Die Teufelsgesellschaft David Liss London im 18. Jahrhundert. Der Exboxer und Privatdetektiv Benjamin Weaver wird durch einen erpresserischen Trick in die Dienste des Händlers Jerome Cobb gezwungen. Da auch das Wohlergehen seiner engsten Freunde in Cobbs Händen liegt, muss Weaver mit dem skrupellosen Geschäftsmann zusammenarbeiten. In Cobbs Auftrag schleust er sich in die mächtige Handelsgesellschaft East India Company ein, um dort das Vertrauen des alternden Vorstandsmitglieds Ellershaw zu erlangen - und Zugang zu geheimen Informationen. Offiziell als neuer Aufseher eingesetzt, muss Weaver bald der Durchsetzung von Ellershaws rücksichtslosen Eigeninteressen dienen, der seine Wiederwahl sichern und die Führungsposition der East India Company auf dem Textilmarkt ausbauen will. Doch welche Rolle spielt der mysteriöse Seidenweber Pepper in diesem Machtkampf? Und was hat es mit Celia Glade auf sich, dem ebenso schönen wie klugen Dienstmädchen? Schnell erkennt Weaver, dass sie nicht diejenige ist, die sie vorgibt zu sein ...  »Geistreich und elegant bietet Liss eine Fülle an Wissenswertem über das England des 18. Jahrhunderts - und dazu noch einen höchst unterhaltsamen Helden. Einfach umwerfend.« Kirkus Reviews Autor David Liss wurde 1966 in New Jersey geboren und ist im Süden Floridas aufgewachsen. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, für sein Debüt »Die Papierverschwörung« erhielt er den renommierten »Edgar Award«. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in San Antonio, Texas. Originaltitel: The Devil's Company 1 Während meiner Jugend suchte ich leider allzu oft die Nähe zu Spieltischen jeglicher Art und musste mit Entsetzen zusehen, wie Fortuna so manche Münze, die, genau genommen, nicht einmal mir gehörte, in fremde Hände spielte. Als ein Mann von etwas reiferen Jahren, der an der Schwelle zur dritten Dekade seines Lebens steht, wusste ich es dann durchaus besser, als mich mit Würfeln und Karten abzugeben. Dieses Teufelszeug ist zu nichts nutze außer dazu, einen Mann in trügerischer Hoffnung zu wiegen, bevor seine Träume am Boden zerschmettert werden. Leichten Herzens jedoch machte ich bei jenen Gelegenheiten, bei denen das Silber eines anderen meine Börse füllte, eine Ausnahme - umso leichter noch, wenn jener andere in Machenschaften verstrickt war, die dafür sorgten, dass der Wurf oder die Karten zu meinen Gunsten ausfielen. Jene, die es mit der Moral ganz genau nehmen, mögen der Meinung sein, es stürze die Seele in den tiefsten Abgrund, wenn man dem Zufall so auf unlautere Weise ein wenig nachhalf, und dass ein Taschendieb, ein Mörder, selbst ein Vaterlandsverräter besser sei als ein Betrüger am Spieltisch. Möglicherweise haben sie damit nicht einmal unrecht, doch handelte ich im Dienste eines großzügigen Auftraggebers, und das dämpfte meines Ermessens das Schlagen des Gewissens. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, setzt im November des Jahres 1722 ein, runde acht Monate nach den die Parlamentswahl begleitenden Geschehnissen, über die ich bereits an anderer Stelle berichtet habe. Die brackigen Wogen der Demokratie waren in jenem Frühjahr über London und somit auch über das ganze Land hinweggespült und hatten uns alles andere als geläutert daraus hervortreten lassen. Wie die Gladiatoren waren Männer im Dienste dieses oder jenes Kandidaten oder dieser oder jener Partei zum Kampf angetreten, doch im Herbst sah es so aus, als wäre nichts von Bedeutung dabei herausgekommen, und mit Hilfe gegenseitiger Patronage hielten Whitehall und das Parlament das Heft so fest in der Hand wie eh und je. Dem Königreich stand während der kommenden sieben Jahre keine neue Wahl mehr ins Haus, und im Nachhinein fragte man sich, warum eigentlich die vorangegangene solche Wogen geschlagen hatte. Auch ich war keineswegs an Leib und Seele unbeschadet aus den politischen Tumulten hervorgegangen, doch meinem Ruf als privatem Ermittler war dies im Gegenteil eher zuträglich. Ich genoss eine gewisse anerkennende Erwähnung in den Zeitungen, und obwohl das Meiste, was die Schreiberlinge über mich zu berichten wussten, ganz und gar grotesk anmutete, hatte mein Name weitere Verbreitung erfahren. Seit jener Zeit konnte ich mich nicht über einen Mangel an Klienten vor meiner Tür beklagen. Gewiss gab es einige, die sich nun von mir fernhielten, weil sie befürchteten, meine Taten hätten auf unerwünschte Weise Aufmerksamkeit erregt. Viele andere erwogen jedoch mit weit mehr Wohlwollen die Möglichkeit, sich meiner Dienste zu versichern, denn ich galt als ein Mann, der aus dem Zuchthaus von Newgate entkommen war, sich in hitzigsten Faustkämpfen bewiesen, den Mächtigsten im Lande die Stirn geboten und damit gezeigt hatte, aus welchem Schrot und Korn er war. Ein Mann, dem dies gelungen war, sagte man sich, würde gewiss auch einen Halunken stellen, der einem Ehrenmann noch dreißig Pfund schuldete, oder den Namen des Wüstlings herausbekommen, der sich mit dem Gedanken trug, eine ungebärdige Tochter zu entführen, oder den Schuft, der eine Uhr gestohlen hatte, seiner verdienten Strafe zuführen. Das war das täglich Brot meiner Arbeit, doch es gab auch eine Klientel, die eine ungewöhnlichere Verwendung für mich hatte, und eben aus diesem Grunde fand ich mich an jenem Abend im November in Kingsley's Coffee House ein, einem Etablissement von einst zweifelhaftem Rufe, das inzwischen jedoch einen recht lebhaften Publikumsverkehr verzeichnete. Kingsley's war unter den bon ton seit einiger Zeit als Spielsalon sehr en vogue und dürfte diesen Ruf wohl noch für mindestens eine weitere Saison genießen. Mit Verstand gesegnete Londoner würden dieser Art Amüsement nicht allzu lange frönen, doch für den Augenblick schöpfte Mr. Kingsley mit beiden Händen sein Glück ab. Während der Tagesstunden war es durchaus nicht unüblich, dass ein Gast kam, um seinen Kaffee oder Kakao zu genießen und dabei gemütlich Zeitung zu lesen oder sich vorlesen zu lassen, doch nach Sonnenuntergang hätte es eines eisernen Willens bedurft, um sich noch auf trockene Worte zu konzentrieren. Zu dieser Stunde wurde Kingsley's von mehr Huren als Spielern bevölkert, und es waren durchaus die begehrenswertesten ihres Standes darunter. Nach hinfälligen, spindeldürren Metzen aus Covent Garden oder St. Giles suchte man bei Kingsley's vergeblich. Ja, in den Gesellschaftsspalten hieß es sogar, Mrs. Kingsley inspiziere höchstpersönlich eine jede Kandidatin, um sich zu vergewissern, dass sie auch dem Standard ihres Hauses entsprach. Es gab Musikanten, die fröhliche kleine Melodien zum Besten gaben, zu denen ein ungewöhnlich schlanker Tänzer sein Gesicht, das einem Totenschädel glich, und seinen skelettartigen Körper zu den unnatürlichsten Posen und Fratzen verzerrte - und dabei von den meisten Anwesenden mit Missachtung gestraft wurde. Im Ausschank befanden sich Claret, Portwein und Madeira mittlerer Qualität, die auch die Gaumen der Genießer nicht beleidigten, denn diese Gäste waren viel zu sehr durch den Genuss anderer Dinge abgelenkt. Und der Anlass für diese Ablenkung waren - die Spieltische. Es wäre schwer zu sagen, was Kingsleys Spieltische aus der Obskurität zur Berühmtheit erhoben hatte. Sie unterschieden sich kaum von denen in anderen Spelunken, und doch dirigierten die feinsten Herrschaften von London ihre Kutscher nach dem Theater, nach der Oper, nach dem Gesellschaftstanz oder sogar nach der Spätandacht dahin, wo das Leben tobte - zu Kingsley's, jenem Tempel des Glücksspiels. Am Pharo-Tisch spielten gut situierte Gentlemen aus den Ministerien, unter ihnen auch niemand Geringeres als ein Mitglied des Unterhauses, der für seine opulenten Gesellschaften berühmter war denn für seine Fähigkeiten als Vertreter einer gesetzgebenden Körperschaft. An einem anderen Tisch sah ich den Herzog von N. beim Piquet verlieren. Mehrere bezechte Beaus bemühten sich, der bekannten Komödiantin Nance Oldfield beizubringen, wie man sich die Gesetzmäßigkeiten des Risikos zu Nutze machte, und man konnte ihnen nur Glück dabei wünschen, denn im Spiel war wie in der Liebe alles möglich. Es amüsierte mich außerordentlich zu beobachten, wie die Reichen ausgenommen und die aus der Gosse vermögend wurden, doch was ich dabei dachte, spielte eine untergeordnete Rolle. Das Silber in meiner Börse und die Banknoten in meiner Rocktasche gehörten nicht mir, und ich durfte sie nicht nach meinem Gusto einsetzen. Sie waren dazu bestimmt, einen gewissen Herrn in größte Verlegenheit zu stürzen, der jüngst den Gentleman gedemütigt hatte, in dessen Auftrag ich mich in einen Wettstreit begeben sollte, bei dem Täuschung und Arglist gefragt waren. Ich verbrachte eine Viertelstunde damit, durch Kingsley's Räumlichkeiten zu schlendern, mich in dem Licht der zahllosen Lüster zu sonnen und an ihrer Wärme zu ergötzen, denn der Winter war in diesem Jahr früh und mit Macht gekommen, und draußen war alles bitterkalt und mit einer Frostschicht überzogen. So gewärmt und in Stimmung gebracht - wozu die Musik und das Gelächter und die Verlockungen der Schönen der Nacht das ihrige getan hatten, um meinen Kopf in einen Rausch zu versetzen -, begann ich alsdann, meinen Plan zu schmieden. Ich nippte an einem verdünnten Madeira und nahm unauffällig meinen Mann ins Visier. Dies war ein leichtes Unterfangen, denn ich hatte mich als Geck der affigsten Sorte verkleidet, und wenn die Gäste Notiz von mir nahmen, dann nur von einem Mann, der es darauf anlegte aufzufallen. Auf welche Weise kann man sonst sein wahres Ich gründlicher verbergen? Ich trug einen smaragdgrünen, mit Goldtressen geschmückten Rock, derart übermäßig drapiert, dass er schon beinahe untragbar war, und dazu ein Wams von der gleichen Farbe, doch nicht dazu passendem Schnitt, an welchem messingne Knöpfe von beinahe der Größe einer Untertasse glänzten. Mein Beinkleid war aus dem feinsten Samt, und an meinen Schuhen war unter der übergroßen Silberschnalle kaum noch das glänzende Leder zu erkennen. Die spitzenbesetzten Rüschen an meinen Ärmelaufschlägen quollen daraus hervor wie Blumenbuketts, und damit auch niemand, der mein Gesicht schon einmal gesehen haben mochte, mich wiedererkannte, trug ich obendrein eine gewaltige Allongeperücke, wie sie in jenem Jahr unter den aufgeblasensten Stutzern große Mode war. Als ich den Zeitpunkt und die Umstände günstig wähnte, näherte ich mich dem Tisch, an dem Cacho gespielt wurde, und nahm mein Opfer näher in Augenschein. Er war ein Mann in meinem Alter, sehr teuer gekleidet, doch ohne die auffällige Haartracht und die grellen Farben, mit denen ich mich kostümiert hatte. Sein Gewand war von einem gesetzten Dunkelblau mit roten Tressen, geschmackvoll mit Goldfäden durchwirkt, und stand ihm recht gut. Unter seiner Kurzhaarperücke erkannte man ein angenehmes Gesicht. Er konzentrierte sich mit der Ernsthaftigkeit eines Gelehrten auf die drei Spielkar-ten in seiner Hand und äußerte etwas in ungefähre Richtung des Dekolletes der Dirne auf seinem Schoß. Sie lachte darauf, was, wie ich vermutete, mehr oder weniger die Art und Weise war, auf die sie sich die Gunst ihres Kavaliers zu sichern trachtete. Der Mann hieß Robert Bailor. Ich meinerseits war von einem Mr. Jerome Cobb verpflichtet worden, dem Mann, der von Bailor bei einem Glücksspiel ausgenommen worden war. Wie mein Auftraggeber argwöhnte, hatte dieser Umstand mehr mit Betrug denn mit Glück zu tun. Dies entsprach jedenfalls der Vorgeschichte, die mir berichtet worden war, in der meinem Auftraggeber nach seinem beträchtlichen Verlust zu Ohren gekommen war, dass besagter Bailor in dem Rufe eines Spielers stand, der das Prinzip des Zufalls ebenso wenig schätzte wie die Forderung zu einem Duell. Mr. Cobb hatte von Bai-lor Genugtuung verlangt, war aber von diesem in überheblicher Form abgewiesen worden, worauf ihm, Cobb, keine andere Wahl blieb, als seinerseits zu dem Mittel der Tücke zu greifen. Da er dazu jemanden benötigte, der die schmutzige Arbeit für ihn übernahm, hatte Mr. Cobb sich an mich gewandt und mir seine unerquickliche Lage geschildert, bei welcher Gelegenheit er mich auch darüber ins Bild setzte, dass meine Reputation ihn zu mir geführt hatte. Meine Aufgabe war simpel. Mr. Cobb instruierte mich, einen Zweikampf mit Bailor am Spieltisch zu provozieren. Doch sei ich nicht der Einzige, den er zu diesem Zwecke in seine Dienste gestellt habe, sondern ein bestimmter Bediensteter von Kingsley's, dem das Austeilen der Spielkarten an den Tischen oblag, solle mir zuarbeiten, indem er dafür sorgte, dass ich verlor, wenn ich zu verlieren wünschte, und, noch wichtiger, dass ich gewann, wenn ich gewinnen wollte. Sowie es mir gelungen war, Mr. Bailor vor einer möglichst großen Menschenmenge öffentlich zu demütigen, sollte ich ihm so heimlich, dass kein anderes Paar Ohren es hörte, zuflüstern, er habe nun den langen Arm von Mr. Cobb zu spüren bekommen. Ich stellte mich also an den mit rotem Samt bezogenen Spieltisch und versenkte mich einen Augenblick lang in den Anblick von Bailors Gespielin, wonach ich einen weiteren Moment lang meinen Blick auf Bailor selber ruhen ließ. Mr. Cobb hatte mich über alle ihm bekannten Eigenarten seines Widersachers belehrt; zu diesen gehörte, dass Bailor es überhaupt nicht schätzte, wenn Fremde ihn anstarrten, und dass er dies in ganz besonderem Maße bei Stutzern hasste. Ein glotzender Geck würde ganz gewiss seine Aufmerksamkeit erregen. Bailor legte seine drei Karten offen; seine beiden Mitspieler taten es ihm nach. Bailor grinste und zog den Stapel Münzen auf dem Tisch zu sich heran. Dann richtete er bedächtig den Blick aus seinen schmalen Augen auf mich. Es war so hell im Raum, dass ich deren blassgraue Farbe und die roten Äder-chen, die sie durchzogen, erkennen konnte. Letztere waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Mann bereits zu lange am Spieltisch gesessen, dem Weine im Übermaß zugesprochen und dringend eine Mütze Schlaf nötig hatte. Obwohl seine buschigen Augenbrauen und die etwas platte Nase mit den großen Nasenlöchern das Gesamtbild ein wenig störten, erweckten jedoch die starken Wangenknochen, das kantige Kinn und die kräftige Statur den Eindruck eines Mannes, der einen Ausritt mehr schätzte als ein Steak oder Bier. Er hatte somit etwas Gebieterisches an sich. »Wenden Sie den Blick woanders hin, Sir«, sagte er zu mir, »oder ich muss Ihnen die Manieren beibringen, die Ihre Erziehung vermissen lässt.« »Ach, was sind wir denn heute wieder gleich so grob, mein Bester«, erwiderte ich und ahmte dabei einen schottischen Akzent nach, denn mir war zu verstehen gegeben worden, dass Bailor außer Laffen vor allem die Bewohner des Nordens unserer Insel nicht ausstehen konnte. Somit erfüllte ich sämtliche Voraussetzungen, um seinen Zorn zu erregen. »Ich habe mir bloß einen kleinen Seitenblick auf das Mädgen erlaubt, das Sie bei sich haben. Falls Sie sie nicht länger brauchen, um Euch den Schoß zu wärmen, könnten Sie sie vielleicht eine Weile mir überlassen.« Seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. »Ich glaube kaum, dass du etwas mit einer Frau anzufangen wüsstest, Sawny«, sagte er zu mir und nannte mich dabei bei dem Spitznamen, den die Schotten als so erniedrigend empfinden. Ich hingegen tat so, als wäre ich über derartige Kränkungen erhaben. »Wenn's nach mir ginge, würde ich sie nich' kalt werden lassen, während ich beim Kartenspiel sitze. Wenn's nach mir ginge, nich'.« »Sie beleidigen mich, Sir«, sagte er. »Nicht nur mit Ihren dreckigen Worten, sondern allein schon durch Ihre Person, die ein Schlag ins Gesicht dieser Stadt und dieses Landes ist.« »Dazu kann ich nich' sagen. Das müssen Sie selber wissen. Was iss denn nun? Kann ich die Metze nun haben oder nich'?« »Nein«, sagte er ganz ruhig. »Das können Sie nicht. Stattdessen werde ich Sie zu einem Zweikampf herausfordern.« Bei diesen Worten ging ein Raunen durch den Saal. Eine Menschenmenge hatte sich neugierig um uns geschart. Wir hatten etwa zwanzig oder dreißig Zuschauer - elegant gekleidete, zynisch grinsende Stutzer zogen ihre grell geschminkten Begleiterinnen näher zu sich heran und flüsterten aufgeregt untereinander; die Fächer der Damen flatterten wie ein Rie-senschwarm Schmetterlinge. »Ein Duell, meinen Sie?« Ich lachte laut auf. Ich wusste genau, was er meinte, tat aber, als hätte ich nicht verstanden, worauf er hinauswollte. »Wenn Sie sich so leicht in Ihrer Ehre kränken lassen, werde ich Ihnen gerne zeigen, wer von uns beiden der Mann iss. Dachten Sie an Messer oder Pistolen? Sie dürfen mir glauben, dass ich für beides eine Schwäche habe.« Er antwortete mit einem abschätzigen Grollen und warf den Kopf in den Nacken, als könne er nicht glauben, dass es immer noch einen so rückständigen Menschen gäbe, der einen Wettstreit mit Waffen ausfechten wollte. »Ich habe kein Verständnis für solche barbarischen Gepflogenheiten. Ein Duell mit den Karten, Sawny, wenn es recht ist. Kennst du das Spiel?« »Cacho? Ja, iss mir bekannt. Ein Spiel für Mädgens und für Knaben, denen noch keine Haare auf der Brust wachsen, aber wenn Sie Spaß daran finden, werde ich mich gerne der Herausforderung stellen.« Die beiden Gentlemen, die bis eben mit ihm am Tisch gesessen hatten, erhoben sich, damit ich auf einem der Stühle Platz nehmen konnte. Dies tat ich und warf dem Bediensteten, der für das Austeilen der Karten zuständig war, einen äußerst diskreten Blick zu. Er war ein untersetzter Mann mit einem Muttermal auf der Nase - genau der, den Mr. Cobb, mein Auftraggeber, mir beschrieben hatte. Er erwiderte flüchtig meinen Blick. Es verlief alles nach Plan. »Noch ein Glas von dem Madeira«, rief ich in der Hoffnung, dass ein Bediensteter mich hören würde. Dann zog ich eine mit einem feinen Schnitzmuster verzierte Schnupftabaksdose aus Elfenbein aus der Tasche und entnahm ihr mit geziert langsamen Bewegungen eine Prise des scheußlichen Zeugs. An Mr. Bailor gewandt fragte ich: »An welche Summe hatten Sie gedacht, mein Bester? Fünf Pfund? Oder übersteigen zehn Ihre Verhältnisse?« Seine Freunde lachten. Er zog eine höhnische Grimasse. »Zehn Pfund? Sind Sie verrückt? Sind Sie je bei Kingsley's gewesen?« »Nun, dies ist mein erster Besuch in London. Warum fragen Sie? Ich kann Ihnen versichern, dass ich in meinem Heimatland einen vorzüglichen Ruf genieße.« »Woher soll ich wissen, aus welcher Gosse von Edinburgh du kommst ...« »Es iss nich recht, mich so anzusprechen«, unterbrach ich ihn. »Sie müssen wissen, dass ich der Laird von Kyleakin bin«, erklärte ich stolz und hatte dabei keine Ahnung, wo Kyleakin lag oder ob der Ort bedeutend genug war, um von einem Laird, einem Gutsherren, geführt zu werden. Ich wusste bloß, dass die Hälfte der Schotten in London von sich behaupteten, der Laird von irgendwas zu sein, dieser Titel seinem Träger aber mehr Spott einbrachte als Respekt. »Es ist mir gleich, welchen Sumpf Sie Ihren Heimatort schimpfen«, sagte Bailor. »Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass hier bei Kingsley's niemand um weniger als fünfzig Pfund spielt. Falls Sie eine solche Summe nicht aufbringen können, verschwinden Sie von hier und hören auf, mir die Atemluft zu verpesten.« »Ich spucke auf Ihre fünfzig Pfund. Für mich ist das nicht mehr als ein roter Heller.« Ich zog eine Brieftasche hervor, der ich zwei Banknoten zu je fünfundzwanzig Pfund entnahm. Bailor inspizierte sie, um sie auf ihre Echtheit zu überprüfen, denn mit Falschgeld oder dem Schuldschein eines bankrotten Laird von Kyleakin würde er nichts anfangen können. Die beiden Noten stammten jedoch von einem angesehenen Londoner Goldschmied, so dass mein Gegner nichts daran auszusetzen hatte. Nun zog er seinerseits zwei Banknoten hervor, die nun ich wiederum an mich nahm, um sie zu überprüfen, obwohl ich keinen Grund zu der Annahme hatte, es könne etwas faul damit sein - und dieser Umstand mir auch hätte gleichgültig sein können. Ich verfolgte lediglich die Absicht, ihn noch mehr gegen mich aufzubringen, indem ich mir Zeit nahm. Dementsprechend betrachtete ich mir sein Geld von allen Seiten, hielt es gegen das Kerzenlicht und saugte es mit meinen Augen förmlich auf, um den Druck genauestens zu überprüfen. »Legen Sie das Geld auf den Tisch«, sagte er nach einer Weile. »Wenn Sie jetzt nicht zu einem Schluss gekommen sind, werden Sie sich nie entscheiden, solange Sie nicht einen Ihrer Seher aus den Highlands hinzuziehen. Was ich damit sagen will - mein Ruf ist hier über jeden Zweifel erhaben, Ihrer ist es nicht. Wir fangen also mit fünfzig Pfund Einsatz an, aber wir erhöhen in Schritten von mindestens zehn Pfund. Sind wir uns darin einig?« »Jawohl. Doch nun wollen wir beginnen.« Ich legte meine linke Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Tisch. Das war das zuvor vereinbarte Zeichen für den Geber, dass ich diese Runde zu verlieren wünschte. Selbst zu jenen Zeiten, als ich noch häufig beim Kartenspiel anzutreffen war, hat mir Cacho nie rechten Genuss bereitet, denn bei diesem Spiel muss man zu viele auf unbekannten Faktoren beruhende Entscheidungen treffen. Mit anderen Worten ist das Spiel mehr eine Frage des Zufalls als des Geschicks, und an so etwas habe ich kein Interesse. Cacho wird mit vierundzwanzig Karten gespielt - nur das Ass bis zur Sechs jeder Farbe. Jeder Spieler bekommt eine Karte, macht seinen Einsatz, und das wird dann zweimal wiederholt, bis jeder Spieler drei Karten auf der Hand hat. Da das Ass als niedrige Karte zählt, gewinnt eben nicht der Spieler mit dem vermeintlich besten - oder in unserem Falle dem besseren - Blatt. Ich bekam ein Herzass. Kein guter Start in diesem schlichten Spiel, in dem eine einzige hohe Karte oft schon zum Sieg genügt. Ich aber grinste, als hätte ich die Karte erhalten, die ich mir am meisten wünschte, und warf zehn Pfund in die Mitte des Tisches. Auch Bailor ließ sich nicht lumpen, und mein verbündeter Geber reichte mir eine weitere Karte. Die Karodrei. Wieder kein glücklicher Griff, aber ich warf noch zehn Pfund in den Topf, und Bailor tat es mir nach. Meine letzte Karte war die Pikvier. Ein Blatt, mit dem man nur verlieren konnte. Aber wir legten beide unsere zehn Pfund dazu, und dann verlangte Bailor mein Blatt zu sehen. Ich hatte nichts von Wert anzubieten, aber er präsentierte ein Cacho, drei Karten von der selben Farbe. Mit einem Handstreich hatte er mich um achtzig Pfund erleichtert - etwa die Hälfte dessen, was ich mit Glück in einem Jahr verdiene. Aber da es sich ja nicht um mein Geld handelte, und ich instruiert worden war, es zu verlieren, weinte ich ihm kaum eine Träne nach. Bailor lachte so dreckig wie der Schurke in einem Marionettentheater und wollte wissen, ob ich mich mit einer Revancherunde noch tiefer ins Unglück zu stürzen wünschte. Ich sagte ihm, dass mich seine schäbige Herausforderung nicht schrecke, und gab wiederum dem Geber das Zeichen, dass er mich verlieren lassen sollte. Entsprechend war ich kurz darauf um weitere achtzig Pfund ärmer. Nun fing ich an, die Miene eines von den Ereignissen schwer getroffenen Mannes zu ziehen, fluchte leise vor mich hin und schluckte hastig meinen Wein. »Ich würde mal sagen«, hob Bailor an, »dass Sie in diesem Duell unterlegen sind. Nun sehen Sie zu, dass Sie Land gewinnen. Verschwinden Sie wieder zurück in den Norden, malen Sie sich meinetwegen blau an, aber behelligen Sie nicht länger unsere gesitteten Gestade.« »Noch habe ich nicht verloren«, versetzte ich. »Es sei denn, Sie sind ein solcher Feigling, dass Sie einen Rückzieher machen.« »Ich wäre ein merkwürdiger Feigling, wenn ich einen Rückzieher davor machte, Ihnen Ihr Geld abzuknöpfen. Dann spielen wir also noch eine Runde.« Obwohl ich anfänglich gewisse Skrupel gehabt hatte, mich auf einen solchen Schwindel einzulassen, packte mich nun ein Gefühl der Abscheu gegen Bailor, und ich freute mich außerordentlich darauf, ihm seine Niederlage beizubringen. »Nun aber Schluss mit dem Kinderkram«, sagte ich, zog drei Hundertpfundnoten aus meiner Brieftasche und knallte sie auf den Tisch. Bailor zögerte nur einen kurzen Augenblick, ehe er den Einsatz entsprechend verdoppelte. Nun legte ich die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Tisch - das Zeichen, dass ich jetzt gewinnen wollte, denn es wurde Zeit, diesem Mann die Quittung zu präsentieren. Ich erhielt meine erste Karte - die Kreuzsechs. Ein vielversprechender Anfang, dachte ich und legte noch zwei Hunderter auf den Stapel. Einen Moment lang befürchtete ich, Bailor könnte entweder Verdacht schöpfen oder kalte Füße bekommen, aber er hatte ja selber darauf bestanden, die Herausforderung anzunehmen, und konnte nun nicht klein beigeben, ohne das Gesicht zu verlieren. Also tat er es mir nicht nur nach, sondern legte gleich noch einen weiteren Hunderter hinzu, was auch ich wiederum mir nicht nehmen ließ. Es ging in die zweite Runde, und ich bekam die Piksechs. Ich bemühte mich, mein Frohlocken zu verhehlen. Beim Cacho sind drei Sechsen das beste Blatt. Der Mann, den mein Auftraggeber bezahlte, hatte vor, mir den Weg zum Gewinn zu ebnen. Ich legte weitere zweihundert auf den Tisch. Bailor tat dasselbe - erhöhte den Einsatz aber nicht noch einmal von sich aus. Es überraschte mich nicht, dass er langsam unsicher wurde. Wir hatten nun beide jeweils achthundert Pfund in die Waagschale geworfen, und die zu verlieren, würde einen herben Schlag für ihn bedeuten. Er verfügte über einige Mittel, wie mir gesagt worden war, doch nicht über unermessliche, und niemand bis auf die reichsten unter den Lords und Handelsherren konnte ohne mit der Wimper zu zucken solche Summen dreingeben. »Sie wollen diesmal nicht erhöhen, mein Bester?«, höhnte ich. »Bekommen Sie schon weiche Knie?« »Halt dein schottisches Lästermaul«, fluchte er. Ich grinste, denn ich wusste, dass er nichts anzubieten hatte, und das würde auch dem Schotten, der ich zu sein vorgab, nicht entgangen sein. Und dann bekam ich meine dritte Karte. Die Karozwei. Ich musste gegen das Verlangen ankämpfen, dem Geber zuzuraunen, dass er sich geirrt hatte. Gewiss hatte er mir eine Sechs zugedacht. Da nun so viel von dem Geld meines Auftraggebers auf dem Tisch lag, bekam ich ein äußerst ungutes Gefühl angesichts der Aussicht, es zu verlieren. Doch rasch beruhigte ich mich wieder, als ich erkannte, dass ich mich lediglich auf einen weit spektakuläreren Ausgang gespitzt hatte, als der Geber ihn plante. Ein Sieg mittels dreier Sechsen hätte viel zu sehr nach dem Betrug ausgesehen, den wir ja schließlich auch gemeinsam durchgeführt hatten. Mein Mitverschwörer brauchte Bailor nur eine noch schlechtere Karte zukommen zu lassen, und unser Wettstreit wäre durch diese eine Karte mit höherem Wert entschieden. Doch der Verlust würde meinen Gegner dadurch nicht minder schwer treffen, dass er durch eine solche Lappalie herbeigeführt worden war. Um uns herum hatten sich immer mehr Zuschauer versammelt, und es wurde stickig am Tisch von der Wärme ihrer Körper und ihres Atems. Doch es lief alles so, wie mein Auftraggeber es sich vorgestellt hatte. Ich warf dem Geber einen Seitenblick zu, den dieser mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken quittierte. Ihm war nicht entgangen, wie sehr ich mich erschrocken hatte. »Noch einmal hundert«, sagte ich. Mehr wollte ich nicht aufs Spiel setzen, denn das Geld von Mr. Cobb ging langsam zur Neige, und ich wollte noch etwas in der Hinterhand behalten, falls Bailor noch einmal zu erhöhen trachtete. Das tat er auch, beließ es jedoch bei fünfzig Pfund, womit mir allerdings nur noch zwanzig, höchstens dreißig Pfund von Mr. Cobbs Geld blieben. Bailor grinste mich an. »Nun wollen wir mal sehen, wer der Bessere ist, Sawny.« Ich erwiderte sein Grinsen und legte meine Karten offen. »Nicht so glanzvoll, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich habe schon mit weniger gewonnen.« »Kann sein«, erwiderte er, »aber diesmal hättest du mit mehr verloren.« Dann zeigte er sein Blatt - ein Cacho, und nicht bloß ein Cacho, sondern eines mit einer Sechs, einer Fünf und einer Vier. Besser konnte man es nur mit drei Sechsen treffen. Ich hatte verloren, und zwar nicht zu knapp. Mir wurde schwindlig. Irgendetwas war schiefgegangen, ganz fürchterlich schiefgegangen. Ich hatte alles so gemacht, wie Mr. Cobb es mir aufgetragen hatte. Der Geber hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er Mr. Cobbs Mann war. Ich hatte die Zeichen wie verabredet gegeben. Und doch musste ich nun zurück zu dem Mann, der mich in seine Dienste genommen hatte, und ihm gestehen, dass ich über tausend Pfund seines Geldes verloren hatte. Ich warf dem Geber einen Blick zu, dem dieser auswich. Bailor hingegen sah mich so unverhohlen lüstern an, dass ich einen Augenblick lang das Gefühl hatte, er wolle mich, und nicht seine Hure, mit in seine Gemächer nehmen. Ich erhob mich vom Tisch. »Wohin soll's denn gehen, Sawny?«, fragte einer von Bailors Freunden. »Ein Hoch auf den Laird von Kyleakin«, rief ein anderer. »Noch eine Runde«, ließ Bailor sich vernehmen. »Oder wollen wir das Spiel als beendet ansehen, mit dir als Verlierer?« Er wandte sich wieder seinen Kumpanen zu. »Vielleicht sollte ich meinen Gewinn dazu verwenden, ganz Kyleakin zu kaufen und seinen derzeitigen Verwalter vor die Tür zu setzen. Ich schätze, dass auf diesem Tisch ein Batzen mehr liegt, als ich dazu benötigen würde.« Ich sagte nichts, hatte nur den Wunsch, aus diesem Cof-fee House zu verschwinden, bei dessen Geruch nach verschüttetem Wein, Schweiß und den Düften der Damen sich mir nun der Magen umdrehte. Ich wollte, dass mir die winterliche Abendkälte ins Gesicht schlug, damit ich einen klaren Kopf bekam, um meinen nächsten Schritt planen zu können, vor allem aber, um mir darüber klar zu werden, was schiefgegangen war und wie ich dem Mann unter die Augen treten sollte, der mir ein kleines Vermögen anvertraut hatte. Ich musste mehr zur Tür geschlurft als gegangen sein, denn ehe ich die Klinke drücken konnte, war Bailor mit rotem, vor hämischer Siegesfreude glühenden Gesicht und mit seinen Kumpanen im Schlepptau schon wieder hinter mir. Im ersten Augenblick glaubte ich, er wolle mich herausfordern, noch auf eine andere Weise meine Kräfte mit den seinen zu messen, was mir tatsächlich nur recht gewesen wäre, hätte es mir doch einiges von meiner Seelenlast genommen, es ihm mit der Faust heimzuzahlen. »Was ist noch?«, fuhr ich ihn an. Lieber sollte er sich an meinem Elend weiden als glauben, ich wolle mich davonstehlen. Obwohl man mich unter meiner Verkleidung nicht erkennen konnte und somit nichts, was ich tat, meinen guten Ruf beschmutzen könnte, war es mir als Mann doch zuwider, vor einem anderen davonzulaufen. Einen Moment lang sagte er gar nichts und sah mich nur an. Dann beugte er sich vor, als wolle er mich auf die Wange küssen, aber stattdessen flüsterte er mir etwas ins Ohr. »Mr. Weaver«, sprach er mich bei meinem richtigen Namen an, »ich glaube, Sie haben soeben den langen Arm von Jerome Cobb zu spüren bekommen.« 2 Im ersten Morgengrauen richtete ich mich im Bett auf. Ich war weder ausgeruht noch erquickt, denn ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, sondern ständig die Ereignisse des vorangegangenen Tages in meinem Kopf hin- und hergewälzt. Ich gab mir vergeblich alle Mühe zu begreifen, was sich abgespielt hatte, und dann stand mir auch noch das unangenehme Zusammentreffen mit Mr. Cobb bevor, bei dem ich ihm beichten musste, dass ich ihn statt um eine Genugtuung reicher um atemberaubende tausend Pfund ärmer gemacht hatte. Und nicht nur das - das Opfer seiner Rache wusste wohl von seinem Vorhaben und hatte den Spieß umgedreht und Mr. Cobb damit noch eine weitere Kränkung zugefügt. Ich war in Gedanken mindestens ein Dutzend Mal alle Möglichkeiten durchgegangen, die als Erklärung herhalten könnten, wie es zu dieser unschönen Wendung kommen konnte, doch bis auf eine einzige überzeugte keine davon. Um aber meinen geneigten Lesern Gelegenheit zu geben, dies nachzuvollziehen, will ich ein wenig zurückgreifen. Ich stand noch keine zwei Tage in Mr. Cobbs Diensten, als es zu der unerfreulichen Begegnung in Kingsley's Coffee House kam. An einem kalten, doch angenehm sonnigen Nachmittag hatte ich Botschaft von Mr. Cobb erhalten, dass er mich zu sprechen wünsche, und da mich nichts daran hinderte, seinem Wunsche Folge zu leisten, begab ich mich umgehend zu seinem Haus in der Swallow Street, unweit des St. James's Square. Es war ein prächtiges Haus, in einem der neueren Teile der Metropole. Im Vergleich zu so manchen anderen in London waren die Straßen breit und sauber und, zumindest vorläufig, frei von Bettlern und Dieben, obschon ich bald Zeuge werden sollte, wie sich dieser glückliche Umstand änderte. Obwohl es ein wolkenloser Tag war und eine wärmende Wintersonne mich beschien, waren die Straßen Londons zu dieser kalten Jahreszeit mit Eis und festgetretenem Schnee bedeckt, den allerdings der Ruß aus den Schornsteinen gräulich über braun bis hin zu schwarz verfärbt hatte. Ich konnte mich keine fünf Minuten im Freien aufhalten, ohne dass dieser Ruß sich bereits schwer auf meine Lunge zu legen begann, und nur wenig später bekam ich das Gefühl, eine schmutzige Rußschicht hätte meine ganze Haut bedeckt. Sowie die ersten warmen Tage kommen, pflege ich mich stets für einige Zeit nach außerhalb der Stadtmauern zu begeben, damit meine Lunge sich mittels frischer Landluft reinigt. Als ich auf das Haus zuging, fiel mir ein Bediensteter auf, der einen halben Häuserblock vor mir mit einem großen Paket unter dem Arm unterwegs war. Er war in eine hellgrüne, mit Rot und Gold abgesetzte Livree gekleidet und trug einen leicht hochnäsigen Gang zur Schau, der verriet, wie stolz er auf die Stellung war, die er im Hause seines Herren innehatte. Nun, dachte ich so bei mir, es gibt wohl nichts, was so gründlich den Neid der Minderbemittelten erweckt wie der Anblick eines schlichten Bediensteten, der die Nase hoch trägt, und gerade so, als hätte die Umgebung meinen Gedanken aufgegriffen, gewahrte ich, wie sich mindestens ein Dutzend Stra-ßenbengel, die mit einem Male aus den schmalen Nischen zwischen den Häusern zum Vorschein gekommen waren, an die Fersen unseres Lakaien hefteten. Diese vom Schicksal Benachteiligten richteten ihre eigentlich völlig unangebrachte Häme gegen den Unglücklichen und umtanzten ihn wie kleine Höl-lenteufel. Es fiel ihnen dabei nichts Originelleres ein, als ihm zuzurufen, er sei ein Lackel; seht ihn euch doch nur an, er hält sich für 'nen feinen Herrn, der Laffe. Selbst aus sicherer Entfernung konnte ich beobachten, wie der Bedienstete sich verkrampfte, was ich zunächst für ein Zeichen von Angst hielt, obwohl ich rasch eines Besseren belehrt wurde. Die Straßenjungen setzten ihre Verhöhnungstirade noch eine halbe Minute fort, doch dann schoss unvermittelt die freie Hand des Gedemütigten wie eine Schlange vor und packte einen der Bengel bei seinem abgewetzten Kragen. Ohne jeden Zweifel war der Diener in einem feinen Hause beschäftigt, denn seine Livree war gewaschen und gebügelt -er hatte darin fast etwas Soldatisches an sich. Dazu kam aber, dass der Bursche von eigenwilliger Physiognomie war: Mit seinen weit auseinanderstehenden Augen, seiner unverhältnismäßig kleinen Nase und den grotesk geschürzten Lippen erinnerte er an nichts so sehr wie an eine verwirrte Ente, oder, in diesem Moment jedenfalls, eine verwirrte, gereizte Ente. Der Knabe, den er sich gegriffen hatte, konnte höchstens acht Jahre alt sein, und seine Kleidung hing in solchen Fetzen, dass es aussah, als würde sie nur von einer Schmutzschicht zusammengehalten. Sein Mantel war zerrissen, und ich vermochte kein Hemd darunter zu erkennen; ein Loch in seiner Hose entblößte seinen Hintern - ein Umstand, der ihm auf der Bühne eines Theaters so manchen Lacher beschert haben würde. Bei einem Bettler im Erwachsenenalter hätte dies äußerst abstoßend gewirkt, bei einem Kind allerdings erweckte er nur Gefühle des Mitleids. Am schlimmsten war es um die Stiefel des Jungen bestellt; sie bedeckten nur den Spann seiner Füße, und als der kräftig gebaute Diener ihn in die Höhe hielt, konnte ich die schmutzigen, mit blutenden Schwielen überzogenen Fußsohlen des Kindes sehen. Die übrigen Kinder, deren Erscheinungsbild nicht minder abgerissen und verwahrlost war, hüpften schreiend um den Diener herum, beschimpften ihn und bewarfen ihn mit Steinen, was den Mann jedoch unbeeindruckt ließ, gerade so, als wäre er ein Untier aus den Tiefen des Meeres, das durch seinen dicken Panzer gegen eindringende Harpunen gefeit war. Der Knabe in seinem Würgegriff lief indessen feuerrot im Gesicht an und zappelte hin und her wie ein Hängender im Zuchthaus von Newgate bei seinem letzten Tanz in schwebender Höhe. Der Bedienstete hätte ihn umbringen können. Und warum auch nicht? Wer wollte einen Mann dafür anklagen, dass er einem diebischen Waisenbengel den Garaus machte, die Sorte Landplage, der man kaum mehr Beachtung zollte als einer Ratte? Ich jedoch, wie meine geneigten Leser auf den folgenden Seiten erfahren werden, kann mich zu höchster moralischer Instanz aufschwingen, wenn die Umstände dies erfordern, und das Strangulieren eines Kindes hat seinen festen Platz in der Kategorie dessen, was ich nicht zu tolerieren gewillt bin. »Lass den Jungen los!«, rief ich. Weder die Kinder noch der Bedienstete hatten mich bisher wahrgenommen, und nun drehte sich alles nach mir um. Aufrechten, entschlossenen Ganges näherte ich mich der Szene, denn ich hatte längst gelernt, dass ein entsprechendes Auftreten einem mehr Gewicht verlieh als die Kraft irgendeines Amtes. »Setz das Kind ab, Mann.« In seinem Erpelzorn hatte der Bedienstete nur ein verächtliches Schnauben für mich übrig. An der Schlichtheit meines Gewandes und an der Tatsache, dass ich keine Perücke über meinem Haar trug, konnte er gewiss erkennen, dass ich den mittleren Ständen zugehörig war und kein Gentleman, dessen Befehlen widerspruchslos Folge zu leisten wäre. Dennoch war ihm der Tonfall meiner Stimme nicht entgangen, und ich konnte darauf bauen, dass dieser mir eine gewisse Autorität verlieh. Und doch schien er keineswegs eingeschüchtert, sondern im Gegenteil eher nur noch wütender zu werden und drückte, soweit ich es erkennen konnte, noch fester zu, so dass der Junge wohl nur noch wenige Sekunden zu leben haben dürfte, was keinen weiteren Aufschub eingreifenden Handelns mehr duldete. Dementsprechend zog ich meinen kurzen Säbel aus seiner Scheide und richtete die Klinge geradewegs an seinen Hals. Es war mir Ernst, und ich hatte nicht vor, wie ein Tor zu wirken, der leere Drohungen ausstößt. »Ich werde nicht zulassen, dass der Junge erstickt, während ich eine Entscheidung fälle, ob du mich ernst nimmst oder nicht«, sagte ich. »Wenn du den Knaben nicht binnen fünf Sekunden loslässt, werde ich dich aufspießen. Verfalle nicht auf den Irrtum, ich hätte so etwas nicht schon früher getan, und sei gewiss, dass ich auch in Zukunft nicht davor zurückschrecken werde.« Die Augen des Mannes zogen sich zu zwei Schlitzen unter seiner vorgewölbten Stirn zusammen. Aber er musste an der Glut meines Blickes erkannt haben, dass ich nicht zu Scherzen aufgelegt war, denn seine verbissenen Züge lockerten sich augenblicklich, und der Junge plumpste aus zwei Fuß Höhe auf die Erde, von wo ihn seine Kameraden rasch fortzerrten. Nur wenige von ihnen warfen mir noch einen Blick zu, während sie sich in sichere Entfernung zurückzogen - weit genug, um nötigenfalls die Flucht ergreifen, nahe genug, um uns im Auge behalten zu können. Nur einer machte eine übertriebene Art Verbeugung, als er rückwärts laufend das Weite suchte. In den Augen meines Widersachers flackerte erneut mörderische Wut auf. Wenn er sein Mütchen schon nicht an einem Jungen kühlen konnte, dachte er möglicherweise, dann könne er es vielleicht mit mir aufnehmen. Um ihm zu zeigen, dass ich nichts dergleichen im Sinn hatte, steckte ich meinen Dolch in die Scheide zurück. »Nun fort mit dir«, sagte ich. »Mir fehlen die Worte für einen so niederen Charakter, der sich an Grausamkeiten gegen Kinder ergötzt.« Mein Gegenüber wandte sich den Jungen zu, die uns aus der Distanz beobachteten. »Ihr haltet euch vom Haus fern!«, schrie er. »Ich weiß nicht, wie ihr euch Zugang verschafft, aber ihr bleibt draußen, oder ich drücke jedem Einzelnen von euch die Kehle zu.« Alsdann ließ er sich dazu herab, sein Schwimmvogelgesicht mir zuzuwenden. »Ihr vergeudet Euer Mitgefühl. Es sind Diebe, üble Schlingel, und Ihr gedankenloses Handeln wird sie nur zu weiteren Schurkereien aufstacheln.« »Ich verstehe. Du bevorzugst es, einen Knaben zu ermorden, bevor er sich zu etwas aufstacheln lässt.« Der Zorn des Bediensteten ebbte zu einem gärenden Groll ab, der wohl seiner Vorstellung von Gleichmut entsprach. »Wer seid Ihr? Ich habe Euch noch nie in dieser Straße gesehen.« Ich zog es vor, ihm nicht meinen Namen zu nennen, denn ich wusste nicht, ob mein möglicher Auftraggeber es wünschte, dass seine Verbindung zu meiner Person bekannt würde. Also gab ich stattdessen seinen Namen als Referenz an. »Ich habe geschäftlich mit Mr. Jerome Cobb zu tun.« Wieder veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Dann kommt mit mir. Ich stehe in Mr. Cobbs Diensten.« Der Diener gab sich plötzlich alle Mühe, seinen Groll zu unterdrücken und mich bevorzugt zu behandeln, zumindest, bis er abschätzen konnte, von welcher Bedeutung ich für seinen Herrn war. Er führte mich in ein elegantes Stadthaus und bat mich, in einem Zimmer voller mit rotem Samt bezogener und mit Goldtressen verzierter Stühle und Polsterbänke Platz zu nehmen. An den Wänden hingen diverse Porträts in dicken goldenen Rahmen und dazwischen jeweils bodenlange Spiegel, um das Licht besser einzufangen. Zwischen den Bildern und Spiegeln ragten silberne Kerzenhalter aus den Wänden, und der Boden war von einem fein gewobenen, riesengroßen Orientteppich bedeckt. Dem Haus und der Wohngegend nach zu schließen verfügte Mr. Cobb zweifelsohne über beträchtliche Mittel, und die Einrichtung seiner Räume wies ihn mir auch als einen Mann von Geschmack aus. Es gehört zu den Angewohnheiten der Reichen, diejenigen niederen Standes, so wie mich, eine unangemessen lange Zeit ihre Hacken kühlen zu lassen. Ich habe nie begriffen, warum die Mächtigen im Lande, die, die in diesem Königreich zweifelsohne die Fäden in der Hand halten, ständig ihre Macht unter Beweis stellen müssen, und ich wusste nicht einmal, ob sie diese Macht mir oder sich selber beweisen zu müssen meinen. Doch wie ich bald feststellen durfte, gehörte Cobb auf vielerlei Weise nicht zu dieser Sorte mächtiger Männer. Er ließ mich höchstens eine Viertelstunde warten, ehe er, gefolgt von seinem finster dreinblickenden Diener, persönlich ins Zimmer kam. »Ah, Mr. Benjamin Weaver. Welch eine Freude, Sir, welch eine Freude.« Er verbeugte sich vor mir und gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich auf dem Stuhl Platz behalten sollte, von welchem ich aufgesprungen war. Ich erwiderte die Verbeugung und setzte mich wieder hin. »Edward«, sagte er zu seinem Diener, »hole Mr. Weaver ein Glas von unserem vorzüglichen Claret.« Dann wandte er sich mir zu. »Sie trinken doch ein Glas Claret, nicht wahr?« »Nur, wenn er wirklich so vorzüglich ist«, antwortete ich. Er lächelte mir zu. Mr. Cobb war ein Mann, der viel lächelte. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig; er war ein wenig beleibt, wie die Männer dieses Alters es halt sind, doch, wie ich fand, von angenehmem Äußeren, mit einem freundlichen, faltigen Gesicht und leuchtenden blauen Augen. Eine Frohnatur, wie es schien, aber ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man sich vor solchen Frohnaturen besser in Acht nehmen sollte. Manchmal waren sie das, als was sie erschienen, aber manchmal war das leutselige Naturell auch nur aufgesetzt, um einen grausamen Charakter dahinter zu verbergen. Sowie Edward mir den Wein gereicht hatte - der Claret war in der Tat vorzüglich und wurde in einem reich verzierten Kristallglas kredenzt, in das etwas eingraviert war, das aussah wie ein tanzender Fisch -, nahm Cobb mir gegenüber auf einem der roten Samtstühle Platz, nippte an seinem Wein und schloss genussvoll die Augen. »Ich habe oft mit Wohlwollen über Sie reden hören, Mr. Weaver. Man sagt Ihnen nach, Sie wären genau der Richtige, um etwas Verlorengegangenes wiederzufinden. Und auch, dass Sie sich geschickt zu tarnen wüssten. Kein leichtes Unterfangen für jemanden, über den die Zeitungen so viel zu schreiben haben.« »Ein Gentleman könnte meinen Namen wissen, ohne mein Gesicht zu kennen«, erwiderte ich. »Nur das schärfste Auge erkennt ein Gesicht ohne die gewohnte Umgebung. Geschickt ausgewählte Perücke und Gewand wirken Wunder, wie ich aus Erfahrung weiß.« »Ja, über Ihre Beschlagenheit in solchen Dingen ist mir viel zu Ohren gedrungen. Und ebendarum habe ich eine Aufgabe, die ich Sie für mich zu erledigen bitte und die es erfordert, dass Sie in Verkleidung auftreten. Es handelt sich um die Arbeit von nur einem einzigen Abend und verlangt nicht mehr von Ihnen, als dass Sie sich in einen Spielsalon begeben, mit gewissen Damen schöntun und mit ihnen etwas trinken und beim Kartenspiel mitmachen, ohne dabei Ihr eigenes Geld einsetzen zu müssen. Dafür würde ich Ihnen fünf Pfund bezahlen. Nun, was sagen Sie dazu?« »Wenn jeder Mann auf so angenehme Weise fünf Pfund verdienen könnte, gäbe es in London kaum noch Menschen mit Schulden, würde ich dazu sagen.« Er lachte und fuhr damit fort, dass er mir von einem gewissen Bailor erzählte, einem Falschspieler, der ihn, Cobb, bei einer Runde das Kartenspiels Cacho auf die unverschämteste Art und Weise betrogen hatte. »Ich kann damit leben zu verlieren«, sagte er, »und ich kann sogar damit leben, als Dummkopf dazustehen, weil ein anderer geschickter war als ich. Aber als ich erfuhr, dass dieser Bailor ein berufsmäßiger Falschspieler ist, war es zu viel des Guten. Ich möchte es ihm heimzah-len.« Sodann erörterte mir Cobb seinen Plan. Jener Bailor würde am folgenden Abend bei Kingsley's zugegen sein, und Cobb hatte bereits mit dem Geber am Cacho-Tisch einen Handel ausgemacht, so dass von mir nicht mehr erwartet wurde, als Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und dafür zu sorgen, dass Bailor mich zu einem Wettspiel herausforderte. Nachdem Cobb mich auch über Bailors Abneigungen informiert hatte, kamen wir rasch überein, dass ich als schottischer Lackaffe auftreten sollte. Cobb stand kurz davor, sich vor Freude selber zu umarmen. »Er wird so ahnungslos in die Falle tappen, dass ich mir wünschte, ich könnte selber dabei sein. Doch ich fürchte, meine Anwesenheit würde ihn argwöhnisch machen, also halte ich mich lieber fern.« Als ich auf das Geld zu sprechen kam, das ich gegen Bailor einsetzen sollte, sagte Cobb, dass ich mir in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen brauchte. Er zückte seine Brieftasche und entnahm ihr ein beachtliches Bündel Banknoten. »Das sind zwölfhundert Pfund«, erklärte er, ohne allerdings Anstalten zu machen, mir das Geld in die Hand zu geben. »Einen Teil davon werden Sie verlieren, um ihn anzustacheln, aber ich wünsche, dass Sie beim entscheidenden Schlag so nahe an eintausend Pfund Einsatz herangehen wie möglich.« Er behielt das Geld weiterhin fest in der Hand. »Sorgen Sie sich vielleicht um die Sicherheit Ihres Geldes?« »Es ist immerhin sehr viel mehr als das, was für Sie dabei herausspringt.« »Ich glaube, dass selbst in jenen Berichten, die mich am schlechtesten beleumunden, nie davon die Rede war, ich sei ein Dieb oder ein Betrüger. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich mit Ihrem Geld nur so verfahren werde, wie Sie es von mir wünschen.« »Ja, selbstredend.« Cobb läutete die kleine Glocke, die auf dem Tisch neben ihm stand. Wiederum betrat sein Diener das Zimmer, diesmal in Begleitung eines mürrisch dreinblickenden Mannes in ungefähr meinem Alter, was bedeutete, dass er an die dreißig Jahre alt sein durfte. Entweder hatte er eine niedrige Stirn oder seine Perücke zu weit nach unten gezogen, wobei ich allerdings das Erstere vermutete, denn auch ansonsten waren seine Züge alles andere als vollkommen - eine zu große, klumpige Nase, eingefallene Wangen, ein fliehendes Kinn. Kurz gesagt, er war ein äußerst unattraktiver Mann, der gemeinsam mit Edward, dem Diener ein ausgesprochen unangenehmes Paar abgab. Ich halte nicht viel davon, aus der Physiognomie eine Wissenschaft zu machen, aber die beiden waren so abstoßend, dass ich fast überzeugt war, ihr Charakter müsse ihnen ins Gesicht gezeichnet sein. »Mr. Weaver, hier sehen Sie Mr. Tobias Hammond, meinen Neffen und treuen Diener Seiner Majestät im königlichen Zollamt.« Hammond verbeugte sich steif. Ich erhob mich und erwiderte die Geste. »Er arbeitet im Zollamt Seiner Majestät«, wiederholte sich Cobb. »Ja«, erwiderte ich. »Ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass er am Zollamt beschäftigt ist«, sagte Cobb. »Schon gut, Onkel«, sagte Hammond. »Ich glaube, das hat er jetzt verstanden.« Cobb wandte sich wieder mir zu. »Obwohl, wie Sie schon sagten, ich nie eine glaubwürdige Äußerung vernommen habe, durch die Ihre Ehrlichkeit in Frage gestellt würde, macht es Ihnen hoffentlich nichts aus, dass ich zwei Zeugen hinzugeholt habe, die sehen, dass ich Ihnen zwölfhundert Pfund anvertraue. Ich erwarte von Ihnen, dass sie mir das Geld spätestens am Donnerstagmorgen zurückerstatten - einschließlich sämtlicher Gewinne, die Sie damit gemacht haben. Da diese Gewinne einzig und allein durch meine eigenen Vorbereitungen möglich sein werden, gehe ich doch davon aus, dass Sie keinen prozentualen Anteil daran für sich beanspruchen werden.« »Natürlich. Und wenn es Ihnen lieber ist, kann ich Ihnen das Geld auch noch am gleichen Abend zurückbringen. Es wäre mir angenehm, es nur so kurz wie möglich in meinem Besitz zu wissen.« »Damit Sie nicht in Versuchung geraten, sich damit davonzumachen, nehme ich an?« Er lachte über seinen eigenen Scherz. »Natürlich ist eine so große Summe Geldes verführerisch, aber bisher ist es mir stets gelungen, mich zu beherrschen.« »Onkel, seid Ihr sicher, dass das klug ist?«, fragte der Neffe, Mr. Hammond aus dem Zollamt. »Oh, das bin ich gewiss«, antwortete Cobb. Hammond verzog sein komisches Gesicht zu einer noch hässlicheren Fratze des Missbehagens. Er wandte sich dem Diener zu. »Das wäre dann alles, Edmond.« Edmond. Cobb, so fiel mir auf, hatte ihn Edward genannt. Sowie der Diener gegangen war, sah mich Hammond aus strengen braunen Augen an. »Ich habe vernommen, dass dieser Mr. Weaver einen akzeptablen Ruf genießt«, sagte er, »aber es kann kein vernünftiges Unterfangen sein, einem Mann eine solche Summe anzuvertrauen, die mehr darstellt, als er bei allem guten Willen in einem Zeitraum von mehreren Jahren zu verdienen hoffen könnte.« »Es ist eine beträchtliche Summe«, pflichtete ich ihm bei. »Aber wenn ich sie stehlen wollte, würde das heißen, dass ich mich verstecken, meinen guten Namen aufgeben und auf alle Aussichten, mir auch noch in Zukunft etwas zu verdienen, verzichten müsste. Wenn es jedoch nach diesem Auftrag die Runde macht, dass man mir diese Summe anvertraut hat und ich Mr. Cobbs Vertrauen nicht enttäuscht habe, kann mein Einkommen in Zukunft nur noch größer werden. Und außer-dem war dies Mr. Cobbs Einfall und nicht der meine. Ich habe nicht darum gebeten, dass mir ein solches Vertrauen entgegengebracht wird, und ich werde auch nicht darauf bestehen, das Geld an mich zu nehmen.« »Wenn es mein Geld wäre, würde ich ihn einen Schuldschein dafür unterschreiben lassen«, meinte Hammond. »Wenn es dein Geld wäre, könntest du damit machen, was du für richtig hältst, so, wie ich mit meinem Geld verfahre.« Aus Cobbs Worten war keine Spur von Verstimmung herauszuhören. Im Gegenteil, er klang gut gelaunt, als wäre es unmöglich, ihn zu reizen. »Was bedeutet schon ein Stück Papier, wenn man Zeugen hat. Der gute Ruf, der Mr. Weaver vorauseilt, bürgt besser für mein Geld als jeder Fetzen.« »Wie Ihr wünscht, Sir.« Hammond zog sich mit einer Verbeugung zurück. Während der nächsten halben Stunde erzählte mir Cobb noch mehr von dem, was er über Bailor wusste, und instruierte mich auch, was ich zu ihm sagen sollte, sowie ich ihm seine Niederlage beigebracht hatte. Ich war zuversichtlich, meine fünf Pfund mit Leichtigkeit verdienen zu können, doch gleichzeitig beschlich mich ein ungutes Gefühl, denn niemand kann zwölfhundert Pfund in bar mit sich herumtragen und sich dabei wohl in seiner Haut fühlen. Ich hatte nur den Wunsch, zu tun, was mir aufgetragen ward, und dann schnellstmöglich das Geld zurückzuerstatten. Als ich das Haus verließ, sah ich, dass der Diener an der Tür darauf gewartet hatte, dass ich ging. Sein misstrauischer Blick folgte mir; er schien sich vergewissern zu wollen, dass ich auf dem Weg nach draußen nicht noch etwas mitgehen ließ. Ich konnte mir kaum ausmalen, was mich dazu treiben sollte, nachdem sein Herr mir eine solche Summe anvertraut hatte, die ich nur auszugeben brauchte. Bevor ich ihm den Rücken kehrte, sprach ich ihn noch einmal an. »Mr. Cobb hat Sie Edward genannt, aber Mr. Ham-mond hat Sie mit Edmond angesprochen. Was ist denn nun richtig?« »Edgar«, sagte er und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Nach allem, was ich über Cobbs Plan wusste, kam nur eine Schlussfolgerung in Betracht: Der Mann, der die Karten gab, hatte die Sache an Bailor verraten. Dieser Mann war, wenn ich es recht verstanden hatte, neben Cobb, Hammond und mir der Einzige, der in alles eingeweiht war, und da er die Karten gab, konnte niemand sonst einen so unglücklichen Ausgang in die Wege geleitet haben. Es war durchaus möglich, dass Bailor ihm angeboten hatte, ihn kameradschaftlich an seinem Gewinn zu beteiligen. Ich dachte schon daran, mir den Schurken vorzuknöpfen und ein Geständnis aus ihm herauszuprügeln, bevor ich zu Mr. Cobbs Stadthaus zurückkehrte, aber mein Verstand hielt mich davon ab. Gewiss war es richtig, dass der Geber die Karten zu Gunsten von Bailor manipuliert haben konnte, aber das vermochte ich nicht zu beweisen, also brauchte ich mehr Informationen, bevor ich zur Tat schritt. Dass die Komplizenschaft des Gebers die naheliegendste Erklärung darstellte, hieß allerdings noch nicht, dass dies die einzige Erklärung war. Ich war Zeuge geworden, wie sowohl sein Diener als auch sein Neffe sich Mr. Cobb gegenüber feindselig gezeigt hatten, und es lag zumindest im Bereich des Möglichen, dass einer der beiden seine Finger im Spiel hatte. Wenn ich meine Ehre retten wollte, würde mir nichts anderes übrig bleiben, als zu Mr. Cobb zurückzugehen, ihm alles zu erzählen, was sich zugetragen hatte, und ihm dann von mir aus anzubieten, nicht nur seinen Schaden wiedergutzumachen, sondern auch herauszufinden, was an seinem Plan schiefgegangen war. Es gab so vieles, was ich über den Mann nicht wusste, und ich konnte mich keinesfalls darauf verlassen, dass er alles mit Umsicht durchdacht hatte. Zum einen war es möglich, dass er in seiner törichten Vorfreude nicht den Mund ge-halten hatte und dass etwas von seinem Plan auf Umwegen zu Bailor durchgesickert war. Doch wie gesagt, es erschien mir vorerst nicht klug, diese Spur ohne zusätzliche Informationen zu verfolgen. Auf mein Klopfen wurde mir sofort von dem Diener die Tür geöffnet. Er begrüßte mich mit einem höhnischen Grinsen auf seinen wie zu einem Schnabel geschürzten Lippen. »Weaver, der Jude«, sagte er. »Edgar, der kinderschändende Stiefellecker, den niemand bedeutsam genug findet, um sich seinen Namen zu merken«, gab ich zurück, denn ich war wütend und müde und hatte keine Lust, mich mit dem Mann auf Spielchen einzulassen. Er führte mich sogleich wieder in das Zimmer mit den vielen Sitzmöbeln, wo ich diesmal - nun, wohl eine gute Dreiviertelstunde warten musste, wobei jedes Ticken der Standuhr mir wie eine Ohrfeige vorkam. Ich fühlte mich wie ein Patient, der auf den Arzt wartet, damit der ihm seine Nierensteine herausnimmt - ich fürchtete mich vor dem Eingriff, wusste aber um seine Unvermeidbarkeit und wollte ihn lieber früher als später hinter mir haben. Endlich erschien Edgar und führte mich in den Salon. Mr. Cobb stand, in gesetztes Braun gekleidet, mitten im Raum und lächelte mit dem Eifer eines Kindes, das eine Süßigkeit erwartet. In einer Ecke lauerte, die Knollennase in eine Zeitung gesteckt, Mr. Hammond in einem Sessel. Er hob kurz den Blick, als ich eintrat, nahm aber dann ohne ein Wort seine Lektüre wieder auf. »Ich schätze, Sie haben Neuigkeiten für mich, Sir«, begrüßte mich Cobb. Er rieb sich erwartungsvoll die Hände. »In der Tat«, sagte ich, nachdem er sich gesetzt hatte. »Aber es sind keine erfreulichen Neuigkeiten.« »Keine erfreulichen Neuigkeiten.« Sein Lächeln erstarrte. »Aber Sie haben doch noch das Geld?« Nun erst erweckte meine Anwesenheit Hammonds Interesse. Er legte seine Zeitung hin und starrte mich wütend an, wobei seine Augen, wie bei dem eingezogenen Kopf einer Schildkröte, gerade eben unter seiner Perücke hervorlugten. »Leider nicht«, sagte ich zu Cobb. »Es ist etwas ganz fürchterlich danebengegangen, Sir, und obwohl es mir überhaupt nicht liegt, nach Entschuldigungen für mich selbst zu suchen, habe ich an dieser Angelegenheit nichts ändern können. Es ist denkbar, dass Sie von dem Angestellten von Kingsley's hintergangen worden sind, denn die Karten, die ich von ihm bekam, hielten nicht, was ich mir von ihnen versprochen hatte, und nachdem alles vorüber war, zeigte er keinerlei Anzeichen von Betroffenheit. Ich habe über die Geschehnisse des gestrigen Abends lange nachgedacht, und ich glaube ...« »Wie ich es prophezeit habe«, sagte Hammond fast gleichmütig. »Der Jude hat unser Geld genommen.« »Es ist durch Perfidität verloren gegangen«, verteidigte ich mich und gab mir dabei größte Mühe, weder arrogant noch verbittert zu klingen. »Doch darf ich Ihnen versichern, nicht durch meine.« »Wäre auch kaum denkbar, dass Sie es uns sagen würden, wenn es sich anders verhielte«, knurrte Hammond triumphierend. Cobb jedoch warf ihm einen Blick zu, dass er sich zurückhalten solle. »Wenn Sie das Geld gestohlen hätten, wären Sie ja kaum hier, um uns davon zu erzählen«, sagte er. »Pah«, ließ sich Hammond vernehmen. »Er will sich zusätzlich zu dem, was er eingesackt hat, wohl noch seine fünf Pfund Bezahlung abholen. Ein feines Schlitzohr, muss ich sagen.« »Unsinn«, sagte Cobb, mehr zu mir als zu seinem Neffen. »Nichtsdestotrotz haben Sie es verloren, was Sie in meinen Augen zwar nicht verachtenswert macht, was ich Ihnen aber kaum verzeihen kann.« »Ja, ich habe es verloren, und obwohl ich die Schuld daran nicht bei mir selber suchen kann, betrachte ich mich sowohl als hintergangen als auch irgendwie für den Verlust verantwortlich. Ich versichere Ihnen, dass ich keine Ruhe geben werde, bis wir herausfinden, wer .« »Sie versichern mir?«, wiederholte Cobb. Seine Stimme klang eine Spur düsterer. »Ich habe Ihnen dieses Geld anvertraut, und Sie haben mir versichert, mein Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ich fürchte, Ihre Versicherungen halten nicht ganz das, was ich mir von ihnen versprochen habe.« »Jeder hätte vorhersagen können, dass es so ausgeht«, meldete sich noch einmal Hammond zu Wort. »Wenn ich mich recht erinnere, habe ich meine warnende Stimme erhoben.« »Ich habe Ihr Vertrauen nicht missbraucht«, sagte ich zu Cobb und spürte, wie auch in mir die Wut hochzukochen begann. Ich war schließlich ebenso sehr aufs Kreuz gelegt worden wie er und mochte mir seine Andeutungen nicht länger anhören. »Ich muss darauf hinweisen, dass es Ihr eigener Plan war, in dem von Anfang an der Wurm steckte. Aber das spielt jetzt keine Rolle, denn ich bin fest entschlossen .« »Mein Plan, sagt er«, unterbrach mich Cobb. »Sie erweisen sich als ganz schön unverschämt, Weaver. Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet. Nun, seien Sie so unverfroren, wie Sie wollen, aber sobald Sie mit Ihren Bemühungen fertig sind, mir diesen Verlust schmackhaft zu machen, werden Sie mir doch wohl zustimmen, dass Sie mir zwölfhundert Pfund schulden.« Hammond nickte. »Ganz recht. Und er muss die Schuld augenblicklich begleichen.« »Die Schuld begleichen? Zunächst muss ich in Erfahrung bringen, wer Ihnen das Geld abgenommen hat, und dazu brauche ich Ihre Hilfe. Wenn Sie sich einen Moment Zeit nehmen, meine Fragen zu beantworten, können wir, glaube ich, herausfinden, wem wir den Verlust zu verdanken haben.« »Was ist das? Ein Versuch, alles zu vernebeln?«, warf Hammond ein. »Sie haben versprochen, das Geld heute früh zurückzubringen. Das haben Edward und ich mit eigenen Ohren gehört. Versuchen Sie es jetzt nicht mit irgendwelchen lumpigen Ausflüchten. Sie haben eine beträchtliche Menge Geldes entweder entwendet oder verloren, und nun wollen Sie eine hochnotpeinliche Befragung meines Onkel durchführen? Ihren Nerv möchte ich haben, mein Lieber.« Cobb schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, mein Neffe hat recht, Mr. Weaver. Ich wäre ein schlechter Verwalter meiner Finanzen, wenn ich bei dieser Schuld ein Auge zudrücken würde. Leider muss ich darauf bestehen, dass Sie mir, wie zugesagt, heute früh das Geld zurückerstatten. Wenn Ihnen das nicht möglich sein sollte, bleibt mir keine andere Wahl, als einen Haftbefehl gegen Sie zu beantragen.« »Einen Haftbefehl?« Ich hatte das Wort lauter, als ich beabsichtigt hatte, ausgestoßen, aber es fiel mir zunehmend schwerer, mich im Zaume zu halten. »Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein.« »Es ist mein voller Ernst. Haben Sie das Geld nun zur Verfügung oder nicht?« »Das habe ich nicht«, sagte ich mit so unerbittlicher Stimme, als wären es die letzten Worte eines Straßenräubers unter dem Galgen. »Und wenn ich es hätte, würden Sie es nicht bekommen.« Ich hatte erwartet, dass Cobb sehr unzufrieden mit dem Ausgang unseres Vorhabens sein würde, aber nie im Leben, dass er mich auf eine solche Weise behandeln könnte. Schließlich war es der Dritte im Bunde gewesen, der ihn hintergangen hatte. Trotzdem führte kein Weg daran vorbei, dass ich mich in einer prekären Situation befand, denn er konnte zwei Zeugen vorweisen, die schwören würden, dass sie mein Versprechen, das Geld zurückzuerstatten, gehört hatten, und dieses Versprechen konnte ich nun nicht einlösen. Aber so lagen die Dinge eben, und Cobb erhob seine maßlosen Forderungen. Also begann ein Verdacht in mir zu keimen. Es steckte mehr dahinter, als es auf den ersten Blick erschien. Cobb hatte dafür gesorgt, dass zwei Zeugen bestätigen konnten, ich hätte zugesagt, das Geld zurückzubringen, aber sie hatten nicht gehört - darauf zumindest konnte ich jeden Eid ablegen -, was über den geplanten Verlauf des Abends bei Kingsley's besprochen worden war. »Wollen Sie etwa andeuten«, hob ich an, »dass ich das Geld auftreiben oder aber ins Gefängnis gehen soll? Wie kann das in Ihrem Interesse liegen, wenn ich nicht derjenige bin, der Sie betrogen hat? Ich kann Ihnen Ihren Verlust nicht erstatten, wenn ich ins Gefängnis gehe!« »Nichtsdestotrotz ist das die Situation, in der Sie sich befinden.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht richtig.« Und dabei dachte ich nicht einmal an die rechtliche Sachlage, sondern vielmehr an die Logik hinter Cobbs Handeln. Warum bestand er darauf, dass ich ihm auf der Stelle sein Geld zurückgab? Der einzige Grund, der mir dafür einfiel, verschlug mir beinahe den Atem. Ich konnte nicht umhin, den Schluss zu ziehen, dass nicht nur der Geber, sondern auch Bailor in Cobbs Diensten gestanden hatte. Das Geld war keineswegs verloren, war keineswegs geopfert worden - sondern ich. »Sie erklären, dass Sie von mir Geld sehen wollen oder ich ins Gefängnis gehe«, sagte ich. »Und doch bin ich sicher, dass Sie mir noch eine dritte Möglichkeit vorzuschlagen beabsichtigen.« Cobb lachte auf. »Es stimmt schon, dass ich es nur höchst ungern sähe, wenn ein Mann von Ihren Fähigkeiten durch eine solche Schuld, die er gewiss nie wird abtragen können, in den Ruin getrieben würde. Daher bin ich gewillt, Sie die Schuld abarbeiten zu lassen - etwa so, wie Deportierte in der Neuen Welt das Land, das sie beackern, durch ihrer Hände Arbeit abzahlen.« »Richtig«, pflichtete Hammond ihm bei. »Wenn er das Geld nicht zurückzahlen kann und nicht ins Gefängnis will, muss er die dritte Möglichkeit wählen - die nämlich, von heute an unser Diener zu sein.« Ich erhob mich von meinem Stuhl. »Wenn Sie glauben, dass ich mir eine solche Behandlung gefallen lasse, irren Sie sich.« »Ich werde Ihnen sagen, was wir glauben. Mr. Weaver«, antwortete Hammond, indem er sich erhob, um nicht zu mir aufblicken zu müssen. »Wir glauben, dass nicht Sie darüber zu entscheiden haben, welche Behandlung Sie sich gefallen lassen müssen. Nun setzen Sie sich wieder hin und hören Sie zu.« Er nahm wieder Platz. Ich nicht. »Bitte«, sagte Cobb mit etwas gemäßigterer Stimme. »Ich verstehe ja Ihren Zorn, aber Sie müssen wissen, dass ich nicht Ihr Feind bin und Ihnen auch nichts Böses will. Ich habe mich lediglich auf eine etwas verlässlichere Weise Ihrer Dienste versichern wollen.« Ich wollte mir das nicht länger anhören. Ich eilte an ihm vorbei in die Halle hinaus. Edgar stand grinsend neben der Tür. Hinter mir hörte ich wieder Cobbs ruhige, gemessene Stimme: »Wir werden die Einzelheiten festlegen, sobald Sie wieder hier sind. Ich weiß, was Sie jetzt tun müssen, und ich erwarte auch nichts anderes von Ihnen, aber wenn Sie damit fertig sind, werden Sie wieder zu mir kommen. Ich fürchte, Ihnen bleibt keine andere Wahl, und das werden auch Sie bald begreifen.« Er sprach die Wahrheit. Ich hatte keine andere Wahl. Ich glaubte nur, dass ich eine hätte. Ich ahnte, dass ich vor einer schwierigen Aufgabe stand, dass mir aber kein Ausweg blieb. Aber ich ahnte nicht, dass ich in weit größeren Schwierigkeiten steckte, als es bisher den Anschein gehabt hatte. 3 Es war noch Vormittag, als ich Cobbs Haus verließ, aber ich taumelte dennoch durch die Straßen, als hätte ich mich nur mit Mühe nach einem Zechgelage in einer Taverne vom Ale losgerissen oder nur widerwillig das Hurenhaus verlassen, in dem ich mich die ganze Nacht verlustiert hatte. Ich musste mich zusammennehmen, denn ich hatte keine Zeit, mir wie Hiob auf die Brust zu klopfen, um mich über zu Unrecht erlittenes Leid zu beschweren. Ich wusste nicht, warum Cobb einen so elaboraten Plan ersonnen haben sollte, nur um mich zu seinem Schuldner zu machen, aber ich war entschlossen, es darauf beruhen zu lassen, bis ich mich aus seinen Fängen befreit hatte. Sowie ich meine Schuld, oder was er als solche bezeichnete, bei ihm abgelöst hatte und er mit einer Klinge an seiner Kehle vor mir auf dem Boden lag, wollte ich mich nur zu gerne nach seinen Beweggründen erkundigen. Denn würde ich ihn danach fragen, solange er mir noch mit dem Schuldturm drohen konnte, würde ich das Gefühl nicht ertragen können, sein demütiger Bittsteller zu sein. Die Rolle des Bittstellers stand mir auf jeden Fall bevor, und wenn ich es schon nicht über mich bringen konnte, unter Cobbs Fuchtel zu leben, gab es doch, sagte ich mir, wohlwollendere Kreditoren auf der Welt. Ich gönnte mir daher die Ausgabe für eine Kutsche - ein paar Kupfermünzen, die ich weniger besaß, dürften wohl kaum die Bürde meiner enormen Verbindlichkeiten erschweren - und begab mich in jenen stinkenden, fauligen Teil der Metropole, der da Wapping hieß und in dem mein Onkel Miguel sein Lagerhaus unterhielt. Die Straße war zu vollgestopft mit Karren und Hausierern und Fischverkäuferinnen, als dass ich unmittelbar vor dem Gebäude aus dem Wagen hätte steigen können, also musste ich die letzten paar Minuten zu Fuß zurücklegen, wobei mir der Modergestank der Brühe aus dem Fluss und die nur wenig erbaulicheren Gerüche der Bettler um mich herum in die Nase drangen. Ein Knirps, der trotz der bitteren Kälte nur mit einem zerrissenen Hemd und sonst nichts weiter bekleidet war, versuchte mir Garnelen anzudrehen, die wohl seit mindestens einer Woche ungenießbar waren und deren Pestilenz mir die Tränen in die Augen trieb. Und doch konnte ich nicht umhin, einen mitleidsvollen Blick auf seine blutigen, mit Dreck aus dem Rinnstein verkrusteten Füße zu werfen, in denen sich der Schmutz schon in die Frostbeulen gefressen hatte, und aus einer plötzlichen Anwandlung der Mildtätigkeit heraus warf ich eine Münze auf seinen Teller, denn ich sagte mir, ein jeder, der so verzweifelt war, dass er noch versuchte, derart verdorbenes Zeug zu verkaufen, müsse unmittelbar vor dem Verhungern stehen. Erst nachdem er sich, einen zufriedenen Glanz in den Augen, verzogen hatte, ging mir auf, dass ich auf einen Trick hereingefallen war. Gab es denn noch einen Einzigen in London, fragte ich mich, der auch wirklich war, was er zu sein vorgab? Ich erwartete, dass das übliche geschäftige Chaos über mir zusammenschlagen würde, als ich den Speicherschuppen meines Onkels betrat. Er verdiente sich mit Im- und Exporthandel ein recht erkleckliches Einkommen, wobei er sich seine weit verzweigten Verbindungen zu den über die ganze Welt verstreuten Kommunen portugiesischer Juden zu Nutze machte. Er trieb Handel mit Ambra, Sirup, Dörrfisch und Datteln, Butter aus Holland und Heringen aus der Nordsee, aber sein Hauptgeschäft bestand in dem Handel mit spanischen und portugiesischen Weinen und britischen Wollprodukten. Diesen Warenaustausch eines nahen Verwandten konnte ich nur begrüßen, denn sooft ich meinen Onkel besuchte, durfte ich darauf hoffen, mit einer guten Flasche Port oder Schaumwein als Geschenk heimzukehren. Ich war es gewohnt, beim Betreten seines Lagerhauses von unzähligen Männern angerempelt zu werden, die aus unerfindlichen Gründen Kisten und Kästen und Fässer und Tonnen von einer Stelle an die andere schleppten und dabei so völlig im Sinn und Zweck ihrer Arbeit aufgingen wie die Myriaden umhereilender Bewohner eines Ameisenhaufens. Ich erwartete, dass der ganze Boden mit irgendwelchen Gefäßen vollgestellt sein würde, denen der süße Duft getrockneter Früchte entströmte, der sich mit dem Wohlgeruch ausgelaufenen Weines vermischte. Aber heute waren nur wenige Arbeiter zugegen, und die Luft in dem Gebäude war feucht und schwer; es roch nach Wollsachen und nach noch etwas anderem, erheblich Durch-dingenderem. Und es war kalt in dem beinahe leeren Schuppen. In der Hoffnung, meinen Onkel zu entdecken, blickte ich mich um, doch statt seiner trat sein langjähriger Kompagnon, Joseph Delgado, auf mich zu. Wie die Mitglieder meiner Familie war auch Joseph jüdischer Abstammung und portugiesischer Herkunft, jedoch in Amsterdam geboren und als Kind nach England gekommen. In den Augen der meisten Menschen sah er allerdings aus wie ein ganz normaler Engländer, denn er kleidete sich wie ein Mann aus Handelskreisen und trug das Kinn stets rasiert. Er war ein braver Kerl, den ich schon seit Kindertagen kannte und der stets ein nettes Wort für mich gehabt hatte. »Ah, der junge Master Benjamin«, begrüßte er mich. Es hatte mich stets amüsiert, wie er mich ansprach, als wäre ich noch ein Kind, aber ich begriff durchaus, warum er das tat. Es gefiel ihm nicht, mich bei meinem angenommenen Namen Weaver zu nennen, denn dieser stammte aus der Zeit, als ich noch als Junge aus meines Vaters Haus geflohen war und erschien dem guten Joseph als Zeichen meiner Aufsässigkeit. Er konnte nicht verstehen, warum ich mich weigerte, zu dem Namen meiner Ahnen, Lienzo, zurückzukehren, also weigerte er sich seinerseits, mich bei einem dieser beiden Namen zu nennen. Da mein Vater nun längst tot war und ich auf gutem Fuße mit meinem Onkel und meiner Tante stand, hatte ich eigentlich gar nichts mehr gegen meinen Familiennamen, aber jedermann kannte mich als Weaver, und ich verdiente mir mein Auskommen kraft des Rufes, der mir vorauseilte. Also gab es kein Zurück. Ich ergriff Josephs ausgestreckte Hand. »Es ist hier ziemlich still geworden, wie ich sehe.« »Oh ja«, erwiderte er ernst. »Ziemlich still, in der Tat. Still wie auf einem Friedhof.« Ich musterte sein in die Jahre gekommenes Antlitz und gewahrte die düstere Stimmung, die ihn bedrückte. Die Falten und Furchen seines Gesichts erschienen mir nun wie tiefe Schluchten. »Gibt es Ärger?« »Ich würde sagen, das ist der Grund, aus dem Ihr Onkel Sie hat kommen lassen.« »Mein Onkel hat mich nicht zu sich bestellt. Ich bin in eigenen Angelegenheiten hier.« Da erst ging mir die unheilschwangere Bedeutung auf, die seine Worte haben mochten. »Geht es ihm nicht gut?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Er macht sich nur seine üblichen Sorgen. Die Dinge stehen ja auch schlecht genug. Ich wünschte nur, er würde mich - oder einen anderen, das ist mir gleich - mehr in die Geschäfte einweihen. Ich fürchte, die Bürde seiner Verantwortung schlägt ihm auf die Gesundheit.« »Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe auch schon mit ihm darüber gesprochen.« »Es liegt daran, dass er keinen Sohn hat«, sagte Joseph. »Wenn doch nur Sie, Sir, bereit wären ...« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ich möchte, dass mein Onkel wieder gesund wird und nicht, dass er daran zugrunde geht, mit ansehen zu müssen, wie ich sein Geschäft in Grund und Boden wirtschafte. Ich habe vom Im- und Export keine Ahnung, und ich habe auch kein Verlangen, etwas darüber zu lernen, solange jeder Fehler, den ich begehe, ihm Schaden zufügen könnte.« »Aber Sie müssen mit ihm sprechen. Sie müssen ihn inständig bitten, sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Er ist in seinem Kontor. Gehen Sie nur zu ihm, mein Junge, gehen Sie.« Ich begab mich in den hinteren Teil des Lagerhauses, wo ich meinen Onkel in seinem kleinen Arbeitszimmer hinter seinem mit Geschäftsbüchern, Landkarten und Rechnungen bedeckten Schreibtisch vorfand. Er trank ein dickflüssiges Getränk aus einem Zinnbecher - Portwein, wie ich vermutete - und starrte durch das schmutzige Fenster hinaus auf die Themse. Er merkte gar nicht, dass ich den Raum betreten hatte, also klopfte ich gegen die Tür. »Onkel«, sagte ich. Er wandte sich zu mir um, stellte seinen Becher ab und erhob sich, um mich zu begrüßen, was ihm nur gelang, indem er sich mit seiner gebrechlichen Hand auf einen reich verzierten Gehstock stützte, dessen Knauf einen kunstvoll gearbeiteten Drachenkopf darstellte. Selbst mit Hilfe des Stocks waren seine Schritte schleppend und rangen ihm Anstrengung ab - es schien, als wate er durch Wasser. Nichtsdestotrotz umarmte er mich voller Herzlichkeit und gab mir mit einer Geste zu verstehen, ich solle Platz nehmen. »Schön, dass du gekommen bist, Benjamin. Welch ein Zufall - ich wollte gerade nach dir schicken.« »Ja, das hat Joseph mir bereits gesagt. Hast du Ärger, Onkel?« Er füllte einen weiteren Zinnbecher mit dem aromatischen Portwein und reichte ihn mir mit zitternder Hand. Obwohl den Großteil seines Gesichtes ein gepflegter Bart bedeckte, entging mir doch nicht, wie fahl und trocken seine Haut war und in was für tiefen Höhlen seine Augen steckten. »Da gibt es etwas, wobei du mir möglicherweise behilflich sein könntest«, sagte er. »Aber ich schätze, auch du hast deine Gründe, die dich zu mir führen, also lass uns zunächst hören, was du auf dem Herzen hast, und danach werde ich dich mit meinen Problemen behelligen.« Er sprach sehr langsam und machte beim mühseligen Luftholen rasselnde Geräusche. Seit einigen Monaten litt mein Onkel unter einer Rippenfellentzündung, die ihm starke Schmerzen bereitete und ihn immer wieder aufs Krankenbett warf, so dass wir befürchteten, es könne jeden Augenblick mit ihm ein erbärmliches Ende nehmen. Doch immer wenn die Not und die Sorge um ihn am größten waren, lockerte die Krankheit ihren Würgegriff, und sein Atmen kehrte wieder zu dem zurück, was wir als Normalzustand empfanden - wenn dieser auch erheblich angestrengter und mit mehr Schmerzen verbunden war als vor dem Ausbruch der Krankheit. Obwohl er regelmäßig von einem gut berufenen Arzt aufgesucht wurde, sich ebenso regelmäßig zur Ader lassen ließ und umgehend seine verschriebenen Medikamente bekam, ging es mit ihm immer weiter abwärts. Er hatte kaum Aussicht auf Besserung, mutmaßte ich, außer, er würde London, dessen Luft während der Wintermonate viel zu unrein für einen Mann mit angeschlagenen Bronchien war, den Rücken kehren. Aber davon wollte mein Onkel nichts hören, und schon gar nichts davon, sein Geschäft aufzugeben - er habe schließlich sein ganzes Leben darauf verwendet, es aufzubauen, argumentierte er, und er wüsste gar nicht, wie er ohne seine Arbeit leben sollte. Seiner Meinung nach würde ihn Nichtstun rascher ins Grab bringen als jede Krankheit und aller Schmutz in der Luft. Ich ging davon aus, dass meine Tante noch einen gelegentlichen Versuch unternahm, ihn umzustimmen, aber ich selber hatte das schon längst aufgegeben, weil der Verdruss, der daraus resultierte, seinem Zustand schließlich auch nicht zuträglich sein konnte. Ich sah zu, wie er wieder hinter seinen Schreibtisch schlurfte, hinter dem ein Feuer im Kamin prasselte. Mein Onkel war nie von stattlicher Statur gewesen, und in den zurückliegenden Jahren war er geradezu plump geworden - wie ein anständiger englischer Kaufmann eben -, doch seit ihn in diesem Sommer die Krankheit gepackt hatte, war das Meiste seines Körpergewichts dahingeschmolzen wie Eis unter der Sonne. »Du siehst mir nicht gut aus, Onkel«, sagte ich. »Das ist keine nette Art, ein Gespräch zu beginnen«, schalt er mich mit einem leisen Lächeln. »Du musst Joseph stärker in die Führung der Geschäfte einbinden und dich um deine Gesundheit kümmern.« Er schüttelte den Kopf. »Mit meiner Gesundheit wird es wohl nichts mehr.« »Onkel, das höre ich mir nicht an.« »Benjamin, ich werde nicht wieder genesen. Damit habe ich mich abgefunden, und auch du wirst dich damit abfinden müssen. Meine Pflicht meiner Familie gegenüber ist es vielmehr, ein florierendes Geschäft zurückzulassen und keinen Haufen Schulden.« »Vielleicht solltest du Jose hinzuziehen«, schlug ich vor. Jose war mein Bruder, aber wir hatten uns entfremdet und seit Jugendtagen kein Wort mehr miteinander gewechselt. Mein Onkel zog die Augenbrauen kaum merklich in die Höhe, und einen Augenblick lang erschien er mir wieder als der kerngesunde Mann, als den ich ihn noch vor einem halben Jahr gekannt hatte. »Du musst dir wirklich ernsthafte Sorgen machen, dass du mir mit so einem Vorschlag kommst. Doch nein, ich möchte ihn nicht belästigen. Er hat sein eigenes Geschäft und seine Familie in Amsterdam und kann nicht alles stehen und liegen lassen, um meine Angelegenheiten in Ord-nung zu bringen. Und ich kann dir versichern, dass es mir nicht an Kraft und an Willen fehlen wird zu tun, was ich tun muss. Doch nun sag du mir, was dich zu mir führt, aber ich bete um des häuslichen Friedens willen, dass du nicht hier bist, weil deine Tante dich geschickt hat, denn von ihr muss ich mir zu Hause schon genug Vorwürfe anhören.« »Wie du siehst, bedurfte es nicht meiner Tante, mich zu dir zu führen. Aber ich möchte es dir bei all deinen Sorgen nicht noch schwerer machen .« »Glaubst du, du würdest es mir nicht noch schwerer machen, wenn du mich dir nicht helfen ließest, sofern ich kann? Seit ich krank bin, sehe ich klarer denn je zuvor, dass bis auf die Familie wenig wirklich zählt. Wenn ich dir helfen kann, dann wird es mir eine Freude sein, dies zu tun.« Ich konnte nicht umhin, ihm angesichts seiner Großherzigkeit ein Lächeln zu schenken. Nur ein Mann vom Naturell meines Onkels konnte es so erscheinen lassen, als würde man ihm damit, dass man ihn um Hilfe ersuchte, einen Gefallen tun. »Ich befinde mich in Schwierigkeiten, Onkel, und obwohl ich dir nicht auch noch meine Sorgen aufbürden möchte, fürchte ich doch, dass du der einzige Mensch bist, an den ich mich wenden kann.« »Dann bin ich froh, dass du zu mir gekommen bist.« Ich hingegen war es nicht. Bei vielen Gelegenheiten hatte er mir - argwöhnend, dass es um meine Finanzen nicht zum Besten bestellt sei - ausdrücklich jegliche Unterstützung zugesichert. Ich meinerseits hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, solche Anerbieten regelmäßig auszuschlagen, selbst wenn ich mich an den Hauswänden der Stadt entlangdrücken musste, um den Häschern zu entgehen, die mit einem von einem zornentbrannten Gläubiger erwirkten Haftbefehl hinter mir her waren. Dies jedoch war eine ganz neue Situation für mich. Ich hatte zwar nicht über meine Verhältnisse gelebt - wem von meinem Stande konnte man nicht nachsagen, dass ihm dies ge-legentlich passierte? -, war aber so hinterhältig aufs Kreuz gelegt worden, dass ich ohne Hilfe meinen Kopf nicht mehr aus der Schlinge ziehen konnte. Dass ich unverschuldet in Not geraten war, machte es leichter, um einen finanziellen Zuschuss zu ersuchen, aber unangenehm blieb es mir dennoch. »Onkel«, begann ich, »du weißt, dass ich stets den Gedanken verabscheut habe, mich auf deine Großzügigkeit zu verlassen, aber ich fürchte, ich befinde mich zur Zeit in einer äußerst verzwickten Lage. Mir ist Unrecht geschehen, musst du wissen, großes Unrecht, und ich benötige ein Darlehen, um dieses an mir begangene Unrecht aus der Welt zu schaffen.« Er presste die Lippen zusammen, wobei ich nicht zu deuten wusste, ob er damit Anteilnahme oder ein körperliches Unbehagen zum Ausdruck bringen wollte. »Selbstverständlich«, sagte er mit weniger Wärme, als ich erwartet hatte. Schließlich war er es gewesen, der mir stets seinen Geldbeutel geradezu hatte aufdrängen wollen. Nun, da ich ihn um einen Kredit bat, demonstrierte er Zurückhaltung. »Wie viel wirst du denn benötigen?« »Ich fürchte, es handelt sich um eine beträchtliche Summe. Zwölfhundert Pfund. Du musst wissen, dass jemand es mit einer List so hingedreht hat, als würde ich ihm diese Summe schulden, und ich muss sie ihm bezahlen, um der unmittelbaren Gefahr einer Festnahme zu entgehen, doch sowie ich meine Verbindlichkeit vom Halse habe, werde ich die Verschwörung aufdecken und, so hoffe ich, das Geld zurückbekommen.« Ich hielt inne, weil ich sah, dass mein Onkel ganz blass geworden war. Plötzlich lag ein Schweigen über dem Raum, das nur durch das pfeifende Atmen meines Onkels unterbrochen wurde. »Verstehe«, sagte er schließlich. »Ich hatte eher etwas in der Größenordnung von dreißig oder vierzig Pfund erwartet. Wenn es sein muss, könnte ich auch hundert aufbringen. Aber zwölfhundert ist ausgeschlossen.« Es war in der Tat eine stattliche Summe, aber dennoch überraschte mich seine zurückhaltende Reaktion. Er ging regelmäßig mit erheblich größeren Beträgen um und verfügte über einen reichlichen Kreditrahmen. Konnte es sein, dass er mir misstraute? »Unter normalen Umständen würde ich nicht zögern, dir vorzustrecken, um was du mich bittest und sogar noch mehr«, fuhr er fort, und seine Stimme begann rasselnd zu klingen, was, wie ich in den vergangenen Monaten gelernt hatte, ein Anzeichen dafür war, dass er sich über etwas aufregte. »Du weißt, dass ich dir immer wieder meine Hilfe angeboten habe, und es hat mich oft geärgert, dass du dir von mir nicht unter die Arme greifen lassen wolltest, aber ich habe einen schweren geschäftlichen Rückschlag erlitten, Benjamin. Aus diesem Grunde habe ich dich zu mir rufen lassen wollen. Bis dieses Problem gelöst ist, kann ich keine solche Summe aufbringen.« »Um was für ein Problem handelt es sich denn?«, fragte ich. Mich überkam ein Gefühl der Unsicherheit. In dem Nebel begann etwas Gestalt anzunehmen. Er drehte sich um und schürte das Feuer. Vermutlich nahm er die Kraft zusammen, mir seine Geschichte zu erzählen. Nachdem er ungefähr eine Minute lang die Funken zum Sprühen gebracht hatte, wandte er sich wieder mir zu. »Ich habe jüngst eine beträchtliche Schiffsladung Wein gekauft - eine äußerst beträchtliche Ladung«, hob er an. »Natürlich betätige ich mich als Importeur portugiesischer Weine, wie du ja weißt, und empfange jedes Jahr eine oder zwei Lieferungen, um meinen Bestand aufzufüllen. Dies hätte eine solche Lieferung sein sollen. Wie immer habe ich die Ladung gegen alle erdenklichen Eventualitäten versichern lassen, doch hat es mir nichts genützt. Die Lieferung traf hier zwar wie zugesagt ein, wurde im Zollamt zwischengelagert und dort zu den Büchern genommen. Sowie der Wein von Bord war, verfiel die Transportversicherung, denn die Güter gelten danach als unversehrt eingetroffen. Nun aber ist die Ladung verschwunden.« »Verschwunden«, wiederholte ich. »Ja, auf dem Zollamt behauptet man, keinerlei Unterlagen über meinen Wareneingang finden zu können. Man behauptet sogar, meine Frachtpapiere wären gefälscht und hat mir auch noch mit rechtlichen Schritten gedroht, falls ich meinerseits auf Nachforschungen beharre. Du weißt ja, was unsereins vom Justizsystem dieses Landes zu erwarten hat. Ich begreife es nicht. Ich habe jahrzehntelang mit diesen Leuten zu tun gehabt, und ich habe es nie an kleinen Zuwendungen fehlen lassen, damit man mir auf dem Zollamt gewogen bleibt. Nie habe ich ein Wort des Missfallens vernommen, dass ich etwa meinen Beitrag nicht leistete oder dergleichen. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass man mit meiner Freigiebigkeit unzufrieden war. Und nun das.« »Sie treiben ein Spiel mit dir? Sie behalten deine Lieferung als Unterpfand?« Er schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Ich habe auch mit meinen langjährigen Verbindungspersonen dort gesprochen, Männern, die ich beinahe als meine Freunde betrachte, Männern, die es keinesfalls billigen würden, dass mir ein Schaden entstünde, weil sie sich an meine Zuwendungen gewöhnt haben. Ihnen ist die Angelegenheit ebenso schleierhaft wie mir. Doch unter dem Strich kommt dabei heraus, dass ich mich erheblich verschuldet habe, bis meine Ladung wieder aufgefunden wird, Benjamin. Wechsel werden fällig, und das erfordert von mir enorme Verschiebungen von Geldern und buchhalterische Winkelzüge, um nicht als Bankrotteur entlarvt zu werden, was meinen Ruin bedeuten würde. Wären es ein paar Silbermünzen, derer du bedürftest, würde es auch keine große Rolle mehr spielen, aber ich sehe nirgendwo zwölfhundert Pfund, die ich lockermachen könnte. Einen so be-trächtlichen Ziegel aus dem Gefüge meines Geschäftes zu entfernen, hieße, das ganze Bauwerk zum Einsturz zu bringen.« »Aber es gibt doch Gesetze«, brachte ich vor. »Ich habe selbstverständlich rechtliche Schritte eingeleitet, aber du weißt ja, wie die Mühlen mahlen. Es wird verschleppt, widersprochen und verdunkelt. Ich fürchte, es kann Jahre dauern, bis ich vor einem Gericht mein Recht bekomme.« Ich brauchte einen Augenblick, um zu verdauen, was ich da eben gerade vernommen hatte. Was für ein sonderbarer Umstand, dass mein Onkel in ebendem gleichen Augenblick wie ich von erheblichen Schulden gedrückt wurde. Aber natürlich war daran gar nichts Sonderbares. Es war alles ein abgekartetes Spiel, davon war ich überzeugt. Nicht umsonst hatte Cobb so ausdrücklich betont, dass Tobias Hammond, sein Neffe, am Zollamt beschäftigt war. »Benjamin, glaubst du, du könntest für mich in dieser Angelegenheit Nachforschungen im Zollamt anstellen? Vielleicht kannst du Licht in die Sache bringen, so dass wir ein wenig rascher zu einer Lösung finden.« Ich schlug mit meiner Faust auf die Platte seines Schreibtisches. »Es tut mir leid, dass dir das widerfahren ist, Onkel. Meiner Meinung nach bist du hinters Licht geführt worden. Jetzt wird mir klar, dass jemand dich geschäftlich schwer schädigen wollte, damit du mir nicht zu Hilfe kommen kannst.« In knappen Zügen berichtete ich ihm von meiner Absprache mit Cobb, zum Teil schon deshalb, weil ich wissen wollte, ob einer der Beteiligten ihm bekannt war und er mir etwas über ihn erzählen konnte. Jedoch war mir auch daran gelegen, ihm alles, was sich zugetragen hatte, zu erklären, damit er nicht zu streng über mich urteilte, weil ich unfreiwillig eine Rolle in dem gegen ihn geschmiedeten Komplott gespielt hatte. »Ich habe von keinem dieser Männer je etwas gehört. Aber ich kann Erkundigungen einholen, falls du dies möchtest. Wenn dieser Cobb so viel Geld besitzt, um dich zu seinem Leibeige-nen zu machen, muss er einen gewissen Bekanntheitsgrad haben.« »Ich wäre für alles dankbar, was ich von dir über ihn erführe.« »In der Zwischenzeit musst du herausfinden, was er vorhat.« Ich zögerte. »Darauf bin ich nicht sehr erpicht. Ich könnte es nicht ertragen, seine Marionette zu sein.« »Du kannst nicht den Kampf mit ihm aufnehmen, solange du nicht weißt, wer er ist und warum er so emsig daran arbeitet, dich jeder Gegenwehr zu berauben. Indem er dir verrät, wonach er trachtet, verrät er dir vielleicht auch das Geheimnis, wie wir ihn bezwingen können.« Dies war ein guter Rat, den ich beherzigen musste. Und zwar schon recht bald. Trotzdem war ich noch nicht bereit, zu Cobb zurückzukriechen. Zuvor galt es, noch weitere Ratschläge einzuholen. Ich verabredete mich mit meinem Freund und Mitstreiter Elias Gordon in einem Kaffeeausschank namens The Grey-hound, der sich in einer Seitenstraße der Grub Street befand. Ich erwartete, ihn dort mit einer Zeitung und einem Schokoladengetränk vor der Nase vorzufinden - oder mit einer Stärkung etwas gehaltvolleren Charakters. Daher überraschte es mich, ihn bei meinem Eintreffen auf der Straße vor dem Lokal stehen zu sehen, wobei er sich an dem Schnee, der in immer dichteren Flocken fiel, überhaupt nicht zu stören schien, derweil er hitzig mit einer mir unbekannten Person debattierte. Der Mann, mit dem er so lebhaft etwas zu erörtern hatte, war ein gutes Stück kleiner als Elias, was auf die meisten Männer zutrifft, aber dafür stämmiger, männlicher gebaut - was man ebenfalls von den meisten Männern sagen konnte. Obwohl sein eleganter Mantel und seine teure Perücke ihn als einen Gentleman auswiesen, war er puterrot im Gesicht ange-laufen und plusterte sich auf wie ein Gockel, während er Gift und Galle spuckte wie ein in die Enge getriebener Straßenraufbold. Elias verfügte über so manche Begabungen, aber einen Rohling - oder eben einen Mann von Stand mit äußerst schlechten Manieren - in die Schranken zu weisen, gehörte nicht dazu. Er war hochgewachsen, schlaksig und hatte lange Arme und Beine, die selbst für seine schlanke Statur viel zu dünn wirkten. Damit strahlte er nicht nur eine heitere Gelassenheit, sondern auch die Art jungenhaften Charme aus, der, wie ich oft habe beobachten können, fast unweigerlich das Wohlgefallen der jungen Damen erweckte. Und auch vor gestandenen Männern und Frauen machte diese Ausstrahlung nicht Halt, so dass es Elias, seiner einfachen Herkunft aus den Hochländern Schottlands zum Trotze, gelungen war, zu einem der angesehensten Ärzte Londons aufzusteigen. Er wurde gern gerufen, wenn in einer der gut situierten Familien der Stadt jemand zur Ader gelassen, eine Verwundung versorgt oder eine Reihe Zähne gezogen werden musste. Aber wie es bei vielen Menschen so ist, die andere für sich zu gewinnen wissen, machte Elias sich unweigerlich auch manch einen zum Feind. Ich legte einen Schritt zu, um zu verhindern, dass Elias ein Leid geschah, aber ich hatte nicht vor, seinem Widersacher mit allzu drohender Gebärde gegenüberzutreten, denn ein Mann, der wie ich seinen Lebensunterhalt mit seinen Fäusten verdient hat, lernt unwillkürlich, dass andere Männer es nicht schätzen, wie schutzbedürftige Kinder behandelt zu werden. Trotzdem hoffte ich, dass meine Präsenz unüberlegte Gewaltanwendung zu verhindern helfen würde. Da keine Kutschen unterwegs waren, sondern fast nur Fußgänger, hatte ich rasch die Straße überquert und stand gleich darauf an Elias' Seite. »Noch einmal, Sir«, sagte er und vollführte eine tiefe Verbeugung, bei der ihm die Perücke in die Stirn rutschte, »ich hatte keine Kenntnis von Ihrer Bekanntschaft mit der Lady, und es tut mir außerordentlich leid, Ihnen Verdruss bereitet zu haben.« »Es wird Ihnen gleich noch mehr leidtun«, polterte der andere, »denn Sie werden von mir Dresche beziehen, wie der Haderlump, der Sie sind, es verdient hat, und ich werde dafür sorgen, dass keine Lady und kein Gentleman in der Stadt noch einmal einen solch infamen Verführer wie Sie ins Haus lässt.« »Darf ich mich nach dem Anlass des Disputs erkundigen?« Ich räusperte mich und trat einen Schritt vor, wobei ich mich zwischen die beiden hadernden Gentlemen stellte. »Zum Teufel, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber sollten Sie nichts mit der Sache zu tun haben, verschwinden Sie besser. Sind Sie aber ein Freund dieses Subjekts, halten Sie sich zurück, sonst werden Sie auch gleich meinen Zorn zu spüren bekommen.« »Es handelt sich um ein schreckliches Missverständnis«, sagte Elias zu mir. »Ein verflixtes Missverständnis. Ich habe eine freundschaftliche Beziehung mit einer liebreizenden - und tugendhaften, wie ich hinzufügen darf, tadellos tugendhaften -jungen Dame anzuknüpfen versucht, die jedoch, wie sich herausstellte, mit jenem Gentleman hier verlobt ist. Darf ich dir Mr. Robert Chance vorstellen? Mr. Chance, darf ich Sie mit Mr. Benjamin Weaver bekannt machen?« »Verdammt noch mal, Gordon, ich habe kein Interesse daran, Ihren Freunden vorgestellt zu werden.« »Ach? Aber Ihnen ist vielleicht Mr. Weavers Name geläufig, denn er ist ein gefeierter Boxkämpfer - ausgesprochen versiert in der Kunst, mit seinen Fäusten zuzuschlagen, und man kann ihn bei Bedarf sogar in seine Dienste nehmen.« Ich mochte Skrupel gehabt haben, mich in die Sache einzumischen, aber Elias kannte keine solchen, wenn es darum ging, mich mit hineinzuziehen. »Auf jeden Fall«, fuhr er fort, »sind besagte junge Dame und ich eine freundschaftliche, aber rein tugend-hafte - ich glaube, das hatte ich bereits erwähnt - Liaison eingegangen. Wir haben lediglich philosophische Fragen, die aufgeweckte junge Damen interessieren könnten, erörtert. Man stelle sich nur vor - sie hat durchaus begriffen, worum es in Lockes Thesen zum Empirismus geht ...« Seine Stimme versiegte, da er vermutlich selber gemerkt hatte, wie absurd sein Erklärungsversuch war. »Und diese philosophischen Erörterungen haben also dazu geführt, dass sie ihren Unterrock ausgezogen hat?«, verlangte Chance zu wissen. »Wir sind auf eine Frage die Anatomie betreffend gestoßen«, sagte Elias mit kläglicher Stimme. »Sir«, sagte ich. »Mr. Gordon hat sich bei Ihnen entschuldigt und erklärt, dass er in Unkenntnis der Sachlage gehandelt hat. Er ist ein Mann von untadeligem Rufe ...« »Untadeligem Rufe als ein Schürzenjäger«, beendete Chance den Satz. »Er genießt einen untadeligen Ruf als Ehrenmann, und er hätte sich nie auf eine Beziehung zu einer Dame eingelassen, die schon einem anderen versprochen war, wenn er von dieser Verlobung gewusst hätte.« Dies war vielleicht der größte Unsinn, den ich je von mir gegeben hatte, aber wenn es meinen Freund vor ernsthaften Schwierigkeiten bewahrte, konnte ich derlei durchaus in dem Brustton der Überzeugung vorbringen. »Und der Feigling weigert sich auch noch, sich zum Duell fordern zu lassen«, beschwerte Chance sich bei mir. »Also bleibt mir keine andere Wahl, als ihn zu verprügeln wie einen räudigen Hund.« »Duelle habe ich nie geschätzt«, meldete Elias sich wieder zu Wort. »Möglicherweise könnte ich Ihnen meine ärztlichen Dienste als Kompensation anbieten?« Obwohl Elias mein Freund ist, krümmte ich mich innerlich angesichts dieses Vorschlages. Chance wollte Elias gerade eine passende Antwort erteilen, als ein entferntes Rumpeln unseren Wortwechsel unterbrach. Augenblicklich lauschten wir alle diesem Geräusch, dessen Herkunft uns noch unklar war, wiewohl mehrere Passanten, die sich ein Stück weiter die Great Church Street hinunter auf den Gehsteig retteten, erschrocken aufschrien. Sekunden später sah man auch den ersten von mehreren Einspännern die Straße entlanggerast kommen. Vereist, wie die Straßen waren - und dazu noch voller Fußgänger, Fahrzeuge und der gelegentlichen Viehherde -, boten sie kaum einen geeigneten Untergrund für ein Wagenrennen, und dennoch waren solche Rennen in jenem Jahr ausgesprochen in Mode, vermutlich, weil es ein besonders eiskalter Winter war und sich die Umstände eines derartigen Wettstreits entsprechend gefährlich gestalteten, was der zügellosen Vergnügungssucht der jungen, vermögenden Müßiggänger nur entgegenkam. Bis dahin hatte ich Kunde vom Tod von zehn unbeteiligten Londoner Bürgern und von einem der Kutscher, der bei diesem Treiben aufs Übelste verletzt worden war, doch da diese Gladiatoren in der Regel die Sprösslinge der besseren Familien unseres Königreiches darstellten, war wenig unternommen worden, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Elias und ich drückten uns instinktiv an die Hauswand, als das erste der Fahrzeuge an uns vorbeiraste, und so tat es auch Mr. Chance, gleichwohl in einigem Abstand von uns, damit wir ja nicht glaubten, wir wären mit einem Male Verbündete gegen einen gemeinsamen Widersacher geworden. Ich konnte nicht anders - ich stieß eine Verwünschung aus angesichts dieses törichten Sports. Auf einer Landstraße mochte ein kleiner Wagen mit nur seinem Kutscher und gezogen von einem einzigen Pferd ein Wettrennen mit einem zweiten solchen veranstalten, ohne dass Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen wurden, aber das änderte nichts daran, dass solche Kutschen einfach nicht für hohe Geschwindigkeiten gebaut waren. Der Kutscher stand ohne ein schützendes Dach über dem Kopf auf seinem Kutschbock, und die geringste Unebenheit konnte ihn ins Verderben stürzen. Als die rasende Phalanx, auf jedem Bock ein rotznäsiger kleiner Lord oder ein anderer hochmütiger Edelknabe, an uns vorüberpreschte, hatte ich Grund zu der bedauernden Annahme, dass diese Burschen vermutlich unbeschadet aus der Hatz hervorgehen würden. Sowie der Spuk vorüber war, gab die Menge einen Seufzer der Erleichterung von sich, und man ging wieder seiner Wege. Aber es war noch nicht ganz ausgestanden, denn es gab noch einen Abenteuerlustigen, einen jungen Mann mit einer grün und schwarz gestrichenen Kutsche, der offenbar den Anschluss verpasst hatte und nun sein Pferd antrieb, um zum Rest der Meute aufzuschließen. »Aus dem Wege, verdammt!«, brüllte er, als er in die nun wieder dicht bevölkerte Straße einschwenkte. Erneut hastete alles in den Schutz der Hauswände, aber ein kleiner Junge von höchstens fünf Jahren schien seine Mutter und die Orientierung verloren zu haben und stand dem heranrasenden Wagen mitten im Wege. Man verfällt leicht auf die fälschliche Annahme, bei einem Mann, der einem auf offener Straße feindselig gegenübertritt, müsse es sich um einen Fiesling handeln, doch nun wurde ich Zeuge, wie Elias' Widersacher, Mr. Chance, der, wie ich allerdings hinzufügen muss, um nicht selber in den Verdacht der Feigheit zu geraten, von uns allen der Szene am nächsten stand, vorstürzte, ohne auch nur eine Sekunde lang das Risiko für sein eigen Leib und Leben zu erwägen, und den Jungen aus der Gefahrenzone riss. Mit dem Kind in den Armen vollführte er eine Drehung auf der Stelle und setzte es außer Reichweite des Wagens ab - so hätte man wenigstens glauben können, aber der Dummkopf von einem Fahrer hatte just in diesem Moment ein Ausweichmanöver zur falschen Straßenseite hin unternommen. »Mach den Weg frei, du Teufel!«, schrie er Chance an, aber es schien ihm nicht in den Sinn zu kommen, sein Tempo zu verlangsamen, und so jagte er unmittelbar auf den Mann zu, der soeben gerade zum Retter eines unschuldigen Knaben geworden war. Wiederum fuhr Chance herum, und es gelang ihm, den Hufen des Pferdes auszuweichen, doch wurde er nichtsdestotrotz zu Boden geschleudert und wollte sich zur Seite werfen, um sich vor dem Wagen in Sicherheit zu bringen, doch eines der Hinterräder überrollte seine beiden Beine. Der Kutscher wandte sich um, sah, was er angerichtet hatte, und trieb sein Pferd zu noch größerer Eile an. Die Zuschauer schrien empört auf und bewarfen den Wagen mit Dreckklumpen aus der Gosse, aber der war viel zu schnell, um sich von den Wurfgeschossen etwas anhaben zu lassen. Aus Mr. Chances Kehle drang ein Schmerzensschrei, doch dann wurde er ganz still und blieb wie ein Häufchen Elend im Straßenschmutz liegen. Elias stürzte zu ihm hin und nahm zunächst sein Gesicht in Augenschein, um festzustellen, ob er noch lebte oder bei Bewusstsein war. Nachdem sich erstere Hoffnung erfüllte, Chance auf Ansprache aber nicht reagierte, machte Elias sich an die Untersuchung der Beine. Augenblicklich waren seine Hände voller Blut. Elias' Züge verdunkelten sich sorgenvoll. »Ein Bein ist nur gequetscht«, stellte er fest. »Das zweite ist gebrochen.« Ich nickte und versuchte dabei, nicht an die damit verbundenen Schmerzen zu denken, denn auch ich hatte einmal einen Beinbruch erlitten - eine Verletzung, die das Ende meiner Laufbahn als Preisboxer bedeutet hatte. Elias war es damals gewesen, der mich behandelte, und obwohl so mancher geglaubt hatte, man müsse mir das Bein abtrennen oder dass ich zumindest nie wieder würde gehen können, gelang es Elias, meine vollständige Genesung herbeizuführen. Ich bezweifelte, dass sein Gegner, selbst wenn er bei Bewusstsein wäre, sein Glück fassen könnte, sich in der Obhut eines solchen Arztes zu befinden. »Hilf mir, ihn in ein Haus zu bringen«, rief er mir zu. Gemeinsam trugen wir den Mann in ein Gasthaus und legten ihn dort auf einen langen Tisch. Alsdann gab Elias einem Straßenjungen eine Liste der Gegenstände, die er benötigte, und schickte ihn damit in die nächstgelegene Apotheke. Während der nun folgenden Zeit des zermürbenden Wartens erlangte der unglückliche Mr. Chance das Bewusstsein wieder und begann vor Schmerzen zu brüllen. Elias träufelte ihm kleine Schlucke Wein ein, und nach einigen Minuten brachte er ein paar Worte hervor. »Gordon, Sie Hurensohn«, stöhnte er. »Wenn ich herausbekomme, dass Sie dahinterstecken, damit Sie sich nicht mit mir duellieren müssen, bringe ich Sie an den Galgen.« »Ich gebe zu, dass ebendies mein Plan war«, antwortete Elias, »aber nun, da Sie mir dahintergekommen sind, werde ich mir wohl etwas anderes einfallen lassen müssen.« Der Scherz schien Chance zu verwirren, und er sog gierig noch mehr Wein in sich hinein. »Retten Sie mein Bein«, sagte er, »und ich will Ihnen alles vergeben.« »Sir«, sagte Elias, »mich hat solche Ehrfurcht erfasst angesichts Ihrer Tapferkeit bei der Rettung dieses Knaben, dass ich Ihnen verspreche, nach Ihrer Genesung Ihre Herausforderung anzunehmen, und sei es nur, um durch die Aussicht, mich mit Blei vollpumpen zu können, Ihre Genesung schneller herbeizuführen.« Der Mann verlor erneut das Bewusstsein, und es war auch besser so für ihn, dachte ich. Kurz darauf kam der Junge mit den Sachen, die Elias bestellt hatte, zurück, und er machte sich daran, Chances Verletzung zu versorgen und dann seinen Heimtransport vorzubereiten. Ich werde im Verlaufe meiner Geschichte keine Gelegenheit finden, noch einmal auf Chance zurückzukommen, aber ich kann meiner neugierigen Leser-schaft versichern, dass er beinahe wieder vollständig genas und Elias danach eine Nachricht zukommen ließ, der Zwist zwischen ihnen sei seinem Empfinden nach beigelegt. Ich weiß nicht, ob es dazu gekommen wäre, hätte ich nicht meinem Freund ausgeredet, Mr. Chance eine Rechnung für die Behandlung und seine Auslagen zu schicken. In jedem Fall glaube ich, dass Elias bei diesem Handel letzten Endes besser abgeschnitten hat. Nachdem alles erledigt war, suchten wir ein Bierlokal auf, damit Elias sich beruhigen und wieder zu Kräften kommen konnte. Der Kampf um das Bein des Mannes hatte ihn sehr angestrengt, und eine solche Anstrengung löste bei ihm immer ein mächtiges Verlangen nach Ess- und Trinkbarem aus. Da saß er nun über seinen Teller gebeugt, schmauste kaltes Fleisch mit gebuttertem Brot und redete zwischen den einzelnen Bissen vehement auf mich ein. »Eine komische Angewohnheit, findest du nicht? All diese Erregung wegen einer Frau. Oh, Sie haben meine Gattin geschändet. Oh, Sie haben meine Schwester geschändet. Oh, Sie haben meine Tochter geschändet. Kann man mich damit nicht in Ruhe lassen?« »Vielleicht solltest du es dir zur Angewohnheit machen«, sagte ich, »ein wenig mehr Besonnenheit walten zu lassen, bevor du noch mehr Frauen schändest. Du magst es auf die leichte Schulter nehmen, aber die Männer, die damit leben müssen, dass du ihren Frauen den Hof machst, sehen das gründlich anders. Ich schätze, deine Gegenwart wirkt noch nach, nachdem du dich schon lange aus dem Staub gemacht hast.« Er grinste. »Das will ich doch hoffen.« »Du weißt genau, dass ich das so nicht gemeint habe. Du kannst doch nicht glauben, dass diese Frauen fröhlich in den Tag weiterleben, nachdem ihre Ehemänner oder ihre Brüder oder ihre Väter hinter ihr Liebesgeschäker gekommen sind. Hast du denn deswegen gar kein schlechtes Gewissen?« »Ehrlich, Weaver, du beginnst mich zu langweilen. Es ist doch nicht so, als wüssten diese Frauen nicht, was sie tun. Wenn sie sich ein wenig die Zeit mit mir vertreiben wollen, warum soll ich sie dann dieses Vergnügens berauben?« Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm das auseinanderzusetzen, aber ebenso sinnlos. Elias konnte einer Frau einfach keinen Wunsch abschlagen, und wenn sie noch so schlicht oder unansehnlich war. Solange ich ihn kannte, hatte er sich in diesen Dingen nie Zurückhaltung auferlegt, und es wäre dumm von mir zu glauben, meine Vorhaltungen könnten daran etwas ändern. Er sah mich an, als erwarte er eine Fortsetzung der Gardinenpredigt, doch als dies nicht eintrat, würgte er noch ein weiteres Stück Fleisch hinunter. »Nun, Weaver, du hattest mich wegen etwas sehen wollen. Dann sind wir leider ein wenig abgelenkt worden, aber wir können gerne auch jetzt noch darüber reden. Mir ist jede Zeit recht.« Er nahm einen Schluck Ale. »Ich nehme an, du bedarfst bei irgendeiner Ermittlung meiner Unterstützung. Die sollst du gerne haben, aber denke bitte daran, dass mein gesamtes Bargeld für die Verarztung von Chance draufgegangen ist. Zahle meine Zeche, und ich bin ganz Ohr.« Auch ich verfügte nicht gerade über einen Überfluss an Mitteln, und ich trug es ihm ein wenig nach, dass er mit dieser Wahrheit erst herausrückte, nachdem er seine Mahlzeit bestellt hatte, aber ich war nicht zu einem Zank aufgelegt, also willigte ich ein. »Kannst du mir denn zuhören, oder bist du noch zu aufgewühlt von den Ereignissen dieses Tages?« »Weiß ich nicht«, sagte er. »Du solltest es besser spannend machen.« »Oh, ich denke, an der nötigen Spannung soll es nicht hapern«, sagte ich und erzählte ihm die ganze Geschichte von meiner ersten Begegnung mit Cobb bis zu meinem jüngsten Besuch bei meinem Onkel. Während ich sprach, rührte Elias sein Essen nicht an. Stattdessen starrte er halb mich an, halb ins Leere. »Hast du je von diesem Cobb gehört?«, fragte ich, nachdem ich geendet hatte. Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Niemals, und du wirst mir beipflichten, dass das merkwürdig ist. Ein Mann dieses Standes, mit so viel Geld - es erscheint mir unvorstellbar, dass ich noch nie von ihm gehört habe, denn er muss doch weitgehend bekannt sein, und ich kenne jeden, der weitgehend bekannt ist.« »Dich scheint die Geschichte so umgehauen zu haben, dass du dein Essen ganz vergisst«, bemerkte ich. »Ich gebe ja zu, dass meine Geschichte sonderbar klingt, aber du hast doch bestimmt schon noch sonderbarere gehört. Was macht dich also so nachdenklich?« Er schob seinen Teller beiseite. Offenbar hatte er einen noch nie da gewesenen Anfall von Appetitlosigkeit erlitten. »Wie du nur zu gut weißt, Weaver, bin ich kein Mann, der gerne seinen Verhältnissen entsprechend lebt. Deswegen hat Gott den Kredit erfunden - damit wir ihn uns nehmen. Und ich bin im Allgemeinen gut darin, meine Angelegenheiten zu regeln.« Das stimmte im Großen und Ganzen - bis auf die paar Male, bei denen ich gerufen wurde, um ihn aus dem Haus eines Gerichtsvollziehers auszulösen, in das er als Schuldgefangener gebracht worden war, um sich mit seinen Gläubigern zu einigen. Trotzdem nickte ich zustimmend mit dem Kopf. »Ich habe festgestellt, dass jemand während der letzten Tage versucht hat, meine Schulden aufzukaufen. Nicht alle meine Außenstände, aber doch einen beträchtlichen Teil davon. Soweit ich weiß, befinden sich inzwischen Wechsel über drei- bis vierhundert Pfund in ebendieser Hand. Ich habe mich gefragt, was derjenige damit will und warum er nicht mit mir in Verbindung tritt, aber nun glaube ich den Grund zu ahnen.« »Cobb verfolgt meine Freunde, meine Angehörigen. Warum? Du könntest mich nicht von meinen Schulden bei ihm befreien, also macht es keinen Sinn, deine Schulden aufzukaufen. Warum sollte er den Wunsch haben, dein Hauptgläubiger zu sein?« Elias schien seinen Appetit wiedergefunden zu haben und zog seinen Teller zu sich heran. »Ich weiß es nicht«, sagte er und bearbeitete das Fleisch mit dem Messer. »Aber ich denke, es ist besser, wenn wir es herausfinden. Und zwar möglichst, bevor ich in den Schuldturm geworfen werde.« 4 In dem Augenblick, da ich in die Swallow Street einbog und mich Cobbs Haus näherte, fand ich mich plötzlich von einer Gruppe von vier oder fünf Bettelknaben umringt, ebenjenen, die mir schon bei meinem ersten Besuch begegnet waren. »Ich kenne dich«, sagte einer von ihnen. Er zählte weniger als zehn Jahre alt, seine Hände waren von Ruß geschwärzt wie auch sein Gesicht, das zudem noch mit einer braunen Schmiere verklebt war, über deren Natur ich nicht nachdenken wollte, was aber seine blauen Augen umso heller leuchten ließ. »Du bist doch der, der Luke vor dem Furzfänger gerettet hat, nich?« »Ich kenne ihn nicht, aber ich habe mich für den Jungen eingesetzt«, bestätigte ich. »Was willst du dann mit denen?«, wollte er wissen und wies mit einer Kopfbewegung auf Cobbs Haus. Ich blieb stehen und musterte den Burschen. »Und ihr?« Ich hielt ein paar Kupfermünzen in die Höhe, um ihm die Unterredung mit mir schmackhafter zu machen. Er lachte und nahm mir die Münzen mit solcher Behändig-keit und Fingerfertigkeit ab, dass ich mich fragen musste, ob ich sie je wirklich in der Hand gehabt hatte. »Ich will mit diesem Edgar und seinen Leuten gar nich' viel zu tun haben. Ich mag ihn nur gern ärgern, weil Edgar denkt, dass er so viel besser ist wie wir. Er jagt uns immer weg, und es macht ihn teuflisch wütend, wenn wir dann doch wieder in ihr Haus kommen. Zur Hälfte deswegen machen wir das ja.« »Und zur anderen Hälfte?« Er grinste und entblößte dabei die schwarzen Zähne eines Greises. »Das ist wegen des Zasters. Die besitzen allerhand, was sich leicht verkaufen lässt.« »Was weißt du über Cobb?« Er zuckte die Achseln. »Da gibt's nich' viel zu sagen. Er geht nich' viel aus, und wenn er's dann mal tut, wird er ganz schnell in seine Kutsche geschoben. Wir haben gejohlt wie bei Edgar, aber er hat uns gar nich' beachtet.« »Haben sie häufig Gäste?« »Nach dem, was ich sehe, nich'.« »Ist dir etwas Ungewöhnliches an ihnen aufgefallen?« Er dachte einen Moment lang nach. »Nur, dass fast niemand in dem Haus lebt. So ein großes Haus nur für zwei Gentlemen und einen Diener. Und sie haben auch nur diesen einen Diener. Sonst kann ich nich' viel über die sagen. Leben sehr zurückgezogen.« »Das müsste für den Augenblick reichen.« Ich gab ihm meine Karte. »Wenn dir etwas auffällt, was wichtig sein könnte, komm zu mir.« Er starrte die Karte ratlos an. »Was ist das?« »Das ist eine Karte«, sagte ich. »Es steht mein Name darauf und wie man zu mir findet. Wenn du mich aufsuchen willst, müsstest du dann vielleicht jemanden bitten, dir vorzulesen, was auf der Karte steht.« Er nickte, als hätte ich ihn in eines der großen Geheimnisse der Menschheit eingeweiht. Die Jungen beobachteten von der Straße aus, wie ich an die Tür klopfte, Edgar mir öffnete und mich mit einem kritischen Blick musterte. »Es wundert mich, dass es so lange gedauert hat, bis Sie wieder hier sind.« »Ach, was du nicht sagst.« Ich unterstrich meine Frage mit der Faust, mit der ich ihm auf die Nase schlug, gar nicht einmal heftig, sondern eher mit Finesse, und augenblicklich entströmte seinem Riechorgan Blut. Der Diener fiel mit dem Rücken gegen die Tür, und ich trat vor und versetzte ihm noch einen weiteren Hieb, bevor er zu Boden sank. Dieser traf sein Kinn, und ich war mir sicher, dass er ihn einen oder zwei Zähne gekostet hatte. Die versammelten Straßenjungen grölten vor Vergnügen; ich legte Edgar vor die Tür und zog diese hinter mir ins Schloss. Sollten die Bettelknaben doch mit ihm machen, was sie wollten. Mir ging es nur darum, mich ungestört mit Cobb befassen zu können. Ich marschierte in das Besucherzimmer und fand dort Cobb vor, als hätte er schon auf mich gewartet. Ich schätzte mich glücklich, dass Hammond nicht zugegen war, da er sich weit unversöhnlicher gebärdete als sein Onkel. Dieser saß friedlich in einem Sessel, nippte an seinem Weinglas und hatte sein wohlmeinendstes Lächeln aufgesetzt. Aber mich konnte er damit nicht täuschen. Ich zog meinen Dolch und hielt ihn ihm an die Kehle. »Was wollen Sie von mir?« Er schielte nach der Klinge, verzog aber sonst keine Miene. »Sie sind derjenige, der in mein Haus eingedrungen ist«, sagte er. »Vielleicht sollte ich Ihnen diese Frage stellen.« »Halten Sie mich nicht zum Narren, Sir, oder Sie werden meine Fragen beantworten, während Sie Ihre auf dem Teppich liegende Nasenspitze anstarren.« »Ich glaube nicht, dass Sie mir tatsächlich so feindselig gegenübertreten wollen, Mr. Weaver. Nicht, solange ich in der Lage bin, Ihnen und Ihren Freunden zu schaden. Wie Sie inzwischen sicherlich bemerkt haben dürften, sind nicht nur Sie, sondern auch einige Ihrer Gefährten meine Schuldner. Es würde mir gar nicht gefallen, wenn einer von Ihnen oder Sie alle zusammen im Schuldnergefängnis ihr Leben fristen müssten, obwohl ich davon ausgehe, dass Ihr Onkel seine Probleme lösen könnte, indem er all sein Hab und Gut verkauft und betteln geht, obwohl ihm das gar nicht schmecken dürfte. Aber ich habe auch gute Neuigkeiten: Dazu muss es gar nicht kommen. Es liegt, wie Sie sich bestimmt bereits gedacht haben, in Ihren Händen, die Sache zu einem erfreulicheren Ausgang zu bringen.« »Was wollen Sie?« »Nehmen Sie das Messer weg, Sir. Es hilft Ihnen nicht weiter. Sie werden mir nichts tun, solange ich so viel Macht über Sie besitze, und es gibt gar keinen Grund, dass wir nicht Freunde werden können. Wenn Sie mir erst einmal zugehört haben, werden Sie gewiss feststellen, dass meine Vorschläge durchaus vernünftig sind. Ich zweifele zwar nicht daran, dass Ihnen meine Methoden nach wie vor nicht behagen werden, doch es wird alles weit einfacher sein, als Sie es sich vielleicht vorstellen.« Gewiss hatte er recht damit, dass ich nicht den ganzen Tag neben ihm stehen bleiben und ihm eine Klinge an den Hals halten konnte, und es wäre unvernünftig, ihm etwas zu Leide zu tun, solange er in der Lage war, meinen Freunden und meinem Onkel so viel Schaden zuzufügen. Also steckte ich den Säbel wieder in seine Scheide, schenkte mir ein Glas Wein ein und setzte mich Cobb gegenüber, wobei ich ihn voller Verachtung ansah. »Also, raus mit der Sprache.« »Es ist ganz einfach, Mr. Weaver. Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Person und Ihrer Fähigkeiten, und ich möchte, dass Sie für mich arbeiten. Deswegen habe ich dafür Sorge getragen, dass Sie mir diesen Wunsch nicht abschlagen. Ich hoffe, Sie werden mir mein kleines Ränkespiel verzeihen, aber der Zweck heiligt die Mittel, und auf diese Weise konnte ich Ihnen begreiflich machen, dass Sie es mit keinem gewöhnlichen Mann zu tun haben.« »Dafür zu sorgen, dass ich mich bei Ihnen verschulde, das Geschäft meines Onkels an den Rand des Ruins zu treiben und Mr. Gordons Schulden aufzukaufen, war gewiss kostspieliger und anstrengender, als mich ohne Umschweife zu beauftragen. Warum haben Sie mir nicht einfach angeboten, mich für meine Dienste zu bezahlen?« »Das habe ich ja, doch zu meinem Bedauern haben Sie dies abgelehnt.« Er musste den Ausdruck der Ratlosigkeit in meinem Gesicht gesehen haben, denn er gab ein kehliges Lachen von sich, nahm einen Schluck Wein und beantwortete meine unausgesprochene Frage. »Nicht ich persönlich, müssen Sie wissen, sondern einer meiner Partner. Vor knapp zwei Wochen hat ein Mr. Westerly bei Ihnen vorgesprochen, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, und Ihnen eine nicht zu verachtende Summe für eine bestimmte Dienstleistung angeboten, aber Sie haben nichts damit zu tun haben wollen. Als wir feststellten, dass wir Sie für unsere Bedürfnisse nicht gewinnen konnten, mussten drastischere Maßnahmen ergriffen werden.« Ich erinnerte mich an diesen Mr. Westerly, einen kurzbeinigen, geradezu unanständig fetten Mann, der überhaupt nur gehen konnte, indem er unter gewaltiger Kraftanstrengung die Arme schwang, um in Bewegung zu kommen. Dafür war er überaus zuvorkommend, geradezu anbiedernd gewesen und hatte sich in Lobtiraden über meine mannigfachen Talente verbreitet. Doch das nützte gar nichts, denn das, was er von mir verlangt hatte, war nicht nur ein Ding der Unmöglichkeit, sondern auch im äußersten Maße töricht, und ich hatte ihn leider abschlägig bescheiden müssen. »Westerly war in Ihrem Auftrag bei mir?« »Es spielt eine untergeordnete Rolle, wer genau wem einen Auftrag wozu erteilt hat. Für Sie ist nur wichtig, dass ich Ihren Rat bereits befolgt und versucht habe, Sie anzuwerben, doch ohne Erfolg. Da ich auf Sie jedoch nicht verzichten konnte, Sie mir aber Ihre Zeit nicht zur Verfügung stellen wollten, war ich gezwungen, Sie zu nötigen, für mich zu arbeiten.« »Und wenn ich mich weigere, Ihre Wünsche zu erfüllen, werden Sie meinen Onkel, Mr. Gordon und auch mich in den Ruin treiben?« »Ich täte es äußerst ungern, aber die Antwort lautet: Ja.« »Und wenn ich mich einverstanden erkläre?« Cobb setzte wieder sein freundlichstes Lächeln auf. »Wenn Sie alles tun, was ich von Ihnen verlange, werden sich nicht nur Ihre Schulden in Luft auflösen, sondern auch die Probleme Ihres Onkels und Ihres Freundes.« »Ich schätze es nicht, zu etwas gezwungen zu werden«, sagte ich. »Das hätte ich auch nicht anders von Ihnen erwartet, aber ich verspreche Ihnen, dass es leichtes Spiel für Sie sein wird. Für diesen besonderen Dienst will ich Ihnen gerne dreißig Pfund bezahlen, was Sie, wie ich denke, als großzügige Entlohnung erachten werden. Und sowie Sie alles erwartungsgemäß erledigt haben, sind Sie und Ihre Freunde uns in keiner Weise mehr verpflichtet. Ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass dies ein annehmbarer Vorschlag ist.« Ich spürte Wut in mir aufsteigen. Es war mir zutiefst zuwider zuzulassen, dass dieser Mann mich wie sein Werkzeug behandelte, dass ich ihm gegen meinen Willen zu Diensten sein sollte. Seine dreißig Pfund konnte er sich sonst wohin stecken. Aber welche Wahl blieb mir? Er hatte sich genauestens über mich informiert. Wenn es nur um mich allein ginge, hätte ich mich ins Gefängnis werfen lassen anstatt seine Wünsche zu erfüllen, aber ich durfte nicht andere Menschen, die mir in der Vergangenheit so oft zu Hilfe gekommen waren, für meinen Stolz leiden lassen. »Ich muss wohl in den sauren Apfel beißen«, sagte ich, »aber lassen Sie sich gesagt sein, dass Sie sich, sowie ich meine Verpflichtungen Ihnen gegenüber erfüllt habe, besser hüten sollten, mir noch einmal über den Weg zu laufen, denn ich werde diese üble Erpressung nicht so schnell vergessen.« »Es zeugt nicht von Verhandlungsgeschick, dass Sie mir auszureden versuchen, Sie und Ihre Freunde aus Ihrer Schuld mir gegenüber zu entlassen.« »Möglicherweise nicht«, stimmte ich ihm zu, »aber Sie werden ja wohl wissen, dass Sie sich auf einen Handel mit dem Teufel einlassen.« »Sei es drum. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass Sie anders über mich denken, sowie sich unsere Wege wieder trennen. Sie werden einsehen, obwohl ich Sie zur Mitarbeit zwinge, wie großzügig mein Angebot ist. Sie werden mir sicherlich nicht übel nachreden. Aus diesem Grund lasse ich mich durch Ihre Drohungen nicht von meinem großmütigen Angebot abbringen.« Ja, es schien, als bliebe mir wirklich keine andere Wahl, als ihm als Faustpfand zu dienen und es auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, meinem Groll freien Lauf zu lassen. »Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, dass Sie mir sagen, was Sie von mir verlangen.« »Nur zu gerne«, sagte er. Er unterdrückte ein Lächeln, aber ich merkte, dass er hochzufrieden mit sich war. Ich hatte kapituliert. Möglicherweise hatte er nichts anderes erwartet, aber vermutlich hatte er auch nicht geglaubt, dass er so leichtes Spiel haben würde. Schon bereute ich meine Worte - ich hätte mich ihm gegenüber nicht so umgänglich zeigen dürfen. Ich hätte ihn seinen Sieg mit Blut bezahlen lassen sollen, dachte ich. Aber dann fiel mir der angeschlagene Edgar wieder ein, und ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass doch nicht alles so friedlich zugegangen war. Cobb machte sich daran, mir ausführlich darzulegen, was er von mir erwartete, erwähnte aber mit keinem Wort, warum, und erst recht nicht, wie ich das für ihn erledigen sollte. Er ließ jedoch nicht den geringsten Zweifel daran, dass er ausdrücklich auf der Erfüllung seiner Wünsche bestand, und zwar möglichst bald. »Hätten Sie sich gleich von Mr. Westerly in seine Dienste stellen lassen, hätten Sie mehr Zeit gehabt, alles zu planen. Diesen Luxus können wir uns nun allerdings nicht mehr erlauben. Innerhalb der nächsten zwei oder drei Tage, glaube ich, wird sich eine Gelegenheit ergeben, die wir beim Schopfe packen müssen.« So blieb mir wenig Zeit, arg wenig Zeit, um in die Rolle eines Einbrechers zu schlüpfen und mir Zugang zu einem der bestbewachten Häuser des gesamten Königreiches zu verschaffen - dem Besitz einiger der mächtigsten Privatpersonen der Welt. Einem Vorhaben dieser Größenordnung sollten Monate der Planung vorausgehen und nicht nur wenige Tage. »Sie müssen nicht bei Sinnen sein«, sagte ich zu Cobb. »Wie soll es mir gelingen, in ein solches Haus einzudringen? Es gibt dort Wachmänner und Hunde und wer weiß was noch für Schutzmaßnahmen gegen Einbrecher.« »Das herauszufinden ist Ihre Aufgabe«, sagte Cobb. »Ihre Freunde zählen auf Ihren Einfallsreichtum, nicht wahr?« »Und selbst wenn Ihnen nichts an Ihren Verwandten und Ihren Freunden läge, wären dreißig Pfund ja wohl Anreiz genug«, ließ sich mit einem Male Hammond vernehmen. Ich hatte ihn nicht kommen hören, aber nun stand er in der Tür und sah mich verächtlich auf seine verkniffene Art und Weise an. Ich beachtete ihn gar nicht und wandte mich wieder Cobb zu. »Meine Verwandten und meine Freunde? Haben Sie sich noch an die Fersen anderer geheftet als an die meines Onkels und Mr. Gordons?« »Hah!«, kläffte Hammond. »Unser großartiger Findefuchs ist noch lange nicht hinter alles gekommen. Kann es sein, dass Mr. Cobb doch eine zu hohe Meinung von Ihnen hat?« »Es gibt noch eine weitere Person«, sagte Cobb. »Da wir uns ein sehr bedeutsames Ziel gesteckt haben, werden Sie verstehen, dass wir nicht auch nur das geringste Risiko eines Misslingens eingehen dürfen. Also haben wir uns, abgesehen von den beiden Männern, die Sie selbst mit in Ihr Unglück gezogen haben, auch noch mit den Angelegenheiten ...« »Langsam.« Hammond klatschte mit kindlichem Übermut in die Hände, wobei sich sein hässliches Gesicht zu einer unvorstellbar grotesken Fratze verzerrte. »Die Verantwortung dürfte noch schwerer auf Mr. Weavers Schultern lasten, wenn er nicht alles erfährt. Soll er sich doch darüber Sorgen machen, wessen Fuß als Nächstes ins Fangeisen gerät. Darum geht es. Haben Sie gelesen, was Longinus darüber schreibt? Er sagt, dass die Finsternis weit größeren Schrecken verbreitet als jede Monstrosität, wenn man sie bei Licht betrachtet.« »Ich glaube nicht, dass wir den Gentleman in dieser Hinsicht im Ungewissen belassen müssen«, widersprach ihm Cobb. »Und wir wollen menschliche Angelegenheiten auch nicht mit poetischen Theorien erklären. Verwechsle bitte nicht Grausamkeit mit Strategie, mein lieber Neffe. Obwohl wir ihn zu etwas zwingen müssen, wollen wir Mr. Weaver zum guten Ende doch als unseren Freund gewinnen.« Er wandte sich wieder mir zu, »Der dritte Mann, den wir im Visier haben, ist ein Mr. Moses Franco, ein Nachbar von Ihnen, und, wie ich gehört habe, ein sehr guter Freund.« Ich spürte, wie mir die Zornesröte ins Gesicht stieg. Es war schlimm genug, dass mein engster Verwandter und mein teuerster Freund mit in diese Sache hineingezogen worden waren, aber es war unerträglich, dass auch noch das Wohl und Wehe eines Menschen, mit dem ich nur flüchtig bekannt war, von mir abhing. Mein Onkel und Elias kannten mich und vertrauten mir und würden sich darauf verlassen, dass ich alles täte, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, aber auch noch das Schicksal eines völlig Unbeteiligten am seidenen Faden meiner Komplizenschaft mit Cobb und Hammond hängen zu wissen, brachte mich aus der Fassung. »Franco!«, entfuhr es mir. »Der Mann bedeutet mir gar nichts. Warum ziehen Sie ihn in diesen Wahnsinn mit hinein?« Hammond gluckste vor Vergnügen. »Das überlassen Sie nur uns.« Cobb rieb sich fast kummervoll die Hände wie ein Arzt, der sich überlegt, wie er einem Patienten eine unerfreuliche Diagnose nahebringt. »Ich bin zu dem Glauben gelangt, Sir, dass eine Beziehung zwischen Ihnen und der Jüdin Miss Gabriella Franco besteht. Habe ich nicht recht damit?« »Nein, das haben Sie nicht«, fuhr ich ihn an. Ungefähr drei Jahre lang war es mein innigster Wunsch gewesen, Miriam, die Witwe meines Cousins, zu heiraten, aber unsere Liebschaft hatte in einem Missklang geendet, und es gab keine Hoffnung auf eine Versöhnung. Obwohl mein Onkel Miguel ebenfalls unsere Eheschließung befürwortet hatte, musste auch er einsehen, dass unsere Beziehung in Schutt und Asche lag, woraufhin er Bemühungen unternahm, mich mit Frauen bekanntzumachen, die seiner Meinung nach meinem häuslichen Glück und Wohlergehen förderlich sein könnten. Obwohl ich solche Avancen regelmäßig ausschlug, traf ich mich doch gelegentlich mit einer Dame seiner Wahl, wenn ich sie reizvoll genug fand. Miss Franco war eine überaus anmutige Lady von frohgemutem Wesen und betörender Figur. Wenn es einem Mann nur um die äußerlichen Reize einer Frau ginge, wäre ich, wie ich gerne zugebe, schon längst in den heiligen Stand der Ehe mit ihr eingetreten, aber es gab noch anderes zu erwägen, nicht zuletzt nämlich, ob ein Mann und eine Frau auch von der Wesensart her zueinanderpassten. Ich fand sie zwar in mancher Hinsicht sehr anziehend, und Miss Franco kam in erstaunlich vieler Hinsicht meinen Vorlieben, was das schwache Geschlecht betrifft, entgegen, aber mir war doch eher nach einer lockeren Bekanntschaft mit ihr zu Mute und nicht danach, gleich den Hafen der Ehe mit ihr anzusteuern. Wäre sie nicht die Tochter eines Freundes meines Onkels, eines Mannes, der auch meine Wertschätzung genoss, hätte ich vielleicht eine solche lockere Bekanntschaft mit ihr angestrebt, doch aus Re-spekt vor meinem Onkel und dem Vater der Dame, für den ich bei meinen Besuchen eine ähnliche Sympathie entwickelt hatte wie für die Tochter, nahm ich dann doch Abstand davon -kein Entschluss von großer Tragweite, wie sich wenig später herausstellte, denn nach meinem dritten oder vierten Besuch im Haus der Francos erfuhr ich, dass die in Saloniki lebende Großmutter der jungen Dame schwer erkrankt und mein liebreizender Engel sogleich abgereist war, um sich um ihre Angehörige zu kümmern. Obwohl ich vorgehabt hatte, wenigstens mit ihrem mir gewogenen Vater weiterhin auf freundschaftlichem Fuße zu verkehren, hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt, ihn nach der Abreise seiner Tochter aufzusuchen. Es stand zu befürchten, dass sich nun bestimmt keine enge Freundschaft zwischen uns beiden mehr entwickeln würde, nachdem ich die Ursache des Verdrusses war, den Cobb und Hammond dem guten Mann vermutlich bereitet hatten. »Ich habe weder eine Verpflichtung der Familie Franco gegenüber noch umgekehrt«, erklärte ich. »Deren Angelegenheiten sind für mich von ebenso geringem Interesse wie die eines jeden flüchtigen Bekannten aus meiner Nachbarschaft. Ich bitte Sie, diese Leute nicht zu behelligen.« »Hört, hört«, rief Hammond. »Das Schicksal Fremder scheint ihm mehr am Herzen zu liegen als die Not seiner Freunde und Blutsverwandten. Ich denke, wir sollten Mr. Francos Wechsel besonders sorgfältig verwahren.« Auch Cobb schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber mein Neffe hat recht. Vielleicht erweisen Sie sich als ein williger Partner, und dann können wir ihn bald aus der Pflicht entlassen. In der Zwischenzeit jedoch erscheint es mir sinnvoll, Mr. Francos Schulden zur Gewähr Ihres Mitwirkens als Pfand zu behalten.« »Sie irren sich«, sagte ich mit gesenkter Stimme, »wenn Sie glauben, dass mir an ihm mehr liegt als an meinem Onkel. Ihm geht es nicht gut, und die Verluste, die er durch Sie erlitten hat, verschlimmern nur seinen angeschlagenen Zustand. Wenn Sie wenigstens ihn aus Ihren Fängen lassen, werde ich Ihnen dienlich sein, wie Sie es von mir verlangen. Ihnen bleiben doch immer noch Mr. Franco und Mr. Gordon als Sicherheit.« »Ich muss zugeben, dass ich von der Erkrankung seiner Bronchien gehört habe, und es liegt mir nichts daran, ihn leiden zu lassen .« »Oh nein!«, fuhr sein Neffe ihm über den Mund. »Nicht Sie diktieren hier die Bedingungen, Weaver, sondern wir. Wenn Sie uns nicht hintergehen, braucht Ihr Onkel sich keine Sorgen zu machen und kann sich um seine Gesundung kümmern. Sie sind nicht in der Position zu verhandeln, denn Sie haben uns nichts zu bieten, was wir nicht schon längst hätten. Je eher Sie tun, was man Ihnen sagt, desto früher können wir Ihre Freunde aus ihrer Zwangslage befreien.« Ja, auch ich sah jetzt keinen Ausweg mehr. Das Schicksal dreier Männer - und im Falle von Franco und meinem Onkel, auch das ihrer Familien - hing von meiner Bereitschaft ab, Cobbs Befehle zu befolgen. Dass er mit diesen Befehlen mein Leben und meine Unversehrtheit aufs Spiel setzte, schien Männer wie ihn und seinen Neffen nicht zu kümmern. Sie taten so, als verlangten sie nichts von mir als eine kleine Gefälligkeit, aber in Wirklichkeit wollten sie, dass ich in ein Haus einbrach, das wie eine Festung gesichert war und das von Leuten mit solcher Macht und solcher Gier bewohnt wurde, dass mir alleine schon bei dem Gedanken daran der kalte Angstschweiß ausbrach. 5 D ie British East India Company führte ihre Geschäfte vom Craven House an der Kreuzung der Leadenhall und Lyme Street. Hier befand sich nicht nur das Stadthaus der Direktoren, sondern auch das als India Yard bezeichnete Lager, das an der besagten Straßenkreuzung zunehmend mehr Raum einnahm und sich bis zur Grace Church Street im Westen und zur Fenchurch Street im Süden erstreckte. Je vermögender die British East In-dia Company wurde, umso größer wurde auch der Platzbedarf für die Gewürze, die Teesorten, die Leinenstoffe, Musselingewebe, die Seidenprodukte und anderen Schätze Asiens, die das Unternehmen importierte und für die die Menschen unseres Inselreiches einen unersättlichen Bedarf zu haben schienen. Zu dem Zeitpunkt, da ich diese Geschichte niederschreibe -viele Jahre nachdem sie sich zugetragen hat -, ist der Name der Firma geradezu ein Synonym für Tee geworden, so, wie er es zu meinen Jugendzeiten für Gewürze gewesen war. Zu der Zeit, in der diese Geschichte spielt hingegen, war die East India Company vor allem für ihre indischen Textilien berühmt. Während der Tageslichtstunden der wärmeren Monate konnte man einen steten Strom von Lastenträgern und Lastkarren sehen, die sich wie menschliche Ameisen mit ihrer wertvollen Fracht zwischen dem India Yard und dem Dock an der Billingsgate, wo die Schiffe be- und entladen wurden, hin- und herbewegten. Nur an christlichen Feiertagen kam dieser Strom zum Erliegen, und selbst während der kalten Monate, wenn kaum Schiffe den Londoner Hafen anliefen, herrschte hier ein emsiges Treiben, denn der Götze namens Profit, dem die Direktoren huldigten, richtete sich nicht nach den Jahreszeiten. Ich kannte mich nur wenig mit dem Geschäftsgebaren der East India Company aus, aber eines wusste ich: Das Gelände wurde geradezu von einer Armee bewacht, deren Aufgabe nicht nur darin bestand, den wertvollen Inhalt der Warenhäuser zu beschützen, sondern auch das, was im Craven House an sich aufbewahrt wurde. Im Gegensatz zu den übrigen Handelshäusern - der Africa Company, der Levante Company und natürlich der South Sea Company besaß die East India Company zwar nicht mehr das Monopol am Indienhandel, aber sie war seit über hundert Jahren etabliert und hatte wenige ernsthafte Mitbewerber. Trotzdem hatten die Direktoren guten Grund dazu, ihre Geschäftsgeheimnisse zu wahren. Nur ein törichter, ein sehr törichter Mann, würde es wagen, sich mit einem der großen Handelshäuser anzulegen. Ich mochte in der Kunst des Einbruchs behände und versiert sein, aber wenn jemand einer Macht in die Quere kommt, die mit Millionenbeträgen so umgeht wie unsereins mit Pennys, dürfte er gewiss den Kürzeren ziehen. Genau aus diesem Grunde hatte ich einige Wochen zuvor das Angebot von Mr. Westerly abgelehnt, der mir vierzig Pfund (natürlich hatten Cobb und Hammond das, was durch meine Weigerung an zusätzlichen Spesen angefallen war, von meiner Entlohnung abgezogen) dafür geben wollte, dass ich etwas in meinen Augen unvorstellbar Törichtes tat - nämlich ins Cra-ven House einzubrechen, mich in das Büro eines der Direktoren zu schleichen und wichtige Dokumente für die bevorstehende Aktionärsversammlung zu entwenden. Die Gefahr, dabei gestellt zu werden, sei viel zu groß, hatte ich Mr. Westerly erklärt, und die Konsequenzen, die mir daraus erwüchsen, viel zu unerquicklich. Ich erinnerte mich an einen Zwischenfall, der vor einigen Jahren in aller Munde gewesen war: Einem Schurken namens Thomas Abraham war es gelungen, 16 000 Pfund aus dem Craven House zu stehlen. Er hatte sich über Nacht in dem Haus einschließen lassen, nachdem er sich tagsüber als falscher Geschäftsmann Zugang verschafft hatte. Unseligerweise hatte er sich zuvor Mut angetrunken und es dabei ein wenig zu gut gemeint, so dass er sein sicheres Versteck verlassen musste, um Wasser zu lassen - wobei er ertappt worden war. Für diesen Einbruch sollte Mr. Abraham am Galgen baumeln, doch in einem seltenen Akt von Großmut sorgte die East India Company dafür, dass sein Urteil in lebenslange Zwangsarbeit an einem ihrer ostindischen Außenposten umgewandelt wurde. Ich betrachtete das Leben als Sklave in tropischen Gefilden mit Hitze, Krankheiten und Hungersnot nicht unbedingt als Gnade und hoffte sehr, dass mir ein ähnliches Schicksal erspart bleiben würde. Allerdings musste ich zugeben, dass Mr. Cobb durchaus Verständnis für die Schwierigkeiten hatte, denen ich mich gegenübergestellt sah, und weil er so erpicht darauf war, meine Mission von Erfolg gekrönt zu sehen, willigte er ein, mir gewisse Gelder vorzustrecken, die ich zur Durchführung derselben benötigen würde, vorausgesetzt, dass ich ihm die Notwendigkeit glaubhaft machen konnte. Somit verließ ich sein Haus mit der Zusage finanzieller Unterstützung, doch gleichzeitig mit einem Vorgefühl, dass mein weiterer Weg mich in eine Katastrophe führen würde. Vor der Tür musste ich über Edgar hinwegsteigen, der zwar noch atmete, wie ich am Heben und Senken seiner Brust erkennen konnte, dem aber von den Straßenjungen ziemlich übel mitgespielt worden war. So hatten sie ihn zum Beispiel vollkommen entkleidet, was zu solch einer Jahreszeit mit Bodenfrost von ziemlicher Rohheit zeugte; außerdem hatte man ihm um die Augen herum Schnitte und Hiebe zugefügt, die nicht von meinem Faustschlag stammten. An seine möglichen inneren Verletzungen mochte ich gar nicht erst denken. Ich würde sehr darauf achten müssen, Edgar gegenüber kein Anzeichen von Schwäche durchblicken zu lassen, denn er würde gewiss sein Mütchen an mir zu kühlen trachten. Ich ließ mich von einer Droschke nach Spitalfields bringen, wo ich eine Schankwirtschaft namens The Crown and Shuttle aufsuchte, das Stammlokal eines Mannes, den ich dringend sprechen musste. Ich wusste, dass ich zu früh dran war, aber da ich im Augenblick nichts anderes zu tun hatte, bestellte ich mir ein Ale und sann über die Schwierigkeiten nach, die mir bevorstanden. Ich war wie gelähmt vor Wut und Zorn; der Gedanke, derart benutzt zu werden, erfüllte mich mit einem schwelenden Groll, der mich auch nicht losließ, wenn ich versuchte, meine Gedanken anderen Dingen zuzuwenden. Doch konnte ich nicht umhin, zuzugeben, dass ich gleichzeitig auch neugierig war. Cobb hatte mich vor eine schwere Aufgabe gestellt, eine sehr schwere Aufgabe, und es war nun an mir, eine Lösung dafür zu finden. Obwohl ich Mr. Westerly gesagt hatte, dass sein Ansinnen unmöglich auszuführen wäre, war ich nun zu der Überzeugung gelangt, dass ich das Problem möglicherweise überschätzt hatte. Nein, ganz und gar unmöglich war es nicht - eher unwahrscheinlich, dass es mir gelingen würde. Mit entsprechender Planung konnte ich vielleicht doch vollbringen, was von mir erwartet wurde, und vielleicht würde es auch gar nicht so schwierig sein. Über diese Dinge sann ich während der folgenden zwei oder drei Stunden über fünf oder sechs Krügen Ale nach. Ich gebe zu, dass ich nicht mehr im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte war, als plötzlich die Tür der Schankwirtschaft aufgestoßen wurde und ein halbes Dutzend stämmiger Burschen hereinkamen, die sich alle um eine Gestalt in ihrer Mitte scharten. In dieser Gestalt erkannte ich keinen anderen als Devout Hale höchstpersönlich, den Mann, den zu treffen ich gekommen war. Er machte keinen Hehl aus seinem Elend, hielt Kopf und Schultern gesenkt und ließ sich von seinen in grobes Leinen gekleideten Kameraden stützen. »Nächstes Mal zahlst du es ihm heim«, erklärte einer von ihnen gerade. »Er hat dich beinahe gesehen. Er drehte sich gerade um, aber dann ist diese verfluchte Hure mit ihrem Balg gekommen«, sagte ein anderer. »Es war verdammtes Pech, aber du kommst schon noch zum Zuge«, bekräftigte ein Dritter. Dann löste sich ihr Oberhaupt aus der Gruppe seiner gutmeinenden Vasallen, ein grobschlächtiger Mann von Mitte vierzig mit zerzauster hellroter Mähne, aus dessen hellhäutigem Gesicht ein ungepflegter Bart wuchs. Er hatte Flecken im Gesicht - einerseits solche, wie sie seine Haarfarbe mit sich brachte, aber auch andere von weniger gefälliger Natur. Angenehm jedoch waren an ihm seine leuchtenden grünen Augen, und obwohl blaue Flecken, Schrammen und Narben in seinem Gesicht von unzähligen Reibereien zeugten, machte er doch den robusten Eindruck eines Mannes, der sich von seinem Missgeschick ebenso wenig unterkriegen ließ wie Achilles von seiner Ferse. »Ich seid gute Freunde, Jungs«, pries er seine Spießgesellen. »Gute Freunde und Kameraden, und mit eurer Hilfe werde ich am Ende doch noch siegreich sein.« Er trat einen Schritt vor und stützte sich auf die Tischplatte. Es war nicht zu übersehen, dass sich sein Gesundheitszustand seit unserer letzten Begegnung verschlechtert hatte, und damit erinnerte er mich unweigerlich an meinen Onkel, was eine weitere Woge des Kummers über mir zusammenschlagen ließ, denn ich bekam das Gefühl, als wäre jeder, den ich kannte und alles, was ich besaß, dem Verfall preisgegeben. Obwohl er immer noch über breite Schultern und einen kräftigen Brustumfang verfügte, wirkte er infolge seines Ge-brechens doch irgendwie schwächlich. Die Schwellung an seinem Hals trat, obwohl er sie mit einem hellbraunen Tuch, das früher einmal weiß gewesen war, zu kaschieren versuchte, nun noch deutlicher zu Tage, und die blutigen Stellen in seinem Gesicht und an seinen Händen kündeten von den Verheerungen, die unter seiner Kleidung verborgen waren. Unter größter Anstrengung schleppte er sich an einen Tisch, wo er zweifellos vorhatte, seinen Verdruss in Alkohol zu ersäufen, und ließ dabei mit dem argwöhnischen Auge eines Jägers, der einen noch schlimmeren Beutegeier als sich selber fürchtet, den Blick durch den Raum schweifen. Und dabei gewahrte er mich. Es freute mich zu sehen, dass sein Blick sich ein wenig aufhellte. »Weaver, Weaver, willkommen, mein Freund, auch wenn du dir einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht hast, fürchte ich. Aber sei's drum, setz dich zu mir. Danny, holst du uns was zu trinken? Bist ein braver Junge. Komm, setz dich, Weaver, aber bitte mach mich nicht noch trauriger, ich flehe dich an.« Ich tat wie mir geheißen, und obwohl ich eigentlich schon genug Ale intus hatte, ließ ich seinen Kameraden gewähren. Und ich hatte gerade Platz genommen, als die Krüge schon vor uns standen. Ich nippte nur an meinem, während Devout Hale seinen mit einem gierigen Schluck zur Hälfte leerte. »Du darfst nicht glauben, dass ich dir aus dem Wege habe gehen wollen. Keineswegs, aber die Zeiten sind hart, und sowie die Familie gefüttert und die Gier des Vermieters befriedigt ist, die Kerzen gekauft sind und ein Feuer im Kamin brennt, bleibt einem kaum noch ein Pfifferling übrig. Aber bei des Teufels Titten, ich schwöre dir, wenn ich noch etwas hätte, würde ich es dir geben.« Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, ich hätte vergessen, dass Devout Hale mir noch etwas schuldete, aber diese kleine Verpflichtung mir gegenüber fiel nun auch nicht mehr ins Gewicht. Ich habe schon für viele arme Männer gearbeitet, die mich bezahlten, sowie sie die Mittel dazu aufbrachten. Letzten Endes habe ich von den meisten mein Geld bekommen, ob nun aus Dankbarkeit für meine Dienste oder aus Angst vor den Konsequenzen, vermag ich nicht zu sagen. Bei Devout Hale allerdings konnte ich mir nur aus dem ersteren Grund Hoffnungen machen. Er und seine Gefolgsleute bräuch-ten sich wohl kaum vor einem Einzelnen zu fürchten - nicht nach all den Widersachern, mit denen sie es aufgenommen und die sie niedergerungen hatten. Ich hingegen hatte ihm einen guten Dienst erwiesen, und darauf konnte ich bauen. Dass er mir noch vier Schilling dafür schuldete, bedeutete nur, dass er meinem Vorschlag ein noch geneigteres Ohr schenken würde. Vor ungefähr drei Monaten war einer seiner Männer spurlos verschwunden, und Hale hatte mich gebeten, Nachforschungen nach seinem Verbleib anzustellen. Bewusster Mann lag ihm besonders am Herzen, denn es handelte sich um den Sohn eines seiner Vettern, und die Familie war in größter Sorge. Wie es sich herausstellte, gab es dafür keinen Anlass - der junge Mann war mit einem übel beleumundeten Dienstmädchen davongelaufen, und die beiden hatten in Covent Garden Quartier bezogen, wo sie ihrer trauten Zweisamkeit frönten und ihren Lebensunterhalt durch die uralte Kunst des Taschendiebstahls bestritten. Obwohl Hale bitter enttäuscht und verärgert über die Mätzchen seines Verwandten gewesen war, überwog doch seine Erleichterung ob dessen Unversehrtheit. »Ich kann mich kaum erinnern, dass es je so schwer gewesen ist, seine Familie zu ernähren«, sagte Hale. »Vor allem, wenn man im Wettbewerb mit den billigen Kleidern aus fremden Ländern steht, wo die Menschen für nichts arbeiten müssen und viele Londoner ihr Geschäft nach außerhalb der Stadtgrenzen verlegen, damit sie nicht an die hiesigen Regeln gebunden sind. Diese Burschen arbeiten für die Hälfte des Geldes, das unsereins benötigt, um nicht zu verhungern, und wenn die Arbeit, die sie abliefern, minderwertig ist, so gibt es doch genug Leute, die das nicht stört. Sie kaufen billigere Stoffe ein und verkaufen sie, als wären sie von edelster Güte. Es gibt zehntausend von uns, zehntausend, die in London dem Schneiderhandwerk nachgehen, und wenn sich an den Verhältnissen nicht bald etwas ändert, wird es in Bälde zehntausend Bettler mehr in London geben. Mein Vater ist Schneider gewesen, und sein Vater vor ihm auch, aber es kümmert niemanden, ob es noch eine weitere Generation geben wird, die den Leuten ihre Kleidung näht, solange sie sie nur weiterhin so billig erwerben können wie jetzt.« Ich wusste, dass es nun an der Zeit war, ihn zu beruhigen. »Ich bin nicht gekommen, um Schulden einzutreiben. Im Gegenteil. Ich bin hier, um dir Geld anzubieten.« Er blickte von seinem Krug auf. »Damit hatte ich nicht gerechnet.« »Ich würde dir gerne fünf Pfund als Gegenleistung für einen Dienst offerieren.« »Ich kann es gar nicht erwarten zu hören, welcher Dienst ein solches Vermögen wert sein soll.« Er sah mich skeptisch an. »Ich möchte, dass du gegen die East India Company in Ausstand trittst.« Devout Hale ließ ein lautes Lachen ertönen und schlug die Hände zusammen. »Weaver, wenn mich das nächste Mal der Kummer erfasst, werde ich sofort nach dir schicken, denn du machst mir gleich wieder gute Laune. Es ist wundervoll, wenn einem jemand fünf Pfund für etwas anbietet, das man nur zu gerne auch ohne Entlohnung täte.« Devout Hale war sein ganzes Leben lang Seidenweber gewesen, und er war ein Meister seines Handwerks. Durch seinen Fleiß und dadurch, dass er nicht davor zurückschreckte, seine Feinde mit Steinen zu bewerfen, war er so etwas wie ein inoffi-zieller Arbeiterführer geworden. Er und seine ihm treu ergebene Gefolgschaft befanden sich nun seit beinahe einem Jahrhundert im Aufstand gegen die East India Company, denn die Güter, die die Company auf die Insel importierte - ihre feinen indischen Stoffe - fraßen heftig an dem Profit, für den diese Männer so schwer schufteten. Das hauptsächliche Mittel ihres Protestes - der Ausstand - hatte ihnen in der Vergangenheit gute Dienste geleistet, und das Parlament hatte bei mehr als einer Gelegenheit den Forderungen der Seidenweber nachgeben müssen. Natürlich wäre es töricht, davon auszugehen, dass die Arbeiter auf immer und ewig mit einem kleinen Ausstand ihren Willen würden durchsetzen können, aber es gab im Königreich genügend Männer von Macht, die befürchteten, die East India Company könne auf Dauer dem Weber- und Schneiderhandwerk im Lande Schaden zufügen, indem sich eine einzige Handelsgesellschaft zum Nachteil eines ganzen Berufsstandes bereicherte. So hatten die Unbeugsamkeit der Seidenweber und die Ränkeschmiederei im Parlament zusammengenommen ein einigermaßen handfestes Instrument geschaffen, mittels dessen man der Gier der Geschäftemacher im Craven House entgegenwirken konnte. Hales Lächeln entschwand aus seinen Zügen, als er kummervoll den Kopf schüttelte. »Ja, zumindest in der Vergangenheit haben die Ausstände uns geholfen, aber nun sind uns die Hände gebunden. Das Parlament hat uns ein paar Brocken hingeworfen, mit denen wir uns fürs Erste begnügen müssen. Die East India Company hat uns keinen weiteren Anlass gegeben, an ihre Tore zu klopfen. Und da wir die letzte Runde unseres kleinen Krieges gewonnen haben, dürfte man es als unziemlich erachten, wenn wir uns erneut erheben würden.« »Ich glaubte, den Anreiz für ein unziemliches Betragen erwähnt zu haben«, wandte ich ein. »Fünf Pfund. Und eine Streichung deiner Schulden bei mir gleich dazu, wie ich wohl kaum hinzufügen muss.« »Ja, das hast du erwähnt. Und das macht es natürlich auch erwägenswert, gewiss. Aber ich weiß nicht, ob ich auf dieses Angebot eingehen werde.« »Darf ich mich nach dem Grund erkundigen?« »Weißt du, wo ich heute Nachmittag mit meinen Kameraden gewesen bin, die sich mir als so treu ergeben erwiesen haben? Ich war im Theater in der Drury Lane, wo ich durch einige mir seit Jahren gewogenen Mittelsmänner - die Namen brauchen dich nicht zu interessieren - erfuhr, dass unser König höchstpersönlich zur Überraschung aller der Aufführung beiwohnen wollte. Und kannst du dir denken, warum ich dieser deutsch-blütigen Majestät gerne gegenübertreten würde?« Zuerst glaubte ich, er spiele auf politische Beweggründe an, verwarf den Gedanken jedoch sogleich wieder. Die Antwort lag offen auf der Hand. Die blutigen Stellen auf Hales Haut und die Schwellung an seinem Hals waren auf Skrofulose, eine Entzündung der Lymphknoten, zurückzuführen, eine Krankheit, die die Armen das Gebrechen des Königs nannten. Mir schwante, dass er den Geschichten, diese Krankheit könne nur durch eine Berührung seitens des Königs geheilt werden, Glauben schenkte.« »Du glaubst doch hoffentlich nicht an solchen Unsinn«, schalt ich ihn. »Doch, das tue ich. Es ist seit Jahrhunderten bekannt, dass die Berührung durch den König dieses Gebrechen heilen kann. Ich weiß von vielen Menschen, die sagen, Angehörige von ihnen seien durch eine solche Berührung geheilt worden. Ich habe vor, ihm gegenüberzutreten, damit ich Heilung erfahre.« »Wirklich, Devout, es überrascht mich, dies von dir zu hören. Du bist doch noch nie abergläubisch gewesen.« »Das ist kein Aberglaube, sondern eine Tatsache.« »Aber denk doch mal darüber nach. Vor dem Tod von Queen Anne war King George lediglich Georg, Kurfürst von Hannover. Konnte er da auch schon die Skrofulose heilen?« »Das bezweifle ich sehr.« »Und der Thronprätendent? Kann der es?« »Das steht nicht zur Debatte. Er möchte König werden, ist es aber nicht.« »Aber das Parlament könnte ihn zum König ernennen. Könnte er dich heilen, wenn es das täte?« »Sowie er König ist, kann er mich heilen.« »Warum reichst du beim Parlament dann nicht eine Petition ein?« »Ich will mich mit dir hier nicht auf Scheinbeweise einlassen, Weaver. Du kannst glauben, was du willst, und es tut dir nicht weh, wenn ich glaube, was ich will, also brauchst du gar nicht so schnippisch zu werden. Du leidest ja nicht an dieser Krankheit, sondern ich. Und ich kann dir sagen, dass ein Mann mit dem Gebrechen des Königs alles täte, alles, sage ich, um von diesem Leiden befreit zu werden.« Ich senkte den Kopf. »Das glaube ich dir gern«, sagte ich. Ich schämte mich ob meines Versuchs, die Hoffnung eines Verzweifelten zu zerstören, anstatt sie zu bestätigen. »Die Berührung durch den König kann mich heilen, und daran gibt es nichts zu deuten. Ein Mann muss sich dem König in den Weg stellen, um von ihm berührt zu werden, und das ist oft nicht so einfach, wie man es sich vorstellt, oder? Übrigens hört man«, fügte er in einem Ton hinzu, der mir bedeutete, er wolle nun das Thema wechseln, »dass unser König so etwas wie ein Bewunderer von dir war, als du noch im Ring standest und einen Sieg an den anderen gereiht hast.« »Das habe ich auch gehört, und ich fühle mich geschmeichelt, aber einen Beweis dafür habe ich nie erhalten.« »Hast du dich darum bemüht?« »Kann ich nicht behaupten.« »Ich würde es dir raten.« »Warum sollte es mir irgendetwas bedeuten?« »Wegen der Berührung durch den König, Weaver. Das ist der Preis, den ich verlange. Wenn du möchtest, dass meine Männer vor dem Craven House einen Aufstand anzetteln, dann musst du schwören, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um dafür zu sorgen, dass der König mich berührt.« Er nahm einen weiteren tiefen Zug aus dem Krug. »Das und die fünf Pfund und die vier Schilling, von denen du gesprochen hast.« Bei dieser Unterhaltung redeten wir wiederholt aneinander vorbei. »Du irrst dich leider«, sagte ich, »wenn du glaubst, dass ich über die notwendigen Verbindungen zu höheren Kreisen verfüge. Hast du den Ärger vergessen, den ich mir bei der letzten Wahl eingehandelt habe? Seitdem fehlt es mir nicht an politischen Gegnern.« »Es gibt nur zwei Parteien in diesem Land, so dass ein Mann, der sich Feinde schafft, im gleichen Zug auch Freunde gewinnen muss. Das würde ich fast als ein Naturgesetz bezeichnen.« Ich kann nicht sagen, wie unser Gespräch ausgegangen wäre, wenn nicht ein plötzliches Getöse es unterbrochen hätte -scharfe Stimmen, umstürzende Stühle, der hohle Klang von Zinnbechern, die gegen Zinnbecher schlugen. Als Devout Hale und ich uns umdrehten, sahen wir unmittelbar neben uns zwei Burschen mit vor Wut rot angelaufenen Gesichtern stehen. Den einen, einen stämmigen Kerl mit grotesk buschigen Augenbrauen, erkannte ich als einen von Devout Hales ergebenen Seidenwebern. Der zweite Mann war größer als er, aber nicht minder kräftig gebaut und mir fremd. Ein rascher Blick auf Devout Hale sagte mir, dass auch er ihn nicht kannte. Obwohl er durch seine Krankheit geschwächt und dementsprechend unsicher auf den Beinen war, erhob sich Devout Hale auf der Stelle und stolperte mit so raschen Schritten auf die beiden Männer zu, wie seine Beine es erlaubten. »Wollt ihr wohl einhalten! Was ist hier los?«, verlangte er zu wissen. »Worum geht der Streit, Feathers?« Feathers, der kleinere der beiden, antwortete Hale, ohne auch nur einmal den Blick von seinem Widersacher zu wenden. »Nun, dieser Lümmel hat all diejenigen unter uns beleidigt, deren Eltern aus Frankreich herübergekommen sind«, sagte er. »Er meint, wir wären doch nichts als Papisten.« »Ich habe nie etwas dergleichen geäußert«, verteidigte sich der größere der beiden. »Ich glaube, der Kerl ist betrunken.« »Ich bin sicher, dass es sich um ein Missverständnis handelt«, sagte Hale. »Und wir wollen hier keine Händel, also was sagt ihr dazu, wenn ich euch beiden einen ausgebe und wir alle wieder Freunde sind?« Der, den Hale mit Feathers angesprochen hatte, sog scharf die Luft ein, als müsse er sich für den Friedensschluss stählen. Er hätte sich lieber auf etwas anderes vorbereiten sollen, denn sein Gegenüber versetzte ihm völlig unerwartet einen Fausthieb auf den Mund. Noch ehe Feathers zu Boden sank, troff ihm schon das Blut aus den Lippen, und ich war mir sicher, dass sein Angreifer es nun gründlich mit den Gefährten seines Opfers zu tun bekommen würde, doch mit einem Male ertönte der Pfiff eines Konstablers, und schon standen zwei Männer in Uniform zwischen uns. Mir blieb kaum Zeit, mich zu wundern, wo sie so schnell hergekommen waren, als sie auch schon anfingen, den niedergeschlagenen Feathers aufzusammeln. »Der hier hat den Streit angefangen«, bemerkte einer der Schutzmänner. »Ohne Zweifel, ohne Zweifel«, pflichtete sein Kollege ihm bei. »Immer langsam«, rief Hale dazwischen. »Was ist mit dem anderen?« Dieser andere war nirgendwo zu entdecken. Nur mit größter Mühe gelang es Hale, seine Zunftbrüder zu überzeugen, in dem Wirtshaus zu warten, während er das Opfer dieses Justizirrtums mit aufs Gericht begleitete. Dies löste eine lebhafte Debatte aus, der ich entnehmen konnte, dass mein Freund mit dem unglücklichen Feathers auf nicht allzu gutem Fuße stand, die anderen aber dennoch einsahen, dass er wohl der beste Repräsentant ihres Kameraden sei, und dass ihr zahlenmäßig gehäuftes Erscheinen bei Gericht von dem Magistrat vermutlich als Verstoß gegen die Ordnung gewertet würde. Mich jedoch bat Hale, ihn auf diesem Gang zu begleiten, da ich doch etwas, wie er es ausdrückte, von den Gepflogenheiten der Justiz verstünde. Ich hatte schon mit Justiz und Gericht zu tun gehabt, und ich wusste, dass mir das, was ich bisher gesehen hatte, gar nicht gefallen wollte. Die beiden Konstabler waren zu sehr wie aus heiterem Himmel aufgetaucht, und der Angreifer war viel zu plötzlich verschwunden. Irgendwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. In den Amtsräumen von Richard Umbread, dem Magistrat von Spitalfields, war es abends immer ziemlich ruhig. In dem spärlich beleuchteten Saal hielten sich nur ein paar Schutzleute und ein Gerichtsdiener auf. Im Kamin flackerte zwar ein Feuer, aber nur ein kleines, und es brannten zu wenig Kerzen, so dass eine Stimmung wie in einem Verlies herrschte. Mr. Fea-thers, der seine blutende untere Gesichtshälfte mit einem rot getränkten Tuch abtupfte, schaute ziemlich benommen drein. »Nun denn«, sagte der Richter zu ihm, »Ich höre von meinen Konstablern, dass Sie im Zustand der Trunkenheit einem anderen Mann gegenüber handgreiflich geworden sind.« »Nein, Sir, das stimmt nicht. Er hat meine Eltern beleidigt, Sir, und als ich mich deswegen beschwerte, hat er mich grundlos geschlagen.« »Hmm. Doch da nicht er hier ist, sondern Sie, fällt es Ihnen natürlich leicht, die Schuld auf ihn zu schieben.« »Es gibt Zeugen, die das bestätigen können, Sir«, rief De-vout Hale dazwischen, aber der Richter schenkte ihm keine Beachtung. »Und mir ist zu verstehen gegeben worden«, fuhr er stattdes-sen fort, »dass Sie keiner regelmäßigen Beschäftigung nachgehen. Ist das korrekt?« »Auch das stimmt nicht«, korrigierte ihn Feathers. »Ich bin Seidenweber, Sir, und ich arbeite in unserem Standesquartier fleißig an der Seite meiner Kollegen. Der Mann, der dort steht, Mr. Devout Hale, hat seinen Webstuhl neben dem meinen. Er hat mich schon als Lehrjungen gekannt, obwohl er nicht mein Lehrherr war.« »Es ist für jedermann ein Leichtes«, sagte der Richter, »seinen Kameraden zu dieser oder jener Aussage zu seinen Gunsten zu bewegen, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass Sie ohne Beschäftigung und daher zu Gewalt bereit sind.« »Aber so ist es nicht!«, setzte Feathers sich wütend zur Wehr. Vor lauter Ungläubigkeit, wie ihm geschah, hatte er die Augen weit aufgerissen. »Können Sie einen Beweis für das Gegenteil erbringen?« »Verzeiht, Euer Ehren«, wagte ich einen Vorstoß, »aber ich denke, er hat dem Gericht reichlich Beweise für das Gegenteil erbracht. Mr. Hale und ich waren Zeugen des Vorfalls, und wir können beide beschwören, dass Mr. Feathers dabei das Opfer und nicht der Angreifer war. Was nun die berufliche Tätigkeit des Mannes angeht, wird Mr. Hale schwören, dass er die Wahrheit sagt, und es dürfte keine Mühe machen, noch mindestens ein Dutzend weiterer Männer zu finden, die einen ähnlichen Eid ablegen könnten.« »Auch ein Eid macht aus einer Lüge keine Wahrheit«, beharrte der Richter. »Während all der Jahre, die ich auf dem Richterstuhl sitze, habe ich sehr wohl gelernt zu erkennen, wen ich vor mir habe. Mr. Feathers, es ist meine Erfahrung, dass Männer, die zu Gewalt neigen und keine geregelte Arbeit nachweisen können, eine nützliche Betätigung brauchen, damit sie sich bessern. Ich verurteile Sie daher zu Zwangsarbeit im Arbeitshaus in der Christwell Street, wo Sie während der nächsten drei Monate die Tätigkeit eines Seidenwebers er-lernen können. Ich hoffe, dass eine solche Fertigkeit Ihnen helfen wird, nach Ihrer Entlassung eine Arbeit zu finden, und ich Sie hier nicht noch einmal unter einer ähnlichen Anklage sehen werde.« »Die Tätigkeit eines Seidenwebers erlernen?«, entfuhr es Feathers. »Aber ich beherrsche doch diese Tätigkeit, und ich besitze den Gesellenbrief. So verdiene ich mir schließlich mein Brot.« »Schafft ihn hier raus«, befahl der Richter seinen Konstab-lern. »Und diese Herumlungerer gleich mit.« Wäre Devout Hale von kräftigerer Konstitution gewesen, hätte ich erwartet, dass er seinem Zorn auf eine Weise Luft machte, die auch ihm das Gefängnis eingebracht hätte, aber in seinem Zustand hatte er dem Griff des Schutzmannes nicht viel entgegenzusetzen, und auch ich war nicht hier, um mich als Faustkämpfer zu betätigen, also folgte ich ihm nach draußen. »Ich habe von diesen Spitzfindigkeiten schon gehört«, keuchte Hale. »Aber ich hätte nie geglaubt, einmal mit ansehen zu müssen, wie sie gegen einen meiner eigenen Leute angewendet werden.« Ich nickte, denn auch ich begriff nun nur zu gut. »Ein Druckmittel gegen euch Seidenweber.« »Ja. Christwell Street ist ein privat geführtes Arbeitshaus, und der Mann, dem es gehört, bezahlt den Richter, damit der die Konstabler bezahlt, damit sie Männer mit den gewünschten Fertigkeiten grundlos verhaften. Dann schickt man sie ins Arbeitshaus, damit sie dort ihr Handwerk >erlernen<. Es ist einfach nicht zu fassen. Das ist die reinste Sklavenhaltung. Jetzt muss Feathers ohne Lohn drei Monate für sie schuften, und wenn er seine Arbeit nicht gut macht, bestrafen sie ihn, indem sie ihn einfach noch länger dabehalten.« »Und man kann nichts dagegen unternehmen?« »Oh doch. Ich muss jetzt gehen, Weaver. Es gibt Anwälte und Eide zu leisten. Sie verlassen sich darauf, dass wir zu schlichten Gemütes sind, um unsere Rechte zu kennen, und bei den meisten Männern, die sie sich greifen, trifft das auch zu. Aber du kannst Gift darauf nehmen, dass wir es ihnen heimzahlen werden. Das nächste Mal werden sie es sich gründlich überlegen, bevor sie sich noch einmal einen von meinen Männern vornehmen.« »Es freut mich, das zu hören. Da du nun ganz andere Sorgen hast, hasse ich es, noch einmal auf das Thema ...« »Dein Ausstand, nicht wahr? Also, um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Nun hat mich die Wut gepackt, und ein solcher Aufruhr ist genau das, was ich jetzt brauche, um mich abzureagieren. Du besorgst mir nur den König. Versprich, alles in deiner Macht Stehende zu tun. Das reicht mir.« 6 Ich versprach es ihm, aber ich hatte dabei das Gefühl, als verspräche ich jemandem, sein Lotterielos würde ihm ein Vermögen einbringen. Noch schlimmer - eine Lotterie, ein Glücksspiel kann man manipulieren, wie ich nur zu gut wusste, aber ein Zusammentreffen mit dem König ließ sich nicht durch irgendwelche Machenschaften herbeiführen. Aber das Versprechen zahlte sich aus, denn zwei Abende später fand ich mich auf dem Gemüsemarkt westlich des Geländes der East India Company ein, wo ich so tat, als untersuche ich die Qualität herabgesetzter Kohlköpfe, die während des Tages keinen Käufer gefunden haben und die für einen gewitzten Kunden, der auf Sauberkeit nicht allzu viel Wert legte und sich an einer Made zwischen den Blättern nicht störte, ein gutes Angebot darstellten. Im Verlaufe des Nachmittags hatte es sich merklich abgekühlt, und ich strich mit meinen Handschuhen über eine Vielzahl von Gemüsesorten, wobei ich mit gespielter Enttäuschung die Augen verdrehte. Ich war besser gekleidet als die meisten, die hier ein günstiges Abendessen zu ergattern trachteten und erweckte dementsprechend mehr Aufmerksamkeit, als mir lieb war, also war ich mächtig froh, als es losging. Ein paar Minuten, bevor es acht Uhr schlug, hörte ich eine Frau angsterfüllt aufschreien, und ich wusste, dass Devout Hale und seine Männer ihren Teil unseres Abkommens erfüllt hatten. Zusammen mit den anderen späten Käufern, von denen mehrere die Ablenkung dazu benutzten, den Markt zu verlassen, ohne für ihr schäbiges Grünzeug bezahlt zu haben, lief ich hinaus auf die Leadenhall Street und wurde Zeuge, wie ein Haufen von etwa dreißig oder vierzig Seidenwebern vor dem Gelände der East India Company in ihren viel zu dünnen Übermänteln in der Kälte ausharrten. Ein halbes Dutzend von ihnen hielt Fackeln in die Höhe, und ein weiteres halbes Dutzend oder so bewarf die das Gelände umgebende Mauer mit Steinen oder faulen Äpfeln. Sie brüllten der Umfriedung allerhand Verwünschungen entgegen, behaupteten, die Company verhalte sich unfair gegenüber einfachen Arbeitern, wolle ihnen die Löhne kürzen, ihre Absatzchancen verschlechtern und den guten englischen Geschmack mit fernöstlichen Luxusgütern korrumpieren. Aber auch Frankreich wurde nicht geschont, denn der Engländer muss erst geboren werden, der ohne eine verächtliche Bemerkung über jene Nation in den Ausstand zu treten weiß. Obwohl so mancher Grund hätte, sich über die Langsamkeit zu beklagen, mit der die Mühlen der englischen Justiz mahlten, kam mir diese Trägheit in unserem Falle sehr zupass, denn um die Seidenweber dazu zu bringen, sich zu zerstreuen, hätte ein Konstabler eines Friedensrichters bedurft, der mutig genug war, um sich vor die Menge zu stellen und ihnen laut den Ge-setzesparagrafen betreffs unerlaubter Zusammenkünfte vorzulesen. Von diesem Punkt an blieb den Aufständischen genau eine Stunde, ehe die Armee hinzugerufen wurde, um den gewaltsamen Aufruhr zu beenden - ironischerweise durch Anwendung von Gewalt. Es war ein althergebrachtes System, aber eines, das sich über die Jahre als praktikabel erwiesen hatte, denn oft genug hatte sich gezeigt, dass das Abfeuern einer Muskete auf einen oder zwei Unruhestifter die Übrigen dazu brachte, schleunigst das Weite zu suchen. Devout Hale hatte mir zugesagt, dass er und seine Männer so lange in meinem Sinne meutern würden, bis es zu gefähr-lich für sie wurde. Um meinetwillen würden sie kein Musketenfeuer über sich ergehen lassen, aber bis dahin würden sie damit fortfahren, mit toten Ratten um sich zu werfen. Mehr konnte ich nicht von ihnen verlangen, und wenn auch ich mich in Sicherheit wiegen wollte, musste ich in das Gelände eindringen, mir greifen, was Cobb von mir haben wollte und meinen Rückzug antreten, bevor die Soldaten eintrafen. Daher schob ich mich durch die Menge, schwitzte unter der Glut der brennenden Fackeln, roch den kalten Schweiß der Arbeiter und eilte dann um die Ecke der Lyme Street. Die Dunkelheit hatte nun vollends eingesetzt, und da sämtliche Passanten sich dem Spektakel zugewandt haben durften und die Wachposten im Inneren der Mauer sich auf eine Belagerung durch die Seidenweber vorbereiteten, konnte ich hoffen, unbemerkt die Mauer zu überwinden. Im Falle meiner Entdeckung, so hatte ich entschieden, würde ich erklären, von einem übereifrigen Streikenden verfolgt worden zu sein, der meinte, ich hätte etwas mit der East India Company zu tun. Da das Unternehmen mir schließlich all dies Ungemach eingebrockt hätte, würde ich nun erwarten, dass es mir auch in der Stunde der Not beistand. Um aber meine Erklärung glaubwürdig wirken zu lassen, durfte ich keinerlei Einbruchswerkzeug mit mir führen, denn ein unschuldiger Schaulustiger hatte selten solche Gerätschaften zur Hand. Stattdessen überwand ich die Mauer auf primitivere Art und Weise, so nämlich, wie sie Knaben und Amateure des Fachs praktizierten. Ich hatte mir tagsüber ein Bild von der Umgebung gemacht und dabei zahlreiche Risse und Sprünge in der Mauer entdeckt, die sich als Halt für Hände und Füße anboten. Die größte Schwierigkeit bei dieser Kletterpartie über die zehn Fuß hohe Mauer bestand darin, den ziemlich schweren Sack zu halten, den ich bei mir trug und in dem sich, unzufrieden ob ihres Loses, allerhand Lebewesen wanden und krümmten. Nichtsdestotrotz gelang es mir, obwohl ich den Sack abwechselnd in der Hand und zwischen den Zähnen halten musste, während ich mich die äußere Mauer hochwuchtete. Dann blieb ich einen Moment lang flach liegen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ganz meiner Vermutung entsprechend hatten die meisten der Wachmänner ihre Posten verlassen und betätigten sich nun in der männlichen Kunst, den Aufständischen Beschimpfungen zuzurufen, während diese ihnen Kadaver um die Ohren fliegen ließen. Doch es war nicht nur Geschrei zu vernehmen, sondern auch ein unaufhörliches metallisches Klappern - die empörten Seidenweber mussten sich irgendwie Trommeln besorgt haben; ein kluger Gedanke, denn je mehr Aufhebens und Lärm sie erzeugten, desto besser standen für mich die Möglichkeiten, ungestraft hinein- und wieder hinauszugelangen. Dabei erwies es sich als schwieriger, die Mauer hinunterzu-klettern, als sie zu erklimmen, doch dann sprang mir ungefähr zwanzig Fuß weiter südlich ein kleiner Hügel ins Auge, der nur einen Sprung aus der ungefähren Höhe meiner Hüfte erforderlich machte, also glitt ich einer Schlange gleich auf die Stelle zu und bereitete mich darauf vor, das Gelände zu betreten. In diesem Augenblick entdeckten mich die Hunde. Fünf drachenköpfige Mastiffs mit schrecklichen Fängen sprangen unter ohrenbetäubendem Bellen vor und wollten sich auf mich stürzen, aber ich griff in meinen sperrigen Leinensack, holte den ersten der drei Hasen hervor, die ich am Nachmittag auf dem Markt gekauft hatte, und warf ihn in den Hof. Kaum hatte der Hase sich so recht besonnen, da sah er auch schon die Hunde auf sich zurasen und flitzte davon. Er war im Vorteil, denn in dem Sack hatte er es schön warm gehabt, und die Hunde waren sichtlich steif von der abendlichen Kälte. Drei von ihnen nahmen die Verfolgung des Hasen auf, also setzte ich noch einen zweiten Hasen frei, dem die verbliebenen zwei Hunde nachhetzten. Den dritten Hasen behielt ich vorerst, denn ich nahm an, dass er mir auf meinem Rückzug noch von erheblichem Nutzen sein würde. Dann ließ ich mich von der Mauer rutschen und federte mich gekonnt mit den Knien ab. In gebückter Haltung schlich ich mich zwischen die Lagerschuppen und das Craven House. Nun gestaltete sich mein Vorhaben zunehmend schwieriger, denn hier war alles erleuchtet, und obwohl ich mich so weit als möglich wie ein echter Gentleman gekleidet hatte, damit niemand, der mich sah, gleich vor mir davonlief, musste ich doch davon ausgehen, dass den Angestellten und Arbeitern im Haus ein fremdes Gesicht auffallen würde. Ich konnte nur hoffen, dass die meisten von ihnen bereits nach Hause gegangen waren - obwohl man mir zu verstehen gegeben hatte, dass die Angestellten der East India Company häufig Überstunden machen mussten - und dass die noch Anwesenden in einer Mischung aus Amüsement und Besorgnis den Weberaufstand verfolgten. Ich huschte durch einen Garten, wobei ich mich, so weit es ging, im Schatten hielt, bis ich zu einer Hintertür gelangte, die wie ich annahm, in eine Küche oder eine ähnliche Räumlichkeit führte. Doch mir standen zwei Überraschungen bevor. Die erste bestand darin, dass die Tür nicht in eine Küche, sondern in einen Versammlungsraum führte, in dem wohl sechzig bis siebzig Personen aufrecht stehend Platz gefunden hätten, vorausgesetzt, dass nicht zu viele von ihnen besonders fettleibig waren. Hier fanden, wie ich vermutete, Auktionen für ausgewählte Kunden und Aktiengeschäfte statt, doch zu dieser abendlichen Stunde hielt sich natürlich niemand mehr in dem Saal auf, so dass ich mir bequem Zutritt verschaffen konnte. Weniger erfreulich war allerdings, dass an der Tür eine Glocke befestigt war, die jedem, der die Ohren aufsperrte, mitteilte, dass jemand den Raum betreten hatte. Ich versteckte mich rasch auf der der Tür gegenüberliegenden Seite in einer schmalen Nische zwischen zwei Bücher-regalen und konnte mir nur wünschen, dass niemand mit einer Kerze kam, um nachzusehen. Aber es interessierte sich keiner für die Glocke, und nachdem ich mich ein paar Minuten lang im Dunkeln verborgen hatte, ging ich davon aus, dass ein Kommen und Gehen in diesem Raum nichts war, was die Angestellten in erhöhte Alarmbereitschaft versetzte. Am liebsten hätte ich natürlich den Schluss gezogen, dass sich außer mir überhaupt niemand mehr im Gebäude aufhielt, doch diese Hoffnung konnte ich sogleich wieder begraben, als ich über mir knarrende Schritte vernahm. Ich zog meinen Mantel aus und stellte den Sack mit dem Hasen beiseite, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er fest verschnürt war. Dann bereitete ich mich darauf vor, ins Herz des Gebäudes vorzudringen. Cobb hatte mich gnädigerweise darüber aufgeklärt, wie ich zu dem Büro fände, aus dem ich etwas stehlen sollte, denn er wusste, dass es sich in der südöstlichen Ecke der ersten Etage befand - mehr aber auch nicht, und nun durfte ich mich zunächst auf die Suche nach der Treppe machen. Ich schlich mich an den Wänden entlang, bis ich wiederum vor einer Tür stand. Ich wertete es als gutes Zeichen, dass durch die Ritzen kein Lichtschimmer drang, drückte die Klinke herunter und fand die Tür unverschlossen vor. Für den Fall der Fälle war ich darauf vorbereitet, so zu tun, als wäre ich in wichtigen Geschäften im Craven House und nicht als Einbrecher. Am anderen Endes des Raumes gab es wiederum eine Tür, hinter der kein Lichtschimmer auszumachen war. Ein weiteres Mal nahm ich meinen Mut zusammen und öffnete sie; nun befand ich mich in einem Korridor. Ich schien auf dem richtigen Wege zu sein. Obwohl ich mich ja im Stockdunkeln zurechtfinden musste, hatte ich noch eine ungefähre Vorstellung davon, auf welcher Seite sich die Vorderfront des Gebäudes befand, wo ich vermutlich auch die Treppe finden würde. Ich hatte beinahe den halben Korridor hinter mich gebracht, als ich plötz-lich von einem Licht geblendet wurde. Nachdem ich ein paar Mal geblinzelt hatte, erkannte ich eine junge Frau, die mit einer Kerze in der Hand auf mich zukam. Selbst in dieser Finsternis war nicht zu übersehen, dass sie ziemlich hübsch war -ihre Haube bedeckte ihr schwarzes Haar nur teilweise, und sie hatte dunkle, ausdruckslose Augen, deren Farbe ich natürlich nicht erkennen konnte. Und obwohl ich wirklich wichtigere Dinge im Sinn hätte haben sollen, konnte ich doch nicht umhin, ihre frauliche Figur zu bewundern, die man auch unter dem schlichten Kleid, das sie trug, erkennen konnte. »Ach, da sind Sie ja«, begrüßte sie mich. »Ich fürchtete schon, Sie könnten wegen des elenden Pöbels da draußen gar nicht aufs Gelände gelangen, aber Sie sind wohl gewitzter, als ich gedacht habe.« Ich war drauf und dran, sie zu fragen, ob sie von Cobb geschickt war, hütete aber meine Zunge. Wenn Cobb eine Frau ins Craven House einschleusen konnte, damit sie ihm die Kastanien aus dem Feuer holte, hätte er meiner ja gar nicht bedurft. Nein, hier handelte es sich offenbar um eine Verwechslung. »Ich möchte gar nicht daran denken, wer Sie auf den Einfall gebracht haben könnte, ich sei nicht gewitzt«, sagte ich zu ihr. In der Dunkelheit sah ich, wie sie ganz große Augen machte. »Sie müssen sehr entschuldigen, Sir. Ich habe Sie für jemand anderen gehalten.« Ich hatte das Gefühl, dass sie auch rot anlief. Auf jeden Fall war es ihr fürchterlich peinlich. Mir lag bereits eine weitere schlagfertige Replik auf der Zunge, aber ich hielt es für besser, vorerst nichts weiter zu sagen. Schließlich sollte sie mich für einen Angestellten der East India Company halten, und diese Rolle musste ich jetzt spielen, nicht die Rolle des Mannes, der zufällig einer liebreizenden jungen Dame begegnet. »Machen Sie nächstes Mal die Augen auf«, sagte ich und drängte mich auf die unwirsche Art und Weise, von der ich hoffte, dass sie unter den männlichen Angestellten im Craven House gang und gäbe war, an ihr vorbei. »Sir«, rief sie hinter mir her, »Sir, warten Sie doch einen Moment.« Mir blieb nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben, denn wenn ich vor ihr davongerannt wäre, hätte sie natürlich gemerkt, dass ich nicht ins Haus gehörte. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte ich sie, um kein Risiko einzugehen, mit einem Hieb ins Reich der Träume geschickt, aber ich bin zu zart besaitet, um einem solchen hübschen Ding wehzutun, also drehte ich mich zu ihr um und sah sie mit dem ungeduldigen Blick eines überaus beschäftigten Angestellten an, der drei Dinge gleichzeitig zu erledigen hat. »Was ist denn noch?« Sie hielt mir ihre Kerze entgegen, vermutlich, um mich näher in Augenschein zu nehmen, wie ich glaubte, aber dann ging mir auf, dass ich natürlich dachte wie jemand, der etwas zu verbergen hat, während ihre Denkweise eher die einer braven Dienstmagd sein würde. »Ich sehe, Sie haben kein Licht, und da es hier nur wenig Kerzen gibt, wollte ich Sie fragen, ob Sie meine haben wollen. Verzeihen Sie, dass ich Sie angesprochen habe, Sir, aber wegen des Packs da draußen habe ich um Ihre Sicherheit gefürchtet.« Sie hielt mir die Kerze viel zu dicht unter die Nase, und für einen Augenblick war ich halb von der Flamme und halb von ihrem Liebreiz geblendet. Wieder lag mir eine charmante Bemerkung auf der Zunge, etwas davon, dass kein schlichter Talg mit einem Docht darin ein helleres Licht spenden könnte als ihre strahlende Schönheit, aber ich nahm mich zusammen, denn eine solche Anzüglichkeit hätte nicht zu der Person gepasst, die ich zu sein vorgab. Stattdessen schnappte ich mir die Kerze, bedankte mich knapp und fragte mich dabei, was für ein Mann wohl einer Dame ihre Kerze abnähme, wenn Gefahr im Verzuge war. Sogleich fiel mir die Antwort ein: ein Mann, der bei der East India Company etwas zu sagen hat. Dann setzte ich meinen einmal eingeschlagenen Weg fort. Die Kerze wollte ich eigentlich gar nicht haben, und ich pustete sie aus, sowie das Mädchen um eine Ecke verschwunden, aber ich konnte ihr dankbar für die nützliche Information sein, mit der sie mich versorgt hatte: dass das Haus nämlich weitgehend verlassen war. Dieses Wissen verlieh meinem Mut Flügel und ließ ihn an Leichtsinn grenzen. Ich stolzierte munter drauflos und fand auch sogleich die Treppe, ganz so wie jemand, der häufig und mit vollem Recht im Craven House verkehrte. Am oberen Treppenabsatz hielt ich inne, um mich zu vergewissern, dass ich auch keine unerwünschten Zuschauer hatte, aber hier war alles so dunkel und verlassen wie im Erdge-schoss. Nachdem ich mich orientiert hatte, entdeckte ich auch rasch das bewusste Büro, oder jedenfalls ein Büro, das ich für das bewusste hielt, denn sicher war ich mir noch lange nicht. Ich konnte nur hoffen, am richtigen Ort zu sein, betrat den Raum und fand ihn ebenso verlassen wie alles andere vor. Hier konnte ich mich nach Herzenslust bedienen. Allerdings gab es ein paar Hindernisse, die mir die Arbeit erschwerten: Es war dunkel, und ich kannte weder die Dokumente, nach denen ich suchen sollte, noch die Gewohnheiten des Mannes, dessen Eigentum sie waren. Mir blieb außerdem nur begrenzte Zeit, das zu finden, was Cobb haben wollte, und mir war sehr unwohl zumute bei dem Gedanken, ertappt zu werden - oder mit leeren Händen wieder von dannen ziehen zu müssen. Inzwischen hatten sich meine Augen allerdings an die Dunkelheit gewöhnt. Zu Hilfe kamen mir auch die Fackeln der Seidenweber, die den Raum ein wenig erhellten. Ich hörte die Aufständischen auf der anderen Seite der Mauer krakeelen, achtete aber nicht weiter darauf und machte mich auf die Suche. Das Licht reichte aus, um einzelne Möbelstücke ausma-chen zu können - einen Schreibtisch, ein paar Stühle, Bücherregale, Beistelltischchen -, aber nicht, um die Titel der Bücher zu lesen oder zu erkennen, was die Bilder an den Wänden zeigten, es sei denn, man näherte sich ihnen auf Nasenlänge. Auf dem Schreibtisch lagen ein paar Stapel mit Papieren. Mit ihnen wollte ich anfangen. Cobb hatte mir genau so viel gesagt, wie er glaubte, dass ich wissen musste - und aus gutem Grund, wie ich annahm, nicht mehr. Ich sollte die Unterlagen eines Mr. Ambrose Ellershaw durchwühlen, der praktischerweise die nächsten beiden Tage auf seinem Landsitz verbringen würde. Ellershaw gehörte zur Geschäftsführung der East India Company, die derzeit mit den Vorbereitungen für die vierteljährliche Anteilseigentümerversammlung beschäftigt war, einer Zusammenkunft jener rund zweihundert Männer, in deren Händen das Wohl und Wehe der Gesellschaft lag. Jedem Angehörigen der Geschäftsführung oblag es, Zahlen vorzubereiten, die den Anteilseignern als Geschäftsbericht vorgelegt werden sollten, und Ellershaw war zuständig für die Zahlen betreffs der Einfuhr von Kleidungsstücken aus Indien und der Ausfuhr der in England verbotenen Ware, auf den kontinentaleuropäischen Markt und den der Kolonien. Um das Zahlenmaterial zusammenzustellen, das er brauchte, hatte er sich durch die gesamte Buchführung wühlen müssen. Meine Aufgabe bestand darin, seinen Bericht an die Aktionäre zu finden und an mich zu nehmen. Ich vermochte nicht zu sagen, woher Cobb wusste, dass keine Abschriften davon existierten, und ich war auch klug genug, ihn nicht danach zu fragen. Ich hatte kein Interesse daran, meine Arbeit noch schwieriger zu gestalten. Cobb hatte gesagt, dass er nicht mit Sicherheit wüsste, wo Ellershaw seinen Bericht aufbewahrte, nur, dass er sich irgendwo in seinem Büro befinden musste und auf den ersten Blick zu erkennen wäre. Also begann ich, die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu sichten, fand aber nur Geschäftskorrespondenz, und außerdem war es so dunkel, dass man kaum etwas lesen konnte. So rann mir die Zeit durch die Finger, und ich hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange ich mich schon mit meiner hektischen Suche aufhielt, als die Uhr neun schlug. Ich war gerade bei den zwei oder drei letzten Dokumenten auf Ellershaws Schreibtisch angelangt. Den Seidenwebern blieb wohl noch eine halbe, höchstens eine Dreiviertelstunde, bevor sie zu ihrer eigenen Sicherheit den Rückzug antreten mussten. Und ich musste mich beeilen, das zu finden, wonach ich suchte. Ich wollte gerade eine der Schreibtischschubladen öffnen, als ich ein schreckliches Geräusch vernahm - ein metallisches Knirschen, das ich sofort erkannte: Jemand betätigte die Türklinke. Ich ging hinter dem Schreibtisch in die Hocke und machte mich so klein wie möglich. Es war nicht gerade das ideale Versteck - eine Ecke wäre besser gewesen, denn was konnte derjenige, der das Büro betrat, hier schon wollen, außer etwas vom Schreibtisch -, aber mir blieb keine andere Wahl. Ich lauschte angestrengt und hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Dann schien der Raum plötzlich in helles Licht getaucht. Ganz so hell war es denn doch nicht - es war nur eine einzelne Flamme von einer Kerze oder einer Petroleumlampe, so viel konnte ich sogar von meinem Versteck unter dem Schreibtisch aus erkennen, aber sie durchdrang die Finsternis, die mich verborgen hatte, und ich kam mir nackt und überrumpelt vor. Mir blieb nur zu hoffen, dass der Unbekannte wegen eines Buches aus dem Regal oder wegen etwas, das auf dem Schreibtisch lag, gekommen war. Ich hörte ein gedämpftes Geräusch -vermutlich die Kerze, die auf den Tisch gestellt worden war. »Oh«, sagte eine weibliche Stimme. Ich blickte auf und sah, wie die junge Frau, die mir ihre Kerze gegeben hatte, mich voller durchaus verständlicher Neugier ansah. Ich habe mich, wie ich gerne zugebe, schon früher in verzwickten Situationen befunden. Es ist nicht leicht, in solch einer Lage ohne eine gehörige Portion Improvisationstalent den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Anstatt mich geschlagen zu geben und mich von dem Wachpersonal zum nächsten Kon-stabler schleifen zu lassen, bat ich die junge Frau, mit der Kerze zu mir auf den Fußboden zu kommen. Als sie sich bückte, zog ich blitzschnell ein Taschenmesser aus meinem Rock und ließ es unter dem Schreibtisch verschwinden. Während sie mir Licht gab, machte ich tastende Bewegungen unter dem Tisch, als suchte ich nach dem Messer und erhob mich dann zu einer etwas ehrwürdigeren Haltung. »Danke, meine Liebe«, sagte ich. »Dieses Messer mag zwar nach keinem großen Wert aussehen, aber es hat schon meinem Vater gehört, und ich wäre sehr unglücklich gewesen, wenn ich es verloren hätte.« »Ja, wenn Sie Ihre Kerze nicht gelöscht hätten ...« »Ach ja, ein vertrackter Zufall. Erst ist meine Kerze ausgegangen, dann ließ ich mein Messer fallen - Sie wissen ja, wie das so ist. Ein Unglück zieht das andere nach sich.« »Wer sind Sie, Sir?« Sie musterte mich eine Spur eingehender. »Ich glaube nicht, Sie schon einmal gesehen zu haben.« »Ja, ich bin hier noch ziemlich neu. Mein Name ist Ward«, sagte ich. Schon im nächsten Moment war mir schleierhaft, wieso mir ausgerechnet der Name dieses Verfassers anstößiger Verse als Allererstes in den Sinn gekommen war. »Ich bin der neue Gehilfe von Mr. Ambrose Ellershaw. Sie habe ich hier übrigens auch noch nicht gesehen.« »Mich? Mich kann man fast jeden Tag hier antreffen, das kann ich Ihnen versichern.« Sie stellte die Kerze ab, ließ mich aber nicht aus den Augen. »Setzen Sie sich doch, Miss ...« Aber ich kannte ihren Namen ja gar nicht. »Miss Glade«, stellte sie sich vor. »Celia Glade.« Ich machte eine Verbeugung, und dann standen wir einander verlegen gegenüber. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Glade.« Wer mochte diese Frau sein? Sie bediente sich einer gepflegten Ausdrucksweise, hörte sich überhaupt nicht an wie eine einfache Bedienstete. Konnte sie so etwas wie eine weibliche Angestellte sein? Konnte es sein, dass man bei der East India Company derart fortschrittlich eingestellt war? Meine Verwirrung wurde noch dadurch verstärkt, dass ich mich in einem dunklen, engen Raum in Gegenwart einer bemerkenswert attraktiven Frau von offenbar guter Herkunft befand. »Was führt Sie so spät noch in Mr. Ellershaws Büro, Mr. Ward? Wollen Sie nicht lieber draußen sein und zusehen, wie die Weber Kuhmist nach den Wachen werfen?« »Es wäre verlockend, gewiss, aber ich muss die Arbeit vor das Vergnügen stellen. Mr. Ellershaw, von dem Sie ja wissen, dass er die nächsten beiden Tage nicht in der Stadt sein wird, hat mich gebeten, seinen Bericht für die Aktionärsversammlung noch einmal durchzusehen. Ich hatte den Tag über außer Haus zu tun und wollte gerade heimgehen, als mir der Bericht wieder einfiel. Da bin ich noch einmal umgekehrt, um ihn zu holen und ihn dann zu Hause zu lesen. Ja, und dann ist mir mein Messer heruntergefallen und so weiter. Aber ich bin froh, dass Sie mich gehört haben und gekommen sind, um mir zu helfen, meine Kerze wieder anzuzünden.« Ich nahm meine Kerze und hielt den Docht gegen die Flamme der ihren. Es war eine so unterschwellig amouröse Geste, dass ich fürchtete, es könne nicht nur zwischen den beiden Kerzen ein Funke überspringen. Ich stellte meine Kerze wieder hin. »Wenn ich mich doch bloß erinnern könnte, wo Mr. Ellershaw das verfluchte Zeug hingetan hat. Verzeihen Sie mir meine grobe Ausdrucksweise, Miss Glade.« Sie gab ein wohlklingendes Lachen von sich. »Denken Sie sich nichts dabei. Ich arbeite mit Männern zusammen und muss mir so etwas den ganzen Tag lang anhören. Ja, wo mögen nun die Unterlagen sein?« Sie trat an den Tisch, wobei sie mir so nahe kam, dass mir ihr fraulicher Duft in die Nase stieg. Dann zog sie eine der Schubladen auf und holte eine dicke Ledermappe hervor. »Das müsste Mr. Ellershaws Bericht an die Anteilseigner sein«, sagte sie. »Ein ziemlicher Packen. Ihnen steht eine lange Nacht bevor, wenn Sie ihn heute noch durchgehen wollen. Es wäre vielleicht klüger, ihn hierzulassen und alles morgen zu lesen.« Ich nahm ihr die Mappe aus der Hand. Woher wusste sie, wo Ellershaw sie aufbewahrte? Vermutlich lag ich mit meiner Theorie von der weiblichen Angestellten gar nicht so verkehrt. »Morgen früh gibt es andere Dinge, denen ich meine Aufmerksamkeit widmen muss. Doch ich bedanke mich für Ihr Mitgefühl.« Ich trat einen Schritt vor, und sie trat einen zurück. Mit der Dokumentenmappe unter dem Arm und der Kerze in der anderen Hand wollte ich auf die Tür zugehen. »Wann hat Mr. Ellershaw Sie in seine Dienste gestellt, Mr. Ward?« Ich blieb an der Tür stehen. »Erst letzte Woche.« »Ist es nicht sehr ungewöhnlich, unmittelbar vor einer Aktionärsversammlung einen neuen Posten zu schaffen? Aus welchem Fundus bezahlt er sie denn?« Ich wollte gerade antworten, dass ich keine Ahnung hätte, aus welchem Fundus er mich bezahlte, aber so etwas würde ein Gehilfe von Mr. Ellershaw doch wissen, oder nicht? Ich hatte auch keine rechte Vorstellung davon, was ein Gehilfe in der East India Company so tat und erst recht nicht, was von Mr. Ellershaws Gehilfen erwartet wurde, also sagte ich lieber gar nichts in dieser Richtung. »Mein Posten ist noch nicht offiziell abgesegnet, und bis da-hin bezahlt er mich aus eigener Tasche. Zur Vorbereitung der Versammlung wollte er auf jeden Fall jemanden, der ihm hilfreich zur Seite steht.« »Dann müssen Sie ihm ja unentbehrliche Dienste leisten.« »Dies zu tun ist mein innigster Wunsch«, versicherte ich ihr und sagte, ich müsse nun gehen. Ich verschwendete keine Zeit darauf, die Kerzen auszupusten, eilte die Treppe hinunter und wandte mich der Hintertür zu. Sollte die Glocke doch läuten. Ich würde weit fort sein, ehe es jemanden argwöhnisch machte, dass ich das Gebäude durch den Hinterausgang verließ. Und außerdem war dies auch nur zu naheliegend, da nach vorne hinaus ja noch der Aufstand in vollem Gange war. Ich nahm meinen Mantel und meinen Sack wieder an mich und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass die Wächter immer noch anderweitig beschäftigt waren und mit den Seidenwebern Beschimpfungen austauschten. Auch von den Hunden war weit und breit nichts zu sehen, aber ich hielt den Sack mit dem Hasen fest umklammert, falls ich seiner noch bedürfte. Von der Vorderseite des Gebäudes hörte ich Verwünschungen, aus denen nun auch die Androhung herauszuhören war, dass die Soldaten bald eintreffen würden. Es war nicht anzunehmen, dass die Weber mit einem Einschussloch in der Brust noch die Kraft hätten, mit Dreck um sich zu werfen. Ich kehrte zu meinem Hügelchen zurück und machte mich noch einmal daran, die Mauer zu überwinden. Es würde sehr viel schwieriger sein, auf der anderen Seite wieder herunterzukommen, es sei denn, ich wollte den Sprung aus zehn Fuß Höhe auf den harten Boden wagen. Stattdessen zog ich es vor, mich vorsichtig an der Mauer hinunterzuhangeln, bis ich in einigermaßen erreichbarer Tiefe Boden unter den Füßen wähnte, um mich dann fallen zu lassen. Die Landung würde nicht sehr angenehm sein, aber auch nicht allzu gefährlich, und als ich unversehrt auf der anderen Seite stand, befreite ich zunächst den Hasen aus dem Sack, damit er seine Freiheit genießen und das Beste daraus machen konnte. Wenigstens einem von uns sollte dies vergönnt sein. Sofort eilte ich zur Leadenhall Street zurück, wo die Seidenweber nach wie vor mit Unrat warfen und sich auch nicht durch die Anwesenheit eines Trupps rot gewandeter Soldaten, aus deren Gesichtern Gelassenheit, aber auch Gewaltbereitschaft sprach, stören ließen. Während ich mich näherte, konnte ich sehen, wie der Kommandant der Abordnung zweimal einen Blick auf die Turmuhr der St. Michael's Church warf. Ich wusste, dass er nur auf den Moment wartete, da es ihm kraft des Gesetzes gestattet war, die Waffen sprechen zu lassen. Ich war daher froh, als ich Devout Hale fand und ihm sagen konnte, dass ich meine Aufgabe erledigt hatte und er und seine Männer die Belagerung abbrechen konnten. Er rief einen entsprechenden Befehl, und die Seidenweber ließen sofort von ihrem Tun ab und zogen friedlich von dannen, wobei sie von den Soldaten verhöhnt wurden, die ihnen nachriefen, sie wären nicht Manns genug, um sich dem Musketenfeuer zu stellen. In meiner Freude, dass die Zeit meiner Knechtschaft sich ihrem Ende zuneigte, entschloss ich mich, nicht bis zum Morgen zu warten, sondern auf der Stelle eine Droschke zur Swallow Street zu nehmen und an Mr. Cobbs Tür zu klopfen. Als Edgar mir öffnete und ich sein zerschundenes Antlitz erblickte, tat es mir sogleich leid, ihn so unsanft behandelt zu haben, obwohl ich bereit gewesen wäre, es sofort wieder zu tun, wenn er es verdient haben sollte. Auf jeden Fall wusste ich, dass ich mir einen Feind geschaffen hatte, einen, der nicht gewillt sein würde, mir zu vergeben, auch nicht, wenn sein Herr mich schon längst vergessen hatte. »Weaver«, nuschelte er, weil ihm ein paar Zähne fehlten und seine Mund- und Nasenpartie geschwollen waren, was sein erpelähnliches Aussehen noch unterstrich. »Sie können sich ver-dammt glücklich schätzen, dass Mr. Cobb mir gesagt hat, ich dürfe Ihnen nichts tun.« »Ja, da kann ich wirklich von Glück reden«, pflichtete ich ihm bei. »Und ich werde dir stets für deine himmlische Gnade dankbar sein, wem auch immer ich sie zu verdanken habe.« Er warf mir ob meiner Worte nur einen wütenden Blick mit seinem unversehrt gebliebenen Auge zu, führte mich in das Besucherzimmer und verschwand ohne ein weiteres Wort, nachdem ich ihm meinen Mantel und die Handschuhe gereicht hatte, die er mit dem Ausdruck allergrößter Verachtung entgegennahm. Nachdem im Craven House meine Nerven einer enormen Zerreißprobe ausgesetzt gewesen waren, kam es mir wie der höchste Luxus vor, mich in einem so gut geheizten und erleuchteten Raum aufzuhalten. In jedem Halter an der Wand und in allen Kandelabern brannten Kerzen, und ein gut geschürtes Feuer ließ die Kälte aus meinen Knochen weichen. Ja, es war schon ein teures Vergnügen, in einem solchen Luxus zu schwelgen - außer, Cobb hatte gewusst, dass er noch so spät Besuch erwarten durfte, was mich zu der Schlussfolgerung führte, dass er mir entweder jemanden zur East India Company nachgeschickt und von dem erfahren hatte, dass ich mich auf dem Wege zu ihm befand oder aber dass mit dem Eintreffen noch eines weiteren Gastes zu rechnen war. Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, betrat Cobb das Zimmer und reichte mir die Hand. Ich hätte die Geste gerne ignoriert, doch aus Gewohnheit erwiderte ich sie. »Haben Sie es?«, fragte er. »Ich denke schon«, sagte ich. Jetzt erst fiel mir ein, dass ich mir den Inhalt der Ledermappe gar nicht angesehen hatte. Wenn Miss Glade mich nun hereingelegt haben sollte? Ich konnte mir keinen Grund dafür vorstellen, aber andererseits konnte ich auch keinen Grund für all das erkennen, was mir in den letzten Tagen widerfahren war. Cobb öffnete die Dokumentenmappe, nahm die darin enthaltenen Papiere heraus und überflog sie rasch. »Ah ja. Tatsächlich. Genau das Richtige.« Er packte alles wieder zurück und legte die Mappe auf den Tisch. »Gut gemacht, Weaver. Sie sind Ihrem Ruf mehr als gerecht geworden. Es gibt in der Stadt kaum ein besser bewachtes Gelände, und doch haben Sie sich auf irgendeine Weise dort Zutritt verschafft, haben sich genommen, was sie wollten und sich dann wieder entfernt. Ich kann Ihnen für Ihre Talente nur meine Bewunderung aussprechen, Sir.« Ohne auf eine Einladung zu warten, setzte ich mich ans Feuer und streckte ihm meine Hände entgegen. »Ihre Lobpreisungen bringen mich nicht weiter. Ich habe getan, was Sie von mir verlangt haben, und nun ist es Zeit, mich und die anderen Männer aus Ihren Verpflichtungen zu entlassen.« »Sie entlassen?« Cobb sah mich stirnrunzelnd an. »Warum sollte ich so etwas Dummes tun?« Augenblicklich war ich auf den Beinen. »Keine weiteren Spielchen mehr. Sie haben mir gesagt, dass Sie all den Schaden, den Sie angerichtet haben, wiedergutmachen werden, wenn ich tue, was Sie von mir verlangen. Das habe ich hiermit getan.« »Wenn ich recht erinnere, habe ich gesagt, dass Sie alles tun müssen, was ich von Ihnen verlange. Gut, den ersten Punkt können wir hiermit abhaken.« Er wich nicht vor mir zurück, schien kaum wahrzunehmen, dass ich mit geballten Fäusten vor ihm stand. »Es gibt noch mehr, viel, viel mehr, was Sie für mich erledigen müssen. Oh nein, Mr. Weaver. Wir stehen erst am Anfang unserer Arbeit.« Vielleicht hätte ich mit dieser Wendung rechnen sollen. Aber ich habe es nicht getan. Cobb, so hatte ich geglaubt, ging es um diese Dokumente, und sowie er sie in der Hand hielt, würde er meiner nicht mehr bedürfen. »Wie lange wollen Sie mich noch in Ihre Dienste zwingen?« »Ach, es ist eigentlich keine Frage der Zeit. Es hängt von den Zielen ab, die wir noch erreichen müssen. Ich benötige gewisse Dinge, die nur Sie mir besorgen können, auch wenn es Ihnen nicht gefällt. Unsere Zusammenarbeit ist erst beendet, wenn alle meine Wünsche erfüllt sind. So einfach ist das.« »Ich werde nicht damit fortfahren, für Sie in Häuser einzubrechen.« »Natürlich nicht, das sollen Sie ja auch gar nicht. Nichts dergleichen. Ich habe etwas weit Feinsinnigeres mit Ihnen vor.« »Und was soll das sein?« »Das darf ich Ihnen noch nicht verraten, jedenfalls nicht in all den Einzelheiten, die Sie gerne hören möchten. Dafür ist es noch zu früh, aber Sie werden meine Großzügigkeit schätzen lernen. Setzen Sie sich doch. Nehmen Sie wieder Platz.« Ich weiß nicht, wieso, aber ich tat, wie mir geheißen. Vielleicht war es etwas in seiner Stimme, oder vielleicht war es die Erkenntnis, dass er mich vollkommen in der Hand hatte. Ich dagegen konnte ihm nichts anhaben, ohne damit mich und andere ins größte Unglück zu stürzen. Cobb hatte alles meisterhaft eingefädelt, und ich brauchte einfach mehr Zeit, um herauszufinden, wie ich ihn überlisten konnte. In keinem Fall durfte ich meine Fäuste benutzen, um das Ganze hier und heute zu beenden. »Wie gesagt«, fuhr er fort, »Sie werden meine Großzügigkeit zu schätzen wissen. Sie werden vorerst keine anderen Aufträge mehr übernehmen. Ich werde Ihr einziger Arbeitgeber sein. Zusätzlich zu den dreißig Pfund, die ich Ihnen für diese Aufgabe zugesagt hatte, erhalten Sie von mir vierteljährlich weitere vierzig, was nun wirklich eine beachtenswerte Summe ist - ich schätze mal, ungefähr so viel, wie Sie in einer ähnlichen Zeitspanne verdienen könnten, wahrscheinlich jedoch erheblich mehr. Und außerdem brauchen Sie sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wo Sie Ihren nächsten Auftrag herbekommen sollen.« »Aber ich werde mir den Kopf darüber zerbrechen müssen, warum ich der Sklave eines anderen Mannes und seiner Launen bin und warum die Leben Unbeteiligter davon abhängen, ob ich es diesem Mann recht mache.« »Sie sollten das mehr als einen Ansporn betrachten. Denken Sie doch einmal darüber nach, Sir. Wenn Sie mir ergeben dienen und mir keinen Anlass schaffen, Ihnen zu zürnen, wird keinem Ihrer Freunde ein Haar gekrümmt werden.« »Und wie viele Vierteljahre werden Sie meine Dienste noch benötigen?«, fragte ich und musste mir Mühe geben, vor Wut nicht mit den Zähnen zu mahlen. »Das kann ich leider nicht sagen. Einige Monate vielleicht. Vielleicht ein Jahr oder gar noch länger.« »Ein Jahr oder gar noch länger«, äffte ich ihn nach. »Sie können meinen Onkel nicht noch ein Jahr in seiner prekären Situation belassen. Erstatten Sie ihm seine Lieferung zurück, und ich werde auf Ihre Bedingungen eingehen.« »Ich fürchte, das wird nicht gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie einem Mann gegenüber Ihr Wort halten würden, der Ihnen so übel mitgespielt hat, wie ich es getan habe. In ein paar Monaten vielleicht, wenn Sie sich so weit kompromittiert haben, dass es für Sie selber einfach zu viel zu verlieren gibt, können wir über Ihren Onkel reden. In der Zwischenzeit wird er dafür sorgen, dass Sie nicht von unseren gemeinsamen Zielen abweichen.« »Und worin bestehen diese Ziele?« »Kommen Sie mich in drei Tagen noch einmal besuchen, Weaver. Dann werden wir über alles reden. Bis dahin können Sie mit Ihrem Verdienst tun, was Sie wollen, und Ihre Freiheit genießen. Auf dem Weg nach draußen wird Edmund Sie für Ihren heutigen Erfolg belohnen und Ihnen auch schon Ihre erste vierteljährliche Zahlung aushändigen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das gefallen wird.« »Es interessiert mich nicht, was Edmund gefällt oder nicht. Und Sie irren sich, wenn Sie glauben, Sie könnten sich meinen Unmut damit zuziehen, indem Sie ihn verprügeln, also können Sie es ebenso gut auch bleiben lassen.« »Dann nennen Sie mir einen besseren Grund dazu.« »Wenn es Ihre Stimmung aufhellt, meinen Diener zusammenzuschlagen, dann dreschen Sie so viel auf ihn ein, wie Sie wollen. So ist er wenigstens seinen Lohn wert. Und noch etwas. Ich nehme an, dass Sie neugierig sind, wieso ich zu solchen Mitteln greife, um meine Ziele zu erreichen. Sie werden mehr über diese Dokumente und Mr. Ellershaw und so weiter erfahren wollen. Mein Rat an Sie wäre, Ihre Neugier zu zügeln, ja, noch besser gar keine Fragen mehr zu stellen. Solche Fragen könnten einen Funkenschlag auslösen, der sich zu einer verheerenden Feuersbrunst auswächst, die Sie mitsamt Ihren Freunden verschlingen könnte. Ich möchte nicht, dass Sie sich zu viele Gedanken um mich und meine Ziele machen. Sollte ich herausfinden, dass Sie diesen Rat nicht beherzigen, wird einer Ihrer Freunde leiden müssen, damit Sie vom Ernst meiner Worte überzeugt sind. Sie müssen sich mit Ihrer Unwissenheit abfinden.« Damit war ich entlassen. Ich erhob mich und ging in die Halle hinaus, aber Cobb rief mich noch einmal zu sich zurück. »Sie haben etwas vergessen, Weaver.« Er hielt mir die Dokumentenmappe hin. Ich starrte auf die Unterlagen in seiner Hand. »Sie wollen sie nicht?« »Sie sind wertlos für mich. Nehmen Sie sie mit, aber bewahren Sie sie gut auf. In ein paar Tagen werden Sie sie brauchen.« An der Tür gab mir Edgar meine Sachen und drückte mir wortlos einen Geldbeutel in die Hand. Es war nur gut, dass die Diebe, die auf diesen Straßen ihr Unwesen trieben wie hungrige Wölfe, kein Silber riechen konnten, denn sonst wäre ich in dieser Nacht eine leichte Beute für sie gewesen. Ich war viel zu benommen, um mich zur Wehr setzen zu können oder eine drohende Gefahr auch nur wahrzunehmen. 7 Für den nächsten Abend lud ich Elias zu einem Treffen in das Haus meines Onkels ein. Wir waren die drei Personen, die am meisten von diesen Machenschaften betroffen waren - abgesehen von Mr. Franco, auf den ich später noch zurückkommen werde. Da saßen wir also im Arbeitszimmer meines Onkels und tranken seinen Wein - wobei es in Elias' Fall wohl passender wäre, davon zu reden, dass er ihn kippte, denn Elias hatte seine Schwierigkeiten damit, die dringend notwendige Klarheit im Kopf mit der grenzenlosen Verfügbarkeit von Cla-ret im Hause eines Weinhändlers in Einklang zu bringen. »Es ist mir nicht gelungen, etwas über den Mann, diesen Mr. Jerome Cobb, in Erfahrung zu bringen«, sagte mein Onkel. Er wirkte klein und zerbrechlich und wurde ständig von Hustenkrämpfen geschüttelt. Obwohl er direkt neben dem Kaminfeuer saß, wärmte er sich zusätzlich noch mit einigen Lagen schwerer Decken und einem Schal um den Hals. Seine Stimme war nur noch ein pfeifendes Keuchen, was mich sehr um seine Gesundheit besorgt sein ließ. »Ich habe mich erkundigt, äußerst diskret natürlich, aber die Erwähnung seines Namens rief stets nur ratlose Blicke hervor.« »Könnten die, bei denen du dich erkundigt hast, ihn eventuell nicht kennen wollen?«, fragte ich. »Möglicherweise haben sie solche Angst vor Cobb, dass sie es sich auf keinen Fall mit ihm verderben möchten.« Mein Onkel schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich bin nicht all die Jahre Kaufmann gewesen, um mich von jedem Schwindel täuschen zu lassen - oder es zumindest nicht zu merken, wenn jemand unsicher wird. Nein, der Name Cobb war denen, die ich gefragt habe, gänzlich unbekannt.« »Was ist mit seinem Neffen, der beim Zollamt arbeitet?«, bohrte ich weiter. Wieder ein Kopfschütteln. »Es stimmt, dass er dort arbeitet. Er verdient gut und ist sehr zurückhaltend. Mehrere, mit denen ich gesprochen habe, kannten ihn flüchtig oder hatten ihn schon mal gesehen, vermochten mir aber nichts weiter über ihn zu sagen.« Elias, der sich nach jedem Schluck den Mund mit dem Handrücken abwischte, nickte mit Nachdruck. »Ich kann auch nur wenig mehr beitragen. Ich konnte in Erfahrung bringen, dass sein Diener bei einer Auktion für eine erkleckliche Summe ein eigenes Haus ersteigert und die Darlehnsraten für drei Jahre im Voraus bezahlt hat. Das war vor sechs Monaten. Ansonsten habe ich nichts gehört. Aber jeder, der in London einigermaßen vermögend ist, erweckt doch irgendwann Aufmerksamkeit. Seit uns bekannt ist, dass er sich an deine Fersen geheftet hat, habe ich ein paar der vornehmsten Arme der Stadt zur Ader gelassen, ein paar der bestgestellten Zähne gezogen und einen ziemlich erhabenen Nierenstein entfernt. Ich hatte sogar das Vergnügen, eine Creme gegen einen Ausschlag auf einem Paar der elegantesten Brüste in London aufzutragen, aber niemand von Bedeutung hat den Namen je gehört. Und du weißt, wie schnell alles in der Welt der Schönen und Reichen die Runde macht, Weaver. Ein Mann wie dieser Cobb, der nicht nur von sich behauptet, reich zu sein, sondern mit seinem Geld auch unzweifelhaft etwas bewegt, kann nicht plötzlich in der Hauptstadt auftauchen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Und trotzdem ist es ihm gelungen, sich ganz und gar bedeckt zu halten.« »Es scheint, dass er über keine weitere Dienerschaft verfügt als diesen unangenehmen Kerl, und nach dem, was ich so gesehen habe, hat er nicht einmal einen eigenen Koch«, konnte ich beisteuern. »Also muss er zum Essen ausgehen. Irgendwer muss ihn doch irgendwo in irgendeinem Speiselokal in der Stadt gesehen haben.« »Ein scharfsinniger Schluss«, bemerkte Elias. »Ich denke, in dieser Hinsicht werde ich das eine oder andere in Erfahrung bringen können. Ich werde meine Anstrengungen verdoppeln. Es gibt da den sehr modebewussten Sohn eines Herzogs - den dritten von vier Söhnen, also ohne große Aspirationen, ihr versteht -, der nicht weit von Cobbs Haus entfernt wohnt. Ich behandle die ziemlich schmerzhaften Furunkel an seinem Allerwertesten. Bei meinem Besuch werde ich ihn mal danach aushorchen, was er mir so über seinen Nachbarn erzählen kann.« »Du wirst uns hoffentlich nur seine Beobachtungen mitteilen und keine weiteren Einzelheiten«, warf ich ein. »Es ist mein Wunsch, der Gesundheit des Menschen dienlich zu sein«, sagte Elias. »Wie kannst du es mir da verdenken, wenn mir beim Anblick eines Hinterteils voller Furunkel das Herz höher schlägt?« »Das ist deine Sache.« »Ich sage es nicht gern, Weaver, aber ich will es trotzdem loswerden. Dieser Cobb ist offenbar ein Mann von Macht und List. Solltest du dir nicht einen Verbündeten suchen, der es an Einfluss und Gerissenheit mit ihm aufnehmen kann?« »Du meinst Jonathan Wild, diesen Halunken«, sagte mein Onkel mit sichtlichem Widerwillen. Es erforderte einige Anstrengung, aber er schaffte es, sich in seinem Sessel vorzubeugen. »Ich will nichts davon hören.« Wild war nicht nur der bekannteste private Ermittler der Stadt, sondern auch der gerissenste Dieb des ganzen Landes, vielleicht sogar der Welt, und sehr wahrscheinlich der ganzen Weltgeschichte. Soweit mir bekannt war, hatte niemand jemals ein so weit reichendes Verbrecherimperium wie er aufgebaut, und das, während er sich die ganze Zeit als ein Wohltäter des Volkes aufspielte. Die Mächtigen der Stadt wussten entweder nichts von der wahren Natur seiner Geschäfte oder zogen es vor, die Augen davor zu verschließen, wenn es ihren Zwecken dienlich war. Wild und ich waren zweifellos Konkurrenten, doch wir hatten einander in der Vergangenheit schon mal zugearbeitet. Zudem hegte ich einen gewissen Respekt vor Abraham Mendes, Wilds Adjutanten, der nicht nur ein Nachbar von mir, sondern auch Jude war - so wie ich. »Um die Wahrheit zu sagen, habe ich diese Möglichkeit bereits in Erwägung gezogen. Ungünstigerweise betreiben Wild und Mendes ihre Geschäfte zur Zeit von Flandern aus und werden frühestens in zwei oder drei Monaten zurückerwartet.« »So viel Zeit haben wir nicht«, bemerkte Elias. »Ich wäre sowieso dagegen.« Mein Onkel lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück. »Je weniger du mit dem Mann zu tun hast, umso besser.« »Ich bin geneigt, dir zuzustimmen, Onkel«, sagte ich. »Wenn Wild hier wäre, bliebe mir nichts anderes übrig, als zumindest seinen Rat einzuholen, wenn nicht sogar um seine Hilfe zu bitten. Das wäre mir ganz und gar nicht angenehm. Trotz unseres gelegentlichen Zusammentuns gefiele es mir nicht im Geringsten, ihn um einen Gefallen zu bitten, denn damit würde ich ihm eine gewisse Macht über mich einräumen.« »Richtig«, pflichtete mein Onkel mir bei. »Dennoch bin ich Ihnen für jeden Vorschlag dankbar, Mr. Gordon. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.« »Ich kann Ihnen ja kaum helfen«, sagte Elias. »Meine eigenen Finanzen und meine Zukunft hängen ebenso am seidenen Faden wie die Ihren.« »Trotzdem stehe ich in Ihrer Schuld, Sir«, beharrte mein Onkel. Elias erhob sich, um eine Verbeugung vor ihm zu machen. »Doch jetzt bitte ich Sie, uns zu entschuldigen, denn ich muss ein paar Worte unter vier Augen mit meinem Neffen wechseln.« »Oh«, sagte Elias, der nun begriff, dass das Lob meines Onkels ein etwas plump eingeleiteter Hinauswurf gewesen war. Er blickte kummervoll in sein halb volles Glas Claret und fragte sich - sein trauriger Gesichtsausdruck verriet ihn -, ob es ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Etikette wäre, es in einem Zug zu leeren. »Selbstverständlich.« »Beim Hinausgehen richten Sie bitte meinem Kompagnon von mir aus, dass er Ihnen eine Flasche mit auf den Weg geben soll. Er wird schon wissen, welche die richtige ist.« Diese Ankündigung ließ Elias wieder erstrahlen. »Sie sind zu gütig, Sir.« Noch einmal machte er eine tiefe Verbeugung und zog von dannen. Nachdem er fort war, saßen wir uns einige Minuten lang schweigend gegenüber. Schließlich ergriff ich das Wort. »Ich muss dir sagen, wie leid es mir tut, dass ich dir das angetan habe.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast mir gar nichts angetan. Dir ist Unrecht geschehen, und es war nicht deine Schuld. Ich wünschte nur, dass ich dir helfen könnte.« »Und was ist mit dir? Wie wirst du diese Heimsuchung überstehen?« Er führte einen Becher mit dampfend heißem Glühwein an die Lippen. Es war so viel Honig darin, dass man es im ganzen Zimmer riechen konnte. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Dies ist nicht das erste Mal in meinem Berufsleben, dass es mir an Geld mangelt. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein. Ein gewiefter Kaufmann weiß, wie er sein Überleben sichert. Sieh zu, dass du es auch so hältst.« »Und was ist mit Mr. Franco? Hast du von ihm etwas gehört?« »Nein. Es könnte sein, dass er noch gar nichts von seinem Unglück ahnt.« »Vielleicht braucht er ja auch nie davon zu erfahren?« »Nein, das halte ich nicht für recht. Er wird vielleicht nie herausbekommen, dass sein Schicksal aufs Engste mit dem deinen verknüpft ist, aber falls er deinetwegen ins Schuldgefängnis geworfen wird, sollte er doch wenigstens eine Ahnung haben, warum.« Damit hatte mein Onkel natürlich recht, das musste ich ihm eingestehen. »Wie gut kennst du Mr. Franco eigentlich?« »Nicht so gut, wie ich ihn gerne kennen würde. Weißt du, er lebt noch nicht lange hier. Er ist verwitwet, und er und seine zauberhafte Tochter haben Saloniki den Rücken gekehrt, um die Freizügigkeit des Lebens in England zu genießen. Nun ist die Tochter wieder in Griechenland. Ich begreife bis heute nicht, warum du ihr nicht nachdrücklicher den Hof gemacht hast«, fügte er hinzu. »Sie und ich hätten nicht zueinander gepasst, Onkel.« »Ach was, Benjamin. Ich weiß, dass du immer noch ein Auge auf Miriam ...« »Nein, das habe ich nicht«, widersprach ich ihm so überzeugend, wie ich vermochte. Und ich meinte es weitgehend ehrlich. »Mit ihr bin ich unwiderruflich auseinander.« »Das scheint auch auf mich und die Lady zuzutreffen«, sagte er. »Ich höre sehr wenig über sie und nichts von ihr. Seit ihrer Konvertierung hat sie sämtliche Verbindungen zu unserer Familie abgebrochen.« »Vor allem die zu mir.« Er sah mich skeptisch an, denn er glaubte nicht, dass Miriams Glaubenswechsel und ihre Eheschließung das endgültige Ende unserer Freundschaft bedeutet hatten. Er sollte es auch gar nicht glauben. »Ich schätze, da ist nichts mehr zu flicken.« »Nein«, sagte ich. »Nun kehren wir zu Mr. Franco zurück.« Mein Onkel nickte. »Früher war er ein mäßig erfolgreicher Markthändler, hat es aber nie wirklich zu etwas gebracht. Er lebt bescheiden, hat sich meines Wissens aus dem Geschäftsleben zurückgezogen und begnügt sich mit Lektüre und Konversation.« »Und«, musste ich zu meinem großen Bedauern hinzufügen, »falls er gerade genug zusammengespart hat, um einen einigermaßen bequemen Ruhestand genießen zu können, würde eine plötzliche Schuldenlast all sein Glück zerstören.« »Genauso ist es.« »Dann sollte ich wohl doch besser mal mit ihm reden.« Mr. Franco besaß ein hübsches, geschmackvoll eingerichtetes Haus an der Vine Street, nur einen kurzen Spaziergang von meiner Wohnung und der meines Onkels entfernt. Es war zwar denkbar, sogar naheliegend, dass er um diese Uhrzeit entweder Gäste hatte oder ausgegangen war, doch ich traf ihn allein in seinem Haus und, so schien es, hocherfreut über die unerwartete Gesellschaft. Er führte mich in sein Wohnzimmer, wo er mir einen bequemen Sessel und einen Glühwein anbot. »Es freut mich außerordentlich, Sie zu sehen, Sir«, versicherte er mir. »Ich hatte schon befürchtet, dass wir uns nach Gabriellas Abreise nach Saloniki nie wieder begegnen würden. Ich erwarte Sie übrigens bald zurück, worüber ich sehr froh bin, denn ein Mann sollte seine Familie um sich haben. Das ist ein großer Segen im zunehmenden Alter.« Mr. Franco lächelte mir herzlich zu, und ich hasste mich selber und Cobb für das, was ich ihm gleich würde mitteilen müssen. Er war ein freundlich aussehender Mann, dessen rundes Gesicht eine gewisse körperliche Plumpheit vermuten ließ, von der aber keine Rede sein konnte. Wie mein Onkel ging er nicht mit der Londoner Mode und trug seinen Bart sauber gescho-ren, was die Aufmerksamkeit seines Gegenübers auf seine gütigen, klugen Augen lenkte. Er war auf vielerlei Weise ein ungewöhnlicher Mann. Mein Onkel war nicht zuletzt so erpicht darauf gewesen, dass ich Mr. Francos Tochter den Hof machte, weil dieser im Gegensatz zu vielen anderen respektablen Londoner Juden eine Liaison seiner Tochter mit einem Mann, der sein Geld mit privater Ermittlungsarbeit verdiente, nicht als Beleidigung seiner Familie erachtete. Im Gegenteil: Mr. Franco freute sich darüber, dass ich es unter den Nichtjuden der Stadt zu einiger Bekanntheit gebracht hatte und betrachtete meinen Erfolg - ein wenig zu optimistisch, wie ich finde - als ein Vorzeichen von besseren Zeiten für uns Juden. »Nachdem die Verbindung zwischen Ihnen und meiner Tochter in die Brüche gegangen war, hatte ich schon befürchtet -nein, nein, lassen Sie mich ausreden. Ich weiß, dass Sie etwas dazu sagen möchten, aber es ist nicht nötig. Ich weiß, wie schön und wie anmutig meine Tochter ist, also brauche ich es nicht von Ihnen zu hören, und ich weiß auch, dass nicht jede schöne und anmutige Frau jedermanns Vorstellung von einer idealen Ehefrau entspricht, sonst würden wir in einer sehr sonderbaren Welt leben. Ich fühle mich dadurch keineswegs gekränkt. Sie und meine Tochter werden beide die passenden Partner finden, und besonders Ihnen wünsche ich, dass Sie schon recht bald Ihr Glück finden, denn ein Mann sollte die Freuden der Ehe genießen.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Ich deutete in meinem Sessel eine Verbeugung an. »Wenn ich nicht irre, gab es da doch auch eine Verbindung zu der Schwiegertochter Ihres Onkels«, fragte er forschend. »Steht diese Frau vielleicht zwischen Ihnen und meiner Tochter?« Ich seufzte. Würde man mich denn nie mit diesem unerquicklichen Thema in Ruhe lassen? »Zu einer gewissen Zeit hatte ich in der Tat den großen Wunsch, die Dame zu meiner Frau zu machen«, gab ich zu, »doch sie hat ihr Glück anderweitig gesucht und steht zwischen niemandem und mir.« »Sie ist zur Church of England übergetreten, wie ich höre.« Ich nickte nur. »Aber wenn ich recht unterrichtet bin, ist sie inzwischen schon wieder verwitwet?« »Sie sind korrekt unterrichtet«, konnte ich nur bestätigen. Er lachte leise. »Und gehe ich auch recht in der Annahme, dass Sie nicht den Wunsch verspüren, dieses Thema weiter zu erörtern?« »Bitte seien Sie frei, jedes Thema Ihrer Wahl mit mir zu erörtern, Mr. Franco. Ich weiß, dass ich keinen Anstoß daran nehmen kann, wenn ein Mann von Ihrer Herzensgüte ein offenes Wort mit mir sucht.« »Ach, legen Sie nur die Förmlichkeiten ab, denn ich erwarte nichts Dergleichen von Ihnen, Sir. Als Sie und Gabriella Ihre Verbindung nicht vertieft haben, befürchtete ich schon, auch wir könnten nun nicht länger Freunde bleiben. Ich hoffe, das ist nicht der Fall.« »Auch ich habe mich geschmeichelt gefühlt, mich Ihren Freund nennen zu dürfen, obwohl Sie, wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen zu berichten habe, sich vielleicht wünschen werden, mich nie in Ihr Haus eingeladen zu haben. Ich fürchte, dass ich Sie, auch wenn es mir widerstrebt, nicht über alle Einzelheiten in Kenntnis setzen kann, aber die Sache ist die, Sir, dass jemand droht, Ihnen Schaden zuzufügen, um damit wiederum mir zu schaden.« Er beugte sich vor, und ich erschrak beim Knarren seines Sessels. »Uns beiden Schaden zuzufügen? Wie darf ich das verstehen?« Es war mir im höchsten Maße unangenehm, aber ich musste ihm, so gut es ging, erklären, dass meine Feinde ein paar mir am Herzen liegende Menschen aufs Korn genommen hatten, deren Finanzen sie durcheinanderbrachten. »Es scheint, dass man wegen meiner häufigen Besuche in Ihrem Hause auf den Gedanken gekommen ist, wir würden einander äußerst nahestehen.« »Aber mit meinen Finanzen ist alles in Ordnung.« »Haben Sie Schulden, Mr. Franco?« »Wer hat keine?« Seine Stimme klang schon ein wenig beunruhigt. »Natürlich. Aber diese Männer haben höchstwahrscheinlich sämtliche Ihrer Schulden, derer sie habhaft werden konnten, aufgekauft. Würde es Sie in eine schlimme Zwangsage bringen, wenn Ihre sämtlichen Schulden auf einen Schlag eingefordert würden?« Ein paar Augenblicke lang sagte er nichts, war aber ganz blass geworden, und seine Finger, die seinen Becher umklammert hielten, nahmen eine elfenbeinerne Farbe an. »Ich schäme mich sehr, das über Sie gebracht zu haben«, sagte ich und wand mich innerlich angesichts dieser hohlen Worte. Er schüttelte den Kopf. »Ihrer Erzählung nach trifft Sie keine Schuld. Diese Männer haben sich in all ihrer Niedertracht gerade auf Ihren guten Charakter verlassen, weil Sie so manche Unbill auf sich nehmen, es aber nicht ertragen, andere für sich leiden zu lassen. Das macht mich sehr wütend, Mr. Weaver, aber nicht auf Sie, denn Sie können nichts dafür.« »So viel Verständnis habe ich nicht verdient, aber ich bin trotzdem sehr dankbar für Ihre Güte.« »Schon gut, aber ich würde gerne mehr darüber hören. Wer sind Ihre Peiniger? Was wollen sie von Ihnen?« »Ich denke, es ist besser, wenn Sie nicht in alles eingeweiht sind. Jedenfalls verlangen sie von mir Dienste, die ich normalerweise weit von mir gewiesen hätte.« »Was sind das für Dienste? Selbst, wenn es Ihnen darum geht, mich vor dem Schuldturm zu bewahren, dürfen Sie nichts tun, was Ihren moralischen Pflichten oder den Gesetzen dieses Königreiches entgegenläuft.« Ich hielt es für angebracht, diesen Punkt geflissentlich zu übergehen. »Je weniger wir darüber sprechen, umso besser.« »Sie mögen nicht dazu beigetragen haben, mich in diese missliche Lage zu bringen, Mr. Weaver, aber ich stecke nun mal darin, und es wäre nicht anständig, mich im Unklaren zu belassen.« Dagegen gab es nichts einzuwenden, und nachdem ich ihm eingeschärft hatte, dass er, um seiner und anderer Unversehrtheit willen, mit niemandem darüber sprechen dürfe, weihte ich ihn so weit ein, wie es mir ungefährlich erschien. Ich erklärte ihm, ein sehr vermögender Mann von erheblichem Einfluss hätte mich in seine Dienste gezwungen, weil er etwas gegen einen der Direktoren der East India Company im Schilde führe. »Ha«, sagte Mr. Franco triumphierend, »ich hatte geschäftlich mit der East India Company zu tun, wie übrigens auch mit ihren Konkurrenten. Ich versichere Ihnen, kein blutiger Anfänger in diesem Spiel zu sein. Wir werden sie überlisten.« »Leichter gesagt als getan«, gab ich zu bedenken. Er lächelte wissend. »Sie glauben, nur weil diese Männer reich und mächtig sind, würde man mit ihnen nicht fertig? Das Glück kann eine sehr launische Göttin sein und jeden von uns verlassen, wenn er am wenigsten damit rechnet, doch gleichzeitig den Untersten der Unteren zu den höchsten Höhen aufsteigen lassen. Die Direktoren der East India Company haben keinen Grund, mich zu lieben, aber ihre Animosität hat mir nie geschadet. In dem Spiel, das wir spielen, gibt es Regeln, müssen Sie wissen.« »Aber nun, da Sie, ich, mein Onkel und ein guter Freund von mir am Rande des Ruins stehen, könnte man wohl sagen, dass die Regeln sich geändert haben.« »Ja, so könnte man es sehen. Nun sagen Sie mir aber, wer der Mann ist, der der East India Company Schaden zufügen will? Wie lautet sein Name? Welche Verbindungen hat er?« »Es hat noch nie jemand von ihm gehört, und ich spreche seinen Namen so selten aus wie möglich. Ich fürchte, der geringste Fehler könnte fatale Folgen für einen von uns haben. Man hat mich sogar ausdrücklich davor gewarnt, solche Gespräche wie das unsere zu führen, und ich gehe das Risiko auch nur ein, weil ich meine, dass Sie wissen sollten, dass Sie möglicherweise unter Beobachtung stehen. Und obwohl es Ihr gutes Recht ist, dies zu erfahren, muss ich Sie bitten, sich keinesfalls etwas anmerken zu lassen oder etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Vorerst können wir wenig tun, außer uns wie brave Lämmer zu benehmen, bis sich die richtige Gelegenheit bietet, zurückzuschlagen.« »Sie kennen mich nicht sehr gut, Mr. Weaver, aber ich glaube, Sie wissen, dass ich kein Mann bin, der sein einmal gegebenes Versprechen bricht, und ich kann Ihnen versichern, dass mir erst recht nicht danach zu Mute ist, wenn mich dieser Vertrauensbruch ins Hofmarschallgefängnis oder an einen ähnlich furchtbaren Ort bringt. Ich hatte über Umwege im Asienhandel viel mit englischen und holländischen Firmen zu tun und war auch an den ersten zaghaften Versuchen der Franzosen in dieser Richtung nicht ganz unbeteiligt. Wenn unser Mann je eine Position im Ostindienhandel bekleidet hat, nenne ich seinen Namen, und damit könnte ich Ihnen einen Vorteil ihm gegenüber verschaffen.« Ich konnte ihm seinen Wunsch nicht abschlagen, und ich musste mich sehr überwinden, um den bewussten Namen auszusprechen. »Jerome Cobb.« Eine ganze Weile sagte Mr. Franco gar nichts. »Von dem habe ich noch nie etwas gehört.« »Das hat niemand. Sowohl mein Onkel als auch das andere Opfer, mein Freund Elias Gordon, ein Arzt mit besten Verbindungen, haben nichts über ihn herausfinden können. Die-ser Mann verfügt über gewaltige finanzielle Mittel, und doch kennt niemand in London ihn.« »Vielleicht ist das nicht sein richtiger Name.« »Das habe ich auch schon in Erwägung gezogen.« »Zweifellos. Ja, Mr. Weaver, wir sehen uns tatsächlich vor einige Schwierigkeiten gestellt. Ich bitte Sie sehr, mich über alles, was weiter geschieht, auf dem Laufenden zu halten. Wenn ich kurz davor stehe, mich im Schuldturm wiederzufinden, wäre ich für einen rechtzeitigen Hinweis dankbar. Und da ich mit dem Ostindienhandel vertraut bin, kann ich Ihnen vielleicht den einen oder anderen Rat geben.« Ich versicherte ihm, dass ich tun würde, um was er mich gebeten hatte. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass Mr. Franco mir in dieser Angelegenheit ein unerwarteter Verbündeter sein könnte. Doch um davon zu profitieren, musste ich seine Freiheit aufs Spiel setzen, und ich war mir noch nicht sicher, wie weit ich mit meinem Einsatz in diesem Spiel gehen durfte. 8 M ein Onkel und Mr. Franco wohnten beide am Duke's Place im Pfarrbezirk von St. James. Auch ich hatte einige Jahre lang in dieser Gegend gelebt, allerdings in einer weit weniger vornehmen Gasse namens Grey Hound Alley. Die meisten Häuser hier wurden von Juden bewohnt, solchen wie den Mitgliedern meiner Familie, den Portugiesischsprachigen, obwohl sie aus aller Herren Länder stammten, und denen, die wir die Aschkenasim hießen. Sie selber nannten sich anders, aber ich wusste nicht, wie. Die Aschkenasim stammten aus osteuropäischen Ländern wie Polen oder Russen und strömten in immer größeren Scharen nach England, was unter uns Sephardim einige Unruhe auslöste, denn es gab zwar Arme unter uns, aber niemand war derart arm wie diese Juden, die uns mit ihrem Altkleiderhandel und ihrer Hausiererei bei den Nichtjuden in Misskredit brachten. Fast alle, die mit mir im Haus wohnten, waren portugiesische Juden, und ich konnte mich der besten Räume im Gebäude rühmen. Die Miete war niedrig, so dass ich mir ohne Weiteres drei geräumige Zimmer leisten konnte, die dank mehrerer zu öffnender Fenster während der Sommermonate schön luftig waren, während in den Wintermonaten ein angemessen großer Kamin behagliche Wärme verströmte. Ich hatte sogar das Gefühl, dass meiner Vermieterin besonders an meinem Wohlergehen gelegen war, denn einen Mann von meinem Rufe im Haus zu haben, sagte sie sich wahrscheinlich, schreckte bestimmt Einbrecher und anderes Gesindel ab. Ja, auch ich hätte gerne daran geglaubt, doch als ich an diesem Abend mit der Öllampe in der Hand meine dunkle Wohnung betrat, fuhr ich jäh zusammen, als ich eine Gestalt gewahrte, die, die Hände im Schoß gefaltet, geduldig wartend in einem meiner Sessel saß. Zuerst wollte ich die Lampe fallen lassen und nach einer Waffe greifen, aber dann sah ich gerade noch im Augenwinkel, dass die Person keine bedrohliche Bewegung machte, also offenbar nichts Böses im Schilde führte. Daher nahm ich mir die Zeit, noch ein paar Kerzen anzuzünden, ohne jedoch meinen Besucher dabei ganz und gar aus den Augen zu lassen, obwohl ich den Eindruck zu erwecken suchte, seine Gegenwart wäre für mich von untergeordneter Bedeutung. Sobald alles genügend erhellt war, drehte ich mich um und sah in das mir nicht gänzlich unvertraute Lächeln eines ziemlich großen Mannes. Es war Mr. Westerly, der mich vor einigen Wochen aufgesucht hatte, um mich zu fragen, ob ich versuchen wolle, für ihn in das Geschäftsgebäude der East In-dia Company einzubrechen. Nun saß er, die plumpen Hände im Schoß, da, als gefiele es ihm nirgendwo auf der Welt so gut wie in meinem Wohnzimmer und in meinem Sessel. Seine Wangen waren vor Zufriedenheit rosig angelaufen, und seine übertrieben gekräuselte Perücke war ihm bis knapp über die Augen gerutscht, was den Eindruck erweckte, als schliefe er. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich Ihren Nachttopf benutzt habe«, sagte er. »Keine Angst, ich habe ihn bei Weitem nicht gefüllt, aber es gibt ja manche Menschen, die es nicht mögen, wenn ein anderer seine Pisse mit der ihren mischt.« »Von allem, was ich Ihnen vorzuwerfen habe, einem Mann, der ohne Befugnis in meine Räume eingedrungen ist, wäre dies wohl noch meine geringste Sorge«, sagte ich. »Also, was wollen Sie hier?« »Sie hätten von vorneherein auf meinen Vorschlag eingehen sollen, finde ich. Nun sehen Sie sich doch bloß mal an, Wea-ver. Das alles hat Sie wohl ganz schön mitgenommen, oder?« »Gegen Mr. Cobb vermag ich vielleicht im Moment nicht viel auszurichten«, sagte ich und sah ihn dabei unverwandt an, um ihn mit meinem Blick zu verunsichern. »Aber bei Ihnen ist das etwas anderes. Vielleicht kann ich einiges über Mr. Cobb in Erfahrung bringen, indem ich Sie mir einmal tüchtig vorknöpfe.« »Das wäre eine Möglichkeit«, pflichtete er mir bei, »die Sie vielleicht nicht außer Acht lassen sollten. Ich bin nicht besonders mutig und gebe unter Androhung körperlicher Züchtigung leicht klein bei. Ich kann allein schon den Gedanken an Schmerzen nicht ertragen. Und doch sind Ihnen im Umgang mit mir ebenso die Hände gebunden wie im Umgang mit meinem Kompagnon. Wenn Sie mir etwas zu Leide tun, Sir, dann werden Ihre Freunde das auszubaden haben.« »Vielleicht findet man Ihre Leiche nie. Cobb wird nie sicher sein können, dass ich derjenige gewesen bin, der Sie überredet hat, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.« »Keine Angst, meine Geschäftspartner wissen ganz genau, wo ich mich im Augenblick aufhalte. Sie können erzählen, was Sie wollen. Niemand wird Ihnen glauben. Wenn Ihnen an Ihrem Onkel etwas gelegen ist, Sir, dann beten Sie, dass mir auf meinem Heimweg nichts zustößt.« »Wenn Ihnen an Ihrem eigenen Wohlergehen etwas gelegen ist, dann beten Sie lieber, dass ich nicht alle Umsicht fahren lasse und dafür sorge, dass Ihnen schon innerhalb dieser vier Wände etwas zustößt.« Er nickte. »Sie haben recht. Es ist nicht die Art eines Gentlemans, Sie auf diese Weise zu bedrohen. Ich bin gekommen, um Ihnen eine Nachricht zu überbringen, nichts weiter. Ich weiß sehr wohl um Ihre prekäre Situation, Mr. Weaver, aber Sie müssen uns nicht für Ihre Feinde halten. Auch uns tut es weh, müssen Sie wissen, Sie auf diese Weise zu behandeln. Aber wir brauchen Sie nun einmal, und Sie wollten uns nicht helfen. Dies ist nun das Ergebnis.« »Ich habe keine Zeit, mir weiter dieses Gerede anzuhören. Überbringen Sie Ihre Botschaft, aber denken Sie das nächste Mal bitte daran, dass ich des Lesens mächtig bin. Wenn es noch etwas mitzuteilen gibt, dann sollte es schriftlich geschehen und nicht durch einen Boten.« »Diese Mitteilung duldete keinen Aufschub. Ich bin gekommen, um Sie noch einmal an Mr. Cobbs Rat zu erinnern, sich nicht in seine Geschäfte einzumischen. Es ist ihm zur Kenntnis gelangt, dass Ihr Onkel und Ihr Bekannter unangebrachte Fragen gestellt haben. Und da Sie und Mr. Gordon sich heute Abend bei Ihrem Onkel getroffen haben und Sie danach zu Mr. Franco gegangen sind, kommt es mir so vor, als steckten Sie Ihre Nase in Dinge, vor denen man Sie gewarnt hat.« Ich sagte nichts dazu. Wie hatten sie das herausgefunden? Die Antwort lag klar auf der Hand. Ich wurde beschattet. Nicht von Westerly; ein solcher Koloss von einem Mann konnte sich auf der Straße kaum unsichtbar machen, aber von anderen. Wer war dieser Jerome Cobb, dass er so viele Leute in seinen Diensten hatte? »Ich habe mich mit meinem Onkel und einem Freund getroffen. Na und? Wir haben auch schon vor diesen Ereignissen häufig zusammengesessen.« »Mag sein, aber Sie haben sich über diese Ereignisse unterhalten, nicht wahr?« »Nein«, log ich. Westerly schüttelte den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht glauben. Und es wäre in Ihrer Situation mehr als klug, nicht nur nichts zu tun, was Sie nicht tun sollen, sondern gar nicht erst den Anschein dessen zu erwecken.« »Ich werde meinen Freunden und Verwandten nicht aus dem Wege gehen«, sagte ich. »Nein, das sollen Sie auch nicht. Aber wir erwarten, dass Sie ihnen sagen, sie sollen mit ihren Schnüffeleien aufhören.« Westerly wuchtete seine Masse aus meinem Sessel und stützte sich auf seinen Gehstock. »Wir sind uns im Klaren, was für ein neugieriger Mensch Sie sind, und dass die Verlockung, mehr über Mr. Cobb herauszufinden, groß gewesen sein muss, also wollen wir dieses Mal von einer Bestrafung absehen. Aber Sie wissen nun hoffentlich, dass wir unsere Augen und Ohren überall haben. Hören Sie damit auf, sich aus dem Netz freizappeln zu wollen. Akzeptieren Sie unser großzügiges Angebot und tun Sie, wie Ihnen geheißen. Je eher Sie uns ans Ziel bringen, desto früher sind Sie ein freier Mann.« Mr. Westerly wünschte mir eine gute Nacht und empfahl sich. Zwei Tage darauf bekam ich Besuch von Edgar, der mir wortlos einen Brief übergab und danach wieder von dannen zog. Seine Blessuren waren einigermaßen verheilt, aber er machte immer noch einen ziemlich mitgenommenen Eindruck und war auch nicht geneigt, ein paar freundliche Worte mit mir zu wechseln. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, riss ich den Brief auf und fand darin die Instruktionen, die Cobb angekündigt hatte. Ich sollte nun mit Mr. Ambrose Ellershaw von der East India Company, dem Mann, dem ich seine Unterlagen gestohlen hatte, Verbindung aufnehmen und ihm erklären, dass ich im Verlaufe meiner Ermittlungen in einer anderen Sache zufällig seinen Bericht sichergestellt und erkannt hätte, dass die Papiere von größter Wichtigkeit für ihren Eigentümer sein könnten, so dass ich ihm diesen gerne umgehend zurückerstatten würde. Es war mir höchst zuwider, auf jeden von Cobbs Pfiffen hin sofort zu springen, aber ich zog es doch vor, in dieser Angelegenheit etwas zu unternehmen, anstatt untätig zu Hause zu sitzen. Vielleicht sähe ich bald ein wenig klarer, was man eigentlich von mir wollte und wieso Cobb so erpicht darauf war, dass ausgerechnet ich für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen sollte. Ich setzte mich in ein Kaffeehaus, in dem man mich kannte und schrieb ganz nach Cobbs Wunsch einen Brief, in dem ich Ellershaw anwies, mir seine Antwort in bewusste Lokalität zu schicken. Den Nachmittag, sagte ich mir, würde ich halt damit verbringen, die Zeitung zu lesen und meine Gedanken zu ordnen, aber dafür blieb mir kaum eine Stunde. Der gleiche Junge, den ich mit meinem Brief losgeschickt hatte, kam postwendend mit der Antwort zurück. Lieber Mr. Weaver, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin zu erfahren, dass Sie die bewussten Dokumente in Ihrem Besitz haben. Bitte suchen Sie mich, so rasch Ihnen dies möglich ist, im Craven House auf, was, wie ich hoffe, noch heute sein wird. Ich versichere Ihnen, dass Ihre Mühe und Ihre Eile entsprechend belohnt werden, denn ich weiß, was ich meinen Freunden schuldig bin. Amb. Ellershaw Ich trank meinen Kaffee aus und machte mich unverzüglich auf den Weg in die Leadenhall Street. Hier betrat ich noch einmal das Gelände der East India Company und das Craven House - diesmal allerdings auf direktem, weniger riskantem Wege. Ein junger Türhüter, ein stattlicher Bursche, der seinem Akzent nach erst jüngst vom Lande in die Stadt gekommen war und sich glücklich schätzen konnte, hier eine so leichte Arbeit gefunden zu haben, ließ mich ohne Weiteres eintreten. Bei Tageslicht betrachtet kam einem das Hauptquartier der East India Company wie ein ganz gewöhnliches, hässliches altes Gebäude vor. Wie wir heute wissen, würde es schon bald aus allen Nähten platzen und vollkommen umgebaut werden, doch zur Zeit unserer Geschichte bot es noch genügend Platz und verriet nach außen hin kaum etwas von seinem Sinn und Zweck - abgesehen von einer Wandmalerei, die ein großes Schiff zeigte, das von zwei kleineren flankiert wurde, und dem hohen Tor in der Mauer, das Unbefugten den Zutritt verwehrte. Im Haus herrschte eine Betriebsamkeit wie in einem Bienenstock. Angestellte liefen mit an die Brust gepressten Stapeln von Papieren hin und her, Büroboten rannten vom Haus zu den Lagerschuppen, um Bestände zu überprüfen oder Mitteilungen zu überbringen, Dienstboten brachten Mahlzeiten für die hungrigen Direktoren, die in den Büros im oberen Stockwerk unermüdlich schufteten. Obwohl ich genau wusste, wo ich Ellershaws Büro finden würde, erkundigte ich mich danach, damit ich als Besucher glaubwürdig wirkte und stieg dann die Treppe hinauf. Als ich an die geschlossene Tür klopfte, forderte eine mürrische Stimme mich auf einzutreten. Das war also das Zimmer, das ich im Schutze der Dunkelheit durchwühlt hatte. Im hellen Tageslicht sah ich nun, dass der Schreibtisch und die Bücherregale aus Eichenholz und mit allerhand Schnitzereien verziert waren. Von seinem Fenster aus hatte er nicht nur einen Blick auf die Lagerhäuser, sondern auch auf den Fluss in der Ferne und die Schiffe, die von weither wertvolle Güter brachten. Und während ich im Dunkeln nur vage ausmachen konnte, dass an den Wänden Bilder hingen, erkannte ich im Licht der Nachmittagssonne nun auch, was sie darstellten. Jetzt begriff ich langsam, warum Cobb so darauf bestanden hatte, dass ich, und nur ich allein, Ellershaw seine vermissten Unterlagen zurückerstattete. Zwar hatte ich nach wie vor keine Ahnung, in welche Machenschaften Cobb mich verwickeln wollte, aber die Bilder in Ellershaws Büro sprachen Bände. Nicht alle, muss ich hinzufügen - eine ganze Reihe davon zeigten Landschaftsszenen aus Indien -, aber die meisten hatten ein bestimmtes Thema. Ich erblickte über ein Dutzend Holzschnitte und Zeichnungen, die keinen Geringeren als Benjamin Weaver und seine Taten würdigten. Sie spiegelten meine gesamte Laufbahn wider. Ellershaw besaß einen Druck, der mich in meinen frühen Tagen als Preisboxer zeigte, als ich gerade anfing, mir einen Namen zu machen, und einen, der mich in meinem letzten Kampf gegen den Italiener Gabrianelli darstellte. Ich entdeckte sogar eine ziemlich groteske Illustration, die mich ohne einen Fetzen Kleidung am Leibe bei meiner Flucht aus dem Gefängnis von Newgate zeigte, wo ich wegen einer unglückseligen Verstrickung in die Parlamentswahlen des bewussten Jahres gelandet war. Kurz gesagt - Mr. Ellershaw war ein Kenner des Lebens von Benjamin Weaver. Im Verlaufe meiner Tätigkeit als Privatermittler war ich dem einen oder anderen begegnet, der mich noch aus meiner Zeit im Ring kannte, und ich darf mit Stolz behaupten, dass mehr als einer davon sich noch ehrfurchtsvoll an meine Kämpfe erinnerte und meiner Person mit Respekt gegenübertrat. Aber mir war noch nie ein Mann über den Weg gelaufen, der Bilder von mir auf die Weise sammelte wie andere Knochen oder Versteinerungen oder sonstige Kuriositäten aus fernen Ländern. Ellershaw blickte mit einem Ausdruck freudiger Überraschung von seiner Arbeit auf. »Aha, Sie sind also Benjamin Weaver. Ich bin Ambrose Ellershaw und stets zu Ihren Diensten. Nehmen Sie doch Platz.« Er sprach mit einer merkwürdigen Mischung aus Schroffheit und Herzlichkeit. Als er merkte, dass mein Blick über seine Bildergalerie wanderte, errötete er sichtlich. »Wie Sie sehen, bin ich mit Ihrer Karriere, Ihrem Verschwinden und Wiederauftauchen vertraut. Ich weiß eine Menge über Benjamin Weaver.« Ich setzte mich ihm gegenüber und schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. Diese Scharade, in der ich nun zurückbringen sollte, was ich selber gestohlen hatte, und seine Begeisterung, mich zu sehen, machten mich verlegen. »Ich freue mich, dass Sie mir so viel Interesse zollen - und bin gleichzeitig auch ein wenig überrascht.« »Oh, ich habe Sie in vielen Kämpfen gesehen, sogar bei Ihrem letzten, gegen Gabrianelli - das war der Kampf, in dem Sie sich das Bein gebrochen haben, wie Sie sich ja sicherlich erinnern.« »Gewiss«, bestätigte ich ein wenig dümmlich, denn wie konnte er glauben, mir wäre entfallen, dass ich mir im Ring das Bein gebrochen habe? »Ja, ich werde den Anblick dieses Beinbruchs nie vergessen. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Darf ich einmal sehen?« »Das Bein?«, fragte ich voller Verwunderung. »Nein, Sie Holzkopf«, sagte er barsch. »Den Bericht. Geben Sie ihn mir.« Ich ließ mir mein Erstaunen über seinen plötzlichen Stimmungswandel nicht anmerken und reichte ihm die Unterlagen. Er öffnete die Mappe und überprüfte den Inhalt mit sichtlicher Befriedigung auf dessen Vollständigkeit. Dann nahm er aus einer mit einem orientalischen Muster verzierten Tonschale einen harten, bräunlichen Klumpen und begann, bedächtig darauf herumzukauen, als handele es sich um etwas ausgesprochen Scheußliches und gleichzeitig unwiderstehlich Wohlschmeckendes. »Sehr gut«, murmelte er zwischendurch. »Alles an Ort und Stelle, was ich ein Glück nenne. Es wäre eine Heidenarbeit gewesen, das alles neu zusammenzustellen. Als ich das Fehlen der Mappe entdeckte, dachte ich, dies böte eine Gelegenheit, Weaver bei der Arbeit in seinem neuen Metier zu erleben, aber ich war mir gleichzeitig auch nicht ganz sicher, ob ich sie nicht doch in meinem Landhaus zurückgelassen hatte. Ich hatte deswegen schon nach meinem dortigen Bediensteten geschickt, damit er sich auf die Suche mache und erwartete jeden Augenblick Nachricht von ihm, als ich stattdessen Ihren Brief erhielt. Was für ein Glück. Wo haben Sie diese Sachen gefunden?« Ich hatte mir bereits eine Ausrede zurechtgelegt und konnte seine Frage überzeugend beantworten. »Ich stand kurz vor der Ergreifung eines berüchtigten Hehlers, als ich auf eine Anzahl persönlicher Dinge stieß. Als ich diese Dokumente durchsah, wusste ich sofort, dass sie von Bedeutung sein mussten, und ahnte, wie glücklich sich ihr Eigentümer schätzen würde, sie zurückzuerhalten.« »In der Tat, das bin ich«, sagte er und fuhr fort, seinen braunen Klumpen mit den Zähnen zu bearbeiten. »Sehr umsichtig von Ihnen, sich damit sofort bei mir zu melden. Wissen Sie, das ist das große Geschenk, das diese Insel dem Rest der Welt machen kann. Unsere Freiheit. Kein Waffenlager oder keine Waffe in den Arsenalen der Welt ist so mächtig, dass damit ein freier, moralischer Mensch korrumpiert werden könnte.« »So hatte ich das noch gar nicht gesehen«, sagte ich. »Gewiss nicht. Nun, was kann ich Ihnen zum Dank für Ihre Bemühungen anbieten?« Ich tat so, als erwöge ich die Antwort sorgfältig. »Diese Papiere stellen für sich allein genommen keinen Wert dar, und für gewöhnlich berechne ich eine Guinee für die Rückerstattung solcher Gegenstände, aber da Sie mich nicht mit der Suche nach Ihren Unterlagen beauftragt haben und ich sie im Rahmen dessen, was zu tun ich ohnehin beauftragt war, gefunden habe, kann ich mit gutem Gewissen keinen Lohn dafür fordern. Meine einzige Bitte wäre, dass die East India Company, wenn diese in Zukunft an den Diensten eines Mannes mit mei-nen Fähigkeiten Bedarf haben sollte, nicht zögert, auf mich zurückzugreifen.« Ellershaw schien, während er diesen sonderbaren Klumpen, der inzwischen seine Zähne mit einer braunen Schicht bedeckt hatte, weiter zermahlte, mein Anerbieten zu erwägen. Dann zog er sorgenvoll die Stirn in Falten. »Oh nein, das reicht mir nicht. Das reicht mir ganz und gar nicht. Wir können die Angelegenheit nicht einfach so auf sich beruhen lassen.« Ich erwartete, dass er noch etwas hinzufügen würde, aber unser Gespräch wurde jäh unterbrochen, als er mit einem Male anfing, sich in seinem Sessel zu winden, als hätte ein plötzlicher, quälender Schmerz ihn gepackt. Er hielt sich am Rand seines Schreibtisches fest, kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Nach ein paar Sekunden schien der Anfall nachzulassen. »Diese verdammte Krankheit. Ich muss meine Medizin nehmen.« Er zog an der Quaste einer Schnur, die neben ihm von der Decke hing, und in der Ferne hörte ich eine Glocke läuten. »Welche Art Anstellung schwebt Ihnen denn vor?«, fragte er mich. »Ich bin in der glücklichen Lage, an keinem Mangel der Nachfrage nach meinen Talenten zu leiden, Sir. Ich bin nicht hergekommen, um Sie um eine sofortige Anstellung zu bitten - nur dass Sie in Zukunft an mich denken, wenn sich Bedarf einstellen sollte.« »Nein, das reicht mir nicht. Ich bin zu glücklich, Sie endlich kennengelernt zu haben, als dass ich Sie mit einer so unsicheren Zusage wieder fortgehen lassen könnte. Ich weiß, dass Sie ein Mann von Stolz sind - ein Kämpfer mit der Faust. Sie wollen es mir gegenüber nicht zugeben, aber es kann doch nicht leicht sein, sich von einem Auftrag zum nächsten durchzuschlagen.« »Es ist mir nie schwergefallen.« »Doch, natürlich ist es das.« Er lächelte nachsichtig. »Sehen Sie sich doch nur einmal an, Sir. Mit Ihrem sauberen Wams und so geben Sie eine gepflegte Erscheinung ab, doch jedermann kann Sie ohne große Mühe als Juden erkennen. Das muss doch eine schreckliche Bürde für Sie sein.« »Eine erträgliche Bürde bisher.« »Und so schrecklich diese Bürde doch sein mag, genießen Sie doch immerhin die Freizügigkeit eines Engländers, fast so, als wären Sie selber einer. Ist das nicht großartig? Freiheit ist, müssen Sie wissen, das Recht, den gewohnten Gang der Dinge in Frage zu stellen. Nehmen Sie doch zum Beispiel die ständige Veränderung des Marktes, wobei es wohl kaum eine Rolle spielt, ob es sich um den Markt für indisches Tuch oder für gestohlene Uhren handelt.« »Ihre Einstellung zu diesem Thema ehrt Sie, Sir.« Ich schielte sehnsüchtig nach der Tür. »Aber für einen Juden muss das doch eine ganz andere Sache sein. Freiheit verträgt sich nicht damit, eine Bürde mit sich herumzutragen. Wir müssen frei sein trotz unserer Bürde. Der Umstand, dass Sie Jude sind, hindert Sie doch gewiss daran, mit gewissen Gentlemen Umgang zu pflegen, wobei ich Ihnen versichern kann, dass ich mich nicht zu dieser Sorte zähle. Mir ist es gleich, sage ich Ihnen. Mir ist es gleich, ob Sie wie ein Jude aussehen oder als wenig mehr als ein Bittsteller zu mir gekommen sind, der mir mein gestohlenes Gut zurückbringt. Für mich hat das keine Bedeutung, und soll ich Ihnen auch verraten, warum?« Ich hoffte, dass er es mir ersparen würde. »Weil ich Sie im Ring habe kämpfen sehen, Sir. Ich weiß, von welchem Schlage Sie sind, auch wenn der Rest der Welt auf Sie spucken mag.« »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie ...« Aber er ließ mich nicht ausreden. »Für die Welt, Sir, sind Sie nichts als ein niederer Schnüffler, nicht wert, ihnen die Kamine zu kehren, während ich etwas viel Besseres in Ihnen sehe. Mir fällt gerade ein, was ich für Sie tun könnte. Möchten Sie es hören?« Ich musste mich jedoch noch in Geduld fassen, denn es klopfte leise an der Tür, und ehe Ellershaw den Besucher hereinbitten konnte, wurde die Tür auch schon geöffnet und ein Dienstmädchen mit einem Tablett in Händen betrat den Raum. Auf diesem Tablett trug sie einen Topf mit einem dampfenden Gebräu, das nach Pilzen und Zitrone roch. Voller Abscheu erwartete ich, dass mir gleich davon angeboten würde, aber es war eigentlich nicht der sonderliche Tee, dem mein Augenmerk galt, sondern das Mädchen, denn bei dieser gebückten, demütigen Gestalt, die es offenbar gewohnt war, von den höheren Angestellten der East India Company brüsk herumkommandiert zu werden, handelte es sich um keine andere als jene Miss Celia Glade, die kecke junge Frau, die mir in ebendiesem Büro persönlich die Dokumente übergeben hatte. Mit einem Knicks vor ihm stellte sie den Topf auf Mr. Eller-shaws Schreibtisch. Mir warf sie keinen einzigen Blick zu, aber ich wusste genau, dass sie mich erkannt hatte. Nun, bei Tageslicht, ging mir auf, dass ich ihre Anmut noch unterschätzt hatte. Sie war groß und bemerkenswert gut gebaut, und trotz ihres weichen, runden Gesichts verfügte sie über markante Wangenknochen. Sie hatte eine hohe Stirn und rote Lippen, und ihre Augen waren so schwarz wie eine unergründliche Tiefe, womit sie von der zarten Blässe ihres Gesichts abstachen, aber gleichzeitig zu der Schwärze ihres Haares passten. Nur mit größter Mühe hielt ich mich davon ab, sie anzustarren - sei es nun aus Verwirrung oder Verzückung. »Vielleicht darf Celia Ihnen etwas zu trinken bringen«, sagte Ellershaw und spuckte den Rest seines Klumpens in einen Eimer auf dem Boden. »Wünschen Sie Tee, Sir? Wir haben Tee, wie Sie sich wohl unschwer vorstellen können. Wir haben Tees, die Sie noch nie gekostet, von denen Sie noch nie gehört haben, Tees, die kaum ein Weißer außerhalb unserer Ge-sellschaft kennt. Wir haben Tees, die wir nur für unseren eigenen Gebrauch importieren, viel zu gut, um auch nur daran zu denken, sie zu verkaufen und damit ans gemeine Publikum zu vergeuden. So einen Tee würden Sie doch bestimmt gerne mal probieren?« »Nun, ganz abgeneigt wäre ich nicht«, sagte ich, aber ich wünschte mir nur, das Mädchen würde den Raum verlassen und mir damit Zeit zum Nachdenken geben. Ich hatte sie für eine Art weibliche Angestellte gehalten, aber nun erwies sie sich doch nur als eine Dienstmagd. Aber wieso hatte sie dann so genau gewusst, wo Ellershaw seine Dokumente aufbewahrte und war sogleich bereit gewesen, sie mir zu überreichen? Ellershaw jedoch ließ sich nicht beirren. »Natürlich möchten Sie Tee. Celia, bring dem Mann einen Topf von dem Grünen Tee, dem aus Japan. Ich wette, er wird sein Wohlgefallen finden. Mr. Weaver ist als Boxer berühmt, musst du wissen, aber nun ist er ein famoser Diebesjäger.« Miss Glade wurde rot und machte ganz große Augen. »Er jagt nach Diebesgut? Das ist ein schlimmes Tun. Schlimm ist das.« Sie bediente sich nicht mehr der geschliffenen Ausdrucksweise einer Frau von Bildung - wie bei unserer ersten Begegnung. Sollte ich mich so in ihr getäuscht haben? Aber ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Das Mädchen war etwas anderes, als sie zu sein vorgab, und sie wusste, dass es sich auch bei mir so verhielt. »Nein, du dummes Ding. Doch kein Diebesgut. Er jagt Diebe. Er verfolgt sie, bis er sie gestellt hat, um sie dann ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Habe ich es richtig dargestellt, Sir?« Ich nickte und wandte mich kühn der jungen Dame zu. »Allerdings ist das nur ein Aspekt meiner Tätigkeit. Ich decke auch betrügerische Machenschaften aller Art auf.« Miss Glade sah mich ausdruckslos an, was wohl die Reaktion war, die Ellershaw von ihr erwartete. »Das ist bestimmt sehr gut, Mr. Ward«, stammelte sie unterwürfig, ließ aber nicht die Gelegenheit aus, mich bei dem falschen Namen anzusprechen, den ich ihr bei meinem nächtlichen Raubzug genannt hatte. »Weaver, Dummchen«, verbesserte Ellershaw sie, »und nun bring ihm seinen Grünen Tee.« Sie knickste und verließ den Raum. Das Herz schlug mir bis zum Hals - ich war noch einmal davongekommen. Aber vor was? Ich wusste es nicht zu sagen. Aber damit konnte ich mich jetzt nicht beschäftigen. Zunächst musste ich erfahren, was Ellershaw mit mir vorhatte. Leider hatte ich keine Ahnung, ob Ellershaw nicht etwa auf Anweisung Cobbs handelte. Wenn ich nun drauf und dran war, einen Fehler zu begehen? Aber das brauchte mich nicht zu kümmern, denn da Cobb mich nicht vor einem solchen möglichen Fehler gewarnt hatte, konnte er mich dafür auch nicht zur Verantwortung ziehen. Ellershaw nippte an dem dampfenden Getränk, das das Mädchen ihm gebracht hatte. »Dies ist ein schauderhaftes Gebräu, Sir. Ausgesprochen schauderhaft. Aber ich muss es wegen meines Gebrechens zu mir nehmen, also wird keine Klage über meine Lippen dringen, obwohl es schmeckt, als hätte der Teufel höchstpersönlich es angerührt.« Er hielt mir die Kanne hin. »Versuchen Sie es, wenn Sie den Mut dazu haben.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich verzichte lieber.« »Verdammt, probieren Sie es doch mal.« Der Ton seiner Stimme passte nicht recht zu der Barschheit seiner Worte, aber mir wollte das trotzdem ganz und gar nicht gefallen, und ich hätte mich nicht so von ihm behandeln lassen, wenn ich die Freizügigkeit besäße, die er vorhin so betont hatte. »Sir, ich habe nicht den Wunsch, es zu probieren.« »Ha! Der große Weaver fürchtet sich vor einer Mischung medizinischer Heilkräuter. Was ist nur aus den Mutigen dieser Welt geworden? Wie ich sehe, ist dieser Trunk der David Ihres Goliaths. Er hat Ihnen ganz schön die Manneskraft genommen. Wo bleibt das Mädchen nur mit dem Tee?« »Sie ist doch gerade erst zur Tür hinaus«, wandte ich ein. »Ach, Sie schlagen sich schon auf die Seite der Damen, was? Sie sind ein hinterhältiger Kerl, Mr. Weaver. Ein sehr hinterhältiger Kerl, so hinterhältig, wie man es den Juden nachsagt. Wenn man die Vorhaut abschneidet, ist es, als würde man den Tiger aus seinem Käfig befreien, höre ich. Aber mir gefällt ein Mann, der es mit den Damen hält, und diese Celia ist wohl auch ein Leckerbissen ganz nach dem Geschmack der Männer, oder finden Sie nicht? Doch nun wollen wir diese Albernheiten lassen, denn Sie werden es im Craven House nicht weit bringen, wenn Sie an nichts anderes denken, als daran, einem Dienstmädchen unter die Röcke zu kriechen. Haben wir uns verstanden?« »Absolut«, pflichtete ich ihm bei. »Gut. Dann wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun wichtigeren Dingen zu. Der Gedanke ist mir jüngst erst gekommen, so dass ich ihn noch nicht eingehender habe erwägen können, aber sagen Sie mir, Mr. Weaver, ob Sie je erwogen haben, für ein bedeutendes Handelshaus zu arbeiten, anstatt sich wie bisher von Tag zu Tag als unabhängiger Ermittler durchzuschlagen und sich stets fragen zu müssen, wo die nächste Mahlzeit herkommt?« »Auf diesen Gedanken bin ich bis jetzt noch nicht gekommen.« »Es ist mir gerade erst eingefallen, aber ich frage mich doch, wie diese Papiere haben verloren gehen können. Wie Sie vielleicht wissen, hat es neulich eines Abends einen Aufstand elender Seidenweber gegeben, und meine Wachposten waren allesamt damit beschäftigt, diesen Haderlumpen Verwünschungen entgegenzuschreien. In dem ganzen Durcheinander könnte einer der Schurken hier eingedrungen sein und sie genommen haben.« Mit dieser Mutmaßung war er mir eine Spur zu nahe an der Wahrheit. »Aber was hätte man damit anfangen wollen? Ist sonst noch etwas weggekommen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich finde es auch wenig plausibel, aber ich kann mir keine andere Erklärung denken. Selbst wenn ich mich irre, ändert das wenig an der Tatsache, dass unter unseren Wächtern Dutzende von zwielichtigen Burschen sind, wir aber niemanden haben, der das Wachpersonal im Auge behält. Der Spitzbube, der einen Arbeiter beim Verlassen des Geländes darauf untersucht, ob dieser auch nichts hat mitgehen lassen, wird am nächsten Tag von ebendem überprüft, der ihn am Vorabend unter die Lupe genommen hat. Der wunde Punkt unseres Unternehmens liegt also, um es kurz zu sagen, in den Machenschaften und den Unzulänglichkeiten ebenderjenigen, die dazu abgestellt sind, es zu bewachen. Also habe ich soeben gerade den Einfall gehabt, dass Sie der richtige Mann für den Postens eines Oberaufsehers sein könnten, der diesen Burschen auf die Finger schaut und dafür sorgt, dass sie nicht auf dumme Gedanken kommen.« Mir fiel kaum etwas ein, was ich weniger gerne täte, aber ich wusste auch, dass man von mir erwartete, dass ich Eller-shaws Wünschen entgegenkam. »Ein früherer Offizier der Armee«, wandte ich ein, »wäre für diesen Posten aber doch bestimmt besser geeignet. Es stimmt schon, dass ich Erfahrungen damit habe, Diebe zu ergreifen, aber mir fehlt jede Erfahrung im Umgang mit Untergebenen.« »Das ist kaum von Bedeutung«, verwarf er meinen Einwand. »Was sagen Sie zu vierzig Pfund im Jahr für Ihre Dienste? Wie finden Sie das, Sir? Ich kann Ihnen sagen, dass dies fast die Summe ist, die wir unseren Angestellten zahlen. Vielleicht sogar ein wenig zu großzügig, aber ich weiß es besser, als mich mit einem Juden auf Feilschereien einzulassen, was ich übrigens als Kompliment an Sie und Ihresgleichen zu verstehen bitte.« »Es ist ein sehr verlockendes Angebot, und die Regelmäßigkeit der Arbeit und der Bezahlung käme mir auch sehr entgegen«, sagte ich. Ich wollte keine Entscheidung treffen, ohne vorher mit Cobb darüber gesprochen zu haben. »Doch ich muss darüber nachdenken.« »Ja, Sie wollen natürlich nichts überstürzen, aber ich hoffe auf positiven Bescheid von Ihnen. Doch nun habe ich mich lange genug mit Ihnen aufgehalten. Ich habe viel zu tun.« »Das Mädchen bringt noch den Tee«, erinnerte ich ihn. »Was? Ist das hier etwa ein Gasthaus, in dem Sie dies und jenes nach Ihrem Gutdünken bestellen können? Sir, wenn Sie hier arbeiten wollen, müssen Sie als Allererstes begreifen, dass hier Geschäfte getätigt werden.« Ich entschuldigte mich für meinen Einwand, aber Ellershaw hatte nur einen feindseligen Blick für mich übrig, also sah ich zu, dass ich hinauskam. Ich wand mich zwischen eiligen Bediensteten, Trägern, Dienstboten mit Tabletts sowie sich wichtig gebenden und in der Regel, wenn auch nicht ausnahmslos, plumpen Männern, die in ein Gespräch miteinander vertieft waren, hindurch, die sich allesamt mit solcher Entschlossenheit bewegten, als handele es sich um ein Regierungsgebäude und nicht um ein Handelshaus. Es missfiel mir und beruhigte mich gleichzeitig, dass ich Miss Glade nicht noch einmal zu Gesicht bekam, denn ich wurde aus der Dame nicht recht schlau. Sollte ich jedoch regelmäßig in diesem Haus verkehren, würde es irgendwann zu einem Gespräch mit ihr kommen müssen - das war mir klar. Sowie ich dem Craven House den Rücken gekehrt hatte, blieb mir keine andere Wahl, als mich zu Mr. Cobb zu begeben und ihm Bericht zu erstatten, was mir widerfahren war. Ich hasste den Gedanken, denn mir missfiel nichts so sehr, wie zu meinem Herrn und Meister gerannt zu kommen und ihm zu erzählen, wie ich ihm gedient hatte, und mir von ihm sagen zu lassen, was ich denn als Nächstes für ihn tun konnte. Jedoch gemahnte ich mich wiederum an das eine: Je eher ich dahinterkam, was Cobb von mir wollte, desto eher hatte ich ihn vom Hals. Allerdings verspürte ich nicht die geringste Lust, mich wieder mit seinem malträtierten und mir alles andere als wohlgesonnenen Diener abzugeben, also setzte ich mich in ein Schanklokal und schickte einen Jungen mit der Nachricht zu Cobb, dass er mich dort treffen solle. Ich fand es keineswegs zu viel verlangt, dass er sich zur Abwechslung einmal zu mir bemühen sollte, da er mich doch ansonsten als seine Marionette behandelte. Und in Wahrheit genoss ich es, ihn ein wenig herumzukommandieren, denn es war für mich wie das Zuckerbrot nach der Peitsche, und noch dazu ein Zuckerbrot, das mir half, die bittere Pille meiner Knechtschaft zu schlucken. Als ich gerade vom meinem dritten Ale saß, ging die Tür der Taverne auf, und herein kam ausgerechnet Edgar der Diener, das zerschundene Gesicht vor Wut verzerrt. Er kam auf mich zu wie ein gereizter Kampfstier und baute sich drohend vor mir auf. Zunächst sagte er nichts, sondern hob die Hand und öffnete über meinem Tisch die Faust. Sogleich kamen ungefähr zwei Dutzend winzige Papierfetzen auf mich heruntergeregnet. Ich brauchte nicht lange zu raten: Das war die Nachricht, die ich Cobb hatte zukommen lassen. »Sind Sie so ein Idiot, dass Sie uns Botschaften überbringen lassen?«, verlangte er zu wissen. Ich nahm einen der Papierfetzen und tat so, als nähme ich ihn näher in Augenschein. »Sieht fast so aus«, sagte ich. »Tun Sie das nie wieder. Wenn Sie etwas zu sagen haben, sollen Sie zu uns kommen und nicht einen Bengel aus einer Kaschemme schicken. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« »Ich fürchte nicht«, sagte ich. »Stellen Sie sich nicht dumm«, schnaubte er wütend. »Und stehlen Sie Mr. Cobb gefälligst nicht seine Zeit.« »Was stört ihn daran, wenn ich einen Jungen schicke?« »Es stört ihn, weil er es nicht gestattet hat. Nun stehen Sie auf und folgen Sie mir.« »Ich trinke erst meinen Krug aus«, versetzte ich. »Eben nicht.« Mit einer Armbewegung fegte er meinen Krug vom Tisch. Er flog gegen die Wand, wobei ein paar der anderen Gäste, die über ihre eigenen Getränke gebeugt dasaßen, mit Bier bespritzt wurden. Sie starrten mich und Edgar an. Alle starrten uns an - die Gäste, der Wirt, die allgegenwärtige Hure. Ich sprang von meinem Schemel hoch, packte Edgar beim Kragen und drückte ihn auf die Tischplatte. Dann hob ich die Faust, damit er wusste, was ihm blühte. »Ha!«, sagte er. »Sie werden mich nicht mehr schlagen. Mr. Cobb lässt es nicht zu. Die Tage, in denen Sie mich misshandeln konnten, sind gezählt. Oder wollen Sie, dass Ihre Freunde leiden müssen? Jetzt lassen Sie mich los, Sie dreckiger Lump, oder Sie sollen mich kennenlernen.« Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, dass sein Mr. Cobb mir erlaubt hatte, seinen Diener so oft zu verprügeln, wie ich wollte - ein Teil seiner Arbeitsbedingungen, die sein gütiger Herr sich vielleicht noch nicht zu erwähnen bequemt haben mochte. Aber ich unterließ es, denn ich wollte mich nicht wie ein Kind anhören, das darauf verweist, dass seine Eltern es ihm aber erlaubt hätten. Das Quäntchen Macht, das mir noch blieb, wollte ich fein hüten. Also ließ ich mir etwas anderes einfallen. »Wir stehen vor einem Problem«, flüsterte ich leise und mit einer Ruhe, die mir eigentlich fern war. »Diese Leute hier kennen mich und sie wissen, dass ich es einem Stiefellecker wie dir nie erlauben würde, so mit mir umzuspringen. Daher bleibt mir nichts übrig, als dich zu schlagen, denn sonst könnten sie argwöhnisch werden und sich fragen, warum ich mir das gefallen lasse. Verstehst du mich?« »Einen Moment«, hob er an. »Verstehst du nicht, dass es für alle Welt so aussehen muss, als wäre ich der Gleiche wie immer? Weil sonst Mr. Cobbs geheimer Plan in Gefahr gerät?« »Ja«, stieß er hervor. »Was muss ich also tun?« Edgar schluckte. »Mich schlagen«, keuchte er. Ich zögerte noch, denn einen Mann zu schlagen, der sich mir scheinbar widerstandslos auslieferte, bewies vielleicht nicht das, was ich damit erreichen wollte. Aber dann tat ich es doch - und sei es nur, um sicherzugehen. Ich versetzte Edgar zwei oder drei Hiebe an den Kopf, bis er zu benommen war, um sich auf den Beinen zu halten. Zum Schluss warf ich dem Wirt einen Silberling für seine Unannehmlichkeiten zu und machte mich auf den Weg. Wenn es Cobb als sonderbar aufstieß, dass ich ohne seinen Diener im Schlepptau eintraf, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er erwähnte auch nicht die Nachricht und den Jungen, so dass ich mich fragte, ob Edgar ihn vielleicht abgefangen hatte und mir zeigen wollte, dass auch er etwas zu sagen hätte. Aber wahrscheinlich wollte Cobb es nicht auf eine Auseinandersetzung mit mir ankommen lassen. So hatte er es bisher jedenfalls immer gehalten. Sein Neffe hingegen schien ein Mann zu sein, der sich an nichts so sehr ergötzen konnte wie an einem Missklang. Auch er war wieder zugegen und starrte mich so gehässig an, als hätte ich Schmutz von der Straße in sein Haus geschleppt. Aber er enthielt sich jeder Äußerung und jeder Geste, als ich das Zimmer betrat und schien mit der Leidenschaftslosigkeit eines Reptils meine Unterredung mit Cobb zu verfolgen. Ich trat Hammond nicht minder kühl entgegen, wandte mich Cobb zu und berichtete ihm alles, was sich bei Ellershaw zugetragen hatte. Er hätte nicht zufriedener sein können. »Alles läuft genau so, wie ich es mir erhofft hatte. Weaver, Sie leisten mir hervorragende Dienste, und ich verspreche Ihnen, dass Sie dafür belohnt werden.« »Darf ich dann davon ausgehen, dass es Ihrem Wunsch entspricht, wenn ich diese Stellung im Craven House annehme?« »Aber ja doch. Diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Sie müssen alles tun, was Ellershaw von Ihnen verlangt. Widersprechen Sie ihm nie. Trotzdem ist es sehr vorausschauend von Ihnen gewesen, sich Bedenkzeit auszubitten. Lassen Sie ihn ruhig ein bisschen zappeln. Aber in einem oder zwei Tagen müssen Sie wieder zu ihm gehen und sein Angebot annehmen.« »Warum?« »Das ist im Moment nicht so wichtig«, ließ Hammond sich vernehmen. »Sie werden es erfahren, wenn wir es für richtig halten. Im Augenblick besteht Ihre Aufgabe nur darin, dafür zu sorgen, dass Ellershaw Sie mag und Ihnen vertraut.« »Vielleicht sollten wir doch ein wenig näher darauf eingehen«, sagte Cobb. »Es wäre doch zu und zu schade, wenn Mr. Weaver eine günstige Gelegenheit verpasst, weil wir ihm den Grund für seine Anwesenheit im Craven House nicht genannt haben.« »Und ich fände es zu schade, wenn unser Plan vereitelt wird, nur weil wir zu früh darüber gesprochen haben«, widersprach ihm Hammond. Cobb schüttelte den Kopf. »Es ist weit riskanter, einem so wichtigen Mittelsmann keine Weisungen mitzugeben.« Hammond zuckte darauf nur mit den Achseln - eher verächtlich als nachdenklich. »Gut, dann soll er es meinetwegen hören.« Cobb wandte sich wieder mir zu. »Ihnen werden im Craven House zahlreiche Aufgaben zufallen, aber die wichtigste davon ist, dass Sie die Hintergründe des Todes eines Mannes namens Absalom Pepper aufdecken.« Aus irgendwelchen Gründen stimmte mich diese Eröffnung froh. Endlich befand ich mich wieder auf vertrautem Terrain. »Sehr gut«, sagte ich. »Also, was können Sie mir über ihn sagen?« »Nichts«, fauchte Hammond. »Das ist ja das Problem. Wir wissen so gut wie nichts über ihn, nur, dass die East India Company ihn hat umbringen lassen. Es ist Ihre Aufgabe herauszufinden, warum die East India Company ihn als eine solche Bedrohung empfunden hat, und, wenn möglich, die Namen derer, die das Verbrechen ausgeführt haben.« »Wenn Sie gar nicht wissen, wer er ist, warum ist es Ihnen dann so wichtig ...« »Das«, schnitt mir Hammond das Wort ab, »soll nicht Ihre Sorge sein, sondern unsere. Sie tun, was man Ihnen sagt, um damit Ihre Freunde davor zu bewahren, im Gefängnis zu verkümmern. Nun, da Sie wissen, was wir von Ihnen verlangen, hören Sie gut zu, damit Sie auch wissen, wie Sie es anzustellen haben. Sie dürfen niemandem in dieser Angelegenheit Fragen stellen - weder im Craven House noch sonst wo. Sie dürfen nicht einmal den Namen Absalom Pepper in den Mund nehmen, außer, jemand erwähnt diesen Namen ganz von sich aus. Sollten Sie diese Regeln verletzen, werde ich es erfahren, und Sie können sich darauf verlassen, dass es nicht ungestraft bleiben wird. Haben Sie das alles verstanden?« »Ich weiß nicht, wie ich irgendwas über diesen Mann herausfinden soll, wenn es mir nicht erlaubt ist, Erkundigungen anzustellen.« »Das ist Ihre Sache, und wenn Ihnen an Ihren Freunden etwas liegt, würde ich mir an Ihrer Stelle alle Mühe geben.« »Und Sie können mir nichts weiter über ihn sagen?« Hammond seufzte, als würde ich seine Geduld auf eine harte Probe stellen. »Uns ist angedeutet worden, dass die East India Company dafür gesorgt hat, dass Pepper eines späten Abends überfallen wurde, und dabei ist er vermutlich totgeschlagen worden. Oder aber er ist ertrunken, denn man hat ihn danach in die Themse geworfen und seinem Schicksal überlassen. Man hat ihn erst nach mehreren Tagen gefunden, wie es solchen Unglücklichen oft ergeht, und die Fische hatten ihm schon fast die Arme und Beine abgefressen. Nur sein Gesicht blieb einigermaßen unversehrt, so dass er identifiziert werden konnte.« »Von wem?« »Verdammt, Weaver, woher soll ich das wissen? Die wenigen Informationen, die ich habe, stammen aus abgefangenen Briefen. Mehr weiß ich nicht.« »Wo hat man ihn denn gefunden? Es muss doch eine gerichtliche Untersuchung gegeben haben.« »Sind Sie taub? Ich habe doch gesagt, dass wir nicht mehr wissen. Ich weiß weder, wo er gefunden worden ist, noch, wo er begraben liegt. Ich weiß nur, dass die East India Company ihn hat umbringen lassen und wir in Erfahrung bringen müssen, warum.« »Ich werde tun, was ich kann.« »Das rate ich Ihnen«, sagte Hammond. »Und vergessen Sie nicht, was Ihnen auferlegt ist. Wenn wir hören, dass Sie irgendwo den Namen dieses Mannes erwähnt haben, ist es mit unserem Geschäft vorbei, und Sie und Ihre Freunde können fröhlich zusammen im Kerker verrotten. Behalten Sie diese Warnung stets im Sinn. Nun los, tun Sie, was man Ihnen gesagt hat.« Ich hätte gerne gewusst, wie, aber mir blieb keine andere Wahl, also zog ich mich für den Rest des Nachmittags in meine Wohnung zurück, denn ohne einen Anhaltspunkt waren mir die Hände gebunden. Die ganze Stadt war mir fremd und bedrohlich geworden. Gegen Abend hielt ich es in der Einsamkeit meiner vier Wände nicht mehr aus und begab mich in ein Gasthaus, das koschere portugiesische Gerichte servierte. Ich hatte zwar gar keinen Hunger, wollte aber dennoch etwas essen, um bei Kräften zu bleiben und besser nachdenken zu können. In dem Gasthaus traf ich mehrere Kameraden an, die mir zuriefen, ich solle mich zu ihnen gesellen, was ich höflich, aber bestimmt ablehnte. Diese Männer kannten mich gut genug, um zu wissen, dass ich kein Kind von Traurigkeit war, es aber von Zeit zu Zeit vorzog, ungestört meinen Gedanken nachzuhängen, so dass niemand sich übertrieben bemühte, mich zum Mittrinken zu bewegen, wofür ich dankbar war. Ich hatte keine fünf Minuten an meinem Tisch gesessen, als ein Gentleman eintrat, der sogleich im Mittelpunkt des Interesses stand. Der Mann war Engländer, schlicht gekleidet und trug eine etwas affektiert wirkende, kleine Perücke auf dem Kopf und eine Ledermappe eng an sich gedrückt unter dem Arm. Er schien hier alles andere als in seinem Element zu sein, sich in Gegenwart von so vielen Juden sogar zu fürchten. Er wandte sich an den Wirt, der, um meinen Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, wissend, zögernd in meine Richtung zeigte. Der Engländer trat sogleich an meinen Tisch. »Sie sind Mr. Weaver, Sir?« Ich nickte. »Ihre Vermieterin sagte mir, Sir, dass ich Sie hier antreffen könnte.« Ich nickte wiederum. Ich mutmaßte sofort, dass der Mann gekommen war, um mich für irgendwelche Ermittlungen zu engagieren, und ich wusste, dass ich ihm seinen Wunsch leider würde abschlagen müssen, da ich ja nur für Cobb arbeiten durfte. Doch es erwies sich rasch, dass mir eine solche Absage erspart bleiben würde. »Mein Name ist Henry Bernis, Sir«, stellte sich der Unbekannte vor. »Darf ich einen Augenblick Ihrer Zeit in Anspruch nehmen?« Ich nickte, behielt aber meinen mürrischen Gesichtsausdruck bei, denn er sollte ruhig merken, dass mir an Gesellschaft nicht gelegen war. Ungefähr eine Minute lang stand Bernis nur da und schien mich zu mustern. Er reckte den Hals, um mich erst von der einen, dann von der anderen Seite zu betrachten. »Würden Sie bitte einmal für mich aufstehen, Sir?« »Was wollen Sie denn von mir?« »Nun machen Sie doch schon. Auf die Füße. Dann wollen wir Sie uns mal ansehen.« Ich weiß auch nicht, warum ich gehorchte, aber ich war irgendwie neugierig, also erhob ich mich. Er bat darum, dass ich mich umdrehe, doch das verweigerte ich ihm. »Ich werde Ihnen hier nichts vortanzen«, sagte ich. »Himmel, nein. Sie sollen doch nicht tanzen. Nichts dergleichen. Keine Kapriolen und Hüpfereien. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie gesund sind. Man muss ja schließlich sein Kapital schützen. Darf ich einmal Ihre Zähne sehen?« »Sie haben mich ja noch gar nicht engagiert«, wies ich ihn zurecht. »Und mir auch nicht gesagt, was Sie von mir wollen. Ich bin Ermittler, Sir, kein Pferd. Und ich werde mich auch nicht als solches hergeben, selbst wenn der König auf mir reiten wollte.« »Sie engagieren? Um Himmels willen. Wozu sollte ich Sie engagieren? Was soll ich mit einem Ermittler?« Ich setzte mich wieder. »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, aber Sie fangen an, mir auf die Nerven zu gehen, Mr. Ber-nis, und wenn Sie sich nicht klarer ausdrücken, werden Sie selber bald einen Arzt brauchen, der Ihre Knochen wieder zusammenflickt.« »Bitte, keine Drohungen«, sagte er. »Ich hasse das. Und bitte keinerlei Art von Gewaltanwendung. Sooft Sie zu Gewalt greifen, riskieren Sie Ihre eigene Sicherheit, und das darf nicht geschehen. Sie müssen sich vor allem Schaden schützen, Sir. Ich bitte Sie darum.« »Zum Teufel, was wollen Sie denn nun eigentlich?« »Sie können mich mit Flüchen nicht erschrecken, Sir. Fluchen gefährdet weder Ihre noch meine Sicherheit, und wenn man fürs Fluchen in die Hölle kommt, sei's drum. Was mit Ihnen in Ihrem nächsten Leben geschieht, geht mich nichts an. Mir ist nur an Ihrem Wohlergehen in diesem Leben gelegen. Ich hoffe doch, Sie sind jüngst nicht etwa krank gewesen?« »Nein, aber ...« »Irgendwelche früheren Verletzungen, die bis heute nachwirken? Mir ist bekannt, dass Sie sich im Boxring mal ein Bein gebrochen haben, aber das ist Jahre her. Haben Sie seitdem noch andere Brüche erlitten?« »Nein, und ich glaube auch nicht .« »Sie planen doch wohl keine Auslandsreise?« »Nein, und das ist die letzte Frage, die ich beantworte, solange Sie mir nicht sagen, was Sie von mir wollen.« »Ich möchte mich nur Ihres guten Gesundheitszustandes vergewissern.« »Wozu?« »Ach, Sie müssen entschuldigen. Habe ich es nicht erwähnt? Ich arbeite für das Seahawk-Versicherungsbüro. Ich stelle lediglich sicher, dass wir keinen Fehler gemacht haben.« »Versicherung? Was erzählen Sie mir da?« »Niemand hat so recht gemerkt, dass es passierte - zu viele Angestellte, die nicht miteinander reden -, aber es sieht so aus, als hätten wir in den letzten Tagen eine Reihe Versicherungspolicen auf Ihren Namen abgeschlossen. Wir wollten uns lediglich vergewissern, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Aber ich muss schon sagen, dass Sie sich einer bemerkenswert robusten Gesundheit erfreuen.« »Was für Policen sind das?«, verlangte ich zu wissen. Mr. Bernis zog das ganze Gesicht in Falten. »Lebensversicherungen natürlich.« Ich kannte mich mit Versicherungen ganz gut aus, denn mein Onkel hatte oft welche für seine Schiffsladungen abgeschlossen. Von Lebensversicherungen hatte ich weniger Ahnung, doch einiges darüber gehört. Ich wusste, dass es sich um eine Art Glücksspiel handelte, bei dem man auf die Langlebigkeit einer berühmten Person, etwa des Papstes, eines Generals oder eines Königs setzte. Ich wusste ferner, das man damit sein Kapital schützen konnte. Wenn zum Beispiel ein Kauf-mann einen seiner Angestellten als seinen Agenten ins Ausland schickte und dieser Angestellte ganz besondere Fähigkeiten besaß, konnte man sein Leben versichern, so dass dem Kaufmann, falls sein Geschäftsträger ums Leben käme oder von türkischen Freibeutern entführt werden sollte, sein Verlust ersetzt würde. Aber ich konnte mir kaum vorstellen, warum jemand sich gegen meinen Tod versichern sollte. »Wer hat die Versicherungen abgeschlossen?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Ehrlich gesagt, ich weiß es selber nicht, und wenn ich es wüsste, dürfte ich es Ihnen nicht verraten. Ich wollte mich nur Ihrer Gesundheit vergewissern, mit der mir alles in Ordnung zu sein scheint. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.« »Warten Sie einen Moment. Wollen Sie andeuten, dass es jemanden, ja vielleicht sogar mehrere Personen gibt, die Geld in eine Versicherung einbezahlt haben und einen Gewinn zu machen hoffen, wenn mir etwas zustößt?« »Um Himmels willen, nein. Nichts dergleichen. Niemand würde in der Hoffnung, dass Sie bald sterben, eine Versicherung abschließen. Das wäre ja ungeheuerlich, Sir. In höchstem Maße ungeheuerlich. Nein, unsere Klienten haben eine Versicherung abgeschlossen, die sie im Falle Ihres Todes vor Verlusten bewahrt. Hier handelt es sich nicht um eine Art Wette, Sir, sondern um die Absicherung von Kapital.« Als ich sein gekünsteltes Lächeln sah, wusste ich, dass er sich verplappert hatte. Ich hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Wie viele solcher Policen gibt es?« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht fünf oder sechs.« »Und wer ist der Begünstigte?« »Wie ich schon sagte, weiß ich es nicht. In jedem Fall ist mir zu verstehen gegeben worden, dass die Inhaber der Policen anonym zu bleiben wünschen. Das respektiere ich, und ich denke, Sie sollten es ebenso halten.« »Ich gedenke es so zu halten, dass ich Ihrem Büro demnächst mal einen Besuch abstatten werde.« »Ich finde nicht, dass Sie damit Ihre Zeit vergeuden sollten. Es ist alles vollkommen legal, und Sie werden feststellen, dass es nicht unsere Politik ist, solche Informationen zu offenbaren.« »Wollen Sie damit sagen, dass irgendwer eine Versicherung auf den Kopf eines anderen abschließen kann und der Betroffene von demjenigen nicht einmal verlangen kann, ihm Rede und Antwort zu stehen? Das ist ja teuflisch.« »Wie kann es denn teuflisch sein, wenn es doch vollkommen mit den Gesetzen in Einklang steht?« Seine Frage war so absurd, dass mir keine Antwort darauf einfiel. 9 A.m nächsten Vormittag begab ich mich wieder ins Craven House, wo ich zu meiner Enttäuschung feststellte, dass Mr. Ellershaw bereits drei Gentlemen zu Besuch hatte. Nichtsdestotrotz winkte er mich herein. Seine Gäste waren in feinstem Zwirn ausstaffiert - weite Mäntel mit breiten, reich mit Stickereien verzierten Ärmelaufschlägen, goldener Faden bei dem einen, silberner bei dem zweiten, beide Farben bei dem dritten. Alle drei befühlten Muster von feinster indischer Seide, die sie einander gegenseitig zureichten und ausführlich kommentierten. Ellershaw stellte mich den drei Männern vor, in denen ich Persönlichkeiten aus der Welt der Schönen und Reichen Londons erkannte. Der eine war der Sohn eines Grafen, der zweite der eines vermögenden Grundbesitzers aus Sussex und der dritte ein junger Herzog. Sie schenkten mir keinerlei Beachtung, auch nicht, als Ellershaw auf die Bilder an den Wänden hinwies und den beachtenswerten Umstand anmerkte, dass ich auf den Drucken zu sehen war und mich gleichzeitig in voller Lebensgröße in seinem Büro aufhielt. Aber das interessierte die Männer überhaupt nicht - sie vertieften sich weiterhin mit der Akribie eines Putzmachers in die Betrachtung der Stoffproben. »Sehr fein gewirkt«, lobte der junge Herzog. »Ich möchte mich sehr für das Geschenk bedanken, Mr. Ellershaw, doch was versprechen Sie sich davon? Dass wir diesen Stoff tragen, wird nichts am Stand der Dinge ändern.« »Ich möchte einen Versuch wagen, Sir. Ich möchte, dass Sie drei sich in diesen neuen Stoff gekleidet in der Öffentlichkeit zeigen und es jeden wissen lassen, dass Sie sich darin wohlfühlen. Auf diese Weise hoffe ich eine Nachfrage nach diesem Tuch zu erzeugen, die es uns ermöglicht, noch vor Weihnachten unsere Lagerbestände abzuverkaufen.« »Ein geschickter Zug«, bemerkte der Herzog. »Die beau monde soll einen Batzen Geld für etwas ausgeben, was sie nur noch einen Monat lang tragen kann. Ja, sehr geschickt, das muss man Ihnen lassen.« Der Sohn des Grafen lachte. »Ich werde meinem Schneider sagen, dass er sich gleich ans Werk machen soll, und gegen Ende der Woche werde ich diesen Stoff tragen.« Das Trio beglückwünschte sich gegenseitig und verließ dann unter Beifallsbekundungen den Raum. Ellershaw trat an seinen Schreibtisch, wo er einen seiner braunen Klumpen aus der Schüssel nahm und ihn zerbiss. »Das, Weaver, ist es, was ich die Heilige Dreifaltigkeit nenne.« Er lachte über seinen eigenen Witz. »Diese eitlen Gecken bräuchten sich nur in das Bärenfell der amerikanischen Ureinwohner gekleidet in der Öffentlichkeit zu zeigen, und innerhalb von drei Tagen gäbe es in London keinen einzigen Gentleman mehr, der nicht in einem Bärenfell herumliefe. Ich habe auch eine Gruppe Ladys an der Hand, die ich mir auf ähnliche Weise zu Nutze mache. Ich muss Ihnen gratulieren, Weaver. Sie sind keine zehn Minuten in meinen Diensten und haben schon das Geheimnis des Handels mit indischen Stoffen kennengelernt - dass man seine Ware verschenken muss, damit ein paar modebewusste Herrschaften, denen ein jeder gerne nacheifert, eine bestimmte Vorliebe auslösen. Über diesen neuen Kleidungsstil wird in den Tageszeitungen und den monatlichen Gazetten berichtet werden, bald wird die Woge auch in die Provinzen überschwappen, und dann wird man sich um unsere Ware reißen. Sie werden uns anflehen, anflehen, sage ich, ihnen unseren Stoff zu verkaufen - zu jedem Preis, den wir nennen.« »Klingt vortrefflich«, pflichtete ich ihm bei. »So läuft das Geschäft in der heutigen Welt. Sie sind ja selber noch ein ziemlich junger Mann, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Als Sie geboren wurden, haben die Männer noch ihr eigenes Bier gebraut und die Frauen noch ihr eigenes Brot gebacken und die Kleider für ihre Familien genäht. Aber Bedarf weckte Nachfrage. Heutzutage kauft man all diese Dinge, und nur der letzte Hinterwäldler käme noch auf die Idee, selber zu backen oder zu brauen. Dank meiner Rührigkeit ist es nun nicht mehr Bedarf, sondern Habgier, die den Handel in Schwung bringt. In meiner Jugendzeit hat so mancher noch gemordet, um genügend Silber für den Unterhalt seiner Familie zu ergattern. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt von so etwas gehört habe, aber es vergeht keine Woche, in der man nicht über einen hinterhältigen Raub liest, nur weil jemand Geld für ein neues Kleid oder ein Schmuckstück oder einen modischen Hut oder eine modische Haube für die Lady braucht.« Ich beglückwünschte ihn zu der Rolle, die er darin gespielt hatte, einen solchen Fortschritt in die Wege zu leiten. »Ja, der größte Fortschritt, den die Welt je gesehen hat, ist das Gedeihen von Industrie und Reichtum. Und dieses Wachstum kennt keine Grenzen, denn auch für das, was wir Engländer vollbringen können, gibt es keine Grenze. Und das trifft wohl auch auf Sie zu.« Voller guter Worte füreinander nahmen wir Platz. Um nicht in den Verdacht der Selbstverliebtheit zu geraten, vermied ich es, allzu oft einen Blick auf die Bilder an den Wänden zu werfen, die mich und meine Taten priesen. Trotzdem ist es ein sonderbares Gefühl, sich auf diese Weise glorifiziert zu sehen, und wenn ich mich auch geschmeichelt fühlte, war es mir doch gleichzeitig in zunehmendem Maße unangenehm. »So, Weaver, Sie haben sich also entschieden, zu unserer Bruderschaft hier im Craven House zu stoßen, der Ehrenwerten Gesellschaft zu dienen, als die wir uns betrachten«, sagte Ellershaw und kaute wieder zufrieden auf einem dieser merkwürdigen Klumpen herum. »Genau das Richtige für Sie. Eine einmalige Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Für uns beide, glaube ich. Wissen Sie, ich sitze dem Unterkomitee vor, das für den Warenbestand verantwortlich ist, und ich schätze, ich werde die Zustimmung der Versammlung der Anteilseigner erhalten, wenn ich diese darüber in Kenntnis setze, dass ich Sie mit an Bord geholt habe. So, nun wollen wir uns einmal alles ansehen.« Er führte mich den Flur hinunter und in eine kleine, fensterlose Kammer, in der ein junger Mann über einen Stapel Papiere gebeugt an seinem Schreibtisch saß und etwas in einem dicken Hauptbuch notierte. Er war höchstens Anfang zwanzig, wirkte aber sehr beflissen und runzelte in seinem Eifer die Stirn. Mir fiel gleich sein zierlicher Körperbau mit den herunterhängenden Schultern und den eigentümlich dünnen Handgelenken auf. Er hatte dunkle Ränder unter seinen blutunterlaufenen Augen. »Als Erstes muss ich Sie mit Mr. Blackburn bekanntmachen«, sagte Ellershaw, »damit er später nicht Erklärungen von mir verlangt. Nein, ich möchte Sie nicht im Ungewissen belassen, Mr. Blackburn.« Der junge Mann betrachtete mich eingehend. Sein Gesicht war finsterer, als es zunächst den Anschein gehabt hatte; er hatte fast raubtierähnliche Züge, ein Eindruck, der durch seine heftig gekrümmte Habichtsnase noch verstärkt wurde. Ich fragte mich, welche Anstrengung seine Tätigkeit ihm abverlangte, denn er wirkte so abgezehrt wie ein Mann von doppelt so viel Jahren. »Ungewissheit führt zu drei Dingen«, sagte er und hielt die Finger in die Höhe. »Erstens Ineffektivität. Zweitens Unordnung. Und drittens geschmälerten Profit.« Bei jedem Punkt drückte er die Fingerkuppen seiner rechten Hand mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner linken. »Ich schätze Ungewissheit nicht.« »Das weiß ich, also bemühe ich mich stets darum, dass Sie über alles im Bilde sind. Dies ist Mr. Weaver. Er wird für mich arbeiten und die Aufsicht über das Wachpersonal auf dem Gelände übernehmen.« Blackburn errötete ein wenig. Zuerst dachte ich, es wäre ihm aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen peinlich, merkte aber rasch, dass es ein Anzeichen von Zorn war. »Für Sie arbeiten?«, fragte er. »Jetzt? Wie können Sie jetzt jemanden neu einstellen? Die Anteilseignerversammlung hat keinen solchen Posten genehmigt, und ohne ihr Einverständnis kann keine neue Kostenstelle geschaffen werden. Das begreife ich nicht, Sir. Es ist ein höchst ungewöhnlicher Vorgang, und ich weiß nicht, wie ich ihn in den Lohnlisten verbuchen soll.« »Ungewöhnlich, das stimmt«, gab Ellershaw ihm mit besänftigender Stimme recht. »Und weil die Anteilseigner noch nicht darüber entschieden haben, wird Mr. Weaver bis auf Weiteres seine Bezahlung von mir erhalten.« »Seine Bezahlung von Ihnen erhalten?«, entrüstete sich Blackburn. »Es gibt bei der East India Company keine Angestellten, die von anderen Angestellten bezahlt werden. So etwas habe ich ja noch nie gehört. Ist das eine neue Art der Lohnbuchhaltung? Soll ich ein eigenes Buch für ihn anlegen, Sir? Eigens für ihn? Sollen wir bei jeder Schrulle eines höheren Angestellten die gesamte Buchführung auf den Kopf stellen?« »Ich hatte vorgehabt«, setzte sich Ellershaw zu Wehr, »Mr. Weaver in den Büchern gänzlich unerwähnt zu lassen.« Mir fiel auf, mit welch ruhiger Stimme Ellershaw sprach, da Black-burn doch offensichtlich sein Untergebener war und er sich dennoch von ihm ins Gebet nehmen lassen musste. Blackburn schüttelte den Kopf und hielt zwei Finger in die Höhe. »Zwei Dinge, Sir. Zunächst bleibt niemand in den Büchern unerwähnt.« Er tippte auf die in schweres, schwarzes Leder eingebundenen Wälzer im Folioformat. »Jeder taucht in den Büchern auf. Sowie wir erst einmal damit anfangen, Ausnahmen zu machen und die Vorschriften nach unserem Gutdünken zu beugen, sind diese Bücher für die Katz, und meine Arbeit ist nichts mehr wert.« »Mr. Blackburn, Sie können sich entweder die Zeit nehmen, Mr. Weavers ausgefallene Position als die meines persönlichen Angestellten in Ihre Annalen mit aufzunehmen oder sich mit der Tatsache abfinden, dass er sich außerhalb Ihrer Zuständigkeit befindet. In diesem Falle können Sie ihn guten Gewissens ignorieren, wie Sie es mit meinem Lakaien oder meinem Koch täten. Wie wollen Sie sich entscheiden?« Der Angestellte schien sich seiner Sache nicht mehr ganz so sicher zu sein. »Ihr Diener, sagen Sie? Ihr Koch?« »Genau. Er hilft mir, meine Arbeit effizienter zu erledigen, und daher ist es meine Entscheidung gewesen, ihn einzustellen, und es ist auch mein Wunsch, ihn von meinem eigenen Geld zu bezahlen. Sie brauchen ihn überhaupt nicht in die Bücher zu nehmen.« Blackburn gab Ellershaw mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen, dass er einverstanden war. »Sehr gut, Blackburn, sehr gut«, sagte Ellershaw. »Aber eine Sache noch. Es wäre mir angenehm, wenn Sie mit niemandem über die Angelegenheit sprechen würden. Wenn jemand Sie fragt, sagen Sie einfach, alles hätte seine Ordnung. Ich denke, die Meisten werden sich mit dieser Antwort zufriedengeben, weil sie keine Lust verspüren, sich mit Zahlen und Kolumnen auseinanderzusetzen, von denen sie keine Ahnung haben. Können Sie es also für sich behalten?« »Selbstverständlich«, sagte Blackburn. »Auch ich habe kein Interesse daran, diese Unregelmäßigkeit in die Welt hinauszu-posaunen.« An mich gewandt fügte er hinzu: »Sie stören die Ordnung hier, Mr. Weaver, und Unordnung kann ich nicht ausstehen. Ich schätze es, wenn alles seinen regulären Gang geht und Rechnungen am Ende aufgehen. Ich hoffe sehr, dass Sie hier keine Unordnung hereintragen.« »Das hatte ich ursprünglich vor«, sagte ich, »aber wenn Sie mich so nett bitten, will ich davon Abstand nehmen.« Als wir das Büro von Mr. Blackburn verließen, wären wir auf dem Gang beinahe mit einem hochgewachsenen Gentleman zusammengestoßen, der auf uns gewartet zu haben schien. »Ah, Forester, das trifft sich gut«, sagte Ellershaw und legte ihm die Hand auf den Arm. »Darf ich Sie mit Mr. Weaver bekanntmachen? Er wird mich bei meiner Arbeit unterstützen.« Der Blick aus Foresters blassblauen Augen streifte über Eller-shaws Hand an seinem Arm, bevor er ihn auf mich richtete. Es hätte kaum deutlicher zu Tage treten können, dass Ellershaw ihm ziemlich gleichgültig war, aber das leicht dümmliche Grinsen meines neuen Arbeitgebers verriet mir, dass er von dieser Animosität noch nichts bemerkt hatte. Forester nickte. »Das ist gut, denn die Lagerbestände bedürfen einer genaueren Kontrolle.« »Natürlich, natürlich. Denken Sie sich also nichts dabei, wenn Sie Mr. Weaver hier auf dem Gelände sehen. Er ist ein guter Freund von mir. Alles ist so, wie es sein sollte.« Aus irgendeinem Grund veranlassten diese Worte Forester, mich scharf anzusehen. »Ein guter Freund?« »Gewiss, gewiss. Kein Grund zur Sorge«, sagte Ellershaw, und dann, an mich gewandt: »Mr. Forester ist erst jüngst als Assistent ins Direktorium gekommen. Für ihn ist alles noch neu. Aber sein Vater, ahem, Hugh Forester, der war ein bedeutender Mann in den Diensten der Ehrenwerten Gesellschaft. Er hat sowohl in Indien als auch in London großartige Arbeit geleistet. Sein Sohn wird einiges zu tun haben, um in seine Fußstapfen zu treten, fürchte ich.« Bei diesen Worten zwin-kerte er mir zu - ohne sich auch nur die geringste Mühe zu geben, dies vor Forester zu verbergen. Forester ging seiner Wege, aber Ellershaw blieb stehen. Er hatte immer noch das dämliche Grinsen eines jungen Galans im Gesicht, der gerade charmante Nettigkeiten mit der Dame seines Herzens ausgetauscht hat. »Ich mag diesen jungen Mann«, sagte er schließlich zu mir. »Sehr sogar. Ich glaube, mit meiner Hilfe wird er es weit bringen.« Es überraschte mich, dass er so große Stücke auf Forester hielt. Forester hatte sich, höflich ausgedrückt, Ellershaw gegenüber indifferent gezeigt. Wie konnte Ellershaw die Verachtung entgehen, mit der dieser junge Mann ihn betrachtete? Weil mir nichts Tiefgründigeres einfiel, bemerkte ich, dass Ellershaw die Charaktere der Männer, mit denen er zusammenarbeitete, bestimmt sehr gut kenne. »Ja, das kann man wohl sagen. Ich pflege gerne Kontakte zu meinen Kollegen, und zwar sowohl bei der Arbeit als auch privat. Übrigens habe ich heute in vier Tagen Gäste zu mir eingeladen. Ich würde mich freuen, wenn Sie so gut wären, sich uns anzuschließen.« Ich hätte nicht verblüffter sein können. Ich war Ellershaws Untergebener, hatte gerade erst für ihn zu arbeiten begonnen, und schon lud er mich zu sich nach Hause ein. Ich argwöhnte, dass er diese unerwartete Einladung nur ausgesprochen hatte, weil er mich seinen Freunden vorführen wollte - wie etwas, was seine Gäste bestaunen sollten. Und doch konnte ich der Einladung schlecht aus dem Wege gehen, denn das hätte gegen Cobbs Anweisungen verstoßen. Außerdem hatte ich Blut geleckt. Ellershaw war das typische Beispiel für einen wenig liebenswerten Mann und trotz seiner hohen Stellung irgendwie faszinierend in seiner Unbedarftheit. Er wollte mich vorführen, und das Gleiche hätte ich gerne mit ihm gemacht. »Zu viel der Ehre«, sagte ich. »Unsinn. Sie werden kommen.« Ich verbeugte mich und sagte, dass es mich sehr freue, und indem ich das tat, setzte ich eine der wichtigsten Wendungen in dieser Geschichte in Gang. Als Nächstes führte Ellershaw mich die Treppe hinunter und zu der Hintertür, durch die ich bei meinem ersten Besuch im Craven House eingedrungen war. Bei Tageslicht betrachtet kam einem das Gelände der East India Company fast wie eine eigene kleine Stadt oder wie einer ihrer Außenposten in Indien vor. Drei oder vier große Gebäude - umgebaute Wohnhäuser, wie ich erfahren sollte - ragten in die Höhe. Von außen sah man ihnen die Veränderung, die seit ihrer Übernahme durch die East India Company mit ihnen einhergegangen war, kaum an, aber in ihrem Inneren hatten sie jegliche Wohnlichkeit verloren. So waren die Fenster in der unteren Etage zugemauert - einerseits eine Sicherheitsmaßnahme, andererseits eine Möglichkeit, der Glassteuer zu entgehen. In diesen Häusern wohnte niemand mehr, und doch wimmelte es in ihnen wie in einem Haufen exotischer Riesenameisen. Träger mit oder ohne Karren, die Waren von den Docks unten am Fluss holten oder brachten, gingen ein und aus. Die Luft war erfüllt von Ächzen, Rufen und geschrienen Befehlen, dem Quietschen von Rädern, dem Knarzen der hölzernen Wagen. Aus den Schornsteinen stieg Rauch empor, und von irgendwo nicht zu weit her hörte ich auch das metallische Hämmern eines Schmiedes bei der Arbeit, der vermutlich eine bis zum Bruch geschundene Achse wieder herrichtete. Und dann waren da natürlich die Wachposten. Man konnte sie von den Arbeitern unterscheiden, weil sie nichts in den Händen hielten und es auch nicht eilig hatten, irgendwohin zu kommen. Sie schlenderten nur auf dem Gelände umher und sahen gleichzeitig argwöhnisch und gelangweilt aus. Ab und zu hielten sie einen Wagen an, um dessen Inhalt zu überprüfen. Ich beobachtete, wie einer der Wächter von einem Kut-scher ein Ladepapier verlangte, aber daran, wie er es dann hielt, konnte man deutlich sehen, dass er gar nicht lesen konnte. Ellershaw ging mit mir zu dem größten der Gebäude. Es befand sich in der Mitte des Geländes, genau dem Tor gegenüber. Die Wagen fuhren alle um den Schuppen herum zu dessen Rückseite, wo ich eine Rampe zum Be- und Entladen vermutete. Die Vorderfront ließ den Betrachter sich in der Illusion wiegen, es handele sich um ein Wohngebäude, aber diese Illusion wurde sofort zerstört, sowie man das Haus betrat. Es war innen entkernt worden; nur die Stützmauern waren erhalten geblieben, damit das obere Stockwerk nicht auf das untere stürzte. Hier gab es jede Menge Kisten und Kästen und Fässer - so ähnlich wie in dem Lagerhaus meines Onkels, wo es auch so lebhaft wie hier zugegangen war, bevor mit Mr. Cobb das Unheil über uns hereinbrach. »Bewegt mal eure Ärsche«, rief hinter uns ein Mann und zwängte sich mit einer Ladung Kartons, die er drei oder vier Köpfe höher als der Hut auf seinem Haupt gestapelt trug, zwischen Mr. Ellershaw und mir hindurch. Falls ihm aufgefallen war, wen er so pöbelhaft angesprochen hatte, zeigte er jedenfalls keine Neigung, sich zu entschuldigen. »Du da«, rief Ellershaw einem beleibten Burschen mit dicken Wülsten über den Augen zu, der sich an die Mauer lehnte und faul dem Treiben zusah. »Wie ist dein Name, du träge Missgeburt?« Der Mann blickte auf, als bereite es ihm schon Schmerzen, auch nur den Kopf zu heben. Er war noch nicht richtig alt, aber auch nicht mehr der Jüngste, und er blickte drein wie jemand, der sein Leben lang im Dienste einer Sache gearbeitet hatte, an der ihm überhaupt nichts lag. »Carmichael, Sir.« »Sehr schön, Carmichael. Und du überwachst hier alles?« »Das tue ich, Sir. Stets zu Ihren Diensten.« Er machte eine zögerliche Verbeugung. Ihm war nicht entgangen, dass er mit jemandem sprach, der hier etwas zu sagen hatte. »Ich bin ganz zu Ihren Diensten und hier der Wächter, wie Eure Lordschaft schon selber festgestellt haben.« »Ja, ja, ist schon gut. Nun ruf deine Kameraden zusammen. Ich habe ihnen etwas zu sagen.« »Meine Kameraden? Verzeiht, Eure Lordschaft, aber ich verstehe nicht, was Eure Lordschaft meinen.« »Was ich meine«, sagte Ellershaw, »ist, dass du deine Kameraden, die übrigen Wachmänner, zusammenrufen sollst. Geh und hole sie. Ich will, dass sie alle zusammenkommen.« »Was Eure Lordschaft meinen, habe ich schon verstanden, aber wie Eure Lordschaft das meinen, bin ich mir nicht sicher. Wie soll ich denn meine Kameraden zusammenrufen?« »Woher zum Teufel soll ich das denn wissen? Wie machst du das denn sonst?« »Verzeiht, Eure Lordschaft, aber das tue ich nicht. Niemand tut das. Ich wüsste auch nicht, wie.« »Mr. Carmichael«, ergriff ich das Wort, »wollen Sie damit sagen, dass Sie keine Möglichkeit haben, die verschiedenen auf dem Gelände verteilten Wachmänner zusammenzutrommeln?« »Es ist, wie Eure Lordschaft das sagen«, lautete die Antwort. »Wie werden denn dann Befehle und Informationen weitergegeben?«, bohrte ich nach. »Einer sagt's dem anderen. So, wie das immer schon gemacht worden ist.« »Das gibt ja ein schwaches Bild ab«, sagte ich mit ernster Miene zu Ellershaw und schlüpfte damit voll und ganz in die Rolle, die ich nach Cobbs Willen spielen sollte. »Ein äußerst schwaches Bild. Der Mangel an Organisation ist ja katastrophal. Jetzt grast du das ganze Gelände ab und rufst alle Wachmänner, die du findest, hierher zusammen«, sagte ich zu Car-michael. Dieser machte eine so tiefe Verbeugung, dass er mit seinem fetten Bauch fast vornüberfiel und schlurfte hinaus. Während wir warteten, lobte mich Mr. Ellershaw dafür, wie ich mit dem Burschen umgesprungen war und bat mich dann darum, ihn mit ein paar Geschichten aus meiner Zeit im Ring zu erfreuen. Das tat ich gern, und nach ungefähr einer Viertelstunde war eine genügende Anzahl von Männern zusammengekommen, so dass Ellershaw seine Ankündigung machen konnte. Ich zählte die Köpfe. An die zwei Dutzend. »Wie viele Wachleute arbeiten gleichzeitig? Wie viele fehlen?«, fragte ich ihn. »Ich habe keine Ahnung.« Also stellte ich die Frage der versammelten Mannschaft, aber sie wussten es ebenso wenig wie Mr. Ellershaw, der nun das Wort ergriff. »Wachmänner«, rief er, »ihr habt eurem Namen nicht gerade Ehre gemacht, denn mir ist etwas Wichtiges abhandengekommen, und das kann ich nicht dulden. Ich habe mich daher entschlossen, euch unter die Aufsicht eines Mannes zu stellen, der euer Kommen und Gehen und eure Pflichten organisiert. Mit der Faulenzerei auf Kosten der East India Company ist ab heute Schluss, das kann ich euch versprechen. Als euren Aufseher habe ich den berühmten Faustkämpfer Benjamin Weaver eingestellt, der keinerlei Schurkenstreiche durchgehen lassen wird. Er wird nun zu euch sprechen.« Ein Raunen ging durch die Reihen, und mein erster Gedanke war, dass sie gar nicht wussten, was ein Aufseher war, doch ich merkte schnell, dass ich mich getäuscht hatte. »Verzeiht, Eure Lordschaft«, sagte Carmichael, der zaghaft einen Schritt vorgetreten war. »Aber Ihr wisst vielleicht nicht, dass wir schon einen Aufseher haben.« Ellershaw sah die Männer verständnislos an, bis, wie als Antwort auf eine Frage, die er nicht zu stellen gewagt hatte, ein weiterer Mann vortrat, und was für einer. Er maß über sechs Fuß, hatte einen gewaltigen Bizeps und ein sehr entschlossenes Auftreten. Er war dunkelhäutig, fast so dunkelhäutig wie ein Afrikaner, aber gekleidet wie ein englischer Arbeiter bei schlech-tem Wetter - raue Wollsachen, ein schwerer Übermantel und ein Tuch um den Hals. Sein Gesicht jedoch war das Beeindruckendste an ihm. Er hatte eine gewaltige, flache Nase, kleine, stechende Augen und einen breiten, höhnisch verzogenen Mund, was aber alles nicht von seinen mannigfachen Narben ablenken konnte. Er sah aus, als wäre er aufs Gesicht gepeitscht worden. Die Wangen, die Haut um die Augen herum, selbst die Oberlippe - alles war voller tiefer Krater und Spalten unbekannter Herkunft. Auf der Straße hätte ich mich gefragt, was für ein Landsmann er wohl sei, aber hier, an diesem Ort, gab es keinen Zweifel. Der Mann stammte aus Indien. »Was dies?«, verlangte er zu wissen, indem er stolz vortrat. »Oberaufseher für Warenlager? Ich Oberaufseher von Warenlager.« »Und wer zum Teufel bist du?«, fragte ihn Ellershaw. »Wie der Teufel siehst du mir nämlich aus.« »Ich Aadil. Ich Oberaufseher von Warenlager.« »Das ist Aadil«, meldete sich Carmichael zu Wort. »Er ist der Oberaufseher des Warenlagers, den wir schon haben. Wofür brauchen wir denn noch einen?« »Oberaufseher des Warenlagers?«, kläffte Ellershaw. »So etwas gibt es hier nicht.« »Ich Oberaufseher von Warenlager«, betonte Aadil noch einmal und schlug sich mit der Pranke auf seine kräftige Brust. »Wie kommt es, dass ich nie etwas davon gehört habe?«, verlangte Ellershaw zu wissen. Eine berechtigte Frage, vor allem, da er doch dem Unterkomitee für die Warenbestände vorsaß. Da niemand eine Antwort parat hatte, ging Ellershaw davon aus, dass die Runde an ihn gegangen war. »Da haben wir es also«, sagte er. »Du bist schuld.« Er pochte dem Inder mit dem Finger auf die Brust. »Du hast deine Arbeit schlecht gemacht, und daher degradiere ich dich, Bursche. Du bist wieder ein einfacher Wachmann. Weaver hier ist der neue Oberaufseher.« Aadil sah uns beide wütend an, sagte aber nichts. Er schien seinen Gesichtsverlust mit der stoischen Gelassenheit des Orientalen hinunterzuschlucken. Zumindest hoffte ich, dass es so war, denn dem Burschen mochte man nicht im Dunkeln begegnen, und ich hatte keine Lust, einen rachsüchtigen Barbaren unter meinen Untergebenen zu wissen. »Da das nun erledigt wäre«, sagte Ellershaw zu mir, »ist es vielleicht das Beste, wenn Sie ein paar Worte an Ihre Männer richten.« Ich wandte mich der Versammlung zu, hatte aber keine Ahnung, was ich zu den Wachposten sagen sollte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich eine Rede ans Volk hätte vorbereiten müssen, also blieb mir nichts anderes übrig, als das Beste aus der Situation zu machen. »Männer«, hob ich an, »es sind in der Vergangenheit Fehler vorgekommen. So viel ist klar. Aber man hat euch eine schwierige Aufgabe zugeteilt, und der Mangel an Organisation hat sie euch auch alles andere als leichter gemacht, doch das wird sich nun ändern. Ich bin nicht hier, um euch zu piesacken, sondern um euch eure Pflichten verständlicher zu machen. Ich hoffe, euch in Kürze mehr dazu sagen zu können, doch bis dahin vertraue ich darauf, dass ihr eurer Arbeit so gut wie möglich nachgeht.« Weil ich nicht wusste, was ich noch sagen sollte, trat ich einen Schritt zurück. Mr. Ellershaw schien auch nichts Besseres einzufallen, und wir standen eine Weile verlegen da. Dann beugte sich einer der Männer nach links und flüsterte etwas in Carmichaels Ohr, worauf dieser viel zu laut und schrill zu kichern anfing. Ellershaw lief auf der Stelle puterrot an und zeigte mit seinem Gehstock auf den lachenden Mann. »Du da«, polterte er. »Tritt vor.« »Verzeiht, Eure Lordschaft«, stammelte Carmichael nervös. Ihm schien bewusst, dass er über die Stränge geschlagen hatte. »Ich habe es nicht böse gemeint, Sir.« »Was du meinst, kann ich nicht beurteilen«, sagte Ellershaw. »Dein Benehmen ist es, das mich stört. Um zu demonstrieren, dass unter Mr. Weavers Anleitung mehr Ordnung einkehren wird als unter der dieses dunkelhäutigen Burschen, ordne ich ein paar kräftige Schläge für diesen Mann an. Das ist nur gerecht, und es wird Mr. Weaver eine gute Gelegenheit geben, seine Fähigkeiten als Faustkämpfer wieder einmal unter Beweis zu stellen.« Ich sah ihn an und hoffte in seinem Gesicht ein untrügliches Anzeichen dafür zu finden, dass er bloß gescherzt hatte. Das Blut pochte in meinen Schläfen. Wie konnte ich Ellershaw zufriedenstellen - und damit Cobb, meinen wahren Herrn und Meister -, wenn ich vor dieser grausamen Bestrafung zurückschreckte? »Das ist doch wohl etwas übertrieben«, wagte ich einzuwenden. »Unsinn«, sagte Ellershaw. »Ich habe schon in Indien Männer unter meinem Kommando gehabt. Ich weiß etwas darüber, wie man Disziplin bewahrt.« Er wählte zwei Männer aus der Gruppe aus, die Carmichael festhalten sollten, dessen Augen feucht vor Angst geworden waren. »Versohlen Sie diesem Kerl das Gesäß«, wies er mich an. »Und keine Zurückhaltung. Hier ist ein kräftiges Stück Holz. Das wird ihn Mores lehren.« Ich nahm die Planke entgegen, machte aber keine Anstalten, sie zu benutzen, sondern starrte nur vor mich hin. Falls Ellershaw mein Zögern auffiel, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen wandte er sich Carmichael zu. »Du hast Glück, mein Junge. Du wirst gleich von einem der gefeiertsten Boxkämpfer dieses Königreiches verprügelt werden. Das kannst du später deinen Enkelkindern erzählen. Also los, Mr. Weaver.« »Ich halte es für eine übertriebene Grausamkeit«, sagte ich. »Ich verspüre nicht den Wunsch, diesen Mann zu schlagen.« »Aber ich möchte, dass Sie es tun«, drängte Ellershaw. »Wenn Sie Ihren Posten behalten wollen, sollten Sie auf mich hören.« Wenn ein Mann in eine Rolle schlüpft und sich als etwas ausgibt, was er nicht ist, muss er sich nicht wundern, wenn er mit solchen Situationen konfrontiert wird, allerdings nicht unbedingt mit derart scheußlichen Konsequenzen für einen anderen Menschen. Wenn ich so handeln würde, wie ich es für richtig hielt, müsste ich Ellershaws Befehl verweigern und damit riskieren, Cobb gegen mich aufzubringen. Wenn ich mich weigerte, den Unglücklichen zu schlagen, würde ich damit meinen Onkel und meine Freunde in Gefahr bringen; andererseits konnte ich nicht mit gutem Gewissen mit einem schweren Stück Holz auf einen Menschen einprügeln, nur, um Ellershaws Bedürfnis zu befriedigen, einen zerschundenen Hintern zu sehen. Ich rang mit mir, um zu einer Lösung zu gelangen, fand aber nur zu einer Rechtfertigung vor mir selber. Ich hatte hier zwar eine Rolle auszufüllen, doch konnte ich dazu nicht aus meiner Haut schlüpfen, und ich glaube, behaupten zu können, dass alle, die mich kennen, nicht daran zweifeln würden, wie ungern ich jemanden schlug, der mir nichts getan hatte. Mr. Ellershaw hatte Benjamin Weaver eingestellt, und man konnte mir nicht vorwerfen, wenn ich auch wie Benjamin Weaver handelte, denn sonst würde ich mich ja selbst verleugnen. Diese Erklärung würde Cobb einsehen müssen und auch, dass Ellershaw mit seinem Befehl zu weit gegangen war. Ich hoffte, damit meinen Freunden den Kopf aus der Schlinge ziehen zu können. Ich gab Ellershaw das Holzbrett zurück. »Ich halte eine Prügelstrafe für unangebracht«, sagte ich. »Ich werde es nicht tun.« »Damit riskieren Sie Ihre Stellung bei uns.« Ich schüttelte nur den Kopf. »Dieses Risiko bin ich bereit, einzugehen.« Ellershaw sah mich finster an. Einen Augenblick lang dachte ich, er wolle Carmichael selber schlagen, aber stattdessen warf er die Planke auf den Boden und fuhr mit der Hand durch die Luft. »Lasst den Kerl los«, befahl er den Wachmännern, die Carmichael festhielten. Die Männer stimmten ein Jubelgeschrei an, aus dem auch mein Name herauszuhören war. Ellershaw blickte mürrisch von mir zu den Männern. »Warten Sie bitte draußen vor dem Haus auf mich«, sagte er. »Dort werde ich hoffentlich eine Erklärung für Ihre Weigerung bekommen.« Ich verbeugte mich und zog mich dann unter den Lobpreisungen der Männer zurück. Sie schienen mich für meinen Akt der Courage ins Herz geschlossen zu haben. Nur Aadil, der Inder, hielt sich zurück und sah mich weiterhin bedrohlich an. Ich meinerseits befürchtete, von Ellershaw auf der Stelle entlassen zu werden und dass ich dann all dies Cobb erklären müsste. Aber darin hatte ich mich getäuscht, denn mein Vorgesetzter folgte mir mit einem breiten Grinsen und gab mir sogar einen Klaps auf die Schulter. »Wunderbar gemacht«, sagte er. »Die Männer haben Sie jetzt fest auf Ihrer Seite, und Sie werden alles tun, was Sie von ihnen verlangen.« Ich war einen Augenblick lang sprachlos. »Ich verstehe nicht - haben Sie gewollt, dass ich den Mann nicht schlage? Ich wünschte, Sie würden mich mehr in Ihre Gedankengänge einweihen, denn ich hatte es so empfunden, dass ich Sie vor allen Leuten bloßgestellt habe.« »Ja, das haben Sie natürlich. Und ich hatte keineswegs vor, den Knaben ungeschoren davonkommen zu lassen, aber was unter dem Strich dabei herausgekommen ist, ist vorzüglich, und ich werde nichts daraus machen. Nun denn, begeben wir uns zurück in mein Büro. Es gibt etwas sehr Wichtiges zu besprechen.« »Und um was handelt es sich dabei?« Er hörte aus meiner Stimme heraus, wie unwohl mir zu Mute war, und lachte. »Ach, Sie müssen das mit der Bewachung des Lagers nicht zu ernst nehmen. Nein, ich möchte mit Ihnen über den wahren Grund sprechen, aus dem ich Sie eingestellt habe.« 10 Ein weiteres Mal stiegen wir die Stufen hinauf. Ellershaw musste sich an dem polierten Treppengeländer festhalten, als wäre ihm von der Begebenheit im Lagerhaus schwindlig geworden, und einmal wäre er beinahe rücklings auf mich gefallen. Als wir oben angekommen waren, drehte er sich grinsend nach mir um. Sein Mund war voller brauner Pampe. Als er die Tür zu seinem Büro öffnete, stand zu unserer Überraschung plötzlich ein Mann von etwa vierzig Jahren vor uns. Er war von plumper Statur und hatte ein verlegenes Grinsen in seinem runden Gesicht, das wohl wie ein freundliches Lächeln wirken sollte. »Ah, Mr. Ellershaw. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, dass ich so frei war, hier auf Sie zu warten.« »Sie!«, entfuhr es Ellershaw. »Wie können Sie es wagen, noch einmal Ihr Gesicht hier blicken zu lassen? Habe ich Sie nicht unter Androhung des Todes des Geländes verwiesen?« Der Fremde machte eine Verbeugung, die aussah, als hätte er sich nach etwas gebückt. »Mr. Ellershaw, ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, dass es sich um eine sehr delikate Angelegenheit handelt und dass Sie, Sir, meinen Anweisungen buchstabengetreu Folge leisten und sich in Geduld fassen müssten. Ich habe festgestellt, dass Sie meinen Ratschlag in beiden Punkten nicht befolgt haben, aber wenn wir noch einmal von vorne anfangen, könnte es sein, dass ...« »Hinaus!«, schrie Ellershaw. »Aber Sir. Sie müssen mir schon glauben, wenn ich Ihnen sage . « »Hinaus, hinaus, hinaus!«, brüllte Ellershaw, und dann verblüffte er uns beide, indem er sich plötzlich an mich klammerte, als wäre er ein Kind und ich seine Mutter. Er roch aus dem Mund und nach einem seltsam herben Herrenparfum und hing schwer an mir wie ein Sack. Doch am meisten entsetzte es mich, als ich seine warmen Tränen an meinem Hals spürte. »Machen Sie, dass er verschwindet«, schluchzte er. Widerstrebend spendete ich ihm so etwas wie kühlen Trost, indem ich ihm den Rücken tätschelte. Mit der anderen Hand schob ich den Eindringling rückwärts zur Tür hinaus, die ich dann hinter ihm schloss. Ellershaw setzte unter Tränen zu einer Erklärung an, die ich nicht ganz verstand. Zunächst wollte ich sein Gegreine einfach ignorieren, aber als er immer wieder das Gleiche stammelte, sagte ich ihm, dass er deutlicher sprechen müsse. Es setzte noch einmal an, aber es kam wieder nur ein schriller Klagelaut wie der eines kleinen Vogels dabei heraus. »Ich fürchte, ich verstehe Sie noch immer nicht, Sir.« Völlig unvermittelt versetzte Ellershaw mir einen heftigen Stoß. Dann sah er mich aus drei oder vier Fuß Entfernung wütend an. »Verdammt, Mann. Verstehen Sie kein Englisch? Ich habe Sie gefragt, ob Sie mir einen guten Arzt empfehlen können.« Ich musste mich sehr zusammennehmen, um ein Grinsen zu unterdrücken. »Einen solchen kenne ich in der Tat, Mr. Eller-shaw.« Sowie der Eindringling, der, wie ich mir sagte, Mr. Ellershaws nunmehr ehemaliger Arzt gewesen sein musste, verschwunden war und ich meinem Arbeitgeber Elias Gordons Namen genannt hatte, beruhigte Ellershaw sich wieder. Von der plötz-lichen Vertraulichkeit zwischen uns war nichts mehr zu spüren. Er tat nur sehr geziert, als er seine Kleidung in Ordnung brachte, an seinen Ärmelaufschlägen zupfte, seinen Mantel glatt strich und so weiter. Nachdem er sich ausgiebig geräuspert hatte, ließ er die Glocke läuten, woraufhin eine junge Frau erschien - glücklicherweise nicht Celia Glade -, die er anwies, uns Tee zu bringen. Während wir auf den Tee warteten, sagte Ellershaw nur wenig von Bedeutung und erzählte stattdessen von einem Bühnenstück, dem er beigewohnt hatte und von den skandalösen französischen Tänzern, die danach aufgetreten waren. Schließlich kam der Tee, jene grüne Mischung, von der er schon gesprochen hatte und die mein Wohlgefallen fand, denn das Aroma enthielt einen Hauch von Gras. »Nun, Sir«, begann Ellershaw. »Zweifelsohne haben Sie sich bereits gefragt, warum ich Sie als Aufseher für die Wachleute einstelle, wenn es bereits einen solchen gibt.« Er sprach natürlich von Aadil, dem Inder. Ich hatte tatsächlich geglaubt, dass er bis heute von der Existenz des Mannes nichts gewusst hatte. Nun begann ich mich zu fragen, ob alles, was Ellershaw bisher von sich offenbart hatte, nur Maskerade gewesen war, und wenn ja, was er damit im Schilde führte. »Ich hatte es so verstanden« - ich versuchte, mich vorsichtig auszudrücken -, »dass es ein Missverständnis gegeben hat, das Sie freundlicherweise zu meinen Gunsten beigelegt haben.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, was das Teegeschirr erzittern ließ. »Für einen solchen Dummkopf halten Sie mich also? Sie werden bald merken, Sir, dass ich kein Dummkopf bin. Ich sehe alles, Sir. Ich weiß alles. Und ich sehe sogar in die Zukunft. Wenn heute in drei Wochen die Versammlung der Anteilseigner einberufen wird, wird es dort eine Fraktion geben, die alles in ihrer Macht Stehende dransetzen dürfte, mich meines Postens zu entheben und auf die Straße zu werfen. Und das nach all dem, was ich für die East India Company getan habe.« »Ich finde es außerordentlich bedauerlich, das zu hören, Sir.« »So? Das finden Sie bedauerlich? Ist das alles? Wo bleibt Ihre Wut, Sir? Wo bleibt Ihr Gerechtigkeitssinn? Habe ich nicht für dieses Unternehmen geschuftet, seit ich alt genug war, um auf zwei Beinen zu gehen? Habe ich nicht meine Jugend darauf vergeudet, in dem unerträglichen Klima Indiens die Arbeit einer Baumwollspinnerei in jenem stinkenden Loch, das sich Bombay nennt, zu überwachen? War ich nicht, mit diesen meinen eigenen Händen, gezwungen, wilde Eingeborene zu erschlagen, und zwar nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder, weil sie sich nicht an meine Anweisungen gehalten haben? Das alles und noch mehr habe ich im Namen des Profits der Gesellschaft getan, Sir. Und dann kehrte ich auf diese Insel zurück und nahm den mir zustehenden Platz im Craven House ein, von dem aus ich das Unternehmen zu noch größeren Erfolgen als je zuvor geführt habe. Nach einem Leben in Diensten der East India Company gibt es nun gewisse Personen, die mich loswerden wollen, die meinen, meine Zeit wäre abgelaufen. Aber nicht mit mir, Sir, denn mit Ihrer Hilfe werde ich sie vernichten!« »Aber wer sind diese Leute?«, fragte ich erschrocken. Die Röte wich ein wenig aus seinem Gesicht. »Das kann ich eben nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie bedienen sich ausgefallener, ganz geschickter Machenschaften, hinter denen sie sich und sogar ihre Motive verbergen. Ich weiß weder, wer sie sind, noch, was sie gegen mich haben, nur, dass sie ihren Mann an meinem Platz sehen wollen. Es geht ihnen dabei gar nicht einmal um mich persönlich, Sir. Jedenfalls glaube ich es nicht. Eher ist es so, dass sie meinen, mein Stuhl würde wackeln und dass sie mit mir leichtes Spiel haben werden. Die Zerstörung meiner Person ist für sie nur ein Begleitumstand auf dem Weg zu dem Ziel, das sie sich gesetzt haben, und nicht das, was sie eigentlich wollen.« »Woher wissen Sie das alles?« »Gerüchte, Sir. Gerüchte. Man bringt es nicht so weit wie ich, ohne zu lernen, auf sie zu hören, sie zu spüren. Ich versichere Ihnen, es jederzeit vorhersagen zu können, wenn ein Stimmungsumschwung in der Luft liegt. Ich habe mein ganzes Leben darauf aufgebaut. Ein rascher Blick hierhin, ein rascher Blick dorthin. Das Craven House ist ein Ort voller Geheimnisse, Sir. Ist es immer schon gewesen. Wir Beiratsmitglieder haben zwar alle unseren eigenständigen Verantwortlichkeitsbereich, aber wir pflegen bisweilen geheime Komitees zu bilden, Ausschüsse, deren Aufgabe nur denen bekannt ist, die darin eingeweiht sind. Wir haben alle gerne unsere Geheimnisse. Seit einiger Zeit nun habe ich das Gefühl, dass es ein Komitee gibt, das einen Schlag gegen mich vorbereitet. Die Papiere, die Sie gefunden haben, wissen Sie. Ich bin überzeugt, ein Handlanger des Komitees, das gegen mich arbeitet, hat sie mir gestohlen.« »Aber ein Mann, der sein ganzes Leben lang der East India Company gedient hat, kann doch nicht wegen des Verlustes von ein paar Buchhaltungsunterlagen einfach fallen gelassen werden. Das wäre doch allzu kleinlich.« »Da haben Sie vollkommen recht. Diesen Leuten geht es hierbei wohl nur darum, mir etwas am Zeug flicken zu können. Die Grundlage, auf der sie ihren Angriff starten wollen, ist weit ernster. Das Gesetz von 1721.« Ich sah ihn fragend an. Ich war nie sonderlich an Politik interessiert, obwohl mir bei der letzten Wahl eine schmerzhafte Lektion erteilt wurde. »Es ist nicht zu übersehen, dass Sie wirklich nicht sehr viel Ahnung haben«, entrüstete er sich. »Nun ja, sei's drum. Hören Sie mir gut zu, Weaver, aber erwarten Sie keine allzu erbauliche Geschichte, denn hier geht es um Politiker, und die haben immer nur Schlechtes im Sinn. Politikern geht es ausschließlich darum, dem ehrlichen Kaufmann zu schaden, ihm sein Geld wegzunehmen. Und dabei sind Politiker dumm, Weaver, denn wenn sie nicht so dumm wären, würden die Handelsunternehmen sie einfach auf irgendeinen Posten setzen und weg wären sie. Soll ich Ihnen erzählen, was die ausgeheckt haben?« »Nur zu.« »Es sind schon manche Heilmittel entwickelt worden, obwohl es noch gar keine Krankheit dafür gab. Ab Weihnachten wird das Tragen von importierten Baumwollstoffen untersagt sein. Mit Ausnahme weniger Kleidungsstücke, wie Halstüchern oder bestimmten blauen Stoffen, die so sehr fester Bestandteil unserer Gesellschaft sind, dass das Parlament nicht wagt, auch nur das Geringste dagegen zu unternehmen, haben sich die Halunken im Unterhaus den Wollmanufakturen und den aufmüpfigen Seidenwebern gebeugt und gegen die East India Company votiert.« Durch meine Bekanntschaft mit Devout Hale wusste ich, dass der Reichtum und der Einfluss des britischen Wollgewerbes sehr von besagter Aufmüpfigkeit profitiert hatten. Hale und seine Seidenweber hatten sich empört, demonstriert und dann die Sache in die eigene Hand genommen. Sie hatten auf offener Straße Männer und Frauen zu Boden geschlagen, die Kleidung aus bedruckter Seide trugen und die Schaufensterscheiben von Geschäften eingeworfen, die solche Kleidung verkauften. Der Modegeschmack im Lande hatte sich Schritt für Schritt von einheimisch produzierten Stoffen und Geweben abgewandt, aber die Seidenweber hatten ganze Arbeit darin geleistet, einem jeden, der mit einem im Ausland hergestellten Kleidungsstück auf die Straße trat, das Gefühl zu geben, er trüge eine Zielscheibe auf dem Rücken. Nun erfuhr ich, dass das Parlament auch dem Druck der Wollindustrie nachgegeben hatte, nachdem, wie Ellershaw mir erklärte, diese damit gedroht hatte, bei der nächsten Wahl die Unterstützung von Kandidaten zu streichen. Also durfte ich, wie jeder andere Bürger auch, ab dem 25. Dezember einen jeden, der sich in importiertem Stoff gekleidet auf der Straße blicken ließ, vor den Magistrat zerren. Wurde der Betreffende für schuldig befunden, winkte dem Kläger eine Belohnung von fünf Pfund. Über all dies setzte Ellershaw mich ins Bild und pfefferte dabei seine Schilderung mit Verwünschungen der Seidenweber und den Interessengruppen der Wollindustrie sowie mit wiederholten Verweisen auf den Vorteil des Importgeschäfts für die englische Wirtschaft. »Die Männer, die heute früh in meinem Büro gewesen sind, die Heilige Dreifaltigkeit, wie ich sie nenne, begriffen sehr wohl die Widrigkeit unseres Unterfangens - die Absurdität des Versuches, die Bevölkerung dazu zu bewegen, Dinge zu kaufen, für deren Benutzung sie demnächst mit einer Strafe belegt würden, aber wir werden unser Bestes tun. Wir müssen mit allen Mitteln versuchen, so viel zu verkaufen, wie wir können.« Ich nickte, obwohl ich mit dem Herzen nicht dabei war. »Lange Rede, kurzer Sinn, Mr. Weaver. Ich war Vorsitzender des Beirates, der dahingehend auf das Parlament einwirken sollte, dass ein solches Gesetz unterbunden würde, und nun, da das Jahr sich seinem Ende zuneigt und der bewusste Termin immer näher rückt, werden meine Gegner dieses Gesetz als Waffe gegen mich ins Feld führen und sich dabei sagen, dass sie im ureigensten Interesse der East India Company handeln. Wahrscheinlich sind sie davon sogar wirklich überzeugt.« »So wird es wohl sein«, pflichtete ich ihm bei. »Nur streben solche Männer meistens nach ihrem eigenen Vorteil und scheren sich in Wahrheit kaum um das Wohlergehen des Unternehmens.« Er nickte beifällig. »Da haben Sie ganz gewiss recht, Sir. Sie wollen mich auf dem Altar ihres Ehrgeizes opfern, obwohl diese Katastrophe nicht meine Schuld ist. Sie müssen wissen, dass ich meine Männer im Parlament hatte, meine Männer im House of Lords, und dass ich schwer daran gearbeitet habe, dies von uns abzuwenden. Aber da nun die Wahl vor der Tür steht, hat das Parlament feige den Schwanz eingekniffen.« »Was gedenkt die East India Company jetzt zu unternehmen?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ohne den heimischen Markt, wollen Sie sagen? Nun, ich kann Ihnen verraten, was meine Kollegen vorhaben. Sie meinen, wir werden uns auf die kontinentaleuropäischen Märkte und die in den Kolonien konzentrieren. Wir haben dort früher gut verkauft, und meine Kollegen glauben, dies wäre ein gutes Omen für zukünftige Geschäfte, aber sie haben ja keine Ahnung. Die Stoffe, die wir bisher verkauft haben, ließen sich nur deshalb an den Mann bringen, weil sie auf dem heimischen Markt die neueste Mode waren. Ohne eine britische Mode, der ganz Europa nacheifert, ist es unmöglich zu sagen, wie die Märkte reagieren werden.« »Aber woher wollen Sie wissen, dass die Kleidung, die Sie verkaufen, hierzulande auch in Mode bleibt?«, erkundigte ich mich. »Oh, das war ja gerade das Schöne. Als wir auf dem Inlandsmarkt noch gut im Geschäft waren, konnten wir die Moderichtungen steuern. Sagen wir mal, die kleinen dunklen Scheißer in Indien produzierten mehr Stoff mit roten Ornamenten, als uns lieb war. Es war kein Problem, Muster dieser Stoffe an meine Heilige Dreifaltigkeit oder an meine Damen zu verschenken. So konnten wir dafür sorgen, dass die Mode sich nach den Beständen in unseren Lagern richtete und wir nicht gezwungen waren, uns die Lager mit etwas vollzustopfen, weil es gerade in Mode ist. Wenn unser Hauptmarkt sich ins Ausland verlagert, wird es viel schwieriger, auf Modeströmungen Einfluss zu nehmen. Und worauf läuft alles hinaus? Wir müssen dafür sorgen, dass das Gesetz von 1721 rückgängig gemacht wird. Wir müssen dem Parlament die Macht entziehen und sie wieder denen geben, denen sie gebührt.« »Der East India Company, wollen Sie sagen?« »Ganz genau. Die Macht gehört in die Hände der East India Company und der anderen königlich privilegierten Handelshäuser, in die Hände jener Männer von Vermögen und Einfallsreichtum, die die treibenden Kräfte unserer Wirtschaft sind. Sie müssen die Früchte des Erfolges ernten und nicht die Mitglieder des Parlaments. Indem wir der Regierung gestattet haben, zu viele Befugnisse an sich zu reißen, haben wir uns einen über uns thronenden Riesen an den Hals geholt, der die Pforten des Welthandels zustößt und die Wurzeln unserer Freiheit in Grund und Boden zu stampfen droht. Und wer wird uns zu unserer glorreichen Wiederauferstehung verhelfen? Der Engländer von Stand wird uns dabei helfen, mit unauffälliger Courage und gesundem Menschenverstand, beseelt von dem unsterblichen Glauben, dass wir bestimmend für die Zukunft dieser Nation sein werden, dass dem freien Handel und Wandel die Zukunft gehören wird.« Für mich, der ich so viele Jahre meines Lebens Tür an Tür mit den Armen verbracht habe, an der Seite der Arbeiter, die jede Woche darum kämpfen mussten, genug Geld mit nach Hause zu bringen, um dem Hungertod zu entgehen, die in ständiger Heidenangst vor einer Krankheit oder einem Versiegen ihrer Arbeitsmöglichkeiten lebten, was den Ruin oder das Ende für sie und ihre Familien bedeuten würde, hatte diese Vorstellung etwas beinahe Groteskes. Wenn es mir auch schwerfiel zu glauben, dass das Parlament ganz und gar uneigennützig gehandelt hatte, erschien mir das Gesetz, gegen das Mr. Eller-shaw so vehement wetterte, doch als ein ganz und gar vernünftiges Korrektiv gegen die uneingeschränkte Macht von Unternehmen wie der East India Company, denn es beschützte die heimischen Arbeiter vor jenen in fernen Ländern und bevorzugte die heimische Bekleidungsindustrie gegenüber dem Im-porthandel. Es stellte das Wohl des englischen Arbeiters vor das von Ausländern und Handelshäusern. Doch so, wie Mr. Ellershaw es darstellte, konnte man glauben, dass es ein Verbrechen gegen die Natur war, diesen Handelshäusern mit ihrem immensen Reichtum zu verbieten, alles zu tun, um, notfalls auf Kosten des Gemeinwohls, noch mehr Reichtümer anzuhäufen. Aber ich hütete mich, dergleichen laut zu äußern. »Mr. Ellershaw«, sagte ich stattdessen, »Sie sprechen von dem Tun von Menschen und Institutionen, die weit mehr Macht besitzen als ich. Ich wüsste kaum, wie ich dazu beitragen sollte, das weitere Schicksal der East India Company oder die Entscheidungen des Parlaments zu beeinflussen.« »Das überlassen Sie nur mir, Mr. Weaver. Ich sehe alles mit bemerkenswerter Klarheit vor mir. Sie werden der Prügel sein, mit dem ich aushole, Sir, und ich habe vor, mächtig auszuholen. Teufel, wir werden es diesen Schurken heimzahlen, und wenn die Versammlung der Anteilseigner zusammentritt, soll es ja keiner wagen, seine Stimme gegen mich zu erheben. Und deswegen, Sir, müssen Sie meine Einladung zum Abendessen annehmen. Glauben Sie etwa, ich wäre mir nicht über den Skandal im Klaren, einen Juden an seinen Tisch zu laden? Nicht einmal einen reichen Juden, was ja noch entschuldbar wäre, weil man ja vielleicht vorhätte, sich etwas von ihm zu leihen. Aber nein, einen Mann wie Sie, der kraft meiner Gnade nun vierzig Pfund im Jahr verdient. Ich weiß es, Sir, aber überlassen Sie das nur mir. Überlassen Sie alles nur getrost mir.« 11 Anschließend begab ich mich zum Haus von Mr. Cobb, denn ich hielt es für besser, ihm zu sagen, dass ich Mr. Ellershaw Elias' Namen genannt hatte. Da er ja nicht wollte, dass meine Freunde und ich die Köpfe zusammensteckten, konnte es ihm nicht behagen, dass ich meinen Kameraden und Mitbetroffenen ins Spiel gebracht hatte. Doch ganz im Gegenteil: Cobb war von meinem Handeln recht angetan. »Ich gehe davon aus, dass Sie Ihren Freund im Griff haben«, sagte er. »Er muss so schnell wie möglich herausfinden, was Ellershaw von ihm hören will und entsprechend reagieren. Der Mann muss auf jede erdenkliche Weise beruhigt werden. Erwerben Sie sich sein Vertrauen durch Ihren Arzt. Aber denken Sie nicht einmal im Traum daran, sich auch über andere Dinge mit ihm zu unterhalten. Sie mögen noch so sehr glauben, dass Sie unter vier Augen sind - ich kann Ihnen versprechen, dass wir von diesem Gespräch erfahren.« Ich sagte nichts, denn dazu gab es nichts zu sagen. Während der nächsten Tage begann sich eine gewisse Routine bei meiner Arbeit im East India House zu entwickeln. An meinem ersten regulären Arbeitstag war ich um zehn erschienen und von Ellershaw darüber aufgeklärt worden, dass von mir erwartet wurde, dass ich wie jeder andere Angestellte auch die offiziellen Dienstzeiten von acht bis sechs einhielt, doch ansonsten konnte ich schalten und walten wie ich wollte. Als Erstes ließ ich mir von dem peniblen Mr. Blackburn eine Liste aller bei dem Unternehmen angestellten Wachleute ausfertigen. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass ich einen Schichtdienst einzuführen gedächte, war er mir sogleich ein wenig mehr zugetan und lobte meinen Sinn für Ordnung. »Was wissen Sie über Aadil, den Inder?«, fragte ich ihn. Blackburn blätterte eine Weile in seinen Papieren, ehe er mir verkündete, dass Aadil fünfundzwanzig Pfund im Jahr verdiene. Ich musste das Missverständnis aufklären. »Nein, was für eine Art Mensch er ist, habe ich gemeint.« Blackburn sah mich leicht verständnislos an. »Er bekommt fünfundzwanzig Pfund im Jahr ausbezahlt«, wiederholte er sich. Ich merkte, dass ich mit der Sache nicht viel weiterkam, also wechselte ich das Thema. Ich hatte meine seltsame Begegnung mit dem Mann von der Seahawk-Versicherung nicht vergessen und hoffte, dass mir Mr. Blackburn vielleicht Aufklärung verschaffen konnte. Also fragte ich ihn, was er über die Gesellschaft wüsste. »Oh ja. Sie haben ihre Büroräume in der Throgmorton Street, in der Nähe der Bankside. Mr. Slade, der Direktor, wohnt eine Etage höher. Ein anständiges Geschäft.« »Woher wissen Sie das?« Er errötete ein wenig. »Meine Dienste sind nicht nur bei den Gentlemen hier im Craven House gefragt, Sir. Gelegentlich werde ich von verschiedenen Unternehmen gebeten, Ordnung in ihre Bücher zu bringen, denn ich genieße einen guten Ruf sowohl in der Welt der Handelshäuser wie auch der der Versicherungen. Letztes Jahr habe ich mehrere Sonntage hintereinander damit verbracht, die Bücher von Seahawk auf Vordermann zu bringen.« Das hörte ich gerne, aber um nicht seinen Argwohn zu erwe-cken, durfte nicht zu erpicht auf nähere Informationen erscheinen. »Können Sie mir sagen, wie Sie dabei zu Werke gehen? Ich habe keine Ahnung, wie man die Bücher eines fremden Unternehmens sichtet.« Mit keiner anderen Frage hätte ich ihm eine größere Freude bereiten können, aber leider brachte sie mit sich, dass ich mir einen staubtrockenen Vortrag anhören musste, der sich über die längste Stunde, die ich je in meinem Leben habe erdulden müssen, ausdehnte. Dennoch brachte ich ein paar höchst wertvolle Einzelheiten in Erfahrung. So erlangte ich die Kenntnis, dass die Geschäftsunterlagen von Seahawk in der unteren Etage im Büro eines Mr. Samuel Ingram aufbewahrt wurden, einem der wichtigsten Männer in dem Unternehmen, der für die Einschätzung besonders prekärer Risiken zuständig war. Nachdem ich diese Information erhalten hatte, zog ich mich bei erstbester Gelegenheit zurück. Auf jeden Fall hatten meine Erkundigungen ihn keineswegs argwöhnisch gemacht, sondern mir im Gegenteil seine verstärkte Sympathie eingetragen. Zwei Tage später hatte ich einen Dienstplan ausgearbeitet, den ich am größten der Lagerschuppen aushängte. Daraus war zu ersehen, wer wann und wie lange arbeitete und welche Runde ein jeder Wachtposten abzuschreiten hatte. Gleichzeitig verpflichtete ich die Männer, die lesen konnten, diejenigen unter ihren Kollegen, die des Lesens nicht mächtig waren, über ihren vorgeschriebenen Dienst zu unterrichten. Bei vielen stieß dieses neue System zunächst auf Unverständnis, aber sie merkten bald, dass sie durch die Aufteilung der Pflichten weniger Arbeitsstunden abzuleisten hatten. Nur Aadil und drei oder vier weitere Männer, die wohl zu seinen engeren Kameraden gehörten, brachten ihren Missmut zum Ausdruck. Trotz der nicht unbedeutenden Tatsache, dass er weiterhin fünf Pfund mehr im Jahr verdiente als seine Untergebenen, nahm es nicht Wunder, dass Aadil mir mein Eindringen in sein kleines Königreich nachtrug. Und es kam für mich auch nicht überraschend, dass viele seiner Gefolgsleute ihn nach wie vor als ihren Führer ansahen. Verwundert war ich jedoch darüber, wie weit sein Einfluss offenbar reichte. An meinem zweiten Arbeitstag traf ich ein wenig zu früh ein und sah zwei Gestalten, die vor dem Tor eines der Lagerhäuser die Köpfe zusammensteckten und sich weder durch die Kälte noch durch den einsetzenden Eisregen stören ließen. Es waren Aadil und kein anderer als Mr. Forester, der junge Direktoriumsassistent, der für Ellershaw offenbar nur Verachtung übrig hatte. Die beiden waren in ein leises, aber sehr intensives Gespräch vertieft, wobei Aadil, der nicht nur hochgewachsen, sondern auch breitschultrig war, sich zu Forester hinunterbeugen musste wie ein Riese zu einem Erdenwurm. Ich verspürte keine Neigung, mich ihnen auf Hörweite zu nähern, denn obwohl ich mir kaum vorstellen konnte, was ausgerechnet diese zwei miteinander zu bereden haben sollten, stand es mir doch nicht an, mich ihnen aufzudrängen. Dementsprechend wandte ich mich ab und tat so, als hätte ich in einem der anderen Lagerhäuser etwas zu erledigen. Aber ich merkte, dass die beiden mich beobachteten. Aadil warf mir einen hasserfüllten Blick zu, während Forester erschrocken darüber zu sein schien, dass ich ihn mit dem Inder gesehen hatte. Er wurde ganz weiß im Gesicht, wandte sich rasch ab und beschäftigte sich damit, die winzigen Eisklümpchen, die auf seinem Übermantel gelandet waren und darauf zu schmelzen begannen, abzuwischen. Aadil kam auf mich zu. Er sah wie ein wütender Stier aus. »Du nichts über ihn sagen«, fauchte er. »Geht dich nichts an.« »Ich hätte kaum einen Gedanken auf euer Gespräch verschwendet«, sagte ich, »wenn du nicht von mir verlangt hättest, dass ich es ignoriere. Wenn du nicht willst, dass sich die Leute Gedanken über dein Tun und Treiben machen, solltest du sie nicht mit der Nase darauf stoßen.« »Ein Wort darüber, und es wird dir noch leidtun«, sagte er und stampfte davon. Seine schweren Stiefel knirschten auf der dünnen Eisschicht am Boden. Im weiteren Verlaufe des Tages fand ich Gelegenheit, den fetten, gutmütigen Mr. Carmichael beiseitezunehmen. Nachdem ich mich geweigert hatte, ihn zu schlagen, war er unter den Wachleuten zu meinem engsten Verbündeten geworden, und das kam mir alles andere als ungelegen, denn er schien einen gewissen Einfluss auf seine Kollegen zu haben. Ich wusste, dass Aadil irgendwo auf der anderen Seite des Geländes seine Runde machte, also erzählte ich Carmichael, dass ich Aadil und Forester zusammen gesehen hatte und fragte ihn, was er davon hielte. »Darum«, sagte er, »sollten Sie sich besser nicht kümmern.« »Das hat Aadil auch gesagt.« »Ebendrum sollten Sie sich nicht darum kümmern. Er und dieser Mr. Forester führen etwas im Schilde.« »Und das wäre?« Er schaute nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, dass wir auch nicht beobachtet wurden. »Ich sollte Ihnen das vielleicht nicht alles erzählen, aber wenn es Sie von weiteren Nachforschungen abhält, ist es wohl doch besser so. Ich weiß nicht genau, was sie vorhaben, aber es hat etwas mit der zweiten Etage des südlichen Lagerhauses zu tun. Man nennt es Greene House, weil es mal von einem Gentleman namens Greene gekauft worden ist.« »Und was treiben die da auf der zweiten Etage des Greene House?« »Kann ich nicht sagen, weil niemand da hindarf. Nur Aadil und seine Männer dürfen von dort etwas holen oder dort etwas einlagern, und jedes Mal, wenn Aadil etwas holt oder bringt, ist Mr. Forester nicht allzu weit entfernt.« »Hast du Aadil mal danach gefragt?« »Ich werd' doch nicht meinen Kopf in den Rachen eines Wolfes stecken. Man braucht doch nur hinzusehen, um zu merken, dass er nicht will, dass jemand ihm nachschnüffelt, und wenn man seine Arbeit hier behalten will, steckt man seine Nase besser nicht in die Sache.« »Gehört es nicht zu meinen Aufgaben, meine Nase in das zu stecken, was in den Lagerhäusern vorgeht?«, fragte ich mit gespielter Einfältigkeit. Er lachte. »Ich arbeite hier nun seit fast zwanzig Jahren, Mr. Weaver, und ich kann Ihnen eines verraten: Craven House ist ein Ort so voller Geheimnisse und heimlicher Verschwörungen und Machtgelüste, dass es einem Theaterstück Ehre machen könnte. Das war immer schon so. Diejenigen, die vorankommen wollen, müssen sich gegen die verbünden, die über ihnen stehen. Sie haben nichts zu gewinnen, wenn Sie dahinterkommen, was die beiden vorhaben, aber andererseits auch nichts zu verlieren, wenn Sie es nicht tun. Wenn Sie mich fragen, sollten Sie sich um Ihre Aufgaben kümmern und sich nicht um die anderer scheren.« Was diese meine Aufgaben betraf, so war ich mir nicht ganz sicher, was ich zehn Stunden am Tag mit mir anfangen sollte. Sowie ich erst einmal den Dienstplan ausgearbeitet hatte, bedurfte es nur noch ein paar Stunden die Woche, um seine Einhaltung zu überwachen. Mir blieb nichts zu tun, als zwischen den Lagerschuppen umherzuspazieren und darauf zu achten, dass alles auf dem Posten war. Als ich dies Mr. Ellershaw gegenüber erwähnte, sagte er mir, ich solle mit meiner guten Arbeit fortfahren. Von Elias erfuhr ich, dass er bisher noch nichts von Eller-shaw gehört hatte, und ich hielt es auch für unklug, in dieser Angelegenheit nachzuhaken, also setzte ich meine Rundgänge fort, wechselte ein freundliches Wort mit den Wachleuten, hörte mir ihren Tratsch an und hoffte, einen Hinweis auf Cobbs mysteriösen Absalom Pepper zu bekommen. Aber niemand erwähnte diesen Namen, und ich wagte auch nicht, gezielt nach ihm zu fragen. An dem Tag, an dem mir das Zwiegespräch zwischen Aadil und Forester aufgefallen war, blieb ich unter der Vorgabe, ein Auge auf die Nachtschicht werfen zu wollen, bis spätabends auf dem Gelände und versuchte noch einmal, unter Ellershaws Papieren etwas zu entdecken. Aber es hätte einer gehörigen Portion Glücks bedurft, zwischen so vielen Dokumenten auf einen ganz bestimmten Namen zu stoßen, und ein solches Glück war mir in diesem Falle nicht beschieden. Ich blieb beinahe die ganze Nacht wach und erntete für meine Bemühungen nur Kopfschmerzen davon, im Lichte einer einzigen Kerze meine Augen angestrengt zu haben. An meinem vierten Arbeitstag jedoch hatte ich eine Begegnung, die mich ein gutes Stück voranbrachte. Am Vormittag kehrte ich den Schuppen den Rücken und begab mich in den Küchenbereich des Craven House, wo ich mich mit einem oder zwei Glas kräftigen Weines für die Aufgaben, die an diesem Tage noch vor mir lagen, zu stärken trachtete. Als ich die Küche betrat, traf ich hier niemanden außer der bezaubernden Miss Celia Glade an, die ich seit unserer Begegnung in Ellershaws Büro nur noch aus der Entfernung oder im Beisein anderer gesehen hatte. Sie war gerade damit beschäftigt, Kaffeegeschirr auf ein Tablett zu stellen, das zweifellos für irgendeinen Direktor bestimmt war. Ich lächelte ihr zu, spürte aber gleichzeitig, wie mir das Herz in die Hose sank, als wäre ich von großer Höhe hinuntergestoßen worden. Diese Frau kannte mein Geheimnis oder wusste zumindest, dass ich ein solches mit mir herumtrug. Ich konnte mich nur in Sicherheit wähnen, weil ich wusste, dass auch sie ein Geheimnis hatte. »Guten Morgen, Miss Glade«, begrüßte ich sie. Sie wandte sich mir zu, und augenblicklich spürte ich eine schreckliche Furcht in mir aufsteigen - die Furcht, ich könne mich dazu hinreißen lassen, ihren Reizen zu erliegen. Sie war bloß eine Frau, aber eine bemerkenswert schöne und mindestens ebenso bemerkenswert gescheit. Und wenn schon? War nicht ganz London voll von solchen Frauen? Trotzdem beschlich mich in ihrer Gegenwart die Ahnung, dass noch mehr an ihr war, weit mehr als nur Anmut und eine rasche Auffassungsgabe. Sie spielte, wie auch ich, ein Spiel, und sie spielte es geschickt. Ich hatte das Gefühl, einem Menschen gegenüberzustehen, der mir unter Umständen Knüppel zwischen die Beine werfen könnte. Sie knickste vor mir und senkte artig den Kopf, fixierte mich jedoch nach wie vor mit ihren dunklen Augen. »Ach, es ist mir gar nicht recht, so höflich angeredet zu werden«, sagte sie und verfiel dabei in den eher saloppen Tonfall, dessen sie sich während der Tagesstunden bediente, wogegen sie sich die damenhafte Stimme, mit der sie bei unserem ersten Zusammentreffen in Ellershaws Büro gesprochen hatte, wohl für die späten Abendstunden vorbehielt. »Jeder hier nennt mich Celia, und meine Freunde sagen Celie zu mir.« »Und? Bin ich Ihr Freund, Celie?« »Olala! Ich hoffe doch, Mr. Weaver. Ich möchte mir keine Feinde machen.« Ihre Stirn war in ihrem Eifer so gerunzelt, dass ich mich einen winzigen Augenblick lang fragte, ob dies dieselbe Frau sein konnte, der ich neulich abends begegnet war. Ich hatte überhaupt nicht den Eindruck, dass sie sich in irgendeiner Weise verstellte. »Als wir neulich zum ersten Male miteinander sprachen, hat Ihre Stimme ein wenig anders geklungen, wenn ich mich recht erinnere«, sagte ich. »Wie ich Mr. Ellershaw seine Medizin gebracht habe? Das wird mit meiner Arbeit zu tun gehabt haben oder so etwas.« »Wie Sie meinen, Celie.« »Ich muss mich nun um meine Pflichten kümmern, Mr. Wea-ver.« Aber als sie sich an mir vorbeischieben wollte, wäre sie beinahe mit ihrem Tablett gestolpert, und ich musste sie stützen. In diesem Augenblick der leichten Konfusion flüsterte sie mir zwei Sätze ins Ohr. »Sie haben ihre Ohren überall«, sagte sie so leise, dass ich es beim Klappern des Kaffeegeschirrs kaum verstehen konnte. Und dann: »The Duck and Wagon in St. Giles. Heute Abend.« »Heute Abend kann ich nicht«, flüsterte ich. Sie nickte. »Natürlich. Das Abendessen mit Mr. Ellershaw. Dann heute in zwei Tagen?« »Heute in zwei Tagen«, bestätigte ich unsere Verabredung. Wiederum nur für einen winzigen Augenblick nahm sie meine Hand. »Gut.« Mein Herz schlug vor freudiger Erregung, als ich ihr nachsah. Es überraschte mich ein wenig, dass sie von meiner Einladung bei Ellershaw wusste. Noch ahnte ich nicht, was das für mich bedeutete - ebenso wenig, wie ich wissen konnte, ob es ein vernünftiges Unterfangen war, sich mit Miss Glade an dem von ihr vorgeschlagenen Treffpunkt zu verabreden. Im besten Falle konnte ich auf den Ansatz zu einer Erklärung für ihr geheimnisvolles Auftreten hoffen - im schlimmsten Falle würde ich in irgendeine Falle tappen. 12 Bevor ich mich für meine Einladung zum Abendessen umzog, begab ich mich zunächst noch zum Haus meines Onkels am Broad Court. Seit ich mich in die Gegebenheiten des Cra-ven House vertiefte, hatte ich meine Pflichten als Neffe arg vernachlässigt - teils, weil ich mir auf keinen Fall Cobbs Zorn zuziehen wollte, teils, weil ich einfach zu beschäftigt gewesen war. Dies waren die Erklärungen, die ich mir einredete, aber es steckte noch mehr dahinter, um ehrlich zu sein. Ich mied meinen Onkel, weil er mir als ein lebender Beweis dafür erschien, wie unvollkommen ich meine Angelegenheiten im Griff hatte. Seinen sich verschlimmernden Gesundheitszustand konnte mir niemand in die Schuhe schieben, wohl aber die rückläufige Entwicklung seiner finanziellen Verhältnisse - den Schuh musste ich mir wohl oder übel anziehen. Zu sagen, dass ich mich ihm gegenüber schuldig fühlte, wäre übertrieben, denn ich wusste schließlich, dass ich nichts getan hatte, um eine solche Entwicklung herbeizuführen; nichtsdestotrotz begriff ich, dass ich dafür die Verantwortung trug - wenn nicht für die Ursache seiner Probleme, dann doch dafür, dass diese aus der Welt geschafft wurden. Wenn es mir bis jetzt auch noch nicht gelungen war, meinem Onkel zu helfen, bestärkte mich dies nur in meinem Willen, die Suche nach einer Lösung voranzutreiben. Bei meinem Eintreffen musste ich feststellen, dass die Dinge schlimmer standen, als ich befürchtet hatte. Im Schutze der Abenddämmerung trugen ein paar zwielichtige Gestalten eine Kommode aus dem Haus meines Onkels. Auf der Straße stand ein von zwei zottigen Pferden, die selber schon aussahen, als wären sie halb tot vor Hunger und Schinderei, gezogener Wagen, auf dem sich bereits mehrere Stühle und zwei Tische befanden. Eine Gruppe Passanten hatte sich eingefunden, um dem traurigen Spektakel zuzuschauen. Gefolgt wurden die Lastenträger von Mr. Franco, der sie anherrschte, ja vorsichtig zu sein und mit den Möbeln nicht gegen die Türrahmen zu stoßen, während er sie mit üblen Schimpfwörtern belegte. »Was ist hier los?« Ich eilte hinzu und legte Mr. Franco eine Hand auf die Schulter. Er schien mich nicht kommen gehört zu haben, denn er fuhr auf der Stelle wütend herum, und wenn es noch ein wenig dunkler gewesen wäre, würde er vermutlich die Faust gegen mich erhoben haben, um erst hinterher festzustellen, wem sein Hieb gegolten hatte. Nun aber hielt er bei meinem Anblick inne und schien plötzlich am ganzen Körper zu erschlaffen. Er schüttelte den Kopf und senkte den Blick zu Boden. »Gläubiger, Mr. Weaver. Sie haben Blut geleckt. Ich fürchte, es wird nicht lange dauern, bis sie wie die Aasgeier über Ihren Onkel herfallen. Und sie hätten zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können, denn Ihr Onkel - nun, es geht ihm sehr schlecht.« Ich wollte sogleich ins Haus stürzen, wobei ich einen Burschen übersah, der sich gerade bemühte, einen Sessel, der viel zu groß war, als dass ein einzelner Mann ihn hätte tragen können, hinauszuwuchten. Ich stieß ihn ziemlich heftig an, empfand aber keinerlei Belustigung bei seinem verzweifelten Versuch, nicht mitsamt dem Möbel aufs Pflaster zu stürzen. In den vorderen Räumen brannten überall Kerzen - zweifellos, um den Trägern Licht zu schaffen. Ich hetzte die Treppe hinauf in die obere Etage, wo sich das Schlafzimmer meines Onkels befand. Die Tür stand einen Spalt breit offen, also klopfte ich und hörte, wie meine Tante Sophia mich aufforderte, einzutreten. Mein Onkel lag tatsächlich im Bett, doch wenn dies nicht sein Haus gewesen wäre, hätte ich ihn kaum erkannt. Seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, schien er um zehn Jahre oder mehr gealtert zu sein. In seinen Bartwuchs mischten sich graue Strähnen, die vorher nicht da gewesen waren, und das Haar auf seinem unbedeckten Kopf war ganz dünn und brüchig geworden. Er hatte schwere Säcke unter seinen rot unterlaufenen, tief liegenden Augen, und mir entging nicht, dass jeder Atemzug ihm Anstrengung abverlangte. »Habt ihr schon nach dem Arzt geschickt?«, verlangte ich zu wissen. Meine Tante, die auf der Bettkante saß und die Hand meines Onkels hielt, nickte. »Er ist hiergewesen«, sagte sie mit ihrem starken Akzent. Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen, also nahm ich an, dass es auch nicht viel mehr zu sagen gab. Vielleicht brachte ihn mein Onkel zur Verzweiflung, vielleicht wusste sich der Arzt keinen Rat mehr mit ihm. Da meine Tante nichts über eine Aussicht auf Besserung äußerte, musste ich davon ausgehen, dass es keine solche gab. Ich setzte mich auf die gegenüberliegende Bettkante. »Wie geht es dir, Onkel?« Mein Onkel bemühte sich um ein schwaches Lächeln. »Nicht besonders gut«, sagte er. Aus seiner Brust drang ein rasselndes Geräusch, und seine Stimme klang angestrengt. »Allerdings bin ich diesen Weg schon einmal gegangen, und obwohl er dunkel und gewunden ist, habe ich doch zurückgefunden.« Ich blickte meine Tante an, die mir fast unmerklich zunickte, also wolle sie damit sagen, dass er früher schon solche Schwächeanfälle gehabt hatte, wenn auch nicht ganz so ernst. »Es tut mir so schrecklich leid, dass alles so hat kommen müs-sen«, sagte ich vage. War ihm überhaupt bewusst, was unten vor sich ging? »Ach das«, quälte mein Onkel hervor, »spielt keine Rolle. Ein kleiner Rückschlag. Schon bald ist alles wieder gut.« »Ganz gewiss«, pflichtete ich ihm bei. In der Tür stand Mr. Franco. Er sah aus, als habe er etwas Dringendes mit mir zu bereden. Ich entschuldigte mich und verließ den Raum. »Die Männer sind weg«, sagte er. »Sie haben mehrere Möbelstücke mitgenommen, aber ich fürchte, dass es damit nicht sein Bewenden haben wird. Wenn sich das erst herumspricht, werden die Gläubiger keine Gnade mehr kennen. Ihr Onkel, Sir, wird sein Haus verlieren, gezwungen sein, seinen Weinimport zu verkaufen, und das zu einem sehr wohlfeilen Preis bei der derzeitigen Geschäftslage.« Ich fühlte, wie mein Gesicht heiß wurde. »Verdammt sollen sie sein.« »Ich bin mir sicher, dass Sie tun, was Sie können. Und Ihr Onkel und Ihre Tante wissen das auch.« »Heute Abend soll ich zu diesem verfluchten Essen, aber wie kann ich gehen, wenn mein Onkel so darniederliegt?« »Wenn es sein muss, muss es sein«, sagte Franco. »Mit wem essen Sie denn?« »Mit Mr. Ellershaw und noch ein paar Männern von der East India Company. Ich weiß kaum mehr. Ich muss Ellershaw eine Absage zukommen lassen. Cobb kann nicht von mir erwarten, dass ich nach seiner Pfeife tanze, während mein Onkel so schwer krank ist.« »Sagen Sie nicht ab«, ermahnte mich Franco. »Wenn eine Teilnahme an diesem Abendessen Sie Ihrem Ziel auch nur einen Schritt näher bringt, bin ich sicher, dass Ihr Onkel es vorzieht, dass Sie die Einladung annehmen, anstatt den ganzen Abend mit kummervollem Gesicht an seiner Seite zu verbringen. Nein, Sie müssen die Kraft finden, Ihren Verpflichtungen nachzukommen. Ihre Tante und ich werden dafür sorgen, dass es Ihrem Onkel an nichts fehlt.« »Was hat sein Arzt gesagt?« »Nur, dass er, wie in der Vergangenheit, wieder auf die Füße kommt oder sein Zustand sich verschlechtert. Er meint, dieser Anfall sei schlimmer als alle bisherigen, aber was das genau bedeute, wisse er auch nicht.« Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten lang im Flüsterton. Ich versuchte, Mr. Franco darüber ins Bild zu setzen, was sich während der vergangenen Tage im Craven House zugetragen hatte, fasste mich dabei aber kurz, denn ich wollte zurück zu meinem Onkel, und außerdem hatte ich mich noch nicht ganz von der Erkenntnis erholt, dass selbst meine intimsten Unterredungen für Cobb kein Geheimnis blieben. Ich beschränkte mich also darauf zu erklären, dass ich mich auf Cobbs Geheiß bei der East India Company hatte anstellen lassen, wo ich Kenntnis von einigen internen Zwistigkeiten erlangen konnte. Allerdings, fügte ich hinzu, ob mir dies zum Vorteil gereichen würde, wüsste ich nicht, da Cobbs Pläne mit mir nach wie vor undurchsichtig blieben. Während unseres Gesprächs erschien meine Tante in der Tür zum Schlafzimmer meines Onkels. Sie wirkte ein wenig erleichtert. »Es geht ihm besser«, sagte sie. Tatsächlich schien sich sein Zustand innerhalb der letzten halben Stunde gebessert zu haben. Obwohl er immer noch Schwierigkeiten beim Luftholen hatte, war die Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt. Als er sich aufsetzte, wirkte er längst nicht mehr so, als stünde er an der Schwelle des Todes. »Ich freue mich, dich so zu sehen«, sagte ich. »Ja, es scheint aufwärts zu gehen. Sophia sagte mir, du wärest unten Zeuge dieser unerfreulichen Szene geworden.« »Ja, Onkel, und ich kann nicht zulassen, dass das so weitergeht. Trotzdem weiß ich nicht, wie ich dir helfen soll, außer, indem ich mich nach Kräften bemühe zu tun, was Cobb verlangt.« »Ja, du musst um alles in der Welt dafür sorgen, dass er das glaubt, aber du darfst nie aufhören, auch auf deinen Vorteil zu schauen.« »Ich fürchte, was heute passiert ist, ist erst der Anfang«, sagte ich. »Können wir es uns leisten, diesem Mann etwas vorzumachen?« »Können wir es uns leisten, dass er dich zu seinem Leibeigenen macht?« »Es ist unser beider Wunsch, dass du ihm die Stirn bietest«, fügte meine Tante hinzu. »Aber so, dass er es nicht merkt«, sagte mein Onkel. Ich nickte. Sein Mut gab auch mir neuen Auftrieb, und ich sagte ihm, dass ich seinem Rat folgen wolle, dennoch fragte ich mich, ob wir es je verwinden könnten, wenn mein Onkel in tiefste Verzweiflung gestürzt würde - finanziell ruiniert und gesundheitlich am Ende. Er war nicht dumm, und er wusste, dass er sich auf einen Bund mit dem Teufel einließ. Ich für mein Teil war mir nicht sicher, ob ich durchhalten würde. Ich blieb so lange wie möglich bei meinem Onkel und meiner Tante, aber irgendwann musste ich mich doch verabschieden, in meine eigenen Räume zurückkehren und mich für den Abend umziehen. Als ich mich präsentabel genug wähnte, nahm ich eine Kutsche für die Fahrt durch die Stadt und erreichte binnen Kurzem Ellershaws Haus an der New North Street, unweit der Kricketfelder von Conduit Fields. Es erstaunte mich nicht, dass er ein prächtiges Haus sein Eigen nannte - von einem leitenden Angestellten der East India Company sollte man schließlich erwarten, dass er standesgemäß wohnte -, aber ich konnte mich dennoch nicht erinnern, jemals Gast in einer so noblen Villa gewesen zu sein, und ich muss zugeben, dass mich gänzlich unerwartet ein Gefühl der Verlegenheit beschlich. Ich besaß kein indisches Seidengewand, also steckte ich in meinem besten schwarzen, mit Gold abgesetzten Anzug aus englischer Seide, der allerdings seine Herkunft aus einer engen Dachkammer in Spitalfields oder der dunklen Halle einer Manufaktur nicht verhehlen konnte. Doch obwohl ich wusste, dass ich das Werk der Betrogenen und Unterdrückten am Leibe trug, hatte ich doch das Gefühl, dass ich darin eine gute Figur abgab. Wir sind alle Kinder Gottes, wie es so schön heißt, aber ein Gewand aus Seide macht schon einen gewissen Unterschied. Ein höflicher, wenn auch auffällig gravitätisch wirkender Diener nahm mich an der Tür in Empfang und führte mich in ein Zimmer, in dem ich kurz darauf von Mr. Ellershaw begrüßt wurde. Er war aufs Erlesenste und nach der neuesten Mode gekleidet und krönte seine Erscheinung mit einer Allongeperücke. Selbst für meine wenig kennerhaften Augen war offensichtlich, dass sein Seidenwams mit seinem in unbeschreiblicher Feinarbeit gestickten prachtvollen blauen, roten und schwarzen Blumenmuster aus Indien stammte. »Ja, dies ist ein äußerst wichtiger Abend, Mr. Weaver. Von allergrößter Wichtigkeit, müssen Sie wissen. Mr. Samuel Tur-mond, der parlamentarische Vertreter der Cotswolds, ist zugegen. Er ist einer der vehementesten Verfechter der Sache der Wollindustrie gewesen, und es ist nun an uns, ihn davon zu überzeugen, dass er unseren Vorstoß im Unterhaus vertreten muss.« »Die Aufhebung des Gesetzes von 1721, nehme ich an?« »Genau.« »Und wie wollen wir das bewerkstelligen?« »Dieser Punkt braucht Ihnen im Moment keine Sorgen zu bereiten. Lassen Sie mich nur machen, und alles wird gut. Da Sie als letzter Gast eingetroffen sind, bitte ich Sie, mir nun ins Speisezimmer zu folgen. Ich hoffe, Sie werden doch nichts tun, womit Sie mich vor meinen Gästen blamieren?« »Ich werde versuchen, mich so zu benehmen, wie Sie es von mir erwarten.« »Nun, gut. Gut.« Durch einen Irrgarten aus verwinkelten Korridoren führte Mr. Ellershaw mich in einen großen Saal, in dem eine Anzahl Gäste auf Sofas und Sesseln saßen und an ihren Weingläsern nippten. Die einzige mir bekannte Person in dem Raum war Mr. Forester, der es überzeugend fertigbrachte, mir keinerlei Beachtung zu schenken. Ich wurde rasch Mrs. Ellershaw vorgestellt, einer bemerkenswert schönen Frau, die mindestens zwanzig Jahre jünger war als ihr Mann, aber zweifelsohne doch schon mindestens Mitte dreißig. »Dies ist Weaver, mein neuer Mitarbeiter«, sagte Ellershaw. »Er ist Jude, musst du wissen.« Mrs. Ellershaws Haar war so hellblond, dass man es fast als weiß bezeichnen konnte; sie hatte einen porzellanfarbenen Teint und auffällig glänzende und lebhafte hellgraue Augen. Mit einem Knicks nahm sie meine Hand und sagte, wie erfreut sie wäre, mich kennenzulernen, aber ich wusste, dass das eine Lüge war. Es brauchte nicht viel Einfühlungsvermögen, um zu merken, dass sie meine Anwesenheit nicht schätzte. Ellershaw schien sich nicht zu erinnern, dass ich mit Forester bereits bekannt war, und auch der ließ sich nicht anmerken, mir schon einmal begegnet zu sein. Er stellte mich seiner Frau vor, aber während Ellershaw mit seiner Eheschließung das große Los gezogen hatte, war an Mr. Forester eine Niete gefallen. Er selber war ja noch jung, gut aussehend und von männlicher Erscheinung, aber seine Frau zählte allerhand Jahre mehr als er. Es wäre keine Übertreibung gewesen, sie als ältere Frau zu bezeichnen. Sie hatte eine ledrige Haut, tief eingesunkene, blassbraune Augen und gelblich verfärbte, lückenhafte Zähne. Und doch schien sie im Gegensatz zu Mrs. Ellershaw von fröhlicher Natur zu sein. Als sie mich ihrer Freude über unsere Begegnung versicherte, wirkte es ehrlich gemeint. Sodann wurde ich Mr. Thurmond und seiner eleganten Gattin vorgestellt. Das Parlamentsmitglied war weit älter als Ellershaw, vielleicht schon in den Siebzigern, und seine Gesten wirkten gebrechlich. Er musste sich beim Gehen heftig auf seinen Stock stützen und hatte einen zittrigen Händedruck, wusste aber auf andere Weise zu überzeugen. Er erwies sich als aufgeschlossen und geistreich im Gespräch und war unter allen Männern im Raum derjenige, zu dem ich am meisten Zuneigung fasste. Seine ganz in Wollstoff gewandete Frau, die sich für ihr Alter gut gehalten hatte, lächelte gütig, sagte aber wenig. Weil eine Dinnerparty in England nicht ohne ein ausgeglichenes Verhältnis der Geschlechter ablaufen kann, musste noch eine vierte Dame eingeführt werden, um meine Gegenwart zu saldieren. Zu diesem Zweck hatte Ellershaw seine Schwester eingeladen, ebenfalls eine reifere Matrone, die es uns unzweifelhaft wissen ließ, dass sie Karten für die Oper geopfert hatte, um der Einladung zu folgen, und dass sie alles andere als erfreut darüber war. Ich will meine geneigten Leser nicht mit weitschweifigen Schilderungen des langweiligen Essens aufhalten; es war schlimm genug, dass ich es erdulden musste. Wie die meisten Gespräche bei solchen gesellschaftlichen Anlässen drehte sich die Unterhaltung hauptsächlich ums Theater und sonstige beliebte Kurzweil in der Stadt. Ich wollte mich ja an diesem Austausch beteiligen, doch sooft ich den Mund aufmachte, fing ich von Mr. Ellershaw einen derart missbilligenden Seitenblick ein, dass ich es für angebracht hielt, lieber zu schweigen. »Sie können beim Essen ganz beruhigt zugreifen«, forderte er mich auf, nachdem er selber sich mit unzähligen Gläsern Wein gestärkt hatte. »Ich habe den Koch angewiesen, kein Schweinefleisch aufzutragen. Weaver ist Jude, wie Sie wissen müssen«, wiederholte er noch einmal für alle Anwesenden. »Ich darf wohl bemerken, dass uns das nicht entgangen ist«, erwiderte Mr. Thurmond, der Interessenvertreter der Wollindustrie. »Sie haben uns ja bereits wiederholt darauf hingewie-sen. Und wenn Ihre hebräischen Freunde auf dieser Insel auch eine Minderheit darstellen mögen, sind sie dennoch keine so rare Spezies, als dass man ständig mit der Nase darauf gestoßen werden müsste.« »Ja, aber es ist es doch wert, darauf hinzuweisen. Meine Frau hält es gemeinhin nicht für angebracht, Juden an unserer Tafel zu bewirten. Ist es nicht so, meine Liebe?« Ich wollte etwas sagen, um von dem unangenehmen Thema abzulenken, doch Mr. Thurmond hatte bereits entschieden, dass er es sein wollte, der sich für mich in die Bresche warf. »Verraten Sie uns doch«, hob er eine Spur zu laut an, um damit weitere peinliche Kommentare Ellershaws im Keime zu ersticken, »wo sich Ihre bezaubernde Tochter aufhält, Mr. Eller-shaw.« Mrs. Ellershaw wurde puterrot, und ihr Gemahl hüstelte sich verlegen in die Faust. »Nun, ja. Was das betrifft, so ist sie gar nicht meine Tochter. Mrs. Ellershaw hat sie mit in unsere Ehe gebracht, und ich darf mich dessen glücklich schätzen. Doch sie ist derzeit nicht zugegen.« Über diese Tochter gab es bestimmt noch mehr zu sagen, aber Ellershaw beließ es dabei. Thurmond konnte kaum unangenehmer berührt sein, unwillkürlich ein so heikles Thema angeschnitten zu haben. Er hatte sich bemüht, eine Peinlichkeit zu überbrücken und war dabei in ein noch tieferes Fettnäpfchen getreten. Seine Frau jedoch rettete mit einem Lobgesang auf den gereichten Fasan die Situation. Nachdem das Mahl beendet war und die Damen sich ins Nebenzimmer zurückgezogen hatten, kam Ellershaw auf den Punkt zu sprechen, der ihm auf der Seele lag. »Falls Mr. Summers, ein wahrer Patriot, eine Vorlage unterbreitet, das Gesetz von 1721 aufzuheben, und ich glaube, dass er dies in Kürze zu tun gedenkt, wäre es von größtem Wert, wenn diese Vorlage Ihre Unterstützung fände, Mr. Thurmond.« Thurmond hatte dafür nur ein Lachen übrig, bei dem seine Augen aufblitzten. »Aber woher denn? Dieses Gesetz bedeutet einen gewaltigen Durchbruch. Warum sollte ich seine Aufhebung befürworten?« »Weil es zu tun das Rechte wäre, Sir.« »Aufhebung der Handelsbarrieren«, stimmte Mr. Forester mit ein. »Genau darum geht es«, griff Ellershaw den Einwurf auf. »Freier Handel. Möglicherweise haben Sie die Schriften von Mr. Davant und Mr. Child darüber gelesen, wie von einem freien Welthandel sämtliche Nationen profitieren können.« »Sowohl Davant als auch Child sind unmittelbar im Ostindienhandel involviert«, konterte Thurmond, »und können wohl kaum als unparteiische Vertreter einer Sache gelten.« »Ich bitte Sie. Wir wollen doch nicht kleinlich sein. Sie werden selber schon noch sehen, ob dieses unselige Gesetz Bestand haben wird. Der Handel mit importierten Stoffen mag hierzulande eine geringe Zahl Arbeitsplätze kosten, aber auch ohne ihn werden die Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt. Ich bin überzeugt, dass der Ostindienhandel mehr Arbeitsplätze schafft als nimmt. Was ist mit den ganzen Färbern und Stickern und Schneidern, die ohne ihn ihre Beschäftigung verlieren?« »Dies ist nicht der Fall, Sir. Diese Menschen werden weiterhin mit dem Färben und Besticken und Schneidern von Kleidung aus englischer Seide und Baumwolle ihren Lebensunterhalt bestreiten.« »Das kann man wohl kaum vergleichen«, wandte Ellershaw ein. »Es geht doch auch um die Freude am Tragen der Kleidung. Nicht der Bedarf bestimmt den Markt, Sir, sondern die Mode. Es ist nie die Gepflogenheit der East India Company gewesen, jedes Jahr neue Moden einzuführen. Wir beschränken uns auf neue Muster oder Schnitte oder Farben, mit denen wir die Modebewussten im Lande einkleiden, und verfolgen dann, wie der Rest der Nation bestrebt ist, ebenfalls nach der neu-esten Fasson gekleidet zu sein. Unsere Lagerbestände müssen Bewegung in den Handel bringen, und nicht die Vorlieben des Volkes.« »Ich darf Ihnen versichern, dass sich Moden auch aus anderen Materialien als den aus Indien importierten speisen«, sagte Thurmond selbstzufrieden. »Es wird immer neue Moden und Strömungen geben, und zwar ganz ohne Ihre Versuche, diese zu manipulieren. Erlauben Sie mir, Ihnen etwas zu zeigen, was ich mitgebracht habe, weil ich bereits vermutet hatte, dass Sie das Gespräch in diese Richtung lenken werden.« Er griff in seine Tasche und zog ein blaues, mit gelben und roten Blumenmustern verziertes Stück Stoff von etwa einem Fuß Durchmesser daraus hervor, eine auffällig schöne Arbeit. Forester nahm es dem älteren Gentleman ab und betrachtete es. »Das ist indische Seide. Na und?« »Das ist es eben nicht!«, fuhr Ellershaw dazwischen, entriss es Forester und hielt es kaum zwei Sekunden lang in den Händen, als sich sein Gesicht auch schon zu einer Grimasse verzog. »Ha, Sie schlauer Hund! Indische Seide, was? Das hier ist aus amerikanischer Baumwolle gesponnen und hier in London bedruckt worden, wie ich an seiner rauen Beschaffenheit erkenne. Ich kenne jedes indische Muster, und dieses ist eines aus London, das garantiere ich. Mr. Forester ist noch neu im Indienhandel, und nur einem Unbedarften wie ihm könnte ein so alberner Fehler unterlaufen. Indische Seide! Dass ich nicht lache! Was wollten Sie uns damit beweisen, Sir?« Er reichte das Stück Stoff zurück an Thurmond. Dieser ließ sich kaum aus der Ruhe bringen. »Mr. Foresters Fehler ist nur zu verständlich, denn dieser Stoff ist dem aus Indien sehr ähnlich.« »Dieser Stoff ist grob genug, um damit den Ruß von einem Schornsteinkehrer abzureiben«, entrüstete sich Ellershaw. »Forester hat keine Ahnung, sage ich. Er mag sich mit dem Geschäft auskennen, aber nicht mit unseren Rohmaterialien. Nicht böse gemeint, Forester. Ich habe den größten Respekt vor Ihnen, und so weiter und so fort, aber selbst der geschliffenste Verstand mag versagen, wenn es um Tuche und Stoffe geht.« Forester war rot im Gesicht geworden, entgegnete aber nichts. »Wie uns Mr. Forester gezeigt hat«, fuhr Thurmond fort, »kann amerikanische Baumwolle mit zunehmender Fertigkeit so fein gesponnen werden, dass der Stoff den Importen aus Indien ähnelt. Dieses Beispiel mag einen wahren Kenner wie Sie bei der Auswahl eines Tuches nicht überzeugen, aber sehr wohl die durchschnittliche Dame. Und selbst wenn dies jetzt noch nicht gelingt, so lässt sich der Fortschritt nicht aufhalten, und bald wird es unmöglich sein, amerikanische Baumwolle von indischer Seide zu unterscheiden. Unsere einheimischen Stoffe werden ständig leichter und den indischen ähnlicher, und von geschickter Hand lassen sich Wolle und Leinen sehr wohl miteinander verarbeiten. Ja, Mr. Foresters Versehen war nur zu verständlich. Zumal, da die Tage des Imports aus Indien ohnehin bald gezählt sind.« »Dem möchte ich etwas entgegensetzen«, sagte Ellershaw. »Mr. Forester mag nicht in der Lage sein, amerikanische Baumwolle von seiner eigenen Handelsware zu unterscheiden, aber es gibt keine modische Dame und keinen in seine Bekleidung vernarrten Beau auf dieser Insel, der sich so hinters Licht führen ließe.« »Bald, sagte ich. Noch nicht gleich.« »Und woher soll Ihr viel zitierter Fortschritt kommen?«, verlangte Ellershaw zu wissen. »Wenn die Menschen keinen Stoff aus Indien mehr kaufen können, was sollte die hiesigen Weber dann veranlassen, ihre eigenen Waren zu verfeinern? Denn dann haben sie den Markt ganz für sich allein. Der Wettbewerb ist es, der sie zu größeren Anstrengungen treibt.« »Aber sie können im Wettbewerb mit den indischen Arbei-tern, Männern und Frauen, die wie Sklaven leben und am Tag allerhöchstens ein paar Pennys verdienen, nicht mithalten. Selbst wenn wir hier Stoffe herstellen könnten, die in jeder Hinsicht denen aus Indien gleichen, wären sie weit teurer, weil wir unseren Arbeitern mehr bezahlen müssen.« »Dann müssen die Arbeiter eben lernen, mit weniger auszukommen«, schlug Forester vor. »Pfui, Mr. Forester, pfui. Menschen müssen essen und schlafen und etwas anzuziehen haben. Nur weil die Mogule in Indien das von ihren Untertanen verlangen, können wir unseren Leuten nicht sagen, sie sollen sich eben mehr bescheiden. Aus diesem Grund ist das Gesetz nötig. Ist es nicht Aufgabe der Regierung, bei solchen Ungerechtigkeiten einzuschreiten und sie abzustellen?« »Das muss es nicht sein«, argumentierte Ellershaw. »Ich habe mein ganzes Leben mit dem Ostindienhandel verbracht, und wenn ich etwas dabei gelernt habe, dann, dass Regierungen keine Probleme lösen können. Die Regierungen, Sir, sind vielmehr das Problem. Eine Freihandelsgesellschaft, in der der Unternehmer nicht durch Steuern geknebelt, drangsaliert oder behindert wird, ist die einzig wahre freie Gesellschaft.« »Was soll denn das für eine Freiheit sein?«, empörte sich Thurmond. »Sir, ich weiß, wie Sie sich diese Freiheit vorstellen. Ich weiß, dass die East India Company mehr als eine Manufaktur befehligt und vorhat, Seidenweber in Haft nehmen zu lassen, damit ihre Leibeigenen deren Arbeit möglichst ohne Lohn erledigen. Und Sie haben durch Ihren Einfluss dafür gesorgt, dass sich zunehmend Gemeinschaften von Seidenwebern außerhalb der Stadt ansiedeln, wo die Löhne niedriger sind.« »Und was ist daran falsch?« »Glauben Sie, die Welt sieht Ihrem Treiben blind zu? Ich habe sogar gehört, dass sich von der East India Company bezahlte Aufwiegler unter die Seidenweber mischen, damit die armen Arbeiter zu ihnen aufsehen und glauben, sie würden ihre Sache vertreten, und damit doch nur die Sache ihrer eigenen Unterdrücker vorantreiben. Sie haben vor, die Löhne der Seidenweber so weit zu beschneiden, dass niemand mehr sich mit diesem Handwerk seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Ich durchschaue Ihre Pläne für die Zukunft. Sie wollen Seide hierzulande so unbezahlbar machen, dass die Menschen wieder nach Importen aus Indien schreien.« Ich musste an Devout Hales Mann denken, den man ins Arbeitshaus geworfen hatte. Nun wurde mir klar, dass er in eine Falle getappt war, die die East India Company aufgestellt hatte, um sich lästige Mitbewerber vom Hals zu schaffen. Wie stand es denn um die Zukunftsaussichten von Hale und seinen Männern? Sie waren doch nur Menschen, die leben und essen und ihre Familien ernähren mussten. Die East India Company prosperierte und protzte seit hundert Jahren und würde das noch in weiteren hundert Jahren tun. Es kam einem vor, als würden sterbliche Seelen sich mit Göttern anlegen. Thurmond, der vielleicht ein wenig zu sehr dem Wein zugesprochen hatte, fuhr fort, Ellershaw die Leviten zu lesen. »Sie tun, was Ihnen gefällt, Sie schaden, wem Sie wollen, und nennen sich doch die Ehrenwerte Gesellschaft? Sie sollten sich ehrenwerterweise lieber als Teufelsgesellschaft bezeichnen. Sie kerkern Menschen ein, brechen ihren Lebensmut und wollen sämtlichen Handel und Wandel an sich reißen. Aber sie tönen von Freiheit. Wessen Freiheit denn?« »Die einzig wahre Freiheit, Sir. Eine Republik des Handels, die den ganzen Globus umspannt, die ohne Behinderung durch Zölle und Abgaben kaufen und verkaufen kann. Dies ist die natürliche Entwicklung der Dinge, und ich werde dafür kämpfen, dieses Ideal zu verwirklichen.« Thurmond blieb skeptisch. »Eine Welt, in der nur die das Sagen haben, denen es ausschließlich um den eigenen Profit geht, ist eine scheußliche Vorstellung. Unternehmen wie die East India Company interessieren sich nur dafür, wie viel Geld sie verdienen können. Regierungen zumindest kümmern sich um die Belange aller - der Armen, der Unglücklichen und selbst um die der Arbeiter, deren Kraft gefördert und nicht ausgebeutet werden muss.« »Ach, was sind Sie doch für ein guter Mensch, dass Ihnen die Arbeiter so am Herzen liegen«, meldete Forester sich wieder zu Wort. »Sie, Sir, besitzen ausgedehnte Ländereien, auf denen Sie Schafzucht als hauptsächliche Quelle Ihrer Einnahmen betreiben. Ist es da nicht von Ihrem eigenen Nutzen, zum Besten Ihres eigenen Kapitals, dass Sie sich so für die Wollmanufaktur stark machen und versuchen, den Importhandel einzudämmen? Geht es Ihnen wirklich um das Wohlergehen Ihrer Arbeiter?« »Es stimmt schon, dass ich mein Geld mit Wolle verdiene, aber ich sehe nicht, wieso man mich deswegen verdammen sollte. Ja, mein Land bringt mir Reichtum ein, aber es schafft auch Arbeit und Auskommen für die, die darauf beschäftigt sind, für all jene, die die Wolle weiterverarbeiten, die wir produzieren, all jene, die das fertige Produkt verkaufen. Wir sind Teil einer Kette, die allgemeinen Wohlstand schafft. Aus Importen hingegen, die lediglich dem Geschmack derer, die sie sich leisten können, entgegenkommen, ziehen nur wenige Auserwählte ihren Nutzen. Importe tragen nichts zum Allgemeinwohl bei.« »Der Wohlstand einer Nation ist das größere Gut, Sir. Das einzige Gut, auf das es ankommt. Und wenn die Männer des Handels und der Industrie eines Landes es zu Wohlstand bringen, verteilt sich dieser Wohlstand auf alle Menschen, die in diesem Lande leben. Das, Sir, ist die schlichte Wahrheit.« »Ich fürchte, wir können bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag reden und werden unseren Freund hier doch nicht überzeugen«, warf Forester ein. »Ist es nicht besser, wenn wir ihm seinen Standpunkt gönnen und er uns den unseren und wir in gegenseitigem Einvernehmen leben?« »Ja, ja, das ist äußerst diplomatisch, Mr. Forester, aber diplomatische Vermittlungskunst bringt uns hier nicht weiter, und außerdem ist sie in meinen Augen ein Zeichen von Schwäche. Doch ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen. Eine Krähe sollte der anderen kein Auge aushacken.« »Dennoch möchte ich die Gentlemen bitten, mich nun zu entschuldigen. Ich fürchte, ich muss heute ziemlich zeitig aufbrechen.« Forester erhob sich aus seinem Sessel. »Ach, Sie haben noch etwas Wichtigeres vor, Sir?«, bemerkte Ellershaw spitz, aber doch mit gespieltem Wohlwollen in der Stimme. Doch die Gehässigkeit war nicht zu überhören. »Nein, nichts dergleichen. Meine Frau hat bereits vorhin mir gegenüber bemerkt, dass ihr unwohl ist, und ich entnahm ihren Worten den Wunsch, es nicht zu spät werden zu lassen.« »Ein Unwohlsein? Wollen Sie etwas gegen die Speisen sagen, die ich serviert habe?« »Aber keineswegs, das darf ich Ihnen versichern. Wir haben nur zu gerne Ihre Gastfreundschaft genossen, aber meine Frau hatte es in letzter Zeit ein wenig auf der Brust, und ich denke, dass sich das Leiden wieder einstellt.« »Das überrascht mich kaum bei einer Frau in ihrem Alter. Man sollte immer eine jüngere Frau heiraten und keine ältere. Das wäre mein Ratschlag an Sie gewesen, Forester, wenn Sie mich vor Ihrer Entscheidung um Rat gefragt hätten. Es wäre besser für Sie gewesen. Ja, ja, ich weiß, dass Ihr Vater Sie dieses Weib wegen ihres Geldes hat heiraten lassen, aber Sie hätten vielleicht mit der Missachtung seiner schlechten Empfehlung einen größeren Eindruck bei ihm hinterlassen.« Als er sah, dass Forester viel zu sehr vor den Kopf geschlagen war, um etwas zu erwidern, unternahm Thurmond den Versuch, die Wogen zu glätten. »Ich begreife nicht, wieso Unterschiede im Alter einer glücklichen Ehe im Wege stehen sollten, solange Mann und Frau nur gut zueinanderpassen.« Forester sagte immer noch nichts, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, dass in seinem Falle Mann und Frau keineswegs gut zueinanderpassten. Ellershaw zog es vor, gar nicht erst weiter auf all das einzugehen. »Setzen Sie sich, Forester. Es gibt noch viel zu bereden.« »Das wäre mir nicht genehm.« »Und mir wäre es genehm, wenn Sie sich jetzt wieder hinsetzen.« An Thurmond gewandt fügte er hinzu: »Sie müssen wissen, dass der Junge es auf meinen Posten im Craven House abgesehen hat. Wird Zeit, dass er lernt, wann es für einen Mann gut ist, zu bleiben, und wann es besser ist zu gehen.« Die Spannung, die sich im Raum aufbaute, durfte Thurmond kaum behagt haben. Er erhob sich seinerseits. »Vielleicht sollten wir uns ebenfalls entschuldigen.« »Was soll das heißen? Eine Meuterei? Alles bleibt an Bord!«, kreischte Ellershaw. »Es ist spät, und ich bin nicht mehr der Jüngste«, sagte Thur-mond. »Wir wollen Ihnen nun Ihre Ruhe lassen.« »Ich brauche nicht in Ruhe gelassen zu werden. Sie beide setzen sich jetzt hin. Ich bin und bleibe Ihr Gastgeber!« »Zu zuvorkommend, Sir«, sagte Thurmond mit einem gezwungenen Lächeln. Er schien mehr als genug von Ellershaws Gastfreundschaft genossen zu haben. »Ich fürchte, ich hatte einen langen Tag.« »Ich habe mich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt«, fuhr ihm Ellershaw über den Mund. »Ich muss darauf bestehen, dass Sie bleiben. Wir haben unsere Unterredung noch nicht beendet.« Thurmond blieb neben seinem Sessel stehen und sah sein Gegenüber scharf an. »Sollte ich mich verhört haben, Sir?« »Sie dürfen jetzt nicht gehen. Glauben Sie, ich habe einen faustkämpfenden Juden wegen seiner charmanten Konversation und seinem sprühenden Geist eingeladen, mit uns zu es-sen? Da haben Sie sich aber getäuscht. Mr. Weaver, würden Sie bitte dafür sorgen, dass Mr. Thurmond seinen Platz wieder einnimmt?« »Ich muss in aller Form protestieren, Mr. Ellershaw«, sagte Forester. »Ich glaube nicht, dass Sie das Recht haben ...« Ellershaw schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Niemand«, schrie er, »hat Sie nach Ihrer Meinung gefragt.« Doch dann schien seine Wut verraucht, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet. »Es gibt vieles für Sie zu lernen, und ich könnte es Ihnen beibringen«, sagte er mit ausgesuchter Freundlichkeit. »Thurmond geht nirgendwohin, und auch Sie setzen sich besser wieder.« Forester gehorchte. Ellershaw wandte sich noch einmal mir zu. »Weaver, sehen Sie zu, dass Mr. Thurmond seinen werten Hintern wieder in den Sessel pflanzt.« Erwartete er tatsächlich, dass ich für ihn den Schläger spielte? Danach war mir keineswegs zu Mute. Doch ich begriff auch, dass diese Situation hier anders gelagert war als der Zwischenfall im Lagerhaus. Er würde es mir diesmal nicht so augenzwinkernd durchgehen lassen, wenn ich mich seinen Befehlen widersetzte. Nein, diesmal würde ich Zeit schinden müssen, um zu sehen, wie weit der Kerl es treiben wollte. Schließlich würde er gewiss einsehen, dass jemand, der sich weigerte, den Wachmann eines Lagerschuppens zu verprügeln, sich erst recht nicht an einem ehrwürdigen Parlamentarier vergreift. Darauf jedenfalls hoffte ich. Um einen besseren Einfall verlegen stand ich auf und stellte mich zwischen Mr. Thurmond und die Tür. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, ein grimmiges Gesicht zu ziehen. »Was ... was heißt das, Sir?« Thurmond begann zu stammeln. »Sie können mich doch nicht gegen meinen Willen hierbehalten?« »Ich fürchte, das kann ich, Sir. Was wollen Sie unternehmen, um mich daran zu hindern?« »Ich kann mich an den Magistrat wenden, und Sie können gewiss sein, dass ich das auch tue, wenn Sie uns nicht auf der Stelle gehen lassen.« »Der Magistrat«, lachte Ellershaw. »Forester, er droht mit dem Magistrat. Das ist ein guter Witz. Aber er muss erst Erlaubnis bekommen, uns zu verlassen, ehe er zum Magistrat rennen kann. Doch mal angenommen, ich würde Sie ziehen lassen, Thurmond - sagen wir, Sie schaffen es, mein Haus zu verlassen, ohne vorher einen Schlaganfall zu erleiden, den bei Ihrem fortgeschrittenen Alter wohl niemand in Zweifel zöge -, wer würde Ihnen eine solch lächerliche Geschichte abkaufen? Und wem, glauben Sie, ist der Magistrat mehr verpflichtet, Sir? Der East India Company, die einen Magistraten dafür belohnt, dass er Seidenweber ins Arbeitshaus steckt, oder Ihnen, dem ein Magistrat zu keinerlei Treu verpflichtet ist? Sie können es sich wohl denken.« Ellershaw erhob sich und ging auf seinen Gast zu, der ganz blass geworden war und am ganzen Leibe zitterte. Seine Augen schossen ängstlich hin und her, und seine Lippen bewegten sich, als murmele er ein Gebet - obwohl ich nicht glaubte, dass er irgendetwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen wollte. »Ich habe Ihnen nicht erlaubt aufzustehen.« Mit diesen Worten versetzte er dem alten Mann einen heftigen Stoß gegen die Brust. »Sir!«, entsetzte sich Forester. Thurmond fiel rücklings in seinen Sessel und stieß sich dabei den Kopf an der hölzernen Lehne. Ich wechselte meinen Standort, um sein Gesicht besser sehen zu können. Seine Augen waren rot und feucht geworden. Seine Lippen zitterten weiterhin, aber er war noch Herr seiner klaren Gedanken. »Fühlen Sie sich zu nichts verpflichtet«, sagte er zu Forester. »Wir werden diese Demütigung gleich hinter uns haben.« Auch Ellershaw setzte sich wieder in seinen Sessel und sah Thurmond unverwandt an. »Nun wollen wir mal klarstellen, woran wir sind. In dieser Parlamentsperiode wird das Gesetz von 1721 rückgängig gemacht. Sie werden die entsprechende Vorlage unterstützen. Wenn Sie sich für die Aufhebung des Gesetzes aussprechen, wenn Sie ein Fürsprecher der Handelsfreiheit werden, ist der Sieg unser.« »Und wenn ich mich weigere?«, stieß Thurmond hervor. »Es lebt ein gewisser Mann in diesem Land, Sir, ein Mr. Nathan Tanner. Möglicherweise ist Ihnen der Name schon mal zu Ohren gekommen. Man hat mir versichert, dass er auf Ihren Platz nachrücken wird, falls Ihnen etwas zustößt, Sir, und ich kann Ihnen versprechen, dass er in allen Dingen Partei für die East India Company ergreifen wird, auch wenn so mancher dies nicht glauben möchte. Ich will gar nicht verhehlen, dass wir es viel lieber sehen würden, wenn Sie für uns sprechen, Sir, aber wenn es sein muss, nehmen wir auch mit Tanner vorlieb.« »Aber das kann ich nicht«, setzte Thurmond sich zur Wehr. Speichel flog ihm aus dem Mund, als er die Worte ausspie. »Ich habe mein ganzes Leben, meine gesamte berufliche Laufbahn in den Dienst der hiesigen Wollindustrie gestellt. Ich würde mich zum Gespött machen. Es wäre das Ende für mich.« »Niemand wird ihm einen solchen Gesinnungswandel abnehmen«, wandte auch Forester ein. Ellershaw ignorierte den jüngeren Mann. »Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, und schon gar nicht darüber, was die Leute denken. Wenn Sie der East India Company dienlich sind, wird sich auch die East India Company Ihnen gegenüber als großzügig erweisen. Wenn Sie geneigt sein sollten, weiterhin im Unterhaus zu sitzen, werden wir dort einen Platz für Sie finden. Falls Sie aber lieber auf eine andere Weise dem Volke dienen möchten - und wer könnte Ihnen das verübeln nach all den Jahren in der Politik -, wird sich in un-serem Unternehmen ein lukrativer Posten finden lassen. Wenn Sie sich als loyal erweisen, vielleicht sogar für Ihren Sohn, Ja, es ist mir nicht entgangen, dass der junge Mr. Thurmond Schwierigkeiten damit hat, seinen Platz im Leben zu finden. Es würde ihm sicher gefallen, eines Tages den Ruheposten seines Vaters in der East India Company zu übernehmen. Das müsste seinen Vater doch mit Erleichterung erfüllen.« »Ich kann es nicht glauben, was ich da höre«, sagte Thur-mond. »Ich kann es nicht glauben, dass Sie so tief sinken, mich mit Gewalt und Drohungen zu etwas zu zwingen.« »Ich bewundere Ihren Eifer, Sir, aber das geht doch wohl etwas zu weit«, wollte Forester sich einmischen. »Halten Sie Ihren Mund, Forester, oder Sie finden sich gleich selber in diesem unbequemen Stuhl wieder. Ich bezweifle, dass Mr. Weaver bei Ihnen auch nur ein Zehntel der Skrupel wie bei Thurmond haben wird.« Ich war froh, dass niemand mich ansah oder dazu eine Äußerung von mir erwartete. »Glauben Sie, was Sie wollen«, fuhr Ellershaw fort. »Ich beliebe nicht zu scherzen. Und Sie müssen begreifen, dass es einen profunden moralischen Unterschied zwischen dem Gebrauch von Gewalt zum Zwecke der Befreiung und dem Gebrauch von Gewalt zum Zwecke der Eroberung gibt. Ich wende nun Gewalt gegen Sie an, um den britischen Handel zu befreien, damit er nicht für alle Zeiten ein Sklave der Tyrannei kleingeistiger Gesetzgebung bleibt.« »Sie müssen vollkommen verrückt sein, mich so benutzen zu wollen«, brachte Thurmond hervor. Ellershaw schüttelte den Kopf. »Nicht verrückt. Das dürfen Sie nicht denken. Ich habe lediglich unter der Sonne Indiens meine Methoden verfeinert. Ich habe von den Führern Südostasiens viel gelernt - dass man in ganz unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weise einen entscheidenden Sieg davontragen kann. Ich gebe mich nicht mit dem Versuch zufrieden, Sie, Sir, zu beeinflussen, um dann auf einen günstigen Ausgang zu hoffen. Ich habe Ihnen meinen Standpunkt dargelegt, und Sie begreifen mein Vorhaben und meinen festen Willen, das Notwendige zu tun. Nun ist es an Ihnen, Ihren Teil beizutragen. Lassen Sie sich gesagt sein, dass die East In-dia Company mancherlei Ohren im Parlament hat. Wenn ich nicht bald erfahre, dass Sie beginnen, mit Aussicht auf Erfolg über eine Aufhebung des Gesetzes zu debattieren, wird Mr. Weaver Ihnen einen Besuch abstatten, bei dem er nichts von der Zurückhaltung an den Tag legen wird, die er heute Abend gezeigt hat.« Nun schüttelte Thurmond den Kopf. »Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern.« »Ihnen bleibt keine andere Wahl.« Ellershaw erhob sich aus seinem Sessel und ging zum Kamin, aus dem er ein rotglühendes Schüreisen nahm. »Sind Sie mit den näheren Umständen des Todes von Edward dem Zweiten vertraut?« Thurmond starrte ihn an, brachte aber kein Wort hervor. »Ein glühendes Eisen ist ihm durch den Anus in die Eingeweide eingedrungen. Aber natürlich wissen Sie das. Jeder weiß es. Aber wissen Sie auch, warum man gerade diese Methode gewählt hat? Alle Welt meint, es wäre eine passende Bestrafung für seine sodomitischen Neigungen, die sich die Geistesführer seiner Zeit da ersonnen hatten, und ich zweifele nicht daran, dass seinen Mördern die Anspielung auf den Tod durch Analverkehr durchaus bewusst gewesen ist. Aber in Wahrheit hat man ihm diese Todesart zugedacht, damit keine Spuren an seinem Körper zurückbleiben. Wenn das Schüreisen schmal genug ist und mit der notwendigen Sorgfalt eingeführt wird, bleibt die Todesursache ein Rätsel. Nun wissen Sie so gut wie ich, dass der Tod eines Königs eine hochnotpeinliche Untersuchung nach sich zieht, aber glauben Sie, dass man sich bei einem Wurm wie Ihnen dieser Mühe unterziehen wird?« Jetzt erhob sich auch Forester. »Sir, ich kann das nicht länger ertragen.« Ellershaw zuckte nur die Achseln. »Es steht Ihnen frei zu gehen.« Forester sah Thurmond an, dann wieder Ellershaw. Mich würdigte er keines Blickes. Mit gesenktem Haupte, ganz in der Manier eines Feiglings, folgte er Ellershaws Aufforderung und verließ den Raum. Ellershaw legte das Schüreisen zurück in den Kamin und trat an den Tisch. Er schenkte Mr. Thurmond ein Glas Wein ein und dann eines für sich selber. Nachdem er wieder Platz genommen hatte, hob er sein Glas. »Auf unsere neue Partnerschaft, Sir.« Thurmond rührte sich nicht. »Es wäre vernünftig, mit mir anzustoßen«, sagte Ellershaw. Vielleicht lag es an der freundschaftlichen, wenn auch höchst grotesken Geste, aber irgendwas hatte sich plötzlich verändert. Thurmond griff nach seinem Glas, brachte aber keinen Toast aus, sondern führte es sich an die Lippen und trank gierig. Ich muss sagen, dass mich dieses Zeichen von Kleinmut zutiefst enttäuschte. Gut, er war ein alter Mann, der um sein Leben fürchtete, aber ich hätte mir doch sehr gewünscht, dass er den Mut aufgebracht hätte, Ellershaw die Stirn zu bieten, es auf einen Zweikampf mit ihm ankommen zu lassen. Ich würde mich jedenfalls geweigert haben, Thurmond auch nur ein Haar zu krümmen, und das hätte vielleicht den unversöhnlichen Bruch zwischen Ellershaw und mir herbeigeführt. »Nun«, sagte Ellershaw nach einem Moment ungemütlichen Schweigens, »ich glaube, wir haben alles besprochen. Sie hatten vorhin etwas davon geäußert, dass Sie gerne gehen möchten. Nur zu, ich hindere Sie nicht.« Auf dieses ersehnte Stichwort hin kehrte ich zu meinem Platz zurück. Irgendwie gelang es mir, das Zittern meines Armes zu unterdrücken, während ich eilig mein Glas leerte. Thurmond erhob sich mit Mühe, stand aber dann bemerkenswert sicher auf den Beinen. Von einem Mann in seinem Alter hätte ich nach einem solchen Schock erwartet, dass er am ganzen Leibe bebte, aber er schien nur ein wenig verstört. Er legte die Hand auf den Türknauf und drehte sich noch einmal nach Ellershaw um, der ihn mit einer lapidaren Geste entließ. Und dann war Thurmond fort. Ich sah Ellershaw an und hoffte - ja, auf was eigentlich? Ein Anzeichen von Beschämung, schätze ich. Stattdessen wurde ich mit einem Lächeln bedacht. »Ich finde, das ist ganz gut gelaufen.« Ich schwieg und versuchte, möglichst teilnahmslos dreinzu-blicken. »Sie verurteilen mein Handeln, nicht wahr, Weaver? Sie, ein Mann der Tat? Ein Held im hitzigen Zweikampf?« »Ich bezweifle, ob Sie mit den Drohungen, die Sie ausgesprochen haben, wirklich das erreichen werden, was Sie beabsichtigen«, bemerkte ich. »Ob ich erreiche, was ich beabsichtige?«, wiederholte er spöttisch. »Sie sind der Prügel, den ich schwinge, Sir, und nicht mein Herr und Meister, dem ich Rede und Antwort stehen muss. Die Versammlung der Anteilseigner steht mir bald bevor, und meine Feinde werden versuchen, mich zu vernichten. Sie führen etwas im Schilde, das weiß ich, und wenn ich nicht eine Änderung im Lauf der Dinge herbeiführe, sind meine Tage im Craven House gezählt. Was ist dagegen das Rektum eines alten Mannes?« Ich zog es vor, diese Frage als rein rhetorisch zu betrachten. Mit einem kurzen Kopfnicken sagte er mir, dass er mein Schweigen als Zustimmung aufnahm. »Nun ab mit Ihnen. Ich nehme an, Sie finden selber hinaus. Aber benutzen Sie die Hintertür, Weaver. Ich glaube, meine Gäste hatten für heute Abend genug von Ihnen.« 13 Verständlicherweise brauchte Thurmond ein wenig Zeit, um sich so weit zu sammeln, dass er seiner Frau unter die Augen treten konnte. Ich stellte mir vor, dass er sich in irgendeine dunkle Ecke zurückziehen würde, bis sein Zittern sich gelegt hatte und er mit gespielter Munterkeit verkünden konnte, man wolle nun aufbrechen. Ich indessen war angewiesen worden, den Vordereingang zu meiden und mich zur Hintertür hinaus-zustehlen. Aber wohin? Mich beunruhigte der Gedanke, dass Thurmond sich möglicherweise doch nicht so weit hatte einschüchtern lassen, dass er davon Abstand nehmen würde, sich an den Magistrat zu wenden. Es stimmte schon, dass so mancher Richter zögern würde, Anklage gegen einen Mann von Ellershaws Status zu erheben, aber es war durchaus denkbar, dass Thurmond an mir sein Mütchen zu kühlen trachtete. Er konnte angeben, dass ich ihm mit drohender Gebärde gegenübergetreten war. Ich an Thurmonds Stelle hätte ein solches Handeln ins Auge gefasst, und sei es nur, um meine Würde wiederherzustellen. Es wäre also besser, dachte ich, dem Mann zu folgen und sicherzugehen, dass er sich nach Hause begab und nicht zu einem Richter. Dazu musste ich zunächst den Ausgang finden und mich dann irgendwie an Thurmonds Kalesche anhängen. Ich konnte nur hoffen, dass Thurmond mehr Zeit brauchte, um seine Fassung wiederzuerlangen, als ich, um mich zurechtzufinden. Es wurde sehr bald deutlich, dass ich mich in Eller-shaws riesigem Haus verlaufen hatte. Nachdem ich wiederholt vergeblich in hell erleuchtete, aber verlassene Korridore eingebogen war, beschlich mich die Sorge, dass Thurmond mir durch die Lappen gegangen war. Dann aber hörte ich Stimmen, denen ich mich vorsichtig näherte, um nicht dem Falschen in die Arme zu laufen - ich dachte dabei in erster Linie an Thurmond. Ich schlich auf Zehenspitzen voran, um so wenig Geräusche wie möglich zu machen, und erreichte eine halb geschlossene Tür. Hier rührten die leisen Stimmen her. Ich konnte die eines Mannes und die einer Frau ausmachen, und als ich so nahe herangekommen war, um einen Blick zu riskieren, sah ich, dass es sich um Mr. Forester und Mrs. Ellershaw handelte. Sie hielten sich fest umschlungen und sprachen im Flüsterton eines heimlichen Liebespaares miteinander. Sie schmiegte den Kopf an seinen Nacken und säuselte ihm ins Ohr, wie unendlich traurig es sie stimme, dass er gehen müsse. Diese Entdeckung schien eine ganze Menge zu erklären -zumindest die Animosität Foresters und Mrs. Ellershaws mir gegenüber. Sie mussten ja davon ausgehen, dass Mr. Ellershaw sich der Dienste eines Mannes, der darin erprobt war, Geheimnisse aufzudecken, versichert hatte, weil er hinter ihr gemeinsames Geheimnis kommen wollte. Ich wusste noch nicht, wie, aber ich ahnte, dass ich diese Enthüllung zu meinem Vorteil würde nutzen können. Ich blickte den Flur in beide Richtungen hinunter, um meinen Abgang vorzubereiten, als sich Forester plötzlich zu mir hindrehte. Es hatte keinen Grund für ihn gegeben, das zu tun - es war einer jener unglücklichen Zufälle, auf die ein Mann, der es gewohnt ist, seiner Arbeit im Geheimen nachzugehen, eben gefasst sein muss. »Weaver«, keuchte Forester, als sich unsere Blick trafen. »Habe ich es doch gewusst.« Es gab keinen Grund, mich wie ein ertappter Dieb zu verkriechen, also baute ich mich zu voller Größe auf und trat unerschrocken näher. Es ärgerte mich sehr, dass Thurmond mir nun entwischen würde, aber ich konnte nur eine Sache zur Zeit erledigen, und es wäre dumm gewesen, diesen Kerl aus der Schlinge zu lassen, weil ich auf bessere Beute hoffte. Forester war zwar größer als ich, und er versuchte auch, seine Statur zu seinem Vorteil in die Waagschale zu werfen, aber ich merkte sofort, dass er kein Mann der Tat war und sich nicht mit mir anlegen würde. Er wollte mir bloß Angst einjagen. »Los, kommen Sie rein«, zischte er. Ich gehorchte mit der Unbekümmertheit eines Mannes, der nur zu gerne tut, wie ihm geheißen, schloss die Tür hinter mir und machte eine höfliche Verbeugung. »Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung.« »Machen Sie sich nicht über mich lustig, Sir. Sie schleichen hier herum wie der Spitzbube, der Sie ja auch sind. Und was nun? Wollen Sie nun zu Ihrem Herrn laufen und ihm sagen, was Sie gesehen haben? Wollen Sie dieser guten Frau das Leben zur Hölle machen? Und wofür? Für Ihre dreißig Silbermünzen? Aber so seid Ihr Judenpack ja wohl.« »Wenn Sie aufhören, Beschimpfungen gegen mein Volk auszustoßen, können Sie mich vielleicht auf den Pfad der Tugend führen«, schlug ich vor. »Ich weiß, dass mir das nicht gelingen wird, also stoße ich Beschimpfungen aus, so viel ich möchte. Ihr feiner Aufzug verhehlt nicht Ihren niederen Charakter und Ihre schäbige Vergangenheit, also sehe ich auch keinen Anlass, Sie wie einen Gentleman zu behandeln. Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen Vorwürfe machen will. Ich versuche mich nur klar und deutlich auszudrücken, damit Sie wissen, dass Sie der Grund dafür waren, falls dieser Lady ein Leid geschieht, und ich kann nur hoffen, dass Sie es dann Ihrem Landsmann Judas gleichtun und freiwillig aus dem Leben scheiden.« »Ich nehme Ihnen ungern die Freude, meinen Charakter, mein Volk und mein Aussehen zu verhöhnen, aber ich muss Sie darüber ins Bild setzen, dass Mr. Ellershaw mich keineswegs beauftragt hat, Ihnen nachzuspionieren, Sir. Ich bin im Gegenteil gebeten worden, mich selber hinauszubegleiten, aber bei der Größe dieses Hauses habe ich mich verirrt und bin nur durch einen unglücklichen Zufall auf Sie gestoßen.« Ich war kurz davor, ein Schweigegelübde abzulegen, denn ich wollte noch nicht mein ganzes Pulver verschießen - falls überhaupt. »Natürlich ist er nicht deinetwegen hier«, sagte Mrs. Eller-shaw schnippisch. Sie trat vor, und obwohl sie ein ganzes Stück kleiner war als ich, gab sie eine imposantere Figur ab als ihr Galan. Sie hielt sich kerzengerade, reckte den Busen hervor und hielt das Kinn stolz in die Höhe gestreckt. Die Haltung ihrer Schultern erinnerte mich an so manchen Kämpfer, dem ich im Ring begegnet war. »Sagen Sie uns die Wahrheit, Mr. Wea-ver«, forderte sie streng. »Sie haben keinerlei Interesse an Mr. Forester, nicht wahr?« »Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Obwohl ich mir nicht erklären kann, wieso Sie so viel Wert auf diese Feststellung legen.« »Mr. Ellershaw hat keinen Sinn für die Dinge des Herzens«, sagte sie zu ihrem vermeintlichen Liebhaber. »Ich glaube, er hat vergessen, dass Männer und Frauen dazu bestimmt sind, Gefühle füreinander zu haben - falls er es überhaupt je gewusst hat. Wenn er von uns erführe, Liebster, würde er dazu schweigen, bis er sich sein Wissen zu Nutze machen kann. Nein, Mr. Weaver ist in anderen Angelegenheiten hier.« »Raus damit!«, verlangte Forester, als wären ihm Mittel in die Hand gegeben, mich zu etwas zu zwingen, was ich nicht tun wollte. »Ich hätte nicht geglaubt, dass er die Wahrheit erfahren würde, aber doch ist es so gekommen. Es geht um Bridget. Der Mann, den sie geheiratet hat, ist ihm nicht gut genug. Nun möchte er dem Spuk ein Ende bereiten«, erklärte sie Forester und wandte sich dann jäh wieder mir zu. »Wollten Sie meine Sachen durchwühlen, meine Papiere? Sie werden nichts finden, das können Sie mir glauben. Und Sie werden auch nichts von mir erfahren. Wenn Sie nur halb so klug sind, wie Sie zu sein meinen, werden Sie zu Mr. Ellershaw gehen und ihm sagen, dass Sie über den Verbleib meiner Tochter nichts in Erfahrung gebracht haben und wohl auch nie bringen können, denn so wird es sein. Ich würde mich eher wie die Hindufrauen ins Feuer werfen, als sie ihm zu überlassen.« Worum ging es hier? Den Namen Bridget hatte ich schon einmal gehört, aber wo? Dann fiel es mir wieder ein. Er war während des Abendessens gefallen. Bridget war Mrs. Ellershaws Tochter aus erster Ehe. Aber warum sollte man sie verstecken, und warum sollte Ellershaw so viel an ihr gelegen sein, dass seine Frau glaubte, er hätte mich engagiert, um sie zu finden? »Madame«, sagte ich mit einer weiteren Verbeugung, »ich bin gerührt von Ihren mütterlichen Gefühlen, aber erlauben Sie mir, Ihnen noch einmal zu versichern, dass ich lediglich auf der Suche nach dem Hinterausgang war. Nichts anderes hatte ich im Sinne.« Fast eine Minute lang sah sie mich scharf an, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. »Folgen Sie diesem Gang, bis Sie auf den nächsten stoßen«, sagte sie schließlich, »und wenden Sie sich dort nach links. Gehen Sie die Treppe hinunter, dann sehen Sie zu Ihrer Rechten die Küche. Dort finden Sie hinaus, was für Sie ja wohl auch passender ist als durch die Vordertür.« Ich verbeugte mich ein drittes Mal. »Wie Sie wünschen«, sagte ich, ohne mir anmerken zu lassen, dass es mir nur gelegen kam, den Weg zum Hinterausgang gewiesen zu bekommen. »Sir«, sagte ich zum Zeichen meines Abschieds zu Forester, und beeilte mich dann, den Instruktionen der Dame des Hauses zu folgen. Schon kurz darauf stand ich in der abendlichen Kälte. Ich vergeudete keine Zeit damit, meine Schlüsse aus dieser sonderbaren Begegnung zu ziehen, sondern eilte ums Haus herum, vor dem zwei Kutschen vorgefahren waren. Zu meinem Glück befand sich Thurmond noch nicht auf dem Heimweg, also hatte ich nicht nur nichts versäumt, sondern in der Zwischenzeit auch noch Erkenntnisse gewonnen, von denen ich hoffte, dass sie ein wenig Licht in das Dunkel bringen würden, in dem ich herumtappte. Nun musste ich mich an Thurmonds Fersen heften. Dazu hielt ich Ausschau nach einer Möglichkeit, mich auf das Dach von Thurmonds Kutsche fallen zu lassen, wenn diese unter mir vorbeifuhr. Dies war eine Kunst, in der ich es in meinen Jugendjahren, als ich gezwungen war, mir meinen Unterhalt nicht unbedingt auf die ehrlichste Art und Weise zu verdienen, zur Meisterschaft gebracht hatte. Das Dach einer Kutsche oder Kalesche ist ein wunderbarer Ausgangspunkt für jemanden, der die darin Sitzenden überraschen möchte, vor allem, wenn in der Nähe ein Komplize mit einem zweiten Pferd für die Flucht auf ihn wartet. Es gab aber keine Möglichkeit, mich in die nötige Höhe hinaufzuschwingen, und mich in der Kutsche verstecken zu wollen, erschien mir ziemlich aussichtslos. Der Kutscher und Ellershaws Diener waren in ein Gespräch vertieft, so dass es theoretisch möglich war, mich an ihnen vorbeizuschleichen und auf irgendeine Weise den Schlag zu öffnen, ohne dass die Scharniere quietschten, doch ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren. Und wenn ich erst einmal im Inneren der Kutsche war, was dann? Wie sollte ich mich vor Mr. und Mrs. Thurmond verbergen? Während ich noch andere Möglichkeiten erwog - etwa, ein Pferd zu stehlen oder in der Hoffnung, dass sie es nicht allzu eilig hatten, der Kutsche zu Fuß zu folgen -, kam ein Bediens-teter aus dem Haus und wies den Kutscher und Thurmonds Diener an, alles für die Abfahrt bereit zu machen, was sie auch sofort taten. Der Kutscher kletterte auf den Bock und nahm die Zügel, während der Diener sich hinten auf den Wagen stellte. Ich folgte der Kutsche, während diese unmittelbar vor der Tür Aufstellung nahm. Dann jedoch war mir das Glück auf geradezu wundersame Weise hold, denn Thurmond half zwar seiner Gattin in den Wagen, machte aber keinerlei Anstalten, selber einzusteigen, sondern wechselte ein paar Worte mit ihr, gab dem Kutscher eine Anweisung und wandte sich dann zu Fuß von dem Haus ab und auf die Theobald's Row zu. Ich folgte ihm in sicherem Abstand, doch nahe genug, um zu sehen, wie er an der Ecke der Red Lion Street dem wartenden Diener eines anderen Gentleman eine Münze in die Hand drückte, damit dieser ihm eine Droschke besorgte. Das wurde ja immer besser. Sobald Thurmond erst einmal seine Fahrgelegenheit bekam, war es ein Leichtes, hinten auf den Wagen zu springen und dort geduckt hocken zu bleiben, damit mich keiner sah. Und so kam es auch - ich hielt mich hinten am Aufbau fest, während die Kutsche im Schneckentempo durch die schmutzigen Straßen der Großstadt rollte. Zwar blieb ich von einigen der Huren und der Herumlungerer, an denen wir vorbeikamen, nicht unbemerkt, aber der Kutscher verstand ihr Gejohle entweder nicht oder wollte sich nicht darauf einlassen, so dass wir schließlich unbehelligt in der Fetter Lane ankamen. Hier stieg Thurmond aus und betrat das Brush and Pallet, ein Wirtshaus, das bevorzugt von Leuten mit künstlerischen Ambitionen frequentiert wurde. Ich stieg von meinem Versteck hinunter und wollte einen Moment warten, ehe ich ihm folgte. Just in diesem Augenblick wandte sich der Kutscher nach mir um und fragte mich, ob ich die Fahrt als angenehm empfunden hätte. Ich hätte ihm keine Beachtung schenken müssen, aber die Menschen dieser Stadt sogen Erkenntnisse in sich auf und atmeten sie als Enthüllungen wieder aus, und wenn ich vermeiden wollte, dass der Droschkenkutscher Thurmond atemlos seine Beobachtung mitteilte, musste ich mir sein Schweigen erkaufen. Zu meiner größten Freude regelte ein Sixpencestücke die Angelegenheit, und so konnten der Kutscher und ich als Freunde auseinandergehen. Nun galt es, herauszufinden, was Thurmond in einer von Porträtmalern besuchten Lokalität vorhatte, doch ich ahnte schon sehr schnell, was ihn dorthin trieb, denn ich hatte zu bestimmten Zeiten den gleichen Trick angewandt. Warum besucht jemand eine Schänke, mit deren Gästen er nichts gemein hat? Weil er ungestört sein möchte. Wiederum in sicherem Abstand folgte ich dem werten Thur-mond unauffällig und sah, wie er in einem Hinterzimmer Platz nahm und dem Wirt, einem buckligen Knaben in Thurmonds Alter, eine Anweisung gab. Nach kurzem Zögern wandte auch ich mich an ihn, vergeudete keine Zeit und steckte ihm eine Münze zu. »Was hat der Gentleman gewollt?«, fragte ich. »Wenn ein anderer Gentleman sich nach einem Mr. Thompson erkundigt, soll ich ihn zu ihm nach hinten schicken.« Ich zog noch eine Münze hervor. »Gibt es einen Raum, der an diesen dort grenzt?« »Gewiss. Drei Schilling, und ich halte ihn für Sie frei.« Das war natürlich Wucher, aber der Mann wusste, dass ich ohne langes Gefeilsche bezahlen würde. So bekam ich meine Privatnische, wo ich, das Ohr an der Wand, darauf wartete, dass sich etwas tat. Und es tat sich etwas. Nach weniger als einer halben Stunde hörte ich, wie noch jemand den hinteren Raum betrat. Trotz angestrengten Lauschens konnte ich nicht genau verstehen, worüber die beiden sprachen. Aber die Stimme von Thurmonds Besucher hatte ich sofort erkannt. Es war die zweite heimliche Zusammenkunft, bei der ich jenen Gentleman an diesem Abend ertappte. Ich ging nicht davon aus, dass Mr. Forester von der East In-dia Company und Mr. Thurmond, der parlamentarische Vertreter der Wollkämmerer, sich hier trafen, weil sie in so vielen Punkten verschiedener Meinung waren. Ellershaw sah der Anteilseignerversammlung mit unguten Gefühlen entgegen, und es schien, als versorge dies seine Widersacher mit allerhand Gesprächsstoff. Mir stellten sich nun einige Fragen. Sollte ich Ellershaw von Foresters Techtelmechtel mit seiner Frau berichten oder von seinem heimlichen Treffen mit dem Parlamentarier? Oder von beidem? Aber ich konnte mir auch von beidem keinen Vorteil versprechen. Es diente nicht meinen Zwecken, noch mehr Missgunst im Craven House zu säen, und es gab für mich auch nichts zu gewinnen, wenn Ellershaw mich noch mehr ins Vertrauen zog als bisher. Cobb würde ich auf jeden Fall nur von Mrs. Ellershaws Fehltritt erzählen. Das würde genügen, um ihm zu beweisen, dass ich seinen Wünschen entsprechend handelte, und er würde meine Freunde und meinen Onkel vorerst in Ruhe lassen. Gleichzeitig war ich mir sicher, dass Cobb aus solchem Wissen keinen Nutzen ziehen konnte und ich kein Risiko einging, indem ich davon sprach. Da ich ja nicht wusste, wer der größere Schuft von beiden war, fiel es mir auch schwer zu beurteilen, wie viel meines Wissens ich wem zu meinem besten Vorteil preisgeben sollte. Am nächsten Morgen rief Ellershaw mich in sein Büro, schien aber nichts von Bedeutung mit mir zu besprechen zu haben. Ich hatte den Eindruck, dass er nur sehen wollte, in was für einer Stimmung ich war, nachdem er Thurmond am Abend zuvor so böse mitgespielt hatte. Ich für mein Teil sagte nichts dazu, also kamen wir auf meine Tage als Preisboxer zu sprechen. Ellershaw lachte über einige meiner Anekdoten, doch nach einer Viertelstunde meinte er, ich hätte ihm genug seiner Zeit gestohlen und sollte mich an meine Arbeit machen, damit ich nicht umsonst bezahlt würde. »Gewiss, Sir«, sagte ich. »Aber darf ich mir zuvor noch eine persönliche Frage erlauben?« Mit einer unwirschen Handbewegung gewährte er mir meinen Wunsch. »Es geht um Mrs. Ellershaws Tochter aus erster Ehe. Habe ich es richtig verstanden, dass ihr ein Unglück zugestoßen ist?« Ohne eine Miene zu verziehen, musterte mich Ellershaw einen Moment lang mit ausdruckslosem Gesicht. »Das Mädchen ist davongelaufen«, sagte er schließlich. »Sie hat an einem Haderlumpen Gefallen gefunden, und trotz unserer Androhung, nach dieser Heirat keinen Penny mehr zu erhalten, gibt es allerhand Grund zu der Annahme, dass die beiden sich doch heimlich vermählt haben. Wir haben seitdem keine Nachricht mehr von ihr bekommen, aber das werden wir schon noch, worauf Sie sich verlassen können. Die beiden werden bestimmt warten, bis unser Zorn sich gelegt hat und dann wie die begossenen Pudel vor der Tür stehen.« »Vielen Dank, Sir.« »Falls Sie glauben, Sie könnten sich ein paar Schilling extra verdienen, wenn Sie sie finden, muss ich Sie enttäuschen. Weder mir noch Mrs. Ellershaw liegt etwas daran, je wieder von ihr zu hören.« »Ich hatte keine solchen Absichten. Ich war bloß neugierig.« »Es wäre uns besser gedient, wenn Sie Ihre Neugier mehr auf die Strolche im Craven House richten würden und weniger auf meine Familie.« »Selbstverständlich.« »Also, was Thurmond betrifft. Es muss ihm klargemacht werden, dass er uns nicht so einfach abschütteln kann. Es ist Zeit, dass er richtig Angst vor uns bekommt.« Ich musste an Ellershaws Drohung mit dem glühenden Schür-eisen denken und erschauderte innerlich bei dem Gedanken, was für eine Gemeinheit er sich jetzt wieder ausgedacht hatte. »Es sind nur noch wenig mehr als zwei Wochen bis zur Anteilseigentümerversammlung«, gab ich zu bedenken. »Ich halte es nicht für klug, alles ausschließlich davon abhängig zu machen, dass es uns gelingt, Mr. Thurmond Angst einzuflößen.« »Ha!«, rief er. »Sie wissen gar nichts, und ich habe auch nicht vor, Ihnen mehr als das zu verraten. Glauben Sie, das wäre das einzige Eisen, das ich im Feuer habe? Es ist nur eines von vielen, aber es ist das Einzige, das Sie etwas angeht. Von meinen Informanten im Unterhaus weiß ich, dass er heute Abend mit einem Geschäftspartner in der Nähe der Great Warner Street zum Essen verabredet ist. Während seiner Abwesenheit müssen Sie in sein Haus einbrechen und dort auf seine Rückkehr warten. Und wenn er sich dann zu Bett gelegt hat, nehmen Sie ihn sich tüchtig vor, Mr. Weaver. Nehmen Sie sich ihn so vor, dass er glaubt, sein letztes Stündlein hätte geschlagen, damit er lernt, dass mit dem Craven House nicht zu spaßen ist. Danach möchte ich, dass Sie seine Frau schänden.« Ich saß regungslos da und brachte kein Wort hervor. »Haben Sie nicht gehört?« Ich musste schlucken. »Ich habe Sie gehört, Mr. Ellershaw, aber ich fürchte, ich habe Sie nicht richtig verstanden. Das können Sie doch nicht ernst gemeint haben.« »Oh doch, sehr ernst sogar. Ich habe schon den Widerstand so mancher Männer brechen müssen, glauben Sie mir. In Kalkutta gab es unter den Schwarzen immer wieder Häuptlinge und Anführer, die meinten, sie könnten der East India Company die Stirn bieten. Sie haben die Konsequenzen zu spüren bekommen, und so muss es auch bei Thurmond sein. Denken Sie, es ginge um eine Lappalie? Die Zukunft des Unternehmens hängt von unserem Einsatz ab, und da die East In-dia Company der Bannerträger des freien Handels ist, sogar die der ganzen Welt. Sie und ich haben eine Verabredung mit der Ewigkeit, Weaver. Wir werden unseren Kindern eine Welt hinterlassen, in der es noch Hoffnung gibt, oder wir werden sie dazu verurteilen, den ersten Schritt in ein Jahrtausend der Finsternis zu tun. Sollten wir versagen, werden unsere Kinder und Kindeskinder wenigstens von uns sagen, dass wir die kurze Spanne unseres Daseins nutzbringend anzuwenden gewusst, das wir alles in unserer Macht Stehende getan haben.« Ich unterdrückte meinen ersten Impuls, nämlich den, ihm zu sagen, dass ich größte Zweifel daran hegte, dass unsere Enkel uns dafür preisen würden, dass wir alte Männer geschlagen und alte Frauen geschändet haben. Stattdessen holte ich tief Luft und senkte ehrerbietig den Blick. »Sir, Sie sprechen nicht von einem Stammesführer unter Indern. Sie sprechen von einem hochangesehenen Mitglied des Unterhauses. Sie können nicht erwarten, dass so eine Tat keine Untersuchung nach sich ziehen wird. Und selbst, wenn Ihr Erfolg garantiert wäre, könnte ich keinen solchen Akt der Barbarei gutheißen, erst recht nicht, wenn es sich um einen alten Menschen handelt. Und ich würde mich gewiss niemals zu so etwas hinreißen lassen.« »Was? Sie haben nicht den Mut dazu? Da hätte ich aber mehr von Ihnen erwartet. Dies ist die Welt, in der wir leben, Mr. Weaver, eine Welt, in der Sie keinem über den Weg trauen können. Sie müssen die Keule schwingen - oder von ihr zerschmettert werden. Ich habe Ihnen gesagt, was ich will, und Sie sind mir zu Diensten, also werden Sie tun, was ich von Ihnen verlange.« Schon wieder steckte ich in einer Zwickmühle. Ich musste mich entscheiden, ob ich meine Seele dem Teufel verkaufen und damit meine Freunde retten oder ob ich meine Seele retten und meine Freunde vernichten wollte. Es wäre schwierig gewesen, Cobb weiszumachen, dass ich es nicht über mich brächte, einen Lagerhausarbeiter zusammenzuschlagen, aber ich musste mir einfach sagen, dass selbst er nicht erwarten konnte, dass ich mich für einen so schamlosen Gewaltakt missbrauchen ließ - und sei es aus keinem anderen Grund, dass ein solches Verbrechen verfolgt werden würde und dass, wenn man mir auf die Schliche käme, diese Spur unweigerlich weiter zu ihm führen würde. Letzten Endes, dachte ich, konnte ich vielleicht sogar von Glück reden. Es blieb mir nun nichts anderes übrig, als mich von Ellershaw abzuwenden, und Cobb vermochte mir daraus keinen Strick zu drehen. Zwar hatte ich das Gefühl, dass dieser Optimismus möglicherweise durch nichts gerechtfertigt sein könnte, aber er war im Augenblick alles, woran ich mich klammern konnte. Ich zwang mich, ein wild entschlossenes Gesicht zu ziehen und erhob mich von meinem Stuhl. »Ich kann Ihnen diesen Wunsch nicht erfüllen, und ich werde auch nicht stillschweigend zusehen, wie Sie einen anderen damit beauftragen.« »Wenn Sie mir jetzt in die Quere kommen, sind Sie die längste Zeit hier angestellt gewesen.« »Dann bin ich eben die längste Zeit hier angestellt gewesen.« »Sie wollen sich doch wohl die East India Company nicht zum Feind machen?« »Lieber habe ich die East India Company zum Feind als mein eigenes Gewissen«, sagte ich und wandte mich der Tür zu. »Warten Sie«, rief er mich zurück. »Gehen Sie nicht. Sie haben recht. Vielleicht bin ich zu weit gegangen.« Ich stieß einen stummen Fluch aus, denn damit waren meine Hoffnungen zunichte - wenn auch nicht ganz unerwartet. Ich wandte mich zu ihm um. »Ich bin froh, dass Sie sich die Sache noch einmal überlegen. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, in diesem Punkt muss ich Ihnen recht geben. Wir wollen nicht ganz so brutal sein. Aber wir werden uns etwas einfallen lassen, Weaver. Darauf können Sie Gift nehmen.« Auf dem Weg zu den Lagerhäusern fasste ich die Situation im Geiste noch einmal zusammen. Mal diente ich Cobbs Zwecken, mal denen von Ellershaw, mal meinen eigenen. Das bedeutete, dass ich auf einem schmalen Grat wanderte, und obwohl ich viel lieber mein eigener Herr gewesen wäre, wusste ich nur zu gut, dass ich diese bittere Pille schlucken musste, wenn sich alles noch zum Guten wenden sollte. Vor allem meine Machtlosigkeit brachte mich in Rage, aber da das Wohlergehen meiner Freunde und meines Onkels an einem seidenen Faden hing, musste ich zumindest den Eindruck der Unterwürfigkeit erwecken. Wie konnte man so etwas erdulden, ohne daran zu verzweifeln? Nun wusste ich die Antwort: Ich würde mich nicht meinen Möchtegern-Herren widersetzen, sondern vielmehr meine eigene Taktik entwickeln. Ich musste herausfinden, was Forester in seinem geheimen Schuppen aufbewahrte. Ich musste dahinterkommen, wie Ellershaw die bevorstehende Anteilseigentümerversammlung zu überstehen plante. Und ich musste mehr über seine Tochter in Erfahrung bringen. Alles drei würde möglicherweise zu nichts führen, aber ich erinnerte mich, dass mehrere Akteure in meinem kleinen Drama - Mr. und Mrs. Ellershaw, Forester und Thurmond - auf eine Weise über sie gesprochen hatten, die mich ungemein neugierig machte. Vielleicht hatte es mit ihr gar nichts Besonderes auf sich, doch ich hatte schon oft erfahren, dass man manchmal nur an einem losen Faden ziehen musste, um einen ganzen Vorhang aufzuribbeln. Mrs. Ellershaw schien sich in dem Glauben zu wiegen, ihr Mann hätte den Wunsch zu erfahren, wo ihre Tochter sich aufhielt, während er genau das Gegenteil behauptete. Wahrscheinlich war Ellershaws Interesse an seiner Stieftochter mehr als nur väterlicher Natur - und Bridgets Eheschließung nicht nur eine Herzensangelegenheit, sondern auch ein Fluchtversuch. In diesem Falle läge es auf der Hand, dass ihre Mutter ihren Aufenthaltsort vor ihm geheim zu halten wünschte. Dann fiel mir aber noch etwas anderes auf: Mrs. Ellershaw fürchtete, dass ihr Mann die Wahrheit erfahren hatte - nicht, dass er den Aufenthaltsort der Tochter erfahren hatte oder diesen in Erfahrung zu bringen trachtete. Damit hatte sie angedeutet, dass es noch einen Umstand gab, von dem Ellershaw nichts ahnte, was bedeutete, dass die Information, die ich von Ellershaw bekommen hatte, entweder falsch oder unvollständig war. Was Forester betraf, war der nicht nur gegen Ellershaw eingenommen, sondern hatte sogar Grund, ihn zu hassen - siehe die Turtelei mit seiner Frau. Hasste er den Ehemann seiner Angebeteten so sehr, dass er, nur um ihm zu schaden, geheime Absprachen mit Thurmond traf? Das bezweifelte ich nun aber doch. Vielmehr kam es mir so vor, als führe er Geschäfte aus, die von Ellershaws Niedergang oder vielleicht sogar dem der ganzen East India Company abhingen, doch um was es sich dabei handeln konnte, vermochte ich nicht zu sagen. Allerdings vermutete ich, dass es etwas mit der von Carmichael erwähnten verbotenen Etage in dem Lagerhaus zu tun hatte: ein Anreiz mehr, dieses Geheimnis zu lüften. Wie immer behielt mich Aadil den ganzen Tag lang fest im Auge. Mit orientalischer Beharrlichkeit verfolgte er jeden meiner Schritte. Gegen Abend gelang es mir wenigstens unter der Vorgabe, ihn für ein angebliches Versagen bestrafen zu wollen, mich mit Carmichael in einem abgelegenen Winkel des Geländes unter vier Augen zu treffen. Carmichael war wirklich ein grundanständiger Kerl - er folgte nicht nur sofort meinem Befehl, sich hinter dem Lagerhaus bei mir zu melden, sondern wirkte auch schon bei seinem Eintreffen ganz niedergeschlagen und schuldbewusst, obwohl ich noch keinen Vorwurf ausgesprochen hatte. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ich ihn sogleich. »Du hast nichts falsch gemacht. Ich habe das Gerücht nur ausgestreut, um ungestört mit dir sprechen zu können.« »Ach, da bin ich aber froh, Mr. Weaver. Ich halte doch so viel von Ihnen und wünsche mir, dass auch Sie nicht schlecht von mir denken.« »Das tue ich ganz bestimmt nicht. Du bist ein fleißiger Arbeiter und kennst dich in den Lagerschuppen gut aus.« »Und so soll's auch bleiben, wenn's nach mir geht«, sagte er. »Das hoffe ich auch, denn das, um was ich dich jetzt bitten werde, gehört genau genommen nicht gerade zu deinem Aufgabenbereich. Ich möchte, dass du mich zu den Waren führst, zu denen nur Mr. Forester Zugang hat, und mir hilfst, dort einzudringen.« Er sagte nichts und stand nur mit offenem Mund da. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Es ist sehr gefährlich, um was Sie mich da bitten. Ich könnte nicht nur meine Stellung verlieren, sondern mir auch noch diese Bestie Aadil zum Feind machen. Das möchte ich nicht, und wenn Sie klug sind, sollten Sie es für sich selber auch nicht wollen.« »Ich weiß, dass wir ein Risiko eingehen, aber ich muss über den Inhalt dieses Verstecks Bescheid wissen, und das geht nicht ohne deine Hilfe. Du sollst für deine Bemühungen auch belohnt werden.« »Es geht mir nicht um eine Belohnung, das dürfen Sie nicht glauben. Es geht mir um meine Arbeit, die ich nicht verlieren will. Sie mögen ja der Aufseher über die Wachmänner sein, aber wenn Aadil oder Mr. Forester mich hinauswerfen, ohne mir meinen Lohn zu zahlen, hält nichts und niemand sie davon ab.« »Dazu wird es nicht kommen«, versicherte ich ihm und fragte mich im selben Moment, wie ich es verhindern wollte. Wenn Carmichael unter Beschuss geriet, weil er mir geholfen hatte, sagte ich mir, würde ich dafür sorgen, dass er für seine Hilfsbereitschaft nicht zu leiden hätte. Ich besaß genügend Freunde und genügend Einfluss, um ihm woanders einen zumindest gleich bezahlten Posten beschaffen zu können. Er sah mich an und schien zu erwägen, ob mein Optimismus begründet war. »Um ehrlich zu sein, Mr. Weaver, ich fürchte mich davor, es mir mit denen zu verderben.« »Ich muss aber wissen, was dort versteckt ist. Wenn du mir nicht helfen willst, finde ich einen anderen, der es tut, aber ich würde dich vorziehen, weil ich dir vertraue.« Er gab einen tiefen Seufzer von sich. »Das können Sie, Sir. Das können Sie wirklich. Wann soll es passieren?« Ich hatte für diesen Abend eine Verabredung, die ich um keinen Preis verpassen wollte, also sprachen wir ab, uns am darauffolgenden Abend Schlag elf hinter dem größten der Lagerhäuser zu treffen. Obwohl er protestierte, drückte ich ihm eine Münze in die Hand, doch ich befürchtete sogleich, damit seine Entschlossenheit eher geschwächt zu haben. Carmichael wollte mir helfen, weil er mich mochte. Wenn ich nur jemand für ihn wurde, der ihm für seine Dienste Geld gab, konnte dies sein Zutrauen schmälern, und ich brauchte jeden treuen Gefährten, dessen ich habhaft werden konnte. 14 In der Hoffnung, dass niemandem meine Abwesenheit auffallen und dass Mr. Ellershaw mich nicht zu sich bestellen würde, verließ ich Craven House an diesem Abend ein paar Stunden vor der Zeit. Wie verabredet traf ich Elias in der Two Schooner's Tavern an, wo er sich bereits ein Ale und eine Mahlzeit bestellt hatte, die ich, wie ich vermutete, bezahlen sollte. Als ich mich setzte, tunkte er mit seinem letzten Stück Brot gerade den Rest Fett von seinem Teller. »Bist du dir sicher, dass ich mir damit keine Scherereien aufhalse?«, fragte er. »Einigermaßen sicher«, räumte ich ein. Darauf ging ich noch einmal mit ihm meinen Plan durch, den ich für ziemlich geradlinig und einfach zu bewerkstelligen hielt - zumindest Elias' Teil davon. Elias wischte sich den Mund ab und stand auf, um sich auf den kurzen Weg zur Throgmor-ton Street zu machen, wo die Seahawk-Versicherung ihre Büroräume unterhielt. Auch ich bestellte mir einen Krug, an dem ich mich ungefähr ein Drittel einer Stunde festhielt, um dann die Rechnung zu begleichen und Elias zu folgen. Ich betrat das Gebäude und fand mich in einer großen Halle mit mehreren schweren Schreibpulten wieder, an denen mehrere Angestellte noch bei ihrer Arbeit saßen. Dann fiel mir eine Tür zu meiner Linken auf, hinter der ich Mr. Ingrams Büro vermutete. Ich hatte mich unter Elias' Namen bereits früher am Tag mit ihm in Verbindung gesetzt und um einen Termin gebeten. In diesem Augenblick hielt sich Elias selber gerade in dem Büro auf, wo er versuchte, Lebensversicherungen für mehrere ältere Kapitäne zur See abzuschließen. Mr. Ingram würde vollends damit beschäftigt sein, ihn mit weitschweifigen Ausflüchten abzuwimmeln, was mir die nötige Zeit gab, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Ich wandte mich an einen der Angestellten, einen buckligen Gentleman von reiferen Jahren, dessen Augen hinter seiner dicken Brille kaum zu erkennen waren. Er trug in sichtlicher Eile, aber sehr akkurat, Ziffern in ein Kontobuch ein und war so eifrig damit beschäftigt, dass er mein Nähertreten zunächst gar nicht bemerkte. »Ingram«, sagte ich zu ihm. Er unterließ es, zu mir aufzusehen. »Mr. Ingram ist im Augenblick indisponiert. Wenn Sie bitte warten oder Ihre Karte hinterlassen würden, Sir.« »Nein«, sagte ich leise, vielleicht zu leise, denn er reagierte nicht darauf, woraufhin ich es für angebracht fand, meiner Verstimmung Ausdruck zu verleihen, indem ich mit der flachen Hand auf sein Schreibpult schlug. »Ingram«, wiederholte ich noch einmal. Er legte seine Feder beiseite und kratzte sich mit einem von Tinte verfärbten Finger die Nase. Die Kuppe seines Zeigefingers war ganz flach davon, jahrelang gegen ein Schreibgerät gedrückt worden zu sein. »Mr. Ingram ist gerade im Gespräch mit einem Gentleman«, sagte er, und aus seiner Stimme war herauszuhören, dass ich ihn gründlich eingeschüchtert hatte. Auch seinen Kollegen schien dies nicht entgangen zu sein, denn sie hielten allesamt in ihrer Arbeit inne und sahen mich an. »Ich schlage vor, dass Sie ihn holen«, sagte ich. »Es ist nicht unsere Gepflogenheit, in der Eingangshalle Geschäfte zu tätigen«, wollte er sich herausreden. »Wenn ich komme, sollten Sie es zu Ihrer Gepflogenheit machen.« »Und wer, bitte, sind Sie?« »Ah, Mr.Weaver, wenn ich recht erinnere.« Ich erkannte den Mann, der die Treppe heruntergegangen kam. Es war kein Geringerer als der kleine Mr. Bernis, der pedantische Gentleman, der jüngst in dem Speiselokal an mich herangetreten war, um mich darüber aufzuklären, dass mein Leben nun vollständig versichert war. Er eilte auf mich zu und schüttelte mir ausgiebig die Hand, was ich mit unbeteiligter Miene über mich ergehen ließ. »Wie schön, Sie wiederzusehen, Sir. Wie können wir Ihnen helfen?« »Ich bin gekommen, um von Ihnen die Herausgabe der Namen der Männer, die mein Leben versichert haben, zu verlangen.« »Wie ich Ihnen doch bereits erklärt habe, können wir diese Information nicht preisgeben. Unsere Kunden erwarten Vertraulichkeit, und wir dürfen nicht ...« »Ich spucke auf Ihre Vertraulichkeit«, fuhr ich ihm brüsk über den Mund. Der Angestellte trat erschrocken einen Schritt zurück, als hätte ich ihm mit meiner Vehemenz davongepustet. »Nun rücken Sie schon damit raus.« »Sir.« Eines musste ich dem armen Mr. Bernis lassen. Er war nicht gerade stattlich gebaut und wirkte auch alles andere als rauflustig, war jedoch seinem Arbeitgeber treu ergeben. Tapfer trat er einen Schritt auf mich zu und legte mir sogar eine Hand auf den Arm. Ich packte mir den kleinen Kerl und stieß ihn gegen den Schreibtisch des Brillenträgers. Sogleich purzelten beide Hals über Kopf zwischen herumfliegenden Papieren und verschütteter Tinte über den Fußboden. Ich hoffte, dass sich der Alte nichts gebrochen hatte, denn er konnte schließlich nichts dafür. Ich nahm mir vor, ihm als Kompensation ein Geschenk zukommen zu lassen, aber im Augenblick hatte ich Wichtigeres zu tun. »Ich will mit Ingram sprechen!«, rief ich laut, und um meinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, trat ich an den nächsten Tisch und fegte alles, was sich darauf befand, mit einer einzigen Armbewegung auf den Boden. Wie ich gehofft hatte, brach in dem Schreibsaal ein heilloses Durcheinander aus. Mehrere Angestellte, einer davon mit dem Gesicht voller Tinte, flüchteten in Richtung Treppe. Überall lagen Papiere verstreut, und alle schrien durcheinander, einschließlich des armen Bernis, der sich wieder aufgerafft hatte und klagend Ingrams Namen rief. Ich stimmte in den Chor mit ein und rief ebenfalls nach Ingram, wenn auch mit weit mehr Nachdruck. Meine Bemühungen hatten ihren Zweck nicht verfehlt, denn die Tür zu seinem Büro öffnete sich, und dann sah ich Ingram vor mir - er war von leicht unterdurchschnittlicher Größe, aber gut gebaut, mit breiten Schultern und einem Brustumfang wie ein Fass, obwohl er zweifellos über fünfzig zählte. Trotz des Tumults, dessen Anblick ein Schock für ihn gewesen sein musste, ließ seine Haltung nichts zu wünschen übrig. Ich beobachtete, wie sich hinter ihm Elias von seinem Stuhl erhob und langsam auf die Tür zutrat, um sie von innen zu schließen, also musste ich Ingram ablenken. Ich trat mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn zu, fuchtelte mit der Hand und stand kurz davor, ihm herablassend auf die Brust zu pochen. »Mein Name ist Weaver«, sagte ich. »Mehrere Personen haben eine Lebensversicherung auf mich abgeschlossen. Ich verlange, dass Sie mir ihre Namen nennen und mir sagen, was für Männer das sind. Ansonsten werden Sie es bereuen.« »Lewis«, rief er einem der Angestellten zu. »Holen Sie den Wachtmeister.« Ein junger Mann, der neben der Treppe gekauert hatte, weil er sich einerseits in Sicherheit bringen, sich andererseits das Spektakel aber doch nicht ganz entgehen lassen wollte, stand auf und flitzte an mir vorbei und zur Tür hinaus, als hätte er Angst, ich könne ihn beißen. Aber ich ließ ihn laufen. Mindestens während der nächsten Viertelstunde würde kein Konstabler auf seiner Runde hier vorbeikommen, und ich hatte nicht vor, so lange zu verweilen. »Alle Wachtmeister der Welt können Ihnen nicht helfen«, sagte ich. »Sie werden mir so oder so meine Fragen beantworten müssen.« »Die Antwort haben Sie schon bekommen«, sagte er. »Sie müssen sehr entschuldigen, aber wir können Ihnen die Information, die Sie verlangen, nicht geben. Nun verlange ich, dass Sie auf der Stelle das Haus verlassen, weil es Ihnen sonst um Ihren guten Ruf leidtun könnte.« »Meinem Ruf kann keiner was anhaben«, sagte ich. »Im Gegenteil, er ist so gut, dass ich damit sogar vor Gericht Anschuldigungen gegen Sie und Ihre Versicherung erheben könnte, und das wäre doch Ihrem Ruf recht abträglich, oder?« »Es wäre für unseren guten Ruf noch abträglicher, wenn wir das Vertrauen unserer Kunden missbrauchen, indem wir offenlegen, was offenzulegen wir nicht verpflichtet sind.« Auf diese Weise debattierten wir noch mehrere Minuten lang, bis ich gewahrte, dass sich die Tür zu Ingrams Büro wieder öffnete. Dies war das Signal, auf das Elias und ich uns verständigt hatten und damit für mich das Zeichen, dass ich mich nun aus dem Staube machen sollte. Unter Drohungen, dass diese Impertinenz nicht ungesühnt bliebe, nahm ich meinen Rückzug vor. Ich begab mich in das gleiche Wirtshaus wie zuvor und bestellte mir ein Bier, um auf Elias zu warten. Er kam früher, als ich gedacht hatte. »Ich habe den Wirrwarr, den du angerichtet hast, als Entschuldigung benutzt, um zu gehen«, erzählte er. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob Ingram oder einer der Angestellten nicht einen Zusammenhang zwischen deinem Besuch und dem meinen sehen werden und uns auf die Schliche kommen.« »Und wenn schon. Unternehmen können sie sowieso nichts, denn sie werden kaum wollen, dass alle Welt erfährt, wie leicht Unbefugte an ihre vertraulichen Geschäftsunterlagen herankönnen. Nun, hast du die Namen herausbekommen?« »Das habe ich«, sagte er. »Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei.« Aus seiner Tasche zog er einen Papierfetzen, auf dem fünf Namen geschrieben standen, die ich noch nie gehört hatte. Jean-David Morel Pierre Simon Jacques LaFont Daniel Emile Arnaud Roux »Möglicherweise fällt dir etwas daran auf«, sagte er. »Das sind alles französische Namen.« »Eben.« »Soweit ich verstanden habe, fangen die Franzosen gerade an, sich in Indien breitzumachen, und es könnte durchaus sein, dass sie bei der Verfolgung ihrer Ziele der East India Company auf die Füße treten. Das leuchtet mir ein. Was mir nicht einleuchtet, ist, warum sie glauben, ihr Reüssieren hinge von meinem Erfolg ab, und zwar so sehr, dass sie mein Leben versichern müssen.« »Das ist eine mögliche Erklärung. Es gibt aber noch eine andere, und die halte ich für wahrscheinlicher, wie ich leider sagen muss.« »Da sie wissen, dass ich bald tot sein werde, sehen sie keinen Grund, nicht auch noch Profit daraus zu schlagen.« Elias nickte ernst. »Du hattest schon vor dieser Geschichte Feinde, Weaver, aber ich fürchte, dass wir soeben erfahren haben, dass es noch schlimmer um dich steht, als wir geglaubt hatten.« 15 Während ich Ellershaw etwas vormachte, Cobb Informationen vorenthielt, mich mit Carmichael verschwor und mit Elias' Hilfe mein Ränkespiel weitertrieb, war es mir nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass gewisse französische Spitzbuben sich meines bevorstehenden Unterganges so sicher wähnten, dass sie sogar einen Einsatz darauf wagten. Der Gedanke war zumindest unerfreulich, aber wie ich vor gar nicht so langer Zeit in Kingsley's Coffee House hatte feststellen dürfen, sollte man sich seiner Sache nie allzu sicher sein, und ich hatte allen Grund zu der Hoffnung, dass diese Gecken ihr Geld in den Sand setzen würden. Gerne hätte ich mehr Zeit für Elias gehabt, denn obwohl es uns keine fünf Minuten gekostet hatte, eins und eins zusammenzuzählen, benötigen manche Erkenntnisse Zeit, sich erst einmal zu setzen und dann zu reifen, bevor wir sie voll und ganz auskosten können - wie eine gute Flasche Wein etwa. Den Luxus eines langsamen Gärprozesses konnte ich mir allerdings nicht leisten, denn ich hatte eine Verabredung, und obwohl ich dem Treffen mit gemischten Gefühlen entgegensah, wollte ich nicht zu spät kommen. Ich hatte den ganzen Tag lang an kaum etwas anderes gedacht, und sowie ich ohne aufzufallen Craven House den Rücken gekehrt hatte, begab ich mich sogleich nach St. Giles-in-the-Fields. Meinen geneigten Lesern dürfte bekannt sein, dass es sich dabei nicht um einen der angenehmsten Stadtteile der Metropole London handelt, und obwohl ich es gewohnt bin, in anrüchigen Vierteln zu verkehren, stellt St. Giles mit seinen gewundenen Straßen und seinem Labyrinth von Gassen doch selbst die profundeste Ortskenntnis auf die Probe. Trotzdem fand ich mich ganz gut zurecht, und ein paar Münzen in der Hand einer mitteilsamen Straßendirne halfen mir denn auch, das Duck and Wagon zu finden. Das Wirtshaus stellte, jedenfalls in Hinblick auf die Umgebung, in der es sich befand, sogar einigermaßen etwas dar, und mein Eintreten rief kaum Aufmerksamkeit hervor außer bei den Spielern und Huren und Bettlern, die allesamt auf Geldbeutel und ihre unbedarften Besitzer lauerten. Ich aber war nicht fremd in solchen Etablissements, und ich wusste mir einen bedrohlichen Anschein zu geben, so dass diejenigen, die in solch trüben Wassern nach leichter Beute fischten, sogleich witterten, dass sie es mit einem Hai unter den Ihrigen zu tun hatten und sich tunlichst fern von mir hielten. Rasch erkannte ich, dass das Duck and Wagon zu der Sorte Spelunken gehörte, die sich Speisewirtschaft schimpften. Dementsprechend war in der Nähe der Küche ein Bottich von der Größe, dass ein ausgewachsener Mann darin hätte ein Bad nehmen können, aufgestellt, um den sich ungefähr zehn mit langen Messern bewaffnete Männer scharten. Sie alle hatten ihre drei Pennys bezahlt, um mit dem Messer zwei oder drei Mal - je nach den Regeln des Hauses - in den Bottich hineinstoßen zu dürfen. Ein Gewinner in diesem Glücksspiel würde am Ende ein Stück Fleisch aufgespießt haben, während die Verlierer sich mit einer Karotte oder einer Rübe bescheiden mussten. Ich suchte mir einen Tisch in einer dunklen Ecke abseits des Trubels um besagten Bottich und zog mir den Hut tief ins Gesicht, während ich mein gepanschtes Ale trank. Es dauerte noch zwei Krüge von dem Gesöff, bis Miss Glade eintraf, und ich muss zugeben, sie nicht auf Anhieb erkannt zu ha-ben, was allerdings weder an der Finsternis noch an meinen leicht benebelten Sinnen lag, sondern an ihrer Kleidung. Offenbar wusste sie in noch mehr Rollen zu schlüpfen als die des Dienstmädchens und die der Angestellten in einem Handelshaus. Heute war sie als alte, schlampige Hure verkleidet und wirkte so unansprechend, dass sie ebenso gut auch unsichtbar hätte sein können. Aber man konnte sich wohl kaum besser tarnen als durch die äußere Erscheinung einer Kreatur, von deren Anblick ein jeder sich am liebsten abwendet. Zu Hunderten schleichen diese unglücklichen Weiber, deren verwitterte Körper für ihren Beruf nicht mehr taugen, in der Hoffnung durch die Straßen, einen Mann zu finden, der zu betrunken oder zu verzweifelt ist, um sich daran zu stören. Miss Glade hatte sich in verlotterte Kleider geworfen, sich das Haar zerzaust, sich ein paar Zähne schwarz übertüncht und sich andere bräunlich gefärbt, um einen möglichst unappetitlichen Anschein zu erwecken. Am überzeugendsten jedoch war ihre Haltung. Mir war noch nie aufgefallen, dass ältere Huren einen ganz bestimmten Gang an sich haben, aber nun sah ich es. Nur Miss Glades dunkle, glänzende und wache Augen verrieten, dass sie es war. Damit ihre Verkleidung überzeugend wirkte, bestellte ich auf ihren Wunsch hin einen Gin für sie. Ein paar der Gäste amüsierten sich zwar über meinen Geschmack, was Frauen betraf, aber niemand schien sich weiter etwas dabei zu denken -für sie war ich eben nicht mehr ganz nüchtern, und diese Frau konnte von Glück reden, auf mich gestoßen zu sein. »Nun gut denn«, sagte ich und kam mir dabei ziemlich albern vor. »Mit Ihrer Maskerade hätten Sie mich beinahe hereingelegt, aber sei's drum - wir haben allerhand zu bereden.« »Und das wird gar nicht so einfach sein, denn keiner von uns traut dem anderen.« Unter Schichten von Theaterschminke kam wie ein Palimpsest ein Lächeln zum Vorschein - ihr wahres Lächeln. »Das, Madam, ist die traurige Wahrheit. Vielleicht wären Sie so gut, mir zu erklären, was Sie im Craven House eigentlich tun. Und wenn Sie schon einmal dabei sind, könnten Sie mir auch gleich verraten, inwiefern der Aufstand der Seidenweber neulich abends Ihre Pläne durchkreuzt hat.« Sie zwinkerte unwillkürlich mit den Augen, was mir verriet, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. »Meine Pläne?« »Als Sie meiner angesichtig wurden, haben Sie etwas wie >Da sind Sie ja< oder so gesagt und dann Ihre Überraschung darüber zum Ausdruck gebracht, dass ich von der Menschenansammlung am Tor nicht aufgehalten worden war. Es ist klar, dass Sie mich für jemand anderes gehalten haben, weswegen Sie in meiner Gegenwart auch nicht Ihre Stimme verstellt haben, wie Sie es sonst im Craven House zu tun pflegen. Wenn wir uns an jenem Abend nicht begegnet wären, hätte ich wohl nie den Schluss gezogen, dass Sie sich als jemand anderes ausgeben, während Sie Ihrer Arbeit bei der East India Company nachgehen.« »Sie ziehen eine ganze Menge Schlüsse«, sagte sie. »Das stimmt. Falls Sie mich aber mit Fakten versorgen, werde ich weniger aufs Schlüsseziehen angewiesen sein.« »Oder wie wäre es, wenn Sie mich mit Fakten darüber versorgen, was Sie so treiben?« Ich musste lachen. »Wenn wir weiter wie Katz und Maus umeinander herumschleichen, kommen wir nie einen Schritt weiter. Sie müssen sich Ihre Gedanken gemacht haben, sonst hätten Sie sich nicht mit mir verabredet.« Sie presste nachdenklich die Lippen aufeinander. »Da haben Sie natürlich recht. Es hat wenig Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Wenn keiner von uns es wagt, den Mund aufzumachen, kommen wir nie zu einer Lösung. Und Sie dürfen mir glauben, dass es mein größter Wunsch ist, dass wir am selben Strang ziehen.« »Und warum das?«, erkundigte ich mich. Noch einmal zeigte sie mir ihr Lächeln. »Sie dürfen einer Lady nicht eine solche Frage stellen«, sagte sie. »Aber ich glaube, Sie kennen die Antwort.« Ja, das hoffte ich auch. Aber ich durfte dieser Frau nicht trauen. Sie hatte Charme, sah gut aus und verfügte über Humor - eine Mischung, die ich ziemlich unwiderstehlich fand, und in ihr verbanden sich diese vorzüglichen Eigenschaften auf eine Weise, die mich geradezu magisch anzog. Doch alles, was ich bisher von ihr gesehen hatte, sagte mir, dass sie die Kunst, anderen etwas vorzumachen, auf das Trefflichste beherrschte, also musste ich davon ausgehen, dass jeder Versuch, mir zu schmeicheln, so falsch sein konnte wie ihre Kostümierung. »Sir«, sagte sie. »Ich muss Ihnen eine einzige Frage stellen. »Beabsichtigen Sie mit Ihrem Tun im Craven House, dem Unternehmen zu schaden oder ihm zu nützen?« »Keines von beiden«, sagte ich nach einem Augenblick des Zögerns. Ich hatte diese Frage nicht erwartet und musste mit meiner Antwort auf Nummer sicher gehen. Von einer neutralen Position ließ sich immer leichter abweichen. »Mir ist das Schicksal der East India Company gleichgültig, und ich lasse mich in meinem Handeln weder von dem einen noch von dem anderen beirren.« Die Antwort schien sie zufriedenzustellen. »Ich freue mich, das zu hören, denn es bedeutet, dass wir nicht auf verschiedenen Seiten kämpfen. Nun aber dazu, was ich für die East India Company tue. Wie Ihnen bekannt ist, Sir, besitzt das Unternehmen kein Monopol auf seinem Gebiet. Jedes Unternehmen, das über die notwendigen Mittel und Beziehungen verfügt, kann mit Indien Handel treiben.« Wieder musste ich lachen. »Ja, das habe ich auch schon gehört. Es scheint ein bevorzugtes Thema im Craven House zu sein.« »Das ist auch nur zu begreiflich. Die East India Company muss ständig auf der Hut vor denjenigen sein, die ihr schein-bar ihren Reichtum nehmen wollen. Also wird häufig etwas unternommen, um einen potenziellen Mitbewerber auszustechen. Doch manchmal bleibt es nicht dabei. Manchmal wird zu unfairen Praktiken gegriffen und auch vor Diebstahl nicht zurückgeschreckt, um ein kleines Unternehmen, dass nicht mehr als einen Fingerhut voll vom Reichtum des Ostens abhaben möchte, im Keime zu ersticken.« »Und Sie gehören zu einem solchen Unternehmen?« »In der Tat. Ich stehe in Diensten eines Handelsherren, dessen geschäftliche Ideen und Kontakte ihm von Agenten der East India Company abspenstig gemacht worden sind. Ich halte mich im Craven House auf, um Beweise für diese Missetat zu finden und das begangene Unrecht wiedergutzumachen. Wie auch Ihnen liegt mir weder etwas daran, der East India Company zu schaden, noch ihr zu nützen. Ich will nur Genugtuung.« »Die Direktoren der East India Company werden ein wenig anders darüber denken, aber das soll mir gleich sein. Wenn Ihrem Auftraggeber ein Unrecht widerfahren ist, wie Sie sagen, kann ich Ihnen nur Erfolg bei Ihren Bemühungen wünschen.« »Vielen Dank, Sir. Könnten Sie mir nun vielleicht sagen, was Sie so umtreibt?« »Aber gewiss.« Ich hatte mir darüber ausgiebig Gedanken gemacht, nachdem von Miss Glade der Vorschlag für diese Zusammenkunft gekommen war, und ich hatte mir eine Geschichte zurechtgelegt, von der ich glaubte, dass Sie meinen Zwecken aufs Vorzüglichste dienen würde. »Ich stehe in Diensten eines Gentleman, der mehr persönliche Verdienste als Vermögen vorweisen kann. Es handelt sich dabei um den leiblichen Sohn von Mr. Ellershaw. Unser werter Kollege hat ihn vor ungefähr zwanzig Jahren gezeugt, danach aber weder dem Kind noch der unglücklichen Mutter den Unterhalt gewährt, den auch solche unehelichen Kinder zum Leben brauchen. Ja, er hat die Mutter sogar auf die herzloseste Weise abgewiesen, als diese ihn um Hilfe anflehte. Auf Wunsch dieses Sohnes bin ich nun hier, um Beweise für Ellershaws Vaterschaft zu erbringen, damit gegen ihn ein Verfahren angestrengt werden kann.« »Ich glaube, ich habe von dem Fall gelesen«, sagte Miss Glade. »Tatsächlich?« Meine Verblüffung musste mir am Gesicht abzulesen gewesen sein. »Ja. Miss Eliza Haywood hat ihn in einem ihrer romantischen Romane verwendet.« Ich hustete nervös. Ein Mann am Nebentisch schaute zu uns herüber, um sich zu vergewissern, dass ich auch nicht erstickte. »Sie verfügen über einen wachen Geist, Madam, aber Sie wissen doch, dass Romanschriftstellerinnen sich rühmen, wie aus dem Leben gegriffen zu schreiben. Es kann daher nicht verwundern, wenn eine Geschichte aus dem wahren Leben in gewisser Weise einer Romanepisode ähnelt, die ihr nachempfunden ist.« »Kann sein, dass Sie eher gewitzt als überzeugend sind.« Sie machte eine ausholende Geste mit den Händen und grinste dazu. »Trotzdem«, sagte ich, »würde ich, wenn wir nun schon dabei sind, einander gegenseitig auf den Zahn zu fühlen, gerne etwas von Ihnen erfahren. Wie kommt es, dass eine junge Dame über eine solch bemerkenswerte Verstellungskunst verfügt? Und Sie wissen sich nicht bloß zu kostümieren, sondern auch Ihre Stimme, ja Ihren ganzen Habitus dem Kostüm anzupassen.« »Nun ja.« Sie blickte zu Boden. »Ich habe Ihnen noch nicht alles von mir erzählt, Mr. Weaver. Aber da wir nun einander unser Vertrauen schenken und ich glaube, dass Sie mir nichts Böses wollen, will ich mich bemühen, noch ehrlicher mit Ihnen zu sein. Mein Vater, Sir, war ein jüdischer Handwerker, der ...« »Sie sind Jüdin?« Ich musste mich gehörig zusammenneh-men, um ihr meine Frage nicht ins Gesicht zu schreien. So kam sie mehr als ein grollendes Flüstern heraus. Sie sah mich amüsiert aus großen Augen an. »Erstaunt Sie das so sehr?« Meine Antwort fiel ziemlich direkt aus. »Ja.« »Ich verstehe. Eine brave Jüdin bleibt zu Hause, kocht, entzündet die Kerzen und stellt ihr Leben in den Zweck, es einem Vater oder Bruder oder Ehemann oder Sohn behaglich zu machen. Nur englischen Frauen ist es gestattet, sich frei auf der Straße zu bewegen.« »So habe ich das nicht gemeint.« »Sind Sie sich da ganz sicher?« Nein, das war ich nicht, also vermied ich es, die Frage zu beantworten. »Es gibt nicht so viele von uns auf dieser Insel, als dass ich erwarten könnte, eine charmante Fremde wie Sie darunter zu finden.« »Und doch verhält es sich so. Aber dürfte ich nun mit meiner Geschichte fortfahren?« »Selbstverständlich.« »Wie ich sagte, war mein Vater Handwerker, ein gelernter Steinmetz, der als junger Mann seine Heimatstadt Wilna verließ, um sein Glück zu suchen. Viele Männer wie ihn verschlug es nach England, denn nirgendwo in Europa können Juden so unbehelligt leben wie hier. Und hier ist ihm auch meine Mutter begegnet, die ebenfalls nach England ausgewandert war. Geboren war sie als Kind armer Eltern in einem Ort namens Kazimierz.« »Also sind Sie eine Aschkenasin?« »So pflegt Ihresgleichen uns zu bezeichnen«, sagte sie nicht ohne Bitterkeit. »Sie mögen uns nicht sehr.« »Ich hege keine Vorurteile. Dessen können Sie gewiss sein.« »Und wie viele Juden von meiner Sorte zählen Sie zu Ihren Freunden?« Es war mir äußerst unangenehm, so ausgefragt zu werden, also legte ich ihr nahe, doch mit ihrer Erzählung fortzufahren. »Teils wegen der Frömmelei der Engländer, teils wegen der Bigotterie unseres eigenen Volkes fand er es sehr schwer, hier in seinem Beruf zu arbeiten, doch nach vielen Jahren der Mühe brachte er es zu einem einigermaßen auskömmlichen Leben. Leider ist er bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen, als ich gerade siebzehn Jahre alt war. Ich kann mich nur damit trösten, dass die Arbeit mit Stein eben vielerlei Gefahren mit sich bringt. Meine Mutter war nicht in der Lage, uns zu ernähren, und wir hatten sonst keine Angehörigen in diesem Land. Also waren wir auf die Wohltätigkeit unserer Synagoge angewiesen, aber im Gegensatz zur anglikanischen Kirche verfügt diese nur über sehr geringe Mittel und konnte es sich kaum leisten, uns unser täglich Brot und ein Dach über dem Kopf zu gewähren. Diese Schande war zu viel für meine Mutter, so dass sie meinem Vater binnen eines halben Jahres ins Grab folgte. In all meinem Kummer fand ich mich auch noch mutterseelenallein auf der ganzen Welt.« »Es tut mir sehr leid, das zu hören.« »Sie machen sich kein Bild davon, wie schlimm es um mich stand. Alles, was ich besaß, war mir genommen worden, und mir standen nur bitterer Mangel und Elend bevor. In dieser Situation beschloss ich, die Papiere meines Vater zu durchforsten und stellte dabei fest, dass ein Mann von gewissem Ansehen ihm noch drei Pfund schuldig war. So bin ich zu Fuß durch diesen Moloch von einer Stadt gezogen und habe mir die übelsten Schmähungen gefallen lassen müssen, die Sie sich nur vorstellen können. Und ich wusste dabei um die Torheit meines Unterfangens, denn Männer wie der Schuldner meines Vaters pflegen ihre Rechnungen nicht zu begleichen, wenn sie es denn vermeiden können. So viel war mir längst klar geworden. Ich erwartete, grob abgewiesen zu werden, aber ich sollte mich gründlich getäuscht haben. Trotz der Fetzen, die ich am Leibe trug und meines elenden Aussehens empfing mich der Gentleman persönlich und übergab mir unter dem Ausdruck seines tiefsten Bedauerns ob der Verzögerung und meines Schicksals die mir zustehenden Silbermünzen, ja, er bezahlte mir sogar das Doppelte, um mein Leid zu mindern. Und er tat noch mehr für mich, Mr. Weaver. Er fragte mich, ob ich nicht als seine Gefährtin bei ihm bleiben wolle.« Ich versuchte, meine Gefühle zu verhehlen. »Sie dürfen sich nicht schämen, zu etwas gezwungen gewesen zu sein, um nur überleben zu können.« Sie sah mich unverwandt an. »Ich spreche nicht davon, dass ich mich geschämt hätte. Ich hatte sechs Pfund in meiner Hand, die wohl für Monate mein Überleben sichern würden. Und doch nahm ich das Angebot an, denn warum, sagte ich mir, sollte ich auf saubere Kleidung, ein Heim und mehr zu essen als das, was ich brauchte, um mich gerade eben vor dem Verhungern zu bewahren, verzichten? Ich weiß auch etwas über Ihre Geschichte, Sir, denn es ist in den Zeitungen darüber geschrieben worden. Als Sie in Ihrer Jugend ohne einen Heller dastanden, sind Sie in den Ring gestiegen, haben sich also von den Gaben Ihres Körpers ernährt. Ich habe nichts anderes getan, doch wenn Frauen dergleichen tun, werden sie mit allen möglichen Schimpfnamen bedacht. Und wenn ein Mann sich einer Frau annimmt, ihre Bedürfnisse nach Kleidung und Nahrung und einem Dach über dem Kopf stillt und sie als Gegenleistung nur auf die Aufmerksamkeiten anderer Männer verzichtet, nennt man das in manchen Ländern den Stand der Ehe. Hierzulande ist es Hurerei.« »Madame, es steht mir nicht zu, über Sie zu urteilen.« »Nicht mit Ihren Worten, aber ich kann in Ihren Augen lesen.« Darauf wusste ich nichts zu erwidern, denn sie hatte richtig beobachtet. Ich hatte lange genug selber auf der Straße gelebt, um zu wissen, wie töricht es war, den Stab über eine Frau zu brechen, weil sie die ihr gegebenen Möglichkeiten nutzt, um dem Hungertode oder einem kaum erstrebenswerteren Dasein zu entgehen. Und ich wusste auch, dass wir nur deshalb so vorschnell verächtlich über Frauen sprachen, die sich nach ihrem Wohlgefallen ihres Körpers bedienten, weil wir Männer über das Tun und Lassen der Frauen bestimmen wollten. Und doch war ich enttäuscht, denn in meiner Vorstellung sollte sie rein und unbefleckt sein - was wiederum nur zu töricht meinerseits war. Es hatte schließlich mit ihrem Freiheitsdrang, ihrem wachen Geiste zu tun, ihrem Wunsch, mit der Welt im Einklang zu stehen - oder besser noch, die Geliebte der ganzen Welt zu sein -, dass ich mich so zu Celia Glade hingezogen fühlte. »Wie Sie bin auch ich von der Welt, in die ich hineingeboren wurde, geprägt worden«, sagte ich versöhnlich. »Seit meiner frühesten Jugend ist es mir anerzogen worden, derartige Urteile über Frauen zu fällen, die ähnliche Entscheidungen wie Sie getroffen haben. Und obwohl ich mit reiferen Jahren den Wunsch habe, solche Vorstellungen aus meinen Gedanken zu verbannen, meldet sich doch eine innere Stimme in mir, die mich von dem Gegenteil überzeugen möchte.« »Ja«, sagte sie, »ich habe Entscheidungen getroffen, und ich wusste, dass diese Entscheidungen zu der Zeit die richtigen waren, doch höre auch ich auf eine innere Stimme. So sehr, wie ich mir wünsche, nicht von Ihnen verdammt zu werden, so wenig will auch ich Sie verdammen. Doch zurück zu meiner Geschichte. Während ich seine Bevorzugte war, hat es mir an nichts gefehlt, und er fand großen Gefallen an meiner Neigung, alles zu parodieren. Zu Anfang ermunterte er mich nur, Bekannte von uns nachzuahmen, aber dann begann er, Kostüme für mich zu kaufen und mich in allerlei Rollen schlüpfen zu lassen - die einer bettelnden Zigeunerin, einer arabischen Kurtisane, eines Bauernmädchens, sogar die einer alten Frau. Ihm zu Gefallen habe ich mir die Fertigkeiten angeeignet, die Sie an mir beobachtet haben. Doch wie es sich unter solchen Umständen ergibt, traf er eine andere Frau, die jünger und interessanter war als ich und noch mehr seinem Geschmack entsprach.« »Er muss der größte Dummkopf der Welt gewesen sein, dass er eine andere Frau Ihnen vorgezogen hat.« Ich sah ein selbstgefälliges Funkeln in ihren Augen aufblitzen, doch sie zog es vor, meine schmeichlerische Bemerkung zu ignorieren. »Auch wenn ich nicht länger die Dame seines Herzens war, hat jener Gentleman, dessen Namen ich nicht nennen werde, doch seine Pflicht erkannt - anders als Mr. Ellershaw, wie Sie ihn mir beschrieben haben - und fuhr damit fort, mich zu unterstützen. Nachdem ich zwei Jahre lang von ihm getrennt, aber von seinen Zuwendungen gelebt hatte, suchte er mich eines Tages auf, um mir zu sagen, dass er wünschte, ich würde meine Talente zu seinem Nutzen anwenden. Da ich ihm einiges zu verdanken hatte, konnte ich ihm diesen Wunsch schlecht abschlagen, vor allem, da ich mir auch in Zukunft sein Wohlwollen nicht verscherzen mochte. So bin ich als seine Augen und Ohren ins Craven House gekommen, um möglichst viel über die illegalen Machenschaften der East India Company in Erfahrung zu bringen und damit auch anderen Geschäftsleuten den Handel mit Asien zu öffnen. An dem Abend unserer ersten Begegnung hielt ich Sie für einen Bediensteten meines Wohltäters, der gekommen war, um die Abschriften einiger Papiere zu holen, die ich für seine Zwecke angefertigt hatte, und dadurch habe ich mich unwillkürlich verraten.« Mir lag die Bemerkung auf der Zunge, dass ich wohl nicht der Einzige war, der Geschichten zum Besten gab, in denen Stoff für einen Roman steckte, aber das wäre ungalant gewesen, also nickte ich nur. Doch als dann die Andeutung einer Träne in ihrem Augenwinkel erschien, strich ich ihr über die Hand, wobei ich ein Ginglas umstieß, das seit ihrem Eintreffen unberührt auf dem Tisch gestanden hatte, und da wir recht weit entfernt vom Feuer saßen, konnte ich mir vorstellen, dass sie über die kühle Flüssigkeit in ihrem Schoß erschrecken musste. »Oh, ist das kalt!«, entfuhr es ihr in ihrer eigenen Stimme - ganz und gar nicht der einer alternden Hure. Sie sprang auf und wischte sich das Getränk von der Kleidung. Zum Glück war es noch nicht tief eingedrungen, und obwohl sich die übrigen Gästen über das Missgeschick amüsierten, schien es niemandem aufgefallen zu sein, dass sie wie eine junge Dame gekreischt hatte und nicht wie eine verbrauchte, verwelkte Metze. »Ich bitte sehr um Entschuldigung«, sagte ich und eilte zum Tresen, wo ich mir von dem Wirt ein einigermaßen trockenes Handtuch geben ließ. Danach konnte Miss Glade wieder Platz nehmen. »Sie müssen meine Ungeschicklichkeit entschuldigen«, sagte ich noch einmal, nachdem ich das Handtuch zurückgebracht hatte. »Ich muss so von Ihrer Schönheit geblendet gewesen sein, dass ich gar nicht mehr wusste, was ich tat.« »Ihre charmanten Worte klängen noch überzeugender, wenn ich nicht so gekleidet wäre«, sagte sie mit einem schiefen Grinsen, aber ich wusste, dass sie es mir nicht nachtrug. Im Gegenteil - der Zwischenfall hatte sogar dazu beigetragen, die Spannung zwischen uns zu lösen. Es gab nun einiges, über das ich nachdenken musste. Wie viel davon sollte ich Cobb anvertrauen? Es war mir klar, dass Miss Glade die Unwahrheit gesagt hatte - zumindest, was ihren Versuch betraf, einem Kaufmann, dem man übel mitgespielt hatte, zu seinem Recht zu verhelfen. Ihre Geschichte ähnelte zu sehr meiner eigenen - eine Mär vom Streben nach Genugtuung. Aber wer wollte ihr die gute Absicht verübeln? Höchstens ein Angehöriger der East India Company. Doch für was auch immer sie mich halten mochte, eines wusste sie: Ich steckte nicht mit denen unter einer Decke. Aber wie verhielt es sich nun wirklich mit Miss Glade? Wenn sie nicht war, als was sie sich ausgab, was war sie dann? Ich hegte durchaus meine Vorbehalte, denn ich hatte ihr schon die Geschichte davon, wie sie sich für ihren Galan verkleidet hatte, nicht abgenommen. Und sie war vermutlich auch keine Schauspielerin, denn das hätte sie doch nicht zu verhehlen brauchen. Aber wer sonst war so geschickt darin, sich als jemand anderes auszugeben? Über die Antworten auf solche Fragen hatte ich nachgesonnen, als ich ihr Glas umstieß. Es war kalt in dem Raum, und sie würde sich erschrecken und, so hoffte ich, einen Schrei ausstoßen, und zwar mit unverstellter Stimme. Es waren nur vier Worte gewesen, nur vier Silben, aber das hatte mir gereicht, um die Spur von einem Akzent herauszuhören. Das langgezogene o, das s, das wie ein Zischlaut klang, das t, das viel gehauchter geklungen hatte, als es die Briten betonen. Es war nicht der Akzent einer Einheimischen, und erst recht nicht das Jiddisch der Juden Mittel- und Osteuropas. Oh ja, den Akzent kannte ich, konnte ihn sogar anhand so weniger Worte zuordnen. Miss Glade war eine Französin, die etwas anderes zu sein vorgab, und ich konnte mir keinen anderen Grund dafür denken, als dass sie eine Spionin im Dienste der französischen Krone war, im Dienste eben jener Männer, die, wie ich annehmen musste, auf mein baldiges Ableben spekulierten. 16 Warum sollte den Franzosen so viel daran gelegen sein zu erfahren, was ich mit der East India Company zu tun hatte? Auf diese Frage konnte ich beim besten Willen keine Antwort finden, also wollte ich mich möglichst rasch von der Lady trennen, um in Ruhe über diese neue Erkenntnis nachzusinnen, doch ich musste mir genügend Zeit lassen, damit sie nicht merkte, dass ihr Aufschrei etwas über sie verraten hatte. Ich begleitete sie - oder vielmehr, sie begleitete mich, denn sie kannte sich in dem Labyrinth von St. Giles weit besser aus als ich - zur High Holborn Road, wo ich eine Droschke für sie besorgen wollte. Im Gehen begann sie, Teile ihrer Verkleidung abzulegen und in einem Beutel, den sie mit sich trug, zu verstauen. Zunächst die Perücke, dann ihre abgerissenen Handschuhe, die sie gegen neue austauschte; schließlich wischte sie sich mit einem Tuch die Schminke aus dem Gesicht. Sie war immer noch so gekleidet, dass es kaum ihren weiblichen Liebreiz betonte, und ihre Zähne blieben vorerst verfärbt und lückenhaft, doch als wir auf die lebhafte Straße hinaustraten, sah sie schon nicht mehr aus wie eine Schlampe, sondern wie eine schöne Frau, die eben nur schäbig gekleidet war. »Wie bevorzugen Sie mich denn?«, verlangte sie zu wissen. »Erlauben Sie mir, dass ich die Antwort erwäge«, sagte ich, »und Sie werden sie in Bälde von mir bekommen.« Ein Droschkenkutscher fing meinen Blick auf und gab uns ein Zeichen, näherzutreten. »Gut, ich werde mich von Ihnen hinhalten lassen«, sagte sie, »und ich bedanke mich für Ihre Hilfsbereitschaft mit der Kutsche. Aber was wird nun aus Ihnen?« »Zunächst muss ich Sie sicher auf den Weg bringen, dann kümmere ich mich um ein eigenes Transportmittel.« »Vielleicht können wir uns einen Wagen teilen«, schlug sie unerwartet keck vor. »Ich wüsste nicht, dass wir die gleiche Richtung haben.« Sie kam ganz dicht an mein Ohr. »Es ließe sich doch bestimmt einrichten, dass unsere gleiche Richtung genau die ist, in die wir fahren.« Ich weiß nicht, ob ich je in meinem Leben härter darum gerungen habe, meine Leidenschaft zu zügeln. Mit leicht geneigtem Kopf schielte sie zu mir hoch; ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, so dass ich das verlockende Rosa ihrer Zungenspitze sehen konnte. Es wäre einfach, so einfach gewesen, ihr dorthin zu folgen, wohin sie mich führen wollte, ihr zu gestatten, mich in ihre Arme zu nehmen. Ich hätte mir einreden können, dass es meinen Zwecken dienlich wäre, dass ich, indem ich ihr nahe war, mehr über ihr Trachten erfahren würde. Aber ich wusste, dass ich mich damit nur selber täuschte. Würde ich mich ihren Avancen und meinen Gelüsten hingeben, könnte ich von diesem Augenblick an meinen eigenen Instinkten nicht mehr trauen. Wenn es nur um mein Leben, mein eigenes Wohlergehen gegangen wäre, hätte ich eine Münze geworfen und sie entscheiden lassen. Aber mein teuerster Freund, ein in Würde alternder Gentleman und mein gebrechlicher Onkel waren darauf angewiesen, dass ich meine Aufgabe rasch und mit Erfolg zu Ende führte - erst dann konnte ich frohen Mutes unter den verzückendsten aller denkbaren Galgen spazieren. »Ich fürchte, dass ich noch eine dringende Verabredung habe«, redete ich mich heraus. »Dann sollte ich vielleicht für einen anderen Abend eine dringende Verabredung mit Ihnen eingehen«, schlug sie vor. »Vielleicht«, brachte ich hervor, obwohl mein Mund staubtrocken wurde. »Gute Nacht, Madam.« »Warten Sie.« Sie packte mich fest am Handgelenk. Ein jäher Taumel der Erregung, heiß wie Feuer, durchfuhr mich. Auch sie musste es gespürt haben, denn sie ließ sogleich los. »Ich hoffe«, sagte sie, offensichtlich nach Worten ringend, »... ich ... ich weiß, dass ich sehr verspielt wirken kann, aber ich hoffe, ich genieße ein wenig von Ihrer Wertschätzung. Das tue ich doch, oder?« »Selbstverständlich, Madam«, stieß ich hervor. »Und doch sind Sie immer noch so formell. Wollen Sie nicht ungezwungener mit mir umgehen?« »Daran wäre mir sehr gelegen, doch ich glaube, dies ist nicht der rechte Zeitpunkt dafür. Gute Nacht«, wiederholte ich noch einmal, wandte mich hastig ab und entfernte mich eilig. Ich hatte ihr die Wahrheit gesagt. Ich würde gerne ungezwungener mit ihr umgehen, aber dies war wirklich nicht die rechte Zeit, damit anzufangen. Das war nicht gelogen. Ich hatte bloß versäumt zu erwähnen, dass es meiner Ansicht nach meiner Freiheit, wenn nicht gar meinem Leben, zuträglich sein könnte, ihr gegenüber vorerst noch eine Spur gesundes Misstrauen zu hegen. Eine fast schlaflose Nacht voller verstörender Gedanken brachte mir auch nicht mehr Klarheit. So war es ein Glück, dass ich am nächsten Vormittag Gelegenheit fand, mich mit Elias zu besprechen. Es war niederschmetternd genug zu erfahren, dass die Franzosen meinen Tod herbeiwünschten, aber die Erkenntnis, dass Miss Glade, eine junge Dame, zu der ich eine nicht geringe Zuneigung zu fassen begann, vielleicht auch zu ihnen gehörte, verwirrte mich nur umso mehr und stimmte mich noch verdrießlicher. Ich hatte an diesem Morgen eine Unterredung mit einem der Angestellten des Craven House, und nachdem dies erledigt war, entdeckte ich zu meiner Freude Elias in der Eingangshalle des Gebäudes. Er war in ein Gespräch mit einer Frau vertieft. Einen Moment lang fragte ich mich, was er hier wollte, aber dann fiel mir ein, dass er in seiner Eigenschaft als Ellershaws behandelnder Arzt zugegen war. Ich wollte zu ihm hineilen, aber mein Eifer verließ mich fast augenblicklich, als ich sah, dass die Person, mit der er sprach, keine Geringere war als Celia Glade. Bevor ich auch nur ein Wort aus seinem Munde erhaschen konnte, erkannte ich an seinem Habitus - kerzengerade Haltung, ein breites, blendendes Lächeln, eine Hand in der Manier des ehrlich meinenden Gentleman auf die Brust gepresst -, dass er auf der Jagd nach Beute war und sich durch nichts und niemanden so leicht davon würde abbringen lassen. Ich ahnte, dass er gerade etwas Amüsantes geäußert hatte, denn Miss Glade hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken - ein Geräusch, das im Craven House als höchst unangebracht erachtet wurde. Ich meinerseits fand es höchst unangebracht, dass er versuchte, sie für sich einzunehmen, oder, was mich noch viel mehr störte, dass sie sich auch noch darauf einließ. Ich wusste, dass ich mich angesichts solch formidablen weiblichen Charmes nicht auf Elias' gesunden Menschenverstand verlassen durfte, also trat ich rasch vor, um diese Zusammenkunft, aus der nichts Gutes gedeihen konnte, zu unterbinden. Was wusste Miss Glade? War ihr bekannt, dass ich mit Elias befreundet war? Dass sein Schicksal so eng mit dem meinen verknüpft war? Ich konnte nur eines mit Bestimmtheit sagen: Ich wollte nicht, dass sie noch mehr erfuhr, als sie ohnehin schon wusste. »Guten Morgen, Celie«, begrüßte ich sie und ignorierte Elias für den Augenblick. »Hältst du es für klug, allen Beschäftigten des Craven House vorzuführen, dass du Bedarf nach dem Ratschlag eines Arztes hast?« Im Nachhinein ist mir bewusst geworden, dass ich mir eine weniger gehässige Bemerkung hätte einfallen lassen sollen, um ihr Gespräch zu unterbrechen, eine, bei der ich nicht so sehr durchblicken ließ, was ich über ihre Vorgeschichte wusste - die ich immer noch nicht zu glauben bereit war. Zu jenem Zeitpunkt jedoch war ich zufrieden damit, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Miss Glade wurde rot und eilte davon. Elias zog die Augen zu Schlitzen zusammen und presste die Lippen aufeinander - ein klares Zeichen, dass ich mir seinen Unmut zugezogen hatte. »Das war nicht gerade galant, Wea-ver, muss ich sagen.« Da ich allerhand mit ihm zu bereden hatte und dies nicht der passende Ort dafür war, zögerte ich nicht, gegen die Dienstordnung zu verstoßen und das Gelände zu verlassen, um ein Schanklokal mit ihm aufzusuchen. Den ganzen Weg lang schimpfte er herum, dass ich seine Unterredung mit Miss Glade abgewürgt hatte. »Das Mädchen war scharf wie eine Feldhaubitze, Weaver. Das werde ich dir nicht so schnell vergessen, mein Freund.« »Darüber reden wir später«, grummelte ich. »Nein, ich möchte jetzt darüber reden«, beharrte er. »Ich bin viel zu aufgebracht, um über etwas anderes zu sprechen.« Ich duckte mich, um mir nicht an einem der in der ganzen Stadt berüchtigten niedrig hängenden Ladenschilder den Kopf zu stoßen. Elias war viel zu erbost, um darauf zu achten, und ich war so verärgert, dass ich ihn beinahe in sein Unglück hätte laufen lassen, aber letzten Endes wollte ich doch nicht, dass ihm ein Leids geschah, selbst, wenn es sich nur um einen kleinen, geradezu grotesken Unfall gehandelt hätte, und zog ihn im Gehen beiseite. Er aber geriet nicht einmal aus dem Schritt. »Oh«, sagte er, »da hast du aber gut aufgepasst. Aber damit machst du dein skandalöses Benehmen auch nicht wieder bei mir gut, Weaver. Skandalös, sage ich. Ich werde mir etwas sehr Teures kommen lassen und darauf bestehen, dass du mich dazu einlädst.« Sobald wir vor unseren Krügen saßen und Elias sich einen Teller mit Brot und kaltem Fleisch bestellt hatte, stärkte er sich mit einer Prise Schnupftabak und fing sein Lamento wieder von vorne an. »Wenn du mich in Zukunft mit einem hübschen Mädchen siehst, Weaver, wäre mir sehr daran gelegen, dass du ...« »Dein Leben und das meine und das meiner Freunde hängt davon ab, was im Craven House geschieht«, unterbrach ich ihn. »Und was dich betrifft, so habe ich hier zu bestimmen. Du tust, was ich dir sage und wenn ich es sage und enthältst dich jeglicher Widerworte. Ich werde es nicht zulassen, dass du mit deinem unstillbaren Verlangen nach den Frauen und deiner Unfähigkeit, eine Gefahr unmittelbar vor deiner Nase zu erkennen, uns beide und andere ins Verderben stürzt. Du magst es vielleicht amüsant finden, dich an irgendwelche Frauen heranzumachen, aber in diesem Fall könnte es auf den reinsten Selbstmord hinauslaufen.« Er starrte in seinen Krug und schien meine Worte zu erwägen. »Ja«, sagte er endlich. »Du hast recht. Es ist der falsche Ort, um nach Vergnügungen Ausschau zu halten, und es stimmt auch, dass ich mir von Frauen leicht den Kopf verdrehen lasse, vor allem, wenn sie so schön sind wie Miss Glade.« »Gut.« Ich gab ihm einen Klaps auf die Schulter, damit er wusste, dass die Sache für mich erledigt war. »Tut mir leid, dass ich dir so heftig an den Karren gefahren bin, aber ich habe es in jüngster Zeit auch nicht leicht gehabt.« »Nein, du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen. Ich brauche ab und zu mal einen Tritt in den Allerwertesten, und den hole ich mir lieber von meinen Freunden als von meinen Feinden.« »Ich werde mich bemühen, dich zu gegebener Zeit daran zu erinnern«, sagte ich grinsend. Ich war froh, dass der Missklang zwischen uns bereinigt war. »Nun erzähl mir lieber von deinen sonstigen Errungenschaften.« Ich weiß nicht, ob es sein sprunghaftes Wesen war, das ihn seinen Groll so rasch vergessen ließ, aber seine Miene hellte sich sogleich sichtlich auf. »Deinen Freund Ellershaw hat es ganz schön erwischt«, sagte er und grinste nun seinerseits, obwohl dies ja nun wirklich keine erfreuliche Nachricht war. »Die französische Krankheit?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht die französische. Die englische. Wahnsinn.« »Wie meinst du das?« »Was ich meine, Weaver, ist, dass er sich von einer fortgeschrittenen und höchst ansteckenden Syphilis befallen glaubt. Er spricht davon zwar als einer Gonorrhöe, weil er den Unterschied nicht begreift, aber auf jeden Fall weist er keinerlei Symptome auf. Ich kann keine wunden Stellen, keine Pusteln, keinen Ausschlag und keine Entzündung feststellen. Und auch kein Anzeichen dafür, dass es je solche gegeben hat.« »Bist du dir da sicher?« Er nahm einen tiefen Zug von seinem Ale. »Weaver, die letzte Stunde habe ich damit verbracht, das allerprivateste Körperteil eines wirrköpfigen alten Fettwanstes zu befingern. Bitte frage mich nicht, ob ich meiner Sache sicher bin. Ich möchte diesen Vormittag so schnell wie möglich vergessen.« »Und was hast du ihm nun gesagt?« »Du weißt, dass ich per Eid verpflichtet bin, meine Patienten nach bestem Wissen zu behandeln.« »Ja, schön und gut. Aber was hast du nun zu ihm gesagt?« »Da ich nicht verpflichtet bin, nicht wenigstens so zu tun, als würde ich einen Mann, der sich nur krank wähnt, behandeln, vor allem, wenn ihm dies Seelenfrieden verschafft, habe ich ihm gesagt, dass ich ein Mittelchen wüsste, das erst jüngst von Barbados an unsere Küsten gelangt ist, und dass ich der Überzeugung wäre, dass dieses ihm Linderung verschaffen würde. Ich habe ihn ein wenig zur Ader gelassen, seinen Darm entschlackt und ihm ein ziemlich harntreibendes Diuretikum dagelassen. Sowie ich hier mit dir fertig bin, werde ich meinem Apotheker eine Nachricht zukommen lassen, dass er Ellershaw eine Anzahl Mixturen schicken soll, die keine andere Wirkung haben werden, als seine Aufregung zu dämpfen. Und da er an meine Medizin zu glauben scheint, wird ihm das vielleicht guttun.« Er hielt eine glänzende Guinee hoch. »Auf jeden Fall hat er sich sehr erkenntlich gezeigt.« »Alle Achtung. Und wirst du ihn weiterhin behandeln?« »So gut es geht, aber es könnte ihn verstimmen, wenn ich mich weigere, ihm Quecksilber zu verabreichen, denn das möchte ich vermeiden. Ihm fehlt nichts, was die Vergabe eines so starken Mittels rechtfertigt.« »Gib ihm doch, was er will, solange er dich bei Kasse hält.« »Quecksilber wirkt bei Geschlechtskrankheiten Wunder, aber es hat auch böse Nebenwirkungen. Es widerspricht der Ethik, einem Mann eine Medizin zu geben, die er nicht nötig hat und die Nebenwirkungen bei ihm hervorruft, unter den er nicht zu leiden bräuchte.« »Entspräche es der Ethik, wenn du den Rest deiner Jahre im Schuldnergefängnis verbringen müsstest, nur, weil du dich um die Gesundheit eines habgierigen alten Dummkopfs gesorgt hast?« »Da ist was dran«, sagte er. »Ich werde zu gegebener Zeit darüber nachdenken.« »Aber lass es mich bitte wissen, bevor du etwas unternimmst.« »Auf jeden Fall. Wenn du erlaubst, möchte ich nun noch ein letztes Mal auf das Mädchen zu sprechen kommen. Hast du mal daran gedacht, dass es mir einen Vorwand verschaffen würde, mich öfter im Craven House aufzuhalten, wenn ich eine amouröse Beziehung mit ihr anfinge? Zwei Paar Augen sehen mehr als nur eines alleine und .« »Sie ist eine französische Spionin«, unterbrach ich ihn, was wie ein Pistolenknall wirkte und ihn augenblicklich zum Schweigen brachte. Doch sogleich bereute ich meine Worte. Elias war der Dame nicht gewachsen. Wenn es mir nicht gelang, ihn von ihr abzubringen, bräuchte sie ihm nur ein wenig auf den Zahn zu fühlen, und das, was er von mir über sie erfahren hatte, würde ihm wie mit Tinte geschrieben von der Stirn abzulesen sein. Aber nun hatte ich es einmal aufs Tapet gebracht und konnte die Angelegenheit kaum damit auf sich beruhen lassen. »Irgendwo haben wir hier eine Verschwörung von Seiten der Franzosen, Elias. Ich weiß nicht, ob es die größte Schurkerei ist, mit der wir es im Umfeld der East India Company zu tun haben, aber eine Verschwörung ist es allemal. Zuerst finden wir heraus, dass es Franzosen sind, die mein Leben versichert haben, als wäre ich ein todsicheres Papier an der Börse, und nun stellt sich heraus, dass eine französische Spionin versucht, alles über die East India Company und über mich in Erfahrung zu bringen.« Ich berichtete ihm auch von meinem Treffen mit Miss Glade am Vorabend, doch obwohl ich die amourösen Elemente desselben nach Möglichkeit aussparte, kannte mich Elias doch lange genug und war zu sehr ein Menschenkenner, um nicht doch Verdacht zu schöpfen. »Hast du etwa ein Auge auf diese verräterische Kreatur geworfen?« »Sie möchte, dass ich es tue«, antwortete ich. »Und da sie so gut aussieht und so viel Charme versprüht, würdest du ihr wohl gerne diesen Gefallen erweisen?« »Ich weiß mich sehr wohl zu beherrschen«, versicherte ich ihm. »Und ich habe kein Verlangen, mich mit einer Frau einzulassen, von der wir längst noch nicht genau wissen, was wir von ihr zu halten haben. In dieser Hinsicht brauchst du dir um mich keine Sorgen zu machen.« Er vertiefte sich einen Augenblick lang in die Betrachtung seiner penibel gepflegten Fingernägel - ein klares Zeichen dafür, dass ihm etwas Unangenehmes auf der Zunge lag. »Ich gehe davon aus, dass du dich damit abgefunden hast, dass es mit dir und der Witwe deines Cousins nie etwas wird.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Glaubst du allen Ernstes, mein Verlangen nach Miriam wäre das Einzige, was zwischen mir und einer niederträchtigen Spionin stünde?« »Ich weiß, wie lange du dich nach Miriam Melbury verzehrt hast, und dass es dir das Herz im Leibe zerrissen hat, aber wenn du es so ausdrückst, ziehe ich meinen Einwand zurück.« »Es beruhigt mich ungemein, das zu hören.« »Und dennoch näherst du dich dem Alter, in dem ein Mann ans Heiraten denken sollte.« »Elias, wenn ich mich darüber mit jemandem unterhalten wollte, könnte ich mich ebenso gut an meine Tante Sophia wenden, die Klügeres dazu zu sagen wüsste und mich wahrscheinlich noch mit einem guten Mahl bewirten würde. Übrigens könnte ich das Gleiche von dir behaupten, aber du scheinst mir auch nicht auf der Suche nach der Frau fürs Leben zu sein.« »Ach, ich bin nicht für die Ehe geschaffen, Weaver, und wenn ich es wäre, dann müsste es eine Gattin mit einer beträchtlichen Mitgift sein, die sich nicht an meiner ständigen Geldknappheit stört. Du hingegen bist Jude, und es bleibt dir gar nichts anderes übrig, als zu heiraten. Wenn du meine Meinung hören willst - eine Frau in deinem Leben würde dir guttun.« »Ich sollte Mr. Cobb sagen, dass er dich schleunigst in den Schuldturm werfen lassen soll.« »Wer die Wahrheit ausspricht, macht sich oft unbeliebt.« »Ja, und du beherrscht diese Kunst meisterhaft. Dürfte ich vorschlagen, dass wir uns darauf beschränken, die Angelegenheit mit den Franzosen zu diskutieren?« Er seufzte. »Na schön. Ich habe noch nie davon gehört, dass die Franzosen jemanden losschicken, damit der sich in die Geschäfte eines der großen Handelshäuser einmischt, aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie auf eine solche Idee kämen. Immerhin verschaffen diese Handelhäuser unserem Land einen enormen Reichtum, und die East India Company streckt ihre Finger auch nach möglichen Kolonialgebieten aus. Es könnte jede Menge Gründe für die Franzosen geben, Craven House zu infiltrieren.« Mehr wusste Elias dazu leider auch nicht zu sagen. Inzwischen hatte ich ausgetrunken und hielt es für angebracht, mich wieder auf dem Gelände der East India Company blicken zu lassen, ehe jemandem meine Abwesenheit auffiel. Zwar glaubte ich nicht, dass ich in diesem Falle viel zu befürchten hätte, aber ich hielt es für besser, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich hatte auf meinem Weg zu den Lagerhäusern kaum das Tor passiert, als ich eine dringliche Stimme meinen Namen rufen hörte. »Mr. Weaver, würden Sie bitte auf mich warten?« Als ich mich umdrehte, sah ich Carmichael mit seinem Strohhut in der Hand auf mich zugerannt kommen. »Was gibt es denn?« »Mr. Ellershaw ist vor einer knappen halben Stunde hier gewesen. Es schien ihn sehr zu bekümmern, dass niemand wusste, wo Sie waren.« Ich bedankte mich mit einem Kopfnicken und machte mich auf den Weg zu Ellershaws Büro. Auf mein Klopfen hieß er mich einzutreten. Ihm gegenüber an seinem mit Stoffproben vollgestapelten Schreibtisch saß Forester. Beide schienen wenig erbaut, mich zu sehen. »Weaver.« Ellershaw spuckte ein paar Krümel von der braunen Masse aus, auf der er immer herumkaute. »Wo haben Sie gesteckt, Mann? Bezahle ich Sie, damit Sie sich auf meine Kosten vergnügen oder für Ihre Arbeit?« »Tut mir leid, dass ich Ihrem Ruf nicht gleich Folge leisten konnte«, sagte ich. »Ich habe gerade eines der Lagerhäuser inspiziert, als Sie nach mir schickten.« »Wenn Sie in einem der Lagerhäuser waren, wieso hat dann niemand Sie finden können?« »Weil keiner es zu wissen brauchte. Inspektionen sind am wirkungsvollsten, wenn sie überraschend stattfinden.« Ellershaw erwog dies einen Moment lang und nickte dann bedächtig. Seine Kiefer mahlten unterdessen weiter. »Das stimmt.« Forester hielt ein Stück blauen Stoffes in der Hand, in dessen Betrachtung er vertieft war. Er schien es geradezu darauf anzulegen, den Blick nicht eine Sekunde lang von dem Tuch abzuwenden. Ich nahm an, dass er den Blickkontakt mit mir mied, weil mir sein Gesicht sonst etwas verraten hätte. Heimlichtuerei war nicht seine Stärke, und das wusste er. Ich aber konnte mir diesen Umstand zu Nutze machen. »Was führt Sie denn nun her?«, verlangte Ellershaw von mir zu erfahren. »Ich wollte mich nur bei Ihnen melden, weil Sie nach mir gesucht haben, Sir«, sagte ich. »Jetzt habe ich aber keine Zeit für Sie. Merken Sie denn nicht, dass wir hier mit Dingen zu tun haben, die nicht Ihre Angelegenheit sind? Oder sehen Sie das anders, Forester?« Forester behielt den Blick gesenkt. »Keineswegs. Ein Mann von seinem Schlage hat dem, was wir hier bereden, nichts hinzuzufügen.« »Nun, da haben Sie aber eine sehr strenge Meinung von Mr. Weaver«, wies Ellershaw ihn zurecht. »Er mag zwar mit unseren Geschäften nichts zu tun haben, aber er verfügt über einen scharfen Verstand. Möchten Sie uns etwas sagen, Wea-ver?« »Ich weiß ja nicht, worum es hier geht.« »Nichts, was Sie interessieren könnte«, knurrte Forester. »Was Sie hier vor sich sehen, Weaver, sind die Stoffe, die das Parlament, mögen sie allesamt in der Hölle schmoren, uns nach Weihnachten auf dem Binnenmarkt verkaufen lassen will. Nicht gerade eine üppige Auswahl, was? Den größten Teil unseres Handels werden wir mit diesen blauen Stoffen tätigen« -er hielt ein Stück hellblauen Baumwollstoff in die Höhe -, »und ich fürchte, die Umsätze, die wir damit erreichen, werden nur ein Schatten dessen sein, was wir vorher verkauft haben.« Ich enthielt mich jeden Kommentars. »Da haben wir es«, bemerkte Forester. »Er hat weder Erfahrung mit noch Interesse an solchen Dingen. Ich möchte den Burschen nicht beleidigen, aber er ist nicht der Mann, an dessen Meinung Ihnen gelegen sein sollte.« »Wofür wird dieser Stoff denn jetzt verwandt?«, fragte ich. »Halstücher«, sagte Ellershaw. »Strümpfe, Binder, solche Accessoires. Und natürlich für Damenkleider.« »Dann wäre es vielleicht nicht schlecht, auch die Männerwelt zu ermuntern, sich Kleidung aus diesem Stoff fertigen zu lassen«, schlug ich vor. Forester lachte laut auf. »Ein Herrengewand, meinen Sie? Selbst der verrückteste Geck würde es sich nicht einfallen lassen, sich in einer so weibischen Farbe zu kleiden. Die Vorstellung ist geradezu lächerlich.« »Kann sein«, sagte ich schulterzuckend. »Aber hat Mr. Eller-shaw nicht gesagt, dass der Schlüssel zum Erfolg darin zu suchen sei, dass unsere Warenbestände die Mode bestimmen und nicht umgekehrt? Sollte die East India Company nicht vielmehr eine breite Öffentlichkeit für diese Stoffe zu interessieren versuchen, anstatt ihre Handelsware der gängigen Mode anzupassen? Dann könnten wir so viel davon verkaufen, wie wir wollen. Wie ich es verstanden habe, braucht man doch nur genügend Gewänder aus diesem Stoff unter die modebewussten Herren zu bringen, damit es schon bald keineswegs mehr lächerlich wirkt, sich so sehen zu lassen. Wenn Ihnen dies ge-lingt, wird sich schon im nächsten Jahr niemand mehr daran erinnern, dass diese Farbe einmal unbeliebt gewesen ist.« »Unsinn«, sagte Forester. »Nein«, widersprach Ellershaw ihm. »Er hat recht. Genau darum geht es. Fangen Sie damit an, dies bei Ihren Mittelsmännern unter den modebewussten Gentlemen durchblicken zu lassen. Machen Sie Termine, damit sie von einem Schneider aufgesucht werden.« »Sir, das wäre doch nur vergeudete Zeit und Mühe«, wandte Forester ein. »Niemand wird ein Gewand in einer so grotesken Farbe tragen.« »Die ganze Welt wird diese Farbe tragen«, sagte Ellershaw. »Sehr gut, Weaver. Es sind noch zwei Wochen bis zur Versammlung der Anteilseigner. Vielleicht kann ich meinen Kopf doch noch retten. Noch ist das letzte Wort längst nicht gesprochen. Nun aber zurück zu Ihren eigentlichen Aufgaben.« Ich verbeugte mich vor beiden und ging. An Foresters Gesichtsausdruck sah ich, dass ich soeben weiteres Öl in die Flamme des Hasses auf mich geschüttet hatte, die in ihm brannte. An diesem Abend traf ich mich zur verabredeten Zeit mit Car-michael hinter dem größten der Lagerschuppen. Der Himmel war ungewöhnlich dunkel - dichte Wolken, aus denen nur vereinzelt Schneeflocken fielen, verdeckten den Mond. Obwohl das Gelände gut beleuchtet war, gab es doch überall genügend Schatten, in deren Schutz wir uns voranschleichen konnten. Ich wusste, dass die Hunde meinen Geruch inzwischen kannten und nicht anschlagen würden und auch, wann die Wachposten wo auf ihren Rundgängen vorbeikämen. So war es nicht schwierig, sich in der Finsternis ungesehen zu bewegen. Carmichael führte mich zu der nördlichsten Ecke des Geländes, zu ebenjenem Gebäude, das sich Greene House nannte. Es ragte drei Stockwerke empor, war aber schmal gebaut und hatte auch schon bessere Tage gesehen. Es war die Rede davon, dass es irgendwann im nächsten Jahr abgerissen werden sollte. Die Wachposten hatten keinen Zugang zu dem Gebäude, da man argwöhnte, sie könnten sonst versucht sein, sich nach Herzenslust zu bedienen, weshalb die Tür auch verriegelt war. Ich als der Oberaufseher jedoch besaß einen Schlüssel, und nachdem einer der Männer, dem man an seinem schwankenden Gang ansah, dass er während seiner Arbeitszeit ein wenig zu sehr dem Bier zugesprochen hatte, an uns vorbeigetorkelt war, verschafften wir uns Zutritt. Vorsichtshalber hatte ich bereits Kerzen und Zündholz an einer leicht wiederzufindenden Stelle deponiert. Dann wandte ich mich in dem dunklen Gebäude, von dessen hohen Wänden sämtliche Geräusche widerhallten, nach Carmichael um, dessen Gesicht vom flackernden Kerzenschein erhellt wurde. »Wohin?« »Nach oben«, sagte er. »Es ist im obersten Stockwerk, das nicht mehr genutzt wird, weil es eine Heidenarbeit ist, Lasten hinauf- und hinunterzutragen. Und die Treppe ist ziemlich morsch, also müssen wir uns sehr vorsehen. Bleiben Sie auch mit der Kerze weg vom Fenster, sonst sieht man uns. Man weiß nie, wer zu Aadils Gefolgsleuten gehört und wer nicht.« Das war unzweifelhaft ein guter Rat, also übergab ich lieber ihm die Kerze und ließ mich von ihm, wie ich hoffte, sicher führen. Schließlich war es durchaus möglich, dass Carmichael doch kein so braver Kerl war - unter Umständen konnte man ihm doch nicht trauen. Ich war hier schon mehr falschem Spiel begegnet, als ich gewohnt war, obwohl ich durchaus bereits früher die Erfahrung gemacht hatte, dass in großen Unternehmen wie diesem Missgunst an der Tagesordnung war. Als wir vor der letzten Treppe standen, wandte sich Carmi-chael zu mir um und sagte: »Ab hier wird's schwierig.« Im Licht der Kerze begriff ich sofort, was er meinte. Die Stufen waren faulig, und die ganze Treppe drohte jeden Moment in sich zusammenzustürzen. Nichts gab einen Hinweis darauf, wo sie das Gewicht eines Mannes noch zu tragen vermochte und an welcher Stelle sie unter meinen Füßen nachgeben würde. Ganz so morsch konnte sie nun aber auch wieder nicht sein, sagte ich mir, denn wie sollten Aadil und seine Männer sonst Kisten in den dritten Stock hinaufschaffen? Trotzdem folgte ich vorsichtig Carmichaels Schritten. Oben angekommen, führte er mich einen staubigen Gang hinunter, der an einer Tür endete. Sie war verschlossen, doch ich hatte mich vorbereitet und zog einen Satz Pickel, die im Schein der Kerze glänzten, aus meiner Tasche. Carmichael aber wollte sich auch nicht lumpen lassen. In der Düsternis sah ich ein Grinsen aufblitzen, und schon hatte er einen Schlüssel in der Hand. »Ich bin sicher, dass Sie mit einem Pickel gut umzugehen wissen, Sir, aber das hier macht die Sache für uns ein ganzes Stück leichter.« Ich steckte die Pickel wieder ein und nickte zustimmend. Dann nahm ich ihm die Kerze ab und sah zu, wie er den Schlüssel ins Loch schob, am Knauf drehte und die Tür aufstieß. Mit einer großen Geste, hinter der wohl mehr steckte als bloße Höflichkeit, ließ er mich vor ihm eintreten. Ich hielt die Kerze hoch, um mich in dem großen Lagerraum umzuschauen, in dem Kisten verschiedener Größen aufeinan-dergestapelt standen. Manche Stapel reichten bis fast unter die Decke; weitere Kisten waren scheinbar wahllos hier und dort auf dem Boden abgestellt. Alle waren verschlossen. Als ich ein Stemmeisen entdeckte, stellte ich die Kerze ab, ergriff das Eisen und trat auf die nächstbeste Kiste zu. »Nicht«, rief mich Carmichael zurück. »Sie dürfen sie nicht aufbrechen. Dann wissen sie, dass wir hier gewesen sind.« »Sie werden natürlich sehen, dass jemand hier oben gewesen ist, aber nicht, dass wir es waren. Und wir sind nicht herge-kommen, um nur mal einen abschätzenden Blick in den Speicher zu werfen. Ich muss wissen, was hier versteckt wird.« Er pflichtete mir mit einem wenig enthusiastischen Kopfnicken bei, und ich stemmte die erste Kiste auf. Sie enthielt dicke Stoffballen mit buntem Blumenmuster. Ich hielt die Kerze näher heran. »Was ist das?«, fragte ich Carmichael. Er nahm eine Ecke Stoff, rieb sie zwischen den Fingern, strich darüber und hielt sie ans Licht. »Das ist nichts«, flüsterte er. »Das ist der gleiche Stoff, der auch in den übrigen Schuppen gelagert wird.« Wir öffneten willkürlich noch ein halbes Dutzend weiterer Kisten, fanden aber wiederum nichts außer der üblichen Importware der East India Company. Carmichael schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Warum macht man sich die Mühe, das Zeug heimlich und unter Geheimhaltung hier raufzuschaffen? Das ist doch nichts Besonderes.« Es dauerte einen Moment, bis ich dahinterkam, warum ein leitender Angestellter sich der Mühe unterzog, einen Verschwörertrupp zusammenzustellen, um Güter zu verstecken, die ebenso gut auch irgendwo anders gelagert werden konnten. »Könnte es sein, dass sie sich diese Kisten unter den Nagel reißen und den Inhalt zu ihrem eigenen Profit verkaufen wollen?«, fragte ich Carmichael. »Diebstahl?« Carmichael lachte. »Wozu? In einem Monat gibt es für diese Stoffe keinen Markt mehr.« »Vielleicht einen Schwarzmarkt, wo sie die Ware unter der Hand verkaufen?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein. Das Gesetz verbietet nicht den Verkauf von Seide, nur deren Tragen. Sie können diese Stoffe weiterhin anbieten, aber niemand wird sie abnehmen. Nach Weihnachten wird man sie nicht einmal verschenken können. Hier in England wird all dies bald weniger als nichts wert sein.« »Und du bist dir sicher, dass an diesem Seidenstoff nichts Außergewöhnliches ist?« Er nickte ernst. »Ganz normale Seide.« Ich war mir sicher, dass ich etwas Wichtiges übersah. Auch Carmichael blickte ratlos drein. »Vielleicht sollten wir einen Blick auf die Frachtpapiere werfen«, sagte er. »Könnte doch sein, dass es nicht wegen der Stoffe selber ist, sondern damit zu tun hat, wo sie herkommen oder wo sie hinsollen?« Das war ein guter Gedanke, und ich wollte Carmichael gerade dafür loben, als wir von unten das unzweifelhafte Geräusch einer Tür hörten, die geöffnet wurde, und gleich darauf gedämpfte, aber erregte Stimmen. »Beim Scheitan«, fluchte Carmichael. »Sie müssen doch das Licht hinter dem Fenster gesehen haben. Schnell, verschwinden Sie von hier.« »Wie denn?« »Durch das Fenster. Das da. Auf dieser Seite des Gebäudes ist das Mauerwerk so uneben, dass Sie auf das Dach klettern und sich dort verstecken können, wenn Sie gelenkig genug sind.« »Und was wird aus dir?« »Ich muss das Fenster wieder hinter Ihnen schließen. Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Mr. Weaver. Ich kenne mich in diesen Lagerschuppen aus, als wäre ich hier geboren. Sie werden mich nicht finden. Darauf können Sie sich verlassen.« »Ich kann dich doch nicht so einfach deinem Schicksal überlassen.« »Es bleibt uns keine andere Wahl. Sie darf um unser beider willen niemand hier antreffen. Und Sie können mir glauben - man wird nie merken, dass ich hier gewesen bin. Mir bleiben noch ein paar Minuten, alles wieder herzurichten, abzuschließen und mich in einer Nische zu verbergen, wo man nicht nach mir suchen wird. Wir sehen uns morgen, aber jetzt müssen Sie zu dem Fenster da hinaus.« Ich tat es nicht gern, aber ich sah ein, dass er recht hatte. Carmichael hatte es nicht aus Selbstlosigkeit vorgeschlagen, sondern weil es das Vernünftigste war. Also ließ ich mich von ihm zu dem bewussten Fenster führen. Es war lange nicht geöffnet worden und klemmte, aber es gelang mir doch, es aufzureißen. Dann sah ich hinaus. Die Mauersteine waren tatsächlich ziemlich uneben. Jemand, der Angst vor großen Höhen hatte oder in ungewohnten Situationen nicht gut zurechtkam, wäre bei diesem Ausblick vielleicht das Herz in die Hose gerutscht, aber ich sagte mir, dass ich in der Vergangenheit Schlimmeres überstanden hatte, und das auch noch bei Regen und Schnee. »Ich lasse das Fenster gerade so weit offen, dass Sie sich daran festhalten können, wenn Sie zurückkommen«, sagte Carmichael. »Aber die Tür muss ich hinter mir absperren, also hoffe ich, dass Ihr Werkzeug zu was nutze ist.« Es waren nicht die Pickel, auf die es ankam, sondern der, der sie benutzte, aber ich war damit nicht unerfahren, also nickte ich nur. »Und du bist sicher, dass du hierbleiben willst?« »Es ist das Beste so. Nun aber los.« Also stieg ich aus dem Fenster und stellte mich in der nächtlichen Finsternis auf das zum Glück breite Sims. Ich fand Halt an einem hervorstehenden Mauerstein und zog mich zu einer Art Mauervorsprung hoch und danach zu einem weiteren, und gelangte so mit einer Leichtigkeit, die ich fast bedenklich fand, auf das Dach. Dort legte ich mich an einer Stelle, von der aus ich die Tür gut im Blick hatte, flach auf den Bauch. Aus dem Gebäude hörte ich gedämpfte Schritte, aber mehr auch nicht. Und dann nur noch die nächtlichen Geräusche Londons, die Rufe der Straßenhändler in der Ferne, das Gekeife und das Werben der Huren, das Klappern von Hufen auf Kopfsteinpflaster. Vom Hof drangen das Husten und das Lachen und das Fluchen der Wachleute zu mir hoch. Ein leichter Regen durchnässte mich durch meinen Mantel hindurch bis auf die Haut, aber ich blieb mucksmäuschenstill liegen, bis ich sah, wie sich eine Gruppe Männer von dem Lagerhaus entfernte. Aus der Höhe konnte ich nicht hören, was sie sagten und nicht erkennen, wer sie waren, sondern nur, dass es vier Männer waren und es sich bei einem von ihnen seiner Statur nach um Aadil handeln musste. Einer der vier schien sich auf der Treppe verletzt zu haben, denn einer seiner Begleiter musste ihn stützen. Ich wartete noch ein paar Stunden, bis ich schließlich befürchten musste, dass man mich in der Morgendämmerung würde sehen können, und machte mich auf den Abstieg, der weit beschwerlicher und beklemmender ausfiel als der Aufstieg. Vorsichtig tastete ich mich bis zu dem Sims vor und fand das Fenster angelehnt, wie Carmichael es versprochen hatte. Meine Pickel brauchte ich nicht einzusetzen, denn die Tür war nicht wieder verschlossen worden. Ich wusste nicht, ob Car-michael es einfach nur vergessen hatte oder es mir damit hatte leichter machen wollen oder ob es das Versäumnis der Männer gewesen war, die das Gebäude durchsucht hatten. Aber in dem Moment war es mir auch gleich. Später sollte mir aufgehen, dass es mir nicht gleich hätte sein sollen, aber das konnte ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Ohne Kerze musste ich mich sehr behutsam die Treppe hinunterbewegen und fragte mich die ganze Zeit, ob Carmichael vielleicht schon in der Nähe auf mich wartete. Im Erdgeschoss warf ich einen vorsichtigen Blick aus einem Fenster, ob auch niemand zugegen war und verließ dann ungesehen das Greene House. Von Carmichael war keine Spur zu entdecken. Danach musste ich mich noch eine halbe Stunde lang von Schatten zu Schatten ducken, um den Wachmännern auszuweichen, bis ich endlich das Gelände verlassen konnte. Zu Hause angekommen blieb mir eine Stunde Schlaf, bis ich wieder aufstehen musste, um dem neuen Tag entgegenzusehen - und den furchtbaren Neuigkeiten, die er bringen würde. 17 ich nach der anstrengenden und dazu auch noch wenig erkenntnisreichen Nacht noch müde und mürrisch gelaunt war, fiel mir zunächst die gedrückte Stimmung gar nicht auf, die auf dem Gelände der East India Company herrschte. Erst ein paar Minuten nach meinem Eintreffen merkte ich, dass sowohl die Wachmänner als auch die Arbeiter gleichermaßen niedergeschlagen wirkten. »Was ist los?«, fragte ich einen meiner Männer. »Es hat einen Unfall gegeben«, sagte er. »In den frühen Morgenstunden. Keiner weiß, was er hier zu suchen hatte - er gehörte nicht zur Nachtschicht. Aadil meint, er wollte etwas stehlen. Man hat Carmichael im Westschuppen gefunden - wo der Tee gelagert wird, wie Sie ja wissen. Da ist es passiert.« »Ist er verletzt?«, fragte ich sofort. »Ja, und zwar tödlich. Er lag zerquetscht wie eine Ratte unter der Kiste Tee, die er offenbar hat stehlen wollen.« Tee. Eine schlaue Tarnung, wie ich zugeben musste. Denn was immer Forester und Aadil im Schilde führten - mit Tee hatte es nichts zu tun. Da es keine triftige Erklärung dafür gab, wieso Carmichael in den Stunden zwischen Nacht und Morgen Teekisten gewuchtet hatte, ließ das Geschehene nur einen Schluss zu: dass hier ein ganz gewöhnlicher Diebstahl vorlag, dass Carmichael etwas aus dem Teelager hatte mitgehen lassen wollen, um sein mageres Einkommen damit aufzubessern. Solche Gelegenheitsdiebstähle waren ein offenes Geheimnis, aber es wurde ein Auge zugedrückt, solange niemand zu habgierig wurde. Tatsächlich wurden die Wachleute und die Arbeiter ganz bewusst so schlecht bezahlt, weil man fest davon ausging, dass sie sich schon ihr Teil holen würden. Wenn man ihre Löhne aufbesserte, sagte man sich, würden sie deshalb nicht weniger stehlen, also gab es nichts zu gewinnen, wenn man ihnen einen auskömmlichen Lohn zahlte. Eine Weile lang war ich wie vor den Kopf geschlagen und stand nur da, während um mich herum Männer hin- und herliefen. Ich erwachte erst aus meiner Benommenheit, als ich Aadil vorbeikommen sah. Ich packte ihn beim Handgelenk. »Sag mir, was passiert ist«, verlangte ich. Er sah mich nur an und lachte. Wie widerwärtig sein ohnehin schon unangenehmes Gesicht werden konnte, wenn sich auch noch grausame Schadenfreude darin abzeichnete. »Solltest du doch selber wissen, du Aufseher der Wachmannschaft.« »Bitte jetzt keine Spitzfindigkeiten. Sag's mir.« Er zuckte mit den Schultern. »Warum Carmichael letzte Nacht hier? Ich weiß nicht. Er nicht hier sollte sein. Er nicht getan, wofür er hier ist. Er sich Tee genommen. Kann sein eilig, Angst, er wird gesehen. Ist unvorsichtig. Wird zerquetscht.« Er zuckte noch einmal die Achseln. »Besser als gehängt, nicht wahr?« »Ich will die Leiche sehen.« Er sah mich fragend an. »Weswegen?« »Weil ich es will. Sag mir, wo man ihn hingebracht hat.« »Ist schon weg«, sagte er. »Ich weiß nicht, wo. Kann sein zum Gericht. Zu seine Familie? Keiner mir gesagt, ich auch nicht gefragt.« Dieses Gespräch rang mir übermenschliche Zurückhaltung ab. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass Aadil Carmichael um-gebracht haben musste, entweder von Forester dazu aufgefordert oder mit dessen stillschweigender Billigung. Aber das war nur ein Verdacht, eine Unterstellung, die ich nicht beweisen konnte, also kam ich damit nicht weiter. Für mich war nur von Bedeutung, dass Carmichael mir gefällig gewesen war und dafür den Tod gefunden hatte - und ich keine Möglichkeit sah, seinen Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen. Damit er mir nicht anmerkte, dass ich mehr über die Ereignisse der vergangenen Nacht wusste, als mir lieb war, wandte ich mich ab und strebte dem Craven House zu. Argwöhnte Aadil, dass ich etwas mit der Sache zu tun hatte? Er tat mir gegenüber sehr geheimnisvoll, doch was konnte ich anderes von ihm erwarten? Andererseits - kaum hatte ich hier meine Arbeit aufgenommen, brach Carmichael in das Heiligtum des Geheimverstecks ein. Forester wusste, dass ich für Ellershaw arbeitete, und dem misstraute er. Warum schnappten sie sich dann nicht meine Wenigkeit? Allerdings gab es keinen Grund, warum sie das Versäumte nicht noch nachholen sollten. Es war nun dringender denn je, dass ich herausfand, was Forester im Greene House versteckte, oder vielmehr, warum er es versteckte, denn wir hatten ja bereits festgestellt, dass dort nichts von Wert lagerte. Da es kein Ventil für meine Wut gab, wollte ich die Angelegenheit nun auf die einzig mir denkbare Weise verfolgen - indem ich mich an Mr. Blackburn wandte. Ich fand den Buchhalter in seinem Büro vor, wo er über seinen Schreibtisch gebeugt saß und mit gelenker Hand Zeile um Zeile eines Blattes Papier vollschrieb. Es dauerte einen Augenblick, bis er mich gewahrte und aufblickte. »Ah, Weaver. Ich nehme an, Sie sind gekommen, um sich zu erkundigen, wie es um Ersatz für Ihren verlorenen Wachmann steht.« Ich schloss die Tür hinter mir. »Ich habe nichts derart Profanes auf dem Herzen. Carmichael war mein Freund, und es geht mir nicht darum, dass er einfach so mir nichts, dir nichts ersetzt wird.« Er sah mich verwundert an - so, wie er immer dreinblickte, wenn er nicht mit seinen Papieren beschäftigt war. Es kam mir vor, als könne er sich gar nicht vorstellen, sich mit so etwas Zeitraubendem wie Freundschaft oder Zuneigung abzugeben. »Ja, nun«, sagte er nach kurzem Zögern. »Trotzdem müssen die Dienstpläne aufgestellt werden, oder? Wir brauchen jeden Wachposten. Es wäre töricht, sich von Gefühlen leiten zu lassen, wenn die Arbeit getan werden muss.« »Ja, so ist es wohl.« Ich nahm ungebeten Platz. Es war unzweifelhaft, dass Blackburn nur den einen Wunsch hatte, mich schnell wieder loszuwerden, damit er sich erneut seinem kleinlichen Tun zuwenden konnte, das ihn so beschäftigte. Aber den Gefallen wollte ich ihm nicht erweisen. Dass meine Anwesenheit ihm lästig war, würde ihn vielleicht sogar zu einer Äußerung verleiten, die ihm sonst nicht herausgerutscht wäre. »Darf ich mich im Vertrauen an Sie wenden?«, fragte ich. »Es geht um eine heikle Angelegenheit, die eine ziemlich unorthodoxe Verwendung des Geländes und der Ressourcen der East India Company mit sich bringt.« »Schon recht, schon recht«, sagte er. Er hatte seine Feder beiseitegelegt und bekleckerte geistesabwesend das Blatt mit Tinte, während er mich ansah. Immerhin schenkte er mir so viel Aufmerksamkeit, wie ich nur erwarten konnte. »Ich hoffe, dass ich vertraulich zu Ihnen sprechen kann, Sir. Ich wäre sehr unglücklich, wenn meine Bemühungen, eine Schlampigkeit im Unternehmen zu beheben, dazu führen würden, dass ich meines Postens verlustig ginge. In Sie habe ich Vertrauen, Sir. Ich möchte nur das Richtige tun, dafür sorgen, dass es keinen Schwund bei den Warenbeständen gibt. Wenn jedoch Männer von Einfluss in einen solchen Schwund verwickelt sind, ist es manchmal nicht leicht zu beurteilen, ob das Richtige zu tun auch im eigenen Interesse liegt.« Er lehnte sich über seinen Schreibtisch und reckte dabei sei-nen schmalen Oberkörper wie eine Schildkröte, die ihren Hals aus ihrem Panzer streckt. »In dieser Hinsicht brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Mr. Weaver. Ich versichere Ihnen, dass Sie vertraulich mit mir sprechen können, und Sie haben mein Wort, dass ich nichts davon, was Sie mir zu sagen haben, an irgendjemanden weitergebe, solange Sie es nicht wünschen. Ich denke, das genügt.« Fast. »Das würde mich sehr freuen«, sagte ich und versuchte dabei, ein wenig verunsichert zu klingen. »Doch birgt dies ein großes Risiko für mich. Vielleicht sollte ich lieber wiederkommen, wenn ich mehr in Erfahrung gebracht habe. Ja, das wäre bestimmt besser.« Ich machte Anstalten, mich zu erheben. »Nein!« Es klang nicht wie ein Befehl, sondern wie eine flehentliche Bitte. »Wenn Sie etwas wissen, müssen wir auch etwas unternehmen. Ich kann es nicht ertragen, dass etwas nicht seine Ordnung hat, dass eine Wunde unversorgt bleibt und im Gewebe der Firma eitert. Sie tun sehr recht daran, Sir, dass Sie mich darauf aufmerksam machen, und ich verspreche Ihnen, dass ich nichts unternehmen werde, was Sie nicht wünschen. Nur müssen Sie mir alles sagen, was Sie wissen.« Wie sonderbar, dachte ich. Dieser Angestellte würde sich für seinen Arbeitgeber tatsächlich ein Bein ausreißen, wie man es gemeinhin nur für sein Kind, seine Herzallerliebste oder einen geliebten Schoßhund tat. Wenn ich ihn nun im Unklaren beließe, würde die unerträgliche Ungewissheit ihn schier in den Wahnsinn treiben, und doch hatte er keinen persönlichen Gewinn zu erwarten, wenn er das Unrecht, auf das ich ihn hinwies, abstellte. Er war einfach ein Mann, der wollte, dass alles seine Ordnung hat, ob es ihn nun persönlich betraf oder nicht, und der sich durch nichts davon würde abhalten lassen, eine Abweichung von der Vorschrift zu korrigieren. Ich räusperte mich; ich wollte ganz gelassen von meinen Beobachtungen berichten, um ihn umso heftiger auf die Folter zu spannen. »Gegen Anfang der Woche hat Carmichael mich auf eine Unregelmäßigkeit hingewiesen. Ich maß der Angelegenheit keine besondere Dringlichkeit bei und wollte mich zu gegebener Zeit darum kümmern, aber wie Sie ja leider wissen, ist von Carmichael keinerlei Hilfe mehr zu erwarten. Zwar war es auch ihm nicht übermäßig wichtig, aber in dieser Hinsicht waren wir beide uns ähnlich, wenn Sie verstehen. Auch ich möchte die Sache jedenfalls nicht ewig auf sich beruhen lassen.« Nach wie vor vermied ich es, gezielt darauf zu sprechen zu kommen, worum es denn eigentlich ging, und zwar nicht nur, um Blackburn zu quälen, sondern auch, um zu betonen, dass ich dem Fall keine allzu große Bedeutung beimaß. Keinesfalls wollte ich andeuten, was mich wirklich beschäftigte - dass Carmichael nämlich wegen dem, was ich Blackburn zu berichten gekommen war, sein Leben hatte lassen müssen. Blackburn jedenfalls war ganz Ohr. »Selbstverständlich, selbstverständlich«, sagte er und fuchtelte mit den Händen, damit ich endlich mit meiner Offenbarung herausrückte. Ja, es wurde wohl Zeit, auf den Kern der Sache zu kommen. »Carmichael hat mir gegenüber erwähnt, dass einer der leitenden Angestellten in einem Teil eines der Lagerhäuser, wobei ich allerdings nicht mehr weiß, in welchem, Seidenballen für sich beiseitelegt. Er sagte, die entsprechenden Kisten würden im Schutze der Dunkelheit und unter größter Geheimhaltung in das Lagerhaus gebracht, damit nur ja niemand von ihrem Vorhandensein, ihrem Inhalt und ihrer Menge erführe. Nun steht es mir nicht zu, das Handeln leitender Angestellter in Frage zu stellen, aber als Oberaufseher der Wachmannschaft empfinde ich es als ein wenig beunruhigend, regelmäßig in gewisse Vorgänge nicht eingeweiht zu sein.« Auch Blackburn empfand dies als beunruhigend. Seine Hände zitterten vor Aufregung. »Beunruhigend. In der Tat beunruhigend, Sir. Sogar äußerst beunruhigend. Geheime Lagerräume? Versteckte Waren unbekannter Zahl? Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Die Buchführung dient drei Zwecken. Drei Zwecken, Sir.« Er hielt drei Finger in die Höhe. »Der Etablierung von Ordnung, dem Erhalt von Ordnung, der Sicherstellung zukünftiger Ordnung. Wenn jemand sich darüber erhaben fühlt und meint, Waren hierhin und dorthin verschieben zu können, ohne dies zu dokumentieren, wozu dann« - er wies auf die ungeheuren Mengen von Papieren in seinem Büro -, »wozu dann soll all dies hier gut sein?« »Aus dieser Perspektive habe ich es noch gar nicht betrachtet«, sagte ich. »Aber das müssen Sie, das müssen Sie. Ich mache meine Arbeit so, dass jederzeit ein jedes Mitglied des Direktoriums herkommen kann, um genauen Einblick in die Geschäfte des Hauses zu nehmen. Wenn aber jemand meint, auf eigene Faust handeln zu müssen, dann hat das alles keinen Zweck mehr. Überhaupt keinen Zweck.« »Ich glaube, ich verstehe.« »Ich hoffe, dass Sie das tun. Ich hoffe es außerordentlich, Sir. Ich muss noch mehr erfahren. Hat Carmichael Ihnen gesagt, welcher leitende Angestellte so frevelhaft handelt?« »Nein, davon hat er nichts angedeutet. Ich glaube auch nicht, dass er es gewusst hat.« »Und Sie wissen auch nicht, um welches Lagerhaus es sich handelt?« An dieser Stelle entschied ich mich, dass es besser wäre, die Taktik zu ändern. Schließlich musste ich Blackburn etwas in die Hand geben, damit er wusste, wo er seine Untersuchung anzusetzen hätte. »Es könnte sein, dass er in diesem Zusammenhang das Greene House erwähnt hat, aber ganz sicher bin ich mir da nicht.« »Ach ja, natürlich. Es ist, glaube ich, 1689 von einem Mr. Greene gekauft worden, einem Gentleman, der sich unserem verstorbenen katholischen König gegenüber ein wenig zu loyal gezeigt hat, und als dieser außer Landes fliehen musste, hat auch Mr. Greene nichts mehr hier gehalten. Das Greene House hat als Lagerraum stets nur sehr untergeordnete Bedeutung gehabt und soll demnächst ohnehin abgerissen und durch ein neues Gebäude ersetzt werden. Wenn jemand auf dem Gelände der Firma heimlich etwas unterbringen will, wäre er damit gar nicht schlecht beraten.« »Möglicherweise haben Sie Unterlagen in Ihren Papieren«, sagte ich. »Ladungsverzeichnisse etwa, die uns einen Hinweis darauf geben könnten, wer das Unternehmen hintergeht und was derjenige damit beabsichtigt.« »Ja, ja. Das ist es. Das muss ich sofort überprüfen. Gegen solche Unregelmäßigkeiten muss eingeschritten werden, Sir. Ich werde das nicht dulden, das lassen Sie sich gesagt sein.« »Sehr gut. Ich freue mich, das zu hören. Ich hoffe, Sie werden mich unterrichten, falls Sie etwas herausbekommen?« »Kommen Sie später noch einmal wieder«, murmelte er. Schon hatte er einen gewaltigen Folianten aufgeschlagen, aus dem eine Staubwolke in die Höhe stieg. »Ich werde schon dahinterkommen, das schwöre ich Ihnen.« Überall im Craven House herrschte immer noch bedrückte Stimmung. Carmichael war sehr beliebt gewesen, und sein Tod ließ keinen unberührt. Als ich durch die Küche kam, hielt mich Celia Glade auf, indem sie ihre schlanken Finger um mein Handgelenk legte. »Das ist eine sehr traurige Nachricht«, sagte sie leise und machte sich dabei nicht einmal die Mühe, ihre Stimme zu verstellen. »In der Tat, das ist es.« Sie ließ meinen Arm los und nahm mich stattdessen bei der Hand. Ich gebe zu, dass es mir schwerfiel, sie nicht zu mir heranzuziehen. Der Anblick ihrer großen Augen, ihrer schimmernden Haut. Und ihr Duft. Ich spürte, wie mein Körper gegen meinen Verstand rebellierte, und trotz der Gräueltat, die sich an diesem Tage zugetragen hatte, verlangte es mich, sie zu küssen. Ja, ich glaube wirklich, ich hätte mich auf so dünnes Eis begeben, wenn nicht just in diesem Moment zwei Küchenjungen hereingekommen wären. Celia und ich trennten uns wortlos voneinander. Nach einem düsteren Tag, an dem ich mir das Gemurre der Männer anhören und jedes Mal, wenn Aadil mir den Rücken zukehrte, das Verlangen unterdrücken musste, ihm einen Schlag auf den Kopf zu versetzen, kehrte ich am frühen Nachmittag noch einmal in Blackburns Büro zurück, weil ich hoffte, etwas Neues zu erfahren. Aber dem war leider nicht so. Er war blass im Gesicht; seine Hände zitterten immer noch. »Ich kann nichts finden, Sir. Keinerlei auffällige Unterlagen. Ich werde eine Inventur des Greene House anordnen müssen und dann versuchen herauszubekommen, wie das, was ich dort vorfinde, dort hingekommen ist und was damit zu tun beabsichtigt wird.« »Und durch wen«, fügte ich hinzu. Er sah mich wissend an. »Genau.« »Allerdings«, wandte ich ein, »könnte eine hochnotpeinliche Untersuchung ein Direktoriumsmitglied, das sich einer solchen Mühe unterzogen hat, um etwas beiseitezuschaffen, dazu bewegen, noch einen Schritt weiterzugehen.« »Sie meinen, mich meines Postens zu entheben?« »Das wäre zu bedenken.« »Meine treuen Dienste sind nie in Zweifel gezogen worden.« Ein Anflug von Panik war aus seiner Stimme herauszuhören. »Ich bin seit sechs Jahren hier, Sir, habe mich zu meiner Stellung hochgearbeitet, und bin stets nur mit Lob bedacht worden. Mehr als einer der Direktoren hat sich manchmal laut gefragt, wie die Geschäfte vor meinem Eintritt überhaupt haben reibungslos ablaufen können.« »Daran hege ich keinen Zweifel«, pflichtete ich ihm bei. »Aber ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, Sir, dass ein Mann in Ihrer Stellung von dem Wohlwollen derjenigen, die über ihm stehen, abhängig ist. Eine oder zwei Personen von Einfluss, die Ihnen Böses wollen, könnten alles zunichtemachen, wofür Sie sich abgerackert haben. Das müssen Sie sich stets vor Augen halten.« »Aber wie wollen wir denn nun vorgehen?« »Heimlich, Sir. Still und heimlich. Ich fürchte, mehr können wir im Moment nicht tun. Wir müssen beide unbedingt die Augen nach einem Hinweis auf einen Betrug offenhalten. Dann kommen wir vielleicht den Hintergründen dieses geheimen Warenlagers auf die Spur.« Er nickte verdrießlich. »Da haben Sie wahrscheinlich recht. Ich werde alles tun, um mehr herauszufinden, aber ich will dabei auf Ihren Rat hören und die Sache insgeheim verfolgen, anhand der Geschäftsbücher nämlich anstatt mit Worten.« Ich lobte ihn für seine Entschlossenheit und verließ sein Büro und das Craven House. Ich war fast bei dem größten Lagerhaus angelangt, als ich wie angewurzelt stehen blieb. Der Einfall war mir so unvermittelt gekommen, dass ich im Laufschritt zu Blackburns Büro zurückeilte, obwohl eine solche Hast gar nicht vonnöten gewesen wäre. Ich wusste ja, dass ich ihn dort antreffen würde, und Zeit spielte gewiss keine große Rolle. Trotzdem nahm ich die Beine in die Hand, denn es drängte mich, etwas Bestimmtes in Erfahrung zu bringen. Ich betrat das Büro und schloss, wie es meine Gewohnheit geworden war, hinter mir die Tür. Dann setzte ich mich Mr. Blackburn gegenüber und schenkte ihm ein breites Lächeln. Mein Verlangen, ihn mit Fragen zu bombardieren, war stark, aber ich hielt es im Zaum. Es könnte ihm als unangemessen erscheinen, wenn ich in scharfer Form Auskunft von ihm verlangte. Ich wusste ja, dass er nicht gerne über unklare Verhältnisse und Puzzleteile, die nicht zusammenpassen wollten, redete und wollte mich daher behutsam heranpirschen. »Sir«, begann ich, »ich hatte bereits den halben Hof überquert, als ich mit einem Male den Wunsch verspürte, noch einmal zurückzugehen und Ihnen zu sagen, dass ich Sie sehr bewundere.« »Inwiefern?« »Ihr Sinn für Ordnung und Genauigkeit, Sir. Das hat mich in meiner Arbeit mit den Wachleuten sehr inspiriert.« »Ich fühle mich von Ihren Worten geschmeichelt.« »Ehre, wem Ehre gebührt. Ich frage mich nur, ob es für mich bei Ihnen nicht noch mehr zu lernen gibt als das, was ich aus unseren kurzen Gesprächen erfahren habe?« »Wie meinen Sie das, Sir?« »Ich möchte Sie fragen, ob Sie sich heute Abend kurz Zeit nehmen könnten, um, vielleicht in einem Schanklokal, mit mir über die Philosophie Ihrer Ordnung zu sprechen - falls Sie denn mögen. Es erübrigt sich ja wohl zu erwähnen, dass Sie mit Freude mein Gast sind, da Sie doch die Rolle des Lehrers einnehmen und ich die des Schülers.« Obwohl er sich mit Haut und Haaren der East India Company verschrieben hatte, ahnte ich doch, dass Blackburn das Gefühl hatte, ein wenig belächelt zu werden, also sah er mich zunächst skeptisch an, doch schließlich schien ich ihn doch von der Aufrichtigkeit meiner Worte zu überzeugen. »Sie wissen, dass das nicht erlaubt ist.« »Nicht erlaubt?« »Die Unternehmensleitung hat es den Angestellten untersagt, Tavernen, Hurenhäuser und Spielhöllen zu betreten, denn in der Vergangenheit hat man festgestellt, dass verderbliches Tun der Arbeitsleistung abträglich ist. Würde man mich an einem solchen Orte sehen, könnte ich auf der Stelle meinen Posten verlieren.« »Aber irgendwo wird man sich doch treffen können.« Der Anflug eines verschmitzten Lächeln huschte über seine Lippen. »Ein Schanklokal«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Das ließe sich einrichten, aber mit Bedacht. Ich kenne eine Örtlichkeit, in der wir uns einen Krug oder zwei genehmigen können.« Ich kehrte zu meinen Pflichten zurück und beobachtete, wie meine Männer in gedrückter Stimmung ihrer Arbeit nachgingen. Um drei Uhr erreichte mich die Nachricht, dass Mr. Forester mich zu sprechen wünsche. Ich verspürte wenig Lust, mich unter vier Augen mit ihm zu treffen, denn ich hielt ihn durchaus für verantwortlich für Carmichaels Tod, obwohl ich nicht sagen konnte, wie oder warum er darin verstrickt war. Doch musste ich den Ahnungslosen spielen, wenn ich den Tod meines Kameraden rächen wollte, und warten, bis meine Stunde gekommen war. Ich fand die Tür zu Foresters Büro geöffnet vor. Er bat mich, sie hinter mir zu schließen und Platz zu nehmen. Als ich mich gesetzt hatte, sah ich ihn lächeln. Es sah aus, als hätte er eine groteske Maske aufgesetzt. »Sie sind jetzt mehr als eine Woche persönlich bei Mr. Ellershaw angestellt, ist das richtig?« »Ja, so ist es.« »Eine ziemlich ungewöhnliche Vereinbarung, finden Sie nicht?« Ich tat so, als verstünde ich nicht recht. »Ich vermag nicht zu sagen, was hier als ungewöhnlich gilt oder nicht, denn dazu bin ich noch nicht lange genug hier. Ich kann nur sagen, dass uns manchmal nichts anderes als ungewöhnliche Vereinbarungen bleiben und wir uns mit den Gegebenheiten abfinden müssen.« Er errötete ein wenig, und ich ahnte, dass er meine Anspielung auf sein Verhältnis zu Mrs. Ellershaw verstanden hatte. »Ich begreife nicht, wieso Ihr Wohltäter es auf seine Kappe und seine Börse genommen hat, Sie als Aufsicht über das Wachpersonal einzustellen.« »Ich weiß nicht viel über die internen Gepflogenheiten, aber er gehört zu den leitenden Angestellten, und als solchem muss ihm doch an dem Wohle des Unternehmens gelegen sein. Vielleicht war das sein Grund. Ich finde nichts Auffälliges dabei, dass er Schritte unternimmt, die dem Wohl der East India Company dienen. Und da ich es so verstanden habe, dass eine Position wie die meine erst nach der Anteilseigentümerversammlung geschaffen werden könnte, Mr. Ellershaw jedoch einen dringenden Bedarf für eine solche gesehen hat, erscheint mir sein Vorgehen in dieser Angelegenheit durchaus plausibel.« »So könnte man es sehen«, räumte Forester ein. »Es könnte durchaus sein, dass all dies nur ein Zeichen von Ellershaws Weitsicht ist. Ich habe jedoch meine Schwierigkeiten mit dieser Theorie, und die basieren auf anderen Entscheidungen seinerseits und gewissen Neigungen, die ich an dem Mann beobachtet habe.« »Und die wären?« »Ich glaube, Ellershaw droht den Verstand zu verlieren. Er verrennt sich in eine amouröse Verstrickung. Ich bin sicher, dass Sie es auch schon mitbekommen haben. Jeder weiß es.« »Manchmal«, sagte ich betont geheimnisvoll, »sind die Dinge, die jeder weiß, genau die Dinge, die jeder falsch sieht.« »Versuchen Sie nicht, mich auf den Arm zu nehmen. Sie haben sein Benehmen zweifellos mit eigenen Augen beobachten können. Und selbst, wenn Sie es vorziehen, die durch die Französische Krankheit hervorgerufenen Merkmale zu ignorieren, können Sie doch nicht bestreiten, dass er sich von der Areka-nuss abhängig macht - eine widerwärtige Angewohnheit, die er sich bei den Eingeborenen in Indien abgeschaut hat.« »Dieses braune Zeug, das er kaut?«, fragte ich ehrlich erstaunt, denn ich hatte wirklich keine Ahnung, was für eine Bewandtnis es damit hatte. »Ja, das Zeug macht, wie ich gehört habe, zunehmend süchtig. Halb Indien ist von dem Wahn dieses Giftes gepackt. Man sagt, es wirkt sich wie Kaffee auf den Körper aus, nur stärker, und sowie man einmal auf den Geschmack gekommen ist, lässt es einen nie wieder los und hat seine Nebenwirkungen.« »Wahnsinn?« »Genau.« Ich musste einen Moment überlegen, wie ich auf diese Anschuldigung reagieren sollte. »Sie scheinen mir ziemlich fest entschlossen zu glauben, Mr. Ellershaw wäre nicht mehr Herr seiner Sinne, und es scheint Ihnen auch sehr viel daran zu liegen, dass ich es ebenfalls glaube. Ich wünsche meinen Vorgesetzten in jeder Hinsicht gefällig zu sein, doch in dieser Angelegenheit, fürchte ich, kann ich Ihnen nicht entgegenkommen. Sie behaupten, mein Wohltäter wäre verrückt, ich aber kenne ihn kaum gut genug, um dies zu bestätigen, denn ich habe ihn immer nur so erlebt, wie er jetzt ist.« »Würden Sie einem Fremden begegnen, der eine Schafherde anheult, Mr. Weaver, bräuchten Sie nicht erst seine Lebensgeschichte zu studieren oder seine Freunde zu befragen, um zu wissen, dass so ein Verhalten sonderlich ist oder zumindest ungewöhnlich für den Betreffenden. Ebenso sollte es Ihnen nicht schwerfallen, meine Beobachtungen zu teilen und sie im Zusammenhang zu sehen.« »Ich muss noch einmal wiederholen, dass Sie sich meiner Meinung nach täuschen.« »Mein Gott, Sir, haben Sie nicht gehört, wie er gedroht hat, einen alten Mann mit einem glühenden Schüreisen aufzuspießen? Ist das kein Zeichen von Wahnsinn?« »Er würde erwidern, dass es sich nur um eine Taktik gehandelt habe, und ich bin noch nicht lange genug im Craven House, um es besser zu wissen. Ich habe nichts wahrgenommen, was mich zu einem solchen Schluss verleiten könnte. Aber ich weiß, dass solche Anschuldigungen mit Vorsicht zu genießen sind, wenn derjenige, der sie erhebt, bei dem Niedergang des Beschuldigten viel zu gewinnen hat.« Er beugte sich in einer fast onkelhaften Pose zu mir vor. »Gewiss sehen Sie mich in einer unvorteilhaften Position, aber ich schäme mich nicht dessen, was zwischen mir und dieser Lady vorgefallen ist. Sie müssen nicht glauben, dass ich diese Anschuldigungen nur um meiner selbst willen ausspreche. Nein, sogar im Gegenteil. Ich habe die Dame erst kennengelernt, als ich mir bereits Sorgen wegen des Verhaltens ihres Ehemannes zu machen begann.« »Ich muss Ihnen noch einmal versichern, dass ich keinen Anlass für diese Beschuldigungen sehe.« »Hmm. Und wenn Sie es täten - würden Sie es mir dann sagen? Nein, antworten Sie bitte nicht. Es ist eine unfaire Frage, und Mr. Ellershaw ist Ihr Arbeitgeber. Ich weiß, dass Sie ein Mann von Ehre sind, Sir, und dass Sie einem Mann, der sich für Sie verwendet hat, nicht in den Rücken fallen wollen. Aber ich bitte Sie, nicht zu vergessen, dass es Ihre Aufgabe hier ist, etwas für das Unternehmen zu tun und nicht für einen einzelnen seiner Angestellten. Falls Ihnen irgendetwas auffällt, das darauf deutet, dass Mr. Ellershaw nicht im Interesse der East India Company handelt oder nicht mehr in ihrem Interesse zu handeln in der Lage ist, hoffe ich, dass Sie damit zu mir kommen. Dafür ist ein Unternehmen schließlich da.« »Ich dachte, ein Unternehmen wäre dazu da, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen Geld zu verdienen?« »Unsinn. Wissen Sie, wo das Wort Company in unserem Titel herkommt? Es ist von dem lateinischen compagnia abgeleitet, und das bedeutet, gemeinsam Brot zu backen. Genau das tun wir hier. Wir sind keine einzelnen Männer auf der Suche nach dem Glück für uns selber, sondern eine Gemeinschaft, die gemeinsam ihr Brot backt.« »Es beglückt mich zu hören, dass wir hier alle brüderlich an einem Strang ziehen.« »Nun, da Sie Bescheid wissen, muss ich Sie bitten, ihn nicht noch zu weiteren Narreteien anzustacheln - blaue Herrenge-wänder zum Beispiel. Glauben Sie, Sie können Ihre Stellung hier verbessern, indem Sie ihn zum Gespött der Öffentlichkeit machen?« »Es war ja nur ein Vorschlag. Ich habe es nicht für so wichtig gehalten.« »Dann begreifen Sie offenbar nicht, wie leicht er zu beeindrucken ist. Oder Sie wollen es nicht begreifen. Sie bekommen von Mr. Ellershaw Ihr Geld, also nehme ich an, dass Sie den Wunsch haben werden, ihn von diesem Gespräch zu unterrichten. Aber ich bitte Sie, dies nicht zu tun. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass ich nicht sein Gegner bin, sondern ein treuer Mitarbeiter der East India Company, und wenn er auf den Glauben verfiele, ich würde gegen ihn konspirieren, würde dem Unternehmen aus diesem Missverständnis nur Schaden erwachsen. Ich versuche keineswegs, hinterrücks etwas gegen Mr. Ellershaw in die Wege zu leiten. Ich arbeite nur zum Besten der East India Company, und jemand muss doch seinen Platz einnehmen, wenn er eines Tages nicht mehr da ist.« »Und das werden Sie sein, nehme ich an. Ein interessanter Gedanke, da er doch keinerlei Andeutungen gemacht hat, dass er seinen Platz zu räumen wünscht. Sie hingegen bestehen darauf, nur aus Sorge um das Wohl des Unternehmens zu handeln.« Ich beschloss, den Bogen zu spannen und den Pfeil abzuschießen. »In wessen Interesse steht denn Ihr Umgang mit seiner Gattin?« Er wich meinem Blick nicht aus, das musste ich ihm zugutehalten. »Angelegenheiten des Herzens lassen sich nicht immer durch bloßen Willen regeln. Sie als Mann müssen das doch wissen, Weaver.« Ich kam nicht umhin, dabei an Miss Glade zu denken, und einen Augenblick lang empfand ich sogar Sympathie für Forester. Dann aber besann ich mich rasch wieder und rief mir Car-michaels Tod ins Gedächtnis. Wenn Forester auch Kummer in seinem Herzen trug, so rechtfertigte das doch nicht seine üble Ränkeschmiederei. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich nicht derjenige sein möchte, der Mr. Ellershaw darüber ins Bild setzt. Und was dies Gespräch betrifft, liegt mir nichts daran, die Triebfeder für Zwietracht innerhalb dieser Mauern zu sein. Und wenn ich ehrlich sein soll, würde es mir noch weniger gefallen, persönlich im Zentrum einer solchen Zwietracht zu stehen, vor allem nicht, während ich mich hier gerade erst mit allem vertraut mache.« »Sehr weise gesprochen.« »Aus mir spricht nicht Weisheit, sondern Umsicht. Ich möchte in nichts verwickelt werden, was über unser gemeinsames Brotbacken hinausgeht, gleich, was Mrs. Ellershaw denkt. Die Dame hat mich bezichtigt, mit Nachforschungen beschäftigt zu sein, von denen ich gar nichts weiß. Welches besondere Interesse unterstellt Sie Mr. Ellershaw denn in Hinblick auf ihre Tochter?« Er lächelte. »Sie sind sehr gewandt, Sir. Sie sagen mir, dass die Angelegenheit Sie nicht interessiert, doch gleichzeitig versuchen Sie, mir höchst intime Informationen zu entlocken.« »Wenn Sie nicht darüber sprechen möchten, ist das Ihre Sache. Schließlich kann ich Mr. Ellershaw auch selber fragen.« Er richtete sich in seinem Stuhl auf. »Das sollten Sie nicht tun. Ich glaube, Mrs. Ellershaw irrt sich darin, dass ihr Ehemann auf der Suche nach ihrer Tochter ist, aber wenn Sie darauf zu sprechen kommen, könnte das sehr wohl das schlafende Gespenst der Neugier erwecken.« »Dann sollten Sie es mir vielleicht sagen.« Er seufzte. »Sie werden nur so viel von mir hören, dass dieses Mädchen, Bridget Alton, die Tochter aus Mrs. Ellershaws erster Ehe ist. Eine umwerfende Schönheit, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten. Sie schlägt sehr nach ihrer Mutter - sie ist hochgewachsen und hat die hellste Haut, die ich je gesehen habe, und auch ihr Haar ist so hellblond, dass man es beinahe als weiß bezeichnen könnte, während ihre Augen von einem höchst bemerkenswerten dunklen Braun sind. Sie zog die Blicke nur so auf sich, und man konnte nirgendwo mit ihr hingehen, ohne von Männern angestarrt zu werden. Dass sie aus einer angesehenen Familie stammte und eine beträchtliche Mitgift mitbrachte, machte sie nur umso begehrenswerter. Doch trotz alledem entschied sie sich, ohne die Einwilligung ihrer Familie zu heiraten. Es war eine jener schäbigen, heimlichen Eheschließungen - Sie wissen ja. Mr. Ellershaw, der bei Tisch sonst kaum zwei Worte mit ihr zu wechseln pflegte, bekam einen fürchterlichen Wutanfall, als er davon hörte. Er schwor sich, das Mädchen aufzuspüren und zu bestrafen, also hat Mrs. Ellershaw alles Menschenmögliche getan, um ihren Mann von ihrer Tochter fernzuhalten.« »Also eine private Familienangelegenheit«, sagte ich, »die nichts mit gemeinsamen Brotbacken zu tun hat.« »So ist es.« Ich hielt es für das Beste, so zu tun, als würde ich ihm glauben, also erhob ich mich und verabschiedete mich mit einer Verbeugung. Als ich nach dem Türknauf griff, rief er mich noch einmal zu sich zurück. »Wie viel zahlt Ihnen Mr. Ellershaw?« »Wir haben uns auf vierzig Pfund im Jahr geeinigt.« Er nickte. »Für einen Mann mit einem so unregelmäßigen Einkommen wie Sie muss dass äußerst angenehm sein.« Ich hielt einen Augenblick inne. Wollte er sich über mich lustig machen? Hatte er denn keine Ahnung, dass Ellershaw mir nur einen Bruchteil dessen bezahlte, was ich verdienen könnte, wenn ich meiner üblichen Tätigkeit nachging? Ich ging nicht davon aus, also nickte ich meinerseits und verließ den Raum. Der Teufel musste mich geritten haben, denn ich zögerte keinen Augenblick, im Anschluss sogleich Ellershaw einen Besuch abzustatten. Vielleicht wollte ich mich bei dem Mann, dem ich die Schuld an Carmichaels Tod gab, rächen, vielleicht wollte ich aber auch nur im Wespennest stochern, um zu sehen, was dabei herauskam. Denn ich fand, dass ich lange genug gewartet hatte, und wenn ich etwas erreichen wollte, dann musste ich endlich etwas unternehmen, auch wenn es das Verkehrte war. Es war niemand bei Ellershaw, und er hieß mich einzutreten, obwohl er mit irgendwelchen umfangreichen Dokumenten beschäftigt war und scheinbar nur ungern gestört werden wollte. »Ja, ja, was gibt es denn?« Ich schloss die Tür hinter mir. »Sir, ich komme gerade von Mr. Forester zurück. Er hatte mich zu sich bestellt.« Er blickte von seinen Papieren auf. »Na und?« »Ich glaube, er führt Böseres im Schilde als Sie ahnen, Mr. Ellershaw.« Nun hatte ich seine vollste Aufmerksamkeit. »Was wollen Sie damit sagen?« Ich holte tief Luft. »Er hat mich davor gewarnt, Vertrauen in Sie zu setzen und - nun, Sir, er hat mir gesagt, Sie wären wahnsinnig.« »Zum Teufel noch mal!«, schrie er und rammte die Faust so heftig auf den Tisch, dass seine Teetasse klapperte und überschwappte. »Verdammt, Weaver, habe ich Sie gebeten, mit meinen Kollegen vom Beirat zu plaudern? Was nehmen Sie sich eigentlich heraus? Sie wissen ganz genau, dass mir die verfluchte Versammlung der Anteilseigner im Nacken sitzt. Ich kämpfe hier ums nackte Überleben, und Sie kommen mir mit einem solchen Unsinn!« Ich muss zugeben, dass sein Wutausbruch mich völlig unvorbereitet traf. Es hagelte nur so Tadel auf mich herunter. »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie zu mir von geheimen Komitees gesprochen, die sich gegen Sie verschwören und dass Sie vor der Anteilseignerversammlung alles darüber in Erfahrung bringen müssten«, verteidigte ich mich. »Mr. Foresters Versuche, ihre Arbeit und Ihren Ruf zu unterminieren, tragen doch ganz gewiss -« »Ruhe!«, brüllte er. »Genug von dem Palaver. Ich lasse mir von einem einfachen Untergebenen kein solch ehrabschneidendes Gerede gefallen. Wären wir in Indien, hätte ich Sie für das, was Sie eben gerade zu mir gesagt haben, vor die Tiger geworfen. Haben Sie denn keine Ahnung, wie es in einem großen Unternehmen zugeht, was es bedeutet, Teil eines solchen Unternehmens zu sein?« »Beim gemeinsamen Brotbacken sein Bestes zu geben?«, fragte ich. »Gehen Sie jetzt zurück an Ihre Arbeit.« Er sprach wieder mit ruhigerer Stimme. Seine Wut hatte sich ein wenig gelegt, obwohl ich mit meiner provokanten Bemerkung leicht noch einmal Öl in sein Feuer hätte schütten können. »Gehen Sie Ihren Pflichten nach und ich den meinen, und stören Sie mich nicht weiter mit Ihren Theorien von geheimen Komitees und Verschwörungen. Wenn Sie mir jetzt, wo so viel auf dem Spiel steht, Ärger machen, werden Sie es bereuen, Weaver, das verspreche ich Ihnen. Und sehen Sie zu, dass Sie Ersatz für Ihren toten Mann kriegen. Ich werde keine Lücke im Wachpersonal dulden, bloß weil ein Dummkopf sich von einer Kiste erschlagen lässt.« Mit diesen Worten entließ er mich; ich hatte nun Zeit und Muße, über all die Fehler nachzudenken, die ich am Tag zuvor begangen hatte. 18 A.n diesem Abend traf ich mich mit Mr. Blackburn in der Schenke seiner Wahl. Es war eine gemütliche Taverne mit vielen Kerzen und Leuchtern. Sie befand sich in der Nähe des Holzlagers in Shadwell - ausreichend weit vom Craven House entfernt. Die Gäste - Handwerker, kleine Kaufleute, sogar ein Geistlicher mit Brille - aßen und tranken in Ruhe. Blackburn und ich suchten uns einen Tisch in der Nähe des Feuers - zum einen, weil es dort warm war und zum anderen, weil Black-burn meinte, dass eventuell auf die Kleidung geschüttetes Bier dann schneller trocknen würde. Als wir Platz genommen hatten, erschien ein hübsches Mädchen, um unsere Bestellung entgegenzunehmen. »Wer bist denn du?«, verlangte Blackburn zu wissen. »Wo ist Jenny?« »Jenny fühlt sich nicht wohl. Deswegen bin ich für sie hier.« »Nein, das geht nicht«, sagte Blackburn. »Ich will Jenny.« »Aber es muss gehen«, antwortete das Mädchen. »Jenny hat die Ruhr, und das Blut schießt ihr so aus'm Arsch, dass sie's wohl nicht mehr lange machen wird, also musste schon mit mir vorliebnehmen, mein Süßer.« »Ja, dann geht es wohl nicht anders«, sagte er, sichtlich enttäuscht. »Aber du musst ihr sagen, dass ich das als Kränkung aufnehme. Nun gut, also hör jetzt genau zu, denn ich möchte es nicht zweimal sagen. Du bringst mir einen Krug Ale, aber vorher wäscht du den Krug gründlich aus. Gründlich, sage ich, und dann trocknest du ihn mit einem sauberen Tuch ab. Es darf kein Fleck darauf zu sehen sein und in dem Bier darf nichts schwimmen, was nicht hineingehört. Du wirst es dir genau ansehen, bevor du es mir bringst. Merk dir gut, was ich gesagt habe, Mädchen. Wenn du das nicht tust, wirst du es mit Mr. Derby zu tun kriegen.« Sogleich wandte sich das Mädchen mir zu, als wäre es das Beste, solche Sonderwünsche kommentarlos hinzunehmen. »Und Sie, Sir?« »Ebenfalls ein Ale«, sagte ich. »Aber ich werde mich nicht beschweren, wenn nicht mehr als die übliche Menge Schmutz darin schwimmt.« Das Mädchen ging und kam ein paar Minuten später mit unseren Bierkrügen zurück, die sie vor uns hinstellte. Blackburn brauchte bloß einen kurzen Blick auf den seinen zu werfen, und schon brach es aus ihm heraus. »Nein!«, kreischte er. »Nein, so geht das nicht. So geht das ganz und gar nicht. Sieh dir das an, du dumme Schlampe. Da ist ein fettiger Fingerabdruck auf dem Krug. Bist du denn blind, dass du das nicht gesehen hast? Nimm diesen Dreck weg und bring mir einen sauberen Krug.« »Sauberer wird er davon auch nich', wenn ich ihn aufm Kopp trage, oder was meinen 'Se?«, sagte das Mädchen. Mein weniger erhitztes Gemüt begriff, dass die Frage mehr rhetorischer Natur sein sollte, aber Mr. Blackburn schien sie durchaus ernst aufzufassen. »Ich kann so ein Gerede nicht dulden«, erregte er sich. »Allein schon der Gedanke an einen solchen Angriff gegen meine Person ist eine Abscheulichkeit.« Das Mädchen stemmte keck die Fäuste in die Hüften - eine Haltung, die sie wohl schon oft eingenommen hatte. Der Wortwechsel hatte die Aufmerksamkeit der meisten anderen Gäste erregt, und aus der Küche kam nun ein recht beleibter Mann mit einer Schürze vor dem Bauch und ohne Pe-rücke auf seinem kahl geschorenen Kopf. Er schob sich durch die Menge bis zu unserem Tisch vor. »Was ist los? Was gibt es hier für Schwierigkeiten?« »Gott sei Dank, Derby«, keuchte Blackburn. »Dieses unverschämte Weibsbild serviert hier die Getränke in Nachttöpfen mit Resten von Notdurft darin.« Das erschien mir denn doch als eine grobe Übertreibung, aber ich hielt mich zurück. »Er iss doch glatt übergeschnappt«, verteidigte sich das Mädchen. »Iss doch bloß ein Fettfleck.« Derby versetzte dem Mädchen einen Klaps an den Kopf, aber mehr zum Schein, denn er berührte dabei gerade mal eben ihr Haar und ihre Haube. »Schenk ihm ein Neues ein«, sagte er, »und sieh zu, dass der Krug sauber ist.« An Blackburn gewandt fügte er hinzu: »Es tut mir leid. Jenny hat die Ruhr, und dies Mädchen ist nicht vertraut mit deinen Vorlieben.« »Ich hab's ihr aber gesagt«, protestierte Blackburn. Derby streckte in einer Geste der Hilflosigkeit die Handflächen in die Höhe. »Du weißt doch, wie diese Mädchen sind. Sie wachsen im Dreck auf. Man sagt ihnen, sie sollen die Getränke sauber servieren, und solange keine tote Ratte darin schwimmt, gilt es als sauber. Ich werd's ihr schon noch begreiflich machen.« »Das musst du auch«, schimpfte Blackburn. »Es gibt drei Elemente der Sauberkeit: die Anwendung von Seife, die vollständige Entfernung der Seife mit klarem Wasser und das Abtrocknen mit einem sauberen Tuch. Innen und außen, Derby. Das bringst du ihr bitte bei.« »Ich werd's tun.« Der Mann entfernte sich, und Blackburn setzte mich darüber ins Bild, dass Derby der Bruder des Mannes seiner Schwester war, dem er, wie er mir zu verstehen gab, bei einer oder zwei Gelegenheiten, wenn das Geld knapp war, ausgeholfen hatte, was ihm nur dank seiner bescheidenen Lebensweise möglich gewesen sei. Daher nehme der Wirt Rück-sicht auf seine besonderen Vorlieben, was seine Schankwirtschaft zu der einzigen in der Stadt mache, in der er, Blackburn, guten Gewissens etwas zu sich nehmen könne. »Nun, Sir«, wechselte er das Thema, »zu Ihrem Anliegen. Ich will Ihnen gerne zu Diensten sein, und Sie haben soeben auch schon eines der wichtigsten Prinzipien kennengelernt, mit dem sich Ordnung herstellen lässt, nämlich die Serie. Indem man seinem Gesprächspartner darlegt, dass man in drei Schritten zu argumentieren gedenkt, hat man eine Serie geschaffen, und eine Serie, Sir, lässt sich nicht wegdiskutieren. Sowie jemand den ersten Punkt hört, will er auch die nächsten erfahren. Dieses Prinzip habe ich schon oft zu meinem Vorteil angewandt, und nun teile ich das Geheimnis mit Ihnen.« Ich bedankte mich bei ihm für seine Güte, mich an seiner Weisheit teilhaben zu lassen, und bat ihn, mich noch weiter in seine Philosophie der Ordnung einzuweihen. Also setzte er zu einem längeren Vortrag an, der nur durch gelegentliche zustimmende Bemerkungen meinerseits unterbrochen wurde. Blackburn ließ sich weit über eine Stunde lang aus, doch obgleich ich durchaus fand, dass sein Prinzip der Serie etwas für sich hatte, schien dies doch das Juwel in der Krone seiner geistigen Ergüsse darzustellen. Allzu selten kam er in seinen Ausführungen über onkelhafte Maximen wie Es gibt für alles einen Platz und alles hat an seinem Platz zu sein oder Sauberkeit kommt gleich nach Gottesfürchtigkeit hinaus. Und doch machten nicht solche Plattitüden das Sonderliche an Black-burn aus. Während er redete, stellte er unsere Bierkrüge nebeneinander, kramte den Inhalt seiner Taschen hervor, ordnete ihn und steckte ihn wieder ein. Unablässig zupfte er an seinen Rockaufschlägen, wobei er verkündete, auch hier gebe es einen Lehrsatz, ein Verhältnis von Rock zu Ärmelaufschlag, das unbedingt beachtet werden müsse. Schon bald bewahrheitete sich, was ich bereits vermutet hatte, dass sein Hang zur Ordnung nämlich keine Form von Besessenheit darstellte, sondern eher eine Marotte - wenn auch eine ziemlich bedenkliche -, die möglicherweise auf eine Ungleichmäßigkeit seiner Oberarmknochen zurückzuführen war. Außerdem fiel mir auf, dass er, sooft ich ihn drängte, mir von Fehlentscheidungen im Craven House zu erzählen, eine deutliche Abneigung zeigte, irgendetwas Schlechtes über die East India Company zu sagen. Jede Art von Unordnung schien ihm zuwider zu sein, aber seine Loyalität war unerschütterlich. Mir blieb also nichts anderes übrig, als seine Zunge auf andere Weise zu lösen. Ich entschuldigte mich damit, dass ich einmal austreten müsse, dies aber sehr ungern in aller Öffentlichkeit täte. Ich nahm an, dass ihm dieses Bedürfnis zusagte, also ging ich hinaus - allerdings nicht, um Wasser zu lassen, sondern um die Gegebenheiten zu erkunden. Ich betrat die Küche, wo das Serviermädchen gerade Krüge auf ein Tablett stellte. »Ich möchte mich für das rüde Benehmen meines Begleiters vorhin entschuldigen«, sagte ich. »Bei ihm muss alles blitzsauber sein, und er hat es bestimmt nicht böse gemeint.« »Iss sehr freundlich, dass Sie das sagen.« Das Mädchen machte einen Knicks vor mir. »Es handelt sich nicht um Freundlichkeit, sondern um gute Manieren. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ich wäre damit einverstanden gewesen, wie er dich behandelt hat. Ich kenne ihn geschäftlich, und er ist für mich eher eine Art Widersacher als ein enger Freund. Nennst du mir deinen Namen?« »Annie«, sagte sie mit einem weiteren Knicks. »Annie, wenn du mir einen Gefallen erweist, will ich mich erkenntlich zeigen.« Nun blickte sie schon ein wenig skeptischer drein. »An was für einen Gefallen haben Sie denn gedacht?« »Mein Bekannter ist von ziemlich nüchterner Natur. Er findet ständig an seinem Ale etwas auszusetzen, aber ich würde ihm gerne die Zunge ein wenig mehr lösen. Glaubst du, es gelingt dir, einen Schuss Gin in sein Bier zu tun? Nicht so viel, dass er es merkt, aber genug, um ihn ein bisschen in Stimmung zu bringen?« Sie warf mir ein verschlagenes Grinsen zu, wischte es aber sogleich wieder mit dem Handrücken fort. »Ich weiß nich' recht, Sir. Es scheint mir nich' recht, die Unwissenheit eines Gentleman so auszunützen.« Ich hielt ihr einen Schilling hin. »Geht es nun besser?« Sie nahm die Münze aus meinen Fingern. »So wird's gehen.« Sowie ich wieder am Tisch saß, brachte sie uns zwei neue Krüge. Blackburn und ich unterhielten uns über dieses und jenes, während er sein gestärktes Ale trank. Nach und nach merkte man an seiner Sprechweise und seinen Bewegungen, dass der Gin seine Wirkung tat. Meine Gelegenheit war gekommen. »Für einen Mann, der eine solche Abscheu gegenüber Unordnung hat, muss es nicht leicht sein, im Craven House zu arbeiten.« »Zuweilen, zuweilen«, sagte er und nuschelte dabei schon ein wenig. »Es geschehen dort allerlei unerfreuliche Dinge. Unterlagen werden falsch zugeordnet oder gar nicht, Ausgaben ohne ordentlichen Beleg getätigt. Einmal«, sagte er und senkte dabei die Stimme, »ist der Mann, der die Nachttöpfe leert, auf dem Wege zur Ausübung seiner Pflichten totgeschlagen worden, also blieben in jener Nacht die Töpfe ungeleert. Den meisten hat das gar nichts ausgemacht. Sie haben ihre vollen Töpfe einfach den Tag über stehen gelassen. Unsaubere Wilde, das ganze Pack.« »Schlimm, schlimm«, pflichtete ich ihm bei. »Ist sonst noch etwas vorgefallen?« »Oh, gewiss ist sonst noch etwas vorgefallen. Mehr, als Sie glauben würden. Über einen der Direktoren - den Namen will ich aus dem Spiel lassen - habe ich gehört, gehört, wohlver-standen, also weiß ich nicht, ob es der Wahrheit entspricht, dass er seinen Hemdsaum benutzt, um sich abzuputzen und dann mit seinem schmutzigen Hemd wieder an die Arbeit geht.« »Aber es sind doch bestimmt nicht alle Männer dort so ver-abscheuungswürdig?« »Alle? Na, das wäre ja noch schöner. Es hält sich in Grenzen.« Das Mädchen kam, nahm unsere geleerten Krüge und stellte uns volle hin. Mit einem raschen Augenzwinkern gab sie mir zu verstehen, dass der für Blackburn wiederum einen Schuss Gin enthielt. »Ich glaube, die Schlampe findet Gefallen an mir«, bemerkte Blackburn. »Haben Sie gesehen, wie sie mir zugezwinkert hat?« »Es ist mir nicht entgangen.« »Ja, sie mag mich. Aber ich würde mich nicht neben so eine legen, bis ich nicht gesehen habe, wie sie vorher ein Bad nimmt. Oh, ich sehe gerne Frauen beim Bade zu, Mr. Weaver. Das ist mein höchstes Vergnügen.« Während er trank, informierte er mich über weitere Verstöße gegen die Hygiene, von denen er Kenntnis hatte. Ich ließ ihn damit fortfahren, während er den größten Teil seines mit Gin gemischten Bieres trank, aber da er zunehmend undeutlicher sprach und ich befürchten musste, dass ich seinen Ausführungen bald nicht mehr würde folgen können, unternahm ich einen weiteren, wie ich hoffte, nicht zu auffälligen Vorstoß. »Was gibt es sonst noch zu berichten? Was ist mit den Schludrigkeiten, die Sie angedeutet haben und die über persönliche Unreinheit hinausgehen? In der Führung der Bücher etwa?« »Ja, es kommen dabei Fehler vor. Überall und ständig. Es greift geradezu um sich. Manche benehmen sich, als besäßen sie unsichtbare Diener, dienstbare Geister, die hinter ihnen herräumen. Und dabei handelt es sich nicht immer um Re-chenfehler«, sagte er und zwinkerte nun seinerseits unmissverständlich. »Ach?« »Ihr eigener Brotherr zum Beispiel - aber ich rede zu viel.« »Sie haben schon zu viel gesagt, als dass Sie jetzt nicht weitererzählen könnten. Es wäre grausam, mich so auf die Folter zu spannen. Fahren Sie bitte fort. Wir können einander doch vertrauen.« »In der Tat, in der Tat. Da haben Sie recht. Es ist wie mit der Serie, nicht wahr? Wenn man einmal einen Gedanken angefangen hat, muss man ihn auch zu Ende spinnen. Ich denke, das haben Sie von mir gelernt.« »Durchaus. Nun erzählen Sie weiter.« »Sie sind aber ausgesprochen neugierig«, bemerkte er. »Und Sie zieren sich wie ein kokettes Mädchen«, sagte ich so versöhnlich wie möglich. »Sie wollen mich doch wohl nicht im Ungewissen belassen?« »Nein, keineswegs. Ich glaube, ich darf noch ein wenig weiter ausholen.« Er räusperte sich. »Ihr Brotherr, dessen Namen ich nicht aussprechen werde, weil man nie weiß, wer einem noch alles zuhört, ist einmal mit dem Begehren an mich herangetreten, eine beträchtliche Summe aus den Büchern verschwinden zu lassen, damit er darüber verfügen könne. Mit dem Hauptkassierer wäre alles bereits abgesprochen, meinte er, doch er bräuchte auch meine Mitwirkung, um das Verschwinden des Geldes vor neugierigen Augen zu verbergen. Er hatte sich sogar eine Geschichte zurechtgelegt, dass es für eine wichtige Unternehmung innerhalb der East India Company sei, doch könne er mir nicht mehr darüber sagen, aber ich ahnte sofort, dass es sich bei dieser wichtigen Unternehmung um die Begleichung von Spielschulden oder um das Erlangen von Mitteln für seine Herumhurerei handeln dürfte. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich seinen Wunsch abschlägig beschieden habe.« »Warum?« »Warum? Warum? Reicht es denn nicht, dass es ein unaussprechliches Verbrechen wäre, so nach eigenem Gutdünken mit den Büchern zu verfahren? Aber auch aus einem anderen Grund kam mir die Sache bedenklich vor. Der frühere Hauptkassierer, ein Mann namens Horner, hatte Ihrem Arbeitgeber zu häufig unter die Arme gegriffen, als dass seine weitere Präsenz im Unternehmen diesem noch angenehm sein konnte. Also belohnte man ihn für seine treuen Dienste damit, dass man ihn nach Bombay abkommandierte, wo er dann für den Rest seiner Tage schuften durfte. Ich wollte doch nicht, dass mir das Gleiche widerfährt. Ich glaube nicht, dass ich mich unter lauter Indern wohlfühlen würde.« »Aber was war mit dem Geld, das Ellershaw benötigte? Ist er ohne es ausgekommen?« »Aber nicht doch. Ich stellte schon bald das Fehlen besagter Summe fest. Es war ein ziemlich umständlicher Versuch unternommen worden, die Unterschlagung zu vertuschen, aber mich konnte man damit nicht hinters Licht führen.« »Haben Sie Ellershaw darauf angesprochen?« »In einem Unternehmen, in dem Loyalität mit einer Verbannung in das wüsteste Klima auf Erden belohnt wird, war mir keineswegs danach, unloyal zu erscheinen. Stattdessen habe ich den Betrug so gründlich getarnt, dass niemand je dahinterkäme. Ich würde nie etwas Unrechtes tun, Sir, aber ich fand nichts dabei, Gras über eine Sache wachsen zu lassen, wenn das Kind nun einmal in den Brunnen gefallen war.« Ich nickte nachdenklich. »Wie interessant, Ihnen zuzuhören«, sagte ich. »Sie müssen doch noch mehr solche Geschichten zu erzählen wissen.« »Nun, da gab es schon ein oder zwei Dinge, die mir gegen den Strich gingen - bevor Sie das mit dem Greene House aufs Tapet gebracht haben, um es einmal so auszudrücken. Aber ich will lieber keine alten Geschichten mehr aufwärmen.« »Ich bitte Sie darum.« Er schüttelte den Kopf. Ich beschloss, dass es an der Zeit für einen taktischen Winkelzug war, auch wenn dieser Cobbs Anweisungen widersprach. Er hatte mir untersagt, den Namen Absalom Pepper in den Mund zu nehmen, aber der Mann, den ich auszuhorchen trachtete, war schon ziemlich alkoholisiert, also glaubte ich, einen Versuch wagen zu können. »Sprechen Sie von der Geschichte mit dem Pepper?«, fragte ich Blackburn. Er wurde ganz blass und bekam große Augen. »Was wissen Sie darüber? Wer hat Ihnen davon erzählt?«, fragte er leise. »Wer mir davon erzählt hat?« Ich lachte. »Das weiß doch jedes Kind.« Er klammerte sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. »Jedes Kind weiß es? Sie sagen, das weiß jedes Kind? Wer hat da nicht den Mund gehalten? Wie hat er davon erfahren? Oh, ich bin ruiniert. Das ist das Ende.« »Beruhigen Sie sich«, sagte ich. »Sie müssen mich missverstanden haben. Wie konnte ich ahnen, dass die Erwähnung dieses Pulvers Sie so aufregt?« »Pulver? Was für ein Pulver?« »Paprika. Capsicum annuum. Hierzulande Pepper genannt. Da die East India Company sich, wie ich zu erinnern vermeine, früher fast ausschließlich mit dem Import von Gewürzen befasst hat, hätte es mich interessiert, ob bei der Umstellung auf Textilien und Tee organisatorisch alles glatt gegangen ist.« Er ließ den Tisch wieder los. »Ach so. Das meinen Sie.« Dann nahm er einen herzhaften Schluck aus seinem Krug. Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte. Ich hätte ein Dummkopf sein müssen, die Gelegenheit nicht beim Schopfe zu packen. »Ich habe von dem Gewürz gesprochen, Sir. Nur von dem Gewürz.« Ich lehnte mich zurück, bis meine Schultern die Wand berührten. »Aber was haben Sie denn verstanden?« Jetzt stand alles auf Messers Schneide. Ich spielte ein gefährliches Spiel, und ich kannte kaum die Regeln. Würde er merken, dass ich ihn hereingelegt hatte, ihn dazu gebracht hatte, zuzugeben, dass er über einen gewissen Pepper etwas wusste - wenn auch nicht genau, was -, und würde ihn das gegen mich aufbringen? Oder würde er sich in sein Schneckenhaus zurückziehen? Er schüttelte den Kopf. »Schon gut. Es war nicht so wichtig.« »Nicht so wichtig«, wiederholte ich in so jovialem Ton wie möglich. »Dafür, dass es nicht so wichtig war, hat es Sie aber mächtig aufgeregt, Sir.« »Ich sagte doch, es war nichts.« Ich beugte mich zu ihm vor. »Nun kommen Sie schon, Mr. Blackburn«, flüsterte ich. »Wir können einander doch vertrauen, und Sie haben meine brennende Neugier erweckt. Worauf, glaubten Sie, hätte ich angespielt? Sie können es mir ruhig sagen.« Er nahm noch einen Schluck. Ich weiß nicht, was ihn zum Reden brachte - der Alkohol, das Gefühl, in mir eine verwandte Seele gefunden zu haben, oder die Erkenntnis, dass die Geschichte ohnehin schon halb heraus war und er mir ebenso gut auch noch den Rest erzählen konnte, um sie dann endgültig mit dem Mäntelchen des Vergessens zuzudecken. Jedenfalls holte er tief Luft und stellte seinen Krug hin. »Es gibt da eine Witwe.« »Was für eine Witwe?« »Es ist keine fünf oder sechs Monate her, da erhielt ich vom Direktorium einen versiegelten Brief. Er war von keinem einzelnen Direktor unterschrieben, sondern nur mit einem Siegel beglaubigt. Darin wurde ich angewiesen, dafür zu sorgen, dass eine Witwe eine Rente von einhundertzwanzig Pfund im Jahr erhielt, ansonsten aber kein Wort davon zu irgendwem zu sagen, nicht einmal zu einem Vorgesetzten, da es sich um eine geheime Vereinbarung handelte, die unsere Rivalen gegen uns verwenden könnten. Ja, es wurde mir in dem Brief sogar damit gedroht, dass ich meine Stellung verlöre, wenn die Angelegenheit an die Öffentlichkeit dränge. Ich hatte keinen Grund, diese Drohung auf die leichte Schulter zu nehmen, denn ursprünglich war Horner, der Hauptkassierer, für die Auszahlung dieser Rente verantwortlich gewesen. Es war seine letzte Amtshandlung, bevor man ihn in die Hölle Asiens verfrachtet hat. Jeder Dummkopf hätte erkannt, dass ich inmitten geheimer Machenschaften von großer Tragweite steckte, und mir blieb nur, den Anweisungen zu folgen, wenn ich einem schrecklichen Schicksal entgehen wollte.« »Und der Name dieser Witwe war Pepper?« Blackburn fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wandte den Blick ab. Dann schluckte er schwer, um anschließend einen großen Schluck aus seinem Krug zu nehmen. »Ja. Sie ist die Witwe eines gewissen Absalom Pepper.« Obwohl ich mir alle Mühe gab, gelang es mir nicht, Black-burn weitere Informationen zu entlocken - auch nicht mit Hilfe zweier weiterer Krüge Ale. Er blieb dabei, nur zu wissen, dass Mrs. Pepper eine Witwe war, zu deren Unterhalt das Direktorium der East India Company beizutragen beschlossen hatte. Sie lebte nahe der Stadtgrenze in dem Weiler Twickenham, wo sie ein Haus in der neu erbauten Montpelier Row besaß. Darüber hinaus wüsste er nichts - außer, dass sie es scheinbar einmalig gut getroffen hatte, denn die East India Company zahlte nie Renten, nicht einmal an scheidende Direktoren. Darüber hinaus schien es keinerlei Verbindung zwischen Pepper und der East India Company zu geben, außer eben, dass die Firma seiner Witwe eine stattliche Rente zukommen ließ und die Angelegenheit mit größter Diskretion behandelt wurde. Ich drängte Blackburn, soweit es mir tunlich erschien, aber es zeigte sich bald, dass ich an die Grenzen seines Wissens gestoßen war. Und doch tat sich hier ein Pfad auf, der zur Erfül-lung von Cobbs innigstem Herzenswunsch führen könnte - was für meine Freunde und meinen Onkel höchstwahrscheinlich die Befreiung von dem Joch bedeuten konnte. Ich wagte nicht zu hoffen, dass auch ich selber so bald aus dieser verworrenen Angelegenheit freikäme, aber vielleicht konnte ich mein erworbenes Wissen über diesen Absalom Pepper dazu nutzen, wenigstens die Bürde meines Onkels ein wenig zu erleichtern. Nachdem ich ihn lange genug ausgefragt hatte, war Mr. Blackburn zu betrunken, um nach Hause gehen zu können -er konnte sich nicht einmal mehr auf den Füßen halten, um es genau zu sagen. Also setzte ich ihn in eine Droschke, bezahlte den Kutscher und konnte nur hoffen, dass er den armen Kerl zu allem Unglück nicht auch noch ausnahm. Obwohl auch ich den Magen voller Bier hatte und nicht mehr ganz und gar klar im Kopf war, schien die Stunde mir nicht zu spät, um Cobb noch einen Besuch abzustatten und ihm von meinen neuesten Erkenntnissen zu berichten. Aber zunächst wollte ich alles noch einmal überdenken, also ging ich ins Gasthaus zurück, setzte mich wieder ans Feuer und trank meinen letzten Schluck Bier. Dabei kam ich zu dem Ent-schluss, den Besuch bleiben zu lassen, denn ich war doch noch genügend bei Verstand, um mir zu sagen, dass ich Cobb nicht mehr verpflichtet war als Ellershaw. In erster Linie musste ich jetzt an mich selber denken und überlegen, wie ich mich aus diesem dicht gewobenen Spinnennetz befreien konnte. Also würde ich mein Wissen nach Möglichkeit vorerst für mich behalten. Ich rief die fügsame junge Annie zu mir und bat sie um einen Stift und Papier. Dann schrieb ich zwei Briefe. Der eine war an Ellershaw gerichtet; ich teilte ihm darin mit, dass ich am nächsten Tag nicht ins Craven House kommen könne, da es mich mit blutigem Durchfall - man sieht, wie mir das Schicksal der armen Jenny als Inspiration diente - aufs Krankenbett geworfen hatte. Wenn man sich mit einem Schnupfen oder mit starken Schmerzen entschuldigt, empfängt man oft ungefragt gut gemeinte medizinische Ratschläge, also gab ich eine so unappetitliche Krankheit vor, dass Ellershaw sich hüten würde, persönlich nach dem Rechten zu sehen. Mein zweiter Brief galt Elias Gordon. Ich bat ihn, mich an einem Ort zu treffen, an dem wir unbeobachtet waren. Dann gab ich die beiden Schreiben zusammen mit noch einer Münze Annie, die mir versprach, sogleich den Küchenjungen damit loszuschicken. In diesem Augenblick erhaschte ich, wenn auch nur ganz am Rand, den Blick eines kleinwüchsigen Burschen mittleren Alters, der in eine der hintersten Ecken gekauert saß. Ich hatte ihn schon beim Eintreten gesehen, mir aber nichts weiter gedacht, und er wäre mir auch jetzt nicht aufgefallen, wenn er nicht so rasch den Blick von mir abgewandt und ihn auf Annie geheftet haben würde. Dies mochte ohne jede Bedeutung sein, reine Neugier eines Gastes, aber es machte mich doch misstrauisch, und ich nahm den Mann unwillkürlich ein wenig näher in Augenschein. Er trug ein abgewetztes braunes Gewand, und seine ungepflegte und altmodische Perücke hing ihm auf beiden Seiten wie ein kranker Schoßhund auf die geflickten Schultern seines Rockes. Seine kleine Brille war ihm halb auf die Nase gerutscht, doch da der Raum nur spärlich beleuchtet war, vermochte ich nicht in seinen Zügen zu lesen. Am ehesten kam er mir vor wie ein verarmter Gelehrter, doch konnte es durchaus sein, dass er sich nur als ein solcher ausgab und in Wirklichkeit im Dienste finsterer Mächte stand. Andererseits war nicht von der Hand zu weisen, dass ich mich möglicherweise durch die Umstände verunsichern ließ und er wirklich nicht mehr war, als es den Anschein hatte. Dennoch erweckte etwas meinen Argwohn. Jener vermeintliche Gelehrte hatte einen schwarz gebundenen Oktavband vor sich, in den er recht vertieft zu sein schien. Es gab aber in dem Raum viel besser beleuchtete Plätze als den, den er sich ausgesucht hatte, und selbst jemand, der keine Brille brauchte, würde seine Schwierigkeiten haben, in dem Dämmerlicht, in dem der Unbekannte hockte, etwas zu lesen. Also blieb mir doch nur der Schluss, dass er auf mich angesetzt war, ob nun von Cobb oder sonst wem. Ich beschloss daher, abzuwarten. Wenn er vorhatte, mir beim Verlassen des Wirtshauses zu folgen, wollte ich es darauf ankommen lassen. Entweder verlor ich ihn aus den Augen, oder er ging mir bis zu meiner Unterkunft nach. Sollte er doch. Falls er sich aber erheben und versuchen sollte, den Jungen aufzuhalten, würde ich meinerseits ihm folgen müssen, denn ich konnte es nicht darauf ankommen lassen, dass meine Briefe, vor allem der an Elias, in die Hände eines mir unbekannten Widersachers fielen. Noch einmal rief ich Annie, bat sie, sich zu mir herunter-zubeugen und legte eine Hand auf ihr einladendes Hinterteil. »Lach«, sagte ich. »Lach, als hätte ich etwas zu und zu Amüsantes geäußert.« Zu meiner großen Überraschung lachte sie ohne Umschweife laut auf. »So, nun dreh dich bitte nicht um, aber dahinten in der Ecke sitzt ein gelehrt aussehender Bursche. Weißt du, von wem ich spreche?« »Worum geht's denn?« »Darum, dass für dich ein weiterer Schilling dabei herausspringt.« »Oh, das klingt gut. Er iss schon den ganzen Abend hier. So wie Sie.« »Und was trinkt er?« »Man sollte es nich glauben - nichts als Milch. Ein erwachsener Mann, der Milch trinkt ohne Brot dazu. Wie 'n Kind.« Ich glaubte es durchaus. Der Junge, dem ich meine Briefe anvertraut hatte, schien vor seinem Botengang noch andere Pflichten zu erledigen gehabt zu haben, aber nun sah ich ihn zur Tür hinausgehen. Augenblicklich hielt es auch den vermeintlichen Gelehrten nicht mehr auf seinem Platz. Ich wartete einen Moment; dann drückte ich dem Mädchen eine Silbermünze in die Hand, erhob mich rasch und folgte dem vorgeblichen Mann von Bildung. Als ich auf den Market Hill kam, hatte er sich dem Jungen bereits bis auf wenige Schritte genähert. Auf dem Boden lag festgetretener Schnee, auf dem es sich nicht gut laufen ließ, aber zur Not war ich bereit, die Beine in die Hand zu nehmen. »Warte«, rief unser Gelehrter dem Jungen nach. »Warte auf mich, mein Sohn. Ich habe etwas mit dir zu bereden, und es soll dein Schaden nicht sein.« Der Junge sah sich um, blickte aber nicht in ein lächelndes, harmloses Gesicht, sondern in eines, das sich vor Schmerz verzerrte, als ich dem Burschen einen Schlag gegen den Hinterkopf versetzte und ihn damit in den Straßenschmutz niederstreckte. »Er wollte nicht mit dir reden, sondern dir etwas antun«, sagte ich zu dem Jungen. »Nun geh und gib deine Briefe ab. Um den Unhold werde ich mich kümmern.« Der Junge konnte nicht zu starren aufhören, so fasziniert war er von dem Spektakel, das sich vor ihm abspielte, aber da der Schurke nicht mehr an ihn herankonnte, spielte die kurze Verzögerung keine große Rolle. Der Fremde zappelte und schien nicht recht zu begreifen, was ihm widerfahren war, aber ich stellte einen Fuß auf seine Hand, damit er gar nicht erst versuchte, sich zu erheben. Rasch merkte er, dass jede Bewegung nur zur Folge hatte, dass ich ihn noch stärker zu Boden drückte. »So, Sir, nun erzählen Sie mir mal, für wen Sie arbeiten.« »Es ist eine Ungeheuerlichkeit, einen Angehörigen der Universität niederzuschlagen. Und sowie die Welt erfährt, dass der Täter auch noch ein Jude war, wird das schreckliche Konsequenzen für Ihre Leute haben.« »Ach, und woher wollen Sie wissen, dass ich Jude bin?« Ich bekam keine Antwort. »Es interessiert mich nicht, ob Sie an der Universität sind oder nicht. Mich interessiert nur, dass Sie mich beobachtet und versucht haben, den Jungen aufzuhalten, der meine Briefe austrägt. Also - für wen arbeiten Sie?« »Von mir erfahren Sie gar nichts.« Damit musste ich mich wohl abfinden, und da es für meine Pläne ohnehin von untergeordneter Bedeutung erschien, ob er nun von Cobb oder Ellershaw oder sonst wem geschickt worden war, unternahm ich gar nicht den Versuch, ihn zum Sprechen zu bringen, sondern schlug seinen Kopf auf den Boden, bis er das Bewusstsein verlor. Alsdann durchsuchte ich ihn, fand aber nichts Wichtiges bis auf eine Zehnpfundnote, die von demselben Goldschmied ausgestellt war, von dem auch die Geldscheine stammten, mit denen Cobb mich bezahlte. Ich blickte auf und sah, dass der Junge nicht weitergegangen war, sondern ängstlich in der Nähe verharrte. »Gib mir die Briefe zurück«, rief ich ihm zu. »Wenn ein Schuft sich hier herumtreibt, gibt es vielleicht noch mehr davon. Ich werde eine andere Art der Zustellung wählen.« Der Junge gab mir die Briefe zurück und rannte davon. Ich blieb ziemlich allein auf der Straße stehen. Mit den Briefen in der Hand betrachtete ich den vorgeblichen Gelehrten und fragte mich gerade, ob ich vielleicht zu rasch die Geduld mit ihm verloren hatte und er mir noch mehr hätte sagen können. Aber einen Augenblick später hatte die Frage sich bereits erledigt, als ich nämlich eine Hand an meinem Kopf spürte, die mich in den schmutzigen Schnee stieß. Ich fiel einigermaßenweich und war sofort wieder beieinander, doch leider eine Sekunde zu spät. Als ich aufblickte, sah ich die Gestalt eines Mannes mit meinen Briefen davonlaufen. Sofort war ich wieder auf den Füßen und hinter dem Dieb her, aber er hatte schon einen beträchtlichen Vorsprung. Ich sah ihn ein ganzes Stück vor mir - für seine massige Figur war er unglaublich behände. Ich hingegen, der ich mir einmal böse das Bein gebrochen hatte, konnte kein solches Tempo vorlegen und musste befürchten, dass der Kerl mir trotz all meiner Bemühungen, den Schmerz nicht zu beachten und mich ins Zeug zu legen, entkommen würde. Er lief zum Virginia Planter Hill und auf die Shadwell Street zu, was ich als Glück für mich erachtete, denn die Straße war breit und gut beleuchtet, und es würden zu dieser späten Stunde fast keine Passanten mehr dort unterwegs sein. Es bestand also die geringe Chance, dass es mir doch noch gelang, ihn einzuholen. Während ich mich sputete, um den Abstand zwischen uns zu verringern oder den Mann wenigstens nicht ganz aus den Augen zu verlieren, bog er in die Shadwell Street ein. Im nächsten Moment sah ich, wie er zurückprallte und beinahe hintenüberfiel, als ein Einspänner mit großer Geschwindigkeit an ihm vorbeiraste, dessen Kutscher dem Mann, den er um ein Haar zu Tode gefahren hatte, eine Unflätigkeit zurief. Aber der Verfolgte fing sich rasch wieder, setzte zum Sprung an wie eine riesige Katze, und als eine weitere Kutsche an ihm vorbeikam, sprang er mit einem Satz auf den Wagen. Über das Klappern der Hufe und das Poltern der Räder hinweg konnte ich gerade noch den überraschten Aufschrei des Kutschers hören. Was musste das für ein Mann sein, dachte ich, der sein Leben in höchste Gefahr brachte, indem er auf eine vorbeirasende Kutsche sprang? Es stachelte meine Wut nur umso mehr an, denn nun blieb mir nichts anderes übrig, als es ihm nachzutun. Ich lief so schnell ich konnte, aber ein weiterer Einspänner überholte mich, dann noch einer, und schließlich schien es, als wären acht oder zehn davon in einer Wettfahrt begriffen. Als ich die Shadwell Street erreichte, näherte sich mir gerade noch ein Nachzügler, und den wollte ich auf keinen Fall verpassen. Trotz der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass die Kutsche grün gestrichen und mit goldenen Streifen verziert war - und dass einer dieser Streifen die Gestalt einer Schlange hatte. Und dann ging mir auf, dass dies der Wagen sein musste, von dem vor einiger Zeit Mr. Chance angefahren worden war. Der Kutscher war ein junger Tunichtgut gewesen, der seinem törichten Rennen mehr Wert beimaß als einem Menschenleben. Nun, ebendieser Kutscher musste nun mit meiner Gesellschaft vorliebnehmen, denn ich schwang mich in die Luft und hoffte dabei inständig, dass ich im Wageninneren und nicht unter den Rädern landen würde. Und tatsächlich landete ich wirklich ziemlich unsanft in der Kutsche, deren Besitzer vor Schreck aufkreischte. »Seid Ihr denn von Sinnen?«, verlangte er zu wissen, und in seinen weit aufgerissenen Augen spiegelte sich das Licht der Straßenlaternen. Ich schwang mich neben ihn und riss ihm die Zügel aus der Hand. »Du bist ein Dummkopf, ein Scheusal und ein miserabler Kutscher noch dazu«, versetzte ich. »Nun sei still, sonst stoße ich dich vom Bock.« Ich trieb das Pferd mit einem Peitschenhieb voran, und siehe da, es konnte schneller laufen, als sein Besitzer es ihm abverlangt hatte, denn dieser schien mir nicht unter mangelndem Durchsetzungsvermögen, sondern an mangelndem Schneid zu leiden, denn er kreischte schon wieder auf, als ich das Tempo erhöhte. »Langsamer!«, schrie er so schrill, dass Kristallglas davon hätte zerspringen können. »Sie bringen uns noch um!« »Habe ich nicht mal gesehen, wie du einen Mann umgefahren hast und nichts als ein Lachen für ihn übrighattest?«, rief ich laut, damit er mich über das Geräusch der Hufe und des Fahrtwindes hören konnte. »Ich glaube kaum, dass du mein Mitleid verdienst.« »Was wollen Sie denn nur von mir?«, wimmerte er. »Die anderen Kutschen überholen«, sagte ich. »Und wenn mir danach noch Zeit und Gelegenheit bleiben, dir einen Denkzettel verpassen.« Erbarmungslos trieb ich das Pferd zu immer halsbrecherischerem Tempo an, aber mir blieb keine andere Wahl. Wir überholten den ersten Wagen, dessen Kutscher verdutzt zu mir und dem zusammengekauerten Mann an meiner Seite herüberschaute, dann den zweiten und dritten. Wenn ich es wollte, dachte ich, dann könnte ich dieses Rennen gewinnen. Die noch vor uns liegenden Kutschen bogen in die Old Gra-vel Lane ein und verlangsamten dementsprechend ihre Fahrt. Wenn ich jedoch meine Briefe wiederhaben wollte, konnte ich auf Sicherheitsbedenken keine Rücksicht nehmen und nahm meinerseits kaum Fahrt weg, so dass wir auf zwei Rädern um die Ecke rasten. Ich hielt mit der einen Hand die Zügel und schob mit der anderen meinen greinenden Passagier an seinem Mantelkragen ans äußerste Ende der Sitzbank, so dass wir gerade eben das Gleichgewicht zurückbekamen und nicht umkippten. Währenddessen hatten wir noch drei weitere Wagen überholt, so dass sich jetzt nur noch drei vor uns befanden. Unser Pferd schien nicht minder begeistert wie ich selber, dass wir dieses waghalsige Manöver gemeistert hatten und holte noch die letzten Reserven aus sich heraus, mit deren Hilfe wir den verbleibenden drei Wagen immer näher kamen. Nun konnte ich schon erkennen, dass nicht die Kutsche an der Spitze, sondern der Einspänner dahinter mit zwei Personen besetzt war. Ich musste alles tun, um sie zum Anhalten zu zwingen und griff in der Hoffnung, das Pferd würde gehorchen - wenn es denn gehorchen konnte -, noch einmal zur Peitsche. Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel Kraft noch in dem Tier steckte, und während der Wagen ganz vorn seinerseits das Tempo erhöhte, begann der mit den zwei Männern darin langsamer zu werden, so dass ich mich neben ihn setzen konnte. Der seitliche Abstand zwischen uns änderte sich von Sekunde zu Sekunde, lag aber immer zwischen zwei bis höchstens vier Armeslängen. Die beiden Männer in der Kutsche, mit der ich nun im Wettstreit lag, riefen mir etwas zu, was ich aber nicht verstehen konnte, und ich hatte auch kein Verlangen und keine Zeit, genauer hinzuhören. Wieder nahm ich die Zügel in die linke Hand und zog mit der rechten den Feigling vom Boden des Kutschbocks hoch, wo er sich verkrochen hatte. »Nimm du jetzt die Zügel!«, schrie ich ihn an. »Halte dich so nahe wie möglich. Wenn du nicht tust, was ich sage, wirst du es bereuen. Deinen Einspänner erkenne ich jederzeit wieder, und dann wirst du dir wünschen, mir nie begegnet zu sein.« Er nickte. Erst hatte er Angst, dass wir zu schnell fuhren, jetzt musste er zusehen, dass wir nicht zu langsam wurden. Jedenfalls nahm er die Zügel und versuchte, sie ruhig zu halten, während ich an das Ende der Sitzbank rutschte und meinen ganzen Mut zusammennahm. Ich wusste, dass ich diese Manöver besser gar nicht erst versuchen sollte: Zwar habe ich in meinem Leben schon viele Dummheiten begangen, aber nichts, was so töricht war wie das hier. Sollte es mir misslingen, würde es mein sicheres Ende bedeuten. Doch wenn ich es nicht versuchte, würden meine Widersacher mit meinen Briefen entkommen, und dann würden sie viel mehr wissen, als mir lieb war. Ich durfte nicht zulassen, dass meine Pläne zunichtegemacht wurden und mein Onkel in den Schuldturm kam, also holte ich tief Luft und sprang ins Leere. Wieso ich nicht unter den Hufen zu Tode getrampelt oder von den Rädern zermalmt wurde, wird mir stets ein Rätsel bleiben, aber irgendwie kam es, dass genau im Augenblick meines Sprunges meine Kutsche einen Schlenker nach rechts machte, so dass der Abstand zwischen den beiden Wagen sich verringerte und ich tatsächlich den Kutschbock des Einspänners neben uns erreichte, wobei ich dem Mann, der die Zügel in der Hand hatte, einen unsanften Stoß versetzte. Ihn hielt ich für den Kerl, der meine Briefe gestohlen hatte, also schob ich ihn grob beiseite, riss die Zügel an mich und brachte das Pferd durch ruckartiges Annehmen der Zügel so jäh zum Halten, dass ich mich mit aller Kraft gegen das Spritzbrett stemmen musste, um nicht nach vorne geschleudert zu werden. Meine unfreiwilligen Mitfahrer waren nicht darauf vorbereitet und flogen Hals über Kopf vom Kutschbock herunter, wobei auch sie es nur einer göttlichen Fügung verdankten, nicht unter die Räder einer der nachfolgenden Kutschen zu geraten. Es war ein Zeichen der Gefühllosigkeit dieser Leute, dass keiner der an dem Rennen Beteiligten auch nur daran dachte, anzuhalten und seinen Kameraden zu Hilfe zu eilen. Sowie der Wagen stand, sprang ich vom Bock und rannte zu der Stelle, an der die beiden Männer nebeneinander am Straßenrand kauerten. Schon hatte sich eine johlende Menge um sie versammelt -Sympathie konnten diese Wagenlenker nicht erwarten. Sie waren ziemlich benommen und bluteten an mehreren Stellen, schienen aber nicht ernsthaft verletzt. Doch das konnte sich rasch ändern. Ich griff in die Tasche und zog meine Pistole. Es hatte leicht zu schneien begonnen, und die geringste Feuchtigkeit konnte es unmöglich machen, die Waffe abzufeuern, aber ich hoffte, dass die zwei Burschen in ihrem angeschlagenen Zustand nicht auch auf diesen Gedanken kämen. »Wer von euch hat meine Briefe gestohlen?«, verlangte ich zu wissen. »Wir waren es nicht!«, rief einer der beiden. »Es muss einer von euch gewesen sein. Eurer war der einzige mit zwei Personen besetzte Wagen. Also, wer von euch war es?« »Wir waren es nicht«, echote sein Gefährte. »Er sagt die Wahrheit. Der Kerl war stark wie Herkules und hatte Narben im Gesicht. Er hat mich von meinem Wagen heruntergeworfen. Da bin ich mit Johnny hinter ihm her. Wir wollten's Ihnen ja zurufen. Wir hätten ihn bestimmt gekriegt, wenn Sie uns nicht dazwischengekommen wären.« Schweigend steckte ich meine Pistole wieder ein. Ich konnte es fast nicht glauben, dass ich so viel aufs Spiel gesetzt und doch nichts damit erreicht hatte. Ich hatte mein Leben riskiert, um den falschen Wagen anzuhalten, und nun war der Schurke mit meinen Briefen auf und davon. »Er war der reinste Herkules«, beschwerte sich einer der beiden noch einmal, während er sich mit seinem spitzenbesetzten Ärmel das Blut von der Nase abtupfte. »Ein großer, dunkelhäutiger Herkules. So jemanden habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.« Ich schon. Ich war so einem erst jüngst begegnet. Über kurz oder lang würde Aadil dafür bezahlen müssen, aber vorerst kannte er zu viele von meinen Geheimnissen und war damit mir gegenüber im Vorteil. Ich wusste nicht, was davon mich wütender machte. 19 Wenn jemand las, was ich Ellershaw geschrieben hatte, so war dies nicht weiter tragisch; das, was ich Elias hatte mitteilen wollen, war dagegen wirklich nur für ihn allein bestimmt gewesen. Ich musste also zu einer Entscheidung kommen. Mein Gegner wusste, was ich wusste, und das war bisher nicht viel. Sollte ich mich zurücklehnen und abwarten, bis er sich rührte, um mehr zu erfahren, oder sollte ich in der Hoffnung, damit die Oberhand zu gewinnen, zuerst zuschlagen? Hätte ich Zeit in Hülle und Fülle, würde ich mich für Ersteres entscheiden, aber ich konnte Craven House nicht nach Lust und Laune fernbleiben und entschied mich daher für die zweite Möglichkeit. Ich wollte mit den Informationen anfangen, die ich Blackburn entlockt hatte, denn ich hoffte, aus ihnen meinen Vorteil ziehen zu können. Zunächst jedoch schrieb ich meine beiden Briefe noch einmal und versuchte dann, ein wenig Schlaf zu bekommen. Am nächsten Morgen nahm ich schon früh die Kutsche nach Twickenham, eine Fahrt von ungefähr zwei Stunden. Die gleiche Zeitspanne verbrachte ich anschließend damit, in einem Wirtshaus auf das Eintreffen der zweiten Kutsche an diesem Tag zu warten, mit der Elias angereist kommen würde. Ich hatte peinlichst darauf geachtet, dass mir am Morgen niemand gefolgt war, aber da mein Widersacher es sich durchaus einfallen lassen konnte, auch meinen Freund Elias zu beschatten und Elias leider nicht die Geistesgegenwart besaß, einen solchen Beschatter rechtzeitig zu bemerken, hatte ich es für das Beste gehalten, dass wir getrennt fuhren. Er bestand auf einer Mahlzeit und ein paar Schlucken Bier, um sich damit von den Anstrengungen der Reise zu erholen. Sowie sein Hunger und sein Durst gestillt waren, erkundigten wir uns nach dem Haus von Mrs. Pepper. Die mit Bäumen gesäumte Montpelier Row mit all den neuen Häusern war eine bekannte Adresse in der Stadt, und wir fanden ohne Schwierigkeiten unser Ziel. Nun aber mussten wir auf unser Glück hoffen, denn ich hatte unseren Besuch nicht angekündigt, so dass es sein konnte, dass Mrs. Heloise Pepper ihrerseits irgendwo zu Besuch war oder gerade Einkäufe erledigte. Doch die Sorge erwies sich als unbegründet: Mrs. Pepper war daheim. Auf unser Klopfen öffnete uns ein stilles, wenig anziehendes Mädchen von etwa sechzehn oder siebzehn Jahren mit einem von Pockennarben entstellten Gesicht und einem Pferdegebiss. Sie führte uns ins Wohnzimmer, wo uns schon kurz darauf eine gut aussehende Frau von ungefähr fünfundzwanzig empfing. Sie trug natürlich Schwarz, aber ich muss sagen, dass niemals das Trauerkleid einer Witwe eine Frau besser gekleidet hat, vor allem, da es in perfektem Einklang zu ihrem ebenfalls rabenschwarzen Haar stand, das sie zu einem schicklichen, wenn auch etwas unordentlichen Knoten zusammengebunden hatte. Aus dieser schwarzen Pracht schaute ein Gesicht wie aus Porzellan mit grünbraunen, leuchtenden Augen hervor. Elias und ich verbeugten uns aufs Zuvorkommendste, er noch tiefer als ich, denn er schenkte ihr seine ganz besondere Verbeugung, die ausschließlich schönen Witwen mit einer ansehnlichen Apanage vorbehalten war. »Mein Name ist Benjamin Weaver, und dies ist mein getreuer Freund Elias Gordon, ein bekannter Londoner Arzt.« Das Letztere hatte ich in der Hoffnung hinzugeführt, es würde unserem Besuch gewissermaßen eine höhere Weihe verleihen. »Ich bitte die Störung zu entschuldigen, aber wir sind in einer dringenden Angelegenheit hier, in der Sie uns vielleicht weiterhelfen könnten, falls Sie bereit wären, ein paar Fragen betreffs Ihres verstorbenen Gatten zu beantworten.« Ihr Gesichtsausdruck hellte sich merklich auf, und sie bekam vor Freude rosige Wangen. Es war, als hätte sie wider alle Wahrscheinlichkeit darauf gewartet, dass eines Tages ein Fremder an ihre Tür klopfen und ihr Fragen nach ihrem Ehemann stellen würde. Nun, da waren wir. Und doch zögerte sie ein wenig - ein leichter Argwohn, als müsse sie sich gemahnen, nicht zu gutgläubig zu sein, so, wie ein Kind sich dazu zwingen muss, dem Feuer fernzubleiben. »Was haben Sie denn in Hinblick auf meinen lieben, guten Ab-salom mit mir zu besprechen?«, fragte sie. Sie hielt sich eine Jacke vor die Brust, die sie vermutlich gerade stopfte, aber mir entging nicht, dass sie sie zu einem Bündel zusammenrollte und sie wiegte, als wäre sie ein Kind. »Ich weiß, dass sein Tod Ihnen großen Schmerz bereitet haben muss, Madam«, fuhr ich fort. »Ach, wie können Sie das denn ermessen«, sagte sie. »Niemand, der nicht mit ihm verheiratet gewesen ist, kann ermessen, was es bedeutet, ihn zu verlieren, meinen Absalom - er war der beste aller Männer, das kann ich Ihnen sagen, meine Herren. Sind Sie deswegen gekommen? Um zu erfahren, dass er der beste aller Männer war? Dann kennen Sie die Antwort bereits - er war es.« »Nun, wir sind tatsächlich zum Teil hier, um etwas über die Qualitäten Ihres Mannes in Erfahrung zu bringen«, sagte Elias. »In Gänze ist uns dies sicherlich nicht möglich.« Schlau eingefädelt, dachte ich bei mir. Indem er die Vorzüge ihres Mannes betonte und gleichzeitig andeutete, dass wir in seine Lobpreisung mit einzustimmen trachteten, hatte Elias uns Tür und Tor weit aufgestoßen. »Aber nehmen Sie doch Platz, Gentlemen«, sagte Mrs. Pep-per mit einer Geste auf ihr wohnlich eingerichtetes Zimmer. Die Möbel waren zwar nicht neu, aber elegant und gepflegt. Nachdem wir uns gesetzt hatten, hieß sie das Dienstmädchen, uns Erfrischungen zu reichen, wobei es sich zu Elias Freude um einen süffigen Wein handelte. Ich nahm nur einen kleinen Schluck. Ich hatte bereits etwas getrunken und wollte einen klaren Kopf behalten. »Madam, was können Sie uns über Ihren verstorbenen Ehemann, über Ihr gemeinsames Leben erzählen?« »Mein Absalom«, begann sie verträumt. Sie stellte ihr Glas ab, damit nichts verschüttet wurde, während sie einen tiefen Seufzer ausstieß. Sie müssen wissen, dass mein Vater gegen unsere Heirat eingestellt war. Er konnte nicht das in ihm sehen, was ich in ihm sah.« »Und was haben Sie in ihm gesehen?« Elias ließ für einen kurzen Moment von seinem Wein ab. »Seine Anmut. Meine Mutter, die konnte mich schon verstehen, aber auch sie war gegen unsere Ehe, weil sie auf seine Schönheit eifersüchtig war. Absalom war der schönste Mann, den es je gegeben hat, und gutherzig war er auch. Mein Vater meinte, er hätte mich nur wegen meiner Mitgift zur Frau haben wollen, und es stimmt auch, dass diese nicht lange vorgehalten hat, aber nur, weil Absalom große Träume hatte.« »Was für Träume waren das?«, fragte ich. Sie sah mich gleichzeitig wohlwollend, aber auch ein wenig mitleidig an - so, wie ein Geistlicher einen Simpel anschauen würde, der von ihm wissen wollte, was es denn mit Gott auf sich hätte. »Er wollte uns reich machen«, sagte sie. »Und wie?« »Wie? Mit seinem Verstand. Er dachte ständig über irgendetwas nach, war ständig mit seinen Aufzeichnungen beschäftigt. Und er muss auch ein paar wichtige Gedanken gehabt haben, denn dafür hat man mir schließlich meine Apanage ausgesetzt. Selbst mein Vater wäre davon beeindruckt, wenn er mir erlaubte, ihm davon zu erzählen, aber seit Absalom all unser Vermögen durch die Finger geronnen ist, hat er sich geweigert, auch nur ein Wort mit mir zu wechseln. Es hieß dann immer nur, er habe es ja gleich gewusst und hätte mich gewarnt, aber ich bin mir sicher, dass Absalom auf dem richtigen Wege war und nun vergebungsvoll vom Himmel auf mich herabblickt.« »Übrigens«, meldete sich Elias zu Wort, »ist es zum Teil auch wegen dieser Apanage, weswegen wir Sie aufgesucht haben.« Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Nun weiß ich, worum es geht. Aber ich muss den Gentlemen mitteilen, dass es mir an Bewerbern nicht fehlt, ich jedoch keinem von ihnen zugetan bin. Eine Witwe mit einer Apanage ist wie eine unbeaufsichtigte Süßspeise für die Fliegen, wenn Sie mir vergeben, dass ich es so direkt ausdrücke, aber ich bin keine Rose, die man so einfach pflücken kann. Ich war mit Absalom Pepper verheiratet und könnte den Gedanken nicht ertragen, einen anderen Mann zu ehelichen. Ich weiß, wie die Herren denken. Sie meinen, eine an eine Witwe ausbezahlte Apanage wäre vergeudetes Geld. Mir aber ist sie ein ewiges Sinnbild für Absa-loms Leben und seine Seele, und ich kann es nicht beflecken, indem ich meine Hand einem anderen gebe.« »Sie haben uns ganz und gar missverstanden«, beeilte ich mich sie zu beschwichtigen. »Zwar kann ich es keinem Mann verdenken, wenn er um Ihre Hand anhält, sei es nun mit oder ohne Apanage, doch das ist nicht der Grund unseres Kommens. Vielmehr würden wir gerne wissen, wie Sie in den Genuss dieser Rente gelangt sind, Madam.« Der Glorienschein der Selbstgefälligkeit, die Ausstrahlung derjenigen, die den Saum eines Heiligen berührt hat, war augenblicklich verflogen. »Wollen Sie etwa sagen, dass es damit Schwierigkeiten gibt? Mir ist versichert worden, dass mir diese Apanage mein Leben lang ausbezahlt wird. Es ist nicht recht, wenn sich daran jetzt etwas ändern soll, Sir. Nein, es wäre nicht recht, und lassen Sie sich gesagt sein, dass einer meiner Bewerber ein Gelehrter der Rechte ist, und obwohl er niemals meine Gunst erlangen wird, weiß ich doch, dass er keine Mühe scheuen dürfte, mir mit seinen Diensten zu Hilfe zu eilen. Er wird dafür sorgen, dass ich kein solches Unrecht erdulden muss.« »Ich bitte Sie um Entschuldigung«, unterbrach Elias sie, »dass wir Ihnen Anlass zur Sorge gegeben haben. Mein Freund hat nichts dergleichen gemeint. Wir haben keinerlei Verfügungsgewalt über Ihre Apanage und wollen Ihnen keineswegs schaden. Wir möchten lediglich erfahren, auf Grund wessen man Ihnen diese Apanage ausgesetzt hat. Warum bekommen Sie das Geld?« »Warum?« Sie ereiferte sich zusehends mehr. »Warum nicht? Ist das nicht so bei den Seidenwebern?« »Den Seidenwebern?«, entfuhr es mir, obwohl ich wusste, dass ich besser meine Zunge hüten sollte. »Was hat das mit den Seidenwebern zu tun?« »Wieso sollte es nicht mit ihnen zu tun haben?«, erwiderte Mrs. Pepper spitz. »Madam«, sagte Elias, »wir hatten den Eindruck, dass die Apanage von der East India Company stammt.« Sie starrte mich an, als hätte ich sie auf die schlimmste nur denkbare Weise beleidigt. »Wieso sollte die East India Company mir eine Apanage ausbezahlen? Was sollte Mr. Pepper mit diesen Leuten zu tun gehabt haben?« Mir lag es auf der Zunge, ihr zu sagen, dass wir gehofft hätten, gerade dies von ihr zu erfahren, und ich glaube, dass auch Elias dieser Gedanke gekommen war, aber auch er unterließ es, ihn auszusprechen. Was konnten wir gewinnen, indem wir eine so einfach zu beantwortende Frage stellten? »Madame, wir reden offensichtlich aneinander vorbei«, sagte Elias. »Würden Sie uns sagen, wo die Apanage herkommt?« »Das habe ich doch soeben erklärt. Von der Gilde der Seidenweber. Nach Mr. Peppers Tod hat mich ein Mann aufge-sucht und mir gesagt, Absalom wäre eines ihrer Mitglieder gewesen, und ich als seine Witwe wäre berechtigt, seine Apanage zu kassieren. Sie müssen mir schwören, dass Sie sie mir nicht wegnehmen wollen.« »Erlauben Sie mir, dass ich erkläre«, sagte ich. »Sehen Sie, Madam, wir repräsentieren die Seahawk-Versicherung, und es hat bei der Bearbeitung eines der Ansprüche in Zusammenhang mit der East India Company einen Fehler durch einen unserer Angestellten gegeben. Ich werde mein ganzes Bemühen daransetzen, dafür zu sorgen, dass niemandem ein Verlust entsteht, verstehen Sie. Es geht lediglich darum, die Buchführung in Ordnung zu bringen. Wir waren davon ausgegangen, dass die East India Company diese Apanage an Sie auszahlt, aber unsere Unterlagen mögen in dieser Hinsicht noch mehr Irrtümer enthalten. Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass nichts Ihren Apanagenanspruch gefährden kann. Sie können uns nur helfen, die Verwaltung desselben besser zu organisieren.« Dies schien sie einigermaßen zu beruhigen. Sie nahm ein Medaillon von ihrer Brust und betrachtete das Bild darin, zweifellos eines ihres verstorbenen Mannes. Nachdem sie dem Bild ein paar Worte zugeflüstert und es liebevoll mit dem Finger berührt hatte, steckte sie es wieder weg und wandte sich uns zu. »Nun gut, dann will ich es gerne versuchen.« Ich bedankte mich für das Entgegenkommen. »Wenn ich also recht verstehe, sagen Sie, dass die Apanage einen Teil der Bezüge darstellt, die Mitgliedern der Gilde der Seidenweber zustehen?« »So ist es mir erklärt worden.« Allein schon der Gedanke daran grenzte ans Absurde. Einhundertzwanzig Pfund jährlich für die Witwe eines Seidenwebers. Solche Männer konnten von Glück reden, wenn sie zwanzig oder dreißig Pfund im Jahr verdienten, und obwohl ich wusste, dass Handwerker Einrichtungen ins Leben riefen, um einander unter die Arme zu greifen, hatte ich doch noch nie von einer Standesgilde der Seidenweber gehört. Zu meinem Glück jedoch besaß ich unter ihnen einen Vertrauten, jenen Devout Hale nämlich, dessen Hang zu Aufrührerei ich mir zu Nutze gemacht hatte, um mich in die East India Company einzuschleusen. Ich konnte nur hoffen, dass er mir auch ein weiteres Mal gefällig sein würde - mit einer Information. »Nur damit wir uns nicht noch mehr missverstehen«, sagte ich. »Ihr Gatte war also Seidenweber in London. Ist das richtig?« »Das ist richtig.« »Dann müssen Sie doch wissen, was Ihr Mann mit seinem Handwerk verdient hat, Madam. Hat es Sie da nicht überrascht, dass er Altersbezüge bekäme, die dem Vielfachen seines jährlichen Einkommens entsprächen?« »Oh, über etwas so Profanes wie Geld hat er nie mit mir gesprochen. Ich wusste nur, dass er genug verdiente, damit wir davon gut leben konnten. Mein Vater beharrte auf der Vorstellung, ein Seidenweber sei nichts Besseres als ein Lastenträger, aber hat mein Absalom mir nicht Kleider und Schmuck gekauft und mich ins Theater ausgeführt? Kann das ein Lastenträger?« »Es gibt unter den Seidenwebern gewiss solche, die sich bei ihrem Handwerk als besonders geschickt erweisen«, sagte ich. »Vielleicht könnten Sie mir mehr darüber sagen, in welchem Bereich Ihr Gatte als Seidenweber tätig gewesen ist, dann wäre es ...« »Er war ein Seidenweber«, erklärte sie abschließend, als hätte ich durch meine Fragen seinen Namen beschmutzt. Dann jedoch fügte sie weniger brüsk hinzu: »Er wollte mich nicht damit langweilen, dass er mir von seiner Arbeit erzählt. Er wusste, dass es ein anstrengender Beruf war, aber er hat sich darein gefügt. Er hat damit unser Brot verdient, mehr, als wir für unser Glück brauchten.« »Um noch einmal auf die East India Company zurückzu-kommen«, hakte ich nach. »Sie wissen von keiner Verbindung Ihres Gatten zu dieser Gesellschaft?« »Gar keine. Aber wie ich schon sagte, habe ich mich niemals in seine geschäftlichen Dinge eingemischt. Es wäre auch ganz und gar unangebracht gewesen. Sie sagen also, meine Apanage sei nicht in Gefahr?« Obwohl es mir widerstrebte, einer so reizenden Dame Kummer zu bereiten, wusste ich doch, dass ich mich nun als ihr Verbündeter gegen mögliche Angriffe preisgeben musste, denn wenn ich noch einmal mit ihr sprechen wollte, sollte sie ehrlich und offen zu mir sein. »Ich hoffe, dass es sich so verhält, und ich will alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Sie diese Summe auch weiterhin erhalten.« Auf der Rückfahrt konnten Elias und ich nur leise miteinander reden, denn wir teilten die Kutsche mit zwei älteren, ungewöhnlich grimmig dreinblickenden Handwerkern. Sie hatten mich sofort als Juden erkannt und verbrachten den überwiegenden Teil der Fahrt damit, mich feindselig anzustarren. Ab und zu wandte sich einer der beiden seinem Gefährten zu und sagte so etwas wie: »Wie findest du es, gemeinsam mit einem Juden in einer Kutsche zu sitzen?« »Es hat mir noch nie gefallen«, pflegte der andere dann zu antworten. »Eine Zumutung«, sagte dann der Erste. »Reisen mit der Kutsche sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.« Sodann verfielen sie wieder in finsteres Starren, bis es an der Zeit schien, erneut gehässige Bemerkungen auszutauschen. Nachdem ich mir das drei oder vier Mal hatte anhören müssen, sprach ich die beiden an. »Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, Männer aus der Kutsche zu werfen, die das fünfundvierzigste Lebensjahr bereits überschritten haben, aber sooft Sie Ihren Mund aufmachen, werden Sie in meinen Augen um fünf Jahre jünger und meine Skrupel dementsprechend geringer. Nach meinen Berechnungen und dem Anschein, den Sie machen, werde ich Sie ohne weitere Überlegung hinauswerfen, sowie Sie noch eine einzige Unflätigkeit von sich geben. Und erwarten Sie nicht, dass der Kutscher eingreift. Ein paar Münzen werden dafür Sorge tragen, und wie Sie ja wissen, haben wir Juden keinen Mangel daran.« Obwohl ich es kaum über mich bringen würde, tatsächlich einen Mann, der hart auf die Siebzig zuging, auf die Straße hinauszustoßen, bewirkte doch schon die Androhung dessen allein, dass die beiden schwiegen. Sie schienen sich danach sogar zu scheuen, uns auch nur anzusehen, was die Unterhaltung zwischen Elias und mir ein ganzes Stück ungezwungener gestaltete. »Heloise und Absalom«, sinnierte Elias und brachte uns damit wieder auf das zurück, was uns eigentlich beschäftigen sollte. »Eine ausgesprochen ungünstige Kombination zweier Namen. Ein Gedicht, das ich ungern lesen würde.« »Mrs. Pepper schien sich bei dem bösen Omen nichts gedacht zu haben. So verzückt war sie jedenfalls von ihrem verstorbenen Mann.« »Man fragt sich, was für ein Mensch er wohl gewesen ist«, spann Elias den Faden fort. »Trotz all seiner persönlichen Vorzüge kann ich mir doch nicht erklären, warum die East India Company seine Witwe so reich entlohnen sollte.« »Das liegt doch klar auf der Hand. Sie haben ein schweres Unrecht an ihm begangen, und nun wollen Sie sich das Schweigen seiner Witwe erkaufen.« »Keine schlechte Theorie«, gab Elias mir recht, »aber doch überzeugt sie mich nicht ganz. Wenn man ihr zehn oder zwanzig oder auch dreißig Pfund im Jahr angeboten hätte, wäre die Geschichte mit der Gilde noch glaubwürdig gewesen. Aber einhundertzwanzig? Selbst wenn sie überzogene Vorstellungen davon hat, was die Dienste ihres verstorbenen Mannes wert gewesen sein mögen, und sie Tatsachen gegenüber blind ist, wie es scheint, kann die Frau doch nicht allen Ernstes glauben, eine solche Wohltätigkeit wäre Usus. Wenn also die East India Company bei dem Tod des Knaben ihre Finger im Spiel hatte, warum sollte sie dann Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem sie sich so übertrieben großzügig zeigt?« Eine gute Frage, und ich hatte keine Antwort darauf parat. »Vielleicht war das Verbrechen, das sie begangen haben, so abscheulich, dass man es jetzt vorzieht, jeden aufkommenden Zweifel doppelt und dreifach zu ersticken, anstatt sich auch nur den Anschein zu geben, etwas wiedergutmachen zu wollen? Möglicherweise weiß die Witwe ganz genau, dass das Geld nicht von der Gilde stammt, klammert sich aber an der Vorstellung fest, ihr Mann wäre allen anderen überlegen gewesen?« Elias erwog diesen Einwurf, kam aber zu keinem vernünftigen Schluss. Wir verständigten uns darüber, dass wir wohl erst noch mehr in Erfahrung bringen mussten, ehe wir hinter das Geheimnis kamen. Wieder in London angekommen, wollte ich sogleich Devout Hale aufsuchen, denn von ihm erhoffte ich mir Aufschluss darüber, welche Rolle Pepper unter den Seidenwebern gespielt hatte. An den Orten, wo man ihn gewöhnlich antraf, war jedoch keine Spur von ihm zu entdecken. Ich hinterließ überall, dass ich ihn zu sprechen wünsche, und kehrte dann in meine Wohnung zurück, wo kein anderer als der erpelge-sichtige Edgar bereits auf mich wartete. Die meisten seiner Blessuren begannen bereits zu verheilen, obwohl er immer noch ein blaues Auge hatte und an den Stellen, wo früher einmal seine Zähne gesteckt hatten, natürlich noch die Lücken klafften. »Ich würde gerne auf ein Wort hereingebeten werden«, sagte er. »Und ich hätte gerne, dass du verschwindest.« »Das werde ich nicht tun, und Sie können mich gerne davonjagen, aber ich glaube, Sie wollen nicht das Aufsehen Ihrer Nachbarn erwecken.« Da hatte er gewiss recht, also bat ich ihn widerstrebend zu mir herein. Hier setzte er mich darüber ins Bild, dass sein Herr aus zuverlässiger Quelle erfahren hatte, dass ich an diesem Tag meiner Arbeit ferngeblieben sei. »Es hieß, Sie hätten sich krank gemeldet, aber für mich sehen Sie ganz gesund aus. Ich sehe jedenfalls kein Blut aus Ihrem After träufeln.« »Vielleicht möchtest du ihn dir einmal etwas näher ansehen?« Er antwortete nichts darauf. »Ich war indisponiert«, erklärte ich, »aber inzwischen geht es mir schon wieder besser, und ich habe einen Spaziergang gemacht, um einen klaren Kopf zu bekommen.« »Mr. Cobb wünscht, dass ich Ihnen sage, dass er sich nicht an der Nase herumführen zu lassen gedenkt. Sie haben sich morgen wieder im Craven House einzufinden, Sir, oder er wird es erfahren. Worauf Sie sich verlassen können.« »So, nun hast du deine Nachricht überbracht. Nun nichts wie fort mit dir.« »Mr. Cobb wünscht ferner zu erfahren, ob Sie in der Angelegenheit des Namens, den er Ihnen genannt hat, schon weitergekommen sind.« »Nein, ich habe noch nichts in Erfahrung gebracht.« Ich wusste mich sehr wohl als ein Muster an Aufrichtigkeit zu geben, wenn ich jemandem die größte Lüge auftischte. Ich hoffte, mich nicht durch mein Auftreten verraten zu haben, aber wenn Aadil für Cobb arbeitete und der nur leidlich verschlüsselte Inhalt meines Briefes an Elias verstanden worden war, konnte es durchaus sein, dass man mit der Witwe Pepper gesprochen hatte und wusste, was ich wusste. Es war möglich, aber doch eher unwahrscheinlich. Ich hatte keine Ahnung, auf wessen Seite Aadil stand, noch, wie weit sein Einfluss reichte, aber ich glaubte nicht, dass er mit Cobb im Bunde war. »Hoffentlich ist das auch wahr«, sagte Edgar. »Wenn er erfährt, dass Sie ihm Informationen vorenthalten, wird das schlimme Folgen für Sie haben, und Sie werden es bitter bereuen. Das weiß ich, und Sie sollten es auch wissen.« »Gut, dann geh jetzt. Ich habe verstanden.« Edgar ging tatsächlich, und ich war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht darüber, dass es bei dieser Begegnung mit ihm ohne Gewaltanwendung abgegangen war. Ich glaubte, der Tag wäre damit für mich erledigt, und ich wollte vor dem Schlafengehen nur noch ein Glas Portwein vor meinen Kamin genießen und so weit als möglich an nichts denken, die Ereignisse des Tages vergessen, die Erkenntnisse, die er gebracht und die Fragen, die er aufgeworfen hatte. Dabei muss ich wohl in meinem Sessel eingedöst sein - jedenfalls weckte mich ein Klopfen an der Tür unsanft aus meinem Schlummer. Meine Vermieterin informierte mich darüber, dass unten ein Junge mit einer Nachricht stand, die angeblich keinen Aufschub duldete. Verwundert erhob ich mich. Es ärgerte mich, dass mir nicht auch nur ein Augenblick der Ruhe vergönnt war, aber als ich die Treppe hinunterkam, sah ich sofort, dass der Junge einer meines Volkes war. Ich kannte ihn aus dem Lagerhaus meines Onkels, und als ich in seine geröteten Augen blickte, ahnte ich sofort, dass der Brief, den er mir überbrachte, Trauriges verhieß. Entsprechend nahm ich ihn mit zitternder Hand entgegen und faltete ihn auseinander. Der Brief kam von meiner Tante. Er war auf Portugiesisch verfasst, ihrer Muttersprache. In der Stunde der Not hatten ihre unvollkommenen Kenntnisse der englischen Sprache sie wohl verlassen. Und dann las ich, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte. Die Brustfellentzündung meines Onkels hatte sich mit einem Male so sehr verschlimmert, dass er nicht mehr davon genesen konnte. Eine Stunde lang hatte er noch tapfer um Atem gerungen, aber seine Kräfte hatten nichts gegen das Wüten der Krankheit vermocht. Er war tot. 20 Ich will meinen geneigten Lesern und mir selber die Schilderung der Szenen der Trauer ersparen, die ich durchmachen musste. Ich will nur so viel sagen, dass sich bei meinem Eintreffen beim Haus meines Onkels bereits viele Nachbarn dort eingefunden hatten und die mit ihr bekannten Frauen sich bemühten, meiner Tante so viel Trost zu spenden, wie es in solchen Augenblicken eben möglich war. Ja, mein Onkel war schwer krank und sein Ende abzusehen gewesen, aber ich begriff nun, dass meine Tante einfach nicht hatte glauben wollen, dass es doch so schnell gehen würde. Irgendwann, gewiss, und eher, als sie es für gerecht erachtete, aber doch noch nicht in diesem Jahr, und auch nicht in dem nächsten, und hoffentlich auch noch nicht in dem Jahr darauf. Und nun war ihr wunderbarer Freund, ihr Beschützer und Gefährte in allen Lebenslagen, der Vater ihres verlorenen Sohnes, auch für sie verloren. Ich habe manchmal an meiner Einsamkeit zu verzweifeln geglaubt, aber ich habe nie eine solche Einsamkeit gekannt, wie sie sie ohne ihren Ehemann empfinden musste. Die Männer der Beerdigungsbruderschaft hatten den Leichnam meines Onkels bereits zur rituellen Reinigung abgeholt, um ihm danach das Totenkleid anzulegen. Einer von ihnen würde anschließend die Totenwache bei ihm halten. Es ist seit je Sitte bei uns, dass unsere Toten so rasch als möglich bestattet werden, am besten schon am nächsten Tag, und als ich mich erkundigte, erfuhr ich, dass von den Freunden meines Onkels, zu denen auch Mr. Franco gehörte, bereits die Vorbereitungen dazu getroffen worden waren. Von einem Angehörigen des Ma'amad, des Ältestenrates der Synagoge, erfuhren wir, dass die Beerdigung am folgenden Vormittag um elf stattfinden sollte. Ich sandte Ellershaw eine Nachricht, dass ich noch einen weiteren Tag nicht ins Craven House käme, und legte ihm den Grund dar. Da ich Edgars Warnung noch im Ohr hatte, informierte ich auch Cobb. Ich schrieb ihm, ich hätte die nächsten zwei Tage keine Zeit, und da ich davon ausging, dass sein Handeln zum verfrühten Tod meines Onkels beigetragen hatte, riet ich ihm, mich ja in Ruhe zu lassen. Irgendwie ging der lange Abend vorüber. Die letzten Besucher waren gegangen, und ich blieb gemeinsam mit den engsten Freundinnen meiner Tante im Totenhaus. Ich bat auch Mr. Franco zu bleiben, doch er lehnte ab, weil er, wie er sagte, noch nicht lange genug mit der Familie befreundet sei und sich nicht aufdrängen wolle. Wie es bei uns Juden Brauch ist, richteten die Nachbarn am nächsten Morgen ein Stärkungsmahl, aber meine Tante aß nur wenig und beschränkte sich auf einen Schluck verdünnten Wein zu einem Stück Brot. Danach halfen ihre Freundinnen ihr, sich anzuziehen. Schließlich begaben wir uns alle gemeinsam zur Bevis Marks Synagoge, jenem mächtigen Mahnmal für die Bemühungen portugiesischer Juden, in London eine wahre neue Heimat zu finden. In all ihrer grenzenlosen Hoffnungslosigkeit glaube ich doch, dass es ein kleiner Trost für meine Tante gewesen ist, als sie sah, wie viele Trauergäste sich eingefunden hatten. Mein Onkel hatte innerhalb der jüdischen Gemeinde viele Freunde, und es waren auch einige Aschkenasim und sogar ein paar englische Kaufleute zugegen. Wenn es etwas gibt, was ich am christlichen Glauben hoch schätze, dann die Sitte, dass Männer und Frauen beim Gottesdienst nicht getrennt sitzen. Nie habe ich die Trennung der Geschlechter mehr bedauert als an jenem Tag, denn ich wollte so gerne bei meiner Tante bleiben und sie trösten. Aber vielleicht empfand ich auch so, weil ich selber eines Trostes bedurfte. Sie saß ja wenigstens im Kreise ihrer Freundinnen, die sie, wie ich zugeben muss, viel besser kannten als ich und schon die richtigen Worte für sie finden würden. Für mich war sie stets eine stille, freundliche Lady gewesen, in meinen Kindertagen immer rasch mit einer Süßigkeit oder einem Stück Gebäck zur Hand und später, als ich erwachsen war, mit einem guten Wort. Ihre Freundinnen wussten, was sie tief in ihrem Herzen hören wollte, während ich, der ich noch viel zu betäubt war, bestimmt um die passenden Worte verlegen sein würde. Aber auch ich hatte Freunde, die mich trösteten. Seit meiner Rückkehr in das Viertel um den Duke's Place war ich hier stets willkommen gewesen und saß nun inmitten vieler Menschen, die mir mit ihren Segenswünschen Trost spendeten. Auch Elias war an meiner Seite. Wohl aus Stolz hatte ich ihn nicht vom Tod meines Onkels unterrichtet, denke ich, weil ich nicht wollte, dass er mich in meiner Trauer sah, aber mein Onkel war ein bekannter Mann in der Stadt gewesen, und so war die Neuigkeit rasch auch zu ihm gedrungen. Ich muss sagen, dass es mich überraschte, wie gut er mit unseren Traditionen vertraut war, denn er hatte keine Blumen mitgebracht, wie es bei einer christlichen Trauerfeier üblich gewesen wäre. Stattdessen sprach er mit dem Rabbi über eine Zuwendung im Namen meines Onkels für einen wohltätigen Zweck. Es war kalt an diesem Tag, Frost lag in der Luft, und dunkle Wolken hingen am Himmel, aber es war überraschend windstill. Weder regnete noch schneite es, und als wir vor dem Grab standen, fand ich, dass das Wetter irgendwie zu dem Anlass passte - es war düster und streng, aber wir empfanden es nicht wie ein Gottesgericht. Es begleitete unseren Kummer, ohne uns von ihm abzulenken. Nachdem die Abschiedsgebete gesprochen waren, warfen wir jeder eine Schaufel voll Erde auf den schlichten Holzsarg. In dieser Hinsicht gehen die Juden meiner Meinung nach viel vernünftiger mit ihren Toten um als die Christen. Ich verstehe nicht, warum darauf bestanden wird, dass diese festlich gekleidet und in reich geschmückten Särgen bestattet werden - oder sollten die Christen etwa demselben Aberglauben anhängen wie die altägyptischen Könige? Für mich ist ein Leichnam eine Hülle ohne Leben darin. Man sollte doch eher der heimgegangenen Seele gedenken anstatt der fleischlichen Überreste, die zurückbleiben, und solch ein protziges Gepränge ist ein Zeichen irdischer Eitelkeit und nicht der Hoffnung auf Erlösung im Himmel. Nach der Beerdigung gingen wir gemessenen Schrittes zurück zum Haus meiner Tante, wo für uns nun die traditionelle zehntägige Trauerwoche beginnen sollte. Während dieser Zeit verlassen die Hinterbliebenen nicht das Haus, erhalten aber tagsüber Besuch von Freunden und Gemeindemitgliedern, die auch Speis und Trank mitbringen, damit es den Trauernden an nichts fehlt und sie sich stets in der Gemeinschaft aufgehoben wissen. Es machte mir sehr zu schaffen, dass ich mich nicht daran halten konnte, weil ich unmöglich über eine Woche dem Craven House fernbleiben durfte. Am letzten Tag der Trauerphase sollte die Versammlung der Anteilseigner stattfinden, und wenn ich Ellershaw unterstützen sollte, was ja schließlich meine Aufgabe war, konnte ich mich nicht einfach zurückziehen, ohne damit Elias und Mr. Franco in Gefahr zu bringen. Cobb würde mir vielleicht einen oder zwei Tage gewähren, aber ich wusste, dass es seine Menschenfreundlichkeit überstrapazieren würde, wenn ich mehr verlangte. Wie ich nun inmitten meiner Freunde und der anderen Trauergäste einherging, spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Als ich mich umwandte, sah ich Celia Glade neben mir. Ich gebe zu, dass mein Herz einen Freudensprung machte und ich für einen wundervollen, vergänglichen Augenblick all meinen Kummer vergaß und nur schieres Glück angesichts ihrer Gegenwart empfand. Und obwohl dieser Kummer bald wieder mein Herz umfassen würde, durfte ich mir gestatten, einen Moment lang alles zu vergessen, was diese Dame an Rätseln aufwarf - dass ich nicht wusste, wer sie wirklich war, ob es sich bei ihr um eine Jüdin handelte, wie sie behauptete, ob sie in Diensten der französischen Krone stand, was sie von mir wollte. Einen Augenblick lang nur gestattete ich mir, all diese Fragen als Lappalien zu betrachten. Ich gestattete mir zu glauben, dass ihr etwas an mir läge. Ich trat einen Schritt zur Seite, stellte mich unter einen Torbogen, und sie tat es mir nach, die Hand immer noch an meinem Arm. Mehrere der Trauergäste betrachteten uns neugierig, also schlüpfte ich in eine schmale Gasse, die zu einem Hof führte, wo wir, wie ich wusste, ungestört sein würden, und sie folgte mir. »Was tun Sie denn hier?«, fragte ich. Sie trug Schwarz; die Farbe betonte ihr dunkles Haar, ihre dunklen Augen und ihre helle Haut äußerst vorteilhaft. Nach der Beerdigung war ein leichter Wind aufgekommen, der Haarsträhnen unter ihrer dunklen Haube hervorblies. »Ich habe das mit Ihrem Onkel gehört. Unter uns Juden gibt es keine Geheimnisse, wie Sie ja wissen. Ich bin nur gekommen, um Ihnen mein Beileid auszudrücken. Ich weiß, dass Sie und Ihr Onkel sich sehr nahestanden, und ich kann Ihnen Ihren Kummer nachfühlen.« »Erstaunlich, dass Sie meine Gefühle für ihn kennen, wo wir doch nie darüber gesprochen haben.« Meine Stimme klang ruhig und gleichmäßig. Ich wusste nicht, warum ich mich darauf einließ - außer, dass ich mir so sehr jemanden wünschte, dem ich vertrauen konnte und daher nur zu gerne sämtliche Zweifel über Bord geworfen hätte. Sie biss sich auf die Lippe, fing sich wieder und schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Wissen Sie denn nicht, dass Sie so etwas wie eine Gestalt des öffentlichen Lebens unter den Juden sind, Mr. Weaver? Unter den Engländern übrigens auch. Die Zeitungen schreiben gerne über Sie und Ihre Verwandten. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie mir eine finstere Absicht unterstellen, aber ich wünschte, Sie täten es nicht.« »Und warum soll ich es nicht tun?«, fragte ich, schon wieder ein wenig versöhnt. Einen Augenblick lang nahm sie mich beim Arm, aber dann fand sie es wohl in Anbetracht der Umstände unschicklich. »Ich wünsche es mir, weil -« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Weil ich es mir wünsche. Besser kann ich es nicht ausdrücken.« »Miss Glade«, sagte ich. »Celia. Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nicht, was du von mir willst.« »Halt«, sagte sie mit so sanfter Stimme wie eine Mutter, die ihren Säugling beruhigen möchte. Sie führte zwei Finger an meine Lippen und strich zärtlich darüber. »Ich bin deine Freundin. Das weißt du. Der Rest sind unwichtige Kleinigkeiten, die sich nach und nach klären werden. Alles zu seiner Zeit. Für den Augenblick weißt du, was zählt. Du kennst die Wahrheit in deinem Herzen. Folge ihm.« »Ich möchte aber ...«, hob ich an, doch sie unterbrach mich erneut. »Nein. Wir sprechen später darüber. Dein Onkel ist gestorben, und du musst jetzt trauern. Ich bin nicht hergekommen, um dich zu etwas zu zwingen oder dir Fragen zu stellen oder mir von dir dein Herz ausschütten zu lassen. Ich bin nur aus Achtung vor einem Mann hier, den ich nie kennengelernt, von dem ich aber große Dinge gehört habe. Nein, ich bin gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten und dir zu sagen, dass auch du einen Platz in meinem Herzen hast. Mehr kann ich nicht tun, und ich kann nur hoffen, dass es genug sein wird und auch nicht zu viel. Nun überlasse ich dich deiner Familie und deinen portugiesischen Freunden. Wenn du mir noch etwas sagen möchtest, findest du mich in der Küche des Craven House.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lächeln. Sie beugte sich vor und gab mir einen zarten, flüchtigen Kuss auf die meinen. Während unseres Gesprächs war die Sonne durch eine kleine Wolkenlücke gedrungen und beschien genau den Punkt, an dem die Gasse in den Hof mündete. Und da zeichnete sich plötzlich wie eine Silhouette gegen das Sonnenlicht die Gestalt einer Frau ab - sie war hochgewachsen und von anmutiger Figur; ihr schwarzes Kleid wehte in dem auffrischenden Wind, und das Haar flatterte ihr unter der Haube hervor. »Es tut mir leid, dass ich störe«, sagte sie, »aber ich sah dich in die Gasse gehen, doch nicht, dass du nicht allein warst.« Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber die Stimme erkannte ich sofort. Es war die Witwe meines Cousins, vormals die Schwiegertochter meines Onkels, die Frau, die ich hatte heiraten wollen. Es war Miriam, eine Frau, die nicht einen, sondern mehrere andere Männer mir vorgezogen hatte. Sie hatte meine Anträge häufiger abgelehnt, als ich zählen konnte. Und doch war mir in diesem Moment, als müsse ich etwas zu ihr sagen, erklären, was ich hier mit Celia Glade tat, mich ihr gegenüber rechtfertigen, eine überzeugende Geschichte erfinden. Dann jedoch besann ich mich wieder. Ich schuldete ihr keine Erklärung. Aber etwas schuldete ich ihr doch, denn sie hatte geschworen, nie wieder ein Wort mit mir zu wechseln. Und doch war sie mir gefolgt. Miriam hatte gemeint, sie wäre nicht dafür geschaffen, die Ehefrau eines Privatermittlers zu sein; sie hatte stattdessen einen Parlamentarier namens Griffin Melbury gewählt und war zur Kirche von England übergetreten. Leider hatte Melbury sich mehr als nur ein wenig in den Skandal um die jüngste Unterhauswahl verstricken lassen, und obgleich ich ursprünglich geneigt war, ihn zähneknirschend als einen ihr würdigen Ehemann zu akzeptieren, war sein wahrer, flatterhafter Charakter dann doch zum Vorschein gekommen, auch wenn seine Gattin es vorzog, die Augen davor zu verschließen. Miriam machte mich verantwortlich für den Ruin und den Tod ihres Mannes, und obwohl ich Verantwortung weder zu übernehmen noch in Bausch und Bogen abzulehnen pflege, wusste sie sehr wohl, dass ich ihn nicht schätzte und kein Mitleid mit ihm empfand. Und nun stellte sich heraus, dass Celia Glade die nützlichste Person war, die man in solch verlegenen Momenten an seiner Seite haben konnte, denn sie ließ sich scheinbar durch nichts beirren. Sie trat vor und nahm Miriams Hand. »Mrs. Melbury«, begrüßte sie sie. »Ich habe ja schon so viel von Ihnen gehört. Ich bin Celia Glade.« Was, hätte ich gerne gefragt, hatte sie denn von Miriam gehört? Im Gegensatz zu meinem Onkel war ihr Name nie in den Zeitungen gewesen. Celia mochte mir gesagt haben, ich solle meinem Herzen folgen, doch dazu musste ich ihr vertrauen können. Sie aber wusste zu viel über mich. Miriam erwiderte flüchtig Celias Händedruck und machte sogar einen kleinen Knicks. »Es ist mir eine Freude«, sagte sie. Dann wandte sie sich mir zu. »Ich kann nicht mit ins Haus. Ich wollte dir nur mein Beileid zu deinem Verlust ausdrücken. Zu unserem Verlust. Ich war nicht immer in allen Dingen mit deinem Onkel einer Meinung, aber ich habe stets gewusst, dass er ein guter Mensch war, und ich werde ihn vermissen. Die ganze Welt wird ihn vermissen.« »Es ist schön, dass du das sagst.« »Es ist nur die reine Wahrheit.« »Und nun wird wohl wieder Schweigen zwischen uns herrschen.« Ich versuchte, es leicht hingesagt klingen zu lassen. »Benjamin, ich ...« Aber was immer sie hatte sagen wollen, sie überlegte es sich anders. Stattdessen schluckte sie schwer, als müsse sie die unausgesprochenen Worte hinunterwürgen. »Das genau werde ich tun«, sagte sie und wandte sich ab. Ich blieb stehen, sah ihr nach, betrachtete die Stelle, an der sie gestanden hatte, versuchte, wie Celia es mir geraten hatte, meinem Herzen zu folgen. Liebte ich sie immer noch? Hatte ich sie je geliebt? In solchen Augenblicken beginnt man, über die Liebe nachzudenken, ob es sie wirklich gibt oder ob sie nur eine Illusion ist, auf die man sich einlässt, ein Wunschtraum, aus Selbstgefälligkeit entstanden, ein Gemütszustand, den man kurzlebigen, unbeständigen Gefühlsregungen zuschreibt. Aber solch müßige Gedanken führen nie zu einem klaren Schluss, sondern nur zu noch mehr Verwirrung. Celia schüttelte den Kopf, als erwöge sie etwas von größter Wichtigkeit, als wälze sie es in ihrem Kopf hin und her, fasse in Gedanken alles noch einmal zusammen, bevor sie es aussprach. »Ich glaube, der Winter hat ihre Haut angegriffen. Findest du nicht auch?« Klugerweise wandte auch sie sich ab, anstatt die Antwort abzuwarten. Im Haus floss der Wein in Strömen, und die Trauergäste bedienten sich nach Herzenslust, wie es in unserer Gemeinde nach Beerdigungen schon immer üblich gewesen ist. Ich schüttelte mehr Hände und nahm mehr Beileidsbekundungen entgegen, als ich zählen konnte, hörte mir zahllose Geschichten über die Herzensgüte meines Onkels an, seine Wohltätigkeit, sein Geschick in Geschäften, seinen Einfallsreichtum, sein fröhliches Gemüt. Schließlich nahm mich Mr. Franco beiseite und führte mich in eine Ecke, in der Elias schon auf mich wartete. »Morgen müssen Sie Ihren Schmerz vergessen und wieder ins Craven House gehen.« »Hör auf ihn«, sagte Elias. »Wir haben uns darüber unterhalten. Keiner von uns möchte so scheinen, als handele er aus Eigennutz. Mir persönlich wäre es eine Freude, wenn du diesem Cobb sagst, er solle sich zum Teufel scheren. Ich habe schon mal wegen Schulden im Gefängnis gesessen, und ein weiteres Mal wird mich auch nicht umbringen, aber ich glaube, die Sache läuft langsam aus dem Ruder. Es ist nun schweres, unverzeihliches Leid angerichtet worden, und wenn du Cobb die Stirn bietest, verschaffst du dir vielleicht Befriedigung, aber deinen Onkel hast du damit nicht gerächt.« »Sie können nur zurückschlagen«, sagte Mr. Franco, »wenn Sie herausbekommen, was er will, und zwar, indem Sie der Spur folgen, die er für Sie auslegt, ihn glauben lassen, er stünde kurz von dem Erreichen seiner Ziele, und ihn dann ins Verderben rennen zu lassen. Wie Mr. Gordon ginge auch ich frohen Herzens ins Gefängnis, wenn ich glaubte, damit etwas Gutes zu erreichen, aber das würde nur eine Verzögerung bedeuten, bis Cobb seine Ziele doch noch erreicht, und ihn nicht nachhaltig treffen.« Ich nickte. Nur zu gerne würde ich Cobb die Meinung sagen, ihn verprügeln, ihm ein Messer in den Rücken stoßen, aber meine Freunde hatten den dichten Nebel meiner Wut durchblickt und waren ihm an den Kern gedrungen. Ich musste Cobb büßen lassen, aber das konnte ich nur, indem ich herausfand, was er eigentlich beabsichtigte. »Ich werde mich Ihrer Tante stets zur Verfügung halten«, versprach Mr. Franco. »Ich lebe im Ruhestand und habe keine anderen Verpflichtungen. Ich werde dafür sorgen, dass es ihr an nichts fehlt, Mr. Weaver. Zudem hat sie mindestens ein Dutzend Freunde, Menschen, die von alledem nichts wissen und sich liebevoll um sie kümmern werden. Sie mögen den Wunsch haben, bei ihr zu bleiben, aber es wird nicht nötig sein.« »Ich weiß, dass Sie recht haben«, sagte ich, »und ich würde ja auch gerne Ihrem Rat folgen, aber ich fürchte, damit die Gefühle meiner Tante zu verletzen. Was muss sie nur denken, wenn ich sie in der Stunde der Not allein lasse?« Die beiden sahen einander an. Dann ergriff noch einmal Mr. Franco das Wort. »Sie sollten wissen, dass wir ganz nach dem Wunsch Ihrer Tante handeln. Sie ist auf mich zugekommen und hat mich gebeten, dass ich Ihnen das sage. Streben Sie nicht unseretwegen nach Vergeltung, sondern weil die trauernde Witwe Sie darum bittet.« Es war schon fast Mitternacht, als ich aufbrach. Ein paar Freundinnen meiner Tante hatten sich bereiterklärt, über Nacht bei ihr zu bleiben, obwohl sie ihnen versichert hatte, dass dies nicht nötig sei. Es war Zeit, sagte sie, sich an das Alleinsein zu gewöhnen, denn damit würde sie den Rest ihres Lebens verbringen. Bis auf besagte Freundinnen war ich der Letzte, der noch im Haus weilte, also erhob ich mich endlich, gab meiner Tante einen Kuss und nahm meinen Mantel. Sie begleitete mich noch zur Tür, und obwohl ihr Gesicht eingefallen war und ihre Augen von Tränen gerötet, entdeckte ich darin eine Entschlossenheit, die ich noch nie an ihr gesehen hatte. »Fürs Erste führt Joseph die Geschäfte weiter«, sagte sie. »Fürs Erste.« Ich fürchtete, nur zu gut verstanden zu haben, worauf sie hinauswollte. »Liebe Tante, ich bin für diese Aufgabe nicht .« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, so zu tun, als würde sie lächeln. »Nein, Benjamin. Ich bin nicht dein Onkel, der etwas von dir verlangt, was nicht in deiner Natur liegt, der bei aller Liebe etwas aus dir machen wollte, was du nicht bist. Ich liebe dich, und ich werde dich nicht darum bitten. Joseph übernimmt die Geschäfte während meiner Zeit der Trauer. Danach führe ich sie allein weiter.« »Du?« Ich hatte es unnötig laut ausgesprochen, aber ich konnte mich vor Schreck nicht zurückhalten. Meine Tante lächelte noch einmal milde. »Du bist ihm ja so ähnlich. Wenn wir darüber gesprochen haben, was sein würde, wenn er eines Tages nicht mehr da ist, hat er immer von dir und von Joseph und von Jose gesprochen. Ich stand nie zur Debatte. Aber ich stamme aus Amsterdam, Benjamin. Dort gibt es so manche Geschäftsfrauen.« »Holländerinnen«, wandte ich ein. »Jüdische Geschäftsfrauen gibt es nicht.« »Nein, aber dies ist ein anderes Land, eine andere Zeit. Für Miguel und die ganze Welt und auch für dich bin ich fast unsichtbar gewesen, weil ich eine Frau bin. Aber nun ist Miguel nicht mehr da, und niemand kann dir mehr den Blick auf mich verstellen. Vielleicht entdeckst du ja, dass ich ganz anders bin als das, wofür du mich dein ganzes Leben lang gehalten hast.« Ich erwiderte ihr Lächeln. »Kann sein.« »Haben Mr. Franco und Mr. Gordon mit dir gesprochen?« »Ja, das haben sie.« »Gut.« Sie nickte ernst, als führe sie in ihrem Kopf einen Gedanken zu Ende. »Wirst du es schaffen? Wirst du zurück zu diesem Cobb gehen und tun, was er verlangt, bis du hinter seinen Plan gekommen bist?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich weiß nicht, ob ich mich in meiner Wut beherrschen kann.« »Das musst du aber«, sagte sie leise. »Es hilft dir nicht weiter, wenn du ihm etwas antust. Du musst deine Wut in eine Kammer deines Herzens sperren, die du fest verschlossen hältst.« »Und sie dann öffnen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.« »Richtig. Aber erst, wenn die Zeit dafür gekommen ist.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. »Du bist mir heute ein guter Neffe gewesen - mir und Miguel. Morgen aber brauchst du all deine Tapferkeit. Dieser Ambrose Cobb hat deinen Onkel auf dem Gewissen. Ich wünsche, dass du ihn dafür in sein Grab treibst.« 21 Ich hätte eine weitere ruhelose Nacht verbracht, wäre da nicht die Erschöpfung gewesen, die mich niederdrückte. Im Verlauf des Tages war ich von Kummer und Trauer über ohnmächtige Wut zu einer dumpfen Leidenschaftslosigkeit gelangt. Wenn ich morgen aufwachte, würde ich fast ganz wie zuvor mit meinem Leben fortfahren müssen. Ich würde ins Craven House zurückkehren müssen, ich würde mit Cobb reden müssen, ich würde weiter tun, was er verlangte und gleichzeitig gegen ihn arbeiten. Am nächsten Morgen dann bereitete ich mich vor, all das zu tun. Der Schlaf hatte meiner Traurigkeit neue Nahrung gegeben, aber dann dachte ich an meine Tante, ihre Stärke und ihre eiserne Entschlossenheit, aus dem Schatten meines Onkels hervorzutreten. Sie würde es schon schaffen, das Geschäft zu führen, sagte sie, und sie schien auch mich anleiten, mir den Weg weisen zu wollen, wie mein Onkel Miguel es getan hatte. Ich konnte sie für ihren Mut nur bewundern und versuchen, es ihr gleichzutun. Ich wusch mich an meiner Wasserschüssel, zog mich an und begab mich zu Cobbs Haus, wo ich kurz nach dem siebten Glockenschlag eintraf. Ich wusste nicht, ob er schon wach war, aber notfalls würde ich bis zu seinem Schlafzimmer vordringen und ihn aus dem Bett holen. Edgar, der mir öffnete, wirkte zwar abweisend, aber auch irgendwie ehrerbietig. Er vermied es, mir in die Augen zu sehen, und ich glaube, er wusste, dass er mir an diesem Tag und bei dieser Gelegenheit keinen Widerstand würde entgegensetzen müssen. »Mr. Cobb hat Sie erwartet. Er ist im Salon.« Als ich eintrat, erhob Cobb sich und schüttelte mir die Hand, als wären wir alte Freunde. Ein Unbeteiligter hätte aus seinem Gesichtsausdruck schließen können, dass er es wäre, der einen Angehörigen zu betrauern hatte, und ich nur gekommen war, um mein Beileid auszudrücken. »Mr. Weaver«, sagte er mit brüchiger Stimme, »erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, wie sehr mich die Nachricht vom Tode Ihres Onkels erschüttert hat. Es ist sehr tragisch, obwohl eine Brustfellentzündung natürlich eine ernste Krankheit ist, gegen die die Ärzte nur wenig ausrichten können.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, sagte dann aber nichts weiter. Ich verstand schon, worum es ihm ging. Er wollte es so hinstellen, als wäre mein Onkel an seiner Krankheit gestorben und nicht als Folge der Sorge, die ihm seine Schulden bereiteten, aber er ahnte natürlich, dass jede Andeutung in diese Richtung meinen Zorn heraufbeschwören würde, und deshalb war er um Worte verlegen. »Sie wollen sich vor der Verantwortung drücken«, sagte ich ihm auf den Kopf zu. »Ich wollte nur sagen, dass es nicht allein ...« Schon wusste er wieder nicht weiter. »Wissen Sie, was ich mir vorgestellt habe, Mr. Cobb? Ich habe mir vorgestellt, dass ich zu Ihnen gehe und Ihnen sage, Sie sollen sich zum Teufel scheren - und dann eben die Folgen auf mich nehmen. Ich habe sogar erwogen, sie zu töten, Sir, was mich wohl von sämtlichen weiteren Verpflichtungen Ihnen gegenüber befreit hätte.« »Nun, Sie müssen wissen, dass ich Vorkehrungen getroffen habe, falls mir etwas .« Ich brachte ihn mit hochgehaltener Hand zum Schweigen. »Aber ich habe mich ja nun anders entschlossen. Ich verlange nur von Ihnen, dass Sie meine Tante von der Bürde befreien, unter der mein Onkel leiden musste. Wenn Sie ihr die Schulden erlassen und ihr die Waren zurückerstatten, die Sie meinem Onkel vorenthalten haben und damit die alte Dame nicht auch noch zwingen, sich in all ihrem Kummer mit den Forderungen raffgieriger Gläubiger auseinandersetzen zu müssen, können wir so fortfahren wie bisher.« Er schwieg einen Moment lang, dann nickte er. »Das wird nicht möglich sein«, sagte er, »aber ich kann ihr einen Aufschub verschaffen, Sir. Ich kann die Wechsel prolongieren und dafür sorgen, dass die Gläubiger ihr nicht vor - sagen wir mal, nicht vor der Aktionärsversammlung zu Leibe rücken. Wenn wir bis dahin mit Ihrer Arbeit zufrieden sind, werden wir die Lady, und nur sie, von ihren Verpflichtungen befreien. Sind wir aber nicht zufrieden, werden wir auch keine Milde walten lassen.« Um ehrlich zu sein war das mehr, als ich erwartet hatte, also nickte ich zustimmend. »Wo Sie gerade hier sind«, sagte Cobb, »gibt es etwas Neues zu berichten? Irgendwelche Fortschritte?« »Drängen Sie mich nicht, Sir«, sagte ich und verließ auf der Stelle das Haus. Im Craven House verhielten sich die Männer, mit denen ich zusammenarbeitete, einschließlich Ellershaw, ausgesprochen zuvorkommend mir gegenüber, aber wie es in so großen Unternehmen nun einmal ist, war meine Trauer bald vergessen, und am Ende des Tages ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Ich lief mehrmals Aadil über den Weg, der grunzend etwas zu mir sagte, worauf ich wie immer ebenso mürrisch reagierte. Er konnte sich sehr wohl vorstellen, dass ich ihn wegen des Diebstahls meiner Briefe in Verdacht hatte, also gab es auch keinen Grund für mich, den einzigen Vorteil, den ich ihm gegenüber hatte, aus der Hand zu geben. Ich begegnete ihm mit dem gleichen Argwohn wie immer und dachte nicht anders über ihn als vor dem Wagenrennen. Gegen Ende des Tages erfand ich einen Vorwand, um Mr. Blackburn in seinem Büro aufzusuchen. Ich war neugierig, ob er sich noch daran erinnerte, was er mir alles erzählt hatte und ob er meinte, einen Groll gegen mich hegen zu müssen, weil ich mir dieses Wissen zu Nutze gemacht haben könnte. Zu meiner größten Verwunderung traf ich ihn nicht bei seiner Arbeit an, sondern dabei, wie er seine privaten Dinge zusammenpackte und seinen Schreibtisch aufräumte. »Was geht hier vor, Mr. Blackburn?«, fragte ich. »Was soll hier schon vorgehen?«, sagte er mit dünner Stimme. »Man hat mich entlassen. Nach all den Jahren treuer Dienste hat man sich entschlossen, auf mich zu verzichten.« »Aber weswegen denn?« »Man behauptet, die Bezahlung, die ich bisher erhalten habe, entspräche nicht dem Dienst, den ich dem Unternehmen leiste. Und deswegen müsse ich gehen, weil man niemanden hier haben wolle, der meine, mehr wert zu sein, als er verdiene, und man auch nicht beabsichtige, jemandem mehr zu bezahlen, als er wert sei. Somit ist heute mein letzter Arbeitstag.« »Das tut mir sehr leid für Sie. Ich weiß ja, wie Sie Ihre Arbeit geliebt haben.« Er stellte sich vor mich hin, vermied es aber, mich anzusehen und sprach weiter mit gesenkter Stimme. »Sie haben doch nichts von unserem Gespräch durchsickern lassen? Sie haben doch keinem gesagt, dass wir miteinander gesprochen haben?« »Das habe ich nicht. Ich würde Sie doch nie so hintergehen.« »Es spielt auch keine Rolle. Man hat uns bestimmt beobachtet. Wahrscheinlich hat man uns zusammen im Wirthaus gesehen und mich deswegen entlassen.« »Es tut mir wirklich leid, Sie in solche Schwierigkeiten gebracht zu haben.« »Mir auch. Ich hätte mich nicht mit Ihnen sehen lassen dürfen.« In seiner Stimme schwang keinerlei Groll mit. Er schien nicht bei mir, sondern bei sich selber die Schuld zu suchen -so, als wäre er übermütig auf ein Pferd gesprungen und hätte sich dabei verletzt. »Es tut mir in der Seele weh, Ihnen das angetan zu haben«, sagte ich. Das stimmte wirklich, obwohl ich nicht hinzufügte, dass er sich glücklich schätzen konnte, nur seine Arbeit und nicht sein Leben verloren zu haben, wie es jenem anderen Unglücklichen ergangen war, den ich um Informationen angezapft hatte. Er schüttelte den Kopf. »Ja, es ist schade. Wirklich schade, dass sich das Unternehmen ohne mich in den Ruin wirtschaften wird. Wo sollen sie einen anderen Mann von meinem Fähigkeiten herbekommen, Sir? Wo?« Darauf wusste ich ebenso wenig eine Antwort wie Mr. Black-burn, der bereits erste Tränen des Kummers zu vergießen begann. »Zögern Sie nicht, mich darauf anzusprechen, wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann, Sir.« »Mir kann niemand mehr helfen«, klagte er. »Ich bin ein Buchhalter ohne Anstellung. Ich bin wie ein Geist, Sir. Ein lebender Geist, der ohne Sinn und Freude auf Erden wandelt.« Auch darauf wusste ich nichts zu erwidern, also überließ ich ihn sich selber, während ich versuchen wollte, meine Schuldgefühle zu Wut gären zu lassen. Ich war nicht schuld, sagte ich mir, sondern Cobb. Cobb würde dafür büßen müssen. Als ich an diesem Abend nach Hause kam, stellte ich fest, dass Devout Hale meine Nachricht erwidert hatte. Das traf sich gut, denn in meinem Bestreben, Cobb alles heimzuzahlen, konnte ich mir keinen besseren Verbündeten vorstellen als ihn, also wollte ich ihn aufsuchen. Hale hatte mir ausrichten lassen, ich könne ihn an diesem Abend in einem der Kaffeehäuser in Spi-talfields antreffen, also begab ich mich nach einem kurzen Besuch bei meiner Tante dorthin. Hale legte mir den Arm um die Schulter und führte mich in eine verschwiegene Nische. »Na, was gibt es denn so Dringendes?«, wollte er sogleich wissen. Er sah kränker aus als bei unserem letzten Zusammentreffen - als hätte sich seine Tuberkulose durch meine Probleme im Craven House ebenfalls verschlimmert. Er faltete die geröteten Hände und sah mich aus blutunterlaufenen, tief liegenden Augen an. »Du hast überall nach mir gefragt und siehst sehr verstört aus. Gibt es etwas Neues vom König?« »In dieser Hinsicht habe ich noch keine Fortschritte machen können«, sagte ich. »Es tut mir leid, Devout, aber ich hatte dir ja gesagt, dass ich über so weit reichende Beziehungen nun auch nicht verfüge, und der Ärger mit der East India Company hat mich ganz schön in Trab gehalten.« »So geht's uns allen. Ich wollte dich auch nur an dein Versprechen erinnern. Nun sage mir, was ich für dich tun kann.« »Ich muss dich nach jemandem fragen. Hast du je den Namen Absalom Pepper gehört?« »Selbstverständlich.« Er fuhr sich mit der Hand durchs dünner werdende Haar, und eine erschreckende Menge davon blieb an seinen Fingern haften. »Er war einer meiner Männer. Er hat am Webstuhl gearbeitet.« Diese Information musste ich erst einmal kurz verdauen. »Und hat er, soweit du dich erinnerst, irgendwas mit der East India Company zu schaffen gehabt?« »Er? Wohl kaum. Dafür war er nicht geschaffen, musst du wissen. Er war ein zierlicher Knabe, blass und dünn, mehr wie ein Mädchen als wie ein Mann. Und so hübsch wie ein Mädchen war er auch. Nun, gewisse Frauen mögen Männer von weiblicher Anmut, aber ich habe da immer ein bisschen meine Vorbehalte, wenn du verstehst, was ich meine. Aber um nun auf deine Frage zurückzukommen - irgendwelchen Händeln mit dem Craven House wäre er nicht gewachsen gewesen. Wenn wir anderen loszogen, um den Saustall auseinanderzunehmen, haben uns seine guten Wünsche begleitet, aber mehr auch nicht. Aber am Webstuhl, da hat er ganze Arbeit geleistet, und Köpfchen hat er auch gehabt. Er war wohl der geistreichste von uns allen, aber man kann ja nie wissen. Er war ziemlich verschlossen, und in seiner freien Zeit hat er immer dies oder jenes in sein kleines Buch eingetragen. Die meisten von uns können ja weder lesen noch schreiben, wie du weißt, also haben sie ihn nur angesehen, als wäre er der Leibhaftige höchstpersönlich, und er ist ihnen zuweilen auch mit teuflischem Hochmut begegnet.« »Was hat er sich denn immer so aufgeschrieben?« Hale schüttelte den Kopf. »Er hat's mir nie verraten, und mir ist es ehrlich gesagt auch nie wichtig genug gewesen, als dass ich ihn gefragt hätte. Er war weder mein Freund noch ich der seine. Wir waren nicht miteinander verfeindet, das darfst du nicht denken, aber wir waren eben auch nicht miteinander befreundet. Er hat seine Arbeit getan und seinen Platz mehr als gut ausgefüllt, aber mit seinen Eigenheiten konnte ich nie viel anfangen. Als Kollege war er in Ordnung, aber als Kameraden hätte ich ihn nicht bezeichnet.« »Hast du nach seinem Tod seiner Witwe irgendwelche Rentenzahlungen angeboten?« »Eine Rente? Hah! Das ist ein kolossal guter Witz. Wenn jemand stirbt, sammeln die Kollegen manchmal etwas, aber meistens nur, wenn sein Tod mit der Arbeit zu tun hatte - bei einem Unfall oder so. Oder wenn es sich zumindest um jemanden handelt, den die Jungs mochten. Aber Pepper? Ich habe gehört, er hätte sich eines Abends betrunken und wäre im Fluss ersoffen. Könnte auch jemand nachgeholfen haben -so, wie er immer alle von oben herab behandelte. Könnte sein, dass er es mit seinen Sticheleien bei einem derben Burschen etwas zu weit getrieben und der es ihm ein wenig zu heftig heimgezahlt hat.« »Also ist es ausgeschlossen, dass durch dich oder eure Standesvereinigung seiner Witwe eine Apanage ausbezahlt wird?« »Eine Apanage? Das wird ja immer besser. Du weißt ganz genau, dass wir gerade eben unseren Bäcker bezahlen können. Wie gesagt - wir kümmern uns durchaus um unsere Leute. Als letztes Jahr Jeremiah Carter am Wundbrand gestorben ist, nachdem er bei einem Unfall sämtliche Finger verloren hat, haben wir über zwei Pfund für seine Witwe gesammelt, aber Jer-miah ist immer sehr beliebt gewesen, und seine Frau blieb mit drei Kleinen sitzen.« Ich zog keinen Vergleich zwischen der genannten Summe und dem kleinen Vermögen, das die East India Company für Peppers Witwe aufbrachte. »So, nun bin ich dir gefällig gewesen, Weaver. Jetzt ist die Reihe an dir. Worum geht es hier?« Es wäre nicht gelogen gewesen, ihm zu sagen, dass ich es nicht wüsste. »Es ist noch zu früh, das zu sagen.« Ich erwog meine Worte behutsam, war immer noch unentschieden, wie viel ich andeuten durfte. Das Damoklesschwert, das über mir und meinen Freunden hing, machte mich unwillig, überhaupt irgendwelche Informationen weiterzugeben, aber ich wusste auch, dass ich Hale vertrauen konnte und er mir gefällig gewesen war, und, was schließlich den Ausschlag gab, dass vielleicht noch mehr zu Tage käme, wenn ich mein unvollständiges Wissen mit ihm teilte. Ich verpflichtete ihn daher, Schweigen zu bewahren und erzählte ihm, was er meiner Meinung nach erfahren durfte. »Worum es hier genau geht, weiß ich auch nicht«, sagte ich. »Ich weiß nur, dass die East India Company sich bereiterklärt hat, Peppers Witwe eine beträchtliche jährliche Summe auszu-bezahlen, und zwar unter der Vorgabe, dass das Geld von irgendeiner erfundenen Gilde der Seidenweber stammt.« »Eine beträchtliche Summe, sagst du?«, entfuhr es Hale. »Aber das arme Mädchen lebt in erbärmlichsten Verhältnissen.« »Ich fürchte, da befindest du dich im Irrtum. Ich bin in Twi-ckenham gewesen und habe mit eigenen Augen gesehen, dass die Dame für die Witwe eines Seidenwebers ausgesprochen gut lebt - jede Witwe in ihrer Lage könnte sich glücklich schätzen.« »Weaver, ich hätte dich nie für einen solchen Dummkopf gehalten. Seine Witwe wohnt doch gar nicht in Twickenham. Sie wird nie auch nur davon träumen, in Twickenham zu leben. Sie hockt in einem heruntergekommenen Haus in der Nähe des Little Tower Hill, und ich kann dir versprechen, dass sie nichts dergleichen wie eine Apanage bezieht. Was ihr bleibt, ist der Gin, und sie kann von Glück reden, wenn sie genug davon hat.« Das ging noch eine Weile so hin und her, bis wir übereinkamen, dass es sich um zwei verschiedene Frauen handelte und Mr. Absalom Pepper sich des unter einfachen Männern nur allzu verbreiteten Vergehens schuldig gemacht haben könnte, mit zwei Frauen gleichzeitig verheiratet gewesen zu sein. Aus diesem und noch vielen anderen Gründen begann ich mich nun außerordentlich für seine Person zu interessieren. Während der Droschkenfahrt zu Peppers zweiter Witwe ließ Hale seinen Gedanken freien Lauf. »Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte er mit grollender Stimme. Er hörte sich an wie ein Hund, der irgendwo in der Ferne die gerade eben noch vernehmbaren Schritte eines Fremden wahrnimmt. »Nie hat es auf der Welt eine herzlosere oder pfennigfuchserischere Bande von Dieben gegeben als die East India Company. Ihnen geht es nur um ihren eigenen Profit, und wenn sie dieser angeblichen Witwe Peppers etwas bezahlen, dann nur, um ihr Schweigen über irgendeine Scheußlichkeit zu erkaufen. Glaube mir, sie haben Pepper auf dem Gewissen. Wie viel bekommt sie denn von denen?« Gegen mein besseres Wissen nannte ich ihm die Summe. »Jesus Christus«, ereiferte er sich. »Das ist Blutgeld. Um etwas anderes kann es sich gar nicht handeln. Es ist Wahnwitz, ihr so eine Summe auszuzahlen, und es ist noch wahnwitziger, dass sie auch noch glaubt, das Geld käme von uns. Das ergibt doch keinen Sinn, Weaver.« Da hatte er natürlich recht. Zu diesem Schluss waren Elias und ich auch schon gelangt. Allein die Höhe der Summe musste Aufsehen erwecken, und das trug nicht gerade dazu bei, etwas unter den Teppich zu kehren. »Die Dame, mit der ich gesprochen habe, hat uns erzählt, Pepper hätte sich immer Notizen über irgendwelche Dinge gemacht. Du hast nicht zufällig etwas davon aufbewahrt?« »Mich beschäftigen andere Dinge als das Gekritzel eines Seidenwebers.« »Und du hast ihm dabei auch nie über die Schulter schauen können?« »Ich hab's versucht, aber es hat mir nichts genützt, weil ich nie zu lesen gelernt habe.« Als er sah, wie ich erst ganz große Augen bekam und dann verschämt den Blick senkte, fügte er rasch hinzu: »Es stimmt schon, dass ich nicht lesen kann, aber ich kann Buchstaben erkennen, und Peppers Aufzeichnungen bestanden nicht nur daraus.« »Nicht nur aus Wörtern?« »Nun, es gab schon welche, aber auch Zeichnungen. Bilder von Dingen.« »Was für Dinge?« »Schwer zu sagen. Ich habe ja nur mal kurz einen Blick riskiert. Wenn Pepper merkte, dass ich mich für seine Aufzeich-nungen interessierte, hat er sie schnell weggepackt und mich wütend angestiert. Ich habe versucht, es mit einem Scherz abzutun, und ihm gesagt, ich könne sein Zeugs ebenso wenig lesen wie die Zeitung, aber das hat seine Stimmung nicht gebessert. Er meinte, ich wolle ihm etwas wegnehmen, und ich habe gesagt, ich hätte kein Interesse daran, ihm sein Geschreibsel zu stehlen, und schon gar keine Ahnung, was ich damit anfangen könnte.« »Aber was war denn nun auf den Zeichnungen zu sehen?«, fragte ich noch einmal. »Nun, es sah so aus, als würde er Zeichnungen von uns machen.« »Von den Seidenwebern?« »Nicht eigentlich von den Männern, sondern von dem Raum und den Werkzeugen, also den Webstühlen. Wie gesagt, mehr als ein flüchtiger Blick darauf war es nie. Doch das erklärt immer noch nicht, warum ihm jemand ein Bild von ein paar Seidenwebern mit ihrem Arbeitszeug stehlen sollte. Wer kann denn mit so etwas Belanglosem was anfangen?« Mir fiel dabei ein Unternehmen ein, dem der unbeugsame Wille der Seidenweber Schaden zugefügt hatte. Die East India Company. Hale sagte dem Kutscher, wo er anhalten solle. Ich sprang als Erster vom Wagen und streckte meinem kranken Freund die Hand entgegen, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe dich hergebracht, Weaver, aber weiter geht's nicht. Ich habe die arme Jane Pepper schon als Mädchen gekannt, und ich bringe es nicht übers Herz, zu sehen, was aus ihr geworden ist. Ihr Vater, Friede seiner Seele, war ein Freund von mir, und es schneidet mir ins Fleisch, wenn ich daran denke, dass er sein ganzes Leben lang gespart hat, um zwanzig Pfund als Mitgift für sein kleines Mädchen zusammenzukratzen. Schon damals habe ich gedacht, dass er das Geld Pepper in den Rachen wirft, wenn er sie ihn heiraten lässt, und heute weiß ich es genau.« Noch einmal schüttelte er den Kopf. »Es gibt Dinge, die ich mir lieber nicht ansehen möchte.« Ich konnte seinen Widerwillen nur zu gut verstehen. Mir hat es auch nie behagt, mich nach Einbruch der Dunkelheit noch in St. Giles aufzuhalten, und hatte Hale nicht eine Warnung in seinen Worten mitschwingen lassen? Umso unbehaglicher war mir zu Mute. Nichtsdestotrotz folgte ich seiner Wegbeschreibung und stand bald vor dem Haus, zu dem er mich geschickt hatte. Auf mein Klopfen öffnete mir eine sehr alte Frau in einem zerlumpten Kleid. Als ich ihr sagte, ich wünsche Mrs. Jane Pepper zu sprechen, seufzte sie kummervoll und bedeutete mir, die Treppe hinaufzugehen. Mrs. Pepper empfing mich so dürftig bekleidet an ihrer Tür, dass ihre Verwahrlosung seit dem Tod ihres Gatten einfach nicht zu übersehen war. Sie trug ihr Haar offen und hatte ihr Kleid nicht zugeknöpft, so dass ihr üppiger Busen darunter hervorschaute. Und sie roch nach Gin. Ich sah auch die tiefen Falten um ihre Augen, sah die hervorstehenden Wangenknochen, über denen sich die Haut straffte, und ich ahnte, dass hier nicht mehr ein Mensch bloß vom Trunk besessen war, sondern der Trunk längst von dem Menschen Besitz ergriffen hatte. Und doch kam unter ihren abgezehrten Zügen noch ein Rest der Schönheit zum Vorschein, die sie einmal gewesen war. Absalom Pepper schien einen Kennerblick gehabt zu haben, was Frauen betraf. »Hallo, mein Lieber«, begrüßte sie mich. »Komm doch herein.« Ich nahm ihre Einladung an und setzte mich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, auf den einzigen Stuhl im Zimmer. »Was darf ich heute Abend denn für dich tun, mein Liebster?« Ich griff in meine Börse, zog einen Schilling hervor und gab ihn ihr. »Mir nur ein paar Fragen beantworten. Das ist für Ihre Zeit.« Sie schnappte nach der Münze, wie ich Affen nach gezuckerten Pflaumen hatte schnappen sehen. »Meine Zeit«, sagte sie mit fester Stimme, »ist drei Schillinge wert.« Ich konnte nur schwer glauben, dass ihr jemals jemand für eine ihrer Gefälligkeiten so viel bezahlt hatte, vor allem nicht für das Wenige, was ich von ihr verlangte, aber mir war nicht danach, mit dem armen Ding zu zanken, und ich legte den Rest dazu. »Ich möchte Sie nach Ihrem verstorbenen Ehemann fragen.« »Oh, mein Absalom«, schwärmte sie sogleich. »Hat es je einen lieberen Mann gegeben?« Mir fiel sofort auf, wie sehr beide Mrs. Pepper gleichermaßen von ihrem Gatten angetan waren. Ich wusste nicht, wie der Verstorbene die Damen so für sich eingenommen hatte, aber ich hätte gerne ein wenig über sein Geheimnis erfahren. »Er ist Ihnen also ein guter Ehemann gewesen?« »Er war ein guter Mann, Sir. Der Beste. Aber es stimmt leider, dass ein so guter Mann nicht immer die Muße findet, auch ein guter Ehemann zu sein.« Vor allem nicht, wenn er voll und ganz damit beschäftigt ist, noch einer weiteren Frau ein guter Ehemann zu sein, dachte ich, obwohl mir nicht im Traume eingefallen wäre, es laut auszusprechen. »Was können Sie mir über ihn erzählen?« »Oh, er war gut zu mir, Sir. So gut ist er zu mir gewesen. Wenn er bei mir war, hätte ich nie geglaubt, dass es noch andere Frauen auf der Welt gäbe, denn er war in Gedanken immer nur bei mir, hat nur für mich Augen gehabt, wenn wir zusammen spazieren gingen. Wir konnten in St. James auf die feinsten Leute der Stadt treffen, und er schien niemanden davon auch nur wahrzunehmen. Und er ...« Hier hielt sie inne und warf mir einen kritischen Blick zu. »Warum wollen Sie das wissen? Wer sind Sie?« »Ich muss mich entschuldigen, Madam. Mein Name ist Ben-jamin Weaver, und ich bin beauftragt worden, die Angelegenheiten Ihres Gatten daraufhin zu untersuchen, ob ihm vor seinem Tod möglicherweise jemand Geld geschuldet hat.« Dies war ein grausamer Trick, und ich wusste es, aber es gab so wenig, was ich tun konnte, um dieser armen Mrs. Pepper zu helfen, und so viel, was ich noch tun musste, um denjenigen zu helfen, die von meinen Bemühungen abhingen. Und außerdem war es vielleicht weniger eine Grausamkeit denn ein Gefallen, den ich ihr tat, indem ich ihr ein wenig Hoffnung machte. »Geld? Von wem? Wie viel?« Ich machte eine Geste der Ratlosigkeit, als wolle ich damit andeuten, dass Machtlosen wie ihr und mir die Gedanken und Wege der Mächtigen stets verschlossen bleiben würden. »Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wie viel es ist, und auch nicht genau, von wem. Ich stehe in Diensten einer Gruppe Männer, die ihr Geld in Projekten anlegen, und man hat mich ersucht, Nachforschungen betreffs Mr. Peppers Angelegenheiten anzustellen. Darüber hinaus weiß ich nicht mehr.« »Nun ja«, sagte sie nachdenklich, »es hat ihn immer noch etwas anderes umgetrieben als die Seidenweberei. Er hatte immer Geld in den Taschen, was man von den übrigen Seidenwebern nicht behaupten konnte. Und ich sollte mich ja hüten, Hale oder den anderen gegenüber ein Wort darüber zu verlieren, denn die durften nichts davon wissen. Das hätte sie nur neidisch auf Absalom gemacht, schon weil er so klug und auch so schön war.« »Und was war es, was ihn außer der Arbeit am Webstuhl noch so umtrieb?« Sie schüttelte den Kopf. »Das hat er mir nie gesagt. Er meinte, ich solle mich nicht mit so trockenen Dingen belasten. Aber er hat geschworen, dass wir eines nicht so fernen Tages reich sein würden. Und dann sein tragischer Tod im Fluss. Es war grausam von ihm, mich so ohne einen Penny einsam und allein zurückzulassen.« Sie senkte kummervoll den Kopf und entblößte damit noch mehr von ihrem kaum verhüllten Busen. Mir entging keineswegs, was sie damit beabsichtigte, aber ich war fest entschlossen, so zu tun, als hätte ich es nicht bemerkt. Sie war eine schöne Frau, der das Leben übel mitgespielt hatte, und ich durfte mich nicht so erniedrigen, dass ich ihr Elend zu meinem Vorteil ausnutzte. Versucht war ich, aber ich hätte es nie über mich gebracht. »Das ist jetzt sehr wichtig«, betonte ich. »Hat Mr. Pepper Ihnen irgendwas über seine Pläne gesagt? Hat er Namen erwähnt, Orte, irgendetwas, was mir helfen könnte herauszufinden, woran er gearbeitet hat?« »Nein, nie.« Sie saß einen Moment lang still da, dann sah sie mich durchdringend an. »Wollen Sie etwa seine Ideen stehlen, das, was er in seinen Büchern aufgeschrieben hat?« Ich belächelte ihre Frage, als sei sie die abwegigste Vorstellung auf der Welt. »Mir ist nicht daran gelegen, etwas zu stehlen, Madam. Und ich verspreche Ihnen bei meiner Ehre, dass ich dafür sorgen werden, dass Sie Ihren Anteil bekommen, falls Ihr Gatte auf etwas Wichtiges gestoßen ist. Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen etwas wegzunehmen, nur, etwas in Erfahrung zu bringen, und, wenn es möglich ist, Ihrer Familie etwas zurückzuerstatten, was ihr entgangen sein könnte.« Meine Worte schienen ihre Zweifel zu zerstreuen, und zwar so gründlich, dass sie sogar aufstand und mir mit einer freundlichen Geste, die ich von einer Frau, zu der die Welt alles andere als freundlich gewesen war, nie erwartet hätte, die Hand auf die Schulter legte. Sie sah mich auf eine Weise an, die keinen Zweifel daran zuließ, dass sie von mir geküsst werden wollte. Ich gebe zu, geschmeichelt gewesen zu sein, was einzig und allein ihrem Charme zuzuschreiben war, denn warum, werden sich meine geneigten Leser fragen, sollte ich mich geschmeichelt fühlen, wenn eine Hure, der ich bereits Geld gegeben und der gegenüber ich eine vage Andeutung eines mög-licherweise auf sie wartenden Vermögens gemacht hatte, mir ihre Bereitschaft bekundet? Dennoch begann meine ursprüngliche Entschlossenheit abzubröckeln, und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was hätte geschehen können, wenn nicht etwas ganz und gar Unerwartetes eingetreten wäre. Die Witwe Pepper wollte mit den Fingern mein Gesicht berühren, aber ich gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie damit aufhören solle und führte dann meinerseits den Finger an die Lippen, um ihr zu bedeuten, ganz still zu sein. So leise wie möglich schlich ich mich zu ihrer Kammertür. Leider hatte Mrs. Pepper sie hinter mir verschlossen, so dass dem Überraschungsmoment wertvolle Sekunden verloren gingen, aber das ließ sich nun nicht mehr ändern. Also drehte ich schnell den Schlüssel im Schloss herum und riss die Tür auf. Wie ich befürchtet hatte, war demjenigen, der draußen gelauscht hatte, die Bewegung hinter der Tür früher aufgefallen, als mir lieb war, aber ich sah immerhin noch, wie ein Mann die Treppe mehr hinunterstürzte als lief, und machte mich sogleich an die Verfolgung. Der Lauscher schien flinker zu sein als ich, denn ich brauchte die Stufen hinunter länger als er, und als ich unten ankam, war er bereits zur Tür hinaus und auf der Straße. Aber ich war ihm hart auf den Fersen, und als ich aus dem Haus kam, sah ich ihn den Tower Hill Pass auf East Smithfield zurennen. Er war ein guter Läufer, aber ohne die hinderlichen Treppenstufen hoffte ich zumindest mit seinem Tempo mithalten zu können, und auf meine Ausdauer konnte ich mich verlassen. Wer einmal im Ring gekämpft hat, weiß seine Kräfte zu mobilisieren, auch wenn er nicht mehr ganz so in Form ist wie früher. Selbst wenn es mir nicht gelang, ihn einzuholen, sagte ich mir, würde ich ihn verfolgen, bis seine Kräfte nachließen. Es erwies sich, dass die Geschicklichkeit, die er auf der Treppe gezeigt hatte, dem Dunkel der Straßen nicht standhielt - er rutschte in einer matschigen Pfütze aus und fiel hin, aber so schnell, wie er am Boden gelandet war, war er mit der Be-händigkeit eines italienischen Artisten auch schon wieder auf den Beinen und verschwand blitzschnell in einer der finsteren Gassen, für die St. Giles zu Recht so berüchtigt ist. Die Gassen stellen ein lichtloses Labyrinth dar, und wer sich darin nicht auskennt, kann sicher sein, sich über kurz oder lang zu verirren. Aber dazu kam es bei mir gar nicht erst, denn ich verlor meinen Mann aus den Augen. Als ich um die erste Ecke herumkam, hörte ich nur noch das sich entfernende Geräusch seiner Stiefel, konnte aber nicht mehr ausmachen, woher es kam. Ich musste die Verfolgung aufgeben. Es ärgert einen immer, wenn man versagt, aber ich tröstete mich damit, dass ich unter Umständen gar nicht viel gegen ihn ausgerichtet hätte. Als er vor mir in die Pfütze fiel, konnte ich mir binnen des Bruchteils einer Sekunde ein Bild von ihm machen. Er war nicht nur atemberaubend flink, sondern auch größer und mit hoher Wahrscheinlichkeit stärker als ich. Eine weitere Verfolgung hätte wohl für mich übel geendet - denn ich glaubte, ihn erkannt zu haben, obwohl ich gezögert hätte, seine Identität vor Gericht zu beschwören. Bei dem Mann, der vor Mrs. Peppers Tür gehockt hatte, um mich - oder vielleicht auch sie - auszuspionieren, konnte es sich, dessen war ich mir fast sicher, nur um den Inder Aadil handeln. Er verfolgte mich also immer noch und behielt mich im Auge, und ich wusste nicht, wie lange ich noch den Anschein aufrechterhalten könnte, dass ich nichts davon ahnte. Nach Edgars mahnenden Worten war ich keineswegs erpicht darauf, dem Craven House noch einen weiteren Tag fernzubleiben, aber ich glaubte, nun kurz vor einer Erkenntnis zu stehen und wollte die Spur weiterverfolgen. Daher ließ ich Mr. Ellershaw am nächsten Morgen noch eine weitere Nachricht zukommen, in der ich ihm mitteilte, meine Tante bräuchte meine Hilfe und ich würde später zur Arbeit erscheinen. Wenn er weitere Fragen hätte, solle er sich unmittelbar an meinen Arzt wenden. Sodann schrieb ich Elias, um ihn über die Lügen ins Bild zu setzen, zu denen ich gegriffen hatte und es ihm zu überlassen, alles zu richten. Danach nahm ich die Kutsche nach Twickenham, um Mr. Peppers erster Witwe noch einen weiteren Besuch abzustatten. Sie empfing mich zwar, doch weniger zuvorkommend als beim ersten Mal. Nun begann sie vielleicht doch um die Fortdauer ihrer Apanagenzahlung zu fürchten. »Auch diesmal habe ich nicht den Wunsch, Ihnen Ungemach zu bereiten, Madam«, begann ich unsere Unterredung. »aber es sind noch Fragen offen. Die Gentlemen von der Seahawk-Versicherung lassen Ihnen ausrichten, dass mit Ihrer Pension allergrößter Wahrscheinlichkeit nach alles seine Ordnung hat. Wir können Sie nicht zwingen, unsere Fragen zu beantworten, aber ich denke, Ihr Ruhegehalt ist noch besser abgesichert, wenn Sie uns entgegenkommen.« Diese Worte lösten genau die Bestürzung aus, die ich damit beabsichtigt hatte, denn sie erklärte sogleich, sie wolle alles in ihrer Macht Stehende tun, um mir weiterzuhelfen. »Sie sind sehr freundlich. Ihnen ist sicher bewusst, dass eine Summe von einhundertzwanzig Pfund per Jahr eine ungewöhnlich hohe Pension für einen Mann von dem Einkommen Ihres verstorbenen Gatten darstellt. Haben Sie eine Vorstellung, warum Sie von der Gilde der Seidenweber so großzügig bedacht worden sind?« »Aber das haben Sie mich doch alles schon gefragt. Ich schätze es nicht, wenn Sie so in meiner dankbaren Erinnerung an meinen Mann herumstochern.« »In der Tat, das habe ich Sie bereits gefragt«, gab ich zu, »doch ich muss es leider noch einmal tun, da ich bisher keine befriedigende Antwort erhalten habe. Und was das Andenken an Ihren Mann betrifft, werden Sie gewiss gestatten, dass ich darauf hinweise, dass wir dieses Andenken viel besser ehren können, wenn wir herausbekommen, wie sehr sein kluger Kopf uns hätte nützlich sein können.« Es war mein eigener kluger Kopf, zu dem ich mich nun beglückwünschen konnte, denn meine Worte verfehlten keineswegs ihre Wirkung auf die liebende Witwe. Sie erschien mir zwar immer noch skeptisch, aber ich merkte, dass sie keine Gelegenheit verpassen wollte, ihren heiligen Mr. Pepper zu lobpreisen. »Ich weiß nicht viel davon, nur, dass er immer mit seinen Büchern beschäftigt war. Er las viel, machte sich alle möglichen Notizen und fertigte Skizzen an.« Ich fand es sehr ungewöhnlich, dass ein Seidenweber Bücher - und dann gleich noch mehrere - besaß, denn Bücher kosten eine Menge Geld, wovon ein Seidenweber nur wenig zu besitzen pflegt. Allerdings hatte ich bereits genug über Mr. Pepper erfahren, um zu wissen, dass er in beinahe jeder Hinsicht eine Ausnahme darstellte. Und es war ihm dabei bestimmt nicht nur um die Anhäufung von Wissen gegangen. Vielmehr dürfte er gehofft haben, mit seiner Lektüre die Investition an Zeit und Geld auf irgendeine Weise wieder hereinholen zu können. »Wie hat er sich diese Bücher denn leisten können?«, fragte ich. »Wir haben ihretwegen auf nichts verzichten müssen«, versicherte sie mir. »Es war ihm sehr wichtig, vieles in Erfahrung zu bringen, aber er hätte es nie zugelassen, dass meine Wünsche oder Bedürfnisse deswegen in den Hintergrund hätten treten müssen.« »Und wissen Sie, was das für Skizzen waren?« »Darüber hat er mit mir nie gesprochen. Er sagte, er wolle seine Frau nicht mit den Ergüssen seines Geistes behelligen.« »Also hat Ihr Gatte Ihnen gegenüber nie seine Interessen erwähnt?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie sagten, er hätte sich Notizen gemacht. Darf ich die einmal sehen?« Wiederum ein Kopfschütteln. »Als der Mann von der Gilde hier war, sagte er, diese Unterlagen wären von größtem Wert für seine Zunft und erbot sich, mir alles für weitere zehn Pfund abzukaufen. Für mich waren die Sachen ohnehin nicht von Nutzen, und ich hätte in jedem Fall versucht, sie zu verkaufen. Ich weiß nicht, ob zehn Pfund ein angemessener Preis gewesen sind, aber ich sagte mir, dass die Gilde meines Mannes sehr großzügig mit mir verführe und es unhöflich wäre, Ihnen diesen Wunsch abzuschlagen.« »Also hat man alles mitgenommen?« »Das habe ich doch eben gesagt.« Ihre Stimme klang leicht gereizt. Ich hielt es für angebracht, ein wenig von dem Thema abzulenken - wenn auch nur geringfügig. »Sagen Sie mir eines, Mrs. Pepper. Ich habe zwar verstanden, dass sich Ihr Gatte nie über seine Studien mit Ihnen unterhalten hat, aber es ist doch ungewöhnlich, wenn in einem ehelichen Zusammenleben nicht doch etwas durchsickert - so wie der Geruch von Suppe auch die angrenzenden Räume erfüllt.« Sie nickte. Ich wartete auf eine Antwort, aber sie ging auf meine gezielte Frage nicht ein. Stattdessen verbreitete sie sich darüber, dass sie es nicht schätze, wenn Gerüche aus der Küche sich im ganzen Haus verbreiteten. »Ist es nicht möglich«, hakte ich noch einmal nach, »dass Sie zufällig mitgehört haben, wie Mr. Pepper Freunden oder Gästen gegenüber etwas über seine Studien geäußert hat. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es für uns ist, an seinen Erkenntnissen teilzuhaben. Damit hätten sich«, fügte ich augenzwinkernd hinzu, »höchstwahrscheinlich sämtliche Fragen die Pension betreffend erledigt.« »Warum müssen immer Fragen gestellt werden?« Ihr Stimme klang einige Oktaven höher als sonst. »Es ist mein ehrlichstes Bestreben, diese Fragen als erledigt zu betrachten und die mit Ihnen getroffene Vereinbarung so, wie sie ist, bestehen zu lassen. Wollen Sie mir dabei nicht helfen?« Es war mehr als deutlich, dass sie das wollte. »Er hat nie viel mit mir über seine Forschungen, wie er sie nannte, gesprochen, aber er hatte einen ganz besonderen Freund, mit dem er diese Dinge zu diskutieren pflegte. Ich habe diesen Gentleman nie kennengelernt, denn Mr.Pepper hat ihn nie zu uns nach Hause eingeladen, aber er sprach stets in den höchsten Tönen von ihm als jemandem, der seine Forschungen zu schätzen wüsste und ihn dabei unterstützen könnte. Er hat sich regelmäßig mit ihm getroffen, und dann haben die beiden lange über ihren Büchern zusammengesessen, um daraus zu erfahren, was sie zu erfahren hofften.« »Aber den Namen dieses Gentlemen kennen Sie doch?« »Nein, nicht den vollständigen Namen. Mein Mann hat von ihm immer als Mr. Teaser gesprochen.« Ich musste mich sehr zusammennehmen, um ein grimmiges Lächeln zu unterdrücken. Mr. Teaser hörte sich so sehr nach einem Namen aus einer Komödie an, dass ich schnell argwöhnte, es handele sich bei ihm nicht um einen Mann, sondern um eine Frau, und dass Mr. Pepper bei seinen Zusammenkünften mit diesem ganz besonderen Freund wenig mit geistigen Studien im Sinn hatte. Trotzdem musste ich zunächst darauf eingehen. »Was können Sie mir noch über diesen Mr. Teaser sagen?« »Nur sehr wenig, fürchte ich. Er hat auch nicht sehr oft über ihn gesprochen, und wenn, dann mit einer sonderbaren Mischung aus Zufriedenheit und so etwas wie Geringschätzigkeit. Er pries Mr. Teasers Scharfsinn, amüsierte sich aber gleichzeitig über ihn, weil er so schlicht wäre wie ein Kind und dass er, mein verstorbener Ehemann, mit dem armen Kerl machen könne, was er wolle.« »Und Sie wissen wohl nicht zufällig, wo diese Treffen stattgefunden haben?« »Ah, da kann ich Ihnen helfen. Einmal habe ich zufällig gehört, wie Mr. Pepper sich mit einem Freund über ein bevorstehendes Treffen unterhielt. Er sprach dabei davon, dass es in einem Haus in der Field Lane stattfinden sollte, das neben einem Haus lag, dessen Name irgendwas mit Trauben war. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um ein privates oder ein Wirtshaus handelte, aber ich erinnere mich noch genau an seine Wegbeschreibung.« »Sind Sie je selber dort hingegangen?« »Nein. Warum sollte ich?« Vielleicht aus Neugier, dachte ich. Würde sie sich noch so deutlich den Ort dieser Zusammenkünfte erinnern, wenn diese ganz ohne Bedeutung für sie gewesen wären? Aber ich hütete meine Zunge, denn ich hatte nichts zu gewinnen, wenn ich durchblicken ließ, dass ich tiefer in ihr Herz schaute, als sie es zulassen wollte. Es wäre meinen Zwecken nicht dienlich, wenn sie merkte, dass ich ahnte, dass sie auf irgendeine sonderbare Weise eifersüchtig auf diesen Mr. Teaser gewesen war. Weitere Fragen brachten nur zum Vorschein, dass Mrs. Pep-per mir sonst nichts zu sagen wusste, also bedankte ich mich dafür, dass sie mir ihre Zeit geopfert hatte. »Und was ist denn nun mit meiner Apanage?«, wollte sie wissen. »Ist sie gesichert?« Da ich annahm, dass Mrs. Pepper mir möglicherweise doch noch eine Quelle nützlicher Informationen sein könnte und ich diese nicht zum Versiegen bringen wollte, beschränkte ich mich auf die vage Andeutung, ich wolle alles in meiner Macht Stehende tun. Dann verabschiedete ich mich mit einer Verbeugung. Sichtlich verzagt biss sie sich auf die Lippe. »Wenn ich Ihnen nun etwas zeige, was Ihnen als Beweis für meine Bereit-willigkeit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, dient«, schlug sie vor, »werden Sie mir dann helfen?« »Selbstverständlich«, sagte ich - scheinheilig, wie ich zugeben muss, aber ich versuchte, nicht darüber nachzudenken. Ich wusste nicht, zu welchem Zwecke die East India Company dieser Dame eine Pension zahlte, aber wenn ich dahinterkam, würde diese Quelle wohl wirklich versiegen. Kurz gesagt - ich unternahm alle Anstrengungen, diese Frau dazu zu bewegen, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Sie bat mich zu warten und verschwand für einen Augenblick. Dann kam sie mit einem dünnen, in Kalbsleder gebundenen Quartband zurück, den sie an die Brust gedrückt hielt, so dass mir der geschwungene, andersfarbige Schnörkel auffiel, der sich quer über den Buchdeckel zog. »Zu den Eigenarten meines Mannes, des verstorbenen Mr. Pepper, gehörte, dass er stets betonte, seine Aufzeichnungen wären sein Vermächtnis. Das hat er mir jedenfalls wiederholt eingeschärft. Er wollte immer seine Gedanken niederschreiben, möglichst noch in dem Moment, in dem sie ihm kamen, damit sie ihm nicht etwa im nächsten Augenblick schon wieder entfielen und er sie dann nicht mehr zusammenbrächte. Er war der Meinung, mehr wichtige Erkenntnisse vergessen zu haben, als einer Armee von Männern in ihrem ganzen Leben je gekommen wären. Also trug er ständig Hefte mit sich herum und machte sich unablässig Notizen. Viele dieser Bände, glaubte er, enthielten wichtige Geistesblitze, viele andere wiederum nichts von Bedeutung. Als die Leute von der Gilde wegen seiner Aufzeichnungen kamen, sagten sie, sie wollten sie alle haben, aber ich habe doch etwas zurückbehalten. Nur diesen einen Band, und den auch nur, weil er mir gesagt hatte, es wäre ein Heft voller falscher Anfänge, törichter Ideen. Es ist ein Buch, von dem er mir einmal gesagt hat, er würde ihm keine Träne nachweinen, wenn er es verlöre. Ich habe speziell dieses eine Heft wegen der fehler-haften Zeichnung des Einbandleders zurückbehalten. Sieht sie nicht fast aus wie ein P - für Pepper? Auf jeden Fall wollte ich es nicht hergeben.« Ich streckte ihr die Hand entgegen. Sie zögerte, aber dann überreichte sie mir das Büchlein. Seite um Seite war mit verkrampften, fliehenden Lettern vollgekritzelt - so klein, dass ich es kaum lesen konnte. Die Buchstaben verliefen ineinander, und ich bekam Kopfschmerzen bei dem Versuch, den Text zu entziffern. Zwischen den Zeilen waren, wie Hale es bereits angedeutet hatte, Skizzen eingefügt, die scheinbar das Handwerkszeug und das Material eines Seidenwebers darstellen sollten. Pepper hatte dem Buch keinen Wert beigemessen, aber ich war mir da nicht so sicher. »Darf ich das mitnehmen? Ich verspreche, es Ihnen zurückzuerstatten.« Sie wand sich, aber dann gewährte sie mir die Bitte mit einem Kopfnicken. Da ich glaubte, nun wirklich nichts weiter erreichen zu können, verabschiedete ich mich noch einmal von ihr, wobei ich ihr versicherte, mich mit besonderer Sorgfalt um ihren Fall zu bemühen. Dann begab ich mich zu dem Haltepunkt für die Kutsche. Ich musste länger warten, als mir recht war, und es begann bereits zu dunkeln, als ich in die Stadt zurückkam. Aber ich befand mich wieder auf vertrautem Terrain, und während ich meiner Wohnung am Duke's Place zustrebte, senkten sich schon die ersten Schatten der Nacht über die Straßen. Ich war den ganzen Tag unterwegs gewesen und erwog, noch etwas zu essen, bevor ich mich zu Bett legte, aber ich war hundemüde, und falls meine Vermieterin kein leichtes Abendmahl für mich bereithielt, würde ich mich mit einem Stück Käse und Brot in meinem Zimmer begnügen, anstatt mir in einem Wirtshaus kaltes Fleisch mit Erbsen servieren zu lassen. Ich hatte fast das Haus, in dem ich wohnte, erreicht, als ich eine raue Hand auf meiner Schulter spürte. Als ich mich um-drehte, überraschte es mich nicht, den treuen Edgar mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht vor mir zu sehen. »Sind wir Ihnen doch dahintergekommen, Weaver.« Er presste in seiner Erpelmanier die wulstigen Lippen zusammen. »Sie wollten sich wohl unter dem Vorwand, Ihr Onkel wäre gestorben, davonstehlen, aber wir sind nicht so dumm, wie Sie denken. Glauben Sie, Mr. Cobb würde es nicht merken, wenn Sie ein doppeltes Spiel treiben?« »Von was für einem doppelten Spiel redest du da, du Halunke?« Ich versuchte, entrüstet zu klingen, aber ich fragte mich gleichzeitig, hinter welchen meiner Winkelzüge sie gekommen sein mochten. Er lachte, aber nicht aus Wohlgefallen, sondern voller Häme. »Es ist eine Sache zu glauben, Sie könnten uns an der Nase herumführen, aber eine andere, so zu tun, als wüssten Sie von nichts, wenn man Ihnen dahinterkommt. Für Sie gibt es nichts mehr zu gewinnen, also können Sie auch gleich alles zugeben, aber schnell, wenn Sie noch größeres Unheil von Ihren Freunden abwenden wollen.« »Zugeben? Was soll ich zugeben?« »Mr. Cobb ist großzügig mit Ihnen verfahren, viel zu großzügig, wenn Sie mich fragen. Ihnen ist gesagt worden, dass Sie uns nicht hintergehen dürfen, und dass Ihre Freunde darunter zu leiden hätten, wenn Sie sich weigern, sich uns gegenüber wie ein Gentleman zu verhalten. Aber dann wurde nur allzu deutlich, dass Sie unsere Warnung nicht ernst zu nehmen schienen, solange wir nicht ein Zeichen unserer Entschlossenheit setzen, also hat Mr. Cobb beschlossen, Ihnen zu beweisen, dass er durchaus meint, was er sagt.« Ohne erst zu überlegen, griff ich den salbungsvoll daherredenden Burschen bei seinem Binder und drehte daran, bis er puterrot anlief - soweit das in der Dunkelheit zu erkennen war. »Was habt ihr angestellt?«, herrschte ich ihn an, aber dann ging mir auf, dass er ja gar nicht antworten konnte, so-lange ich ihn im Würgegriff hielt. Also ließ ich ihn widerwillig los. Er sank sogleich hintenüber. »Was habt ihr angestellt?«, wiederholte ich meine Frage und versetzte ihm einen Tritt, damit er merkte, dass es auch mir bitterer Ernst war. »Es geht um Ihren Freund Franco«, sagte er und fuchtelte dabei theatralisch mit den Armen. »Wir haben ihn abholen lassen. Und wenn Sie nicht langsam anfangen, unseren Befehlen Folge zu leisten, wird er nicht der Letzte sein.« 22 Meine geneigten Leser können sich das Entsetzen vorstellen, das ich augenblicklich empfand. Moses Franco, ein Mann, der mir am Herzen lag, der mir nie etwas Böses angetan, es immer nur gut mit mir gemeint hatte, saß jetzt in einem dunklen Verlies, und das hatte er mir zu verdanken. Aber ich sagte mir, dass ich die Schuld nicht bei mir suchen durfte. Schließlich steckten Cobb und sein niederträchtiger Schoßhund Hammond hinter alledem. Ich hätte Mr. Franco nie etwas Schlechtes gewünscht. Dennoch war ich nicht ganz überzeugt, ob ich es mir damit nicht zu einfach machte. War ich bei meinen Nachforschungen zu weit gegangen? Hätte ich denen, die sich unerwünschterweise an meine Fersen hefteten, von meinen Ergebnissen berichten sollen? Hatte ich versucht, zu vielen Herren gleichzeitig zu dienen und in allererster Linie mir selber? Mr. Franco war es jedenfalls, der jetzt den Preis dafür bezahlen musste. Ich hätte mich am liebsten sofort zum Gefängnis in der Fleet Street begeben, aber es war schon spät, und ich wollte Mr. Franco nicht in der Nachtruhe stören, die er dort gefunden haben mochte. Stattdessen verbrachte ich selber eine ruhelose Nacht und brach früh am nächsten Morgen auf, um meine Peiniger zur Rede zu stellen. Da es Sonntag war, wurde ich nicht im Craven House erwartet und konnte mir die Muße erlauben, einen Tag lang so zu tun, als diene ich nicht der East In-dia Company. Um acht Uhr stand ich vor Cobbs Haus. Es war eigentlich noch zu früh für einen Besuch, aber ich scherte mich nicht um die Morgenruhe in diesem Haus. Mir lag sogar ausgesprochen viel daran, seine Bewohner früh aus dem Bett zu holen, vor allem, ehe sie zum Gottesdienst aufbrachen - vorausgesetzt natürlich, dass diese Leute, die sich sechseinhalb Tage in der Woche alle nur erdenklichen Schurkereien ersonnen, meinten, dies ließe sich mit ein paar Stunden heuchlerischer Bußfertigkeit wiedergutmachen. Es überraschte mich, dass ich nur einmal an der Kordel der Glocke ziehen musste, und mir sogleich von einem bereits in seine Livree gekleideten und alles andere als verschlafen wirkenden Edgar geöffnet wurde. »Weaver«, begrüßte er mich, »wie kommt es, dass es mich nicht erstaunt, Sie zu sehen?« Ich schob mich an ihm vorbei, und er schnaubte verächtlich durch die Nase angesichts meiner Grobheit. Er begriff wohl nicht, dass allein schon die scheußliche Tatsache, dass er lebte, dass er auf der selben Erde wandelte wie schöne Frauen, lachende Kinder und springlebendige hüpfende Welpen mir Grund genug war, ihn so zu hassen, dass ich ihn lieber geschlagen hätte anstatt ihn nur beiseitezustoßen. Und dabei hätte ich es nicht mit ein paar Fausthieben bewenden lassen. Nein, hätte ich mich nur eine Sekunde länger in der Eingangshalle aufhalten müssen, wäre ich ihm mit aller Kraft auf den Fuß getreten, hätte ihm den Ellenbogen in die Nase gerammt, bis sie nicht mehr zu bluten aufhörte, und ihn mit dem Knie seiner Männlichkeit beraubt. Und wer weiß, was ich ihm noch alles angetan hätte. Ich folgte dem Geräusch von Silberbesteck, das klingend gegen Porzellan stieß und betrat einen bescheidenen, intimen Speiseraum, der viel kleiner war als der Saal, in dem Eller-shaw zu speisen pflegte. Aber ich nahm an, dass Cobb durchaus auch über ein solches Gewölbe verfügte, in dem er den feinen Herrn spielen konnte. Ja, man konnte diesen Raum trotz des in dunklem Blau und Braun gehaltenen Teppichs, der fast schwarzen Möbel und der in einem solch düsteren Grün getünchten Wände, dass man dabei an eine wolkenverhangene, mondlose Nacht denken musste, als gemütlich bezeichnen. Durch die hohen Fenster fielen lange, schmale Lichtstreifen herein, die den Eindruck erweckten, das Zimmer wäre von Spinnweben durchzogen. Cobb und Hammond hockten denn auch wie zwei fette Spinnen einander gegenüber an jeweils einem Ende eines rechteckigen Tisches, der jedoch nicht so lang war, als dass dies einer Unterhaltung hinderlich gewesen wäre. Vor sich auf dem Tisch hatten sie so viel Brot, gebratene Pilze und Gebäck, dass es für zehn gereicht haben würde. Und während ich in der Tür stand und ins blendende Sonnenlicht blinzelte, schwirrten Bedienstete um sie herum und füllten ihre Teller mit allen erdenklichen Sorten von Schweinefleisch: Speck, Würste, so dünn geschnittene Schinkenscheiben, dass man beinahe durch sie hindurchsehen konnte und deren Fettrand im Kerzenschimmer glänzte. Obwohl ich in jüngster Zeit bemüht war, nur koschere Speisen zu mir zu nehmen, ist das nicht immer so gewesen, doch seit ich am Duke's Place mit seinen verschiedenen jüdisch geführten Speiselokalen lebte, war mir der Geruch von Schweinefleisch zuwider geworden. Aber das war es nicht, was mich mit solcher Abscheu erfüllte, sondern die Verfressenheit, mit der die beiden tafelten. Wenn man zusah, wie sie sich das Fleisch in die Münder stopften, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie am liebsten kleine Ferkel von den Zitzen ihrer Muttersau gerissen hätten, um sie bei lebendigem Leibe zu verschlingen. Cobb wandte mir den Blick zu, nickte und spülte dann das, was er gerade im Mund hatte, mit einem kräftigen Schluck einer rötlich-gelben Flüssigkeit hinunter, die in einem übergroßen Kristallkelch schwappte. Ich hielt das Getränk für einen verdünnten Reisbranntwein. »Ah, Weaver«, sagte er, nach-dem er geschluckt und den Kelch abgestellt hatte. »Ihr Besuch kommt für uns nicht gänzlich überraschend. Soll der Junge ein Gedeck für Sie auflegen?« »Wir wollen es doch nicht übertreiben«, sagte Hammond und fuhr von seinem Teller hoch, den er aufmerksam studiert zu haben schien. Er war etwas wählerischer als sein Onkel und schnitt seinen Schinken zumindest in mundgerechte Bissen zurecht, wobei allerdings einiges davon neben den Teller fiel. »Er hat kein Verlangen, mit uns zu speisen, und wir nicht mit ihm. Er soll da stehen bleiben, wenn er etwas zu sagen hat. Oder vielmehr soll er da stehen bleiben, damit er sich anhören kann, was wir ihm zu sagen haben.« »Ich verlange, dass Mr. Franco aus der Haft entlassen wird«, sagte ich. »Ich verstehe, wie Sie sich fühlen müssen, Mr. Weaver«, sagte Cobb. »Aber Sie müssen doch auch uns verstehen. Sie sind nicht sehr zuvorkommend uns gegenüber gewesen.« »Und wir haben ihn auch noch dafür bezahlt. Das ist das Teuflischste daran«, meldete sich Hammond wieder zu Wort. »Es ist ja nicht so, dass wir ihn einfach dazu gezwungen hätten, unsere Wünsche zu erfüllen, nicht wahr, Onkel? Nein, er hat Geld bekommen, und das nicht zu knapp. Und bei der East India Company kassiert er auch noch ab. Doch nun besitzt er die Frechheit, uns Vorwürfe zu machen, weil wir ihn dafür bestrafen, dass er seine Pflichten vernachlässigt. Ich würde sagen, er hat Glück, dass nicht er im Karzer sitzt und darauf wartet, dass er am Fieber stirbt, ehe das Parlament irgendein dummes Amnestiegesetz erlässt.« Cobb hüstelte sich verlegen in die Hand. »Sie müssen meine Lage begreifen, Mr. Weaver. Mr. Hammond übertreibt gern ein wenig, ich dagegen nicht. Doch hat jede Geduld einmal ihr Ende. Das werden Sie doch verstehen. Sie haben in ganz London Nachforschungen angestellt und sonst was in Erfahrung gebracht, aber uns haben Sie nicht eine Einzelheit mitgeteilt. Und Sie haben einen meiner Verbindungsmänner verprügelt, und das kann ich auch nicht gutheißen.« »Reden Sie von dem Mann, der versucht hat, meine Briefe zu stehlen?« »Genau. Sie haben ihn übel zugerichtet, und das trage ich Ihnen sehr nach.« »Woher hätte ich denn wissen sollen, dass er von Ihnen geschickt war und nicht von jemandem im Craven House?«, verteidigte ich mich, aber ich wusste, dass es nicht sehr überzeugend klang. »Oh, das ist schwach«, fuhr Hammond dazwischen. »Äußerst schwach. Er benimmt sich wie ein Kind, das in der Speisekammer erwischt wird und behauptet, es wolle bloß eine Maus erschlagen.« Cobb biss in eine Art Apfelgebäck und kaute nachdenklich. Nachdem er hinuntergeschluckt hatte, sah er mich so ernst an wie ein Schullehrer, der seinen Lieblingsschüler nur der Form halber ausschilt. »Ich würde mal sagen, dass Sie uns alles erzählen, was sie bisher herausgefunden haben, Mr. Weaver. Und von jetzt an wünsche ich, dass Sie uns regelmäßig Bericht erstatten. Ich möchte alles über Ihr Tun und Treiben im East In-dia House erfahren, ich möchte in sämtliche Einzelheiten Ihrer Nachforschungen eingeweiht werden, auch wenn diese kein Resultat hervorgebracht haben. Wenn Sie den Tag damit verbringen, einen Schneider auszufragen, von dem Sie glauben, er könne Ihnen etwas sagen, und dann feststellen, dass er doch nichts weiß, möchte ich seinen Namen und seine Adresse hören und auch das, was Sie von ihm zu erfahren hofften, und das, was er Ihnen tatsächlich hat sagen können. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.« Ich ballte die Faust und spürte, wie mir die Zornesröte ins Gesicht stieg, pflichtete ihm aber dennoch mit einem Kopfnicken bei. Da waren ja immer noch Elias und meine Tante. Und natürlich Mr. Franco, den ich bald wieder auf freiem Fuß zu sehen hoffte. Also folgte ich dem Rat meiner Tante, packte meine Wut und verschloss sie in einer Kammer, die ich eines Tages wieder öffnen würde - am Tag der Vergeltung. »Ich fürchte, ich bin zu beschäftigt gewesen, um Ihnen regelmäßig Bericht erstatten zu können«, sagte ich entschuldigend, »aber wenn Sie ein Prinzip erarbeiten möchten, nach dem ich Ihnen regelmäßig zu Ihrer Zufriedenheit berichte, werde ich mich bemühen, diesem Prinzip treu zu bleiben. Und ich bin mir sicher, dass Sie Mr. Francos Freilassung bewirken werden, sowie Sie hören, was ich Ihnen bisher mitteilen kann.« »Das glaube ich nicht«, mischte Hammond sich ein, um seinem Onkel keine Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben. »Das können wir nicht zulassen. Weaver hat sich unbotmäßig gezeigt, also bestrafen wir seinen Freund. Wenn wir diesen Freund nun frei lassen, weil Weaver alles wiedergutmachen will, hat er keinen Ansporn mehr, weiterhin ehrlich uns gegenüber zu sein. Dann kann er tun und lassen, was er will, und uns nur das Nötigste erzählen, während er uns weiter hinters Licht führt. Nein, ich muss darauf bestehen, dass Franco als Gemahnung daran, was auch den anderen blüht, wenn Wea-ver noch einmal schlauer als wir zu sein versucht, vorerst in Arrest bleibt.« »Ich fürchte, da muss ich meinem Neffen recht geben«, sagte Cobb. »Ich bin Ihnen nicht böse, weil Sie versucht haben, uns zu hintergehen. Ich kann es sogar nachvollziehen. Ihnen gefällt Ihre Lage nicht, und wenn Sie versuchen, sich möglichst geschickt aus der Affäre zu ziehen, ist das vollkommen verständlich. Aber lassen Sie sich gesagt sein - auch wenn ich Ihnen nichts Böses zufügen will, werde ich doch dazu gezwungen sein, wenn mir keine andere Wahl bleibt. Nein, Mr. Weaver, Ihr Freund bleibt im Gefängnis, wenn auch nicht unbedingt bis an das Ende seiner Tage. Wir lassen eine Weile ins Land gehen, und wenn ich dann Grund zu der Annahme finde, dass Sie sich fair uns gegenüber gezeigt haben, werde ich seine Frei-lassung erwägen. Aber er muss lange genug dort bleiben, um seinen Aufenthalt beschwerlich zu machen. Sonst kommt es so, wie mein Neffe es gesagt hat und Sie werden nicht zögern, die Dinge in Ihrem Sinne anzugehen anstatt in unserem. So, und nun, Sir, muss ich Sie bitten, uns genauestens zu berichten, was Sie mit der Ihnen zur Verfügung gestandenen Zeit angefangen haben und was es war, was Sie uns nicht erzählen wollten. Mit anderen Worten - es interessiert mich brennend, was Sie für so wichtig gehalten haben, dass Sie es lieber vor uns verheimlichen, anstatt Ihre Freunde zu beschützen.« »Mein Gott, hört auf, ihn so zu verhätscheln, Onkel«, blaffte Hammond dazwischen. »Die verdammte Aktionärsversammlung brennt uns auf den Nägeln, und wir wissen immer noch nicht, was Ellershaw vorhat. Und erst recht nichts von Pepper und seinen ...« »Weaver«, unterbrach Cobb ihn, »es ist Zeit, uns zu sagen, was Sie wissen.« Mir blieb keine andere Wahl. Da stand ich nun und fühlte mich schon wieder wie ein Schuljunge, aber diesmal wie einer, der vor die Klasse zitiert worden ist, um lateinische Verben zu konjugieren oder ein Gedicht aufzusagen. Und ich musste blitzschnell entscheiden, was ich über Absalom Pepper preisgeben durfte - falls ich ihn überhaupt erwähnte. Dieser tote Hallodri war die Schlüsselfigur dessen, was Cobb zu erfahren trachtete, und wenn es mir gelang, die Wahrheit am Ende dieses langen, verschlungenen Pfades aufzudecken, wäre es mir vielleicht auch möglich, meinen Peinigern einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Ging ich aber nicht vorsichtig vor, musste ich damit rechnen, nach und nach von ihnen vernichtet zu werden. Also zeigte ich, dass ich meine Hausaufgaben gemacht hatte. Ich erzählte ihnen von Ellershaws eingebildeter Krankheit, die ihn an den Rand des Wahnsinns trieb. Ich sprach über Forester und seine geheime Beziehung zu Ellershaws Frau und von meinem sonderbaren Abend in dessen Haus. Alle schäbigen Einzelheiten sprudelten nur so aus mir heraus, während ich bemüht war, das zu verschleiern, was ich nicht offenbaren wollte. Also beschrieb ich, wie man mich hatte zwingen wollen, Mr. Thurmond unter Druck zu setzen, die ganze verfahrene Situation in Ellershaws Eheleben und auch den Kummer wegen der verlorenen Tochter, den Mrs. Ellershaw für sich behalten musste. Ich berichtete Ihnen von Aadil, dass er sich feindselig mir gegenüber verhielt und ich ihn als gefährlich erachtete, dass er es aber offenbar nicht auf mich persönlich abgesehen hatte. An diesem Punkt gab ich mir den Anschein, als wäre ich mit meinem Latein am Ende. Eines hatte ich noch in der Hinterhand, und dieses mir verbliebene Faustpfand wollte ich mir vorerst noch bewahren. »Wenn Sie uns nun freundlicherweise erklären würden, was mit dem Brief beabsichtigt war, den Sie Ihrem Freund, dem Doktor, hatten zukommen lassen wollen, und was es mit Ihren häufigen Besuchen in den Kaschemmen der Seidenweber auf sich hat.« »Ja, darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Ich habe es mir bis zum Schluss aufgespart, weil ich es für das letzte Teil des Puzzles halte - zumindest des Puzzles, das ich bisher aufgedeckt habe. Ich bin dahintergekommen, dass Forester einen Teil der Lagerräume dazu nutzt, etwas zu verbergen, obwohl niemand zu wissen scheint, um was genau es sich dabei handelt. Mit der Hilfe eines Kameraden unter den Wachleuten habe ich mir Zugang zu diesem Geheimversteck verschafft, um zu erfahren, was Forester dort für sich aufbewahrte. Ich konnte unentdeckt entkommen, aber mein Kamerad wurde gestellt und ermordet, doch man hat es wie einen Unfall aussehen lassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Aadil, dieser Inder, gewesen ist.« »Hören Sie auf, dauernd inhaltsschwangere Pausen zu machen«, fauchte Hammond mich an. »Wir sind hier nicht bei ei-ner Dichterlesung. Was war in dem Geheimversteck? Hat es etwas mit Pepper zu tun?« »Das kann ich nicht sagen. Aber dieses geheime Versteck war der Grund für mein Treffen mit den Seidenwebern. Ich konnte mir nicht erklären, warum das, was ich dort vorfand, es wert sein sollte, versteckt zu werden oder gar einen Mord dafür zu begehen.« »Heraus mit der Sprache!«, brüllte Hammond. »Rohseide«, log ich und hoffte, dass es reichen würde, um sie auf eine falsche Fährte zu setzen. »Rohseide aus den südlichen Kolonien Amerikas. Forester und ein paar Mitverschwörer innerhalb der East India Company müssen auf eine Möglichkeit gestoßen sein, auf dem britischen Boden der Kolonien billig Seide herstellen zu lassen.« Hammond und Cobb sahen einander verwundert an, und ich wusste, dass sie meine Lüge geschluckt hatten. Ich hatte Foresters rätselhaften Vorrat an Seide durch etwas ersetzt, von dem ich durch Devout Hale wusste, dass es so etwas wie den Heiligen Gral englischer Textilproduktion darstellte - Seide, für die kein Handel mit den Ländern des Orients getrieben werden musste. Ich konnte nur hoffen, dass mein Trick verfing. Sowie ich meinen Vortrag beendet hatte, schien ich für die beiden nicht mehr zu existieren, ja geradezu unsichtbar geworden zu sein, während Cobb und Hammond aufgeregt im Flüsterton miteinander darüber debattierten, was diese Entdeckung bedeutete und wie mit ihr umzugehen sei - ein erstes Anzeichen dafür, dass meine Anwesenheit nicht länger erwünscht war. Daher murmelte ich ein paar höfliche Worte des Abschieds und zog mich unbemerkt zurück, während die beiden weiter versuchten, hinter des Rätsels Lösung zu kommen und sich damit auf die Jagd nach einem Phantom begaben. Über die möglichen Konsequenzen meiner Lüge machte ich mir jetzt noch keine Gedanken. Sollten sie mir dahinterkommen, würde ich die Schuld auf eine Fehlinformation seitens der Seidenweber abwälzen. Dann sollte Hammond doch versuchen, sein Mütchen an den Männern zu kühlen, die Devout Hales Flagge hochhielten. Aber das würde er bestimmt nicht wagen. Mein nächster unangenehmer Anlaufpunkt war kein anderer als das berüchtigte Schuldnergefängnis in der Fleet Street, also machte ich mich auf den Weg nach Clerkenwell. Das große Gebäude aus roten Ziegeln mochte äußerlich stattlich wirken, doch für die Armen war es ein Ort des Grauens. Selbst diejenigen, die noch über etwas bare Mittel verfügten, konnten dort kaum auf einen erträglichen Aufenthalt hoffen, und jeder, der bei seiner Einlieferung noch nicht verschuldet war, würde es bald sein, denn auch für den kleinsten Brotkrumen musste man dort ein Vermögen berappen. Wer hier einsaß, hatte ohne eine Intervention seitens seiner Freunde keine Aussicht auf Entlassung. Da ich gelegentlich schon mit dieser Institution in Berührung gekommen war - glücklicherweise jedoch nicht infolge eigener Verschuldung -, kannte ich einen der Wärter und hatte keine Schwierigkeiten, mich zu Mr. Franco führen zu lassen. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass es mit seiner Verarmung nicht gar so schlimm stand, als dass er sich nicht wenigstens eine einigermaßen angenehme Unterkunft in den besseren Räumlichkeiten des Gefängnisses leisten konnte. Diese befand sich in einem feuchtkalten Gang mit hohen, vergitterten Fenstern, durch die das spärliche Licht des bedeckten Himmels drang. Es roch nach Bier und Parfüm und gebratenem Fleisch, und es fand ein reger Handel statt - Straßenhändler und Dirnen drängten sich aneinander vorbei und boten ihre Waren einem jeden an, der sie haben wollte. »Der beste Wein im ganzen Gefängnis«, rief ein Mann, »frische Hammelfleischpasteten«, ein anderer. In einer dunklen Ecke sah ich einen widerlich fetten Kerl mit abgeschnittenen Lippen seine Hand in das Mieder einer ebenso unappetitlichen Frau schieben. Und dann kam ich zu Mr. Francos Zelle. Er reagierte sofort auf mein Klopfen und stand mit einem Buch mit portugiesischer Poesie unter dem Arm vor mir. Seine rot unterlaufenen Augen mit den dunklen Säcken darunter zeugten von argem Gram, doch ansonsten war er ganz der Alte. Er hatte sich große Mühe gegeben, seine gepflegte Erscheinung zu bewahren. Unter solch schwierigen Umständen eine beachtliche Leistung. Zu meiner Verblüffung nahm er mich zur Begrüßung in die Arme, was mir peinlich war, denn es wäre mir lieber gewesen, wenn ich seinen Zorn zu spüren bekommen hätte. Hatte ich es anders verdient? Seine Herzlichkeit schmerzte mich mehr als sämtliche wütenden Vorwürfe, die er mir hätte machen können. »Mein lieber Freund Benjamin, wie schön, dass Sie gekommen sind. Bitte treten Sie doch näher. Es tut mir leid, dass ich Sie nicht in behaglicheren Räumen empfangen kann, aber ich will es Ihnen so angenehm wie möglich machen.« Der Raum war eng, ungefähr fünfzehn Fuß im Quadrat. Eingerichtet war er mit einem schmalen Bett und einem alten Schreibtisch, dessen eines Bein viel kürzer war als die anderen, so dass selbst der geringste Luftzug ihn zum Wackeln gebracht hätte, aber einen solchen Luftzug gab es in dieser Kammer nicht - die kalte, nach Schweiß und schalem Wein riechende Luft stand darin, und in sie mischte sich der säuerliche Gestank einer toten Ratte, die irgendwo in einer verborgenen Ecke vermoderte. Mr. Franco bat mich, auf dem einzigen Stuhl Platz zu nehmen, während er sich an seinen Schreibtisch stellte - gewiss der wichtigste Einrichtungsgegenstand an einem solchen Ort, denn er bot die Möglichkeit des Verfassens unterwürfiger Briefe an Freunde, in denen man sie um alles, was sie zu erübrigen vermochten, anbettelte. Auf dem Tisch lag allerdings kein Schreibpapier - vielmehr diente er der Aufbewahrung von Büchern, drei Flaschen Wein, ein paar Messingbechern, einem halb gegessenen Laib Brot und einem Stück blassgelben Käses. Ohne mich gefragt zu haben, ob ich etwas trinken wolle, goss er Wein in einen der Becher und reichte ihn mir. Dann schenkte auch er sich einen Becher ein, und nachdem er den Segen über den Wein gesprochen hatte, nahmen wir beide einen großen Schluck. »Ich muss Ihnen leider sagen«, begann ich, »dass sämtliches Geld, das ich auftreiben könnte, Sie hier nicht herausholen würde. Meine Feinde haben beschlossen, dass Sie hier verweilen sollen, und ich fürchte, dafür werden sie auch sorgen. Zumindest hat man mir jedoch angedeutet, dass Ihre Freilassung in ein paar Wochen möglich wäre - Wohlverhalten meinerseits vorausgesetzt.« »Dann muss ich mich auf einen längeren Aufenthalt vorbereiten, denn falls ich irgendeinen Einfluss auf Sie ausüben kann, dann dahingehend, dass Sie kein Wohlverhalten ihnen gegenüber zeigen. Ich bin hier, damit Sie Wachs in deren Händen sind, Benjamin. Sie dürfen nicht klein beigeben. Jedenfalls jetzt noch nicht. Tun Sie, was Sie müssen. Ich bleibe hier. Vielleicht schicken Sie mir ein paar Bücher und sorgen dafür, dass ich etwas Verträgliches zu essen bekomme - dann geht es mir schon gut. Darf ich Sie mit einer Liste dessen, was ich benötige, behelligen?« »Sie behelligen mich keineswegs. Es wäre mir die größte Ehre, für Sie zu sorgen.« »Machen Sie sich keine Gedanken wegen meines Aufenthaltsortes. Ich habe mich in diesem Raum, auch wenn er nicht der nobelste ist, den ich je bewohnt habe, eingerichtet, und mit Ihrer Hilfe bekomme ich Nahrung für Körper und Geist. Essen und trinken hält Leib und Seele zusammen, und für meine körperliche Ertüchtigung werde ich auch sorgen. Es wird alles gut.« Ich hätte nicht die Worte dafür gefunden, um ihm zu sagen, wie sehr ich es bewunderte, mit welch stoischer Gelassenheit er sich in sein Los fügte, und ich war ihm dankbar dafür, dass er mich um kleine Gefälligkeiten bat, denn das half mir, mit meiner Schuld zu leben. »Gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie tun kann, wenn es in meiner Kraft steht, Ihnen Ihre Gefangenschaft erträglicher zu machen?« »Nein, nein. Aber Sie können mir alles erzählen. Es birgt kein Risiko. Mir kann sowieso nichts mehr passieren. Eingesperrt, wie ich bin, könnte ich Ihnen trotzdem vielleicht sogar behilflich sein und damit auch meine Lage verbessern.« Ich zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit seiner Worte, aber es bestand immerhin die Gefahr, dass er sich durch das, was er von mir erfuhr, zu irgendeinem unüberlegten Handeln hinreißen ließ, ohne dabei an sein eigenes Wohlergehen zu denken. Daher beschloss ich, gründlich zu erwägen, inwieweit ich ihn einweihen wollte - zu seinem Besten und zu meinem. Also erzählte ich Mr. Franco zwar nicht alles, aber doch genug - alles, was schon Cobb und Hammond von mir erfahren hatten, und noch ein wenig darüber hinaus. Ich sagte ihm, dass ich Celia Glade in Verdacht hatte, eine französische Spionin zu sein, berichtete ihm von Absalom Pepper und seinen zwei Frauen. Nur damit, was Forester in seinem geheimen Lagerraum verwahrte, hielt ich mich zurück. Selbst hier konnten die Wände die wachsamen Ohren meiner Gegner haben, und ich wusste nicht, zu was Cobb und Hammond noch imstande wären. Wie konnte ich mir sicher sein, dass sie nicht vor inquisitorischen Verhörmethoden zurückschreckten? Besser war es, sagte ich mir, das eine oder andere geheim zu halten, selbst vor meinen Freunden. Mr. Franco lauschte mit besonderem Interesse meinem Bericht über das Geheimnis, das Ellershaws Stieftochter umgab. »Dies ist der richtige Ort, um etwas darüber herauszufinden«, sagte er. »Wenn sie heimlich geheiratet hat, müsste es hier in der Fleet Street geschehen sein, denn in den Schenken der Umgebung und sogar innerhalb dieser Mauern nehmen suspendierte Geistliche ungesetzliche Eheschließungen vor.« »Interessant«, kommentierte ich, doch meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Da Sie nun gerade hier sind, sollten Sie vielleicht gleich mit Ihren Nachforschungen beginnen.« »Das werde ich lieber sein lassen. Es reicht mir schon, dass ich in der East India Company Augen und Ohren aufsperren muss. Ich habe nicht das Verlangen, jemandes Leben auf den Kopf zu stellen und Mrs. Ellershaw oder ihrer Tochter Ungemach zu bereiten.« »Im Geschäftsleben ist es oft der Pfad auf Umwegen, der am ehesten zum Ziel führt. Da wir nun einmal davon sprechen - hatten Sie nicht gesagt, dass dieser Forester offenbar etwas vor Ihnen verbirgt?« »Ja, aber da er zärtliche Gefühle für Mrs. Ellershaw hegt, könnte es damit zu tun haben, dass er sie vor etwas beschützen will.« »Ich sehe nicht, was es schaden soll, die Angelegenheit doch ein wenig näher zu betrachten. Sie könnten sich ja auch irren. Ich möchte Sie als Ihr väterlicher Freund nicht beeinflussen, aber ich hoffe doch, dass Sie jede sich bietende Möglichkeit nutzen, mehr über diejenigen zu erfahren, die unser Schicksal in Händen halten.« Da hatte er natürlich recht. Es mochte nichts dabei herauskommen, wenn ich in der Angelegenheit ein paar Stunden opferte, aber dann konnte ich die Sache getrost gleich wieder vergessen. »Vielleicht kann ich Ihnen sogar Zeit ersparen. Ich habe heute früh einen Priester namens Mortimer Pike kennengelernt, der in der Nähe des Old Bailey wohnt und sich damit brüstet, sozusagen der König der heimlichen Eheschließungen in der Fleet Street zu sein. Er will mehr davon vorgenommen haben als sonst jemand. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es scheint ein blühendes Gewerbe zu sein, und außerdem kennt dieser Pike auch all die anderen Priester.« Ich bedankte mich bei ihm für diese Information, blieb noch eine halbe Stunde und machte mich dann auf die Suche nach besagtem Diener des Herrn. Es ist immer eine der Besonderheiten Londons gewesen, dass es darin einzelne Winkel gibt, in denen die üblichen Gesetze, die unser Leben bestimmen, nicht gelten - beinahe so, als käme man plötzlich in eine Gegend, in der ein Gegenstand, den man fallen ließ, nicht auf dem Boden landete, sondern in die Höhe schwebte. Das dichte Gewirr von Gassen zwischen der Fleet Street und dem Strafgerichtshof war so eine Gegend. Hier war es undenkbar, dass jemand wegen seiner Schulden festgenommen wurde, also machten die verzweifeltsten Kreditnehmer der Stadt sich hier heimisch und wagten sich nur an Sonntagen aus ihrem Viertel, denn dann waren keine Gerichtsvollzieher unterwegs. Und zu den traditionellen Besonderheiten dieses Viertels gehörte auch, dass in den Gassen um die Fleet Street illegale Eheschließungen vorgenommen wurden. Hier konnte man ein minderjähriges Mädchen ohne Einwilligung der Eltern und ohne Aufgebot ehelichen. So schlenderte ich durch die Gassen im Schatten der St. Paul's Cathedral und lauschte den Rufen der verwahrlosten Gassenjungen im Dienste solcher Priester. »Heiraten, heiraten, heiraten, heiraten!«, schrie einer von ihnen, der unter einem Ladenschild stand. Ein anderer zupfte mit seinen schmutzigen Fingern an meiner Hose. »Möchten Sie heiraten, Sir?« Ich lachte nur. »Wen denn? Es ist keine Dame in meiner Begleitung.« »Ach, dafür sorgen wir schon. Daran herrscht kein Mangel, Sir.« Galt eine Heirat als nichts anderes mehr als ein gutes Mahl, das man sich genehmigte, wenn man ein Bedürfnis danach hatte, sich aber dabei doch damit bescheiden musste, was einem angeboten wurde? Ich sagte dem Jungen, ich sei auf der Suche nach Mr. Pikes und seinem Hochzeitshaus. Er erstrahlte über beide Backen. »Für den arbeite ich. Kommt mit mir.« Ich war gleichzeitig amüsiert und entsetzt angesichts solcher Praktiken, aber so steht es in unserem Königreich nun einmal um die Ehe. Man sagt, ein volles Drittel aller Ehen würden heimlich geschlossen, und wenn das wirklich der Fall war, musste man sich doch fragen, ob die den Eintritt in den ehelichen Stand betreffenden Vorschriften nicht möglicherweise geändert werden sollten, wenn so viele Menschen sich nicht an sie zu halten gedachten. Gewiss, viele dieser Ehen waren solcher Natur, dass kein Gesetz sie je würde erlauben können -zwischen Geschwistern oder anderen nahen Blutsverwandten, zwischen Kindern oder, noch schlimmer, zwischen einem Kind und einem Erwachsenen etwa oder auch Eheschließungen bereits Verheirateter. Aber der Großteil dieser heimlichen Ehen verband zwei junge Menschen, die einfach keine Lust hatten, die langwierige Prozedur, die das Kirchenrecht von ihnen verlangte, über sich ergehen zu lassen. Angesichts eines solchen Bedarfs war es kaum verwunderlich, dass derartige Eheschließungen zu einer beliebten Erwerbsquelle mittelloser Priester geworden waren - und auch für jeden anderen von Geldnöten geplagten Mann, der sich einigermaßen überzeugend als Priester auszugeben wusste. Ich weiß nicht, zu welcher Gattung Mortimer Pike gehörte, aber auf jeden Fall betrieb er ein gut gehendes Geschäft im Queen's Fan, einer Kaschemme, die so nahe beim Fleet River lag, dass die Aas- und Kotgerüche aus dem Wasser das ganze Haus durchzogen. Dies war kein Gebäude, in das man eintrat, um die feierlichste Entscheidung seines Lebens in die Tat um-zusetzen. Es war vielmehr eine baufällige, überfüllte und verräucherte Holzbaracke mit niedrigem Dach, in der alles, was man anfasste, sich klebrig anfühlte. Der Uhr an der Wand nach war es erst kurz vor neun, denn da per Gesetz Ehen nur zwischen acht Uhr früh und zwölf Uhr mittags geschlossen werden durften, galt hier immer und ewig eine vormittägliche Uhrzeit. Ein paar der Damen stärkten sich an der Bar für den Schritt vor den Traualtar, während der Priester in einem etwas weiter hinten gelegenen, notdürftig hergerichteten Alkoven gerade eine Zeremonie durchführte. Es war zu merken, dass er es dabei eilig hatte, und obwohl ich kein Experte bin, hatte ich doch das Gefühl, dass er seinen Text nicht beherrschte. Woran das lag, wurde mir klar, als ich an seiner schleppenden Stimme hörte, dass er getrunken hatte, und sah, dass er auch gar keine Bibel in der Hand hielt, sondern eine Dramensammlung von John Dryden, und die auch noch über Kopf. Aber dann lenkte mich auch schon etwas von dieser kleinen Unpässlichkeit ab: Die Braut trug ein exquisites blaues Kleid mit goldenem Mieder und eine Goldkette um den geschmeidigen Hals, war also offensichtlich eine Dame von Vermögen, während ihr zukünftiger Gemahl in schlichte, ungefärbte Wolle gekleidet war, überall Narben im Gesicht hatte und ganz allgemein den Eindruck eines Raufboldes erweckte. Nun, Sinn einer heimlichen Eheschließung ist es ja oft, diejenigen zusammenzuführen, die aufgrund ihres unterschiedlichen Standes sonst nie zueinanderkämen, aber das schien mir hier nicht der Fall zu sein. Mir fiel nämlich auf, dass die elegant gekleidete, aber nicht gerade vor Freude strahlende Braut nicht aus eigener Kraft stehen konnte, sondern von zwei Burschen vom Schlage ihres Bräutigams gestützt werden musste. Die beiden lachten miteinander und amüsierten sich damit, den Kopf der Braut hochzuhalten, denn dazu war sie infolge der Verabreichung von zu viel Alkohol oder sonst einem Gebräu selber nicht mehr in der Lage. Dass bei einer Hochzeit zu tief ins Glas geschaut wird, kommt vor, wenn auch nicht unbedingt seitens des Geistlichen, und ich hätte mich auch gar nicht weiter eingemischt, wenn einer der Trauzeugen nicht auf die Frage des Priesters an die Braut, ob sie die Frau des Mannes neben ihr werden wolle, deren Kopf genommen und mit ihm ein Nicken nachgeahmt hätte, als wäre sie eine Puppe, was unter den Männern große Heiterkeit auslöste. »Das reicht mir«, erklärte der Priester und wandte sich dann dem Bräutigam zu. Dieser Priester konnte vielleicht damit leben, ich aber nicht. Ohne lange zu überlegen, zog ich meinen Dolch, trat dazwischen und hielt dem Bräutigam die Klinge an die Kehle. »Sag ein Wort«, flüsterte ich, »und es wird dein letztes sein.« »Wer zum Teufel bist du?«, wollte er wissen und hatte damit streng genommen sein eigenes Todesurteil unterschrieben, aber mir war es ja nur um den Abbruch der Zeremonie gegangen. »Ich bin ein Fremder, der zufällig hinzugekommen ist, wie hier eine verschleppte Frau zur Ehe gezwungen werden soll«, sagte ich. Die Leichtigkeit, mit der man heimlich eine Ehe eingehen konnte, brachte leider solche Unrechtmäßigkeiten mit sich. Junge Frauen mit Aussicht auf eine erstrebenswerte Mitgift wurden entführt und auf die eine oder andere Weise gefügig gemacht. Wenn sie dann wieder zu sich kamen, mussten sie feststellen, dass sie inzwischen verheiratet und ihre Körper geschändet waren und der frisch angetraute Ehegatte seinen Anteil am gemeinsamen Vermögen forderte. »Eine erzwungene Ehe!«, versuchte der Priester sich zu entrüsten. »Sir, Sie wollen mir doch nicht etwa unterstellen ...« »Geben Sie uns einen Augenblick Zeit, damit wir diesem Spitzel beibringen, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern«, sagte einer der Trauzeugen, und schon hatten die beiden die Braut unsanft zu Boden plumpsen lassen wie einen Sack Mehl und wandten sich mir zu. Ihr hämisches Grinsen zeigte, dass sie mehr als bereit waren, es auf eine handgreifliche Auseinandersetzung mit mir ankommen zu lassen. Ich ließ von dem Ehemann in spe ab und holte mit meinem Dolch aus. Es ist stets ein Grundsatz von mir gewesen, dass ein ausgestochenes Auge die erfolgversprechendste Möglichkeit war, einen Angreifer zur Aufgabe zu zwingen, doch hier musste ich dieses Prinzip gleich auf zwei Gegner anwenden. Sowie ich dem ersten den entsprechenden Hieb verpasst hatte, schrie der auch schon auf und ging in die Knie, während sein Gefährte schleunigst das Weite suchte. Um nicht der übertriebenen Grausamkeit bezichtigt zu werden, darf ich darauf hinweisen, dass ich nur zu solchen Mitteln greife, wenn ich mein Leben in Gefahr wähne - was hier nicht unbedingt der Fall war -, oder wenn ich es mit Schurken zu tun habe, die meiner Meinung nach mehr verdient haben als nur eine tüchtige Tracht Prügel. Jeder, der mir vorwirft, ich wäre doch wohl zu weit gegangen, sollte sich vor Augen führen, dass hier jemand eine junge Lady ihrer Familie fortnehmen, sie mit Alkohol willenlos machen und sie zwingen wollte, ein ihr unbekanntes Scheusal zu ehelichen, das sie alsdann vergewaltigen und von ihren Eltern die Herausgabe ihrer Mitgift verlangen würde. Wenn das nicht den Verlust eines Auges rechtfertigt, dann weiß ich nicht, was sonst. Der Schuft wälzte sich erbärmlich wimmernd am Boden, also war der Bräutigam an der Reihe. »Er war nur dein Helfershelfer, also will ich es bei einem Auge bewenden lassen«, knurrte ich. »Du jedoch bist der Hauptschuldige, also wirst du beide verlieren. Aber meine Ehre gebietet es, dass du mir erst bedrohlich gegenübertrittst, bevor ich dich guten Gewissens deines Augenlichts berauben kann.« Sein ungewaschenes Gesicht war kreidebleich geworden, und ich merkte, dass er es nicht darauf ankommen lassen wollte. Er wich vor mir zurück und trippelte um mich herum. Dann raffte er seinen Freund vom Boden und entfernte sich, so schnell er konnte. Ich, der Priester und die verbliebenen Heiratswilligen verfolgten schweigend den Abgang der beiden. Als sie fort waren, wandte sich der Priester dem Jungen zu. »Es ist nur recht und billig, wenn wir vorherige Bezahlung erbitten«, sagte er, und dann, an die Umstehenden gewandt: »Wer ist als Nächstes dran?« Ich hatte mich inzwischen der bewusstlosen Braut angenommen und stützte sie mit einer Hand unter ihrer Achselhöhle -nicht gerade die Manier eines Gentlemans, aber besser ging es im Augenblick nicht. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass sie von zierlicher Statur war. »Ich bin der Nächste«, sagte ich zu dem Priester. »Jetzt kriegen Sie's mit mir zu tun.« »Ach, Ihr möchtet die Dame selber heiraten?« »Nein, ich möchte, dass Sie für Ihr Tun bezahlen. Wie können Sie solch ein Verbrechen zulassen?« »Es geht mich nichts an, warum die Betreffenden die Ehe einzugehen wünschen, Sir. Ich biete lediglich meine Dienste an. Es ist ein Geschäft, versteht Ihr, und bei einem Geschäft stellt sich die Frage nach falsch oder richtig nicht. Die Menschen sind für ihr eigenes Leben verantwortlich. Wenn die Dame nicht heiraten will, dann muss sie das eben sagen.« »Sie schien mir nicht in der Lage, sich zu etwas zu äußern.« »Dann war es ihre eigene Verantwortung, nicht in einen solch elenden Zustand zu geraten.« Ich seufzte. »Sie wird mir langsam zu schwer. Haben Sie ein Hinterzimmer, wo ich sie hinsetzen kann und wir ein Wörtchen miteinander reden können?« »Ich habe hier Ehen zu schließen.« »Erst bin ich an der Reihe, sonst werden Sie nie wieder eine Ehe schließen. Das kann ich Ihnen schriftlich geben.« Er wusste nicht recht, was ich mit ihm vorhatte, und auch mir war das noch schleierhaft, aber er war Zeuge geworden, wie ich vor wenigen Minuten einem Mann eine Klinge ins Auge gestoßen hatte, also ahnte er, dass ich nichts Erfreuliches im Sinne hatte, und zeigte sich sogleich entgegenkommender. »Dann folgt mir.« Mortimer Pike maß ungefähr fünf Fuß und war etwa fünfzig Jahre alt. Er sah nicht schlecht aus und verstrahlte auch einen gewissen Charme, aber sein Gesicht war von Falten durchzogen und verwittert, und seine hellgrünen Augen waren stumpf vom Suff, der sich auch in seinen Bewegungen niederschlug. Ich schleppte meine Last hinter ihm her, aber in seiner privaten Kammer konnte ich die Dame endlich auf einem Stuhl absetzen, wo sie wie eine riesige Fadenpuppe in sich zusammensackte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie nicht vom Stuhl kippen würde, wandte ich mich dem Trunkenbold von einem Priester zu. »Ich will einen Blick in Ihre Heiratsdokumente werfen.« Er sah mich einen Moment lang an. »Mein hauptsächliches Anliegen, Sir, besteht darin, den Menschen zu ihrem ersehnten Eheglück zu verhelfen und nicht, Dokumente hervorzukramen. Solange draußen Paare auf meine Dienste warten, ist es undenkbar, Euch dienlich zu sein.« »Muss ich etwa deutlicher werden und es nicht nur bei Drohungen belassen? Zeigen Sie mir Ihre Bücher, und dann werde ich Sie nicht länger bei Ihrer Arbeit stören.« »Es ist wohl kaum eine Arbeit, das Glück herbeizuführen«, sagte er. »Nein, es ist ein Segen. Der größte, dem ein Mensch teilhaftig werden kann.« »Auch Erkenntnis ist ein Segen, und ich möchte mit der Heiratsurkunde einer Miss Bridget Alton gesegnet werden. Diese hoffe ich in Ihren Unterlagen zu finden.« »Ja, die Unterlagen«, wiederholte er und nahm sein Register vom Tisch. Obwohl es sich um einen dicken, schweren Folianten handelte, drückte er ihn sich an die Brust wie ein gelieb-tes Kind. »Ihr werdet doch begreifen, dass die Aufzeichnungen über Eheschließungen ein heiliges und privates Dokument darstellen. Ich fürchte, es widerspricht dem Gesetz Gottes und der Menschen, dieses Buch jemandem zu zeigen. Und nun entschuldigt mich bitte.« »Ich bin es, der sich hier entschuldigt.« Ich hielt ihn beim Arm fest. »Es ist ja wohl Sinn und Zweck eines solchen Buches, demjenigen, der in einer bestimmten Angelegenheit Nachforschungen anstellt, Aufklärung zu verschaffen.« »Ja, das ist die vorherrschende Auffassung«, wand er sich. »Aber da befindet Ihr Euch im Irrtum, wie Ihr soeben erfahren habt.« »Sie lassen mich jetzt in dieses Buch schauen, oder ich gehe mit der Dame zum Magistrat, und dort werde ich dafür sorgen, dass Ihnen dafür, was sich heute hier zugetragen hat, der Galgen droht.« »Nun, für zwei Schilling wäre ich vielleicht bereit, Euch das Buch zu zeigen und meinen Hals zu retten.« Ich konnte nicht umhin, seine Dreistigkeit auf eine gewisse Weise zu bewundern, also ging ich auf sein Angebot ein. Der leise Schlummer der Dame entwickelte sich zu einem ausgewachsenen Schnarchen, was ich als gutes Zeichen dafür wertete, dass sie auf dem Wege der Besserung war. Schließlich konnte ich sie nicht nach Hause bringen, solange ich nicht erfuhr, wer sie war und wo sie wohnte, also behielt ich sie bei mir, während ich mich an die Arbeit machte. Nachdem er eingewilligt hatte, mir seine Bücher zu zeigen, führte Pike mich zu einem Regal, in dem er noch mehrere solcher Folianten aufbewahrte. »Seit sechs Jahren führe ich Männer und Frauen zu ihrem Glück, Sir. Es ist mir eine Ehre gewesen, den Armen und Bedürftigen und Verzweifelten zu helfen, seit ich törichterweise in eine Schafzucht investiert habe. Würdet Ihr mir glauben, dass mein eigener Schwager mir gegenüber zu erwähnen versäumt hat, dass er alles andere im Sinn hatte, als für mein Geld Schafe zu kaufen? Das Geld rann ihm durch die Finger, und ich konnte meine Schulden nicht mehr bezahlen. Und, um ehrlich vor Gott zu sein, habe ich auch noch Geld nachgeschoben, nachdem das Kind bereits in den Brunnen gefallen war. Wegen ein paar hundert Pfund drohte mir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag der Schuldturm. Würden da nicht die meisten verzweifeln?« »Könnte sein«, sagte ich. »Recht habt Ihr. Die meisten würden es. Aber nicht ich. Nein, aus der Hölle der Verzweiflung heraus habe ich begonnen, dem Herrn zu dienen. Und auf welche Weise kann dem Herrn besser gedient werden als durch das heiligste der Sakramente, die Ehe? Hat uns nicht der Herr gepredigt, fruchtbar zu sein und uns zu vermehren? Ich selber bin seit vielen Jahren mit einer lieben Frau gesegnet. Seid Ihr verheiratet, Sir?« Um nicht am Ende noch von ihm bedrängt zu werden, diesem Mangel endlich abzuhelfen und die schlafende Dame zu heiraten, griff ich zu einer Notlüge und behauptete, es zu sein. »Sehr gut, Sir, sehr gut. Ich kann es an Eurem Gesicht sehen. Es gibt keinen glücklicheren Zustand als den der Ehe. Es ist das Schiff des Glücks, das jeder Mann durch die Wogen steuern muss, findet Ihr nicht auch?« Ich sagte nichts dazu. Da ich ihm die Antwort schuldig geblieben war, wies er noch einmal auf seine Bücher. »Dies sind die gesammelten Aufzeichnungen von sechs Jahren, Sir. Bis zu hundert Eheschließungen jede Woche. Da sind einige Namen zusammengekommen. Nun, wann soll bewusste Ehe denn geschlossen worden sein?« »Vor nicht länger als sechs Monaten.« »Das macht es einfach, sehr viel einfacher. Dann finden wir es in dem Buch, das ich in Händen halte.« Als er allerdings keine Anstalten machte, es mir zu geben, griff ich in meine Börse und holte die vereinbarte Summe hervor. Schon lag das freigekaufte Buch vor mir. »Vielleicht erinnern Sie sich sogar an die Frau, die ich suche«, sagte ich. »Ich habe gehört, sie soll von bemerkenswerter Schönheit sein. Eine hochgewachsene, sehr, sehr blasse Gestalt von weißer Haut und hellem Haar und dennoch erstaunlich dunklen Augen. Ist Ihnen eine solche Frau mal begegnet?« »Das könnte sein.« Er schien zu überlegen. »Leider ist mein Gedächtnis nicht mehr das, was es einmal war. Schlimm, wenn die Konzentration eines Mannes ständig dadurch zerstreut wird, dass er nicht weiß, wovon er seine nächste Mahlzeit bezahlen soll.« Ich gab ihm noch eine Münze. »Hilft das Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge?« »Oh, gewiss, das tut es. Ich kann jetzt mit Bestimmtheit sagen, dass ich das Mädchen, nach dem Ihr sucht, noch nie gesehen habe.« Da das Mädchen aus gutem Hause stammte, konnte ich einigermaßen sicher davon ausgehen, dass Bridget Alton über eine gepflegte Handschrift verfügte, doch das erlaubte mir nicht, jedes unentzifferbare Gekritzel in dem Buch zu überfliegen, ohne es wenigstens einen Moment lang näher in Augenschein zu nehmen. Daher kostete es mich über zwei Stunden, mich durch die Namen der vergangenen sechs Monate hindurchzuarbeiten, und doch stand ich am Ende mit leeren Händen da. Kein Hinweis auf die Gesuchte. Natürlich war es möglich, dass sie einen falschen Namen angegeben hatte, aber das war ein Trick, zu dem meist Männer griffen, die etwas zu verbergen hatten. Eine Frau, sagte ich mir, selbst, wenn sie jung und von Liebe verblendet war, wäre längst nicht so geneigt, sich auf diese Weise zu verstellen, um sich damit scheinbar für die Ehe zu legitimieren. Als ich das Buch zuschlug, kam Reverend Pike aus dem Schatten hervor, in dem er gelauert hatte. Er schüttelte kummervoll den Kopf. »Ich sehe, Ihr habt kein Glück gehabt. Trau-rig, traurig. Ich hoffe aber, Ihr greift auf mich zurück, wenn Ihr wieder einmal Einblick in Dokumente über Eheschließungen benötigt.« »Gewiss«, sagte ich, obwohl es mir sonderbar erschien, eingeladen zu werden, ihn in dieser Sache gerne wieder zu beehren - als befände ich mich in einem Geschäft, in dem Schnupftabak oder Strümpfe feilgeboten würden. Ich warf einen Blick auf die schlafende Frau. Es war wohl an der Zeit, sie zu wecken und sich zu erkundigen, wo sie hingehörte. Doch Pike kam mir mit einem Räuspern zuvor. »Wenn Ihr erlaubt.« Er öffnete eine Hintertür, und ich sah, dass in der Kaschemme eine ganze Reihe Priester auf mich warteten - eine Schar in schäbige, schwarze Talare gekleidete Männer mit vergilbten Halskrausen, die vor langer, unvorstellbar langer Zeit bestimmt einmal makellos weiß gewesen waren. Jeder von ihnen hatte ein Buch von verschiedener Größe und verschiedenem Umfang dabei, das er auf seine Weise hielt -mal an die Brust gedrückt, mal unter den Arm geklemmt, mal mir wie eine Opfergabe entgegengestreckt. »Was soll das werden?«, fragte ich. »Hoho.« Pike lachte herzhaft. »Habt Ihr geglaubt, es würde sich nicht herumsprechen wie ein Lauffeuer, dass ich einen Gentleman bei mir habe, der bereit ist, für die Einsicht in ein Heiratsregister zwei Schilling zu bezahlen?« Hätte ich nicht vorgehabt, mir alles von Cobb zurückerstatten zu lassen, wäre ich vielleicht vorsichtiger mit meinem Geld umgegangen und hätte mich nicht auf die geschäftstüchtigen Bedingungen von Reverend Pike eingelassen - einen weiteren Schilling für die Benutzung seiner Räume, einen für mehr Kerzenlicht, um damit die Seiten zu beleuchten, als meine Augen müde wurden. Aber ich muss zugeben, noch nie so von vorne bis hinten bedient worden zu sein. Beim ersten Anzeichen, dass meine Lippen trocken wurden, erbot er sich, nach Bier zu schicken, und, als ein grummelndes Geräusch aus meinem Ma-gen drang, nach Brot und Käse - alles natürlich zu vollkommen überzogenen Preisen. Am Ende schuftete ich über zwei weitere Stunden, bis sich der Staub unter meinen Nägeln, in meiner Nase und an meiner Zungenspitze sammelte. Ich konnte diese Bücher nicht mehr sehen, aber ich wollte sie allesamt durchforsten, doch erst, als der siebte oder achte Priester, ein kleinwüchsiger Mann mit einem Buckel und einem schiefen Lächeln, mir seinen schmalen Quartband präsentierte und mir bei dessen Durchsicht über die Schulter schaute, war mir das Glück hold. Ich konnte es kaum fassen. Da stand er klar und deutlich, der Name des Mädchens: Bridget Alton. Darüber war der Name des glücklichen Ehemannes verzeichnet, der allerdings schwerer zu entziffern war. Ich musste ganz genau hinschauen, ehe ich ihn lesen konnte, und dann war mir auch sogleich klar, dass es sich um einen Falschnamen handeln musste: Achitophel Nutmeg. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um sogleich hinter die wahre Identität des Bräutigams zu kommen, denn die beiden Vornamen Abschalom und Ahitofel stammten aus der Bibel, von Drydens Gedicht mit diesem Titel ganz zu schweigen, und die beiden Nachnamen bezeichneten verbreitete Gewürze - Pfeffer und Muskat. Wieder einmal war ich auf einen Beweis für den beachtlichen Trickreichtum von Absalom Pepper gestoßen, jenem Mann, von dem Cobb behauptete, die East India Company habe ihn auf dem Gewissen. Nun sah es so aus, als wäre er auch mit Ellershaws Stieftochter verheiratet gewesen. 23 Von meinem Freudenschrei angesichts dieser Entdeckung erwachte die junge Frau. Nachdem sich ihre Verwirrung gelegt hatte, nannte sie mir nach einigen Missverständnissen ihren Namen und ihre Adresse und erklärte, von dem klagenden Hilferuf einer alten Frau aus dem Haus gelockt und auf der Straße von den drei Männern, denen ich es vorhin besorgt hatte, überwältigt und in eine Spelunke entführt worden zu sein, wo man sie unter Androhung von Gewalt zwang, große Mengen von Gin zu sich zu nehmen. Obwohl sie sich dankbar die Geschichte ihrer Errettung durch mich anhörte, weigerte sie sich doch, irgendwo mit mir hinzugehen - eine Vorsichtsmaßnahme, gegen die ich nichts einwenden konnte, denn wäre sie vorher schon so umsichtig gewesen, hätte sie sich nicht so leicht überlisten lassen; also sandte ich ihrer Familie Nachricht. Binnen einer Stunde fuhr eine Kutsche vor, und sie wurde von einem Diener in Empfang genommen, der mich der Dankbarkeit seines Herrn versicherte und mir versprach, ich solle für meine Ritterlichkeit reich belohnt werden. Obwohl ich all dies gut dreißig Jahre später zu Papier bringe, warte ich auf diese Belohnung noch heute. Sowie das Mädchen aus dem Hochzeitshaus befreit war, war ich meinerseits nur um eine Bürde ärmer. Aber das gab mir Gelegenheit, mich mit der Eheschließung zu beschäftigen, hinter die ich gekommen war. Die Eintragung nannte auch den Wohnort des glücklichen Paares, und obwohl ich kaum damit rechnete, dass die Angaben der Wahrheit entsprachen, fand ich mich doch angenehm überrascht: Ich hatte ohne viele Umstände und ohne hochnotpeinliche Befragung die Tochter entdeckt, die Mrs. Ellershaw so sehr zu verbergen suchte. Es beruhigte mich, dass jene Tochter im Gegensatz zu der zweiten Witwe Absalom Peppers in durchaus respektablen Räumen am Durham Yard lebte, wenn auch gewiss weit unter der Pracht, mit der ihre Mutter und ihr Stiefvater sich umgaben. Dennoch verfügte sie über äußerst elegantes Mobiliar, mit Tischen, Schränken und Kommoden aus edlem Holz, weich gepolsterten Stühlen und einem dem Zeitgeschmack entsprechenden Orientteppich. Auch sie und ihre Magd waren mit ihren weiten Reifröcken modisch gekleidet, und zumindest die Dame des Hauses ließ es nicht an seidenen Stickereien und einer mit Bändern geschmückten Haube fehlen. Jene Dame empfing mich im Wohnzimmer und ließ uns durch ihr Dienstmädchen Wein bringen, das sich danach artig in eine Ecke setzte, wo sie sich brav mit einer Näharbeit beschäftigte. »Es tut mir sehr leid, Sie zu stören, Madam, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen über Ihren verstorbenen Ehegatten stellen.« Ellershaws Stieftochter, von der ich von nun an als Mrs. Pep-per reden muss, obwohl es mittlerweile bereits eine kleine Armee von Frauen dieses Namens gab, schien die Erwähnung ihres toten Mannes schwer zuzusetzen. »Ach, Mr. Pepper. Er war der liebste und beste aller Männer, Sir. Der Allerbeste.« Es war kaum zu glauben, dass drei so unterschiedliche Frauen allesamt mit den fast gleichen Worten von ein und demselben Mann schwärmten. »Verzeihen Sie, Madam, aber hat der Dahingeschiedene je in diesen Worten von sich selber gesprochen?« Sie errötete, und ich wusste, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Es vermochte allerdings auch kaum zu überraschen, dass ein Mann, der so große Stücke auf sich hielt, dass er mit (mindestens) drei Frauen gleichzeitig verheiratet war, nicht auch eine gehörige Portion Eitelkeit besaß. »Mein verstorbener Mann«, sagte sie, »war ein höchst bemerkenswerter Mensch, und das nicht nur zum Teil deswegen, weil er sich seiner Überlegenheit durchaus bewusst war.« Ich machte eine Verbeugung auf meinem Stuhl, denn solche Sophisterei rang mir Anerkennung ab. »Es muss ein Segen für ihn gewesen sein, eine so ergebene Frau gehabt zu haben.« »Ich wünschte, dass es so gewesen ist. Aber verraten Sie mir doch, Sir, wie ich Ihnen behilflich sein kann und warum Sie sich für meinem verstorbenen Gatten interessieren.« Ja, warum eigentlich? Mir ging auf, dass ich dieser Frage mehr Beachtung hätte schenken sollen, aber ich hatte mich so daran gewöhnt, Peppers Witwen zu befragen, dass ich mich nicht auf die Besonderheiten dieses Besuches vorbereitet hatte. Ich hatte keine Ahnung, als was sich Pepper dieser Dame gegenüber ausgegeben hatte, also konnte ich diesen Kurs nicht steuern, noch konnte ich die Sache aus dem Blickwinkel meiner Position im Craven House angehen, denn die Erwähnung einer Verbindung zwischen mir und Ellershaw hätte das Schiff sofort auf Grund gesetzt. Die beiden ersten Witwen waren, zumindest in meiner Einschätzung, unbedarft genug, dass ich mein Trugbild mit breiten Pinselstrichen malen konnte - vorausgesetzt, es war in sich überzeugend. Aber in den Augen dieser Lady erkannte ich zumindest ein gewisses Maß an Gewitztheit. Ich beschloss daher, einen Kurs zu wählen, der sich so nahe an die Wahrheit hielt, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war. »Madam, ich bin so etwas wie ein privater Ermittler«, begann ich, »und führe derzeit eine Untersuchung betreffs des zu frühen Todes von Mr. Pepper durch. Manche halten sein Ertrinken nicht für einen bedauerlichen Unfall, sondern für einen Akt unaussprechlicher Bösartigkeit.« Die Lady japste laut auf und rief dann dem Mädchen zu, sie solle ihr einen Fächer bringen. Sogleich hielt sie einen wunderschön golden und schwarz lackierten, orientalisch wirkenden Fächer in der Hand, mit dem sie sich heftig Luft zuwedelte. »Davon will ich nichts hören«, entfuhr es ihr mit dringlicher Stakkatostimme. »Ich kann mich damit abfinden, dass es ein Akt der Vorsehung gewesen ist, der mir meinen Absalom schon mit so jungen Jahren genommen hat, aber nicht damit, dass es die Tat eines Menschen gewesen sein soll. Wer hätte ihn so hassen können?« »Das ist es ja gerade, was ich zu erfahren suche, Mrs. Pep-per. An der Theorie mag mehr dran sein, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, aber wenn wirklich jemand Ihrem Gatten etwas angetan hat, dann sollten Sie doch davon erfahren wollen?« Sie antwortete nicht, hörte aber damit auf, sich hektisch vor dem Gesicht herumzuwedeln, und legte den Fächer auf die Tischplatte. Dann nahm sie von dort meine Karte und besah sie sich noch einmal. »Sie sind also Benjamin Weaver«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe schon von Ihnen gehört.« Ein weiteres Mal verbeugte ich mich auf meinem Stuhl. »Ich hatte das Glück, von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt zu bleiben, wenn auch leider nicht immer auf schmeichelhafte Weise, doch schlussendlich kann ich mich rühmen, von der Presse stets wohlwollende Behandlung erfahren zu haben.« Sie bewegte die Kinnladen, als kaue sie meine Worte durch. »Ich habe mich wenig um solche Dinge gekümmert, Sir, aber ich kann mir vorstellen, dass ein Mann von Ihren Fähigkeiten nicht billig zu haben ist. Wer hat Sie denn nun mit Ihren Ermittlungen beauftragt?« Ich merkte, dass ich recht daran tat, mich vor ihrer Schläue zu hüten. »Ich diene sowohl den Reichen wie den Armen. Ich bin nicht abgeneigt, mein Brot zu verdienen, aber ich scheue auch nicht davor zurück, begangenes Unrecht an den Armen wiedergutzumachen.« Meine vollmundigen Worte ließen sie unberührt. »Und wem dienen Sie in diesem Falle?« Es war Zeit zu überprüfen, ob mein Plan standhielt. Entweder würde ich auf dem Schlachtfeld fallen oder den Sieg heimtragen. »Es gehört zu meinen Gepflogenheiten, solche Dinge mit Diskretion zu behandeln, doch da es sich bei dem Bewussten um Ihren geliebten Gatten handelt, wäre es unverzeihlich, auf Prinzipien zu beharren. Ich bin von einem Gentleman im Seidengewerbe beauftragt, der glaubt, Mr. Pepper wäre in bösartiger Absicht niedergestreckt worden.« »Im Seidengewerbe?«, wiederholte sie. »Was könnte so jemanden das Schicksal meines Mannes interessieren?« »Mrs. Pepper, verzeihen Sie mir die indiskrete Frage, aber womit hat Ihr Gatte Ihren Lebensunterhalt bestritten?« Sie wurde wieder rot. »Mr. Pepper war ein Gentleman«, sagte sie mit Nachdruck. »Er hatte es nicht nötig ...« Doch dann besann sie sich eines Besseren. »Er sollte das Erbe seines Vaters antreten«, sagte sie, »aber leider hat eine Bande gieriger Anwälte sich verbündet, um das Erbe in einen Goldtopf für sich selber umzuwandeln, aus dem ein jeder sich bedienen konnte.« Sie fächerte sich wieder heftig Luft zu. »Die Gerichtskosten haben meine ganze Mitgift verschlungen, aber sein Recht hat Absalom doch nicht bekommen, und seit seinem Tod besitzt man die Dreistigkeit, einfach so zu tun, als hätte es seinen Fall nie gegeben.« »Verzeihen Sie mir, wenn ich noch einmal eine indiskrete .« »Sagen wir, dass ich Ihnen sämtliche indiskreten Fragen vergebe, bis es mir zu viel wird. Das werden Sie merken, weil ich Sie dann bitten werde zu gehen und es auch keine weiteren Fragen mehr geben wird. Wenn es Ihnen wirklich um Gerechtigkeit für Mr. Pepper geht, stellen Sie diese Fragen ja auch in meinem Sinne.« »Sie sind zu gütig, Madam. Also nun zu meiner Frage. Ich habe in der Stadt einige Erkundigungen eingezogen und dabei das traurige Gerücht vernommen, dass Ihre Ehe nicht mit dem Einverständnis Ihrer Familie geschlossen worden ist.« »Es gab unter meinen Angehörigen einige, die die Heirat unterbinden wollten, aber ich hatte auch meine Verbündeten, die mir Zugang zu meiner Mitgift verschafften, damit Mr. Pepper seinen Fall vor Gericht bringen konnte.« Ich nickte. Wenn Mrs. Ellershaw bei dieser heimlichen Zeremonie auf der Seite ihrer Tochter gestanden hatte, erklärte dies zumindest teilweise den Bruch zwischen ihr und ihrem Scheusal von einem Ehemann. »Nun zu einer ganz indiskreten Frage. Darf ich mich nach der Höhe der Mitgift erkundigen?« An ihrem Gesicht glaubte ich ablesen zu können, dass unsere Unterredung gleich hier und jetzt beendet sein würde, aber dann schien sie es sich noch einmal zu überlegen. »Ich hasse es, von solchen Dingen zu reden, aber es handelte sich um die Summe von fünfzehnhundert Pfund.« Nur mit Mühe bewahrte ich angesichts einer solch enormen Summe die Fassung. »Und das ist alles für Anwalts- und Gerichtskosten ausgegeben worden?« »Es hört sich grausam an, aber so war es. Diese Anwälte sind sehr geübt darin, die Dinge zu verdrehen, mit Taschenspielertricks zu arbeiten und alles in die Länge zu ziehen.« Ich gab ein paar bedauernde Bemerkungen von mir, um von meiner Ungläubigkeit abzulenken. »Und Sie können sich keinen einzigen Grund denken, aus dem die Seidenweber dieser Stadt Anteil daran nehmen könnten, was wirklich zu dem tödlichen Unfall Ihres Mannes geführt hat?«, fragte ich schließlich. Sie schüttelte den Kopf. »Keinen einzigen.« »Hat er je über Webstühle mit Ihnen gesprochen? Haben Sie je beobachtet, dass er sich Notizen zu solchen Dingen machte, irgendwelche Vorhaben in dieser Richtung verfolgte?« »Wie ich bereits sagte, ist er als Gentleman geboren worden und hat sich nur bemüht, sein rechtmäßiges Erbe antreten zu können. Sie tun so, als hätte er sich mit Spielereien abgegeben.« »Dann habe ich mich wohl geirrt«, sagte ich mit einer dritten Verbeugung. »Was hat man Ihnen denn nun erzählt, Sir? Warum interessiert man sich für Mr. Pepper?« Ich konnte nur hoffen, dass sie wirklich so ahnungslos war, wie sie schien. »Danach habe ich nicht gefragt.« »Und glaubt man zu wissen, wer ihm Böses gewollt haben könnte?« An diesem Punkt entschied ich mich, ein großes Risiko einzugehen. Falls diese Dame es für angebracht hielt, sich mit dem, was sie von mir erfahren hatte, an ihren Stiefvater zu wenden, würde alles zum Vorschein kommen, und ich erschauderte bei dem Gedanken, was das für meine Freunde bedeuten konnte. »Aus Achtung vor Ihnen und Ihrem Verlust will ich es Ihnen verraten, aber Sie müssen mir Ihr Wort geben, es keinem preiszugeben. Es gibt geheime Verständigungskanäle, über die Informationen und Gerüchte weitergetragen werden, und die mein Streben nach Gerechtigkeit unterminieren, vielleicht sogar mein Leben in Gefahr bringen können, wenn das, was ich Ihnen jetzt sage, verfrüht an die Öffentlichkeit dringt. Es spielt keine Rolle, welchen Zorn dies in Ihnen erwecken wird - Sie müssen es tief in Ihrer Brust verwahren.« Ruckartig drehte sie ihren Kopf nach links. »Verlass bitte den Raum, Lizzy.« Die Magd zuckte auf ihrem Stuhl zusammen. Sie hörte auf zu nähen, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Geh jetzt nach oben, sage ich. Wenn ich nicht augenblicklich die Treppenstufen knarren höre, kannst du dir eine andere Arbeit suchen, und zwar ohne ein Empfehlungsschreiben von mir.« Das brachte das Mädchen auf Trab, und sie verließ eiligst das Zimmer. Ich nahm einen Schluck Wein und stellte das Glas wieder hin. »Ich bitte Sie zu bedenken, dass es sich lediglich um eine Anschuldigung handelt, aber es gibt unter den Seidenwebern dieser Stadt einige, die glauben, Mr. Peppers Tod wäre von der East India Company absichtlich herbeigeführt worden.« Sämtliche Farbe verschwand aus ihrem Gesicht. Sie begann am ganzen Leibe heftig zu zittern. Ihre Augen röteten sich, aber es traten keine Tränen daraus hervor. Dann erhob sie sich so unversehens, dass ich schon dachte, sie wolle sich auf mich stürzen. Stattdessen verließ auch sie den Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Ich wusste nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Zählte das als Rauswurf? Ich klingelte nach dem Diener, aber niemand kam. Es dauerte kaum mehr als fünf Minuten, die mir jedoch wie eine Ewigkeit vorkamen, bis Mrs. Pepper wieder im Zimmer erschien. Da sie sich nicht setzte, erhob ich mich und sah sie über den Raum hinweg an. »Man hat ihn hergebracht, müssen Sie wissen«, sagte sie. »Man hat seine Leiche aus dem Fluss gezogen und ihn zu uns ins Haus gebracht. Ich habe seine kalten Hände gehalten und über ihm geweint, bis mein Arzt sagte, ich müsse damit aufhören. Ich hatte noch nie einen solchen Kummer und einen solchen Verlust erlebt, Mr. Weaver. Wenn Mr. Pepper von irgend-wem in irgendeinem Auftrag ermordet worden ist, möchte ich, dass Sie den Mann finden. Was immer diese Arbeiter Ihnen auch bezahlen, ich verdreifache die Summe. Und wenn Sie feststellen, dass die East India Company dahintersteckt, werde ich an Ihrer Seite stehen und dafür sorgen, dass jemand dafür bezahlt.« »Sie haben mein Wort .« »Ihr Wort bedeutet mir nichts. Kommen Sie wieder, wenn Sie mir etwas zu sagen haben, aber quälen Sie mich nicht weiter mit müßigen Spekulationen. Das ertrage ich nicht.« »Selbstverständlich, Mrs. Pepper. Ich werde mich bemühen ...« »Bemühen Sie sich lieber zur Tür«, schnitt sie mir das Wort ab. »Es reicht fürs Erste.« 24 Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, als ich das Haus der Witwe Pepper verließ, aber es war bereits dunkel geworden, und auf der Straße hörte man die nächtlichen Rufe der Betrunkenen. Als ich meine Uhr hervorzog - klammheimlich zu dieser Stunde, in der man binnen einer Sekunde einen solchen Wertgegenstand an geschickte Finger verlieren konnte -, sah ich, dass es noch nicht einmal sieben durch war, obwohl es mir mehr wie nach Mitternacht vorkam. Ich hielt die nächste Droschke an, um mich nach Hause fahren zu lassen. Es gab viel zu tun. Ich wusste von Peppers Geschäften mit diesem mysteriösen Mr. Teaser, ich wusste, dass er mit drei Frauen verheiratet gewesen war - und es hätte mich kaum überrascht, auf weitere seiner Witwen zu stoßen. Was aber lag Cobb an Pepper? Welche Verbindung bestand zwischen Pepper und der East India Company? Oder zwischen ihm und Cobb? Was hatte all dies mit Foresters Geheimversteck und Eller-shaws dringendem Wunsch, das Gesetz von 1721 aufgehoben zu sehen, zu tun? Bedeutete die Gegenwart von Celia Glade, dass die Franzosen bei alledem ihre Finger im Spiel hatten, oder war ich nur zufällig einer Spionin über den Weg gelaufen, einer von vermutlich Hunderten, die überall in der Metropole unterwegs waren, Informationen sammelten und sie nach Hause weiterleiteten, wo klügere Köpfe dann entschieden, ob sie etwas Verwertbares darstellten. Auf all diese Fragen hatte ich keine Antwort, und ich wusste auch nicht, wie ich eine finden sollte. Ich wusste nur, wie müde ich war und dass ein unschuldiger, hilfsbereiter Mann, der gutmütige Carmichael, wegen dieser Betrugsgeschäfte hatte sterben müssen. Ich wollte nicht, das noch jemandem etwas zustieß. Vielleicht war es an der Zeit, den Widerstand gegen Cobb aufzugeben. Meine Bemühungen, ihm entgegenzuwirken und auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen, hatten nur dazu geführt, dass ein Freund von mir im Gefängnis saß. Ich wollte nicht riskieren, dass das noch anderen drohte. Während ich über all dies nachsann, steigerte ich mich in eine ausgesprochen wütende Erregung hinein, und trotzdem gelang es mir unverständlicherweise, meine Gefühle im Zaum zu halten, als ich meine Räume betrat und dort einen Besucher vorfand, der mich erwartete. Es war Cobb. Sein Wohlergehen konnte mir kaum gleichgültiger sein, aber ich merkte sofort, dass er nicht gut aussah. Er wirkte eingefallen und ziemlich verstört. Sowie ich die Eingangshalle betrat, erhob er sich, legte die Hände zusammen und machte ein paar zögernde Schritte auf mich. »Ich muss mit Ihnen reden, Weaver. Auf der Stelle.« Ich will nicht behaupten, dass mein Zorn auf ihn augenblicklich schwand, aber die Neugier zügelte mein Temperament. Edgar hatte mir schwere Vorwürfe gemacht, weil ich einen Botenjungen zu Cobbs Haus geschickt hatte. Nun kam Cobb persönlich in das meine. Ich führte ihn in meine Wohnung, damit wir ungestört miteinander sprechen konnten, und nachdem ich die Kerzen angezündet hatte, schenkte ich mir ein Glas Portwein ein, ohne ihm auch eines anzubieten, obwohl seine Lippen zuckten und seine Hände zitterten und ich merkte, dass er sich mehr als alles andere in der Welt einen stärkenden Schluck wünschte. »Es überrascht mich, Sie hier vorzufinden«, sagte ich. »Es überrascht mich selbst auch, aber es musste sein. Ich muss von Mann zu Mann mit Ihnen reden. Ich weiß, dass Sie Grund hatten, wütend auf mich zu sein, und Sie müssen mir glauben, dass ich mir wünschte, es wäre nie so weit gekommen. Hammond hat Sie in Verdacht, etwas vor uns geheim zu halten, und ich teile seine Ansicht. Aber ich bin ohne ihn hergekommen, um Sie zu bitten, mir zu sagen, was Sie uns noch nicht erzählt haben. Ich drohe weder Ihnen noch Ihren Freunden. Ich möchte nur, dass Sie mir alles erzählen.« »Ich habe Ihnen alles berichtet.« »Was ist mit ihm?«, fragte er. Dann sprach er geflüstert den Namen aus. »Pepper.« Ich schüttelte den Kopf. »Über seinen Tod habe ich noch nichts in Erfahrung gebracht.« »Aber was ist mit seinem Buch?« Er beugte sich zu mir vor. »Haben Sie da etwas herausbekommen?« »Buch?«, fragte ich, recht überzeugend, wenn ich behaupten darf. Cobb hatte nie etwas von diesem Buch erwähnt, also tat ich so, als wüsste ich von nichts. »Ich flehe Sie an. Wenn Sie irgendeine Ahnung haben, wo es sein könnte, müssen Sie es mir noch vor der Zusammenkunft der Anteilseigner bringen. Ellershaw darf es auf keinen Fall in die Finger kriegen.« Das war ein ziemlich überzeugender Auftritt gewesen, und ich gebe zu, tatsächlich eine Spur Mitleid mit ihm empfunden zu haben, aber eben nur eine Spur, denn ich musste sogleich wieder an Mr. Franco im Gefängnis denken. Cobb mochte im Augenblick eine bedauernswerte Figur abgeben, aber er war immer noch mein Feind. »Dann erzählen Sie mir doch etwas über dieses Buch. Ich weiß nichts darüber. Sie schicken mich wie Don Quichote auf die Suche nach etwas, jagen mich einem Mann hinterher, dessen Namen ich nicht aussprechen darf, und nun soll ich auch noch ein Buch finden, von dem noch nie mit einem Wort die Rede war. Wenn Sie mir eher davon erzählt hätten, wäre ich vielleicht schon längst mit Ihnen fertig.« Er blickte hinaus in die Düsternis hinter meinem Fenster. »Hol's der Teufel. Wenn Sie es nicht finden konnten, dann kann es keiner.« »Oder Ellershaw weiß, was es mit diesem Buch auf sich hat und warum es von solchem Wert für Sie ist, und hat es bereits an sich genommen, weil er den Vorteil besitzt, es zu erkennen, wenn er es sieht. Es könnte sogar sein, dass ich das Buch in Händen gehabt habe, aber ich weiß ja nichts darüber.« »Quälen Sie mich nicht weiter. Schwören Sie, dass Sie nichts von dem Buch wissen?« »Ich sage Ihnen doch, ich habe keine Ahnung.« Das war natürlich alles gelogen, aber wenn Cobb Verdacht schöpfte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er schüttelte den Kopf. »Dann geht es eben nicht anders.« Er erhob sich von seinem Stuhl. »Es geht dann eben nicht anders, und ich kann nur beten, dass bis zur Aktionärsversammlung der Anteilseiger alles so bleibt, wie es ist.« »Ja, wenn Sie mir mehr gesagt hätten«, bemerkte ich achselzuckend. Entweder hatte er es nicht gehört oder er hatte es nicht hören wollen. Er öffnete die Tür und verließ meine Wohnung. Als ich am nächsten Morgen im Craven House ankam, wurde mir sogleich mitgeteilt, dass Mr. Ellershaw mich in seinem Büro erwarte. Ich war eine Viertelstunde zu spät dran und befürchtete schon, er wolle mich wegen meiner Unpünktlichkeit zur Rede stellen, aber es ging ihm um nichts dergleichen. Bei ihm war ein wichtig dreinblickender junger Mann mit einem Maßband in der Hand und einer gefährlich aussehenden Reihe von Nadeln zwischen den Lippen. »Sehr schön«, begrüßte mich Ellershaw. »Da sind Sie ja. Weaver, würden Sie so gut sein, Mr. Viner bei Ihnen Maß nehmen zu lassen? Ich habe hier genau das Richtige für die Versammlung der Anteilseigner.« »Selbstverständlich«, sagte ich und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Schon legte der Schneider mit geübten Bewegungen das Maßband bei mir an. »Wofür ist das?«, fragte ich. »Arme hoch«, sagte Viner. Ich hob die Arme. »Keine Sorge, keine Sorge«, sagte Ellershaw. »Mr. Viner kann Wunder bewirken, nicht wahr, Sir?« »Ja, die reinsten Wunder«, murmelte Viner mit den Nadeln im Mund. »Das wär's.« »Sehr schön. Nun ab mit Ihnen, Weaver. Sie haben doch allerhand zu tun, nicht wahr?« Aadil war an diesem Tag nirgendwo zu sehen, und ich fragte mich schon, ob er sich überhaupt blicken lassen würde. Er musste gemerkt haben, dass ich ihn im Haus der zweiten Mrs. Pepper gesehen hatte, und konnte nun nicht mehr länger so tun, als sei er ein unbeteiligter, lediglich mir gegenüber feindselig eingestellter Arbeiter. Er hatte sich in die Karten blicken lassen, und obwohl ich keinen Zweifel daran hatte, dass er weiterhin für Forester arbeitete, konnte es durchaus sein, dass seine Tage im Craven House gezählt waren. An diesem Abend wollte ich mich um das letzte Glied in der Kette kümmern, die mich zu dem offenbar so charmanten Pepper führen sollte, oder vielmehr seinem Mr. Teaser, auf den mich Peppers Twickenhamer Witwe gebracht hatte. Ich wollte gerade das Gelände der East India Company verlassen, als Ellershaw mich noch einmal zu sehen wünschte. In seinem Büro traf ich wiederum den tüchtigen Mr. Viner an. Tüchtig, sage ich, weil er bereits ein Gewand nach den mir erst am Morgen abgenommenen Maßen gefertigt hatte. Er hielt mir einen akkurat zusammengelegten Stapel aus hellblauem Stoff hin, während Ellershaw, der in genau der gleichen Farbe gewandet war, grotesk Pose annahm. Ich begriff sofort - und bereute im gleichen Moment, angeregt zu haben, dass man Gewänder für Männer aus Stoff in dieser femininen Farbe herstellen könnte. Ellershaw hatte sich meinen Vorschlag zu Herzen genommen und sich entschlossen, auf diese Weise den heimischen Markt zu erobern, wenn es ihm schon nicht gelang, das Parlament umzustimmen. »Ziehen Sie doch mal an«, sagte er und nickte mir eifrig zu. Ich starrte erst ihn und dann seinen Aufzug an. Es ist schwer zu beschreiben, wie unglaublich albern er darin aussah - und wie albern wir beide nebeneinander darin aussehen würden. Aus solchem Stoff konnte man bestimmt hübsche Hauben fertigen, aber ein Männergewand für Männer in der Farbe der Eier der Singdrossel war wirklich nur für die unerschrockensten Dandys vorstellbar. Aber ich konnte nun ja wohl schlecht die Nase rümpfen und erklären, dass die Farbe ganz und gar nicht nach meinem Geschmack war. So elegant geschnitten das Gewand auch sein mochte - in der Öffentlichkeit konnte ich mich guten Gewissens nicht damit blicken lassen. »Das ist aber sehr freundlich«, sagte ich mit schwacher Stimme. »Nun ziehen Sie es doch schon an. Wir wollen doch mal sehen, ob Viner so gute Arbeit wie immer geleistet hat.« Ich sah mich im Büro um. »Ist hier irgendwo eine Nische?« »Ach, nun tun Sie doch nicht so verschämt. Los, los. Ich will dieses Gewand an Ihnen sehen.« Also zog ich mich bis auf Hemd und Socken aus und legte dieses scheußliche blaue Gewand an. Aber sosehr ich es auch verabscheute - ich war beeindruckt, wie gut das in Eile zusam-mengeschneiderte Ding saß. Viner kroch um mich herum, zupfte hier und zupfte da und wandte sich schließlich sichtlich zufrieden Ellershaw zu. »Sehr gut«, sagte er, als würde er Ellershaw für etwas preisen und nicht sich selber. »Ja, in der Tat. Sehr gut. Ganze Arbeit, Viner. Wie immer.« »Stets zu Diensten.« Der Schneider machte eine tiefe Verbeugung und verließ dann wie auf ein unsichtbares Zeichen hin das Büro. »Bereit?«, fragte Ellershaw. »Bereit wofür, Sir?« »Damit loszuziehen. Diese Gewänder sind doch nicht für unser Privatvergnügen. Das bringt uns nicht weiter, oder? Wir müssen darin gesehen werden. Ganz London soll uns in diesen Gewändern bewundern.« »Ich hatte heute Abend eigentlich eine ziemlich dringende Verabredung. Wenn Sie mir nur früher etwas davon gesagt hätten, aber so, wie die Dinge jetzt stehen, bin ich mir nicht sicher, ob ich noch ...« »Was immer das auch für eine Verabredung sein mag - Sie werden es nicht bereuen, Sie zu versäumen«, erklärte er mit solcher Zuversicht, dass ich nicht eine Sekunde lang an seinen Worten zweifelte. Ich verzog den Mund zu einem Grinsen, aber ich muss ausgesehen haben wie jemand, der gerade an etwas erstickt. »Na bitte. Dann nichts wie los.« In seiner Kutsche klärte Ellershaw mich darüber auf, dass wir in die Gärten von Saddler's Wells führen, um uns an gutem Essen und bewundernden Blicken zu weiden. Dann aber fügte er geheimnistuerisch hinzu, ich müsse mich dort auf eine unangenehme Überraschung vorbereiten. Bei unserer Ankunft konnte ich jedoch nichts Unerfreuliches entdecken - abgesehen von unserem Aufzug und den ungläubigen Blicken und kichernden Bemerkungen, die uns zuteil wurden. Überall brannten Feuer, um trotz der Kälte das Speisen unter freiem Himmel zu ermöglichen, aber sämtliche Gäste zogen es vor, im Saal zu sitzen. Obwohl es noch früh war, hatte sich schon eine stattliche Anzahl Menschen eingefunden, um das teure, wenn auch nicht besonders schmackhafte Essen an diesem beliebten Ort der Zerstreuung zu genießen. Ich muss schon sagen, dass unser Eintreten allerhand Aufmerksamkeit erregte, aber Ellershaw begegnete jedem missbilligenden Blick mit einer höflichen Verbeugung. Er führte mich an einen Tisch und bestellte Wein und Käsepasteten. Ein paar Gentlemen traten näher, um ihn zu begrüßen, aber Ellershaw wirkte mit einem Male reserviert, tauschte nur Gemeinplätze mit ihnen aus und sah davon ab, mich vorzustellen. Rasch waren wir wieder unter uns. »Ich frage mich, ob das ein sonderlich guter Einfall gewesen ist«, bemerkte ich. »Keine Sorge, mein Bester. Das wird schon noch.« Wir blieben etwas über eine Stunde an unserem Tisch sitzen, lauschten dem Kammerorchester, dessen musikalische Darbietung auf Dauer allerdings schwer zu ertragen war. Ich ergab mich in mein Schicksal, bis ich plötzlich jemanden an meiner Seite gewahrte. Ich blickte auf und sah zu meiner Überraschung keinen Geringeren als Mr. Thurmond vor mir. »Sie sehen ja beide unmöglich aus«, sagte er. »Ah, Thurmond.« Sichtlich erfreut setzte Ellershaw sich auf seinem Stuhl in Pose. »Gesellen Sie sich doch zu uns.« »Lieber nicht, glaube ich«, sagte er, zog sich aber dennoch einen Stuhl heran und setzte sich zu uns an den Tisch. Er nahm sich ein Glas und schenkte sich kräftig von unserem Wein ein. Mich verblüffte, wie ungezwungen er sich gab. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie damit erreichen wollen. Glauben Sie etwa, dass Sie beide ganz allein eine neue Mode kreieren können? Wer würde denn schon so ein Gewand tragen wollen?« »Das kann man noch nicht sagen«, erwiderte Ellershaw. »Vielleicht niemand, vielleicht jedermann. Aber wenn Sie und Ihresgleichen entschlossen sind, unsere Einfuhrmöglichkeiten zu beschränken, werden Sie feststellen, dass wir nicht minder be-reit sind, dafür zu sorgen, dass Ihre Maßnahmen ohne Wirkung bleiben. Der Handel nimmt weltumspannende Formen an, Mr. Thurmond, und Sie können nicht mehr länger so tun, als würde das, was in London geschieht, keine Auswirkungen auf Bombay haben oder, vielleicht noch wichtiger, andersherum.« »Wie kann man nur so töricht sein«, sagte Thurmond. »Sie hoffen, sich mit diesem Unsinn retten zu können? Da täuschen Sie sich. Selbst wenn Ihre Kluft Beliebtheit erlangt, werden blaue Gewänder ein oder zwei für Sie gute Jahre lang in Mode sein, aber danach stehen Sie wieder da, wo Sie jetzt stehen. Sie mögen sich einen Aufschub verschaffen, aber mehr auch nicht.« »Im Textilhandel sind ein oder zwei Jahre eine Ewigkeit«, widersprach Ellershaw. »Ich lehne es ab, weiter in die Zukunft zu schauen. Was mich betrifft, so lebe ich von einer Versammlung der Anteilseigner zur nächsten, und wenn in sechs Monaten alles vor die Hunde geht, kann ich es auch nicht ändern.« »Diese Einstellung ist absurd - wie auch Ihre Aufmachung.« »Glauben Sie, was Sie wollen, Sir. Sie können von mir aus gerne der East India Company den Kampf ansagen. Soweit ich informiert bin, ist das das Einzige, was Ihre Wiederwahl retten kann. Aber wir werden sehen, was länger überlebt - die East India Company oder Ihre kratzende Wolle. Ich kenne die Antwort. Aber ist der junge Mann, der gerade hereinkommt, nicht der Erbe des Herzogs von Norwich? Und ich glaube, die fröhliche Runde, die er um sich schart, stellt so etwas wie die Vorreiterschaft dar, was die neueste Mode betrifft.« Thurmond wandte sich um, und schon klappte ihm vor Überraschung und wohl auch vor Entsetzen die Kinnlade herunter. Das war Ellershaws Heilige Dreifaltigkeit - das Trio, mit dem er Moden kreierte, allesamt gut aussehende, selbstgefällige junge Männer in Begleitung dreier ebenso eleganter Damen. Jeder der Männer trug ein Gewand aus blauer indischer Baumwolle, und auch die Abendkleider der Damen waren aus diesem Stoff genäht, so dass die sechs im Gehen einen einzigen azurfarbenen Wirbel abgaben. Alles im Saal starrte die Neuankömmlinge und dann uns an, und ich begriff sofort, dass der Spott, der uns bei unserem Eintreffen gegolten hatte, nun in Neid umgeschlagen war. Ellershaw nickte zufrieden. »Jeder Mann im Raum überlegt sich nun, wie er am schnellsten seinen Schneider erreichen kann, damit der ihm auch so ein Gewand anfertigt.« Thurmond stieß sich vom Tisch ab. »Das ist nur eine kurzlebige Torheit«, sagte er. Aber Ellershaw hatte nur ein Lächeln für ihn übrig. »Ich bin Geschäftsmann, mein lieber Sir, und ich habe mein ganzes Leben in der Erkenntnis zugebracht, dass keine Mode von ewiger Dauer ist.« Ellershaw blieb den ganzen Rest des Abends bei blendender Laune. Dies sei der große Wurf, erklärte er, und die Versammlung der Anteilseigner bräuchte er nun nicht mehr zu fürchten. Das fand ich ziemlich optimistisch, aber ich konnte seine Begeisterung nachvollziehen. Wir waren und blieben der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wurden von so mancher jungen Dame und so manchem jungen Dandy mit wohlwollenden Kommentaren bedacht. Ellershaw sonnte sich in seinem Erfolg, und so fiel es mir nicht schwer, mich unter der Vorgabe, hundemüde zu sein, zu entschuldigen. Ich begab mich sogleich nach Hause, um mich ein wenig schlichter und weniger auffällig zu kleiden. Danach verließ ich meine Wohnung wieder und nahm eine Droschke zum Blooms-bury Square, wo Elias wohnte. Da Cobb gesagt hatte, Elias' Schicksal hinge von meinem Wohlverhalten ab, hatte ich es eine Weile lang nicht gewagt, ihn zu besuchen, aber da Elias nun ebenfalls für Ellershaw tätig war, sagte ich mir, dass eine kurze Visite kein zu großes Risiko barg. Und ich wollte, so weit möglich, noch an diesem Abend sämtliche offenen Fragen klären. Ich wurde von Mrs. Henry, seiner sehr freundlichen und aufmerksamen Vermieterin, empfangen, die mir einen Sessel und ein Glas Wein anbot. Meine Gastgeberin war eine überaus attraktive Frau von etwa vierzig oder ein wenig darüber, und ich wusste, dass Elias eine freundschaftliche, wenn nicht gar amouröse, Beziehung zu ihr unterhielt. Er pflegte ihr von fast allen unseren gemeinsamen Abenteuern zu erzählen - jedenfalls denen, die für die Ohren einer Dame geeignet waren. Ich hatte befürchtet, sie würde mir böse sein, weil ich Elias in meine Probleme mit hineingezogen hatte, aber sie trug keinen Groll in ihrem Herzen oder ließ es sich zumindest nicht anmerken. »Ich bedanke mich für die Einladung, Madam«, sagte ich mit einer Verbeugung, »aber ich fürchte, für eine Plauderei bleibt mir keine Zeit. Mr. Gordon und ich haben wichtige Dinge zu bereden, und ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie ihn sogleich holen würden.« »Ich glaube, das kommt gerade ein wenig ungelegen«, sagte sie. »Oh, ich gehe gerne selber die Treppe hinauf, Mrs. Henry. Sie brauchen sich meinetwegen nicht zu bemühen, wenn Sie im Moment etwas anderes ...« Ich beendete den Satz nicht, weil Mrs. Henrys Ohren die Farbe von reifen Erdbeeren angenommen hatten. Als sie sah, dass es mir nicht entgangen war, hüstelte sie verlegen in die Hand. »Vielleicht möchten Sie doch lieber ein Glas Wein mit mir trinken«, versuchte sie es noch einmal. Ich bemühte mich, ein freundliches Lächeln aufzusetzen -nicht, um ihr zu zeigen, dass mich Elias' skandalöses Benehmen nicht mehr kümmerte, sondern eher, dass mich seine Torheiten nicht länger überraschten. »Madam«, sagte ich, »Ihnen mag es unangenehm sein, ihn zu stören, aber ich kann Ihnen versichern, dass er keinen Anstoß daran nehmen wird, wenn ich ihn hole.« »Ich weiß nicht recht, wie er es aufnehmen wird«, sagte sie leise. »Ach, gefallen wird's ihm bestimmt nicht, aber was sein muss, muss sein.« Ich verbeugte mich noch einmal und ging die Treppe zu Elias' Räumen hinauf. Oben angekommen, legte ich das Ohr an die Tür - wohlverstanden nicht, um irgendeine lüsterne Neugier zu befriedigen; wenn ich ihn schon bei etwas unterbrechen musste, dann wenigstens nicht im allerverkehrtesten Moment. Aber ich hörte nichts, was mir sagte, ob dies der rechte Augenblick war. Also klopfte ich, laut genug, damit mein Freund wusste, dass dies eine dringliche Angelegenheit war, aber wiederum auch nicht so heftig, dass er gleich Hose und Hemd überstreifte und aus dem Fenster kletterte - was er meines Wissens schon bei mindestens zwei Gelegenheiten getan hatte, um einem aufdringlichen Gläubiger aus dem Wege zu gehen. Einen Augenblick lang rührte sich nichts; dann vernahm ich scharrende Geräusche und das Knarren des Türzargens. Die Tür öffnete sich nur einen Spalt breit, und eines von Elias' wachsamen braunen Augen schielte aus der Dunkelheit seines Zimmers auf die Treppe hinaus. »Was ist denn los?«, verlangte er zu wissen. »Was soll schon los sein«, erwiderte ich verstimmt. »Wir haben viel zu tun. Das ist los. Du weißt, wie ich es hasse, dich bei deinen Tändeleien zu stören, aber je rascher wir das alles hinter uns bringen, umso besser.« »Oh, zweifellos, zweifellos. Aber morgen würde es mir viel eher passen.« Ich schnaubte verächtlich. »Elias, also wirklich. Ich begreife ja das Bedürfnis, deinen Vergnügungen nachzugehen, aber du musst doch verstehen, dass jetzt nicht die Zeit dafür ist. Wir müssen noch heute Abend handeln. Du kannst darauf wetten, dass Cobb morgen wieder etwas Neues wird von mir hören wollen, und ich habe ihm schon viel mehr erzählt, als mir lieb ist. Wir müssen zusehen, dass wir etwas über Absalom Pepper und seine Verbindung zu diesem Mr. Teaser herausbe .« »Psst!«, zischte er wütend. »Du darfst hier nicht darüber sprechen. Ich kenne all die Namen. Aber gut, Weaver, wenn es dir so dringend ist, dann warte im Rusted Chain gleich um die Ecke auf mich. Ich werde in ungefähr einer halben Stunde dort sein.« Ich schnaubte noch einmal. Wenn Elias sich nicht von einer seiner Liebschaften trennen wollte, wurden aus einer halben Stunde leicht deren zwei oder mehr - nicht, weil er etwa verantwortungslos war, sondern eher weil er ein wenig zur Vergesslichkeit neigte. Elias und ich waren schon seit ein paar Jahren befreundet, und ich kannte seine Gewohnheiten. Er würde nie eine Dirne mit auf sein Zimmer nehmen, schon, um Mrs. Henry (die sich mit der Zeit auch an seine Sperenzchen gewöhnt hatte) nicht zu verletzen, aber auch nie eine Frau von Stand, denn die fände seine Räumlichkeiten zu unaufgeräumt und es zudem peinlich, unter einem Dach mit seiner Vermieterin mit ihm zu tändeln. Also dürfte sich in diesem Augenblick eine Schauspielerin, eine Bedienung aus einer Taverne oder die Tochter eines Handwerkers in seinem Bett befinden - eine Frau mit genug Anstand jedenfalls, mit der Elias die Straße hinuntergehen konnte, ohne anzügliche Pfiffe zu ernten, aber auch keine so feine Dame wiederum, dass sie sich weigern würde, sich mit ihm zu zeigen. In diesem Wissen unternahm ich einen gewagten, wenn auch keinen noch nie da gewesenen Schritt. Ich drückte mich gegen die Tür und schob Elias sanft beiseite, damit er seinen Widerstand aufgab. Zu meiner Überraschung fand ich Elias vollständig bekleidet vor. Er trug sogar noch sein Wams. Ich musste stärker gegen die Tür gedrückt haben, als ich vorgehabt hatte, denn er stolperte plötzlich und fiel auf den Hintern. »Hast du den Verstand verloren?«, schrie er mich an. »Du musst sofort von hier verschwinden.« »Tut mir leid, dass ich dich umgestoßen habe«, sagte ich und konnte dabei kaum ein Grinsen unterdrücken. Es würde mehr als den üblichen Krug Ale und ein Stück Fleisch brauchen, um ihn wieder zu besänftigen, aber es half ja nichts. Unerschrocken machte ich einen Schritt auf sein Schlafzimmer zu, aber ich brauchte die Tür gar nicht erst zu öffnen, denn sein weiblicher Besuch lag nicht im Bett, sondern saß, die zarten Finger um den Stiel eines Weinglases geschmiegt, in einem seiner bequemen Sessel. Als sie mich sah, begannen sowohl ihre Lippen als auch ihre Finger ein wenig zu zittern, obwohl sie sichtlich bemüht war, ungerührt von meinem Eindringen zu erscheinen. Entweder war es ihr peinlich oder sie war wütend auf mich oder sie fürchtete sich vor mir. »Ich würde Sie bitten, Platz zu nehmen«, sagte sie. »Aber ich bin hier nicht die Gastgeberin.« Ich brachte kein Wort hervor, stand nur wie angewurzelt und mit offenem Mund da wie ein Idiot. In Elias' Sessel saß Celia Glade. 25 Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Miss Glade sah mich mit ihren hübschen Augen an und schenkte mir ein so trauriges Lächeln, dass mein Herz augenblicklich doppelt so schnell schlug. »Es ist mir sehr unangenehm, Mr. Weaver«, sagte sie. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging so schnell wie möglich zur Tür. Elias, der sich gerade aus seiner wenig schmeichelhaften Position erhob, rief mir nach, ich solle unten auf ihn warten. Diese ganze Geschichte hat für manchen einen unglücklichen Ausgang genommen, also will ich nicht diejenigen bemitleiden, die es nicht gar so hart getroffen hat, doch ich werde mir nie mein rüdes Benehmen Mrs. Henry gegenüber verzeihen, als ich mürrisch gelaunt in ihrer Wohnung saß und meinen Weinbecher so fest umklammert hielt, dass ich befürchtete, ihn zu zerdrücken, während sie ungelenke Versuche unternahm, sich mit mir zu unterhalten. Ich sah nicht, wie Celia das Haus verließ - Elias musste sie zur Hintertür begleitet haben -, aber eine Viertelstunde nach unserem Zusammentreffen kam er nach unten und gab mir zu verstehen, dass er bereit zum Aufbruch wäre. Wir gingen ins Rusted Chain und bestellten unsere Krüge Bier. Dann saßen wir eine Weile lang schweigend da. »Es tut mir sehr leid, dass ich dir diese Unannehmlichkeit bereitet habe, Weaver«, hob Elias schließlich an. »Aber du hast nie eine Andeutung gemacht, dass du eine gewisse Vorliebe -« Ich schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass beinahe sämtliche Gäste zu mir herüberschauten. Aber das kümmerte mich nicht. Ich wollte nur, dass Elias mit seinen Salbadereien aufhörte, bevor mich das Verlangen überkam, ihn zu schlagen. »Du hast genau gewusst, wie ich für sie empfinde«, sagte ich. »Das ist einfach ungeheuerlich.« »Wieso? Sie hätte die deine sein können, wenn du sie gewollt hättest. Aber du hast dich anders entschieden.« »Zum Teufel, Elias, ich kann es einfach nicht glauben, dass du so unbedarft handeln konntest. Hast du ernsthaft geglaubt, sie hätte sich von deinem Charme betören lassen?« »Du brauchst mich nicht zu beleidigen.« »Wohl kaum.« So wütend, wie ich auch war - unsere Freundschaft wollte ich deswegen nicht beenden. »Deine Verführungskunst in allen Ehren, aber dir muss doch klar sein, dass sie dich nur aushorchen wollte und nicht mehr.« »Natürlich. Und umgekehrt ebenso. Es war so etwas wie ein Wettstreit, in dem jeder versucht herauszufinden, was der andere preiszugeben bereit ist und was nicht. Am Ende hat sie nichts von mir erfahren und ich nichts von ihr.« »Und hast du sie auch die ganze Zeit im Auge behalten, während sie sich in deiner Wohnung aufhielt?« »Nicht jede einzelne Minute. Man muss doch auch einmal kurz verschwinden dürfen.« »Aber deine Notizen betreffs unserer derzeitigen Untersuchung - die lagen wohl noch auf deinem Schreibtisch?« »Für diejenigen, die sie nicht gewohnt sind, ist meine Handschrift sehr schwer zu entziffern«, beeilte er sich mir zu versichern. Aber ich merkte, dass seine Stimme zitterte. Er war sich seiner Sache nicht ganz sicher. Ich schon. »Und an deiner Tür habe ich die Namen Absalom Pepper und Teaser erwähnt.« »Ja, du hättest vorsichtiger sein sollen.« Ich sagte nichts, denn in dieser Hinsicht hatte er natürlich recht. Ich starrte vor mich hin, während Elias sich abwechselnd auf die Lippe biss und an seinem Ale nippte. »Hör mal«, sagte er. »Ich habe dir nicht wehtun wollen. Du hättest mir deine Gefühle für sie deutlicher machen sollen. Und vielleicht hätte ich auch auf deine Gefühle mehr Rücksicht nehmen müssen, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt, eine schöne, willige Frau ins Bett zu bekommen. Eine schwache Entschuldigung, ich weiß, aber so ist es nun mal. Und es ist ja auch durchaus möglich, dass sie nie im Sinn gehabt hat, sich mir hinzugeben. Sie wollte wahrscheinlich nur Zugang zu meiner Wohnung. Wir werden es nie erfahren. Zu Vertraulichkeiten ist es jedenfalls nicht ge ...« »Genug damit«, unterbrach ich ihn. »Passiert ist passiert. Sie weiß zu viel, und wir haben zu wenig Zeit. Das bedeutet, dass wir uns ranhalten müssen.« »Ranhalten an was?« »Es ist Zeit, Mr. Teaser aufzutreiben. Er sollte Peppers Vorhaben finanzieren, also muss er darin eingeweiht sein. Das ist der Schlüssel, hinter dem wir her sind. Ich will nur hoffen, dass wir ihn finden, bevor sie es tut.« Keiner von uns beiden war in allzu verträglicher Stimmung, aber Elias und ich taten unser Bestes, es uns nicht anmerken zu lassen. »Kennst du dich in der Gegend aus?«, fragte ich. »Nicht besonders, aber gut genug, um zu wissen, dass es ein raues Pflaster ist, von dem man sich lieber fernhalten sollte. Aber es muss wohl sein.« Also machten wir uns auf den Weg nach Holborn. Als es nur noch zwei Straßen bis zu der Adresse waren, unter der ich mir erhoffte, diesen Teaser anzutreffen, sahen wir vor uns mehrere dunkle Schatten aus einer Gasse treten. Ich blieb stehen und legte die Hand an meinen Dolch. Elias trat einen Schritt zu-rück, um mich als Schutzschild zu haben. Es waren sechs oder sieben Mann. Ein sehr ungleicher Kampf, dachte ich, aber dann fiel mir auf, dass die Unbekannten nicht gerade die Haltung von Männern einnahmen, die zu Gewalt bereit waren. Sie wirkten eher verunsichert und linkisch, als wären sie es, die sich vor uns fürchten mussten. »Wen haben wir denn da?«, rief einer von ihnen. »Scheinen mir ein Paar Arschficker zu sein«, sagte ein anderer. »Fürchtet euch nicht, ihr Sünder. Eine Nacht im Loch wird euch guttun, und wenn ihr euch genügend Zeit nehmt, den Herrn um Vergebung anzuflehen, könnt ihr vielleicht sogar eure Seele retten.« Ich zweifelte an den seelenerrettenden Eigenschaften des Gefängnisses, wo ein so genannter Sodomiter damit rechnen musste, stundenlang malträtiert zu werden. An solchen Orten ist es schon seit jeher Tradition, dass die hartgesottenen Verbrecher gleichgeschlechtlich veranlagte Mitgefangene zwingen, große Mengen menschlicher Exkremente zu vertilgen. »Zurück«, rief ich. »Ich will nichts mit euch zu tun haben. Verschwindet.« »Ich bleibe hier«, rief einer von ihnen, der, der uns als Arsch-ficker bezeichnet hatte, glaubte ich. »Ich bin der Diener des Herrn, Sir, und er vollbringt seine Werke durch meine Hand.« Seine Stimme bebte wie die eines Predigers an einer Straßenecke. »Das wage ich sehr zu bezweifeln«, rief ich zurück, denn ich wusste jetzt, dass diese Männer zu der Bewegung der Sittenreformer gehörten oder zu einer ähnlichen Vereinigung, wie sie seit einiger Zeit alle naslang irgendwo gegründet wurden. Die Angehörigen dieser Gruppierungen schlichen nachts durch die Straßen und waren auf der Suche nach all jenen, die sich möglicherweise gegen die Gesetze Gottes und des Königreiches vergingen. Nur von Straßenräubern hielten sie sich tunlichst fern, denn denen waren sie kaum gewachsen. Das Ärgste je-doch war, dass die Konstabler und der Magistrat diese Männer als ihre Handlanger duldeten. So konnte es vorkommen, dass ein Mann, dessen einziges Vergehen darin bestand, dass er einen über den Durst getrunken oder eine Dirne angesprochen hatte, von diesen religiösen Eiferern ergriffen und für eine Nacht eingesperrt wurde - eine Nacht, in der er die Hölle auf Erden erlebte. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass es Sodomitern im Karzer besonders schlimm erging, aber auch andere kamen selten davon, ohne brutal verprügelt oder sonst wie erniedrigt worden zu sein, es sei denn, sie waren selber wüste Schläger, die vor nichts zurückschreckten. »Es gibt in dieser Stadt so etwas wie eine abendliche Sperrstunde«, sagte mein Gegenüber zu mir. »Davon habe ich gehört«, antwortete ich. »Aber ich bin noch nie jemandem begegnet, der sich darum schert, außer einem fanatischen Sektierer wie du einer bist. Mein Freund und ich wollen nicht mehr, als diese Straße entlanggehen, und daran ist ja wohl nichts auszusetzen.« »Dass ihr bloß die Straße hinuntergeht, haben wir wohl gesehen, aber ich weiß genau, dass ihr vorhabt, euch verabscheu-ungswürdigen Schweinereien hinzugeben, die ein Schlag ins Antlitz Gottes und eine Beleidigung der menschlichen Natur sind.« »So, das reicht mir jetzt«, sagte ich und zückte meinen Dolch. Ein Japsen ging durch die Gruppe, als hätten diese Kerle noch nie erlebt, dass jemand derartige Anschuldigungen von sich wies und einfach weiter seiner Wege gehen wollte. »Ich bin weder ein Sodomiter, noch habe ich vor, gegen das Gesetz zu verstoßen«, sagte ich, »aber ich bin ein Mann, der sich zu wehren weiß. Wer von euch will mir das Gegenteil beweisen?« Ich hörte ihren keuchenden Atem, aber eine Antwort blieben sie mir schuldig. »Das habe ich mir gedacht. Nun ab mit euch«, rief ich und hielt mein Messer drohend in die Höhe. Das verfehlte nicht seine Wirkung, denn die Raufbolde verstreuten sich sogleich, und Elias und ich konnten unseren Weg fortsetzen. Dann standen wir vor dem Haus, von dem Mrs. Pepper gesprochen hatte. »Ach du meine Güte«, sagte Elias. »Was ist?« »Jetzt beginne ich zu begreifen, warum diese Männer uns Schweinereien unterstellt haben. Wenn ich nicht irre, finden wir diesen Mr. Teaser bei Mutter Tripper.« »Mutter Tripper? Ist das der Name einer Bordellwirtin? Das klingt ja noch hergeholter als ein Freund namens Mr. Teaser.« »Vielleicht sind sie auch ein und dieselbe Person. Mutter Tripper ist, wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, der beliebteste Treffpunkt gleichgeschlechtlich veranlagter Männer in der ganzen Stadt.« Ich hatte kein Verlangen, ein solches Haus zu betreten und war drauf und dran, Einwände zu erheben, als mir aufging, dass ein Mann wie ich, der sich allen möglichen Gefahren ausgesetzt gesehen hat, angesichts bestimmter Vergnügungen, die im Vergleich eher harmlos waren, nicht zimperlich sein sollte. Die Vorlieben mancher Männer mochten mir nicht gefallen -wie ich zum Beispiel Feiglinge verachtete -, aber dass es solche Vorlieben gab, hielt mich nicht davon ab, das Vergnügen auf meine Weise zu suchen. Ich warf Elias einen Blick zu. »Du klopfst«, sagte ich. »Du dürftest eher ihr Vertrauen gewinnen.« Ich dachte schon, er würde mir meine Bemerkung übel nachtragen, aber er lachte nur. »Endlich habe ich etwas gefunden, wovor Benjamin Weaver zurückschreckt«, sagte er. »Mal sehen, ob ich auf diese Weise dein Wohlwollen wiedererlangen kann.« Elias klopfte kräftig gegen die Tür, und sogleich erschien eine Gestalt in der Kleidung eines Dienstmädchens in der Tür -nur handelte es sich nicht um ein Mädchen, sondern um einen gar nicht mal so kleinen Mann, der in Frauenkleidern steckte. Er trug eine Perücke und sogar eine adrette kleine Haube darauf. Das wäre allein schon lächerlich genug gewesen, aber das Kinn der Person war von Bartstoppeln verdunkelt, und obwohl er artig knickste und sich sehr zuvorkommend zeigte, gab er eine geradezu groteske Erscheinung ab. »Kann ich den Gentlemen behilflich sein?«, fragte er mit weicher, aber nicht weibischer Stimme. Dieser Mann wollte sich nicht wirklich als Frau ausgeben. Nein, er machte deutlich, dass er ein Mann war, der sich nur als Frau verkleidet hatte, und man merkte, dass ihm nicht unbedingt wohl dabei zu Mute war. Elias räusperte sich. »Vielleicht. Wir suchen einen Mann, der sich Teaser nennt.« »Was wollen Sie denn von ihm?« Die Stimme des Mannes klang nicht mehr so weich, und mir fiel auf, dass er mit dem Akzent der niederen Stände sprach, wie man ihn etwa in Hock-ley-in-the-Hole antraf, wenn ich ihn richtig zuordnete, und das verblüffte mich. Ich hatte ausgefallene sexuelle Gelüste stets eher den dekadenten Reichen zugeschrieben, aber sie schienen auch vor den niederen Schichten nicht Halt zu machen. Ich fragte mich, ob es tatsächlich der Veranlagung dieses Mannes entsprach, als Frau herumzulaufen, oder ob es zu seiner Tätigkeit gehörte. Und dann kam mir noch ein finsterer Gedanke in den Sinn - dass man ihn hier vielleicht gegen seinen Willen festhielt. Ich nahm mir vor, auf Anzeichen zu achten, die diesen Verdacht bestätigten. Ich trat vor. »Das geht nur uns und ihn etwas an. Sagen Sie ihm bitte, dass er Besuch hat. Den Rest erledigen wir dann schon alleine.« »Das ist leider nicht möglich, Sir. Wenn Sie vielleicht Ihre Karte dalassen würden, könnte Mr. Teaser, falls es ihn denn gibt, sich mit Ihnen in Verbindung setzen, falls er es wünscht.« Seltsam, dachte ich - zuerst hatte es so geklungen, als würde er Teaser kennen, aber nun stellte er in Frage, dass es ihn überhaupt gab. »Unsere Namen werden ihm nichts sagen, aber wir haben etwas äußerst Dringendes mit ihm zu besprechen. Wir wollen ihm oder sonst jemandem nichts Böses, aber wir müssen augenblicklich mit ihm reden.« Ich reichte dem Bediensteten meine Karte. »Sie können hier nicht einfach so eindringen und Anweisungen erteilen. Ich werde Ihre Karte weitergeben, wenn Sie es wünschen, aber nun müssen Sie wieder gehen.« Nein, so kamen wir nicht weiter. Wäre er nur ein einfacher Dienstbote gewesen, hätte ich mich an ihm vorbeigedrängt, aber ich scheute mich, eine solche Kreatur zu berühren, also beließ ich es bei Worten. »Ich lasse mich nicht abweisen. Du kannst uns freiwillig hereinbitten oder versuchen, uns aufzuhalten. Es ist deine Entscheidung.« »Sprechen Sie mich bitte mit Madam an.« »Es kümmert mich nicht, wie du dich nennst, aber mach den Weg frei.« In diesem Augenblick erschien eine weitere Gestalt in der Tür - eine Frau mit Leib und Seele. Sie war dicklich und schon im fortgeschrittenen Alter, hatte aber große blaue Augen, aus denen nachsichtige Güte sprach. Sie war schlicht, aber nicht billig gekleidet und machte durchaus den Eindruck einer respektablen Hausherrin. »Nun aber fort mit euch«, sagte sie. »Ich dulde kein scheinheiliges Palaver von Heuchlern wie ihr es seid. Geht zum Teufel. Mit dem habt ihr mehr gemein als mit uns.« Diese scharfen Worte nahmen mir für einen Moment den Wind aus den Segeln. Zum Glück ergriff Elias, diplomatisch wie immer, mit einer leichten Verbeugung das Wort. »Madam, wie wir bereits Ihrem Bediensteten zu erklären versucht haben, führen wir nichts Böses im Schilde. Wir haben nur dringend etwas mit Mr. Teaser zu besprechen. Ich darf Ih-nen versichern, dass Sie wahrscheinlich noch nie zwei Gentle-men vor sich gehabt haben, die weniger geneigt waren, sich in scheinheiligem Palaver zu ergehen. Mein Freund ist Jude, und ich bin ein Freigeist - aber einer, der der holden Weiblichkeit zugetan ist, wenn ich das hinzufügen darf.« Die Frau warf einen Blick auf die Karte, die ich dem Diener gegeben hatte, und sah dann mich an. »Sie sind Benjamin Weaver, der Privatermittler?« Obwohl mir nicht danach war, verbeugte ich mich. »Der Mann, nach dem Sie fragen, hat nichts angestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie so tief gesunken sind, dass Sie sich nun schon Ihr Geld verdienen, indem Sie hinter unschuldigen Männern herschnüffeln.« »Sie haben mich missverstanden«, beschwichtigte ich sie. »Es geht mir nur darum, von dem Gentleman Informationen über einen Bekannten von ihm zu erlangen. Ich möchte weder Sie noch Ihre Gäste belästigen.« »Kann ich mich darauf verlassen?«, fragte sie. »Darauf haben Sie mein Ehrenwort. Ich möchte ihm nur ein paar für mich wichtige Fragen stellen, und schon bin ich wieder weg.« »Nun gut«, sagte sie. »Dann treten Sie mal näher. Wir können ja nicht die ganze Nacht die Tür offen stehen lassen, oder?« Diese Frau, dachte ich, war also offensichtlich die berüchtigte Mutter Tripper. Wachsam wie eine jede Hausherrin behielt sie uns im Blick, während sie uns durch ihre Räume führte. Das Innere des Hauses machte den Eindruck eines einstmals eleganten Wohngebäudes aus dem vergangenen Jahrhundert, aber nun war alles ziemlich heruntergekommen. Es roch nach Schimmel und nach Schmutz, und ich schätzte, dass eine Staubwolke aufwirbeln würde, wenn man kräftig auf den Teppich trat. Wir kamen durch mehrere Gänge, passierten im Gefolge der Hausherrin überraschend geschmackvoll dekorierte Säle und behaglich eingerichtete Zimmer. An die Menschen, die sich in diesen Zimmern aufhielten, musste ich mich jedoch erst einmal gewöhnen. Wir kamen in einen Saal, in dem eine Art Ball im Gange war. Es gab Tische, an denen die Gäste sitzen und trinken und sich unterhalten konnten, drei Geiger spielten, und sechs oder sieben Paare tanzten auf den ausgetretenen Holzdielen zu der Musik. Um die Tanzfläche herum standen ungefähr zwei Dutzend Männer in Gespräche vertieft. Jedes der tanzenden Paare, fiel mir auf, bestand aus einem ganz gewöhnlich gekleideten Mann und einem weiteren, der sich ebenso wie der Diener an der Tür wenig überzeugend als Frau zurechtgemacht hatte. Schließlich betraten wir ein Gesellschaftszimmer im hinteren Bereich des Hauses, in dem ein wärmendes Kaminfeuer brannte. Mutter Tripper bat uns, Platz zu nehmen und schenkte uns beiden aus einer Karaffe ein Glas Portwein ein, ohne sich allerdings selber zu bedienen. »Ich habe Mary geschickt, damit sie Teaser holt. Es könnte jedoch sein, dass er indisponiert ist.« Mir schauderte bei dem Gedanken, durch was er das sein könnte. Mutter Tripper muss es mir am Gesicht abgelesen haben, denn sie warf mir einen tadelnden Blick zu. »Gefällt es Ihnen bei uns nicht, Mr. Weaver?« »Es tut nichts zur Sache, ob es mir gefällt oder nicht«, sagte ich. »Aber Sie müssen doch zugeben, dass die Männer hier ihre Zeit mit höchst unnatürlichen Vergnügungen verbringen.« »Ja, unnatürlich mögen Sie es nennen. Es wäre ja auch unnatürlich, wenn jemand im Dunklen sehen könnte, also behilft man sich mit einer Kerze oder einer Laterne, nicht wahr?« »Und dennoch«, griff Elias mit einem Eifer, der, wie ich wusste, seine Geistesschärfe demonstrieren sollte und nicht seine inbrünstige Leidenschaft für das Thema, das Beispiel auf, »verbietet die Heilige Schrift solches Treiben, nicht jedoch, sich Licht zu schaffen.« Mutter Tripper warf Elias einen abschätzenden Blick zu. »In der Tat, das verbietet sie. Sie verbietet allerdings auch Vielweiberei, nicht wahr, Sie libertiner Freigeist? Ich frage mich, mein guter Mann, ob Sie dabei auch so rasch mit Skrupeln wegen der Gebote der Heiligen Schrift zur Hand sind.« »Nein, das gerade nicht«, gab er zu. »Und sagt nicht unser Erlöser«, fragte sie an mich gewandt, »dass wir die Armen und Bedürftigen bei uns aufnehmen sollen, all jene, die die Mächtigen und Bevorrechteten verstoßen haben?« »In allen Fragen betreffs unseres Erlösers müssen Sie sich an Mr. Gordon wenden«, erwiderte ich. Elias senkte artig den Kopf. »Sie verdienen unsere Entschuldigung, Madam. Wir sind nur Menschen, die von den Moralvorstellungen ihrer Gesellschaft geprägt sind. Es mag sein, wie Sie es sagen - dass die Ablehnung durch diese Gesellschaft nur das künstliche Produkt unserer Zeit und unserer Umgebung ist und nichts weiter.« »Natürlich kann man sich damit trösten, das Produkt seiner Zeit und seiner Umgebung zu sein«, sagte sie. »Aber ist nicht jeder rechtschaffene Mensch geradezu verpflichtet, sich zu bemühen, darüber hinauszuwachsen?« »Da haben Sie ganz gewiss recht«, musste nun auch ich einräumen, denn obwohl ich nach wie vor meine Vorbehalte hegte, konnte ich nicht anders, als ihr beizupflichten. Da sie dem Gesagten nichts weiter hinzuzufügen zu haben schien und auch von uns keine weiteren Einwände kamen, saßen wir eine Weile lang schweigend da und lauschten dem Knistern des Feuers, bis nach ein paar Minuten die Tür aufging und ein ziemlich gewöhnlich aussehender Bursche im schlichten Gewand eines Händlers den Raum betrat. Er war ungefähr Ende dreißig, hatte aber ein ebenmäßiges, knabenhaftes Gesicht voller Sommersprossen und mit rosigen Wangen, was ihn deutlich jünger aussehen ließ. »Ich höre, Sie wollen mich sprechen«, sagte er mit leiser Stimme. »Diese Gentlemen sind Mr. Benjamin Weaver und sein Freund Elias Gordon«, stellte Mutter Tripper uns ihm vor, womit sie keinen Zweifel daran ließ, dass sie der Befragung beizuwohnen trachtete. Elias und ich erhoben uns zu einer Verbeugung. »Mr. Teaser, wie ich annehme?« »Richtig. Das ist der Name, unter dem man mich hier kennt.« Er setzte sich, also nahmen auch wir wieder Platz. »Darf ich Ihren richtigen Namen erfahren?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Ich würde es vorziehen, ihn für mich zu behalten. Ich habe Frau und Kinder, müssen Sie verstehen, und es würde ihnen großen Kummer bereiten, wenn sie von meiner Anwesenheit hier erführen.« Ja, damit hatte er zweifellos recht. »Ich glaube, Sie sind mit einem Mr. Absalom Pepper bekannt.« Wieder schüttelte Teaser den Kopf. »Ich habe noch nie von einem solchen Mann gehört.« Ein Gefühl der Enttäuschung durchfuhr mich, aber dann sagte ich mir, dass Teaser ja schließlich nicht sein richtiger Name war und es keinen Grund zu der Annahme gab, dass Pepper es nicht ebenso halten konnte. »Ein Mann, der mit dem Gewerbe der Seidenweber zu tun hat«, half ich ihm ein. »Der immer ein Buch bei sich trägt, in dem er sich Notizen macht.« »Ach so.« Teaser blickte interessiert, beinahe erschrocken, auf. »Fräulein Eule. Kennen Sie sie? Wo ist sie?« »Die Eule«, sagte Mutter Tripper. »Ja, es ist wirklich schon ein paar Monate her, dass wir von ihr gehört haben. Ich habe mir schon ernsthaft Sorgen gemacht.« »Gibt es etwas Neues von ihr?«, fragte Teaser. »Hat sie Sie zu mir geschickt? Ich bin so besorgt gewesen. Sie ist einfach eines Tages nicht mehr gekommen, und ich habe schon das Schlimmste befürchtet. Ich habe befürchtet, dass ihre Familie hinter unser Geheimnis gekommen ist, denn warum sonst sollte sie mich einfach so im Stich lassen? Sie hätte mir doch wenigstens eine Nachricht zukommen lassen können. Warum hat sie das nur nicht getan?« Elias und ich sahen einander an. Ich blickte einen Augenblick lang zu Boden, während ich den Mut zusammennahm, Pepper in die Augen zu schauen. »Sie müssen sich auf eine traurige Nachricht gefasst machen. Die Eule, wie Sie ihn nennen, ist nicht mehr.« »Wie bitte?«, entfuhr es Mutter Tripper, »Tot? Wie das?« Teaser saß wie erstarrt da. Seine Augen waren ganz groß und feucht geworden, und dann sank er in seinem Sessel zusammen. In einer theatralischen Geste presste er eine Hand an die Stirn, aber ich bezweifelte nicht, dass seine Gefühle ehrlich waren. »Wie kann sie denn tot sein?« Diese Verwirrung der Geschlechter begann mir auf die Nerven zu gehen. »Eine ziemlich komplizierte Geschichte«, sagte ich. »Manches davon verstehe ich selber nicht so ganz, aber es gibt einige, die glauben, die East India Company könne dahinterstecken.« »Die East India Company«, wiederholte Teaser mit einer anrührenden Mischung aus Wut und Verzweiflung. »Oh, habe ich sie nicht davor gewarnt, sich mit denen anzulegen? Aber sie wollte ja nicht hören. Nein, sie wollte partout nicht hören. Die Eule hat immer ihren eigenen Kopf durchgesetzt.« In Hinblick darauf, dass derjenige, von dem hier die Rede war, zum Zeitpunkt seines Todes mindestens drei Ehefrauen hatte und sich gleichzeitig auch noch mit Männern einließ, konnte ich dieser Einschätzung Peppers nur beipflichten. »Ich weiß, dass das ein furchtbarer Schock für Sie sein muss«, sagte ich, »aber ich möchte Sie dennoch bitten, uns ein paar Fragen zu beantworten.« »Wozu?«, fragte er, das Gesicht in den Händen vergraben. »Warum sollte ich Ihnen helfen?« »Weil wir gebeten worden sind herauszufinden, wer diese Gräueltat begangen hat und den- oder diejenigen dem Richter zuzuführen. Können Sie mir nicht sagen, warum die East India Company seinen Tod gewollt haben sollte?« »Wer hat Sie beauftragt?«, fragte er. »Wer will Gerechtigkeit walten lassen?« Ich merkte, dass ich mich an einem Kreuzweg befand und eine Umkehr nicht mehr möglich war. Aber ich war die Halblügen und die Täuschungen ohnehin längst leid. Ich war es leid, eine Befragung durchzuführen, bei der ich die Hälfte der Fragen für mich behalten musste, und ich wollte die Sache endlich einmal zu einem Abschluss bringen. Also sagte ich es ihm. »Ein Mann namens Cobb.« »Cobb?«, sagte Teaser. »Was sollte ihn das angehen?« Meine geneigten Leser können sich kaum vorstellen, wie sehr ich mich zusammennehmen musste, um nicht von meinem Sessel aufzuspringen. Niemand in London hatte je privat oder geschäftlich von einem Cobb gehört, und ausgerechnet der Intimus eines Mannes mit drei Ehefrauen sprach diesen Namen aus, als wäre er allgegenwärtig. Aber damit Teaser mir auch weiterhin vertraute, musste ich den Anschein der Geschäftigkeit wahren und meine Erregung verbergen. Also schüttelte ich nur den Kopf. »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen«, erklärte ich beiläufig. »Cobb ist nur der Mann, der mich beauftragt hat. Seine Gründe kennt nur er selber. Aber die Frage ist natürlich interessant. Würden Sie eine Vermutung wagen?« Teaser erhob sich so plötzlich, als hätte etwas ihn gestochen. »Ich muss gehen. Ich muss mich hinlegen. Ich ... ich möchte Ihnen helfen, Mr. Weaver. Auch ich will, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Das kann ich Ihnen versprechen. Aber im Augenblick kann ich nicht darüber reden. Geben Sie mir etwas Zeit, mich hinzulegen, mich auszuweinen, meine Gedanken zu ordnen.« »Selbstverständlich«, sagte ich mit einem Seitenblick auf Mutter Tripper, denn sie war schließlich hier die Gastgeberin, und ich konnte nichts über ihren Kopf hinweg entscheiden. Sie nickte zustimmend. Teaser eilte hinaus und ließ uns drei in betretenem Schweigen zurück. »Sie haben sich keine große Mühe gegeben, es ihm schonend beizubringen«, sagte Mutter Tripper. »Sie mögen es ja nicht glauben, aber diese Männer empfinden Liebe wie jeder andere auch.« »Unsinn«, sagte ich. Ich wurde zunehmend gereizter. Mutter Tripper schien das Gefühl zu haben, als wären meine Vorbehalte gegen gleichgeschlechtlich veranlagte Männer die Wurzel allen Übels auf der Welt. »Wenn es darum geht, derart unerfreuliche Nachrichten zu überbringen, habe ich stets die Erfahrung gemacht, dass man es nie feinfühlig genug vorbringt. Es lässt sich ohnehin nicht mehr ändern, also sollte man nicht darum herumreden, damit der Betroffene endlich weiß, woran er ist.« »Ich merke, dass Sie die Lage nicht begriffen haben. Eule war nicht bloß Teasers Freund oder sein Liebhaber. Eule war seine Frau.« »Seine Frau«, wiederholte ich mit möglichst ruhiger Stimme. »Vielleicht nicht in den Augen des Gesetzes, aber ganz bestimmt in den Augen Gottes. Die Ehe ist von einem anglikanischen Priester geschlossen worden, einem Mann, der so ungezwungen und so unbefleckt auf Erden wandelt wie Sie, Mr. Weaver.« Offensichtlich wusste sie nicht allzu viel über mich, aber ich ließ es gelten. »Die Männer hier heiraten einander?« »Aber ja doch. Der eine nimmt die Rolle der Frau an, und fortan wird stets in der weiblichen Form von ihm gesprochen. Diese Ehen sind so ehrlich und so unverbrüchlich wie die zwischen Männern und Frauen.« »Und traf das auch auf Mr. Teaser und die Eule zu?«, fragte Elias. »Von Seiten Teasers ganz gewiss«, sagte Mutter Tripper mit einem Anflug von Wehmut. »Aber ich fürchte, die Eule hatte noch weitere Eisen im Feuer.« »Unter den übrigen Männern?«, fragte ich. »Und auch unter den Damen, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Viele Männer, die herkommen, würden am liebsten nie wieder nacktes weibliches Fleisch sehen, aber andere wiederum sind nun einmal auf den Geschmack gekommen und können nicht davon los. So einer war Eule.« »Diese Enthüllung kommt für mich nicht gänzlich überraschend, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« »Weil Sie meinen, alle Männer müsse es nach weiblichem Fleisch gelüsten?« »Nein, nicht deswegen. Aus dem Grund, weil Mr. Absalom Pepper, den Sie die Eule nennen, mit mindestens drei Frauen gleichzeitig vermählt gewesen ist. Er war ein Bigamist, Madam, und ich bin überzeugt davon, dass er andere Menschen schamlos für seine Zwecke ausgenutzt hat. Ich glaube, er hat auch Mr. Teaser für irgendetwas gebraucht und hat den armen Kerl verführt, um sein Herz zu erweichen und seine Börse zu öffnen.« »Ein Mann«, bemerkte Mutter Tripper, »versucht immer, die eine oder andere Börse zu öffnen.« Sie wollte noch mehr sagen, wurde aber von einem lauten Krachen vor der Tür unterbrochen. Ihm folgten erregte Rufe, teils grob und maskulin, teils im Falsett, wenn ein Mann das Kreischen einer Frau nachahmte. Dann hörte ich, wie schwere Gegenstände umstürzten und weitere Rufe, aber diesmal aus tiefen, ehrfurchtgebietenden Stimmen. »Großer Gott.« Für eine Frau ihres Alters kam Mutter Trip-per bemerkenswert schnell aus ihrem Sessel hoch. Sie war ganz bleich im Gesicht geworden. »Das ist die Polizei. Ich wusste, dass es eines Tages so weit sein würde.« Sie öffnete die Tür und stürzte nach draußen. Ich hörte eine klagende Stimme rufen, jemand solle um Gottes willen mit etwas aufhören, eine andere rief, jemand solle im Namen des Königs stehen bleiben. Es war schwer zu glauben, dass irgendwas von dem, was da draußen vorging, tatsächlich nach Gottes Willen oder im Namen des Königs geschah. »Die Sittenreformer«, sagte Elias. »Deswegen waren sie heute Abend unterwegs. Sie haben zusammen mit den Kons-tablern den Überfall vorbereitet. Wir müssen zu Teaser. Wenn man ihn festnimmt, kommen wir vielleicht nie wieder an ihn heran.« Ich spann den Gedanken zu seinem bitteren Ende weiter. Wenn man Teaser festnahm, wäre er wahrscheinlich tot, bevor wir auch nur versuchen konnten, an ihn heranzukommen, denn die anderen Gefangenen würden einen wie ihn eher erschlagen, als den Platz mit ihm zu teilen. Ich zog meinen Dolch aus der Scheide und rannte zum Fenster, wo ich kurzen Prozess mit dem Vorhang machte, indem ich ihn in Streifen schnitt, von denen ich einen Elias gab und mir den anderen ums Gesicht wickelte, bis es bis auf die Augen verborgen war. »Wollen wir den Konstablern ihr Geld abnehmen?«, fragte Elias. »Willst du erkannt werden? Du wirst es nicht leicht haben, unter den Gentlemen von London noch einen Patienten zu finden, wenn du erst einmal in dem Ruf stehst, ein Sodomiter zu sein.« Das reichte, um ihn zu überzeugen. Die behelfsmäßige Maske, die ein wenig jenen ähnelte, mit denen ich mich während meiner Jugend ab und zu getarnt hatte, war im Nu um seinen Kopf gewickelt, und gemeinsam stürzten wir uns ins Getümmel. Zwei maskierte Männer mit gezückten Waffen erregen immer Aufmerksamkeit, und hier verhielt es sich nicht anders. Sowohl die Gäste von Mutter Tripper als auch die Polizisten wichen ängstlich vor uns zurück. Wir drängten uns durch das Gewimmel von Männern, die entweder eine Festnahme vorzunehmen oder sich einer solchen zu widersetzen versuchten und schauten uns überall nach Teaser um, aber es war keine Spur von ihm zu entdecken. In dem großen Saal, in dem vorhin noch getanzt worden war, herrschte ein heilloses Durcheinander. Einige Männer hatten sich in die Ecken verkrochen, während andere sich mit Leuchterkerzen und abgebrochenen Tisch- und Stuhlbeinen mutig zur Wehr setzten. Überall lagen umgestürzte Möbel und zerbrochenes Glas wie Inseln in den Pfützen von verschüttetem Wein und Punsch. Es waren ungefähr ein Dutzend Konstab-ler - oder Raufbolde, die sich hatten anheuern lassen, um als solche zu fungieren - und ebenso viele Sittenreformer. Ich fand, dass Männer, die den Begriff Sitte auf ihre Fahne geschrieben hatten, sich auch gesittet benehmen sollten, und doch sah ich, wie einer von ihnen auf einen am Boden liegenden Mann eintrat, während zwei Konstabler den Unglücklichen festhielten. Drei oder vier weitere Gäste wurden bei dem Versuch zu entkommen von Konstablern niedergeknüppelt, während die Reformer ihnen aus sicherer Entfernung zujubelten. Die Polizisten waren wüste Schläger und ihre Helfershelfer elende Feiglinge. Das waren mir die richtigen Verteidiger von Recht und Anstand. »Teaser!«, rief ich in die Menge. »Wer hat Teaser gesehen?« Niemand hörte oder beachtete mich. Die Gäste hatten andere Sorgen, und die Konstabler konnten sich nicht entscheiden, ob sie uns durchlassen oder festhalten sollten. Jedenfalls unternahm niemand den Versuch, uns zu demaskieren, denn es waren ja genug wehrlosere Opfer da, die man sich vorknöpfen konnte. Die Sittenreformer taten sich dadurch hervor, dass sie gleich zu jammern anfingen, sowie wir auch nur den Blick in ihre Richtung wandten. Da sah man wieder, was von denen zu halten war, die unter dem Deckmantel der Religiosität die Straßen unsicher machten. Sie beriefen sich inbrünstig auf ihren Gott, aber Gefahr laufen, vor ihn zu treten, mochten sie auch nicht. »Teaser!«, rief ich noch einmal. »Ich muss Teaser finden. Ich bringe ihn hier raus.« Endlich reagierte einer auf meine Rufe. Zwei Konstabler hielten ihn an jeweils einem Arm fest, und ihm lief Blut aus der Nase. Seine Perücke war verrutscht, saß ihm aber noch auf dem Kopf. Einer der beiden Konstabler wollte seinem Kameraden demonstrieren, wie widerwärtig er ihr Opfer fand, und tat dies, indem er ihm an den Hintern fasste und fest drückte, als handele es sich um eine üppige Dirne. Das Gesicht des armen Kerls war verzerrt vor Schmerzen und der Demütigung, die ihm widerfuhr, aber als er uns sah, begriff er irgendwie, dass wir nicht seine Feinde waren, und es mochte der mitleidige Blick in meinen Augen gewesen sein, der ihn dazu brachte, die Stimme zu erheben. »Teaser ist entkommen«, rief er. »Er ist mit dem großen Schwarzen vorne zur Tür raus.« Also strebte auch ich der Tür zu. Ein paar Konstabler wollten sich mir in den Weg stellen, aber ich rempelte sie nur einmal kräftig an, worauf sie gleich umfielen, so dass ich und Elias, der sich dicht hinter mir hielt, ungehindert passieren konnten. Nachdem wir uns zur Tür des großen Saales hinausgeboxt hatten, lag das Gröbste hinter uns. Zwar verfolgten uns noch drei der Konstabler, aber mehr der Form halber, damit sie hinterher ins Protokoll schreiben konnten, es wäre ihnen nicht gelungen, uns aufzuhalten. Sie verdienten einfach nicht genug, als dass sie ihr Leben hätten riskieren mögen. Es war ein Leichtes, ein Haus wie dieses auszunehmen, aber maskierte Straßenräuber überließ man lieber den Soldaten. An der Tür hielten ein paar Sittenreformer Wache, aber als sie uns angestürmt kommen sahen, traten sie rasch beiseite. Einer bewegte sich dabei so ungeschickt, dass er mir vor die Füße fiel und ich über ihn hinwegspringen musste, um nicht selber hinzufallen. Auf der Straße hatte sich eine Menschenmenge eingefunden, die mit uns natürlich nicht recht etwas anzufangen wusste, obwohl unser Erscheinen überwiegend mit trunkenen Jubelrufen gefeiert wurde. Zum Glück führten Stufen zur Tür von Mutter Tripper, und von dort oben konnte ich die Straße nach allen Seiten überblicken. Und da sah ich sie dann - Teaser, den ich trotz der Dunkelheit auf den ersten Blick erkannte, wurde von einem sehr großen und auffällig behänden Mann davongezerrt, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte, aber es gab für mich keinen Zweifel, dass es sich bei Teasers Entführer um keinen Geringeren als Aadil handelte. 26 Holborn besteht aus zahllosen kleinen Straßen und finsteren Gassen und erscheint so auf den ersten Blick als idealer Ort, um unerkannt zu verschwinden, aber viele dieser Sträßchen enden als Sackgassen, und selbst ein rauer Kerl wie Aadil würde wohl ungern von zwei Verfolgern in die Zange genommen werden, während er sich mit einem Gefangenen abschleppte. Es wunderte mich daher nicht, dass ich ihn die Cow Lane auf die Schweineställe zu hinunterrennen sah. Wahrscheinlich wollte er uns zwischen den Tieren abschütteln. Elias und ich rissen uns die Masken vom Gesicht und hetzten hinter Teaser und Aadil her. Es hatte zu regnen begonnen, nur ein leichtes Nieseln, das aber doch reichte, um den Schnee in Matsch zu verwandeln und die Eiskrusten gefährlich glatt werden zu lassen. Auf dieser ungünstigen Fläche hasteten wir so schnell voran, wie es ging, aber schon bald verloren wir Teaser und Aadil aus den Augen. Elias wollte aufgeben und verlangsamte sein Tempo, aber ich gab mich so rasch nicht geschlagen. »Zu den Docks«, rief ich. »Er wird versuchen, übers Wasser zu entkommen.« Elias nickte nur; gewiss war er enttäuscht, dass ich ihm noch keine Pause gönnte, aber trotz seiner Atemlosigkeit hielt er tapfer durch und folgte mir durch die Gassen, bis wir an den Docks unter freiem Nachthimmel standen. Hier ertönte der Chor des menschlichen Lebens - die Austernverkäuferinnen und die Pastetenbäcker, die ihre Waren anpriesen, das Kichern der Huren, das Lachen der Betrunkenen - und natürlich die derben Späße der Hafenarbeiter. »Männer, steckt den Striemen in die Ollen«, grölten sie, womit natürlich »Riemen« und »Dollen« gemeint waren. Der Witz war so alt wie die ganze Stadt, aber er verfehlte nie seine Wirkung auf die so leicht zu belustigende Menge. Hier tummelten sich Reiche wie Arme, und viele überquerten auf Booten den Fluss. Dann hörten wir vom Wasser her Rufe. Es war eine weitere althergebrachte Sitte, dass bei jenen, die es wagten, einen Fuß in ein Boot zu setzen, jegliche Standesunterschiede von diesem Moment an nichts mehr galten, und so konnten einfache Ruderer Damen von edlem Geblüt und vermögenden Gentlemen mit allen möglichen schlüpfrigen Unflätigkeiten kommen. Selbst dem König würde, wenn er sich entschlösse, ein Boot zu nehmen, die ihm zustehende Ehrerbietung versagt bleiben, obwohl ich bezweifelte, dass er genügend Englisch verstand, um zu erfassen, was für Beleidigungen ihm an den Kopf geworfen wurden. Elias atmete keuchend, während er die Menschenmenge um uns herum absuchte, aber gar nicht wusste, wo er zuerst hingucken sollte. Ich hingegen konzentrierte meinen Blick auf den von unzähligen Laternen hunderter Ruderboote erhellten Fluss, der wie ein Spiegelbild des von Sternen übersäten Himmelszeltes über uns aussah. Keine fünfzehn Fuß vom Ufer entfernt erspähte ich in einem Boot den Rücken eines massigen Mannes und Teaser, der in Fahrtrichtung blickte. Zwischen den beiden befand sich der Ruderer. Teaser saß in der Falle, denn ein Sprung in das kalte Wasser hätte den sicheren Tod bedeutet - wenn er überhaupt schwimmen konnte. Er befand sich auf einem schwimmenden Gefängnis. Ich griff Elias beim Arm, zerrte ihn die Stufen der Ufermauer hinunter und stieß ihn in das erstbeste freie Boot. Dann stieg ich mit ein. »Hoho«, amüsierte sich der Besitzer. Er war ein junger Bursche mit kräftigen Schultermuskeln. »Zwei junge Gentlemen, die in aller Ruhe eine Bootsfahrt machen möchten, was?« »Halt den Mund«, zischte ich und zeigte mit dem Finger auf Aadil. »Siehst du das Boot da? Für dich ist eine Münze zusätzlich drin, wenn du es einholst.« Er warf mir einen Seitenblick zu, sprang aber sogleich ins Boot und stieß uns vom Ufer ab. Er mochte zwar ein Klugschwätzer sein, aber er wusste sich in die Riemen zu legen, und schon sausten wir durch die Wellen. Das Wasser roch halb nach Meer, halb nach Unrat, und es schlug heftig gegen die Bordwände. »Was ist los?«, fragte der Ruderer. »Hat sich der Kerl mit eurem Lustknaben davongemacht?« »Halt doch endlich deinen Schnabel, Bengel«, fuhr ihm Elias über den Mund. »Bengel sagst du? Ich werde dir gleich mal mit dem Ruderblatt zeigen, wer hier ein Bengel ist, und hinterher sagen, dass dir zum ersten Mal eine Hure an dein Hinterteil gegangen ist.« »Großes Maul und nichts dahinter«, knurrte Elias. »Mach dir nichts daraus«, beschwichtigte ich Elias. »Diese Bootsmänner werden dir erzählen, dass oben unten ist - nur um zu schauen, ob sie dich damit in Rage bringen können.« »Oben ist unten, mein Freund«, tönte der Ruderer. »Das weiß jeder, der kein Dummkopf ist, denn die Mächtigen sagen uns, was was ist, aber wenn wir einmal selber nachsehen, stellen wir fest, dass es sich doch anders verhält.« Jedenfalls musste ich zugeben, dass wir ganz schön vorankamen und der Abstand zwischen uns und Aadil immer geringer wurde. Zumindest glaubte ich, dass es sich um Aadils Boot handelte, denn in dem nur von Laternen erhellten Dunkel auf dem Wasser war es nicht leicht, die einzelnen Boote auseinanderzuhalten, doch war ich mir dessen einigermaßen gewiss. Und als ich sah, wie die Gestalt in dem Boot vor uns sich um-sah und den Ruderer zur Eile drängte, wusste ich, dass wir hinter der richtigen Beute her waren. »Sie haben uns gesehen«, sagte ich zu unserem Ruderer. »Schneller.« »Schneller kann ich nicht«, sagte dieser. Er war schon zu sehr aus der Puste für dumme Bemerkungen. Wieder sah ich, wie Aadils Silhouette den Kopf umwandte, seinem Ruderer etwas zuschrie und ihn beiseitestieß, als er nicht bekam, was er wollte. Nun ruderte Aadil selber. Irgendwie hatte auch unser Ruderer das mitbekommen und fand wieder zu seinem losen Mundwerk zurück. »Was ist denn das?«, rief er seinem Kollegen zu. »Du lässt dir von dem Kerl deine Möse abspenstig machen?« »Die krieg ich schon noch wieder«, rief der andere zurück. »Dann kannst du bald deinen süßriechenden Schwengel in sie stecken!« »Klar doch. Deinen beschissenen Rüssel steckst du ja höchstens zwischen die Titten deiner Mutter.« »Und deine Mutter hat gar keine Titten, denn die war nur ein zotteliger Petz, der dich geboren hat, nachdem ihn ein geiler Jäger, der ein Loch nicht von dem anderen unterscheiden konnte, in den Arsch gefickt hat - so wie dein Vater, der den Unterschied nicht mehr weiß wie ein Affe in Afrika!« »Und dein Vater war der größte Hurenbock, der jemals seine arschgefickte Tochter ...« »Schluss jetzt!«, brüllte ich so laut, dass man es auch in dem anderen Boot hören konnte. In diesem Augenblick vernahm ich, wie das Geräusch der Ruder verstummte, und als ich nach vorne blickte, sah ich trotz der Finsternis, wie Aadil sie aus dem Wasser hob. Und dann hörte ich eine fremde, aber doch seltsam vertraute Stimme meinen Namen rufen: »Weaver? Bist du das?« Die Stimme klang hoffnungsvoll - und gar nicht mal unfreundlich. »Wer ruft da?« »Ich, Aadil.« Er brach in gellendes Gelächter aus. »Da schufte ich mich ab, als wenn uns wer Gefährliches verfolgt, und dann bist das bloß du?« Ich konnte mich nur wundern. Sooft er den Mund aufgemacht hatte, hatte er immer nur gegrunzt wie ein wildes Tier. Und obwohl er immer noch in dem Singsang seines indischen Akzents sprach, redete er plötzlich in ganzen Sätzen wie einer, der hier geboren ist. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. »Was ist denn nun los?« Mehr fiel mir nicht ein. Er lachte noch einmal aus voller Kehle. »Schätze, wir sollten mal offen miteinander reden. Wir treffen uns am Ufer, und dann suchen wir uns einen Ort, wo wir uns in Ruhe alles erzählen können.« Zum Glück merkten unsere Ruderer, das etwas Unerwartetes zwischen uns vorgegangen war und hielten sich für den Rest der Fahrt mit Kommentaren zurück. Elias sah mich neugierig an, aber ich wusste nicht, wie ich seine unausgesprochenen Fragen beantworten sollte. Ich zog mir nur den Mantel um die Schultern, denn es schien plötzlich kälter geworden zu sein, als ein leichter, aber beständiger Regen auf uns niederzu-rieseln begann. Das andere Boot erreichte das Ufer zuerst. Noch wusste ich nicht, ob Aadils Angebot, mit uns zu verhandeln, nicht ein schlauer Trick gewesen war, aber dann sah ich, wie er ausstieg und geduldig wartete, bis auch wir angelegt hatten und aus dem Boot geklettert waren. Auf dieser Seite der Themse herrschte ein nicht minder lebhaftes Treiben als auf der anderen, und man konnte sich hier wohl kaum ungestört unterhalten, aber Aadil lächelte uns nur zu und begrüßte uns mit einer tiefen Verbeugung. »Ich bin dir gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen, was mich betrifft«, sagte er. »Natürlich kann ich das auch von dir behaupten oder von jedem anderen im Craven House, aber das spielt nun keine Rolle mehr. Ich habe schon längst begriffen, dass ich von dir nichts zu befürchten habe, und dein Auftauchen hat sogar einige interessante Entwicklungen ausgelöst.« Er blickte zum Himmel hinauf. »Dieser Regen scheint nicht aufhören zu wollen, und wenn ich etwas über euer englisches Wetter gelernt habe, dann, dass es sich erst einmal ausregnen muss, ehe es aufklart. Wollen wir uns einen warmen, trockenen Unterschlupf suchen?« Mir war nicht nach Konversation. Ich wollte nur nicht noch nasser werden. »Wer zum Teufel bist du?« Sein Lachen klang, als würde es erst in seiner Brust nachhallen, ehe er es ausstieß. »Mein Name ist wirklich Aadil. Ich bin Aadil Wajid Ali Baghat, und obwohl ich ihrer unwürdig bin, darf ich doch die Ehre für mich beanspruchen, ein gemeiner Diener Seiner höchsten Majestät, seiner Hoheit Muhammad Shah Nasir ad Din, shah an shah, des Königs der Könige, des Großmoguls von Indien zu sein.« »Verdammt«, flüsterte Elias. »Der schmutzige Hundesohn ist ein indischer Spion.« »Schmutzig will ich nicht gehört haben, aber ein Spion bin ich. Ja, ich bin ein Agent des Moguls und ausgeschickt worden, um einen Schlag auszuführen, der hoffentlich die East In-dia Company in ihre Schranken weisen wird. Wollt ihr noch mehr hören?« Elias schien so sprachlos, wie ich mich fühlte, aber ich brachte dennoch ein paar Worte hervor. »Ich bin mir nicht so sicher, ob ich einen Schlag gegen die East India Company ausführen will. Glaub mir, dass ich nicht viel von den Männern im Craven House halte, aber ihre Vernichtung habe ich mir nun doch nicht auf die Fahnen geschrieben.« »Das liegt wohl daran«, sagte Aadil, »dass du nicht weißt, was sie sich auf die Fahnen geschrieben haben, und weder ahnst, wer deine Feinde sind, noch das wahre Ausmaß ihrer Niedertracht kennst.« »Nein«, konnte ich nur bestätigen. »Das weiß ich alles nicht.« »Wenn du es herausfinden willst, begleite mich in die nächste Schenke. Dort will ich euch nicht nur mit Wärme und Trockenheit, sondern auch mit Speis und Trank verwöhnen.« »Das hättest du doch gleich sagen können«, schwärmte Elias. Als ein Jude unter Engländern habe ich mich in meiner eigenen Heimatstadt immer ein wenig fehl am Platze gefühlt, aber nun sollte ich bald feststellen, dass - verglichen mit einem Inder - niemand an einem Juden Anstoß nimmt. Wir konnten kaum drei Schritte gehen, ohne dass irgendwer Aadil etwas hinterherrief oder ihn sogar ansprach. Kinder nannten ihn verächtlich schwarze Amsel oder liefen zu ihm hin und rieben an seiner dunklen Haut, um zu sehen, ob diese abfärbte. Erwachsene wichen ihm aus und hielten sich die Nase zu, obwohl Aadil sauberer, geradezu blumig, roch, als irgendeiner der Passanten es von sich behaupten konnte. Auch Huren machten Aadil auf sich aufmerksam, versprachen, Afrikanern Sonderpreise einzuräumen, oder ließen ihn wissen, dass sie noch nie das Vergnügen eines schwarzen Schwanzes gehabt hatten und gerne einmal einen näher betrachten würden. Ich wäre an seiner Stelle verrückt vor Wut geworden über das Geschwätz, aber ich merkte, dass Aadil sich längst an so etwas gewöhnt hatte und sich kaum davon beirren ließ. Ich stellte sogar eine Übereinstimmung zwischen Juden und Indern fest - trotz aller Vorurteile in seinem Herzen nahm ein jeder Händler gerne ihr Silber. Als wir eine ziemlich überlaufene Schenke betraten, warf der Wirt Aadil zwar einen missbilligenden Blick zu, änderte aber sogleich seine Meinung, als der Inder ihm eine übertrieben hohe Summe für einen privaten Raum nebst Verköstigung anbot. Aadil schien sich in den Wirtshäusern auszukennen, denn wir bekamen ein gut eingerichtetes Zimmer mit zwei Fenstern mit offenen Läden und vielen Kerzen. Als uns die Köstlichkeiten des Hauses serviert wurden, rührte Aadil nichts davon an, da die Mahlzeiten, wie er erklärte, nicht in Einklang mit seiner Religion zubereitet wären. Und ebendieser Glaube, fuhr er fort, verbiete ihm auch den Genuss jeglichen Alkohols. »Hört, hört! Kein Alkohol!«, entfuhr es Elias. »Teufel auch, Weaver, ich habe endlich eine Religion entdeckt, die es einem noch schwerer macht als unsere.« Er ließ sich von der Abstinenz unseres Gastgebers allerdings nicht davon abhalten, zuzulangen, schenkte sich eiligst ein Glas Wein ein und machte sich mit Heißhunger über das kalte Huhn her. Während all dessen saß unser Freund Mr. Teaser still mit im Schoß gefalteten Händen da. Auch er schüttelte den Kopf, als ihm etwas zu essen oder zu trinken angeboten wurde, was mich nicht allzu sehr überraschte. Immerhin hatte er eine schreckliche Nachricht empfangen und an diesem Tag einiges über sich ergehen lassen müssen. Trotzdem verstand ich nicht, warum er in den Händen dieses dunkelhäutigen Riesen so teilnahmslos geblieben war. Ich konnte es mir nur so erklären, dass er schon einmal mit Aadil Wajid Ali Baghat zu tun gehabt hatte und wusste, dass er dem indischen Spion vertrauen konnte. Diese Vermutung fand ich sogleich bestätigt, denn obwohl Teaser in niedergeschlagenem Schweigen verharrte, goss Aadil nichtsdestotrotz einen kräftigen Schluck Wein in einen Zinnbecher und reichte ihn dem Unglücklichen. »Trinken Sie das, Sir. Ich weiß, dass euch Engländern so etwas guttut.« Teaser nahm den Becher zwar entgegen, machte aber keinerlei Anstalten, daraus zu trinken. »Ich kann es nicht glauben, dass sie tot ist«, sagte er. »Und was wird nun aus der armen Mutter Tripper und meinen Freunden? Wir müssen zurück und ihnen beistehen.« Ich gebe zu, nicht geglaubt zu haben, dass ein Mann, der einen anderen Mann zur Ehefrau nahm, sich so sehr um das Schicksal anderer Menschen kümmern würde, aber dieser Abend hatte bereits jede Menge Überraschungen für mich parat gehabt und dürfte, wie ich fest annahm, mir noch weitere bescheren. »Wir können nicht zurück, und wir können auch nichts für sie tun«, sagte ich. »Es tut mir leid, es so sagen zu müssen, aber es ist die Wahrheit. Durch die Konstabler und die Männer von der Reformbewegung sind uns die Hände gebunden, und ich glaube auch, dass sie im Auftrag einer höheren Macht gehandelt haben, einer mit genug Mitteln, um sicherzustellen, dass alles wunschgemäß erledigt würde. Wir können nur hoffen, dass sie von der weiteren Strafverfolgung Ihrer Freude absehen werden, nachdem sie sich ihr Mütchen an ihnen gekühlt haben.« »Und wer, glaubst du, steckt dahinter?«, fragte mich Aadil. Am Tonfall seiner Stimme erkannte ich, dass er es sehr wohl wusste und es nur noch einmal von mir hören wollte. Ich hatte keinen Grund, ihm den Gefallen nicht zu erweisen. »Die East India Company, falls ich mich nicht sehr irre«, sagte ich, »oder zumindest gewisse Kräfte innerhalb ihrer Reihen, aber ich vermag nicht zu sagen, ob es Ellershaw oder Forester oder sonst wer ist, der dabei die Finger im Spiel hat.« Aadil nickte bedächtig. »Da magst du recht haben, aber ich habe vielleicht mehr als nur eine Ahnung, mit wem wir es hier zu tun haben. Ich werde dir jetzt sagen, was ich weiß und warum ich hier bin. Ich weiß, dass du in einer Zwickmühle steckst, Weaver, und nicht so handeln kannst, wie du es gerne möchtest. Ich hoffe sehr, dass du, nachdem du gehört hast, was ich zu sagen habe, verstehst, dass ich nur Gerechtigkeit will, und bereit sein wirst, mir bei meiner Aufgabe zu helfen.« »Gerechtigkeit«, entfuhr es mir. »War es im Namen der Gerechtigkeit, dass du Carmichael in Diensten Foresters ermordet hast?« Er schüttelte den Kopf. »Das darfst du nicht denken. Ich mochte Carmichael und seine sorglose Art und hätte ihm nie etwas zuleide getan. Ich gebe zu, dass ich anderes vortäuschte, denn das half mir, dich heil da herauszubekommen, und das war zu dem Zeitpunkt meine größte Sorge. Ja, ich habe in jener Nacht auf Foresters Anweisung gehandelt oder vielmehr so getan, als würde ich in seinem Sinne handeln, aber ich kann dir versichern, dass weder er noch ich etwas mit der Ermordung Carmichaels zu tun hatten.« »Das lässt sich hinterher leicht behaupten. Und was war das, was du die ganze Zeit für Forester gemacht hast?« Aadil grinste. »In der Hinsicht darf ich im Augenblick noch nicht zu sehr in die Einzelheiten gehen. Lass dir gesagt sein, dass er, wie so viele Angehörige der East India Company, hinter dem mysteriösen Wunderwebstuhl her war und dass er sich dafür meiner Dienste versichert hat. Ich war jedoch nicht ausschließlich der Diener der Company, wie er geglaubt hat.« »Also gibst du zu, sie hintergangen zu haben?« »Niemand hier kann seine Hände in Unschuld waschen, wenn es darum geht, die East India Company hintergangen zu haben. Aber glaube bitte nicht, dass ich einem Unschuldigen wie Carmichael etwas angetan hätte. Um keinen Preis.« »Das ergibt einen Sinn«, sagte Elias. »Mr. Baghat hat sich dir gegenüber mit Absicht feindselig gezeigt und so getan, als wüsste er von nichts, und er hat es auch so aussehen lassen, als hätte er Carmichael auf dem Gewissen. Heute Abend hat er uns bewiesen, dass er nicht nur nicht dein Feind ist, sondern auch über Großmut verfügt.« »Und er hat uns heute Abend auch bewiesen, dass er geschickt etwas zu verhehlen weiß und dass es auf unsere eigene Gefahr ist, wenn wir ihm Glauben schenken.« Die Worte kamen wie aus der Pistole geschossen, und sowie ich sie ausgesprochen hatte, fragte ich mich auch sogleich, ob ich mir wirklich noch einen Verdacht bewahrte oder ob ich es Aadil nachtrug, dass er mich so gründlich getäuscht hatte. Oder auch, ob es mir vielleicht einfach widerstrebte, binnen eines Augenblicks meine Meinung von einem Menschen zu ändern. Als ich erkannte, dass ich in dieser Hinsicht meinen eigenen Gefühlen nicht ganz trauen konnte, wich die Starrheit meiner Haltung und ich erhob mich, um eine knappe Verbeugung vor Aadil zu machen. »Nun gut, es wird wohl das Beste sein, wenn wir uns alles anhören, was du zu sagen hast. Ich werde deinen Worten Glauben schenken, soweit es mir möglich ist.« Aadil erwiderte die Geste, was mir zeigte, dass er die britischen Sitten ebenso verinnerlicht hatte wie unsere Sprache. »Ich bedanke mich für deine Großzügigkeit.« »Es handelt sich nicht nur um Großzügigkeit, sondern auch um Neugier«, sagte ich in versöhnlichem Tone. »Vielleicht solltest du mit deiner Verbindung zu Mr. Teaser anfangen, und damit, wie es dazu kam, dass du ihm heute Abend so mutig beigestanden hast.« Teaser nickte ernst, als wolle er andeuten, dass ich tatsächlich den richtigen Punkt gewählt hatte, um mit der Geschichte anzufangen. »Um Mr. Absalom Peppers und dieses Gentleman willen bin ich überhaupt auf eure Insel gekommen. Sie müssen mir vergeben, Mr. Teaser, wenn ich schlecht über Mr. Pepper sprechen muss, obwohl ich weiß, dass Sie ihm sehr zugetan sind. Aber das gehört zu dem, was ich zu erzählen habe.« Teaser senkte den Blick. »Auch mir ist es schon zu Bewusstsein gekommen, dass die Eule nicht der Mensch war, für den ich sie gehalten habe. Sagen Sie, was Sie sagen müssen. Es zu verschweigen, spendet mir auch keinen Trost.« Aadil nickte. »Es ist keine zwei Jahre her, dass ein niederer Bediensteter Seiner höchsten Majestät, des Großmoguls Muhammad Shah Nasir ad Din, mögen er und seine Söhne ewig regieren, einen sehr interessanten Brief von Mr. Pepper erhielt, einen Brief, den er für wert erachtete, ihn seinen Vorgesetzten zu zeigen, und diese wiederum den ihren und so weiter, bis der Brief den engsten Beratern des Moguls unter die Augen kam. In jenem Brief verkündete Mr. Pepper, er habe ein bemerkenswertes Gerät erfunden, einen Webstuhl mit so feinen Schäften nämlich, dass er es gewöhnlichen Europäern ermöglichen würde, Textilien indischer Machart aus in Amerika angebauter Baumwolle zu fertigen. Kurz gesagt hatte er einen Webstuhl ersonnen, der einem der wichtigsten Gewerbe meines Heimatlandes gefährlich werden konnte, indem er ihm einen echten Rivalen bescherte.« »Also hat Forester sich nicht geirrt«, warf Elias ein. »Nicht darin, dass er glaubte, es könne möglich sein, aber in so manchem anderen. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass der Mogul der Erfindung große Aufmerksamkeit entgegenbrachte, doch er hielt es für klüger, deren Fortentwicklung aus sicherem Abstand zu beobachten. Wie man weiß, ist die East India Company ein privates Unternehmen, aber sie steht der britischen Regierung so nahe, dass sie beinahe ein Teil ihrer darstellt. Uns zu sehr einzumischen, konnte uns in gefährliche Nähe eines Krieges führen, und das auch noch mit einem wichtigen Handelspartner. Also sandte der Mogul stattdessen Agenten aus und ließ Mr. Pepper ohne eine Antwort warten.« Elias nickte zustimmend. »Und da er nichts von dem Mogul hörte, entschloss sich Mr. Pepper, die weitere Entwicklung auf eigene Faust vorzunehmen.« »Genau das, Sir. Als er sich mit uns in Verbindung setzte, hatte er nur die Pläne für seine Maschine. Er hatte gehofft, wir würden ihn reich dafür entlohnen, dass er seine Erfindung geheim hielt, aber als von unserer Seite kein Angebot kam, machte er sich daran, ein betriebsfähiges Modell herzustellen.« »Und dazu brauchte Pepper Kapital«, fügte ich hinzu. »Er warf seinen Charme in die Waagschale und ging eine Reihe von Ehen ein, die ihm jeweils eine Mitgift einbrachten, womit er sein Modell bauen konnte.« »Ja, zum Teil verhielt es sich so«, gab mir Aadil recht. »Pep-per mag ein schlauer Kopf gewesen sein, aber er besaß keine Bildung. Er hat sich im Leben immer durchgeschlagen, indem er seinen Charme und sein vorteilhaftes Aussehen einsetzte. Alte Angewohnheiten wird man nicht so leicht wieder los, also kam er auf den Gedanken, auch vermögende Männer damit zu umgarnen - Männer nämlich, die das eigene Geschlecht bevorzugen.« »Und so ist er auf mich gekommen«, unterbrach Teaser sein Schweigen. »Ich habe lange an der Börse gearbeitet, habe Geldanlagen verwaltet und auch für mich etwas angelegt. Die Eule, die Sie Pepper nennen, hat mich glauben gemacht, dass er etwas für mich empfände, und schon konnte ich ihm nichts abschlagen. Er hat mehr als dreihundert Pfund von mir bekommen.« »Und hat er nun seinen Webstuhl gebaut?«, fragte Elias. »Vielleicht, wenn er sich gleich an unseren Freund hier gewandt hätte«, sagte Aadil. »Aber wie es sich mit vielen faulen Machenschaften verhält, wuchsen die Dinge Pepper bald über den Kopf. Er hatte elf Haushalte, für die er sorgen musste, wagte es aber nicht, auch nur eine einzige seiner Frauen zu verlassen, denn wenn diese sich auf die Suche nach ihm gemacht hätte und er als Bigamist aufgeflogen wäre, hätte ihm der Galgen gedroht. Also musste er zuletzt alles Geld, das er aufbrachte, darauf verwenden, das Lügengebäude, das er sich geschaffen hatte, vor dem Einsturz zu bewahren. Und dennoch war er zu schlau und zu ehrgeizig, um sich mit seiner finanziellen Misere abzufinden. Durch seine Bekanntschaft mit einem Börsenmakler kam er darauf, dass es einfachere Wege gab, sich Geld zu beschaffen als durch Heirat oder amou-röse Kapriolen. Also suchte er nach jemandem, der Kapital in seine Erfindung zu stecken bereit war und lernte auf diese Weise einen Mann kennen, der dir, glaube ich, bekannt sein dürfte.« »Cobb«, sagte ich und hatte das Gefühl, dass endlich Licht ins Dunkel kam. Aber ich hätte mich nicht böser irren können. Noch hatte ich gar nichts begriffen. Aadil schüttelte den Kopf. »Nein, nicht Cobb, obwohl wir auf ihn und seine Rolle bei alledem schon bald zu sprechen kommen werden. Nein, der Mann, der Pepper half, sein Werk zu vollenden, war ein Angehöriger deines eigenen Volkes, ein Kaufmann namens Moses Franco.« Ein ausgedehntes Schweigen senkte sich über den Raum. Vielleicht dauerte es auch gar nicht so lange, vielleicht nur ein paar Sekunden, aber mir erschien es endlos. Teaser sah mich ratlos an, als begriffe er überhaupt nichts, Aadil schien meine Erwiderung abwarten zu wollen, und Elias vertiefte sich in die Betrachtung der rauen Bodendielen. Er hatte gehört, was ich soeben erfahren hatte - dass in meinem eigenen Freundeskreis etwas nicht stimmte und dass ein Mann, den ich für einen treuen Gefährten gehalten hatte, möglicherweise etwas ganz anderes war. Oder? Hundert Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich hatte mit Mr. Franco nie über Pepper gesprochen, nie seinen Namen erwähnt. Er seinerseits hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er geschäftlich mit der East India Company in Berührung kam, hatte mir sogar anvertraut, dass er nicht glücklich mit der Geschäftsbeziehung wäre und man seinen Vorschlägen stets mit feindseliger Ablehnung begegnet war. Und wer wollte es ihnen verdenken, sagte ich mir, da er doch eine Erfindung zu finanzieren gedachte, die sie des Großteils ihrer Handelsgeschäfte berauben würde? Es ärgerte mich, dass Mr. Franco dieses Vorhaben mir gegenüber nie erwähnt hatte, aber es konnte ja sein, dass er es nicht als bedeutungsvoll für meine Ermittlungen erachtete, oder, was noch wahrscheinlicher war, dass er nichts gesagt hatte, weil er sein Geheimnis möglichst lange für sich bewahren wollte, um weder sich noch mir zu schaden. Aus diesen Erwägungen wurde ich jäh durch das Splittern von Glas und eine Explosion von gleißendem Licht gerissen, die eine enorme Hitze aufkommen ließ. Nein, nicht Hitze. Sengende Glut. Flammen. Was war geschehen? Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, war ich schon aufgesprungen, denn das Feuer breitete sich sogleich im ganzen Raum aus. Während ich Elias von den Flammen fortriss, nahm in einer fernen Ecke meines Bewusstseins meine Wahrnehmung der letzten Sekunden Konturen an. Ein brennendes, offenbar mit Petroleum oder einer anderen leicht entflammbaren Flüssigkeit gefülltes Fässchen war durch die Fensterscheibe geworfen worden. Durch eben dieses Fenster wollte Elias jetzt entkommen, aber ich riss ihn zurück. »Nein!«, schrie ich. »Wer immer uns die Hölle heißmachen will, ist bestimmt noch da draußen und wartet, dass wir hinausgestürzt kommen. Wir müssen zusammen mit den übrigen Gästen von hier weg und uns in der Menge verlieren.« »Richtig«, rief Aadil und zog Teaser beim Arm. Ich öffnete die Tür unseres Zimmers und wollte gerade hinauslaufen, als ich innehielt. Es war nicht zu übersehen, dass der Angriff nicht nur uns allein gegolten, vielleicht gar überhaupt nicht uns gegolten hatte und wir nur zufällig in diesen Brandanschlag mit hineingezogen wurden, was ein tröstlicher Gedanke wäre, den ich aber sogleich als töricht verwarf. Nein, das konnte kein Zufall sein. Hier waren böse Mächte am Werk, die uns den Flammentod wünschten. Daran gab es keinen Zweifel. Elias, der sich nie besonderer Tapferkeit gerühmt hatte und seinen Kleinmut pflegte wie andere ihre Tugenden, war vor mir zur Tür hinausgestürzt. Als ich ihm folgen wollte, flog ein weiteres Fass in unseren Raum und landete in der einzigen Ecke, die noch nicht lichterloh brannte. Auch hier griffen sofort Flammen um sich und schnitten mich von Teaser und Aadil ab. Sollte ich mich in Sicherheit bringen oder zu ihrer Rettung eilen? Für Elias stellte sich diese Frage nicht; er war schon auf und davon und in der Menge untergetaucht, die sich zum nächst erreichbaren Ausgang drängte. »Aadil!«, rief ich. »Seid ihr wohlauf?« »Bis jetzt noch. Sieh zu, dass du rauskommst. Ich komme hier nicht weg. Teaser und ich müssen durchs Fenster.« »Seht euch vor!« »Kümmere dich um dich selber. Raus jetzt, wir reden später.« Diesen Ratschlag sollte man beherzigen. Ich schob mich durch die Masse von Körpern, die zum Ausgang drängte. Überall um mich herum hörte ich Schreie und das Geräusch prasselnder Flammen und zerspringender Tongefäße. Dichter Rauch breitete sich aus, so dass ich kaum noch sah, wo ich hintrat. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass die Menschen vor mir ein sicheres Gespür dafür hatten, wo es entlangging und uns aus dem Inferno geleiten würden. Es war ein beklemmendes Gefühl, so ganz auf Wildfremde angewiesen zu sein, aber es half ja nichts, also ließ ich mich, den Kopf gegen den Rauch und die Schultern zum Schutz vor den züngelnden Flammen gesenkt, mitreißen. Endlich erreichten wir das Freie. Es waren schon mehrere Konstabler zusammengelaufen, und Anwohner der benachbarten Häuser versuchten, das Feuer zu löschen, indem sie eine Kette mit Wassereimern bildeten. Trotz meiner Angst stellte ich erleichtert fest, dass sie die Situation so weit als möglich im Griff hatten. Das Wirtshaus würde unweigerlich ein Raub der Flammen werden, aber nun ging es darum, die umstehenden Gebäude zu retten. Wir hatten Glück mit dem Wetter - es regnete noch heftiger als vorhin, und über die erschreckten Rufe und das Knistern des brennenden Holzes hinweg hörte man das Zischen des Wassers, das einem weiteren Ausbreiten des Feuers Einhalt gebot. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob diejenigen, die uns den Flammentod gewünscht hatten, ohne den Regen eine andere Methode gewählt hätte. Selbst ein abgefeimter Mörder würde davor zurückschrecken, skrupellos die halbe Stadt in Schutt und Asche zu legen. Aber es hatte so oder so einen schlimmen Ausgang genommen, denn ich sah, dass mindestens ein halbes Dutzend Gäste üble Verbrennungen davongetragen hatten und um Rettung flehend im Schmutz lagen. Und da entdeckte ich Elias. Er mochte nicht über den Mut eines Löwen verfügen, aber nun, da die unmittelbare Gefahr vorüber war, zögerte er nicht, den Verletzten seine ärztliche Kunst angedeihen zu lassen. Er kniete gerade über einem jungen Mann, fast noch einem Knaben, dessen Arm böse verbrannt war. »Sammelt Schnee ein«, rief er einer Frau zu, die neben ihm stand, eines der Barmädchen, wie ich annahm, »und presst ihn ihm auf den Arm, und das mindestens eine Viertelstunde lang!« Als er sich von seinem Patienten löste, um zu schauen, wer als Nächstes seiner Hilfe bedurfte - auch wenn er, wie er wohl selber zugegeben haben würde, nicht viel ausrichten konnte, denn Verbrennungen waren eine schlimme Sache -, wurde er plötzlich ganz schlaff und zeigte auf das brennende Haus. Auch ich sah sofort, was er gesehen hatte, obwohl ich mir wünschte, dessen nicht teilhaftig geworden zu sein. Aus den Flammen kam Aadil getaumelt wie ein Mann, der seinem eigenen Grabe entsteigt. Seine Haut und seine Kleider waren versengt, und die Strümpfe an seinen Beinen waren vollständig verbrannt. Er hatte überall furchtbare Brandwunden, und der Ruß in seinem Gesicht färbte es noch schwärzer, als es ohnehin schon war. Doch am meisten erschreckte mich das Blut. Es lief ihm über das Gesicht, die Arme und die Beine, vor allem aber über die Brust, und es hörte nicht auf zu strömen. Elias und ich stürzten auf ihn zu und hielten ihn gerade noch fest, als er zusammenbrach. Es kostete uns unsere ganze gemeinsame Kraft, ihn zu stützen. Als wir ihn hingesetzt hatten, riss Elias ihm das Hemd von der Brust. »Er ist angeschossen worden«, rief er, »und zwar aus nächster Nähe, wie man an den Pulverspuren an seiner Kleidung sieht.« »Kannst du was für ihn tun?« Er wandte den Blick ab. Ich begriff, dass es nichts zu sagen gab. »Teaser ist tot«, keuchte Aadil. »Schone deine Kräfte«, sagte Elias. Ein letztes Mal lachte Aadil auf. »Wofür denn? Ich komme ins Paradies, und ich fürchte mich nicht vor dem Tod, also braucht ihr euch nicht um mich zu kümmern.« Er spuckte einen Klumpen blutigen Schleimes aus. »Du hast getan, was du konntest«, versicherte ich ihm. »Wer hat auf dich geschossen, Aadil? Hast du ihn gesehen?« »Ich habe versucht, ihn zu retten, aber ich bin nicht mehr an ihn herangekommen.« »Wer hat auf dich geschossen?«, fragte ich noch einmal. »Sag es uns, damit wir dich rächen können.« Er wandte sich ab und schloss die Augen. Ich glaubte, er wäre tot, aber dann brachte er mit letzter Anstrengung noch einen Satz hervor: »Seht euch vor. Celia Glade.« Und mit diesen Worten tat er seinen letzten Atemzug. 27 Wir wollten unseren neu gewonnenen und ebenso rasch wieder verlorenen Gefährten nicht zurücklassen, aber Elias und ich wussten nur zu gut, dass wir jedes Aufsehen vermeiden und den Konstablern aus dem Weg gehen mussten. Eine Vorführung bei Gericht würde schnell mit einem längeren Aufenthalt hinter Gittern enden, unabhängig davon, ob man sich etwas hatte zuschulden kommen lassen oder nicht, und ich war nicht in der Stimmung, mich vor einem Richter erklären zu müssen - nicht einmal vor dem allerhöchsten. Anstatt uns den Widrigkeiten einer weiteren Bootsfahrt auszusetzen, nahmen wir eine Kutsche über die Brücke. Elias rang die Hände und biss sich auf die Lippe, und ich merkte, wie er seine Gefühle im Zaum hielt, indem er zu philosophischen Gedanken Zuflucht nahm. Selbst für jemanden wie mich, der ein Leben gewählt hat, in dem Gewalt oft eine Rolle spielt, war es nicht leicht, einen Menschen sterben zu sehen oder eben noch in einem Raum mit einem Menschen gesessen zu haben, von dem man Augenblicke später erfährt, dass er verbrannt ist. Als Arzt war Elias oft mit menschlichem Leid konfrontiert und musste in Ausübung seiner Tätigkeit auch selber so manches Leid zufügen, aber es ist schon etwas anderes, mitansehen zu müssen, wie ein Unschuldiger gewaltsam zu Tode kommt. »Was hat er damit gemeint?«, brachte er endlich hervor. »Mit seinem letzten Satz? Was er über Miss Glade gesagt hat?« Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit ich entdeckt hatte, dass Elias sich für Celia Glade interessierte, aber ich besaß jetzt nicht mehr die Kraft, darüber nachzudenken. In Hinblick auf all das, was sich seither zugetragen hatte, erschien mir dieser kleine Treuebruch als belanglos. »Es kann zwei Dinge bedeuten - entweder, dass wir ihre Hilfe suchen sollen oder eben, dass wir uns vor ihr in Acht nehmen müssen.« Im dunklen Coupe der Droschke sah ich ihn nachdenklich mit dem Kopf nicken. »Und wie deutest du es?« »Ich weiß nur, dass wir auf der Stelle Mr. Franco aufsuchen müssen. Ich muss erfahren, was er uns über diesen Teaser und Peppers Erfindung sagen kann.« »Ich denke, er ist doch angeblich dein Freund? Kann es da sein, dass er mit der East India Company im Bunde ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich gehe eher davon aus, dass er Geld in eine Sache gesteckt hat, und sich damit ahnungslos zu einem Mitwisser machte, und dass Cobb ihn sich als sein erstes Opfer ausgesucht hat, weil es ihm einerseits so gelegen kam und andererseits, um mich auf eine falsche Fährte zu locken.« »Damit Franco nicht dahinterkommt, was es mit dieser Erfindung wirklich auf sich hat und mit dir darüber spricht?« »Das ist meine Vermutung. Aadil und Teaser haben angedeutet, dass er Pepper Mittel für die Weiterentwicklung seiner Erfindung vorschießen wollte, und darum geht es bei diesem Wahnsinn ja wohl in erster Linie. Wenn es uns gelänge, die Pläne für dieses Gerät in die Hände zu bekommen, müssten wir sie Ellershaw bringen, und zwar noch vor morgen Mittag.« »Was? Wieso? Zur East India Company? Ist dir noch nicht aufgegangen, zu was für Schurkereien die fähig sind?« »Natürlich ist es das, aber so verhält es sich eben mit solchen großen Unternehmen. Wir können sie nicht bitten, nicht zu sein, was sie sind. Ellershaw hat einmal bemerkt, die Po-litik brächte keine Lösung für die Probleme der Wirtschaft, sondern wäre das Problem der Handelshäuser. Aber darin hat er sich geirrt. Die East India Company ist das Biest, und dem Parlament obliegt es zu entscheiden, wie groß sein Käfig sein soll. Ich werde mich nicht mit dem Craven House anlegen, weil man dort auf Profit bedacht ist, und es kann weder viel schaden, Ellershaw die Pläne zu zeigen, noch, sie vor ihm geheim zu halten.« »Und warum tun wir es dann?« »In einer Sache bin ich mir bei Cobb ganz sicher: Er weiß von Peppers Plänen und ist ganz versessen darauf, sie in die Finger zu kriegen. Also müssen wir die Pläne so oder so finden. Wir wollen doch mal sehen, wer wen in der Hand hat, wenn ich drohe, die Pläne zu verbrennen oder sie dem Cra-ven House auszuliefern. Es wird Zeit, dass wir die Zügel an uns reißen. Mein Onkel ist tot. Mr. Franco sitzt im Gefängnis. Die Männer, von denen ich mir Unterstützung erhoffe, werden ermordet. Es wäre töricht zu glauben, dass es uns besser ergehen wird, also müssen wir neue Regeln für das Spiel aufstellen.« »Cobb bedroht nun nur noch uns und deine Tante«, gab Elias zu bedenken. »Wenn wir seine Bedrohung ignorieren und sämtlichen Gerichtsvollziehern aus dem Wege gehen, die er uns an den Hals schickt, kann er uns nicht aufhalten. Und was deine Tante betrifft - ich bezweifle nicht, dass die gute Lady eine vorübergehende Unbequemlichkeit, so unangenehm sie für sie auch sein mag, überstehen wird, solange dies dir Zeit gibt zurückzuschlagen.« Obwohl er es im Dunkeln nicht sehen konnte, lächelte ich ihm zu. Er hatte einen schrecklichen Abend hinter sich, unsere Freundschaft war einer Zerreißprobe ausgesetzt gewesen, aber ich hatte sehr wohl begriffen, was er eben gerade zu mir gesagt hatte. Er würde es darauf ankommen lassen, Cobbs Zorn auf sich zu ziehen, um mir zur Seite zu stehen. Und ich wusste, dass er viel mehr als nur seine Freiheit aufs Spiel setzte. Elias war ein gut beleumundeter Arzt, zu dessen Patienten Männer und Frauen von Stand zählten. Aber er wollte das alles riskieren, um mir bei meinem Kampf gegen meine Feinde beizustehen. »Ich danke dir«, sagte ich. »Mit ein bisschen Glück werden wir das alles vielleicht bald hinter uns haben. Aber erst nach unserem Gespräch mit Mr. Franco werden wir mehr wissen.« »Also legen wir uns jetzt schlafen und warten, bis morgen früh das Gefängnis in der Fleet Street aufmacht?« Ich musste seine Hoffnung leider zunichtemachen. »Nein, das kann nicht warten. Wir begeben uns augenblicklich dorthin.« »Mitten in der Nacht wird man keine Besucher vorlassen.« »Für eine Silbermünze ist alles jederzeit möglich«, sagte ich. »Das weißt du doch.« »In der Tat«, sagte er, und die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Hat uns diese ganze Geschichte das nicht längst bewiesen?« Der Kutscher zierte sich, uns zur Fleet Street zu fahren. Er befürchtete wohl, wir könnten ihm seinen Lohn verweigern und dass er wegen der besonderen Gesetzmäßigkeiten in dem Viertel keine Möglichkeit hätte, ihn notfalls mit Hilfe eines Konstablers einzufordern. Eine Bezahlung im Voraus jedoch zerstreute seine Bedenken, obwohl er sich noch immer nicht sicher war, was er von zwei Männern halten sollte, die zu nächtlicher Stunde Einlass im Gefängnis begehrten. Nichtsdestotrotz erklärte er sich bereit, vor dem Tor auf uns zu warten, aber weder Elias noch ich waren allzu überrascht, als wir in dem Augenblick, da wir seiner Droschke den Rücken zugekehrt hatten, die Hufe klappern hörten. Es war schon lange nach Mitternacht, so dass es mehrere Minuten dauerte, bis auf mein Pochen jemand erschien, um die Klappe im Gefängnistor beiseitezuschieben und zu schauen, wer wir waren und was wir wollten. »Wir müssen dringend einen Gefangenen besuchen«, sagte ich. »Einen gewissen Moses Franco. Ich muss sofort mit ihm sprechen.« »Und ich muss wohl der König von Preußen sein«, erwiderte der Wärter. »Nachts keine Besuche. Wenn Ihr anständige Menschen wäret, wüsstet ihr das.« Er schnüffelte wie ein Jagdhund. »Ihr riecht ja wie die Schornsteinfeger.« Ich ignorierte seine Bemerkung, denn er hatte ja recht damit. »Kommen wir zur Sache. Wie viel kostet es, um auf der Stelle zu dem Gefangenen vorgelassen zu werden?« Er brauchte nicht lange zu überlegen. »Zwei Schillinge.« Ich gab ihm die Münzen. »Es wäre besser, wenn man hier ein Schild mit den Preisen aushinge wie in einem Wirtshaus. Dann bräuchten die Besucher nicht erst lange zu fragen.« »Vielleicht mag ich es, wenn man mich fragt«, erwiderte er. »Nun wartet hier, während ich euren Gefangenen hole.« Wir drückten uns gegen die glatte Steinmauer, denn der Regen hatte immer noch nicht nachgelassen, und obwohl wir das vor gerade erst einer Stunde noch als ein großes Glück bezeichnet hatten, war uns nun kalt, und wir fühlten uns elend. Der Wärter schien eine Ewigkeit fortzubleiben, aber nach gut einer halben Stunde kam er schließlich zurück. »Ich kann euch nicht helfen«, sagte er zu mir. »Der Gefangene ist entlassen worden. Er ist nicht mehr da.« Ich konnte kaum an mich halten. »Nicht mehr da? Wieso ist er nicht mehr da?« »Da habe ich eine merkwürdige Geschichte erzählt bekommen. Ich wäre schon viel früher zurück gewesen, wenn ich sie mir nicht noch bis zum Ende hätte anhören wollen, und außerdem nahm ich an, dass ihr sie auch würdet erfahren wollen. Aber als ich einen Blick auf die Tafel mit den Tagespreisen warf, habe ich festgestellt, dass interessante Geschichten, die mit entlassenen Gefangenen zu tun haben, ebenfalls zwei Schillinge kosten, also gebt mir das Geld und seid froh, dass das Gefängnis in dieser Woche für unnötige Gänge nichts berechnet.« Ich schob die zwei Münzen durch den Schlitz, und der Wärter schnappte sie sich. »Also, Folgendes habe ich gehört. Ein Gentleman ist hier aufgekreuzt und hat angeboten, die Schulden des Gefangenen abzulösen und die Unkosten für seinen Aufenthalt hier zu begleichen. Daran ist nichts Ungewöhnliches; das passiert natürlich dauernd, aber diesmal hat die Geschichte die Runde gemacht, denn scheinbar war der Knabe, der ihn ausgelöst hat, derselbe Mann, der ihn überhaupt erst hat einliefern lassen - ein Bursche namens Cobb. Und noch interessanter war, dass der Gefangene sich weigerte, mit ihm zu gehen, und sagte, er wolle lieber weiter im Gefängnis bleiben. Aber trotz allem, was Sie vorhin gesagt haben, betreiben wir hier kein Gasthaus, also hat es ein paar Schließer gebraucht, um den widerborstigen Mr. Franco in die Kutsche seines Wohltäters zu verfrachten.« Mir war vor Schreck der Hals wie zugeschnürt. Gerade erst waren Elias und ich übereingekommen, dass Cobb mir nun mit nichts mehr drohen konnte, auf das ich nicht vorbereitet war, aber das schien auch ihm aufgegangen zu sein. Anstatt Mr. Franco im Gefängnis schmoren zu lassen, hatte er sich seiner bemächtigt. Mich packte eine solche Wut, dass ich entschlossener denn je war, mit aller Macht zurückzuschlagen -aber mehr denn je zuvor war mir schleierhaft, wie ich das anstellen sollte. Am nächsten Morgen - es waren nur noch zwei Tage bis zur Versammlung der Anteilseigner - kam Elias wie verabredet zu mir in die Wohnung. Und er kam sogar so zeitig, wie ich ihn zu kommen gebeten hatte, was ein deutliches Zeichen war, dass ihn die Sorge ebenso umtrieb wie mich. »Solltest du nicht im Craven House sein und die Dinge von dort angehen?«, fragte er mich. »Da gibt es nichts anzugehen«, antwortete ich. »Wenn ich nicht die Pläne für Peppers Erfindung auftreibe, kann ich gar nichts tun. Aber ich hätte sie sehr gerne noch vor der Versammlung der Anteilseigner in Händen, denn wenn ich Eller-shaw seinen Triumph ermögliche, ärgert das Cobb. Doch zuallererst müssen wir Mr. Franco retten.« »Und wie stellst du dir das vor?« »Ich werde mir da schon was einfallen lassen. Auf jeden Fall müssen wir mit Celia Glade sprechen.« Ich sah, wie er erst blass und dann rot im Gesicht wurde. »Hältst du das für einen guten Einfall? Es könnte doch sein, dass Mr. Baghat uns wirklich vor ihr warnen wollte.« »Kann sein, aber vielleicht war es auch so gemeint, dass wir ihren Rat einholen sollen. Ich möchte unbedingt dem letzten Hinweis folgen, den er uns unter Todesqualen noch gegeben hat.« »Und wenn diese letzten Worte nun doch eine Warnung gewesen sind? Möchtest du uns auch unbedingt in Gefahr bringen?« »Das täte ich höchst ungern. Aber lieber sehe ich der Gefahr ins Auge, als die Hände in den Schoß zu legen. Wenn sie unser Feind sein sollte, werden wir das früh genug erfahren.« »Ich rate, davon abzusehen, ehe wir nicht mehr wissen.« »Das habe ich erwartet. Natürlich möchtest du sie nach dem, was zwischen euch vorgefallen ist, am liebsten meiden, und vor allem, wenn ich auch dabei bin. Daher war ich so frei, ihr heute früh eine Nachricht zukommen zu lassen, dass sie sich bitte mit mir in Verbindung setzen möge, falls sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen hat.« Elias, der im Augenblick offenbar nichts Wichtiges zu sagen hatte, wandte sich ab. Die nächsten Stunden debattierten wir darüber, wie wir Mr. Franco aus Cobbs Fängen befreien konnten, und ich glaubte, uns wären ein paar gute Einfälle gekommen. Es war fast Mittag, als meine Vermieterin an die Tür klopfte, um mir zu sagen, dass draußen eine Lady in einer Kutsche auf mich warte. Elias und ich sahen einander an. Wir gingen unverzüglich hinunter auf die Straße und näherten uns der eleganten, silber und schwarz lackierten Equipage. Aus dem Fenster schaute eine äußerst vornehm in Seide gekleidete Dame, eine ausgesprochene Schönheit und zweifellos eine sehr vermögende, angesehene Angehörige der beau monde. Das zumindest war mein erster Gedanke, als ich sie sah. Der zweite Gedanke war, dass es sich bei dieser Lichtgestalt um Celia Glade handelte. »Ah, Gentlemen, wie schön, Sie anzutreffen. Ich sehe, dass ich nicht die Einzige bin, die an diesem Vormittag wenig Grund gesehen hat, sich sogleich ins Craven House zu begeben. Wenn Sie beide die Güte hätten, sich zu mir zu gesellen, können wir in der Stadt umherfahren und uns ungestört unterhalten. Ich bin mir sicher, dass wir einander viel zu erzählen haben.« Elias schüttelte fast unmerklich den Kopf, aber mir entging es nicht. Und ich konnte ihn ja auch verstehen. Seine Zurückhaltung Celia Glade gegenüber beruhte nicht nur auf Aadils Warnung. Vielmehr dürfte ihn ein schlechtes Gewissen plagen, weil ihre Gegenwart ihn an sein ziemlich unkameradschaftliches Verhalten mir gegenüber erinnerte. Und das schien mir kein geeignetes Fundament für unser geplantes Vorgehen. »Warum sollten wir einer falschen Schlange wie Ihnen vertrauen?«, fragte ich weniger in Erwartung einer erhellenden Antwort als vielmehr, um Elias zufriedenzustellen. »Ich habe allen Grund zu der Annahme, dass Sie das bald wissen werden, sowie Sie sich erst zu mir in die Kutsche ge-setzt haben.« Sie sah mir unverwandt in die Augen. »Sie mögen mir nicht vertrauen wollen, aber Sie tun es dennoch, also vergeuden wir keine Zeit mit Albernheiten.« Ich trat vor und öffnete den Wagenschlag. Miss Glade trug ein atemberaubendes Kleid aus grüner Seide mit elfenbeinfarbenem Spitzenbesatz und dazu dünne Kalbslederhandschuhe. Auf ihrem Kopf thronte eine sehr hübsche Haube. Doch bei aller Pracht ihrer Kleidung war es das spitzbübische, triumphierende Lächeln in ihrem Gesicht, das sie wie von innen heraus erstrahlen ließ. Und ich konnte dieses Triumphgefühl nachvollziehen, denn sie hatte tatsächlich eine Überraschung für uns parat. Neben ihr saß, an Händen und Füßen mit fester Schnur gefesselt, kein anderer als Mr. Cobb. Celia Glade lachte, als hätte jemand eine spaßige Bemerkung gemacht. »Glauben Sie mir jetzt?« »Sie haben meine volle Aufmerksamkeit«, sagte ich. Wir nahmen unsere Plätze ein, und der Kutscher schloss den Schlag hinter uns. Die Kutsche rumpelte los. Celia Glade hielt artig die Hände im Schoß, aber um ihre Lippen spielte ein teuflisch verführerisches Lächeln. Elias wusste gar nicht, wo er zuerst hinschauen sollte, und ich sah Cobb an. Er saß mit gesenktem Kopf und Schultern da und sah mehr aus wie ein Kriegsgefangener als -nun, ich wusste ja gar nicht, wer und was er war. Erstaunlicherweise war er es, der als Erster das Wort ergriff. »Weaver«, sagte er, »Sie müssen mir helfen. Reden Sie mit dieser Wahnsinnigen. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein. Sie hat mir Folter und Gefangenschaft angedroht und dass ich hängen werde. Ich halte es nicht länger aus. Ich verstehe ja, dass Ihnen mein Handeln nicht behagt hat, aber ich habe mich doch immer anständig Ihnen gegenüber verhalten, oder etwa nicht?« Ich sagte nichts dazu. Gewiss war er mir gegenüber zuvor-kommender gewesen als sein Neffe, aber er war der Kopf hinter alledem. »Wie ist es dieser Frau gelungen, Sie gefangen zu nehmen?«, fragte ich stattdessen. »Befassen wir uns nicht mit Einzelheiten«, sagte Celia Glade. »Ich hoffe doch wohl, Sie freuen sich, dass ich Ihnen den Schuft gebracht habe, der Ihnen so viel Verdruss bereitet hat.« »Aber Sie wollen mir immer noch nicht sagen, wer Sie sind?« Wieder lächelte sie, und ich wollte verdammt sein, wenn mir dabei nicht das Herz zerschmolz. »Sie werden alles erfahren, doch ziehe ich es vor, nicht in Gegenwart von Mr. Cobb darüber zu sprechen. Fragen Sie lieber ihn aus. Wir unterhalten uns dann später in privaterem Rahmen.« Ich wandte mich Cobb zu. »Da hat Miss Glade natürlich recht. Sagen Sie mir, wer Sie sind und was Sie wollen. Ich will erfahren, warum Sie mir das alles angetan haben. Und ich möchte wissen, wo Mr. Franco sich befindet.« »Mein Gott, Weaver, sehen Sie denn nicht, was für ein Spiel diese Frau treibt?« »Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich in ihr einen Engel oder den Teufel sehen soll, aber ich habe keinen Zweifel daran, was Sie darstellen, Sir. Nun reden Sie schon, sonst werde ich ungemütlich.« »Sie wollen mir Gewalt androhen? Nach allem, was ich für Sie getan habe?« »Ich werde Sie nur zu gerne meine Faust spüren lassen, und umso mehr für Ihr vorlautes Mundwerk. Was wollen Sie denn für mich getan haben, dessen ich mich glücklich schätzen darf? Sie haben mich benutzt, Sir, mich zu Ihrer Marionette und Ihrem Spielzeug gemacht und mich die ganze Zeit im Dunkeln tappen lassen. Sie haben meine Freunde gequält, und Ihretwegen haben drei Menschen Ihr Leben lassen müssen - Mr. Carmichael, der Inder Aadil und Teaser, ein ehemaliger Gefährte von Pepper.« Ich hörte, wie jemand scharf die Luft einsog. Es war Celia Glade, die sich nun einen ihrer feinen Handschuhe vor den Mund hielt. »Aadil Baghat ist tot?«, fragte sie mit leiser Stimme. »Das habe ich nicht gewusst.« Ich war drauf und dran, ihr zu sagen, dass es mich ungemein beruhigte, dass auch sie längst nicht alles wusste, aber dann sah ich, wie schwer die Nachricht sie getroffen hatte, und verzichtete auf bissige Kommentare. »Es ist letzte Nacht geschehen«, sagte ich. »In einem Wirtshaus in Southwark. Wir haben versucht, diesen Teaser zu retten - obwohl das nicht sein richtiger Name ist. Er war ...« »Ich weiß, wer er war«, sagte Celia Glade. »Er war Peppers Liebhaber. Einer von vielen.« »Ja. Wir wollten gerade versuchen, etwas aus ihm herauszubekommen, als man uns überfallen hat. Aadil, also Mr. Baghat, hat versucht, Teasers Leben zu retten, und dabei sein eigenes lassen müssen. Mir gegenüber hat er immer so getan, als wäre er ein brutaler Kerl, aber dann habe ich ganz plötzlich erfahren, wie er wirklich war.« Ich wandte mich wieder Cobb zu. »Ich kann Sie nur dafür verachten, dass Sie den Tod eines solchen Mannes herbeigeführt haben. Es ist mir gleich, ob Sie selber den Schuss abgefeuert oder jemand anderes damit beauftragt haben. Selbst, wenn sein Tod nicht Teil Ihres Planes war, werden Sie mir dafür bezahlen.« »Sein Land hat einen treuen Diener verloren«, sagte Celia Glade, und es klang durchaus ehrlich gemeint. »Und dieses Land auch. Er war ein Freund der Krone.« Ich sah sie an. Meinte sie das wirklich? Ich hatte sie bisher stets für eine Feindin Englands gehalten. Sollte ich mich geirrt haben? »Wer sind Sie, Cobb?«, fragte ich. »Wer sind Sie, dass Sie all dieses Elend über die Menschen gebracht haben, und wozu?« »Ich bin auch nur ein Diener«, sagte er, »und verfüge über wenig mehr Macht als Sie, Weaver. Man hat mich genauso be-nutzt wie ich Sie. Lassen Sie Gnade walten, Sir. Ich habe nie jemandem etwas zuleide tun wollen.« »Nun sagen Sie endlich, wer Sie sind!« »Ach, genug davon«, meldete sich nun auch Elias zum ersten Mal, seit wir die Kutsche bestiegen hatten, zu Wort. »Wer ist er, Celia?« Mir entging nicht, dass er sie bei ihrem Vornamen angesprochen hatte, doch ich bemühte mich, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Er ist ein Agent des französischen Königshauses«, sagte sie. »Er ist ein Spion, der gegen König Georg und die East India Company arbeitet.« »Ein französischer Spion!«, platzte es aus Elias heraus. »Aber wir dachten, Sie .« Etwas wie Amüsement huschte über ihr Gesicht. »Ich würde sehr gerne erfahren, wie Sie zu dem Schluss gekommen sind, aber das hat Zeit bis später. Jetzt geht es um Cobb. Los, reden Sie schon«, sagte sie zu ihm. »Und erzählen Sie den beiden alles, was sie hören möchten.« »Es stimmt nur zum Teil, Mr. Weaver. Ich arbeite für die Franzosen, doch nicht, weil ich ihnen in Treue verbunden bin. Ich bin in die Sache genauso hineingeraten wie Sie - wegen meiner Schulden. Nur war es in meinem Falle nicht meine Familie, die bedroht wurde, sondern meine höchsteigene Person. Ich nehme an, dass Sie eine solche Bedrohung wohl auf die leichte Schulter genommen hätten, aber ich bin nie ein Mann Ihres Schlages gewesen.« »Wenn er dir noch weiter schmeichelt«, sagte Elias, »wirst du vielleicht davon absehen, ihm die Finger zu brechen.« »Darauf sollte er sich lieber nicht verlassen«, sagte ich. »Nun erzählen Sie mir, warum die Franzosen wollten, dass Sie mich auf Ellershaw ansetzen.« »Das weiß ich nicht«, sagte Cobb. »Ich erhalte nur meine Befehle und werde über die Gründe nicht aufgeklärt.« »Aber es liegt doch ziemlich klar auf der Hand«, sagte Elias. »Du weißt doch, dass ich dir erzählt habe, die Franzosen wollten selber in den Ostindienhandel einsteigen. Bis zu einem gewissen Grade betrachten sie die East India Company als ein Anhängsel der britischen Krone, denn wenn der Reichtum der East India Company sich vermehrt, dann auch der unseres Königreiches. Also ist allen daran gelegen, dass die East India Company neue Märkte erobert. Alles, was die Franzosen tun können, um der East India Company zu schaden, schadet auch dem Wohlstand der britischen Nation.« »Richtig«, sagte Celia Glade. »Und obwohl ich bezweifle, dass unser Freund hier einen so scharfen Verstand besitzt wie Mr. Gordon, glaube ich doch, dass auch er das weiß. Deswegen wird er nicht mit der ganzen Wahrheit herausrücken wollen, und ihm einzeln die Finger zu brechen, könnte gar kein so schlechter Einfall sein. Ich habe versprochen, diesen Lumpen abzuliefern, aber ich habe nicht gesagt, in welchem Zustand.« »Bei wem sollen Sie ihn denn abliefern?«, fragte ich. »Bei wem? Nun, im Tower von London natürlich. Er wird ein Gefangener der Krone.« »Nicht bevor Mr. Franco aus den Händen von Cobbs Lakaien befreit ist«, sagte ich. »Seien Sie versichert«, stammelte Cobb, »dass er sich in keiner Gefahr befindet. Es steht nicht in meiner Macht, ihn freizulassen, aber Sie brauchen nicht zu befürchten, dass ihm etwas geschehen könnte.« »Nicht in Ihrer Macht?«, fragte ich. »Halten Sie ihn denn nicht in Ihrem Haus fest?« »Ja, dort ist er, aber Mr. Hammond hat ihn in seiner Gewalt.« »Ihr Neffe?« »Er ist nicht wirklich mein Neffe«, sagte Cobb. Endlich begriff ich. »Und er ist auch nicht Ihr Untergebener. Mr. Hammond ist ein hochrangiger französischer Agent, der sich bis zu den höchsten Posten im britischen Zollamt hochgearbeitet hat, und Sie sind bloß sein Handlanger. Sie präsentieren sich als derjenige, der das Sagen hat, um damit Hammond umso gründlicher vor Entdeckung zu schützen. Richtig?« Cobb antwortete nicht, aber sein Schweigen bestätigte mich nur umso mehr in meiner Vermutung. »Was wird aus Mr. Franco, wenn Hammond erfährt, dass Cobb unter Arrest ist?«, fragte Elias. »Er wird es nicht erfahren«, sagte Celia Glade. »Wir haben Cobb ergriffen, als er gerade das Land verlassen wollte. Er wollte nach Calais - offenbar in einer offiziellen Mission für seine Auftraggeber. Mindestens zwei Wochen lang wird keiner ihn vermissen. Hammond hat keine Ahnung, was seinem Speichellecker widerfahren ist.« Die Kutsche hielt. Ich sah aus dem Fenster und stellte fest, dass wir beim Tower angekommen waren. Sofort traten vier streng dreinblickende Soldaten auf uns zu. »Einen Moment noch«, sagte Celia Glade zu ihnen und dann, an mich gewandt: »Haben Sie noch Fragen an Mr. Cobb? Ich fürchte, er wird Ihnen nicht noch einmal zur Verfügung stehen.« »Wie bekomme ich Mr. Franco aus Hammonds Gewalt?« »Das können Sie nicht«, sagte Cobb. »Und ich würde es an Ihrer Stelle auch gar nicht erst versuchen, Weaver. Lassen Sie die Finger davon. Sie haben es hier mit Männern zu tun, die viel mehr Macht besitzen, als Sie sich vorstellen können, und Mr. Franco wird kein Haar gekrümmt, solange Sie sich nicht einmischen.« »Aber was will denn Hammond noch von ihm? Hofft er, mich bei der Stange zu halten, indem er meinen Freund festhält?« »Hammond spricht mit mir nur über seine Pläne, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Wenn Sie Antworten suchen, werden Sie die Fragen wohl ihm selber stellen müssen.« »Das werde ich tun«, sagte ich. »Worauf Sie Gift nehmen können.« »So«, begann ich. »Wer sind Sie?« Wir waren wieder in ihrer Kutsche unterwegs, aber nunmehr nur noch zu dritt, denn Cobb war abgeführt worden und sah im Tower nun einem traurigen Schicksal entgegen. Gewiss erwartete ihn die Folter, doch Miss Glade zeigte keine Spur von Mitgefühl. Sie wirkte kühl und besonnen wie immer. »Können Sie das nicht erraten?« »Jedenfalls keine Spionin der französischen Krone, wie ich ursprünglich angenommen hatte, aber etwa der britischen?« »So ist es«, bestätigte sie. »Uns ist nicht entgangen, dass die East India Company seit einiger Zeit an zwei Fronten bedroht wird. Zuerst haben die Franzosen versucht, Geschäftsgeheimnisse aus dem Craven House zu stehlen und nach Möglichkeit noch weiteren Schaden zu stiften. Wie Sie sich vorstellen können, dürfen wir so etwas nicht zulassen. Zu diesem Zweck sind wir eine Übereinkunft mit dem indischen Mogul eingegangen, der es zwar nicht schätzt, wenn wir Engländer uns in seine Angelegenheiten einmischen, es andererseits aber auch aus gutem Grund vermeiden möchte, dass sein Reich zum Schauplatz europäischer Machtkämpfe wird. Daher kam es, dass ich in gewissem Maße mit Aadil Baghat zusammengearbeitet habe. Ich wage nicht zu behaupten, dass er mir alles erzählt hat, was er wusste, doch das beruhte auf Gegenseitigkeit. Aber er war ein guter Mann, und es hat mich sehr bestürzt, von seinem Tod zu erfahren. Diese französischen Teufel schrecken aber auch vor nichts zurück.« Ein kummervoller Ausdruck huschte über ihr Gesicht, war jedoch im nächsten Moment schon wieder verschwunden. »Sie sprachen von zwei Fronten.« »Ja. Die zweite ist Mr. Peppers Erfindung. Wenn die Pläne dafür in die falschen Hände fallen, könnte das der East India Company erheblichen Schaden zufügen. Sie verdient zwar ihr Geld auch mit Tee und Gewürzen, aber der Handel mit Textilien macht sie zu dem, was sie darstellt. Ohne ihn wäre sie nur ein beliebiges Handelshaus.« »Und was ist sie jetzt?«, fragte Elias. »Ein neuer, bedeutender Baustein des britischen Weltreiches«, sagte sie. »Stellen Sie sich doch nur die Möglichkeiten vor. Die britische Krone mag der Welt ihren Stempel aufdrücken, mag ihre Macht ausspielen, mag bestimmend für den Handel und Wandel in allen Ländern der Erde sein, ohne jemals ihre militärische oder ihre Seemacht in Einsatz bringen oder ihre Bürger zwingen zu müssen, Haus und Hof zu verlassen und in einem fremden und unwirtlichen Land in den Krieg zu ziehen. Die East India Company hat uns gezeigt, wie man die Welt auf Handelswegen erobert. Sie finanziert ihre eigene Machtausdehnung, unterhält eigene Armeen und setzt nach ihrem Gutdünken Gouverneure ein. Und währenddessen werden unser Markt und unsere Vormachtstellung immer größer. Wundert es Sie da, wenn wir die East India Company um beinahe jeden Pries zu schützen versuchen?« »Also wollen Sie die Früchte britischen Erfindungsgeistes unterdrücken, um das britische Weltreich auszudehnen?«, fragte Elias. »Nun seien Sie nicht so spitzfindig, Mr. Gordon. Mr. Pep-per ist schließlich tot und kann die Früchte seines Erfindungsreichtums gar nicht mehr ernten.« »Und was ist mit seiner Frau«, erkundigte ich mich, bereute die Frage aber sogleich wieder. »Welche denn? Denken Sie, eine dieser Armseligen würde auch nur einen Penny sehen, selbst wenn Peppers Erfindung weiterentwickelt würde? Die Rechte an seinem Gedankengut würden die Gerichte auf Jahre hinaus beschäftigen, und am Ende wären es die Anwälte, die ihr Schäfchen ins Trockene bringen.« »Wenn ein Mann so eine Erfindung machen kann«, wandte ich ein, »dann kann es auch ein anderer.« »Das ist möglich und vielleicht sogar unvermeidlich, aber es muss ja nicht sofort sein. Die Welt wird nie erfahren, dass so eine Erfindung je existierte. Die Möglichkeiten sind es, die Erfindungsgabe gebieren, und keiner wird auf die Idee kommen, sich noch einmal an die Arbeit zu machen. Wenn niemandem je der Gedanke kommt, Baumwolle aus den Kolonien so zu spinnen, dass sie feinfädig wird wie indische Seide, wird sich auch niemand je um die Erfindung eines entsprechenden Webstuhls bemühen. Aufgabe des Parlaments ist es, dafür zu sorgen, dass Textilien billig und für jeden erschwinglich bleiben, damit niemand eine Notwendigkeit sieht, an dem System etwas zu ändern. Es gibt so manche, die glauben, das Gesetz von 1721 wäre ein verheerender Fehler gewesen, und zu diesen zähle auch ich mich. Aber man kann Gesetze ja auch wieder rückgängig machen.« »Vergessen wir da nicht etwas?«, sagte ich. »Mr. Pepper ist von der East India Company ermordet worden. Ich kann nicht glauben, dass es im Interesse der Regierung ist, eine solch teuflische Gesetzlosigkeit zu billigen.« »Die Umstände von Mr. Peppers Ableben sind in Dunkel gehüllt«, sagte sie. »Es muss gar nicht die East India Company sein, die für seinen Tod verantwortlich ist. Er hatte genug Feinde - angefangen bei seinen Frauen. Eine von ihnen könnte auf den Gedanken gekommen sein, dass er den Bogen überspannt hat. Oder er könnte bei dem vergeblichen Versuch, an seine Pläne zu gelangen, ein Opfer der Franzosen geworden sein. Im Moment lässt sich nicht sagen, was am wahrscheinlichsten ist.« Aber es gab noch eine Möglichkeit, eine, die ich gar nicht laut auszusprechen wagte - dass nämlich nicht die East India Company, sondern Regierungskreise sich entschlossen hatten, Pepper vorsichtshalber an der Umsetzung seiner Ideen zu hin-dern. »Ich könnte es mir zur Aufgabe machen«, schlug ich vor, »Peppers Tod zu untersuchen und herauszufinden, wer dahintersteckt. Wenn es mir gelingt, den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen, dürfte mir von Seiten der Regierung gewiss eine stattliche Belohnung winken.« »Dafür, fürchte ich, wird Ihnen nicht die Zeit bleiben, Sir. Sie werden für jemand anderen arbeiten.« »Und wer wird das sein?« »Nun, ich natürlich.« Sie grinste so keck und vielsagend, dass mir die Spucke wegblieb. »Ich beauftrage Sie, Sir, für die nicht zu verachtende Summe von zwanzig Pfund unserem König ein paar Dienste zu leisten.« Ich wagte nicht, sie anzusehen. Ich wollte mich von ihrer Schönheit nicht betören lassen. »Ich will niemandes Marionette mehr sein. Hammonds Tage sind gezählt, und damit stellt er auch keine Bedrohung mehr für mich und meine Freunde dar.« »Ja, Hammond nicht, aber da wären immer noch Ihre Schulden. Sie dürfen sich darauf verlassen, dass unsere Regierung sich großzügigerweise ihrer annehmen wird. Und da wäre noch etwas, Sir. Bei der letzten Wahl haben Sie sich durch Ihren Einsatz für die falsche Seite ganz schön in die Nesseln gesetzt. Sie mögen zwar glauben, es wäre Gras über die Sache gewachsen - doch nicht in den höchsten Kreisen von White-hall. Man könnte Ihr Handeln als Hochverrat bezeichnen - ein Kapitalverbrechen, wie Sie ja wohl wissen.« Bevor ich Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, ergriff Elias das Wort. »Meine Dame, Sie wissen wenig über Weaver. Wenn Sie glauben, diesen Gentleman mit Drohungen gegen seine Person gefügig machen zu können, sind Sie dümmer, als ich je geglaubt hätte.« Sie schenkte ihm ein wissendes und auch so bezauberndes Lächeln. »Keine Angst. Ich drohe ihm nicht.« Sie wandte sich wieder mir zu. »Es kann Ihnen nichts mehr passieren. Die Ge-fahr ist vorüber. Ich habe die Angelegenheit nicht erwähnt, um Sie zu verunsichern, Sir, sondern um Sie auf einen Umstand aufmerksam zu machen, der Ihnen bisher entgangen sein dürfte. Nach Ihrem Zusammentreffen mit dem Prätendenten schienen Sie zu einer Gefahr zu werden, und man argwöhnte, die aufmüpfigen Tories könnten Sie früher oder später auf ihre Seite ziehen, so dass man an Ihnen ein Exempel statuieren müsse. Ich sage Ihnen das nicht, um mich wichtig zu machen, aber ich habe Mr. Walpole, den Lordschatzmeister, einen Mann von enormem Einfluss, überzeugt, Ihnen nichts anzuhaben, weil ein Mann von Ihren Fähigkeiten und Ihrer edlen Gesinnung eines Tages doch seinem Königreich dienlich sein könnte. Ich war also schon Ihre Wohltäterin, ehe wir einander begegnet sind.« »Sie haben sich für mich verwendet? Warum?« »Hauptsächlich, weil ich fest daran geglaubt habe, dass dieser Tag kommen würde. Vielleicht auch, weil ich es für das Richtige hielt. Vielleicht, weil ich wusste, dass Sie kein Verräter sind, sondern vor eine unmögliche Wahl gestellt gewesen waren, und obwohl Sie nicht im Interesse der regierenden Whig-Aristokratie gehandelt haben, haben Sie sich auch nicht auf die Seite ihrer Gegner geschlagen.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.« »Sie sollen auch gar nichts sagen, sondern sich anhören, um was ich Sie bitte. Ihr König ruft Sie in seine Dienste, Mr. Wea-ver. Werden Sie dem Ruf folgen? Wollen Sie hören, um was es geht?« »Und das wäre?« »Es wird nicht Ihrem Sinn für Redlichkeit widersprechen, wenn wir Sie ersuchen, in Hammonds Haus einzudringen und Ihren Freund Mr. Franco zu befreien. Allzu schwer dürfte das nicht sein, vor allem jetzt nicht, da Cobb nicht mehr da ist. Es befinden sich außer ihm nur noch zwei Personen in dem Haus. Hammond und Cobb konnten sich keine große Dienerschaft leisten, weil das ihre dunklen Machenschaften gefährdet hätte. Befreien Sie Mr. Franco, und als Dank für diesen Dienst wird man Ihnen die versprochenen zwanzig Pfund auszahlen und die finanzielle Notlage, in die Cobb und Hammond Ihre Freunde gestürzt haben, bereinigen.« »Ein großzügiges Angebot«, sagte ich. »Vor allem, da Sie mir anbieten, mich für etwas zu bezahlen, das ich ohnehin nur zu gern täte.« »Es bleibt bei Ihrer Aufgabe allerdings noch ein Punkt zu erwähnen. Haben Sie sich nicht gefragt, was es so Wichtiges geben könnte, weshalb Cobb Hals über Kopf nach Frankreich reisen wollte? Wir haben bei ihm ein Büchlein gefunden, das in verschlüsselter Form die Pläne von Peppers Erfindung enthielt, wie Cobb zugab. Dieses Büchlein ist inzwischen vernichtet worden, aber wir wissen, dass das Original, die einzige noch existierende Niederschrift der Pläne, sich im Besitz von Hammond befindet. Es handelt sich um ein kleines, in Kalbsleder gebundenes Buch mit verschiedenen Zeichnungen und Diagrammen. Es muss irgendwo in dem Haus versteckt sein. Gehen Sie Ihren Freund retten, und wenn Sie schon dabei sind, suchen Sie nach den Plänen und bringen Sie sie uns.« »Warum sollte ich dieses zusätzliche Risiko eingehen? Mir geht es nur um Franco. Die East India Company interessiert mich kein bisschen.« Sie lächelte wieder. »Selbst wenn Sie darüber hinwegsehen, was Sie Ihrem Königreich schuldig sind, werden Sie doch gewiss nicht wollen, dass diejenigen, die so viel Unglück über Ihre Freunde gebracht haben, nun in den Genuss dieser Pläne kommen? Hinter alledem stecken die Franzosen; sie begehren diese Pläne mehr als alles andere auf der Welt, und nun sind sie für sie in greifbare Nähe gerückt. Wäre es Ihnen nicht eine Befriedigung, sie ihnen wieder wegzunehmen?« »Sie haben recht«, sagte ich. »Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, dass ich weder leugnen kann, Ihnen etwas schuldig zu sein, noch, dass ich es ertragen könnte, wenn meine Feinde am Ende doch ihren Erfolg einstreichen. Ich werde die Pläne holen.« »Sowie wir sie in Händen halten, bekommen Sie Ihre Belohnung.« Ich erwiderte nichts, denn ich wusste bereits, dass ich auf die zwanzig Pfund verzichten würde. Ich vermochte nicht zu sagen, wem die Pläne zustanden, aber ich hatte bereits eine Vorstellung von der Person, der ich sie übergeben würde, und wenn Celia Glade meine Gedanken lesen könnte, würde sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um mich davon abzuhalten. 28 Elias saß in meinem Wohnzimmer und leerte genüsslich eine Flasche Portwein, die ich am Morgen erst geöffnet hatte. Er schmiegte sich in meinen bequemsten Sessel und hatte die Füße auf den Tisch gelegt, an dem ich meine Mahlzeiten einzunehmen pflegte. »Ich bin ziemlich unglücklich mit alledem«, sagte er. »Das bezweifle ich nicht.« Ich trat gerade in dunklen Breeches und einem dazu passenden dunklen Hemd ins Zimmer. Dann schlüpfte ich in eine ebenso dunkle Jacke, die zwar nicht den Zweck eines richtigen Überziehers erfüllte, denn sie war leichter, als es dem Wetter entsprach und lag enger am Körper an. Sie würde mich aber ausreichend vor der Kälte schützen, und ich musste mich nicht mit einem schweren Kleidungsstück belasten, das mir nur hinderlich sein konnte. »Ich nehme nicht an, dass du mich begleiten möchtest«, sagte ich. »Und wenn, dann wüsstest du wahrscheinlich nicht, wie du dich verhalten solltest. Obwohl dir der Sinn nach Abenteuern steht, musst du stets bedenken, dass man uns dabei ertappen könnte, und ich bezweifle, dass du dich im Gefängnis gut aufgehoben fühlen würdest.« Er nahm die Füße vom Tisch. »Das stimmt schon, aber es laufen allerhand miese Burschen herum. Und was soll ich so allein mit mir anfangen, bis du wieder da bist?« »Wenn du möchtest, kannst du hier auf mich warten.« »Aber es ist doch kein Portwein mehr da.« »Du weißt, dass ich immer mehr als eine Flasche im Haus habe.« »Oh. Dann bleibe ich hier.« Es war den ganzen Tag bitterkalt gewesen, doch mit dem Einbruch der Nacht hatte es sich sonderbarerweise ein wenig erwärmt, so dass sich die Kälte draußen durchaus ertragen ließ. Der dunkle Himmel war wolkenverhangen, und es fielen immer wieder pappige Schneeflocken, die den Schmutz auf den Londoner Straßen in eine schlammige Masse verwandelten. Unter weniger dringlichen Umständen hätte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen gesetzt, um mich vor Dreckspritzern zu bewahren oder nicht aus Versehen in einen Haufen Kot zu treten, aber an diesem Abend war mir nur danach, entschlossenen Schrittes voranzustreben. Ich sprach ein stummes Stoßgebet. Am nächsten Tag würde die Versammlung der Anteilseigner einberufen, und wenn es mir nicht gelang, bis dahin Mr. Franco zu befreien und Peppers Pläne zu finden, waren meine sämtlichen Bemühungen möglicherweise vergebens gewesen. Auf jeden Fall musste ich mir Zutritt zu dem Haus verschaffen, das Cobb und Hammond benutzt hatten. Ich war schon in allerhand Häuser eingebrochen, einmal sogar in eine von französischen Spionen besetzte Festung, aber ich musste davon ausgehen, dass man Vorkehrungen gegen einen Einbruch getroffen, vielleicht sogar Fallen aufgestellt hatte, und das gefiel mir gar nicht. Daher wollte ich mich der Hilfe derer versichern, die ganz genau wussten, wie man in das Haus gelangte. Nachdem ich in die Sparrow Street eingebogen war, blieb ich stehen und schaute mich nach allen Seiten um. Ich lehnte mich gegen eine Mauer und zog den Hut tief in die Stirn, damit niemand mein Gesicht sehen konnte. Die Dunkelheit verlieh mir zusätzlichen Schutz, und ich glaube nicht, dass jemand mich erkannt hätte. Es war gegen zehn Uhr, und aus ein paar Fenstern fiel hier und dort noch etwas Licht auf die Straße, die im Übrigen trotz der Finsternis alles andere als menschenverlassen dalag. Es waren noch einige Passanten unterwegs, und ab und zu fuhr eine mit Laternen beleuchtete Kutsche vorbei, aber das würde mich nicht an meinem Vorhaben hindern. So hoffte ich jedenfalls. Ich zog meine Börse hervor und ließ sie auf einen nicht mit Schnee oder Schmutz bedeckten Pflasterstein fallen. Ein paar Pennies fielen heraus und erzeugten das klimpernde Geräusch, das ich beabsichtigt hatte. Augenblicklich war ich von einem Dutzend dunkler Gestalten umringt. »Nimm den Stiefel von deiner Börse, Mann, sonst bekommst du meinen zu spüren.« »Das will ich gerne tun, vor allem, da es eure Börse ist und nicht meine. Ich werde sie euch nämlich schenken.« Ich hob den Blick und erkannte den Straßenbengel wieder. Es war jener Luke, den ich bei meinem ersten Besuch in dieser Straße aus Edgars Fängen befreit hatte. »He«, sagte einer seiner Kumpane. »Ist das nicht der Kerl, der es dem eingebildeten Edgar mal so richtig gezeigt hat?« »Das ist er«, bestätigte Luke. Er beäugte mich misstrauisch, als wäre ich ein Leckerbissen, der von jemandem gereicht wurde, der in dem Ruf stand, Lebensmittel zu vergiften. »Was sollte das dann? Haben Sie uns mit dem Klimpern der Münzen auf dem Pflaster anlocken wollen?« »Du hast es erfasst«, sagte ich. »Ich muss etwas mit euch besprechen. Gleich, was ihr dazu sagt, und gleich, ob ihr mir helft oder nicht, die Börse gehört euch.« Luke nickte einem seiner Begleiter, einem kleinen Jungen mit laufender Nase, aufmunternd zu. Ich schätzte ihn auf höchstens sieben oder acht Jahre, doch als er nähertrat, sah ich, dass er doch älter war, aber offenbar an einer Wachstumshemmung litt. Blitzschnell bückte er sich, schnappte die Börse und stellte sich wieder zwischen die anderen. »Sie wollen, dass wir was für Sie tun?«, fragte Luke. »So ist es. Als ich das erste Mal hier war, habe ich euren Freund Edgar gefragt, warum er so eine Abneigung gegen euch hat. Er sagte mir, ihr wäret Einbrecher, wüsstet, wie man in das Haus hinein- und wieder hinausgelangt, ohne sich erwischen zu lassen.« Die Jungen lachten, am meisten ihr Anführer Luke. »Das mag er nicht«, kicherte er. »Er kriegt dann immer eine Stinkwut.« »Vor allem, weil sie glauben, ihr Haus wie eine Festung gesichert zu haben«, betonte ich. Luke nickte verständig. »Genau. Ich gebe ja zu, dass wir das eine oder andere Mal geklaut haben, aber vor allem geht es uns um den Spaß. Viel können wir ja sowieso nicht mitgehen lassen, weil die dauernd zu Hause sind und mit der Muskete im Schoß auf uns warten. Aber wir schleichen uns trotzdem immer wieder hinein, und sie wissen nicht, wie.« »Ich würde gerne euer Geheimnis erfahren«, sagte ich. »Ich möchte nämlich auch ins Haus.« »Ist aber unser Geheimnis.« »Schon, aber ich habe auch das eine oder andere Geheimnis. Vielleicht könnten wir ja tauschen.« »Und was für ein Geheimnis kennen Sie?« Ich lächelte. Ich wusste, dass er nun Blut geleckt hatte. »Mr. Cobb ist fort. Mr. Hammond wird auch bald nicht mehr hier sein. Ich bin sicher, dass spätestens einen Tag nach seinem Verschwinden die Gläubiger kommen werden, um sich das Haus unter den Nagel zu reißen. Wenn aber ein paar schlaue junge Burschen genau wissen, wann sie zuzuschlagen haben, können sie sich frei im Haus bewegen und sich ungestraft alles nehmen, was ihr Herz begehrt.« Luke tauschte Blicke mit ein paar seiner Kameraden aus. »Sie lügen doch nicht, oder?« Ich gab ihm meine Karte. »Wenn ihr euch belogen fühlt, kommt zu mir. Ich gebe euch fünf Pfund, wenn ich die Unwahrheit gesagt habe. Ich bin hier, um euch zu helfen, und ich hoffe, dass ihr mir meine Großzügigkeit nicht mit Zweifeln vergeltet.« Luke nickte. »Ich weiß auch was über Sie«, sagte er. »Ich habe keinen Grund zu glauben, dass Sie mich anlügen, und wenn Sie sich geirrt haben, werden Sie es wiedergutmachen. Also abgemacht.« Er drehte sich zu seinen Freunden um, die allesamt feierlich nickten. Ich schmeichelte nicht mir selber, indem ich mir einbildete, mit ihrem Kopfnicken würden sie Lukes Einschätzung meines Charakters bestätigen. Vielmehr war es wohl die erfreuliche Aussicht, sich in einem so eleganten Haus nach Herzenslust bedienen zu können.« »Wollt ihr mir jetzt zeigen, wie man hineinkommt?« »Ich mach's. Ich hoffe, Sie hängen nicht zu sehr an den Sachen, die Sie jetzt anhaben, denn die werden bald nicht mehr viel wert sein.« Ein Mann wie ich, der aus dem berüchtigtsten Gefängnis Londons ausgebrochen war, dürfte sich kaum von dem Gedanken an einen Nagel, der sich in seiner Hose verfängt oder von etwas Ruß an seinem Ärmel abschrecken lassen. Meine größte Sorge war, dass ein geheimer Durchgang, in den ein Junge passte, für einen Erwachsenen vielleicht zu eng sein könnte, aber sie erwies sich als unbegründet. Luke führte mich um die Straßenecke herum zu einem kleineren Nachbargebäude. Es handelte sich um ein gepflegtes, anständiges Gasthaus, wie ich sofort erkannte - keines, in dem gemeinhin Tunichtgute wie mein Freund Luke verkehrten. »Hören Sie gut zu, Sir. Das ist ein Geheimweg, und ich will nicht, dass Sie ihn uns kaputt machen, denn sonst werde ich böse. Wir gehen hier schon seit ein paar Monaten ein und aus, und der Mann, dem das Haus gehört, hat nie auch nur einen Mucks von uns gehört. Also seien Sie leise.« »Worauf du dich verlassen kannst.« »Und wann steht das Haus nun leer?« »Morgen bei Sonnenuntergang. Wenn alles läuft, wie ich hoffe, werden sich Mr. Hammond, Edgar und jeder andere, der sich noch darin aufhält, dann irgendwo verstecken und nicht wagen, hierher zurückzukehren. Vorausgesetzt«, fügte ich hinzu, »dass sie mir heute Nacht nicht in die Quere kommen.« »Und wenn nicht alles so läuft, wie Sie hoffen?« »Dafür sorge ich schon. Ich brauche Ihnen nur mit ein paar Wörtchen zuzuflüstern, dass ich ihr Geheimnis kenne.« »Dass das französische Spione sind, meinen Sie?« Ich sah ihn erstaunt an. »Woher weißt du das denn?« »Sie wissen doch, dass ich in dem Haus gewesen bin, und ich habe Augen und Ohren. Und lesen kann ich übrigens auch.« In dem Gasthaus gab es eine Tür, die zum Keller führte. Das Schloss war alt und primitiv, und ich hätte es ohne Weiteres aufbrechen können, aber das überließ ich Luke, damit er merkte, dass ich ihn als Anführer akzeptierte. Als die Tür offen war, erklärte er mir kurz und bündig den Weg. Dann verabschiedete er sich von mir, und die Jungen rannten davon. Ich betrat das Haus, schloss die Tür hinter mir und verriegelte sie Lukes Anweisungen entsprechend auch wieder, falls die Bewohner des Hauses kamen, um nachzusehen. Dann setzte ich mich zehn Minuten lang auf die Treppe, bis sich meine Augen so gut es ging an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Durch die Tür war nur wenig Licht eingefallen, aber es hatte gereicht, um mir einen Überblick zu verschaffen und die Markierungspunkte zu finden, die Luke mir genau beschrieben hatte. Ich stieg die Treppe hinunter und tastete mich vorsichtig über den staubigen Kellerboden bis zu einem alten Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand vor, auf dem nur ein paar Töpfe standen. Ich stellte die Töpfe auf den Boden und zog das Regal ein Stück vor. Dahinter fand ich das nur mit ein paar dünnen Brettern abgedeckte Loch in der Mauer, von dem Luke gesprochen hatte. Ich hatte befürchtet, mich ab hier auf allen vieren bewegen zu müssen, aber ich stand vor einem unterirdischen Gang mit glatten Wänden, der hoch genug war, dass ich darin in leicht gebückter Haltung gehen konnte, und breit genug, dass ich mit den Schultern dabei nicht die Mauern berührte. Ich hätte sogar eine Kerze vor mir hertragen können, aber die besaß ich leider nicht. Ich hatte keine Ahnung, wozu dieser Durchgang je gedient haben sollte, und erst viele Jahre später, als ich ein paar von meinen Freunden mit dieser Geschichte ergötzte, hat mich ein Gentleman, der sich eingehend mit der Architekturgeschichte Londons befasst hatte, darüber aufgeklärt, dass das große Haus, in dem Hammond und Cobb gewohnt hatten, von einem Mann mit einer ausgesprochen zänkischen und eifersüchtigen Frau gebaut worden war und dass diesem Mann auch das Nachbarhaus gehörte, in dem er seine Geliebte unterbrachte, die er dann zu später Stunde, wenn seine Frau schlief, ungezwungen besuchen konnte. Und wenn die Ehefrau am nächsten Morgen die Diener fragte, ob ihr Mann in der Nacht das Haus verlassen habe, konnten diese in aller Unschuld sagen, das sei nicht der Fall gewesen. Im Gegensatz zu mir war der Vorbesitzer des Hauses gewiss so klug gewesen, auf seine nächtlichen Stollengänge eine Kerze mitzunehmen, und bestimmt waren früher auch die Wände noch sauber gewesen oder vielleicht zumindest regelmäßig gereinigt worden. Nun aber befand sich alles im Zustand des Verfalls, und Luke hatte mich nicht umsonst wegen meiner Kleider gewarnt. Sooft ich im Dunkeln gegen die Wände stieß, rieselte irgendein feuchter Unrat auf mich herab. Ich hörte auch Ratten umherhuschen und griff dauernd in Spinnennetze, aber das war eben der Schmutz, an den man sich zwangsläufig gewöhnte, wenn man in einer so großen Stadt lebte. Ich war fest entschlossen, mich davon nicht abschrecken zu lassen. Es kostete mich zehn Minuten, den Stollen zu durchqueren - mit einem Licht hätte es wohl nur eine oder zwei gedauert. Ich hielt im Gehen ständig eine Hand vor mich ausgestreckt, und irgendwann berührte ich damit wiederum morsches Holz, das ich, Lukes Anweisung entsprechend, zur Seite schob. Die Tür befand sich auf einer eisernen Laufschiene und ließ sich leicht bewegen. Ich trat hindurch und schob sie wieder zu. Ich konnte zwar im Dunkeln nichts sehen, hörte aber, wie der Riegel mit einem satten Geräusch einrastete, und nun wusste ich, was Luke damit gemeint hatte, als er sagte, wenn man es nicht wüsste, würde man in diesem Verschlag nie eine Türöffnung vermuten. Von ihm und seinen Kameraden hatte ich auch erfahren, dass mich besagte Tür in die Wirtschaftsräume führen würde. Stets darauf bedacht, nichts umzustoßen, machte ich vorsichtig einen weiteren Schritt und fand mich tatsächlich in einer schwach erhellten Küche wieder. Es schien eine Besonderheit dieses Hauses zu sein, dass die Küche sich im Keller befand, aber dies hatte wohl den Bedürfnissen des ursprünglichen Besitzers entsprochen. Mir sollte es gleich sein. Ich orientierte mich, wischte mir den gröbsten Schmutz von den Kleidern und stieg eine Treppe hinauf. Bevor ich das Gewölbe betreten hatte, hatte ich noch gehört, wie der Nachtwächter die elfte Stunde ausrief, also konnte ich davon ausgehen, dass die meisten Bewohner des Hauses schliefen - obwohl ich natürlich nicht einmal annähernd wusste, aus wem diese Bewohnerschaft alles bestand. Irgendwie mussten Hammond und Edgar Mr. Franco ja gegen seinen Willen hier gefangen halten. Andererseits brauchte es vielleicht gar keine körperliche Gewalt, ihn festzuhalten. Schließlich war auch ich auf Cobbs Wünsche eingegangen, ohne dass er äußerlich erkennbaren Druck auf mich ausgeübt hatte. Ich hoffte jeden-falls, dass es sich auch hier so verhielt. Wenn es im Haus außer Mr. Franco nur die beiden gab, würde mein Vorhaben vielleicht von Erfolg beschieden sein - und das ohne jegliches Blutvergießen. Falls es aber im Hause bewaffnete Männer gäbe - Diener der französischen Krone etwa -, konnte es leicht gefährlich werden, und dann stand es um mich längst nicht so gut. Aber es gab nur einen Weg, das herauszufinden, also drehte ich oben an der Treppe am Türknauf und betrat den Wohnbereich des Hauses. Es war ein geräumiges Haus, und obwohl Celia Glade angedeutet hatte, dass Cobb und Hammond es nicht riskieren würden, sich eine Dienerschaft zu halten, konnte ich mir kaum vorstellen, wie sie ohne einen Butler, einen Koch, ein Küchenmädchen und eine Waschfrau ausgekommen sein sollten. Aber es war niemand zu entdecken. Im Erdgeschoss verschaffte ich mir einen raschen Überblick, wobei ich jeden meiner Schritte mit Bedacht setzte und es tunlichst vermied, mich durch ein Knarren der Bodendielen zu verraten. Aber nichts rührte sich, es schien niemand wach zu sein, und auch aus dem Stockwerk darüber war nichts zu hören. Den Raum, den ich für Cobbs Arbeitszimmer hielt, durchsuchte ich schon ein wenig gründlicher nach den bewussten Plänen, konnte aber keine Spur von einem kleinen Oktavband entdecken, wie ihn Pepper zu benutzen gepflegt hatte. Ich fand überhaupt keine privaten Unterlagen - es sah so aus, als wäre das Zimmer aufgeräumt worden. Natürlich konnte es jede Menge Verstecke für das Büchlein geben, die mir bei meinem ersten Überblick noch entgangen waren, doch was sollte ich tun - es war stockfinster, und ich durfte kein Geräusch machen. Sowie ich Hammond erst in meiner Gewalt hatte, würde ich Mittel und Wege finden, den Verwahrort der Pläne in Erfahrung zu bringen. Nachdem ich das Erdgeschoss so weit als möglich durch-sucht hatte, begab ich mich weiter in die obere Etage. Ich fragte mich, wo Edgar wohl seine Schlafkammer hatte. Als Diener stand es ihm eigentlich nicht zu, im oberen Stockwerk zu nächtigen, aber für diese Ausnahme mochte es zwei Gründe geben. Da Edgar offenbar der einzige ständig im Haus befindliche Bedienstete war, musste er sich natürlich in der Nähe seiner Herrschaft - die inzwischen ja nur noch aus einer Person bestand - aufhalten, falls diese in der Nacht etwas benötigte. Aber ich ging nun vielmehr davon aus, dass es sich bei Edgar gar nicht um einen Diener handelte, jedenfalls nicht auf die Weise, die es den Anschein hatte. Mit anderen Worten - auch er war, wie Cobb und Hammond, ein Agent der französischen Krone. Wenn das stimmte, musste ich mich vor ihm besonders in Acht nehmen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich die Treppe erklommen hatte, aber schließlich kam ich doch unentdeckt oben an. Ich ging davon aus, dass es hier drei voneinander abgetrennte Räumlichkeiten gab. Ich wandte mich zunächst nach links und tastete mich den Flur entlang, bis ich vor der ersten Tür stand. Ich drehte den Knauf ganz langsam herum, aber es half nichts - ich verursachte trotzdem ein leises, knirschendes Geräusch von Metall, das auf Metall rieb. Aber für mich hörte es sich an wie Kanonendonner. Aufs Schlimmste vorbereitet öffnete ich die Tür und lugte ins Zimmer. Der Raum ging zur Vorderfront hinaus und war, soweit ich sehen konnte, bewohnt - es gab Bücher, und auf dem mit Papieren bestreuten Schreibtisch stand ein halb geleerter Becher Wein. Mit etwas mehr Glück als bei der ersten öffnete ich die Tür zum Schlafgemach. Unter der Bettdecke erkannte ich die Umrisse eines Körpers. Ich riskierte es, eine Kerze anzuzünden. Die Gestalt wälzte sich herum, wachte aber nicht auf. Ich atmete erleichtert aus. Es war Mr. Franco. Ich schloss die Tür wieder, damit uns niemand hörte. Es tat mir leid, dass ich meinen Freund aus seinem Schlummer rei-ßen musste, aber es ging ja nicht anders. Ich legte ihm die Hand auf den Mund und wollte ihn gerade wachrütteln, als er mit einem Male die Augen weit öffnete. Ich wusste nicht, ob er mich erkannte, also flüsterte ich ihm rasch ein paar beruhigende Worte zu. »Ganz ruhig, Mr. Franco. Ich bin es, Weaver. Nicken Sie mit dem Kopf, wenn Sie mich verstanden haben.« Er nickte, also zog ich die Hand fort. »Tut mir leid, Sie so zu erschrecken«, flüsterte ich so leise wie möglich. »Aber ich wusste mir keinen anderen Rat.« »Ich verstehe«, sagte er und richtete sich auf. »Aber was tun Sie hier?« »Ich bekomme alles in den Griff«, sagte ich. »Schon morgen werden diese Männer keine Gefahr mehr für uns sein. Eigentlich ist das jetzt schon der Fall, nur wissen sie es noch nicht. Aber wenn wir Sie gründlich schlagen wollen, müssen wir mit etwas verschwinden, was einen großen Wert für sie darstellt.« Mr. Franco begriff sofort. »Die Pläne für den Webstuhl«, sagte er. »Sie wissen Bescheid?« Er nickte. »Sie haben kein Hehl daraus gemacht, wonach ihnen der Sinn stand. Ich habe befürchtet, dass sie mich umbringen wollten, sowie sie ihr Ziel erreicht hatten, also können Sie sich vorstellen, wie froh ich bin, Sie zu sehen.« »Wieso hat man Sie überhaupt hier festgehalten?« »Wissen Sie, wer diese Männer sind?« »Französische Spione«, sagte ich. »Ich habe es auch jüngst erst erfahren.« »Genau. Sie waren sehr darauf bedacht, dass niemand dahinterkam, aber Hammond schien zu ahnen, dass das Geheimnis in Gefahr war. Er fürchtete, dass Sie, sobald Sie es herausfänden, Gesandte des Königs oder jemanden von der Regierung hinzuziehen würden, um mir Schutz zu gewähren. Hammond hat Angst vor Ihnen, Sir. Er hat Angst, die Fäden nicht mehr in der Hand zu haben, und da er sich nicht anders gegen Sie zu wehren wusste, hat er mich als Geisel genommen.« »Aber mit welchem Druckmittel hält er Sie hier gefangen?« »Er hat meine Tochter bedroht, Sir. Er behauptet, in Saloniki Verbündete zu haben, die ihr etwas zuleide tun könnten. Ich brachte es nicht über mich, Gabriella in Gefahr zu bringen, also war ich gezwungen, stattdessen notfalls Sie zu opfern. Ich flehe Sie an, mir zu vergeben.« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Seien Sie nicht albern. Ihre Tochter hat doch erst recht nichts mit alledem zu tun, und ich hätte es nicht ertragen, wenn Sie meinetwegen ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätten. Es ist meine Schuld, dass Sie hier sind - nein, sparen Sie sich Ihre Worte. Ich übernehme nicht die Verantwortung für das, was diese Männer getan haben, noch mache ich mir Vorwürfe, aber ich habe Sie in all das mit hineingezogen, und so bin doch letztlich ich verantwortlich.« »Aber Sie sind hier, und dank Ihrer Findigkeit ist Ihnen diese Verantwortung von den Schultern genommen.« »Davon kann erst die Rede sein, wenn wir uns alle wieder wohlauf am Duke's Place einfinden und diese Schurken entweder tot sind oder im Tower sitzen. Zunächst muss ich die Pläne für diesen Webstuhl finden und Sie hier herausbekommen. Haben Sie eine Ahnung, wer sich noch im Haus aufhält und wo?« »Ich glaube, Mr. Hammond hält mich nicht für so gefährlich, dass er meinetwegen etwas versteckt. Ich habe ihn zu Edgar, seinem Diener, sagen hören, dass er die Pläne, die in einem Oktavband aufgezeichnet sind, ständig bei sich trägt. Das dürfte es für Sie nicht leicht machen, sie an sich zu bringen.« »Einerseits schon, andererseits vereinfacht es auch einiges. Es bedeutet, dass ich meine Zeit nicht mit einer nutzlosen Suche zu vergeuden brauche. Also, wer hält sich außer uns und Hammond und Edgar noch im Haus auf?« »Niemand. Nur die beiden.« »Und wo schlafen sie?« »Edgar schläft nebenan.« Er zeigte zur linken Wand. »Dadurch wollen sie wohl erreichen, dass ich mich unter ständiger Beobachtung fühle, was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Hammond schläft noch ein Stockwerk höher in dem großen Schlafzimmer. Die Treppe hoch und rechts. Dort finden Sie die Tür zum Wohnzimmer, von dem das Schlafzimmer abgeht. Tagsüber bewahrt Hammond das Buch in seiner Westentasche auf, aber ich weiß nicht, wo er es nachts lässt.« »Das werde ich schon herausfinden«, sagte ich. »Hauptsache, er weiß es. Glauben Sie, dass Sie sich leise aus dem Haus schleichen können?« »Ja«, sagte er, aber seine Stimme klang zögerlich. »Sie fürchten, dass ich versage. Sie fürchten, dass sie mich überwältigen und, wenn sie feststellen, dass Sie fort sind, es an Ihrer Tochter auslassen?« Er nickte. »Dann bleiben Sie hier. Sie werden ja hören, was passiert. Ich bitte Sie nur, sich verborgen zu halten, bis ich Sie holen komme. Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie Ihre Tochter schützen wollen, aber ich bin sicher, dass auch Sie verstehen werden, dass ich verhindern möchte, dass Ihnen etwas zustößt.« Er nickte ein weiteres Mal. Also schüttelte ich die Hand des Mannes, der mir stets zur Seite gestanden hatte, wie ich es mir von meinem Vater gewünscht hätte. Er war kein Kämpfer, vielleicht mangelte es ihm auch einfach an Courage, aber ich hatte dennoch großen Respekt vor ihm. Er war eben der Mann, der er war, nicht geschaffen für die Heimsuchungen, die er hatte erdulden müssen, und trotzdem hatte er sie tapfer auf sich genommen. Um sich selber machte er sich keine Sorgen, sondern nur um seine Tochter. Meine Gefühle waren ihm wichtiger als die seinen. Wie sollte ich da nicht den Hut vor ihm ziehen? Wir umarmten einander, und dann verließ ich sein Zimmer mit der Entschlossenheit, das, was ich hier zu tun hatte, ein für alle Mal zu Ende zu bringen. Nachdem ich Mr. Franco vorerst in Sicherheit wähnen konnte, begab ich mich zu Edgars Räumen. Leise öffnete ich die Tür seines Wohnzimmers. Es war schlicht eingerichtet und wirkte irgendwie unbewohnt. Dann drehte ich mit nervenzermürbender Langsamkeit den Knauf an seiner Schlafzimmertür und betrat die dunkle Kammer. Auch hier standen nur wenige Möbel. Ich trat ans Bett heran und war darauf vorbereitet, Edgar auf die gleiche Weise zu wecken wie Mr. Franco - wenn auch nicht ganz so behutsam. Aber es gab niemanden zu wecken, denn das Bett war zwar benutzt, aber leer, und das konnte nur eines bedeuten - Edgar wusste, dass ich mich im Haus aufhielt. Mein erster Gedanke war, dass ich zurück zu Mr. Francos Zimmer eilen musste. Trotz seiner Besorgtheit um seine Tochter ging es jetzt doch in erster Linie darum, ihn unversehrt hinauszuschaffen. Den französischen Agenten durfte keine Zeit für kleinliche Vergeltungsschläge bleiben. Man würde sie entweder stellen, oder sie mussten ihr Heil in der Flucht suchen. Gabriella würde nichts geschehen. Als ich mich jedoch vom Bett abwandte, sah ich mich einer dunklen Gestalt gegenüber, in der ich sofort Edgar erkannte. Er stand breitbeinig da und hielt in der einen Hand eine Pistole und in der anderen eine Art Dolch. »Du blöder Jude«, sagte er. »Ich habe dich hereinpoltern hören. Ein Bär hätte weniger Lärm gemacht.« »Ein großer Bär oder ein kleiner Bär?« »Willst du dich etwa mit Scherzen aus dieser Lage befreien?« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, ich könnte es versuchen.« »Das ist schon immer dein Problem gewesen. Du bist viel zu eingenommen von deiner eigenen Gewitztheit und kannst dir einfach nicht vorstellen, dass jemand es darin mit dir aufnehmen kann. Nun erzähle mir mal, was du hier willst. Bist du wegen der Pläne gekommen?« »Ich bin deinetwegen hier. Nach meinem Besuch im Haus von Mutter Tripper habe ich festgestellt, dass ich über gewisse Neigungen verfüge, die ich nicht länger verleugnen kann.« »Du willst mich doch hoffentlich nicht mit diesem Unsinn verwirren. Ich weiß, dass du wegen der Pläne für den Webstuhl hier bist. Denkst du, mir liegt auch nur das Geringste an Franco? Er kann sich verstecken oder er kann davonlaufen, ganz wie er will, obwohl ich denke, dass es besser für ihn wäre, sich aus dem Staub zu machen. Die Frage ist jetzt, wer dich geschickt hat. Was wissen die Briten? Hat man Cobb gefangen genommen oder konnte er entkommen? Du kannst es mir jetzt sagen, oder wir reden oben darüber. Sowie wir erst Hammond geweckt haben, kannst du dich darauf verlassen, dass er nicht zögern wird, alles aus dir herauszuquetschen, was er von dir hören möchte.« Über Hammonds Fähigkeit, etwas aus mir herauszuquetschen, vermochte ich nichts zu sagen. Vielmehr konnte ich mich darüber freuen, dass Edgar mir genau das verraten hatte, was ich zu wissen bedurfte. Dass Hammond nämlich noch schlief. »Hat dir je jemand gesagt«, fragte ich ihn, »wie sehr du einer Ente ähnelst? Die Sache ist nämlich die, dass ich eine Schwäche für Enten habe. Als ich noch ein Junge war, hat mir ein gut meinender Verwandter einmal eine als Geschenk mitgebracht. Und nun, Jahre später, treffe ich dich wieder, und du bist dieser Ente wie aus dem Gesicht geschnitten, so dass ich nicht umhin kann, dir meine Freundschaft anzubieten. Komm, lass uns unsere Waffen ablegen und uns einen Teich suchen, an dessen Ufer ich Brot und Käse essen kann, während du auf dem Wasser herumpaddelst. Ich würde dir gerne ein paar Krumen zuwerfen.« »Halt dein verdammtes Lästermaul«, fuhr er mich an. »Ham-mond wird dich so gründlich zu befragen wissen, als hättest du eine Bleikugel im Bein.« Da mochte er recht haben. »Einen Augenblick. Es gibt drei Tatsachen das Leben der Enten betreffend, die ich hier als von größter Wichtigkeit erachte. Zunächst sucht sich das Entenweibchen stets einen besonders zärtlichen und fürsorglichen Erpel für die Entenkinder. Zweitens«, hob ich an, aber mir fiel kein zweiter Punkt ein. Also musste ein Punkt genügen, und nun machte ich mir den Ratschlag von Mr. Blackburn zunutze - nämlich, was die rhetorische Wirkung der Serie betraf. Nachdem ich Edgar nun drei Punkte angekündigt hatte, würde er auch die nächsten beiden hören wollen. Also konnte ich den Moment nutzen, um ihn mit etwas anderem zu überrumpeln. Und dieses Etwas bestand in einem kräftigen Hieb in die Magengrube. Ich hätte einen Schlag auf die Nase oder den Mund vorgezogen, einen Schlag, bei dem Blut spritzte oder Zähne flogen, aber ein Hieb in die Magengrube ließ den Gegner sich zusammenkrümmen, was bedeutete, dass, selbst wenn es ihm gelänge, die Pistole abzufeuern, der Schuss nach unten gehen würde. Aber er schoss gar nicht, und obwohl er die Pistole auch nicht losließ, hatte ich sie ihm entwunden, ehe er auch nur zu Boden gesunken war. Ich steckte sie ein, und als Edgar sich aufraffen wollte, versetzte ich ihm noch einen Tritt in die Rippen. Er rutschte über den Boden und verlor dabei seinen Dolch, den ich ebenfalls an mich nahm, um damit seine Bettdecke in Streifen zu schneiden. Wie meine praktisch denkenden Leserinnen und Leser vermutlich schon erraten haben, benutzte ich diese, um Edgar an Händen und Füßen zu fesseln. Während ich das tat, bekam er noch ein paar Tritte in den Unterleib - nicht aus Grausamkeit oder aus bösem Willen, sondern damit er sich nicht durch Schreie bemerkbar machen konnte, bis ich ihn mit einem weiteren Stoffstreifen auch noch geknebelt hatte. Als er mir vollkommen wehrlos zu Füßen lag, verwies ich ihn darauf, dass er gemeint hatte, ich würde mich nicht mit einem Scherz aus meiner Lage befreien können. »Wie man sich doch täuschen kann«, sagte ich. »Du fragst dich vielleicht gerade, ob ich den Konstablern sagen werde, wo sie dich finden können. Nein, das werde ich nicht tun. Irgendwann morgen werden Luke und die anderen Jungen sich an diesem Hause gütlich tun, und ich überlasse es ihnen, sich um dich zu kümmern.« Edgar grunzte und zappelte, aber ich beachtete ihn gar nicht weiter und überließ ihn sich selbst. Ein Stockwerk höher lief alles wie am Schnürchen. Wie zu erwarten gewesen war, schlief Hammond, und es kostete mich kaum Mühe, ihn zu überwältigen. Mit der einen Hand hielt ich ihn am Kinn, während ich ihm mit der anderen Edgars Klingenspitze in die Brust drückte, und zwar tief genug, dass es zu bluten und, wie ich an Hammonds Gesicht ablesen konnte, zu schmerzen anfing, doch nicht tiefer. »Gib mir die Pläne«, verlangte ich. »Niemals.« Seine Stimme blieb ruhig und gleichmäßig. Ich schüttelte den Kopf. »Hammond, Ihr habt euch mich ausgesucht. Ihr habt gewusst, wer ich bin, als ihr mich zu einem Teil eures Planes machtet. Also weißt du, zu was ich fähig bin. Ich werde notfalls Finger abschneiden, Augen ausstechen, Zähne herausreißen. Ich glaube nicht, dass du das Zeug hast, solche Torturen zu ertragen. Aber ich zähle jetzt bis fünf, und dann werden wir es wissen.« Er wartete nicht einmal darauf, bis ich zu zählen angefangen hatte. »Unter meinem Kissen«, stieß er hervor. »Aber es spielt keine Rolle, ob du das Original hast oder nicht. Eine gute Abschrift ist bereits außer Landes geschafft worden, und damit haben wir die Macht, den Textilhandel der East India Company zunichtezumachen.« Ich unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass diese Abschrift abgefangen worden war und er sich keine Hoffnung mehr auf ein Gelingen seiner Mission machen konnte. Ich nahm das Messer von seiner Brust, behielt allerdings sein Kinn fest gepackt und zog das in raues Kalbsleder gebundene Büchlein unter seinem Kopfkissen hervor. Wie ich von einer seiner Witwen wusste, waren es solche Oktavbände, die Pepper für seine Notizen benutzt hatte. Ich blätterte den Band rasch durch, und als ich die in alle Einzelheiten gehenden Zeichnungen sah, wusste ich auch, dass dies genau das war, wonach ich gesucht hatte. Hammond jedoch bewies unerwartete körperliche Stärke. Er entwand sich meinem Griff und drehte sich zur Seite, wobei er sich, wenn auch nur oberflächlich, an der Klinge schnitt, und dann war er mit einem Satz am anderen Ende des Zimmers. Ich steckte das Büchlein ein und zog meine Pistole, konnte im Stockfinstern aber kaum zielen. Zumindest erging es Ham-mond nicht besser, falls er sich selber auch mit einer Schusswaffe zu wappnen gedachte. Ich trat einen Schritt vor, um meinen Widersacher besser sehen zu können. Da stand er mit vor Angst weit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit. Das Nachtgewand hing ihm lose um den Leib, als wäre er ein Gespenst. Als er den Arm hob, glaubte ich einen Augenblick lang, er hätte tatsächlich eine Pistole und hätte um ein Haar auf ihn geschossen, aber dann erkannte ich, dass er keine Waffe, sondern nur ein dünnes Glasröhrchen in der Hand hielt. »Von mir aus kannst du auf mich schießen«, fauchte er, »aber das wird dir nicht viel nützen. Wie du siehst, bin ich schon tot.« Das Röhrchen fiel mit einem leisen Geräusch zu Boden. Er hätte sich wohl einen Abgang unter dramatischem Splittern von Glas gewünscht. Man hat mich manchmal als zynisch bezeichnet, und vielleicht war es auch wirklich kein schöner Zug von mir, dass ich argwöhnte, er hätte nur so getan, als würde er Gift geschluckt haben, aber ich wollte dennoch auf Nummer sicher gehen. »Gibt es noch etwas, das du mir sagen möchtest, bevor du vor deinen Schöpfer trittst?«, fragte ich. »Du Dummkopf, weißt du denn nicht, dass ich das Gift genommen haben, damit weder du noch sonst jemand mich zwingen kann, noch etwas zu verraten?« »Gewiss«, sagte ich. »Darauf hätte ich selber kommen sollen. Aber möchtest du dich in der Zeit, die dir noch bleibt, nicht wenigstens bei mir entschuldigen? Oder ein anerkennendes Wort über meine Durchsetzungskraft verlieren?« »Weaver, du bist der Teufel höchstpersönlich. Was bist du doch für ein Unmensch, dass du dich über einen Sterbenden lustig machst?« »Sonst kann ich ja nicht mehr viel tun«, sagte ich und hielt weiterhin die Pistole auf ihn gerichtet. »Ich darf nicht riskieren, dass du vielleicht gar kein Gift geschluckt hast und mich damit überlisten willst, aber ich werde auch keinen kaltblütigen Mord begehen, indem ich dich erschieße. Mir bleibt nichts, als abzuwarten und zuzusehen, aber du könntest in deinen letzten Augenblicken wenigstens etwas zu mir sagen.« Er schüttelte nur den Kopf; dann sank er zu Boden. »Man hat mir gesagt, dass es schnell wirkt«, keuchte er. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir für Konversation noch bleibt. Und ich werde dir bestimmt nichts von unseren Plänen sagen oder davon, was wir zu erreichen versucht haben und was uns bereits geglückt ist. Ich mag ein Feigling sein, aber ich werde nicht mein Land verraten.« »Dein Land oder die neue französische East India Company?« »Ha!«, stieß er hervor, »da magst du recht haben. Die Zeiten, in denen man seinem König treu war, sind vorbei. Die großen Handelsunternehmen sind es, denen wir nun dienen müssen. Aber ich werde dir nichts über mein Land verraten, sondern über das deine und darüber, wie du an der Nase herumgeführt worden bist.« »Und das wäre?« Hammond aber vermochte mir nicht mehr zu antworten, denn er war bereits tot. 29 Es gab nun wohl kaum noch einen Grund, mich um Mr. Franco zu sorgen. Die Franzosen mochten zwar allerlei Listen und Tricks auf Lager haben, aber für den Augenblick waren sie geschlagen, so dass Mr. Franco nicht länger um seine Tochter oder um sich selber fürchten musste. Elias, meiner Tante und auch mir drohte allerdings immer noch der Schuldturm. Mr. Franco konnte als freier Mann in einer Kutsche die Heimfahrt antreten, doch ich lehnte es ab, ihn zu begleiten. Es war schon spät, ich war an Körper und Seele erschöpft, und der kommende Tag würde wieder allerhand Anstrengungen für mich bereithalten. Ich brauchte eine Pause, um mich zu besinnen, bevor ich mich zu Bett legte. Binnen eines Tages würde alles sich regeln, aber damit dies auch nach meinem Wohlgefallen geschah, musste ich mit Sorgfalt gewisse Vorkehrungen treffen. Daher nahm ich eine Droschke zum Ratcliff Highway und betrat in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden, wenn selbst das Palaver und das Getöse von London sich auf ein leises Wimmern und Greinen reduziert, ebenjene Taverne, in der Mr. Blackburn mich an seinem fulminanten Wissen hatte teilhaben lassen. Derby, der Wirt, stand hinter seinem Tresen. Mr. Blackburn hatte ihn mir als seinen Schwager vorgestellt, und auch er erinnerte sich an meinen Besuch mit Blackburn, so dass es mir gelang, ihn dazu zu bewegen, seinen natürlichen Argwohn zu überwinden und mir zu verraten, wo ich seinen Verwandten finden könnte. Es wäre nicht seine Art, erklärte er, jemandes Wohnort kundzugeben, ohne vorher dessen Einwilligung eingeholt zu haben, aber es könne wohl nichts schaden, wenn er mir Blackburns Arbeitsplatz nannte. Sein Schwager hätte eine vorübergehende Tätigkeit bei einer bekannten Brauerei angenommen, deren Bücher auf Vordermann gebracht werden mussten, und wäre sehr darauf bedacht, seine Arbeit zügig zu erledigen, so dass er jeden Tag ab sieben Uhr früh in den Geschäftsräumen der Brauerei anzutreffen sei. Ich bestellte mir bei dem guten Mann ein Frühstück und genoss das noch warme Brot einer nahe gelegenen Backstube zu einer Schale mit Nüssen und Rosinen, die ich mit einem kleinen kühlen Bier hinunterspülte. Alsdann begab ich mich zur New Queen Street, wo ich den eifrigen Mr. Blackburn umgeben von unzähligen Kassabüchern in einem fensterlosen Raum vorfand. Aber mir kam er wie der glücklichste Mensch vor, den ich je gesehen habe. »Ach, Sie sind's, Mr. Weaver«, begrüßte er mich. Er erhob sich und verbeugte sich vor mir, soweit ihm dies bei der Enge seines Arbeitsplatzes möglich war. »Wie Sie sehen, bin ich, ganz wie eine Katze, wieder auf den Füßen gelandet, Sir. Die East In-dia Company mag versuchen, meinen Namen in den Schmutz zu ziehen, aber am Ende kommt doch immer die Wahrheit ans Licht, und die ehrlichen Menschen, für die ich hier arbeite, werden meinen guten Ruf wiederherstellen.« »Er ist ein ausgezeichneter Buchhalter«, rief gut gelaunt einer seiner Kollegen. »So eine Ordnung hat es in unseren Büchern noch nie gegeben«, fügte ein anderer hinzu. Ich merkte sofort, dass Blackburn einen Ort gefunden hatte, an dem sowohl seine Dienste als auch seine Marotten geschätzt wurden. Ich brauchte mir also kein solch schlechtes Gewis-sen mehr zu machen, weil ich ihn um seine Stellung gebracht hatte. »Ich freue mich zu hören, das es Ihnen so gut geht.« »Es geht mir wunderbar«, versicherte er. »Diese Bücher, Sir, sind die reinste Katastrophe. Es ist, als hätte ein Wirbelwind sämtliche Zahlen durcheinandergepustet und jede Menge Fehler hineingeweht, aber das bekomme ich schon wieder in den Griff. Ich muss sagen, dass es mir eine Freude ist, festzustellen, dass diese fehlerhafte Buchführung lediglich die Folge von Nachlässigkeit und Unkenntnis ...« »Ganz erbärmlicher Unkenntnis«, rief sein Kamerad dazwischen. »Und nicht von böser Absicht darstellt«, beendete Black-burn seinen Satz mit etwas leiserer Stimme. »Hier liegt keine betrügerische Absicht vor, es gibt keine irreführenden Ausgabenbelege und sonstige Tricks, mit denen man eine bewusste Fälschung vertuschen will.« »Genau über so etwas wollte ich mit Ihnen sprechen«, sagte ich. »Ich habe eine Frage zu einem Sachverhalt, den Sie einmal erwähnt haben. Erinnern Sie sich noch, dass Sie davon gesprochen haben, mein Arbeitgeber hätte Sie einmal ersucht, den Verlust einer bestimmten Summe in den Büchern zu kaschieren, und dass Sie, nachdem Sie sich geweigert hatten, feststellen mussten, dass er das Geld nichtsdestotrotz an sich genommen hatte?« »Daran erinnere ich mich noch sehr gut«, bestätigte er. »Aber irgendwie kann ich mich nicht besinnen, Ihnen davon erzählt zu haben.« Ich zog es vor, gar nicht erst darauf einzugehen. »Können Sie mir die Summe nennen?« Er dachte kurz über mein Anliegen nach. »Ich denke nicht, dass die East India Company mir mehr Schaden zufügen kann, als sie es bereits getan hat.« Also erzählte er mir alles, was ich wissen wollte, und in diesem Augenblick fand ich meine Vermutungen bestätigt und glaubte, endlich alles verstanden zu haben. Doch erst musste ich noch den Beweis erbringen, und der anbrechende Tag würde zeigen, ob ich meinen Gegnern überlegen war oder sie sich als schlauer erwiesen, als ich ihnen je zugetraut hätte. Nach meiner Unterredung mit Blackburn lenkte ich meine Schritte nach Spitalfields, wo ich wiederholte Male an eine bestimmte Tür klopfen musste, bis sie mir endlich von einem unterwürfigen Wesen, das sowohl eine Bedienstete, eine Tochter oder auch eine Ehefrau darstellen mochte, geöffnet wurde. Ich erklärte ihr, dass ich dringend mit dem Hausherrn zu reden hätte und nicht warten könne, worauf sie einwandte, ein Mann wie der Herr des Hauses bräuchte seinen Schlaf. »Was ich ihm bringe, ist besser als eine durchschlafene Nacht«, versicherte ich ihr. Als sie merkte, dass ich mich nicht abweisen ließ, gab sie ihren Widerstand auf und bat mich herein. Sie führte mich in ein spärlich erhelltes, schäbiges Zimmer, in dem sie mich ohne eine Erfrischung warten hieß. Auch ich selber musste gegen den Schlaf ankämpfen. Endlich erschien Devout Hale in der Tür. Er trug einen Morgenmantel und seine Nachtmütze, und obwohl die Verheerungen seiner Krankheit von dem fahlen Licht ein wenig gemildert wurden, sah man ihm doch deutlich an, wie sehr es ihn mitnahm, zu dieser frühen Stunde geweckt worden zu sein. »Mein Gott, Weaver, was um alles in der Welt führt dich denn um diese Zeit hierher? Wenn du nicht den König höchstpersönlich mitgebracht hast, will ich es gar nicht hören.« »Nicht den König«, sagte ich, »aber etwas, was dem König sehr viel wert sein dürfte. Setz dich, und ich werde dir in groben Zügen alles erzählen, was du wissen musst, um es zu verstehen.« Er nahm mir gegenüber in gebeugter Haltung Platz. Offenbar hatte er Schwierigkeiten, Luft zu holen. Dennoch war er schon bald hellwach und lauschte meinem Bericht. Ich er-zählte ihm alles, was ich bisher für mich behalten hatte. Ich erzählte ihm, dass Pepper sich als weitaus gewiefter erwiesen habe, als jeder geglaubt hatte, dass er ein Gerät zum Spinnen von Baumwolle ersonnen habe, die dadurch so fein wie Seide würde und das die Handelswege der East India Company überflüssig machen könnte und dass Franzosen, Engländer und sogar Abgesandte des indischen Moguls versucht hätten, an die Pläne dafür zu gelangen - ein jeder im Interesse seines eigenen Landes. »Man hat mir gesagt, ich müsse diese Aufzeichnungen für die britische Krone sicherstellen, da es sehr wichtig für unser Land sei, dass die East India Company nicht geschwächt würde. Ich halte mich für einen Patrioten, Hale, aber am meisten liegen mir die Menschen dieses Landes am Herzen, seine Verfassung, die Freiheiten und Möglichkeiten, die es uns bietet - und nicht seine großen Handelshäuser. Nur zu gerne habe ich die Pläne der Franzosen vereitelt, doch das bedeutet nicht, dass ich nicht mit eigenen Augen die Gefahr erkenne, die davon ausgeht, wenn man die Zügel des Königreiches Männern überlässt, denen nur an Geld und ihrem Profit gelegen ist.« »Was willst du dann mit diesen Aufzeichnungen tun?«, fragte er. »Ich werde sie den Männern und den Frauen zukommen lassen, die diesem Königreich nicht mit finsteren Machenschaften, sondern mit ihrer Hände Arbeit dienen.« Ich griff in meine Tasche, zog Peppers Oktavband hervor und gab ihn ihm. »Ich übergebe dies den Seidenwebern.« Hale sagte nichts. Er zog die Petroleumlampe näher zu sich heran und begann, in dem Büchlein zu blättern. »Du weißt, dass ich nicht lesen kann.« »Dann musst du dich an die wenden, die es können, aber selbst sie wird es wohl einige Zeit kosten, bis sie den Inhalt entschlüsselt haben. Und doch werden du und deine Männer irgendwann dahinterkommen, und dann werdet ihr in der Lage sein, nach eurem Gutdünken eure Bedingungen zu diktieren. Ich bitte dich lediglich darum, den Schatz mit deinen Arbeitern zu teilen, nicht darum, das zu werden, was du verachtest. Dieses Buch enthält die Verheißung von Reichtum, der über die Generationen erhalten bleiben wird, und ich hoffe, du wirst mir dein Wort geben, ihn großzügig zu verteilen und dich nicht von Gier packen zu lassen.« Er nickte. »Ja«, hauchte er ein wenig kurzatmig. »Ja, das kann ich tun, Weaver. Es mag mir zu meinen Lebzeiten nicht viel einbringen, aber ich werde mein Bestes versuchen. Doch sag mir - möchtest du nicht etwas davon für dich beanspruchen?« Ich lachte. »Solltest du dennoch zu Geld kommen und mir ein Geschenk machen wollen, können wir das zu gegebener Zeit bereden, aber nicht jetzt. Ich will das Geld nicht mit dir gemeinsam anlegen. Wie du dich erinnern dürftest, habe ich dich um einen Gefallen gebeten, darum, mich in einer Aufgabe zu unterstützen, die ich zwar gehasst habe, aber dennoch erfüllen musste. Das hast du getan und keinerlei Gegenleistung von mir verlangt - was auch gar nicht in meiner Macht gestanden hätte. Ich gebe dir dies an Stelle dessen, was ich dir schuldig geblieben bin, und ich hoffe, du siehst damit meine Schuld dir gegenüber als beglichen an.« »Unter diesen Bedingungen schlage ich ein«, sagte er. »Gott segne dich.« Mir würden vor meiner nächsten Unterredung kaum mehr als ein paar Stunden Zeit für Schlaf bleiben, aber ich war entschlossen, mir zu gönnen, was ich brauchte. Ich sandte nach Elias, dass er mich um elf an diesem Vormittag in meiner Wohnung aufsuchen möge, was uns Zeit genug geben sollte, uns auf die Anteilseignerversammlung vorzubereiten. Was ich Celia Glade sagen würde, wenn sie Peppers Aufzeichnungen von mir verlangte, hatte ich mir noch nicht zurechtgelegt. Vielleicht würde ich ihr einfach die Wahrheit sagen. Und doch hätte ich mir nichts mehr gewünscht, als ihrem Wunsch zu entsprechen, und sei es nur, um festzustellen, ob es in ihr etwas zu entdecken gab, was nicht mit Winkelzügen und Versteckspielen zu tun hatte. Um halb elf erschien sie auch pünktlich auf der Bildfläche. Zum Glück war ich nach einer Stunde Schlaf schon wieder wach und angekleidet - und wenn ich mich auch nicht im Vollbesitz meiner Verstandeskraft befand, war ich doch immerhin auf alles vorbereitet, was sie zu mir sagen mochte. »Sie sind also in das Haus eingedrungen?«, wollte sie wissen. Ich erwiderte ihr Lächeln so herzlich, wie es mir möglich war. »Es ist mir gelungen, Mr. Franco zu befreien, doch die Pläne habe ich nicht finden können. Edgar wusste von nichts, und Hammond hat sich das Leben genommen. Ich habe alle Räume gründlich durchsucht, aber ich habe keine Spur davon entdeckt.« Sie erhob sich rasch, wobei ihre Röcke flatterten wie Blätter an einem windigen Herbsttag. »Sie haben sie nicht finden können«, wiederholte sie nicht ohne eine Spur Skepsis. »Nein, tatsächlich nicht.« Sie stand, die Fäuste in die Hüften gestemmt, vor mir und musterte mich. Vielleicht bemühte sie sich, verärgert zu wirken - oder sie war es wirklich -, aber in diesem Augenblick erschien sie mir als so atemberaubend schön, dass ich drauf und dran war, alles zuzugeben. Doch ich widerstand der Versuchung. »Sie sind nicht ehrlich zu mir«, erklärte sie. Ich erhob mich ebenfalls, um von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu sprechen. »Madam, es tut mir leid, dass Sie mich zu einem so trivialen Vergleich zwingen, aber in diesem Fall muss ich sagen, dass die Sauce für die Gans auch als Sauce für den Ganter herhalten muss. Sie behaupten, ich würde die Wahrheit vor Ihnen verbergen? Bei wie vielen Gelegenheiten sind Sie nicht aufrichtig mir gegenüber gewesen? Wie oft haben Sie mich belogen?« Ihre Züge entspannten sich ein wenig. »Ich habe immer versucht, ehrlich mit Ihnen zu sein.« »Sind Sie überhaupt Jüdin?«, verlangte ich zu wissen. Sie seufzte. »Selbstverständlich bin ich das. Glauben Sie, ich würde so etwas erfinden, um mir Ihr Vertrauen zu erschleichen?« »Der Gedanke ist mir durchaus gekommen. Wenn Sie wirklich sind, wer Sie zu sein behaupten, warum verfallen Sie dann in unbedachten Augenblicken in einen französischen Akzent?« Ihre Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. Wahrscheinlich gefiel es ihr nicht, so bloßgestellt zu werden, aber ich wusste, dass sie nicht umhinkonnte, mir Anerkennung zu zollen, weil ich ihr dahintergekommen war. »Alles, was ich Ihnen von meiner Familie erzählt habe, entspricht der Wahrheit«, sagte sie. »Außer, dass ich meine ersten zwölf Lebensjahre in Marseille verbracht habe - ein Ort, wie ich hinzufügen darf, an dem Juden meiner Sorte seitens der Juden der Ihren nicht besser angesehen sind als hier. Aber was bedeutet diese Geringfügigkeit schon?« »Sie hätte vielleicht gar nichts bedeutet, wenn Sie sie nicht vor mir verschwiegen hätten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es Ihnen verschwiegen, weil ich von den Umtrieben der Franzosen wusste und nicht wollte, dass Sie auf den Verdacht kommen, ich könne etwas damit zu schaffen haben. Weil ich Ihnen nicht alles sagen konnte, wollte ich das vor Ihnen verbergen, was Sie zu einer verkehrten Mutmaßung hätte verleiten können.« »Und indem Sie das taten, haben Sie nur umso mehr meinen Argwohn geweckt.« »Ja, so ist es leider, nicht wahr?« Wie in unausgesprochenem gegenseitigen Einvernehmen setzten wir uns wieder. »Und die Geschichte aus Ihrer frühen Jugend? Das mit dem Tod Ihres Vaters, seinen Schulden - und Ihrem Beschützer?« »Auch das stimmt alles. Ich habe lediglich zu erwähnen versäumt, dass dieser Mann über nicht unerheblichen Einfluss im Ministerium verfügte und seitdem noch einflussreicher geworden ist. Er war es, der meine Talente erkannt hat und mich ersucht hat, meinem Land zu dienen.« »Indem Sie meine Freunde verführen und derlei Dinge?« Sie blickte verschämt zu Boden. »Glauben Sie allen Ernstes, ich hätte mich Mr. Gordon hingeben müssen, um an die Informationen zu gelangen, die ich brauchte? Er mag ein guter Freund und ein wackerer Gefährte sein, aber er ist nicht recht dafür geschaffen, einer Frau einen Wunsch abzuschlagen. Ich hätte mir sein Interesse an mir zum Vorteil machen können, aber ich wollte nicht, dass ein Schatten über eine Freundschaft fällt, weil ich mich auf seine Avancen einlasse - dafür achte ich Sie zu sehr.« »Welche Freundschaft meinen Sie? Meine zu Elias oder meine zu Ihnen?« Sie grinste breit. »Nun, beide natürlich. Und nachdem wir diese Dinge jetzt geklärt haben, können wir vielleicht über das Buch reden, das Sie möglicherweise ja doch gefunden haben.« Ich merkte, wie ich schwankte. Doch selbst, wenn ich ihr ihre Geschichte abnahm - wozu ich durchaus geneigt war -, bedeutete das noch lange nicht, dass ich das Buch der East India Company in die Hände spielen wollte. Sie mochte sich im Recht wähnen, und ihr Auftrag gab ihr allen Grund, Peppers Pläne besitzen zu wollen, aber mein Sinn für Gerechtigkeit sprach dagegen. »Ich muss noch einmal wiederholen, dass ich die Pläne nicht gefunden habe.« Sie schloss die Augen. »Es scheint Ihnen nichts auszumachen, wenn die Franzosen diesen Webstuhl bekommen?« »Es würde mir wohl etwas ausmachen, und ich hoffe, dass ihr Vorhaben auf ganzer Linie misslingt, aber ich bin ein Patriot, Madam, kein Diener der East India Company. Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe unserer Regierung ist, eine bedeutende Handelsgesellschaft vor dem Erfindungsreichtum eines Einzelnen zu beschützen.« »Ich hätte Ihnen niemals einen solchen Vertrauensbruch zugetraut«, sagte sie. Ihre Anmut war zwar nicht gänzlich verschwunden, nun aber unter der roten Maske des Zorns verhüllt. Wir sprachen hier nicht über irgendeine Angelegenheit, in die sie zufällig verstrickt war. Ich erkannte in Celia Glade eine überzeugte Verfechterin ihrer Sache. Es war für sie von allergrößter Bedeutung, dass nur die britische Regierung, und nur sie allein, über Peppers Erfindung verfügen durfte, und sie begriff zweifellos, dass ich dies zu verhindern trachtete. »Es ist kein Vertrauensbruch«, sagte ich. »Es geht um Gerechtigkeit, Madam, und wenn Sie nicht gar so uneinsichtig wären, würden auch Sie das verstehen.« »Sie sind es, der hier uneinsichtig ist.« Ihre Stimme klang eine Spur versöhnlicher. Sie mochte mein Handeln nicht nachvollziehen können, sagte ich mir, aber sie begriff, dass ich nur redliche Absichten damit verfolgte. »Ich hatte geglaubt, Sie würden mir inzwischen vertrauen oder mir zumindest zugutehalten, dass ich nur das Beste will. Doch ich merke, dass Sie sich von niemandem dreinreden lassen wollen. Das ist schade, aber offenbar wollen Sie nicht einsehen, dass wir in einer sich verändernden Welt leben.« »Und Sie wollen nicht einsehen, dass ich nicht der East In-dia Company dienlich sein kann, nur um Ihnen einen Gefallen zu tun. Ich habe einiges über mich ergehen lassen müssen, Madam, und ich habe gelernt, dass es besser ist, für eine gerechte Sache zu leiden, als sich mit einem Stück Zucker dafür belohnen zu lassen, der falschen gedient zu haben. Sie mögen damit fortfahren, Erfinder der Verfolgung auszusetzen und sie notfalls umzubringen - ich kann es nicht verhindern -, aber Sie dürfen nicht auf den Fehler verfallen zu glauben, ich würde mich freiwillig diesem Kreuzzug anschließen.« Ein höhnisches Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wo war Ihr unbeugsamer Wille, als Sie sich von Cobb für seine Zwecke missbrauchen ließen, Sir? Nun wissen wir Diener des Königs, was wir von Ihnen zu halten haben. Sie sind für eine Sache, die Ihnen zutiefst zuwider ist, zu jedem Einsatz bereit, wenn es nur darum geht, Ihnen nahestehende Menschen zu schützen. Glauben Sie nicht, dass wir das vergessen werden.« »Und wenn Sie mir schon einmal vorhalten, was ich unter Zwang tue«, sagte ich, »dann bitte ich Sie, sich auch zu erinnern, dass Cobb sich nun in Gewahrsam befindet und Ham-mond tot ist. Denjenigen, die mich ihrem Willen unterwerfen wollten, ist es nicht so wohl ergangen, wie sie es sich erhofft hatten.« »Die traurige Wahrheit ist, dass ich immer sehr viel von Ihnen gehalten habe, Mr. Weaver. Ich glaube, vieles wäre ganz anders gekommen, wenn Sie ähnliche Hochachtung vor mir gehabt hätten. Ich spreche nicht davon, mich zu begehren, wie ein Mann eine Hure begehrt, deren Namen er sich nicht einmal zu merken braucht, sondern davon, mir solche Gefühle entgegenzubringen, wie ich sie für Sie zu empfinden bereit gewesen bin.« Und dann verließ sie mich. Mit einem majestätischen Rauschen ihrer Röcke ließ sie mich nach diesem abschließenden Monolog stehen - welch eine passende Schlussszene für ein tragisches Theaterstück. Sie hatte ihren letzten Satz mit solchem Nachdruck vorgebracht, dass ich glaubte, unsere Wege würden sich nun auf immer trennen, und begann meine Worte, wenn auch nicht mein Handeln, bereits zu bereuen. Aber ich ahnte ja nicht, dass diese Unterredung mit Miss Celia Glade nicht einmal die letzte an diesem Tag sein würde. Elias traf mit nur einer halben Stunde Verspätung ein, womit man bei ihm von ausgesprochener Pünktlichkeit reden konnte. Mich störte sein Zuspätkommen auch gar nicht so sehr, denn es gab mir noch ein wenig Zeit, mich nach Celia Glades Besuch zu sammeln und die Traurigkeit zu vergessen, die mich danach umfangen hatte. Nachdem Elias aber nun einmal da war, drängte ich auf raschen Aufbruch, und wir nahmen einen Wagen zum Craven House. »Wie sollen wir uns denn Zugang zu der Aktionärsversammlung verschaffen?«, wollte er von mir wissen. »Wird man uns nicht gleich an der Tür abweisen?« Ich lachte nur. »Wer würde eine solche Versammlung schon besuchen, wenn er nichts damit zu schaffen hätte? Für einen Außenstehenden kann es nichts Uninteressanteres geben als eine Zusammenkunft der Anteilseigner der East India Company.« Das war gewiss nicht übertrieben, obwohl es sich in den vergangenen Jahren gezeigt hatte, dass solchen Versammlungen durchaus vermehrtes öffentliches Interesse entgegengebracht wurde, und so manche Teilnehmer hatten sich dabei schon so sehr die Köpfe heißgeredet, dass sogar in den Zeitungen darüber berichtet wurde. In jenem Jahr 1723 jedoch würde jeder um eine Zeile verlegene Zeitungsschreiberling wohl eher in den langweiligsten Kaffeehäusern des Covent Garden die Ohren gespitzt haben, als im Craven House auf etwas Berichtens-wertes zu hoffen. Hätte einer von ihnen sich jedoch an diesem Tage in die Versammlung verirrt, wäre er für seinen Optimismus reich belohnt worden. Wie ich vorhergesagt hatte, erhob niemand Zweifel, dass wir mit Fug und Recht an der Versammlung teilnahmen. Wir waren beide wie Gentlemen gekleidet, also fielen wir unter den ungefähr hundertfünfzig dunkel gewandeten Herrschaften, die den Versammlungssaal füllten, nicht weiter auf - außer höchs-tens dadurch, dass wir jünger waren und nicht so stattliche Bäuche vor uns hertrugen wie die meisten übrigen Anwesenden. Die Versammlung fand in einem Raum statt, der speziell für jene vierteljährlichen Ereignisse hergerichtet worden war. Ich hatte diesem Raum bereits einmal einen Besuch abgestattet, und dabei hatte er die freudlose Wirkung eines verlassenen Theatersaales auf mich gehabt. Nun aber war er von Leben erfüllt, wenn auch die Geschehnisse auf der Bühne vorerst träger, schwerfälliger Natur waren. Nur wenige der Anteilseigner schienen sich sonderlich für das zu interessieren, was hier verhandelt werden sollte. Sie standen herum und schwatzten miteinander; mehrere von ihnen waren auf ihren Stühlen eingeschlafen. Ein Mann - einer der wenigen, die jünger als ich waren - schien sich wach zu halten, indem er lateinische Verse repetierte. Manche aßen mitgebrachte Speisen, und ein besonders unerschrockenes Sextett hatte sogar ein paar Weinflaschen und Zinnkrüge dabei. Es gab eine erhöhte Plattform, auf der ein Podium stand. Als wir den Raum betraten, ließ sich einer der leitenden Angestellten gerade über die Meriten eines bestimmten Gouverneurs in den Kolonien aus, welche wohl in Frage gestellt worden waren. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei jenem Gouverneur um den Neffen eines der größten Anteilseigner, was zu einer, wenn nicht gerade hitzigen, so doch wenigstens als lauwarm zu bezeichnenden Debatte Anlass gab. Elias und ich suchten uns Plätze in einer der hinteren Reihen. Mein Freund fläzte sich auf seinen Stuhl und zog sich sogleich den Hut ins Gesicht. »Ich kann es nicht ertragen, wenn sich nichts rührt«, sagte er. »Sei doch bitte so gut, mich zu wecken, wenn irgendwas passiert.« »Du kannst ja auch wieder gehen«, versetzte ich. »Aber wenn du bleibst, darfst du nicht einschlafen. Ich brauche jemanden, der mich unterhält.« »Sonst fallen dir selber gleich die Augen zu, nehme ich an. Sag mir, Weaver, was du dir hiervon eigentlich versprichst.« »Dessen bin ich mir nicht ganz sicher. Vielleicht wird das, was wir bis jetzt bewerkstelligt haben, gar keine merklichen Auswirkungen haben, aber es ist doch inzwischen einiges geschehen. Und vor allem geht es heute um das Schicksal von Mr. Ellershaw. Forester wird etwas gegen ihn vorbringen, und selbst wenn Celia Glade nicht die Hand im Spiel hat und sich sogar die Angelegenheit mit Cobb sich letzten Endes als irrelevant erweist, möchte ich doch mit eigenen Augen sehen, wie die Dinge sich entwickeln.« »Und dafür muss ich wach bleiben? Du bist mir ein schöner Freund.« »Und du? Du willst die Frau, die ich begehre, zu dir ins Bett locken«, merkte ich an. »Ich dachte, wir wären übereingekommen, nicht mehr davon zu sprechen?« »Außer, wenn ich versuche, dich dazu zu bewegen zu tun, was ich von dir erwarte. Dann gedenke ich die Angelegenheit sehr wohl aufs Tapet zu bringen.« »Das ist ziemlich niederträchtig von dir. Wie lange gedenkst du mich noch so zu quälen?« »Solange du lebst, Elias. Wenn ich es nicht mit Humor betrachte, könnte ich ganz schön sauer werden.« »Dann sage ich lieber nichts mehr dazu. Aber mir ist aufgefallen, dass du von meiner Lebensspanne sprichst und nicht von deiner. Hast du ein Rezept für Langlebigkeit entdeckt, das ich noch nicht kenne?« »Ja. Nicht zu versuchen, die Frau ins Bett zu bekommen, auf die dein Freund ein Auge geworfen hat. Du solltest es bei Gelegenheit einmal ausprobieren.« Er wollte etwas erwidern, aber ich hob die Hand. »Warte«, sagte ich. »Das möchte ich mir anhören.« Einer der Anteilseigner, dem die Aufgabe zugefallen zu sein schien, als eine Art Zeremonienmeister zu fungieren, war gerade dabei, die Versammlung darüber zu informieren, dass Mr. Forester von der Geschäftsleitung etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen habe. Ich mutmaßte, dass die Anwesenden nun eine ausführliche Darlegung betreffs der Länge der bei Transportkisten verwendeten Nägel erwarteten, denn niemand schenkte der Sache besondere Aufmerksamkeit. Die Schläfer schliefen, die Speisenden speisten, die Schwätzer schwatzten, der Lateinrepetitor repetierte. Ich aber wartete gespannt darauf, was sich auf dem Podium tun würde. »Gentlemen«, hob Forester an, »ich fürchte, es gibt zwei wichtige Dinge, auf die ich heute zu sprechen kommen muss. Das eine verheißt Gutes für die Zukunft des Unternehmens, wenn wir es nur richtig anzupacken wissen. Das andere ist eher unangenehmer Natur, und obwohl ich es nur sehr ungern überhaupt erwähne, fürchte ich doch, dass es meine Pflicht ist, dies zu tun. Doch zunächst zum erfreulichen Punkt.« Forester gab einem Bediensteten, den ich bislang noch nicht wahrgenommen hatte, ein Zeichen, und dieser eilte sogleich mit einem golden, rot und schwarz lackierten, orientalisch anmutenden Kästchen zu ihm hin. Auf dem Deckel saß ein Griff in Form eines Elefanten. Forester hob den Deckel ab und gab ihn dem Bediensteten zurück. Dann nahm er eine eng gewickelte Rolle Stoff aus dem Behältnis und reichte dem Mann auch das leere Kästchen. Es hätte sehr gut auch ohne dieses dekorative Kästchen getan, aber Forester schätzte wohl dramatische Auftritte, und ich ahnte bereits, dass uns eine faszinierende Vorführung ins Haus stand. »In meiner Hand halte ich die Zukunft der East India Company«, verkündete Forester. »Wie ich Ihnen wohl nicht zu sagen brauche, war es einer der niederschmetterndsten Augenblicke in der Geschichte unseres Unternehmens, als das Parlament ein Gesetz verabschiedete, das den Verkauf in-discher Stoffe hierzulande sehr problematisch gestaltete. Es wird nur noch wenige Wochen dauern, bis wir gezwungen sind, diese Stoffe den Bürgern unseres Landes vorzuenthalten. Trotz unserer Bemühungen, den Markt für die Stoffe, die wir weiterhin verkaufen dürfen, zu erweitern, ist es doch eine traurige Wahrheit, dass es der East India Company nicht gelungen ist, einen entsprechenden Gegenangriff auf die Interessen der Wollmanufakturen in die Wege zu leiten, so dass wir nun bald einem Umsatzverlust zu vergegenwärtigen haben dürften. Aber dazu komme ich später noch ausführlicher.« Zweifellos wollte Forester die gesamte Verantwortung Eller-shaw aufbürden, und wenn dieser nicht glaubwürdig eine bevorstehende Gesetzesänderung ankündigen konnte, würden seine Tage bei der East India Company wohl gezählt sein. »Es ist gewiss schlimm, was im Unterhaus passiert ist«, fuhr Forester fort, »und es gibt Gerüchte, uns stünden noch einschneidendere Entwicklungen bevor. Wir haben alle schon von einem neuen Webgerät gehört, mit dem angeblich amerikanische Baumwolle zu so feinen Fäden gesponnen werden könne, dass sie von indischer Seide nicht mehr zu unterscheiden sei - ebenso leicht, bequem und elegant. Die hiesigen Färbereien arbeiten seit Jahren an der Verfeinerung ihrer Verfahren, so dass ein Großteil der indischen Ware bereits jetzt in diesem Königreich weiterverarbeitet wird. Würden diese Betriebe sich nun auf die mittels jenem geheimnisvollen Wunderwerks zu Fäden gesponnene amerikanische Baumwolle umstellen, wäre es dem Käufer unmöglich, den Unterschied zu erkennen. Gewiss würden die Fachleute des Craven House einen Qualitätsverlust ausmachen können, doch nicht der Mann auf der Straße. So ein Gerät könnte das Ende unseres Handels mit orientalischen Rohmaterialien bedeuten.« Das brachte die Menschenmenge ganz schön auf Trab. Pfiffe und Pfuirufe erfüllten den Saal. Selbst Elias, der sich betont ge-langweilt gegeben hatte, war nun hellwach. »Er hat die ganze Zeit davon gewusst«, flüsterte er. »Ich bin hier, um Ihnen zwei Dinge mitzuteilen, Gentlemen. Zunächst, dass es dieses Wunderding tatsächlich gibt. Ich habe gesehen, wie es arbeitet.« Forester wurde niedergeschrien und musste ein paar Minuten warten, bis sich die Menge so weit beruhigt hatte, dass er fortfahren konnte. Als es endlich so weit war, konnte man ihn wegen des Lärms trotzdem nur schwer verstehen. »Ja, es ist wahr. Das Wunderding gibt es. Doch das Zweite, was ich Ihnen zu sagen habe, ist, dass dies nicht einen Augenblick der Niederlage, sondern des Triumphes darstellt. Das bewusste Gerät ist stets als ein Feind des Unternehmens erachtet worden, doch nun haben wir es in unserem Besitz, und damit können wir es nach unserem Gutdünken und zu unserem Gewinn einsetzen. Das, meine Freunde, bedeutet Reichtum über all unsere Vorstellungen hinaus.« Alles lauschte ihm wie gebannt. »Denken Sie doch nur einmal darüber nach. Wir setzen den Handel mit Indien fort. Wir haben hier unsere Vertriebswege, und ganz Europa begehrt indische Stoffe. Aber wir erweitern unsere Handelsbeziehungen mit Indien nicht, sondern setzen stattdessen vermehrt auf Baumwolle aus nordamerikanischer Fertigung. Wir importieren die Baumwolle aus Amerika, lassen den Kokon hierzulande und auf Werkzeugen der East India Company zu Fäden spinnen und ihn dann färben und verkaufen das Produkt auf dem heimischen Markt. Anstatt uns mit der hiesigen Textilfer-tigung anzulegen, verweben wir uns mit derselben, wenn Sie mir dieses Wortspiel nachsehen. Ja, die Wollspinner werden uns weiterhin Ärger machen, aber sie können nicht länger behaupten, wir würden den hiesigen Arbeitern das Brot wegnehmen. Nein, wir werden neue Arbeitsplätze schaffen und die Helden aller Arbeitssuchenden werden. Und da wir über das Werkzeug verfügen, werden wir von überzogenen Lohnforderungen verschont bleiben. Mit diesen Geräten werden wir die absolute Macht über die Textilindustrie erlangen, Gentlemen: indische Seide für die Auslandsmärkte, amerikanische Baumwolle für den Binnenmarkt.« Alles schrie aufgeregt durcheinander. Die Männer sprangen auf, zeigten hierhin und dorthin, fuchtelten mit den Händen, nickten beifällig oder schüttelten die Köpfe. Aber alle schienen von dem Gedanken ausgesprochen eingenommen zu sein. Ich konnte das alles kaum fassen. All meine Bemühungen waren umsonst gewesen. Die East India Company befand sich bereits im Besitz von Peppers Erfindung, würde davon profitieren und die Arbeiter Londons zu ihren Lohnsklaven machen. Ein wenig Trost spendete mir nur, dass Foresters Offenbarung bedeutete, dass Cobbs französische Auftraggeber im Wettstreit um Peppers Webstuhl unterlegen waren - und mit ihnen Celia Glade und die britische Regierung. Die East India Company hatte die Nase vorn. Nach einigen Minuten heillosen Durcheinanders, in dem Forster sich vergeblich um Ruhe bemühte, ertönte plötzlich ein durchdringender Ruf. »Wartet!«, rief eine Stimme. »Wartet ab, nicht so schnell!« Es war Ellershaw. Er betrat den Saal mit einer Selbstzufriedenheit, die ich noch nie an ihm beobachtet hatte. Er trug ein neues, gepflegtes Gewand, in dem seine Haltung zwar immer noch zu wünschen übrig ließ, aber er strahlte dennoch eine Autorität aus, die ich beinahe als königlich bezeichnet hätte. Er strebte der Plattform zu und dann dem Podium. »Sie müssen warten«, sagte Forester zu ihm. »Ich habe Ihnen noch nicht das Wort erteilt.« »Doch, das haben Sie«, erwiderte Ellershaw. »Was wir hier diskutieren, ist zu wichtig, als dass ich mich durch Formalitäten aufhalten lasse.« »Das mag ja so sein«, versetzte Forester verächtlich. »Aber ich lasse es nicht zu, dass ein Verrückter das Wort ergreift, von dem jedermann weiß, dass sein klares Denken von einer skandalösen Krankheit beeinträchtigt ist.« Ein Raunen ging durch die Menge, und ich sah so viele der Anwesenden mit den Köpfen nicken oder sich etwas zuflüstern, dass mir dämmerte, wie weit das Gerücht, Ellershaw hätte infolge der französischen Krankheit den Verstand verloren, bereits die Runde gemacht hatte. Doch nun begann ich zu ahnen, was für einen listigen Geniestreich Ellershaw sich ersonnen hatte. »Jedermann weiß es, wie? Nun, ich weiß es nicht, und es hat mir auch noch kein Arzt, der sich die Zeit genommen hat, mich zu untersuchen, gesagt - außer einem Quacksalber, der sich gerne das Maul zerreißt. Aber da erkenne ich ja hier in diesem Raum den Arzt, der mich untersucht hat. Sie da, Sir!« - er zeigte auf Elias -, »stehen Sie doch bitte auf und sagen es dieser Versammlung, wenn Sie glauben, an mir eine Krankheit festgestellt zu haben, die zu einer Verwirrung des Geistes führen könnte.« Elias zögerte, aber Ellershaw ließ nicht locker, und das Gemurmel im Saal nahm für meine Ohren bedrohliche Formen an. »Du tust besser, was er sagt«, flüsterte ich. Elias stand auf und räusperte sich. »Ich habe den Gentleman untersucht«, erklärte er, »und kein Anzeichen für ein solches Leiden vorgefunden, und auch für nichts anderes, das zu einem Delirium führen könnte.« Wieder ging ein Raunen durch die Menge, und Ellershaw konnte sich nur Gehör verschaffen, indem er mit einem dicken Buch so laut wie mit einem Hammer auf das Pult schlug. »Da hören Sie es!«, rief er. »Gerüchte, die jeder Grundlage entbehren. Wenn wir uns nun wieder dem zuwenden, um das es hier eigentlich geht, würde ich gerne ein paar Worte über diese künstlich erzeugte Seide verlieren, von der Forester gesprochen hat.« Er wandte sich ihm zu. »Wenigstens müssen Sie uns gestatten, den Stoff in Augenschein zu nehmen. Sie behaupten, es wäre so fein wie indische Seide, aber wir haben nur Ihr Wort darauf, dass es kein grober, schwerer Stoff ist, dem das Publikum sich verweigern wird. Es hat schon unzählige neue Entwicklungen gegeben, die angeblich unseren Niedergang einläuten sollten, aber keine davon ist auch nur einen Pfifferling wert gewesen.« Forester wollte Ellershaw unterbrechen, aber der trat einfach vor und nahm Forester den Stoffballen ab. Sodann untersuchte er ihn, indem er mit der Hand darüberstrich, den Stoff gegen das Licht hielt und sogar daran schnüffelte. Schließlich hielt er inne und schien in Gedanken verloren. »Selbst Sie, Sir, der Sie mir immer im Weg gestanden haben, müssen zugeben, dass dieser Stoff Sie überzeugt«, sagte Forester, und seine Stimme wurde ganz brüchig vor lauter Selbstgefälligkeit. »Können Sie daran irgendeinen Fehler finden?« Ellershaw schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, das kann ich nicht«, sagte er. Aber ich wusste, dass Ellershaw noch einen Trumpf im Ärmel zurückhielt, denn er klang keineswegs so, als müsse er klein beigeben. Er setzte ein Lächeln auf und sprach so laut, dass jeder im Raum es deutlich hören konnte. Dies war kein privater Disput mehr - Ellershaw stand nun auf einer Bühne und trug seinem Publikum etwas vor. »Nein, ich kann keinen Fehler daran finden, denn dies ist indische Seide, Sie Dummkopf. Sie verschwenden mit diesem Unsinn nur unsere Zeit.« Wieder brach ein Tumult los, dem Forester Einhalt zu gebieten versuchte. »Der Stoff ähnelt so sehr dem Original, dass selbst ein Mann wie Ellershaw kaum einen Unterschied feststellen kann. Beweist das nicht den Wert dieser Erfindung?« Nun war es an Ellershaw, ein so lautes Lachen von sich zu geben, dass es den ganzen Saal erfüllte. »Man hat Sie hereingelegt, Sir. Jemand hat Sie aufs Kreuz gelegt. Ich sage, dies ist indische Seide, und wenn Sie ein wahrer Mann des Craven Houses wären - immerhin haben Sie ja so wie ich in Indien Ihre Dienste geleistet -, würden auch Sie es merken.« Er rollte ungefähr zwei Fuß von dem Stoff ab und hielt sie seinen Zuschauern hin. »Sie brauchen diesen Stoff nicht einmal zu berühren, Gentlemen, um festzustellen, dass Forester sich im Irrtum befindet.« Einen Moment lang kehrte Ruhe ein, während alles versuchte, den Stoff auf sich wirken zu lassen. Was sollten sie daran erkennen? Ich wusste es nicht. Aber dann rief eine Stimme: »Na, der ist doch in Indien bearbeitet worden. Ich kenne das Muster.« »Ja, ja«, rief ein anderer. »Es gibt keinen Färber in diesem Land, der das nachahmen kann. Es ist indische Seide!« Nun ging es im Saal drunter und drüber. Sie konnten es nun alle erkennen, und die, die den Unterschied nicht merkten, gaben sich den Anschein, im Bilde zu sein. Alles zeigte auf den Stoff und lachte. Buhrufe wurden laut. Diesmal gelang es Ellershaw jedoch, rasch wieder einigermaßen Ruhe herzustellen. Die Unfassbarkeit dessen, was sich soeben abgespielt hatte, verlangte nach gesitteter Ordnung. Forester blieb zwar auf der Bühne stehen, wirkte aber verwirrt und hilflos. Er war rot im Gesicht und zitterte am ganzen Leibe. Er wollte wohl nichts lieber, als dieser Erniedrigung zu entfliehen, aber er ließ sie über sich ergehen, um nicht noch peinlicher dazustehen. Wie hatte es dazu kommen können? Ich erinnerte mich an Aadil, den indischen Agenten, der vorgeblich Forester zuarbeitete. Stattdessen hatte er offenbar mitgeholfen, ihm diese Niederlage zu bereiten. Forester hatte Peppers Erfindung an sich bringen wollen, was dem indischen Exporthandel geschadet hätte. Also hatte der Inder zurückgeschlagen und Foresters Plan vereitelt, indem er Forester indische Seide als in England bearbeiteten Stoff unterschob - und dabei genau wusste, dass der Tag kommen musste, an dem der Schwindel aufflog. »Freunde, Freunde«, rief Ellershaw. »Beruhigen wir uns wieder. Dieses Missverständnis ist nicht lustig, sondern sollte uns zur Warnung dienen. Mr. Forester hatte recht - auch ich habe von dieser neuen Erfindung Kunde genommen, und er tat gut daran, sich zu vergewissern. Kann man es ihm zum Vorwurf machen, dass ein skrupelloser Halunke - zweifelsohne, um aus seiner Unwissenheit Profit zu schlagen - ihn betrogen hat? Mr. Forester hat uns gerade daran gemahnt, stets auf der Hut zu sein, und dafür schulden wir ihm Dank.« Es verblüffte mich, wie schnell Ellershaw die Wogen geglättet hatte. Schon brach der Saal in Jubel und Applaus aus, und Forester durfte sogar in Ehren von der Bühne abtreten. Er würde wohl seinen Abschied aus der Geschäftsführung nehmen müssen, konnte aber zumindest mit dem Anschein von Würde den Saal verlassen. Nachdem er gegangen war, kehrte Ellershaw aufs Podium zurück. »Ich weiß, dass meine Redezeit um ist, aber darf ich noch ein paar Worte sagen, da ich nun schon gerade hier oben stehe?« Der Mann, der Forester der Versammlung vorgestellt hatte, nickte mit Nachdruck. Ellershaw war nun der Held des Tages. Hätte er um Erlaubnis ersucht, den Raum in Brand zu stecken, wäre ihm auch diese Bitte gewährt worden. »Gentlemen, ich habe nicht übertrieben, als ich sagte, dass wir uns vor solchen neuen Erfindungen in Acht nehmen müssen, doch befürchte ich, dabei auch mit ein wenig Eigenlob nicht gegeizt haben. Sehen Sie, ich bin wachsam gewesen. Gerüchte von neuen Bestrebungen sind dazu da, dass man ihnen nachgeht, und es hat tatsächlich Pläne für einen neuartigen Webstuhl gegeben, zwar keinen, der aus Baumwolle indische Seide herzustellen vermag, aber doch einen Schritt in diese Richtung gebracht hätte. Und ich glaube, es war im vollen In-teresse der East India Company, dass diese Erfindung vereitelt würde, damit sie nicht eines Tages Weiterentwicklungen nach sich zieht, die dann tatsächlich unseren Markt gefährden könnten. Ich habe daher keine Mühe gescheut, um das einzige existierende Exemplar der Pläne für dieses Teufelswerkzeug an mich zu bringen.« Er griff in seine Jackentasche und zog ein kleines Oktavbändchen hervor. Selbst aus der Entfernung konnte es keinen Zweifel geben. Dies war das Notizbuch, das ich am Morgen Devout Hale übergeben hatte. »Nun weiß ich zwar, dass es in jüngster Zeit ein wenig Unzufriedenheit mit meinen Diensten hier gegeben hat«, fuhr Eller-shaw fort. »Es sind Stimmen laut geworden, die meinten, ich hätte mehr tun können, um dem Treiben der Wollmanufakturen etwas entgegenzusetzen und die neuen gesetzlichen Bestimmungen zu unterbinden, die uns während der kommenden Jahre ganz gewiss vor so manche Herausforderung stellen werden. Ich glaube nicht, dass diese Kritik gerechtfertigt war. Ich bin unermüdlich in meinen Bestrebungen gewesen, diese Gesetzgebung zu verhindern, aber irgendwann waren mir dann doch die Hände gebunden, denn das Parlament ist den Interessenvertretern des Wollhandels seit undenklichen Zeiten sehr gewogen. Doch ich zweifle nicht daran, dass wir verlorenen Boden wieder wettmachen werden, und wir werden auch keine Mühe scheuen, um uns neue Märkte zu erschließen und gleichzeitig unsere Rechte und Privilegien unerbittlich zu verteidigen. Indem es mir gelungen ist, diesem neuen Webstuhl Einhalt zu gebieten, glaube ich bewiesen zu haben, was ich dem Unternehmen wert bin.« Sein Publikum schien ihm darin zuzustimmen, denn es brach in rasenden Jubel aus. Ellershaw sonnte sich in seinem Ruhm, und als der Beifall abgeebbt war, konnte er endlich zu seinem Schlusswort ansetzen. »Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, das alles ganz allein vollbracht zu haben. Ich habe viele Helfer gehabt, und ich möchte mich an dieser Stelle bei all jenen, die mir ihre Unterstützung gewährt haben, bedanken. Unser Unternehmen hat einen neuen Fürsprecher, einen Mann, der ursprünglich die Interessen der Wollindustrie wahrgenommen hat, nun aber unsere Sache im Parlament vertreten wird. Ich möchte Sie alle bitten, Mr. Samuel Thurmond einen herzlichen Empfang zu bereiten. Mit Beginn dieser Parlamentsperiode hat er sich auf unsere Seite geschlagen, und er hat mir zugesagt, seinen ganzen Einfluss geltend zu machen, damit dieses widerwärtige Gesetz endlich rückgängig gemacht wird.« Der alte Mann erhob sich und winkte fröhlich grinsend mit seinem Hut. Dies war weder der halsstarrige Greis, den Ellershaw mit Drohungen einzuschüchtern versucht hatte, noch der Ränkeschmied, der sich heimlich mit Forester getroffen hatte. Ich sah einen weisen Mann vor mir, der in seinen letzten Lebensjahren sich und wohl auch dem Sohn, den Ellershaw erwähnt hatte, ein paar Annehmlichkeiten gönnen wollte. Nun ging mir auf, dass Ellershaw seine Drohungen nur zum Schein ausgestoßen hatte, dass die Auseinandersetzung in den Gärten von Saddler's Wells ebenfalls nur zum Schein stattgefunden hatte - alles, damit Forester und ich glaubten, Ellershaw und Thurmond wären Erzfeinde. Und ich begriff, dass meine Anwesenheit im Craven House dazu diente, Forester weiszumachen, seine Pläne liefen Gefahr, von einem Außenstehenden, der als geheimer Ermittler in das Unternehmen eingeschleust worden war, aufgedeckt zu werden -während er irrtümlicherweise glaubte, in Thurmond einen Verbündeten gegen Ellershaw zu haben. Der Argwohn gegen mich sollte ihn unsicher machen, ihn zu überstürztem Handeln treiben, um sich damit selber ein Bein zu stellen, wodurch er für Ellershaw die Bühne frei machte, auf der dieser seinen Triumph feiern konnte. Alles im Raum war förmlich von einem Freudentaumel ge-packt; Ellershaw musste unzählige Hände schütteln, und viele der Anwesenden klatschten Thurmond auf den Rücken, um ihn wie einen Helden in ihrem Kreise willkommen zu heißen. Das ganze Theater stieß mir ein wenig unangenehm auf, denn schließlich verdankte er sein hohes Ansehen der Tatsache, dass er seine langjährigen Verbündeten hintergangen hatte. Was würde ihn davon abhalten, eines Tages auch dem Craven House in den Rücken zu fallen? Aber vielleicht spielte das für sie überhaupt keine Rolle. Hatte Ellershaw nicht klar und deutlich erklärt, dass diese Männer von einer Verkaufssaison, von einer Anteilseignerversammlung zur nächsten lebten? Was bedeutete ein möglicher Verrat in ferner Zukunft gegen den Triumph des Augenblicks? Mich begannen diese Beifallsbekundungen anzuwidern, und ich wollte Elias sagen, dass ich es hier nicht länger aushielte, doch als ich aufblickte, gewahrte ich, wie Thurmond gerade die Hand eines ganz unerwarteten Gastes schüttelte. Es war kein anderer als Moses Franco. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, während ich zu begreifen versuchte, warum er hier war und wieso er auf offenbar so freundschaftlichem Fuße mit Thurmond und mehreren anderen Angehörigen des Craven House verkehrte. Dann sah ich, wie Mr. Franco sich verabschiedete und dem Ausgang zustrebte. Er öffnete die Doppeltür und schloss sie ebenso rasch wieder hinter sich, doch mir blieb gerade noch genug Zeit zu beobachten, dass ihn draußen jemand erwartete, bei deren Kleidung und Bewegungen nach es sich nur um Celia Glade handeln konnte. Ich sagte Elias, dass ich gleich wiederkäme und wollte mich gerade selber zur Tür durchdrängen, als Ellershaw mich bei der Schulter griff. Er erwiderte meinen erstaunten Gesichtsausdruck mit einem so selbstsicheren, wissenden Grinsen, wie ich es von ihm noch nicht kannte. »Dass ich mich nicht öffentlich bei Ihnen bedankt habe, soll nicht bedeuten, dass ich Ihren Beitrag weniger zu schätzen wüsste als den Thurmonds«, sagte er. Ich ignorierte sein Salbadern und schob mich zur Tür hinaus. Zum Glück sah ich gerade noch, wie die beiden den Gang hinunter und zu einem kleinen Nebenraum gingen, von dem ich wusste, dass er erst jüngst frei geräumt worden war. Sie mussten sich entweder unbeobachtet gefühlt haben oder scherten sich nicht darum, wenn jemand sie zusammen sah, denn sie schlossen nicht einmal die Tür hinter sich, und als ich an der Schwelle ankam, überreichte Celia Glade Mr. Franco gerade einen Geldbeutel. »Was sind das für geheime Geschäfte?«, sagte ich mit so lauter Stimme, dass sie beide zusammenzuckten. »Mr. Weaver«, begrüßte mich Mr. Franco freudevoll. »Wie froh ich bin, Sie zu sehen, da wir dies alles nun hinter uns haben. Ich weiß, dass Sie nicht umhinkönnen, sich ein paar Fragen zu stellen, aber seien Sie versichert, dass ich tief in Ihrer Schuld stehe, Sir, und nichts als Hochachtung für Sie empfinde.« Der Ausdruck auf meinem Gesicht musste ihm gesagt haben, dass ich wohl doch mehr wusste, als ihm lieb war, denn er wandte sich sogleich Celia Glade zu. »Er ist doch über alles im Bilde, oder?« Sie errötete. »Ich fürchte, noch keine Gelegenheit gehabt zu haben, ihn davon zu unterrichten.« »Sie sind ein Agent?«, entfuhr es mir. Celia Glade legte mir die Hand auf den Arm. »Lassen Sie Ihre Verstimmung nicht an ihm aus. Wenn Sie jemandem Vorwürfe machen können, dann mir.« »Worauf Sie sich verlassen können. Wie konnten Sie es wagen, meine Gefühle und meine Loyalität so zu missbrauchen? Sie haben ja keine Ahnung davon, mit was für Schuldgefühlen ich mich wegen der Einkerkerung dieses Mannes gequält habe! Und nun erfahre ich, dass er die ganze Zeit in Ihren Diensten gestanden hat.« Franco hielt in einer abwehrenden Geste beide Hände in die Höhe, was allerdings angesichts des Geldbeutels zwischen seinen Fingern die gewünschte Wirkung ein wenig verfehlte. Trotzdem war ihm an der aufsteigenden Röte in seinem Gesicht anzusehen, dass er sich äußerst unwohl in seiner Haut fühlte und offenbar ein sehr schlechtes Gewissen hatte. Diese Aufrichtigkeit ließ meinen Zorn abebben, und ich wusste einen Augenblick lang nicht, was ich tun oder sagen sollte. Celia Glade nutzte meine Verunsicherung sogleich zu einer Erklärung. »Nicht ihm sollte Ihr Verdruss gelten«, sagte sie. »Ihm ist ähnliche Unbill widerfahren wie Ihnen. Auch er ist gegen seinen Willen gezwungen gewesen, Cobb zu gehorchen.« Nun ergriff Mr. Franco wieder das Wort. »Nach meiner Ankunft in London habe ich mein Geld leider recht unglücklich angelegt - unter anderem in Mr. Peppers Erfindung, und das hat Cobbs Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Es gelang ihm, meine Schulden aufzukaufen, wie er es auch bei Ihnen und Ihren anderen Freunden gemacht hat, und er hat dann von mir verlangt, dass ich die Bekanntschaft Ihrer Familie suche.« »Ihre Tochter steckte also auch mit darin?«, sagte ich, ohne meine Verachtung zu verhehlen. »Nein«, sagte er. »Ich konnte es nicht über mich bringen, ein so liebreizendes Wesen dazu zu bewegen, Sie zu hintergehen, also musste ich auch ihr etwas vorspielen. Doch darf ich hinzufügen, dass ich einer Verbindung zwischen Ihnen beiden nicht im Wege gestanden hätte, wenn Sie beide mehr Gefallen aneinander gefunden hätten.« »Zu freundlich von Ihnen«, kommentierte ich verbittert. Er schüttelte den Kopf. »Als ich merkte, dass Sie beide nicht zueinanderfanden, habe ich meine Tochter nach Saloniki geschickt, um sie aus all diesem Irrsinn herauszuhalten. Ich schäme mich sehr, Sir, genötigt gewesen zu sein, Sie zu täuschen. Ich hoffe nur, dass Sie mir nicht mehr mit sol-cher Abscheu begegnen werden, wenn Sie erst die ganze Geschichte gehört haben.« »Anstatt Mr. Franco zum Objekt Ihrer Entrüstung zu machen, sollten Sie ihm eher dankbar sein, wie Sie gleich feststellen werden«, sagte Celia Glade. »Um Ihretwillen hat er Kontakt zum Ministerium aufgenommen und sich erboten, die Seiten zu wechseln und mit uns zusammenzuarbeiten.« »Das ist richtig«, sagte Franco. »Ich wusste, dass Cobb ein Schuft war und Sie ein Mann von Ehre. Daher habe ich mich, nachdem meine Tochter sicher im Ausland weilte, entschlossen, meine Unversehrtheit aufs Spiel zu setzen, indem ich für und nicht gegen meine neue Heimat arbeitete. Leider bestand eine der Bedingungen darin, dass Sie von alledem nichts erfahren durften.« »Und wieso?« Celia Glade lachte. »Aber das liegt doch auf der Hand. Sie sind ein viel zu ehrlicher Mensch, als dass man Ihnen in einer so zwiespältigen Angelegenheit wie dieser die Entscheidung darüber anvertrauen durfte, was Recht und was Unrecht ist. Wir wussten, dass Sie niemals freiwillig den Franzosen dienen würden und dass Sie sich, wenn Ihnen die Wahl blieb, allemal auf die Seite Ihres Königreiches geschlagen hätten. Aber weniger sicher waren wir uns darin, ob man sich auf Sie verlassen könne, wenn es für Sie zu einem Widerspruch zwischen dem, was Sie als das Beste für Ihr Land erachteten und dem, was wir dafür hielten, käme.« Ich schnaubte verächtlich. »Also haben Sie mich als Ihre Marionette benutzt.« »Ich wünschte, das wäre anders gewesen«, räumte Franco kleinlaut ein. »Mr. Weaver, Sie leben lange genug auf dieser Welt, um zu wissen, dass wir nicht immer nach den Prinzipien handeln können, an die wir glauben, und dass wir bisweilen unsere eigenen Ideale im Sinne einer höheren Sache zu opfern haben. Wenn ich erführe, dass meine Regierung mich so in ihrem Sinne eingesetzt hätte, würde ich mich nicht darüber beklagen. Dies wäre mir immer noch lieber, als meinem Land Schaden zuzufügen.« »Ja, das ist Ihre Betrachtungsweise«, sagte ich, »aber nicht die meine. Ich weiß es besser, als dass ich glauben könnte, die Regierung schnitte gut dabei ab, wenn Sie die East India Company unterstützt. Zwei große Machtblöcke können nie friedlich nebeneinander herleben, und es wird der Tag kommen, an dem der eine bestrebt sein muss, den anderen zu unterwerfen.« »Dieser Tag mag kommen«, pflichtete Celia Glade mir bei, »wenn die Regierung Grund findet, mit dem Craven House unzufrieden zu sein. Aber im Moment sind die Franzosen unsere Gegner, und die Franzosen wollen die East India Company zerdrücken, um damit unsere Weltmacht zu zerstören. In der Politik kann es nicht immer darum gehen, was moralisch richtig und für sämtliche Zeiten gut für alle Menschen ist. Es geht um das geringere Übel, darum, was hier und heute getan werden muss.« »Eine ganz schön verquere Art und Weise, ein Land zu führen«, sagte ich. »Sie sind auch nicht besser als die Männer der East India Company, indem Sie nur von einer Parlamentsperiode bis zur nächsten denken.« »Nur so kann ein Land geführt werden«, sagte Celia Glade. »Jede andere Art der Politik führt ins Verderben.« Nach einem Augenblick des Schweigens wandte sie sich Franco zu. »Ich denke, Sie haben sich Mr. Weaver so gut als möglich erklärt. Würden Sie uns nun allein lassen, damit wir ein Wort unter vier Augen wechseln können?« Er verbeugte sich und entschwand aus dem Zimmer. Celia Glade schloss die Tür hinter ihm und entblößte ihre weißen Zähne zu einem bezaubernden Lächeln. »Nun? Sind Sie mir böse?« »Sie sprechen so mit mir, als gäbe es etwas zwischen uns, weswegen mein Zorn Ihnen etwas anhaben würde. Für mich sind Sie nichts als eine Frau, die ihre Umgebung geschickt zu manipulieren weiß.« Sie schüttelte den Kopf. »Das nehme ich Ihnen nicht ab. So denken Sie nicht über mich, und Sie sind mir wirklich böse. Dass ich Ihnen während der vergangenen Wochen immer einen Schritt voraus gewesen bin, hat Ihren Stolz verletzt, doch ich denke, Sie werden mich in einem wohlwollenderen Licht betrachten, wenn Sie das alles erst einmal auf sich haben wirken lassen. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie das nicht schon längst tun. Ich glaube, Sie mögen mich mehr, als Sie zugeben wollen.« Ich antwortete nichts darauf. Ich wollte es ihr weder eingestehen noch sie anlügen. Stattdessen stellte ich ihr eine Frage. »Sie haben angedeutet, die Franzosen hätten Aadil auf dem Gewissen. Haben sie auch Carmichael getötet? Und was ist mit Pepper?« »Was Carmichael betrifft, so haben wir Informationen, die uns zu dem Verdacht führen, dass einer von Ellershaws Leuten dahintersteckt.« »Wie bitte?! Und mit so etwas lassen Sie ihn ungeschoren davonkommen?« »Sie müssen verstehen, was für Risiken wir sonst eingehen würden. Es handelt sich hier um den Kampf zweier Nationen um die Weltmacht, um ein Imperium, wie es die Welt noch nicht gekannt hat. Ja, wir beanspruchen diese Macht für uns, und dazu müssen wir um jeden Preis verhindern, dass unser Feind sie an sich reißt. Wollen Sie etwa, dass Frankreich sich zur vorherrschenden Weltmacht aufschwingt? Haben Sie mal darüber nachgedacht, wie gut es den Menschen unter englischer Herrschaft geht - hier und in den Kolonien? Soll ich Ihnen von dem Leben in den katholischen Ländern des Kontinents erzählen?« »Ich bin darüber durchaus im Bilde.« »Ich empfinde nichts als Hass Ellershaw gegenüber, und wie auch Sie wünsche ich mir, dass er für seine Taten bestraft wird, aber wir befinden uns in einem Krieg, einem sehr realen Krieg mit erheblichen Konsequenzen, erheblicheren Konsequenzen gar, als sie je ein Krieg, der von großen Armeen auf dem Schlachtfeld ausgefochten wurde, nach sich gezogen hat. Da hilft es nichts - wir müssen uns mit einem Schurken wie Ellershaw eben abfinden, so, wie ein König sich mit einem Scheusal abfinden muss, wenn dieses Scheusal zufälligerweise, wie es so oft der Fall ist, einen vorzüglichen Heerführer abgibt.« »Also bleibt er ungestraft?« »Wir können ihn nicht zur Rechenschaft ziehen. Selbst wenn wir Beweise hätten - die uns fehlen -, wäre es unklug, etwas gegen ihn zu unternehmen.« Sie grinste mich an. »Und keine von Ihren brachialen Methoden, wenn ich bitten darf. Ich glaube nicht, dass das Ministerium es auf sich beruhen lassen würde, falls Mr. Ellershaw unglücklicherweise etwas zustoßen sollte, und ich wäre dann nicht in der Lage, schützend die Hand über Sie zu halten. Sie müssen sich schon auf andere Weise an ihm rächen.« Sie schien meine Gedanken lesen zu können. Ich wandte mich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen von ihr ab. »Und was ist mit Absalom Pepper? Wer hat ihn auf dem Gewissen? Wird derjenige seiner Strafe zugeführt werden?« »Mir fällt auf, dass Sie mir den Rücken zugekehrt haben, um mir diese Frage zu stellen. Sie sind sich Ihrer Sache wohl selber nicht ganz sicher?« Ich empfand schon eine gewisse Bewunderung für sie, aber ich musste unbedingt Gewissheit haben. Ich wandte mich ihr wieder zu. »Wer hat ihn umgebracht?« »Ich glaube, Sie kennen die Antwort«, sagte sie mit einem ihrer verschmitzten Lächeln, mit denen sie immer wieder meine Wut aufreizte, die ich aber gleichzeitig als unwiderstehlich empfand. »Wenn ich es wüsste - würde ich dann nicht der Gerechtigkeit Genüge tun?« »Ich denke, das würden Sie.« »Und Sie werden mich nicht davon abhalten?« »Nein.« »Und das Ministerium wird damit einverstanden sein?« »Das Ministerium wird nichts davon erfahren.« Ich verengte die Augen zu Schlitzen und sah sie scharf an. Wollte Sie mich in einen Hinterhalt locken? »Und Sie werden trotzdem keinen Versuch unternehmen, mich aufzuhalten?« »Sie dürfen nicht glauben, dass meine Ergebenheit mich blind macht. Ich würde alles dafür tun, um zu verhindern, dass Frankreich die Macht erlangt, die unser Königreich erstrebt, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich nicht in der Lage wäre zu erkennen, was diese großen Handelshäuser sich anmaßen. Sie haben recht damit, sich zu fragen, was geschieht, wenn deren Macht allzu groß wird, und ich gehe darin mit Ihnen überein, dass es ratsam ist, ihre Macht zu beschneiden, solange wir noch die Mittel dazu besitzen. Also können Sie tun, was Sie wollen, und ich werde in meiner Eigenschaft als Vertreterin der Krone ganz offiziell keine Notiz davon nehmen. Aber ich denke, Sie wissen, dass Sie rein privat meinen Segen dazu haben.« Ich war vollkommen verblüfft. »Es scheint so, Miss Glade, dass Sie und ich doch mehr Sinn für Gerechtigkeit teilen, als ich ursprünglich angenommen hatte.« »Wie können Sie daran gezweifelt haben? Ich weiß, dass Sie handeln, wie Sie es für richtig halten, und weil Sie damit auch meinem Wunsch entsprechen, werde ich Sie so weit als möglich unterstützen. Was Ihre Schulden und die Ihrer Freunde betrifft, können Sie gewiss sein, dass das Ministerium diese Angelegenheit aus der Welt schaffen wird. Die zwanzig Pfund, die man Ihnen zugesagt hat, kann ich Ihnen jedoch nicht bezahlen.« Als sie den letzten Punkt aussprach, sah sie mich besonders verschmitzt an. »Ich werde mich bemühen, mit dem Verlust zu leben.« »Er wird sogar noch größer, als Sie glauben, denn ich erwarte von Ihnen als Zeichen Ihrer Wertschätzung, dass Sie mir ein hübsches Schmuckstück kaufen«, sagte sie und nahm mich bei der Hand. »Und zum Zeichen deiner Zuneigung«, fügte sie noch hinzu. Ich wollte nicht spröde wirken, aber so ganz hatte ich noch nicht Vertrauen zu der Dame gefasst, und ich war mir immer noch nicht sicher, ob sie mich nicht doch zu hintergehen trachtete. Dementsprechend fiel meine Reaktion auf ihre, mir allerdings sehr willkommenen, wie ich zugeben muss, Avancen eher zurückhaltend aus. Sie konnte nicht umhin, mein Zögern zu spüren. »Nun zieren Sie sich doch nicht so, Mr. Weaver. Wollen Sie denn immer nur Frauen wie Mrs. Melbury umwerben, deren Sinn für Anstand und Schicklichkeit dann doch nur dazu führt, dass sie Sie stehen lassen? Sie müssten doch überglücklich sein, nicht nur eine Frau Ihres eigenen Volkes getroffen zu haben, sondern dazu auch noch eine, die Ihre Neigungen teilt.« »Sie sind ganz schön dreist«, sagte ich und musste dabei ebenfalls grinsen, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. »Wenn es Dreistigkeit ist, in trauter Zweisamkeit mit einer gleichgesinnten Seele die Wahrheit auszusprechen, bekenne ich mich dieses Vergehens gerne schuldig. Ich weiß, dass das, was Sie mit mir erlebt haben, Ihnen ein falsches Bild von mir vermittelt haben könnte.« Sie berührte meine Hand mit einer Zärtlichkeit, die ich gleichzeitig überraschend und erregend fand. »Vielleicht werden Sie an mich denken, wenn Ihre Wunden verheilt sind und wir einen neuen Anfang wagen können.« »Das werde ich vielleicht tun.« »Gut«, sagte sie, »aber warten Sie nicht zu lange damit, denn sonst zwingen Sie mich, meinerseits den nächsten Schritt zu unternehmen, und dieser Schritt könnte darin bestehen, dass ich mich in einer weniger persönlichen Angelegenheit an Sie wende. Ich kann Ihnen nämlich versichern, dass das Ministerium allen Grund hatte, mir zu meinem Eingreifen zu Ihren Gunsten zu applaudieren, und nun ist überall die Rede von Weaver und wie man ihn dazu bewegen könnte, seinem König dienlich zu sein.« Ich zog meine Hand fort. »Ich glaube nicht, dass ich in einer solchen Eigenschaft dem König dienen möchte. Wie Sie selber festgestellt haben, bin ich nicht allzu geneigt, meinen Gerechtigkeitssinn Erwägungen der Zweckdienlichkeit unterzuordnen.« »Es könnte eine Zeit kommen, in der das Königreich Ihrer Dienste bedarf, ohne Sie damit in einen Konflikt zu stürzen. Ich hoffe, dass Sie sich uns dann nicht verschließen werden.« »Und falls ich daran nicht interessiert bin, darf ich trotzdem Ihre Nähe suchen?« »Ja, aber warten Sie bitte nicht zu lange damit.« Ich hätte nicht sagen können, zu was dieses Gespräch geführt haben würde, wenn es in privaten Räumen stattgefunden hätte, aber ein leeres Büro im Craven House erschien mir kaum als der passende Tempel, um der Liebesgöttin Venus zu huldigen, vor allem nicht, während nebenan eine Anteilseignerversammlung in vollem Gange war. In dem einvernehmlichen Wissen, dass wir nicht lange voneinander getrennt sein würden, verabschiedeten wir uns. Celia Glade beglückwünschte sich gewiss bereits zu ihrer Eroberung, und auch ich legte einen munteren Schritt vor, als ich zurück zu Elias ging, um ihm Bericht zu erstatten. 30 In der Droschke wollte Elias nicht aufhören, den Kopf zu schütteln. »Wie hast du bloß nicht merken können, dass Franco in alles eingeweiht war?« »Er hat mir keinerlei Anlass zu Argwohn gegeben. Er hat sich stets so verhalten, wie ich es von ihm erwartet hätte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass er mir nur etwas vormachte.« »Und wo geht es jetzt hin?« »Es gibt noch eine letzte Sache zu erledigen, wenn auch nur zu meiner eigenen Genugtuung.« Wir ließen uns zur Throwers Arms Tavern fahren, wo Devout Hale in aller Gemütsruhe mit seinen Kameraden saß und trank. Ich hätte mir vorstellen können, dass er das Weite gesucht hatte, weil er ahnte, dass ich auf dem Weg zu ihm war, doch als ich eintrat, lächelte er mir nur zu. Ich schickte seine Kumpane weg, und wir setzten uns zu ihm an den Tisch. Ich stellte ihm Elias vor, Devout Hale erzählte ihm von seiner Krankheit, und Elias versorgte ihn mit ärztlicher Weisheit, bis ich mir das Geplänkel nicht mehr anhören konnte. »Genug davon«, sagte ich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Glaubtest du, ich würde nicht hinter deine List kommen?« »Was für eine List?«, fragte Hale sehr wenig überzeugend. »Dann will ich es ohne Umschweife sagen. Du hast mich und deine eigenen Männer hintergangen. Ich habe dir ein Buch gegeben, mit dem du die East India Company hättest in die Knie zwingen können, aber du gabst es gleich an Ellershaw weiter. Warum hast du das getan?« Er blickte sichtlich verschämt zu Boden. »Urteile nicht zu streng über mich. Mein Gebrechen ist es, das mich auf Abwege geführt hat. Ich habe dir gesagt, dass ich verzweifelt nach Heilung suchte, und dafür habe ich das Büchlein eingetauscht. Ich bin an die Männer der East India Company herangetreten, und man hat mir versichert, mir eine private Audienz beim König zu verschaffen. Es war doch nur ein Buch, Weaver. Wertlos für jemanden wie mich, der nicht lesen kann. Du kannst es einem Schwerkranken doch nicht vorwerfen, wenn er etwas, das er nicht versteht und mit dem er nichts anfangen kann, für etwas eintauscht, das sein Leben retten könnte.« »Nein, jemandem, der das tut, kann ich wirklich keine Vorwürfe machen. Was du getan hast, war nicht recht, aber doch verständlich.« Ich nahm einen Schluck Bier. »Bis auf das eine. Woher hast du gewusst, wer dieses Buch am allermeisten begehrte? Bei der East India Company gibt es viele leitende Angestellte. Wie kamst du ausgerechnet auf Ellershaw?« Er zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Zufall, nehme ich an.« »Nein, es war kein Zufall«, widersprach ich ihm. »Du hast schon eine ganze Weile mit Ellershaw zusammengearbeitet, nicht wahr?« »Selbstverständlich nicht. Das ist blanker Unsinn.« »Ach, ist es das? Auch mir wollte es zunächst nicht in den Kopf, aber als ich erfuhr, dass die East India Company ein paar Seidenweber beschäftigte, konnte ich mir vorstellen, dass du dich ihnen zur Verfügung stellen würdest, denn du hast ja nie ein Hehl daraus gemacht, dass du für deine Gesundung alles zu tun, jedes Risiko auf dich zu nehmen bereit wärest. Als heute bei der Anteilseignerversammlung Ellershaw dieses Buch in die Höhe hielt, wusste ich natürlich, dass du für ihn die Kastanien aus dem Feuer geholt hattest. Er brauchte es gar nicht, um seinen Rivalen zu besiegen, aber es hat ihm seinen Auftritt vor der Versammlung erst so recht versüßt. Du hast die Zukunft eurer Sache verraten, damit sich ein Mann von der East India Company großtun kann.« »Mäßige deine Stimme«, zischte er mir zu. »Was?«, meldete sich Elias zu Wort. »Deine Männer wissen nichts davon, dass du auf Silber von der East India Company hockst?« »Natürlich«, versicherte Devout Hale eilig, »haben sie nichts gegen ein bisschen Silber einzuwenden, gleich, ob es von der East India Company stammt oder von sonst wem. Es ist keine angenehme Übereinkunft, aber eine, mit der sie leben können.« Ich erhob mich von meinem Platz. »Hört mir bitte zu, ihr Männer des Seidenweberhandwerks. Ist es wahr, dass euch bekannt ist, dass Mr. Hale von der East India Company bezahlt wird?« Sämtliche Augen waren auf mich gerichtet. Ich glaube, ich wäre als dreckiger Lügner niedergeschrien worden, wenn Devout Hale nicht im gleichen Moment aufgesprungen und so rasch zur Tür geeilt wäre, wie sein Gebrechen es zuließ. Ein halbes Dutzend seiner Männer rannten ihm nach, und ich bezweifelte, dass er sehr weit kommen würde. Die Frage war nur, was sie mit ihm anstellen würden, sowie sie ihn erst einmal in den Fingern hatten. Er war eine tragische Figur und ein sehr kranker Mann, der seine Kameraden für die vergebliche Hoffnung auf eine wundersame Heilung verraten hatte. Zweifellos würde er nicht so leicht davonkommen, aber ich hatte ebenso wenig Zweifel daran, dass Hale es überleben würde, um endlich durch die Berührung durch den König belohnt zu werden - und dann feststellen zu müssen, dass er vergeblich gehofft hatte. Elias und ich hielten es für das Beste, das Wirtshaus zu wechseln. Wir brauchten nicht lange zu suchen, und schon bald saßen wir mit zwei frischen Krügen und unseren Gedanken wieder da. »Ich bewundere dich dafür, wie du hinter Hales Verrat gekommen bist, Weaver«, sagte Elias, »aber irgendwie ist mir das zu wenig, und es kommt auch ein bisschen spät. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass wir wieder einmal auf der Stelle treten.« Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. »Sprich dich ruhig aus.« »Nun, es ist doch nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Du wirst in eine Untersuchung eingespannt, und es wird bald deutlich, dass irgendwelche gewaltigen Mächte dich daran hindern wollen. Du gibst dir alle Mühe, aber am Ende obsiegen sie doch. Ein paar Helfershelfer bekommen vielleicht ihre gerechte Strafe, aber jene, die die Macht in Händen halten, bekommen genau das, was sie haben wollten. Ärgert dich das nicht?« »Natürlich ärgert es mich.« »Gibt es denn keine Möglichkeit, mehr auf der Hut zu sein, zu verhindern, dass das immer und immer wieder passiert?« »Die wird es wohl geben.« »Und warum ergreifst du sie dann nicht?« Ich grinste ihn an. »Wer sagt, dass ich das nicht schon längst getan habe?« Ich leerte meinen Krug und stellte ihn hin. »Bei so vielen verschiedenen Agenten und so viel Lug und Trug musste ich ja ständig auf der Hut sein, dass nicht jemand die Sache zu seinen Gunsten wendet, wenn ich mal einen Augenblick unaufmerksam bin. Wie immer, wenn man es mit Männern von großer Macht zu tun hat, sind einem irgendwie die Hände gebunden, aber ich glaube, ich habe mein Bestes getan, um ihre Pläne zu vereiteln.« »Aber wie denn nur?« »Trink dein Bier aus, dann wirst du es schon gewahr werden.« Wir nahmen einen Wagen zum Durham Yard, wo ich wieder einmal an eine gewisse Tür klopfte, die uns von Bridget Pepper, Ellershaws Stieftochter, geöffnet wurde. Sie, vermutete ich, war für mich die wichtigste unter all jenen Frauen, die ich inzwischen mit dem Sammelbegriff Pepper-Witwen bezeichnete. »Einen schönen guten Nachmittag, Madam«, begrüßte ich sie, als sie uns hereinbat. »Ob Ihr werter Gatte wohl auch zu Hause ist?« »Was ist das nur für ein grausamer Scherz?«, fragte sie. »Sie wissen sehr wohl, dass er tot ist.« »Ich glaubte, es zu wissen«, sagte ich zu Elias, aber so, dass sie es auch hören musste. »Dies war einer der wenigen greifbaren Anhaltspunkte, die ich von Cobb bekommen habe, doch irgendwann bin ich stutzig geworden. Jeder erzählte mir Lügen und machte mir etwas vor. Woher sollte ich wissen, dass Pep-per wirklich nicht mehr lebte? Wenn Cobb mich nun angelogen hatte oder er selber einer Lüge aufgesessen war? Irgendwer aber musste Cobb verraten haben, also neige ich nun zu der letzteren Annahme.« »Ach? Pepper ist gar nicht tot?« »Nein. Das war Teil seiner Vereinbarung mit der East India Company. Er hat ihnen seine Pläne übergeben, Pläne, die er nie auf eigene Faust würde in die Tat umsetzen können, weil ihm, wie mir eine seiner Witwen verraten hat, seine ganzen gescheiten Ideen sofort wieder entfielen, sowie er sie sich notiert hatte. Als Gegenleistung für dieses Opfer würde ihm gestattet sein, mit dieser jungen Lady hier verheiratet zu bleiben. Und vielleicht hat man ihm noch etwas anderes versprochen. Ein neues Leben im Ausland zum Beispiel. Sie müssen ihn aufrichtig lieben, dass Sie trotz all seiner - wie soll ich sagen - Exzesse an seiner Seite geblieben sind.« »Ich weiß nicht, warum Sie sein Andenken beschmutzen und mich so quälen«, sagte Bridget Pepper. »Er ist tot. Er ist tot.« »Oder doch noch nicht endgültig«, sagte ich. »Vielleicht holt ihn das wieder aus dem Grab zurück.« Und mit meinem zuvorkommendsten Lächeln überreichte ich ihr den Oktavband mit den Plänen von Peppers Erfindung. »Was hatte Ellershaw denn nun in der Hand?«, fragte mich Elias, als wir unserer Gastgeberin in den hinteren Teil des Hauses folgten. »Das erste Buch, das, das ich von der Lady in Twickenham bekommen habe«, erklärte ich. »Es war dem richtigen in Form und Inhalt ganz ähnlich, und man konnte auch nicht auf den ersten Blick erkennen, dass die darin enthaltenen Aufzeichnungen unvollständig waren. Auch für mich sahen sie sehr nach den Originalplänen aus, und wenn auf dem einen Buchdeckel nicht eine leichte Unvollkommenheit des Leders gewesen wäre, ein Makel in der Form eines P, hätte ich die beiden nicht zu unterscheiden gewusst.« Im hinteren Bereich des Hauses erwartete Mr. Pepper uns mit einem Buch und einem Glas Wein vor sich. Er stand auf, um mich zu begrüßen. »Ich muss zugeben, dass ich die Hoffnung nie ganz aufgegeben habe«, sagte er. »Aber es war nie mehr als nur eine schwache Hoffnung. Ich muss sagen, Sie sind ein bemerkenswerter Mann.« An mir war eigentlich gar nichts so Bemerkenswertes. Vielmehr war es Pepper, von dem eine Wärme, eine Herzlichkeit und eine Zufriedenheit ausgingen, wie ich sie noch nie bei einem Menschen erlebt hatte. Und er sah wirklich gut aus, doch ist die Welt nicht voller gut aussehender Männer? Nein, es war noch etwas an ihm, und obwohl ich wusste, dass es nur vorgetäuscht war, hatte es doch eine ähnliche Wirkung auf mich wie ein Blitz, vor dem man zwar lieber davonlaufen möchte, der einen aber doch voller Ehrfurcht innehalten lässt. Ich reichte ihm sein Buch. »Ich würde Ihnen raten, sich in einen anderen Teil des Landes zurückzuziehen. Die East India Company dürfte nicht sehr davon erbaut sein, wenn Sie versuchen, diese Pläne doch noch in die Tat umzusetzen.« »Gewiss nicht. Wie Sie ja bereits vermutet hatten, bestand die Übereinkunft darin, dass die Kunde von meinem Tod überall verbreitet würde, damit ich vor den Franzosen sicher bin. Das Ministerium hat sogar dafür gesorgt, dass gewisse französische Spione Briefe abfangen konnten, in denen beschrieben wurde, wie die East India Company meinen Tod herbeigeführt hat.« »Und Mr. Ellershaw hat das alles in die Wege geleitet, damit Sie mit seiner Stieftochter glücklich werden können, wobei er Sie im Tausch gegen die Pläne auch mit einer ordentlichen Mitgift versorgt und, was Ihre, sagen wir mal, sonstigen entangle-ments betrifft, ein Auge zugedrückt hat«, riet ich aufs Geratewohl. Mrs. Pepper legte ihrem Gatten die Hand auf die Schulter. »Sie brauchen gar nicht um den heißen Brei herumzureden«, sagte sie. »Ich weiß um den ziemlich gewundenen Weg, den mein Absalom gegangen ist, bevor wir zueinanderfanden. Ich trage es ihm nicht nach, dass er getan hat, was er tun musste, und da wir nun zusammen sind, will ich seine Vergangenheit gerne vergessen.« »Doch dann«, spann ich meinen Faden fort, »bekam er kalte Füße. Er wollte Sie in Sicherheit wissen. Deswegen nahm Mrs. Ellershaw Sie wieder unter ihre Fittiche und versteckte Sie. Deswegen glaubte sie auch, ich würde im Auftrage von Mr. Ellershaw Nachforschungen über ihre Tochter anstellen. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt begriffen hat, in was Mr. Pepper sich sonst noch verstrickt hatte, aber wenn, dann kümmerte es sie kaum mehr, als es ihre Tochter tat.« Pepper tätschelte die Hand seiner Gattin und lächelte mir verschmitzt zu. »Ich muss zugeben, ziemlich stolz darauf zu sein, dass mir die gute Frau sogar noch eine zweite Mitgift verschafft hat. Es war so vereinbart, dass Mrs. Ellershaw glauben sollte, ihr Ehemann wäre in schärfster Form gegen unsere Verbindung. Also hat sie erst eine Mitgift aufgebracht, und dann hat ihr Ehemann es ihr nachgetan. Ziemlich schlau eingefädelt, würde ich mal sagen.« Er wartete nicht darauf, dass ich ihn in seinem Eigenlob bestätigte, sondern begann in dem Büchlein zu blättern. »Oh ja. Sehr klug. Wirklich sehr klug. Ja, ich habe schon so meine lichten Momente. Manchmal halte ich mich für das größte Genie auf Erden.« Er hielt inne und sah mich an. »Sie müssen mir verraten, wieso Sie die Pläne nicht für sich behalten. Es kann noch Jahre dauern, bis ich Kapital daraus schlage, und solange muss ich Ihnen den Lohn für Ihre Dienste schuldig bleiben.« »Ich möchte weder die Pläne noch eine Belohnung«, sagte ich. »Ich habe Ihre Zeichnungen sowieso nie begriffen, und Ordnung in sie hineinzubringen, wäre mir viel zu anstrengend. Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Mr. Pepper. Obwohl wir uns bisher nicht begegnet sind, bin ich doch schon eine Weile Ihrer Spur durch die ganze Stadt gefolgt, und ich muss sagen, dass Sie ein ziemlich verwerflicher Mensch sind. Sie nehmen sich einfach, was Sie wollen, und kümmern sich nicht um die Gefühle derer, die Sie verletzen.« »Ein hartes Urteil«, sagte er. »Aber Sie werden so manchen finden, der nicht Ihrer Meinung ist«, fügte er gut gelaunt hinzu. »Sei es, wie es ist«, sagte ich. »Dennoch bin ich der Ansicht, dass der Mann, der diese Erfindung gemacht hat, auch davon profitieren sollte, selbst, wenn dieser Mann ein Schurke ist. Es wäre der reinste Diebstahl, die Pläne an mich zu nehmen. Und wenn Sie finanziell abgesichert sind, braucht die Welt sich auch nicht mehr so vor Ihnen in Acht zu nehmen, Mr. Pepper. Mein Hauptziel ist, dass die East India Company bekommt, was sie verdient, und ich denke, Sie werden mit Ih-rer Erfindung, wenn sie erst einmal Wirklichkeit geworden ist, schon dafür sorgen.« »Das ist sehr ehrenhaft von Ihnen.« »Nein, es ist Rachsucht. Ich möchte, dass sie wissen, dass ihre Bemühungen gescheitert sind. All die Energie, die darauf verwandt wurde, einen Mann daran zu hindern, eine Arbeitstechnik zu verbessern, all diese Kunstgriffe, um den Leuten zu oktroyieren, was sie zu kaufen haben. Die East India Company glaubt, die ganze Welt beherrschen zu können. Ich habe mir einiges gefallen lassen müssen, Mr. Pepper, und die größte Befriedigung, die es für mich gibt, wäre, die auf die Knie gezwungen zu sehen, die mir das angetan haben. Ich weiß nicht, wie lange ich darauf werde warten müssen, aber ich kann mich damit trösten, die Saat dafür gelegt zu haben.« Er grinste und steckte das Büchlein in seine Tasche. »Dann danke ich Ihnen«, sagte er. »Ich werde es zu nutzen wissen.« Auf der Rückfahrt lachte Elias mit einem Male laut auf. »Er ist wirklich ein gerissener Bursche. Ganz schön verschlagen.« »Verschlagen sind wir alle. Jeder von uns auf seine Weise. Vor uns selber wissen wir es zu entschuldigen, und vielleicht auch bei denen, die wir lieben, doch bei anderen gefallen wir uns darin, sie dafür zu verdammen.« »Das hast du sehr philosophisch ausgedrückt.« »Ich bin heute eben philosophisch aufgelegt.« »Dann will ich dir auch nicht nachstehen«, sagte er. »Mir ist aufgefallen, dass ein Mann wie du, der aus Gehässigkeit und Rachsucht gegen diese großen Handelshäuser zu Felde zieht, am Ende als der moralisch Höchste dasteht. Darin zeigt sich wohl die verderbliche Wirkung der Habgier.« Darin konnte ich ihm zweifellos zustimmen. Ich konnte mich rühmen, an diesem Tag der Habgier einen Schlag versetzt zu haben, und warum sollte ich mein Licht unter den Scheffel stellen? Aber ich wusste doch, dass es war, als würde ich zu einem Hieb gegen einen Sturm ausholen. Wenn der Mensch ein derart genaues Instrument besäße, würde er die Wirkung vielleicht gar messen können, aber der Sturm würde doch ungezügelt weiterwüten und seine Spur der Verwüstung hinterlassen. Niemand würde es je erfahren, dass ein Einzelner sich dem in den Weg gestellt, sich ihm vielleicht gar mit aller Macht entgegengestemmt hatte, um ihm seine verheerende Kraft zu nehmen.