sie nicht in einer bestimmten Reihenfolge. Als wir den armen Freddy im Krankenhaus gehabt haben, sind John Waite und ich rübergegangen. John hat die Aufsicht über den Fuhrpark und hat sich fast bepißt. Er hatte Müll schon vorher da drinnen gesehen.« »War er sicher, daß es der Mülleimermann war?« »Bei seinen Verbrennungen an den Armen kann man ihn kaum verwechseln, meinst du nicht auch? Klar? Damals hat sich niemand was dabei gedacht. Er hat nur herumgestöbert, das ist schließlich sein Job, oder nicht?« »Ja, so könnte man es wohl sagen.« »Also haben John und ich uns die restlichen Lastwagen angesehen. Und bei allen Heiligen, an jedem einzelnen ist eine Zündschnur. Er hat sie direkt unter den Tanks selbst an den Auspuffrohren angebracht. Der Lastwagen, den wir als ersten benutzt haben, ist nur deshalb hochgegangen, weil das Auspuffrohr heiß wurde, wie ich es dir vorhin erklärt habe, klar? Aber die anderen waren so gut wie bereit. Zwei oder drei hatten schon angefangen zu rauchen. Manche Lastwagen waren leer, aber mindestens fünf waren voll Treibstoff. Noch zehn Minuten, und wir hätten den halben verdammten Stützpunkt verloren.« Heiliger Himmel, dachte Lloyd wehklagend. Es ist wirklich schlimm. Schlimmer kann es kaum noch werden. Carl hielt die Hand voller Blasen hoch. »Das habe ich mir geholt, als ich eine der heißen rausgezogen habe. Verstehst du jetzt, warum er weg muß?« Lloyd sagte zögernd: »Vielleicht hat jemand die Zündschnüre aus seinem Geländewagen gestohlen, während er pinkeln war, oder so.« Carl sagte geduldig: »So war es aber nicht. Jemand hat seine Gefühle verletzt, während er seine Spielsachen vorgeführt hat, und er hat versucht, uns alle zu verbrennen. Beinahe mit Erfolg. Es muss etwas geschehen, Lloyd.« »Gut, Carl.« Er verbrachte den Rest des Tages damit, sich nach Müll zu erkundigen - hatte jemand ihn gesehen oder wußte, wo er sich aufhielt? Mißtrauische Blicke und abschlägige Antworten. Die Sache hatte sich herumgesprochen. Vielleicht war das gut. Wer ihn sah, würde es bestimmt sofort in der Hoffnung melden, sich beim Boss beliebt zu machen. Aber Lloyd hatte so eine Ahnung, daß niemand Müll sehen würde. Er hatte ihnen ein kleines Feuer unter dem Hintern angezündet und war mit seinem Wagen in der Wüste verschwunden. Er betrachtete das Solitaire-Spiel, das vor ihm ausgebreitet lag, und widerstand dem Impuls, alles auf den Fußboden zu fegen. Statt dessen mogelte er unter den Karten ein weiteres As hervor und spielte weiter. Es spielte keine Rolle. Wenn Flagg ihn wollte, würde er ihn finden. Mülli würde an einem schönen Querbalken enden, wie Heck Drogan. Pech gehabt, mein Junge. Aber insgeheim war er nicht so sicher. In letzter Zeit waren Dinge geschehen, die ihm nicht gefielen. Zum Beispiel die Sache mit Dayna. Flagg hatte von ihr gewußt, das stimmte, aber sie hatte nicht geredet. Irgendwie war es ihr gelungen, sich in den Tod zu flüchten, und was den dritten Spion anbetraf, waren sie kein Stück weitergekommen. Das war auch so etwas. Warum wußte Flagg nicht, wer der dritte Spion war? Er hatte alles über den alten Furz gewußt, und als er aus der Wüste zurückkam, hatte er auch alles über Dayna gewußt und ihnen genau gesagt, wie er sie behandeln wollte. Aber es hatte nicht funktioniert. Und jetzt der Mülleimermann. Müll war nicht irgendwer. Früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Genau wie er selbst trug Müll den Stein des schwarzen Mannes. Nachdem Flagg diesem Großmaul von Anwalt in L. A. das Gehirn geröstet hatte, hatte Lloyd gesehen, wie Flagg Mülleimer die Hände auf die Schultern legte und leise sagte, daß alle Träume wahr gewesen waren. Und Mülleimer hatte geflüstert: »Mein Leben für dich.« Lloyd wußte nicht, was sonst noch zwischen den beiden vorgegangen sein mochte, aber ganz offensichtlich trieb er sich mit Flaggs Segen in der Wüste herum. Und jetzt war der Mülleimermann Amok gelaufen. Das warf einige ziemlich ernste Fragen auf. Und deshalb saß Lloyd um neun Uhr abends allein hier, mogelte beim Patiencelegen und wünschte sich, er wäre betrunken. »Mr. Henreid?« Was jetzt? Er sah auf und erblickte ein junges Mädchen mit hübschem Gesicht und Schmollmund. Enge weiße Shorts. Ein Oberteil, das die Warzenhöfe ihrer Brüste nicht ganz bedeckte. Eindeutig der Sex-Typ, aber sie sah blaß und nervös aus, fast elend. Sie kaute zwanghaft an einem Daumennagel, und er sah, daß all ihre Fingernägel abgebissen waren. »Was?« »Ich... ich muß Mr. Flagg sprechen«, sagte sie. Alle Energie verschwand aus ihrer Stimme, sie endete flüsternd. »Tatsächlich? Für wen hältst du mich, seinen persönlichen Referenten?« »Aber... sie sagten... ich soll mich an Sie wenden.« »Wer?« »Nun, Angie Hirschfield. Sie war es.« »Wie heißt du?«« »Äh, Julie.« Sie kicherte, aber es war nur ein Reflex. Der verängstigte Gesichtsausdruck blieb unverändert, und Lloyd fragte sich müde, was für eine Kacke jetzt wieder am Dampfen war. Ein Mädchen wie sie würde nicht ausgerechnet nach Flagg fragen, wenn es sich nicht um etwas Ernstes handelte. »Julie Lawry.« »Also, Julie Lawry, Flagg ist nicht in Las Vegas.« »Wann kommt er zurück?« »Das weiß ich nicht. Er kommt und geht, er trägt keinen Piepser. Und er ist mir keine Rechenschaft schuldig. Wenn du ihm etwas erzählen willst, sag es mir, und ich werde sehen, daß er es erfährt.« Sie sah ihn zweifelnd an, und Lloyd wiederholte, was er am Nachmittag zu Carl Hough gesagt hatte: »Dazu bin ich da.« »Okay.« Dann hastig: »Wenn es wichtig ist, müssen Sie ihm sagen, daß ich es Ihnen erzählt habe. Julie Lawry.« »Okay.« »Vergessen Sie es auch nicht?« »Nein, Herrgott! Was ist es?« Sie schmollte. »Sie müssen nicht gleich böse werden.« Er seufzte und legte die Karten, die er in der Hand hielt, auf den Tisch. »Nein«, sagte er. »Wahrscheinlich nicht. Was ist es?« »Dieser Taubstumme. Wenn er hier ist, spioniert er bestimmt. Ich dachte, das sollen Sie wissen.« Ihre Augen glitzerten boshaft. »Der Wichser hat mich mit der Waffe bedroht.« »Welcher Taubstumme?« »Nun, ich hab' den Schwachsinnigen gesehen und mir gedacht, dass der Taubstumme auch hier sein muß. Die sind nicht aus unserem Holz. Ich glaube, sie sind von der anderen Seite gekommen.« »Das glaubst du also, hm?« »Ja.« »Ich weiß bei Gott nicht, wovon du redest. Es war ein langer Tag, und ich bin müde. Wenn du nicht anfängst, vernünftig zu reden, Julie, gehe ich ins Bett.« Julie setzte sich, schlug die Beine übereinander und erzählte Lloyd von ihrer Begegnung mit Nick Andres und Tom Cullen in ihrer Heimatstadt Pratt, Kansas. Über das Pepto-Bismol (»Ich habe nur ein bißchen Spaß mit dem Schwachsinnigen gemacht, und dieser Taubstumme richtet seine Pistole auf mich!«). Sie erzählte ihm sogar, daß sie auf die beiden geschossen hatte, als sie die Stadt verließen. »Und was soll das beweisen?« fragte Lloyd, als sie fertig war. Das Wort »Spion« hatte ihn aufhorchen lassen, aber danach war er wieder in den Dämmerzustand der Langeweile versunken. Julie schmollte wieder und zündete eine Zigarette an. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Dieser Schwachsinnige, er ist jetzt hier. Ich wette, er spioniert.« »Und du sagst, er heißt Tom Cullen?« »Ja.« Lloyd hatte nur eine vage Erinnerung. Cullen war ein großer blonder Kerl, der sicher nicht alle Tassen im Schrank hatte, aber so schlimm, wie diese dumme Schlampe ihn darstellte, nun auch wieder nicht war. Er dachte nach, aber mehr fiel ihm zu Cullen nicht ein. Es strömten immer noch jeden Tag sechzig bis hundert Leute nach Vegas. Es war unmöglich, sie alle zu kennen, und Flagg hatte gesagt, der Zustrom würde noch zunehmen, bevor er sich allmählich verlor. Er könnte sich an Paul Burlson wenden, der über die Einwohner von Vegas Buch führte, und ihn nach diesem schwachsinnigen Cullen fragen. »Werden Sie ihn verhaften?« fragte Julie. Lloyd sah sie an. »Ich werde dich verhaften, wenn du mir noch länger auf die Pelle rückst.« »Ach, Sie können mich mal!« rief Julie Lawry und hob dabei giftig die Stimme. Sie sprang auf und blitzte ihn an. In den engen Shorts schienen ihre Beine bis ans Kinn zu reichen. »Ich habe versucht, Ihnen einen Gefallen zu tun!« »Ich überprüfe es.« »Ja, ich weiß. Das kenne ich.« Sie stampfte davon; ihr Hintern bewegte sich in kleinen, indignierten Kreisen. Mit einer gewissen müden Belustigung sah Lloyd ihr nach und dachte, daß es viele Tussies wie sie auf der Welt gab - selbst jetzt nach der Supergrippe gab es viele, jede Wette. Leicht aufzureißen, aber anschließend mußte man sich vor ihren Fingernägeln in acht nehmen. Verwandte jener Spinnen, die ihre Partner nach dem Sex auffressen. Zwei Monate waren vergangen, und sie war immer noch wütend auf diesen Taubstummen. Wie hieß er, hatte sie gesagt? Andros? Lloyd zog ein zerfleddertes schwarzes Notizbuch aus der Tasche, benetzte einen Finger und schlug eine leere Seite auf. Dies war sein Merkbuch, und es war randvoll von kleinen Notizen an ihn selbst - ob es nun darum ging, sich zu rasieren, bevor er Flagg aufsuchte, oder um eine umrandete Notiz, wonach die Medikamentenbestände der Apotheken in Vegas zu registrieren waren, bevor zuviel Morphium oder Kodein verloren ging. Er würde sich bald ein neues Notizbuch zulegen müssen. In seiner ungelenken Grundschulschrift schrieb er: Nick Andros oder Androtes - taubstumm. In der Stadt? Und darunter: Tom Cullen, bei Paul überprüfen. Er steckte das Buch in die Tasche zurück. Vierzig Meilen weiter nordöstlich hatte der dunkle Mann unter den funkelnden Sternen der Wüste seine langfristige Verbindung mit Nadine Cross vollzogen. Es hätte ihn sehr interessiert zu erfahren, daß ein Freund von Nick Andros in Las Vegas war. Aber er schlief. Lloyd betrachtete mürrisch seine Patience und vergaß Julie Lawry und ihre Wut und ihren strammen kleinen Arsch. Er mogelte ein weiteres As hervor und dachte betrübt an den Mülleimermann und was Flagg vielleicht sagen - oder tun - würde, wenn Lloyd es ihm erzählte. Als Julie Lawry gerade die Cub Bar verließ, stand Tom Cullen in einem anderen Stadtteil am Aussichtsfenster seiner Wohnung und sah verträumt zum Vollmond hinauf. Es war Zeit zu gehen. Zeit zurückzugehen. Diese Wohnung war nicht wie sein Haus in Boulder. Diese Wohnung war möbliert, aber nicht geschmückt. Er hatte nicht einmal ein einziges Poster an die Wand geklebt, nicht einen ausgestopften Vogel an einen Klavierdraht gehängt. Diese Wohnung war nur eine Station am Wege gewesen, und jetzt war es Zeit zu gehen. Er war froh. Hier gefiel es ihm nicht. An diesem Ort roch es; es war ein trockener, fauliger Geruch, den man nicht genau definieren konnte. Die meisten Leute waren nett, und einige mochte er genauso gern wie die Leute in Boulder, Angie zum Beispiel und den kleinen Dinny. Keiner machte sich über ihn lustig, weil er langsam war. Sie hatten ihm einen Job gegeben, und sie machten Spaße mit ihm, und manchmal tauschten sie in der Mittagspause untereinander ihr Essen aus, wenn etwas besser aussah als etwas anderes. Es waren nette Leute, nicht viel anders als die Leute in Boulder, soweit er es beurteilen konnte, aber... Aber sie hatten diesen Geruch an sich. Sie schienen alle zu warten und zu beobachten. Manchmal herrschte ein seltsames Schweigen zwischen ihnen, und ihre Augen schienen glasig zu werden, als hätten sie alle denselben bösen Traum. Sie taten etwas, ohne eine Erklärung zu verlangen, warum sie es tun mußten oder wozu. Es war, als würden diese Leute fröhliche Gesichter zur Schau stellen, aber die wirklichen Gesichter darunter waren die Gesichter von Ungeheuern. Darüber hatte er mal einen gruseligen Film gesehen. Diese Art von Ungeheuern nannte man Werwolf. Geisterhaft, hoch und frei stand der Mond über der Wüste. Er hatte Dayna aus der Freien Zone gesehen. Er hatte sie nur einmal gesehen, und dann nie wieder. Was war mit ihr passiert? Hatte sie auch spioniert? War sie zurückgegangen? Er wußte es nicht. Aber er hatte Angst. Auf dem La-Z-Boy-Stuhl vor dem nutzlosen Farbfernseher der Wohnung stand ein kleiner Rucksack. Dieser Rucksack war mit vakuumversiegelten Lebensmitteln gefüllt. Er nahm ihn auf und hängte ihn sich um. Nachts wandern, am Tag schlafen. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er auf den Hof des Gebäudes hinaus. Der Mond schien so hell, daß er einen Schatten auf den riesigen Beton warf, wo früher Möchtegern-Gewinner ihre Autos mit den Nummernschildern anderer Staaten geparkt hatten. Er sah zu der geisterhaften Münze empor, die am Himmel schwebte. »M-O-N-D, das buchstabiert man Mond«, flüsterte er. »Meine Fresse, ja. Tom Cullen weiß, was das bedeutet.« Sein Fahrrad lehnte an der rosa Stuckmauer des Mietshauses. Er hielt noch einmal inne, rückte den Rucksack zurecht, stieg auf und brach Richtung Interstate auf. Um elf Uhr hatte er Las Vegas hinter sich gelassen und radelte auf der Standspur der 1-15 Richtung Osten. Niemand sah ihn. Kein Alarm wurde ausgelöst. Sein Verstand schaltete in einen angenehmen Leerlauf, wie meistens, wenn alles Wichtige erledigt war. Er radelte konstant dahin und dachte nur, daß sich der leichte Nachtwind angenehm auf seinem verschwitzten Gesicht anfühlte. Ab und zu mußte er um eine Sanddüne herumfahren, die aus der Wüste gekommen war und einen weißen, geisterhaften Arm über die Straße gelegt hatte, und als er die Stadt schon ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, mußte er sich auch mit liegengebliebenen Autos herumschlagen-sehet meine Werke, ihr Mächtigen, und verzweifelt, hätte Glen Bateman vielleicht in seiner ironischen Art gesagt. Um zwei Uhr nachts hielt er an und nahm einen leichten Imbiß aus Slim Jims, Crackern und Kool-Aid aus der großen Thermosflasche auf dem Gepäckträger zu sich. Dann fuhr er weiter. Der Mond war untergegangen. Las Vegas blieb mit jeder Umdrehung der Fahrradreifen weiter zurück. Das verbesserte seine Stimmung erheblich. Aber am Morgen des 13. September um Viertel vor vier wusch eine kalte Welle der Angst über ihn hinweg. Sie war um so schrecklicher, weil sie unerwartet kam und unlogisch war. Tom hätte laut geschrien, aber seine Stimmbänder waren plötzlich wie gefroren. Die Muskeln seiner tretenden Beine wurden schlaff, er rollte unter dem strahlenden Sternenhimmel entlang. Das schwarzweiße Negativ der Wüste zog immer langsamer an ihm vorüber. Er war in der Nähe. Der Mann ohne Gesicht, der Dämon, der nun auf Erden wandelte. Flagg. Den Boß nannten sie ihn. Den Grinsenden nannte Tom ihn insgeheim. Wenn man sein Grinsen sah, gerann einem das Blut in den Adern, und das Fleisch wurde kalt und grau. Der Mann, der eine Katze veranlassen konnte, Haarklumpen auszuwürgen, wenn er sie nur ansah. Wenn er über eine Baustelle ging, schlugen sich die Männer mit dem Hammer auf die Daumen und setzten Schindeln falsch ein und gingen wie Schlafwandler über das Ende des Gerüstes hinaus und... ... und, o du lieber Gott, er ist wach! Ein Wimmern drang aus Toms Kehle. Er spürte diese plötzliche Wachheit. Er schien zu sehen und zu fühlen, wie sich in der Dunkelheit des frühen Morgens ein Auge öffnete, ein entsetzliches rotes Auge, das noch vom Schlaf getrübt und verwirrt war. Es drehte sich in der Dunkelheit. Suchte. Suchte nach ihm. Es wußte, daß Tom Cullen da war, aber nicht genau, wo er war. Halb betäubt fand er die Pedale und fuhr weiter, schneller und schneller, beugte sich über den Lenker, um den Luftwiderstand zu verringern. Zuletzt flog er nur so dahin. Wäre ihm ein liegengebliebenes Auto im Weg gewesen, wäre er mit Vollgas dagegen gerast und hätte sich wahrscheinlich umgebracht. Aber ganz allmählich spürte er, daß er diese unheimliche, heiße Präsenz hinter sich gelassen hatte. Und das größte Wunder war, daß dieses fürchterliche rote Auge in seine Richtung geblickt und ihn nicht gesehen (vielleicht weil ich mich so weit über den Lenker gebeugt habe, dachte Tom Cullen zusammenhanglos) und sich wieder geschlossen hatte. Der dunkle Mann war wieder eingeschlafen. Wie fühlt sich ein Kaninchen, wenn der Schatten des Habichts auf es herabfährt wie ein dunkles Kruzifix... und dann weitersaust, ohne auch nur die Geschwindigkeit zu verringern? Wie fühlt sich eine Maus, wenn die Katze, die den ganzen Tag vor dem Loch gesessen hat, von ihrem Herrn gepackt und unzeremoniell durch die Haustür nach draußen befördert wird? Wie fühlt sich ein Reh, wenn es leise an dem gewaltigen Jäger vorbeizieht, der nach drei Flaschen Bier zum Mittagessen schnarcht? Vielleicht fühlen sie überhaupt nichts, oder vielleicht empfinden sie wie Tom Cullen, als er diese schwarze und gefährliche Einflußsphäre hinter sich gelassen hatte: eine gewaltige und fast elektrisierende Sonneneruption der Erleichterung; ein Gefühl der Wiedergeburt. Und ganz besonders das Gefühl einer nur knapp wiedergewonnenen Sicherheit und daß ein solches Glück sicher ein Zeichen des Himmels sein muß. Er fuhr bis fünf Uhr morgens. Vor ihm verwandelte sich der Himmel in das dunkelblau eingefaßte Gold des Sonnenaufgangs. Die Sterne verblaßten. Tom war hundemüde. Er fuhr noch ein Stück weiter und entdeckte etwa siebzig Meter rechts von der Straße eine steil abfallende Senke. Er schob sein Fahrrad hinüber in die trockene Grube. Fast instinktiv sammelte er genügend Gras und Zweige von Mesquitesträuchern, um das Fahrrad weitgehend zu bedecken. Ein paar Meter von seinem Fahrrad entfernt standen gegeneinandergelehnt zwei große Felsen. Er kroch in die schattige Spalte zwischen ihnen, legte die Jacke unter den Kopf und schlief fast auf der Stelle ein. 67 Der Wandelnde Geck war wieder in Vegas. Er war morgens gegen neun Uhr dreißig eingetroffen. Lloyd hatte ihn kommen sehen. Flagg hatte Lloyd gesehen, aber keine Notiz von ihm genommen. Er war mit einer Frau durch das Foyer des Grand gegangen. Obwohl fast niemand den dunklen Mann gern ansah, hatten sich alle nach der Frau umgedreht. Ihr Haar war schneeweiß. Sie hatte einen schrecklichen Sonnenbrand, so schlimm, daß Lloyd an die Opfer der Brandkatastrophe in Indian Springs denken mußte. Weißes Haar, schrecklicher Sonnenbrand, völlig leerer Blick. Ihre Augen blickten so ausdruckslos in die Welt, daß es über jede Gemütsruhe, ja selbst über Stumpfsinn hinausging. Lloyd hatte solche Augen schon einmal gesehen. In Los Angeles, als der dunkle Mann mit Eric Strellerton fertig war, dem Anwalt, der ihm sagen wollte, was zu tun war. Flagg sah niemanden an. Er grinste. Er führte die Frau zum Fahrstuhl. Die Türen schlossen sich hinter ihnen, sie fuhren ins oberste Stockwerk. Während der nächsten sechs Stunden beschäftigte Lloyd sich emsig damit, alles auf die Reihe zu bekommen, damit er vorbereitet war, wenn Flagg seinen Bericht verlangte. Er glaubte, alles unter Kontrolle zu haben. Er mußte nur noch Paul Burlson fragen, was er über diesen Tom Cullen hatte, falls Julie Lawry tatsächlich auf etwas gestoßen war. Lloyd hielt es für unwahrscheinlich, aber bei Flagg war es besser, auf Nummer Sicher zu gehen, als es später zu bereuen. Viel besser. Er nahm den Telefonhörer und wartete geduldig. Nach einer Weile knackte es, und er hatte Shirley Dunbars Tennessee-Dialekt im Ohr: »Vermittlung.« »Hi, Shirley, hier ist Lloyd.« »Lloyd Henreid! Wie geht's dir denn?« »Einigermaßen, Shirl. Versuchst du es bei 6214 für mich?« »Paul? Der ist nicht zu Hause. Er ist in Indian Springs. Aber ich könnte versuchen, ihn im HQ zu erreichen.« »Okay, versuch es.« »Mach' ich. Sag mal, Lloyd, wann kommst du eigentlich mal vorbei und versuchst meinen Kaffeekuchen? Ich backe alle zwei oder drei Tage einen neuen.« »Bald, Shirley«, sagte Lloyd und verzog das Gesicht. Shirley war vierzig, schätzungsweise hundertachtzig Pfund schwer... und hatte es auf Lloyd abgesehen. Er mußte sich ihretwegen eine Menge Spötteleien gefallen lassen, besonders von Whitney und Ronnie Sykes. Aber sie war eine ausgezeichnete Telefonistin, die mit dem Telefonnetz von Las Vegas wahre Wunder vollbringen konnte. Nach dem Strom war ihre oberste Priorität gewesen, die Telefone wieder einzuschalten, zumindest die wichtigsten Verbindungen, aber die meisten automatischen Relais waren durchgeschmort, daher mußten sie sich mit dem Äquivalent von Blechdosen und gewachsten Schnüren begnügen. Außerdem kam es ständig zu Ausfällen. Shirley handhabte das, was es zu handhaben gab, mit unvorstellbarem Geschick, und sie hatte viel Geduld mit den drei oder vier anderen Telefonistinnen, die noch lernten. Und sie machte wirklich einen köstlichen Kaffeekuchen. »Echt bald«, fügte er hinzu und dachte, wie schön es wäre, wenn man Julie Lawrys festen, runden Körper mit den Fähigkeiten und der sanften, geduldigen Natur von Shirley Dunbar verbinden könnte. Damit schien sie zufrieden. Es piepste und pupste in der Leitung, dann ein schrilles, hallendes Heulen, bei dem er den Hörer vom Ohr nahm und das Gesicht verzog. Dann läutete das Telefon am anderen Ende - eine Reihe heiserer Schnurrlaute. »Bailey, HQ«, sagte eine Stimme, die durch die Entfernung blechern klang. »Hier ist Lloyd«, brüllte er ins Telefon. »Ist Paul da?« »Was für ein Gaul, Lloyd?« »Paul! Paul Burlson!« »Ach der! Ja, der ist da, trinkt gerade eine Cola.« Eine Pause - Lloyd dachte schon, die dürftige Verbindung wäre unterbrochen -, und dann war Paul am Apparat. »Wir müssen schreien, Paul. Die Verbindung ist beschissen.« Lloyd war nicht ganz sicher, ob Paul Burlsons Lunge zum Schreien ausreichte. Er war ein hagerer kleiner Kerl mit dicker Brille, und manche Männer nannten ihn Mr. Cool, weil er selbst in der trockenen Hitze von Vegas jeden Tag einen dreiteiligen Anzug trug. Aber im Zusammentragen von Informationen war er einsame Spitze, und Flagg hatte Lloyd in einer mitteilsamen Stimmung einmal anvertraut, daß Burlson spätestens 1995 Chef der Geheimpolizei sein würde. Und diese Aufgabe wird er soooo gut erfüllen, hatte Flagg freundlich lächelnd hinzugefügt. Paul schaffte es tatsächlich, ein wenig lauter zu sprechen. »Hast du dein Einwohnerverzeichnis bei dir?« fragte Lloyd. »Ja. Stan Bailey und ich haben uns gerade über ein Arbeitsrotationsprogramm unterhalten.« »Würdest du bitte prüfen, ob du etwas über einen Mann namens Tom Cullen hast?« »Einen Augenblick.« Der Augenblick wurde zu drei Minuten, und Lloyd dachte schon wieder, die Verbindung wäre unterbrochen. Dann sagte Paul: »Okay, Tom Cullen... Bist du noch da, Lloyd?« »Am Apparat.« »Bei dem Telefon kann man nie sicher sein. Er muß zwischen zweiundzwanzig und fünfunddreißig Jahre alt sein. Geistig leicht zurückgeblieben. Er kann gut arbeiten. Ist bei den Reinigungstrupps beschäftigt.« »Wie lange ist er schon in Vegas?« »Nicht ganz drei Wochen.« »Aus Colorado?« »Ja, aber wir haben ein Dutzend Leute hier, die es dort drüben versucht haben und denen es nicht gefallen hat. Diesen Mann haben sie davongejagt. Er hat sich mit einer normalen Frau eingelassen, und sie hatten wohl Angst um ihr genetisches Reservoir.« Paul lachte. »Hast du seine Adresse?« Paul gab sie ihm, und Lloyd schrieb sie in sein Notizbuch. »Ist das alles, Lloyd?« »Noch ein Name, wenn du Zeit hast.« Paul lachte - das geschäftige Lachen eines kleinen Mannes. »Natürlich, es ist ja nur meine Kaffeepause.« »Der Name ist Nick Andros.« Paul sagte sofort: »Der Name steht auf meiner roten Liste.« »So?« Lloyd dachte so schnell er konnte, was nicht gerade Lichtgeschwindigkeit war. Er hatte kein Ahnung, was Pauls »rote Liste« sein könnte. »Wer hat dir den Namen gegeben?« Paul sagte gereizt: »Wer schon? Derselbe Mann, der mir alle Namen auf der roten Liste gegeben hat.« »Oh. Okay.« Lloyd verabschiedete sich und legte auf. Eine private Unterhaltung wäre bei der schlechten Verbindung unmöglich gewesen, und Lloyd mußte über so vieles nachdenken, daß er auch keine Lust dazu gehabt hätte. Rote Liste. Namen, die Flagg offenbar nur Paul und niemandem sonst gegeben hatte - wenn Paul auch angenommen hatte, daß Lloyd alles darüber wußte. Rote Liste, was bedeutet das? Rot bedeutet Halt. Rot bedeutete Gefahr. Lloyd nahm den Hörer wieder ab. »Vermittlung.« »Noch mal Lloyd, Shirl.« »Nun, Lloyd, hast du...« »Shirley, ich hab' keine Zeit für Schwätzchen. Ich bin möglicherweise etwas Großem auf der Spur.« »Okay, Lloyd.« Shirleys Stimme klang nicht mehr flirtend, sondern war plötzlich rein geschäftlich. »Wer hat Sicherheitsdienst?« »Barry Dorgan.« »Verbinde mich mit ihm. Und ich habe dich nie angerufen.« »Ja, Lloyd.« Plötzlich klang sie ängstlich. Lloyd hatte auch Angst, aber er war auch aufgeregt. Einen Augenblick später war Dorgan am Apparat. Er war ein guter Mann, wofür Lloyd unendlich dankbar war. Zu viele Männer von Schlage Poke Freemans hatten sich für den Polizeidienst gemeldet. »Ich möchte, daß du jemand für mich verhaftest«, sagte Lloyd. »Lebend. Ich muß ihn lebend bekommen, auch wenn du dabei Männer verlierst. Sein Name ist Tom Cullen, und du findest ihn wahrscheinlich zu Hause. Bring ihn ins Grand.« Er nannte Barry Toms Adresse und ließ sie sich wiederholen. »Wie wichtig ist es, Lloyd?« »Sehr wichtig. Wenn du das richtig machst, wird jemand über mir dir sehr dankbar sein.« »Okay.« Barry legte auf, und Lloyd hoffte, daß er auch den Umkehrschluß verstanden hatte: Wenn du es vermasselst, wird jemand über mir sehr böse auf dich sein... Barry rief eine Stunde später zurück und sagte, er wäre ziemlich sicher, daß Tom Cullen abgehauen war. »Aber er ist schwachsinnig«, fuhr Barry fort. »Und er kann nicht fahren. Nicht einmal einen Motorroller. Wenn er nach Osten will, kann er höchstens Dry Lake erreicht haben. Wir können ihn noch erwischen, Lloyd, gib mir grünes Licht.« Barry gehörte zu den vier oder fünf Leuten in Vegas, die von den Spionen wußten, und er hatte Lloyds Gedanken gelesen. »Ich muß darüber nachdenken«, sagte Lloyd und legte auf, bevor Barry protestieren konnte. Er konnte schon besser denken, als er es in der Zeit vor der Grippe jemals für möglich gehalten hätte, aber er wußte, daß diese Angelegenheit eine Nummer zu groß für ihn war. Und außerdem machte ihm die Sache mit der Roten Liste Sorgen. Warum hatte er nichts darüber erfahren? Zum ersten Mal, seit er Flagg in Phoenix kennengelernt hatte, beschlich ihn das mulmige Gefühl, daß seine Position ins Wanken geraten könnte. Geheimnisse wurden gewahrt. Sie konnten Cullen noch erwischen; Carl Hough und Bill Jamieson konnten beide die Armeehubschrauber fliegen, die in Indian Springs im Hangar standen, und wenn nötig, konnten sie jede Straße, die von Nevada nach Osten führte, sperren lassen. Außerdem war der Bursche nicht Jack the Ripper oder Dr. Octopus; er war ein Schwachsinniger auf der Flucht. Aber mein Gott! Wenn er von diesem Andros oder wie auch immer gewußt hätte, bevor Julie Lawry ihn aufsuchte, hätten sie ihn direkt in seiner kleinen Wohnung im Norden von Vegas festnehmen können. Irgendwo in ihm hatte sich eine Tür geöffnet und einen kalten Hauch von Angst hereingelassen. Flagg hatte etwas vermasselt. Und Flagg war imstande, Lloyd Henreid zu mißtrauen. Und das war groooooße Scheiße. Trotzdem mußte er davon erfahren. Lloyd wollte die Entscheidung, eine weitere Menschenjagd zu veranstalten, nicht selbst treffen. Nicht nach der Sache mit dem Richter. Er stand auf, um zu den Haustelefonen zu gehen, und traf Whitney Horgan, der von dort kam. »Der Boß ist es, Lloyd«, sagte Whitney. »Er will dich sprechen.« »Gut«, sagte Lloyd und wunderte sich, daß seine Stimme so gelassen klang - er hatte mittlerweile große Angst. Und vor allem mußte er daran denken, daß er ohne Flagg längst in seiner Zelle in Phoenix verhungert wäre. Er durfte sich nichts vormachen; er gehörte dem dunklen Mann mit Haut und Haaren. Aber ich kann meine Arbeit nicht erledigen, wenn er mir Informationen vorenthält, dachte er, während er zum Fahrstuhl ging. Er drückte den Knopf für das Penthouse, worauf die Kabine rasch nach oben fuhr. Wieder hatte er dieses quälende, unglückliche Gefühl: Flagg hatte es nicht gewußt. Der dritte Spion war die ganze Zeit hier gewesen, und Flagg hatte es nicht gewußt. »Komm rein, Lloyd.« Flaggs träge lächelndes Gesicht über einem gediegenen blaukarierten Morgenmantel. Lloyd kam rein. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren; es war, als würde man in Grönland eine Freiluft-Suite betreten. Dennoch spürte Lloyd, als er an dem dunklen Mann vorbeiging, die Hitze, die dessen Körper ausstrahlte. Als wäre man in einem Zimmer mit einem kleinen, aber leistungsstarken Ofen. In der Ecke saß auf einem weißen Stuhl die Frau, die am Vormittag mit Flagg gekommen war. Ihr Haar war sorgfältig hochgesteckt, und sie trug ein Wickelkleid. Ihr Gesicht war blaß und ausdruckslos, ihr Anblick machte Lloyd frösteln. Als Teenager hatten er und ein paar Freunde einmal Dynamit von einer Baustelle gestohlen, gezündet und in den Lake Harrison geworfen, wo es explodierte. Die Augen der toten Fische, die anschließend an die Oberfläche trieben, hatten denselben leeren Blick gehabt. »Ich möchte dir Nadine Cross vorstellen«, sagte Flagg leise hinter ihm, worauf er zusammenzuckte. »Meine Frau.« Erschrocken sah Lloyd Flagg an, sah aber nur das spöttische Grinsen, die tanzenden Augen. »Meine Liebe, das ist Lloyd Henreid, meine rechte Hand. Lloyd und ich haben uns in Phoenix kennengelernt, wo Lloyd im Gefängnis sass und kurz davor war, einen Mitgefangenen zu verspeisen. Tatsächlich hat Lloyd sich vielleicht sogar schon eine kleine Vorspeise genommen. Richtig, Lloyd?« Lloyd errötete düster, sagte aber nichts, obwohl die Frau entweder plemplem oder so high wie der Mond war. »Gib ihm die Hand, meine Liebe«, sagte der dunkle Mann. Wie ein Roboter streckte Nadine die Hand aus. Ihre Augen sahen weiterhin gleichgültig auf einen Punkt irgendwo über Lloyds Schulter. Mein Gott, ist das unheimlich, dachte Lloyd. Trotz der Kälte der Klimaanlage war ihm am ganzen Körper leichter Schweiss ausgebrochen. »Erfreutsiekennenzulernen«, sagte er und schüttelte das warme Fleisch ihrer Hand. Danach mußte er den fast übermäßigen Drang beherrschen, sich seine Hand am Hosenbein abzuwischen. Nadines Hand hing weiter schlaff in der Luft. »Du kannst die Hand wieder runternehmen, Liebes«, sagte Flagg. Nadine legte die Hand in den Schoß zurück, wo sie anfing zu zucken und sich zu winden. Lloyd merkte voll Entsetzen, daß sie masturbierte. »Meine Frau ist indisponiert«, sagte Flagg und kicherte. »Außerdem ist sie in anderen Umständen, wie man so sagt. Du kannst mir gratulieren, Lloyd. Ich werde Papa.« Wieder dieses Kichern; wie das leichtfüßige Huschen von Ratten hinter einer alten Mauer. »Ich gratuliere«, sagte Lloyd mit Lippen, die sich blau und taub anfühlten. »Wir können uns in Nadines Gegenwart über alles unterhalten, oder nicht, Liebes? Sie schweigt wie ein Grab. Mutterseelenallein, um einen kleinen Scherz zu machen. Was ist mit Indian Springs?« Lloyd blinzelte und versuchte, seinen Verstand einzuschalten; er fühlte sich nackt und in der Defensive. »Alles gut«, sagte er endlich. »Alles gut?« Der dunkle Mann beugte sich vor, und einen Augenblick lang war Lloyd überzeugt, daß er den Mund aufreißen und ihm den Kopf wie ein Tootsie-Pop abbeißen würde. Er wich zurück. »Das kann ich kaum eine ausführliche Analyse nennen, Lloyd.« »Da sind ein paar andere Angelegenheiten.« »Wenn ich von anderen Angelegenheiten reden will, dann werde ich mich erkundigen.« Flagg hob die Stimme, die unangenehm in die Nähe eines Kreischens geriet. Lloyd hatte noch nie einen so radikalen Stimmungsumschwung erlebt und hatte Angst. »Im Augenblick will ich einen Zustandsbericht über Indian Springs, und es wäre gut, wenn du mir einen geben könntest, Lloyd, in deinem eigenen Interesse wäre es gut, wenn du mir einen geben könntest!« »Ja, gut«, murmelte Lloyd. »Gut.« Er fummelte sein Notizbuch aus der Gesäßtasche, und in der nächsten halben Stunde sprachen sie über Indian Springs, die Jets der Nationalgarde und die ShrikeRaketen. Flagg entspannte sich wieder - aber das war schwer zu sagen, und es war ziemlich schlecht, etwas als gegeben zu nehmen, wenn man es mit dem Wandelnden Gecken zu tun hatte. »Glaubst du, sie könnten Boulder in zwei Wochen überfliegen?« fragte er. »Sagen wir... am ersten Oktober?« »Carl wahrscheinlich schon«, sagte Lloyd zweifelnd. »Bei den anderen beiden weiß ich es nicht genau.« »Ich wünsche, daß sie bereit sind«, murmelte Flagg. Er stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Die Leute sollen sich im nächsten Frühjahr in Löchern verstecken. Ich will sie nachts treffen, wenn sie schlafen. Ich will die Stadt von einem Ende zum anderen verwüsten. Sie soll so aussehen wie Hamburg und Dresden im Zweiten Weltkrieg.« Er wandte sich Lloyd zu, und sein Gesicht war kalkweiß, die dunklen Augen funkelten voll innerem Feuer daraus hervor. Sein Grinsen war wie ein Krummsäbel. »Ich werde sie lehren, Spione zu schicken. Wenn das Frühjahr kommt, werden sie in Höhlen leben. Dann gehen wir rüber und veranstalten eine Schweinejagd. Wir werden sie lehren, Spione zu schicken.« Endlich fand Lloyd die Sprache wieder. »Der dritte Spion...« »Wir finden ihn, Lloyd. Mach dir keine Sorgen. Wir finden den Dreckskerl.« Das Lächeln war wieder da, voll dunklem Charme. Aber Lloyd hatte einen Augenblick wütender und verwirrter Angst gesehen, bevor das Lächeln zurückkehrte. »Ich glaube, wir wissen, wer er ist«, sagte Lloyd leise. Flagg hatte eine kleine Statuette aus Jade in den Händen gedreht und betrachtet. Jetzt erstarrten seine Hände. Er wurde ganz still, und ein seltsam konzentrierter Ausdruck schlich sich in sein Gesicht. Zum ersten Mal bewegte diese Cross die Augen, erst zu Flagg, dann hastig wieder weg. Die Luft im Penthouse schien dicker zu werden. »Was? Was hast du gesagt?« »Der dritte Spion...« »Nein«, sagte Flagg plötzlich energisch. »Du siehst Gespenster, Lloyd.« »Wenn ich die Sache richtig sehe, ist er der Freund eines Mannes namens Nick Andros.« Die Jadefigur glitt Flagg durch die Finger und zerschellte. Einen Augenblick später wurde Lloyd am Hemd aus dem Sessel gerissen. Flagg hatte sich so schnell durch den Raum bewegt, daß Lloyd ihn nicht einmal gesehen hatte. Und dann hatte er Flaggs Gesicht direkt vor seinem, die grauenhafte Hitze versengte ihn, und Flaggs schwarze Wieselaugen waren nur zwei Zentimeter von seinen entfernt. Flagg schrie: »Und du sitzt da und redest von Indian Springs! Ich sollte dich aus dem Fenster werfen!« Vielleicht erkannte Lloyd, daß der dunkle Mann verletztlich war, vielleicht war es auch nur das Wissen, daß Flagg ihn nicht umbringen würde, bevor er alle Informationen aus ihm herausgeholt hatte - jedenfalls löste sich Lloyd die Zunge, und er verteidigte sich. »Ich habe versucht, es Ihnen zu sagen!« schrie er. »Aber Sie haben mir das Wort abgeschnitten! Und Sie haben mir nichts von der Roten Liste gesagt, was immer das ist! Wenn ich davon gewußt hätte, wäre der verdammte Schwachsinnige schon gestern abend festgenommen worden!« Dann wurde er durch das Zimmer geschleudert und prallte gegen die hintere Wand. Sterne explodierten in seinem Kopf; er sank benommen auf den Parkettboden. Er schüttelte den Kopf, um ihn zu klären. Ein hoher Summton ertönte in seinen Ohren. Flagg schien verrückt geworden zu sein. Mit ruckartigen Bewegungen eilte er durch den Raum, sein Gesicht war schwarz vor Wut. Nadine war förmlich in ihren Sessel hineingekrochen. Flagg kam zu einem Krimskrams-Regal, das von einem Zoo milchig-grüner Jadetiere bevölkert wurde. Er betrachtete sie einen Augenblick beinahe verwirrt, dann fegte er sie alle zu Boden. Sie zerschellten wie winzige Handgranaten. Die größeren Stücke trat er mit den bloßen Füßen, daß sie durch die Luft flogen. Sein dunkles Haar war ihm in die Stirn gefallen. Er warf es mit einer heftigen Kopfbewegung zurück, dann wandte er sich Lloyd zu. Sein Gesicht zeigte eine groteske Mischung von Sympathie und Mitleid - beide Gefühle genauso echt wie ein Dreidollarschein, sagte sich Lloyd. Flagg kam her, um ihm wieder auf die Beine zu helfen, und Lloyd bemerkte, dass er mit seinen nackten Füßen auf scharfgezackte Jadestücke trat, anscheinend ohne Schmerzen zu empfinden... und ohne zu bluten. »Tut mir leid«, sagte Flagg. »Wir sollten einen Drink nehmen.« Er streckte die Hand aus und half Lloyd auf die Füße. Wie ein Kind, das einen Wutanfall hat, dachte Lloyd. »Bourbon pur, richtig?« »Gern.« Flagg ging zur Bar und schenkte monströse Drinks ein. Lloyd vernichtete seinen halb auf einen Zug. Das Glas wackelte ein wenig auf dem Tisch, als er es absetzte. Aber er fühlte sich etwas besser. Flagg sagte: »Ich hätte nicht gedacht, daß du die Rote Liste je brauchen würdest. Auf der Liste standen acht Namen - jetzt sind es noch fünf. Es waren ursprünglich die Mitglieder ihres Verwaltungsrats und die alte Frau. Andros gehörte dazu. Aber er ist tot. Ja, Andros ist tot, davon bin ich überzeugt.« Er betrachtete Lloyd mit einem düsteren, haßerfüllten Blick. Lloyd erzählte seine Geschichte, wobei er gelegentlich in sein Notizbuch sah. Er fing an mit Julie Lawry und endete mit Barry Dorgan. »Du sagst, er ist geistig zurückgeblieben«, sagte Flagg nachdenklich. »Ja.« Ein glücklicher Ausdruck huschte über Flaggs Gesicht; er nickte langsam. »Ja«, sagte er, aber nicht zu Lloyd. »Ja, deshalb konnte ich ihn nicht sehen ...» Er verstummte und ging ans Telefon. Augenblicke später sprach er mit Barry. »Die Hubschrauber. Du setzt Carl in einen und Bill Jamieson in den anderen. Ständiger Funkkontakt. Schick sechzig - nein, hundert - Männer los. Sperrt alle Straßen, die aus dem östlichen und südlichen Nevada hinausführen. Sorg dafür, daß alle Cullens Beschreibung haben. Ich wünsche stündliche Berichte.« Er legte auf und rieb sich vergnügt die Hände. »Wir erwischen ihn. Ich wollte, wir könnten seinem Busenfreund Andros seinen Kopf schicken. Aber Andros ist tot. Nicht wahr, Nadine?« Nadine starrte teilnahmslos vor sich hin. »Die Hubschrauber werden uns heute nicht mehr viel nützen«, sagte Lloyd. »In drei Stunden ist es dunkel.« »Hör auf zu unken, Lloyd«, sagte der dunkle Mann fröhlich. »Morgen ist noch Zeit genug für einen Hubschrauber. Er kann nicht weit sein. Nein, nicht sehr weit.« Lloyd knetete nervös sein Notizbuch in den Händen und wünschte sich sehnlichst, irgendwo anders zu sein, nur nicht hier. Flagg war jetzt bei guter Laune, aber Lloyd glaubte nicht, daß er es noch sein würde, wenn er das mit Müll erfahren hatte. »Ich habe noch etwas«, sagte er zögernd. »Es geht um den Mülleimermann.« Er fragte sich, ob er damit wieder einen Wutausbruch wie den auslösen würde, bei dem die Jadefiguren zu Bruch gegangen waren. »Der liebe Mülli. Ist er wieder auf einer Erkundungsreise?« »Ich weiß nicht, wo er ist. Bevor er wieder aufgebrochen ist, hat er sich in Indian Springs ein Ding geleistet.« Er erzählte die Geschichte, wie Carl sie ihm am Vortag erzählt hatte. Flaggs Gesicht verdunkelte sich, als er hörte, daß Freddy Campanari seine Verbrennungen nicht überleben würde, aber als Lloyd seinen Bericht beendet hatte, war sein Gesicht wieder heiter. Statt in Wut auszubrechen, machte Flagg nur eine ungeduldige Handbewegung. »Nun gut. Wenn er zurückkommt, soll er getötet werden. Aber schnell und schmerzlos. Ich will nicht, daß er leidet. Ich hatte gehofft, daß er... länger durchhalten würde. Du verstehst das wahrscheinlich nicht, Lloyd, aber ich habe mich diesem Jungen immer irgendwie... verwandt gefühlt. Ich dachte, ich könnte ihn brauchen - und das konnte ich auch -, aber ganz sicher war ich nie. Selbst ein meisterhafter Bildhauer mag eines Tages feststellen, daß sich das Messer in seiner Hand gedreht hat, wenn das Messer nichts taugt. Richtig, Lloyd?« Lloyd, der von Bildhauerei und Bildhauermessern nicht die geringste Ahnung hatte (er dachte, Bildhauer gebrauchen Hammer und Meißel), nickte zustimmend. »Klar.« »Jedenfalls hat er uns wertvolle Dienste geleistet, indem er die Shrikes klargemacht hat. Das war er doch, oder nicht?« »Ja, das war er.« »Er wird zurückkommen. Sag Barry, daß Müll... von seinem Elend erlöst werden soll. Wenn möglich, schmerzlos. Im Augenblick mache ich mir mehr Gedanken um diesen schwachsinnigen Jungen östlich von uns. Ich könnte ihn ziehen lassen, aber es geht ums Prinzip. Vielleicht können wir die Sache sogar noch vor Einbruch der Dunkelheit zum Abschluß bringen. Glaubst du nicht auch, Liebes?« Er kauerte jetzt neben Nadines Stuhl. Er strich ihr über die Wange, und sie zuckte zurück, als wäre sie mit einem rotglühenden Schürhaken berührt worden. Flagg grinste und berührte sie noch einmal. Diesmal ließ sie es sich schaudernd gefallen. »Der Mond«, sagte Flagg entzückt. Er sprang auf. »Wenn die Hubschrauber ihn vor Einbruch der Dunkelheit nicht finden, haben sie heute nacht den Mond. Im übrigen möchte ich wetten, daß er gerade jetzt am hellichten Tag die 1-15 entlangfährt. Er erwartet, dass der Gott der alten Frau ihn beschützt. Aber sie ist auch tot, nicht wahr, mein Liebes?« Flagg lachte fröhlich, das Lachen eines glücklichen Kindes. »Und ihr Gott vermutlich auch. Alles wird gut. Und Randy Flagg wird Pa-pa.« Wieder berührte er ihre Wange. Sie stöhnte wie ein verwundetes Tier. Lloyd leckte sich die trockenen Lippen. »Ich verschwinde jetzt, wenn es Ihnen recht ist.« »Gut, Lloyd, gut.« Der dunkle Mann drehte sich nicht um; er betrachtete verzückt Nadines Gesicht. »Alles wird gut. Sehr gut.« Lloyd verschwand, so schnell er konnte, er rannte fast. Im Fahrstuhl überkam es ihn plötzlich, und er mußte den NOTHALT-Knopf drücken, weil Hysterie ihn zu überwältigen drohte. Er lachte und weinte fast fünf Minuten. Als sich der Sturm gelegt hatte, fühlte er sich ein wenig besser. Er bricht nicht zusammen, sagte Lloyd sich. Es gibt ein paar Probleme, aber die hat er im Griff. Das Spiel wird am 1. Oktober vorbei sein, am 15. auf jeden Fall. Alles wird gut, wie er sagt, es spielt keine Rolle, daß er mich fast umgebracht hätte... auch nicht, daß er seltsamer wirkt als je zuvor... Fünfzehn Minuten später wurde Lloyd von Stan Bailey aus Indian Springs angerufen. Stan war fast hysterisch, hin und her gerissen zwischen Wut auf Müll und Angst vor dem dunklen Mann. Carl Hough und Bill Jamieson waren am Nachmittag um sechs Uhr zwei in Indian Springs zu einem Aufklärungsflug gestartet, um die Gegend östlich von Vegas zu erkunden. Carl hatte Cliff Benson, einen Piloten in Ausbildung, als Beobachter mitgenommen. Um sechs Uhr zwölf waren beide Hubschrauber in der Luft explodiert. Obwohl Stan völlig außer sich war, hatte er fünf Männer zu Hangar 9 geschickt, wo die beiden anderen Maschinen und drei große Baby Huey Hubschrauber standen. An allen fünf Hubschraubern waren Sprengsätze mit Zeitzündern aus Küchenuhren angebracht. Die Zünder waren anders als die, die Müll an den Tankwagen angebracht hatte, aber ziemlich ähnlich. Es war kaum ein Zweifel möglich. »Es war der Mülleimermann«, sagte Stan. »Er hat durchgedreht. Gott weiß, was er sonst noch mit Zündern versehen hat.« »Alles überprüfen«, sagte Lloyd. Sein Herzschlag war wild und rasend vor Angst. Adrenalin strömte kochend durch seinen Körper, und es kam ihm vor, als wollten ihm die Augen aus dem Kopf springen. »Jeden Winkel überprüfen! Jag sämtliche Leute dieser gottverdammten Anlagen von einem Ende zum anderen. Hast du mich verstanden, Stan?« »Warum die Mühe?« »Warum die Mühe?« schrie Lloyd. »Muß ich dir erst eine Zeichnung machen, Pißkopf? Was soll der Boß sagen, wenn die ganze Anlage...« »Alle Piloten sind tot«, sagte Stan leise. »Begreifst du nicht, Lloyd? Sogar Cliff, und der war nicht besonders gut. Wir haben sechs Leute, die noch weit von ihrem ersten Alleinflug entfernt sind, und keine Ausbilder. Wozu brauchen wir die Jets noch, Lloyd?« Und er legte auf. Lloyd war wie betäubt, aber endlich begriff er. Tom Cullen wachte an diesem Abend kurz nach halb zehn steif und durstig auf. Er trank einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche, kroch zwischen den beiden schrägen Felsen hervor und sah zum dunklen Himmel auf. Dort stand der Mond geheimnisvoll und heiter. Es war Zeit weiterzufahren. Aber er mußte vorsichtig sein, meine Fresse, ja. Denn jetzt waren sie hinter ihm her. Er hatte einen Traum gehabt. Nick hatte mit ihm gesprochen, und das war seltsam, denn Nick konnte nicht sprechen. Er war M-O-N-D, und das buchstabierte man taubstumm. Er mußte immer alles aufschreiben, und Tom konnte kaum lesen. Aber Träume waren komisch, im Traum konnte alles passieren, und in Toms Traum hatte Nick gesprochen. Nick sagte: »Sie wissen jetzt von dir, Tom, aber es war nicht deine Schuld. Du hast alles richtig gemacht. Es war Pech. Aber du mußt vorsichtig sein. Du mußt von der Straße runter, Tom, aber du mußt weiter nach Osten gehen.« Nach Osten, das verstand Tom, aber nicht, wie er es anstellen sollte, daß er sich in der Wüste nicht verirrte. Vielleicht würde er dauernd im Kreis herumlaufen. »Du wirst es wissen«, sagte Nick. »Zuerst mußt du nach dem Finger Gottes Ausschau halten...« Tom hängte die Feldflasche wieder an den Gürtel und zog den Rucksack auf. Er ließ das Fahrrad liegen und ging zu Fuß zur Straße zurück. Als er die Böschung hochgeklettert war, sah er nach allen Seiten. Er ging über den Mittelstreifen, sah sich noch einmal vorsichtig um, dann stapfte er quer über die nach Westen führenden Spuren der 1-15. Sie wissen jetzt von dir. Er blieb mit dem Fuß an der Leitplanke hängen und stürzte die Böschung hinab. Er blieb einen Augenblick mit klopfendem Herzen zusammengekrümmt liegen. Außer dem schwachen Wind, der über den rissigen Wüstenboden strich, war kein Laut zu hören. Er stand auf und studierte den Horizont. Er hatte gute Augen, und die Wüstenluft war kristallklar. Bald hatte er ihn entdeckt: Er ragte wie ein Ausrufungszeichen in den sternenübersäten Himmel. Der Finger Gottes. Wenn er genau nach Osten sah, stand der Granitmonolith bei zehn Uhr. Er glaubte, daß er ihn in ein oder zwei Stunden erreichen würde. Aber die klare vergrößernde Luft hatte schon erfahrenere Wanderer als Tom Cullen getäuscht, und er wunderte sich, daß der steinerne Finger immer gleich weit entfernt zu sein schien. Mitternacht verstrich, dann zwei Uhr. Die große Sternenuhr am Hirnmel hatte sich einmal gedreht. Tom fragte sich, ob der Felsen, der so sehr wie ein emporgereckter Finger aussah, vielleicht eine Fata Morgana war. Er rieb sich die Augen, aber er war immer noch da. Die Straße hinter ihm war längst in der Dunkelheit verschwunden. Als er wieder zum Finger hinüberschaute, kam er ihm ein wenig näher vor, und gegen vier Uhr, als eine innere Stimme ihm zuflüsterte, es sei Zeit, sich für den kommenden Tag ein Versteck zu suchen, stand fest, daß er diesem Wahrzeichen ein gutes Stück näher gekommen war. In dieser Nacht würde er ihn allerdings nicht mehr erreichen. Und wenn er ihn erreicht hatte (immer vorausgesetzt, sie fanden ihn tagsüber nicht)? Was dann? Das war unwichtig. Nick würde es ihm sagen. Der gute alte Nick. Tom konnte es kaum erwarten, nach Boulder zu kommen und ihn wiederzusehen, meine Fresse, ja. Im Schatten eines großen Felsens fand er ein einigermaßen bequemes Lager und schlief fast sofort ein. Er war in dieser Nacht ungefähr dreißig Meilen nach Nordosten gegangen und näherte sich den Mormon Mountains. Am Nachmittag kroch eine Klapperschlange zu ihm herein, um der Hitze des Tages zu entgehen. Sie rollte sich neben Tom zusammen, schlief eine Weile und zog dann weiter. Flagg stand an diesem Nachmittag am Rand des Sonnendecks auf dem Dach und sah nach Osten. In vier Stunden würde die Sonne untergehen, und der Schwachsinnige würde sich wieder auf den Weg machen. Ein starker und beständiger Wüstenwind wehte ihm das dunkle Haar aus der heißen Stirn. Die Stadt hörte so unvermittelt auf und wich der Wüste. Ein paar Reklametafeln am Rande des Nirgendwo, das war alles. So viel Wüste, so viele Stellen, sich zu verstecken. Es waren schon oft Männer in diese Wüste gewandert und nie wieder gesehen worden. »Aber diesmal nicht«, flüsterte er. »Ich werde ihn erwischen. Ich werde ihn erwischen.« Er hätte nicht erklären können, warum es so wichtig war, den Schwachsinnigen zu fangen; die Vernunftgründe an diesem Problem entfielen ihm immer wieder. Er empfand in zunehmendem Maße den Drang, einfach zu handeln, sich zu bewegen, etwas zu tun. Zu zerstören. Gestern abend, als Lloyd ihm von den Hubschrauberabstürzen und dem Tod der drei Piloten berichtete, hatte er seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten müssen, um nicht in brüllende Raserei zu verfallen. Sein erster Impuls war gewesen, auf der Stelle eine bewaffnete Macht zu versammeln - Panzer, Flammenwerfer, Panzerfahrzeuge und alles, was dazugehört. Sie konnten in fünf Tagen in Boulder sein. Der ganze stinkende Dreck wäre in anderthalb Wochen ausgeräumt. Gewiß. Aber wenn auf den Bergpässen schon früh Schnee lag, wäre das das Ende seiner großartigen »Wehrmacht«. Und es war schon der 14. September. Gutes Wetter konnte man nicht mehr unbedingt voraussetzen. Wie, um alles in der Welt, hatte die Zeit so schnell vergehen können? Aber er war der mächtigste Mann der Welt, oder? Es mochte Leute wie ihn in Rußland geben, in China oder im Iran, aber das war frühestens in zehn Jahren ein Problem. Jetzt war nur eins wichtig, er mußte überlegen bleiben, er wußte es, er fühlte es. Er war stark, mehr konnte der Schwachsinnige seinen Leuten nicht sagen... wenn er sich nicht in der Wüste verirrte oder in den Bergen erfror. Er konnte ihnen nur sagen, daß Flaggs Leute in Angst vor dem Wandelnden Gecken lebten und seine Befehle bedingungslos ausführten. Er konnte ihnen nur Dinge erzählen, die ihre Moral noch weiter untergraben würden. Warum hatte er dann aber dieses ständige bohrende Gefühl, daß Cullen gefunden und getötet werden mußte, bevor er den Westen verlassen konnte? Weil ich es will, und weil ich auch bekommen werde, was ich will, und das ist Grund genug. Und der Mülleimermann. Er hatte geglaubt, Müll ganz einfach abschreiben zu können. Er hatte geglaubt, den Mülleimermann fortwerfen zu können wie ein schadhaftes Werkzeug. Aber ihm war gelungen, was die gesamte Freie Zone nicht fertiggebracht hätte: Er hatte Sand in das narrensichere Getriebe der Eroberungsmaschinerie des dunklen Mannes geworfen. Ich habe ihn falsch eingeschätzt... Ein verhaßter Gedanke, den er nicht bis zu seiner letzten Konsequenz verfolgen mochte. Er warf sein Glas über das niedere Geländer und sah, wie es sich glitzernd überschlug, hinauswirbelte und dann nach unten fiel. Ein beiläufiger Gedanke schoß ihm durch den Kopf, der Gedanke eines boshaften Kindes: Hoffentlich fällt es jemandem auf den Kopf. Weit unten fiel das Glas auf den Parkplatz und zerschellte - so weit unten, daß der dunkle Mann es nicht einmal hören konnte. Sie hatten in Indian Springs keine Bomben mehr gefunden. Sie hatten den ganzen Stützpunkt durchsucht. Offenbar hatte Müll seine Sprengladungen wahllos an den erstbesten Geräten angebracht, die er vorfand, an den Hubschraubern in Hangar 9 und den Tankwagen im Fuhrpark nebenan. Flagg hatte seinen Befehl wiederholt, daß der Mülleimermann zu erschießen war, sobald er sich blicken ließ. Der Gedanke an den Mülleimermann, der auf dem unermeßlichen Regierungsgelände herumstreunte, wo Gott weiß was zu finden war, machte ihn jetzt sichtlich nervös. Nervös. Ja. Die wunderbare Gewißheit verflüchtigte sich immer noch. Wann hatte dieser Verflüchtigungsprozeß begonnen? Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Er wußte nur, daß die Dinge an den Rändern unscharf wurden. Lloyd wußte es auch. Er konnte es daran sehen, wie Lloyd ihn betrachtete. Es war vielleicht keine schlechte Idee, wenn Lloyd einen Unfall hatte, ehe der Winter zu Ende ging. Er war Busenfreund von zu vielen Arschlöchern hier, Leuten wie Whitney Horgan und Ken DeMott. Sogar Burlson, der die Sache mit der Roten Liste verplappert hatte. Er hatte sich überlegt, ob er Burlson dafür bei lebendigem Leib die Haut abziehen sollte. Aber wenn Lloyd von der Roten Liste gewußt hätte, wäre das alles nicht... »Sei still«, murmelte er. »Sei... einfach... still!« Aber der Gedanke ließ sich nicht so leicht verdrängen. Warum hatte er Lloyd die Namen der Top-Leute der Freien Zone nicht mitgeteilt? Er wußte es nicht, konnte sich nicht mehr erinnern. Damals schien er gute Gründe dafür gehabt zu haben, aber je mehr er darüber nachdachte, um so mehr entglitten sie ihm. War es nur der bauernschlaue Entschluß gewesen, nicht zu viele Eier in einen Korb zu legen - das Gefühl, daß man einem einzelnen nicht zu viele Geheimnisse anvertrauen durfte, nicht einmal einem so dummen und loyalen Menschen wie Lloyd Henreid? Ein Ausdruck von Verwirrung wogte über sein Gesicht. Hatte er schon die ganze Zeit so dumme Entschlüsse gefaßt? Und wie loyal war Lloyd tatsächlich? Dieser seltsame Blick... Abrupt beschloß er, dies alles beiseitezuschieben und zu levitieren. Dabei fühlte er sich immer besser. Stärker und glücklicher, und sein Kopf wurde klarer. Er sah zum Himmel über der Wüste hinauf. (Ich bin, ich bin, ich bin, ICH BIN...) Seine abgelaufenen Absätze lösten sich vom Sonnendeck, schwebten, stiegen einen Zentimeter. Dann zwei. Er wurde ruhig und wußte plötzlich, daß er die Lösung finden würde. Alles war klarer. Zuerst mußte er... »Sie kommen, um dich zu erledigen.« Als er diese leise, monotone Stimme hörte, plumpste er wieder auf den Fußboden. Der Schock fuhr ihm durch Beine und Rückgrat bis in den Kiefer. Er wirbelte herum wie eine Katze. Aber sein aufkeimendes Grinsen erlosch, als er Nadine sah. Sie trug ein weißes Nachthemd, viele Meter gazeartigen Stoffs, der sich um ihren Körper bauschte. Ihr Haar war so weiß wie ihr Kleid und wehte um ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine bleiche, irre Sibylle, und Flagg hatte Angst, er konnte nicht anders. Sie trat vorsichtig an ihn heran. Ihre Füße waren nackt. »Sie kommen. Stu Redman, Glen Bateman, Ralph Brentner und Larry Underwood. Sie kommen, und sie werden dich töten wie ein Wiesel, das Hühner stiehlt.« »Sie sind in Boulder«, sagte er, »verstecken sich unter ihren Betten und trauern um das alte Niggerweib.« »Nein«, sagte sie interesselos. »Sie sind fast in Utah. Sie werden bald hier sein. Und sie werden dich ausmerzen wie eine Krankheit.« »Schweig. Geh nach unten.« »Ich werde nach unten gehen«, sagte sie, kam näher zu ihm, und nun war sie es, die lächelte - ein Lächeln, das ihn mit Grauen erfüllte. Die wütende Farbe schwand aus seinen Wangen, und die seltsame heiße Vitalität schien mit ihr zu schwinden. Einen Augenblick sah er alt und gebrechlich aus. »Ich werde untergehen... und du auch.« »Geh raus.« »Wir werden untergehen«, sang sie und lächelte... es war gräßlich. »Nach unten, nach unten... nach unten...« »Sie sind in Boulder!« »Sie sind fast hier.« »Mach, daß du rauskommst!« »Was du hier aufgebaut hast, fällt auseinander, und warum auch nicht? Die effektive Halbwertzeit des Bösen ist relativ kurz. Die Leute tuscheln über dich. Sie sagen, du hättest Tom Cullen entwischen lassen, einen schwachsinnigen Jungen, aber schlau genug, Randall Flagg zu überlisten.« Ihre Worte kamen immer schneller, sie sprudelten nur so zwischen dem höhnischen Lächeln hindurch. »Sie sagen, daß dein Waffenexperte verrückt geworden ist und du es nicht einmal vorhergesehen hast. Sie haben Angst, daß er aus der Wüste etwas holt, das gegen sie gerichtet sein könnte, statt gegen die Leute im Osten. Und sie verschwinden. Hast du das nicht gewußt?« »Du lügst«, flüsterte er. Sein Gesicht war weiß wie Pergament, seine Augen quollen aus den Höhlen. »Sie würden es nicht wagen. Und wenn, wüßte ich es.« Ihr leerer Blick ging über seine Schulter nach Osten. »Ich sehe sie«, flüsterte sie. »Sie verlassen mitten in der Nacht ihre Posten, und dein Auge sieht sie nicht. Sie verlassen ihre Posten und schleichen davon. Ein Arbeitstrupp zieht mit zwanzig Leuten aus, aber nur achtzehn kommen zurück. Die Grenzwachen desertieren. Sie fürchten, daß sich die Machtverhältnisse zu deinen Ungunsten verändern. Sie verlassen dich, verlassen dich, und die wenigen, die bleiben, werden keinen Finger rühren, wenn die Männer aus dem Osten kommen, um dich ein für allemal zu erledigen...« Es riß. Was immer in seinem Inneren war, es riß. »DU LÜGST!« schrie er sie an. Er packte sie so hart an den Schultern, daß ihr Schlüsselbein wie ein Bleistift zerbrach. Er hob ihren Körper hoch über den Kopf in den blaßblauen Wüstenhimmel, drehte sich auf den Absätzen um und schleuderte sie hoch und nach draußen, wie er das Glas geworfen hatte. Er sah ein Lächeln der Erleichterung und des Triumphes in ihrem Gesicht, sah die plötzliche Klarheit in ihren Augen und begriff. Sie hatte ihn überlistet. Sie hatte ihn gereizt, damit er es tat, denn sie hatte irgendwie gewußt, daß nur er sie erlösen konnte... Und sie trug sein Kind. Er beugte sich über das niedere Geländer und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Er wollte das Unwiderrufliche rückgängig machen. Ihr Nachthemd flatterte. Er erwischte einen Fetzen davon, und er hörte es reißen; der Stoff war so dünn, daß er durch ihn hindurch seine Finger sehen konnte - wie der Stoff des Traumes nach dem Erwachen. Dann war sie weg, stürzte mit den Füßen voran nach unten, und ihr Nachthemd bauschte sich hoch, bis es ihr Gesicht verhüllte. Sie schrie nicht. Sie stürzte lautlos, wie ein Feuerwerkskörper, der nicht gezündet hat. Als er das unbeschreibliche Geräusch des Aufpralls hörte, warf Flagg den Kopf zurück und heulte laut auf. Es war einerlei, es war einerlei. Er hatte immer noch alles in der Hand. Er beugte sich wieder über das Geländer und sah, wie Leute wie von einem Magneten angezogene Eisenspäne zusammenströmten. Oder wie Maden, die sich über die Innereien hermachen. Sie sahen so klein aus, und er stand so hoch über ihnen. Er beschloß zu levitieren, um sich wieder zu beruhigen. Aber es dauerte sehr, sehr lange, bis sich seine Füße vom Boden hoben, und sie schwebten nur einen halben Zentimeter über dem Beton. Höher wollten sie nicht. Tom wachte an diesem Abend um acht Uhr auf, aber es war noch zu hell. Er wartete. Im Schlaf war Nick wieder zu ihm gekommen, und sie hatten gesprochen. Es war schön, mit Nick zu sprechen. Er lag im Schatten des großen Felsens und sah, wie der Himmel dunkler wurde. Die Sterne kamen zum Vorschein. Er dachte an Pringle's New Fangled Potato Chips und wünschte, er hätte welche. Wenn er wieder in der Freien Zone war - wenn er die Zone überhaupt je erreichte -, würde er so viele bekommen, wie er wollte. Er würde sich an Pringle's Chips satt essen. Und er würde sich darüber freuen können, daß er Freunde hatte, die ihn mochten. Gerade das hatte ihm hier in Las Vegas gefehlt, überlegte er; einfach Liebe. Gewiß, es gab genug nette Leute, aber in ihnen war wenig Liebe. Sie waren zu sehr mit ihrer Angst beschäftigt. Und dort, wo es nur Angst gab, gedieh Liebe nicht besonders gut, ebensowenig wie Pflanzen an Stellen wuchsen, wo es immer dunkel war. Nur Pilze und Schimmel wurden dick und fett in der Dunkelheit, das wußte sogar er, meine Fresse, ja. »Ich liebe Nick und Frannie und Dick Ellis und Lucy«, flüsterte Tom. Das war sein Gebet. »Ich liebe auch Larry Underwood und Glen Batmean. Ich liebe Stan und Rona. Ich liebe Ralph. Ich liebe Stu. Ich liebe...« Es war seltsam, wie leicht ihm die Namen einfielen. Damals in der Zone war er schon froh, wenn er Stus Namen wußte, wenn der zu Besuch kam. Und jetzt mußte er an sein Spielzeug denken. Seine Garage, seine Autos, seine Modelleisenbahn. Stundenlang hatte er damit gespielt. Aber er fragte sich, ob er noch so oft damit spielen würde, wenn er zurückgekehrt war von diesem... wenn er zurückkehrte. Es würde nicht mehr dasselbe sein. Das war traurig, aber vielleicht hatte es auch sein Gutes. »Der Herr ist mein Hirte«, zitierte er leise. »Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Au. Er beschmiert meinen Kopf mit Öl. Er gibt mir Kung-Fu im Angesicht meiner Feinde. Amen.« Es war jetzt dunkel genug, und er zog weiter. Um elf Uhr dreißig in dieser Nacht erreichte er Gottes Finger; dort rastete er, um etwas zu essen. Das Gelände lag hoch, er hatte einen guten Ausblick. Wo er hergekommen war, sah er Lichter. Auf der Straße, dachte er. Sie suchen mich. Tom blickte wieder nach Nordosten. Weit entfernt, in der Dunkelheit kaum zu erkennen (der Mond, der seit zwei Tagen abnahm, ging langsam unter), sah er eine riesige runde Granitkuppel. Sie war sein nächstes Ziel. »Toms Füße sind wund«, flüsterte er, aber eigentlich war er ganz froh. Wunde Füße waren schlimm, aber es hätte noch schlimmer kommen können. »M-O-N-D und das buchstabiert man wunde Füße.« Er ging weiter, und die Nachtlebewesen wuselten vor ihm davon, und als er sich gegen Morgen hinlegte, hatte er fast vierzig Meilen geschafft. Die Grenze zwischen Nevada und Utah war nicht mehr weit östlich von ihm. Um acht Uhr morgens schlief er schon fest, den Kopf auf seiner Jacke. Seine Augen drehten sich rasch hinter den geschlossenen Lidern. Nick war gekommen, und Tom sprach mit ihm. Im Schlaf runzelte Tom die Stirn. Er hatte Nick erzählt, wie sehr er sich darauf freute, ihn wiederzusehen. Aber aus einem Grund, den er nicht verstand, hatte Nick sich abgewandt. 68 Wie die Geschichte sich wiederholt: Der Mülleimermann wurde wieder einmal lebendig geröstet in des Teufels Bratpfanne - aber diesmal gab es keine Hoffnung auf Cibolas kühlende Brunnen. Ich verdiene es nicht anders, ich bekomme nur, was ich verdiene. Seine Haut war verbrannt, hatte sich abgeschält und war wieder verbrannt, aber sie war nicht braun geworden, sondern schwarz. Er war der wandelnde Beweis dafür, daß ein Mann am Ende so aussieht, wie er ist. Müll sah aus, als hätte ihn jemand mit Kerosin übergössen und ein Streichholz an ihn gehalten. Das Blau seiner Augen war in der ständigen grellen Wüstensonne noch blasser geworden; in sie zu sehen war, als schaute man in unheimliche vieldimensionale Löcher im Raum. Seine Kleidung war eine seltsame Imitation der des dunklen Mannes - offenes rotkariertes Hemd, verblichene Jeans und Wüstenstiefel, die inzwischen zerkratzt und zerknautscht und faltig und gerissen waren. Aber das schwarze Amulett mit dem roten Makel hatte er fortgeworfen. Er verdiente nicht mehr, es zu tragen. Er hatte sich als unwürdig erwiesen. Und wie jeder unwürdige Teufel war er ausgetrieben worden. Er blieb in der glühenden Sonne stehen und fuhr sich mit einer mageren und zitternden Hand über die Stirn. Dieser Ort und diese Zeit waren ihm bestimmt - sein ganzes Leben war nur Vorbereitung gewesen. Er war durch die brennenden Korridore der Hölle gegangen, um hierher zu gelangen. Er hatte den vatermordenden Sheriff ertragen, er hatte Terre Haute ertragen, er hatte Carley Yates ertragen. Nach diesem seltsamen und einsamen Leben hatte er Freunde gefunden. Lloyd. Ken. Whitney Horgan. O Gott, und er hatte alles versaut. Er verdiente es, hier draußen in des Teufels Bratpfanne zu schmoren. Konnte es Rettung für ihn geben? Das mochte der dunkle Mann wissen. Der Mülleimermann jedenfalls nicht. Er wußte kaum noch, was geschehen war - vielleicht weil sein gequälter Verstand sich nicht erinnern wollte. Vor seiner letzten unheilvollen Rückkehr nach Indian Springs war er über eine Woche in der Wüste gewesen. Ein Skorpion hatte ihn in den Mittelfinger der linken Hand gestochen (in seinen Fickfinger, wie Carley Yates es vor langer, langer Zeit in Powtanville in seiner vulgären BillardsaalSprache genannt haben würde), und die Hand war angeschwollen wie ein Gummihandschuh voll Wasser. Ein unirdisches Feuer brannte in seinem Kopf. Und dennoch war er weitergegangen. Schließlich war er nach Indian Springs zurückgekehrt und hatte sich immer noch wie die Ausgeburt der Phantasie eines anderen gefühlt. Es hatte einige Scherzworte gegeben, als er den Männern zeigte, was er gefunden hatte - Brandsätze, Tretminen, eigentlich nur Kleinigkeiten. An dem Tag hatte Müll sich seit dem Skorpionstich zum ersten Mal wieder wohl gefühlt. Und dann hatte sich ohne jede Vorwarnung die Zeit verschoben, und er war wieder in Powtanville. Jemand hatte gesagt: »Leute, die mit Feuer spielen, sind Bettnässer, Müll«, und er hatte aufgeschaut und erwartet, Billy Jamieson zu sehen, aber da war nicht Billy, sondern Rieh Groudemore aus Powtanville gewesen, der grinste und sich mit einem Streichholz in den Zähnen stocherte, und seine Hände waren schwarz von Öl, denn er war von der Texaco an der Ecke in die Billardhalle gekommen, um in der Mittagspause ein Spiel zu machen. Und ein anderer sagte: »Laß das besser verschwinden, Richie, Müll ist wieder in der Stadt«, und das hörte sich zuerst nach Steve Tobie an, aber es war nicht Steve. Es war Carley Yates in seiner schäbigen alten Motorradjacke. Mit wachsendem Entsetzen hatte er gesehen, daß sie alle da waren, ruhelose Leichen, die wieder lebten. Richie Groudemore und Carley und Norman Morrisette und Hatch Cunningham, der schon eine Glatze bekam, obwohl er erst achtzehn war, und den alle Hatch Cunnilingus nannten. Und sie alle stierten ihn an. Und dann prasselte durch den Fieberdunst der Jahre alles auf ihn herab. He, Müll, warum hast du nicht die SCHULE angezündet? He, Mülli, hast du dir schon den Arsch verbrannt? He, Mülleimermann, ich hab' gehört, du schneuzt Feuerzeugbenzin, stimmt das? Dann Carleys Vater: He, Müll, was hat die alte Oma Semple gesagt, als du ihren Rentenscheck verbrannt hast? Er hatte versucht, sie anzuschreien, aber nur ein Flüstern kam heraus: »Fragt mich bloß nicht mehr nach Oma Semples Scheck.« Und er war davongerannt. Der Rest war ein Traum. Er nahm die Zünder und befestigte sie an den Lastwagen im Fuhrpark. Seine Hände hatten die Arbeit getan, sein Verstand war weit entfernt und wirbelte verwirrt durcheinander. Leute sahen ihn zwischen dem Fuhrpark und seinem Geländewagen mit den großen Reifen hin und her gehen, manche winkten sogar, aber niemand war gekommen und hatte gefragt, was er da trieb. Immerhin trug er Flaggs Talisman. Mülli tat, was er tun mußte, und dachte an Terre Haute. In Terre Haute hatten sie ihn auf ein Gummiding beißen lassen, wenn er die Elektroschocks bekam, und der Mann an den Kontrollen sah manchmal wie der vatermordende Sheriff und manchmal wie Carley Yates und manchmal wie Hatch Cunnilingus aus. Und er schwor sich jedesmal hysterisch, daß er sich diesmal nicht bepissen würde. Und tat es doch immer wieder. Als er mit den Tankwagen fertig war, hatte er sich in den nächsten Hangar geschlichen und die Hubschrauber dort präpariert. Er wollte Zeitzünder verwenden und war deshalb in die Küche der Kantine gegangen, wo er über ein Dutzend dieser kleinen Plastikuhren aus dem Five-and-Dime fand. Man stellte sie auf fünfzehn Minuten oder eine halbe Stunde ein, und wenn sie wieder auf Null standen, klingelten sie, und man wußte, daß der Kuchen aus dem Ofen mußte. Statt zu klingeln, dachte Müll, würde es diesmal krachen. Das gefiel ihm. Das war ziemlich gut. Wenn Carley Yates oder Rieh Groudemore versuchten, mit einem dieser Hubschrauber loszufliegen, würden sie eine dicke fette Überraschung erleben. Er hatte die Küchenuhren einfach an die Zündsysteme der Hubschrauber angeschlossen. Als er damit fertig war, hatte er noch einmal einen Augenblick der Vernunft gehabt. Er hatte die Hubschrauber in dem großen hallenden Hangar angestarrt, dann seine Hände. Sie rochen wie eine Rotte verbrannter Zündhütchen. Aber dies war nicht Powtanville. In Powtanville gab es keine Hubschrauber. In Indiana schien die Sonne nicht mit der wilden Glut dieser Sonne. Er war in Nevada. Carley und seine Freunde aus der Billardhalle waren tot. An der Supergrippe gestorben. Von Zweifeln geplagt, hatte Müll sich umgedreht und seine Arbeit betrachtet. Wie kam er dazu, das Gerät des dunklen Mannes zu sabotieren? Es war sinnlos, Wahnsinn. Er mußte es rückgängig machen, und zwar schnell. Aber die schönen Explosionen. Die wunderbaren Feuer. Brennender Düsentreibstoff, der in alle Richtungen floß. Hubschrauber, die in der Luft explodierten. So schön. Und dann hatte er plötzlich sein neues Leben weggeworfen. Er war zu seinem Geländewagen gelaufen, ein verstohlenes Grinsen in seinem von der Sonne geschwärzten Gesicht. Er war eingestiegen und weggefahren... aber nicht weit. Er hatte gewartet, und schließlich war ein Tankwagen aus dem Fuhrpark gekommen und langsam über den Asphalt gerollt wie ein olivgrüner Käfer. Und als er hochging und die brennende Flüssigkeit nach allen Seiten schoß, hatte Müll den Feldstecher fallenlassen und die Fäuste geschüttelt und seine Freude zum Himmel hinaufgeschrien. Aber seine Freude war nur kurz gewesen. Sie hatte sich schnell in tödliches Entsetzen und bittere Trauer verwandelt. Er war mit fast selbstmörderischer Geschwindigkeit mit dem Geländewagen Richtung Nordwesten in die Wüste gerast. Wie lange war das her? Er wußte es nicht. Hätte man ihm gesagt, daß dies der sechzehnte September war, hätte er nur völlig verständnislos genickt. Er dachte, er würde Selbstmord begehen. Er hatte jetzt keine andere Möglichkeit mehr, sagte er sich, alle standen jetzt gegen ihn, und genauso sollte es sein. Wenn man die Hand biß, die einen fütterte, mußte man damit rechnen, daß sich diese Hand zur Faust ballte. So ging das Leben; das war Gerechtigkeit. Er hatte drei große Benzinkanister hinten im Geländewagen. Er würde alle über sich schütten und dann ein Streichholz anzünden. Das hatte er verdient. Aber er hatte es nicht getan. Warum, wußte er nicht. Eine Kraft, die mächtiger als der Schmerz seines Bedauerns und seiner Einsamkeit war, hatte ihn daran gehindert. Ihm schien, als wäre selbst der Feuertod nach Art eines buddhistischen Mönchs keine ausreichende Strafe für ihn. Er hatte geschlafen. Und als er erwacht war, hatte er festgestellt, daß sich im Schlaf ein neuer Gedanke in sein Gehirn geschlichen hatte, und dieser Gedanke war: WIEDERGUTMACHUNG War das möglich? Er wußte es nicht. Aber wenn er etwas fand... etwas GROSSES... und es dem dunklen Mann in Las Vegas brachte, konnte es dann nicht möglich sein? Und selbst wenn WIEDERGUTMACHUNG unmöglich war, vielleicht war SÜHNE es nicht. Wenn es stimmte, bestand immer noch die Möglichkeit, daß er zufrieden sterben konnte. Aber was? Was war groß genug für WIEDERGUTMACHUNG oder SÜHNE? Keine Tretminen oder Flammenwerfer, keine Handgranaten oder automatische Waffen. Das alles war nicht gross genug. Er wußte, daß es für Versuchszwecke zwei große Jagdbomber gab, und er wußte auch, wo sie standen (sie waren ohne Wissen des Kongresses gebaut und aus einem geheimen Fonds bezahlt worden), aber er konnte sie nicht nach Vegas schaffen, und selbst wenn er es könnte, gab es niemanden, der sie fliegen könnte. Wie sie aussahen, brauchten sie eine Besatzung von mindestens zehn Mann, wenn nicht mehr. Er war wie ein Infrarot-Gerät, das in der Dunkelheit Hitze registrieren kann und die Hitzequellen als vage rote Teufelsgestalten wiedergibt. Auf seltsame Weise war er in der Lage, die Dinge aufzuspüren, die in dieser Öde lagerten, in der früher so viele militärische Projekte durchgeführt worden waren. Er hätte nach Westen fahren können, direkt zum Projekt Blau, wo das Ganze angefangen hatte. Aber die kalte Seuche war nicht nach seinem Geschmack, und auf seine wirre, wenn auch nicht ganz unlogische Weise glaubte er, daß sie auch nicht nach Flaggs Geschmack sein würde. Einer Seuche war es einerlei, wen sie umbrachte. Es wäre besser für die Menschen gewesen, wenn die Initiatoren von Projekt Blau diese Tatsache nicht vergessen hätten. Er war daher von Indian Springs nach Nordwesten gefahren, wo in der sandigen Einöde Nellis Airforce Range lag, und hatte sein Fahrzeug zum Stehen gebracht, als er auf einen hohen Stacheldrahtzaun mit folgenden Schildern stieß: US REGIERUNGSGELÄNDE KEIN ZUTRITT und BEWAFFNETE POSTEN und SCHARFE WACHHUNDE und DRAHT FÜHRT STARKSTROM. Aber der Strom war so tot wie die scharfen Wachhunde und die bewaffneten Posten, und der Mülleimermann fuhr weiter und korrigierte hin und wieder den Kurs. Etwas zog ihn an. Er wußte nicht, was es war, aber es mußte etwas Großes sein. Groß genug. Die Goodyear-Ballonreifen seines Geländewagens rollten und rollten und trugen Müll durch ausgetrocknete Flußbetten und über Hänge, die so felsig waren, daß sie aussahen wie der halb bloßgelegte Rücken eines Stegosaurus. Es war windstill und trocken. Die Temperatur mochte an die vierzig Grad betragen. Das einzige Geräusch war das Röhren des modifizierten Studebaker-Motors des Geländewagens. Er fuhr einen Hügel hinauf, sah, was unten vor ihm lag, und schaltete einen Moment auf Leerlauf, damit er besser sehen konnte. Unten sah er Gebäude, deren Metalldächer in der Hitze flimmerten und wie Quecksilber aussahen. Nissenhütten und Häuser aus Hohlziegeln. Hier und da standen Fahrzeuge auf den vom Staub zugewehten Straßen. Das ganze Areal war durch drei Stacheldrahtzäune gesichert, und er sah die Isolatoren aus Porzellan, die in Abständen an den Drähten angebracht waren. Es waren nicht die kleinen Isolatoren, die knöchelgroßen, die einen leichten Geh-wegStromschlag verteilten; es waren riesige, so gross wie eine geballte Faust. Von Osten führte eine zweispurige Asphaltstraße zum Wachlokal, das wie eine betonierte Tablettenschachtel aussah. Hier hingen keine netten kleinen Schilder mit Aufschriften wie LASSEN SIE IHRE KAMERA VOM WACHHABENDEN ÜBERPRÜFEN und WENN ES IHNEN BEI UNS GEFALLEN HAT, SAGEN SIE ES IHREM KONGRESSABGEORDNETEN. Das einzig sichtbare Schild war rot auf gelb, die Farben der Gefahr, kurz und bündig AUSWEISPAPIERE UNVERLANGT VORZEIGEN. »Danke«, flüsterte Mülleimer. Er hatte keine Ahnung, bei wem er sich bedankte. »Oh, danke... danke.« Sein sechster Sinn hatte ihn an diesen Ort geführt, aber er hatte schon immer gewußt, daß es ihn gab. Irgendwo. Er legte den Vorwärtsgang ein und fuhr den Hang hinab. Zehn Minuten später war er auf dem Zufahrtsweg zum Wachgebäude. Die Straße war durch eine schwarzweiß gestreifte Schranke gesperrt, und Müll stieg aus, um sie zu inspizieren. Solche Anlagen hatten immer große Generatoren, die im Notfall eingeschaltet wurden. Er bezweifelte zwar, ob nach drei Monaten auch noch nur ein einziger Generator funktionierte, aber er mußte sich vergewissern, ob alles außer Betrieb war, bevor er hineinging. Was er brauchte, lag direkt vor ihm. Er durfte nicht übereilt handeln und gebraten werden wie ein Stück Fleisch im Mikrowellenherd. Hinter zehn Zentimeter dickem kugelsicherem Glas saß eine Mumie in Uniform und starrte an ihm vorbei. Müll duckte sich unter der Schranke an der Einfahrts-Seite des Wachhauses hindurch und ging zur Tür des kleinen Betongebäudes. Er faßte an die Tür, und sie ließ sich öffnen. Das war gut. Wenn in so einer Anlage auf die Notaggregate umgeschaltet wurde, schloß sich alles automatisch. Wenn man gerade beim Kacken war, wurde man auf der Toilette eingesperrt, bis die Krise vorüber war. Aber wenn das Notstromaggregat versagte, entriegelte sich alles wieder. Der tote Wachposten roch trocken, süß und interessant, wie Zimt und Zucker auf Toast. Er war nicht aufgetrieben oder verwest; er war ganz einfach vertrocknet. Am Hals sah man noch die schwarzen Verfärbungen, das charakteristische Merkmal von Captain Trips. In der Ecke hinter ihm stand ein automatisches Browning-Gewehr. Der Mülleimermann nahm es und ging wieder nach draußen. Er stellte die Waffe auf Einzelfeuer, machte sich am Visier zu schaffen und drückte sie gegen die knochige rechte Schulter. Er zielte auf einen der Porzellanisolatoren und drückte ab. Es folgte ein lauter Knall, wie Händeklatschen, und aufregender Korditgeruch. Der Isolator explodierte nach allen Seiten, aber es gab keine purpurweiße Flamme von Starkstrom. Der Mülleimermann lächelte. Er ging summend zum Tor und untersuchte es. Es war ebensowenig verschlossen wie die Tür des Wachlokals. Er stieß es ein Stück auf und kauerte sich nieder. Unter dem Pflaster war eine Tretmine. Er wußte nicht, woher er das wußte, aber er wußte es. Sie war vielleicht scharf; vielleicht nicht. Er ging zu seinem Geländewagen zurück, legte den Gang ein und fuhr durch die Schranke. Diese brach mit einem lauten Knacken, und die breiten Ballonreifen des Fahrzeugs fuhren darüber hinweg. Die Wüstensonne brannte herunter. Die seltsamen Augen des Mülleimermanns leuchteten vor Freude. Vor dem Tor stieg er aus dem Geländewagen aus und legte den Gang wieder ein. Der führerlose Wagen rollte vorwärts und stieß das Tor ganz auf. Mülleimermann hastete in das Wachlokal. Er kniff die Augen zu, aber es erfolgte keine Explosion. Das war gut; sie hatten tatsächlich voll und ganz abgeschaltet. Das Notsystem hatte vielleicht einen Monat funktioniert, vielleicht zwei, aber letztendlich hatten Hitze und fehlende regelmäßige Wartung es erledigt. Trotzdem mußte er vorsichtig sein. Derweil rollte sein Geländewagen gemütlich auf die Wellblechmauer einer Hütte zu. Der Mülleimermann folgte ihm in den Stützpunkt und holte ihn gerade ein, als die Reifen auf den Bordstein einer Straße polterten, die ein Schild als Illinois Street auswies. Er schaltete wieder in den Leerlauf, worauf der Geländewagen stehenblieb. Er stieg ein, legte den Gang ein und fuhr zur Vorderfront des Gebäudes. Es war eine Mannschaftsunterkunft. Das schattige Innere war ebenfalls von einem Zucker-und-Zimt-Geruch erfüllt. Zwischen den etwa fünfzig Betten lagen ungefähr zwanzig tote Soldaten. Der Mülleimermann ging durch den Gang an ihnen vorbei und wußte nicht, wohin er ging. Hier gab es nichts für ihn, oder? Früher waren diese Toten gewissermaßen Waffen gewesen, aber die Supergrippe hatte sie neutralisiert. Aber ganz hinten im Gebäude war etwas, das ihn interessierte. Ein Schild. Er trat näher heran, um es zu lesen. Die Hitze hier drinnen war enorm. Sein Kopf tat weh und schien anzuschwellen. Aber als er vor dem Schild stand, mußte er lächeln. Ja, hier war es. Irgendwo in der Nähe war das, was er suchte. Auf dem Schild war die Karikatur eines Mannes unter der Karikatur einer Dusche zu sehen. Er seifte sich eifrig seine Genitalien ein, die fast ganz von Seifenschaum bedeckt waren. Darunter stand zu lesen: NICHT VERGESSEN! ES LIEGT IN IHREM EIGENEN INTERESSE, SICH TÄGLICH ZU DUSCHEN! Darunter sah Müll ein gelbschwarzes Emblem mit drei spitzwinkligen Dreiecken, die nach unten zeigten. Das Symbol für radioaktive Strahlung. Der Mülleimermann lachte wie ein Kind und klatschte in der Stille in die Hände. 69 Whitney Horgan fand Lloyd in seinem Zimmer, wo er auf dem großen runden Bett lag, das er noch bis vor kurzem mit Dayna Jürgens geteilt hatte. Auf seiner nackten Brust balancierte er einen großen Gin Tonic. Er betrachtete feierlich sein Bild im Deckenspiegel. »Komm rein«, sagte er, als er Whitney sah. »Mach keine Umstände, verdammt. Du brauchst nicht klopfen, Dummkopf.« Es hörte sich wie »Dummoff« an. »Bist du besoffen, Lloyd?« fragte Whitney mißtrauisch. »Nein. Noch nicht. Aber das kommt noch.« »Ist er hier?« »Wer? Der furchtlose Führer?« Lloyd setzte sich auf. »Er muss irgendwo sein. Der Mitternachtsstreuner.« Er lachte und legte sich zurück. Whitney sagte mit leiser Stimme: »Sei vorsichtig, es ist nicht gut, was du sagst.« »Scheiß drauf.« »Vergiß nicht, was mit Heck Drogan passiert ist. Und Strellerton.« Lloyd nickte. »Du hast recht. Die Wände haben Ohren. Die verdammten Wände haben Ohren. Hast du den Spruch schon mal gehört?« »Ja, ein- oder zweimal. Hier stimmt es wirklich, Lloyd.« »Darauf kannst du dich verlassen.« Lloyd richtete sich plötzlich auf und warf den Drink durchs Zimmer. Das Glas zerbarst. »Der ist für die Putzfrau, stimmt's, Whitney?« »Alles in Ordnung, Lloyd?« »Mir geht es ausgezeichnet. Willst du einen Gin Tonic?« Whitney zögerte einen Augenblick. »Nein. Ich mag ihn nicht ohne Zitrone.« »Herrgott, sag deshalb nicht nein. Ich habe Zitrone. Die muß man aus einer kleinen Flasche quetschen.« Lloyd ging zur Bar und hielt eine Plastikflasche hoch. »Sieht aus wie das linke Ei von Meister Proper. Komisch, was?« »Schmeckt es wie Zitrone?« »Natürlich«, sagte Lloyd mürrisch. » Was meinst du denn, wie es schmeckt? Kartoffelchips? Was ist jetzt? Sei ein Mann und trink einen mit mir.« »Nun... okay.« »Wir trinken sie am Fenster und genießen die Aussicht.« »Nein«, sagte Whitney schroff und hastig. Lloyd blieb auf dem Weg zur Bar stehen, sein Gesicht war blaß geworden. Er sah Whitney an, und ihre Blicke trafen sich einen Moment. »Ja, okay«, sagte Lloyd. »Tut mir leid. Das war geschmacklos.« »Schon gut.« Aber es war nicht gut, und sie wußten es. Die Frau, die Flagg als seine »Braut« vorgestellt hatte, war am Vortag gesprungen. Lloyd erinnerte sich daran, daß Ace High gesagt hatte, Dayna könne gar nicht vom Balkon springen, weil die Fenster sich nicht öffnen ließen. Aber das Penthouse hatte ein Sonnendach. Sie mußten geglaubt haben, daß von den wirklich Reichen - meistens Araber - niemand springen würde. Er machte Whitney einen Gin Tonic, und sie setzten sich und tranken eine Weile schweigend. Draußen ging die Sonne rot leuchtend unter. Schließlich sagte Whitney so leise, daß es kaum zu hören war: »Glaubst du wirklich, daß sie gesprungen ist?« Lloyd zuckte die Achseln. »Was spielt das für eine Rolle. Klar. Ich glaube, daß sie gesprungen ist. Würdest du das nicht auch, wenn du mit ihm verheiratet wärst? Hast du schon ausgetrunken?« Whitney betrachtete sein Glas und stellte erstaunt fest, daß es tatsächlich leer war. Er gab es Lloyd, der es zur Bar trug. Lloyd schenkte reichlich Gin ein, und Whitney war bald ziemlich betrunken. Wieder tranken sie eine Weile schweigend und betrachteten den Sonnenuntergang. »Was hörst du von diesem Cullen?« fragte Whitney schließlich. »Nichts. Nullo. Finito. Ich höre nichts. Und Barry hört auch nichts. Nicht von der Route 40, von Route 30, von Route 2. und 74 oder der 1-15. Nichts von den Nebenstraßen. Dabei werden sie alle überwacht. Er ist irgendwo draußen in der Wüste, und wenn er nachts unterwegs ist und weiß, wo Osten ist, wird er durchkommen. Was spielt das für eine Rolle? Was kann er ihnen erzählen ?« »Das weiß ich nicht.« »Ich auch nicht. Laßt ihn laufen, das ist meine Meinung.« Whitney fühlte sich unbehaglich. Lloyd war wieder gefährlich nahe dran, den Boß zu kritisieren. Er selbst begann den Alkohol zu spüren, und darüber war er froh. Vielleicht fand er bald den Mut zu sagen, warum er gekommen war. »Ich will dir was sagen«, meinte Lloyd und beugte sich nach vorne. »Er kippt bald. Hast du den Spruch schon mal gehört? Wir sind in der achten Spielrunde, und er ist am-Kippen. Und niemand ist auf der Reservebank, der an seine Stelle treten könnte.« »Lloyd, ich...« »Noch einen?« »Meinetwegen.« Lloyd machte ihnen frische Drinks. Er reichte Whitney einen, und als Whitney trank, durchlief ihn ein leichter Schauer. Es war fast purer Gin. »Er ist bereits am Kippen«, fuhr Lloyd fort. »Erst Dayna, dann dieser Cullen. Seine eigene Frau - wenn sie das war - geht hin und springt vom Dach. Glaubst du etwa, daß ihr doppelter Rittberger vom Terrassendach auf dem Spielplan stand?« »Wir sollten nicht darüber sprechen.« »Und der Mülleimermann. Sieh doch mal, was der alles ganz allein geschafft hat. Wenn man solche Freunde hat, braucht man dann noch Feinde? Das möchte ich gern wissen.« »Lloyd...« Lloyd schüttelte den Kopf. »Ich begreife das Ganze nicht. Es lief alles so gut. Bis zu dem Abend, an dem er ankam und uns erzählte, daß die alte Dame drüben in der Freien Zone gestorben ist. Er sagte, das letzte Hindernis sei jetzt aus dem Weg geräumt. Aber gerade seit dem Zeitpunkt ist fast alles schiefgegangen. « »Lloyd, wir sollten wirklich nicht...« »Ich weiß nicht mehr, was Sache ist. Wir können sie im nächsten Frühjahr wahrscheinlich mit Landstreitkräften erledigen. Aber wer weiß, was sie bis zum nächsten Frühjahr selbst auf die Beine gestellt haben? Wir wollten sie schlagen, bevor sie uns ei ne komische Überraschung bereiten können, aber das geht jetzt nicht mehr. Und, Gott im Himmel, wir müssen noch an Mülli denken. Er ist irgendwo draußen in der Wüste, und ich bin verdammt sicher ...« »Lloyd«, sagte Whitney mit leiser, erstickter Stimme. »Hör mir zu.« Lloyd beugte sich vor. »Was? Was ist los, altes Haus?« »Ich wußte nicht, ob ich überhaupt den Mut haben würde, dich zu fragen«, sagte Whitney. Er umklammerte das Glas krampfhaft. »Ich und Ace High und Ronnie Sykes und Jenny Engstrom. Wir hauen ab. Willst du mitkommen? Mein Gott, ich muß verrückt sein, dir das zu sagen, wo du doch seine rechte Hand bist.« »Abhauen? Wohin?« »Wahrscheinlich Südamerika. Brasilien. Das dürfte weit genug sein.« Er schwieg, suchte nach Worten, dann sprach er schnell weiter. »Viele Leute verschwinden. Nun ja, so viele nicht, aber immerhin einige, und es werden jeden Tag mehr. Sie glauben nicht, daß Flagg es schafft. Einige gehen nach Norden, nach Kanada. Das ist mir zu kalt. Aber ich muß raus. Ich würde in den Osten gehen, wenn ich sicher sein könnte, daß sie mich aufnehmen.« Whitney schwieg. Er sah Lloyd kläglich an. Das Gesicht eines Mannes, der fürchtet, zu weit gegangen zu sein. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Lloyd leise. »Ich werde dich nicht verpfeifen, altes Haus.« »Es ist einfach... alles so schlecht geworden«, sagte Whitney verzweifelt. »Wann willst du verschwinden?« fragte Lloyd. Whitney sah ihn mißtrauisch an. »Ach, vergiß, daß ich gefragt habe«, sagte Lloyd. »Fertig?« »Noch nicht«, sagte Whitney und sah in sein Glas. »Ich schon.« Er ging zur Bar. Mit dem Rücken zu Whitney sagte er: »Ich kann nicht.« »Hm?« »Kann nicht!« sagte Lloyd schneidend und drehte sich zu Whitney um. »Ich schulde ihm was. Ich schulde ihm eine Menge. Er hat mich in Phoenix aus einer schlimmen Klemme befreit, und seither bin ich bei ihm. Scheint länger her zu sein, als es in Wirklichkeit ist. Scheint eine Ewigkeit zu sein.« »Jede Wette.« »Aber es ist mehr als das. Er hat etwas mit mir angestellt, mich schlauer gemacht oder so. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich bin nicht mehr der alte, Whitney. Ganz und gar nicht. Vor... ihm... war ich nur dritte Garnitur. Jetzt läßt er mich den Laden hier schmeißen, und ich mache es gut. Es scheint, als könnte ich besser denken. Ja, er hat mich schlauer gemacht.« Lloyd hob den Stein mit dem Makel von der Brust, betrachtete ihn kurz und ließ ihn wieder fallen. Er wischte sich die Hände an den Hosen ab, als hätte er etwas Ekliges angefaßt. »Ich weiß, ich bin immer noch kein Genie. Ich muß alles in ein Notizbuch schreiben, was ich erledigen muß, sonst vergesse ich es. Aber mit ihm hinter mir kann ich Befehle geben, und meistens klappt alles ganz gut. Vorher konnte ich nur Befehle empfangen und in Schwulitäten geraten. Ich habe mich verändert... und er hat mich verändert. Ja, scheint länger her zu sein, als es in Wirklichkeit ist. Als wir nach Vegas kamen, waren nur sechzehn Leute hier. Ronnie war einer davon; ebenso Jenny und der arme alte Heck Drogan. Sie haben auf ihn gewartet. Als er in die Stadt kam, fiel Jenny Engstrom auf die hübschen Knie und hat ihm die Stiefel geküßt. Ich wette, das hat sie dir im Bett nie erzählt.« Er lächelte Whitney schief an. »Und jetzt will sie die Platter machen. Nun, ich mache ihr keinen Vorwurf, und dir auch nicht. Aber es ist wahrscheinlich nicht viel erforderlich, eine gute Sache zu verderben, was?« »Du bleibst?« »Bis zum bitteren Ende, Whitney. Seinem oder meinem. Das bin ich ihm schuldig.« Er fügte nicht hinzu, daß er immer noch genügend Glauben in den dunklen Mann hatte zu denken, daß Whitney und die anderen höchstwahrscheinlich am Kreuz enden würden. Und da war noch etwas. Hier war er Flaggs Stellvertreter. Was konnte er in Brasilien sein? Whitney und Ronnie waren beide schlauer als er. Er und Ace High würden als unterste Ränge enden, und das war nicht nach Lloyds Geschmack. Früher hätte ihm das nichts ausgemacht, aber die Lage hatte sich verändert. Und wenn sich der Kopf veränderte, mußte er feststellen, war die Veränderung meistens unumkehrbar. »Nun, vielleicht wird es für uns alle gut«, sagte Whitney halbherzig. »Klar«, sagte Lloyd und dachte: Aber ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn Flagg sich am Ende doch durchsetzt. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn du in Brasilien bist und er endlich Zeit hat, sich um dich zu kümmern. An einem Kreuz zu hängen dürfte dann deine geringste Sorge sein. Lloyd hob sein Glas. »Ein Trinkspruch, Whitney.« Auch Whitney hob sein Glas. »Keinem wird was geschehen«, sagte Lloyd. »Das ist mein Trinkspruch. Keinem wird was geschehen.« »Mann, darauf trinke ich gerne«, sagte Whitney nachdrücklich, und sie stießen an. Bald darauf ging Whitney. Lloyd trank weiter. Gegen halb zehn war er volltrunken und schlief auf seinem runden Bett ein. Er schlief traumlos, und das war genug Entschädigung für den Kater am nächsten Tag. Als die Sonne am Morgen des 17. September aufging, schlug Tom Cullen nördlich von Gunlock, Utah, sein Lager auf. Es war so kalt, daß er seinen Atem Wölkchen bilden sah. Seine Ohren waren abgestorben und kalt. Aber er fühlte sich gut. In der Nacht war er ganz dicht an der Nebenstraße vorbeigekommen und hatte drei Männer an einem kleinen Lagerfeuer sitzen sehen. Alle drei waren bewaffnet. Als er versuchte, über ein Geröllfeld an ihnen vorbeizuschleichen - er war jetzt am westlichen Rand der Wüste von Utah -, lösten sich ein paar Steine und rollten in ein ausgetrocknetes Flußbett. Tom erstarrte. Warmes Pipi lief ihm an den Beinen hinab, aber er merkte erst eine Stunde später, daß er sich in die Hose gemacht hatte wie ein kleines Baby. Alle drei Männer drehten sich um, zwei von ihnen brachten ihre Gewehre in Anschlag. Tom hatte sich nicht mehr verstecken können. Er war ein Schatten unter Schatten. Der Mond stand hinter einer Wolkenbank. Wenn er in diesem Augenblick herauskam... t Einer entspannte sich. »Es ist nur ein Reh«, sagte er. »Davon gibt es hier genug.« »Vielleicht sollten wir das lieber prüfen«, sagte der zweite. »Steck dir den Daumen in den Arsch, dann kannst du den prüfen«, sagte der dritte, und damit hatte es sich. Sie blieben ruhig am Feuer sitzen, und Tom kroch vorsichtig weiter und achtete auf jeden Schritt. Viel zu langsam wurde das Lagerfeuer hinter ihm kleiner. Aber nach einer Stunde war es nur noch als kleiner Funke zu erkennen. Schließlich war es weg, und ihm fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt fühlte er sich wieder sicher. Er war immer noch im Westen, und er wußte, daß er aufpassen mußte - meine Fresse, ja -, aber die Gefahr erschien nicht mehr so drohend, als wären überall um ihn herum Indianer oder Räuber. Und jetzt, als die Sonne aufging, rollte er sich in einem dichten Gebüsch zusammen, um zu schlafen. Ich muß mir ein paar Wolldecken besorgen, dachte er. Es wird kalt. Dann überkam ihn der Schlaf plötzlich und fest, wie immer. Er träumte von Nick. 70 Der Mülleimermann hatte gefunden, was er wollte. Tief unter der Erde fuhr er durch einen langen Gang, einen Gang so dunkel wie ein Kohlebergwerk. In der linken Hand hielt er eine Taschenlampe, in der rechten Hand das Gewehr, denn hier unten war es unheimlich. Er fuhr einen Elektrowagen, der fast geräuschlos durch den breiten Gang rollte. Das schwache Summen des Antriebs war kaum zu hören. Der Wagen hatte nur einen Sitz für den Fahrer und eine große Ladefläche. Auf dieser Ladefläche lag ein Atomsprengkopf. Er war schwer. Müll hatte keine Ahnung, wie schwer er war, denn mit eigener Kraft hatte er ihn nicht bewegen können. Er war lang und zylindrisch. Er war kalt. Als Müll mit der Hand über die gerundete Oberfläche strich, hatte er sich kaum vorstellen können, daß dieses kalte Stück Metall das Potential für eine so gewaltige Hitze barg. Er hatte ihn um vier Uhr morgens gefunden. Er war zum Fuhrpark gegangen und hatte dort einen Flaschenzug besorgt. Er hatte den Flaschenzug mit nach unten genommen und über dem Sprengkopf installiert. Neunzig Minuten später stand er mit der Nase nach oben auf dem Elektrowagen. Oben war A161410USAF aufgestempelt. Die Hartgummireifen des Wagens hatten sich durch das Gewicht erheblich verformt. Jetzt erreichte er das Ende des Gangs. Direkt vor ihm lag ein großer Lastenaufzug, dessen Türen einladend offenstanden. Er war gross genug, den Wagen aufzunehmen, aber es gab natürlich keinen Strom. Müll war über die Treppe nach unten gegangen, und auf diesem Weg hatte er auch den Flaschenzug nach unten transportiert. Verglichen mit dem Sprengkopf war der Flaschenzug leicht. Er wog nur etwa hundertfünfzig Pfund. Dennoch war es Schwerarbeit gewesen, ihn fünf Treppenfluchten nach unten zu schleppen. Wie sollte er den Sprengkopf die Treppen hinaufbekommen? Eine motorgetriebene Winde, flüsterte sein Verstand. Er saß auf dem Fahrersitz, leuchtete mit der Taschenlampe die Umgebung ab und nickte. Klar, das war die Lösung. Mit einer Winde hochziehen. Oben einen Motor aufstellen und ihn notfalls Treppenabsatz für Teppenabsatz hochziehen. Aber wo konnte er eine fünfzehn Meter lange Kette auf treiben? Wahrscheinlich nirgends. Aber er konnte Teile von Ketten zusammenschweißen. Konnte das klappen? Würden die Schweißstellen halten? Schwer zu sagen. Und selbst wenn, was war mit den Biegungen der Treppe? Er sprang herunter und strich in der stillen Dunkelheit zärtlich mit einer Hand über die glatte, tödliche Oberfläche des Sprengkopfs. Liebe findet immer einen Weg. Er ließ den Sprengkopf auf dem Wagen und stieg die Treppen hoch, um geeignetes Material zu suchen. In einer solchen Anlage mußte es von allem etwas geben. Er würde finden, was er brauchte. Nach der zweiten Treppe blieb er stehen, um zu verschnaufen. Plötzlich überlegte er: Habe ich Strahlung abbekommen? Dieses Zeug hatte zwar eine Ummantelung, eine Ummantelung aus Blei. Aber in den Filmen im Fernsehen trugen die Leute, die mit radioaktivem Zeug umgingen, immer Schutzanzüge und beschichtete Streifen, die sich verfärbten, wenn die Dosis zu hoch wurde. Denn die Strahlung war nicht zu hören. Nicht zu sehen. Sie lagerte sich einfach im Fleisch und in den Knochen ab. Man wußte erst, daß man krank war, wenn man anfing zu kotzen und die Haare zu verlieren und alle paar Minuten aufs Klo rennen mußte. Würde ihm das auch passieren? Er stellte fest, daß es ihm gleichgültig war. Er wollte diese Bombe nach oben schaffen. Irgendwie würde es ihm gelingen. Irgendwie würde er sie nach Las Vegas bringen. Er mußte die schreckliche Tat wiedergutmachen, die er in Indian Springs angerichtet hatte. Wenn er sterben mußte, um zu sühnen, dann würde er sterben. »Mein Leben für dich«, flüsterte er in der Dunkelheit und stieg weiter die Treppe hinauf. 71 Am Abend des 17. September, kurz vor Mitternacht, war Randall Flagg in der Wüste, von Kopf bis Fuß in drei Wolldecken gewickelt. Eine vierte war wie ein Burnus um seinen Kopf geschlungen, so dass nur noch Augen und Nasenspitze zu sehen waren. Er blickte zu den hellen Sternen über der Wüste hinauf. Nach und nach verdrängte er jeden Gedanken. Er lag vollkommen ruhig da. Die Sterne waren kaltes Feuer. Hexenlicht. Er schickte das Auge aus. Er spürte, wie es sich mit einem leichten, schmerzlosen Ruck von ihm löste. Es schwebte davon, leise wie ein Habicht, der sich in düsteren Aufwinden emporschwingt. Jetzt war er eins mit der Nacht. Er war das Auge der Krähe, das Auge des Wolfes, das Auge des Wiesels, das Auge der Katze. Er war der Skorpion, die lauernde Minierspinne. Er war ein tödlicher Giftpfeil, der endlos durch die Wüstenluft glitt. Was immer auch geschehen sein mochte, das Auge war noch sein, gehorchte ihm. Er schwebte mühelos, und die der Erde verhafteten Dinge breiteten sich wie ein Ziffernblatt unter ihm aus. Sie kommen... sie sind schon fast in Utah... Er flog hoch und weit und stumm über eine Friedhofswelt. Vom dunklen Band der Interstate durchschnitten, lag die Wüste unter ihm wie ein geweißtes Grab. Den Körper weit zurücklassend, dessen glitzernde Augen nur blindes Weiß zeigten, flog er nach Osten und war jetzt über der Grenze zwischen den beiden Staaten. Die Landschaft unter ihm veränderte sich. Felskuppen und seltsame, vom Wind gefurchte Steinsäulen und Tafelberge. Schnurgerade verlief die Interstate. Weit im Norden lagen die Bonneville Sah Fiats. Skull Valley lag irgendwo im Westen. Er flog. Tot und weit entfernt das Geräusch des Windes... Irgendwo südlich von Richfield saß ein Adler in der höchsten Astgabel einer alten, vom Blitz abgespaltenen Fichte, und sein Instinkt ließ ihn spüren, daß etwas Todbringendes, etwas, das sehen konnte, an ihm vorbeihuschte. Furchtlos breitete er die Schwingen aus, um anzugreifen, aber das Grinsen einer tödlichen Kälte ließ ihn zurückfahren. Der Adler stürzte fast bis auf den Erdboden, bevor er den Schock überwand, die Flügel ausbreitete und den Sturz abfing. Das Auge des dunklen Mannes flog weiter gen Osten. Jetzt lag die I-70 unter ihm. Die gedrängten Gebäudeansammlungen der Städte lagen verlassen da. Nur Ratten und Katzen streunten herum, und auch das Rotwild hatte sich aus den Wäldern gewagt, nachdem die Witterung der Menschen sich verloren hatte. Städte mit Namen wie Freemont und Green River und Sego und Thompson und Harley Dome. Dann eine etwas größere, ebenfalls verlassene Stadt. Grand Junction, Colorado. Dann... Gleich östlich von Grand Junction sah er die Glut eines Lagerfeuers. Spiralförmig raste das Auge in die Tiefe. Das Feuer erlosch allmählich, und um die niederbrennenden Flammen herum lagen vier schlafende Gestalten. Es stimmte also. Kalt musterte das Auge die Gestalten. Sie kamen also tatsächlich - aus Gründen, die er nicht kannte. Nadine hatte die Wahrheit gesagt. Ein leises Knurren stieg zu ihm auf, und das Auge wandte sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers stand mit gesenktem Kopf und über die Geschlechtsteile eingezogenem Schwanz ein Hund. Seine Augen glühten wie unheilvolle Perlen aus Bernstein. Sein stetiges Knurren hörte sich an wie zerreißender Stoff. Das Auge starrte ihn an, und der Hund starrte furchtlos zurück. Er zog die Lefzen hoch und fletschte die Zähne. Eine der Gestalten richtete sich auf. »Kojak«, murmelte der Mann. »Sei endlich still, verdammt noch mal!« Kojak knurrte weiter; seine Nackenhaare hatten sich gesträubt. Der Mann, der erwacht war - es war Glen Bateman -, blickte sich um, von einer plötzlichen Unruhe ergriffen. »Wer ist denn da, alter Junge?« flüsterte er dem Hund zu. »Ist da etwas?« Kojak knurrte weiter. »Stu!« Der Mann schüttelte die Gestalt, die neben ihm lag. Diese murmelte irgend etwas und verstummte dann wieder in ihrem Schlafsack. Der dunkle Mann, der nun das dunkle Auge war, hatte genug gesehen. Er schoß schraubenförmig in die Höhe und sah noch, wie der Hund den Kopf hob und ihm hinterherblickte. Das leise Knurren wurde zu einer lauten Gebellsalve, die leiser und leiser wurde und schließlich verstummte. Stille und rauschende Dunkelheit. Irgendwann später verhielt er über der Wüste und blickte auf sich selbst hinunter. Langsam sank er in die Tiefe, näherte sich seinem Körper. Dann versank er in sich selbst. Er verspürte ein leichtes Schwindelgefühl des Verschmelzens zweier Dinge. Dann war das Auge verschwunden, und nur noch seine Augen waren da, die zum kalten Glanz der Sterne emporschauten. Sie kamen, ja. Flagg lächelte. Hatte die alte Frau ihnen befohlen zu gehen? Würden diese Menschen der Alten sogar dann noch gehorchen, wenn sie ihnen auf ihrem Totenbett aufgetragen hatte, auf diese neuartige Weise Selbstmord zu begehen? Er hielt es für möglich. Woran er nicht gedacht hatte, war so erschreckend einfach, daß er sich geradezu gedemütigt vorkam. Auch sie hatten ihre Probleme. Auch sie hatten Angst... und das Ergebnis war, daß sie einen gewaltigen Fehler machten. War es vielleicht möglich, daß die Alte sie fortgejagt hatte? Er schwelgte genüßlich in diesem Gedanken, mußte sich letztlich aber eingestehen, daß er nicht daran glaubte. Nein, sie kamen aus freien Stücken. Sie kamen, in ihre eigene Rechtschaffenheit gehüllt wie eine Gruppe von Missionaren, die sich einem Kannibalendorf nähert. Ach, es war so herrlich! Die Zweifel würden enden. Die Angst würde enden. Es brauchte dazu nur den Anblick ihrer vier auf Pfähle gesteckten Köpfe vor dem Brunnen des MGM Grand Hotel. Er würde alle Einwohner von Las Vegas versammeln und sie zwingen, daran vorbeizugehen und sich das Schauspiel anzusehen. Er würde Aufnahmen machen und Flugblätter drucken lassen und sie nach Los Angeles und San Francisco und Spokane und Portland schicken. Fünf Köpfe, denn auch den Kopf des Hundes würde er auf einen Pfahl stecken. »Braves Hundchen«, sagte Flagg, und zum erstenmal, seit Nadine ihn dazu verleitet hatte, sie vom Dach zu schleudern, lachte er laut. »Braves Hundchen«, sagte er noch einmal und grinste. In dieser Nacht schlief er ausgezeichnet, und am nächsten Morgen gab er den Befehl, auf allen Straßen in Utah und Nevada die Wachen zu verdreifachen. Aber jetzt suchten sie keinen Mann mehr, der nach Osten ging, sondern vier Männer und einen Hund, die auf dem Weg in den Westen waren. Und sie mußten lebend ergriffen werden. Sie mußten um jeden Preis lebend ergriffen werden. O ja. 72 »Wißt ihr«, sagte Glen Bateman und blickte im Licht des frühen Morgens nach Grand Junction hinüber, »ich habe oft den Ausdruck >Es kotzt mich an< gehört, ohne recht zu wissen, was er bedeutet. Ich glaube, jetzt weiß ich es.« Er betrachtete sein Frühstück, das aus synthetischen Morning-Star-FarmsWürstchen bestand, und verzog das Gesicht. »Nein, die sind lecker«, sagte Ralph ganz ernsthaft. »Du hättest den Fraß sehen sollen, den man uns bei der Armee vorgesetzt hat.« Die Gruppe saß um das Lagerfeuer herum, das Larry vor einer halben Stunde neu angezündet hatte. Sie alle trugen warme Mäntel und Handschuhe und tranken gerade ihre zweite Tasse Kaffee. Die Temperatur betrug etwa zwei Grad über Null, und der Himmel war bedeckt und fahl. Kojak schlief so nahe am Feuer, wie es nur möglich war, ohne sich das Fell zu verbrennen. »So, ich hab' mein Innenleben zufriedengestellt«, sagte Glen und stand auf. »Gebt mir die Reste für die Armen und Gottlosen. Genauer gesagt, gebt mir euren Abfall. Ich werde ihn vergraben.« Stu gab ihm Pappteller und -becher. »Feine Sache, so ein kleiner Spaziergang, findest du nicht auch, Platte? Ich wette, du bist nicht mehr in so guter Verfassung gewesen, seit du zwanzig warst.« »Und das ist siebzig Jahre her«, sagte Larry und lachte. »Stu, ich war nie in einer solchen Verfassung«, sagte Glen finster, während er die Abfälle aufsammelte und in die Plastiktüte stopfte, in der er sie vergraben wollte. »Ich wollte nie in einer solchen Verfassung sein. Aber es macht mir nichts aus. Nach fünfzig Jahren als überzeugter Atheist scheint es mein Schicksal zu sein, dem Gott einer alten schwarzen Frau in den Rachen des Todes zu folgen. Und wenn das mein Schicksal ist, dann ist es eben mein Schicksal. Schluß. Aus. Aber ehrlich gesagt, ziehe ich das Gehen dem Fahren vor. Wenn ich gehe, dauert es länger, folglich lebe ich länger... wenigstens ein paar Tage. Entschuldigen Sie mich, Gentlemen, ich will diesem Unrat ein anständiges Begräbnis zuteil werden lassen.« Sie schauten ihm nach, als er mit einer kleinen Schaufel ein Stück abseits ging. Diese »Wanderung durch Colorado auf der Spur nach Westen«, wie Glen sich ausdrückte, war für Glen selbst am beschwerlichsten. Er war der älteste, zwölf Jahre älter als Ralph Brentner. Aber irgendwie hatte er es für die anderen leichter gemacht. Er legte eine beständige, aber gutmütige Ironie an den Tag und schien seinen Frieden mit sich gemacht zu haben. Die Tatsache, daß er dies jeden Tag erneut schaffte, beeindruckte die anderen, wenn es sie auch nicht gerade inspirierte. Er war siebenundfünfzig, und Stu hatte an den letzten drei oder vier kalten Vormittagen wiederholt beobachtet, wie er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Finger rieb. »Tut es sehr weh?« hatte Stu ihn gestern gefragt, als sie schon etwa eine Stunde unterwegs waren. »Ich nehm' ein Aspirin, dann geht's. Es ist Arthritis, aber es ist noch nicht so schlimm, wie es in fünf oder sieben Jahren sein wird, und ehrlich gesagt, Ost-Texaner, so lange denke ich nicht mehr im voraus.« »Glaubst du wirklich, er kriegt uns zu fassen?« Und darauf hatte Glen Bateman eine seltsame Antwort gegeben: »Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen.« Und das war das Ende des Gesprächs gewesen. Jetzt hörten sie ihn im gefrorenen Boden stochern und fluchen. »Er ist ein feiner Bursche, was?« sagte Ralph. Larry nickte. »Ja. Glaub' schon.« »Ich hab' diese Professoren immer für Waschlappen gehalten, für Schwächlinge, aber Glen ist ein ganzer Kerl. Wißt ihr, was er gesagt hat, als ich ihn fragte, warum er den Mist nicht einfach neben die Straße schmeißt? Er sagte, es wäre nicht nötig, wieder mit dieser Scheiße anzufangen. Wir hätten schon viel zuviel von der alten Scheiße einreißen lassen.« Kojak stand auf und trabte hinüber, um zu sehen, was Glen dort machte. »Da bist du ja, du großes faules Miststück. Ich hab' mich so langsam schon gefragt, wo du bleibst. Soll ich dich gleich mit vergraben?« Larry grinste und nahm den Meilenzähler ab, den er am Gürtel hängen hatte. Er hatte ihn in einem Sportartikelgeschäft gefunden. Man stellte ihn auf die eigene Schrittlänge ein und hängte ihn wie einen Zollstock an den Gürtel. Auf einen immer wieder gefalteten Zettel mit Eselsohren trug Larry jeden Abend die zurückgelegte Strecke ein. »Darf ich diesen Mogelzettel mal sehen?« fragte Stu. »Gern«, sagte Larry und gab ihm das Stück Papier. Auf den oberen Blattrand hatte Larry in Druckbuchstaben geschrieben: Boulder-Vegas: 771 Meilen. Darunter stand: Datum Meilen Gesamtstrecke 6.September 2.8,1 28,1 7.September 27,0 55,1 8.September 26,5 81,6 9.September 28,2 109,8 10.September 27,9 137,7 11.September 29,1 166,8 12.September 28,8 195,6 13.September 29,5 225,1 14.September 32,0 257,1 15.September 32,6 289,7 16.September 35,5 325,2 17.September 37,2 362,4 Stu zog einen kleinen Zettel aus seiner Brieftasche und führte ein paar Subtraktionen durch. »Na ja, wir kommen in den letzten Tagen schneller voran als zu Anfang, aber wir haben immer noch vierhundert Meilen vor uns. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Scheiße.« Larry nickte. »Wir kommen schneller voran, stimmt. Weil es immer mehr Gefällstrecken gibt. Und Glen hat recht, weißt du. Warum sollten wir Dampf machen? Sobald wir am Ziel sind, knipsen uns die Burschen dort das Licht aus.« »Nein, das glaub' ich einfach nicht«, sagte Ralph. »Sicher, vielleicht müssen wir ins Gras beißen. Aber es ist doch nicht so, als wenn es schon beschlossene Sache wäre. So einfach werden die es mit uns nicht haben. Da steckt mehr dahinter. Mutter Abagail hätte uns bestimmt nicht losgeschickt, damit man uns abmurkst und fertig, aus. Das hätte sie niemals getan.« »Ich glaube nicht, daß sie es war, die uns losgeschickt hat«, sagte Stu leise. Larrys Meilenzähler klickte viermal vernehmlich, als er ihn für den Tag einstellte: 000,0. Stu warf Sand auf die Reste des Lagerfeuers. Die kleinen allmorgendlichen Rituale. Sie waren jetzt zwölf Tage unterwegs. Es schien Stu, als sollte es immer so weitergehen: Glens scherzhaft gemeinte Meckerei über das Essen, Larry, der die zurückgelegte Strecke auf seinen Zettel schrieb, die beiden Tassen Kaffee, jemand, der die Abfälle vergrub, ein anderer, der das Feuer löschte. Es war Routine, angenehme Routine. Man vergaß, worauf das alles hinauslief, und das war gut so. Morgens kam es ihm vor, als sei Fran unendlich weit fort - sehr klar, aber sehr weit entfernt, wie ein Foto in einem Medaillon. Aber abends, wenn es dunkel wurde und der Mond durch die Nacht zog, war sie ihm sehr nahe. Fast so nahe, daß er sie berühren konnte... und darin lag natürlich sein ganzer Schmerz. In solchen Augenblicken verwandelte sich sein Glaube an Mutter Abagail in bittere Zweifel, und er hatte das Bedürfnis, die anderen zu wecken und ihnen zu sagen, daß man sie in den April geschickt habe, daß sie mit Gummilanzen gegen tödliche Windmühlenflügel kämpfen wollten, daß sie lieber in der nächsten Stadt anhalten sollten, um sich Motorräder zu besorgen und wieder zurückzufahren. Daß sie besser daran täten, ein wenig Licht und ein wenig Liebe zu genießen, solange es noch möglich war - denn viel Zeit würde Flagg ihnen nicht mehr lassen. Aber das war nachts. Morgens erschien es ihm dann wieder richtig, den Marsch fortzusetzen. Nachdenklich sah er Larry an und fragte sich, ob Larry spät in der Nacht an seine Lucy dachte. Von ihr träumte und sich wünschte... Glen kam mit Kojak ins Lager zurück und zuckte beim Gehen hin und wieder leicht zusammen. »Wir werden es schon schaffen«, sagte Glen. »Nicht wahr, Kojak?« Kojak wedelte mit dem Schwanz. »Er sagt Las Vegas oder nie«, meinte Glen. »Gehen wir.« Sie stiegen über die Böschung zur I-70 hoch, die nach Grand Junction hinunterführte, und nahmen ihre heutige Etappe in Angriff. Am späten Nachmittag fiel ein kalter Regen, der sie unangenehm abkühlte und die Unterhaltung dämpfte. Larry hatte die Hände in den Taschen und ging allein. Zuerst dachte er an Harold Lauder, dessen Leiche sie vor zwei Tagen gefunden hatten - es schien eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen zu bestehen, nicht über Harold zu sprechen -, aber dann wandten sich seine Gedanken dem Mann zu, den er den Wolfsmann genannt hatte. Sie hatten den Wolfsmann östlich des Eisenhower-Tunnels gefunden. Dort hatte es einen gewaltigen Verkehrsstau gegeben, und es hatte intensiv nach Tod und Verwesung gestunken. Der Wolfsmann hatte halb in einem Austin gelegen. Er trug Nietenjeans und ein mit Ziermünzen benähtes Westernhemd aus Seide. Die Leichen mehrerer Wölfe lagen um den Austin herum. Der Wolfsmann hing halb im Beifahrersitz des Wagens, und ein toter Wolf lag auf seiner Brust. Die Hände des Wolfsmannes umklammerten den Hals des Tieres, dessen blutiges Maul am Hals des Mannes lag. Sie hatten versucht, die Situation zu rekonstruieren. Ein Rudel Wölfe mußte aus den Bergen gekommen sein, den einsamen Mann bemerkt und ihn angefallen haben. Der Wolfsmann hatte ein Gewehr mit sich geführt und mehrere der Tiere erschossen, bevor er sich in den Austin zurückzog. Wie lange mochte es gedauert haben, bis der Hunger ihn gezwungen hatte, seinen Zufluchtsort wieder zu verlassen? Larry wußte es nicht, und er wollte es auch gar nicht wissen. Aber er hatte gesehen, wie mager der Wolfsmann gewesen war. Eine Woche vielleicht. Wer immer er sein mochte, er war auf dem Weg in den Westen gewesen, um sich dem dunklen Mann anzuschließen, aber Larry hätte niemandem ein so entsetzliches Schicksal gewünscht. Zwei Tage nachdem sie aus dem Tunnel herausgekommen waren und den Wolfsmann weit hinter sich gelassen hatten, hatte er Stu darauf angesprochen. »Warum sollte ein Rudel Wölfe sich dort so lange aufgehalten haben, Stu?« »Das weiß ich nicht.« »Ich meine, wenn sie was zu fressen gesucht haben, hätten sie es doch leicht finden können.« »Ja, das meine ich auch.« Die ganze Sache war für ihn ein schreckliches dunkles Rätsel, und er dachte immer wieder darüber nach, wenn er auch wußte, daß er die Lösung nie finden würde. Wer immer der Wolfsmann war, an Mumm hatte es ihm nicht gefehlt. Zuletzt hatte er, von Hunger und Durst getrieben, die Beifahrertür geöffnet. Einer der Wölfe hatte ihn angesprungen und ihm die Kehle aufgerissen, aber im Sterben hatte er das Tier noch erwürgt. Sie waren alle vier angeseilt durch den Tunnel gegangen, und in der entsetzlichen Dunkelheit hatte Larry an seinen Weg durch den Lincoln Tunnel denken müssen. Aber jetzt verfolgte ihn nicht mehr Rita Blakemoores Bild, sondern das Gesicht des Wolfsmannes, zu einem letzten Schrei verzerrt, als der Wolf und er sich gegenseitig töteten. Waren die Wölfe geschickt worden, um den Mann umzubringen?  Aber dieser Gedanke war zu beunruhigend, als daß er ihn auch nur in Erwägung ziehen mochte. Er versuchte, die ganze Geschichte zu verdrängen und einfach weiterzugehen, immer weiter. Aber es war verdammt schwer. An diesem Abend schlugen sie kurz hinter Loma, ziemlich nahe an der Grenze zu Utah, ihr Lager auf. Das Abendbrot bestand aus eßbaren Pflanzen und abgekochtem Wasser, wie alle ihre Mahlzeiten - sie befolgten Mutter Abagails Anweisungen aufs Wort. »In Utah wird es schlimm werden«, meinte Ralph. »Dort werden wir feststellen, ob Gott tatsächlich über uns wacht. Auf einer Strecke von mehr als hundert Meilen liegt keine einzige Stadt. Dort gibt es nicht mal ein Cafe oder eine Tankstelle.« Diese Aussichten schienen ihn jedoch nicht sonderlich zu beunruhigen. »Und Wasser?« fragte Stu. Ralph zuckte die Achseln. »Damit sieht's auch beschissen aus. Ich glaube, ich leg' mich jetzt aufs Ohr.« Larry tat es ihm gleich. Glen blieb noch wach und rauchte eine Pfeife. Stu hatte noch ein paar Zigaretten und beschloß, sich eine davon anzuzünden. Schweigend rauchten sie eine Weile. »Wir sind weit weg von New Hampshire, Platte«, sagte Stu endlich. »Auch Texas ist nicht gerade in Rufweite.« Stu lächelte. »Nein. Nein, wirklich nicht.« »Du vermißt Fran sehr, nehme ich an.« »Ja. Ich vermiss' sie, mach' mir Sorgen um sie. Mach' mir Sorgen um das Baby. Nachts ist es besonders schlimm.« Glen zog an seiner Pfeife. »Du kannst nichts daran ändern, Stuart.« »Das weiß ich. Aber ich mache mir Sorgen.« »Natürlich.« Glen klopfte seine Pfeife an einem Stein aus. »Gestern nacht ist was Komisches passiert, Stu. Ich habe mir den ganzen Tag überlegt, ob es Traum oder Wirklichkeit war.« »Was war es denn?« »Na ja, ich wachte nachts auf, und Kojak knurrte irgend etwas an. Es muß nach Mitternacht gewesen sein, denn das Feuer war schon fast aus. Kojak stand auf der anderen Seite, knurrte wie verrückt, und seine Nackenhaare sträubten sich. Ich sagte ihm, er solle ruhig sein, aber er hat mich nicht mal angeguckt, hat rechts an mir vorbeigeschaut. Ich dachte: Wenn es nun Wölfe sind? Seit ich den Mann gesehen habe, den Larry den Wolfsmann nennt...« »Ja, war 'ne schlimme Sache.« »Aber da war nichts. Ich hatte gute Sicht. Kojak knurrte nichts an.« »Er hat irgend etwas gewittert, das ist alles.« »Ja, aber das Verrückte kommt erst noch. Nach ein paar Minuten hatte ich so ein Gefühl... es war unheimlich, kann ich dir sagen. Ich hatte das Gefühl, da ist irgend etwas auf der gegenüberliegenden Seite der Straßenböschung und beobachtet mich. Beobachtet uns alle. Ich hatte fast das Gefühl, es sehen zu können. Daß ich es sehen würde, wenn ich nur genau hinschaute. Aber das wollte ich nicht. Weil ich das Gefühl hatte, daß er es war.« »Weil du das Gefühl hattest, daß es Flagg war, Glen. Wahrscheinlich war es nichts«, sagte Stu nach einer Weile. »Es hat sich jedenfalls nach etwas angefühlt. Auch Kojak hat es gespürt.« »Gut, nehmen wir an, er hat uns irgendwie beobachtet. Was hätten wir tun können?« »Nichts. Aber es gefällt mir nicht. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass er uns beobachten kann... wenn es so gewesen ist. Er macht mich krank.« Stu rauchte seine Zigarette zu Ende und drückte sie sorgfältig an einem Felsbrocken aus, machte aber noch keine Anstalten, zu seinem Schlafsack zu gehen. Er blickte zu Kojak hinüber, der am Feuer lag und sie beäugte, den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet. »Harold ist also tot«, sagte Stu schließlich. »Ja.« »Ein sinnloses Scheißspiel, der Tod von Sue und Nick. Und auch Harolds Tod, würde ich sagen.« »Da hast du recht.« Es gab nichts mehr zu sagen. Am Tag, nachdem sie durch den Eisenhower Tunnel gekommen waren, hatten sie Harold und seine jämmerlichen letzten Aufzeichnungen gefunden. Er und Nadine mußten über den Loveland Paß gefahren sein, denn Harold hatte sein Triumph-Motorrad bei sich - oder das, was von ihm übriggeblieben war -, und wie Ralph gesagt hatte, es wäre unmöglich gewesen, etwas Größeres als ein Kinderauto durch den Tunnel zu schaffen. Die Bussarde hatten sich schon ausgiebig mit Harold beschäftigt, aber das Notizbuch lag noch fest in seiner verkrampften Hand. Die Pistole Kaliber 3 8 steckte in seinem Mund wie ein grotesker Dauerlutscher. Sie hatten Harold nicht begraben, aber Stu hatte ihm vorsichtig die Pistole aus dem Mund gezogen. Als Stu sah, wie endgültig der dunkle Mann Harold vernichtet und wie achtlos er ihn beiseite geworfen hatte, nachdem Harold die ihm zugedachte Rolle gespielt hatte, haßte er Flagg nur noch mehr. Er hatte das Gefühl, als würden sie alle sich auf einer Art sinnlosem Kinderkreuzzug opfern. Harolds Leiche mit dem zerschmetterten Bein verfolgte ihn genauso, wie das verzerrte Gesicht des Wolfsmannes Larry verfolgte. Jetzt wollte er es Flagg nicht nur für Nick und Susan, sondern auch für Harold heimzahlen... aber er kam immer mehr zu der Überzeugung, daß er nie die Gelegenheit dazu bekommen würde. Aber paß nur auf, dachte er zornig. Paß nur auf, wenn ich so nahe an dich herankomme, daß ich dich erwürgen kann, du Ungeheuer. Mit einem leisen Seufzer stand Glen auf. »Ich gehe schlafen, OstTexaner. Sag bloß nicht, daß ich noch aufbleiben soll. Es ist wirklich eine langweilige Party.« »Was macht die Arthritis?« Glen lächelte. »Es geht einigermaßen«, sagte er, aber als er zu seinem zusammengerollten Bettzeug hinüberging, humpelte er. Stu gedachte, keine weitere Zigarette mehr zu rauchen - selbst wenn er nur zwei oder drei am Tag rauchte, würden seine Vorräte Ende der Woche erschöpft sein -, aber dann zündete er sich doch noch eine an. Der Abend war nicht übermäßig kalt, aber dennoch war zu erkennen, daß in diesem hochgelegenen Landstrich der Sommer endgültig vorbei war. Das machte ihn traurig, denn er hatte das starke Gefühl, daß er nie wieder einen Sommer erleben würde. Als dieser Sommer anfing, war er Gelegenheitsarbeiter in einer Fabrik gewesen, die Taschenrechner herstellte. Er hatte in einem kleinen Kaff namens Arnette gelebt und einen großen Teil seiner Freizeit damit verbracht, in Bill Hapscombs Texaco-Tankstelle herumzuhängen und den anderen zuzuhören, wenn sie ihren Blödsinn über die Regierung und die Wirtschaft und die schlechten Zeiten von sich gaben. Stu glaubte nicht, daß nur einer von ihnen gewußt hatte, was wirklich schlechte Zeiten waren. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und warf sie ins Feuer. »Laß es dir gutgehen, Frannie, altes Mädchen«, sagte er und kroch in seinen Schlafsack. Und er träumte davon, daß irgend etwas in der Nähe war, das voller Bosheit über sie wachte. Es hätte ein Wolf mit dem Verstand eines Menschen sein können. Oder eine Krähe. Oder ein Wiesel, das auf dem Bauch durch das Gebüsch schlich. Oder irgendein körperliches Wesen, ein Auge, das sie beobachtete. Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen, murmelte er im Traum. Ja, und wenn ich auch wandle im Tal des Todes, so fürchte ich mich nicht vor dem Bösen. Nicht vor dem Bösen. Zuletzt verblaßte der Traum, und er schlief tief und fest. Am nächsten Morgen waren sie schon früh wieder unterwegs. Larrys Meilenzähler zählte klickend Meile um Meile auf der Straße, die sich die westlichen Hänge hinabwand, um dann nach Utah zu führen. Kurz nach Mittag ließen sie Colorado hinter sich. An diesem Abend kampierten sie westlich von Harley Dome, Utah. Zum ersten Mal kam Larry die tiefe Stille bedrückend und bösartig vor. Als Ralph Brentner an diesem Abend einschlief, dachte er: Wir sind jetzt im Westen. Wir sind von unserem Baseballplatz auf seinen gekommen.  Und in dieser Nacht träumte Ralph von einem Wolf mit einem einzigen roten Auge, der aus der Wüste gekommen war, um sie zu beobachten. Hau ab, sagte Ralph zu dem Wolf. Wir haben keine Angst. Nicht vor dir. Am 21. September, nachmittags um zwei Uhr, hatten sie Sego passiert. Laut Stus Straßenkarte war die nächste größere Stadt Green River. Danach kamen lange, lange Zeit keine Städte mehr. Dann würden sie wahrscheinlich, wie Ralph es ausgedrückt hatte, herausfinden, ob Gott auf ihrer Seite stand oder nicht. »Eigentlich«, sagte Larry zu Glen, »mache ich mir um Nahrung viel weniger Sorgen als um Wasser. Fast jeder, der unterwegs ist, hat irgend etwas zu essen im Auto, Erdnüsse oder Trockenfeigen oder etwas von dieser Art.« Glen lächelte. »Vielleicht gießt der Herr seinen Segen auf uns herab.« Larry schaute zum wolkenlosen Himmel hinauf und verzog das Gesicht bei dem Gedanken. »Manchmal glaube ich, daß Mutter Abagail zum Schluß nicht mehr ganz normal war.« »Vielleicht hast du recht«, sagte Glen freundlich. »Wenn du deine Theologie gelesen hast, dann wirst du wissen, daß Gott oft durch Sterbende und Verrückte spricht. Mir scheint - und hier kommt der Jesuit zum Vorschein -, daß es dafür gute psychologische Gründe gibt. Verrückte oder Menschen auf dem Totenbett sind Wesen mit drastisch veränderter Psyche. Ein gesunder, normaler Mensch könnte die göttliche Botschaft vielleicht entsprechend der eigenen Persönlichkeit interpretieren. Mit anderen Worten, ein gesunder Mensch dürfte einen beschissenen Propheten abgeben.« »Die Wege Gottes«, sagte Larry. »Ich weiß. Wir sehen nur wie in einem dunklen Spiegel. Mir erscheint dieser Spiegel ziemlich dunkel. Warum wir die ganze Strecke laufen, wo wir unser Ziel mit einem Wagen in einer Woche erreicht hätten, übersteigt meinen Horizont. Aber wenn wir schon so was Verrücktes tun, ist es wohl in Ordnung, wenn wir's auch auf verrückte Art und Weise tun.« »Was wir tun, hat alle möglichen historischen Präzedenzfälle«, sagte Glen. »Außerdem sehe ich für diesen Spaziergang völlig vernünftige psychologische und soziologische Gründe. Ich weiß nicht, ob es Gottes Gründe sind oder nicht, aber mir erscheinen sie sinnvoll.« »Welche Gründe zum Beispiel?« Stu und Ralph waren zu ihnen getreten, um es auch zu hören. »Es hat verschiedene Indianerstämme gegeben, bei denen >Visionen zu haben< zum Mannbarkeitsritus gehörte. Wenn es an der Zeit war, daß jemand zum Mann wurde, mußte er unbewaffnet in die Wildnis gehen. Er mußte irgend etwas töten, und er mußte sich zwei Lieder ausdenken - eines über den Großen Geist und eines über die eigenen Qualitäten als Jäger und Reiter und Krieger und Ficker -, und er mußte eben diese Vision haben. Er durfte nichts essen. Er sollte eine höhere Stufe erreichen - sowohl geistig als auch körperlich - und mußte auf diese Vision warten. Und natürlich kam sie früher oder später.« Glen kicherte. »Hunger fördert Halluzinationen.« »Glaubst du, daß Mutter Abagail uns in die Wüste geschickt hat, damit wir hier Visionen haben?« fragte Ralph. »Vielleicht, um durch einen Reinigungsprozeß Kraft und Frömmigkeit zu erlangen«, sagte Glen. »Ihr müßt wissen, daß es hier symbolisch darum geht, Dinge abzuwerfen. Es ist eine Art Magie. Wenn man Dinge abwirft, wirft man auch andere Dinge ab, die symbolisch mit ihnen verbunden sind. Man beginnt einen Reinigungsprozeß. Man beginnt, das Gefäß zu entleeren.« Larry schüttelte langsam den Kopf. »Das ist mir zu hoch.« »Stellt euch doch einmal einen intelligenten Menschen aus der Zeit vor der Seuche vor. Schlag ihm das Fernsehgerät kaputt. Was tut er dann abends?« »Er liest ein Buch«, sagte Ralph. »Er besucht seine Freunde«, sagte Stu. »Er beschäftigt sich mit seiner Stereo-Anlage«, sagte Larry und grinste. »Genau. Irgend etwas in dieser Richtung«, sagte Glen. »Aber er wird auch sein Fernsehgerät vermissen. Wo das Fernsehgerät früher war, ist jetzt ein Loch in seinem Leben. Immer noch denkt er: Um neun Uhr trinke ich ein paar Flaschen Bier und sehe mir in der Glotze die Boston Red Sox an. Und wenn er dann das leere Gehäuse sieht, ist er fürchterlich enttäuscht. Ein Teil des Lebens, wie er es gewohnt war, ist verschwunden. Ist es nicht so?« »Stimmt schon«, sagte Ralph. »Als unser Fernsehgerät mal zwei Wochen lang kaputt war, hatte ich keine Ruhe, bis es wiederkam.« »Wenn er viel ferngesehen hat, reißt es natürlich ein größeres Loch«, sagte Glen. »Ein kleineres, wenn er das Gerät wenig benutzt hat. Aber etwas fehlt. Jetzt nehmt ihm auch noch seine Bücher, seine Freunde und seine Stereo-Anlage. Und nehmt ihm sein Essen weg. Er soll nur essen, was er am Wege findet. Das ist ein Prozess der Ausleerung und der Verkleinerung des Ego. Euer Selbst, Gentlemen - es verwandelt sich in Fensterglas. Oder besser noch, in leere Gläser. « »Aber was hat das alles zu bedeuten?« fragte Ralph. »Was soll das ganze Geschwätz?« »Wenn du deine Bibel gelesen hast«, sagte Glen, »dann wirst du wissen, daß es für die Propheten Tradition war, von Zeit zu Zeit in die Wildnis zu gehen - die Magical Mystery Tour des Alten Testaments. Die Zeitspanne für solche Vergnügungsreisen wird gewöhnlich mit vierzig Tagen und vierzig Nächten angegeben. Damit meinten die Hebräer: >Kein Mensch weiß, wie lange er weg war, aber es muß sehr lange gewesen sein.< Erinnert dich das an jemanden?« »Ja, an Mutter«, sagte Ralph. »Jetzt stell dir mal vor, du wärst eine Batterie. Du bist nämlich in Wirklichkeit eine. Dein Gehirn funktioniert auf der Basis chemisch umgewandelter elektrischer Ströme. Übrigens funktionieren deine Muskeln ähnlich - eine Acetylcholin genannte Chemikalie läßt diese winzigen elektrischen Aufladungen frei, wenn du dich bewegen mußt, und wenn du die Bewegung steuern willst, wird eine weitere Chemikalie hergestellt, die sogenannte Cholinesterase. Sie zerstört das Acetylcholin, und deine Nerven leiten dann nicht mehr richtig. Das ist auch gut so, denn sonst würdest du dir einmal die Nase reiben und könntest nie mehr damit aufhören. Okay, es geht darum: Alles, was du denkst, und alles, was du tust, wird von deiner Batterie gespeist. Wie das Zubehör in einem Auto.« Alle hörten aufmerksam zu. »Ob man fernsieht, Bücher liest, sich mit Freunden unterhält oder ein gutes Essen zu sich nimmt... alles geht von dieser Batterie aus. Ein normales Leben - wenigstens in dem, was früher die westliche Zivilisation war - glich der Fahrt in einem Wagen mit elektrisch verstellbaren Fenstern und Sitzen, mit Servobremsen und Servolenkung und wie alle diese schönen Dinge heißen. Aber je mehr von diesen schönen Dingen man hat, um so weniger kann die Batterie aufladen. Stimmt's?« »Ja«, sagte Ralph. »Selbst eine große Delco-Batterie wird nie überladen, wenn sie in einem Cadillac steckt.« »Okay. Wir haben uns also sozusagen des Zubehörs entledigt, um unsere Batterien zu entlasten. Jetzt werden wir wieder aufgeladen.« »Wenn man eine Autobatterie zu lange auflädt«, sagte Ralph besorgt, »kann sie explodieren.« »Ja«, stimmte Glen zu. »Und so ist es auch bei den Menschen. Man wirft die Dinge ab, bis nichts mehr da ist. Die Bibel berichtet uns von Jesaja und Hiob und den anderen, aber sie sagt nicht, wie viele Propheten geistesgestört aus der Wildnis zurückgekehrt sind, weil sie Visionen hatten. Es muß einige gegeben haben. Aber ich habe einen gesunden Respekt vor menschlicher Intelligenz und der menschlichen Psyche, wenn es auch gelegentlich geistig Zurückgebliebene gibt wie diesen Ost-Texaner hier...« »Laß mich aus dem Spiel, Platte«, knurrte Stu. »Wie dem auch sei, die Kapazität des menschlichen Verstands ist weitaus größer als die der größten Delco-Batterie. Er läßt sich fast unendlich stark aufladen. In einigen Fällen vielleicht noch darüber hinaus.« Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her und dachten darüber nach. »Verändern wir uns?« fragte Stu leise. »Ja«, antwortete Glen. »Ja, ich glaube schon.« »Wir haben Gewicht verloren«, sagte Ralph. »Das sehe ich schon, wenn ich euch nur anschaue. Und ich, ich hatte früher einen gewaltigen Bierbauch. Jetzt kann ich wieder meine Zehen sehen. Ja, ich sehe fast den ganzen Fuß.« »Es hat mit der Geistesverfassung zu tun«, sagte Larry plötzlich und wirkte für einen Augenblick ein wenig verlegen, aber er fuhr fort: »Ich habe dieses Gefühl schon seit einer Woche, ich habe es nur nicht verstanden. Vielleicht verstehe ich es jetzt besser. Es ist, als hätte ich einen Joint mit superstarkem Shit geraucht oder als hätte ich Kokain geschnupft. Ich fühle mich high. Aber ich habe nicht dieses Gefühl der Desorientierung, das man bei Rauschgift hat. Wenn man Stoff nimmt, hat man das Gefühl, daß man nicht mehr normal denken kann, aber jetzt kann ich besser denken als je zuvor. Aber ich fühle mich noch immer high.« Larry lachte. »Vielleicht liegt es auch nur am Hunger.« »Der Hunger gehört dazu«, sagte Glen. »Aber er ist es nicht allein.« »Ich habe immer Hunger«, sagte Ralph, »aber das scheint nicht mehr so wichtig zu sein. Ich fühle mich gut.« »Ich auch«, sagte Stu. »Körperlich habe ich mich schon seit Jahren nicht mehr so gut gefühlt.« »Wenn man das Gefäß ausleert, wird man gleichzeitig die ganze Scheiße los, die darin herumschwimmt«, sagte Glen. »Die Zusätze. Die Verunreinigungen. Dann fühlt man sich natürlich gut. Es ist ein Klistier für den ganzen Körper und für den ganzen Geist.« »Du hast so eine ausgefallene Art, die Dinge auszudrücken, Glatzkopf.« »Es mag nicht elegant sein, aber es stimmt.« »Wird es uns bei ihm helfen?« wollte Ralph wissen. »Nun«, sagte Glen. »Dafür ist es gedacht. Daran zweifle ich kaum. Aber das werden wir wohl abwarten müssen.« Sie gingen schweigend weiter. Kojak kam aus den Sträuchern seitlich der Straße und trottete eine Weile neben ihnen her; seine Krallen klickten auf dem Asphalt der US 70. Larry beugte sich vor und kraulte das Fell des Hundes. »Guter alter Kojak«, sagte er. »Hast du gewußt, daß du eine Batterie bist? Nichts weiter als eine große alte Delco-Batterie mit lebenslanger Garantie?« Kojak schien es weder zu wissen, noch schien es ihn zu interessieren, aber er wedelte mit dem Schwanz, um zu zeigen, dass er auf Larrys Seite war. Sie schlugen ihr Nachtlager etwa fünfzehn Meilen westlich von Sego auf, und als sollte ihnen das, worüber sie sich am Nachmittag unterhalten hatten, in Erinnerung gerufen werden, stellten sie fest, daß ihnen die Essensvorräte ausgegangen waren - zum ersten Mal, seit sie Boulder verlassen hatten. Glen goß den letzten Rest des Instantkaffees auf, und sie tranken ihn aus einem Becher, den sie von Hand zu Hand reichten. Auf den letzten zehn Meilen hatten sie nicht einen einzigen Wagen gesehen. Am nächsten Morgen, dem Zweiundzwanzigsten, stießen sie auf einen umgestürzten Ford-Kombi, in dem sich vier Leichen befanden, darunter zwei kleine Kinder. Im Wagen fanden sie zwei Schachteln Cracker in Tierform und eine Familienpackung schaler, halb verdorbener Kartoffelchips. Die Cracker waren in appetitlicherem Zustand. Sie teilten sie in fünf gleiche Portionen auf. »Schling sie nicht so runter, Kojak«, mahnte Glen. »Böser Hund! Wo bleiben deine guten Manieren? Und falls du überhaupt keine Manieren hast - wie ich jetzt aus deinem Verhalten schließe -, wo bleibt dein savoir-faire?« Kojak wedelte wild mit dem Schwanz und beäugte Glens Cracker auf eine Art und Weise, die ziemlich eindeutig erkennen ließ, daß er weder savoir-faire noch Manieren besaß. »Dann friß oder stirb«, sagte Glen und warf ihm den letzten seiner Cracker hin, der die Form eines Tigers besaß. Kojak schlang ihn hinunter und zog schnüffelnd von dannen. Auch Larry hatte seinen Zoo - etwa zehn Tiere - langsam und genüßlich verspeist. »Ist euch schon mal aufgefallen«, sagte er, »daß diese Tiercracker einen leichten Beigeschmack von Zitrone haben? Das war schon so, als ich noch ein kleiner Junge war. Hab' mich erst jetzt wieder daran erinnert.« Ralph, der seine beiden letzten Cracker von einer Hand in die andere geworfen hatte, steckte nun einen davon in den Mund. »Ja, stimmt. Die schmecken tatsächlich nach Zitrone. Wißt ihr, irgendwie wünschte ich mir, der alte Nicky wäre hier. Hätte mir nichts ausgemacht, wenn mein Anteil dafür etwas kleiner ausgefallen wäre.« Stu nickte. Sie beendeten die Mahlzeit und setzten ihren Weg fort. Am Nachmittag stießen sie auf einen liegengebliebenen Truck der Great-Western-Market-Ladenkette, dessen Fahrtziel offensichtlich Green River gewesen war. Der Laster stand ordentlich neben der Fahrbahn auf der Standspur geparkt; der Fahrer saß kerzengerade und tot hinter dem Steuer. Als Abendbrot gab es Schinken aus der Büchse, aber keiner von ihnen schien rechten Appetit zu haben. Ihre Mägen seien geschrumpft, erklärte Glen. Stu sagte, seiner Meinung nach rieche der Schinken schlecht - nicht verdorben, sondern zu streng, zu fleischig. Ihm wurde fast übel. Er bekam nur eine einzige Scheibe herunter. Ralph sagte, er hätte jetzt lieber noch zwei oder drei Schachteln Tiercracker, und alle lachten. Selbst Kojak fraß nur ein kleines Stück, bevor er sich davonmachte, um irgendeinem Geruch zu folgen. An dem Abend kampierten sie östlich vom Green River, und in den frühen Morgenstunden fiel ein erster Hauch von Schnee. Am Dreiundzwanzigsten kurz nach Mittag erreichten sie die Auswaschung. Der Himmel war den ganzen Tag bedeckt gewesen, und es war kalt - kalt genug, meinte Stu, daß es Schnee geben könnte - viel Schnee und nicht bloß einen Schauer. Die Vier standen oben am Rand, Kojak neben Glen, und schauten hinunter und zur anderen Seite. Irgendwo nördlich von hier mußte ein Damm gebrochen sein, oder es hatte eine Reihe von schweren Sommergewittern gegeben. Jedenfalls mußte der Fluß über die Ufer getreten sein, obwohl er sonst alle paar Jahre austrocknete. Das Wasser hatte ein großes Stück aus der I-70 herausgerissen. Der Abhang war ungefähr fünfzehn Meter tief, die Böschung bestand aus lockerer Erde, Geröll und Sedimentgestein. Unten floß träge ein schmaler Wasserlauf. »Heiliges Kanonenrohr«, sagte Ralph. »Man sollte die Straßenbaubehörde des Staates Utah anrufen.« Larry zeigte mit dem Finger. »Seht euch das an«, sagte er. Sie blickten in die von Larry gewiesene Richtung, wo sich seltsame, von Wind und Wetter geformte Felssäulen und Monolithen erhoben. Etwa hundert Meter flußabwärts sahen sie im Flußbett des San Rafael ein Gewirr von Leitplanken und Kabeln und große Asphaltbrocken von der Straße. Ein großes Stück ragte wie ein apokalyptischer Finger in den bewölkten Himmel. Glen blickte den geröllübersäten Abhang hinunter. Er hatte die Hände in den Taschen, und sein Gesicht zeigte einen verträumten Ausdruck. »Schaffst du es, Glen?« fragte Stu leise. »Sicher, ich glaub' schon.« »Was macht die Arthritis?« »Es war schon schlimmer.« Er lächelte gequält. »Aber, um ehrlich zu sein, es war auch schon besser.« Sie hatten kein Seil mehr, mit dem sie einander hätten absichern können. Stu stieg als erster hinab; er bewegte sich ganz vorsichtig. Ihm gefiel es überhaupt nicht, wie der Boden an manchen Stellen unter seinen Füßen nachgab und Steine und Erde sich lösten und herunterpolterten. Einmal hatte er schon Angst, den Halt zu verlieren und auf dem Hintern bis nach unten zu rutschen. Aber er konnte sich an einem Felsvorsprung festhalten und hatte dann wieder festen Boden unter den Füßen. Dann sprang Kojak munter an ihm vorüber. Er trat kaum Erde los, und einen Moment später stand er schon unten und bellte freundlich zu Stu hoch. »Dieser verdammte angeberische Köter«, knurrte Stu und ging vorsichtig weiter, bis er unten war. »Ich komme als nächster«, rief Glen. »Ich habe genau gehört, was du zu meinem Hund gesagt hast!« »Sei vorsichtig, alter Junge. Sei verdammt vorsichtig! Es ist wirklich lose unter den Füßen.« Glen stieg ganz langsam nach unten. Vorsichtig bewegte er sich von einem festen Halt zum anderen. Stu schrak jedesmal zusammen, wenn sich unter Glens Füßen Erdreich löste. Wie feines Silber wehten Glen die Haare im aufkommenden Wind um die Ohren. Dabei fiel Stu ein, daß Glens Haar noch ziemlich dunkel gewesen war, als er ihn kennenlernte, während Glen gerade an einer Straße in New Hampshire ein mittelmäßiges Bild malte. Stu war sicher, daß Glen jeden Moment abstürzen und in zwei Hälften brechen würde. Er war erst beruhigt, als Glen mit beiden Füßen auf dem schlammigen Boden am Grund des Abhangs stand. Stu seufzte vor Erleichterung und klopfte Glen auf die Schulter. »Ich habe nicht einmal geschwitzt, Ost-Texaner«, sagte Glen und bückte sich, um Kojak zu streicheln. »Ich um so mehr«, sagte Stu. Ralph kam als nächster, kletterte vorsichtig von einem Halt zum anderen und sprang die letzten zwei Meter. »Junge«, sagte er. »Die Scheiße ist tatsächlich verdammt lose. Es wäre verdammt komisch, wenn wir auf der anderen Seite nicht mehr raufkämen und vier oder fünf Meilen flußabwärts gehen müßten, um eine flachere Uferböschung zu suchen, stimmt's?« »Es wäre noch komischer, wenn wieder eine Überschwemmung käme, während wir noch suchen«, sagte Stu. Larry stieg behende nach unten. Drei Minuten nachdem die anderen ihren Abstieg begonnen hatten, stand er schon neben ihnen. »Wer steigt zuerst hoch?« fragte er. »Warum tust du es nicht, wo du es doch so gut kannst?« fragte Glen. »Okay.« Er brauchte für den Aufstieg wesentlich länger, und zweimal gab der trügerische Boden nach, und er wäre fast abgestürzt. Aber endlich war er oben und winkte den anderen zu. »Wer ist der nächste?« fragte Ralph. »Ich«, sagte Glen und ging zur anderen Seite hinüber. Stu nahm ihn am Arm. »Hör zu«, sagte er. »Wir können stromaufwärts gehen und eine flachere Stelle suchen, wie Ralph schon sagte.« »Und den Rest des Tages verlieren? Als Junge wäre ich in vierzig Sekunden oben gewesen.« »Du bist kein Junge mehr, Glen.« »Nein, aber ich glaube, etwas von dem Jungen ist noch in mir.« Bevor Stu noch etwas sagen konnte, hatte Glen den Aufstieg schon begonnen. Als er ein Drittel geschafft hatte, rastete er einen Augenblick. Dann stieg er weiter. Etwa auf der Hälfte der Strecke gab ein Felsbrocken nach, an dem er sich festhalten wollte, und Stu sah ihn schon mitsamt seiner Arthritis kopfüber den Hang herunterstürzen. »Verdammte Scheiße...«, flüsterte Ralph. Glen ließ die Arme herumwirbeln, und irgendwie gelang es ihm, die Balance zu halten. Er warf sich nach rechts und stieg wieder etwa fünf oder sechs Meter nach oben. Dann rastete er erneut. Als er fast oben war, löste sich ein Stein, auf dem er gestanden hatte, und er wäre den ganzen Hang hinuntergestürzt, wäre nicht Larry zur Stelle gewesen. Er packte Glens Arm und zog ihn herauf. »Kleinigkeit«, rief Glen nach unten. Stu grinste erleichtert. »Und dein Pulsschlag?« »Über neunzig, glaube ich«, gab Glen zu. Ralph erkletterte den Hang bedächtig wie eine Bergziege und prüfte vorher jeden Halt. Er setzte die Füße mit größter Vorsicht. Als er oben angekommen war, begann Stu den Aufstieg. Bis zum Augenblick seines Sturzes fand Stu, daß dieser Hang tatsächlich nicht ganz so steil wie der andere war. Hier hatte man auch besseren Halt. Aber die Oberfläche war eine Mischung aus kreidigem Boden und Felsbrocken, der sich durch die Regenfälle stark gelockert hatte. Stu hatte böse Vorahnungen und stieg ebenfalls sehr vorsichtig hoch. Er hatte mit der Brust schon die obere Kante erreicht, als ein Stein unter seinem linken Fuß plötzlich verschwand. Er spürte, daß er abrutschte. Larry griff nach seiner Hand, aber diesmal packte er ins Leere. Stu versuchte, sich an einem Stück Straßenkante festzuhalten, aber es brach ab. Er starrte das Stück Asphalt verblüfft an, noch während er immer schneller nach unten glitt. Er ließ es los und kam sich vor wie der Coyote in einem Roadrunner-Comic. Fehlt nur noch das »Wumm!« in der Zeichnung, wenn ich unten aufschlage, schoß es ihm durch den Kopf. Er stieß mit dem Knie gegen etwas, und ein brennender Schmerz schoß ihm durch das Bein. Er versuchte sich am Hang festzuhalten, der jetzt mit erschreckender Geschwindigkeit an ihm vorbeiglitt, aber er erwischte nur eine Handvoll Schlamm. Er schlug auf einem Felsbrocken auf, der wie eine große stumme Pfeilspitze aus dem losen, brüchigen Gestein ragte, und überschlug sich. Der Aufprall war so heftig, daß ihm die Luft wegblieb. Die nächsten drei Meter stürzte er in freiem Fall und traf in einem unglücklichen Winkel mit dem Bein auf. Er hörte es knacken. Der Schmerz war unerträglich. Er schrie laut auf, dann machte er einen Salto rückwärts und rutschte mit dem Gesicht durch den Dreck. Scharfe Kiesel kratzten ihm Gesicht und Arme blutig. Wieder landete er auf seinem verletzten Bein, und er hörte es an einer anderen Stelle brechen. Diesmal schrie er nicht. Diesmal brüllte er. Die letzten Meter schlitterte er auf dem Bauch, wie ein Kind auf einer schmierigen Rutschbahn. Völlig mit Schlamm bedeckt, blieb er liegen, und er hörte seinen Herzschlag in den Ohren dröhnen. Die Schmerzen in seinem Bein brannten wie Feuer. Seine Jacke und sein Hemd waren bis auf die Haut zerfetzt und durchgescheuert. Gebrochen. Aber wie schlimm? Ziemlich schlimm, so wie es sich anfühlt. Mindestens an zwei Stellen gebrochen, wenn nicht an mehr. Und auch das Knie ist verletzt. Dann kam Larry den Hang herab. Er kam in langen Sprüngen, die fast wie Hohn wirkten nach dem, was Stu erlitten hatte. Larry kniete sich neben Stu und stellte die Fragen, die Stu sich schon selbst gestellt hatte. »Wie schlimm ist es, Stu?« Stu stützte sich auf die Ellenbogen und blickte Larry an, das Gesicht noch weiß vor Entsetzen und von Schlamm verdreckt. »Ich schätze, ich werde in drei Monaten wieder gehen können«, sagte er. Er hatte das Gefühl, als ob er sich übergeben müßte. Er schaute zum wolkenverhangenen Himmel auf, ballte die Fäuste und schüttelte sie. »OH, SCHEISSE!« brüllte er. Ralph und Larry schienten ihm das Bein. Glen holte eine Flasche »Arthritispillen«, wie er sie nannte, aus der Tasche und gab Stu eine. Stu wußte nicht, woraus die »Arthritispillen« bestanden, und Glen wollte es ihm nicht sagen, aber die Schmerzen in seinem Bein waren nach einiger Zeit nur noch wie ein entferntes Summen. Er war jetzt ganz ruhig, sogar heiter. Er mußte daran denken, daß sie alle nur von geborgter Zeit lebten, nicht, weil sie auf dem Weg zu Flagg waren, sondern schon deshalb, weil sie Captain Trips überlebt hatten. Jedenfalls wußte er, was zu tun war... und er würde dafür sorgen, daß es auch getan wurde. Larry hatte gerade aufgehört zu sprechen, und die anderen warteten gespannt auf Stus Kommentar. Er sagte nur ein Wort: »Nein.« »Stu«, sagte Glen leise, »du verstehst nicht...« »Ich verstehe. Ich sage nein. Keine Fahrt zurück nach Green River. Kein Seil. Kein Wagen. Das wäre gegen die Spielregeln.« »Dies ist kein Spiel!« rief Larry. »Du würdest hier sterben!« »Und ihr werdet höchstwahrscheinlich drüben in Nevada sterben. Und jetzt macht, daß ihr weiterkommt. Ihr habt noch vier Stunden Tageslicht. Es gibt keinen Grund, hier rumzutrödeln.« »Wir werden dich hier nicht allein lassen«, sagte Larry. »Genau das werdet ihr tun. Ich befehle es euch.« »Nein. Ich habe jetzt das Kommando übernommen. Mutter hat gesagt, wenn dir etwas passiert...« »...dann sollt ihr weitermachen.« »Nein. Nein.« Larry blickte hilfesuchend Glen und Ralph an. Sie standen bekümmert da. Kojak saß in der Nähe, den Schwanz um die Pfoten geringelt, und beobachtete die vier. »Hör zu, Larry«, sagte Stu. »Dieser ganze Ausflug basiert auf der Annahme, daß die alte Dame wußte, worüber sie redete. Wenn du das in Zweifel ziehst, setzt du alles aufs Spiel.« »Ja, das stimmt«, sagte Ralph. »Nein, das stimmt nicht, du Bauernlümmel«, sagte Larry, indem er wütend Ralphs breiten Oklahoma-Akzent nachahmte. »Es war nicht Gottes Wille, daß Stu hier abstürzen sollte. Nicht einmal der dunkle Mann hat etwas damit zu tun. Es war nur loser Dreck, weiter nichts, nur loser Dreck! Ich lasse dich hier nicht allein, Stu. Nie wieder lasse ich Menschen allein.« »Doch. Wir werden ihn hier zurücklassen«, sagte Glen ruhig. Larry sah ihn ungläubig an, als wäre er gerade verraten und verkauft worden. »Und ich dachte, du bist sein Freund.« »Das bin ich auch. Aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.« Larry lachte hysterisch und ging ein paar Schritte durc h den Schlamm. »Du bist verrückt! Weißt du das?« »Nein, das bin ich nicht. Wir haben eine Vereinbarung getroffen. Wir standen um Mutter Abagails Totenbett herum und waren alle einverstanden. Das bedeutete mit ziemlicher Sicherheit unseren Tod, und das wußten wir. Wir haben alles genau verstanden, und jetzt werden wir uns an diese Vereinbarung halten.« »Das will ich ja auch, verdammt noch mal!« rief Larry. »Ich meine, wir müssen ja nicht nach Green River laufen. Wir könnten uns einen Kombi besorgen, laden ihn ein und fahren weiter...« »Wir sollen zu Fuß gehen«, sagte Ralph. Er zeigte auf Stu. »Er kann nicht gehen.« »Richtig. Gut. Er hat sich das Bein gebrochen. Und was schlägst du vor? Sollen wir ihn wie ein Pferd erschießen?« »Larry...«, setzte Stu an. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, packte Glen Larry am Hemd und riß ihn zu sich heran. »Wen versuchst du zu retten?« Seine Stimme war kalt und streng. »Stu oder dich selbst?« Larry sah ihn an. Seine Mundwinkel zuckten. »Es ist ganz einfach«, sagte Glen. »Wir können nicht bleiben... und er kann nicht gehen.« »Ich weigere mich, das zu akzeptieren«, flüsterte Larry. Er war totenblaß. »Es ist eine Prüfung«, sagte Ralph plötzlich. »Genau das ist es.« »Vielleicht wird hier geprüft, ob du noch normal bist«, meinte Larry. »Stimmt ab«, sagte Stu. »Ich bin dafür, daß ihr geht.« »Ich auch«, sagte Ralph. »Es tut mir so leid, Stu. Aber wenn Gott über uns wacht, wird er vielleicht auch über dich wachen...« »Ich kann es nicht«, sagte Larry. »Du denkst überhaupt nicht an Stu«, sagte Glen. »Ich glaube, du versuchst irgend etwas in dir selbst zu retten. Aber diesmal, Larry, ist es richtig, jemanden allein zu lassen. Wir müssen es tun.« Larry rieb sich langsam mit dem Handrücken über den Mund. »Laßt uns wenigstens heute nacht hier bleiben«, sagte Larry. »Laßt uns noch einmal über alles nachdenken.« »Nein«, sagte Stu. Ralph nickte. Er wechselte einen Blick mit Glen, und dann holte Glen wieder seine Flasche mit »Arthritispillen« aus der Tasche und drückte sie Stu in die Hand. »Sie sind auf Morphiumbasis«, sagte er. »Mehr als drei oder vier wirken wahrscheinlich tödlich.« Er sah Stu fest an. »Hast du kapiert, Ost-Texaner?« »Ich weiß, was du meinst«, sagte Stu. »Wovon redest du?« schrie Larry mit schriller Stimme. »Was, zum Teufel, willst du damit andeuten?« »Weißt du das nicht?« fragte Ralph, und in seinem Tonfall lag so viel Verachtung, daß Larry eine Weile schwieg. Dann stand ihm plötzlich alles wieder vor Augen, mit alptraumhafter Geschwindigkeit, wie man von einem rasenden Karussell aus die Gesichter von Fremden vorüberziehen sieht: Tabletten, aufputschende und beruhigende. Rita, die tot und steif in ihrem Schlafsack liegt und aus deren Mund grünes Erbrochenes quillt, wie ein widerlicher Party-Scherz. »Nein!« schrie er und versuchte, Stu die Flasche zu entreißen. Ralph packte ihn an der Schulter, und Larry wehrte sich. »Laß ihn los«, sagte Stu. »Ich will mit ihm reden.« Ralph hielt ihn immer noch fest und sah Stu unsicher an. »Komm, laß ihn schon los.« Ralph gehorchte, war aber bereit, sofort wieder zuzupacken. »Komm her, Larry«, sagte Stu. »Setz dich mal hin.« Larry ging zu ihm hinüber und hockte sich neben ihn. Er sah Stu kläglich an. »Das ist doch nicht richtig, Mann. Wenn jemand stürzt und sich das Bein bricht, dann... kann man doch nicht einfach weggehen und ihn sterben lassen. Weißt du das denn nicht? He, Mann...« Er berührte Stus Gesicht. »Bitte, denk doch mal nach.« Stu nahm Larrys Hand und hielt sie fest. »Hältst du mich für verrückt?« »Nein! Nein, aber...« »Und findest du nicht auch, daß Leute, die bei Verstand sind, selbst entscheiden sollten, was sie tun wollen?« »Oh, Mann«, sagte Larry und fing an zu weinen. »Larry, du bist nicht betroffen. Ich will, daß du mit den anderen weitergehst. Wenn du je wieder aus Vegas zurückkommst, dann komm hier vorbei. Vielleicht schickt Gott mir einen Raben, der mich füttert. Das weiß man nicht. Ich habe mal in der Sonntagsbeilage gelesen, daß ein Mensch siebzig Tage lang ohne Nahrung auskommen kann, wenn er nur Wasser hat.« »Schon lange vorher wird es hier Winter. Dann wirst du in drei Tagen an Unterkühlung gestorben sein, selbst wenn du nicht diese Pillen nimmst.« »Das ist nicht deine Sache. Du hast damit nichts zu tun.« »Schick mich nicht weg, Stu.« »Ich schicke dich weg«, sagte Stu energisch. »Was für eine Scheiße«, sagte Larry und stand auf. »Was wird Fran zu uns sagen, wenn sie erfährt, daß wir dich hier für die Ratten und die Bussarde liegengelassen haben?« »Sie wird überhaupt nichts sagen, wenn du nicht nach drüben gehst und ihm die Fresse polierst. Auch Lucy nicht. Oder Dick Ellis. Oder Brad. Oder sonst jemand.« »Okay«, sagte Larry. »Wir werden gehen. Aber erst morgen. Heute nacht werden wir hier unser Lager aufschlagen, und vielleicht haben wir einen Traum... irgend etwas...« »Keine Träume«, sagte Stu leise. »Keine Zeichen. So funktioniert es nicht. Ihr würdet eine Nacht lang bleiben, und es passiert nichts, und dann würdet ihr noch eine Nacht bleiben wollen, dann noch eine... ihr müßt sofort weiter.« Mit gesenktem Kopf ging Larry zur Seite und drehte den anderen den Rücken zu. »Okay«, sagte er schließlich, und er sprach so leise, daß seine Worte kaum zu verstehen waren. »Wir tun, was du sagst. Gott möge unseren Seelen gnädig sein.« Ralph kam und kniete sich neben Stu. »Können wir dir irg end etwas mitbringen, Stu?« Stu lächelte. »Ja. Alles, was Göre Vidal jemals geschrieben hat - die Bücher über Lincoln und Aaron Burr und diese Burschen. Die Schinken wollte ich schon immer lesen, und es sieht so aus, als hätte ich jetzt die Zeit dazu.« Ralph lächelte verkniffen. »Tut mir leid, Stu. Da hab' ich wohl ein bißchen zuviel versprochen.« Stu drückte ihm den Arm, und Ralph ging davon. Glen kam zu ihm. Auch er hatte geweint, und als er sich neben Stu setzte, kamen ihm schon wieder die Tränen. »Hör auf zu heulen, Baby«, sagte Stu. »Mir wird schon nichts passieren.« »Larry hat recht. Es ist nicht gut, was wir hier machen. Das kann man höchstens einem Pferd antun, das sich ein Bein gebrochen hat.« »Du weißt, daß es anders nicht geht.« »Ich glaube schon, aber wer weiß es wirklich? Wie fühlt sich das Bein an?« »Im Moment habe ich keine Schmerzen.« »Okay, du hast die Pillen.« Glen wischte sich mit dem Arm über die Augen. »Leb wohl, Ost-Texaner. Es war verdammt gut, dich zu kennen.« Stu wandte sich ab. »Sag nicht Leb wohl, Glen. Sag bis bald. Du wirst wahrscheinlich diesen verdammten Hang nur halb raufkommen und wieder runterfallen. Dann können wir hier den ganzen Winter Karten spielen.« »Bis bald trifft's wohl nicht«, sagte Glen. »Hast du nicht auch das Gefühl?« Und weil er es hatte, wandte Stu Glen wieder sein Gesicht zu. »Ja, das habe ich«, sagte er, und dann lächelte er. »Aber wir fürchten uns nicht vor dem Bösen, stimmt's?« »Stimmt«, sagte Glen. Seine Stimme war jetzt ein heiseres Flüstern. »Zieh den Stöpsel raus, wenn es sein muß, Smart. Quäl dich nicht lange herum.« »Nein.« »Also dann... leb wohl.« »Leb wohl, Glen.« Die drei versammelten sich am Westhang, und nach einem letzten Blick zurück stieg Glen als erster nach oben. Mit wachsender Besorgnis beobachtete Stu seinen Aufstieg. Glen bewegte sich lässig, fast sorglos, und achtete kaum darauf, wohin er trat. Zweimal bröckelte der Boden unter ihm weg. Beide Male griff er nach irgendeinem Halt, und beide Male hatte er Glück. Als er die obere Kante erreicht hatte, stieß Stu einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Ralph stieg als nächster hoch, und als er oben angekommen war, rief Stu Larry ein letztes Mal zu sich heran. Er schaute Larry ins Gesicht und überlegte, daß es eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Gesicht des verblichenen Harold Lauder hatte - bemerkenswert ruhig, mit aufmerksamen und ein wenig mißtrauischen Augen. Ein Gesicht, das nichts verriet, es sei denn, es wollte etwas verraten. »Du hast jetzt das Kommando«, sagte Stu. »Kommst du damit zurecht?« »Ich weiß nicht, aber ich will es versuchen.« »Du wirst schon die richtigen Entscheidungen treffen.« »Glaubst du? Sieht so aus, als wäre meine erste Entscheidung abgewiesen worden.« Jetzt spiegelte sich in seinen Augen eine Regung: Vorwurf. »Ja, aber bei diesem einen Mal wird es bleiben. Hör zu - seine Leute werden euch erwischen.« »Ja. Das werden sie wahrscheinlich. Entweder werden sie uns erwischen oder aus irgendeinem Hinterhalt wie Hunde abknallen.« »Ich glaube eher, daß sie euch greifen und zu ihm bringen werden. Ich denke, das wird schon in den nächsten Tagen geschehen. Wenn du Vegas erreichst, halte die Augen offen. Warte. Es wird kommen.« »Was wird kommen? Was, Stu?« »Ich weiß nicht. Das, weswegen man uns hergeschickt hat. Was immer es sein mag. Halte dich bereit. Damit du es vorher weißt.« »Wir werden zu dir zurückkommen. Wenn wir es nur irgend schaffen. Das weißt du.« »Ja, okay.« Rasch stieg Larry den Hang hinauf, wo die anderen schon auf ihn warteten. Sie blieben noch einen Augenblick stehen und winkten hinunter. Auch Stu hob grüßend die Hand. Dann gingen sie. Und keiner von ihnen sollte Stu Redman je wiedersehen. 73 Die drei Männer kampierten sechzehn Meilen westlich von der Stelle, wo sie Stu zurückgelassen hatten. Sie hatten wieder eine Auswaschung erreicht, aber hier war der Schaden geringer. Sie hatten nur deshalb so wenige Meilen zurückgelegt, weil sie ein wenig den Mut verloren hatten. Und es war schwer zu sagen, ob sie ihn jemals wiedererlangen würden. Die Füße schienen ihnen schwerer geworden zu sein. Sie sprachen kaum miteinander. Und keiner wollte dem anderen ins Gesicht sehen - aus Angst, die eigene Schuld darin widergespiegelt zu sehen. Sie hatten erst nach Einbruch der Dunkelheit ihr Lager aufgeschlagen und aus Zweigen ein kleines Feuer entfacht. Sie hatten Wasser, aber nichts zu essen. Glen stopfte seinen letzten Tabak in die Pfeife und überlegte sich plötzlich, ob Stu noch Zigaretten hatte. Der Gedanke verdarb ihm den Geschmack an seinem Tabak, und er klopfte seine Pfeife an einem Felsen aus. Zerstreut trat er seinen letzten Krümel Borkum Riff mit dem Fuß weg. Als ein paar Minuten später irgendwo in der Dunkelheit eine Eule schrie, blickte er sich um. »Sagt mal, wo ist denn Kojak?« fragte er. »Das ist aber seltsam«, sagte Ralph. »Ich kann mich gar nicht daran erinnern, ihn in den letzten Stunden gesehen zu haben.« Glen stand auf. »Kojak!« schrie er. »He, Kojak! Kojak!« Einsam hallte das Echo seiner Stimme aus der Wüste zurück. Kein Bellen kam als Antwort. Von Trübsinn überwältigt, setzte er sich wieder hin. Er seufzte leise. Fast über den ganzen Kontinent war Kojak ihm gefolgt. Jetzt war er weg. Es war wie ein böses Omen. »Glaubst du, daß irgendwas ihn erwischt hat?« fragte Ralph leise. Larry sagte mit ruhiger, nachdenklicher Stimme: »Vielleicht ist er bei Stu geblieben.« Glen blickte erschrocken auf. »Vielleicht«, meinte er dann und dachte darüber nach. »Das könnte sein.« Larry warf einen Stein von einer Hand in die andere, hin und her, her und hin. »Stu hat gesagt, daß Gott ihm vielleicht einen Raben schickt, der ihn füttert. Ich bezweifle, daß es hier draußen einen Raben gibt. Also hat er Stu vielleicht statt dessen einen Hund geschickt.« Im Feuer knackte ein brennender Ast, und Funken sprühten hoch in die Dunkelheit, um kurz in einem hellen Wirbel aufzuglühen und sofort wieder zu erlöschen. Als Stu die dunkle Gestalt durch die Rinne auf sich zuschleichen sah, schob er sich gegen den Felsen, das Bein steif vor sich ausgestreckt, und nahm mit einer vor Kälte fast tauben Hand einen Felsbrocken auf. Er war kalt bis auf die Knochen. Larry hatte recht gehabt. Zwei oder drei Tage bei diesen Temperaturen hier herumzuliegen würde seinen sicheren Tod bedeuten. Aber jetzt sah es ganz so aus, als ob etwas auf ihn zuschlich, das ihn schon vorher erledigen würde. Kojak war bis Sonnenuntergang bei ihm geblieben und dann weggelaufen. Stu hatte ihn nicht zurückgerufen. Der Hund würde Glen und die anderen schon finden. Vielleicht hatte er eine eigene Rolle in diesem Drama zu spielen. Aber er wünschte sich jetzt, daß Kojak noch ein wenig länger geblieben wäre. Die Pillen waren eine Sache, aber er hatte keine Lust, von einem der Wölfe des dunklen Mannes in Stücke gerissen zu werden. Er packte den Felsbrocken fester, und die dunkle Gestalt blieb etwa zwanzig Meter entfernt stehen. Dann kam sie wieder näher, ein Schatten, schwärzer als die Nacht. »Also los, komm schon«, rief Stu heiser. Der schwarze Schatten wedelte mit dem Schwanz und kam näher. »Kojak?« Er war es. Und er hatte etwas im Maul, das er vor Stus Füße fallen ließ. Dann setzte er sich, klopfte mit dem Schwanz auf den Boden und wartete darauf, daß Stu ihn lobte. »Braver Hund«, sagte Stu verblüfft. »Braver Hund.« Kojak hatte ihm ein Kaninchen gebracht. Stu zog sein Taschenmesser, klappte es auf und weidete das Kaninchen mit drei schnellen Schnitten aus. Er nahm die dampfenden Eingeweide und warf sie Kojak zu. »Willst du?« Kojak wollte. Stu zog dem Kaninchen das Fell ab. Der Gedanke, es roh essen zu müssen, tat seinem Magen nicht sehr wohl. »Holz?« wandte sich Stu ohne viel Hoffnung an Kojak. Überall an der Uferböschung des Wasserlaufes lagen Zweige und Äste, aber in Reichweite gab es keine. Kojak wedelte mit dem Schwanz und blieb sitzen. »Holen? H...« Aber Kojak war weg. Er rannte in östliche Richtung, und als er zurückkam, hatte er ein großes Stück Holz im Maul. Er ließ es neben Stu fallen, bellte und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. »Braver Hund«, sagte Stu wieder. »Ich werd' verrückt! Holen, Kojak!« Mit fröhlichem Gebell verschwand Kojak wieder. Nach zwanzig Minuten hatte er genug Holz für ein großes Feuer gebracht. Stu schnitt Späne von den Ästen, um das Feuer anzünden zu können. Dann schaute er nach, wie viele Streichhölzer er noch hatte. Es waren anderthalb Heftchen. Beim zweiten Streichholz brannte sein Anmachholz, und er achtete sorgfältig darauf, daß es nicht wieder erlosch. Bald brannte ein ordentliches Feuer, und in seinem Schlafsack sitzend, rückte Stu so nahe wie möglich heran. Kojak setzte sich an die andere Seite des Lagerfeuers und legte die Schnauze auf die Pfoten. Als das Feuer ein wenig heruntergebrannt war, spießte Stu das Kaninchen auf und briet es. Der Geruch war bald so stark und so aromatisch, daß ihm der Magen knurrte. Auch Kojak wurde aufmerksam und beäugte das Kaninchen mit regem Interesse. »Hälfte für dich und Hälfte für mich, alter Junge, okay?« Fünfzehn Minuten später nahm er das Kaninchen vom Feuer und schaffte es, den Braten in zwei Teile zu reißen, ohne sich allzusehr die Finger zu verbrennen. Das Fleisch war stellenweise verbrannt, an anderen Stellen noch halb roh, aber es stellte den Büchsenschinken vom Great-Western-Market weit in den Schatten. Er und Kojak verschlangen es... und als sie fertig waren, hörten sie ein markerschütterndes Geheul. »Mein Gott!« rief Stu, noch immer ein Stück Kaninchenfleisch im Mund. Kojak war aufgesprungen, und seine Nackenhaare sträubten sich. Er knurrte. Steifbeinig schlich er um das Feuer herum, immer noch knurrend. Aber was immer geheult hatte, war verstummt. Stu legte sich hin, einen faustgroßen Felsbrocken in der einen Hand, das Taschenmesser in der anderen. Die Sterne leuchteten kalt und fern und gleichgültig. Er dachte an Fran, aber nicht lange. Der Gedanke war zu schmerzlich, mit vollem Bauch oder nicht. Aber ich werde nicht schlafen, dachte er. jedenfalls nicht lange. Aber dann schlief er doch ein, mit Hilfe einer von Glens Pillen. Und als das Feuer schon fast erloschen war, schlich Kojak herüber und legte sich neben ihn und gab Stu etwas von seiner Wärme. Und so kam es, daß Stu in der ersten Nacht, die er ohne seine Gefährten verbringen mußte, aß, während sie hungerten, und gut schlief, während ihr Schlaf von Alpträumen und dem Gefühl sich rasch nahenden Unheils gestört wurde. Am vierundzwanzigsten, nach einer Tagesetappe von dreißig Meilen, rastete Larry Underwoods dreiköpfige Pilgergruppe nordöstlich des San Rafael Knob. In dieser Nacht sank die Temperatur unter Null, und sie zündeten ein großes Feuer an. So nahe wie möglich schliefen sie neben der Glut. Kojak war nicht wiedergekommen. »Wie mag es Stu wohl heute nacht ergehen?« fragte Ralph Larry. »Er stirbt«, sagte Larry knapp, und seine Worte taten ihm sofort leid, als er die Trauer in Ralphs ehrlichem Gesicht sah. Aber er wußte nicht, wie er diese Worte zurücknehmen konnte, denn was er gesagt hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit wahr. Er legte sich wieder hin und hatte das seltsame Gefühl, daß es schon morgen war. Was immer sie erwartete, sie hatten es fast schon erreicht. In der Nacht hatte er Alpträume. In jenem Traum, den er am nächsten Morgen am deutlichsten in Erinnerung hatte, war er mit einer Gruppe namens The Shady Blues Connection auf Tournee. Sie spielten im Madison Square Garden, und das Konzert war ausverkauft. Donnernder Applaus, als sie die Bühne betraten. Larry ging nach vorn, um sein Mikrophon zu justieren, es auf die richtige Höhe zu bringen, doch es ließ sich keinen Millimeter bewegen. Er ging zum Mikro des Leadgitarristen hinüber, aber auch das war wie angeschweißt. Dasselbe mit den Mikros des Baßgitarristen und des Mannes an den Keyboards. Buhrufe und rhythmisches Klatschen erhoben sich in der Menge. Einer nach dem anderen schlichen sich die Musiker der Shady Blues Connection von der Bühne; auf ihren Gesichtern lag ein verstohlenes Grinsen; sie trugen ähnlich poppig-psychedelische Hemden, wie die Byrds sie einst getragen hatten, damals, 1966, als Roger McGuin noch bei jedem Auftritt acht Meilen high gewesen war. Oder achthundert. Und Larry ging noch immer von Mikro zu Mikro in der Hoffnung, eins zu finden, das sich einstellen ließ. Aber die Dinger waren allesamt mindestens drei Meter hoch und wie festgefroren. Sie sahen aus wie Kobras aus rostfreiem Stahl. Irgend jemand in der Menge verlangte lautstark »Baby, Can You Dig Your Man?«. Diesen Song spiel' ich nicht mehr, versuchte Larry zu sagen. Ich hab' ihn seit dem Weltuntergang nicht mehr gespielt. Sie konnten ihn nicht hören, und nun begann die Menge zu singen, zuerst die hinteren Reihen; dann wogte der Gesang nach vorn, wurde lauter und lauter und schriller, bis der ganze Garden erfüllt war von Gebrüll: »Baby Can You Dig Your Man! Baby Can You Dig Your Man! BABY CAN YOU DIG YOUR MAN!« Larry erwachte; das Geschrei hallte ihm noch in den Ohren. Er war schweißgebadet. Er brauchte nicht erst Glen zu fragen, was für eine Art Traum das gewesen war oder welche Bedeutung er hatte. Der Traum, in dem man nicht an die Mikrophone herankommt, sie nicht justieren kann, ist nicht ungewöhnlich für einen Rockmusiker - wie auch jener Traum, daß man auf der Bühne steht und plötzlich den Text des Songs vergessen hat. Larry vermutete, daß alle Entertainer in der einen oder anderen Form diesen Traum hatten, bevor - Bevor ihr Auftritt kam. Es war ein Unzulänglichkeitstraum. Er verdeutlichte die eine, primitive, alles überdeckende Angst: Was, wenn du nicht kannst? Was, wenn du willst, aber nicht kannst? Das Entsetzen, jene Grenze nicht überschreiten zu können, die den Amateur vom Künstler - Sänger, Schriftsteller, Maler, Musiker - trennt. Du mußt den Leuten etwas bieten, Larry. Wessen Stimme war das? Die seiner Mutter? Du bist einer, der nur nimmt, Larry. Nein, Mom - nein, bin ich nicht. Diesen Song spiel' ich nicht mehr. Seit dem Weltuntergang spiel' ich ihn nicht mehr. Ehrlich.  Er legte sich wieder hin und versank allmählich in Schlaf. Stu hatte recht, war sein letzter Gedanke: Der dunkle Mann wird uns alle zu fassen kriegen. Morgen, dachte er. Was immer uns erwartet, wir sind fast da. Aber am Fünfundzwanzigsten sahen sie niemanden. Die drei Männer wanderten gemächlich unter dem blauen Himmel dahin und sahen Vögel und Wild, aber keine Menschen. »Es ist erstaunlich, wie sich die Tiere wieder vermehren«, sagte Glen. »Ich wußte, daß dies ein schneller Prozeß sein würde, und natürlich wird der Winter alles wieder ein wenig zurechtstutzen, aber es ist dennoch erstaunlich. Seit den ersten Ausbrüchen der Seuche sind nur etwa hundert Tage vergangen.« »Ja, aber es gibt keine Hunde und Pferde mehr«, sagte Ralph. »Das gefällt mir nicht. Sie haben einen Erreger gefunden, der fast alle Menschen getötet hat, aber das reichte offenbar nicht. Er mußte auch noch die beiden beliebtesten Tierarten ausrotten. Er hat die Menschen dahingerafft und ihre besten Freunde gleich dazu.« »Und die Katzen übriggelassen«, sagte Larry traurig. Ralphs Miene hellte sich auf. »Es gibt doch noch Kojak...« »Es gab Kojak.« Das würgte die Unterhaltung ab. Die Spitzkuppen ringsum blickten dräuend auf sie herab. Hier konnten sich Männer mit Gewehren und Ferngläsern verborgen halten. Larrys böse Vorahnungen, daß heute der Tag war, hatte ihn noch nicht verlassen. Immer wenn die Straße anstieg, erwartete er auf der anderen Seite eine Straßensperre. Und wenn das nicht der Fall war, fürchtete er irgendwo einen Hinterhalt. Sie redeten über Pferde. Über Hunde und Büffel. Die Büffel kehrten bereits allmählich zurück, erzählte Ralph ihnen - Nick und Tom Cullen hatten welche gesehen. Der Tag war gar nicht mehr so fern - vielleicht noch zu ihren Lebzeiten -, daß riesige Büffelherden wieder die Prärie bevölkerten. Larry wußte, daß Ralph recht hatte. Er wußte aber auch, daß es scheißegal war, was sie betraf - vielleicht belief sich die Summe ihrer Lebzeiten auf weniger als zehn Minuten. Dann war es fast dunkel, und es wurde Zeit, das Lager aufzuschlagen. Noch einmal stieg die Straße an, und Larry dachte: Jetzt. Dort unten werden sie sein. Aber es war niemand da. Sie kampierten in der Nähe eines grünen Reflektorschildes, auf dem LAS VEGAS 260 stand. Sie hatten heute verhältnismäßig gut gegessen: Taco-Chips, Soda und zwei Slim Jims, die sie untereinander aufgeteilt hatten. Morgen, dachte Larry wieder und schlief ein. In dieser Nacht träumte er, daß er, Barry Greig und die Tattered Remnants im Madison Square Garden spielten. Es war ihre große Chance - sie eröffneten den Abend für irgendeine Supergruppe, die sich nach einer Stadt benannte. Boston oder vielleicht auch Chicago. Und die Mikrophonständer waren alle mindestens drei Meter hoch, und in wachsender Panik stolperte er von einem zum anderen, und die Leute klatschten wieder rhythmisch und wollten wieder »Baby, Can You Dig Your Man?« hören. Er schaute zur ersten Reihe hinunter, und wie ein eiskalter Wasserguß packte ihn die Angst. Charles Manson saß da, und das Kreuz auf seiner Stirn war zu einer weißen schiefen Narbe verheilt. Er klatschte und schrie. Und auch Richard Speck saß dort unten und schaute Larry unverschämt an, und zwischen seinen Lippen zitterte eine filterlose Zigarette. Hinter ihm saß John Wayne. Und Flagg führte den Chor an. Morgen, dachte Larry wieder und stolperte unter den heißen Traumlichtern des Madison Square Garden von einem der hohen Mikrophone zum anderen. Wir sehen uns morgen. Aber es war nicht am nächsten Tag und auch nicht am Tag danach. Am Abend des 27. September kampierten sie in der Stadt Freemont Junction, und es gab reichlich zu essen. »Ich erwarte immer, daß es bald vorbei ist«, sagte Larry an diesem Abend zu Glen. »Und es wird jeden Tag schlimmer.« Glen nickte. »Mir geht es ähnlich. Wäre schon komisch, wenn es sich nur um eine Fata Morgana gehandelt hätte, nicht wahr? Nichts als ein böser Traum in unserem kollektiven Bewußtsein.« Larry sah ihn einen Augenblick überrascht und nachdenklich an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass es nur ein Traum ist.« Glen lächelte. »Ich auch nicht, junger Mann. Ich auch nicht.« Am nächsten Tag war es soweit. Morgens um kurz nach zehn gingen sie eine Steigung hoch, und unter ihnen im Westen, etwa fünf Meilen entfernt, parkten zwei Wagen Motorhaube an Motorhaube. Alles sah genauso aus, wie Larry es erwartet hatte. »Unfall?« fragte Glen. Ralph hielt die Hände über die Augen. »Das glaube ich nicht. Dann würden sie anders stehen.« »Es sind seine Leute«, sagte Larry. »Ja, das glaube ich auch«, sagte Ralph. »Was sollen wir jetzt tun, Larry?« Larry nahm sein großes Taschentuch aus der Gesäßtasche und wischte sich damit das Gesicht. Entweder war heute wieder Sommer, oder sie spürten bereits die Hitze der Wüste, die im Südwesten lag. Es mochten knapp dreißig Grad sein. Aber es ist eine trockene Hitze, dachte er. Ich schwitze nur ein wenig. Nur ganz wenig. Er steckte das Taschentuch wieder ein. Jetzt, wo es endlich soweit war, fühlte er sich gut. Wieder überkam ihn das seltsame Gefühl, daß es sich hier um einen Auftritt handelte, eine Show, die über die Bühne gehen mußte. »Wir gehen hinunter«, sagte Larry. »Dann werden wir feststellen, ob Gott wirklich auf unserer Seite steht. Okay, Glen?« »Du bist der Boß.« Sie gingen weiter. Nach einer halben Stunde waren sie so nahe herangekommen, um erkennen zu können, daß diese Wagen früher der Utah State Police gehört hatten. Mehrere bewaffnete Männer warteten auf sie. »Ob sie uns erschießen?« fragte Ralph im Plauderton. »Das weiß ich nicht«, sagte Larry. »Ein paar von ihren Gewehren haben Zielfernrohre. Die Sonne spiegelt sich in den Linsen. Wenn sie uns abknallen wollen, könnte es ziemlich bald passieren. Wir sind fast in Schußweite.« Sie setzten ihren Weg fort. Die Männer an der Straßensperre teilten sich in zwei Gruppen auf. Fünf Männer standen vorn und richteten ihre Gewehre auf die drei Leute, die sich ihnen näherten, drei weitere knieten hinter dem Wagen. »Sind es acht, Larry?« »Ich zähle auch acht«, sagte Larry. »Wie fühlst du dich?« »Okay«, sagte Glen. »Und du, Ralph?« »Solange wir nur wissen, was wir zu tun haben, wenn's soweit ist«, antwortete Ralph. »Das ist mein einziger Wunsch.« Larry nahm seine Hand und drückte sie. Dann tat er bei Glen das gleiche. Sie waren jetzt bis auf weniger als eine Meile herangekommen. »Sie werden uns nicht gleich erschießen«, sagte Ralph. »Sonst hätten sie es längst getan.« Jetzt waren schon die Gesichter zu erkennen, und Larry schaute interessiert hinüber. Einer trug einen dichten Bart. Ein anderer war noch jung, aber schon fast kahl - schlimm für ihn, dachte Larry. Die Haare müssen ihm schon während der Schulzeit ausgefallen sein. Ein anderer trug ein knallgelbes T-Shirt mit einem grinsenden Kamel darauf, unter dem in altmodischen verschnörkelten Buchstaben das Wort SUPERHUMP - Superbuckel - stand. Wieder einer sah wie ein Buchhalter aus. Er fummelte mit einer 357er Magnum herum und wirkte dreimal so nervös, wie Larry sich jetzt fühlte; genau der Mann, der sich selbst in die Füße schießen würde, wenn er sich nicht endlich beruhigte. »Sie sehen nicht anders aus als unsere Leute«, sagte Ralph. »Doch«, antwortete Glen. »Sie tragen alle Gewehre.« Sie näherten sich dem Wagen bis auf etwa sechs Meter. Larry blieb stehen, und auch die anderen hielten an. Ein Augenblick tödlicher Stille entstand, als Flaggs Männer und Larry und seine Leute sich gegenseitig musterten. »Hallo«, sagte Larry nach einer Weile freundlich. Der Kleine, der wie ein Buchhalter aussah, trat vor. Er spielte immer noch mit seiner Magnum. »Seid ihr Glendon Bateman, Lawson Underwood, Stuart Redman und Ralph Brentner?« »Sag mal, du Trottel«, sagte Ralph, »kannst du nicht zählen?« Jemand kicherte. Der Buchhaltertyp lief rot an. »Wer fehlt?« »Stu hatte unterwegs einen Unfall«, sagte Larry. »Und du wirst auch bald einen haben, wenn du nicht aufhörst, mit der Kanone zu spielen.« Wieder lachten ein paar Leute. Der Buchhalter schaffte es, die Waffe im Gürtel seiner grauen Hose unterzubringen, und er sah jetzt noch lächerlicher aus als vorher. Eine Witzfigur. »Ich heiße Paul Burlson«, sagte er, »und kraft der mir verliehenen Autorität verhafte ich Sie und fordere Sie auf mitzukommen.« »In wessen Namen?« fragte Glen sofort. Burlson sah ihn verächtlich an... aber in seine Verachtung mischte sich noch etwas anderes. »Sie wissen, für wen ich spreche.« »Dann sag es doch.« Aber Burlson schwieg. »Hast du Angst?« fragte Glen ihn. Er betrachtete die acht Männer. »Hast du solche Angst, daß du nicht einmal seinen Namen auszusprechen wagst? Gut, dann tue ich es für dich. Sein Name ist Randall Flagg, auch bekannt als der dunkle Mann oder der große Mann oder der Wandelnde Geck. Nennen einige von euch ihn nicht so?« Er sprach hell und klar, und seiner Stimme war anzumerken, wie wütend er war. Einige der Männer sahen sich unbehaglich an, und Burlson trat erschrocken einen Schritt zurück. »Nennt ihn Beelzebub, denn auch das ist sein Name. Nennt ihn Nyarlahotep und Ahaz und Astaroth. Nennt ihn R'yelah und Seti und Anubis. Sein Name ist Legion, und er ist ein Abtrünniger der Hölle, und ihr Männer küßt ihm den Arsch.« Er sprach jetzt wieder im Plauderton und lächelte entwaffnend. »Ich finde, das sollte einmal gesagt werden.« »Packt sie«, sagte Burlson. »Packt sie alle und erschießt den ersten, der sich bewegt.« Es war seltsam. Ein paar Sekunden lang rührte niemand auch nur eine Hand, und Larry dachte: Sie werden es nicht tun, sie haben vor uns genausoviel Angst wie wir vor ihnen, noch mehr, obwohl sie bewaffnet sind... Er sah Burlson an und sagte: »Was soll der Unsinn, du Schleimscheißer? Wir wollen ja gehen. Deshalb sind wir gekommen.« Dann setzten die Männer sich in Bewegung, als hätte Larry den Befehl dazu erteilt. Larry und Ralph wurden auf den Rücksitz eines der Wagen gedrängt, Glen auf den Rücksitz des anderen. Sie saßen hinter einem Gitter aus Stacheldraht, und die Türen hatten innen keine Griffe. Wir sind verhaftet, dachte Larry. Er stellte fest, daß der Gedanke ihn amüsierte. Vier Männer zwängten sich auf den Vordersitz. Der Wagen setzte zurück, wendete und fuhr in Richtung Westen. Ralph seufzte. »Angst?« fragte Larry ganz leise. »Keine Ahnung. Erst mal bin ich froh, daß ich nicht mehr laufen muß.« Einer der Männer vor ihnen sagte: »Der alte Mann mit dem großen Maul. Ist er euer Boß?« »Nein, das bin ich.« »Wie heißen Sie?« »Larry Underwood. Dies ist Ralph Brentner. Der andere heißt Glen Bateman.« Er schaute durch die Heckscheibe. Der zweite Wagen war hinter ihnen. »Was ist mit dem vierten Kerl passiert?« »Er hat sich das Bein gebrochen. Wir mußten ihn zurücklassen.« »Verdammtes Pech. Ich heiße Barry Dorgan. Sicherheitspolizei Vegas.« Larry hätte fast freut mich, Sie kennenzulernen gesagt, und er mußte lächeln. »Wie lange fährt man bis Vegas?« »Wir können wegen der vielen liegengebliebenen Fahrzeuge nicht allzu schnell fahren. Wir räumen die Straßen von der Stadt her, aber es geht sehr langsam. Wir werden in ungefähr fünf Stunden dort sein.« »Ist das nichts?« sagte Ralph und schüttelte den Kopf. »Wir sind schon drei Wochen unterwegs, und in einem Wagen sind wir in fünf Stunden da.« Dorgan drehte sich um, bis er sie anschauen konnte. »Ich begreife nicht, warum Sie zu Fuß gekommen sind. Ich begreife nicht, warum Sie überhaupt gekommen sind. Ich begreife nicht, daß es so enden würde.« »Man hat uns ausgesandt«, sagte Larry. »Um Flagg zu töten, glaube ich.« »Dazu wird sich kaum eine Gelegenheit bieten. Sie und Ihre Freunde werden in Vegas sofort ins Stadtgefängnis gebracht. Machen Sie sich keine Hoffnungen. Er ist an Ihnen besonders interessiert, und er wußte, daß Sie kommen.« Er schwieg ein paar Sekunden. »Sie können nur hoffen, daß es schnell erledigt ist«, fuhr er fort. »Aber das glaube ich nicht. Er hatte in letzter Zeit keine besonders gute Laune.« »Warum nicht?« fragte Larry. Aber Dorgan schien zu glauben, daß er genug gesagt hatte - vielleicht sogar zuviel. Ohne zu antworten, drehte er sich wieder nach vorn, und Larry und Ralph sahen die Wüste vorbeifliegen. Nach nur drei Wochen war Geschwindigkeit für sie wieder etwas völlig Neues. Sie erreichten Las Vegas erst nach sechs Stunden. Wie ein märchenhaftes Schmuckstück lag es mitten in der Wüste. Sie sahen viele Leute auf den Straßen. Der Arbeitstag war vorbei, und die Menschen auf den Rasenflächen und Bänken und an den Bushaltestellen genossen die kühle Abendluft. Einige saßen auf den Eingangsstufen einer nun ausgedienten Hochzeitskirche oder einer ebenso überflüssigen Pfandleihe. Sie reckten neugierig die Hälse, als sie die beiden Wagen der Utah State Patrol sahen, und setzten dann ihre Unterhaltungen fort. Larry blickte sich nachdenklich um. Die Stromversorgung funktionierte, die Straßen waren sauber, und die Spuren der Plünderungen waren beseitigt. »Glen hatte recht«, sagte er. »Beim ihm fahren die Züge pünktlich. Aber ich frage mich, ob man auf diese Weise eine Eisenbahn betreiben kann. Ihr seht alle so aus, als hättet ihr die große Platter, Dorgan.« Dorgan antwortete nicht. Sie hatten inzwischen das Stadtgefängnis erreicht und fuhren hinter das Gebäude. Die beiden Polizeifahrzeuge parkten auf dem Betonboden des Hofs. Als Larry ausstieg, hatten sich seine Muskeln so verhärtet, daß er zusammenzuckte. Er sah, daß Dorgan zwei Paar Handschellen mit sich trug. »He, jetzt langt's aber«, sagte er. »Echt.« »Tut mir leid. Seine Befehle.« »Ich habe noch nie Handschellen getragen«, sagte Ralph wütend. »Vor meiner Ehe hat man mich ein paarmal in die Ausnüchterungszelle gesteckt, aber in Handschellen hat man mich noch nie abgeführt.« Ralph sprach ganz langsam. Sein OklahomaAkzent fiel dadurch besonders auf. »Ich habe meine Befehle«, sagte Dorgan. »Machen Sie es doch nicht schlimmer, als es sein muß.« »Deine Befehle«, sagte Ralph. »Ich weiß, wer dir Befehle erteilt. Er hat meinen Freund Nick ermordet. Warum tust du dich mit diesem Höllenhund zusammen? Du scheinst gar kein so übler Kerl zu sein, hab' ich den Eindruck.« Er blickte Dorgan so böse und eindringlich an, daß dieser den Kopf schüttelte und wegschaute. »Dies ist mein Job«, sagte er, »und den werde ich erledigen. Ende der Diskussion. Streckt die Hände aus, oder wir müssen Gewalt anwenden.« Larry streckte die Arme aus, und Dorgan legte ihm die Handschellen an. »Was hast du früher gemacht?« fragte Larry neugierig. »Ich war bei der Polizei in Santa Monica. Kriminalpolizei.« » Und doch hältst du zu ihm. Das ist... entschuldige, wenn ich es sage, aber das ist wirklich komisch.« Sie stießen Glen Bateman vorwärts, um ihn zu den anderen zu bringen. »Was schubst ihr ihn herum?« fragte Dorgan wütend. »Hättest du dir sechs Stunden lang seinen Scheißdreck anhören müssen, würdest du dasselbe tun«, sagte einer der Männer. »Ist mir egal, wieviel Scheißdreck ihr euch anhören mußtet. Laßt die Hände von dem Mann.« Dorgan blickte Larry an. »Warum ist es so komisch, daß ich zu ihm halte? Vor Captain Trips war ich zehn Jahre bei der Polizei. Ich habe gesehen, was passiert, wenn Leute wie ihr das Sagen haben.« »Junger Mann«, sagte Glen freundlich, »Ihre Erfahrungen mit ein paar zusammengeschlagenen Kindern und ein paar Drogenabhängigen rechtfertigen es noch längst nicht, daß Sie sich mit einem Ungeheuer verbünden.« »Schafft sie weg«, sagte Dorgan betont gleichgültig. »Einzelzellen. Jeder in einen anderen Trakt.« »Ich fürchte, Sie werden mit der Wahl, die Sie getroffen haben, nicht leben können, junger Mann«, sagte Glen. »Sie scheinen zu wenig von einem Nazi an sich zu haben.« Diesmal stieß Dorgan persönlich Bateman vorwärts. Larry wurde von seinen Freunden getrennt und einen leeren Korridor entlanggeführt, an dessen Wänden Schilder hingen wie NICHT AUF DEN BODEN SPUCKEN und ZU DEN DUSCHRÄUMEN & ZUR ENTLAUSUNG, und eines fiel ihm besonders auf: BETRACHTEN SIE SICH NICHT ALS UNSEREN GAST. »Gegen eine Dusche hätte ich nichts einzuwenden«, sagte er. »Vielleicht«, sagte Dorgan. »Wir werden sehen.« »Was sehen?« »Wie vernünftig Sie sich verhalten.« Dorgan schloß am Ende des Korridors eine Zelle auf und ließ Larry eintreten. »Was ist mit den Armbändern?« fragte Larry und hielt ihm die Hände hin. »Natürlich.« Dorgan nahm ihm die Handschellen ab. »Besser so?« »Sehr viel besser.« »Wollen Sie noch immer duschen?« »Und ob.« Schlimmer noch, Larry wollte nicht allein gelassen werden; wenn er allein war, würde die Angst zurückkommen. Dorgan holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche. »Wie viele seid ihr? In der Freien Zone?« »Sechstausend«, sagte Larry. »Und jeden Donnerstagabend spielen wir Bingo. Der erste Preis ist ein Puter von zwanzig Pfund.« »Wollen Sie nun duschen oder nicht?« »Natürlich will ich duschen«, sagte Larry, aber er glaubte nicht mehr daran, daß Dorgan es ihm gestatten würde. »Wie viele von euch sind da drüben?« »Fünfundzwanzigtausend, aber viertausend davon sind unter zwölf und dürfen umsonst ins Drive-in. Wirtschaftlich gesehen ist das natürlich ein Reinfall.« Mit einer energischen Handbewegung klappte Dorgan sein Notizbuch zu und sah Larry an. »Ich kann nichts sagen, Mann«, sagte Larry. »Versetz dich doch mal in meine Lage.« Dorgan schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Ich bin doch nicht bescheuert. Warum seid ihr Jungs bloß hergekommen? Was habt ihr davon? In ein oder zwei Tagen wird er dafür sorgen, daß ihr so tot seid wie Hundescheiße. Und wenn er will, daß ihr redet, dann werdet ihr reden. Wenn er verlangt, daß ihr Step tanzt und euch dabei einen runterholt, dann werdet ihr auch das tun. Ihr müßt verrückt sein.« »Eine alte Frau hat uns hergeschickt. Mutter Abagail. Wahrscheinlich hast du von ihr geträumt.« Wieder schüttelte Dorgan den Kopf, aber er blickte Larry nicht an. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Dann soll es auch dabei bleiben.« »Bist du sicher, daß du mir nichts erzählen willst? Du möchtest doch duschen?« Larry lachte. »So billig arbeite ich nicht. Schickt eure Spione zu uns rüber. Das heißt, wenn ihr einen finden könnt, der nicht wie ein Wiesel aussieht, wenn jemand Mutter Abagails Namen nennt.« »Wie du willst«, sagte Dorgan. Er ging unter den mit Draht umhüllten Lampen durch den Korridor zurück, an dessen Ende er durch ein Stahlgittertor trat, das mit einem hohlen Krachen hinter ihm zufuhr. Larry schaute sich um. Wie Ralph war auch er ein paarmal im Knast gewesen. Einmal wegen Volltrunkenheit und einmal, weil er ein paar Gramm Marihuana bei sich hatte. Goldene Jugendzeit. »Das Ritz ist es nicht gerade«, murmelte er. Die Matratze auf der Pritsche roch ausgesprochen muffig, und er fragte sich mit makabrem Humor, ob erst Ende Juni oder schon Anfang Juli jemand auf dieser Matratze gestorben war. Die Toilette funktionierte, aber als er das erste Mal die Spülung zog, kam rostiges Wasser heraus. Jemand hatte einen Wildwestroman in der Zelle liegenlassen, ein Taschenbuch. Larry nahm das Buch auf und ließ es wieder fallen. Er setzte sich auf die Pritsche und lauschte in die Stille. Allein zu sein hatte er immer gehaßt - aber eigentlich war er es immer gewesen... bis er in der Freien Zone angekommen war. Und jetzt war es gar nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Schlimm genug, aber er konnte damit fertig werden. In ein oder zwei Tagen wird er dafür sorgen, daß ihr so tot seid wie Hundescheiße. Nur: Larry glaubte das nicht. So würde es sich ganz einfach nicht abspielen. »Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen«, sagte er in die tote Stille des Zellentrakts hinein, und er fand, daß es sich gut anhörte. Er sagte es noch einmal. Er legte sich auf die Pritsche, und dabei kam ihm der Gedanke, dass er fast schon wieder an der Westküste war. Aber die Reise hatte länger gedauert und sie war seltsamer gewesen, als man es sich je hätte vorstellen können. Und die Reise war noch nicht ganz zu Ende. »Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen«, sagte er wieder. Dann schlief er ein. Sein Gesicht war ganz ruhig, und kein Traum störte seinen friedlichen Schlaf. Am nächsten Morgen um zehn Uhr, vierundzwanzig Stunden nachdem sie die Straßensperre von weitem gesehen hatten, suchten Randall Flagg und Lloyd Henreid Glen Bateman auf. Glen saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden seiner Zelle. Er hatte unter seiner Pritsche ein Stück Holzkohle gefunden und hatte zwischen den in die Wand geritzten männlichen und weiblichen Genitalien, Namen, Telefonnummern und kleinen obszönen Gedichten eine eigene Inschrift hinzugefügt: Ich bin nicht der Töpfer und auch nicht die Töpferscheibe, ich bin des Töpfers Ton; hängt nicht der Wert der endlich erlangten Gestalt ab vom inneren Wert des Tons, der Töpferscheibe und der Kunst des Meisters? Glen bewunderte sein Sprichwort - oder war es ein Aphorismus? -, als die Temperatur in dem verlassenen Zellenblock plötzlich um zehn Grad zu sinken schien. Das Gitter am Ende des Korridors schob sich rasselnd auf. Glen hatte plötzlich keinen Speichel mehr im Mund. Das Stück Holzkohle zerbrach zwischen seinen Fingern. Schritte kamen den Gang herauf. Andere Schritte, kleiner und unbedeutender, setzten den Kontrapunkt und mühten sich, nicht zurückzubleiben. Das ist er. Ich werde sein Gesicht sehen. Plötzlich wurde seine Arthritis schlimmer. Entsetzlich, genauer gesagt. Als wären seine Knochen plötzlich ausgehöhlt und mit gemahlenem Glas gefüllt worden. Und doch drehte er sich mit einem interessierten, erwartungsvollen Lächeln um, als die Schritte vor seiner Zellentür verstummten. »Da sind Sie ja«, sagte Glen. »Sie sind ja überhaupt nicht das Schreckgespenst, für das wir Sie immer gehalten haben.« Jenseits der Gitterstäbe standen zwei Männer. Flagg stand von Glen aus gesehen rechts. Er trug Bluejeans und ein weißes Seidenhemd, das unter der trüben Beleuchtung gelblich schimmerte. Er grinste Glen an. Neben ihm stand ein kleinerer Mann, der überhaupt nicht lächelte. Er hatte ein etwas zu kurzes Kinn, und seine Augen waren zu groß für sein Gesicht. Sein Teint war von der Sorte, zu der das Wüstenklima nie freundlich ist: Die Sonne hatte ihm das Gesicht verbrannt, die Haut hatte sich abgeschält, und dann war der nächste Sonnenbrand gekommen. Um den Hals trug er an einer Kette einen schwarzen Stein mit einem roten Fleck. Der Stein hatte ein fettiges, harziges Aussehen. »Ich möchte Sie gern mit meinem Partner bekannt machen«, sagte Flagg und kicherte. »Lloyd Henreid, darf ich dich mit Glen Bateman bekannt machen, Soziologe, Mitglied des Komitees der Freien Zone und seit Nick Andros' Tod einziges existierendes Mitglied der Gedankenfabrik der Freien Zone.« »Freut mich«, murmelte Lloyd. »Was macht Ihre Arthritis, Glen?« fragte Flagg. Das klang mitfühlend, aber in seinen Augen lag heiterer Spott und geheimes Wissen. Immer wieder ballte Glen die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Niemand würde je ermessen können, wie schwer ihm sein freundliches Lächeln fiel. Der innere Wert des Tons. »Gut«, sagte Glen. »Seit ich wieder in einem abgeschlossenen Raum schlafe, ist es viel besser geworden, vielen Dank.« Flagg lächelte nicht mehr ganz so breit. Glen registrierte bei ihm Überraschung und Wut. Aus Angst geboren? »Ich habe beschlossen, Sie gehen zu lassen«, sagte Flagg schnell. Wieder lächelte er, strahlend und wie ein Fuchs. Lloyd hielt vor Staunen den Atem an, und Flagg wandte sich ihm zu. »Stimmt's, Lloyd?« »Äh... natürlich«, sagte Lloyd. »Und ob.« »Das ist ja sehr schön«, sagte Glen leichthin. Er spürte, wie die Arthritis ihm immer tiefer in die Gelenke fuhr. Sie wurden kalt wie Eis und loderten wie Feuer. »Man wird Ihnen ein kleines Motorrad zur Verfügung stellen, und Sie können, wann immer Sie wollen, wieder nach Hause fahren.« »Ich kann natürlich nicht ohne meine Freunde fahren.« »Natürlich nicht. Sie brauchen mich nur darum zu bitten. Fallen Sie vor mir auf die Knie, und bitten Sie mich darum.« Glen mußte herzlich lachen. Er warf den Kopf zurück und lachte lange und laut. Und während er lachte, nahmen die Schmerzen in seinen Gelenken immer mehr ab. Er fühlte sich besser, stärker, hatte sich wieder unter Kontrolle. »Sie sind vielleicht ein Typ«, sagte er. »Ich will Ihnen sagen, was Sie tun können. Suchen Sie sich einen riesigen Sandhaufen und besorgen Sie sich einen großen Hammer. Und dann hämmern Sie sich den ganzen Sand in den Arsch.« Flaggs Gesicht wurde dunkel. Das Lächeln war verschwunden. Seine Augen, die vorher so dunkel waren wie der Stein, den Lloyd um den Hals trug, schienen jetzt gelb zu glitzern. Er griff mit der Hand an die Verriegelung der Zellentür und umklammerte sie mit den Fingern. Ein elektrisches Summen war zu hören, und zwischen seinen Fingern flackerten Flammen auf. Die Luft roch heiß und verbrannt. Qualmend und schwarz fiel das Schloß zu Boden. Lloyd Henreid stieß einen Schrei aus. Der dunkle Mann griff an die Gitterstäbe und ließ die Tür zurückgleiten. »Hören Sie auf zu lachen.« Glen lachte noch lauter. »Hören Sie auf, mich auszulachen!« »Sie sind ein Nichts!« sagte Glen und wischte sich die tränenden Augen. Er kicherte immer noch. »Oh, entschuldigen Sie bitte... wir hatten alle solche Angst.. .wir haben Sie für wer weiß wie wichtig gehalten... ich lache genauso sehr über unsere Dummheit wie über Ihren bedauernswerten Mangel an Substanz...« Flagg wandte sich an seinen Begleiter. »Erschieß ihn, Lloyd.« Sein Gesicht hatte sich grauenhaft verzerrt. Seine Hände hatten sich zu Raubtierklauen gekrümmt. »Bringen Sie mich doch selbst um, wenn Sie mich schon umbringen wollen«, sagte Glen. »Dazu sind Sie doch gewiß in der Lage. Berühren Sie mich mit dem Finger und halten Sie mein Herz an. Machen Sie das Zeichen des umgekehrten Kreuzes, und verpassen Sie mir eine kräftige Gehirnembolie. Holen Sie Blitze aus dem Himmel, die mich in zwei Teile spalten. Oh... o nein... o nein!« Brüllend vor Lachen sank Glen auf seine Pritsche. »Erschieß ihn!« donnerte der dunkle Mann. Lloyd war blaß und zitterte vor Angst. Er nestelte die Pistole aus seinem Gürtel, und fast wäre sie ihm aus der Hand geglitten. Dann versuchte er, die Waffe auf Glen zu richten. Er mußte sie mit beiden Händen festhalten. Glen sah Lloyd an und lächelte immer noch. Er hätte genausogut auf einer Cocktail-Party der Fakultät zu Hause in Woodsville, New Hampshire, sein können, wo er sich gerade von einem guten Witz erholte und sich anschickte, wieder ein wenig ernst zu werden. »Wenn Sie unbedingt jemanden erschießen müssen, Mr. Henreid, dann erschießen Sie ihn.« »Los, Lloyd.« Lloyd drückte blindlings ab. In dem geschlossenen Raum hallte das Echo des Schusses besonders laut. Wütend hallte es immer wieder nach. Aber das Geschoß riß zwei Zoll neben Glen nur Betonsplitter aus der Wand, prallte ab, traf etwas anderes und zischte jaulend durch die Luft. »Kannst du denn gar nichts richtig machen?« brüllte Flagg. »Erschieß ihn, du Schwachkopf! Er steht doch direkt vor dir!« »Ich versuch' es ja...« Glen lächelte immer noch und war bei dem Schuß kaum zusammengezuckt. »Ich wiederhole, wenn du jemanden erschießen mußt, dann erschieß ihn. Er ist in Wirklichkeit gar kein Mensch. Ich habe ihn einem Freund gegenüber mal als letzten Magier des rationalen Denkens geschildert, Mr. Henreid. Das trifft besser auf ihn zu, als ich damals dachte. Aber seine Magie verläßt ihn. Die Dinge gleiten ihm aus der Hand, und er weiß es. Auch du weißt es. Wenn du ihn jetzt erschießt, würdest du uns allen Gott weiß wieviel Blutvergießen und Tod ersparen.« Flaggs Gesicht zeigte keine Regung mehr. »Erschieß auf jeden Fall einen von uns, Lloyd«, sagte er. »Ich habe dich aus der Zelle geholt, als du schon fast verhungert warst. An Leuten wie ihm wolltest du dich doch rächen. An kleinen Leuten mit großen Klappen.« »Mister, mich können Sie nicht zum Narren halten«, sagte Lloyd zu Glen. »Es ist so, wie Randy Flagg sagt.« »Aber er lügt. Du weißt doch, daß er lügt.« »Er hat mir mehr Wahrheit beigebracht, als es alle anderen in meinem lausigen Leben je versucht haben«, sagte Lloyd und schoss dreimal auf Glen. Glen wurde herumgerissen und zurückgeschleudert wie eine Puppe. Blut spritzte durch die Luft. Er sank auf die Pritsche und rollte auf den Fußboden. Es gelang ihm noch, sich auf einem Ellenbogen aufzurichten. »Schon gut, Mr. Henreid«, flüsterte er. »Sie wissen es nicht besser.« »Halt's Maul, du blöder alter Schwätzer!« brüllte Lloyd. Er feuerte noch einmal, und Glen Batemans Gesicht verschwand. Wieder feuerte er, und Glens Körper zuckte. Ohne Leben. Aber Lloyd drückte noch einmal ab. Er weinte. Tränen rollten über sein wütendes, von der Sonne verbranntes Gesicht. Er dachte an das Kaninchen, das er vergessen und das seine eigenen Pfoten gefressen hatte. Er dachte an Poke und die Leute im weißen Connie. Er dachte an den schönen George. Er erinnerte sich an den Knast in Phoenix und daran, daß er die Füllung seiner Matratze nicht hatte essen können. Er dachte an die Ratte und Trask und Trasks Bein, das zuletzt wie ein Brathähnchen ausgesehen hatte. Wieder drückte er ab, aber die Pistole gab nur ein leeres Klicken von sich. »Okay«, sagte Flagg leise. »Okay. Gut gemacht. Gut gemacht, Lloyd.« Lloyd ließ die Pistole auf den Fußboden fallen und sprang ein Stück zurück. »Fassen Sie mich nicht an!« rief er. »Ich habe es nicht für Sie getan!« »Doch, hast du«, sagte Flagg sanft. »Du glaubst es vielleicht nicht, aber du hast es für mich getan.« Er streckte die Hand aus und ergriff den schwarzen Stein, den Lloyd um den Hals hängen hatte. Er nahm ihn in die Hand, und als er die Hand wieder öffnete, war der Stein verschwunden, und statt dessen hing an der Kette ein kleiner silberner Schlüssel. »Ich glaube, ich hatte dir das hier versprochen«, sagte der dunkle Mann. »In einem anderen Gefängnis. Er hat unrecht... ich halte meine Versprechungen, nicht wahr, Lloyd?« »Ja.« »Die anderen gehen fort. Oder sie haben die Absicht fortzugehen. Ich weiß, wer sie sind. Ich kenne alle Namen. Whitney... Ken... Jenny, o ja, ich kenne alle Namen.« »Aber warum tun Sie denn...« »Warum ich nichts dagegen unternehme? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es besser, sie gehen zu lassen. Aber du, Lloyd. Du bist mein guter und getreuer Diener, nicht wahr?« »Ja«, flüsterte Lloyd. Das endgültige Eingeständnis. »Ja, das bin ich wohl.« »Ohne mich hättest du höchstens lächerliche Kleinigkeiten geschafft. Selbst wenn du das Gefängnis überlebt hättest. Stimmt's?« »Ja.« »Der junge Lauder wußte das. Er wußte, daß ich ihn größer machen konnte. Stärker. Deshalb wollte er zu mir kommen. Aber er hat sich zu viele Gedanken... er hat sich zu viele...« Er sah plötzlich wirr und alt aus. Dann machte er eine ungeduldige Handbewegung, und sein Gesicht war wieder ein einziges Lächeln. »Vielleicht geht es wirklich schief, Lloyd. Vielleicht. Ich kenne die Gründe nicht. Aber der alte Magier kann immer noch mit ein paar Tricks aufwarten, Lloyd. Und jetzt hör zu. Wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn wir diese... diese Vertrauenskrise stoppen und im Keim ersticken wollen. Morgen werden Underwood und Brentner erledigt. Jetzt hör mir genau zu...« Lloyd ging nach Mitternacht ins Bett und schlief erst gegen Morgen ein. Er hatte mit dem Rattenmann gesprochen. Er hatte mit Paul Burlson gesprochen. Mit Barry Dorgan, der ebenfalls der Meinung war, daß der Befehl des dunklen Mannes schon vor Morgengrauen ausgeführt sein könnte und wohl auch sollte. Am neunundzwanzigsten September gegen zehn Uhr abends begannen auf dem Rasen vor dem MGM Grand Hotel die entsprechenden Vorbereitungen. Ein Arbeitstrupp von zehn Männern brachte Schweißgeräte und Hämmer und Bolzen und einen ausreichenden Vorrat an langen Stahlrohren. Vor dem Brunnen des MGM Grand setzten sie die Rohre auf den Ladeflächen zweier Lastwagen zusammen. Die Schweißarbeiten zogen bald eine Menge Neugieriger an. »Guck mal, Angie-Mom«, rief Dinny. »Ein Feuerwerk.« »Ja, aber alle braven kleinen Jungs müssen jetzt ins Bett.« Angie Hirschfield zog den Jungen mit sich fort. In ihrem Herzen hatte sich Angst eingenistet. Sie spürte, daß hier etwas Schlimmes stattfinden sollte, vielleicht etwas genauso Schlimmes wie die Supergrippe. »Will aber nicht! Will die Funken sehen!« jammerte Dinny, aber rasch und energisch zog sie ihn mit sich. Julie Lawry sprach mit dem Rattenmann. Er war der einzige Bursche in Las Vegas, der ihr zu unheimlich war, als daß sie mit ihm ins Bett gegangen wäre... außer vielleicht im Notfall. Seine schwarze Haut glänzte im blauweißen Licht der Schweißgeräte. Er hatte sich ausstaffiert wie ein äthiopischer Pirat - weiße Seidenhose, eine rote Schärpe und ein Halsband aus Silberdollars um den dürren Hals. »Was ist das, Ratty?« »Der Rattenmann weiß es nicht, mein Schatz, aber der Rattenmann kann es sich denken. Ja, das kann er. Das wird schwarze Arbeit morgen, sehr schwarz. Willst du nicht mal schnell mit Ratty ins Gebüsch, mein Schatz?« »Ja, aber nur, wenn du mir sagst, was das hier soll.« »Morgen weiß es ganz Las Vegas«, sagte Ratty. »Darauf kannst du deinen süßen kleinen Hintern wetten. Komm mit dem Rattenmann, mein Schatz, und er zeigt dir die neuntausend Namen Gottes.« Aber zum großen Mißvergnügen des Rattenmannes war Julie inzwischen verschwunden. Als Lloyd endlich einschlief, war die Arbeit getan, und die Menge hatte sich zerstreut. Auf den Ladeflächen der Lastwagen standen zwei große Käfige. Rechts und links hatten die beiden Käfige je zwei quadratische Löcher. In der Nähe standen vier Autos mit Anhängerkupplungen. An jeder Kupplung war eine Kette befestigt, die sich über den Rasen schlängelte und in einem der quadratischen Löcher an den Käfigen endete. Am Ende jeder Kette hing eine einzelne Handschelle. Als am 30. September der Morgen dämmerte, hörte Larry das Tor am anderen Ende des Zellentrakts zurückgleiten. Rasch näherten sich Schritte. Larry lag auf seiner Pritsche, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht geschlafen. Er hatte (nachgedacht? gebetet?) Es war gleichgültig. Was immer er getan hatte, die alte Wunde in ihm hatte sich geschlossen und störte seinen Frieden nicht mehr. Er hatte gespürt, daß die beiden Menschen, die er sein Leben lang gewesen war - die wirkliche Person und die Idealgestalt - sich zu einem einzigen Menschen verbunden hatten. Dieser Larry hätte seiner Mutter gefallen. Und Rita Blakemoor. Es war ein Larry, dem Wayne Stukey nie hätte erzählen müssen, was Sache ist. Es war ein Larry, den selbst jene längst vergessene Oralhygienikerin gemocht hätte. Ich werde sterben. Wenn es einen Gott gibt - und inzwischen glaube ich, daß es ihn geben muß -, dann ist es sein Wille. Wir werden alle sterben, und irgendwie wird unser Tod all dem hier ein Ende machen. Er hatte den Verdacht, daß Glen Bateman schon gestorben war. Am Tag zuvor war im anderen Flügel geschossen worden. Sehr viel geschossen. Es war wohl aus dem Trakt gekommen, in den sie Glen geführt hatten, und nicht aus Ralphs Trakt. Er erinnerte sich noch an die Richtung. Nun, Glen war schon alt gewesen, und die Arthritis hatte ihn geplagt, und was Flagg ihnen für heute morgen zugedacht hatte, konnte nur sehr unangenehm sein. Die Schritte hatten seine Zelle erreicht. »Steh auf, du Wunderkind«, rief eine fröhliche Stimme. »Der Rattenmann ist gekommen, um dir deinen blassen Arsch aufzureißen.« Larry drehte sich um. Ein schwarzer Pirat mit einer Kette aus Silberdollars um den Hals stand vor seiner Zellentür, einen gezogenen Säbel in der Hand. Hinter ihm stand der bebrillte Buchhaltertyp. Er hieß Burlson. »Was ist los?« fragte Larry. »Lieber Mann«, sagte der Pirat. »Dies ist das Ende. Das endgültige Ende.« »Also gut«, sagte Larry und stand auf. Burlson sprach schnell, und Larry merkte, daß er Angst hatte. »Ich möchte Ihnen noch sagen, daß dies nicht meine Idee war.« »Wie alles andere hier auch, soweit ich das sehen kann«, sagte Larry. »Wer wurde gestern getötet?« »Bateman«, sagte Burlson und senkte den Blick. »Er wollte fliehen.« »Versucht zu fliehen«, murmelte Larry. Er fing an zu lachen. Der Rattenmann lachte mit, lachte ihn aus. Sie lachten gemeinsam. Die Zellentür öffnete sich. Burlson trat mit Handschellen auf Larry zu, und Larry leistete keinen Widerstand. Er hielt nur die Hände hin. Burlson legte ihm die Stahlfesseln an. »...versucht zu fliehen«, sagte Larry. »Eines Tages wirst du erschossen, wenn du versuchst zu fliehen, Burlson.« Sein Blick zuckte hinüber zum Piraten. »Du auch, Ratty. Ihr werdet einfach auf der Flucht erschossen.« Er fing wieder an zu lachen, aber diesmal lachte der Rattenmann nicht mit. Er blickte Larry düster an und hob den Säbel. »Nimm das Ding runter, du Arschloch«, sagte Burlson. Sie verließen hintereinander die Zelle. Burlson zuerst, dann Larry, hinter ihm der Rattenmann. Als sie durch die Tür am Ende des Zellentrakts gingen, trafen sie auf fünf andere Männer. Einer von ihnen war Ralph, der ebenfalls Handschellen trug. »He, Larry«, sagte Ralph trübselig. »Hast du schon gehört? Haben sie es dir gesagt?« »Ja. Hab's gehört.« »Diese Schweine. Dabei sind sie fast am Ende, stimmt's?« »Ja. Stimmt.« »Hört auf zu quasseln!« knurrte einer der Männer. »Ihr seid fast am Ende. Ihr werdet gleich sehen, was euch erwartet. O Mann, das wird vielleicht 'ne Party!« »Nein, es ist vorbei«, sagte Ralph beharrlich. »Wißt ihr das nicht? Spürt ihr das nicht?« Der Rattenmann stieß Ralph, so daß er stolperte. »Halt's Maul!« rief er. »Der Rattenmann will diesen beschissenen faulen Zauber nicht mehr hören.« »Du bist schrecklich blaß, Ratty«, sagte Larry grinsend. »Schrecklich blaß. Jetzt bist du es, der aussieht wie ranziges Fleisch.« Der Rattenmann fuchtelte wieder mit dem Säbel, aber diesmal war es keine Drohgebärde. Er sah aus, als ob er Angst hätte. Alle sahen so aus. Es lag etwas Seltsames in der Luft, ein Gefühl, daß sie alle im Schatten eines großen Ereignisses standen, das bald eintreten würde. Ein olivgrüner Transporter mit der Aufschrift LAS VEGAS COUNTY JAIL an der Seite stand auf dem von der Sonne beschienenen Hof. Larry und Ralph wurden in den Wagen gestoßen. Die Türen wurden zugeschlagen, der Motor wurde angelassen, und die Fahrt ging los. Sie saßen auf den harten Holzbänken, die mit Handschellen gefesselten Hände zwischen den Knien. »Ich habe gehört, daß alle Einwohner von Las Vegas kommen werden«, sagte Ralph mit gesenkter Stimme. »Glaubst du, daß sie uns kreuzigen wollen, Larry?« »Das oder etwas Ähnliches.« Er betrachtete den großen kräftigen Mann. Ralphs schweißgetränkter Hut saß ihm fest auf dem Kopf. Die Feder war zerfetzt und verblichen, aber sie ragte immer noch trotzig aus dem Hutband heraus. »Hast du Angst, Ralph?« »Fürchterliche Angst«, sagte Ralph. »Ich konnte noch nie Schmerzen aushalten. Ich hatte sogar Schiß, zum Arzt zu gehen, wenn ich eine Spritze bekommen sollte. Ich wünschte, mir fiele was ein, damit sie die Sache aufschieben. Und was ist mit dir?« »Ich habe auch Angst. Setz dich doch neben mich.« Ralph stand auf, und seine Handschellen klirrten. Er setzte sich neben Larry. Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann sagte Ralph leise: »Wir haben uns ganz schön lange gemeinsam durchgeschlagen.« »Das stimmt.« »Ich möchte bloß wissen, wozu. Er will mit uns eine Show veranstalten. Damit jeder sieht, daß er immer noch der große Boss ist. Haben wir nur deshalb den weiten Weg gemacht?« »Ich weiß es nicht.« Sie schwiegen wieder. Nur das Dröhnen des Motors unterbrach die Stille. Ohne zu sprechen, saßen sie auf der Bank und hielten sich bei den Händen. Larry hatte zwar Angst, aber das Gefühl, mit sich ins reine gekommen zu sein, blieb unerschütterlich. »Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen«, murmelte er, aber er hatte Angst. Er schloß die Augen, dachte an Lucy. Er dac hte an seine Mutter. Flüchtige Gedanken. Wie er an manch kaltem Morgen aufgestanden war, um sich für die Schule fertig zu machen. Wie er sich mal in der Kirche übergeben hatte. Wie er im Rinnstein ein Pornoheft gefunden und sich gemeinsam mit Rudy die Bilder angesehen hatte; sie beide mußten damals etwa neun Jahre alt gewesen sein. Wie er im ersten Frühling, den er in L. A. verbrachte, mit Yvonne Wetterlin die Baseball-Meisterschaft angeschaut hatte. Er wollte nicht sterben, er hatte Angst zu sterben, aber er hatte seinen Frieden mit sich selbst gemacht, so gut er konnte. Sein Weg ging hier zu Ende, aber er hatte diesen Weg nicht bestimmt, und er war zu der Überzeugung gelangt, daß der Tod nichts weiter war als ein Raum hinter der Bühne, wo man auf einen neuen Auftritt wartet, ja, ein Ort des Wartens, an dem man sich aufhält, bis die Show weitergeht. Er versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, sich zu sammeln. Sich bereit zu machen. Der Wagen hielt an, und die Türen wurden aufgerissen. Helles Sonnenlicht fiel herein, und er und Ralph blinzelten. Der Rattenmann und Burlson sprangen zu ihnen in den Wagen. Zusammen mit den Sonnenstrahlen drang ein leiseres, rauschendes Murmeln in das Wageninnere, und Ralph hob mißtrauisch den Kopf. Aber Larry kannte das Geräusch. 1981 hatten die Tattered Remnants ihren größten Auftritt gehabt - sie spielten im Vorprogramm vor dem Auftritt von Van Haien und Chavez Ravine. Und das Geräusch, das sie vor ihrem Auftritt hörten, war genau wie dieses. Als er jetzt aus dem Wagen sprang, wußte er genau, was er erwarten konnte, und er verzog keine Miene, obwohl er Ralphs leises Keuchen neben sich hörte. Sie standen auf dem Rasen eines riesigen Hotel-Casinos. Der Eingang war von zwei goldenen Pyramiden flankiert. Auf dem Rasen standen zwei Lastwagen mit einer glatten Ladefläche. Auf jeder dieser Ladeflächen stand ein aus Stahlrohren errichteter Käfig. Um sie herum eine Menschenmenge. Die Leute bildeten einen großen Kreis um die Lastwagen. Sie standen auf dem Parkplatz des Hotels und auf den Eingangsstufen oder an der Auffahrt, wo früher die Gäste geparkt hatten, während der Portier einen Hotelpagen herbeipfiff. Auch auf der Straße selbst standen Leute. Einige der jüngeren Männer hatten ihre Freundinnen auf die Schultern genommen, damit sie besser sehen konnten. Das Fest konnte beginnen. Die Menschenmenge war wie ein großes Tier, und das leise Gemurmel war der Laut dieses Tieres. Larry schaute sich unter der Menge um, aber wenn ihn ein Blick traf, sah der Betreffende rasch weg. Die Gesichter wirkten blaß, abweisend, vom Tod gezeichnet, und die Leute schienen es zu wissen. Dennoch waren sie hier. Er und Ralph wurden zu den Käfigen geführt, und Larry sah die Ketten an den Anhängerkupplungen der Wagen. Aber Ralph erkannte als erster ihren Zweck. Schließlich hatte er den größten Teil seines Lebens mit und an Maschinen verbracht. »Larry«, sagte er heiser. »Sie wollen uns in Stücke reißen!« »Rein mit euch«, sagte der Rattenmann und blies ihm stinkenden Knoblauchatem ins Gesicht. »Du auch, Wunderknabe. Du und dein Kumpel, ihr macht jetzt 'ne Spazierfahrt.« Larry stieg auf die Ladefläche. »Gib mir dein Hemd, Wunderknabe.« Larry zog sein Hemd aus und stand mit nacktem Oberkörper in der angenehm kühlen Morgenluft. Auch Ralph hatte sein Hemd schon ausgezogen. Das Gemurmel der Menge schwoll an und verstummte wieder. Während des langen Fußmarsches waren sie beide abgemagert, und ihre Rippen waren deutlich zu sehen. »In den Käfig, Jammerlappen.« Larry ging rückwärts in den Käfig. Jetzt gab Barry Dorgan die Befehle. Er ging von einer Ecke zur anderen und überprüfte die Vorrichtungen. In seinem Gesicht spiegelten sich Ekel und Widerwillen. Die vier Fahrer stiegen in die Wagen und starteten die Motoren. Ralph stand einen Augenblick wie abwesend da. Dann ergriff er eine der angeschmiedeten Handschellen, die in seinen Käfig hineinhingen, und warf sie durch das Loch nach draußen. Sie traf Paul Burlson am Kopf, und ein Raunen ging durch die Menge. »Tu das lieber nicht noch mal. Ich schicke gleich ein paar Leute rauf, damit sie dich festhalten.« »Sollen sie doch tun, was sie vorhaben«, sagte Larry zu Ralph. Er blickte zu Dorgan hinunter. »He, Barry. Haben sie dir das bei der Polizei in Santa Monica beigebracht?« In der Menge wurde gelacht. »Dein Freund und Helfer!« rief ein besonders Mutiger. Dorgan wurde rot, sagte aber nichts. Er schob die Kette ein Stück weiter in Larrys Käfig hinein, und Larry spuckte darauf. Er war selbst erstaunt, daß er noch genug Speichel hatte. Von hinten waren aus der Menge leise Jubelrufe zu hören. Vielleicht kommt es jetzt, dachte Larry. Vielleicht versuchen sie einen Aufstand... Aber in seinem Herzen glaubte er es nicht. Ihre Gesichter waren zu blaß, zu verschlossen. Die trotzigen Rufe von hinten waren ohne Bedeutung - übermütige junge Leute. Es gab Zweifel - das spürte er -, und es gab Unzufriedenheit. Aber auch das nahm Flagg in Kauf. Diese Leute würden sich mitten in der Nacht davonstehlen, um irgendwo in dem riesigen leeren Raum zu verschwinden, zu dem die Welt geworden war. Und der Wandelnde Geck würde sie ziehen lassen, denn er wußte, daß er nur einen harten Kern brauchte, Leute wie Dorgan und Burlson. Die Deserteure und die mitternächtlichen Davonschleicher konnte man später wieder einfangen, vielleicht, um sie für ihren Mangel an Glauben zu bestrafen. Eine offene Rebellion würde es hier nicht geben. Dorgan, der Rattenmann und ein dritter Mann traten jetzt in seinen Käfig. Der Rattenmann hatte die an die Ketten geschweißten Handschellen in der Hand, um sie Larry anzulegen. »Geben Sie die Arme her«, sagte Dorgan. »Ist Recht und Ordnung nicht eine feine Sache, Barry?« »Her mit den Armen, verdammt noch mal!« »Du siehst nicht gut aus, Dorgan - wie geht's deinem Herzen in letzter Zeit?« »Ich sage es Ihnen zum letzten Mal, mein Freund. Schieben Sie die Hände durch diese Löcher!« Larry tat es. Sie legten ihm die Fesseln an und drehten den Schlüssel um. Larry blickte nach rechts und sah Ralph in seinem Käfig stehen. Er hielt den Kopf gesenkt und ließ die Arme hängen. Auch ihn hatten sie schon an die Ketten angeschlossen. »Ihr alle wißt, daß dies ein Verbrechen ist!« rief Larry, und seine durch jahrelanges Singen geübte Stimme hallte überraschend laut und klar über den Platz. »Ich erwarte von euch nicht, daß ihr es verhindert, aber ich erwarte, daß ihr immer daran denkt! Wir werden hier hingerichtet, weil Randall Flagg Angst vor uns hat! Vor uns und den Leuten, von denen wir kommen!« Ein Raunen lief durch die Menge, wurde lauter und lauter. »Vergeßt nicht, auf welche Weise wir gestorben sind! Und denkt daran, daß eines Tages vielleicht auch ihr auf diese Weise sterben werdet, ohne Würde und wie ein Tier im Käfig!« Wieder ein Raunen, das anschwoll und aus dem Wut herauszuhören war... und dann Stille. »Larry!« rief Ralph. Flagg kam die Eingangstreppe des Grand Hotels herunter, und neben ihm erschien Lloyd Henreid. Flagg trug Jeans, ein kariertes Hemd, seine Jeansjacke mit den zwei Ansteckern auf der Tasche und seine abgelaufenen Cowboystiefel. In der plötzlichen Stille war das Klappern der Absätze auf dem Betonpfad das einzige Geräusch. Der dunkle Mann grinste. Larry starrte auf ihn nieder. Flagg blieb zwischen beiden Käfigen stehen und blickte zu ihm auf. Sein Grinsen war von einem düsteren Charme. Er hatte sich vollständig unter Kontrolle, und Larry wußte plötzlich, daß dies der entscheidende Moment war, die Apotheose seines Lebens. Flagg wandte sich von ihnen ab und trat vor sein Volk. »Lloyd«, sagte er leise, und Lloyd, der blaß und krank aussah, reichte Flagg ein Papier, das wie ein Pergament zusammengerollt war. Der dunkle Mann entrollte es und fing an zu sprechen. Er hatte eine tiefe, sonore und angenehme Stimme, die durch die Stille drang, wie eine kleine silbrige Welle über einen dunklen Teich läuft. »Hiermit verkünde ich, daß dies ein gültiges Urteil ist, das ich, Randall Flagg, am dreißigsten September neunzehnhundertneunzig, nunmehr das Jahr eins nach der Seuche, mit meinem Namen unterzeichnet habe.« »Du heißt nicht Flagg!« brüllte Ralph. In der Menge entstand entsetztes Geraune. »Warum nennst du ihnen nicht deinen richtigen Namen?« Flagg überging den Zwischenruf. »Hiermit verkünde ich, daß diese Männer, Lawson Underwood und Ralph Brentner, Spione sind, die in böser Absicht und um Aufruhr zu schüren nach Las Vegas gekommen sind und sich heimlich und im Schutz der Dunkelheit in diese Stadt geschlichen haben...« »Das ist sehr gut«, sagte Larry, »zumal wir am hellichten Tag über die Route 70 gekommen sind.« Er hob die Stimme zu einem Brüllen. »Sie haben uns auf der Interstate festgenommen! Nennt man das heimlich und im Schutz der Dunkelheit?« Auch diesen Einwurf ertrug Flagg geduldig, als spürte er, daß Ralph und Larry das Recht hatten, sich zu den Vorwürfen zu äußern... wenn es auch an der Situation nichts änderte. Er fuhr fort: »Hiermit verkünde ich, daß die Sabotagetrupps dieser Leute für die Bombenanschläge auf die Hubschrauber in Indian Springs verantwortlich sind und damit auch für den Tod von Carl Hough, Bill Jamieson und Cliff Benson. Sie sind des Mordes schuldig.« Larrys Blick traf sich mit dem eines Mannes, der vorn in der Menge stand. Es war Stan Bailey, der die Anlage in Indian Springs leitete, wenn Larry das auch nicht wußte. Er sah Verblüffung und Erstaunen im Gesicht des Mannes, der dann etwas Lächerliches sagte, das sich ungefähr wie Eimermann anhörte. »Hiermit verkünde ich, daß diese Leute noch weitere Spione zu uns geschickt haben, die inzwischen getötet wurden. Das Urteil lautet denn auch darauf, daß diese Männer auf angemessene Weise vom Leben zum Tod befördert werden. Sie werden zerrissen. Jeder von euch hat die Pflicht, dieser Hinrichtung beizuwohnen, auf daß er sie niemals vergesse und anderen berichten kann, was er hier heute gesehen hat.« Wieder grinste Flagg, und es sollte ein besorgtes Lächeln werden, aber es strahlte nicht mehr Wärme und Herzlichkeit aus als das Grinsen eines Haifisches. »Eltern mit Kindern sind entschuldigt.« Er wandte sich den Fahrzeugen zu, deren Motoren liefen und kleine Abgaswolken in die Luft bliesen. Als er das tat, entstand vorn in der Menge plötzlich Bewegung. Ein Mann drängte sich auf den freien Platz an den beiden Wagen. Er war groß und sein Gesicht war fast so weiß wie seine Küchenschürze. Der dunkle Mann hatte Lloyd die Papierrolle zurückgegeben und Lloyds Hände zuckten nervös, als Whitney Horgan auf ihn zutrat. Er zerriß die Rolle, und das Geräusch war in der Stille deutlich zu hören. »He, Leute!« rief Whitney. Ein aufgeregtes Gemurmel lief durch die Menge; Whitney zitterte am ganzen Körper. Ruckartig bewegte sich sein Kopf hin und her. Flagg betrachtete Whitney mit einem bösartigen Lächeln. Dorgan wollte sich auf den Koch stürzen, aber Flagg winkte ab. »Das ist ein Unrecht!« schrie Whitney. »Und ihr alle wißt es!« In der Menge entstand tödliche Stille, als hätten sich alle Anwesenden in Grabsteine verwandelt. Whitneys Kehle bewegte sich wie in Krämpfen. Sein Adamsapfel fuhr auf und ab wie ein Affe an einer Stange. »Wir waren einst Amerikaner!« brüllte Whitney zum Schluß. »Und so handeln keine Amerikaner. Ich war nichts Besonderes, ich war nur Koch, aber ich weiß, daß Amerikaner so nicht handeln. Sie hören nicht auf ein mörderisches Ungeheuer in Cowboystiefeln...« Man hörte förmlich, wie die Leute von Las Vegas vor Entsetzen den Atem anhielten. Larry und Ralph tauschten verblüffte Blicke. »Und genau das ist er!« rief Whitney. Die Schweißtropfen liefen ihm wie Tränen über das Gesicht. »Und ihr wollt zuschauen, wie diese beiden Jungs vor euren Augen in zwei Teile gerissen werden? So wollt ihr ein neues Leben anfangen? Mit einem so scheußlichen Unrecht? Ich sage euch, ihr werdet für den Rest eures Lebens Alpträume haben!« Die Menge murmelte Zustimmung. »Wir müssen das verhindern«, sagte Whitney. »Seid ihr euch darüber klar? Wir brauchen Zeit, um darüber nachzudenken, was... was...« »Whitney.« Eine Stimme glatt wie Seide und kaum mehr als ein Flüstern, aber sie reichte, um den Koch vollends zum Schweigen zu bringen. Er drehte sich zu Flagg um. Seine Lippen bewegten sich lautlos, und sein Blick war so starr wie der einer Makrele. Jetzt floss ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht. »Whitney, du hättest schweigen sollen.« Er sprach immer noch leise, aber seine Stimme erreichte dennoch jedes Ohr. »Ich hätte dich gehen lassen... warum auch hätte ich dich hierbehalten sollen?« Whitneys Lippen bewegten sich immer noch, und immer noch brachte er keinen Laut hervor. »Komm her, Whitney.« »Nein«, flüsterte Whitney, und niemand außer Lloyd und Ralph und Larry und vielleicht Barry Dorgan hörte seine Weigerung. Aber seine Füße bewegten sich, als hätten sie das Wort nicht gehört. Seine zerfransten, ausgetretenen Mokassins flüsterten durch das Gras, und wie ein Geist bewegte er sich auf den dunklen Mann zu. Die Menge starrte mit offenem Mund und stumpfem Blick. »Ich kannte deine Pläne«, sagte der dunkle Mann. »Ich wußte, was du tun wolltest, bevor du es tatest. Ich hätte dich davonkriechen lassen, bis ich bereit gewesen wäre, dich zurückzuholen. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht erst in zehn. Aber das liegt jetzt alles hinter dir, Whitney. Glaub mir.« Endlich fand Whitney seine Stimme wieder, und die Worte sprudelten wie ein Schrei hervor. »Du bist gar kein Mensch! Du bist eine Art... Teufel!« Flagg streckte den Zeigefinger der linken Hand aus, so daß er fast Whitney Horgans Kinn berührte. »Ja, das stimmt«, sagte er so leise, daß nur Lloyd und Larry Underwood ihn hörten. »Das bin ich.« Eine kleine blaue Feuerkugel, nicht größer als ein Ping-Pong-Ball, sprang mit einem schwachen Ozongeknister von Flaggs Fingerspitze. Ein Herbstwind von Seufzern rauschte durch die Menge. Whitney schrie - aber er bewegte sich nicht. Die Feuerkugel sprang ihm an das Kinn. Plötzlich roch es ekelhaft nach brennendem Fleisch. Die Kugel bewegte sich über den Mund, schmolz die Lippen zusammen und erstickte den Schrei. Whitneys Augen traten aus den Höhlen. Dann fuhr sie über eine Wange, grub eine verbrannte und verätzte Furche. Sie schloß seine Augen. Sie blieb über seiner Stirn hängen, und Larry hörte Ralph sprechen, der immer wieder dasselbe sagte. Larry fiel ein, und sie machten es zu einer Litanei: »Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen... ich fürchte mich nicht vor dem Bösen... ich fürchte mich nicht vor dem Bösen...« Jetzt rollte die Kugel von Whitneys Stirn nach oben, und es roch scharf nach brennendem Haar. Sie rollte über seinen Hinterkopf und hinterließ einen grotesken kahlen Streifen. Whitney taumelte und stürzte zu Boden, gnädigerweise aufs Gesicht. Von der Menge her kam ein fast zischendes Geräusch: Aaaahhhh. Es war das Geräusch, das die Leute am vierten Juli von sich geben, wenn das Feuerwerk besonders prächtig ist. Die blaue Feuerkugel hing jetzt in der Luft und war größer geworden und so hell, daß man sie nur mit zusammengekniffenen Augen betrachten konnte. Der dunkle Mann zeigte darauf, und sie bewegte sich langsam auf die Menge zu. Die Leute in der ersten Reihe, unter ihnen die totenblasse Jenny Engstrom, schauderten zurück. Mit Donnerstimme forderte Flagg sie heraus: »Ist noch jemand da, der mit meinem Urteil nicht einverstanden ist? Dann soll er es jetzt sagen!« Die Antwort war Schweigen. Flagg schien zufrieden. »Dann wollen wir...« Plötzlich wandte sich ein Kopf nach dem anderen von ihm ab. Ein überraschtes Raunen erhob sich, wurde immer lauter. Flagg schien geradezu schockiert vor Überraschung. Jetzt waren aus der Menge Rufe zu hören, und wenn man auch die Worte nicht verstand, so merkte man den Leuten doch ihre Verblüffung an. Die Feuerkugel bewegte sich unruhig in der Luft. Das Summen eines Elektromotors drang Larry in die Ohren. Und aus der Menge hörte er wieder diesen seltsamen Namen, der jetzt von Mund zu Mund ging: Mann... Eimermann... Müll... Mülli... Wie in Antwort auf Flaggs Herausforderung drängte sich jemand durch die Menge. Flagg spürte Entsetzen in die Kammern seines Herzens sickern. Es war das Entsetzen vor etwas Unbekanntem und Unerwartetem. Er hatte alles vorausgesehen, sogar Whitneys närrische Stegreifrede. Die Menge - seine Menge - teilte sich und schrak zurück. Ein markerschütternder Schrei stieg auf, klar und schrill. Jemand rannte davon. Dann noch jemand. Und dann brach die Menge auseinander, rannten die ohnehin emotional aufgewühlten Menschen davon. »Bleibt stehen!« schrie Flagg, so laut er konnte, aber es war zwecklos. Die Menge war jetzt wie ein starker Wind, und nicht einmal der dunkle Mann konnte dem Wind gebieten. Eine schreckliche, ohnmächtige Wut stieg in ihm auf und bildete mit seiner Angst eine neue, flüchtige Mischung. Wieder war etwas schiefgegangen, in letzter Minute schiefgegangen, wie bei dem alten Mann in Oregon und der Frau, die sich am Fensterglas die Kehle durchschnitt... und Nadine... Nadine, die vom Dach gestürzt war... Sie rannten in alle Himmelsrichtungen, über den Rasen des MGM Grand Hotel, quer über die Straße und zum Strip hinüber. Sie hatten den letzten Gast gesehen, der wie eine gräßliche Vision aus einer Horrorgeschichte aufgetaucht war. Vielleicht hatten sie auch das häßliche Gesicht einer letzten, schrecklichen Vergeltung gesehen. Und sie hatten gesehen, was der zurückgekehrte Wanderer mitgebracht hatte. Als die Menge auseinandergestoben war, sah Randall Flagg es auch, genau wie Larry und Ralph und der vor Schreck erstarrte Lloyd Henreid, der noch immer die zerrissene Rolle in der Hand hielt. Es war Donald Merwin Elbert, jetzt als Mülleimermann bekannt, jetzt und immerdar, in alle Ewigkeit, halleluja, Amen. Er saß am Steuer eines langen staubigen Elektrokarrens. Die schweren Batterien waren fast leer, und der Karren summte und dröhnte und ruckte. Der Mülleimermann hüpfte in der offenen Kabine wie eine Marionette hin und her. Er war im letzten Stadium der Strahlenkrankheit. Sein Haar war ausgefallen. Seine Arme, die aus den Fetzen seines Hemdes herausstanden, waren von offenen Schwären bedeckt. Sein Gesicht war eine breiige rote Kraterlandschaft, aus der ein von der Wüste gebleichtes Auge mit einer fürchterlichen, jämmerlichen Intelligenz hervorstarrte. Er hatte keine Zähne mehr. Seine Fingernägel fehlten. Seine Augenlider waren zerfetzte Lappen. Er sah aus wie ein Mann, der diesen Elektrokarren aus dem brennenden Schlund der Hölle herausgefahren hatte. Flagg sah ihn kommen und stand wie erstarrt. Seine frische Farbe war verschwunden. Sein Gesicht war plötzlich ein Fenster aus blassem, klarem Glas. Begeistert stieg jetzt die Stimme des Mülleimermanns aus seiner dürren Brust: »Ich habe es gebracht... ich habe dir das Feuer gebracht... bitte... es tut mir leid...« Jetzt war es Lloyd, der sich bewegte. Er ging einen Schritt vorwärts, dann noch einen. »Mülli... Müll, Baby...« Seine Stimme war ein Krächzen. Mit seinem einzigen Auge suchte er Lloyd und hatte Mühe, ihn zu erkennen. »Lloyd? Bist du das?« »Ich bin es, Müll.« Lloyd zitterte am ganzen Körper, wie vorhin Whitney gezittert hatte. »He, was hast du da? Ist es...?« »Es ist die Große Bombe«, sagte Müll glücklich. »Es ist die ABombe.« Er schaukelte auf seinem Sitz hin und her wie ein Bekehrter bei einer Wiedererweckungsfeier. »Die Atombombe, das große Feuer, mein Leben für dich!« »Bring sie weg, Müll«, flüsterte Lloyd. »Sie ist gefährlich. Sie... sie ist heiß. Bring sie weg...« »Sag ihm, daß er sie wegschaffen soll, Lloyd«, winselte der dunkle Mann, der jetzt der blasse Mann war. »Er soll sie dorthin bringen, wo er sie geholt hat. Er soll...« Mülleimers Auge blickte erstaunt. »Wo ist er?« fragte er, und seine Stimme stieg zu einem gequälten Heulen an. »Wo ist er? Er ist weg! Wo ist er? Was hast du mit ihm gemacht?« Lloyd unternahm eine letzte Anstrengung. »Müll, du mußt das Ding wegschaffen. Du mußt...« Und plötzlich brüllte Ralph: »Larry! Larry! Die Hand Gottes!« Ralph war vor Freude wie von Sinnen. Seine Augen leuchteten. Er zeigte zum Himmel. Larry blickte hinauf. Er sah die Feuerkugel, die Flagg von seinem Finger geschnippt hatte. Sie war zu gewaltiger Größe angewachsen. Sie stand am Himmel. Mit unruhigen Bewegungen sank sie auf den Mülleimermann herab. Sie sprühte haarfeine Funken, und Larry nahm dumpf wahr, daß die Luft jetzt so mit Elektrizität aufgeladen war, daß sich ihm jedes einzelne Haar am Körper sträubte. Und das Ding am Himmel sah aus wie eine Hand. »Neeeiiin!« heulte der dunkle Mann. Larry schaute zu ihm hinüber... aber Flagg war nicht mehr da. Er hatte den Eindruck, daß etwas Unheimliches vor der Stelle stand, an der eben noch Flagg gestanden hatte. Etwas Zusammengesunkenes, Geducktes, fast Gestaltloses - etwas mit riesigen gelben Augen mit den Pupillenschlitzen einer Katze. Dann war es verschwunden. Larry sah Flaggs Kleider - die Jacke, die Jeans, die Stiefel. Sie standen aufrecht, und sie waren leer. Sekundenlang behielten sie noch die Form des Körpers, der in ihnen gesteckt hatte. Dann sanken sie zusammen. Das knisternde blaue Feuer stürzte jetzt aus der Luft auf den gelben Elektrokarren, den der Mülleimermann irgendwie von der Nellis Range nach Las Vegas gefahren hatte. Er war kahl geworden und hatte Blut gespuckt und schließlich seine eigenen Zähne erbrochen, als die tödliche Strahlung sich immer tiefer in ihn hineinfraß - aber nie war er in seinem Entschluß wankend geworden, dem dunklen Mann die Bombe zu bringen. Die blaue Kugel suchte den hinteren Teil des Karrens, wurde von ihm angezogen. »O Scheiße, wir sind alle im Arsch!« brüllte Lloyd Henreid. Er legte die Hände über den Kopf und sank zu Boden. O Gott, ich danke Dir, dachte Larry. Erlöse uns von dem Bösen, erlöse uns v  Schweigendes weißes Licht erfüllte die Welt. Und das heilige Feuer verzehrte Gerechte und Ungerechte zugleich. 74 Als der Tag anbrach, erwachte Stu aus einem unruhigen Schlaf und lag zitternd da, obwohl Kojak sich neben ihm zusammengerollt hatte. Der Morgenhimmel war von kalter Bläue, aber trotz des Frösteins war ihm heiß. Er hatte Fieber. »Krank«, murmelte er, und Kojak äugte zu ihm hoch. Er wedelte mit dem Schwanz und trottete hinunter zur Wasserrinne. Er kam mit einem abgestorbenen Ast im Maul zurück und ließ ihn vor Stus Füße fallen. »Vielleicht hast du recht, alter Junge«, sagte er und schickte Kojak wieder aus, weiter Holz zu holen. Bald flackerte das Feuer wieder auf, aber auch als er sich nahe heransetzte, konnte er das Frösteln nicht vertreiben. Dabei lief ihm der Schweiß von der Stirn. Das war der Gipfel der Ironie: Er hatte die Grippe oder etwas Ähnliches. Zwei Tage nachdem Glen, Larry und Ralph ihn verlassen hatten, war er krank geworden. Zwei Tage lang hatte es sich die Grippe dann noch überlegt, ob er es wert war, daß sie ihn holte. Offensichtlich war er es, denn sein Zustand hatte sich ganz allmählich verschlechtert. Und an diesem Morgen fühlte er sich sehr schlecht. Unter den verschiedenen Kleinigkeiten in seinen Taschen fand er einen Bleistiftstummel, sein Notizbuch (diese organisatorischen Dinge, die in Boulder so wichtig gewesen waren, wirkten hier albern, gelinde gesagt) und seinen Schlüsselbund. Er hatte sich immer wieder mit seinem Schlüsselbund beschäftigt und sich gewundert, wie sehr das Heimweh und die Sehnsucht ihn quälten und wie traurig sie ihn machten. Dies war sein Wohnungsschlüssel. Dies war der Schlüssel zu seinem Schrank. Dieser war der schon arg verrostete Ersatzschlüssel für seinen 1972er Dodge - soviel er wußte, parkte der Wagen immer noch hinter dem Haus 31 Thompson Street, in dem er in Arnette gewohnt hatte. An dem Schlüsselbund hing außerdem eine in einer Plastikhülle steckende Karte mit seiner Adresse: STU REDMAN - 3I THOMPSON STREET - PH (713) 941-6283. Er zog die Schlüssel vom Ring, liess sie einen Moment gedankenversunken auf der Handfläche hüpfen, und warf sie dann fort. Das letzte, was an den Mann erinnerte, der er einst gewesen war, verschwand in der Auswaschung und landete klirrend in einem vertrockneten Salbeibusch, wo es, wie Stu annahm, bis zum Ende aller Zeiten liegenbleiben würde. Dann zog er die Karte aus der Hülle und riß einen leeren Zettel aus seinem Notizbuch. Liebe Frannie, schrieb er oben an den Rand. Er berichtete ihr alles, was sie erlebt hatten, bevor er sich das Bein brach. Er schrieb, daß er hoffte, sie wiederzusehen, aber nicht recht daran glaube. Er könne nur hoffen, daß wenigstens Kojak nach Boulder zurückfinden werde. Zerstreut wischte er sich mit der Hand die Tränen aus den Augen und schrieb, daß er sie liebe. Ich erwarte, daß Du um mich trauerst und dann weitermachst, schrieb er. Du und das Baby, ihr müßt weitermachen. Das ist jetzt das wichtigste. Er unterschrieb, faltete den Zettel zusammen und steckte ihn mit der Karte wieder in die Hülle. Dann befestigte er die Plastikhülle mit Hilfe des Rings an Kojaks Halsband. »Braver Hund«, sagte er, als er damit fertig war. »Bist du so nett und schnüffelst mal ein bißchen in der Gegend rum? Holst du uns ein Kaninchen oder so was?« Kojak sprang den Hang hinauf, an dem Stu sich das Bein gebrochen hatte, und war verschwunden. Stu beobachtete seine Klettertour mit einer Mischung aus Bitterkeit und Belustigung; dann nahm er die leere 7-Up-Dose, die Kojak ihm einmal statt eines Astes gebracht hatte. Er hatte sie mit schlammigem Wasser aus dem Graben gefüllt. Wenn das Wasser längere Zeit stand, sank der Schlamm auf den Boden. Es war zwar ein scheußliches Getränk, aber, wie seine Mutter gesagt hätte, ein scheußliches Getränk ist besser als gar keins. Er trank ganz langsam und stillte seinen Durst Schluck für Schluck. Dabei tat ihm der Hals weh. »Das Leben ist eins der schwersten«, murmelte er, und dann mußte er über sich selbst lachen. Kurz betastete er die Schwellungen ganz oben am Hals, knapp unter dem Kieferknochen. Dann legte er sich zurück, das geschiente Bein vor ihm, und döste vor sich hin. Eine Stunde später schrak er hoch und griff in seiner Panik mit den Händen in den Sand. Ein Alptraum? Das mußte es wohl sein, denn der Boden bewegte sich langsam unter seinen Händen. Ein Erdbeben? Wie konnte es hier ein Erdbeben geben?  Einen Augenblick lang glaubte er schon, er sei im Delirium. Vielleicht hatte er, während er schlief, wieder Fieber bekommen. Aber als er zu der Wasserrinne hinuntersah, sah er den Schlamm in kleinen Brocken in das Wasser rutschen. Seine erstaunten Augen sahen in den hüpfenden, tanzenden Steinen Glimmer und Quarzstücke blinken. Dann hörte er ein schwaches, dumpfes Geräusch - es schien in seine Ohren hineinzustoßen. Ein paar Sekunden später rang er nach Atem, als würde alle Luft aus der Rinne hinausgeschoben, die das Hochwasser gewühlt hatte. Über sich hörte er ein Jaulen. Kojak war als Silhouette oben am westlichen Hang des Einschnitts zu sehen. Er hatte sich hingekauert, den Schwanz zwischen den Beinen, und starrte nach Westen in Richtung Nevada. »Kojak!« Vor Angst schrie Stu übermäßig laut. Das dumpfe Geräusch hatte ihn beunruhigt - es war, als habe irgendwo in nicht allzu großer Entfernung Gott mit dem Fuß auf den Wüstenboden gestampft. Kojak sprang den Hang hinunter und kam winselnd herbei. Als er Kojak mit der Hand über den Rücken fuhr, fühlte er, wie der Hund zitterte. Er mußte nachsehen. Er mußte. Ein plötzliches Gefühl der Gewißheit überkam ihn: Das, was hatte geschehen sollen, war geschehen. In diesem Moment. »Ich gehe nach oben, alter Junge«, murmelte Stu. Er kroch zum östlichen Hang hinüber. Er war zwar steiler, aber dort hatte man den besseren Halt. Er hatte in den letzten Tagen überlegt, ob es ihm wohl gelingen würde, hinaufzuklettern, aber dann war es ihm wenig sinnvoll erschienen. Hier unten konnte er sich vor dem Wind schützen. Aber jetzt mußte er hinauf. Er mußte Ausschau halten. Er zog sein geschientes Bein hinter sich her wie eine Keule. Er stützte sich auf die Hände und schaute nach oben. Der Hang sah sehr hoch aus, das Ziel sehr weit entfernt. »Das schaffe ich nicht«, murmelte er, aber er versuchte es trotzdem. Ein neuer Haufen Geröll hatte sich unten aufgetürmt. Durch das... das Erdbeben. Oder was es auch gewesen sein mochte. Stu kroch über den Geröllhaufen hinweg und arbeitete sich Zoll für Zoll den Hang hinauf. Er schaffte knapp zwölf Meter und rutschte dann wieder sechs Meter nach unten, weil es ihm nicht gelang, sich rechtzeitig an einem vorspringenden Stück Quarz festzuhalten. »Nein, es geht nicht«, ächzte er und ruhte sich ein wenig aus. Zehn Minuten später versuchte er es erneut. Er erreichte eine Stelle, wo er keinen Halt fand, und mußte nach links kriechen. Kojak war mitgekommen und wunderte sich vermutlich, warum dieser Narr sein Wasser und sein warmes Feuer verlassen hatte. Warm. Zu warm. Das Fieber mußte wiedergekommen sein. Aber wenigstens zitterte er nicht mehr. Frischer Schweiß lief ihm über Gesicht und Arme. Sein staubiges und fettiges Haar hing ihm in die Augen. Mein Gott, ich verbrenne! Muß achtunddreißig, neununddreißig Grad... Er schaute zufällig Kojak an. Es dauerte eine Minute, bis er begriff, was er gesehen hatte. Kojak hechelte. Es war kein Fieber, oder nicht einfach Fieber, denn Kojak fühlte sich ebenfalls heiß. Über ihm zog ein Schwärm Vögel vorbei, kreischend, ziellos, mit wildem Flügellschlag. Sie spüren es auch. Was immer es sein mag, die Vögel spüren es auch. Er kroch weiter, und die Angst verlieh ihm zusätzliche Kräfte. Er kämpfte um jeden Zoll. Gegen ein Uhr nachmittags war er nur noch ungefähr zwei Meter von der oberen Kante entfernt. Er sah oben schon die Straßentrümmer. Nur zwei Meter, aber der Hang war hier besonders steil. Einmal versuchte er weiterzuklettern, indem er sich wie eine Vipernatter wand und krümmte, aber das Geröll, aus dem das Straßenbett bestand, gab überall nach. Wenn er weiterstieg, würde er höchstens den Abhang wieder hinunterrutschen und sich womöglich auch noch das andere Bein brechen. »Ich stecke fest«, murmelte er. »Na, großartig. Und was jetzt?« Und was jetzt, wurde ihm sehr schnell deutlich. Auch ohne daß er herumkroch, bewegte sich der Boden unter ihm, und er rutschte ein Stück ab. Er versuchte, sich festzukrallen. In seinem gebrochenen Bein klopfte es, und er hatte vergessen, Glens Pillen einzustecken. Er glitt noch zwei Zoll nach unten. Dann fünf. Plötzlich hing sein linker Fuß frei im Raum. Er hielt sich nur noch mit den Händen fest und begann abzurutschen. Seine Finger zogen zehn kleine Furchen in den feuchten Boden. »Kojak!« schrie er verzweifelt und versprach sich nichts davon. Aber plötzlich war Kojak da. Blind legte Stu ihm die Arme um den Hals. Er erwartete keine Rettung, er hatte, wie ein Ertrinkender, ganz einfach nach irgend etwas gegriffen. Kojak versuchte nicht, sich von ihm zu lösen. Er stemmte sich mit den Pfoten in den Boden. Ein paar Sekunden lang hingen sie erstarrt wie lebende Skulpturen. Dann begann Kojak sich zu bewegen. Er versuchte, nach oben zu kommen. Seine Pfoten traten Erdbrocken und Geröll los, und Steine flogen Stu ins Gesicht. Er schloß die Augen. Kojak zog ihn nach oben und keuchte dabei neben Stus rechtem Ohr wie ein Kompressor. Stu öffnete die Augen wieder und sah, daß sie fast oben waren. Kojak hielt den Kopf gesenkt. Seine Hinterbeine arbeiteten mit aller Kraft. Er schaffte noch ein paar Zoll, und das reichte. Mit einem verzweifelten Schrei ließ Stu Kojaks Hals los und griff nach einem vorstehenden Stück Asphalt. Es brach unter seinem Gewicht ab. Er packte einen zweiten Zacken. Zwei Fingernägel lösten sich langsam, wie feuchte Abziehbilder, und er schrie laut auf. Die Schmerzen waren gemein. Er stieß sich mit seinem gesunden Bein ab, wühlte sich mit verzweifelter Wut hinauf, und endlich - irgendwie - lag er keuchend und mit geschlossenen Augen auf der Straßendecke der 1-70. Kojak tauchte neben ihm auf, winselte und leckte ihm das Gesicht. Ganz langsam richtete Stu sich auf und blickte nach Westen. Er schaute lange Zeit und dachte nicht mehr an die Hitze, die ihm immer noch in dichten, warmen Wellen ins Gesicht wehte. »Oh, mein Gott«, sagte er endlich leise und mit brüchiger Stimme. »Sieh dir das an, Kojak. Larry. Glen. Sie sind weg. Mein Gott, alles ist weg. Alles weg.« Die pilzförmige Wolke stand am Horizont wie eine geballte Faust an einem langen staubigen Unterarm. Mit zerfransten Rändern stieg sie wirbelnd in die Höhe und begann sich aufzulösen. Hinter ihr sah Stu ein dunkles Orangerot, als hätte die Sonne beschlossen, schon am frühen Nachmittag unterzugehen. Der Feuersturm, dachte er. In Las Vegas mußten jetzt alle tot sein. Jemand mußte irgendwo irgendwie Scheiße gebaut haben, und ein nuklearer Sprengkopf war detoniert... und nach dem Anblick und nach seinem Gefühl zu urteilen ein verdammt großer. Vielleicht war ein ganzes Arsenal hochgegangen. Glen, Larry, Ralph... selbst wenn sie Vegas noch nicht erreicht hatten, mußten sie nahe genug gewesen sein, um lebendig gebacken zu werden. Dicht neben ihm winselte Kojak kläglich. Der Fallout. In welche Richtung wird der Wind ihn treiben? Spielte das eine Rolle? Er dachte an die Nachricht für Frannie. Es war wichtig, daß er hinzufügte, was passiert war. Wenn der Wind den radioaktiven Fallout nach Osten wehte, könnte es dort drüben problematisch werden... wichtiger noch, wenn Las Vegas der Tummelplatz des dunklen Mannes gewesen war, dann mußten sie in Boulder erfahren, daß Vegas nicht mehr existierte. Die Leute waren verdampft, mitsamt dem tödlichen Spielzeug, das dort überall herumlag und nur darauf wartete, daß jemand es mitnahm. Das alles mußte er noch auf den Zettel schreiben. Aber nicht jetzt. Er war jetzt zu müde. Der Aufstieg hatte ihn erschöpft, und der Anblick der sich auflösenden Pilzwolke hatte ihn sogar noch mehr erschöpft. Er empfand nicht die geringste Freude, sondern nur eine dumpfe Müdigkeit. Er legte sich auf die Straße, und sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, war: Wie viele Megatonnen? Aber das würde wahrscheinlich nie jemand erfahren oder erfahren wollen. Er erwachte nach sechs Uhr. Die Pilzwolke war verschwunden, aber der Himmel im Westen war in ein zorniges Rosarot getaucht und sah aus wie eine große Brandwunde. Stu kroch zur Standspur hinüber und streckte sich aus. Er war schon wieder erschöpft. Er hatte auch wieder Schüttelfrost. Und Fieber. Mit dem Handgelenk berührte er die Stirn und versuchte, die Körpertemperatur zu schätzen. Nach seiner Vermutung betrug sie satte neununddreißig Grad. Kojak kam am frühen Abend mit einem Kaninchen im Maul zurück. Er legte es neben Stus Füße, wedelte mit dem Schwanz und wartete darauf, gelobt zu werden. »Braver Hund«, sagte Stu müde. »Du bist ein braver Hund.« Kojaks Schwanz bewegte sich noch schneller. Ja. Ich bin ein ganz schön braver Hund, schien er damit seine Zustimmung kundzutun. Aber er beäugte Stu weiter und schien auf etwas zu warten. Ein Teil des Rituals war unvollständig. Stu überlegte, was es sein könnte. Sein Gehirn funktionierte im Augenblick nur langsam. Jemand schien ihm, während er schlief, Melasse ins Getriebe geschüttet zu haben. »Braver Hund«, wiederholte er und betrachtete das tote Kaninchen. Dann wußte er es, wenn er auch keine Ahnung hatte, ob er noch Streichhölzer besaß. »Hol, Kojak«, sagte er, hauptsächlich, um dem Hund eine Freude zu machen. Kojak sprang davon und kam mit einem großen trockenen Stück Holz zurück. Er hatte seine Streichhölzer noch, aber der Wind wehte ziemlich stark und seine Hände zitterten. Es dauerte einige Zeit, bis das Feuer brannte. Die Späne brannten erst beim zehnten Streichholz, und dann blies der Wind die Flammen wieder aus. Vorsichtig zündete er es erneut an und hielt mit Körper und Händen den Wind ab. Er hatte jetzt noch acht Streichhölzer in einem Heftchen der LaSalle Business School. Er briet das Kaninchen und gab Kojak die Hälfte. Aber er schaffte seine Portion nicht und gab Kojak auch noch das restliche Fleisch. Kojak rührte es nicht an. Er betrachtete es und winselte Stu unruhig an. »Los doch, Junge, ich kann nicht mehr.« Jetzt erst fraß Kojak weiter. Stu beobachtete ihn, von Kälteschauern geschüttelt. Seine beiden Wolldecken lagen natürlich unten am Fuss des Hanges. Die Sonne ging unter, und der westliche Himmel war von einer grotesken Färbung. Es war der spektakulärste Sonnenuntergang, den Stu in seinem Leben gesehen hatte... und es war Gift. Er konnte sich an den Berichterstatter in einer Movie-Tone-Wochenschau in den Fünfzigern erinnern, der einmal begeistert gesagt hatte, dass nach einer Atombombenexplosion die Sonnenuntergänge wochenlang immer besonders schön seien. Und nach Erdbeben, natürlich. Kojak kam den Hang heraufgesprungen und trug etwas im Maul. Er ließ es Stu auf den Schoß fallen. Es war eine von Stus Wolldecken. »He«, sagte Stu und umarmte ihn. »Du bist aber ein feiner Hund, weißt du das?« Kojak wedelte mit dem Schwanz, um zu zeigen, daß er es wußte. Stu wickelte sich in die Wolldecke und legte sich näher ans Feuer. Kojak legte sich wieder neben ihn, und bald schliefen sie beide. Aber Stus Schlaf war leicht und unruhig. Immer wieder hatte er Fieberträume. Kurz nach Mitternacht weckte er Kojak, der im Schlaf wimmerte. »Hap!« schrie Stu. »Stell lieber deine Pumpen ab! Er kommt! Der schwarze Mann kommt und holt dich! Stell lieber deine Pumpen ab! Er ist in dem alten Auto da drüben!« Kojak winselte beunruhigt. Der Mann war krank. Er konnte die Krankheit riechen. Und in diesen Geruch mischte sich ein neuer Geruch. Es war der Geruch der Kaninchen, die er gefangen hatte. Der Geruch war auch an dem Wolf gewesen, dem er die Eingeweide herausgerissen hatte, als er in Hemingford Home unter Mutter Abagails Veranda saß. Der Geruch war in den Städten gewesen, durch die er auf dem Weg nach Boulder und zu Glen Bateman gekommen war. Es war der Geruch des Todes. Wenn es nur möglich wäre, ihn anzugreifen und aus dem Mann herauszujagen, dann hätte er es getan. Aber der Geruch steckte in dem Mann. Der Mann atmete gute Luft und strömte den Geruch des nahenden Todes aus, und man konnte nichts tun als abwarten und es bis zum Ende durchstehen. Kojak jaulte noch einmal leise und schlief dann ein. Als Stu am nächsten Morgen aufwachte, war sein Fieber noch schlimmer geworden. Die Drüsen unter seinem Kinn waren zu der Größe von Golfbällen geschwollen. Seine Augen waren heiße Glasmurmeln. Ich sterbe... ja, das steht fest. Er rief Kojak heran und nahm die Nachricht an Frannie aus der Plastikhülle, die Kojak an seinem Halsband trug. In sorgfältiger Druckschrift notierte er, was er gesehen hatte, und steckte den Zettel wieder zurück. Er legte sich wieder hin und schlief. Und irgendwie war es dann schon fast wieder dunkel. Ein weiterer schrecklicher Sonnenuntergang glühte zuckend am westlichen Himmel. Und Kojak hatte zum Abendessen einen Ziesel gefangen. »Nicht dein bester Tag heute, was?« sagte Stu. Kojak wedelte mit dem Schwanz und grinste verschämt. Stu briet das Tier, teilte es auf und aß seine ganze Hälfte. Das Fleisch war zäh und hatte einen entsetzlichen Wildgeschmack, und als er gegessen hatte, bekam er Magenkrämpfe. »Wenn ich sterbe, mußt du zurück nach Boulder laufen«, sagte er zu dem Hund. »Du läufst zurück und suchst Fran. Such Frannie. Okay, du dicker alter dummer Hund?« Kojak wedelte pessimistisch mit dem Schwanz. Eine Stunde später schlug Stus Magen urplötzlich Alarm durch lautes Rumoren. Stu hatte gerade noch Zeit, sich auf die Seite zu rollen und auf einem Ellenbogen abzustützen, um sich nicht mit seiner Portion Ziesel zu bekleckern, die er keuchend und würgend erbrach. »Scheiße«, murmelte er mürrisch, legte sich zurück und döste ein. Er wachte frühmorgens auf und stützte sich auf die Ellenbogen. Sein Kopf summte vor Fieber. Er sah, daß das Feuer erloschen war. Es spielte keine Rolle. Er war ziemlich erledigt. Irgendein Geräusch in der Dunkelheit hatte ihn geweckt. Kiesel und Geröll. Kojak war wieder den Hang hinaufgesprungen. Das war der Grund. Weiter nichts... Aber Kojak lag neben ihm und schlief. Kaum hatte Stu dies mit einem raschen Blick festgestellt, wachte Kojak schon auf. Er hob den Kopf von den Pfoten und war sofort auf den Beinen. Er wandte sich zum Hang und knurrte tief in der Kehle. Wieder prasselten Steine. Irgend jemand - irgend etwas - kam dort herauf. Stu richtete sich mit Mühe auf. Das ist er, dachte er. Er war drüben, aber irgendwie ist er entkommen. Und jetzt ist er hier, um mich zu erledigen, bevor die Grippe es tut. Kojak knurrte jetzt lauter. Seine Nackenhaare standen aufrecht, und er hielt den Kopf gesenkt. Stu hörte ein leises keuchendes Geräusch. Dann war einen Augenblick lang nichts zu vernehmen, und Stu konnte sich rasch den Schweiß von der Stirn wischen. Sekunden später tauchte am Abhang eine dunkle Gestalt auf, die mit Kopf und Schultern die Sterne verdeckte. Mit steifen Beinen und wütendem Knurren ging Kojak auf die Gestalt zu. »He«, rief eine erstaunte, aber bekannte Stimme. »He, ist das Kojak? Ist er das wirklich?« Das Knurren verstummte abrupt. Schwanzwedelnd rannte Kojak auf die Gestalt zu. »Nein!« krächzte Stu. »Es ist ein Trick! Kojak...!« Aber Kojak sprang die Gestalt an, die inzwischen auf der Straße stand. Und die Gestalt... irgend etwas an dieser Gestalt kam Stu ebenso vertraut vor wie die Stimme. Sie kam auf ihn zu, und Kojak ging neben ihr. Der Hund ließ ein freudiges Gebell hören. Stu leckte die Lippen und richtete sich auf einen Kampf ein, falls das nötig werden sollte. Er würde immer noch einen vernünftigen Schlag anbringen können. Vielleicht sogar zwei. »Wer ist da?« rief er. »Wer sind Sie?« Die dunkle Gestalt blieb stehen und fing an zu sprechen. »Ich bin Tom Cullen, der bin ich, meine Fresse, ja. M-O-N-D, und das buchstabiert man Tom Cullen. Und wer ist das?« »Stu«, sagte er, und seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Alles war jetzt in weiter Ferne. »Hallo, Tom, es ist schön, dich zu sehen.« Aber er sah ihn nicht, nicht an diesem Abend. Stu verlor das Bewußtsein. Er wachte gegen zehn Uhr am Morgen des 2. Oktober auf, wenn auch weder Tom noch er das Datum wußten. Tom hatte ein riesiges Freudenfeuer angezündet und hatte Stu in seinen Schlafsack gesteckt und in seine eigenen Decken gewickelt. Tom selbst sass jetzt am Feuer und briet ein Kaninchen. Kojak lag zufrieden zwischen beiden auf der Erde. »Tom«, brachte Stu mühsam hervor. Tom ging zu ihm. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, wie Stu jetzt bemerkte; er sah kaum noch wie der Mann aus, der vor fünf Wochen in Boulder aufgebrochen war, um in den Westen zu gehen. Seine blauen Augen leuchteten glücklich. »Stu Redman! Du bist jetzt wach, meine Fresse, ja! Junge, Junge, schön dich zu sehen. Was hast du denn mit deinem Bein gemacht? Wohl verletzt. Ist mir auch mal passiert. Bin von einem Heuhaufen gesprungen und hab' mir das Bein gebrochen. Hat mein Daddy mich wohl verprügelt? Meine Fresse, ja! Das war, bevor er mit DeeDee Packalotte abhaute.« »Tom, ich habe entsetzlichen Durst...« »Oh, da ist Wasser. Alle Sorten! Hier.« Er reichte Stu eine Plastikflasche, die früher Milch enthalten haben mochte. Das Wasser war klar und schmeckte köstlich. Überhaupt kein Sand darin. Stu trank gierig und brach dann alles wieder aus. »Langsam, langsam«, sagte Tom. »Nur so geht es. Langsam, langsam. Junge, Junge, schön dich zu sehen. Du hast dir wohl das Bein weh getan?« »Ja. Ich habe es mir gebrochen. Vor einer Woche. Vielleicht ist es länger her.« Er trank noch einen Schluck Wasser, und diesmal spuckte er es nicht wieder aus. »Aber es ist nicht nur das Bein. Ich bin sehr krank, Tom. Fieber. Hör zu.« »Gut! Tom hört zu. Sag mir nur, was ich tun soll.« Tom beugte sich vor, und Stu dachte: Er sieht intelligenter aus. Ist das möglich? Wo war Tom gewesen? Wußte er irgend etwas über den Richter? Über Dayna? Es gab so viele Dinge, über die man reden müßte. Aber jetzt war keine Zeit dazu. Sein Zustand verschlechterte sich. Sein Atem ging rauh und rasselnd. Die Symptome waren denen der Supergrippe ähnlich. Es war wirklich ziemlich komisch. »Ich muß das Fieber runterkriegen«, sagte er zu Tom. »Das ist das wichtigste. Ich brauche Aspirin. Kennst du Aspirin?« »Klar. Aspirin. Ganz, ganz schnelle Besserung.« »Ja, das ist das Zeug. Du läufst auf der Straße weiter, Tom. Such einen Verbandskasten - höchstwahrscheinlich ist es ein Kasten mit einem roten Kreuz drauf. Wenn du in solch einem Kasten Aspirin findest, bringst du es mit. Und wenn du ein Auto mit einer CampingAusrüstung findest, bringst du ein Zelt mit. Okay?« »Klar.« Tom stand auf. »Aspirin und ein Zelt, und dann geht es dir wieder besser, ja?« »Das wäre wenigstens ein Anfang.« »Sag mal«, sagte Tom, »wie geht es Nick? Ich habe von ihm geträumt. In den Träumen hat er mir gesagt, wohin ich gehen soll. In den Träumen kann er nämlich sprechen. Träume sind komisch, nicht wahr? Aber wenn ich mit ihm sprechen will, geht er immer weg. Ihm geht es doch gut, oder?« Tom sah Stu besorgt an. »Nicht jetzt«, sagte Stu. »Ich... ich kann jetzt nicht darüber reden. Nicht darüber. Besorg mir das Aspirin, okay? Dann unterhalten wir uns.« »Okay...« Aber Angst zog über Toms Gesicht wie eine dunkle Wolke. »Kojak, willst du mit Tom gehen?« Kojak wollte. Sie gingen gemeinsam in Richtung Osten. Stu legte sich hin und hielt sich einen Arm vor die Augen. Als Stu wieder in die Wirklichkeit zurückfand, dämmerte es. Tom schüttelte ihn. »Stu! Wach auf! Wach auf, Stu!« Die Tatsache, daß die Zeit in plötzlichen Schüben verstrich, jagte ihm Angst ein - es schien, als bewege sich das Zahnrad seiner Wahrnehmungsfähigkeit in ruckartigen, unregelmäßigen Sprüngen. Tom mußte ihm helfen, sich aufzusetzen, und als er saß, beugte er den Kopf zwischen die Beine und hustete. Er hustete so lange und heftig, daß er fast wieder in Ohnmacht gefallen wäre. Tom beobachtete ihn erschrocken. Ganz allmählich bekam Stu sich wieder in die Gewalt. Er zog die Decken fester um sich. Jetzt zitterte er wieder. »Was hast du gefunden, Tom?« Tom hielt ihm einen Verbandskasten hin. In dem Kasten waren Verbandszeug, Mercurochrom und eine große Flasche Anacin. Stu fand es peinlich, daß er den kindersicheren Verschluß nicht öffnen konnte. Er mußte sie Tom reichen, der sie schließlich aufkriegte. Er spülte drei Anacin mit Wasser aus der Plastikflasche hinunter. »Und das hab' ich auch gefunden«, sagte Tom. »Es lag in einem Wagen mit Camping-Ausrüstung, aber ein Zelt war nicht dabei.« Er zeigte einen großen Doppelschlafsack, außen von fluoreszierendem Orangerot und innen mit einem lebhaften Muster aus Sternen und Balken. »Das ist ja großartig. Es ist fast so gut wie ein Zelt. Das hast du prima gemacht, Tom.« »Und die hier. Die lagen auch in dem Wagen.« Tom griff in seine Jackentasche und holte ein halbes Dutzend in Folie verpackte Lebensmittel hervor. Stu glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Es waren gefriergetrocknete Konzentrate. Eier, Erbsen, Kürbis, getrocknetes Rindfleisch. »Essen, nicht wahr, Stu? Jedenfalls sind Bilder von Essen darauf, meine Fresse, ja.« »Es sind Lebensmittel«, bestätigte Stu dankbar. »Ungefähr das einzige, was ich essen kann.« Sein Kopf summte, und weit weg im Zentrum seines Gehirns hörte er ein widerwärtiges hohes C, das keine Ruhe gab. »Können wir etwas Wasser heiß machen? Wir haben keinen Kessel.« »Ich werd' schon was finden.« »Ja, gut.« »Stu...« Stu blickte wieder in dieses besorgte traurige Gesicht, trotz des Bartes immer noch das Gesicht eines Jungen. Er schüttelte langsam den Kopf. »Tot, Tom«, sagte er leise. »Nick ist tot. Vor ungefähr einem Monat. Es war eine... eine politische Sache. Man könnte es wohl ein Attentat nennen. Es tut mir so leid.« Tom ließ den Kopf hängen, und im Schein des neu angefachten Feuers sah Stu, daß Tom die Tränen von den Wangen liefen und auf seinen Schoß fielen, wie ein sanfter, silberner Regen. Schließlich blickte er auf, und seine blauen Augen waren heller als je zuvor. Er wischte sich die Tränen mit der Hand ab. »Ich wußte es«, sagte er heiser. »Ich wollte nicht dran denken, dass ich es wußte, aber ich hab' es gewußt. Meine Fresse, ja. Er hat mir immer den Rücken zugedreht und ist fortgegangen. Er war mein bester Freund, Stu - wußtest du das?« Stu streckte den Arm aus und ergriff Toms riesige Pranke. »Das wußte ich, Tom.« »Ja, war er, M-O-N-D und das buchstabiert man bester Freund. Tom vermißt ihn schrecklich. Aber im Himmel seh' ich ihn wieder. Dort wird Tom Cullen ihn sehen. Und er wird sprechen können, und ich werde denken können. Stimmt doch, oder?« »Das würde mich nicht überraschen, Tom.« »Der böse Mann hat Nick getötet. Tom weiß es. Aber Gott hat den bösen Mann bestraft. Ich habe es gesehen. Die Hand Gottes ist aus dem Himmel gekommen.« Ein kalter Wind fegte über die Wüste von Utah, und Stu zitterte heftig. »Bestraft für das, was er Nick und dem armen Richter angetan hat. Meine Fresse, ja.« »Was weißt du über den Richter, Tom?« »Tot! Oben in Oregon! Erschossen!« Stu nickte müde. »Und Dayna? Weißt du irgend etwas über sie?« »Tom hat sie gesehen, aber er weiß nichts. Sie haben mir einen Reinigungsjob gegeben. Und als ich eines Tages zurückkam, sah ich, wie sie ihre Arbeit machte. Sie war oben in der Luft und wechselte die Birnen in den Straßenlampen aus. Sie sah mich an und...« Er schwieg eine Weile, als er fortfuhr, sprach er mehr zu sich selbst als zu Stu. »Hat sie Tom gesehen? Hat sie Tom erkannt? Tom weiß es nicht. Tom... glaubt... daß sie ihn gesehen hat. Aber Tom hat sie nie wiedergesehen.« Bald darauf gingen Tom und Kojak, um mehr Lebensmittel zu besorgen, und Stu nickte ein. Als Tom zurückkam, hatte er keine Blechdose, wie Stu allenfalls gehofft hatte, sondern einen Schmortopf, der groß genug war für einen Weihnachts-Truthahn. Offensichtlich gab es Schätze dort draußen in der Wüste. Trotz der schmerzhaften Fieberpusteln, die sich an seinen Lippen gebildet hatten, mußte Stu grinsen. Tom erzählte ihm, er habe den Topf auf einem großen orangefarbenen Lastwagen, auf den ein großes U gemalt war, gefunden - wahrscheinlich gehörte er jemandem, der der Supergrippe mit seinem ganzen Hausrat hatte entfliehen wollen. Hatte sich wirklich für ihn ausgezahlt. Eine halbe Stunde später gab es etwas zu essen. Stu aß vorsichtig und hielt sich an das Gemüse. Er goß genügend Wasser über die Konzentrate, um einen dünnen Brei herstellen zu können. Er behielt alles im Magen und fühlte sich ein wenig besser, wenigstens fürs erste. Kurz nach dem Essen gingen Tom und er schlafen, und Kojak lag zwischen ihnen. »Hör mal zu, Tom.« Tom hockte sich neben Stus dicken flauschigen Schlafsack. Es war am nächsten Morgen. Zum Frühstück hatte Stu nur sehr wenig essen können; sein Hals schmerzte und war stark angeschwollen, und alle Gelenke taten ihm weh. Der Husten war schlimmer geworden, und das Fieber war durch das Anacin noch nicht sonderlich zurückgegangen. »Ich muß mir Medizin beschaffen, oder ich muß sterben. Und ich muß sie mir noch heute beschaffen. Die nächste Stadt ist Green River, und das liegt sechzig Meilen östlich von hier. Wir brauchen einen Wagen.« »Tom Cullen kann keinen Wagen fahren, Stu. Meine Fresse, nein!« »Ja. Ich weiß. Und für mich wird das verdammt schwer, denn ich bin nicht nur krank wie ein Hund, ich habe mir auch noch das falsche beschissene Bein gebrochen.« »Was meinst du damit?« »Na ja... spielt jetzt keine Rolle. Es ist zu schwierig, um es zu erklären. Wir werden uns ganz einfach nicht darum kümmern, denn das ist nicht unser erstes Problem. Unser erstes Problem ist, einen Wagen überhaupt zu starten. Die meisten stehen drei Monate oder länger hier herum. Die Batterien sind wahrscheinlich alle so platt wie Pfannkuchen. Wir brauchen also ein bißchen Glück. Wir müssen einen liegengebliebenen Wagen mit Gangschaltung finden, der auf einem Hügel steht. Das könnten wir schaffen, es ist ja eine ziemlich hügelige Gegend.« Er sagte nicht, daß die Zündung einigermaßen eingestellt sein müßte und daß Benzin da sein mußte... vom Zündschlüssel ganz zu schweigen. Die Kerle in den Fernsehfilmen mochten wissen, wie man einen Wagen kurzschließt, aber Stu hatte nicht die geringste Ahnung. Er blickte zum Himmel hinauf, an dem wieder Wolken aufzogen. »Das meiste mußte du tun, Tom. Ich werde dich als meine Beine benutzen.« »Okay, Stu. Wenn wir den Wagen haben, fahren wir dann nach Boulder? Tom will nach Boulder. Du nicht?« »Mehr als alles andere, Tom.« Er blickte zu den Rocky Mountains hinüber, die als trüber Schatten am Horizont zu erkennen waren. Lag auf den höher gelegenen Pässen schon Schnee? Höchstwahrscheinlich. Und wenn nicht, dann würde es bald der Fall sein. In diesem hoch gelegenen und verlassenen Teil der Welt kam der Winter früh. »Es mag eine Weile dauern«, sagte er. »Wie fangen wir an?« fragte Tom. »Indem wir einen Schleppschlitten bauen.« »Schlepp...?« Stu reichte Tom sein Taschenmesser. »Du mußt Löcher in den Schlafsack schneiden. Eins an jeder Seite.« Zum Bau des Schleppschlittens brauchten sie eine Stunde. Tom fand ein paar einigermaßen gerade Stangen, die sie in den Schlafsack und durch die Löcher am anderen Ende stecken konnten. Er holte Seile aus dem Lastwagen, in dem er schon den Schmortopf gefunden hatte, und Stu befestigte die Stangen damit am Schlafsack. Als der Schlitten fertig war, erinnerte er Stu eher an eine verrückte Rikscha als an das Transportgerät der Prärie-Indianer, dem sie dieses Ding nachgebaut hatten. Tom hob die Stangen auf und schaute nach hinten. »Bist du schon drin, Stu?« »Ja.« Er fragte sich, wie lange die Nähte wohl halten würden, bevor der Schlafsack der Länge nach aufriß. »Wie schwer bin ich, Tommy?« »Es geht. Ich kann dich ganz schön lange ziehen. Und los!« Sie setzten sich in Bewegung. Die Senke, an deren Hang sich Stu das Bein gebrochen hatte - und in der sterben zu müssen er befürchtet hatte -, blieb langsam hinter ihnen zurück. Stu erlebte ein ungeahntes Hochgefühl, obwohl er wahrscheinlich sehr krank war. Nein, dort unten würde er nicht den Tod finden. Er würde irgendwo anders sterben und wahrscheinlich bald, aber dann würde er nicht allein in diesem schlammigen Graben hocken. Der Schlafsack schwankte hin und her, und er fiel in eine Art Dämmerschlaf. Tom zog ihn unter einer immer dichter werdenden Wolkendecke entlang, und Kojak trottete neben ihnen über die Straße. Stu wachte auf, als Tom ihn vorsichtig absetzte. »Tut mir leid«, sagte Tom in entschuldigendem Tonfall. »Ich mußte meine Arme ausruhen.« Er ruderte durch die Luft, spannte dann die Armmuskulatur. »Ruh dich aus, so lange du willst«, sagte Stu. »Immer schön langsam.« Er hatte Kopfschmerzen und nahm drei Anacin-Tabletten, die er trocken schluckte. Es war, als risse ein Sadist an den Schleimhäuten seiner Kehle Streichhölzer an. Sie waren so rauh und trocken wie Sandpapier. Er öffnete wieder die Augen und prüfte die Nähte des Schlafsacks. Wie er vermutet hatte, lösten sie sich allmählich, aber es war noch nicht so schlimm. Sie begannen jetzt einen langen flachen Anstieg, und das war genau, was sie suchten. Von einem Hang wie diesem, der über eine Strecke von mehr als zwei Meilen sanft abfiel, könnte man mit einem Wagen im Leerlauf eine Geschwindigkeit erreichen, die hoch genug war, um dann den zweiten oder dritten Gang einzulegen und die Kupplung kommen zu lassen. Sehnsüchtig blickte Stu nach links, wo ein roter Triumph quer auf der Standspur parkte. Am Steuer saß etwas Skelettartiges in einem Wollpullover. Der Triumph hatte mit Sicherheit eine Gangschaltung, aber niemals hätte er sich mit seinem geschienten Bein in den engen Fahrersitz zwängen können. »Wie weit sind wir schon?« fragte er Tom, aber Tom konnte nur mit den Achseln zucken. Es muß schon eine ganz schöne Strecke gewesen sein, dachte Stu. Bevor er die Pause einlegte, hatte Tom den Schlitten mindestens drei Stunden gezogen. Er mußte ungeheure Körperkräfte besitzen. Einige markante Punkte in der Landschaft lagen schon so weit hinter ihnen, daß Stu sie nicht mehr sehen konnte. Tom, stark wie ein junger Bulle, hatte ihn, während er schlief, vielleicht sechs oder acht Meilen weit gezogen. »Ruh dich aus, so lange du willst«, wiederholte Stu. »Mach dich nicht kaputt.« »Tom geht's gut. G-U-T, so buchstabiert man's. Meine Fresse, das weiß doch jeder.« Tom verschlang ein gewaltiges Mahl, und Stu brachte eine Kleinigkeit herunter. Dann zogen sie weiter. Die Straße führte immer noch in einer langen Kurve nach oben, und Stu war sich darüber klar, daß es auf diesem Hügel gelingen mußte. Wenn sie oben keinen geeigneten Wagen fanden, würden sie mehr als zwei Stunden bis zum nächsten brauchen. Dann würde es dunkel sein. So wie der Himmel aussah, war Regen zu erwarten, vielleicht sogar Schnee. Eine nasse und kalte Nacht im Freien, und dann good-bye, Stu Redman. Sie kamen an einen Chevrolet Sedan. »Halt«, krächzte Stu, und Tom setzte ihn ab. »Geh rüber und zähl die Pedale vorn im Wagen. Sag mir, ob es zwei oder drei sind.« Tom trabte hinüber und öffnete die Wagentür. Eine Mumie in einem mit Blumen bedruckten Kleid fiel heraus wie ein schlechter Witz. Ihre Handtasche fiel neben sie, und Kosmetika, Tücher und Geld verteilten sich auf der Straße. »Zwei«, rief Tom zu Stu herüber. »Okay. Dann müssen wir weiter.« Tom kam zurück, atmete tief durch und nahm die Stangen wieder auf. Eine viertel Meile weiter sahen sie einen VW-Bus. »Soll ich die Pedale zählen?« fragte Tom. »Nein, diesmal nicht.« Der Wagen stand auf drei platten Reifen. Stu glaubte allmählich, daß sie nichts finden würden; sie hatten einfach kein Glück. Sie kamen zu einem Kombi, der nur einen platten Reifen hatte. Den könnte man wechseln, aber genau wie der Chevy Sedan hatte er zwei Pedale, wie Tom berichtete. Was bedeutete, daß der Wagen ein Automatikgetriebe hatte und nutzlos für sie war. Sie zogen weiter. Die Hügel wurden flacher, und sie waren fast oben. Stu sah noch einen Wagen vor sich, eine letzte Chance. Es war ein uralter Plymouth, bestimmt nicht jünger als 1970. Es war ein Wunder, daß er auf vier prallen Reifen stand. Aber er war verrostet und verbeult. Nie hatte sich jemand große Mühe gemacht, diesen Wagen zu pflegen. Stu kannte diese Sorte Fahrzeuge noch aus Arnette. Die Batterie war wahrscheinlich alt und undicht und das Öl so schwarz wie ein Bergwerksschacht um Mitternacht. Dafür war das Lenkrad mit rosa Filz überzogen, und hinten an der Heckscheibe stand vielleicht ein ausgestopfter Pudel mit Augen aus Bergkristall, der mit dem Kopf nicken konnte. »Soll ich nachsehen?« fragte Tom. »Ja. Tu's lieber. Bettler können nicht sehr wählerisch sein, stimmt's?« Ein leichter Nebel fiel vom Himmel herab. Tom ging über die Straße und blickte in den Wagen. Er war leer. Stu lag zitternd in seinem Schlafsack. Endlich kam Tom zurück. »Drei Pedale«, sagte er. Stu versuchte nachzudenken. Das hohe süßsaure Summen in seinem Kopf kam ihm dauernd dazwischen. Der alte Plymouth war mit Sicherheit eine Niete. Vielleicht konnten sie auf der anderen Seite des Hügels einen Wagen finden, aber er würde verkehrt herum stehen, bergauf gerichtet, es sei denn, sie überquerten den Mittelstreifen ... aber der war hier eine halbe Meile breit und bestand aus felsigem Gelände. Dort drüben würden sie vielleicht ein Fahrzeug mit Standardschaltung finden... aber bis dahin würde es dunkel sein. »Tom, hilf mir aufzustehen.« Irgendwie gelang es Tom, ihm aufzuhelfen, ohne in seinem verletzten Bein übermäßige Schmerzen zu verursachen. In seinem Kopf pochte und summte es. Schwarze Kometen schössen in seinem Gesichtsfeld vorbei, und er hätte fast die Besinnung verloren. Er legte Tom einen Arm um den Nacken. »Schlafen«, murmelte er. »Schlafen...« Er wußte später nicht zu sagen, wie lange sie so dagestanden hatten, wie lange Tom ihn geduldig in den Armen gehalten hatte, während Stu in der Grauzone zwischen Bewußtlosigkeit und Wachzustand schwebte. Als die Welt wieder auftauchte, hielt Tom ihn immer noch geduldig. Der Nebel war zu einem kalten Nieselregen geworden. »Tom, hilf mir zum Wagen hinüber.« Tom legte einen Arm um Stus Hüfte, und sie taumelten zum Plymouth, der auf der Standspur parkte. »Wo läßt sich die Haube öffnen?« murmelte Stu und fummelte am Kühler des Wagens. Fieberschauer durchrasten seinen Körper. Er fand die Vorrichtung, aber er konnte sie nicht betätigen. Deshalb führte er Toms Hand an die Stelle. Tom zog, und die Haube öffnete sich. Der Motor war etwa so, wie Stu es erwartet hatte - ein ölverschmierter, schmutziger, ungepflegter V8-Motor. Aber die Batterie war in besserem Zustand, als er befürchtet hatte. Es war eine Sears, nicht gerade ein Spitzenfabrikat, aber auf dem Garantiestempel stand: Februar 1991. Gegen einen Fieberanfall ankämpfend, rechnete Stu zurück und stellte fest, daß die Batterie im vergangenen Mai noch neu gewesen war. »Versuch mal zu hupen«, sagte er zu Tom und lehnte sich gegen den Wagen, während Tom sich hineinbeugte. Er hatte von Ertrinkenden gehört, die sich an einen Strohhalm klammern, und jetzt begriff er das Bild. Seine letzte Überlebenschance war diese aus einem Autofriedhof geflüchtete Klapperkiste. Die Hupe gab einen lauten Klang von sich. Okay. Versuchen wir's, wenn ein Schlüssel da ist. Vielleicht hätte er Tom dies erst nachprüfen lassen sollen, aber was spielte das, verdammt noch mal, für eine Rolle. Wenn kein Schlüssel steckte, spielte wahrscheinlich gar nichts mehr eine Rolle. Er klappte die Haube zu und lehnte sich mit seinem Gewicht darauf, damit sie einrastete. Dann hinkte er zur Fahrerseite und schaute hinein. Er erwartete, ein leeres Zündschloß zu sehen. Aber der Schlüssel steckte, und an ihm hing eine Kunstlederhülle mit den Initialen A.C. Er beugte sich vorsichtig in den Wagen und drehte den Schlüssel. Die Nadel der Benzinanzeige stieg langsam und zeigte etwas mehr als ein Viertel Tankfüllung an. Eine rätselhafte Geschichte. Warum hatte der Besitzer, warum hatte A.C. den Wagen hier abgestellt und war ausgestiegen, um zu Fuß weiterzugehen, wo er doch hätte fahren können? Stu mußte an Charles Campion denken, der schon halb tot war, als er in Haps Zapfsäulen rauschte. Der alte A.C. hatte die Supergrippe gehabt, und zwar schlimm. Letztes Stadium. Er fährt an den Straßenrand, stellt den Motor ab - nicht weil er daran denkt, sondern aus alter Gewohnheit - und steigt aus. Er ist im Delirium und hat vielleicht Halluzinationen. Er stolpert in das Wüstenland von Utah hinaus, singend und lachend und vor sich hin murmelnd und gackernd. Dort stirbt er. Drei Monate später kommen Stu Redman und Tom Cullen zufällig vorbei, und der Schlüssel steckt, und die Batterie ist relativ neu, und im Tank ist Sprit... Die Hand Gottes. Hatte Tom das nicht im Zusammenhang mit Vegas gesagt? Die Hand Gottes kam aus dem Himmel herunter. Und vielleicht hatte Gott dafür gesorgt, daß diese Rostbeule von 1970er Plymouth hier für sie bereitstand, wie Manna in der Wüste. Es war ein verrückter Gedanke, aber auch nicht verrückter als der Gedanke, daß eine hundertacht Jahre alte schwarze Frau eine Gruppe von Flüchtlingen ins Gelobte Land führte. »Und sie hat immer noch ihre eigenen Plätzchen gebacken«, krächzte er. »Bis ganz zum Schluß hat sie immer ihre eigenen Plätzchen gebacken.« »Was, Stu?« »Nichts. Rutsch ein Stück rüber, Tom.« Tom tat, wie ihm geheißen. »Können wir fahren?« fragte er hoffnungsvoll. Stu klappte die Lehne des Fahrersitzes nach vorn, und Kojak sprang in den Wagen, nicht ohne vorher ein paarmal vorsichtig zu schnüffeln. »Keine Ahnung. Vielleicht solltest du beten, daß dieses Ding anspringt.« »Okay«, sagte Tom. Stu brauchte fünf Minuten, sich hinter das Steuer zu setzen. Er hockte ein wenig schief auf dem für den Beifahrer in der Mitte bestimmten Sitz. Kojak saß hechelnd auf dem Rücksitz und sah sich aufmerksam um. Überall im Wagen lagen leere McDonald'sSchachteln und Taco-Bell-Packungen. Das Innere roch wie ein alter Maisfrachter. Stu drehte den Zündschlüssel. Ungefähr zwanzig Sekunden lang drehte der Motor des alten Plymouth flott durch. Dann wurde der Anlasser schwächer. Stu drückte kurz auf die Hupe, und diesmal war es nur ein leises Krächzen. Toms Miene verfinsterte sich. »Noch sind wir nicht mit ihr fertig«, sagte Stu. In dieser SearsBatterie steckte immer noch Saft; das ermutigte ihn. Er trat die Kupplung und legte den zweiten Gang ein. »Steig aus und schieb an. Dann springst du wieder rein.« »Zeigt der Wagen nicht in die falsche Richtung?« fragte Tom voller Zweifel. »Jetzt ja. Aber wenn wir diesen Scheißhaufen erst ins Rollen kriegen, klärt sich das ganz schnell.« Tom stieg aus und stemmte sich gegen den Türrahmen. Der Plymouth rollte an. Als die Nadel fünf Meilen in der Stunde anzeigte, sagte Stu: »Spring rein,Tom.« Tom hüpfte auf seinen Sitz und schlug die Tür zu. Stu drehte den Zündschlüssel auf »AN« und wartete. Das Lenken kostete Energie, besonders bei abgestelltem Motor, und es kostete Stu fast die letzten Kräfte, die Nase des Plymouth geradeaus gerichtet zu halten, während der Wagen an Geschwindigkeit gewann. Die Tachonadel kroch auf 10, 15, 20. Lautlos rollten sie den Hügel hinunter, auf den Tom ihn am Morgen in stundenlanger Mühsal hinaufgeschleppt hatte. Stu fiel zu spät ein, daß sie den Schleppschlitten zurückgelassen hatten. 25 Meilen die Stunde. »Er läuft nicht, Stu«, sagte Tom besorgt. 30 Meilen. Schnell genug. »Jetzt bete zu Gott«, sagte Stu und liess die Kupplung kommen. Der Plymouth bockte und ruckte. Der Motor sprang hustend an, stotterte, spuckte, verstummte. Stu stöhnte auf. Aus Verzweiflung und weil ihm ein rasender Schmerz durch das zerschmetterte Bein fuhr. »Verdammt - spring an!« brüllte er und trat auf die Kupplung. »Beweg das Gaspedal auf und ab, Tom! Mit der Hand!« »Welches ist es denn?« rief Tom mit ängstlicher Stimme. »Das lange!« Tom rutschte auf den Wagenboden und drückte zweimal das Gaspedal. Der Wagen nahm wieder Tempo auf, und Stu mußte sich zwingen, noch etwas zu warten. Sie hatten schon die Hälfte des Hanges zurückgelegt. »Jetzt!« schrie er und ließ die Kupplung kommen. Der Motor des Plymouth sprang brüllend an. Kojak bellte. Schwarzer Qualm kochte aus dem verrosteten Auspuff und wurde dann blau. Aber der Motor lief. Ein wenig unruhig zwar und nur auf sechs Zylindern, aber sie fuhren. Stu schaltete in den dritten Gang und bediente dabei beide Pedale mit dem linken Fuß. »Wir fahren, Tom!« brüllte er. »Wir haben jetzt wieder Räder!« Tom schrie vor Vergnügen. Kojak bellte und wedelte mit dem Schwanz. In seinem früheren Leben, dem Leben vor Captain Trips, als er noch Big Steve hieß, war er oft im Wagen seines Herrchens mitgefahren. Es war schön, wieder zu fahren, auch mit seinem neuen Herrchen. Sie erreichten eine U-förmige Verbindung zwischen den Fahrspuren, die nach Westen und denen, die nach Osten führten. NUR FÜR DIENSTFAHRZEUGE herrschte ein Schild sie an. Stu kam gut genug mit der Kupplung zurecht, um den Wagen um die Kurve zu bringen. Es gab nur einen schrecklichen Augenblick, als der Wagen bockte und Stu fast den Motor abgewürgt hätte. Aber die Maschine war schon warmgelaufen, und er schaffte es. Er schaltete wieder in den dritten Gang, und die Spannung wich. Er atmete immer noch schwer, und sein Puls raste bedrohlich, aber er würde sich bald beruhigen. Für einen Moment drohte ihm wieder, schwarz vor Augen zu werden, aber er ließ es nicht zu. Ein paar Minuten später entdeckte Tom den hellen orangefarbenen Schlafsack, den sie für Stu als behelfsmäßigen Schleppschlitten hergerichtet hatten. »Bye-bye!« rief Tom gutgelaunt. »Bye-bye, wir fahren nach Boulder, meine Fresse, ja!« Für heute abend wäre ich schon mit Green River zufrieden, dachte Stu. Sie erreichten Green River kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Stu fuhr den Plymouth in einem niedrigen Gang vorsichtig durch die dunklen Straßen, in denen viele verlassene Wagen standen. Er parkte an der Main Street vor einem Gebäude, das sich als Utah Hotel ausgab. Es war ein schäbiges dreistöckiges Bauwerk, und Stu glaubte nicht, daß das Waldorf-Astoria diese Konkurrenz fürchten mußte. Sein Kopf fing wieder an zu dröhnen, und immer wieder entglitt ihm die Wirklichkeit. Während der letzten zwanzig Meilen hatte er manchmal das Gefühl gehabt, der Wagen sei voller Leute. Fran. Nick Andres. Norm Bruett. Und einmal hatte er geglaubt, Chris Ortega, den Barkeeper des Indian Head in Arnette, auf einer Schrotflinte vorbeireiten zu sehen. Müde. War er schon jemals so müde gewesen? »Da drinnen«, murmelte er. »Wir müssen hier übernachten, Nicky. Ich bin völlig fertig.« »Ich bin Tom, Stu. Tom Cullen. Meine Fresse, ja.« »Ja, Tom. Wir müssen hier anhalten. Kannst du mir ins Haus helfen?« »Klar. Toll, wie du den alten Wagen in Gang gebracht hast.« »Du kannst mir 'n Bier drauf ausgeben«, sagte Stu. »Und hast du nicht eine Zigarette? Für 'ne Kippe würde ich sterben.« Er sank am Steuer zusammen. Tom zog ihn vorsichtig aus dem Wagen und trug ihn ins Hotel. Das Foyer war feucht und dunkel, aber es gab einen Kamin, und neben dem Kamin stand eine halb mit Holz gefüllte Kiste. Tom setzte Stu auf ein fadenscheiniges Sofa und bereitete Holz für ein Feuer vor, während Kojak an allen möglichen Gegenständen herumschnüffelte. Stus Atem ging langsam und rauh, und er murmelte gelegentlich vor sich hin. Manchmal schrie er laut irgend etwas Unsinniges, daß Tom das Blut gefror. Er zündete ein riesiges Feuer an und blickte sich um. Er fand Kissen und Wolldecken für sich und Stu. Dann schob Tom das Sofa, auf dem Stu lag, näher an das Feuer heran und legte sich neben ihn. Kojak kuschelte sich auf Stus andere Seite, so daß die beiden den kranken Mann mit ihren Körpern wärmten. Tom lag wach und blickte zur Decke aus verschnörkeltem Zinn hinauf, in deren Ecken Spinnweben hingen. Stu war sehr krank. Dieser Gedanke machte ihm große Sorgen. Wenn Stu wieder aufwachte, würde er ihn fragen, was er gegen die Krankheit tun konnte. Aber wenn... wenn er nicht mehr aufwachte? Draußen war starker Wind aufgekommen, der um die Ecken des Hotels heulte. Gegen Mitternacht, als Tom eingeschlafen war, hatte sich die Temperatur um weitere vier Grad verringert, und das Klatschen draußen ließ einen Hagelschauer vermuten. Weit drüben im Westen trieben die äußeren Ränder des Sturms eine gewaltige radioaktive Wolke nach Kalifornien, wo weitere Menschen sterben würden. Irgendwann nach zwei Uhr morgens hob Kojak den Kopf und jaulte unruhig. Tom Cullen stand auf. Seine Augen waren groß und leer. Wieder jaulte Kojak, aber Tom beachtete ihn nicht. Er ging an die Tür und trat in die tobende Nacht hinaus. Kojak ging an eines der Fenster des Foyers, sprang mit den Vorderpfoten hoch und äugte nach außen. Er hielt eine ganze Weile Ausschau, und aus seiner Kehle kamen tiefe, traurige Laute. Dann trottete er zurück zur Couch und legte sich wieder neben Stu. Draußen tobte und heulte der Wind. 75 »Ich wäre fast gestorben, weißt du«, sagte Nick. Er und Tom gingen auf dem leeren Bürgersteig. Der Wind heulte ohne Unterbrechung; als ob ein endloser Geisterzug über ihnen durch den schwarzen Himmel raste. Es war unheimlich. Wenn Tom wach gewesen wäre, wäre er davongelaufen. Aber er war nicht wach - jedenfalls nicht richtig -, und Nick war bei ihm. Hagelkörner trafen sein Gesicht. »Wirklich?« fragte Tom. »Meine Fresse!« Nick lachte. Seine Stimme war tief und melodisch. Eine angenehme Stimme. Tom hörte ihr gern zu. »Wirklich. Die Grippe hat mich nicht gekriegt, aber ein kleiner Kratzer am Bein hätte mich fast umgebracht. Sieh dir das an.« Als ob er die Kälte nicht spürte, öffnete Nick seinen Gürtel und schob die Jeans nach unten. Tom beugte sich vor, neugierig wie ein kleiner Junge, dem jemand eine Warze zeigt, aus der Haare sprießen, oder eine interessante Wunde oder ähnliches. Über Nicks Bein zog sich eine häßliche rote Narbe, die fast verheilt war. Sie begann dicht unterhalb der Leiste und verlief spiralig das Bein hinunter, am Knie vorbei und bis zur Mitte des Schienbeins. »Und das hätte dich fast umgebracht?« Nick zog seine Jeans wieder hoch und schnallte den Gürtel zu. »Die Wunde war nicht tief, aber sie entzündete sich. Das bedeutet, es kamen böse Bazillen in die Wunde. Infektionen sind das Schlimmste, was es gibt, Tom. Durch Infektion sind fast alle Menschen am Supergrippe-Bazillus gestorben. Und es war auch eine Infektion, die die Leute dazu getrieben hat, den Bazillus zu machen. Es war eine Infektion des Geistes.« »Infektion«, flüsterte Tom fasziniert. Sie gingen weiter, schwebten fast über den Bürgersteig. »Was Stu jetzt hat, ist eine Infektion, Tom.« »Nein... nein, sag das nicht, Nick... du machst Tom Cullen Angst, meine Fresse, ja, wirklich!« »Ich weiß, daß ich dir Angst mache, Tom, und es tut mir leid. Aber du mußt es wissen. Er hat eine doppelseitige Lungenentzündung, weil er fast zwei Wochen lang draußen geschlafen hat. Du mußt ihm helfen. Und vielleicht wird er trotzdem sterben. Du mußt darauf vorbereitet sein.« »Nein, bitte...« Nick legte eine Hand auf Toms Schulter, aber Tom spürte nichts... es war, als sei Nicks Hand nichts weiter als Rauch. »Wenn er stirbt, mußt du mit Kojak weiterziehen. Du mußt nach Boulder gehen und den Leuten erzählen, daß du die Hand Gottes in der Wüste gesehen hast. Wenn es Gottes Wille ist, wird Stu mit dir gehen... wenn er wieder gesund ist. Wenn es aber Gottes Wille ist, daß er stirbt, dann wird er sterben. Wie ich.« »Nick«, sagte Tom flehentlich. »Bitte...« »Ich habe dir mein Bein aus einem bestimmten Grund gezeigt. Es gibt nämlich Tabletten gegen Infektionen. In Geschäften wie diesem.« Tom sah sich um und stellte fest, daß sie nicht mehr auf der Straße waren, sondern in einem dunklen Laden. Es war ein Drugstore. An Klavierdrähten hing ein Rollstuhl von der Decke herab, wie ein unheimlicher, mechanischer Leichnam. Daneben wurden auf einem Plakat Hilfen gegen Inkontinenz angepriesen. »Ja, Sir? Was kann ich für Sie tun?« Tom fuhr herum. Hinter dem Ladentisch stand Nick in einem weißen Kittel. »Nick?« »Ja, Sir.« Nick fing an, Fläschchen mit Tabletten auf dem Ladentisch aufzureihen. »Das ist Penicillin. Sehr gut gegen Lungenentzündung. Das ist Ampicillin; und das hier ist Amoxicillin. Auch beides sehr gut. Und das ist Vacillin. Das gibt man meist Kinder. Manchmal hilft es, wenn die anderen Mittel nicht wirken. Er muß viel trinken. Am besten Fruchtsäfte. Wenn du keine Fruchtsäfte auftreiben kannst, gib ihm dies: Vitamin-C-Tabletten. Außerdem muß er Bewegung haben...« »Ich kann das alles nicht behalten!« jammerte Tom. »Du wirst dir Mühe geben müssen. Weil kein anderer da ist. Du bist ganz allein.« Tom fing an zu weinen. Nick beugte sich vor. Er holte aus. Es gab keine Ohrfeige - da war bloß dieses Gefühl, daß Nick nur Rauch war und an Tom vorbei oder durch ihn hindurch ging. Trotzdem ruckte Toms Kopf zur Seite. Irgend etwas in seinem Schädel schien einzurasten. »Hör auf damit, Tom! Benimm dich nicht wie ein Baby! Sei ein Mann! Um Himmels willen, sei ein Mann!« Tom starrte Nick entgeistert an, eine Hand an der Wange, die Augen weit aufgerissen. »Stu muß aufstehen«, sagte Nick. »Du mußt ihm helfen, auf seinem guten Bein zu stehen. Zieh ihn hoch und stütz ihn. Er darf nicht die ganze Zeit liegen.« »Er ist nicht bei Verstand«, sagte Tom. »Er schreit... er schreit Leute an, die gar nicht da sind.« »Er phantasiert. Trotzdem muß er aufstehen, sooft es geht. Gib ihm das Penicillin. Immer eine Tablette. Gib ihm Aspirin. Halt ihn warm. Bete. Das alles kannst du tun.« »Ja, Nick, ja. Ich will versuchen, ein Mann zu sein. Ich will versuchen, das alles zu behalten. Aber ich wünschte, du könntest bei mir bleiben. Meine Fresse, ja.« »Tu dein Bestes, Tom. Das ist alles.« Nick war verschwunden. Tom kam zu sich und stand in dem verlassenen Drugstore vor dem Ladentisch, auf dem vier Fläschchen mit Tabletten lagen. Tom starrte sie lange an, bevor er sie einsteckte. Als Tom zurückkam, war es vier Uhr morgens. Er hatte einen frostigen Panzer aus Hagelkörnern auf den Schultern. Im Osten wurde der Himmel schon ein wenig hell. Kojak begrüßte Tom mit begeistertem Gebell, und Stu stöhnte und wachte auf. Tom kniete sich neben ihn auf den Boden. »Stu?« »Tom? Ich kann kaum atmen.« »Ich habe Medizin, Stu. Nick hat sie mir gezeigt. Du nimmst sie, dann wirst du diese Infektion los. Du mußt gleich eine nehmen.« Tom holte die vier Fläschchen mit Tabletten und eine große Flasche Fruchtsaft aus einer Plastiktüte. Zu seiner Erleichterung hatte er festgestellt, daß es in der Green River Superette genügend Fruchtsaft gab. Stu betrachtete die Tabletten, indem er sie ganz dicht vor die Augen hielt. »Tom, woher hast du das?« »Aus dem Drugstore. Nick hat sie mir gegeben.« »Nein, also ehrlich.« »Ehrlich! Ehrlich! Zuerst mußt du das Penicillin nehmen, damit wir sehen, ob es hilft. Auf welcher steht Penicillin?« »Auf dieser... aber Tom...« »Nein. Du mußt. Nick hat es gesagt. Und du mußt aufstehen und herumgehen.« »Ich kann nicht gehen. Mein Bein ist gebrochen. Und ich bin krank.« Stus Stimme wurde mürrisch, aufsässig. Eine richtige Krankenzimmerstimme. »Du mußt. Oder ich zieh' dich hoch«, sagte Tom. Stu fing wieder an zu phantasieren. Tom schob ihm eine Penicillintablette in den Mund und gab ihm Fruchtsaft zu trinken. Stu schluckte den Saft und die Tablette reflexhaft und bekam einen gräßlichen Hustenanfall. Tom klopfte ihm den Rücken, als sei er ein Baby. Dann zerrte er ihn von seinem Lager hoch und schleifte ihn durch die Empfangshalle, wobei Kojak ihnen ängstlich folgte. »Bitte, lieber Gott«, sagte Tom. »Bitte, lieber Gott. Bitte.« Stu schrie: »Ich weiß, wo ich ihr ein Waschbrett besorgen kann, Glen! In diesem Musikladen gibt es welche! Ich habe sie im Fenster gesehen!« »Bitte, lieber Gott«, keuchte Tom. Stus Kopf lehnte an Toms Schulter. Er war heiß wie ein Backofen. Das geschiente Bein schleifte kraftlos über den Fußboden. Boulder schien nie so weit entfernt gewesen wie an diesem trostlosen Morgen. Stus Kampf mit der Lungenentzündung dauerte zwei Wochen. Er trank literweise Multivitaminsäfte, V -8, Welch's Traubensaft und verschiedene Marken Orangensaft. Er merkte kaum, was er trank. Sein Urin roch stark und scharf, und sein Stuhlgang war gelb und locker wie der eines Babys. Er konnte nicht zur Toilette gehen. Tom hielt ihn sauber. Tom schleifte ihn durch die Eingangshalle des UtahHotels. Und die ganze Zeit wartete Tom auf die Nacht, in der er aufwachen würde, nicht weil Stu im Schlaf phantasierte, sondern weil seine unregelmäßigen Atemzüge nicht mehr zu hören waren. Nachdem Stu das Penicillin zwei Tage lang genommen hatte, bekam er einen häßlichen roten Hautausschlag, und Tom gab ihm Ampicillin. Dieses Mittel war besser. Als Tom am 7. Oktober aufwachte, sah er, daß Stu tiefer und ruhiger als sonst schlief. Sein ganzer Körper war schweißnaß, aber seine Stirn war kühl. Das Fieber war zurückgegangen. Die nächsten zwei Tage schlief Stu fast ohne Unterbrechung. Tom hatte Schwierigkeiten, ihn soweit wachzurütteln, daß er seine Tabletten und den Würfelzucker aus dem Restaurant des Utah-Hotels nahm. Am 11. Oktober bekam Stu einen Rückfall, und Tom hatte furchtbare Angst, daß jetzt das Ende käme. Aber das Fieber stieg nicht mehr so hoch, und Stu atmete nicht so mühsam wie an jenen schrecklichen ersten Tagen im Utah-Hotel. Als Tom am 13. Oktober aus einem unruhigen Schlaf in einem der Hotelsessel erwachte, saß Stu aufrecht auf seinem Lager und sah sich um. »Tom«, flüsterte er, »ich lebe.« »Ja«, jubelte Tom, »meine Fresse, ja!« »Ich habe Hunger. Könntest du etwas Suppe besorgen, Tom? Vielleicht mit Nudeln drin?« Am Achtzehnten war er schon etwas zu Kräften gekommen. Tom hatte ihm Krücken aus dem Drugstore geholt, auf denen er durch die Empfangshalle humpelte. Er schaffte schon fünf Minuten, ohne ausruhen zu müssen. Der Heilvorgang in seinem gebrochenen Bein machte sich durch ständiges Jucken bemerkbar, das ihn fast verrückt machte. Verpackt in dicke, wollene Unterwäsche und einen riesigen Schaffellmantel ging er am 20. Oktober zum ersten Mal wieder ins Freie. Der Tag war warm und sonnig, aber die Luft schmeckte kühl. In Boulder herrschte wahrscheinlich noch mildes Herbstwetter, das die Blätter an den Bäumen golden färbte, aber hier kündigte sich der Winter schon unmißverständlich an. Stu konnte kleine Flecken gefrorenen, körnigen Schnees an jenen schattigen Stellen sehen, die nie ein Sonnenstrahl erreichte. »Ich weiß nicht, Tom«, sagte er. »Bis Grand Junction könnten wir es vielleicht schaffen, aber weiter weiß ich nicht. Es wird eine Menge Schnee in den Bergen geben, und ich kann mir nicht viel zumuten. Ich muß erst wieder richtig auf die Beine kommen.« »Wie lange brauchst du, um wieder richtig auf die Beine zu kommen, Stu?« »Ich weiß es nicht, Tom. Wir müssen einfach abwarten.« Stu war entschlossen, nichts zu überstürzen, nicht zu drängen - er war dem Tode so nahe gewesen, daß er seine Genesung auskosten wollte. Und er wollte sie so weit fortschreiten lassen wie nur möglich. Sie zogen aus der Empfangshalle in zwei nebeneinanderliegende Zimmer mit einer Verbindungstür im Erdgeschoß. Das Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors wurde Kojaks provisorische Hundehütte. Der Knochen in Stus gebrochenem Bein schien tatsächlich wieder zusammenzuheilen, nur leider ziemlich schief. Wenn er wieder auf zwei geraden Beinen gehen wollte, würde George Richardson den Knochen wieder brechen und richten müssen. Bis dahin würde er nur humpeln können, wenn er die Krücken nicht mehr benutzte. Trotzdem fing er an, das Bein zu trainieren. Er wußte, daß es lange dauern würde, auch nur fünfundsiebzig Prozent der alten Ausdauer und Beweglichkeit wiederzuerlangen, aber er hatte ja auch viel Zeit: wahrscheinlich einen ganzen Winter. Am 28. Oktober fiel in Green River ungefähr zehn Zentimeter Schnee. »Wenn wir hier nicht bald verschwinden«, sagte Stu, als er mit Tom am Fenster stand und sich die Bescherung ansah, »werden wir den ganzen verdammten Winter im Utah-Hotel verbringen.« Am nächsten Tag fuhren sie in ihrem alten Plymouth zur Tankstelle am Rande der Stadt. Sie tauschten die abgefahrenen Hinterreifen gegen ein Paar Winterreifen mit Spikes. Stu mußte einige Ruhepausen einlegen, und Tom machte die Muskelarbeit. Vorher hatte Stu überlegt, ob sie nicht lieber ein Fahrzeug mit Vierradantrieb nehmen sollten, aber dann hatte er sich - ganz irrational - entschlossen, dem alten Auto, das ihnen Glück gebracht hatte, treu zu bleiben. Zum Schluß lud Tom noch vier Säcke mit je einem halben Zentner Sand in den Plymouth. Sie verließen Green River am Tag vor Allerheiligen und fuhren nach Osten. Am 2. November mittags kamen sie in Grand Junction an. Und wie sich herausstellte, hätte die Fahrt keine drei Stunden länger dauern dürfen. Der Himmel war schon den ganzen Vormittag bleigrau gewesen, und als sie die Hauptstraße hinunterfuhren, fing es an zu schneien. Die Flocken wirbelten über die lange Kühlerschnauze des Plymouth. Schon unterwegs hatte es ein paar Schneeschauer gegeben, aber das hier war kein Schauer. Der Himmel versprach heftigen Schneefall. »Such dir aus, wo du wohnen willst, Tom. Hier werden wir wohl eine Weile bleiben.« Tom zeigte: »Da! Das Motel mit dem Stern drauf!« Das Motel mit dem Stern drauf war das Grand Junction Holiday Inn. Unter dem Stern und dem bekannten Namenszug war ein Transparent angebracht, auf dem in großen roten Buchstaben zu lesen stand: ILLKOMMEN INGR NDJUNC ION ZUM SOMMERF ST'90! 12. JUNI BIS 4. JULI! »Okay«, sagte Stu. »Also ins Holiday Inn.« Er fuhr auf den Parkplatz, stellte den Motor ab, und dort blieb der Wagen stehen. Er rührte sich nicht mehr vom Fleck. Jedenfalls nicht für Tom und Stu. Um zwei Uhr nachmittags fiel der Schnee nicht mehr in vereinzelten Flocken vom Himmel, sondern als dichter, weißer Vorhang, und die Flocken tanzten wild nach der verrückten Melodie des Windes. Der Schnee fiel lautlos und scheinbar endlos. Gegen vier Uhr nachmittags hatte der leichte Wind sich in einen Sturm verwandelt, der die Schneemassen vor sich her peitschte und sie mit unglaublicher Schnelligkeit zu hohen Wehen auftürmte. Es schneite die ganze Nacht. Als Stu und Tom am nächsten Morgen aufstanden, saß Kojak hinter der großen Eingangstür und sah hinaus auf eine weiße Welt, in der sich nichts rührte. Nur ein einzelner Blauhäher stolzierte auf den zerfetzten Resten einer Sonnenschutzmarkise herum, die auf der anderen Straßenseite windschief an einem Laden hing. »Verrückte Krähe«, flüsterte Tom. »Wir sind eingeschneit, Stu, stimmt's?« Stu nickte. »Wie können wir nach Boulder kommen durch all das Zeug?« »Wir warten bis zum Frühling«, sagte Stu. »So lange?« Tom blickte betrübt drein, und Stu legte einen Arm um die breiten Schultern des kräftigen Mannes, der in seinem Innern noch ein Kind war. »Die Zeit wird vergehen«, sagte er, aber selbst er war nicht sicher, ob sie die Geduld aufbringen würden, so lange zu warten. In der Dunkelheit hatte Stu eine Zeitlang gestöhnt und gekeucht. Schließlich stieß er einen Schrei aus, der so laut war, daß er davon erwachte, und der Traum ließ ihn los; er lag, auf die Ellbogen gestützt, wieder in seinem Motelzimmer im Holiday Inn und starrte aus weit aufgerissenen Augen ins Nichts. Er stieß einen langen, zitternden Seufzer aus und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Er hatte den Schalter bereits zweimal gedrückt, bevor ihm wieder zu Bewußtsein kam, daß es ja gar keinen Strom mehr gab - seltsam, wie schwer es fiel, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Er nahm die Coleman-Lampe vom Fußboden und zündete sie an. Als das Licht neben dem Tisch brannte, benutzte er den Nachttopf. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben dem Tisch. Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß es Viertel nach drei morgens war. Wieder dieser Traum. Der Frannie-Traum. Der Alptraum. Es war immer dasselbe: Frannie in Schmerzen, ihr Gesicht schweißgebadet, Richardson zwischen ihren Beinen, und Laurie Constable als Assistentin daneben. Frans Füße hingen in Stahlschlingen... Pressen, Frannie. Kräftig! Gut so. Aber wenn Stu Georges ernste Augen über der weißen Gesichtsmaske sah, wußte er, daß überhaupt nichts gut war. Im Gegenteil: Irgend etwas stimmte nicht. Laurie tupfte Fran den Schweiß vom Gesicht und strich ihr das Haar aus der Stirn. Steißlage. Wer hatte das gesagt? Es war eine unheilverkündende, körperlose Stimme. Tief und schleppend, wie von einer zu langsam abgespielten Schallplatte. Steißlage. Georges Stimme: Ruf Dick. Sag ihm, vielleicht müssen wir... Lauries Stimme: Doktor, sie verliert jetzt sehr viel Blut...  Stu zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte scheußlich, aber nach diesem Traum war alles eine Erholung. Es ist ein Angsttraum. Das ist alles. Das ist die typische Macho-Vorstellung, daß alles schiefgeht, wenn du nicht dabei bist. Vergiß es, Stuart. Es geht ihr gut. Nicht alle Träume werden wahr... Aber zu viele Träume waren im letzten halben Jahr wahr geworden. Das Gefühl, daß dieser immer wiederkehrende Traum von Frans Entbindung ihm die Zukunft zeigte, wollte ihn nicht loslassen. Er drückte die halb gerauchte Zigarette aus und starrte mit leerem Blick in das sanfte, ruhige Licht der Gaslampe. Heute war der 29. November; das Holiday Inn von Grand Junction war jetzt schon seit vier Wochen ihr Quartier. Die Zeit war langsam und zäh verronnen, aber sie hatten es geschafft, bei Laune zu bleiben, indem sie die ganze Stadt immer wieder nach interessanten Dingen durchstöbert hatten, mit denen man sich beschäftigen und die Zeit totschlagen konnte. Stu war in der Lagerhalle eines Elektrogroßhandels an der Grand Avenue auf einen mittelgroßen Honda-Elektrogenerator gestoßen, und er und Tom hatten ihn ins Convention Center gegenüber dem Holiday Inn geschleppt, indem sie das Ding mit Hilfe eines Flaschenzuges auf einen Schlitten gehoben und dann zwei Schneemobile vor den Schlitten gespannt hatten - mit anderen Worten: Sie hatten den Generator auf eine ganz ähnliche Art und Weise transportiert wie der Mülleimermann sein allerletztes Geschenk an Randall Flagg. »Und was tun wir damit?« fragte Tom. »Den Strom im Motel wieder anmachen?« »Dafür ist dieser Generator zu klein«, sagte Stu. »Warum nehmen wir ihn dann mit? Wozu?« fragte Tom voller Ungeduld. »Du wirst schon sehen«, sagte Stu. Sie stellten den Generator in der kleinen Elektrozentrale der Convention Hall ab, und damit war das Gerät für Tom gestorben und vergessen - und genau das hatte Stu sich erhofft. Am folgenden Tag war er mit dem Schneemobil zum Grand Junction Simplex gefahren und hatte - indem er wieder, diesmal alleine, den Flaschenzug benutzte - einen alten Fünfunddreißig-Millimeter-Filmprojektor aus einem Fenster im zweiten Stock der Lagerhalle, wo er ihn auf einem seiner früheren Streifzüge entdeckt hatte, heruntergehievt. Der Projektor war in Plastikfolie eingewickelt gewesen... und dann, nach der dicken Staubschicht zu urteilen, die sich auf der Schutzfolie angesammelt hatte, schlicht und einfach vergessen worden. Stus Bein hatte ganz gut mitgespielt, aber er hatte dennoch fast drei Stunden gebraucht, um den Projektor durch den Haupteingang der Convention Hall bis in die Mitte des Sitzungssaales zu schleppen. Er hatte dazu drei kleine Transportkarren benutzt und immer damit gerechnet, daß Tom plötzlich auftauchen würde, um nach ihm zu sehen. Mit Toms Hilfe wäre die Arbeit viel schneller vonstatten gegangen, aber es hätte auch die Überraschung verdorben, die Stu Tom bereiten wollte. Aber Tom war offensichtlich in eigener Sache unterwegs, und Stu bekam ihn den Tag über nicht zu Gesicht. Als Tom schließlich gegen fünf Uhr nachmittags ins Holiday Inn zurückkehrte, mit von der Kälte roten Wangen und einem dicken Schal um den Hals, war die Überraschungsparty drüben in der Convention Hall bereits vorbereitet. Stu hatte alle sechs Filme mitgebracht, die er in einem Kino in Grand Junction gefunden hatte. Nach dem Abendessen sagte er beiläufig: »Komm mal mit mir rüber zur Convention Hall, Tom.« »Warum?« »Du wirst schon sehen.« Sie überquerten die verschneite Straße. Am Eingang der Convention Hall drückte Stu Tom eine Tüte Popcorn in die Hand. »Was soll das?« fragte Tom. »Ist doch schöner, sich 'nen Film anzusehen, wenn man was zu knabbern hat, du großer Dummkopf«, sagte Stu grinsend. »FILM?« »Ja, sicher.« Tom brach wie ein Unwetter durch die Eingangstür. Sah den Projektor, vorführbereit, mit eingelegter Filmrolle. Sah die große Leinwand der Versammlungshalle, die Stu heruntergelassen hatte. Sah zwei Klappstühle auf dem leeren Mittelgang. »Whow«, flüsterte er, und das Erstaunen auf seinem Gesicht war so echt und tief und kindlich, wie Stu es sich nur erhoffen konnte. »Ich habe im Starlite Drive-In drüben in Braintree drei Jahre den Sommer über als Filmvorführer gearbeitet«, sagte Stu. »Ich hoffe, ich habe nicht vergessen, wie man diese verdammten Filmrollen austauscht.« »Whow«, sagte Tom wieder. Stu stieg über das Wirrwarr von Kabeln und Anschlüssen hinweg, mit denen Projektor und Generator verbunden waren, ging in die Elektrozentrale und zog kräftig an der Starterschnur. Der kleine Benzinmotor des Generators begann zu tuckern. Stu schloß die Tür zur Elektrozentrale so weit hinter sich, wie es wegen der Kabelstränge möglich war, um das Geräusch des Motors zu dämpfen und knipste dann die Lampen im Versammlungsraum aus. Fünf Minuten später saßen er und Tom Seite an Seite und verfolgten, wie Sylvester Stallone in Rambo IV: The Fire-Fight Hunderte von Drogenhändlern ins Jenseits beförderte. Der DolbySound dröhnte aus den sechzehn Lautsprechern des Versammlungsraums im Conventional Center; manchmal war das Spektakel dermaßen laut, daß sie die Dialoge (was an Dialogen stattfand) kaum mehr verstehen konnten... aber als der Film zu Ende war, hatte die Vorführung ihnen beiden gefallen. Jetzt, wo er über diese Geschichte nachdachte, lächelte Stu. Jemand, der es nicht besser wußte, hätte ihn als dämlich bezeichnet - denn hätte Stu einen Videorecorder an einen sehr viel kleineren Generator angeschlossen, was möglich gewesen wäre, hätten sie sich auf diese Weise Hunderte von Filmen ansehen können, wahrscheinlich sogar drüben im Holiday Inn. Aber ein Film auf der Leinwand war etwas anderes als auf einem Fernsehbildschirm, war es immer schon gewesen; jedenfalls nach seiner Ansicht. Außerdem ging es eigentlich auch gar nicht darum. Es ging schlicht und einfach darum, daß er und Tom jede Menge Zeit totzuschlagen hatten... und an manchen Tagen wollte die Zeit einfach nicht sterben. Wie dem auch sei, einer der Filme war eine Neufassung des letzten Disney-Zeichentrickfilms Oliver and Company, der nie auf Videokassette erschienen war. Tom sah sich den Streifen wieder und wieder an, lachte wie ein Kind über die Eskapaden von Oliver und dem Artful Dodger und Fagin, der im Film auf einem Schleppkahn in New York wohnte und auf einem gestohlenen Flugzeugsitz zu schlafen pflegte. Zusätzlich zu seinem Filmprojekt hatte Stu Modellautos zusammengebaut, mehr als zwanzig Stück, unter anderem einen Rolls-Royce aus 240 Einzelteilen, die vor der Supergrippe 65 Dollar gekostet hatten. Tom hatte aus Papiermache, Gips und diversen Lebensmittelfarben eine seltsame, aber irgendwie ansprechende Landschaft modelliert, die den halben Fußboden eines Tagungsraums im Holiday Inn ausfüllte. Er nannte sein Werk Mondbasis Alpha. O ja, sie hatten sich beschäftigt, aber... Was du jetzt denkst, ist verrückt. Er bewegte sein Bein. Es war in besserer Verfassung, als er je zu hoffen gewagt hatte. Zum Teil verdankte er das dem Fitnessraum des Holiday Inn und seinen Übungsgeräten. Das Bein war noch ein wenig steif und schmerzte gelegentlich, aber er konnte ohne Krücken gehen, wenn auch humpelnd. Sie konnten es langsam angehen lassen. Er war sicher, daß er Tom beibringen konnte, eines dieser Schneemobile zu fahren, die hier fast jeder Einwohner in der Garage stehen hatte. Zwanzig Meilen am Tag konnte man mit diesen Dingern wohl schaffen. Zeltbahn, dicke Schlafsäcke und jede Menge gefriergetrocknetes Lebensmittelkonzentrat konnte man sich einpacken... Sicher. Und wenn am Vail-Paß eine Lawine auf uns zukommt, winken wir ihr mit einer Packung gefriergetrockneter Karotten, und sie wendet sich angewidert ab und geht uns aus dem Weg. Es ist verrückt! Er löschte das Licht. Aber es dauerte lange, bis er einschlief. Beim Frühstück sagte er: »Tom, möchtest du gern nach Boulder zurück?« »Fran sehen? Und Dick und Sandy? Meine Fresse, nichts auf der Welt möcht' ich lieber als das! Glaubst du, daß sie mein kleines Haus weggegeben haben?« »Nein, bestimmt nicht. Ich meine: Wäre es dir ein Risiko wert?« Tom sah ihn verwirrt an, und Stu wollte gerade die Frage noch einmal einfacher stellen, als Tom sagte: »Meine Fresse, alles ist ein Risiko, oder nicht?« Und damit war es entschieden. Sie verließen Grand Junction am letzten Novembertag. Das Schneemobilfahren brauchte er Tom nicht beizubringen. Stu fand eine Monster-Maschine in einem Schuppen des Colorado Highway Department unweit des Holiday Inn. Das Gefährt hatte einen superstarken Motor, eine Verkleidung, um den Wind abzuhalten, und, was das wichtigste war, viel Platz für Gepäck. Es war früher offensichtlich zum Transport von Rettungsgeräten benutzt worden. Hinten war ein großer offener Raum, in dem ein Hund von Kojaks Größe bequem untergebracht werden konnte. Was sie sonst noch brauchten, besorgten sie sich aus den vielen Sport- und Freizeitgeschäften am Ort. Dabei gab es kaum Schwierigkeiten, obwohl die Supergrippe am Sommeranfang zugeschlagen hatte. Sie nahmen leichte Zeltbahnen und leichte Schlafsäcke mit, ebenso ein Paar Langlaufskier (obschon allein der Gedanke, Tom die Grundkenntnisse des Skilanglaufs beibringen zu müssen, Stu das Blut in den Adern gefrieren ließ), einen großen Coleman-Gaskocher, Lampen, Gasflaschen, Ersatzbatterien, Nahrungskonzentrate und ein Garand-Gewehr mit Zielfernrohr. Am ersten Tag um zwei Uhr mittags wußte Stu, daß seine Angst, sie könnten einschneien und verhungern, grundlos gewesen war. Der Wald wimmelte förmlich von Wild. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Später am Nachmittag schoß er ein Stück Rotwild. Das erste seit seiner Schulzeit. Damals hatte er die Schule geschwänzt, um mit seinem Onkel Dale auf die Jagd zu gehen. Das Tier, das sie geschossen hatten, war eine magere Ricke gewesen, und ihr Fleisch hatte stark nach Wild und ziemlich bitter geschmeckt, weil sie zuviel Nesseln gefressen hatte, wie Onkel Dale sagte. Das Tier, das Stu heute erlegt hatte, war ein schöner, schwerer Bock mit breiter Brust. Aber schließlich, dachte Stu, als er das Tier mit einem großen Messer ausweidete, hat der Winter gerade erst angefangen, und Mutter Natur hat ihre eigene Art, mit Übervölkerungsproblemen fertig zu werden. Tom suchte Holz und schichtete es auf, während Stu den Bock, so gut er konnte, zerlegte. Als er das geschafft hatte, war es schon seit drei Stunden dunkel, die Ärmel seines Mantels waren steif und klebrig von Blut, und sein Bein sang das »Ave Maria«. Das Reh, das sein Onkel Dale geschossen hatte, war damals von einem alten Mann namens Schoey aus der Decke geschlagen, ausgeweidet und zerlegt worden. Dieser Mann hatte in einer baufälligen Hütte am Stadtrand von Braintree gewohnt und hatte für seine Arbeit drei Dollar und zehn Pfund vom bitteren Fleisch bekommen. »Schade, daß der alte Schoey heute abend nicht hier ist«, seufzte Stu. »Wer?« fragte Tom, der fast eingeschlummert war. »Ach nichts, Tom. Ich führe Selbstgespräche.« Die Arbeit hatte sich gelohnt. Das Wildbret war zart und schmeckte vorzüglich. Als sie sich satt gegessen hatten, kochte Stu noch ungefähr dreißig Pfund Fleisch und verstaute es am anderen Morgen in einem der kleinen Gepäckträger des Schneemobils. An diesem ersten Tag hatten sie nur sechzehn Meilen zurückgelegt. In dieser Nacht war der Traum anders. Stu war wieder im Entbindungszimmer. Überall sah er Blut. Die Ärmel seines weißen Kittels waren steif und klebrig davon. Aber dieses Mal war es kein Tierblut, sondern Frans Blut. Die Kittel, die George und Laurie trugen, waren genauso blutgetränkt wie das Laken, mit dem Frannie zugedeckt war. Und sie schrie. Es kommt, keuchte George. Seine Zeit ist endlich gekommen. Frannie, es will geboren werden. Pressen! PRESSEN! Und es kam, es kam in einem letzten Schauer von Blut. George ergriff das Kind bei den Hüften, denn es war mit den Füßen zuerst gekommen... Laurie fing an zu kreischen. Die Geräte aus rostfreiem Stahl waren vollgespritzt mit - Denn es war ein Wolf mit einem teuflisch grinsenden menschlichen Gesicht, seinem Gesicht, es war Flagg, er war wieder da, er war nicht tot, noch nicht, er war noch auf der Welt, Frannie hatte Randall Flagg geboren - Stu erwachte von seinem eigenen Stöhnen. Hatte er geschrien? Tom schlief fest. Er hatte sich so tief in seinen Schlafsack verkrochen, daß nur noch sein blonder Haarschopf zu sehen war. Kojak lag zusammengerollt neben Stu. Es war alles in Ordnung. Es war nur ein Traum gewesen... Und dann stieg ein Heulen in die Nacht, erhob sich wie der silberne Klang verzweifelten Grauens... das Heulen eines Wolfes, oder vielleicht der Schrei einer Mörderseele. Kojak hob den Kopf. Stu überlief eine Gänsehaut die Arme, die Oberschenkel, die Leisten. Das Heulen kam nicht wieder. Stu schlief wieder ein. Am Morgen packten sie auf und fuhren weiter. Tom machte Stu darauf aufmerksam, daß die Eingeweide des Rehbocks verschwunden waren. Wo sie gelegen hatten, war nur noch ein Durcheinander von Fußspuren, und die Farbe des Blutes im Schnee war zu einem trüben Rosa verblaßt... aber das war alles. Das Wetter blieb fünf Tage lang gut, und sie erreichten Rifle. Als sie am nächsten Morgen aufwachten, kündigte sich ein Blizzard an. Stu sagte, sie müßten hier das Ende des Sturms abwarten, und so richteten sie sich in einem Motel des Ortes ein. Tom hielt die Eingangstüren auf, und Stu fuhr das Schneemobil direkt in die Empfangshalle. Und obwohl der schöne Teppichboden ziemlich darunter litt, fand Stu, daß das Schneemobil hier bestens untergebracht sei. Es schneite drei Tage lang. Als sie am Morgen des 10. Dezember aufbrachen, schien die Sonne hell vom Himmel, und die Temperatur war auf knapp über Null Grad angestiegen. Der Schnee lag jetzt so hoch, daß es Schwierigkeiten machte, den Verlauf der 1-70 zu finden. Aber das war nicht Stus größte Sorge an diesem hellen, warmen und sonnigen Tag. Am späten Nachmittag, als die blauen Schatten länger wurden, fuhr Stu langsamer und stellte schließlich den Motor ab. Er schwieg, den Kopf schräg gelegt, und schien mit seinem ganzen Körper zu lauschen. »Was ist, Stu? Was...« Dann hörte Tom es auch. Ein leises, tiefes Grollen zu ihrer Linken über ihnen. Es schwoll zu einem lauten Donnern an, raste an ihnen vorbei wie ein Schnellzug und verstummte allmählich. »Stu?« fragte Tom ängstlich. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er und dachte: Ich mach' mir schon genug Sorgen, daß es für uns beide reicht. Das milde Wetter hielt sich, und am 13. Dezember waren sie nahe Shoshone, und der Weg in Richtung Rockies stieg immer noch an. Der höchste Punkt, den sie erreichen würden, bevor es wieder bergab ging, war der Loveland-Paß. Immer wieder hörten sie das tiefe Grollen der Lawinen. Manchmal weit weg. Manchmal ganz nah. Am zwölften war eine Lawine hinter ihnen zu Tal gegangen und hatte die Spur des Schneemobils, das dort vor einer halben Stunde vorbeigezogen war, unter Tonnen von Pappschnee begraben. Stu fürchtete jeden Tag mehr, daß die Vibrationswellen, die der Motor des Schneemobils produzierte, sie letzten Endes umbringen würden, indem sie eine Lawine auslösten, die sie schon zehn Meter tief begraben hätte, bevor sie wußten, was ihnen geschah. Der weiße Tod. Aber jetzt konnten sie nichts tun, als Tempo zu machen und das Beste zu hoffen. Als dann die Temperatur sank und die Lawinengefahr etwas nachließ, gab es wieder einen Sturm, der sie am Weiterfahren hinderte. Nach zwei Tagen schaufelten sie sich frei und machten sich erneut auf den Weg... und nachts heulten die Wölfe. Manchmal klang ihr Geheul weit entfernt, aber manchmal war es so nah, dass man glauben konnte, sie stünden direkt vo r dem Zelt. Dann erhob sich Kojak und ließ - angespannt wie eine Stahlfeder - ein tiefes Grollen hören. Aber die Temperaturen blieben tief und die Häufigkeit der Lawinen ließ nach, wenngleich am Achtzehnten wieder eine in unmittelbarer Nähe an ihnen vorüberfegte. Am 22. Dezember, unweit der Stadt Avon, verlor Stu die Orientierung und kam mit dem Schneemobil vom Highway ab. Für ein paar Sekunden fuhren sie im gewohnten Zehn-Meilen-Tempo weiter, ruhig und sicher, wirbelten Wolken von Schnee hinter sich auf. Tom hatte Stu gerade auf die unter ihnen liegende Stadt aufmerksam gemacht, die mit ihrem weißen Kirchturm und den hohen, jungfräulichen Schneewehen, die bis zu den Dachvorsprüngen der Häuser reichten, still und idyllisch dalag wie auf einem Postkartenfoto. Im nächsten Augenblick senkte sich die Motorhaube des Schneemobils steil nach vorn. »Verdammte Scheiße...«, sagte Stu, und mehr zu sagen reichte die Zeit nicht. Das Schneemobil kippte noch steiler ab. Stu riß den Gashebel zurück, aber es war zu spät. Er und Tom hatten das seltsame Gefühl der Schwerelosigkeit, jenes Gefühl, das man verspürt, wenn man von einem Sprungbrett in die Höhe getragen wird und den Scheitelpunkt erreicht, an dem Schwerkraft und Sprungenergie sich die Waage halten. Sie wurden kopfüber aus dem Schneemobil geschleudert. Stu verlor Tom und Kojak aus den Augen. Kalter Schnee drang ihm in die Nase. Als er den Mund öffnete, um zu schreien, rutschte ihm eine eiskalte Portion in den Hals; im nächsten Moment fegte der Schnee über den Rücken seines Mantels hinweg. Taumelnd, rollend, sich überschlagend, rutschte er einen steilen Hang hinunter, bis eine tiefe weiße Schneedecke seinen Sturz beendete. Stu kämpfte sich wie ein Schwimmer in die Höhe, atmete keuchend die glutheiße Luft. Seine Kehle war wie vereist. »Tom!« rief er, den Schnee unter sich festtretend. Verrückt, aber er konnte von hier aus genau jene Stelle erkennen, an der sie vom Highway abgekommen waren, wobei sie ihre eigene kleine Lawine ausgelöst hatten. Das Heck des Schneemobils ragte etwa fünfzehn Meter tiefer am Hang aus dem Schnee. Es sah aus wie eine orangefarbene Boje. Seltsam, wie sehr man der Metaphorik von Wasser und Weite verhaftet war... und, verdammt noch mal, sass Tom noch im Sitz und ertrank? »Tom! Tommy!« Kojak brach durch die Schneeoberfläche. Er sah aus, als wäre er von Kopf bis Schwanz mit Puderzucker bestäubt worden. Er wühlte sich in Richtung Stu durch den Schnee. »Kojak!« brüllte Stu. »Such Tom! Such Tom!« Kojak bellte und versuchte, sich wieder in Gegenrichtung voranzukämpfen. Er hielt auf eine zerwühlte Stelle am verschneiten Hang zu und bellte wieder. Schwankend, stürzend, Schnee schluckend erreichte schließlich auch Stu diese Stelle. Er wühlte in der weißen Masse herum. Seine behandschuhte Rechte bekam Toms Jacke zu fassen, und Stu zerrte mit aller Kraft daran, zog Tom hervor. Tom würgte und keuchte, und beide stürzten erschöpft auf den Rücken und blieben liegen. Tom begann zu wimmern. »Meine Kehle! So heiß! Heiß! Meine Fresse, ach du meine Fresse...« »Ist die Kälte, Tom. Das geht vorbei.« »Tom wäre fast ersti...« »Jetzt ist alles in Ordnung, Tom. Jetzt wird alles wieder gut.« Sie blieben liegen, bis sie halbwegs zu Atem gekommen waren. Dann legte Stu Tom den Arm um die Schultern, um den großen Kerl zu beruhigen, das Zittern zu stillen. Ein Stück entfernt ging mit dumpfem Rumoren, das bedrohlich anschwoll und dann allmählich verklang, eine weitere Lawine nieder. Sie brauchten den Rest dieses Tages, um die dreiviertel Meile zwischen dem Unfallort und der Stadt Avon zurückzulegen. Es gab keine Möglichkeit, das Schneemobil oder einen der Ausrüstungsgegenstände zu bergen, die daran festgezurrt waren; der Hang war einfach zu steil und zu gefährlich. Das Schneemobil würde mindestens bis zum Frühjahr bleiben, wo es war - vielleicht auch für immer, so, wie die Dinge jetzt lagen. Sie erreichten die Stadt eine halbe Stunde nach Einbruch der Dämmerung. Es war zu kalt und zu windig, als daß sie irgend etwas anderes hätten unternehmen können, als ein Feuer zu entfachen, um einen halbwegs warmen Platz für die Nacht zu haben. Ihr Schlaf war traumlos - der Schlaf der völligen Erschöpfung. Am folgenden Morgen beschäftigten sie sich damit, sich neu auszurüsten. In der Kleinstadt Avon war dies eine weit schwierigere Aufgabe als seinerzeit in Grand Junction. Wieder erwog Stu die Möglichkeit, einfach hier zu bleiben und zu überwintern. Hätte er Tom gesagt, dies sei das richtige - Tom hätte erst gar keine Fragen gestellt. Zu deutlich hatte die gestrige Lektion gelehrt, was Leuten passieren kann, die ihr Glück herausfordern. Aber letztendlich verwarf Stu den Gedanken, in Avon zu bleiben. Das Baby würde, wenn alles gutging, Anfang Januar geboren werden. Er wollte an Ort und Stelle sein, wenn es zur Welt kam. Er wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß mit dem Baby alles in Ordnung war. Am Ende von Avons kurzer Hauptstraße stießen sie auf eine JohnDeere-Niederlassung, und in der Werkstatt hinter dem Ausstellungsraum fanden sie zwei gebrauchte Deere -Schneemobile. Keines von beiden war zwar annähernd so leistungsstark wie die Maschine des Highway Department, die Stu von der Straße gelenkt hatte, aber eine der beiden hatte eine besonders breite Spurweite, und Stu glaubte, daß sie ihren Zweck erfüllen würde. Nahrungskonzentrate fanden sie nicht, also mußten sie sich wieder auf Konserven verlegen. Die zweite Tageshälfte verbrachten sie damit, Häuser auf der Suche nach Campingausrüstungen zu durchstöbern, eine Arbeit, die keinem von beiden schmeckte. Überall fanden sich Opfer der Seuche; Leichen, die sich in verweste, grotesk deformierte Schaustücke einer Eishöhle verwandelt hatten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fanden sie das meiste von dem, was sie den Tag über vergeblich gesucht hatten, in einer großen Ferienpension in unmittelbarer Nähe der Hauptstraße. Bevor die Supergrippe zugeschlagen hatte, war die Pension offensichtlich bis auf den letzten Platz von jungen Leuten belegt gewesen - jener Sorte junger Leute, die nach Colorado kamen, um all die Dinge zu tun, die John Denver zu besingen pflegte. Allerdings fand Tom in einem versteckten Winkel unter der Treppe eine große grüne PlastikAbfalltüte, die mit einer Spielart von »Rocky Mountain High« gefüllt war, die eine durchschlagende Wirkung haben mußte. »Was ist das? Ist es Tabak, Stu?« Stu grinste. »Na ja, das haben vermutlich so einige andere Leute auch gedacht. Es ist Narrenkraut, Tom. Leg's dorthin zurück, wo du's gefunden hast.« Sie beluden sorgfältig das Schneemobil, verstauten die Konserven, schnürten neue Schlafsäcke und Zeltbahnen an das Fahrzeug. Inzwischen leuchteten die ersten Sterne auf, und sie beschlossen, noch eine weitere Nacht in Avon zu verbringen. Während sie langsam über den verharschten Schnee zum Haus fuhren, in dem sie ihr Quartier aufgeschlagen hatten, kam Stu eine ziemlich verblüffende Erkenntnis: morgen war Heiligabend. Es erschien ihm unglaublich, daß die Zeit so schnell vergangen war, aber ein Blick auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr bestätigte dies. Sie hatten Grand Junction vor mehr als drei Wochen verlassen. Als sie das Haus erreichten, sagte Stu: »Geh du schon mal mit Kojak rein und mach ein Feuer an. Ich habe noch eine kleine Besorgung zu machen.« »Was ist es denn, Stu?« »Na ja, es soll eine Überraschung sein«, sagte Stu. »Überraschung? Werde ich erfahren, was es ist?« »Ja.« »Wann?« Toms Augen leuchteten auf. »In ein paar Tagen.« »Ein paar Tage kann Tom Cullen nicht auf eine Überraschung warten, meine Fresse, nein.« »Tom Cullen wird's aber müssen«, sagte Stu grinsend. »In einer Stunde bin ich zurück.« »Tja... okay.« Es dauerte länger als anderthalb Stunden, bis Stu genau das gefunden hatte, was er suchte. Nach seiner Rückkehr versuchte Tom ihn auszuquetschen, aber Stu hielt den Mund, und als sie sich schließlich zur Ruhe begaben, hatte Tom die Geschichte bereits völlig vergessen. Als sie in der Dunkelheit lagen, sagte Stu: »Ich wette, jetzt wünschst du dir, wir wären in Grand Junction geblieben, was?« »Meine Fresse, nein«, antwortete Tom schläfrig. »Ich möchte so schnell ich kann zu meinem kleinen Haus zurück, nichts weiter. Ich hoffe nur, wir kommen nicht noch mal von der Straße ab und fallen in den Schnee. Tom Cullen wäre fast erstickt!« »Wir müssen einfach langsamer fahren und uns mehr Mühe geben«, sagte Stu und verschwieg wohlweislich, was wahrscheinlich mit ihnen passierte, falls es noch einmal passierte... zu Fuß konnten sie dann keinen Zufluchtsort mehr erreichen. »Wann glaubst du, kommen wir an, Stu?« »Es wird noch ein Weilchen dauern, alter Quälgeist. Aber wir werden ankommen. Und ich glaube, jetzt sollten wir besser schlafen, nicht wahr?« »Glaub' ich auch.« Stu löschte das Licht. In dieser Nacht träumte er, daß Frannie und ihr gräßliches Wolfskind bei der Geburt gestorben seien. Aus weiter Ferne hörte er George Richardson sagen: Es ist die Grippe. Wegen der Grippe wird es keine Babys mehr geben. Schwangerschaft ist Tod, wegen der Grippe. Ein Huhn in jeden Topf und ein Wolf in jede Gebärmutter. Wegen der Grippe. Wir sind erledigt. Die ganze Menschheit ist erledigt. Wegen der Grippe. Und von irgendwoher, sehr viel näher, schloß sich an diese Worte das heulende Gelächter des dunklen Mannes an. Am Heiligen Abend begann eine Zeit des schnellen, ungestörten Vorankommens, die fast bis zum Neuen Jahr andauern sollte. Die Schneedecke war in der Kälte verharscht. Der Wind wirbelte Wolken von Eiskristallen darüber hinweg und häufte sie zu kleinen, pulverigen, fischgrätenartigen Dünen auf, die das John-DeereSchneemobil mühelos durchschnitt. Stu und Tom trugen Sonnenbrillen zum Schutz gegen Schneeblindheit. Heiligabend kampierten sie nach ihrer ersten Tagesetappe vierundzwanzig Meilen östlich von Avon, in der Nähe von Silverstone. Sie hatten jetzt den Zugang zum Loveland-Paß erreicht, und der verstopfte, begrabene Eisenhower Tunnel lag irgendwo im Osten tief unter ihnen. Während sie warteten, bis ihr Abendessen aufgewärmt war, machte Stu eine überraschende Entdeckung. Als er, um sich die Zeit zu vertreiben, mit einer Axt die verharschte Schneedecke aufschlug und mit der Hand den pulvrigen Schnee darunter hervorwühlte, ertastete er genau an der Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, in Armestiefe eine glatte Metalloberfläche. Fast hätte er Tom auf seine Entdeckung aufmerksam gemacht, doch er ließ es bleiben. Es war ein höchst unbehaglicher Gedanke, daß sie weniger als einen halben Meter über einer Stelle lagerten, unter der sich ein Fahrzeugstau befand... weniger als einen halben Meter über Gott weiß wie vielen Leichen. Als Tom am Morgen des Fünfundzwanzigsten um halb sieben erwachte, war Stu schon auf und machte Frühstück. Das war erstaunlich, denn sonst erwachte Tom immer zuerst. Über dem Feuer hing ein Topf mit Campbell's Gemüsesuppe, der gerade anfing zu brodeln. Kojak beobachtete den Topf mit großer Begeisterung. »Guten Morgen, Stu«, sagte Tom, zog sich die Jacke zu und kroch aus seinem Schlafsack. »Morgen«, antwortete Stu beiläufig. »Und ein frohes Weihnachtsfest.« »Weihnachtsfest?« Tom sah ihn an und vergaß ganz, daß er so dringend pinkeln mußte. »Weihnachten?« sagte er noch einmal. »Weihnachtsmorgen.« Er zeigte mit dem Daumen zu einer Stelle links von Tom. »Was Besseres konnte ich nicht auftreiben.« In der Schneekruste steckte die etwa sechzig Zentimeter hohe Spitze einer Tanne. Sie war mit kleinen silberglänzenden Eiszapfen geschmückt. Stu hatte sie im Hinterzimmer des Avon Five and Ten gefunden. »Ein Baum«, flüsterte Tom ehrfurchtsvoll. »Und Geschenke. Das sind doch Geschenke, nicht wahr, Stu?« Im Schnee unter dem Baum lagen drei Pakete, alle in hellblaues Seidenpapier mit silbernen Hochzeitsglocken eingewickelt - Weihnachtspapier hatte er im Five and Ten nicht gefunden, nicht einmal im Hinterzimmer. »Ganz richtig, das sind Geschenke. Für dich. Ich nehme an, sie sind vom Weihnachtsmann.« Tom sah Stu böse an. »Tom Cullen weiß, daß es keinen Weihnachtsmann gibt! Meine Fresse, nein! Sie sind von dir!« Er sah jetzt bekümmert aus. »Und ich hab' überhaupt nichts für dich! Ich hab' es vergessen... ich wußte nicht, daß Weihnachten ist... ich bin dumm! Dumm!« Er ballte die Faust und schlug sich vor die Stirn. Er war den Tränen nahe. Stu hockte sich neben ihn in den Schnee. »Tom«, sagte er. »Du hast mir dein Weihnachtsgeschenk doch schon vorher gegeben.« »Nein, Sir, hab' ich nicht. Hab' ich vergessen. Tom Cullen ist ein Dummkopf. M-O-N-D, und das buchstabiert man Dummkopf.« »Bist du nicht. Du hast mir das allerschönste Weihnachtsgeschenk gemacht. Ich lebe noch. Und das habe ich dir zu verdanken.« Tom sah ihn verständnislos an. »Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst, hätte ich an dem unterspülten Straßenstück westlich von Green River sterben müssen. Und wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich im Utah Hotel an Lungenentzündung oder Grippe oder was es auch immer war sterben müssen. Ich weiß nicht, wie du die richtigen Pillen gefunden hast... ob es Nick war oder Gott oder ganz einfach Glück, aber du hast sie gefunden. Du bist ja verrückt, dich einen Dummkopf zu nennen. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich dieses Weihnachtsfest nie erlebt. Ich bin tief in deiner Schuld.« »Ach, das ist doch nicht dasselbe«, sagte Tom, aber er strahlte über das ganze Gesicht. »Es ist dasselbe«, sagte Stu ernst. »Aber...« »Komm, mach deine Geschenke auf. Schau nach, was er dir gebracht hat. Ich habe doch mitten in der Nacht seinen Schlitten gehört. Ich denke, bis zum Nordpol ist die Grippe nicht gekommen.« »Du hast ihn gehört?« Tom sah Stu mißtrauisch an, um zu sehen, ob er ihn auch nicht anschwindelte. »Irgend etwas habe ich gehört.« Tom nahm das erste Paket und wickelte es sorgfältig aus - ein batteriebetriebener kleiner Spielautomat, von der Art, wie ihn sich die meisten Kinder schon im vergangenen Jahr zu Weihnachten gewünscht hatten. Er war in eine Plastikfolie eingeschweißt. Toms Augen leuchteten, als er ihn sah. »Schalt ihn an«, sagte Stu. »Nein, ich will erst sehen, was ich sonst noch gekriegt habe.« Es war ein Sweatshirt mit einem völlig erschöpften Skiläufer auf krummen Skiern, der sich auf seine Skistöcke stützt. »Darunter steht ICH WAR AUF DEM LOVELAND PASS«, erklärte Stu. »So weit sind wir zwar noch nicht, aber ich glaube, wir werden's schaffen.« Tom zog sofort seinen Parka aus, streifte das Sweatshirt über und zog den Parka wieder an. »Toll! Wirklich toll, Stu!« Das letzte Paket war das kleinste. Es enthielt einen schlichten Silberanhänger an einer feinen Gliederkette aus Silber. Tom kam die Figur vor wie eine liegende Acht. Er hielt sie hoch und betrachtete sie erstaunt. »Was ist das, Stu?« »Es ist ein griechisches Symbol. Das weiß ich noch aus irgendeiner Fernsehsendung. Es bedeutet Unendlichkeit, Tom. Immer und ewig.« Er streckte den Arm nach Tom aus und nahm die Hand, die die Figur hielt. »Ich glaube, wir werden Boulder erreichen, Tommy. Ich glaube, das war uns von Anfang an bestimmt. Ich möchte gern, daß du es trägst, wenn es dir nichts ausmacht. Und wenn du irgendwann etwas brauchst und nicht weißt, wen du fragen sollst, dann schau dieses Symbol an und denk an Stuart Redman. Okay?« »Unendlichkeit«, sagte Tom und drehte die Figur in der Hand. »Immer und ewig.« Er hängte sich die Kette um den Hals. »Ich werde daran denken«, sagte er. »Tom Cullen wird daran denken.« »Scheiße! Das hätte ich doch fast vergessen!« Stu griff in seinen Schlafsack und holte noch ein Paket hervor. »Frohes Weihnachtsfest, Kojak! Ich will es mal für dich aufmachen.« Er entfernte das Papier, und ein Karton HartzMountain-Hundekuchen kam zum Vorschein. Er warf eine Handvoll in den Schnee, und Kojak verschlang sie mit Heißhunger. Dann stellte er sich vor Stu und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz. »Später gibt's mehr«, sagte Stu. »Lerne endlich Manieren, bei allem, was du tust, wie der alte Glatzkopf gesagt... gesagt hätte.« Er merkte, wie seine Stimme brüchig wurde und ihm Tränen in die Augen traten. Plötzlich vermißte er Glen, vermißte Larry, vermißte Ralph mit seinem Federhut. Plötzlich vermißte er sie alle, sie alle, die gestorben waren, vermißte sie schrecklich. Mutter Abagail hatte gesagt, sie würden durch Ströme von Blut waten, bis alles vorüber sei, und sie hatte recht gehabt. In seinem Herzen verfluchte und segnete Stuart Redman sie gleichzeitig. »Stu? Ist alles in Ordnung?« »Ja, Tommy, alles klar.« Plötzlich umarmte er Tom heftig, und Tom erwiderte die Umarmung. »Frohe Weihnachten, du alter Klotz.« Zögernd sagte Tom: »Darf ich noch singen, bevor wir gehen?« »Gern, wenn du möchtest.« Stu erwartete »Jingle B ells« oder »Frosty the Snowman« und eine Kinderstimme, die zaghaft und falsch sang. Aber was kam, waren Teile aus »The First Noel«, die Tom mit einer überraschend klaren Tenorstimme sang. »The first Noel«, klang Toms Stimme über die weiße Einöde und kam als schönes Echo zurück, »the angels did say... was to certain poor shepherds in fields as they lay ...In fields ...as they... lay keeping their sheep... on a cold winter's night that was so deep...« Stu fiel in Toms Gesang ein. Seine Stimme war nicht so gut wie Toms, aber trotzdem klang ihr gemeinsamer Gesang angenehm, und die schöne alte Hymne stieg in die tiefe Kathedralenstille des Weihnachtsmorgens auf: »Noel, Noel, Noel, Noel... Christ is born in Israel...« »Das ist die einzige Strophe, die ich noch weiß«, sagte Tom ein wenig schuldbewußt, als ihre Stimmen verhallten. »Es war schön«, sagte Stu. Er war wieder den Tränen nahe. Viel fehlte nicht, und er hätte geweint, aber das hätte Tom aus der Fassung gebracht. Stu drängte die Tränen zurück. »Wir sollten langsam aufbrechen. Es bleibt um diese Jahreszeit nicht so lange hell.« »Ja.« Er sah Stu an, der sich am Fahrzeug zu schaffen machte. »So ein schönes Weihnachten habe ich noch nie erlebt, Stu.« »Das freut mich, Tommy.« Und wenig später waren sie wieder unterwegs und fuhren unter der hellen kalten Weihnachtssonne nach Osten zu den Bergen hinauf. In dieser Nacht kampierten sie am Loveland-Paß in der Nähe des höchsten Punktes, fast 3500 Meter über dem Meeresspiegel. Während die drei gemeinsam gut geschützt schliefen, sanken die Temperaturen auf etwa sechs Grad unter Null. Kalt wie die Klinge eines Küchenmessers fegte der Wind über den Loveland-Paß. Im Sternenglanz der Winternacht heulten unter den hohen Schatten der Felsen die Wölfe. Nach Osten und Westen hin schien die Welt unter ihnen eine einzige Gruft zu sein. Früh am nächsten Morgen, noch vor dem ersten Licht, weckte Kojak sie mit seinem Gebell. Mit dem Gewehr in der Hand kroch Stu nach draußen. Zum ersten Mal kamen die Wölfe in Sicht. Sie waren aus den Schluchten gekommen und bildeten fast einen Ring um ihr Lager. Sie heulten nicht, sondern starrten nur stumm herüber. Ihre Augen hatten einen tiefgrünen Schimmer, und die Tiere schienen herzlos zu grinsen. Stu gab wahllos sechs Schüsse ab, und sie zerstreuten sich. Einer fuhr hoch und sank als Bündel in sich zusammen. Kojak lief hin und beschnüffelte den Kadaver. Dann urinierte er darauf. »Die Wölfe sind seine Geschöpfe. Und sie werden es immer sein.« Tom schien noch halb zu schlafen. Seine Augen blickten schläfrig und verträumt. Stu wurde plötzlich klar, daß Tom wieder in jenen unheimlichen, tranceähnlichen Zustand verfallen war. »Tom... ist er tot? Weißt du das?« »Er stirbt nie«, sagte Tom. »Er ist in den Wölfen, meine Fresse, ja. Den Krähen. Den Klapperschlangen. Er ist der Schatten einer Eule um Mitternacht und der Skorpion am hellen Mittag. Er hängt mit dem Kopf nach unten bei den Fledermäusen, und er ist blind wie sie.« »Wird er zurückkommen?« fragte Stu drängend. Er fühlte sich eiskalt. Tom antwortete nicht. »Tommy...« »Tom schläft. Er ist gegangen, den Elefanten zu sehen.« Draußen erschien ein kalter weißer Streifen am Himmel und schob sich hinter der gezackten Öde der Berggipfel langsam höher. »Ja. Sie warten. Sie warten. Sie warten auf Nachricht. Sie warten auf den Frühling. Alles in Boulder ist ruhig.« »Kannst du Frannie sehen?« Toms Miene hellte sich auf. »Frannie, ja. Sie ist dick. Ich glaube, sie kriegt ein Kind. Sie wohnt bei Lucy Swann. Lucy kriegt auch ein Kind. Aber Frannie kriegt ihres zuerst. Außer...« Toms Miene verfinsterte sich wieder. »Tom? Außer was?« »Das Baby...« »Was ist mit dem Baby?« Tom sah sich verwirrt um. »Haben wir nicht Wölfe geschossen? Bin ich eingeschlafen, Stu?« Stu zwang sich zu einem Lächeln. »Ein wenig, Tom.« »Ich habe von einem Elefanten geträumt. Komisch, was?« »Ja.« Was ist mit dem Baby? Was ist mit Fran? Er begann den Verdacht zu hegen, daß sie zu spät kommen würden; daß was immer Tom gesehen hatte, geschehen würde, bevor sie ankamen. Drei Tage vor Neujahr war mit dem guten Wetter Schluß, und sie mußten in der kleinen Stadt Kittredge bleiben. Sie waren Boulder jetzt schon so nahe, daß diese weitere Verzögerung für sie eine bittere Enttäuschung war - selbst Kojak schien aufgeregt und ruhelos zu sein. »Können wir bald weiterfahren, Stu?« fragte Tom hoffnungsvoll. »Ich weiß es nicht«, sagte Stu. »Ich hoffe. Hätten wir nur zwei Tage länger schönes Wetter gehabt, hätte es gereicht, glaub' ich. Verdammt!« Er seufzte, zuckte die Achseln. »Na ja, vielleicht sind es nur Schneeschauer.« Aber es waren keine Schneeschauer, wie sich herausstellte. Es war der stärkste Sturm des Winters. Fünf Tage hielt der Schneefall an, und es bildeten sich Verwehungen, die an manchen Stellen drei, ja bis zu vier Meter hoch waren. Als sie sich am zweiten Januar ins Freie gruben, war die Sonne so klein und trübe wie eine angelaufene Kupfermünze, und die Landschaft hatte sich in eine endlose weiße Wüste verwandelt, in der keine markanten Punkte mehr zu erkennen waren. Der größte Teil des kleinen Einkaufs viertels der Stadt war zwar nicht vom Schnee begraben, aber unzugänglich. Der Wind hatte die Schneewehen und Schneedünen zu bizarren, gekrümmten Gebilden geformt. Sie hätten sich ebensogut auf einem anderen Planeten befinden können. Als das Wetter aufklart e, ging es langsamer voran als je zuvor. War es vorher nur lästig gewesen, ständig die Straße suchen zu müssen, so war es jetzt ein ernsthaftes Problem. Wiederholt blieb das Schneemobil stecken, und sie mußten es freischaufeln. Und am zweiten Tag des Jahres 1991 begann wieder das Güterzuggerumpel der Lawinen. Am vierten Januar erreichten sie die Stelle, wo die US 16 von der Interstate abzweigt und nach Golden führt, und obwohl keiner von ihnen es wußte - es hatte keine Träume oder Vorahnungen gegeben -, war dies der Tag, an dem Frannie Goldsmith' Wehen begannen. »Okay«, sagte Stu, als sie an der Abzweigung anhielten. »Jetzt haben wir wenigstens keine Mühe mehr, die Straße zu finden. Sie ist aus dem soliden Fels herausgesprengt worden. Wir hatten allerdings verdammtes Glück, die Abzweigung zu finden.« Auf der Straße zu bleiben war leicht, aber durch den Tunnel zu kommen war schwer. Manchmal mußten sie die Überreste von Lawinen beseitigen. Und auf der blanken Straße in den Tunneln brüllte und knatterte das Schneemobil gequält. Schlimmer noch, es war unheimlich in den Tunneln - was ihnen sowohl Larry als auch der Mülleimermann hätte sagen können. Sie waren schwarz wie Grubenschächte, von dem schmalen Lichtkegel des Schneemobils abgesehen, denn beide Ausgänge waren meistens von Schnee verschüttet. In den Tunneln fühlte man sich wie in einen dunklen Kühlschrank eingesperrt. Es ging quälend langsam voran, und die Ausfahrt am anderen Ende zu schaffen, erforderte einigen technischen Einsatz. Stu hatte Angst davor, auf einen Tunnel zu stoßen, der unpassierbar war, ganz gleich, welche Mühe sie sich auch gaben, die Wagen, die in den Tunnels steckengeblieben waren, aus dem Weg zu schieben oder zu heben. Denn wenn das passierte, wären sie gezwungen, umzukehren und wieder die Interstate zu befahren. Und das würde bedeuten, daß sie mindestens eine Woche Zeit verlören. Das Schneemobil einfach stehenzulassen, kam nicht in Frage - dies wäre einer qualvollen Methode des Selbstmords gleichgekommen. Und dabei war Boulder nahe, so nahe. Am siebten Januar, zwei Stunden nachdem sie sich aus einem weiteren Tunnel herausgewühlt hatten, stand Tom hinten im Schneemobil auf und zeigte nach vorn. »Was ist das, Stu?« Stu war müde und mißmutig, nicht voll auf der Höhe. Die Träume kamen nicht mehr, aber auf perverse Weise war das noch beängstigender, als wenn sie kamen. »Steh während der Fahrt nicht dauernd auf, Tom. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Am Ende fällst du hinten runter und kopfüber in den Schnee und...« »Ja, aber was ist es? Es sieht wie eine Brücke aus. Haben wir denn irgendwo einen Fluß gesehen, Stu?« Stu schaute hin, nahm das Gas weg und hielt an. »Was ist es?« fragte Tom besorgt. »Die Überführung«, murmelte Stu. »Ich... ich kann es einfach nicht glauben...« »Überführung? Überführung?« Stu drehte sich um und packte Tom bei den Schultern. »Die Überführung bei Golden, Tom! Das ist die 119 da oben, Route 119! Die Straße nach Boulder! Wir sind nur noch zwanzig Meilen von der Stadt entfernt. Vielleicht noch weniger.« Endlich begriff Tom. Sein Unterkiefer klappte herunter, und er machte ein so komisches Gesicht, daß Stu laut lachen mußte. Er klopfte Tom auf die Schulter. Nicht einmal der dumpfe Schmerz in seinem Bein störte ihn mehr. »Sind wir wirklich fast zu Hause, Stu?« »Ja, ja, jaaaaa!« Sie faßten sich an den Händen und tanzten unbeholfen im Schnee herum. Sie bewarfen sich mit dem Zeug. Kojak schaute erstaunt zu... aber nach einer Weile sprang er ebenso ausgelassen im Schnee herum, bellend und schwanzwedelnd. Sie übernachteten in Golden und stießen am frühen Morgen auf die 119 in Richtung Boulder. Keiner von ihnen hatte in der letzten Nacht gut geschlafen. Eine solche Vorfreude hatte Stu in seinem ganzen Leben noch nicht empfunden ... aber in diese Vorfreude mischte sich die quälende Sorge um Frannie und das Baby. Etwa um ein Uhr nachmittags verringerte sich die Geschwindigkeit des Schneemobils plötzlich, und dann bewegte es sich nur noch ruckweise vorwärts. Stu stellte den Motor ab und griff nach dem Reservekanister, der in Kojaks kleiner Kabine hing. »Oh, verdammt!« sagte er, als er spürte, wie leicht das Ding war. »Was ist denn los, Stu?« Als sie sich am zweiten Januar ins freie gruben, war die Sonne so klein und trübe wie eine angelaufene Kupfermünze, und die Landschaft hatte sich in eine endlose weiße Wüste verwandelt, in der keine markanten Punkte mehr zu erkennen waren. »Ich! Ich bin los. Ich wußte, daß dieser verdammte Kanister leer war, und ich hab' vergessen, ihn wieder zu füllen. Ich war so verdammt aufgeregt. Wie gefällt dir diese Dummheit?« »Wir haben keinen Sprit mehr?« Stu warf den leeren Kanister weg. »Worauf du dich verlassen kannst. Wie konnte ich nur so dämlich sein?« »Wahrscheinlich hast du an Frannie gedacht. Und was machen wir nun, Stu?« »Wir gehen oder versuchen es wenigstens. Du mußt deinen Schlafsack mitnehmen. Wir teilen die Konserven unter uns auf. Das Schutzzelt müssen wir hierlassen. Es tut mir leid, Tom. Das Ganze war mein Fehler.« »Ist schon in Ordnung, Stu. Was ist mit den Planen?« »Ich glaube, die lassen wir besser hier, alter Junge.« An diesem Tag erreichten sie Boulder nicht mehr. Statt dessen kampierten sie im Freien. Als es dämmerte, machten sie halt. Das Waten durch den Pulverschnee hatte sie sehr angestrengt und sie, obwohl er so leicht schien, buchstäblich zum Kriechgang verurteilt. An diesem Abend hatten sie kein Feuer. Es lag kein Holz herum, und sie waren zu erschöpft, welches auszugraben. Um sie herum riesige Schneewehen. Auch als es schon völlig dunkel war, erkannte Stu noch keinen Lichtschein am Horizont, wie sehr er auch danach Ausschau hielt. Sie aßen kalt zu Abend, und anschließend verschwand Tom ohne jedes weitere Wort sofort in seinem Schlafsack. Stu war ebenfalls müde, und sein Bein schmerzte entsetzlich. Ich kann noch von Glück sagen, wenn ich mir das Bein nicht endgültig versaut hab', dachte Stu. Aber morgen abend würden sie in Boulder sein, in richtigen Betten schlafen ... ein verlockender, tröstlicher Gedanke. Als er in seinen Schlafsack kroch, stieg eine beunruhigende Vorstellung in ihm auf: Sie erreichen endlich Boulder, und Boulder war leer - so leer, wie Grand Junction gewesen war und Avon und Kittredge. Leere Häuser, leere Läden, Gebäude, die Dächer unter der Schneelast eingebrochen. Die Straßen unter Schneewehen erstickt. Kein Geräusch. Nur das Tropfen, wenn bei einem der winterlichen Wärmeeinbrüche der Schnee schamhaft schmilzt. Und die waren in Boulder nicht so selten - Stu hatte mal gelesen, daß dort im Winter die Temperaturen plötzlich auf zwanzig Grad ansteigen konnten. Aber alle würden verschwunden sein, wie die Leute, von denen man träumt, verschwunden sind, wenn man aufwacht. Weil es in der ganzen Welt niemanden mehr gab außer Stu Redman und Tom Cullen. Es war ein verrückter Gedanke, aber er konnte ihn nicht abschütteln. Er kroch aus seinem Schlafsack und schaute nach Norden und hoffte, den schwachen Lichtschein am Horizont zu sehen, den man immer sieht, wenn in der Nähe viele Menschen wohnen. Er müßte doch irgend etwas erkennen können. Er versuchte, sich daran zu erinnern, welche Bevölkerungszahl Glen für den Winter angenommen hatte, wenn der Schnee das Reisen unmöglich machte. Aber er kriegte die Zahl nicht mehr zusammen. Achttausend? Hatte Glen diese Zahl genannt? Achttausend Menschen waren nicht viel; mit starkem Lichtschein war bei einer solchen Einwohnerzahl nicht zu rechnen, selbst bei voller Beleuchtung in den Häusern und auf den Straßen. Vielleicht... Vielleicht solltest du ein wenig schlafen und den ganzen Unsinn vergessen. Morgen ist noch ein Tag. Er legte sich hin, und nachdem er sich ein paar Minuten unruhig hin und her gewälzt hatte, forderte die grausame Erschöpfung ihr Recht. Er schlief. Und er träumte, er sei in Boulder. In Boulder im Sommer, und die Rasen waren gelb und tot von der Hitze und weil sie kein Wasser hatten. Das einzige Geräusch war eine offene Tür, die im Wind hin und her schlug. Sie waren alle weg. Selbst Tom war verschwunden. Frannie! rief er, aber nur der Wind antwortete. Und die Tür, die immer wieder gegen den Pfosten schlug. Am nächsten Tag um zwei Uhr hatten sie sich wieder ein paar Meilen weitergekämpft. Mal ging der eine, mal der andere voraus. Stu glaubte allmählich, daß sie noch einen weiteren Tag unterwegs sein würden. Aber nur er war schuld daran, daß es so langsam ging. Sein Bein machte ihm Schwierigkeiten. Bald werde ich kriechen müssen, dachte er. Meistens war Tom vorausgegangen, um den Weg zu spuren. Als sie Rast machten, um eine kalte Konserve zu essen, fiel Stu ein, daß er Frannie noch nie in hochschwangerem Zustand gesehen hatte. Vielleicht habe ich die Chance noch. Aber eigentlich glaubte er nicht mehr daran. Er war mehr und mehr davon überzeugt, daß sich alles ohne ihn abgespielt hatte... zum Guten oder zum Schlechten. Jetzt, eine Stunde nach dem Essen, beschäftigte er sich immer noch so sehr mit seinen eigenen Gedanken, daß er fast Tom umgerannt hätte, der vor ihm stehengeblieben war. »Gibt's Probleme?« fragte Stu und rieb sich das Bein. »Die Straße«, sagte Tom, und Stu trat rasch heran, um es sich anzusehen. Nachdem er lange erstaunt dagestanden hatte, sagte Stu: »Da will ich mich doch glatt teeren lassen.« Sie standen auf einer verharschten Schneeverwehung, die fast drei Meter hoch war. Der Hang fiel steil zu einer Straße ab, auf der kein Schnee zu sehen war, und rechts sahen sie ein Schild: BOULDER CITY LIMITS. Stu fing an zu lachen. Er setzte sich in den Schnee und warf den Kopf zurück. Er brüllte vor Lachen und kümmerte sich nicht um Toms erstauntes Gesicht. Endlich sagte er: »Sie haben die Straßen mit Schneepflügen geräumt. Verstehst du? Wir haben es geschafft, Tom! Wir haben es geschafft! Kojak! Komm her!« Stu warf die restlichen Hundekuchen in den Schnee, und Kojak verschlang sie, während Stu rauchte und Tom auf die Straße starrte, die wie die Fata Morgana eines Verrückten nach ungezählten Meilen Schnee plötzlich vor ihnen auftauchte. »Wir sind wieder in Boulder«, murmelte Tom leise. »Das sind wir wirklich. C-I-T-Y-L-I-M-I-T-S, das buchstabiert man Stadtgrenze, meine Fresse, ja.« Stu schlug ihm auf die Schulter und warf seine Zigarette weg. »Also los, Tom. Laß und schnellstens nach Hause gehen.« Gegen vier fing es wieder an zu schneien. Um sechs war es dunkel, und der schwarze Teer der Straße war ein gespenstisches Weiss unter ihren Füßen. Stu humpelte wieder stark. Er wankte nur noch. Tom fragte ihn, ob er sich ein wenig ausruhen wolle, aber Stu schüttelte nur den Kopf. Um acht Uhr herrschte wieder dichtes Schneetreiben. Ein- oder zweimal verloren sie die Orientierung und irrten in den Schneewehen am Straßenrand umher, bis sie die Richtung wieder gefunden hatten. Es wurde glatt. Tom stürzte zweimal, und dann, gegen Viertel nach acht, fiel Stu auf sein verletztes Bein. Er biß die Zähne zusammen, um nicht laut zu stöhnen. Tom rannte sofort herbei, um ihm zu helfen. »Es ist nichts passiert«, sagte Stu und stand wieder. Zwanzig Minuten später hörten sie eine junge nervöse Stimme aus der Dunkelheit rufen. »H-halt! W-wer da?« Sie blieben wie angewurzelt stehen. Kojak knurrte, und sein Nackenfell richtete sich auf. Tom hielt den Atem an. Und beim Heulen des Windes gerade noch wahrzunehmen, hörte Stu einen Laut, der ihn schaudern ließ: Ein Gewehr wurde durchgeladen. Wachen. Sie haben Wachen aufgestellt. Es wäre sehr komisch, nach dieser langen Reise vor dem Shopping Center in Table Mesa erschossen zu werden. Wirklich komisch. Ein Witz, der sogar Randall Flagg gefallen würde. »Stu Redman!« brüllte er in die Dunkelheit. »Hier ist Stu Redman!« Er schluckte, und in seiner Kehle klickte es hörbar. »Wer ist denn da drüben?« Dummes Zeug. Den kenn' ich doch sowieso nicht... Aber die Stimme, die durch den Schnee herüberdrang, klang vertraut. »Stu? Stu Redman?« »Tom Cullen ist auch hier... verdammt noch mal, schießen Sie bloss nicht!« »Ist das vielleicht ein Trick?« Die Stimme schien Überlegungen anzustellen. »Es ist kein Trick! Tom, sag was.« »Hallo«, sagte Tom gehorsam. Eine Pause. Der Schnee wirbelte um sie herum, und der Sturm kreischte. Dann rief der Posten (ja, die Stimme klang vertraut): »Stu hatte in seiner alten Wohnung ein Bild an der Wand hängen. Was war das für ein Bild?« Stu überlegte fieberhaft. Er hatte dauernd nur das Geräusch beim Durchladen im Kopf. Mein Gott, dachte er, ich stehe hier im Schneesturm und muß mir überlegen, was für ein Bild im Zimmer meiner alten 'Wohnung hängt - in meiner alten Wohnung hat er gesagt. Fran muß also zu Lucy gezogen sein. Lucy hat sich über das Bild immer lustig gemacht. Sie sagte immer, John Wayne wartet schon auf diese Indianer, man sieht ihn nur nicht... »Ein Bild von Frederic Remington!« Er brüllte, so laut er konnte. »Es heißt >Auf dem Kriegspfadbehandelt<, denn ich glaube nicht, daß es einem von uns beiden je gelungen ist, den Verlauf dieser Krankheit auch nur im geringsten zu beeinflussen. Kann man das sagen, Dan?« »Ja.« Die Ich-will-Linie, die Stu schon kurz nach ihrer ersten Begegnung in New Hampshire aufgefallen war, erschien auf Frans Stirn. »Möchtest du nicht endlich zur Sache kommen, um Himmels willen?« »Das versuche ich, aber ich muß vorsichtig sein, und ich werde vorsichtig sein«, sagte George. »Es geht hier um das Leben deines Sohnes. Das Thema läßt sich nicht mit drei Worten abhandeln. Du mußt versuchen, unsere Gedankengänge zu verstehen. Captain Trips war eine Grippe, die das Immunsystem des Menschen überfordert. Jede Grippe - ich meine jetzt die alten Typen - hat einen anderen Erreger und taucht trotz Schutzimpfungen alle paar Jahre wieder auf. Da gibt es den A-Typ, genannt Hongkong-Grippe, und du läßt dich dagegen impfen. Aber zwei Jahre später kommt eine BTyp-Epidemie, und du wirst trotz Schutzimpfung krank, wenn du nicht auch gegen den B-Typ geimpft bist.« »Man kann die Grippe aber auch ohne Schutzimpfung überstehen«, warf Dan ein, »denn der Körper entwickelt seine eigenen Abwehrstoffe, aber bei Captain Trips verändert sich die Grippe selbst, sobald der Körper die entsprechenden Abwehrstoffe produziert hat. In dieser Hinsicht war der Erreger von Captain Trips dem AIDS-Virus ähnlicher als jedem normalen Grippevirus, gegen den unser Körper Abwehrmechanismen entwickelt hat. Und wie AIDS wechselte Captain Trips immer wieder die Form, bis der Körper zu sehr geschwächt war, um neue Antikörper zu produzieren. Das unabwendbare Ergebnis war der Tod.« »Warum haben wir es dann nicht bekommen?« fragte Stu. George sagte: »Das wissen wir nicht. Ich glaube auch nicht, daß wir es je erfahren werden. Aber wir sind sicher, daß die Leute, die die Seuche überlebt haben, die Krankheit nicht überwunden haben; sie haben sie einfach gar nicht bekommen. Das bringt uns zurück zu Peter. Dan?« »Ja. Der Schlüssel zu Captain Trips ist die Tatsache, daß die Erkrankten immer nur beinahe auf dem Weg zur Gesundung waren, aber niemals völlig. Peter zeigte die ersten Symptome achtundvierzig Stunden nach seiner Geburt. Es gab keinen Zweifel, daß es sich um Captain Trips handelte - die Symptome waren klassisch. Aber diese dunklen Verfärbungen am Hals, die, davon sind George und ich inzwischen überzeugt, das vierte und letzte Stadium der Krankheit einleiten - sind bei Peter nie eingetreten. Außerdem werden seine Remissionsperioden immer länger.« »Ich verstehe nicht«, sagte Fran verwirrt. »Was...« »Peters Immunsystem reagiert offenbar sehr schnell, sooft Captain Trips den Typ wechselt. Es besteht zwar immer noch die Möglichkeit, daß es zusammenbricht, aber Peters Körper ist nie in das letzte, kritische Stadium eingetreten. Es sieht jetzt fast so aus, als ob er es durchhält.« Wieder war es still im Zimmer. Dan sagte: »Wahrscheinlich hat er eine halbe Immunität von Ihnen geerbt, Fran. Er hat die Krankheit bekommen, aber wir glauben jetzt, daß er auch die Fähigkeit hat, sie zu überwinden. Wir nehmen an, daß Mrs. Wentworth' Zwillinge dieselbe Chance hatten, nur daß sie unter viel schlechteren Voraussetzungen geboren wurden - und ich glaube immer noch, daß sie vielleicht gar nicht an der Supergrippe gestorben sind, sondern an den Komplikationen, die sie hervorgerufen hat. Ich weiß, daß das nur ein sehr geringer Unterschied ist, aber er könnte entscheidend sein.« »Und wie steht es um die anderen Babys von Vätern, die nicht immun waren?« fragte Stu. »Wir nehmen an, daß sie alle dasselbe durchmachen müssen wie Ihr kleiner Peter jetzt«, sagte George. »Einige werden vielleicht sterben. Auch bei Peter mußten wir das zeitweise befürchten. Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis alle ungeborenen Kinder in der Freizone - und in der Welt - von Eltern stammen, die beide immun sind. Wie wird es diesen Kindern ergehen? Nun, es wäre geschmacklos, darauf Wetten abzuschließen, aber ich bin ziemlich sicher, daß wir das Spiel gewinnen. Aber jetzt müssen wir uns um Peter kümmern und ihn sehr sorgfältig beobachten.« »Und nicht nur wir allein. Die ganze Freie Zone bangt um ihn. Es ist in der Tat so, daß Peter das Kind der ganzen Freien Zone ist.« Fran flüsterte: »Ich möchte, daß er lebt, nur weil er mir gehört und weil ich ihn liebe.« Sie sah Stu an. »Und er ist meine Verbindung zur alten Welt. Er sieht Jess ähnlicher als mir, darüber bin ich froh. Das ist nur gerecht. Verstehst du, was ich meine, Liebster?« Stu nickte, und plötzlich schoß ihm ein absurder Gedanke durch den Kopf: wie gern er noch einmal mit Hap und Norm Bruett und Vic Palfrey zusammensitzen würde, ein Bier mit ihnen trinken und zuschauen, wie Vic sich eine von seinen stinkenden Zigaretten dreht, und ihnen erzählen, wie die ganze Sache ausgegangen ist. Sie hatten ihn immer den schweigsamen Stu genannt. Aber jetzt würde er so lange reden, bis ihnen die Ohren vom Kopf fielen. Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag. Er griff nach Frans Hand und spürte, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. »Wir müssen weiter«, sagte George und stand auf. »Wir werden Peter sorgfältig beobachten, Fran, und dich auf dem laufenden halten.« »Wann kann ich ihn haben, wenn... wenn er nicht...?« »Eine Woche«, sagte Dan. »Aber das ist so lang!« »Es wird für uns alle eine lange Woche werden. Wir haben einundsechzig schwangere Frauen in der Zone, und neun von ihnen haben ihre Babys vor der Supergrippe empfangen. Auch für diese Frauen wird es eine lange Woche werden. Stu ? Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.« Dan streckte ihm die Hand entgegen, und Stu schüttelte sie. Der Arzt verließ schnell das Zimmer. Ein Mann, der eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte und das auch gewissenhaft tat. George schüttelte Stu die Hand und sagte: »Sehen wir uns morgen nachmittag? Laß Laurie wissen, wann es dir am besten paßt!« »Um was geht es denn?« fragte Stu. »Um dein Bein«, sagte George. »Sieht nicht gut aus, stimmt's?« »Es geht.« »Stu?« sagte Frannie und richtete sich auf. »Was ist mit deinem Bein?« » Gebrochen, schlecht geschient, schief angewachsen«, sagte George. » Unangenehme Sache. Aber das Bein kann gerichtet werden.« »Ach...« sagte Stu. »Ach, nichts da! Zeig es mir, Stuart!« Die Ich-will-Linie war wieder da. »Später«, sagte Stu. George stand auf. »Melde dich bei Laurie, okay?« »Das wird er«, sagte Fran. Stu grinste. »Bestimmt«, sagte er. »Die Chefin hat's gesagt.« »Ich bin froh, daß du wieder da bist«, sagte George. Er schien noch tausend Fragen auf dem Herzen zu haben. Aber dann schüttelte er den Kopf und ging hinaus. Er machte die Tür fest hinter sich zu. »Laß mich mal sehen, wie du gehst«, sagte Frannie. Die Ich-willLinie stand noch zwischen ihren Brauen. »Ach, Frannie.« »Na los, zeig mir, wie du gehst.« Er ging ein Stück - wie ein Seemann, der versucht, auf schlingerndem Schiff die Balance zu halten. Als er sich zu ihr umdrehte, weinte sie. »Oh, Frannie, nicht weinen, Schatz!« »Ich muß«, sagte sie und schlug die Hände vors Gesicht. Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hände. »Nein, mußt du nicht.« Sie sah ihn mit tränennassen Augen an: »So viele Leute sind tot... Harold, Nick, Susan... und was ist mit Larry? Was ist mit Glen und Ralph?« »Ich weiß es nicht.« »Und was wird Lucy sagen? In einer Stunde wird sie hier sein. Sie kommt jeden Tag, Stu. Sie ist im vi erten Monat. Was willst du ihr sagen, wenn sie dich fragt?« »Sie sind drüben gestorben«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. »Das glaube ich. Ich weiß es, in meinem Herzen.« »Sag es nicht so«, bat Fran. »Nicht wenn Lucy hier ist. Es würde ihr das Herz brechen.« »Ich glaube, sie waren das Opfer. Gott verlangt immer nach Opfern. Seine Hände sind blutig davon. Warum? Ich weiß es nicht. Ich bin nicht besonders gescheit. Vielleicht haben wir selbst den Anstoss dazu gegeben. Ich weiß nur, daß die Bombe drüben explodiert ist und nicht hier und daß wir für eine Weile sicher sind. Für eine kleine Weile.« »Ist Flagg fort? Wirklich fort?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube... wir werden vor ihm auf der Hut sein müssen. Und irgendwann muß jemand den Ort finden, wo man die Seuchenbazillen gezüchtet hat. Er muß zugeschüttet und mit Salz bedeckt werden. Und dann muß darüber gebetet werden. Für uns alle.« Sehr viel später an diesem Abend, es war schon fast Mitternacht, schob Stu Fran in einem Rollstuhl den stillen Krankenhauskorridor entlang. Laurie Constable ging neben ihnen, und Fran hatte dafür gesorgt, daß Stu seinen Termin mit ihr vereinbarte. »Du siehst aus, als ob eigentlich du in diesem Rollstuhl sitzen müßtest, Stu Redman«, sagte Laurie. »Im Moment macht mir mein Bein keine Probleme!« Sie kamen an ein großes Fenster, durch das man in einen Raum sah, der himmelblau und rosa ausstaffiert war. Von der Decke hing ein großes Mobile. Aber nur ein Bettchen war belegt, in der ersten Reihe. Stu starrte fasziniert durch die Scheibe. GOLDSMITH -REDMAN, PETER, stand auf der Karte am Fußende des Bettchens. KÖRPERGEWICHT 3225 GRAMM, MUTTER FRANCES GOLDSMITH, VATER JESSIE RIDER (VERST.) Peter schrie. Sein Gesicht war rot, seine kleinen Hände zu Fäusten geballt. Auf dem Kopf hatte er eine erstaunliche Menge schwarzer Haare. Seine Augen waren blau, und er schien Stu direkt anzusehen, als wollte er ihn für all dies Elend verantwortlich machen. Auf der Stirn hatte er eine tiefe vertikale Falte... eine Ich-will-Linie. Frannie weinte wieder. »Frannie, stimmt was nicht?« »Die vielen leeren Bettchen«, sagte sie, und ihre Stimme wurde zum Schluchzen. »Das stimmt nicht. Er ist ganz allein. Kein Wunder, dass er weint. Stu, er ist ganz allein. Die vielen leeren Bettchen, mein Gott...« »Er wird nicht lange allein sein«, sagte Stu und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Und ich finde, er sieht aus, als könnte ein hübscher Junge aus ihm werden. Meinst du nicht auch, Laurie?« Aber Laurie hatte die beiden vor dem Fenster des Kinderzimmers allein gelassen. * Obwohl sein Bein dabei scheußlich schmerzte, kniete Stu sich neben Fran und umarmte sie ungeschickt. Von Staunen erfüllt schauten sie das Kind an, als sei es das erste, das je auf diese Welt kam. Nach einer Weile schlief Peter ein, die kleinen Händchen auf der Brust geballt. Und immer noch sahen sie ihn an... und staunten darüber, daß er überhaupt da war. 78 Maifeier  Endlich lag der Winter hinter ihnen. Er war lang gewesen, und Stu, dem Mann aus Ost-Texas, war er furchtbar hart vorgekommen. Zwei Tage nach seiner Rückkehr nach Boulder war sein rechtes Bein wieder gebrochen und gerichtet worden. Dieses Mal wurde es fest eingegipst. Der Gipsverband, der inzwischen aussah wie eine Landkarte, wurde erst Anfang April abgenommen. Es schien fast, als hätte jeder Einwohner der Zone sein Autogramm daraufgesetzt. Das war allerdings praktisch unmöglich, denn seit Anfang März gab es wieder Neuzugänge in Boulder - der Pilgerstrom begann wieder zu tröpfeln -, und an dem Tag, der in der alten Welt der letzte Termin für das Einreichen der Einkommensteuererklärung gewesen war, zählte die Freie Zone fast elftausend Seelen, jedenfalls nach Aussage von Sandy DuChiens, die jetzt in ihrem Volkszählungsbüro ein rundes Dutzend Leute beschäftigte und das Computerterminal der First Bank of Boulder zur Verfügung hatte. Jetzt standen Stu und Fran mit Lucy Swann am Picknick-Hang des Flagstaff Mountain und beobachteten das Maifeiertreiben. Es sah aus, als ob alle Kinder der Zone sich daran beteiligten (und auch nicht wenige von den Erwachsenen). Tom Cullen trug den mit Früchten und Spielsachen gefüllten Maikorb, an dem bunte Bänder flatterten. Das war Frans Idee gewesen. Tom hatte sich Bill Gehringer geschnappt, der sich eifrig an der Jagd beteiligte (obwohl er zuerst lautstark beteuert hatte, er sei zu alt für solche Kinderspiele), und die beiden hatten nun den jungen Upshaw geschnappt - oder hieß er Upson? Stu hatte Schwierigkeiten, die Namen zu behalten - und die drei stöberten Leo Rockway auf, der sich hinter dem Brentner-Felsen versteckt hatte. Tom selbst verpaßte ihm das Band. Die Jagd ging kreuz und quer durch den westlichen Teil Boulders. Gruppen von Kindern und Jugendlichen rannten in den immer noch ziemlich leeren Straßen umher. Tom schwang seinen Korb und jagte ihnen nach. Schließlich näherten sie sich wieder der Wiese am Flagstaff Mountain, wo die Sonne schien und ein warmer Wind wehte. Die Gruppe der »gefangenen« Kinder war jetzt über zweihundert Köpfe stark, und sie jagten das letzte halbe Dutzend Kinder, die noch »draußen« waren. Die Wildtiere, die hier sonst friedlich ästen, hatten längst die Flucht ergriffen. Zwei Meilen weiter oben, am Sunrise Amphitheater, wo Harold Lauder einst auf den richtigen Augenblick gewartet hatte, um in sein Walkie-Talkie zu sprechen, war ein riesiges Picknick vorbereitet worden. Mittags würden zwei- oder dreihundert Leute hier zusammensitzen und bei Erdnußbutter und Gelee-Sandwiches, Wildbret, Soleiern und Apfelkuchen nach Osten blicken. Dies würde wahrscheinlich die letzte große Massenversammlung der Leute in der Freien Zone sein, es sei denn, sie gingen das nächste Mal nach Denver in das große Stadion, wo die Broncos einst Football gespielt hatten. Jetzt, im Mai, war das Tröpfeln des Pilgerstroms inzwischen zu einer Flut von Einwanderern angewachsen. Seit dem 15. April waren weitere achttausend Menschen dazugekommen, und Boulder hatte jetzt ungefähr neunzehntausend Einwohner - aber genau konnte das keiner sagen, denn Sandys Büro kam mit dem Zählen nicht nach. Ein Tag mit nur fünfhundert Neuzugängen war eine Seltenheit. Peter, der in seinem Laufställchen saß, das Stu mit heraufgebracht hatte, fing kräftig an zu schreien. Fran drehte sich um, aber Lucy, mit einem riesigen Bauch und im achten Monat, war schneller gewesen. »Ich warne dich«, sagte Fran. »Es sind die Windeln. Das höre ich am Klang seiner Stimme.« »Ein bißchen A-a wird mich nicht gleich umbringen.« Lucy hob den empört schreienden Peter aus seinem Ställchen und schüttelte ihn sanft hin und her. »Hallo, Baby, was ist denn los? Gefällt dir irgendwas nicht?« Peter hörte auf zu schreien. Lucy setzte ihn auf eine Wolldecke, die als Wickeltisch dienen sollte. Peter fing an herumzukrabbeln. Lucy drehte ihn auf den Rücken, um ihm sein blaues Cordhöschen auszuziehen. Peter strampelte fröhlich mit den Beinen. »Warum macht ihr nicht einen kleinen Spaziergang?« fragte Lucy. Sie lächelte Fran an, aber Stu fand, daß es ein trauriges Lächeln war. »Warum eigentlich nicht«, meinte Fran und hängte sich bei Stu ein. Er ließ sich von ihr führen. Sie gingen über die Straße und dann auf eine grüne Wiese, die unter dem klaren blauen Himmel mit seinen segelnden weißen Wolken ziemlich steil anstieg. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Stu. »Wie bitte?« Aber Frans Gesichtsausdruck war ein klein wenig zu unschuldig.« »Dieser Blick.« »Welcher Blick?« »Ich erkenne einen Blick, wenn ich ihn sehe«, sagte Stu. »Ich weiss zwar nicht immer, was er bedeuten soll, aber daß er etwas bedeuten sollte, das weiß ich.« »Komm, setz dich zu mir, Stu.« »So ist das also.« Sie setzten sich und schauten in die Ferne, wo das Land nach Osten immer weiter abfiel, um schließlich in blaßblauem Dunst zu verschwimmen. Irgendwo da hinten lag Nebraska. »Es ist ein ernstes Problem, Stuart. Und ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« »Fang einfach an und erzähl es mir«, sagte er und nahm ihre Hand. Aber Fran sagte nichts. Statt dessen fing es in ihrem Gesicht an zu arbeiten. Ihre Mundwinkel zuckten, und eine Träne fiel herab. »Fran...« »Nein, ich will nicht weinen!« sagte sie ärgerlich. Und dann gab es mehr Tränen, und sie fing heftig an zu schluchzen. Erschrocken legte Stu einen Arm um sie und wartete. Als sie sich etwas beruhigt hatte, sagte er: »Jetzt sag mir, was los ist, Fran.« »Ich habe Heimweh, Stu. Ich will zurück nach Maine.« Hinter ihnen lachten und schrien die Kinder. Stu sah Fran verblüfft an. Dann grinste er etwas unsicher. »Ist das alles? Ich dachte schon, du hättest beschlossen, dich von mir scheiden zu lassen. Das war das mindeste, was ich befürchtet hatte. Obwohl wir ja bisher ohne den Segen der Kirche und des Staates ausgekommen sind.« »Ohne dich gehe ich nirgendwohin.« Sie wischte sich die Augen mit einem Papiertaschentuch ab. »Weißt du das nicht?« »Das weiß ich, Fran.« »Aber ich möchte zurück nach Maine. Ich träume davon. Träumst du nie von Ost-Texas, Stu? Arnette?« »Nein«, sagte er wahrheitsgemäß. »Ich brauche Arnette nicht, um glücklich zu leben und glücklich zu sterben. Möchtest du nach Ogunquit, Frannie?« »Vielleicht. Kann sein. Aber nicht gleich. Der Westen von Maine ist sehr schön. Sie nannten es das Seengebiet. Als wir dich in New Hampshire trafen, Harold und ich, da waren wir ganz in der Nähe. Es gibt dort ein paar sehr schöne Ortschaften, Stu. Bridgeton... Sweden... Castle Rock. Die Seen müßten jetzt voller Fische sein, könnte ich mir vorstellen. Vielleicht finden wir später mal dort an der Küste ein neues Zuhause. Aber nicht schon im ersten Jahr. Da gibt es zu viele Erinnerungen. Das könnte ich am Anfang nicht ertragen. Das Meer ist zu groß.« Sie blickte auf ihre Hände. »Wenn du hierbleiben willst... ihnen helfen, hier alles in Gang zu bringen... Ich kann das verstehen. Die Berge sind auch schön, aber... ich fühle mich hier nicht zu Hause.« Er schaute nach Osten, und plötzlich erkannte er den Grund für die Unruhe, die ihm seit der Schneeschmelze zu schaffen machte: Es war der Wunsch weiterzuziehen. Hier gab es zu viele Menschen; nicht so viele, daß man sich gegenseitig auf die Füße trat, aber es fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. Es gab Zoner (so nannten sie sich mittlerweile), denen das nichts ausmachte - einige schienen es sogar zu genießen. Zum Beispiel Jack Jackson, der erste Mann des neuen Komitees der Freien Zone (dessen Mitgliederzahl inzwischen auf neun erhöht worden war). Oder Brad Kitchner - Brad hatte Dutzende von Projekten laufen und genoß es, all die vielen Helfer in Bewegung zu halten. Es war seine Idee gewesen, eine der Fernsehstationen in Denver in Betrieb zu nehmen. Jetzt flimmerten jeden Tag von abends sechs bis nachts um eins alte Filme über die Bildschirme, sowie eine zehnminütige Nachrichtensendung um neun Uhr. Und der Mann, der während Stus Abwesenheit seinen Posten als Ordnungshüter übernommen hatte, Hugh Petrella, war ihm ausgesprochen unsympathisch. Allein die Tatsache, daß Petrella sich nach dem Posten gedrängt hatte, fand Stu abstoßend. Er war ein harter, puritanischer Mann mit einem Gesicht, das aussah, als sei es mit dem Beil modelliert. Er hatte siebzehn Helfer und erklärte auf jeder Versammlung, daß er mehr brauche - wenn Glen hier wäre, dachte Stu, würde er sagen, daß der endlose amerikanische Kampf zwischen dem Gesetz und der Freiheit des Individuums wieder begonnen hat. Petrella war kein schlechter Mensch, aber er war hart... und sein fester Glaube, daß jedes Problem sich per Gesetz lösen läßt, machte ihn sicher zu einem besseren Polizeichef, als Stu es je hätte sein können. Das war jedenfalls Stus Ansicht. »Ich weiß, daß man dir einen Sitz im Komitee angeboten hat«, sagte Fran zögernd. »Ich habe das Gefühl, es ist wohl mehr als Ehrenamt zu verstehen. Du nicht?« Fran wirkte erleichtert. »Nun...« »Ich glaube, die wären ganz froh, wenn ich ablehnte. Ich bin der letzte Vertreter des alten Komitees. Und wir waren ein Krisenkomitee. Jetzt gibt es keine Krise mehr. Und was ist mit Peter, Frannie?« »Ich denke, im Juni wird er alt genug sein, um auf Reisen zu gehen. Ich möchte sowieso warten, bis Lucy ihr Baby hat.« Seit Peters Geburt am 4. Januar waren noch achtzehn Kinder in der Freien Zone zur Welt gekommen. Vier waren gestorben. Den anderen ging es gut. Und jetzt würde es nicht mehr lange dauern bis zur Geburt des ersten Babys, dessen beide Eltern gegen die Grippe immun waren. Vielleicht würde Lucy die erste sein. Ihr Termin war der 14. Juni. »Was hältst du davon, wenn wir am ersten Juli abreisen?« fragte Stu. Fran strahlte. »Du willst es auch? Wirklich?« »Sicher.« »Du sagst es nicht nur, um mir einen Gefallen zu tun?« »Nein«, sagte er. »Es gibt noch mehr Leute, die fort wollen. Nicht viele. Noch nicht. Aber einige schon.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn. »Vielleicht wird es nur eine Urlaubsreise«, sagte sie. »Aber vielleicht... vielleicht wird es uns auch gefallen.« Sie sah ihn schüchtern an. »Vielleicht gefällt es uns so, daß wir bleiben wollen.« Er nickte. »Vielleicht.« Aber er fragte sich, ob es ihnen gefallen würde, jahrelang an demselben Ort zu bleiben. Er schaute zu Lucy und Peter hinüber. Lucy saß auf der Wolldecke und ließ Peter wie einen Gummiball auf und ab hüpfen. Er kicherte und versuchte, Lucys Nase zu greifen. »Hast du daran gedacht, daß er krank werden könnte? Und du. Was ist, wenn du wieder schwanger wirst?« Sie lächelte. »Es gibt Bücher. Die können wir beide lesen. Wenn wir Angst vor dem Leben haben, können wir lieber gleich damit aufhören.« »Du hast recht.« »Bücher und Medikamente. Wir müssen lernen, sie richtig zu gebrauchen. Wir können auch lernen, uns unsere eigenen Medikamente zu machen. Und was Krankheit und Tod betrifft...« Sie sah den Kindern nach, die verschwitzt und außer Atem über die Wiese zum Picknickplatz hinaufliefen. »Das wird es hier auch geben. Erinnerst du dich an Rieh Moffat?« Er nickte. »Und an Shirley Hammett?« »Ja.« Shirley war im Februar an einem Schlaganfall gestorben. Frannie nahm seine Hände. Ihre Augen strahlten. »Laß uns das Risiko eingehen und unser Leben so leben, wie es uns gefällt.« »Ja, Fran. Das hört sich gut an. Das hört sich richtig gut an.« »Ich liebe dich, Ost-Texaner.« »Ich dich auch, Fran.« Peter fing wieder an zu weinen. »Laß uns nachsehen, was unserem kleinen Tyrannen fehlt.« Frannie stand auf und wischte sich ein paar Grashalme von der Hose. »Er ist beim Krabbeln auf die Nase gefallen«, sagte Lucy und reichte ihn Fran. »Armes Baby.« »Armes Baby«, sagte auch Fran und drückte ihn an sich. Er lehnte seinen Kopf vertrauensvoll an Frans Schulter, blickte zu Stu auf und lächelte. Stu lächelte zurück. »Hallo, Kleiner«, sagte er, und Peter lachte. Lucy sah Frannie an, dann Stu, und dann wieder Frannie. »Ihr wollt gehen, habe ich recht?« sagte sie schließlich. »Du hast ihn dazu überredet.« »Ich glaube, das hat sie«, sagte Stu. »Wir werden aber noch lange genug bleiben, um deinen Stammhalter zu begrüßen.« »Das freut mich«, sagte Lucy. In der Ferne fing eine Glocke an zu läuten, in kräftigen, klangvollen Tönen. »Das Picknick fängt an«, sagte Lucy und stand auf. Sie tätschelte ihren gigantischen Bauch. »Hörst du das, Junior? Es gibt was zu essen. Au, nicht treten! Ich geh' ja schon.« Stu und Fran standen auch auf. »Hier. Du nimmst den Jungen«, sagte Fran. Peter war eingeschlafen. Die drei gingen gemeinsam zum Sunrise Amphitheater hinauf. Dämmerung an einem Sommerabend  Als die Sonne unterging, saß sie auf der Veranda und schaute zu, wie Peter begeistert auf dem Hof im Sand herumkrabbelte. Stu sass in einem Rohrstuhl, dessen Sitz vom jahrelangen Gebrauch schon ganz ausgebeult war. Neben ihm zur Linken, im Schaukelstuhl, sass Fran. Im Hof zeichnete das letzte Tageslicht den Schatten des Schaukelreifens in den Sand. »Hier hat sie lange gelebt, nicht wahr?« sagte Fran leise. »Sehr, sehr lange«, sagte Stu und zeigte auf Peter. »Er macht sich unheimlich dreckig.« »Hier gibt es Wasser. Sie hatte eine Handpumpe. Man muß sie nur bedienen. Sie hatte alles, was man braucht, Stuart.« Er nickte und zog schweigend an seiner Pfeife. Peter sah sich um, um sich zu vergewissern, daß sie noch da waren. »Hallo, Baby«, sagte Stu und winkte. Peter fiel um und richtete sich wieder auf, um von neuem im Kreis herumzukriechen. Wo der Feldweg zwischen wildem Mais endete, stand ein kleiner Winnebago-Campingwagen mit einer Abschleppvorrichtung. Sie hielten sich zwar an Nebenstraßen, aber es kam doch ziemlich oft vor, daß sie einen Wagen aus dem Weg räumen mußten. »Fühlst du dich einsam?« fragte Fran. »Noch nicht. Vielleicht später.« »Macht dir das Baby Sorgen?« Fran strich sich über ihren absolut flachen Bauch. »Nein.« »Es wird Peter auf die Nase hauen.« »Dann wird Peter zurückhauen. Und Lucy hat Zwillinge.« Er lachte. »Kannst du dir das vorstellen?« »Ich habe sie gesehen. Und Sehen und Glauben, sagt man. Was glaubst du, wann wir in Maine sind, Stu?« Er zuckte die Achseln. »Ende Juli vielleicht. Jedenfalls früh genug, um uns auf den Winter vorzubereiten. Hast du Angst?« »Nein«, sagte sie und stand auf. »Sieh dir den Dreckspatz an.« »Ich habe dich gewarnt.« Er blickte ihr nach, wie sie die Verandastufen hinunterging und das Baby aufhob. Er saß dort, wo Mutter Abagail oft und lange gesessen hatte, und dachte an das Leben, das vor ihnen lag. Er glaubte, dass sie es richtig gemacht hatten. Irgendwann würden sie sicher nach Boulder zurückkehren. Wenn auch vielleicht nur, damit ihre Kinder Gleichaltrige kennenlernen, sich einen Partner suchen, heiraten und selbst Kinder zeugen konnten. Aber vielleicht würde Boulder auch zu ihnen kommen. Einige Leute hatten sich sehr genau nach ihren Plänen erkundigt, sie regelrecht ausgefragt... aber der Ausdruck in ihren Augen war nicht ärgerlich oder ablehnend gewesen, sondern sehnsüchtig. Stu und Fran waren offensichtlich nicht die einzigen Reiselustigen. Harry Dunbarton, der einstige Brillenverkäufer, hatte von Minnesota gesprochen, und Mark Zellman von Hawaii. Ausgerechnet. Er wollte fliegen lernen und nach Hawaii ziehen. »Mark, du wirst dich umbringen!« hatte Fran geschimpft. Aber Mark hatte nur grinsend gesagt: »Ausgerechnet du sagst mir das, Fran?« Und Stan Nogotny hatte nachdenklich erklärt, er würde am liebsten nach Süden gehen, vielleicht ein paar Jahre in Acapulco leben, dann vielleicht weiterziehen nach Peru. »Ich will dir mal was sagen, Stu«, hatte er gesagt, »alle diese Leute hier machen mich so nervös wie einen Einbeinigen in einem Arschtritt-Wettbewerb. Von einem Dutzend Leuten kenne ich kaum einen, und nachts verriegeln sie ihre Türen... das kannst du mir gern glauben, es ist eine Tatsache. Wer mich so reden hört, wird wohl kaum glauben, daß ich sechzehn Jahre lang in Miami gelebt habe. Natürlich habe ich da auch jede Nacht mein Haus verriegelt, aber das war eine Gewohnheit, die ich verdammt gern aufgegeben habe! Egal - es wird mir hier einfach zu eng. Ich denke viel an Acapulco. Wenn ich nur auch Janey davon überzeugen könnte...« Es wäre sicher nicht das schlechteste, dachte Stu, während er Fran beim Wasserpumpen beobachtete, wenn die Freie Zone auseinanderfiele. Das würde auch Glen Bateman sagen, da war er ganz sicher. Sie hat ihren Zweck erfüllt, würde Glen sagen. Besser, sie löst sich auf, bevor... Bevor was? Ach ja, auf der letzten Versammlung des Komitees vor ihrer Abreise hatte Hugh Petrella verlangt, daß seine Hilfssheriffs bewaffnet würden, und er hatte die Ermächtigung dazu erhalten. Während ihrer letzten Woche in Boulder war es das Thema gewesen - und jeder hatte Partei ergriffen. In den ersten Junitagen war es zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Betrunkenen und einem Hilfssheriff gekommen, und dabei war der Hilfssheriff durch das Spiegelglasfenster des Broken Drum, einer Bar in der Pearl Street, geflogen. Er brauchte danach eine Bluttransfusion und mußte mit mehr als dreißig Stichen wieder zusammengeflickt werden. Petrellas Argument war gewesen, daß die ganze Sache nie passiert wäre, wenn sein Mann den Betrunkenen mit einem Revolver hätte einschüchtern können. Und das war die Streitfrage, die heftig diskutiert wurde. Es gab eine Menge Leute (unter ihnen Stu, der allerdings seine Meinung meistens für sich behielt), die glaubten, daß es bei diesem Zwischenfall einen toten Trunkenbold statt eines verwundeten Hilfssheriffs gegeben hätte, wenn dieser bewaffnet gewesen wäre. Was passiert, wenn man die Hilfssheriffs mit Waffen ausrüstet, hatte sich Stu gefragt. Wie geht es weiter? Und er hörte die dozierende, etwas trockene Stimme Glen Batemans antworten: Man muß ihnen bessere Waffen geben. Und Autos. Und wenn man unten in Chile eine Freizonengesellschaft entdeckt, oder oben in Kanada, dann macht man Hugh Petrella vorsichtshalber zum Verteidigungsminister, und vielleicht schickt man Suchtrupps aus, denn schließlich... Das Zeug liegt ja frei herum, wartet nur darauf, aufgelesen zu werden. »Wir müssen ihn zu Bett bringen«, sagte Fran, die mit dem Baby im Arm die Verandastufen hochstieg. »Gut.« »Was brütest du so finster vor dich hin?« »Hab' ich das?« »Ganz bestimmt.« Er schob die Finger in die Mundwinkel und zog die Lippen zu einem Lächeln in die Breite. »Besser?« »Viel besser. Hilf mir, ihn zu Bett zu bringen.« »Es ist mir ein Vergnügen.« Als er ihr in Mutter Abagails Haus folgte, dachte er, es würde besser sein, viel besser, wenn die Menschen hier sich trennten und sich zerstreuten. Organisation schien immer die Ursache des Problems zu sein. Wenn die Zellen sich zusammenklumpten und dunkel wurden. Man brauchte den Polizisten keine Waffen zu geben, solange die Polizisten sich an die Namen erinnern konnten ... an die Gesichter... Fran zündete eine Kerosinlampe an, und sie verbreitete ein weiches gelbes Licht. Peter war still geworden. Die Augen fielen ihm schon fast zu. Er hatte sich müdegekrabbelt. Fran zog ihm sein Nachthemd an. Wir müssen versuchen, Zeit zu gewinnen, dachte Stu. Peters Lebenszeit, die Lebenszeit seiner Kinder, vielleicht die meiner Urenkel. Bis zum Jahre 2100, vielleicht. Vielleicht auc h weniger. Zeit für unsere arme alte Mutter Erde, sich ein bißchen zu regenerieren. Eine Ruhepause. »Was?« fragte Fran, und er merkte, daß er laut vor sich hin gemurmelt hatte. »Eine Ruhepause«, wiederholte er. »Was soll das heißen?« »Alles«, sagte er und nahm ihre Hand. Er blickte auf das schlafende Kind und dachte: Wenn wir ihm erzählen, was passiert ist, wird er es vielleicht seinen Kindern weitererzählen. Wird sie warnen. Liebe Kinder, dieses Spielzeug bedeutet Tod - Feuertod, Strahlenkrankheit und schwarze Seuche, an der man erstickt. Diese Spielzeuge sind gefährlich. Der Teufel in den Köpfen der Menschen hat Gott die Hand geführt, als die Menschen sie herstellten. Spielt nicht mit diesem Spielzeug, liebe Kinder. Bitte. Tut das niemals. Nie wieder. Bitte lernt aus unseren Fehlern. Laßt euch diese leere Welt eine Warnung sein. »Frannie«, sagte er und wandte sich zu ihr um. »Was ist, Stuart?« » Glaubst du... glaubst du, daß die Menschen jemals vernünftig werden ?« Sie sah ihn schweigend an. Die Kerosinlampe flackerte. Ihre Augen schienen sehr blau. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. Sie schien mit ihrer Antwort nicht zufrieden zu sein; sie schien mit sich zu kämpfen, etwas hinzuzufügen, um ihre Antwort zu erhellen, und konnte nur wiederholen: Ich weiß es nicht. DER KREIS SCHLIESST SICH »Wir brauchen Hilfe, dachte der Dichter.« Edward Dorn Er erwachte in der Dämmerung. Er hatte die Stiefel an. Er setzte sich auf und sah sich um. Er befand sich an einem Strand so weiß wie Knochen. Über ihm erstreckte sich weit und hoch ein wolkenloser, keramikblauer Himmel. Hinter ihm brach sich ein türkisfarbenes Meer weit draußen an einem Riff und wogte dann sanft herein, schlug Wellen zwischen seltsamen Booten, die... (Kanus Einbaum-Kanus) waren. Das wußte er... aber wie? Er kam auf die Beine und stürzte fast. Er zitterte. War schwindlig. Verkatert. Er drehte sich um. Grüner Dschungel sprang ihm förmlich in die Augen, ein dichter dunkler Regenwald mit Reben, breiten Blättern und üppigen, blühenden Blumen, und diese waren (so rosa wie die Nippel einer Ballerina) Er war wieder verwirrt. Was war eine Ballerina? Und überhaupt, was war ein Nippel? Ein Ara kreischte, als er seiner gewahr wurde, flatterte panisch davon, prallte gegen den Stamm eines Banyanbaums und fiel tot an dessen Wurzel nieder, die Füße in die Höhe gestreckt. (stell ihn auf den Tisch mit den Beinen nach oben) Ein Maki betrachtete sein gerötetes, bartstoppeliges Gesicht und starb an einer Hirnembolie. (die Schwester kommt mit Löffel und Glas) Ein Käfer, der emsig den Stamm einer Nipapalme hinaufgekrabbelt war, wurde schwarz und schrumpelte zu einer Hülle zusammen, zwischen deren Fühlern kurz blaues Elmsfeuer loderte. (und die Soße tropft von seinem da-da-dah) Wer bin ich? Er wußte es nicht. Wo bin ich? Was spielte das für eine Rolle? Er ging - stolperte - zum Rand des Dschungels. Ihm war schwindlig vor Hunger. Der Lärm der Brandung dröhnte ihm hohl in den Ohren wie ein irres Pulsieren von Blut. Sein Verstand war so leer wie der eines neugeborenen Kindes. Er war halb zum Rand des dunklen Grüns vorgedrungen, als dieses sich teilte und drei Männer herauskamen. Dann vier. Dann war es ein halbes Dutzend. Es waren braune Wesen mit glatter Haut. Sie sahen ihn an. Er sah sie an. Weitere kamen. Aus den sechs wurden acht. Aus den acht ein Dutzend. Sie alle hatten Speere. Sie hoben sie drohend. Der Mann mit den Bartstoppeln im Gesicht sah sie an. Er trug Jeans und alte, rissige Cowboy Stiefel; sonst nichts. Sein Oberkörper war so weiß wie der Bauch eines Karpfens und gräßlich ausgemergelt. Die Speere wurden ganz erhoben. Dann würgte einer der braunen Männer - der Anführer - immer wieder ein Wort hervor, ein Wort, das sich anhörte wie Yun-nah! Ja, manches fiel ihm wieder ein. Richtig. Zum Beispiel sein Name. Er lächelte. Dieses Lächeln war, als würde eine rote Sonne durch eine schwarze Wolke brechen. Es zeigte grellweiße Zähne und erstaunlich strahlende Augen. Er wandte ihnen die glatten Handflächen zu, eine universelle Geste des Friedens. Angesichts der Wucht dieses Grinsens waren sie verloren. Die Speere fielen in den Sand; einer blieb mit der Spitze zuerst und zitternd im Boden stecken. »Sprecht ihr Englisch?« Sie sahen ihn nur an. »Habla Espanol?« Nein, anscheinend nicht. Eindeutig nicht habla Scheiß espanol. Was hatte das zu bedeuten? Wo war er? Nun, mit der Zeit würde er es herausbekommen. Rom war auch nicht an einem Tag erbaut worden. Und auch nicht Akron, Ohio, was das betraf. Und der Ort spielte auch keine Rolle. Es spielte nie eine Rolle, wo man sich niederließ. Nur, daß man dort war... und immer noch auf den Beinen. »Parlez-vous franqais?« Keine Antwort. Sie betrachteten ihn fasziniert. Er versuchte es auf Deutsch, dann lachte er brüllend in ihre dummen Schafsgesichter. Einer fing hilflos an zu schluchzen, wie ein Kind. Es sind einfache Leute. Primitiv; schlicht; ungebildet. Aber ich kann sie mir zunutze machen. Ja, ich kann sie mir hervorragend zunutze machen. Er ging ihnen entgegen, die glatten, linienlosen Handflächen immer noch erhoben, und immer noch lächelnd. In seinen Augen funkelte eine warme und irre Freude. »Mein Name ist Russell Faraday«, sagte er mit langsamer, deutlicher Stimme. »Ich habe eine Mission.« Sie sahen ihn an, ganz Augen, ganz Mißfallen, ganz Faszination. »Ich bin gekommen, um euch zu helfen.« Sie fielen auf die Knie und beugten die Köpfe vor ihm, und als sein dunkler, dunkler Schatten zwischen sie fiel, wurde sein Grinsen breiter. »Ich bin gekommen, um euch zu lehren, zivilisierte Menschen zu werden!« »Yun-nah!« schluchzte der Häuptling vor Freude und Entsetzen. Und als er Russell Faraday die Füße küßte, fing der dunkle Mann an zu lachen. Er lachte und lachte und lachte. Das Leben war ein kreisendes Rad, auf dem niemand lange stehen konnte. Und letztendlich drehte es sich immer wieder zur selben Stelle zurück. Februar 1975 Dezember 1988