Die Sandburg Rita Mae Brown August 1952: Die siebenjährige Nickel verbringt mit ihrer Mutter, ihrer Tante Louise und ihrem Cousin Leroy einen Tag am Meer. Die vier sitzen am Ufer der Chesapeake Bay, die bekannt ist für ihren Reichtum an Muscheln und Krebsen. Mit Blick auf das glitzernde Wasser, das ein Labyrinth kleiner Inseln umspült, verbringen die Schwestern, Nickel und Leroy einen zunächst unbeschwerten Nachmittag. Sie bauen eine prächtige Sandburg, ziehen einen Burggraben und basteln aus Eisstielen eine Zugbrücke. Doch als die Erwachsenen sich im Wasser abkühlen, bleibt Leroy skeptisch; er fürchtet sich vor Haien. Nickel, die keine Gelegenheit auslässt, ihren Cousin zu necken, versichert ihm, dass ihn kein Hai je erwischen wird - sondern ein Krebs. Später, im für seine Schalentiere berühmten Strand-Restaurant, ist Leroy das Essen verleidet. Doch damit nicht genug - denn als die vier zu ihrer Sandburg zurückkehren, ist dort ein erster Bewohner eingezogen ... Rita Mae Brown Die Sandburg  Aus dem sich lichtenden Nebel tauchte ein Schild mit einem dicken roten Krebs auf, das an weißen Scharnieren befestigt war. «Jesus.» Mutter riss das Steuer herum. Ihre Schwester Louise wies sie scharf zurecht. «Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen.» «Hab ich nicht, Hohlkopf, ich hab den Namen seines Sohnes gebraucht.» «Die Heilige Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gilt für alle drei.» «Dies ist ein Ausflug ans Meer. Wenn ich Religionsunterricht will, geh ich in die Kirche.» «Das ist es ja eben, oder?», antwortete Louise selbstgefällig. «Du bist Lutheranerin, das ist die Strafe Gottes. Sonst würdest du in der einzig wahren Kirche beten.» Mutter wich dem Köder zu einem Streit aus, den ihre ältere Schwester - um wie viel älter, auch das war ein ewiges Streitobjekt - ihr hinwarf, und zuckte die Achseln. «Gott wird mir vergeben, das ist sein Beruf.» Louise, die steif und fest behauptete, Mitte vierzig zu sein, verschränkte die Arme. Zweiundfünfzig oder dreiundfünfzig kam der Wahrheit näher. Ich war vom Herumreißen des Steuers aufgewacht und meldete mich zu Wort. «Wie lange noch? Wann sind wir da?» «Nicht mehr lange.» Mutter wich einer klaren Ansage aus. «Eine Dreiviertelstunde. Wenn sich der Nebel lichten würde, ging's schneller.» Louise grauste davor, im Nebel zu fahren, und recht hatte sie. Mutter grauste vor nichts. Das dachte ich zumindest mit sieben. Mutter saß nämlich am Steuer von Tante Wheezies neuem schwarzen Nash mit langweiliger grauer Innenausstattung. Ich konnte das Auto nicht ausstehen, aber ich behielt meine Meinung für mich. Wie konnte man bloß ein Auto fahren, das wie eine Küchenschabe aussah? Schon mit sieben war ich technikbegeistert, was meinen Vater beglückte und meine Mutter ergötzte. Leroy, der noch schlief neben mir, zeigte, obwohl er ein Junge war, kein Interesse für Motoren. Er war im Juni acht geworden. Ich würde dieses fortgeschrittene Alter erst im November erreichen, und an diesen paar extra Monaten hatte er seine Freude, an Autos dagegen nicht. «Ich liebe die Chesapeake Bay.» Mutter lächelte, als das erste Rosa am Horizont auftauchte; der Nebel wurde stellenweise dünner. «Wheeze, weißt du noch, wie Tante Doney und Onkel Jim uns am vierten Juli hierher mitgenommen haben? Ich muss in Nickels Alter gewesen sein.» Louise strahlte. «Mit dem vielen Leinen und Tüllzeugs, in das sie gehüllt war, sah Tante Doney aus wie ein Araber.» «Sie hatte so helle Haut», bemerkte Mutter. «Ich werde nie vergessen, wie du und ich braun geworden sind und sie einen Anfall gekriegt hat. Wir sähen wie Landarbeiter aus, hat sie gesagt.» «Lieber wie Landarbeiter als wie 'n Kadaver.» Mutter hatte das Gefühl, in jedem Lebensabschnitt von irgendwem gesagt gekriegt zu haben, was sie zu tun hatte und wie, und Tante Doney war da keine Ausnahme gewesen. «Vielleicht hatte sie ja nicht ganz unrecht, aber wir waren damals Teenager, und Coco Chanel ersann die Mode, im Sommer Weiß mit Braungebrannt zu tragen. Oh, weißt du noch, das französische Ringelhemd, das ich damals hatte? Blau­weiß gestreift. Ich fand es einfach umwerfend.» «War es auch.» «Drum hab ich's dir auch nie geliehen. Du hättest es sowieso zerrissen oder bekleckert. Juts, du bist manchmal so ungestüm. Wenn man dir beim Tanzen bloß zuguckt, ist man schon ganz erledigt.» «Mutter, wann seid ihr zwei mit Tante Doney und Onkel Jim hier gewesen?» «Ich glaube, das erste Mal war 1912. Hat 'ne Ewigkeit gedauert, die Fahrt. Es gab eine Eisenbahnverbindung, man konnte mit dem Zug nach St. Mary's fahren. Wir sind eine ganze Woche geblieben.» Um mich an etwas zu erinnern, was ich längst wusste, weil ich Geschichte wirklich gern mochte, sagte Tante Louise: «Einige reiche Leute hielten sich Autos als Spielerei. Man fuhr mit der Straßenbahn, mit dem Zug oder mit dem Pferdewagen. Hatte nicht Mrs. Chalfonte das erste Auto in Runnymede?» «Nein, das war ihr Bruder. Der Bruder, der im Krieg gefallen ist», antwortete Mutter. «Im selben Krieg wie PopPop?», fragte ich. «Im selben Krieg», bestätigte Tante Louise. «Ich bete zu Gott, dass es nie wieder einen gibt. Dass es der Krieg zur Beendigung aller Kriege war.» «Denkste.» Mutter ging vom Gas, um eine S-Kurve zu nehmen. Ein Lastwagen mit Holzverschalung an den Seiten, um die Heuladung festzuhalten, schlingerte uns entgegen. «Der Zweite Weltkrieg ist immer noch der Erste Weltkrieg.» Tante Louise sah aus dem Fenster; die lichten Reste des Nebels leuchteten jetzt rosa. «Wieso?» «Die Streitfälle wurden beim ersten Mal nicht geklärt.» Tante Louise, die sich nicht sonderlich für Geschichte interessierte, verfolgte aber die aktuellen Er­eignisse, und dieses waren in ihren Augen aktuelle Ereignisse. «Krieg wird es immer geben. Die Menschen bringen sich nur zu gerne gegenseitig um», erklärte Mutter kategorisch. «Wenn die Völker der Welt Christus annehmen würden, dann wäre es mit Krieg für immer vorbei.» «Tante Wheezie, wie können sie Christus annehmen, wenn sie ihren eigenen Gott haben?» «Sie sind im Irrtum.» Eine Äußerung voller Entschiedenheit und Überzeugung. «Oh.» Ich drängte nicht weiter, vor allem, weil Religionen mich viel weniger fesselten als Pferde, Autos und Geschichte. «Lasst uns wieder in demselben Lokal Mittagessen», schlug Mutter vor. «Das ist eine Dreiviertelstunde von St. Mary's.» Tante Louise meinte den Bezirk an der Südspitze von Süd-Maryland. Die Kleinstadt dort hieß St. Mary's City. «Du hast recht. Okay, Nick, halt die Augen auf, bis du noch mal so ein Schild siehst, da machen wir dann auf dem Heimweg halt und essen. Wir können nicht den ganzen Tag hierbleiben, deswegen sind wir ja so früh losgefahren. Aber ich hab die Bucht so gern, wenn die Sonne aufgeht, wenn die Vögel herumfliegen und sich miteinander unterhalten. Und jetzt im August kommen die Blesshühner reingeflogen, um Rast zu machen.» Blesshühner waren eine eingewanderte Vogelart. Im Winter hielten sich auch andere Vögel in der Bucht auf, alles in allem über eine Million. «Juts, Vögel unterhalten sich nicht miteinander.» Louise schüttelte den Kopf über ihre wunderliche kleine Schwester. «Tun sie wohl. Wir verstehen sie bloß nicht.» Sie atmete ein und wechselte geschwind das Thema, weil Louise mitunter halsstarrig werden konnte und heute jetzt gerade davor war. «Meinst du, Tante Doney könnte die Fahrt schaffen?» «Nach St. Mary's County?» «Ja. Wir könnten ihr den Rücksitz so herrichten, dass sie schlafen kann. Es gibt Rollstühle zum Zusammenklappen.» «Geht nicht. Die kann man im Sand nicht schieben.» Mutter seufzte. «Du hast recht.» Diese Worte waren mehr als alle anderen Musik in Louises Ohren. «Wie alt ist Tante Doney?», fragte ich. «Achtundneunzig», antwortete Louise. «Oh.» Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber ich wusste, dass der mütterlichen Seite unserer Familie in aller Regel ein langes Leben beschieden war. Wir hatten Bibeln, die bis in das Jahr 1620 zurückgingen, und in denen waren in verschiedenen schönen Handschriften die Geburts- und Sterbetage unserer Vorfahren vermerkt. Viele Männer waren im Krieg gefallen, aber die Frauen, die die Kindheit überlebten, schienen nahezu unsterblich. Tante Doneys Bruder lebte allerdings noch. Er hatte im Bürgerkrieg gekämpft, damals war er nicht viel älter gewesen als ich. Auch er saß im Rollstuhl. Das machte mich nachdenklich, und ich fragte mich, ob man zu lange leben konnte. Mutter sah in den Rückspiegel. «Der Junge kann sogar bei einem Gewitter durchschlafen.» Louise senkte die Stimme. «Er schläft viel, seit Ginny tot ist.» Ihre Tochter Ginny war im Februar 1952, vor sechs Monaten, mit dreiunddreißig Jahren gestorben. Leroy hatte viel geweint. Alle hatten geweint, auch Leroys Vater, Marineinfanterist bei der Sechsten Division und Kriegsheld in Okinawa. Das hatte mich erschüttert und geängstigt zugleich. «Kinder sind nicht so leicht unterzukriegen. Er wird drüber wegkommen.» Mutter sah immer alles positiv. «Ich weiß nicht, Juts. Ich will's hoffen. Man muss viel gelebt haben, um den Tod zu verstehen. Er ist erst acht. Stell dir vor, wir hätten Momma mit acht verloren.» «Wir hätten uns gehabt.» Mutter war weit davon entfernt, die Sache zu bagatellisieren. «Aber wir hätten uns sicherlich eine lange, lange Zeit Abend für Abend in den Schlaf geweint.» «Und das arme Kerlchen muss es mit Ken aufnehmen. Wie soll das gehen? Wie nimmt man es mit einem Vater auf, der Träger der Medaille für hervorragende Tapferkeit ist?» «Schwesterherz, Leroy ist nicht der Erste in unserer Familie, der einen Helden zum Vater hat. Seit dem Karfreitagsmassaker war in jedem Krieg und bei jedem Aufruhr einer von uns dabei. Was die konnten, kann er auch.» Das Karfreitagsmassaker hatte sich im Jahre 1622 am James River in Virginia ereignet. «Das ist Chessys Familie, nicht unsere. Das darfst du nie vergessen, Julia» - sie nannte Mutter bei ihrem richtigen Vornamen -, «wir sind Marylander.» «Trotzdem. Immer war irgendwo irgendwer im Krieg. Es wird immer Kriege geben.» Sie schnitt der widersprechenden Louise das Wort ab. «Du weißt selbst, dass nicht einmal alle Amerikaner das Wort Gottes befolgen, warum also sollte es jemand in der Ukraine tun? So ist nun mal der Lauf der Welt.» «Mir wird übel davon.» Louise war es ernst damit. «Ich glaube, mir würde übel, wenn ich es sehen und riechen müsste.» Mutter blickte nach links, nach Osten. Wir näherten uns der Spitze von St. Mary's County, und die Sonne brach genau dort durch, wo sich bei Point Lookout die Chesapeake Bay und der Potomac vereinen. Virginia lag im Westen und das andere Stück von Maryland im Osten. Die Inseln, die sich vom Ostteil Marylands gelöst hatten, waren wie Puzzleteile in der Bucht verstreut. «Du machst mir Spaß.» «Wieso?» «Als du klein warst, hast du immer in die Hände geklatscht, wenn die Sonne aufging. Dann hat Momma gelacht, und du hast weitergeklatscht.» Sie seufzte. «Gibt es was Schöneres als einen neuen Tag?» Mutter strahlte. Cora, ihre Mutter, war 1947 gestorben. Ich war knapp drei. Ich erinnere mich, dass alle geweint haben. Das war meine erste Begegnung mit der Tatsache, dass Menschen die Erde verlassen. Als Nächstes kam, mit gerade mal fünf, ein Cousin an die Reihe, und dann Ginny. Etwas beunruhigte mich. Wenn sie an einen besseren Ort gingen, warum weinten dann alle? Louise kurbelte das Fenster herunter, die noch kühle Luft strömte herein. «Ich weiß, dass die Sonne im Osten aufgeht, aber ich weiß nicht, was sie mitbringt.» «Gute Zeiten.» Mutter strahlte. «Ich weiß nicht.» «Schwesterherz, gute Zeiten.» Mutter lächelte. Als Ginny krank wurde, hatten Mutter und Tante Louise sie gepflegt. Mutter trug die ganze Last von Louises Trauer und trauerte selbst; denn Ginny war ein ausnehmend liebenswerter Mensch gewesen. Sie schwiegen eine ganze Weile, dann atmete Louise tief ein und ließ die Luft langsam ausströmen. «Ich fühle mich allmählich alt.» «Red keinen Quatsch. Du bist keinen Tag älter als zweiundfünfzig.» «Achtundvierzig», lautete die prompte, eiskalte Antwort. «Ha, dass ich nicht lache.» «Du bleibst immer meine kleine Schwester, aber mach mich nicht älter, als ich bin.» Sie rutschte auf ihrem Sitz herum, kurbelte das Fenster wieder hoch; denn draußen war es frisch, obwohl wir August hatten. «Das mittlere Alter ist heikel. An manchen Tagen fühl ich mich wie sechzehn, und an anderen, na ja.» Ihre Stimme verklang. «Ich würd's nicht merken», bekam sie frech zur Antwort. «Ha, dassich nicht lache.» Louise grinste. «Man ist nur so alt, wie man sich fühlt. Kopf hoch.» «Ich versuch's ja, kleine Schwester, aber manchmal schlägt alles über mir zusammen.» Sie schwiegen, dann: «Kann ich mir denken.» Nach einer kurzen Pause fügte Mutter hinzu: «Wir müssen dagegen ankämpfen. Ginnys wegen müssen wir intensiver leben. Wenn du dich aufdonnerst, fühlst du dich besser und jünger, glaub mir.» «Kann sein, aber egal, ob ich mir Creme ins Gesicht klatsche, Falten krieg ich trotzdem.» «Du siehst toll aus.» Mutter schwindelte nicht; denn schöne Haut, die nur langsam alterte, lag in der Familie. Sofern so etwas überhaupt möglich war, strahlte die Haut der Männer sogar noch frischer als die der Frauen. Mutter sagte, durch tägliches Rasieren bleibe die Haut glatt. «Ihr seht aus wie Zwillinge», gab ich meinen Senf dazu. Auch wenn es Mutter freute, dass ich ihre Schwester aufmunterte, warf sie mir einen rasenden Blick zu. Sie war gern die Kleine und wollte nicht als Louises Zwilling durchgehen. «Du bist süß», gurrte Louise. Der Nebel lichtete sich so weit, dass wir die Landschaft sehen konnten, die flach war wie ein Pfannkuchen. Die Spitze von St. Mary's County lag direkt vor uns; der provisorische Parkplatz bestand aus zerstoßenen Muscheln. Der Sand dahinter wurde vom Wind aufgewirbelt, der heute zum Glück nur sanft wehte. Mutter fuhr auf die Muscheln, die Reifen knirschten. Die Sonne stieg über den Horizont. «Froh erwachet jeden Morgen.» Ich schüttelte Leroy. «Aufwachen.» Er machte die Augen auf und rappelte sich hoch. «Guckt mal, die vielen Vögel. Tante Wheezie, ich muss mal.» Mutter stellte den Motor ab, Louise öffnete die schwere Wagentür, machte den hinteren Schlag auf, und Leroy stieg aus. Seine Turnschuhe waren blitzblank, weil er sie mit einem Topfputzer geschrubbt hatte. Leroy hielt seine Sachen ordentlich und sauber, weil sein Daddy verlangte, dass er alles auf anständige militärische Art erledigte. Auch ich musste Ordnung halten. «Herzchen, hier ist kein Mensch, du kannst da drüben machen.» Sie deutete auf die Muschelgrenze. «Schütteln nicht vergessen.» Er wurde knallrot und murmelte: «Ja, Ma'am.» «Ich komm nachgucken», zog ich ihn auf. Mutter legte mir ihre Hand auf die Schulter. «Nickel, das ist gemein.» «Mutter, ich hab schon Regenwürmer gesehen, die waren größer als das da.» «Wann hast du Leroys Schniepel gesehen?» Tante Louises Augenbrauen schnellten hoch bis fast zu ihrem spitzen Haaransatz. «Immerzu. Er muss dauernd aufs Klo.» Ich tat es achselzuckend ab, weil mir die Sache nicht der Rede wert erschien. Mutter dachte eine Weile nach, dann riet sie mir geduldig: «Mach dich nicht lustig über ihn. Jungs, ah», sie überlegte noch ein bisschen, «Jungs sind sehr emp findlich, was ihren Schniepel angeht, auch wenn sie damit angeben.» Louise pflichtete ihr bei: «Sie sind sehr sensibel. Ich hoffe inständig, dass er dich nicht untersucht hat.» Sie betonte «untersucht». «Tante Wheezie, er macht sich überhaupt nichts aus mir. Ich will ihn gar nicht sehen, aber wie gesagt, er geht eben dauernd aufs Klo. Ich weiß nicht, warum. Ich muss nicht so oft wie er.» Sie hörten nicht auf mein Geplapper. Mutter machte den Kofferraum auf. «Ich trag den Korb, wenn du die große Kühltasche nimmst.» Louise griff sich den Korb; es war der, den Dad immer mitnahm, wenn er auf Fasanenjagd ging. Ohne zu klagen, hob Mutter ächzend die Kühltasche mit den Getränken aus dem Kofferraum. Sie wusste, dass Louise zu Rückenschmerzen neigte. «Mutter, Leroy sagt, sein Schniepel tut manchmal weh. Wie kommt das?» «Weil Blut reinschießt.» Das hörte sich schrecklich an. «Muss er zum Doktor?» Die zwei Schwestern lachten, dann sagte Louise: «Nein.» «Ich seh kein Blut.» «Nickel, lass uns das ein andermal besprechen», schlug Mutter vor, was so viel hieß wie Mund halten. Ich konnte nicht widerstehen und sagte: «Bin ich froh, dass ich mit solchen Problemen nichts zu schaffen hab.» «Ich auch.» Mutter ging über den Sand, die Arme zur Balance ausgestreckt wegen der Kühltasche, die schwer war von all den Getränken, wie gesagt. Louise folgte ihr mit dem Korb. «Du wartest auf Leroy, dann nehmt ihr die Decken und meine Tasche mit dem Werkzeug. Wir suchen den idealen Platz.» Ich lehnte mich ans Auto, an die von Leroy abgewandte Seite, und als er pfiff und zurückkam, holte ich die Klempnertasche heraus und schlug den Kof­ferraumdeckel zu. In der Segeltuchtasche befanden sich Kellen, kleine Eimer, ein Messbecher aus Blech, eine Reißschiene, kleine Eisstiele, Buntpapier, Bindfaden, Schere, ein Fahrtenmesser und ein Fläschchen Nagellack. Leroy folgte mir zu der Stelle, wo Mutter und Tante Louise standen, die Augen mit der rechten Hand beschattend. Mutter drehte sich um und bedeutete uns winkend, uns zu beeilen. Als wir dort waren, zeigte Louise aufs Wasser. «Guckt mal.» Ein Schwärm kleiner Fische sprang aus dem Wasser, die Sonne färbte ihre silbernen Leiber rot. Beim Eintauchen wühlten sie das Wasser auf. «Menschenskind.» Leroy hielt die Decke an sich gedrückt. «Die werden wohl von 'nem Hai oder so gejagt.» Mutter erforschte die Natur und kannte Vögel und Vogelstimmen, Tiere, Bäume und Wildblumen. Sie brachte mir das alles bei, dazu die verschiedenen Rufe für Paarung, Revierverteidigung sowie den «Wunschlos-glücklich-Ruf», wie sie das nannte. Leroy drückte die Decke fester an sich. «Ich geh nicht ins Wasser.» «Jetzt sowieso nicht. Sonnenaufgang ist Frühstückszeit für alle Kreaturen, und deine kleinen Zehen sehen so lecker aus», neckte Mutter ihn. «Ich lass die Turnschuhe an», erwiderte er ernst. Louise küsste ihn lachend auf die Wange. «Lieber nicht. Wenn das Wasser sich erst erwärmt hat, passiert dir nichts.» Er nickte, aber es war klar, dass er ihr nicht glaubte. «Wer hat Hunger?» Mutter nahm Leroys Decke und breitete sie aus. Louise breitete meine Decke aus, und Minuten später zierten Schinkenbiskuits, Käse, Apfeltörtchen, gefüllte Eier die Mitte der Decken. Mutter schenkte sich und mir heißen Tee ein. Tante Louise und Leroy bevorzugten Kaffee, sie tranken aus Louises grüner Thermoskanne mit konzentrischen roten Nadelstreifen. Die Kühltasche war vollgepackt mit Coca- Cola und 7-up, weil keiner in unserer Familie längere Zeit ohne das eine oder andere überleben konnte. Gelegentlich, aber nicht oft, kippte Mutter ein Gläschen Whiskey, dem sie eine Coca-Cola folgen ließ. Wenn sie sich einen genehmigte, dann gewöhnlich im Winter, wenn sie nach der Arbeit ins Haus gestapft kam. In unserer Familie gab es keine Trinker, mit Ausnahme von PopPop, der als anderer Mensch aus Verdun zurückgekehrt war. Er war lieb zu mir, er ließ mich bei seinen Jagdhunden schlafen - und auch mit ihnen spielen, aber bei ihnen schlafen, das war das große Los. Mutter und Louise sagten, er war nach dem Krieg nicht mehr derselbe wie vorher. Er trank quartalsweise, und wenn, dann trank er täglich einen Liter Whiskey. Doch in dem Moment, wo er erfuhr, dass ich ihn besuchen kommen würde, hörte er auf. Ich verstand das nicht. Onkel Ken schien nach dem Zweiten Weltkrieg unverändert, zumindest äußerlich. Louise sagte, Ginny habe ihr erzählt, dass er mitten in der Nacht schreiend aufwachte. Das habe ich nie miterlebt. Es war auch irgendwie komisch; denn er war stolz darauf, Marineinfanterist zu sein, sagte aber immer wieder, er wolle nicht, dass Leroy später in den Krieg ziehe. Einmal habe ich zu Onkel Ken gesagt, ich wollte kämpfen. Er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt und mir zugeflüstert: «Das glaub ich gern, aber schlag dir das aus dem Kopf.» Mutter und Louise sprachen über die Herbstmode, die bald in dem Kaufhaus in der Innenstadt zu haben sein würde. Die Farben waren ein wichtiges Thema für Mutter, die Karos mochte, und Tante Louise ließ sich ausführlich darüber aus, welches Karo es genau sein sollte. Weil ich damals den Unterschied zwischen dem McLeod-Clan und dem Schottenmuster des Lamont-Clans nicht kannte, konzentrierte ich mich auf Leroy. «Glaubst du, dass dich ein Hai fressen wird?» «Oder ein Mantarochen?» Seine blauen Augen wurden rund. «Zu weit nördlich.» «Woher weißt du das?», fragte er skeptisch. «Weil ichNational Geographie lese, darum.» Schinkenbiskuitkrümel auf den rosigen Lippen, flüsterte er: «Tante Louise lässt mich das nicht lesen. Nackte Weiber. Ich hab einmal eine gesehen, die hatte Ringe um den Hals, und der war so lang wie bei einer Giraffe. Mit fast nichts an.» Worauf er sich die Hand vor den Mund hielt und kicherte. Ich flüsterte zurück: «Die Ausgabe hab ich auch gesehen.» Mutter hatte mir beigebracht, «Ausgabe» für Zeitschriften zu sagen. Sie legte großen Wert auf die korrekte Bezeichnung aller Dinge und hämmerte sie mir so lange ein, bis ich es richtig machte. «Kuheuter.» Er kicherte lauter. Ich guckte auf meine flache Brust runter und flüsterte lauter: «Wenn mir solche Ballons wachsen, sterbe ich. Wirklich und wahrhaftig, Leroy, ich sterbe.» Wir richteten unsere Blicke auf Mutters und Tante Louises Brüste, die unter ihren Polohemden hübsch in die Augen sprangen. Beide hatten einen leichten Pullover über die Schultern geworfen und gebügelte Shorts an den wohlgeformten Beinen. Die Männer guckten immer auf ihre Beine, drum nehme ich an, sie waren besonders schön. Dann kicherten wir wieder. «Was habt ihr zwei zu kichern?» Mutter schlug mir scherzhaft auf den Kopf. «Nichts», schwindelte ich, und wir lachten noch lauter. Darauf mussten Mutter und Tante Louise auch lachen, und dann lachten wir alle, dabei wussten wir gar nicht mehr, warum. War auch egal. «Juts, weißt du noch, Tante Doneys Badeanzug?» Das entlockte Mutter ein Kriegsgeheul, und sie prustete wieder los. «O Gott.» Sie wischte sich mit einer Serviette über die Augen. «Kinder, Tante Doney hatte einen Badeanzug, der ungefähr von 1880 sein musste, mindestens. Also, das verflixte Stück war aus Wolle. Tante Doney und Onkel Jim hätten sich einen neuen Badeanzug leisten können, aber das ist eine andere Geschichte. Sie ging also ins Wasser ... » «Und darauf schlugen die Wellen ans Ufer.» Tante Louise tupfte sich die Augen ab, weil Tante Doney dick war wie ein Schmalzfass, das einzige Mitglied der Familie, das Fett angesetzt hatte. Mutter lachte wieder, dann kam sie auf die Geschichte zurück. «Sie ist da draußen und paddelt rum, schließlich kommt sie raus. Es war ein richtig heißer Tag, und um die Sache kurz zu machen, der Badeanzug war eingelaufen. Ganze Partien von Tante Doney sind aus den Rändern gequollen. Sie hat einen Tob­suchtsanfall gekriegt, der sich gewaschen hat.» «Hat es gezwickt?», fragte ich. «Ja, und es hat die Blutzirkulation an ihren Beinen und Armen abgeklemmt, deshalb hat Onkel Jim ihr gesagt, sie muss ihn ausziehen, es gab bloß keinen Platz zum Umziehen oder um sich zu waschen. Aber an der Pumpe war ein schöner großer Eimer, und da sind wir hin. Louise und ich mussten Decken halten, damit keiner was sehen konnte, und Tante Doney hat den Badeanzug ausgezogen und sich mit dem Eimer gewaschen. Sie hat gepumpt, gepumpt, gepumpt und sich übergössen. Es gab viel zu waschen. Wir haben die Decken gehalten, und ihr müsst bedenken, wir waren nicht viel größer als ihr jetzt, und unsere Arme wurden schlapp. Onkel Jim ist schnell ihr Kleid holen gegangen. Aber ehe er zurück war, kam von der Bucht ein peitschender Wind auf, und wir konnten die Decken nicht mehr halten, die größer waren als wir selbst. Ihr Lieben, da stand Tante Doney, sie hat gekreischt und gebrüllt und geschworen, dass sie uns auf der Stelle umbringt.» «Ich wusste gar nicht, dass Onkel Jim so schnell rennen konnte.» Louise kreischte vor Lachen. «Wenn sie den Mund gehalten hätte, dann wäre allenfalls ein paar Leuten eine dicke, weiße, nackte Frau an der Pumpe aufgefallen, aber nein, sie musste Zeter­mordio schreien, und der ganze Strand hat das viele wallende Wabbelfleisch zu sehen gekriegt.» Sie lehnten lachend Schulter an Schulter. Wenn die eine sich beruhigte, kam die andere wieder so richtig in Wallung. Sie waren schlimmer als Leroy und ich. Es war schön, Tante Louise lachen zu sehen. «Was hat sie mit euch gemacht?» Leroy, stets auf der Hut vor Strafe, legte seinen Schinkenbiskuit hin. «Wir mussten uns auf die Bank setzen, und sie hat gesagt, wir dürfen nicht in der Bucht schwimmen gehen. Wir sollten an Ort und Stelle sitzen bleiben, bis der Maultierbus vorbeikommen und uns mit zum Bahnhof nehmen würde.» Die Erinnerung ließ Mutter lächeln. «Und? Habt ihr gewartet?» «Na ja ...» Mutter wich aus, weil Leroy und ich nicht wissen sollten, was für ein Teufel sie sein konnte, dabei wussten wir das sowieso, weil sie sich kaum ver­ändert hatte, bloß dass sie jetzt größer war. «Deine Mutter hat jedem gesagt, der vorbeikam, eine böse dicke Frau hätte uns gezwungen, in der sengenden Hitze auf der grünen Bank zu sitzen. Wir würden austrocknen und umkippen. Oh, es war eine mitleiderregende Vorstellung.» Leroy fragte atemlos: «Und dann?» «Ein netter Herr ist zur Polizei gegangen, und der Polizist kam angeritten, um zu sehen, was los war. Juts hat alle Register gezogen, darauf hat er uns zum Bahnhof gebracht, und die Dame am Schalter hat uns sauber gemacht. Wir waren ganz voll Sand, und sie haben uns ein Eis geschenkt.» Tante Louise genoss die Geschichte. «Und sie haben Tante Doney wegen Kindesmisshandlung verhaftet.» Mutter lachte so hemmungslos, dass sie sich an Louise festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. «Es war ein heilloses Schlamassel, sag ich euch, und Onkel Jim musste eine Geldstrafe zahlen, und dann hat er noch mehr gezahlt, damit es nicht in die Zeitung kam. Was für ein Tag.» «Tante Doney hat auf dem ganzen Heimweg nicht mit uns gesprochen, und es war eine lange Zugfahrt, das kann ich euch sagen.» Mutter wischte sich wieder Tränen aus den Augen. «Was hat eure Mama gemacht, als ihr nach Hause gekommen seid?» Leroy war schon so bange zumute, dass er die Schultern hochzog. «Sie hat gelacht und gelacht. Tante Doney war so wütend, dass sie einen ganzen Monat nicht mit ihr gesprochen hat, und Mama hat gesagt, das war eine Wohltat.» Louise stützte sich auf ihre Schwester. «Wir konnten doch nichts dafür, dass plötzlich ein starker Wind aufgekommen ist.» Mutter schob kurz das Kinn vor. «Und wir konnten auch nichts dafür, dass sie so viel Torte und Kuchen gegessen hat. Die Frau konnte futtern wie ein Scheunendrescher. In der Öffentlichkeit hat sie nicht so gefuttert, aber wenn wir unter uns waren, hat sie die Gabel benutzt wie eine Schaufel. Ich hab mir geschworen, nie so auszusehen, wenn ich mich an den Tisch setze.» Um das zu unterstreichen, tupfte Louise sich wieder mit ihrer Stoffserviette die Lippen ab. «Du isst nicht viel, Louise. Dein Tischgebet dauert so lange, dass das Essen kalt wird. Dabei vergeht dir der Appetit», zog Mutter sie auf. «Juts, du bist so ein Philister.» «Was ist ein Philister?», fragte Leroy. Tante Louise zog ihren Pullover aus, weil die Sonne höher gestiegen war und die allmählich feuchte Morgenkälte vertrieb. «Was lernt ihr eigentlich in der St.- Patrick-Kirche? Du weißt nicht, was ein Philister ist?» «Ich bin offensichtlich einer.» Mutters roter Lippenstift betonte ihr Grinsen. «Juts.» Louise schlug ihren schulmeisterlichen Ton an. «Und?» «Jesus konnte die Philister nicht leiden», meldete ich mich zu Wort. «Deine Tante Louise kann sie nicht leiden», sagte Mutter mit einem diabolischen Klang in der Stimme. «Mach du dich nur über mich lustig, wenn dir nichts Besseres einfällt, aber die Kinder müssen was lernen.» Louise wartete einen Moment, während - zumindest in ihrem Kopf - ein Drama seinen Lauf nahm. «Die Philister haben in Südwestpalästina gelebt und mit den alten Israeliten Krieg geführt. Aber wenn man Leute Philister nennt, meint man, sie sind vulgär, gewöhnlich, und sie sorgen sich nur um materielle Dinge.» «Oh, wie Mrs. Mundis.» Ich atmete den Geruch der Bucht ein, der bei Point Lookout leicht salzig war. «Na, na.» Louise klang sehr nachsichtig; denn eigentlich gefiel ihr die Antwort, weil Claudia Mundis mehr Geld hatte als Gott und eifrig darauf bedacht schien, es auszugeben. «Stell dir vor, Schwesterherz, ihr neues Gartenhaus ist fast fertig.» «Sie ist bloß neureich, da dran gibt's nichts zu rütteln.» Tante Louise seufzte. «Lieber neureich als gar nicht reich.» Mutter kramte in ihrer Strohtasche nach einer Chesterfield, wurde fündig, fischte dann ihr Feuerzeug heraus. «Blut spricht.» «Um Himmels willen, Louise, nicht das schon wieder.» «Unsere Familie ist 1634 mit Leonard Calvert in Maryland gelandet. Aus diesem Landeplatz wurde später St. Mary's City, und wir sind hier im Bezirk St. Mary's County.» Tante Louise warf sich in die imposante Brust. «Und es hat mir nie einen Penny in die Tasche gebracht.» Mutter sah nach oben, wo eine Schar Seeschwalben schwirrte. «Ist es nicht wunderbar, dass alle Vögel verschieden sind und jeder Vogel genau richtig ist für das, was er zu tun hat? Ich beobachte sie zu gerne.» Die Hochnäsigkeit der Südstaatler in puncto Abstammung war Mutter verhasst. Dads Familie war 1620 nach Virginia gekommen. Er hat es nicht ein einziges Mal erwähnt, seine Mutter dagegen posaunte diese unsterbliche Mitteilung pausenlos lauthals heraus und weithin vernehmlich. Vielleicht war die Verachtung für Abstammungshochmut eins von den Dingen, die Mutter und Dad verbanden. Gegen halb acht füllte sich der herrliche Strand allmählich. Bunte Schirme wurden in den Sand gesteckt, Decken ausgebreitet, große gestreifte Handtücher zusammengefaltet an die Seite gelegt. Alle schleppten Körbe. Leroy und ich sahen keine Kinder in unserem Alter. Wir wollten nicht mit Babys spielen, schreckliche Vorstellung. Die Teenager dachten dasselbe von uns. «Ich geh schwimmen.» Mutter stand auf, streifte ihre Shorts ab und zog ihr weißes Polohemd aus. Ihr einteiliger Badeanzug in einem schönen Melonenton brachte ihre Figur gut zur Geltung. Nach Mutter drehten sich die Leute um. Sie genoss es sichtlich. «Ich komm gleich nach.» Louise setzte sich einen weichen Strohhut auf ihre Locken. Sie trug gerne Hüte. Ich sprang auf, um hinter Mutter herzusausen, blieb aber stehen. «Komm, Leroy.» «Nein. Haie. Ich hab gesehen, wie die Fische gesprungen sind.» «Ach, das ist schon lange her. Komm mit.» «Nee.» «Hier an Land sind es die Krebse, die dich beißen», drohte ich, und wie zum Beweis ging ich seitwärts wie ein kleiner Taschenkrebs. «Guck, so.» «Lieber ein Krebs als ein Hai.» «Schisser.» «Philister.» Er sprach das große Wort grinsend aus. Das brachte Tante Louise zum Lachen, was Leroy sehr freute. Gerade als Mutter in das noch kalte Wasser stieg, platschte ich an ihr vorbei, sodass sie über und über nass wurde. Sie blinzelte, dann bückte sie sich und bespritzte mich mit Wasser. «Du bist ganz nass, Kind.» «Du auch.» Ich liebte Mutter. Erst in späteren Schuljahren wurde mir klar, dass manche Kinder ihre Mütter oder Väter nicht liebten, 'türlich, wenn man ihre Eltern kennenlernte, verstand man, warum. Sie nahm meine Hand. «Komm.» Wir wateten hinaus, bis ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, aber jedes Mal, wenn eine Welle anrollte, hob sie mich hoch. Als ihr das Wasser bis an den Busen reichte, hielt sie mich mit beiden Händen. «Wie tief ist es, Mutter?» «Wie groß bin ich?» «Ah, zwei Meter.» Sie lachte. «Nickel, dann war ich größer als Dad. Er ist eins achtzig. Versuch's noch mal.» «Eins fünfzig.» «Gut gezielt, Kind, aber nicht ganz getroffen.» Die Chesterfield hing noch in ihrem Mundwinkel, brannte aber schnell herunter. Für mich war Mutters Zigarette ein Modeacces-soire. «Eins fünfundfünfzig.» «Bingo. Also, wie tief ist es? Denk dran, wie groß ich bin und wie hoch mir das Wasser reicht. Streng deinen Kopf an.» «Vielleicht eins zwanzig.» «Vielleicht hast du recht.» Sie lächelte, dann trug sie mich zurück, bis meine Füße den Boden berührten. «Man kann sich fast immer alles ausrechnen, wenn man sich umsieht. Das ist das Dumme bei den meisten Menschen, Herzchen, sie hören auf das, was andere Leute ihnen sagen, oder sie stecken den Kopf in den Sand. Streng deinen Kopf an.» «Daddy sagt immer, » Sie lächelte. «Er steckt voller Sprüche. Meistens hat er recht.» Sie drehte sich um und guckte zum Strand. «Um Himmels willen, da sitzt Louise und schmiert sich ein. Eine einzige Sommersprosse, und sie muss in die Notaufnahme.» «Sie hat keine Sommersprossen.» «Eben.» Mutter ließ meine Hand los. «Ich wollte, ich hätte das Geld, das meine Schwester für Salben und Cremes ausgibt.» «Parfüms, Tante Wheezie hat mehr Parfüms als sonst wer.» «Ja, nicht wahr?» «Wieso sagt sie Philister zu dir?» «Ach, das war nur Spaß. Sie hat's nicht böse gemeint. Ich hätte mich rächen und Pharisäer zu ihr sagen können.» «Die konnte Jesus auch nicht leiden.» Die Bibelstunden waren nicht ohne Wirkung geblieben, trotzdem konnte ich mir nichts unter einem Pharisäer vor­stellen; das Wort hatte ich aber schon gehört. So wie ich das Wort «Eucharistie» gehört hatte und nicht recht wusste, was es bedeutete. «Heuchler. Ein Pharisäer ist ein Heuchler, der in der Öffentlichkeit laut betet und dann, wenn keiner hinguckt, macht, was er will.» «Ist Tante Wheezie wirklich ein Pharisäer?» «Hm ... nein, aber sie versucht wahrhaftig, allen Leuten die Bibel hinzureiben, dabei ist sie beileibe nicht vollkommen. Seit Ginnys Tod ist sie zur frommen Eule mutiert.» Mutter sah mich an, legte mir dann die Hand auf die Schulter. «Es ist furchtbar, eine Tochter zu verlieren. Ich bemühe mich, daran zu denken, wenn ich wütend auf sie bin oder wenn sie katholischer sein will als der Papst.» Sie wölbte die Hände, schöpfte klares Wasser, öffnete dann die Hände und sah zu, wie es wieder in die Bucht fiel. «Zeit. Mit der Zeit wird sie den verflixten Jesus aufgeben.» «Mutter, du weißt doch, wenn du neben mir kniest, wenn ich meine Gebete aufsage?» «Ja?» «Ich will das eine Gebet nicht mehr aufsagen.» «Das Vaterunser?» Das überraschte sie. «Nein. Ich will nicht mehr beten, .» «Wie ist das bei Dinny Morton? Ihre Momma säuft, und man riecht es ihr an.» Den letzten Happen verabreichte ich mit geweiteten Augen. «Das ist schwierig. Schwierig.» Sie zündete sich die nächste Chesterfield an. «Aber wenn Dinny größer ist, wird sie verstehen, warum Rachel», sie nannte Mrs. Morton beim Vornamen, «diese Schwäche hat. Trunksucht ist ein furchtbarer Fluch. Rachels Vater war Trinker und sein Vater auch, und ich vermute, sie sind immer Trinker gewesen. Freilich hält einem niemand eine Pistole an den Kopf und sagt, Ich versteh nicht, wie die Leute den Geschmack ertragen.» Sie zog die Mundwinkel nach unten. «Einfach grässlich.» «Weihnachten hast du Sekt getrunken.» «Ein Schlückchen. Sekt ist nicht so schlimm, aber ich mag den Geschmack nun mal nicht. Und dein Vater trinkt auch nicht viel. Ein kaltes Bier, wenn's heiß ist, und damit hat es sich auch schon bei ihm. Ich sag dir was, ich danke dem lieben Gott dafür. Mit einem Trinker verheiratet sein ist die reinste Hölle.» «Und das Abendmahl? Da gibt's Wein.» «Ein Schlückchen. Auch ziemlich grässlich.» «Glaubst du wirklich, das ist das Blut Christi?» Louise hatte mir von der Wandlung erzählt, ihre persönliche, atemberaubende Version des Sakramentes, die sich in meinen Ohren nach Kannibalismus anhörte. «Nein.» «Und warum nimmst du's dann?» «Um des lieben Friedens willen. Manchmal, Herzelchen, muss man mitlaufen, um mitzukommen. Der Trick ist, rauszukriegen, wann und wo du damit durchkommst, einfach du selbst zu sein.» Sie genoss einen langen, tiefen Zug. «Ich sag dir was, mein kleines Ebenbild, man selbst zu sein ist der allergrößte Luxus.» «Da ist sie.» Ich sprang auf, als der Nash am Strandrand hielt. «Siehste. Sie kann nicht ohne mich leben.» «Sag ihr das lieber nicht.» Sie stand auf, klaubte ihre Sachen zusammen, gab mir ein paar davon zum Tragen. «Du hast einen klugen alten Kopf auf deinen jungen Schultern. Manchmal staune ich über dich.» Sie warf sich das kurze Handtuch um den Hals. «Tu einfach, als war nichts gewesen. Steig auf den Rücksitz und schweig still. Sie wird sich ein bisschen abregen wollen, und sie will, dass wir das Ausmaß ihrer Vergebung würdigen.» Ich tat wie geheißen. Auch Leroy verhielt sich still. Die größte Überraschung war, dass keine Schwester etwas zur anderen sagte, bis wir zu dem Restaurant kamen, einer verwitterten Schindelhütte, davor das allgegenwärtige weiße Schild mit dem großen roten Krebs; in diesem Fall hing er an einer Rahnock. Im Freien waren - ordentlich unter Zeltbahnen - hölzerne Picknicktische aufgestellt, von denen die meisten besetzt waren, auf dem Parkplatz aus zerstoßenen Muscheln gab es kaum noch Lücken. Louise parkte, stieg aus, öffnete den Kofferraum, nahm ihr kleines Handtuch heraus, faltete es akkurat zusammen und legte es auf den Fahrersitz. Dann kam sie zurück und holte eine kleine Tragetasche heraus. «Ich geh mich umziehen. Du kannst für mich bestellen.» «Okay. Ich zieh mich um, wenn du wiederkommst.» «Und ich?», fragte ich; denn ich mochte nicht im Badeanzug herumsitzen, auch wenn er fast trocken war. «Lass uns zuerst gehen, danach kannst du dich schön machen.» Als wir drei uns an einen Tisch in der hinteren Reihe gesetzt hatten, nahm Mutter den Steinbeschwerer auf und reichte uns die darunterliegenden Speisekarten. Leroy und ich konnten eine einfache Speisekarte lesen. Wenn sie französische Wörter enthielt, waren wir hilflos. Aber diese, ein täglich neu geschriebenes und vervielfältigtes Blatt Papier, hielt sich ans Allgemeine: Krebse, Scholle, Muscheln, Austern, Krautsalat, Pommes frites, Maisbrot sowie Hühnchen oder Hot Dogs für diejenigen, die keine Meeresfrüchte mochten. «Kleine Krebse fressen sich gegenseitig. Wenn sie groß sind, fressen sie tote Menschen», teilte ich Leroy bereitwillig mit. «Gar nicht wahr.» «Sie rupfen ihnen die Augen aus dem Kopf, dann fressen sie die Nase und reißen große Happen aus den Backen. Sie haben tote Menschen einfach zum Fressen gern. So was Leckeres.» «Nickel», sagte Mutter nur. «Es ist wahr.» «Ist das wahr, Tante Julia, ja?» «Also, das mit den Menschen würde ich nicht unterschreiben, aber es stimmt insofern, als Krebse und Hummer die Säuberungspatrouille der Bucht sind.» «Dann fressen sie keine toten Menschen?» Seine Stimme war leise. «Na, Leroy, was meinst du, wie viele tote Menschen gibt es in der Chesapeake Bay?» Sie hoffte, ihn ein wenig aufzuheitern. Wieder zeigte ich mich sehr entgegenkommend. «Tausende. Millionen. Wir wissen nicht, wie viele Indianer hier ertrunken sind, bevor wir kamen.» «Nickel, halt den Mund, ja?» Mutter sagte selten «halt den Mund». Sie wandte sich an Leroy: «Hör nicht auf sie. Deine Cousine liebt nichts so sehr wie Geschichten vom Krieg oder von Schiffsuntergängen. Sie hat ein Faible für Gewalt.» Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu, und da wusste ich, dass, wenn ich mein ungeratenes Gerede fortsetzte, sich die Gewalt gegen mich richten würde. Louise erschien strahlend in einem rückenfreien Oberteil und gebügelten weißen Shorts. Die blassgelben Espadrilles waren auf das Oberteil abgestimmt, und sie hatte ihr Haar mit einem marineblauen Band zusammengebunden. Sie sah knackig aus wie immer. «Jetzt bin ich dran.» Mutter ging. «War die Bedienung schon da?» «Nein, Ma'am», antwortete ich. «Ist ziemlich voll hier.» «Die besten Lokale sind immer voll.» Louise studierte das mit blassrosa Tinte geschriebene vervielfältigte Blatt. «Ich nehme Soft Shell Crabs mit Pommes frites und die größte Coca-Cola der Welt. Was möchtet ihr?» «Hot Dog», sagte Leroy leise. «Ist das alles?» «Er hat Angst, Krebse zu essen», gab ich ungefragt meinen Kommentar ab. «Schade. Warum, Leroy?» «Ich hab keine Angst. Ich mag keine Krebse.» «Er weiß, dass sie tote Menschen fressen.» «Die, die du zu essen kriegst, bestimmt nicht», erklärte sie schlagfertig. «Wie kannst du das wissen? » Leroy war wirklich bange bei der Vorstellung, wie ein Krebs Menschenaugen ausrupfte. «Ich kann's eben», lautete die nicht gerade überzeugende Antwort. «Ich möchte ein Hot Dog mit Senf und eine Coca-Cola.» «Leroy, die Chesapeake Bay ist berühmt für ihre Soft Shell Crabs. Vor nächstem Sommer wird sich dir keine Gelegenheit mehr bieten, welche zu essen. Die Saison beginnt beim ersten Vollmond im Mai und endet im September. Wir haben bald September.» «Tante Wheezie, ich möchte ein Hot Dog. Ehrlich.» Er machte den Mund so fest zu, dass nur noch ein Strich zu sehen war. «Hühnchen», flüsterte ich, um ihn noch mehr zu quälen. Er wollte mir antworten, ließ es aber bleiben, weil Louise sagte: «Hühnchen? Sag bloß, du willst auch keine Soft Shell Crabs? Wie war's dann mit Austern? Voriges Jahr hat man zweieinhalb Millionen Austern aus der Bucht geholt. Aber dieses ist auch ein gutes Jahr. Na komm. Austern? Soft Shell Crabs?» «Also ...» «Hühnchen. Nickel mag Hühnchen so gerne.» Leroy lächelte. «Na gut.» Sie fand sich mit unserem Eigensinn ab. Die Bedienung erschien, Louise bestellte, dazu Krautsalat, Pommes frites und Brötchen. Mutter kam zurück. «So, Kind, jetzt bist du dran. Geh ans Auto und hol deine Sachen aus dem Kofferraum.» Ich war heilfroh, endlich aus dem Badeanzug zu steigen, den ich nicht leiden konnte, mich abzutrocknen, ein sauberes T-Shirt und Shorts anzuziehen, meine Füße abzuwischen und in Baumwollsocken und meine Turnschuhe zu schlüpfen, die nicht so blank waren wie Leroys. Als ich zurückkam, stand das Essen, das über die Ränder der Pappteller quoll, auf dem Picknicktisch. An Krebsbuden und in Strandlokalen gab es gewöhnlich Pappteller, Wegwerfgeschirr, um dem Personal Zeit zu sparen. Es sparte auch Geld. Man brauchte nur die Töpfe und Pfannen zu spülen und die Holztische mit einem dicken Kratzer und heißem Wasser zu schrubben. Mutter und Louise zerteilten ihre Krebse. Die vielen Beine, es sah irgendwie widerlich aus. Die kleinen toten Stielaugen waren mir unheimlich, aber vor Leroy ließ ich mir das natürlich nicht anmerken. Als wir fertig gegessen hatten, kam der Besitzer, ein gutaussehender junger Mann, an unseren Tisch. «Hat's geschmeckt, Herrschaften?» «Köstlich.» Louise lächelte ihn an. Seine Haare waren gewellt und sonnengebleicht, und sein gebräuntes Gesicht stach von den weißen Zähnen ab. «Das waren die besten Soft Shell Crabs, die ich je gegessen habe», erklärte Mutter. Er blieb noch ein bisschen und flirtete mit Mutter -das taten die Männer häufig. Dann ging er. «Wieso sprechen die Männer immer mit dir?» Leroy faltete sorgsam seine Serviette zusammen. Er war sich nicht bewusst, dass eine solche Frage Louises Gefühle verletzen könnte. «Oh, ich tu so, als würde mich alles interessieren, was sie sagen. Das ist das ganze Geheimnis bei Männern.» Sie nahm Leroys Teller und Serviette. «Im Grunde ist es das ganze Geheimnis bei allen Menschen. Zuhören.» «Ich hör nicht auf Nickel. Sie ärgert mich immer.» Er sah ernst von Mutter zu Louise. «Sie hat gesagt, wenn ich meine Hose auszieh, kommt ein großer Vogel angesaust und packt meinen Pimmel.» «Nickel?» Mutter nahm auch meinen Teller. «Ist doch wahr.» «Wieso?» Louise machte sich ebenfalls ans Zusammenräumen. «Weil der Vogel denkt, Leroys Schniepel ist ein saftiger Wurm.» Louise runzelte die Stirn. «Ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht, aber so was darfst du nicht sagen. Das gehört sich nicht.» «Ja, Ma'am.» Leroy freute sich hämisch. Als Mutter aufstand, hatte sie unsere Teller noch nicht zusammengeknüllt. Ich schnappte mir eine große Schere von dem Krebsgerippe. Verstohlen hielt ich sie Leroy vor die Augen. «Hat einem toten Mann das Auge rausgerupft.» Schreiend schlug Leroy meine Hand weg, sodass die Krebsschere hochflog und dann auf den zerstoßenen Muscheln landete. «Gar nicht wahr.» «Hm-m-m, lecker.» «Lass mich in Ruhe.» Die zwei Schwestern, die es gewohnt waren, dass Kinder zwischen Tränen, Lachen und Wut hin und her schnellten, ließen uns gewähren, zumal die Kabbelei erstarb, sobald sie uns ansahen. Als Leroy zum Auto lief, hob ich die Schere auf; weder Mutter noch Louise hatten sie fallen gesehen. Ich wischte sie ab, wickelte sie in eine Serviette, die auf einem anderen Tisch gelegen hatte, und steckte sie heimlich in meine Shortstasche. Im Auto setzte Louise sich auf das zusammengefaltete Handtuch, ließ den Motor an, der einen starken Klang hatte. «Juts, lass uns kurz zurückfahren und gucken, ob unsere Burg noch steht.» «Klar. Wenn wir nur um sieben zu Hause sind.» «Wenn's keinen Unfall gibt, sollten wir das schaffen.» Louise parkte aus und fuhr noch einmal in Richtung Point Lookout. Die kleinen Schindelhäuser, die meisten ein Stück von der Straße zurückgesetzt, wurden weniger, je näher wir dem Point kamen. Jedes Haus zierten gestrichene Blendläden, Beweise für die Stürme, die von der Bucht hereinbrausten. Die Leute verließen allmählich den Strand, weil die Schatten länger wurden. «Leroy, ich möchte, dass du die Badehose ausziehst, bevor wir nach Hause fahren. Wasch dich und zieh deine Shorts an, ja?» «Ja, Ma'am. Wenn wir von der Burg zurückkommen.» Die Burg stand noch, kein Wimpel fehlte. «Was sagt man dazu?» Mutter berührte Louises Hand. «Das ist unsere schönste.» «Das sagst du jedes Jahr.» Mutter hakte Louise unter. «Komisch. Wie viele Sandburgen haben wir wohl gebaut, seit wir Kinder waren? Es vergeht so schnell, Juts, so schnell.» «Ich weiß.» «Das macht mir Angst.» «Mir auch.» So standen sie da, als Leroy sich hinkniete, um die Zugbrücke zu betrachten. «Du kannst sie hochziehen und runterlassen, aber sei vorsichtig. Du musst es mit der Hand machen, weil ich keine Winde gebaut habe», sagte Mutter zu ihm. Ich kniete mich neben ihn. Er schob die Fingernägel unter den oberen Teil der Zugbrücke und ließ sie herunter. In der Burg hatte sich ein kleiner Krebs im Sand eingegraben. Wir hatten es nicht gemerkt, aber er hatte auch nicht auf sich aufmerksam gemacht. Die herabgelassene Zugbrücke störte ihn auf, er huschte seitwärts drüber und krabbelte über Leroys Hand. Er schrie und kippte nach hinten, und der kleine Krebs kippte mit ihm um und flitzte in seine Badeshorts mit den weiten Beinen. «Uu-uu», brüllte Leroy mit Tränen in den Augen. Ich beachtete ihn nicht und dachte nur, er stellt sich an wie ein großes Baby, weil er nach hinten gekippt ist. Wie kann er sich im Sand wehtun? Er schrie jetzt richtig laut. Mutter und Louise kamen, um ihn aufzuheben, aber er hielt seine Badehose fest. Mutter kniete sich hin. «Leroy, was ist?» «Uu-uu.» Louise kniete sich jetzt auch hin und zog an seinem Hosenbund. «Julia, ein Krebs hat sich an ihm festgeklammert.» Die zwei zogen ihm schnell die Badehose aus. Der Krebs, der vermutlich genauso verstört war wie Leroy, hielt seinen Schniepel in der Schere und machte keine Anstalten loszulassen. Mutter packte den Krebs von hinten, den Daumen am Bauch, den Zeigefinger auf dem gelblichen Panzer mit dem blauen Rand. «Schwesterherz, sieh zu, ob du die Schere aufstemmen kannst.» Louise griff nach der Schere, aber der Krebs wedelte drohend mit der großen anderen. «Nickel, reiß einen Wimpel aus der Sandburg. Mach schon!» Ich gehorchte und reichte ihr den Eisstiel mit dem Buntpapier. Sie hielt ihn vor den Krebs hin, der danach schnappte. «Soll ich es machen, und du hältst den Krebs fest?», fragte Mutter Louise. «Nein, ich glaube, ich kann's.» Leroy weinte und schluchzte so heftig, dass er nicht mal mehr schreien konnte. Louise legte die Finger an beide Seiten des Krebses. «Verdammt. Nickel, noch einen Wimpel.» Ich holte einen. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. «Herzchen, du musst den Eisstiel in dem Moment in die Schere stecken, wenn sie loslässt», befahl Mutter. Endlich hatte Louise die Schere aufgestemmt, und ehe der Krebs sie kneifen konnte, steckte ich den Eisstiel zwischen die Zangen. Das kleine Tier schnappte nach dem Stiel, just als Mutter es in den Sand warf, wo es seitwärts mit zwei bewimpelten Eisstielen davon-rannte. Es wäre lustig gewesen, wenn Leroy nicht so gelitten hätte. «Herzchen, Herzchen, nimm die Hände weg.» Sachte versuchte Louise, seine Hände von seinem Penis zu ziehen, nachdem der Krebs entfernt war. «Nein.» «Leroy, tu, was man dir sagt.» Louises Stimme wurde strenger. «Mit so was ist nicht zu spaßen.» Er krümmte sich zusammen und nahm die Hände weg. Mutter sagte: «Gott sei Dank hat sie ihn nicht durchgeschnitten, aber sie hat ihn ganz schön geritzt.» «Er wird anschwellen, und es wird wehtun. Juts, wir tragen ihn zum Auto, und lass uns sehen, dass wir Eis auftreiben.» «Ich kann laufen.» Er weinte, und er konnte kaum stehen, als sie ihm aufhalfen. «Gib mir meine Badehose.» «Ist ja gut. Ist ja gut.» Sie gab ihm die Badehose. Als er mit einem Bein einstieg, fiel er vornüber. «Ich lauf zur Dusche und mach ein Handtuch nass. Wir können ihn abreiben», erbot ich mich. «Mach schnell.» Mutter bückte sich, um Leroy erneut aufzuhelfen. «Ich laufe.» Er ging mühsam an Louises Hand. Ich war schon an der Pumpe, als sie hingefahren kamen. Mutter half Leroy aus dem Auto. Sie rieb seinen Schniepel ab, machte das Handtuch wieder nass, wischte ganz schnell den Sand weg. Im Nu waren wir wieder im Auto, Louise fand eine Tankstelle, wo draußen ein Eisbereiter stand. Sie kaufte einen Beutel Eis, legte ihn in ihren Eimer und rannte wieder zum Auto. «Nickel, hol ein kleines Handtuch aus dem Kofferraum.» Ich holte es, die Schwestern legten ihm ein Handtuch unter, wickelten dann Eiswürfel in das andere Tuch, das ich ihnen brachte. «Du musst es auf dich draufhalten, auch wenn es nach einer Weile vor Kälte pumpert», sagte Louise in strengem Ton. «Wenn das Eis geschmolzen ist, tut Ni­ckel neues ins Handtuch. Mach, was ich dir sage, dann ist bald alles wieder gut.» Er nickte. Mutter reichte ihm das Handtuch. «Halt es genau da drauf, wo der Krebs dich gepackt hat.» Als wir losfuhren, sah Mutter auf die Uhr. «Wir sind nicht mehr rechtzeitig zurück, um ihn noch zum Arzt zu bringen.» «Ich hoffe, er braucht keinen, aber wenn's schlimm aussieht, werde ich Doktor Ferguson bitten vorbeizukommen. Bei so was darf man kein Risiko eingehen.» «Die Scheren sind scharf. Der verflixte kleine Krebs hätte glatt einen Hoden abzwicken können, wenn er richtig zugepackt hätte», stellte Mutter lakonisch fest. «Tatsächlich?» Die schauerliche Vorstellung reizte mich. «Geht's einigermaßen, Leroy?» Mutter schenkte meiner Bemerkung keine Beachtung. «Tut weh.» «Es wird noch eine Weile wehtun.» Mutter wandte sich an Louise. «Wir könnten ihm ein halbes Aspirin geben.» «H-m-m, jetzt noch nicht. Ich geb Kindern so 'n Zeug nicht gerne.» «Wir könnten ihm ein Kinder-Aspirin geben.» «Dann müsste ich ganz bis Leonardtown fahren, das würde uns eine Stunde kosten.» Louises Hände fassten das Steuerrad schräg links oben und rechts unten. «Es ist jetzt wichtiger, dass wir nach Hause kommen.» Mutter sprach die Zauberworte: «Du hast recht.» Kurz darauf sagte sie leise, aber ich strengte mich an, um es mitzukriegen: «Ich glaube, Adern sind keine verletzt. Es blutet ein bisschen, aber ich glaube nicht, dass sie eine Ader erwischt hat. Dann würde es stärker bluten.» «Wollen wir's hoffen.» «Nach einer Verletzung werden sie krumm.» «Ich weiß. Marie sagt, als Bill sich das Becken gebrochen hatte, ist sein gutes Stück nicht mehr gerade geworden. Wie kommt das? Warum hat ein Becken­bruch Folgen für sein gutes Stück?» Louise erinnerte sich an ein Gespräch mit einer Freundin. Mutter sah aus dem Fenster hinüber zu einer schönen, kleinen weißen Kirche in der Ferne. «Ich weiß nicht. Wir meinen, die Männer sind unkompliziert, zumindest, was ihr gutes Stück betrifft, aber ich bin mir da nicht so sicher. Anscheinend gibt's da eine Menge Probleme in diesem Bereich. Bill ist nicht der Einzige. Weißt du noch, wie Tommy Lavery weggesackt ist, und dann ist er zu sich gekommen und musste kotzen? Wir dachten, es war Blinddarmentzündung, dabei hatte sich eine Röhre an seinen Hoden verdreht, aber die Schmerzen hatte er im ganzen Unterleib.» Mutter schüttelte den Kopf. «Muss einfach schrecklich gewesen sein.» Ich tat, als hörte ich nicht zu. Das Eis war geschmolzen, ich wrang das Handtuch im Eiseimer aus, nahm neue Würfel, wickelte sie ein und gab Leroy das Handtuch. «Meistens sieht man ja, wenn da unten was nicht stimmt», erwiderte Louise. «Aber manchmal sieht man's eben nicht, 'türlich, wenn wir Frauenprobleme haben, sieht man auch nichts.» «Wir beide haben auf diesem Gebiet großes Glück gehabt, du und ich.» Sie wechselte das Thema. «Weißt du noch, wie wir Teenager waren, und alles passierte auf einmal? Wie du mit einem anderen Körper aufgewacht bist? Urplötzlich waren Brüste da.» Louise lächelte. «Gott, ich möchte das nicht noch mal durchmachen müssen, nicht um alles in der Welt.» «Aber hast du je daran gedacht, wie es bei den Jungs ist? Keine Kontrolle. Ihr gutes Stück steht zu den unmöglichsten Momenten. So was Peinliches.» «Aber wir haben uns alle köstlich darüber amüsiert, hab ich recht?» «Ich bin nicht hundertprozentig sicher, ob sie es jemals voll unter Kontrolle haben. Ab einem bestimmten Alter funktioniert's nicht mehr richtig, oder es steht ihnen und erschlafft dann auf dir drauf.» Louise hob eine Augenbraue. «Hat Chessy», das war Dads Name, «Probleme?» «Nein. Aber man hört schon mal von so was.» «Oh.» Sie verfielen in ein Gespräch über ihre Freundinnen und deren Ehemänner. Ich schaltete ab. Leroy war eingeschlafen. Die Stille auf dem Rücksitz schreckte Mutter auf. Sie drehte sich um. «Er schläft.» «Das sehe ich.» Sie erhob sich halb, kniete sich auf den Sitz und lehnte sich zu uns. «Halt das Eis noch eine Weile auf ihn. Wenn alles geschmolzen ist, kannst du es wegnehmen. Das müsste helfen.» «Ich fass ihn nicht an.» «Nickel.» Allein die Art, wie sie meinen Namen sagte, ließ mich das Gesicht verziehen. Ich langte hinüber, weil seine Hand weggerutscht war, legte das kleine Handtuch wieder an Ort und Stelle und hielt es dort eine Weile, während ich auf eine furchtbare zukünftige Rache sann. Das Eis schien im Schneckentempo zu schmelzen. Mein linker Arm war ermattet vom Gestreckthalten, und die ganze Prozedur war mir verhasst. Von Zeit zu Zeit drehte Mutter sich um. «Es ist fast geschmolzen», log ich. «Warte, bis es ganz weg ist.» Ich muss wohl etwas fester als nötig gedrückt haben, denn Leroy wachte wimmernd auf. Ich zog meine Hand zurück, als hätte ich sie verbrannt. «He.» Er war genauso erschrocken wie ich. «Mutter hat gesagt, ich muss das machen», erklärte ich schnell. Mutter drehte sich herum. «Jawohl. Leroy», es folgte eine lange Pause, «wir wollen sichergehen, dass dir nichts fehlt. Dass alles in Ordnung ist. Du wirst es uns danken, wenn du verheiratet bist.» «Ich heirate nie.» Er legte seine Hand auf das Handtuch. «Ich auch nicht.» Ich verschränkte die Arme. «Tut es noch weh?», fragte Louise, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. «Es ist kalt.» «Pumpert es?», hakte Louise nach. «Weiß nicht.» «Wie kannst du das nicht wissen?» Ich kicherte. «Weil ich nichts fühlen kann. Es ist zu kalt. Die Kälte tut weh.» «Dann tu das Handtuch für eine Weile weg, und wenn es anschwillt oder richtig zu pumpern anfängt, legst du das Eis wieder drauf.» Zu mir sagte Mutter: «Pass auf, dass er's tut, Nick.» «Mom, ich will nicht...» Ich sprach nicht zu Ende. «Ich mach's schon. Ich schlaf nicht ein.» Er beugte sich zu mir und flüsterte: «Wenn du meinen Pimmel anfasst, bist du tot.» «Vorher mach ich dich tot. Ich will den blöden Wurm nicht anfassen, und außerdem war da ein Handtuch drauf. Ich hab dich nicht richtig angefasst, Leroy.» «Das sagst du.» Ich wollte ihm schon eine knallen, als mir einfiel, dass er irgendwie behindert war, deshalb verschränkte ich die Arme wieder und sah aus dem Fenster. «Hört mal, ihr zwei, wir haben eine lange Fahrt vor uns. Ich will keinen Mucks mehr hören.» Louise schüttelte den Kopf wie immer, wenn sie sich über uns ärgerte. Endlich war das Eis geschmolzen, Leroy nahm das Handtuch weg und sah an sich herunter. Er legte das Handtuch in den Eimer und bedeckte sich mit den Händen. Mutter beobachtete die Bewegung. «Und?» «Geht schon wieder.» «Ist es geschwollen?», setzte sie die Befragung fort. «Nein.» «Leroy, wie sieht es aus?» Louise war mit ihrer Geduld am Ende. «Ist ein bisschen geritzt, aber nicht geschwollen.» «Ist es verfärbt?», wollte Louise wissen. «Ah.» Er wurde verlegen. «Wheezie, er hatte das Eis drauf, drum ist es vielleicht ein bisschen blau.» Die Antwort, die Mutter ihrer Schwester gegeben hatte, veranlasste Leroy, auf seinen Schniepel zu gucken. «Farbe kommt wieder.» «Damit kommen vielleicht auch Schmerzen wieder.» Dann witzelte Mutter: «Herzchen, wir wollen, dass das gute Stück funktioniert. Meine Schwester kann's nicht erwarten, Urgroßmutter zu werden.» Da Louise mit sechzehn geheiratet hatte, Ginny ein Jahr später geboren worden war und auch mit sechzehn geheiratet hatte, standen die Chancen gut, dass Louise lange genug unter uns weilte, um ihre Urur-enkelkinder zu erleben, sofern in der Familie weiterhin so jung geheiratet wurde. Mutter dagegen hatte mit dem Heiraten bis Mitte zwanzig gewartet, weil sie es nicht eilig hatte, sich zu binden. Ihre grenzenlose Vergnügungssucht brachte Louise auf die Palme. Und der Trauring aus Platin führte auch nicht zu der Gesetztheit, die Louise sich davon erwartet hatte. Vielmehr stürzte Mutter sich nun erst recht ins volle Leben, und als ich erschien, stürzte sie mich mit hinein. Ich war vermutlich das einzige Kind im Staate Maryland, das froh war, abends ins Bett zu kommen. Ich brauchte die Ruhe. «Ich heirate nicht.» Leroy wiederholte seine Erklärung von vorhin mit mehr Nachdruck. «Das werden wir sehen.» Louise sprach mit jener Singsangstimme, die wir nicht ausstehen konnten. «Nie, nie! Ich will keine Kinder. Ich will meine Mutter!» Sein Gesicht glühte hochrot. Mutter sagte besänftigend zu ihm: «Das tun wir alle, Herzchen, das tun wir alle.» «Der Herr hat's gegeben, und der Herr hat's genommen», sagte Louise. «Warum? Warum, Wheezie?», schrie er. «Warum hat er Momma genommen, wenn er alte Leute nehmen kann? Alles, was der liebe Gott macht, stirbt.» Verstört durch seinen Ausbruch und seinen Kummer, quetschte ich mich dicht an die Tür. «Wheeze, halt an», befahl Mutter. Louises hübsche Gesichtszüge drückten Verblüffung aus. Sie hielt an. Mutter stieg aus und machte die hintere Tür auf. Hätte ich mich nicht am Türgriff fest­gehalten, wäre ich an den Straßenrand geplumpst. «Nickel, komm nach vorne», befahl Louise leise. «Ja, Ma'am.» Mutter klopfte mir auf die Schulter; ich latschte vor, stieg auf den Beifahrersitz und machte die Tür zu. Sie schloss die hintere Tür, rutschte neben Leroy und nahm ihn in die Arme. Er barg das Gesicht an ihrem weichen Busen und schluchzte sich die Seele aus dem Leib. Louise fuhr wieder los. Als ich mich umdrehte, weinte Mutter auch, und deswegen, und wegen allem, musste ich auch weinen. Louise, die Tränen in den Augen hatte, sagte sanft: «Nickel, manchmal kommt uns der liebe Gott grausam vor. Wir können es nicht verstehen. Man muss glauben, und man muss stark sein. Nur die Starken überleben.» «Ja, Ma'am.» Louise schluckte schwer und griff mit ihrer rechten Hand nach meiner linken. Sie drückte sie fest und gewann dabei ihre Fassung wieder. Als ich mich das nächste Mal umdrehte, war Leroy an Mutters Busen eingeschlafen, der von seinen Tränen durchnässt war. Sie drückte das Handtuch auf seinen Schniepel, aber es war kein Eis drin. Sie lächelte mir zu, legte jedoch den Finger an den Mund. Ich lächelte zurück. Ich blieb wach wie meistens im Auto, weil ich in der ständigen Angst lebte, etwas zu verpassen. Ich blickte gern auf die Felder mit den Massen von Rindern und versuchte sie zu zählen, bevor sie außer Sicht waren. Häuser, Kirchen, Geschäfte, Verkehrsschilder, Farben, große Bäume, alles faszinierte mich. Manchmal konnte ich sogar Vögel im Flug erkennen oder einen großen Rotschwanzbussard auf einem Baum hocken und aufs Abendbrot warten sehen. Ich sprach kein Wort, bis Louise uns zu Hause absetzte und Leroy aufwachte. Als er wach war, gab Mutter ihm einen Kuss und zog ihm die Hose hoch. «Es wird alles wieder gut.» Er schlang die Arme um sie. «Leroy, komm her zu mir», sagte Louise. Er machte die Autotür auf und ging nach vorne, hielt dabei die Beine gespreizt, sodass er einen komischen Gang hatte. Ich gab ihm auch einen Kuss. Auf dem Weg zur Hintertür fiel mir die Schere in meiner Shortstasche ein, und während Mutter vorausging - sie lief immer so schnell -, warf ich die Schere weg. Dad hörte die Tür aufgehen und kam in die Küche. Er gab Mutter einen dicken Kuss und mir auch. Dad umarmte und küsste gern, aber besonders gern küsste er Mutter. «Na, wie war's?» «Chessy, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.» Aber ich wusste es. «Daddy, ein Krebs hat Leroys Schniepel gezwickt!» Dads schöne blaue Augen wurden groß. An Mutter gewandt sagte er: «Hoffentlich war's ein weiblicher Krebs.» Jetzt, da ich dies aufschreibe, bin ich vierzehn Jahre älter, als Mutter und Dad damals waren. Sie sind alle tot. Louise ist hundert Jahre alt geworden, sofern man ihrem Geburtsdatum Glauben schenkte. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie die hundert ein gutes Stück überschritten hat. Leroy und ich haben unser Versprechen gehalten. Wir haben beide nicht geheiratet. Er wurde Marineinfanterist wie sein Vater. Er ist in Vietnam gefallen. Louise hat die Flagge aufbewahrt, die die Marineinfanteristen ihr am Grab überreicht haben. Jetzt verwahre ich sie, zu einem Dreieck gefaltet, in meinem Bücherregal. Ich habe einen Plastikkrebs draufgelegt. «Ehrlich gesagt, langweile ich mich am Strand zu Tode» Rita Mae Brown erzählt Denis Scheck Wann waren Sie zuletzt am Meer? Rita Mae Brown Vor vier Monaten, das heißt, ich habe das Meer gesehen, aber nicht am Strand gesessen. Virginia grenzt an den Atlantik. Von meiner Farm am Fuß der Ostseite des Blue-Ridge-Gebirges ist man bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 9 5 Stundenkilometern in zweieinhalb Stun­den am Meer. Dank meiner Lesereisen bekomme ich auch wenigstens einmal im Jahr den Pazifik zu sehen. DS Was löst der Anblick des Meers in Ihnen emotional aus? Beruhigung/Bedro­hung/Entspannung? RMB Das Meer ist ein großes Hotel, das Fische, Krebse, Aale und andere Lebewesen beherbergt, die mich faszinieren, aber mit denen ich nie ins Gespräch kommen konnte. Da ich für Muße nichts übrighabe, kann ich nicht unter einem Sonnenschirm sitzen, und ehrlich gesagt, langweile ich mich am Strand zu Tode. DS Sie sind ja eine Beobachtungskünstlerin. Welche Rolle spielte bei der Entstehung Ihrer Geschichten die eigene Wahrnehmung -mit anderen Worten, müssen Sie reisen, um zu schreiben? RAAB Die Welt wirbelt in und auf einem Grashalm. Wer wachsam ist, muss nur beobachten. Reisen ist nicht notwendig, wiewohl ich bei Besuchen im Ausland gelernt habe, dass jede Kultur ihre Methode hat, Dinge besser zu machen als wir, und damit meine ich Amerika. DS Reisen Sie, um von sich selbst Abstand zu gewinnen - oder verhält es sich gerade andersherum: reisen Sie, um sich selbst zu finden? RMB Eine Reise bedeutet für mich eine Lesereise, was in den USA auf eine Art Trainingslager ohne Essen und Schlaf hinausläuft. Wenn ich privat unterwegs bin, dann in Pferdegeschäften, überwiegend in Kentucky und Wyoming, oder zur Fuchsjagd (in Amerika töten wir die Füchse nicht, wohlgemerkt) als Gast bei anderen Jagdvereinen. Bin ich mir selbst überlassen, bleibe ich am liebsten auf der Farm, weil es dort außergewöhnlich schön ist und weil ich meine Pferde, Jagdhunde, Haushunde, Katzen und sogar Hühner ungern verlasse. DS Können Sie einem Text ablesen, ob sein Verfasser ein Mann oder eine Frau war? RMB Ich kann es nur erkennen, wenn sie es zum Prinzip erheben, eine Haltung, die ich beklagenswert finde. Wer sein Geschlecht oder seine Sexualität hinausposaunen muss, ist schwach und ängstlich. DS Oder eine Katze? RMB O ja, einen Text, der von einer Katze geschrieben wurde, erkenne ich immer. Er enthält zu viele schwärmerische Hinweise auf Katzenminze und Thunfisch. DS Gibt es in Ihren Augen so etwas wie Frauenliteratur? RMB Nein, aber die Verleger möchten gerne, dass wir das denken, und das möch­ten auch einige Frauen, die sich eine Sonderbehandlung wünschen. Die großen Themen Leben und Tod, Freiheit und Knechtschaft, Tragödie und Komödie ken­nen kein Geschlecht. Ich glaube nicht mal, dass die Interpretation geschlechtsabhängig ist. Ich spreche hier von der HOHEN LITERATUR, nicht von den großartigen Unterhaltungsromanen, die tatsächlich vom Geschlecht beeinflusst sind, z.B.The Queen of the Turtle Derby. DS Hätte Adolf Hitler auch eine Frau sein können? Oder sind Frauen die besseren Menschen? RMB Ja, aber ohne den albernen Schnurrbart, das ist ein schwacher Trost. Hiermit haben Sie die Antwort auf Ihre nächste Frage sicher schon erraten. Nein, ich bin nicht der Meinung, dass Frauen die besseren Menschen sind, aber ich denke, dass Frauen infolge von sieben- bis zehntausend Jahren konsequenter patriarchalischer Unterdrückung oftmals mitfühlen können mit denen, die entweder en masse leiden, z.B. unter Rassismus, oder individuell, wenn z.B. Leukämie diagnostiziert wird. Was nicht bedeutet, dass Männer diese Gefühle nicht haben können, nur glaube ich, dass Frauen in größerem Maße viel schneller auf derartige Nöte reagieren als Männer. DS Warum schreiben Sie Bücher mit und über Katzen statt über Steuererklärungen und Sozialabbau? Was stand am Anfang Ihrer Katzenbücher? RMB Ich kann politische Sachbücher schreiben und habe es in meiner Jugend auch getan, aber ich fand es einschränkend. Es scheint zum Zeitpunkt des Schreibens schrecklich wichtig zu sein, dabei ist es nur der Ölfilm auf der Wasseroberfläche. Ich wollte tiefer dringen, und der einzig wahre Weg dahin ist die Belletristik. Auch der gehobensten Sachliteratur wie z. B.Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches von Edward Gibbon sind strenge emotionale Grenzen gesetzt. (Ich finde, dies ist vielleicht das großartigste Sachbuch in englischer Sprache.) Ja älter ich werde, je mehr ich schreibe, desto deutlicher empfinde ich es als Gesang auf dem Blatt, als Musik, und wenn man seine Sprache innig liebt, dann ist es Musik. Ich liebe das Englische mit allen Fasern meines Seins. Nicht, dass ich Deutsch nicht wunderbar finde, vor allem wie es in der Gegend um Hannover gesprochen wird, aber ich liebe meine Muttersprache, finde in ihr Lachen, Erhabenheit, die Geschichte eines Volkes, eines bemerkenswerten Volkes im Guten wie im Bösen. Ob es einem passt oder nicht, ich gehöre diesem Volk an. Die Katzenromane erblickten dank der Klugheit von Sneaky Pie mitten im Streik des Schriftstellerverbandes Writer's Guild im Jahre 1988 das Licht der Welt. Ich hatte das große Glück, in Hollywood genug Arbeit zu finden, aber durch den Streik, der fast ein Jahr anhielt, waren alle Fördergelder ausgesetzt. Ich schrieb weiter an meinen Romanen, doch dazu brauchte ich eine ganze Weile. Die Katze schlug Krimis vor. Der Gedanke an Genre-Literatur war mir zuwider (so was Snobistisches), aber ich begriff rasch die Absicht. Ein Krimi war schneller zu schreiben, besonders wenn ich tippte, was sie diktierte. Bantam zeigte sich wenig begeistert, veröffentlichte aber den ersten Katzenkrimi,Schade, dass du nicht tot bist, um mir einen Gefallen zu tun. Den Rest der Geschichte kennen Sie, und es wird immer besser; denn Jahre später habe ich mit einer Fuchsjagdserie begonnen, die ebenfalls gut läuft. So gern ich mit Sneaky zusammenarbeite, ich muss gestehen, dass ich meine NichtKrimis noch ein kleines bisschen lieber schreibe. Nur dauert das dann wieder viel länger. DS Ich lese ja Bücher, um die Welt einmal durch die Augen eines anderen zu sehen, in eine fremde Haut oder in diesem Fall in ein fremdes Fell zu schlüpfen. Geht's Ihnen auch so? RMB Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich lese, wie ich atme: Ich weiß nicht recht, ob ich einen Grund habe. DS Ein beliebter Aufkleber lautete einmal: «Die Wirklichkeit ist der Fluchtort jener Menschen, die mit der Welt der Phantasie nicht zurechtkommen.» Sehen Sie das auch so? RMB Nein, beileibe nicht. Die Menschheit krankt daran, dass wir uns der Wirklichkeit nicht stellen können. Wir entwickeln Theologien und Ideologien, um die Natur in Abrede zu stellen, um, und das ist wahrhaft schmerzlich, unsere eigene animalische Natur in Abrede zu stellen. Indem wir das tun, besudeln wir die Erde, bringen uns gegenseitig um, weil uns die Götter oder die Regierung der anderen nicht gefallen, und wundern uns, warum wir trinken, Drogen nehmen, Wege suchen, um uns vor unseren eigenen entsetzlichen Missetaten zu ver­stecken. Man muss immer bedenken, wir haben den Garten Eden verlassen. Die Tiere nicht. DS Das Böse spielt in Ihren Büchern eine große Rolle. Wie kommt das Böse in die Welt? RMB Wenn ein Eichhörnchen eine Eichel vom Baum pflückt, hat das Eichhörnchen dann dem Baum Schaden zugefügt? Wenn ein Bär einen Lachs fängt, hat der Bär dem Lachs geschadet, aber nur, um zu leben. Das Tier namens Mensch und die Ameisen sind offenbar die einzigen Lebewesen, die Krieg führen. Noch einmal: Je mehr wir unser animalisches Ich und andere Tiere in Abrede stellen, desto befähigter sind wir, Böses zu tun. Unsere Ichbezogenheit geht über jede Vorstellung hinaus. DS In Ihren Romanen wird das Tier vom Objekt zum Subjekt. Essen Sie eigentlich Fleisch? RMB Ich esse Fleisch. Ich bin ein Allesfresser, genau wie ein Fuchs. Ich lebe meiner Natur gemäß. DS Patricia Highsmith forderte einmal, Literatur müsse amoralisch sein. Teilen Sie diese Ansicht? RMB Nein, aber ich verstehe, was sie meint. Shakespeare hat uns die ganze Welt oft urteilslos dargestellt, aber ich würde seine Werke nicht als amoralisch klassifizieren. Das Problem entsteht, wenn Schriftsteller die Handhabe eines Moralkompasses damit verwechseln, ein Propagandist zu sein. Literatur ist keine Propaganda, und das erklärt auch, warum sie so selten in totalitären Staaten entsteht oder von Menschen geschaffen wird, die unter streng kontrollierten theokratischen Regimen zu leiden haben. DS Welche Einwirkungsmöglichkeiten auf die Gesellschaft versprechen Sie sich von Literatur, welche Grenzen sehen Sie? RMB So gern ich glauben möchte, dass Literatur auf die Gesellschaft einwirken kann, das zwanzigste Jahrhundert hat mir diese Vorstellung ausgetrieben. DS Strebt ein Schriftsteller nach Macht? RMB Wenn ein Schriftsteller nach Macht strebt, möchte ich vermuten, es geht um Macht über Sprache, Stil, Handlung und Gestalt. Das Streben nach jeder anderen Form von Macht ist eine aberwitzige Verblendung, und ich denke, je unsicherer das Ego, desto stärker die Verblendung. DS Hat der Schriftsteller in den USA seit Fitzgeralds oder Hemingways Zeiten an Macht verloren? RMB Wie kommen Sie auf die Idee, Schriftsteller in meinem Land hätten jemals zu irgendeiner Zeit in der Geschichte Macht besessen? Ich glaube das nicht. Aber Neru-da schrieb einmal, die Literatur habe eine geheime Macht, die entspringen kann wie eine Quelle, und ich wollte, ich könnte mich genau an das Zitat erinnern, weil es so knapp und schön ist wie alle seine Werke, die ich bewundere. (Ich bewundere auch Surtees, der als Sport-Autor des neunzehnten Jahrhunderts gilt, wohingegen ich ihn für einen Satiriker ersten Ranges halte.) Ein einmal gewecktes Bewusstsein kann nicht mehr schweigen, und vielleicht vermag das die Literatur zu bewirken. Jedoch regt sie die Menschen nicht unbedingt zum Handeln an. Wenn alles gesagt und getan ist, ist viel mehr gesagt als getan. DS Woher nimmt man die Kraft für Kunst im Kapitalismus? RMB Wo sie seit Aristophanes (Athen, fünftes, frühes viertes Jahrhundert v. Chr.) hergekommen ist. Für jeden Schriftsteller wurde eine wohlhabende Persönlichkeit als Mäzen bestimmt, und dieser finanzierte die Produktion von Stücken für die großen Festspiele. Das ist heutzutage nicht sehr viel anders, insofern als Leute mit Geld beispielsweise für eine Symphonie bürgen oder ein Konzern bezahlt, dessen Geschäft darin besteht, Bücher zu verkaufen. Es ist keineswegs vulgär, Geld im Verhältnis zu Kunst zu betrachten. Es wäre vielmehr dämlich, es nicht zu tun. Wenn irgendjemand das wusste, dann war es ganz be­stimmt Charles Dickens. Mit anderen Worten, Kunst und Kapitalismus sind nicht antithetisch. Dummheit, Engstirnigkeit und Kunst sind antithetisch. DS Vermögen Sie Trost aus Literatur zu ziehen? Sich sogar über den Tod zu trösten? RMB Literatur ist die Luft, die ich atme. Was nicht bedeutet, dass sie mich mit meinem Tod versöhnt. Sie versöhnt mich vielleicht mit Ihrem Tod. Ich persönlich wäre gern unsterblich. DS Es gibt ja nicht mehr nur eine Wirklichkeit, aus der Romane entstehen, also die primäre Erfahrung der Endlichkeit, von Liebe oder Natur. Längst ist da eine zweite, eine virtuelle Wirklichkeit hinzugetreten, der Schriftsteller hört Radio oder sieht fern. Welche Rolle spielt diese Medien-Wirklichkeit für Ihr Schreiben? RMB Gar keine. Ich sehe nicht fern, außer den Wetterbericht (ich bin Farmerin, nicht zu vergessen) und Football (den ich liebe). Leider kann ich nicht allzu oft Football gucken, weil ich nicht selten sogar im Dunkeln draußen bin und arbeite. Ansonsten meide ich das Fernsehen. Radio höre ich nur, wenn ich in meinem Transporter sitze, und dann meistens den Klassiksender; allerdings lasse ich mich ab und zu verleiten, Country-Musik zu hören: Die vielen Leiden und Schwierigkeiten lassen einem das eigene Leben in einem viel milderen Licht erscheinen. (Ich nehme an, dass die Leser Country-Musik gehört haben. Ich nehme außerdem an, vielleicht unfairerweise, dass sie sie nicht ausstehen können.) Mein Schreiben kommt aus dem, was ich sehe, fühle, berühre, höre, rieche und schmecke und was ich bei anderen wachsamen Geschöpfen beobachte. Ich schließe die Pflanzenwelt mit ein; denn dort gibt es zweifellos eine Intelligenz, die wir nicht verstehen. Wenn ein lebendiger Organismus sich anpasst, ist er intelligent. Das ist mein Credo. DS InDie Sandburg taucht am Ende auch der Vietnamkrieg auf. Wie ist Ihre Haltung dazu? RAAB Meine Generation ist in Vietnam gestorben. Wir wurden belogen, wurden hintergangen, als wir heimkehrten, und ich möchte wissen, ob es irgendeinen unter uns gibt, der je wieder einer Regierungsmacht vertraut. Ich hoffe nicht. Man muss die Augen weit offen halten. DS Was hat Sie bewogen, nach so langer Zeit eine Geschichte über vertraute Gestalten zu schreiben - Julia, Louise und Nickel? RAAB Sie sind in meinem Herzen lebendig. Sie fehlen mir so sehr. Es gibt Zeiten, da würde ich alles darum geben, um Mutter und ihre Schwester zu hören, wie sie sich gegenseitig zur Weißglut bringen. Manchmal denke ich, meine Romane sind Partys. Sie sind alle eingeladen mitzufeiern.