Kansas City J. G. Kastner Amerika #9 Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an Hunger und Epidemien. In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und Sehnsucht - ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus Deutschland fliehen muss. Doch sein Leben in Amerika wird härter und gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat... An diesem Julimorgen des Jahres 1863 wurde Kansas City, die große Stadt an beiden Ufern des Missouri, von einem einzigen Wort beherrscht: Mord! Einer der Männer von dem großen Treck, der am nächsten Tag ins ferne Oregon aufbrechen wollte, war getötet worden. Der Täter sollte ein anderer Auswanderer sein, ein junger Deutscher. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, von Saloon zu Saloon, von Barbier zu Barbier, von Gespräch zu Gespräch. Sie war bald in aller Munde und beschäftigte sämtliche Journalisten der Stadt. Der grausame Bürgerkrieg, der Nordamerika in zwei Teile spaltete, war für einen Tag vergessen. Der Krieg tobte in der Ferne, aber der Mord war mitten unter den Bürgern geschehen. Und schon wurden die ersten Stimmen laut, die sofortige Vergeltung forderten und nach einem dicken Hanfstrick schrien. * Kansas City, am Morgen zuvor. Ängstlich blickte die junge Frau in dem blauen Kattunkleid über ihre Schulter und wäre dabei fast über einen rostigen, durchlöcherten, mitten auf der Straße liegenden Kübel gestolpert, den sein ehemaliger Besitzer vermutlich einfach aus dem Fenster geschleudert hatte. Der Blick zurück machte ihre Hoffnung zunichte, sie könnte sich in den Absichten der beiden Männer getäuscht haben. Nein, die rauhen, unrasierten Burschen waren noch immer hinter ihr. Der gierige, ihr nur zu sehr vertraute Blick der beiden ungeschlachten Gestalten verriet der Frau, daß es die Fremden auf sie abgesehen hatten. Sie beschleunigte ihre Schritte, so schnell es ihr fast knöchellanges Kleid erlaubte. Aber für ihre Verfolger war es scheinbar kein Problem, mitzuhalten. Das Mädchen mit dem feuerroten Haarschopf, der unter einem blauweißen Hut hervorlugte, sah sich hilfesuchend um. Es gab genug Menschen, die die Straßen der großen Stadt an diesem Morgen bevölkerten. Aber jeder ging seiner eigenen Wege. Die verängstigte junge Frau fühlte sich plötzlich ganz allein in Kansas City. Das morgendliche Leben in der Doppelstadt an beiden Ufern des Missouri war von reger, lauter Betriebsamkeit erfüllt, aber es brandete an ihr vorbei. Frachtkutscher scheuchten ihre Gespanne mit Peitschenknallen und lauten Flüchen durch die vom langen Regen der letzten Tage noch aufgeweichten Straßen, um die Geschäfte mit Waren zu beliefern. Händler, Barbiere, Sattler, Stellmacher und Schmiede öffneten ihre Läden. Auslagen wurden vor die Türen gestellt und Bürgersteige gefegt. Am Ende einer Nebenstraße marschierte zackig ein Trupp Unionsinfanterie unter den dröhnenden, abgehackten Kommandos eines Corporals oder Sergeants vorüber. Eine große Garnison unter Brigadier General Thomas Ewing lag in der Stadt, um das über der Sklavenfrage zerstrittene Grenzgebiet zwischen Missouri und Kansas zu befrieden und dafür zu sorgen, daß nicht einer der beiden Staaten aus der Union austrat und sich den konföderierten Südstaaten anschloß, die seit zwei Jahren einen heftigen Krieg gegen den Norden führten. Trotz all dieser Betriebsamkeit fühlte sich Urilla Andersen allein. Niemand kümmerte sich um sie, warf ihr auch nur einen zweiten Blick zu. Niemand kam auf den Gedanken, sie zu grüßen wie die ehrbaren Frauen der Stadt, die früh auf den Beinen waren, um ihre Einkäufe beizeiten zu erledigen. Am Abend würde es anders sein, wenn Urilla ihrer Arbeit im Lightheart Palace nachging. Dann würden sich die Männer, die sie jetzt nicht beachteten, um sie reißen, ihre gierigen Arme um sie schlingen und versuchen, mehr von Urilla zu bekommen, als ihnen für den Preis der Getränke, die sie an der langen Bar bestellten, zustand. Urilla haßte dieses Leben, das sie sich nicht freiwillig ausgesucht hatte. Sie sehnte sich danach, ganz weit weg ganz von vorn anzufangen. In Oregon vielleicht, dem verheißungsvollen Land jenseits der mächtigen Rocky Mountains. Dort, wohin auch ihr Vater mit hoffnungsvollem Herzen aufgebrochen war. Der letzte Treck, der in diesem Jahr von Kansas City nach Oregon fuhr, würde die Stadt in drei Tagen verlassen. Würde sie mit ihm fahren? Sie hoffte, daß die Entscheidung dieser Frage in ihrem Sinne ausfiel, möglicherweise noch an diesem Morgen. Falls sie den beiden Verfolgern entkam, die ihre Schritte jetzt noch mehr beschleunigten. Zu schnell für Urilla. Aber sie ahnte den Grund. Urilla und die beiden Männer durchquerten einen wenig belebten Stadtteil. Die großen, mehrstöckigen, häufig aus Stein erbauten Geschäftshäuser waren windschiefen Bretterbuden gewichen. Nur vereinzelt sah sie hier Menschen, die in der über dem Missouri aufgehenden Sonne dösten, lethargisch geworden durch die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage. Es waren in der Mehrzahl dunkelhäutige Menschen, zum Teil erst seit kurzem aus der Sklaverei befreit. Aber das Leben eines freien Menschen konnte genauso schlimm sein wie das eines Sklaven, wenn es an Arbeit, Geld und geeigneten Unterkünften fehlte. Die abbruchreifen Häuser hier am Westrand der Stadt boten nur ungenügenden Schutz gegen die Witterung. Aus einem Haus mit scheibenlosen Fenstern hörte Urilla ein unablässiges, lautes Husten, vielleicht Ergebnis der langen Regenfälle. Die Schritte ihrer Verfolger wurden noch länger und schneller. Urilla versuchte, ebenfalls schneller zu gehen. Vielleicht konnte sie den Lagerplatz des Trecks erreichen, bevor die Fremden bei ihr waren. Aber sie rutschte auf einer Mischung aus Schlamm und Unrat aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Schmutz. Ihr Hut fiel von ihrem Kopf und landete als buntes Boot in einer Pfütze. Als Urilla an sich entlangsah, stellte sie fest, daß ihr Kleid in großen Teilen dunkelbraun statt blau war. Als sie aufstehen wollte, fielen schon die beiden großen Schatten auf ihr hübsches Gesicht. Urilla sah auf, direkt in die grinsenden Gesichter ihrer beiden Verfolger. Körperlich wirkten sie sehr ungleich. Der eine, der einen breitkrempigen, hochkronigen Hut und eine Lederweste über einem grünrot karierten Hemd trug, war groß, breit und muskulös. Sein Begleiter war klein und hager, wirkte aber sehr zäh. Sein sonnengebräuntes, von vielen winzigen Falten durchzogenes Gesicht erinnerte an altes, brüchig gewordenes Leder. Der schmalkrempige Hut mit der runden Krone, wie er eher von Städtern getragen wurde, wollte nicht zu seinem wettergegerbten Gesicht passen. Ebensowenig der dreiteilige braune Anzug. Aber bei näherem Hinsehen erkannte Urilla, daß der Hut speckig und der Anzug abgetragen waren. Die Hose war an den Innenseiten der Schenkel mit Lederflicken besetzt, um sie davor zu bewahren, beim Reiten aufgescheuert zu werden. Tatsächlich machten beide Männer den Eindruck, als hätten sie lange Zeit im Sattel verbracht. Nicht nur der Schmutz auf ihrer Kleidung wies darauf hin, sondern auch der mehrere Tage alte Bart in ihren Gesichtern. Noch eins war beiden Männern gemeinsam: Sie waren bewaffnet. Der Große trug an seinem Gurt einen schweren Revolver und ein langschneidiges Bowiemesser. Der Kleine hatte zwei Waffengurte so umgeschnallt, daß sie sich überkreuzten. Die Holster an beiden Hüften hingen tief. In jedem Holster ragte der im Licht der Morgensonne silbrig schimmernde Griff eines blitz blanken Revolvers hervor. Die Waffen schienen an dem Mann das Sauberste, Gepflegteste zu sein. Eine dritte Gemeinsamkeit der beiden Fremden war der gierige Ausdruck in ihren Augen. Wenn sie lange unterwegs gewesen waren, hatten sie lange keine Frau mehr gehabt. Vielleicht hatten sie bemerkt, wie Urilla von den sogenannten ehrbaren Bürgern geschnitten wurde, und deshalb beschlossen, sich bei ihr das zu holen, was sie so lange entbehren mußten. »Hingefallen, Lady?« fragte der Kleine mit blechern klingender Stimme, während er seine Hand nach Urilla ausstreckte. »Darf ich Ihnen helfen?« Urilla spürte, daß er es nicht ehrlich meinte. Und sie sah es an dem Grinsen, das weiterhin sein stoppeliges Gesicht beherrschte. Trotzdem ergriff sie seine Hand. Es war entwürdigend, vor diesen Männern im Dreck zu liegen. Das rothaarige Girl wußte, daß es nur eine Chance hatte. Kaum stand es auf ihren Beinen, versetzte sie ihrem Helfer einen Stoß, der den unvorbereiteten Mann gegen seinen Gefährten taumeln ließ. Urilla raffte den schmutzigen Saum ihres Kleides nach oben und rannte davon. Bis sie plötzlich etwas hart im Rücken traf und gegen die von grünem Schimmel besetzte Wand eines Schuppens schleuderte. Es war die Faust des Großen gewesen. Der Mann, an dem alles groß wirkte - sein Körper, sein Hut, seine Waffen - streckte seine ebenfalls riesige Hand nach Urilla aus, packte einfach mitten in ihren roten Haarschopf und zog sie mit sich, in den dunklen Schuppen hinein, dessen Tor der Kleine ein Stück aufgezogen hatten. Dort wurde Urilla unsanft auf den von altem Stroh bedeckten Boden geschleudert. »Dreckige Hure!« zischte der Kleine. »Wir helfen dir, und als Dank willst du uns in den Dreck schleudern, aus dem wir dich gezogen haben. Das wirst du büßen!« »Ihr hattet niemals vor, mir wirklich zu helfen!« Urillas Antwort holte das Grinsen auf das Gesicht des Kleinen zurück. Aber jetzt wirkte es noch gemeiner als zuvor. »Sieh an, eine Menschenkennerin«, spottete er. »Aber du kommst ja auch viel mit Menschen zusammen in deinem Beruf, besonders mit Männern, nicht wahr?« Sein lauernder Blick schien eine Antwort zu verlangen. »Ich arbeite in einem Saloon. Aber ich... ich tu nicht das, was Sie eben angedeutet haben!« »Was macht das schon?« fragte der Große, während er erst seinen Waffengurt ablegte und dann den Gürtel seiner Hose öffnete. »Dann tust du es eben jetzt!« »Yeah«, stimmte der Kleine ihm zu und grinste noch immer. »Als kleine Entschädigung für dein schlechtes Benehmen.« Urilla wollte aufspringen, aber der Große versetzte ihr die kräftigste Ohrfeige ihres Lebens und schleuderte sie damit zurück auf den Boden. Ihre Wange brannte, als hätte man ihr die Haut abgerissen. »Mach keine Dummheiten!« warnte sie der Große, während er Hose und Unterhose abstreifte und vor ihr auf die Knie ging. »Sonst wird es nur noch schmerzhafter für dich!« Als er sich über Urilla beugte, wurde ihr übel. Er stank nach Schweiß und fauligem Atem. Er näherte seinen Kopf dem ihren, um sie zu küssen. Aber Urilla drehte ihr Gesicht zur Seite. »Dann eben anders!« knurrte der Mann über ihr verärgert, griff mit beiden Händen an den bestickten Kragen ihres Kleides und riß es mit einem kräftigen Ruck auseinander. Das Unterkleid folgte, bis ihre großen runden Brüste freilagen. Ihr Peiniger verkrallte seine Bärenpranken so fest in ihrem weißen Fleisch, daß Urilla vor Schmerz aufschrie. »Schrei nicht, Hure! Du wolltest es doch so haben. Und jetzt bekommst du noch mehr!« Er wollte sich gerade daran machen, auch Urillas Unterleib zu entblößen, als eine laute Stimme fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?« Ein Zucken lief durch den massigen Körper, der halb auf der jungen Frau lag. Der Mann wälzte sich mit einem Ächzen von ihr, zog eilig seine Hosen hoch und suchte nach seinem Waffengurt. Das Grinsen auf dem Ledergesicht seines Kumpanen, der die Szene mit sichtbarem Wohlgefallen betrachtet hatte, verschwand. Das Tor des Schuppens war noch weiter aufgestoßen worden, und die Schemen zweier Gestalten zeichneten sich in der Öffnung ab. Die beiden Schemen traten näher. * Jacob Adler und Martin Bauer waren stehengeblieben, als sie die Schreie hörten. Sie waren auf dem Weg zum Lager des Wagentrecks, der durch dieses schmutzige, heruntergekommene Viertel führte, wie man ihnen im Boardinghouse gesagt hatte. Gestern waren sie mit dem Zug aus Blue Springs angekommen und hatten erfahren, daß der letzte Treck, der dieses Jahr noch nach Oregon aufbrach, die Stadt in wenigen Tagen verlassen würde. Jetzt waren sie unterwegs, um sich dem Treck anzuschließen. Irene Sommer und ihren kleinen Sohn Jamie hatten sie in ihrem Quartier gelassen. Sie sollten ausschlafen und sich ein wenig von den anstrengenden Ereignissen der letzten Tage, die in einem blutigen Kampf gegen Quantrills Südstaaten-Guerilla gegipfelt hatten, erholen. »Was war das?« fragte Jacob und blieb stehen. »Hörte sich an wie Jamie, wenn er hungrig ist«, meinte sein stämmiger Freund mit dem rotblonden Haar und dem runden, mit Sommersprossen gesprenkelten Gesicht. »Da hat bestimmt irgendein Kind geschrien.« Der hochgewachsene, breitschultrige Zimmermann schüttelte den Kopf, auf dem sein sandfarbenes Haar unter einer abgegriffenen Mütze hervorschaute. »Das hat sich nicht angehört wie ein Kind, Martin. Und auch nicht wie jemand, der nach Essen schreit. Eher wie jemand, der Angst und Schmerzen empfindet.« Der junge Deutsche wandte sich nach rechts und steuerte einen baufälligen Schuppen an. »Und es kam irgendwo von hier.« Martin folgte seinem Freund zu dem angelehnten Tor und bezweifelte, daß man es überhaupt ganz schließen konnte, so schief hing es in den Angeln. Aber daran dachte der Sohn eines Heidebauern nur kurz. Ein erneuter spitzer Schrei vertrieb alle anderen Gedanken. Jacob stieß das Tor auf, als Martin neben ihn trat. Die Augen der Auswanderer benötigten ein paar Sekunden, um sich an das Halbdunkel im Schuppen zu gewöhnen. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Jacob vorsichtig und trat weiter in das Zwielicht hinein. Da sahen sie die auf dem Boden liegende Frau mit den zerrissenen Kleidern und die beiden Männer, von denen sich einer, ein wahrer Riese, mit fliegenden Fingern anzog. Gerade schnallte er seinen Waffengurt um. Die Szene schien zwar eindeutig, aber er war in einem fremden Land mit vielen fremden Sitten. Er kannte die Menschen in diesem Schuppen nicht und wußte nicht, in welchem Verhältnis sie zueinander standen. Deshalb verhielt er sich abwartend und vorsichtig. Nach den Aufregungen in Blue Springs wollte er neuen Ärger vermeiden. Jacob und Martin konnten nicht wissen, daß sie in dem Moment, als sie den Schuppen betreten hatten, an das Ende einer unsichtbaren Kette geschmiedet wurden, von der jedes Glied einen ganzen Haufen Arger bedeutete. »Mischt euch nicht ein«, sagte der kleine Mann mit dem faltigen Ledergesicht, dessen Stimme scharf und blechern klang. »Das hier geht euch nicht das Geringste an. Verschwindet!« Noch während er sprach, schob er die Aufschläge seiner abgewetzten Jacke zurück und steckte sie hinten in den Waffengurt. Jetzt behinderte nichts den freien Zugriff auf seine Revolver. »Falls die Lady nicht freiwillig hier ist«, sagte Jacob mit einem Blick auf das halbnackte, verängstigte Mädchen, »geht es uns sehr wohl etwas an, Mister.« »Und wenn ich euch sage, daß sie freiwillig hier ist?« fragte der Kleine mit lauerndem Blick. »Dann reicht uns das nicht«, erwiderte Jacob. »Wir würden es lieber von der Lady selbst hören.« Die Augen des Mannes mit den zwei Revolvern verengten sich zu Schlitzen, als er zu Jacob sagte: »Nennst du mich etwa einen Lügner, Fremder?« »Ich weiß nicht, ob Sie lügen, Mister. Was ich hier sehe, gibt mir allerdings Anlaß zu glauben, daß die Lady nicht freiwillig hier ist. Außerdem haben wir eben Schreie gehört.« »Schluß mit den Faxen!« knurrte der Riese, der endlich seine Waffen umgeschnallt hatte. Seine Rechte lag auf dem Revolverkolben an seiner Hüfte. »Wenn ihr beiden Figuren jetzt nicht freiwillig abhaut, helfen wir nach.« »Wir gehen freiwillig, wenn wir die Lady mitnehmen dürfen«, antwortete Jacob ruhig, während sein Blick zwischen dem Kleinen und dem Riesen hin und her glitt. Obwohl er äußerlich ruhig wirkte, überlegte er, was er und Martin im Falle einer Auseinandersetzung am besten unternehmen sollten. Martins Kampfkraft war durch den Schulterschuß beeinträchtigt, den er sich im Kampf gegen Quantrills Schwarze Brigade eingefangen hatte. Jacob selbst trug als Erinnerung an dieses Ereignis eine Narbe auf der linken Wange mit sich herum; die Kugel einer explodierenden Munitionskiste hatte ihm dort einen Hautstreifen weggerissen. Die beiden Auswanderer waren bewaffnet. Je weiter sie nach Westen kamen, desto mehr hatten sie einsehen müssen, daß ein Mann ohne Waffen in diesem wilden Land verloren war. Nicht nur Martin, auch Jacob hatte sich trotz seiner Abneigung gegen Schußwaffen einen Revolver umgeschnallt. In ihrem Quartier lagen zwei Karabiner. Sie hatten sich bei den erbeuteten Waffen der Bushwackers kostenlos bedienen können. Jacob war zu seinem eigenen Erstaunen ein geborener Schütze. Bei Martin sah das schon anders aus, besonders solange er auf seine linke Hand angewiesen war. Aber Jacob gehörte nicht zu den Männern, die eine Waffe in Sekundenbruchteilen aus dem Holster zaubern und in weiteren Sekundenbruchteilen einen sicheren Schuß auf den Gegner abgeben konnten. Das Ledergesicht vor ihm schien ein solcher Mann zu sein. Sein Blick und seine Haltung wirkten voll konzentriert. Er wartete offenbar nur auf eine falsche Bewegung der beiden Störenfriede, um dann seine Waffen zu ziehen. Einen Kampf mit Schußwaffen zu gewinnen, war also zweifelhaft. Aber ebenso zweifelhaft war, ob sich die beiden unrasierten Kerle auf solch einen Kampf überhaupt einlassen würden, solange die Revolver an ihren Hüften hingen. Die Andeutung eines Lächelns glitt über das Ledergesicht, und er sagte: »Die Lady soll selbst entscheiden, ob sie mit euch gehen will. Ich hoffe, sie trifft die richtige Entscheidung.« Während er sprach, sah er die junge Frau nicht an, nur Jacob und Martin. Das Mädchen dagegen ließ seinen Blick ängstlich über alle vier Männer gleiten. Wahrscheinlich überlegte sie sich, ob ihre mutmaßlichen Retter im Ernstfall eine Chance gegen ihre Peiniger hatten. Ihre Lippen zitterten, als sie Jacob ansah und sagte: »Ja, ich möchte mit Ihnen gehen, bitte!« »Pech für euch«, sagte das Ledergesicht. Wie hingezaubert lagen die beiden Revolver mit den Elfenbeingriffen in seinen Händen, der eine auf Jacob der andere auf Martin gerichtet. »Wenn wir die Sache friedlich beigelegt hätten, wäre das gut gewesen - für euch. Jetzt geht es hart auf hart!« »Dagegen habe ich nichts«, sagte Jacob. »Aber warum Blut vergießen? Genügen unsere Fäuste nicht?« »Nein, die genügen mir nicht«, beschied ihn der Revolvermann. »Aber uns«, sagte da eine Stimme in Jacobs Rücken, und er hörte Schritte hinter sich. »Lassen Sie Ihre Revolver fallen und kommen Sie nicht auf dumme Gedanken, Mister. Einer von uns beiden trifft Sie bestimmt!« Jacob sah aus den Augenwinkeln zwei weitere Männer, die in den Schuppen getreten waren. Jeder von ihnen hielt einen Revolver in der Rechten. Der Ältere von ihnen, der einen Verband um den Kopf trug, hatte gesprochen. Der andere war noch sehr jung, allenfalls sechzehn. Sein glattes Gesicht wirkte außerordentlich angespannt. Die beiden Neuankömmlinge stellten sich weit auseinander, so daß der Revolvermann nicht auf beide zugleich schießen konnte. Das sah auch das Ledergesicht ein und ließ widerwillig seine Waffen in den Staub fallen. »Gut so«, sagte der Mann mit dem Kopfverband. »Und jetzt habt ihr die Wahl: Entweder verabschiedet ihr euch friedlich voneinander, oder alle schnallen ihre Waffen ab und zeigen, ob sie wirkliche Männer sind.« Das Ledergesicht und sein riesenhafter Kumpan wechselten kurze Blicke, dann sagte ersterer: »Auch ohne Waffen werden wir mit den beiden Figuren fertig.« »Schön«, meinte der Mann mit dem Kopfverband gelassen. »Beweisen Sie es!« Jacob, Martin und der Riese schnallten ihre Waffen ab. Kaum hatte letzterer seinen Waffengurt fallengelassen, da stürmte er auch schon auf Jacob zu. Der junge Deutsche wollten ihm mit einem Sprung zur Seite ausweichen und ihn ins Leere laufen lassen. Aber sein Gegner hatte damit gerechnet und war wendiger, als Jacob gedacht hatte. Er änderte seine Angriffsrichtung, geriet dabei zwar ins Taumeln, konnte Jacob aber noch am Arm packen und mit sich zu Boden reißen, wo sich beide Männer im Schmutz hin und her wälzten. Der Riese schaffte es, seine Körpermasse auf Jacob zu wälzen, und wollte ihn in den Schwitzkasten nehmen. Der Deutsche verhinderte das im letzten Augenblick, indem er sein rechtes Knie hochriß und damit in den Schritt des Gegners traf. Der Getroffene heulte vor Schmerz auf, und Jacob warf ihn von sich. Der Riese rollte über den Boden und blieb ganz in der Nähe seines Waffengurts liegen. Als er die Hand nach dem Griff seines Revolvers ausstreckte, zog der Mann mit dem Kopfverband den Hahn seiner Waffe zurück und sagte: »Bevor Sie schießen, Mr. Koloß, tu ich es!« Verwirrt hielt der Riese mitten in der Bewegung inne, seine Hand nur zwei Zoll von seinem Revolver entfernt. Jacob nutzte diese Verwirrung, um sich auf ihn zu werfen und mit einer ganzen Schlagserie auszuschalten. Währenddessen umkreisten sich Martin und das Ledergesicht vorsichtig. Wäre sein rechter Arm gesund gewesen, hätte Martin längst angegriffen. Aber unter den gegebenen Umständen wollte er abwarten, was der andere unternahm. Auf dessen Gesicht erschien erneut das boshafte Grinsen. »Was ist los, Mann? Warum bewegst du dich so komisch? Stimmt etwas nicht mit deinem Arm?« Noch während er sprach, sprang er vor und landete einen linken Schwinger auf Martins verletzter Schulter. Der Schlag war hart, durch seine Verletzung für Martin um so härter. Der Deutsche gab einen Schmerzenslaut von sich und wich zurück. Der Kleine setzte nach und deckte ihn mit einer Serie von Schlägen ins Gesicht ein. Martins Nase platzte auf, und ein dünner Blutfaden rann neben seinem Mundwinkel herunter. Martin sah ein, daß er seinen Gegner nicht unterschätzen durfte. Der kleine hagere Körper täuschte über die Kraft und Zähigkeit hinweg, die in ihm steckte. Und über die Kampferfahrung, die das Ledergesicht offensichtlich besaß. Der Mann konnte blitzschnell zuschlagen und einen da treffen, wo es wirklich weh tat. Martin hatte das schon zu spüren bekommen. Als der Hagere erneut angriff, tat Martin so, als wollte er weglaufen. Aber dann drehte er sich herum und stellte seinem Gegner ein Bein, über das dieser stolperte. Martin warf sich auf ihn und hieb solange mit der Linken auf ihn ein, bis er den Deutschen anflehte, aufzuhören. Das Ledergesicht war jetzt zerschunden und blutig. »Schätze, die richtige Seite hat gewonnen«, sagte der Mann mit dem Kopfverband, als sich Jacob und Martin erhoben und nach ihren Waffen griffen. Als auch die Peiniger des Mädchens ihre Hände nach den Warfen ausstreckte, meinte er kopfschüttelnd: »Nicht doch. Ihr könnt zurückkommen und eure Schießeisen aufsammeln, wenn wir weg sind. Jetzt verzieht euch!« Wie geprügelte Hunde gingen die beiden Stoppelbärtigen durch das Tor nach draußen, aber sie warfen den im Schuppen Zurückbleibenden haßerfüllte Blicke zu. * Während Martin zu dem Mädchen ging, um ihr aufzuhelfen, wandte sich Jacob den beiden anderen Männern zu und bedankte sich für die Hilfe. »Ich glaube, einen Revolverkampf hätten mein Freund und ich nicht überstanden, Mister...« »Miller«, stellte sich der Mann mit dem Kopfverband vor. »Ben Miller.« Er zeigte auf den Jungen. »Und das hier ist mein Sohn Johnny.« »Johnny Miller«, wiederholte Jacob überrascht und musterte den Jungen. »Der Name Miller ist häufig. Aber sind Sie vielleicht der Johnny Miller, der durch seinen Gewaltritt nach Kansas City dafür gesorgt hat, daß General Ewings Truppen rechtzeitig gekommen sind, um Blue Springs vor Quantrill s Bande zu retten?« »Das ist er nicht nur vielleicht, sondern ganz bestimmt«, meinte der Mann mit dem Kopfverband und klopfte seinem Sohn stolz auf die Schulter. »Wenn Johnny nicht zwei gute Pferde zuschandegeritten hätte, läge Blue Springs jetzt in Schutt und Asche.« Er sah Jacob fragend an. »Aber woher wissen Sie davon?« Jacob nannte ihre Namen und berichtete den Millers, daß er und Martin zu den Menschen gehörten, die Blue Springs gegen die Schwarze Brigade verteidigt hatten. »Und jetzt hoffen wir, daß wir noch einen Platz im letzten Oregon-Treck ergattern können, der dieses Jahr aufbricht.« »Da werde ich bei unserem Captain ein gutes Wort für Sie einlegen. Ich glaube, aufrechte starke Männer sind ihm immer willkommen. Mir sind sie's jedenfalls.« »Sie kennen den Treckführer?« »Allerdings. Immerhin gehöre ich dem Treck an. Da werde ich doch wohl Abner Zachary, den Treck-Captain, kennen.« »Wieso wollen Sie nach Oregon?« erkundigte sich Jacob verwundert. »Sie haben doch eine Farm in der Nähe von Blue Springs.« »Die ich in meinem Leben wohl niemals wiedersehen werde«, seufzte der kräftige, untersetzte Mann in den Vierzigern. »Meine Familie und ich haben genug von der blutigen Grenze. Das ist kein Land, um Kinder großzuziehen. Wir haben unser Land hier an eine Bank verkauft und uns Captain Zacharys Treck angeschlossen. Ob Oregon nun das Gelobte Land ist oder nicht - besser als das Land am Big Muddy ist es allemal!« »Ich hoffe, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Jedenfalls war es eine gute Entscheidung von Ihnen, im richtigen Moment hier vorbeizukommen.« »Dafür sollten Sie nicht mir danken, sondern Quantrill.« In Jacobs offenem, gutgeschnittenen Gesicht zeichnete sich Erstaunen ab. »Wieso das?« Ben Miller fuhr mit der linken Hand an seinen Kopf und berührte ganz leicht den Verband. »Der Streifschuß, den ich Quantrills Männern verdanke, läßt meinen Schädel einfach nicht zur Ruhe kommen. Von Zeit zu Zeit überfallen mich unerträgliche Kopfschmerzen. Heute nacht war es so schlimm, daß ich kein Auge zugetan habe. Meine Frau hat mich deshalb heute morgen zum Doc geschickt. Ich habe Johnny mitgenommen, um noch ein paar Bücher einzukaufen.« »Bücher?« »Yeah. Der Captain ist ein frommer Mann. Er hält viel von der Bibel, aber auch von anderen Büchern. Er sagt, wo wir hinziehen, gibt es keine Bibliotheken und keine Schulen. Eine Schule wollen wir uns bauen. Zachary sagt, wir sollen viele Bücher mitnehmen, für uns selbst und für unsere Kinder.« Ben Miller kratzte sich ein wenig verlegen am Kinn. »Na, in meinem Fall wohl eher für die Kinder. Zum Lesenlernen bin ich nie gekommen.« »Das hört sich ja an, als gäbe es in Oregon nur tiefste Wildnis«, meinte Martin, der mit der Frau zu ihnen trat. Er hatte ihr seine Jacke gegeben, damit sie ihre Blöße bedecken konnte. »Wo wir hinwollen, schon. Zachary will eine neue Siedlung errichten, in der alle Menschen gleichberechtigt sein sollen, egal welchen Glauben und welche Hautfarbe sie haben.« »Scheint ja ein famoser Mann zu sein, dieser Zachary«, meinte Jacob. Ben Miller nickte heftig, stellte das aber sofort ein, als sich seine Kopfschmerzen wieder meldeten. »O ja, das ist er. Er kommt aus Missouri und hat die Nase voll von der Sklaverei, die in unserem Staat noch erlaubt ist. Zu unserem Treck gehören 'ne Menge Schwarze. Der Captain hat seine Farm am Stockton Lake aufgegeben, als seine Frau bei einem Überfall der Skalvenhalter ums Leben kam. Ich habe ihn mir zum Beispiel genommen.« Worauf der Farmer mächtig stolz zu sein schien. Jacob sah die rothaarige Frau an, die er jünger einschätzte als sich selbst, noch unter Zwanzig. Sie war mittelgroß, nicht dick, aber üppig. Ihr Gesicht war hübsch. Die Schatten unter ihren hellgrünen Augen wiesen darauf hin, daß das Leben für sie nicht immer einfach gewesen war. Er fragte sich unwillkürlich, worin die erlittenen Härten des Leben bei ihr bestanden haben mochten. Laut fragte er sie, wie es ihr ging. »Schon wieder besser«, sagte sie. Trotzdem wollte sie Ben Miller nicht zum Arzt begleiten, wie es Jacob vorschlug. »Aber vielleicht können Sie mich zum Lightheart Palace begleiten«, schlug sie vor. »Ich habe Angst, daß mir die Kerle draußen irgendwo auflauern.« Sie sah an sich herunter. »Und so, wie ich aussehe, kann ich unmöglich zum Treck gehen.« »Sie wollten auch zum Treck?« fragte Jacob erstaunt. »Ja, ich wollte mich dort mit jemandem treffen«, antwortete sie ausweichend. »Selbstverständlich begleiten wir Sie«, sagte Martin. Jacob fiel auf, daß sein Freund das rothaarige Mädchen immerzu anstarrte. Die fünf Menschen verließen den Schuppen, die Männer mit gezogenen Revolvern. Von dem Riesen und seinem ledergesichtigen Freund war nicht einmal eine Nasenspitze zu sehen. Trotzdem steckten sie wahrscheinlich irgendwo in der Nähe. Sie würden kaum auf ihre Waffen verzichten. Als sie in ein belebteres Stadtviertel kamen, trennten sie sich. Die Millers suchten den Arzt auf, während die beiden Deutschen Urilla Anderson zum Lightheart Palace brachten. »Was ist das für ein Haus?« fragte Martin, seine blauen Augen noch immer wie hypnotisiert auf die junge Frau gerichtet. »Ein Saloon im Asquith Trading Center.« »Sie wohnen in einem Saloon?« »Ja. Ich arbeite auch dort.« »Sie müssen verzeihen, aber wir sind neu in der Stadt«, erklärte Jacob, weshalb sie so viele Fragen stellten. »Was ist nun wieder das Asquith Trading Center?« »Dort gibt es alles, was Auswanderer benötigen: Geschäfte, eine Schmiede, einen Sattler, einen Stellmacher, Pferde, Maultiere, Ochsen, und eben auch einen Saloon, in dem sich die Menschen noch einmal richtig vergnügen können, ehe sie auf Monate nichts als wildes Land sehen. Das alles gehört Mr. Homer C. Asquith, einem der reichsten Männer der Stadt. Er macht ein Riesengeschäft mit seinen Läden.« »Und trägt viel Geld auf die Bank«, meinte Jacob spöttisch, weil sie gerade an einer Bank vorbeikamen. Urilla schüttelte den Kopf. »Das muß er nicht. Ihm gehört auch eine Bank. Mr. Asquith ist der Meinung, wenn sein Geld schon arbeitet, dann für ihn.« »Der Mann ist reich und schlau«, befand Jacob. »Wäre er nicht schlau, wäre er kaum reich«, erwiderte die junge Frau. Jacob grinste leicht, als er Martins bösen Blick bemerkte. Sein Freund schien eifersüchtig zu sein, weil er sich so gut mit Urilla unterhielt. Vielleicht nur, um nicht ganz außen vor gelassen zu werden, vielleicht aber auch aus echter Anteilnahme für das Mädchen zeigte Martin auf einen bärtigen Mann, der gerade aus dem Laden eines Barbiers trat und seine Jacke zurechtzog. Auf seiner dunklen Weste blitzte etwas auf - der Stern des Gesetzes. »Ein Polizist«, sagte er. »Vielleicht sollten wir ihm den Überfall auf Sie melden, Miß Andersen.« Urilla lachte kurz auf. »Der Deputy hat sicher Besseres zu tun. Schließlich bin ich nicht seine Frau oder die des Barbiers oder eines anderen angesehenen Bürgers der Stadt.« »Wie meinen Sie das?« fragte Martin. »Mädchen wie ich müssen es sich gefallen lassen, von Männern belästigt zu werden.« Martin sah sie mit gerunzelter Stirn an »Mädchen wie Sie?« »Animiermädchen, Tanzgirls«, erklärte Urilla. »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Jedenfalls Mädchen, deren Beruf es ist, Männern in verräucherten Saloons das Geld aus der Tasche zu ziehen. Dafür sind wir gut, sonst sind wir's nicht. Jedenfalls nicht in den Augen der Bürger, die abends nur zu gern in unsere Arme sinken. Der Deputy wird keinen Finger krumm machen, wenn Sie ihm von der Sache erzählen. In Kansas City gibt es zur Zeit andere Probleme.« »Was für Probleme?« wollte Jacob wissen. »Der Krieg«, antwortete Urilla und zeigte auf einen Trupp Kavallerie, der die Straße herunterritt. »Die Truppen in Kansas City bedeuten zwar Sicherheit vor den Bushwackers, aber auch eine Menge Ärger. Die uniformierten Boys wollen sich ja auch mal austoben. Jetzt, wo sie ihren ausstehenden Sold bekommen haben, wird es erst richtig rundgehen.« Jacob räusperte sich etwas verlegen, verschwieg ihr aber, daß die Soldaten die Bezahlung ihres seit einem halben Jahr ausstehenden Soldes Martin und ihm mitzuverdanken hatten. Sie hatten geholfen zu verhindern, daß Quantrill den Zug mit der Million Dollar in eine Falle lockte und ausraubte. »Und dann sind da noch die Schwarzen«, fuhr Urilla fort. »Der Norden befreit sie zwar aus der Sklaverei, weiß aber nicht, was er mit ihnen anfangen soll. Sie haben oft keinen Penny in der Tasche, wenn sie voller Hoffnung in der großen Stadt ankommen. Aber auch hier gibt es keine Arbeit für sie. Viele haben nichts gelernt außer Baumwolle zu pflücken. Und die findet man in der Stadt nun mal nicht, jedenfalls nicht an Sträuchern. Am Fluß hat General Ewing ein großes Lager errichten lassen. Alle Schwarzen, die mit weniger als zehn Dollar in der Tasche hier auftauchen, dürfen - oder müssen, wenn Sie so wollen - dort wohnen. Und wer mehr als zehn Dollar bei sich hat, ist das Geld schnell los. Dafür sorgen Einrichtungen wie der Lightheart Palace.« Als sie das Asquith Trading Center erreichten, waren Jacob und Martin für einen Moment sprachlos. Sie hatten ein besonders großes Gebäude erwartet oder ein paar zusammenstehende Häuser, etwas in der Art. Aber das Center war eine richtige Stadt in der Stadt und nahm einen ganzen Block großer Steinhäuser ein. Sie erreichten den Saloon über einen großen Innenhof, auf dem dieselbe Betriebsamkeit herrschte wie draußen auf den Straßen. Aus der Hufschmiede drang monotones Gehämmer. Ein Sattlergehilfe saß vor der Tür und fettete das schwarze Leder eines Texas-Sattels ein. Der Barbier trat vor die Tür und verabschiedete einen Kunden, einen gutaussehenden Mann mit dunklem, lockigen Haar, der nach allerlei Duftwässern roch. Als er die beiden Deutschen und die Frau erblickte, blieb er stehen, lüftete seinen hellen, zu seinem Anzug passenden Hut und grüßte höflich, seine Augen auf Urilla fixiert. Die Frau lächelte zurück und murmelte zu ihren Begleitern: »Der ist bestimmt nicht von hier. Er wäre mir aufgefallen.« Martin quittierte diese Bemerkung mit einer sauren Miene und sah es mit Wohlwollen, als sich der Fremde entfernte. Überall an den Wänden waren große Transparente aufgehängt, die auf das »Kansas City Pferderennen« hinwiesen, daß am nächsten Tag stattfinden sollte. Jedermann, der ein gutes Pferd besaß, wurde eingeladen, sich zum Rennen zu melden. Dem Sieger winkte eine Prämie von fünftausend Dollar, gestiftet von Homer C. Asquith. »Eine hübsche Stange Geld«, stellte Martin fest. »Asquith setzt sie jedesmal zum Unabhängigkeitstag aus«, sagte Urilla. Martin kratzte sich unter seiner alten Mütze am Kopf. »Ich dachte immer, der Tag, an dem Amerika seine Unabhängigkeit begeht, sei der vierte Juli. Das Rennen ist doch am dritten.« »Ein Trick von Asquith«, erklärte die junge Frau. »Einen Tag vor den großen Feiern lenkt er mehr Aufmerksamkeit auf das Rennen und damit auf sein Geschäft. Eine gute Werbung für Asquith und sein Trading Center.« »Auch eine teure Werbung, wenn er dem Sieger fünftausend Bucks in die Hand drücken muß«, sagte Jacob. »Das schnellste Pferd in der ganzen Gegend ist Silver Dollar«, erfuhren sie von Urilla. »Und dessen Besitzer heißt Homer C. Asquith. Er hat sein eigenes Rennen bis jetzt immer gewonnen.« Jacob und Martin warteten auf dem Hof, während Urilla in eins der Häuser ging, um sich umzuziehen. Sie wollten die Frau dann zum Lagerplatz des Trecks mitnehmen. Schließlich konnte nicht ganz ausgeschlossen werden, daß sich der Riese und das Ledergesicht noch in der Gegend herumtrieben. Martin schaute Urilla noch nach, als sie längst in dem großen Gebäude, in dem sich der Lightheart Palace befand, verschwunden war. »Gefällt sie dir?« fragte Jacob. Sein Freund sah ihn verwirrt an. »Wieso?« »Weil du einen Ausdruck auf dem Gesicht hast, als hättest du zum erstenmal im Leben eine Frau gesehen.« Martin errötete. »Ich glaube, du bildest dir etwas ein, Jacob.« »Oder du dir«, entgegnete der junge Zimmermann mit einem breiten Grinsen. * Jacob und Martin mußten eine ganze Weile warten, bis Urilla zurückkehrte. Die junge Frau hatte alle Spuren des Überfalls beseitigt, jedenfalls äußerlich. Sie trug jetzt eine cremefarbene Jacke zu einem langen dunklen Rock und einen dunklen Hut. Auch die Blässe war von ihren Wangen verschwunden. Auf dem Weg zum Treck trafen sie Ben und Johnny Miller. Der Farmer hatte vom Arzt eine große Flasche Medizin verschrieben bekommen. Sein Sohn trug schwer an einem dicken Bücherbündel. »Hoffentlich wird unser Wagen nicht zu schwer durch dieses viele Papier«, meinte Ben Miller. »Ob wir die Bücher auch wirklich brauchen? Steht denn in ihnen so viel Verschiedenes drin?« Der Treck kampierte vor den letzten Häusern der Stadt, wo die weite, offene Prärie, die es in den kommenden Wochen zu durchqueren galt, sich nach Westen zu erstrecken begann. Beim ersten Anblick der Planwagen und Zelte, die in scheinbar willkürlicher Anordnung über eine große Fläche verteilt waren, fühlte sich Jacob an einen Hafen erinnert, Hamburg oder auch New York, und die lange, gefahrvolle Reise über den Atlantik wurde wieder in ihm wach. Die hellen Planen wirkten wie ein Meer von Segeln. Tatsächlich bestanden sie häufig aus Segeltuch. Einer der Gründe, weshalb man die großen Wagen auch Prärieschoner nannte. Beim Nähertreten erkannte Jacob, daß die auf den ersten Blick so gleich wirkenden Fahrzeuge so verschieden waren, daß kaum ein Wagen dem anderen glich. Die unterschiedlichsten Größen und Formen waren vertreten, und einige der Wagen wirkten, als seien sie von ihren Besitzern selbst zusammengezimmert worden. Jacob hatte als Zimmermann ein Auge dafür. Er und Martin waren überrascht, das Lager wie ausgestorben vorzufinden. Lediglich bei den ein paar hundert Yards abseits des Lagers friedlich vor sich hingrasenden Pferden, Maultieren und Ochsen standen einige Halbwüchsige und bewachten die Herde. Dann aber stießen sie auf die Auswanderer, die sich im hinteren Teil des Lagers um einen großen Conestoga-Wagen versammelt hatten und einer Rede lauschten, die ein auf dem Wagenkasten stehender Mann in flammenden Worten hielt. Nein, es war keine Rede, sondern eine regelrechte Predigt. Der Mann auf dem Wagen, der das Gelobte Land Oregon in leidenschaftlichen Worten pries, war ein großer, breitschultriger Mittfünfziger mit einer wallenden, ergrauten Haarmähne und einem gleichfarbigen Bart, der ihm tief auf die Brust fiel. Sein ganzes Gesicht wirkte grau. Unter weit hervorstehenden, buschigen grauen Brauen blitzten eisgraue Augen auf, die verrieten, welch ungeheure Kraft in dem Prediger steckte. Beim Nähertreten zeigte Jacob auf den Graubart im dunklen Anzug und fragte Ben Miller: »Ist das Abner Zachary?« »Yeah. Woher wissen Sie.?« »Nach allem, was Sie mir über ihn erzählt haben, mußte er es sein.« Die Männer, Frauen und Kinder, die Zacharys Worten gebannt lauschten, waren etwa zu drei Vierteln weißer und zu einem Viertel schwarzer Hautfarbe. Es mochten an die zweihundert Menschen sein, die im Gelobten Land Oregon eine neue Heimat zu finden hofften. Eine junger Mann löste sich aus dem Pulk der Zuhörer und ging den Neuankömmlingen schnellen Schrittes entgegen. Er trug ebenfalls einen dunklen Anzug und wirkte fast wie eine jüngere Ausgabe des Predigers, war ebenso groß gebaut und breit in den Schultern. Nur war sein Gesicht glatter als das faltige Antlitz Abner Zacharys und wies keinen Bartwuchs auf. Ben Miller stellte ihm die beiden Deutschen vor und sagte dann zu ihnen: »Und das ist Adam, Abner Zacharys ältester Sohn.« Der dunkelhaarige Endzwanziger grüßte freundlich, wandte sich dann Urilla zu und legte seine Hände fest auf ihre Schultern, was in Martins Gesicht ein unwilliges Zucken hervorrief. »Du kommst spät, Urilla. Ich hatte gehofft, du würdest dir mit mir Vaters Predigt anhören - und er würde dich dabei sehen.« Adam löste seine Hände von der jungen Frau und zog eine goldene Taschenuhr hervor, die an einer ebenfalls goldenen Kette befestigt war. Als er den Deckel aufspringen ließ, ertönte eine leise, liebliche Melodie. »Eine halbe Stunde später, als wir verabredet haben, Urilla«, sagte er vorwurfsvoll und ließ den Deckel wieder zuspringen. Sofort erstarb die Melodie. Urilla sah den Sohn des Predigers flehend an, vielleicht sogar mit einer Spur von Angst in den Augen, wenn sich Jacob nicht täuschte. »Ich wollte pünktlich kommen, Adam, wirklich, aber. es kam etwas dazwischen.« Sie zeigte auf ihre Begleiter. »Wenn Mr. Adler, Mr. Bauer, Mr. Miller und sein Sohn mir nicht geholfen hätten, wäre ich vielleicht überhaupt nicht gekommen.« Adam Zacharys Blick glitt fragend über die Gesichter der Genannten und blieb dann wieder auf Urilla haften. »Wieso?« Es fiel der jungen Frau offensichtlich schwer, ihm den Vorfall zu schildern. Martin übernahm die Aufgabe, um Urilla aus der Verlegenheit zu befreien. Je länger er erzählte, desto mehr umwölkte sich Zacharys Gesicht. Als Martin fertig war, stieß der Sohn des Predigers erregt hervor: »Wer waren diese Schufte?« Er ballte seine großen Hände zu Fäusten. »Ich werde ihnen zeigen, wie man sich gegenüber einer Lady zu benehmen hat!« »Was ist los, mein Sohn?« fragte die tiefe Stimme des Predigers, der zu der Gruppe getreten war. Seine Predigt war zu Ende, und allmählich zerstreuten sich die Auswanderer, um ihren Tagesgeschäften nachzugehen. Wie Jacob und Martin bald erfuhren, hielt Abner Zachary jeden Morgen eine Predigt. Und wer nicht mit wichtiger Arbeit beschäftigt war, hörte sie sich an. Adam stellte seinem Vater die beiden Deutschen vor, berichtete ihm in knappen Worten von dem Vorfall und sagte dann: »Wir sollten sofort ein Aufgebot zusammenstellen und diesen Kerlen zeigen, daß man so nicht mit uns umgehen kann!« Sein Vater musterte ihn kühl. »Weshalb mit uns? Uns geht die Sache überhaupt nichts an. Miß Anderson gehört nicht zu uns. Außerdem ist der Vorfall in der Stadt passiert. Miß Anderson müßte sich also an Marshal Webb wenden.« »Bowden Webb wird sich kaum dafür interessieren«, sagte Urilla. »Aber ich habe auch gar nicht verlangt, daß jemand in der Sache etwas für mich unternimmt.« »Dann ist ja alles klar«, stellte Abner Zachary fest, seine jetzt wahrhaft eisig wirkenden Augen abweisend auf die junge Frau richtend. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, Miß Anderson. Die beiden Gents aus Deutschland haben wohl etwas mit mir zu besprechen.« »Aber Vater«, begehrte Adam auf. »Ich wollte mir dir über Urilla sprechen!« »Da gibt es nichts mehr zu besprechen. Du kennst meine Einstellung. Mit einer Frau ihres Berufes wollen wir nichts zu tun haben!« Urilla schienen Abner Zacharys Worte hart zu treffen. Sie biß sich auf die Lippen, drehte sich um und ging eilig weg. Adam lief ihr nach. »Was kann ich für Sie tun?« fragte Abner Zachary Jacob und Martin in einem gelösten Tonfall, als hätte sich der Vorfall zwischen ihm und seinem Sohn nicht ereignet. »Wir möchten uns Ihrem Treck gern anschließen«, antwortete Jacob. »Dann brauchen Sie einen Wagen, Zugtiere und den festgelegten Vorrat.« »Und das wäre?« »Eine Milchkuh pro Wagen und ausreichend Verpflegung: Speck, Mehl, Maismehl, Natron, Zwieback, Bohnen, Dörrfleisch, Reis, Melasse, Zucker, Salz, Kaffe oder Tee, dazu ein Wasserfaß mit mindesten hundert Litern Inhalt. Außerdem Ersatzteile für Ihren Wagen: eine Deichsel, ein Vorder- und ein Hinterrad, Nabensplinte und Geschirrketten. Dazu Werkzeuge: ein Beil, eine Axt, eine Säge, Nägel und Nieten.« Der alte Zachary musterte die beiden Deutschen ausführlich. »Sie sehen aus wie Männer, die mit Werkzeugen umgehen können.« »Ich bin Zimmermann von Beruf«, erklärte Jacob und zeigte auf den goldenen Ring in seinem rechten Ohr, das Zeichen seiner Zunft. Sein Vater, der Zimmermannsmeister Heinrich Adler, hatte ihm den Ring nach der bestandenen Probezeit angelegt. In den grauen Augen leuchtete es auf. »Ein Zimmermann also. Das ist gut. Der fehlt uns noch. Wir haben schon einen Schmied, einen Sattler, einen Schuster, einen Gerber, einen Kerzenzieher, einen Böttcher und sogar einen Barbier.« Abner Zachary nickte kräftig. »Aber ein Zimmermann ist vielleicht der wichtigste Beruf überhaupt. Schließlich brauchen wir auch im Gelobten Land ein Dach über dem Kopf - Häuser!« »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich nicht in Oregon bleiben will, Mr. Zachary. Ich will weiter nach Texas, um dort meine Familie zu suchen.« »Nach Texas?« Zachary starrte Jacob ungläubig an. »Der Herr möge mir den Ausdruck verzeihen, aber da machen Sie einen verflucht großen Umweg!« Jacob erklärte ihm, daß er Irene und Jamie nach Oregon zu Carl Dilger bringen wollte, Jamies Vater. »Dann machen wir ein Geschäft«, schlug der Prediger vor. »Wir nehmen Sie mit nach Oregon, und Sie helfen uns dafür beim Hausbau. Sobald das erledigt ist, können Sie Ihrer Wege ziehen.« Zachary streckte seine große rauhe Hand aus, die zeigte, daß er nicht nur das Wort des Herrn verkünden konnte, sondern als Farmer auch an harte Männerarbeit gewöhnt war. Jacob ergriff die Hand und schüttelte sie. »Einverstanden.« »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Mr. Adler, sind Sie und Ihr Freund unverheiratet.« »Richtig«, antwortete Jacob, über die Frage etwas verwundert. »Warum wollen Sie das wissen?« »Ach, nur so. Kommen Sie, ich stelle Ihnen meine Familie vor.« Zachary führte Jacob und Martin zu seinem Wagen, während die Millers ihr eigenes Gefährt aufsuchten. »Vorsicht«, raunte Ben Miller Jacob noch schnell zu. »Sonst sind Sie schneller unter der Haube, als Abner seine Bibel aufschlagen kann.« Der Prediger rief seine Kinder zusammen, nur Adam fehlte. Es waren zwei weitere Jungen und drei Mädchen zwischen sechsundzwanzig und sechzehn Jahren, die Zachary ihnen der Reihe nach vorstellte: »Adam kennen Sie ja schon. Das hier sind meine anderen Söhne, Aaron und Andrew. Und dies sind meine Töchter, Beulah, Berenice und Bethenia. Alle drei sind noch unverheiratet und suchen einen guten, gottesfürchtigen Mann.« »Den sie hoffentlich bald finden werden«, sagte Jacob und fügte schnell hinzu: »Ich denke, Martin und ich müssen uns jetzt um den Wagen und die Vorräte kümmern. Wann geht es los?« »Übermorgen, bei Sonnenaufgang. Warten Sie, ich bringe Sie zu Sam Kelley. Er ist unser Schmied und muß noch ein paar Erledigungen in der Stadt machen, wie er mir vorhin sagte. Er kann Sie beim Wagenkauf beraten. Kansas City ist ein wahrer Sündenpfuhl, in dem ehrlichen Menschen das Geld auf jede nur erdenkliche Weise aus der Tasche gezogen wird.« Zachary warf einen düsteren Blick in die Richtung, in der sein Sohn Adam und Urilla verschwunden waren. »So wie von den leichten Mädchen wie dieser Miß Anderson.« Martin wollte gegen diese Worte protestieren. Jacob bemerkte das und legte seinem Freund beruhigend die Hand auf die Schulter. Er wollte es sich mit dem Treck-Captain nicht schon am ersten Tag verscherzen. Schließlich würden sie für viele Monate auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sein. Jacob dachte daran, wie es sein mochte, den strengen Mann zum Schwiegervater zu haben, und kam zu dem Schluß, daß dies für ihn kein erstrebenswertes Ziel war. Beulah, Berenice und Bethenia würden bei jemand anderem nach ihrem Lebensglück suchen müssen. Abner Zachary brachte die beiden Deutschen zum Wagen von Sam Kelley. Der Schmied war ein untersetzter, muskelbepackter Schwarzer, der mit seiner Frau Aretha und seinen drei Kindern das Land verlassen wollte, in dem Schwarze in den Augen mancher Weißer immer Sklaven blieben. Er begleitete Jacob und Martin mit seinem ältesten Sohn, dem dreizehnjährigen George, in die Stadt. Als sie das Auswandererlager verließen, sahen sie Adam Zachary und Urilla, die unter einer alten, abgestorbenen Eiche saßen und erregt miteinander sprachen. Jacob sagte nichts, bemerkte aber die fragenden Blicke, die Martin den beiden zuwarf. »Wir gehen am besten gleich zum Asquith Trading Center«, schlug der schwarze Schmied unterwegs vor. »Dort gibt es die größte Auswahl an allem, was man für einen Treck braucht, auch Zugtiere.« »Hauptsache, es gibt dort auch faire Preise«, meinte Jacob. »Die erzielt man, wenn man etwas von den Sachen versteht, die man kaufen will.« »Dafür sind Sie bei uns, Mr. Kelley.« »Allerdings«, bestätigte der Schwarze lachend. »Abner Zachary hat mir aufgetragen, mich gut um Sie zu kümmern. Er meinte, einen Zimmermann dürften wir uns nicht entgehen lassen.« Wahrscheinlich auch nicht zwei mögliche Schwiegersöhne, dachte Jacob. Laut fragte er: »Wie sind Sie alle eigentlich zusammengekommen, Mr. Kelley? Zachary scheint der von allen anerkannte Führer zu sein.« »Die meisten von uns kennen Mr. Zachary schon aus Missouri und sind ihm gefolgt, als er dieses unruhige, brutale Land verließ. Alle Schwarzen des Trecks sind freigelassene Sklaven, die sich am Stockton Lake angesiedelt hatten, in der Nähe von Abner Zacharys Farm. Auch ich betrieb dort eine Schmiede. Aber mit Ausbruch des Bürgerkriegs wurden die Anfeindungen der Sklavereibefürworter immer schlimmer. Wir freien Schwarzen waren ihre bevorzugten Ziele. Als Abner Zachary nach dem Tod seiner Frau seine Farm verließ, um ein neues Land zu suchen, in dem Schwarze und Weiße mit gleichen Rechten und Pflichten nebeneinander leben können, sind wir ihm nur zu gern gefolgt. Unterwegs hat sich unser Treck vergrößert. Hier in Kansas City sind noch ein paar Familien zu uns gestoßen, wie die Millers. Es ist immer besser, zu vielen zu sein, wenn man die weite Reise über die Rockies antritt. Ein paar von uns werden das Gelobte Land sicher nicht erreichen. Nur wenn wir viele sind, kommen auch genug an.« »Obwohl Sie das Risiko kennen, nehmen Sie und Ihre Familie die Gefahr auf sich?« fragte Jacob. Kelley sah ihm ins Gesicht. »Ich tu es nicht zuletzt für meine Kinder. Damit sie einmal wirklich frei sein können.« * Im Trading Center trennten sie sich. Jacob und Martin sollten sich schon einmal nach geeigneten Wagen umsehen, während Sam Kelley und sein Sohn ihre Einkäufe erledigten. Die Schwarzen wollten dann zu den Deutschen stoßen. Letztere gingen auf den Platz im Innenhof, auf dem eine Menge Planwagen standen. Gebrauchte Wagen, wie ein großes Schild verkündete, aber günstig und gut erhalten. »Das könnte etwas für uns sein«, meinte Martin. »Angesichts dessen, was wir für die Reise noch alles kaufen müssen, kann es nichts schaden, ein wenig sparsam mit unserem Geld zu sein.« Noch ehe Jacob etwas darauf erwidern konnte, trat ihnen ein bulliger, kahlköpfiger Mann aus dem Schatten eines Vorbaus entgegen. Was ihm auf dem Kopf an Haaren fehlte, macht ein gewaltiger, pechrabenschwarzer Schnauzbart wieder wett. Er spuckte einen Priem hinter einen Wagen, wischte sich mit dem Ärmel seines blauen Baumwollhemdes über den Mund und blieb mit einem breiten Lächeln vor den beiden Freunden stehen. »Kann ich Ihnen helfen, Gents? Ich bin Buck Saunders und für den Verkauf dieser prächtigen Wagen zuständig.« »Wir wollen uns dem Oregon-Treck anschließen«, erklärte Martin, »und suchen einen guten Wagen.« »Da sind Sie bei Buck Saunders an der besten Adresse. Kommen Sie mit, ich habe genau das Richtige für Sie.« Er führte sie zu einem wahren Ungetüm von Planwagen, dessen Räder die beiden großen Deutschen noch um einiges überragten. »Eine Spezialanfertigung, die ein Mormone bauen ließ, um seine drei Frauen und seine zahlreiche Kinderschar darin unterzubringen. Leider wurde er bei einem Streit auf offener Straße erschossen, bevor er die Reise zum großen Salzsee antreten konnte.« »So viele Personen sind wir eigentlich nicht«, wandte Jacob ein. »Genauer gesagt, zwei Männer, eine Frau und eine kleines Kind.« »Na, um so besser«, rief Saunders aus und klatschte in die Hände. »Dann ist das der beste Wagen für Sie. Was meinen Sie, was Sie sich auf der langen Reise über ein wenig Platz und Bewegungsfreiheit freuen werden. Ihre Mitreisenden werden Sie darum beneiden!« »Da ist was dran«, meinte Martin. »Denk nur an die Enge auf der ALBANY, Jacob. Und die Reise nach Oregon dauert viel länger als die Fahrt übers Meer.« »Da hat Ihr Freund recht«, bestätigte Saunders mit einem Lächeln, das seinen mächtigen Schnauzer tanzen ließ. Sie besahen sich den riesigen Wagen von allen Seiten, und Jacob erkundigte sich nach dem Preis. »Ich lasse Ihnen den Wagen billiger, weil Sie mir sympathisch sind, Gents. Sagen wir, hundertzwanzig Dollar?« »Wofür, Saunders?« fragte eine Stimme hinter ihnen. »Etwa für Ihren gesamten Fuhrpark?« Es war die Stimme von Sam Kelley, der zu ihnen trat. »Sieht so aus, als sei ich gerade noch rechtzeitig gekommen. Sie wollten meinen Freunden doch nicht etwa den Mormonen-Wagen andrehen, Saunders?« Das Lächeln auf dem Gesicht des Verkäufers verwandelte sich in eine Trauermiene, und die Bartenden hingen trübselig nach unten. »Was haben Sie dagegen einzuwenden, Kelley? Es ist ein guter Wagen!« »Aber für den Treck nach Oregon vollkommen ungeeignet. Viel zu schwer. Sobald es zu regnen beginnt, sackt er auch ohne jegliches Gepäck unwiderruflich im Schlamm ein. Außerdem braucht man eine ganze Viehherde, um ihn zu ziehen.« »Der Mormone war da anderer Meinung«, widersprach Saunders. »Lassen Sie die Toten in Frieden ruhen, Buck«, sagte Kelley. »Bieten Sie meinen Freunden lieber einen vernünftigen Wagen an. Und zu einem vernünftigen Preis. Ich habe da eben etwas von hundertzwanzig Dollar gehört. So viel bezahlt man nicht einmal für einen neuen Wagen!« »Aber das hier ist eine Spezialanfertigung«, sagte Saunders trotzig und streichelte fast liebevoll den Eisenreifen eines Vorderrads. »Ja, so speziell, daß Sie den Wagen so ungefähr jedem Auswanderer anzudrehen versuchen, der nach Kansas City kommt. Bis jetzt ohne jeden Erfolg.« Der schwarze Schmied steuerte auf einen Wagen zu, der im Vergleich zu allen anderen schmächtig wirkte. »Das ist wirklich das, was Sie suchen«, sagte er zu Jacob und Martin, während er in den Wagen kletterte und das Holz begutachtete. »Eine leichte Bauweise, aber wegen des harten Hickoryholzes gleichwohl belastbar. Sie sind nur drei Erwachsene und haben vermutlich wenig Gepäck. Da dürften Sie mit vier Zugtieren auskommen. Das spart Ihnen zusätzlich Geld für Reittiere. Ich konnte mir nur eine alte Mähre zum Reiten kaufen, weil ich zum Ziehen meiner fahrbaren Schmiede zehn Ochsen benötige.« »Auch ein guter Wagen«, beeilte sich Saunders zu sagen. »Ich kann ihn sehr günstig abgeben, für fünfundsiebzig Dollar.« Kelley lachte ihm ins Gesicht. »Das hat er nicht mal gekostet, als er neu war. Mach uns endlich ein vernünftiges Angebot, oder wir gehen zur Konkurrenz. Dann kaufen meine Freunde allerdings auch ihre Zugtiere und ihre Vorräte woanders, und Mr. Asquith entgeht eine Menge Profit.« »Also gut, sagen wir fünfundfünfzig Dollar«, ließ sich Saunders herab. »Sagen wir fünfundzwanzig«, entgegnete der Schmied. Saunders starrte ihn an wie einen Irren. »Das ist ein lächerliches Angebot!« »Genauso lächerlich, wie fünfundfünfzig Dollar für den gebrauchten Wagen zu verlangen.« »Na schön, mein letztes Angebot«, meinte der Verkäufer mit zutiefst zerknirschtem Gesichtsausdruck. »Fünfundvierzig Dollar.« »Unser letztes Angebot«, erwiderte Kelley, »lautet fünfunddreißig Dollar.« Saunders sah ihn verständnislos an. »Jetzt geben Sie Ihrem steinharten Herzen einen Stoß, Saunders, und einigen Sie sich mit meinen Freunden auf vierzig Mäuse!« Das tat der Schnauzbärtige widerwillig. So kamen Jacob und Martin günstig zu ihrem Wagen, ohne daß sie viel dafür tun mußten. Auch bei ihren übrigen Einkäufen stand ihnen der erfahrene Sam Kelley mit Rat und Tat zur Seite. Schließlich mußten sie nur noch die Tiere besorgen. »Auch da hat Asquith ein großes Angebot«, teilte ihnen der Schwarze mit. »Pferde sind durch den Krieg sehr teuer geworden. Die Armee kauft alles auf, was auch nur entfernt danach aussieht. Als Zugtiere sollten Sie deshalb Ochsen oder Maultiere nehmen.« »Und was ist besser?« fragte Martin. »Ich habe mich für Ochsen entschieden. Ein Ochse kostet nur etwa halb soviel wie ein Muli, frißt alles, läuft einem nachts nicht davon und ist nicht so störrisch wie ein Maultier. Außerdem können die Rothäute Ochsen nicht reiten und stehlen sie deshalb nicht so gern wie Pferde und Mulis, hat man mir erzählt.« »Dann nehmen wir auch Ochsen«, erklärte Martin, nachdem er einen kurzen Blick mit Jacob gewechselt und Einverständnis in den Augen seines Freundes gelesen hatte. »Sie sind aber langsamer als Mulis«, wurden sie von Kelley belehrt. »Was macht das schon«, meinte Jacob. »Da der Treck zusammenbleibt und noch vor anderen Wagen Ochsen laufen, wird es sowieso nicht sehr schnell vorangehen.« »Ein wahres Wort«, meinte der Schwarze und half den Deutschen, vier kräftige, gesunde Ochsen auszusuchen. Der Verkäufer wollte siebzig Dollar pro Stück haben, aber Jacob und Martin zahlten letztlich nur fünfzig. Die Milchkuh, die sie beim selben Händler erstanden, handelte der Schmied von sechzig Dollar auf fünfundvierzig herunter. »Falls Sie noch genügend Geld haben, empfehle ich Ihnen, sich zwei Pferde zuzulegen«, sagte Kelley. »In diesem weiten Land lauern viele Gefahren. Ein Mann kann leicht in die Verlegenheit kommen, schnell große Strecken überwinden zu müssen. Sei es, um Hilfe zu holen, sei es, um Hilfe zu bringen.« Jacob und Martin begleiteten ihn zu den Pferdeställen, wo sie George Kelley wiedertrafen. Der Junge stand vor einer Box und sprach mit einem schlanken Rappen, dessen Fell glänzte. »George ist ein Pferdenarr«, erklärte Sam Kelley. »Er versteht eine ganze Menge von den Tieren.« Als der Junge seinen Vater erblickte, lief er ihm entgegen und rief schon von weitem: »Dad, Dad, ich will dieses Pferd haben!« Der Schmied blieb stehen und musterte abwechselnd seinen Sohn und den Rappen. »Weshalb?« »Es ist das schönste Tier, das ich je gesehen habe. Und das schnellste.« »Woher willst du das wissen? Hast du es schon laufen sehen?« »Nein, aber das muß ich auch nicht. Man sieht ihm an, wie schnell es ist.« »Wenn es wirklich das schnellste Pferd wäre, würde Asquith es nicht verkaufen, sondern morgen beim Rennen starten lassen.« »Vielleicht hat Mr. Asquith nicht so ein gutes Auge für Pferde wie George«, meinte Jacob. »Kann schon sein«, brummte der Schmied. Der Stallwart kam und fragte, worum es ging. »Uns interessiert der Preis dieses Rappen«, sagte Sam Kelley. »Zweihundert Dollar.« Der Schmied schüttelte den Kopf. »Zuviel für mich.« »Pa!« sagte George enttäuscht. »Wir können nicht unser ganzes restliches Geld für ein Pferd ausgeben«, belehrte ihn sein Vater. Der Stallwart stützte die Hände in die Hüften. »Ich kenne Sie, Sam Kelley. Wenn das einer Ihrer Tricks ist, um das Tier runterzuhandeln, beißen Sie sich diesmal die Zähne aus. Der Rappe ist jeden Cent wert!« »Das ist kein Trick«, versicherte Kelley. »Ich habe das Geld nicht übrig.« Trotz seiner Proteste stieß George bei seinem Vater auf taube Ohren. »Du hast mir versprochen, ich würde bald ein eigenes Pferd bekommen, als wir von Stockton weg sind, Pa«, versuchte es George noch einmal. »Da wußte ich noch nicht, wie teuer es kommt, uns für den Treck nach Oregon auszurüsten.« Kelley legte eine Hand auf den Kopf seines Sohnes. »Du wirst dein Pferd bekommen, George, wenn wir in Oregon sind.« Damit war für den Schmied die Diskussion beendet, und er half den beiden Deutschen, sich zwei Reittiere auszusuchen. Sie entschieden sich für zwei robuste Tiere, die die entbehrungsreiche Reise hoffentlich überstehen würden. Jacob nahm einen Grauschimmel und Martin einen Braunen. Die beiden Tiere zusammen kosteten nur zwanzig Dollar mehr als der Rappe, den George so sehr in sein Herz geschlossen hatte. Als alle Einkäufe, auch die der Kelleys, in den neuen Wagen geladen und die Ochsen ins Joch genommen waren, kletterten Jacob und Martin auf den Bock und setzten das Gefährt, das sie ins ferne Oregon bringen sollte, langsam in Bewegung. Die Milchkuh war hinter dem Wagen angebunden, und die Kelleys führten die Pferde an der Leine. Sie fuhren nur langsam, weil sie sich an das Gefährt noch gewöhnen mußten und die Straßen sehr voll waren. Vor dem Boardinghouse, in dem die Deutschen Quartier genommen hatten, hielten sie an. Irene war sehr überrascht, als sie sah, wie weit ihre Freunde schon mit den Reisevorbereitungen waren. Sie gaben ihre Zimmer auf, weil es günstiger war, im Planwagen -beziehungsweise, was Jacob und Martin betraf, unter ihm - zu übernachten. Während der Reise mußten sie es sowieso tun. Da konnte es nicht schaden, sich schon einmal daran zu gewöhnen. Als sich der Wagen mit Irene und Jamie hinten zwischen den Einkäufen in Bewegung setzte, fing Jamie aus Leibeskräften an zu schreien. »Das kann ja heiter werden«, meinte Martin, der die Ochsen antrieb. »Wie meinst du das?« fragte Jacob. »Offenbar mag Jamie unseren Wagen nicht. Wenn wir Pech haben, hören wir die nächsten vier, fünf Monate nichts anderes als sein Geschrei.« »Besser Jamies Geschrei als das Geschrei angreifender Indianer«, erwiderte Jacob. Martin gab ihm recht. * Beim Treck wurde der neue Wagen mit großer Begeisterung empfangen und von einer kleinen Prozession zu einem freien Lagerplatz geführt. Nur Abner Zachary hatte Wichtigeres zu tun. Er war in einen heftigen Disput mit seinem Sohn Adam verwickelt. Urilla stand daneben und verfolgte die Auseinandersetzung bangen Blickes. Als Jacob Martin bat, ihm zu helfen, die Tiere auf die Weide zu führen, mußte er es ihm dreimal sagen. So sehr hatte Martin die Ohren gespitzt, um etwas von der Auseinandersetzung mitzubekommen. Die beiden Deutschen kehrten gerade von der Weide zurück, als drei Männer in das Lager einritten. Jacob und Martin blieben wie vom Donner gerührt stehen, als sie die Reiter erblickten. Sie kannten alle drei. Ihr Anführer war der gutaussehende Mann, dem sie am Morgen kurz im Trading Center begegnet waren. Seine beiden Begleiter hatten sie in viel unliebsamer Erinnerung. Es waren die beiden Männer, vor denen sie Urilla bewahrt hatten, der Riese und das Ledergesicht. Sie trugen wieder ihre Waffen und waren noch immer unrasiert. Ihre geschwollenen Gesichter waren gut sichtbare Zeichen des verlorenen Kampfes. »Was wollen die hier?« zischte Martin grimmig. »Keine Ahnung. Aber wir werden es sicher bald erfahren.« Die Reiter trieben ihre Tiere zu Abner Zacharys Conestoga-Wagen, und auch die beiden Deutschen lenkten eilig ihre Schritte dorthin. Als Urilla die Reiter erblickte, wurde sie blaß und klammerte sich an Adam Zacharys Arm fest. Martin registrierte das ebenso mit Unbehagen wie der alte Zachary. »Was hast du, Urilla?« fragte Adam. Urilla starrte die näherkommenden Reiter an. »Die beiden sind es gewesen, der Kleine und der Riese. Sie haben mich in den Schuppen gezerrt!« »Ich werde mein Gewehr holen«, sagte Adam und wollte in den Wagen klettern. Sein Vater packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. »Warte, Adam! In Stockton haben wir soviel Gewalt und Blutvergießen erlebt, daß wir nicht schon wieder damit anfangen wollen. Laß uns einfach anhören, was die Fremden von uns wollen. Sie werden nicht gleich auf uns schießen. Dafür sind wir zu viele.« Adams Stirn umwölkte sich, und er riß sich von dem Alten los. »Aber Vater, vergißt du, was die Kerle Urilla angetan haben?« »Uns haben sie nichts getan«, beharrte Abner Zachary und sah den drei Fremden ruhig entgegen. Die Reiter erreichten den Conestoga-Wagen fast gleichzeitig mit Jacob und Martin. Als das Ledergesicht die Deutschen erblickte, zog er mit blitzartiger Geschwindigkeit die beiden Revolver mit den Elfenbeingriffen und legte sie auf die Auswanderer an. »So schnell sieht man sich wieder«, ertönte die blecherne Stimme des Hageren. »Aber diesmal geht das Spiel anders aus!« »Was soll das, Brad?« fuhr ihn der im Vergleich zu seinen Begleitern ungewöhnlich gepflegte Mann im hellen Anzug an. »Bist du übergeschnappt?« »Die beiden Grünschnäbel haben uns heute morgen einigen Ärger bereitet, Boß«, erklärte der Riese. Der gutaussehende Mann, der einen schlanken Rotfuchs ritt, grinste. »Was für Ärger? Waren sie es etwa, die euch die Visagen so poliert haben, daß ihr ausseht wie bunte Äpfel?« »Dafür werden sie jetzt büßen«, stieß das Ledergesicht erregt hervor und zog die Hähne beider Revolver mit laut vernehmlichem Klicken gleichzeitig zurück. »Mister, sind Sie mit Ihren Männern in unser Lager gekommen, um friedliche Auswanderer niederzuschießen?« fragte Abner Zachary mit einer Stimme wie Donnergrollen. »Das lag nicht in meiner Absicht«, versicherte der Mann auf dem Rotfuchs. »Aber wie es aussieht, haben meine Männer eine private Streitigkeit mit zwei von Ihren Leuten. Es steht mir nicht an, mich dazwischenzustecken.« »Ihre Männer sollten froh sein, daß wir nicht Marshal Webb eingeschaltet haben. Dann säßen sie jetzt in einer engen Zelle hinter fingerdicken Gitterstäben.« »Wieso?« »Wegen Belästigung, um es milde auszudrücken«, antwortete Abner Zachary und sah dabei Urilla an. »Damit habt ihr euch also die Zeit vertrieben«, sagte der Mann im hellen Anzug zu seinen Begleitern. »Statt zum Barbier zu gehen, wir ihr es vorhattet. Ihr konntet es wohl wieder nicht abwarten, wie? Das Vergnügen vor dem Geschäft, he?« Das Ledergesicht sah ihn unsicher an. »Steck endlich die Schießeisen wieder ein, Brad!« herrschte ihn sein Boß an. »Wir wollen hier keinen Ärger. Du kannst froh sein, daß die Lady den Vorfall nicht dem Marshal gemeldet hat.« Während das Ledergesicht widerwillig seine Waffen entspannte und sie zurück in die Holster stieß, sah der Gutaussehende Urilla an, tippte an seinen Hut, deutete eine Verbeugung an und sagte: »Vergeben Sie meinen Männern ihre Ungestümheit, Lady. Wahrscheinlich hat Ihre Schönheit sie verwirrt.« »So ein Schwätzer«, zischte Martin leise und entlockte damit seinem Freund trotz der angespannten Situation ein leichtes Lächeln. Abner Zachary fragte: »Was können wir für Sie tun, Mister.« »Stanton«, stellte sich der Reiter des Rotfuchses vor. »Everett Stanton.« Er zeigte auf das Ledergesicht. »Das ist Mr. Brad Folsom.« Dann auf den Riesen. »Und das ist Hatch McPherson, aus unübersehbaren Gründen auch Big Hatch genannt. Wir haben einen ziemlich weiten Weg hinter uns und hoffen sehr, daß Sie uns helfen können.« »Wobei?« fragte der alte Zachary knapp. »Dabei, einen Mann zu finden, einen Schwarzen. Ein entflohener Sklave. Er heißt Jackson Harris und ist von der Penrose-Plantage entflohen. Übrigens zur selben Zeit, als Sie Stockton verlassen haben, Mr. Zachary. Sie sind doch Abner Zachary, oder irre ich mich da?« »Sie irren sich nicht, Mr. Stanton«, sagte der Prediger, dessen Gesicht sich bei der Erwähnung des entflohenen Sklaven schlagartig verdüstert hatte. »Allerdings weiß ich nicht, inwieweit wir Ihnen helfen können.« »Nun, die Vermutung liegt nahe, daß sich Harris bei Ihrem Treck aufhält. Es ist allgemein bekannt, daß Sie ein Sklavenfreund sind, Mr. Zachary. Unter Ihren Leuten sind viele Schwarze, vielleicht auch Harris.« »Die Schwarzen hier sind alles freie Menschen«, erwiderte Zachary. »Mag sein«, sagte Stanton gedehnt, stützte sich aufs Sattelhorn und blickte suchend in die Runde; inzwischen waren eine Menge Menschen von dem Disput angelockt worden und verfolgten ihn mit gespitzten Ohren und neugierigen Gesichtern. »Mag aber auch nicht sein, Mr. Zachary. Sie haben wohl nichts dagegen, wenn wir uns ein bißchen hier im Lager umsehen, oder?« »Doch, das habe ich!« »Mit welchem Recht?« »Ich bin der Treck-Captain und bestimmte, was hier geschieht. Außerdem wird Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, daß wir uns hier auf der Westseite des Missouri befinden, also auf dem Gebiet von Kansas. Hier ist die Sklaverei verboten. Hier gibt es nur freie Menschen.« »Meiner Aufmerksamkeit ist gar nichts entgangen«, sagte Stanton eine Spur schärfer als zuvor. »Nicht, daß Abe Lincoln nur die Sklaven in den Südstaaten für frei erklärt hat, aber nicht die in den Sklavenstaaten der Union. Und schon gar nicht das Gesetz, wonach ein entflohener Sklave auch auf dem Gebiet eines Staates, der die Sklaverei ablehnt, ein entflohener Sklave bleibt und zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgebracht werden darf. Der rechtmäßige Besitzer ist Mr. Jefferson Penrose. Er hat mich damit beauftragt, Harris zurückzubringen. Übrigens hat Penrose eine Belohnung auf die Rückgabe des Sklaven ausgesetzt. Satte fünfhundert Dollar gibt es für den, der ihn zurückbringt. Gibt es niemanden hier, der sich das Geld mit uns teilen will?« Wieder blickte Stanton in die Runde, aber er sah nichts als an seinem Angebot desinteressierte oder gar abweisendfeindselige Gesichter. »Wir sind keine Freunde von Sklavenjägern, Mr. Stanton«, sagte Abner Zachary hart. »Ich habe mir Ihr Anliegen angehört und Ihnen gesagt, woran Sie mit uns sind.« Er machte eine kurze Pause, nach der die folgenden Worte donnerten wie die Stimme des Herrn am Jüngsten Tag: »Jetzt verschwinden Sie!« Stanton richtete sich im Sattel auf. »Ich werde zurückkommen, aber dann mit dem Marshal. Und während ich fort bin, werden Brad und Big Hatch auf Sie und Ihre Leute achtgeben. Wenn Harris hier ist, wird er nicht entwischen können. Brad ist der beste Schütze, den das Land auf beiden Seiten des Big Muddy jemals gesehen hat.« Seine Miene hellte sich auf, als er Urilla ansah. »Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Miß. Tut mir nur leid, daß es uns unter solch unerfreulichen Umständen geschehen mußte. Guten Tag!« Die Sklavenjäger wendeten ihre Pferde und verließen ohne Hast das Lager. Stanton verschwand zwischen den Gebäuden am Stadtrand. Seine stoppelbärtigen Begleiter blieben dort auf ihren Pferden sitzen und starrten unverwandt zum Treck herüber. »Sklavenjäger, pah!« machte Abner Zachary und spuckte vor sich auf den Boden. »Als der Herr dieses Gezücht erschaffen hat, muß er einen schlechten Tag gehabt haben.« »Wir sollten bewaffnete Wachen aufstellen, Vater«, meinte sein Sohn Adam. Der Prediger schüttelte sein graues Haupt. »Wozu soll das gut sein? Wenn Stanton tatsächlich mit dem Marshal zurückkehrt, können wir schlecht auf den schießen. Außerdem ist eine blutige Auseinandersetzung das letzte, was wir gebrauchen können. Wir wollen übermorgen nach Oregon aufbrechen, nicht ins Gefängnis.« »Sie haben wohl recht, Mr. Zachary«, meinte Jacob. »Aber trotzdem würde ich die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Diese Strolche sind rücksichtslos und gefährlich, wie Martin und ich heute morgen schon feststellen mußten.« »Wenn man ihnen dazu einen Grund gibt«, sagte der Prediger mit einem strengen Blick auf Urilla. »Was soll das heißen?« fragte Adam. Sein Vater sah zu den zwei Sklavenjägern am Stadtrand hinüber. »Diese Burschen werden nur dann gefährlich, wenn man ihnen einen Anlaß bietet. Denk mal darüber nach, Adam, warum sie sich ausgerechnet an Miß Anderson herangemacht haben.« Sein Blick kehrte zu der jungen Frau zurück und wurde inquisitorisch. »Vielleicht ist sie nicht so unschuldig an dem, was geschehen ist, wie sie tut!« »Du bist ungerecht, Vater! Du bist doch gar nicht dabei gewesen!« »Ist schon gut, Adam«, sagte Urilla, den Tränen nah, mit erstickter Stimme. »Es hat doch alles keinen Sinn. Ich werde gehen.« Sie wandte sich um und drängte sich durch den dichten Kreis der Auswanderer. Adam rief ihr nach: »Warte, ich werde dich begleiten, Urilla. Aber ich hole lieber meine Waffen, solange diese Burschen in der Stadt sind.« Er schüttelte die Hand seines Vater ab, die ihn zurückhalten wollte, kletterte in den Conestoga-Wagen, und kam kurz darauf mit einem Gewehr zurück. An seiner Hüfte hing ein Holster mit einem großkalibrigen Revolver. Als er und Urilla das Lager verließen, blickten ihm sein Vater und Martin lange nach. Beide aus unterschiedlichen Gründen, aber beide mit düsterer Miene. * Nicht nur die Mienen von Abner Zachary und Martin hatten sich verdüstert; im ganzen Lager herrschte eine gedrückte Stimmung. Nach außen schien es, als gingen die Auswanderer ihrem gewohnten Tagesablauf nach, kümmerten sich um ihr Vieh oder nahmen letzte Ausbesserungen an den Wagen vor, die für viele Monate ihr einziges Heim sein würden. Aber wer genau hinsah, konnte die Anspannung auf den Gesichtern der Männer und Frauen erkennen. Nur die kleinen Kinder, die noch nicht begriffen, was vor sich ging, wurden nicht von ihr ergriffen. Die Emigranten waren nicht konzentriert bei der Sache, sahen immer wieder von ihrer Arbeit auf, um den beiden Sklavenjägern am Stadtrand skeptische, fragende Blicke zuzuwerfen. Es dauerte keine Stunde, bis Everett Stanton zurückkehrte, in seiner Begleitung zwei Reiter, auf deren Kleidung silberne Sterne prangte. Brad Folsom und Big Hatch schlossen sich den dreien an, als sie in das Lager ritten. Auf den Gesichtern der Sklavenjäger zeichnete sich große Zufriedenheit ab. Sofort stellten die Auswanderer ihre Arbeiten ein, kamen in der Lagermitte zusammen und bildeten dort ein Spalier, durch das die fünf Reiter mußten. Abner Zachary erwartete sie mit seinen beiden Söhnen Aaron und Andrew am Ende der Gasse. Der Prediger mit einem starren Gesicht wie Granit wirkte ruhig und gelassen. Er war unbewaffnet, im Gegensatz zu vielen seiner Leute, die entweder ihre Gewehre oder ihre Arbeitswerkzeuge, wie Äxte oder Bowiemesser, in den Händen hielten. Der ältere der beiden Sternreiter stellte sich als Bowden Webb vor, Marshal von Kansas City. Er war ein großer, kräftiger Mann Ende der Vierzig, dessen breites Gesicht von einem dichten Schnurrbart beherrscht wurde. Sein silbernes Abzeichen steckte auf der Weste seines dunklen Dreiteilers. Begleitet wurde er von einem Deputy Marshal namens Grant Begley, einem im Vergleich zu seinem Boß eher schmächtig wirkenden Burschen in den Dreißigern, der einen zerknitterten grauen Anzug trug. Abner Zachary nannte den Ordnungshütern, nachdem sie sich vorgestellt hatten, seinen Namen und fragte, was er für sie tun könnte. »Für uns gar nichts«, antwortete der City Marshal im sachlichen Ton. »Aber für die drei Gents an unserer Seite. Wie mir Mr. Stanton berichtete, hindern sie ihn bei der Suche nach einem entlaufenen Sklaven.« »Wir haben hier nichts übrig für die Sklaverei und auch nichts für Sklavenjäger«, machte der Prediger dem Marshal unmißverständlich seinen Standpunkt klar. »Nun, ich halte auch nichts von der Sklaverei. Und ich würde mein Geld niemals damit verdienen, Menschen in die Sklaverei zurückzubringen. Aber als Marshal von Kansas City bin ich verpflichtet, die Gesetzte zu wahren. Und die geben Mr. Stanton recht - leider.« »Hier im Lager bin ich der Captain«, entgegnete Abner Zachary mit leichtem Donnergrollen in der Stimme. »Und Gesetz ist, was ich sage!« »Das mag für Ihre Leute stimmen«, sagte Webb in seiner sachlichen Art. »Aber Ihr Lager befindet sich auf einem Gebiet, das zu unserer Stadt gehört. Und solange das der Fall ist, bin ich berechtigt und verpflichtet, hier für die Durchsetzung des Rechts zu sorgen.« »Mit anderen Worten, wir sollen dulden, daß diese Kerle unsere Wagen durchsuchen.« »Nicht alle Wagen, Mr. Zachary. Soweit ich Mr. Stanton verstanden habe, geht es ihm besonders um einen bestimmten Wagen.« Zacharys steinernes Gesicht geriet in Bewegung, als sich dort Überraschung abzeichnete. »Für welchen Wagen?« Marshal Webb sah Stanton an. »Um den Wagen von Sam Kelley«, sagte der Anführer der Sklavenjäger. Der Prediger wirkte noch überraschter. »Sie vermuten den entflohenen Sklaven in Sam Kelleys Wagen? Warum?« »Weil Jackson Harris der Bruder von Sam Kelleys Frau ist.« Nach dieser Erklärung Stantons herrschte für eine Minute überraschte Stille im Lager, die von erregtem Gemurmel abgelöst wurde. Auf diese Nachricht schien niemand vorbereitet gewesen zu sein. Fast niemand. Aller Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf den schwarzen Schmied und seine Familie. Sam, Aretha und George standen bei ihrem Wagen, unter dem Sams andere Kinder, die zehnjährige Sadie und der sechsjährige Morgan hockten und, unbeeindruckt von den Problemen der Erwachsenen, miteinander spielten. Auch Abner Zachary war von Stantons Eröffnung überrascht worden. Doch er ging mit keinem Wort darauf ein, sondern marschierte zielstrebig auf den schweren Wagen der Kelleys zu. Vor ihm, seinen Söhnen, den Ordnungshütern und den Sklavenjägern flutete die Menschenmenge auseinander, schloß sich dahinter wieder und bildete eine lange Prozession. Bald umlagerte die Menge den Kelley-Wagen. »Ist das wahr, Bruder Sam?« fragte Abner den dunkelhäutigen Schmied, vor dem er stehengeblieben war und dem er jetzt tief in die Augen sah. »Ist der entflohene Sklave Jackson Harris der Bruder deiner Frau?« »Ja«, antwortete Kelley leise. »Warum hast du das nicht gesagt?« »Niemand hat mich danach gefragt.« »Das stimmt.« Zachary nickte einverständlich. Dann erhob er seine Stimme und fragte: »Hältst du den Bruder deiner Frau bei dir versteckt?« Waren vorher schon aller Augen auf Sam Kelley gerichtet gewesen, so hingen sie jetzt geradezu gebannt an seinen Lippen. Der Schmied schaute in die Runde, ließ seinen Blick erst bei Stanton und seinen Begleitern verweilen, dann auf seiner Frau und sah schließlich wieder den Führer des Trecks an. »Nein, Captain«, sagte er mit fester Stimme. »Ich verstecke ihn nicht.« Der Prediger sah zufrieden aus und drehte sich zu den Reitern um. »Sie haben es gehört, Marshal. Sam Kelleys Wort genügt mir, Ihnen hoffentlich auch.« »Mir schon. Aber wahrscheinlich Mr. Stanton nicht.« Ein Lächeln huschte über Stantons gut geschnittenes Gesicht. »In der Tat nicht, Marshal. Ich würde mich, mit Ihrer Erlaubnis, gern selbst überzeugen.« Marshal Webb sah den Prediger an. »Wie sieht es damit aus, Mr. Zachary?« »Die Kerle sollen tun, was sie nicht lassen können. Aber sie sollen sich dabei ordentlich benehmen!« »Das werden sie«, versprach der Marshal. Die Sklavenjäger stiegen von ihren Pferden, deren Zügel Deputy Begley hielt. Vielleicht spürten die drei unerwünschten Männer die zornigen, teilweise haßerfüllten Blicke der Auswanderer, aber sie scherten sich nicht darum, kletterten auf den Kelley-Wagen und begannen mit der Durchsuchung. Auch die Blicke der Kelleys hingen an den Männern, die ihr Hab und Gut durchwühlten. Jacob, der mit Martin und Irene in ihrer Nähe stand, versuchte zu ergründen, was auf den Gesichtern von Sam und Aretha vorging. War es Furcht, Empörung, Zorn? Er konnte es nicht sagen. Es dauerte fast fünf Minuten, bis sich die drei Sklavenjäger damit zufrieden geben mußten, nichts gefunden zu haben. Enttäuschung stand auf ihren Gesichtern, als sie aus dem Prärieschoner kletterten. »Das war es dann wohl«, meinte Abner Zachary abschätzig zu Stanton. Der Anführer der Sklavenjäger schüttelte seinen Kopf und ließ seinen Blick über Wagen und Zelte schweifen. »Nicht ganz. Daß wir Jackson Harris nicht in diesem Wagen gefunden haben, bedeutet nicht, daß er nicht irgendwo hier im Lager versteckt ist.« »Also wollen Sie doch das gesamte Lager durchsuchen«, stellte Zachary grimmig fest und warf Marshal Webb einen vorwurfsvollen Blick zu. »Vielleicht wird das nicht nötig sein«, meinte Stanton mit sich plötzlich aufhellender Miene. Mit leuchtenden Augen blickte er einem kleinen, von zwei Pferden gezogenen Wagen entgegen, der langsam durch das Lager rumpelte. Vor dem Wagenkasten, einem hölzernen, geschlossenen Aufbau, hockte ein dürrer Mann, dessen längliches Gesicht von einem Ziegenbart beherrscht wurde. »Da kommt ja unser Mr. Blesser endlich«, sagte Stanton und winkte dem Fahrer zu, sein Gefährt zu ihm zu lenken. »Was soll das nun wieder bedeuten?« fragte Abner Zachary scharf mit Blick auf Webb. »Mr. Blesser besitzt die besten Bluthunde der Stadt«, erklärte der Marshal. Jacob fiel auf, daß bei der Erwähnung der Hunde ein Zucken durch Aretha Kelleys schmales, hübsches Gesicht lief. Auch ihr Mann bemerkte die Erregung seiner Frau und nahm sie fest in die Arme. So standen sie da und starrten dem Wagen des spindeldürren Mr. Blesser mit bangem Blick entgegen. »Wenn Mr. Blessers Hunde so gut sind, wie man sagt, werden wir bald wissen, ob sich Jackson Harris hier im Lager aufhält«, verkündete Stanton. »Blesser wollte uns sein bestes Tier bringen.« Blesser hielt den Wagen an, sprang ab und öffnete die Verriegelung der Tür hinten am Kastenaufbau. Er holte einen wenig sympathisch aussehenden Hund an einer Leine heraus, den er Bud nannte. Das Tier wirkte häßlich und brutal mit seiner breiten Schnauze, der klobigen Nase, eng zusammenstehenden Augen und großen Ohren, die, wenn sie hochgestellt waren, fast wie die Hörner auf Satans Schädel wirkten. Stanton holte etwas aus einer Satteltasche seines Rotfuchses, ein großes Stück Stoff. »Das ist ein Hemd, das der Nigger kurz vor seiner Flucht getragen hat«, erklärte er und reichte es dem dünnen Mann. »Hoffentlich kann Ihr Bud etwas damit anfangen, Mr. Blesser.« »Das werden wir gleich sehen«, sagte Blesser, nahm das zerknitterte Baumwollhemd, hielt es dem Hund unter die Nase und sagte dann zu ihm: »Such, Bud, such!« Der Hund fletschte die großen Zähne, stieß ein gefährlich klingendes Knurren aus und lief los, ehe Blesser noch das Hemd an Stanton zurückgeben konnte. Der Weg den Hund und Herr zurücklegten, war nicht lang, nur wenige Yards. Er endete vor dem großen Prärieschoner der Kelleys. Wie toll sprang Bud, laut bellend, an ihm hoch, als versuchte er, ins Innere zu gelangen. »Also doch!« stieß Stanton hervor und zog seinen Navy Colt aus dem Holster. Auch seine beiden Gefährten zogen ihre Waffen. Brad Folsom stellte sich mit dem Rücken zum Wagen, beide Revolver auf die Auswanderer richtend, um sie davon abzuhalten, ihnen in die Quere zu kommen. Das Funkeln in seinen Augen verriet, daß er jetzt in seinem Element war und nur auf eine Gelegenheit zum Abdrücken wartete. Als ein paar der Auswanderer ihre Waffen ziehen wollten, brachte sie ihr Captain mit ein paar beruhigenden Worten davon ab und wandte sich dann an Webb. »Besteht ein Grund, weshalb uns diese Männer mit ihren Waffen bedrohen, Marshal?« »Nein!« sagte Webb hart und sah dabei die Sklavenjäger streng an. Als diese keine Anstalten trafen, ihre Waffen wieder einzustecken, fügte der Marshal hinzu: »Ich sorge hier für die ordnungsgemäße Durchführung der Suchaktion, Mr. Stanton. Also stecken sie endlich Ihre Schießeisen weg!« Die harten und dennoch in einem ruhigen Tonfall gesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Erst stießen Stanton und Hatch Mc Pherson ihre Revolver zurück in die Holster. Schließlich tat es ihnen, wenn auch widerwillig, der ledergesichtige Folsom nach. »Ich verlange, daß der Wagen noch einmal durchsucht wird, Marshal!« sagte Stanton mit vorgerecktem Kinn. »Aber Sie haben ihn doch gerade ausgiebig durchsucht«, entgegnete Webb. »Ohne Erfolg.« Stanton drehte sich zu Blesser um. »Kann es sein, daß Ihr Köter sich irrt?« »Bud irrt sich niemals!« widersprach der Dürre mit einer Spur von Empörung. »Entweder befindet sich der Gesuchte in dem Wagen oder etwas, das ihm gehört hat.« »Wie meinen Sie das?« wollte der Anführer der Sklavenjäger wissen. »Es kann sein, daß sich in dem Wagen ein Kleidungsstück des Gesuchten befindet, etwas in der Art. Etwas, dessen Witterung Bud aufgenommen hat.« »Ja«, sagte Aretha Kelley und machte einen Schritt nach vorn. »Das kann gut sein. George trägt ein paar Sachen von seinem Onkel auf.« Sie sah ihren Sohn an. »Das stimmt doch, George?« »Ja, Ma«, bestätigte ihr ältester Sohn mit eifrigem Nicken. Plötzlich hatte Brad Folsom mit einer Geschwindigkeit, die fast zu schnell für das menschliche Auge war, wieder seine Revolver gezogen und sie auf den Wagenkasten des Prärieschoners gerichtet. Auch Webbs Hand glitt an seine Hüfte und kam mit einem schwarzglänzenden 44er zurück. Der Marshal zog den Hahn zurück und richtete den Sechsschüsser auf den hageren Beidhandmann. »Was soll das bedeuten, Mann?« fuhr er Folsom an. »Ich habe Ihnen doch gerade befohlen, die Schießeisen wegzustecken!« »Schießen Sie ruhig auf mich, Marshal«, erwiderte Folsom unbeeindruckt. »Aber ich schwöre Ihnen, daß ich vorher mindestens zwei Schüsse aus jeder Waffe auf den Wagen abgebe.« Webb sah ihn irritiert an. »Wozu soll das gut sein?« »Sie sollten sich den Wagen einmal von innen ansehen, Marshal«, sagte Folsom, als hätte er dessen Frage überhört. »Von draußen sieht er unglaublich tief aus, aber von innen merkt man nichts davon. Man sollte nicht glauben, wie einen der Eindruck täuschen kann.« Der Marshal überlegte kurz, betrachtete dabei den Prärieschoner und fragte dann: »Mr. Kelley, hätten Sie etwas dagegen, daß dieser Mann ein paar Schüsse auf Ihren Wagen abgibt?« Der Schmied antwortete nicht. Hilfesuchend wanderte sein Blick zwischen seiner Frau, Abner Zachary und dem Marshal hin und her. »Marshal, was soll dieses Schauspiel bedeuten?« polterte der graubärtige Treckführer. »Mischen Sie sich nicht ein, Zachary«, sagte Webb und richtete seinen Blick wieder auf den Schmied. »Ich warte auf eine Antwort von Mr. Kelley.« »Ich.«, begann der Schmied und brach dann wieder ab. Man sah dem verzweifelten Gesicht des kräftigen Mannes die Qualen an, die er durchlitt. Seine Frau schob sich vor Folsoms Revolverläufe und sagte erregt: »Ich lasse nicht zu, daß man auf unseren Wagen schießt!« Kaum hatte sie ausgesprochen, als aus dem Innern des Planwagens Geräusche nach draußen drangen, ein Knarren und Poltern. Dann streckte ein Schwarzer in den Dreißigern seinen Lockenkopf nach draußen. »Schießen Sie nicht«, bat er und kletterte nach draußen. »Ich ergebe mich.« Mit Tränen in den Augen fiel ihm Aretha um den Hals und schluchzte: »O Jack! Warum bist du nicht im Wagen geblieben?« »Es hatte keinen Sinn mehr«, erwiderte der Schwarze leise. Ein schwaches Lächeln spielte um seine aufgeworfenen Lippen. »Außerdem wurde es mir da drin langsam zu eng und zu stickig.« »Sind Sie Jackson Harris?« fragte Marshal Webb den Mann. »Und ob er das ist!« stieß Stanton hervor, sprang zu dem Mann und riß ihm das Hemd von der Schulter, so daß es in Fetzen an seinem Arm hing. Der Sklavenjäger entblößte ein großes Brandzeichen auf der Hinterseite der linken Schulter, wie es Jacob nur von Rindern kannte. Es war ein verschnörkeltes »P«. Einige der umstehenden Frauen wandten ihren Blick von dem schrecklichen Mal ab. Auch Irene, die ihren kleinen Sohn an sich drückte. Aber es waren nur weiße Frauen, die der Anblick schockierte. Wer dunkler Hautfarbe war, kannte solche Brandzeichen, trug sie oft sogar noch am eigenen Leib. »Das Brandzeichen der Penrose-Plantage!« triumphierte Stanton. »Er ist Jackson Harris, der Sklave, der Jefferson Penrose entlaufen ist.« Webbs prüfender Blick haftete noch immer auf dem Schwarzen in dem zerfetzten Hemd. »Stimmt das, Mister?« »Yeah, ich bin Jackson Harris.« Abner Zachary warf dem Schmied einen wütenden Blick zu. »Du hast mich angelogen, Bruder Sam!« »Ich mußte es tun. Für Aretha. Und für Jack! Als wir uns Ihnen anschlossen, Captain, und Aretha mich anflehte, ihren Bruder mit ins Gelobte Land, in die Freiheit zu nehmen, konnte ich einfach nicht nein sagen.« »Ja«, sagte der Prediger und nickte. »Ich hätte wohl auch so gehandelt.« »Und einen doppelten Boden in Ihren Wagen gebaut«, sagte Stanton abfällig und entschied: »Genug geschwatzt. Wir nehmen den Nigger mit, und die Sache ist erledigt.« Er ging zu seinem Pferd und holte ein Paar eiserner Handfesseln aus einer Satteltasche. »Nicht so schnell«, meinte der Marshal und trieb seinen kräftigen Apfelschimmel zwischen Stanton und den entflohenen Sklaven. »Was wollen Sie denn noch?« fragte der Anführer der Sklavenjäger ungeduldig. Folsoms Revolvermündungen änderten ihre Richtung, bis sie auf den Marshal zeigten. »Ich habe die Fahndung nach Jackson Harris auch gelesen«, sagte Webb. »Dort stand nicht nur etwas von einer Belohnung für die Rückführung des entlaufenen Sklaven, sondern auch etwas davon, daß sich Jackson Harris freikaufen könne.« Stanton nickte und grinste. »Yeah, Marshal, für zweitausendfünfhundert Dollar.« »Komisch«, brummte Webb und strich mit der linken Hand über seinen Schnurrbart. »Auf dem Steckbrief in meinem Office steht etwas von eintausendfünfhundert Dollar.« »Kann auch sein«, gab Stanton zähneknirschend zu. »Auch das ist noch viel zu viel«, sagte Abner Zachary. »Nicht in Zeiten wie diesen, in denen kräftige Sklaven knapp sind«, widersprach Stanton. Jacob wandte sich an den neben ihm stehenden Ben Miller, der seinen Karabiner in der Hand trug, und flüsterte: »Ich habe Abner Zachary für einen nicht ganz unvermögenden Mann gehalten. Hat ihm der Verkauf seiner Farm nichts eingebracht?« »Doch, schon«, antwortete Miller. »Aber er hat vielen der Schwarzen aus Stockten die Ausrüstung für den Treck finanziert. Dabei ist sein meistes Geld draufgegangen. Wir haben wohl alle nicht sonderlich viel Geld. Auch ich habe von der Bank bisher nur fünfhundert Dollar Anzahlung auf meine Farm erhalten. Den Rest kriege ich erst, wenn mein Land weiterverkauft ist. Von dem Geld sind uns nach allen Einkäufen für den Treck noch siebzig Dollar geblieben. Aber ich denke, ich kann für meine Familie sprechen.« Der Farmer trat einen Schritt vor und sagte laut: »Ich habe leider nur siebzig Dollar, aber die gebe ich gern!« Begeistert riß Abner Zachary den großen schwarzen Filzhut von seinem Kopf und rief: »Das ist ein guter Anfang, Brüder und Schwestern. Nehmt ihn euch zum Beispiel! Ich habe noch zweihundertfünfzig Dollar, die in meinen Hut kommen.« Er ging mit dem Hut umher und sammelte Geld ein. Jede der Emigrantenfamilien gab, was sie erübrigen konnte. Auch Jacob, Martin und Irene opferten bereitwillig ihre letzten Dollars. Nur ein grobschlächtiger Ire, ein gewisser Patrick O'Rourke, weigerte sich standhaft und vertrat die Ansicht: »Ich brauche mein Geld, um meine Familie und mich durchzubringen, wenn wir in Oregon sind!« Der Hut füllte sich zusehends und wurde schließlich auf das Fußbrett an der Frontseite des Kelley-Wagens geleert, um das Geld zu zählen. Es waren 1450 Dollar. »Fünfzig Bucks zuwenig«, frohlockte Stanton und ging mit den Eisenfesseln auf Jackson Harris zu. »Dann wollen wir mal!« Marshal Webb hatte seine lederne Geldbörse hervorgezogen und fünf Geldscheine herausgenommen. »Hier sind fünfzig Dollar, Mr. Stanton. Damit dürften Mr. Penroses Ansprüche befriedigt sein.« Als der Sklavenjäger den Polizei chef von Kansas City mit zusammengekniffenen Augen wütend ansah, wirkte er gar nicht mehr wie ein gutaussehender Gentleman, mehr wie ein der Hölle entsprungener Dämon. »Was geht die Sache Sie an, Marshal?« »Fragen Sie nicht, sondern nehmen Sie das Geld«, erwiderte Webb, beugte sich auf seinem Pferd zu Stanton hinunter und hielt ihm die Scheine unter die Nase. »Ärgert es Sie etwa, daß Sie bei dieser Sache weniger verdienen als bei der Rückführung des entlaufenen Sklaven? Zwanzig Prozent von der Kaufsumme für den, der sie Mr. Penrose überbringt - oder irre ich mich?« »Sie irren sich nicht«, knurrte Stanton, als er die Geldscheine ergriff. »Dreihundert statt fünfhundert Bucks, das ist ein ganz schöner Verlust.« »Sie verdienen doch immer noch dabei«, sagte Webb. »Und jetzt wollen wir die Formalitäten erledigen.« Stanton sah ihn mißtrauisch an. »Was für Formalitäten, Marshal?« »Den Papierkram. Wir werden eine von mir beglaubigte Urkunde über Mr. Harris' Freikauf aufsetzen.« Webb blickte in die Runde. »Zeugen haben wir ja genug hier.« Er sah Stanton scharf an. »Und damit keine Mißverständnisse auftreten: Ich werde Mr. Penrose telegrafisch über den Freikauf informieren und mich bei ihm erkundigen, ob er sein Geld erhalten hat.« Als das, was Webb als »Formalitäten« bezeichnet hatte, erledigt war, ritten die drei Sklavenjäger ziemlich übellaunig aus dem Lager. Es hatte ihre Stimmung nicht gerade gehoben, als Mr. Blesser für seine Dienste zehn Dollar verlangt hatte. Webb verließ den Treck mit den zu Abner Zachary gesprochenen Worten: »Ich hoffe, es gibt keine weiteren Schwierigkeiten für Sie, solange Sie in Kansas City sind.« Der Marshal konnte nicht ahnen, daß der Zusammenstoß mit den Sklavenjägern harmlos war im Vergleich zu dem, was den Auswanderern in seiner Stadt noch bevorstand. * Bei den Kelleys und dem freigekommenen Sklaven herrschte großer Jubel. Sie bedankten sich überschwenglich bei Abner Zachary und den anderen Leuten aus dem Treck, die geholfen hatten, Jackson Harris freizukaufen. Harris führte einen wahren Freudentanz auf und schwenkte dabei die von Marshal Webb ausgestellte Urkunde wie eine Fahne in der Luft herum. Für ihn war es wirklich eine Fahne, das Banner der Freiheit. Sam Kelley fragte den Treck-Captain, ob sich sein Schwager dem Treck anschließen dürfe, und Abner Zachary willigte ein. Die Freude auf dem Gesicht des Schmieds wurde von einem Schatten getrübt. »Ich habe aber kein Geld, um zusätzliche Vorräte für Jack einzukaufen.« »Das Geld hat wohl leider keiner hier«, meinte der Prediger. »Aber ein Esser mehr oder weniger läßt uns nicht am Hungertuch nagen.« Die allgemeine Ausgelassenheit klang etwas ab, als die Menschen daran erinnert wurden, daß ihre finanziellen Reserven jetzt völlig erschöpft waren. Falls eine unvorhergesehene Katastrophe eintrat, konnte ihnen das Fehlen von Geld schnell das Genick brechen. »Ich habe eine Idee«, meldete sich da zum allgemeinen Erstaunen George Kelley zu Wort. »Was für eine Idee, Junge?« erkundigte sich der alte Zachary. Sam Kelleys Sohn erzählte ihm von dem Rappen, den er im Trading Center gesehen hatte. »Mit ihm könnte ich das Rennen morgen gewinnen. Für den Sieger sind fünftausend Dollar ausgesetzt.« »Damit würde jeder, der etwas zu Bruder Jacksons Freikauf dazugetan hat, sein Geld dreifach zurückerhalten«, stellte der Prediger schnell fest. Von der Idee angetan, sah er den Jungen an. »Und für den Sieger des Rennens bliebe auch noch etwas übrig.« »Aber ist der Herr nicht gegen das Glücksspiel und das Wetten um Geld, Bruder Abner?« fragte ein älterer Schwarzer. Zachary schüttelte sein graues Haupt. »Nicht, wenn es für eine gute Sache ist. Davon steht in der ganzen Heiligen Schrift nichts.« »Ein schöner Gedanke«, meinte Sam Kelley und sah seinen Sohn an. »Aber es wird nicht gehen.« »Wieso nicht?« fragte der Prediger. »Weil der Rappe zweihundert Dollar kostet.« »Oh«, machte Abner Zachary nur. Soviel Geld hatte niemand mehr im Lager. Höchstens vielleicht der Ire O'Rourke, aber den brauchte man gar nicht erst zu fragen. »Dann verpfänden wir eben unseren Wagen und unsere Tiere für das Geld«, schlug Aretha Kelley vor. Der Schmied sah seine Frau zweifelnd an. »Und was machen wir, wenn George das Rennen nicht gewinnt?« »Dann findet der Zug ins Gelobte Land ohne uns statt. Für einen guten Schmied wird man auch in Kansas City Verwendung haben.« Aretha legte ihre Hände auf die Schultern ihres Mannes. »Und du bist ein guter Schmied, Sam. Außerdem vertraue ich unserem Sohn. Du weißt, daß sich kaum einer so gut mit Pferden auskennt wie er.« »Also gut, wir tun es«, entschied Sam. »Das sind wir unseren Freunden hier schuldig.« Sie fanden eine Bank, die Ihnen zweihundert Dollar für ihren Wagen und ihr Vieh lieh. Sollten die Kelleys das Geld nicht bis zur Abreise des Trecks mit zwanzig Prozent Zinsen zurückzahlen, würde das Pfand in den Besitz der Bank übergehen. Dann wurde das Pferd gekauft. George machte sich mit dem Rappen, den er wegen seiner Farbe und seines Temperaments »Black Thunder« taufte, schnell vertraut und begann mit dem Training. An diesem Tag arbeitete niemand mehr im Lager. Alle sahen gespannt zu, wie der Junge das Pferd ritt, immer schneller und rasanter. Das Rennen sollte am morgigen Nachmittag stattfinden. George Kelley hatte weniger als einen Tag, um der schnellste Reiter von Kansas City zu werden. Jacob ging früh am nächsten Morgen hinaus zu der Übungsstrecke, auf der George Kelley schon wieder sein neues Pferd ritt. Sie führte vom Rand des Lagers zu einer kleinen, kaum als Wald zu bezeichnenden Anhäufung mehrerer dürrer Bäume im Norden, von da in westlicher Richtung bis zu einem klobigen Doppelfelsen und dann wieder zurück zum Treck. Eine Strecke von ungefähr fünf Meilen, was in etwa der Rennstrecke entsprach. Martin gesellte sich zu seinem Freund und rief dem gerade losreitenden George zu, er solle Black Thunder nicht überanstrengen. »Keine Angst, Mr. Bauer, das ist der letzte Proberitt. Ich denke, schneller kann Black Thunder nicht werden.« »Hauptsache, Silver Dollar ist nicht schneller«, rief Martin dem davonpreschenden Jungen nach. Jacob musterte seinen Freund, der seine Mütze nicht aufgesetzt hatte. Sein rotblondes Haar war zerzaust. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Aber da war noch etwas, neben dem linken Auge, eine blaugrüne Verfärbung. »Hast du eins aufs Auge bekommen?« fragte Jacob. »Ja, gestern abend in der Stadt. Es gab eine Rauferei.« »Du warst ziemlich lange weg.« »Ja«, antwortete Martin ungewohnt einsilbig. »Wo warst du?« »Im Saloon.« Jacobs Augen leuchteten interessiert auf. »Etwa im Lightheart Palace?« »Ja.« »Hast du dich um Miß Anderson geprügelt?« Martin schüttelte den Kopf. »Ich habe mich gar nicht geprügelt. Ich bin nur in eine Schlägerei reingeraten. Deshalb bin ich gegangen.« »Gibt es etwas Neues von Miß Anderson?« »Ich habe keine fünf Worte mir ihr gewechselt«, sagte Martin, dessen Stimme und Gesichtsausdruck seine Enttäuschung darüber verrieten. »Und mehr werden es auch wohl nicht werden. Morgen geht es nach Oregon.« Weitere Auswanderer, die sich für George Kelleys Proberitt interessierten, traten zu ihnen, darunter auch Abner und Aaron Zachary. Der alte Zachary erkundigten sich bei den Deutschen, ob sie seinen Sohn Adam gesehen hätten. »Er scheint letzte Nacht nicht ins Lager zurückgekommen zu sein.« »Er war im Lightheart Palace«, berichtete Martin. »Etwa bei dieser, bei Miß Anderson?« »Sie haben viel miteinander gesprochen.« »Lange?« »Als ich ging, war Ihr Sohn noch da. Und ich ging spät, so gegen Mitternacht.« Weiter konnten sie sich nicht unterhalten, weil ein Mann auf einem Buckskin auf sie zuritt. Sie erkannten Marshal Webbs Stellvertreter vom Vortag, Grant Begley. Er zügelte sein Pferd dicht vor ihnen und sagte erregt zu dem Prediger: »Mr. Zachary, Marshal Webb bittet Sie dringend, mich sofort in die Stadt zu begleiten!« »Worum geht's denn?« fragte der Prediger, verwundert wie alle anderen. »Kommen Sie lieber mit!« Zachary nickte. »Also gut.« Der Deputy Marshal zog etwas aus einer Satteltasche und hielt es hoch. Es war eine abgetragene, speckige Mütze. »Weiß jemand, wem die Mütze gehört?« »Sie gehört mir«, sagte Martin. »Ich habe sie gestern im Lightheart Palace verloren.« Begley musterte ihn mit einem düsteren Blick, meinte dann aber nur: »Dann kommen Sie besser auch mit!« Er gab dem Deutschen seine Mütze nicht, sondern steckte sie wieder in die Satteltasche. Schließlich folgten Martin, Jacob, Abner Zachary und sein Sohn Aaron dem Deputy in die Stadt. Sie gingen zu Fuß, und Begley stieg von seinem Buckskin. Auf die drängenden Fragen seiner Begleiter schwieg er beharrlich und sagte nur immer wieder: »Der Marshal wird Ihnen alles erzählen.« Begley führte die kleine Gruppe zum mächtigen Gebäudekomplex des Trading Centers und dort in den großen Innenhof, wo sich inzwischen eine beträchtliche Menschenmenge versammelt hatte. Die erregten Menschen musterten die Neuankömmlinge mit neugierigen bis mißtrauischen Blicken. »Wo ist der Marshal?« fragte Begley einen anderen Deputy. »Im Saloon. Er spricht mit Frenchie.« Frenchie war der Spitzname von Francois Lacrois, dem französischstämmigen Salooner. Webb saß mit ihm an einem Tisch und schaufelte von einem Blechteller einen Haufen Eier mit Speck in sich hinein, während er dem kleinen breitschultrigen Franzosen hin und wieder Fragen stellte, die dieser wort- und gestenreich beantwortete. Der Polizeichef von Kansas City spülte sein Frühstück mit großen Schlucken aus einer blechernen Kaffeetasse hinunter. Als der Marshal Begley und seine Begleiter erkannte, schob er den Teller von sich, tupfte seinen Mund mit einem rotblau gemusterten Taschentuch ab, erhob sich und ging ihnen entgegen. »Haben Sie Mr. Zachary schon gesagt, um was es geht, Grant?« »Nein, Marshal. Ich dachte, das tun Sie lieber selbst.« »Das muß ich wohl«, meinte Webb mit finsterer Miene und winkte den anderen, ihm zu folgen, während er den Saloon verließ und eine enge Gasse neben dem Saloongebäude ansteuerte. Der Eingang zu dieser Gasse wurde von einem Deputy bewacht, der niemanden durchließ außer dem Marshal und seinen Begleitern. In der dunklen Gasse stank es nach Abfällen und Unrat. Ein paar eiserne Treppen rankten sich von hier an den steinernen Außenwänden der benachbarten Gebäude empor und führten zu Wohnungen, in denen Angestellte des Trading Centers lebten. Sie mußten nicht weit gehen, bis ihnen etwas Großes, das auf dem Boden lag, den Weg versperrte. Es war der Körper eines Mannes, groß gebaut mit breiten Schultern, jetzt aber seltsam verrenkt. Er lag auf der Seite. Unter seinem Oberkörper hatte sich ein großer dunkler Fleck auf dem staubigen Boden gebildet. Wie auch auf seiner Brust. Hier erkannte man die rote Färbung des Blutes, das aus einem Loch dicht bei seinem Herzen ausgetreten war. Die Augen in dem glatten Gesicht des dunkelhaarigen Mannes blickten starr in eine imaginäre Ferne; vielleicht sahen sie das Gelobte Land, wo immer es auch liegen mochte. »Adam!« schrie Abner Zachary auf, fiel neben seinem toten Sohn auf die Knie und rüttelte an seinem Oberkörper, als könnte er ihn damit aus seinem tiefen Schlaf erwecken. »Adam, antworte mir! So sag doch etwas, mein Sohn!« »Er ist tot, Mr. Zachary, seit vielen Stunden schon«, sagte Marshal Webb. »Er war es schon, als er am frühen Morgen von Buck Saunders gefunden wurde.« »Tot«, flüsterte Abner Zachary und dachte an den Verlust seiner Frau. »Schon wieder einer. tot.« Sein Sohn Aaron faßte ihn unter die Schultern und half seinem Vater, sich zu erheben. Kaum stand der Prediger wieder auf seinen Füßen, da straffte sich sein Körper. In seinen eisgrauen Augen blitzte es auf, als er Webb anschaute. »Wie ist das passiert, Marshal?« »Er wurde erstochen«, antwortete Webb und sah Begley an. »Haben Sie das Messer, Grant?« »Klar, Marshal«, meinte der Deputy und zog ein Messer aus seiner Jackentasche, dessen Schneide mit einem Tuch umwickelt war. Als er es aus dem Tuch zog, war dieses blutig. Es war ein langschneidiges Arkansasmesser mit Ebenholzgriff und Sägerücken. »Das Messer paßt in eine Scheide am Gürtel Ihres Sohns, Mr. Zachary«, erläuterte der Marshal. »Hat es ihm gehört?« »Ja«, antwortete der Prediger leise. »Ich habe es Adam zu seinem vierzehnten Geburtstag geschenkt. Vierzehn Jahre hat er es getragen, und jetzt.« Seine Stimme verebbte, und er dachte einen Moment nach, bevor er murmelte: »Man hat Adam also mit seinem eigenen Messer ermordet, Marshal?« Webb nickte. »Wer hat das getan?« »Wir wissen es nicht.« »Doch«, sagte da Begley und zeigte mit der Messerspitze auf Martin. »Der German war es!« Aller Augen richteten sich überrascht auf den Deputy und auf Martin. »Wie kommen Sie darauf, Grant?« fragte Webb. »Die Mütze, die wir bei der Leiche gefunden haben, gehört ihm. Er hat es mir gegenüber zugegeben, unter Zeugen.« »Wenn Sie die Mütze meinen, die Sie mir gezeigt haben, ist es wirklich meine«, sagte Martin. »Aber ich habe Adam Zachary nicht getötet. Ich war noch niemals zuvor in dieser Gasse.« »Wie kommt dann Ihre Mütze dahin?« forschte Webb nach. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich sie gestern abend im Saloon verloren habe.« »Haben Sie Adam Zachary im Saloon getroffen?« »Nein.« »Das ist nicht wahr!« brauste der Prediger auf. »Sie haben vorhin zu mir gesagt, daß Sie ihn im Saloon getroffen haben.« Martin schüttelte seinen Kopf. »Das stimmt nicht, Mr. Zachary. Ich habe nur gesagt, daß ich ihn da gesehen habe. Aber ich habe kein einziges Wort mit ihm gesprochen. Und als ich zum Lager zurückging, war Ihr Sohn noch im Saloon, quicklebendig. Fragen Sie Miß Anderson. Sie war bei ihm.« Die Gruppe ging in den Saloon, und Frenchie holte Urilla aus ihrem Zimmer im Obergeschoß. Die junge Frau im bunten Morgenmantel hatte ein verweintes Gesicht, und noch immer flossen Tränen aus ihren hellgrünen Augen. Allen war klar, daß sie die Tränen wegen Adam Zacharys Tod vergoß. Webb rückte ihr einen Stuhl an dem Tisch zurecht, an dem er zuvor gefrühstückt hatte. Dankbar ließ sie sich darauf sinken. Der Marshal wiederholte Martins Aussage und fragte die Frau, ob sie das bestätigten könne. »Ich habe Mr. Bauer gestern abend hier gesehen, das stimmt. Ob Adam mit ihm gesprochen hat, weiß ich nicht. Ich selbst habe mich nur kurz mit Mr. Bauer unterhalten. Wann er gegangen ist, weiß ich auch nicht. Irgendwann war er nicht mehr da.« »War zu diesem Zeitpunkt Adam noch bei Ihnen?« Sie überlegte kurz und nickte dann. »Ja, Marshal.« »Da hören Sie es!« triumphierte Martin. »Ich kann es also nicht gewesen sein.« »Warum nicht?« fragte Webb. »Sie können Adam Zachary vor dem Saloon aufgelauert und ihn in die Gasse gelockt haben.« »Aber ich sage Ihnen doch, daß ich noch nie in dieser Gasse war!« »Das ist eine Behauptung von Ihnen, die nichts beweist. Sie müßten beweisen können, daß Sie ins Lager zurückgekehrt sind, als Adam Zachary noch lebte.« »Wie kann ich das?« »Jemand müßte Sie bei Ihrer Rückkehr bemerkt haben.« Hoffnungsvoll schaute Martin seinen Freund an. Aber Jacob konnte nur sagen, daß Martin sehr spät aus der Stadt zurückgekehrt war. Martin war leise genug gewesen, daß Jacob nicht richtig wach geworden war. Jetzt bedauerte der Bauernsohn seine Rücksichtnahme. »Wie lange war Adam Zacharys bei Ihnen, Miß Anderson?« fragte der Marshal. »Genau weiß ich es nicht.« »So ungefähr.« »Bis etwa eine halbe Stunde nach Mitternacht, würde ich sagen. Dann hat sich Adam verabschiedet, weil er zurück ins Lager wollte.« »Was haben Sie dann getan?« »Gearbeitet, noch etwa zwei Stunden, bis Frenchie den Laden zugemacht hat.« »Über was haben Sie und Adam gesprochen.« Urilla sah den Prediger an und schlug dann schnell die Augen nieder. »Über uns und über den Treck. Adam wollte mich mitnehmen, aber er wußte nicht, wie er es seinem Vater beibringen sollte. Mr. Zachary hält nämlich nicht viel von mir.« »Adam hätte sich nicht mit Ihnen einlassen sollen«, platzte es aus dem graugesichtigen Mann heraus. »Das hat ihm den Tod gebracht!« Urilla wurde von einem Weinkrampf geschüttelt und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Marshal Webb warf dem Prediger einen tadelnden Blick zu und meinte dann: »Es sieht alles so aus, als sei Mr. Bauer unser Hauptverdächtiger. Unser einziger Verdächtiger, um genau zu sein. Ich muß Sie bitten, Ihre Waffen abzulegen und mich zum Gefängnis zu begleiten.« »Aber welchen Grund soll ich gehabt haben, Adam Zachary zu töten?« fragte Martin erregt. »Eifersucht«, kam die Antwort von Aaron Zachary. »Jeder, der nur ein halbwegs gesundes Auge im Kopf hat, konnte sehen, daß Sie sich in. in das Mädchen verguckt haben, genau wie mein Bruder.« Webb sah Martin prüfend an. »Stimmt das?« Der Deutsche nickte nur. Urilla starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. * Als Martin von Webb und Begley zum Stadtgefängnis gebracht wurde, begleitete sie Jacob. Er konnte kaum glauben, was hier geschah. Es war wie in einem Alptraum. Vor einer Stunde noch war die Welt in Ordnung gewesen. Das einzige Problem, was ihn und Martin beschäftigt hatte, war das Pferderennen. Wirklich? Jacob fragte sich plötzlich, weshalb Martin an diesem Morgen so einsilbig gewesen war. War es nur die Erkenntnis, daß Urilla Anderson seine Gefühle nicht erwiderte? Oder war es mehr gewesen, was ihn bedrückte? Das Wissen, einen anderen Menschen - seinen Rivalen - ermordet zu haben? Jacob dachte an Martins verlorene Mütze. Vielleicht hatte er sie wirklich verloren, aber dann möglicherweise in der schmalen Gasse neben dem Saloon. Und dann Martins blaues Auge. Gewiß, er mochte es sich bei einer Rauferei zugezogen haben. Aber vielleicht bei einem Kampf, den Adam Zachary um sein Überleben führte. Jacob mußte Aaron Zachary recht geben: Das Motiv war da. Auch dem Zimmermann war aufgefallen, daß sich sein Freund Martin mächtig in das hübsche Mädchen aus dem Saloon verguckt hatte. Wie schnell konnte bei einem Streit unter Rivalen, die im Saloon reichlich Bier und Schnaps genossen hatten, das Messer gezückt werden. Vielleicht hatte es Adam sogar zuerst gezogen, und Martin hatte sich nur verteidigt. Aber wieso hatte er das dann verheimlicht? Aus Angst, niemand würde ihm glauben? Zerknirscht mußte Jacob zugeben, daß alle Anzeichen gegen Martin sprachen. Als Jacob sah, wie sein Freund hinter die dicken Steinmauern und die starken Gitterstäbe gesperrt wurde, schämte er sich plötzlich seiner Gedanken. Er dachte daran, welche Abenteuer und Gefahren er und Martin schon gemeinsam überstanden hatten, nachdem sie sich in Hamburg kennengelernt und dort das Auswandererschiff bestiegen hatten. Ohne Martins Hilfe wäre es dem wegen versuchten Mordes von der preußischen Polizei gesuchten Jacob nicht einmal gelungen, aufs Schiff zu kommen. Martin hatte ihm stets treu zur Seite gestanden und niemals auch nur die Anzeichen eines schlechten Charakters offenbart. Es war fast ein Verrat, ihn als Mörder auch nur in Erwägung zu ziehen. Es mußte eine andere Erklärung dafür geben, daß man Martins Mütze bei der Leiche gefunden hatte. Vielleicht ein Komplott wie das, was man in Deutschland gegen Jacob geschmiedet hatte, indem ihn Bertram Arning des versuchten Mordes bezichtigte. Dabei hatte Jacob den Sohn des Bierkönigs Conrad Arning in einem Pistolenduell verletzt, zu dem der junge Arning ihn herausgefordert hatte. Aber das Wort des reichen Bierbrauersohns Bertram Arning galt mehr als das des armen Zimmermanns Jacob Adler. Ein Komplott ähnlich wie das auf dem Flußdampfer ONTARIO, auf dem Jacob und seine Freunde den Ohio hinuntergefahren waren. Damals hatte eine Südstaatenspionin versucht, Jacob und Martin den von ihr verübten Doppelmord an zwei Matrosen anzuhängen. Auf der Straße vor dem Gefängnis aufbrandender Lärm riß Jacob aus seinen Gedanken. Es waren laute Stimmen, die etwas skandierten. Bald erkannte es Jacob. Sie forderten die Herausgabe von Martin - um ihn aufzuhängen. Sein Freund hinter den mehr als fingerdicken Gitterstäben wurde noch blasser, als er es in den letzten Minuten ohnehin schon geworden war. »Ich sehe mal nach«, versprach ihm Jacob und folgte dem Marshal und seinem Deputy Begley, die vor die Tür getreten waren. Auf der Straße hatte sich eine Meute von etwa dreißig bis vierzig Männern versammelt, die ihre Stimmen anhoben, als sie den Marshal und seine Begleiter erblickten. Es waren durchweg Gesichter, die Jacob kannte. Sie gehörten Männern aus dem Treck. Angeführt wurde der Mob von Abner Zachary und den beiden ihm verbliebenen Söhnen. Der Prediger hatte einen dicken Hanfstrick in der Hand und hielt ihn hoch. »Geben Sie den Mörder meines Sohns heraus, Marshal!« schrie er mit seiner mächtigen, dröhnenden Stimme. »Wir werden ihn selbst richten!« »Um Recht zu sprechen und durchzusetzen, dafür sind die Gerichte da, Mr. Zachary«, belehrte ihn Webb. »Wir halten uns an Gottes Gesetz!« »Hat Gott gesagt, man darf einfach so Menschen aufhängen?« »Wissen Sie nicht, was in der Heiligen Schrift steht, Webb? Auge um Auge, Zahn um Zahn!« »Selbst wenn das wahr wäre, so müßte Mr. Bauers Schuld erst einmal erwiesen sein, bevor er bestraft wird.« »Das ist sie doch!« fuhr Aaron Zachary den Marshal an. »Alles spricht gegen den Deutschen!« »Sollte man ihm nicht wenigstens Gelegenheit geben, etwas anzuführen, das für ihn spricht? In einer ordentlichen Gerichtsverhandlung?« »Das dauert viel zu lange«, widersprach Aaron. »Wir brechen morgen nach Oregon auf. Wir wollen sehen, wie der Mörder meines Bruders bestraft wird. Er soll hängen!« Er stürmte nach vorn und wollte auf den Vorbau klettern, auf dem Webb, Begley und Jacob standen. Ein paar der aufgebrachten Männer folgten ihm. Der schwarzglänzende 44er flog in Webbs Faust, und die Mündung zielte auf Aaron. »Zwingen Sie mich nicht zu schießen!« sagte der Marshal mit viel mehr Härte als zuvor. »Ich würde es nämlich tun!« Auch Begley und Jacob zogen ihre Waffen und brachten damit das Vorrücken des Mobs zum Stillstand. »Sie würden auf unschuldige Menschen schießen, um einen Mörder zu verteidigen?« fragte Abner Zachary den Marshal. »Daß Mr. Bauer ein Mörder ist, ist noch nicht bewiesen. Wenn Sie ihn einfach so hängen, sind Sie die Mörder! Gedulden Sie sich doch etwas. Vielleicht finden sich heute noch Anhaltspunkte, die Mr. Bauer entlasten. Schließlich ist er einer Ihrer Leute!« »Das steht nicht fest«, sagte der Prediger hart. »Er ist noch nicht lange bei uns. Ob er zu uns gehört, halte ich für sehr fraglich nach dem, was ich jetzt weiß.« Er sah auf den Strick in seiner Hand, auf seine beiden Söhne und auf die Waffen in den Händen der drei Männer auf dem Vorbau. »Also gut, Marshal. Ich gebe Ihnen einen Tag Zeit. Aber wenn sich Bauers Unschuld bis morgen früh nicht erwiesen hat, kommen wir zurück!« * Jacob verließ das Gefängnis erst, als ihm Marshal Webb versprochen hatte, für Martins Sicherheit zu sorgen. Mehrere Bewaffnete sollten ständig auf Wache sein. Wenn Jacob einem Mann in Kansas City zutraute, daß er Martin vor einem Lynchmord bewahrte, war das der Marshal, der sich als ebenso aufrichtig wie couragiert erwiesen hatte. Fast schien Webb selbst nicht so ganz an Martins Schuld zu glauben. Aber bei der Lage der Dinge blieb ihm gar nichts anderes übrig. Vom Gefängnis ging Jacob eiligen Schrittes zurück zum Treck. Er machte sich Sorgen um Irene und Jamie, weil er befürchtete, daß die aufgebrachten Aussiedler ihren Zorn an ihnen auslassen könnten. Das bunte Treiben in der Stadt, wo eifrige Vorbereitungen für das heutige Pferderennen und das große Volksfest am nächsten Tag getroffen wurden, nahm er kaum wahr. Als er am Stadtrand in das Gewirr aus Planwagen und Zelten eintauchte, wurde er von feindseligen Blicken geradezu durchbohrt. Als Freund des Mannes, den alle für den Mörder von Adam Zachary hielten, hatte er kaum Sympathien zu erwarten. Schließlich war Abner Zachary der Wohltäter vieler Menschen hier, wie Jacob gestern von Ben Miller erfahren hatte. Außerdem hatte sich herumgesprochen, daß Jacob vor dem Gefängnis seinen Revolver auf die lynchwütigen Emigranten gerichtet hatte. Ohne sich weiter um die Blicke und das Getuschel der Menschen zu kümmern, steuerte Jacob zielstrebig den Platz an, wo sein Wagen stand. Als er sah, daß Irene und Jamie nichts geschehen war, atmete er auf. Sie waren nicht seine Familie, aber er fühlte für sie fast so, wie er für seine eigene Frau und sein Kind gefühlt hätte. Ein paar der besonneneren Auswanderer, darunter die Kelleys und die Millers, kümmerten sich um Irene und Jamie und sorgten dafür, daß sie von den anderen in Ruhe gelassen wurden. Irene und die befreundeten Familien bestürmten Jacob mit tausend Fragen über Martin und den Mord. Jacob antwortete sehr knapp und kehrte dann in die Stadt zurück. Ein Blick in Abner Zacharys Granitgesicht hatte ihm gezeigt, daß der Prediger noch immer von Rachsucht regiert wurde. Falls Zachary seine Drohung wahrmachen wollte, blieb Jacob nur ein Tag, um Martin zu helfen. Ein einziger Tag, um den wahren Mörder zu finden. Jacobs Ziel war der Lightheart Palace. Hier hatte sich der Mord ereignet. Hier hatten das Opfer und der angebliche Mörder den letzten Abend verbracht. Hier lebte und arbeitete Urilla Anderson, die Frau, die der Anlaß für den Mord sein sollte. Hier hoffte Jacob Antworten auf die Fragen zu finden, die in ihm bohrten. Er fand den Saloon für die frühe Tageszeit - es war noch lange hin bis Mittag - gut besucht vor. Das mochte zum einen mit dem bevorstehenden Pferderennen zusammenhängen. Sicher war aber der Mord der Hauptgrund für den großen Andrang. Neugier und Sensationslust trieben die Menschen herbei und bescherten Frenchie ein gutes Geschäft. Dem Salooner, der hinter der langen, sich fast den ganzen in die Tiefe führenden Raum entlangziehenden Mahagonitheke stand, kam mit dem Einschenken der Getränke kaum nach. Die Fliege unter seinem spitzen Kinn war verrutscht, der weiße Hemdkragen von Schweißflecken beschmiert und die weiße Schürze ebenfalls befleckt. Als Jacob ins Halbdunkel des großen Raums trat, lenkte er sofort die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die Männer links an der Bar drehten sich um und sahen ihn neugierig an. Ihre erregten Gespräche verstummten. Es war plötzlich so still, daß man hörte, wie Jacobs Stiefel auf dem feinen Sand knirschten, der den Boden bedeckte, damit er leichter gereinigt werden konnte. Jacob steuerte auf eine Lücke in der langen Menschenreihe vor der Theke zu, schob sich, die vielen Blicke mißachtend, hindurch und winkte Frenchie zu sich heran, um ihn nach Urilla zu fragen. »Sie ist oben auf Ihrem Zimmer«, antwortete Frenchie mit seinem starken französischen Akzent. »Aber Sie sollten besser nicht hinaufgehen.« »Auch wenn Adam Zacharys Tod Miß Anderson schwer getroffen hat, ich muß ihr unbedingt ein paar Fragen stellen. Schließlich geht es um den Kopf meines Freundes.« »Was wollen Sie Urilla fragen?« erkundigte sich ein großer, vollbärtiger Mann in abgetragener Kleidung und mit schwielenbedeckten Händen. »Etwa, wieso sie sich an jeden Auswanderer heranmacht, der durch diese Stadt kommt?« »Was soll das heißen?« fragte Jacob nach. »Gar nichts«, sagte Frenchie schnell. »Chuck Dullenty redet zuviel, wenn er vormittags schon Whiskey trinkt.« »Was für Whisky?« fragte der Bärtige in einer Mischung aus Empörung und Betrübnis, während er sein leeres Glas von der Theke nahm und in der Luft umdrehte. »Da ist kein Tropfen mehr drin.« »Darf ich Sie auf ein Glas einladen, Mr. Dullenty?« fragte Jacob, und der Bärtige nickte begeistert. Der Auswanderer kratzte seine letzten Cents zusammen, um die Getränke bezahlen zu können. Jeder ein Glas Maiswhiskey in der Hand, zogen sie sich an einen ruhigen Ecktisch zurück, über dem die Reklametafel einer Brauerei an der Wand prangte. Sie weckte in Jacob unliebsame Erinnerungen an seine Heimatstadt Elbstedt und die Brauereifamilie Arning. Die Männer an der Bar setzten ihre Gespräche fort, sahen dabei aber immer wieder neugierig zu dem Ecktisch herüber. »Was meinten Sie eben mit Ihrer Bemerkung, Urilla würde sich an jeden Auswanderer in dieser Stadt heranmachen?« fragte Jacob den Bärtigen, nachdem sie sich zugeprostet und den ersten Schluck getrunken hatten. »Ach, nichts«, winkte Dullenty zu Jacobs Enttäuschung ab. »Wie Frenchie schon sagte, ich rede manchmal zuviel.« Der Bärtige nahm einen weiteren Schluck und genoß es sichtlich, wie das scharfe Gebräu durch seine Kehle rann. »Wahrscheinlich haben Sie mit Ihrer Bemerkung auch ein bißchen übertrieben«, sagte Jacob wie beiläufig. Dullenty knallte das Glas auf die Tischplatte und funkelte Jacob aus seinen rotgeäderten Augen an. »Ich übertrieben? Daß ich nicht lache! Dieses Frühjahr ist noch kein Treck von Kansas City nach Westen abgefahren, dem sich Urilla nicht hätte anschließen wollen. Aber sie hat Pech und Clayton.« »Was ist Clayton?« »Nicht was, sondern wer, Freund. Alan Clayton ist der Mann, mit dem Urilla nach Kansas City gekommen ist. Clayton sorgt schon dafür, daß sie sich mit keinem anderen davonmacht. Für ihn ist Urilla eine Art Privateigentum. Außerdem lockt sie viele Opfer an seinen Tisch.« »Opfer?« »Yeah. Alan Clayton ist ein Kartenhai.« »Ein Falschspieler?« Dullenty lachte glucksend und leerte sein Glas. »Das behauptet so mancher, dem er das letzte Hemd und die letzte Hose ausgezogen hat. Aber falls er falsch spielt, hat ihn bisher niemand erwischt. Und keiner würde es wagen, ihm ins Gesicht zu sagen, er sei ein Betrüger. Clayton kann nämlich sehr unangenehm werden.« »Inwiefern?« »Schießeisen, Messer, suchen Sie es sich auch, Mister. Clayton kann mit allem umgehen. Und obwohl er so schlanke Finger hat wie Murray, der hier jeden Abend auf dem Klavier herumklimpert, auch mit den Fäusten. Urilla kann ein Lied davon singen.« »Wieso?« »Weil sie öfter mal mit einem blauen Auge auftaucht.« Jacob dachte an Martins Veilchen und fragte sich, ob da ein Zusammenhang bestand. Aber wenn Martin an Clayton geraten war, wieso hatte er es dann nicht gesagt? »Waren Sie gestern abend auch hier, Mr. Dullenty?« Der Bärtige grinste. »Klar doch, wie jeden Abend.« »Gab es am späten Abend eine Rauferei?« »Das können Sie laut sagen, Freund. So wie gestern sind hier die Fäuste schon lange nicht mehr geflogen.« Er sah zur Theke hinüber. »Der arme Frenchie hatte schon Angst, sein ganzes Museum würde zu Bruch gehen.« »Was war der Grund dafür?« »Keine Ahnung.« Dullenty hob seine breiten Schultern und ließ sie wieder sinken. »Braucht man dazu einen Grund?« »Wissen Sie, ob sich Mr. Clayton oder mein Freund Martin an der Schlägerei beteiligt haben?« »No, Mister. Aber normalerweise hält sich Clayton solcher Dinge fern.« »Sprechen die Gentlemen von mir?« bohrte sich eine scharfe Stimme in Jacobs Rücken. Plötzlich spürte der Deutsche die Gegenwart eines anderen Mannes ganz dicht hinter sich. Aber er hatte ihn nicht kommen hören. Er mußte sich leise wie eine Katze herangeschlichen haben. Dullenty riß die Augen auf und starrte den Mann hinter Jacob fast furchtsam an. »Sie dürfen nichts falsches denken, Mr. Clayton. Ich habe dem Fremden hier nur ein paar Fragen beantwortet. Wirklich nur ein paar Fragen. Es wird jetzt Zeit für mich. Ich habe noch viel zu erledigen.« Ohne Jacob noch einmal anzusehen, erhob sich der Bärtige und verließ den Saloon mit eiligen Schritten. Jacob drehte sich auf seinem Stuhl um und sah den Mann an, dessen bloße Anwesenheit dem kräftigen Dullenty solche Angst eingejagt hatte. Auf den ersten Blick hätte man das nicht für möglich gehalten. Der Mann wirkte nicht besonders groß und nicht sehr kräftig. Sein schlanker, fast zierlicher Körper steckte in einem taubengrauen Dreiteiler. Auf seinem schmalen Kopf saß ein dunkler Hut. Aber der Mann besaß eine unheimliche Ausstrahlung. Sein Gesicht war so scharf gemeißelt, daß man glaubte, sich an seinen Zügen schneiden zu können wie an einem Rasiermesser. Scharf und stechend war auch der Blick, den er Jacob aus bernsteinfarbenen Augen zuwarf. Die Bedrohlichkeit, die von dem Mann ausstrahlte, war fast körperlich spürbar. »Mr. Alan Clayton?« erkundigte sich Jacob. »Yeah«, lautete die ganze Antwort. »Mit wem habe ich das Vergnügen?« Jacob nannte seinen Namen. »Was hatten Sie mit dem Schwätzer Dullenty über mich zu reden, Mr. Adler?« Jacob erklärte es ihm, bemühte sich aber, den Spieler nicht als Verdächtigen hinzustellen. »Ich war an keiner Schlägerei beteiligt«, erklärte Clayton. »Und Ihren Freund kenne ich nicht. Im übrigen ist es nicht mein Problem, wenn er gehängt wird. Aber es ist mein Problem, wenn Sie Gerüchte über mich verbreiten. Ich muß Sie daher bitten, das in Zukunft zu unterlassen!« Er schob seine Jacke über der rechten Hüfte zurück und entblößte ein schwarzledernes Holster, in dem ein vernickelter Revolver mit Perlmuttgriffschalen steckte. Dann wandte er sich um und ging zur Tür. »Wenn mich jemand sucht, Frenchie, ich bin geschäftlich unterwegs, beim Pferderennen.« Erst als Alan Clayton den Saloon verlassen hatte und die Männer ihre Gespräche wiederaufnahmen, wurde Jacob bewußt, daß vorher eine angespannte Stille geherrscht hatte. Aller Augen waren auf Jacobs Tisch gerichtet gewesen. Anscheinend hatte man nur darauf gewartet, daß sein Blut vergossen wurde. Angewidert stand er auf. Trotz Claytons Warnung fragte er Frenchie nach Urillas Zimmernummer. Dann stieg er die Treppe zum Obergeschoß hinauf. Als Jacob in nördlicher Richtung dem Startplatz für das große Pferderennen zustrebte, war auf den vollgestopften Straßen kaum noch ein Durchkommen. Ganz Kansas City war auf den Beinen und über den Missouri in den Westteil der Stadt gekommen, um das Schauspiel mitzuerleben und vielleicht bei einer Wette ein paar Dollars zu gewinnen - oder zu verlieren. Aber nicht nur die Einwohner der Stadt erschwerten dem Deutschen das Vorankommen. Je mehr es auf den Mittag zuging, desto mehr Wagen rollten von den umliegenden Ortschaften, Plantagen und Farmen in die Stadt am Big Muddy. Selbst aus den angrenzenden Countys kamen die Menschen, um das Wettrennen zu sehen und den morgigen Unabhängigkeitstag mit Paraden, Konzerten, einem großen Markt und allerlei Wettbewerben in Kansas City zu verbringen. Hotels, Pensionen und private Quartiere waren innerhalb kürzester Zeit ausgebucht. Wo immer ein Dach vor dem Regen schützte, wollte sich ein Mensch für die Nacht zum Schlafen niederlassen. Unter anderen Umständen hätte Jacob den Trubel genossen, hätte freudig mitgefeiert im Gedanken an den ersten Unabhängigkeitstag, den er in seiner neuen Heimat erlebte. Aber nichts lag ihm jetzt so fern wie Feiern. Noch nie seit seiner Ankunft im Hafen von New York war seine Stimmung so gedrückt gewesen. Tausend Fragen drehten sich in seinem Kopf. Wann immer er eine Antwort fand, warf sie neue Fragen auf und vergrößerte seine Verwirrung nur noch. Urilla Andersen war zu seiner großen Enttäuschung keine Hilfe gewesen. Sie hatte sich geweigert, mit ihm zu reden, hatte ihn nicht einmal ins Zimmer gelassen. Sie hatte nur kurz durch die verschlossene Tür mit ihm gesprochen, mit tränenerstickter Stimme. Er verstand ihren Schmerz um Adam Zachary, was immer sie für ihn empfunden haben mochte; nachdem er von ihrem Verhältnis mit Alan Clayton erfahren hatte, war er sich da nicht mehr so sicher. Aber um Martin beizustehen, benötigte er jede Hilfe, die er bekommen konnte. Leider bekam er keine. Er wußte selbst nicht so recht, was ihn jetzt zu dem Pferderennen trieb. Ihn beschäftigten drängendere, schwerwiegendere Probleme als das Rennen. Aber da sich sowieso fast alle Menschen in der Stadt das Rennen ansehen wollten, konnte er es ihnen gleichtun. Wen immer er sprechen wollte, er würde ihn vermutlich hier finden - falls er ihn in dem bunten Gewimmel der menschlichen Ameisen entdecken konnte. Es war purer Zufall, daß er auf Marshal Webb stieß, dem er von seiner Begegnung mit Alan Clayton erzählte. »Sie halten Clayton für den Mörder, Mr. Adler?« vergewisserte sich der Polizeichef. »Ich weiß nicht, ob er der Mörder ist. Aber zumindest ist er ein Verdächtiger. Er hatte denselben Grund für die Tat, den man meinem Freund unterstellt: Urilla Anderson. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, und nach meiner persönlichen Begegnung mit ihm halte ich ihn einer solchen Tat durchaus für fähig. Sie etwa nicht?« »Die Fähigkeit, einen Mord zu begehen, ist genauso wenig ein Beweis für die Täterschaft wie ein Mordmotiv.« »Aber weshalb sperren Sie dann Martin ein?« »Vergessen Sie nicht die Mütze, die wir bei der Leiche gefunden haben! Außerdem ist Ihr Freund hinter den Mauern des Gefängnisses derzeit am sichersten aufgehoben. An jedem anderen Ort der Stadt könnte ich nicht für seine Sicherheit garantieren.« Jacob dachte an den aufgebrachten Lynchmob und gab dem Marshal recht. Das Bild von Abner Zachary, der mit dem Strick in der Hand vor dem Gefängnis stand und Martins Auslieferung verlangte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Plötzlich durchfuhr ihn ein ganz neuer Gedanke, vielleicht etwas kühn, aber nicht von der Hand zu weisen. »Ja, das wäre möglich«, murmelte der in Gedanken versunkene Auswanderer in sich hinein, ohne zu bemerken, daß er laut sprach. »Wovon reden Sie, Adler?« Verwirrt sah Jacob den Marshal an. »Ach, nichts, nur so ein Gedanke.« »Hat dieser Gedanke mit dem Mord zu tun?« Jacob nickte. »Dann sollten Sie ihn mir mitteilen. Je mehr ich über die Sache weiß, desto eher kann ich die Wahrheit ans Licht bringen.« »Es ist kein Wissen, nur eine Vermutung, die Abner Zachary betrifft. Der Prediger war nicht besonders erbaut davon, wie sehr sein Sohn Adam Miß Anderson zugeneigt war, um es einmal milde auszudrücken. Wäre das nicht ein Motiv für die Tat?« Webb starrte den Deutschen ungläubig an. »Sind Sie übergeschnappt, Adler? Ein Vater bringt seinen Sohn doch nicht gleich um, bloß weil er sich in das falsche Girl verliebt hat!« »So meine ich das nicht. Urilla hat erzählt, daß Adam sie kurz nach Mitternacht verließ, weil er es eilig hatte, zum Treck zurückzukehren. Vermutlich fürchtete er eine Strafpredigt seines strengen Vaters, wenn er zu lange wegblieb. Nehmen wir einmal an, der alte Zachary war schon über Adams Wegbleiben erbost und ist in die Stadt gegangen, um ihn zu holen. Sie trafen sich vor dem Saloon und gerieten in eine Auseinandersetzung. Der angetrunkene Adam zog sein Messer, aber im Handgemenge traf es seine eigene Brust.« Für eine halbe Minute befingerte Webb überlegend seinen Schnurrbart. Dann nickte er bedächtig und sagte: »Das ist eine hübsche Theorie, Adler. Aber Sie haben wieder die Mütze Ihres Freundes vergessen.« »Ich glaube Martin, daß er sie verloren hat. Vielleicht sah Abner Zachary sie irgendwo und legte sie neben die Leiche, um den Verdacht auf Martin zu lenken. Oder Adam hat sie gefunden und mitgenommen, um sie Martin wiederzugeben.« »So könnte es sich abgespielt haben«, gab Webb zu. »Aber solange es keine Zeugen oder Beweise dafür gibt, ist es nichts als eine hübsche Theorie.« Das stimmte leider. Abner Zachary konnte der Mörder sein. Oder Alan Clayton. Oder jeder andere unter den vielen tausend Menschen, die jetzt die Straßen von Kansas City bevölkerten. * Jackson Harris störten die Menschenmassen, die zum Pferderennen in die Stadt geflutet waren, nicht. Er hatte sich solange in dem engen Kasten des Prärieschoners verstecken müssen, daß das Eingekeiltsein zwischen den ausgelassenen Menschen für ihn eine angenehme Abwechslung war. Vielleicht genoß er es auch deshalb so, weil er sich zum erstenmal in seinem Leben als freier Mensch unter freien Menschen bewegen konnte. Manchmal zuckte er noch zusammen, wenn er den Stern eines Ordnungshüters oder die Uniform eines der vielen in Kansas City stationierten Soldaten erblickte. Dann mußte er sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, daß er sich nicht mehr verstecken mußte. Daß das Brandmal auf seinem Rücken nur noch die Erinnerung an eine dunkle Vergangenheit war. Daß er nicht mehr ein Sklave, sondern ein freier Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika war. Dann zwang er sich geradezu, dem Deputy Marshal oder dem Soldaten in die Augen zu sehen, ganz offen, wie es ein freier Mann tun konnte. Das tat ihm gut. Jackson hatte die Familie seines Schwagers und Black Thunder zum Startplatz des Pferderennens begleitet. Aber dann war er von der Menschenmenge abgedrängt worden und hatte sich einfach treiben lassen. Es gab viel anzusehen und zu bestaunen an den vielen Ständen, wo man beim Loskauf sein Glück versuchen, beim Three Card Monte die Schnelligkeit seiner Augen beweisen, beim Hau-den-Lukas seine Kraft erproben oder viele leckere Speisen und Getränke erstehen konnte. Die Buden machten gute Geschäfte und würden am morgigen Tag der Unabhängigkeit noch bessere machen. Der ehemalige Sklave enthielt sich all dieser Verlockungen. Er hatte kein Geld. Aber das störte ihn nicht. Allein der Umstand, sich frei bewegen zu können, war für ihn ein größeres Vergnügen als all die lauthals angepriesenen Attraktionen zusammengenommen. Dann kam der große Augenblick des Pferderennens. Jackson hatte sich inzwischen so weit vom Startplatz im Norden der Stadt entfernt, daß er am Straßenrand auf eine alte Kiste steigen mußte, um zu erkennen, was am Start vor sich ging. Ein korpulenter Mittvierziger mit cholerisch rotem Gesicht und weißem Backenbart hatte ein Podest erstiegen, genoß den aufbrandenden Applaus, nahm den grauen Zylinder vom Kopf und verneigte sich nach allen Seiten. Wie Jackson hörte, war das der Veranstalter des Rennens, Homer C. Asquith. Als sich die Menge beruhigt hatte, begann Asquith mit einer Rede, die immer wieder die Vorzüge der vielen Geschäfte in seinem Trading Center lobte. Dann beschrieb er die Rennstrecke, die um den westlich des Missouri gelegenen Teil von Kansas City herum- und durch die breite Straße, an deren Ende der Startplatz lag, wieder zu diesem hinführen sollte. Der Start war also zugleich das Ziel der etwa fünf Meilen langen Strecke. Die Pferde, die sich an dem Rennen beteiligten, wurden von ihren Reitern zum Start geführt. Asquith' Schimmel Silver Dollar, der von einem jungen Halbblut geritten wurde, war der eindeutige Favorit. Ähnlich gute Wetten waren nur noch auf den Palomino eines jungen Farmers abgeschlossen worden; das Tier hörte auf den Namen »Golden Sun«. Black Thunder war ein absoluter Außenseiter, auf den nur sehr wenige Wetten abgeschlossen worden waren. Aber als Asquith mit einer kleinen versilberten Pistole das Startsignal gegeben hatte, schafften es George Kelley und sein Rappe aus dem Stand, hinter Silver Dollar und Golden Sun den dritten Platz zu belegen. Jackson Harris drückte seinem Neffen fest die Daumen, als er, tief über Black Thunders schlanken Hals gebeugt, aus der Stadt galoppierte. Die Pferde waren gerade aus seinem Sichtfeld verschwunden, als Jackson seinen Namen zu hören glaubte. Er drehte sich um und sah eine junge Schwarze, fast noch ein Mädchen, die in einer nahen Gasse stand und nach ihm rief. Verwundert stieg er von der Kiste und ging auf sie zu. Woher kannte sie seinen Namen? Gehörte sie zum Treck? Er konnte sich nicht an sie erinnern. Dabei hatte sie ein hübsches Gesicht. Bevor er sie erreicht hatte, verschwand sie in der Gasse und winkte ihm, ihr zu folgen. Als er das tat und um eine Ecke bog, war die junge Frau verschwunden. Dafür sah er sich einer bösen Überraschung gegenüber. Drei Männer, die er nur zu gut kannte, versperrten ihm den Weg: der gut gekleidete Everett Stanton, der ledergesichtige Brad Folsom und der Riese Hatch McPherson. Folsom hielt seine beiden Revolver auf Jackson gerichtet und zog die Hähne mit einem bedrohlichen Klicken zurück. Auf den Gesichtern der Sklavenjäger lag ein diabolisches Grinsen. »Hallo, Mr. Sklave«, begrüßte ihn Stanton mit falscher Freundlichkeit. »Ich bin kein Sklave mehr!« »Sobald du wieder auf der Penrose-Plantage bist, kräht danach kein Hahn.« »Sie können mich nicht dorthin zurückbringen. Ich bin ein freier Mann!« Jackson zog den Lederbeutel mit seiner Freikaufurkunde aus der Hosentasche, kramte das Papier hervor und hielt es Stanton unter die Nase. »Hier steht es.« »Nicht mehr«, meinte der Anführer der Sklavenjäger nur und riß ihm die Urkunde aus der Hand, die er in kleine Stücke zerfetzte. Die Papierschnipsel segelten auf den schmutzigen Boden, teilweise in eine große Pfütze. »Sie Schwein!« heulte der Schwarze auf und wollte sich auf Stanton stürzen. Aber Big Hatch war schneller. Der Riese packte Jackson, warf ihn hart gegen eine steinerne Hauswand und bog seine Arme auf den Rücken, so daß Stanton ihm eiserne Handschellen anlegen konnte. »Was wollen Sie von mir?« fragte Jackson, aus dessen Nase Blut floß. »Das habe ich dir doch schon gesagt, Nigger«, antwortete Stanton. »Wir bringen dich zurück zu deinem Herrn. Hast du etwa geglaubt, wir würden uns die fünfhundert Dollar Prämie entgehen lassen?« »Aber der Freikauf!« Stanton grinste noch mehr. »Eine hübsche Stange Geld für meine Freunde und für mich.« »Der Marshal wird Mr. Penrose von der Sache unterrichten.« »Nicht wenn wir schnell sind und die Telegrafenleitung zerstören.« Stanton gab Folsom ein Zeichen. Der Mann mit dem Ledergesicht trat vor, hob die Rechte und ließ einen Revolver schwer auf Jacksons Hinterkopf krachen. Benommen fiel der Schwarze zu Boden. Big Hatch holte die vier Pferde, die in einem Hinterhof gestanden hatten. Nur drei waren gesattelt, das vierte ein Packpferd. Die Sklavenjäger steckten ihr Opfer einfach in einen großen Mehlsack, banden ihn zu und schnürten ihn auf dem Packpferd fest. Während ganz Kansas City gebannt dem Pferderennen zusah, ritten sie durch kleine Seitenstraßen unbehelligt aus der Stadt. * Das Pokerspiel schleppte sich mühsam dahin. Keiner der drei Männer im Büro des Stadtgefängnisses war richtig bei der Sache. Alle weilten mit den Gedanken beim Pferderennen, daß sie wegen dieses Deutschen verpaßten. Moses Peacham, der alte, graubärtige Gefängniswärter, hätte zwar sowieso hier sein müssen, um die paar Betrunkenen und Randalierer zu bewachen, die derzeit im Jail einsaßen. Aber die beiden Deputy Marshals, Grant Begley und Bill Stoner, die zusätzlich Wache schoben, waren nur hier, um Martin Bauer zu beschützen. Daß der alte Moses die meisten Pokerrunden und damit das meiste Geld gewann, war alles anderes als geeignet, um die miese Stimmung der beiden Deputys zu heben. Der pferdegesichtige Stoner hatte gerade endgültig die Nase von dem Spiel voll und sammelte die wenigen Geldmünzen ein, die ihm übriggeblieben waren, als ein schwerer Schlag die verschlossene Bürotür erbeben ließ. Die drei Männer sprangen von den Stühlen auf und griffen nach ihren Waffen, als die hölzerne Tür abermals erbebte und aufsprang. Sie gab den Blick frei auf eine große Auswandererschar, angeführt von Abner Zachary. Ein paar Männer hatten die Tür mit einem als Rammbock benutzten Baumstamm aufgesprengt und ließen ihr schweres Hilfsmittel auf den hölzernen Boardwalk krachen. Die Deputys und der Gefängniswärter richteten ihre Waffen auf die hereinströmenden Männer. Aber die waren auch bewaffnet und in der eindeutigen Überzahl, etwa zehn zu eins. Nur der Prediger war unbewaffnet. Aber das stimmte nicht ganz. Seine Waffen waren seine Trauer, sein Zorn und die Macht, die er über seine Leute hatte. »Keinen Schritt weiter!« stieß Begley hervor, während er versuchte, die Übermacht mit seinem sechsschüssigen Kerr-Revolver in Schach zu halten. »Sie können auf uns schießen, Deputy« , sagte Abner Zachary. »Aber sie können nicht uns alle umbringen. Wenn Sie schießen, müssen Sie auch darauf gefaßt sein zu sterben!« Langsam ging der Prediger auf Begley zu, den stählernen Blick seiner grauen Augen geradezu in die Augen des Deputys bohrend. »Wollen Sie sterben, Deputy?« fragte Zachary. »Lohnt es sich, sein Leben für einen gemeinen Mörder zu lassen?« Der Prediger stand jetzt dicht vor Begley und streckte seine Hand aus. »Geben Sie mir Ihre Waffe, Deputy, und schon ist alles für Sie vorbei!« Grant Begley zögerte. Er dachte an den deutschen Auswanderer, dessen Sicherheit Marshal Webb ihm anvertraut hatte. Aber lohnte es sich, für ihn zu sterben, wenn er wirklich ein Mörder war? Und wenn nicht er, wer sonst sollte der Mörder sein? Andererseits hatte Begley geschworen, notfalls mit seinem Leben für die Wahrung der Gesetze einzutreten. Während der Deputy noch nachdachte, waren ein paar Männer des Mobs in den Rücken der drei Wächter geschlichen. Jetzt krachten die Kolben und Läufe von Revolvern auf ihre Köpfe, schickten sie zu Boden und nahmen ihnen die schwere Entscheidung ab. »Was sollen wir mir ihnen machen, Vater?« fragte Aaron Zachary. »Wenn sie zu früh aufwachen, verraten sie uns.« »Sperrt sie in eine Zelle!« entschied der Prediger. Die Auswanderer holten Martin aus seiner Zelle und sperrten an seiner Stelle seine bewußtlosen Aufpasser hinein. »Was habt ihr mit mir vor?« fragte Martin den alten Zachary, in dessen grauen Augen der Haß auf den Mörder seines Sohns funkelte. »Wir bringen dich ins Lager« , teilte ihm der Prediger mit. »Und dort wirst du gehängt!« Die Landschaft flog nur so an dem tief über Black Thunders Hals hängenden George Kelley vorbei, während seine Augen, seine Nase und sein Mund von Staub verklebt wurden. Es hatte jetzt einige Tage nicht geregnet, und die heiß vom blauen Himmel herabbrennende Sommersonne trocknete den Boden schnell wieder aus. Das gab dem Jungen einen Vorgeschmack auf die langen Tage, die der Wagenzug durch die Weiten der Prärien rumpeln würde. Aber daran dachte George jetzt nicht. Sein Denken wurde nur von der Frage beherrscht, wie er den Schimmel und den Palomino, deren Hufe vor ihm den Boden aufwühlten, endlich einholen konnte. Jetzt, auf der Hälfte der Strecke, waren alle anderen Teilnehmer weit abgeschlagen. Es war klar, daß sich das Rennen zwischen Silver Dollar, Golden Sun und Black Thunder entscheiden würde. Der Palomino, den nur eine Pferdelänge von Black Thunder trennte, war vielleicht noch schnell einzuholen. Das Pferd war nicht schlecht, aber der flachsblonde Farmer auf seinem Rücken holte nicht die Höchstleistung aus ihm heraus. Auch saß er viel zu gerade auf dem Tier und bot der Luft zuviel Widerstand. Das Halbblut auf dem Schimmel stellte sich viel geschickter an, beugte sich, wie auch George, tief über den Pferdehals und gebrauchte hin und wieder die Reitgerte in seiner Rechten, um das Tier anzutreiben. Zwischen Silver Dollar und Black Thunder lagen etwa vier Pferdelängen. Asquith' Favoriten zu überholen, war das eigentliche Problem. George beschloß, daß es allmählich an der Zeit war, den schlanken Rappen unter sich anzuspornen, wollte er das Rennen und damit die fünftausend Dollar, die die Auswanderer so gut gebrauchen konnten, noch gewinnen. Bis jetzt hatte er sein Pferd geschont, weil er es nicht zu schnell ermüden wollte. Black Thunder war pfeilschnell, aber er konnte seine Spitzengeschwindigkeit nicht über eine Strecke von fünf Meilen halten. Am liebsten hätte George mit seinem Angriff noch länger gewartet. Aber dann bestand die Gefahr, daß der Abstand zu Silver Dollar zu groß wurde, um ihn im Endspurt noch einzuholen. George benutzte keine Reitgerte, um den Rappen anzutreiben. Der dunkelhaarige Junge streichelte sein Pferd und flüsterte ihm die Koseworte ins Ohr, an die er Black Thunder während des kurzen Trainings hoffentlich gewöhnt hatte. Wenn nicht, war jetzt alles zu spät. George jubilierte innerlich, als er spürte, wie Black Thunder sein Tempo steigerte. Die schwarzen Beine flogen nur so durch die Luft, und die Hufe schienen kaum noch den Boden zu berühren. Der jugendliche Reiter hatte tatsächlich das Gefühl, durch die Lüfte zu schweben. Der Flachskopf auf dem Palomino machte ein völlig verdattertes Gesicht, als der Rappe an ihm vorbeizog wie an einem müde vor sich hin trottenden Ochsen im Joch. George grinste darüber. Aber er wußte auch, daß er noch nicht gewonnen hatte. Mehr als zwei Pferdelängen trennten ihn vom langen Schweif des Schimmels. Und der Halbindianer ließ wieder die Reitgerte sprechen, als er sah, wie Black Thunder näherkam. Noch einmal steigerte Silver Dollar sein Tempo. Die restliche Strecke betrug etwa zwei Meilen. Nach einer halben Meile hatte der Rappe seinen Rivalen eingeholt. Als sich das Halbblut kurz umwandte und erkannte, wie nah im George schon gekommen war, zeichnete sich für einen kurzen Augenblick Panik in seinen schmalen, dunklen Augen ab. Dann blickte es wieder nach vorn und schlug den Schimmel noch härter mit der Gerte. Aber es nutzte nichts. Silver Dollar gab bereits sein Bestes. Black Thunder dagegen schien vom nahen Sieg angespornt zu werden, ohne daß sein Reiter etwas dazutun mußte. Leichtfüßig griff der Rappe noch schneller aus und zog mit dem Schimmel gleich, als die Entfernung zum Ziel auf eine Meile zusammengeschrumpft war. Die letzten achthundert Yards führten durch die Stadt. Auch zuvor war die Strecke von Schaulustigen gesäumt gewesen. Aber je näher die Pferde der Stadt kamen, desto mehr wurden es. Innerhalb der Stadtgrenzen waren es Tausende, die das Rennen verfolgten und ihre Favoriten anfeuerten. Daß der Außenseiter Black Thunder mit dem erfolgsverwöhnten Silver Dollar um den Sieg kämpfte, rief großes Erstaunen unter den Zuschauern hervor. Der Lärm der Menschen, an den Silver Dollar gewöhnt war, erschreckte Black Thunder ein wenig, und er fiel zurück, als die beiden Pferde die Stadtgrenze erreichten. George streichelte sein Pferd beruhigend und sprach wieder zu ihm, während Häuser, Stände und Menschen um sie herum ständig wechselten und dabei zu einem bunten, lauten Brei verschmolzen. Black Thunder erholte sich von seinem Schrecken und griff wieder gleichmäßiger aus. Er war eine halbe Pferdelänge hinter den Konkurrenten zurückgefallen und kämpfte sich nun Zoll um Zoll wieder nach vorn. Auf einer Distanz zum Ziel von vierhundert Yards lagen beide Tiere erneut Kopf an Kopf. Wieder sah George die Panik in dem bräunlichen Gesicht des Halbbluts. Und wieder klatschte die Gerte auf Silver Dollars Flanken. Der Schimmel strengte sich an, aber gerade das war zuviel. Schaum trat vor sein Maul, und er wurde fast sekündlich langsamer. Black Thunder zog mühelos an ihm vorbei und lief mit zwei Pferdelängen Vorsprung über die Ziellinie. Als George den Rappen langsam austraben ließ, herrschte erst atemlose Stille, so sehr waren alle Zuschauer von Black Thunders Sieg überrascht. Aber dann brandeten lauter Jubel und Hurrarufe auf. Selbst diejenigen, die nicht auf den Rappen gewettet hatten, freuten sich in der Mehrzahl über den Sieg des Außenseiters. Homer C. Asquith jedoch saß mit versteinerter Miene auf seiner Tribüne und warf dem Halbblut finstere Blicke zu. George sonnte sich in seinem Erfolg, der nicht weniger der Erfolg von Black Thunder war. Aber der dunkelhäutige Junge freute sich nicht nur über den Sieg an sich, sondern noch mehr über das Geld, das den Auswanderern sicher einige Strapazen erleichtern würde. Selbst Marshal Webb und Jacob fielen bei Black Thunders Sieg in die Hurrarufe ein. Für einen Moment hatte Jacob seine Sorgen vergessen und freute sich ganz einfach, daß Sam Kelleys Sohn es geschafft hatte. Die Freude für Jacob und den Marshal währte nicht lange. Zwei aufgeregte, kreidebleiche Deputys, Grant Begley und Bill Stoner, kämpften sich mühsam durch die Menschenmenge und waren froh, als sie ihren Boß fanden. Man sah ihnen auf den ersten Blick an, daß etwas nicht in Ordnung war. »Sie haben den German«, keuchte der schmächtige Begley und war so sehr außer Atem, daß er sich nach vorn beugen und seine Hände auf die Knie stützen mußte. »Wer?« fragte Webb nur. »Der Prediger und die anderen Auswanderer«, antwortete Stoner. »Sie haben das Gefängnis gestürmt und uns niedergeschlagen. Den German haben sie mitgenommen, um ihn im Lager aufzuknüpfen. Uns haben sie in seine Zelle gespürt. Zum Glück kam kurz darauf die Tochter vom alten Moses vorbei, um uns frischgebackenen Brombeerkuchen vorbeizubringen. Sonst säßen wir jetzt noch in der Zelle.« »Wie lange ist der Überfall her?« »Noch keine fünfzehn Minuten, Marshal«, erklärte Stoner. »Vielleicht schaffen wir es noch, wenn wir uns beeilen«, sagte Webb und beschlagnahmte die nächstbesten Pferde, die vor einem Saloon an den Holm gebunden waren. Auf ihnen galoppierten die drei Ordnungshüter und Jacob zum Lager des Trecks, die Straße entlang, die auch als Rennstrecke diente. Die letzten Rennpferde kamen ihnen dabei entgegen. Irene, die bei den Kelleys und den Millers stand, sah ihnen besorgt nach. Jacob hätte ihr gern erklärt, was los war, aber dazu blieb keine Zeit. Vor seinem geistigen Auge sah er deutlich das Schreckensbild seines Freundes, der mit gebrochenem Genick an einem Baum hing. Als die vier Männer den Treck erreichten, war es fast soweit. Martin saß mit auf den Rücken gefesselten Händen auf dem Rücken eines Braunen. Um seinen Hals lag eine Schlinge aus dickem, rauhem Hanf. Der Strick war an einem starken Ast der großen Buche befestigt, in deren Schatten das knochige Pferd stand. Der Lynchmob hatte einen Kreis um Martin gebildet und schien nur darauf zu warten, daß Abner Zachary seine Bibel schloß, seine Strafpredigt beendete und das Zeichen für die Hinrichtung gab. Ohne Rücksicht auf die Auswanderer trieben Jacob, Webb und die Deputys ihre Pferde durch die auseinanderspritzenden Kreis der Männer. Bis es nicht mehr weiterging, weil ein paar aus der Menge ihre Gewehre hoben und auf die Reiter richteten. »Noch einen Schritt weiter, und ich pumpe Ihnen eine Ladung Blei in den Magen, Marshal!« drohte der grobschlächtige Ire Patrick O'Rourke, der Webb mit einer kurzläufigen Krider-Rifle bedrohte. Neben ihm stand sein rothaariger Bruder Liam, eine doppelläufige Schrotflinte in den stark behaarten Händen. »Mischen Sie sich nicht ein, Marshal!« dröhnte jetzt auch Abner Zachary. »Das ist nicht mehr Ihre Angelegenheit !« Webb sah dem Prediger ins Gesicht und sagte ruhig: »Machen Sie sich nicht unglücklich, Zachary. Ihr Sohn ist ermordet worden, das ist tragisch genug. Bringen Sie nicht noch mehr Unglück über Ihre Familie, indem Sie noch selbst zum Mörder werden!« »Geschwätz«, zischte der Prediger verächtlich. »Ich bin nur das Werkzeug Gottes, das den Mörder meines Sohnes seiner verdienten Strafe zuführt.« »Sie irren sich«, erwiderte der Marshal. »Es ist genau umgekehrt. Indem Sie Gott für Ihre Mordtat bemühen, degradieren Sie ihn zu Ihrem Werkzeug.« »Reden Sie nicht!« fuhr ihn der alte Zachary an und hielt die Bibel hoch. »Ich kenne die Heilige Schrift genau und muß mir keine Belehrungen über Gott anhören.« Sein seltsamer Blick, eisig kalt und doch vor Zorn flammend, richtete sich auf Martin, der starr und blaß auf dem knochigen Braunen saß. »Der Herr ist mein Hirte, und ich bin sein Werkzeug«, murmelte der Prediger und schlug mit unerwarteter Heftigkeit auf die Kruppe des Braunen, der mit einem lautem Wiehern nach vorn sprang. Martin rutschte vom Pferderücken und blieb an der Buche hängen. Es sah fast aus wie das Schreckensbild, das Jacobs Phantasie beherrscht hatte. Kurz nur. Dann war Jacob heran, der sein Bowiemesser gezückt hatte, als er sah wie Abner Zachary seinen Blick auf den angeblichen Mörder seines Sohns richtete. Mit einem kräftigen Schnitt hatte er den Strick durchgetrennt, und Martin fiel auf den Boden, wo er liegenblieb und sich nicht rührte. Zu spät! schoß es durch Jacobs Kopf. Martin ist tot! Doch in diesem Moment glaubte Jacob zu sehen, wie den Körper seines Freundes ein Zucken durchlief. Ein Lebenszeichen oder eine Sinnestäuschung? Als er vom Pferd steigen wollte, um nach Martin zu sehen, richtete Patrick O'Rourke seine 75er Krider auf Jacob. »Keine weitere Bewegung, Dutch!« stieß der Ire hervor. »Unsere Geduld ist erschöpft!« Jacob fragte sich, weshalb sich gerade die O'Rourkes so vehement für Martins Hinrichtung einsetzten. Soweit er gehört hatte, waren sie nicht mit den Zacharys von Stockton gekommen, sondern erst hier in Kansas City zu dem Treck gestoßen. Eine besondere Verbundenheit zur Familie Zachary konnte es also nicht sein, die Patrick und Liam O'Rourke gegen Martin Partei ergreifen ließ. Jacob nahm an, daß es die pure Gemeinheit und Lust an den Qualen anderer war, die den beiden Iren in ihre abstoßenden, breiten Gesichter geschrieben stand. Diese Gedanken zuckten in Bruchteilen von Sekunden durch Jacobs Kopf und wurden durch einen Schuß abrupt beendet. Hatte Patrick O'Rourke abgedrückt? Aber der Ire selbst schrie auf und ließ die kurzläufige Rifle fallen. Mit der linken Hand griff er sich an die rechte Schulter. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Sein Bruder Liam und die übrigen Bewaffneten, die nach den Schützen suchten, waren dadurch lange genug abgelenkt, daß Marshal Webb und seine beiden Deputys ihre Revolver ziehen und in Anschlag bringen konnten. Jacobs suchendes Auge entdeckte den Mann, der auf O'Rourke geschossen hatte. Genauer gesagt, waren es zwei Männer, ein Weißer und ein Schwarzer. Sie standen mit gezogenen Waffen auf dem Bock eines Prärieschoners. Der Deutsche konnte es erst kaum glauben, als er die Gesichter erkannte. Es waren Männer, die er aus Blue Springs kannte. Sie hatten erst Quantrill geholfen, die Stadt einzunehmen, aber dann, als sie ihr Fehlverhalten einsahen, den Bürgern der Stadt geholfen. Es waren Custis Hunter, Sohn eines von den Leuten aus Blue Springs ermordeten Plantagenbesitzers, und sein ehemaliger Sklave Melvin. Jacob glitt aus dem Sattel und kniete sich neben seinem Freund hin. Martin schlug gerade die Augen auf und starrte Jacob an wie einen Geist. »Ich hätte nicht gedacht, daß es im Himmel einen Doppelgänger von Jacob gibt«, krächzte er. Der junge Zimmermann grinste seinen Freund erleichtert an. »Und ich hätte nicht gedacht, daß du dies hier für den Himmel hältst, mein Freund.« Der Schuß auf Patrick O'Rourke hatte die lynchwütigen Auswanderer eingeschüchtert und ihnen gezeigt, daß der Tod kein Spiel war. Daß er auch sie jederzeit treffen konnte. Es gelang Jacob und den Ordnungshütern, Martin unter der Rückendeckung von Custis Hunter und Melvin aus dem Lager und in die Stadt zu bringen, wo der geschwächte Deutsche in die Obhut eines Arztes gegeben wurde. Marshal Webb trommelte ein halbes Dutzend vertrauenswürdiger Männer zusammen, die er zu Hilfspolizisten vereidigte und als Wachen im Haus des Arztes ließ. Jacob bedankte sich bei den beiden unerwartet aufgetauchten Helfern und erfuhr, daß sie mit dem Zug aus Blue Springs gekommen waren und sich dem Auswanderertreck anschließen wollten. Deshalb waren sie zum Lager des Trecks gegangen. Mit ihnen waren Virginia Cordwainer, die Mutter von Custis' kleinem Sohn, und ihre schwarze Dienerin Beth in die große Stadt am Missouri gereist. Custis hatte die Plantage seines Vaters verkauft, nachdem er allen Sklaven die Freiheit geschenkt hatte, und wollte sich fern im Westen eine neue Existenz aufbauen. Für sich und seine Familie. Er gedachte Virginia in Kürze zu heiraten. Vielleicht würde es eine Doppelhochzeit werden, kündigte Melvin an, der Gefallen an Beth gefunden hatte. * Dieser heiße Julitag schien nicht dazu bestimmt zu sein, Jacob und seinen Freunden längerfristig Freude zu bereiten. Sam Kelley und Ben Miller suchten aufgeregt den Marshal, in ihrer Begleitung eine junge Schwarze. Sam berichtete, wie er seinen verschwundenen Schwager gesucht hatte und dabei auf die Frau gestoßen war, die ihn ansprach, als er Jackson Harris' Namen rief. Sie hatte gesehen, wie drei Weiße den ehemaligen Sklaven entführt hatten. Ihrer Beschreibung nach handelte es sich bei den Weißen eindeutig um die Sklavenjäger. Bowden Webb sah die Schwarze skeptisch an. »Woher kannten Sie den Namen des Entführten?« Die Schwarze zögerte mit der Antwort. Ihre Augen hielten dem bohrenden Blick des Marshals nicht stand. »Woher?« drängte Webb. »Sie haben ihn mir genannt«, antwortete die Frau leise. »Sie? Die drei Weißen?« Sie nickte stumm. »Warum?« »Ich sollte den Mann, Harris, in die Gasse locken. Sie sagten, er sein ein Freund von ihnen, und es sollte ein Scherz sein. Sie gaben mir drei Dollar dafür.« »Aber es war kein Scherz«, stellte der Marshal mehr fest, als daß er es fragte. »Nein«, bestätigte die Frau. »Sie bedrohten Harris, schlugen ihn nieder, legten ihn auf ein Pferd und ritten mit ihm davon.« »In welche Richtung?« »Zum Fluß.« »Sie wollten über den Big Muddy«, stellte Sam Kelley fest. »Natürlich«, sagte Marshal Webb. »Sie wollen schnellstmöglich zurück nach Stockton, um dort von Mr. Penrose die Prämie für die Rückführung des entlaufenen Sklaven zu kassieren.« »Aber wir haben ihn doch freigekauft!« sagte Kelley. »Die Brüder wollen doppelt kassieren«, meinte Webb und traf dann Anordnungen, um einen Verfolgertrupp zusammenzustellen. Bill Stoner protestierte: »Die Sklavenjäger haben das Stadtgebiet wahrscheinlich längst verlassen, Marshal. Damit halten sie sich außerhalb unserer Zuständigkeit auf.« »Dann reiten wir eben als Privatleute mit«, entgegnete Webb. Sein Deputy gab klein bei. * Keine zwanzig Minuten später hatte der fünfzehn Mann starke Verfolgertrupp den breiten Missouri überquert und verließ Kansas City in südöstlicher Richtung. Er bestand aus Webb, Begley, Stoner, Jacob, Custis Hunter, Melvin, Sam Kelley, Ben Miller und ein paar Männern vom Treck, vornehmlich Schwarze. Jacob brachte sein Pferd an die Seite des Marshals und rief mitten im Galopp: »Welchen Weg schlagen wir ein? Wir wissen doch gar nicht, wohin sich Stantons Trupp wendet.« »Wir kennen die Richtung. Stanton wird den kürzesten Weg nehmen, der durch den Whitewater Canyon führt. Ich kenne eine Abkürzung, einen schmalen Hohlweg durch die Felsen. Wenn wir schnell genug sind, erreichen wir den Whitewater Canyon vor den Sklavenjägern und können ihnen dort auflauern.« »Und wenn Stanton einen anderen Weg nimmt oder auch eine Abkürzung kennt?« »Dann haben wir Pech gehabt - und Harris auch.« Nach einer halben Stunde scharfen Rittes wurde das Gelände felsig und stieg immer steiler an. Bald bedeckte soviel lockeres Geröll den Boden, daß die Pferde nur noch im Schritt gehen konnten. Vorsichtig setzten sie ein Bein vor das andere, um nicht auf den losen Steinen auszurutschen und zu stürzen. »Das sieht mir aber nicht gerade nach einer Abkürzung aus«, meinte Custis Hunter zu Jacob. »Hierher!« rief in diesem Moment der Marshal, winkte den Reitern hinter ihm und lenkte sein Pferd auf ein dunkles Loch zwischen den Felsen zu. Der Hohlweg, von dem Webb gesprochen hatte, entpuppte sich als ein wahres Labyrinth. Immer wieder zweigten andere Wege ab, die nach Webbs Aussage aber nur Sackgassen waren. Zielsicher führte der Marshal seine Leute zwischen den hohen, scharfzackigen Felsen hindurch, die so eng beieinander standen, daß keine zwei Reiter nebeneinander Platz fanden. Nach einer Viertelstunde verbreiterte sich der Weg allmählich, und schließlich lag der Whitewater Canyon vor ihnen. Ein langes, mehrfach gewundenes Tal zwischen den hoch aufragenden, bizarren Felsformationen, das in vielen Jahrtausenden durch ein Wasserbett in den Stein gewaschen worden war. Dieser einstmals vielleicht mächtige Strom war jetzt nur noch ein kleines Rinnsal in der Mitte des Canyons, das ohne die heftigen Regenfälle vor einigen Tagen vielleicht gar nicht zu sehen gewesen wäre. Der weiße Felsengrund schimmerte durch das höchstens knietiefe Wasser und war verantwortlich für den Namen des Canyons. Bowden Webb wies seine Männer an, hinter einer scharfen Biegung in Stellung zu gehen. Er selbst löste das Seil von seinem Sattel und lief zu einer spitzen Felsnadel auf der rechten Seite, um das er ein Seilende knotete. Dann hastete er durch den Creek auf die andere Seite des Canyons, zog das Seil straff und band es an einem großen dürren Strauch fest. Das Seil war etwa in Kniehöhe über dem Boden gespannt. Jetzt verstand Jacob, was er vorhatte: eine Stolperfalle für die Pferde der Sklavenjäger. Als der Marshal neben ihm hinter einem großen Felsblock in Deckung ging, fragte Jacob: »Sind Sie sicher, daß Stanton den Canyon nicht schon durchquert hat?« »Dann hätte ich Spuren gesehen. Es kann höchstens sein, daß die Sklavenjäger gar nicht diesen Weg nehmen.« »Wie können wir das feststellen?« »Nur durch Warten.« Sie warteten eine halbe Stunde, bis sie leises Pferdewiehern hörten und bald darauf schwaches Hufgetrappel. Webb setzte seinen Hut ab, verließ seine Deckung und schlich bis zu der Biegung, um die er vorsichtig lugte. Mit großen Sätzen kehrte er zurück und warf sich mit befriedigtem Gesichtsausdruck wieder hinter den Felsen. »Sie sind es!« zischte er und gab den beiderseits der Talsohle verteilten Männern Handzeichen, damit sie sich bereithielten. Jacob brachte, wie Bowden, seinen Revolver in Anschlag. Das Hufgetrappel wurde lauter, und schon sahen sie das erste Pferd auftauchen: Stantons schlanken Rotfuchs. Kaum war der gutgekleidete Sklavenjäger um die Biegung geritten, als das Tier über das Seil stolperte, nach vorn knickte und seinen Reiter in das flache Wasser schleuderte. Brad Folsom und Hatch McPherson zügelten ihre Pferde gerade noch rechtzeitig vor dem Seil. Big Hatch schloß die Gruppe ab und hielt das Packpferd mit dem großen Mehlsack am Zügel. Folsom hatte die Lage schnell erkannt, ließ die Zügel los und zog seine Revolver. Da krachte Webbs 44er. Die Kugel traf die rechte Schulter des Ledergesichtigen, und seine Waffe fiel aus der rechten Hand. »Ich würde auch das andere Schießeisen fallen lassen!« rief der Marshal. »Mehr als ein Dutzend Mündungen sind auf euch gerichtet!« Das Ledergesicht zog seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und ließ seinen Blick über die Hänge des Canyons gleiten. Als er die vielen Waffen sah, die im grellen Sonnenlicht aufblitzten, erkannte er seine aussichtslose Lage, und sein zweiter Revolver folgte dem ersten. »Was ist mit dir, Goliath?« fragte Webb den Riesen. Big Hatch ließ die Zügel des Packpferdes los, schnallte seinen Waffengürtel ab und ließ ihn in den Bach fallen. Webb, Jacob und die anderen verließen ihre Stellungen und gingen langsam, die Waffen noch schußbereit in den Händen, zum Creek hinunter. Die ersten Männer waren noch nicht ganz unten, als Stanton, den alle für bewußtlos gehalten hatten, plötzlich mit gezogenem Colt aufsprang und einen Sprung zum Packpferd machte. Dort drückte er die Mündung seiner Waffe gegen den Mehlsack. »Jetzt laßt ihr die Waffen fallen!« befahl er. »Sonst stirbt der Nigger.« »Wir sind in der Überzahl«, ermahnte ihn Webb. »Na und? Wenn ihr mich auch tötet, den Nigger nehme ich mit!« Man sah dem vor Haß und Erregung verzerrten Gesicht des Sklavenjägers an, daß er es ernst meinte. Er hatte seinen Hut verloren. Sein Schädel war naß von Wasser und Blut. Beim Sturz in den Creek hatte er sich die Stirn aufgeschlagen. Sein sonst lockiges Haar klebte jetzt an seinem Schädel. Die Männer des Verfolgertrupps sahen einander ratlos an und richteten ihre fragenden Blicke dann auf den Marshal. »Was ist jetzt?« fragte Stanton ungeduldig. »Ich zähle bis fünf!« »Sie brauchen nicht zu zählen«, erwiderte der Marshal. »Wir ergeben uns.« Er wandte sich an seine Männer. »Laßt die Waffen fallen, Boys!« Ein zufriedenes, siegesgewisses Grinsen zeichnete sich auf Stantons Gesicht ab. Webb senkte den rechten Arm mit dem Revolver. Als sich die Waffenhand nur noch in Hüfthöhe befand, krachte ein Schuß. Die Kugel des Marshals traf den Sklavenjäger in die Brust und ließ ihn zusammenzucken. Ungläubiges Staunen vertrieb das Grinsen von seinem Gesicht. Aber noch stand er aufrecht und richtete seinen Navy Colt wieder auf den Mann in dem großen Sacke. Webb feuerte eine zweite Kugel ab, die in Stantons Oberschenkel schlug und ihn endlich von den Beinen riß. Der Schuß aus seinem Colt löste sich, richtete aber keinen weiteren Schaden an, außer das Packpferd scheuen zu lassen. Mit schnellen Schritten waren die Männer der Posse am Creek und fesselten Stantons Begleiter. Ein nach Luft schnappender, überglücklicher Jackson Harris wurde aus dem Sack geholt und von seinen Fesseln befreit. Everett Stanton lag zusammengekrümmt im Bach. Das aus seinen Wunden fließende Blut bildete dünne Fäden im Wasser, bis es sich mit ihm vermischte. Der Sklavenjäger atmete nur noch schwach. Webbs erste Kugel hatte ihn nahe dem Herzen getroffen. Es war nur noch eine Frage von Minuten. Webb bückte sich plötzlich und fischte etwas nahe dem Sterbenden aus dem Wasser. Es war eine goldene Taschenuhr, die an einer goldenen Kette hing. »Das Ding kann noch nicht lange im Wasser liegen«, brummte der Marshal und klappte den Deckel auf. »Vermutlich ist es Stanton aus der Tasche gefallen.« Mit dem Aufklappen des Deckels ertönte eine liebliche Melodie, die Jacob zusammenfahren ließ. »Das Lied habe ich schon einmal gehört«, sagte er erregt. »Im Lager.« Er besah sich die Taschenuhr genauer. »Die Uhr gehörte Adam Zachary!« Webb blickte ihn überrascht an. »Sind Sie sich da sicher, Adler?« »Vollkommen.« Sam Kelley trat an ihre Seite. »Jacob hat recht. Es ist... war Adams Uhr. Ich habe sie mehrmals bei ihm gesehen, und die Melodie erkenne ich auch wieder.« Webb ging neben Stanton in die Hocke und fragte: »Haben Sie Adam Zachary ermordet, Stanton?« Der Sklavenjäger schaffte es noch einmal, sein gemeines Grinsen aufzusetzen, und keuchte leise: »Fahren Sie. doch. zur Hölle.« Dann fiel sein Kopf zur Seite. Er war tot. »Von dem erfahren Sie nichts mehr, Marshal«, spottete McPherson. »Ich habe ja noch euch«, sagte Webb scharf, als er sich erhob. »Entführung ist eine Sache. Aber wenn auch noch ein Mord dazukommt, ist euch der Strick sicher.« »Wir haben nichts damit zu tun!« entgegnete Big Hatch empört. »Mitgefangen, mitgehangen«, sagte Webb nur und tat, als interessierte ihn die Sache nicht weiter. »Halt, Marshal!« rief der Riese. »Brad und ich waren wirklich nicht dabei!« Webb drehte sich langsam zu ihm um und sah ihn fragend an. »Wobei?« »Als Stanton den Sohn des alten Predigers getötet hat.« »Warum wißt ihr dann, daß er es getan hat?« »Stanton hat es uns erzählt. Im Saloon hat er Ärger mit dem Sohn des Predigers bekommen, weil Stanton sich an dieses Mädchen heranmachen wollte.« »Urilla«, sagte der Marshal. »Yeah, so hieß sie. Als Stanton diesen Zachary vor dem Saloon wiedertraf, kam es zum Streit. Zachary zog sein Messer, aber Stanton hat es ihm aus der Hand gerissen und ihn erledigt.« »Wieso haben wir dann die Mütze des Deutschen bei der Leiche gefunden?« »Stanton wollte besonders schlau sein. Er hatte gesehen, wie der Dutch seine Mütze bei der Prügelei im Saloon verloren hatte. Sie lag in der Nähe des Eingangs. Stanton holte sie und legte sie neben den Toten, bevor er wegritt.« Jacob sah Webb an. »Ist mein Freund Martin jetzt entlastet, Marshal?« Webb nickte. »Voll und ganz.« Als die Posse nach Kansas City zurückkehrte, erregte sie großes Aufsehen. Folsom und McPherson wurden ins Gefängnis gesperrt, wo sich der Arzt um Folsoms verletzte Schulter kümmern sollte. Martin war noch im Haus des Arztes. Er hatte sich von dem versuchten Lynchmord gut erholt. Noch viel besser ging es ihm, als er erfuhr, daß der schwere Mordverdacht nicht mehr auf ihm lastete. Als Abner Zachary zum Haus des Arztes kam, blickten ihm Jacob, Martin, Irene und auch Marshal Webb skeptisch entgegen. Der Prediger wirkte gar nicht mehr so kräftig wie bisher. Er ging tief nach vorn gebeugt, was ihn ein ganzes Stück kleiner erscheinen ließ. Man sah ihm schon von weitem an, wie schwer ihn seine Tat bedrückte. Er entschuldigte sich stammelnd bei Martin und sagte dann dem Marshal, daß er zu seiner Verfügung stände. »Ich habe die Leute aufgehetzt, Marshal. Die anderen trifft keine Schuld. Ich bin derjenige, der vor Gericht gehört.« Webb sah Martin an. »Was sagen Sie, Mr. Bauer? Wollen Sie gegen Mr. Zachary Anklage erheben?« Ohne zu überlegen, schüttelte Martin den Kopf. »Wäre mein Sohn ermordet worden, hätte ich vielleicht genauso gehandelt. Außerdem brauchen wir Mr. Zachary noch. Er ist unser Treck-Captain, und morgen soll es nach Oregon gehen.« Früh am nächsten Morgen fand Adam Zacharys Beerdigung statt. Fast alle Auswanderer waren auf dem Friedhof zusammengekommen. Dazu gehörten jetzt auch Custis Hunter, Virginia Cordwainer, Melvin und Beth, die in den Treck aufgenommen worden waren und sich einen gemeinsamen Wagen gekauft hatten. Abner Zachary hielt mit brüchiger Stimme, aus der jeder Donnerhall verschwunden war, die Grabrede. Er sprach viel von der Schuld, die der Mensch auf sich lud, und jedem war klar, daß er damit sich selbst meinte. Als der grobe Brettersarg mit Erde bedeckt war, gingen die Auswanderer schweigend zurück zum Lager und machten sich zum Aufbruch bereit. Wenn Kansas City erwachte, um mit Jubel und Trubel den Unabhängigkeitstag zu begehen, wollten sie schon weit weg sein. Für sie war dies kein Tag zum Feiern. Eilig wurden die Zelte abgebaut, die letzte Ausrüstung in den Wagen verstaut, das Vieh zusammengetrieben, die Pferde und Maultiere angespannt, die Ochsen ins Joch genommen, und dann ging es los. »Auf nach Oregon!« brüllte der von den Auswanderern angeheuerte Scout, und der Ruf pflanzte sich von Wagen zu Wagen fort. Die Fahrer trieben ihre Tiere mit lauten Zurufen oder dem Knallen der Peitsche an, und knarrend setzte sich der lange Zug in Bewegung. Martin trieb die anfangs unwilligen Ochsen, die den leichten Wagen der Deutschen zogen, mit ein paar Schimpfwörtern an, während Jacob auf seinem Grauschimmel nebenherritt und einen letzten Blick zurückwarf. Hinter den Wagen verschwand mit den Umrissen von Kansas City auch das, was man Zivilisation nannte, im Morgendunst. Vor ihnen lag die Wildnis: endlos weite Prärien, breite Ströme und die schroffen Gebirge der Rocky Mountains. Voller Hoffnung auf eine neue Heimat und ein besseres Leben im Herzen blickten die Auswanderer zum fernen Horizont. Niemand dachte an die Strapazen der langen Reise, die vor ihnen lag - 2000 Meilen westwärts. ENDE Und so geht das Abenteuer weiter Der Treck nach Oregon kann beginnen! Nach allen Gefahren der letzten Wochen erscheint er Jacob, Martin und Irene fast wie eine Erlösung. Doch was sie bis jetzt an Abenteuern erlebten, verblaßt unter den Strapazen des Trecks. Es scheint, als hätte sich die Natur selbst gegen die Menschen verschworen. Von glühender Hitze über eine Büffelstampede bis hin zu tagelangem Regen, bei dem die schweren Wagen in den aufgeweichten Grund einsinken, wird ihnen jede Fährnis geboten. Aber das ist längst nicht alles. Denn der Treck hat einen Verfolger, einen bronzehäutigen Mann, der undurchschaubare Pläne verfolgt. Und eine weitere Gefahr lauert gar unter den Teilnehmern des Wagenzuges selbst. IM LAND DER BÜFFEL von J.G. Kastner