...und noch ein Küsschen! Weitere ungewöhnliche Geschichten Roald Dahl Informationen zum Buch Roald Dahl wurde mit seiner ersten Sammlung makabrer Musenküsse weltberühmt als ein Meister des schwarzen Humors. Diese Folge lustvoller Gruselgeschichten enthält ein gesteigertes Quantum der begehrten Lesedroge. Vierzehn Ampullen werden Dahl-Süchtige in heiterste Stimmung versetzen, Novizen zu Hörigen machen. 10 % der Autorentantieme aus dem Verkauf dieses Buches kommen dem Roald-Dahl-Wohltätigkeitsverein zugute. www.roalddahlfoundation.org www.roalddahlmuseum.org Informationen zum Autor Roald Dahl wurde am 13. September 1916 in Llandaff bei Cardiff in Wales als Sohn norwegischer Einwanderer geboren. Sein Vater starb, als der Junge drei Jahre alt war. Nach dem Besuch der Public School Repton absolvierte Dahl eine kaufmännische Lehre bei der Shell Oil Company in London. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Pilot der Royal Air Force. Nach einer schweren Verwundung wurde er bis zum Kriegsende als stellvertretender Luftwaffenattaché an die britische Botschaft in Washington versetzt. Anschließend lebte Dahl abwechselnd in den USA und in England als Drehbuchautor, Publizist und freier Schriftsteller. Er starb am 21. November 1990 in der Nähe von London. Dieses Buch ist für C. E. M. Geschmack Wir waren unser sechs beim Dinner an jenem Abend im Hause meines Freundes Mike Schofield in London: Mike, seine Frau und seine Tochter, meine Frau und ich sowie ein gewisser Richard Pratt. Richard Pratt, ein berühmter Gourmet, war Vorsitzender eines kleinen Vereins, genannt ‹die Epikureer›. Jeden Monat verschickte er privat an die Mitglieder eine Broschüre über Speisen und Weine, und er organisierte auch Festessen, bei denen erlesene Gerichte und seltene Weine serviert wurden. Um sich seinen Geschmackssinn voll und ganz zu bewahren, rauchte er nicht, und wenn er über Weine sprach, hatte er eine seltsame, fast verschrobene Art, jeden einzelnen wie ein lebendes Wesen zu charakterisieren. «Ein intelligenter Wein», sagte er etwa, «ein wenig schüchtern und zurückhaltend, aber sehr intelligent.» Oder: «Ein gefälliger Wein, freundlich und heiter – ein bisschen frivol vielleicht, aber dennoch gefällig.» Mike hatte mich schon zweimal mit Pratt zusammen eingeladen, und in beiden Fällen hatten die Schofields weder Mühe noch Kosten gescheut, um dem berühmten Gourmet ein exquisites Menü vorzusetzen. Und diesmal wollten sie sich offenbar selbst übertreffen. Als wir das Speisezimmer betraten, sah ich sofort, dass der Tisch für ein Festmahl gedeckt war. Die schlanken Kerzen, die gelben Rosen, das viele glänzende Silber, die drei Weingläser für jede Person und dazu der leichte Bratengeruch aus der Küche – das alles ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Wir setzten uns, und plötzlich erinnerte ich mich, dass Mike bei jedem der vorangegangenen Besuche gefragt hatte, ob Richard Pratt sich zutraue, das Wachstum und den Jahrgang des französischen Rotweins zu bestimmen. Als Pratt erwiderte, dass dies nicht allzu schwierig sein dürfte, sofern es sich um einen der großen Jahrgänge handelte, hatte Mike Zweifel geäußert und ihm eine Wette angeboten. Pratt war auf den Vorschlag eingegangen und hatte beide Male eine Kiste des betreffenden Weines gewonnen. Ich war sicher, dass sich das kleine Spiel an diesem Abend wiederholen würde, denn Mike nahm gern eine verlorene Wette in Kauf, wenn er dadurch beweisen konnte, dass sein Wein gut genug war, erkannt zu werden. Und was Pratt betraf, so fand er ein großes, nur schlecht verhehltes Vergnügen daran, seine Kennerschaft zur Schau zu stellen. Der erste Gang wurde aufgetragen: Sehr kross in Butter gebratene Sprotten. Dazu gab es einen Mosel. Mike erhob sich und füllte eigenhändig die Gläser. Als er sich wieder setzte, fiel mir auf, dass er Richard Pratt beobachtete. Er hatte die Flasche vor mich hingestellt, sodass ich das Etikett lesen konnte. ‹Geierslay Ohligsberg, 1945› stand darauf. Er beugte sich vor und flüsterte mir zu, dass Geierslay ein kleines Dorf an der Mosel sei, außerhalb Deutschlands nahezu unbekannt. Bei diesem Wein, fügte er hinzu, handle es sich um eine Rarität, denn die Produktion des Weinguts sei so gering, dass ein Fremder kaum hoffen dürfe, etwas davon zu bekommen. Er selbst habe Geierslay im vorigen Sommer besucht, und es sei ihm unter großen Schwierigkeiten gelungen, ein paar Dutzend Flaschen zu erstehen. «Ich bezweifle, dass außer mir jemand in England diesen Wein hat», sagte er mit einem Blick auf Richard Pratt. «Das Gute am Mosel ist», fuhr er mit erhobener Stimme fort, «dass er sich glänzend dazu eignet, vor dem Rotwein getrunken zu werden. Viele Leute servieren stattdessen Rheinwein, aber nur, weil sie es nicht besser wissen. Ein Rheinwein erdrückt einen delikaten Rotwein, ist Ihnen das bekannt? Es ist barbarisch, Rheinwein vor Rotwein zu servieren. Aber ein Mosel – ah! – ein Mosel ist genau das Richtige.» Mike Schofield, ein liebenswürdiger Mann in mittleren Jahren, war Börsenmakler. Zwischenhändler an der Börse, um genau zu sein. Und er schien, wie viele Menschen seiner Art, Unbehagen, wenn nicht gar Scham zu empfinden, weil er so viel Geld in einem Beruf verdient hatte, der so wenig Bildung erforderte. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass er in Wirklichkeit nicht viel mehr als ein Buchmacher war – ein würdevoller, unendlich ehrbarer, insgeheim jedoch skrupelloser Buchmacher –, und er wusste, dass seine Freunde es auch wussten. So war er jetzt bestrebt, ein Mann von Kultur zu werden, sich auf literarischem und ästhetischem Gebiet zu vervollkommnen, Gemälde zu sammeln, Schallplatten, Bücher und alles, was sonst noch dazugehört. Sein kleiner Sermon über Rhein- und Moselweine war ein Teil dieser Bildung, dieser Kultur, nach der er strebte. «Ein köstliches Weinchen, nicht wahr?», fragte er mich, beobachtete aber nach wie vor Richard Pratt. Ich stellte fest, dass er ihm jedes Mal, wenn er den Kopf senkte, um einen Bissen Fisch in den Mund zu schieben, einen raschen, verstohlenen Blick zuwarf. Ich konnte fast fühlen, wie er auf den Moment wartete, da Pratt den ersten Schluck trinken und mit einem erfreuten, erstaunten, vielleicht sogar verblüfften Lächeln von seinem Glas aufsehen würde. Und dann musste sich ja eine Diskussion entwickeln, die Mike Gelegenheit gab, über das Dorf Geierslay zu berichten. Aber Richard Pratt rührte den Wein nicht an. Seine Aufmerksamkeit war voll und ganz von Mikes achtzehnjähriger Tochter Louise in Anspruch genommen. Er hatte sich ihr halb zugewandt, lächelte sie an und erzählte ihr irgendeine Geschichte von einem Küchenchef in einem Pariser Restaurant. Beim Sprechen beugte er sich immer weiter vor, schien in seinem Eifer beinahe mit ihr zusammenzustoßen, und die arme Louise lehnte sich zurück, so weit sie nur konnte, nickte höflich, wenn auch recht verzweifelt, und wich Pratts Blick aus, indem sie starr auf den obersten Knopf seines Smokings sah. Wir waren fertig mit dem Fisch, und das Dienstmädchen ging von einem zum anderen, um die Teller abzuräumen. Als sie zu Pratt kam, bemerkte sie, dass er noch nichts gegessen hatte, und blieb unschlüssig stehen. Pratt hob den Kopf, winkte sie fort und begann hastig zu essen. Mit flinken, ruckartigen Bewegungen schaufelte er sich die kleinen, knusprig braunen Fische in den Mund, griff dann nach seinem Glas, leerte es mit zwei raschen Schlucken und wandte sich sogleich Louise Schofield zu, um das unterbrochene Gespräch wiederaufzunehmen. Mike hatte alles gesehen. Ich erinnere mich, dass er sehr ruhig und beherrscht dasaß, die Augen auf seinen Gast gerichtet. Sein rundes, freundliches Gesicht schien leicht zu erschlaffen, aber er hielt sich zurück und sagte kein Wort. Bald darauf brachte das Dienstmädchen den zweiten Gang, einen großen Rinderbraten. Sie stellte ihn vor Mike auf den Tisch, und er stand auf, um ihn zu tranchieren. Er schnitt die Scheiben sehr dünn und hob sie behutsam auf die Teller, die das Mädchen ihm reichte. Als alle – auch er selbst – versorgt waren, legte er das Tranchiermesser hin, stützte die Hände auf die Tischkante und beugte sich ein wenig vor. «So», sagte er zu uns allen, blickte dabei aber nur Richard Pratt an, «und nun der Rotwein. Ich muss ihn erst holen, also entschuldigen Sie mich einen Moment.» «Holen, Mike?», fragte ich. «Wo ist er denn?» «In meinem Arbeitszimmer, mit aufgezogenem Korken – damit er atmen kann.» «Warum im Arbeitszimmer?» «Wegen der Zimmertemperatur natürlich. Er steht schon seit vierundzwanzig Stunden dort.» «Aber warum gerade im Arbeitszimmer?» «Weil das der beste Platz im Haus ist. Richard hat mir bei seinem letzten Besuch dazu geraten.» Als Pratt seinen Namen hörte, wandte er sich um. «Das stimmt doch, nicht wahr?», fragte Mike. «Ja», antwortete Pratt und nickte ernst mit dem Kopf. «Das stimmt.» «Auf dem grünen Karteikasten in meinem Arbeitszimmer», sagte Mike. «Das ist die Stelle, die wir ausgesucht haben. Ein zugfreies Plätzchen in einem Raum mit gleichmäßiger Temperatur: Einen Augenblick bitte, ich bin gleich wieder da.» Der Gedanke, dass er noch einen Wein auszuspielen hatte, belebte ihn sichtlich, und er eilte beschwingten Fußes hinaus. Eine Minute später kehrte er zurück. Er ging jetzt bedeutend langsamer und trug vorsichtig einen Weinkorb, in dem eine dunkle Flasche lag. Das Etikett war nach unten gekehrt, also nicht sichtbar. «Nun», rief er, als er sich dem Tisch näherte, «wie steht’s mit diesem hier, Richard? Den werden Sie nie erraten!» Richard Pratt drehte sich ohne Hast um, schaute zu Mike auf und ließ dann den Blick zu der Flasche in dem kleinen Weidenkorb hinunterwandern. Er hob die Augenbrauen, bis sie einen hochmütigen Bogen bildeten, und schob die Unterlippe vor. Unglaublich anmaßend und hässlich sah er auf einmal aus. «Sie kommen nie dahinter», beteuerte Mike. «Nicht in hundert Jahren.» «Ein französischer Rotwein?», fragte Pratt herablassend. «Selbstverständlich.» «Von einem der kleineren Weingüter?» «Vielleicht, Richard. Vielleicht auch nicht.» «Aber es ist ein guter Jahrgang? Einer der großen Jahrgänge?» «Ja, dafür garantiere ich.» «Dann dürfte es nicht allzu schwierig sein», meinte Richard Pratt. Er sprach in einem näselnden Ton, und seine Miene drückte äußerste Langeweile aus. Auf mich machten die affektierte Redeweise und die überbetonte Gleichgültigkeit einen eigenartigen Eindruck, umso mehr als zwischen seinen Augen ein Schatten von Bosheit lag und seine Haltung gespannte Aufmerksamkeit verriet. Ich spürte ein leichtes Unbehagen, als ich ihn beobachtete. «Der hier ist wirklich schwer zu erraten», versicherte Mike. «Ich will Sie nicht drängen, darauf eine Wette abzuschließen.» «So. Und warum nicht?» Wieder das langsame Heben der Brauen, der kühle, gespannte Blick. «Weil es zu schwer ist.» «Na, hören Sie, das ist nicht gerade ein Kompliment für mich.» «Mein Lieber», sagte Mike, «wenn Sie Wert darauf legen, können wir natürlich gern wetten.» «Es dürfte nicht allzu schwierig sein, ihn zu bestimmen.» «Sie meinen, Sie wollen wetten?» «Aber ja, ich bin durchaus dazu bereit», antwortete Richard Pratt. «Gut, dann also um das Übliche. Eine Kiste des betreffenden Weines.» «Sie glauben wohl nicht, dass ich ihn bestimmen kann, wie?» «Offengestanden und mit allem Respekt gesagt, nein.» Mike war nach wie vor bemüht, höflich zu bleiben, während der andere kaum verbarg, wie sehr das alles ihn langweilte. Und doch schien Pratts nächste Frage von einem gewissen Interesse zu zeugen. «Wollen wir den Einsatz erhöhen?» «Nein, Richard. Eine Kiste ist genug.» «Würden Sie um fünfzig Kisten wetten?» «Das wäre töricht.» Mike stand kerzengerade hinter seinem Stuhl am Kopfende des Tisches und hielt vorsichtig die Flasche in ihrem albernen Flechtkorb. Eine Spur von Blässe lag jetzt um seine Nasenflügel, und die Lippen waren fest zusammengepresst. Pratt lehnte sich lässig zurück und blickte zu ihm auf, die Brauen gewölbt, die Lider halb geschlossen, ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln. Und wieder sah ich oder glaubte zu sehen, wie etwas ausgesprochen Beunruhigendes in seinem Gesicht aufflackerte – bösartige, gespannte Aufmerksamkeit zwischen den Augen, und in den Augen selbst, genau im Zentrum, im Schwarz der Pupille, ein lauerndes Fünkchen Verschlagenheit. «Sie wollen also den Einsatz nicht erhöhen?» «Was mich betrifft, alter Junge, mir ist es völlig egal», erklärte Mike. «Ich wette mit Ihnen um alles, was Sie wollen, um alles!» Die drei Frauen und ich saßen schweigend da und beobachteten die beiden Männer. Mrs. Schofield wurde ärgerlich; ihr Mund bekam etwas Verkniffenes, und ich hatte den Eindruck, sie werde im nächsten Augenblick dazwischenfahren. Die Bratenscheiben lagen vor uns auf den Tellern und dampften leicht. «Sie wetten wirklich um alles, was ich will?» «Ich sagte es bereits. Wenn Sie das Risiko nicht scheuen – ich wette so hoch, wie es Ihnen beliebt.» «Selbst um zehntausend Pfund?» «Natürlich. Alles, was Sie wünschen.» Mikes Stimme klang jetzt sehr zuversichtlich. Er wusste genau, dass er jede Summe halten konnte, die Pratt ihm vorschlug. «Sie sagen also, ich darf den Einsatz bestimmen?», vergewisserte sich Pratt noch einmal. «Das habe ich gesagt.» Eine Pause trat ein. Pratt blickte langsam in die Runde, erst auf mich, dann nacheinander auf die drei Frauen. Er schien uns daran erinnern zu wollen, dass wir Zeugen des Angebots waren. «Mike!», mahnte Mrs. Schofield. «Mike, lass uns endlich mit diesem Unsinn aufhören und unseren Braten essen. Er wird ganz kalt.» «Das ist kein Unsinn», sagte Pratt ruhig. «Wir schließen eine kleine Wette ab.» Ich bemerkte, dass das Dienstmädchen mit einer Schüssel Gemüse im Hintergrund stand und offensichtlich nicht wusste, ob weiterserviert werden sollte oder nicht. «Nun gut», meinte Pratt, «dann werde ich also den Einsatz nennen.» «Legen Sie los», erwiderte Mike unbekümmert. «Mir ist es schnurzegal, worum wir wetten – Sie sind dran.» Pratt nickte, und abermals spielte das kleine Lächeln um seine Mundwinkel. Ohne Mike aus den Augen zu lassen, sagte er langsam: «Ich wette mit Ihnen um die Hand Ihrer Tochter.» Louise Schofield fuhr auf. «Halt!», rief sie. «Nein! Das ist nicht sehr witzig! Hör mal, Daddy, das ist überhaupt nicht witzig.» «Beruhige dich, Kind», sagte ihre Mutter. «Sie scherzen ja nur.» «Ich scherze nicht», erklärte Richard Pratt. «Das ist lächerlich.» Mike konnte nicht verbergen, dass er einigermaßen fassungslos war. «Sie sagten doch, Sie würden um alles wetten, was ich wollte.» «Ich meinte Geld.» «Gesagt haben Sie’s nicht.» «Aber gemeint.» «Dann ist es schade, dass Sie sich nicht deutlicher ausgedrückt haben. Nun, wie dem auch sei, wenn Sie von Ihrem Angebot zurücktreten möchten, soll es mir recht sein.» «Hier geht’s gar nicht darum, ob ich von meinem Angebot zurücktreten möchte, alter Junge. Die Wette lässt sich ohnehin nicht durchführen, da Sie keinen gleichwertigen Einsatz zu bieten haben. Woher wollen Sie denn die Tochter nehmen, die Sie mir geben müssten, falls Sie verlieren? Und selbst wenn Sie eine hätten, würde ich sie bestimmt nicht heiraten.» «Das freut mich, mein Lieber», warf Mrs. Schofield ein. «Ich setze alles dagegen, was Sie wollen», verkündete Pratt. «Mein Haus zum Beispiel. Wie wär’s mit meinem Haus?» «Welches?», fragte Mike, natürlich im Scherz. «Das Landhaus.» «Warum nicht auch noch das andere?» «Na schön, dann eben meine beiden Häuser.» Hier sah ich Mike zögern. Er trat einen Schritt vor und stellte die Flasche in ihrem Korb behutsam auf den Tisch. Er schob den Salzstreuer zur Seite, den Pfefferstreuer, dann nahm er sein Messer in die Hand, betrachtete nachdenklich die Klinge und legte es wieder hin. Seine Tochter hatte ebenfalls bemerkt, dass er zögerte. «Daddy!», rief sie. «Sei nicht albern! Es ist einfach zu blöde. Ich weigere mich, so verwettet zu werden.» «Ganz recht, Liebes», kam ihr die Mutter zu Hilfe. «Hör sofort auf, Mike, setz dich hin und iss.» Mike beachtete sie nicht. Er blickte hinüber zu seiner Tochter und lächelte – ein leichtes, väterliches, beruhigendes Lächeln. Aber in seinen Augen war ein kleines triumphierendes Leuchten. «Weißt du», sagte er, noch immer lächelnd, «weißt du, Louise, wir sollten uns das doch mal überlegen.» «Nun sei aber still, Daddy! Mir reicht’s jetzt! Wirklich, etwas so Unsinniges ist mir noch nie vorgekommen!» «Reg dich nicht auf, Kindchen. Hör dir erst mal an, was ich zu sagen habe.» «Aber ich will es nicht hören.» «Louise! Bitte! Die Sache ist so: Richard hat uns eine ernstgemeinte Wette angeboten. Er ist es, der darauf besteht, nicht ich. Und wenn er verliert, geht ein beträchtliches Vermögen in deinen Besitz über. Nein, warte einen Augenblick, Kindchen, unterbrich mich nicht. Jetzt kommt nämlich das Wichtigste: Er kann unmöglich gewinnen.» «Er scheint es aber zu glauben.» «Nun hör doch schon zu. Schließlich weiß ich, wovon ich rede. Ein Fachmann, der einen französischen Rotwein kostet – sofern es sich nicht um einen der berühmten großen Weine wie Lafitte oder Latour handelt –, ist keinesfalls imstande, genaue Angaben über das Weingut zu machen. Er kann dir natürlich sagen, aus welchem Bordeaux-Gebiet der Wein stammt, ob er aus Saint-Émilion, Pomerol, Graves oder Médoc kommt. Aber jedes Gebiet hat mehrere Gemarkungen, und jede Gemarkung hat viele, viele kleine Weingüter. Es ist unmöglich, sie nur vom Geschmack und Geruch her zu unterscheiden. Auch wenn ich sage, dass der Wein, den ich hier habe, von einem kleinen Weingut stammt, das inmitten vieler anderer kleiner Weingüter liegt, wird Richard den Namen nie erraten. Es ist unmöglich.» «Das kannst du nicht wissen», widersprach Louise. «O doch, verlass dich drauf. Ich will mich ja nicht selbst loben, aber was Weine betrifft, da weiß ich so ziemlich Bescheid. Und dann, bedenke doch, Kind, ich bin dein Vater. Glaubst du etwa, ich würde dich in etwas hineinmanövrieren, was du nicht willst? Ich versuche nur, dir Geld zu verschaffen.» «Mike!», rief seine Frau scharf. «Hör jetzt auf, Mike, bitte!» Wieder beachtete er sie nicht. «Wenn diese Wette zustande kommt», sagte er zu seiner Tochter, «bist du in zehn Minuten die Besitzerin von zwei großen Häusern.» «Aber ich brauche keine zwei großen Häuser, Daddy.» «Dann verkauf sie. Verkauf sie ihm auf der Stelle zurück. Ich arrangiere das für dich. Und dann, stell dir das nur einmal vor, mein Kind, dann bist du reich! Unabhängig für den Rest deines Lebens!» «Daddy, mir gefällt das nicht. Ich finde es leichtfertig.» «Ich auch», erklärte die Mutter energisch und nickte dabei mit dem Kopf wie ein pickendes Huhn. «Du solltest dich schämen, Michael, überhaupt so einen Vorschlag zu machen! Noch dazu deiner eigenen Tochter!» Mike hatte nicht einmal einen Blick für sie. «Sag ja!», drängte er, die Augen fest auf das Mädchen gerichtet. «Sag schnell ja! Ich garantiere dir, dass du nicht verlierst.» «Aber mir gefällt es nicht, Daddy.» «Los, Kind, sag doch ja!» Mike setzte seiner Tochter schwer zu. Er beugte sich zu ihr, sah sie unverwandt mit seinen harten, hellen Augen an, und es war nicht leicht für Louise, ihm zu widerstehen. «Und wenn ich nun verliere?» «Begreife doch endlich, dass du nicht verlieren kannst. Ich garantiere es dir.» «Ach, Daddy …» «Ich verschaffe dir ein Vermögen. Also los jetzt. Was sagst du, Louise? Ja?» Ein letztes Zögern. Dann zuckte sie hilflos mit den Schultern. «Na gut. Aber nur, wenn du schwörst, dass ich auf keinen Fall verliere.» «Großartig!», rief Mike. «Dann ist ja alles in Ordnung. Die Wette gilt.» «Ja», bestätigte Richard Pratt und sah das Mädchen an. «Die Wette gilt.» Sofort griff Mike nach dem Wein, goss ein Schlückchen in sein Glas und lief dann aufgeregt von einem zum anderen, um die Gläser zu füllen. Wir alle beobachteten nun Richard Pratt, beobachteten gespannt sein Gesicht, als er langsam die rechte Hand nach dem Glas ausstreckte. Der Mann war etwa fünfzig Jahre alt, und er hatte kein angenehmes Gesicht. Es schien nur aus Mund zu bestehen, aus Mund und Lippen – den fleischigen, feuchten Lippen des professionellen Gourmets. Die Unterlippe hing leicht nach unten, eine weiche, vorgewölbte Feinschmeckerlippe, die ständig auf den Rand eines Glases oder auf einen Leckerbissen zu warten schien. Wie ein Schlüsselloch, dachte ich, als ich ihn betrachtete; sein Mund gleicht einem großen Schlüsselloch. Langsam hob er das Glas an die Nase. Die Nasenspitze tauchte ins Glas und bewegte sich leicht schnüffelnd über die Oberfläche des Weines. Er schwenkte den Wein sacht im Glas, damit das Bouquet zu ihm aufstieg. Die Augen hatte er geschlossen. Er war völlig konzentriert. Die obere Hälfte seines Körpers, der Kopf, der Hals und die Brust, schien sich in eine große, sensible Riechmaschine zu verwandeln, in der die Botschaft der schnüffelnden Nase aufgefangen, gefiltert und analysiert wurde. Mike hatte sich, wie ich feststellte, bequem zurückgelehnt, scheinbar unbeteiligt, obgleich er alles genau verfolgte. Mrs. Schofield saß starr und steif am anderen Ende des Tisches und blickte missbilligend geradeaus. Louise hatte ihren Stuhl ein wenig herumgerückt, sodass sie dem Gourmet das Gesicht zuwandte, und wie ihr Vater ließ sie ihn nicht aus den Augen. Die Riechprobe dauerte mindestens eine Minute; dann senkte Pratt das Glas, ohne die Augen zu öffnen oder den Kopf zu bewegen und kippte sich fast die Hälfte des Inhalts in den Mund. Er wartete, den Mund voller Wein, und empfing den ersten Geschmack. Darauf ließ er etwas Wein die Kehle hinunterrinnen, und ich sah, wie sich sein Adamsapfel beim Schlucken bewegte. Das meiste behielt er jedoch im Mund. Und nun, ohne noch einmal zu schlucken, sog er durch die Lippen ein wenig Luft ein, die sich im Mund mit den Düften des Weines vermischte und in die Lungen drang. Nach einer Weile stieß er den Atem durch die Nase aus und begann, den Wein unter der Zunge herumzurollen und zu kauen. Er kaute ihn buchstäblich mit den Zähnen, wie ein Stück Brot. Es war eine feierliche, eindrucksvolle Darbietung, und ich muss sagen, er machte seine Sache gut. «Hm», meinte er, als er das Glas absetzte und sich mit seiner rosa Zunge über die Lippen fuhr. «Hm – ja. Ein sehr interessantes Weinchen – sanft und gefällig, fast weiblich im Nachgeschmack.» Er hatte zu viel Speichel im Mund, und während er sprach, sprühte gelegentlich ein helles Tröpfchen auf den Tisch. «Nun können wir anfangen zu eliminieren», sagte er. «Sie müssen entschuldigen, wenn ich dabei mit größter Sorgfalt vorgehe – schließlich steht ja viel auf dem Spiel. Normalerweise würde ich vielleicht etwas riskieren, schnell vorpreschen und mitten im Weingut meiner Wahl landen. Aber diesmal – ich muss diesmal sehr vorsichtig sein, nicht wahr?» Er blickte Mike an und lächelte ein dicklippiges, feuchtlippiges Lächeln. Mike verzog keine Miene. «Zuerst also, aus welchem Gebiet in Bordeaux stammt dieser Wein? Das ist nicht schwer zu erraten. Er ist viel zu leicht in der Substanz, als dass er ein Saint-Émilion oder ein Graves sein könnte. Offensichtlich ein Médoc. Ja, darüber besteht kein Zweifel … Nun die zweite Frage: Aus welcher Gemarkung in Médoc kommt er? Das dürfte, wenn wir eliminieren, auch nicht schwer zu bestimmen sein. Margaux? Nein, ganz gewiss kein Margaux. Er hat nicht das feurige Bouquet eines Margaux. Pauillac? Nein, auch kein Pauillac. Dafür ist er zu zart, zu mild und schmachtend. Der Wein aus Pauillac hat einen Geschmack, der fast herrisch in seinem Charakter ist. Und bei einem Pauillac schmecke ich auch immer ein gewisses Aroma heraus, ein eigenartig erdiges, kerniges Aroma, das die Rebe aus dem Boden jener Gegend annimmt. Nein, nein. Dies – dies ist ein sehr zarter Wein, zurückhaltend und keusch, der sich beim zweiten Schmecken zaghaft, aber sehr anmutig entfaltet. Ein bisschen schelmisch vielleicht beim zweiten Schmecken und auch ein bisschen unartig, da er die Zunge mit einer Spur, einer winzigen Spur von Gerbsäure neckt. Und im Nachgeschmack ist er köstlich – besänftigend und weiblich, mit einer gewissen heiteren Freigebigkeit, die man nur bei Weinen der Gemarkung Saint-Julien findet. Ohne Frage, dies ist ein Saint-Julien.» Richard Pratt lehnte sich zurück, hielt die Hände in Brusthöhe und legte die Fingerspitzen sorgfältig gegeneinander. Er benahm sich lächerlich anmaßend, aber das war wohl Absicht – er wollte seinen Gastgeber verspotten. Ich war ziemlich gespannt, wie es weitergehen würde. Louise zündete sich eine Zigarette an. Pratt hörte das Zischen des aufflammenden Streichholzes und fuhr herum, plötzlich von Wut gepackt. «Bitte!», rief er. «Bitte, unterlassen Sie das! Es ist eine widerliche Angewohnheit, bei Tisch zu rauchen.» Sie schaute ihn an, das brennende Streichholz noch in der Hand; der Blick ihrer großen, ruhigen Augen heftete sich auf sein Gesicht, verweilte dort einige Sekunden und entfernte sich dann langsam und verächtlich. Sie senkte den Kopf und blies das Streichholz aus, behielt jedoch die unangezündete Zigarette zwischen den Fingern. «Entschuldigen Sie, meine Liebe», sagte Pratt, «aber ich kann es einfach nicht ertragen, wenn bei Tisch geraucht wird.» Diesmal schaute sie ihn nicht an. «Nun, lassen Sie mich sehen – wo waren wir stehengeblieben?», sprach er weiter. «Ach ja. Dieser Wein ist also aus Bordeaux, aus der Gemarkung Saint-Julien in Médoc. Gut und schön. Aber jetzt kommen wir zu dem schwierigsten Teil – dem Namen des Weinguts. Denn in Saint-Julien gibt es sehr viele Weingüter, und wie unser Gastgeber vorhin so treffend und richtig bemerkte, ist der Unterschied zwischen dem Wein des einen und dem des anderen oft recht geringfügig. Und trotzdem …» Er hielt inne und schloss die Augen. «Ich versuche, die ‹Lage› zu bestimmen», erklärte er. «Wenn mir das gelingt, ist die Schlacht schon halb gewonnen. Einen Moment bitte … Dies ist offenbar kein Wein erster Lage – nicht einmal zweiter. Es ist kein großer Wein. Ihm fehlt die Qualität, das … das – wie soll ich sagen? – das Feuer, die Kraft. Aber eine dritte Lage – das könnte sein. Und doch bezweifle ich es. Wir wissen von unserem Gastgeber, dass es ein guter Jahrgang ist, und das schmeichelt dem Wein vermutlich etwas. Ich muss vorsichtig sein. Ich muss hier sehr vorsichtig sein.» Er hob sein Glas und nahm einen kleinen Schluck. «Ja», sagte er, mit den Lippen schmatzend. «Ich hatte recht. Es ist ein Wein vierter Lage. Jetzt bin ich sicher. Ein Wein vierter Lage von einem sehr guten Jahrgang, sogar von einem ganz großen Jahrgang. Deswegen schmeckte er im ersten Augenblick wie ein Wein dritter oder sogar zweiter Lage. Gut! Ausgezeichnet! Wir kommen der Sache schon näher. Was für Weingüter vierter Lage gibt es in der Gemarkung Saint-Julien?» Wieder hob er das Glas und hielt den Rand an seine weiche, vorgewölbte Unterlippe. Ich sah die Zungenspitze hervorschießen, rosa und schmal, in den Wein tauchen und zurückschnellen – ein abstoßender Anblick. Mit geschlossenen Augen setzte er das Glas ab. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck schärfster Konzentration; nur die fleischigen Lippen bewegten sich, glitten übereinander wie zwei feuchte Schwammstücke. «Da ist es wieder!», rief er. «Gerbsäure im Mittelgeschmack und dieses Gefühl, als zöge die Zunge sich leicht zusammen. Ja, ja, natürlich! Jetzt hab ich’s! Der Wein kommt von einem der kleinen Güter um Beychevelle. Ich erinnere mich deutlich … Die Gegend um Beychevelle … der Fluss … der kleine Hafen, der so verschlammt ist, dass die Weinkähne ihn nicht mehr benutzen können. Beychevelle … Vielleicht sogar ein Beychevelle selbst? Nein, das glaube ich nicht. Aber irgendwo in der Nähe … Château Talbot? Könnte es ein Talbot sein? Ja, das wäre möglich. Warten Sie …!» Er nippte an seinem Glas. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie sich Mike Schofield immer weiter über den Tisch beugte, den Mund ein wenig geöffnet, die kleinen Augen starr auf Richard Pratt gerichtet. «Nein. Ich hatte unrecht. Es ist kein Talbot. Ein Talbot spricht einen etwas schneller an als dieser hier; das Bouquet ist dichter an der Oberfläche. Wenn es ein Vierunddreißiger ist, was ich glaube, dann kann es kein Talbot sein. Hm … Lassen Sie mich nachdenken. Kein Beychevelle, kein Talbot und doch – und doch den beiden so ähnlich, so nah verwandt, dass der Weinberg eigentlich zwischen ihnen liegen muss. Nun, welcher könnte das sein?» Er zögerte, und wir blickten ihn mit atemloser Spannung an. Jeder von uns, sogar Mikes Frau, beobachtete ihn jetzt. Ich hörte, wie sich das Dienstmädchen auf Zehenspitzen dem Büfett hinter mir näherte und die Gemüseschüssel sehr vorsichtig absetzte, um die Stille nicht zu stören. «Ah!», rief er plötzlich aus. «Ich hab’s! Ja, ich glaube, ich hab’s.» Er trank den letzten Schluck Wein. Dann, das Glas noch in der zum Mund erhobenen Hand, wandte er sich Mike zu, lächelte – ein weiches, öliges Lächeln – und sagte: «Wenn Sie’s genau wissen wollen: Das ist der kleine Château Branaire-Ducru.» Mike saß stumm und starr da. «Und zwar vom Jahrgang neunzehnhundertvierunddreißig.» Wir alle sahen auf Mike und warteten, dass er die Flasche in ihrem Korb umdrehte und das Etikett zeigte. «Ist das Ihre endgültige Antwort?», fragte Mike. «Ich denke schon.» «Nun, ist sie es, ja oder nein?» «Ja.» «Wie war doch der Name?» «Château Branaire-Ducru. Hübsches Weingütchen. Reizendes altes Château. Kenne es recht gut. Komisch, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin.» «Na los, Daddy», sagte Louise, «dreh sie um und lass uns den Namen sehen. Ich möchte meine beiden Häuser haben.» «Einen Augenblick», murmelte Mike. «Nur noch einen Augenblick.» Er saß ganz still, wie vom Donner gerührt, und sein Gesicht wurde schwammig und bleich, als flösse die Kraft langsam aus ihm heraus. «Michael!», rief seine Frau scharf vom anderen Ende des Tisches. «Was ist los?» «Bitte, Margaret, halt du dich aus dieser Angelegenheit heraus.» Richard Pratt sah Mike an, mit lächelndem Mund und kleinen, glänzenden Augen. Mike sah niemanden an. «Daddy!», rief seine Tochter angstvoll. «Daddy, du meinst doch nicht etwa, dass er richtig geraten hat?» «Reg dich nicht auf, Kindchen», stieß Mike hervor. «Dazu besteht überhaupt kein Grund.» Ich glaube, es war vor allem der Wunsch, seiner Familie zu entrinnen, der Mike bewog, zu Richard Pratt zu sagen: «Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Richard. Wir beide verziehen uns jetzt ins Nebenzimmer und bereden die Sache in aller Ruhe.» «Ich will nichts bereden», erwiderte Pratt. «Ich will das Etikett auf der Flasche sehen.» Er wusste, dass er gewonnen hatte; seine Haltung, seine gelassene Arroganz waren die eines Siegers, und ich merkte ihm an, dass er höchst unangenehm werden würde, wenn es Schwierigkeiten geben sollte. «Worauf warten Sie noch?», fuhr er Mike an. «Los, drehen Sie um.» Dann geschah dies: Das Dienstmädchen, eine kleine, aufrechte Gestalt in Schwarz und Weiß, stand auf einmal neben Richard Pratt und hielt etwas in der Hand. «Ich glaube, das gehört Ihnen, Sir», sagte sie. Pratt wandte sich um und warf einen Blick auf die horngeränderte Lesebrille, die sie ihm zeigte. Er zögerte einen Moment. «So? Ja, vielleicht ist es meine. Ich weiß es nicht.» «Doch, Sir, sie gehört Ihnen.» Das Dienstmädchen, eine ältere Frau – den siebzig näher als den sechzig –, lebte schon seit vielen Jahren im Hause und war der Familie treu ergeben. Sie legte die Brille auf den Tisch. Pratt griff danach und schob sie ohne ein Wort des Dankes in die Brusttasche hinter das weiße Taschentuch. Aber das Mädchen ging nicht fort. Sie blieb neben Richard Pratt stehen – genau gesagt, einen halben Schritt hinter ihm –, und es war etwas so Ungewöhnliches in ihrem Benehmen und in der Art, wie sie dort stand, klein, unbeweglich, hoch aufgerichtet, dass ich von einer plötzlichen Vorahnung befallen wurde. Ihr altes graues Gesicht mit dem vorgestreckten Kinn hatte einen frostigen und entschlossenen Ausdruck, die Lippen waren zusammengepresst, und die Hände hatte sie ineinandergekrampft. Die komische Haube auf ihrem Kopf und der schmale weiße Schürzenlatz ließen sie wie ein zerzauster, weißbrüstiger Vogel erscheinen. «Sie haben die Brille in Mr. Schofields Arbeitszimmer liegengelassen», sagte sie mit betonter, unnatürlicher Höflichkeit. «Auf dem grünen Karteikasten, Sir, als Sie vor dem Essen allein im Arbeitszimmer waren.» Es dauerte einige Zeit, bis wir die volle Bedeutung ihrer Worte erfassten, und in dem Schweigen, das folgte, bemerkte ich, wie sich Mike langsam im Stuhl aufrichtete. Sein Gesicht bekam wieder Farbe, die Augen öffneten sich weit, der Mund wurde hart, und der gefährliche weiße Fleck in der Nähe der Nasenflügel begann sich auszubreiten. «Bitte, Michael!», flehte seine Frau. «Bleib ruhig, Lieber! Bleib ganz ruhig!» Lammkeule Das Zimmer war aufgeräumt und warm, die Vorhänge waren zugezogen, die beiden Tischlampen brannten – ihre und die vor dem leeren Sessel gegenüber. Zwei hohe Gläser, Whisky und Sodawasser auf dem Büfett hinter ihr. Frische Eiswürfel im Thermoskübel. Mary Maloney wartete auf ihren Mann, der bald von der Arbeit nach Hause kommen musste. Hin und wieder warf sie einen Blick auf die Uhr, aber ohne Ungeduld, nur um sich an dem Gedanken zu erfreuen, dass mit jeder Minute der Zeitpunkt seiner Heimkehr näher rückte. Eine heitere Gelassenheit ging von ihr aus und teilte sich allem mit, was sie tat. Die Art, wie sie den Kopf über ihre Näharbeit beugte, hatte etwas Beruhigendes. Sie war im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft, und ihre Haut wies eine wunderbare Transparenz auf, der Mund war weich, die Augen mit ihrem neuen zufriedenen Blick wirkten größer und dunkler als zuvor. Um zehn Minuten vor fünf begann sie zu lauschen, und wenig später, pünktlich wie immer, knirschten draußen die Reifen auf dem Kies. Die Wagentür wurde zugeschlagen, vor dem Fenster erklangen Schritte, und dann drehte sich der Schlüssel im Schloss. Sie legte die Handarbeit beiseite, stand auf und ging zur Tür, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen. «Hallo, Liebling», sagte sie. «Hallo», antwortete er. Sie nahm seinen Mantel und hängte ihn in den Schrank. Dann machte sie am Büfett die Drinks zurecht – einen ziemlich starken für ihn und einen schwachen für sich –, und bald saßen sie in ihren Sesseln einander gegenüber, sie mit der Näharbeit, während er die Hände um das hohe Glas gelegt hatte und es behutsam hin und her bewegte, sodass die Eiswürfel leise klirrten. Für sie war dies immer die glücklichste Zeit des Tages. Sie wusste, dass er nicht gern sprach, bevor er das erste Glas geleert hatte, und sie selbst genoss es, ruhig dazusitzen und sich nach den langen Stunden der Einsamkeit in seiner Nähe zu wissen. Sie liebte es, sich ganz auf die Gegenwart dieses Mannes zu konzentrieren und – wie man bei einem Sonnenbad die Sonne fühlt – jene warme männliche Ausstrahlung zu fühlen, die von ihm ausging, wenn sie beide allein waren. Sie liebte die Art, wie er sich lässig im Sessel zurücklehnte, die Art, wie er zur Tür hereinkam oder langsam mit großen Schritten das Zimmer durchquerte. Sie liebte den angespannten, gedankenverlorenen Blick, mit dem seine Augen oft auf ihr ruhten, die charakteristische Form seines Mundes und vor allem die Art, wie er über seine Müdigkeit schwieg und still dasaß, bis der Whisky ihn etwas aufgemuntert hatte. «Müde, Liebling?» «Ja», sagte er, «ich bin müde.» Und bei diesen Worten tat er etwas Ungewöhnliches. Er hob sein Glas und leerte es auf einen Zug, obgleich es noch halb voll, mindestens noch halb voll war. Sie sah es nicht, aber sie wusste, was er getan hatte, denn sie hörte die Eiswürfel auf den Boden des leeren Glases fallen, als er den Arm senkte. Er beugte sich im Sessel vor, zögerte einen Augenblick, stand dann auf und ging zum Büfett, um sich noch einen Whisky einzuschenken. «Lass mich das doch machen!», rief sie und sprang hilfsbereit auf. «Setz dich hin», sagte er. Als er zurückkam, verriet ihr die dunkle Bernsteinfarbe des Drinks, dass er sehr viel Whisky und sehr wenig Wasser genommen hatte. «Liebling, soll ich dir deine Hausschuhe holen?» «Nein.» Sie beobachtete, wie er das tiefbraune Getränk schlürfte. Es war so stark, dass sich in der Flüssigkeit kleine ölige Wirbel bildeten. «Eigentlich», meinte sie, «ist es doch eine Schande, dass ein Polizist, der so viele Dienstjahre hat wie du, noch immer den ganzen Tag auf den Beinen sein muss.» Er antwortete nicht. Sie nähte mit gesenktem Kopf weiter, aber jedes Mal, wenn er das Glas an die Lippen hob, hörte sie die Eiswürfel klirren. «Liebling», begann sie von neuem, «möchtest du etwas Käse essen? Ich habe heute nichts gekocht, weil Donnerstag ist.» «Nein», sagte er. «Wenn du zu müde zum Ausgehen bist», fuhr sie fort, «dann bleiben wir eben zu Hause. In der Kühltruhe ist eine Menge Fleisch und Gemüse, und wenn wir hier essen, brauchst du gar nicht aus deinem Sessel aufzustehen.» Ihre Augen warteten auf eine Antwort, ein Lächeln, ein kleines Nicken, doch er reagierte nicht. «Jedenfalls», sagte sie, «hole ich dir erst einmal etwas Käse und ein paar Kekse.» «Ich will nichts.» Sie rückte unruhig hin und her, die großen Augen forschend auf ihn gerichtet. «Aber du musst doch zu Abend essen. Ich kann uns schnell etwas braten. Wirklich, ich tu’s gern. Wie wär’s mit Koteletts? Vom Lamm oder vom Schwein, ganz nach Wunsch. Es ist alles da.» «Ich habe keinen Hunger.» «Aber Liebling, du musst essen! Ich mach einfach irgendwas zurecht, und dann kannst du es essen oder nicht, wie du willst.» Sie stand auf und legte ihre Handarbeit auf den Tisch neben die Lampe. «Setz dich hin», sagte er. «Setz dich noch einen Moment hin.» Erst jetzt wurde ihr unheimlich zumute. «Na los, setz dich hin», wiederholte er. Sie ließ sich langsam in den Sessel sinken und blickte dabei ihren Mann mit großen, verwirrten Augen an. Er hatte seinen zweiten Whisky ausgetrunken und starrte finster in das Glas. «Hör zu», murmelte er. «Ich muss dir etwas sagen.» «Was hast du denn, Liebling? Was ist los?» Er saß jetzt mit gesenktem Kopf da und rührte sich nicht. Das Licht der Lampe neben ihm fiel nur auf den oberen Teil seines Gesichts; Kinn und Mund blieben im Schatten. Sie sah einen kleinen Muskel an seinem linken Augenwinkel zucken. «Dies wird ein ziemlicher Schlag für dich sein, fürchte ich», begann er. «Aber ich habe lange darüber nachgedacht, und meiner Ansicht nach ist es das einzig Richtige, dir alles offen zu sagen. Ich hoffe nur, dass du es nicht zu schwer nimmst.» Und er sagte ihr alles. Es dauerte nicht lange, höchstens vier oder fünf Minuten. Sie hörte ihm zu, stumm, wie betäubt, von ungläubigem Entsetzen erfüllt, während er sich mit jedem Wort weiter von ihr entfernte. «Das ist es also», schloss er. «Ich weiß, dass es nicht gerade die rechte Zeit ist, darüber zu sprechen, aber mir bleibt einfach keine andere Wahl. Natürlich werde ich dir Geld geben und dafür sorgen, dass du alles hast, was du brauchst. Aber ich möchte jedes Aufsehen vermeiden. Ist ja auch nicht nötig. Ich muss schließlich an meine Stellung denken, nicht wahr?» Ihre erste Regung war, nichts davon zu glauben, es weit von sich zu weisen. Dann kam ihr der Gedanke, dass er möglicherweise gar nichts gesagt, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte. Wenn sie jetzt an ihre Arbeit ging und so tat, als hätte sie nichts gehört, dann würde sie vielleicht später, beim Aufwachen sozusagen, entdecken, dass nie etwas Derartiges geschehen war. «Ich werde das Essen machen», flüsterte sie schließlich, und diesmal hielt er sie nicht zurück. Als sie das Zimmer verließ, fühlte sie nicht, dass ihre Füße den Boden berührten. Sie fühlte überhaupt nichts – bis auf ein leichtes Schwindelgefühl und einen Brechreiz. Alles lief jetzt automatisch ab. Die Kellertreppe, der Lichtschalter, die Tiefkühltruhe, die Hand, die in der Truhe den ersten besten Gegenstand ergriff. Sie nahm ihn heraus und betrachtete ihn. Er war in Papier gewickelt, also riss sie das Papier ab und betrachtete ihn von neuem. Eine Lammkeule. Nun gut, dann würde es Lamm zum Abendessen geben. Sie umfasste das dünne Knochenende mit beiden Händen und trug die Keule nach oben. Als sie durch das Wohnzimmer ging, sah sie ihn mit dem Rücken zu ihr am Fenster stehen. Sie machte halt. «Um Gottes willen», sagte er, ohne sich umzudrehen, «koch bloß kein Essen für mich. Ich gehe aus.» In diesem Augenblick trat Mary Maloney einfach hinter ihn, schwang, ohne sich zu besinnen, die große gefrorene Lammkeule hoch in die Luft und ließ sie mit aller Kraft auf seinen Hinterkopf niedersausen. Ebenso gut hätte sie mit einer eisernen Keule zuschlagen können. Sie wich einen Schritt zurück und wartete. Seltsamerweise blieb er noch mindestens vier, fünf Sekunden leicht schwankend stehen. Dann stürzte er auf den Teppich. Der krachende Aufprall, der Lärm, mit dem der kleine Tisch umfiel – diese Geräusche halfen ihr, den Schock zu überwinden. Sie kehrte langsam in die Wirklichkeit zurück, empfand aber nichts als Kälte und Überraschung, während sie mit zusammengekniffenen Augen den leblosen Körper anstarrte. Ihre Hände umklammerten noch immer die idiotische Fleischkeule. Na schön, sagte sie sich. Ich habe ihn also getötet. Erstaunlich, wie klar ihr Gehirn auf einmal arbeitete. Die Gedanken überstürzten sich fast. Als Frau eines Polizeibeamten wusste sie genau, welche Strafe sie erwartete. Gut, in Ordnung. Ihr machte das gar nichts aus. Es würde sogar eine Erlösung sein. Aber das Kind? Wie verfuhr das Gesetz mit Mörderinnen, die ungeborene Kinder trugen? Tötete man beide – Mutter und Kind? Oder wartete man bis nach der Geburt? Was geschah mit den Kindern? Mary Maloney wusste es nicht. Und sie war keineswegs gewillt, ein Risiko einzugehen. Sie brachte das Fleisch in die Küche, legte es in eine Bratpfanne und schob es in den eingeschalteten Ofen. Dann wusch sie sich die Hände und lief nach oben ins Schlafzimmer. Sie setzte sich vor den Spiegel, , ordnete ihr Haar und frischte das Make-up auf. Sie versuchte ein Lächeln. Es fiel recht sonderbar aus. Auch der zweite Versuch missglückte. «Hallo, Sam», sagte sie laut und munter. Die Stimme klang viel zu gezwungen. «Ich hätte gern Kartoffeln, Sam. Ja, und vielleicht eine Dose Erbsen.» Das war besser. Sowohl die Stimme als auch das Lächeln wirkten jetzt natürlicher. Sie probierte es wieder und wieder, bis sie zufrieden war. Dann eilte sie nach unten, schlüpfte in ihren Mantel, öffnete die Hintertür und ging durch den Garten auf die Straße. Es war erst kurz vor sechs, und beim Kaufmann brannte noch Licht. «Hallo, Sam», sagte sie munter und lächelte dem Mann hinter dem Ladentisch zu. «Ach, guten Abend, Mrs. Maloney. Wie geht’s denn?» «Ich hätte gern Kartoffeln, Sam. Ja, und vielleicht eine Dose Erbsen.» Der Kaufmann drehte sich um und nahm eine Büchse vom Regal. «Patrick ist heute so müde, dass er keine Lust hat, sich ins Restaurant zu setzen», erklärte sie. «Wir essen sonst donnerstags immer auswärts, wissen Sie, und jetzt habe ich kein Gemüse im Haus.» «Und was ist mit Fleisch, Mrs. Maloney?» «Fleisch habe ich, danke. Eine schöne Lammkeule aus der Kühltruhe.» «Aha.» «Eigentlich lasse ich ja das Fleisch lieber erst auftauen, bevor ich’s brate, aber es wird wohl auch so gehen. Meinen Sie nicht, Sam?» «Wenn Sie mich fragen», sagte der Gemüsehändler, «ich finde, dass es gar keinen Unterschied macht. Wollen Sie die Idaho-Kartoffeln?» «O ja, die sind gut: Zwei Tüten bitte.» «Sonst noch etwas?» Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie wohlgefällig an. «Na, und der Nachtisch? Was wollen Sie ihm zum Nachtisch geben?» «Hm … Wozu würden Sie mir denn raten, Sam?» Der Mann schaute sich im Laden um. «Wie wär’s mit einem schönen großen Stück Käsekuchen? Den isst er doch gern, nicht wahr?» «Ja, , das ist ein guter Gedanke. Auf Käsekuchen ist er ganz versessen.» Als alles eingewickelt war und sie bezahlt hatte, verabschiedete sie sich mit ihrem freundlichsten Lächeln. «Vielen Dank, Sam. Auf Wiedersehen.» «Auf Wiedersehen, Mrs. Maloney. Ich habe zu danken.» Und jetzt, sagte sie sich auf dem Heimweg, jetzt kehrte sie zu ihrem Mann zurück, der auf sein Abendessen wartete. Und sie musste es gut kochen, so schmackhaft wie möglich, denn der arme Kerl war müde. Und wenn sie beim Betreten des Hauses etwas Ungewöhnliches vorfinden sollte, etwas Unheimliches oder Schreckliches, dann würde es natürlich ein Schock für sie sein. Verrückt würde sie werden vor Schmerz und Entsetzen. Wohlgemerkt, sie erwartete nicht, etwas Derartiges vorzufinden. Sie ging nur mit ihren Einkäufen nach Hause. Mrs. Patrick Maloney ging am Donnerstagabend mit ihren Einkäufen nach Hause, um das Abendessen zu kochen. So ist es recht, ermunterte sie sich. Benimm dich natürlich, genauso wie immer. Lass alles ganz natürlich an dich herankommen, dann brauchst du nicht zu heucheln. So summte sie denn ein Liedchen vor sich hin und lächelte, als sie durch die Hintertür in die Küche trat. «Patrick!», rief sie. «Ich bin wieder da, Liebling.» Sie legte das Paket auf den Tisch und ging ins Wohnzimmer. Und als sie ihn dort sah, auf dem Boden zusammengekrümmt, einen Arm unter dem Körper, da war es wirklich ein Schock. Die Liebe und das Verlangen nach ihm wurden von neuem wach, und sie lief zu ihm hin, kniete neben ihm nieder und weinte bittere Tränen. Es war nicht schwer. Sie brauchte nicht zu heucheln. Ein paar Minuten später stand sie auf und ging zum Telefon. Die Nummer der Polizeistation wusste sie auswendig. Als sich der Wachtmeister vom Dienst meldete, rief sie: «Schnell! Kommen Sie schnell! Patrick ist tot!» «Wer spricht denn da?» «Mrs. Maloney. Mrs. Patrick Maloney.» «Sie sagen, Patrick Maloney ist tot?» «Ich glaube, ja», schluchzte sie. «Er liegt auf dem Boden, und ich glaube, er ist tot.» «Wir kommen sofort», sagte der Mann. Der Wagen fuhr gleich darauf vor. Sie öffnete die Haustür, und zwei Polizisten traten ein. Beide waren ihr bekannt – wie fast alle Beamten des Reviers –, und sie fiel hysterisch weinend in Jack Noonans Arme. Er setzte sie sanft in einen Sessel und ging dann zu seinem Kollegen O’Malley hinüber, der neben dem Leichnam kniete. «Ist er tot?», flüsterte sie. «Ich fürchte, ja. Was ist geschehen?» Sie erzählte kurz ihre Geschichte – wie sie zum Kaufmann gegangen war und Patrick bei der Rückkehr leblos auf dem Boden gefunden hatte. Während sie sprach, weinte und sprach, entdeckte Noonan etwas geronnenes Blut am Hinterkopf des Toten. Er zeigte es O’Malley, und der stürzte sofort zum Telefon. Bald erschienen noch mehr Männer. Zuerst ein Arzt, dann zwei Detektive – den einen kannte sie dem Namen nach. Später kam ein Polizeifotograf und machte Aufnahmen; auch ein Experte für Fingerabdrücke traf ein. Es wurde viel geflüstert und gemurmelt neben dem Toten, und die Detektive stellten ihr Fragen über Fragen. Aber sie behandelten sie sehr freundlich. Sie erzählte wieder ihre Geschichte, diesmal von Anfang an: Patrick war nach Hause gekommen, und sie hatte genäht, und er war müde, so müde, dass er nicht zum Abendessen ausgehen wollte. Sie berichtete, wie sie das Fleisch in den Ofen geschoben hatte – «es ist immer noch drin» –, wie sie wegen der Kartoffeln und der Erbsen zum Kaufmann gelaufen war und wie sie Patrick bei der Rückkehr leblos auf dem Boden gefunden hatte. «Welcher Kaufmann?», fragte einer der Detektive. Sie sagte es ihm. Er drehte sich schnell um und flüsterte dem anderen Detektiv etwas zu. Der Mann verließ sofort das Haus. Nach einer Viertelstunde kam er mit einer Seite Notizen zurück. Wieder wurde leise verhandelt, und durch ihr Schluchzen hindurch drangen ein paar Satzfetzen an ihr Ohr: «… hat sich völlig normal benommen … sehr vergnügt … wollte ihm ein gutes Abendessen machen … Erbsen … Käsekuchen … unmöglich, dass sie …» Kurz darauf verabschiedeten sich der Fotograf und der Arzt; zwei Männer traten ein und trugen die Leiche auf einer Bahre fort. Dann ging auch der Experte für Fingerabdrücke. Die beiden Detektive aber blieben da, die beiden Polizisten ebenfalls. Sie waren ausgesprochen freundlich zu ihr. Jack Noonan erkundigte sich, ob sie nicht lieber anderswo hingehen wolle, vielleicht zu ihrer Schwester oder zu seiner Frau, die sich gern um sie kümmern und sie für die Nacht unterbringen werde. Nein, sagte sie. Im Augenblick sei sie einfach nicht fähig, auch nur einen Schritt zu tun. Hätten sie etwas dagegen, wenn sie hier bliebe, bis sie sich besser fühlte? Wirklich, im Augenblick könne sie sich zu nichts aufraffen. Dann solle sie sich doch ein Weilchen hinlegen, schlug Jack Noonan vor. Nein, sagte sie. In diesem Sessel sei sie am besten aufgehoben. Später vielleicht, wenn es ihr etwas besser ginge … Sie blieb also sitzen, während die Männer das Haus durchsuchten. Gelegentlich stellte einer der Detektive ihr eine Frage. Manchmal sprach Jack Noonan ihr sanft zu, wenn er vorbeikam. Von ihm erfuhr sie auch, dass ihr Mann durch einen Schlag auf den Hinterkopf getötet worden war, durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand, höchstwahrscheinlich einem großen Stück Metall. Sie suchten die Waffe. Der Mörder, sagte Jack, habe sie vermutlich mitgenommen; er könne sie aber ebenso gut im Garten oder im Hause versteckt haben. «Es ist die alte Geschichte», schloss er. «Wenn man die Waffe hat, hat man auch den Täter.» Später kam einer der Detektive und setzte sich neben sie. Vielleicht habe irgendein Gegenstand im Hause als Waffe gedient, meinte er. Würde sie wohl so freundlich sein und nachsehen, ob etwas fehlte – ein sehr großer Schraubenschlüssel zum Beispiel oder eine schwere Metallvase. Metallvasen hätten sie nicht, antwortete sie. «Aber einen großen Schraubenschlüssel?» Nein, auch keinen großen Schraubenschlüssel. Höchstens in der Garage. Die Suche ging weiter. Sie wusste, dass draußen im Garten noch mehr Polizisten waren, denn sie hörte ihre Schritte auf dem Kies, und manchmal sah sie durch einen Spalt zwischen den Vorhängen das Aufblitzen einer Taschenlampe. Es war schon ziemlich spät, fast neun, wie ihr ein Blick auf die Uhr zeigte. Die vier Männer, die die Zimmer durchsuchten, machten einen müden, leicht gereizten Eindruck. «Jack», sagte sie, als Wachtmeister Noonan wieder einmal vorbeikam. «Würden Sie mir wohl etwas zu trinken geben?» «Natürlich, Mrs. Maloney. Von dem Whisky hier?» «Ja, bitte. Aber nur ganz wenig. Vielleicht wird mir davon besser.» Er reichte ihr das Glas. «Warum trinken Sie nicht auch einen Schluck?», fragte sie. «Bitte, bedienen Sie sich doch. Sie müssen schrecklich müde sein, und Sie haben sich so rührend um mich gekümmert.» «Hm …» Er zögerte. «Eigentlich ist es ja nicht erlaubt, aber einen kleinen Tropfen zur Stärkung könnte ich ganz gut brauchen.» Nach und nach fanden sich auch die anderen ein, und jeder wurde überredet, einen Schluck Whisky zu trinken. Sie standen recht verlegen mit ihren Gläsern herum, fühlten sich etwas unbehaglich in Gegenwart der Witwe und suchten krampfhaft nach tröstenden Worten. Wachtmeister Noonan ging aus irgendeinem Grund in die Küche, kam sofort zurück und sagte: «Hören Sie, Mrs. Maloney, Ihr Ofen ist noch an, und das Fleisch ist noch drin.» «Ach herrje», rief sie. «Das hatte ich ganz vergessen.» «Am besten drehe ich ihn wohl aus, was?» «Ja, Jack, das wäre sehr nett von Ihnen. Herzlichen Dank.» Als der Sergeant zum zweiten Mal zurückkam, sah sie ihn mit ihren großen, dunklen, tränenfeuchten Augen an. «Jack Noonan», begann sie zaghaft. «Ja?» «Würden Sie mir einen kleinen Gefallen tun – Sie und die anderen?» «Wir wollen’s versuchen, Mrs. Maloney.» «Nun», fuhr sie fort, «Sie alle sind doch gute Freunde meines lieben Patrick gewesen, und jetzt bemühen Sie sich, den Mann zu fangen, der ihn umgebracht hat. Inzwischen werden Sie wohl schon schrecklichen Hunger haben, denn Ihre Essenszeit ist ja längst vorbei. Ich weiß, dass Patrick – Gott sei seiner Seele gnädig! – mir nie verzeihen würde, wenn ich Sie in seinem Haus nicht anständig bewirtete. Wollen Sie nicht den Lammbraten essen, der im Ofen ist? Ich denke, er wird gar sein.» «Kommt überhaupt nicht in Frage», wehrte Jack Noonan bescheiden ab. «Bitte», sagte sie flehentlich. «Bitte, essen Sie das Fleisch. Ich könnte keinen Bissen davon anrühren, weil es für Patrick bestimmt war, verstehen Sie? Aber für Sie ist das etwas anderes. Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie alles aufäßen. Hinterher können Sie ja weiterarbeiten.» Die vier Polizisten widersprachen zwar, doch sie waren tatsächlich sehr hungrig, und nach einigem Hin und Her willigten sie ein, in die Küche zu gehen und sich zu bedienen. Die Frau blieb in ihrem Sessel sitzen. Durch die offene Tür konnte sie hören, wie sich die Männer unterhielten. Ihre Stimmen klangen dumpf, wie verschleiert, da sie den Mund voller Fleisch hatten. «Noch ein Stück, Charlie?» «Nein. Wir wollen lieber nicht alles aufessen.» «Aber sie will, dass wir’s aufessen. Wir tun ihr einen Gefallen damit, hat sie gesagt.» «Na gut. Dann gib mir noch was.» «Muss eine verdammt dicke Keule gewesen sein, mit der dieser Kerl den armen Patrick erschlagen hat», bemerkte einer der Polizisten. «Der Doktor sagt, sein Schädel ist völlig zertrümmert. Wie von einem Schmiedehammer.» «Na, dann dürfte es nicht schwer sein, die Mordwaffe zu finden.» «Ganz meine Meinung.» «Wer’s auch getan hat – er wird so ein Ding nicht länger als nötig mit sich herumschleppen.» Einer von ihnen rülpste. «Also ich glaube ja, dass es noch hier im Haus oder im Garten ist.» «Wahrscheinlich genau vor unserer Nase, was, Jack?» Und im Wohnzimmer begann Mary Maloney zu kichern. Mann aus dem Süden Die Bar des Hotels wurde um sechs Uhr abends geöffnet, und da es gleich so weit war, beschloss ich, mir ein Bier zu holen und es zum Schwimmbecken mitzunehmen, wo ich in einem Liegestuhl die Abendsonne genießen wollte. Ich ging zur Bar, bekam das Bier und schlenderte mit der Flasche und einem Glas in der Hand durch den Garten zum Bassin. Es war ein sehr schöner Garten mit Rasenflächen, Azaleenbeeten und hohen Kokospalmen. Der Wind fuhr durch die Wipfel der Palmen und ließ die Blätter zischen und knistern, als stünden sie in Flammen. Unter den Blättern sah ich die großen braunen Nüsse in Büscheln hängen. Rings um das Schwimmbecken standen viele Liegestühle, weiße Tische und riesige bunte Gartenschirme. Braungebrannte Männer und Frauen im Badeanzug saßen teils in der Sonne, teils im Schatten. Im Wasser tummelten sich drei oder vier Mädchen und etwa ein Dutzend junger Männer, die übermütig herumplanschten, viel Lärm machten und mit einem großen Gummiball spielten. Ich blieb stehen und beobachtete sie. Die Mädchen waren Engländerinnen aus dem Hotel. Die Jungen kannte ich nicht, aber da sie wie Amerikaner sprachen, nahm ich an, sie seien Seekadetten von dem US-Schulschiff, das am Morgen den Hafen angelaufen hatte. Nach einer Weile ging ich weiter. Ich steuerte auf einen gelben Schirm zu, unter dem vier leere Stühle standen, setzte mich, füllte mein Glas mit Bier, zündete mir eine Zigarette an und lehnte mich bequem zurück. Es war sehr angenehm, mit einem Bier und einer Zigarette im Freien zu sitzen. Und es machte Spaß, den Badenden zuzuschauen, die sich in dem grünen Wasser vergnügten. Die amerikanischen Jungen kamen sehr gut mit den englischen Mädchen zurecht. Sie waren schon so weit mit ihnen, dass sie tauchten und ihnen nach den Beinen griffen. Mein Blick fiel auf einen kleinen, ältlichen Mann, der forsch und sehr schnell um das Becken herumging. Bei jedem seiner kurzen, hüpfenden Schritte federte er auf den Zehen hoch. Er trug einen makellos weißen Anzug und einen breitrandigen cremefarbenen Panamahut. Während er dicht am Rande des Bassins entlangtrippelte, musterte er die Leute und die Liegestühle. Er machte neben mir halt und zeigte lächelnd zwei Reihen winziger, schiefstehender, leicht verfärbter Zähne. Ich lächelte zurück. «Bittäh Entschuldigung, aber darf ich hier sitzen?» «Gewiss», antwortete ich. «Ist ja alles frei.» Er tänzelte auf einen Liegestuhl zu und prüfte ihn von allen Seiten auf seine Sicherheit. Dann ließ er sich nieder und schlug die kurzen Beine übereinander. In seine weißen Wildlederschuhe waren kleine Löcher gestanzt – wegen der Ventilation. «Eine schöne Abend», sagte er. «Die Abende alle sind schön hier in Jamaica.» Ich kam nicht dahinter, ob er mit italienischem oder spanischem Akzent sprach, aber ich war sicher, dass er aus Südamerika stammte. Und dass er älter war, als er auf den ersten Blick wirkte. Achtundsechzig vielleicht, wenn nicht gar siebzig. «Ja», sagte ich. «Es ist herrlich hier.» «Und wer, darf ich fragen, sind diese Leute? Die sind nicht von Hotel.» Er wies auf die Badenden im Bassin. «Ich glaube, es sind amerikanische Kadetten», erwiderte ich. «Amerikaner, die zu Marineoffizieren ausgebildet werden.» «Natürlich es sind Amerikaner. Wer sonst auf Welt macht denn so viel Lärm? Aber Sie, Sie sind nicht Amerikaner, nein?» «Nein, ich nicht.» Plötzlich stand ein amerikanischer Kadett vor uns. Er kam geradewegs aus dem Wasser und triefte vor Nässe. Eine der jungen Engländerinnen war bei ihm. «Sind diese Stühle besetzt?», fragte er. «Nein», antwortete ich. «Gestatten Sie, dass ich mich setze?» «Nur zu.» «Danke», sagte der Junge. Er hatte ein zusammengerolltes Frottiertuch in der Hand, und als er saß, holte er daraus ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug hervor. Das Mädchen lehnte die Zigarette ab, die er ihr anbot; dann hielt er mir das Päckchen hin, und ich griff zu. Der kleine Mann sagte: «Danke, nein, aber ich werde rauchen Zigarre.» Er nahm eine Zigarre aus einem krokodilledernen Etui, brachte ein Taschenmesser zum Vorschein, an dem sich auch eine kleine Schere befand, und knipste das Ende der Zigarre ab. «Warten Sie, ich gebe Ihnen Feuer.» Der junge Amerikaner hob sein Feuerzeug. «Das wird nicht gehen in diese Wind.» «O doch. Es geht immer.» Der kleine Mann nahm die unangezündete Zigarre aus dem Mund, legte den Kopf schräg und sah den Jungen an. «Im-mer?», wiederholte er langsam. «Gewiss. Es versagt nie. Jedenfalls nicht bei mir.» Der kleine Mann hielt den Kopf noch immer zur Seite geneigt, und er sah noch immer den Jungen an. «Aha. Also Sie meinen, diese berühmte Feuerzeug versagt nie. So meinen Sie doch, ja?» «Das meine ich nicht nur», antwortete der Junge. «Ich weiß es genau.» Er mochte neunzehn oder zwanzig Jahre alt sein, hatte ein langes, sommersprossiges Gesicht und eine ziemlich spitze, vogelähnliche Nase. Auf der Brust, die nicht sehr braungebrannt war, hatte er ebenfalls Sommersprossen und ein paar Büschel rötlicher Haare. Er hielt das Feuerzeug in der rechten Hand – bereit, das Rädchen anzureiben. «Es versagt nie», beteuerte er und lächelte jetzt, weil er seine kleine Prahlerei absichtlich auf die Spitze trieb. «Ich garantiere Ihnen, dass es nie versagt.» «Eine Moment, bittäh!» Die Hand mit der Zigarre schoss hoch, Handfläche nach außen, als wollte sie den Verkehr anhalten. «Nur eine Moment.» Er hatte eine eigenartig leise, tonlose Stimme und blickte den Jungen unverwandt an. «Sollen wir vielleicht kleine Wette darum machen?», fragte er lächelnd. «Sollen wir kleine Wette machen, ob Ihre Feuerzeug brennt?» «Aber ja», sagte der Junge. «Warum denn nicht?» «Sie mögen gern wetten?» «Klar. Ich wette immer.» Der Mann betrachtete nachdenklich seine Zigarre. Ich kam zu dem Schluss, dass mir sein Benehmen ganz und gar nicht gefiel. Wenn mich nicht alles täuschte, wollte er an der Sache verdienen und den Jungen finanziell schädigen; gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass er mit viel Genuss ein kleines Privatgeheimnis hütete. Nun hob er den Kopf und sagte langsam: «Ich mag auch gern wetten. Warum sollen wir nicht machen gute Wette darum? Gute dicke Wette.» «Augenblick mal», fiel ihm der Junge ins Wort. «Das kann ich nicht. Aber ich wette mit Ihnen um einen Vierteldollar. Ich wette sogar um einen Dollar oder den entsprechenden Betrag in englischer Währung – ein paar Shilling, nehme ich an.» Wieder schoss die Hand mit der Zigarre hoch. «Hören Sie zu. Wir werden haben viel Spaß. Zuerst wir machen Wette. Dann wir gehen hinauf in meine Zimmer hier in Hotel, wo kein Wind ist, und ich wette, Sie können nicht anzünden Ihre Feuerzeug zehnmal hintereinander, ohne dass einmal versagt.» «Ich wette, dass ich es kann», beharrte der junge Mann. «Schön. Gut. Wir machen Wette, ja?» «Okay. Ich wette mit Ihnen um einen Dollar.» «Nein, nein. Ich mache Ihnen sehr gute Wette. Ich bin reich. Ich bin eine Sportsmann. Hören Sie zu. Vor Hotel steht mein Wagen. Ist sehr schöner Wagen. Amerikanischer Wagen aus Ihre Land. Cadillac …» «Halt, halt.» Der Junge lehnte sich zurück und lachte. «So hoch kann ich nicht wetten. Das ist ja Irrsinn.» «Kein Irrsinn, überhaupt nicht. Sie zünden Feuerzeug zehnmal hintereinander an, und Cadillac gehört Ihnen. Sie wollen doch haben diese Cadillac, ja?» «Gewiss, einen Cadillac hätte ich schon ganz gern.» Der junge Amerikaner lächelte. «Gut. Schön. Wir machen Wette, und ich setze meine Cadillac.» «Und was setze ich dagegen?» Der kleine Mann entfernte sorgfältig den roten Ring von seiner noch immer unangezündeten Zigarre. «Ich will nicht, dass Sie mehr setzen, als Sie sich können leisten. Sie verstehen?» «Ja, aber was soll ich denn setzen?» «Ich werde es machen sehr leicht für Sie, ja?» «Okay. Machen Sie’s leicht.» «Irgendeine Kleinigkeit, die Sie können entbehren, die Ihnen nicht zu sehr fehlt, wenn Sie verlieren. Recht?» «Zum Beispiel?» «Zum Beispiel … nun, vielleicht Ihr kleiner Finger von linke Hand.» «Mein was?» Der Junge hörte auf zu lächeln. «Ja. Warum nicht? Sie gewinnen, Sie nehmen Wagen. Sie verlieren, ich nehme Finger.» «Ich verstehe Sie nicht. Was soll das heißen, Sie nehmen den Finger?» «Ich hacke ab.» «Heiliger Bimbam! Das ist ja eine verrückte Wette. Ich glaube, ich bleibe bei einem Dollar.» Der kleine Mann streckte die flachen Hände vor und zuckte, kaum wahrnehmbar, verächtlich mit den Schultern. «Wirklich», sagte er, «ich wundere mich. Sie sagen, es brennt, aber Sie wollen nicht wetten. Gut, dann wir sprechen nicht mehr davon, ja?» Der junge Amerikaner saß regungslos da und starrte auf die Badenden im Schwimmbecken. Plötzlich fiel ihm ein, dass er seine Zigarette noch nicht angezündet hatte. Er schob sie zwischen die Lippen, schloss die Hände um das Feuerzeug, rieb das Rädchen an, und schon brannte der Docht, ohne zu flackern, mit kleiner gelber Flamme. Die schützenden Hände hielten jeden Luftzug fern. «Könnte ich auch Feuer haben?», bat ich. «Ach herrje, das habe ich ganz vergessen. Entschuldigen Sie.» Ich streckte die Hand nach dem Feuerzeug aus, aber er stand auf, kam zu mir und zündete es für mich an. «Danke», sagte ich, und er ging zu seinem Stuhl zurück. «Gefällt es Ihnen hier?», fragte ich. «Prima», antwortete er. «Sehr schöne Gegend.» Dann trat Schweigen ein. Ich merkte, dass es dem kleinen Mann gelungen war, den anderen mit seinem unsinnigen Vorschlag durcheinanderzubringen. Der Junge saß sehr still da, und ich spürte, wie sich eine kleine Spannung in ihm entwickelte. Nach einer Weile fing er an, unruhig zu werden. Er rutschte in seinem Stuhl hin und her, rieb sich die Brust, massierte sein Genick, legte schließlich die Hände auf die Knie und klopfte mit den Fingern gegen die Kniescheibe. Bald darauf klopfte er auch mit den Füßen auf den Boden. «Lassen Sie mich die ganze Geschichte nochmal zusammenfassen», begann er plötzlich zu sprechen. «Sie sagten, wir gehen in Ihr Zimmer, und wenn dieses Feuerzeug zehnmal nacheinander zündet, gewinne ich einen Cadillac. Versagt es auch nur ein einziges Mal, dann verliere ich den kleinen Finger meiner linken Hand. Ist das richtig?» «Ganz richtig. Genauso ist Wette. Ich glaube aber, Sie haben Angst.» «Wie wird das, wenn ich verliere? Muss ich meinen Finger ausstrecken, damit Sie ihn abhacken können?» «O nein! Das ist nicht gut. Wer weiß, vielleicht Sie kommen in Versuchung, ihn nicht auszustrecken. Ich mache so: Zuerst ich binde Ihre linke Hand an Tisch, und dann wir fangen an. Ich stehe bereit mit Messer, und ich hacke zu die Moment, wo Ihre Feuerzeug versagt.» «Welches Baujahr ist Ihr Cadillac?», fragte der Junge. «Bittäh Entschuldigung. Wie meinen?» «Welches Baujahr – wie alt ist der Cadillac?» «Ah! Wie alt? Ja. Ist von letzte Jahr. Ganz neu. Aber ich sehe, Sie haben keine Mut zu wetten. Amerikaner nie haben Mut.» Der Junge zögerte kurz. Er sah erst das englische Mädchen, dann mich an, bevor er in scharfem Ton sagte: «Einverstanden. Die Wette gilt.» «Gut!» Der kleine Mann klatschte in die Hände, nur einmal und sehr leise. «Schön, wir machen es gleich. Und Sie, Sir –» und damit war ich gemeint –, «würden Sie vielleicht haben die Güte, zu – wie nennen Sie das? – zu schiedsrichtern.» Er hatte blasse, fast farblose Augen mit winzigen schwarzen Pupillen. «Wissen Sie», sagte ich, «das ist eine blödsinnige Wette. Mir gefällt sie gar nicht.» «Mir auch nicht», ließ sich das englische Mädchen vernehmen. Es waren die ersten Worte, die sie sprach. «Ich finde, es ist eine absolut idiotische Wette.» «Ist das Ihr Ernst, dass Sie ihm den Finger abhacken wollen, wenn er verliert?», fragte ich. «Natürlich. Und auch, dass ich ihm Cadillac geben will, wenn er gewinnt. Kommen Sie jetzt. Wir gehen in meine Zimmer.» Er stand auf. «Sie möchten vielleicht etwas anziehen?», erkundigte er sich. «Nein», antwortete der Junge. «Ist nicht nötig.» Dann wandte er sich an mich. «Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie als Schiedsrichter mitkämen.» «Meinetwegen», stimmte ich zu. «Aber ich kann nicht behaupten, dass mir die Wette gefällt.» «Du kommst auch mit», sagte er zu dem Mädchen. «Du kommst mit und siehst zu.» Der kleine Mann ging mit uns durch den Garten zum Hotel. Er war freudig erregt, und seine gehobene Stimmung schien zu bewirken, dass er mehr denn je auf den Zehen federte. «Ich wohne in Nebengebäude», erklärte er. «Sie wollen erst Wagen sehen? Ist gerade hier.» Er führte uns zur Vorderseite des Hotels und deutete auf einen schnittigen hellgrünen Cadillac, der dort parkte. «Das ist er. Der grüne. Sie mögen?» «Donnerwetter, das ist aber ein schicker Wagen», rief der Junge. «Gut. Nun gehen wir zu mir und sehen, ob Sie ihn können gewinnen.» Wir folgten ihm in das Nebengebäude. Im ersten Stock schloss er eine Tür auf, und wir traten in ein geräumiges, komfortables Doppelzimmer. über dem Fußende des einen Bettes hing der Morgenrock einer Frau. «Zuerst», sagte er, «wir wollen uns stärken mit eine kleine Martini.» Die Getränke standen auf einem Tischchen in der Fensterecke. Auch ein Shaker, ein Behälter mit Eiswürfeln und Gläser waren vorhanden. Bevor er sich mit den Martinis befasste, drückte er auf den Klingelknopf, und nach kurzer Zeit erschien ein farbiges Stubenmädchen. «Ah!» Er stellte die Ginflasche hin, zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr eine Pfundnote. «Sie werden etwas für mich tun, bittäh», sagte er und gab dem Mädchen das Geld. «Das ist für Sie. Wir wollen jetzt eine Spielchen spielen, und ich möchte, dass Sie mir bringen zwei – nein, drei Sachen. Ich brauche ein paar Nägel; ich brauche eine Hammer, und ich brauche eine Hackbeil, eine Schlachterbeil, die Sie aus Küche leihen können. Das lässt sich machen, ja?» «Ein Hackbeil!» Das Mädchen starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und faltete unwillkürlich die Hände. «Sie meinen ein richtiges Hackbeil?» «Gewiss, gewiss. Sie können diese Sachen doch holen für mich?» «Ja, Sir, ich will’s versuchen. Natürlich versuche ich, sie zu bekommen.» Damit ging sie hinaus. Der kleine Mann reichte die Drinks herum. Wir standen da und kosteten den Martini – der Junge mit dem langen, sommersprossigen Gesicht und der spitzen Nase, nackt bis auf eine ausgeblichene braune Badehose; die Engländerin, ein grobknochiges blondes Mädchen in einem hellblauen Badeanzug, die den Jungen über den Rand des Glases unverwandt ansah; der kleine Mann in makellosem Weiß, der seinen Martini trank und die blassen Augen auf das Mädchen in dem hellblauen Badeanzug gerichtet hielt. Ich wusste nicht, was ich aus alledem machen sollte. Der Mann schien es mit der Wette ernst zu meinen, und er schien auch die Sache mit dem Finger ernst zu meinen. Aber verflixt, was sollte werden, wenn der Junge verlor? Dann mussten wir ihn so schnell wie möglich in dem Cadillac, den er nicht gewonnen hatte, ins Krankenhaus bringen. Das wäre eine schöne Geschichte. Na, wäre das nicht wirklich eine schöne Geschichte? Jawohl, und noch dazu eine verdammt sinnlose Geschichte. «Finden Sie diese Wette nicht ziemlich albern?», fragte ich. «Ich finde die Wette prima», erklärte der Junge. Er hatte seinen Martini bereits ausgetrunken. «Und ich finde sie ausgesprochen idiotisch», sagte das Mädchen. «Albern und idiotisch. Was geschieht, wenn du verlierst?» «Das macht gar nichts. Weißt du, ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals im Leben den kleinen Finger meiner linken Hand gebraucht hätte. Hier – «er spreizte den Finger ab und hielt ihn fest – «hier ist er, ein völlig unnützes Ding. Warum sollte ich ihn also nicht verwetten? Ich finde, es ist eine prima Wette.» Der kleine Mann lächelte, nahm den Shaker und füllte unsere Gläser nach. «Bevor wir anfangen», sagte er, «will ich dem … dem Schiedsrichter geben Wagenschlüssel.» Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und überreichte ihn mir. «Die Papiere», fügte er hinzu, «die Wagenpapiere und Versicherung sind in Handschuhkasten von Cadillac.» Das farbige Stubenmädchen kam wieder herein. In der einen Hand trug sie ein kleines Hackbeil, wie es die Fleischer gebrauchen, um Knochen zu zerkleinern, und in der anderen einen Hammer und eine Tüte mit Nägeln. «Gut! Sie haben alles. Danke, danke. Jetzt Sie können gehen.» Er wartete, bis das Mädchen die Tür geschlossen hatte. Dann legte er das Werkzeug auf eines der Betten und sagte: «Nun wir machen uns fertig, ja?» Und zu dem Jungen: «Helfen Sie mir, bittäh, mit diese Tisch. Wir rücken ihn etwas nach vorn.» Es war einer der üblichen Hotelschreibtische, ein einfacher rechteckiger Tisch mit einer Unterlage aus Löschpapier, einem Tintenfass, Federhaltern und Briefbogen. Die beiden trugen ihn in die Mitte des Zimmers und nahmen die Schreibsachen fort. «Und nun eine Stuhl.» Der kleine Mann ergriff einen Stuhl und stellte ihn neben den Tisch. Er war sehr munter, sehr aufgekratzt, wie jemand, der bei einer Kindergesellschaft Spiele organisiert. «Und nun die Nägel. Ich muss einschlagen die Nägel.» Er holte die Tüte und den Hammer vom Bett. Wir standen mit unseren Martinis hinter ihm und sahen zu, wie er zwei Nägel in den Tisch schlug, etwa fünfzehn Zentimeter voneinander entfernt. Er schlug sie nicht ganz ein, sondern ließ sie etwas herausstehen. Dann prüfte er sie auf ihre Festigkeit. Ich möchte schwören, dass der Kerl das nicht zum ersten Mal macht, sagte ich mir. Bei ihm gibt’s kein Zögern, kein Überlegen, Tisch, Nägel, Hammer, Hackbeil. Er weiß genau, was er braucht, und wie alles geordnet werden muss. «Und jetzt», verkündete er, «jetzt fehlt nur noch Schnur.» Auch ein Stück Schnur fand sich. «Gut, endlich wir sind fertig. Wollen Sie, bittäh, hier an Tisch Platz nehmen?», wandte er sich an den Jungen. Der Junge stellte sein Glas ab und setzte sich. «Nun, bittäh, linke Hand zwischen diese zwei Nägel. Die Nägel sind nur, dass ich festbinden kann Ihre Hand. Gut, schön. Jetzt ich binde Ihre Hand fest an Tisch – so.» Er knüpfte die Schnur um das Handgelenk des Jungen, wickelte sie mehrmals um den breiten Teil der Hand und befestigte sie dann an den Nägeln. Er machte das sehr geschickt, und als er den letzten Knoten geschlungen hatte, war es dem Jungen unmöglich, die Hand wegzuziehen. Aber er konnte die Finger bewegen. «Nun, bittäh, Sie schließen alle Finger bis auf die kleine zu Faust. Die kleine Finger muss ganz gerade auf Tisch liegen … Aus-gezeichnet! Aus–gezeichnet! Jetzt wir sind fertig. Mit Ihre rechte Hand Sie bedienen Feuerzeug. Aber eine Moment bittäh.» Er lief zum Bett, ergriff das Hackbeil, kam zurück und stellte sich mit dem Beil in der Hand neben den Tisch. «Wir sind alle bereit?», erkundigte er sich. «Herr Schiedsrichter, Sie müssen sagen zu beginnen.» Die Engländerin in ihrem hellblauen Badeanzug stand hinter dem Stuhl des Jungen. Sie stand da und sprach kein Wort. Der Junge saß sehr still, hielt das Feuerzeug in der rechten Hand und blickte auf das Hackbeil. Der kleine Mann blickte auf mich. «Sind Sie bereit?», fragte ich den Jungen. «Ich bin bereit.» «Und Sie?», wandte ich mich an den kleinen Mann. «Ganz bereit», sagte er und hob das Beil in die Luft, sodass es etwa sechzig Zentimeter über dem Finger des Jungen schwebte. Der Junge betrachtete es mit kühler Gelassenheit. Nicht einmal seine Lippen bewegten sich. Er zog nur die Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. «In Ordnung», sagte ich. «Fangen Sie an.» «Würden Sie wohl laut mitzählen, wenn ich zünde?», bat der Junge. «Ja», erwiderte ich. «Selbstverständlich.» Mit dem Daumen der rechten Hand öffnete er die Verschlusskappe des Feuerzeugs. Dann rieb er, ebenfalls mit dem Daumen, das Rädchen scharf an. Aus dem Feuerstein sprühte ein Funken, der Docht fing Feuer und brannte mit kleiner gelber Flamme. «Eins!», rief ich. Er blies die Flamme nicht aus; er drückte die Kappe des Feuerzeugs herunter und wartete ungefähr fünf Sekunden, bevor er sie zum zweiten Mal öffnete. Wieder rieb er das Rädchen scharf an, und wieder brannte der Docht mit kleiner Flamme. «Zwei!» Ich zählte; die anderen schwiegen. Der Junge blickte starr auf das Feuerzeug. Der kleine Mann hielt das Hackbeil in der erhobenen Hand und blickte ebenfalls auf das Feuerzeug. «Drei!» «Vier!» «Fünf!» «Sechs!» «Sieben!» Offensichtlich war es eines jener Feuerzeuge, die immer funktionieren. Der Feuerstein zündete mit einem großen Funken, und der Docht hatte die richtige Länge. Ich beobachtete, wie der Daumen die Verschlusskappe auf die Flamme schnellen ließ. Dann eine Pause. Dann hob der Daumen von neuem die Kappe. Bei diesem Feuerzeug machte der Daumen alles. Ich holte Luft und bereitete mich darauf vor, acht zu sagen. Der Daumen rieb das Rädchen an. Der Feuerstein sprühte Funken. Die kleine Flamme erschien. «Acht!», rief ich, und im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür. Wir alle drehten uns um und sahen, dass eine Frau auf der Schwelle stand, eine kleine, schwarzhaarige, ziemlich alte Frau. Sie blieb etwa zwei Sekunden wie erstarrt stehen, dann schrie sie: «Carlos! Carlos!» und stürzte auf den kleinen Mann zu. Sie umklammerte sein Handgelenk, entriss ihm das Beil, warf es auf das Bett, packte ihn an den Aufschlägen seines weißen Jacketts und schüttelte ihn sehr heftig, während sie in einer spanisch klingenden Sprache laut und zornig auf ihn einredete. Sie schüttelte ihn so stark, dass man ihn gar nicht mehr sehen konnte. Seine Umrisse verschwammen nebelhaft wie die Speichen eines kreisenden Rades. Schließlich beruhigte sie sich, und der kleine Mann wurde wieder sichtbar. Sie zerrte ihn durch das Zimmer und beförderte ihn mit einem Stoß auf eines der Betten. Dort hockte er nun, blinzelte verstört, betastete seinen Kopf und überzeugte sich, dass er ihn noch bewegen konnte. «Es tut mir so leid», sagte die Frau. «Es tut mir so schrecklich leid, dass dies passieren musste.» Sie sprach ein fast akzentfreies Englisch. «Ich mache mir solche Vorwürfe», fuhr sie fort. «Wenn ich nicht zum Friseur gegangen wäre … Nur für zehn Minuten, um mir das Haar waschen zu lassen, und kaum habe ich den Rücken gekehrt, da ist er schon wieder dabei.» Sie war sichtlich bekümmert, und ihre Stimme klang sehr verzweifelt. Der Junge band seine Hand vom Tisch los. Das englische Mädchen und ich standen neben ihm und schwiegen. «Er ist eine öffentliche Gefahr», erklärte die Frau. «Dort, wo wir wohnen, hat er allen möglichen Leuten insgesamt siebenundvierzig Finger abgenommen, und er hat elf Wagen verloren. Schließlich drohte man, ihn in eine Anstalt zu bringen. Deswegen bin ich mit ihm hierhergekommen.» «Wir haben nur kleine Wette gemacht», murmelte der Mann vom Bett her. «Hat er Ihnen einen Wagen versprochen?», fragte die Frau. «Ja», antwortete der Junge. «Einen Cadillac.» «Er hat keinen Wagen. Der Cadillac gehört mir. Und das ist ja das Schlimmste», fügte sie hinzu, «dass er mit Ihnen wettet, obgleich er gar nichts zum Wetten hat. Ich schäme mich, und es tut mir so schrecklich leid.» Sie schien eine sehr nette Frau zu sein. «Nun ja», sagte ich, «hier ist dann also Ihr Wagenschlüssel.» Ich legte ihn auf den Tisch. «Wir haben nur kleine Wette gemacht», murmelte der Mann. «Er hat überhaupt nichts zum Wetten», wiederholte die Frau. «Er hat nichts mehr auf der Welt. Gar nichts. Weil ich ihm nämlich schon längst alles abgewonnen habe. Es dauerte lange, sehr lange, und es war ein hartes Stück Arbeit, aber schließlich habe ich ihm alles abgewonnen.» Sie blickte den Jungen an und lächelte – ein leises trauriges Lächeln. Dann kam sie näher und streckte die Hand aus, um den Schlüssel vom Tisch zu nehmen. Ich sehe sie jetzt noch vor mir, diese Hand; sie hatte nur einen Finger und den Daumen. Der Soldat Es war eine jener schwarzen Nächte, in denen er zu wissen glaubte, wie einem Blinden zumute ist. Nichts war zu erkennen, nicht einmal die Umrisse der Bäume hoben sich vom Himmel ab. Aus der Dunkelheit drangen leise Geräusche an sein Ohr: Ein Rascheln in der Hecke, das Schnauben eines Pferdes irgendwo auf dem Feld, ein dumpfer Hufschlag, als das Tier den Fuß bewegte, und einmal hörte er, wie ein Vogel dicht über ihn hinwegstrich. «Jock», sagte er laut. «Wir gehen nach Hause.» Er machte kehrt und ging zurück, den leicht ansteigenden Pfad hinauf. Der Hund zerrte an der Leine und zeigte ihm in der Dunkelheit den Weg. Es muss fast Mitternacht sein, dachte er. Das hieß, dass es bald morgen sein würde. Morgen war schlechter als heute. Morgen war am allerschlechtesten, weil es heute werden würde – und heute war jetzt. Der heutige Tag war nicht gut gewesen, besonders wegen der Sache mit dem Splitter. Hör auf, sagte er sich. Es hat keinen Sinn, daran zu denken. Das nützt überhaupt nichts. Denk zur Abwechslung an etwas anderes. Weißt du, man kann sich von einem gefährlichen Gedanken befreien, wenn man ihn durch einen anderen ersetzt. Denk an schöne Tage zurück. Die Sommerferien am Meer. Weißer Sand und rote Eimer und Garnelennetze; schlüpfrige, von Seetang überzogene Felsen und kleine, klare Tümpel; Seeanemonen, Schnecken, Muscheln und manchmal, tief unten in dem schönen grünen Wasser schwebend, eine graue durchsichtige Garnele. Aber wie konnte ihm der Splitter in die Fußsohle gedrungen sein, ohne dass er es gefühlt hatte? Es ist nicht wichtig. Weißt du noch, wie du am Strand bunte Muschelschalen gesucht hast? Jede von ihnen war so schön und vollkommen, dass du sie auf dem Heimweg wie ein Kleinod behutsam in der Hand trugst. Und die kleinen orangefarbenen Kammmuscheln, die perlmutternen Austernschalen, die smaragdgrünen Glasstückchen, ein lebender Einsiedlerkrebs, eine Herzmuschel, der Stachelschwanz eines Rochens und einmal – einmal nur, aber unvergesslich – der vom Meer blankgewaschene Kiefer eines Menschen mit Zähnen darin, weiß und wunderbar zwischen den Muscheln und Steinen. O Mami, sieh mal, was ich gefunden habe! Sieh doch, Mami, sieh! Aber um auf den Splitter zurückzukommen – es war wirklich nicht nett von ihr gewesen, deswegen so ein Theater zu machen. «Was soll das heißen, du hast es nicht gemerkt?», hatte sie in verächtlichem Ton gefragt. «Ich habe es einfach nicht gemerkt, das ist alles.» «Erzähl mir bloß noch, dass du nicht merkst, wenn ich dir eine Nadel in den Fuß steche.» «Das habe ich nicht gesagt.» Und dann hatte sie ihm plötzlich die Nadel, mit der sie den Splitter entfernt hatte, in den Knöchel gestoßen. Er hatte nicht hingesehen und daher nichts gemerkt. Erst als sie entsetzt aufschrie, hatte er sich vorgebeugt, und da steckte die Nadel fast bis zur Hälfte im Fleisch. «Zieh sie raus», hatte er gesagt. «Durch so was kann man eine Blutvergiftung bekommen.» «Ja, aber … fühlst du denn nichts?» «Los, zieh sie raus.» «Hör mal, es muss doch wehtun.» «Es tut wahnsinnig weh. Zieh sie raus.» «Was ist eigentlich los mit dir?» «Ich habe ja gesagt, es tut wahnsinnig weh. Bist du vielleicht taub?» Warum machte man solche Sachen mit ihm? Als wir am Meer waren, bekam ich eine hölzerne Schaufel, damit ich im Sand graben konnte. Die Löcher waren leer wie eine Tasse, und dann stieg jedes Mal das Wasser in ihnen hoch, bis es nicht mehr höher steigen konnte. Vor einem Jahr hatte der Arzt gesagt: «Schließen Sie die Augen. So, und nun möchte ich von Ihnen hören, ob ich diesen Zeh nach oben oder nach unten drücke.» «Nach oben», hatte er geantwortet. «Und jetzt?» «Nach unten. Nein, doch nicht. Ich glaube, nach oben.» Merkwürdig, dass ein Nervenarzt Spaß daran hatte, mit den Zehen seiner Patienten zu spielen. «War alles richtig, Herr Doktor?» «Sie haben es sehr gut gemacht.» Aber das war vor einem Jahr gewesen. Vor einem Jahr hatte er sich noch prächtig gefühlt. Solche Sachen wie jetzt waren ihm damals nie passiert. Um nur ein Beispiel zu nennen – der Wasserhahn im Badezimmer. Warum war der Warmwasserhahn heute früh auf der anderen Seite gewesen? War das ein neuer Trick? Es ist überhaupt nicht wichtig, verstehst du, aber es wäre doch interessant, den Grund zu erfahren. Glaubst du, sie könnte die Hähne heimlich vertauscht haben, könnte nachts mit einem Schraubenschlüssel und einer Rohrzange ins Badezimmer geschlichen sein, um sie zu vertauschen? Glaubst du das? Nun, wenn du es genau wissen willst – ja: So wie sie sich in letzter Zeit benommen hat, wäre ihr das durchaus zuzutrauen. Eine seltsame und schwierige Frau, ja, das war sie. Wohlgemerkt, früher hatte sie überhaupt keine Launen gehabt, aber im Augenblick war sie so seltsam und schwierig, dass er nicht mehr klug aus ihr wurde. Vor allem nachts. Ja, nachts. Das war die schlimmste Zeit – die Nacht. Warum konnten seine Finger, wenn er nachts im Bett die rechte Hand ausstreckte, nicht fühlen, was sie berührten? Er hatte die Lampe umgestoßen, und sie war wach geworden, und während er in der Dunkelheit auf dem Fußboden herumtastete, hatte sie sich plötzlich aufgesetzt. «Was machst du da?» «Ich habe die Lampe umgeworfen. Entschuldige.» «Mein Gott», hatte sie gesagt. «Gestern das Wasserglas, heute die Lampe. Was ist denn nur los mit dir?» Einmal hatte der Arzt mit einer Feder über seinen Handrücken gestrichen, und er hatte auch das nicht fühlen können. Aber als der Mann ihn mit einer Nadel kratzte – ja, das hatte er gefühlt. «Schließen Sie die Augen. Nein – Sie dürfen nicht blinzeln. Schließen Sie sie ganz fest. Und nun sagen Sie mir, ob dies heiß oder kalt ist.» «Heiß.» «Und dies?» «Kalt.» «Und dies?» «Kalt. Ich meine heiß. Ja, es ist heiß, nicht wahr?» «Stimmt», hatte der Arzt gesagt. «Sie haben es sehr gut gemacht.» Aber das war vor einem Jahr gewesen. Warum befanden sich die Lichtschalter an den Wänden neuerdings nicht mehr dort, wo sie zu sein hatten, sondern ein paar Zentimeter daneben, wenn er im Dunkeln nach ihnen suchte? Nicht daran denken, befahl er sich. Einfach nicht mehr daran denken. Und noch etwas – warum nahmen die Wände des Wohnzimmers jeden Tag eine etwas andere Schattierung an? Grün, blaugrün, blau und manchmal – manchmal leicht verschwimmend wie Farben, die man durch den Hitzedunst glühender Kohlen sieht. Eine nach der anderen, sauber wie Lochkarten aus einer Maschine, kamen die kleinen Fragen. Wessen Gesicht war für eine Sekunde am Fenster erschienen, als sie zu Abend aßen? Wessen Augen? «Was starrst du da an?» «Nichts», hatte er geantwortet. «Aber vielleicht sollten wir lieber die Vorhänge zuziehen, findest du nicht?» «Robert, was hast du da angestarrt?» «Nichts.» «Warum hast du das Fenster so angestarrt?» «Vielleicht sollten wir lieber die Vorhänge zuziehen, findest du nicht?», hatte er noch einmal gesagt. Er ging jetzt an der Stelle vorbei, wo er das Pferd auf dem Feld gehört hatte, und wieder vernahm er das Schnauben, die leisen Hufschläge und das knirschende Geräusch, mit dem das Tier die Grasbüschel abrupfte – es klang, als kaue jemand Sellerie. «Hallo, altes Pferd», rief er laut in die Nacht hinein. «Hallo, altes Pferd dort drüben.» Plötzlich ertönten Schritte hinter ihm, langsame, weit ausgreifende Schritte dicht hinter ihm, und er blieb stehen. Die Schritte verstummten. Er drehte sich um und spähte angestrengt in die Dunkelheit. «Guten Abend», sagte er. «Sind Sie wieder da?» In der Stille, die folgte, konnte er hören, wie der Wind durch die Blätter der Hecke strich. «Haben wir denselben Weg?», fragte er. Als keine Antwort kam, ging er weiter. Der Hund zerrte an der Leine, und hinter ihm ertönten von neuem die Schritte, aber leiser jetzt, als schleiche der andere auf den Zehen. Er machte halt und wandte sich um. «Ich kann Sie nicht sehen, weil es so dunkel ist. Kenne ich Sie?» Wieder die Stille, der kühle Sommerwind an seinen Wangen und der Hund, der ungeduldig an der Leine zog. «Na gut», rief er. «Sie brauchen nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen. Aber denken Sie daran, ich weiß, dass Sie da sind.» Einer, der ihn zu übertölpeln suchte. Von weit her, vom Westen drüben und aus großer Höhe klang das schwache Summen des Flugzeugs durch die Nacht. Er blieb stehen, hob den Kopf und lauschte. «Hat nichts zu sagen», murmelte er. «Wird nicht näher kommen.» Aber warum erstarrte alles in ihm, wenn einmal ein Flugzeug über das Haus flog, warum war es ihm dann unmöglich, weiterzusprechen oder sich auch nur zu bewegen, warum saß oder stand er wie gelähmt da und wartete auf das kreischende Pfeifen der Bomben? Heute Abend nach dem Essen, zum Beispiel. «Weshalb hast du dich so zusammengeduckt?», hatte sie gefragt. «Zusammengeduckt?» «Ja, zusammengeduckt. Weshalb tust du das?» «Zusammengeduckt?», hatte er wiederholt. «Ich weiß nicht, was du meinst.» «Scheint mir auch so», hatte sie geantwortet und ihn mit ihren harten blauweißen Augen angesehen, die Lider leicht gesenkt, wie immer, wenn sie ihn verachtete. Die gesenkten Lider, die halbgeschlossenen Augen hatten etwas Schönes für ihn – die Art, wie die Lider sich senkten und die Augen sich verschleierten, sooft ihre Verachtung besonders stark wurde. Gestern früh, als das Granatfeuer einsetzte – weit entfernt, unten im Tal –, hatte er im Bett die linke Hand ausgestreckt und ihren Körper berührt, weil es ihn so sehr nach Schutz und Trost verlangte. «He, was machst du da?» «Nichts, Liebes.» «Du hast mich aufgeweckt.» «Entschuldige.» Es wäre leichter, so viel leichter für ihn, wenn er morgens beim Einsetzen des Granatfeuers dicht an sie heranrücken dürfte. Jetzt war er schon in der Nähe seines Hauses. Hinter der Wegbiegung konnte er einen rötlichen Lichtschein sehen, der durch die Gardinen des Wohnzimmers drang. Er schritt schneller aus, erreichte die Pforte, trat ein und lief, von dem Hund vorwärtsgezogen, den Gartenweg entlang. Auf der Veranda tastete er in der Dunkelheit nach dem Türgriff. Vorhin, als er fortging, war der Griff auf der rechten Seite gewesen. Ja, rechts. Er erinnerte sich genau – schließlich hatte er das Haus erst vor einer halben Stunde verlassen. War es denn möglich, dass sie auch das vertauscht hatte? Nur um ihn zu ärgern. Dass sie den Werkzeugkasten geholt und den Griff rasch auf die andere Seite geschraubt hatte, während er mit dem Hund spazieren ging? Er tastete nach links – und in dem Augenblick, da seine Finger gegen den Griff stießen, explodierte etwas mit einem kleinen, aber heftigen Schlag in seinem Gehirn, und zugleich stieg eine Welle von Wut, Entrüstung und Furcht in ihm auf. Er öffnete die Tür, schloss sie hinter sich und rief: «Edna, bist du da?» Keine Antwort. Er rief noch einmal, und diesmal hörte sie ihn. «Was ist denn? Du hast mich aufgeweckt.» «Komm einen Augenblick runter, ja? Ich möchte mit dir sprechen.» «Das könnte dir so passen», antwortete sie. «Sei still und komm rauf.» «Komm runter!», schrie er. «Komm sofort runter!» Der Mann zögerte, legte den Kopf in den Nacken und spähte hinauf in die Finsternis des oberen Stockwerks. Er konnte die Stelle sehen, wo das Treppengeländer nach links abbog und im Schwarz des Treppenabsatzes verschwand, und wenn man dort weiterging, kam man ins Schlafzimmer, das ebenfalls dunkel sein würde. «Edna!», rief er. «Edna!» «Ach, geh zum Teufel.» Langsam, mit leisen Schritten stieg er die Treppe hinauf; er ließ sich dabei vom Geländer führen, und als seine Hand die Rundung nach links erreichte, nahm er noch eine Stufe, die gar nicht da war. Nun, damit hatte er gerechnet, es gab also keinen Lärm. Er blieb eine Weile stehen und lauschte. Genau konnte er es nicht sagen, aber ihm war, als hätte das ferne Artilleriefeuer unten im Tal wieder eingesetzt – vorwiegend schwere Kaliber, Fünfundsiebziger und vielleicht noch ein paar Mörser im Hintergrund. Über den Flur jetzt, immer geradeaus, und dann durch die offene Tür – der Weg war ihm vertraut und deshalb auch im Dunkeln leicht zu finden – bis zum Schlafzimmerteppich, der dick, weich und hellgrau war, obgleich er ihn weder fühlen noch sehen konnte. Mitten im Raum blieb er stehen und lauschte. Sie war wieder eingeschlafen und atmete ziemlich laut. Jedes Mal, wenn sie ausatmete, rieb sich die Luft mit einem ganz leichten Pfeifton an ihren Zähnen. Der Vorhang schlug sanft gegen das offene Fenster, der Wecker tickte neben dem Bett. Seine Augen hatten sich inzwischen so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass er undeutlich das Fußende des Bettes erkannte, die weißbezogene Decke und darunter die Umrisse ihrer Füße. Plötzlich, als hätte die Schlafende die Anwesenheit des Mannes gespürt, wurde sie unruhig. Er hörte, wie sie sich umdrehte und nochmals umdrehte. Das leichte Pfeifen verstummte. Ein Rascheln begleitete ihre Bewegungen, und einmal knarrten die Sprungfedern, laut wie ein Ruf in der Dunkelheit. «Bist du es, Robert?» Er rührte sich nicht, gab keinen Laut von sich. «Robert, bist du da?» Die Stimme klang fremd und recht unangenehm. «Robert!» Sie war jetzt hellwach. «Wo bist du?» Er musste diese Stimme schon einmal gehört haben. Sie hatte etwas Kreischendes, Misstönendes an sich, als würden zwei nicht harmonierende hohe Töne gleichzeitig mit aller Kraft angeschlagen. Außerdem konnte sie das R von Robert nicht aussprechen. Wer war es doch, der ihn immer Lobert genannt hatte? «Lobert», sagte sie wieder. «Was machst du?» War es die Schwester im Lazarett, die große mit dem blonden Haar? Nein, es lag weiter zurück. An eine so grässliche Stimme müsste man sich ja eigentlich erinnern. Nur einen Augenblick Geduld, er würde gleich auf den Namen kommen. Plötzlich knackte der Schalter der Nachttischlampe, das Licht flammte auf, und er sah die Frau in einem rosa Nachthemd halb aufgerichtet im Bett sitzen. Ihre Miene und die weitgeöffneten Augen drückten Überraschung aus. Kinn und Wangen glänzten fettig von Cold Cream. «Leg das Ding lieber hin», sagte sie, «sonst verletzt du dich noch.» «Wo ist Edna?» Er blickte sie gespannt an. Die Frau, auf einen Ellbogen gestützt, beobachtete ihn misstrauisch. Er stand am Fußende des Bettes, ein riesiger, breitschultriger Mann in einem Anzug aus schwerem dunkelbraunem Wollstoff. Unbeweglich stand er da, gestrafft, in fast militärischer Haltung. «Leg es sofort hin», befahl sie. «Wo ist Edna?» «Was ist los mit dir, Lobert?» «Gar nichts ist los mit mir. Ich frage nur, wo meine Frau ist.» Die Frau setzte sich langsam auf und schob die Beine zum Bettrand hin. «Nun», sagte sie schließlich, und in ihren harten blauweißen Augen lag ein Ausdruck kalter List, «wenn du’s wissen willst, Edna ist fort. Sie hat das Haus verlassen, während du unterwegs warst.» «Wohin ist sie gegangen?» «Das hat sie nicht gesagt.» «Und wer bist du?» «Ich bin eine Freundin von ihr.» «Du brauchst mich nicht anzuschreien», bemerkte er. «Warum bist du so aufgeregt?» «Ich möchte dir nur klarmachen, dass ich nicht Edna bin.» Der Mann überlegte eine Weile, dann fragte er: «Woher weißt du meinen Namen?» «Edna hat ihn mir gesagt.» Wieder schwieg er nachdenklich. Er war noch immer leicht verwirrt, aber viel ruhiger jetzt. Auch der Blick, mit dem er sie musterte, war ruhig, vielleicht sogar ein wenig belustigt. «Ich glaube, Edna gefällt mir besser als du.» In der Stille, die nun folgte, bewegte sich keiner der beiden. Die Frau saß sehr gerade, sehr angespannt da, die Arme leicht angewinkelt, die Hände auf die Matratze gepresst. «Ich liebe Edna, weißt du. Hat sie dir je gesagt, dass ich sie liebe?» Die Frau antwortete nicht. «Ich glaube, sie ist ein Biest. Aber das Seltsamste ist, dass ich sie trotzdem liebe.» Die Frau sah nicht auf das Gesicht des Mannes; sie beobachtete seine rechte Hand. «Ein schrecklich grausames kleines Biest ist Edna.» Und nun ein langes Schweigen. Der Mann, hoch aufgerichtet, stand regungslos vor dem Bett, in dem die Frau regungslos saß. Es war so still im Zimmer, dass sie durch das offene Fenster das Wasser des Mühlbachs über das Wehr rauschen hörten, weit unten im Tal bei der nächsten Farm. Dann sprach der Mann wieder – langsam, gelassen, ganz unpersönlich. «Ich glaube nicht, dass sie mich überhaupt noch mag.» Die Frau schob sich näher an den Bettrand heran. «Leg das Messer hin, bevor du dich damit schneidest», sagte sie. «Schrei bitte nicht so. Kannst du nicht freundlich mit mir reden?» Plötzlich beugte sich der Mann vor und blickte die Frau aufmerksam an. «Sonderbar», murmelte er und hob die Augenbrauen. «Wirklich sehr sonderbar.» Er trat einen Schritt vor, sodass seine Knie das Bett berührten. «Ich finde, du hast ein bisschen Ähnlichkeit mit Edna.» «Edna ist fortgegangen, ich schwör’s dir.» Er betrachtete unverwandt ihr Gesicht. Die Frau saß sehr still, die Handflächen fest auf die Matratze gepresst. «Hm», meinte er zweifelnd, «ich bin nicht sicher, ob …» «Doch, doch, Edna ist fortgegangen. Ich bin eine Freundin von ihr. Ich heiße Mary.» «Meine Frau hat so ein komisches kleines Muttermal hinter dem linken Ohr. Du hast das wohl nicht, wie?» «Bestimmt nicht.» «Dreh den Kopf und lass mich nachsehen.» «Ich sage dir doch, dass ich kein Muttermal habe.» «Trotzdem möchte ich mich davon überzeugen.» Der Mann ging langsam um das Fußende des Bettes herum. «Bleib, wo du bist», befahl er. «Bewege dich nicht.» Er schritt langsam auf sie zu und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Um seine Mundwinkel spielte ein kleines Lächeln. Die Frau wartete, bis er in Reichweite war. Dann holte sie aus, so rasch, dass er die Hand nicht einmal kommen sah, und schlug ihm hart ins Gesicht. Und als er weinend auf den Bettrand sank, nahm sie ihm das Messer weg und lief schnell aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in die Diele, wo das Telefon stand. Mein Herzblatt Seit vielen Jahren bin ich gewohnt, ein Mittagsschläfchen zu halten. Ich setze mich in einen Sessel im Wohnzimmer, ein Kissen hinter dem Kopf, die Füße auf einem viereckigen Lederhocker, und lese, bis ich einschlummere. So hatte ich es mir auch am Freitagnachmittag in meinem Sessel bequem gemacht und genoss die Lektüre eines meiner Lieblingsbücher – Doubleday und Westwoods The Genera of Diurnal Lepidoptera, ein Werk über Tagfalter –, als meine Frau, die noch nie zur Schweigsamkeit neigte, vom Sofa aus das Wort an mich richtete. «Du», begann sie, «wann kommen eigentlich diese beiden Leute?» Ich antwortete nicht, und sie wiederholte die Frage, diesmal erheblich lauter. Ich teilte ihr höflich mit, dass ich es nicht wüsste. «Ich finde sie nicht sehr sympathisch», fuhr sie fort. «Und ihn mag ich noch weniger als sie.» «Nein, Liebes. In Ordnung.» «Arthur! Ich sagte, sie sind mir nicht sehr sympathisch.» Ich ließ mein Buch sinken und blickte zu ihr hinüber. Sie lag auf dem Sofa und blätterte in einem Modejournal. «Wir waren ja erst einmal mit ihnen zusammen», erwiderte ich. «Ein schrecklicher Mann, wirklich. Erzählte pausenlos Witze oder Geschichten oder was weiß ich.» «Du wirst schon mit ihnen fertig werden, Liebes.» «Und sie ist nicht viel besser als er. Wann, glaubst du, werden sie kommen?» «Wahrscheinlich so gegen sechs.» «Aber findest du sie nicht auch grässlich?», fragte sie und deutete mit dem Finger auf mich. «Nun …» «Sie sind einfach unausstehlich, jawohl, das sind sie.» «Wir können jetzt kaum noch absagen, Pamela.» «Sie sind das absolut Letzte.» «Warum hast du sie dann eingeladen?» Die Frage entschlüpfte mir unwillkürlich und zu meinem größten Bedauern, denn ich habe es mir zur Regel gemacht, meine Frau nie herauszufordern, wenn ich es irgend vermeiden kann. Eine Pause trat ein, und während ich auf Antwort wartete, betrachtete ich das Gesicht meiner Frau – dieses große weiße Gesicht, in dem etwas so seltsam Faszinierendes war, dass es mir oft nicht gelingen wollte, den Blick davon abzuwenden. Abends, wenn sie an ihrer Stickerei arbeitete oder ihre kniffligen kleinen Blumenbilder malte, straffte sich mitunter das Gesicht und spiegelte eine geheimnisvolle innere Kraft wider, die unsagbar schön war, und ich konnte nichts anderes tun, als es wie gebannt anstarren, während ich vorgab zu lesen. Selbst jetzt, mit dem verdrossenen, bitteren Blick, der gerunzelten Stirn, der ärgerlich gekrausten Nase, hatte diese Frau unleugbar etwas Majestätisches an sich, etwas Grandioses, fast Überwältigendes. Hinzu kam, dass sie sehr groß war, viel größer als ich – obgleich man sie heute, in ihrem einundfünfzigsten Jahr, eher massig als groß nennen müsste. «Du weißt sehr gut, warum ich sie eingeladen habe», sagte sie in scharfem Ton. «Nur weil sie Bridge spielen, ein erstklassiges Bridge und um einen anständigen Einsatz.» Sie hob den Kopf und sah, dass ich sie beobachtete. «Mehr ist wirklich nicht an ihnen dran», schloss sie, «und du denkst doch genauso, nicht wahr?» «Hm, natürlich, ich …» «Sei nicht albern, Arthur.» «Ich habe sie ja erst einmal gesehen, aber ich finde, sie machten einen sehr netten Eindruck.» «Den macht unser Fleischer auch.» «Bitte, Pamela, Liebes, du darfst nicht ungerecht sein.» «Hör mal zu», das Modeheft fiel klatschend auf ihren Schoß, «du weißt ebenso gut wie ich, was für Leute das sind. Dumme Streber, die sich einbilden, sie könnten überall verkehren, nur weil sie gut Bridge spielen.» «So wird’s wohl sein, Liebes. Ich verstehe nur nicht, warum du sie dann …» «Das sage ich dir ja die ganze Zeit – damit wir endlich einmal ein anständiges Bridge spielen können. Ich habe es satt, mich mit Stümpern herumzuärgern. Aber es ist doch wirklich eine Zumutung, diese grässlichen Leute übers Wochenende im Haus zu haben.» «Natürlich, Liebes, natürlich. Nur … ist es jetzt nicht ein bisschen spät …» «Arthur!» «Ja?» «Warum musst du mir eigentlich dauernd widersprechen? Du weißt, dass sie dir genauso unsympathisch waren wie mir.» «Ich bin sicher, Pamela, dass du dir keine Gedanken zu machen brauchst. Alles in allem schienen sie doch ein nettes junges Paar mit guten Manieren zu sein.» «Arthur, übertreibe nicht so maßlos.» Sie sah mich streng an, und um ihrem Blick auszuweichen – diese runden grauen Augen verwirrten mich, wie schon so oft –, ging ich zu der Fenstertür, die in den Garten hinausführte. Die große, leicht abfallende Rasenfläche vor dem Haus war frisch gemäht, sodass hellgrüne Streifen mit dunkleren wechselten. Drüben, auf der anderen Seite, standen die beiden Goldregensträucher endlich in voller Blüte und hoben sich leuchtend von den Bäumen im Hintergrund ab. Die Rosen und die scharlachroten Begonien waren ebenfalls erblüht, auch meine schönen Lupinen, Federnelken, Akeleien, Rittersporne und die blassen, duftenden Schwertlilien. Einer der Gärtner kam gerade vom Mittagessen zurück. Ich sah das Dach seines Häuschens durch die Bäume und seitlich dahinter das eiserne Gittertor an der Straße nach Canterbury. Das Haus meiner Frau. Ihr Garten. Wie schön war das alles! Wie friedlich! Ach, wenn Pamela nur etwas weniger um mein Wohlergehen besorgt wäre, etwas weniger dazu neigte, mir – «einzig und allein zu deinem Besten, Arthur» – höchst lästige Entschlüsse aufzuzwingen, dann hätte ich hier den Himmel auf Erden. Mit diesen Worten möchte ich jedoch keinesfalls den Eindruck erwecken, dass ich sie nicht liebe – ich bete die Luft an, die sie atmet – oder dass ich nicht mit ihr fertig werde oder dass ich nicht Herr im Hause bin. Nein, es ist nur so, dass sie mir manchmal ein bisschen auf die Nerven geht. Ihr Benehmen zum Beispiel, ihre etwas manierierte Art – ich wünschte wirklich, sie würde sich gewisse Dinge abgewöhnen. Vor allem missfällt mir, dass sie mit dem Finger auf mich deutet, sooft sie einen Satz betonen will. Wie ich bereits sagte, bin ich ziemlich klein von Statur, und wenn sich jemand, besonders ein Mensch wie meine Frau, unablässig dieser Geste bedient, dann schüchtert mich das natürlich ein. Manchmal bin ich nahe daran, zu bezweifeln, dass ich in unserer Ehe das Regiment führe. «Arthur!», rief sie. «Komm her.» «Was ist denn?» «Ich habe eine wunderbare Idee. Komm her.» Ich drehte mich gehorsam um und ging zu dem Sofa, auf dem sie lag. «Pass mal auf», sagte sie. «Wie wär’s, wenn wir uns einen kleinen Spaß machten?» «Was für einen Spaß?» «Mit den Snapes.» «Wer sind die Snapes?», fragte ich. «Herrje, wach doch auf. Henry und Sally Snape. Unsere Wochenendgäste.» «Ja und?» «Hör zu. Ich habe hier gelegen und daran gedacht, wie grässlich sie sind … er mit seinen Witzen und sie wie eine Turteltaube …» Sie lächelte listig, und aus irgendeinem Grunde hatte ich den Eindruck, sie werde etwas Schockierendes sagen. «Nun – wenn sie sich in unserer Gegenwart so benehmen, wie müssen sie dann erst sein, wenn sie miteinander allein sind?» «Moment mal, Pamela …» «Stell dich nicht so an, Arthur. Ich finde, wir sollten uns heute Abend einen Spaß machen, einen richtigen Spaß.» Sie hatte sich ein wenig aufgerichtet, plötzlich strahlend vor Übermut, den Mund leicht geöffnet, und ich sah in ihren runden grauen Augen zwei kleine Funken tanzen. «Sag doch ja», drängte sie. «Was hast du denn vor?» «Na, das ist doch klar. Kannst du es nicht erraten?» «Nein.» «Wir brauchen nur ein Mikrophon in ihrem Zimmer aufzustellen.» Ich gebe zu, ich war auf einiges vorbereitet, aber dieser Vorschlag brachte mich so aus der Fassung, dass ich einfach keine Worte fand. «Genau das werden wir machen», fügte sie triumphierend hinzu. «Halt!», rief ich. «Nein. Warte einen Augenblick. So was ist doch unmöglich.» «Warum denn?» «Das ist wohl der übelste Streich, von dem ich je gehört habe. Noch viel, viel schlimmer als … als durch Schlüssellöcher sehen oder fremde Briefe lesen. Aber du hast es ja auch nur im Scherz gesagt, nicht wahr?» «O nein. Ich meine es ernst.» Obgleich ich wusste, dass sie keinen Widerspruch vertrug, hielt ich es manchmal für unbedingt notwendig, mich durchzusetzen, selbst auf die Gefahr hin, ihren Zorn zu erregen. «Pamela», stieß ich scharf hervor, «ich verbiete dir, das zu tun!» Sie nahm die Füße vom Sofa und setzte sich auf. «Sag mal, Arthur, was glaubst du eigentlich, wer du bist? Wirklich, ich verstehe dich nicht.» «Das dürfte doch nicht so schwer sein.» «Lächerlich! Ich weiß, dass du schon viel schlimmere Sachen gemacht hast.» «Niemals.» «O doch. Versuch bloß nicht, den Tugendbold zu spielen.» «Aber so etwas habe ich bestimmt noch nie gemacht.» «Nicht so hastig, mein Junge.» Ihr Zeigefinger schnellte auf mich zu wie eine Pistole. «Wie war denn das Weihnachten bei den Milfords? Erinnerst du dich? Du hast dich halb totgelacht, und ich musste dir die Hand auf den Mund legen, damit man uns nicht hörte. Na, was sagst du nun?» «Das war etwas anderes», verteidigte ich mich. «Es war nicht unser Haus. Und es waren nicht unsere Gäste.» «Wo ist da der Unterschied?» Sie saß jetzt sehr gerade, starrte mich mit ihren runden grauen Augen an, und ihr vorgestrecktes Kinn drückte tiefe Verachtung aus. «Lass gefälligst die blöde Heuchelei, Arthur. Was ist denn nur plötzlich in dich gefahren?» «Ganz ehrlich, Pamela, die Sache gefällt mir nicht. Das ist doch eine ausgesprochene Gemeinheit.» «Nun ja, mein Lieber, ich bin eben gemein. Und du auch – im Grunde deines Herzens. Deswegen passen wir ja so gut zusammen.» «Ich habe noch nie so einen Unsinn gehört.» «Aha, du hast dich offenbar plötzlich entschlossen, auf dem Pfad der Tugend zu wandeln. Ja, das ist natürlich etwas anderes.» «Bitte hör auf, so zu reden, Pamela.» «Sieh mal», fuhr sie unbeirrt fort, «wenn du wirklich entschlossen bist, dich zu bessern – was in aller Welt soll dann aus mir werden?» «Du weißt nicht, was du sprichst.» «Arthur, wie könntest du, ein guter Mensch, noch länger mit mir, einem Ekel, zusammenleben wollen?» Ich setzte mich langsam in den Sessel ihr gegenüber, und sie ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Um es noch einmal zu sagen, sie war eine große, stattliche Frau mit einem großen weißen Gesicht, und wenn sie mich so eindringlich anblickte, wurde ich – wie soll ich mich ausdrücken? – gleichsam von ihr umschlossen, von ihr eingehüllt, als wäre ich in einen riesigen Tiegel Hautcreme gefallen. «Du willst das mit dem Mikrophon gar nicht machen, nicht wahr?» «Doch, natürlich. Es wird Zeit, dass wir mal ein bisschen Spaß haben. Komm, komm, Arthur, hab dich nicht so.» «Es ist nicht anständig, Pamela.» «Es ist genauso anständig –» wieder schoss ihr Finger auf mich zu – «genau so anständig wie damals, als du diese Briefe, die du in Mary Proberts Handtasche fandest, von A bis Z gelesen hast.» «Wir hätten das nie tun sollen.» «Wir!» «Du hast sie nach mir gelesen, Pamela.» «Es hat ja niemandem geschadet. Das hast du damals selbst gesagt. Und dies hier ist nicht schlimmer.» «Was würdest du sagen, wenn jemand das mit dir täte?» «Dumme Frage. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Also los, Arthur, sei kein Waschlappen.» «Ich muss mir das überlegen.» «Hat der große Radioingenieur vielleicht vergessen, wie man ein Mikrophon an den Lautsprecher anschließt?» «Das ist das Leichteste von allem.» «Na bitte, worauf wartest du noch?» «Lass mich doch überlegen. Ich sage dir nachher Bescheid.» «Nachher ist es zu spät. Sie können jeden Moment kommen.» «Dann lasse ich’s bleiben. Sollen sie mich etwa auf frischer Tat ertappen?» «Wenn sie kommen, bevor du fertig bist, halte ich sie einfach hier unten auf. Da kann gar nichts passieren. Wie spät ist es überhaupt?» «Kurz vor drei.» «Sie kommen von London», sagte sie, «und sie sind bestimmt nicht vor dem Mittagessen abgefahren. Du hast also reichlich Zeit.» «Welches Zimmer wolltest du ihnen denn geben?» «Das große gelbe am Ende des Flurs. Das ist nicht zu weit weg, nicht wahr?» «Würde gerade noch gehen, denke ich.» «Wo wirst du übrigens den Lautsprecher aufstellen?», erkundigte sie sich. «Ich habe noch gar nicht gesagt, dass ich mitmache.» «Mein Gott!», rief sie. «Dich kann doch jetzt keiner mehr halten. Du solltest dein Gesicht sehen: Es ist rosarot vor Aufregung, und deine Augen leuchten. Stell den Lautsprecher in unser Schlafzimmer, ja? Los, fang an – und beeil dich.» Ich zögerte. Das tat ich immer, wenn sie mich herumkommandierte, statt mich freundlich zu bitten. «Mir ist nicht wohl bei der Sache, Pamela.» Nun sagte sie nichts mehr; sie saß nur da, still und stumm, und sah mich an. Auf ihrem Gesicht lag ein resignierter, wartender Ausdruck, als stünde sie irgendwo Schlange. Ich wusste aus Erfahrung, dass dies ein Gefahrenzeichen war. Sie erinnerte mich an eine dieser Höllenmaschinen, bei denen die Zündung eingestellt ist, und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie – peng! – explodieren würde. In der Stille, die im Zimmer herrschte, konnte ich sie beinahe ticken hören. So stand ich denn schweigend auf und ging in die Werkstatt, um ein Mikrophon und eine Rolle Draht zu holen. Zu meiner Schande muss ich bekennen, dass ich jetzt, seit ich nicht mehr in ihrer Nähe war, eine gewisse Erregung verspürte, ein warmes, prickelndes Gefühl in den Fingerspitzen. Es war nichts Besonderes, wohlgemerkt – überhaupt nicht der Rede wert. Du lieber Himmel, so etwas empfinde ich an jedem Morgen meines Lebens, wenn ich die Zeitung aufschlage und die Kurse der zwei, drei Aktien überprüfe, von denen meine Frau ein größeres Paket besitzt. Dieser alberne Spaß konnte mich wirklich nicht aus der Ruhe bringen. Aber ich freute mich darauf, das will ich nicht leugnen. Ich lief die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, und betrat das gelbe Zimmer am Ende des Flurs. Mit seinem Doppelbett, den Steppdecken aus gelbem Atlas, den blassgelben Wänden und den goldfarbenen Vorhängen hatte es das saubere, unbewohnte Aussehen aller Gästezimmer. Als Erstes hielt ich Umschau nach einem guten Versteck für das Mikrophon. Das war sehr wichtig, denn es durfte ja auf keinen Fall entdeckt werden. Mein Blick fiel auf den Korb mit Brennholz am Kamin. Sollte ich es unter die Scheite legen? Nein – nicht sicher genug. Hinter die Heizung? Auf den Schrank? Unter den Tisch? Keiner dieser Plätze erschien mir günstig. Überall konnte man bei der Suche nach einem verlorengegangenen Kragenknopf oder etwas Ähnlichem auf das Mikrophon stoßen. Schließlich kam mir der überaus kluge Gedanke, es in den Sprungfedern des Sofas zu installieren. Das Sofa stand an der Wand, am Rande des Teppichs, sodass ich den Leitungsdraht unter dem Teppich bis zur Tür legen konnte. Ich kantete das Sofa hoch und schob das Material darunter. Nachdem ich das Mikrophon sorgfältig an den Sprungfedern befestigt hatte – natürlich so, dass die Vorderseite dem Zimmer zugewandt war –, führte ich den Draht unter dem Teppich bis zur Tür. Ich arbeitete ohne Hast und ging sehr vorsichtig zu Werke. Auf der Schwelle, dort, wo der Draht nicht mehr vom Teppich verdeckt wurde, schnitt ich eine schmale Furche in das Holz, sodass er nahezu unsichtbar war. Das alles dauerte natürlich seine Zeit, und als ich auf einmal das Knirschen von Rädern auf dem Kies, das Zuschlagen von Wagentüren und dann die Stimmen unserer Gäste vernahm, hockte ich noch mitten auf dem Flur, wo ich den Draht an der Scheuerleiste befestigte. Mit dem Hammer in der Hand fuhr ich erschrocken hoch, und ich muss gestehen, dass ich von Angst gepackt wurde. Diese Geräusche zerrten gewaltig an meinen Nerven. Ich hatte das gleiche flaue Gefühl in der Magengegend wie damals im Kriege, als ich eines Nachmittags nichtsahnend in der Bibliothek mit meinen Schmetterlingen beschäftigt war und plötzlich am anderen Ende des Dorfes eine Bombe niederging. Reg dich nicht auf, sagte ich mir. Pamela wird schon dafür sorgen, dass diese Leute nicht heraufkommen. Ziemlich nervös machte ich mich wieder an die Arbeit, und bald gelangte ich mit dem Draht in unser Schlafzimmer. Hier war es zwar nicht so wichtig, ihn zu verbergen, aber ich durfte mir wegen der Dienstboten keine Nachlässigkeit erlauben. Ich legte also den Draht unter den Teppich und führte ihn unauffällig zur Rückwand des Radios hinauf. Den Anschluss herzustellen war eine rein technische Frage; ich erledigte das im Handumdrehen. So, fertig! Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete das kleine Radio. Irgendwie schien es sich verändert zu haben – kein alberner Kasten mehr, der Töne hervorbrachte, sondern ein bösartiges kleines Geschöpf, das auf der Tischplatte hockte und sich mit einem Teil seines Körpers heimlich zu einem weit entfernten verbotenen Ort vortastete. Ich schaltete den Apparat ein. Er summte leise, gab aber sonst keine Geräusche von sich. Ich nahm meinen Wecker, der laut tickte, und trug ihn in das gelbe Zimmer, wo ich ihn vor dem Sofa auf den Boden stellte. Dann lief ich zu dem Radiogeschöpf hinüber. Tatsächlich, es tickte so laut, als stünde die Uhr im Zimmer – sogar noch lauter. Ich holte den Wecker zurück, wusch und kämmte mich im Badezimmer, schaffte das Werkzeug fort, und jetzt hinderte mich nichts mehr, die Gäste zu begrüßen. Aber vorher, um mich zu beruhigen und auch, weil ich nicht sozusagen mit bluttriefenden Händen vor ihnen erscheinen wollte, verbrachte ich fünf Minuten bei meiner Schmetterlingssammlung in der Bibliothek. Ich widmete mich einem Glaskasten, der die herrliche Vanessa cardui – die ‹gemalte Dame› – enthielt, und machte mir ein paar Notizen zu einem Vortrag über ‹Beziehungen zwischen Farbmuster und Bau der Flügel›, den ich bei der nächsten Sitzung unseres Vereins in Canterbury zu halten gedachte. Auf diese Weise erlangte ich bald meine gewohnte würdevolle Gelassenheit zurück. Nun ging ich ins Wohnzimmer hinüber. Unsere beiden Gäste, deren Namen ich mir einfach nicht merken konnte, saßen auf dem Sofa. Meine Frau mixte die Drinks. «Ah, da bist du ja, Arthur», rief sie. «Wo hast du denn nur gesteckt?» Ich fand diese Bemerkung höchst überflüssig. «Entschuldigen Sie bitte», sagte ich und schüttelte den Gästen die Hand, «ich habe gearbeitet und darüber die Zeit vergessen.» «Wir wissen genau, was Sie gemacht haben», behauptete das Mädchen und lächelte verschmitzt. «Aber wir verzeihen ihm, nicht wahr, Liebster?» «Ja, ausnahmsweise», antwortete ihr Mann. Ich hatte eine entsetzliche Vision: meine Frau, die ihnen unter schallendem Gelächter haarklein erzählte, was ich oben gemacht hatte. Sie konnte – sie konnte mir das doch nicht angetan haben! Ich blickte mich nach ihr um und sah, dass auch sie lächelte, während sie das Messglas mit Gin füllte. «Es tut mir leid, dass wir Sie gestört haben», sagte das Mädchen. Wenn das ein Scherz sein soll, dachte ich, dann geh lieber gleich darauf ein. Ich zwang mich also, ihr Lächeln zu erwidern. «Aber Sie zeigen uns alles, nicht wahr?», fuhr das Mädchen fort. «Zeigen? Was?» «Ihre Sammlung. Ihre Frau sagt, Sie hätten wunderschöne Exemplare.» Ich ließ mich langsam in einen Sessel sinken und holte tief Luft. Es war lächerlich, so misstrauisch und nervös zu sein. «Interessieren Sie sich für Schmetterlinge?», fragte ich. «Ihre würde ich jedenfalls sehr gern sehen, Mr. Beauchamp.» Die Martinis wurden herumgereicht, und da wir bis zum Dinner noch gute zwei Stunden Zeit hatten, stand einer gemütlichen Unterhaltung nichts im Wege. Unsere Gäste machten einen ausgezeichneten Eindruck; ich fand, dass sie ein reizendes Paar waren. Meine Frau, die aus einer adligen Familie stammt, ist sehr stolz auf ihre Herkunft und Erziehung, und sie neigt dazu, vorschnell über Fremde zu urteilen, die ihre Bekanntschaft suchen – besonders wenn es sich um hochgewachsene Männer handelt. Sie hat häufig recht, aber in diesem Fall war ich fast sicher, dass sie sich geirrt hatte. Im Allgemeinen habe ich auch nichts für hochgewachsene Männer übrig; sie sind meistens anmaßend und besserwisserisch. Aber Henry Snape – meine Frau hatte mir den Namen zugeflüstert – schien ein sympathischer junger Mann mit guten Manieren zu sein, und offenbar war er, wie sich das gehört, bis über die Ohren in Mrs. Snape verliebt. Er sah recht gut aus mit seinem langen Pferdegesicht und den dunkelbraunen Augen, deren Blick sanft und teilnahmsvoll war. Ich beneidete ihn um seinen schönen schwarzen Haarschopf und ertappte mich bei der Überlegung, welches Haarwasser er wohl benutzte. Er erzählte tatsächlich ein paar Witze, aber sie hatten Niveau, und niemand konnte etwas gegen sie einwenden. «In der Schule», berichtete er, «nannten sie mich Scervix. Wissen Sie, warum?» «Nein, keine Ahnung», sagte meine Frau. «Weil unser englisches Wort nape im Lateinischen cervix heißt.» Das war sehr scharfsinnig, und ich musste eine Weile nachdenken, bevor ich die Pointe begriff. «Welche Schule haben Sie besucht, Mr. Snape?», erkundigte sich meine Frau. «Eton», antwortete er, und meine Frau nahm das mit einem beifälligen Nicken zur Kenntnis. Jetzt wird sie sich mit ihm unterhalten, dachte ich und wandte meine Aufmerksamkeit unserem anderen Gast, Sally Snape, zu. Sie war ein reizvolles Mädchen mit Busen. Wäre ich ihr fünfzehn Jahre früher begegnet, so hätte sie mich leicht zu einer Dummheit verleiten können. Nun, wie dem auch sei, ich kam sehr gut mit ihr aus und erzählte ihr von meinen schönen Schmetterlingen. Ich beobachtete sie, während ich sprach, und allmählich gewann ich den Eindruck, dass sie in Wirklichkeit gar nicht so heiter und unbekümmert war, wie ich zuerst geglaubt hatte. Sie schien sich gegen die Außenwelt abzuschließen, als hätte sie ein Geheimnis, das sie sorgsam hütete. Der Blick ihrer tiefblauen Augen huschte zu schnell durch den Raum, blieb nie länger als den Bruchteil einer Sekunde auf einem Gegenstand ruhen, und in ihr Gesicht hatte irgendein Kummer zarte, kaum wahrnehmbare Spuren eingegraben. «Ich freue mich schon auf unser Bridge», sagte ich nach einer Weile, um das Thema zu wechseln. «Wir auch», erwiderte sie. «Wissen Sie, wir spielen fast jeden Abend, weil es uns so viel Spaß macht.» «Sie sind beide äußerst gewandt. Wie kommt es, dass Sie so gut spielen?» «Es ist nur Übung», erklärte sie. «Übung, Übung und nochmals Übung.» «Haben Sie schon mal an einem Turnier teilgenommen?» «Nein, aber Henry möchte so gern, dass wir es tun. Wissen Sie, wenn man allen Ansprüchen genügen will, kostet das sehr viel Mühe. Schrecklich viel Mühe.» Täuschte ich mich, oder schwang in ihrer Stimme tatsächlich eine leise Resignation mit? Ja, dachte ich, das wird es wohl sein: Er treibt sie zu hart an, macht aus dem Vergnügen eine Pflicht, und die Ärmste ist der Sache längst überdrüssig. Um acht Uhr gingen wir, ohne uns umzuziehen, ins Speisezimmer hinüber. Das Dinner war ein Erfolg, und Henry Snape erzählte uns einige sehr komische Geschichten. Er lobte auch mit großer Kennerschaft meinen 34er Richebourg, was mich sehr erfreute. Als schließlich der Kaffee serviert wurde, stellte ich fest, dass mir die beiden jungen Menschen enorm sympathisch waren, und ich empfand ziemliches Unbehagen wegen dieser Geschichte mit dem Mikrophon. Wenn es sich um grässliche Leute gehandelt hätte, wäre alles in Ordnung gewesen, aber der Gedanke, zwei so reizenden jungen Menschen einen solchen Streich zu spielen, rief ein starkes Schuldgefühl in mir hervor. Das soll nicht etwa heißen, dass ich kalte Füße bekam. Ich hielt es durchaus nicht für notwendig, das Unternehmen abzublasen. Ich konnte nur nicht die Vorfreude teilen, die mir meine Frau mit verstohlenem Lächeln und Blinzeln und heimlichem Kopfnicken offenbarte. Gegen halb zehn kehrten wir in heiterer Stimmung und gut gesättigt in das große Wohnzimmer zurück, um unsere Bridgepartie zu beginnen. Da wir um einen ziemlich hohen Einsatz spielten – zehn Shilling auf hundert Punkte –, kamen wir überein, die Familien nicht zu trennen. Ich blieb also die ganze Zeit der Partner meiner Frau. Wir alle nahmen das Spiel ernst – wer es nicht ernst nimmt, soll lieber die Finger davon lassen –, und wir spielten sehr konzentriert. Bis auf die Ansagen wechselten wir kaum ein Wort. Natürlich ging es uns nicht ums Geld. Weiß Gott, meine Frau hatte genug davon und die Snapes anscheinend auch. Aber unter Experten gehört es sozusagen zum guten Ton, dass um einen anständigen Einsatz gespielt wird. An diesem Abend waren die Karten gleichmäßig verteilt, doch meine Frau spielte viel schlechter als sonst, sodass wir dauernd verloren. Ich merkte ihr an, dass sie nicht ganz bei der Sache war, und als es auf Mitternacht ging, achtete sie überhaupt nicht mehr auf ihre Karten. Sie blickte mich immer wieder mit ihren runden grauen Augen an, die Brauen hochgezogen, die Nasenflügel eigenartig gebläht, ein kleines hämisches Lächeln in den Mundwinkeln. Unsere Gegner spielten ausgezeichnet. Ihre Ansagen waren meisterhaft, und während des ganzen Abends machten sie nur einen einzigen Fehler. Das war, als das Mädchen die Karten ihres Partners stark überschätzte und sechs Pik ansagte. Ich verdoppelte, und sie gingen auf drei herunter, was sie achthundert Punkte kostete. Das kann jedem einmal passieren, aber Sally Snape geriet dadurch sehr aus der Fassung, obwohl ihr Mann ihr sofort verzieh, ihr über den Tisch hinweg die Hand küsste und sie bat, sich doch nur nicht aufzuregen. Gegen halb eins verkündete meine Frau, sie wolle jetzt schlafen gehen. «Noch einen Robber», schlug Henry Snape vor. «Nein, Mr. Snape. Ich bin müde. Und Arthur ist auch müde. Ich sehe es ihm an. Machen wir Schluss, das ist für uns alle das Beste.» Sie erhob sich, und wir vier gingen zusammen nach oben. Auf der Treppe wurde, wie es bei solchen Gelegenheiten üblich ist, die Frage des Frühstücks erörtert – was sie haben wollten und wie sie das Mädchen rufen konnten. «Ich glaube, das Zimmer wird Ihnen gefallen», sagte meine Frau. «Man hat dort einen herrlichen Blick auf das Tal, und von zehn Uhr an scheint die Morgensonne herein.» Wir hatten inzwischen den Flur erreicht und blieben vor unserer Schlafzimmertür stehen. Ich betrachtete verstohlen den Draht, den ich am Nachmittag gelegt hatte und der an der Scheuerleiste entlang zum Zimmer unserer Gäste führte. Obwohl er fast die gleiche Farbe hatte wie der Anstrich, sprang er mir förmlich in die Augen. «Gute Nacht», sagte meine Frau. «Schlafen Sie gut, Mrs. Snape. Angenehme Ruhe, Mr. Snape.» Ich folgte ihr in unser Zimmer und riegelte die Tür ab. «Schnell!», rief sie. «Stell es an!» So ist meine Frau immer – besorgt, dass sie irgendetwas verpassen könnte. Bei der Jagd – an der ich nie teilnehme – ist sie stets mit den Hunden vornweg, ohne Rücksicht auf sich selbst und ihr Pferd, damit sie nur ja keinen Abschuss verpasst. Ich sah ihr an, dass sie nicht gesonnen war, diesen hier zu verpassen. Das kleine Radio wurde zeitig genug warm, um die Geräusche beim Öffnen und Schließen der Tür zu übermitteln. «Da! Sie sind hineingegangen.» Meine Frau stand in der Mitte des Zimmers und lauschte gespannt, die Hände über ihrem blauen Kleid gefaltet, den Kopf vorgestreckt. Das große, weiße Gesicht schien sich gestrafft zu haben wie ein Weinschlauch. Im nächsten Augenblick drang die Stimme Henry Snapes aus dem Lautsprecher, stark und klar. «Du bist ein gottverdammter kleiner Idiot», sagte er, und seine Stimme war so anders, als ich sie in Erinnerung hatte, so barsch und unangenehm, dass ich zusammenzuckte. «Der ganze verfluchte Abend zum Teufel! Achthundert Punkte – das wären acht Pfund für uns gewesen!» «Ich bin durcheinandergeraten», antwortete das Mädchen. «Es wird nicht wieder vorkommen, Henry, das verspreche ich dir.» «Was ist das?», flüsterte meine Frau. «Was geht da vor?» Ihr Mund stand jetzt weit offen, und sie zog die Augenbrauen sehr hoch. Sie stürzte zum Radio, beugte sich vor und legte das Ohr an den Lautsprecher. Ich muss zugeben, dass auch ich ziemlich aufgeregt war. «Ich verspreche, ich verspreche, es wird nicht wieder vorkommen», beteuerte das Mädchen. «Versprechungen nützen mir gar nichts», sagte der Mann grimmig. «Wir werden es sofort nochmal üben.» «O nein, bitte! Nicht jetzt! Ich kann einfach nicht mehr.» «So was hab ich gern», knurrte der Mann. «Erst den ganzen Weg hier heraus, um der alten Schachtel ihr Geld abzuknöpfen, und dann vermasselst du mir die Tour.» Diesmal war es meine Frau, die zusammenzuckte. «Und das schon zum zweiten Mal in dieser Woche», fügte er hinzu. «Bestimmt, Henry, es wird nicht wieder vorkommen.» «Setz dich hin. Ich sage an, und du antwortest.» «Nein, Henry, bitte! Nicht alle fünfhundert. Dazu brauchen wir mindestens drei Stunden.» «Na gut, dann lassen wir die Fingerstellungen aus. Ich glaube, die kannst du. Wir machen nur die Grundansagen, die die Honneurs anzeigen.» «Ach, Henry, muss das sein? Ich bin so müde.» «Es ist sehr wichtig, dass du sie bis ins Letzte beherrschst», erwiderte er. «Du weißt doch, wir haben in der nächsten Woche jeden Abend ein Spiel. Wovon soll denn der Schornstein sonst rauchen?» «Was ist das?», keuchte meine Frau. «Was in aller Welt ist das?» «Pst», zischte ich. «Hör zu!» «Also los», sagte die Stimme des Mannes. «Von Anfang an. Fertig?» «Ach, Henry, bitte!» Sie schien den Tränen nahe zu sein. «Vorwärts, Sally, reiß dich zusammen.» Und dann sagte Henry Snape mit völlig veränderter Stimme – mit der, die wir im Wohnzimmer gehört hatten: «Ein Kreuz.» Mir fiel auf, dass er das Wörtchen ‹ein› stark betonte und es eigenartig gedehnt, fast singend aussprach. «Kreuz-Ass und Kreuz-Dame», antwortete das Mädchen müde. «Pik-König und Pik-Bube. Kein Herz. Karo-Ass und Karo-Bube.» «Und wie viele Karten zu jeder Farbe? Achte gefälligst auf meine Fingerstellung.» «Die wollten wir doch auslassen, hast du gesagt.» «Nun – wenn du dir ganz sicher bist, dass du sie kannst …» «Ja, ich kann sie.» Eine Pause. Dann: «Ein Kreuz.» «Kreuz-König und Kreuz-Bube», zählte das Mädchen auf, «Pik-Ass. Herz-Dame und Herz-Bube. Karo-Ass und Karo-Dame.» Wieder eine Pause. Dann: «Ich sage ein Kreuz.» «Kreuz-Ass und Kreuz-König …» «Herr des Himmels!», rief ich. «Das ist ein Code! Er gibt ihr jede Karte bekannt, die er in der Hand hat.» «Arthur, das kann doch nicht sein?» «Es ist wie bei diesen Männern im Varieté, die in den Zuschauerraum gehen und sich von irgendwem etwas geben lassen. Die Art, wie sie ihre Fragen formulieren, verrät dem Mädchen, das mit verbundenen Augen auf der Bühne steht, ganz genau, um was es sich handelt – wenn es ein Eisenbahnbillet ist, nennt sie sogar die Station, auf der es gelöst wurde.» «Das ist doch unmöglich!» «Keineswegs. Aber es kostet unendliche Mühe, das alles zu lernen. Hör zu!» «Ich biete ein Herz «, sagte die Stimme des Mannes. «Herz-König, Herz-Dame und Herz-Zehn. Pik-Ass und Pik-Bube. Kein Karo. Kreuz-Dame und Kreuz-Bube …» «Außerdem», erklärte ich, «teilt er ihr die Anzahl der Karten jeder Farbe durch die Stellung seiner Finger mit.» «Wie?» «Keine Ahnung. Aber du hast ja gehört, dass er davon sprach.» «Mein Gott, Arthur! Bist du sicher, dass es so ist?» «Ich fürchte, ja.» Ich beobachtete, wie meine Frau zu ihrem Nachttisch ging, um sich eine Zigarette zu holen. Sie zündete sie an, drehte sich dann mit einem Ruck zu mir um und blies einen dünnen Rauchstrahl in die Luft. Mir war klar, dass wir irgendetwas unternehmen mussten, aber ich wusste nicht, was. Wir konnten ja die Snapes nicht beschuldigen, ohne zugleich unsere Informationsquelle preiszugeben. Ich wartete auf die Entscheidung meiner Frau. «Du, Arthur», sagte sie langsam und blies eine Rauchwolke aus, «das ist eine phantastische Sache. Glaubst du, dass wir das lernen könnten?» «Wir?» «Natürlich. Warum nicht?» «Halt! Nein! Hör mal, Pamela …» Aber da kam sie schon mit schnellen Schritten geradewegs auf mich zu, blieb vor mir stehen, senkte den Kopf und blickte auf mich herab. Um ihre Mundwinkel spielte der vertraute Anflug eines Lächelns, das keines war, die Nase krauste sich, die großen, runden grauen Augen starrten mich mit ihren glänzenden schwarzen Pupillen an, und dann wurden sie ganz grau, und alles Übrige war weiß, von vielen roten Äderchen durchzogen. Und als sie mich so ansah, streng und aus nächster Nähe – also ich schwöre, dass mir zumute war wie einem Ertrinkenden. «Ja», sagte sie. «Warum nicht?» «Aber Pamela … Du meine Güte … Nein … Schließlich …» «Arthur, ich wollte wirklich, du würdest mir nicht dauernd widersprechen. Genau das werden wir tun. Los, hol ein Spiel Karten; wir fangen sofort an.» Einsatz Am Morgen des dritten Tages beruhigte sich das Meer. Selbst die empfindlichsten Passagiere – jene, die sich seit der Abfahrt kein einziges Mal hatten blicken lassen – tauchten aus ihren Kabinen auf und wankten aufs Sonnendeck. Der Decksteward gab ihnen Liegestühle und packte sie warm ein, und so lagen sie einer neben dem anderen in langen Reihen, das Gesicht der blassen, fast kühlen Januarsonne zugewandt. Nach zwei recht stürmischen Tagen hatte diese plötzliche Ruhe etwas so Tröstliches, dass sich die allgemeine Stimmung beträchtlich hob. Zwölf Stunden guten Wetters erfüllten die Passagiere mit neuer Zuversicht, und um acht Uhr abends war der Hauptspeisesaal voller Menschen, die mit der selbstsicheren und selbstzufriedenen Miene abgehärteter Seeleute aßen und tranken. Sie hatten ihre Mahlzeit noch nicht beendet, als sie an einer leichten Reibung zwischen sich und den Stuhlsitzen merkten, dass das große Schiff von neuem zu schlingern begann. Zuerst war es nur ein langsames, sanftes Wiegen, aber es genügte, die Atmosphäre im Saal sofort zu verändern. Einige Passagiere blickten von ihren Tellern auf, zögerten weiterzuessen, warteten, ja lauschten beinahe auf das nächste Schlingern und lächelten nervös, einen Schimmer heimlicher Angst in den Augen. Andere blieben völlig ungerührt, wieder andere behaupteten prahlerisch, gegen die Seekrankheit immun zu sein, und machten Witze über das Essen und das Wetter, um diejenigen zu quälen, die sich bereits elend fühlten. Die Bewegungen des Schiffes wurden immer schneller, immer heftiger, und schon fünf oder sechs Minuten nach dem ersten Schlingern rollte es schwer von einer Seite auf die andere. Die Passagiere versteiften sich in ihren Stühlen und versuchten, wie in einem Auto, das eine Kurve nimmt, den Druck durch Gegendruck unwirksam zu machen. Dann kamen die ersten sehr starken Stöße. Mr. William Botibol, der am Tisch des Zahlmeisters saß, sah seinen Teller mit gekochtem Steinbutt und holländischer Soße plötzlich unter der Gabel weggleiten. Die Unruhe der Passagiere nahm zu, jeder griff nach Tellern und Weingläsern. Mrs. Renshaw schrie auf und umklammerte den Arm des Zahlmeisters, ihres Nachbarn zur Linken. «Wird ’ne schlimme Nacht werden», meinte der Zahlmeister und blickte Mrs. Renshaw an. «Ich glaube, da braut sich etwas zusammen.» In seiner Stimme schwang eine Spur von Schadenfreude mit. Ein Steward eilte herbei und befeuchtete das Tischtuch zwischen den Tellern mit Wasser. Die Aufregung legte sich, die meisten Passagiere aßen weiter. Ein paar, unter ihnen auch Mrs. Renshaw, erhoben sich vorsichtig und steuerten mit einer Art unauffälliger Hast zwischen den Tischen hindurch auf die Tür zu. «Hm», sagte der Zahlmeister. «Da geht sie hin.» Er blickte beifällig auf diejenigen seiner Herde, die ruhig sitzen geblieben waren und unverhohlen den selbstgefälligen Stolz zur Schau trugen, den Passagiere darin zu setzen scheinen, als seefest zu gelten. Nach dem Essen wurde der Kaffee serviert. Mr. Botibol, der ungewöhnlich ernst und nachdenklich geworden war, stand auf, nahm seine Tasse und ging um den Tisch herum zu Mrs. Renshaws leerem Platz. Er setzte sich, beugte sich zu dem Zahlmeister und sagte in eindringlichem Flüsterton: «Ach bitte, dürfte ich Sie wohl etwas fragen?» Der Zahlmeister, klein, dick und rotgesichtig, wandte sich ihm zu. «Na, wo fehlt’s denn, Mr. Botibol?» «Die Sache ist so …» Seine Miene war, wie der Zahlmeister feststellte, äußerst besorgt. «Ich würde gern wissen, ob der Kapitän schon die Strecke berechnet hat, die das Schiff bis morgen Mittag zurücklegen wird – für die Tageswette, verstehen Sie? Ich meine, ob er’s getan hat, bevor es so auffrischte.» Der Zahlmeister, der irgendeine vertrauliche Mitteilung privater Natur erwartet hatte, lächelte und lehnte sich zurück, um seinen vollen Bauch zu entspannen. «Das möchte ich eigentlich annehmen», erwiderte er. Obwohl er fand, dass kein Grund zum Flüstern vorlag, senkte er – wie immer, wenn man ein Flüstern beantwortet – unwillkürlich die Stimme. «Und wann, glauben Sie, hat er die Strecke berechnet?» «Irgendwann am Nachmittag. Das ist so seine übliche Zeit.» «Um wie viel Uhr etwa?» «Ach, ich weiß nicht. So gegen vier, würde ich sagen.» «Nun verraten Sie mir noch etwas. Wie kommt der Kapitän zu dem jeweiligen Ergebnis? Macht er deswegen viel Umstände?» Der Zahlmeister betrachtete lächelnd Mr. Botibols sorgenvolle Miene. Er wusste genau, worauf der Mann hinauswollte. «Nun, der Kapitän bespricht sich mit dem Navigationsoffizier, sie studieren die Wetterlage, berücksichtigen auch noch so manches andere und ziehen aus alledem ihre Schlüsse.» Mr. Botibol nickte und grübelte über diese Antwort nach. Dann sagte er: «Glauben Sie, der Kapitän hat gewusst, dass sich das Wetter heute Abend verschlechtern würde?» «Da fragen Sie mich zu viel, Mr. Botibol.» Der Zahlmeister blickte in die kleinen schwarzen Augen seines Nachbarn und sah, dass Fünkchen der Erregung in ihnen tanzen. «Wirklich, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.» «Wenn der Sturm noch stärker wird, wäre es vielleicht günstig, eine niedrige Nummer zu ersteigern, nicht wahr?» Das Flüstern war jetzt noch eindringlicher, noch besorgter. «Kann schon sein», meinte der Zahlmeister. «Ich bezweifle, dass der Alte mit einer wirklich stürmischen Nacht gerechnet hat. Heute Nachmittag deutete ja noch nichts darauf hin.» Die anderen am Tisch waren verstummt und suchten dem Gespräch zu folgen. Sie sahen den Zahlmeister mit jenem starren, gleichsam angespannt lauschenden Blick an, den manche Leute auf der Rennbahn haben, wenn sich in ihrer Nähe ein Trainer über die Chancen seiner Pferde verbreitet: leichtgeöffnete Lippen, hochgezogene Augenbrauen, vorgestreckter, ein wenig zur Seite geneigter Kopf – der selbstvergessene, fast entrückte Blick eines Menschen, der etwas aus erster Quelle erfährt. «Angenommen, Sie dürften mitmachen – auf welche Zahl würden Sie heute setzen?», flüsterte Mr. Botibol. «Ich kenne die Eckzahlen noch nicht», antwortete der Zahlmeister geduldig. «Die werden ja erst nach dem Dinner, unmittelbar vor Beginn der Versteigerung bekanntgegeben. Außerdem verstehe ich nicht viel davon. Ich bin nur der Zahlmeister, wissen Sie.» Mr. Botibol erhob sich. «Entschuldigen Sie mich», murmelte er und ging vorsichtig über den schwankenden Fußboden. Auf seinem Weg zwischen den Tischen hindurch musste er sich zweimal an einer Stuhllehne festhalten, um bei dem Schlingern des Schiffes nicht das Gleichgewicht zu verlieren. «Zum Sonnendeck, bitte», sagte er zu dem Fahrstuhlführer. Der Wind schlug ihm hart ins Gesicht, als er auf das offene Deck hinaustrat. Mit unsicheren Schritten erreichte er die Reling, und dort blieb er, krampfhaft festgeklammert, eine Weile stehen, um das Meer zu betrachten, auf das die Nacht herniedersank. Hoch schwollen die großen Wogen an und warfen sich gischtsprühend, weißen Pferden gleich, gegen den Sturm. «Ziemlich bewegt draußen, nicht wahr, Sir?», sagte der Fahrstuhlführer, als sie hinunterfuhren. Mr. Botibol glättete sein zerzaustes Haar mit einem kleinen roten Kamm. «Glauben Sie, dass wir wegen des Wetters die Geschwindigkeit herabgesetzt haben?», fragte er. «Aber ja, Sir, gewiss. Wir sind beträchtlich runtergegangen, als es anfing. Das muss sein, schon damit uns die Passagiere nicht durcheinanderpurzeln.» Im Rauchsalon versammelten sich die Leute bereits zur Versteigerung. Sie nahmen mit höflicher Zurückhaltung an den Tischen Platz, die Männer im Smoking, ein wenig steif, mit etwas zu scharf rasierten rosigen Wangen, und neben ihnen ihre kühlen, weißarmigen Frauen. Mr. Botibol setzte sich auf einen Stuhl in unmittelbarer Nähe des Auktionators. Er schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und lehnte sich zurück – alles mit der verbissenen Miene eines Mannes, der eine gewaltige Entscheidung getroffen hat und sich um keinen Preis einschüchtern lassen will. Der Gesamteinsatz, sagte er sich, wird rund siebentausend Dollar betragen. So hoch war er auch in den letzten beiden Tagen gewesen, und die einzelnen Nummern hatten zwischen drei- und vierhundert Dollar gekostet. Da es ein britisches Schiff war, rechnete man in Pfunden, aber bei seinen Überlegungen bevorzugte er die heimatliche Währung. Siebentausend Dollar – mein Gott, das war eine Menge Geld! Er würde es sich in Hundertdollarnoten auszahlen lassen und die Scheine in die Innentasche seines Jacketts stecken, wenn er an Land ging. Gar kein Problem. Und dann, ja dann würde er sofort ein Lincoln-Cabriolet kaufen. Gleich nach der Ankunft würde er den Wagen kaufen und in ihm nach Haus fahren – nur um des Vergnügens willen, Ethels Gesicht zu sehen, wenn sie aus der Haustür trat und ihn in dem neuen Wagen erblickte. Na, wäre das vielleicht nichts, Ethels Gesicht zu sehen, wenn er in einem funkelnagelneuen hellgrünen Lincoln-Cabriolet vorfuhr! Hallo, Ethel, Süße, würde er ganz lässig sagen, ich hab mir gedacht, ich bringe dir ein kleines Geschenk mit. Weißt du, er stand im Schaufenster, als ich vorbeikam, und da fiel mir auf einmal ein, dass du dir immer schon einen gewünscht hast. Gefällt er dir, Süße?, würde er fragen. Gefällt dir die Farbe? Und dabei würde er ihr Gesicht beobachten. Jetzt erhob sich der Auktionator. «Meine Damen und Herren!», rief er. «Der Kapitän hat die Strecke, die das Schiff bis morgen Mittag durchfahren wird, auf fünfhundertfünfzehn Meilen veranschlagt. Wie üblich werden wir die Eckzahlen um zehn höher beziehungsweise tiefer ansetzen, sodass die Spielskala von fünfhundertfünf bis fünfhundertfünfundzwanzig reicht. Für den, der glaubt, die richtige Zahl liege weiter nach oben oder nach unten, gibt es natürlich noch das ‹obere Feld› und das ‹untere Feld›, die beide gesondert versteigert werden. Also, wir ziehen die erste Nummer aus dem Hut … Hier … Fünfhundertzwölf?» Im Salon wurde es still. Die Menschen saßen regungslos auf ihren Stühlen, alle Augen waren auf den Auktionator gerichtet. Eine gewisse Spannung lag in der Luft, und sie wuchs mit jedem Betrag, der genannt wurde. Hier handelte es sich nicht mehr um ein Spiel oder einen Spaß; das verriet schon die Art, wie jemand, der überboten worden war, seinen Widersacher musterte – lächelnd zwar, aber nur mit den Lippen lächelnd, während die Augen wachsam und völlig kalt blieben. Nummer fünfhundertzwölf wurde bei einhundertzehn Pfund zugeschlagen. Die nächsten drei, vier Nummern brachten etwa das Gleiche ein. Das Schiff schlingerte und stampfte. Jedes Mal wenn es überkrängte, knackte die Holztäfelung an den Wänden, als wollte sie bersten. Die Passagiere hielten sich an den Sessellehnen fest und konzentrierten sich auf die Versteigerung. «Unteres Feld!», rief der Auktionator. «Wir kommen jetzt zum unteren Feld.» Mr. Botibol richtete sich auf. Sehr gerade, sehr steif saß er jetzt da. Er hatte beschlossen zu warten, bis niemand mehr bieten wollte; dann würde er einsteigen und das letzte Gebot machen. Seiner Berechnung nach musste er noch mindestens fünfhundert Dollar auf der Bank haben, wahrscheinlich sogar etwas mehr. Das waren gut und gern zweihundert Pfund. Höher würde bei dieser Nummer bestimmt niemand gehen. «Wie Sie alle wissen», sagte der Auktionator, «umfasst das untere Feld jede Zahl, die tiefer liegt als die untere Eckzahl, in diesem Fall jede Zahl unter fünfhundertfünf. Wenn Sie also meinen, das Schiff wird in den vierundzwanzig Stunden von heute Mittag bis morgen Mittag weniger als fünfhundertfünf Meilen zurücklegen, dann sollten Sie versuchen, sich diese Nummer zu sichern. Nun, wer bietet?» Die Gebote stiegen sofort auf einhundertdreißig Pfund. Mr. Botibol schien nicht der Einzige zu sein, der bemerkt hatte, dass schlechtes Wetter war. Einhundertvierzig … fünfzig … Dann nichts mehr. Der Auktionator hob den Hammer. «Einhundertfünfzig zum Ersten …» «Sechzig!», rief Mr. Botibol. Jedes Gesicht im Saal wandte sich ihm zu und starrte ihn an. «Siebzig!» «Achtzig!», rief Mr. Botibol. «Neunzig!» «Zweihundert!», rief Mr. Botibol. Um nichts in der Welt hätte er jetzt aufgehört. Eine Pause trat ein. «Bietet jemand mehr als zweihundert Pfund?» Sitz still, ermahnte er sich. Sitz ganz still und sieh nicht hoch. Es bringt Unglück, wenn du hochsiehst. Halt die Luft an. Niemand überbietet dich, solange du die Luft anhältst. «Zweihundert Pfund zum Ersten …» Der Auktionar hatte einen kahlen rosigen Schädel, auf dem kleine Schweißperlen glitzerten. «Zum Zweiten …» Mr. Botibol hielt die Luft an. «Und … zum Dritten!» Der Hammer fiel auf den Tisch. Mr. Botibol schrieb einen Scheck aus und überreichte ihn dem Assistenten des Auktionators. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, um das Ende abzuwarten. Er konnte doch nicht zu Bett gehen, bevor er wusste, wie viel der Gesamteinsatz betrug. Als die Versteigerung beendet war, zählte man das Geld und kam auf zweitausendeinhundert und einige Pfund. Das waren ungefähr sechstausend Dollar. Neunzig Prozent der Summe gingen an den Gewinner, zehn Prozent an eine Stiftung für Seeleute. Neunzig Prozent von sechstausend waren fünftausendvierhundert. Nun – das genügte. Er konnte den Lincoln kaufen und behielt sogar noch etwas übrig. Mit diesem erfreulichen Gedanken ging Mr. Botibol glücklich und erwartungsfroh in seine Kabine. Als er am nächsten Morgen erwachte, blieb er einige Minuten mit geschlossenen Augen liegen, um dem Tosen des Sturmes, dem Krachen und Knarren des schlingernden Schiffes zu lauschen. Kein Sturm war zu hören, kein Krachen, kein Knarren. Das Schiff schlingerte nicht. Er sprang aus dem Bett und lugte durch das Bullauge. Das Meer – o Gott – war spiegelglatt. Das große Schiff durchfurchte die See mit voller Kraft und holte offensichtlich die während der Nacht verlorene Zeit auf. Mr. Botibol drehte sich um und ließ sich langsam auf den Rand der Koje sinken. Ein leichtes Angstgefühl löste prickelnde elektrische Ströme in seiner Magengegend aus. Es war hoffnungslos. Natürlich würde jetzt eine der höheren Nummern gewinnen. «Ach mein Gott», stöhnte er. «Was soll ich bloß tun?» Was würde Ethel sagen? Es war einfach unmöglich, ihr zu gestehen, dass nahezu alles, was er in zwei Jahren erspart hatte, für einen Wettschein draufgegangen war. Ebenso unmöglich war es, ihr die Sache zu verheimlichen, denn wie sollte er sie hindern, weiterhin Schecks auszuschreiben? Und was war mit den monatlichen Raten für den Fernsehapparat und die Encyclopaedia Britannica? Er sah schon den Zorn und die Verachtung in dem Blick seiner Frau: Immer wenn sie in Wut geriet, verengten sich ihre Augen, und das Blau wurde grau. «Ach, mein Gott. Was soll ich bloß tun?» Eines war sicher: Er hatte nicht die geringste Chance – es sei denn, das verdammte Schiff finge an, rückwärts zu laufen. Ja, wenn jemand den Kahn mit voller Kraft zurücklaufen ließe – das wäre die einzige Möglichkeit, doch noch zu gewinnen. Ob man vielleicht den Kapitän dazu überreden konnte? Mit dem Versprechen, ihm zehn Prozent des Gewinns abzutreten? Oder auch mehr, falls ihm das zu wenig war? Mr. Botibol begann zu kichern. Und dann hielt er plötzlich inne. Seine Augen und sein Mund öffneten sich weit in einem geradezu entsetzten Erstaunen: Wie ein Blitz, jäh und unerwartet, hatte ihn ein Gedanke durchzuckt, ein unerhört kühner Gedanke. Wieder sprang er aufgeregt aus dem Bett und lief zum Bullauge, um hinauszuschauen. Nun ja, dachte er, warum nicht? Warum eigentlich nicht? Die See war ruhig; es würde ihm nicht schwerfallen, so lange im Wasser herumzuschwimmen, bis sie ihn herauszogen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, so etwas sei irgendwann, irgendwo schon einmal passiert, aber das sollte ihn nicht davon abhalten, es zu wiederholen. Das Schiff würde stoppen und ein Rettungsboot zu Wasser lassen, das sicherlich eine halbe Meile zurückfahren musste, um ihn aufzufischen. Rechnete man noch den Rückweg zum Schiff dazu und die Zeit, die benötigt wurde, das Boot an Bord zu hieven, dann dauerte die Geschichte mindestens eine Stunde. Eine Stunde entsprach etwa dreißig Meilen. Das Schiff würde also dreißig Meilen weniger laufen. Das genügte auf jeden Fall, die Tagesleistung in das ‹untere Feld› zu verlagern. Er musste nur dafür sorgen, dass jemand ihn über Bord fallen sah – nun, das ließ sich mühelos arrangieren. Und es war ratsam, sich leicht anzuziehen, damit ihn beim Schwimmen nichts behinderte. Sportkleidung, ja, das war gut. Ein Hemd, Shorts und Tennisschuhe – als ob er Decktennis spielen wollte. Und seine Uhr würde er in der Kabine lassen. Wie spät war es? Viertel nach neun. Je eher, desto besser. Geh gleich ran, dann hast du es hinter dir. Viel Zeit bleibt dir sowieso nicht mehr, denn um zwölf Uhr mittags läuft die Frist ab. Mr. Botibol war ängstlich und aufgeregt, als er in seiner Sportkleidung auf das Sonnendeck trat. Sein kleiner Körper mit den breiten Hüften und den unverhältnismäßig schmalen, abfallenden Schultern erinnerte – zumindest in der Form – an einen Schiffspoller. Die dünnen weißen Beine waren mit schwarzen Haaren bedeckt. Vorsichtig, fast unhörbar in seinen Tennisschuhen, ging er über das Deck und blickte nervös um sich. Nur eine ältere Frau mit sehr dicken Fußknöcheln und einem gewaltigen Hinterteil war zu sehen; sie lehnte an der Reling und schaute auf das Meer. Der Kragen ihres Persianermantels war hochgeschlagen, sodass Mr. Botibol ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Er blieb stehen und betrachtete sie aufmerksam aus einiger Entfernung. Ja, sagte er sich, sie ist wahrscheinlich geeignet. Sie wird vermutlich genauso schnell Alarm schlagen wie jeder andere. Aber warte einen Augenblick. Lass dir Zeit, William Botibol, lass dir Zeit. Weißt du noch, was du dir eben in der Kabine geschworen hast? Weißt du es noch? Mr. Botibol – von jeher und in allem auf äußerste Sicherheit bedacht – war nicht gewillt, tausend Meilen vom nächsten Ufer entfernt ohne entsprechende Vorsichtsmaßnahmen in den Ozean zu springen. Er war noch keineswegs davon überzeugt, dass die Frau an der Reling unbedingt und auf jeden Fall Alarm schlagen würde, wenn er über Bord sprang. Seiner Meinung nach gab es zwei mögliche Gründe, aus denen sie ihn im Stich lassen konnte. Erstens war sie vielleicht taub oder blind. Für sehr wahrscheinlich hielt er das zwar nicht, aber es war immerhin denkbar, und warum sollte er etwas riskieren? Nun, um das herauszufinden, brauchte er sich vorher nur einen Augenblick mit ihr zu unterhalten. Zweitens – und das zeigte, in welchem Maße Selbsterhaltungstrieb und Angst das Misstrauen fördern – zweitens war ihm der Gedanke gekommen, dass die Frau vielleicht eine der höheren Nummern aus der Versteigerung besaß und somit einen triftigen finanziellen Grund hatte, keine Fahrtunterbrechung zu wünschen. Es gab Menschen, die schon für weit weniger als sechstausend Dollar einen anderen getötet hatten. Das war nichts Neues, so etwas konnte man jeden Tag in der Zeitung lesen. Warum also sollte sich Mr. Botibol auf ein Wagnis einlassen? Überzeuge dich erst einmal, dass alles seine Richtigkeit hat. Vergewissere dich. Fange eine kleine höfliche Unterhaltung mit der Frau an. Wenn sich herausstellt, dass sie nett und gutartig ist, brauchst du nichts zu befürchten und kannst leichten Herzens über Bord springen. Mr. Botibol näherte sich wie zufällig der Frau und blieb neben ihr an der Reling stehen. «Guten Morgen», grüßte er freundlich. Sie drehte sich um. «Guten Morgen», antwortete sie mit einem Lächeln, das ihrem an sich völlig reizlosen Gesicht etwas erstaunlich Gewinnendes gab und es fast schön erscheinen ließ. Damit, sagte sich Mr. Botibol, wäre die erste Frage geklärt. Sie ist weder blind noch taub. Also weiter im Text. «Wie fanden Sie denn gestern Abend die Versteigerung?», erkundigte er sich. «Versteigerung?» Sie runzelte die Stirn. «Versteigerung? Was für eine Versteigerung?» «Na, Sie wissen doch, diese blöde Sache, die jeden Abend nach dem Dinner im Salon veranstaltet wird. Die Tageswette. Ich hätte gern mal Ihre Meinung darüber gehört.» Sie schüttelte den Kopf, wieder mit einem netten, sympathischen Lächeln, das diesmal ein wenig entschuldigend war. «Ich bin sehr faul», gestand sie. «Ich gehe immer früh zu Bett. Ich esse im Bett Abendbrot. Es ist so beruhigend, wenn man im Bett Abendbrot isst.» Mr. Botibol lächelte ebenfalls und rückte langsam von ihr ab. «Muss jetzt gehen und meine Übungen machen», sagte er. «Ich fange den Tag immer mit ein paar Übungen an. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ein sehr großes Vergnügen …» Er ging etwa zehn Schritte, ohne dass sich die Frau nach ihm umschaute. Alles war jetzt in bester Ordnung. Die See war ruhig, er war leicht angezogen, es gab mit größter Wahrscheinlichkeit keine menschenfressenden Haie in diesem Teil des Atlantiks, und die freundliche alte Dame würde Alarm schlagen. Nur eine Frage war noch offen: Konnte er das Schiff so lange aufhalten, dass ihm die Verzögerung wirklich zum Vorteil gereichte? Ja, das war so gut wie sicher. Außerdem hatte er es in der Hand, das Rettungsmanöver ein wenig auszudehnen, beispielsweise indem er dafür sorgte, dass sie ihn nicht gleich beim ersten Versuch herausfischten. Ein bisschen hin und her schwimmen, unauffällig zurückweichen, wenn sie sich ihm näherten, um ihn ins Boot zu ziehen … Jede gewonnene Minute würde ihm zustatten kommen. Er trat wieder an die Reling, aber plötzlich packte ihn eine neue Furcht. Wenn er nun in die Schiffsschraube geriet? Er hatte von Leuten gehört, denen das passiert war, als sie über Bord fielen. Ach was, er würde ja nicht fallen, sondern springen. Das war etwas ganz anderes. Er musste nur weit genug springen, dann entging er der Schraube bestimmt. Mr. Botibol schritt gemächlich an der Reling entlang, bis er etwa zwanzig Meter von der Frau entfernt war. Sie schaute nicht zu ihm herüber. Umso besser. Er legte keinen Wert darauf, dass sie sah, wie er sprang. Wenn es keine Augenzeugen gab, konnte er später ohne weiteres sagen, er sei ausgerutscht und habe das Gleichgewicht verloren. Er blickte an der Schiffswand hinunter. Tief, sehr tief würde er fallen. Und nun, bei näherer Überlegung, wurde ihm auch klar, wie leicht er sich verletzen konnte, wenn er flach auf das Wasser aufschlug. Wer hatte sich doch gleich bei einem Bauchklatscher vom hohen Sprungbrett den Leib aufgerissen? Er musste also beim Springen auf seine Haltung achten. Kerzengerade, Füße voran. Jawohl. Das graue Wasser schien so kalt, so tief zu sein, dass ihn ein Schauer überlief, als er es betrachtete. Aber jetzt oder nie. Sei ein Mann, William Botibol, sei ein Mann. Also dann … jetzt … los geht’s … Er kletterte auf die breite Reling, hielt sich dort oben drei schreckliche Sekunden im Gleichgewicht, und dann sprang er – er sprang so hoch und so weit, wie er nur konnte, und zugleich schrie er: «Hilfe!» «Hilfe! Hilfe!», schrie er, während er fiel. Und schon verschwand er im Wasser. Als der erste Hilferuf ertönte, zuckte die Frau an der Reling zusammen, hob rasch den Kopf, schaute umher und sah den kleinen Mann in weißen Shorts, weißem Hemd und Tennisschuhen mit ausgebreiteten Armen und laut kreischend durch die Luft segeln. Einen Augenblick lang schien sie zu überlegen, was sie tun sollte: Einen Rettungsring werfen, weglaufen und Alarm schlagen oder sich einfach umdrehen und schreien. Sie trat einen Schritt von der Reling zurück und wandte sich halb um, sodass sie mit dem Gesicht zur Kommandobrücke stand. So verharrte sie einige Sekunden, regungslos, angespannt, unentschlossen. Gleich darauf hatte sie den Schock überwunden, beugte sich über die Reling und spähte angestrengt ins Wasser, dorthin, wo es von den Schiffsschrauben aufgewühlt wurde. Ein winziger runder schwarzer Kopf tauchte aus dem Schaum, ein Arm hob sich, winkte ein-, zweimal äußerst heftig, und eine schwache, ferne Stimme rief irgendetwas Unverständliches. Die Frau beugte sich noch weiter vor und versuchte, den auf und ab tanzenden schwarzen Punkt im Auge zu behalten, aber bald, sehr bald war er so klein geworden, dass sie nicht genau wusste, ob er überhaupt noch da war. Nach einer Weile kam eine zweite Frau an Deck. Sie war mager, hatte eckige Bewegungen und trug eine Hornbrille. Als ihr Blick auf die Frau an der Reling fiel, ging sie mit dem festen, militärischen Schritt alter Jungfern auf sie zu. «Hier bist du also», sagte sie. Die Frau mit den dicken Knöcheln fuhr herum und sah sie an, erwiderte aber nichts. «Ich habe dich gesucht», fügte die Magere hinzu. «Überall habe ich dich gesucht.» «Merkwürdig», murmelte die Frau mit den dicken Knöcheln. «Da ist eben ein Mann über Bord gesprungen. Mit allen Kleidern.» «Unsinn!» «Doch, doch. Er sagte, er wollte seine Übungen machen, und sprang ins Wasser, ohne sich auszuziehen.» «Komm jetzt mit nach unten», befahl die magere Frau. Ihre Lippen waren plötzlich schmal geworden, ihr Gesicht hatte einen strengen, wachsamen Ausdruck, und sie sprach weniger freundlich als zuvor. «Und dass du mir nicht wieder allein an Deck gehst. Du weißt sehr gut, dass du auf mich warten sollst.» «Ja, Maggie», antwortete die Frau mit den dicken Knöcheln, und wieder lächelte sie ihr zartes, vertrauensvolles Lächeln. Sie nahm die Hand der anderen und ließ sich fortführen. «So ein netter Mann», sagte sie. «Er hat mir zugewinkt.» Der rasende Foxley Seit sechsunddreißig Jahren fahre ich fünfmal in der Woche mit dem Zug um acht Uhr zwölf in die Stadt. Er ist nie übermäßig voll, und von seiner Endstation, dem Bahnhof Cannon Street, habe ich nur noch elf und eine halbe Minute bis zu meinem Büro in Austin Friars zu gehen. Ich bin schon immer gern mit der Vorortbahn gefahren; diese kleine Reise bereitet mir in jeder ihrer Phasen Vergnügen, und ihr geregelter Ablauf ist für mich, einen Mann von festen Gewohnheiten, angenehm und beruhigend. Außerdem dient mir die Fahrt als eine Art Rutschbahn, auf der ich sanft, aber sicher in das Wasser der täglichen Pflichten gleite. Unsere Station ist ein kleiner Landbahnhof, und morgens finden sich dort höchstens zwanzig Leute ein, um auf den Achtuhrzwölf zu warten. Wir bilden eine Gruppe, deren Zusammensetzung sich selten ändert, und wenn gelegentlich ein neues Gesicht auf dem Bahnsteig erscheint, läuft eine kleine Protestwelle durch die Reihen – wie in einem Käfig voller Kanarienvögel, in dem ein neuer Mitbewohner aufgetaucht ist. Aber im Allgemeinen sind wir unter uns, wenn ich morgens vier Minuten vor Abfahrt des Zuges eintreffe; sie stehen auf ihren gewohnten Plätzen, diese guten, soliden, verlässlichen Leute, mit den gewohnten Regenschirmen, Hüten, Krawatten und Gesichtern, die Zeitung unter dem Arm, jahraus, jahrein so unverändert und unveränderlich wie die Möbel in meinem Wohnzimmer. Ich schätze das. Ich schätze auch meinen Fensterplatz, auf dem ich beim ratternden Rollen des Zuges die Times lese. Dieser Teil der Fahrt dauert zweiunddreißig Minuten, und er beruhigt sowohl meinen Geist als auch meinen reizbaren alten Körper wie eine gute, gründliche Massage. Glauben Sie mir, Regelmäßigkeit ist das beste Mittel, sich ein ausgeglichenes Gemüt zu bewahren. Ich habe diese morgendliche Fahrt alles in allem etwa zehntausendmal gemacht, und ich genieße sie von Tag zu Tag mehr. Im Laufe der Jahre (unwichtig, aber interessant) bin ich zu einer Art lebender Uhr geworden. Ich kann jederzeit sagen, ob wir zwei, drei oder vier Minuten Verspätung haben, und ich brauche nicht aufzuschauen, um zu wissen, an welcher Station wir halten. Was den Weg von der Cannon Street zu meinem Büro betrifft, so ist er weder zu lang noch zu kurz – ein gesunder kleiner Spaziergang inmitten eines Stromes von Menschen, die ebenso wie ich jeden Morgen in die Stadt fahren und mit zuverlässiger Pünktlichkeit ihrem Arbeitsplatz zustreben. Es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit, mich in Gesellschaft so vieler ordentlicher, vertrauenswürdiger Menschen zu wissen, die einen festen Beruf haben und sich nicht in der Welt herumtreiben. Ihr Leben wird wie das meine von dem Minutenzeiger einer genaugehenden Uhr bestimmt, und in vielen Fällen kreuzen sich unsere Wege täglich zur gleichen Zeit und am gleichen Ort. Wenn ich zum Beispiel in die St. Swithins’s Lane einbiege, kommt mir unweigerlich eine elegante Dame in mittleren Jahren entgegen, die einen silbernen Kneifer trägt und eine schwarze Aktentasche bei sich hat – eine erstklassige Buchhalterin, würde ich sagen, oder eine leitende Angestellte in der Textilindustrie. Überquere ich bei grünem Licht die Threadneedle Street, so treffe ich in neun von zehn Fällen einen Herrn, dessen Knopfloch jeden Tag mit einer anderen Blume geschmückt ist. Seine Hosen sind schwarz, seine Gamaschen grau, und er ist offensichtlich ein pünktlicher und äußerst gewissenhafter Mensch, ein Bankier vielleicht oder ein Anwalt wie ich selbst. Seit fünfundzwanzig Jahren eilen wir morgens aneinander vorbei, und wir haben des Öfteren einen flüchtigen Blick der Achtung und Anerkennung gewechselt. Mindestens die Hälfte aller Gesichter, denen ich auf diesem kurzen Weg begegne, ist mir seit langem vertraut. Und es sind gute Gesichter, Gesichter, die mir liegen, Menschen, die mir liegen – solide, fleißige Geschäftsleute, ohne jene Unruhe und die glitzernden Augen, die man bei den sogenannten Intellektuellen sieht, bei diesen Typen, die die Welt auf den Kopf stellen wollen mit ihrer Labour-Regierung, ihrer sozialen Gesundheitsfürsorge und allem, was sonst noch dazugehört. Sie sehen also, dass ich in jeder Beziehung ein zufriedener Mensch bin. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, dass ich ein zufriedener Mensch war. Zu der Zeit, da ich die kleine autobiographische Skizze schrieb, die Sie eben gelesen haben – sie war als Mahnung und Beispiel für die Angestellten meines Büros bestimmt –, gab ich völlig wahrheitsgetreu das wieder, was ich dachte und fühlte. Aber das liegt eine volle Woche zurück, und inzwischen ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Es begann am letzten Dienstag, gerade an dem Morgen, als ich den Entwurf dieser Skizze in der Tasche trug, und alles traf der Zeit und den Umständen nach so genau zusammen, dass ich darin nur eine Fügung Gottes sehen kann. Ja, Gott hatte meinen kleinen Aufsatz gelesen und sich gesagt: «Dieser Perkins wird mir zu selbstgefällig. Es ist höchste Zeit, ihm eine Lektion zu erteilen.» Ich glaube aufrichtig, dass es so war. Am letzten Dienstag also, dem Dienstag nach Ostern, einem warmen, sonnigen Frühlingsmorgen, trat ich, die Times unter dem Arm, meine Skizze in der Tasche, auf den Bahnsteig unserer kleinen Station und merkte sofort, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Ich fühlte geradezu die eigenartige kleine Protestwelle, die durch die Reihen meiner Mitreisenden lief. Ich machte halt und sah mich um. Der Fremde stand genau in der Mitte des Bahnsteigs, breitbeinig, die Arme über der Brust gekreuzt, als wäre er hier der Herr und Gebieter. Er war ein ziemlich großer, kräftiger Mann, der es fertigbrachte, sogar von hinten unerhört arrogant und geschniegelt zu wirken. Ganz entschieden gehörte er nicht zu uns. Er trug einen Spazierstock statt eines Regenschirms, seine Schuhe waren braun statt schwarz, der graue Hut saß ihm lächerlich schief auf dem Kopf, und irgendwie schien dieser Mensch zu viel Seide und Glanz an sich zu haben. Ich hatte keine Lust, ihn noch länger zu betrachten. Starr in die Luft blickend, ging ich an ihm vorbei und gab, wie ich von Herzen hoffe, der Atmosphäre, die bereits kühl war, einen Anflug von Frost. Der Zug fuhr ein. Und nun stellen Sie sich, sofern Ihre Phantasie dazu ausreicht, mein Entsetzen vor, als der Neue mir ungeniert in mein Abteil folgte! Das hatte mir in den letzten fünfzehn Jahren niemand zu bieten gewagt. Mein Privileg wurde von jeher respektiert. Eines meiner speziellen kleinen Vergnügen besteht nämlich darin, das Abteil bis zur nächsten, manchmal sogar bis zur zweiten oder dritten Station für mich allein zu haben. Aber hier, bitte schön, flegelte sich dieser Kerl, dieser Fremde, auf dem Platz mir gegenüber, schnäuzte sich, raschelte mit der Daily Mail und zündete sich eine abscheuliche Pfeife an. Ich senkte die Times ein wenig und musterte ihn verstohlen. Er mochte etwa in meinem Alter sein – so um dreiundsechzig herum –, aber er hatte eines dieser grässlich gut aussehenden braunen, von Wind und Wetter gegerbten Gesichter, die man heutzutage in allen Reklameanzeigen für Herrenhemden findet – Löwenjäger, Polospieler, Everest-Bezwinger, Urwaldforscher und Sportsegler in einer Person. Stahlgraue Augen, dunkle Brauen, kräftige weiße Zähne, die fest auf das Mundstück der Pfeife bissen. Ich misstraue allen gutaussehenden Männern. Die oberflächlichen Freuden dieser Welt sind ihnen zu leicht erreichbar, und sie treten auf, als verdankten sie ihr gutes Aussehen einzig und allein sich selbst. Wohlgemerkt, gegen hübsche Frauen habe ich gar nichts. Das ist etwas anderes. Aber bei einem Mann – nein, es tut mir leid, bei einem Mann finde ich so etwas geradezu anstößig. Nun, wie dem auch sei, der Kerl saß mir jedenfalls genau gegenüber, und ich musterte ihn über den Rand meiner Zeitung hinweg, als er plötzlich den Kopf hob und unsere Blicke sich trafen. «Stört sie die Pfeife?», fragte er und hielt das Ding hoch. Das war alles, was er sagte. Aber der Klang seiner Stimme hatte eine ungeahnte und außerordentliche Wirkung auf mich. Tatsächlich, ich glaube, ich fuhr zusammen. Dann erstarrte ich gleichsam und sah ihn mindestens eine Minute an, bevor ich mich so weit in der Gewalt hatte, dass ich ihm antworten konnte. «Dies ist ein Raucherabteil», sagte ich. «Tun Sie, was Ihnen beliebt.» «Ich wollte mich nur vergewissern.» Da war sie wieder, diese vertraute, eigenartig scharfe Stimme, die die Endsilben verschluckte und die Worte hart und schnell hervorspie wie ein Maschinengewehr, das Obstkerne verschießt. Woher kannte ich diese Stimme? Und wie kam es, dass jedes Wort einen winzigen empfindlichen Punkt weit hinten in meiner Erinnerung traf? Du meine Güte, dachte ich, nimm dich zusammen. Was ist denn das für ein Unsinn? Der Fremde wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Ich gab vor, das Gleiche zu tun. Mittlerweile war ich jedoch so aufgewühlt, dass ich mich nicht mehr zu konzentrieren vermochte. Ich beobachtete ihn also weiterhin verstohlen über den Rand der Leitartikelseite hinweg. Ja, er hatte ein unerträgliches Gesicht, gut aussehend, aber mit einem Stich ins Vulgäre, fast ins Laszive. Und dieser ekelhaft ölige Schimmer auf der Haut … Hatte ich dieses Gesicht wirklich schon einmal gesehen? Ich zweifelte jetzt kaum noch daran, denn ich brauchte es nur anzuschauen, um sofort ein seltsames Unbehagen zu empfinden, das ich nicht definieren konnte – ich wusste nur, dass es mit Schmerz, mit Gewalt, vielleicht sogar mit Furcht zu tun hatte. Wir wechselten kein Wort mehr während der Fahrt, aber Sie dürfen mir glauben, dass mein gewohntes Gleichmaß durch diese Begegnung empfindlich gestört wurde. Der Tag war für mich verdorben. Mehr als einer meiner Angestellten bekam eine scharfe Antwort von mir, vor allem nach dem Mittagessen, als ich auch noch Schwierigkeiten mit meiner Verdauung hatte. Am nächsten Morgen stand er wieder da, in der Mitte des Bahnsteigs, mit seinem Spazierstock, seiner Pfeife, seinem seidenen Schal und seinem widerlich gut aussehenden Gesicht. Ich ging an ihm vorbei und trat auf einen gewissen Mr. Grummitt zu, einen Börsenmakler, der schon seit achtundzwanzig Jahren mit mir fährt. Normalerweise hätte ich nie eine Unterhaltung mit ihm angefangen – wir sind alle ziemlich zurückhaltend –, aber eine solche Krise bricht eben das Eis. «Grummitt», fragte ich leise, «wer ist dieser ordinäre Kerl?» «Keine Ahnung», erwiderte Grummitt. «Recht unsympathisch.» «Sehr.» «Hoffentlich fährt er nicht regelmäßig.» «Um Himmels willen», sagte Grummitt. Dann lief der Zug ein. Diesmal stieg der Mann zu meiner großen Erleichterung in ein anderes Abteil. Aber am nächsten Morgen hatte ich ihn wieder bei mir. «Hm», sagte er, als er es sich auf dem Platz mir gegenüber bequem gemacht hatte, «famoser Tag heute.» Und von neuem spürte ich voller Unbehagen, wie sich in meiner Erinnerung langsam etwas regte, stärker jetzt, dichter an der Oberfläche, wenn auch noch immer nicht ganz in meiner Reichweite. Dann kam Freitag, der letzte Arbeitstag der Woche. Morgens regnete es, aber es war einer jener warmen, sprühenden Aprilschauer, die nur fünf, sechs Minuten dauern, und als ich auf den Bahnsteig kam, waren alle Regenschirme eingerollt, die Sonne schien, und große weiße Wolken trieben am Himmel. Trotzdem fühlte ich mich bedrückt. Für mich hatte die Fahrt zur Stadt ihren Reiz verloren. Ich wusste, dass der Fremde da sein würde. Und wirklich, dort stand er, breitbeinig, als wäre er unser aller Herr und Gebieter, und diesmal schwang er seinen Spazierstock lässig hin und her. Der Stock! Das gab den Ausschlag! Ich blieb wie angewurzelt stehen. «Es ist Foxley!», flüsterte ich. «Der rasende Foxley! Und er schwingt noch immer seinen Stock!» Ich trat näher an ihn heran, um mir Gewissheit zu verschaffen. Glauben Sie mir, ich habe noch nie im Leben so einen Schock bekommen. Es war tatsächlich Foxley. Bruce Foxley – der rasende Foxley, wie wir ihn nannten. Das letzte Mal hatte ich ihn in der Schule gesehen, und ich war damals – lassen Sie mich überlegen – ja, ich war nicht älter als zwölf, dreizehn Jahre gewesen. In diesem Augenblick kam der Zug, und so wahr ich lebe, er stieg wieder in mein Abteil. Er legte Hut und Stock ins Gepäcknetz, wandte sich dann um, nahm Platz und setzte seine Pfeife in Brand. Durch den Rauch hindurch sah er mich mit seinen kleinen, kalten Augen an und sagte: «Kolossaler Tag, was? Wie im Sommer.» Zweifellos, das war Foxleys Stimme. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Jedenfalls nicht im Klang – die Worte, die sie sprach, waren nicht die von früher. «Na schön, Perkins», hatte diese Stimme damals etwa gesagt: «Na schön, du ungezogener Bursche. Dann werde ich dir also wieder mal ein paar überziehen.» Wann war das gewesen? Es musste fast fünfzig Jahre her sein. Erstaunlich, dass sich auch seine Gesichtszüge kaum verändert hatten. Noch immer das arrogant vorspringende Kinn, die hochmütig geblähten Nasenflügel, die verächtlich blickenden Augen, die zu klein waren und etwas zu eng zusammenstanden; noch immer diese Art, den Kopf herausfordernd vorzuschieben und einen mit dem Blick in die Enge zu treiben; sogar an das Haar konnte ich mich erinnern – dicht, leicht gewellt, ölig schimmernd wie ein gut gemischter Salat. Er hatte immer eine Flasche mit grünem Haarwasser auf seiner Kommode stehen – wenn man in einem Zimmer Staub wischen muss, lernt man die Gegenstände darin allmählich kennen und hassen. Auf dem Etikett der Flasche prangten das königliche Wappen und der Name einer Firma in der Bond Street; darunter standen die kleingedruckten Worte: ‹Hoflieferant und Friseur Seiner Majestät König Edward VII. Dieser Satz hat sich mir eingeprägt, weil ich es immer so komisch fand, dass jemand damit prahlte, der Friseur eines Mannes zu sein, der zwar ein König, aber nichtsdestoweniger fast kahl war. Und jetzt saß ich also Foxley gegenüber und beobachtete, wie er sich zurücklehnte und anfing, die Zeitung zu lesen. Es war ein seltsames Gefühl, nur einen Meter von diesem Mann entfernt zu sein, der mich vor fünfzig Jahren derart gequält hatte, dass ich mitunter dem Selbstmord nahe gewesen war. Mich hatte er nicht wiedererkannt, und wegen meines Schnurrbarts war das auch nicht zu befürchten. Ich fühlte mich völlig sicher. Nichts hinderte mich, ihn zu betrachten, so lange ich wollte. Wenn ich zurückdenke, wird mir erst klar, wie entsetzlich ich in meinem ersten Schuljahr unter Foxley gelitten habe. Schuld daran war seltsamerweise mein Vater, natürlich ohne dass er es wusste. Ich war zwölfeinhalb Jahre alt, als ich in diese traditionsreiche alte Public School kam. Das war – einen Moment bitte –, richtig, im Jahre 1907. Mein Vater, der einen seidenen Zylinder und einen Cutaway trug, brachte mich zum Bahnhof. Ich erinnere mich noch sehr gut: Wir standen zwischen Koffern und Kartons, inmitten einer – so schien es mir jedenfalls – tausendköpfigen Schar sehr großer, sehr lebhafter, sehr laut miteinander sprechender Jungen, als plötzlich jemand, der an uns vorbeiwollte, meinen Vater von hinten so heftig anstieß, dass er ihn fast zu Boden warf. Mein Vater, ein kleiner, höflicher, würdiger Mann, drehte sich erstaunlich schnell um und packte den Schuldigen am Handgelenk. «Bringt man euch in eurer Schule keine besseren Manieren bei, junger Mann?», fragte er. Der Junge, der mindestens einen Kopf größer als mein Vater war, sah mit einem kalten Blick auf ihn herunter, lächelte arrogant und schwieg. «Mir scheint», sagte mein Vater und erwiderte den Blick ebenso kalt, «dass eine Entschuldigung angebracht wäre.» Aber der Junge stand nur da und sah mit diesem merkwürdigen arroganten Lächeln in den Mundwinkeln auf meinen Vater hinunter, während sein Kinn sich weiter und weiter vorschob. «Du bist ein unverschämter und schlecht erzogener Bursche», fuhr mein Vater fort. «Ich kann nur hoffen und wünschen, dass du in deiner Schule eine Ausnahme bist. Ich lege nicht den geringsten Wert darauf, dass mein Sohn solche Manieren annimmt.» Hier wandte der große Junge den Kopf in meine Richtung, und zwei kleine, kalte, ziemlich eng zusammenstehende Augen starrten auf mich herab. Ich ließ mich nicht einschüchtern; ich wusste damals noch nicht, welche Macht in Public Schools die älteren Schüler über die jüngeren haben. Um meinen Vater zu unterstützen, den ich liebte und achtete, hielt ich diesem Blick tapfer stand. Mein Vater wollte noch etwas hinzufügen, aber der Junge drehte sich einfach um und schlenderte gemächlich den Bahnsteig entlang, bis er in der Menge verschwand. Bruce Foxley vergaß diesen Zwischenfall nie. Es war natürlich mein besonderes Pech, dass ich – wie sich bei meiner Ankunft in der Schule herausstellte – zu demselben ‹Haus› gehörte wie er. Schlimmer noch, ich war in seiner Gruppe. Er absolvierte sein letztes Jahr, und er war Vertrauensmann – Präfekt, wie das bei uns hieß. In dieser Eigenschaft war er offiziell berechtigt, jeden Schüler der unteren Klassen zu verprügeln. Und da ich in seiner Gruppe war, wurde ich automatisch sein persönlicher Sklave. Als Foxleys Kammerdiener, Koch, Dienstmädchen und Laufbursche war es meine Pflicht, darauf zu achten, dass er keinen Finger krumm machte, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Ich kenne keine Gesellschaftsordnung, in der ein Diener so ausgebeutet wird, wie wir unglücklichen ‹Füchse› von den Präfekten der Schule ausgebeutet wurden. Im Winter musste ich mich sogar jeden Morgen auf die Toilette hocken – sie befand sich in einem ungeheizten Bretterverschlag –, um den Sitz anzuwärmen, bis Foxley kam. Ich erinnere mich noch genau an seine schlaksige, lässig elegante Art, durch ein Zimmer zu schlendern. Wenn ihm ein Stuhl im Wege war, stieß er ihn um und überließ es mir, ihn aufzuheben. Er trug seidene Hemden und hatte immer ein seidenes Taschentuch im Ärmelaufschlag stecken. Seine Schuhe wurden von einem Mann namens Lobb angefertigt, der ebenfalls den Titel Hoflieferant führte. Es waren spitze Schuhe, und ich musste das Leder jeden Tag fünfzehn Minuten lang mit einem Knochen polieren. Aber die schlimmsten Erinnerungen sind mit dem Umkleideraum verbunden. Wie oft habe ich, ein schmaler, blasser Knirps, in Pyjama, braunem Kamelhaarmorgenrock und Pantoffeln an der Tür dieses riesigen Raumes gestanden. Eine helle elektrische Birne hing an einer Schnur von der Decke herab. Auf die Garderobenhaken an den Wänden waren schwarze und gelbe Fußballhemden gestülpt, denen ein durchdringender Schweißgeruch entströmte. Und die Stimme, diese scharfe, Endsilben verschluckende, Obstkerne spuckende Stimme sagte: «Na, wie viele sollen es diesmal sein? Sechs im Morgenrock oder vier ohne?» Ich konnte mich nie überwinden, diese Frage zu beantworten. Ich stand nur da und starrte auf die schmutzigen Dielen, schwindlig vor Furcht, unfähig, an etwas anderes zu denken als daran, dass dieser große Junge gleich anfangen würde, mich mit seinem langen, dünnen weißen Stock methodisch geschickt und mit offensichtlichem Vergnügen zu schlagen, bis ich blutete. Vor fünf Stunden hatte ich mich erfolglos bemüht, das Kaminfeuer in seinem Arbeitszimmer in Gang zu bringen. Ich hatte mein Taschengeld für eine Schachtel Spezialfeueranzünder ausgegeben, ich hatte die Kohlen mit einer Zeitung gefächelt, ich hatte auf den Knien gelegen und aus Leibeskräften geblasen – alles vergebens. «Wenn du störrischer Bursche nicht antworten willst», sagte die Stimme, «dann muss ich eben für dich entscheiden.» Ich brachte kein Wort heraus. Und dabei hätte ich so gern geantwortet, weil ich genau wusste, was ich zu wählen hatte. Es ist das Erste, was ein neuer Schüler lernt. Immer den Morgenrock anbehalten und die Extraschläge in Kauf nehmen. Sonst gibt es mit ziemlicher Sicherheit blutige Striemen. Selbst drei mit Morgenrock sind besser als einer ohne. «Zieh dich aus, geh in die Ecke und bück dich, bis deine Hände die Zehen berühren. Ich werde dir vier geben.» Langsam zog ich den Morgenrock aus und legte ihn auf den Stiefelschrank. Langsam ging ich in die Ecke, frierend und ungeschützt in meinem Baumwollpyjama. Ich trat leise auf, und alles um mich herum war plötzlich hell und flach und weit entfernt wie das Bild einer Laterna magica, sehr groß, sehr unwirklich und wegen des Wassers in meinen Augen sehr verschwommen. «Los, bück dich. Tiefer – viel tiefer.» Nun ging er zum anderen Ende des Umkleideraums, und ich beobachtete ihn durch meine Beine hindurch, bis er die Tür erreicht hatte, die über zwei Stufen in den sogenannten Waschflur führte, einen fliesenbelegten Korridor, an dessen einer Wand Waschbecken angebracht waren. Dahinter befand sich das Badezimmer. Ich konnte Foxley jetzt nicht mehr sehen, aber ich wusste, dass er den Waschflur entlang bis zum Badezimmer ging. Das tat er immer. Dann hörte ich ein fernes, aber laut zwischen den Becken und Röhren widerhallendes Geräusch: Seine Schuhe schlugen auf den Steinfußboden auf, als er zu laufen begann. Durch meine Beine hindurch sah ich, wie er die beiden Stufen zum Umkleideraum hinaufsprang und mit vorgestrecktem Kopf, den Stock hoch erhoben, auf mich zugerast kam. Das war der Moment, in dem ich die Augen schloss, auf den Hieb wartete und mir befahl, mich um alles in der Welt nicht aufzurichten. Jeder, der schon einmal richtige Prügel bezogen hat, wird Ihnen bestätigen, dass man den Schmerz erst acht bis zehn Sekunden nach dem Schlag fühlt. Den Schlag selbst empfindet man nur als einen derben Stoß gegen das Gesäß, der einen völlig benommen macht. (Ich habe gehört, bei einer Schussverletzung sei es genauso.) Aber später, mein Gott, später ist es, als hätte einem jemand einen glühenden Feuerhaken auf das nackte Gesäß gelegt, und ob man will oder nicht, man muss einfach nach hinten greifen und versuchen, den Schmerz mit den Händen zu dämpfen. Foxley wusste um diese Verzögerung, und der langsame Rückweg zur Tür des Badezimmers – eine Entfernung von etwa fünfzehn Metern – gab jedem Schlag viel Zeit, den Höhepunkt des Schmerzes zu erreichen, bevor der nächste fiel. Beim vierten Schlag richtete ich mich unweigerlich auf. Ich konnte nicht anders. Es war die automatische Abwehrreaktion eines Körpers, der nicht fähig ist, mehr zu ertragen, als man ihm bereits zugemutet hat. «Du hast gezuckt», sagte Foxley. «Der letzte zählt nicht. Los – bück dich.» Diesmal war ich vorsichtig genug, meine Fußknöchel zu umklammern. Danach pflegte er mich zu beobachten, wenn ich – sehr steif jetzt und mir die Rückseite reibend – zum Stiefelschrank ging, um meinen Morgenrock anzuziehen. Ich versuchte immer, den Kopf so zu halten, dass er mein Gesicht nicht sah. Und beim Hinausgehen hörte ich jedes Mal sein: «He, du! Komm zurück!» Ich blieb dann stehen, drehte mich um und wartete. «Komm her. Na los, komm schon. Hast du nicht etwas vergessen?» Alles, woran ich in diesem Augenblick denken konnte, war der schreckliche Schmerz im Gesäß. «Du bist ein unverschämter und schlecht erzogener Bursche.» Er ahmte die Stimme meines Vaters nach. «Bringt man euch in eurer Schule keine besseren Manieren bei?» «Danke … schön», stammelte ich. «Danke … schön … für die Schläge.» Und dann schlich ich über die dunklen Treppen zum Schlafsaal, wo mir viel besser wurde, weil jetzt alles vorbei war und der Schmerz nachließ. Die anderen standen um mich herum. Sie behandelten mich mit einem gewissen rauen Mitgefühl, denn ihnen war ja oft genug das Gleiche widerfahren. «He, Perkins, lass mal sehen.» «Wie viele hast du bekommen?» «Fünf, nicht wahr? Wir haben’s von hier deutlich gehört.» «Na los, Mann, zeig mal die Striemen.» Ich streifte meine Pyjamahose herunter, damit die Fachleute den Schaden gewissenhaft begutachten konnten. «Ziemlich weit auseinander, finde ich. Habe schon Besseres von Foxley gesehen.» «Hier, die beiden sind ganz dicht zusammen. Berühren sich fast. Donnerwetter, das sind zwei Prachtstücke.» «Der hier unten ist miserabel gezielt.» «Ist er bis zum Ende des Waschflurs gegangen, um seinen Anlauf zu nehmen?» «Du hast einen extra bekommen, weil du gezuckt hast, nicht wahr?» «Weiß der Teufel, der alte Foxley hat wirklich einen Pik auf dich, Perkins.» «Es blutet ein bisschen. Wasch dich lieber, hörst du?» Da ging die Tür auf, und Foxley erschien. Alle stoben auseinander, und jeder tat so, als sei er mit Zähneputzen beschäftigt oder spreche sein Gebet, während ich mit heruntergelassener Hose allein in der Mitte des Schlafsaals stand. «Was ist denn hier los?», fragte Foxley und prüfte mit einem raschen Blick das Werk seiner Hände. «He, Perkins! Zieh dir gefälligst die Hose hoch und mach, dass du ins Bett kommst.» Und das war das Ende des Tages. In der Woche hatte ich nie Zeit für mich selbst. Foxley brauchte nur zu sehen, dass ich im Arbeitszimmer nach einem Roman griff oder mein Briefmarkenalbum aufschlug, und schon gab er mir irgendetwas zu tun. Einer seiner Lieblingsaufträge für mich, besonders wenn es draußen regnete, war dieser: «Ach, Perkins, ich glaube, ein paar wilde Schwertlilien würden sich auf meinem Schreibtisch ganz gut ausnehmen, meinst du nicht auch?» Wilde Lilien wuchsen nur an den Teichen, den Orange Ponds. Um dorthin zu gelangen, musste man drei Kilometer auf der Landstraße und dann einen Kilometer querfeldein gehen. Ich zog den Regenmantel an, setzte den Strohhut auf, nahm meinen Regenschirm und brach zu dieser langen, einsamen Wanderung auf. Laut Vorschrift hatten wir im Freien stets einen Strohhut zu tragen. Stroh verträgt aber bekanntlich keinen Regen, folglich musste zum Schutz des Hutes der Schirm mitgenommen werden. Andererseits kann man sich keinen Schirm über den Kopf halten, wenn man auf dem Waldboden herumkriecht und Lilien sucht. Um den Hut zu schonen, legte ich ihn also am Ufer des Teichs unter den Regenschirm, bis ich die Blumen gepflückt hatte. Auf diese Weise erkältete ich mich sehr oft. Aber der schrecklichste Tag war der Sonntag. Am Sonntag musste das Arbeitszimmer sauber gemacht werden. Wie gut erinnere ich mich an diese angsterfüllten Morgenstunden, an das wahnwitzige Staubwischen und Scheuern und dann das Warten auf Foxleys Inspektion. «Fertig?», fragte er, wenn er kam. «Ich … ich glaube, ja.» Er schlenderte zu seinem Schreibtisch hinüber, holte einen weißen Handschuh aus der Schublade, zog ihn langsam über die rechte Hand und strich dabei jeden Finger einzeln glatt. Ich stand da und sah zitternd zu, wie er durch den Raum ging und mit dem weiß behandschuhten Zeigefinger über Bilderrahmen, Wandleisten, Regale, Fensterbretter und Lampenschirme fuhr. Ich konnte die Augen nicht von diesem Finger abwenden. Für mich war er ein Werkzeug des Schicksals. Fast immer gelang es ihm, irgendeinen winzigen Spalt zu entdecken, den ich übersehen oder an den ich vielleicht gar nicht gedacht hatte. Dann pflegte Foxley sich ohne jede Hast umzudrehen und jenes gefährliche kleine Lächeln zu lächeln, das keines war. Er hielt den weißen Finger hoch, damit ich die dünne Staubschicht sehen konnte, die darauf lag. «Hm», sagte er dann. «Du bist also ein kleiner Faulpelz. Stimmt’s?» Keine Antwort. «Nun?» «Ich war sicher, dass ich überall Staub gewischt hätte.» «Bist du ein ungezogener kleiner Faulpelz, Ja oder nein?» «J-ja.» «Aber deinem Vater wäre es gewiss nicht recht, wenn wir dich so aufwachsen ließen. Dein Vater legt großen Wert auf gute Manieren, nicht wahr?» Keine Antwort. «Ich habe dich gefragt, ob dein Vater Wert auf gute Manieren legt.» «Das … das kann schon sein.» «Ich tue ihm also einen Gefallen, wenn ich dich bestrafe, nicht wahr?» «Ich weiß nicht.» «Ja oder nein?» «J-ja.» «Gut, dann treffen wir uns nach der Andacht im Umkleideraum.» Der Rest des Tages verging in quälendem Warten. Mein Gott, wie die Erinnerungen eine nach der anderen lebendig werden … Der Sonntag war auch der Tag, an dem wir nach Hause schreiben mussten. «Liebe Mami und lieber Papa! Vielen Dank für Euren Brief. Ich hoffe, es geht Euch beiden gut. Mir geht es gut, ich habe mich nur im Regen erkältet, aber das wird bald vorüber sein. Gestern haben wir gegen Shrewsbury gespielt und 4 : 2 gewonnen. Ich habe zugeschaut. Foxley, der in unserem Haus Präfekt ist, hat eines von unseren Toren geschossen. Vielen Dank für den Kuchen. Herzliche Grüße, Euer William.» Meist ging ich auf die Toilette, um meinen Brief zu schreiben, oder in die Stiefelkammer oder ins Badezimmer – irgendwohin, wo Foxley nicht war. Aber ich durfte darüber die Zeit nicht vergessen. Um halb fünf wurde Tee getrunken, und dann verlangte Foxley seinen Toast. Jeden Tag musste ich für ihn Toast machen. In der Woche wurden die Arbeitszimmer nicht geheizt, und dann drängten sich alle Schüler, die Toast für ihren Präfekten zu machen hatten, um das kleine Feuer in der Bibliothek, sodass es immer Kämpfe um einen einigermaßen günstigen Platz gab. Überdies musste ich darauf achten, dass Foxleys Toast erstens sehr kross, zweitens nicht angebrannt, drittens heiß und viertens rechtzeitig fertig war. Wurde eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, so war das ein ‹strafwürdiges Vergehen›. «He, du! Was soll das hier sein?» «Es ist Toast.» «Entspricht das tatsächlich deiner Vorstellung von Toast?» «Ich … ich …» «Du bist zu faul, ihn richtig zu machen, was?» «Ich habe mir wirklich Mühe gegeben.» «Weißt du, was einem faulen Pferd passiert, Perkins?» «Nein.» «Bist du ein Pferd?» «Nein.» «Na, jedenfalls bist du ein Esel – ha, ha. Kommt ungefähr auf eins heraus. Wir sprechen uns heute Abend.» Ach, die Qual dieser Tage! Foxleys Toast anbrennen zu lassen war ein ‹strafwürdiges Vergehen›. Ebenso, zu vergessen, dass Foxleys Fußballstiefel geputzt werden mussten. Ebenso, Foxleys Fußballdress nicht aufzuhängen. Ebenso, Foxleys Regenschirm falsch herum einzurollen. Ebenso, die Tür ins Schloss zu werfen, wenn Foxley arbeitete. Ebenso, Foxleys Badewasser zu heiß einlaufen zu lassen. Ebenso, die Knöpfe auf Foxleys O. T. C.-Uniform nicht richtig blank zu reiben oder etwas von der blauen Metallpolitur auf den Stoff der Uniform zu schmieren. Ebenso, die Sohlen von Foxleys Schuhen nicht zu putzen. Ebenso, in Foxleys Arbeitszimmer auch nur die geringste Unordnung zu dulden. Wirklich, soweit es Foxley betraf, war ich selbst ein strafwürdiges Vergehen. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Du meine Güte, ich musste eine ganze Weile vor mich hin geträumt haben. Noch nicht einmal meine Times hatte ich geöffnet. Foxley saß zurückgelehnt mir gegenüber und las die Daily Mail. Durch eine blaue Rauchwolke aus seiner Pfeife sah ich über der Zeitung die obere Hälfte seines Gesichts mit den kleinen hellen Augen, der gerunzelten Stirn und dem welligen, leicht öligen Haar. Es war ein merkwürdiges, ein aufregendes Erlebnis, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Ich wusste, dass er mir nicht mehr gefährlich werden konnte, aber die alten Erinnerungen machten mir trotzdem zu schaffen, und ich fühlte mich keineswegs behaglich in seiner Gegenwart. Mir war zumute, als hätte man mich mit einem zahmen Tiger zusammen in einen Käfig gesperrt. Was ist denn das für ein Unsinn?, fragte ich mich. Sei nicht so blöd. Du lieber Himmel, wenn du wolltest, könntest du ihm rundheraus sagen, was du von ihm hältst, und er hätte keine Möglichkeit, seine Wut an dir auszulassen. Halt – das war eine Idee! Nur … nun ja … lohnte es sich überhaupt? Für so etwas war ich wohl doch schon zu alt. Ich wusste nicht einmal genau, ob ich wirklich noch wütend auf ihn war. Was sollte ich also tun? Schließlich konnte ich nicht einfach dasitzen und ihn wie ein Idiot anstarren. In diesem Augenblick kam mir eine kleine boshafte Idee. Am liebsten, schoss es mir durch den Kopf, am liebsten würde ich mich jetzt vorbeugen, ihm leicht auf das Knie klopfen, ihm sagen, wer ich bin, und dabei sein Gesicht beobachten. Und dann anfangen, über die gemeinsame Schulzeit zu sprechen – laut genug, dass die anderen Leute im Wagen es hören können. Ihn scherzhaft an einige Sachen erinnern, die er mir angetan hat. Vielleicht sogar die Prügelszenen im Umkleideraum schildern, um ihn etwas in Verlegenheit zu bringen. Ein bisschen Ärger und Unbehagen würde ihm gar nichts schaden. Und für mich wäre es eine Genugtuung. Plötzlich hob er den Kopf und ertappte mich dabei, dass ich ihn anstarrte. Es war bereits das zweite Mal, und ich bemerkte ein gereiztes Aufleuchten in seinen Augen. Nun gut, dachte ich. Also los. Aber sprich freundlich, ungezwungen, höflich. Das ist viel wirkungsvoller und für ihn bedeutend peinlicher. Ich lächelte ihn also an, nickte ihm verbindlich zu und sagte mit lauter Stimme: «Gestatten Sie bitte, dass ich mich vorstelle.» Ich beugte mich vor und sah ihn aufmerksam an, weil ich mir seine Reaktion nicht entgehen lassen wollte. «Mein Name ist Perkins – William Perkins. Ich war neunzehnhundertsieben in Repton.» Die anderen im Wagen saßen sehr still. Ich spürte förmlich, dass sie die Ohren spitzten und der Dinge harrten, die da kommen sollten. «Freut mich, Sie kennenzulernen», erwiderte er und ließ die Zeitung sinken. «Ich heiße Fortescue – Jocelyn Fortescue. Eton, neunzehnhundertsechzehn.» Haut In jenem Jahr – 1946 – wollte der Winter nicht weichen. Obwohl es bereits April war, wehte ein eisiger Wind durch die Straßen der Stadt, und Schneewolken trieben am Himmel dahin. Der alte Mann, der Drioli hieß, schlurfte mühsam über den Bürgersteig der Rue de Rivoli. Ihn fror, er fühlte sich elend. Wie ein Igel hatte er sich in seinem schäbigen Mantel zusammengerollt, sodass nur die Augen und der obere Teil des Kopfes über dem hochgeschlagenen Kragen zu sehen waren. Die Tür eines Restaurants öffnete sich, und als Drioli den Duft von gebratenen Hähnchen roch, begann sein leerer Magen zu knurren. Er ging weiter und betrachtete ohne Interesse die Auslagen der Geschäfte – Parfums, seidene Krawatten und Hemden. Juwelen, Porzellan, antike Möbel, Bücher in kostbaren Einbänden. Dann eine Gemäldegalerie: Er hatte schon immer eine Vorliebe für Gemäldegalerien gehabt. In dieser war nur ein einziges Bild im Fenster ausgestellt. Er blieb stehen, warf einen kurzen Blick darauf, wandte sich dann zum Gehen. Plötzlich stutzte er und schaute noch einmal hin. Eine leichte Unruhe überkam ihn, in seinem Gedächtnis regte es sich, die Erinnerung an etwas, was er irgendwo, irgendwann gesehen hatte, tauchte verschwommen auf. Er betrachtete das Bild genauer. Es war eine Landschaft, eine Gruppe von Bäumen, die sich weit, weit zur Seite bogen, als drücke ein gewaltiger Sturm sie zu Boden; darüber, wirbelnd und kreisend, der Himmel. Am Rahmen war ein kleines Schild angebracht: CHAIM SOUTINE (1894 – 1943) Drioli starrte das Bild an und überlegte, was ihm daran so bekannt vorkam. Verrücktes Bild, dachte er. Sehr seltsam und verrückt – aber ich mag es … Chaim Soutine … Soutine … «Mein Gott!», rief er plötzlich. «Das ist ja mein kleiner Kalmück! Tatsächlich, mein kleiner Kalmück, und sein Bild ist in der besten Kunsthandlung von Paris ausgestellt!» Der alte Mann presste das Gesicht an die Scheibe. Er erinnerte sich an den Jungen – o ja, ganz deutlich erinnerte er sich an ihn. Aber wann war es gewesen? Und wo? Das ließ sich nicht so leicht herausfinden. Es war sehr lange her. Wie lange? Zwanzig – nein, eher dreißig Jahre, nicht wahr? Augenblick mal … Ja, es war ein Jahr vor dem Krieg gewesen, vor dem ersten Krieg. 1913 also. Und dieser Soutine, dieser hässliche kleine Kalmück, ein mürrischer, verschlossener Mensch – Drioli hatte ihn gern gehabt, fast geliebt, und zwar, wenn er’s recht bedachte nur deshalb, weil der Bursche malen konnte. Und wie er malen konnte! Die Erinnerungen nahmen jetzt langsam Gestalt an – die Straße, die lange Reihe der Mülleimer, der widerliche Gestank, die braunen Katzen, die graziös über den Unrat hinwegschritten, und dann die Frauen, die schwitzenden dicken Frauen auf den Haustürtreppen. Dort saßen sie, die Füße auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Welcher Straße? Wo hatte der Junge gewohnt? Richtig, in der Cité Falguière! Der alte Mann nickte mehrmals mit dem Kopf, froh, dass ihm der Name eingefallen war. Und nun erinnerte er sich auch an das Atelier mit dem einzigen Stuhl und der schäbigen roten Couch, die dem Jungen als Bett diente, an die Saufgelage, den billigen Weißwein, die schrecklichen Streitereien, und dazwischen tauchte immer wieder das finstere, verbitterte Gesicht des Jungen auf, der über seiner Arbeit brütete. Seltsam, wie mühelos ihm jetzt alles ins Gedächtnis zurückkehrte, wie jede kleine Begebenheit, deren er sich entsann, eine andere nach sich zog. Zum Beispiel die Sache mit der Tätowierung. Wirklich, so etwas Verrücktes war noch nie da gewesen. Wie hatte es doch gleich angefangen? Ach ja – er war eines Tages zu Geld gekommen und hatte sehr viel Wein gekauft. Er sah sich noch in das Atelier treten, das Paket mit den Flaschen unter dem Arm – der Junge saß vor der Staffelei, und seine, Driolis, Frau stand ihm Modell. «Heute Abend wird gefeiert!», rief er. «Wir drei werden ein kleines Fest feiern.» «Was gibt’s denn zu feiern?», fragte der Junge, ohne aufzublicken. «Hast du dich etwa entschlossen, die Scheidung einzureichen, damit deine Frau mich heiraten kann?» «Nein», sagte Drioli. «Wir feiern, weil ich heute mit meiner Arbeit viel Geld verdient habe.» «Und ich habe nichts verdient. Das können wir auch feiern.» «Wie du willst.» Drioli stand am Tisch und wickelte die Flaschen aus. Er war müde und sehnte sich nach Wein. Neun Kunden an einem Tag – alles schön und gut, aber für die Augen war es eine Tortur. Nie zuvor hatte er es bis auf neun gebracht. Neun angeheiterte Soldaten, und das Erstaunlichste war, dass nicht weniger als sieben bar bezahlt hatten. Daher also dieser ungeheure Reichtum. Aber die Arbeit war das reinste Augenpulver. Driolis Lider waren schwer vor Müdigkeit, das Weiße des Augapfels war rot geädert, und etwa zwei Zentimeter dahinter nistete ein dumpfer Schmerz. Na wennschon – jetzt hatte er ja Ruhe, er war klotzig reich, und das Paket enthielt drei Flaschen, eine für seine Frau, eine für seinen Freund und eine für ihn selbst. Er fand den Korkenzieher und entkorkte die Flaschen. Jedes Mal war ein leises ‹Plopp› zu hören. Der Junge legte den Pinsel hin. «Mein Gott», stöhnte er, «und dabei soll man nun arbeiten!» Die junge Frau ging zu ihm hinüber, um das Bild zu betrachten. Drioli folgte ihr, in der einen Hand eine Flasche, in der anderen ein Glas. «Nein!», rief der Junge, plötzlich auffahrend. «Bitte nicht!» Er riss das Bild von der Staffelei und stellte es gegen die Wand. Aber Drioli hatte es schon gesehen. «Mir gefällt es.» «Es ist scheußlich.» «Es ist wunderbar. Alles, was du malst, ist wunderbar. Ich liebe deine Bilder.» Der Junge runzelte missmutig die Stirn. «Das Schlimme ist nur, dass sie mich nicht ernähren. Ich kann sie nicht essen.» «Aber sie sind trotzdem wunderbar.» Drioli füllte das Glas mit Wein und reichte es ihm. «Trink», sagte er. «Das wird dich glücklich machen.» Nie zuvor war er einem Menschen begegnet, der so unglücklich wirkte und so finster dreinschaute. Er hatte ihn vor etwa sieben Monaten in einem Café kennengelernt. Ihm war aufgefallen, dass der Junge, der da mutterseelenallein saß und trank, wie ein Russe oder Asiate aussah, und so hatte er neben ihm Platz genommen und ihn angesprochen. «Bist du Russe?» «Ja.» – «Woher?» «Minsk.» Drioli war aufgesprungen, hatte ihn umarmt und geschrien, dass auch er dort geboren sei. «Ich bin nicht direkt aus Minsk», hatte der Junge erklärt. «Aber mein Dorf liegt ganz in der Nähe.» «Wie heißt es.» «Smilowitschi, etwa fünfzehn Werst von Minsk.» «Smilowitschi!», hatte Drioli gerufen und ihn nochmals umarmt. «Da bin ich als Kind oft gewesen.» Dann hatte er sich wieder gesetzt und den anderen liebevoll gemustert. «Weißt du», hatte er gesagt, «du siehst nicht wie ein Westrusse aus. Man könnte dich eher für einen Tataren oder Kalmücken halten. Tatsächlich, du siehst genau wie ein Kalmück aus.» Jetzt, im Atelier, betrachtete er ihn abermals, während der Junge das Glas auf einen Zug leerte. Ja, er hatte das Gesicht eines Kalmücken – sehr breitflächig, mit hohen Jochbeinen und einer aufgestülpten, plumpen Nase. Die Flächigkeit der Wangen wurde noch durch die Ohren betont, die weit vom Kopf abstanden. Und er hatte auch die schmalen Augen, das schwarze Haar, die wulstigen, trotzigen Lippen eines Kalmücken. Nur die Hände – die Hände überraschten Drioli immer wieder, denn sie waren weiß und feinknochig wie die einer Dame, mit langen, schlanken Fingern. «Gib mir noch etwas», sagte der Junge. «Wenn wir schon feiern, dann aber auch ordentlich.» Drioli füllte die Gläser und ließ sich auf den einzigen Stuhl fallen. Der Junge saß mit Driolis Frau auf der alten Couch. Die drei Flaschen standen zwischen ihnen auf dem Fußboden. «Heute Abend werden wir trinken, so viel wir nur können», verkündete Drioli. «Ich bin ungeheuer reich. Am besten gehe ich jetzt gleich und kaufe noch ein paar Flaschen. Wie viele soll ich holen?» «Sechs», entschied der Junge. «Für jeden zwei.» «Gut. Dann hole ich sie also jetzt.» «Ich komme mit.» Im nächsten Café kaufte Drioli sechs Flaschen Weißwein und trug sie mit Hilfe des Jungen ins Atelier. Sie stellten sie in zwei Reihen auf den Fußboden. Drioli entkorkte alle sechs, und dann tranken sie weiter. «Nur die ganz Reichen können es sich leisten, so zu feiern», sagte Drioli. «So ist es», bestätigte der Junge. «Nicht wahr, Josie?» «Ja.» «Wie fühlst du dich, Josie?» «Gut.» «Willst du Drioli verlassen und mich heiraten?» «Nein.» «Herrlicher Wein», lobte Drioli. «Ein Wein für reiche Leute.» Langsam und methodisch gingen sie daran, sich zu betrinken. Das war ein stets gleich verlaufender Prozess, bei dem es ein gewisses Zeremoniell zu beachten galt. Man musste Haltung bewahren, musste viele Dinge sagen und nochmals sagen. Sehr wichtig war es zum Beispiel, den Wein zu loben, und man durfte auch nichts übereilen, damit Zeit blieb, die drei köstlichen Stadien des Übergangs zu genießen, von denen Drioli besonders jenes liebte, in dem er zu schweben begann und seine Füße sich vom Körper lösten. Das war das beste Stadium – wenn er auf seine Füße hinabsah und sie so weit weg waren, dass er sich fragte, welchem Idioten sie wohl gehörten und warum sie da unten auf dem Boden herumlagen. Nach einer Weile erhob er sich, um Licht zu machen. Er war sehr erstaunt, als er feststellte, dass seine Füße mit ihm gingen, denn er fühlte gar nicht, wie sie den Boden berührten. Es war sehr angenehm, durch die Luft zu schweben. Er wanderte im Atelier umher, und sah sich heimlich die Bilder an, die an der Wand standen. «Hör mal», sagte er plötzlich, «ich hab eine Idee.» Er ging hinüber und baute sich leicht schwankend vor der Couch auf. «Hör mal zu, mein kleiner Kalmück.» «Was?» «Ich hab eine großartige Idee. Hörst du auch zu?» «Ich höre Josie zu.» «Hör bitte mir zu. Du bist mein Freund, mein hässlicher kleiner Kalmück aus Minsk, und ich halte dich für einen Künstler … für einen so großen Künstler, dass ich dich um ein Bild bitten möchte. Um ein schönes Bild …» «Nimm sie alle. Nimm dir, was du willst, aber störe mich nicht, wenn ich mit deiner Frau spreche.» «Nein, nein. Hör doch zu. Ich meine ein Bild, das ich immer bei mir haben kann … immer … wohin ich auch gehe … was auch geschieht … Ein Bild, das du für mich gemalt hast …» Er beugte sich vor und rüttelte den Jungen am Knie. «Bitte, bitte, hör zu.» «Nun hör ihm schon zu», sagte Josie. «Es ist so. Ich möchte, dass du mir ein Bild auf die Haut malst, auf den Rücken. Und dann sollst du es eintätowieren, damit es immer dableibt.» «Du bist ja verrückt.» «Ich zeige dir, wie man mit dem Tätowierapparat umgeht. Das ist ganz einfach. Jedes Kind kann es lernen.» «Ich bin kein Kind.» «Bitte …» «Du bist völlig übergeschnappt. Was willst du eigentlich von mir?» Der Maler blickte in die dunklen, müden, aber vom Wein glänzenden Augen des anderen. «Zum Teufel, was willst du von mir?» «Du könntest es leicht machen! Bestimmt, mein kleiner Kalmück, du könntest es!» «Du meinst, mit dem Tätowierapparat?» «Ja, mit dem Tätowierapparat! Ich bringe es dir in zwei Minuten bei.» «Unmöglich!» «Willst du etwa behaupten, dass ich nicht weiß, wovon ich rede?» Nein, so etwas konnte niemand von ihm behaupten, denn wenn einer etwas vom Tätowieren verstand, dann war er es – Drioli. Hatte er nicht erst im vorigen Monat den Bauch eines Mannes mit einem wunderbaren, hochkünstlerischen Blumenmuster überzogen? Und war ihm nicht ein Meisterwerk gelungen, als er einem Kunden mit sehr stark behaarter Brust das Bild eines Grizzlybären so eintätowierte, dass die Haare dem Bären als Pelz dienten? Konnte er nicht das Bild einer Dame mit solcher Raffinesse auf einen Männerarm malen, dass jedes Anschwellen des Muskels die Dame zum Leben erweckte und sie einige erstaunliche Verrenkungen vollführen ließ? «Ich behaupte nichts weiter», sagte der Junge, «als dass du betrunken bist und dass dies eine Schnapsidee ist.» «Wir könnten Josie als Modell nehmen. Eine Skizze von Josie auf meinem Rücken. Habe ich nicht das Recht, ein Bild meiner Frau auf dem Rücken zu tragen?» «Von Josi?» «Ja.» Drioli wusste, dass er nur den Namen seiner Frau zu nennen brauchte, damit die dicken braunen Lippen des Jungen sich leicht öffneten und zu zittern begannen. «Nein», sagte Josie. «Liebling, Josie, bitte. Nimm diese Flasche und trink sie aus, dann wirst du großzügiger werden. Es ist eine phantastische Idee. Noch nie in meinem Leben habe ich eine so geniale Idee gehabt.» «Was für eine Idee?» «Dass er mir dein Bild auf den Rücken malt. Habe ich etwa kein Recht, das zu verlangen?» «Mein Bild?» «Eine Aktstudie», sagte der Junge. «Gar keine schlechte Idee.» «Keine Aktstudie», rief Josie. «Es ist eine phantastische Idee», wiederholte Drioli. «Eine völlig verrückte Idee», erklärte Josie. «Auf jeden Fall ist es eine Idee», meinte der Junge. «Es ist eine Idee, die gefeiert werden muss.» Sie leerten eine weitere Flasche. Dann sagte der Junge: «Es hat keinen Zweck, weil ich mit dem Apparat bestimmt nicht zurechtkomme. Aber ich werde dir ein Bild auf den Rücken malen. Das kannst du so lange behalten, bis du es beim Baden abwäschst. Wenn du nie mehr badest, behältst du es, solange du lebst.» «Nein», sagte Drioli. «Doch. Und wenn du dich eines Tages entschließt, in die Badewanne zu steigen, werde ich wissen, dass du mein Bild nicht mehr magst. Auf diese Weise kann ich herausfinden, wie groß deine Bewunderung für meine Kunst ist.» «Um Himmels willen», wehrte Josie ab. «Seine Bewunderung für deine Kunst ist so groß, dass er sich nie mehr waschen wird. Mach lieber die Tätowierung. Aber keinen Akt.» «Dann eben nur den Kopf», sagte Drioli. «Ich kann doch nicht tätowieren.» «Es ist wirklich ganz einfach. Ich bringe es dir im Handumdrehen bei. Du wirst sehen. Ich gehe jetzt und hole mein Werkzeug. Die Nadeln und die Tuschen. Ich habe Tuschen in allen Farben – in Farben, die noch viel schöner als deine sind …» «Es ist unmöglich.» «Ich habe eine Menge Tuschen. Habe ich nicht eine Menge Tuschen in allen Farben, Josie?» «Ja.» «Du wirst sehen», wiederholte Drioli. «Ich gehe jetzt und hole sie.» Er stand auf und verließ mit unsicherem, aber entschlossenem Schritt das Zimmer. Eine halbe Stunde später kam er zurück. «Ich habe alles mitgebracht», rief er und schwenkte einen braunen Koffer. «Hier ist alles drin, was man zum Tätowieren braucht.» Er stellte den Koffer auf den Tisch, öffnete ihn und nahm die elektrischen Nadeln und die Fläschchen mit farbiger Tusche heraus. Nachdem er eine Nadel in den Tätowierapparat gesteckt hatte, ergriff er ihn und drückte auf einen Schalter. Ein leises Summen ertönte, und die Nadel, die etwa einen halben Zentimeter vorstand, sprang schnell auf und ab. Drioli zog sich die Jacke aus und streifte den linken Hemdsärmel hoch. «Nun pass auf. Ich zeige dir, wie einfach es ist. Hier, ich zeichne mir ein Muster auf den Arm.» Sein Unterarm war bereits mit blauen Musterungen bedeckt, aber er fand eine Stelle, die noch frei war. «Zuerst suche ich mir die Tusche aus – in diesem Fall werde ich Blau nehmen – und tauche die Nadelspitze in die Tusche … so … Ich halte die Nadel senkrecht und lasse sie leicht über die Haut gleiten … siehst du … Durch den elektrischen Antrieb springt die Nadel auf und ab. Sie punktiert die Haut, die Tusche dringt ein, und das ist alles. Na, ist das nicht ein Kinderspiel? Schau her, jetzt zeichne ich einen Windhund …» Das Interesse des Jungen erwachte. «Komm, lass mich mal probieren – auf deinem Arm.» Mit der summenden Nadel zog er blaue Linien über Driolis Arm. «Es ist wirklich einfach», murmelte er. «Als ob man eine Federzeichnung macht. Ganz genauso, es geht nur etwas langsamer.» «Na bitte, ich hab’s ja gesagt. Bist du fertig? Wollen wir anfangen?» «Ja.» «Das Modell!», rief Drioli. «Los, los, Josie!» In einem Taumel der Begeisterung torkelte er durch den Raum, eifrig wie ein Kind, das ein aufregendes Spiel vorbereitet. «Wo willst du sie haben? Wo soll sie stehen?» «Dort drüben vor der Kommode. Mit offenem Haar. Ich werde sie malen, wie sie ihr Haar bürstet.» «Großartig. Du bist ein Genie.» Widerwillig erhob sich die junge Frau und stellte sich vor die Kommode. Ihr Glas nahm sie mit. Drioli zog sein Hemd und die Hose aus. Nur noch mit Unterhose, Socken und Schuhen bekleidet, stand er leicht schwankend da. Sein magerer Oberkörper war fest, weißhäutig, fast unbehaart. «So», sagte er, «jetzt bin ich die Leinwand. Wo willst du deine Leinwand haben?» «Auf der Staffelei, wie immer.» «Sei nicht albern. Die Leinwand bin doch ich.» «Dann geh auf die Staffelei, denn da gehörst du hin.» «Wie kann ich das?» «Bist du die Leinwand, Ja oder nein?» «Natürlich bin ich die Leinwand. Ich fühle mich schon ganz wie eine Leinwand.» «Dann geh auf die Staffelei. Das kann doch nicht so schwierig sein.» «Wirklich, es ist unmöglich.» «Na gut, setz dich auf den Stuhl. Setz dich rittlings drauf, dann kannst du deinen betrunkenen Kopf auf die Lehne stützen. Beeil dich, ich will anfangen.» «Ich bin fertig. Ich warte.» «Zuerst», sagte der Junge, «mache ich einen Entwurf. Wenn mir das Bild gefällt, werde ich es eintätowieren.» Und er begann mit einem breiten Pinsel den nackten Rücken zu bemalen. «Uiii! Uiii!», schrie Drioli. «Ein riesiger Tausendfüßler läuft mir das Rückgrat herunter.» «Sitz still! Bewege dich nicht!» Der Junge arbeitete schnell. Er benutzte eine dünne blaue Wasserfarbe, damit er später ungehindert tätowieren konnte. Seit er zu malen begonnen hatte, war seine Konzentration so stark, dass sie die Trunkenheit zu verdrängen schien. Er setzte die Pinselstriche mit kurzen, ruckartigen Armbewegungen und hielt dabei das Handgelenk steif. In weniger als einer halben Stunde war der Entwurf fertig. «Gut. Das ist alles», sagte er zu Josi, die sofort zur Couch ging, sich hinlegte und einschlief. Drioli blieb wach. Er sah zu, wie der Junge nach der Nadel griff und sie in die Tusche tauchte; dann, als sie ihm in die Haut drang, fühlte er ein scharfes, kitzelndes Stechen. Der Schmerz, der unangenehm, aber nicht unerträglich war, hinderte ihn einzuschlafen. Er vertrieb sich die Zeit, indem er den Lauf der Nadel verfolgte und beobachtete, welche Tuschen der Junge wählte. Daraus suchte er dann Form und Farben des Bildes zu erraten, das auf seinem Rücken entstand. Der Junge arbeitete mit erstaunlicher Intensität. Für ihn schien es nur noch diesen Tätowierapparat zu geben, mit dem sich so ungewöhnliche Effekte erzielen ließen. Bis in den frühen Morgen hinein summte der kleine Motor. Draußen war es schon hell, und von der Straße drangen Geräusche ins Zimmer, als der Künstler endlich zurücktrat und sagte: «Es ist fertig.» «Ich möchte es sehen», bat Drioli. Der Junge hielt einen Spiegel hoch, den er ein wenig zur Seite neigte, und Drioli verrenkte sich fast den Hals, um hineinzuschauen. «Mein Gott!», rief er. Es war ein erstaunlicher Anblick. Von den Schultern bis zum Ende der Wirbelsäule war sein Rücken ein einziges Farbenmeer – golden und grün und blau und schwarz und rot. Die Tätowierung war so dicht, dass sie fast wie ein Impasto wirkte. Der Junge war den ursprünglichen Pinselstrichen so genau wie möglich gefolgt und hatte die Flächen farbig ausgefüllt. Es war wunderbar, wie er das Rückgrat und die Wölbung der Schulterblätter in die Komposition einbezogen hatte. Vor allem war es ihm trotz der zwangsläufig langsameren Arbeitsweise gelungen, die Ursprünglichkeit des Ausdrucks zu bewahren. Das Verzerrte, Gequälte, das so charakteristisch für die anderen Werke Soutines war, offenbarte sich auch hier. Sehr ähnlich war das Porträt nicht. Dem Jungen hatte wohl mehr daran gelegen, eine Stimmung einzufangen – trunken, in verschwimmenden Umrissen hob sich das Gesicht des Modells von einem Hintergrund wirbelnd kreisender dunkelgrüner Pinselstriche ab. «Es ist großartig!» «Ich muss sagen, mir gefällt es auch.» Der Junge trat zurück und betrachtete es kritisch. «Weißt du», fügte er hinzu, «ich glaube, es ist gut genug, signiert zu werden.» Er schaltete den Apparat ein und schrieb seinen Namen mit roter Tusche über die Stelle, an der Driolis rechte Niere saß. Der alte Mann, der Drioli hieß, stand in einer Art von Trance vor dem Schaufenster der Kunsthandlung und starrte das Bild an. Das alles war so lange her – beinahe, als wäre es in einem anderen Leben geschehen. Und der Junge? Was war aus ihm geworden? Drioli erinnerte sich jetzt, dass er ihn vergebens gesucht hatte, als er aus dem Krieg – dem ersten Krieg – zurückkehrte. Auf seine Frage: «Wo ist mein kleiner Kalmück?», hatte Josie geantwortet: «Er ist fort. Ich weiß nicht, wo er ist; angeblich soll sich ein Kunsthändler seiner angenommen und ihn nach Céret geschickt haben, damit er dort Bilder malt.» «Vielleicht kommt er wieder.» «Vielleicht. Wer weiß?» Das war das letzte Mal gewesen, dass sie von ihm gesprochen hatten. Bald darauf waren sie nach Le Havre gezogen, wo es mehr Seeleute gab und das Geschäft besser ging. Der alte Mann lächelte, als er an Le Havre dachte. Gute Jahre waren das gewesen, die Jahre zwischen den Kriegen, mit dem kleinen Laden in der Nähe des Hafens und der gemütlichen Wohnung. Jeden Tag hatten sich drei, vier oder fünf Seeleute bei ihm tätowieren lassen, sodass es nie an Arbeit fehlte. Wirklich, das waren gute Jahre gewesen. Dann war der zweite Krieg ausgebrochen. Josie war umgekommen, und die Deutschen waren einmarschiert. Niemand hatte sich mehr ein Bild auf den Arm tätowieren lassen wollen. Und Drioli war mittlerweile zu alt geworden, als dass er sich auf eine andere Arbeit hätte umstellen können. Verzweifelt war er nach Paris zurückgekehrt, in der unbestimmten Hoffnung, dass in einer so großen Stadt alles leichter sein werde. Aber darin hatte er sich getäuscht. Und nun, da der Krieg vorbei war, besaß er weder die Mittel noch die Energie, sein kleines Geschäft neu aufzubauen. Es war nicht einfach für einen alten Mann, sich durchzuschlagen – besonders wenn es einem widerstrebte zu betteln. Aber wie sonst sollte er am Leben bleiben? Er starrte noch immer unverwandt auf das Bild. Das ist also mein kleiner Kalmück, dachte er. Wie schnell so ein Anblick die Erinnerung aufrühren kann. Bis vor wenigen Minuten hatte er sogar die Tätowierung auf seinem Rücken völlig vergessen. Seit einer Ewigkeit hatte er nicht mehr daran gedacht. Er presste das Gesicht an die Glasscheibe und spähte in das Innere der Kunsthandlung. An den Wänden konnte er zahlreiche Gemälde erkennen, die alle von demselben Künstler zu stammen schienen. Viele Menschen gingen umher und betrachteten die Bilder. Offensichtlich war dies eine Sonderausstellung. Einem plötzlichen Impuls folgend, stieß Drioli die Tür der Galerie auf und ging hinein. Er stand in einem langgestreckten Raum auf einem dicken weinroten Teppich. Mein Gott, wie schön und wie warm es hier war! Und alle diese Menschen, die von einem Bild zum anderen schlenderten, gut gewaschen, gut gekleidet, einen Katalog in der Hand! Drioli blieb an der Tür stehen und sah sich nervös um. Ob er es wagen durfte, sich unter die Menge zu mischen? Bevor er Zeit hatte, seinen Mut zusammenzunehmen, hörte er eine Stimme fragen: «Was wollen Sie hier?» Der Mann trug einen schwarzen Cutaway, war klein und dick und hatte ein sehr weißes Gesicht. Ein schlaffes Gesicht, dessen fleischige Wangen in zwei Fettwülsten über die Mundwinkel hingen. Er trat dicht an Drioli heran und fragte noch einmal: «Was wollen Sie hier?» Drioli schwieg. «Bitte», sagte der andere, «verlassen Sie gefälligst meine Galerie.» «Darf ich mir nicht die Bilder anschauen?» «Ich habe Sie gebeten zu gehen.» Drioli rührte sich nicht von der Stelle. Er fühlte plötzlich eine maßlose Wut in sich aufsteigen. «Machen Sie keine Schwierigkeiten», sagte der Mann. «Kommen Sie, hier geht’s raus.» Er legte seine fette weiße Hand auf Driolis Arm und wollte ihn zur Tür drängen. Das gab den Ausschlag. «Nehmen Sie Ihre verdammte Hand weg!», schrie Drioli. Seine Stimme schallte durch die lange Galerie, und alle Köpfe fuhren herum. Erstaunte Gesichter starrten den Menschen an, der so laut aufbegehrte. Ein Diener in Livree eilte dem Geschäftsinhaber zu Hilfe, und die beiden Männer versuchten, Drioli hinauszuwerfen. Die Leute beobachteten den Kampf ohne Erregung. Ihre Mienen verrieten nur ein schwaches Interesse; offenbar dachten sie alle: Die Sache geht in Ordnung. Für uns besteht keine Gefahr. Wir haben nichts zu befürchten. «Auch ich», rief Drioli, «auch ich besitze ein Bild von diesem Maler! Er war mein Freund, und er hat mir ein Bild geschenkt.» «Er ist verrückt.» «Ein Irrer. Er hat einen Tobsuchtsanfall.» «Man sollte die Polizei holen.» Mit einer schnellen Drehung seines Körpers befreite sich Drioli von den beiden Männern, und bevor jemand ihn aufhalten konnte, rannte er durch die Galerie und brüllte: «Ich werde es euch zeigen! Ich werde es euch zeigen! Ich werde es euch zeigen!» Er warf den Mantel ab, dann die Jacke, das Hemd und wandte den Leuten seinen nackten Rücken zu. «Da!», rief er keuchend. «Seht ihr? Da ist es!» Plötzlich wurde es totenstill in dem Raum. Alle standen wie vom Donner gerührt, ratlos, verlegen, erschrocken. Alle starrten auf die Tätowierung. Sie war unversehrt, farbenprächtig wie immer, aber der Rücken des alten Mannes war magerer geworden, die Schulterblätter traten schärfer hervor, und das gab dem Bild ein seltsam verrunzeltes, gequetschtes Aussehen. Jemand sagte: «Mein Gott, er hat ja recht!» Die allgemeine Erregung machte sich in einem Stimmengewirr Luft, als die Leute auf den alten Mann zueilten, um das Bild aus nächster Nähe zu betrachten. «Ja, unverkennbar.» «Ein früher Soutine, nicht wahr?» «Es ist phantastisch, ganz phantastisch!» «Und sehen Sie, es ist signiert!» «Nehmen Sie die Schultern etwas nach vorn, mein Freund, damit das Bild sich spannt.» «Wann ist das entstanden, Alter?» «Neunzehnhundertdreizehn», antwortete Drioli, ohne sich umzudrehen. «Im Herbst neunzehnhundertdreizehn.» «Wer hat Soutine das Tätowieren beigebracht?» «Ich.» «Und das Mädchen?» «Sie war meine Frau.» Der Besitzer der Galerie bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er war jetzt sehr ruhig, sehr ernst, nur seine Lippen deuteten ein Lächeln an. «Monsieur, ich kaufe das Bild», sagte er, und Drioli sah, wie bei der Bewegung des Kiefers das schlaffe Fett der Wangen erzitterte. «Haben Sie gehört, Monsieur? Ich kaufe das Bild.» «Wie können Sie es kaufen?», fragte Drioli leise. «Ich gebe Ihnen zweihunderttausend Francs dafür.» Die Augen des Kunsthändlers waren klein und dunkel, die Flügel seiner breiten Nase bebten. «Tun Sie es nicht!», murmelte jemand hinter dem Alten. «Es ist zwanzigmal so viel wert.» Drioli öffnete den Mund um zu sprechen. Da keine Worte kamen, schloss er ihn; dann öffnete er ihn von neuem und sagte langsam: «Aber wie kann ich es verkaufen?» Er hob die Hände und ließ sie kraftlos sinken. «Monsieur, wie kann ich es denn verkaufen?» Abgrundtiefe Traurigkeit lag in seiner Stimme. «Ja», meinten auch die Umstehenden, «wie kann er es verkaufen? Es ist doch ein Teil von ihm.» «Hören Sie –» der Kunsthändler trat dicht an ihn heran – «ich will Ihnen helfen. Ich mache Sie reich. Wir werden uns unter vier Augen über dieses Bild einigen, ja?» Drioli blickte ihn verständnislos an. «Aber wie können Sie es kaufen, Monsieur? Was wollen Sie damit anfangen, wenn Sie es gekauft haben? Wo werden Sie es aufbewahren? Wo werden Sie es heute Abend hinstellen? Und wo morgen?» «Wo ich es aufbewahren werde? Ja, wo bewahre ich es denn auf? Also … hm … ja, wirklich …» Der Kunsthändler rieb sich mit seinem dicken weißen Zeigefinger die Nase. «Es scheint», sagte er schließlich, «dass ich Sie mitkaufe, wenn ich das Bild kaufe. Das ist ein Nachteil.» Wieder rieb er sich die Nase. «Das Bild hat keinen Wert, solange Sie am Leben sind. Wie alt sind Sie, mein Freund?» «Einundsechzig.» «Nun, Sie sind vielleicht nicht sehr kräftig, was?» Der Kunsthändler nahm die Hand von der Nase und musterte Drioli langsam von Kopf bis Fuß wie ein Bauer, der ein altes Pferd abschätzt. Drioli wich einen Schritt zurück. «Das gefällt mir nicht. Ganz ehrlich, Monsieur, das gefällt mir nicht.» Er wich noch weiter zurück, bis er in den Armen eines großen Mannes landete, der ihn sanft an den Schultern festhielt. Drioli drehte sich um und stammelte eine Entschuldigung. Der Mann lächelte auf den Alten herab und klopfte ihm mit der kanariengelb behandschuhten Rechten beruhigend auf die nackte Schulter. «Hören Sie, mein Freund», sagte der Fremde, noch immer lächelnd. «Schwimmen Sie gern? Liegen Sie gern in der Sonne?» Drioli sah ihn verdutzt an. «Mögen Sie gutes Essen? Und die Rotweine der großen Weingüter in Bordeaux?» Der Mann lächelte unentwegt und entblößte dabei große weiße Zähne, zwischen denen hier und dort Gold blitzte. Er sprach mit leiser, einschmeichelnder Stimme, ohne die Hand von Driolis Schulter zu nehmen. «Mögen Sie das?» «Nun … ja», antwortete Drioli in wachsender Verwirrung. «Natürlich.» «Und die Gesellschaft schöner Frauen?» «Warum nicht?» «Und einen Schrank voll maßgeschneideter Anzüge und Hemden? Ich habe den Eindruck, dass Sie etwas knapp mit Garderobe sind.» Drioli starrte diesen liebenswürdigen Menschen an und wartete auf den Rest des Angebots. «Haben Sie schon mal Schuhe getragen, die eigens für Sie angefertigt wurden?» «Nein.» «Aber Sie hätten nichts dagegen, was?» «Nun …» «Und wie wär’s, wenn jeden Morgen ein Friseur käme, der Sie rasiert und Ihnen das Haar schneidet?» Drioli stand nur da und staunte. «Und ein reizendes dralles Mädchen, das Sie manikürt?» Jemand in der Menge lachte. «Und hätten Sie nicht gern eine Klingel neben Ihrem Bett? Morgens brauchten Sie dann nur zu läuten, und schon würde Ihnen ein Stubenmädchen das Frühstück bringen. Na, wäre das nicht schön, mein Freund?» Drioli schwieg. «Sehen Sie, ich bin der Besitzer des Hotels Bristol in Cannes. Ich lade Sie ein, mit mir zu kommen und bis an Ihr seliges Ende als mein Gast herrlich und in Freuden zu leben.» Der Mann machte eine Pause, damit sein Zuhörer Zeit hätte, diese glänzenden Aussichten voll und ganz zu würdigen. Dann fuhr er fort: «Ihre einzige Pflicht – oder sagen wir lieber: Ihr Vergnügen – würde darin bestehen, dass Sie sich, nur mit einer Badehose bekleidet, täglich an meinem Strand aufhalten. Sie gehen inmitten meiner Gäste umher, sonnen sich, schwimmen, trinken Cocktails. Lockt Sie das nicht?» Keine Antwort. «Verstehen Sie – dadurch gebe ich allen meinen Gästen Gelegenheit, dieses faszinierende Bild von Soutine zu besichtigen. Sie werden berühmt werden. Man wird sagen: ‹Oh, da ist ja der Bursche mit den zehn Millionen Francs auf dem Rücken.› Wie finden Sie diese Idee, Monsieur? Gefällt Sie Ihnen?» Drioli betrachtete den Mann mit den kanariengelben Handschuhen und fragte sich, ob das etwa ein Scherz sein sollte. «Es ist eine komische Idee», sagte er langsam. «Meinen Sie das alles im Ernst?» «Aber natürlich …» «Moment mal», unterbrach ihn der Kunsthändler. «Hören Sie, Alter, mir ist eben die Lösung unseres Problems eingefallen. Ich kaufe das Bild und beauftrage einen Chirurgen, die Haut von Ihrem Rücken zu entfernen. Dann können Sie gehen, wohin Sie wollen, und das viele Geld genießen, das ich Ihnen dafür gebe.» «Ohne Haut auf dem Rücken?» «Nein, nein, Sie haben mich missverstanden. Der Chirurg ersetzt das alte Hautstück durch ein neues. Eine ganz einfache Sache.» «Kann man denn das?» «Aber gewiss. Warum nicht?» «Unmöglich!», mischte sich der Mann mit den kanariengelben Handschuhen ein. «Er ist zu alt für eine so schwierige Hautverpflanzung. Es wäre Ihr Tod, mein Freund. Ihr sicherer Tod.» «Sie meinen … ich würde sterben?» «Natürlich. Eine solche Operation können Sie nicht überleben. Nur das Bild würde durchkommen.» «Um Gottes willen!», rief Driolo. Er blickte entsetzt in die Gesichter der Menschen, die ihn beobachteten, und in der atemlosen Stille hörte man die ruhige Stimme eines Mannes, der irgendwo im Hintergrund stand: «Wenn man dem Alten genug Geld anbietet, ist er vielleicht sogar bereit, sich auf der Stelle umzubringen. Wer weiß?» Ein paar Leute lachten. Der Kunsthändler scharrte verlegen mit den Füßen auf dem Teppich. Wieder legte sich die Hand in dem kanariengelben Handschuh auf Driolis Schulter. «Kommen Sie», forderte ihn der Mann mit seinem breiten, weißzahnigen Lächeln auf. «Wir beide werden erst einmal ein gutes Abendessen zu uns nehmen. Bei Tisch können wir ja weiterreden. Was halten Sie davon? Sind Sie hungrig?» Drioli sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Ihm gefielen weder der lange, biegsame Hals des Mannes noch die Art, wie er ihn schlangenhaft vorreckte, wenn er mit einem sprach. «Gebratene Ente und Chambertin», sagte der Mann. Er gab diesen Worten eine kräftige, saftige Betonung, spritzte sie gleichsam mit der Zunge hervor. «Und vielleicht noch ein leichtes, lockeres soufflé aux marrons.» Driolis Augen richteten sich auf die Decke, seine Lippen wurden schlaff und feucht. Man sah, wie dem armen alten Kerl buchstäblich das Wasser im Munde zusammenlief. «Wie mögen Sie Ihre Ente?», fuhr der Mann fort. «Sehr braun und knusprig, oder bevorzugen Sie …?» «Ich komme», sagte Drioli rasch, bückte sich nach seinem Hemd und zerrte es in wilder Hast über den Kopf. «Warten Sie auf mich, Monsieur. Ich komme.» Und gleich darauf war er mit seinem neuen Gönner aus der Kunsthandlung verschwunden. Schon wenige Wochen später wurde ein Bild von Soutine – das Porträt einer Frau, in einer ungewöhnlichen Technik gemalt, schön gerahmt und dick mit Firnis überzogen – in Buenos Aires zum Verkauf angeboten. Diese Tatsache stimmt uns ein wenig nachdenklich, umso mehr, als es in Cannes kein Hotel Bristol gibt. Wir können nur für die Gesundheit des alten Mannes beten und inbrünstig hoffen, dass er dort, wo er jetzt weilt, von einem reizenden drallen Mädchen manikürt wird und dass ihm ein Stubenmädchen morgens das Frühstück ans Bett bringt. Gift Es muss gegen Mitternacht gewesen sein, als ich nach Hause fuhr. Kurz vor dem Gartentor des Bungalows blendete ich die Scheinwerfer ab, um zu vermeiden, dass der Lichtstrahl beim Einbiegen das Fenster von Harry Popes Schlafzimmer traf und ihn aufweckte. Aber ich hätte mir deswegen keine Gedanken zu machen brauchen. Als ich mich dem Haus näherte, sah ich, dass Harrys Lampe noch brannte. Er war also wach – wenn er nicht über seinem Buch eingenickt war. Ich parkte den Wagen und stieg die fünf Stufen zur Veranda hinauf. In der Dunkelheit zählte ich jede Stufe, damit ich oben nicht etwa ins Leere trat. Ich überquerte die Veranda, stieß die Fliegentür auf und knipste das Licht in der Diele an. Dann ging ich zu Harrys Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und schaute ins Zimmer. Er lag auf dem Bett, und ich sah, dass er wach war. Er bewegte sich jedoch nicht. Er wandte mir nicht einmal den Kopf zu, aber ich hörte ihn flüstern: «Timber, Timber, komm her.» Er sprach überaus langsam und vorsichtig. Ich öffnete die Tür vollends und wollte gerade mit schnellen Schritten auf ihn zugehen, als er sagte: «Halt. Warte einen Augenblick, Timber.» Ich konnte ihn kaum verstehen. Anscheinend kostete es ihn gewaltige Mühe, die Worte herauszubringen. «Was ist los, Harry?» «Pssst!», zischte er. «Pssst! Um Gottes willen, sei leise. Zieh die Schuhe aus, bevor du herkommst. Bitte, Timber, tu, was ich dir sage.» Seine Art zu sprechen beschwor eine Erinnerung herauf: George Barling, der einen Bauchschuss bekommen hatte, stand an die Kiste mit dem Reserve-Flugzeugmotor gelehnt, presste die Hände auf den Leib und verwünschte den deutschen Piloten in genau dem gleichen heiseren, angestrengten Flüsterton, der jetzt aus Harrys Kehle drang. «Schnell, Timber. Aber zieh dir zuerst die Schuhe aus.» Ich hatte keine Ahnung, warum ich mir die Schuhe ausziehen sollte, hielt es jedoch für besser, ihm nicht zu widersprechen, denn er machte den Eindruck eines todkranken Menschen. Ich bückte mich also, streifte die Schuhe ab und ließ sie auf dem Boden liegen. Dann ging ich zu Harry hinüber. «Fass das Bett nicht an! Um Gottes willen, fass das Bett nicht an!» Er sprach noch immer, als hätte er einen Bauchschuss bekommen. Ich sah, dass er auf dem Rücken lag, bis zur Brust mit einem Laken zugedeckt. Er trug einen blau, braun und weiß gestreiften Pyjama und schwitzte fürchterlich. Die Nacht war schwül, und auch ich schwitzte, aber nicht so wie Harry. Sein Gesicht triefte von Schweiß, und rings um den Kopf war das Kissen völlig durchnässt. Vielleicht ein schwerer Malariaanfall, dachte ich. «Was ist denn nur los, Harry?» «Eine Bungar», sagte er. «Eine Bungar! O Gott! Wo hat sie dich gebissen? Und wann?» «Nicht so laut», wisperte er. Ich beugte mich vor und packte ihn an der Schulter. «Harry, wir müssen sofort etwas unternehmen. Los, los, sag doch schon, wo sie dich gebissen hat.» Er rührte sich nicht, und er wirkte seltsam verkrampft, als müsse er alle Kraft zusammennehmen, um einen starken Schmerz zu ertragen. «Ich bin nicht gebissen worden», flüsterte er. «Noch nicht. Sie liegt auf meinem Bauch. Sie liegt da und schläft.» Ich fuhr unwillkürlich zurück und starrte auf seinen Bauch oder vielmehr auf das Laken, das ihn bedeckte. Das Laken warf an mehreren Stellen Falten, sodass nicht zu erkennen war, ob sich etwas darunter verbarg. «Eine Bungar auf deinem Bauch? Das ist doch wohl nicht dein Ernst.» «Ich schwöre es dir.» «Wie ist sie denn dorthin gekommen?» Es war leichtsinnig von mir, diese Frage zu stellen. Harry scherzte offensichtlich nicht, und ich hätte ihn lieber ermahnen sollen, sich still zu verhalten. «Ich las», sagte Harry. Er sprach sehr langsam, Wort für Wort, und war ängstlich darauf bedacht, die Bauchmuskeln nicht anzuspannen. «Lag auf dem Rücken und las und fühlte etwas auf der Brust. Hinter dem Buch. Eine Art Kitzeln. Dann sah ich aus den Augenwinkeln diese Bungar über meine Brust kriechen. Klein, etwa fünfundzwanzig Zentimeter. Wusste, dass ich mich nicht rühren durfte. Hätte es auch gar nicht gekonnt. Lag da und beobachtete sie. Dachte, sie würde von meiner Brust aufs Laken kriechen.» Harry schwieg einige Sekunden. Seine Augen richteten sich auf die Stelle, wo das Laken seinen Bauch bedeckte, und ich begriff, dass er fürchtete, sein Flüstern könnte die Bungar gestört haben. «Da war eine Falte im Laken», berichtete er schließlich weiter. Er sprach jetzt noch langsamer und so leise, dass ich mich weit vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. «Hier oben, siehst du? Sie kroch darunter. Ich konnte durch den Pyjama fühlen, wie sie auf meinen Bauch kroch. Und dann machte sie halt. Jetzt liegt sie dort in der Wärme. Schläft wahrscheinlich. Ich habe auf dich gewartet.» Er hob den Blick und sah mich an. «Wie lange schon?» «Seit Stunden», flüsterte er. «Seit Stunden und Stunden und Stunden. Ich kann einfach nicht mehr still liegen. Und dann dieser Hustenreiz, den ich schon die ganze Zeit habe …» Die Wahrheit dieser Geschichte ließ sich kaum bezweifeln. Für eine Bungar war das durchaus keine ungewöhnliche Verhaltensweise. Diese Schlangen sind oft in der Nähe von Häusern zu finden und haben eine Vorliebe für warme Plätze. Ungewöhnlich erschien mir nur, dass Harry nicht gebissen worden war. Der Biss ist absolut tödlich, es sei denn, dass man das Tier sofort fängt. Jedes Jahr sterben auf diese Weise eine größere Anzahl von Menschen in Bengalen, vor allem in den Dörfern. «Pass auf, Harry», sagte ich, ebenfalls im Flüsterton, «du darfst dich um keinen Preis bewegen. Und sprich nur, wenn es unbedingt nötig ist. Tu nichts, was sie erschrecken könnte, dann beißt sie bestimmt nicht. Wir kriegen das schon hin.» Ich schlich auf Socken in die Küche, holte ein kleines, scharfes Messer und steckte es in die Hosentasche – für den Fall, dass etwas schiefging, bevor wir einen Plan gefasst und ihn ausgeführt hatten. Wenn Harry hustete oder sich bewegte oder sonst etwas tat, was die Bungar zum Beißen reizte, würde ich sofort die Wunde durch einen Schnitt erweitern und versuchen, das Gift auszusaugen. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück. Harry lag regungslos da, und der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Er wandte keinen Blick von mir, als ich durch das Zimmer auf sein Bett zuging, und ich sah ihm an, dass er sich fragte, was ich draußen gemacht hatte. Ich stand neben ihm und zerbrach mir den Kopf, wie ich ihm am besten helfen könnte. «Harry», sagte ich dicht an seinem Ohr, damit ich die Stimme nicht über das allerleiseste Flüstern zu erheben brauchte, «ich möchte jetzt das Laken ganz, ganz vorsichtig zurückziehen und sie mir erst einmal ansehen. Ich glaube, ich schaffe es, ohne sie zu wecken.» «Lass das bleiben, du verdammter Idiot.» Er sprach so langsam, so vorsichtig, so leise, dass seine Stimme völlig ausdruckslos war. Der Ausdruck lag in den Augen und in den Mundwinkeln. «Warum denn?» «Das Licht würde sie erschrecken. Unter dem Laken ist es doch dunkel.» «Und wenn ich nun das Laken mit einem Ruck fortreiße und sie hinunterfege, bevor sie zubeißen kann?» «Warum holst du keinen Arzt?», fragte Harry. Der Blick, mit dem er mich ansah, machte mir klar, dass ich schon längst daran hätte denken müssen. «Einen Arzt. Natürlich. Ich rufe Ganderbai an.» Ich ging auf Zehenspitzen in die Diele, schlug Ganderbais Nummer im Telefonbuch nach, hob den Hörer ab und bat die Vermittlung, sich zu beeilen. «Dr. Ganderbai», sagte ich. «Hier spricht Timber Woods.» «Hallo, Mr. Woods. Sind Sie noch nicht im Bett?» «Hören Sie, können Sie wohl sofort herkommen? Und bringen Sie ein Serum mit – gegen einen Bungarbiss.» «Wer ist gebissen worden?» Er stieß die Frage so scharf hervor, dass es in meinem Ohr eine Art kleiner Explosion gab. «Niemand. Bis jetzt noch niemand. Aber Harry Pope liegt im Bett und hat eine Bungar auf dem Bauch – sie schläft unter dem Laken auf seinem Bauch.» Etwa drei Sekunden lang herrschte tiefe Stille, dann hörte ich wieder Ganderbais Stimme, und diesmal sprach er nicht explosiv, sondern langsam und eindringlich. «Sagen Sie ihm, er soll ganz still liegen. Er darf sich nicht bewegen und nicht sprechen. Verstehen Sie?» «Gewiss.» «Ich komme sofort.» Er legte auf, und ich ging ins Schlafzimmer zurück. Harry ließ mich nicht aus den Augen, als ich den Raum durchquerte. «Ganderbai ist schon unterwegs. Er sagt, du sollst ganz still liegen.» «Zum Teufel, denkt er etwa, ich tanze hier herum?» «Und nicht sprechen, hat er gesagt. Auf keinen Fall, Harry. Du nicht und ich auch nicht.» «Warum bist du dann nicht endlich still?» Bei diesen Worten begann es in Harrys einem Mundwinkel zu zucken – schnelle, kurze, zum Kinn hinlaufende Bewegungen, die auch dann noch andauerten, als er nicht mehr sprach. Ich zog mein Taschentuch heraus und wischte ihm sehr sanft den Schweiß vom Gesicht. Ich fühlte das leichte Zucken des Muskels – es war der, mit dem er sonst lächelte –, als ich darüberstrich. Ich schlich in die Küche, holte etwas Eis aus dem Kühlschrank, wickelte es in eine Serviette und zerkleinerte es so geräuschlos wie möglich. Die Sache mit dem Mund gefiel mir nicht. Und ebenso wenig die Art, wie er sprach. Ich ging mit dem Eispaket ins Schlafzimmer und legte es auf Harrys Stirn. «Zum Abkühlen.» Er verdrehte die Augen und zog scharf die Luft durch die Zähne. «Nimm es weg», flüsterte er. «Ich muss sonst husten.» Der kleine Lachmuskel begann von neuem zu zucken. Der Lichtstrahl eines Scheinwerfers huschte über das Bett, als Ganderbais Wagen in die Auffahrt einbog. Ich lief hinaus, das Eispaket noch immer in beiden Händen. «Wie sieht’s aus?», fragte Ganderbai. Er blieb nicht stehen, um mich zu begrüßen, sondern eilte an mir vorbei durch die Fliegentür. «Wo ist er? In welchem Zimmer?» Er stellte seine Tasche auf einen Stuhl in der Diele und folgte mir in Harrys Zimmer. Seine Füße steckten in weichsohligen Pantoffeln, sodass er lautlos und leicht wie eine Katze über den Fußboden glitt. Harry beobachtete ihn, ohne den Kopf zu bewegen. Als Ganderbai das Bett erreicht hatte, blickte er auf Harry hinab, lächelte ihm beruhigend zu und nickte mit dem Kopf, um anzudeuten, dass Harry sich keine Sorgen zu machen brauche, denn er, Dr. Ganderbai, werde diese Kleinigkeit bestens erledigen. Dann wandte er sich ab und ging hinaus. Ich folgte ihm in die Diele. «Zuerst möchte ich ihm das Serum einspritzen», sagte er und öffnete die Tasche, um seine Vorbereitungen zu treffen. «Intravenös. Aber ich muss dabei sehr vorsichtig sein, damit er nicht etwa zusammenzuckt.» Nachdem er in der Küche die Injektionsspritze sterilisiert hatte, nahm er ein Fläschchen in die linke Hand, stieß die Nadel durch den Gummiverschluss und zog mit dem Kolben eine hellgelbe Flüssigkeit in die Spritze. Dann gab er sie mir. «Halten Sie das, bis ich so weit bin.» Er ergriff die Tasche, und wir gingen ins Schlafzimmer. Harrys Äugen glänzten jetzt und waren weit geöffnet. Ganderbai beugte sich über ihn. Sehr behutsam – wie jemand, der mit Spitzen aus dem sechzehnten Jahrhundert hantiert – streifte er den Pyjamaärmel bis zum Ellbogen hoch, ohne Harrys Arm anzuheben. Ich stellte fest, dass er darauf bedacht war, nicht zu nah an das Bett heranzutreten. Er flüsterte: «Ich gebe Ihnen jetzt eine Injektion. Serum. Nur ein Stich, aber versuchen Sie, sich nicht zu bewegen. Und nicht die Bauchmuskeln anspannen. Ganz locker lassen.» Harry starrte auf die Spritze. Ganderbai holte einen roten Gummischlauch aus der Tasche, schob ihn vorsichtig unter Harrys Arm und knotete ihn über dem Bizeps fest zusammen. Dann betupfte er die Armbeuge mit Alkohol, gab mir den Wattebausch und ließ sich dafür die Spritze reichen. Er hielt sie gegen das Licht und drückte nach einem Blick auf die Messskala etwas Flüssigkeit heraus. Ich stand daneben und schaute ihm zu. Harry schaute ebenfalls zu. Er schwitzte stark. Sein Gesicht glänzte, als wäre es dick mit Fettcreme eingerieben, die auf der Haut zerschmolz und auf das Kissen rann. Ich sah die blaue Vene in Harrys Armbeuge, angeschwollen jetzt durch die Aderpresse. Dann sah ich die Nadel über der Vene. Ganderbai hielt die Spritze fast flach gegen den Arm, schob die Nadel seitwärts durch die Haut in die blaue Vene, schob sie langsam hinein, aber so fest, dass sie in die Haut glitt wie in ein Stück Käse. Harry, dessen Blick auf die Zimmerdecke gerichtet war, schloss die Augen und öffnete sie wieder, rührte sich jedoch nicht. Als Ganderbai fertig war, beugte er sich vor und flüsterte dicht an Harrys Ohr: «Es ist jetzt in Ordnung, selbst wenn Sie gebissen werden. Aber bewegen Sie sich nicht. Bitte, bewegen Sie sich nicht. Ich bin sofort zurück.» Er nahm seine Tasche und verließ das Zimmer. Ich folgte ihm. «Ist er jetzt immun?», fragte ich. «Nein.» «Ja, aber …» Der kleine indische Arzt stand in der Diele und rieb sich die Unterlippe. «Gibt ihm das Serum nicht wenigstens einen gewissen Schutz?», erkundigte ich mich. Ganderbai ging zu der Fliegentür, die auf die Veranda führte. Ich dachte, er würde sie aufstoßen, aber er blieb an der Innenseite der Tür stehen und blickte durch das Drahtgeflecht hinaus in die Nacht. «Ist das Serum nicht gut?», fragte ich. «Leider nicht», antwortete er, ohne sich umzudrehen. «Vielleicht kann es ihn retten. Vielleicht auch nicht. Ich überlege gerade, was sich sonst noch tun ließe.» «Sollen wir das Laken schnell zurückziehen und die Bungar herunterfegen, bevor sie zubeißen kann?» «Auf keinen Fall! Wir dürfen sein Leben nicht aufs Spiel setzen.» Er sprach in scharfem Ton, und seine Stimme klang ein wenig schrill. «Wir können ihn aber nicht einfach so liegen lassen», sagte ich. «Seine Nerven halten das nicht aus.» «Bitte! Bitte!» Er fuhr herum und hob abwehrend die Hände. «Nicht so hastig, bitte. So etwas lässt sich nicht übers Knie brechen.» Er trocknete sich die Stirn mit dem Taschentuch und starrte, an den Lippen nagend, nachdenklich vor sich hin. «Ja», sagte er schließlich, «es gibt eine Möglichkeit. Wissen Sie, was wir tun werden? Wir werden das Tier narkotisieren.» Das war eine geniale Idee. «Ich weiß allerdings nicht, ob es gelingen wird», fügte er hinzu. «Schlangen sind Kaltblüter, und Betäubungsmittel wirken bei ihnen nicht so gut oder jedenfalls nicht so schnell wie bei warmblütigen Lebewesen. Aber es ist unsere einzige Chance. Wir können Äther verwenden … oder Chloroform …» Er sprach langsam und versuchte auf diese Weise, sich über die erforderlichen Maßnahmen klarzuwerden. «Was schlagen Sie also vor?» «Chloroform», entschied er. «Gewöhnliches Chloroform. Das ist das Beste. Kommen Sie!» Er zog mich auf die Veranda. «Fahren Sie zu mir nach Hause. Ich rufe inzwischen meinen Boy an. Er wird Ihnen den Giftschrank zeigen. Hier ist der Schlüssel zum Schrank. Nehmen Sie das Chloroform heraus. Die Flasche hat ein hellrotes Etikett, auf dem die Bezeichnung steht. Ich bleibe hier, falls etwas passiert. Los, beeilen Sie sich! Nein, nein, Sie brauchen keine Schuhe.» Ich fuhr schnell, und nach etwa fünfzehn Minuten war ich mit dem Chloroform zurück. Ganderbai kam aus Harrys Zimmer, als ich ins Haus trat. «Haben Sie’s?», fragte er. «Gut, gut. Ich habe ihm gerade erklärt, was wir vorhaben. Wir müssen jetzt schnell machen. Es ist auf die Dauer nicht leicht für ihn. Ich habe Angst, dass er sich bewegt.» Er ging ins Schlafzimmer, und ich folgte ihm mit der Flasche, die ich wie eine Kostbarkeit vor mir her trug. Harry lag noch in genau derselben Stellung auf dem Bett. Der Schweiß strömte ihm über die Wangen. Sein Gesicht war weiß und nass. Als er die Augen auf mich richtete, lächelte ich und nickte ihm ermutigend zu. Ich hob den Daumen und machte das Okay-Zeichen. Ganderbai hockte sich neben das Bett. Auf dem Fußboden sah ich den Gummischlauch, den er vorhin als Aderpresse benutzt hatte. Jetzt steckte in dem einen Ende des Schlauches ein kleiner Papiertrichter. Nun machte sich Ganderbai daran, ein Stückchen Laken unter der Matratze hervorzuziehen, und zwar an einer Stelle, die sich in gleicher Höhe mit Harrys Bauch befand, etwa vierzig Zentimeter davon entfernt. Ich beobachtete, wie seine Finger vorsichtig am Laken zupften. Er arbeitete so langsam, dass ich Mühe hatte, an den Fingern oder dem Laken eine Bewegung wahrzunehmen. Schließlich hatte er es geschafft: Unter dem Laken wölbte sich eine kleine Öffnung. Er nahm den Gummischlauch und schob ihn behutsam zwischen Matratze und Laken. Ich weiß nicht, wie viel Zeit er brauchte, um den Schlauch bis zu Harrys Körper gleiten zu lassen. Es können zwanzig, es können vierzig Minuten gewesen sein. Kein einziges Mal sah ich, dass der Schlauch sich bewegte. Ich wusste, dass er vordrang, da der sichtbare Teil allmählich kürzer wurde, doch ich war sicher, dass die Bungar nicht die leiseste Erschütterung spürte. Ganderbai schwitzte jetzt auch; große Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn und der Oberlippe. Aber seine Hände waren ruhig. Ich bemerkte, dass er nicht auf den Schlauch blickte, sondern auf die Falten, die das Laken über Harrys Bauch warf. Ohne mich anzusehen, streckte er die Hand nach dem Chloroform aus. Ich entfernte den Glasstöpsel und gab ihm die Flasche in die Hand, ängstlich darauf bedacht, sie nicht eher loszulassen, als bis er sie fest im Griff hatte. Dann bedeutete er mir mit einer Kopfbewegung, näher zu kommen, und flüsterte: «Sagen Sie ihm, dass ich jetzt das Chloroform durch den Schlauch auf die Matratze gieße und es sehr kalt unter seinem Körper werden wird. Damit muss er rechnen. Er darf auf keinen Fall zusammenzucken. Schärfen Sie ihm das ein.» Ich beugte mich über Harry und teilte ihm mit, was Ganderbai tun wollte. «Warum macht er nicht weiter?», fragte Harry. «Er macht ja weiter, Harry. Aber es wird sich sehr kalt anfühlen, bereite dich also darauf vor.» «Mein Gott, macht weiter, macht doch schon weiter!» Zum ersten Mal hatte er die Stimme erhoben. Ganderbai blickte auf, sah ihn scharf an und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Er goss ein paar Tropfen Chloroform in den Papiertrichter und wartete, bis sie durch den Schlauch gelaufen waren. Dann goss er einige Tropfen nach und wartete abermals. Der schwere süßliche Geruch des Chloroforms breitete sich im Zimmer aus und weckte unangenehme Erinnerungen an weißgekleidete Schwestern und Ärzte, die in einem weißen Raum um einen langen weißen Tisch standen. Ganderbai goss jetzt schneller nach, und ich sah den schweren Dunst des Chloroforms wie Rauch über dem Papiertrichter wallen. Nach einiger Zeit hielt Ganderbai die Flasche gegen das Licht und entschloss sich, den Trichter noch einmal zu füllen, bevor er sie mir zurückgab. Dann zog er den Gummischlauch langsam unter dem Laken hervor und stand auf. Offenbar war es eine große Anstrengung für ihn gewesen, den Schlauch vorzuschieben und das Chloroform einzugießen, denn seine Stimme klang matt und erschöpft, als er sich umdrehte und mir zuraunte: «Wir werden eine Viertelstunde warten. Um ganz sicherzugehen.» Ich beugte mich über Harry. «Wir werden eine Viertelstunde warten, um ganz sicherzugehen. Aber wahrscheinlich ist es schon geschafft.» «Zum Donnerwetter, warum seht ihr dann nicht nach?» Wieder sprach er laut. Ganderbai fuhr herum. Seine Miene war plötzlich sehr zornig. Er hatte fast schwarze Augen, mit denen er Harry anstarrte. Harrys kleiner Muskel begann wieder zu zucken. Ich nahm mein Taschentuch, trocknete sein nasses Gesicht, und strich ihm beruhigend über die Stirn. Schweigend warteten wir neben dem Bett. Ganderbai blickte Harry unverwandt und seltsam eindringlich an. Der kleine Inder konzentrierte seine Willenskraft darauf, Harry ruhig zu halten. Er ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen, und obgleich er keinen Laut von sich gab, schien er dauernd zu rufen: Hören Sie mir zu, Sie müssen mir zuhören, Sie dürfen jetzt nicht alles zunichte machen, hören Sie? Und Harry lag mit zuckendem Mund da und schwitzte. Seine Lider waren meistens geschlossen, und wenn er sie öffnete, sah er entweder mich an oder das Laken oder die Zimmerdecke, aber niemals Ganderbai. Und doch wurde er irgendwie von Ganderbai beherrscht. Der durchdringende Chloroformgeruch ließ ein Gefühl der Übelkeit in mir aufsteigen, aber ich konnte jetzt unmöglich aus dem Zimmer gehen. Mir war, als würde vor meinen Augen ein Ballon aufgeblasen, der immer mehr anschwoll, während ich ihn wie gebannt anstarrte und wartete, dass er zerplatzte. Endlich drehte sich Ganderbai um und nickte. Es war so weit. «Gehen Sie an die andere Bettseite», sagte er. «Wir nehmen jeder einen Zipfel des Lakens und ziehen es zurück. Aber bitte sehr langsam, sehr vorsichtig.» «Lieg jetzt ganz still, Harry», ermahnte ich ihn und ging um das Bett herum. Ganderbai stand mir gegenüber. Wir ergriffen das Laken an den beiden oberen Zipfeln, hoben es leicht von Harrys Körper ab und zogen es Zentimeter für Zentimeter zurück. Dabei gaben wir acht, dass wir nicht zu nah an das Bett herankamen, beugten uns jedoch vor und versuchten, unter das Laken zu schauen. Der Chloroformgeruch war ekelhaft. Ich erinnere mich, dass ich die Luft so lange wie möglich anhielt, und als das nicht mehr ging, bemühte ich mich, flach zu atmen, damit mir das Zeug nicht in die Lungen drang. Harrys Brust – besser gesagt, seine gestreifte Pyjamajacke – war jetzt freigelegt. Dann sah ich das weiße Band der Pyjamahose, sauber zu einer Schleife gebunden. Etwas weiter unten tauchte ein Knopf auf, ein Perlmuttknopf. Ich habe noch nie einen Pyjama gehabt, dessen Schlitz mit einem Knopf zu schließen war, geschweige denn mit einem Perlmuttknopf. Dieser Harry, dachte ich, ist doch ein richtiger Stutzer. Es ist merkwürdig, dass einem manchmal in den aufregendsten Situationen solche albernen Gedanken kommen. Ich weiß noch genau, dass ich Harry für einen Stutzer hielt, als ich diesen Knopf sah. Außer dem Knopf war nichts auf seinem Bauch. Nun zogen wir das Laken schneller zurück, und als wir die Beine und die Füße aufgedeckt hatten, ließen wir es auf den Boden fallen. «Bewegen Sie sich nicht», sagte Ganderbai. «Bewegen Sie sich nicht, Mr. Pope.» Er versuchte, unter Harrys Körper zu spähen. «Wir müssen vorsichtig sein», erklärte er. «Sie kann überall stecken. Vielleicht ist sie ins Hosenbein des Pyjamas gekrochen.» Diese Worte bewirkten, dass Harry hastig den Kopf vom Kissen hob und an sich hinuntersah. Es war das erste Mal, dass er sich bewegte. Dann sprang er mit einem Satz auf, sodass er nun mitten im Bett stand, und schüttelte zuerst das eine, dann das andere Bein heftig in der Luft. In diesem Augenblick dachten wir beide, er sei gebissen worden, und Ganderbai suchte bereits in seiner Tasche nach einem Skalpell und einer Aderpresse. Plötzlich aber hörte Harry mit seinen Luftsprüngen auf. Er betrachtete die Matratze, auf der er stand, und rief: «Sie ist nicht da!» Ganderbai richtete sich auf und betrachtete ebenfalls die Matratze. Dann sah er Harry an. Harry war unversehrt. Er war nicht gebissen worden, er würde nicht gebissen werden, er brauchte nicht zu sterben, und alles war gut. Aber das schien keinen von uns zu beruhigen. «Mr. Pope, Sie sind natürlich ganz sicher, dass Sie die Bungar gesehen haben?» In Gänderbais Stimme lag eine Spur von Sarkasmus – was unter normalen Umständen bei ihm undenkbar gewesen wäre. «Sie glauben nicht, Mr. Pope, dass Sie geträumt haben könnten, nicht wahr?» Die Art, wie er Harry ansah, verriet mir, dass der Sarkasmus nicht als Beleidigung gemeint war. Ganderbai machte sich nach der Nervenprobe nur etwas Luft. Harry stand in seinem gestreiften Pyjama auf dem Bett und starrte den Arzt an, während ihm das Blut in die Wangen stieg. «Wollen Sie etwa behaupten, dass ich ein Lügner bin?», brüllte er. Ganderbai blickte schweigend zu ihm auf. Harry trat einen Schritt auf dem Bett vor. In seinen Augen war ein seltsames Funkeln. «Sie dreckiges indisches Mistvieh!» «Halt den Mund, Harry!», rief ich. «Sie dreckiges schwarzes …» «Harry!», schrie ich. «Halt den Mund, Harry!» Es war schrecklich, was er alles sagte. Ganderbai ging aus dem Zimmer, als wären Harry und ich nicht vorhanden. Ich eilte ihm nach und legte ihm den Arm um die Schultern, als wir die Diele überquerten und auf die Veranda hinaustraten. «Hören Sie nicht auf Harry», bat ich. «Die Sache hat ihn fertiggemacht. Er weiß nicht mehr, was er sagt.» Wir gingen die Verandatreppe hinunter zur Auffahrt, wo in der Dunkelheit Ganderbais alter Morris stand. Er öffnete die Tür und stieg ein. «Sie haben großartige Arbeit geleistet», beteuerte ich. «Vielen herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind.» «Alles, was er braucht, ist ein langer Urlaub», sagte er ruhig, ohne mich anzusehen. Dann ließ er den Motor an und fuhr los. Der Wunsch Der Junge strich zufällig mit der Hand über sein Bein, und dabei geriet er an die verschorfte Stelle auf der Kniescheibe. Er beugte sich vor, um sie zu untersuchen. Schorf war etwas, was man einfach anfassen musste; er hatte dieser Verlockung noch nie widerstehen können. Ja, dachte er, ich werde es abkratzen, auch wenn es noch nicht so weit ist, auch wenn es in der Mitte noch festklebt, auch wenn es wehtut wie sonst was. Mit dem Fingernagel tastete er vorsichtig um den Rand herum. Dann schob er den Nagel darunter, und auf einmal – er brauchte kaum nachzuhelfen – löste sich der Schorf. Der ganze harte braune Schorf ging glatt ab und enthüllte ein rundes Fleckchen zarter rosa Haut. Gut. Wirklich sehr gut. Er rieb die Stelle, und sie tat nicht weh. Er nahm den Schorf, legte ihn sich auf den Schenkel und schnippte ihn mit dem Finger fort, sodass er durch die Luft flog und auf dem Teppich landete, auf diesem riesigen roten, schwarzen und gelben Teppich, der die Diele von der Treppe bis zur Haustür bedeckte. Ein gewaltiger Teppich. Größer als der Tennisplatz. Viel größer. Er betrachtete ihn ernst, ließ den Blick mit stillem Vergnügen auf ihm ruhen. Bisher hatte er ihn nie richtig angesehen, aber jetzt leuchteten die Farben plötzlich geheimnisvoll auf und sprangen ihm geradezu in die Augen. Ja, sagte er sich, ich weiß, wie es ist. Die roten Teile des Teppichs sind glühende Kohlestücke. Was ich tun muss, ist dies: Ich muss den ganzen Weg bis zur Haustür gehen, ohne sie zu berühren. Wenn ich auf Rot trete, verbrenne ich. Wirklich, dann verbrenne ich ganz und gar. Und die schwarzen Teile des Teppichs … ja, das sind Schlangen, giftige Schlangen, Kreuzottern und Kobras, manche so dick wie Baumstämme. Wenn ich auf eine von ihnen trete, werde ich gebissen und muss noch vor dem Tee sterben. Und wenn ich heil hinüberkomme, ohne zu verbrennen und ohne gebissen zu werden, dann kriege ich morgen zum Geburtstag einen jungen Hund. Er stand auf und stieg ein paar Stufen höher, um dieses riesige Gewebe aus Farbe und Tod besser überblicken zu können. Würde er es schaffen? War genug Gelb da? Gelb war die einzige Farbe, auf die er treten durfte. Sollte er es wagen? Eine solche Reise musste man sich gründlich überlegen, denn sie barg viele Gefahren. Das Gesicht des Jungen – hellblonde Ponyfransen, zwei große blaue Augen, ein kleines spitzes Kinn – lugte besorgt über das Geländer. Das Gelb war an manchen Stellen etwas spärlich verteilt, und ein-, zweimal klaffte dazwischen eine breite Lücke, aber anscheinend lief es bis zum anderen Ende. Das konnte doch eigentlich nicht zu schwer sein für ihn, der erst gestern den ganzen Weg von den Ställen bis zur Laube gegangen war, ohne ein einziges Mal auf die Ritzen zwischen den Steinen zu treten. Wenn nur die Schlangen nicht wären. Der bloße Gedanke an Schlangen löste in seinen Beinen ein feines elektrisches Prickeln aus, das er bis in die Fußsohlen spürte. Langsam, Stufe um Stufe, näherte er sich dem Teppichrand. Er hob den kleinen, in einer Sandale steckenden Fuß und stellte ihn vorsichtig auf einen gelben Fleck. Dann zog er den anderen Fuß nach, der gerade noch Platz auf dem Gelb hatte. So! Der Anfang war gemacht. Auf seinem ovalen Gesicht lag ein Ausdruck äußerster Konzentration, und vielleicht war er jetzt eine Spur blasser als sonst. Er breitete die Arme aus, um sich im Gleichgewicht zu halten. Beim zweiten Schritt hob er den Fuß hoch über einen schwarzen Fleck und zielte mit dem Zeh sorgfältig auf eine schmale gelbe Rinne hinter dem Schwarz. Als er auch mit dem anderen Fuß gelandet war, blieb er eine Weile steif und unbeweglich stehen. Die schmale gelbe Rinne lief ohne Unterbrechung etwa fünf Meter weiter. Er arbeitete sich behutsam vor, Schritt für Schritt, wie ein Seiltänzer. Als die Rinne schließlich zur Seite abbog, musste er wieder einen langen Schritt machen, diesmal über eine unheimlich aussehende Mischung aus Rot und Schwarz hinweg. Plötzlich begann er zu schwanken. Er ließ die Arme wie Windmühlenflügel kreisen, verzweifelt bemüht, dem Feuer und den Schlangen zu entgehen. Zum Glück erreichte er unbeschadet die andere Seite. Er war völlig außer Atem und so angespannt, dass er die ganze Zeit auf den Zehenspitzen stand, die Arme ausgebreitet, die Hände zu Fäusten geballt. Er befand sich auf einer großen, sicheren Insel von Gelb. Sie bot ihm genügend Raum, er konnte nicht hinunterfallen, und so verschnaufte er erst einmal, zögerte, wartete und wünschte, für immer auf der großen, sicheren gelben Insel bleiben zu können. Aber dann würde er ja keinen jungen Hund zum Geburtstag bekommen. Dieser Gedanke trieb ihn vorwärts. Immer weiter rückte er vor. Nach jedem Schritt hielt er inne und überlegte, wohin er jetzt den Fuß setzen musste. Einmal hatte er die Wahl, ob er nach links oder nach rechts gehen wollte. Er entschied sich für rechts; der Weg erschien ihm zwar schwieriger, aber dafür war in dieser Richtung nicht so viel Schwarz. Das Schwarz machte ihn nervös. Er blickte über die Schulter, um zu sehen, wie viel er schon geschafft hatte. Fast die Hälfte. Jetzt konnte er nicht mehr umkehren. Er stand mitten auf dem Teppich; es gab kein Zurück, und es war auch unmöglich, zum seitlichen Rand zu springen – die Entfernung war zu groß. Als er all das Schwarz und Rot sah, das noch vor ihm lag, fühlte er plötzlich eine beklemmende Furcht in sich aufsteigen – wie damals, am Osternachmittag, als er sich ganz allein im finstersten Teil von Piper’s Wood verirrt hatte. Er ging einen Schritt weiter, trat vorsichtig auf das einzige gelbe Fleckchen, das er erreichen konnte, und diesmal kam er mit dem Fuß dicht an eine schwarze Stelle heran. Er berührte das Schwarz nicht, er wusste genau, dass er es nicht berührte, denn er sah ja die schmale gelbe Linie, die seine Sandalenspitze von dem schwarzen Gebiet trennte. Aber die Schlange regte sich, als spüre sie die Nähe des Jungen. Sie hob lauernd den Kopf und starrte mit hellen, runden Augen auf seinen Fuß. «Ich habe dich nicht berührt! Du darfst mich nicht beißen! Du weißt, dass ich dich nicht berührt habe!» Eine andere Schlange glitt lautlos neben die erste, und auch sie hob den Kopf: zwei Köpfe jetzt, zwei Paar Augen, die auf den Fuß starrten, auf die kleine nackte Stelle unterhalb des Sandalenriemens. Der Junge stellte sich auf die Zehenspitzen und blieb so stehen, vor Schreck wie erstarrt. Minuten vergingen, bevor er wagte, an den nächsten Schritt zu denken. Dieser nächste Schritt würde sehr schwierig sein, weil da ein tiefer, gewundener Strom von Schwarz quer über den Teppich lief. Und der Junge stand ausgerechnet so, dass er ihn an der breitesten Stelle überqueren musste. Sollte er springen? Das war zu gefährlich, denn er wusste ja nicht, ob er genau auf dem schmalen gelben Streifen dort drüben landen würde. Er holte tief Luft, hob einen Fuß und schob ihn weit, weit vor, senkte ihn tiefer und tiefer, bis endlich die Spitze der Sandale sicher auf gelbem Boden ruhte. Nun beugte er sich nach vorn, verlagerte sein Gewicht auf den vorgestellten Fuß und versuchte dann, den anderen nachzuholen. Er strengte sich mächtig an, zog und zerrte, aber die Beine waren zu weit auseinander. Es half nichts, er musste zurück. Auch das schaffte er nicht. Er stand breitbeinig da und vermochte sich nicht zu rühren. Unter sich sah er den tiefen, gewundenen schwarzen Strom. Teile davon regten sich jetzt, rollten sich auf, glitten hin und her und glitzerten in einem widerlich öligen Glanz. Er schwankte, fuchtelte wild mit den Armen, um nicht zu fallen, aber das machte es nur noch schlimmer. Er kippte nach rechts, zunächst langsam, dann immer schneller. Im letzten Moment streckte er instinktiv die Hand aus, um den Sturz zu dämpfen. Das, was er gleich darauf sah, ließ ihn vor Entsetzen gellend aufschreien: Seine bloße Hand stieß mitten hinein in eine große, glänzende Masse von Schwarz und verschwand darin. Draußen im Sonnenschein, weit hinter dem Haus, suchte die Mutter ihren Sohn. Hals Als vor etwa acht Jahren der alte Sir William Turton starb und sein Sohn Basil nicht nur den Titel, sondern auch die Turton Press erbte, wurden, wie ich mich erinnere, in der Fleet Street zahlreiche Wetten abgeschlossen, wie lange es dauern würde, bis eine hübsche junge Frau den kleinen Burschen überzeugt hätte, dass sie sich um ihn kümmern müsse. Um ihn und sein Geld, heißt das. Basil – nunmehr Sir Basil Turton – mochte damals vierzig Jahre zählen. Er war Junggeselle, ein Mann von sanfter, schlichter Wesensart, der sich bis dahin nur für seine Sammlung moderner Gemälde und Skulpturen interessiert hatte. Nie war sein Seelenfrieden durch eine Frau gestört worden; kein Skandal und kein Gerede hatten je seinen Namen befleckt. Nun aber, da er die Herrschaft über ein großes Zeitungsimperium angetreten hatte, musste er das stille väterliche Landhaus verlassen und nach London übersiedeln. Natürlich scharten sich die Geier sofort um ihn, und nicht nur die Fleet Street, sondern fast die ganze Stadt sah gespannt zu, wie sie ihm nachstellten. Sie gingen dabei langsam vor, sehr langsam und sehr bedächtig, sodass ich statt von Geiern vielleicht lieber von einem Haufen gelenkiger Krebse sprechen sollte, die unter Wasser nach einem Stück Pferdefleisch greifen. Aber zur allgemeinen Überraschung wusste der kleine Kerl allen Eroberungsversuchen geschickt zu entgehen, und so zog sich die Jagd über den Frühling und Frühsommer jenes Jahres hin. Obgleich Sir Basil nicht zu meinen Bekannten gehörte, sodass für mich kein Anlass bestand, ihm freundschaftliche Gefühle entgegenzubringen, ergriff ich unwillkürlich für ihn, meinen Geschlechtsgenossen, Partei und triumphierte jedes Mal, wenn es ihm gelang, mit heiler Haut davonzukommen. Dann, etwa Anfang August – anscheinend auf irgendein weibliches Geheimsignal hin –, schlossen die Mädchen untereinander eine Art Waffenstillstand und fuhren in die Ferien, um auszuruhen, neue Kräfte zu sammeln und Pläne für den Abschuss im Winter zu schmieden. Das war ein Fehler, denn genau in diesem Augenblick kam vom Kontinent ein bezauberndes Geschöpf herüber: Natalia Soundso, von der noch nie jemand gehört hatte, tauchte in London auf, nahm Sir Basil fest an der Hand und schleifte ihn, der sich gewissermaßen in Trance befand, zum Standesamt in der Caxton Hall, bevor irgendjemand, am wenigsten der Bräutigam selbst, begriffen hatte, was eigentlich geschah. Sie können sich vorstellen, dass die Londoner Damen entrüstet waren, und natürlich zögerten sie keinen Augenblick, allerlei saftigen Klatsch über die frischgebackene Lady Turton («diese unverschämte Wilddiebin») zu verbreiten. Aber damit brauchen wir uns nicht aufzuhalten. Wir können getrost die nächsten sechs Jahre überspringen und uns einer Begebenheit zuwenden, die sich vor genau einer Woche ereignete, als ich das Vergnügen hatte, Ihrer Ladyschaft zum ersten Mal zu begegnen. Wie Sie sich denken können, leitet sie mittlerweile nicht nur die gesamte Turton Press, sondern hat sich dadurch auch eine beträchtliche politische Machtstellung erworben. Gewiss, das ist auch schon anderen Frauen gelungen, aber Lady Turtons Fall ist insofern ungewöhnlich, als sie Ausländerin ist und niemand recht zu wissen scheint, aus welchem Lande sie stammt – aus Jugoslawien, Bulgarien oder Russland. Am letzten Donnerstag also war ich bei Londoner Freunden zu einer kleinen Abendgesellschaft geladen. Als wir vor dem Dinner im Salon standen, einen Martini tranken und über die Atombombe und Mr. Bevan sprachen, steckte das Mädchen den Kopf herein, um den letzten Gast anzukündigen. «Lady Turton», meldete sie. Niemand hörte auf zu reden; dazu waren wir alle zu gut erzogen. Keine Köpfe fuhren herum. Nur unsere Blicke gingen zur Tür und warteten auf ihr Erscheinen. Sie trat ein, groß und schlank, in einem rotgoldenen glitzernden Kleid, und ging schnell, mit lächelndem Mund und ausgestreckten Händen auf die Gastgeberin zu. «Mildred, guten Abend!» «Meine liebe Lady Turton! Wie reizend!» Ich glaube, jetzt hörten wir tatsächlich auf zu reden und fuhren herum. Wir starrten sie an und warteten ganz bescheiden darauf, ihr vorgestellt zu werden, als wäre sie die Königin oder ein berühmter Filmstar. Aber sie sah besser aus als die Königin oder ein Filmstar. Sie hatte schwarzes Haar und eines jener blassen, ovalen, unschuldigen Gesichter, wie man sie bei den Madonnen flämischer Maler des fünfzehnten Jahrhunderts findet. Ja, sie hätte von Memling oder van Eyck gemalt sein können. Jedenfalls war das mein erster Eindruck. Später, als ich an die Reihe kam, sie zu begrüßen, stellte ich fest, dass ihr Gesicht – bis auf die Konturen und die Farbgebung – keineswegs das einer Madonna war. Ganz im Gegenteil. So hatte sie beispielsweise sehr merkwürdige Nasenflügel, die überaus stark geschwungen waren und dabei so gebläht, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Die Nase bekam dadurch etwas Witterndes, Schnaubendes, das irgendwie an ein wildes Tier erinnerte – an einen Mustang. Und ihre Augen waren, aus der Nähe betrachtet, nicht groß und rund, wie die Madonnenmaler sie malten, sondern länglich und schmal, halb lächelnd, halb mürrisch und ein wenig ordinär, sodass sie fast etwas verworfen wirkte. Überdies sah sie einen nie offen an. Der Blick kam langsam von der Seite, mit einer eigenartig gleitenden Bewegung, die mich beunruhigte. Ich versuchte, die Farbe ihrer Augen zu ergründen, hielt sie für hellgrau, war mir aber nicht sicher. Dann wurde sie zu anderen Gästen geführt, um deren Bekanntschaft zu machen. Ich blickte ihr nach. Offensichtlich war sie sich ihres Erfolges bewusst und genoss es, von diesen Londonern umschmeichelt zu werden. ‹Schaut mich an›, schien sie zu sagen, ‹ich bin erst vor wenigen Jahren hergekommen, aber schon jetzt bin ich reicher und mächtiger als irgendeiner von euch.› In ihrem Gang lag etwas Triumphierendes. Ein paar Minuten später begaben wir uns ins Speisezimmer, und zu meiner Überraschung saß ich zur Rechten Ihrer Ladyschaft. Vermutlich hatte unsere Gastgeberin das so arrangiert, weil sie mir Gelegenheit geben wollte, Material für die Gesellschaftsspalte zu sammeln, die ich jeden Tag für eine Abendzeitung schreibe. Ich machte mich auf eine anregende Unterhaltung gefasst. Aber die berühmte Dame beachtete mich überhaupt nicht; sie sprach ausschließlich mit ihrem Nachbarn zur Linken, dem Gastgeber. Erst gegen Ende der Mahlzeit – ich war gerade mit meinem Eis fertig – wandte sie sich plötzlich um, streckte die Hand aus, nahm meine Tischkarte und las den Namen. Dann richtete sie ihren Blick mit jener eigenartig gleitenden Bewegung der Augen auf mich. Ich lächelte und deutete eine Verbeugung an. Ohne mein Lächeln zu erwidern, begann sie mit einer seltsam plätschernden Stimme Fragen auf mich abzufeuern, ziemlich persönliche Fragen – Beruf, Alter, Familie und dergleichen –, die ich beantwortete, so gut ich konnte. Bei diesem Verhör erfuhr sie unter anderem von meinem Interesse für Malerei und Bildhauerkunst. «Dann sollten Sie uns einmal auf dem Land besuchen und sich die Sammlung meines Mannes ansehen.» Sie sagte das nur als Gesprächsfloskel, aber ich kann es mir in meinem Beruf nicht erlauben, eine solche Chance ungenutzt zu lassen. «Ich wüsste nicht, was ich lieber täte, Lady Turton. Sehr freundlich von Ihnen. Wann darf ich kommen?» Ihr Kopf fuhr hoch. Sie zögerte, runzelte die Stirn, zuckte die Achseln. «Ach, das ist mir gleich. Irgendwann.» «Wie wär’s mit diesem Wochenende? Würde Ihnen das passen?» Der Blick ihrer länglichen, schmalen Augen heftete sich für eine Sekunde auf mein Gesicht und glitt dann weiter. «Warum nicht? Wenn Sie wollen … Mir ist es gleich.» So packte ich denn am nächsten Sonnabendnachmittag meinen Koffer und fuhr im Wagen nach Wooton. Vielleicht sind Sie der Meinung, ich hätte die Einladung ein wenig forciert – nun ja, anders wäre ich nie dazu gekommen. Und mir lag nicht nur aus beruflichen Gründen sehr viel daran, das Haus zu besichtigen. Bekanntlich zählt Wooton zu den wirklich bedeutenden Steinhäusern der frühen englischen Renaissance. Wie seine Gegenstücke Longleat, Wollaton und Montacute wurde es in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts erbaut, als die großen Herren zum ersten Mal auf die festen Burgen verzichten und sich behagliche Wohnsitze schaffen konnten. Damals hat eine neue Schule von Architekten, unter ihnen John Thorpe und die Smithsons, in ganz England wahre Wunderwerke erstehen lassen. Wooton liegt südlich von Oxford in der Nähe eines Städtchens namens Princes Risborough. Als ich in das Portal einbog, verdunkelte sich bereits der Himmel, und der frühe Winterabend brach an. Ich fuhr jetzt sehr langsam und versuchte, so viel wie möglich von dem Park zu beiden Seiten des Weges zu sehen. Besonders interessierten mich die berühmten Figurenbäume, von denen ich schon viel gehört hatte. Und ich muss sagen, es war wirklich ein eindrucksvoller Anblick. Überall standen kräftige Eiben, die so beschnitten und zurechtgestutzt waren, dass sie seltsame Formen und Figuren bildeten: Hühner, Tauben, Flaschen, Stiefel, Lehnstühle, Burgen, Eierbecher, Laternen, alte Frauen mit bauschigen Röcken, hohe Säulen, einige von einer Kugel gekrönt, andere von großen, runden Dächern oder Pilzhüten. In der Dämmerung hatte sich das Grün in Schwarz verwandelt, sodass die Bäume wie dunkle, glatte Skulpturen wirkten. An einer Stelle sah ich eine Rasenfläche mit riesigen Schachfiguren, jede eine lebende Eibe, wunderbar gestaltet. Ich hielt den Wagen an und stieg aus. Die Figuren waren doppelt so groß wie ich. Ein vollständiges Schachspiel. Die Könige, die Damen, die Läufer, Springer, Türme und Bauern – alle standen sie da, als sollte die Partie gleich eröffnet werden. Hinter der nächsten Wegbiegung erblickte ich das große graue Haus, dessen Vorhof von einer hohen Balustrade umgeben war und zu beiden Seiten von säulenverzierten Pavillons flankiert wurde. Auf den Pfeilern der Balustrade erhoben sich Obelisken – der italienische Einfluss auf den Tudor-Geschmack. Eine mindestens dreißig Meter breite Freitreppe führte zum Haus hinauf. In der Mitte des Vorhofs stand, wie ich zu meinem Entsetzen sah, ein Brunnenbecken mit einer großen Statue von Epstein. Zweifellos ein wunderbares Stück, aber in dieser Umgebung einigermaßen fehl am Platze. Als ich die Treppe hinaufstieg und mich noch einmal umschaute, entdeckte ich, dass auch auf den kleinen Rasenplätzen und Terrassen ringsum moderne Statuen und seltsam geformte Skulpturen standen. Ich glaubte einen Gaudier Breska, einen Brancusi, einen Saint-Gaudens, einen Henry Moore und noch einen Epstein zu erkennen. Die Tür wurde von einem jungen Diener geöffnet, der mich in ein Schlafzimmer im ersten Stock führte. Ihre Ladyschaft, erklärte er, habe sich zu einer Ruhepause zurückgezogen, und die übrigen Gäste seien ihrem Beispiel gefolgt, aber alle würden sich in etwa einer Stunde, zum Dinner gekleidet, im großen Salon einfinden. Mein Beruf zwingt mich, viele Wochenendbesuche zu machen. Ich verbringe wohl fünfzig Sonnabende und Sonntage im Jahr in den Häusern anderer Leute und habe daher eine feine Witterung für ungewohnte Atmosphären. Schon wenn ich ein Haus betrete, kann ich förmlich riechen, ob alles in Ordnung ist. Das Haus, in dem ich mich jetzt befand, gefiel mir gar nicht, denn in der Luft lag ein Hauch jenes trockenen Geruchs, der nichts Gutes verheißt. Ich spürte ihn sogar, als ich mit Behagen mein warmes Bad in einer riesigen Marmorwanne genoss, und ich konnte nur hoffen, dass bis Montag nichts Unerfreuliches geschehen würde. Kaum zehn Minuten später geschah etwas – wenn es auch eher überraschend als unerfreulich war. Ich saß auf dem Bett und zog mir die Socken an, als sich die Tür leise öffnete und ein schwarzbefrackter, schiefschultriger alter Gnom mit schleichenden Schritten hereinkam. Er sagte, er sei der Butler, heiße Jelks und erlaube sich die Frage, ob ich mich wohlfühlte und alles hätte, was ich brauchte. Ich beruhigte ihn über diesen Punkt. Er versicherte, dass er sich nach Kräften bemühen werde, mir das Wochenende so angenehm wie möglich zu machen. Ich dankte ihm und wartete, dass er ginge. Er zögerte, dann bat er mit einer Stimme, die vor Salbung triefte, um die Erlaubnis, eine recht heikle Sache zur Sprache zu bringen. Ich forderte ihn auf loszuschießen. Um ganz offen zu sein, sagte er, es handle sich um das Trinkgeld. Das sei eine Angelegenheit, die ihm ernste Sorgen bereite. Ach? Und wieso? Nun, wenn ich es wirklich wissen wolle, ihm gefalle der Gedanke nicht, dass seine Gäste sich verpflichtet fühlen könnten, ihm beim Verlassen des Hauses ein Trinkgeld zu geben – wie es ja allgemein üblich sei. Er empfinde dieses Verfahren als erniedrigend, sowohl für den, der das Trinkgeld gebe, als auch für den, der es erhalte. Außerdem sei ihm durchaus klar, dass Gäste wie ich – er bitte höflichst, ihm diese Offenheit zu verzeihen – mitunter in eine peinliche Lage gerieten, weil sie sich anstandshalber verpflichtet fühlten, mehr zu geben, als sie sich eigentlich leisten könnten. Er machte eine Pause, und zwei kleine, verschlagene Augen suchten in meinem Gesicht nach einem Zeichen der Zustimmung. Ich murmelte, dass er das meine Sorge sein lassen solle. O nein, erwiderte er rasch, er hoffe aufrichtig, dass ich mich bereit erklären würde, ihm kein Trinkgeld zu geben. «Nun», sagte ich, «darüber brauchen wir uns doch jetzt noch nicht aufzuregen. Das findet sich alles, wenn es so weit ist.» «Nein, Sir!», rief er. «Bitte, ich muss darauf bestehen.» Ich gab also nach. Er dankte mir. Dann trat er schlurfend zwei, drei Schritte näher, neigte den Kopf zur Seite, faltete die Hände über der Brust wie ein Priester und zuckte, als wollte er sich entschuldigen, kaum merklich die Achseln. Die kleinen, scharfen Augen sahen mich unverwandt an, während ich – die eine Socke am Fuß, die andere in der Hand – zu erraten suchte, was nun kommen würde. Alles, worum er bitte, sagte er leise, so leise jetzt, dass seine Stimme wie Musik klang, die schwach aus einer großen Konzerthalle auf die Straße dringt, alles, worum er bitte, sei dies: Ich möge ihm statt des Trinkgelds dreiunddreißigeindrittel Prozent meines auf Wooton erzielten Spielgewinns überlassen. Wenn ich verlöre, brauchte ich ihm nichts zu geben. Das kam alles so leise, so sanft und so plötzlich heraus, dass ich nicht einmal überrascht war. «Wird hier viel Karten gespielt, Jelks?» «Ja, Sir. Sehr viel.» «Finden Sie dreiunddreißigeindrittel nicht ein bisschen happig?» «Keineswegs, Sir.» «Wie wär’s mit zehn Prozent?» «Nein, Sir, darauf kann ich mich nicht einlassen.» Er betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand und runzelte die Stirn. «Na, dann fünfzehn. In Ordnung?» «Dreiunddreißigeindrittel, Sir? Das ist nur recht und billig. Denn sehen Sie, Sir, ich weiß ja nicht einmal, ob Sie ein guter Spieler sind. Ohne persönlich werden zu wollen – ich setze auf ein Pferd, dass ich noch nie habe laufen sehen.» Zweifellos werden Sie jetzt denken, dass ich gar nicht erst hätte anfangen dürfen, mit dem Butler zu feilschen, und vielleicht haben Sie recht. Aber als liberal gesinnter Mensch bemühe ich mich immer, Angehörigen der unteren Klassen freundlich entgegenzukommen. Außerdem musste ich bei näherer Überlegung zugeben, dass dies ein faires Angebot war und dass kein Sportsmann das Recht hatte, es abzulehnen. «Also gut, Jelks. Wie Sie wollen.» «Danke, Sir.» Er steuerte auf die Tür zu, schob sich langsam seitwärts vor wie ein Krebs. Wieder zögerte er, eine Hand auf dem Türknopf. «Wenn Sie gestatten, Sir … Dürfte ich Ihnen einen kleinen Rat geben?» «Na?» «Es ist nur, dass Ihre Ladyschaft dazu neigt, zu hoch zu reizen.» Nun, das ging wirklich zu weit. Ich war so verdutzt, dass ich meine Socke fallen ließ. Gewiss, es ist nichts dabei, wenn man wegen des Trinkgelds mit dem Butler ein kleines sportliches Abkommen trifft, aber wenn er mit Ratschlägen anfängt, wie man der Gastgeberin am besten das Geld abnehmen kann, dann ist es zweifellos Zeit, ihn in die Schranken zu weisen. «Danke, Jelks, das genügt.» «Sie verstehen mich hoffentlich nicht falsch, Sir. Ich meine nur, dass Sie bestimmt gegen Ihre Ladyschaft spielen. Sie hat immer Major Haddock als Partner.» «Major Haddock? Major Jack Haddock?» «Ja, Sir.» Ich bemerkte, dass Jelks leicht die Nase rümpfte, als er von diesem Mann sprach. Und noch weniger schien er von Lady Turton zu halten. Jedes Mal, wenn er ‹Ihre Ladyschaft› sagte, verzog er den Mund, als sauge er an einer Zitrone, und seine Stimme hatte einen leicht spöttischen Klang. «Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, Sir. Ihre Ladyschaft wird um sieben Uhr herunterkommen. Ebenso Major Haddock und die anderen.» Er schlüpfte aus der Tür und ließ den schwachen Geruch irgendeines Einreibemittels zurück, der die Atmosphäre keineswegs verbesserte. Kurz nach sieben betrat ich den großen Salon. Lady Turton, schön wie immer, erhob sich, als sie mich sah. «Ich wusste nicht mehr genau, wann Sie kommen würden», sagte sie mit ihrer eigentümlich wiegenden Stimme. «Wie war doch gleich Ihr Name?» «Ich fürchte, ich habe Sie beim Wort genommen, Lady Turton. Hoffentlich ist es Ihnen recht.» «Warum nicht?», erwiderte sie. «Das Haus hat siebenundvierzig Schlafzimmer. Dies ist mein Mann.» Ein kleiner Mann tauchte hinter ihrem Rücken auf und begrüßte mich mit den Worten: «Wissen Sie, ich freue mich wirklich, dass Sie kommen konnten.» Er hatte ein sehr gewinnendes, warmes Lächeln, und als er mir die Hand gab, spürte ich in dem Druck seiner Finger sofort etwas Freundschaftliches. «Und Carmen La Rosa», sagte Lady Turton. Das war eine kräftig gebaute Frau, die aussah, als hätte sie etwas mit Pferden zu tun. Sie nickte mir zu, verzichtete aber darauf, meine bereits ausgestreckte Hand zu ergreifen, sodass ich gezwungen war, die Bewegung in ein Naseputzen umzuwandeln. «Sind Sie erkältet?», fragte sie. «Das tut mir leid.» Miss Carmen La Rosa missfiel mir. «Und dies ist Jack Haddock.» Ich kannte den Mann, wenn auch nur flüchtig. Er war Direktor in einigen Unternehmen (was immer das bedeuten mochte) und ein bekanntes Mitglied der Gesellschaft. Ich hatte ihn ein paarmal in meiner Spalte erwähnt, aber er war mir nie sympathisch gewesen. Wahrscheinlich lag das vor allem daran, dass mir Leute, die ihre militärischen Titel mit ins Privatleben hinübernehmen, immer verdächtig sind – besonders Majore und Obersten. Wie er dastand in seinem Smoking, mit dem vollblütigen, animalischen Gesicht, den schwarzen Augenbrauen und den blendend weißen Zähnen, sah er so gut aus, dass es fast indezent wirkte. Er hatte die Angewohnheit, beim Lächeln die Oberlippe zu heben und die Zähne zu entblößen, und er lächelte jetzt, als er mir seine behaarte braune Hand reichte. «Ich hoffe, Sie sagen etwas Nettes über uns in Ihrer Spalte.» «Das möchte ich ihm raten», meinte Lady Turton, «sonst sage ich nämlich etwas Unangenehmes über ihn auf meiner ersten Seite.» Ich lachte, aber alle drei, Lady Turton, Major Haddock und Carmen La Rosa, hatten sich bereits abgewandt und nahmen wieder auf dem Sofa Platz. Jelks brachte mir einen Drink, und Sir Basil zog mich zu einem ruhigen Gespräch in den Hintergrund des Salons. Lady Turton rief alle Augenblicke nach ihrem Mann, damit er irgendetwas für sie hole – noch einen Martini, eine Zigarette, einen Aschenbecher, ein Taschentuch –, aber wenn er sich dann halb aus seinem Sessel erhoben hatte, war ihm Jelks schon zuvorgekommen und versorgte Lady Turton mit dem Gewünschten. Es war klar, dass Jelks seinen Herrn liebte, und ebenso klar, dass er die Frau hasste. Sooft er etwas für sie tat, stieß er verächtlich ein wenig Luft durch die Nase und presste die Lippen zusammen, sodass sie aussahen wie das Hinterteil eines Puters. Beim Dinner saß Lady Turton zwischen ihren beiden Freunden, Haddock und Miss La Rosa. Durch dieses unkonventionelle Arrangement hatten Sir Basil und ich Gelegenheit, unser interessantes Gespräch über Bilder und Skulpturen fortzusetzen. Natürlich hatte ich inzwischen begriffen, dass der Major in Ihre Ladyschaft verliebt war. Und ich hatte das Gefühl – so ungern ich diesen Verdacht äußere –, dass die La Rosa demselben Vogel nachjagte. Das alles schien der Gastgeberin sehr zu behagen. Aber ihrem Mann behagte es gar nicht. Ich stellte fest, dass er sich, während wir uns unterhielten, unablässig der Vorgänge am anderen Ende des Tisches bewusst war. Seine Gedanken schweiften des Öfteren von unserem Thema ab, er unterbrach sich mitten im Satz, und sein Blick ruhte sekundenlang mit einem geradezu rührenden Ausdruck auf der schönen Frau mit dem schwarzen Haar und den eigenartig geblähten Nasenflügeln. Es konnte ihm nicht entgangen sein, wie aufgekratzt sie war, wie sie beim Sprechen gestikulierte und dabei mehrmals die Hand auf den Arm des Majors legte und wie fordernd die andere Frau, diejenige, die möglicherweise etwas mit Pferden zu tun hatte, immer wieder rief: «Nata-li-a! Nata-li-a, hör doch mal zu!» «Morgen», sagte ich, «müssen Sie mir die Skulpturen zeigen, die Sie im Garten stehen haben.» «Natürlich», murmelte er. «Mit Vergnügen.» Er schaute dabei zu seiner Frau hinüber, und der flehende Blick seiner Augen war herzzerreißend. Dieser Mann hatte ein so weiches, liebevolles Gemüt, dass selbst jetzt kein Zorn in ihm war, nichts, was eine Explosion hätte auslösen können. Nach dem Essen wurde ich sofort an den Kartentisch befohlen, um mit Miss Carmen La Rosa gegen Major Haddock und Lady Turton zu spielen. Sir Basil setzte sich mit einem Buch auf das Sofa. Das Spiel verlief durchaus normal; es brachte keinerlei Überraschungen und war ziemlich langweilig. Aber Jelks fiel mir auf die Nerven. Den ganzen Abend lungerte er um uns herum, leerte die Aschenbecher, erkundigte sich, was wir zu trinken wünschten, und schaute uns in die Karten. Er war offenbar kurzsichtig, und ich bezweifle, dass er viel von dem mitbekam, was vor sich ging. Wie Sie wissen oder vielleicht auch nicht wissen, darf ein Butler in England niemals eine Brille tragen – übrigens auch keinen Schnurrbart. Das ist eine unverbrüchliche goldene Regel und obendrein eine sehr vernünftige, obgleich mir nicht ganz klar ist, was eigentlich dahinter steckt. Vermutlich würde er mit Bart zu sehr wie ein Gentleman und mit Brille zu sehr wie ein Amerikaner aussehen, und wohin sollte das führen, frage ich Sie. Nun, jedenfalls machte Jelks mich ziemlich nervös, genau wie Lady Turton, die dauernd wegen irgendeiner Zeitungssache ans Telefon gerufen wurde. Um elf Uhr blickte sie von ihren Karten auf und sagte: «Basil, du solltest jetzt schlafen gehen.» «Ja, mein Liebes, vielleicht hast du recht.» Er klappte das Buch zu, erhob sich und blieb ein Weilchen am Tisch stehen, um uns zuzuschauen. «Alles in Ordnung mit dem Spiel?», fragte er. Da die anderen nicht antworteten, sagte ich: «Es ist ein schönes Spiel.» «Das freut mich. Und Jelks wird sich um Sie kümmern und Ihnen bringen, was Sie brauchen.» «Jelks kann auch schlafen gehen», entschied Lady Turton. Ich hörte, wie Major Haddock neben mir durch die Nase atmete, wie die Karten, eine nach der anderen, leise auf den Tisch klatschten und wie Jelks’ Füße über den Teppich auf uns zuschlurrten. «Wäre es Ihnen nicht lieber, wenn ich aufbliebe, M’lady?» «Nein. Gehen Sie zu Bett. Du auch, Basil.» «Ja, mein Liebes. Gute Nacht. Gute Nacht, alle miteinander.» Jelks öffnete seinem Herrn die Tür und verließ hinter ihm das Zimmer. Sobald wir den nächsten Robber beendet hatten, erklärte ich, dass auch ich mich zurückziehen wolle. «Bitte sehr», sagte Lady Turton. «Gute Nacht.» Ich ging in mein Zimmer, schloss die Tür ab, nahm eine Tablette und legte mich schlafen. Am nächsten Morgen stand ich gegen zehn Uhr auf. Als ich im Frühstückszimmer erschien, war Sir Basil schon da und wurde gerade von Jelks mit gegrillten Nieren, Speck und gebratenen Tomaten versorgt. Er freute sich, mich zu sehen, und fragte, ob ich Lust hätte, ihn gleich nach dem Frühstück auf einem langen Spaziergang durch den Garten zu begleiten. Ich versicherte ihm, dass ich mir nichts Besseres wünschen könne. Eine halbe Stunde später brachen wir auf. Sie glauben gar nicht, wie erleichtert ich war, aus diesem Haus heraus an die frische Luft zu kommen. Es war einer jener warmen, leuchtenden Tage, die gelegentlich mitten im Winter auf eine Regennacht folgen, mit strahlendem Sonnenschein und ohne Wind. Die kahlen Bäume sahen herrlich aus in dem goldenen Licht. Das Wasser tropfte noch von den Ästen, und die Pfützen auf den Wegen funkelten wie Diamanten. Am Himmel standen zarte Wölkchen. «Was für ein herrlicher Tag!» «Ja, ganz herrlich, nicht wahr?» Das war ungefähr alles, was wir während des Spaziergangs sprachen; mehr war nicht nötig. Sir Basil führte mich zu den großen Schachfiguren; dann zeigte er mir die anderen kunstvoll gestutzten Bäume, die Gartenhäuschen mit dem schönen Schnitzwerk, die Teiche, die Brunnen, das Labyrinth, in dem man sich nur im Sommer verirren konnte, wenn die Hecken belaubt waren. Auch die Blumenbeete besichtigten wir, die künstlichen Grotten, die Gewächshäuser mit ihren Weinstöcken und Pfirsichbäumen. Und natürlich die Skulpturen. Die meisten zeitgenössischen Bildhauer waren hier mit Werken aus Bronze, Granit, Kalkstein und Holz vertreten. Obgleich es ein Genuss war, diese Schöpfungen in der Sonne warm aufleuchten zu sehen, schienen sie mir nach wie vor ein bisschen fehl am Platze in diesem weitläufigen, nach strengen Regeln angelegten Park. «Wollen wir uns nicht ein Weilchen ausruhen?», schlug Sir Basil vor, nachdem wir länger als eine Stunde umhergewandert waren. Wir setzten uns auf eine weiße Bank in der Nähe eines mit Wasserlilien bedeckten Teiches voller Karpfen und Goldfische und zündeten uns eine Zigarette an. Unsere Bank befand sich auf einer Anhöhe, ziemlich weit vom Haus entfernt, sodass wir den Garten vor uns liegen sahen wie eine Zeichnung aus einem alten Buch über Gartenarchitektur. Die Hecken, Rasenflächen, Terrassen und Brunnen bildeten ein hübsches Muster aus Vierecken und Kreisen. «Mein Vater hat Wooton gekauft, kurz bevor ich geboren wurde», sagte Sir Basil. «Ich habe immer hier gelebt und kenne jedes Fleckchen. Ich liebe den Garten von Tag zu Tag mehr.» «Im Sommer ist es hier bestimmt wunderbar.» «O ja. Sie müssen uns einmal im Mai oder Juni besuchen. Versprechen Sie mir das?» «Natürlich», sagte ich. «Mit dem größten Vergnügen.» Während ich sprach, beobachtete ich eine rotgekleidete Frau, die sich in der Ferne zwischen den Blumenbeeten bewegte. Ich sah, wie sie mit wiegendem Gang einen Rasenplatz überquerte; dann wandte sie sich nach links und schritt an einer hohen Eibenhecke entlang, bis sie zu einem zweiten, kleineren Rasen kam, der kreisrund war und in dessen Mitte eine Skulptur aufragte. «Der Garten ist jünger als das Haus», sagte Sir Basil. «Er wurde im frühen achtzehnten Jahrhundert von einem Franzosen namens Beaumont angelegt – demselben, der den Garten von Levens in Westmoreland gestaltet hat. Zweihundertfünfzig Leute haben mindestens ein Jahr lang daran gearbeitet.» Ein Mann hatte sich jetzt zu der Frau im roten Kleid gesellt. Sie standen, etwa einen Meter voneinander entfernt, genau im Mittelpunkt des Gartenpanoramas auf diesem runden Rasenstück, anscheinend in ein Gespräch vertieft. Der Mann hielt irgendetwas Schwarzes in der Hand. «Wenn es Sie interessiert, zeige ich Ihnen nachher die Rechnungen, die Beaumont dem alten Herzog eingereicht hat.» «Ja, die würde ich sehr gern sehen. Sicherlich sind sie hochinteressant.» «Er hat seinen Arbeitern einen Shilling pro Tag gezahlt, und sie arbeiteten zehn Stunden.» In dem klaren Sonnenlicht war es nicht schwer, die Bewegungen und Gesten der beiden Gestalten auf dem Rasen zu verfolgen. Sie hatten sich jetzt der Skulptur zugewandt, zeigten darauf und lachten. Offenbar machten sie Witze über ihre Form. Ich erkannte, dass es sich um einen Henry Moore handelte, ein in Holz gearbeitetes Werk von einmaliger Schönheit, schlank, glatt, mit zwei oder drei Löchern und einigen seltsamen Vorsprüngen, die an Gliedmaßen erinnerten. «Als Beaumont die Eiben für die Schachfiguren und die anderen Sachen pflanzte, wusste er, dass mindestens hundert Jahre vergehen würden, bevor sie sich in Form schneiden ließen. So viel Geduld bringen wir bei unseren Planungen nicht mehr auf, was?» «Nein» «bestätigte ich. «Ganz gewiss nicht.» Das schwarze Ding in der Hand des Mannes war eine Kamera. Er trat jetzt ein paar Schritte zurück und fotografierte die Frau neben dem Henry Moore. Sie nahm die verschiedensten Posen ein, die alle albern waren und komisch wirken sollten. Einmal legte sie die Arme um einen der Vorsprünge und schmiegte sich an ihn, dann wieder kletterte sie auf die Skulptur, setzte sich im Damensitz darauf und ergriff imaginäre Zügel. Die hohe Eibenhecke hinter den beiden trennte sie von dem Haus und dem vorderen Teil des Gartens. Nur von unserer Anhöhe aus waren sie deutlich zu sehen. Sie hatten allen Grund, sich unbeobachtet zu glauben, und selbst wenn sie zufällig in unsere Richtung geblickt hätten – das heißt gegen die Sonne –, so wären ihnen wohl kaum die beiden kleinen Gestalten aufgefallen, die regungslos auf der Bank am Teich saßen. «Wissen Sie, ich liebe diese Eiben», sagte Sir Basil. «Ihre Farbe ist gerade in einem Garten so überaus wohltuend für das Auge. Und im Sommer dämpft sie das grelle Sonnenlicht, sodass man die Bäume überhaupt erst richtig bewundern kann. Haben Sie die vielen Schattierungen von Grün an den Flächen und Facetten der gestutzten Bäume bemerkt?» «Ja, ein herrlicher Anblick, nicht wahr?» Der Mann schien jetzt der Frau irgendetwas zu erklären. Er deutete auf den Henry Moore, und die Art, wie sie den Kopf zurückwarfen, verriet mir, dass sie wieder lachten. Der Mann stand noch immer mit ausgestrecktem Zeigefinger da, und nun lief die Frau zur Rückseite der Holzskulptur, bückte sich und schob den Kopf durch eines der Löcher. Die Plastik war etwa so groß wie, sagen wir, ein kleines Pferd, aber wesentlich schmaler. Von unserer Bank aus konnte ich beide Seiten sehen – die linke mit dem Körper der Frau, die rechte mit dem durchgesteckten Kopf. Es erinnerte an diese Scherzaufnahmen in Seebädern, wo man den Kopf durch ein Loch im Brett steckt und als dicke Dame fotografiert wird. Der Mann hob jetzt die Kamera ans Auge. «Und noch etwas gefällt mir an den Eiben», fuhr Sir Basil fort. «Im Frühsommer, wenn die Zweige ausschlagen …» Hier verstummte er plötzlich, reckte den Oberkörper und beugte sich ein wenig vor. Ich spürte, wie er förmlich erstarrte. «Ja», sagte ich, «wenn die Zweige ausschlagen …?» Die Aufnahme war fertig, aber die Frau zog den Kopf nicht zurück. Ich sah, wie der Mann beide Hände (mit der Kamera) auf den Rücken legte und auf sie zuging. Dann bückte er sich, brachte sein Gesicht ganz nah an das ihre heran und blieb so stehen. Ich nehme an, dass er ihr ein paar Küsse gab oder dergleichen. In der tiefen Stille glaubte ich das Klingen eines Frauenlachens zu hören, das von weit her durch den sonnenhellen Garten zu uns drang. «Wollen wir nicht zurückgehen?», fragte ich. «Zurück?» «Ja. Wir könnten dann vor dem Essen noch einen Martini trinken.» «Einen Martini? Ja, das werden wir tun.» Aber er rührte sich nicht. Er saß sehr still, war mir gleichsam entrückt und starrte wie gebannt auf die beiden Gestalten. Ich starrte sie ebenfalls an. Es war mir unmöglich, den Blick abzuwenden; ich musste einfach hinsehen. Das, was sich dort in der Ferne abspielte, schien ein gefährliches kleines Ballett zu sein: Man kannte die Musik und die Tänzer, aber nicht den Handlungsverlauf, nicht die Choreographie. Man wusste nicht, was als Nächstes geschehen würde, man war fasziniert und musste einfach hinsehen. «Gaudier Breska», sagte ich. «Was glauben Sie, wie weit er es gebracht hätte, wenn er nicht so früh gestorben wäre?» «Wer?» «Gaudier Breska.» «Ja», murmelte er. «Allerdings.» Plötzlich fiel mir etwas Seltsames auf. Die Frau hatte den Kopf noch immer nicht zurückgezogen, aber sie schob jetzt ihren Körper in langsamen Windungen hin und her. Der Mann stand einen Schritt von ihr entfernt und sah sie an. Er schien irgendwie beunruhigt zu sein; der gesenkte Kopf und die angespannte Körperhaltung deuteten darauf hin, dass er nicht mehr lachte. Nach einer Weile legte er die Kamera auf den Boden, näherte sich der Frau und nahm ihren Kopf in die Hände. Und auf einmal war es eher ein Puppenspiel als ein Ballett – winzige hölzerne Marionetten, die winzige hölzerne Bewegungen machten, verrückt und unwirklich, auf einer weitentfernten, von der Sonne beleuchteten Bühne. Wir saßen auf der weißen Bank und sahen schweigend zu, wie der Marionettenmann an dem Kopf der Frau herumhantierte. Er tat es sanft, daran war nicht zu zweifeln, sanft und vorsichtig. Von Zeit zu Zeit trat er zurück, um nachzudenken; mehrmals hockte er sich nieder, um die Lage aus einem anderen Blickwinkel zu begutachten. Immer wenn er die Frau allein ließ, begann sie von neuem, sich hin und her zu winden, und zwar auf eine seltsame Art, die mich an einen Hund erinnerte, der zum ersten Mal ein Halsband trägt. «Sie ist eingeklemmt», sagte Sir Basil. Nun ging der Mann auf die andere Seite der Holzskulptur, dorthin, wo sich der Körper der Frau befand. Er bückte sich und versuchte, irgendetwas mit ihrem Hals zu machen. Dann, als hätte er plötzlich die Geduld verloren, zerrte er zwei-, dreimal heftig an dem Hals, und diesmal drang die Stimme der Frau, schrill vor Zorn oder Schmerz, klar und deutlich durch das Sonnenlicht zu uns. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Sir Basil ruhig nickte. «Als Junge bin ich einmal mit der Hand in einem Glas Konfitüre stecken geblieben», sagte er. «Bekam sie nicht wieder heraus.» Der Mann war ein paar Schritte zurückgetreten und stand nun da, die Hände in die Hüfte gestemmt, den Kopf hoch erhoben. Ich hatte den Eindruck, dass er ärgerlich und gereizt war. Die Frau schien aus ihrer unbequemen Stellung heraus mit ihm zu sprechen oder ihn vielmehr anzuschreien, und wenn sich auch ihr Körper nur winden konnte, so waren doch die Beine frei, mit denen sie wild auf den Boden stampfte. «Ich habe das Glas mit dem Hammer zerschlagen und meiner Mutter erzählt, ich hätte es aus Versehen vom Regal gestoßen.» Sir Basil wirkte jetzt völlig entspannt, kein bisschen nervös, obgleich er mit merkwürdig tonloser Stimme sprach. «Vielleicht sollten wir hinuntergehen und sehen, ob wir helfen können.» «Das wäre wohl das Beste.» Aber er rührte sich nicht. Er nahm eine Zigarette heraus, zündete sie an und legte das abgebrannte Streichholz sorgfältig in die Schachtel zurück. «Ach, entschuldigen Sie», sagte er. «Möchten Sie auch eine?» «Danke, ich glaube, ja.» Er machte aus dem Anbieten und Anzünden der Zigarette eine umständliche kleine Zeremonie, und wieder legte er das abgebrannte Streichholz sorgfältig in die Schachtel zurück. Dann standen wir auf und gingen langsam den grasigen Abhang hinunter. Für die beiden war es natürlich eine ziemliche Überraschung, als wir durch einen Torbogen in der Eibenhecke auf sie zutraten. «Was ist denn hier los?», fragte Sir Basil. Er sprach sanft, aber es war eine gefährliche Sanftmut, die seine Frau sicherlich noch nie bei ihm erlebt hatte. «Sie hat den Kopf durch das Loch gesteckt und kriegt ihn nicht wieder raus», erklärte Major Haddock. «War ein Jux, wissen Sie.» «Ein was?» «Basil!», schrie Lady Turton. «Stell dich nicht so dumm an! Tu etwas, ja?» Sie konnte sich zwar nicht viel bewegen, aber reden konnte sie noch. «Wird wohl nichts anders übrigbleiben, als dieses Holzding aufzubrechen», sagte der Major. An seinem grauen Schnurrbart haftete ein wenig Rot, und das genügte, sein männliches Aussehen zu zerstören – wie der überflüssige Farbtupfen, der ein vollkommenes Gemälde ruiniert. Er wirkte nur noch komisch. «Aufbrechen? Den Henry Moore aufbrechen?» «Mein lieber Sir Basil, es gibt keine andere Möglichkeit, Ihre Gattin zu befreien. Gott weiß, wie sie es fertiggebracht hat, sich da hineinzuquetschen, aber heraus kommt sie nicht von selbst, so viel steht fest. Die Ohren sind im Weg.» «Ach Gott», seufzte Sir Basil. «Das ist ja schrecklich. Mein schöner Henry Moore.» Hier begann Lady Turton, ihren Mann in höchst unangenehmer Weise zu beschimpfen, und vermutlich hätte sie nicht sobald damit aufgehört, wäre nicht plötzlich Jelks aus dem Schatten aufgetaucht. Er kam über den Rasen geschlurft und stellte sich wortlos in respektvoller Entfernung neben Sir Basil auf, als erwarte er seine Befehle. Die schwarze Kleidung des Butlers passte ganz und gar nicht zu diesem sonnigen Morgen. Mit seinem runzligen, rosig-weißen Gesicht und den weißen Händen sah er wie ein Maulwurf aus, der sein ganzes Leben unter der Erde verbracht hat. «Kann ich etwas tun, Sir Basil?», fragte er gleichmütig. Er hatte zwar seine Stimme in der Gewalt, nicht aber sein Mienenspiel. Als er Lady Turton ansah, funkelte es triumphierend in seinen Augen auf. «Ja, Jelks. Holen Sie mir eine Säge oder so etwas, damit ich ein Stück Holz herausschneiden kann.» «Soll ich nicht jemand von den Leuten rufen, Sir Basil? William ist ein guter Zimmermann.» «Nein, das mache ich selbst. Holen Sie nur das Werkzeug – und beeilen Sie sich.» Während sie auf Jelks warteten, ging ich ein wenig umher, weil ich nicht mehr mit anhören konnte, was Lady Turton zu ihrem Mann sagte. Aber ich war zeitig genug zurück, um den Butler kommen zu sehen. Ihm voran eilte Miss Carmen La Rosa, die sofort auf die Gastgeberin zustürzte. «Nata-li-a! Meine liebe Natali-a! Was hat man mit dir gemacht?» «Ach, halt den Mund», fauchte die Gastgeberin. «Und geh aus dem Weg, ja?» Sir Basil stand jetzt neben dem Kopf seiner Frau und blickte dem Butler entgegen. Jelks trottete langsam auf ihn zu, in der einen Hand eine Säge, in der anderen eine Axt. Etwa einen Meter vor der Skulptur blieb er stehen und streckte die beiden Werkzeuge aus, damit sein Herr zwischen ihnen wählen konnte. Zwei, drei Sekunden des Schweigens und Abwartens folgten, und als ich auf Jelks blickte, sah ich, wie sich die Hand mit der Axt um den Bruchteil eines Zentimeters näher an Sir Basil heranschob. Eine kaum merkliche Bewegung, ein winziges Vorschieben der Hand, langsam und verstohlen, ein kleines Angebot, ein kleines überredendes Angebot, das von einem nur angedeuteten Heben der Augenbrauen begleitet wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob Sir Basil es sah, aber er zögerte. Wieder schob sich die Hand mit der Axt um den Bruchteil eines Zentimeters vor. Das Ganze erinnerte stark an jenen Kartentrick, bei dem der Mann sagt: ‹Ziehen Sie, welche Sie wollen› – und dann wählt man unweigerlich die Karte, die er einem zugedacht hat. Sir Basil wählte die Axt. Wie im Traum streckte er die Hand danach aus und nahm sie von Jelks in Empfang. Dann, als er den Griff umklammerte, schien er zu begreifen, was von ihm verlangt wurde, und es kam Leben in ihn. Für mich war das wie der schreckliche Moment, in dem man ein Kind auf die Straße laufen sieht und ein Auto rast heran, und man kann nur die Augen schließen und warten, bis das Krachen einem verrät, dass es geschehen ist. Diese Sekunde des Wartens, in der gelbe und rote Punkte vor einem schwarzen Hintergrund tanzen, wird zu einer langen, intensiv erlebten Zeit. Vielleicht stellt sich nachher heraus, dass niemand getötet oder verletzt worden ist. Aber davon wird einem nicht besser im Magen, denn ob so oder so – man hat alles gesehen. Ich jedenfalls sah dies hier so genau wie nur möglich, und ich kehrte erst in die Wirklichkeit zurück, als ich Sir Basils Stimme, noch leiser als sonst, mit sanftem Protest den Butler zur Ordnung rufen hörte. «Jelks», sagte er, und ich öffnete die Augen. Da stand er – unverändert ruhig und freundlich, mit der Axt in der Hand. Auch Lady Turtons Kopf war noch an seinem Platz, das heißt, er steckte in dem Loch. Aber ihr Gesicht war aschgrau geworden, der Mund klappte auf und zu, und sie gab gurgelnde Laute von sich. «Ich bitte Sie, Jelks», sagte Sir Basil, «wo haben Sie Ihre Gedanken? Das Ding ist doch viel zu gefährlich. Geben Sie mir die Säge.» Und als er das Werkzeug auswechselte, bemerkte ich, dass auf seinen Wangen zwei warme rote Flecke erschienen und darüber, rund um die Augenwinkel, die winzigen Fältchen eines Lächelns. Der Lautforscher Es war ein warmer Sommerabend. Klausner ging mit schnellen Schritten um das Haus herum in den Garten an der Rückseite. Vor einem Bretterschuppen blieb er stehen. Er schloss die Tür auf, trat ein und machte die Tür hinter sich zu. In dem Schuppen gab es nur einen einzigen Raum. Auf einer hölzernen Werkbank, die dicht an die ungestrichene Wand herangeschoben war, stand inmitten eines Durcheinanders von Drähten, Batterien und allerlei scharfen Werkzeugen ein etwa ein Meter langer schwarzer Kasten, der die Form eines Kindersargs hatte. Klausner ging auf den Kasten zu, dessen Deckel offen war. Er beugte sich vor, betrachtete mit größter Aufmerksamkeit ein Gewirr verschiedenfarbiger Drähte und silberner Röhren, hob ein Blatt Papier auf, das neben dem Kasten lag, sah es sich sehr genau an, legte es hin, schaute von neuem in den Kasten, fuhr mit den Fingern über die Drähte, zupfte leicht an ihnen, um die Verbindungen zu prüfen, blickte wieder auf das Papier, dann in den Kasten, dann abermals auf das Papier. So kontrollierte er etwa eine Stunde lang jeden einzelnen Draht. Schließlich tastete seine Hand über die Vorderseite des Kastens und drehte an den drei Knöpfen, die sich dort befanden. Während er die Bewegungen des Mechanismus im Kasten beobachtete, sprach er leise vor sich hin, nickte mit dem Kopf und lächelte manchmal. Seine Hände glitten pausenlos hin und her, die Finger hantierten flink und geschickt, sein Mund verzog sich eigenartig, wenn er an eine komplizierte Verbindung geriet, und er murmelte in einem fort: «Ja … Ja … Und jetzt diesen hier … Ja … Ja … Aber stimmt das? Habe ich – wo ist mein Diagramm? … Ach ja … Natürlich … Ja, ja … So ist es richtig … Und jetzt … Gut … Gut … Ja … Ja, ja, ja.» Er war völlig konzentriert, aber es lag etwas Drängendes in der Art, wie er arbeitete, etwas Atemloses, das auf eine starke, mühsam unterdrückte Erregung hindeutete. Plötzlich hörte er Schritte auf dem Kiesweg. Er richtete sich auf und fuhr herum, als die Tür sich öffnete und ein hochgewachsener Mann eintrat. Es war Scott. Es war nur Scott, der Arzt. «Sieh mal einer an», rief der Arzt. «Also hier verstecken Sie sich abends immer.» «Hallo, Doktor», sagte Klausner. «Ich kam gerade vorbei», erklärte der andere. «Und da wollte ich doch sehen, wie es Ihnen geht. Im Haus war niemand, deshalb habe ich Sie im Garten gesucht. Was macht der Hals?» «Alles in Ordnung. Danke.» «Na, wenn ich schon hier bin, kann ich ihn mir ja noch einmal anschauen.» «Bitte, bemühen Sie sich nicht. Mir fehlt nichts. Ich bin völlig gesund.» Dr. Scott merkte, dass die Atmosphäre mit Spannung geladen war. Er betrachtete den schwarzen Kasten auf der Werkbank, dann blickte er den Mann an. «Sie haben noch den Hut auf», sagte er. «Wirklich?» Klausner nahm den Hut ab und legte ihn auf die Werkbank. Der Arzt kam näher und beugte sich über den Kasten. «Was ist das?», fragte er. «Bauen Sie ein Radio?» «Nein. Nur so eine Bastelei.» «Ziemlich komplizierte Sache, was?» «Ja.» Klausner wirkte nervös und zerstreut. «Was soll’s denn werden?», erkundigte sich der Arzt. «Sieht ja direkt unheimlich aus, das Ding.» «Mir ist da eine Idee gekommen …» «Ja?» «Hat mit Geräuschen zu tun, das ist alles.» «Du meine Güte! Haben Sie denn tagsüber bei der Arbeit noch nicht genug Lärm?» «Ich mag Geräusche.» «Scheint mir auch so.» Dr. Scott wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: «Na, ich will Sie nicht länger stören. Schön, dass Ihr Hals wieder in Ordnung ist.» Aber er blieb stehen, denn der seltsame Mechanismus in dem Kasten interessierte ihn, und außerdem hätte er gar zu gern gewusst, was dieser wunderliche Kauz vorhatte. «Wozu ist es denn nun wirklich?», fragte er. «Sie haben mich neugierig gemacht.» Klausner sah auf den Kasten, dann auf den Arzt. Er hob die Hand und rieb nachdenklich sein rechtes Ohrläppchen. Eine Pause trat ein. Der Arzt stand lächelnd an der Tür und wartete. «Also gut, ich will’s Ihnen erklären, wenn es Sie interessiert.» Wieder trat eine Pause ein. Offensichtlich wusste Klausner nicht, wie er beginnen sollte. Er trat von einem Fuß auf den anderen, zupfte am Ohrläppchen, sah auf seine Füße, und schließlich sagte er langsam: «Ja, also … Theoretisch ist die Sache ganz einfach. Das menschliche Ohr … Sie wissen ja, dass es nicht alles hören kann. Es gibt Töne, die so hoch oder so tief sind, dass wir sie nicht hören können.» «Richtig», bestätigte der Arzt. «Ja, jeder Ton, der grob gesprochen mehr als fünfzehntausend Schwingungen in der Sekunde hat, ist für uns nicht mehr zu hören. Hunde haben bessere Ohren als wir. Gewiss kennen Sie diese Pfeifchen, deren Ton so hoch ist, dass nur ein Hund sie hören kann.» «Ja, ich habe schon mal so ein Ding gesehen.» «Natürlich. Und weiter oben auf der Tonleiter, also über dem Ton der Hundepfeife, gibt es noch einen Ton – eine Schwingung, wenn Sie wollen, aber ich spreche lieber von einem Ton. Den können Sie auch nicht hören. Und darüber gibt es noch einen und noch einen, immer höher und höher die Tonleiter hinauf, eine endlose Tonfolge … eine Unendlichkeit von Tönen … Es gibt einen Ton – wenn unser Ohr ihn nur hören könnte –, der so hoch ist, dass er eine Million Schwingungen in der Sekunde hat … und einen, der noch Millionen Mal höher ist … und so weiter, immer höher und höher, bis ins Unendliche … in die Ewigkeit … hinter die Sterne.» Klausner sprach mit wachsender Erregung. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann, nervös und zappelig, mit Händen, die dauernd in Bewegung waren. Sein großer Kopf neigte sich zur linken Schulter, als wäre der Hals nicht stark genug, ihn zu tragen. Er hatte ein weiches, blasses, fast weißes Gesicht, und der Blick seiner hellgrauen Augen, die zwinkernd durch eine nickelgeränderte Brille schauten, war unstet und verträumt. Ja, er war klein und schmächtig, nervös und zappelig, eine Motte von einem Mann, bald verträumt und zerstreut, bald aufgeregt und lebhaft, und doch spürte der Arzt, als er das seltsam blasse Gesicht und die hellgrauen Augen betrachtete, dass an diesem kleinen Mann etwas Distanziertes war, etwas ungemein Distanziertes, als hätte sich sein Geist weit vom Körper entfernt. Der Arzt wartete auf nähere Erklärungen. Klausner seufzte und faltete fest die Hände. «Ich glaube», sagte er, langsamer jetzt, «ich glaube, dass es eine ganze Welt von Lauten gibt, die wir nicht hören können. Vielleicht erklingt dort oben in den hohen, unhörbaren Regionen eine neue erregende Musik mit zarten Harmonien und wilden, schneidenden Dissonanzen – eine Musik, die so mächtig ist, dass sie uns verrückt machen würde, wenn unsere Ohren darauf eingestellt wären, sie zu hören. Ja, das ist durchaus möglich … Und nicht nur das. Es kann dort sogar …» «Ja», unterbrach ihn der Arzt, «aber es ist nicht sehr wahrscheinlich.» «Warum nicht? Warum nicht?» Klausner deutete auf eine Fliege, die auf einer kleinen Rolle Kupferdraht saß. «Sehen Sie diese Fliege? Was für ein Geräusch macht sie jetzt? Keines – soweit wir hören können. Aber wer sagt uns, dass sie nicht wie verrückt in den höchsten Tönen pfeift oder bellt oder krächzt oder singt? Sie hat doch einen Mund, nicht wahr? Sie hat eine Kehle!» Der Arzt blickt lächelnd auf die Fliege. Er stand noch immer an der Tür, halb zum Gehen gewandt. «Und das wollen Sie also herausfinden?», fragte er. «Vor einiger Zeit», berichtete Klausner, «fertigte ich ein einfaches Instrument an, das mir das Vorhandensein vieler unhörbarer Geräusche bewies. Oft habe ich dagesessen und beobachtet, wie die Nadel meines Instruments Klangschwingungen in der Luft anzeigte, die ich nicht hören konnte. Und das sind die Laute, die ich gern hören möchte. Ich möchte wissen, woher sie kommen und wer oder was sie hervorbringt.» «Und der Apparat, an dem Sie da arbeiten? Wird der Ihnen ermöglichen, diese Geräusche zu hören?» «Vielleicht. Wer weiß? Bis jetzt ist es mir noch nicht geglückt. Aber ich habe einige Veränderungen vorgenommen, und heute Abend werde ich’s nochmal versuchen. Dieser Apparat –» Klausner legte die Hand darauf – «soll Klangschwingungen, die für das menschliche Ohr zu hoch sind, auffangen und sie in hörbare Töne umwandeln. Ich stelle ihn ein, beinahe wie ein Radio.» «Wie meinen Sie das?» «Eine ganz einfache Sache. Angenommen, ich möchte das Piepsen einer Fledermaus hören, also einen ziemlich hohen Ton – etwa dreißigtausend Schwingungen in der Sekunde. Das normale menschliche Ohr kann ihn kaum hören. Aber wenn nun eine Fledermaus in diesem Raum herumflöge, dann bräuchte ich den Apparat nur auf dreißigtausend einzustellen, und schon würde ich das Piepsen ganz klar hören. Ich würde sogar den richtigen Ton hören – f oder b, was es gerade ist –, nur die Tonhöhe wäre viel niedriger. Verstehen Sie?» Der Arzt sah auf den langen schwarzen Kasten. «Und das wollen Sie heute Abend versuchen?» «Ja.» «Na, dann viel Glück.» Dr. Scott blickte auf seine Uhr. «Du meine Güte, ich muss ja weiter. Auf Wiedersehen. Und vielen Dank, dass Sie es mir erklärt haben. Ich komme mal vorbei und frage, ob es geklappt hat.» Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Klausner bastelte noch eine Zeitlang an den Drähten in dem schwarzen Kasten herum; dann richtete er sich auf und sagte in einem leisen, erregten Flüstern: «So, jetzt machen wir noch einen Versuch … Diesmal im Garten … Vielleicht … vielleicht … ist der Empfang dort besser. Hoch damit … Vorsichtig … Mein Gott, ist das schwer!» Er trug den Kasten zur Tür, merkte, dass er die Tür nicht öffnen konnte, ohne den Kasten abzusetzen, trug ihn auf die Werkbank zurück, öffnete die Tür, nahm den Kasten und trug ihn mit einiger Mühe in den Garten. Auf dem Rasen stand ein kleiner Holztisch, und dort setzte er seine Last behutsam ab. Dann holte er aus dem Schuppen einen Kopfhörer. Er stülpte ihn über die Ohren und schob die Stecker in den Apparat. Seine Hände bewegten sich flink und zielsicher. Aufgeregt, wie er war, atmete er laut und schnell durch den Mund. Er sprach noch immer mit sich selbst, beruhigend und ermutigend, als hätte er Angst – Angst, dass der Apparat nicht funktionierte, und Angst vor dem, was geschehen würde, wenn er funktionierte. Er stand im Garten neben dem Holztisch, so blass, klein und dünn, dass er einem greisenhaften, schwindsüchtigen, bebrillten Kind glich. Die Sonne war untergegangen. Kein Lüftchen regte sich, kein Geräusch war zu hören. Vom Rasen aus konnte er über einen niedrigen Zaun in den Nachbargarten sehen, wo eine Frau mit einem Blumenkorb zwischen den Beeten umherging. Er betrachtete sie eine Zeitlang, dachte aber dabei an etwas ganz anderes. Dann wandte er sich dem Kasten auf dem Tisch zu und drückte einen Hebel an der Vorderseite herunter. Er legte die linke Hand auf den Lautstärkeregler und die rechte auf den Drehknopf, mit dem sich ein Zeiger über eine große Skalenscheibe bewegen ließ. Auf der Skala standen wie bei einem Radioapparat die Frequenzangaben – viele Zahlen zwischen 15 000 und 1 000 000. Nun beugte er sich über den Kasten, den Kopf gespannt lauschend zur Seite geneigt, und begann mit der rechten Hand den Knopf zu drehen. Der Zeiger wanderte langsam über die Skala, so langsam, dass Klausner kaum eine Bewegung sah. In dem Kopfhörer ertönte ein schwaches, unregelmäßiges Knistern. Außer diesem knisternden Geräusch vernahm er noch ein gedämpftes Summen, das von dem Apparat selbst herrührte, aber das war alles. Während er lauschte, überkam ihn ein seltsames Gefühl: Ihm war, als wüchsen seine Ohren weit aus dem Kopf heraus, als sei jedes Ohr durch einen dünnen, steifen Draht mit dem Kopf verbunden und als würde dieser Draht immer länger, sodass die Ohren wie Fühler höher und höher in ein geheimes Territorium vordrangen, in ein gefährliches ultrasonores Gebiet, in das sich Menschenohren noch nie gewagt hatten und eigentlich auch nicht wagen durften. Der kleine Zeiger wanderte langsam über die Skala. Plötzlich hörte Klausner einen Schrei, einen entsetzlichen, durchdringenden Schrei. Er zuckte zusammen, und seine Hände krampften sich um den Rand des Tisches. Dann blickte er nach allen Seiten, als erwarte er, denjenigen zu sehen, der geschrien hatte. Aber er sah nur die Frau im Nachbargarten, und die war es bestimmt nicht gewesen. Sie stand über ein Beet gebückt, schnitt gelbe Rosen und legte sie in ihren Korb. Da war er wieder – dieser kehllose, unmenschliche Schrei, scharf und kurz, sehr klar und kalt. Der Ton hatte etwas Metallisches, Mollartiges, wie es Klausner nie zuvor gehört hatte. Er schaute umher, suchte instinktiv nach dem Ursprung des Geräusches. Die Frau nebenan war das einzige lebende Wesen, das er entdecken konnte. Er sah, wie sie eine Rose am Stiel ergriff und sie mit der Gartenschere abschnitt. Wieder der Schrei. Er gellte genau in dem Augenblick auf, als der Rosenstiel durchgeschnitten wurde. Jetzt legte die Frau die Schere zu den Rosen in den Korb und wandte sich zum Gehen. «Mrs. Saunders!», schrie Klausner mit vor Aufregung schriller Stimme. «Hallo, Mrs. Saunders!» Die Frau fuhr herum und sah ihren Nachbarn auf dem Rasen stehen – eine phantastische kleine Gestalt mit seltsamen Klappen über den Ohren, die heftig die Arme schwenkte und so schrill, so laut nach ihr rief, dass sie dachte, es sei etwas passiert. «Schneiden Sie noch eine ab! Bitte schneiden Sie schnell noch eine ab!» Sie starrte ihn verdutzt an. «Nanu, Mr. Klausner», sagte sie. «Was ist denn los?» «Bitte, tun Sie mir den Gefallen», beschwor er sie. «Schneiden Sie noch eine Rose ab!» Mrs. Saunders hatte ihren Nachbarn schon immer für einen Sonderling gehalten, und jetzt war er anscheinend völlig verrückt geworden. Sie überlegte, ob sie ins Haus laufen und ihren Mann holen sollte. Nein, dachte sie. Nein, er ist harmlos. Ich darf ihm nur nicht widersprechen. «Gern, Mr. Klausner, ganz wie Sie wollen», sagte sie, nahm die Schere aus dem Korb, bückte sich und schnitt eine Rose ab. Und wieder hörte Klausner diesen entsetzlichen, kehllosen Schrei, wieder genau in dem Augenblick, da der Rosenstiel durchgeschnitten wurde. Er nahm den Kopfhörer ab und lief an den Zaun, der die beiden Gärten trennte. «Halt!», rief er. «Das genügt. Nicht noch mehr. Bitte, nicht noch mehr.» Die Frau hob erstaunt den Kopf, die gelbe Rose in der einen, die Gartenschere in der anderen Hand. «Ich will Ihnen etwas sagen, Mrs. Saunders», sprach er weiter. «Etwas so Merkwürdiges, dass Sie’s vielleicht gar nicht glauben werden.» Er legte die Hand auf den Zaun und sah sie eindringlich durch seine dicken Brillengläser an. «Sie haben heute Abend einen Korb voll Rosen geschnitten. Sie haben mit einer scharfen Schere die Stiele lebender Wesen durchtrennt, und jede Rose hat dabei entsetzlich geschrien. Haben Sie das gewusst, Mrs. Saunders?» «Nein», antwortete sie. «Das habe ich wirklich nicht gewusst.» «So ist es aber», versicherte Klausner. Er atmete hastig, bemühte sich jedoch, seine Erregung zu unterdrücken. «Ich habe gehört, wie sie schrien. Jedes Mal wenn Sie eine Rose abschnitten, hörte ich diesen Schmerzensschrei. Ziemlich hoch, ungefähr einhundertzweiunddreißigtausend Schwingungen in der Sekunde. Sie, Mrs. Saunders, konnten es natürlich nicht hören. Aber ich habe es gehört.» «Ist das wahr, Mr. Klausner?» Sie beschloss, bis fünf zu zählen und dann auf das Haus zuzurennen. «Sie werden vielleicht einwenden», fuhr er fort, «dass ein Rosenstrauch kein Nervensystem hat, mit dem er etwas empfinden kann, und keine Kehle, die es ihm ermöglicht zu schreien. Das stimmt. Er hat beides nicht. Nicht so wie wir jedenfalls. Aber woher wissen Sie, Mrs. Saunders –» er lehnte sich weit über den Zaun und sprach in einem leidenschaftlichen Flüsterton – «woher wissen Sie, dass ein Rosenstrauch, von dem man eine Blüte abschneidet, nicht ebenso großen Schmerz empfindet wie Sie, wenn man Ihnen mit einer Gartenschere das Handgelenk durchschneidet. Woher wissen Sie das? Der Strauch lebt doch, nicht wahr?» «Ja, Mr. Klausner. O ja … Gute Nacht.» Damit machte sie kehrt und lief wie gehetzt den Gartenweg entlang. Klausner ging zum Tisch zurück. Er setzte den Kopfhörer auf und blieb eine Weile lauschend stehen. Nichts – nur das schwache Knistern und das Summen im Apparat. Er bückte sich, nahm ein weißes Gänseblümchen zwischen Daumen und Zeigefinger und zog langsam daran, bis der Stängel brach. Von dem Augenblick, in dem er zu ziehen begann, bis zu dem Augenblick, da der Stängel brach, hörte er deutlich einen Schrei, einen leisen, hohen, seltsam unbeseelten Schrei. Er wiederholte das Experiment an einem anderen Gänseblümchen. Auch diesmal drang aus dem Kopfhörer ein Schrei an sein Ohr – aber er war jetzt nicht sicher, was dieser Schrei ausdrückte: Schmerz? Nein, eher Überraschung. Oder auch das nicht? Dieser Schrei drückte in Wahrheit keine der Empfindungen aus, die dem Menschen bekannt sind. Es war einfach ein Schrei, ein neutraler, unbeteiligter Schrei – ein einzelner Ton, der nichts ausdrückte. Und genauso war es bei den Rosen gewesen. Er hatte unrecht gehabt, es einen Schmerzensschrei zu nennen. Eine Blume empfindet wahrscheinlich keinen Schmerz. Sie fühlt etwas anderes, von dem wir nichts wissen – etwas, was vielleicht Schmarte heißt oder Plupfer oder Erflückerung oder sonst wie. Klausner richtete sich auf und nahm den Kopfhörer ab. Es wurde dunkel. Er sah, wie in den umliegenden Häusern die Lichter aufflammten. Vorsichtig hob er den schwarzen Kasten vom Tisch, trug ihn in den Schuppen und stellte ihn auf die Werkbank. Dann schloss er die Tür von außen ab und ging ins Haus. Am nächsten Morgen stand er in aller Frühe auf, zog sich an und lief sofort in den Schuppen, um den Apparat zu holen. Er umfasste ihn mit beiden Händen, drückte ihn gegen die Brust und schritt, leicht unter dem Gewicht schwankend, am Haus vorbei zur Gartenpforte und von dort über die Straße in den Park. Nachdem er kurz Umschau gehalten hatte, ging er weiter, bis er zu einem großen Baum kam, einer Buche. Er stellte den Kasten dicht neben den Baumstamm. Dann rannte er ins Haus zurück, holte eine Axt aus dem Kohlenkeller, trug sie über die Straße in den Park und legte sie ebenfalls neben den Baum. Wieder hielt er Umschau, blickte nervös durch seine dicken Gläser nach allen Seiten. Kein Mensch weit und breit. Es war sechs Uhr morgens. Klausner stülpte den Kopfhörer über die Ohren und schaltete den Apparat ein. Er lauschte ein Weilchen dem vertrauten schwachen Summen; dann ergriff er die Axt, stellte sich breitbeinig hin und hieb sie mit aller Kraft dicht über dem Boden in den Baumstamm. Die Schneide drang tief in das Holz und blieb dort stecken. Im Augenblick des Aufpralls hörte er einen höchst merkwürdigen Laut. Es war ein unbekannter Laut, anders als alles, was er jemals gehört hatte, ein raues tonloses Dröhnen, ein brummendes, tiefes Ächzen, nicht schnell und kurz wie der Aufschrei der Rosen, sondern langgezogen wie ein Seufzen. Am lautesten war es, als die Axt aufschlug, dann wurde es nach und nach schwächer, bis es schließlich verstummte. Entsetzt starrte Klausner auf die Stelle, wo die Axt in das hölzerne Fleisch des Baumes gedrungen war. Er umfasste mit beiden Händen den Griff der Axt, zog die Schneide behutsam aus dem Stamm und warf das Werkzeug auf die Erde. Seine Finger tasteten über den Riss, der im Holz klaffte; er versuchte, die Ränder zusammenzupressen, um die Wunde zu schließen, und dabei murmelte er immer wieder: «Baum … ach, Baum … Es tut mir leid … Es tut mir so leid … Aber es wird heilen … O ja, es wird heilen …» So stand er eine Zeitlang vor dem großen Baum, die Hände auf dem Stamm; dann drehte er sich plötzlich um und lief zurück – über die Straße, durch die Pforte, ins Haus. Er ging zum Telefon, sah im Buch nach, wählte eine Nummer und wartete. Seine linke Hand hielt den Hörer umklammert, während er mit der rechten ungeduldig auf den Tisch klopfte. Er hörte das Klingelzeichen am anderen Ende der Leitung, dann ein Klicken. Eine verschlafene männliche Stimme sagte: «Hallo, ja.» «Dr. Scott?», fragte er. «Ja. Am Apparat.» «Dr. Scott, Sie müssen sofort kommen – bitte, schnell.» «Wer spricht denn da?» «Klausner. Sie erinnern sich doch, ich habe Ihnen gestern Abend von den Lauten erzählt, die ich hören möchte, und davon, dass ich hoffte …» «Ja, ja, natürlich, aber was ist los? Sind Sie krank?» «Nein, krank bin ich nicht, aber …» «Was denn», sagte der Arzt, «und da reißen Sie mich morgens um halb sieben aus dem Schlaf?» «Bitte, kommen Sie. Kommen Sie schnell. Ich möchte, dass jemand es hört. Es macht mich verrückt! Ich kann es nicht glauben …» Der Arzt kannte diesen verzweifelten, fast hysterischen Tön – es war der gleiche Ton, in dem man ihm schon oft durchs Telefon zugerufen hatte: «Hier ist ein Unfall passiert. Kommen Sie schnell.» Er sagte langsam: «Sie wollen also wirklich, dass ich aufstehe und zu Ihnen komme?» «Ja, jetzt gleich. Sofort, bitte.» «Also gut – in ein paar Minuten bin ich da.» Klausner setzte sich neben das Telefon und wartete. Er suchte sich zu erinnern, wie der Schrei des Baumes geklungen hatte, aber es gelang ihm nicht. Er wusste nur, dass es furchtbar gewesen war und dass sich ihm vor Entsetzen der Magen umgedreht hatte. Was für einen Schrei würde wohl ein Mensch ausstoßen, der fest in der Erde verankert dastehen musste, während ihm jemand eine scharfe Axt ins Bein hieb, sodass die Schneide tief eindrang und sich in der Wunde einkeilte? Vielleicht den gleichen Schrei? Nein. Ganz bestimmt nicht. Der Schrei des Baumes war schrecklicher gewesen als irgendein Laut, den Menschen hervorbringen konnten, weil er etwas so grauenhaft Tonloses, Kehlloses gehabt hatte. Und wie würden wohl andere Lebewesen schreien? Klausner sah sofort ein Weizenfeld vor sich, ein Feld voll lebender, aufrecht stehender gelber Weizenhalme, über das eine Mähmaschine fuhr, die mit ihren scharfen Messern die Halme durchschnitt, fünfhundert Halme in der Sekunde, in jeder Sekunde. O Gott, was musste das für ein Laut sein? Fünfhundert Weizenpflanzen, die gleichzeitig aufschrien, und in jeder Sekunde wurden fünfhundert weitere geschnitten und schrien – nein, dachte er, ich will nicht mit meinem Apparat auf ein Weizenfeld gehen. Ich würde danach nie wieder Brot essen können. Und wie ist es mit Kartoffeln, fragte er sich, mit Kohlköpfen, Karotten und Zwiebeln? Und mit Äpfeln? Ach nein, bei Äpfeln ist nichts zu befürchten. Sie fallen auf natürliche Weise ab, wenn sie reif sind. Mit Äpfeln ist es etwas anderes, sofern man sie abfallen lässt und sie nicht von den Zweigen reißt. Aber Gemüse … Kartoffeln zum Beispiel. Eine Kartoffel würde bestimmt schreien, ebenso eine Karotte, eine Zwiebel, ein Kohlkopf … Er hörte das Knarren der Gartenpforte, sprang auf, lief hinaus und sah den hochgewachsenen Arzt, der sich mit seiner schwarzen Tasche in der Hand dem Haus näherte. «Na», sagte Dr. Scott, «wo brennt’s denn?» «Kommen Sie mit, Doktor. Ich möchte, dass Sie es hören. Ich habe Sie gerufen, weil Sie der Einzige sind, dem ich’s erzählt habe. Es ist drüben im Park. Kommen Sie mit.» Der Arzt sah ihn an. Klausner schien sich beruhigt zu haben. Nichts deutete auf Geistesgestörtheit oder Hysterie hin; er war nur nervös und erregt. Sie gingen über die Straße in den Park. Klausner führte den Arzt zu der großen Buche, an deren Fuß der sargähnliche schwarze Kasten stand. Daneben lag die Axt. «Warum haben Sie den Apparat hierhergebracht?», fragte Dr. Scott. «Ich brauchte einen Baum. In meinem Garten gibt es keine großen Bäume.» «Und was soll die Axt?» «Das werden Sie gleich sehen. Aber jetzt setzen Sie bitte den Kopfhörer auf und geben Sie acht. Geben Sie sehr gut acht, und sagen Sie mir nachher genau, was Sie gehört haben. Ich möchte ganz sichergehen …» Der Arzt lächelte, nahm den Kopfhörer und stülpte ihn über die Ohren. Klausner bückte sich und schaltete den Apparat ein. Dann ergriff er die Axt, stellte sich breitbeinig hin, um den Schlag zu führen. Einen Augenblick zögerte er noch. «Können Sie etwas hören?», fragte er den Arzt. «Kann ich was?» «Können Sie etwas hören?» «Nur ein Summen.» Klausner stand mit der erhobenen Axt da. Aber er brachte es einfach nicht fertig zuzuschlagen. Der Gedanke an den Laut, den der Baum von sich geben würde, ließ ihn abermals zögern. «Worauf warten Sie noch?», fragte der Arzt. «Auf nichts», antwortete Klausner. Er holte weit aus und schwang die Axt gegen den Baum. Und während er sie schwang, glaubte er zu fühlen, ja mehr noch, war er sicher zu fühlen, dass sich die Erde unter ihm bewegte. Ein leichtes Beben lief durch den Boden, auf dem er stand, als wären die Wurzeln des Baumes in der Tiefe erzittert. Aber es war zu spät, den Schlag zu bremsen. Die Axt traf den Stamm und drang in ihn ein. In diesem Augenblick erklang über den Männern das Krachen berstenden Holzes und das Rauschen von Blättern, die andere Blätter streiften. Sie sahen beide hoch, und der Arzt schrie: «Passen Sie auf! Laufen Sie, Mann! Schnell, laufen Sie!» Er hatte den Kopfhörer abgerissen und rannte davon. Klausner aber stand wie erstarrt und blickte auf den großen, viele Meter langen Ast, der sich langsam nach unten neigte. An der dicksten Stelle des Astes, dort, wo er in den Stamm überging, barst, knackte und splitterte das Holz. Klausner konnte gerade noch rechtzeitig beiseitespringen. Der Ast fiel auf den Apparat und zertrümmerte ihn. «Mein Gott!», rief der Arzt, als er zurückgelaufen kam. «Das ging nahe vorbei! Ich dachte schon, es hätte Sie erwischt!» Klausner sah den Baum an. Sein großer Kopf war zur Seite geneigt, und auf seinem weichen weißen Gesicht lag ein Ausdruck des Entsetzens. Langsam näherte er sich dem Baum und löste vorsichtig die Axt aus dem Stamm. «Haben Sie es gehört, Doktor?», fragte er mit versagender Stimme. Der Arzt war vom Laufen und der Aufregung noch ganz außer Atem. «Was gehört?» «Im Kopfhörer. War da irgendein Geräusch, als die Axt aufschlug?» Dr. Scott rieb sich den Nacken. «Hm», murmelte er, «offen gestanden …» Er runzelte die Stirn und nagte an seiner Unterlippe. «Nein, nicht dass ich wüsste. Wirklich, ich kann es nicht sagen. Die Axt schlug auf, und in der nächsten Sekunde habe ich den Kopfhörer schon abgerissen.» «Ja, ja, aber was haben Sie gehört?» «Ich weiß es nicht», beteuerte der Arzt. «Ich weiß nicht, was ich gehört habe. Wahrscheinlich das Geräusch des splitternden Astes.» Er sprach schnell und ziemlich gereizt. «Wie hat es geklungen?» Klausner beugte sich ein wenig vor und sah ihn scharf an. «Beschreiben Sie mir genau, wie es geklungen hat.» Der Arzt verlor die Geduld. «Zum Teufel, woher soll ich das wissen? Ich war mehr daran interessiert, mein Leben zu retten. Lassen wir das.» «Dr. Scott, wie hat es geklungen?» «Herr des Himmels, denken Sie denn, ich achte auf so was, wenn der halbe Baum herunterkommt und ich um mein Leben rennen muss?» Der Arzt war zweifellos nervös. Klausner spürte es. Er stand regungslos da und blickte Dr. Scott an, ohne ein Wort zu sprechen. Der Arzt scharrte mit den Füßen, zuckte die Achseln und wandte sich schließlich ab. «Nun», sagte er, «das ist dann wohl alles.» «Halt!», befahl der kleine Mann, und sein weiches weißes Gesicht rötete sich plötzlich. «Halt, Sie müssen das hier erst nähen.» Er zeigte auf den klaffenden Riss, den zweiten, den die Axt in den Baumstamm geschlagen hatte. «Nähen Sie das schnell.» «Seien Sie nicht albern.» «Tun Sie, was ich Ihnen sage. Nähen Sie es.» Klausner hob die Axt etwas höher. Er sprach leise, in einem seltsamen, fast drohenden Ton. «Seien Sie nicht albern», wiederholte der Arzt. «Ich kann kein Holz nähen. Kommen Sie, wir gehen ins Haus.» «Sie können kein Holz nähen?» «Nein, natürlich nicht.» «Haben Sie Jod in Ihrer Tasche?» «Und wenn ich welches habe?» «Bepinseln Sie die Wunde mit Jod. Es wird brennen, aber das lässt sich nicht ändern.» «Unsinn», sagte der Arzt, und wieder wandte er sich zum Gehen. «Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Kommen Sie mit ins Haus, und dann …» «Bepinseln Sie die Wunde mit Jod!» Der Arzt zögerte. Er sah, wie sich Klausners Hand fester um den Griff der Axt schloss. Entweder tue ich ihm den Willen, dachte er, oder ich laufe weg, so schnell ich kann. Er fühlte sich verpflichtet zu bleiben. «Also gut», sagte er. «Ich bepinsele die Wunde mit Jod.» Aus seiner schwarzen Tasche, die etwa zehn Meter entfernt im Gras lag, holte er eine Flasche Jod und etwas Watte. Dann trat er an den Baumstamm heran, entkorkte die Flasche, goss etwas Jod auf die Watte, bückte sich und betupfte die Schnittfläche. Er behielt dabei Klausner im Auge, der mit der Axt in der Hand unbeweglich dastand und ihn beobachtete. «Passen Sie auf, dass Sie es richtig hineinbekommen.» «Ja», sagte der Arzt. «Und jetzt die andere Wunde – die obere.» Der Arzt gehorchte. «So, ich bin fertig.» Dr. Scott richtete sich auf und begutachtete mit ernster Miene seine Arbeit. «Das dürfte völlig genügen.» Klausner untersuchte gewissenhaft die beiden Wunden. «Ja», meinte er und nickte bedächtig mit dem großen Kopf. «Ja, das dürfte genügen.» Er ging einen Schritt zurück. «Kommen Sie morgen wieder, um es sich anzusehen?» «Natürlich», versicherte der Arzt. «Selbstverständlich.» «Und behandeln Sie die Wunden wieder mit Jod?» «Wenn es nötig ist, ja.» «Danke, Doktor.» Klausner nickte noch einmal mit dem Kopf. Er ließ die Axt fallen, und plötzlich lächelte er ein wildes, erregtes Lächeln. Der Arzt trat schnell auf ihn zu, nahm ihn sanft beim Arm und sagte: «Kommen Sie jetzt.» Und dann gingen sie fort, die beiden, gingen schweigend und ziemlich eilig zurück – durch den Park, über die Straße, ins Haus. Nunc Dimittis Es ist fast Mitternacht, und wenn ich jetzt nicht darangehe, diese Geschichte niederzuschreiben, werde ich es nie tun. Stunden und Stunden habe ich hier gesessen und versucht, einen Anfang zu finden; aber je länger ich über die ganze Sache nachdachte, desto größer wurden mein Entsetzen, meine Scham, meine Verzweiflung. Ich habe mir vorgenommen – und ich glaube, das war eine gute Idee –, in Form einer schriftlichen Beichte eine selbstkritische Betrachtung anzustellen, um auf diese Weise einen Grund oder zumindest eine Rechtfertigung für mein empörendes Verhalten gegenüber Janet de Pelagia zu finden. Ich möchte mich dabei an einen imaginären mitfühlenden Leser wenden, gewissermaßen an ein mythisches Du, an einen gütigen und verständnisvollen Menschen, dem ich rückhaltlos jede Einzelheit dieser unglückseligen Episode offenbaren kann. Ich hoffe nur, dass es mir trotz meiner Erregung gelingt, einen wahrheitsgetreuen Bericht zu geben. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich gestehen, dass es nicht sosehr das Gefühl meiner Schuld ist, das mich bedrückt, auch nicht die Kränkung, die ich der armen Janet zugefügt habe, sondern vielmehr das Bewusstsein, dass ich mich wie ein ausgemachter Idiot benommen habe und dass meine Freunde – sofern ich sie noch so nennen darf –, alle diese warmherzigen und liebenswerten Menschen, die so oft in mein Haus kamen, mich jetzt für einen boshaften, rachsüchtigen alten Mann halten müssen. Ja, das schmerzt mich tief. Wenn ich Ihnen sage, dass meine Freunde der Inhalt meines Lebens waren, dass sie mir alles, einfach alles bedeuteten, so werden Sie vielleicht anfangen, mich zu verstehen. Tatsächlich? Ich bezweifle es, denn Sie wissen ja nichts von mir. Gestatten Sie also, dass ich einen Augenblick abschweife und Ihnen in groben Zügen schildere, was für ein Mensch ich bin. Nun … lassen Sie mich nachdenken. Bei näherer Überlegung scheint mir, dass ich einen Typ verkörpere, einen ganz bestimmten, wenn auch recht seltenen Typ – den des reichen, müßiggängerischen, kultivierten Mannes in mittleren Jahren, der viele Freunde hat und von ihnen wegen seines Charmes, seines Geldes, seiner Bildung, seiner Freigebigkeit und – wie ich aufrichtig hoffe – auch um seiner selbst willen bewundert wird (ich wähle das Wort mit Bedacht). Man findet diesen Typ nur in den großen Weltstädten – London, Paris, New York –, daran ist nicht zu zweifeln. Das Geld, das er besitzt, hat er von seinem Vater geerbt, den er insgeheim ein wenig verachtet. Daraus kann man ihm keinen Vorwurf machen, denn es liegt in seiner Natur, auf Menschen herabzusehen, die so ungebildet sind, dass sie nicht wissen, wodurch sich Rockingham- und Spode-Porzellan, Waterford- und Venezianisches Glas, Sheraton und Chippendale, Monet und Manet oder gar Pommard und Montrachet voneinander unterscheiden. Er ist also ein Kenner und zeichnet sich vor allem durch einen exquisiten Geschmack aus. Seine Constables, Boningtons, Lautrecs, Redons, Veuillards und Matthew Smiths brauchen einen Vergleich mit den Gemälden der Tate Gallery nicht zu scheuen. Und weil sie so sagenhaft schön sind, schaffen sie um ihn herum eine besondere Atmosphäre, die aufreizend, atemberaubend und ein wenig beängstigend ist – beängstigend, wenn man daran denkt, dass er ohne weiteres die Macht und das Recht hat, ein prachtvolles Tal von Dedham, einen Mont Saint-Victoire, ein Kornfeld bei Arles, ein Mädchen aus Tahiti, ein Porträt von Madame Cézanne zu zerschlitzen, zu zerreißen oder mit der Faust zu durchlöchern. Und die Wände, an denen diese Wunderwerke hängen, strahlen wie einen zarten goldenen Glanz jene Erhabenheit aus, in der er lebt, sich bewegt und mit einer Nonchalance, die nicht ohne Übung erworben wurde, seine Gäste empfängt. Natürlich ist er Junggeselle, und er scheint nie in die Netze der Frauen zu geraten, die sich um ihn bemühen und ihn innig lieben. Es ist allerdings möglich – vielleicht werden Sie es in meinem Fall bemerken –, dass irgendwo in ihm eine Leere ist, eine Unzufriedenheit, ein Bedauern. Unter Umständen sogar eine leichte Perversion. Ich glaube, mehr brauche ich nicht zu sagen. Ich bin sehr offen gewesen. Sie müssten mich jetzt gut genug kennen, um mir, wenn Sie meine Geschichte hören, Gerechtigkeit und – darf ich es hoffen? – Mitgefühl zuteil werden zu lassen. Und wer weiß, ob Sie nicht sogar zu dem Schluss kommen, dass die Schuld an dem, was geschehen ist, nicht nur mich trifft, sondern in erheblichem Maße auch eine Dame namens Gladys Ponsonby. Schließlich war sie es, die den Stein ins Rollen brachte. Hätte ich Gladys Ponsonby an jenem Abend vor etwa sechs Monaten nicht nach Hause begleitet und hätte sie nicht so offen über gewisse Leute und gewisse Dinge gesprochen, dann wäre diese tragische Geschichte nie passiert. Es war im letzten Dezember, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte bei den Ashendens in ihrem bezaubernden Haus am Südrand des Regent’s Park diniert. Bis auf Gladys Ponsonby und mich waren alle Gäste – eine stattliche Anzahl – paarweise erschienen. Als wir aufbrachen, fühlte ich mich natürlich verpflichtet, Gladys meine Begleitung anzubieten. Sie nahm an, und wir fuhren zusammen in meinem Wagen fort. Vor ihrem Haus machte ich Miene, mich zu verabschieden, doch sie bestand unglücklicherweise darauf, dass ich hereinkäme und ‹noch einen auf den Weg› nähme, wie sie sich ausdrückte. Ich wollte kein Spielverderber sein, befahl also dem Chauffeur zu warten und folgte ihr. Gladys Ponsonby ist ungewöhnlich klein – sie misst allenfalls ein Meter vierundvierzig, vielleicht sogar noch weniger. Neben solchen winzigen Leuten habe ich immer das komische, fast schwindelerregende Gefühl, auf einem Stuhl zu stehen. Gladys ist Witwe und ein bisschen jünger als ich – schätzungsweise drei- oder vierundfünfzig. Vor dreißig Jahren dürfte sie ein recht nettes Persönchen gewesen sein. Jetzt aber ist ihr Gesicht schlaff, runzlig und ohne jeglichen Reiz. Die individuellen Züge dieses Gesichts, die Augen, die Nase, der Mund, das Kinn, sind unter Fettfalten begraben, sodass man sie überhaupt nicht wahrnimmt. Bis auf den Mund vielleicht, der mich – ich kann mir nicht helfen – an ein Karpfenmaul erinnert. Als sie mir im Wohnzimmer einen Cognac einschenkte, fiel mir auf, dass ihre Hand etwas unsicher war. Die Dame ist müde, sagte ich mir, du darfst also nicht lange bleiben. Wir setzten uns auf das Sofa und sprachen eine Weile über die Party bei den Ashendens und die Leute, die da gewesen waren. Schließlich stand ich auf. «Setz dich wieder hin, Lionel», sagte sie. «Trink noch einen Cognac.» «Nein, ich muss gehen. Wirklich.» «Setz dich hin und rede kein dummes Zeug. Ich jedenfalls trinke noch einen, und du kannst mir wenigstens Gesellschaft dabei leisten.» Ich beobachtete Gladys, diese winzige Frau, die leicht schwankend auf die Anrichte zusteuerte. Sie trug das Glas in beiden Händen vor sich her, als wollte sie ein Opfer darbringen, und ihr Anblick, wie sie da ging, so unglaublich klein und gedrungen und steif, rief in mir plötzlich die alberne Vorstellung wach, ihre Beine seien oberhalb der Knie zusammengewachsen. «Lionel, worüber amüsierst du dich so?» Sie drehte sich halb nach mir um, während sie ihr Glas füllte, und dabei verschüttete sie ein wenig Cognac. «Über nichts, meine Liebe. Über gar nichts.» «Dann hör auf zu grinsen und sag mir, wie dir mein neues Porträt gefällt.» Sie wies auf ein riesiges Gemälde, das über dem Kamin hing. Ich hatte mich schon die ganze Zeit bemüht, es nicht anzusehen. Diesen fürchterlichen Schinken hatte, wie ich wusste, ein Mann gemalt, der zurzeit in London sehr in Mode war, ein recht mittelmäßiger Künstler namens John Royden. Es war ein lebensgroßes Porträt von Gladys, Lady Ponsonby, und der Maler hatte mit einer gewissen technischen Raffinesse den Eindruck erweckt, sie sei ein schlankes, hochgewachsenes und überaus reizvolles Geschöpf. «Bezaubernd», sagte ich. «Nicht wahr? Ich bin so froh, dass du es magst.» «Wirklich entzückend.» «Ich halte John Royden für ein Genie. Findest du nicht auch, dass er ein Genie ist, Lionel?» «Hm – das geht vielleicht ein bisschen zu weit.» «Du meinst, man könnte das noch nicht so genau wissen?» «Ganz recht.» «Nun, mein Lieber, dann höre und staune: Royden ist jetzt so gefragt, dass er nicht im Traum daran denkt, jemanden für weniger als tausend Guineas zu malen!» «Tatsächlich?» «O ja! Und die Leute laufen ihm das Haus ein, laufen ihm buchstäblich das Haus ein, damit er sie malt.» «Höchst interessant.» «Sieh dir dagegen deinen Mr. Cézanne an, oder wie er heißt. Ich wette, der hat zeit seines Lebens nicht so viel Geld verdient.» «Nie.» «Und der war ein Genie?» «Könnte man sagen – ja.» «Dann ist Royden auch eines», entschied sie und setzte sich wieder neben mich. «Das Geld beweist es.» Wir schwiegen eine Weile. Gladys nippte an dem Cognac, und ihre Hand zitterte dabei so stark, dass der Rand des Glases mehrmals an die Unterlippe stieß. Ich beobachtete sie, und das spürte sie wohl, denn sie blickte mich, ohne den Kopf zu wenden, misstrauisch von der Seite an. «Einen Penny für deine Gedanken.» Wenn es eine Redewendung gibt, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann, dann ist es diese. Sie erzeugt einen physischen Schmerz in meiner Brust, und ich fange an zu husten. «Na los, Lionel. Einen Penny …» Ich schüttelte den Kopf, außerstande zu antworten. Sie wandte sich mit einer jähen Bewegung ab und stellte das Cognacglas auf den kleinen Tisch zu ihrer Linken. Irgendetwas in ihrem Verhalten deutete an, dass sie sich – ich weiß nicht, warum – zurückgestoßen fühlte und nun zum Angriff rüstete. Ich wartete voller Unbehagen, aber sie schwieg, und da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, machte ich viele Umstände mit meiner Zigarre, betrachtete aufmerksam die Asche und blies den Rauch langsam gegen die Decke. Gladys rührte sich nicht. Diese Dame hatte jetzt irgendetwas an sich, was mir nicht sehr gefiel, etwas Boshaftes, Lauerndes. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mich schleunigst empfohlen. Als sie mich endlich wieder ansah, funkelte ein listiges Lächeln in ihren kleinen, in Fett gebetteten Augen, aber der Mund – ach, genau wie das Maul eines Karpfens – blieb völlig unbewegt. «Lionel, ich möchte dir ein Geheimnis anvertrauen.» «Wirklich, Gladys, ich muss nach Hause.» «Hab keine Angst, Lionel, ich werde dich nicht in Verlegenheit bringen. Du siehst auf einmal so ängstlich aus.» «Für mich haben Geheimnisse etwas Bedrückendes.» «Ich nahm an», sagte sie, «dass es dich interessieren würde, weil du doch so ein großer Kunstkenner bist.» Gladys saß ganz still, nur ihre Finger bewegten sich unaufhörlich. Sie drehte sie immer wieder umeinander, sodass es aussah, als ringelten sich kleine weiße Schlangen in ihrem Schoß. «Bist du nicht neugierig auf mein Geheimnis, Lionel?» «Doch, doch. Aber weißt du, es ist schon so schrecklich spät …» «Dies ist wahrscheinlich das bestgehütete Geheimnis in London. Ein weibliches Geheimnis. Alles in allem ist es nur – na, sagen wir, dreißig – oder vierzig Frauen bekannt. Und keinem einzigen Mann. Außer ihm natürlich – John Royden.» Ich wollte sie nicht noch ermutigen, deshalb hielt ich den Mund. «Aber zuerst musst du versprechen – versprechen, dass du es keiner Menschenseele weitererzählst.» «Du meine Güte!» «Versprichst du mir das, Lionel?» «Na schön, Gladys, ich verspreche es.» «Gut! Also hör zu, » Sie griff nach dem Cognacglas und lehnte sich in ihrer Sofaecke bequem zurück. «Du weißt doch, dass John Royden nur Frauen malt?» «Das ist mir neu.» «Und immer sind es Ganzporträts, entweder stehend oder sitzend – wie meines da. Sieh es dir einmal genau an, Lionel. Fällt dir nicht auf, wie schön das Kleid gemalt ist?» «Hm …» «Bitte, sieh es dir aus der Nähe an.» Ich erhob mich widerwillig, ging hinüber und betrachtete das Bild. Die Farbschicht auf dem Kleid war, wie ich erstaunt feststellte, so dick, dass die Figur wie ein Basrelief wirkte. Ein Trick, recht eindrucksvoll auf seine Art, aber weder technisch schwierig noch besonders originell. «Siehst du?», fragte sie. «Da, wo das Kleid ist, tritt die Farbe hervor, nicht wahr?» «Ja.» «Nun, das ist noch lange nicht alles, Lionel. Ich glaube, am besten beschreibe ich dir einfach, wie es war, als ich ihm zum ersten Mal Modell saß.» Mein Gott, was für eine langweilige Person, dachte ich. Wie komme ich hier bloß weg? «Vor etwa einem Jahr – oh, ich weiß noch, wie aufgeregt ich war – verabredete ich mit dem großen Maler eine Sitzung in seinem Atelier. Ich zog mir ein wunderbares neues Kleid an, das ich gerade von Norman Hartnell bekommen hatte, setzte ein süßes rotes Hütchen auf und machte mich auf den Weg. Mr. Royden empfing mich in einer schwarzen Samtjacke, und natürlich war ich sofort von ihm fasziniert. Er hatte einen kleinen Spitzbart und aufregend blaue Augen. Das Atelier war riesengroß, mit roten Samtsofas, Samtsesseln, Samtvorhängen – er liebt Samt – und sogar einem Samtteppich auf dem Fußboden. Mr. Royden bat mich, Platz zu nehmen, gab mir etwas zu trinken und kam sogleich zur Sache. Er erklärte mir, dass er ganz anders male als andere Künstler. Seiner Meinung nach, sagte er, gebe es nur eine Art, den Körper einer Frau wirklich vollendet zu malen, aber ich dürfe nicht schockiert sein, wenn ich hörte, was es sei. ‹Ich glaube nicht, dass ich schockiert sein werde, Mr. Royden›, erwiderte ich. ‹Sie werden mich gewiss richtig verstehen›, meinte er. Seine Zähne waren phantastisch weiß, und wenn er lächelte, schimmerten sie sozusagen durch den Bart. ‹Sehen Sie, es ist so›, fuhr er fort. ‹Bei jedem beliebigen Frauenbildnis, ganz gleich, von wem es stammt, werden Sie feststellen, dass die Figur des Modells, so gut das Kleid auch gemalt sein mag, immer etwas Künstliches, Flaches hat, als wäre das Kleid über einem Holzklotz drapiert. Und wissen Sie, warum?› ‹Nein, Mr. Royden.› ‹Weil der Maler nicht wusste, was darunter war.›» Gladys Ponsonby hielt inne, um einen Schluck Cognac zu trinken. «Mach nicht so ein entsetztes Gesicht, Lionel», wies sie mich zurecht. «Das ist doch alles ganz harmlos. Sei still und lass mich zu Ende erzählen. Ja, und dann sagte Mr. Royden: ‹Deshalb bestehe ich darauf, meine Modelle zuerst als Akt zu malen.› ‹Du lieber Himmel, Mr. Royden!› rief ich. ‹Sollten Sie etwas dagegen haben, Lady Ponsonby, so bin ich zu einer kleinen Konzession bereit, versicherte er. ‹Aber lieber ist es mir auf die andere Art.› ‹Wirklich, Mr. Royden, ich weiß nicht …› ‹Wenn ich Sie so gemalt habe›, sprach er weiter, ‹müssen wir ein paar Wochen warten, bis die Farbe getrocknet ist. Dann sitzen Sie mir wieder Modell, diesmal in Unterwäsche. Und wenn das trocken ist, kommt das Kleid an die Reihe. Eine ganz einfache Sache, nicht wahr?›» «Der Kerl ist ein Gauner!», rief ich empört. «Nein, Lionel, nein, du verkennst ihn! Du hättest ihn nur hören sollen. So bezaubernd, so aufrichtig und ehrlich. Ich bin sicher, dass ihm alles, was er sagte, wirklich von Herzen kam.» «Ein Gauner ist er, Gladys, weiter nichts!» «Sei nicht albern, Lionel. Lass mich doch erst einmal zu Ende erzählen. Ich wandte natürlich sofort ein, dass mein Mann (der damals noch lebte) so etwas nie gestatten würde. ‹Ihr Gatte braucht das überhaupt nicht zu erfahren›, antwortete er. ‹Weshalb wollen Sie ihn damit behelligen? Niemand kennt mein Geheimnis, niemand außer den Frauen, die ich gemalt habe.› Ich protestierte noch ein bisschen, und da sagte er: ‹Meine liebe Lady Ponsonby, daran ist wirklich nichts Unmoralisches. Kunst ist nur dann unmoralisch, wenn Stümper sie ausüben. Es ist genauso wie in der Medizin. Sie würden sich doch wohl nicht weigern, sich vor einem Arzt zu entkleiden, nicht wahr?› Ich erwiderte, dass ich mich bestimmt weigern würde, wenn es sich um einen Ohrenarzt handelte. Darüber musste er lachen. Aber er redete mir unentwegt zu, und zwar sehr überzeugend. So gab ich denn schließlich nach, und damit hatte es sich. Jetzt kennst du also das Geheimnis, Lionel, mein Liebling.» Sie stand auf, um sich noch einen Cognac zu holen. «Gladys, das kann doch nicht wahr sein!» «Warum denn nicht?» «Soll das heißen, dass er alle seine Modelle so malt?» «Ja. Und der Witz ist, dass die Ehemänner keine Ahnung davon haben. Alles, was sie sehen, ist ein nettes, vollständig bekleidetes Porträt ihrer Frau. Natürlich sind Aktbilder nicht im Geringsten anstößig. Jeder Künstler malt so etwas. Aber unsere kindischen Ehemänner können das eben nicht verstehen.» «Mein Gott, der Mann hat Nerven!» «Er ist ein Genie.» «Ich wette, er hat die Idee von Goya.» «Unsinn, Lionel.» «Doch, ganz bestimmt. Hör mal, Gladys, etwas würde mich noch interessieren. Hast du von dieser … dieser sonderbaren Technik gewusst, bevor du zu Royden gingst?» Als ich die Frage stellte, wollte Gladys gerade den Cognac eingießen. Sie hielt inne, wandte den Kopf und sah mich an. Um ihre Mundwinkel spielte ein geschmeidiges kleines Lächeln. «Zum Teufel mit dir, Lionel», sagte sie. «Du bist viel zu schlau. Du lässt einem auch gar nichts durchgehen.» «Also hast du’s gewusst?» «Natürlich, Hermione Girdlestone hat es mir erzählt.» «Das habe ich mir ja gleich gedacht.» «Na und? Was ist denn dabei?» «Nichts», versicherte ich. «Überhaupt nichts.» Jetzt war mir alles klar. Dieser Royden war wirklich ein Gauner und bediente sich des geschicktesten psychologischen Tricks, von dem ich je gehört hatte. Der Kerl wusste nur zu gut, dass es in London eine Menge reicher Nichtstuerinnen gab, die mittags erst aufstanden und sich die Zeit bis zur Cocktailstunde mit Bridge, Canasta und Einkäufen vertrieben. Alles, wonach sie verlangten, war ein bisschen Aufregung, eine kleine Sensation – je teurer, desto besser. O ja, wenn es im Atelier des Malers so unterhaltsam zuging, dann hatte sich diese Nachricht zweifellos schneller als die Pocken unter den Frauen verbreitet. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sich die große, dicke Hermione Girdlestone über den Canasta-Tisch beugte und begeistert erzählte: «Aber, meine Liebe, es ist einfach faszinierend … Du glaubst gar nicht, wie aufregend es ist … Viel amüsanter, als wenn man zum Arzt geht …» «Du behältst es doch für dich, Lionel, nicht wahr? Du hast es versprochen.» «Ja, natürlich. Aber jetzt muss ich gehen, Gladys. Wirklich.» «Sei nicht albern. Ich fange gerade an, mich wohl zu fühlen. Warte doch wenigstens, bis ich ausgetrunken habe.» Ich blieb geduldig auf dem Sofa sitzen, während sie sich mit ihrem Cognac beschäftigte. Die kleinen, in Fett eingebetteten Augen beobachteten mich wieder in dieser boshaft lauernden Art von der Seite. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass Gladys noch mehr unangenehme oder skandalöse Dinge in petto hatte. Ihr Blick erinnerte mich an den einer Schlange, und ihre Lippen kräuselten sich ganz eigenartig. Vielleicht war es nur Einbildung, aber ich glaubte, Gefahr zu wittern. Und plötzlich, so unerwartet, dass ich zusammenfuhr, sagte sie: «Lionel, stimmt es, was ich über dich und Janet de Pelagia gehört habe?» «Gladys, bitte …» «Oh, du wirst ja ganz rot!» «Unsinn.» «Sieh einer an, den alten Junggesellen hat’s also doch noch erwischt.» «Gladys, das ist zu abgeschmackt.» Ich wollte aufstehen, aber sie legte die Hand auf mein Knie und zwang mich, sitzen zu bleiben. «Hast du noch immer nicht gelernt, dass es keine Geheimnisse gibt?» «Janet ist einfach ein nettes Mädchen.» «Nun, als Mädchen kann man sie wohl kaum noch bezeichnen.» Gladys Ponsonby blickte in das große Cognacglas, das sie mit beiden Händen umschlossen hielt. «Aber sie ist natürlich in jeder Beziehung ein wunderbarer Mensch, da hast du recht, Lionel. Nur», sie sprach jetzt sehr langsam, «nur, dass sie manchmal sehr merkwürdige Sachen sagt.» «Was für Sachen?» «Ach … eben Sachen. Über Leute, weißt du. Über dich.» «Was hat sie über mich gesagt?» «Nichts, Lionel. Es würde dich nicht interessieren.» «Was hat sie über mich gesagt?» «Wozu soll ich das wiederholen? Wirklich, es lohnt nicht. Ich war nur im ersten Augenblick etwas verblüfft, als sie es sagte.» «Gladys, was hat sie gesagt?» Während ich auf ihre Antwort wartete, fühlte ich, wie mir am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. «Hm, ja, lass mich mal überlegen. Natürlich war es nur ein Scherz von ihr, sonst würde ich ja nie mit dir darüber reden, aber ich glaube, sie hat gesagt, dass sie es ein bisschen langweilig findet …» «Was?» «Fast jeden Abend mit dir zum Dinner auszugehen – oder so ähnlich.» «Sie findet das langweilig?» «Ja.» Gladys Ponsonby leerte das Cognacglas mit einem letzten großen Schluck und richtete sich auf. «Wenn du es genau wissen willst, sie sagte, es sei stinklangweilig. Und dann …» «Und dann?» «Hör mal, Lionel, du brauchst dich wirklich nicht so aufzuregen. Ich erzähle es dir nur, damit du weißt, woran du bist.» «Los, los, sprich doch schon.» «Ja, das war so. Wir haben heute Nachmittag Canasta gespielt, und als ich Janet fragte, ob sie morgen Zeit hätte, bei mir zu essen, sagte sie nein.» «Weiter.» «Nun – eigentlich hat sie gesagt: ‹Ich bin schon mit diesem stinklangweiligen alten Lionel Lampson verabredet.›» «Das hat Janet gesagt?» «Ja, Liebling.» «Was sonst noch?» «Ach, das genügt wohl. Mit dem Rest möchte ich dich lieber verschonen.» «Ich will alles hören!» «Bitte, Lionel, schrei mich nicht an. Natürlich erzähle ich es dir, wenn du darauf bestehst. Ja, vielleicht bin ich es sogar unserer Freundschaft schuldig, dir nichts zu verschweigen. Meinst du nicht auch, dass es ein Zeichen echter Freundschaft ist, wenn zwei Menschen wie wir …» «Gladys! Komm bitte zur Sache.» «Mein Gott, lass mir doch Zeit zum Nachdenken. Wie war denn das gleich …? Ja, soweit ich mich erinnere, sagte sie wörtlich folgendes …» Und Gladys Ponsonby, aufrecht auf dem Sofa sitzend, ohne dass ihre Füße den Boden berührten, den Blick jetzt nicht mehr auf mich, sondern auf die Wand geheftet, ahmte geschickt die klangvolle Altstimme nach, die ich so gut kannte. «So ein Langweiler, meine Liebe! Man weiß ja bei Lionel immer genau, wie sich der Abend abspielen wird. Zum Dinner gehen wir in den Savoy Grill – es ist immer der Savoy Grill –, und dann muss ich zwei Stunden lang zuhören, wie dieser aufgeblasene alte … ich meine, wie er mir Vorträge über Bilder und Porzellan hält – immer Bilder und Porzellan. Später, im Taxi, greift er nach meiner Hand und rückt so dicht an mich heran, dass mir eine Wolke von kaltem Zigarrenrauch und Cognacdunst ins Gesicht schlägt. Dann fängt er an herumzulamentieren, wie sehr, ach, wie sehr er wünschte, zwanzig Jahre jünger zu sein. Und ich sage: ‹Könntest du wohl das Fenster ein bisschen herunterlassen?› Wenn wir dann vor meinem Haus halten, bitte ich ihn, im Taxi zu bleiben, aber er tut so, als hätte er nicht gehört, und drückt dem Fahrer rasch das Geld in die Hand. An der Haustür steht er mit so einem blöden Spanielblick neben mir, während ich in der Handtasche nach meinem Schlüssel suche, und wenn ich den Schlüssel gefunden habe, stecke ich ihn langsam ins Schloss, drehe ihn langsam um, und dann – sehr schnell, bevor Lionel Zeit hat, eine Bewegung zu machen – sage ich gute Nacht, schlüpfe hinein und schlage die Tür hinter mir zu …› Oh, Lionel, was hast du denn, mein Lieber? Du siehst so schlecht aus …» Hier muss ich wohl ohnmächtig geworden sein, denn alles, was sonst noch in dieser schrecklichen Nacht geschah, ist wie ausgelöscht. Ich habe nur den vagen und beunruhigenden Verdacht, dass ich, als ich wieder zu mir kam, völlig zusammenbrach und Gladys Ponsonby gestattete, mich auf jede erdenkliche Weise zu trösten. Später ging ich wohl fort, aber ich kann mich an nichts erinnern; ich weiß nur, dass ich am nächsten Morgen in meinem Bett erwachte. Ich fühlte mich sehr schwach, sehr angegriffen. Unfähig, mich zu rühren, blieb ich mit geschlossenen Augen liegen und versuchte, die Ereignisse des Vorabends zu rekonstruieren – Gladys Ponsonbys Wohnzimmer, Gladys, die auf dem Sofa saß und unentwegt Cognac trank, ihr kleines, runzliges Gesicht, der Mund, der einem Karpfenmaul glich, die Dinge, die sie gesagt hatte … Worüber hatte sie doch gesprochen? Ach ja. Über mich. Mein Gott, ja! Über Janet und mich! Diese unvorstellbar empörenden Bemerkungen! Hatte Janet sie wirklich gemacht? Konnte sie mir das angetan haben? Ich erinnere mich, mit welcher erschreckenden Schnelligkeit der Hass auf Janet de Pelagia von mir Besitz ergriff. Jäh und heftig wallte er auf, und schon war ich derart von ihm erfüllt, dass ich dachte, ich würde platzen. Er ließ sich nicht verdrängen, dieser Hass, er brannte in mir wie ein Fieber, und ich, nicht anders als ein gemeiner Gangster, sann in rasender Wut auf Rache. Ein seltsames Benehmen für einen Mann wie mich, werden Sie sagen. Darauf kann ich nur erwidern: Nein, eigentlich nicht, wenn man die Umstände bedenkt. Das, was mir geschehen war, gehört meiner Meinung nach zu den Dingen, die einen Menschen zum Mord treiben können. Und hätte mich nicht mein leichter, ganz leichter Hang zum Sadismus bewogen, nach einer subtileren und empfindlicheren Strafe für mein Opfer zu suchen, so wäre ich vielleicht wirklich zum Mörder geworden. Aber ich fand, ein bloßer Mord sei zu gut für diese Frau, ganz abgesehen davon, dass er für meinen Geschmack viel zu roh war. Ich beschloss also, eine originellere Methode zu ersinnen. Von Natur aus neige ich nicht zum Intrigieren. Ich halte das für eine abscheuliche Unsitte und habe darin nicht die geringste Übung. Aber Wut und Hass können den Geist eines Menschen in erstaunlichem Maße umstimmen. Schon bald hatte ich einen Plan gefasst und entwickelt – einen Plan, der so raffiniert und erregend war, dass ich die Einzelheiten mit wachsender Begeisterung ausarbeitete. Schließlich, nachdem ich mich noch über ein, zwei unbedeutende Einwände hinweggesetzt hatte, war meine verbohrte, rachsüchtige Stimmung völlig einem Gefühl triumphierender Freude gewichen. Ich erinnere mich, dass ich wie ein Idiot im Bett auf und ab hüpfte und in die Hände klatschte. Gleich darauf hatte ich das Telefonbuch auf dem Schoß und suchte fieberhaft einen bestimmten Namen. Ich fand ihn, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer. «Hallo», sagte ich. «Mr. Royden? Mr. John Royden?» «Am Apparat.» Nun, es war nicht schwer, den Mann zu überreden, dass er mir einen kurzen Besuch abstattete. Wir waren einander noch nie begegnet, aber natürlich kannte er mich dem Namen nach als Besitzer einer großen Gemäldesammlung und als geachtetes Mitglied der Gesellschaft, und er glaubte zweifellos, einen dicken Hecht an der Angel zu haben. «Lassen Sie mich sehen, Mr. Lampson», sagte er. «Ja, in etwa zwei Stunden könnte ich kommen. Passt es Ihnen dann?» Das sei mir sehr recht, erwiderte ich, gab ihm meine Adresse und legte auf. Ich sprang aus dem Bett. Es war erstaunlich, wie frisch und munter ich mich plötzlich fühlte. Eben noch hatte ich mich tief verzweifelt mit Mord- und Selbstmordgedanken herumgeschlagen, und jetzt pfiff ich in der Badewanne eine Arie von Puccini. Immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich mir mit teuflischem Grinsen die Hände rieb, und als ich während der Morgengymnastik bei einer Kniebeuge das Gleichgewicht verlor, blieb ich auf dem Fußboden sitzen und kicherte wie ein Schuljunge. Zur verabredeten Zeit wurde Mr. Royden in meine Bibliothek geführt. Ich erhob mich, um ihn zu begrüßen. Der Maler war ein zierlicher kleiner Mann mit einem rötlichen Spitzbart. Er trug eine schwarze Samtjacke, eine rostbraune Krawatte, einen roten Pullover und schwarze Wildlederschuhe. Ich schüttelte seine zierliche kleine Hand. «Nett von Ihnen, dass Sie so schnell gekommen sind, Mr. Royden.» «Aber ich bitte Sie, Sir.» Seine Lippen – wie die Lippen fast aller bärtigen Männer – schimmerten so rot zwischen all dem Haar, dass sie feucht, nackt und ein bisschen obszön wirkten. Nachdem ich ihm noch einmal versichert hatte, wie sehr ich seine Bilder bewunderte, kam ich zur Sache. «Mr. Royden», sagte ich, «mein Anliegen an Sie ist etwas ungewöhnlich und durchaus privater Natur.» «Ja, Mr. Lampson?» Er saß mir gegenüber im Sessel und neigte den Kopf mit einem Ruck zur Seite, flink und keck wie ein Vogel. «Ich verlasse mich natürlich darauf, dass Sie alles, was ich sage, mit äußerster Diskretion behandeln.» «Selbstverständlich, Mr. Lampson.» «Gut. Die Sache ist die: Es gibt hier in London eine Dame, deren Porträt ich gern von Ihnen malen lassen möchte. Ich wünschte nichts sehnlicher, als ein schönes Bild von ihr zu besitzen. Aber das ist etwas schwierig. Aus bestimmten Gründen lege ich nämlich keinen Wert darauf, dass sie erfährt, wer das Bild in Auftrag gegeben hat.» «Sie meinen …» «Genau, Mr. Royden. Genau das meine ich. Sie, ein Mann von Welt, werden mich gewiss verstehen.» Sein falsches kleines Lächeln drang eben noch durch den Bart, als er zustimmend nickte. «Ist es nicht denkbar», fuhr ich fort, «dass ein Mann – wie soll ich mich ausdrücken? – für eine Dame entflammt ist, jedoch gute Gründe hat, sie das nicht wissen zu lassen?» «Aber ja, Mr. Lampson.» «Wer auf Beute ausgeht, muss sich oft langsam heranpirschen und geduldig warten, bis der rechte Augenblick kommt.» «Sehr richtig, Mr. Lampson.» «Es gibt bessere Möglichkeiten, einen Vogel zu fangen, als ihn durch die Wälder zu jagen.» «Allerdings, Mr. Lampson.» «Beispielsweise indem man ihm Salz auf den Schwanz streut.» «Haha!» «Gut, Mr. Royden. Ich denke, wir verstehen uns. Nun – kennen Sie zufällig eine Dame namens Janet de Pelagia?» «Janet de Pelagia? Warten Sie – ja. Das heißt, ich habe von ihr gehört. Eigentlich kenne ich sie also nicht.» «Schade. Das erschwert die Sache ein wenig. Glauben Sie, dass Sie ihre Bekanntschaft machen können – vielleicht bei einer Cocktailparty oder so?» «Das lässt sich bestimmt arrangieren, Mr. Lampson.» «Gut. Dann schlage ich Ihnen Folgendes vor: Sie erzählen ihr, sie sei genau das Modell, nach dem Sie seit Jahren suchen – das richtige Gesicht, die richtige Figur, die richtige Augenfarbe und so weiter. Daran knüpfen Sie die Frage, ob sie Ihnen unentgeltlich Modell stehen würde. Sagen Sie ihr, Sie wollten ihr Porträt für die nächste Ausstellung der Akademie haben. Ich bin sicher, sie wird Ihnen gern helfen und sich sogar sehr geehrt fühlen. Sie malen also das Bild, stellen es aus, und wenn es von der Akademie zurückkommt, geht es in meinen Besitz über. Außer Ihnen braucht niemand zu erfahren, dass ich es gekauft habe.» Mr. John Royden hatte den Kopf wieder zur Seite geneigt, und seine kleinen runden Augen beobachteten mich scharf. Er hockte auf dem Rand des Sessels, und in dieser Haltung erinnerte er mich mit seinem roten Pullover an ein Rotkehlchen, das auf einem Zweig sitzt und auf ein verdächtiges Geräusch lauscht. «Die Sache ist völlig in Ordnung», versicherte ich ihm. «Betrachten Sie das Ganze, wenn Sie wollen, als eine harmlose kleine Verschwörung, angezettelt von einem … nun … von einem recht romantischen alten Mann.» «Ich weiß, Mr. Lampson, ich weiß …» Er schien noch immer zu zögern, deshalb sagte ich rasch: «Ich zahle Ihnen natürlich das Doppelte von dem, was Sie üblicherweise berechnen.» Das gab den Ausschlag. Der Mann leckte sich buchstäblich die Lippen. «Wissen Sie, Mr. Lampson, eigentlich lasse ich mich nicht gern auf so etwas ein. Aber es wäre doch wirklich sehr herzlos, wenn ich einen – ja, wie soll ich sagen? – einen so romantischen Auftrag ablehnen wollte.» «Ich habe an ein Ganzporträt gedacht, Mr. Royden. Und das Format – nun, vielleicht doppelt so groß wie der Manet dort an der Wand.» «Etwa hundertfünfzig mal neunzig?» «Ja. Und ich hätte sie gern stehend. Meiner Meinung nach ist das ihre anmutigste Haltung.» «Ganz wie Sie wünschen, Mr. Lampson. Es wird mir ein Vergnügen sein, eine so reizende Dame zu malen.» Davon bin ich überzeugt, dachte ich. Bei deiner Methode, mein Junge, wundert mich das kein bisschen. Laut aber sagte ich: «Sehr schön, Mr. Royden. Alles Weitere überlasse ich Ihnen. Und bitte vergessen Sie nicht – dies ist ein kleines Geheimnis zwischen uns beiden.» Als er gegangen war, zwang ich mich, still sitzen zu bleiben und fünfundzwanzig tiefe Atemzüge zu machen, obgleich ich am liebsten einen Freudentanz aufgeführt und wilde Jubelschreie ausgestoßen hätte. Noch nie in meinem Leben war ich in einer solchen Hochstimmung gewesen. Ich hatte erreicht, was ich wollte! Der schwierigste Teil meines Plans war bereits verwirklicht. Jetzt musste ich erst einmal warten, lange warten. Bei der Malweise dieses Mannes würde es einige Monate dauern, bis er das Bild fertig hatte. Nun, ich brauchte nur Geduld zu haben, das war alles. Einer plötzlichen Eingebung folgend, beschloss ich, in der Zwischenzeit zu verreisen. Ich schrieb an Janet (mit der ich, wie Sie sich erinnern werden, an jenem Abend zum Dinner verabredet war), teilte ihr mit, dass ich leider absagen müsse, packte meine Koffer und fuhr schon am nächsten Morgen nach Italien. Ich verbrachte dort, wie immer, eine herrliche Zeit, und nur meine ständige nervöse Erregung, hervorgerufen durch den Gedanken an das, was mich in London erwartete, beeinträchtigte diesen Genuss. Vier Monate später, im Juli – tags zuvor war die Ausstellung in der Akademie eröffnet worden –, kehrte ich nach London zurück und hörte zu meiner Erleichterung, dass während meiner Abwesenheit alles planmäßig verlaufen war. Das Porträt von Janet de Pelagia war fertig, hing in der Ausstellung und fand bereits bei der Kritik wie auch beim Publikum großen Anklang. Ich selbst verzichtete darauf, es zu besichtigen. Royden sagte mir am Telefon, er habe mehrere Anfragen von Leuten, die es kaufen wollten, mit dem Hinweis beantwortet, dass es unverkäuflich sei. Als die Ausstellung vorüber war, lieferte Royden das Bild bei mir ab und bekam sein Geld. Ich ließ das Porträt sofort in mein Arbeitszimmer tragen und machte mich nicht ohne Herzklopfen daran, es genau zu betrachten. Janet stand in einem schwarzen Abendkleid vor einem roten Plüschsofa. Ihre linke Hand ruhte auf der Rückenlehne eines schweren, ebenfalls mit rotem Plüsch bezogenen Sessels, und von der Decke hing ein riesiger Kronleuchter. Mein Gott, dachte ich, geschmackloser ging es wohl nicht! Das Porträt selbst war gar nicht so übel. Royden hatte den Gesichtsausdruck der Frau recht gut getroffen – den leicht gesenkten Kopf, die großen blauen Augen, den breiten, hässlich-schönen Mund mit der Andeutung eines Lächelns. Natürlich hatte er ihr geschmeichelt. Kein Fältchen auf der Stirn, keine Spur von Fett unter dem Kinn. Ich beugte mich vor, um das Kleid in Augenschein zu nehmen. Ja – hier war die Farbschicht dicker, viel dicker. Außerstande, auch nur eine Sekunde länger zu warten, warf ich mein Jackett ab und ging ans Werk. Hier muss ich erwähnen, dass ich Fachmann im Reinigen und Restaurieren von Gemälden bin. Was das Reinigen betrifft, so ist das nicht weiter schwer, wenn man Geduld und eine leichte Hand hat. Mit diesen Berufsrestauratoren, die so ein Geheimnis aus ihrem Metier machen und solche gepfefferten Preise verlangen, habe ich nichts im Sinn. An meine Bilder lasse ich keinen Fremden heran. Ich goss Terpentin in eine Schale und fügte ein paar Tropfen Alkohol hinzu. Dann tauchte ich einen Wattebausch in die Mischung, drückte ihn aus und begann behutsam, ganz behutsam mit kreisenden Bewegungen über die schwarze Farbe des Kleides zu wischen. Ich konnte nur hoffen, dass Royden jede neue Farbschicht erst dann aufgetragen hatte, wenn die untere völlig trocken war; sonst würden beide zusammenfließen, und damit wäre mein Vorhaben misslungen. Bald würde ich es wissen. Ich arbeitete auf etwa zwei Quadratzentimetern des schwarzen Kleides am Bauch der Dame und ließ mir viel Zeit. Immer wieder prüfte ich vorsichtig die Farbe, raute sie leicht auf, goss ein, zwei Tropfen Alkohol in die Schale, prüfte von neuem, fügte noch einen Tropfen hinzu, bis die Mischung gerade stark genug war, die Farbe zu lösen. Ich arbeitete etwa eine Stunde an diesem kleinen schwarzen Viereck. Je näher ich der darunterliegenden Schicht kam, desto behutsamer ging ich vor. Schließlich erschien ein winziger rosa Punkt, der sich allmählich vergrößerte, bis die ganze Stelle in leuchtendem Rosa schimmerte. Schnell neutralisierte ich mit reinem Terpentinöl. Gut und schön. Ich wusste nun, dass ich die schwarze Farbe abtragen konnte, ohne die untere Schicht zu beschädigen. Mit Fleiß und Geduld musste es mir gelingen, alles zu entfernen. Terpentin und Alkohol waren im richtigen Verhältnis gemischt, ich hatte herausgefunden, wie hart ich reiben durfte, und ich nahm an, dass ich jetzt viel schneller vorankommen würde. Im Grunde war es eine recht amüsante Beschäftigung. Ich arbeitete mich zunächst von Janets Körpermitte nach unten vor, und in dem Maße, wie ihr Rock an meinen Wattebäuschen haften blieb, wurde ein merkwürdiges rosa Wäschestück sichtbar. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie das Ding hieß, aber jedenfalls war es ein fürchterlicher Apparat, anscheinend aus einem festen elastischen Material gefertigt und offensichtlich zu dem Zweck konstruiert, die gerundeten Hüften der Frau in eine nette Stromlinienform zu pressen, sodass der völlig falsche Eindruck mädchenhafter Schlankheit entstand. Als ich noch weiter nach unten ging, stieß ich auf eine imposante Garnitur ebenfalls rosafarbener Strumpfhalter, die an der elastischen Rüstung befestigt waren und sich acht bis zehn Zentimeter tiefer in die Strumpfränder krallten. Eine tolle Konstruktion, stellte ich fest, als ich einen Schritt zurücktrat, um sie im Ganzen zu betrachten. Ich fühlte mich irgendwie als Opfer eines Betrugs, denn hatte ich nicht monatelang die anmutig schlanke Figur der Dame bewundert? Sie war eine Schwindlerin, wie ich nun klar erkannte. Ich fragte mich nur, ob auch andere Frauen solche Tricks anwandten. Natürlich wusste ich, dass es in der Zeit der Korsetts und der Fischbeinpanzer allgemein üblich war, sich einzuschnüren; aber aus irgendwelchen Gründen hatte ich mir eingebildet, dass die modernen Frauen nur noch Diät zu halten brauchten. Als ich die untere Hälfte des Kleides abgetragen hatte, wandte ich mich sofort dem oberen Teil zu. Von der Taille der Dame ausgehend, drang ich langsam zur Brust vor. In der Gegend des Zwerchfells legte ich einen Streifen nackten Fleisches frei; weiter oben stieß ich auf eine Vorrichtung, die den Busen enthielt. Sie war aus irgendeinem schweren schwarzen Stoff gefertigt und mit gekräuselten Spitzen besetzt. Dies war, wie ich sehr wohl wusste, der Büstenhalter – auch so ein fürchterlicher Apparat, dessen schwarze Träger geschickt und exakt wie die Haltekabel einer Hängebrücke montiert waren. Du meine Güte, dachte ich. Man lernt doch nie aus. Endlich war die Arbeit beendet, und ich trat wieder zurück, um das Bild auf mich wirken zu lassen. Es war ein verblüffender Anblick! Diese Frau, Janet de Pelagia, beinahe lebensgroß, stand in ihrer Unterwäsche mitten in einem Salon (oder was es nun war), einen großen Kronleuchter über sich, einen roten Plüschsessel neben sich. Und sie selbst – das war das Beunruhigendste – sah völlig unbeteiligt aus mit ihren großen, sanften blauen Augen und dem leicht lächelnden, hässlich-schönen Mund. Obendrein bemerkte ich mit einigem Entsetzen, dass sie O-Beine wie ein Jockey hatte. Offen gesagt, die ganze Sache war mir peinlich. Ich hatte das Gefühl, ich sei nicht berechtigt, sie anzustarren. So ging ich denn nach einer Weile hinaus und schloss die Tür hinter mir. Es schien das Einzige zu sein, was ich als wohlerzogener Mensch tun konnte. Nun zum letzten und entscheidenden Schritt! Glauben Sie ja nicht, dass mein Rachedurst, nur weil ich nicht mehr davon gesprochen habe, im Laufe der Zeit abgenommen hätte. Im Gegenteil, er war eher noch gewachsen. Und nun, da der letzte Akt über die Bühne gehen sollte, hatte ich die größte Mühe, meine Ungeduld zu zügeln. Um schneller ans Ziel zu kommen, opferte ich sogar meinen Schlaf. Wissen Sie, ich brannte darauf, die Einladungen zu verschicken. Ich saß die ganze Nacht am Schreibtisch, verfasste die Briefe und adressierte die Umschläge. Es waren insgesamt zweiundzwanzig, und jede Einladung sollte eine persönliche Note haben. ‹Am Freitag, dem zweiundzwangzigsten, gebe ich ein kleines Dinner. Ich hoffe sehr, dass Sie kommen können. Es wäre mir eine so große Freude, Sie wiederzusehen …› Die erste, die am sorgfältigsten formulierte Einladung ging an Janet de Pelagia. Ich bedauerte darin, sie so lange nicht gesehen zu haben … Ich sei im Ausland gewesen … Nun aber müssten wir doch endlich … und so weiter und so fort. Im gleichen Sinne schrieb ich an Gladys Ponsonby, Lady Hermione Girdlestone, Prinzessin Bicheno, Mrs. Cudbird, Sir Hubert Kaul, Mrs. Galbally, Peter Euan-Thomas, James Pisker, Sir Eustace Piegrome, Peter van Santen, Elizabeth Moynihan, Lord Mulherrin, Bertram Sturt, Philip Cornelius, Jack Hill, Lady Akeman, Mrs. Icely, Humphrey King-Howard, Johnny O’Coffey, Mrs. Uvary und die Herzoginwitwe von Waxworth. Es war eine geschickt zusammengestellte Liste, in der die distinguiertesten Männer und die einflussreichsten Frauen der Creme unserer Gesellschaft vertreten waren. Ich wusste sehr gut, dass ein Abendessen in meinem Haus als ein festliches Ereignis galt, an dem jeder gern teilnehmen würde. Während meine Feder über das Papier glitt, malte ich mir aus, wie die Damen, wenn sie die Einladung auf ihrem Frühstückstablett fanden, freudig erregt den Hörer vom Telefon neben dem Bett abnahmen und wie eine schrille Stimme mit einer noch schrilleren sprach: «Lionel gibt eine Party … Hat er dich auch eingeladen? … Meine Liebe, wie schön … Sein Essen ist immer so gut … Und so ein reizender Mann, nicht wahr?» Aber würden sie das wirklich sagen? Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ihre Bemerkungen auch ganz anders klingen könnten. Etwa so: «Gewiss, gewiss, meine Liebe, er ist gar nicht so übel, der alte Lionel … Nur eben ein bisschen langweilig, findest du nicht? … Wie bitte? … Fade? O ja, entsetzlich fade, meine Liebe. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen … Weißt du, was Janet de Pelagia einmal von ihm gesagt hat? … Aha, ich dachte mir schon, dass du es gehört hast … Zum Schreien komisch, nicht wahr? … Die arme Janet … Wie sie es so lange ausgehalten hat, ist mir wirklich ein Rätsel …» Jedenfalls verschickte ich die Einladungen, und nach einigen Tagen hatten alle – ausgenommen Mrs. Cudbird und Sir Hubert Kaul, die beide verreist waren – mit Vergnügen zugesagt. Am Abend des zweiundzwanzigsten um halb neun war mein großer Salon voller Menschen. Sie standen herum, bewunderten die Bilder, tranken Martini und unterhielten sich mit lauter Stimme. Die Frauen rochen stark nach Parfum, die Männer hatten rosige Gesichter und steckten in stramm sitzenden Smokings. Janet de Pelagia trug dasselbe schwarze Kleid wie auf dem Bild, und sooft mein Blick auf sie fiel, sah ich (wie auf diesen albernen Witzzeichnungen) eine Blase über meinen Kopf schweben und darin Janet in ihrem schwarzen Büstenhalter, der Konstruktion aus rosa Gummigewebe, den Strumpfhaltern und mit den Jockeybeinen. Ich ging von Gruppe zu Gruppe, plauderte freundlich mit meinen Gästen und fing dabei so manchen Gesprächsfetzen auf. Mrs. Galbally zum Beispiel erzählte Sir Eustace Piegrome und James Pisker von einem Mann, der gestern Abend im Claridge am Nebentisch gesessen hatte und dessen weißer Schnurrbart voll roter Lippenstiftflecke gewesen war. «Über und über beschmiert», wiederholte sie mehrmals. «Und der alte Knabe war mindestens neunzig …» In einer anderen Ecke verbreitete sich Lady Girdlestone über Trüffeln, in Cognac gekocht, und Mrs. Icely flüsterte, wie ich bemerkte, Lord Mulherrin etwas zu, während Seine Lordschaft, einem alten, kraftlosen Metronom nicht unähnlich, den Kopf langsam hin- und herpendeln ließ. Dann wurde zum Essen gebeten, und wir gingen ins Speisezimmer hinüber. «Du meine Güte!», riefen sie, als sie eintraten. «Wie dunkel und unheimlich!» «Ich kann kaum etwas sehen!» «Was für entzückende kleine Kerzen!» «O Lionel, wie romantisch!» In der Mitte der langen Tafel brannten Kerzen, sechs dünne Kerzen, jeweils sechzig Zentimeter voneinander entfernt. Die kleinen Flammen verbreiteten auf dem Tisch ein schwaches Licht, ließen jedoch den übrigen Raum im Dunkeln. Es war ein reizendes Arrangement, und abgesehen von der Tatsache, dass es meinem Vorhaben zustatten kam, stellte es eine nette Abwechslung dar. Die Gäste hatten bald ihre Plätze gefunden, und das Mahl begann. Alle schienen sich über das Kerzenlicht zu freuen, und die Stimmung war ausgezeichnet. Merkwürdigerweise sprach jeder wegen der Dunkelheit lauter als gewöhnlich. Janet de Pelagias Stimme fiel mir besonders unangenehm auf. Sie saß neben Lord Mulherrin, und ich hörte, wie sie ihm von dem langweiligen Wochenende erzählte, das sie auf Cap Ferrat verbracht hatte. «Nichts als Franzosen», sagte sie immer wieder. «Weit und breit nichts als Franzosen …» Ich beobachtete die Kerzen. Sie waren sehr dünn, und ich wusste, dass sie schnell herunterbrennen würden. Ich war, wie ich zugeben muss, recht nervös, zugleich aber fast trunken vor Heiterkeit und freudiger Erwartung. Jedes Mal, wenn ich Janets Stimme hörte oder im Kerzenlicht ihr von Schatten überspieltes Gesicht erblickte, zerbarst vor Aufregung ein kleiner Feuerball in meinem Innern, und ich fühlte, wie sich die Glut unter meiner Haut ausbreitete. Endlich – die Erdbeeren waren gerade serviert worden – hielt ich die Zeit für gekommen. Ich holte tief Luft und sagte mit lauter Stimme: «Leider werden wir jetzt wohl Licht machen müssen. Die Kerzen sind fast abgebrannt. Mary», rief ich dem Dienstmädchen zu. «Ach, Mary, drehen Sie bitte das Licht an, ja?» In dem Schweigen, das meiner Ankündigung folgte, hörte ich das Mädchen zur Tür gehen. Ein leises Klicken des Schalters, und der Raum war in strahlendes Licht getaucht. Alle schlossen die Augen, öffneten sie wieder und schauten um sich. Ich beeilte mich, von meinem Stuhl aufzustehen und das Zimmer unauffällig zu verlassen; aber als ich hinausging, wurde mir ein Anblick zuteil, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde: Janet, die mit erhobenen Händen wie gelähmt dasaß, mitten in der Bewegung erstarrt, in einer Geste, die vermutlich jemandem auf der anderen Tischseite gegolten hatte. Ihr Mund war weit geöffnet, und sie hatte den überraschten, verständnislosen Blick eines Menschen, der vor genau einer Sekunde von einer Kugel ins Herz getroffen wurde. In der Diele blieb ich stehen und lauschte. Drinnen brach jetzt der Tumult los: schrille Schreie der Damen, empörte, ungläubige Ausrufe der Männer. Alle redeten durcheinander, sodass die Stimmen zu einem lauten Summen verschmolzen. Dann – und das war für mich der schönste Augenblick – hörte ich Lord Mulherrin über den Lärm hinweg brüllen: «Hierher! Schnell, schnell! Geben Sie ihr rasch etwas Wasser!» Draußen auf der Straße half mir der Chauffeur in den Wagen. Bald waren wir aus London heraus und rollten fröhlich über die Great North Road zu diesem, meinem anderen Haus, das nur hundertfünfzig Kilometer von der Stadt entfernt liegt. Die nächsten beiden Tage standen im Zeichen der Schadenfreude. Ich ging wie im Traum umher, verzückt, in Selbstgefälligkeit schwelgend und von einem so starken Glücksempfinden erfüllt, dass ich es bis in die Zehen hinein spürte. Erst heute Morgen, als Gladys Ponsonby anrief, kam ich plötzlich zu mir und erkannte, dass ich kein Held, sondern ein Ausgestoßener bin. Sie teilte mir mit – nicht ohne Behagen, wie mir schien –, dass jeder über mich aufgebracht sei, dass alle meine lieben alten Freunde die schrecklichsten Dinge über mich sagten und geschworen hätten, nie mehr ein Wort mit mir zu sprechen. Ausgenommen natürlich sie selbst, wie sie immer wieder betonte. Alle, nur sie, Gladys Ponsonby, nicht. Und sie fragte, ob ich nicht glaubte, dass es sehr nett werden könnte, wenn sie ein paar Tage zu mir käme, um mich aufzumuntern. Leider hatte sie mich inzwischen so aus der Fassung gebracht, dass ich nicht einmal imstande war, ihr höflich zu antworten. Ich legte auf und ging fort, um zu weinen. Und heute Mittag kam der letzte, vernichtende Schlag. Die Post brachte mir einen Brief – ich schäme mich so, dass ich mich kaum überwinden kann, es niederzuschreiben –, einen unvorstellbar reizenden, zärtlichen kleinen Brief, und von wem? Von niemand anderem als Janet de Pelagia. Sie verzeihe mir alles, was ich ihr angetan hätte, schrieb sie. Es sei ja nur ein Scherz gewesen, das wisse sie, und ich solle mir nichts daraus machen, dass die anderen Leute so schlecht über mich redeten. Sie liebe mich wie eh und je, und sie werde mich bis an ihr Lebensende lieben. Ach, wie gemein, wie viehisch kam ich mir vor, als ich das las! Umso mehr, als ich entdeckte, dass sie mir mit gleicher Post als zusätzliches Zeichen ihrer Liebe ein kleines Geschenk übersandt hatte – ein Halbpfundglas mit frischem Kaviar, meinem Lieblingsgericht. Ich habe eine Schwäche für guten Kaviar, eine so große Schwäche, dass ich ihm einfach nicht widerstehen kann. Natürlich hatte ich heute Abend überhaupt keinen Appetit, aber selbst das hinderte mich nicht, ein paar Löffel davon zu essen – ein kleiner Trost in meinem Elend. Es ist sogar möglich, dass ich ein bisschen zu viel gegessen habe, denn seit ungefähr einer Stunde fühle ich mich nicht allzu gut. Vielleicht sollte ich aufstehen und mir etwas Natron holen. Ich kann ja später weiterschreiben, wenn ich in einer besseren Verfassung bin. Wissen Sie – ich merke gerade, dass ich mich wirklich sehr schlecht fühle. Der große automatische Grammatisator «Ach, da sind Sie ja, Knipe, mein Junge. Jetzt, wo wir’s geschafft haben, wollte ich Ihnen doch sagen, wie sehr ich mit Ihrer Arbeit zufrieden bin.» Adolph Knipe stand vor Mr. Bohlens Schreibtisch. Nach seiner unbewegten Miene zu urteilen, war er keineswegs begeistert. «Freuen Sie sich denn nicht?» «O doch, Mr. Bohlen.» «Wissen Sie schon, was die Morgenzeitungen darüber geschrieben haben?» «Nein, Sir.» Der Mann hinter dem Schreibtisch nahm eine zusammengefaltete Zeitung zur Hand und las vor: «‹Der Bau des großen Elektronengehirns, das die Regierung vor einiger Zeit in Auftrag gab, wurde soeben abgeschlossen. Diese elektronische Rechenmaschine ist vermutlich die schnellste der Welt. Sie erledigt in kürzester Zeit komplizierte mathematische Berechnungen, die von Naturwissenschaft, Industrie und Verwaltung in immer stärkerem Maße benötigt werden und deren Durchführung mit Hilfe der traditionellen Methoden physisch unmöglich wäre oder mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als die Probleme rechtfertigen. Eine Vorstellung von der Geschwindigkeit, mit der die neue Maschine arbeitet – so sagte uns Mr. John Bohlen, der Chef der Electrical Engineering Inc., der die Konstruktion vor allem zu danken ist –, mag die Tatsache vermitteln, dass sie in fünf Sekunden die richtige Antwort auf eine Frage gibt, mit der sich ein Mathematiker einen Monat lang beschäftigen müsste. In drei Minuten liefert sie eine Berechnung, die schriftlich ausgeführt (wenn das möglich wäre) eine halbe Million Seiten im Folioformat füllen würde. Elektrische Stromstöße – eine Million je Sekunde – befähigen das Elektronengehirn, sämtliche Aufgaben zu lösen, bei denen Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen erforderlich sind. Der praktischen Anwendung sind keine Grenzen gesetzt …›» Mr. Bohlen sah auf und blickte in das längliche, melancholische Gesicht des jüngeren Mannes. «Sind Sie nicht stolz, Knipe? Sind Sie nicht glücklich?» «O doch, Mr. Bohlen.» «Ich brauche Sie wohl nicht daran erinnern, dass Ihre Mitarbeit, besonders an den ursprünglichen Plänen, von entscheidender Bedeutung war. Ja, ich bin sogar der Meinung, dass ohne Sie und einige Ihrer Ideen dieses Projekt heute noch auf dem Reißbrett stünde.» Adolph Knipe scharrte mit den Füßen auf dem Teppich und betrachtete die kleinen weißen Hände seines Chefs, die nervösen Finger, die mit einer Büroklammer spielten, sie aufbrachen und die Windungen geradebogen. Er mochte die Hände des Mannes nicht. Und ebenso wenig mochte er seinen winzigen Mund mit den schmalen purpurroten Lippen. Wenn Mr. Bohlen sprach, bewegte sich nur die Unterlippe, und das sah scheußlich aus. «Bedrückt Sie irgendetwas, Knipe? Haben Sie Sorgen?» «O nein, Mr. Bohlen. Nein.» «Wie wär’s mit einer Woche Urlaub? Würde Ihnen gut tun. Sie haben sich’s redlich verdient.» «Ach, ich weiß nicht, Sir …» Der ältere Mann wartete, den Blick auf die lange, hagere Gestalt gerichtet, die so lasch vor ihm stand. Ein schwieriger Bursche, dieser Knipe. Warum konnte er sich nicht gerade halten? Immer ließ er die Schultern hängen. Und schlampig war er, mit Flecken auf der Jacke und ungekämmtem Haar. «Ich möchte, dass Sie Urlaub nehmen, Knipe. Sie haben ihn nötig.» «Schön, Sir. Wenn Sie es wünschen.» «Nehmen Sie eine Woche. Zwei Wochen, wenn Sie Lust haben. Fahren Sie irgendwohin, wo es warm ist. Legen Sie sich in die Sonne. Schwimmen Sie. Spannen Sie mal so richtig aus. Schlafen Sie, so viel Sie nur können. Wenn Sie dann zurückkommen, unterhalten wir uns über Ihre Zukunft.» Adolph Knipe fuhr mit dem Bus nach Hause. In seiner Zweizimmerwohnung warf er den Mantel auf das Sofa, goss sich einen Whisky ein und setzte sich vor die Schreibmaschine, die auf dem Tisch stand. Mr. Bohlen hatte recht. Natürlich hatte er recht. Nur dass er keine Ahnung hatte, was wirklich los war. Vermutlich dachte er, dass eine Frau im Spiel sei. Wenn ein junger Mann bedrückt ist, denkt jeder, es sei wegen einer Frau. Er beugte sich vor, um das halb beschriebene Blatt durchzulesen, das in der Maschine steckte. Die Überschrift lautete: «Mit knapper Not entkommen», und der Text fing an: «Die Nacht war dunkel und stürmisch, der Wind pfiff durch die Bäume, es regnete in Strömen …» Adolph Knipe trank einen Schluck Whisky, kostete den malzig-bitteren Geschmack aus, fühlte, wie ihm die kalte Flüssigkeit die Kehle hinunterrann und sich im oberen Teil des Magens sammelte, bevor sie sich ausbreitete und eine kleine warme Zone in seinem Innern erzeugte. Ach, zum Teufel mit Mr. John Bohlen. Zum Teufel mit dem großartigen Elektronengehirn. Zum Teufel mit … Seine Augen und sein Mund öffneten sich langsam, wie in höchster Verwunderung. Langsam hob er den Kopf, und so blieb er vierzig, fünfzig, sechzig Sekunden regungslos sitzen, während er mit einem geradezu ungläubig erstaunten, dabei aber ganz festen, gleichsam gesammelten Blick auf die gegenüberliegende Wand starrte. Dann (ohne dass er den Kopf bewegt hätte) veränderte sich allmählich der Ausdruck seines Gesichts, kaum merklich zunächst, nur an den Mundwinkeln sichtbar, bald jedoch immer ausgeprägter, immer umfassender, bis schließlich das ganze Gesicht von äußerstem Entzücken überstrahlt war. Das Staunen hatte der Freude Platz gemacht. Es war das erste Mal seit vielen, vielen Monaten, dass Adolph Knipe lächelte. «Natürlich ist es völlig idiotisch», sagte er laut. Wieder lächelte er und entblößte dabei auf eine seltsam sinnliche Weise die Zähne. «Eine wunderbare Idee, aber so undurchführbar, dass es sich wirklich nicht lohnt, darüber nachzudenken.» Von nun an dachte Adolph Knipe über nichts anderes mehr nach. Die Idee faszinierte ihn ungemein, anfangs nur deswegen, weil er sich ausmalte, wie schön es wäre, mit ihrer Hilfe an seinen schlimmsten Feinden teuflische Rache zu nehmen. Unter diesem Gesichtspunkt spielte er vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten mit ihr; dann ertappte er sich plötzlich dabei, dass er sie allen Ernstes als praktische Möglichkeit in Betracht zog. Er machte sich ein paar vorbereitende Notizen auf einem Blatt Papier. Aber er kam nicht weit. Er fand sich fast sofort mit der altbekannten Tatsache konfrontiert, dass eine Maschine, so hochentwickelt sie auch sein mag, nicht selbständig denken kann. Sie kann nur Aufgaben lösen, die sich in mathematischen Begriffen ausdrücken lassen – Aufgaben, deren Lösung ein für allemal feststeht. Das war eine harte Nuss. Er kam nicht darum herum: Eine Maschine hat keinen Verstand. Aber es gibt Maschinen, die ein Gedächtnis haben, nicht wahr? Das Elektronengehirn der Electrical Engineering Inc. zum Beispiel hatte ein phantastisches Gedächtnis. Es konnte, einfach indem es elektrische Impulse durch eine Quecksilbersäule in hochfrequente Wellen verwandelte, mindestens tausend Zahlen auf einmal speichern und jede von ihnen genau in dem Augenblick abrufen, in dem sie gebraucht wurde. Sollte es also nicht möglich sein, nach diesem Prinzip ein Wort-Speicherwerk von nahezu unbegrenztem Fassungsvermögen zu bauen? Wie stand es damit? Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, eine simple, aber überwältigende Wahrheit: Die englische Grammatik ist Regeln unterworfen, die in ihrer Strenge fast mathematisch sind! Wenn die Wörter feststehen, wenn der Sinn dessen, was gesagt werden soll, feststeht, gibt es nur eine mögliche Reihenfolge, in der diese Wörter angeordnet werden können. Nein, dachte er, das stimmt nicht ganz. Sehr oft gibt es für die Stellung von Wörtern und Satzteilen mehrere Möglichkeiten, die alle grammatisch korrekt sind. Na wennschon! An der Theorie selbst ist nicht zu rütteln. Folglich muss sich eine Maschine, die nach dem Prinzip des Elektronengehirns gebaut ist, so einrichten lassen, dass sie Wörter (statt Zahlen) den grammatischen Regeln entsprechend anordnet. Füttere sie mit Verben, Substantiven, Adjektiven, Pronomen, sodass sich im Speicherwerk ein Wortschatz bildet, und sorge dafür, dass diese Wörter je nach Bedarf abgerufen werden können. Gib ihr dann noch ein Handlungsgerüst und überlass es ihr, die Sätze zu schreiben. Knipe war jetzt nicht mehr zu halten. Er machte sich unverzüglich ans Werk, und die nächsten Tage waren mit intensiver Arbeit ausgefüllt. Überall im Wohnzimmer lagen Papiere verstreut: Formeln und Berechnungen; Listen mit Wörtern, Tausenden und aber Tausenden von Wörtern; Handlungsgerüste von Kurzgeschichten, auf eigenartige Weise in Fragmente zerlegt; lange Auszüge aus Rogets Thesaurus; Seiten und Seiten mit männlichen und weiblichen Vornamen; Abschriften von Familiennamen aus dem Telefonbuch; komplizierte Zeichnungen von Leitungsdrähten, Stromkreisen, Schaltern und Kathodenröhren, von Maschinen, die unterschiedlich geformte Löcher in kleine Karten stanzen konnten, von einer elektrischen Schreibmaschine, deren Leistung sich auf zehntausend Wörter in der Minute belief, und von einer Art Schaltbrett mit kleinen Tasten, unter denen die Namen bekannter amerikanischer Magazine standen. Er arbeitete in Hochstimmung, ging inmitten dieses Wirrwarrs von Papieren auf und ab, rieb sich die Hände und führte laute Selbstgespräche. Manchmal rümpfte er angewidert die Nase und stieß wilde Verwünschungen aus, in denen unweigerlich das Wort ‹Redakteur› vorkam. Nach fünfzehn Tagen rastloser Arbeit packte er sämtliche Papiere in zwei große Mappen, mit denen er sich – beinahe im Laufschritt – in das Büro von John Bohlen, Electrical Engineering Inc., begab. Mr. Bohlen freute sich sehr, ihn wiederzusehen. «Hallo, Knipe. Na, Sie sehen ja hundert Prozent besser aus. War’s schön im Urlaub? Wo sind Sie denn gewesen?» Unverändert hässlich und schlampig, dachte Mr. Bohlen. Warum steht er nicht gerade? Immer dieser krumme Rücken … «Wirklich, Sie sehen hundert Prozent besser aus, mein Junge.» Möchte bloß wissen, warum er so grinst. Und seine Ohren scheinen von Mal zu Mal größer zu werden. Adolph Knipe legte die Mappen auf den Schreibtisch. «Hier, Mr. Bohlen!», rief er. «Sehen Sie sich das an!» Und nun ging es los. Er öffnete die Mappen, breitete die Pläne vor dem erstaunten kleinen Mann aus, berichtete, erzählte, erklärte, bis er endlich, nach einer guten Stunde, fertig war. Atemlos, mit gerötetem Gesicht trat er einen Schritt zurück und wartete auf das Urteil. «Wissen Sie was, Knipe? Ich glaube, Sie haben nicht alle Tassen im Schrank.» Sei vorsichtig jetzt, ermahnte sich Mr. Bohlen. Fass ihn behutsam an. Der Bursche ist wertvoll für uns. Wenn er nur nicht so grässlich aussähe mit diesem Pferdegesicht und den großen Zähnen. Und Ohren hat er – wie Rhabarberblätter. «Aber Mr. Bohlen! Es geht! Ich hab’s Ihnen doch bewiesen! Das können Sie nicht abstreiten!» «Immer mit der Ruhe, Knipe. Immer mit der Ruhe. Hören Sie mir erst mal zu.» Adolph Knipe sah seinen Chef an und verabscheute ihn mit jeder Sekunde mehr. «Diese Idee», sagte Mr. Bohlens Unterlippe, «ist sehr gescheit – ich möchte beinahe sagen genial –, und sie bestätigt nur meine hohe Meinung von Ihren Fähigkeiten, Knipe. Aber Sie dürfen das alles nicht zu ernst nehmen, mein Junge. Was kann uns Ihre Erfindung schon nützen? Wer in aller Welt braucht eine Maschine, die Kurzgeschichten schreibt? Und wo steckt da Geld drin? Können Sie mir das sagen?» «Darf ich mich setzen, Sir?» «Natürlich, nehmen Sie Platz.» Adolph Knipe hockte sich auf die Kante eines Stuhls. Der Ältere beobachtete ihn mit wachsamen braunen Augen und harrte der Dinge, die da kommen sollten. «Wenn Sie gestatten, Mr. Bohlen, möchte ich Ihnen erklären, wie ich auf die ganze Geschichte verfallen bin.» «Schießen Sie los, Knipe.» Man muss ein bisschen auf ihn eingehen, dachte Mr. Bohlen. Der Junge ist ja für uns sein Gewicht in Gold wert. Ein unersetzlicher Mitarbeiter, geradezu ein Genie. Wenn ich mir nur diese Papiere hier ansehe … Das verschlägt einem doch glatt die Sprache. Eine erstaunliche Arbeit. Natürlich völlig sinnlos. Ohne geschäftlichen Wert. Aber sie beweist wieder einmal, wie begabt der Bursche ist. «Ich … ich muss Ihnen etwas gestehen, Mr. Bohlen. Dann werden Sie vielleicht begreifen, warum ich immer so … na, eben so deprimiert bin.» «Sagen Sie mir alles, was Sie bedrückt, Knipe. Ich bin dazu da, Ihnen zu helfen – das wissen Sie doch.» Der junge Mann krampfte die Hände ineinander und presste die Ellbogen gegen die Rippen. Ihm schien plötzlich sehr kalt zu sein. «Sehen Sie, Mr. Bohlen, die Sache ist so, dass mir eigentlich nicht viel an meiner Arbeit hier liegt. Ich weiß, dass ich sie gut mache, aber offen gestanden, mit dem Herzen bin ich nicht dabei. Es ist nicht das, wovon ich immer geträumt habe.» Mr. Bohlens Augenbrauen schnellten hoch wie eine Sprungfeder. Sein Körper erstarrte. «Sehen Sie, Sir, ich wäre so schrecklich gern Schriftsteller geworden.» «Schriftsteller?» «Ja, Mr. Bohlen. Ob Sie es glauben oder nicht, ich verwende jedes bisschen Freizeit darauf, Geschichten zu schreiben. In den letzten zehn Jahren habe ich Hunderte, buchstäblich Hunderte von Kurzgeschichten geschrieben. Fünfhundertsechsundsechzig, um genau zu sein. Etwa eine pro Woche.» «Um Himmels willen, Mann! Wozu denn das?» «Ich weiß nur, Sir, dass ich den Drang dazu habe.» «Was für einen Drang?» «Den schöpferischen Drang, Mr. Bohlen.» Jedes Mal, wenn er aufblickte, sah er Mr. Bohlens Lippen. Sie wurden immer dünner, immer röter. «Und darf ich fragen, was Sie mit diesen Geschichten machen, Knipe?» «Ach, Sir, das ist es ja gerade. Niemand will sie kaufen. Wenn ich eine fertig habe, schicke ich sie reihum, von einem Magazin zum anderen. Das ist alles, was geschieht, Mr. Bohlen. Wie ein Bumerang kommen sie zu mir zurück. Es ist sehr deprimierend.» Mr. Bohlens Züge entspannten sich. «Ich weiß genau, wie Ihnen zumute ist, mein Junge.» Seine Stimme triefte vor Mitgefühl. «Irgendwann im Leben macht jeder von uns so etwas durch. Aber jetzt, wo Sie den Beweis haben … den positiven Beweis … von den Fachleuten selbst, von den Redakteuren, dass Ihre Geschichten – wie soll ich sagen – nicht viel taugen, jetzt sollten Sie das Schreiben endgültig aufgeben. Vergessen Sie es, mein Junge. Denken Sie einfach nicht mehr daran.» «Nein, Mr. Bohlen! Nein! Das ist nicht wahr! Ich weiß, dass meine Geschichten gut sind. Mein Gott, wenn ich sie mit dem Zeug vergleiche, das in manchen Magazinen erscheint – also wirklich, Mr. Bohlen …! Dieser blödsinnige Kitsch, den man Woche für Woche in den Magazinen liest – ach, es ist zum Verrücktwerden!» «Hören Sie mal, mein Junge …» «Lesen Sie Magazine, Mr. Bohlen?» «Entschuldigen Sie, Knipe, aber was hat das mit Ihrer Maschine zu tun?» «Alles, Mr. Bohlen, einfach alles! Sehen Sie, die Sache ist so: Nach gründlichem Studium der Magazine habe ich den Eindruck gewonnen, dass jedes Blatt einen besonderen Typ von Kurzgeschichten pflegt. Die Schriftsteller – die erfolgreichen – wissen das und passen sich jeweils den Wünschen der Redaktion an.» «Moment, mein Junge, Moment. Beruhigen Sie sich ja? Ich glaube nicht, dass uns das alles weiterbringt.» «Bitte, Mr. Bohlen, hören Sie mich doch an. Es ist wirklich ungeheuer wichtig.» Knipe hielt kurz inne, um Luft zu schöpfen. Er war jetzt so richtig in Fahrt und fuchtelte beim Sprechen mit den Händen herum. Das längliche Gesicht mit den großen Zähnen und den abstehenden Ohren glänzte vor Erregung, und bei jedem Wort sprühten Speicheltröpfchen aus seinem Mund. «Verstehen Sie doch, Mr. Bohlen, wenn ich auf meiner Maschine einen verstellbaren Koordinator zwischen das ‹Fabel-Speicherwerk› und das ‹Wort-Speicherwerk› schalte, kann ich jede Art von Geschichten produzieren. Ich brauche nur auf die betreffende Taste zu drücken.» «Ja, ich weiß, Knipe, ich weiß. Das ist alles sehr interessant, aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus?» «Ganz einfach, Mr. Bohlen. Der Markt ist begrenzt. Wir müssen in der Lage sein, das richtige Material zur richtigen Zeit zu liefern. Immer genau das, was gerade gebraucht wird. Es ist eine kommerzielle Frage, weiter nichts. Ich betrachte es jetzt von Ihrem Standpunkt aus – vom Standpunkt der Rentabilität.» «Mein lieber Junge, von Rentabilität kann hier doch gar nicht die Rede sein. Überhaupt nicht. Sie wissen ebenso gut wie ich, was es kostet, eine solche Maschine zu bauen.» «Ja, Sir, das weiß ich. Aber mit allem Respekt gesagt, ich glaube nicht, dass Sie wissen, was die Magazine den Autoren für ihre Geschichten zahlen.» «Was zahlen sie denn?» «Jede Summe bis zu zweitausendfünfhundert Dollar. Der Durchschnitt liegt wahrscheinlich bei tausend.» Mr. Bohlen fuhr hoch. «Ja, Sir, es ist wahr.» «Völlig unmöglich, Knipe! Lächerlich!» «Nein, Sir, es ist wahr.» «Sie sitzen hier und wollen mir erzählen, dass diese Magazine derartig viel Geld für … für irgend so eine hingeschmierte Geschichte bezahlen! Du meine Güte, Knipe! Dann müssten ja alle Schriftsteller Millionäre sein!» «Stimmt genau, Mr. Bohlen! Und damit kommen wir wieder auf die Maschine. Hören Sie nur noch eine Minute zu, Sir. Ich habe mir das mal ausgerechnet. Die großen Magazine bringen durchschnittlich drei Kurzgeschichten in jeder Ausgabe. Nun nehmen Sie die fünfzehn bedeutendsten Magazine – diejenigen, die am besten zahlen. Ein paar von ihnen erscheinen monatlich, aber die meisten kommen jede Woche heraus. Gut. Das macht, sagen wir, vierzig Geschichten, die jede Woche gekauft werden. Vierzigtausend Dollar also. Wenn wir unsere Maschine richtig arbeiten lassen, können wir praktisch den gesamten Bedarf decken!» «Mein lieber Junge, Sie sind verrückt!» «Nein, Sir, ehrlich, es ist so, wie ich sage. Verstehen Sie doch, wir werden die Schriftsteller allein vom Umfang her völlig an die Wand drücken! Die Maschine kann eine Geschichte von fünftausend Wörtern, fertig getippt und versandbereit, in dreißig Sekunden liefern. Wie können die Schriftsteller damit konkurrieren? Ich frage Sie, Mr. Bohlen, wie?» Hier bemerkte Adolph Knipe eine leichte Veränderung im Gesichtsausdruck seines Chefs: Die Augen begannen zu glänzen, die Nasenflügel blähten sich, die Züge wurden unbewegt, fast starr. Hastig sprach er weiter: «Heutzutage, Mr. Bohlen, haben handgearbeitete Waren keine Chance mehr. Sie kommen einfach nicht gegen die Massenproduktion an, besonders in unserem Land nicht. Teppiche … Stühle … Schuhe … Ziegelsteine … Keramik … was Sie wollen – alles wird jetzt maschinell hergestellt. Die Qualität mag schlechter sein, aber das spielt keine Rolle. Was zählt, sind die Produktionskosten. Und Kurzgeschichten – nun, sie sind eben auch ein Produkt, genau wie Teppiche oder Stühle, und niemand schert sich um die Herstellungsmethode, solange die Ware pünktlich und preiswert geliefert wird. Wir werden sie en gros verkaufen, Mr. Bohlen! Wir werden jeden Autor im Lande unterbieten! Wir werden den Markt an uns reißen!» Mr. Bohlen richtete sich in seinem Sessel auf. Dann beugte er sich vor, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und blickte den jungen Mann aufmerksam mit seinen kleinen braunen Augen an. «Ich glaube trotzdem, dass Ihre Idee undurchführbar ist, Knipe.» «Vierzigtausend die Woche!», rief Adolph Knipe. «Und wenn wir den Preis herabsetzen, sagen wir um die Hälfte – also zwanzigtausend die Woche –, dann macht das immer noch eine Million im Jahr!» Und er fügte mit sanfter Stimme hinzu: «Für den Bau der elektronischen Rechenmaschine haben Sie keine Million im Jahr bekommen, nicht wahr, Mr. Bohlen?» «Also jetzt mal im Ernst, Knipe. Meinen Sie wirklich, dass man uns das Zeug abkauft?» «Ich bitte Sie, Mr. Bohlen, wer in aller Welt verlangt denn handgearbeitete Kurzgeschichten, wenn er die anderen für den halben Preis kriegen kann? Das leuchtet doch ein, nicht wahr?» «Und wie wollen Sie sie verkaufen? Wen wollen Sie als Verfasser nennen?» «Wir gründen eine eigene literarische Agentur, die den Vertrieb übernimmt. Und die Namen der Verfasser – nun, die denken wir uns einfach aus.» «Die Sache gefällt mir nicht recht, Knipe. Schmeckt irgendwie nach Betrug, finden Sie nicht?» «Und noch etwas, Mr. Bohlen. Wenn wir erst einmal in Schwung sind, könnte noch so mancher Nebenverdienst abfallen. Nehmen Sie zum Beispiel die Werbung. Bierbrauer und solche Leute sind heutzutage gern bereit, gutes Geld zu zahlen, wenn sie berühmte Schriftsteller als Verbraucher ihrer Produkte bezeichnen dürfen. Mein Gott, Mr. Bohlen! Das ist kein Pappenstiel, das ist ein dickes Geschäft!» «Werden Sie nur nicht größenwahnsinnig, mein Junge.» «Und noch etwas. Nichts spricht dagegen, Mr. Bohlen, dass wir Ihren Namen unter einige der besseren Geschichten setzen, wenn Sie das wünschen.» «Du meine Güte, Knipe, was hätte ich denn davon?» «Ich weiß nicht, Sir, nur … einige Schriftsteller sind doch sehr berühmt geworden – Mr. Erle Gardner und Kathleen Norris zum Beispiel. Wir brauchen Namen, und ich habe sogar schon daran gedacht, meinen eigenen für ein paar Geschichten zur Verfügung zu stellen. Nur um auszuhelfen.» «Ein Schriftsteller, hm?», sagte Mr. Bohlen nachdenklich. «Na ja, im Club würden sie schön überrascht sein, wenn sie meinen Namen in den Magazinen sähen – in den guten Magazinen.» «Allerdings, Sir.» Ein verträumter, abwesender Blick kam in Mr. Bohlens Augen, und er lächelte. Gleich darauf aber riss er sich zusammen und fing an, in den Entwürfen zu blättern, die vor ihm lagen. «Eines verstehe ich noch nicht ganz, Knipe. Woher kommen die Handlungen? Die Maschine kann doch keine Handlungen erfinden.» «Die speichern wir, Sir. Das ist überhaupt kein Problem. Handlungen gibt’s wie Sand am Meer. Drei- oder vierhundert finden Sie dort in der Mappe zu Ihrer Linken. Wir geben sie einfach in das ‹Fabel-Speicherwerk› der Maschine.» «Sehr interessant.» «Ich habe auch für allerlei kleine Raffinessen gesorgt, Mr. Bohlen. Sie werden das sehen, wenn Sie die Pläne sorgfältig studieren. So wenden zum Beispiel fast alle Schriftsteller den Trick an, dass sie in jeder ihrer Geschichten irgendein langes, unverständliches Fremdwort gebrauchen. Weil der Leser dann denkt, der Autor sei sehr klug und gebildet. Ich lasse also die Maschine das Gleiche tun. Wir werden einen Vorrat solcher Wörter eigens zu diesem Zweck speichern.» «Wo?» «Im ‹Wort-Speicherwerk›», sagte Knipe epexegetisch. Fast den ganzen Tag sprachen die beiden Männer über die Möglichkeiten der neuen Maschine. Schließlich erklärte Mr. Bohlen, er müsse noch einmal darüber nachdenken. Am nächsten Morgen zeigte er sich recht angetan von der Idee. Nach einer Woche war er völlig von ihr besessen. «Natürlich halten wir die Sache geheim, Knipe. Wir werden sagen, dass wir eine zweite Rechenmaschine bauen, einen neuen Typ.» «Jawohl, Mr. Bohlen.» Sechs Monate später war die Maschine fertig. Sie wurde in einem Backsteingebäude am äußersten Ende des Fabrikgeländes aufgestellt, und als sie einsatzbereit war, durfte außer Mr. Bohlen und Adolph Knipe niemand in ihre Nähe. Es war ein erregender Augenblick, als die beiden Männer – der eine klein, dick und kurzbeinig, der andere groß, dünn und langzahnig – vor dem Schaltbrett standen und sich anschickten, die erste Kurzgeschichte herunterzuschreiben. Sie waren von Wänden umgeben, zwischen denen schmale Gänge verliefen, und die Wände waren bedeckt mit Drähten, Steckdosen, Schaltern und riesigen Glasröhren. Knipe war ziemlich nervös, und Mr. Bohlen trat von einem Fuß auf den anderen, weil er einfach nicht stillstehen konnte. «Welchen Knopf?», fragte Adolph Knipe, den Blick auf eine Reihe kleiner weißer Scheiben gerichtet, die an die Tasten einer Schreibmaschine erinnerten. «Suchen Sie sich eine Zeitschrift aus, Mr. Bohlen. Es ist alles da, Saturday Evening Post, Collier’s, Ladies’ Home Journal – was Sie wollen.» «Mein Gott, Junge, woher soll ich das wissen?» Er hüpfte hin und her, als hätte er Hautjucken. «Mr. Bohlen», sagte Adolph Knipe feierlich, «ist Ihnen klar, dass Sie es in diesem Augenblick in der Hand haben, der vielseitigste Schriftsteller des Kontinents zu werden? Sie brauchen nur …» «Bitte, Knipe, fangen Sie jetzt an und lassen Sie diese Vorreden, ja?» «Okay, Mr. Bohlen. Dann nehmen wir – warten Sie mal – diesen hier. Einverstanden?» Er streckte den Finger aus und drückte auf einen Knopf, unter dem in winzigen schwarzen Buchstaben TODAY’S WOMAN stand. Es gab einen scharfen Klick, und als Knipe den Finger fortnahm, sprang der Knopf nicht wieder heraus. «So, unsere Wahl ist getroffen», sagte er. «Und jetzt geht’s los!» Er langte hoch und betätigte einen Schalter am Brett. Sofort war der Raum von einem lauten summenden Geräusch erfüllt, elektrische Funken knisterten, viele kleine, schnell arbeitende Hebel rasselten, und schon glitten aus einem Schlitz rechts vom Schaltbrett Papierblätter im Quartformat. In rascher Folge, jede Sekunde ein Blatt, fielen sie in einen bereitstehenden Korb, und nach einer halben Minute war alles vorbei. Es kamen keine Blätter mehr. «Das wär’s!», rief Adolph Knipe. «Hier ist Ihre Kurzgeschichte!» Sie griffen nach dem ersten Blatt und lasen: «Aifkjmbsaoegwcztpplnvoqudskigt&, fuhpekanvbertyuiolkjhgfdsazxcvbnm, peruitrehdjkgmvnb, wmsuy …» In dieser Art ging es bis zur letzten Seite weiter. Mr. Bohlen stieß laute Flüche aus. Adolph Knipe aber sagte beruhigend: «Es ist in Ordnung, Sir. Wirklich. Sie muss nur etwas nachgestellt werden. Wir haben da irgendwo einen falschen Schaltweg, das ist alles. Bedenken Sie doch, Mr. Bohlen, wie viele Drähte sich in diesem Raum befinden. Insgesamt fast eine Million Meter. Sie können nicht erwarten, dass es gleich beim ersten Male klappt.» «Das Ding wird nie funktionieren», knurrte Mr. Bohlen. «Geduld, Sir. Nur Geduld.» Adolph Knipe machte sich daran, die Fehlerquelle zu suchen, und nach vier Tagen kündigte er an, dass der Schaden behoben sei. «Die Maschine wird nie funktionieren», sagte Mr. Bohlen. «Ich weiß, dass sie nie funktionieren wird.» Knipe lächelte und drückte auf den Knopf, unter dem READER’S DIGEST stand. Dann betätigte er den Schalter, und wieder ertönte das seltsame Summen. Eine vollgetippte Seite flog aus dem Schlitz in den Korb. «Wo ist der Rest?», rief Mr. Bohlen. «Sie hat aufgehört! Eine Panne!» «Nein, Sir. Die Länge ist genau richtig. Es ist doch für den Digest, versehen Sie?» Diesmal lautete der Text: «nurwenigewissenbishervon derentdeckungeinesrevolutionärenneuenheilmittelsdas menschendieaneinerderschrecklichstenkrankheitenunsererzeit leidenfürimmerlinderungverschaffen kann …» Und so weiter. «Das ist Kauderwelsch!», empörte sich Mr. Bohlen. «Nein, Sir, es ist gut. Sie trennt nur die Wörter nicht. Das ist leicht zu beheben. Aber inhaltlich stimmt alles haargenau. Sehen Sie, Mr. Bohlen, sehen Sie! Der Text ist tadellos, nur dass die Wörter zusammenhängen.» Und so war es. Beim nächsten Versuch, der einige Tage später stattfand, war alles in bester Ordnung, sogar die Interpunktion und die Großschreibung. Die erste Geschichte, die sie für ein bekanntes Frauenmagazin fabrizierten, zeichnete sich durch eine gediegene und recht spannende Handlung aus. Es ging dabei um einen jungen Mann, der sich bei seinem reichen Arbeitgeber beliebt machen wollte. Der junge Mann, so wurde erzählt, überredete einen Freund zu einem fingierten Überfall auf die Tochter des reichen Mannes. In einer dunklen Nacht, als das Mädchen nach Hause fuhr, wurde der Plan in die Tat umgesetzt. Der junge Mann kam wie zufällig vorbei, schlug seinem Freund den Revolver aus der Hand und rettete das Mädchen. Die Dankbarkeit des Mädchens kannte keine Grenzen. Der Vater jedoch war argwöhnisch. Er nahm den Jungen scharf ins Verhör. Der Junge brach zusammen und gestand alles. Statt ihn mit einem Fußtritt aus dem Haus zu befördern, sagte der Vater, dass er die Findigkeit des Jungen bewundere. Das Mädchen bewunderte seine Ehrlichkeit – und sein gutes Aussehen. Der Vater versprach, ihn zum Chef der Buchhaltung zu machen. Das Mädchen heiratete ihn. «Das ist phantastisch, Mr. Bohlen! Genau das Richtige!» «Mir kommt es ein bisschen kitschig vor, mein Junge.» «Nein, Sir. Es ist ein Knüller, ein ausgesprochener Knüller!» Aufgeregt verfertigte Adolph Knipe sechs weitere Geschichten in ebenso vielen Minuten. Alle – bis auf eine, die aus irgendeinem Grunde etwas unzüchtig ausfiel – stellten ihn durchaus zufrieden. Mr. Bohlen war jetzt besänftigt. Er hatte nichts mehr dagegen, in der Innenstadt eine literarische Agentur aufzumachen und Knipe mit ihrer Leitung zu betrauen. Nach einigen Wochen war es so weit: Knipe versandte das erste Dutzend Geschichten. Als Verfasser nannte er viermal sich selbst, einmal Mr. Bohlen, und die übrigen Namen dachte er sich aus. Fünf Geschichten wurden sofort angenommen. Die Story, die unter Mr. Bohlens Namen lief, kam zurück. In dem Begleitschreiben des Feuilletonredakteurs hieß es: «Die Arbeit zeugt von Begabung, ist aber unserer Meinung nach nicht ganz geglückt. Wir wären jedoch an weiteren Beiträgen dieses Schriftstellers interessiert …» Adolph Knipe nahm ein Taxi, fuhr in die Fabrik und fertigte eine neue Geschichte für dasselbe Magazin an. Er setzte Mr. Bohlens Namen darunter und schickte sie unverzüglich ab. Diese Story wurde gekauft. Die Einkünfte stiegen. Langsam und vorsichtig erhöhte Knipe die Produktion, und nach sechs Monaten verschickte er wöchentlich dreißig Geschichten, von denen etwa fünfzehn gekauft wurden. Bald stand er in literarischen Kreisen im Ruf eines fruchtbaren und erfolgreichen Autors. Auch Mr. Bohlen machte sich einen Namen. Allerdings schätzte man ihn weniger als Knipe – aber das wusste er nicht. Außerdem stellte Knipe ein Dutzend oder mehr fiktive Personen als vielversprechende junge Autoren heraus. Alles lief wie am Schnürchen. Um diese Zeit beschlossen sie, die Maschine so einzurichten, dass sie nicht nur Kurzgeschichten, sondern auch Romane schreiben konnte. Mr. Bohlen, der nach größeren Ehren in der literarischen Welt dürstete, bestand darauf, dass Knipe sofort an diese gewaltige Aufgabe heranginge. «Ich möchte einen Roman machen», sagte er immer wieder. «Ich möchte einen Roman machen.» «Das werden Sie auch, Sir. Ganz bestimmt. Aber haben Sie bitte Geduld. Ich muss ziemlich komplizierte Veränderungen vornehmen.» «Jeder beschwört mich, endlich einen Roman zu schreiben!», rief Mr. Bohlen. «Die Verleger rennen Tag und Nacht hinter mir her und flehen mich an, mit diesen albernen Kurzgeschichten aufzuhören und stattdessen etwas wirklich Bedeutendes zu schreiben. Ein Roman ist das Einzige, was zählt – behaupten sie.» «Wir werden Romane machen», beruhigte ihn Knipe. «In Mengen sogar. Aber Sie müssen Geduld haben.» «Hören Sie zu, Knipe. Ich habe vor, einen guten Roman zu machen, etwas, was die Leute aufhorchen lässt. Diese Geschichten, die Sie in letzter Zeit unter meinem Namen verschickt haben, hängen mir schön zum Hals heraus. Manchmal habe ich tatsächlich den Eindruck, dass Sie mich übers Ohr hauen wollen.» «Übers Ohr, Mr. Bohlen?» «Die besten behalten Sie immer für sich. Jawohl, so ist es.» «O nein, Mr. Bohlen! Nein!» «Aber diesmal liegt mir verdammt viel daran, ein erstklassiges, intelligentes Buch zu schreiben. Nehmen Sie das zur Kenntnis.» «Gewiss, Mr. Bohlen. Mit dem Schaltbrett, das ich Ihnen zusammenbaue, werden Sie jedes Buch schreiben können, das Sie wollen.» Und Adolph Knipe hielt sein Versprechen. Nach einigen Monaten hatte dieses Genie die Maschine auf Romane umgestellt und überdies ein wunderbares neues System eingebaut, das es dem Autor ermöglichte, buchstäblich jede Art von Handlung und jeden gewünschten Sprachstil vorzuwählen. Es gab so viele Skalen, Schalter und Hebel an dem Ding, dass es wie das Armaturenbrett eines riesigen Flugzeugs aussah. Zunächst traf der Schriftsteller, indem er auf einen der sogenannten Hauptknöpfe drückte, seine prinzipielle Entscheidung: historisch, satirisch, philosophisch, politisch, romantisch, erotisch, humorvoll oder derb. Eine zweite Reihe von Knöpfen (die Grundknöpfe) bot ihm die verschiedensten Themen: Soldatenleben, Pionierzeit, Bürgerkrieg, Weltkrieg, Rassenproblem, Wilder Westen, Landleben, Kindheitserinnerungen, Seefahrt, der Meeresgrund und viele, viele andere. Die dritte Knopfreihe gestattete die Wahl des literarischen Stils: klassisch, skurril, gepfeffert, Hemingway, Faulkner, Joyce, feminin und so fort. Die vierte Reihe bestimmte Anzahl und Geschlecht der Romangestalten, die fünfte den Umfang des Buches und so weiter und so weiter – zehn lange Reihen von Vorwählknöpfen. Aber das war noch nicht alles. Während des Schreibprozesses selbst (der etwa fünfzehn Minuten pro Roman dauerte), war es jetzt möglich, eine Kontrolle auszuüben. Dazu musste der Autor auf einer Art Führersitz vor zahlreichen beschrifteten Registern Platz nehmen. Durch Ziehen oder Drücken (wie bei einer Orgel) konnte er rund fünfzig verschiedene und variable Elemente regulieren oder sie miteinander mischen – zum Beispiel Spannung, Überraschung, Humor, Pathos und Geheimnis. Zahlreiche Skalen und Messgeräte auf dem Armaturenbrett zeigten ihm jederzeit genau an, wie weit er mit seiner Arbeit war. Und schließlich gab es noch die Sache mit der ‹Leidenschaft›. Nach gründlichem Studium der Bücher, die im vergangenen Jahr an der Spitze der Bestseller-Listen gestanden hatten, war Adolph Knipe zu der Erkenntnis gelangt, dass Leidenschaft das wichtigste Ingrediens von allen war, ein magischer Katalysator, der selbst den langweiligsten Roman in einen tollen Erfolg verwandeln konnte – jedenfalls finanziell. Aber Knipe wusste auch, dass Leidenschaft eine überaus starke, berauschende Wirkung hatte und vorsichtig dosiert werden musste – die richtigen Mengen in den richtigen Handlungsmomenten. Um das zu gewährleisten, hatte er eine besondere Kontrollvorrichtung konstruiert: zwei hochempfindliche, stufenlose Leidenschaftsregler, die durch Pedale – ähnlich dem Gas- und dem Bremspedal beim Auto – bedient wurden. Das eine Pedal steuerte die Menge der injizierten Leidenschaft, das andere ihre Intensität. Der einzige Nachteil lag natürlich darin, dass sich der Schreiber eines Romans nach der Knipe-Methode etwa in der Situation eines Mannes befand, der zur gleichen Zeit ein Flugzeug und ein Auto lenkt und nebenher auch noch Orgel spielt. Aber das kümmerte den Erfinder nicht. Als alles fertig war, geleitete er Mr. Bohlen stolz in das Maschinenhaus und erklärte ihm die Arbeitsweise des neuen Wunderwerks. «Mein Gott, Knipe, das schaffe ich ja nie! Menschenskind, ich glaube, es wäre einfacher, das Ding mit der Hand zu schreiben.» «Sie werden sich bestimmt bald daran gewöhnen, Mr. Bohlen. In ein, zwei Wochen ist Ihnen jeder Griff in Fleisch und Blut übergegangen. Es ist genauso wie beim Autofahren – ein Anfänger kann eben nicht gleich losbrausen.» Nun, es war nicht ganz leicht, aber nach vielen Übungsstunden bekam Mr. Bohlen den Dreh heraus, und endlich, eines späten Abends, beorderte er Knipe zur Fabrikation des ersten Romans in das Maschinenhaus. Es war ein erregender Augenblick, als der kleine, dicke Mann nervös auf dem Führersitz hockte und der große, langzahnige Knipe eifrig um ihn herumzappelte. «Ich habe die Absicht, einen bedeutenden Roman zu schreiben, Knipe.» «Ich bin sicher, dass es Ihnen gelingt, Sir. Ganz sicher.» Langsam und bedächtig drückte Mr. Bohlen auf die Vorwählknöpfe: Hauptknopf – satirisch Thema – Rassenproblem Stil – klassisch Personen – sechs Männer, vier Frauen, ein Kind Umfang – fünfzehn Kapitel Zugleich richtete er sein Augenmerk auf die drei Orgelregister Kraft, Geheimnis und Tiefe. «Sind Sie bereit, Sir?» «Ja, ja, ich bin bereit.» Knipe betätigte den Schalter. Die große Maschine summte. Fünfzigtausend gutgeölte Zahnräder, Stangen und Hebel brachten ein dumpfes, schwirrendes Geräusch hervor; dann begann die schnelle elektrische Schreibmaschine mit einem fast unerträglich lauten Geklapper zu arbeiten. Die vollgeschriebenen Seiten flogen in den Korb – alle zwei Sekunden eine. Für Mr. Bohlen, der die Register ziehen, den Kapitelzähler und den Geschwindigkeitsmesser beobachten und die Leidenschaftspedale bedienen musste, waren der Lärm und die Aufregung einfach zu viel. Er geriet in Panik und reagierte genauso wie ein Fahrschüler im Auto, das heißt, er presste beide Füße auf die Pedale und lockerte den Druck erst, als die Maschine anhielt. «Ich darf Sie zu Ihrem ersten Roman beglückwünschen», sagte Knipe und nahm das dicke Bündel beschriebener Blätter aus dem Korb. Über Mr. Bohlens Gesicht rannen dicke Schweißtropfen. «Ich kann Ihnen sagen, das war verdammt anstrengend, mein Junge.» «Aber Sie haben es geschafft, Sir. Sie haben es geschafft.» «Zeigen Sie mal her, Knipe. Wie liest es sich denn?» Er überflog das erste Kapitel und reichte Seite um Seite an den jüngeren Mann weiter. «Um Himmels willen, Knipe! Was ist das?» Mr. Bohlens dünne Fischlippen zitterten leicht, und seine Wangen blähten sich langsam auf. «Also wissen Sie, Knipe, das ist ja unerhört!» «Es ist tatsächlich ein bisschen saftig, Sir.» «Saftig! Empörend ist es, einfach empörend! Ich kann unmöglich meinen Namen dafür hergeben!» «Da haben Sie recht, Sir.» «Knipe! Ist das ein schmutziger Scherz, den Sie sich mit mir erlaubt haben?» «O nein, Sir! Nein!» «Sieht aber ganz so aus.» «Könnte es vielleicht daran liegen, Mr. Bohlen, dass Sie etwas zu hart auf die Leidenschaftspedale getreten haben?» «Mein lieber Junge, wie soll ich das wissen?» «Versuchen Sie’s doch nochmal.» So schrieb denn Mr. Bohlen einen zweiten Roman herunter, und diesmal ging alles nach Wunsch. Binnen einer Woche hatte ein begeisterter Verleger das Manuskript gelesen und angenommen. Knipe zog mit einem Roman nach, für den er selbst als Verfasser zeichnete; dann fabrizierte er – da er schon einmal dabei war – ein Dutzend weitere. Bald war Adolph Knipes literarische Agentur berühmt für ihren Stall vielversprechender junger Romanciers. Und wieder begann das Geld hereinzuströmen. Um diese Zeit stellte sich heraus, dass der junge Knipe nicht nur als Erfinder, sondern auch als Geschäftsmann ein großes Talent war. «Hören Sie, Mr. Bohlen», sagte er, «wir haben noch immer zu viel Konkurrenz. Warum schlucken wir nicht einfach all die anderen Schriftsteller des Landes?» Mr. Bohlen, der sich inzwischen ein flaschengrünes Samtjackett zugelegt hatte und das Haar so lang trug, dass es zwei Drittel der Ohren bedeckte, war ganz zufrieden mit der augenblicklichen Lage der Dinge. «Ich weiß gar nicht, was Sie meinen, lieber Junge. Wir können doch nicht so mir nichts, dir nichts Schriftsteller schlucken.» «Natürlich können wir das, Sir. Genauso wie Rockefeller es mit den Ölgesellschaften machte. Wir kaufen sie einfach auf. Und wenn sie sich weigern, setzen wir sie unter Druck. Das ist überhaupt kein Problem.» «Vorsichtig, Knipe. Seien Sie vorsichtig.» «Sehen Sie, Sir, ich habe hier eine Liste der fünfzig erfolgreichsten Schriftsteller des Landes, und ich werde jedem von ihnen einen lebenslänglichen Vertrag auf Gehaltsbasis anbieten. Dafür brauchen sie sich nur zu verpflichten, dass sie nie mehr ein Wort schreiben. Und natürlich müssen sie uns ihre Namen für unser eigenes Material zur Verfügung stellen. Wie finden Sie das?» «Damit werden Sie nicht durchkommen, Knipe.» «Sie kennen die Schriftsteller schlecht, Mr. Bohlen. Warten Sie nur ab.» «Ja, aber der schöpferische Drang?» «Das ist leeres Gerede! Das Einzige, woran sie – wie jeder andere – wirklich interessiert sind, ist Geld.» Mr. Bohlen war noch immer nicht überzeugt, meinte aber nach einigem Zögern, dass man es wenigstens versuchen könne. So fuhr denn Knipe mit seiner Schriftstellerliste in einem großen, von einem Chauffeur gesteuerten Cadillac fort, um seine Besuche zu machen. Der Mann, der als Erster auf der Liste stand, ein hervorragender und sehr bekannter Schriftsteller, war sofort bereit, ihn zu empfangen. Knipe erzählte seine Geschichte, legte mehrere Romane eigener Produktion zur Ansicht vor und zog einen Vertrag aus der Tasche, der dem Mann auf Lebenszeit soundsoviel im Jahr garantierte. Der Schriftsteller hörte höflich zu, kam zu dem Schluss, dass er es mit einem Verrückten zu tun hatte, lud ihn zu einem Drink ein und führte ihn dann freundlich, aber energisch zur Tür. Der zweite Schriftsteller auf der Liste entpuppte sich als gefährlicher Bursche. Er ging tatsächlich so weit, dass er Knipe mit einem schweren metallenen Briefbeschwerer bedrohte, und der Erfinder musste durch den Garten flüchten, während sich eine Sturzflut wilder Flüche und Obszönitäten über ihn ergoss. Aber es gehörte mehr dazu, einen Adolph Knipe von seinem Vorhaben abzubringen. Enttäuscht, doch nicht entmutigt, fuhr er in seinem großen Wagen weiter, und zwar zu einer berühmten und überaus populären Schriftstellerin, deren dickleibige Liebesromane zu Millionen gekauft wurden. Sie empfing Knipe sehr gnädig, setzte ihm Tee vor und hörte sich seine Geschichte aufmerksam an. «Das klingt faszinierend», sagte sie. «Aber ich kann es nicht so recht glauben.» «Gnädige Frau», antwortete Knipe, «kommen Sie mit und überzeugen Sie sich mit eigenen Augen. Mein Wagen steht zu Ihrer Verfügung.» Sie fuhren also los. Am Ziel angelangt, wurde die erstaunte Dame in das Maschinenhaus geführt. Eifrig erklärte ihr Knipe die Arbeitsweise des Wunderwerks, und nach einer Weile erlaubte er ihr sogar, auf dem Führersitz Platz zu nehmen und probeweise die Vorwählknöpfe zu bedienen. «Sehr schön», sagte er plötzlich. «Möchten Sie jetzt vielleicht ein Buch machen?» «O ja!», rief sie. «Bitte!» Sie war zweifellos technisch begabt, und obendrein schien sie genau zu wissen, was sie wollte. Nachdem sie die Vorwahl selbständig getroffen hatte, brachte sie einen langen, abenteuerlichen, von Leidenschaft erfüllten Roman zustande. Sie las das erste Kapitel und war derart begeistert, dass sie den Vertrag sofort unterschrieb. «Die haben wir glücklich aus dem Weg geräumt», sagte Knipe später zu Mr. Bohlen. «Und bei ihr hat sich’s wirklich gelohnt.» «Gute Arbeit, mein Junge.» «Und wissen Sie, warum sie unterschrieben hat?» «Na?» «Nicht wegen des Geldes. Davon hat sie genug.» «Sondern?» Knipe grinste und entblößte dabei einen langen Streifen blassen Zahnfleisches. «Sie hat einfach eingesehen, dass dieses maschinell hergestellte Zeug besser ist als ihr eigenes.» Von nun an hielt es Knipe für geraten, sich auf mittelmäßige Talente zu konzentrieren. Die guten Schriftsteller – zum Glück gab es nur wenige, sodass sie kaum ins Gewicht fielen – ließen sich offenbar nicht so leicht verführen. Schließlich, nach monatelangen Bemühungen, hatte er etwa siebzig Prozent der Schriftsteller auf seiner Liste bewogen, den Vertrag zu unterschreiben. Er fand bald heraus, dass es mit den Älteren, die keine Einfälle mehr hatten und Zuflucht beim Alkohol suchten, die wenigsten Schwierigkeiten gab. Die Jüngeren waren widerspenstiger. Sie neigten dazu, auf Knipes Vorschlag mit Beleidigungen, gelegentlich sogar mit tätlichen Angriffen zu reagieren, und mehr als einmal wurde er auf seinen Rundfahrten leicht verletzt. Aber alles in allem war es ein verheißungsvoller Anfang. Man schätzt, dass im letzten Jahr – dem ersten, in dem die Maschine voll arbeitete – mindestens die Hälfte aller in englischer Sprache veröffentlichten Romane und Kurzgeschichten von Adolph Knipe auf dem großen automatischen Grammatisator hergestellt wurden. Überrascht Sie das? Wohl kaum. Und Schlimmeres steht noch bevor. Inzwischen ist das Geheimnis ruchbar geworden, von Tag zu Tag drängen sich mehr Schriftsteller danach, mit Mr. Knipe ins Geschäft zu kommen, und für diejenigen, die der Versuchung bisher widerstanden haben, wird die Schraube immer fester angezogen. Gerade in diesem Augenblick, da ich hier sitze und dem Gebrüll meiner neun hungrigen Kinder lausche, merke ich, wie sich meine Hand näher und näher an jenen goldenen Vertrag herantastet, der drüben auf der anderen Seite des Schreibtisches liegt. Gib uns Kraft, o Herr, unsere Kinder verhungern zu lassen! Roald Dahl steht für mehr als gute Geschichten. Wussten Sie, dass 10 % der Autorentantieme* aus dem Verkauf dieses Buches dem Roald-Dahl-Wohltätigkeitsverein zugutekommen? Roahl Dahl’s Marvellous Children’s Charity Roald Dahl ist weltweit bekannt für seine Geschichten und Reime. Wenige wissen jedoch, dass er schwerkranken Kindern geholfen hat. Heute führt die Roald Dahl’s Marvellous Children’s Charity seine phantastische Arbeit fort, indem sie Tausenden von Kindern hilft, die an neurologischen oder Blutkrankheiten leiden. Sie unterstützt Kinderkrankenschwestern, spendet Ausstattungen und Unterhaltung für Kinder in Großbritannien und hilft Kindern auf der ganzen Welt durch wegweisende Forschungen. Möchten auch Sie etwas Wunderbares tun, um anderen zu helfen? Finden Sie einen Weg unter www.roalddahlcharity.org Das Roald Dahl Museum and Story Centre in Great Missenden vor den Toren Londons liegt im Dorf Buckinghamshire, wo Roald Dahl lebte und schrieb. Im Herzen des Museums befindet sich das einzigartige Archiv seiner Briefe und Manuskripte, das den Besuchern die Liebe zum Lesen und Schreiben vermitteln soll. Neben zwei amüsanten biographischen Galerien bietet das Museum auch ein interaktives Story-Center – genau der richtige Ort also für die Familie, für Lehrer und Schüler, um die aufregende Welt der Kreativität und Literatur zu erleben! www.roalddahlmuseum.org Die Roald Dahl’s Marvellous Children’s Charity ist ein eingetragener Wohltätigkeitsverein, Nr. 1137409. Das Roald Dahl Museum and Story Centre (RDMSC) ist ein eingetragener Wohltätigkeitsverein, Nr. 1085853. Der Roald Dahl Charitable Trust ist ein neu gegründeter Wohltätigkeitsverein und unterstützt die Arbeit von RDF und RDMSC. * Gespendete Tantiemen sind provisionsfrei.