Colorado Kid Stephen King Am Strand einer Insel im Bundesstaat Maine wird ein Toter gefunden. Außer ein paar Münzen und einem Päckchen Zigaretten trägt er nichts bei sich. Woran er starb, kann nicht eindeutig geklärt werden. Nur der Hartnäckigkeit zweier Lokalreporter und eines jungen Gerichtsmediziners ist es zu verdanken, dass der Unbekannte – über ein Jahr später – identifiziert wird. Doch damit beginnt das Rätsel erst. Denn je mehr sie über den Toten und seine Herkunft herausfinden, umso weniger verstehen sie den Fall: ein scheinbar unmögliches Verbrechen. Original: The Colorado Kid Aus dem Englischen von Andrea Fischer  1 Als der Journalist des Boston Globe einsah, dass er aus den beiden alten Männern – der gesamten Belegschaft des Weekly Islander – nichts Interessantes herausbekommen würde, verkündete er nach einem Blick auf die Uhr, er könne noch die Fähre um halb zwei erreichen, wenn er sich beeile. Er dankte den beiden Männern, dass sie sich Zeit genommen hatten, legte Geldscheine auf den Tisch und beschwerte sie mit einem Salzstreuer, damit sie nicht von der steifen auflandigen Brise fortgeweht würden. Dann eilte er von der Terrasse des Grey Gull die Steintreppe hinunter, zur Bay Street und dem kleinen Ort dahinter. Die junge Frau zwischen den beiden Alten hatte er kaum wahrgenommen, nur einige Male mit flüchtigem Blick ihre Brüste gestreift. Kaum war der Journalist des Globe verschwunden, griff Vince Teague über den Tisch und zog die beiden Geldscheine – zwei Fünfziger – unter dem Salzstreuer hervor. Mit unverkennbarer Genugtuung stopfte er sie in die Pattentasche seines alten, zweckdienlichen Tweedsakkos. »Was machst du da?«, fragte Stephanie McCann. Sie wusste zwar, dass Vince ihren, wie er sich ausdrückte, »jungen Knochen« gerne einen Schreck einjagte (sie hatte ja selbst Spaß daran), konnte in diesem Moment ihre Verwunderung jedoch nicht verhehlen. »Wonach sieht es denn aus?« Vince wirkte selbstzufrieden wie selten. Er strich die Patte der Tasche glatt und aß den Rest seines Hummerbrötchens. Dann tupfte er sich den Mund mit einer Papierserviette ab und fing geschickt den Plastikdeckel von der Hummerportion des Globe-Journalisten auf, den eine frischere, nach Salz riechende Böe forttragen wollte. Vince’ Hände waren von seiner Arthritis fast grotesk verformt, dennoch waren sie erstaunlich flink. »Es sieht so aus, als hättest du gerade das Geld genommen, mit dem Mr Hanratty unser Essen bezahlen wollte«, sagte Stephanie. »Stimmt genau, Steffi, gut aufgepasst«, bestätigte Vince und zwinkerte dem anderen Mann am Tisch zu. Dave Bowie war fünfundzwanzig Jahre jünger als Vince Teague, wirkte aber gleich alt. Das läge allein an der Grundausstattung, mit der man vom Schicksal auf den Weg geschickt werde, behauptete Vince immer; jeder halte so lange durch, bis er auseinander falle, und vorher würde eben geflickt, was das Zeug halte. Vince war überzeugt, dass selbst Hundertjährigen – ein Alter, das auch er zu erreichen hoffte – das Leben letztlich nicht länger erschien als ein Sommernachmittag. »Aber warum?« »Hast du Angst, dass ich die Zeche prelle und Helen auf der Rechnung sitzen lasse?«, fragte Vince zurück. »Nein … Wer ist Helen?« »Helen Hafner, die Frau, die uns eben bedient hat.« Vince wies mit dem Kinn über die Terrasse, wo eine etwas fülligere Frau von rund vierzig Jahren Teller abräumte. »Denn es ist die Geschäftspolitik von Jack Moody, dem dieses feine Restaurant gehört – er hat es von seinem Vater übernommen, auch wenn das nicht so wichtig ist –« »Doch, es interessiert mich«, beteuerte Stephanie. Dave Bowie, seit fast so langer Zeit Herausgeber des Weekly Islander wie Helen Hafner auf der Erde weilte, beugte sich vor und legte seine fleischige Hand auf Stephanies junge, glatte Finger. »Weiß ich doch«, sagte er. »Und Vince auch. Deshalb fängt er immer bei Adam und Eva an, wenn er dir etwas erklärt.« »Aha, jetzt gibt’s also Unterricht«, sagte Stephanie lachend. »Genau«, bestätigte Dave. »Und warum machen so alte Knacker wie wir das gerne?« »Weil ihr nur Schüler habt, die was lernen wollen.« »Richtig«, sagte Dave und lehnte sich zurück. »Schön.« Er trug weder Anzugjacke noch Blouson, sondern ein altes grünes Sweatshirt. Es war August. Stephanie fand es trotz des auflandigen Windes ziemlich heiß auf der Terrasse des Grey Gull, wusste aber, dass beiden Männern schnell kalt wurde. Bei Dave wunderte sie das ein wenig: Er war erst fünfundsechzig und hatte mindestens fünfzehn Kilo Übergewicht. Vince Teague hingegen wirkte nicht älter als siebzig (ein fitter Siebzigjähriger, trotz seiner verformten Hände), war jedoch Anfang des Sommers schon neunzig geworden und dünn wie ein Aal. »Ein Strich in der Landschaft«, pflegte Mrs Pinder zu sagen, die Teilzeitsekretärin des Islander. Meistens mit verächtlichem Schnauben. »Im Grey Gull haften die Kellnerinnen für ihre Tische, bis die Gäste bezahlt haben«, erklärte Vince. »Wenn eine Frau bei Jack vorstellig wird und nach Arbeit fragt, sagt er das sofort, damit sie ihm hinterher nicht vorheulen kann, sie hätte es nicht gewusst.« Stephanie schaute über die Terrasse, die um zwanzig nach eins noch immer zur Hälfte besetzt war. Dann spähte sie in den großen Saal, der einen herrlichen Blick auf die Bucht von Moose Cove bot. Dort war so gut wie jeder Tisch besetzt. Stephanie wusste, dass die Gäste zwischen Ende Mai und Ende Juli draußen bis gegen drei Uhr Schlange standen. In anderen Worten: Im Sommer herrschte Hochbetrieb. Dabei zu erwarten, dass die Kellnerinnen jede einzelne Bestellung im Kopf behielten, während sie sich die Hacken abliefen, um Tabletts mit dampfenden Hummern und Muscheln herauszubringen … »Das ist aber ganz schön –« Stephanie verstummte. Sie hatte Angst, dass diese beiden schrägen Vögel sich über sie lustig machen würden. Wahrscheinlich hatten sie den Islander schon zu Zeiten herausgebracht, als es noch gar keinen Mindestlohn gab. »Unfair? Oder was wolltest du sagen?«, fragte Dave trocken und nahm das letzte Brötchen aus dem Korb. Bei ihm klang »unfair« wie unfä-or und reimte sich mehr oder weniger mit »ah jo«, der hiesigen Antwort auf alle Fragen, irgendwo zwischen »ja« und »ach, wirklich?« angesiedelt. Stephanie stammte aus Cincinnati, Ohio. Beim Antritt ihres Praktikums beim Weekly Islander auf Moose-Lookit Island hatte sie gedacht, sie würde es niemals schaffen, etwas zu verstehen, der Akzent sei einfach zu schwer. Wie sollte sie etwas lernen, wenn sie nur jedes siebte Wort verstand? Und wie schnell wären die Männer der Meinung, sie sei völlig minderbemittelt, wenn sie ständig bat, den letzten Satz noch einmal zu wiederholen? Vier Tage nach Beginn ihres viermonatigen Praktikums für die Universität von Ohio war sie kurz davor gewesen, alles hinzuwerfen. Da hatte Dave sie beiseite genommen und gesagt: »Gib nicht auf, Steffi, hab noch ein bisschen Geduld.« Es hatte sich gelohnt: Fast über Nacht hatte sie den Dialekt plötzlich verstanden. Als hätte sie eine Blase im Ohr gehabt, die plötzlich auf wundersame Weise geplatzt war. Selbst wenn sie hier für den Rest ihrer Tage lebte, würde sie zwar niemals wie die Einheimischen sprechen, aber verstehen, »ah jo«, das würde sie sie schon. »Genau: unfair«, stimmte Stephanie Dave zu. »Dieser Begriff existiert nicht in Jack Moodys Wortschatz, höchstens wenn er über Sport redet«, sagte Vince, und dann im gleichen Tonfall: »Lass das Brötchen liegen, Dave Bowie, irgendwann platzt du noch, quiek, quiek, kleines Schweinchen.« »Soweit ich weiß, sind wir nicht verheiratet«, gab Dave zurück und biss ins Brötchen. »Kannst du ihr nicht verraten, was dir durch den Kopf geht, ohne mich dabei zu beschimpfen?« »Ganz schön vorlaut, was?«, sagte Vince. »Und keiner hat ihm beigebracht, dass man nicht mit vollem Munde spricht.« Er legte den Arm über die Rückenlehne des Stuhls. Der Wind wehte über den funkelnden Ozean und blies Vince das weiße Haar aus der Stirn. »Steffi, Helen hat drei Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Ihr Mann hat sich vom Acker gemacht. Sie will auf der Insel bleiben, aber das schafft sie nur – gerade so –, wenn sie im Grey Gull arbeitet. Denn die Sommer sind ein bisschen fetter, als die Winter mager sind. Kannst du noch folgen?« »Ja, sicher«, sagte Stephanie. Genau in dem Moment erschien die Frau, die Gegenstand des Gesprächs war. Stephanie bemerkte, dass sie dicke Stützstrümpfe trug, die ihre Krampfadern nicht völlig kaschierten. Außerdem hatte sie dunkle Ringe unter den Augen. »Hallo, Vince, hallo, Dave«, sagte sie und begnügte sich mit einem Nicken in Richtung des hübschen Mädchens, dessen Namen sie nicht kannte. »Euer Freund ist ja schon gegangen. Musste er zur Fähre?« »Jawohl«, sagte Dave. »Ihm ist plötzlich eingefallen, dass er noch zurück nach Boston muss.« »Ah jo? Seid ihr fertig?« »Ja, aber warte noch ein bisschen mit dem Abräumen«, sagte Vince. »Wenn du Zeit hast, kannst du uns die Rechnung bringen, Helen. Wie geht’s den Kindern?« Helen Hafner verzog das Gesicht. »Jude ist letzte Woche aus dem Baumhaus gefallen und hat sich den Arm gebrochen! Wie der geschrien hat! Ich hab mich zu Tode erschrocken!« Die beiden Alten sahen sich an und mussten lachen. Schnell rissen sie sich wieder zusammen und machten zerknirschte Gesichter. Vince entschuldigte sich bei Helen, aber sie war dennoch erzürnt. »Männer haben gut lachen«, sagte sie mit müdem, sarkastischem Lächeln zu Stephanie. »Als kleine Jungs sind sie selbst aus dem Baumhaus gefallen und haben sich den Arm gebrochen. Sie sind alle mal kleine wilde Racker gewesen. Aber dass ihre Mutter mitten in der Nacht aufgestanden ist und ihnen Schmerztabletten gegeben hat, das wissen sie natürlich nicht mehr. Ich bringe euch die Rechnung.« In ihren abgelaufenen Turnschuhen schlurfte sie davon. »Sie hat ein gutes Herz«, sagte Dave. Er besaß genug Anstand, um leicht beschämt dreinzublicken. »Ja, das stimmt«, bestätigte Vince, »und wenn wir von ihr einen Nasenstüber bekommen haben, dann haben wir ihn auch verdient. Egal. Mit dem Essen läuft das jetzt so, Steffi: Ich weiß nicht, was drei Hummerbrötchen, einmal Hummer mit Muscheln und vier Eistees in Boston kosten, aber der Journalist hat scheinbar vergessen, dass wir hier oben sozusagen an der Bezugsquelle sitzen, wie der Ökonom sich ausdrücken würde. Deshalb hat er hundert Dollar auf den Tisch gelegt. Wenn unsere Rechnung höher als fünfundfünfzig Dollar ist, fress ich einen Besen. Kannst du mir noch folgen?« »Natürlich«, sagte Stephanie. »Also, für den Typ vom Globe wird das so laufen: Auf der Rückfahrt schreibt er ›Mittagessen, Grey Gull, Moose-Lookit Island‹ und ›Serie: Ungelöste Rätsel Neuenglands‹ in seinen kleinen Spesenblock. Wenn er ehrlich ist, notiert er hundert Dollar, aber wenn er auch nur die geringste kriminelle Energie besitzt, schreibt er hundertzwanzig auf und geht mit seiner Freundin für die restlichen zwanzig ins Kino. Verstehst du?« »Ja«, entgegnete Stephanie. Mit vorwurfsvollem Blick trank sie ihren Eistee aus. »Das finde ich ganz schön zynisch.« »Nein, wenn ich zynisch wäre, hätte ich hundertdreißig gesagt«, gab Vince zurück. Dave musste lachen. »Auf jeden Fall hat er hundert hier gelassen, das sind mindestens fünfunddreißig Dollar zu viel, selbst wenn man zwanzig Prozent Trinkgeld draufrechnet. Deshalb habe ich das Geld an mich genommen. Wenn Helen die Rechnung bringt, unterschreibe ich und lasse sie an den Islander schicken.« »Du gibst ihr hoffentlich mehr als zwanzig Prozent Trinkgeld«, sagte Stephanie, »in Anbetracht ihrer Situation zu Hause.« »Nein, da irrst du dich«, sagte Vince. »Aha. Und wieso?« Geduldig sah er sie an. »Was glaubst du wohl? Dass ich ein geiziger Opa bin? Ein knickriger Yankee?« »Nein, das glaube ich genauso wenig, wie dass Schwarze faul sind oder Franzosen den ganzen Tag an Sex denken.« »Dann setz mal deine kleinen grauen Zellen in Bewegung! Gott hat dir genug gegeben.« Stephanie strengte sich an. Neugierig betrachteten die beiden Männer sie. »Helen will keine Almosen«, sagte sie schließlich. Vince und Dave schauten sich amüsiert an. »Was ist?«, fragte Stephanie. »Ein bisschen nah an faulen Schwarzen und sexbesessenen Franzosen, was?«, sagte Dave mit besonders starkem Akzent, jeden Vokal wie Kaugummi in die Länge ziehend. »Die stolze Yankeefrau, die keine Almosen nimmt.« Stephanie hatte das Gefühl, im Sumpf der Pauschalvorstellungen zu versinken. »Ihr denkt also, dass sie es nehmen würde. Für ihre Kinder, vielleicht auch für sich selbst.« »Der Mann, der uns das Mittagessen ausgegeben hat, kommt von weit her«, sagte Vince. »Für Helen Hafner haben Leute von weit her so viel Geld, dass sie sie damit sozusagen zusch … ähm, eindecken können.« Erheitert über diese sprachliche Rücksichtnahme, sah sich Stephanie auf der Terrasse um und blickte dann durch die Glasscheibe in den Saal. Ihr fiel etwas auf: Viele, ja fast sämtliche Gäste draußen auf der Terrasse waren Ortsansässige, die Kellnerinnen ebenfalls. Drinnen saßen die Urlauber, die Sommerfrischler. Sie wurden von jüngeren Kellnerinnen bedient, hübscheren Mädchen vom Festland. Aushilfen. Da verstand Stephanie alles. Es war falsch gewesen, die Frage unter soziologischem Aspekt zu betrachten – es war viel einfacher. »Die Kellnerinnen im Grey Gull teilen sich das Trinkgeld, stimmt’s?«, fragte sie. »Deshalb!« Vince zeigte mit dem Finger auf sie. »Bingo!« »Und was wollt ihr jetzt machen?« »Es läuft wie folgt«, erklärte er. »Ich unterschreibe die Rechnung mit fünfzehn Prozent Trinkgeld. Dann stecke ich Helen vierzig Dollar vom Globe-Typen in die Tasche. Sie bekommt den ganzen Batzen, der Zeitung tut’s nicht weh, und was Onkel Sam nicht weiß, macht ihn nicht heiß.« »So werden in Amerika Geschäfte gemacht«, sagte Dave feierlich. »Und weißt du, was ich gut finde?«, fragte Vince Teague und hielt das Gesicht in die Sonne. Er kniff die Augen wegen des grellen Lichts zusammen, seine Haut legte sich in unzählige Falten. Sein wahres Alter war noch immer nicht zu erraten, aber wie achtzig sah er jetzt immerhin schon aus. »Nein. Was denn?«, fragte Stephanie belustigt. »Ich finde es gut, dass das Geld im Umlauf bleibt, wie Wäsche im Trockner. Das beobachte ich gerne. Und diesmal landet das Geld, wenn die Maschine endlich stehen bleibt, hier auf Moosie, wo die Leute es wirklich brauchen. Am tollsten ist allerdings, dass der Typ aus Boston zwar unser Essen bezahlt hat, aber nichts in der Hand hatte, als er zur Fähre ging.« »Als er zur Fähre rannte«, verbesserte ihn Dave. »Er musste sich doch beeilen! Ich hab an dieses Gedicht von Edna St. Vincent Millay gedacht: ›Wir waren so müde, wir waren so froh, wir fuhren die ganze Nacht auf dem Boot.‹ Oder so ähnlich.« »Na, froh sah er mir nicht gerade aus. Aber wenn er im nächsten Ort eintrifft, ist er bestimmt richtig müde«, meinte Vince. »Ich glaube, er hat von Maddewaska gesprochen. Vielleicht findet er ja da ein ungelöstes Rätsel. Zum Beispiel, warum da überhaupt freiwillig Menschen leben. Pass jetzt auf, Dave!« Stephanie war überzeugt, dass zwischen den beiden Männern eine schlichte, aber gut funktionierende Telepathie herrschte. Seit ihrer Ankunft auf Moose-Lookit Island vor drei Monaten hatte sie mehrere Beweise dafür erlebt. Dies war wieder eines. Die Kellnerin kam näher, die Rechnung in der Hand. Dave hatte ihr den Rücken zugewandt, Vince sah ihr entgegen. Der Jüngere schien dennoch genau zu wissen, was der Redakteur des Islander von ihm erwartete: Dave griff in die Gesäßtasche, holte seine Börse heraus, zog zwei Scheine hervor, faltete sie und schob sie über den Tisch. Kurz darauf stand Helen vor ihnen. Mit seiner knotigen Hand nahm Vince die Rechnung entgegen, mit der anderen drückte er die Geldscheine in die Tasche von Helens Uniform. »Danke, meine Liebe«, sagte er. »Wollt ihr wirklich keinen Nachtisch?«, fragte sie. »Es gibt Macs Schokoladenkuchen mit Kirschen. Steht nicht auf der Karte, aber es ist noch was da.« »Für mich nicht. Steffi, du?« Sie schüttelte den Kopf. Mit gewissem Bedauern schloss sich Dave Bowie ihr an. Helen schenkte (falls das das richtige Wort war) Vince Teague einen abschätzenden Blick: »Du könntest etwas mehr auf den Rippen vertragen, Vince.« »Der Suppenkasper und der Vielfraß, das sind Dave und ich«, sagte Vince grinsend. »Ah jo.« Helen warf Stephanie einen Blick zu. Rasch kniff sie ein Auge zu, ein kurzes Zwinkern, das überraschend viel Humor verriet. »Da haben Sie sich ja zwei ausgesucht, Miss«, sagte sie. »Die sind schon in Ordnung«, gab Stephanie zurück. »Klar, und als Nächstes gehen Sie direkt zur New York Times«, entgegnete Helen. Sie sammelte die Teller ein. »Komme gleich wieder.« Dann stapfte sie davon. »Wenn sie die vierzig Dollar findet«, meinte Stephanie, »weiß sie dann, von wem sie sind?« Auf der Terrasse saßen rund ein Dutzend Gäste, die Kaffee, Eistee und Nachmittagsbier tranken oder den Schoko-Kirsch-Kuchen aßen, der nicht auf der Karte stand. Nicht alle sahen so betucht aus, als könnten sie der Kellnerin vierzig Dollar zustecken. »Wahrscheinlich schon«, sagte Vince. »Aber sag mir eins, Steffi.« »Was denn?« »Wenn sie es nicht wüsste, wäre das dann so schlimm?« »Ich weiß nicht, was du –« »Ich glaube schon«, unterbrach er sie. »Na los, zurück an die Arbeit. Die Nachrichten warten nicht.« 2 Was Stephanie beim Weekly Islander am besten gefiel, was sie selbst nach drei Monaten unermüdlichen Artikelschreibens verzückte, war der Umstand, dass man an einem sonnigen Tag nur von seinem Schreibtisch aufstehen und sechs Schritte gehen musste, um den herrlichsten Blick auf die Küste Maines zu haben. Dazu brauchte man nämlich nur auf die überdachte Veranda zu treten, die sich an dem scheunenähnlichen Zeitungsgebäude entlangzog. Natürlich roch es nach Fisch und Tang, aber dieser Geruch lag überall auf Moose-Look in der Luft. Man gewöhnte sich daran, hatte Stephanie festgestellt, und irgendwann geschah etwas Wunderbares: Kaum hatte die Nase den Geruch ignorieren gelernt, entdeckte sie ihn aufs Neue, und diesmal empfand sie ihn fast wie Parfüm. An klaren Tagen (wie an diesem gegen Ende August) zeichnete sich jedes Haus, jeder Anleger, jedes Fischerboot jenseits des Wassers in Tinnock deutlich ab. Stephanie konnte den Schriftzug SUNOCO auf einer Zapfsäule und den Namen LeeLee Bett am Rumpf eines Schellfischkutters erkennen, der zum herbstlichen Ausbessern und Lackieren an Land gezogen worden war. Ein Junge in kurzer Hose und abgeschnittenem Trikot der Patriots angelte am müllübersäten Kiesstrand vor Preston’s Bar. Die Sonne blinzelte tausendfach von den Blecheinfassungen hunderter Dächer. Zwischen Tinnock Village (eher eine Kleinstadt als ein Dorf) und Moose-Lookit Island fielen die Sonnenstrahlen auf das blaueste Wasser, das Stephanie je gesehen hatte. An Tagen wie diesem fragte sie sich, wie sie jemals in den Mittleren Westen zurückkehren solle – ob sie das überhaupt könnte. An anderen Tagen hingegen, wenn der Nebel hereindrückte und das Festland verschwand, wenn der wehmütige Klang des Nebelhorns wie die Stimme eines längst vergessenen wilden Tieres ertönte … tja, dann fragte sie sich das auch. Du musst vorsichtig sein, Steffi, hatte Dave einmal zu ihr gesagt, als sie draußen auf der Veranda saß, auf dem Schoß den Block mit einem halb fertigen Artikel in ihrer schwungvollen, nach links geneigten Handschrift. Das Leben auf der Insel schleicht sich dir klammheimlich in den Körper, und wenn du es einmal hast, ist es wie Malaria. Dann wirst du es so schnell nicht mehr los. Stephanie knipste das Licht an (die Sonne neigte sich dem Horizont zu, in dem lang gezogenen Raum wurde es allmählich dunkel), setzte sich an ihren Schreibtisch und suchte ihren treuen Schreibblock, auf dessen oberstem Blatt sie einen neuen Artikel verfasst hatte. Er war so gut wie identisch mit einem halben Dutzend anderer, die bereits gedruckt worden waren, dennoch betrachtete sie ihn mit unverhohlenem Stolz. Schließlich war dieser Text ihr Werk, es waren ihre Worte, für die sie bezahlt wurde, und sie zweifelte nicht dran, dass die Leute im Verbreitungsgebiet des Islander – das gar nicht so klein war – ihn auch tatsächlich lasen. Ihr ehemaliger Englischlehrer an der High School hätte von ars utile gesprochen. Mit leisem, aber vernehmlichem Stöhnen nahm Vince an seinem Schreibtisch Platz. Es ertönte ein Knacken, als er sich erst nach links, dann nach rechts drehte. »Die Wirbelsäule einrenken«, nannte er das. Dave sagte immer, eines Tages würde er durch sein Einrenken vom Hals abwärts gelähmt sein, doch diese Prognose schien Vince keine Sorgen zu bereiten. Er stellte den Computer an, während sein geschäftsführender Herausgeber auf der Schreibtischkante saß, einen Zahnstocher hervorholte und damit in seinem Gebiss herumbohrte. »Was liegt heute an?«, fragte Dave, während Vince darauf wartete, dass sein Computer hochfuhr. »Feuer? Flutwellen? Erdbeben? Aufstand der Massen?« »Ich dachte, ich fange mit Ellen Dunwoodie an. Sie hat den Hydranten auf der Beach Lane umgefahren, als sich die Handbremse ihres Wagens löste. Wenn ich dann so richtig in Fahrt bin, wollte ich meinen Leitartikel über Büchereien noch mal überarbeiten«, sagte Vince und knackte mit den Fingerknöcheln. Dave warf Stephanie von Vince’ Schreibtisch aus einen Blick zu. »Erst der Rücken, dann die Finger«, sagte er. »Wenn er noch lernt, auf seinem Brustkorb ›Dry Bones‹ zu spielen, können wir ihn bei American Idol anmelden.« »Nur am Meckern«, sagte Vince liebevoll. »Weißt du, Steffi, irgendwie ist das ja grotesk: Ich sitze hier mit meinen neunzig Jahren, reif für die Kühltruhe, und habe einen brandneuen Macintosh vor mir, und du mit deinen zweiundzwanzig sitzt daneben, zart und knackig wie ein junger Pfirsich, und schreibst auf einem Block wie eine alte Jungfer aus einem Viktorianischen Roman.« »Zu Viktorias Zeiten gab es bestimmt noch keine Schreibblöcke«, sagte Stephanie. Sie schob die Blätter auf ihrem Schreibtisch umher. Als sie im Juni nach Moose-Look zum Weekly Islander gekommen war, hatte man ihr den kleinsten Tisch hinten in der Ecke zugewiesen, kaum größer als in der Grundschule. Mitte Juli war sie zu einem größeren in der Mitte des Raumes aufgerückt. Das freute sie, aber mehr Platz auf dem Tisch bot auch mehr Gelegenheit, Sachen zu verlieren. Sie suchte herum, bis sie einen pinkfarbenen Handzettel fand. »Weiß einer von euch, welcher Organisation der Gewinn des diesjährigen Heuwagenausflugs mit anschließendem Picknick von Gernerds Hof zugute kommt, ›diesmal mit Musik von Little Jonna Jaye und den Straw Hill Boys‹?« »Wahrscheinlich Sam Gernerd, seiner Frau, ihren fünf Kindern und den diversen Gläubigern«, erklärte Vince. Sein Computer piepste. »Was ich dir schon länger sagen wollte, Steffi: Du machst das toll mit deiner kleinen Kolumne.« »Ja, das stimmt«, pflichtete Dave ihm bei. »Wir haben über zwanzig Leserbriefe bekommen, und nur einer war negativ, aber der war von Edina Steen, der Grammatikpäpstin, und die ist völlig verrückt.« »Absolut durch den Wind«, stimmte Vince ihm zu. Stephanie lächelte. Sie fragte sich, wie oft man nach der Kindheit so eine ungetrübte, schlichte Freude empfand. »Danke«, sagte sie. »Danke euch beiden.« Und dann: »Darf ich euch etwas fragen? Geradeheraus?« Vince drehte sich in seinem Stuhl herum. »Was du willst, Hauptsache, ich muss mich nicht mit Mrs Dunwoodie und dem Hydranten beschäftigen«, sagte er. »Und ich mich nicht mit den nervigen Rechnungen«, ergänzte Dave. »Obwohl die heute noch fertig werden müssen.« »Lass dich nicht von dem Papierkram unterkriegen!«, mahnte Vince. »Wie oft habe ich dir das schon gesagt?« »Du hast gut reden«, gab Dave zurück. »Du hast seit zehn Jahren keinen Blick mehr in das Rechnungsbuch vom Islander geworfen.« Stephanie war nicht bereit, die Männer mit ihrem Gezänk davonkommen zu lassen. »Hört auf damit!« Verdutzt schauten die beiden sie an und schwiegen. »Dave, du hast diesem Mr Hanratty vom Globe gesagt, du würdest seit gut vierzig Jahren mit Vince beim Islander arbeiten …« »Ah jo.« »Und du hast ihn 1948 gegründet,Vince.« »Stimmt«, bestätigte er. »Bis zum Sommer ’48 hieß die Zeitung The Weekly Shopper and Trading Post und wurde als Gratisblättchen auf einigen Inselmärkten und in größeren Läden auf dem Festland verteilt. Ich war damals jung und starrköpfig und hatte unheimliches Glück. Damals gab es die großen Brände drüben in Tinnock und Hancock. Diese Brände … ich will nicht behaupten, dass sie die Zeitung gerettet haben, auch wenn das einige damals sagten, aber sie haben ihr natürlich einen guten Start beschert. Erst 1956 hatte ich wieder so viele Anzeigen wie im Sommer ’48.« »Ihr beide seid also seit über fünfzig Jahren dabei, und in der ganzen Zeit seid ihr niemals auf ein ungelöstes Rätsel gestoßen? Soll ich das wirklich glauben?« Dave Bowie machte ein schockiertes Gesicht. »Das haben wir nie behauptet!« »He, du warst doch dabei!«, erklärte Vince, gleichermaßen empört. Kurz gelang es ihnen, diesen Gesichtsausdruck beizubehalten, doch als Stephanie McCann streng wie die Schulmeisterin in einem Western von John Ford auffordernd von einem zum anderen blickte, war es um sie geschehen. Zuerst begann ein Mundwinkel von Vince Teague zu zucken, dann flackerte Dave Bowies Auge. Bis dahin hätten sie es noch geschafft, doch dann machten sie den Fehler, sich anzusehen, und kurz darauf lachten sie los, als wären sie die ältesten Lausbuben der Welt. 3 »Du hast ihm doch von der Pretty Lisa erzählt«, sagte Dave zu Vince, als er sich wieder unter Kontrolle hatte. Die Pretty Lisa Cabot war ein Fischerboot, das in den zwanziger Jahren am Ufer der Nachbarinsel Smack Island mit einem toten Matrosen im Bug angespült worden war. Ohne eine Spur von den anderen fünf Mann Besatzung. »Was glaubst du, wie oft Hanratty diese Geschichte hier an der Küste schon gehört hat?« »Keine Ahnung, was glaubst du denn, wo er überall gewesen ist, bevor er zu uns kam?«, konterte Vince, und sofort wieherten die beiden wieder los, brüllten johlend, Vince schlug sich auf sein knochiges Knie, Dave klopfte sich auf die breiten Oberschenkel. Mit gerunzelter Stirn beobachtete Stephanie die Männer, weder erzürnt noch erheitert (na ja, ein bisschen schon), und versuchte die Ursache ihrer guten Laune zu ergründen. Sie hatte gedacht, die Geschichte der Pretty Lisa Cabot eigne sich zumindest für eine Folge einer achtteiligen Serie über – tata! – UNGEKLÄRTE RÄTSEL NEUENGLANDS. Doch da Stephanie weder dumm noch unsensibel war, hatte sie deutlich gespürt, dass Mr Hanratty die Lisa Cabot nicht gut genug gewesen war. Und nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte er die Geschichte auf seinen vom Globe finanzierten Reisen an der Küste zwischen Boston und Moose-Look schon längst gehört, wahrscheinlich nicht nur einmal. Vince und Dave nickten zustimmend, als sie ihnen ihren Eindruck schilderte. »Ah jo«, sagte Dave. »Hanratty kommt vielleicht von weiter her, aber er ist trotzdem nicht faul oder dumm. Die Geschichte der Pretty Lisa – deren Geheimnis mit Sicherheit etwas mit schießwütigen Alkoholschmugglern zu tun hat, die in Kanada Schnaps gebunkert hatten, auch wenn man das nie aufklären wird – ist seit Jahren bekannt. Sie steht in einem halben Dutzend Büchern, von den Zeitschriften Yankee und Downeast ganz zu schweigen. Und, Vince, hat nicht der Globe selbst …?« Vince nickte. »Kann sein. Vor sieben, acht oder vielleicht auch neun Jahren. In einer Sonntagsbeilage. Obwohl, das kann auch das Journal in Providence gewesen sein. Jedenfalls hat das Sunday Telegram aus Portland die Geschichte über die Mormonen gebracht, die in Freeport auftauchten und eine Mine in der Wüste von Maine versenken wollten …« »Und die ›Lichter an der Küste‹ von 1951 tauchen zu Halloween jedes Jahr wieder in den Zeitungen auf«, ergänzte Dave vergnügt. »Und auf UFO-Webseiten.« »Und letztes Jahr hat eine Frau ein Buch über die Vergiftungsopfer des Kirchenpicknicks von Tashmore geschrieben«, schloss Vince. Das war das letzte der so genannten »ungelösten Rätsel« gewesen, die sie dem Globe-Journalisten beim Essen aufgetischt hatten. Kurz darauf war Hanratty zu dem Schluss gekommen, dass er doch die Fähre um halb zwei noch nehmen sollte. Irgendwie hatte Stephanie jetzt das Gefühl, dass sie ihm das nicht übel nehmen konnte. »Ihr habt ihn also an der Nase herumgeführt«, sagte sie. »Habt ihm uralte Geschichten vorgesetzt.« »Aber nein, meine Liebe«, sagte Vince und klang diesmal aufrichtig empört. (Nun ja, vielleicht, dachte Stephanie.) »Jede dieser Geschichten ist nach bestem Wissen und Gewissen ein ungelöstes Rätsel von der Küste Neuenglands, ja, sogar aus unserer Gegend.« »Wir konnten doch nicht wissen, dass er all die Geschichten schon kennt; also mussten wir sie ihm doch erzählen«, erklärte Dave. »Obwohl, überrascht hat es uns nicht.« »Kein Stück«, stimmte Vince zu. Seine Augen funkelten. »Ganz schön olle Kamellen, muss ich zugeben. Aber wir haben uns ein leckeres Mittagessen damit verdient, was? Wir konnten beobachten, wie das Geld in Umlauf geht und da landet, wo es gebraucht wird … nämlich bei Helen Hafner.« »Und das sind wirklich die einzigen Geschichten, die ihr kennt? Ihr kennt echt nur welche, die schon in Büchern und großen Zeitungen breitgetreten wurden?« Vince schaute seinen langjährigen Kollegen an. »Habe ich das gesagt?« »Nein«, antwortete Dave. »Ich auch nicht, glaube ich.« »Ja, was kennt ihr denn noch für ungelöste Rätsel? Und warum habt ihr sie ihm nicht erzählt?« Wieder schauten sich die beiden Alten an, und erneut hatte Stephanie McCann das Gefühl, dass sie telepathisch verbunden waren. Vince nickte mit dem Kinn Richtung Tür. Dave stand auf, durchquerte den grell beleuchteten langen Raum (im dunkleren Teil stand der Koloss der altmodischen Offsetdruckerpresse, die seit über sieben Jahren nicht mehr gelaufen war) und drehte das in der Tür hängende Schild von OFFEN auf GESCHLOSSEN. Dann kam er zurück. »Geschlossen? Mitten am Tag?«, fragte Stephanie mit einem leichten Anflug von Unbehagen, der sich vielleicht sogar in ihre Stimme stahl. »Wenn jemand eine Nachricht für uns hat, wird er schon anklopfen«, sagte Vince im Brustton der Überzeugung. »Wenn es eine Riesenneuigkeit ist, schlägt er die Tür ein.« »Und wenn im Ort ein Feuer ausbricht, hören wir die Sirene«, warf Dave ein. »Komm mit raus auf die Veranda, Steffi. Augustsonne darf man nicht verpassen, scheint nicht lange.« Sie sah erst Dave und dann Vince Teague an, der mit seinen neunzig Jahren geistig noch so fit war wie mit fünfundvierzig. »Gibt’s wieder Unterricht?«, fragte sie. »Allerdings«, erwiderte Vince, und sie spürte, dass es ihm ernst war, auch wenn er lächelte. »Und warum machen so alte Knacker wie wir das gerne?« »Weil ihr nur Schüler habt, die was lernen wollen.« »Ah jo. Willst du etwas lernen, Steffi?« »Klar.« Trotz des sonderbaren Unbehagens bejahte sie spontan. »Dann komm mit raus auf die Veranda«, sagte er. »Setz dich ein bisschen hin.« Und das tat sie. 4 Die Sonne war warm und die Luft kühl, die salzigsüße Brise trug die Geräusche von Glocken, Hupen und plätscherndem Wasser heran. Innerhalb nur weniger Wochen hatte Stephanie diese Klänge lieben gelernt. Die beiden Männer nahmen rechts und links von ihr Platz, und obwohl Stephanie es nicht wusste, hatten sie denselben Gedanken: Alter neben Schönheit. Es war nichts Falsches an dieser Idee, denn beide wussten, dass sie die anständigsten Absichten hatten. Sie wussten, dass Stephanie sehr viel Potenzial besaß und dass sie gerne lernte; bei solch wissbegierigen Schülern war man mit Freude Lehrer. »Also«, sagte Vince, als alle saßen. »Denk mal an die Geschichten, die wir Hanratty beim Mittagessen erzählt haben, Steffi: die Lisa Cabbot, die Lichter an der Küste, die wandernden Mormonen, das Kirchenpicknick von Tashmore, alles Rätsel, die nie gelöst wurden, und dann sag mir, was sie alle gemeinsam haben.« »Sie sind alle ungelöst.« »Streng dich ein bisschen mehr an, mein Mädchen«, sagte Dave. »Enttäusch mich nicht!« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und merkte, dass er es ernst meinte. Klar, die Antwort lag auf der Hand, wenn man bedachte, weshalb Hanratty sie überhaupt zum Essen eingeladen hatte: wegen der achtteiligen Serie des Globe (eventuell sogar zehnteilig, hatte Hanratty erklärt, wenn er genügend sonderbare Geschichten fände), die aller Voraussicht nach zwischen September und Halloween erscheinen sollte. »Sie wurden alle schon zigmal durchgekaut?« »Schon ein bisschen besser«, meinte Vince, »aber das ist auch nichts Neues. Frag dich doch mal dies, Kleine: Warum wurden sie alle schon zigmal durchgekaut? Warum zerrt mindestens einmal im Jahr eine Zeitung aus Neuengland die Lichter an der Küste hervor und druckt dazu ein paar verschwommene Fotos, die mindestens fünfzig Jahre alt sind? Warum interviewen regionale Zeitschriften wie Yankee oder Coast mindestens einmal pro Jahr Clayton Riggs oder Ella Ferguson, als ob sie auf einmal wie der Springteufel aus der Schachtel hüpfen und etwas völlig Neues verraten würden?« »Die Namen habe ich noch nie gehört«, sagte Stephanie. Vince schlug sich auf den Hinterkopf. »Ah jo, ich Dummkopf. Ich vergesse ständig, dass du nicht von hier bist.« »Soll ich das als Kompliment verstehen?« »Könntest du, solltest du sogar. Clayton Riggs und Ella Ferguson waren die Einzigen, die damals beim Picknick am Tashmore Lake den Eiskaffee getrunken haben und nicht daran gestorben sind. Der Ferguson geht’s ganz gut, aber Riggs’ linke Körperhälfte ist gelähmt.« »Wie schrecklich! Und trotzdem werden sie immer wieder befragt?« »Ah jo. Fünfzehn Jahre sind ins Land gegangen, und wahrscheinlich weiß jeder, der noch einen Funken Verstand im Kopf hat, dass niemals jemand für dieses Verbrechen belangt werden wird – acht Menschen am Seeufer wurden vergiftet, sechs davon starben –, dennoch tauchen Ferguson und Riggs immer wieder in der Presse auf, jedes Jahr klappriger: ›Was geschah an jenem Tag?‹ oder ›Der Schrecken am See‹ und so weiter … du weißt, was ich meine. Es ist einfach eine Geschichte, die die Leute gerne hören, so wie ›Rotkäppchen‹ oder ›Die drei kleinen Schweinchen‹. Die Frage ist bloß: warum?« Stephanie war schon ein Stück weiter. »Ihr habt da was, oder?«, fragte sie. »Eine Geschichte, die ihr ihm nicht erzählt habt. Stimmt’s?« Wieder tauschten die Männer einen Blick aus, doch diesmal konnte Stephanie nicht einmal ansatzweise enträtseln, welchen Gedanken die beiden hatten. Sie saßen in identischen Gartenstühlen. Stephanies Hände ruhten auf den Armlehnen. Dave beugte sich vor und tätschelte ihre Hand. »Wir werden’s dir erzählen, nicht wahr, Vince?« »Doch, denke schon«, sagte Vince und lächelte in die Sonne. Erneut legte sich seine Haut in unzählige Falten. »Aber wer mit der Fähre fahren will, muss dem Steuermann Tee mitbringen – Tea for the Tillerman. Kennst du das Lied?« »Ich glaube schon.« Stephanie kam eine alte Schallplatte ihrer Mutter in den Sinn, oben auf dem Dachboden. »Gut«, sagte Dave, »dann beantworte mir eine Frage: Hanratty wollte die Geschichten nicht, weil sie schon zigmal durchgekaut wurden. Warum?« Sie dachte nach, die beiden Männer ließen ihr Zeit. Es machte ihnen Freude, der jungen Frau beim Grübeln zuzusehen. »Also«, sagte Stephanie schließlich, »wahrscheinlich hören die Leute gerne Geschichten, bei denen man sich an einem Winterabend ein bisschen gruseln kann, besonders wenn die Lampen leuchten und der Kamin gemütlich knistert. Geschichten über das Unbekannte halt.« »Wie viel Unbekanntes pro Geschichte, mein Mädchen?«, fragte Vince Teague. Seine Stimme war sanft, aber seine Augen durchbohrten Stephanie. In Gedanken beim Kirchenpicknick wollte sie gerade sagen: höchstens sechs, doch dann besann sie sich eines Besseren. An jenem Tag waren am Ufer des Tashmore Lake tatsächlich sechs Menschen ums Leben gekommen, doch es war nur eine große Giftmenge gewesen, die, wie Stephanie annahm, vom Täter in den Eiskaffee gerührt worden war. Sie wusste nicht, wie viele Lichter an der Küste zu sehen gewesen waren, ging aber davon aus, dass man sie als Gesamtphänomen betrachtete. »Eins?«, fragte sie zögernd. Sie kam sich vor wie ein Kandidat in der letzten Runde von Jeopardy. »Eine unbekannte Tatsache pro Geschichte?« Vince richtete den Finger wie eine Pistole auf sie, grinste breiter denn je zuvor, und Stephanie atmete erleichtert auf. Sicher war dies kein richtiger Unterricht, und die beiden Männer würden sie genauso gern mögen, wenn sie eine Antwort verpatzte, dennoch wollte sie sie unbedingt zufrieden stellen. Das hatte sie sonst nur bei ihren allerbesten Lehrern an der High School und am College gewollt. Bei den leidenschaftlichen, mitreißenden Lehrern. »Außerdem müssen die Leute im Grunde ihres Herzens überzeugt sein, dass sich die Geschichte auf eine bestimmte Weise zugetragen hat. Daran müssen sie wirklich tief und fest glauben«, ergänzte Dave. »Zum Beispiel die Pretty Lisa, die 1926 an den Felsen südlich von Dingle Nook auf Smack Island angeschwemmt wurde.« »1927«, korrigierte Vince. »Na gut, dann halt ’27, du Klugschwätzer, aber Teodore Riponeaux war noch an Bord, nur leider mausetot, und die anderen fünf waren verschwunden. Und obwohl es keine Blutspuren oder Anzeichen eines Kampfes gab, sind die Leute überzeugt, dass es Piraten waren. Man erzählt sich sogar, die Besatzung hätte eine Schatzkarte an Bord gehabt und vergrabenes Gold gefunden, aber der Schatz sei bewacht gewesen, sie hätten ihn nicht bekommen und so weiter und so fort.« »Oder sie wären sich untereinander in die Haare geraten«, ergänzte Vince. »Das gehörte schon immer zu den beliebtesten Theorien über das Schicksal der Pretty Lisa. So ist es halt – manche Geschichten wollen erzählt und gehört werden. Hanratty war klug genug zu wissen, dass sein Redakteur diesen aufgewärmten Brei nicht annehmen würde.« »Vielleicht in zehn Jahren noch mal«, vermutete Dave. »Irgendwann ist alles Alte wieder neu. Das glaubst du vielleicht nicht, Steffi, aber es stimmt.« »Doch, das glaube ich gerne«, sagte sie und dachte: Dieses Lied mit der Fähre, Tea for the Tillerman, von wem war das noch mal? Von Al Stewart oder Cat Stevens? »Dann die Sache mit den Küstenlichtern«, fuhr Vince fort. »Ich kann dir genau sagen, warum die Geschichte immer so beliebt war. Es existiert ein Foto. Es steckte wohl nichts anderes dahinter als die Lichter von Ellsworth, die von den niedrigen Wolken reflektiert wurden. So entstanden Kreise, die wie fliegende Untertassen aussahen. Jedenfalls steht unten im Bild die gesamte Kinderbaseballmannschaft von Hancock Lumber im Trikot und schaut in die Wolken.« »Und ein kleiner Junge zeigt mit seinem Handschuh nach oben«, ergänzte Dave. »Das ist das i-Tüpfelchen. Die Leute betrachten das Foto und sagen sich: ›Mensch, das sind bestimmt Besucher aus dem Weltall, die sich mal kurz die berühmteste Freizeitbeschäftigung Amerikas ansehen wollen.‹ Dennoch: Es ist ein einzelnes unbekanntes Phänomen, bloß mit spektakulären Bildern, deshalb interessieren sich die Leute immer wieder dafür.« »Nur nicht der Boston Globe«, warf Vince ein, »auch wenn ich vermute, dass er im Notfall drauf zurückgreifen würde.« Die beiden Männer lachten so entspannt, wie es nur alte Freunde tun. »Also«, sagte Vince, »vielleicht kennen wir tatsächlich ein ungelöstes Rätsel …« »Das ist leicht untertrieben«, sagte Dave. »Wir kennen mindestens eins, mein Mädchen, bloß haben wir nicht die geringste Ahnung, was damals passiert ist …« »Eventuell das Steak«, warf Vince ein, klang aber nicht sehr überzeugt. »Oh, ah jo, aber das ist ja selbst schon ein Rätsel, meinst du nicht?«, gab Dave zurück. »Doch«, stimmte Vince zu, ziemlich zerknirscht. Er sah auch so aus. »Ich komme nicht mehr mit«, gestand Stephanie. »Ah jo, die Geschichte von Colorado Kid ist ziemlich verwirrend, das stimmt«, bestätigte Vince, »weshalb sie auch nichts für den Globe ist, würde ich sagen. Zuerst mal zu viele Unbekannte. Außerdem nichts, wo man mit Sicherheit sagen könnte: So ist es gewesen.« Er beugte sich vor und fixierte Stephanie mit seinem klaren blauen Yankee-Blick. »Du willst doch Journalistin werden, oder?« »Das wisst ihr doch«, sagte Stephanie verdutzt. »Gut, dann verrate ich dir ein Geheimnis, das so gut wie jeder Journalist kennt, der einige Zeit dabei ist: Im wahren Leben gibt es nur wenige bis gar keine runden Geschichten, also Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende. Aber wenn man dem Leser eine Unbekannte vorsetzt (allerhöchstens zwei) und dann das beisteuert, was unser Dave Bowie ein ›Muss‹ nennt, erzählt sich der Leser diese Geschichte selbst. Erstaunlich, was? Zum Beispiel das Kirchenpicknick. Keiner weiß, wer die Leute vergiftet hat. Man weiß nur, dass Rhoda Parks, die Sekretärin der Methodistengemeinde von Tashmore, und William Blakee, der Pastor der Methodistengemeinde, ein halbes Jahr vor dem Picknick eine kurze Affäre hatten. Blakee war verheiratet und machte Schluss. Kannst du mir folgen?« »Ja«, versicherte Stephanie. »Man weiß auch, dass Rhoda Parks untröstlich war, zumindest eine Zeit lang. Sagte ihre Schwester. Was ist noch bekannt? Sowohl Rhoda Parks als auch William Blakee tranken den vergifteten Eiskaffee beim Picknick und starben. Was ist das Muss hier? Los, Steffi, frei von der Leber weg!« »Rhoda hat den Kaffee vergiftet, um ihren Geliebten zu töten, weil er sie sitzen gelassen hat, dann hat sie Selbstmord verübt. Die anderen vier – und die, denen schlecht wurde – waren, wie nennt man es noch mal, Kollateralschaden.« Vince schnippte mit den Fingern. »Ah jo, das ist die Geschichte, die die Leute sich zusammenreimen. Die Zeitungen und Zeitschriften rücken nie so ganz mit der Sprache heraus, müssen sie ja auch nicht. Sie wissen, dass die Leute schon die entsprechenden Schlüsse ziehen. Aber was spricht dagegen? Noch mal, frei von der Leber!« Doch diesmal funktionierte ihre Leber wohl nicht richtig, denn Stephanie fiel kein Gegenargument ein. Sie wollte gerade protestieren, dass sie den Fall nicht gut genug kenne, da stand Dave auf, stellte sich an die Brüstung, schaute über das Wasser nach Tinnock und bemerkte leise: »Sechs Monate Wartezeit kommen einem ziemlich lang vor, oder?« Stephanie sagte: »Vielleicht war es einfach nur späte Rache?« »Ah jo«, erwiderte Dave, immer noch leise, »aber wenn man sechs Menschen vergiftet, ist das ein bisschen mehr als Rache. Ich sage ja nicht, dass es nicht so gewesen ist, nur dass es auch anders gelaufen sein könnte. Genauso wie die Küstenlichter Reflexionen in den Wolken gewesen sein können … oder irgendwas Geheimes, das von der Air Force getestet wurde und vom Luftwaffenstützpunkt Bangor stammte … oder, wer weiß, vielleicht waren es tatsächlich grüne Männchen, die mal eben gucken wollten, ob die Jungs von Hancock Lumber gegen die von Tinnock Auto Body einen Homerun schaffen.« »Meistens legen sich die Leute eine Geschichte zurecht und bleiben dann dabei«, erklärte Vince. »Das ist nicht schwer, solange es nur eine Unbekannte gibt: einen Giftmischer, eine mysteriöse Lichterscheinung, ein auf Grund gesetztes Schiff mit nur einem Mann Besatzung an Bord. Aber bei Colorado Kid gibt es eigentlich nur Unbekannte und deshalb gibt es keine richtige Geschichte.« Er hielt inne. »Wie eine Lokomotive, die aus dem Kamin kommt, oder Pferdeköpfe, die eines Morgens in der Auffahrt liegen. Nicht so spektakulär, aber genauso unerklärlich. Und solche Dinge …« Er schüttelte den Kopf. »Steffi, so was mögen die Leute nicht. Sie wollen so was einfach nicht. Wenn man am Strand steht, ist ein gewaltiger Brecher schön anzusehen, aber zu viele machen seekrank.« Stephanie sah hinaus auf die funkelnde Wasserfläche – voller Wellen, aber sie waren nicht groß, heute nicht. Schweigend dachte sie nach. »Da ist noch was«, sagte Dave nach einer Weile. »Was denn?«, fragte sie. »Die Story gehört uns«, erwiderte er, mit überraschendem Nachdruck. Stephanie fand, dass es fast zornig klang. »Ein Typ vom Globe, einer, der nicht von hier kommt, der würde sie nur vermasseln. Der würde sie nicht verstehen.« »Und du verstehst sie?«, fragte sie. »Nein«, entgegnete er und setzte sich wieder. »Muss ich ja auch nicht, mein Mädchen. Was Colorado Kid angeht, bin ich ein bisschen wie die Jungfrau Maria, nachdem sie Jesus zur Welt gebracht hatte. In der Bibel steht: ›Und Maria schwieg und bewegte die Dinge in ihrem Herzen‹. Bei Rätseln ist das manchmal das Beste.« »Aber mir wollt ihr es erzählen?« »Na, aber sicher!« Überrascht schaute Dave sie an. Es sah ein wenig aus, als erwache er aus dem Halbschlaf. »Denn du bist eine von uns. Stimmt’s, Vince?« »Ah jo«, entgegnete Vince. »Irgendwann im Sommer hast du die Prüfung bestanden.« »Ach ja?« Wieder war sie grotesk glücklich. »Wie denn? Was für eine Prüfung?« Vince schüttelte den Kopf. »Weiß ich auch nicht, mein Mädchen. Ich weiß nur, irgendwann war das Gefühl da, dass du in Ordnung bist.« Er warf Dave einen kurzen Blick zu, und der nickte. Dann wandte er sich wieder an Stephanie. »Gut«, sagte er. »Die Geschichte, die wir heute Mittag nicht erzählt haben, ist unser ganz persönliches ungelöstes Rätsel. Die Geschichte von Colorado Kid.« 5 Doch Dave war derjenige, der zu erzählen begann. »Vor fünfundzwanzig Jahren«, sagte er, »also im Jahr 1980, gab es mal zwei Jugendliche, die zur Schule nie die Fähre um halb acht, sondern die um halb sieben nahmen. Sie gehörten zur Leichtathletikmannschaft der Bayview Consolidated High School und sie gingen miteinander. Sobald der Winter vorüber war – was hier an der Küste immer früher der Fall ist als auf dem Festland –, liefen sie querfeldein über die Insel, den Hammock Beach hinunter bis zur Hauptstraße, dann auf die Bay Street und zum städtischen Anleger. Kannst du sie vor dir sehen, Steffi?« Das konnte sie. Sie sah auch die Liebe zwischen den beiden. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, was das Pärchen tat, wenn es auf dem Festland in Tinnock angekommen war. Stephanie wusste, dass die zwölf bis fünfzehn Highschool-Kinder von Moose-Look fast immer die Fähre um halb acht nahmen. Sie gaben dem Fährmann – Herbie Gosslin oder Marcy Lagasse – ihren Ausweis und wurden mit einem kurzen Piepser der alten Laserpistole registriert. In Tinnock wartete der Schulbus auf sie, der sie die drei Meilen zur BCHS fuhr. Stephanie erkundigte sich, ob das Pärchen dort ebenfalls auf den Bus gewartete hätte, doch Dave schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, die sind drüben weitergelaufen«, erklärte er. »Nix mit Händchenhalten, obwohl, es könnte schon sein. Die beiden waren unzertrennlich. Johnny Gravlin und Nancy Arnault. Ein paar Jahre lang passte kein Blatt zwischen sie.« Stephanie setzte sich auf. Der John Gravlin, den sie kannte, war der Bürgermeister von Moose-Lookit Island, ein geselliger Mann, der für jeden ein gutes Wort übrig hatte und ein Auge auf einen Posten im Senat in Augusta geworfen hatte. Sein Haaransatz ging zurück, sein Bauch wölbte sich vor. Stephanie versuchte sich ihn als jungen Mann vorzustellen, der jeden Tag zwei Meilen über die Insel und dann noch mal drei auf dem Festland lief. Es gelang ihr nicht. »Funktioniert nicht, mein Mädchen, was?«, fragte Vince. »Nein«, gab sie zu. »Tja, das liegt daran, dass du den Bürgermeister John Gravlin vor Augen hast, das größte Tier in diesem Zoo, und nicht den jungen Johnny Gravlin, der Fußball spielte und schnell laufen konnte, der freitagabends den Leuten Streiche spielte und sich samstags mit seiner Freundin traf. Der Bürgermeister tapert die Bay Street hoch und runter und grüßt die Leute, und beim Grinsen blitzt der Goldzahn in seinem Mund. Er hat ein gutes Wort für jeden, vergisst keinen Namen und weiß genau, wer einen Ford-Pick-up fährt und wer sich immer noch mit Daddys alter Erntemaschine herumschlägt. Er ist eine Karikatur wie aus einem Vierziger-Jahre-Film über Provinzpolitiker, er ist so hinter dem Mond, dass er es selbst nicht mal merkt. Gravlin ist eine dicke Kröte, die nur noch einen Sprung vor sich hat, und sobald er es in den Seerosenteich von Augusta geschafft hat, ist er entweder klug genug und hört auf, oder er versucht es noch mal und wird platt gemacht.« »Mein Gott, wie zynisch«, sagte Stephanie, nicht ohne jugendliche Bewunderung für diesen Charakterzug. Vince zuckte mit seinen knochigen Schultern. »Ach, ich bin selbst ein Stereotyp, mein Mädchen, nur komme ich aus dem Film, wo der Zeitungstyp mit den Ärmelhaltern und dem Sonnenschild auf dem Kopf in der letzten Einstellung losschreit: ›Haltet die Presse an!‹ Ich will darauf hinaus, dass Johnny damals ein anderer Mensch war: gertenschlank und schnell wie ein Windhund. Er sah aus wie ein junger Gott, wenn man nicht auf seine schiefen Zähne achtete, aber die hat er sich ja inzwischen richten lassen. Und sie in dieser kurzen roten Hose … sie war wirklich eine Göttin.« Er dachte nach. »Wie fast alle Mädchen von siebzehn Jahren.« »Jetzt reiß dich mal zusammen mit deiner schmutzigen Phantasie!«, schimpfte Dave. Vince tat gekränkt. »Die ist gar nicht schmutzig«, gab er zurück, »sondern rein wie die eines Engels.« »Wenn du das sagst«, meinte Dave. »Ich gebe zu, dass Nancy toll aussah. Sie war zwei, drei Zentimeter größer als Johnny, vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich im Frühjahr des letzten Schuljahres trennten. Aber damals, 1980, waren sie wie Pech und Schwefel. Jeden Tag liefen sie zur Fähre und dann in Tinnock den Bayview Hill hoch zur Schule. Es gab schon Wetten, wie lange es dauern würde, bis Nancy schwanger würde, aber es passierte nichts; entweder war er unglaublich anständig oder sie war unglaublich vorsichtig.« Dave hielt inne. »Oder sie kannten sich einfach besser aus als die anderen Jugendlichen auf der Insel.« »Ich glaube, es lag eher am Laufen«, meinte Vince voller Ernst. »Schweift nicht vom Thema ab, ihr beiden!«, mahnte Stephanie und die Männer mussten lachen. »Zum Thema«, sagte Dave. »Es war ein Morgen im Frühjahr 1980 – muss April gewesen sein –, da entdeckten sie einen Mann, der draußen am Hammock Beach saß. Du weißt schon, draußen vor dem Dorf.« Stephanie kannte den Strand gut. Hammock Beach war ein herrlicher Flecken, auch wenn dort immer sehr viele Urlauber waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es dort im Herbst aussehen würde, sollte es aber noch erleben: Ihr Praktikum ging bis in den Oktober. »Also, saß ist vielleicht nicht das richtige Wort«, berichtigte sich Dave. »Später sagten beide, er habe halb gelegen. Er lehnte gegen eine Mülltonne, weißt du, die im Sand eingegraben sind, damit sie bei starkem Wind nicht fortgeweht werden. Das Gewicht dieses Mannes hatte die Tonne nach hinten gedrückt, sie stand so …« Dave kippte die Hand leicht zur Seite. »Wie der schiefe Turm von Pisa«, ergänzte Steffi. »Genau. Außerdem war der Mann nicht passend gekleidet für den frühen Morgen. Das Thermometer zeigte vielleicht fünf Grad plus, aber durch den frischen Wind vom Wasser kam es einem vor wie fünf Grad minus. Er trug eine graue Anzughose und ein weißes Hemd. Dazu Slipper. Keine Jacke, keine Handschuhe. Die beiden Jugendlichen überlegten nicht lange. Sie liefen sofort zu ihm hinüber und merkten, dass etwas nicht stimmte. Johnny erzählte später, als er das Gesicht des Mannes gesehen habe, hätte er sofort gewusst, dass er tot sei, und Nancy sagte genau das Gleiche, aber das hätten sie sich nicht sofort eingestehen wollen. Würdest du das tun? Ohne dich davon überzeugt zu haben?« »Nein«, erwiderte Stephanie. »Er saß einfach da, beziehungsweise lag halb da, eine Hand im Schoß und die andere, die rechte, im Sand. Sein Gesicht war kreidebleich, nur auf den Wangen hatte er rote Flecken. Er hatte die Augen geschlossen. Nancy meinte, die Augenlider wären bläulich gewesen. Seine Lippen waren auch blau gefärbt, und sein Hals, sagte sie, wirkte irgendwie geschwollen. Er hatte kurzes hellblondes Haar, der Wind blies ihm eine Strähne in die Stirn. Nancy sagte: ›Hallo, schlafen Sie? Stehen Sie lieber auf!‹ Johnny Gravlin meinte: ›Der schläft nicht, Nancy, der ist auch nicht ohnmächtig. Der atmet gar nicht mehr.‹ Später sagte Nancy, dass sie es gewusst hätte, gesehen hätte, aber es nicht glauben wollte. Natürlich nicht, die Arme. Deshalb sagte sie: ›Kann sein. Aber vielleicht schläft er nur. Man kann nicht immer genau sehen, ob einer atmet. Schüttel ihn mal, Johnny, ob er nicht doch aufwacht.‹ Johnny wollte nicht, aber genauso wenig wollte er vor seiner Freundin als Feigling dastehen. Er beugte sich runter und rüttelte den Mann an der Schulter. Er musste sich richtig zusammenreißen, erzählte er mir Jahre später, als wir im Breakers ein paar Gläser zusammen tranken. Er meinte, er hätte es sofort gewusst, weil sich die Schulter nicht lebendig anfühlte, sondern wie aus Holz. Trotzdem schüttelte er den Mann und sagte: ›Wachen Sie auf, wachen Sie auf oder -‹ Er wollte eigentlich hinzufügen wollen Sie sich den Tod holen, fand dann aber, das klinge unter den gegebenen Umständen nicht so gut (vielleicht dachte er schon damals wie ein Politiker), deshalb fuhr er anders fort: ›Wollen Sie nichts frühstücken?‹ Er schüttelte den Mann zwei Mal. Zuerst passierte nichts. Beim zweiten Mal sackte der Kopf des Mannes auf die linke Schulter – Johnny hatte die rechte berührt –, und der Mann rutschte von der Mülltonne, die ihn gestützt hatte, auf die Seite. Der Kopf fiel in den Sand. Nancy schrie auf und lief, so schnell sie konnte, zurück zur Straße – und das war richtig schnell, kann ich dir sagen. Wenn sie da nicht stehen geblieben wäre, hätte Johnny ihr wohl bis zum Ende der Bay Street hinterherlaufen müssen, vielleicht sogar raus bis zum Ende von Anleger A. Aber sie blieb stehen, er kam zu ihr, legte den Arm um sie und sagte, er sei noch nie so froh gewesen, etwas Lebendiges im Arm zu halten. Er erzählte mir, er würde nie vergessen, dass sich die Schulter des Toten unter dem weißen Hemd wie Holz angefühlt hätte.« Dave unterbrach sich und stand auf. »Ich hole mir eine Cola aus dem Kühlschrank«, sagte er. »Ich habe einen trockenen Mund und die Geschichte ist noch lang. Sonst noch jemand?« Tatsächlich wollten alle etwas trinken, und da Stephanie diejenige war, die unterhalten wurde (wenn das das richtige Wort war), ging sie die Getränke holen. Als sie zurückkam, standen beide Männer am Geländer, betrachteten das Meer und das Festland dahinter. Sie gesellte sich zu ihnen, stellte das alte Blechtablett auf die breite Brüstung und reichte jedem ein Glas. »Wo war ich stehen geblieben?«, fragte Dave, nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte. »Das weißt du ganz genau«, gab Vince zurück. »An der Stelle, wo unser späterer Bürgermeister und Nancy Arnault, die inzwischen weiß Gott wo ist, wahrscheinlich in Kalifornien – die Guten versuchen immer, so weit wie es ohne Reisepass möglich ist, von der Insel fortzukommen –, Colorado Kid tot am Hammock Beach finden.« »Ah jo. Nun Johnny wollte mit ihr zum nächsten Telefon laufen, das wäre vor der öffentlichen Bücherei gewesen. Er wollte George Wournos anrufen, den damaligen Wachtmeister von Moose-Look, längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen, der Gute. Nancy war einverstanden, aber zuerst sollte Johnny ›den Mann‹ wieder aufsetzen. Sie nannte ihn immer ›den Mann‹. Nie ›den Toten‹ oder ›die Leiche‹, sondern immer nur ›den Mann‹. Johnny sagte: ›Ich glaube nicht, dass es die Polizei gut findet, wenn wir ihn bewegen, Nan.‹ Nancy meinte: ›Du hast ihn schon bewegt, du sollst ihn nur wieder so hinsetzen, wie er war.‹ Und er erwiderte: ›Das habe ich nur getan, weil du es wolltest.‹ Worauf sie antwortete: ›Bitte, Johnny, ich kann es nicht ertragen, ihn da so liegen zu sehen, ich will ihn nicht so in Erinnerung behalten.‹ Dann begann sie zu weinen und damit war die Sache geklärt. Johnny ging zurück zur Leiche, die noch immer auf der linken Seite im Sand lag. An dem Abend im Breakers hat Johnny mir erzählt, dass er nie getan hätte, was sie von ihm verlangte, wenn sie ihm nicht dabei zugeschaut und auf ihn vertraut hätte. Das glaube ich ihm. Für eine Frau tut ein Mann viele Dinge, die er allein nicht wagen würde, vor denen er zu neunzig Prozent zurückschrecken würde, selbst wenn er betrunken wäre und seine Freunde ihn dazu drängten. Johnny sagte, je näher er diesem Mann kam, der mit angezogenen Beinen im Sand lag, als säße er auf einem unsichtbaren Stuhl, desto überzeugter war er, dass sich die geschlossenen Augen öffnen und der Mann sich auf ihn stürzen würde. Auch das Wissen, dass der Mann tot war, konnte ihm dieses Gefühl nicht nehmen, sagte Johnny, sondern hätte es nur noch schlimmer gemacht. Schließlich stand er vor dem Toten, riss sich zusammen, legte die Hände auf die hölzernen Schultern und richtete den Mann auf, lehnte ihn mit dem Rücken wieder gegen die schiefe Mülltonne. Johnny meinte, er habe sich die ganze Zeit vorgestellt, der Mülleimer würde polternd umkippen und er vor Schreck laut losschreien. Aber die Tonne kippte nicht um und Johnny schrie nicht. Ich bin der tiefen Überzeugung, Steffi, dass wir armen Kreaturen immer vom Schlimmsten ausgehen, weil es in Wahrheit so selten eintrifft. So erscheint uns das Mittelmäßige schon erträglich – fast gut sogar – und wir kommen zurecht.« »Glaubst du das wirklich?« »Na klar! Jedenfalls wollte Johnny gerade gehen, als er eine Schachtel Zigaretten entdeckte, die in den Sand gefallen war. Und weil das Schlimmste vorbei und es nur noch mittelmäßig war, konnte er sie aufheben – er nahm sich sogar vor, George Wournos zu erzählen, dass er das getan hatte, für den Fall, dass die Polizei sie auf Fingerabdrücke absuchte und seine auf der Zellophanfolie fand – und wieder in die Brusttasche des weißen Hemdes stecken. Dann ging er zurück zu Nancy, die in ihrer Trainingsjacke mit dem BCHS-Aufdruck dastand, wahrscheinlich die Arme um sich geschlungen hatte und von einem Bein aufs andere hüpfte, weil ihr in der knappen kurzen Hose kalt war. Obwohl natürlich nicht die Kälte schuld war, dass sie fror. Jedenfalls war ihr nicht mehr lange kalt, denn die beiden liefen runter zur Bücherei, und ich wette, wenn man die Zeit gestoppt hätte, wäre es ein Rekord für die halbe Meile gewesen oder wenigstens nah dran. Nancy hatte mehrere Vierteldollarmünzen in einem kleinen Portemonnaie in ihrer Trainingsjacke. Sie rief George Wournos an, der sich gerade anzog – er war der Inhaber von Western Auto, da halten die Kirchenfrauen jetzt die Basare ab.« Da Stephanie in ihrer Kolumne über mehrere Basare berichtet hatte, nickte sie. »George fragte, ob der Mann mit Sicherheit tot sei, und Nancy bejahte. Dann bat er sie, ihm Johnny zu geben, und er stellte Johnny dieselbe Frage. Johnny bejahte ebenfalls. Er erklärte, er habe den Mann geschüttelt, er sei steif wie ein Brett. Er schilderte George, wie der Mann zur Seite gekippt sei, die Zigaretten aus der Tasche gerutscht seien und er sie wieder zurückgesteckt hätte. Johnny glaubte, George würde ihm die Hölle heiß machen, aber es passierte nichts. Niemand rügte ihn deswegen. Nicht wie bei den Krimis im Fernsehen, was?« »Bis jetzt noch nicht«, erwiderte Stephanie und dachte, dass die Geschichte sie doch ein klein bisschen an eine Folge von Mord ist ihr Hobby erinnerte, die sie mal gesehen hatte. Doch angesichts des Gesprächs, das dieser Geschichte vorausgegangen war, nahm sie nicht an, dass Angela Lansbury auftauchen und das Rätsel lösen würde … obwohl irgendjemand irgendetwas herausgefunden haben musste. Immerhin wussten die Männer ja, dass der Tote aus Colorado stammte. »George sagte Johnny, er und Nancy sollten schnell zum Strand zurücklaufen und dort auf ihn warten«, fuhr Dave fort. »Er sagte, sie sollten aufpassen, dass niemand näher herankäme. Johnny erklärte sich einverstanden. George sagte: ›Wenn ihr die Fähre um halb acht verpasst, John, schreibe ich dir und deiner Freundin eine Entschuldigung.‹ Johnny meinte, das wäre das Letzte, über das er sich im Moment Gedanken machen würde. Dann kehrte er mit Nancy Arnault zurück an den Hammock Beach, jetzt trabten sie gemächlich, anstatt zu rennen.« Das konnte Stephanie verstehen. Vom Hammock Beach nach Moosie Village ging es bergab. Der Rückweg war anstrengender, zumal jetzt nicht mehr so viel Adrenalin durch ihr Blut rauschte. »In der Zwischenzeit«, erklärte Vince, »rief George Wournos Doc Robinson in der Beach Lane an.« Er hielt inne, lächelte wie in Gedanken versunken – oder vielleicht auch um des Effektes willen. »Dann sagte er mir Bescheid.« 6 »Ein Mordopfer liegt am einzigen öffentlichen Strand der Insel und der örtliche Gesetzesvertreter ruft den Herausgeber der örtlichen Zeitung an?«, fragte Stephanie. »Mensch, das ist wirklich was anderes als in Mord ist ihr Hobby!« »Das Leben an der Küste von Maine ist selten so wie in Mord ist ihr Hobby«, sagte Dave trocken, »und damals lief es hier nicht anders als heute, Steffi, besonders wenn die Urlauber fort sind und nur noch wir da sind – die Einheimischen, die alle im selben Boot sitzen. Das ist nichts Romantisches, nur irgendwie … keine Ahnung, nenn es Sonnenscheinpolitik, wie in Korea. Wenn alle wissen, was es zu wissen gibt, braucht sich niemand unnütz das Maul zu zerreißen. Allerdings: Mordopfer! Gesetzesvertreter! Du preschst aber ganz schön weit vor, was?« »Daraus kannst du ihr keinen Vorwurf machen«, entgegnete Vince. »Wir haben ihr den Floh selbst ins Ohr gesetzt, als wir ihr von dem vergifteten Eiskaffee drüben in Tashmore erzählten. Steffi, Chris Robinson hat zwei meiner Kinder auf die Welt geholt. Meine zweite Frau Ariette, die ich sechs Jahre nach Joannes Tod geheiratet habe, war gut mit den Robinsons befreundet, war in der Schule sogar mit Chris’ Bruder Henry zusammen. Es ist so, wie Dave sagt, aber es war mehr als rein geschäftlich.« Er stellte sein Glas Cola (das er »meine Droge« nannte) auf der Brüstung ab, zog den Kopf ein und breitete die Hände aus. Stephanie fand die Geste charmant und entwaffnend – ich habe nichts zu verbergen, besagte sie. »Wir hocken hier draußen ziemlich dicht beisammen. So war es schon immer, und so wird’s wohl auch bleiben, denn viel größer werden wir hier nicht werden.« »Gott sei Dank«, grummelte Dave. »Bloß keinen scheiß Wal-Mart. Entschuldige die Ausdrucksweise, Steffi.« Sie lächelte ihn an und sagte: »Schon gut.« »Jedenfalls«, fuhr Vince fort, »möchte ich jetzt, dass du den Gedanken an Mord vorerst vergisst, Steffi. In Ordnung?« »Ja.« »Ich denke, am Ende wirst du zu dem Schluss kommen, dass du ihn weder gänzlich vom Tisch wischen noch richtig drauf stehen lassen kannst. So ist das mit vielen Dingen bei Colorado Kid und deshalb eignet sich die Geschichte nicht für den Globe. Von Yankee, Downeast und Coast ganz zu schweigen. Sie hat sich nicht mal richtig für den Weekly Islander geeignet. Wir haben natürlich drüber berichtet, klar, schließlich sind wir ’ne Zeitung, Nachrichten sind unser Metier – auf mich warten Ellen Dunwoodie und der Hydrant, vom kleinen Sohn der Lesters ganz zu schweigen, der in Boston eine neue Niere bekommt, vorausgesetzt er hält lange genug durch –, und natürlich musst du den Leuten von der Heuwagenfahrt draußen auf dem Gernerd-Hof berichten, oder?« »Das Picknick nicht zu vergessen!«, murmelte Stephanie. »Essen bis zum Umfallen – das Volk wird sich erheben, wenn es das nicht erfährt.« Die Männer lachten. Dave schlug sich sogar mit der Hand auf die Brust, um ihr zu zeigen, wie gut der Witz gewesen war. »Ah jo, mein Mädchen!«, stimmte Vince grinsend zu. »Aber manchmal passieren Dinge, da finden zum Beispiel zwei Schüler beim morgendlichen Trainingslauf eine Leiche am schönsten Strand des Ortes, und man sagt sich: Es muss doch eine Story dahinterstecken. Keine simple Nachricht: was, warum, wann, wo und wie, sondern eine Geschichte – und dann musst du feststellen, dass nichts zu finden ist. Dass es wirklich nur eine Reihe zusammenhangloser Tatsachen um ein echtes, ungelöstes Rätsel ist. Und das, meine Liebe, wollen die Leute nicht. Es macht sie nervös. Das sind zu viele Wellen. Die machen seekrank.« »Amen«, schloss Dave. »So, nun erzähl mal den Rest, solange es noch hell ist!« Und das tat Vince Teague. 7 »Wir waren fast von Anfang an dabei – mit ›wir‹ meine ich Dave und mich, den Weekly Islander –, auch wenn ich nichts ins Blatt gesetzt habe, was George Wournos nicht vorher freigegeben hatte. Damit hatte ich kein Problem, weil an der Sache nichts war, das das Wohl der Insel zu beeinträchtigen schien. Nach diesen Kriterien entscheiden Zeitungsleute ständig, Steffi – dir wird es mal genauso gehen –, und irgendwann gewöhnt man sich dran. Man muss nur darauf achten, dass man sich nie zu wohl dabei fühlt. Die beiden Schüler liefen also zurück und bewachten die Leiche, auch wenn es da nicht viel zu bewachen gab. Bis George und Doc Robinson eintrafen, sahen sie nur vier Autos, die in Richtung Stadt fuhren. Keines verlangsamte die Geschwindigkeit, bloß weil zwei Jugendliche auf der Stelle joggten oder Dehnübungen am kleinen Parkplatz von Hammock Beach machten. Als George und der Doc eintrafen, schickten sie Johnny und Nancy fort, und hier verlassen die beiden unsere Geschichte. Sie waren neugierig, schätze ich, wie Menschen halt sind, aber letztendlich bestimmt froh, gehen zu können. George stellte seinen Ford auf dem Parkplatz ab, der Doc nahm seine Tasche, dann gingen sie zu dem Mann, der gegen die Mülltonne gelehnt dasaß. Er war wieder ein bisschen zur Seite gesackt, so dass der Doc ihn zuerst wieder richtig hinsetzte. ›Ist er tot, Doc?‹, fragte George. ›Und wie! Der ist seit mindestens vier Stunden tot, vielleicht sogar seit sechs und mehr‹, antwortete der Doc. (Ungefähr in dem Moment kam ich angefahren und parkte meinen Chevy neben Georges Ford.) ›Der ist steif wie ein Brett. Rigor mortis.‹ ›Was glaubst du, wie lange er hier schon liegt? Seit Mitternacht?‹, fragte George dann. ›Der kann hier schon länger liegen, wenn du mich fragst‹, sagte der Doc, ›ich kann nur mit Sicherheit sagen, dass er seit heute Nacht zwei Uhr tot ist. Wegen der Totenstarre. Wahrscheinlich ist er schon seit Mitternacht tot, aber in solchen Fragen bin ich kein Experte. Wenn starker auflandiger Wind herrschte, könnte das Einfluss auf das Einsetzen der Totenstarre gehabt haben.‹ ›Gestern Nacht war kein Wind‹, sagte ich, als ich mich zu den beiden gesellte. ›Es war so ruhig und still wie in der Kirche.‹ ›Na, sieh mal einer an, noch einer, der seinen Senf dazugeben will‹, meinte Doc Robinson. ›Möchte der rasende Reporter vielleicht den Todeszeitpunkt feststellen?‹ ›Nein‹, sagte ich. ›Das überlasse ich lieber dir.‹ ›Und ich überlasse das lieber dem Amtsarzt‹, entgegnete er. ›Das ist Cathcart, drüben in Tinnock. Dem zahlt der Staat elf Riesen pro Jahr zusätzlich für seine Leichenfledderei. Nicht genug, meiner bescheidenen Meinung nach, aber jedem das Seine. Ich bin nur allgemeinpraktischer Arzt. Aber … ah jo, dieser Kerl hier war um zwei Uhr tot, so viel ist sicher. Als der Mond unterging.‹ Dann standen wir drei ungefähr eine Minute lang einfach nur da und betrachteten ihn, als würden wir trauern. Unter gewissen Umständen kann eine Minute furchtbar kurz sein, aber in so einer Situation ist sie schrecklich lang. Ich erinnere mich an das Geräusch des Windes. Er war noch schwach, frischte von Osten aber langsam auf. Wenn man auf der dem Festland zugewandten Seite der Insel steht und der Wind von Osten kommt, dann hat er so einen einsamen Klang …« »Ich weiß«, sagte Stephanie leise. »Wie ein Heulen.« Die Männer nickten. Stephanie konnte nicht wissen, dass dieses Geräusch im Winter manchmal schrecklich war. Aber es gab keinen Grund, ihr das zu sagen. »Schließlich bat George den Doc, einmal zu schätzen, wie alt der Mann sein könnte. Ich glaube, er tat es nur, um das Schweigen zu brechen. ›Ich würde ihn auf rund vierzig schätzen, plus oder minus fünf Jahre‹, sagte der Doc. ›Was meinst du, Vincent?‹ Ich nickte. Vierzig erschien mir richtig. Mir ging durch den Kopf, wie furchtbar es ist, mit vierzig sterben zu müssen – was für eine Schande. Da ist ein Mann in den besten Jahren. Dann entdeckte der Doc etwas, das ihn interessierte. Er stützte sich auf ein Knie (was bei einem Mann von seiner Statur nicht leicht ist, er musste um die hundertdreißig Kilo wiegen und war höchstens eins fünfundsiebzig groß) und nahm die rechte Hand des Toten hoch, die im Sand lag. Die Finger waren leicht gekrümmt, als hätte der Tote sie im Sterben zu einem Fernrohr formen wollen. Als der Doc die Hand hochhielt, sahen wir, dass innen an den Fingern und auf dem Handteller Sand haftete. ›Was soll das sein?‹, fragte George. ›Sieht mir nach normalem Sand aus.‹ ›Ist es auch, aber warum klebt er an den Fingern?‹, gab Doc Robinson zurück. ›Diese Mülltonne ist wie alle anderen weit über der Hochwasserlinie aufgestellt, das weiß jeder, der einen Funken Verstand im Kopf hat. Gestern Nacht hat es nicht geregnet. Der Sand ist knochentrocken. Außerdem: Seht mal hier!‹ Er hob die linke Hand der Leiche an. Wir konnten erkennen, dass der Tote einen Ehering trug, doch an den Fingern und auf dem Handteller war kein Sand. Der Doc legte die Hand wieder hin und hob noch mal die andere hoch. Er kippte sie ein wenig, so dass mehr Licht auf die Innenfläche fiel. ›Da!‹, sagte er. ›Seht ihr das?‹ ›Was ist das?‹, fragte ich. ›Fett? Ein bisschen Schmiere?‹ Grinsend sagte er: ›Du gewinnst den Teddybär, Vincent. Siehst du auch, wie die Finger gekrümmt sind?‹ ›Ja, als würde er damit ein Fernrohr bilden wollen‹, meinte George. Inzwischen knieten wir beide neben dem Doc, es sah aus, als sei der Mülleimer ein Altar und wir wollten den Toten durch unser Gebet wieder zum Leben erwecken. ›Nein, das glaube ich nicht‹, sagte der Doc, und ich merkte etwas, Steffi: Er war aufgeregt, und zwar so, wie man es nur ist, wenn man etwas herausgefunden hat, mit dem man normalerweise niemals konfrontiert würde. Er blickte dem Toten ins Gesicht (das nahm ich zumindest an, es stellte sich heraus, dass er etwas tiefer schaute), dann wieder auf die gekrümmte rechte Hand. ›Das sehe ich ganz anders.‹ ›Was denn dann?‹, fragte George. ›Ich möchte das hier gerne der Polizei und dem Staatsanwalt melden, Chris. Ich habe keine Lust, den Vormittag auf den Knien zu verbringen, weil du Ellery Queen spielst.‹ ›Seht ihr, dass der Daumen fast den Zeige-und Mittelfinger berührt?‹, fragte der Doc. Natürlich konnten wir das erkennen. ›Wenn dieser Typ im Sterben durch seine zum Fernrohr gekrümmten Finger geschaut hätte, wäre der Daumen über den Fingern und würde den Mittel-und den Ringfinger berühren. Probiert es aus, wenn ihr mir nicht glaubt!‹ Ich versuchte es und er hatte natürlich Recht. ›Das soll kein Rohr oder Schlauch sein‹, erklärte der Doc und berührte die rechte Hand des Toten abermals mit den Fingern. ›Das ist wie eine Pinzette. Dazu das Fett und der Sand auf dem Handteller und auf den Fingerkuppen – was sagt euch das?‹ Ich wusste es, aber da George der Gesetzesvertreter war, ließ ich ihm den Vortritt. ›Sieht aus, als hätte er etwas gegessen, als er starb‹, antwortete er. ›Aber wo ist das geblieben, verdammt noch mal?‹ Der Doc wies auf den Hals des Toten. Selbst Nancy Arnault hatte bemerkt, dass er leicht geschwollen wirkte. ›Ich vermute, dass das, woran er erstickt ist, noch da drin sitzt. Gib mir mal meine Tasche, Vincent!‹ Ich reichte sie ihm. Er versuchte, darin herumzukramen, musste aber feststellen, dass er nur eine Hand frei hatte und sein ganzes Gewicht auf einem Knie balancierte: Der Doc war groß, er musste sich mit mindestens einer Hand abstützen, um nicht umzukippen. Deshalb schob er die Tasche zu mir zurück und sagte: ›Ich habe da zwei Ohrenspiegel drin, Vincent, will sagen, meine kleinen Untersuchungsleuchten. Eine, die ich jeden Tag benutze, und eine andere, die noch ganz neu ist. Ich brauche beide.‹ ›Also, Moment mal, ich weiß ja nicht‹, sagte George. ›Ich dachte, das überlassen wir alles Cathcart vom Festland. Der wird schließlich vom Staat für diese Arbeit bezahlt.‹ ›Ich übernehme die Verantwortung‹, erklärte Doc Robinson. ›Neugier kann gefährlich sein, schon klar, aber der Erfolg ist manchmal das Risiko wert. Ihr ruft mich hier nach draußen in die feuchte Kälte, ohne dass ich eine Tasse Tee getrunken hätte, nicht mal ’ne Scheibe Toast hab ich gegessen. Da möchte ich wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis haben, wenn’s recht ist. Vielleicht funktioniert es nicht, aber ich habe so ein Gefühl … Vincent, nimm mal diese Leuchte! George, du nimmst die neue, aber lass sie bitte nicht in den Sand fallen, ja? Die kostet nämlich zweihundert Dollar. Also, ich bin seit, ich sag mal, seit meinem siebten Lebensjahr nicht mehr wie ein kleines Kind auf allen vieren gewesen und hab Pferdchen gespielt, und wenn ich mich noch lange in dieser Position halten muss, kippe ich mit Sicherheit um und falle auf diesen Kerl. Macht also schnell und tut, was ich euch sage! Habt ihr schon mal gesehen, wie die Angestellten im Museum zwei Punktstrahler auf ein kleines Bild richten, so dass es hell ist und schön aussieht?‹ George kannte das nicht, deshalb erklärte Doc Robinson es ihm. Als er fertig war (und überzeugt war, dass George Wournos es verstanden hatte), kniete der Chefredakteur der Inselzeitung auf einer Seite der Leiche und der Wachtmeister der Insel auf der anderen, jeder mit einer kleinen Stableuchte des Docs in der Hand. Bloß dass wir kein Kunstwerk beleuchteten, sondern die Kehle des Toten, damit der Doc genauer hineinsehen konnte. Unter Schnaufen und Grunzen brachte er sich in die richtige Position – unter anderen Umständen hätte es lustig sein können, wenn ich nicht irgendwie Angst gehabt hätte, dass er an Ort und Stelle einen Herzinfarkt bekommt. Dann streckte er die Hand aus, schob sie in den Mund des Toten und hebelte den Kiefer aus, als sei er ein Scharnier. Was er ja eigentlich auch ist, wenn man es recht bedenkt. ›So‹, sagte er. ›Näher ran, Leute! Ich glaube, er beißt nicht mehr, und falls ich mich irre, werde ich selbst für den Fehler büßen müssen.‹ Wir rückten näher und leuchteten in die Kehle des Toten. Sie war rot und schwarz, nur die Zunge leuchtete rosa. Der Doc schnaufte und grunzte und sagte zu sich selbst: ›Noch etwas mehr!‹ Dann zog er den Unterkiefer weiter herunter. Er wies uns an: ›Höher, richtig tief in den Schlund strahlen!‹ Wir versuchten es, so gut wir konnten. Der Lichteinfall veränderte sich gerade so weit, dass die Zunge nicht mehr rosa war und dieses Ding hinten im Mund bestrahlte, wie heißt es noch gleich …« »Zäpfchen«, sagten Stephanie und Dave wie aus einem Mund. Vince nickte. »Ah jo, genau. Und direkt dahinter konnte ich etwas erkennen. Es war dunkelgrau. Das Ganze dauerte nur zwei oder drei Sekunden, aber Doc Robinson war schon zufrieden. Er nahm die Finger aus dem Mund des Toten. Die Unterlippe machte ein sonderbar schmatzendes Geräusch, als sie wieder auf das Zahnfleisch traf, aber der Kiefer blieb im Großen und   Ganzen da, wo er gewesen war. Dann setzte sich der Doc zurück und schnappte nach Luft. ›Ihr müsst mir gleich beim Aufstehen helfen‹, sagte er, als er wieder genug Luft zum Sprechen hatte. ›Meine Beine sind von den Knien abwärts eingeschlafen. Verflucht, was bin ich auch so schwer!‹ ›Ich helfe dir gleich‹, sagte George. ›Hast du was gesehen? Ich nämlich nicht. Du, Vincent?‹ ›Ich glaub schon‹, erwiderte ich. In Wahrheit wusste ich verdammt gut, was ich gesehen hatte – ’tschuldigung, Steffi –, aber ich wollte nicht vor ihm angeben. ›Ah jo, da hinten ist was drin‹, sagte der Doc. Er war immer noch atemlos, aber klang zufrieden, als hätte er sich gerade an einer juckenden Stelle gekratzt. ›Cathcart wird es herausholen, dann werden wir wissen, ob es ein Stück Steak oder Schwein oder sonst was ist, aber das ist nebensächlich. Was wichtig ist, wissen wir jetzt: Er kam hier raus mit einem Stück Fleisch in der Hand und setzte sich zum Essen hin, wollte vielleicht bewundern, wie das Mondlicht aufs Wasser fällt. Lehnte sich gegen die Mülltonne. Und erstickte, genau wie in dem Kinderlied von den zehn kleinen Negerlein. Am letzten Bissen. Kann so gewesen sein, muss aber nicht.‹ ›Als er tot war, könnte eine Möwe herangeflogen sein und ihm den Rest aus der Hand gepickt haben‹, meinte George. ›Nur das Fett blieb zurück.‹ ›Genau‹, bestätigte der Doc. ›Helft ihr beiden mir jetzt hoch oder muss ich zu Georges Auto rüberkriechen und mich am Türgriff hochziehen?‹« 8 »Und, was meinst du, Stetti?«, fragte Vince und nahm einen erfrischenden Schluck von seiner Cola. »Ist das Rätsel gelöst? Der Fall abgeschlossen?« »Im Leben nicht!«, rief sie und registrierte kaum das anerkennende Lachen der Männer. Ihre Augen blitzten. »Die Sache mit der Todesursache vielleicht, aber … was war das denn überhaupt, was er im Hals hatte? Oder greife ich damit vor?« »Meine Liebe, man kann bei einer Geschichte, die keine ist, gar nicht vorgreifen«, erklärte Vince, ebenfalls mit funkelnden Augen. »Du kannst fragen, was du willst. Ich antworte nach bestem Wissen. Dave auch, denke ich.« Wie um das zu beweisen, fügte der geschäftsführende Herausgeber des Weekly Islander hinzu: »Es war ein Stück Rindfleisch, wahrscheinlich Steak, eher von den besseren Stücken – Filet, Lende oder Filet mignon. Es war medium gegart. Auf dem Totenschein stand letztlich Tod durch Ersticken, auch wenn der Mann, den wir immer ›Colorado Kid‹ nennen, außerdem eine starke zerebrale Embolie erlitt – also einen Schlaganfall. Cathcart entschied, der Schlaganfall sei durch das Ersticken hervorgerufen worden, aber wer weiß, vielleicht war es auch umgekehrt. Du siehst also, aus der Nähe betrachtet, wird selbst die Todesursache unsicher.« »Eine kleine Geschichte gibt es immerhin und die werde ich dir jetzt erzählen«, sagte Vince. »Sie handelt von einem jungen Mann, der in mancher Hinsicht so war wie du, Stephanie, auch wenn ich mir einbilde, dass du an bessere Menschen geraten bist, was den letzten Schliff an deiner Ausbildung angeht. An mitfühlendere Menschen. Dieser Mann war jung – dreiundzwanzig, glaube ich – und kam wie du von weiter her (in seinem Fall aus dem Süden, nicht wie du aus dem Mittleren Westen). Er machte ebenfalls ein Praktikum, nur auf dem Gebiet der Rechtsmedizin.« »Das heißt, er arbeitete bei diesem Dr. Cathcart und fand etwas heraus?« Vince grinste. »Klug kombiniert, mein Mädchen, aber du irrst dich, was seinen Chef angeht. Der junge Mann hieß … wie hieß er noch gleich, Dave?« Dave Bowies Namensgedächtnis war so legendär wie Annie Oakleys Treffsicherheit mit dem Gewehr. Ohne zu zögern, sagte er: »Devane, Paul Devane.« »Genau, jetzt fällt es mir auch wieder ein. Dieser junge Mann also, Devane, machte ein dreimonatiges Praktikum bei zwei Beamten der State Police, die der Staatsanwaltschaft zugeteilt waren. Nur muss man in seinem Fall wohl eher sagen, dass er zu diesem Praktikum verdonnert war. Er wurde dort sehr schlecht behandelt.« Vince’ Blick verdüsterte sich. »Alte Leute, die junge Menschen schlecht behandeln, obwohl diese nur etwas lernen wollen, gehören rausgeworfen. Das ist meine Meinung. Leider werden sie viel zu oft befördert, anstatt die Kündigung auf den Tisch zu bekommen. Ich habe mich nie gewundert, dass Gott die Welt ein bisschen schief ins All gehängt hat: Es gibt so vieles, das bei uns nicht rund läuft. Dieser junge Mann, dieser Devane, war vier Jahre zur Universität von Georgetown oder so gegangen, er wollte lernen, wie man Kriminelle überfuhrt. Und gerade als er zu blühen begann, sandte ihm das Schicksal zwei donutmampfende Beamte, die ihn zum Laufburschen degradierten, der zwischen Augusta und Waterville Akten hin-und herfahren und bei Unfällen die Gaffer verscheuchen musste. Gelegentlich durfte er vielleicht als Belohnung einen Fußabdruck vermessen oder Fotos von Reifenspuren machen. Aber selten, schätze ich. Sehr selten. Jedenfalls waren diese beiden Prachtexemplare des Polizeiwesens – und ich hoffe bei Gott, dass sie inzwischen das Zeitliche gesegnet haben – zufällig gerade in Tinnock Village, als die Leiche von Colorado Kid am Hammock Beach gefunden wurde. Sie untersuchten den Brand eines Mietshauses mit ›unklarer Ursache‹. So drücken wir uns aus, wenn wir in der Zeitung über so was berichten. Die beiden hatten ihren Prügelknaben dabei, der allmählich seinen Idealismus verlor. Wenn der Junge zwei gute Beamte von der Staatsanwaltschaft erwischt hätte – und ich habe einige kennen gelernt, auch wenn die verfluchte Bürokratie den Strafvollzug in unserem Staat so kompliziert macht – oder wenn das Institut für Rechtsmedizin ihn in einen anderen Staat geschickt hätte, wäre er vielleicht einer von den Typen geworden, die man heute im Fernsehen in CSI – Den Tätern auf der Spur sieht –« »Das gucke ich gern«, unterbrach ihn Dave. »Viel realistischer als Mord ist ihr Hobby. Wer hat Lust auf einen Muffin? Ich hab welche in der Vorratskammer.« Tatsächlich hatten sie alle Hunger, und die Geschichte wurde unterbrochen, bis Dave mit den Muffins und einer Rolle Küchenkrepp zurückkam. Als jeder einen Kürbismuffin und ein Stück Papier für die Krümel in der Hand hielt, bat Vince Dave, mit dem Bericht fortzufahren. »Ich fange nämlich an zu moralisieren. Wenn ich weitermache, sitzen wir hier noch bis zum Einbruch der Dunkelheit.« »Ich finde, du schlägst dich gut«, sagte Dave. Vince legte seine knochige Hand auf seine magere Brust. »Ruf den Notarzt, Steffi, mein Herz hat gerade ausgesetzt!« »Wenn es wirklich so weit ist, findest du das nicht mehr lustig, altes Haus«, sagte Dave. »Guck dir an, wie ihm die Krümel runterfallen«, spottete Vince. »Am Anfang des Lebens sabbert man, am Ende läuft man aus, hat meine Mutter immer gesagt. Los, Dave, erzähl weiter, aber tu uns einen Gefallen und mach erst den Mund leer.« Dave gehorchte. Dann trank er einen großen Schluck Cola, um alles hinunterzuspülen. Stephanie hoffte, dass ihr Verdauungssystem in Dave Bowies Alter noch derartige Herausforderungen bestehen würde. »Also«, sagte er. »George machte sich nicht die Mühe, den Strand abzusperren, denn das hätte die Leute nur angezogen wie ein Kuhfladen die Fliegen. Die beiden Hohlköpfe von der Staatsanwaltschaft sperrten aber doch ab. Ich fragte den einen, wozu das gut sein solle, und er sah mich an, als sei ich völlig minderbemittelt. ›Na, das ist doch wohl ein Tatort, oder?‹, fragte er. ›Vielleicht ja, vielleicht auch nicht‹, gab ich zurück, ›aber wenn die Leiche weg ist, was sollen dann noch für Beweise übrig bleiben, die der Wind nicht längst weggeweht hat, hm? Was meinen Sie?‹ Inzwischen hatte der Ostwind nämlich heftig aufgefrischt. Aber sie ließen sich nicht beirren, und ich gebe zu, dass die Absperrung ein nettes Bild auf der Titelseite abgab, stimmt’s, Vince?« »Ah jo, ein Foto mit Flatterleine und der Aufschrift TATORT verkauft sich immer gut«, stimmte Vince zu. Er hatte bereits die Hälfte seines Muffins vertilgt, ohne dass Stephanie auf seinem Papiertuch Krümel entdecken konnte. Dave sagte: »Als Cathcart, der Amtsarzt, die Leiche untersuchte, war Devane noch dabei: die Hand mit den Sandspuren, die Hand ohne, dann den Mund. Aber gerade als der Leichenwagen des Beerdigungsinstituts von Tinnock eintraf (er hatte die Fähre um neun Uhr genommen), fiel den beiden Beamten wieder ein, dass Devane noch da war und womöglich was lernen könnte. Das konnten sie natürlich nicht zulassen, also schickten sie ihn Kaffee, Donuts und Gebäck holen, für sie selbst, Cathcart, dessen Assistenten und für die beiden Leute vom Beerdigungsinstitut, die gerade angekommen waren. Devane hatte keine Ahnung, wo er was Essbares herbekommen sollte, und weil ich inzwischen auf der falschen Seite der Flatterleine stand, fuhr ich mit ihm zu Jennys Bäckerei. Es dauerte eine halbe Stunde, vielleicht etwas länger, die meiste Zeit saßen wir im Auto. Ich bekam eine ziemlich gute Vorstellung von der Lage des jungen Mannes, auch wenn er absolut diskret war; er plauderte nicht aus dem Nähkästchen, gar nichts, er sagte nur, er lerne nicht so viel, wie er gehofft habe, und angesichts der Aufgabe, die er zu erledigen hatte, während Cathcart die In-situ-Untersuchung durchführte, musste ich ja nur eins und eins zusammenzählen. Als wir zurückkamen, war die Untersuchung natürlich schon vorbei. Die Leiche war bereits im Leichensack. Das hielt einen dieser Beamten – den großen, fleischigen, der O’Shanny hieß – nicht davon ab, Devane dumm anzumachen. ›Was hat das so lange gedauert, wir frieren uns hier draußen schon den Arsch ab‹ und so weiter und so fort. Devane nahm das einfach so hin – keine Klagen, keine Ausreden, war ziemlich gut erzogen, der Junge –, deshalb schaltete ich mich ein und sagte, wir wären so schnell wie möglich gewesen. ›Sie wollen doch nicht, dass wir die Geschwindigkeitsbeschränkungen übertreten, oder?‹, fragte ich. Ich wollte die Situation ein bisschen auflockern, die Leute zum Lachen bringen, du weißt schon. Funktionierte aber nicht. Der andere Beamte, er hieß Morrison, sagte: ›Wer hat denn Sie gefragt, Sie Schreiberling? Gibt es keinen Ramschverkauf, über den Sie berichten müssen oder so was Ähnliches?‹ Sein Kollege musste immerhin darüber lachen, doch der junge Mann, der eigentlich Rechtsmedizin lernen sollte und stattdessen eingebläut bekam, dass O’Shanny den Kaffee mit Milch und Morrison ihn schwarz trank, bekam einen knallroten Kopf. Sicher, Steffi, man kommt nicht in das Alter, in dem ich damals war, ohne öfter mal einen Arschtritt von Trotteln zu bekommen, die ein bisschen Autorität haben, dennoch tat mir dieser Devane Leid. Er schämte sich nicht nur für sich selbst, sondern auch für mich. Ich merkte, dass er versuchte, sich bei mir zu entschuldigen, aber bevor er das konnte (oder ehe ich ihm sagen konnte, dass das nicht nötig sei, da er nichts Falsches getan habe), nahm O’Shanny ihm das Tablett mit dem Kaffee ab und reichte es an Morrison weiter, dann riss er mir die beiden Tüten mit Gebäck aus den Händen. Danach sagte er Devane, er solle sich unter dem Band hindurchducken und die Tasche mit den persönlichen Dingen des Toten an sich nehmen. ›Unterschreiben Sie das Sicherstellungsprotokoll!‹, befahl er, als spreche er mit einem Fünfjährigen, ›und sorgen Sie dafür, dass niemand in die Nähe der Tasche kommt, bis ich sie mir wiederhole. Und Sie selbst stecken nicht die Nase hinein, haben Sie mich verstanden?‹ Jawohl, Sir, sagte Devane und lächelte mich zurückhaltend an. Ich beobachtete, wie er von Dr. Cathcarts Assistenten die Tasche mit den Beweismitteln entgegennahm. Sie hatte Ähnlichkeit mit so einer Sammelmappe, wie sie im Büro benutzt wird. Ich sah zu, wie er das Protokoll aus dem durchsichtigen Umschlag zog und … weißt du, wofür der Zettel gut ist, Steffi?« »Ich glaube schon«, sagte sie. »Geht es nicht darum, dass der Staat im Fall einer Strafverfolgung lückenlos dokumentieren kann, in wessen Besitz sich die am Tatort gefundenen Gegenstände jeweils befanden, und zwar vom Moment des Auffindens bis zu dem Punkt, wenn sie irgendwann als Beweisstucke im Gerichtssaal auftauchen?« »Schön ausgedrückt«, sagte Vince. »Du solltest Schriftstellerin werden.« »Sehr lustig«, gab Stephanie zurück. »Doch, doch, so ist unser Vincent, ein richtiger Oscar Wilde«, sagte Dave. »Wenn er nicht gerade Oskar aus der Mülltonne ist. Egal, jedenfalls beobachtete ich, wie der junge Devane seine Unterschrift unter das Sicherstellungsprotokoll setzte und es wieder in den Umschlag auf der Tasche mit den Beweismitteln schob. Dann drehte er sich um und schaute zu, wie die Packer vom Beerdigungsinstitut den Toten hinten in den Leichenwagen luden.Vince war mittlerweile in die Redaktion zurückgekehrt, um den Artikel zu schreiben, und ich fuhr ebenfalls los. Den Leuten, die mir Fragen stellten – und das waren so einige, angezogen von dem dämlichen gelben Flatterband wie Ameisen von Zucker –, sagte ich, sie könnten das alles für nur einen Vierteldollar lesen. Damals kostete der Islander nämlich nicht mehr. Jedenfalls sah ich Paul Devane damals zum letzten Mal. Er stand da und sah den beiden Gorillas dabei zu, wie sie den Toten in den Leichenwagen schoben. Doch zufällig weiß ich, dass Devane O’Shannys Anweisung missachtete, nicht in die Tasche mit den Beweismitteln zu sehen, denn ungefähr sechzehn Monate später rief er mich in der Redaktion des Islander an. Damals hatte er seinen Traum von der Rechtsmedizin bereits an den Nagel gehängt und drückte wieder die Schulbank, um Rechtsanwalt zu werden. Ob gut oder schlecht, dieser Sinneswandel war ursächlich auf die Beamten O’Shanny und Morrison zurückzuführen, dennoch war es Paul Devane, der den Unbekannten von Hammock Beach letztendlich zu Colorado Kid machte und es der Polizei ermöglichte, ihn zu identifizieren.« »Und wir brachten es exklusiv«, sagte Vince. »Größtenteils weil unser Dave Bowie dem jungen Mann einen Donut spendiert hatte und ihm das schenkte, was man mit Geld nicht kaufen kann: ein offenes Ohr und ein bisschen Verständnis.« »Na, jetzt trägst du aber ein bisschen dick auf«, sagte Dave und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich war höchstens eine halbe Stunde mit ihm unterwegs. Maximal eine Dreiviertelstunde, wenn du die Zeit dazu zählst, die ich mit ihm in der Bäckerei Schlange stand.« »Manchmal reicht das schon«, sagte Stephanie. Dave erwiderte: »Ah jo, manchmal schon, und warum auch nicht? Wie schnell erstickt ein Mensch an einem Stück Fleisch und ist danach für alle Zeiten tot?« Darauf wusste niemand etwas zu sagen. Auf dem Wasser tutete wichtigtuerisch die Yacht eines reichen Mannes, die auf den Anleger von Tinnock zusteuerte. 9 »Lass Paul Devane mal eine Zeit lang außen vor«, sagte Vince. »Dave kann dir gleich den Rest erzählen. Ich muss dir vorher noch von der Leichenfledderei berichten.« »Ah jo«, sagte Dave. »Das Ganze ist zwar keine echte Geschichte, Steffi, aber wahrscheinlich käme es jetzt als Nächstes, wenn es doch eine wäre.« Vince sagte: »Nicht dass du glaubst, Cathcart hätte sich direkt an die Autopsie gemacht, das tat er nicht. Bei dem Brand in dem Mietshaus, der O’Shanny und Morrison überhaupt in unseren entlegenen Winkel führte, waren nämlich zwei Menschen ums Leben gekommen und die waren zuerst dran. Nicht nur weil sie zuerst gestorben waren, sondern weil sie Mordopfer waren und der Unbekannte am Strand allem Anschein nach ›nur‹ ein Unfallopfer. Als er endlich bei Cathcart an die Reihe kam, waren die beiden Beamten schon wieder in Augusta – zum Glück. Ich war bei der Autopsie zugegen, weil ich damals der Einzige in der Gegend war, der einigermaßen anständige Fotos schießen konnte. Man wollte nämlich ein ›Schlaffoto‹ von dem Toten. Das ist ein spezieller Begriff, er bezeichnet nichts anderes als ein Foto von einer Leiche, das man noch in der Zeitung veröffentlichen kann. Dabei soll die Leiche aussehen, als würde sie schlafen.« Stephanie schaute gleichzeitig neugierig und entsetzt drein. »Funktioniert das denn?« »Nein«, antwortete Vince. Dann fügte er hinzu: »Na ja … vielleicht für ein Kind. Oder wenn man nur einen kurzen Blick auf das Bild wirft und ein Auge zukneift. Das Foto musste vor der Obduktion gemacht werden, weil Cathcart meinte, er würde den Unterkiefer wegen der verstopften Kehle und so vielleicht zu weit ausrenken müssen.« »Und ihr dachtet, es würde eher nach Schlafen aussehen, wenn er keinen Gürtel ums Kinn hat, der ihm den Mund zuhält?«, fragte Stephanie und musste wider Willen grinsen. Furchtbar, dass man so etwas lustig fand, aber sie konnte nicht anders; ein kleiner Teufel in ihrem Kopf entwarf eine makabre Karikatur nach der anderen. »Ja, so ähnlich«, stimmte Vince zu und musste ebenfalls lächeln. Dave auch. Wenn sie wirklich pervers war, dann war sie wenigstens nicht die Einzige, Gott sei Dank. »Das würde ja aussehen wie eine Leiche mit Zahnschmerzen.« Alle drei brachen in Gelächter aus. Stephanie dachte, dass ihr die beiden alten Vögel wirklich ans Herz gewachsen waren. »Am besten, man lacht Freund Hein ins Gesicht«, sagte Vince und nahm sein Colaglas vom Geländer. Er trank einen Schluck und stellte es zurück. »Besonders in meinem Alter. Ich spüre den Sensenmann hinter jeder Tür, rieche seinen Atem auf dem Kopfkissen neben mir, wo früher meine Frauen lagen – Gott segne die beiden –, wenn ich das Licht ausmache. Man muss ihm ins Gesicht lachen. Wie auch immer, Steffi, ich machte jedenfalls meine Fotos – meine ›Schlaffotos‹ – und sie wurden ungefähr so, wie zu erwarten war. Auf dem besten sah der Kerl aus, als würde er gerade einen gewaltigen Rausch ausschlafen oder im Koma liegen. Das haben wir dann eine Woche später gedruckt. Auch die Daily News aus Bangor brachte es, außerdem die Zeitungen in Ellsworth und Portland. Hat natürlich nichts genützt, niemand meldete sich bei uns, der ihn gekannt haben wollte, und später fanden wir heraus, dass es dafür einen sehr einleuchtenden Grund gab. In der Zwischenzeit fuhr Cathcart natürlich mit der Autopsie fort, und da die beiden Trottel aus Augusta wieder da waren, wo sie hingehörten, hatte er keine Einwände gegen meine Anwesenheit, solange ich nicht öffentlich davon sprach. Ich versicherte ihm, dass ich es niemandem erzählen würde, und hielt mich natürlich an mein Versprechen. Er ging von oben nach unten vor. Zuerst kam natürlich das Stück Steak an die Reihe, das Doc Robinson schon erspäht hatte. ›Da haben wir auch schon die Todesursache‹, sagte Cathcart. Die zerebrale Embolie (die er viel später entdeckte, als ich längst auf der Fähre nach Moosie war) änderte seine Meinung nicht. Er meinte, wenn jemand da gewesen wäre, der den Heimlich-Griff beherrscht hätte – oder wenn er ihn selbst gekonnt hätte –, wäre der Mann nie auf dem Edelstahltisch mit den Abflussrinnen gelandet. Dann kam Mageninhalt Nummer eins, das ist das, was ganz oben liegt, der Mitternachtsimbiss, der kaum verdaut war, als unser Mann starb. Es war nur das Steak. Vielleicht sechs oder sieben Bissen, gut durchgekaut. Cathcart schätzte es insgesamt auf hundertzwanzig Gramm. Dann Mageninhalt Nummer zwei, damit meine ich das Abendessen. Das war alles schon ziemlich – nun, ich will hier nicht ins Detail gehen; sagen wir einfach, der Verdauungsprozess war schon so weit fortgeschritten, dass Dr. Cathcart ohne weitere Tests mit Sicherheit sagen konnte, dass der Mann irgendetwas Fischiges gegessen hatte, wahrscheinlich mit Salat und Pommes frites, so sechs bis sieben Stunden vor seinem Tod. ›Ich bin ja nicht Sherlock Holmes, Doc‹, warf ich ein, ›aber ich könnte das noch ein wenig präzisieren.‹ ›Ach ja?‹, fragte er skeptisch. ›Ah jo‹, erwiderte ich. ›Ich denke, dass er entweder auf dem Festland bei Curly oder Jan’s Wharfside oder bei Yanko auf Moose-Look zu Abend gegessen hat.‹ ›Warum gerade da, wenn es im Umkreis von dreißig Kilometern mindestens fünfzig Restaurants gibt, wo man Fisch essen kann, auch schon im April?‹, wollte er wissen. ›Warum nicht zum Beispiel im Grey Gull?‹ ›Weil das Grey Gull sich nicht dazu herablassen würde, Fish and Chips zu servieren‹, erklärte ich, ›und das hat er gegessen.‹ Also, Steffi, bis dahin hatte ich mich gut gehalten, aber allmählich wurde mir übel. ›In den drei Läden bekommt man Fish and Chips‹, erklärte ich, ›und ich hab den dazugehörigen Essig gerochen, kaum dass Sie den Bauch aufgeschnitten hatten.‹ Dann rannte ich auf das kleine Klo und übergab mich. Aber ich hatte Recht. Noch am selben Abend entwickelte ich meine Fotos und zeigte sie direkt am nächsten Tag bei den Restaurants herum, die Fish and Chips verkaufen. Bei Yanko hatte ihn keiner gesehen, aber die Bedienung von Jan’s Wharfside erkannte ihn sofort. Sie meinte, sie hätte ihm einen Tag, bevor er gefunden wurde, eine Portion Fish and Chips und dazu eine Cola oder Cola light verkauft, das wusste sie nicht mehr ganz genau. Er hätte sich damit an einen Tisch gesetzt und aufs Wasser geschaut. Ich fragte, ob er etwas gesagt hätte, und sie meinte, eigentlich nicht, nur ›bitte‹ und ›danke‹. Ich wollte wissen, ob sie mitbekommen hätte, wo er anschließend hingegangen sei – so gegen halb sechs –, aber sie verneinte.« Vince sah Stephanie an. »Ich schätze, er lief hinunter zum Anleger, um die Fähre um sechs Uhr nach Moosie zu nehmen. Das wäre von der Zeit her ungefähr hingekommen.« »Ah jo, der Meinung war ich auch immer«, meinte Dave. Stephanie setzte sich auf. Ihr war etwas eingefallen. »Das war im April. Mitte April an der Küste von Maine, und der Typ hatte keine Jacke an, als man ihn fand. Trug er eine Jacke, als er bei Jan bedient wurde?« Die beiden Alten grinsten sie an, als hätte sie gerade eine komplizierte Gleichung gelöst. Bloß wusste Stephanie, dass die Aufgabe der Journalisten weniger darin bestand, Probleme zu lösen, als zu beschreiben, was gelöst werden musste – auch auf der bescheidenen Ebene des Weekly Islander. »Eine gute Frage«, sagte Vince. »Eine herrliche Frage«, bestätigte Dave. »Den Teil habe ich mir eigentlich aufgehoben«, sagte Vince, »aber da es ja gar keine richtige Geschichte ist, nützt es nichts, die guten Stellen aufzusparen … und wenn du Antworten suchst, mein Mädchen, der Zug ist leider abgefahren. Die Bedienung bei Jan wusste es nicht mehr mit Sicherheit und ansonsten konnte sich niemand an ihn erinnern. Wahrscheinlich können wir schon von Glück sagen: Wäre es Mitte Juli gewesen, wenn Tausende von Gästen in die Restaurants einfallen und Fish and Chips, Hummerbrötchen oder Eisbecher bestellen, dann hätte sie sich gar nicht an ihn erinnert, es sei denn, er hätte die Hose heruntergelassen und ihr seinen blanken Hintern gezeigt.« »Vielleicht nicht mal dann«, sinnierte Stephanie. »Stimmt. Jedenfalls konnte sie sich an ihn erinnern, wusste aber nicht mehr, ob er eine Jacke getragen hatte. Ich habe sie auch nicht zu stark unter Druck gesetzt, weil mir klar war, dass ihr dann vielleicht etwas einfallen würde, nur um mir einen Gefallen zu tun oder um mich loszuwerden. Sie sagte: ›Ich meine mich zu erinnern, dass er eine hellgrüne Jacke trug, Mr Teague, aber ich könnte mich auch irren.‹ Und vielleicht irrte sie sich tatsächlich, aber wer weiß … Ich neige zu der Annahme, dass sie Recht hatte. Dass er tatsächlich so eine Jacke trug.« »Aber wo ist sie geblieben?«, fragte Stephanie. »Ist denn jemals so eine Jacke aufgetaucht?« »Nein«, entgegnete Dave. »Vielleicht gab’s ja doch keine … aber was er ohne Jacke in einer rauen Aprilnacht draußen an der Küste wollte, das übersteigt absolut meine Vorstellungskraft.« Stephanie schaute Vince an, und plötzlich hatte sie tausend Fragen auf der Zunge, alle dringend, keine ausformuliert. »Warum lächelst du, Kleine?«, fragte Vince. »Weiß nicht.« Sie überlegte. »Doch, ich weiß es wohl. Ich habe so verdammt viele Fragen im Kopf, dass ich nicht weiß, welche ich zuerst stellen soll.« Beide Männer mussten lachen. Dave zog sogar ein großes Taschentuch aus der Gesäßtasche und trocknete sich damit die Augen. »Du bist eine Marke!«, rief er aus. »Alle Achtung! Ich sag dir was, Steffi: Warum machst du’s nicht so, als wärst du auf der Tupperwareparty vom Wohltätigkeitsbasar? Einfach die Augen schließen und zugreifen!« »Gut«, sagte sie und folgte seinem Rat. »Was ist mit den Fingerabdrücken des Toten? Und seinen zahnärztlichen Unterlagen? Ich dachte, wenn man Tote identifizieren will, sind diese Sachen so gut wie unfehlbar.« »Das denken die meisten, und wahrscheinlich stimmt es auch«, sagte Vince, »aber du darfst nicht vergessen, dass das 1980 war, Steffi.« Er lächelte noch immer, doch seine Augen blickten ernst. »Vor der digitalen Revolution und lange vor dem Internet, diesem wunderbaren Werkzeug, das junge Leute wie du inzwischen für selbstverständlich halten. 1980 konnte man Fingerabdrücke und zahnärztliche Unterlagen von Menschen, die bei der Polizei als ›unbekannte Personen‹ oder ›unbekannte Leiche‹ liefen, mit denen des Menschen vergleichen, den man für den Unbekannten hielt. Aber es hätte Jahre gedauert, sie mit den Daten aller gesuchten Verbrecher abzugleichen, die in den Dienststellen aktenkundig waren, beziehungsweise mit den Daten aller, die jedes Jahr in Amerika vermisst gemeldet werden. Selbst wenn man die Suche auf Männer zwischen dreißig und vierzig beschränkt hätte, wäre das nicht möglich gewesen, mein Mädchen.« »Aber ich dachte, bei den Streitkräften gab es damals schon Daten in digitalisierter Form …« »Das glaube ich nicht«, sagte Vince. »Und selbst wenn, glaube ich nicht, dass die Fingerabdrücke von Colorado Kid jemals dorthin geschickt wurden.« »Jedenfalls erfolgte die Identifizierung weder durch Fingerabdrücke noch durch Röntgenbilder des Zahnarztes«, sagte Dave. Er verschränkte die Finger über der breiten Brust und schien sich im späten Sonnenschein zu rekeln. Die Sonne stand schon tief, wärmte aber noch immer. »Ich glaube, was wir jetzt machen, nennt man ›auf den Punkt kommen‹.« »Wie hat man ihn denn dann identifiziert?« »Nun kehren wir zurück zu Paul Devane«, sagte Vince. »Und ich komme gerne auf ihn zurück, weil es bei ihm, wie gesagt, eine Geschichte zu erzählen gibt, und das ist nun mal mein Metier. Mein Ding, hätte man früher gesagt. Devane hatte ein bisschen was von Horatio Alger – klein, aber genügsam: Ohne Fleiß kein Preis; jeder ist seines Glückes Schmied.« »Arbeit ist aller Ärger Anfang«, ergänzte Dave. »Wenn du meinst«, sagte Vince ungerührt. »Ah jo, sicher, wenn du meinst. Devane verschwand mit diesen beiden bescheuerten Bullen, O’Shanny und Morrison, sobald Cathcart ihnen einen vorläufigen Bericht über die Brandopfer aus dem Mietshaus vorgelegt hatte, denn ein Erstickungstod drüben auf Moose-Lookit Island war ihnen völlig schnuppe. Cathcart wühlte derweil in den Eingeweiden des Unbekannten herum, in Anwesenheit meiner Wenigkeit. Auf den Totenschein kam Tod durch Ersticken oder wie das bei Medizinern heißt. In den Zeitungen erschien mein ›Schlaffoto‹, das unsere viktorianischen Vorfahren viel zutreffender ein Totenporträt genannt hätten. Aber niemand meldete sich bei der Staatsanwaltschaft oder der State Police in Augusta und sagte, ja, der Vermisste ist mein Vater, mein Onkel, mein Bruder. Das Beerdigungsinstitut von Tinnock lagerte ihn sechs Tage im Kühlhaus – das ist nicht vorgeschrieben, aber hat sich wie so vieles zu einer Tradition entwickelt. Das weiß jeder, der mit Toten zu tun hat, auch wenn keiner sagen kann, warum es so ist. Als die Frist ablief, als er immer noch keinen Namen hatte und niemand ihn haben wollte, machte Abe Carvey weiter und balsamierte ihn ein. Der Unbekannte kam in die firmeneigene Krypta des Instituts auf dem Friedhof Seaview …« »Das ist ja ganz schön gruselig«, sagte Stephanie. Sie hatte den Toten vor Augen, doch aus unerfindlichem Grund nicht im Sarg (obwohl man ihn bestimmt zumindest in eine billige Kiste gesteckt hatte), sondern auf einer steinernen Bahre, über ihm eine Decke. Ein nicht abgeholtes Paket im Postamt der Toten. »Äh jo, ein bisschen schon«, sagte Vince ungerührt. »Soll ich weitererzählen?« »Wenn du jetzt aufhörst, bringe ich dich um«, sagte sie. Er nickte ohne zu lächeln, aber doch zufrieden mit ihr. Sie wusste nicht, warum, aber sie spürte es deutlich. »Er blieb den Sommer und den halben Herbst in der Krypta. Als es November wurde, die Leiche immer noch keinen Namen hatte und niemand sie wollte, beschloss man, sie zu bestatten. Bevor der Boden zu hart wurde, verstehst du?« »Ja«, sagte Stephanie leise. Sie verstand es sehr gut. Vielleicht war, ohne dass Stephanie den Finger darauf hätte legen können, wieder Telepathie zwischen den beiden Alten am Werk, denn Dave erzählte die Geschichte weiter (falls man es eine Geschichte nennen konnte), ohne dass der Chefredakteur des Islander ihm ein Zeichen gegeben hätte. »Devane zog sein Praktikum mit O’Shanny und Morrison bis zum bitteren Ende durch«, sagte er. »Wahrscheinlich schenkte er den beiden am Ende der drei Monate oder des Vierteljahres sogar eine Krawatte; wie ich schon sagte, Stephanie, der junge Mann gab einfach nicht auf. Aber sobald er fertig war, reichte er seine Unterlagen bei der Uni ein – ich meine, er hätte von Georgetown gesprochen, aber nagel mich nicht drauf fest – und legte sich ins Zeug, absolvierte die Kurse, die er fürs Jurastudium brauchte. Abgesehen von zwei Dingen könnten wir Mr Paul Devane jetzt aus der Geschichte entlassen, die, wie Vince sagt, gar keine Geschichte ist, Höchstens dieser kleine Teil. Erstens lugte Devane irgendwann in die Tasche mit den Beweismitteln und begutachtete die Habseligkeiten des Toten. Zweitens wurde es ihm mit einem Mädchen ernst, und er ging ihre Eltern besuchen, das wollen Mädchen ja oft, wenn’s ernst wird. Der Vater dieses Mädchens hatte zumindest eine schlechte Angewohnheit, die damals weiter verbreitet war als heute: Er rauchte Zigaretten.« Die Kamera in Stephanies Kopf, in dem ein fähiges Hirn arbeitete (wie beide Männer wussten), zeigte eine Packung Zigaretten, die in den Sand von Hammock Beach fiel, als der Tote vornüberkippte. Johnny Gravlin (inzwischen Bürgermeister von Moose-Look) hatte sie aufgehoben und dem Mann zurück in die Tasche gesteckt. Und dann fiel Stephanie etwas anderes ein, doch sah sie es nicht wie ein Kamerabild vor sich, sondern es durchfuhr sie wie ein Blitz. Sie zuckte zusammen, als sei sie gestochen worden. Dabei stieß sie mit dem Fuß gegen ihr Glas und kippte es um. Zischend floss Cola über die verwitterten Bretter der Veranda und tropfte auf die Felsen und das Unkraut darunter. Die beiden Alten bemerkten es nicht. Sie wussten, wenn jemand einen Geistesblitz hatte. Voller Interesse und Freude beobachteten sie ihre Praktikantin. »Die Steuermarke!«, kreischte sie fast. »Auf jeder Zigarettenpackung ist die Steuermarke des Staates, wo sie gekauft wurde!« Die beiden applaudierten, leise, aber aufrichtig. 10 Dave sagte: »jetzt erzähle ich dir, was der junge Mr Devane sah, als er verbotenerweise in die Tasche mit den Beweismitteln lugte, Steffi. Ich bin überzeugt, dass er den beiden Polizisten eins auswischen wollte. Er erwartete nicht, in so einer kümmerlichen Sammlung tatsächlich etwas Aussagekräftiges zu finden. Da war zum einen der Ehering des Fremden, ein schlichter Goldring ohne jede Gravur.« »Der wurde ihm abgenommen?« Stephanie merkte, wie die beiden Alten sie ansahen, und ihr wurde klar, dass sie etwas Dummes gesagt hatte. Wenn der Mann identifiziert worden war, hatte seine Frau den Ring bekommen. Der Tote mochte sogar mit dem Ring am Finger bestattet worden sein, wenn seine Hinterbliebenen das so wünschten. Aber bis dahin war er ein Beweisstück und musste als solches behandelt werden. »Ja«, sagte sie, »natürlich. Wie dumm von mir. Aber eins noch: Irgendwo muss es doch eine Frau gegeben haben. Eine Mrs Colorado Kid, oder?« »Ja«, bestätigte Vince Teague ziemlich schwerfällig. »Wir haben sie irgendwann gefunden.« »Hatten sie Kinder?«, fragte Stephanie, weil sie fand, dass der Mann genau im richtigen Alter für eine ganze Schar von Sprösslingen war. »Lass uns erst woanders weitermachen, wenn es dir recht ist«, sagte Dave. »Kein Problem«, entgegnete Stephanie. »’tschuldigung.« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, beruhigte er sie und grinste schwach. »Will nur nicht den Faden verlieren. Das passiert schnell, wenn man keinen … wie sagst du noch mal. Vincent?« »Wenn man kein Seil zum Festhalten hat«, ergänzte Vince. Auch er lächelte, aber sein Blick war irgendwie abwesend. Stephanie fragte sich, ob der Gedanke an Colorado Kids Kinder diese Abwesenheit hervorgerufen hatte. »Genau, hier gibt’s überhaupt kein Seil zum Festhalten«, bestätigte Dave. Er überlegte und zählte dann mehrere Stichpunkte an den Fingern ab, um zu beweisen, dass er absolut nichts vergessen hatte. »In der Tasche mit den Beweismitteln war der Ehering des Verstorbenen, siebzehn Dollar in Scheinen – ein Zehner, ein Fünfer, zwei Einer – sowie ein bisschen Kleingeld, insgesamt vielleicht ein Dollar. Außerdem, sagte Devane, sei eine Münze dabei gewesen, die nicht amerikanisch war. Seiner Meinung nach war die Schrift darauf russisch.« »Russisch?«, staunte Stephanie. »Das heißt kyrillisch«, murmelte Vince. Dave fuhr fort: »Des Weiteren eine Rolle Pfefferminzbonbons und eine Packung Big-Red-Kaugummi mit nur noch einem Streifen. Ein Streichholzbriefchen mit einer Briefmarkenwerbung vorne darauf – die hast du bestimmt schon mal gesehen, bekommt man in jedem Lebensmittelgeschäft gratis –, und Devane meinte, er hätte einen rosa Abrieb auf der Zündfläche unten sehen können. Und dann die Packung Zigaretten, offen, es fehlten nur eine oder zwei. Devane glaubte, es fehlte nur eine, was der einzelne Zündstreifen auf dem Streichholzbriefchen bestätigen wurde, meinte er.« »Aber keine Geldbörse«, bemerkte Stephanie. »Nein.« »Und keinerlei Papiere.« »Nein.« »Hat mal einer die Theorie aufgestellt, dass vielleicht jemand das letzte Stück Steak und die Brieftasche des Toten gestohlen hat?«, fragte sie und musste kichern, noch ehe sie die Hand vor den Mund halten konnte. »Steffi, das haben wir überlegt und wir sind auch alle anderen Möglichkeiten durchgegangen«, sagte Vince. »Wir haben sogar erwogen, dass eines der Küstenlichter ihn am Hammock Beach abgesetzt hat.« »Sechzehn Monate nachdem Johnny Gravlin und Nancy Arnault den Mann fanden«, fuhr Dave fort, »wurde Paul Devane eingeladen, ein Wochenende bei den Eltern seiner Freundin in Pennsylvania zu verbringen. Ich nehme an, dass Moose-Lookit Island, Hammock Beach und der Tote das Letzte waren, das er damals im Kopf hatte. Er sagte, er wollte mit seiner Freundin am Abend ausgehen, ins Kino oder so. Mutter und Vater waren in der Küche, machten den Abwasch, und Paul hatte angeboten zu helfen, war aber ins Wohnzimmer verbannt worden, weil er ja nicht wisse, wo alles hingehöre. Da saß er also, schaute sich an, was gerade im Fernsehen lief, und warf einen Blick auf den Fernsehsessel von Papa Bär, und siehe da: Auf Papa Bärs kleinem Beistelltisch, direkt neben Papa Bärs Fernsehzeitung und Papa Bärs Aschenbecher, lagen Papa Bärs Zigaretten.« Dave hielt inne, grinste Stephanie an und zuckte mit den Schultern. »Schon komisch, wie so was manchmal läuft: Da tragt man sich doch, wie oft das nicht funktioniert. Wenn die Packung andersherum gelegen hätte, so dass er nicht auf den Boden, sondern auf den Deckel geschaut hätte, dann wäre der Unbekannte immer noch der Unbekannte und nicht zuerst Colorado Kid und dann Mr James Cogan aus Nederland, einer Stadt westlich von Boulder. Doch Devane schaute auf den Boden der Schachtel und somit auf die Steuermarke. Es war eine Marke wie eine Briefmarke und sie erinnerte ihn an die Schachtel Zigaretten in der Tasche mit den Beweismitteln.  Du musst wissen, Steffi, dass einer von Paul Devanes Aufpassern – ich weiß nicht mehr, ob O’Shanny oder Morrison – ebenfalls Raucher gewesen war und dass es zu Pauls Aufgaben gehörte, ihn regelmäßig mit Camel-Zigaretten zu versorgen. Die hatten zwar auch eine Marke drauf, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass es eine andere war als auf der Packung des Toten. Er meinte, dass die Marke des Bundesstaates Maine auf den Packungen, die er für den Polizisten kaufte, ein Tintenstempel gewesen sei, wie man ihn manchmal auf die Hand gedrückt bekommt, wenn man in irgendeinem Dorf zum Tanzen geht oder … keine Ahnung …« »Zum Heuwagenausflug mit anschließendem Picknick auf dem Gernerd-Hof?«, ergänzte Stephanie lachend. »Genau!«, sagte er und richtete den Finger auf sie wie eine Pistole. »Egal, jedenfalls war das nicht so eine Erkenntnis, wo man aufspringt und ›Eureka!‹ ruft. Trotzdem kam Devane während dieses Wochenendes in Gedanken immer wieder darauf zurück, denn die Erinnerung an die Schachtel ließ ihm keine Ruhe. Zum einen fand er, dass die Zigaretten des Toten auf jeden Fall einen Stempel aus Maine haben mussten, egal woher er stammte.« »Wieso?« »Weil nur eine fehlte. Welcher Raucher raucht nur eine in sechs Stunden?« »Ein schwacher Raucher?« »Ein Mann, der eine volle Schachtel hat und nicht mehr als eine Zigarette in sechs Stunden herausnimmt, ist kein schwacher Raucher, sondern ein Nichtraucher«, sagte Vince sanft. »Außerdem hatte Devane die Zunge des Toten gesehen. Ich auch – ich kniete direkt vor ihm und leuchtete ihm mit Doc Robinsons Ohrenspiegel in den Hals. Sie war bonbonrosa. Auf keinen Fall eine Raucherzunge.« »Ach, und das Streichholzbriefchen«, sagte Stephanie nachdenklich. »Nur einmal gezündet?« Vince Teague lächelte sie an. Lächelte und nickte. »Nur einmal gezündet«, bestätigte er. »Kein Feuerzeug?« »Kein Feuerzeug«, erwiderten beide Männer gleichzeitig und mussten lachen. 11 »Devane wartete bis zum Montag«, erklärte Dave, »und als die Sache mit den Zigaretten ihm immer noch im Kopf herumging – obwohl er diesen Teil seines Lebens bereits seit fast anderthalb Jahren hinter sich gelassen hatte –, rief er mich an und erklärte mir, er hätte so eine Ahnung, dass die Packung Zigaretten des Toten vielleicht, ganz vielleicht, gar nicht aus dem Staat Maine stamme. Wenn er Recht hätte, würde die Marke auf der Unterseite verraten, woher sie komme. Er äußerte Zweifel, ob der Tote überhaupt Raucher gewesen sei, meinte aber, die Steuermarke könne trotzdem ein Hinweis sein. Ich stimmte ihm zu und fragte ihn, warum er ausgerechnet mich angerufen hätte. Er sagte, ihm sei niemand anders eingefallen, der sich jetzt noch für den Fall interessieren würde. Er hatte Recht, ich interessierte mich noch dafür – Vince auch –, und er sollte auch Recht behalten mit der Steuermarke. Also, ich bin Nichtraucher, habe noch nie geraucht, wahrscheinlich ein Grund, warum ich das gesegnete Alter von fünfundsechzig in einem so hervorragenden Zustand erreicht habe.« Vince brummte und machte eine abfällige Handbewegung. Unbeirrt fuhr Dave fort. »Deshalb machte ich einen kleinen Ausflug die Straße runter zu Bayside News und fragte, ob ich mal eine Schachtel Zigaretten genauer untersuchen könne. Meine Bitte wurde mir gewährt, und so konnte ich feststellen, dass unten drauf tatsächlich ein Tintenstempel war, keine gedruckte Steuermarke. Ich rief die Staatsanwaltschaft an und sprach mit einem gewissen Murray, der für die Asservatenkammer zuständig war. Ich war so diplomatisch wie möglich, Stephanie, weil die beiden dusseligen Beamten damals noch im Dienst waren …« »Und einen wichtigen Anhaltspunkt übersehen hatten, nicht wahr?«, fragte Steffi. »Einen Hinweis, der die Suche nach dem Unbekannten auf einen einzigen Bundesstaat begrenzt hätte. Der ihnen hätte ins Auge springen müssen.« »Genau«, bestätigte Vince, »und ihrem Praktikanten konnten sie die Schuld nicht in die Schuhe schieben, weil sie ihm ausdrücklich befohlen hatten, die Nase nicht in die Tasche mit den Beweismitteln zu stecken. Außerdem: Als herauskam, dass er ihre Anweisung missachtet hatte …« »War er längst über alle Berge«, ergänzte Stephanie. »Du sagst es«, bestätigte Dave. »Aber großen Ärger hätten sie sowieso nicht bekommen. Vergiss nicht, drüben in Tinnock gab es eine richtige Mordermittlung – Totschlag, zwei Menschen verbrannt – und unser Unbekannter war einfach nur erstickt.« »Trotzdem …« Stephanie blickte skeptisch. »Trotzdem dumm, du kannst es ruhig sagen, wir sind unter uns«, sagte Dave grinsend. »Aber der Islander hatte kein Interesse daran, den beiden Bullen Ärger zu machen. Das versicherte ich Murray, und ich machte ihm auch klar, dass es sich nicht um eine strafrechtliche Angelegenheit handelte; ich wolle einfach nur herausfinden, wer der arme Kerl sei, weil es bestimmt irgendwo Menschen gab, die ihn vermissten und wissen wollten, was mit ihm passiert sei. Murray sagte, er würde sich wieder bei mir melden. Diese Reaktion hatte ich zwar erwartet, trotzdem verbrachte ich einen unruhigen Nachmittag und fragte mich, ob ich vielleicht anders hätte vorgehen sollen. Das wäre durchaus möglich gewesen, weißt du. Ich hätte Doc Robinson oder sogar Cathcart bitten können, in Augusta anzurufen, aber die Vorstellung, einen von ihnen als Mittelsmann zu benutzen, ging mir irgendwie gegen den Strich. Wahrscheinlich ist das abgedroschen, aber ich bin davon überzeugt, dass in neun von zehn Fällen Ehrlichkeit die beste Lösung ist. Ich hatte einfach Bedenken, dieses könnte der zehnte Fall sein. Am Ende klappte es doch. Gerade als ich dachte, dass Murray sich nicht mehr melden würde, und meine Jacke für den Heimweg anzog, rief er mich an – ist das nicht immer so?« »Das Wasser fängt nie an zu kochen, wenn man zusieht«, sagte Vince. »Du liebe Güte, das ist ja fast schon philosophisch! Gib mir schnell einen Stift und einen Block, damit ich’s aufschreiben kann«, sagte Dave mit breitestem Grinsen. Es machte ihn nicht nur jünger, es wischte Jahrzehnte hinweg, und Stephanie sah in ihm den Jungen, der er früher einmal gewesen war. Dann wurde Dave wieder ernst und der Junge verschwand. »In Großstädten gehen ständig Beweismittel verloren, habe ich gehört, aber so groß ist Augusta ja nicht, selbst wenn es die Hauptstadt des Bundesstaates ist. Sergeant Murray hatte keine Schwierigkeiten, die Beweismittel mit Paul Devanes Unterschritt auf dem Sicherstellungsprotokoll zu finden; er sagte, keine zehn Minuten nach unserem Gespräch hätte er sie in den Händen gehalten. Die übrige Zeit hätte er gebraucht, um von dem zuständigen Vorgesetzten die Erlaubnis zu bekommen, mir mitzuteilen, was sich in der Tasche befand, und die hatte er schließlich erhalten. Es waren Zigaretten der Marke Winston, und die Steuermarke war so, wie Paul Devane sie in Erinnerung hatte: ein handelsüblicher kleiner Aufkleber, auf dem in winzigen schwarzen Buchstaben COLORADO stand. Murray sagte, er hätte die Information auch an die Staatsanwaltschaft weitergegeben. Für den Fall, dass wir bei der Identifizierung von Colorado Kid vorankämen, wüsste sie es zu schätzen, wenn wir ihr vor einer Pressemeldung Bescheid geben würden. Colorado Kid, so nannte er ihn, man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass der Name eine Erfindung von Sergeant Murray aus der Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft ist. Außerdem sagte er, falls wir wirklich Glück mit der Identifizierung hätten, würden wir in unserem Bericht hoffentlich erwähnen, wie hilfsbereit die Staatsanwaltschaft gewesen sei. Das fand ich irgendwie nett, weißt du?« Mit glänzenden Augen beugte sich Stephanie vor, völlig fasziniert. »Und was habt ihr dann gemacht? Wie seid ihr vorgegangen?« Dave wollte antworten, doch Vince legte die Hand auf die stämmige Schulter des geschäftsführenden Herausgebers und unterbrach ihn. »Was meinst du denn, wie wir vorgegangen sind, mein Mädchen?« »Gibt’s wieder Unterricht?«, fragte Stephanie. »Genau«, erwiderte er. Und weil sie an seinen Augen und seinem Mund (mehr an Letzterem) ablesen konnte, dass er es völlig ernst meinte, dachte sie gründlich nach, ehe sie antwortete. »Ihr … habt Abzüge von dem ›Schlaffoto‹ gemacht –« »Ah jo, sicher.« »Und dann … hm … dann habt ihr es mit einer entsprechenden Meldung an – wie viele Zeitungen in Colorado geschickt?« Vince lächelte sie an, nickte und hielt ihr den ausgestreckten Daumen hin. »Achtundsiebzig, Miss McCann, und ich weiß nicht, wie es Dave erging, aber ich war erstaunt, wie wenig es kostete, so viele Kopien zu versenden, schon damals, 1981. Das belief sich summa summarum auf nicht mehr als hundert Mäuse, selbst mit Porto.« »Was wir natürlich über die Bücher laufen ließen«, sagte Dave, der gleichzeitig Buchhalter des Islander war. »Jeden Penny. War unser gutes Recht.« »Wie viele Zeitungen brachten den Bericht?« »Jede einzelne!«, rief Vince und schlug sich auf den schmalen Oberschenkel. »Ah jo! Selbst die Denver Post und die Rocky Mountain News! Denn damals hatte die Geschichte nur eine Unbekannte und ein wunderschönes Seil zum Festhalten, verstehst du?« Stephanie nickte. Schlicht und schön. Das fand sie auch. Vince nickte ebenfalls und strahlte. »Unbekannter Toter, möglicherweise aus Colorado, zweitausend Meilen entfernt auf einer Insel in Maine gefunden! Das Steak in seiner Kehle wurde nicht erwähnt, auch nicht die Jacke, die er sonst wo verloren haben konnte (oder vielleicht gar nicht angehabt hatte), auch war keine Rede von der russischen Münze in seiner Tasche. Es ging einfach nur um Colorado Kid, das ungelöste Rätsel. Das brachten alle Zeitungen, selbst die Gratisblättchen, die fast nur aus Gutscheinen bestehen.« »Und zwei Tage, nachdem es Ende Oktober 1981 in Boulder in der Zeitung gestanden hatte«, erklärte Dave, »erhielt ich einen Anruf von einer Frau namens Aria Cogan. Sie wohnte in Nederland, in den Bergen in der Nähe von Boulder. Ihr Ehemann war im April des Vorjahres verschwunden und hatte sie und einen Sohn zurückgelassen, der zum damaligen Zeitpunkt sechs Monate alt gewesen war. Sie sagte, ihr Mann heiße James, und obwohl sie keine Ahnung hätte, was um alles in der Welt er auf einer Insel vor der Küste Maines getrieben haben mochte, habe das Foto in der Camera doch große Ähnlichkeit mit ihrem Ehemann. Sehr große sogar.« Er hielt inne. »Sie ahnte offenbar, dass es mehr war als eine Ähnlichkeit, denn sie konnte nicht weitersprechen und brach in Tränen aus.« 12 Stephanie bat Dave, den Vornamen von Mrs Cogan zu buchstabieren. Bei Dave Bowies starkem Akzent hatte sie nicht mehr als verschiedene A-Laute mit einem L in der Mitte verstanden. Er tat ihr den Gefallen und sagte dann: »Sie hatte keine Fingerabdrücke von ihm – natürlich nicht, die arme Frau –, aber sie konnte mir den Namen seines Zahnarztes nennen und –« »Moment, Moment, Moment«, rief Stephanie und hob die Hand wie ein Verkehrspolizist. »Dieser Cogan, womit verdiente der sein Geld?« »Er war Zeichner in einer Werbeagentur in Denver«, antwortete Vince. »Ich habe mittlerweile einige seiner Arbeiten gesehen und muss sagen, dass er gar nicht schlecht war. Er hätte sich nicht landesweit durchgesetzt, aber wenn man für eine Postwurfsendung schnell ein Bild von einer Frau wollte, die eine Rolle Toilettenpapier hochhält, als hätte sie gerade die dickste Forelle gefangen, dann war Cogan der Richtige. Zweimal wöchentlich fuhr er nach Denver, dienstags und mittwochs, zu Besprechungen und Konferenzen. Ansonsten arbeitete er zu Hause.« Stephanie richtete den Blick auf Dave. »Der Zahnarzt sprach mit Cathcart, dem Amtsarzt, stimmt’s?« »Du triffst den Nagel auf den Kopf, Steffi. Cathcart hatte keine Röntgenbilder von den Zähnen des Toten, er war nicht darauf vorbereitet gewesen und hatte keinen Grund gesehen, die Leiche zum County Memorial rauszuschicken, wo die Röntgenaufnahmen hätten erstellt werden können, aber er hatte die Füllungen notiert, außerdem zwei Kronen. Es passte alles. Er schickte Kopien von den Fingerabdrücken des Toten an die Polizei in Nederland. Die forderte einen Techniker in Denver an, der zum Wohnhaus der Cogans ging und James Cogans Arbeitszimmer nach Fingerabdrücken absuchte. Mrs Cogan – Aria – sagte dem Techniker, er würde nichts finden, weil sie das gesamte Zimmer von vorne bis hinten geputzt hätte, als sie sich endlich eingestand, dass ihr Jim nicht zurückkommen würde, dass er sie entweder verlassen hätte, was sie kaum glauben konnte, oder dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sei, was ihr immer wahrscheinlicher schien. Der Techniker sagte, wenn Cogan einen ›signifikanten Zeitraum‹ in seinem Büro verbracht hätte, würde er noch immer Abdrücke finden.« Dave hielt inne, seufzte, fuhr sich mit der Hand durch sein spärliches Haar. »Er hatte Recht, und wir erfuhren, dass der Unbekannte, auch Colorado Kid genannt, mit richtigem Namen James Cogan hieß, zweiundvierzig Jahre alt war, aus Nederland in Colorado stammte, mit Aria Cogan verheiratet und Vater von Michael Cogan war, der zum Zeitpunkt des Verschwindens seines Vater sechs Monate alt war und seinem zweiten Geburtstag entgegensah, als sein Vater identifiziert wurde.« Vince stand auf und streckte sich, die Hände in den Rücken gestemmt. »Was haltet ihr davon reinzugehen, Leute? Langsam wird’s hier draußen kalt und es gibt noch ein bisschen was zu erzählen.« 13 Nacheinander gingen sie zur Toilette. Sie lag versteckt in einer Nische hinter der alten Offsetpresse, die nicht mehr in Gebrauch war (die Zeitung wurde inzwischen in Ellsworth gedruckt, schon seit 1998). Als Dave an der Reihe war, stellte Stephanie die Kaffeemaschine an. Wenn die Geschichte, die keine war, noch eine Stunde dauern würde (und sie hatte so das Gefühl), wären alle froh über eine Tasse Kaffee. Als sie wieder zusammensaßen, schnupperte Dave in Richtung Küchenzeile und nickte wohlwollend. »Ich mag Frauen, für die Hausarbeit keine Sklavenarbeit ist, bloß weil sie ihr eigenes Geld verdienen.« »Geht mir bei Männern genauso«, gab Stephanie zurück, und als er lachte und nickte (das war ein guter Spruch gewesen – der zweite an diesem Nachmittag, ein Rekord), wies sie auf die gewaltige alte Presse. »Das Ding sieht für mich nach Sklavenarbeit aus«, sagte sie. »Sieht schlimmer aus, als es war«, entgegnete Vince, »die Presse davor war hingegen wirklich furchtbar. Wenn man nicht aufpasste, war der Arm ab, da konnte man sich noch so in Acht nehmen. Aber wo waren wir stehen geblieben?« »Bei der Frau, die gerade erfahren hatte, dass sie Witwe war«, sagte Stephanie. »Vermutlich hat sie die Leiche abgeholt, oder?« »Ja«, bestätigte Dave. »Hat einer von euch beiden Mrs Cogan vom Flughafen in Bangor abgeholt?« »Was meinst du, mein Mädchen?« Stephanie brauchte nicht lange nachzudenken. Ende Oktober oder Anfang November 1981 war Colorado Kid für den Bundesstaat Maine absolut kalter Kaffee … und als Erstickter hatte er sowieso nicht oberste Priorität. Eigentlich war er ja nur eine unbekannte Leiche. »Na klar habt ihr sie abgeholt. Ihr beiden wart praktisch die einzigen Leute in Maine, die sie kannte.« Diese Feststellung hatte bei Stephanie die eigentümliche Erkenntnis zur Folge, dass Aria Cogan ein Mensch aus Fleisch und Blut war (wahrscheinlich bis zum heutigen Tage) und keine Figur in einem Krimi von Agatha Christie oder in einer Folge von Mord ist ihr Hobby. »Ich bin hingefahren«, sagte Vince leise. Er beugte sich vor und betrachtete seine Hände, knorrig wie Treibholz, die er unter den Knien verschränkt hatte. »Sie war anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ich hatte mir ein falsches Bild von ihr gemacht. Ich hätte es besser wissen müssen, ich bin schließlich seit fünfundsechzig Jahren im Zeitungsgeschäft – so lange wie mein alter Freund und Kupferstecher hier auf der Erde weilt, und der ist auch nicht mehr der junge Hüpfer, für den er sich hält. In der Zeit habe ich so manche Leiche gesehen. Meistens vergisst man ganz schnell diese romantische Vorstellung nach dem Motto ›Sah eine Maid ich sanft dort ruhn‹. Leichen sind was Grässliches. Manchmal sind sie gar nicht mehr als Menschen zu erkennen. Aber von Colorado Kid konnte man das nicht behaupten. Er sah noch so gut aus, dass Mr Poe fast eins von seinen romantischen Gedichten über ihn hätte schreiben können. Natürlich hatte ich ihn vor der Autopsie fotografiert, das darfst du nicht vergessen. Wenn man das Bild etwas länger ansah, merkte man natürlich, dass er mausetot war (fand ich jedenfalls), aber trotzdem hatte er etwas Schönes an sich mit seinen aschfahlen Wangen, den blassen Lippen und diesem lila Schatten auf den Augenlidern.« »Brrr«, machte Stephanie, aber sie verstand schon, was Vince sagen wollte, und tatsächlich kam ihr ein Gedicht von Poe in den Sinn. Das über die verlorne Leonor. »Ah jo, hört sich nach der großen Liebe an«, sagte Dave und stand auf, um sich Kaffee einzuschenken. 14 Vince Teague goss, wie es Stephanie erschien, fast eine halbe Tüte Kaffeesahne in seine Tasse, dann fuhr er wehmütig lächelnd mit seinem Bericht fort. »Ich will eigentlich nur sagen, dass ich irgendwie mit einer blassen, dunkelhaarigen Schönheit gerechnet hatte. Stattdessen kam ein pummeliger Rotschopf mit tausend Sommersprossen. An ihrer Trauer und ihrem Kummer bestand natürlich kein Zweifel, aber sie gehörte wohl eher zu der Sorte Mensch, die alles in sich reinstopft, wenn ihr was Sorgen bereitet, statt gar nichts mehr zu essen. Ihre Familie war aus Omaha oder Des Moines gekommen und passte auf das Kind auf, und ich werde nie vergessen, wie verloren und einsam sie aussah, als sie von der Fluggastbrücke kam. Sie trug ihre Handtasche nicht an der Seite, sondern hielt sie vor die Brust gedrückt. Sie sah so anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte, sie hatte so gar nichts von verlorner Leonor …« Stephanie zuckte zusammen. Jetzt funktioniert die Telepathie auch bei mir, dachte sie. »… aber ich wusste sofort, wer sie war. Ich winkte ihr zu, sie kam zu mir und fragte: ›Mr Teague?‹ Und als ich bejahte, nannte sie ihren Namen, setzte die Tasche ab, umarmte mich und sagte: ›Danke, dass Sie mich abholen kommen. Danke für alles. Ich kann einfach nicht glauben, dass er es sein soll, aber ich brauche eigentlich nur auf das Foto zu sehen und weiß Bescheid.‹ Die Strecke zum Flughafen ist ganz schön lang – das weiß niemand besser als du, Steffi –, daher hatten wir viel Zeit zum Reden. Zuerst fragte sie mich, ob ich irgendeine Ahnung hätte, was Jim an der Küste von Maine gewollt hätte. Ich verneinte. Dann erkundigte sie sich, ob er sich am Mittwochabend in irgendeinem Motel eingemietet hätte –« Vince hielt inne und sah Dave an. »Stimmt doch, oder? Mittwochabend?« Dave nickte. »Sie muss sich nach dem Mittwochabend erkundigt haben, weil Johnny und Nancy ihn am Donnerstagmorgen fanden. Am 24. April 1980.« »Dass du das noch weißt!«, staunte Stephanie. Dave zuckte mit den Schultern. »So was behalte ich immer«, erklärte er, »aber wenn ich nach der Arbeit Brot besorgen soll, vergesse ich es und muss noch mal im Regen raus.« Stephanie wandte sich wieder an Vince: »Er hat sich am Tag davor doch bestimmt nicht in einem Motel eingemietet, sonst hättet ihr ihn nicht die ganze Zeit ›den Unbekannten‹ genannt. Dann hättet ihr einen Namen gehabt, vielleicht nicht den richtigen, aber zumindest den, mit dem er sich im Motel eingetragen hat.« Vince nickte, noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte. »Dave und ich haben nach dem Tod von Colorado Kid drei oder vier Wochen lang – selbstverständlich in unserer Freizeit – sämtliche Motels im Umkreis von Moose-Lookit Island abgeklappert. In der Hauptsaison wäre das so gut wie unmöglich gewesen, dann kann man sich im Umkreis von einer halben Tagesreise von der Fähre in Tinnock in circa vierhundert Motels, Gasthäuser, Ferienhäuser, Fremdenzimmer und was nicht sonst noch alles einmieten. Aber im April war das noch zu bewerkstelligen, weil siebzig Prozent der Häuser zwischen Thanksgiving und dem Memorial Day Ende Mai geschlossen haben. Wir haben das Foto überall vorgelegt, Steffi.« »Ohne Erfolg?« »Ohne jeden Erfolg«, erwiderte Dave. Sie fragte Vince: »Wie reagierte sie, als du ihr das sagtest?« »Gar nicht. Sie war baff.« Er überlegte. »Weinte ein bisschen.« »Natürlich, die Arme«, sagte Dave. »Und was hast du gemacht?«, fragte Stephanie, immer noch auf Vince konzentriert. »Meine Arbeit«, erwiderte er, ohne zu zögern. »Weil du derjenige bist, der immer Bescheid wissen muss«, sagte sie. Er hob die buschigen Augenbrauen. »Meinst du?« »Ja«, sagte sie. »Meine ich.« Und sah Dave an, wartete auf seine Bestätigung. »Ich glaube, da hat sie dich erwischt, Junge«, stimmte Dave zu. »Die Frage lautet: Ist das auch dein Ziel, Steffi?«, gab Vince mit schiefem Lächeln zurück. »Ich glaube, ja.« »Klar«, sagte sie, fast automatisch. Sie wusste es schon seit Wochen, obwohl sie jeden, der sie vor ihrem Praktikum beim Islander gefragt hätte, ob sie sich für ein Leben an so einem abgelegenen Ort entscheiden wollte, ausgelacht hätte. Die Stephanie McCann, die sich beinahe für New Jersey statt für Moose-Lookit vor der Küste Maines entschieden hätte, kam ihr nun wie eine Fremde vor. Eine Landpflanze. »Was hat sie dir erzählt? Was wusste sie?« »Gerade so viel, um die sonderbare Geschichte noch seltsamer zu machen«, antwortete Vince. »Erzähl!« »Gut, aber ich warne dich: Ab hier gibt es kein Seil zum Festhalten mehr!« Stephanie zögerte nicht. »Erzähl trotzdem!« 15 »Am Mittwoch, dem 23. April 1980, fuhr Jim Cogan zur Arbeit in der Werbeagentur Mountain Outlook in Denver, so wie er es jeden Mittwoch tat«, begann Vince. »Das sagte sie mir. Er hatte eine Mappe mit Entwürfen für Sunset Chevrolet dabei, einen der großen örtlichen Autohändler, die bei Mountain Outlook jedes Jahr tonnenweise Werbebroschüren in Auftrag geben – also ein sehr einträglicher Kunde. Cogan war seit drei Jahren einer der vier Zeichner, die für Sunset Chevrolet arbeiteten, sagte sie, und sie war überzeugt, dass die Firma mit Jims Arbeit zufrieden war. Das beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit, denn auch Jim war gerne für den Autohändler tätig. Nach Aria Cogans Aussage waren seine Spezialität ›Liebe-Güte-Frauen‹, wie sie sie nannte. Als ich fragte, was das sei, grinste sie und sagte, das seien hübsche Mädchen mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, die meistens die Hände auf die Wangen legten. Die Geste besage so viel wie: ›Du liebe Güte, das ist ja ein tolles Angebot bei Sunset Chevrolet!‹« Stephanie musste lachen. Sie hatte solche Illustrationen schon gesehen, meistens in den Gratisbeilagen im Supermarkt drüben in Tinnock. Vince nickte. »Aria war selbst eine Künstlerin, nur mit Worten. Sie zeichnete mir das Bild von einem anständigen Mann, der seine Frau, sein Kind und seine Arbeit liebte.« »Es gibt manches, was der liebende Blick nicht sehen will«, bemerkte Stephanie. »So jung und schon so desillusioniert!«, rief Dave, nicht ohne Anerkennung. »Hm, ah jo, aber sie hat Recht«, sagte Vince. »Bloß sind sechzehn Monate eigentlich lang genug, um die rosarote Brille abzusetzen. Wenn da irgendetwas gewesen wäre – Unzufriedenheit auf der Arbeit oder vielleicht eine kleine Affäre, so was käme mir als Erstes in den Sinn –, dann hätte Aria bestimmt einen Hinweis darauf gefunden oder zumindest Lunte gerochen. Oder aber ihr Mann war unglaublich vorsichtig. Denn in den sechzehn Monaten, die er vermisst wurde, sprach sie mit allen, die ihn kannten, mit den meisten zweimal, und alle sagten ihr das Gleiche: Er mochte seine Arbeit, liebte seine Frau und vergötterte seinen kleinen Sohn. Das wiederholte sie immer wieder. ›Er hätte Michael nie im Stich gelassen‹, sagte sie. ›Das weiß ich ganz genau, Mr Teague. Das weiß ich tief in meinem Herzen.‹« Vince zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Ich kann’s nicht ändern. »Ich glaubte ihr.« »Hatte er vielleicht seine Arbeit satt?«, versuchte es Stephanie. »Wollte er sich verändern?« »Sie meinte, nein. Angeblich liebte er ihr Haus oben in den Bergen, hatte sogar ein Schild über der Tür angebracht, auf dem stand: HERNANDO’S HIDEAWAY. Sie sprach mit einem der anderen Zeichner, die für Sunset Chevrolet arbeiteten, einem langjährigen Kollegen von Cogan. Weißt du noch, wie er hieß, Dave?« »George Rankin oder Franklin«, antwortete Dave. »Kann mich nicht mehr ganz genau erinnern.« »Nicht nachlassen, altes Haus«, sagte Vince. »Selbst Willie Mays hat zum Ende seiner Karriere öfter mal neben den Ball geschlagen, glaube ich.« Dave streckte ihm die Zunge heraus. Vince nickte, als habe er genau diese kindische Reaktion von seinem Herausgeber erwartet, dann nahm er den Faden wieder auf. »George, der Zeichner, mit Nachnamen Rankin oder Franklin, erzählte also Aria, dass Jim mit dem, was er draufhatte, so ziemlich am oberen Ende der Fahnenstange angekommen war, und dass er zu den glücklichen Leuten gehörte, die ihre Grenzen nicht nur kennen, sondern auch mit ihnen zufrieden sind. Jims einziges Ziel sei gewesen, irgendwann Leiter der Illustrations-Abteilung von Mountain Outlook zu werden. Angesichts dieses Ziels wäre er wohl als Allerletztes auf die Idee gekommen, die Brücken hinter sich abzubrechen und aus einer Laune heraus an die Küste Neuenglands zu fliehen.« »Aber genau das hatte er nach Ansicht seiner Frau getan«, sagte Stephanie. »Stimmt’s?« Vince stellte die Kaffeetasse ab und fuhr sich durch den Rest weißer Haare, die schon reichlich verstrubbelt waren. »Angesichts der Beweislage konnte Aria Cogan gar keinen anderen Schluss ziehen«, erklärte er, »so wie wir alle. James Cogan verließ sein Haus umViertel vor sieben am Mittwoch und fuhr auf die Schnellstraße nach Denver. Er hatte lediglich die Mappe mit den Entwürfen dabei. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und einen grauen Mantel. Ach ja, und schwarze Slipper.« »Keine grüne Jacke?«, fragte Stephanie. »Nein, keine grüne Jacke«, bestätigte Dave. »Aber die graue Hose, das weiße Hemd und die schwarzen Schuhe hatte er noch an, als Johnny und Nancy ihn tot am Mülleimer fanden.« »Und die Anzugjacke?« »Wurde nie gefunden«, erklärte Dave. »Auch die Krawatte nicht, allerdings steckt ein Mann sie, wenn er sie abnimmt, zu neunzig Prozent in die Tasche seiner Anzugjacke. Ich würde also wetten, dass man sie in dem grauen Sakko fände, falls es irgendwo auftauchen würde.« »Um Viertel vor neun war er an seinem Reißbrett im Büro«, fuhr Vince fort, »und arbeitete an einer Anzeige für King Sooper.« »Was ist –?« »Eine Supermarktkette, mein Mädchen«, sagte Dave. »Gegen Viertel nach zehn«, erzählte Vince, »sah der Zeichner George, mit Nachnamen Rankin oder Franklin, unseren Mann auf die Aufzüge zusteuern. Cogan sagte, er wolle sich einen ›richtigen Kaffee‹ im Lebensmittelladen um die Ecke holen, dazu ein Sandwich mit Ei als Mittagessen, er werde die Pause im Büro verbringen. Er fragte George, ob er ihm etwas mitbringen solle.« »Das hat dir Aria alles erzählt, als du mit ihr nach Tinnock gefahren bist?« »Ja. Ich habe sie zu Cathcart gebracht, wo sie das Foto offiziell identifizieren und dann einen Exhumierungsantrag unterschreiben musste: ›Das ist mein Mann, das ist James Cogan‹ und so weiter. Cathcart erwartete uns bereits.« »Schon gut. Entschuldige die Unterbrechung. Erzähl weiter!« »Du brauchst dich nicht entschuldigen, wenn du Fragen hast, Steffi, das ist schließlich die Aufgabe eines Journalisten. Jedenfalls sagte der Zeichner George …« »Mit Nachnamen Rankin oder Franklin«, warf Dave hilfsbereit ein. »Ah jo, genau der – er sagte zu Cogan, dass er keinen Kaffee wolle, begleitete ihn jedoch zu den Fahrstühlen, um sich mit ihm über die anstehende Verabschiedung eines Kollegen namens Haverty zu unterhalten, einer der Begründer der Werbeagentur. Die Feier war für Mitte Mai angesetzt. Dieser George erzählte Aria, dass ihr Mann sich schon darauf zu freuen schien. Bis der Fahrstuhl kam, diskutierten sie über ein passendes Abschiedsgeschenk, dann stieg Cogan ein und sagte zu George, sie könnten in der Mittagspause weiterreden und eine Kollegin fragen, was sie davon halte. George fand, das sei eine gute Idee, Cogan winkte ihm noch zu, die Fahrstuhltüren schlossen sich, und das war das letzte Mal, dass Colorado Kid in Colorado gesehen wurde.« »George, der Zeichner«, sagte Stephanie fast bewundernd. »Glaubt ihr, dass das alles passiert wäre, wenn George gesagt hätte: ›Ach, warte kurz, ich zieh nur eben schnell meinen Mantel über und komme mit‹?« »Tja, wer weiß«, sagte Vince. »Trug er denn seinen Mantel?«, fragte sie. »Cogan, meine ich? Trug er den grauen Mantel, den er morgens angehabt hatte?« »Aria fragte George, aber der wusste es nicht mehr«, erwiderte Vince. »Er war sich nicht sicher, glaubte es aber eher nicht. Und hatte wahrscheinlich Recht. Das Lebensmittelgeschäft lag direkt um die Ecke.« »Aria sagte, es hätte jemand am Empfang gesessen«, fügte Dave hinzu, »aber die Empfangsdame hätte nicht gesehen, dass die Männer zum Fahrstuhl gingen. Sie vermutete, sie wäre ›kurz mal abkömmlich gewesen‹.« Missbilligend schüttelte er den Kopf. »In Krimis ist das immer anders.« Aber Stephanies Gedanken hingen bei etwas anderem fest. Sie hatte das Gefühl, lediglich Krümel aufzupicken, obwohl ein ganzer Braten auf dem Tisch stand. Sie hob den linken Zeigefinger. »George, der Zeichner, verabschiedete sich gegen Viertel nach zehn morgens von Cogan, also Colorado Kid. Vielleicht war es auch schon zwanzig nach, als der Fahrstuhl endlich kam und Cogan einstieg.« »Ah jo«, sagte Vince. Mit glänzenden Augen beobachtete er Stephanie. Dave ebenfalls. Jetzt hob sie den rechten Zeigefinger. »Und die Bedienung bei Jan’s Wharfside drüben in Tinnock sagte, er hätte gegen halb sechs abends am Tisch Fish and Chips gegessen und aufs Wasser gestarrt.« »Ah jo«, wiederholte Vince. »Wie groß ist der Zeitunterschied zwischen Maine und Colorado? Eine Stunde?« »Zwei«, korrigierte Dave. »Zwei«, wiederholte sie, überlegte. »Zwei Stunden. Als also George, der Zeichner, Cogan zum letzten Mal sah und sich die Fahrstuhltüren schlossen, war es in Maine schon nach zwölf Uhr.« »Vorausgesetzt, die Zeiten stimmen«, bestätigte Dave, »aber das müssen wir ja nun mal annehmen, oder?« »Haut das hin?«, wollte Stephanie wissen. »Kann er in der Zeit hergekommen sein?« »Ja«, antwortete Vince. »Nein«, antwortete Dave. »Vielleicht«, sagten die beiden, und Stephanie blickte verdutzt vom einen zum anderen, die Kaffeetasse in der Hand. 16 »Das ist wieder einer der Gründe, warum sich die Geschichte nicht für eine Zeitung wie den Globe eignet«, sagte Vince nach einer kurzen Pause, in der er seinen milchigen Kaffee trank und seine Gedanken sammelte. »Selbst wenn wir die Story weitergeben wollten.« »Aber das wollen wir nicht«, warf Dave ziemlich gereizt ein. »Nein, das wollen wir nicht«, stimmte Vince zu. »Aber selbst wenn wir das täten … Steffi, wenn eine große Zeitung wie der Globe oder die New York Times einen Bericht oder eine Serie macht, dann möchte sie Antworten geben oder wenigstens vorschlagen. Ob ich damit ein Problem habe? Und was für eins! Du kannst jede große Zeitung in die Hand nehmen, und was findest du auf der Titelseite? Fragen, die sich als Nachrichten tarnen. Wo ist Osama bin Laden? Wir wissen es nicht. Was macht der Präsident im Mittleren Osten? Wir wissen es nicht, weil er es selbst nicht weiß. Erholt sich die Wirtschaft oder geht sie den Bach runter? Die Experten streiten sich. Sind Eier gut oder schlecht für die Gesundheit? Hängt davon ab, welcher Studie man glaubt. Nicht mal die Meteorologen legen sich heute noch fest, ob tatsächlich ein Nordostwind aus Nordosten kommt, weil sie sich beim letzten Mal geirrt haben. Wenn eine Zeitung also eine Reportage über bessere Lebensbedingungen für Minderheiten bringt, möchte sie gerne sagen können: Wenn man dies, das und jenes macht, wird die Lage 2030 besser sein.« »Und wenn sie einen Beitrag über ungelöste Rätsel bringt«, erklärte Dave, »will sie dem Leser sagen können, dass die Lichter an der Küste wahrscheinlich Reflexionen in den Wolken waren und die Vergiftungen beim Picknick der Kirchengemeinde die Tat einer sitzen gelassenen Sekretärin der Methodisten. Aber die Sache mit dem möglichen Zeitablauf …« »Über den du ja auch gleich nachgedacht hast«, fügte Vince grinsend hinzu. »Und der ist wirklich ziemlich zusammengezimmert, egal wie man es wendet«, sagte Dave. »Dann ist er halt zusammengezimmert«, entgegnete Vince. »Verdammt, ich habe die Sache untersucht, habe mir fast die Finger wund gewählt, da darf mein Ergebnis doch wohl zusammengezimmert sein, oder?« »Mein Vater sagte immer, selbst wenn man den ganzen Tag Kreide schneidet, wird kein Käse daraus«, sagte Dave, aber er lächelte ein wenig dabei. »Stimmt, aber lass mich trotzdem noch ein bisschen rumzimmern«, meinte Vince. »Sagen wir, die Fahrstuhltüren schlossen sich um zwanzig nach zehn, Colorado-Zeit, ja? Sagen wir weiterhin, der Beweisführung zuliebe, dass alles von langer Hand geplant war und ein Wagen mit laufendem Motor vor dem Gebäude wartete.« »Okay«, sagte Stephanie und beobachtete Vince aufmerksam. »Reine Phantasie«, schnaubte Dave verächtlich, wirkte aber dennoch interessiert. »Es ist natürlich weit hergeholt«, stimmte Vince zu, »aber schließlich war er um Viertel nach zehn in Denver und etwas mehr als fünf Stunden später bei Jan’s Wharfside. Das ist auch weit hergeholt, aber es ist eine Tatsache. Beide Male war er es selbst. Darf ich jetzt fortfahren?« »Tu dir keinen Zwang an«, sagte Dave. »Wenn ein Auto mit laufendem Motor auf ihn wartete, brauchte er vielleicht eine halbe Stunde bis nach Stapleton. Einen Linienflug kann er auf gar keinen Fall genommen haben. Er hätte das Ticket bar bezahlt und einen Decknamen benutzt haben können – damals ging das noch –, aber es gibt keine direkten Linienflüge von Denver nach Bangor. Überhaupt keine von Denver nach Maine.« »Habt ihr das geprüft?« »Ja, ich. Mit einem Linienflug wäre er frühestens um Viertel vor sieben in Bangor gelandet, lange nachdem das Mädchen im Restaurant ihn gesehen hatte. Zu der Jahreszeit wäre sogar schon die letzte Fähre nach Moosie fort gewesen.« »Um sechs geht die letzte?«, fragte Stephanie. »Ja, und zwar bis Mitte Mai«, erwiderte Dave. »Dann muss er Charter geflogen sein«, sagte sie. »Ein Charterflugzeug? Gab es Fluggesellschaften, die von Denver aus mit Charterjets flogen? Hätte er sich das leisten können?« »Ja, ja und ja«, antwortete Vince, »aber es hätte ihn schon ein paar tausend Mäuse gekostet, das hätte sich auf jeden Fall auf seinem Bankkonto bemerkbar gemacht.« »Tat es aber nicht?« Vince schüttelte den Kopf. »Es gab keine auffälligen Kontobewegungen vor seinem Verschwinden. Trotzdem muss er ein Flugzeug gechartert haben. Ich habe bei verschiedenen Chartergesellschatten nachgefragt, die mir alle versicherten, dass der Flug an einem guten Tag – wenn eine kleine Lear wie die 35 oder 55 in einen kräftigen Jetstream gerät – rund drei Stunden dauern würde, vielleicht etwas länger.« »Von Denver nach Bangor«, wiederholte Stephanie. »Von Denver nach Bangor, ja, es gibt hier in der Nähe sonst nichts, wo die kleinen Vögel landen können. Die Rollbahn ist nicht lang genug, verstehst du?« Ja, das verstand sie. »Habt ihr die Chartergesellschaften in Denver überprüft?« »Ich hab’s versucht. Leider ohne großen Erfolg. Von den fünf Gesellschaften, die Jets in der fraglichen Größenordnung haben, waren überhaupt nur zwei bereit, mit mir zu reden. Müssen sie schließlich nicht, stimmt’s? Ich war nur ein Kleinstadt-Journalist, der einen Unfalltod recherchiert, kein Bulle, der in einem Mordfall ermittelt. Einer von ihnen erklärte mir außerdem, dass es nicht nur darum ging, die FBOs zu überprüfen, die von Stapleton aus starten …« »Was sind FBOs?« »Fixed Base Operations«, erklärte Vince. »Das sind Gesellschaften, die Flugzeuge chartern, aber auch zahlreiche andere Dienstleistungen anbieten: Sie holen Startgenehmigungen ein, unterhalten kleine Terminals für Passagiere, die privat fliegen, damit sie nicht unters gemeine Volk müssen, außerdem verkaufen, warten und reparieren sie Flugzeuge. Bei zig FBOs kann man durch den Zoll gehen, man kann bei ihnen Höhenmesser kaufen, wenn der eigene kaputt ist, oder der Pilot kann sich acht Stunden in der Lounge erholen, wenn er seine maximale Flugzeit erreicht hat. Manche FBOs wie Signature Air sind riesige Unternehmen, große Ketten wie Holiday Inn oder McDonald’s. Andere sind kleine Klitschen mit einem Snackautomaten und einem Windsack am Rollfeld.« »Du hast dich wirklich schlau gemacht«, sagte Stephanie anerkennend. »Allerdings, und inzwischen weiß ich, dass nicht nur Piloten und Flugzeuge aus Colorado Stapleton und andere Flughäfen in Colorado anflogen oder anfliegen. Zum Beispiel könnte das Flugzeug einer FBO von La-Guardia in New York mit Passagieren nach Denver fliegen, die ihre Verwandten in Colorado besuchen wollen. Dann erkundigt sich der Pilot, ob jemand nach New York will, damit er nicht leer zurück muss.« »Heutzutage stehen die Passagiere für den Rückflug natürlich vorher im Computer«, sagte Dave. »Verstehst du, Steffi?« Sie nickte. Und sie sah noch etwas anderes. »Das heißt, die Buchung für Mr Cogans Flug könnte beispielsweise im Archiv von Adler Air in New York sein.« »Oder bei Adler Air in Montpelier, Vermont«, ergänzte Vince. »Oder bei Alles in Butter Jets aus Washington, D. C«, sagte Dave. »Und wenn Cogan bar bezahlt hat«, fügte Vince hinzu, »gibt es möglicherweise überhaupt keine Unterlagen darüber.« »Aber es gibt doch bestimmt alle möglichen Behörden –« »Allerdings«, bestätigte Dave. »Mehr als man sich vorstellen kann, angefangen bei der Flugaufsichtsbehörde bis hin zum Finanzamt. Würde mich nicht wundern, wenn die Nachwuchsorganisation der amerikanischen Farmer auch irgendwie dazugehörte. Aber bei Barzahlung gibt’s nicht viele Unterlagen. Denk an Helen Hafner!« Natürlich konnte sich Stephanie an die Kellnerin aus dem Grey Gull erinnern. Deren Sohn kürzlich aus dem Baumhaus gefallen war und sich den Arm gebrochen hatte. Sie bekommt den ganzen Batzen, hatte Vince gesagt, bevor er Helen Hafner das Geld zusteckte. Was Onkel Sam nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Und Dave hatte hinzugefügt: So werden in Amerika Geschäfte gemacht. Stephanie nahm an, dass sie Recht hatten, aber im vorliegenden Fall bereitete ihnen diese Art, Geschäfte zu machen, erhebliche Probleme. »Ihr wisst es also nicht«, schloss sie. »Ihr habt euer Bestes getan, aber ihr habt es nicht herausbekommen.« Vince schaute erst überrascht, dann erheitert drein. »Ob man sein Bestes getan hat, Steffi, kann man, glaube ich, nie mit Sicherheit sagen: Ich bin sogar der Ansicht, dass die meisten dazu verurteilt, ja verflucht sind zu glauben, sie hätten es noch ein bisschen besser machen können, selbst wenn sie eigentlich mit dem Ergebnis zufrieden sind. Aber du irrst dich – ich habe es herausbekommen. Er hat sich ein Flugzeug in Stapleton gechartert. Auf jeden Fall.« »Aber du hast gesagt –« Er beugte sich noch weiter über seine gefalteten Hände und fixierte sie mit seinem Blick. »Hör gut zu und lass dir etwas gesagt sein, mein Mädchen. Es ist lange her, dass ich Sherlock Holmes gelesen habe, weshalb ich nicht präzise zitieren kann, aber irgendwann sagt der große Detektiv zu Dr. Watson so etwas wie: ›Eliminiert man das Unmögliche, muss das, was übrig bleibt, wie unwahrscheinlich es auch ist, die Wahrheit sein.‹ Also, wir wissen, dass Colorado Kid bis Viertel oder zwanzig nach zehn am Mittwochmorgen in seinem Büro in Denver war. Und wir können auch davon ausgehen, dass er um halb sechs bei Jan’s Wharfside war. Heb noch mal die Finger hoch, wie du es eben getan hast, Stephanie.« Sie tat wie ihr geheißen, den linken Zeigefinger für Colorado Kid in Denver, den rechten für James Cogan in Maine. Vince nahm die Hände auseinander und berührte mit seinem Zeigefinger den ihrer rechten Hand. Alter und Jugend trafen sich quasi mitten in der Luft. »Dieser Finger darf aber nicht halb sechs sein«, sagte er. »Wir müssen der Bedienung nicht unbedingt glauben. Sie hat sich zwar nicht die Hacken abgelaufen wie im Juli, aber sie hatte bestimmt genug zu tun, es war schließlich Abendessenszeit und so.« Stephanie nickte. In diesem Teil der Welt aß man früh zu Abend. Das Mittagessen nahm man mittags aus dem Henkelmann zu sich, oft draußen im Hummerboot. »Dieser Finger ist jetzt mal sechs Uhr«, sagte er. »Die letzte Fähre.« Stephanie nickte abermals. »Die muss er genommen haben, oder?« »Ja, es sei denn, er ist geschwommen«, warf Dave ein. »Oder hat ein Boot gemietet«, ergänzte Stephanie. »Wir haben uns umgehört«, erklärte Dave. »Wichtiger noch: Wir haben Gard Edwick gefragt, der im Frühjahr 1980 der Fährmann war.« Hat Cogan ihm Tee gebracht?, fragte Stephanie sich plötzlich. Denn wenn man mit der Fähre fahren will, muss man dem Steuermann Tee mitbringen. Hast du selbst gesagt, Dave. Oder sind der Fährmann und der Steuermann zwei verschiedene Personen? »Steffi?« Vince klang besorgt. »Alles in Ordnung, mein Mädchen?« »Sicher, warum?« »Weiß nicht, du sahst gerade aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.« »Hab ich auch. Ist ja eine seltsame Geschichte, oder?« Dann fügte sie hinzu: »Nur dass es gar keine Geschichte ist, da hattet ihr Recht, und wenn ich gerade ein komisches Gesicht gemacht habe, liegt es wahrscheinlich daran. Es ist, als würde man mit dem Fahrrad auf einem Drahtseil fahren wollen, das gar nicht existiert.« Stephanie zögerte, dann entschied sie sich, weiterzusprechen, auch wenn sie sich komplett zum Narren machte. »Konnte sich Mr Edwick an Cogan erinnern, weil der ihm etwas mitgebracht hatte? Weil er Tee für den Steuermann mitbrachte?« Eine Weile sagte keiner der Männer etwas, sie betrachteten Stephanie nur mit ihren unergründlichen Augen – so sonderbar lebendig und sympathisch jungenhaft in ihren alten Gesichtern –, und Stephanie hatte Angst, jeden Moment loszulachen oder – zuweinen, irgendetwas zu tun, bloß um die Spannung und wachsende Gewissheit zu vertreiben, dass sie sich völlig blamiert hatte. Vince sagte: »Es war eine kalte Überfahrt. Ein Mann kam zum Ruderhaus und reichte Gard einen Pappbecher mit Kaffee. Sie wechselten nur wenige Sätze. Es war ja April, zu der Zeit wurde es schon langsam dunkel. Der Mann sagte: ›Ruhige See‹, und Gard antwortete: ›Ah jo.‹ Dann sagte der Mann: ›Das hat sich schon lange angekündigt‹, vielleicht aber auch ›Ich hab mich schon lange angekündigt‹. Gard meinte, es hätte sogar heißen können ›Haas hat sich schon lange angekündigt‹. Es gibt den Namen; zwar nicht im Telefonbuch von Tinnock, aber in mehreren anderen habe ich ihn gefunden.« »Trug Cogan die grüne Jacke oder den Mantel?« »Steffi«, sagte Vince. »Gard konnte sich nicht nur nicht erinnern, ob der Mann einen Mantel trug, er hätte vor Gericht nicht mal beschwören können, ob der Mann zu Fuß oder zu Pferde kam. Erstens wurde es schon dunkel; zweitens waren es lediglich eine freundliche Geste und ein paar Sätze, an die er sich anderthalb Jahre später erinnerte; drittens … naja, der alte Gard, weißt du …« Vince tat, als halte er sich eine Flasche an den Mund. »Wir wollen nicht schlecht über die Toten reden, aber der Mann soff wie ein Loch«, sagte Dave. »1985 verlor er die Stelle als Fährmann. Die Stadt gab ihm den Schneepflug, damit seine Familie nicht hungern musste. Er hatte fünf Kinder und seine Frau litt an MS. Aber irgendwann räumte er im Februar stinkbesoffen die Main Street und fuhr den Pflug an einem Strommasten zu Schrott, danach gab es eine verdammte Woche lang keinen Strom mehr, entschuldige meine Ausdrucksweise. Er verlor die Stelle und lebte von der Wohlfahrt. Wundere ich mich also, dass er sich an nichts erinnern konnte? Nein, überhaupt nicht. Aber aufgrund der Fakten, die er noch wusste, bin ich überzeugt, dass Colorado Kid mit der letzten Fähre vom Festland rüberkam und dass er dem Steuermann tatsächlich Tee brachte, beziehungsweise einen akzeptablen Ersatz. Klasse, dass du das noch wusstest, Steffi!« Er tätschelte ihr die Hand. Sie lächelte ihn an und hatte das Gefühl, ihr würde schwindelig. »Wie du schon gesagt hast«, nahm Vince den Faden wieder auf, »muss der Zeitunterschied von zwei Stunden berücksichtigt werden.« Er schob ihren linken Zeigefinger näher an den rechten heran. »Um Viertel nach zwölf Ostküstenzeit verlässt Cogan das Büro. Sobald sich die Aufzugtüren zum Eingangsbereich des Gebäudes öffnen, legt er seine lässige, routinierte Art ab. Augenblicklich schaltet er um. Als säße ihm der Teufel im Nacken, rast er nach draußen, wo das schnelle Auto mit einem ebenso schnellen Fahrer auf ihn wartet. Eine halbe Stunde später ist er bei einer FBO in Stapleton und fünf Minuten später steigt er in ein Privatflugzeug. Er hat nichts dem Zufall überlassen. Kann er gar nicht. Viele Leute fliegen regelmäßig privat hin und her, bleiben dann aber ein, zwei Wochen an einem Ort. Die Flugzeuge, die die Passagiere hinbringen, können in diesen zwei Wochen auch von anderen gemietet werden. Unser Mann wird sich für eines dieser Flugzeuge entschieden und mit großer Wahrscheinlichkeit im Voraus bar bezahlt haben. Um Richtung Osten zu fliegen.« Stephanie fragte: »Was hätte er denn getan, wenn der Flug, den er nehmen wollte, in letzter Minute abgesagt worden wäre?« Dave zuckte mit den Schultern. »Das Gleiche, was er auch bei schlechtem Wetter getan hätte, nehme ich an: Er hätte sein Vorhaben auf einen anderen Tag verschoben.« Vince hatte Stephanies linken Finger ein bisschen weiter nach rechts gerückt. »Nun ist es bald ein Uhr mittags an der Ostküste«, sagte er, »aber immerhin muss sich unser Freund Cogan keine großen Gedanken über das ganze Sicherheitstrara machen, das gab’s 1980 noch nicht, schon gar nicht bei einem Privatflug. Wir müssen davon ausgehen – wieder nur eine Annahme –, dass sein Flugzeug nicht lange auf die Starterlaubnis wartete, denn das hätte den ganzen Zeitplan durcheinander gebracht, am Ziel wartete ja schließlich schon …« Er berührte Stephanies rechten Finger. »… die Fähre. Die letzte. Der Flug dauerte drei Stunden. Sagen wir jetzt mal so. Mein werter Kollege hat im Internet recherchiert, er ist ganz verrückt danach, jedenfalls behauptet er, an dem Tag sei gutes Wetter zum Fliegen gewesen, und auf den Karten sieht man, dass der Jetstream ungefähr im richtigen Bereich war …« »Allerdings habe ich nie herausfinden können, wie stark er war«, unterbrach ihn Dave. Er warf Vince einen Blick zu. »In Anbetracht der dürftigen Ergebnisse in unserem Fall ist das wahrscheinlich nicht so schlimm, Partner, was?« »Sagen wir also, drei Stunden«, wiederholte Vince und schob Stephanies linken Finger (den sie bei sich nun ›Colorado Kid‹ nannte) bis auf fünf Zentimeter an den rechten heran (der für sie jetzt ›der fast tote James Cogan‹ hieß). »Viel länger kann es nicht gedauert haben.« »Weil die Fakten das nicht zulassen«, murmelte sie vor sich hin, fasziniert (und auch ein wenig eingeschüchtert) von der Vorstellung. Auf der High School hatte sie mal einen Science-Fiction-Roman gelesen, der hieß Der Mond ist eine herbe Geliebte. Mit dem Mond kannte sie sich nicht so gut aus, aber langsam war sie überzeugt, dass das Urteil auf die Zeit allemal zutraf. »Genau, weil es nicht anders sein kann«, stimmte Vince zu. »Um vier Uhr oder vielleicht um fünf nach vier – sagen wir um fünf nach – landet Cogan und geht bei Twin City Civil Air von Bord, damals die einzige FBO am Flughafen Bangor –« »Wurde seine Ankunft irgendwo registriert?«, wollte Stephanie wissen. »Hast du das geprüft?« Sie wusste, dass Vince das getan hatte, natürlich, und dass es zu nichts geführt hatte. So war es nun mal bei dieser Geschichte. Eine Geschichte, als müsste man niesen und könnte nicht. Vince lächelte. »Na klar, aber damals, in der sorglosen Zeit vor den Sicherheitsvorkehrungen, bewahrte Twin City lediglich Rechnungsbücher für längere Zeit auf. Die Fluggesellschaft hatte an dem Tag mehrere Barzahlungen, darunter einige ansehnliche Tankquittungen am späten Nachmittag, aber selbst die haben nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Soweit wir wissen, kann derjenige, der Colorado Kid herflog, die Nacht in einem Hotel in Bangor verbracht haben und am nächsten Morgen zurückgeflogen sein …« »Oder das Wochenende über hier geblieben sein«, sagte Dave. »Andererseits könnte der Pilot auch direkt umgedreht haben, ohne wieder aufzutanken.« »Wie soll das gehen, wenn er die weite Strecke von Denver hergeflogen ist?«, wollte Stephanie wissen. »Er könnte einen Zwischenstopp in Portland eingelegt haben«, erklärte Dave, »um da nachzutanken.« »Warum sollte er?« Dave grinste. Er sah erstaunlich pfiffig aus, ganz anders als sonst, wenn sein ernster Gesichtsausdruck eher den Eindruck dümmlicher Ehrlichkeit vermittelte. Jetzt kam Stephanie der Gedanke, dass Daves Hirn hinter dem rundlichen Kindergesicht ebenso raffiniert und schnell war wie das von Vince Teague. »Cogan könnte dem Piloten aus Denver Geld gegeben haben, damit er dort tankt, weil Cogan befürchtete, Spuren zu hinterlassen«, erklärte Dave. »Und wenn der Pilot aus Denver entsprechend bezahlt wurde, war er sicherlich mit diesem Ansinnen einverstanden.« »Colorado Kid«, fuhr Vince fort, »blieben noch zwei Stunden, um nach Tinnock zu gelangen, bei Jan’s Wharfside einen Teller mit Fish and Chips zu holen, sich an den Tisch zu setzen, beim Essen aufs Wasser zu schauen und dann die letzte Fähre nach Moose-Lookit Island zu nehmen.« Während der Aufzählung bewegte er Stephanies linken Zeigefinger auf den rechten zu, bis sie sich berührten. Fasziniert schaute Stephanie zu. »Ist das möglich?« »Schon, aber es ist verdammt knapp«, erwiderte Dave seufzend. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn er nicht tot am Hammock Beach gelegen hätte. Du, Vince?« »Nie«, sagte Vince wie aus der Pistole geschossen. »Im Umkreis von zwölf Meilen von Tinnock gibt es vier Behelfsrollbahnen, die nur in der Hochsaison benutzt werden«, erklärte Dave. »Meistens starten dort im Sommer Touristen zu Besichtigungsflügen oder um sich im Herbst das bunte Laub anzusehen, wenn die Farben explodieren. Wir haben alle vier Rollbahnen auf die Möglichkeit überprüft, ob Cogan vielleicht ein zweites Flugzeug charterte, eine kleine Propellermaschine wie eine Piper Cub, und von Bangor zur Küste flog.« »Ebenfalls ohne Erfolg, nehme ich an.« »Da liegst du richtig«, gab Vince zurück, und er grinste eher trübsinnig als gerissen. »Von dem Moment an, wo sich die Fahrstuhltüren in Denver hinter Cogan schließen, besteht die Geschichte nur noch aus Schatten, die man nicht zu fassen bekommt … plus einer Leiche. Drei der vier Landeplätze waren im April gar nicht in Betrieb, dort hätte also jemand landen können, ohne dass es einer bemerkt hätte. Beim vierten wohnte eine Frau namens Maisie Harrington mit ihrem Vater und rund sechzig Kötern. Sie behauptete, von Oktober 1979 bis Mai 1980 sei niemand bei ihnen gelandet, aber sie roch wie eine ganze Schnapsbrennerei, so dass ich meine Zweifel hatte, ob sie noch wusste, was eine Woche zuvor passiert war, von anderthalb Jahren ganz zu schweigen.« »Und der Vater von dieser Frau?«, fragte Stephanie. »Blind wie ein Maulwurf und nur noch ein Bein«, erklärte Dave. »Zucker.« »Oje«, gab sie zurück. »Ah jo.« »Legen wir Jack und Maisie Harrington zu den Akten«, sagte Vince ungeduldig. »Ich habe nie an die Theorie mit dem zweiten Flugzeug geglaubt, genauso wenig wie an die Theorie mit dem zweiten Schützen bei Kennedy. Wenn in Denver ein Auto auf Cogan gewartet hat – und das kann ich mir nicht anders vorstellen –, dann kann auch eins am General Aviation Terminal auf ihn gewartet haben. Davon gehe ich aus.« »Das ist sehr weit hergeholt«, sagte Dave, allerdings nicht spöttisch, sondern traurig. »Kann sein«, erwiderte Vince unbeirrt, »aber wenn man das Unmögliche ausschaltet, ist das, was übrig bleibt … der kleine Hund, der an der Tür kratzt und reinwill.« »Cogan könnte auch selbst gefahren sein«, sagte Stephanie nachdenklich. »Mit einem Mietwagen?« Dave schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, mein Mädchen. Autovermietungen nehmen nur Kreditkarten, das hätte eine Spur hinterlassen.« »Außerdem«, fügte Vince hinzu, »kannte sich Cogan im Osten und an der Küste von Maine nicht aus. Soweit wir herausgefunden haben, war er nie zuvor hier gewesen. Du kennst die Straßen inzwischen, Steffi: Es gibt nur eine Hauptstraße, die von Bangor nach Ellsworth führt, aber wenn man in Ellsworth ist, gibt es drei oder vier Möglichkeiten. Da ist ein Auswärtiger, selbst wenn er eine Karte hat, schnell überfordert. Nein, ich glaube, Dave hat Recht. Wenn Colorado Kid mit dem Auto fahren wollte und vorher wusste, wie klein sein Zeitfenster sein würde, wird er dafür gesorgt haben, dass ein Fahrer auf ihn wartete. Jemand, der Bargeld brauchte, schnell fahren konnte und sich nicht verirrte.« Stephanie dachte kurz nach. Die beiden Männer warteten. »Das macht insgesamt drei Personen«, sagte sie schließlich. »Ein Fahrer in Denver, der Pilot im Privatflugzeug und ein Fahrer hier.« »Vielleicht sogar noch ein Copilot«, warf Dave schnell ein. »So sind jedenfalls die Vorschriften.« »Das ist doch so gut wie unmöglich«, bemerkte sie. Vince nickte seufzend. »Da widerspreche ich nicht.« »Ihr habt keinen von denen gefunden, oder?« »Nein.« Sie dachte erneut nach, hielt den Kopf gesenkt, ihre sonst so glatte Stirn war tief gefurcht. Wieder ließen ihr die Männer Zeit, und nach vielleicht zwei Minuten schaute sie auf. »Aber warum? Was könnte fur Cogan so wichtig gewesen sein, um solche Umstände in Kauf zu nehmen?« Vince Teague und Dave Bowie sahen sich an, dann sagte Vince: »Na, das ist wirklich eine gute Frage!« »Eine supergute Frage«, echote Dave. »Die größte Frage überhaupt«, ergänzte Vince. »Natürlich«, meinte Dave. »War sie schon immer.« Dann sagte Vince leise: »Wir wissen es nicht, Stephanie. Wir haben es nicht herausgefunden.« Und Dave fügte noch leiser hinzu: »Das würde dem Boston Globe nicht gefallen. Ganz und gar nicht.« 17 »Wir sind natürlich nicht der Boston Globe«, sagte Vince. »Wir sind nicht mal die Daily News aus Bangor. Aber Stephanie, wenn ein Erwachsener völlig aus der Spur läuft, dann sucht jeder Journalist, egal ob in einer Klein- oder Großstadt, nach einer Erklärung. Es ist unwichtig, ob am Ende die halbe Picknickgesellschaft der Methodisten vergiftet ist oder ob sich nur die männliche Hälfte eines Ehepaares eines Wochentags morgens leise verdrückt und nie wieder lebendig gesehen wird. Jetzt sag mir mal – ohne dass du bedenkst, wo James Cogan gelandet ist und wie unwahrscheinlich der Weg dahin ist –, was es für Gründe geben könnte, aus der Spur zu laufen. Zähle sie auf! Ich will mindestens vier Finger in der Luft sehen.« Es gibt wieder Unterricht, dachte Stephanie. Dann fiel ihr etwas ein, was Vince einen Monat zuvor fast beiläufig gesagt hatte: Um im Nachrichtengewerbe erfolgreich zu sein, schadet es nicht, eine schmutzige Phantasie zu haben, mein Mädchen. Damals hatte sie seine Bemerkung abwegig gefunden, ja sogar leicht senil. Jetzt meinte sie, seinen Ausspruch besser zu verstehen. »Sex«, sagte sie und streckte den linken Zeigefinger aus, den Finger namens Colorado Kid. »Will sagen: eine andere Frau.« Der nächste Finger. »Geld – Schulden oder Diebstahl.« »Vergiss nicht das Finanzamt«, sagte Dave. »Manche Leute verdrücken sich, wenn sie merken, dass sie Onkel Sam was schuldig sind.« »Damit kennt sie sich noch nicht aus, das kann man ihr nicht vorwerfen«, sagte Vince. »Weiter, Steffi, du machst das gut.« Sie hatte noch nicht genug Gründe an den Fingern abgezählt, um ihn zufrieden zu stellen, aber ihr fiel nur noch einer ein. »Der Wunsch, ein neues Leben zu beginnen?«, fragte sie zaghaft, eher sich selbst als die beiden Männer. »Einfach … keine Ahnung … alle Brücken hinter sich abzubrechen und als anderer Mensch an einem anderen Ort noch mal neu anzufangen?« Dann fiel ihr doch noch etwas ein: »Wahnsinn?« Jetzt hielt sie vier Finger hoch: einen für Sex, einen für Geld, einen für Veränderung, einen für Wahnsinn. Zweifelnd betrachtete sie die letzten beiden: »Vielleicht sind Veränderung und Wahnsinn dasselbe?« »Vielleicht«, entgegnete Vince. »Und man könnte argumentieren, dass der Begriff ›Wahnsinn‹ alle möglichen Abhängigkeiten einschließt, vor denen man weglaufen möchte. Manchmal wird einem ja geraten, aus dem alten Umfeld wegzuziehen. Ich denke in erster Linie an Drogen und Alkohol. Auch bei Spielsucht versuchen es die Menschen mit Weglaufen, aber die fällt ja wohl eher unter den Oberbegriff ›Geld‹.« »Hatte er Probleme mit Drogen oder Alkohol?« »Aria Cogan verneinte es, und ich denke, sie hätte es gewusst. Und da sie sechzehn Monate Zeit hatte und er längst tot war, glaube ich, dass sie es mir gesagt hätte.« »Aber, Steffi«, warf Dave vorsichtig ein, »wenn man es recht bedenkt, muss es schon irgendwas mit Wahnsinn zu tun haben, meinst du nicht?« Sie dachte an James Cogan oder Colorado Kid, der tot am Hammock Beach mit dem Rücken an der Mülltonne leimte, ein Stück Fleisch in der Kehle, die geschlossenen Augen auf Tinnock und das Meer gerichtet. Sie dachte daran, dass die Finger der einen Hand gekrümmt gewesen waren, als umfasse er noch immer den Rest seines Mitternachtssnacks, ein Stück Steak, das eine hungrige Möwe ihm zweifellos gestohlen hatte, so dass nur noch ein klebriges Sandmuster auf der fettigen Innenfläche seiner Hand zurückgeblieben war. »Ja«, sagte sie. »Irgendetwas hat es mit Wahnsinn zu tun. Wusste sie das? Seine Frau?« Die beiden Männer sahen sich an. Vince seufzte und rieb sich die messerscharfe Nase. »Möglicherweise, aber sie musste sich um ihr eigenes Leben kümmern, Steffi. Um ihres und das ihres Sohnes. Wenn ein Mann einfach so verschwindet, hat es die zurückgelassene Frau verdammt schwer. Sie konnte in ihren alten Job zurück, bei einer Bank in Boulder, aber das Haus in Nederland konnte sie nicht halten –« »Hernando’s Hideaway«, murmelte Stephanie und empfand Mitleid für die Frau. »Ah jo, genau das. Sie schlug sich wacker, musste sich nicht allzu viel Geld von der Familie leihen, von seiner schon gar nicht, aber sie brauchte so gut wie alle Ersparnisse auf, die sie für die Ausbildung des kleinen Michael zur Seite gelegt hatten. Als wir sie trafen, Stephanie, wollte sie meiner Meinung nach zweierlei: etwas Praktisches und etwas, das man vielleicht … spirituell nennen könnte.« Skeptisch blickte er Dave an, der mit den Schultern zuckte und nickte, als wolle er sagen, das Wort würde schon passen. Vince nickte ebenfalls und fuhr tort: »Sie wollte die Ungewissheit loswerden. Lebte er noch oder war er tot? War sie eine verheiratete Frau oder eine Witwe? Durfte sie die Hoffnung aufgeben oder weiterhoffen? Vielleicht klingt die letzte Frage etwas hartherzig, mag sie auch sein, aber ich denke, dass Hoffnung nach sechzehn Monaten eine verdammt große Last ist, die schwer auf den Schultern wiegt. Was das Praktische anging, das war einfach: Sie wollte, dass die Lebensversicherung zahlt. Ich weiß, dass Aria Cogan nicht der einzige Mensch auf der Welt ist, der Versicherungen hasst, aber bei ihr ging das schon ziemlich weit, so abgrundtief war ihr Hass. Sie hatte sich am Riemen gerissen, war über die Runden gekommen, zusammen mit Michael in der Drei- oder Vierzimmerwohnung in Boulder, eine beträchtliche Umstellung nach dem schönen Haus in Nederland, sie musste ihn tagsüber betreuen lassen, von Babysittern, denen sie nicht unbedingt vertrauen konnte, sie hatte eine Stelle, die sie eigentlich nicht mochte, lag nachts allein im Bett, nachdem sie sich jahrelang an jemanden hatte kuscheln können, machte sich Sorgen über die Rechnungen, sah immer auf die Tankanzeige, weil Diesel damals schon teuer war … und die ganze Zeit war sie im Innersten überzeugt, dass er tot war, aber die Versicherung wollte nicht zahlen, weil es keine Leiche gab und schon gar keine Todesursache. Sie fragte mich immer wieder, ob ›die Schweine‹ – so nannte sie die Leute von der Versicherung – sich irgendwie ›davonstehlen‹ könnten, ob sie sich mit Selbstmord herausreden konnten. Ich sagte ihr, dass ich noch nie von jemandem gehört hätte, der seinen eigenen Erstickungstod mit Hilfe eines Stücks Fleisch herbeigeführt hätte, und als sie später in Cathcarts Gegenwart das Totenbild offiziell identifizierte, erklärte er ihr dasselbe. Das schien ihr ein wenig Ruhe zu verschaffen. Cathcart legte sich schwer ins Zeug, sagte, er würde den Versicherungsvertreter in Brighton, Colorado, anrufen und das mit den Fingerabdrücken und der Identifizierung per Foto erklären. Er wollte alles niet-und nagelfest machen. Sie musste ein bisschen weinen – ein wenig aus Erleichterung und aus Dankbarkeit, ein bisschen vor Erschöpfung, nehme ich an.« »Ja, sicher«, murmelte Stephanie. »Ich fuhr mit ihr auf der Fähre nach Moosie und brachte sie im Red Roof Motel unter«, sagte Vince. »Da hast du am Anfang auch übernachtet, als du noch neu hier warst, stimmt’s?« »Ja«, bestätigte Stephanie. Im vergangenen Monat war sie in einer Pension untergekommen, wollte sich aber im Oktober nach etwas Festem umsehen. Das hieß, falls diese zwei alten Vögel sie behalten wollten. Wovon sie ausging. Sie nahm an, dass dieses Gespräch auch irgendwie davon handelte. »Am nächsten Morgen frühstückten wir drei gemeinsam«, berichtete Dave, »und wie die meisten Menschen, die nichts Böses getan und nicht viel Erfahrung im Umgang mit Zeitungen haben, nahm sie kein Blatt vor den Mund. Sie hatte keine Bedenken, dass irgendetwas von dem, was sie erzählte, später auf Seite eins auftauchen könnte.« Er hielt inne. »Natürlich haben wir nur sehr wenig gebracht. Aber es war eh nie die Art von Story, die als Aufmacher taugt, wenn erst mal die Fakten berichtet sind: ›Toter an Hammock Beach gefunden, Coroner sieht keinen Hinweis auf Verbrechen.‹ Und das war damals eh schon alles kalter Kaffee.« »Kein Seil zum Festhalten«, warf Stephanie ein. »Genau!«, rief Dave und lachte dann, bis er husten musste. Er räusperte sich und wischte sich mit einem großen Paisley-Taschentuch, das er aus der Gesäßtasche seiner Hose zog, die Tränen aus den Augen. »Was hat sie euch gesagt?«, fragte Stephanie. »Was konnte sie uns sagen?«, entgegnete Vince. »In erster Linie stellte sie Fragen. Ich fragte sie lediglich, ob der Tscherwonetz ein Talisman oder ein Souvenir oder sonst was sei.« Er schnaubte verächtlich. »Ein toller Journalist war ich damals.« »Der was?«, fragte Stephanie kopfschüttelnd. »Die russische Münze in seiner Tasche, beim übrigen Kleingeld«, sagte Vince. »Das war ein Tscherwonetz, ein Zehn-Rubel-Stück. Ich fragte Aria, ob ihr Mann ihn als Glücksbringer oder so was bei sich trüge. Sie hatte keine Ahnung. Jim hätte nie etwas mit Russland zu tun gehabt, sie hätten sich mal den James-Bond-Film Liebesgrüße aus Moskau ausgeliehen, das war aber auch schon alles.« »Er könnte die Münze am Strand gefunden haben«, sagte Stephanie nachdenklich. »Da liegt alles Mögliche herum.« Sie selbst hatte einmal bei einem Spaziergang an Little Hay Beach, knapp drei Kilometer von Hammock entfernt, einen Damenschuh mit hohem Absatz entdeckt, fremdartig weichgespült vom Meer. »Kann schon sein, ah jo«, stimmte Vince zu. Er blickte Stephanie an, seine Augen blitzten in den tiefen Höhlen. »Willst du wissen, an was ich mich am besten erinnern kann, an dem Morgen nach ihrem Gespräch mit Cathcart drüben in Tinnock?« »Ja, sicher.« »Wie erholt sie aussah. Und an ihren gesunden Appetit, als wir zusammen frühstückten.« »Das stimmt«, bestätigte Dave. »Man sagt ja immer, dass ein zum Tode Verurteilter besonders viel isst, aber ich glaube, dass keiner mit so viel Appetit isst wie ein Mensch, der in letzter Minute begnadigt wurde. Und so erging es ihr auf gewisse Weise. Sie mag nicht gewusst haben, was er bei uns zu suchen hatte oder was ihm hier widerfuhr, und ihr wurde wohl klar, dass sie es vielleicht niemals erfahren würde …« »Das war ihr klar«, stimmte Vince zu. »Das sagte sie mir, als ich sie zurück zum Flughafen brachte.« »Aber eins wusste sie, und das war das Wichtigste: Er war tot. Tief im Innern mochte sie das die ganze Zeit geahnt haben, aber vom Kopf her brauchte sie einen Beweis, um weitermachen zu können.« »Ganz zu schweigen davon, dass sie die verflixte Versicherung überzeugen musste«, ergänzte Dave. »Hat sie das Geld wenigstens bekommen?«, wollte Stephanie wissen. Dave grinste. »Na sicher. Die ließen sich Zeit – Versicherungen sind ganz schnell dabei, wenn sie einem was andrehen wollen, aber wenn man Ansprüche geltend machen will, schalten sie plötzlich auf Schneckentempo. Aber doch, irgendwann hat sie ihr Geld bekommen. Aria schrieb uns einen Brief, in dem sie sich für alles bedankte, was wir getan hätten. Ohne uns, schrieb sie, hätte sie noch immer keine Sicherheit und die Versicherung würde behaupten, James Cogan könne genauso gut in Brooklyn oder Tangiers leben.« »Was für Fragen hat sie euch gestellt?« »Die zu erwarten waren«, sagte Vince. »Zuerst wollte sie wissen, wo er hinging, als er von der Fähre stieg. Wir konnten es ihr nicht sagen. Das haben wir auch viele Leute gefragt, stimmt’s, Dave?« Dave Bowie nickte. »Aber keiner konnte sich erinnern, ihn gesehen zu haben«, fuhr Vince fort. »Natürlich war es fast stockdunkel, als er von Bord ging, warum sollte sich also jemand an ihn erinnern? Die anderen Passagiere – und zu der Jahreszeit waren es nicht viele, schon gar nicht auf der letzten Fähre – werden direkt zu ihren Autos auf dem Parkplatz in der Bay Street gegangen sein, den Kopf eingezogen, weil der Wind vom Meer herüberblies.« »Sie erkundigte sich nach seiner Brieftasche«, erzählte Dave. »Wir konnten ihr nur sagen, dass sie nie gefunden wurde … zumindest wurde sie nie bei der Polizei abgegeben. Es ist möglich, dass ein Dieb sie ihm auf der Fähre aus der Tasche stahl, das Geld herausnahm und die Börse über Bord ins Wasser warf.« »Es ist auch möglich, dass im Himmel schwer was abgeht, aber nicht sehr wahrscheinlich«, warf Vince trocken ein. »Wenn er Geld im Portemonnaie hatte, warum sollte er dann noch mehr – siebzehn Dollar in Scheinen – in der Hosentasche haben?« »Für alle Fälle?«, schlug Stephanie vor. »Vielleicht«, willigte Vince ein, »aber das leuchtet mir nicht ein. Und ehrlich gesagt, finde ich die Vorstellung, dass ein Taschendieb die Sechs-Uhr-Fähre zwischen Tinnock und Moosie heimsucht, noch unwahrscheinlicher, als dass ein Illustrator aus einer Werbeagentur in Denver ein Flugzeug chartert und damit nach Neuengland fliegt.« »Wir konnten ihr jedenfalls nicht sagen, wo sein Portemonnaie war«, schloss Dave, »genauso wenig wussten wir, wo sich sein Mantel und seine Anzugjacke befanden oder warum er lediglich in Hemd und Hose draußen am Strand war.« »Und die Zigaretten?«, fragte Stephanie. »Das hat sie doch bestimmt interessiert.« Vince lachte bellend. »›Interessiert‹ ist leicht untertrieben. Die Zigarettenschachtel machte sie fast wahnsinnig. Sie konnte sich nicht erklären, warum er Zigaretten dabeihatte. Und sie brauchte uns nicht zu sagen, dass er nicht zu der Sorte Mensch gehörte, die eine Zeit lang mit dem Rauchen aufhört und dann wieder anfängt. Cathcart hatte seine Lunge bei der Obduktion gründlich untersucht, du wirst bestimmt wissen, warum –« »Er wollte sichergehen, dass Colorado Kid nicht doch ertrunken war?«, fragte Stephanie. »Genau«, sagte Vince. »Wenn Dr. Cathcart Wasser in der Lunge gefunden hätte, wäre das ein Hinweis gewesen, dass jemand versucht hatte, die wahre Todesursache von Cogan zu verschleiern. Zwar noch kein Beweis für einen Mord, aber sicherlich ein Indiz. Cathcart fand jedoch kein Wasser in Cogans Lunge und er fand auch keinen Hinweis auf Zigarettenkonsum. Alles rosa und sauber, sagte er. Doch irgendwo zwischen seinem Büro und dem Flughafen Stapleton muss Cogan, obwohl er es unglaublich eilig hatte, den Fahrer gebeten haben anzuhalten, um sich eine Schachtel zu kaufen. Oder aber er hatte sie von Anfang an dabei, was ich eher glaube. Vielleicht zusammen mit der russischen Münze.« »Hast du ihr das gesagt?«, fragte Stephanie. »Nein«, erwiderte Vince und in dem Moment klingelte das Telefon. »Entschuldigt mich«, sagte er und hob den Hörer ab. Das Gespräch dauerte nicht lange, er sagte mehrmals »Ah jo« und legte dann auf. »Das war Ellen Dunwoodie«, verkündete er und streckte den Rücken durch. »Sie ist jetzt bereit, über ihr großes Trauma zu sprechen, weil sie den Hydranten umgefahren und ›sich zum Affen gemacht hat‹. Das waren ihre Worte. Ich glaube allerdings nicht, dass sie in meiner atemberaubenden Schilderung des Zwischenfalls auftauchen werden. Nun, ich glaube, ich muss gleich mal rüber; mir die Geschichte anhören, solange Ellen sich noch klar erinnern kann und bevor es Abendessen gibt. Ich kann von Glück sagen, dass sie und ihre Schwester immer so spät essen. Sonst habe ich meistens Pech.« »Und ich muss mich unbedingt um die Rechnungen kümmern«, verkündete Dave. »Ich habe das Gefühl, dass da jetzt zehn mehr liegen als eben, bevor wir zum Grey Gull aufgebrochen sind. Ich schwöre es: Wenn man sie allein auf dem Schreibtisch liegen lässt, vermehren sie sich wie die Karnickel.« Voller Entsetzen starrte Stephanie die beiden an. »Ihr könnt doch jetzt nicht aufhören! Ihr könnt mich doch nicht so sitzen lassen!« »Wir haben keine Wahl«, gab Vince freundlich zurück. »Wir sitzen ja auch fest, Steffi, und das seit fünfundzwanzig Jahren. In dieser Geschichte gibt es keine verlassene Gemeindesekretärin.« »Und keine Lichter von Ellsworth, die von den Wolken reflektiert werden«, fügte Dave hinzu. »Nicht mal einen Teodore Riponeaux, einen armen alten Seemann, der wegen eines mutmaßlichen Schatzes umgebracht und dann in seinem eigenen Blut auf dem Vorderdeck liegen gelassen wird, nachdem die anderen Matrosen über Bord geworfen wurden – und warum? Als Warnung an andere Möchtegern-Schatzjäger, du lieber Himmel! Na, das ist mal ein Seil zum Festhalten, was, mein Mädchen?« Dave grinste, doch dann wurde er ernster. »Das alles fehlt im Fall von Colorado Kid; es gibt keine Schnur, auf die sich die Perlen fädeln ließen, verstehst du? Ist ja auch kein Sherlock Holmes oder Ellery Queen da, um sie aufzureihen. Nur zwei alte Zeitungshasen, die jede Woche rund hundert Meldungen bringen müssen. Keine davon schlägt große Wellen, verglichen mit dem Boston Globe, aber trotzdem wollen die Leute auf der Insel sie lesen. Wo wir gerade dabei sind: Wolltest du nicht mit Sam Gernerd reden? Damit du alles über seine berühmte Heuwagenfahrt mit anschließendem Picknick erfährst?« »Wollte ich … ich bin … natürlich will ich das! Könnt ihr das glauben? Dass ich tatsächlich mit ihm über dieses blöde Fest reden will?« Vince Teague lachte laut los, Dave fiel ein. »Ah jo«, sagte Vince, als er sich wieder beruhigt hatte. »Keine Ahnung, was dein Lehrer an der Journalistenschule davon halten würde, Steffi, wahrscheinlich würde er weinend zusammenbrechen, aber ich verstehe das.« Er schaute Dave an. »Wir verstehen das.« »Und ich weiß, dass ihr noch zu tun habt, aber ihr müsst doch gewisse Theorien haben … irgendwelche Hypothesen … nach so vielen Jahren.« Flehend schaute Stephanie vom einen zum anderen. »Ich meine, ihr müsst doch …« Die beiden Männer tauschten einen Blick aus, und wieder spürte sie die Telepathie zwischen ihnen, nur dass sie diesmal nicht wusste, welcher Gedanke transportiert wurde. Dave sah sie an. »Was genau willst du wirklich wissen, Stephanie? Raus mit der Sprache!« 18 »Glaubt ihr, dass er ermordet wurde?« Das wollte sie eigentlich wissen. Die beiden hatten Stephanie gebeten, den Gedanken außen vor zu lassen, und sie hatte gehorcht, aber da das Gespräch über Colorado Kid nun so gut wie vorbei war, nahm sie an, dass sie das Thema wieder aufs Tapet bringen durfte. »Warum hältst du das für wahrscheinlicher als einen Unfalltod, wenn du alles in Betracht ziehst, was wir dir erzählt haben?«, wollte Dave wissen. Er klang ehrlich interessiert. »Wegen der Zigaretten. Die Zigaretten muss er absichtlich mitgenommen haben. Er wäre nur nicht auf die Idee gekommen, dass es anderthalb Jahre dauern würde, bis jemand die Steuermarke aus Colorado entdeckt. Cogan glaubte, dass ein Toter ohne Papiere Gegenstand einer größeren Ermittlung sein würde.« »Ja«, bestätigte Vince. Er sprach mit leiser Stimme, schüttelte dabei aber die geballte Faust wie ein Zuschauer, der gerade miterlebt, wie ein Spieler einen wichtigen Spielzug macht oder einen Superball schlägt. »Gut, die Kleine. Gut aufgepasst!« Auch wenn Stephanie erst zweiundzwanzig war, gab es Menschen, denen sie übel genommen hätte, von ihnen so genannt zu werden. Dieser Neunzigjährige mit dem schütteren weißen Haar, dem schmalen Gesicht und den durchdringenden blauen Augen gehörte nicht dazu. Ganz im Gegenteil wurde sie rot vor Freude. »Cogan konnte nicht wissen, dass er an zwei Hohlköpfe wie O’Shanny und Morrison geraten würde«, sagte Dave. »Er konnte nicht wissen, dass er auf einen Studenten angewiesen sein würde, der in den vergangenen Monaten lediglich Aktentaschen geschleppt und Kaffee geholt hatte, ganz zu schweigen von den beiden Opis von der Wochenzeitung, die nicht viel mehr als eine Supermarktbeilage war.« »Jetzt mal vorsichtig, Bruder«, sagte Vince. »Da muss ich widersprechen.« Er hob die Fäuste. »Es hat doch noch geklappt«, sagte Stephanie. »Letztendlich hat er es geschafft.« Dann dachte sie an die Frau und den kleinen Michael, der inzwischen Mitte zwanzig sein musste. »Seine Frau auch. Ohne Paul Devane und euch hätte Aria Cogan niemals Geld von der Versicherung bekommen.« »Das stimmt«, willigte Vince ein. Stephanie fand es niedlich, dass es ihm irgendwie unangenehm war. Nicht dass er Erfolg gehabt hatte, sondern dass es jemand wusste. Hier draußen gab es Internet, auf so gut wie jedem Haus stand eine Satellitenschüssel, kein Fischerboot fuhr ohne GPS aus dem Hafen, und doch hielten sich die alten calvinistischen Überzeugungen hartnäckig in den Köpfen: Lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut. »Was genau glaubst du, dass passiert ist?«, fragte sie. »Nein, Steffi«, sagte Vince freundlich, aber entschieden. »Du rechnest immer noch damit, dass gleich Nero Wolfe oder Ellery Queen Arm in Arm mit Miss Marple aus dem Schrank getanzt kommen. Wenn wir wüssten, was passiert ist, wenn wir nur die geringste Ahnung hätten, dann hätten wir nicht lockergelassen. Scheiß auf den Boston Globe, dann hätten wir die Geschichte auf der Titelseite des Islander gebracht. Wir mögen 1981 kleine Journalisten gewesen sein und sind jetzt vielleicht kleine alte Journalisten, aber wir sind keine toten Journalisten. Eine gute Story macht mir immer noch Spaß!« »Mir auch«, versicherte Dave. Er war aufgestanden, wahrscheinlich in Gedanken bei den Rechnungen, hockte aber nun auf der Schreibtischkante und schwang das Bein. »Ich habe immer davon geträumt, dass wir eine Story entdecken, die in ganz Amerika gedruckt wird, aber den Traum werde ich wohl mit ins Grab nehmen. Los, Vince, sag ihr, was du glaubst. Sie erzählt es nicht weiter. Sie ist jetzt eine von uns.« Stephanie erschauderte vor Freude, ungewollt, aber Vince Teague schien es nicht zu bemerken. Er beugte sich vor und sah ihr in die hellblauen Augen. Seine Pupillen waren dunkler, von der Farbe des Meeres an einem sonnigen Tag. »Na gut«, sagte er. »Schon lange vor der Sache mit der Steuermarke fand ich, dass irgendetwas an seinem Tod und an der Art, wie Cogan hergekommen war, merkwürdig sei. Als ich erfuhr, dass er eine Schachtel Zigaretten dabeihatte, in der nur eine fehlte, obwohl er seit spätestens halb sieben auf der Insel war, begann ich, mir Fragen zu stellen. Den Leuten bei Bayside News bin ich richtig auf die Nerven gegangen.« Vince grinste bei der Erinnerung. »Jedem im Laden habe ich Cogans Bild gezeigt, selbst dem Jungen, der da fegt. Ich war überzeugt, dass Cogan die Packung dort gekauft hatte, sofern er sie nicht an einem Automaten in einem Laden wie dem Red Roof, dem Shuffle Inn oder Sonny’s Sonoco gezogen hatte. Damals nahm ich an, dass seine Packung leer war und er sich eine neue besorgte. Ich ging davon aus, dass er sie um kurz vor elf Uhr bei Bayside News gekauft haben musste, denn um elf machen die zu. Das hätte erklärt, warum er vor seinem Tod nur eine geraucht und nur ein Streichholz entzündet hatte.« »Bis du erfahren hast, dass er Nichtraucher war«, sagte Stephanie. »Genau. Cathcart bestätigte das. Langsam kam ich zu der Überzeugung, dass die Zigarettenschachtel eine Botschaft war: Ich komme aus Colorado, sucht mich dort.« »Das werden wir nie mit Sicherheit wissen, aber wir glauben beide, dass es so war«, erklärte Dave. »Allmächtiger Himmel«, sagte Stephanie fast flüsternd. »Und, was bringt euch das?« Wieder schauten sich die Männer an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. »Nichts als Phantasie und Schneegestöber«, sagte Vince. »Kaum geeignet für einen Reporter vom Boston Globe. Aber es gibt ein paar Dinge, von denen ich völlig überzeugt bin. Willst du sie hören?« »Ja, sicher!« Vince sprach nun langsam und überlegt, wie ein Mann, der sich durch einen dunklen Tunnel tastet, den er schon oft gegangen ist. »Cogan wusste, dass er sich in einer so gut wie ausweglosen Situation befand und im Todesfalle nicht identifiziert werden könnte. Das wollte er nicht, wahrscheinlich weil er seine Frau nicht mittellos zurücklassen wollte.« »Deshalb kaufte er sich die Zigaretten in der Hoffnung, dass es keinem auffallen würde«, sagte Stephanie. Vince nickte. »Ah jo, und es funktionierte.« »Aber wer war derjenige, dem es nicht auffallen sollte?« Vince dachte nach, dann fuhr er fort, ohne auf Stephanies Einwand einzugehen. »Er fuhr mit dem Aufzug nach unten, verließ das Gebäude. Draußen wartete ein Auto auf ihn, das ihn zum Flughafen Stapleton brachte. Entweder stand es direkt vor dem Bürogebäude oder um die Ecke. Vielleicht saßen nur er und der Fahrer drin, es kann aber auch ein Dritter dabei gewesen sein. Das werden wir nie erfahren. Du hast eben gefragt, ob Cogan seinen Mantel trug, als er das Büro verließ, und ich sagte dir, dass George, der Zeichner, sich nicht erinnern konnte, aber Aria erwähnte, sie hätte den Mantel nie wieder gesehen, also trug er ihn vielleicht. Wenn ja, dann hat er ihn im Wagen oder im Flugzeug ausgezogen. Ich glaube, er hat auch die Anzugjacke abgelegt. Entweder gab ihm jemand stattdessen die grüne Jacke oder sie lag schon für ihn bereit.« »Im Auto oder im Flugzeug.« »Ah jo«, sagte Dave. »Und die Zigaretten?« »Weiß ich nicht genau, aber wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, er hatte sie bereits dabei«, sagte Dave. »Er wusste, was passieren würde … Ich nehme an, er hatte sie in der Hosentasche.« »Später dann, am Strand …« Stephanie hatte Cogan vor Augen, ihre persönliche Vorstellung von Colorado Kid, der sich die erste Zigarette seines Lebens anzündet – seine erste und letzte – und dann am Hammock Beach zum Wasser hinunterschlendert, allein im Mondlicht. Im mitternächtlichen Mondenschein. Er zieht den kratzigen, ungewohnten Rauch ein, einmal, vielleicht zweimal. Dann wirft er die Zigarette ins Meer. Und dann …? Ja, was dann? »Das Flugzeug setzte ihn in Bangor ab«, hörte sie sich mit einer Stimme sagen, die in ihren Ohren ebenfalls kratzig und ungewohnt klang. »Ah jo«, stimmte Dave zu. »Und jemand fuhr ihn von Bangor nach Tinnock.« »Ah jo.« Diesmal Vince. »Dann aß er Fish and Chips.« »Genau«, bestätigte Vince. »Das bewies die Obduktion. Und meine Nase. Ich habe den Essig selbst gerochen.« »Hatte er da noch sein Portemonnaie?« »Das wissen wir nicht«, sagte Dave, »aber ich glaube nicht. Ich denke, er gab es mit seinem Mantel, der Anzugjacke und seinem bisherigen Leben ab. Dafür bekam er die grüne Jacke, von der er sich ebenfalls später trennte.« »Oder die der Leiche gestohlen wurde«, sagte Vince. Stephanie erschauderte, sie konnte es nicht verhindern. »Er fährt mit der Sechs-Uhr-Fähre rüber nach Moose-Lookit Island, bringt Gard Edwick einen Pappbecher mit Kaffee – wie in dem Lied Tea for the Tillerman.« »Ja«, sagte Dave. Er schaute feierlich drein. »Da hat er bereits kein Portemonnaie und keinen Ausweis mehr dabei, nur noch siebzehn Dollar und etwas Kleingeld, unter anderem eine russische Zehn-Rubel-Münze. Meint ihr, das Geldstück könnte vielleicht … keine Ahnung … irgendeine Art Erkennungszeichen sein, wie in einem Spionageroman? Ich meine, damals herrschte doch noch der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und Amerika, nicht?« »Und wie!«, bestätigte Vince. »Aber Steffi, wenn dir ein Austausch mit einem russischen Geheimagent bevorstände, würdest du dich dann mit einem Rubel zu erkennen geben?« »Nein«, gestand sie. »Aber warum sollte er ihn sonst bei sich gehabt haben? Um ihn jemandem zu zeigen, was Besseres fällt mir nicht ein.« »Ich hatte immer das Gefühl, dass er ihn geschenkt bekam«, sagte Dave. »Vielleicht zusammen mit dem kalten Steak, in Alufolie gewickelt.« »Warum?«, fragte sie. »Wer sollte das tun?« Dave schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Hat man am Tatort Alufolie gefunden? Vielleicht im Seegras am Ende des Strandes?« »O’Shanny und Morrison haben mit Sicherheit nicht nachgesehen«, sagte Dave. »Vince und ich haben den ganzen Strand abgesucht, nachdem das Absperrband entfernt war. Wir suchten nicht ausdrücklich Alufolie, verstehst du, sondern irgendetwas, das aussah, als würde es mit dem Toten in Verbindung stehen, was auch immer. Wir fanden nur den üblichen Müll, Bonbonpapier und so.« »Wenn das Fleisch in Folie gewickelt oder in einem Beutel war, ist es ebenso gut möglich, dass Colorado Kid es zusammen mit der Zigarette ins Wasser warf«, sagte Vince. »Und das Stück Fleisch in seinem Hals …« Vince grinste schwach. »Ich habe mich mehrmals lange sowohl mit Doc Robinson als auch mit Dr. Cathcart über das Fleisch unterhalten. Dave war ein paar Mal dabei. Ich weiß noch, was Cathcart einmal zu mir sagte. Das kann höchstens einen Monat vor seinem Herzinfarkt gewesen sein, der ihm vor sechs oder sieben Jahren das Leben nahm. Er sagte: ›Ihnen lässt die alte Geschichte einfach keine Ruhe. Sie kommen immer wieder darauf zurück, so wie ein Kind, dem ein Zahn ausgefallen ist und das unablässig mit der Zunge in dem Loch herumbohrt.‹ Und ich dachte, jawohl, genau so ist es, so fühlt es sich an. Es ist wie ein Loch, an dem ich herumbohren muss, weil ich bis zum Grund vordringen will. Zuerst wollte ich wissen, ob das Stück Fleisch Cogan nach seinem Tod in den Hals geschoben worden sein könnte, mit den Fingern oder mit einem Werkzeug wie beispielsweise einer Hummergabel. Die Frage ist dir auch schon durch den Kopf gegangen, nicht wahr?« Stephanie nickte. »Cathcart meinte, es sei möglich, aber unwahrscheinlich, weil das Fleisch nicht nur zerkaut war, sondern schon so weit zerkleinert, dass es geschluckt werden konnte. Es war kein richtiges Fleisch mehr, sondern ein ›organischer Brei‹, wie Cathcart sich ausdrückte. Jemand anders hätte es vorkauen können, aber es ist unwahrscheinlich, dass er es Cogan danach in den Hals stopfte, denn dann hätte es nicht so ausgesehen, als sei er daran erstickt. Kannst du mir folgen?« Sie nickte erneut. »Außerdem meinte Cathcart, dass zu Brei gekautes Fleisch kaum mit einem Instrument zu bewegen sei. Wenn man es aus dem Mund in die Kehle schieben wollte, würde es sich auflösen. Mit dem Finger würde es gehen, aber Cathcart meinte, wenn es so gewesen wäre, hätte es Indizien dafür gegeben, am ehesten gedehnte Bänder im Kiefer.« Vince hielt inne, dachte nach, schüttelte den Kopf. »Es gibt einen Fachausdruck für dieses Kieferausrenken, aber ich habe ihn vergessen.« »Erzähl ihr, was Robinson dir gesagt hat«, forderte Dave ihn auf. Seine Augen leuchteten. »Letzten Endes hat es nicht mehr gebracht als der Rest, aber ich fand es ungemein interessant.« »Robinson meinte, es gebe bestimmte Muskelrelaxanzien, einige seien ganz selten, mit denen Cogans Mitternachtsimbiss hätte versetzt sein können«, sagte Vince. »Vielleicht bekam er die ersten Bissen gut runter, in seinem Magen war schließlich etwas verdautes Fleisch, und beim letzten Bissen merkte er plötzlich, dass er nicht mehr schlucken konnte.« »Das muss es gewesen sein!«, rief Stephanie. »Jemand hat das Fleisch vergiftet und sah zu, wie er erstickte! Als Cogan tot war, lehnte ihn der Mörder gegen die Mülltonne und nahm den Rest vom Steak mit, damit es nicht untersucht werden konnte! Es war gar keine Möwe! Es …« Sie unterbrach sich, schaute die beiden an. »Warum schüttelt ihr den Kopf?« »Wegen der Obduktion, mein Mädchen«, antwortete Vince. »Es fand sich nichts dergleichen bei der Gaschromatographie.« »Aber wenn es ein richtig seltenes Gift war …« »So wie bei Agatha Christie?«, fragte Vince mit einem Zwinkern und lächelte. »Nun, vielleicht … aber vergessen wir nicht das Stück Fleisch in seinem Hals.« »Ach ja, natürlich. Dr. Cathcart hat es untersucht, nicht wahr?« Stephanie sackte in sich zusammen. »Ah jo«, stimmte Vince zu. »Hat er. Auch wenn wir am Ende der Welt leben, haben wir durchaus dunkle Gedanken. An dem zerkauten Fleisch war keinerlei Gift, nur ein bisschen Salz.« Kurz schwieg Stephanie. Dann sagte sie mit leiser Stimme: »Vielleicht war es ein Gift, das sich auflöst.« »Ah jo«, machte Dave und schob die Zunge in die Wange. »Wie die Lichter an der Küste nach ein, zwei Stunden.« »Oder die restliche Crew der Lisa Cabot«, fügte Vince hinzu. »Nach der Überfahrt mit der Fähre hat ihn keiner mehr gesehen.« »Nein«, bestätigte Vince. »Wir haben fünfundzwanzig Jahre lang gesucht und nie eine Menschenseele gefunden, die behauptet hat, ihn vor Johnny und Nancy gegen Viertel nach sechs am Morgen des 24. April gesehen zu haben. Und nur fürs Protokoll – nicht dass einer eins führt –, aber ich glaube nicht, dass jemand das restliche Steak stahl, nachdem Cogan am letzten Bissen erstickt war. Ich glaube, dass eine Möwe den Rest aus seiner leblosen Hand stibitzte, genau wie wir immer vermutet haben. Mensch noch mal, ich muss mich wirklich beeilen!« »Und ich muss mit diesen Rechnungen weitermachen«, sagte Dave. »Aber zuerst ist wohl ein kleiner Abstecher zur Toilette angesagt.« Mit diesen Worten bewegte er sich gen WC. »Ich denke, ich muss an meiner Kolumne arbeiten«, sagte Stephanie. Dann kam es halb lachend, halb ernst aus ihr heraus: »Fast wäre mir lieber, wenn ihr mir nie davon erzählt hättet, wo ihr mich jetzt so hängen lasst! Das wird mir noch wochenlang im Kopf herumgeistern!« »Es ist fünfundzwanzig Jahre her und geistert uns immer noch durch den Kopf«, gab Vince zurück. »Jetzt weißt du wenigstens, warum wir es nicht dem Typen vom Globe erzählt haben.« »Ja. Auf jeden Fall.« Lächelnd nickte er. »Du machst das gut, Stephanie. Du wirst schon zurechtkommen.« Er klopfte ihr herzlich auf die Schulter und steuerte dann auf die Tür zu, nahm im Vorbeigehen das schmale Notizbuch von seinem überfüllten Schreibtisch und stopfte es sich in die Gesäßtasche. Er war neunzig und hatte noch immer einen federnden Schritt. Sein Rücken war vom Alter nur leicht gebeugt. Er trug ein weißes Businesshemd, auf dessen Rücken sich die Hosenträger kreuzten. Mitten im Raum hielt er inne und drehte sich zu Stephanie um. Ein Sonnenstrahl fing sich in seinem feinen weißen Haar und ließ es wie einen Heiligenschein leuchten. »Es war wirklich schön, dich hier zu haben«, sagte er. »Ich möchte, dass du das weißt.« »Danke.« Sie hoffte, dass man ihrer Stimme nicht anmerkte, wie nah sie den Tränen war. »Es war herrlich … anfangs hatte ich so meine Zweifel, aber … aber jetzt kann ich das Kompliment zurückgeben. Es macht wirklich Spaß, hier zu sein.« »Hast du dir mal überlegt zu bleiben? Bestimmt, oder?« »Ja. Kannst du mir glauben.« Er nickte ernst. »Dave und ich haben darüber gesprochen. Es wäre gut, frisches Blut in der Redaktion zu haben! Junges Blut.« »Ihr beiden macht das doch noch jahrelang«, sagte sie. »Ja, natürlich«, erwiderte er leichthin, als sei das selbstverständlich, und als er sechs Monate später starb, saß Stephanie in der kalten Kirche, machte in ihrem eigenen schmalen Büchlein Notizen über den Gottesdienst und dachte: Er sah es kommen. »Ich mache noch jahrelang weiter. Trotzdem, wenn du bleiben willst, wir würden dich gerne nehmen. Du musst dich jetzt noch nicht entscheiden, es ist nur ein Angebot.« »Gut, ich denke drüber nach. Wir wissen, glaube ich, beide, wie die Antwort ausfallen wird.« »Das freut mich.« Er wollte gehen, drehte sich aber noch einmal um. »Der Unterricht für heute ist so gut wie beendet, aber eines könnte ich dir noch über unsere Arbeit verraten. Darf ich?« »Natürlich.« »Es gibt tausende von Zeitungen und zehntausende von Menschen, die für sie schreiben, aber es gibt nur zwei Sorten von Berichten. Das eine sind Meldungen. Das sind gar keine richtigen Geschichten, sondern schlicht Wiedergabe von Fakten. Sie brauchen auch gar keine Geschichten zu sein. Die Leute kaufen eine Zeitung, weil sie von Blut und Tränen lesen wollen, so wie sie bei einem Unfall auf der Autobahn langsamer fahren, um alles sehen zu können, und anschließend geht’s weiter. Aber was finden sie in der Zeitung?« »Reportagen«, sagte Stephanie und dachte an Hanratty und seine ungelösten Rätsel. »Ah jo. Das sind richtige Geschichten. Jede hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Deshalb sind es gute Nachrichten, Steffi, deshalb sind sie gut. Selbst wenn sie von einer Sekretärin handeln, die wahrscheinlich die halbe Gemeinde beim Picknick umgebracht hat, weil ihr Geliebter sie sitzen ließ, sind es gute Nachrichten. Weißt du, warum?« »Keine Ahnung.« »Wäre aber besser«, sagte Dave, der gerade von der Toilette kam und sich die Hände an einem Papiertuch abtrocknete. »Das solltest du wissen, wenn du in diesem Geschäft arbeiten und verstehen willst, was du tust.« Er warf das Tuch in seinen Papierkorb. Stephanie dachte nach. »Reportagen sind gute Geschichten, weil sie vorbei sind.« »Stimmt!«, rief Vince strahlend. Er warf die Hände in die Luft wie ein Erweckungsprediger. »Sie haben einen Schluss! Sie sind gelöst! Aber im richtigen Leben, Stephanie, haben die Dinge da auch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende? Was sagt dir deine Erfahrung?« »Was das Schreiben angeht, habe ich nicht viel Erfahrung«, sagte sie. »Nur an der Uni und diese Kolumne hier.« Vince winkte abwehrend mit der Hand. »Dein Herz, was sagt dir das?« »Dass es im Leben meistens nicht so ist.« Sie dachte an einen jungen Mann, um den sie sich kümmern musste, falls sie sich entschied, über die Praktikumszeit von vier Monaten hier zu bleiben … das könnte unangenehm werden. Würde es sogar ziemlich sicher. Rick würde die Nachricht nicht positiv aufnehmen, denn in Ricks Kopf sollte die Geschichte eigentlich anders weitergehen. »Ich habe noch keine Reportage gelesen, in der nicht irgendwas gelogen war«, sagte Vince milde, »aber meistens reichen sie für den Innenteil. Mit dieser Geschichte würde das nicht gehen. Es sei denn …« Er zuckte leicht mit den Schultern. Einen Moment lang wusste Stephanie nicht, was dieses Schulterzucken zu bedeuten hatte. Dann fiel ihr ein, was Dave gesagt hatte, kurz nachdem sie sich draußen auf die Veranda in den späten Augustsonnenschein gesetzt hatten. Sie gehört uns, hatte er gesagt, und es klang trotzig. Ein Typ vom Globe, einer, der nicht von hier kommt, der würde sie nur vermasseln. »Wenn ihr sie Hanratty erzählt hättet, hätte er sie verwendet, stimmt’s?«, fragte Stephanie. »Wir hätten es nicht verbieten können, sie gehört uns ja nicht«, erwiderte Vince. »Sie gehört dem, der sie findet.« Leicht lächelnd schüttelte Stephanie den Kopf. »Das ist Haarspalterei. Du und Dave, ihr seid die Letzten, die die ganze Geschichte kennen.« »Waren wir«, entgegnete Dave. »Jetzt gehörst du auch dazu, Steffi.« Sie nickte, bedankte sich für das stille Kompliment, dann wandte sie sich mit erhobenen Augenbrauen Vince Teague zu. Nach ein paar Sekunden fing er an zu schmunzeln. »Wir haben ihm nicht von Colorado Kid erzählt, weil er aus einem echten ungelösten Rätsel eine Reportage wie jede andere gemacht hätte«, erklärte Vince. »Nicht dass er die Fakten falsch wiedergegeben hätte, aber er hätte hier was hervorgehoben – sagen wir mal, die Idee mit dem Muskelrelaxans, das das Schlucken so gut wie unmöglich macht – und an anderer Stelle etwas ausgelassen.« »Beispielsweise, dass es nirgends auch nur den geringsten Anhaltspunkt dafür gibt«, warf Stephanie ein. »Ah jo, vielleicht das, vielleicht etwas anderes. Kann auch sein, dass er sich was zurechtgebastelt hätte, einfach weil man sich angewöhnt, aus Fakten, die nicht für eine Geschichte reichen, irgendwas zusammenzuflicken, wenn man eine Weile in diesem Geschäft ist, oder weil sein Redakteur ihm die Geschichte zum Umschreiben zurückgegeben hätte.« »Notfalls hätte es der Redakteur auch selbst gemacht, wenn nicht viel Zeit gewesen wäre«, ergänzte Dave. »Genau, so was soll schon vorgekommen sein«, stimmte Vince zu. »Jedenfalls wäre Colorado Kid Folge sieben oder acht in Hanrattys Reihe über Ungelöste Rätsel Neuenglands geworden, die Leute hätten am Sonntag eine Viertelstunde über die Geschichte gestaunt und am Montag damit ihre Katzenklos ausgelegt.« »Und sie hätte nicht mehr euch gehört«, fügte Stephanie hinzu. Dave nickte, aber Vince wedelte abweisend mit der Hand. »Damit könnte ich mich abfinden, aber man hätte einem Toten, der sich nicht mehr wehren kann, eine Lüge um den Hals gehängt, und das kann ich nicht ertragen. Muss ich auch nicht.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich mach mich jetzt jedenfalls auf den Weg. Wer von euch als Letztes geht, schließt hinter sich ab, ja?« Vince ging. Sie sahen ihm nach, dann sagte Dave zu Stephanie: »Noch Fragen, Euer Ehren?« Sie lachte. »Mindestens hundert, aber die können Vince und du wohl nicht beantworten.« »Solange du nicht müde wirst, sie auch zu stellen, ist das kein Problem.« Er schlenderte zu seinem Tisch, setzte sich und zog seufzend einen Papierstapel zu sich heran. Stephanie steuerte auf ihren Tisch zu, doch da entdeckte sie etwas am schwarzen Brett am anderen Ende des Raumes, gegenüber von Vince’ überfülltem Schreibtisch. Sie trat näher. Das schwarze Brett zog sich über die gesamte Wand. An der linken Seite hingen alte Titelblätter des Islander, vergilbt und knittrig. Oben in der Ecke klebte einsam der Titel vom 9. Juli 1951. Die Schlagzeile lautete: GEHEIMNISVOLLE LICHTER ÜBER HANCOCK FASZINIEREN TAUSENDE. Darunter war ein Foto von einem gewissen Vincent Teague, der damals erst siebenunddreißig gewesen sein durfte, wie Stephanie errechnete. Auf dem gewellten Schwarzweißbild war ein Baseballfeld mit einer Anzeigentafel zu sehen, auf der stand: HANCOCK LUMBER WEISS WIE ES STEHT! Auf Stephanie wirkte das Bild, als sei es in der Dämmerung geschossen. Die wenigen Erwachsenen auf der durchhängenden Tribüne schauten hoch in den Himmel. Ebenso der Schiedsrichter, der breitbeinig über der Home Plate stand, den Helm in der rechten Hand. Eine Mannschaft – die Gäste, nahm sie an – drängte sich um die dritte Base, als suchte sie Trost. Die anderen Kinder in Jeans und Trikots, auf deren Rücken HANCOCK LUMBER gedruckt war, standen in einer Reihe im Innenfeld und starrten in den Himmel. Auf dem Wurfhügel wies der kleine Junge, der geworfen hatte, mit seinem Handschuh auf einen hellen Kreis, der direkt unter den Wolken am Himmel schwebte, als wolle er das Geheimnis berühren und heranholen, ihm das Herz öffnen und seine Geschichte erfahren.